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German Pages 266 Year 2016
Nils Dahl Kodokushi – Lokale Netzwerke gegen Japans einsame Tode
Alter(n)skulturen Herausgegeben von Peter Angerer, Ute Bayen, Henriette Herwig, Andrea von Hülsen-Esch, Christoph Kann, Ulrich Rosar, Christian Schwens, Shingo Shimada, Stefanie Ritz-Timme und Jörg Vögele | Band 10
Nils Dahl, geb. 1986, studierte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf die Fächer Modernes Japan und Kommunikations- und Medienwissenschaften. Er promovierte am Graduiertenkolleg »Alter(n) als kulturelle Konzeption und Praxis«.
Nils Dahl
Kodokushi – Lokale Netzwerke gegen Japans einsame Tode
D61 Diese Arbeit wurde als Dissertation unter dem Titel »Kodokushi. Lokale Netzwerke gegen Japans ›einsame Tode‹« an der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
1. Einführung | 9 1.1 Einsame Tode? | 9 1.2 Methodische und theoretische Überlegungen | 11 1.2.1 Diskurs | 11 1.2.2 Gouvernementalität | 15 1.2.3 Methodik der Feldforschung | 17 1.3 Das Feld | 19 1.4 Auf bau der Arbeit | 25
2. Begriffliche Hintergründe | 29 2.1 Gemeinschaft und Gesellschaft | 29 2.2 Die Bedeutung der Modernisierungstheorie im Falle Japans | 35 2.3 Überwindung der Vormoderne-Moderne-Dichotomie | 40 2.4 Tradition und Gemeinschaft im gegenwärtigen Diskurs | 42
3. Die moderne Konstruktion traditionell japanischer Gemeinschaftlichkeit | 47 3.1 Verwandtschaftsbeziehungen (ketsuen): Das Beispiel des ie-Systems | 47 3.2 Nachbarschaftsbeziehungen (chien) | 53 3.2.1 Konzeptionen einer japanischen Nachbarschaftsgemeinschaft | 53 3.2.2 Das Beispiel der Tokiwadaira Danchi | 63 3.3 Die Beziehungen der Firma (shaen) und Japans Mittelstandsgesellschaft | 75
4. Vom Randphänomen zum Symptom einer kranken Gesellschaft: Semantischer Wandel des Wortes kodokushi | 85 4.1 Aufkommen der Problematik: Erste einsame Tode | 85 4.2 Bedeutungsschub durch die Hanshin-Awaji-Erdbebenkatastrophe | 88 4.3 Ankunft der einsamen Tode in der Tokiwadaira Danchi | 94 4.3.1 Aufsehenerregende Fälle | 94 4.3.2 Der allgemeine Wandel der danchi | 97 4.4 T hematische Verknüpfungen der 2000er Jahre | 103 4.5 »Die Theorie der beziehungslosen Gesellschaft« (muenshakairon) | 107 4.6 T heoretische Verortung der muenshakairon | 116 4.7 Exkurs: Positive Umdeutungen der Debatte | 121
5. Was sind einsame Tode? | 127 5.1 Kodokushi als »unumsorgter Tod« | 128 5.2 Zwei Arten zu Hause zu sterben: kodokushi vs. zaitakushi | 130 5.3 Umstrittene Definitionsinhalte eines einsamen Todes | 132 5.4 Koritsushi als Alternativbezeichnung? | 136 5.5 Theoretische Unterscheidung zwischen koritsushi und kodokushi | 140 5.6 Was ist problematisch an einem einsamen Tod? | 142
6. Maßnahmen gegen einsame Tode in der Tokiwadaira Danchi | 147 6.1 Die Verantwortungsproblematik | 147 6.2 Typen von Gegenmaßnahmen | 151 6.3 Konkrete Maßnahmen in der Tokiwadaira Danchi | 154 6.3.1 Besonderheiten des Ansatzes und der Arbeitsweise | 154 6.3.2 Inhalte des Projekts und Kategorisierung der Maßnahmen | 162
6.3.3 Vorstellung zweier Beispiele: Altencafé und Sportfest | 173 6.3.4 Erfolge und Problemstellungen | 185 6.4 chiiki hôkatsu – »Lokale Inklusion« | 191 6.4.1 Hintergrund des Inklusionskonzepts | 191 6.4.2 Die Japanisierung des Konzepts sozialer Inklusion | 196 6.4.3 Was bedeutet lokale Inklusion konkret? | 198 6.4.4 Gesellschaftliche Partizipation (shakaisanka) am Beispiel des Renrakukai | 203
7. Theoretische Reflexion | 209 7.1 Überwachung | 209 7.2 Aktivierung | 213 7.3 Subjektivierung | 221 7.4 Fazit | 225
Abbildungsverzeichnis | 229 Abkürzungsverzeichnis | 231 Literaturverzeichnis | 233 Danksagung | 263
1. Einführung 1.1 E insame Tode ?1 Mit dem Wort kodokushi werden in Japan Todesfälle von sozial isolierten Personen bezeichnet, welche erst nach mehreren Tagen oder Wochen entdeckt werden. Das Wort hat sich seit den 1970er und 1980er Jahren als feststehende Bezeichnung etabliert und wird in der aktuellen medialen Berichterstattung gehäuft verwendet. In der jüngeren Vergangenheit wurden die einsamen Tode dabei in unzähligen, zumeist populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Symptom einer kranken, nur bedingt funktionsfähigen Gesellschaft erklärt.2 Die Bezeichnung einsamer Tod identifiziert 1 | An dieser Stelle möchte ich einige die Orthografie betreffende Vorbemerkungen machen. Entsprechend der dort üblichen Verwendung steht der Nachname bei japanischen Namen und bei in japanischer Sprache veröffentlichenden Autoren an erster Stelle. Ortsnamen oder Organisationsbezeichnungen werden wie Eigennamen behandelt. Japanische Textstellen wurden von mir übersetzt und sind daher mit * nach dem Autornamen als eigene Übersetzung gekennzeichnet. Wichtige verwendete japanische Konzepte wurden in Teilen nicht übersetzt, sondern sind kursiv gekennzeichnet und in romanisierter Form (Hepburn, modifiziert) in den Text eingefügt. Das thematisch wichtigste Wort kodokushi übersetze ich mit »einsamer Tod« und verwende aus Gründen der Leserlichkeit keine Anführungszeichen, auch wenn es sich im Deutschen nicht um einen feststehenden Ausdruck handelt. 2 | Das populärwissenschaftliche Genre besitzt in Japan eine besondere Bedeutung, da die Trennung zum ausschließlich wissenschaftlichen Bereich relativ fließend oder unklar erscheint (vgl. Aoki 1996: 22). Viele Wissen-
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bestimmte Todesfälle in dieser Hinsicht als gesellschaftliches Problem, von dem ausgehend der Auf bau eines lokalen Netzwerks für die Betreuung und Pflege der rasant ansteigenden Zahl von alten und hilfsbedürftigen Menschen thematisiert wird. Laut Junko Otani (2010: 164) seien die einsamen Tode daher als eine der »key anxieties about the future of Japanese society« zu verstehen. Neben kodokushi und anderen direkten Risiken für alte Menschen gehörten auch die allgemeine Furcht vor einer ungenügenden Vorbereitung auf den rapiden demografischen Wandel sowie die Sorge um die abnehmende Bedeutung traditioneller Gruppenzugehörigkeiten zu diesen Kernängsten (vgl. ebd.). Die zunehmende Relevanz der kodokushi-Thematik kann somit als Ausdruck des allgemeinen Bewusstwerdens von verschiedenen Problemen verstanden werden, welche mit der Alterung der Gesellschaft und dem als für nicht ausreichend befundenen Sozialsicherungsnetz zusammenhängen. Nach einer Studie des Naikakufu (vgl. 2010) – des Kabinettsbüros der japanischen Regierung – ist diese Furcht vor einem einsamen Tod unter alten Menschen in Japan inzwischen so weit verbreitet, dass nur circa 20 % der über 60-jährigen kodokushi nicht als ein sie betreffendes Problem ansehen würden. Ungefähr 43 % der Befragten »empfinden kodokushi [dagegen] als ihnen nahes Problem« (ebd.: 2*). Diese enorme gesellschaftliche Bedeutung steht in Kontrast zu einer relativ geringen Zahl an thematisch relevanter Literatur in deutscher oder englischer Sprache. In verschiedenen wissenschaftlichen Studien werden die einsamen Tode zwar in kurzen Verweisen oder teilweise auch in einzelnen Kapiteln erwähnt (vgl. z.B. Thang 2001: 178; Long 2005: 61; 108; Otani 2010: 161-174), jedoch wird das Phänomen in der Regel nicht in den Fokus der Betrachtung gerückt. Dagegen tauchen in englischsprachigen Massenmedien in unregelmäßigen Abständen Artikel über Japans einsame Tode auf, wobei diese dabei oftmals als etwas speziell Japanisches dargestellt schaftler veröffentlichen in Populärzeitschriften und können so den Alltagsdiskurs stark prägen.
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werden (vgl. z.B. Time 2010; BBC 2012; New York Times 2012). Diese kulturalistisch erscheinende Hypothese einer besonderen japanischen Neigung zu sozialer Isolation wird auch durch international vergleichende Studien zumindest oberflächlich bestätigt. Laut einer Studie der OECD (vgl. 2005: 83) verbringen 15,3 % der Japaner nur selten Zeit mit Freunden oder Arbeitskollegen, womit Japan deutlich unter dem OECD-Durchschnitt liegt. Im Gegensatz zu Mexiko, was als einzige Gesellschaft der Studie ähnlich niedrige Werte wie Japan aufweisen konnte, werde dieses Defizit zudem nicht über Kontakte zu Familienmitgliedern ausgeglichen (vgl. ebd.). Im Anschluss an diese und weitere ähnliche Studien werden Japans einsame Tode im Allgemeinen als Ergebnis einer zunehmenden sozialen Desintegration in Japan dargestellt. In dieser Arbeit werde ich die diskursive Konstruktion dieser populären These rekonstruieren und sich über den Diskurs ausbreitende gesellschaftliche Machtverhältnisse analysieren. Dabei ist nicht so wichtig, welche Faktoren in der Realität für die wachsende Zahl von kodokushi verantwortlich sind, sondern mit welchen Begriffen das Phänomen diskutiert wird und welche Problemlösungsstrategien dabei vorgeschlagen werden. Da ich diese Textarbeit mit der Problematisierung von konkreten, während einer Feldforschungsphase beobachteten lokalen Projekten gegen einsame Tode ergänze, stelle ich zunächst den methodischen Ansatz vor, mit dem ich mich der Problematik genähert habe.
1.2 M ethodische und theoretische Ü berlegungen 1.2.1 Diskurs Während meiner Recherchearbeit vor dem anschließend geplanten Feldforschungsaufenthalt registrierte ich schnell die enorme Zahl von populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen in Japan, in denen die einsamen Tode in Beziehung zu allgemeinen Theorien über den Wandel der japanischen Gesellschaft gesetzt werden. Bei-
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spielsweise können Analysen über so unterschiedliche Themen wie Erwerbsarmut, Werteverfall oder dem demografischen Wandel von einer Thematisierung der einsamen Tode ausgehen. Kodokushi erschien demnach als Teil eines gewaltigen Komplexes von miteinander verschränkten Varianten der Problematisierung der gegenwärtigen japanischen Gesellschaft. Dieses Bild wurde weiterhin dadurch verkompliziert, dass sich auch die im Feld angetroffenen Akteure für ihre Problemlösungsansätze auf die öffentliche Debatte bezogen und populäre Positionen zur Legitimierung ihrer Handlungen nutzten. Gleichzeitig nehmen die Akteure aus dem Feld aber auch aktiv an der allgemeinen Diskussion teil und üben somit einen größeren gesellschaftlichen Einfluss aus, woraus sich ein komplexes Netz an Beziehungen zwischen der empirischen und der diskursiven Ebene ergibt. In diesem Sinne plante ich die Beschreibung und Interpretation dieser Wechselbeziehungen zwischen Feld und gesellschaftspolitischer Diskussion ins Zentrum der Arbeit zu setzen. Schnell stellte sich jedoch als problematisch heraus, auf welche Weise ich die in der Feldforschung gesammelten Daten mit der über den Rahmen des Felds hinausgehenden öffentlichen Debatte und der wissenschaftlichen Erforschung von sozialer Isolation im Alter verbinden würde. Besteht überhaupt eine klare Trennung zwischen diesen Ebenen oder bilden sie zusammen einen Teil einer noch größeren Wissensformation? Eine grobe Zweiteilung in die praktische Ebene des Felds auf der einen und eine textuelle Ebene auf der anderen Seite erschien mir als zunehmend unzutreffend. Denn in allen Interviews und inoffiziellen Gesprächen, die ich während der Feldforschungsphase führte, begegneten mir implizite wie explizite Verweise auf andere Aussagen und Texte. Diese Verweise beschränkten sich dabei nicht auf andere im Feld aktive Akteure, sondern reichten bis hin zu Äußerungen von Politikern oder populären Autoren. Aufgrund dieser intertextuellen Bezüge ist die Versuchung groß, das Wort Diskurs als übergeordnete Analyseeinheit für die Arbeit heranzuziehen, da der Begriff in der Regel auf eine bestimmte Weise miteinander verbundene Aussagegruppen kennzeichnet.
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Bei Michel Foucault (1973: 156) beschreibt der Begriff »auf die allgemeinste und unentschiedenste Weise [ …] eine Menge von sprachlichen Performanzen«. Aufgrund dieser prinzipiellen Offenheit und des inflationären, oftmals inkonsistenten Gebrauchs des Diskursbegriffs in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen über die letzten Jahrzehnte bringt die Verwendung des Wortes Diskurs jedoch gewisse Gefahren mit sich. Bei Foucault, auf den sich die meisten heutigen Diskursforscher in irgendeiner Form berufen, wird die als Diskurs bezeichnete Aussagenformation über eine ihr gemeinsame Regelmäßigkeit zusammengehalten (vgl. ebd.: 170). Im Hintergrund dieser These steht die Ansicht, dass bestimmte direkt oder indirekt festgelegte, gesellschaftlich gültige Regeln determinieren, was gesagt, geschrieben, und gemacht werden kann. Diese Regeln ermöglichen die Aussagen erst. Der Diskurs wird somit nicht thematisch bestimmt, sondern kann sich über verschiedenste Themenfelder erstrecken. Im Gegensatz hierzu zog der Großteil der späteren Diskursforschung einen thematischen Zugang zum Diskurs vor, der auch für mich leichter umsetz- oder nachvollziehbar erscheint, da Probleme mit unklaren Begrifflichkeiten aus dem abstrakteren Werk Foucaults vermieden werden (vgl. ebd.: 156; 168-173). Gleichzeitig werden jedoch Formulierungen wie »Diskurs über …« oder »Diskurs zu …« möglich, was nur bedingt mit dem ursprünglichen Konzept Foucaults vereinbar ist (vgl. Schöttler 1997: 141). Dem Ratschlag vieler Diskursforscher folgend möchte ich die Entscheidung zwischen diesen beiden Polen umgehen und werde den Diskursbegriff daher »am jeweiligen Gegenstand« (Schrage 1999: 67) und abhängig von meinen Forschungsfragen festlegen. In dieser Hinsicht ist eine unfehlbare, stets passende Definition von Diskurs nicht nur unmöglich, sondern auch unnötig. Geleitet von dieser Erkenntnis möchte ich in der folgenden Analyse einen praktisch nutzbaren Diskursbegriff verwenden, da kein ausschließlich literaturbezogener Ansatz gewählt wurde und während einer Feldforschungsphase gesammelte Daten einen Kern der Arbeit bilden. Daher greife ich Ideen von Ruth Wodak auf, die Diskurs ihrem sprachwissenschaftlichen Hintergrund folgend vor
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allem als linguistische Praxis versteht (vgl. Wodak 2008: 5). In Abgrenzung zu einem Text umfasse Diskurs dabei »patterns and commonalities of knowledge and structures« (ebd.: 6), während ein Text als spezifische Realisierung des Diskurses angesehen wird. Diskurs ermögliche demnach Text bzw. drücke sich in diesem aus. Die Analyse könne vom Text – und seinem direkten Kontext – über die Suche nach intertextuellen oder interdiskursiven Bezügen einzelner Aussagen zu den sozialen Hintergründen der Textentstehung und allgemeinen soziokulturellen und historischen Zusammenhängen gelangen (vgl. ebd.: 13). Im Gegensatz zu Diskursanalysen, die zunächst einen Korpus bilden, um dann Gesamt- und Feinanalysen vorzunehmen, möchte ich Wodak folgend auf der textuellen Ebene ansetzen und von dort ausgehend nach Spuren des Diskurses bzw. allgemeinen Zusammenhängen suchen. Im Hintergrund dieses Vorgehens steht Wodaks (2002: 8) Ansicht, dass Diskurs sowohl »socially conditioned« als auch »socially constitutive« sei. In dieser dialektischen Deutung des Verhältnisses von Diskursen und sozialen Praktiken spielt Sprache eine maßgebliche Rolle. Einerseits drücken sich über Sprache gesellschaftliche Machtverhältnisse aus, weshalb Sprache zur Stütze gesellschaftlicher Hegemonien werden kann. Andererseits ist Sprache die entscheidende Größe, die sozialen Wandel herbeiführen und vorherrschende Wert- und Moralsysteme anzweifeln und brechen kann. Über Sprache kann gesellschaftliche Wirklichkeit konstruiert und gleichzeitig in Frage gestellt werden (vgl. auch Berger/Luckmann 2010: 39-43). Ferner kann in dieser Konzeption von Diskurs jede Form von Text – transkribierte Interviews, Einträge aus dem Feldtagebuch, Zeitungsartikel etc. – Teil der Analyse werden (vgl. z.B. Oberhuber/ Krzyzanowski 2008; Abell/Myers 2008). Auf diese Weise möchte ich ausgehend von den Feldforschungsergebnissen – z.B. von Äußerungen, die während eines Interviews gefallen sind – zu allgemeinen, übergeordneten Themenfeldern oder Kategorien gelangen. Dabei werde ich mich insbesondere auf die Dekonstruktion der Verwendung und Wirkung bestimmter Wörter oder Konzepte konzentrieren. Auch hierbei soll das Feld selbst den Hauptteil meiner Agen-
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da setzen und zum Ausgangspunkt der Analyse werden, anstatt im Feld vorformulierte Hypothesen zu überprüfen. Aus Gründen der Übersichtlichkeit unterscheide ich in dieser Analyse teilweise drei Ebenen des Diskurses (vgl. z.B. Jung 2006). Dies sind die lokale Ebene (Feld), die Ebene der gesellschaftspolitischen Diskussion (Medien), sowie die wissenschaftliche Ebene. Alle Ebenen sind dabei untrennbar miteinander vernetzt, überschneiden sich und beeinflussen sich gegenseitig. Dies kann über das Beispiel eines im Feld aktiven Arztes veranschaulicht werden. Über die Arbeit in seiner Arztpraxis steht dieser in Kontakt zu anderen Akteuren des Felds und ist ein Teil desselben. Daneben, dass er selbst aktives Mitglied zivilgesellschaftlicher Organisationen ist, kennt er die Arbeit anderer lokaler Organisationen, bezieht kritisch Stellung und grenzt sich in Teilen von diesen ab. Zudem veröffentlicht er Artikel zu Themen wie häuslicher Pflege oder sozialer Isolation im Alter und beteiligt sich folglich an der gesellschaftspolitischen Debatte sowie an der wissenschaftlichen Erforschung der Thematik. In dieser Hinsicht ist der Arzt in allen drei Diskursebenen präsent, wobei sich diese Ebenen jeweils durch besondere Schreib- oder Sprachkulturen auszeichnen und von verschiedenen Institutionen und Sachzwängen beeinflusst werden. Beispielsweise unterliegt der Wissenschaftler bestimmten Arbeitszwängen oder Trends der scientific community, während der Leiter einer im Feld aktiven zivilgesellschaftlichen Organisation den speziellen Voraussetzungen seiner Nachbarschaft gerecht werden muss. Trotz dieser oberflächlichen Unterschiede kann auf allen Ebenen derselbe Diskurs bedient werden.
1.2.2 Gouvernementalität Vor allem im abschließenden Kapitel der Arbeit werde ich die über die Diskursanalyse und die Einarbeitung der Feldforschungsergebnisse gewonnenen Erkenntnisse auf eine abstrakte Ebene beziehen. Hierbei rücke ich die zuvor betrachteten gesellschaftlichen Machtverhältnisse noch stärker in den Vordergrund und suche Anschluss
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an die Fragestellungen sogenannter Gouvernementalitätsstudien (governmentality studies). Diese berufen sich auf das von Foucault erstmals in seiner Vorlesung am Collège de France im Studienjahr 1977-1978 verwendete Konzept der Gouvernementalität, welche Foucault historisch als Ergebnis verschiedener gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse interpretiert hatte (vgl. Foucault 2000: 64). Gouvernementalität sei »[ …] die Gesamtheit, gebildet aus den Institutionen, den Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken, die es gestatten, diese recht spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als Hauptwissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat«. (Ebd.). 3
Hieran angelehnt werde ich die über komplexe Übersetzungsprozesse und die Beziehungsnetze verschiedener Akteure ausgehandelten und auf der Ebene des Feldes umgesetzten Konzepte eines lokalen Wohlfahrtssystems als (lokale) Regierung beschreiben. Regierung wird dabei nach Foucault (1987: 248) als »verwickelte Kombination von Individualisierungstechniken und Totalisierungsverfahren« aufgefasst und bleibt daher nicht auf staatliche Formen der Herrschaft beschränkt. Vielmehr beschreibt Foucault (2000: 61) die Bevölkerung selbst »als Zweck und Instrument der Regierung«, wodurch die wechselhaften Beziehungen von über staatliche Regierungsprogramme transportierten Herrschaftstechniken und im Feld angetroffenen Selbstdisziplinierungstechnologien verstanden werden können (vgl. Lemke et al. 2000: 8; 25-32). Zudem beschränkt sich Regierung in diesem Verständnis nicht auf Verbote oder individuelle Freiheit unterdrückende Maßnahmen, sondern kann stattdessen auch im Besonderen die Förderung 3 | Die vollständige Definition umfasst zwei weitere Dimensionen von Gouvernementalität, welche im Kontext dieser Arbeit nicht von primärer Bedeutung sind.
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bestimmter Verhaltensweisen und Ausformungen von Subjektivität umfassen (vgl. ebd.: 29). Dem liegt die Konzeption einer sich verselbstständigenden Macht zugrunde, in dem Machtanalysen von der Notwendigkeit der Existenz eines Machtausübenden gelöst werden. Auch gesellschaftliche Moral- und Wertvorstellungen sowie Idealbilder eines guten Todes interpretiere ich daher innerhalb dieses Verständnisses von Regierung. Des Weiteren werde ich bei der Analyse dieser Machtstrategien und Herrschaftstechniken das von Nikolas Rose (2000) erarbeitete Konzept der »Regierung durch Community« aufgreifen und die Rolle der lokalen Ebene in der Analyse der Gouvernementalität betonen.
1.2.3 Methodik der Feldforschung Für die Analyse des kodokushi-Diskurses im Zusammenhang mit der Einführung neuer lokaler Regierungstechniken wurde das Beispiel eines Bezirks einer japanischen Stadt in der Tokioter Metropolregion ausgewählt. Eine Einführung in dieses Feld und eine erste Charakterisierung der wichtigsten Akteure des Feldes findet sich im folgenden Teilkapitel (1.3). Die Auswahl des Feldes geschah eher zufällig, da der erste Besuch im Feld auf meine unspezifische Neugier bezüglich eines in verschiedenen japanischsprachigen Publikationen angeführten lokalen Projekts gegen einsame Tode zurückzuführen war. Aufgrund der freundlichen Aufnahme und des sofortigen Auftretens anschließender Fragestellungen entschied ich mich darauf hin, einen etwa zehnwöchigen Feldforschungsaufenthalt in den Präfekturen Tokio und Chiba durchzuführen.4 Bei der Feldforschung wie auch während meiner Interviews verfolgte ich einen ergebnisoffenen Ansatz, der eine »enge Verbindung 4 | Dies bezieht sich auf meinen Japanaufenthalt von September bis November des Jahres 2013, welcher mit finanzieller Unterstützung des Graduiertenkollegs »Alter(n) als kulturelle Konzeption und Praxis« der HeinrichHeine Universität Düsseldorf realisiert werden konnte.
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zwischen empirischer Arbeit und konkreter Theoriebildung« (Kaufman 1999: 35) anvisiert. Aus diesem Grund war meine Arbeit im Feld von einer methodischen Vielfalt gekennzeichnet, für die ich teilnehmende Beobachtung und mehrere längere qualitative Interviews durch verschiedene informelle Gespräche mit Personen aus dem Feld, die Sichtung und Sammlung von lokalen Informationsund Werbeprospekten, sowie durch das Anlegen eines Feldtagebuchs ergänzte. Diese Observationen vervollständigte ich mit konventioneller Literaturrecherche und informellen Gesprächen mit außerhalb des unmittelbaren Felds auf den Bereich der Wohlfahrt spezialisierten Experten. Mein Datensatz für die Analyse bestand demnach aus Texten bzw. Aussagen, die in Form von Interviewtexten, eigenen Notizen, verschiedenen Informationsprospekten und Internetseitentexten vorliegen. Die drei im Verlauf dieser Arbeit zitierten Interviews wurden mit leitenden Personen aus lokalen Wohlfahrtsorganisationen geführt. Herr N ist ein pensionierter Journalist und Leiter der Nachbarschaftsvereinigung (Jichikai). Frau O, die jahrelange Erfahrung der Arbeit in der lokalen Wohlfahrt besitzt und eine Schwesterorganisation (Shakyô) leitet, arbeitet eng mit ihm zusammen. Beide sind über 80 Jahre alt und für ihr Engagement im Zusammenhang mit Japans einsamen Toden über den lokalen Rahmen hinaus bekannt. Der dritte Interviewpartner mit dem Namen Herr T ist leitender Mitarbeiter einer von der Stadt geschaffenen Pflegeberatungsstelle (CHSS) und circa 40 Jahre alt. Alle Interviews wurden in den jeweiligen Büroräumen der Organisationen geführt. Ziel der Interviews war ein tieferes Verständnis der Problematik der einsamen Tode und der lokalen Gegenmaßnahmen zu gewinnen. Daneben wollte ich einen Überblick über die komplexen Akteurskonstellationen des Feldes erlangen. Hierfür nutzte ich vorbereitete Leitfäden als Orientierungshilfe während der Interviews, versuchte diese jedoch nicht gezwungen abzuarbeiten, sondern über Erzählaufforderungen einen Gesprächsfluss bzw. eine Narration der Interviewpartner herbeizuführen. Während der gesamten Feldforschung vermied ich die Anwendung wissenschaftlicher Konzepte und Kategorien auf die prakti-
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schen Zusammenhänge des Feldes, um möglichst offen und ohne vorgefertigte Hypothesen forschen zu können. Der Gefahr einer eurozentrischen Denkweise versuche ich ferner über die Reflexion meiner eigenen Rolle im Feld bzw. im Forschungsprozess und gerade durch die Betonung interkultureller Übersetzungsprozesse von politischen oder wissenschaftlichen Konzepten zu begegnen.
1.3 D as F eld Mein Forschungsfeld – eine Tokiwadaira Danchi genannte und ab den späten 1950er Jahren erbaute Großsiedlung – befindet sich im östlichen Teil der Stadt Matsudo in der Präfektur Chiba, einer unmittelbar an den nordöstlichen Tokioter Stadtbezirk Katsushika angrenzenden Stadt mit über 480.000 Einwohnern (vgl. Matsudo-shi 2014a). Der geographischen Lage entsprechend ist Matsudo eine wichtige Schlafstadt für die inneren Stadtbezirke Tokios, was auch am enormen Pendlerverkehr am Hauptbahnhof der Stadt Matsudo zu sehen ist. Von dort ist die Tokiwadaira Danchi noch einmal vier Bahnhofsstationen mit der lokalen Shin Keisei-Linie entfernt. Der Begriff danchi beschreibt im Japanischen planmäßig angelegte Wohnbausiedlungen sowie teilweise auch die Wohnhäuser selbst. Hierbei handelt es sich im Besonderen um die in der Phase des hohen Wirtschaftswachstums (ca. 1955-1973) erbauten Siedlungen der 1955 gegründeten japanischen Wohnungsbaugesellschaft (nihon jûtaku kôdan), welche sich später zur UR Agency – der heutigen Vermietungsgesellschaft der Tokiwadaira Danchi – entwickelte.5 5 | Die UR Agency (Urban Renaissance Agency) ist eine im Jahr 2004 als Zusammenschluss der Japan Regional Development Corporation (chiikishinkô seibi kôdan) und der Japan Housing Corporation (nihon jûtaku kôdan) bzw. deren Nachfolgeorganisationen geschaffene Selbstverwaltungskörperschaft (dokuritsu gyôsei hôjin) (vgl. UR Agency 2014a: 33-34). In der Vorkriegszeit existierte bereits eine Vorgängerorganisation namens dôjunkai, welche 1924 nach der Erfahrung des Großen Kantô-Erdbebens 1923
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Abbildung 1: Wohnhaus innerhalb der Tokiwadaira Danchi (eigene Aufnahme)
Die ursprünglich als neue Heimat für junge, nach Tokio pendelnde Angestellte und ihre Kernfamilien geplante Tokiwadaira Danchi ist heute – wie viele andere danchi auch – von Tendenzen der Überalterung, Singularisierung und Pauperisierung betroffen. Gleichzeitig zeichnet sich die Wohnsiedlung durch sehr aktive lokale Organisationen aus, welche den verschiedenen Herausforderungen an die Nachbarschaft mit viel Eigenengagement und Innovationsgeist begegnen. So fielen mir schon beim ersten Besuch Aushänge von zivilgesellschaftlichen Organisationen an einem schwarzen Brett am gegründet und 1941 in die neugeschaffene jûtaku eidan integriert wurde. Letztere wurde im Jahr 1946 durch das GHQ aufgelöst und 1955 in der bereits genannten Japan Housing Corporation wiederbelebt (vgl. u.a. UR Agency 2013; Kuroishi 2014: 236-239).
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lokalen Bahnhof oder verschiedene Schilder auf, welche am Rande der vom Bahnhof wegführenden Hauptstraße zu sehen waren. Wie ich später herausfand, war all dies Teil eines größeren Projekts, welches im Allgemeinen unter der Bezeichnung »Strategien zur Verhinderung von einsamen Toden« (kodokushi zero sakusen) Bekanntheit erlangte. Aus diesem Grund werde ich die lokalen Maßnahmen gegen die einsamen Tode zusammenfassend als kodokushi zero-Projekt bezeichnen. Da sich das Projekt als aus der Bewohnerschaft und somit von unten gewachsene Bewegung verschiedener zivilgesellschaftlicher Organisationen versteht, werde ich zunächst das Akteursnetz des Felds vorstellen. Im Feld wurde das Bild eines bipolaren Systems gefördert, in dem den Bewohnern in ihrer Rolle als Mieter die Vermietungsgesellschaft UR Agency als Vermieter gegenübergesetzt wurde. Die Bewohnerschaft der danchi umfasst circa 7000 Personen. Konkrete Details zur Zusammensetzung der Bewohnerschaft werden im weiteren Verlauf der Arbeit noch ausführlich angeführt. Den Bewohnern gegenüber steht die UR Agency, welche ungefähr 750.000 über ganz Japan verteilte Mietobjekte in Großstädten oder Provinzstädten verwaltet und zudem Großprojekte der Umgestaltung in urbanen Gebieten leitet (vgl. UR Agency 2014a: 2). Die schiere Größe der UR Agency verdeutlicht bereits das enorme Machtungleichgewicht, das zwischen Vermieter und Mietern herrscht. Als Hauptorgan, welches zwischen diesen beiden Polen vermittelt, tritt die örtliche Nachbarschaftsvereinigung – die tokiwadaira danchi jichikai (in der Folge als Jichikai betitelt) – auf. Japanische Nachbarschaftsvereinigungen werden bei Pekkanen (2006: 93) als »vibrant organization[s] engaged in a wide range of community services and activities« charakterisiert. Aufgrund ihres Nutzens für die Anwohner und ihrer Funktion hinsichtlich der Steigerung eines lokalen Sozialkapitals werden sie tendenziell positiv als »grassroots participatory institutions« (Thränhardt 1990: 358) oder als »one of the most trusted social organizations within the local population« (Ogawa 2009: 33) bewertet. Auf der anderen Seite gibt es auch kritische Stimmen, welche die Nachbarschaftsvereinigungen für
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ihr teils enges Verhältnis zur kommunalen Verwaltung (vgl. z.B. Thränhardt 1990: 350; Pekkanen 2006: 106-115) sowie der als »semicompulsory« (Hashimoto 2007: 225) verstandenen Mitgliedschaft kritisieren. Die Aufgaben der bald nach der Eröffnung der Tokiwadaira Danchi gegründeten Jichikai wurden mir im Feld von Herrn N (*) aber eher pragmatisch beschrieben: »Weil man da [zusammen] wohnt, entstehen auch verschiedene Aufgaben. [ …] Die Aufgabe der Müllentsorgung, Fragen der Verbrechensbekämpfung, Aufgaben im Hinblick auf Kindererziehung, Wohlfahrtsaufgaben usw. Daher gründet man in solch einem vertrauten [lokalen] Rahmen Vereinigungen. Und das sind Japans Nachbarschaftsvereinigungen.«
Vor allem die genannten Wohlfahrtsaufgaben, unter welche der Kampf gegen einsame Tode und der Auf bau eines funktionsfähigen nachbarschaftlichen Netzes fällt, nehmen im Falle der Jichikai des Feldes eine große Rolle ein. In diesem Bereich arbeitet die Jichikai eng mit zwei weiteren Organisationen zusammen. Dies ist einerseits das Komitee für soziale Wohlfahrt des Bezirks Tokiwadaira Danchi (in der Folge mit Shakyô abgekürzt), andererseits die Vereinigung der lokalen (ehrenamtlichen) Wohlfahrtsbeauftragten des Bezirks Tokiwadaira Danchi (ab hier Minsei-iin). Das landesweite Netz der Shakyô wurde 1951 auf der Grundlage des Gesetzes zur sozialen Wohlfahrt (shakaifukushihô) durch das GHQ geschaffen, wobei man aufgrund verschiedener Vorläuferorganisationen heute aber von einer über 100-jährigen Geschichte spricht (vgl. Zenshakyô 2015). Nach der Überarbeitung des Wohlfahrtsgesetzes im Jahr 2000 ist das Shakyô als »Hauptakteur zur Förderung des lokalen Wohlfahrtsnetzes« (Fujimoto 2012: 70*) festgelegt, was eine Aufgaben- und Verantwortungszunahme für die Komitees auf Stadt- bzw. Bezirksebene zur Folge hatte (vgl. Shimada/Tagsold 2006: 120-125). Diese untersten Ebenen des ShakyôNetzes werden weiter durch Kommissionen auf präfekturaler und nationaler Ebene ergänzt (vgl. u.a. ebd.: 121). Das Shakyô des Bezirks Tokiwadaira Danchi wurde bereits im Jahr 1996 auf die Initiative
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von schon in der Jichikai oder als Minsei-iin aktiven Anwohnern gegründet (vgl. TKWD Jichikai 2012a: 12). In der Folge wurden in der Stadt Matsudo 14 weitere Bezirkskomitees geschaffen, die unter der Obhut des städtischen Komitees verschiedene Aktivitäten oder Betreuungsdienstleistungen insbesondere für Senioren anbieten (vgl. Matsudo Shakyô 2015). Die Büroangestellten des Shakyô im Bezirk Tokiwadaira Danchi werden dabei von der Stadt bezahlt, obwohl das Shakyô ansonsten der städtischen Verwaltung ausgegliedert ist. Demgegenüber erhalten die Minsei-iin abgesehen von einer kleinen jährlichen Aufwandsentschädigung keine Bezahlung. Denn da sie auf Grundlage des Minsei-iin Gesetzes aus dem Jahr 1948 direkt durch den Minister für Gesundheit, Arbeit und Wohlfahrt für jeweils drei Jahre ernannt werden (vgl. Zenminjiren 2013: 2), wurde die Aufgabe im Feld teilweise als Ehre angesehen.6 Jeder Minsei-iin in der Tokiwadaira Danchi ist für circa 360 Haushalte verantwortlich und soll eine wichtige Rolle im lokalen Wohlfahrtsnetz einnehmen (vgl. Zenminjiren 2013: 6). Die Minsei-iin beraten Senioren, versuchen Einsamkeit oder Isolation unter alleinlebenden Senioren zu verhindern und leiten diese bei Bedarf an Angebote des Shakyô oder an das formelle Sozialversicherungssystem weiter (vgl. u.a. ebd.: 2). Daneben gibt es unterschiedlichen Organisationen angeschlossene Freiwillige (borantia), die Beratungsfunktionen erfüllen oder bei bestimmten Projekten aushelfen können. Auch viele in der Jichikai und dem Shakyô Aktive fallen unter diese Gruppe. Als weiteren wichtigen Organisationstyp auf der lokalen Ebene möchte ich die NPOs (Nonprofit Organizations) vorstellen, welche sich seit der Änderung des gesetzlichen Hintergrunds im Jahr 1998 vermehrt bildeten und die zivilgesellschaftliche Landschaft in Japan dauerhaft veränderten (vgl. Ogawa 2009: 1-6; Reimann 2010). Im Feld war dabei vor allem eine selbstbezeichnete Forschungsgruppe zur Verhinderung weiterer kodokushi – später mit kodokushi zero-NPO 6 | Durch verschiedene Vorläuferorganisationen besitzt jedoch auch das System der Minsei-iin eine fast 100jährige Geschichte (vgl. Zenminjiren 2013: 7).
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abgekürzt – von Bedeutung, da diese von Verantwortlichen anderer Organisationen des Felds als Beratungsorgan und Teil des lokalen kodokushi zero-Projekts gegründet wurde. Bei allen vorgestellten Organisationen fällt die teilweise enge, sich auch auf die Finanzierung der Aktivitäten erstreckende Bindung zu staatlichen Institutionen – wie der Stadtverwaltung – auf. Der Aufbau eines solchen, zu einem großen Teil von freiwilligem Engagement getragenen Wohlfahrtsnetzes auf der kommunalen Ebene spiegelt langfristige Trends der japanischen Sozialpolitik wider, welche mindestens bis in die 1970er Jahre zurückzuverfolgen sind (vgl. Thränhardt 1990: 349), aber sich teilweise an noch älteren Vorbildern orientieren. Derartige Konzepte einer »gesellschaftlichen Partizipation« (shakaisanka) nehmen auch im neuen vom japanischen Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Wohlfahrt (MHLW; jap. kôseirôdôshô) geförderten »System lokaler und inklusiver Betreuung« (chiiki hôkatsu kea shisutemu) eine zentrale Rolle ein. Im Mittelpunkt dieses Systems steht ein örtliches »Center zur Unterstützung lokaler Inklusion« (CHSS), welches unter anderem die Aufgabe hat, pflegebedürftige Senioren an professionelle Pflegedienstleister und Ärzte zu vermitteln. Das CHSS besitzt einen privaten Träger, wohingegen die Angestellten aber von der Stadt bezahlt werden. Insofern reiht sich das CHSS in die Reihe der anderen im Feld präsenten halbstaatlichen Organisationen ein. Dies gilt auch für die auf Initiative der Stadt Matsudo gegründete und heute vom lokalen CHSS geförderte »Altenhilfeversammlung des Bezirks Tokiwadaira« (hiernach Renrakukai), in der sich einige Ärzte und Pflegekräfte zusammengeschlossen haben. Diese diskutieren beispielsweise Einzelfälle und erarbeiten Zukunftsstrategien, wie die professionelle Seite zur Vermeidung einsamer Tode beitragen kann. Als weitere wichtige Akteure im Feld sind zudem der lokale Polizeiposten (kôbansho) und andere in die Maßnahmen gegen einsame Tode miteinbezogene Akteure wie Postboten, der Schlüsseldienst oder Zeitungsverkäufer zu nennen. Hinsichtlich der Beschreibung dieser komplexen Beziehungen zwischen staatlichen Organisationen und lokalen Initiativen bietet
1. Einführung
diese Arbeit Anschluss an jüngere wissenschaftliche Diskussionen zur Entwicklung der japanischen Zivilgesellschaft (vgl. u.a. Schwartz/Pharr 2003; Pekkanen 2006; Avenell 2009; 2010; Ogawa 2009; Reimann 2010), wobei nicht versucht wird, allgemeine Aussagen über Charakteristika der japanischen Zivilgesellschaft zu treffen.
1.4 A ufbau der A rbeit Im zweiten Kapitel werde ich zunächst einige für die weitere Analyse bedeutsame Begriffe und theoretische Hintergründe einführen. Da die Frage der einsamen Tode eng mit Konzepten des (fehlenden) Eingebundenseins des Individuums in größere soziale Gruppen zusammenhängt, werde ich mich dabei vor allem auf eine Diskussion des Begriffspaars Gemeinschaft und Gesellschaft konzentrieren. Beide Begriffe sind stark von der Erfahrung der Modernisierungsprozesse im Westeuropa des 19. Jahrhunderts geprägt und gelangten über verschiedene Übersetzungsprozesse nach Japan, wo sie bedeutsam für die heutige gesellschaftspolitische Debatte um die einsamen Tode sind. Im dritten Kapitel werde ich diese Zusammenhänge durch Beispiele der diskursiven Konstruktion des Wandels einer traditionellen Gemeinschaftlichkeit innerhalb der modernen japanischen Gesellschaft veranschaulichen. In diesem Kontext lege ich den Fokus der Analyse auf die Phase des hohen Wirtschaftswachstums und die Entwicklung der Nachbarschaftsbeziehungen in den damals eröffneten danchi, da dies eine große Bedeutung für das Verständnis der Hintergründe des ausgewählten Felds beinhaltet. Ausgehend von diesen theoretischen Grundlagen der gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Debatte über Japans einsame Tode werde ich im vierten Kapitel auf die Geschichte der Thematisierung des Phänomens in der medialen Berichterstattung und im wissenschaftlichen Rahmen eingehen. Hierbei erkenne ich verschiedene Bedeutungsschübe, welche für das Verständnis der
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heutigen Definitionsproblematik bedeutsam sind. Entwicklungen in der Tokiwadaira Danchi nehmen in diesen Prozessen eine spezielle Rolle ein und erhalten einen dementsprechenden Fokus. Im fünften Kapitel werde ich dann ausgehend von der Problematisierung im Feld die heutige Umstrittenheit des Wortes kodokushi selbst veranschaulichen. Dabei stehen folgende Fragestellungen im Vordergrund: Welche Todesfälle werden in der Praxis als kodokushi definiert und inwiefern unterscheiden sich diese Definitionen von den in den Medien oder in der politischen Verwaltung üblichen Verwendungen des Wortes? Wie kann man diese Unterschiede begründen? Wann werden einsame Tode also zu einem gesellschaftlichen Problem? Ausgehend von diesen Hintergründen beschäftigt sich das sechste Kapitel mit verschiedenen Maßnahmen zur Verhinderung neuer einsamer Tode. Nach einer kurzen Einführung in allgemeine Kategorisierungsversuche dieser Gegenmaßnahmen sowie einer Diskussion der Verantwortungsfrage werde ich das im Feld vorgefundene lokale kodokushi zero-Projekt vorstellen und diskutieren. Der Fokus dieses Kapitels liegt in der Darstellung der Erfolge bzw. Probleme des Projekts und der Zusammenarbeit der vier im Zentrum des Projekts stehenden lokalen Organisationen. Somit wird nicht nur thematisiert, welche Maßnahmen konkret ergriffen werden, um die soziale Isolation älterer Menschen zu verhindern, sondern auch welche Konzepte einer lokalen Gemeinschaft dabei wirksam werden. Dies werde ich durch die Erläuterung der Rolle staatlicher Regierungsstrategien und des neu eingeführten »Systems lokaler und inklusiver Betreuung« ergänzen. In diesem Zusammenhang weise ich auf verschiedene Übersetzungsprozesse und konkrete Problemstellungen hin, die unter anderem im Kontext der Einführung der Pflegeversicherung und des Einflusses supranationaler Institutionen auf die nationale Wohlfahrtspolitik zu verstehen sind. Über diese verschiedenen Beispiele möchte ich im siebten Kapitel auf sich in der Problematik der einsamen Tode manifestierende lokale Regierungspraktiken hinweisen. Mit Regierung meine ich dabei das Zusammenwirken der im Feld indirekt
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wie direkt präsenten Akteure, verschiedener Wohlfahrtsprogramme der staatlichen Verwaltung und Strategien der Selbstdisziplinierung der Subjekte des Felds.
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2. Begriffliche Hintergründe 2.1 G emeinschaft und G esellschaft Als Abe Shinzô im Dezember 2012 zum Premierminister Japans gewählt wurde, trat er mit dem Versprechen an, »Japan wiederherzustellen« (LDP Manifest 2012*). Zwar bezog sich dieser Vergangenheitsbezug vor allem auf die Rückkehr zu alter Stärke im wirtschaftlichen Sinne, doch enthielt das damalige Manifest von Abes Liberaldemokratischer Partei (LDP) auch Visionen von einer »Gesellschaft, in der Familie, Heimat, und die Herzen der Menschen miteinander verbunden sind« (ebd.*).1 In dieser Hinsicht sprach das Parteiprogramm jene Wähler an, die die gegenwärtige japanische Gesellschaft kritisch beurteilten und sich um die Zukunft des Landes sorgten. Diese negative Deutung der Gegenwart umfasste drei Dimensionen, welche den im Wahlprogramm genannten Charakteristika einer Idealgesellschaft diametral gegenüberstehen: das Zerbrechen familiärer Strukturen, der Niedergang von Nachbarschaft und Heimat, sowie eine allgemeine Entfremdung in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Narrative der von Zerfall und Niedergang geprägten Gegenwart wurde über die (implizite) Konstruktion einer weder zeitlich noch inhaltlich genauer beschrie-
1 | Auch der unterlegene Kandidat der Demokratischen Partei Japans und vorherige Premierminister Noda Yoshihiko strebte eine »›symbiotische Gesellschaft‹ an, in der die Menschen miteinander leben und sich gegenseitig helfen« (DPJ Manifest 2012*). Diese Zielsetzung kam jedoch ohne expliziten Vergangenheitsbezug aus und wirkt insgesamt weniger konservativ.
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benen goldenen Vergangenheit ermöglicht, welche Abe und die LDP wiederherstellen wollten. Eine derartige Idealisierung der Vergangenheit zum Zwecke einer nostalgischen Gegenwartskritik scheint in Japan unabhängig von Parteizugehörigkeit relativ weit verbreitet zu sein, sodass ich während meiner Feldforschung auch auf der Ebene des Alltagslebens mit ganz ähnlichen Argumentationsmustern konfrontiert war. Diese bezogen sich meist auf mit bestimmten Schlagwörtern belegte Gemeinschaftskonzepte, wozu insbesondere idealisierte Vorstellungen der traditionellen japanischen Familie oder des typisch japanischen Dorfes gehörten. Beispielsweise interpretierte auch das lokale Projekt die wachsende Zahl einsamer Tode als Ergebnis von strukturellen Veränderungen wie »der mit der Urbanisierung einhergehenden Ausdünnung der Nachbarschaftsverhältnisse« oder »der allgemeinen Ausbreitung der Kernfamilie« (TKWD Shakyô 2013a: 30*). Die einsamen Tode werden in derartigen Argumentationen somit als negative Folge von Modernisierungsprozessen der japanischen Nachkriegszeit erklärt. In den folgenden Kapiteln möchte ich diese Narrative von Wertewandel und Zusammenbruch der primären Gruppenzugehörigkeiten rekonstruieren und tiefer analysieren. Dabei wird immer wieder zwischen den drei Ebenen »Feld«, »mediale, öffentliche Diskussion« und »wissenschaftliche Fachebene« gewechselt. Auf diese Weise nähere ich mich dem Diskurs, der die oben angedeuteten narrativen Muster bedient. Dies ist insofern komplex, da sich in der Diskussion um Japans einsame Tode verschiedene diskursive Stränge treffen, welche Dichotomisierungen wie Tradition und Moderne, Japan und Westen, Land und Stadt, oder Kollektiv und Individuum nutzen. Interessanterweise haben alle diese Gegensatzpaare dabei eine zeitliche Dimension gemein, da sie eine in der Regel positiv gedeutete Vergangenheit voraussetzen, welche dem Urzustand einer reinen japanischen Kultur nahe gewesen sein soll. Diese narrativen Muster sind jedoch nicht auf den japanischen Fall beschränkt. Robert D. Putnam (2000: 24) bezeichnet sie bezogen auf das Beispiel der US-amerikanischen Gesellschaft als »de-
2. Begriffliche Hintergründe
clensionist narratives«. Hierbei handele es sich um »debates about the waxing and waning of ›community‹ [that] have been endemic for at least two centuries« (ebd.). Derartige Argumentationsmuster, in denen sich die Angst vor einem Werteverfall und vor dem Verlust gemeinschaftlicher Strukturen ausdrückt, würden regelmäßige Hochphasen durchlaufen und in ähnlicher Form in vielen Gesellschaften vorkommen (vgl. ebd.). Sie scheinen dabei häufig in Verbindung zu intergenerationalen Konflikten oder generellen Gefühlen der Nostalgie zu stehen. Im historischen Prozess der ökonomischen, politischen und sozialen Revolutionen in Europa und den USA ab dem 18. Jahrhundert wird die Narrative der niedergehenden Gemeinschaftlichkeit jedoch in eine Art »Metaerzählung« (vgl. Lyotard 1993) der Moderne eingebettet. Die Entstehung der Soziologie ist Bestandteil oder Ergebnis dieser gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse, weshalb wissenschaftliche Arbeiten und gesellschaftspolitische Diskussionen noch heute von oben genannten Begriffen wie Tradition und Moderne bestimmt werden. Auch außereuropäische Gesellschaften begannen über die Rezeption dieser Theorien früh damit, sich selbst in dieses westlich geprägte Entwicklungsverständnis einzuordnen, wofür die Begrifflichkeiten der frühen Modernisierungstheorie übersetzt und teilweise angepasst wurden. Bevor die diskursive Konstruktion einer vergangenen japanischen Idealgesellschaft bzw. ihres Zerfalls in der jüngeren Vergangenheit analysiert werden kann, erscheint es daher notwendig, zunächst einige Grundbegriffe und ihre Verwendung in dieser Arbeit zu erläutern. Im Zentrum der Thematik stehen die Beziehungen des Einzelnen zu seiner sozialen Umwelt, mit welcher er unterschiedliche Kollektive formen kann. Dies ist eng mit der Frage verbunden, wodurch die Integration des Einzelnen in das Kollektiv gewährleistet wird und welche Ursachen und Folgen ein Scheitern derartiger Integrationsmechanismen haben kann. Die Begründer der Soziologie unterschieden zur Beantwortung dieser Kernfragen der Disziplin zwischen zwei Haupttypen von Kollektiven. Bei Ferdinand Tönnies (vgl. 1912: 3) heißen diese Kollektive Gemeinschaft und Gesellschaft. Eine Gemeinschaft zeichne sich durch
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»reales und organisches Leben« (ebd.) aus, da sich die einzelnen Mitglieder an einem gemeinsamen übergeordneten Ziel orientieren würden. Demgegenüber sei eine Gesellschaft eine »ideelle und mechanische Bildung« (ebd.), bei der der Einzelne die Verbindung zur Erfüllung eines individuellen Zieles nutze. Max Weber (1976: 21) fügte dieser Unterscheidung eine weitere Dimension hinzu, indem er die Gemeinschaft als auf »subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten« zurückgehendes Kollektiv mit der auf »rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessenausgleich« beruhenden Gesellschaft kontrastierte. Insofern denke ich, dass die Gemeinschaft bei beiden Klassikern eher als eine emotional begründete und natürlich gewachsene Verbindung verstanden wird. Dagegen erscheint die Gesellschaft kühler und künstlicher. Sie stellt ein Kollektiv dar, das von den Einzelnen geschaffen wurde und von ihnen genutzt wird, um individuelle Ziele zu erreichen. Daher wird die Gemeinschaft entsprechend ihrer engen und vertrauten Art der Bindung bei Tönnies und Weber als ursprünglichere Form des menschlichen Zusammenlebens dargestellt. Beispiele für diese Arten der Gruppenzugehörigkeit sind die Familie, die Nachbarschaft oder auch die Dorfgemeinschaft. In dieser Hinsicht wird deutlich, dass der Begriff der Gemeinschaft eher für ein vorindustrielles Zusammenleben verwendet wird, während die Gesellschaft kennzeichnend für die moderne westliche Zivilisation sein soll.2 Der historische Wandel zur Gesellschaft ist insofern eng mit der Durchsetzung von Vorstellungen über die kapitalistische Produktion verbunden, weshalb die Gesellschaft als ein am Markt orientiertes Kollektiv rational agierender Individuen verstanden wird.
2 | Natürlich gibt es auch alternative Verwendungen, wie z.B. bei Marx und Engels, bei denen die Begriffe zwar nicht systematisch verwendet werden, die Gemeinschaft aber nicht nur historische Vorläufer der bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch das Ideal des klassenlosen Zusammenlebens in der Zukunft bezeichnen kann (vgl. Shimada 1996: 276-277).
2. Begriffliche Hintergründe
Vor dem Hintergrund dieses Geschichtsverständnisses stellt das Begriffspaar Gemeinschaft und Gesellschaft ein Kernelement der klassischen Modernisierungstheorien dar (vgl. Brock 2011).3 Diese gehen davon aus, dass die natürlich gewachsenen menschlichen Beziehungen der Gemeinschaft in der Moderne immer stärker anonymisiert, abstrahiert und letztlich in gesellschaftliche Beziehungsmuster gewandelt wurden, weshalb sie eine klare »Epochenunterscheidung zwischen Moderne und Vormoderne« (ebd.: 26) beinhalten. Die modernen Gesellschaften würden dabei wissentlich mit ihren frühen Traditionen brechen (vgl. ebd.: 161), was über wirtschaftliche, politische, strukturelle und soziale Veränderungen zu einer »Herauslösung des Individuums aus traditional weitergegebenen askriptiven Bindungen« (Langenohl 2007: 17) führe. Somit zeigt sich in den klassischen Modernisierungstheorien – genau wie in den von diesen ausgehenden Schriften – eine klare Unterscheidung in Moderne und Vormoderne, welche sich auch in den Begriffen Gesellschaft und Gemeinschaft widerspiegelt. Die Vormoderne und die hiermit verbundene Konzeption von Tradition wird dabei tendenziell mit Rückständigkeit gleichgesetzt und somit negativ bewertet. Daneben scheint das Begriffspaar auch in kulturvergleichender Perspektive eine wertende Konnotation zu enthalten. Denn schon die klassischen Modernisierungstheoretiker erkannten die Moderne als alternativlos an (vgl. u.a. Brock 2011: 161) und sahen voraus, dass sich die modernen Gesellschaften einander angleichen würden. Diese Konvergenzannahme wurde von späteren Modernisierungstheoretikern weiter betont (vgl. Alexander 1994; Langenohl 2007: 19ff) und insbesondere im Zuge der Globalisierungsdebatte und nach dem Ende des Realsozialismus aufgegriffen (vgl. z.B. Fukuyama 1989; 1992). In einem wertenden Sinne hieße dies, dass alle Gesellschaften, die noch nicht den Status der (nord-)westeuro3 | Als klassische Modernisierungstheoretiker nennt Brock (vgl. 2011) Émile Durkheim, Georg Simmel und Max Weber, sowie die zeitlich gesehen jüngeren Talcott Parsons und Niklas Luhmann.
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päischen und nordamerikanischen Gesellschaften erreicht haben, in einem vormodernen und rückständigen Stadium verharren würden. Nicht zuletzt aufgrund dieser eurozentrischen Perspektive wurde aus unterschiedlichen Richtungen versucht die Modernisierungstheorie zu überwinden. Hierzu zählen Theoretisierungen über nicht-westliche Arten von Modernisierungsprozessen (vgl. u.a. Murakami et al. 1979; Ishihara/Mahathir 1994), das Erkennen der Existenz verschiedener, nicht-konvergenter Modernen in der Gegenwart (vgl. u.a. Eisenstatt 2000; Schwinn 2009) oder die Ersetzung von universalistischen und homogenisierenden Annahmen durch die Betonung von kulturellen Unterschieden (vgl. u.a. Huntington 1993; 1996). Somit wird ersichtlich, dass die Verwendung der Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft eine gewisse Umsicht erfordert, um die Wiederholung von teilweise problematischen Argumentationsmustern aus den klassischen Modernisierungstheorien zu vermeiden. Dies gilt umso mehr, da viele weitere soziologische Grundbegriffe aus dem späten 19. bzw. frühen 20. Jahrhundert an die Dichotomisierung zwischen Vormoderne und Moderne anschließen. Dies kann exemplarisch anhand von Émile Durkheims Konzeption der Solidarität veranschaulicht werden. Durkheim (vgl. 1977: 170-172) unterscheidet zwei Typen von Solidarität. Mechanische Solidarität entstehe in weniger gegliederten, als segmentär bezeichneten Gesellschaften und werde durch gemeinsame Werte, Traditionen und Sanktionen getragen. Demgegenüber könne sich organische Solidarität erst in über eine komplexe Arbeitsteilung organisierten, sogenannten nicht-segmentären Gesellschaften bilden, da sie ein Bewusstsein der Individuen für die neu entstandenen gesellschaftlichen Interdependenzen erfordere (vgl. ebd.). Die Gegenüberstellung dieser Solidaritätskonzepte macht deutlich, dass auch Durkheim die Unterscheidung zwischen einem archaischen Kollektivismus und einem modernen Individualismus voraussetzt. Laut Shimada und Tagsold (2006: 43) habe eben diese Dichotomie zwischen traditionellen oder gar primitiven Gemeinschaftswesen und individualistischen oder fortschrittlichen Ge-
2. Begriffliche Hintergründe
sellschaften für »lange Zeit die Perspektive der Moderne und die des Kulturvergleichs« geprägt. Das Bild der Vormoderne fand man dabei entweder in der eigenen Vergangenheit oder in den vormodernen Ländern der östlichen bzw. südlichen Peripherie (vgl. u.a. Shimada 1996: 280-281). Die westliche Moderne wurde hingegen als Endpunkt oder bisheriger Höhepunkt der menschlichen Zivilisation aufgefasst. Dies ist die erste Dimension von Zeit, welche der Unterscheidung zwischen Moderne und Vormoderne immanent ist. Die Trennung in traditionelle und moderne Gesellschaften ist dabei immer mit einer Wertung verbunden. Bevor ich dies um eine zweite Dimension von Zeit erweitere, möchte ich die bisherigen Erkenntnisse zum Umgang mit der Modernisierungstheorie in Bezug auf das Beispiel der japanischen Gesellschaft anwenden.
2.2 D ie B edeutung der M odernisierungs theorie im F alle J apans Für die Problematisierung Japans einsamer Tode ist der Bezug zur Zivilisations- oder Modernisierungstheorie in zweierlei Hinsicht unvermeidlich. Zunächst war Japan vor allem im 19. Jahrhundert, aber auch bis in die Gegenwart Zielscheibe der westlichen Fortschrittsund Modernisierungstheorien. So wurde die japanische Kultur in verschiedenen Zusammenhängen exotisiert und Japan tendenziell als vertikal organisierte Gesellschaft, in der das Kollektiv wichtiger als der Einzelne sei, dargestellt. Abhängig vom historischen Kontext der Veröffentlichungen wurden derartige Zuschreibungen jedoch nicht ausschließlich negativ gewertet (vgl. z.B. Benedict 1946; Kreiner 1990; Aoki 1996). Im Anschluss an diese Fremdzuschreibungen ist darüber hinaus auch die japanische Selbsteinordnung vom westlichen Zivilisationsgedanken geprägt, so dass die normative Unterscheidung zwischen traditioneller Rückständigkeit und modernem Fortschritt in vielen Theoretisierungen über die eigene Kultur und Gesellschaft aufgenommen wurde. Daher waren insbesondere die Anfänge der japanischen Soziologie von den
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Schwierigkeiten der Übersetzung und Übernahme der westlichen Begrifflichkeiten gekennzeichnet (vgl. Shimada 2007: 52-55). Insofern verwundert es nicht, dass auch die heutige Debatte um Japans einsame Tode von modernisierungstheoretischen Vorstellungen bestimmt ist. Dies bezieht sich im Besonderen auf die Übernahme der klaren Trennung in Vormoderne und Moderne. Aufgrund der verbreiteten Interpretation der Moderne als Entfremdung von einer ursprünglichen japanischen Kultur wurde die Vormoderne dabei oftmals idealisiert, was ich später ausführlicher aufgreifen werde. Mit der Wiederaufnahme dieses Argumentationsmusters der Entfremdung können auch gegenwärtige Entwicklungen kritisiert werden. Zudem weisen bereits viele der gesellschaftspolitisch relevanten Begriffe selbst klare Bezugspunkte zu ursprünglich westlichen Konzeptionen von Moderne und Vormoderne auf. In dieser Hinsicht lassen sich verschiedene Übersetzungsprozesse und -problematiken vermuten. Die Gesellschaft wird im Japanischen heutzutage in der Regel mit dem Wort shakai bezeichnet. Das Wort shakai findet in der Alltagssprache jedoch nur eingeschränkte Verwendung (vgl. Shimada 1996: 265) und geht auf Übernahmen aus dem westlichen wissenschaftlichen Kontext im 19. Jahrhundert zurück (vgl. ebd.: 265-266; Yanabu 1991).4 In der japanischen Übersetzung von Ferdinand Tönnies’ fundamentaler Unterscheidung wurde shakai gar zur Grundlage beider Kernkonzepte: die Gemeinschaft als »zusammenarbeitende Gesellschaft« (kyôdôshakai) gegenüber der Gesellschaft als »Interessengesellschaft« (riekishakai) (vgl. u.a. Yoneyama 1996: 18ff). Da beide Begriffe mit dem Wort shakai beschrieben werden, sind sowohl Gemeinschaft als auch Gesellschaft als verschiedene Typen von shakai zu verstehen. Das Wort shakai wirkt im Japanischen demnach unbestimmter als die deutsche »Gesellschaft« oder die englische »society«. Daher wird shakai heutzutage auch in Zu4 | Statt shakai wurde zuvor vor allem der buddhistisch geprägte Begriff seken als eine eher allgemeine Beschreibung des menschlichen Zusammenlebens verwendet (vgl. Abe 1992: 5-32).
2. Begriffliche Hintergründe
sammensetzungen wie »Dorfgemeinschaft« (murashakai) oder »lokale Gemeinschaft« (chiikishakai) verwendet. Für eine deutlichere Abgrenzung von shakai kann die Gemeinschaft auch mit dem Ausdruck kyôdôtai bezeichnet werden. Die in kyôdôtai verwendeten Schriftzeichen beschreiben dabei so etwas wie einen »kooperierenden Körper«. Zwar evoziert der Begriff somit das Bild einer engen, ursprünglichen Verbindung zwischen Menschen mit geteilten Wertanschauungen, jedoch soll auch er auf wissenschaftlich und politisch motivierte Übersetzungsprozesse des späten 19. Jahrhunderts zurückgehen (vgl. Shimada 1996: 271; Scheiner 1998). Trotz dieser relativ inkonsequent wirkenden Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft im Japanischen, erinnert die Gegenüberstellung von shakai auf der einen und kyôdôtai auf der anderen Seite in vielerlei Hinsicht an die Unterscheidung in den klassischen, deutschsprachigen soziologischen Werken. Diese konzeptuellen Ähnlichkeiten zwischen den deutschen Begriffspaaren und ihren japanischen Entsprechungen finden dabei auch in der gesellschaftlichen Verhandlung der Problematik der einsamen Tode Anwendung, da der Diskurs die Unterscheidung einer traditionellen japanischen Gemeinschaft von der modernen Gesellschaft voraussetzt. Weil die japanische Moderne in Japan selbst jedoch auch als etwas von Außen Erzwungenes und damit im Sinne einer Entfremdung aufgefasst werden kann, entsteht ein komplexeres Bild, in dem die vormoderne Gemeinschaft zum ursprünglich Japanischen und die moderne Gesellschaft zu etwas Fremdem wird. In dem Anglizismus komyuniti zeigt sich jedoch eine zweite, auf einen anderen historischen Ursprung zurückgehende Übersetzung der westlich geprägten Idee von Gemeinschaftlichkeit. Diese offensichtliche, weil direkte Entlehnung aus der englischen Sprache tritt – in verschiedenen Verwendungsweisen – vor allem seit den 1960er Jahren auf und orientiert sich dabei an amerikanischen und englischen Modellen (vgl. Ôhashi et al. 2006: 53). Der Begriff wurde später von Seiten der japanischen Regierung erfolgreich etabliert, um ein sich durch freiwilliges Engagement und Eigenverantwortlichkeit auszeichnendes lebendiges lokales Netz einzufordern (vgl.
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Schmidtpott 2009: 17). Als chinesische Schriftzeichen nutzende Übersetzung von community existiert darüber hinaus der Begriff chiiki, welcher in dem Wort chiiki fukushi das »lokale Wohlfahrtssystem« beschreibt.5 Die zuletzt genannte Kombination habe seit den 1970er Jahren vor allem ausgehend von englischen Vorbildern in verschiedenen Verwendungsweisen über Elitendiskurse Eingang in japanische Wohlfahrtsdebatten erhalten (vgl. Ôhashi et al. 2006: 4; 10-11) und sich schließlich ab den 1990er Jahren – unterstützt durch Entscheidungen der supranationalen Politik (vgl. ebd.: 9) – im Sinne einer »lokalen Fürsorge, die kommunale Selbstverwaltung und die Aktivität der Bewohner selbst betont« (ebd.: 37*) etabliert. Die Ankunft und spätere Bedeutungswandlung dieses community-Konzeptes spiegelt eine Entwicklung wider, die Nikolas Rose (vgl. 2000) bezogen auf alle hoch entwickelten Industriestaaten als Zurückweichen der Gesellschaft zugunsten einer wiedererstarkten lokalen Gemeinschaft beschreibt. In den 1960er Jahren »als mögliches Gegengift gegen die Einsamkeit und Isolierung des Einzelnen in der ›Massengesellschaft‹« (ebd.: 80) konzipiert und über Expertendiskurse ausgebreitet, habe sich das Gemeinschaftskonzept laut Rose heutzutage als staatliche Regierungstechnik etabliert, die er »Regierung durch Community« (ebd.: 81) nennt. Diese Regierungsmethode der Gemeinschaft setze dabei ein aktives, autonomes und eigenverantwortlich handelndes Individuum voraus (vgl. ebd.: 8384) und ist eng mit jenen postmodernen Programmen des Regierens verknüpft, die Rose als »fortgeschritten liberal«6 (ebd.: 77) bezeichnet. Gemeinschaft wäre in diesem Sinne ein Teil von in der 5 | Chiiki ist dabei eigentlich ein recht heterogen verwendeter Ausdruck, der Gebiete von ganz unterschiedlicher Größe beschreiben kann, für diese jedoch ein gewisses Maß an Eigenständigkeit und Solidarität zwischen den Bewohnern voraussetzt (vgl. Ôhashi et al. 2006: 50). 6 | Mit der Formulierung »fortgeschritten liberal« versucht Rose die Problematik der Heterogenität der unter dem Prädikat »neoliberal« zusammengefassten Regierungstechniken sowie die oftmals polemische Verwendung des Wortes »neoliberal« an sich zu umgehen (vgl. Rose 2000: 77).
2. Begriffliche Hintergründe
Regel als neoliberal kritisierten Herrschaftstechniken und somit äußerst modern, und nicht mehr vormodern. Die Existenz zweier derart unterschiedlicher oder gar widersprüchlicher Konzepte von Gemeinschaft wurde auch bezogen auf die Thematik der einsamen Tode deutlich, was ich in der Folge wiederholt aufgreifen werde. Insgesamt zeigt sich, dass westlich geprägte Konzepte von Gemeinschaft und Gesellschaft über mehrere Übersetzungsprozesse nach Japan gelangten und dort heute in verschiedenen Kontexten genutzt werden. In ihrer jeweiligen Anwendung können die unterschiedlichen theoretischen Ursprünge dabei vermischt und von vorherigen Bedeutungszusammenhängen gelöst werden. In dieser Hinsicht kann ein in heutigen Regierungsprogrammen vorgeschlagenes Gemeinschaftskonzept durchaus an die in komplexen Austauschprozessen seit dem 19. Jahrhundert nach Japan gelangten Modernisierungstheorien erinnern. Vor diesem Hintergrund möchte ich die Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft im weiteren Verlauf der Arbeit gewinnbringend nutzen. Voraussetzung dafür ist jedoch eine reflektierte Verwendung der Begriffe, die die jeweiligen konzeptuellen Ursprünge beachtet und insbesondere die statischen Komponenten oder normativen Nuancen der klassischen Modernisierungstheorien überwindet. Bezogen auf die zuletzt genannte Problematik denke ich, dass moderne Gesellschaften sowohl den »rational institutionalistischen Aspekt« (Shimada/ Tagsold 2006: 47), der beispielsweise in Tönnies’ Konzeption von Gesellschaft oder in Durkheims Begriff der organischen Solidarität anklingt, als auch den »emotionalen Aspekt des Zusammengehörigkeitsgefühls« (ebd.) umfassen, welcher Ausgangspunkt der Konzepte von Gemeinschaft oder mechanischer Solidarität ist. Beide Aspekte sind miteinander verschränkt und verbunden, weshalb die statische Gegenüberstellung der Konzepte meiner Ansicht nach unnötig wird. Im folgenden Abschnitt soll dies anhand des Beispiels der Rolle von Vergangenheitsbezügen oder Traditionen in modernen Gesellschaften verdeutlicht werden.
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2.3 Ü berwindung der V ormoderne - M oderne -D ichotomie Das Konzept der Gemeinschaft wurde im Laufe der modernen Geschichte immer wieder instrumentalisiert und politisch besetzt. Vor allem im Zusammenhang des Nationenbildungsprozesses wurde versucht, den Gemeinschaftsbegriff und assoziierte Vorstellungen einer ursprünglichen, emotionalen Verbundenheit auf den größeren, nationalen Rahmen auszubreiten. Der nationalsozialistische Begriff der Volksgemeinschaft spiegelt auf abschreckende Art wider, wie weit eine solche ideologische Verwendung des Begriffes gehen kann. Benedict Anderson (1983) bezeichnete dieses Prinzip der Übertragung von Gemeinschaftskonzepten auf den größeren Rahmen der modernen Nation als »vorgestellte Gemeinschaft«, womit die Untrennbarkeit der Begrifflichkeiten Gemeinschaft und Gesellschaft erneut verdeutlicht wird. Die Natürlichkeit und Authentizität der konstruierten Gemeinschaft kann dabei über »erfundene Traditionen« legitimiert werden (vgl. Hobsbawm/Ranger 1983; Giddens 1997: 123; Vlastos 1998: 1-3). Moderne Gesellschaften zeichnen sich demnach durch ein ambivalentes Verhältnis zur Vergangenheit aus. Sie entwickeln sich über deutliche Brüche mit alten Strukturen und grenzen sich dabei offen von der Vergangenheit ab. Talcott Parsons nennt in diesem Zusammenhang eine industrielle, eine demokratische (politische), sowie eine Bildungsrevolution, durch die die Grundlagen der neuen Ordnung hergestellt würden (vgl. Parsons 1972; Brock 2011: 90). Gleichzeitig ist jedoch zu beachten, dass moderne Gesellschaften das im Zuge der Nationalstaatsbildung neu geschaffene oder neu begründete Kollektiv über gemeinsame Vergangenheitsbezüge legitimieren. Die konstruierte gemeinsame Vergangenheit schafft eine für die Identitätsbildung der Mitglieder des Kollektivs bedeutsame historische Kontinuität und wird so zur ideologischen Grundlage für eine Vielzahl von Modernisierungsprozessen (vgl. z.B. Renan 1882; Anderson 1983; Gellner 1991; Hobsbawm 1992). Der japanische Sozialwissenschaftler Kimio Itô (1998: 38) fasst dies wie
2. Begriffliche Hintergründe
folgt zusammen: »[…] modernization always involves the invention of new traditions to stabilize itself«. In dieser Hinsicht eröffnet sich ein widersprüchliches Bild der Moderne, da sie sich einerseits von der Vergangenheit abgrenzt, andererseits ihre Legitimation aus der Vergangenheit schöpft. Sie ist zugleich Bruch und Fortführung. Oder mit den zuvor eingeführten Begrifflichkeiten ausgedrückt: Die moderne Gesellschaft grenzt sich von der vormodernen Gemeinschaft ab, definiert sich aber gleichzeitig als deren legitime und ununterbrochene Nachfolgerin. Je nach Kontext wird mal die Modernität des Kollektivs betont, mal werden gemeinschaftliche Elemente in den Vordergrund gerückt. Die Bipolarisierung in moderne Gesellschaften einerseits und traditionale Gesellschaften andererseits erscheint somit zumindest verwirrend, wenn nicht verkürzend. Diesen Widerspruch kann man als zweite Dimension von Zeit verstehen, welche über die Unterscheidung in Moderne und Vormoderne ausgedrückt wird. Übertragen auf den Begriff der Tradition hieße dies, dass Tradition entweder epochal als abzugrenzender Kontrast zur Moderne oder als Fortführung von etwas Altem in der Moderne interpretiert werden könne. Andreas Langenohl (2007: 34-35) versucht daher, den Gegensatz zwischen Tradition und Moderne im Anschluss an Anthony Giddens aufzulösen: »Die Dichotomie traditional vs. modern wird von Giddens […] von der zwischengesellschaftlichen und evolutionären auf die innergesellschaftliche Ebene verschoben. In jeder sozialen Ordnung muss es demnach traditionale Elemente geben, weil gerade auch modernisierte Gesellschaften ihre eigenen, modernen Traditionen geschaffen haben, die unter den Bedingungen reflexiver Modernität zum Problem werden können. Giddens’ Unterscheidung zwischen Tradition und Moderne ist unproblematisch, weil sie in erster Linie eine repräsentationale ist: es geht nicht um die Frage, ob Traditionen existieren oder nicht, sondern wie sie dargestellt und zur Geltung gebracht werden.«
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Langenohl nutzt in diesem Zusammenhang einen Traditionsbegriff, der sich vom Alltagsgebrauch des Wortes deutlich absetzt. Er setzt Traditionen mit den »kulturellen Grundlagen der Gesellschaft« (ebd.: 38) gleich, so dass auch in der Moderne etablierte Strukturen – wie bestimmte demokratische Regierungsformen, die Nationalökonomie oder der Rationalismus – als Traditionen begriffen werden können. Eine Tradition muss demnach nicht mehr unbedingt etwas Altes sein, auch wenn die oberflächliche Legitimität einer Tradition durch ihr vermeintliches Alter möglicherweise ansteigen kann. Nach Langenohl würden sich Traditionen in der modernen Gesellschaft somit »zum normativen Maßstab von Modernisierungsprozessen und gleichzeitig selber zum Gegenstand der kritischen Auseinandersetzung« (ebd.) entwickeln. So werden sie einerseits als unverzichtbares Element gesellschaftlicher Modernisierungen – gar als Ausdruck dafür, ob eine Gesellschaft als modern zu bezeichnen ist – angesehen, andererseits können sie in der Folge selbst in Frage gestellt werden. In dieser Hinsicht können Traditionen, sobald sie kontestierbar werden, zum Ausgangspunkt gesellschaftlicher Konflikte werden.
2.4 Tr adition und G emeinschaft im gegenwärtigen D iskurs Auch im gegenwärtigen japanischen Diskurs um den Zerfall lokaler und familiärer Gemeinschaftlichkeit und die daher steigenden Zahlen von einsamen Toden stehen Traditionen in ganz ähnlicher Weise im Zentrum der Thematik. Denn die kritische Deutung der genannten gesellschaftlichen Entwicklungen wird über die Konstruktion idealisierter Gemeinschaften in der Vergangenheit erreicht. Ob diese Idealgemeinschaften wirklich existiert haben oder ob sie in Zukunft wirklich wiederbelebt werden können, erscheint hierbei weniger bedeutsam. Vielmehr möchte ich aufzeigen, auf welche Weise die Vergangenheitsbezüge jeweils genutzt werden und wie einzelne Begriffe dabei inhaltlich gefüllt werden. Denn die Vergan-
2. Begriffliche Hintergründe
genheit wird in der Regel als Ursprung gemeinsamer kultureller Grundlagen konstruiert, mit bestimmten Werten verknüpft und so zum Objekt möglicher politischer Instrumentalisierungen gemacht. Irwin Scheiner (1998: 67) schreibt dazu etwas verallgemeinernd: »over the past several decades Japanese have shown a vast capacity to create an idealized past«. Diese Idealisierungen der eigenen Vergangenheit werden weiter als ideologische Basis für gegenwärtige Konzeptionen japanischer Kultur oder des japanischen Staats genutzt (vgl. ebd.). Die verschiedenen Vergangenheitsbezüge würden dabei auf gemeinsamen Grundannahmen basieren, was in vielerlei Hinsicht problematisch sei: »All of these efforts share an attempt to reify images of Japan as a community united by elemental themes of race and spirit and culture. All of these interpretations emphasize the group, group effort, and the ethical, cultural, and class homogeneity of Japanese people. Such a characterization ignores the problematic of the past, its authoritarianism and status hierarchy, and inevitably suppresses the role of conflict.« (Ebd.: 68)
Diese Probleme werden auch im gegenwärtigen Diskurs sichtbar, der sowohl auf Konzepte eines traditionell japanischen Verwandtschafts- oder Familiensystems als auch auf die Besonderheit der dörflich geprägten Gemeinschaft verweist. Im Gegensatz zu der Narrative der allgemeinen Zerstörung von traditioneller Gemeinschaftlichkeit durch die Moderne wird im japanischen Fall somit weniger universalistisch argumentiert, sondern auf eine speziell japanische und traditionelle Art der Vergemeinschaftung verwiesen. Diese Vergangenheitsbezüge setzen ein statisches, regional nicht differenziertes Bild der Entwicklung der japanischen Gesellschaft voraus und sind eng mit der Konstruktion von Japanizität oder der Idee einer homogenen japanischen Kultur verknüpft. Die Konstruktion dieser japanischen Gemeinschaftlichkeit bezieht sich aber nicht nur auf eine ferne Vergangenheit der Vorkriegszeit und Vormoderne, sondern auch auf die historisch nähere Phase des hohen Wirtschaftswachstums in den 1960er Jahren, wel-
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che von heutigen Rentnern unmittelbar erlebt wurde. Wie ich später zeigen werde, wirken jedoch auch in der zuletzt genannten Idealisierung oder Glorifizierung ältere Diskursstränge, da die moderne japanische Gesellschaft bereits ab der Frühphase des Modernisierungsprozesses mit dem Rekurs auf die traditionelle Gemeinschaft charakterisiert wurde. Hierbei wurden vor allem kollektivistische Traditionen oder eine besondere Neigung der Japaner zu speziellen Konzepten von Harmonie betont, womit in der Regel politische Ziele verfolgt wurden (vgl. u.a. Itô 1998). In diesem Zusammenhang wird ersichtlich, dass sich das Konzept der Gemeinschaft in Japan lange Zeit – und in gewisser Weise bis heute – nicht auf die Vormoderne bezog, sondern in Abgrenzung von der fremden westlichen Moderne zur Konstruktion eines gegenwärtigen Selbst herangezogen wurde. Dieser Diskursstrang spiegelt sich noch in der heutigen Diskussion wider, wenn die japanische Gesellschaft hinsichtlich des Verlusts ihres gemeinschaftlichen Charakters kritisiert wird. Im Zentrum dieses Konstruktionsprozesses stehen heute verschiedene Begriffe für als traditionell verstandene soziale Beziehungen der Japaner. Neben auch im Alltag gebräuchlichen Wörtern wie kankei oder tsunagari wird der Diskurs vor allem durch das Schriftzeichen 縁 geprägt, welches en – teilweise auch enishi oder yukari – gelesen werden kann. Bei en handelt es sich um ein sehr altes, buddhistisch geprägtes Konzept, welches eine auf einen bestimmten Anlass zurückzuführende Beziehung oder eben diesen Anlass umschreibt und von Schmidtpott (2009: 182) als »schicksalhafte Verbundenheit« übersetzt wird. Demnach wird mit dem Wort en ausgedrückt, dass Menschen aufgrund einer bestimmten Fügung des Schicksals miteinander verbunden sind und in Beziehungen zueinander stehen. Der Bedeutungsverlust dieser traditionellen Beziehungsmuster in der modernen japanischen Gesellschaft kann Ishida et al. (vgl. 2010: 217) zufolge entweder positiv als Befreiung aus der Enge vormoderner Rückständigkeit oder negativ als Niedergang von auf affektiven Bindungen beruhenden Netzwerken interpretiert werden. Hieran können entsprechend wertende Deutungen von Ge-
2. Begriffliche Hintergründe
meinschaft bzw. Gesellschaft und später besprochenen Konzepten von Individualisierung anschließen. In der gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Debatte, die das heutige Japan unter anderem als »Gesellschaft ohne soziale Beziehungen« (muenshakai) erklärt, werden dabei drei Formen von en vorausgesetzt, welche verschiedene historische Hochphasen erlebt haben sollen. Dies sind erstens die »en des Blutes« (ketsuen), womit verwandtschaftliche Beziehungen gemeint sind, zweitens die »en des Ortes« (chien), also nachbarschaftliche Beziehungen, sowie drittens die »en der Firma« (shaen), was heutzutage auf die Beziehungen des Arbeitsplatzes bezogen wird. Diese Dreiteilung wird von fast allen Diskursteilnehmern kritiklos übernommen (vgl. u.a. NHK 2010: 24; Tachibanaki 2011; Gojokyôkai 2012: 12), weshalb ich mich in meiner Analyse ebenfalls hieran orientieren werde.7 Die jeweilige Analysetiefe richtet sich jedoch nach der Bedeutung der jeweiligen Konzepte im Feld, weshalb der Analysefokus auf der diskursiven Konstruktion der Nachbarschaftsbeziehungen in der Phase des hohen Wirtschaftswachstums liegen wird.
7 | Andere Autoren ergänzen alternative Formen sozialer Beziehungen, welche ich an späterer Stelle anführen werde (vgl. Ichijô 2011: 41; Gojokyôkai 2012: 18; 72).
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3. Die moderne Konstruktion traditionell japanischer Gemeinschaftlichkeit 3.1 V erwandtschaftsbeziehungen (ketsuen) : D as B eispiel des ie -S ystems Die Familie wird in vielen Kulturen als Hort von Vertrautheit, emotionaler Nähe und Geborgenheit angesehen und ist daher ein offensichtliches Beispiel für das Konzept der Gemeinschaft. Sie wird im Allgemeinen für jeden Menschen vorausgesetzt, weshalb die familiären Beziehungen als genuin oder unverfälscht betrachtet werden (vgl. z.B. Ishida 2011: 15). Dennoch kann sich die Struktur und die gesellschaftliche Rolle der Institution der Familie in verschiedenen Gesellschaften erheblich unterscheiden, was wiederum zu kulturalistischen Argumentationen führen kann (vgl. Lützeler 1996: 2). Im japanischen Fall wurde in dieser Hinsicht seit Gründung des modernen Nationalstaats immer wieder betont, dass die moderne japanische Gesellschaft sehr harmonisch und von traditioneller Gemeinschaftlichkeit geprägt sei. Für diese Übertragung des Konzeptes der traditionellen Familie auf den größeren Rahmen der modernen Gesellschaft wurde von verschiedenen Seiten auf die Institution des ie (家) verwiesen. Das Wort ie wird in der Regel einfach mit »Haus« übersetzt, jedoch ist zu beachten, dass es sich um einen semantisch nicht eindeutig zu klärenden Begriff handelt, der die folgenden Bedeutungsebenen umfassen kann (vgl. u.a. Shimada 1994: 134f; Sakata 2013). Zunächst bezeichnet der Begriff das Haus als Ort, also das
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konkrete Gebäude sowie teilweise auch den dazugehörigen Grundboden. Zweitens kann der Begriff auch die im Haus lebenden Personen umfassen, d.h. die Familie, die mit dem Ort verbunden ist. Weiter ausgeweitet kann das Haus dabei nicht nur die gegenwärtigen Mitglieder, sondern auch deren Ahnen umfassen, sodass das ie drittens eine genealogische Linie bezeichnet und im Zusammenhang mit entsprechenden kulturellen bzw. religiösen Praktiken zu verstehen ist. Die Wurzeln dieser breiteren Konzeption des ie sollen in Familien- und Erbformen des Kriegerstandes aus der Edo-Zeit (1603-1868) liegen (vgl. z.B. Tachibanaki 2011: 132). Als traditionelle Familienform aller Japaner wurde das ie-System (ie-seido) jedoch erst im Jahr 1898 mit Einführung des modernen Zivilrechts institutionalisiert.1 Aus diesem Grund sei es nach Shimada (2007: 56) als »modernes Konstrukt« zu verstehen, welches vor dem Hintergrund der Nationalstaatsbildung im 19. Jahrhundert aufgebaut worden sei. Interessanterweise wurde das ie-System schon im Kontext seiner Einführung als expliziter Gegensatz zum westlichen Individualismus begriffen und mit der Notwendigkeit des Schutzes vor mit den Modernisierungsprozessen einhergehenden Gefahren der Zerstörung von traditioneller Gemeinschaftlichkeit begründet (vgl. ebd.: 59). In dieser Hinsicht erscheine das ie als »vergangenheitsbezogene Zentrierung« (Shimada 1994: 139) mit dem Ziel der Etablierung einer von oben entworfenen Nationalideologie und ließe sich als »erfundene Tradition« im Sinne von Hobsbawm und Ranger interpretieren (vgl. Shimada 1996: 270). Die Einbindung des Konzepts
1 | Schon über die 1872 umgesetzte Etablierung des einheitlichen und zentralen Bevölkerungserfassungssystems ( jinshin koseki) wurde die Familie anstatt zuvor üblicher nachbarschaftlicher Systeme als kleinste Verwaltungseinheit bestimmt (vgl. Shimada 1994: 138f; Tachibanaki 2011: 136). Mit der offiziellen Institutionalisierung des ie im Jahr 1898 wurde dann ein System etabliert, in dem die einzelnen Familienmitglieder gesetzlich durch den Hausvorstand (koshu) vertreten wurden, weshalb das System oft als paternalistisch kritisiert wird (vgl. u.a. Sand 1998: 19).
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in die größere staatliche Narrative der ungebrochenen, kaiserlichen Dynastie bestätigt diesen Eindruck: »Das Kaiserhaus, das in Japan über Jahrhunderte seit seiner Begründung in ununterbrochener genealogischer Folge regiert habe, stelle das Stammhaus der Nation dar, von dessen Ahnen sich letztlich alle einzelnen Häuser ableiteten. […] Ie […] und Staat waren somit Einheiten, die auf demselben hierarchischen Strukturprinzip beruhten und organisch miteinander verbunden waren.« (Neuss-Kaneko 1997: 92-93)
Das ie-System ist demnach als Teil der allgemeinen Konstruktion japanischer Traditionalität im Zuge der modernen Nationenbildung zu verstehen, bei der einerseits wissenschaftliche Diskurse aus dem Westen angenommen oder angepasst wurden und andererseits heterogene Praktiken der familiär oder lokal geprägten Ahnenverehrung zu einem staatlichen Ritualsystem mit der Verehrung der kaiserlichen Familie im Zentrum vereinheitlicht wurden. Diese äußerst komplexen Übersetzungs- und Konstruktionsprozesse sind dabei von der Interaktion des Eigenen gegenüber dem Fremden sowie der Idee der Unterscheidung in eine gemeinschaftlich geprägte Vormoderne und eine moderne Gesellschaft bestimmt (vgl. Shimada 1996: 270-271). Im Ergebnis möchte ich das ie als politisches Konzept verstehen, das den besonderen gemeinschaftlichen Charakter der modernen japanischen Gesellschaft verkörpern sollte. In der Nachkriegszeit sei die Auffassung des ie als traditioneller japanischer Familienform dann durch weitere Übersetzungsprozesse verstärkt worden: »Diese Institution [das ie], die aus dem Übersetzungsprozess hervorging, wird daraufhin durch eine erneute Übersetzung nach 1945, durch die die europäische bürgerliche Familie als Ideal und Vorbild dargestellt wurde, mit der negativen Konnotation der Rückständigkeit beladen und gewinnt die Bedeutung von Traditionalität.« (Shimada 1994: 143)
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Entgegen dieses erneuten Übersetzungsprozesses der unmittelbaren Nachkriegsjahre, der das ie in einem negativen Sinn als etwas Vormodernes darstellte, wurde es in der Phase des hohen Wirtschaftswachstums wiederholt herangezogen, um den Erfolg der japanischen Wirtschaft über kulturalistische Argumentationen zu erklären (vgl. z.B. Nakane 1967; Murakami et al. 1979). Das ie diente hier als allgemeines Organisationsmuster für unterschiedliche Arten von Kollektiven innerhalb der japanischen Gesellschaft und wurde so vom verwandtschaftlichen Bezug getrennt (vgl. auch Aoki 1996: 85-90). Insofern behielt das ie als Konzept einer speziell japanischen Art der Vergemeinschaftung in der modernen Gesellschaft weiter eine große diskursive Bedeutung. Dies zeigt sich auch im aktuellen Diskurs, wenn die einsamen Tode unter anderem als Ergebnis des Rückgangs von Dreifamilienhaushalten (sansedaidôkyo) und der allgemeinen Ausdünnung familiärer Sozialbeziehungen interpretiert werden. Diese Prozesse werden dabei nicht als plötzlich eintretende Veränderungen, sondern als graduelle Entwicklungen verstanden. So wird die Nachkriegszeit als Zeit der Kernfamilie (kakukazoku) bestimmt, aus der sich später Prozesse der Singularisierung (tanshinka) abgeleitet hätten. Der bekannte japanische Soziologe Yamada Masahiro kontrastiert daher ein bis zur Nachkriegszeit existentes »Gemeinschaftszeitalter« (kyôdôtai jidai) mit einem hiernach beginnenden »Kernfamilienzeitalter« (kakukazoku jidai) (Gojokyôkai 2012: 66).2 Neben dem veränderten gesetzlichen Hintergrund 3 sowie der beschleunigten Industrialisierung und Urbanisierung begründen die meisten Autoren dieses Aufkommen der Kernfamilie mit einem einsetzenden Einstellungs- und Wertewandel. Denn durch einen sich ab den 2 | Diese vereinfachte »family nuclearization hypothesis« wird an anderen Stellen jedoch kritisiert und durch komplexere Theoretisierungen über den Wandel der Haushaltszusammensetzung ersetzt (vgl. Kato 2013). 3 | So wurde das institutionalisierte ie-System während der US-amerikanischen Besatzung im Jahr 1947 durch das GHQ aufgelöst (vgl. Fukutake 1980: 38ff; Neuss-Kaneko 1997: 93).
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1960er Jahren ausbreitenden Konsumismus hätten sich vor allem junge Japaner in den Großstädten immer stärker an US-amerikanischen Lebensstilmustern orientiert (vgl. u.a. Kato 2013: 5). Morioka Kiyomi (2012: 172*) folgend führte dies zu einer Zerstörung der Familien- und Dorfreligiösität, weshalb er bezogen auf die Kernfamilien von einer »Säkularisierung der Familie« spricht. Dieser Verlust der zumeist ortsgebundenen Religiosität hängt darüber hinaus eng mit der langfristigen Verlagerung vom primären auf den sekundären und tertiären Wirtschaftssektor zusammen. Dieser führte zu einer »großflächigen Bevölkerungswanderung« (MLIT 2005*), welche ihren Höhepunkt in den 1960er und frühen 1970er Jahren fand und tendenziell bis heute andauert (vgl. ebd.). Hierbei verließen vor allem junge Japaner aus den ländlichen Peripherien ihre Heimatdörfer, um in den urbanen Zentren wirtschaftlichen wie kulturellen Anschluss zu finden. Dies bezog sich in der Anfangsphase insbesondere auf die in der patriarchalischen Erbfolge weniger beachteten jüngeren Söhne (vgl. z.B. Lützeler 2008: 64; Dusinberre 2012: 119ff).4 Die Städte wurden dabei zu einer Projektionsfläche für Träume von Freiheit und neuen Möglichkeiten der Lebens- und Arbeitsgestaltung (vgl. Shimada 2011: 76). Für Shimada Hiromi (vgl. 2011: 25) drückte sich in den Wünschen dieser jungen Stadtbevölkerung der besondere Zeitgeist der damaligen Übergangsperiode aus.5 Denn die sich in den urbanen Räumen bildenden Kernfamilien hätten sich fundamental vom Charakter der Großfamilien des ländlichen Raums unterschieden:
4 | In der frühen Nachkriegszeit wurde die Gesellschaft zudem durch die große Zahl an Rückkehrern aus ehemaligen Kolonien und Kriegsgebieten vor weitere Herausforderungen gestellt (vgl. Dower 1999: 48ff). 5 | Shimada Hiromi (2011: 25f) nennt die 1960er und 1970er eine Zeit vor »Kontrollgesellschaft« (kanrishakai) und Materialismus, da Studentenbewegungen und politische Gruppierungen gegen diese Entwicklungen ankämpften und hierfür auf sogenannte »Orte der Freiheit/Asyl-gewährende Orte« (muenjo) zurückgreifen konnten.
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»Die städtische Familie [hier: ie] unterscheidet sich in großem Maße von der Familie auf dem Land. Sowohl die verwandtschaftlichen als auch die nachbarschaftlichen Beziehungen sind schwächer und eine mehrere Familien umfassende Gemeinschaftlichkeit existiert im Grunde genommen nicht. Die Besonderheit der Kernfamilie im städtischen Raum besteht nicht nur darin, dass sie sich bloß aus wenigen Mitgliedern zusammensetzt, sondern vor allem darin, dass sie für sich allein existiert.« (Shimada 2011: 66*)
Somit ist nicht nur die Anzahl der Familienmitglieder im Falle der Kernfamilie kleiner als bei dem auf dem Land damals weiterhin verbreiteten Mehrgenerationenhaushalt. Auch der die Familie einbettende soziale Rahmen scheint in der Stadt kleiner zu sein. Denn im Gegensatz zum dörflichen Kontext sollen weniger soziale Verpflichtungen existiert haben, weshalb sich eine neue Privatheit der Kernfamilie bilden konnte.6 Weiter Shimada (2011: 66*) folgend gebe es in der Stadt »keine Notwendigkeit, die Zustimmung der gesamten Gemeinschaft gewinnen zu müssen.« Und genau diese Freiheiten würden »den Reiz des Lebens in der Stadt« (ebd.*) ausmachen. Meine Erfahrungen im Feld bestätigen diese positive Haltung gegenüber dem »Kernfamilienzeitalter«. Denn entgegen der allgemeinen gesellschaftspolitischen Debatte, die das anonymisierte Leben in der Großstadt und verkleinerte soziale Netze durch den Trend zur Kernfamilie beschreibt, wurde mir die Anfangsperiode nach dem massenhaften Einzug in die danchi als eine von funktionierenden Nachbarschaftsnetzen und lokaler Harmonie geprägte Zeit dargestellt. Als Grundlage dieser Gemeinschaftlichkeit wird dabei interessanterweise die lokale, dörflich geprägte Gemeinschaft bzw. ein von ihr ausgehendes Ideal der städtischen Nachbarschaft konstruiert. Da die heutigen Hauptakteure im Kampf gegen die einsamen Tode enorm von der Erfahrung dieser Gemeinschaftlichkeit in der Zeit des hohen Wirtschaftswachstums geprägt sind, ist es wenig verwunderlich, dass der Verweis auf die Großfamilie 6 | Dies wurde zudem vom Aufkommen neuer westlich geprägter Wohnkonzepte unterstützt, welche ich im folgenden Kapitel vorstellen werde.
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im Feld kaum anzutreffen war. Anstatt einem größeren familiären Rahmen scheint stattdessen dem nachbarschaftlichen Netz für ein funktionierendes soziales Zusammensein eine entscheidende Bedeutung eingeräumt zu werden. Das soll nicht bedeuten, dass die Konzeption eines traditionellen japanischen Familienbildes überhaupt keine Rolle gespielt habe; zumal es auch im Feld Versuche gab, Bindungen zwischen Kindern und Eltern wiederzubeleben oder Gefühle der verwandtschaftlichen Verantwortlichkeit anzusprechen. Jedoch betonen vor allem die Nachbarschaftsvereinigung und deren Schwesterorganisationen den Wiederauf bau des lokalen Netzes als Hauptmittel gegen soziale Isolation von Alten und einsame Tode. Daher soll die These der japanischen Dorfgemeinschaft und ihrer Weiterführung in den danchi im folgenden Kapitel ausführlich thematisiert werden. Hierbei ist interessant zu sehen, wie sehr das Argumentationsmuster bezüglich der nachbarschaftlichen Bindungen dem der verwandtschaftlichen Beziehungen ähnelt, so dass der Eindruck entsteht, dass man es mit einem immer wieder auftauchenden historischen Vergleich zu tun habe.
3.2 N achbarschaftsbe ziehungen (chien) 3.2.1 Konzeptionen einer japanischen Nachbarschaftsgemeinschaft Als die japanische Nordostküste am 11. März 2011 von einer aus Erdbeben, Tsunami und AKW-Unfall bestehenden Dreifachkatastrophe getroffen wurde, betonte die deutsche Berichterstattung vielfach die scheinbar gelassene Reaktion der Mehrzahl der Japaner. Dies wurde als kulturelle Besonderheit verstanden, wofür oftmals auf »das Leben in einer Agrargesellschaft, in der das Grundnahrungsmittel Reis nur von der Gruppe angebaut werden konnte« (Focus Money Online 2011), verwiesen wurde. Dieser Umstand sei für »das Leben in der Gemeinschaft« (ebd.) bis heute prägend und könne als Grundlage für die heutige Gruppenorientierung und den gelas-
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senen Umgang mit Naturkatastrophen interpretiert werden. Natürlich wirkt diese Theorie extrem verkürzend und muss in vielerlei Hinsicht angezweifelt werden. Taranczewski (1992: 30) beschreibt jedoch, dass Stichwörter wie »Reisbauernkultur« und »japanische Agrargemeinde« immer wieder als Ursprung für die angebliche Harmonie in der heutigen japanischen Gesellschaft herangezogen und somit »ideologisch ausgebeutet« (ebd.) wurden. »Die Idee von der gemeinsamen Herkunft als Reisbauern« (Tagsold 2013: 69) werde dazu genutzt, »die japanische Gesellschaft an und für sich zu erklären« (ebd.).7 Hierbei wird Japan aus der Eigen- wie Fremdansicht exotisiert, idealisiert und essentialisiert, wobei gesellschaftliche Differenzen zugunsten eines holistischen Bilds übersehen werden. Denn natürlich waren weder alle Japaner Reisbauern – de facto trifft dies nicht einmal für alle Bauern zu – noch stellte Reis stets das Hauptnahrungsmittel auf den japanischen Inseln dar (vgl. hierzu u.a. Ohnuki-Tierney 1993: 30-43; Cwiertka 2006: 10). Dennoch scheint die These des besonderen kulturellen Erbes einer Reisbauern-Gesellschaft eine enorme Strahlkraft zu besitzen, sodass der populäre Diskurs auch in Japan selbst von ganz ähnlichen Argumentationsmustern geprägt ist. Besonders vor dem Hintergrund der Krisenstimmung der letzten Jahre, die eine wachsende gesellschaftliche Desintegration befürchtet, kommt der Idealisierung und nostalgischen Verklärung der japanischen Dorfgemeinschaft eine besondere Aufgabe zu. Die Dorfgemeinschaft wird hier zum Bezugspunkt für ein harmonisches gemeinschaftliches Zusammenleben, das jedoch durch – in Teilen durch äußere Einflüsse initiierte – Modernisierungsprozesse zerstört wurde. Ähnliche Argumentationen wurden auch während der Feldforschung sichtbar, 7 | Entgegen dieser eher populärwissenschaftlich anmutenden Theorien existieren auch Versuche der wissenschaftlichen Überprüfung einer »Reistheorie« (Dönges 2014), die – nicht auf das japanische Beispiel begrenzt – versucht, kollektivistische Tendenzen von Kulturen auf den eine starke kollektive Zusammenarbeit voraussetzenden Reisanbau zurückzuführen (vgl. z.B. Talhelm et al. 2014).
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als Herr N im Interview die Bedeutung der lokalen Gemeinschaft im Japanischen durch einen Rekurs auf das Schriftzeichen für »Nachbarschaft« (隣; tonari) erläuterte. Dabei stellte er die verschiedenen Bestandteile des Schriftzeichens vor und erläuterte, dass die einzelnen Bedeutungen dieser sogenannten Radikale zusammen die Bedeutung des Wortes »Nachbarschaft« ergäben: »Deswegen [heißt Nachbarschaft dem Schriftzeichen zufolge], dass man im selben Dorf wohnt, zusammen gutes Essen isst, und [die Anderen dich] begraben, wenn du dort verstorben bist. Dies ist die Grundlage von Gemeinschaftlichkeit [komyuniti] in Japan. Daher denke ich, dass die Bauern das seit jeher so gemacht haben.« (Interview Herr N*)
Für Herrn N scheint diese aus dem Schriftzeichen gelesene Bedeutung der Beweis für die Existenz einer japanischen Form von nachbarschaftlicher Gemeinschaft zu sein, welche sich von anderen nicht-japanischen Gemeinschaftskonzepten unterscheidet. Diese japanische Art der Gemeinschaftlichkeit wird als kulturelles Erbe eines landwirtschaftlich geprägten Ursprungszustands der japanischen Gesellschaft dargestellt. Interessanterweise wurde auch im Interview mit Herrn T (*) die Konstruktion einer speziellen japanischen Form von nachbarschaftlicher Gemeinschaftlichkeit deutlich: »Was die Einstellungen zu den Nachbarn angeht, so gab es in Japan früher das Wort mukôsangenryôdonari, nach dem man mit den in der Nähe wohnenden Menschen gut bekannt war und einander half. Diese Art von Nachbarschaft kam sehr oft vor.«
Ähnlich wie zuvor das Schriftzeichen für »Nachbarschaft«, wird hier auf einen bestimmten historischen Begriff verwiesen, der als Beweis für eigene japanische Nachbarschaftskonzepte genutzt wird. Dabei muss darauf hingewiesen werden, dass das Wort mukôsangenryôdonari (向こう三軒両隣) zwar mit Hilfe chinesischer Schriftzeichen geschrieben werden kann, diese jedoch zum Teil japanisch
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– und nicht ausschließlich sinojapanisch – gelesen werden. Somit wird möglicherweise die Nuance eines ursprünglich japanischen, die reine kulturelle Identität der Japaner unmittelbar berührenden Konzepts transportiert. Inhaltlich bezieht sich das Konzept auf die guten Beziehungen zu den zwei benachbarten sowie den drei gegenüberliegenden Häusern. Genauer erklärt wird das Konzept jedoch selten. Stattdessen wird es – wie das zuvor erwähnte tonari – mit Stichworten wie »gegenseitige Hilfe« oder »gute Bekanntschaft« in Verbindung gebracht. Was macht also jene japanische Dorfgemeinschaft aus, auf die der populäre Diskurs sowie die Akteure im Feld immer wieder Bezug nehmen? In der Literatur wird an mehreren Stellen auf verschiedene Gemeinschaftskonzepte verwiesen, welche auf dem mittelalterlichen Dorfleben in Japan basieren sollen. Insbesondere werden dabei die Konzepte yui und kô genannt (vgl. z.B. Onda 2006; Chiiki Seisaku Kenkyûkai 2009; Gojokyôkai 2012: 59). Yui bezeichnet Systeme der gegenseitigen Hilfe, welche auf größere gemeinsame Arbeiten im Dorf zurückgehen. Dies betrifft beispielsweise das Reispflanzen (ta-ue), die Reisernte (ine-kari), oder das Dachdecken mit Schilf (yane-fuki). Das Konzept bezieht sich folglich auf Arbeiten, die alleine nur schwer verrichtet werden können oder wo der Verzicht auf gegenseitige Hilfe ökonomisch nur wenig sinnvoll erscheint. Grundlage – oder Nebenprodukt – von yui ist die Existenz von gemeinsamen Gütern, hier unter anderem Bewässerungskanäle und Rohstoffe wie Wasser oder Brennholz. Daneben werden auch die verbindenden Effekte der gemeinsam ausgeführten Arbeiten betont, da diese oftmals mit Festessen, Gesangs- und Tanzdarbietungen verbunden wurden. Insofern blieb die Zusammenarbeit nicht auf die gemeinsame Arbeit beschränkt, sondern umfasste auch kulturelle Komponenten.8
8 | Als weitere Konzepte der gegenseitigen Hilfe aus dem landwirtschaftlichen Kontext werden in der Literatur beispielsweise moyai, temagae und tetsudai genannt (vgl. z.B. Fukutake 1980: 67).
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Während bei yui Arbeitsgemeinschaften unter Nutzung von common goods ein gemeinsames Ziel erreichen wollen, handelt es sich beim zweiten Konzept kô um die Bildung von Kollektiven zur Kontrolle individueller Risiken und Unsicherheiten (vgl. hierzu Nakano 1992; Sasaki/Tokue 2009: 11; Seisaku Kenkyûkai 2009: 5-6). Ursprünglich bezeichnete kô als buddhistischer Begriff das religiöse Studium. Im Laufe des japanischen Mittelalters wurde er jedoch auch immer mehr für die Kennzeichnung kleiner Glaubensgemeinschaften verwendet. Auf der einen Seite handelte es sich dabei um lokale Zusammenschlüsse von Gläubigen, die sich formten, um die Schreine lokaler Schutzgottheiten instand zu halten. Derartige Gemeinschaften konnten sich jedoch sowohl von ihrer Größe auf das ganze Dorf als auch von ihrem Aufgabenbereich über den religiösen Bereich hinaus weiter entwickeln. Unabhängig von diesem lokalen Bezug wurden jedoch auch Glaubensgemeinschaften, die den Besuch von heiligen Stätten im ganzen Land zum Ziel hatten, mit dem Begriff kô (bzw. sanpaikô) bezeichnet.9 Hieraus sollen sich schließlich andere Varianten von kô entwickelt haben, die anstelle von religiösen Angelegenheiten wirtschaftliche und finanzielle Unsicherheiten in den Vordergrund rückten. Beispiele sind Aktivitäten der Armenhilfe und verschiedene Formen der Kreditgenossenschaft wie mujinkô oder tanomoshikô. Dabei sei »Gleichheit als Grundprinzip unter den Mitgliedern« (Chiiki Seisaku Kenkyûkai 2009: 6*) festgelegt gewesen. In heutigen gesellschaftspolitischen Debatten werden sowohl kô als auch yui oft als »Wurzel japanischer Sozialfürsorge« (ebd.*) oder als »Ursprung des [heutigen] ehrenamtlichen Engagements« (Ichijô 2011: 109*) bezeichnet. An einer anderen Stelle bezeichnet Ichijô beide Konzepte gar als »Systeme, die den Japanern am meisten entsprechen, und die am ehesten mit der Seele der Japaner im 9 | In diesem Zusammenhang entwickelten sich auch Prinzipien des Schreinbesuchs für jemanden anderen (daisankô), wodurch Risiken und Kosten der teilweise langen und gefährlichen Reisen unter den Mitgliedern der religiösen Gemeinschaft aufgeteilt wurden.
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Einklang sind« (Gojokyôkai 2012: 59*). Spätestens über diese Formulierung wird deutlich, wie die Dorfgesellschaft zur Essenz der japanischen Kultur stilisiert wird. Regionale Unterschiede, aus dem Ständesystem resultierende Differenzen sowie Besonderheiten bestimmter historischer Epochen werden dabei nicht beachtet. In dieser Hinsicht erscheint die Theorie der Reisbauerngesellschaft als »romantischer Mythos« (Shimada/Tagsold 2006: 72), da »die Ableitung einer besonderen Gruppenorientierung Japans aus der vorgestellten Idylle des Reisbauerndorfes wissenschaftlich nicht haltbar« (ebd.: 72-73) ist. Auch die mögliche Verbindung zwischen dem heutigen Wohlfahrtsstaat und älteren Gemeinschaftskonzepten wie yui und kô, welche in der japanischsprachigen Diskussion oftmals angeführt und von politischen Entscheidungsträgern in Japan teilweise aktiv bedient wird, scheint in der internationalen Wissenschaft wenig Anklang zu finden. So relativiert der Politikwissenschaftler Gregory Kasza (2006: 112) dies im Hinblick auf die ab den 1970er Jahren proklamierte »Wohlfahrtsgesellschaft japanischer Prägung« (nihongata fukushi shakai): »Traditional culture has had but a modest impact on welfare policy making, and there is little evidence here that would justify referring to a Japanese-style welfare society.« Trotz dieser klaren Formulierung wird gerade in den japanischsprachigen Sozial- und Geschichtswissenschaften vielfach versucht, Kontinuitäten zwischen vormodernen und gegenwärtigen Formen der nachbarschaftlichen Gemeinschaftlichkeit zu finden (vgl. Schmidtpott 2009: 19). Tachibanaki Toshiaki (2011: 134*) nennt beispielsweise das gohosei aus der Nara-Zeit (710-794) und das goningumi aus der EdoZeit, welche als »Anfang nachbarschaftlicher Sozialbeziehungen« bis in die Moderne nachwirken würden. Jedoch handele es sich bei beiden Konzepten um von den damaligen Regierungen installierte Verwaltungssysteme, welche primär administrative Tätigkeiten auf der lokalen Ebene übernehmen sollten (vgl. ebd.: 135). In der Folge möchte ich zeigen, wie diese von oben implementierten Nachbarschaftskonzepte genau wie die Ideen einer von unten gewachsenen Dorfgemeinschaft schon während früher Modernisierungsprozesse
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in den Rahmen einer traditionell japanischen Gemeinschaftlichkeit und in das Konstrukt einer nationalen Idee eingebettet wurden. In dieser Hinsicht beschreibt Schmidtpott (vgl. 2009: 21), dass die Idee der Dorfgemeinschaft bereits während der schnellen Urbanisierungswellen in der Meiji-Zeit (1868-1912) einfach auf die städtische Nachbarschaft übertragen wurde. Die in diesem Zusammenhang gebildeten Nachbarschaftsvereinigungen hätten dadurch bis heute die Konnotation eines traditionellen nachbarschaftlichen Zusammenschlusses bewahrt und können als Ausdruck der These von »urban neighbourhoods as village communities« (Schmidtpott 2012: 126) herangezogen werden: »Although most neighbourhood associations were established in the 1920s and clearly are a phenomenon of the modern Japanese city, the idea that neighbourhood associations are an expression of a strong sense of community prevalent in Japanese urban neighbourhoods since premodern times […], or that Japan has a ›long and vital tradition of local self-help and strong neighbourhoods‹ […] still remains widely accepted.« (Ebd.: 125)
Schmidtpott (vgl. 2012: 143f) geht der Etablierung der Nachbarschaftsorganisationen in der Folge über zeitgenössische Quellen der Vorkriegszeit nach und stellt sie als unter Konflikten erarbeitete Projekte lokaler Eliten und staatlicher Akteure anstatt als harmonische Zusammenschlüsse von unten dar. Bereits in den 1920er Jahren wurden die Nachbarschaftsvereinigungen demnach als Ausdruck von auf traditionellen Werten basierenden Nachbarschaftsbeziehungen propagiert, was eine Wurzel der noch heute existenten »fiction« (ebd.: 143) von traditionellen Dorfstrukturen in modernen Städten darstellen würde. Die Einführung der städtischen Nachbarschaftsmodelle sei vor allem als pragmatischer Schritt zu verstehen, den enormen Herausforderungen der urbanen Frage zu begegnen (vgl. Pekkanen 2006: 104; Schmidtpott 2009: 46-54).10 Die rea10 | Unter die Herausforderungen der urbanen Frage (toshi mondai) in Japan nach der Meiji-Restauration fallen erstens infrastrukturelle Probleme
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le Ausprägung der nachbarschaftlichen Hilfe habe sich dabei von Schicht zu Schicht bzw. von Wohnumfeld zu Wohnumfeld stark unterschieden (vgl. Schmidtpott 2009: 55-73). Mitglieder unterer sozialer Schichten seien in der Vorkriegszeit aufgrund finanzieller Engpässe regelrecht dazu gezwungen gewesen, sich gegenseitig zu helfen (vgl. ebd.), wodurch das auf eine gemeinsame kulturelle Basis verweisende Konzept des traditionell geprägten Nachbarschaftslebens als politisches Projekt erscheint. Denn mögliche Kehrseiten oder Gefahren der Modernisierung und Verwestlichung wurden in Japan schon früh diskutiert (vgl. z.B. Shimada 2007: 59-60), weshalb für Problemlösungsstrategien nicht nur auf fremde Vorbilder, sondern auch auf eigene, als japanisch empfundene Konzepte aus der Vergangenheit geblickt wurde. So wurden unter anderem konfuzianische Werte re- bzw. neukonstruiert oder Elemente von Verwaltungstechniken aus der Edo-Zeit aufgenommen und reaktiviert (vgl. z.B. Goodman 1998: 140-142). So wie die Konzeption der städtischen Nachbarschaftsgemeinschaft ist ferner auch die Narrative der besonderen japanischen Dorfgemeinschaft als während des Modernisierungsprozesses entstandenes Konstrukt zu verstehen. Dusinberre (2012: 137) findet in den Jahren 1880 und 1929 erste »furusato booms«, womit er die in der populären Kultur thematisierte Sehnsucht nach der Reinheit, Wärme und Ursprünglichkeit des ländlichen Heimatdorfes umschreibt. Das Wort furusato bezeichnet hierbei die ländlich geprägte Heimat und wird als konzeptueller Gegenentwurf zur Stadt verwendet. Diese Idealisierung des ländlichen Raumes war dabei von der Realität sehr weit entfernt, da diese auf dem Land eher von Hunger, (Straßen, Wasserversorgung, Abfallentsorgung), die durch den enormen Bevölkerungszuwachs und den anhaltenden, oftmals konjunkturabhängigen Wandel der Bevölkerungszusammensetzung verstärkt wurden, zweitens hieraus entstehende Probleme wie Epidemien oder Großbrände, drittens durch die Auflösung der Stadtgemeinschaften der Edo-Zeit ausgelöste administrative Schwierigkeiten, und viertens die wachsende Armut und Kriminalität (vgl. Schmidtpott 2009: 40-55).
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Überlebenskampf, enormen Preisschwankungen, Unruhen, Migration und Unfreiheiten gekennzeichnet war (vgl. Fukutake 1980: 15ff, 75; Neuss-Kaneko 1997: 94; Shimada 2011: 53f). Dass das Leben auf dem Land und die dort angeblich zu findende vormoderne Gemeinschaftlichkeit im Diskurs trotzdem idealisiert wurden, kann als Beweis für die Wirksamkeit jener »declensionist narratives« dienen, welche bei Putnam (2000: 24) als ewiger Begleiter des Modernisierungsprozesses erscheinen. Im japanischen Fall fällt jedoch auf, dass vergleichbare Narrativen die Moderne oftmals als etwas Fremdes verstehen und die gewünschte Rückkehr zur vormodernen Gemeinschaft mit der Konnotation einer reinen Japanizität und der Abkehr von ausländischen Einflüssen verbinden. In dieser Hinsicht beschreibt Tadashi Fukutake (1980: 17) die Idealisierung des ländlichen Lebens in Abgrenzung vom westlich geprägten Stadtleben als »Ideologie der Bauerngesellschaft« (nôhonshugi), in der der landwirtschaftliche Bezug »at the very core of everything in the nation« platziert wurde. Diese Tendenz sei zwar schon in vormodernen Epochen auffindbar gewesen, jedoch sei sie ab dem späten 19. Jahrhundert zu einem ständigen Begleiter des japanischen Modernisierungsprozesses geworden (vgl. ebd.). Die gelungene Fortführung der traditionellen Gemeinschaftlichkeit grenzt in diesem Denken die japanische Moderne vom westlichen Modell ab, da sie den westlichen Fortschritt mit japanischen Besonderheiten verbinden kann. Laut Fukutake (1980: 17-18) sei hiermit vor allem die Etablierung einer nationalen Ideologie, welche über reale Ungleichheiten hinwegsah, verfolgt worden: »Nôhonshugi inherited, and […] exploited, the tradition of the feudal class system which ranked the farmer second only to the samurai. […] It was clearly a retrogressive ideology that disguised the contradictions within rural society. What made it effective was the indoctrination program by the prewar government’s intent to develop an imperialist state under the emperor system.«
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Durch die Faschistisierung der japanischen Gesellschaft in den 1930er und 1940er Jahren wurden diese Tendenzen der politischen Instrumentalisierung von vermeintlich traditionell japanischen Familien- und Nachbarschaftskonzepten sicherlich abermals verstärkt (vgl. u.a. Willensky 2005; Schmidtpott 2009: 139-172). Jedoch findet diese historische Phase im heutigen populären Diskurs nur wenig Beachtung. Stattdessen werden oftmals durch die Kriegsniederlage sowie die folgende Besatzungszeit verursachte Brüche in der japanischen Gesellschaftsgeschichte betont. Ichijô (2011: 216*) schreibt gar, dass erst »durch die Kriegsniederlage die Netzwerke gegenseitiger Hilfe in der japanischen Gesellschaft zusammenbrachen«. Dies wird zumeist mit den von der US-Besatzung initiierten Reformen des gesetzlich-institutionellen Rahmens sowie mit einem vom modernen, US-amerikanischen Lebensstil beeinflussten Mentalitätswandel in Zusammenhang gebracht. Dieser Einschätzung Ichijôs entgegengesetzt wurde die in der Nachkriegszeit folgende Phase des hohen Wirtschaftswachstums im Feld nicht primär als Zeit eines Niedergangs sozialer Bindungen interpretiert – so wie ich dies im vorangegangenen Kapitel bereits bezogen auf Familie gezeigt habe. Stattdessen möchte ich am Beispiel der ab den 1950er Jahren erbauten danchi-Wohnsiedlungen veranschaulichen, wie die 1960er und 1970er Jahre als Hochzeit für neu gefundene Formen der persönlichen Entfaltung und individuellen Freiheit angesehen werden. Die danchi stehen in diesem Zusammenhang als Sinnbild für die Geschichte von der vom Wirtschaftswachstum ausgelösten Binnenmigration, der Ankunft des »Kernfamilienzeitalters«, sowie einer positiv gedeuteten Individualisierung. Dieses Verständnis einer von nachbarschaftlicher Gemeinschaftlichkeit bestimmten modernen Gesellschaft unterscheidet sich stark von der negativen Deutung der Gegenwart, welche von Prozessen der Singularisierung und einem diagnostizierten Niedergang traditioneller Sozialbeziehungen geprägt sein soll.
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3.2.2 Das Beispiel der Tokiwadaira Danchi Die Tokiwadaira Danchi war eines der ersten Großprojekte, welche die Japan Housing Corporation ab den späten 1950er Jahren in für den Wohnungsbau erschlossenen städtischen Randgebieten durchführte. Die Wohnsiedlung steht damit sinnbildlich für diese historische Phase und genoss von Anfang an einen besonderen Bekanntheitsgrad. Dies wird auch durch die folgende Erklärung aus dem Interview mit Herrn T (*) bestätigt: »Weil das Wirtschaftswachstum so schnell anstieg, und es sich dabei um eine Wirtschaftsentwicklung handelte, die sich vor allem auf Tokio auswirkte, wurden – um dies auszugleichen – im Hauptstadtbereich viele [Arbeitskräfte] benötigt. Deswegen brauchte man hohe Gebäude, die nicht viel Platz einnahmen und welche [in der Folge] auch vielerorts gebaut wurden. […] Als eine dieser [Neubausiedlungen] lag die Tokiwadaira Danchi sehr nah an der Hauptstadt und war [zudem] ein ziemlich großflächiges Neubaugebiet. Deswegen war es damals äußerst beliebt.«
Diese Beliebtheit sei zur ersten Einzugswelle im Jahr 1960 so groß gewesen, dass die Zahl der Einzugswilligen die Zahl der vorhandenen Wohnungen um das zwanzigfache übertroffen habe (vgl. NHK/Sasaki 2007: 37; Yûki 2008: 42; Ichijô 2011: 175). Es habe sich im Falle der Tokiwadaira Danchi um eine »Traum-danchi« gehalten, welche als Wegbereiter für alle späteren, mit dem Anglizismus nyûtaun (von new town) bezeichneten Neubausiedlungen in Japan gelten könne (vgl. NHK/Sasaki 2007: 37; Ichijô 2011: 175). Teilweise wird die Tokiwadaira Danchi sogar als »erste Großwohnsiedlung in Ostasien« (ebd.*) bezeichnet.
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Abbildung 2: Einzug in die Tokiwadaira Danchi im April 1960 (Bildquelle: Matsudo-shi 2013)
Doch wie ist diese damalige Beliebtheit der danchi verstehen? Der durch die enorme Binnenmigration in Richtung der städtischen Ballungsräume verstärkte Wohnungsmangel und die relative Nähe an das Tokioter Zentrum sind sicher nicht die einzigen Faktoren, die die Tokiwadaira Danchi zu einer »Traum-danchi« machten. Fukuhara (2001: 75*) begründet die allgemeine Beliebtheit der danchi in der Frühphase des hohen Wirtschaftswachstums wie folgt: »[Die Menschen] lebten [zuvor] in engen, aus Holz gebauten Mietwohnungen [apâto] oder mit den Eltern unter einem Dach, also in schwierigen Wohnverhältnissen. Für diese Menschen stellte es wirklich einen Traum dar, in im westlichen Stil erbaute Stahlbetonbauten zu ziehen, in denen das Lebensumfeld geordnet war und welche für die damalige Zeit äußerst modern waren. [Sie wollten] komplette Garnituren der damals neu auf dem Markt ankommenden Elektronikprodukte kaufen und sich ganz dem Lebensstil eines reichen Landes wie der USA hingeben.«
Somit wird deutlich, dass die danchi nicht nur als bloße Antwort auf die große Binnenmigration und den folgenden Wohnungsmangel zu verstehen sind. Stattdessen stehen sie stellvertretend für einen
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allgemeinen Wandel des Lebensstils. Es handelte sich bei den danchi um Modelle für eine neue Stadt, welche von englischen Vorbildern des Siedlungsbaus in der unmittelbaren Nachkriegszeit beeinflusst waren (vgl. Fukuhara 2001: 47). Im Unterschied zu diesen englischen new towns, welche auf der gesetzliche Grundlage des New Towns Act von 1946 erbaut wurden, waren die japanischen danchi jedoch weniger als unabhängige neue Städte konzipiert (vgl. ebd.). Ich werde den sich in den danchi manifestierenden Lebensstilwandel nun mit Beispielen aus dem Feld bezüglich der Ausstattung und des Auf baus der Wohnungen sowie der Gestaltung des Wohnumfelds veranschaulichen (vgl. hierzu u.a. Fukuhara 2001: 74-88; Aoyagi 2008: 96; Yûki 2008: 42; Ichijô 2011: 175). Von außen betrachtet handelt es sich bei den Gebäuden in der Tokiwadaira Danchi um einfache Betonbauten, welche entweder drei oder vier Stockwerke hoch sind. Neben 166 Langbauten und einer Geschäftszeile gibt es zehn sogenannte Sternbauten (sutâhausu), deren Name auf ihren sternförmigen Grundriss zurückgeht. Im Inneren sind die Wohnungen in beiden Formen von Wohnhäusern noch heute größtenteils nach dem Muster des 2-DK (nidîkê) aufgeteilt.11 Hiermit wird ein Raumaufteilungskonzept bezeichnet, welches eine Essküche (Dining Kitchen) sowie zwei Schlaf- bzw. Aufenthaltsräume umfasst. Insbesondere die Trennung von Essund Schlafplatz (shokushinbunri) sowie die relative Größe dieser 38m² umfassenden Standardwohnungen standen für den modernen Schnitt der Wohnungen. Dies wurde von einer revolutionären Innenausstattung komplettiert, wozu ein mit Wasserspülung betriebenes WC, ein mit Durchlauferhitzer funktionierendes Bad, sowie ein stählernes Spülbecken gehörte. Auch außerhalb der Wohnungen unterschieden sich die Wohnsiedlungen stark von den Bildern zeitgenössischer japanischer Großstädte, welche von Enge und Platzmangel charakterisiert waren. Stattdessen finden sich in 11 | 43 % der Wohnungen sind 2-DK-Wohnungen, 31 % sind noch kleinere 1-DK-Wohnungen, während 25 % von etwas größeren 3-K-Wohnungen ausgemacht werden (vgl. NHK/Sasaki 2007: 36).
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der danchi Freiräume und Grünflächen zwischen den einzelnen Gebäuden, welche als Ausdruck eines neuartigen Raumkonzeptes interpretiert werden können. Hierzu zählen auch ausreichend vorhandene, zentrierte Einkaufsmöglichkeiten, welche für jeden Bezirk planmäßig angelegt wurden. Abbildung 3: Grundriss einer 2-DK Wohnung in der Tokiwadaira Danchi (Bildquelle: UR Agency 2015)
Das Leben in der danchi sei nach Yûki (2008: 42*) daher »der von den Menschen ersehnte Lebensstil« gewesen, wobei die Idee des Anknüpfens an westliche Vorbilder und das Verfolgen eines »Lebens im westlichen Stil« (Fukuhara 2001: 88*) außerordentlich positiv belegt waren. Shingo Shimada (1994: 144-157) erkennt dabei drei Folgen des neuen Lebens in den Wohnsiedlungen. Zunächst sei eine »Intimisierung des Wohnraumes« (ebd.: 156) festzustellen. Denn dadurch, dass im Gegensatz zu früheren Wohnformen eine verschließbare Grenze zur Außenwelt geschaffen wurde, konnten
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sich neue Formen des Privaten etablieren. Dies ist eng mit dem Aufkommen eines neuen Familienbildes verknüpft, das in der Kernfamilie die Idealform einer modernen Familie sah und sich über allgemeine gesellschaftliche Diskurse verbreitete. In der neuen Raumaufteilung sieht Shimada (ebd.: 157) zweitens die Anfänge einer »Individualisierung des Raumes«, wobei dies meiner Meinung nach in späteren Wohnkonzepten deutlicher hervortritt, während der 2-DK Schnitt die individuellen Freiheiten der einzelnen Familienmitglieder noch relativ stark begrenzte. Darüber hinaus erkennt Shimada drittens so etwas wie eine Säkularisierung des Wohnraumes. Das Verhältnis zu Haus und Wohnraum habe sich einschneidend verändert, als von religiösen Vorstellungen geprägte Ereignisse wie der Tod der Großeltern oder die Geburt eines Kindes immer seltener innerhalb des Hauses stattfanden (vgl. ebd.). Sowieso waren die frühen danchi meiner Ansicht nach von einer offensichtlichen Säkularisierung des Lebens geprägt. In der Tokiwadaira Danchi zeigt sich dies beispielsweise daran, dass keine religiösen Einrichtungen – auch kein Friedhof – innerhalb der Siedlung zu finden ist. Die Zentren der Nachbarschaft bilden sich einerseits um den Bahnhof und angrenzende Einkaufsstrassen sowie andererseits um einen Versammlungsplatz und eine diesen umgebende Geschäftszeile. Doch trotz dieser Verbannung von Religiosität in den privaten Rahmen und des scheinbaren Fehlens ständig präsenter, öffentlicher lokaler Traditionen oder Schutzgottheiten standen die danchi interessanterweise lange Zeit für eine besondere Gemeinschaftlichkeit und vitale Nachbarschaftsnetze. Hinsichtlich dieser Gemeinschaftlichkeit innerhalb der danchi wird oft auf die relative Homogenität der Bewohner – der sogenannten danchizoku – verwiesen (vgl. Fukuhara 2001: 88). Diese Homogenität bezieht sich dabei sowohl auf Alters- und Familienstrukturen, als auch auf Arbeits- oder Einkommensverhältnisse sowie auf die Lebensstile der Bewohner (vgl. ebd.; Schmidtpott 2009: 188). Denn weil infolge des großen Wettbewerbs um die ersten Wohnungen nur Bewerber ab einem bestimmten Einkommen zugelassen wurden, zogen vor allem die jungen Mitglieder einer »Schicht von
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elitären Angestellten« (NHK/Sasaki 2007: 37*; Yûki 2008: 42*) in die Neubausiedlungen ein. Die danchi seien daher »Hochburgen der neuen Mittelschicht« (Schmidtpott 2009: 186) gewesen. Die danchizoku der Anfangsphase seien vergleichsweise junge, gut ausgebildete Angestellte in white-collar jobs gewesen, welche in Kernfamilien in den danchi wohnten (vgl. Aoyagi 2008: 96). Hierdurch hätten sie oftmals den Neid jener auf sich gezogen, deren Traum vom Einzug in die new towns noch unerfüllt geblieben war (vgl. NHK/Sasaki 2007: 35). Für die schulische Ausbildung der Kinder dieser jungen Paare wurden in den großflächigen Neubausiedlungen gesetzlich festgelegte Zahlen von Grund- und später auch Mittelschulen errichtet. In der Tokiwadaira Danchi gibt es zwei Grundschulen und eine Mittelschule, wobei letztere zu einem Zeitpunkt gar die größte Mittelschule der gesamten Stadt Matsudo war (vgl. Yûki 2008: 43). Zudem gibt es im größeren Stadtbezirk Tokiwadaira eine weitere Grundschule, die jedoch außerhalb der danchi liegt.12 Die drei Grundschulen wurden nacheinander in den Jahren 1960, 1965 und 1967 eröffnet, um der damals rasant ansteigenden Zahl von Kindern ausreichend Schulplätze bieten zu können (vgl. NHK/Sasaki 2007: 39). Zusammenfassend handelte es sich bei der Tokiwadaira Danchi der 1960er Jahre um ein großflächiges Neubaugebiet, welches in relativer Nähe zum Tokioter Stadtzentrum lag, über ausreichend Einkaufsmöglichkeiten verfügte und Grünflächen sowie genügend Schulplätze für die Kinder bot.13 Zudem waren die Wohnungen im Inneren neuartig aufgeteilt und mit einer modernen Ausstattung versehen. Auf Angehörige der neuen, jungen Mittelschicht soll die 12 | Eine Oberschule existiert jedoch nicht. 13 | Dieses Grünflächen-Argument muss jedoch relativiert werden. Vor allem in der Anfangszeit waren viele danchi von riesigen Baustellen und brachliegenden Flächen gekennzeichnet. Zudem waren vor allem die weit außerhalb der Stadtzentren liegenden danchi oftmals nur schlecht an das Netz des öffentlichen Nahverkehrs angeschlossen (vgl. Fukuhara 2001: 8588; Schmidtpott 2009: 222-223).
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Siedlung äußerst anziehend gewirkt haben, weshalb die Tokiwadaira Danchi als Musterbeispiel für den Erfolgszug des neuen, sich an westlichen Vorbildern orientierenden Lebensstils in der Phase des hohen Wirtschaftswachstums zu verstehen ist. Die Anfangsphase der danchi wird auf der Internetseite der Tokiwadaira Chûô Shôtenkai (2014*) – der Vereinigung der Geschäfte der zentralen Geschäftszeile – daher auch als »Blütezeit« bezeichnet. Die positive Deutung der ersten Jahre in der Neubausiedlung ist bis heute weit verbreitet und war auch im Feld noch oftmals zu vernehmen – in der Regel jedoch eher implizit, wenn über gegenwärtige Probleme gesprochen wurde. Yûki (2008: 43*) zitiert in diesem Zusammenhang einen (früheren) Bewohner, der in der Tokiwadaira Danchi der Anfangszeit aufgewachsen ist: »[…] die Beziehungen zwischen Nachbarn prosperierten. Vor dem Hintergrund der guten nachbarschaftlichen Beziehungen nach dem Konzept des mukôsangenryôdonari wurden einander zu grüßen [aisatsu], sich gegenseitig zu helfen [tasukeai], oder Kameradschaft [nakama ishiki] innerhalb des normalen Lebens anerzogen. Dass man sich alleine in sein Zimmer zurückzog, kam äußerst selten vor, und wenn man in den nahegelegenen Park ging, war dort mit Sicherheit irgendjemand da. [Solche] ›Orte des Austauschs ‹, an denen man unabhängig von Alter oder vorheriger Bekanntschaft Freunde finden konnte, gab es sehr viele.«
Der Autor des Zitats grenzt ein »Goldenes Zeitalter« der 1960er Jahre deutlich vom heutigen Zustand der danchi ab, wobei Elemente einer nostalgischen Darstellung der eigenen Kindheit sichtbar werden. Gegenwärtig zu beobachtende Phänomene wie die zunehmende Abkapselung einzelner Bewohner seien aus Sicht der damaligen Zeit nur schwer vorstellbar gewesen. Gleichzeitig ist die Beschreibung der damaligen Situation stark von Begrifflichkeiten des gegenwärtigen Diskurses geprägt und mit der Narrative eines Werteverfalls verbunden. Dass sich heutige Bewohner in ihre Wohnungen zurückziehen, erscheint in dieser Hinsicht als Beweis für einen Niedergang von ehemals verbreiteten Moral- und Wertvorstel-
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lungen, welche das Leben in der damaligen Nachbarschaftsgemeinschaft bestimmten. Im Gegensatz zu dieser Konstruktion einer Nachbarschaftsgemeinschaft im städtischen Kontext existieren in der Forschung durchaus kritische Deutungen der damaligen Situation in den frühen danchi. Fujimoto Kentarô (2012: 5*) stellt der Natürlichkeit einer traditionellen japanischen Gemeinschaft daher die Künstlichkeit der Neubausiedlungen und die hieraus folgende fehlende Tiefe der sich dort entwickelnden sozialen Beziehungen gegenüber: »Die new towns sind künstliche, von Menschenhand geschaffene Städte, daher gibt es keine seit jeher existenten nachbarschaftlichen und verwandtschaftlichen Bindungen wie in Bauern-, Berg- und Fischerdörfern oder in kaufmännisch geprägten [urbanen] Gegenden.«
Da nachbarschaftliche Beziehungen in der Großstadt auf einer anderen Grundlage basieren, seien sie nicht mit den auf gemeinsamer Arbeit oder gemeinsamen rituellen Praktiken basierenden Beziehungen der Dorfgemeinschaft zu vergleichen (vgl. auch Shimada 2011: 210). Die Konzeption der danchi als nicht-selbstständig überlebensfähiger bed towns (jap. beddotaun) hat diesen Trend möglicherweise noch verstärkt. Denn die Neubaugebiete stellten oftmals nicht den Lebensmittelpunkt der männlichen Bewohnerschaft dar, da diese teilweise nur zum Schlafen in die Neubausiedlung zurückkehrten (vgl. z.B. Fukuhara 2001: 47). Weil der eigentliche Lebensmittelpunkt am Arbeitsplatz zu finden war, bauten sie niemals tiefergehende Beziehungen zu den Nachbarn auf, weshalb alleinlebende alte Männer noch heute anfälliger für einsame Tode gesehen werden als ihre weiblichen Gegenparts (vgl. z.B. Nakazawa 2008: 18-19). Auch die neugewonnene Privatheit habe laut Schmidtpott (2009: 216) negative Auswirkungen auf die Vitalität des nachbarschaftlichen Zusammenlebens gehabt:
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»In der danchi waren die Bewohner über die Vorgänge im Privatleben der Nachbarn in einem ähnlich hohen Maß unfreiwillig informiert, wie sie es vorher als Bewohner von Holzapartments gewesen waren. Dennoch konnten die jungen Angehörigen der neuen Mittelschicht in den danchi ihren Wunsch nach Privatheit so umfassend wie nie zuvor seit dem Auszug aus dem Elternhaus verwirklichen. Der entscheidende Unterschied zu früheren Wohnverhältnissen bestand darin, daß [sic!] sie unabhängig von den Nachbarn leben und daher Kontakte zu ihnen vermeiden konnten […]«
Durch die funktionale Unabhängigkeit der neuen Wohnungen – welche sich hier als wichtigster Unterschied zu vorherigen Formen des Zusammenlebens in hölzernen Reihenhäusern (nagaya) oder Apartments (apâto) zeigt – wurde es zur individuellen Entscheidung, ob man Kontakt zu Nachbarn auf bauen wollte oder nicht. In den modernen Wohnformen war gegenseitige Hilfe unter Nachbarn nicht mehr überlebensnotwendig, sondern nur noch eine Option. Daher wurden gegenwärtig diskutierte Phänomene wie die soziale Abschottung einzelner Mieter von ihren Nachbarn oder das fehlende Grüßen unter Nachbarn schon in dieser frühen Phase der Geschichte der danchi beobachtet (vgl. z.B. ebd.: 217). Beispielsweise wies die Vermietungsgesellschaft bereits in einem ihrer ersten Ratgeber bezüglich eines guten Gemeinschaftslebens innerhalb der danchi auf die Wichtigkeit des Grüßens hin (vgl. ebd.: 208). Die Nachbarschaftsbeziehungen in den danchi waren demnach möglicherweise schon in dieser Anfangsphase nicht von der Gemeinschaftlichkeit geprägt, die heute oft auf diese Zeit projiziert wird. Dieses zumindest in der unmittelbaren Anfangszeit der danchi oftmals registrierte Desinteresse an Beziehungen zu den Nachbarn hatte Schmidtpott folgend zwei hauptsächliche Gründe. Zunächst war der Wunsch nach eigenen, abschließbaren und »funktional eigenständigen« (ebd.: 176) Wohnungen und einem Leben in familiärer Privatsphäre aufgrund der direkten und unliebsamen persönlichen Erfahrung von anderen Arten der Lebensführung – wie Untermiete, Gemeinschaftswohnungen, Holzapartments – besonders ausgeprägt. Zweitens stammten viele Mieter aus Familien der
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Mittelschicht und waren daher bereits aus ihrer Kindheit an eher auf freundliche Distanz basierende Nachbarschaftsverhältnisse gewöhnt (vgl. ebd.: 188f). Diese Tendenz wurde durch allgemeine politische Stimmungen der Zeit verstärkt, in der von verschiedenen Seiten versucht wurde, sich von undemokratisch und rückständig empfundenen Praktiken der Vorkriegs- und Kriegszeit abzugrenzen (vgl. Aoki 1996: 41-48). Dementsprechend betont Shimada Hiromi (2011: 143; 157), dass die Phase des hohen Wirtschaftswachstums eine Zeit gewesen sei, in der sich vor allem junge Japaner aktiv und intentional von den als einschränkend empfundenen Beziehungsmustern der Vorkriegszeit zu lösen suchten. Dies gelte insbesondere auch für die aus den ländlichen Peripherien in die urbanen Zentren strömenden Binnenmigranten. Diese hätten bewusst versucht, »[den Zustand einer] Beziehungslosigkeit zu erreichen« (ebd.*). Das an einem westlichen Lebensstil orientierte Stadtleben in einer modernen Umgebung und in relativem Wohlstand sei dabei als Möglichkeit zur Umsetzung dieses Wunsches begriffen worden. Aus diesem Grund waren die neuen Bindungen in der Stadt möglicherweise oberflächlicher oder – bedingt durch weitere Umzüge – kurzlebiger. Demgegenüber versuchten Kommunalverwaltung und Vermietungsgesellschaft bereits ab den 1950er Jahren traditionell anmutende Nachbarschaftskonzepte in den new towns zu etablieren (vgl. Schmidtpott 2009: 181-185). Die Gründe hierfür lagen meist in knappen finanziellen Ressourcen, weshalb man hoffte, eine organisierte Bewohnerschaft könne verschiedene Verwaltungs- und Instandhaltungsaufgaben selbst übernehmen. Für die öffentliche Begründung dieser Konzepte wurden jedoch teilweise sehr widersprüchliche Argumentationen verwendet, da noch von der Erfahrung der Kriegszeit geprägte Begriffe nur modifiziert eingebaut werden konnten (vgl. ebd.). Bei den Bewohnern riefen diese Pläne jedoch eher Ablehnung hervor. Sie fürchteten Eingriffe in die neu gewonnene Privatsphäre und eine drohende Zusatzbelastung. Zudem verfügten sie in der Regel auch einfach nicht über die notwendigen zeitlichen Ressourcen (vgl. ebd.: 212).
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Der Ursprung der heute bekannten Formen der organisierten Nachbarschaft war daher auch eher konfrontativer als kooperativer Natur (ebd.: 221-240). Erste organisierte Zusammenschlüsse von Mietern versuchten beispielsweise gegen Baumängel oder Mieterhöhungen zu protestieren und verfolgten in Teilen sogar größere politische Ziele (wie den Protest gegen den ANPO-Vertrag 1960). Als sich hieraus Organisationen mit einem größeren Aufgabenspektrum entwickelten, griffen diese in ihren Satzungen einerseits von oben kommende Vorschläge bezüglich des Nachbarschaftslebens auf, während sie andererseits versuchten, den Einzelnen und seine Privatsphäre zu schützen.14 Die Satzung der Nachbarschaftsvereinigung der Tokiwadaira Danchi ist ein gutes Beispiel für diese Konflikte oder Widersprüche. Denn der ausführlich ausgearbeiteten Satzung folgend ist die Jichikai zunächst eine der lokalen Gemeinschaft dienende Vereinigung, welche »die gegenseitigen Freundschaften zwischen den Einwohnern der Tokiwadaira Danchi steigert und zum Zwecke eines gemeinschaftlichen Nutzens handelt« (TKWD Jichikai 2011: 22*). Dem Selbstverständnis als »demokratische Organisation« (ebd.*) entsprechend, sollen dabei folgende Prinzipien eingehalten werden: Respekt des (Privat-)Lebens des Einzelnen, Gleichbehandlung aller Mitglieder und schließlich die Zusammenarbeit mit anderen beteiligten Organisationen (vgl. ebd.). Der anfängliche Konflikt zwischen der Sicherung der neuen Privatheit und Unabhängigkeit auf der einen und dem Aufbau funktionierender nachbarschaftlicher Netze auf der anderen Seite bleibt somit noch heute sichtbar. Nach Schmidtpott (vgl. 2009: 241-263) hätten sich die Nachbarschaftsverhältnisse hiernach mit der rasant steigenden Geburtenrate in den danchi gewandelt. Über die Kindererziehung und hieran anknüpfende Problemstellungen seien engere Beziehungen zu direkten und indirekten Nachbarn entstanden. Dies beziehe sich 14 | Natürlich variierte das Engagement und die jeweilige Umsetzung stark von Ort zu Ort. Allgemein lässt sich aber erkennen, dass die meisten Bewohner sich nur begrenzt engagieren konnten oder wollten (vgl. Schmidtpott 2009: 240).
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vor allem auf Freundschaften der – zumindest temporär – aus dem Arbeitsleben ausgeschiedenen Hausfrauen (vgl. ebd.). Das erklärt, warum diese historische Phase noch im gegenwärtigen Diskurs als Blütezeit der danchi idealisiert wird. Über die veränderte Situation vieler Bewohnerinnen und ihr gestiegenes Interesse an kulturellen Freizeitaktivitäten hätten weiter auch die Nachbarschaftsvereinigungen ihr Gesicht verändert. Dieser Trend sei durch – teilweise durchaus erfolgreiche – Vorstöße der Vermietungsgesellschaft unpolitische, sich auf kulturelle Aufgaben konzentrierende Nachbarschaftsorganisationen zu fördern, verstärkt worden (vgl. ebd.). So haben sich in den 1960er Jahren jene Nachbarschaftsmuster etabliert, bei denen nach demokratischen Idealen aufgebaute Nachbarschaftsvereinigungen verschiedene kulturelle wie auch verwaltungstechnische Aufgaben übernehmen, und dies werde bis heute als typisch für japanische Großstädte angesehen (vgl. ebd.: 263). Laut Thränhardt (vgl. 1990: 349) sei diese Zuweisung einer neuen Bedeutung für die kommunale Ebene auch in anderen OECDLändern sichtbar geworden, in Japan jedoch mit dem Konzept einer besonderen japanischen Wohlfahrtsgesellschaft (nihongata fukushi shakai) begründet worden. Tachibanaki (2011: 138-139*) stellt den sich in dieser Zeit entwickelten Charakter der Nachbarschaftsorganisationen daher als substantiellen Unterschied zu in der Vorkriegszeit üblichen Formen des nachbarschaftlichen Zusammenlebens dar: »Hier muss betont werden, dass die verschiedenen lokalen, von der Nachbarschaftsvereinigung ausgehenden Aktivitäten [heute] nicht unbedingt jeden Haushalt der Nachbarschaft betreffen. Im goningumi der Edo-Zeit oder in den Nachbarschaftsvereinigungen der Meiji-Zeit wurde erwartet, dass sich die Mitglieder untereinander helfen, wenn jemand in Schwierigkeiten geraten war, aber in den Nachbarschaftsvereinigungen der Nachkriegszeit wurde so etwas nicht mehr erwartet.«
Hierbei ist zu beachten, dass Tachibanakis Analyse scheinbar auf einem relativ undifferenzierten Bild der Nachbarschaftsorgani-
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sationen in der Vorkriegszeit auf baut, welches Schmidtpott (vgl. 2009; 2012) als Ergebnis der intendierten Einführung durch politische und lokale Eliten dargestellt hatte. Dennoch erscheint mir die von Tachibanaki angeführte Argumentation sehr wichtig für den weiteren Verlauf der Arbeit, da erneut die Narrative des Verfalls japanischer Gemeinschaftlichkeit aufgrund zunehmender Modernisierung und Verwestlichung angeboten und gefestigt wird. Die eigentlich dahinter stehenden gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse, die von Schmidtpott angesprochen werden, finden dabei keine Beachtung. Auch wenn die Forschung diese Phase demnach uneinig oder teilweise widersprüchlich betrachtet, war im Feld eine unproblematische, positive Deutung zu erkennen. Ich denke, dass dies auch mit der positiven persönlichen Erfahrung der Phase des Wirtschaftsaufschwungs zu tun hat, welche von Familiengründungen und gut bezahlter und vermeintlich sicherer Arbeit geprägt war. Hierin zeigt sich, dass die Vorstellung der 1960er und 1970er Jahre als Hochphase der modernen japanischen Nachbarschaftsgemeinschaft eng mit der dritten Form von Sozialbeziehungen, den sogenannten Beziehungen des Arbeitsplatzes, verknüpft ist.
3.3 D ie B eziehungen der F irma (shaen) und J apans M ittelstandsgesellschaft Neben den familiären (ketsuen) und den nachbarschaftlichen Bindungen (chien) wird im gegenwärtigen Diskurs noch auf eine weitere Form vermeintlich typisch japanischer Bindungsmuster Bezug genommen. Als jüngste der drei grundlegenden Gruppenzugehörigkeiten steht diese dritte Beziehungsart namens shaen im Allgemeinen für zwischenmenschliche Beziehungen, die am gemeinsamen Arbeitsplatz entstehen oder aus der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einer Firma (kaisha) hervorgehen.15 Neben dem 15 | Ursprünglich soll das Wort Beziehungen beschrieben haben, die entweder auf die gemeinsame Zugehörigkeit zu einem religiösen Schrein ( jinja)
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Bezug zum Arbeitsplatz existiert zudem ein breiteres Verständnis des Wortes shaen, demzufolge es für verschiedene, heterogene Formen nicht-familiärer und nicht-nachbarschaftlicher Bindungen verwendet werden kann (vgl. Tachibanaki 2011: 140). Im gegenwärtigen Diskurs hat sich jedoch ein engeres Verständnis von shaen als auf white-collar jobs – im privatwirtschaftlichen wie im öffentlichen Arbeitsbereich – beschränkte Beziehungen durchgesetzt. Daher werde auch ich mich auf diesen kleineren Rahmen eingrenzen. Tachibanaki (2011: 140f) sieht die Anfänge dieser Vorstellung von shaen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als sich viele der heutigen japanischen Großunternehmen bildeten. Der generelle Bezugspunkt des heutigen Verständnisses von florierenden sozialen Bindungen des Arbeitsplatzes findet sich jedoch in der Phase des hohen Wirtschaftswachstums in der Nachkriegszeit. Diese Zeit wird von vielen Autoren als Hochphase der shaen angesehen, wobei Fujimoto (2012: 63*) die Firma hier in ihrer Ersatzfunktion für im Zuge gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse ausgedünnter traditioneller Bindungsmuster interpretiert: »Von der Phase des hohen Wirtschaftswachstums bis in die Phase des stabilen Wirtschaftswachstums nahm die [Bedeutung] familiärer wie nachbarschaftlicher Netze weiter ab und innerhalb der lokalen Gesellschaft sowie innerhalb der Familie setzte sich die Ausdünnung zwischenmenschlicher Bindungen fort. Es heißt jedoch, dass das soziale Netz des Arbeitsplatzes hier in Teilen einen Ersatz bot und die Problematik sozialer Isolation daher nicht offensichtlich wurde.«
Dieser Argumentation folgend konnte der bereits in den vorherigen Kapiteln thematisierte Niedergang von Großfamilien und Dorfgemeinschaften in den 1960er und 1970er Jahren teilweise über die Zugehörigkeit zu einer Firma kompensiert werden. Dennoch oder auf die gemeinsame Mitgliedschaft in einer Geheimgesellschaft (himitsukessha) zurückgingen (vgl. Tachibanaki 2011: 140).
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klingt an, dass Probleme wie soziale Vereinsamung bereits existiert hätten, jedoch nicht zum gesellschaftspolitischen Thema werden konnten. Diesen Gedanken weiterführend setze ich die shaen in der Folge in Bezug zur diskursiven Konstruktion einer japanischen Mittelstandsgesellschaft. Die enormen Wachstumsraten, welche die japanische Wirtschaft vor allem in den 1960er Jahren erzielte, führten im Ausland wie auch in Japan selbst zur Notwendigkeit, diese Erfolgsgeschichte zu erklären. Laut Aoki Tamotsu (1996: 92; 95) ist diese Zeit in diesem Sinne von zunehmend narzisstischen Abhandlungen über das Japaner-Sein geprägt, welche mit Theorien über die Einzigartigkeit japanischer Managementkonzepte vermischt worden seien. Die besondere Harmonie der japanischen Firma wurde dabei über Charakteristika wie das Senioritätsprinzip (nenkôjoretsu), die lebenslange Anstellung (shûshinkoyô), betriebsinterne Gewerkschaften (kigyôbetsu ryôdô kumiai) oder die betrieblich organisierte Wohlfahrt (kigyô fukushi) erklärt (vgl. u.a. Elliott et al. 2012: 436). Auch wenn sich diese Charakteristika vor allem auf bestimmte Großunternehmen beschränkten und schon früh als real nicht existenter »Mythos« (Odaka 1984*) kritisiert wurden, spiegelt sich die Idealisierung dieser historischen Phase noch im gegenwärtigen Diskurs wider. In diesem Sinn preist Tachibanaki (2011: 145*) die Phase des hohen Wirtschaftswachstums als eine Zeit der »›japanischen Gemeinschaft‹ [nihonkyôdôtai], als Firmen, Angestellte, der Finanzsektor und die Regierung eins waren«. Natürlich ignoriert diese außerordentlich positive Bewertung dabei negative Seiten des zeitgenössischen Arbeits- und Betriebssystems wie diskriminatorische Praktiken gegenüber Arbeitnehmerinnen oder die Problematik fehlender Freizeit (vgl. z.B. Aoki 1996: 96). Ich denke jedoch, dass die gegenwärtige Idealisierung dieser Epoche eng mit dem damaligen rapiden Anstieg des allgemeinen Wohlstandsniveaus zusammenhängt. Der Einzug in eine 2-DK-Wohnung in einer new town und die damit verbundene Annahme eines modernen, westlich anmutenden Lebensstils kann dabei als frühe Form dieses neuen Wohlstands gedeutet werden. Die Idee des Aufstiegs in die wohlhabende
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Mittelschicht war dabei so weit verbreitet, dass über 90 % der Bevölkerung in Umfragen angaben, sich der Mittelschicht zugehörig zu fühlen (vgl. u.a. Suzuki et al. 2010: 522). Daher wird die japanische Gesellschaft der 1960er bis 1980er Jahre auch als »Mittelschichtsgesellschaft« (sôchûryûshakai) bezeichnet oder mit dem Ausdruck »Mittelstand von 100 Millionen« (ichioku sôchûryû) beschrieben. Tatsächlich existente soziale oder auch geschlechtliche Disparitäten blieben möglicherweise »durch Aufwärtsmobilität und Massenkonsum der Haushalte irrelevant für die Selbstwahrnehmung als Mittelschicht« (Schad-Seifert 2007: 106). Diese diskursiv konstruierte Mittelschichtsgesellschaft, welche in der Harmonie der Firma Konnotationen einer traditionellen Gemeinschaftlichkeit in der Moderne aufrechterhalten habe, interpretiere ich als Teil der Konstruktion einer nationalen Identität in der Nachkriegszeit. Der eigentliche Bruch mit dem Alten, der sich in der rasanten Urbanisierung, der neuen gesellschaftlichen Rolle der Firma und dem damit verbundenen Lebensstilwandel darstellt, wurde dabei durch die Vorstellung einer kontinuierlichen Weiterführung der besonderen japanischen Gemeinschaftlichkeit entschärft. Die Konstruktion des von einer traditionellen Japanizität geprägten Selbst erfolgte dabei erneut als Abgrenzungsprozess vom Fremden. Die Idee der harmonischen Beziehungen des Arbeitsplatzes erscheint in derartigen Argumentationen als Beweis für den besonderen Kommunitarismus der japanischen Gesellschaft (vgl. Tachibanaki 2011: 149). Die Firma sei in dieser Hinsicht eingesprungen, um die dörfliche Gemeinschaft der Vormoderne in der Moderne weiterzuführen. So wirkt es meiner Meinung nach, als sei die Theorie der harmonischen japanischen Firma zum Bestandteil der Konstruktion einer nationalen Identität geworden, da beide auf ähnlichen Grundannahmen auf bauten. Bei Shimada Hiromi (2011: 131*) wird versucht, dies über die Erfahrung der Binnenmigration zu begründen: »Weil die Menschen, die von den Dörfern der Peripherie in die Stadt kamen und dort eine Anstellung in einem Unternehmen fanden, die Grund-
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prinzipien der Dorfgemeinschaft gelernt hatten, verstanden sie diese in der Organisation des Unternehmens zu nutzen. Und da es solche Angestellten in großer Zahl gab, kann man sagen, dass die damaligen Unternehmen Ähnlichkeiten zu dörflichen Gemeinschaften aufwiesen.«
Folglich zeigt sich auch bezogen auf die shaen jenes Argumentationsmuster, welches ein Fortleben gemeinschaftlicher Strukturen in der modernen Gesellschaft beschreibt und die gesellschaftlichen Prozesse hinter derartigen diskursiven Konstrukten ignoriert.16 Wie bereits bezogen auf die guten nachbarschaftlichen Beziehungen der Zeit dargelegt, wurde die Phase des hohen Wirtschaftswachstums im Feld äußerst positiv bewertet. Im Gegensatz hierzu wurden andere eng mit dieser historischen Phase verknüpfte soziale Entwicklungen jedoch auch negativ bewertet. Dies bezieht sich vor allem auf die Kritik an einem in der Nachkriegszeit forcierten Wertewandel – von vermeintlich traditionellen Werten hin zu einem modernen, westlich geprägten Individualismus, Materialismus oder Konsumismus, welcher sich heute in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens offenbaren würde: »In der japanischen Erziehung in der Nachkriegszeit bzw. in der japanischen Gesellschaft nach dem Krieg steht das Individuum im Zentrum. Das Selbst anstelle der Anderen.« (Interview Herr N*)
16 | An einer anderen Stelle relativiert Shimada (vgl. 2011: 102ff) die Idee der Übertragung der Dorfgemeinschaft auf den Rahmen der Firma im Zuge der Binnenmigration. Denn in der Zeit des hohen Wirtschaftswachstums seien vor allem unqualifizierte Arbeitskräfte und Tagelöhner aus den Peripherien in die urbanen Räume geströmt und haben auf den vielen Großbaustellen der entstehenden Metropolen gearbeitet. Zwar suchten auch sie nach neuen Bindungen, jedoch hätten sie diese eher außerhalb des Arbeitsumfelds – beispielsweise in den sogenannten neuen Religionen (shinshûkyô) – gefunden.
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Herr N führt diesen Individualismus in der Folge explizit auf bestimmte Charakteristika der Nachkriegserziehung zurück. Hierbei sei insbesondere das Phänomen der gakurekishakai von Bedeutung. Damit sei gemeint, dass man »gut studiert, auf eine gute Schule [bzw. Universität] geht, und wenn man dann seinen Abschluss macht, in eine gute Firma eintritt« (ebd.*). Da man aber nur über das mit enormem Stress und finanziellen Aufwendungen verbundene Durchlaufen dieser sogenannten Bildungsgangsgesellschaft ein Gefühl der Sicherheit und der Zugehörigkeit zur Mittelschicht erreichen könne, habe dies ein egoistisch anmutendes Verlangen nach persönlichem Erfolg gefördert. Demgegenüber sollen traditionelle Vorstellungen des gemeinschaftlichen Miteinanders vergessen worden sein. Suzuki et al. (2010: 522) setzen die zentrale gesellschaftliche Rolle der Beziehungen des Arbeitsplatzes in einer »company-centered society« daher in Zusammenhang zur Förderung von früh einsetzenden Konkurrenzkämpfen um die besten Kindergärten, die besten Schulen und Universitäten, und schließlich um die besten Firmen. Elliott et al. (vgl. 2012: 430) differenzieren die japanische Nachkriegsgesellschaft in diesem Kontext in von verschiedenen Leitmotiven geprägte Phasen. Nach einer von Idealen der Überwindung von vormoderner Rückständigkeit und des Auf baus einer demokratischen Nation gekennzeichneten ersten Phase wird die Zeit ab den 1960er Jahren dabei als »Age of the Dream« bezeichnet. Die rasant anwachsende Mittelschicht habe nun vermehrt über die finanzielle Sicherheit und ein hohes Bildungsniveau verfügt, sodass individualisierte Lebensstile verfolgt werden konnten. Daher sei jedoch auch »egoistic desire« (ebd.: 341) als allgemein verbreitete Charaktereigenschaft gesellschaftlich akzeptiert worden. Diese Tendenzen hätten in der folgenden Durchsetzung der Konsumgesellschaft während der »Age of Fiction« in den 1980er Jahren dazu geführt, dass man das Selbst immer stärker privatisiert und über Konsum definiert habe (vgl. ebd.: 342). Im Ergebnis dieser Positionen entsteht das widersprüchliche Bild, dass die angebliche Weiterführung von traditioneller Gemein-
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schaftlichkeit in den japanischen Firmen der 1960er und 1970er Jahre gleichzeitig zu einer Beschleunigung des Niedergangs eben dieser Gemeinschaftlichkeit im Denken der rasant anwachsenden Mittelschicht einherging. Im Interview beschrieb Herr N (*) diesen Werteverfall sogar als direkte Folge des allgemeinen Strebens nach Wohlstand: »Darüber hinaus gibt es noch eine Sache, die mit Japans Wirtschaftswachstum zusammenhängt […]. Und zwar geht es darum, dass [materiellen] Dingen eine Priorität eingeräumt wurde. Daher dachten wohl viele, dass Glück bedeute, Geld anzusparen. Doch dieser materielle Reichtum bezeichnet gleichzeitig eine Armut des Herzens. Eine Armut des Herzens. Zwar kann man mit steigendem Reichtum durch Geld alles erreichen, alles machen. Aber man übersieht, was es heißt, auf andere Menschen Rücksicht zu nehmen, [anderen] zu helfen, sich gegenseitig zu helfen, und Hilfe zu erhalten. […] So ein gesellschaftliches Klima gab es. Auch das ist nicht gut.«
Das moderne Leben und die einhergehenden Wünsche nach materiellen Gütern werden so in klaren Gegensatz zu Traditionen des zwischenmenschlichen Miteinanders gebracht. Der »materielle Reichtum«, den viele Japaner in der Zeit des hohen Wirtschaftswachstums erreichen wollten und konnten, wird daher mit einer sich gleichzeitig ausbreitenden »Armut des Herzens« kontrastiert. Laut Shingo Shimada (vgl. 2007: 108) kann diese negative Deutung von Individualismus und Materialismus auf philosophisch-intellektuelle und politische Strömungen aus der Vorkriegszeit zurückgeführt werden. Denn das Konzept des Individualismus sei schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus einer nationalistisch-kollektivistischen Perspektive als Verkörperung eines »westlich-orientierten Egoismus« (ebd.) kritisiert worden, welcher »sich mit den traditionellen Werten der japanischen Kultur nicht vereinbaren« (ebd.) ließe. Insofern ließe sich diese Kritik an der Fremdheit eines westlichen Materialismus oder seine Unvereinbarkeit mit der japanischen Kultur als Weiterführung von schon in der Vorkriegszeit gebräuchlichen Argumentationen erklären.
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Diese vom Wirtschaftswachstum und vom zunehmenden Konsumismus bestimmten sozialen Wandlungsprozesse wurden jedoch bereits in der Phase des hohen Wirtschaftswachstums selbst kritisch betrachtet. Die »Sehnsucht nach dem Leben in der Stadt« (tokaiseikatsu he no akogare) wurde dabei mit der Erfahrung der »Einsamkeit der Stadt« (tokai no kodoku) kontrastiert (vgl. Shimada 2011: 92).17 Diese Kritik an der Anonymität und der emotionalen Kälte des modernen Lebens fand ihren Ausdruck in volkstümlichen Schlagern (enka) und Filmen (sogenannte terebi dorama), in denen die Einsamkeit in der Großstadt und der hieran anschließende Wunsch der Rückkehr in die Heimat thematisiert wurden (vgl. Robertson 1988: 507; Shimada 2011: 29f). Es sei »oft vorgekommen, dass über die Einsamkeit des Lebens in der Stadt gesungen wurde« (Shimada 2011: 92*). Dieser populäre Diskurs, durch den das Fortschrittsdenken der unmittelbaren Nachkriegsdekade von einer romantischen Sehnsucht nach einer natürlichen, ursprünglichen und unverschmutzten Heimat abgelöst wurde, wird als »furusato boom« der Nachkriegszeit bezeichnet (vgl. Creigthon 1997: 241; Dusinberre 2012: 136-138). Neben der räumlichen Dimension erstreckte sich die dem Ausdruck furusato immanente bipolare Konzeption von Land und Stadt ursprünglich auf weitere Gegensatzpaare wie Großfamilie vs. Kernfamilie, Ausland/Westen/USA vs. Japan oder Zukunft vs. Vergangenheit (vgl. Chida 1996: 108-111). Diese modernekritische Dimension von furusato verlor jedoch bald an Bedeutung, so dass der Ausdruck später vor allem im Bereich der wirtschaftlichen Vermarktung des Binnentourismus verwendet wurde (vgl. Creighton 1997). 17 | Ähnliche Motive findet man in vielen Gesellschaften hinsichtlich der negativen Deutung von Modernisierungsprozessen. Beispielsweise schrieb der US-amerikanische Philosoph John Dewey bereits 1927: »The Great Society created by steam and electricity may be a society, but is no community. The invasion of community by the new and relatively impersonal and mechanical modes of combined human behavior is the outstanding fact of modern life« (Dewey 1927: 296).
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Sowieso spielen gesellschaftskritische Stimmen durch den Anstieg des Wohlstandsniveaus sowie durch die Ankunft der »Mittelschichtsgesellschaft« und eines modernen Lebensstils ab den 1960er Jahren im Diskurs nur eine geringe Rolle. Dass die Konstruktion einer solchen guten, alten Zeit jedoch nicht auf das japanische Beispiel beschränkt ist, macht der Verweis auf das deutsche Wirtschaftswunder deutlich: »[M]edia reports very often reminisce about times when ›healthy‹ kinship and neighborly support cared for those endangered by loneliness and social isolation. These ›good old times‹ are often referred to as times of economic and social prosperity and well being, such as the early 1960s, usually known as the German ›economic miracle‹.« (Hönigschnabl et al. 2002: 837)
In Japan sind die danchi der 1960er und 1970er Jahre die Symbole dieser Hochphase. Sie stehen für funktionierende Familienstrukturen, florierende Nachbarschaftsbeziehungen und Harmonie am sicheren Arbeitsplatz. Dies alles ist eingebunden in die Idee der Mittelstandsgesellschaft, welche eine besondere japanische, gemeinschaftlich geprägte moderne Gesellschaft beschreibt. Aufgrund dieses – auch im Feld – weit verbreiteten Blicks auf diese Phase als »guter alter Zeit« erscheint es daher ein wenig verwunderlich, dass gerade in dieser Zeit erste Zeitungsartikel über einsame Tode aufkamen. Diese historische Entwicklung hin zur heutigen Verwendung wird in der Folge in den Vordergrund der Arbeit gerückt.
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4. Vom Randphänomen zum Symptom einer kranken Gesellschaft
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4.1 A ufkommen der P roblematik : E rste einsame Tode Im Folgenden werde ich die historische Entwicklung des Wortes kodokushi nachzeichnen, wobei ich diese in vier Phasen einteilen werde. Dies sind erstens eine Phase der anfänglichen Bedeutungsprägung in den 1970er und 1980er Jahren, zweitens ein enormer, jedoch kontextgebundener Bedeutungsschub in den 1990er Jahren, drittens eine Entmarginalisierung der Problematik in den 2000er Jahren, sowie viertens das Verständnis des Phänomens als Ausdruck einer größeren sozialen Problematik ab circa 2010. Diese Phasenunterteilung orientiert sich dabei in Teilen an verschiedenen japanischsprachigen Vorarbeiten (vgl. insbesondere Aoyagi 2008; Kobayashi/Kotsuji 2011). Nach Kobayashi/Kotsuji (vgl. 2011: 125) tritt das Wort kodokushi in der medialen Berichterstattung erstmals im Jahr 1970 bezogen auf die Wohnungsleiche eines 20-jährigen Mannes auf, die in einem Tokioter Apartment gefunden wurde. Der entsprechende Zeitungsartikel verweist jedoch auf bereits vorangegangene Fälle solcher einsamer Tode von vor allem älteren Menschen. Demzufolge spricht bereits die Überschrift des Artikels von einem »erneuten kodokushi in Tokio« (ebd.*). Kotsuji und Kobayashi stellen aber heraus, dass vor den 1970er Jahren nur sehr sporadisch über derartige Fälle berichtet wurde, weshalb sich keine feste Bezeichnung für das
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Phänomen herausbilden konnte. Zur Stützung dieses Arguments führen sie Beispielfälle aus der Vorkriegszeit an, welche heutzutage als kodokushi bezeichnet werden würden, damals aber noch ohne festen Überbegriff verhandelt wurden (vgl. ebd.: 124-125). Auch das in den Zeitungsartikeln aus den 1970er und 1980er Jahren auftretende Wort kodokushi ließ einen großen Interpretationsspielraum zu und konnte unterschiedliche Phänomene beschreiben (vgl. z.B. Aoyagi 2008: 80). Aoyagi nennt zur Verdeutlichung dieser These das Beispiel eines als kodokushi bezeichneten Falles, bei dem der plötzliche Tod eines 70-jährigen Mannes während einer Zugfahrt im Jahr 1977 von den anderen Fahrgästen nicht bemerkt wurde (vgl. ebd.: 81). Trotz dieser uneinheitlichen Verwendung lässt sich jedoch der Beginn eines allgemeinen sozialpolitischen Interesses an der Thematik vermuten. Beispielsweise führten die nationalen Vertretungen von Shakyô und Minsei-iin bereits 1973 eine »Studie zur Erfassung der Tode von allein lebenden Alten« (ebd.: 82*) durch. 1987 erschien zudem eine große Studie des Tokioter Instituts für Rechtsmedizin, in der Statistiken über die in Tokio erfassten Wohnungsleichen, die Zeit bis zum Auffinden derselben, Todesursachen usw. aufgeführt wurden. Die Studie wurde öffentlich in der Tageszeitung Asahi Shinbun besprochen, wo der Leiter des Instituts Maßnahmen gegen die zunehmende Zahl derartiger kodokushi forderte (vgl. ebd.: 83). Die 1970er bis 1980er Jahre seien in dieser Hinsicht als erste Hochphase der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema sozialer Isolation in Japan zu verstehen (vgl. Kawai 2009: 14; 43). Zunächst seien wichtige englischsprachige Werke übersetzt worden, bevor in den 1980ern vermehrt eigene Studien durchgeführt worden seien (vgl. ebd.: 43-54).1 Zeitgleich wurden auch die ersten von bis in die Gegenwart aktiven 1 | Bei den übersetzten Werken seien insbesondere die Übersetzungen Townsends (im Jahr 1974) sowie Tunstalls (im Jahr 1978) bedeutsam gewesen (vgl. Kawai 2009: 43). Peter Townsend (vgl. 1957) prägte in einer seiner Studien die Unterscheidung zwischen »social isolation« und »loneliness«, auf die sich viele der heutigen japanischen Isolationsforscher beziehen.
4. Semantischer Wandel des Wortes kodokushi
gerontologischen Instituten in Japan gegründet. Hierzu gehören das 1972 eröffnete Tokyo Metropolitan Institute of Gerontology (vgl. TMIG 2010), die Japan Society for Biomedical Gerontology (1973) oder die Japanese Society of Gerodontology (1986) (vgl. JGS 2014). Zusammenfassend erkenne ich für die 1970er und 1980er Jahre ein gesteigertes sozialpolitisches wie wissenschaftliches Interesse an der kodokushi-Thematik. Dies ist einerseits sicherlich auf den Einfluss nicht-japanischer Forschungen zu sozialer Isolation und Vereinsamung im Alter zurückzuführen, welche nun verstärkt in Japan rezipiert werden konnten. Andererseits seien ab den 1970er Jahren Veränderungen der Familien- und Nachbarschaftsverhältnisse und die steigende Zahl allein lebender Alte erstmals offensichtlich geworden (vgl. Kawai 2009: 14; Otani 2010: 163). Da das Wort kodokushi jedoch noch für sehr heterogene Fälle von ungewöhnlichen Todesarten genutzt wurde, scheint der Kern des neuartigen Phänomens noch unbestimmt gewesen zu sein. Zudem wurden vor allem bestimmte gesellschaftliche Randgruppen als potentiell betroffen interpretiert. Für die große Mehrheit der Bevölkerung, welche sich einer Mittelschichtsgesellschaft zugehörig sah, setzte man stattdessen noch funktionierende soziale Netzwerke voraus (vgl. Aoyagi 2008: 81). Vor diesem Hintergrund lasse sich auch »das Erschrecken« bzw. »das Gefühl der Fremdheit« (ebd.*) nachvollziehen, welches die Menschen gegenüber den in den Medien dokumentierten kodokushi in dieser Zeit empfunden hätten. Aoyagi (2008: 83*) fasst die frühe Bedeutungsentwicklung und die gesellschaftliche Wirkung des Wortes daher wie folgt zusammen: »Der Begriff kodokushi wurde bereits seit den 1970er Jahren auch in Zeitungen verwendet, und es scheint, als sei man sich unter Experten bewusst gewesen, dass es sich um ein Thema handelt, mit dem man sich auseinan-
Jeremy Tunstall (vgl. 1966) hatte eine ebenfalls bedeutsame soziologische Studie zu Einsamkeitsempfinden im Alter durchgeführt.
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dersetzen müsse. […] Dass die [Allgemeinheit der] Menschen darauf aufmerksam [wurde], ist [aber] wohl ab 1996 passiert.«
Wodurch haben sich die 1990er Jahre aber so klar von vorherigen Dekaden unterschieden, und welche einschneidenden Veränderungen werden im Speziellen im Jahr 1996 so deutlich sichtbar?
4.2 B edeutungsschub durch die H anshin -A wa ji -E rdbebenk atastrophe Die 1990er Jahre waren in Japan – wie auch in vielen anderen Teilen der Welt – durch bedeutende Wandlungsprozesse gekennzeichnet. Diese gingen dabei zum einen auf Veränderungen des globalen Kontexts und zum anderen auf innergesellschaftliche Entwicklungen zurück. Letztere möchte ich in eine wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Dimension unterteilen. Auf der wirtschaftlichen Ebene stehen die 1990er Jahre in Japan für das Ende des hohen bzw. des stabilen Wirtschaftswachstums der Nachkriegszeit. Dies wird oftmals mit der vom Platzen der wirtschaftlichen Blase der 1980er Jahre ausgelösten schweren Rezession sowie mit der erhöhten Konkurrenz auf einem zunehmend als globalisiert begriffenen Markt in Verbindung gesetzt (vgl. u.a. Bailey et al. 2007; Suzuki et al. 2010: 435-435). Auf der politischen Ebene stehen die 1990er Jahre für die Auflösung des 1955er Systems (gojûgonen taisei), wodurch nach dem Ende der langjährigen Dominanz der LDP erstmals größere Wahlreformen durchgesetzt werden konnten (vgl. u.a. Reed 2003a; 2003b; Klein 2006: 257ff). In der Folge begann sich auch das zuvor als sicher empfundene japanische Beschäftigungssystem zu verändern, was sich in Maßnahmen wie Arbeitsplatzabbau oder anderen betriebsinternen Umstrukturierungen zeigte. Auf der gesellschaftlichen Ebene möchte ich aber vor allem die rapide fortschreitende Alterung der Gesellschaft erwähnen, da der Anteil der über 65-jährigen zwischen 1990 und 2000 von 12,1 % auf 17,4 % stieg (vgl. Naikakufu 2014:
4. Semantischer Wandel des Wortes kodokushi
5).2 Seitdem wird Japan im Anschluss an eine frühe Unterteilung der Vereinten Nationen (vgl. UN 1956) nicht mehr als »alternde Gesellschaft« (kôreikashakai), sondern als »gealterte Gesellschaft« (kôreishakai) klassifiziert. Die hiermit eng zusammenhängende Frage der Altenpflege wurde demnach zu einem bestimmenden gesellschaftlichen Thema, was sich auch in politischen Entscheidungen der Dekade widerspiegelt. So beschloss das Parlament 1997 die Einführung der Pflegeversicherung, welche im Jahr 2000 umgesetzt wurde. Zuvor stellte das damalige Gesundheitsministerium (MHW; jap. kôseishô) ehrgeizige sozialpolitische Pläne auf, welche vor allem den Ausbau des Systems stationärer wie ambulanter Altenpflege zum Ziel hatten und eine breite gesellschaftliche Beachtung fanden.3 Beispielsweise sollte die Pflegelast (kaigo tsukare) der Familien – insbesondere die der Töchter und Schwiegertöchter – vermindert und die Zahl jener pflegebedürftiger Senioren verringert werden, die aufgrund von fehlenden Pflegeheimplätzen zu hohen Kosten in Krankenhäusern untergebracht wurden.4 Diese Veränderungen werden heute oft als Ursprung neuer gesellschaftlicher Denkmuster interpretiert. Elliott et al. (2012: 430) betiteln die Zeit ab den 1990er Jahren daher beispielsweise als »Age of Fragmentation«, in der verstärkt »psychological way[s] of thin2 | Zwischen 1980 und 1990 war der Anteil noch weniger stark von 9,1 auf 12,1 % gestiegen (vgl. Naikakufu 2014: 5). 3 | Hierzu gehören der Gold Plan (gôrudo puran; eigentlich: kôreisha hokenfukushi suishin jûkanen senryaku) aus dem Jahr 1989, der neue Gold Plan (shin gôrudo puran; eigentlich: kôreisha hokenfukushi gokanen keikaku) 1994 oder auch der Gold Plan 21 (gôrudo puran 21; eigentlich: kongo gokanennkan no kôreisha hokenfukushi shisaku no hôkô) aus dem Jahr 1999 (vgl. u.a. Jenike 2003: 181). 4 | Letzteres zeigte sich vor allem in einem netakiri rôjin zero sakusen genannten Teil im Gold Plan (bzw. shin netakiri rôjin zero sakusen im New Gold Plan). Die Namensgebung erinnert stark an den in den 2000er Jahren ausgearbeitete Maßnahmenkatalog kodokushi zero sakusen des lokalen Projekts in der Tokiwadaira Danchi.
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king to explain self and society« genutzt worden seien. Durch die verstärkte Thematisierung gesellschaftlicher Probleme wie Armut oder Arbeitslosigkeit sei die Idee der Mittelstandsgesellschaft dabei möglicherweise immer stärker aufgebrochen, sodass negative Seiten des modernen Individualismus stärker in den Vordergrund rücken konnten. In diesem Zusammenhang seien Phänomene wie kodokushi oder gashi (ein »Tod durch Verhungern«) erstmals zu gesellschaftlichen Problemen erhoben worden. Dies zeigt sich unter anderem auch im vermehrten Auffinden von Wohnungsleichen in bestimmten Wohngegenden, welche jedoch nur lokal als Vorboten einer größeren Problematik erkannt worden seien (vgl. NHK/Sasaki 2007: 102-103). Auch die sozialwissenschaftliche Isolationsforschung erfuhr bedeutende Entwicklungsschübe (vgl. Kawai 2009: 54f). Trotzdem blieben die einsamen Tode eher ein gesellschaftliches Randphänomen, welchem erst durch ein besonderes Ereignis ab Mitte der 1990er Jahre verstärkte mediale Aufmerksamkeit entgegen gebracht wurde. Dieses einschneidende Ereignis, welches verschiedene Probleme der japanischen Gesellschaft auf einer Mikroebene veranschaulichte und so ins Zentrum gesellschaftspolitischer Debatten rückte, war die Erfahrung des Kôbe-Erdbebens vom 17.01.1995 – auf Japanisch als (Große) Hanshin-Awaji-Erdbebenkatastrophe (hanshin awaji daishinsai) bekannt.5 Durch die an das Erdbeben anknüpfende mediale Berichterstattung über vermehrt auftretende Fälle von einsamen Toden in den provisorischen Übergangswohnungen wurde das Wort kodokushi einer breiten Öffentlichkeit bekannt (vgl. u.a. Kôbe-shi 2008). Die Medienberichterstattung zu diesen kodokushi setzte schon einige Monate nach dem Erdbeben ein (vgl. Kobayashi/ Kotsuji 2011: 126) und findet laut Aoyagi (vgl. 2008: 80; 84) bezogen auf die Asahi Shinbun im Jahr 1996 ihren Höhepunkt. Nukada Isao (vgl. 1999: 46f) beschreibt die Rolle der Massenmedien dabei durchaus kritisch, da über die Berichterstattung eigentlich unprob5 | Das Erdbeben hatte 4571 Tote, über 14.000 Verletzte und Schäden in Höhe von 100 Milliarden US-Dollar zur Folge (vgl. u.a. Kobe City 2009).
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lematische Fälle – welche man mit dem Wort dokkyoshi neutral als »Tod eines Alleinwohnenden« bezeichnen könnte – zu kodokushi erklärt und damit problematisiert wurden. Sowieso sei kodokushi für ihn »nicht mehr als ein Kunstwort der Massenmedien« (ebd.: 46*). Diesen Eindruck bestätigt auch Junko Otani (2010: 161), für die kodokushi ein durch »sensational media reporting« geformtes »buzzword« ist. Der massenmedialen Berichterstattung würde somit eine enorme Bedeutung hinsichtlich der Prägung der Bezeichnung zufallen. Natürlich lässt sich spekulieren, ob es auch unabhängig vom Katastrophenkontext eine erhöhte gesellschaftliche Aufmerksamkeit gegenüber dem Problem sozialer Isolation im Alter gegeben hätte. Jedoch betonen eigentlich alle Autoren die Hanshin-Awaji-Erdbebenkatastrophe bzw. die ab 1996 vermehrt einsetzende mediale Berichterstattung als entscheidenden Einschnitt in der Ausbreitung des Wortes in der breiten öffentlichen Diskussion (vgl. z.B. Nukada 1999: 46f; NHK/Sasaki 2007: 122-128; Aoyagi 2008: 84f; Motoki 2008: 65; Kawai 2009: 55; Kobayashi/Kotsuji 2011: 126f; MIC 2013: 2). Dieser unmittelbare Bezug zum Katastrophenkontext spiegelt sich auch in den ersten Definitionen des Wortes kodokushi wider. In Anlehnung an den in den provisorischen Übergangswohnungen beobachteten polizeilichen Umgang mit Wohnungsleichen bezeichnet Nukada (1999: 47*) kodokushi als »einen unnormalen Tod [ijôshi], bei dem ein allein lebendes Katastrophenopfer von niemandem umsorgt stirbt, [wodurch der Tod] im Nachhinein Gegenstand einer polizeilichen Obduktion wird.«
Auffällig bei dieser Definition ist zunächst die deutliche Problematisierung der Todesform als unnormal oder ungewöhnlich. Kodokushi wird zum Ausdruck für eine Abweichung von einer erwarteten Normalität oder von einem gesellschaftlich gewünschten Idealbild. In der Definition finden sich bereits viele Bestandteile von noch heute gebräuchlichen Definitionen, welche im fünften Kapitel analysiert werden. Jedoch begrenzt Nukada seine Defini-
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tion explizit auf die Gruppe der Katastrophenopfer. Somit bleibt das Phänomen der einsamen Tode lokal auf die provisorischen Hilfsbehausungen, personell auf die darin unbegleitet verstorbenen Menschen beschränkt. Diese Beschränkung stellt kodokushi als Produkt einer Ausnahmesituation dar. Allgemeine Umstände, die zu einer Vereinsamung alter Menschen führen, können hierdurch leicht übersehen werden. Im Gegensatz zu einer solchen Exotisierung des Phänomens erkennt Nukada (1999: 114*), dass es für das Verständnis der Situation in den provisorischen Übergangswohnungen unerlässlich sei, »zunächst die Wirklichkeit der einsamen Tode außerhalb derselben zu verstehen«. Somit wird schon bei Nukada eine Verschiebung des Problembewusstseins deutlich. Seine auf diese Erkenntnis folgenden Beobachtungen und Nachforschungen in anderen Teilen Japans (vor allem in der Präfektur Ôita) fasst er schließlich in einer vom Katastrophenkontext gelösten Definition zusammen: »Kodokushi bezeichnet den Tod von Menschen, die über ein geringes Einkommen verfügen, an chronischen Krankheiten leiden, vollständig von der Gesellschaft isoliert sind, und in minderwertigen Behausungen oder in peripheren Gegenden leben, und die dann an Krankheit oder durch Suizid umkommen.« (Ebd.: 137*)
Nukada ist sich zudem sicher, dass sich diese Probleme sowohl in ländlichen wie auch in städtischen Regionen zeigen würden, so dass man im Allgemeinen von einem angebrochenen »Zeitalter des einsamen Sterbens« (ebd.: 135*) sprechen könne. Dies spiegele sich aber nicht in der medialen Berichterstattung wider, da diese sich fast ausschließlich auf die Fälle in den provisorischen Übergangswohnungen beziehe (vgl. ebd.). Die mediale Thematisierung des Phänomens führe so zu einer Verharmlosung des Problems – auch da die einsamen Tode vorrangig als eine »unnormale Art des Sterbens« (ebd.*) dargestellt werden, obwohl sich das Problem eigentlich auf »eine bis zur Ungewöhnlichkeit entfremdete Lebensführung« (ebd.*) beziehe. Diese Kritik an der Wirkung oder den
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Tendenzen der medialen Berichterstattung wird von vielen Autoren geteilt. Beispielsweise erklärt auch Yôkô Kadoya (2005): »Kodokushi is not a specific issue in a time of disaster. The disaster only revealed the problem which may happen to anybody when loneliness coincides with poverty. What should fundamentally be taken are measures to relieve poverty.«
Kadoya sieht die Berichterstattung zu kodokushi somit auch kritisch, da durch sie der Blick von der ihrer Meinung nach eigentlich relevanten Problematik – nämlich Armut – abgelenkt wird. Demgegenüber betonen andere Autoren die positiven Effekte der Medienberichte, da kodokushi erstmals in einem größerem Rahmen als gesellschaftliches Problem thematisiert wurde. Zudem seien Erklärungen für die Entstehung einsamer Tode geliefert worden, welche auch für das Verständnis der Situation außerhalb der provisorischen Übergangswohnungen hilfreich gewesen seien. Denn vor 1995 war meistens die »Ausdünnung der Nachbarschaftsverhältnisse« (Aoyagi 2008: 85*) als Haupterklärung für soziale Isolation und einsame Tode herangezogen worden. Durch die Erfahrung der einsamen Tode im Zuge der Hanshin-Awaji-Erdbebenkatastrophe sei jedoch auch die Bedeutung von Faktoren wie »schlechtes Wohnumfeld, niedriges Einkommen, chronische Krankheiten oder Alkoholismus« (ebd.*) stärker beachtet worden. Insofern wird die Berichterstattung nach der Erdbebenkatastrophe einerseits als großer Bedeutungsschub für die öffentliche Debatte um die einsamen Tode interpretiert. Andererseits wird die Berichterstattung auch kritisch gesehen, da sie die Wahrnehmung von kodokushi als Ausnahme- oder Krisenphänomen gefördert und eine allgemeine Problematisierung behindert habe. Gleichzeitig fällt auf, dass das Phänomen an sich noch relativ unbestimmt wirkt und – zumindest bei Nukada – explizit nicht von Suizidfällen abgegrenzt wird.
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4.3 A nkunft der einsamen Tode in der Tokiwadair a D anchi 4.3.1 Aufsehenerregende Fälle Diese noch mit verschiedenen Einschränkungen verbundene Vorstellung eines kodokushi wurde von den Bewohnern der Tokiwadaira Danchi spätestens im Jahr 2001 gezwungenermaßen hinterfragt. Damals ließen mehrere Fälle von über längere Zeiträume unbemerkt bleibenden Wohnungsleichen vermuten, dass das Phänomen nicht auf die besondere Situation von in provisorischen Übergangsheimen wohnenden, durch eine Umweltkatastrophe zerrissenen Nachbarschaftsgemeinschaften beschränkt sei. Zunächst wurde im Frühling des Jahres 2001 eine skelettierte Leiche eines alleinlebenden 69-jährigen Mannes gefunden, welche laut dem Ergebnis der polizeilichen Untersuchung bereits drei Jahre auf dem Fußboden einer Wohnung in der danchi gelegen hatte. Die Leiche war entdeckt worden, als ein Angestellter der Vermietungsgesellschaft die Polizei gerufen hatte, weil der Mieter auf postalische Mietzahlungsaufforderungen nicht reagiert hatte und auch beim persönlichen Besuch nicht die Tür geöffnet hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt waren alle Miet- und Unterhaltungskosten per automatischer Überweisung abgebucht worden, jedoch waren die Ersparnisse des Mieters nun aufgebraucht, weshalb die Vermietungsgesellschaft keine Zahlungen mehr erhalten hatte. Nachforschungen ergaben, dass der Mann geschieden war, und weder zu seinen Kindern noch zu seinen Geschwistern Kontakt gepflegt hatte. Auch zu seinen Nachbarn bestand kein sozialer Kontakt (für ausführlichere Schilderungen des Falles vgl. u.a. NHK/Sasaki 2007: 22-24; Nakazawa 2008: 3-5). Diese Erfahrung war »für alle Bewohner ein großer Schock[:] Denn alle hatten gedacht, dass kodokushi etwas sei, was [nur] unter besonderen Umständen – und nicht in einer danchi – auftreten könne« (Ichijô 2011: 176*). Zudem stellte ein solch schwerer Fall eines einsames Todes insbesondere für die zivilgesellschaftlich engagierten Bewohner etwas Peinliches dar, wodurch die eigene Wohnum-
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gebung in ein schlechtes Licht gerückt werden könnte (vgl. NHK/ Sasaki 2007: 24). Im Mai des Jahres 2002 wurde dann ein weiterer aufsehenerregender Fall eines 50-jährigen Mannes entdeckt, dessen Leiche drei Monate unbemerkt in seiner Wohnung gelegen hatte (vgl. u.a. NHK/Sasaki 2007: 24-25). Das geringe Alter des Mannes habe gezeigt, dass die kodokushi-Problematik sich nicht auf die Alten beschränkte, sondern auch Mittelalte betreffen könne. Diese habe man zuvor nicht als »Schwache« (ebd.: 25*) angesehen und wollte zudem ihre Privatsphäre schützen. Daneben veranschaulichte der Fall auch, welche Kosten vor allem auf Vermieter und Angehörige nach einem einsamen Tod zukommen können. In diesem schweren Fall sollen sich die Kosten für die Handhabung der Leiche sowie für die Säuberung und Desinfektion der Wohnung dabei durch den enormen Insekten- und Geruchsbefall auf ungefähr 800.000 Yen belaufen haben (vgl. Nakazawa 2008: 6).6 In der Folge beschlossen die Verantwortlichen der drei größten zivilgesellschaftlichen Organisationen der kodokushi-Problematik von dem Zeitpunkt an aktiv zu begegnen (vgl. NHK/Sasaki 2007: 25). In Zusammenarbeit mit verschiedenen anderen lokalen Akteuren wurde daraufhin das kodokushi zero-Projekt erarbeitet, welches im siebten Kapitel ausführlich besprochen wird. Natürlich war die Initiative in der Tokiwadaira Danchi dabei niemals die erste und einzige ihrer Art. Kobayashi und Kotsuji stellen beispielsweise einen Zeitungsartikel aus dem Jahr 1992 vor, in dem beschrieben wird, wie das Shakyô einer Stadt in der Präfektur Kyôto mit der lokalen Vereinigung der Minsei-iin sowie der örtlichen Poststelle zusammenarbeitet, um allein lebenden Senioren zu helfen (vgl. Kobayashi/Kotsuji 2011: 125f). Jedoch ist die Initiative der Tokiwadaira Danchi insofern einzigartig, da sie offensiv versucht, die gesellschaftliche Aufmerksamkeit gegenüber der Problematik zu steigern, und ihre Ideen aktiv nach außen trägt. So erlangte das Projekt aufgrund offensiver Öffentlichkeitsarbeit und guter medialer Vernetzung einen landesweiten Bekanntheitsgrad, weshalb ihm eine 6 | Beim damaligen Wechselkurs wären dies circa 6600 Euro gewesen.
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bedeutende Rolle bezüglich des Wandels des Wortes kodokushi eingeräumt werden muss. Im Interview mit Herrn T postulierte dieser gar eine gefühlte Untrennbarkeit der Themen kodokushi und Tokiwadaira Danchi. Heutzutage sei man daher gezwungen sich mit der Frage zu beschäftigen, was die Tokiwadaira Danchi darstelle, wenn man sich über einsame Tode informieren wolle (vgl. auch Kimura 2011: 53). Die besondere Bedeutung der Tokiwadaira Danchi für die allgemeine gesellschaftliche Problematisierung der einsamen Tode geht vor allem auf eine Reportage von Japans öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalt NHK aus dem Jahr 2005 zurück. Diese näherte sich der Thematik der einsamen Tode über Beispielfälle aus der danchi und stellte lokale Gegenmaßnahmen vor. Heute wird dieser Reportage eine enorme gesellschaftliche Wirkung zugesprochen (vgl. u.a. MIC 2013: 2), was den nationalen Bekanntheitsgrad der Lösungsversuche in der Tokiwadaira Danchi in Teilen erklären kann. Auch Ichijô Shinya (2011: 174*) bestätigt die Bedeutung der Reportage: »Es wird allgemein angenommen, dass der Auslöser dafür, dass die Japaner ernsthaft anfingen, über kodokushi nachzudenken, eine bestimmte Fernsehsendung war. Dies war die Spezialsendung »Alleine in einem Zimmer im danchi« der NHK (vom 24.09.2005).«
Ausgangspunkt der Dokumentation waren Recherchearbeiten in einer anderen danchi im Tokioter Einzugsbereich, bei denen dem Journalistenteam die veränderte Atmosphäre des Lebensumfelds in den früheren new towns aufgefallen war (vgl. NHK/Sasaki 2007: 14-19). Im Gegensatz zur eigenen Kindheitserfahrung einer belebten und vergnüglichen danchi hätte diese sich heutzutage zu einem stillen, hauptsächlich von Alleinlebenden bewohnten Ort gewandelt. Die Konsequenz seien fehlende nachbarschaftliche Kontakte, eine Ausdünnung des sozialen Netzwerks und schließlich einsame Tode. Bei der Recherche fiel im Besonderen auf, dass »kodokushi nicht nur ein Problem der Alten sei« (ebd.: 17*).
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Die Problematik der einsamen Tode durchlief in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts somit verschiedene Bedeutungsschübe im gesellschaftlichen Bewusstsein. Die in den 2000er Jahren in den Medien besprochenen Fälle aus dem Lebensumfeld einer danchi sorgten dafür, dass sich die Thematik von dem in den 1990er Jahren noch weit verbreiteten Bezug zu einer Krisensituation lösen konnte und dass nicht nur Senioren als potentielle Opfer erkannt wurden. Wie aber kam es dazu, dass die ehemaligen new towns ab den 2000er Jahren plötzlich im Zentrum der gesellschaftlichen Debatte um einsame Tode standen? Was war im Speziellen in der Tokiwadaira Danchi geschehen, dass »die [früher] von jungen Ehepaaren und ihren Kindern überlaufene Traum-danchi nach einem knappen halben Jahrhundert auf einmal einsame Tode zu sich hineinlassen musste« (Ichijô 2011: 175*)?
4.3.2 Der allgemeine Wandel der danchi Im Hintergrund dieser Prozesse findet sich eine grundlegende Veränderung des gesellschaftlichen Bilds der danchi: »[…] Und dass [die Tokiwadaira Danchi] früher sehr beliebt war, wissen [noch heute] alle. Aber die [damalige] Beliebtheit nimmt immer mehr ab. Es gibt viele Probleme.« (Interview Herr T*)
Für die Situation der danchi im Allgemeinen beschreibt Fukuhara (2001: 88*), dass sich frühere »Lichter« der new towns zu »Schatten« entwickelt haben. Diesen Attraktivitätsverlust bezieht er sowohl auf das äußere Erscheinungsbild der Gebäude als auch auf das gesellschaftliche Leben innerhalb der Wohnsiedlung. So sehe man den ehemals dem neuesten Trend der Zeit entsprechenden Stahlbetonbauten ihr Alter heute teils deutlich an (vgl. ebd.: 76-77). Viele danchi benötigen daher Renovierungsarbeiten, was weiter zu Problemen des Leerstands oder zu Mieterhöhungen führen kann (vgl. TKWD Jichikai 2001). Daneben habe sich mit dem Wirtschaftswachstum vor allem der anvisierte Lebensstandard der Mehrheit der Bevölke-
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rung enorm gewandelt, wodurch die alten danchi den veränderten Ansprüchen an die Wohnverhältnisse nur noch bedingt entsprechen können (vgl. Fukuhara 2001: 88). In der Tokiwadaira Danchi war in diesem Zusammenhang auch die allgemeine Ausbreitung des eigenen Automobilbesitzes (maikâ) problematisch, da im Vergleich zur Zahl der Einwohner relativ wenige Parkplätze vor den Häusern oder an den Straßen vorhanden sind. Ein Hauptproblem der alten danchi stellt aber vor allem die nicht mehr ausreichende Größe der 2-DK-Wohnungen dar (vgl. ebd.: 7778). Insbesondere da die nun als zu eng empfundenen Wohnungen keine eigenen Zimmer für die heranwachsenden Kinder boten, setzten in vielen danchi circa 10 oder 15 Jahre nach der jeweiligen Eröffnung große Auszugswellen ein und viele Familien wagten den Schritt zum Eigenheim (vgl. Schmidtpott 2009: 199ff; 205).7 Dies hatte im Beispiel des Felds unter Umständen jedoch keinen weiten Ortswechsel zur Folge, da die auf der Nordseite des Bahnhofs Tokiwadaira gelegenen Bezirke von in dieser Zeit gebauten Eigenheimen geprägt sind. Demgegenüber ist für die auf der Südseite des Bahnhofs gelegene danchi ein anderer Trend zu beobachten. Denn da die Wohnungen in der danchi insbesondere für Familien nicht mehr attraktiv sind, ist der Anteil der Einpersonenhaushalte rasant angestiegen. Dôtare et al. (vgl. 2013: 58) folgend leben ungefähr 45 % der Bewohner der Tokiwadaira Danchi allein, was im Vergleich zu den 30,2 % in der gesamten Präfektur Chiba im Jahr 2010 einen überdurchschnittlich hohen Wert ergibt (vgl. Chiba-ken 2011: 15). Dieser Trend zu Einpersonenhaushalten wird im Japanischen als tanshinka bezeichnet, was sich mit »Vereinzelung« oder »Singularisierung« übersetzen lässt. Der Begriff ist ein zentrales Schlagwort der gegenwärtigen Debatte um die einsamen Tode (vgl. v.a. Fujimori 2010; 7 | Der Trend aus den danchi der Vorstädte fortzuziehen wurde auch durch den nach dem Platzen der Bubble Economy einsetzenden Fall der Grundstückspreise in den Innenstädten verstärkt, so dass die Vorstädte ihren relativen Preisvorteil teilweise einbüßten (vgl. Fukuhara 2001: 162).
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NHK 2010; Tachibanaki 2011) und hängt eng mit populären Deutungen jüngerer Individualisierungsprozesse in Japan zusammen. Machten die Einpersonenhaushalte 1960 nur circa 5 % aller Haushalte aus, stieg diese Zahl bis 1980 auf fast 15 %, um heute bei ungefähr einem Drittel angekommen zu sein (vgl. Tachibanaki 2011: 26). Die ungleiche geographische Verteilung der Einpersonenhaushalte zeigt sich dabei insbesondere in den kleinen Wohnungen der danchi, welche zu Zentren der Vereinzelung wurden. Die konzentrierte Ansammlung von Einpersonenhaushalten in den danchi hängt auch mit den für heutige Verhältnisse relativ niedrigen Mieten zusammen (vgl. NHK/Sasaki 2007: 41f). Zudem wurden auch frühere Beschränkungen, die keine Einpersonenhaushalte in 2-DK- oder 3-K-Wohnungen erlaubten, nach und nach von der Vermietungsgesellschaft gelockert (vgl. ebd.). Die danchi symbolisieren daher nicht nur den Übergang zum Kernfamilienzeitalter in den 1960er und 1970er Jahren, sondern auch den gegenwärtigen Auf bruch in ein »Zeitalter der Vereinzelung« (NHK 2010: 113*). Der Grad der Problematik der Vereinzelung wird jedoch erst in Verbindung mit einem weiteren, die Bevölkerungsstruktur der danchi betreffenden Trend deutlich. Denn aufgrund der gesunkenen Attraktivität für Familien sind die danchi in besonderem Maße von der Alterung ihrer Bewohnerschaft betroffen. Der Auszug der jüngeren Generationen wurde nicht durch einen Zuzug neuer junger Familien ausgeglichen, weshalb die Bewohnerschaft der danchi heute vermehrt aus mittelalten und alten Menschen besteht. Zwar zeichnet sich die japanische Gesellschaft im Gesamten durch einen stark anwachsenden Altenanteil und eine rapide gesunkene Geburtenrate aus (shôshikôreishakai), doch zeigt sich dies in den danchi – aufgrund der relativ niedrigen Zahl an ansässigen Familien mit Kindern – besonders deutlich. So stieg der Anteil der über 65-jährigen in der Tokiwadaira Danchi in den letzten Jahren über die 40 %-Marke (vgl. Dôtare et al. 2013: 51; Chiba Minkyô 2013) und ist damit ungefähr doppelt so hoch wie im gesamten Stadtgebiet der Stadt Matsudo (vgl. Matsudo-shi 2012). Vor allem der Vergleich mit den 1960er Jahren ist hier bezeichnend, denn damals wohn-
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te nicht ein über 65-jähriger in der Tokiwadaira Danchi und 60 % der Bewohnerschaft hatten ihr 30. Lebensjahr noch nicht erreicht (vgl. NHK/Sasaki 2007: 40). In der Tokiwadaira Danchi zieht dieser hohe Altenanteil des Weiteren eine Pflegeproblematik nach sich, da die Wohnungen nicht altengerecht oder barrierefrei eingerichtet sind und die mehrstöckigen Wohngebäude über keine Aufzüge verfügen. Dies kann das Risiko einer ungewollten sozialen Isolation erheblich erhöhen. Die veränderte Struktur der Bewohnerschaft wirkt sich zudem auch auf das Leben im Wohngebiet aus. Daher kann man Entwicklungen wie »das Erlöschen der Lebendigkeit der Versammlungsplätze«, »den Niedergang der Nachbarschaftszentren« oder »die Zunahme von leerstehenden Geschäften«, welche Fukuhara (2001: 88*) als typisch für den gegenwärtigen Zustand der meisten japanischen danchi nennt, sicherlich auch in der Tokiwadaira Danchi erkennen. Am deutlichsten wird dies am Beispiel der zentralen Ladenzeile, in der zum Zeitpunkt der Feldforschung 5 der 19 vorhandenen Ladenlokale (zumindest temporär) leer standen. Im Falle des größten Ladenlokals, welches bis 2013 ein Lebensmittelgeschäft beherbergte und eine zentrale Anlaufstelle der Nachbarschaft darstellte (vgl. TKWD Chûô Shôtenkai 2014), entwickelte sich dieser Leerstand zu einem lokal diskutierten Problem und wurde von der Jichikai öffentlich angeprangert (vgl. TKWD Jichikai 2013: 1). Der Großteil der anderen Ladenlokale wurde von Einrichtungen mit Wohlfahrtsbezug – wie Ärzten, Apotheken, einem Pflegedienst und dem später besprochenen Altencafé – sowie von zwei Frisören belegt. Da diese Einrichtungen aber oftmals nicht durchgängig geöffnet hatten, machte die Ladenzeile einen eher trostlosen Eindruck. Auch die wenigen anderen Geschäfte, die sich in den zudem sehr kleinen Ladenlokalen gehalten haben, bestätigten diesen Eindruck und wirkten nicht sonderlich stark frequentiert (vgl. Abbildung 4).
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Abbildung 4: Leerstand in der zentralen Einkaufszeile der danchi (eigene Aufnahme)
Dass sich das nachbarschaftliche Leben mit den veränderten Bedürfnissen der gealterten Bewohnerschaft wandelt, wird auch bei einem Blick auf die Schülerzahlen deutlich. Zwar kam es in der Tokiwadaira Danchi noch nicht zu Zusammenlegungen oder Schließungen von Schulen, wie sie Fukuhara (vgl. 2001: 62-69) für andere danchi beschreibt, doch sind vor allem die Grundschulen von einem immensen Rückgang der Schülerzahlen betroffen. Die 1960 zeitgleich mit der ersten Einzugswelle fertig gestellte Tokiwadaira Dai-ichi Shôgakkô wurde in der Hochphase der danchi zeitweise von über 1500 Schülern besucht – wobei das Jahr 1971 mit 1612 Schülern und 46 Angestellten den Höhepunkt der Entwicklung darstellte (vgl. TKWD Dai-ichi Shôgakkô 2014). Bis zum Jahr 1980 fiel die Schülerzahl auf 1190, zum Übergang in die Heisei-Zeit 1989 dann auf 758. Im Jahr 2012 wurde die Schule von nur noch 281 Schülern besucht (vgl. ebd.). Dies stellt einen Hauptunterschied zwischen der gegenwärtigen Situation und der früheren Blütezeit dar, wel-
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cher sich im nachbarschaftlichen Leben deutlich bemerkbar macht. Seien die danchi früher von der Geräuschkulisse spielender Kinder gekennzeichnet gewesen (vgl. Schmidtpott 2009: 242), sollen sie heute von einer Stille charakterisiert sein, die höchstens mal »vom Ton eines in irgendeinem Zimmer laufenden Fernsehers« (NHK 2010: 115*) unterbrochen werde. All diese Faktoren – die gealterte Bausubstanz, das veraltete Wohnkonzept, die Enge der Wohnungen, der vermehrte Auszug bestimmter Gruppen von Mietern, sowie der hierauf folgende Leerstand und Niedergang des nachbarschaftlichen Lebens – haben zur Folge, dass das Ansehen der danchi heute stark abgenommen hat. Erfolglose Versuche von Seiten der Vermietungsgesellschaft, diesem Trend durch die Bewerbung des »liebenswerten Retrostils« (Real Danchi Estate 2014*) der Wohnungen oder durch größere Umbaumaßnahmen entgegen zu steuern, verschärften die Probleme – vor allem das des Leerstands – möglicherweise sogar. In der Folge besteht die Bewohnerschaft der danchi heutzutage eher aus Geringverdienern und ärmeren Schichten. In der Tokiwadaira Danchi spiegelt sich dies auch in der erhöhten Zahl chinesischer und koreanischer Immigranten unter den Bewohnern wider. Diesen seien die nachbarschaftlichen Gebräuche in Japan zudem oftmals nicht vertraut, wodurch weitere Probleme entstehen könnten (vgl. NHK/Sasaki 2007: 45). In dieser Deutung würden große Teile der Bewohnerschaft von sozialen Gruppen ausgemacht werden, die sich nur eingeschränkt am nachbarschaftlichen Leben beteiligen können oder wollen – wozu Alte, (männliche) Alleinlebende und Immigranten gehörten (vgl. ebd.). Dies hätte zu einem »Zusammenbruch der Gemeinschaft« (ebd.*) geführt, weshalb Kimura (2011: 50ff; 61*) den momentanen Zustand der danchi durch Begriffe wie »Prekarisierung«, »Slumisierung« oder »Vergeisterstädterung« charakterisiert. Ich denke jedoch nicht, dass derartige Begriffe für die Beschreibung des nachbarschaftlichen Lebens in der Tokiwadaira Danchi geeignet sind. Stattdessen weise ich darauf hin, dass Tokiwadaira von mehreren Experten – darunter ein im Bereich der häuslichen Pflege sehr engagierter Arzt sowie eine Vertreterin einer auf dem
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Gebiet der sozialen Wohlfahrt aktiven NPO – sogar als Ausnahmeerscheinung für eine danchi mit einem noch funktionierenden Nachbarschaftsnetz bezeichnet wurde. Dieser besonderen Situation sind sich die Verantwortlichen in den großen zivilgesellschaftlichen Organisationen durchaus bewusst und versuchen sie nach außen in ihrer Öffentlichkeitsarbeit wie nach innen bei der Durchführung ihrer Aktivitäten produktiv zu nutzen. Dies stellte vor allem Anfang der 2000er Jahre einen deutlichen Kontrast zu der Situation in anderen Großwohnsiedlungen dar, wo teilweise aus Sorge um das Image des eigenen Wohnumfelds weder die kodokushi-Thematik direkt angesprochen noch andere eigene Probleme nach außen hin kommuniziert wurden (vgl. NHK/Sasaki 2007: 17; 18).
4.4 Thematische V erknüpfungen der 2000 er J ahre In den 2000er Jahren traten verschiedene gesellschaftliche Tendenzen zunächst in der besonderen Umwelt der ehemaligen new towns in Erscheinung bzw. zeigten sich hier in gehäufter Form. Dies gilt für die rapide Alterung der Gesellschaft oder die sinkende Geburtenrate genauso wie für den Trend zum Einpersonenhaushalt und die Armutsproblematik. Mit diesen Entwicklungen sind Debatten über die Zerstörung des nachbarschaftlichen Lebens oder über die abnehmende gesellschaftliche Bedeutung der Familie eng verbunden. Zwar stellen derartige Theorien oder Diskussionen – wie in vorangegangenen Kapiteln beschrieben wurde – nichts absolut Neuartiges in der Geschichte der japanischen Gesellschaft dar. Jedoch rückten sie ab den 2000er Jahren deutlicher in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit und wurden mit Hilfe neuer Schlagwörter verhandelt. Vor allem über Begriffe wie wâkingu pua (vom englischen »working poor«) und kakusa shakai – in etwa »Differenzgesellschaft« oder »polarisierte Gesellschaft« – wurden dabei Thematiken wie Armut oder soziale Exklusion in den Vordergrund gerückt. Dieser neue Fokus hatte auch Folgen für die Deutung der einsamen Tode als allgemeines gesellschaftliches Problem und
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kann die steigende Aufmerksamkeit, die dem Phänomen ab den 2000er Jahren zufiel, zumindest in Teilen erklären. Aoyagi (2008: 87*) erwähnt, dass die einsamen Tode bis in die Mitte der 2000er Jahre mehrheitlich entweder unter dem Stichwort »Einsamkeit innerhalb der Großstadt« oder im Katastrophenkontext verhandelt wurden. Seit 2006 jedoch, habe sich dies durch die einsetzende Debatte über Erwerbsarmut gewandelt (vgl. ebd.). Letztere wird in Japan mit dem Anglizismus wâkingu pua bezeichnet. Einen Anstoß zur Debatte gab dabei auch hier eine Reihe von Reportagen der NHK, welche ab dem 23.07.2006 ausgestrahlt wurden und eine Vielzahl von Publikationen nach sich zogen (vgl. u.a. Kadokura 2006; NHK 2007; Iwata 2008; Kadokura 2008; NHK 2008; Ôyama 2008). Die working poor Problematik wurde stark von der vorausgegangenen gleichnamigen US-amerikanischen Debatte beeinflusst und wird teilweise auf Prozesse der Amerikanisierung und Globalisierung zurückgeführt (vgl. Kadokura 2006: 18-19; NHK 2008: 5).8 Die Diskussion ist eng verbunden mit dem allgemeinen Wandel des japanischen Arbeitsmarktes, welcher sich in der Thematisierung von irregulären Beschäftigungsverhältnissen ( furîtâ) oder dem NEET-Phänomen (nîto), und der Entsendung von Zeitarbeitern (haken rôdô) manifestierte. Doch auch der »Zusammenbruch der Sicherheitsnetze und Probleme des Rentensystems und der medizinischen Versorgung« (NHK 2008: 7*) wurden als verwandte Themenfelder erkannt. Im Hintergrund dieser Diskussionen steht die Erfahrung der Rezession der 1990er Jahre und der sich ab 1997 abzeichnenden Asienkrise, welche vor allem unter den Regierungen von Premierminister Koizumi Jun’ichirô Anfang der 2000er Jahre zu vom neoliberalen Denken beeinflussten Restrukturierungsmaßnahmen (kôzôkaikaku) und Prozessen der Deregulierung (kiseikanwa) führte. In diesem Prozess wurde das unternehmerische Vokabular in den japanischen Medien auf die Gesamtgesellschaft übertragen, sodass 8 | In diesem Zeitraum wurde auch Kevin D. Shiplers (2004) Bestseller »Working Poor. Invisible in America« im Jahr 2007 ins Japanische übersetzt (vgl. Shipler et al. 2007).
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diese in »Gewinner-Teams« (kachigumi) und »Verlierer-Teams« (makegumi) eingeteilt wurde (vgl. Schad-Seifert 2007: 115). Der Soziologe Yamada Masahiro hat die mit diesem Denken verbundenen Phänomene eines Auseinanderdriftens der Gesellschaft unter dem Stichwort kakusa shakai zusammengefasst (vgl. Yamada 2004). Yamada beschreibt damit nicht nur quantitativ messbare Ungleichheiten oder Kluften (vgl. hierzu u.a. Tachibanaki 1998), sondern auch die qualitative Wahrnehmung dieser Ungleichheiten und mögliche psychologische Konsequenzen auf der Ebene des Individuums. Vor dem Hintergrund dieser kritischen Bewertung der japanischen Gesellschaft wurden auch die einsamen Tode vermehrt in den Medien aufgegriffen und als wachsendes gesellschaftliches Problem identifiziert. In diesem Kontext sind vor allem die bereits besprochene NHK-Dokumentation (vgl. NHK/Sasaki 2007) und spezielle Artikelserien wie die der Tageszeitung Tôkyô Shinbun im Jahr 2006 zu nennen (vgl. ebd.: 33). Ebenso erschienen eine erste kodokushi-Studie der nationalen Vereinigung der demokratischen Mediziner (vgl. Zennihon Min-i-ren 2007) und eine über einen längeren Zeitraum durchgeführte Studie des Tokioter Instituts für Rechtsmedizin (vgl. Tôkyô-to Kansatsu imuin 2011). Somit wirken die 2000er Jahre als Zeit der Verbreitung einer gesellschaftlichen Krisenstimmung, wobei die vom vorherigen Katastrophenkontext gelösten einsamen Tode eines von mehreren Krisenthemen waren. Die Brücke zwischen diesen verschiedenen Krisensymptomen stellte dabei eine gefühlte Unsicherheit aufgrund der Erkenntnis über das Versagen gesellschaftlicher Sicherheitsnetze dar. Über Begriffe wie kakusa shakai und wâkingu pua wurde die gesellschaftliche Polarisierung bei den jüngeren und mittelalten Altersgruppen behandelt, während dies bezogen auf die älteren Kohorten über Themen wie einsame Tode oder Vereinsamung im Alter geschah. Suzuki et al. (2010: 514) bezeichnen diese historische Phase daher als »age of anxiety and uncertainty« und betrachten sie im Anschluss an vergleichbare soziale Wandlungsprozesse im Europa der 1970er Jahre als Anfang einer zweiten Moderne in Japan (vgl. ebd.). In diesem Zusammenhang wurden bedeutende Theo-
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rien über die reflexive Moderne und einen neuen Individualismus, welche in der Folge noch ausführlicher besprochen werden, verstärkt in Japan rezipiert, was sich auf der wissenschaftlichen Ebene beispielsweise an der Aufnahme des Begriffs der Risikogesellschaft (risuko shakai) zeigte (vgl. Shisô 2004; Tachibanaki 2004). In den bisherigen Ausführungen wurde deutlich, wie verschiedene Problembereiche der japanischen Gesellschaft innerhalb der letzten zwei Dekaden immer intensiver diskutiert wurden und so tief ins öffentliche Bewusstsein vorrückten. In dieser Hinsicht wurden Themenfelder wie soziale Isolation in verschiedenen Altersgruppen, das Zusammenbrechen von Familien- und Nachbarschaftsbeziehungen, prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Armut immer stärker in Beziehung zueinander gesetzt, wodurch ein sehr krisenhaftes Bild der japanischen Gesellschaft gezeichnet wird. Auf diese Weise wurde das Phänomen des einsamen Todes immer stärker entmarginalisiert und von einem Problem, das nur soziale Randgruppen betrifft oder nur unter ganz besonderen Umständen auftreten kann, zu einer Angelegenheit aller Gesellschaftsmitglieder gemacht. Dieser Trend wurde auch dadurch unterstützt, dass immer wieder spektakuläre Todesfälle auftraten, welche in der medialen Berichterstattung als kodokushi betitelt wurden. Beispielsweise wurde die TV-Persönlichkeit Ai Iijima im Jahr 2008 in ihrer Wohnung liegend gefunden, als nach ihrem Ableben schon ungefähr eine Woche vergangen war (vgl. Japan Times 2008). Ebenso wurde 2009 die ehemalige Schauspielerin Ôhara Reiko mehrere Tage nach ihrem Ableben in ihrer Wohnung aufgefunden, was die mediale Diskussion zum Thema kodokushi erneut anheizte (vgl. u.a. Morioka 2012: 171f). Beide Fälle machten deutlich, dass auch Ruhm oder finanzielle Absicherung nicht unbedingt vor einem einsamen Tod schützen könne und das Phänomen deshalb nicht auf Geringverdiener oder Alte begrenzt sei. So wurde kodokushi in der medialen Berichterstattung immer mehr vom lokalen Bezug einer danchi gelöst und verstärkt als Phänomen, das potentiell jeden betreffen könne, aufgefasst.
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4.5 »D ie Theorie der beziehungslosen G esellschaft« (muenshak airon) Diese Tendenz der Entmarginalisierung der Problematik findet ab 2010 seinen vorläufigen Höhepunkt, als sich der Fokus des Diskurses erneut verändert. Wurden die einsamen Tode in den 2000er Jahren noch als Folge von (Erwerbs-)Armut und einer wachsenden gesellschaftlichen Polarisierung in Wohlhabende (»Gewinner«) und Geringverdiener (»Verlierer«) interpretiert, wird nun das Wesen der japanischen Gesellschaft an sich als zunehmend problematisch aufgefasst. Themen wie soziale Desintegration, soziale Isolation, oder soziale Exklusion werden in dieser Hinsicht insbesondere unter dem Schlagwort muenshakai mit fehlerhaften Charakteristika der gegenwärtigen japanischen Gesellschaft in Verbindung gebracht. Dementsprechend beschreibt das Wort eine »beziehungslose Gesellschaft« oder eine »Gesellschaft ohne soziale Beziehungen«. Hierbei werden nicht nur bestimmte Gruppen innerhalb der Gesellschaft oder bestimmte gesellschaftliche Phänomene problematisiert, sondern das Wesen der Gesellschaft an sich wird als problematisch beschrieben. Dafür werden viele ältere diskursive Stränge miteinander verbunden und unter einem neuen Schlagwort vermengt. Moriokas (2012: 30*) Zusammenfassung der Theorie bestätigt dies: »Weil die Bindungen, die die Familie zusammenhalten, durch den Wandel der Gesellschaft – das heißt durch die Industrialisierung in wirtschaftlicher Hinsicht und die Urbanisierung in räumlicher Sicht, sowie bezogen auf das Alltagsleben durch die Individualisierung – geschwächt worden sind, und sich darüber hinaus auch die verwandtschaftlichen Beziehungen außerhalb der [Kern-]Familie, die Beziehungen der Nachbarschaft, und die Beziehungen des Arbeitsplatzes am Rande der Auflösung befinden, wird die gegenwärtige Gesellschaft als ›beziehungslose Gesellschaft‹ [muenshakai] bezeichnet.«
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»Die Theorie der beziehungslosen Gesellschaft« stelle demnach das Ergebnis verschiedener gesellschaftlicher Prozesse dar, welche teils schon lange vor 2010 als Gründe für den Niedergang der traditionellen japanischen Gemeinschaftlichkeit interpretiert wurden. Verbunden ergeben sie nun das Bild einer kranken, kalten Gesellschaft, wobei die einsamen Tode zum Ausdruck dieser Krankheit werden. Gewissermaßen laufen die verschiedenen von Kimura aufgezählten Dimensionen des gesellschaftlichen Wandels in den einsamen Toden zusammen, oder werden erst durch diese Art von Tod sichtbar. Auch der japanische Religionswissenschaftler Shimazono Susumu bemerkt in diesem Zusammenhang, dass »die Traurigkeit der muenshakai sich im Tode besonders deutlich zeige« (Gojokyôkai 2012: 22*). Diese enorme Bedeutung der einsamen Tode für die Debatte zeigt sich auch daran, dass die wichtigsten populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen sie zum Erregen des Interesses bei potentiellen Lesern schon im Titel oder bei der Gestaltung des Buchcovers ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. In der Veröffentlichung der NHK (2010*) wird die »schockierende Zahl von 32.000 einsamen Toden [muenshi]« bereits im Untertitel erwähnt. Die Banderole von Tachibanakis (2011*) Werk zum Thema zählt »32.000 einsame Tode [kodokushi], 15 Millionen Einpersonenhaushalte, [und] 40.000 Fälle von Scheidungen im späten Alter«. Demgegenüber verbindet die Banderole zu einer Veröffentlichung der Asahi Shinbun (2012*) »die Alterung der Baby-Boomer, die Zunahme von Einpersonenhaushalten, und die hierauf folgenden einsamen Tode [koritsushi]« miteinander. Dass diese Veröffentlichungen ab 2010 so eine enorme Wirkung entfalten konnten, wurde durch verschiedene aufsehenerregende Ereignisse verstärkt, welche den gesellschaftlichen Umgang mit dem Tod in den öffentlichen Fokus rückten. Ab Juli 2010 berichteten die Medien wiederholt von vermeintlich hochalten Japanern, die weiter in den Karteien ihrer Stadtverwaltung geführt wurden und auch Rentenzahlungen bezogen, obwohl sie entweder schon länger verstorben waren oder ihr Aufenthaltsort für unbekannt erklärt werden musste. Ausgangspunkt dieser Berichte war das Auf-
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finden einer skelettierten Leiche eines angeblich 111-jährigen Mannes im Tokioter Stadtbezirk Adachi (adachi-ku), welcher – falls er noch gelebt hätte – als ältester Mann der gesamten Stadt gegolten hätte. Nachforschungen ergaben, dass der Mann jedoch schon vor über 30 Jahren verstorben sein musste, während die verbliebenen Familienmitglieder sich die nach dem Tod der Frau des Mannes im Jahr 2004 bestimmte Hinterbliebenenrente hatten auszahlen lassen (vgl. z.B. Asahi Shinbun 2010; Nikkei 2010). In der Folge wurde im ganzen Land eine Vielzahl von ähnlichen Fällen bekannt (vgl. z.B. Gotô 2010; MHLW 2010: 1), was in den Medien unter Bezeichnungen wie »die Problematik des unbekannten Aufenthaltsortes [hoch]alter Personen« (kôreisha shozai fumei mondai) oder »die Problematik verschwundener Senioren« (kieta kôreisha mondai) ausgiebig diskutiert wurde. Dabei standen verkommende Werte und Familienbeziehungen, aber auch die Ineffektivität der Verwaltung im Zentrum der Debatte. In dieser Hinsicht scheint es, als seien soziale Isolation und soziale Desintegration im öffentlichen Diskurs unter einem neuen Fokus verhandelt worden. Man suchte nach gemeinsamen Ursachen von vermehrt auftretenden Phänomenen wie Erwerbsarmut, Obdachlosigkeit, zerbrechenden Familien und Vereinsamung im Alter. Hierdurch wurden auch die einsamen Tode immer mehr zum Problem aller Japaner erklärt und unter Labels wie dem der »beziehungslosen Gesellschaft« problematisiert. Ichijô Shinya (2011: 12*) bezeichnet den Ausdruck muenka – den »Prozess hin zur Beziehungslosigkeit« – deswegen als »das Schlüsselwort der Zeit«. Dabei hebt auch er das Jahr 2010 als einschneidendes Jahr hervor (vgl. ebd.: 14-15). Im selben Jahr wurde der Begriff muenshakai unter die Top-Ten der Modeworte des Jahres (ryûkôgodaishô) gewählt (vgl. z.B. Jiyûkokuminsha 2014). Doch wie genau lässt sich die Entwicklung dieses Modewortes nachvollziehen und welche Bedeutungen transportiert es überhaupt im Speziellen? Am 31. Januar 2010 sendete die NHK eine Spezialsendung, welche die Zahl von 32.000 »beziehungslosen Toden« (muenshi) zum Anlass nahm, Japan als muenshakai zu bezeichnen. Die Sendung
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trug den selben Titel wie die spätere Publikation in Buchform: »Die beziehungslose Gesellschaft. Schockierende 32.000 sterben einen beziehungslosen Tod«. Die Wortschöpfung stellte dabei das Ergebnis einer längeren Vorarbeit dar, wozu die bereits erwähnte NHK-Dokumentation »Alleine in einem Zimmer im danchi« vom 24.09.2005, die hierauf folgende Publikation (vgl. NHK/Sasaki 2007) sowie die ab 2006 unter dem Schlagwort wâkingu pua ausgestrahlte Dokumentationsreihe der NHK und die entsprechenden Veröffentlichungen in Buchform zählen (vgl. NHK 2007; NHK 2008). Ein Großteil des für die zuletzt genannte Dokumentationsreihe verantwortlichen Journalistenteams war sogar an der Arbeit zur muenshakai beteiligt (vgl. NHK 2010: 1). Denn die Diskussion der in den vorangegangenen Veröffentlichungen thematisierten prekären Arbeits- und Wohnverhältnisse wurde durch den Lehman-Schock im Jahr 2008 und die sich daraufhin verschärfende Weltwirtschaftskrise weiter angeregt. In Japan führten diese Ereignisse zu Massenentlassungen, die vor allem Zeitarbeiter betrafen (haken giri), welche sich in der Folge in riesigen Zeltdörfern (haken mura) in öffentlichen Parkanlagen Tokios sammelten. Diese Entwicklungen riefen eine verstärkte Berichterstattung über die Betroffenen hervor, die oftmals völlig »auf sich alleingestellt« (ebd.: 10*) abseits der Gesellschaft zu leben schienen. Bei den Nachforschungen über derartige Fälle begegnete den NHK-Journalisten immer wieder die Frage, was mit jenen völlig auf sich alleingestellten Menschen nach ihrem Tod passieren würde. In der Folge wurden alle Kommunen Japans nach Zahlen von verstorbenen Einwohnern befragt, um deren sterbliche Überreste sich niemand kümmert, so dass die verantwortliche Kommune die Einäscherungs- und Bestattungskosten übernehmen muss (vgl. ebd.: 16). Im Ergebnis wurden 32.000 dieser muenshi genannten Fälle festgestellt. Das Wort muenshi umschreibt einen »beziehungslosen Tod«, »bei dem jemand alleine und einsam stirbt und die sterblichen Überreste von niemandem beansprucht/abgeholt werden« (ebd.: 2*). Im Vergleich zu kodokushi wird dadurch stärker die Isolation
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der betroffenen Individuen über den Todeszeitpunkt hinaus angesprochen. In der Dokumentation werden in mehreren Beispielfällen ehemalige Arbeitsplätze, die Wohnung der Verstorbenen und ihre Nachbarschaft, sowie die Herkunftsorte und mögliche Angehörige aufgesucht. Über die hierdurch rekonstruierten Lebenswege wird gezeigt, wie eigentlich in Normalbiographien lebende Personen im Laufe ihres Lebens graduell aus den sozialen Sicherungsnetzen ausscheiden. Auf diese Weise können unterschiedliche gesellschaftliche Phänomene wie die steigende Scheidungsrate und das Problem der Obdachlosigkeit unter einem Schlagwort zusammengefasst werden. Das Wort muenshakai beschreibt dabei eine »Gesellschaft ohne en«, wobei letzteres erneut für zwischenmenschliche Beziehungen steht (vgl. Kapitel 2.4). Es handelt sich folglich um eine Gesellschaft, die durch eine Nichtexistenz sozialer Beziehungen charakterisiert ist. Das Wort erzeugt demnach ein widersprüchliches Bild, da eine Gesellschaft eigentlich gerade die Verbundenheit von Individuen in einem Kollektiv beschreibt. Dieser Widerspruch offenbart jedoch eine Hauptaussage des NHK-Teams, dass der gegenwärtigen japanischen Gesellschaft möglicherweise ihr Hauptmerkmal abhanden gekommen sei und dass sie ihren eigentlichen Zweck nicht mehr erfüllen könne. Gleichzeitig lässt das Wort aber offen, welche Arten sozialer Beziehungen gemeint sind und welche Probleme genau angesprochen werden. Durch diese Elastizität konnte es in verschiedenen TV-Sendungen sowie im Radioprogramm der NHK verwendet werden und so eine noch höhere Viralität erlangen. Die außerordentliche Wirkung, die diese Medienkampagne entfaltete, spiegelte sich in den vielen Veröffentlichungen, die das Thema aufgriffen, aber auch in einer Vielzahl von Internetkommentaren jüngeren Rezipienten wider (vgl. NHK 2010: 3). Dieser generationenübergreifende Bezug wird ebenfalls in der Begründung für die Vergabe des renommierten Kikuchi-Kan-Preises erwähnt, mit dem die Sendung für ihr Aufzeigen gesellschaftlicher Missstände und ihren »warnenden Weckruf« (Bunshun 2014*) an die japanische Gesellschaft im Jahr 2010 ausgezeichnet wurde.
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Im selben Jahr veröffentlichte auch die Asahi Shinbun eine Artikelserie unter dem Titel kozoku no kuni, welche der Theorie der muenshakai in vielerlei Hinsicht ähnelt. Oberflächlich liegt dies möglicherweise daran, da es sich auch bei kozoku um ein Kunstwort handelt. Das erste Zeichen ko bedeutet dabei wie in den Wörtern kodoku und koritsu »alleine« oder »Waise« (vgl. auch Kapitel 5.5). Das zweite Zeichen zoku steht für »Familie«, »Volksstamm«, oder »Verwandtschaft«. Der Titel kozoku no kuni bezeichnet daher ein »Land der verwaisten Familien«. Anstelle von Familien werden somit Einzelpersonen zur neuen Grundeinheit der Gesellschaft erhoben, was einem alarmierenden Hinweis auf den Zustand traditioneller Gruppenzugehörigkeiten gleicht. Der Anstieg von Einpersonenhaushalten, welcher als Ausdruck einer zunehmenden Individualisierung gedeutet wird, werde in Japan dabei von der Entwicklung zu einer »überalten Gesellschaft und einem Wandel der Todesformen« (Asahi Shinbun 2012: 12*) begleitet. Diese Phänomene führten verbunden mit der Armutsproblematik bzw. der zunehmenden sozialen Ungleichheit dazu, dass »die Leben der Menschen, in einer früher nicht vorhandenen Weise erschüttert werden« (ebd.: 12*). Dieser krisenhafte Zustand sei dabei nicht bewusst entstanden: »Wir wollen uns selbst verwirklichen und werden stattdessen aber isoliert. Diese [Besonderheit] unserer Situation möchten wir als kozoku bezeichnen« (ebd.*). Auch mit kozoku werden demnach verschiedene gesellschaftliche Herausforderungen zusammengefasst und moderne Individualisierungsprozesse kritisch betrachtet. Der Grundton der Veröffentlichung ist jedoch nicht durchgehend negativ, da vielmehr die Kenntnis der Hintergründe gegenwärtiger Entwicklungen angestrebt und Möglichkeiten zur Veränderung des Status Quo beschrieben werden sollen. In dieser Hinsicht werden auch Beispiele für Maßnahmen gegen soziale Isolation im Alter vorgestellt. Die einsamen Tode stehen dabei an einer exponierten Stelle, da sich die ersten Beispielfälle der Serie unter dem Titel »von niemandem begleitet, alleine sterben« (ebd.: 15*) mit der kodokushi-Thematik befassen (vgl. ebd.: 15-25). In den jeweils nur wenige Seiten langen Fallbeschreibungen wird
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dabei versucht, sowohl die Lebensumstände als auch kurze biographische Hintergründe der aufgefundenen Wohnungsleichen zu rekonstruieren. Das dritte Beispiel beschäftigt sich in dieser Hinsicht mit dem einsamen Tod eines 79-jährigen Mannes, der allein in der 2-DK-Wohnung einer großflächigen danchi in der Tokioter Metropolregion gewohnt hatte. Vor allem nachdem seine Frau zwei Jahre zuvor verstorben war, hatte er zunehmend über sein einsames Dasein geklagt, bis er selbst »beim Essen zu Boden fiel und starb« (ebd.: 21-22*). Seine erstgeborene Tochter, die mit dem Auto circa eine Stunde entfernt wohnte, fand den Vater dann auf dem Boden des Wohnzimmers liegend – drei Monate nach seinem Ableben. Durch Beispiele wie das dieses Mannes, der bis zu seinem 70. Lebensjahr noch erfolgreich als Angestellter gearbeitet hatte, soll dabei gezeigt werden, dass die einsamen Tode in allen Schichten der Gesellschaft auftreten können: »An Orten, wo Bürger wie gewöhnlich ihrem Leben nachgehen, ereignen sich im Stillen einsame Tode. So einem Zeitalter geht dieses Land entgegen.« (Ebd.: 22*)
Soziale Isolation unter Senioren ist auch das Thema des dritten Kapitels des NHK-Bandes (vgl. NHK 2010: 113-141), wofür Interviews mit alleinlebenden Senioren aus einer Tokioter danchi sowie Umfrageergebnisse herangezogen werden. Im Vorfeld wird dabei die bereits angesprochene Narrative des Niedergangs der danchi aufgegriffen, wobei eine Betonung der angetroffenen Stille der Wohnsiedlungen auffällt, welche stellvertretend für das Ausdünnen des einst so lebhaften, nachbarschaftlichen Lebens aus der Frühphase der danchi stehen kann (vgl. ebd.: 113; 115). Das erste Beispiel eines 75-jährigen Bewohners nimmt dabei viele Argumentationslinien der gesamten Veröffentlichung auf. Der Mann wurde in der ehemaligen japanischen Kolonie Karafuto9 geboren und zog später mit seiner Familie 9 | Karafuto stellt heutzutage den Südteil der russischen Oblast Sachalin dar und gehörte zwischen 1905 und 1945 zunächst als Kolonie, ab 1943
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nach Hokkaidô, der nördlichen Hauptinsel Japans. Dort heiratete er im Alter von 29 Jahren (vgl. ebd.: 117). Mit 45 Jahren zog der bisher als Gerüstbauer im ganzen Land tätige Mann dann mit Frau und Tochter nach Tokio, wo er jedoch bald die Scheidung einreichte (vgl. ebd.). Diese sei von dem Mann selbst ausgegangen, da er aufgrund von chronischer Krankheit arbeitsunfähig geworden war und der Ansicht war, nicht mehr die Verantwortung für eine Familie tragen zu können (ebd.: 118). Ab diesem Zeitpunkt von Sozialhilfe lebend hat er heute nur noch soziale Kontakte zu den Mitarbeitern des Pflegedienstes sowie zu seiner in Hokkaidô lebenden jüngeren Schwester. Die Vorschläge letzterer, doch zu ihr zu ziehen, lehnte er mit dem Unwillen, jemandem zur Last zu fallen, ab und verbringt den Großteil seines Lebensabends einsam in seinem Zimmer in der danchi (vgl. ebd.: 119-122). Die Beispiele aus beiden Veröffentlichungen veranschaulichen Kernelemente der gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskussion. Zunächst sind alle Beispiele geprägt von zerrütteten Familienverhältnissen, was eine Trennung vom Partner oder den Tod des Partners umfassen kann. Dies kann wiederum in Verbindung zu chronischen Krankheiten, einem zurückgezogenen Lebensstil oder finanziellen Schwierigkeiten stehen. Oftmals können die Betroffenen auch keine Kontakte zu ihrem Geburtsort aufrechterhalten, was als endgültige Entwurzelung verstanden und dem Bruch der genealogischen Linie gleichgestellt wird. Der Lebensweg der Betroffenen wird dabei im narrativen Muster eines stetigen Niedergangs wiedergegeben, welcher durch Ereignisse wie dem Verlassen der elterlichen Heimat und dem Umzug in die Großstadt beschleunigt wird. Hierbei werden sowohl individuelle Faktoren wie eine generelle Kontaktscheu als auch vom gesellschaftlichen Umfeld ausgehende Zwänge betont. Hierdurch wird ein trauriges Bild der japanischen Gesellschaft vermittelt.
auch als sogenannter Teil des Inlands (naichi) zum japanischen Kaiserreich.
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Insbesondere im Vergleich zur NHK-Publikation aus dem Jahr 2007, welche sich ausschließlich auf das Phänomen der einsamen Tode fokussiert hatte, fallen dabei einige Veränderungen auf, die symptomatisch für die »Theorie der beziehungslosen Gesellschaft« zu sein scheinen. Beispielsweise stehen die Beschreibungen der Lebensumstände und Lebenswege der allein lebenden Alten – sowohl jener, die bereits einen einsamen Tod starben, als auch jener, die dies fürchten – im Vordergrund der Texte. Im Gegensatz dazu beschrieben die eher faktenbezogenen Darstellungen der einsamen Tode aus dem Jahr 2007 vor allem, wie die Wohnungsleichen aufgefunden werden, welche statistischen Trends hinter dem Phänomen stehen und was dagegen unternommen werden kann. Natürlich gibt es auch in der Veröffentlichung von 2010 ähnliche Inhalte, der Fokus ist jedoch ein anderer. Es scheint nun mehr darum zu gehen, die Biographien der Betroffenen in kleinen Schritten nachzuzeichnen, wodurch der Leser sich in diese hineinversetzen und verstehen kann, was für bewegte Lebenswege hinter den sonst so kalt beschriebenen einsamen Toden stehen. Hierbei ist auffallend, dass in fast allen Beispielfällen auch Episoden von beruflichem Erfolg oder von eigenen Familiengründungen vorkommen. Insofern werden die einsamen Tode als ein Phänomen dargestellt, dass nicht nur bestimmte soziale Gruppen, sondern alle Mitglieder der Gesellschaft betreffen kann. In gewisser Hinsicht wird über diesen Weg auch mehr Verständnis für die Opfer geschaffen, wodurch die Verantwortung des sozialen Umfelds bzw. der Gesellschaft an sich problematisiert werden kann. Auch wenn schon vor 2010 eine Neuartigkeit der mit dem Phänomen der einsamen Tode verbundenen gesellschaftlichen Problematiken erkannt wurde, kann man daher festhalten, dass dieses Krisenbewusstsein hiernach auf eine andere Ebene gehoben wurde. Interessanterweise wird hierfür das in dieser Arbeit bereits angesprochene narrative Muster, das bei Beck/Beck-Gernsheim (1994: 14) als »Litanei der verlorengegangenen Gemeinschaft« bezeichnet wird, erneut aufgegriffen und mit Hilfe von Statistiken gestützt. Die drei Hauptarten sozialer Beziehungen in Japan – welche den bishe-
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rigen Ausführungen folgend als auf bestimmte historische Kontexte zurückgehende diskursive Konstruktionen aufgefasst werden müssen – würden sich dabei in einer Endphase ihres Verfallsprozesses befinden, der sich auf alle Gesellschaftsschichten ausgebreitet habe. Bezogen auf die Familie bedeute dies den Übergang vom Mehrgenerationenhaushalt über die Ankunft der Kernfamilie hin zur gegenwärtigen Vereinzelung (vgl. u.a. NHK 2010: 73; 131). Gleichzeitig könnten auch die sozialen Netze der Nachbarschaft und des Arbeitsplatzes keinen Ersatz mehr bieten. Ersteres sei von zunehmender Anonymisierung geprägt, wohingegen die angebliche Harmonie und Sicherheit des letzteren von einem zerrütteten Arbeitsmarkt und unsicheren Arbeitsverhältnissen abgelöst worden sei. Diese Prozesse seien dabei von einem längerfristigen Wertewandel begleitet worden, der sich in der »Säkularisierung der Familie« (Morioka 2012: 172*), dem »Niedergang der Religiosität« (Gojokyôkai 2012: 68*; vgl. auch Morioka 2012: 173f; 181) und der sich auf alle gesellschaftliche Schichten ausbreitenden Neigung zu Individualismus und Isolation zeige (vgl. Gojokyôkai 2012: 23). Führten diese Wandlungsprozesse einerseits dazu, dass die Japaner auch im internationalen Vergleich nur noch über schwache soziale Bindungen (vgl. z.B. Yabe 2012: 6) und gemeinschaftsbetonende Wertvorstellungen (vgl. u.a. Morioka 2012: 54f) verfügten, bedeute insbesondere der Niedergang der familiären Religiosität, dass der Tod aus dem Alltag der Menschen entrückt und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werde (vgl. ebd.: 160; 168; 171).
4.6 Theoretische V erortung der muenshak airon Fraglich bleibt jedoch, inwieweit diese Entwicklungen ausschließlich die japanische Gesellschaft charakterisieren, oder vielmehr alle industrialisierten Gesellschaften betreffende Tendenzen darstellen? Diese Frage findet sich auch in der Arbeit des japanischen Soziologen Ishida Mitsunori, dessen Antworten ich in der Folge darlegen möchte. Ishida (2011: 23*) kritisiert zunächst vier »logische Sprün-
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ge« innerhalb der Debatte um die »beziehungslose Gesellschaft«, wobei er sich insbesondere auf die argumentative Rolle der einsamen Tode bezieht (vgl. ebd.: 23ff). Die Kritik spricht dabei vor allem das methodische Vorgehen der Veröffentlichungen an. So werde erstens mit nur schwer vergleichbaren Datensätzen gearbeitet, welche in der Regel eine Zunahme der absoluten Zahlen von einsamen Toden erkennen ließen. Letzteres könne zweitens mit dem durch die gesellschaftliche Alterung verursachten generellen Anstieg der Todesfälle – zumindest in Teilen – erklärt werden. Drittens fehlten noch immer Definitionen der wichtigsten Grundbegriffe, und viertens, würden die Statistiken nichts über die Qualität des Lebens der alleine Verstorbenen aussagen. So schließe die Bezeichnung einsamer Tod möglicherweise auch solche Fälle ein, die in ihrer Isolation ein zufriedenes Leben gelebt hatten (vgl. auch Yabe 2012: 69). Dennoch erkennt auch Ishida eine gewisse Besonderheit der gegenwärtigen Situation an. Diese sei jedoch mehr auf gefühlte Veränderungen, denn auf statistisch nachweisbare Entwicklungen zurückzuführen (vgl. Ishida 2011: 10). Beispielsweise stellt er fest, dass die Zahl der Sozialhilfeempfänger in den letzten Jahren zwar angestiegen sei, dies jedoch mit dem Stand von 1960 vergleichbar sei. Die Zahlen von Freeter und Obdachlosen seien ab 2003 sogar zurückgegangen (vgl. ebd.: 11). Trotzdem würden viele Japaner das verstärkte »Gefühl einer Krise« (ebd.: 8*) empfinden, was mit den gesellschaftlichen Veränderungen seit dem Platzen der Bubble Economy zusammenhänge. Ähnliche Interpretationen finden sich auch bei Yamada Masuhiro, der die 1990er Jahre – und hier insbesondere die Erfahrung der Asienkrise ab 1997 – als Ursprung eines allgemeinen Bewusstseinswandels festlegt (vgl. Gojokyôkai 2012: 52). Die hierdurch verstärkte soziale Ungleichheit spiegele sich auch in der unterschiedlichen Fähigkeit, soziale Beziehungen aufzubauen, wider (vgl. ebd.: 96). Okuda ergänzt, wie die ab den 2000er Jahren durchgeführten, meist mit dem Prädikat neoliberal belegten politischen Maßnahmen diese Situation weiter verschärft hätten, sodass »die wirtschaftliche Armut und die zwischenmenschliche Armut zur selben Zeit auftraten« (ebd.: 43*).
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Durkheims (vgl. 1983) Studie zum »Selbstmord« aufgreifend könnte man diese Krisenstimmung innerhalb der japanischen Gesellschaft als »Störungen der kollektiven Ordnung« (ebd.: 278) verstehen. Derartige Situationen, in denen moralische Grenzen fehlen und die Gesellschaft keine »Autorität zeigen« (ebd.: 287) könne, bezeichnete er mit dem Begriff der Anomie. Thompson (1982: 80) erklärt diesen als »absence of recognized and positively accepted norms to regulate action«. Robert K. Merton (vgl. 1968) erweiterte das Konzept dahingehend, dass Anomie auf der individuellen Ebene für die gefühlte Sinnlosigkeit des Daseins oder das Gefühl des Alleingelassenseins stehe und verschiedene Formen devianten Verhaltens hervorrufen könne (ebd.: 218-219).10 Hierzu gehöre unter anderem der Rückzug aus dem sozialen Leben (»retreatism«), bei dem sich der Betroffene sowohl von den kulturellen Zielen als auch von den gesellschaftlich anerkannten Wegen zur Erfüllung dieser Ziele verabschiedet.11 Für Durkheim und Merton stellt Anomie dabei einen elementaren Bestandteil moderner Gesellschaften dar. Insbesondere für »die Welt des Handels und der Industrie« befand Durkheim (1983: 290), dass »Krise und Anomie zum Dauerzustand und sozusagen normal geworden« seien (ebd.: 292). Kann man das Phänomen des einsamen Tods somit als integralen Bestandteil der Ausbreitung der Moderne verstehen? Ist der einsame Tod als negativ perzipierte Form moderner Individualisierungsprozesse folglich die logische Konsequenz vom generellen Ende des gemeinschaftlichen Lebens in der Moderne? Derartige Fragen verneinend, wird die gegenwärtige Krisenstimmung im Allgemeinen explizit von früheren Phasen abgegrenzt. Dies gilt einerseits für Japan im Speziellen (vgl. z.B. Morioka 2012: 38), andererseits kann man auf verschiedene Theorien über eine ab 10 | Für einen kurzen Überblick über die Unterschiede in der Verwendung des Anomiebegriffes bei Durkheim und Merton: vgl. Thompson 1982: 120-121. 11 | Andere mögliche Reaktionen wären »conformity«, »innovation«, »ritualism« oder »rebellion«.
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den 1970er Jahren in den meisten westlichen Industriegesellschaften einsetzende zweite oder reflexive Moderne verweisen. Diese sei laut Beck/Beck-Gernsheim (1994: 21) dadurch charakterisiert, dass die Individualisierung der frühen Moderne sich zum Ende des 20. Jahrhunderts nicht mehr auf bestimmte Bevölkerungsgruppen beschränkt, sondern »im Grenzfall allen abverlangt« wird. Hierdurch hätten sich sowohl neugewonnene individuelle Freiheiten als auch die mit diesen verbundenen Risiken gleichzeitig ausbreiten können. Denn Individualisierung beschreibe nicht nur die positiv konnotierte »Auflösung vorgegebener Lebensform« (ebd.: 12), sondern auch neue institutionelle Anforderungen und Zwänge, ein eigenes Leben zu führen. Diese doppelte Natur der neuen, unbeschränkten Individualisierung wird auch im folgenden Zitat deutlich: »Nun sagen manche, wer von Individualisierung spricht, meine Autonomie, Emanzipation, ebenso Befreiung wie Selbstbefreiung des Menschen. […] Aber manchmal scheint statt Autonomie eher Anomie vorzuherrschen, ein Zustand der Regellosigkeit bis hin zur Gesetzlosigkeit […]. Scheitern und unverzichtbare Freiheit wohnen nah beieinander, mischen sich vielleicht sogar.« (Ebd.: 19)
Dementsprechend wird dem Begriff des Risikos in dieser Deutung eine hohe Bedeutung beigemessen (vgl. auch Beck 1986), was sich auch in der japanischen Diskussion zeigt, wo vor allem von Risiken des Alleine-Lebens gesprochen wird (vgl. u.a. Fujimori 2010: 95; Asahi Shinbun 2012: 113). Individualisierung würde vor allem dann problematisch werden, wenn ein Individuum in Not keine Hilfe erhalten könne, da »›Nichtbeziehungen‹, soziale Isolation und Einsamkeit zum vorherrschenden Beziehungsmuster« (Beck 1994: 50-51) geworden seien. Anthony Giddens (1997: 22) beschreibt diese Situation als »hergestellte Unsicherheit«, da es keine absolut neuen Risiken gebe, sondern sich nur deren »Ursachen und der Umfang« (ebd.) geändert habe:
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»Die Herausbildung hergestellter Unsicherheit ist das Ergebnis der langfristigen Entwicklung der Institutionen der Moderne. Aber zugleich ist die beschleunigte Zunahme dieser Unsicherheit das Ergebnis einer Reihe von Vorgängen, die die Gesellschaft (und die Natur) in höchstens vier oder fünf Jahrzehnten umgestaltet haben.« (Ebd.: 22-23)
Mit den zuletzt genannten »Vorgängen« spricht Giddens erstens die seit den 1980er und 1990er Jahren beschleunigte Globalisierung an, was ökonomische und politische, aber auch kulturelle Verflechtungen über den nationalen Rahmen hinaus umfasse (vgl. ebd.: 23-24). Zweitens beschreibt er die veränderte gesellschaftliche Bedeutung von Traditionen, welche in posttraditionalen Gesellschaften zum Ziel von Entscheidungen oder zum Wahlobjekt werden könnten (vgl. ebd.: 24-25). Drittens nennt er die gesteigerte soziale Reflexivität, welche das Gefühl der Unsicherheit noch weiter verstärken könne (vgl. ebd.: 25-27). Ishida knüpft in seiner Deutung der gegenwärtigen Situation in Japan an Giddens an und fragt, ob sich möglicherweise nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität sozialer Beziehungen verändert habe (vgl. ebd.: 15). Im Gegensatz zu vormodernen Bindungen wie der Familie oder der dörflichen Nachbarschaft, welche unabhängig vom Willen des Einzelnen »eben da seien« (ebd.*), würden soziale Beziehungen heutzutage stärker individuellen Gestaltungsmöglichkeiten anstelle von sozialen Zwängen unterliegen. Über die Auswertung quantitativer Studien analysiert Ishida schließlich die gegenwärtige Entwicklung der drei Gruppenzugehörigkeiten Familie, Nachbarschaft und Firma. Hierbei erhält er komplexe, teils widersprüchliche Ergebnisse, da sich Quantität und Qualität der Beziehungen durchaus verändert hätten, sich dies jedoch nicht in einem Einstellungswandel bezüglich der Gruppenzugehörigkeiten zeigen würde. Beispielsweise würden immer weniger Japaner heiraten, während der Wunsch nach Familiengründung und Heirat gleichzeitig sogar gestiegen sei (vgl. ebd.: 43f). Ishida schließt hieraus, dass eine erste Individualisierung in Japan, womit der Ausbruch aus vormodernen Beziehungsmustern
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mit gleichzeitigem Ausbau des Sozialstaats gemeint ist, von neueren Individualisierungsprozessen ergänzt wurde. Letztere würden eng mit dem Abbau des Sozialstaats und dem Aufkommen des Neoliberalismus zusammenhängen (vgl. ebd.: 61). Aus dieser doppelten Individualisierung könne jedoch keine »neue Solidarität« (ebd.: 182*) entstehen, da in der Familie oder in der Firma oberflächlich der Schein der Traditionalität gewahrt werde. Die Bezeichnung muenshakai sei schließlich »aus der übertrieben sorgenerfüllten Betrachtung [dieses Zustands] als ›Krise des menschlichen Lebens‹« (ebd.: 62*) zu verstehen. Die Interpretation der Debatte um Japans »beziehungslose Gesellschaft« als Ausdruck einer allgemeinen Krisenstimmung ist für die spätere Anwendung des Konzepts der Gouvernementalität von großer Bedeutung. Durch die sich in der muenshakai ausdrückende vermeintliche Krise der Gesellschaft kann die Einführung neuer Herrschaftstechniken legitimiert werden. Dabei wird sowohl die Ebene des Individuums als auch die der primären Gruppenzugehörigkeiten angesprochen: Die Japaner sollten sich demnach mehr und besser um sich selbst kümmern und durch den Auf bau funktionierender Sozialbeziehungen einem möglichen Fall in Pflegebedürftigkeit oder Ähnliches vorbeugen. Darüber hinaus sollten sie sich jedoch auch mehr um ihr familiäres und nachbarschaftliches Umfeld sorgen, so dass ein Idealbild von eigenverantwortlich, rational und vorausschauend handelnden Subjekten gezeichnet wird.
4.7 E xkurs : P ositive U mdeutungen der D ebatte Im Gegensatz zu dieser Einordnung der muenshakai-Debatte als populäres Äquivalent von Theorien über eine zweite, von Risiken und Unsicherheiten behaftete Moderne verweist das Wort muen eigentlich auf das japanische Mittelalter. Verschiedene Autoren versuchten daher durch den Rekurs auf diese ältere Bedeutung des Wortes dessen gegenwärtige Verwendung anzugreifen. Die meisten dieser Autoren verweisen dabei auf die einflussreiche Arbeit des japanischen
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Historikers Amino Yoshihiko. Amino (vgl. 1978: 128) beschreibt muen als ein ursprünglich aus dem buddhistischen Sprachgebrauch stammendes Wort. In diesem Zusammenhang hatte es »die Bedeutung von ›einer Sache, die keine Ursache, keine Bedingung und kein Ziel‹ hatte und in dem Ausdruck muen no ji [in etwa: die beziehungslose Barmherzigkeit] ›das mitleidige Herz, das allen in gleicher Weise hilft‹ bezeichnet« (ebd.*). Insofern sei der Begriff mit dem Ideal einer Lebenseinstellung verknüpft gewesen und wurde daher auch im Wort muenjo in Bezug auf mittelalterliche Orte des Asyls verwendet (vgl. ebd.). Laut Amino sei das Prinzip der Beziehungslosigkeit (muen) oder des Kappens von Beziehungen (en-kiri) als Schritt zu einem Leben in Freiheit zu verstehen und eindeutig positiv besetzt gewesen. Der Bruch beengender sozialer Beziehungen konnte sich dabei unter anderem auf die Scheidung von Ehen, die Auflösung von Mietverhältnissen oder das Ausbrechen aus Abhängigkeitsverhältnissen zu einem Herrn beziehen (vgl. ebd.: 36). Da das Prinzip auch insbesondere von Angehörigen unterer Schichten der Gesellschaft genutzt werden konnte, assoziiert Amino es als spezielle japanisierte Form eines buddhistischen Konzepts mit Idealen von Freiheit, Frieden und Gleichheit (vgl. ebd.: 129). Auf der anderen Seite sei das Wort muen jedoch schon seit Anfang des japanischen Mittelalters auch mit Themen wie Armut, Hunger und Problemen niedriger sozialer Ränge verknüpft gewesen. Auf diese Weise habe sich ein eher »dunkles Image« (ebd.: 129*) des Wortes entwickelt. Diese Bedeutungsdimension sei in der Edo-Zeit noch dominanter geworden, wodurch die frühere Aktivität und Positivität des Konzepts der Aufgabe beengender sozialer Beziehungen in Vergessenheit geraten sei. Dies sehe man insbesondere am Wort muenbotoke, welches Verstorbene bzw. deren Seelen bezeichnet, die keine für sie betenden Verwandten besitzen (vgl. ebd.: 130). Derartige Schicksale werden noch heute im Allgemeinen als überaus tragisch oder traurig angesehen, und sind auf keinen Fall zu erstreben (vgl. z.B. NHK 2010: 47; 61). Es ist diese negative Deutung von muen, auf die das dunkle Bild der »beziehungslosen Gesellschaft« im gegenwärtigen Diskurs auf baut.
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In der Kritik an der NHK-Publikation über die »beziehungslose Gesellschaft« wird dagegen versucht, gerade an den positiven Bedeutungshof des Wortes muen zu erinnern. Beispielsweise vergleicht der Philosoph und Religionswissenschaftler Kamata Dôji die gegenwärtige Gesellschaft mit dem mittelalterlichen Japan und stellt fest, dass beiden »der Verlust der vier chi-Beziehungen« (Gojokyôkai 2012: 17-18*) gemein sei. Zu diesen vier Beziehungen gehören laut Kamata neben den gewöhnlich angesprochenen familiären (血) und lokalen (地) Bindungen auch Vertrauen oder Beziehungen zum Wissenschaftssystem (知) und rituelle Praktiken für die Ahnen (霊) (vgl. ebd.). Der Verlust dieser Beziehungen, welche von Kamata alle mit einem Schriftzeichen, welches chi gelesen werden kann, überschrieben werden, sei im Mittelalter jedoch durchaus positiv gewertet worden. Durch die Aufgabe beengender Bindungen konnte das Individuum frei werden, neue Welten betreten und dort neuartige soziale Bindungen eingehen – diese positive Deutung von muenka fehle in der Gegenwart aber noch (vgl. ebd.: 18-19). Diese stark an Aminos Arbeit erinnernde These wird auch von Shimazono aufgegriffen, der in der Folge den notareji – den Tod am Wegesrand – als alternative Todesform anbietet, welche vom japanischen Dichter Matsuo Bashô (1644-1692) als ideale Form des Sterbens angesehen worden sei (vgl. ebd.: 47). Dieses Ideal sei auch im indischen Kulturraum verbreitet, weshalb man »kodokushi vom Standard der asiatischen Religionen her betrachtet nicht unbedingt als etwas komplett Falsches« (ebd.: 47*) kategorisieren könne. Auch Shimada Hiromi versucht die Aufgabe von sozialen Beziehungen mit dem Verweis auf verschiedene religiöse Konzepte als nichts Beunruhigendes zu erklären. Er verweist hierfür auf das hinduistische Konzept saṁnyāsa (jap. yugyôki), welches die letzte der vier Phasen des idealen Lebens eines Gläubigen beschreibt. Dieser solle sich zum Lebensende von allem Weltlichen lösen und die Heimat verlassen, um sich auf Pilgerfahrt zu begeben (vgl. Shimada 2011: 184). Ferner spricht Shimada auch buddhistische Lehren an, die den Tod als etwas Unvermeidliches und als »eine von Natur aus einsame Sache« (ebd.: 191*) darstellen. Der Tod ist im Buddhismus
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somit eine Form von Leid, die der Mensch akzeptieren müsse und so überwinden könne. Gleichzeitig sieht Shimada im Sterben eine Möglichkeit, um von den Leiden des Lebens und gesellschaftlichen Beschränkungen erlöst zu werden. In der Folge setzt er den »Tod« (shi) mit »Beziehungslosigkeit« (muen) gleich und vermeidet beide zu werten, da der Tod unvermeidlich sei – genau wie die Tatsache, dass man ihm allein begegnen müsse. Mit Hilfe dieser Einsicht könne man die versteckten Potenziale der muenshakai erkennen und positiv nutzen (vgl. ebd.: 214). Shimadas Argumentation rehabilitiert ein Bild des einsamen Todes als natürlichem Prozess, welches auch an Beispiele aus der Natur erinnert, wenn sich Tiere zum Sterben von der Gruppe entfernen. In ländlichen Regionen Japans soll es im Mittelalter sogar eine Praktik namens kirô oder ubasute gegeben haben, bei der alte Menschen – teilweise aus eigenem Willen – zum Sterben in den Bergen ausgesetzt wurden, um die Zahl der Esser in der Familie zu verringern. Im bekannten Volksmärchen ubasuteyama wird diese Praxis jedoch eher negativ bewertet (vgl. Traphagan 2000: 150f). Trotzdem zeigen die oben genannten Beispiele, wie verschiedene Autoren versuchen, aus dem japanischen Mittelalter stammende Konzepte zu reaktivieren, um die heute dominante Deutung von muen anzugreifen. Hierbei handelt es sich meist um ursprünglich buddhistische Ideen, die in ihrer japanisierten Form für damals verbreitete Idealvorstellungen von Freiheit und Gleichheit verwendet wurden. Neben diesem – sich meist auf den intellektuellen Rahmen beschränkenden – kritischen Blick auf die gegenwärtige Dominanz der Theorie der muenshakai existiert ein weiterer Gegendiskurs, der nicht versucht, das Wort umzudeuten, sondern ihm einen Antagonisten gegenüberstellt. Diese positive Entsprechung des negativ gedeuteten muen ist dabei im Wort kizuna zu finden. Da beide Wörter laut Shimazono die Vorder- und Rückseite derselben Medaille bilden (vgl. Gojokyôkai 2012: 26), liegt die Vermutung nahe, dass auch kizuna teilweise widersprüchlich und unklar ist. Im Gegensatz zum sinojapanischen muen ist kizuna ein japanisches Wort, welches oft in der Silben-
4. Semantischer Wandel des Wortes kodokushi
schrift Hiragana geschrieben wird (vgl. Tagsold 2012: 311). Tagsold (vgl. ebd.) beschreibt die komplexe und teils widersprüchliche Entwicklung des Wortes in der japanischen Nachkriegsgesellschaft und deutet kizuna als »offenes Deutungsangebot mit hohem emotionalem Wert« (ebd.: 322). Vor allem in der Folge der Dreifachkatastrophe vom 11.03.2011 wurde kizuna von ganz unterschiedlichen politischen Lagern in Entwürfen für die Neu- und Umgestaltung Japans aufgegriffen (vgl. ebd.: 321-322) und auch von der NHK explizit als Gegenentwurf für die Problematik der muenshakai verwendet (vgl. ebd. 319-320). Weil kizuna dabei meistens nur als politisches Schlagwort mit wenig inhaltlicher Substanz genutzt worden sei, bliebe aber fraglich, inwieweit sich hieraus reale Konzepte einer neuen Solidarität entwickeln könnten. Trotz dieser Offenheit und trotz des komplexen Bedeutungswandels im Hintergrund wird sowohl mit kizuna als auch mit muen ein ähnliches Verständnis der Bedeutung sozialer Beziehungen vorausgesetzt. Beide – also die positive wie die negative Deutung der Gesellschaft – rücken soziale Beziehungen ins Zentrum ihrer Bewertung der gegenwärtigen japanischen Gesellschaft. Während der Feldforschung zeigte sich, dass diese Frage der sozialen Eingebundenheit auch für die Definition eines einsames Todes eine zentrale Kategorie darstellt.
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5. Was sind einsame Tode?
Im folgenden Kapitel problematisiere ich das Fehlen einer allgemein anerkannten Definition des Wortes kodokushi. Da sich kodokushi schon zu Beginn meiner Feldforschung als auch im Feld umstrittene Bezeichnung offenbarte, werden die verschiedenen Verwendungsweisen des Felds zum Ausgangs- und Bezugspunkt der Analyse. Dabei wird gezeigt, dass sich »die Bedeutung [des] Wortes je nach Standpunkt der es verwendenden Person, Institution oder Gruppe unterscheidet« (Yamaguchi 2008: 60-61*). In dieser Hinsicht können Unterschiede in der Verwendung des Wortes über die verschiedenen Interessen der jeweiligen Akteure erklärt werden. Ziel des Kapitels ist es demnach nicht, eine eigene Definition des einsamen Todes in Japan zu erstellen. Dies ist im Rahmen dieser Arbeit weder möglich noch gewinnbringend für den gewählten thematischen Schwerpunkt. Vielmehr soll die Umstrittenheit des Wortes verdeutlicht werden, um dahinter liegende Interessen der einzelnen Akteure aufzeigen zu können. In diesem Konflikt um die Definitionsmacht eröffnen sich zudem zahlreiche intertextuelle oder interdiskursive Bezüge, welche die im Diskurs wirksamen Argumentationsketten sichtbar machen. Daher werde ich ausgehend von der Definitionsproblematik im Feld auch die Definitionsversuche staatlicher Institutionen analysieren. Die unterschiedlichen Definitionen sind für spätere Teile der Arbeit relevant, da sie die Basis für die verschiedenen, im Feld beobachteten Problemlösungsversuche bilden. Denn je nachdem was als einsamer Tod bezeichnet wird und was im Speziellen als problematisch befunden wird, unterscheiden sich auch die hier ansetzenden Gegenmaßnahmen. In dieser Hinsicht veranschaulicht das
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Kapitel nicht nur generelle Konflikte zwischen den wichtigsten Diskursteilnehmern, sondern liefert auch Vorarbeiten für die weitere Argumentation der Arbeit.
5.1 K odokushi als » unumsorgter Tod « Im Interview mit der Leiterin des lokalen Shakyô stellte diese die Hauptaufgaben ihrer Organisation vor und kam dabei auf das Thema der einsamen Tode zu sprechen. Zur Veranschaulichung, warum diese auch nach über 10-jährigem Engagement nicht zu vermeiden seien, nannte sie dabei folgenden Fall: »Zum Beispiel lebte eine Person bis gestern alleine und war in guter gesundheitlicher Verfassung. Als der jüngere Bruder zu Besuch kam, wurde auch viel geplaudert, bis sich der Bruder mit den Worten »Ich komme dann wieder!« verabschiedete. Doch als am nächsten Tag die jüngere Schwester vorbei kam, war die Person schon verstorben. […] Daher ist auch so ein Fall ein einsamer Tod. Weil sie alleine gestorben ist, denke ich, dass es ein einsamer Tod war.« (Interview Frau O*)
Die Beschreibung dieses einsamen Todes ist in vielerlei Hinsicht interessant. Zunächst handelt es sich bei der verstorbenen Person keineswegs um eine sozial isolierte Person. Stattdessen steht die Person offensichtlich in regelmäßigem Kontakt zu ihren Geschwistern, und wird daher bereits kurz nach dem Ableben von ihrer jüngeren Schwester aufgefunden. Aus diesem Grund könnte man den Fall auch als »Tod eines Alleinwohnenden« (dokkyoshi) bezeichnen, bei dem ein Alleinlebender aus Krankheit oder Altersschwäche stirbt und nach kurzer Zeit von ihn aufsuchenden Verwandten gefunden wird. Die Tatsache des Alleinlebens selbst scheint im Beispiel zwar die Ursache für den einsamen Tod zu sein, wird aber nicht negativ bewertet. Was den Todesfall zum einsamen Tod macht, ist hingegen die fehlende Anwesenheit von Verwandten und Bekannten zum spezifischen Todeszeitpunkt.
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Dieser Wunsch nach einer Betreuung und Begleitung des Sterbenden bis hin zum Todeszeitpunkt wird in fast allen Definitionen des einsamen Todes erwähnt und wird im Japanischen als mitori bezeichnet. Das Konzept des mitori wird vielfach als japanische Besonderheit, als »der japanischen Sprache eigener Ausdruck« (Minooka 2012: 6*) dargestellt. Minooka nennt eine Begriffserklärung, die mitori auffasst als »Betreuung, bei der auf eine sich im natürlichen Sterbeprozess befindende alte Person aufgepasst und dabei auf nutzlose lebensverlängernde Maßnahmen verzichtet wird« (ebd.*). In dieser Hinsicht scheint mitori als notwendige Bedingung für einen natürlichen und guten Tod zu gelten. Ein einsamer Tod ist demgegenüber ein Tod ohne mitori, ein unbegleiteter oder unumsorgter Tod, der bestimmten gesellschaftlichen Wertvorstellungen widerspricht. Susan Long bestätigt diese Konzeption des einsames Todes als sozial unerwünschter Todesform und erklärt zudem die Ziele des mitori-Prozesses: »[…] the goal is to reaffirm the social embeddedness of the dying person in an ongoing circle of intimate relations. […] I never heard anyone suggest that dying alone was desirable. Such a death, in contrast to those in which the dying eye was met by caring family members, is abnormal and the person so dying is to be pitied.« (Long 2005: 61)
Über das gelungene mitori werde demnach das soziale Eingebundensein der sterbenden Person bestätigt. Wie im Eingangsbeispiel gesehen, reicht das Wissen um die sozialen Kontakte dabei nicht aus. Stattdessen muss eine kontinuierliche Betreuung bis hin zum Zeitpunkt des Sterbens, in dem das Auge des Sterbenden letztmals auf die ihn umsorgenden Familienmitglieder schaut, gewährleistet werden.1 Dieses Ideal bezieht sich einerseits auf die sterbende Person selbst, andererseits scheint der Prozess aber vor allem für die sie umgebenden Überlebenden bedeutsam zu sein. Die überlebenden 1 | Long (2005: 61) nennt hier den Ausdruck shinime ni au, den sie mit »to meet the dying eye« übersetzt.
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Familienmitglieder konstituieren ihre Gemeinschaft über den gelungenen Sterbeprozess der aus ihrer Mitte scheidenden Person als funktionierend und sich mit ihren Wert- und Moralvorstellungen in Einklang befindend (vgl. auch Otani 2010: 172f). Im Hintergrund dieser Praktiken stehen möglicherweise von buddhistischen und shintoistischen Vorstellungen inspirierte Ideen über einen möglichst gelungenen Übergang vom Diesseits ins Jenseits. Die Übergänge zwischen beiden Welten können in dieser Hinsicht als offen interpretiert werden, sodass die Verstorbenen in anderer Form weiterhin im Diesseits präsent sein können. Zudem versuchen die Überlebenden den Verstorbenen durch die Durchführung von speziellen Riten einen möglichst komplikationslosen Übergang ins Jenseits zu verschaffen. Auch nach diesen unmittelbaren Todesriten werden die verstorbenen Ahnen in regelmäßigen Abständen geehrt oder versorgt, und bleiben für das Leben der Überlebenden somit weiterhin bedeutsam (vgl. u.a. Long 2005: 6162). Ich denke, dass derartige Vorstellungen von den Beziehungen von Diesseits und Jenseits bzw. Überlebenden und Verstorbenen eine wichtige Grundlage für die Entwicklung des heutigen Verständnisses von mitori darstellen. Ein Tod, bei dem die sterbende Person nicht bis zum Tod begleitet und umsorgt werden konnte, wird vor diesem Hintergrund eindeutig negativ bewertet.
5.2 Z wei A rten zu H ause zu sterben : kodokushi vs . zaitakushi Ein kodokushi als »unumsorgter Tod« stellt das Gegenstück zum Ideal eines betreuten Todes zu Hause dar, welcher in Japan als zaitakushi bezeichnet wird und im Zentrum gegenwärtiger gesellschaftlicher Debatten über ambulante häusliche Betreuung und Palliativpflege steht (vgl. u.a. Long 2005: 34; Amino 2010). In informellen Gesprächen mit im Feld aktiven Medizinern und professionellen Pflegekräften (*) wurde mir mitgeteilt, dass viele Japaner einen Tod »auf den eigenen Reisstrohmatten« in einer »ihnen vertrauten
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Umgebung« einem Tod im Krankenhaus vorziehen würden.2 Oberflächlich betrachtet erfüllt auch ein kodokushi wie der eingangs von Frau O erwähnte Beispielfall diesen in den Zitaten deutlich werdenden Wunsch nach einem Tod in den eigenen vier Wänden. Jedoch umfasst dieses Idealbild in der Regel nicht nur den Ort, sondern ebenfalls die dazugehörenden Personen. Während mit den »eigenen Reisstrohmatten« dabei eher die auf den Matten wohnende familiäre Gemeinschaft angesprochen wird, kann mit dem zweiten Ausdruck der »vertrauten Umgebung« das größere Bild einer funktionierenden Nachbarschaftsgemeinschaft bezeichnet werden. Folglich muss zwischen einem umsorgten Tod zu Hause als positivem Idealbild (zaitakushi) und einem unumsorgten, einsamen Tod zu Hause (kodokushi) als negativem Gegenstück unterschieden werden. Im Falle von alleinlebenden Alten ergibt sich jedoch ein augenfälliges Spannungsverhältnis zwischen zaitakushi und kodokushi, was in der folgenden Aussage eines 68-jährigen Mannes deutlich wird: »Anstatt meine letzten Tage in einem Heim oder im Krankenhaus zu verbringen, möchte ich lieber möglichst lange in diesem Zimmer leben. Aber, ganz allein zu sterben und tagelang von niemandem bemerkt [hier] liegen gelassen zu werden, ist eine zu traurige Vorstellung.« (NHK 2010: 130*)
Wie in vielen anderen Gesellschaften zeigt sich im Gegensatz der beiden Todesformen die Problematik, wie alte Menschen ihre Unabhängigkeit bewahren können, während sie gleichzeitig aufgrund von Krankheit oder Pflegebedürftigkeit auf andere Menschen angewiesen sind. Auch in Japan wollen demnach viele alte Menschen 2 | In diesem Zusammenhang attestiert Long (2005: 50) ein »mismatch of traditional expectations of family caregiving with the demographic realities of postindustrial society«, denn entgegen dem oftmals geäußerten Idealbild eines zaitakushi fanden im Jahr 2002 78,6 % der Tode in Japan in Krankenhäusern und nur 13,4 % zu Hause statt.
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vermeiden, anderen Menschen »zur Last zu fallen« (meiwaku wo kakeru) (vgl. u.a. Long 2005: 60). Auf der anderen Seite wird auch die individuelle Verantwortung betont, sein soziales Netz auch im Alter zu pflegen, um auf diese Weise einsame Tode zu verhindern (vgl. Yoshida 2010: 120-124). Demgegenüber verweisen andere Autoren auf die weitverbreitete Hoffnung, dass »an meinem Lebensende sich schon jemand um mich kümmern wird« (Gojokyôkai 2012: 15*). So wird deutlich, dass teilweise Unklarheiten oder widersprüchliche Vorstellungen darüber existieren, ob sich die Person selbst um ihr soziales Netz und die Sicherung des mitori im Sterbeprozess bemühen muss bzw. kann, oder ob hier eine gesellschaftliche Verantwortung vorausgesetzt werden müsse. Die Möglichkeit, dass jemand vielleicht intentional auf ein mitori verzichtet, wird in diesem Zusammenhang in der Regel nicht thematisiert. Der einsame Tod wird von außen definiert und als sozial nicht erwünscht bewertet. Die Eigenperspektive spielt in der Diskussion um die einsamen Tode hingegen eine nur untergeordnete Rolle.
5.3 U mstrittene D efinitionsinhalte eines einsamen Todes Das fehlende mitori stellt nur ein Hauptelement der meisten Definitionen eines einsamen Todes in Japan dar. Daneben wird oft ein Einpersonenhaushalt vorausgesetzt und die Opfergruppe tendenziell auf Geringverdiener, chronisch Kranke, und in minderwertigen Behausungen oder peripheren Gegenden Lebende festgelegt. In der Regel sind die Definitionen sehr knapp gehalten und nicht immer eindeutig. Das berühmte japanische Wörterbuch kôjien führt das Wort kodokushi beispielsweise erst seit 2008 auf und erläutert es als »ohne eine [am Krankenbett] wachende Person alleine zu sterben« (Zitiert aus Nakazawa 2008: 38*). Die Tageszeitung Tôkyô Shinbun hingegen erkennt einen kodokushi, wenn jemand »alleine lebt, und dann von niemandem umsorgt in seiner Wohnung gestorben ist« (Zitiert aus Yûki 2008: 57*). In beiden Definitionen rückt
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das fehlende mitori ins Zentrum der Bedeutungsbestimmung. Auffällig ist zudem ihre Kürze und Offenheit, insbesondere wenn man sie der Definition einer Wohnungsleiche aus der deutschen rechtsmedizinischen Forschung gegenüberstellt: Ein Wohnungsleiche sei hier eine »nach einer Postmortalzeit von mindestens 24 Stunden in einer privaten Wohnung oder in einem privaten Haus tot aufgefundene Person, möglicherweise mit fortgeschrittenen Leichenerscheinungen und daraus resultierenden Schwierigkeiten bei der Identifizierung. Oftmals sind die Verstorbenen ohne bekannte Krankenanamnese. Anlass für das Aufsuchen der Wohnung sind häufig besorgte Bekannte (Nachbar, Vermieter etc.) oder Verwandte nach frustranen Kontaktversuchen, aber auch unangenehmer Geruch aus der Wohnung (Fäulnisgase), ein überquellender Briefkasten oder nicht bezahlte Rechnungen. Ein Großteil der Personen lebte sozial isoliert und betrieb Fremdstoffmissbrauch. Männer sind häufiger betroffen als Frauen. Das Sterbealter liegt durchschnittlich in der 6. Lebensdekade und damit deutlich unter der durchschnittlichen Lebenserwartung.« (Merz et al. 2012: 124)
Neben dem klar zu erkennenden rechtsmedizinischen Hintergrund der Verfasser ist die Ausführlichkeit der Definition beachtlich. Im japanischen Fall scheinen die Definitionen hingegen andere Dinge in den Mittelpunkt zu rücken und wirken wertender oder emotionaler. Im Feld bildete auch die Vermietungsgesellschaft UR Agency hier keine Ausnahme, welche die einsamen Tode im Hinblick auf die Erstellung von Statistiken für ihre Mietobjekte wie folgt definiert: »Kodokushi bezeichnet einen Tod durch Krankheit oder einen unnatürlichen Tod, bei dem ein in einem Einpersonenhaushalt lebender Mieter – [beispielsweise] nach einem Unfall – zur Todeszeit von niemandem begleitet in seiner Mietwohnung stirbt; ausgenommen sind Suizid- und Mordfälle.« (UR Agency 2007*)
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Durch die Abgrenzung vom Suizid wird kodokushi als gesondertes Phänomen betrachtet, was eine Weiterentwicklung im Hinblick auf im vorherigen Kapitel genannte Definitionen aus dem Kontext der Hanshin-Awaji-Erdbebenkatastrophe darstellt. Über die Nutzung der Bezeichnung kodokushi rückt sich die UR Agency in die Nähe der Jichikai, welche als Bund der Mieter normalerweise einen Antagonisten zur Vermietungsgesellschaft darstellt. Über die Nennung des fehlenden mitori wird dabei sogar die emotionale Nuance des Wortes übernommen. Dies veranschaulicht die relativ enge Zusammenarbeit zwischen beiden Organisationen hinsichtlich der kodokushi-Thematik. Dennoch existieren zwischen UR Agency und Jichikai durchaus Streitigkeiten bezüglich der Definition, über welche ich die verschiedenen Interessen der Organisationen nun analysieren werde. Im Jahr 2012 entschied die UR Agency eine Definition für ihre Zählungen zu benutzen, welche erst ab einer Woche nach ihrem Tod aufgefundene Wohnungsleichen als kodokushi zählte. Hierdurch würde die Zahl der als einsame Tode zu kategorisierenden Todesfälle bedeutend kleiner ausfallen. Legt man die Daten einer von der Stadt Matsudo im Jahr 2012 durchgeführten Studie zugrunde (vgl. TKWD Shakyô 2013a: 27), würden nach der neuen Definition der UR Agency 89 von 135 der in der Statistik auftretenden Fälle nicht mehr als kodokushi bezeichnet werden. Die dann verbleibende Zahl von 46 einsamen Toden innerhalb eines Jahres erschiene viel weniger brisant als in der bisherigen Statistik. Der Effekt für die Außenwirkung der UR Agency ist offensichtlich, denn diese möchte ihre Mietobjekte für potentielle Interessenten so wohnlich und konfliktfrei wie möglich wirken lassen. Die Jichikai und die mit ihr kooperierenden lokalen Organisationen möchten in ihrer Arbeit jedoch gerade auf lokale Probleme oder Missstände aufmerksam machen und möglichst viele Bewohner für ihre Aktivitäten gewinnen. In dieser Hinsicht kann eine höhere Zahl von einsamen Toden in gewisser Weise sogar nützlich für die Aktivitäten der Organisationen sein. Daher kritisierte Herr N in einer eigens bezüglich des Definitionsstreits verfassten Son-
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derveröffentlichung die neue Definition der UR Agency als bloße Notlösung, um die Zahl der einsamen Tode statistisch kleiner aussehen zu lassen und die wirkliche Problematik so zu verdrängen (vgl. TKWD 2012b). In der Folge appellierte er daran, die Ernsthaftigkeit und Schwere der Thematik zu erkennen, da er fürchte, dass die UR Agency die kodokushi-Problematik nur auf die leichte Schulter nehmen würde (vgl. ebd.: 1). Besonders problematisch sei auch gewesen, dass die Vermietungsgesellschaft sich weder öffentlich zu der neuen Definition geäußert hatte, noch die Jichikai im Speziellen informiert wurde (vgl. ebd.). Vor allem letzteres wurde als möglicher Vertrauensbruch und als fehlende Würdigung der Verdienste der Nachbarschaftsvereinigung verstanden.3 Andere im Feld aktive Akteure konnten derartige Konflikte um die Definition nicht nachvollziehen. Eine Mitarbeiterin einer verschiedene soziale Dienste anbietenden NPO erläuterte mir, dass es für sie eigentlich nichts Unnormales sei, einen Verstorbenen einen Tag oder einige Stunden nach seinem Tod in der Wohnung aufzufinden. Die Diskussionen hätten wohl mit anderen Dingen zu tun und seien eher eine Frage für Statistiker. Bei längeren Auffindzeiten kann die Mitarbeiterin die Nutzung des Wortes kodokushi aber nachvollziehen, da ein solches Vorkommnis auch für sie ein trauriges Bild der Gesellschaft vermittele und sie die Verbindung zu größeren Themenfelder verstehe. In dieser Hinsicht bestätigte sie die Problematik der nur schwer festzulegenden Zeitspanne zwischen Tod und Auffinden, erkannte aber gleichzeitig, dass die verschiedenen Definitionen durchaus interessenbasiert gewählt werden. Die Bezeichnung kodokushi selbst wurde jedoch weder von der zitierten NPO-Mitarbeiterin noch von der Vermietungsgesellschaft in Frage gestellt.
3 | Vertreter der UR Agency erschienen im Anschluss zu Gesprächen im Büro von Jichikai und Shakyô, wobei die Inhalte dieser Gespräche nicht bekannt sind.
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5.4 K oritsushi als A lternativbezeichnung ? Im Gegensatz dazu betrachteten andere Akteure im Feld schon das Wort kodokushi an sich weitaus kritischer. Herr T (*) ging im Interview sogar so weit, kodokushi als bloße Erfindung der Jichikai zu kritisieren: »Die Definitionsfrage ist daher wahrscheinlich noch nicht entschieden. Das soll aber eher heißen, dass Herr N das Wort erfunden hat. Bevor Herr N es erfunden hatte, gab es das Wort kodokushi nämlich nicht.«
Natürlich zeigte die bisherige Analyse, dass Herr N keinesfalls als alleiniger Erfinder des Wortes selbst gelten kann. Trotzdem verdeutlicht das Zitat die bedeutsame Rolle, die die Jichikai und insbesondere Herr N in der Debatte um Japans einsame Tode einnehmen. Die enge Verbindung zwischen der Entwicklung der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit gegenüber der kodokushi-Problematik und dem Ort Tokiwadaira kann jedoch problematisch werden, wenn durch die mediale Präsenz der Tokiwadaira Danchi alternative Projekte in anderen danchi übersehen werden. Es könnte der Eindruck entstehen, als ob einzig in der Tokiwadaira Danchi gegen einsame Tode angekämpft würde. Auch für abseits der öffentlichen Wahrnehmung aktive Akteure des Feldes könnte das problematisch sein. Daneben verdeutlicht das Zitat erneut die allgemeine Umstrittenheit der Bezeichnung. Der Streit um die Definitionsmacht beschränkt sich nicht auf die theoretische Ebene, sondern hinterlässt sichtbare Spuren im Feld. Demnach scheint kodokushi ein umkämpftes und politisch besetztes Wort zu sein, das Akteure ihren eigenen Interessen entsprechend nutzen und umdeuten können. Der Definitionsstreit wird so zum Austragungsort genereller Meinungsverschiedenheiten der Diskursteilnehmer. Dies ist sicher ein Grund dafür, weshalb die meisten staatlichen Institutionen – insbesondere das Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Wohlfahrt (MHLW) – eine Alternativbezeichnung anstelle des umkämpften kodokushi verwenden. Möglicherweise möchte man sich auf diese
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Weise der Definitionsproblematik entziehen. Die Verwendung der Alternativbezeichnung koritsushi ist jedoch ebenso problematisch, da sich auch diese durch ein großes Maß an Offenheit auszeichnet und besondere Bedeutungsnuancen beinhaltet. Eine Definition von koritsushi findet sich in der 2011er Ausgabe des »Weißbuch zur alternden Gesellschaft« (kôreishakaihakusho), welches regelmäßig vom japanischen Kabinettsbüro herausgegeben wird.4 Hier schreiben die Autoren über »einen leidvollen koritsushi (kodokushi), bei dem [die Betroffenen] ihren letzten Atemzug tätigen, ohne von jemanden dabei begleitet/umsorgt zu werden, und hiernach noch für eine beträchtliche Zeitspanne [unentdeckt] liegen gelassen werden« (Naikakufu 2011: 68-69*).
Bei der Definition fällt zunächst die für ein Regierungsdokument klare und emotionale Wertung eines koritsushi als »leidvolles« oder »elendes« Ereignis auf. Diese betont negative Wertung illustriert, wie die Regierung einsame Tode eindeutig als nach allgemein anerkannten gesellschaftlichen Werten nicht gutzuheißenden Tod darstellt. Da die Abwesenheit von Angehörigen im Sinne eines guten mitori durch die Platzierung an den Anfang der Formulierung betont wird, wird das traurige und negative Bild der Todesform verstärkt. Daneben wird auch die Dauer bis zur Auffindung angesprochen, welche jedoch unbestimmt bleibt und über wertende Formulierungen beschrieben wird. Das Wort sôtô bezeichnet hier eine unnormal lange Zeitspanne, die man mit »beträchtlich« oder »ziemlich« übersetzen kann. Diese negative Wertung wird auch in dem Wort hôchi deutlich, welches ein »Liegenlassen« – in der Ver4 | Das »Weißbuch zur alternden Gesellschaft« wird seit 1996 jedes Jahr herausgegeben und beschäftigt sich mit von der gesellschaftlichen Alterung bedingten Problemstellungen sowie entsprechenden Lösungsansätzen (vgl. Naikakufu 2014). In vielen Bereichen ist es daher mit dem von der deutschen Bundesregierung in Auftrag gegebenen Altenbericht vergleichbar.
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bindung mit dem Zeichen für »Tod« als hôchishi auch einen »Tod durch Vernachlässigung« – bedeutet. Durch die Passivform des verbalisierten Nomens wird weiter die Verantwortung des sozialen Umfelds angesprochen. So wirkt es, als beschuldige die Regierung durch ihre Formulierung mögliche Angehörige und Nachbarn, die sich nicht um die betroffene Person gekümmert haben, so dass diese noch lange nach ihrem Tod in ihrer Wohnung liegen gelassen wurde. Die Wörter koritsushi und kodokushi werden ferner inhaltlich gleichgesetzt, jedoch soll ersteres über die Klammersetzung scheinbar dem in der medialen Berichterstattung üblicheren kodokushi vorgezogen werden. Diese Praxis knüpft an viele andere Regierungsdokumente an, welche koritsushi als Standard setzen und kodokushi eher als Alternative nennen. Hierdurch wird die Problematik der unklaren Definitionsfrage jedoch von einem auf das andere Wort übertragen. Insofern bringt die Definition nur wenig Klarheit bezüglich der Abgrenzung der beiden Wörter. Die Tendenz zu dieser Unklar- und Offenheit wird auch in einem Regierungsbericht von 2008 deutlich, welcher koritsushi wie oben als »leidvollen einsamen Tod« (MHLW 2008a*) wertet, ohne weitere Erklärungen anzuschließen. Abgrenzungen zu anderen Bezeichnungen werden folglich auch hier nicht gegeben. Während die Regierungsseite der Definitionsfrage insgesamt also keine besondere Aufmerksamkeit schenkt, wurde die fehlende Unterscheidung zwischen den Wörtern koritsushi und kodokushi im Feld weitaus problematischer gedeutet: »Zunächst mal setzt ein kodokushi das Alleine-Leben voraus. Wenn aber im Falle eines Zusammenlebens von zwei Personen beide zugleich sterben, wird oftmals von koritsushi gesprochen. Jedoch hat die japanische Regierung auch das noch nicht klar gestellt. […] Ob man koritsushi sagen kann, ob man kodokushi sagen kann. […] Das ist noch unklar. Deshalb fordern wir, dass dies schnell getan wird, aber bisher wurde es noch nicht getan.« (Interview Herr N*)
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Auch wenn die Passivität des Staats als problematisch erkannt wird, scheint die staatliche Definitionshoheit in der Angelegenheit nicht in Frage gestellt zu werden. Es wirkt, als ob man die Definitionsproblematik im Feld ohne die Hilfe des Staates nicht endgültig lösen könne. Daher stecke man in einem Zustand der Unklarheit fest und versuche die Bezeichnungen allein über die Opferzahl zu unterscheiden: kodokushi für Einpersonen-Haushalte, koritsushi für andere Fälle. Der zweite Satz des Zitats spielt dabei auf Fälle an, in denen pflegende Personen einen plötzlichen Tod starben und die dann hilflosen Pflege- und Betreuungsbedürftigen in der Folge ebenfalls umkamen. Hintergrund derartiger Fälle kann eine Situation sein, in der auch die Pflegeaufgaben übernehmenden Familienangehörige – oftmals unverheiratete Kinder – bereits ein höheres Lebensalter erreicht haben. So kann es vorkommen, dass 80- bis 100-jährige von 50- bis 70-jährigen gepflegt werden, was in Japan als rôrô kaigo (»Pflege der Alten durch Alte«) bezeichnet wird. Daneben kann sich koritsushi aber auch auf von der Altersproblematik gelöste gesellschaftliche Todesfälle beziehen, die beispielsweise mit der sozialen Verwahrlosung von Kindern zusammenhängen. Derartige Fälle können hingegen nicht als kodokushi bezeichnet werden. Als ich das MHLW telefonisch um Aufklärung bezüglich der Definitionsschwierigkeiten bat, erklärte mir die zuständige Mitarbeiterin weiter, dass die einsamen Tode jüngerer Menschen in der Regel ganz andere Ursachen haben als ein einsamer Tod eines hochalten Menschens.5 Da aber beides – genauso wie die oben stehenden Todesfälle mehrerer Personen – vom MHLW als koritsushi gefasst werden würde, sei eine einheitliche Definition wie auch eine Einheitslösung nur schwer zu erreichen. Aus diesem Grund glaubte die Mitarbeiterin nicht, dass sich in absehbarer Zeit etwas an der Definitionsfrage ändern werde. In dieser Hinsicht fasse ich zusammen, dass koritsushi und kodokushi oftmals deckungsgleich verwendet werden, die Bezeichnung koritsushi aber breiter gefasst ist und 5 | Das Telefonat fand am 29.10.2013 statt.
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eine größere Zahl sozialer Phänomene beschreiben kann. Auf der lokalen Ebene wurde diese Unterscheidung jedoch durchaus problematisch gesehen. Um die unterschiedlichen Bedeutungsnuancen beider Wörter genauer zu erfassen, werde ich nun theoretische Arbeiten zur Hilfe ziehen.
5.5 Theoretische U nterscheidung z wischen koritsushi und kodokushi Für einen Vergleich der Wörter koritsushi und kodokushi ist es sinnvoll, zunächst die Schriftzeichen, mit denen die Wörter geschrieben werden, zu analysieren. Das erste Zeichen ko (孤) ist beiden Ausdrücken gemein und bedeutet »alleine« oder »Waise«. Hierauf folgt im Falle von koritsushi das Zeichen für »stehen«, welches auch für das Verb ta-tsu (立つ) benutzt wird. Das doku (独) in kodokushi wird demgegenüber mit einem Zeichen geschrieben, das »alleine« oder »einsam« bedeutet. Das dritte Zeichen shi (死) für »Tod« oder »sterben« ist wieder in beiden Wörter gleich. Dieser oberflächlichen Analyse folgend scheint koritsushi als »alleine stehen und sterben« möglicherweise eine neutralere Bezeichnung zu sein, während kodokushi als »alleine und einsam sterben« eine negative und emotionalere Seite eben dieses Umstands betonen könnte. Die Verwendung beider Wörter in den japanischsprachigen Sozialwissenschaften im Zusammenhang mit der Erforschung sozialer Isolation bestätigt diese erste Vermutung. Im Anschluss an die Unterscheidung des britischen Soziologen Peter Townsend (vgl. 1957) wird soziale Isolation (»social isolation«) mit koritsu und Einsamkeit (»loneliness«) mit kodoku übersetzt. Koritsu ist demnach ein »objektiv [erfassbarer] Status« (Ishida 2011: 73*), während kodoku einen »subjektiv [gefühlten] Zustand« (ebd.*) beschreibt. Kodoku ist somit das Gefühl – oder die Bewusstwerdung – der eigenen Einsamkeit, was auf den Zustand koritsu folgen kann – jedoch nicht zwingend hierauf folgen muss (vgl. auch Fujimoto 2012: 16; Otani 2010: 145). Laut Ishida (2011: 76ff) kümmere sich die sozialwissen-
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schaftliche Forschung in Japan vor allem um das Gefühl der Einsamkeit, welches durch Fragebögen oder Interviews erfragt werden kann. Demgegenüber sei soziale Isolation schwerer zu erfassen. Denn da soziale Isolation nicht die einzige Ursache von Einsamkeit ist, könne man nicht einfach vom einen auf das andere schließen. Eine grundsätzliche Schwierigkeit für die Forschung bestehe dabei, zwischen der Quantität und der Qualität sozialer Beziehungen zu unterscheiden. In diesem Zusammenhang definiert Ishida (2011: 73*) koritsu als »Zustand, in dem niemand da ist, der einem hilft« und unterscheidet zwischen einer Situation, in der Mitmenschen existieren, die einem helfen können, und der Situation, wo noch nicht einmal potentielle Hilfe existiert. Diese Unterscheidung zwischen erstens einer theoretisch existenten Hilfe, die aus verschiedenen Gründen nicht wahrgenommen wird, und zweitens einer völligen Hilflosigkeit klingt auch bei Yamaguchi an, der die Begriffe im Anschluss an den Philosophen Taniguchi Tatsuo auf folgende Weise analysiert: »Koritsu bezeichnet eine Situation, in der eine Person, weil sie von anderen ausgeschlossen oder isoliert wird, aber auch wenn dem nicht so ist [und die Person sich aus eigenem Willen abgrenzt], ihr Herz verschließt und sich von den anderen isoliert. Demgegenüber bezeichnet kodoku nicht einen solchen Isolationszustand, sondern [eine Situation, in der] das Zusammenleben mit anderen fehlt und man deshalb sein Herz öffnet. Eine [solche] Person, die ein Zusammensein mit anderen anstrebt, ist keine isolierte Person [koritsusha], sondern eine einsame [kodokusha].« (Yamaguchi 2008: 60*)
In dieser Hinsicht bekommt kodoku insofern eine tragische Nuance, da ein Gefühl von Einsamkeit immer auch einen Wunsch nach Kontakten, nach einem Ende der Einsamkeit voraussetze. Dies sei bei sozialer Isolation (koritsu) nicht so, da diese auch selbst gewählt sein könne. Folglich müsste man Menschen, die kodoku empfinden, im Prinzip als Menschen »mit einem offenen Herzen« charakterisieren, während das Wort koritsu das Bild eines Menschen »mit verschlossenem Herzen« hervorrufe. Folgt man dieser Unterschei-
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dung, wird dadurch die traurige Konnotation des Wortes kodokushi verständlich. Denn jemand der in kodoku stirbt, fühlte sich vor und während seines Todes einsam und war – aus Eigen- oder Fremdverschulden – nicht in der Lage diesen Zustand zu ändern. Auch wenn kodokushi und koritsushi in der Praxis fast deckungsgleich verwendet werden, transportieren sie somit doch unterschiedliche Bedeutungsnuancen. Dies kann für die Erklärung der Verwendung im Feld durchaus hilfreich sein. Bezeichnen Akteure einen Todesfall als kodokushi, vermitteln sie ein tragischeres oder traurigeres Bild, als wenn sie ihn mit koritsushi betiteln würden. Die Bezeichnung kodokushi wirkt im Allgemeinen wertender und steht in vielerlei Hinsicht im Gegensatz zu gesellschaftlichen Vorstellungen eines guten Todes (vgl. Otani 2010: 172-174). Demgegenüber erscheint koritsushi als der neutralere Ausdruck. Denn auch wenn das Kabinettsbüro einen koritsushi sehr wertend als »leidvollen« Tod beschreibt, kann das Wort koritsuka als Prozess der Abgrenzung von anderen Menschen auch als bewusste und gewollte Entscheidung zu diesem Schritt interpretiert werden. Eine solche Interpretation ist demgegenüber bei kodokushi nicht möglich. Jedoch möchte ich nicht so weit gehen, koritsushi als positives Pendant zu kodokushi darzustellen, wie es beispielsweise für den Ausdruck jiritsushi als »selbstbestimmten Tod« eher möglich wäre (vgl. Yabe 2012). In dieser Hinsicht schließt koritsushi auch nicht an den positiven Gegendiskurs zur These der »beziehungslosen Gesellschaft« an, welcher die Abkehr von klassischen Gruppenzugehörigkeiten als Befreiung und Ausbruch aus den beengenden und Selbstverwirklichung verhindernden sozialen Beziehungsmustern umdeutet (vgl. Amino 1978; Tsuchiya 1996; Shimada 2011).
5.6 Was ist problematisch an einem einsamen Tod? Derartige positive Umdeutungen des Phänomens fanden sich im Feld sowieso eher selten und beschränkten sich tendenziell auf die theoretische Ebene. Stattdessen wurden die einsamen Tode von al-
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len Akteuren als gesellschaftliches Problem betrachtet und hieran anschließend nach Lösungsstrategien gesucht. Die medizinische Seite – Ärzte und Pflegekräfte – analysierte den Sachverhalt dabei neutral und stand der emotionalisierten medialen Debatte tendenziell kritisch gegenüber. Dementsprechend pragmatisch und rational wurde versucht, Lösungen für die Probleme von in Einpersonenhaushalten lebenden chronisch Kranken zu finden (vgl. z.B. auch NHK/Sasaki 2007: 145-150). Grundlage dieser sachlichen Haltung war die fachmännische Erfahrung, dass »plötzliche Tode« (totsuzenshi) auch in Krankenhäusern vorkommen können. Daher könne weder eine optimale Betreuung bis zum Moment des Ablebens für alle Fälle garantiert noch das Auftreten neuer Wohnungsleichen gänzlich verhindert werden. Fujimori Katsuhiko (vgl. 2010: 168) betont in diesem Zusammenhang, dass für ihn daher nicht das fehlende mitori, sondern die Tatsache, dass die Verstorbenen aufgrund ihres isolierten Lebensstils tagelang unbemerkt in ihren Wohnungen liegen würden, das wirkliche Problem an einem einsamen Tod darstellen würde. Die staatliche Seite – insbesondere das MHLW – versucht demgegenüber die Debatte um die einsamen Tode ein wenig zu entschärfen, indem sie unter der Bezeichnung koritsushi verschiedene Phänomene zusammenfasst. In dieser Hinsicht verliert die Problematik der Wohnungsleichen etwas an Brisanz, da sie nur noch ein Phänomen unter mehreren ist. Zudem erzeugt der neutralere Ausdruck koritsushi oberflächlich weniger Handlungsdruck, während mit kodokushi das Problem der Einsamkeit direkt angesprochen würde. Trotzdem werten andere von staatlichen Institutionen verfasste Dokumente die einsame Tode sehr deutlich und beziehen somit eine klare Position, die sich stark von der neutralen Haltung der medizinischen Seite unterscheidet. Die Stadt Matsudo – bzw. die für soziale Wohlfahrt zuständige Abteilung der Stadtverwaltung – setzt sich von dieser bereits sehr undurchsichtigen staatlichen Position wiederum ab. Sie orientiert sich an der Arbeit des lokalen kodokushi zero-Projekts aus der Tokiwadaira Danchi und verwendet das Wort kodokushi auch im offiziel-
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len Rahmen.6 Gleiches gilt auch für die Vermietungsgesellschaft UR Agency. Dass sowohl die Stadtverwaltung als auch die Vermietungsgesellschaft das vom lokalen Projekt geprägte Wort kodokushi aufnehmen, liegt möglicherweise am geteilten Interesse, die Tokiwadaira Danchi als engagierte, vitale und funktionierende Nachbarschaft darzustellen. Jedoch existieren insbesondere zwischen Jichikai und UR Agency Konflikte über konkrete Definitionsinhalte, was die divergierenden Interessen der beiden Akteure offenbart. Die UR Agency ist dabei an einer möglichst kleinen Zahl von einsamen Toden interessiert, damit die Wohnungen der danchi gegenüber potentiellen Mietern attraktiv vermarktet werden können. Die Jichikai ist auf der einen Seite ebenfalls an einer sinkenden Zahl einsamer Tode interessiert, um so Erfolge der eigenen Arbeit darstellen zu können. Auf der anderen Seite muss die Problematik jedoch auch weiter aktuell bleiben, so dass man Aufmerksamkeit und Legitimation für die eigenen Aktivitäten erhalten und möglicherweise finanzielle Unterstützung beziehen kann. In dieser Hinsicht erscheint nachvollziehbar, warum vermeintlich unproblematische Tode von sozial eingebundenen, aber alleinlebenden Personen als einsame Tode problematisiert werden – wie es im oben zitierten Beispielfall aus dem Interview mit Frau O geschah. Denn die Verantwortlichen des kodokushi zero-Projekts definieren jeden Tod zu Hause, bei dem die Person unbegleitet stirbt, als einsamen Tod. Solche Todesfälle werden in der Folge eindeutig als etwas Schlechtes dargestellt und mit einem gesellschaftlichen Wertewandel und dem Niedergang der Nachbarschafts- und Familienbeziehungen in Verbindung gesetzt. Dieser deutlichen negativen Wertung eines einsamen Todes schließt sich die durchgängige Verwendung der Bezeichnung kodokushi an. Bezogen auf die Frage, was genau denn problematisch an einem solchen einsamen Tod sei, traf ich im Feld zunächst auf sehr pragmatische Antworten. Schon im ersten Gespräch mit Herrn N nannte dieser mir potentielle Gefahren, welche durch unentdeckte 6 | Hier beziehe ich mich auf eine E-Mail-Korrespondenz vom 27.12.2013.
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Wohnungsleichen in der Nachbarschaft entstehen könnten. Hier sei vor allem auf die Entstehung von Bränden zu verweisen, welche aufgrund der weiten Verbreitung von Gasöfen als besonderes Risiko erscheinen. Da einsame Tode und soziale Isolation insbesondere bei Männern in Verbindung zum Messie-Syndrom gesetzt wurden, treten zudem oftmals enorme Ansammlungen von Müll in Wohnungen als Begleiterscheinungen eines kodokushi auf. In der relevanten Literatur wird daher betont, dass hierdurch – genau wie durch das Auf brechen des Wohnungsschlosses oder durch die Reinigung der Wohnungen von Leichenrückständen und Leichengerüchen – enorme Kosten für Angehörige oder für den Vermieter entstehen können (vgl. NHK/Sasaki 2007: 106; Fujimori 2010: 172; Yoshida 2010: 168-179). Falls die Angehörigen nicht auffindbar sind bzw. sich nicht verantwortlich fühlen, muss die Kommune die Kosten für die Beisetzung der Leiche übernehmen. Das Prädikat einsamer Tod kann darüber hinaus sogar die Suche nach Nachmietern für die Wohnung erschweren. Dies alles veranschaulicht die wirtschaftliche und emotionale Last, die durch einen einsamen Tod bei Angehörigen, Nachbarn und Vermietern entstehen kann (vgl. auch Yamaguchi 2008: 63-64). Während der Feldforschung traf ich derartige Argumentationen jedoch eher selten an.7 Auch die Problematik der Kosten für die Beisetzung wurde mir gegenüber nicht thematisiert. Wichtiger als die Kostenproblematik schien zumindest implizit zu sein, dass die einsamen Tode in Widerspruch zu weit verbreiteten Vorstellungen eines »guten Todes« stehen: »In unserem Land werden einsame Tode [koritsushi] in der Regel als Ausnahmefälle betrachtet, da üblicherweise erwartet wird, zum Zeitpunkt des Todes von Familienangehörigen oder Ärzten umsorgt zu werden.« (MHLW 2008a: 5*) 7 | Dies lag möglicherweise aber auch an der Auswahl der Gesprächspartner, da die Vermieterseite in meiner Forschung nur eine untergeordnete Rolle einnahm.
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Wie im von Frau O angesprochenen Beispielfall spielt dabei die subjektive Ebene eine weniger bedeutende Rolle. Der einsame Tod wird vor allem von außen und im Nachhinein als etwas Trauriges oder Leidvolles für die verstorbene Person und das sie überlebende soziale Umfeld erklärt. Kodokushi ist in dieser Hinsicht ein Problem für die Nachbarschaft, und nicht so sehr für die verstorbene Person. Dementsprechend spricht das lokale Projekt in der Tokiwadaira Danchi die Individuen als Teil einer größeren Nachbarschaftsgemeinschaft an. Sowohl jeder für sich als auch die Nachbarschaft als Ganzes müssten dafür sorgen, dass man nicht zum nächsten kodokushi-Fall werde.
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6.1 D ie V er ant wortungsproblematik Bis hierhin wurde gezeigt, dass die einsamen Tode von verschiedenen Akteuren als soziales Problem erkannt werden. Diese interpretieren das Phänomen teilweise als Ergebnis langfristiger Entwicklungen, teilweise aber auch als Konsequenz eher kurzfristig entstandener Problemlagen. Zudem werden die einsame Tode auf der einen Seite als generelles Problem moderner bzw. postindustrieller Gesellschaften verstanden, während an anderen Stellen japanische Besonderheiten betont werden. Unabhängig von diesen spezifischen Interpretationen der gegenwärtigen Situation sind sich die Diskursteilnehmer in der großen Mehrzahl darüber einig, dass ein akuter Handlungsbedarf besteht. Welche Akteure hierfür was tun sollten, kann dabei schon durch die jeweilige Betitelung des einsamen Todes transportiert werden. Denn mit der Suche nach derartigen Gegenmaßnahmen rückt auch die schwierige Frage der Verantwortlichkeit in den Vordergrund. Diese wird auch im 2010 erschienenen Kriminalroman »Ausbruch aus der beziehungslosen Gesellschaft« (muenshakai kara no dasshutsu) angesprochen: »Gegenwärtig gibt es viele Fälle, bei denen Familien oder Angehörige sich nicht um die sterblichen Überreste eines in Einsamkeit verstorbenen alten Menschen kümmern. Daher passiert es oft, dass eben diese Familien und Angehörigen als kalt[herzig] kritisiert werden. Aber im Gegensatz dazu ist
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es bei der Mehrzahl der heutigen einsamen Alten so, dass es irgendwelche Umstände gab, weshalb sie von sich aus die Beziehungen zu den anderen kappten, und [von dort an] in der beziehungslosen Gesellschaft [muenshakai] lebten. […] Beispielsweise heißt es auch, dass viele obdachlose alte Menschen ihre Beziehungen zu Familie und Verwandten abbrachen, weil sie niemandem zur Last fallen wollten.« (Nishimura 2010: 169*)
Der Autor des Romans, Nishimura Kyôtarô, ein bekannter japanischer Schriftsteller, spricht hiermit einen grundlegenden Konflikt in der Debatte um Japans einsame Tode an: Wie ist es zu beurteilen, wenn sich Menschen von sich aus von der Gesellschaft abschotten? Dürfen sie einsam sterben oder ist dies prinzipiell etwas Verwerfliches? Muss die Gesellschaft sich auch um Individuen kümmern, die aus eigenem Willen die Isolation suchen? Wer trägt also die Verantwortung für Japans einsame Tode? Zwar stehen derartige Fragen im Zentrum der gesellschaftspolitischen Diskussionen, jedoch bedeutet dies nicht, dass es auch einen gesellschaftlichen Konsens hierzu gäbe. Stattdessen wird die Problematik von den Polen Individual- und Kollektivverantwortung bestimmt. Der Verweis auf die individuelle Verantwortung erscheint dabei augenfällig, da er dem liberalen Ideal eines rational agierenden und mündigen Staatsbürgers entspricht. Die hiermit verbundene individuelle Autonomie wird im japanischen Fall möglicherweise von dem auch von Nishimura angesprochenen Motiv »niemandem zur Last fallen zu wollen« (meiwaku wo kaketakunai) unterstützt. Dieses »script« (Seale 1998; Long 2005: 52-53) eines guten Todes scheint in der japanischen Gesellschaft weit verbreitet zu sein (vgl. Traphagan 2000: 147, 153; Long 2005: 61; NHK 2010: 67, 122). Ichijô Shinya (2011: 114; 115) sieht dies jedoch durchaus kritisch und verweist auf die Gefahr dieses Denkmusters, da es individuelle Tendenzen hin zu einer sozialen Desintegration möglicherweise noch verstärken kann. Insbesondere seit den (späten) 1990er Jahren wurde das Motiv »niemandem zur Last fallen zu wollen« immer stärker mit dem vom neoliberalen Denken geprägten Begriff der Eigenverantwortung
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diskursiv verschränkt. Eigenverantwortung wird im Japanischen mit dem Wort jikosekinin bezeichnet und wurde vor allem durch verschiedene politische Vorhaben der Koizumi-Regierungen sowie über unzählige, zumeist populärwissenschaftliche Veröffentlichungen bekannt gemacht. Der Begriff wird dabei innerhalb verschiedener Themenfelder verhandelt. Hierzu gehören Erwerbsarmut (vgl. u.a. Kadokura 2006), die Entführung japanischer Staatsbürger im Ausland – wie z.B. während des Irakkriegs 2004 (vgl. u.a. Satô/Itô 2004; Dôshisha 2005; Ogawa 2009: 177) – oder die Problematik sozialer Verwahrlosung bzw. Isolation. Laut NHK (2010: 123*) stehe der Begriff sinnbildlich für die Denkweise, dass man »die eigenen Angelegenheiten [eben] irgendwie selbst regeln müsse«. Übertragen auf die Problematik der einsamen Tode könnte das bedeuten, dass man sich selbst um ausreichend soziale Kontakte und eine medizinische Versorgung kümmern müsse. Aufgrund des neoliberalen Hintergrunds handelt es sich bei jikosekinin um ein stark politisiertes und umstrittenes Konzept, weshalb es in wissenschaftlichen Veröffentlichungen eher vermieden und durch Formulierungen wie »die Verantwortung des Betroffenen« (Asahi Shinbun 2012: 50*) ersetzt oder über Begriffe wie »Selbsthilfe« (Gojokyôkai 2012: 74*) diskutiert wird. Bezogen auf die soziale Praxis scheint der Verweis auf die eigene Verantwortung an sich jedoch schwierig zu sein, da eine individuelle Fähigkeit zur freien Wahl nicht immer vorausgesetzt werden kann. Laut Yamaguchi (vgl. 2008: 59) müsse der Zustand der subjektiv gefühlten Einsamkeit daher nicht unbedingt als Ergebnis einer persönlichen Entscheidung gewertet werden, weshalb er weiter zwischen den Wegen unterscheidet, durch die man sich selbst vor sozialer Isolation schützen könne, und jenen Dingen, die die soziale Umwelt für einen leisten könne (vgl. ebd.: 71-75). Vor allem bezogen auf den Tod gehe er jedoch von sehr eingeschränkten persönlichen Auswahlmöglichkeiten aus: »Ich denke, dass es viele Menschen gibt, die die betroffenen Personen selbst in der Verantwortung sehen und kodokushi daher als ein individuelles
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Problem interpretieren. Aber der im Zentrum dieser Problematik stehende ›Tod‹ kann jeden erreichen und ist folglich keine Sache, die man selbst auswählt und dann erwartet. […] Demzufolge kann man [das Problem] nicht verstehen, wenn man die Betroffenen selbst als verantwortlich definiert. Es bedarf der Erkenntnis, dass verschiedene Ursachen, die von der die Betroffenen umgebenden Gesellschaft ausgehen, [mit dem Problem] zusammenhängen und es sich [demnach] um ein gesellschaftliches Problem handelt« (Yamaguchi 2008: 71-72*).
Einer solchen Auffassung von kodokushi als nicht ausschließlich auf das Individuum beschränktes Problem folgend setzen die meisten theoretischen wie praktischen Lösungsversuche am direkten Umfeld der isolierten Person an und zielen darauf ab, zerstörte soziale Sicherungsnetze entweder auszubessern oder neue zu etablieren. Im Interview bestätigte Herr N diese Einschätzung, da es natürlich Dinge gebe, die die Individuen selbst tun könnten. Hierzu zählte er vor allem das gegenseitige Grüßen, woraus neue zwischenmenschliche Beziehungen und Mitgefühl entstehen sollen. Darüber hinaus gebe es aber Dinge, welche die Nachbarschaftsgemeinschaft übernehmen müsse, und wiederum andere, welche von staatlichen Institutionen geleistet werden sollten. In dieser Hinsicht ergibt sich ein komplexes Netz an übergreifenden und miteinander verschränkten Verantwortungsbeziehungen. Die spezifische Verwendung des Wortes kodokushi von Seiten der Jichikai bietet zudem eine weitere Begründung für den Auf bau von kollektiv getragenen Gegenmaßnahmen an. Denn der traurigen Konnotation des Wortes folgend werden auch vermeintlich unproblematische Fälle als kodokushi problematisiert, da ein solcher Tod eine wirtschaftliche, emotionale und moralische Last für die lokale Gemeinschaft verursachen könne. Insbesondere bezogen auf die nicht-vorbeugenden Maßnahmen trägt also die Nachbarschaftsgemeinschaft den Hauptteil der Verantwortung dafür, wie mit lokal auftretenden einsamen Toden umgegangen wird. In dieser Hinsicht stellen die einsamen Tode vor allem ein Problem für die Überlebenden – und nicht für die Verstorbenen – dar. Man müsse daher
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»gemeinsam nachdenken und zusammen die Sozialbeziehungen der Nachbarschaft stärken« (Interview Herr N*).
6.2 T ypen von G egenmassnahmen Welche Gegenmaßnahmen umgesetzt werden, ist somit stark von der jeweiligen Definition des einsamen Todes und dem hiermit zusammenhängenden Problembewusstsein abhängig. Generell werden die Maßnahmen dabei häufig in »harte« und »weiche« Maßnahmen unterschieden (Fukuhara 2001: 2; Ôhashi et al. 2006: 59; NHK/Sasaki 2007: 150-151*). Mit »harten« Gegenmaßnahmen sind Veränderungen der Infrastruktur und der Wohnumgebung gemeint. Diese werden im Kontext der danchi meist mit den Wörtern tatekae und hoshû angesprochen. Während hoshû Ausbesserungen oder Reparaturen bezeichnet, sind mit tatekae größere Umbaumaßnahmen gemeint. Beide Formen dieser »harten« Maßnahmen stehen im Zentrum der Arbeit der UR Agency, der Vermietungsgesellschaft der Tokiwadaira Danchi. Sowohl im vollen englischen Namen »Urban Renaissance Agency« als auch in der japanischen Version als toshi saisei offenbart sich dabei das Motiv der »Stadterneuerung«. Bezogen auf das Wohnumfeld des Vorstadtbereichs bedeute dies »eine Stadtplanung, welche der sinkenden Geburtenrate und alternden Gesellschaft angepasst ist und ein symbiotisches Verhältnis zur Umwelt beinhaltet. [Sie soll zudem] Konzepte für Sicherheit und Friedlichkeit umfassen, an die lokalen Besonderheiten angepasst sein und nach der Verwirklichung einer anziehenden Vorstadt streben« (UR Agency 2014b*). Dabei müsse die lokale Geschichte respektiert werden und in das neue Stadt- und Wohnkonzept eingearbeitet werden (vgl. UR Agency 2014a: 17). Im speziellen Falle der in die Jahre gekommenen danchi umfasst die »Stadterneuerung« zudem die Vergrößerung der Wohnfläche sowie die Schaffung von mehr Parkplätzen (vgl. UR Agency 2014c). Die UR-Vision einer reformierten und verbesserten Wohnumwelt stieß in der Tokiwadaira Danchi jedoch auf den erbitter-
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ten Widerstand der Bewohner. Vorausgegangen war ein Streit um Mieterhöhungen, welcher die UR Agency und die Jichikai ab den späten 1980er Jahren zu offenen Kontrahenten gemacht und zwei große Gerichtsverfahren zur Folge hatte (vgl. Yûki 2008: 44-49). Ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre plante die UR Agency dann, einzelne Distrikte der danchi umzubauen, weshalb für die betroffenen Wohnhäuser keine neuen Mieter mehr gesucht wurden. Die Bewohnerschaft fürchtete jedoch, dass dieser »belästigende Leerstand« (ebd.: 49*) zu einem beschleunigten Zusammenbruch des nachbarschaftlichen Lebens führen würde. Zudem sorgte man sich um Mieterhöhungen für die Zeit nach den Umbaumaßnahmen, weshalb in Zusammenarbeit mit den Bewohnern anderer danchi zahlreiche Demonstrationen und Protestaktionen durchgeführt wurden. Am Ende dieses Konflikts einigten sich UR Agency und Jichikai darauf, zunächst den Status Quo zu schützen und auf großflächige Umbauten zu verzichten (vgl. TKWD Jichikai 2001; Yûki 2008: 49-50). Aus diesem Grund spielen alternative Wohnmodelle, welche in der Regel mit größeren Umbaumaßnahmen und entsprechenden Kosten verbunden wären, im Feld keine große Rolle – ganz im Gegensatz zur Diskussion in der einschlägigen Literatur (vgl. Gojokyôkai 2012: 52f; Yabe 2012; Danchi Saisei Kenkyûkai 2006; 2009; 2012). Dementsprechend liegt das Hauptaugenmerk der von mir beobachteten Maßnahmen gegen die einsamen Tode auf der »weichen« Seite der Gegenmaßnahmen. Anstatt die Wohnumgebung zu ändern, versucht man bei derartigen Projekten auf das soziale Leben der Bewohner einzuwirken. Ein Hauptziel ist dabei, den Austausch zwischen den Bewohnern zu fördern, sodass neue soziale Beziehungen aufgebaut werden können bzw. schon existente Beziehungen besser gepflegt werden können (vgl. Fukuhara 2001: 161ff). Dabei ist interessant zu sehen, welche Akteure jeweils in der Verantwortung gesehen werden. Neben den (potentiell) Betroffenen selbst, ihrer Familie, der direkten Nachbarschaft und den dort ansässigen zivilgesellschaftlichen Organisationen (Jichikai, Shakyô, Minsei-iin, NPOs) kann beispielsweise auch die Rolle von
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Medizinern (Ärzte, Pflegediensten), religiösen Organisationen oder staatlichen Institutionen (Kommune, Präfektur, nationale Ebene) angesprochen werden. Natürlich stellen derartige Argumentationsmuster nichts absolut Neuartiges, sondern vielmehr ganz typische Versuche für den Kampf gegen soziale Isolation dar. Durkheim (1983: 444-464) diskutierte beispielsweise bereits im Jahr 1897 die Möglichkeit der Einbindung selbstmordgefährdeter Individuen in religiöse Gruppen, in die Familie, in das Berufsleben, oder auch in die lokale Nachbarschaft, um deren soziale Integration zu steigern und um gegen den »alarmierenden Zustand unserer Moral« (ebd.: 460) anzukämpfen. Ganz ähnlich, aber ohne einen Bezug zu Durkheim gibt es auch in Japan zahlreiche Vorschläge, bestimmte Arten sozialer Beziehungen zu stärken oder zu fördern, um so sozialer Isolation entgegenwirken zu können. Hierbei wird in der Regel jeweils eine Form sozialer Beziehungen in den Fokus der Analyse gerückt. Beispielsweise nennt Ichijô (vgl. 2011) insbesondere Ideen, wie man die ausgedünnten Beziehungen der Nachbarschaft wieder stärken könne, während Morioka (2012: 33*) vorschlägt, »zunächst die Überreste der familiären Bindungen« wiederzubeleben. An anderen Stellen wird die gefühlte gesellschaftliche Krise zum Anlass genommen, Reformen des japanischen Sozialsystems zu fordern – wobei sich diese Richtung wiederum in ein konservatives und ein progressives Lager aufspaltet. Während das konservative Lager eine Stärkung oder Ergänzung des bisherigen Systems für ausreichend hält (vgl. z.B. Gojokyôkai 2012: 73-74), erkennt das progressive Lager grundlegende Probleme des formellen Sicherheitsnetzes in Japan und fordert entsprechend tiefgreifende Veränderungen (vgl. z.B. Asahi Shinbun 2012: 113-114). In den folgenden zwei Kapiteln werde ich auf der Grundlage meiner Feldforschung Beispiele für zwei dieser Arten von Gegenmaßnahmen – nämlich die Reaktivierung des nachbarschaftlichen Lebens und die Reform des formellen Sozialsystems – vorstellen und diskutieren. Diese Beschränkung bedeutet jedoch nicht, dass in der japanischen Gesellschaft keine weiteren Alternativen für die genannten
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Arten »weicher« Maßnahmen gegen soziale Isolation existieren. Neben Ideen für eine Einbindung religiöser Institutionen (vgl. u.a. Asahi Shinbun 2012: 110; Gojokyôkai 2012: 88; 89-90) werden auch Formen sogenannter »neuer Solidarität« (Ishida 2011: 182*) diskutiert. Letztere kann dabei ganz unterschiedliche Konzeptionen beinhalten. Während Ichijô (2011: 210*)1 die Wurzeln für seine Vision einer »Gesellschaft des gegenseitigen Miteinanders« in Kooperation und Vertrauen sieht, spricht Okuda von »beziehungslosen Beziehungen« (Gojokyôkai 2012: 85*), also von auf keiner gemeinsamen Gruppenzugehörigkeit beruhenden Beziehungen zu »Fremden« (ebd.*). Ein derartiger, auf Freundlichkeit und Zwischenmenschlichkeit beruhender Auf bau eines neuen sozialen Netzes – fast im Sinne einer Ersatzfamilie – war übrigens auch im eingangs erwähnten Kriminalroman von Nishimura Kyôtarô (2010: 170*) die »einzige Methode, um der beziehungslosen Gesellschaft der Gegenwart entweichen zu können«. Da derartige Konzepte im Feld jedoch eine untergeordnete Rolle spielten, werden sie im weiteren Verlauf der Arbeit nicht weiter thematisiert.
6.3 K onkrete M assnahmen in der Tokiwadair a D anchi 6.3.1 Besonderheiten des Ansatzes und der Arbeitsweise Eigeninitiative Anstatt auf die Reaktivierung verwandtschaftlicher Verbindungen oder die Bildung neuartiger Beziehungen zu hoffen, betonen die Verantwortlichen des kodokushi zero-Projekts in der Tokiwadaira Danchi die Bedeutung der lokalen Ebene. Man wolle »zusammen 1 | Ichijô (2011: 212-213) bezeichnet diese neuen »Beziehungen der Hilfe« ( joen) als »diagonale« Beziehungen und grenzt sie von »vertikalen« Beziehungen der Familie oder den »horizontalen« Beziehungen der Nachbarschaft ab.
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mit den Bewohnern Lösungen finden und diese gemeinsam umsetzen« (Nakazawa 2008: 8*) und verfolgt somit einen Bottom-UpAnsatz. In Zeiten von verstreut lebenden Familien oder Verwandten sei es nämlich »der nahe Fremde statt des fernen Verwandten, der einem hilft, wenn man in Schwierigkeiten ist« (ebd.: 26*). Die lokale Gemeinschaft rückt in dieser Hinsicht ins Zentrum des Projekts. Da die »Herstellung einer sich gegenseitig helfenden Nachbarschaft« (TKWD Jichikai 2011*) nur über die Eigeninitiative und ein Zusammenrücken der Bewohner selbst erreicht werden kann, sei eine gut funktionierende Nachbarschaft nicht nur das Ziel, sondern auch der Weg zur Erfüllung desselben. Bezogen auf den Aspekt der Wohlfahrt wird daher von »lokaler Fürsorge« (Nakazawa 2008: 16*) oder von »Wohlfahrt von unten« (ebd.*) gesprochen, welche von staatlich organisierter Wohlfahrt abgegrenzt wird. Im Falle der Problematik der einsamen Tode warnen die Leiter des Projekts sogar vor dem Verweis auf gesamtgesellschaftliche Sicherungsnetze oder auf eine mögliche Verantwortlichkeit des Staats und unterstreichen erneut, dass man das Problem von unten her angehen müsse: »[Oft wird erwartet,] dass die Verwaltung schon irgendetwas bezüglich der einsamen Tode unternehmen werde. Mit anderen Worten heißt das, dass die Gefahr besteht, sich [zu sehr] auf andere zu verlassen. Daher achten wir darauf, dass die Bewohner selbst die kodokushi-Problematik auf die Agenda setzen. In der Folge heißt das, dass wir [Bewohner] unsere Lebensstile prüfen und verbessern müssen. Und zudem führt es dazu, uns zu fragen, welche Dinge wichtig dafür sind, gemeinsam das Glück der Nachbarschaft herbeizuführen.« (Nakazawa/Hasegawa 2008: 151-152*)
Das soll jedoch nicht bedeuten, dass die Verantwortlichen der lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen überhaupt keine Erwartungen an die staatliche Verwaltung stellen. Man ist sich vielmehr der Grenzen der möglichen Hilfe der Stadt oder anderer staatlicher Stellen bewusst. So erläuterte Herr N (*) im Interview, dass die Verwaltung (gyôsei) nur über beschränkte finanzielle wie personelle Ressourcen verfüge, weshalb ihre Rolle nicht in der praktischen
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Umsetzung von Konzepten oder Ideen läge: »Deswegen schafft sie die nötigen Strukturen für die lokalen Aktivitäten und dies ist eben die Rolle der Verwaltung«. Da diese Unterstützung aber teilweise nicht gründlich oder nicht vollständig geleistet werden könne, müsse bereits ein Großteil dieser grundlegenden Arbeit aus der Nachbarschaft selbst erfolgen. Diese schwierigen Beziehungen zwischen Verwaltung und den lokalen Organisationen möchte ich anhand eines kurzen Beispiels veranschaulichen. Nachdem das kodokushi zero-Projekt Anfang der 2000er Jahre gestartet wurde, zeigte sich bald die Notwendigkeit von geeigneten Räumlichkeiten für die Planung und Umsetzung der Maßnahmen (vgl. Nakazawa 2008: 12-14). Das bisherige Büro des Shakyô war den neuen Aufgaben mit einer Bodenfläche von circa 8m² nicht mehr gewachsen. In der Folge wurde entschieden, in einen frei stehenden Raum innerhalb des nahe gelegenen städtischen Bürgerzentrums (matsudo shiyakusho tokiwadaira shisho) zu ziehen. Der Größe des Raums entsprechend sollte die eine Hälfte als Büroraum des Shakyô dienen, während in der anderen Hälfte das neu gegründete »Zentrum für die Vorbeugung von einsamen Toden in Matsudo« (matsudo kodokushi yobô sentâ) untergebracht würde. Da hierfür jedoch unter anderem die Konstruktion einer Trennwand nötig wurde, entstand schnell das nächste Problem bezüglich der Finanzierung eben dieser Umbauarbeiten. Weder die Stadtverwaltung noch das Shakyô der Stadt Matsudo (matsudoshi shakai fukushi kyôgikai) wollten die nötigen Finanzmittel kurzfristig bereitstellen. Während die Stadtverwaltung anbot, vielleicht »im nächsten Jahr irgendetwas zu machen« (ebd.: 13*), konnte das städtische Shakyô keine Hilfe bereitstellen. Auch aus Angst vor der möglichen stärkeren Abhängigkeit von der Stadtverwaltung, entschied Herr N schließlich, nicht auf die langsamere und wenig pragmatische Verwaltungsbürokratie zu warten, sondern bezahlte die 600.000 Yen für die Umbauarbeiten selbst (vgl. ebd.).2 So konnte das matsudo kodokushi yobô sentâ schon einen Monat später im Juli 2004 eröffnet werden. 2 | Beim damaligen Wechselkurs entsprach dies circa 4500 Euro.
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Das Beispiel macht deutlich, dass die Organisatoren des kodokushi zero-Projekts durchaus Forderungen an die städtische Verwaltung und andere höher gestellte (halb-)staatliche Akteure richten. Man erwartet Unterstützung für bestimmte lokale Aktivitäten, von denen auch die staatlichen Akteure profitieren würden, da diese in der Folge entlastet werden könnten. Wird den Organisationen das staatliche back-up jedoch versagt oder fürchtet man eine zu starke Abhängigkeit von staatlichen Behörden, setzt man die Projekte so gut wie möglich in Eigenregie um. Dies funktioniert nur durch das Engagement bestimmter Einzelpersonen. Gleichzeitig legitimieren die Organisatoren über diesen Einsatz ihre Position als lokale und landesweite Experten, die keinen Aufwand scheuen, um der kodokushi-Problematik gegenüber zu treten. Hierdurch festigen sie ihre bestimmende Stellung innerhalb der Diskursformationen, wodurch weitere Projekte legitimiert werden können.
Organisationsübergreifende Zusammenarbeit Die erfolgreiche Umsetzung des Maßnahmenkatalogs kann nur über die organisationsübergreifende Kooperation zwischen den Hauptorganisationen der Nachbarschaft garantiert werden. Diese enge Zusammenarbeit findet ihren Ausdruck in der im Feld vielfach verwendeten Bezeichnung der »Drei Säulen zur Unterstützung der Nachbarschaft« (TKWD Jichikai 2013: 4*). Die drei Säulen sind hier die Organisationen Jichikai, Shakyô und Minsei-iin. Frau O, die im Laufe ihres Lebens schon aktives Mitglied in allen drei Organisationen war, beschreibt deren Zusammenarbeit wie folgt: »Wir helfen uns alle gegenseitig und sind eins geworden, anstatt zu sagen, dass [man für etwas nicht verantwortlich ist,] weil man kein Minsei-iin ist. Jichikai, Shakyô, und Minsei-iin – diese drei sind zu Stützen [der Nachbarschaft] geworden, und wenn man nicht zusammenarbeiten würde, könnte das alles nicht funktionieren.« (Interview Frau O*)
Demnach scheint die Kooperation zwischen Jichikai, Shakyô und Minsei-iin durch eine sehr pragmatische Grundeinstellung cha-
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rakterisiert zu sein. Dadurch dass sich die Aktivitäten der Organisationen teilweise überschneiden, versuche man, sich gegenseitig zu helfen, anstatt über Kompetenzen und Verantwortlichkeiten zu streiten und in Passivität zu fallen. Die so gewachsene Zusammenarbeit scheint inzwischen unverzichtbar geworden zu sein und kann auf spezifische Erfahrungen der lokalen Vergangenheit zurückgeführt werden. Viele heute aktive Mitglieder der genannten Organisationen waren aktiv an Aktionen im Rahmen des sich ab den 1980er Jahren entwickelnden Mietstreits sowie an späteren Protestkundgebungen gegen den partiellen Leerstand innerhalb der danchi beteiligt. Hierüber machten sie Erfahrungen mit der Umsetzung von medienwirksamer Öffentlichkeitsarbeit und erkannten die Vorteile der orts- und organisationsübergreifenden Zusammenarbeit für eine Auseinandersetzung mit finanzstarken staatsnahen Akteuren (vgl. Yûki 2008: 52; TKWD Jichikai 2011: 58-59). Insofern wirkt die Nachbarschaft der Tokiwadaira Danchi besonders erfahren und aufgeschlossen gegenüber auf der lokalen Ebene auftretenden Problemstellungen. Beispielsweise wurde auch das Shakyô des Bezirks bereits 1995 geschaffen, um die damals aufkommenden Probleme der gesellschaftlichen Alterung besser angehen zu können. Das tokiwadaira danchi chiku shakyô war damit das erste Shakyô auf der Bezirksebene innerhalb der Stadt Matsudo, wodurch das historisch gewachsene lokale Engagement innerhalb des Feldes nochmals verdeutlicht werden kann (vgl. TKWD Jichikai 2011: 58). Die Grundlage des Gelingens all dieser Projekte scheint dabei zu sein, dass die aktiven Mitglieder nicht nur die lokalen Probleme, sondern auch die Mitglieder der anderen Organisationen und deren Arbeit kennen. Das aus dieser langjährigen gemeinsamen Arbeit entstandene »tiefgehende Vertrauensverhältnis« (Yûki 2008: 52*) kann am Beispiel der Führungsebene der lokalen Organisationen veranschaulicht werden: »Auch als Minsei-iin kann man hier [beim Shakyô] Ratsmitglied werden oder im Führungsausschuss der Jichikai sein, und alle helfen sich gegenseitig.
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So ist Herr N Leiter der Jichikai und Leiter des Büros des Shakyô. […] Und ich bin Leiterin des Shakyô und stellvertretende Leiterin der Jichikai [lacht].« (Interview Frau O*)
Darüber hinaus war Frau O bis zum Renteneintritt auch als Minsei-iin aktiv und versteht daher die Arbeit und Probleme innerhalb der drei Organisationen ausgesprochen gut. Sie könne analysieren, »was zu welcher Zeit getan werden muss« (ebd.*). Frau O agiert demnach als wichtige Schaltstelle zwischen den drei Organisationen, deren Zusammenarbeit jedoch auch durch die örtliche Nähe und personelle Verschränkung der Aktiven erleichtert wird. So ist der Arbeitsplatz von Herrn N als Leiter der Jichikai innerhalb des Büros des Shakyô anzutreffen, wo auch die Leiterin der Minsei-iin oftmals gesehen werden kann. In dieser Hinsicht sind die Verknüpfungen zwischen den Organisationen auf deren Führungsebenen besonders sichtbar, beschränken sich jedoch nicht auf diese. Ausgehend von der langjährigen engen Zusammenarbeit der drei Organisationen und dem speziellen Engagement gegenüber der Problematik der einsamen Tode wurde im Jahr 2010 zudem eine NPO (NPO hôjin kodokushi zero kenkyûkai) zur Erforschung des Phänomens kodokushi gegründet, sodass heute vier, auf dem Gebiet der lokalen Wohlfahrt eng zusammenarbeitende Organisationen existieren und zusammen das kodokushi zero-Projekt bilden (vgl. Abbildung 5). Die NPO konzentriert sich im Gegensatz zu den anderen drei Organisationen ausschließlich auf die Problematik der einsamen Tode und stellt somit einen weiteren Schritt in Richtung einer Professionalisierung der Problemlösungsstrategien in der Tokiwadaira Danchi dar. Die Betitelung als kenkyûkai – eine sonst eher im akademischen Bereich gebräuchliche Bezeichnung für eine Forschergruppe – verdeutlicht dabei möglicherweise den Autoritätsanspruch, den die Organisatoren im Feld sowie im Diskurs besitzen. In jedem Fall stellt sich das Projekt als berufsgruppen- und disziplinenübergreifend arbeitende Versammlung von ungefähr 30 Experten dar, welche ihre Erkenntnisse aus der direkten Auseinandersetzung mit der Problematik generiert.
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Abbildung 5: Die vier Organisationen und ihre jeweiligen Logos (Bildquelle: TKWD Jichikai 2011: 40)
Sendungsbewusstsein Neben der besonderen engen Zusammenarbeit zwischen den lokalen Organisationen zeichnet sich das Projekt in der Tokiwadaira Danchi – wie in Kapitel 4.3.1 bereits angedeutet – über nach außen gerichtete Versuche einer Steigerung des gesellschaftlichen Problembewusstseins gegenüber der kodokushi-Problematik aus. In diesem Zusammenhang ist zunächst die Vielzahl an Veröffentlichungen zu nennen, in denen das Gesamtprojekt oder einzelne Teilbereiche vorgestellt werden. Jichikai (»Tokiwadaira«), Shakyô (»Wohlfahrtsnetzwerk«) und die NPO (»Unser aller offener Platz«) haben hierfür eigene, regelmäßig erscheinende Informationsblätter. Das jeweils vier Seiten umfassende Lokalblatt »Tokiwadaira« erscheint bereits seit 1962 im monatlichen Rhythmus, wird an alle Haushalte verteilt und zudem an festen Plätzen ausgelegt bzw. ausgehangen. Für die Jichikai ist es ein »unverzichtbares Mittel« (Nakazawa 2008: 12*), um auf eigene Aktivitäten aufmerksam zu machen und lokale Probleme öffentlich artikulieren zu können. Während meiner Feldforschungsphase wurde im Oktober 2013 die 613te Ausgabe des Blattes veröffentlicht. Die Hauptartikel zu dieser Zeit waren Nachforschungen der Jichikai bezüglich des leerstehenden Supermarktes, wozu eine Stellungnahme der UR Agency eingeholt wurde, sowie ein längerer Bericht über den Erfolg einer größeren, von Shakyô und Jichikai organisierten Veranstaltung im Vormonat. Neben weiteren kleineren Artikeln besteht ungefähr ein Drittel der Ausgabe aus Werbung für lokale Geschäfte oder Ärzte und aus Veranstaltungshinweisen des lokalen Projekts (vgl. TKWD
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Jichikai 2013). Ähnliche Bekanntmachungen und Berichte werden darüber hinaus auf einer regelmäßig aktualisierten Internetseite veröffentlicht (vgl. TKWD Jichikai 2014a). Neben den regelmäßig erscheinenden Informationsblättern gibt es weitere Veröffentlichungen, in denen die Arbeit von Jichikai oder Shakyô zusammengefasst, weitere Artikel über das lokale Projekt abgedruckt oder erneut die Erfolge des Projekts beschrieben werden. Diese zusätzlichen Veröffentlichungen werden unterschiedlich finanziert und meist kostenlos an Interessierte weitergegeben. Als Beispiel für derartige Veröffentlichungen möchte ich den 2011 erschienenen Band »Unsere Heimat Tokiwadaira. Die Schaffung einer Gemeinschaft, in der man sich gegenseitig unterstützt« anführen (vgl. TKWD Jichikai 2011). Dieser wurde über eine spezielle Finanzierung durch das Innenministerium angefertigt und konstruiert die Tokiwadaira Danchi als traditionelle Heimat für die Bewohner, wobei die Aktivitäten der Jichikai und vor allem das kodokushi zero-Projekt als Beweis für die Vitalität der Nachbarschaft ausgiebig besprochen werden. Ähnlich wie in dem Band ebenfalls vorgestellte Statuen und Plätze innerhalb der danchi, welche zum 30sten und 50sten Jubiläum des Einzugs in die danchi errichtet wurden (vgl. ebd.: 32-35), erhält das Projekt so eine identitätsstiftende Funktion für die (aktiven) Bewohner. In dieser Hinsicht lassen sich auch die ebenfalls eingefügten Kopien von Tokiwadaira Danchi-bezogenen Artikeln aus anderen Zeitungen sowie Bilder von erhaltenen offiziellen Ehrungen verstehen. Des Weiteren waren die Leiter des Projekts an verschiedenen (populär-)wissenschaftlichen Veröffentlichungen beteiligt, wodurch die in der Tokiwadaira Danchi entwickelten kodokushi zeroStrategien immer wieder einer größeren Leserschaft vorgestellt werden konnten (vgl. u.a. Nakazawa 2008; Nakazawa/Yûki 2008; 2012). Aufgrund des Expertenstatus der Verantwortlichen wird das Projekt zudem in vielen weiteren (populär-)wissenschaftlichen Veröffentlichungen besprochen. Herr N und Frau O halten regelmäßig Vorträge bei anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen oder auch in staatlichen Institutionen. Bis Ende 2011 wurden 155 Vorträ-
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ge von Herrn N und 10 Vorträge von Frau O gehalten (vgl. TKWD Jichikai 2011: 46-47). Herr N (*) erklärte mir im Interview, dass er auch am örtlichen kisha kurabu in Matsudo teilnehme, um den dort anwesenden Journalisten »mitzuteilen, wenn irgendwas gemacht werde«.3 Daneben kommen aber auch Besucher von außen in die danchi, um in direkten Kontakt zu den Organisatoren zu treten und sich die praktische Umsetzung des Maßnahmenkatalogs anzuschauen. Hierzu gehören sowohl Journalisten als auch Mitglieder aus den lokalen Organisationen anderer Nachbarschaften. Diese bereits sehr intensive Öffentlichkeitsarbeit wurde durch die Gründung der NPO im Jahr 2010 nochmals professionalisiert, da das in diesem Zusammenhang aufgebaute Expertennetzwerk zur Beratung innerhalb der Nachbarschaft oder für mögliche Vorträge im ganzen Land bereit steht. So wird schnell ersichtlich, dass die Nachbarschaftsvereinigung der Tokiwadaira Danchi sich bei weitem nicht nur um innere Angelegenheiten kümmert, sondern sich durch eine breite Arbeit nach außen hin auszeichnet. Diese wird von außen wiederum aktiv aufgegriffen, was das große Interesse an der Problematik der einsamen Tode bzw. an der Lösung derselben verdeutlicht. Nachdem ich bis hierhin die Arbeitsweise des lokalen Projekts thematisiert habe, stelle ich nun das Projekt selbst vor. Was verbirgt sich hinter den kodokushi zero-Strategien?
6.3.2 Inhalte des Projekts und Kategorisierung der Maßnahmen Für die Beantwortung dieser Frage unterteile ich die konkreten Inhalte des kodokushi zero-Projekts in die drei Kategorien »Erfassung der Problemlage«, »Auf bau eines Notfallnetzwerkes« und »Vorbeugende Maßnahmen«. Unter die erste Kategorie »Erfassung der Problemlage« fallen vorbereitende Maßnahmen, die man als Studium zum Verständnis 3 | Bezüglich Japans Presseclubs (kisha kurabu) vgl. z.B. Gatzen 2001: 46-47; Legewie 2007: 3-5.
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des gesellschaftlichen Phänomens der einsamen Tode beschreiben könnte. Zunächst bezieht sich dies auf allgemeine »gesellschaftliche Hintergründe, welche die einsamen Tode hervorbringen« (TKWD Shakyô 2013a: 30*). Hierbei werden bereits genannte Stichwörter wie die Alterung der Gesellschaft, die wachsende Zahl von Einpersonenhaushalten, die von der fortlaufenden Verstädterung ausgehende Verschlechterung der Nachbarschaftsverhältnisse, die Ausbreitung der Kernfamilie oder die durch die lange Rezession anwachsende Zahl von Entlassungen und Arbeitslosen problematisiert (vgl. ebd.). Zur Erfassung dieser gesellschaftlichen Hintergründe arbeiten die lokalen Organisationen mit auf dem Gebiet aktiven Forschern, Autoren, Politikern oder anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammen. In diesem Zusammenhang wurden ab 2002 jährliche Symposien in verschiedenen Größenordnungen zur Thematik der einsamen Tode abgehalten (vgl. auch Nakazawa 2008: 8-10). Zum Anderen beinhaltet diese erste Kategorie Versuche der Erfassung der Situation von sozial isolierten danchi-Bewohnern und der Hintergründe von lokalen kodokushi-Fällen. Hierzu gehört die Veröffentlichung von Statistiken, welche bei der Stadtverwaltung angefragt bzw. in Zusammenarbeit mit dieser erstellt werden (vgl. TKWD Shakyô 2013a: 27-28). Daneben werden in einem kleineren Umfang auch eigene Tabellen erstellt, in denen die lokalen Fälle von einsamen Toden aufgelistet sind und jeweils vermerkt ist, wie diese gefunden wurden bzw. welche Akteure hieran beteiligt waren (vgl. ebd.: 5-6). Dieses tiefe Verständnis der lokalen Fallbeispiele sei die Basis für die Arbeit des Projekts. Man müsse »[diese] Fallbeispiele tiefgehend verstehen, daraus lernen und dies nutzbringend anwenden« (ebd.: 30*). In diesem Sinne zeigte mir Herr N während des ersten gemeinsamen Gesprächs auch ein selbst angefertigtes Heft, in dem er Bilder der Wohnungen von einsam Verstorbenen einsortiert hatte. Hiermit verdeutlichte er, dass Verantwortliche des Projekts am Ort des Geschehens waren oder die Wohnungsleiche möglicherweise selbst entdeckt, das Fallbeispiel dann weiter studiert und von dort aus konkrete Maßnahmen entworfen haben. Dem
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Projekt liege insofern ein »Studium von Fallbeispielen« (TKWD Shakyô 2013a: 30*) zugrunde. Das Hauptergebnis dieses Studiums ist eine Zusammenstellung von typischen Lebensstilmustern, welche alte und mittelalte Menschen in soziale Isolation und schließlich zu einem einsamen Tod führen können. Da die angeführten Muster ausschließlich negativ formuliert sind, wird die Zusammenstellung in der Regel als »Auflistung von Nicht-Vorhandenem« (nainai zukushi) bezeichnet (vgl. Nakazawa 2008: 18-19). Hierzu gehört, »nicht zu grüßen«, »keine Freunde oder Bekannten zu haben«, »keine Beziehung zu den Nachbarn zu haben«, »nicht verheiratet zu sein«, »keinen Ort zu haben, an dem man sich leichten Herzens vergnügen könne«, »sich nicht zu unterhalten«, »nicht an Veranstaltungen von Jichikai oder Shakyô teilzunehmen« und »kein Interesse an Anderen zu haben« (ebd.*). Bei der Mehrheit der männlichen Bewohner käme noch hinzu, dass sie »nicht kochen können«, »ihren Abfall nicht entsorgen« und »nicht mit dem Alkoholkonsum aufhören können« (ebd.*). Diese negativen Verhaltensmuster sollen die Bewohner mit Hilfe der lokalen Organisationen nun in eine »Auflistung von Vorhandenem« (aruaru zukushi) umwandeln, wodurch die Aufteilung der Bewohner in normal oder erfolgreich Gealterte und unnormal oder nicht-erfolgreich Gealterte explizit wird. Um insbesondere die zweite Gruppe der potentiellen kodokushiOpfer unter den Bewohnern besser erfassen zu können, kam den Verantwortlichen die Idee, eine »Sicherheitsregistrierungskarte« (anshin tôroku kâdo) zu entwerfen (vgl. Abbildung 6). Dieses Vorhaben wurde in Zusammenarbeit mit der örtlichen Vertretung der UR Agency umgesetzt (vgl. TKWD Jichikai 2014b). Im oberen Abschnitt der Karte werden persönliche Angaben wie Name, Adresse, oder Informationen zur Wohnsituation eingetragen. In den folgenden Abschnitten können drei Notfalladressen, die Adresse des Hausarztes und medizinische Informationen (Blutgruppe, bekannte Krankheiten) angegeben werden. Die ausgefüllten Karten werden in einem Safe im Büro des Shakyô auf bewahrt und dürfen nur zu ganz bestimmten Zwecken – z.B. in Notfallsituationen – eingese-
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hen werden (vgl. Nakazawa 2008: 18). Zunächst helfen die Karten jedoch, die Zahl der allein lebenden alten Bewohner abschätzen zu können. Insbesondere in Verbindung mit den Informationen über mögliche (chronische) Krankheiten können so jene Bewohner, bei denen ein erhöhtes Risiko eines einsamen Todes vermutet wird, besser erfasst werden. Über die Karte werden demnach Informationen gesammelt, um individuelle Unsicherheitsfaktoren, welche zu einem einsamen Tod führen können, besser kontrollieren zu können. Diese Wissensansammlung wird so zum Bestandteil eines lokalen Kontrollapparates, der gefährdete von weniger gefährdeten Bewohnern unterscheiden kann. Daneben stellt die Karte eine passende Überleitung zur zweiten Hauptkategorie der Maßnahmen, dem »Auf bau eines Notfallnetzwerkes«, dar. In Verdachtsfällen, in denen der einsame Tod eines Bewohners befürchtet wird, können schnell die auf der Karte eingetragenen Notfalladressen kontaktiert werden. Im Falle einer Wohnungsleiche bieten die Karten zudem die Möglichkeit, Angehörige der verstorbenen Person zeitnah zu informieren. Die »Sicherheitsregistrierungskarte« ist dabei Teil eines größeren Notfallnetzwerks, welches vor allem im Falle des Verdachts auf einen einsamen Tod wirken soll. Die unten abgebildete Grafik dieses lokalen Notrufsystems (vgl. Abbildung 7) zeigt wie Jichikai und Shakyô als Mittler zwischen den Bewohnern und der UR Agency oder der lokalen Polizeistelle fungieren.4 Die Bewohner sollen im Falle eines kodokushi-Verdachts oder auch bei durch Naturphänomene entstandenen Schäden über die angegebenen Telefonnummern entweder die Büros von Jichikai und Shakyô bzw. direkt die Polizei oder die UR Agency informieren. Letztere würden sich dann gegenseitig von den Geschehnissen in Kenntnis setzen und nach gegenseitiger Absprache angemessene Maßnahmen einleiten. Je nach Lage der Dinge würde man die Polizei bzw. einen Krankenwagen oder die 4 | Von dem »Notrufnetzwerk« wird zudem ein nicht auf Notfallsituationen beschränktes Netzwerk unterschieden, welches jedoch nicht substantiell anders aufgebaut ist (vgl. TKWD Jichikai 2014c).
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Feuerwehr rufen (vgl. Nakazawa 2008: 8). Jedoch arbeite man auch eng mit einem örtlichen Schlüsseldienst zusammen, welcher durch passende Ersatzschlüssel zu allen Tageszeiten beim Öffnen der Türen behilflich sei (vgl. ebd.: 10-11). Abbildung 6: Die Sicherheitsregistrierungskarte (Bildquelle: TKWD Jichikai 2014b)
Neben diesen institutionenübergreifenden Kooperationen versuchen die lokalen Organisationen in ihren regelmäßigen Bekanntmachungen und Veröffentlichungen die Bewohner selbst anzusprechen, ihre Aufmerksamkeit für mögliche einsame Tode zu steigern und so ein lokales Problembewusstsein zu etablieren. Wenn den Bewohnern »irgendetwas komisch vorkommt oder wenn sie etwas
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Ungewöhnliches registrieren, [sollen sie] bitte den kodokushi-Notruf wählen« (TKWD Shakyô 2013a: 42*). In dieser Hinsicht wird die gesamte Bewohnerschaft in die Maßnahmen zum schnellst möglichen Auffinden einsamer Tode eingebunden und für die Thematik sensibilisiert. Darüber hinaus wurden auch für ein größeres Publikum Ratgeber zum korrekten »Handeln im Falle des Auffindens einer Wohnungsleiche« verfasst (vgl. NHK/Sasaki 2007: 212-223). Abbildung 7: Das lokale Notrufsystem (Bildquelle: TKWD Jichikai 2014c)
Daneben dass auf diese Weise alle Bewohner an der Verhinderung neuer kodokushi beteiligt werden, führen die Organisationen selbst
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aber auch direkte Maßnahmen für ein schnellst mögliches Auffinden einsamer Tode durch. Hierbei geht es darum, durch direkte Ansprache oder andere überwachende Maßnahmen das Wohlergehen der Bewohner zu überprüfen, was in der Tokiwadaira Danchi unter dem Namen mimamori katsudô zusammengefasst wird. Als alternative Bezeichnung kann im Japanischen auch der Begriff anpi kakunin verwendet werden, womit die Bestätigung des Wohlaufseins einer Person gemeint ist. Beim mimamori patrouillieren Mitglieder der beteiligten Organisationen durch die Nachbarschaft und achten insbesondere bei bestimmten Wohnungen relativ isoliert lebender alter Menschen darauf, ob die Briefkästen geleert wurden oder ob Anzeichen für mögliche Unregelmäßigkeiten vorzufinden sind. Dazu wird durch Klingeln oder durch Rufen versucht, direkten Kontakt zu der betroffenen Person aufzunehmen. Teilweise wird auch auf der Rückseite der Gebäude nach Indizien von Vereinsamung oder von unentdeckten Unfällen im Haus geschaut (vgl. u.a. Tanaka 2010). Bei der abendlichen Patrouille arbeiten die zivilgesellschaftlichen Organisationen zudem eng mit der lokalen Vertretung der Polizei (kôban) zusammen. Herr N nannte die mimamori-Maßnahmen im Interview die wichtigsten direkten Maßnahmen gegen die einsamen Tode, wobei Techniken einer allgemeinen Überwachung und Disziplinierung hieran anschließen können. Auch nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der kodokushi-Problematik stehende Unnormalitäten können somit schneller erkannt und entsprechend sanktioniert werden. Die Freiheit des Einzelnen kann dabei zugunsten eines vom lokalen Projekt definierten Gemeinwohls eingeschränkt werden. Bezogen auf die einsamen Tode kann durch mimamori jedoch nur das Auftreten neuer Fälle kontrolliert, nicht die Wurzel der Problematik selbst bekämpft werden. Doch auch hierfür gibt es in der Tokiwadaira Danchi entsprechende vorbeugende Maßnahmen, welche ich nun in der dritten und letzten Hauptkategorie der lokalen Maßnahmen zusammenfassen werde. Um der als Hauptbedingung für einsame Tode definierten sozialen Isolation unter den Senioren der Tokiwadaira Danchi vor-
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zubeugen, werden verschiedene Dienstleistungen und Aktivitäten angeboten, welche ich in der Folge nach der Regelmäßigkeit ihres Angebots kategorisieren werde. Zunächst gibt es Maßnahmen, die potentiell jeden Tag angeboten werden. Hierzu gehört ein (bis auf wenige Ausnahmen) täglich geöffnetes Altencafé namens ikiiki saron, das ich im nächsten Unterkapitel ausführlich beschreiben werde, sowie das Angebot von regelmäßiger Haushaltshilfe (hômuherupu). Letzteres ist ein Angebot des Shakyô, bei dem hilfsbedürftige Senioren für einen Stundenlohn von 500 Yen betreut werden und ihnen gegebenenfalls im Haushalt geholfen wird. Zu der Hilfe im Haushalt zählt zum Beispiel »Einkaufen zu gehen«, »zu putzen«, »die Wäsche zu machen« oder »beim Arzt Medikamente abzuholen« (Interview Frau O*). Derartige Dienste werden in Japan nicht von der Pflegeversicherung übernommen, weshalb dem Angebot ein besonderer Stellenwert zukommt. Demgegenüber »können Aufgaben der Pflege aufgrund der fehlenden Qualifikation [der Angestellten] nicht geleistet werden« (ebd.*) und fallen daher aus dem Aufgabengebiet heraus. In diesen Fällen muss das Shakyô seine Kunden an das formale Sicherungsnetz oder private Pflegedienste vermitteln. Des Weiteren gibt es monatlich bzw. mehrmals im Jahr stattfindende Veranstaltungen. Beispielsweise wird circa zehnmal im Jahr unter dem Titel ikiiki daigaku eine Vortragsreihe zu verschiedenen Themen veranstaltet. Zwar richtet sich diese prinzipiell an alle Bewohner, jedoch machen Senioren die überwältigende Mehrheit der in der Regel ungefähr 20 bis 30 Teilnehmer aus. Abhängig vom Thema und vom eingeladenen Gastsprecher kann die Teilnehmerzahl jedoch deutlich variieren: »Wenn es sich zum Beispiel um einen lokal ansässigen Arzt handelt, kann es vorkommen, dass der Raum überfüllt ist, weil es sich [vielleicht] um den eigenen Hausarzt handelt und man deshalb viel erfahren möchte« (ebd.*). Im Allgemeinen wird die Veranstaltungsreihe dazu genutzt, um über einen gesunden Lebensstil, die Aufgaben bestimmter Wohlfahrtsorganisationen, die Funktionsweise der Pflegeversicherung und andere, vor allem lokal bedeutsame Themen zu informieren. Eine in
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verschiedenen lokalen Kulturverbänden aktive Gastrednerin hielt darüber hinaus Vorträge zur Bedeutung des »gegenseitigen Grüßens als erstem Schritt zum Glück« (TKWD Jichikai 2014d*) sowie zu einer »gelungenen Ausdrucksweise« (ebd.*), in denen sie die das gegenseitige Grüßen und den möglicherweise folgenden small talk als Anfangspunkt für ein glückliches und mitfühlendes Miteinander vorstellte (vgl. auch TKWD Jichikai 2011: 61-66). Einmal im Monat wird zudem ein spezieller Altentreff namens fureai saron veranstaltet, welcher wie folgt abläuft: »Die Teilnehmerzahl ist zwar klein, aber einmal im Monat treffen sich die [Teilnehmer] alle in einem Raum hier zum Basteln und um sich zu unterhalten. Wir nehmen [eine Teilnahmegebühr von] 100 Yen, wovon wir Süßigkeiten [für das Treffen] kaufen. Bei Tee oder Kaffee werden dann Sachen gebastelt oder Unterhaltungen geführt und (Gesellschafts-)Spiele gespielt.« (Interview Frau O*)
Neben diesen mit größerer Regelmäßigkeit abgehaltenen Veranstaltungsreihen gibt es zudem spezielle, einmal im Jahr durchgeführte Events, welche entweder mit nationalen Feiertagen zusammenhängen oder schon länger im lokalen Rahmen etabliert sind. Hierzu gehört beispielsweise der nationale Ehrentag für die Alten (keirô no hi) im September, aus dem Jichikai und Shakyô alljährlich ein großes Event für die über 70-jährigen machen. Im Jahr 2013 kamen 450 Teilnehmer zusammen, um eine spezielle Süßigkeit zu erhalten und um gemeinsam künstlerische Darbietungen anzuschauen. Im Oktober jeden Jahres findet ein Sportfest statt, welches ich im folgenden Teilkapitel ausführlicher analysieren werde, sowie ein »Reis-Stampf-Fest« (mochitsuki fea) im Dezember. Zudem gibt es weitere jährlich stattfindende Festlichkeiten, welche einen stärkeren kulturellen Hintergrund vorweisen. Hierzu gehört das für die Sommerzeit festgelegte Obon-Fest für die verstorbenen Ahnen oder besondere lokale Feste (sakura matsuri im April, keyaki matsuri im Mai). In diesem Sinn werden vor allem durch das Engagement der Jichikai fast in jedem Monat des Jah-
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res jährlich wiederkehrende Feste abgehalten (vgl. TKWD Jichikai 2011: 56). Alle der genannten Veranstaltungen dienen bei weitem nicht nur dazu, den Bewohnern Möglichkeiten zur sozialen Anbindung oder zur Pflege sozialer Kontakte zu bieten. Stattdessen wird im Besonderen versucht, eine Art Mentalitäts- oder Einstellungswandel bei den Bewohnern – vor allem bei den zivilgesellschaftlich inaktiven – herbeizuführen. Diese beworbene neue Mentalität findet ihren Ausdruck in teilweise bereits erwähnten Konzepten wie »dem gegenseitigen Grüßen« (aisatsu), »der gegenseitigen Hilfe« (tasukeai), »dem Auf bau von Freundschaften« (nakamazukuri) oder »dem Auf bau einer Nachbarschaftsgemeinschaft« (chiikizukuri). Dabei wird den Bewohnern nicht nur angeboten, ihre Lebensführung zu verändern und ihr Leben mit mehr Spaß und »Humor« (yûmoa) zu betrachten, sondern auch den Blick auf den Tod zu verändern (vgl. TKWD Shakyô 2013a: 30). Da jeder irgendwann sterben müsse, solle man den Tod akzeptieren und von diesem Gedanken aus ein gutes Leben leben. Herr N (*) fasste diese ihm sehr wichtige Thematik im Interview unter dem Stichwort der »Einstellung zu Leben und Tod« (shiseikan) zusammen und bemerkte abschließend: »wie er stirbt, kann der Mensch nicht selbst bestimmen, wie er lebt, aber [schon]«. In dieser relativ abstrakten Dimension des Projekts wird demnach aktiv nach einem Umdenken der Bewohner gestrebt. Die genannten Konzepte fungieren dabei als Schlagwörter des Projekts. Sie wurden nicht nur in den Interviews mit den leitenden Verantwortlichen und in allen Veröffentlichungen angesprochen, auch beim Gang durch das danchi selbst fallen sie durch eine markante Schilderstrategie ins Auge. Beispielsweise äußern die als Autoren angegebenen Jichikai und Shakyô auf einem am Straßenrand aufgestellten Schild den Wunsch nach einer »sauberen Wohnsiedlung« und fordern alle Bewohner auf, sich daher an die Abfallentsorgungsregeln zu halten. An einer Straßenkreuzung im Zentrum der Wohnsiedlung wird weiter in großen Lettern betont, dass »Mitgefühl durch gegenseitiges Grüßen« entstehe, wodurch gleich zwei Schlagwörter des Projekts in Erinnerung gerufen werden. In eine
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ähnliche Richtung geht auch das unten abgebildete Schild, auf dem in fünf Zeilen der folgende poetisch anmutende Text steht (vgl. Abbildung 8*): »Einander zu grüßen ist der erste Schritt zum Herbeiführen von Glücklichkeit. Gemeinsam formen wir mukôsangenryôdonari [gute Beziehungen zu den zwei direkt angrenzenden und den drei gegenüberliegenden Nachbarn]. Der Freund wird zum Schatz.«
Abbildung 8: Beispiel für die Schilderkampagne des lokalen Projekts (eigene Aufnahme)
Der Text evoziert das Bild einer idealen Nachbarschaft, in der sich die Bewohner grüßen, soziale Bindungen zueinander aufrechterhalten und sich gegenseitig als Freunde schätzen. Das Ergebnis ist dabei kein Zustand, sondern der Prozess des »Herbeiführens der Glückseligkeit« (shiawasezukuri). Über den Bezug zum Nachbarschaftskonzept des mukôsangenryôdonari schafft der kurze Text weiter eine Verbindung zum in der Vorkriegszeit aufgebauten Ideal
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einer traditionellen Nachbarschaftsgemeinschaft, welche sich wiederum an Konzepten der vormodernen Dorfgemeinschaft orientiert. In dieser Hinsicht erkennt man den nostalgischen Charakter der Formulierung, welcher die Bewohner wohl auf einer emotionalen Ebene ansprechen soll. Über all diese Maßnahmen wird eine lokale Regierung geformt, welche sowohl direkte Formen der Überwachung und Disziplinierung als auch Aspekte der Implementierung von Moralvorstellungen und Selbstsorgetechniken umfasst. Im Gegensatz zu der eher theoretisch wirkenden Betonung bestimmter Schlagwörter auf Schildern werde ich dies in der Folge anhand von zwei stärker praxisbezogenen Beispielen thematisieren. Dabei handelt es sich zunächst um das ikiiki saron genannte Altencafé sowie das jährlich im Oktober stattfindende Sportfest der Nachbarschaft. Während ich im ersten Beispiel das Prinzip der »gegenseitigen Hilfe« (tasukeai) betone, wird im zweiten Fall das breitere Konzept des »Auf baus einer Nachbarschaftsgemeinschaft« (chiikizukuri) angesprochen. Hierbei werde ich das Zusammenspiel der verschiedenen Akteure und die Entstehung von Konflikten beschreiben, um die angesprochenen konzeptuellen Hintergründe der Maßnahmen zu veranschaulichen.
6.3.3 Vorstellung zweier Beispiele: Altencafé und Sportfest Altencafé Der ikiiki saron ist ein Hauptbestandteil des kodokushi zero-Projekts. Es handelt sich um ein Altencafé, das in der Ladenzeile der zentralen Geschäftspassage untergebracht ist. Dort wurde der ikiiki saron am 15.04.2007 eröffnet als ein »Ort der Erholung, an dem man [andere] Menschen treffen, [neue] Freunde finden, und sich ohne Sorgen entspannen kann« (TKWD Shakyô 2013a: 16*). Weiter heißt es, dass es ein »lebensfroher Salon« (ebd.: 18*) sei, den man »jederzeit nutzen kann« (ebd.*) und an dem man »sich leichten Herzens erholen kann« (ebd.*). Dieses Konzept spiegelt sich auch in der Namensgebung ikiiki wider, welche einen lebendigen oder belebten Salon ankündigt.
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Die von Frau O eher zufällig entworfene Idee eines solchen Cafés sei von den anderen Verantwortlichen von Anfang an sehr positiv angenommen worden. Daher habe man bald geplant, einen täglich nutzbaren Ort für alle Bewohner anstatt beispielsweise eine wöchentliche Veranstaltungsreihe zu schaffen. Hieraus entstand die Überlegung, ein damals leerstehendes Ladenlokal in der zentralen Einkaufspassage zu nutzen (vgl. Nakazawa 2008: 20). Die Verantwortlichen der UR Agency reagierten positiv auf den Vorschlag, da sie die Wohlfahrtsprojekte der lokalen Initiative gegen die unpopulären einsamen Tode unterstützen wollten und sowieso eine Wiederbelebung der in die Jahre gekommenen Geschäftspassage wünschten (vgl. ebd.). Insofern würde das gesamte Mietobjekt Tokiwadaira Danchi vom ikiiki saron profitieren. In der Folge entschieden die Verantwortlichen der »drei Säulen der Nachbarschaft«, die Idee eines ständigen Altencafés in die Praxis umzusetzen, woran sich verschiedene Akteure beteiligten. So halbierte die UR Agency die monatliche Miete des Ladenlokals nach Gesprächen mit Herrn N auf 60.000 Yen, wovon Jichikai und Shakyô bis heute je 30.000 Yen übernehmen.5 Der offiziell eingetragene Mieter ist jedoch das der Bezirksvertretung übergeordnete Shakyô der Stadt Matsudo (vgl. Nakazawa 2008: 20; 24). Die durch die Anschaffung von Einrichtungsgegenständen entstehenden Kosten können in der Regel aber nur durch das persönliche Engagement der lokal Engagierten beglichen werden: » […] und wir hatten eine Klimaanlage, aber weil es mit nur einer im Sommer trotzdem heiß ist, haben wir noch eine angeschafft. Und weil die Klimaanlage im Winter [zum Heizen] sehr viel Strom benötigt, haben wir dann noch einen Gasofen gekauft. Des Weiteren waren die Stühle zwar von Anfang an da, aber den Tisch (?), den Tisch mussten wir kaufen. […] Das kostet natürlich alles Geld… […] Daher hat Herr N in diesem Fall eine Million Yen dazugegeben. Darüber hinaus haben ich und Herr/Frau S, damals stellver5 | 60.000 Yen entsprachen zum Zeitpunkt der Feldforschung knapp 450 Euro.
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tretende(r) Leiter/in der Minsei-iin, zu zweit 500.000 Yen dazugegeben. Insgesamt hatten wir dann also 1.500.000 Yen zur Verfügung und haben die Anschaffungen gemacht.« (Interview Frau O*)
Insofern wird deutlich, wie viel Einsatz die Verantwortlichen für die Umsetzung der Idee des Altencafés und für dessen kontinuierlichen Betrieb gezeigt haben. Laut Frau O (*) habe man das Café »als originären saron, als unseren eigenen Platz aufgebaut«. Da dies mit viel individuellem Engagement und unter gegenseitiger Hilfe geschah, wolle man sich nun anstrengen, dass das Café von vielen Bewohnern genutzt wird und zu einem beliebten Ort in der Nachbarschaft werde.6 Aber was genau bietet der ikiiki saron den Nutzern eigentlich? Abbildung 9: Bild des gut besuchten ikiiki saron (Bildquelle: TKWD Jichikai 2015a)
6 | Trotz der Betonung der Originalität des ikiiki saron in der Tokiwadaira Danchi scheint es heute auch in anderen Teilen Japans unter demselben Namen vergleichbare Projekte zu geben, wobei die Hilfe beim Betrieb solcher Altencafés teilweise unter den Aufgabenbereich der Minsei-iin fallen soll (vgl. Zenminjiren 2013: 5).
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Von außen betrachtet wirkt das Café zunächst trotz außen angebrachter Hinweisschilder relativ unscheinbar. Durch die Eingangstür gelangen die Gäste direkt in einen kleinen, mit mehreren Sofas und Tischen ausgestatteten Raum, welcher den Kern des Cafés ausmacht. Es hat täglich von 9 bis 17 Uhr geöffnet – ausgenommen sind die Feiertage zum Jahreswechsel, weshalb mit über 360 Öffnungstagen im Jahr geworben wird (vgl. TKWD Shakyô 2013a: 15). Beim Eintritt zahlt jeder Gast 100 Yen 7, worin der unbegrenzte Konsum von Kaffee oder Tee eingeschlossen ist. Demgegenüber wird kein Essen angeboten, es steht den Gästen jedoch frei, eigenes Essen mitzubringen und dies im ikiiki saron zu verzehren. Der Konsum von alkoholischen Getränken ist nicht gestattet. Zudem herrscht Rauchverbot. Daneben verfügt das Ladenlokal noch über eine weitere Etage, welche im Stile eines washitsu mit Reisstrohmatten ausgelegt ist und für größere Gruppen genutzt werden kann. Die Nutzungsgebühr für diese obere Etage beträgt 300 Yen pro Person. Hier finden beispielsweise Vereinstreffen oder ähnliche größere Zusammenkünfte statt. Die Gäste des ikiiki saron werden in der Regel von zwei Frauen bedient, welche oft als »sich kümmernde Personen« (sewanin) bezeichnet werden (vgl. z.B. Nakazawa 2008: 20). Beide dieser Stammkräfte arbeiten fünf Tage pro Woche in dem Altencafé, wodurch eine vertraute Atmosphäre geschaffen werden soll. Denn die sewanin bereiten nicht nur die Getränke vor oder bedienen die Gäste. Sie stellen für viele Gäste einen bedeutenden Bezugspunkt und wichtigen Gesprächspartner dar. Vor allem Gäste, die den ikiiki saron alleine aufsuchen, tun dies oftmals mit dem Ziel, in den ihnen vertrauten sewanin einen Zuhörer oder Ratgeber zu finden (vgl. ebd.). Auf diese Weise können einzelne Problemfälle auch an das Shakyô bzw. an die NPO weitergeleitet werden, sodass der saron wie eine Art Außenstelle der möglicherweise weniger oft besuchten Büros der lokalen Organisationen fungiert. Aufgrund der Bedeutung des Vertrauensverhältnisses zu den Stammkräften des Cafés 7 | Zum Zeitpunkt der Feldforschung entsprachen 100 Yen in etwa 75 Cents.
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wird darauf geachtet, dass immer eine dieser beiden anwesend ist. An Tagen, an denen nicht beide arbeiten, werden sie von Aushilfen aus dem Pool der aktiven Mitglieder aus Shakyô oder Jichikai unterstützt (vgl. Nakazawa 2008: 20). Der anfängliche Erfolg des ikiiki saron übertraf die Erwartungen der Organisatoren bei weitem (vgl. ebd.: 21). Jeden Tag wurde das Café von weit über 30 Gästen genutzt, wobei diese Zahlen vor allem in den ersten drei Jahren des Betriebs weitestgehend konstant hoch blieben (vgl. TKWD Shakyô 2013a: 18). Hierbei können im Speziellen zwei Arten von Gästen unterschieden werden. Die erste Art von Gästen verabredet sich mit Bekannten oder Freunden zum Treffen im Café und nutzt den ikiiki saron demnach, um bereits bestehende Bekannt- oder Freundschaften zu pflegen. Eine Gruppe von vier oder fünf Frauen trifft sich dort gar jeden Mittag und verzehrt mitgebrachte Lunchpakete (obentô). Demgegenüber kommen andere Gäste auch alleine, um neue Gesprächspartner zu finden oder um mit dem Personal zu sprechen. Diese im Café geschlossenen neuen Bekanntschaften könnten beispielsweise zu gemeinsamen Reisen oder anderen gemeinsamen Freizeitaktivitäten führen. In dieser Hinsicht sei der ikiiki saron zu einem lokalen »Stützpunkt, an dem die Menschen ihren Frieden finden und sich die Harmonie der Nachbarschaft vermehren lässt« (TKWD Shakyô 2013a: 15*) geworden. Vor dem Hintergrund dieser Erfolgsgeschichten wurde das Altencafé zum Modell für ähnliche Projekte in anderen Nachbarschaften (vgl. z.B. ebd.: 19-23) und kann von den Verantwortlichen zur Generierung diskursiver Macht genutzt werden. Der ikiiki saron erfüllt aber noch andere Funktionen. Zunächst dient er als ein zusätzlicher Ort, an dem sich die Bewohner über die Aktivitäten von Jichikai und Shakyô informieren können. Aktuelle Bekanntmachungen und Veröffentlichungen beider Organisationen liegen auf einem in der Mitte des Raumes aufgestellten Tisch aus und die sewanin weisen die Besucher auf aktuell anstehende Veranstaltungen hin. Darüber hinaus wird das Café von aktiven Mitgliedern aus den drei Organisationen aufgesucht und genutzt. Beispielsweise verbringen einzelne Minsei-iin ihre freie Zeit zwi-
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schen ihren Terminen im saron oder Mitarbeiter der Jichikai halten dort auf ihrem Rückweg aus dem Hauptbüro. Dies fördert zum einen den Austausch zwischen diesen lokalen aktiven Bewohnern der danchi, zum anderen können andere Bewohner eventuell für Aktivitäten in der Nachbarschaft gewonnen werden. Letzteres wirkte in der Praxis jedoch eher weniger bedeutsam, da der ikiiki saron wie ein Treffpunkt für eine sowieso schon aktive und untereinander bekannte Stammkundschaft erschien. Darüber hinaus stellt das Café einen Ort dar, an dem hilfsbedürftige Bewohner relativ unverfänglich über Alltagsprobleme sprechen können und gegebenenfalls Hilfe von anderen Gästen oder gar von Mitgliedern von Shakyô oder Jichikai erhalten können. Bei besonderen Fällen kann das Personal die Besucher auch auf bestimmte Angebote hinweisen und die Gäste so an das formelle Nachbarschaftsnetz vermitteln. Derartige Fälle sollen anhand des folgenden Beispiels aus dem Interview mit Frau O (*) veranschaulicht werden: »[…] So etwas [d.h. ein Sturz im Haus mit möglicher Todesfolge] passiert auch Personen, die erst um die 70 sind. Auch solche Personen gibt es. Hierunter fällt auch das Beispiel einer Person, die [fast] gar nichts mehr alleine konnte. Diese wollte zwar gerne baden, aber sagte, dass der Deckel, der Stöpsel von der Badewanne nicht aufginge. In der Folge fragten männliche Gäste nach, warum denn der Stöpsel nicht aufginge, und sagten, dass sie mal nachgucken kommen würden und taten dies dann auch. Die Wanne war sehr verdreckt und verklebt, weshalb man [den Stöpsel] nicht öffnen konnte. Daher öffneten zwei der Männer ihn zu zweit und säuberten alles. Hiernach konnte die Person die Wanne wieder benutzen und erzählte später, wie gut das getan habe. Sie konnte die Wanne nämlich schon längere Zeit nicht benutzen. Und wegen dieses guten Gefühls nach dem Bad war es gut, dass es den saron gibt, die Person hierhin kam und hier Bekannte finden konnte.«
In dieser Hinsicht bietet der ikiiki saron die Möglichkeit des Anschlusses sowohl an das formelle lokale Wohlfahrtsnetz, welches durch Shakyô und Minsei-iin repräsentiert wird, als auch an informelle Sicherheitsnetzwerke, die im obigen Beispiel durch die bei-
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den Helfer bezogen auf das Problem der nicht nutzbaren Badewanne repräsentiert werden. Die Nutzer können über ihre Erfahrungen an das Konzept der »gegenseitigen Hilfe« heran geführt werden, so dass sie möglicherweise lernen, sich bei Problemen direkt an andere Bewohner oder Nachbarn zu wenden bzw. eventuell Hilfe benötigende Bewohner von selbst anzusprechen. Der ikiiki saron erfüllt in dieser Hinsicht eine erzieherische Funktion, da er das Idealbild eines eigenverantwortlich handelnden und gleichzeitig hilfsbereiten danchi-Bewohners vermittelt und Wege für die Umsetzung dieses Ideals anbietet. Da sich das Café jedoch vor allem an Senioren richtet, möchte ich in der Folge eine weitere Maßnahme vorstellen, welche stärker auf die generationenübergreifende Ansprache der gesamten Nachbarschaft abzielt.
Sportfest Im Oktober 2013 besuchte ich eine Veranstaltung der Jichikai, welche offiziell als supôtsu fea – eine Japanisierung des englischen »Sports Fair« – angekündigt worden war. Diese Veranstaltung findet einmal im Jahr statt und wird in Zusammenarbeit mit der Bezirks-Shakyô und mit Unterstützung der Stadt Matsudo bzw. deren Sportamt durchgeführt. Zwar wurde mir die Veranstaltung in Gesprächen mit Mitarbeitern aus Jichikai und Shakyô in der Regel als Sportfest (undôkai) erklärt, jedoch ist damit nicht die Durchführung sportlicher Wettkämpfe gemeint. Vielmehr geht es um einen möglichst hohen Spaßfaktor sowie ein geselliges Beisammensein. Ein bei der Veranstaltung anwesender Vertreter einer bei der Durchführung helfenden Universität ordnete die Veranstaltung dem Ziel des »Auf baus einer Nachbarschaftsgemeinschaft« (chiikizukuri) unter. Das Sportfest wurde in den regelmäßig erscheinenden Bekanntmachungen von Jichikai und Shakyô beworben, sodass theoretisch alle Haushalte informiert waren. Zudem wurden Werbeplakate in der danchi aufgehangen, auf welchen im Speziellen auf die im Anschluss an die sportlichen Betätigungen geplante Tombola und deren Hauptpreise hingewiesen wurde. Neben den Plakaten und den offiziellen Bekanntmachungen möchte ich zudem die Bedeut-
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samkeit der lokalen Mund-zu-Mund-Propaganda herausstellen. Die sewanin im ikiiki saron wiesen ihre Gäste auf die Veranstaltung hin und fragten nach mündlichen, natürlich nicht verbindlichen Teilnahmebestätigungen. Dies geschah stets auf eine ungezwungene Weise, die diese Art der Werbung äußerst effektiv erscheinen ließ. Natürlich bezieht sie sich in dieser Form ausschließlich auf die aktiveren Senioren der danchi. Isolierte Senioren, die nicht an anderen Aktivitäten von Jichikai und Shakyô teilnehmen, können so nicht erreicht werden. Bezogen auf derartige Fälle wurde auf den Erfolg der normalen Aushänge und der schriftlichen Bekanntmachungen gehofft. Mit dem Sportfest sollen jedoch nicht nur die älteren Bewohner der danchi, sondern ein möglichst großes Publikum angesprochen und der Austausch zwischen den Generationen gefördert werden. Die auf dem Veranstaltungsplakat angekündigten Hauptpreise der Tombola veranschaulichen diesen Ansatz. Neben shinmai – wie in Japan neu geernteter Reis bezeichnet wird – wurde hier auch mit einem Fahrrad und Tickets für Tokyo Disneyland geworben. Vor allem die zuletzt genannten Preise sprechen wohl eher die jüngere Generation an. Die Umsetzung der Veranstaltung wurde durch heftige Regenfälle erschwert, weshalb das Sportfest in der Turnhalle einer der örtlichen Grundschulen anstatt auf dem größeren Sportplatz stattfand. Insgesamt waren circa 150 Personen anwesend, worunter auch eine Vielzahl von Helfern zu zählen war. In Anbetracht der Wetterverhältnisse waren die Organisatoren sehr zufrieden mit dieser Gästezahl. Unter den Teilnehmern – wie auch unter den Helfern – war zunächst die große Zahl alter Menschen auffällig. Daneben waren Eltern mit Kindern die am Häufigsten vertretene Gruppe. Hierzu gehörten auch einige chinesische Immigranten, da vor allem aus der VR China stammende Bewohner rund 10 % der lokalen Bevölkerung ausmachen (vgl. NHK 2012; TKWD Shakyô 2013b: 42). Hierüber kann veranschaulicht werden, dass neben dem Austausch innerhalb einer Altersgruppe auch der Austausch zwischen verschiedenen Altersgruppen durch das Sportfest gefördert werden soll. Die Elternpaare oder Gruppen von Müttern mit Kindern bil-
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deten in dieser Hinsicht eine Art Gegenpol zu der Mehrheit der Teilnehmer im Seniorenalter. Jugendliche oder jüngere Erwachsene waren jedoch kaum anwesend, auch weil diese Generationen in der danchi im Allgemeinen unterrepräsentiert sind, seitdem die Kinder der heutigen Senioren vielfach weggezogen sind. Eine Ausnahme stellte die Anwesenheit von 12 Studenten einer Universität aus der Nachbarstadt Chiba dar. Diese halfen unter Anleitung ihres Dozenten beim Auf- und Abbau und nahmen auch an den Spielen des Sportfests teil. Diese Kooperation geht auf die Zusammenarbeit zwischen Forschern der Universität und des lokalen Projekts zurück, welche im Jahr 2008 zur Publikation eines auch von mir vielfach zitierten Sammelbandes führte (vgl. Nakazawa 2008). Herr N wurde hiernach für Vorträge in Seminaren der Universität gerufen, während Studenten bei lokalen Veranstaltungen der Jichikai halfen. Im Gegenzug darf die Universität Feldstudien oder Umfragen im jeweiligen Bezirk durchführen. In der Praxis sei diese Beziehung noch ausbaufähig, doch könne man es sich als von Gabe und Gegengabe bestimmtes Verhältnis vorstellen.8 Zu Beginn der Veranstaltung wurden verschiedene Begrüßungsworte gehalten, welche unter anderem von den Verantwortlichen des kodokushi zero-Projekts selbst, einem Dozenten einer kooperierenden Universität und drei Vertretern staatlicher Institutionen gesprochen wurden. Während einige der freiwilligen Helfer keine Informationen zu den Politikern geben konnten, erklärte mir eine Büroangestellte der Jichikai später, dass es sich um den Vertreter der Sportabteilung der Stadt Matsudo und die gewählten Bezirksvertreter aus dem Stadt- bzw. Präfektursrat gehandelt habe. Die Bezirksvertreter nutzten das Event, um zumindest zu Anfang der Veranstaltung ein wenig Präsenz vor ihrer potentiellen Wählerschaft zu zeigen und um Kontakte zu der relativ großen und einflussreichen Nachbarschaftsvereinigung des Bezirks zu pflegen. Für die Jichikai wiederum wirkt sich die Anwesenheit von Staatsan8 | Diese Informationen wurden mir in einer Email-Korrespondenz mit dem verantwortlichen Dozenten am 24.10.2013 mitgeteilt.
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gestellten und Politikern positiv auf die Legitimation ihrer Rolle in der Nachbarschaft aus. Vor den an der Veranstaltung teilnehmenden Bürgern wird die Jichikai als Mittler zwischen Interessen der Bewohner einerseits und der städtischen oder präfekturalen Politik andererseits dargestellt. Des Weiteren ist der Besuch der Politiker auch als Bestätigung des Erfolgs der Arbeit des lokalen Projekts zu verstehen, wodurch die Veranstaltung eine Repräsentationsfunktion erfüllt. Nach oben stellt sich die Jichikai entgegen allgemeinen Diskussionen um schrumpfende Mitgliederzahlen als erfolgreiche zivilgesellschaftliche Organisation dar. Nach unten legitimiert die Anwesenheit der politischen Eliten die Existenz der Nachbarschaftsvereinigung gegenüber den Bewohnern. Wieder auf den Ablauf des Sportfests bezogen führten alle Anwesenden nach den Begrüßungsreden gemeinsam die nationale Morgengymnastik (rajio taisô) durch.9 Hiernach folgten Geschicklichkeits- bzw. Sportwettbewerbe für Kinder, Erwachsene und Senioren. Eine Preisverleihung wurde in unmittelbarem Anschluss an die Wettkämpfe durchgeführt. Zum Ende des Festes fand die große Tombola statt. Die Preise der Tombola sollen aus Mitteln der Jichikai sowie durch Spenden finanziert worden sein. Der anwesende Universitätsdozent erwähnte zudem zusätzliche Unterstützungsgelder von Seiten der Stadt Matsudo. Die Mitglieder der Jichikai schätzten die Rolle der Stadt jedoch weniger wichtig ein. Sie unterschieden hierfür explizit zwischen den Wörtern kyôryôku und kyôsan. Was die Stadtverwaltung für die Jichikai tue, sei kyôsan – »Unterstützung« – zu nennen, und eben nicht kyôryôku, was eher in Richtung einer gleichberechtigten »Zusammenarbeit« deuten würde. Durch diese Wortwahl wurden die eigenen Leistungen hervorgehoben und 9 | Die wörtlich übersetzt nur »Radiogymnastik« beschreibende rajio taisô wird noch heute in vielen japanischen Grundschulen durchgeführt und jeden Morgen im Radio- und Fernsehprogramm der NHK gesendet (vgl. z.B. Japan Times 2009). Daneben werden die Gymnastikübungen vor allem im ländlichen Raum sowie bei lokalen Sportfesten oder Schulsportfesten durchgeführt (vgl. Zenkoku Rajio Taisô Renmei 2004).
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die Unabhängigkeit des eigenen Handelns betont. Daher erwähnte auch das Werbeplakat für die Veranstaltung die Jichikai als »Gastgeber« (shusai) und das Shakyô als »Co-Ausrichter« (kyôsai), während die städtische Verwaltung nicht genannt wurde. Abbildung 10: Die Teilnehmer bei der Morgengymnastik (eigene Aufnahme)
Abbildung 11: Die Teilnehmer während der Wettkämpfe (eigene Aufnahme)
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Im Gegensatz zu den fast ausschließlich an Senioren gerichteten Angeboten des lokalen Projekts visiert das Sportfest das größere Ziel der Schaffung einer integrativen lokalen Gemeinschaft an. Das in diesem Zusammenhang genannte Konzept des chiikizukuri bezeichnet dabei relativ offen die Schaffung einer Nachbarschaft oder einer Region. Ähnlich wie das Konzept machizukuri kann auch chiikizukuri je nach Kontext unterschiedliche Bedeutungen transportieren.10 Als offizielles Konzept staatlicher Institutionen kann chiikizukuri daher zum Beispiel die allgemeine Entwicklung peripherer Regionen Japans (vgl. MLIT 2015) oder das wirtschaftliche Wiedererstarken der lokalen Ebene (vgl. MIC 2015a) bezeichnen. In der zuletzt genannten Bedeutung wird im Namen des Innenministers sogar eine jährliche Auszeichnung für gelungenes chiikizukuri an verschiedene lokale Gruppen und Verbände vergeben (vgl. MIC 2015b). Auf der Ebene der Stadtpolitik und damit auch im Feld selbst zeichnet sich die Bedeutung des Begriffs jedoch deutlicher ab. Die Stadt Kitakyûshû beschreibt beispielsweise ein »durch die sinkende Geburtenrate, die gesellschaftliche Alterung, die Ausbreitung der Kernfamilie und die Ausdünnung des lokalen Solidaritätsbewusstseins« (Kitakyûshû-shi 2013*) bestimmtes gesellschaftliches Klima, dessen vielfältige Herausforderungen nicht durch den Staat allein bewältigt werden können. Stattdessen benötige man »einen problemlösungsorientierten Zusammenschluss von sich gegenseitig helfenden Bewohnern« (ebd.*). Die Probleme der modernen japanischen Gesellschaft können in dieser Argumentation nur über die Kooperation der Bürger auf der lokalen Ebene gelöst werden, wobei der explizite Verweis auf ein bestimmtes historisches Gemeinschaftskonzept jedoch ausbleibt. Darüber hinaus werden nicht 10 | Machizukuri wird als politisches Schlagwort in mehreren Schreibweisen von verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren verwendet und jeweils mit leicht differierenden Bedeutungen belegt (vgl. Hein 2001; Vogt 2001; Ôhashi et al. 2006: 218). Wörtlich bezeichnet machizukuri die Schaffung einer Stadt bzw. eines Stadtbezirks und kann demnach mit unterschiedlichen Stadtplanungskonzepten zusammenhängen.
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nur Wohlfahrtsthemen, sondern auch die Herausforderungen des Umweltschutzes, der Erziehung, der Verbrechensbekämpfung und der Vorbeugung von Naturkatastrophen als Aufgaben der lokalen Gemeinschaft aufgezählt (vgl. ebd.). In diesem Sinn beschreibt der Ausdruck meiner Meinung nach treffend die Aktivitäten des kodokushi zero-Projekts, da sich dessen Maßnahmen nicht nur auf eine Verhinderung neuer einsamer Tode beziehen, sondern sehr breit angelegt sind und verschiedene direkte wie indirekte Ziele verfolgen. Die in den Maßnahmen übermittelten Herrschaftstechnologien sind demnach nicht themenabhängig, sondern können auf verschiedene lokal auftretende Problemstellungen bezogen werden. Über die Annahme von individueller Verantwortung auf der einen und den Zusammenschluss als Nachbarschaftsgemeinschaft auf der anderen Seite sollen alle der oben genannten Herausforderungen bewältigt werden. In dieser Hinsicht handelt es sich um eine Methode der lokalen Regierung, welche über unterschiedliche Gemeinschaftskonzepte legitimiert und auf verschiedene soziale Probleme angewendet werden kann. Der Staat kann hierbei im Hintergrund agieren, da sich die lokale Gemeinschaft um sich selbst sorgt.
6.3.4 Erfolge und Problemstellungen Das kodokushi zero-Projekt in der Tokiwadaira Danchi wird im Allgemeinen als erfolgreiches Modell für den Auf bau eines funktionsfähigen Notfallnetzwerks im Kampf gegen Japans einsame Tode dargestellt. Diese positive Bewertung bezieht sich sicher nicht nur auf die erfolgreiche Planung und Umsetzung von Maßnahmen, sondern auch auf die schwierige Vermittlung zwischen den verschiedenen beteiligten gesellschaftlichen Akteuren. Dabei möchte ich auf das hierfür notwendige kontinuierliche Engagement der Beteiligten hinweisen, welches sich in der Durchführung von regelmäßigen Veranstaltungen, dem Betrieb eines eigenen Altencafés oder dem eigenen preisgünstigen Angebot von Dienstleistungen der Betreuung und Haushaltshilfe zeigt. Auch die Zahl lokal auftre-
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tender einsamer Tode sei auf wenige, relativ schnell aufgefundene Fälle im Jahr begrenzt worden (vgl. TKWD Shakyô 2013a: 5-6). Der Erfolg des Projekts zeigt sich darüber hinaus in der positiven Annahme der Maßnahmen auf der lokale Ebene selbst, d.h. durch die Bewohner der danchi. Eine große Zahl der Bewohner nutzt die Angebote des kodokushi zero-Projekts bzw. hilft selbst bei der Planung und Durchführung verschiedener Aktivitäten. Beispielsweise haben bereits circa 700 Bewohner ihre »Sicherheitsregistrierungskarte« abgegeben und auch Wohnungsleichen werden heutzutage vor allem von Nachbarn entdeckt. Hierin wird ein gesteigertes Problembewusstsein erkannt und der Beweis für eine wiederbelebte Nachbarschaft gesehen. Viele Bewohner der danchi nehmen die lokalen Angebote demnach an und beteiligen sich aktiv an der Formung des Bildes einer engagierten und funktionierenden Nachbarschaft. In dieser Hinsicht stellten verschiedene Experten des Feldes die Tokiwadaira Danchi als ein positives Ausnahmebeispiel dar, auf welches das Bild des zerbrochenen Nachbarschaftslebens in der modernen japanischen Gesellschaft eigentlich nicht anzuwenden sei. Die Verantwortlichen des Projekts sehen ihre Arbeit zudem durch das große mediale Interesse bestätigt. Die vielen Besucher, die über das Projekt in den Medien berichten oder selbst versuchen, ähnliche Ideen in anderen Bezirken umzusetzen, sorgen somit für eine weitere Stärkung des Projekts. Daher werden diese Erfolge öffentlich gemacht, sodass die Verantwortlichen ihren Einfluss im Diskurs weiter vergrößern können. Dies gilt auch für die verschiedenen Ehrungen, die das Projekt von staatlicher Seite aus erhalten hat. Hierzu zählen zum Beispiel Einladungen des Ministers für Gesundheit, Arbeit und Wohlfahrt zu Gesprächen oder Vorträgen bei thematisch relevanten Fachsymposien (vgl. TKWD Shakyô 2013a: 32-33). Darüber hinaus erhielt die Jichikai im Jahr 2011 stellvertretend für alle am Projekt beteiligten Organisationen eine Auszeichnung des Innenministeriums für ein gelungenes chiikizukuri (vgl. TKWD Jichikai 2011: 30-31). Hierbei wurde die erfolgreiche »Reaktivierung des gemeinschaftlichen Lebens« (ebd.: 30*) – durch Angebote wie den ikiiki saron – und die Vorbildfunktion des Projekts hervorgehoben. In
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diesem Zusammenhang wurde eine auf ein Jahr begrenzte speziell finanzielle Unterstützung bewilligt, welche für die Veröffentlichung des Sonderbandes von 2011 oder für die Ausrichtung mehrerer Veranstaltungen durch das Shakyô verwendet wurde (vgl. ebd.; TKWD Jichikai 2012b: 16-17). Diese landesweite Achtung gegenüber dem Projekt, welche sich auch in den zahlreichen Vortragseinladungen für Herrn N zeigt, illustriert, welche Bedeutung die Tokiwadaira Danchi für die Entwicklung der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit gegenüber der kodokushi-Thematik besitzt. Im Gegensatz dazu möchte ich nun verschiedene Herausforderungen für die in der Tokiwadaira Danchi aktiven zivilgesellschaftlichen Organisationen vorstellen, die mir im Feld auffielen bzw. die auch in Interviews an mich herangetragen wurden. Für die bessere Verständlichkeit werde ich mich dabei auf das konkrete Beispiel des ikiiki saron beziehen und zudem thematisch relevante Studien aufgreifen. Die erste Problemstellung bezieht sich auf zurückgehende Nutzerzahlen, die im Feld mit der kontinuierlichen Alterung der Bewohner- und Kundschaft begründet wurden: »Nach der Eröffnung kamen meistens 30 oder 35 Besucher [pro Tag], aber weil diese eben auch älter werden, kommen [heutzutage] weniger. Auch wenn sie kommen möchten, tun vielleicht Füße oder Beine weh, weshalb sie dann nicht kommen können, wodurch die Besucherzahlen gegenwärtig etwas zurückgegangen sind.« (Interview Frau O*)
Dies merke man ferner nicht nur bei schwierigen Wetterverhältnissen wie starkem Regen, Sturm, Hitze oder Schneefall – weshalb die Besucherzahlen im Winter von Anfang an etwas niedriger waren – sondern es handele sich um einen allgemein zu beobachtenden Trend (vgl. TKWD Shakyô 2013a: 18). Hashimoto (vgl. 2007: 229; 231-232) spricht in einem ähnlichen Zusammenhang vom generellen Rückgang der Bedeutung von Nachbarschaftsvereinigungen im urbanen Raum. Diese These möchte ich verfeinern und die Mitglieder der Nachbarschaftsvereinigungen in aktive und eher inaktive Mitglieder
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unterteilen (vgl. Pekkanen 2006: 88). In dieser Hinsicht scheint das kodokushi zero-Projekt vor allem die sowieso schon Aktiven anzusprechen bzw. von diesen genutzt und getragen zu werden. Hierzu gehören neben den freiwillig oder gegen eine geringe Bezahlung arbeitenden Hilfskräften auch die Nutzer des ikiiki saron, die diesen mehrmals in der Woche aufsuchen. Trotz dieser von aktiven Bewohnern ausgemachten »substantial minority« (ebd.: 90) bleibt jedoch zu fragen, inwieweit die von einem einsamen Tod besonders gefährdeten alleinlebenden und sozial isolierten Bewohner angesprochen werden können. Frau O (*) erläuterte dies wie folgt: »[Diese Leute] verbringen den Tag ohne einmal den Mund zu öffnen nur mit Fernsehen schauen. Daher sind sie auch anfällig für Demenz. Weil irgendetwas nicht stimmt und sie keine Freunde haben, sind sie nur allein und deprimiert. Aber so ein Leben ist doch langweilig! Daher versuchen wir, so etwas zu verhindern. […] Wir wollen diese Menschen dort raus holen… Wenn sie dann einmal vorbei kommen und es ihnen nicht gefällt, kann man nichts machen. Aber wir möchten den ikiiki saron dahingehend aufbauen, dass er ihnen gefällt und sie nochmal kommen wollen.«
Die Polarisierung in Aktive und Inaktive bedeutet demnach auch, dass die Aktiven eine entsprechend größere Last bezogen auf die Konzeption und Durchführung der Gegenmaßnahmen tragen müssen (vgl. Pekkanen 2006: 118). Trotzdem werden die Grenzen des Engagements deutlich. Zudem fällt erneut auf, dass die Bewertung bestimmter Lebensstile als »langweilig« oder unnormal von außen erfolgt und auf nicht objektiv zu bestimmenden Kategorien beruht. Auf diese Weise entsteht eine neue Form von sozialem Druck, da jene Bewohner, die nicht in den ikiiki saron kommen, als unnormal oder sogar als krank definiert werden können. Eine weitere Kluft zeigt sich bezogen auf die geschlechtliche Zugehörigkeit der aktiven Bewohner, da die Gruppe der Aktiven von den Bewohnerinnen der danchi dominiert wird. Dies wird auch auf wissenschaftlicher Ebene sowohl für die Angebotsseite lokaler Aktivitäten (vgl. z.B. Thränhardt 1990: 352) als auch für die Seite der
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Nutzer bestätigt (vgl. Kanno 2013: 122; 124). Im Gespräch mit den sewanin des ikiiki saron wurde erwähnt, dass es mit männlichen Gästen nach der Eröffnung sogar Konflikte oder Missverständnisse gegeben hatte, als diese sich über das in den Betriebsregeln festgelegte Alkoholverbot hinwegsetzen wollten. Daher lässt sich insbesondere bezogen auf jene mittelalten Männer in schwierigen Lebenslagen vermuten, welche laut der »Auflistung von Nicht-Vorhandenem« aufgrund ihrer Neigung zum Alkoholismus besonders vom Fall in soziale Isolation bedroht seien, dass diese nur schwer an den ikiiki saron herangeführt werden können. In dieser Hinsicht stößt auch der ikiki saron trotz seines offensichtlich »großen Erfolgs« (TKWD Shakyô 2013a: 17*) an gewisse Grenzen, da seine Attraktivität möglicherweise nur für bestimmte Gruppen unter den Senioren der Bewohner gelten kann. Bezogen auf die nur schwer anzusprechenden, isoliert lebenden Bewohner würden hingegen anstatt der vorbeugenden Maßnahmen nur jene zum schnellst möglichen Auffinden von Wohnungsleichen greifen. Kanno (2013: 125*) beschreibt diese Schwierigkeit der Einbindung bestimmter Bewohnergruppen als »kein schnell lösbares Problem«, weshalb die weitere Entwicklung hier nur schwer vorhersehbar erscheint. Sowieso erscheint die Zukunft des Projekts problematisch, da der hohe Altenanteil sich natürlich auch auf die Zusammensetzung der lokalen Organisationen auswirkt. In der Studie Kannos bestand der Großteil der Nutzer lokaler Angebote in dieser Hinsicht aus 70bis 80-jährigen Frauen (vgl. ebd.: 124). Auch der ikiiki saron erschien mir als ein Ort, der vor allem von über 70-jährigen genutzt und betrieben wird. Es handelt sich um eine Maßnahme, welche vor allem die soziale Isolation dieser hochalten Bewohnergruppe anspricht, während beispielsweise die ebenfalls gefährdeten Mittelalten weniger angesprochen werden können. Aufgrund dieser generationsbezogenen Beschränkung fasse ich den Maßnahmenkatalog in der Tokiwadaira Danchi als Projekt einer zivilgesellschaftlich besonders aktiven Generation von Bewohnern auf. Dabei handelt es sich um jene Generation, die oft schon seit den 1960er und 1970er Jahren hier wohnt und gemeinsame Probleme wie den Mietstreit in den
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1990er Jahren gemeistert hat. Es handele sich um »alteingesessene Bewohner« (NHK/Sasaki 2007: 45*), welche mehrheitlich ihr 70. Lebensjahr bereits weit überschritten haben (vgl. ebd.: 84). Dass die Führungsebene in den letzten Jahrzehnten nur wenige personelle Wechsel durchlaufen musste, scheint für Japans lokale Organisationen nicht untypisch zu sein (vgl. z.B. ebd.: 108; 110) und war für die Umsetzung des kodokushi zero-Projekts möglicherweise förderlich. Da die lokalen Institutionen hierdurch jedoch gleichzeitig sehr personenzentriert wirken, könnte dies den reibungslosen Übergang bei Abtreten der gegenwärtigen Führungspersönlichkeiten erschweren. Die Alterung der zivilgesellschaftlich aktiven Bewohner und die Probleme bei der Suche nach jungen Nachfolgern oder Nutzern der Angebote wird auch in der Forschung als größte Herausforderung für die lokale Ebene in Japan gesehen (vgl. Pekkanen 2006: 101; Hashimoto 2007: 230; Kanno 2013: 122). Denn während eine aktive Generation aufgrund ihres zunehmenden Alters zurücktreten muss, liegt der nachfolgenden Generation vielleicht weniger an der Umsetzung eines lokalen Projekts oder an der Schaffung einer gesunden Nachbarschaft. Am Beispiel der sewanin aus dem Altencafé des Feldes lässt sich dies gut veranschaulichen. Können diese ihre Aufgabe irgendwann nicht mehr ausführen, würde sich dies möglicherweise auch auf die Besucherzahlen auswirken, da viele Gäste explizit wegen des guten Verhältnisses zu diesen Angestellten kommen. Hinsichtlich dieser Problematik erscheint die zukünftige Entwicklung des Projekts sehr ungewiss, was den Akteuren im Feld aber durchaus bewusst war. Auch die finanzielle Absicherung erscheint aufgrund der tendenziell zurückgehenden Mitgliederzahl problematisch (vgl. u.a. Kanno 2013: 126). Gleichzeitig wird die Rolle der zivilgesellschaftlichen Organisationen jedoch durch die Einführung neuer politischer Konzepte für eine lokale Fürsorge gefestigt. Durch die örtliche Nähe könnten sie besser als staatliche Verwaltungsinstitutionen auf lokale Herausforderungen reagieren (vgl. Pekkanen 2006: 119), weshalb sie ins Zentrum von gegenwärtigen Diskussionen um die soziale Inklusion alter Menschen gerückt werden:
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»Seit den 2000er Jahren entstand eine Situation, in der Konzepte wie die ›Wiederbelebung der lokalen Gemeinschaft‹ [komyuniti] oder ›die gegenseitige Unterstützung auf der lokalen Ebene‹ als politische Maßnahmen gefördert wurden. Dies hing mit der Berichterstattung über allerorts auftretende einsame Tode und dem rasanten Hervortreten der Diskussion über die ›beziehungslose Gesellschaft‹ zusammen. In dieser Situation geschah es, dass die Nachbarschaftsvereinigungen als symbolischer [Beweis] für die Existenz ›nachbarschaftlicher Beziehungen‹ [chiiki no tsunagari] aufgefasst wurden und ihnen die Erwartungshaltung einer bedeutenden Rolle hinsichtlich ›der Lösung oder der Vorbeugung der Problematik sozialer Isolation‹ entgegen gebracht wurde.« (Kanno 2013: 106*)
Den lokalen Organisationen wird demnach eine Art Schleusenfunktion zwischen den Betroffenen und den beteiligten (halb-) staatlichen oder privaten Hilfsstellen zugesprochen (vgl. ebd.: 125126). Diese wichtige Rolle wurde im seit 2006 eingeführten »System lokaler und inklusiver Betreuung« (chiiki hôkatsu kea shisutemu) gesetzlich festgelegt. Vor allem für ältere Bewohner scheinen diese Veränderungen und die Beziehungen zwischen den vielen auf der lokalen Ebene präsenten Organisationen jedoch nur schwer nachvollziehbar zu sein. Daher werde ich im Folgenden beschreiben, wie das neue Inklusionssystem für die lokale Ebene im Konkreten aussieht und was sich hinter dem Konzept »lokaler Inklusion« (chiiki hôkatsu) verbirgt.
6.4 chiiki hôk atsu — »L ok ale I nklusion « 6.4.1 Hintergrund des Inklusionskonzepts Das Konzept »lokaler Inklusion« – jap. chiiki hôkatsu – wurde als Teil des reformierten Pflegeversicherungsgesetzes im Jahr 2006 offiziell in Japan eingeführt (vgl. MHLW 2007: 5). Das ursprüngliche Gesetz der japanischen Pflegeversicherung wurde im Jahr 1997 beschlossen und dann drei Jahre später – im Jahr 2000 – umge-
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setzt (vgl. Shimada/Tagsold 2006: 93-110). Die Überarbeitung des Gesetzes von 2006 wurde vor allem mit der Prognose einer Kostenexplosion aufgrund der stark wachsenden Zahl potentiell Pflegebedürftiger begründet (vgl. MHLW 2007: 13). Die Alterung der Gesellschaft würde sich dabei nicht nur in der größeren Zahl von alten Menschen, sondern auch im »Niedergang der nachbarschaftlichen Lebenskraft« (ebd.*) oder in »der Verkleinerung des familiären Netzwerks« (ebd.*) zeigen. Insbesondere der Renteneintritt und das Altern der Baby-Boomer-Generation (dankai no sedai) werden dabei als ein über dem japanischen Renten- und Pflegeversicherungssystem hängendes Damoklesschwert dargestellt (vgl. u.a. MHLW 2015). Aus diesem Grund plant das MHLW bis zum Jahr 2025, wenn die Baby-Boomer ihr 75. Lebensjahr erreicht haben werden, das Wohlfahrtssystem auf der lokalen Ebene auf folgende Weise zu reformieren: »Mit dem Ziel der Erhaltung der Würde des alten Menschen und der Unterstützung einer selbstständigen Lebensführung im Alter fördern wir den Aufbau eines Systems, welches ein [ausreichendes] Angebot von inklusiven Hilfs- und Dienstleistungen [garantieren kann]. In diesem System lokaler und inklusiver Betreuung sollen alte Menschen so lange wie möglich in ihrem gewohnten Wohnumfeld leben und bis in die letzte Lebensphase ein ihren eigenen Vorstellungen entsprechendes Leben führen können.« (MHLW 2015*)
Aufgrund der Verwendung von Kategorien wie »Würde« (sonkei) bzw. »Würde des alten Menschen« (kôreisha no sonkei), »Inklusion« (hôkatsu) oder »Selbstständigkeit« ( jiritsu) und der Zielsetzung eines »dem Selbst entsprechenden Lebens« ( jibunrashii kurashi) möchte ich diese neue Konzeption von lokaler Wohlfahrt in der Folge als Ergebnis komplexer nationaler und internationaler Diskurse aufgreifen. Bevor ich die neu geschaffenen »Zentren für die Unterstützung lokaler Inklusion« (CHSS) als zentrales Organ des Systems vorstelle und in Verbindung zum Organisationsgeflecht des bis hierhin vorgestellten lokalen Projekts setze, werde ich daher stärker auf diese
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konzeptuellen Hintergründe der Gesetzesreform eingehen. Hierbei werde ich vor allem das verwendete Inklusionskonzept vorstellen, welches nach Informationen aus dem Feld erstmals Anfang der 2000er Jahre in einer Gesetzesvorlage aufgetaucht sein soll: »Aber hierbei handelt es sich um einen importierten Ausdruck. Auf Japanisch gab es das Konzept von ›inclusion‹ oder ›include‹ nicht. Und als der Ausdruck dann nach Japan kam, wurde er mit hôsetsu übersetzt. Aber das Wort hôsetsu wird von Japanern eigentlich kaum benutzt. […] Und weil hôsetsu so schwer zu verstehen ist, wandelte es sich nach und nach zum Wort hôkatsu.« (Interview Herr T*)
Die schwere Verständlichkeit des Wortes hôsetsu erklärt sich daher, dass es sich um einen sehr theoretischen, vor allem marxistisch geprägten Begriff handelt. So wurde der Marx’sche Begriff der Subsumtion im Japanischen mit hôsetsu wiedergegeben (vgl. u.a. Marx/ Okazaki 1970). Das erste Zeichen hô, welches in der Alltagssprache für das Verb tsutsu-mu (»etwas einpacken«) gebraucht wird, bleibt auch in der Zeichenkombination für hôkatsu bestehen. Herrn T folgend habe dieses hôkatsu fast dieselbe Bedeutung wie die vorherige Übersetzung hôsetsu, nämlich »alles einzuwickeln« (ebd.*), sei aber viel einfacher zu verstehen und daher zum dominanteren Ausdruck und Namensgeber des neuen Wohlfahrtskonzepts für die lokale Ebene geworden. Warum wurde diese Übersetzung des englischsprachigen Inklusionsgedankens jedoch überhaupt notwendig? Was ist der Grund für diesen komplexen Übersetzungsprozess, der auch mit der offiziellen Implementierung des Konzepts noch nicht abgeschlossen ist? Im Hintergrund des Übersetzungsprozesses stehen verschiedene internationale gesellschaftliche Trends und bestimmte politische Entscheidungen auf der supranationalen Ebene, welche das Konzept sozialer Inklusion ins Zentrum sozialpolitischer Agenden in unterschiedlichen nationalen Regierungen sowie internationalen Organisationen rückten. Im Allgemeinen werden französische Debatten aus den 1960er und 1970er Jahren und insbesondere der
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Sozialpolitiker René Lenoir als Ursprung dieser Entwicklungen genannt – auch wenn weitere begriffliche Wurzeln zu finden sind (vgl. Sen 2000: 3; Allman 2013: 7). Renoir (vgl. 1974) bezeichnete jene gesellschaftlichen Randgruppen, die nur durch staatliche Unterstützung überleben und deren Probleme nicht durch allgemeines Wirtschaftswachstum gelindert werden konnten, als soziale Exkludierte. Hierzu gehörten Drogenabhängige, geistig wie körperlich Behinderte, pflegebedürftige Alte, alleinerziehende Elternteile oder Straftäter (vgl. u.a. Silver 1995: 63; World Bank 2013: 49). Soziale Inklusion ist demnach ein Name für die Idee, eben diese Exkludierten wieder an die Gesellschaft heranzuführen. In den folgenden Jahrzehnten wurde das Konzept von verschiedenen europäischen Regierungen sowie von der europäischen Gemeinschaft (EG) bzw. Union (EU) und anderen internationalen Organisationen wie der World Bank oder den Vereinten Nationen aufgenommen (vgl. Levitas 2006: 124-127). Beispielsweise fordert die im Jahr 2006 von der UN-Generalversammlung verabschiedete UN-Behindertenrechtskonvention »full and effective participation and inclusion in society« (UN 2006) für alle Mitglieder einer Gesellschaft.11 Die Verwendung des Konzepts im japanischen Kontext orientiert sich im Besonderen an der New Labour Agenda aus den 1990er Jahren. Damals hatte der britische Premierminister Tony Blair die »big idea« (Economist 1997), den sozial Exkludierten mit Hilfe einer speziellen Social Exclusion Unit zu helfen, ins Zentrum seiner Agenda gerückt. Darum wurde das Konzept in der Folge oft mit anderen Third Way- und New Labour-Ideen assoziiert (vgl. Levitas 2006: 125). Die Einführung des Konzepts über Politikberater in Japan bezog sich explizit auf diese englischen und französischen Vorbilder (vgl. Abe et al. 2000: 2). In diesem Zusammenhang wird vor allem der 11 | In Japan wurde die Konvention schließlich im Jahr 2014 ratifiziert, wobei das englische Wort »inclusion« dabei in der Regel mit dem schriftsprachlichen japanischen Wort hôyô übersetzt wurde. Das Wort hôkatsu wird hingegen weniger häufig verwendet, wobei hier eine adjektivische Verwendung als Übersetzung von »comprehensive« oder »integral« auffällt (vgl. MOFA 2014).
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Name Sumitani Shigeru häufig genannt. Sumitani war Anfang der 2000er Jahre verwaltender Vizeminister12 des japanischen Umweltministeriums, ist heute offizieller Repräsentant der »Vereinigung zur Förderung sozialer Inklusion in Japan« (nihon sôsharu inkurûjon suishin kyôgikai) und fördert die Gründung »sozialer Firmen« (sôsharu fâmu) – eine Idee, die an britische Versuche der Integration bzw. Inklusion von Angestellten mit Behinderungen anknüpft (vgl. Sumitani 2010a).13 Schon für die Anfangsphase des Übersetzungsprozesses fällt auf, dass soziale Exklusion explizit mit gesellschaftlichen Herausforderungen wie der »Erschütterung des Wertesystems« (Abe et al. 2000: 3*), sozialer Isolation und der Ausdünnung zwischenmenschlicher Beziehungen in Verbindung gesetzt wurde (vgl. ebd.). Bei Sumitani (2010b*) heißt soziale Inklusion dementsprechend, dass »Menschen, die dazu tendieren ausgeschlossen und isoliert zu werden, ausdrücklich als Mitglieder der Gesellschaft wertgeschätzt und aufgenommen werden«. Soziale Inklusion wird dabei als direktes Lehnwort mit sôsharu inkurûjon transkribiert, so wie es in der theoretischen Sprache der wissenschaftlichen Fachebene noch heute geschieht (vgl. u.a. Fujimoto 2012). In der Alltagssprache spielte dieses offensichtliche Lehnwort jedoch nie eine Rolle.14 Im Bereich der politischen Praxis wurde er nur in der Anfangsphase des Übersetzungsprozesses von wissenschaftlichen Politikberatern verwendet und danach auch dort ersetzt. Die Ablösung von sôsharu inkurûjon durch hôsetsu und dann hôkatsu illustrieren verschiedene 12 | Der Titel jimujikan (engl. Administrative Vice-Minister) bezeichnet den höchsten Verwaltungsbeamten in einem Ministerium, der den vom Premierminister ernannten Ministern und ihren Stellvertretern unterstellt ist. 13 | Sumitani ist darüber hinaus Mitglied verschiedener weiterer Studiengruppen, und hat zu den Themen Umwelt und Wohlfahrt bei verschiedenen Universitäten Vorträge gehalten und publiziert (vgl. Sumitani et al. 2005). 14 | Bezogen auf die Alltagsebene beschreibt Ishida (vgl. 2011: 5), dass die Thematik sozialer Isolation unter bereits thematisierten Begriffen wie muenshakai etc. verhandelt wurde.
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Stationen des Prozesses, der lange von der Suche nach einer geeigneten Bezeichnung anstatt von der Diskussion der Inhalte dominiert wurde. In der Folge frage ich weiter, mit welchen Inhalten das sehr offen und unbestimmt wirkende Inklusionskonzept im japanischen Fall schließlich gefüllt wurde.
6.4.2 Die Japanisierung des Konzepts sozialer Inklusion Die Schwierigkeit der Suche eines passenden, allgemein verständlichen japanischen Äquivalents für das durch internationale Organisationen aus dem europäischen Kontext gelöste Konzept sozialer Inklusion illustriert ein erstes Hauptproblem des Übersetzungsprozesses. Die theoretische Verortung des neuen Konzepts ist dann der hierauf folgende Schritt. Dabei möchte ich insbesondere darauf achten, wie diese neue und noch sehr unbestimmt wirkende Idee in Bezug zu in Japan bereits bekannten Vorstellungen von gegenseitiger Hilfe und Solidarität gesetzt wurde. In offiziellen Dokumenten des MHLW wird das ab 2006 etablierte »System lokaler und inklusiver Betreuung« in dieser Hinsicht mit Hilfe von vier japanischen Konzepten der gesellschaftlichen Hilfe oder Unterstützung erläutert. Diese heißen jijo, kôjo, kyôjo und gojo (vgl. MHLW 2013a). Jijo umfasse Formen der Selbsthilfe, welche auf die Einstellung »die eigenen Angelegenheiten selbst zu regeln« (ebd.*) zurückgehe. Demgegenüber bezeichne kôjo staatliche Formen der Hilfe und Unterstützung, welche über Steuereinnahmen finanziert werden. Hierzu gehöre beispielsweise die Sozialhilfe (seikatsuhogo) oder staatliche Maßnahmen gegen Misshandlungen und Missbrauch (vgl. ebd.). Kyôjo stehe dagegen für gesellschaftliche Hilfsnetze wie die Pflegeversicherung, welche von allen Versicherungsnehmern zusammen getragen werden. Diese Konzeption von kyôjo widerspricht jedoch anderen verbreiteten Definitionen des Wortes, welche kyôjo eher als Unterstützungsnetz der lokalen Gemeinschaft, der Nachbarn und Freunde definieren (vgl. MHLW 2008b; Chiba-ken 2013). Diese Bedeutungsverschiebung von kyôjo wird dazu genutzt das vierte Konzept gojo als explizites Prinzip der
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gegenseitigen Hilfe zu betonen. Gojo sei »etwas Freiwilliges [oder Spontanes], dessen Last an Unkosten durch kein institutionalisiertes System getragen wird« (ebd.*). Die Etablierung von gojo als viertem Pfeiler japanischer Vorstellungen von Hilfe rückt demnach die Rolle der lokalen Gemeinschaft in den Vordergrund. Herr T (*) band dies in das narrative Muster des Niedergangs traditioneller Gemeinschaftlichkeit in der modernen Gesellschaft ein: »Gojo gab es schon früher. […] Das ist, was man auch otagaisama nennt. […] Aber es verschwand durch die eben dargestellten Entwicklungen [der gesellschaftlichen Modernisierung]. Deshalb wird heute geplant, otagaisama wieder aufzubauen bzw. zu reparieren. Aber es ist eben nichts Neues. Diese Denkart ist [nur] wieder zurückgekommen. Es handelt sich dabei [jedoch] um das [alte] otagaisama. Was die anderen [jijo, kyôjo, kôjo] angeht, so gab es sie schon früher, und gibt sie heute auch noch.«
Während die Konzepte der Selbsthilfe sowie die der gesellschaftlichen und staatlichen Unterstützung konstant präsent gewesen seien, sollen die Überreste der im Modernisierungsprozess verblassten Idee der gegenseitigen Hilfe im neuen System reaktiviert werden. Über diese Verknüpfung zu vermeintlich vormodernen Konzepten wird dem von außen importierten Konzept sozialer Inklusion nicht nur eine Verträglichkeit mit der japanischen Kultur bescheinigt. Vielmehr wirkt es sogar so, als habe die japanische Kultur selbst vergleichbare Konzepte hervorgebracht, diese seien aber über die Erfahrung der westlich geprägten Moderne vergessen worden. So klingt das negativ gedeutete Motiv einer Verfremdung an, was durch die Rückbesinnung auf vormoderne Konzepte der gegenseitigen Hilfe gelöst werden solle. Auch Herr N (*) erwähnte otagaisama während des Interviews und umschrieb es dabei wie folgt: »Wenn jemand in Schwierigkeiten geraten ist, helfen ihm alle dort herauszukommen«. In dieser Hinsicht betonte er, dass nicht nur die Individuen selbst, sondern vor allem das direkte soziale Umfeld der Nachbarschaft bedeutsam für die Lösung der kodokushi-Problematik sei. Insgesamt wirken
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aber sowohl otagaisama als auch gojo wie uneindeutige und offen verwendbare Konzepte, was in gewisser Weise gut zur Unklarheit des international geförderten Konzepts sozialer Inklusion passt. Was bedeutet lokale Inklusion in Japan also im Konkreten und was ändert sich durch die Schaffung des CHSS im Feld? Was bedeutet das für das lokale kodokushi zero-Projekt?
6.4.3 Was bedeutet lokale Inklusion konkret? Im »System lokaler und inklusiver Betreuung« wird versucht, ausgehend von den individuell verschiedenen Wünschen der Lebens- und Wohngestaltung, »die Fortführung eines würdevollen Lebens trotz des Verlusts körperlicher und geistiger Fähigkeiten, wirtschaftlichen Problemen oder Veränderungen des familiären Umfelds zu garantieren« (MHLW 2013a*). Um dies möglich zu machen, wird das Ideal einer Nachbarschaft konstruiert, bei der die nötige medizinische Versorgung, Anbieter von Pflege- und Betreuungsdienstleistungen sowie einer Pflegebedürftigkeit vorbeugende Angebote innerhalb von 30 Minuten erreichbar sind (vgl. MHLW 2013b). Abbildung 12: Chiiki hôkatsu kea shisutemu – Das System lokaler und inklusiver Betreuung (Bildquelle: MHLW 2013b)
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Die »Zentren für die Unterstützung lokaler Inklusion« (CHSS) nehmen dabei die entscheidende Rolle in diesem System ein. Sie sind die Verbindungsstelle zwischen den ins Zentrum der Skizze des Systems gezeichneten alten Menschen und den diese umgebenen Anbieter von ärztlichen, pflegenden und vorbeugenden Dienstleistungen (vgl. Abbildung 12). Die Zentren koordinieren den reibungslosen Ablauf des Systems und nehmen somit eine Schlüsselposition ein, von der aus sie die Bedürfnisse und Wünsche der alten Menschen dem lokalen Angebot entsprechend zu berücksichtigen suchen. Das sich momentan noch im Auf bau befindliche Netz der CHSS baut dabei auf die schon existenten »Zentren zur Unterstützung von häuslicher Pflege« (zaitaku kaigo shien sentâ), welche ausgehend vom ersten Gold Plan in den 1990er Jahren geschaffen wurden (vgl. Zaikaikyô 2005: 1). Dieses Netz soll im neuen System unter dem Fokus »lokaler Inklusion« ausgebaut und verbessert werden. In dieser Hinsicht konnte ich schon während meiner 2013 durchgeführten Feldforschung signifikante Veränderungen bemerken, da in der Stadt Matsudo die Zahl der CHSS im selben Jahr von drei auf elf erhöht wurde (vgl. Matsudo-shi 2014b). Das Tempo des Aufbaus des Systems selbst ist genau wie einzelne Aufgaben oder die Größe der Center jedoch stark von lokalen Unterschieden geprägt. Dies ist aber durchaus gewollt, da die für die CHSS verantwortliche kommunale Ebene (vgl. MHLW 2007: 1) das System auf bauen und dabei »die lokale Selbst- und Eigenständigkeit zur Grundlage machen und auf lokale Besonderheiten eingehen soll« (MHLW 2013b*). Auch wenn die CHSS entweder von der Kommune selbst oder von beauftragten privaten oder halbstaatlichen Organisationen betrieben werden können, gibt es Bestimmungen bezüglich der Angestellten, zu denen immer ein Gesundheitspfleger (hokenshi), ein Sozialarbeiter (shakaifukushishi) sowie ein leitender Care Manager (shunin kea manêja) gehören muss (vgl. u.a. MHLW 2007: 1; MHLW 2013c). Diese sollen dabei ausdrücklich als Team zusammenarbeiten, um eine »umfassende Pflegeberatung« (MHLW 2007: 30*) garantieren zu können.
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Das CHSS soll im Allgemeinen vier Aufgaben erfüllen (vgl. MHLW 2007: 1). Die erste Aufgabe bezieht sich auf Maßnahmen zur Vorbeugung einer möglichen Pflegebedürftigkeit. Im Informationsheft über die CHSS der Stadt Matsudo ist dies mit dem Slogan »Wir helfen Ihnen, damit Sie ein selbstständiges Leben führen können« betitelt. Hierzu gehört das Anbieten bzw. Koordinieren von Sport- und Gymnastikkursen, um das Auftreten einer Pflegebedürftigkeit bzw. die Verschlechterung des Zustands bei bereits als pflegebedürftig erkannten Menschen (Stufe 1 und 2) zu verhindern (vgl. MHLW 2007: 32). Dabei wird insbesondere die anvisierte Erhaltung von Selbstständigkeit ( jiritsu) und Würde (sonkei) der alten Menschen betont (vgl. ebd.). Der zweite Arbeitsbereich des CHSS sind verschiedene Beratungstätigkeiten, bei denen Pflegebedürftige oder ihre Angehörigen an relevante medizinische Versorgung oder Pflegedienstleistungen anbietende Stellen vermittelt oder mit dem formellen Pflegeversicherungssystem vertraut gemacht werden können. Auch Hilfe bei der Beantragung einer Pflegestufe ist hier inbegriffen. Die dritte Kategorie ist mit »Rechtsschutz« (MHLW 2007: 1*) betitelt. Hierbei hilft das CHSS, geeignete gesetzliche Vertreter für an Demenz erkrankte Personen zu bestimmen, so dass diese beispielsweise nicht mehr zu Opfern von Trickbetrügern werden.15 Die vierte Kategorie wird »Unterstützung einer umfassenden und kontinuierlichen Koordinierung von Pflege bzw. Betreuung« (MHLW 2007: 1*) genannt. Neben der Beratung von lokal agierenden Care Managern durch das CHSS betrifft diese Kategorie vor allem die Vernetzung verschiedener Organisationen auf der horizontalen Ebene. Die entstehenden, unterschiedliche Aufgaben betreffenden Netzwerke sollen in der Folge bei Bedarf sogar über den lokalen Rahmen erweitert werden (vgl. MHLW 2007: 29). Darüber hinaus wurde im Interview mit Herrn T die Förderung von Freiwilligengruppen (borantia) als weitere Funktion des CHSS genannt. Diese könnten unter anderem die Nachbarschaft über die Rolle des CHSS aufklären oder Hilfesuchende an das CHSS vermitteln. 15 | In Japan heißt dieses System seinenkôkenseido.
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Im Ergebnis stellt sich das CHSS als Koordinations- und Vernetzungsstelle auf der lokalen Ebene dar. Es soll die Problematik des unübersichtlichen Angebots an Pflege-, Beratungs- und Betreuungsdienstleistungen lösen, welche im Feld durch das komplexe Netz aus einerseits nichtprofitorientierten Organisationen wie Jichikai, Shakyô, Minsei-iin und weiteren NPOs oder Freiwilligengruppen sowie andererseits aus privaten, profitorientierten Anbietern gebildet wurde. Zumindest in der Anfangsphase der Einführung des neuen Systems denke ich aber, dass die sowieso schon vorhandene Unübersichtlichkeit durch die CHSS nochmals verstärkt wurde. Vor allem für alte Menschen kann es schwierig sein, die immer neuen Institutionen und ihre Angebote auseinanderzuhalten. Wirkt eine zusätzliche Beratungsstelle vor dem Hintergrund der vergleichsweise aktiven Nachbarschaft in der Tokiwadaira Danchi eventuell sogar überflüssig? Inwiefern unterscheidet sich das Angebot des CHSS von dem des Shakyô oder dem der Minsei-iin? Der unklaren Rolle des CHSS wird mit einer aufwendigen Informations- und Werbearbeit begegnet. Neben den offiziellen Pamphleten und Broschüren möchte ich hierbei vor allem auf das Vorstellen der Aufgaben des CHSS bei verschiedenen Informationsveranstaltungen zur Thematik häuslicher Pflege und lokaler Wohlfahrt hinweisen. Beispielsweise nahm ich im November 2013 an einer von der Stadt Matsudo unterstützten, vom städtischen Ärzteverband veranstalteten und an die Bürger der Stadt gerichteten Konferenz zum Thema »häuslicher Pflege« (zaitaku iryô) teil, bei der die Aufgaben des CHSS vorgestellt wurden. Auch im kleineren lokalen Rahmen der Tokiwadaira Danchi leisten Vertreter des CHSS Aufklärungsarbeit. So war ein Vortrag bezüglich der Rolle und Verortung im lokalen Netzwerk des CHSS Teil des Kurrikulums der ikiki daigaku des kodokushi zero-Projekts im Jahr 2013 (vgl. TKWD Jichikai 2013: 2-3). Auch das 13. vom Projekt gegen einsame Tode in der Tokiwadaira Danchi veranstaltete kodokushi-Symposium, welches mit dem Titel »Der von allen getragene Auf bau einer Nachbarschaftsgemeinschaft« (TKWD Jichikai 2015b: 2-3*) überschrieben war, beinhaltete einen Vortrag eines Vertreters des örtlichen CHSS.
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Das CHSS versucht aber auch nicht, andere lokale Organisationen zu ersetzen und bereits aufgebaute Projekte zu verdrängen. Stattdessen soll das neue inklusive Netzwerk schon vorhandene »soziale Ressourcen« (MHLW 2013d*) der Nachbarschaft erkennen und mit den Befunden über die »Bedürfnisse der Senioren« (ebd.*) abgleichen. Im Austausch mit übergeordneten staatlichen Institutionen und mit den Bewohnern der Nachbarschaft selbst sollen in der Folge den lokalen Strukturen angepasste Aufgaben und Pläne erarbeitet werden (vgl. ebd.). Bezogen auf das Feld der Tokiwadaira Danchi ist das CHSS somit als Ergänzung zum schon existenten kodokushi zero-Projekt zu verstehen. Derartige Aktivitäten und Projekte fallen im neuen System unter den Bereich »Unterstützung des täglichen Lebens und Vorbeugung von Pflegebedürftigkeit« (MHLW 2013b*). Das CHSS kann Senioren auf Veranstaltungen oder Angebote von diesen und ähnlichen lokalen Organisationen hinweisen und steht in dieser Koordinierungsfunktion auf einer übergeordneten Ebene. Herr T erklärte zudem, dass man hierbei besonders auf die Minsei-iin und ihre Kenntnis lokaler Besonderheiten angewiesen sei. Denn die Minsei-iin ständen in unmittelbarem Kontakt zu möglicherweise pflegebedürftigen Bewohnern der danchi und besäßen somit wichtige Informationen, wer an das formelle staatliche Hilfsnetz vermittelt werden müsse. Aus diesem Grund suche das CHSS vor allem zu derartigen lokalen Schaltstellen oder Vernetzungspersonen »eine enge Zusammenarbeit« (Interview Herr T*). Diese Zusammenarbeit scheint dabei relativ pragmatisch zu sein: »Wenn es nötig ist, arbeiten wir zusammen. Wenn dies nicht nötig ist, kommt es auch vor, dass wir die Minseiiin bitten, die Aufgabe allein zu übernehmen« (ebd.*). Auf der anderen Seite kann es aber auch passieren, dass Angestellte zusammen mit Vertretern der städtischen Verwaltung bezüglich bestimmter Problemstellungen Teams bilden und das CHSS somit auch nach oben hin Wege der Kooperation sucht. Neben dem betonten Prinzip der Zusammenarbeit (renkei) fiel mir dabei vor allem eine Tendenz auf, eine Vielzahl der konkreten Aufgaben an andere Organisationen oder die Bewohner selbst auszugliedern. Dies stellte sich in der
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Folge als ausdrücklich formuliertes Grundprinzip des anvisierten inklusiven lokalen Systems dar, welches mit dem Wort shakaisanka – »gesellschaftliche Partizipation« – betitelt wurde.
6.4.4 Gesellschaftliche Partizipation (shakaisanka) am Beispiel des Renrakukai Das MHLW erklärt auf einem der vielen bezüglich des neuen lokalen Wohlfahrtssystems veröffentlichten Dokumente, dass »man [erstens] Dienstleistungen für die Unterstützung im Alltagsleben und [zweitens] die gesellschaftliche Partizipation der Senioren selbst benötige, damit diese [auch im hohen Alter] in ihrem gewohnten Wohnumfeld weiterleben können« (MHLW 2013e*). Begriffe wie »gesellschaftliche Partizipation« oder auch »Partizipation der Bewohner« ( jûmin sanka) stellen dabei jedoch kein Alleinstellungsmerkmal des ab 2006 etablierten Systems dar, sondern wurden bereits in den 1990ern oder im Zusammenhang mit der Einführung der Pflegeversicherung und dem Ausbau der lokalen Rolle des Shakyô ab dem Jahr 2000 diskutiert (vgl. u.a. Ôhashi et al. 2006: 133). Laut Haufe und Foljanty-Jost (2011: 91) sei der Begriff zudem ein Hauptelement der Idee kommunaler Selbstverwaltung und damit »als integraler Bestandteil des Modernisierungs- und Demokratisierungsdiskurses« in Japan zu verstehen. In der gegenwärtigen Verwendung könne gesellschaftliche Teilnahme normale Arbeit oder gar die Gründung neuer Unternehmen, die Ausübung von Hobbys, aber vor allem freiwillige Aktivitäten in der Nachbarschaft umfassen (vgl. Abbildung 13). Letztere können sich zwar auch auf nicht die lokale Wohlfahrt betreffende Bereiche beziehen, aber insbesondere für diesen Bereich »wird erwartet, dass sich gesunde Senioren als Träger von [Aktivitäten der] Unterstützung des Alltagslebens beteiligen« (MHLW 2013e*). Dies stellt weiterhin die Schnittstelle zwischen den beiden oben genannten Kategorien der Dienste zur Unterstützung des Alltagslebens einerseits und der gesellschaftliche Teilnahme der Senioren selbst andererseits dar. Diese Schnittstelle wird dabei als »Partizipation
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der lokalen Bewohner« (ebd.*) bezeichnet. Im unteren Bereich der abgebildeten Darstellung wird schließlich zusammengefasst, dass diese Formen von »gesellschaftlicher Partizipation eine effektive Vorbeugung einer [möglichen] Pflegebedürftigkeit« (ebd.*) darstellen würden. Abbildung 13: Shakaisanka – Gesellschaftliche Partizipation (Bildquelle: MHLW 2013e)
Beide Arten von gesellschaftlicher Partizipation der Bewohner werde ich in der Folge am Beispiel des »Austauschtreffens zur Unterstützung von Senioren im Bezirk Tokiwadaira« (tokiwadaira chiku kôreisha shien renrakukai) – in der Folge mit Renrakukai abgekürzt – besprechen. Das Renrakukai wurde auf Betreiben der Stadt Matsudo bereits im Jahr 2004 »mit dem Ziel [gegründet], dass Bewohner und die professionalisierten Spezialisten [aus dem Medizin- und Pflegebereich] eins werden und dass die lokalen Probleme auf eine der lokalen Ebene angepassten Art gelöst werden« (Dôtare 2013: 21*). Das Treffen besteht aus zwei Hauptorganen, die entweder gesonderte Fachsitzungen oder ein diese beiden Organe verbindendes Treffen abhalten. Während der »Abteilung der Bewohner« ( jûminbukai) Vertreter von Jichikai, Shakyô und Minseiiin sowie zur Beratung von Senioren bereitstehende Freiwillige (sôdan kyôryokuin) angehören, besteht die »Abteilung der Fachkräfte« (senmonbukai) aus lokal ansässigen bzw. lokal praktizierenden Ärz-
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ten, Pflegern und weiterem Personal aus dem Gesundheits- und Pflegebereich. Die senmonbukai, auf die ich mich in der Folge konzentrieren werde, trifft sich einmal im Monat und bespricht geeignete Maßnahmen für bestimmte problematische Fallbeispiele. Während meiner Feldforschung hatte ich die Möglichkeit an einem solchen Treffen teilzunehmen, was ich in den folgenden Absätzen thematisieren werde. An dem Treffen der senmonbukai, welches in einem Konferenzraum des Bürgerzentrums in der Tokiwadaira Danchi abgehalten wurde, nahmen circa 15 Mitglieder teil. Hierzu gehörten ein lokal ansässiger Arzt, welcher die Sitzungsleitung innehatte, mehrere Care Manager, weitere Sozialarbeiter von profitorientierten und nicht-profitorientierten Organisationen, als sôdan kyôryokuin helfende Anwohner, sowie eine Angestellte aus der Abteilung zur Unterstützung von Senioren aus der städtischen Verwaltung in Matsudo. Der inhaltliche Schwerpunkt der Veranstaltung wurde durch die Vorstellung zweier problematischer Fallbeispiele bestimmt. Bei einem dieser Fälle ging es um eine über 70-jährige Frau, welche bettlägerig und zudem an Demenz vom Alzheimer-Typ erkrankt ist. Sie lebt zusammen mit ihrem ebenfalls hochalten Mann von den Sozialhilfezahlungen der Stadt und scheint keine weitere Unterstützung von Kindern oder anderen Verwandten zu erhalten. Die vortragende Care Managerin beschrieb einerseits den schwierigen Umgang mit der Patientin selbst, andererseits rückte sie die Problematik der Zusammenarbeit mit dem CHSS und der Sozialhilfestelle in den Vordergrund. In der Folge entstand eine sehr lebhafte Diskussion, in der Elemente des formellen Netzes als nur wenig effizient und daher als geldverschwenderisch kritisiert wurden. In diesem Kontext wurde die Vertreterin der Stadt Matsudo mehrmals direkt angesprochen und aufgefordert, die Meinungen der Fachkräfte bitte an die entscheidenden Stellen innerhalb der Stadtverwaltung weiterzutragen. Statt realitätsferne Pläne auszuarbeiten, solle die Stadtverwaltung näher am Feld arbeiten und konkrete Initiativen hervorbringen. Zudem wurde eine Eindämmung von geldverschwenderischen Tendenzen gefordert.
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Derartige Kritik an Staat und Stadt scheint generell den Kern der Sitzungen der senmonbukai einzunehmen. Der die Sitzung leitende Arzt stellte im Anschluss an die Fallbeispiele den aktuellen Schuldenstand Japans sowie Voraussagen über das enorme Anwachsen von Sozialversicherungsansprüchen vor. Hieraus schlussfolgerte er, dass man von Seiten der staatlichen Verwaltung in Zukunft nicht viel Unterstützung erwarten könne. Die Einführung des »Systems lokaler und inklusiver Betreuung« wird dabei als Ausdruck eben dieser Entwicklung verstanden. Denn hinter der Betonung von Konzepten der Selbsthilfe ( jijo) und der gegenseitigen Hilfe (gojo) vermutete der Arzt (*) »die Absicht, die Verantwortung der staatlichen Verwaltung zu vermindern«. Diesem kritischen Verständnis der aktuellen Veränderungen des japanischen Wohlfahrtssektors folgend betonte er zum Abschluss der Sitzung die Bedeutung der lokalen Ebene. Man müsse auf der lokalen Ebene unabhängig von der eigenen Organisationszugehörigkeit zusammenrücken und dann eben auch in Eigenregie endlich ein funktionsfähiges Wohlfahrtssystem schaffen. Dazu gehöre vor allem den Austausch zwischen den verschiedenen Organisationen zu optimieren, um auf diese Weise bereits auf der lokalen Ebene Praktiken der Geld- und Zeitverschwendung zu vermeiden. Aus diesem Grund wurde am Ende des Treffens auch entschieden, anzufragen, ob man die Minsei-iin in die Arbeit der senmonbukai integrieren könne. Im Ergebnis ergibt sich das paradoxe Bild einer von der Stadt geschaffenen Freiwilligengruppe, welche in ihren Treffen vor allem Kritik an der Arbeit staatlicher Institutionen übt. Interessanterweise erläuterte mir der den Vorsitz innehabende Arzt, dass er sich die Bildung einer solchen Gruppe von unten heraus, also ohne die anfängliche Initiative der Stadt, trotzdem nur schwer vorstellen könne. Dies wird von der sozialwissenschaftlichen Forschung zu den ab den 1980er und 1990er Jahren aufkommenden Freiwilligenbewegungen in Japan bestätigt (vgl. u.a. Avenell 2010; Reimann 2010). Die japanische Zivilgesellschaft wird dabei als von oben gefördertes Projekt dargestellt, in dem sich der japanische Staat als ein flat state auffasst, dessen Aufgaben hauptsächlich in der Koordinierung
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und Organisation der nötigen Dienstleistungen, jedoch nicht auf der ausführenden Seite liegen (vgl. MHLW 2013e). Das Ergebnis der kritischen Arbeit der senmonbukai, in Zukunft von sich aus ein effizientes lokales Netz zu schaffen, scheint insofern dem eigentlichen Sinn der Gründung der Organisation nahezukommen. In dieser Hinsicht werden mit lokaler Inklusion verschiedene Herrschaftsstrategien bezeichnet, die die Verantwortung einer sich selbst regulierenden und kontrollierenden lokalen Ebene betonen. Diese These werde ich im abschließenden Kapitel ausführen und stärker theoretisch verankern.
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7. Theoretische Reflexion
In diesem abschließenden Kapitel werde ich das sich in der gesellschaftlichen Problematisierung der einsamen Tode darstellende Verhältnis von staatlichen Herrschaftsstrategien, der Ebene der Subjekte und zwischen diesen beiden Ebenen vermittelnden intermediären Organisationen in den Vordergrund rücken. Die im Feld sichtbar werdenden Machtverhältnisse möchte ich dabei als Gouvernementalisierung der lokalen Ebene interpretieren, womit ich die Wirkung von über gesellschaftliche Diskurse internalisierten Herrschaftsstrategien ansprechen werde. Diese an Michel Foucault orientierte Analyse wird in der Folge in die Bereiche Überwachung, Aktivierung und Subjektivierung aufgeteilt.
7.1 Ü berwachung In »Überwachen und Strafen« beschreibt Foucault (1976) die Herausbildung der Disziplinargesellschaft als mit dem Zeitalter der Moderne einhergehenden Prozess. Die Entwicklung und allgemeine Ausbreitung von Disziplinaranlagen sei die »dunkle Kehrseite« (ebd.: 285) des Siegeszugs von industrieller Revolution und Kapitalismus auf der einen (vgl. ebd.: 288) sowie der Herausbildung eines von einem parlamentarischen Regierungssystem gestützten Rechtsstaats auf der anderen Seite (vgl. ebd.: 284-285). Das von Foucault in diesem Kontext etablierte Machtkonzept betrachtet Macht dabei »nicht so sehr [als] etwas, was jemand besitzt, sondern vielmehr [als] etwas, was sich entfaltet« (ebd.: 38), so dass die Unter-
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scheidung in Machtausübende und Unterworfene nicht mehr im Vordergrund der Betrachtung steht. Trotz dieses anonymisierten Machtverständnisses behandelt Foucault staatliche Herrschaftstechniken weiterhin als hauptsächlichen Ursprung dieser sich in der Gesellschaft und über die Subjekte ausbreitenden Machtstrategien. Die moderne Disziplinargesellschaft zeichne sich dabei darüber aus, dass »die Ausübung der Macht möglichst geringe Kosten verursachen« (ebd.: 280) und die Macht möglichst intensiv wirken bzw. zur Steigerung der gesellschaftlichen Leistungsfähigkeit genutzt werden solle (vgl. ebd.). Bezogen auf die Thematik der einsamen Tode lassen sich in der japanischen Gesellschaft vergleichbare Disziplinierungstechnologien erkennen. Ausgehend von der Auffassung eines einsamen Todes als einem sozial unerwünschten Tod, welcher »[im Allgemeinen] als Ausnahmephänomen aufgefasst werde« (MHLW 2008a: 5*) und eine hohe »wirtschaftliche wie menschliche Bürde« (ebd.*) darstellen könne, werden in verschiedenen von staatlichen Institutionen herausgegebenen Berichten Handlungsoptionen für Einzelpersonen oder lokale Gemeinschaften erarbeitet. Zum einen zielt der in derartigen Berichten auftretende Entwurf einer Gesellschaft, die soziale Desintegration und Isolation verhindert, auf die Herstellung von eigenverantwortlich handelnden, normalisierten und selbstdisziplinierten Körpern ab (vgl. Kapitel 7.3). Zum anderen werden aber auch Konzepte für die aktive Kontrolle der Subjekte angeboten, was die Akkumulation von Wissen über ihr Leben und ihren Gesundheitszustand umfasst – bei Foucault als Bio-Wissen bezeichnet. In dieser Hinsicht müssen ständig Informationen über potentielle Opfer – d.h. alleinlebende alte Menschen oder isoliert lebende Menschen – gesammelt und ausgewertet werden, um das Risiko des Auftretens neuer einsamer Tode kontrollieren zu können. Die im vorangegangenen Kapitel vorgestellte Praxis des mimamori kann meiner Meinung nach als Kernelement dieser Überwachungsstrategien interpretiert werden. In einem einflussreichen, im Jahr 2008 vom MHLW herausgegebenen Bericht zum Umgang mit der steigenden Zahl von einsa-
7. Theoretische Reflexion
men Toden (koritsushi) wird in diesem Sinne eine »Überwachung der Nachbarschaft« (MHLW 2008a: 16*) gefordert, an der zwar auch Polizei und Feuerwehr (vgl. ebd.: 17) beteiligt sind, der Staat ansonsten jedoch weitestgehend nicht selbst als Ausführender auftreten solle. Stattdessen wird das Bild einer »von den Bewohnern ausgehenden [Selbst-]Überwachung« (ebd.: 16*) gezeichnet, welche unter anderem von Zeitungsboten, den lokalen Angestellten von Paketdiensten, den Briefträgern und natürlich der untereinander kommunizierenden und sich gegenseitig Hilfe anbietenden Bewohnerschaft selbst getragen wird. In diesem Sinne würden sich die Überwachungs- und Disziplinierungsstrategien verselbstständigen und von staatlichen Trägern unabhängig werden, anstatt im Stile einer offiziellen Geheimpolizei weiterhin im Staat eingegliedert zu sein. Diese Anonymisierung und Verselbstständigung von zuvor staatlich geförderten Herrschaftsstrategien zeigt sich im Feld in der Durchführung von Nachbarschaftspatrouillen und in der Ausarbeitung eigener Leitlinien für eine gelungene nachbarschaftliche Überwachung. Das sich bildende komplexe Netz von sich gegenseitig informierenden lokalen Akteuren ist gleichzeitig von einer zunehmend hierarchisierten Überwachung geprägt, da die lokalen Organisationen teilweise abhängig von oder berichtungspflichtig gegenüber übergeordneten (halb-)staatlichen Organisationen sind. Auf diese Art formt sich ein Geflecht der Überwachung, was man mit Foucaults (1976: 229) Worten als »lückenloses System kalkulierter Blicke« bezeichnen könnte. Auf ähnliche Weise lässt sich auch die im Feld beobachtete Maßnahme der »Sicherheitsregistrierungskarte« interpretieren. Diese enthält personenbezogene Informationen über Krankheiten und Wohnsituation und stellt insofern den Anfang einer Bürokratie des Kampfes gegen einsame Tode dar. Teilweise sensible persönliche Informationen werden an die Verantwortlichen des lokalen Projekts weitergegeben und von diesen in einem Safe im Büroraum verwahrt. Auf diese Weise bezeugen die Registrierten ihren Willen zur Aufgabe von persönlicher Freiheit, um eine einsame Tode vermeidende Nachbarschaft aufzubauen. Die lokale Ebene wird dabei
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zu einer transparenten Nachbarschaft, in der Foucaults Verständnis des »Disziplinarblicks« folgend versucht wird, die »Instanzen der Disziplin [zu] streuen, um ihre Produktivität zu erhöhen« (ebd.: 225). Die Frage, inwieweit Bewohner durch sozialen Druck zu einer Teilnahme an der Maßnahme und damit zu einer Abgabe persönlicher Informationen bewegt werden, werde ich jedoch nicht ansprechen können. Der sich hier abzeichnende Konflikt zwischen effektiven Maßnahmen gegen soziale Isolation und einsame Tode einerseits und der Achtung der individuellen Freiheit und Privatsphäre andererseits stellt eine zentrale Herausforderung für die Arbeit der lokalen Organisationen dar (vgl. NHK 2007: 85; Kanno 2013: 119). Nach Aoyagi (vgl. 2008: 103) sei das Phänomen der einsamen Tode als Spiegel des grundsätzlichen Problems zu verstehen, wie in einer Gesellschaft, die den Wert der Privatsphäre immer mehr schätze, funktionierende Nachbarschaftsnetzwerke aufgebaut werden können. Tanaka (2010*) weist daher das kritische Bild der »Oma [von nebenan], die ihre Nase in die Angelegenheiten Anderer steckt« ab und fordert den Staat auf, ein gesellschaftliches Klima ähnlich dem der 1950er und 1960er Jahre zu schaffen, in dem es viele solcher »Omas« und deswegen keine einsamen Tode gegeben hätte. Auch Herr T nutzte eine ähnliche Argumentation und erklärte, dass Gesetze zum Schutz personenbezogener Daten Phänomene wie den Rückzug einzelner Personen aus dem gesellschaftlichen Leben und einen auf derartige Tendenzen der Abschottung folgenden einsamen Tod sogar forcieren könnten.1 In der Vergangenheit, als Konzepte wie otagaisama oder mukôsangenryôdonari eine größere gesellschaftliche Bedeutung besessen hätten, seien persönliche oder familiäre Probleme öffentlich sichtbar und allgemein bekannt gewesen. Deshalb habe es keine kodokushi geben können. In diesem nostalgischen Blick wird der Einfluss des Narrationsmusters vom Niedergang der Gemeinschaft in der Moderne – bei 1 | In Japan wurde dieses kojinjôhôhogohô genannte Gesetz im Jahr 2003 verabschiedet.
7. Theoretische Reflexion
Ishida et al. (2010) als »deprivation« bezeichnet – deutlich. Der moderne Individualismus und die Entfremdung des Menschen aus seiner natürlichen Gemeinschaft werden als Ursache für soziale Isolation in der Nachbarschaft interpretiert. Die moderne Gesellschaft kann dabei als kühler und loser Zusammenschluss von Individuen verstanden werden, während die auf gegenseitiger Hilfe beruhenden Beziehungskonzepte der Vergangenheit für eine eng zusammenhaltende Gemeinschaft stehen würden. Dabei fällt auf, dass Elemente des klassischen Gemeinschaftskonzepts zwar aufoder übernommen werden, dann jedoch vom modernisierungstheoretischen Hintergrund gelöst und umgedeutet werden. So wird die Gemeinschaft zunächst durchaus als individuelle Freiheiten einschränkend und tendenziell restriktiv beschrieben. Dies wird jedoch nicht negativ als etwas Vormodernes oder Rückständiges aufgefasst, sondern im Gegenteil als Ideal eines disziplinierten und moralischen Wertvorstellungen entsprechenden Zusammenlebens dargestellt. In dieser Verknüpfung der Konzepte von traditioneller Gemeinschaft auf der einen und moderner Disziplinargesellschaft auf der anderen Seite bleibt der Staat jedoch im Hintergrund, während die Nachbarschaftsgemeinschaft aktiviert wird, sich selbst zu überwachen bzw. sich selbst zu regieren.
7.2 A k tivierung Schon bezogen auf die beschriebenen überwachenden Maßnahmen beschränken sich die staatlichen Institutionen vor allem auf die Erstellung von Leitfäden oder auf eine Anschubfinanzierung bestimmter lokaler Projekte, während die eigentliche Umsetzung des Maßnahmenkatalogs weitestgehend ausgelagert wird. Auch die vielen angesprochenen Berichte, die entweder direkt vom MHLW bzw. von einzelnen Fachgruppen (vgl. u.a. MHLW 2008a; 2012; 2014a; 2014b) oder von beauftragten professionellen Forschungsinstituten (vgl. z.B. NRI 2013) herausgegeben werden, stellen zum Großteil nur bereits existente lokale Projekte vor und bieten auf
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diese Weise Problemlösungsstrategien für andere lokale Gemeinschaften an. Erfolgreiche Projekte werden als »Modelle« (MHLW 2008a: 19*) bezeichnet und sollen als nachahmungswürdige Beispiele für Nachbarschaften dienen, die sich bisher noch nicht im Kampf gegen die einsamen Tode auszeichnen konnten. Auf eine ganz ähnliche Weise fördert das MHLW auch den Auf bau des neuen »Systems lokaler und inklusiver Betreuung« (vgl. MHLW 2013f). Die nationalen, präfekturalen und kommunalen staatlichen Institutionen übernehmen in diesen Prozessen eine koordinierende und planende Rolle, während die nicht- bzw. halbstaatlichen Akteure der lokalen Ebene den Auf bau eines funktionierenden Systems zu großen Teilen selbst umsetzen müssen. Dies interpretiere ich in der Folge als Herrschaftsstrategie eines aktivierenden Staates. Dieser möchte im Hintergrund wirken, während die lokale Ebene von aktiven, autonomen und eigenverantwortlich handelnden Bürgern bevölkert wird, die eigene soziale Netzwerke auf bauen und sich um lokale Belange kümmern können. Das in diesem Zusammenhang deutlich werdende Aktivitätsideal habe ich in meiner Analyse als Ergebnis eines Zusammenflusses verschiedener diskursiver Quellen dargestellt. Erstens finden sich in der Geschichte der japanischen Gesellschaft spätestens seit der forcierten Modernisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder Tendenzen zur Auslagerung der Verantwortung für (lokale) Wohlfahrtsdienstleistungen an Familie oder Nachbarschaft. Dies wurde bereits in der Vorkriegszeit mit dem Verweis auf Konzepte traditionell japanischer Bindungsmuster begründet. Besonders sichtbar werden diese Zusammenhänge jedoch ab den späten 1950er Jahren in der Frühphase der damals neuartigen danchi. Das Wohnen in den danchi wurde als modernes, westliches Wohnkonzept aufgefasst und mit der Gefahr verstärkter Individualisierungsprozesse in Verbindung gebracht. Wie gezeigt wurde, schlug die Vermietungsgesellschaft der Tokiwadaira Danchi hinsichtlich des Risikos einer zunehmenden Abschottung und Verwahrlosung ihrer Bewohner schon damals vor, traditionelle Formen japanischer Gemeinschaftlichkeit wiederzu-
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beleben. Dies gleicht heutigen Konzepten gegen einsame Tode und den Zerfall der lokalen Gemeinschaft teilweise bis in den Wortlaut. Hierüber wird gut erkennbar, wie das Traditionelle in der modernen japanischen Gesellschaft immer wieder neuerfunden und neukonstruiert wird. Der in diesem Konstruktionsprozess wirksame historische Vergleich kann sich dabei auf unterschiedliche historische Epochen beziehen. Während populärwissenschaftliche Veröffentlichungen vielfach auf eine nicht klar verortete vormoderne Gemeinschaft rekurrieren, wurde im Feld oftmals nostalgisch auf die 1960er und 1970er Jahre verwiesen. Unabhängig vom genauen historischen Bezug wird in beiden Fällen das Bild einer traditionellen japanischen Nachbarschaftsgemeinschaft gezeichnet, in der die Bewohner aktiv am nachbarschaftlichen Leben teilnehmen, einander grüßen und sich gegenseitig helfen. In einem derartigen Zusammenleben würde auch gemerkt werden, wenn etwas in den Nachbarwohnungen nicht stimmen würde oder ältere Bewohner tagelang nicht zu sehen wären. Die Mitglieder dieser traditionellen Gemeinschaft würden füreinander sorgen und auch die Alten wären in das Kollektiv eingebunden, wohingegen die moderne westliche Gesellschaft, die von einem zu Egoismus führenden Individualismus gekennzeichnet sei, negativ interpretiert wird. Zweitens spiegelt die Betonung des Aktivitätsideals im japanischen Kontext auch die globale Ausbreitung verschiedener postmodern oder neoliberal genannter Herrschaftstechniken wider, in denen die Eigenverantwortung der Subjekte und ihre gesellschaftliche Partizipation betont wird. Wie ich im vorherigen Kapitel beschrieben habe, war die Einführung dieser Techniken in Japan stark von Entscheidungen auf der Ebene der supranationalen Politik beeinflusst. Da diese neue Art der (Selbst-)Herrschaft sowohl auf eine effizientere Form von Regierung abzielt als auch auf »Partizipationsbedürfnisse der Bürger« (Haufe/Fojanty-Jost 2011: 91) eingeht, wurde sie nicht nur von bestimmten politischen Parteien oder gesellschaftlichen Schichten geteilt, sondern schnell zum Kern eines neuen gesellschaftlichen Konsens (vgl. auch Rose 2000: 78). In diesen Prozessen sei ein spezielles Verständnis des Marktes zum
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»Organisationsprinzip des Staates und der Gesellschaft« (Lemke et al. 2000: 15) geworden, sodass nun sowohl soziale Netzwerke oder individuelles Verhalten als auch die Regierung selbst nach ökonomischen Kriterien beurteilt werden können (vgl. ebd. 16-17). Diese Übernahme des ökonomischen Prinzips, das einen mündigen, aktiven und rational agierenden Akteur als gesellschaftliche Grundeinheit festlegt, geht bei Rose (2000: 82) einher mit der Etablierung eines »neu abgesteckte[n] Raum[s] des Regierens«. Diese neue Regierungsmethode, die sich nach und nach »in fast allen hoch entwickelten Industrieländern« (ebd.: 72) ausgebreitet habe, nennt er »Regieren durch Community« (ebd.: 81), womit die vielfache Betonung der Gemeinschaft zur Mobilisierung und Integration gesellschaftlicher Potentiale gemeint ist. Gemeinschaft bezeichnet dabei nicht unbedingt eine räumlich definierte nachbarschaftliche Gemeinschaft, sondern kann sich auch auf Überzeugungs- und Habitusgemeinschaften oder Betroffenengruppen beziehen (vgl. ebd.: 82). Bezogen auf Wohlfahrtsfragen werde jedoch vielfach versucht, Nachbarschaften als lokale Gemeinschaft festzulegen, wodurch auch deutlich wird, dass die Bewohner auf ihre Zugehörigkeit zu der vermeintlich natürlich entstandenen Gemeinschaft »erst aufmerksam gemacht werden müssen« (ebd.: 85). Der Vorzug der Gemeinschaft vor der Nation bzw. vor der Gesellschaft soll den Individuen insbesondere auch neue Möglichkeiten der Identifikation bieten: »Die ›Community‹ offeriert eine Beziehung, die weniger ›abgehoben‹ und ›unmittelbarer‹ erscheint, die sich nicht im ›künstlichen‹ politischen Raum der Gesellschaft abspielt, sondern sich in einem Gespinst der Affinitäten zur Geltung bringt, das allemal natürlicher erscheint.« (Ebd.: 84)
Rose nimmt demnach den in den klassischen Modernisierungstheorien verwendeten Gegensatz zwischen einer kalten und künstlichen Gesellschaft und einer natürlich gewachsenen und auf emotionale Nähe auf bauenden Gemeinschaft auf und wendet ihn aktiv auf moderne politische Programme an. Die neuen Identifikations-
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möglichkeiten, die durch eine Ablösung der Gesellschaft durch die neuen Gemeinschaften entstehen würden, könnten sich demnach auf die Herausbildung einer neuen Solidarität – als »Ausdruck für das Bewusstsein des Integrationsproblems in modernen Gesellschaften« (Shimada/Tagsold 2006: 39) – innerhalb des Kollektivs auswirken. Voraussetzung hierfür ist eine Krisensituation wie die des chronisch kriselnden Sozialstaats (vgl. ebd.: 41), die sich – mit Durkheim gesprochen – in sozialen Ungleichheiten oder anomischen Zuständen zeigen und so die Herausbildung des Ideals der organischen Solidarität aufhalten könnte (vgl. Thompson 1982: 8083). Demgegenüber versprechen die neuen Gemeinschaften »solidarity derived from likeness« (ebd.: 77), womit bei Durkheim noch die in vormodernen Zusammenschlüssen anzufindende mechanische Solidarität charakterisiert wurde. Durch diesen Vergleich tritt die Nutzung des Traditionellen zur wertenden Beschreibung oder Legitimierung der neuen Gemeinschaften deutlich hervor. Im Falle der Konstruktion einer chiiki in der Tokiwadaira Danchi wird diese homogene Zusammensetzung der Bewohner – bezogen auf die Altersstruktur oder das ähnliche Einkommensniveau – auch als Hauptgrund für den Erfolg des lokalen Projekts gesehen (vgl. u.a. Yûki 2008: 52-53). Trotzdem gilt zu fragen, inwieweit die nach innen wirkende Solidarität der Gemeinschaften Auswirkungen auf das Verhältnis zu Nicht-Gemeinschaftsmitgliedern der größeren Gesellschaft haben kann. In dieser Hinsicht scheint sich die neue Solidarität primär auf die lokale Nachbarschaft zu beschränken und damit partikularistischer Natur zu sein. Gleichzeitig wird im Feld aber aktiv versucht, die öffentliche Aufmerksamkeit gegenüber der Problematik der einsamen Tode im größeren gesellschaftlichen Rahmen zu steigern, was wie der Ansatz einer Erweiterung der lokal beschränkten Solidargemeinschaft wirkt. Möglicherweise solle Japan in dieser Hinsicht durch unzählige lokal gegen einsame Tode und den Zerfall traditioneller Sozialbeziehungen ankämpfende Gemeinschaften geeint werden. Im Feld spielte der Begriff der Solidarität selbst aber keine Rolle. Dies sei für gesellschaftspolitische Debatten zu Wohlfahrtsthemen
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in Japan aber durchaus typisch (vgl. Shimada/Tagsold 2006: 156). Auch die über Regierungsprogramme transportierten Begriffe wie »gesellschaftliche Partizipation« oder »Inklusion« fanden in dem lokalen, von unten kommenden Projekt gegen einsame Tode keine Anwendung. Stattdessen wurde hinsichtlich des (Wieder-)Auf baus der nachbarschaftlichen Gemeinschaft auf das Konzept einer traditionell japanischen Gemeinschaftlichkeit verwiesen. Hierzu gehören das immer wieder auftretende Prinzip der guten Beziehungen zu den zwei angrenzenden und den drei gegenüberliegenden Nachbarn (mukôsangenryôdonari) oder abstrakte Konzepte der gegenseitigen Hilfe wie otagaisama oder sasaeai. Letztere wurden zwar auch in Regierungsleitlinien genannt und unter dem Ausdruck gojo zusammengefasst (vgl. MHLW 2013a), doch auch dieser Ausdruck fand in der Praxis keine Anwendung. Die offiziellen Benennungen finden auf der lokalen Ebene demnach tendenziell keinen Anklang – vielleicht weil sie zu abstrakt oder aufgrund vorangegangener Übersetzungsprozesse aus ausländischen Sprachen zu fremd wirken. Interessanterweise waren aber einige der stattdessen verwendeten älteren Bezeichnungen bereits Bestandteile von Regierungsprogrammen aus der Vorkriegszeit. Diese Hintergründe werden jedoch in der Regel nicht beachtet, da die Konzepte mit einer äußerst positiv konnotierten Traditionalität belegt sind. Der eigentliche Widerspruch zwischen der traditionellen Gemeinschaftlichkeit auf der einen und der modernen Regierungsmethode der »Regierung durch Community« auf der anderen Seite wird dabei übersehen. Während erstere Motive der Selbstentfaltung dem Fortbestand des Kollektivs unterordnet, setzt letztere das Konzept eines reflektiert, unabhängig und selbstständig handelnden Subjekts voraus. Die Verschränkung von beiden Seiten im Feld zeigt jedoch, dass die »Regierung durch Community« für die Aktivierung der Potenziale aller Individuen den Rekurs auf die traditionelle Gemeinschaft benötigt. Aus diesem Grund werden immer wieder Konzepte einer traditionellen japanischen Gemeinschaft rekrutiert, um die aktuelle Aktivierung der lokalen Ebene zu begründen. Die komplexe Idee der aktivierten und inklusiven lokalen
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Ebene, die über globale Diskurse nach Japan gelangte, wird somit in der Praxis mit dem Verweis auf das Traditionelle verbunden. Am Beispiel des Versuchs der Jichikai, die Tokiwadaira Danchi über die Nutzung des Wortes furusato als ursprüngliche Gemeinschaft zu etablieren, lassen sich diese Zusammenhänge gut veranschaulichen. Wie besprochen, wurde über das Konzept des furusato seit dem späten 19. Jahrhundert immer wieder versucht, die Idee der Sehnsucht nach einem ländlich und traditionell geprägten Heimatort für unterschiedliche Zielsetzungen zu verwenden. In der Tokiwadaira Danchi wird gegenwärtig auf das Wort furusato verwiesen, um den Auf bau einer von gegenseitiger Unterstützung und Mitgefühl geprägten Nachbarschaft zu legitimieren und zu fördern. Zu diesem Verständnis von Heimat gehört auch die aktive Schaffung von »Erinnerungsorten« (Nora 2005) innerhalb der danchi. Dies bezieht sich zum einen auf physische Orte wie Statuen oder Denkmäler, zum anderen auf die regelmäßig stattfindenden Veranstaltungen in der Nachbarschaft. Diese erhalten durch die Bezeichnung als matsuri teilweise sogar einen traditionellen Charakter, da mit matsuri in der Regel die an lokale Riten anknüpfenden Feierlichkeiten eines Schreins oder Tempels benannt werden. Derartige lokale Praktiken und ihre Bedeutung für die Nachbarschaft werden auch in den bereits erwähnten Sonderbänden mit dem Titel »Heimat Tokiwadaira« ( furusato tokiwadaira) vorgestellt (vgl. TKWD Jichikai 2011; 2012a). Auf dem Titelbild eines Sonderbandes ist eine von sattgrünen Bäumen gesäumte Allee innerhalb der danchi zu sehen, wodurch die in dem Wort furusato anklingende Bedeutung von Heimat als dörflichem Ursprung, in dem die Bewohner mit der Natur im Einklang leben, ausgedrückt wird. Das Verständnis der danchi als ursprünglicher Heimat geht dabei so weit, dass sogar Umbaumaßnahmen mit der Verweis auf den Schutz der Naturbelassenheit der Siedlung abgelehnt werden: »Es geht nicht nur [um Mieterhöhungen], sondern im Falle dieser Wohnsiedlung würde man die naturbelassenen Stellen abholzen, zu Bauland machen
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und dann Wohnungen bauen. Und so würde auch das Grün [d.h. die Natur] zerstört werden. Auch dies ist ein Problem. So kann man hier nicht in Ruhe weiterwohnen. Es würde Mieterhöhungen geben. Und die Grünflächen würden wegfallen.« (Interview Herr N*)
Die ehemals modernen new towns erhalten somit die Konnotation des Natürlichen und Traditionellen, was wiederum dafür benötigt wird, um die Bewohner zur Übernahme von Aufgaben der Überwachung der Nachbarschaft und der Betreuung von Alten zu aktivieren. Dieser Versuch der Etablierung der danchi als Heimat auf der Ebene des Feldes steht dabei im Widerspruch zur kritischen Sicht auf die gegenwärtige Situation in den früheren new towns im medialen Diskurs. In der relevanten Literatur wird dies daher unter dem Begriff der »Schaffung einer Heimat« ( furusatozukuri) als typische Strategie zum Aufhalten des Niedergangs der danchi zusammengefasst (vgl. z.B. Danchi Saisei Kenkyûkai 2012: 19). Im Falle der Tokiwadaira Danchi ist jedoch auffällig, dass das Konzept des furusato mit der Vision eines lokalen Wohlfahrtssystems verbunden wird, welches von Mitgefühl (omoiyari) und gegenseitiger Hilfe getragen werden solle. So erinnert die Vision des lokalen Projekts an die idealisierte Vorstellung einer vormodernen Gemeinschaft, in der die Frage nach der Fürsorge für die Alten aufgrund der existenten natürlichen Sicherungsnetze nicht gestellt werden musste. In der Folge wurde dieser positiv besetzte Gemeinschaftsgedanke auf die danchi übertragen. Neben der Umbenennung und Umformung von über Regierungsprogramme an die lokale Ebene herangetragenen Konzepten, finden sich auch offen kritische Stimmen bezüglich der ausschließlich aktivierenden Rolle des Staats. Beispielsweise beklagte sich Frau O über die schwierige finanzielle Situation der Jichikai und an einer anderen Stelle über Schwierigkeiten im Bewerbungsprozess für den Erhalt staatlicher Unterstützungsgelder. In diesem Sinne wird von verschiedenen Autoren gefordert, dass man sich in Wohlfahrtsfragen nicht nur auf gegenseitige Hilfe (gojo) verlassen könne, sondern auch mehr direkte kôjo, also öffentliche oder staatli-
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che Hilfe notwendig sei (vgl. z.B. Kôbe-shi 2008: 68). Während der Teilnahme an der Sitzung der senmonbukai der Renrakukai wurde jedoch von Seiten des die Sitzung leitenden Arztes klar gestellt, dass dies aufgrund des aktuellen großen Staatsdefizits nicht erwartet werden könne. Diese nüchterne Sicht der Dinge schien im Feld weit verbreitet zu sein, sodass eigene Versuche des Auf baus einer von unten geformten Gemeinschaft die logische Konsequenz darstellten. In gewisser Weise kommt jedoch gerade das einer erfolgreichen Umsetzung der staatlichen Herrschaftstaktik gleich, da die lokale Ebene zur Aktivierung ihrer Potenziale gebracht wurde.
7.3 S ubjek tivierung Diese Aktivierung funktioniert vor allem deswegen so erfolgreich, weil die Akteure des Feldes sich selbst dafür verantwortlich erklären, auf die Bedrohung ihrer Gemeinschaft durch einsame Tode reagieren zu müssen. Auch wenn dies im Feld – wie oben beschrieben – eher pragmatisch begründet wurde, möchte ich dies mit der Internalisierung von Macht- und Disziplinierungsstrategien in Verbindung bringen. Die Akteure im Feld verknüpfen die zuvor eher abstrakt und unklar wirkenden politischen Konzepte mit bestimmten Regeln und Moralvorstellungen und übersetzen sie somit in die Praxis. In der Folge adressieren sie sich selbst als diejenigen, die die lokalen Probleme lösen und neue Handlungsstrategien entwerfen müssen. Dabei kontrollieren die Bewohner sich nicht nur gegenseitig – wie bezogen auf die Überwachungspraktiken deutlich wurde – sondern sie überwachen auch jeweils sich selbst über die Verinnerlichung von Strategien der Selbstsorge und -pflege. Über die Subjektivierung der Machtstrategien werden die Subjekte zu Objekten ihrer eigenen Normierung und Bewertung (vgl. Foucault 1976: 247; 260). Wenn den danchi-Bewohnern in den regelmäßig erscheinenden Lokalzeitungen oder durch die in der danchi aufgestellten Schilder erklärt wird, dass »einander zu grüßen« die Voraussetzung für ein
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funktionierendes Miteinander und Teil der traditionellen japanischen Kultur sei, wird genau diese subjektive Ebene angesprochen. Vielleicht beginnen Bewohner nun damit, die Handlungen anderer und die eigenen Handlungen anhand dieses Leitprinzips zu bewerten. Realisiert der Bewohner dann, dass er seine Nachbarn nicht grüßt, die Teilnahme an Aktivitäten der lokalen Organisationen vermeidet und sich immer mehr in die eigene Wohnung zurückzieht, wird er dies selbst als schlecht und unnormal kritisieren müssen. Foucaults »Disziplinarblick« trifft somit auch die Anderen, aber vor allem das Subjekt selbst, was eine normalisierende und homogenisierende Wirkung haben kann (vgl. ebd.: 237; Schröter 2009: 371). Die Handlungen der Subjekte werden somit für die staatliche Regierung berechen- und kontrollierbarer. Andererseits führen die internalisierten Vorstellungen eines guten Lebens oder einer guten Nachbarschaft auch dazu, dass die Subjekte sich selbst regieren können, so dass die staatliche Regierung sich zugunsten dieser Regierung des Selbst zurückziehen kann. Ogawa (2009: 93) beschreibt in seiner Studie einer japanischen NPO ganz ähnliche Prozesse und spricht von einer »self-disciplined subjectivity«, welche durch die staatliche Förderung von freiwilliger Wohlfahrts- und Sozialarbeit entstehe. Die japanischen Bürger würden in dieser Hinsicht dazu erzogen werden, den Staat bzw. das System zu stützen und zusammen dem Gemeinwohl zu dienen (vgl. ebd.: 145): »[…] volunteers subconsciously became enablers of the system, not fully aware that they were recruited and manipulated by the government into becoming part of the existing social structure in order to compensate for the government’s insufficiencies.« (Ebd.: 105)
Meine Erfahrungen im Feld zeigen, dass diese Beziehungen den lokalen Akteuren jedoch durchaus bewusst waren, sie aber dennoch keine andere Chance sahen, als den von oben kommenden Auftrag des Auf baus eines lokalen Betreuungssystems anzunehmen. In dieser Interpretation erscheint die vom Staat geförderte »gesell-
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schaftliche Partizipation« der Bewohner nicht mehr wie ein Weg zu individueller Selbstentfaltung, sondern erklärt sich aus der wirtschaftlichen Situation des Staats einerseits und aufgrund des Mangels an Alternativen für die lokalen Akteure andererseits. In diesen Prozessen unterlaufen verschiedene zentrale Bezeichnungen einen teilweise radikalen Bedeutungswandel. Ogawa zeigt dies für das Beispiel des Wortes shimin – japanisch für »Bürger« – welches sich in seiner Bedeutung von »free spirits« (ebd.: 145) zu »duty-driven people« (ebd.) gewandelt habe. Etwas Vergleichbares lässt sich für Konzepte wie »die Würde des alten Menschen«, »Selbstbestimmung« oder »ein dem Selbst entsprechendes Leben« beschreiben, welche in der vom Staat geförderten Vision eines »Systems der lokalen und inklusiven Betreuung« angesprochen werden. Diese entwickeln sich somit von einem individuellen Recht zu einer Verpflichtung für den Einzelnen. »Würde« wird in dieser Hinsicht von etwas, das der Staat für das Individuum schützen und garantieren muss, zu etwas, das vom Individuum erbracht werden muss. Durch die Verbindung der Konzepte mit der Strategie der Aktivierung wird ein Leben ohne die Teilnahme an lokalen Aktivitäten daher zu einem »nicht dem Selbst entsprechenden Leben«, ein Tod in sozialer Isolation wird zu einem würdelosen Tod. Der Staat sorgt dabei nur noch für die Rahmenbedingungen des Auf baus einer funktionierenden Nachbarschaftsgemeinschaft und liefert damit das nötige back-up, so dass es schließlich am Individuum selbst liegt, ob es ein selbstbestimmtes oder würdevolles Leben führen bzw. einen guten und würdevollen Tod sterben kann. Die von den staatlichen Institutionen verwendeten Konzepte werden in ihrer Bedeutung an das Ideal eines aktiven Bürgers angepasst, der »als Koproduzent öffentlicher Leistungen« (Schroeter 2009: 363) auftritt. Weil dieses Ideal mit positiv besetzten Konzepten wie »Würde« und »Selbstbestimmung« verknüpft wird, erscheint es konsensfähiger und kann zum Integrationsmechanismus für die lokale Ebene werden. Im Gegensatz dazu werden negativ geprägte Bezeichnungen wie »Eigenverantwortung« ( jikosekinin) eher selten als explizite zentrale Konzepte verwendet, sondern durch positive
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Begriffe wie »Autonomie« ( jiritsu) oder »gesellschaftliche Partizipation« ersetzt. Nach Schroeters (vgl. ebd.: 366) Theorie des doing age haben die über gesellschaftliche Diskurse verbreiteten Herrschaftstechniken oder Machtstrategien jedoch sowohl eine integrative als auch eine repressive Wirkung. Mit doing age bezeichnet er dabei die »Herstellung (Konstruktion) von Altersdifferenzen […], die nicht natürlich oder biologisch sind, die jedoch sobald sie erst einmal konstruiert sind, wie real existierende Tatbestände behandelt werden« (Schroeter 2008: 13). Denn über die internalisierten Vorstellungen eines guten oder erfolgreichen Alters können alle alten Bewohner, welche sich nicht aktiv am sozialen Leben in der Nachbarschaft beteiligen und sich stattdessen in ihre Wohnungen zurückziehen, als unerfolgreich Alternde kritisiert und weiter ausgegrenzt werden. Dies wird dadurch verstärkt, dass auch die beobachteten Maßnahmen des lokalen Projekts gegen einsame Tode vor allem die bereits gut eingebundenen und aktiven Bewohner ansprechen. Den isoliert lebenden Bewohnern, die eigentlich zu Problemfällen erklärt wurden, wird dagegen kaum geholfen. Beispielsweise könnte man sich auch Hilfsmaßnahmen für an Alkoholismus leidende Senioren vorstellen. Stattdessen werden diese von möglicher Hilfe gegen ihre soziale Isolation – wie dem ikiiki saron – ausgegrenzt und als soziale Verlierer dargestellt. Ich denke jedoch, dass ihnen nur durch den Hinweis darauf, dass Alkoholismus gesundheitsschädigende Folgen haben kann und Tendenzen der Vereinsamung verschärfen kann, wenig geholfen wird. In dieser Hinsicht wird auch über die Arten der angebotenen Maßnahmen die Konstruktion von Differenzen zwischen erfolgreich und unerfolgreich gealterten Bewohnern der danchi gut sichtbar. Auf der anderen Seite zeigt sich in diesem Beispiel die Entwicklung eines Inklusionszwangs für den einzelnen Bewohner. Um ein Mitglied der lokalen Gemeinschaft zu werden, muss man sich integrieren und an den lokalen Aktivitäten teilnehmen. Die eigentliche Zielsetzung der Schaffung einer Gemeinschaft, in der man ein selbstbestimmtes oder »seinem Selbst entsprechendes« Leben
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führen könne, kann dabei auf der Strecke bleiben. Möglicherweise wird somit die Exklusion jener Bewohner, die eigentlich inkludiert werden sollten, erneut gefestigt.
7.4 F a zit Die Beschreibung dieser lokalen Regierung des einsamen Todes zeigte, wie sich eine »subjektlose« (Schroeter 2009: 365) Macht in der japanischen Gesellschaft ausbreitet. Die mit dieser Macht verknüpften Regierungstechnologien und Herrschaftsstrategien werden dabei »nicht qua Dekret verordnet« (ebd.: 373), sondern sollen sich über konsensfähige Konzepte verbreiten, so dass sie eher unbewusst von den Subjekten internalisiert werden. Die Analyse des Feldes veranschaulichte, wie von staatlichen Institutionen angebotene Konzepte jedoch teilweise nicht angenommen und durch andere Bezeichnungen ersetzt werden. Ein Beispiel hierfür ist der Unterschied zwischen der auf die supranationale Politikebene zurückgehenden Verwendung von Konzepten wie »Inklusion« in Regierungsdokumenten und den auf eine traditionelle Gemeinschaftlichkeit verweisenden Wörtern wie otagaisama oder mukôsangenryôdonari auf der Ebene des Feldes. Im Ergebnis wird jedoch von beiden Seiten ein sehr ähnliches Bild einer vitalen Nachbarschaft mit aktiven und eigenverantwortlich handelnden Bewohnern gefordert. Diese Vision einer lokalen Gemeinschaft konnte mit Hilfe des Konzepts »Regierung durch Community« weiter analysiert werden, sodass Bezüge zu »fortgeschritten liberalen« (Rose 2000: 77) Herrschaftstechniken, welche sich in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts in vielen Industriestaaten ausgebreitet haben, hergestellt werden konnten. In diesem Prozess würde die »Logik des Wettbewerbs« (ebd.: 103) auch den Wohlfahrtsbereich übernehmen, was in Japan bereits durch die Einführung der Pflegeversicherung deutlich wurde. Bezogen auf die Problematik der einsamen Tode wurde zudem sichtbar, dass ein unübersichtliches Netz von lokalen Organisationen ent-
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steht, die teilweise miteinander kooperieren und teilweise in Konkurrenz zueinander stehen. Hierzu gehören Initiativen von Freiwilligen oder Selbsthilfegruppen, profitorientierte Unternehmen und weitere Organisationen, welche »um öffentliche Aufträge und öffentliche Zuschüsse konkurrieren« (ebd.: 13). Diese Organisationen mögen in Teilen sogar nach Unabhängigkeit von der staatlichen Verwaltung streben oder ehemals im Widerstand zu staatlichen Regierungstechniken entstanden sein, jedoch erscheinen sie heute als Teil einer lokalen Regierung, in der die vom Staat geförderten Ideale der Aktivierung, Selbstregulierung und Eigenverantwortung umgesetzt werden. Diese lokale Regierung ist dabei in Teilen abhängig vom speziellen Engagement bestimmter Einzelpersonen, während andere Bewohner sich tendenziell nicht beteiligen. Voraussetzung für die erfolgreiche Implementierung dieses Systems ist eine Krisensituation, welche gegenwärtig über die steigende Zahl von einsamen Toden und die Narrative des Verfalls der traditionellen Sozialbeziehungen konstruiert wird. Dabei wurden auf den verschiedenen Diskursebenen unterschiedliche Bezeichnungen sichtbar, sodass die populäre »Theorie der beziehungslosen Gesellschaft« auf wissenschaftlicher Ebene beispielsweise über die Thematik der sozialen Exklusion oder mit Hilfe des Risikobegriffs diskutiert wurde. In der Zukunft wird der wachsenden Pflege- und Demenzproblematik möglicherweise eine ähnliche diskursive Rolle zufallen – dies wurde auch von Frau O im Interview angesprochen. In dieser Hinsicht würde die kodokushi-Problematik von weiteren Unsicherheitsfaktoren ergänzt werden. Über eine auf diese Weise immer wieder neukonstruierte Krisensituation könnten die analysierten Herrschaftstechnologien auf der lokalen Ebene weiter gefestigt werden, wodurch die Chancen zur individuellen Selbstentfaltung weiter eingeschränkt werden könnten. Obwohl die Sicherung der Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben zum expliziten Ziel der offiziellen Konzepte für die lokale Ebene erklärt wird, kann das hierüber etablierte Regierungssystem die Exklusion bestimmter Bewohner demnach verstärken oder neue Ausgrenzungspraktiken hervorbringen. Denn im Feld wurden bestimmte
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Lebensstile und Todesarten als schädlich für die Gemeinschaft problematisiert, ohne die subjektive Ebene ausreichend zu beachten. Kodokushi erscheint insofern als Teil der diskursiven Konstruktion einer gesellschaftlichen Krise, über welche der Auf bau einer kostengünstigen lokalen Regierung legitimiert wird.
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Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Wohnhaus innerhalb der Tokiwadaira Danchi Abbildung 2: Einzug in die Tokiwadaira Danchi im April 1960 Abbildung 3: Grundriss einer 2-DK Wohnung in der Tokiwadaira Danchi Abbildung 4: Leerstand in der zentralen Einkaufszeile der danchi Abbildung 5: Die vier Organisationen und ihre jeweiligen Logos Abbildung 6: Die Sicherheitsregistrierungskarte Abbildung 7: Das lokale Notrufsystem Abbildung 8: Beispiel für die Schilderkampagne des lokalen Projekts Abbildung 9: Bild des gut besuchten ikiiki saron Abbildung 10: Die Teilnehmer bei der Morgengymnastik Abbildung 11: Die Teilnehmer während der Wettkämpfe Abbildung 12: Chiiki hôkatsu kea shisutemu – Das System lokaler und inklusiver Betreuung Abbildung 13: Shakaisanka – Gesellschaftliche Partizipation
Abkürzungsverzeichnis
CHSS »Center zur Unterstützung lokaler Inklusion« (chiiki hôkatsu shien sentâ) MHLW das Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Wohlfahrt (kôseirôdôshô bzw. Ministry of Health, Labour and Welfare) NHK Japans öffentlich-rechtliche Rundfunkgesellschaft (nippon hôsô kyôkai) Renrakukai »Altenhilfeversammlung des Bezirks Tokiwadaira« (tokiwadaira chiku kôreisha shien renrakukai) (TKWD) Jichikai die örtliche Nachbarschaftsvereinigung (tokiwadaira danchi jichikai) (TKWD) Minsei-iin die Vereinigung der lokalen (ehrenamtlichen) Wohlfahrtsbeauftragten des Bezirks Tokiwadaira Danchi (tokiwadaira danchi chiku minseijidoiin kyôgikai)
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(TKWD) Shakyô das Komitee für soziale Wohlfahrt des Bezirks Tokiwadaira Danchi (tokiwadaira danchi chiku shakai fukushi kyôgikai) UR Agency die Vermietungsgesellschaft der Tokiwadaira Danchi (Urban Renaissance Agency bzw. dokuritsu gyôsei hôjin toshi saisei kikô)
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Danksagung
An dieser Stelle möchte ich mich bei allen an der Entstehung dieser Arbeit beteiligten Personen bedanken. Mein Dank gilt insbesondere meinem Erstgutachter Prof. Shingo Shimada für die jahrelange Unterstützung sowie die intensive Betreuung während des Schreibeprozesses. Daneben danke ich meinem Zweitgutachter Prof. Christoph Kann für viele kritische Nachfragen und seinen disziplinenübergreifenden Blickwinkel, Prof. Christian Tagsold für die Hilfe bei der Ausarbeitung der ursprünglichen Projektidee, und allen anderen Professoren und Experten, die mir Anregungen zu bestimmten Fragestellungen oder Themen gaben. Hier möchte ich die freundliche Aufnahme durch die Mitarbeiter der zivilgesellschaftlichen Organisationen in meinem Feld in Japan betonen, ohne die diese Arbeit nicht hätte entstehen können. Darüber hinaus möchte ich vor allem meinem Kommilitonen am Graduiertenkolleg »Alter(n). Kulturelle Konzeption und Praxis« der HHU Düsseldorf sowie den Mitgliedern des Forschungskolloquiums von Prof. Shimada für die gemeinsame Zeit und ihre konstruktive Kritik und Motivation danken. Mein besonderer Dank geht an meine Familie und meine Freunde, die mich immer unterstützen und mir zur Seite stehen.
Alter(n)skulturen Sven Schwabe Alter in Verantwortung? Politisches Engagement im Ruhestand November 2016, ca. 280 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3306-1
Nicolas Haverkamp, Georg Rudinger Mobilität 2030 Zukunftsszenarien für eine alternde Gesellschaft Oktober 2016, ca. 280 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3305-4
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Christiane Mahr »Alter« und »Altern« – eine begriffliche Klärung mit Blick auf die gegenwärtige wissenschaftliche Debatte Januar 2016, 248 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3308-5
Max Bolze, Cordula Endter, Marie Gunreben, Sven Schwabe, Eva Styn (Hg.) Prozesse des Alterns Konzepte – Narrative – Praktiken 2015, 322 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2941-5
Celia Spoden Über den Tod verfügen Individuelle Bedeutungen und gesellschaftliche Wirklichkeiten von Patientenverfügungen in Japan 2015, 324 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3055-8
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