Kleine Schriften: Teil 6 Philologiegeschichte. Pädagogik und verschiedenes Nachlese zu den Bänden I und II. Nachträge zur Bibliographie [Reprint 2021 ed.] 9783112529188, 9783112529171


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German Pages 408 [405] Year 1973

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Kleine Schriften: Teil 6 Philologiegeschichte. Pädagogik und verschiedenes Nachlese zu den Bänden I und II. Nachträge zur Bibliographie [Reprint 2021 ed.]
 9783112529188, 9783112529171

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Ulrich von Wüamowitz-Moellendorff Kleine Schriften

VI

Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff Kleine Schriften

Herausgegeben v o n d e n A k a d e m i e n zu B e r l i n u n d G ö t t i n g e n

VI

Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff Kleine Schriften

VI

Philologiegeschichte Pädagogik und Verschiedenes Nachlese zu den Bänden I und II Nachträge zur Bibliographie

AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1972

Besorgt von Wolfgang

Buchwald

Erschienen im Akademie-Verlag GmbH, 108 Berlin, Leipziger Straße 'i 1 Copyright 1972 by Akademie-Verlag GmbH Lizenznummer: 202 • 100/267/72 Herstellung: I V / 2 / 1 4 V E B Druckerei „Gottfried Wilhelm Leibniz", 445 Gräfenhainichen/DDR • 3430 Bestellnummer: 5396/VI • E S 7 M EDV-Nr. 751 796 3 72,-

Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff Kleine Schriften vi

Philologiegeschichte. Pädagogik und Verschiedenes. Nachlese zu den Bänden I und II Die in Klammern stehenden Zahlen sind die der Wilamowitz-Bibliographie 1868 bis 1929 und ihrer Fortsetzung (unten S. 394ff.) Philologiegeschichte 1 (157). Gedächtnisrede auf Hermann Sauppe, 1894 2 (392). Theodor Mommsen, 1907 3 (550). Theodor Mommsen, 1917 4 (565). Theodor Mommsen. Warum hat er den vierten Band der Römischen Geschichte nicht geschrieben? 1918 5(413). Gedächtnisrede auf Adolf Kirchhoff, 1908 6 (446). August Boeckh in memoriam, 1910 7 (473). Gedächtnisrede auf Johannes Vahlen, 1912 8 (539). Gedächtnisrede auf Alexander Conze und Georg Loeschcke, 1916 9 (606). Zum 100. Geburtstag Tycho Mommsens, 1920 10(631). Gedächtnisrede auf Richard Schöne, 1922 11(631). Gedächtnisrede auf Hermann Diels, 1922

3 11 18 29 40 49 53 59 66 68 71

P ä d a g o g i k und Verschiedenes 12 13 14 15 16 17

(260). (303). (283). (389). (551). (623).

18 ( - ) .

Der griechische Unterricht auf dem Gymnasium, 1901 . . Der Unterricht im Griechischen, 1902 Offener Brief an J . Bidez, 1901 Die Autobiographie im Altertum, 1907 Geschichtsschreibung, 1917 Die Geltung des klassischen Altertums im Wandel der Zeiten, 1921 Die Kunst der Übersetzung, 1924

77 90 115 120 128 144 154

N a c h l e s e zu d e n B ä n d e n I u n d II 19 20 21 22 23

( 77). (227). (282). (404). (424).

Die beiden Elektren, 1883 Exkurse zum Ödipus des Sophokles, 1899 Hieron und Pindaros, 1901 Pindars siebentes Nemeisches Gedicht, 1908 Erklärungen Pindarischer Gedichte, 1909

161 209 234 286 314

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Inhaltsverzeichnis 24 (313). Der Schluß der Phönissen des Euripides, 1903 . . . . 344 25 (770). Vergilius. Zu seinem 2000. Geburtstag, 1930 360 26 (771). Nebengedanken zu dem Jubiläum Vergils, 1930 . . . . 375 Anhang, vom Bearbeiter 382 Nachwort 385 Verzeichnis der nicht in diesen Band aufgenommenen Schriften von Wilamowitz zur Philologiegeschichte und Pädagogik 386 Register 388 Ergänzung und Fortsetzung der 1929 erschienenen WilamowitzBibliographie 394

Zur Textbehandlung Geändert sind stillschweigend: Schreib- und Druckfehler. Falsche Zahlen der Zitate. Text der Zitate, wenn er ohne erkennbare Absicht von der Überlieferung abweichend gegeben war. Beruhten jedoch die Ausführungen von Wilamowitz auf von der Überlieferung versehentlich abweichendem Text, so wurde der Tatbestand durch gekennzeichnete Zusätze aufgeklärt. Veraltete deutsche Orthographie. Die Regelung erfolgte durch die Druckerei. Bemerkungen und Zusätze des Bearbeiters: Sie sind durch schräge Schrift in schrägen eckigen Klammern [ ] gekennzeichnet und betreffen hauptsächlich: Bibliographische Angaben, wenn die von Wilamowitz gewählte Fassung entweder schwer verständlich oder, etwa angesichts neuer Ausgaben, unpraktisch ist. Zitate, deren Kürze trotz der dadurch entstehenden Schwierigkeiten beabsichtigt schien, blieben unverändert. Verweise auf Behandlung des gleichen Gegenstandes an anderer Stelle der Schriften von Wilamowitz. Die Verteilung der Bemerkungen und Zusätze auf Text, Anmerkungen und Anhang geschah je nach Lage des einzelnen Falles. Streichungen des Bearbeiters sind durch aufrechte eckige Klammern [ ] gekennzeichnet. Ausgeschlossen wurde auf das strengste jede Kritik an den Ausführungen von Wilamowitz, auch in den Fällen, in denen Wilamowitz heute sicherlich selbst geändert hätte.

Philologiegeschichte

1. Gedächtnisrede auf Hermann Sauppe

[...]

Hermann Sauppe hat unserer Gesellschaft 36 Jahre angehört, davon die letzten acht als ihr Vorsitzender; er hat ihr viele und schwierige Jahre hindurch den Dienst geleistet, die Göttingischen Gelehrten Anzeigen zu redigieren, nicht ohne selbst an der Rezensionsarbeit energisch Hand anzulegen. Unserer Nachrichten hat er sich fast nur dann bedient, wenn er in der Lage war, wirklich von einem neuen Zuwachse des gelehrten Materiales Nachricht zu geben. Zu den Abhandlungen hat er nur einen, allerdings sehr bedeutenden, Beitrag geliefert. Er hatte für die Universität einen Teil der Pflichten der professores eloquentiae zu leisten; daher forderten die Universitätsprogramme in erster Linie seine wissenschaftliche Produktion. Sie haben sie auch gefördert; denn wie nicht wenig bedeutende Philologen ist er durch diesen Zwang dazu gekommen, sich über mancherlei zu äußern, wo er sonst vielleicht geschwiegen haben würde. In früheren Jahren schrieb er auch in die damals von hier aus redigierte Zeitschrift Philologus. Die Summe dessen, was er in Göttingen veröffentlicht hat, ist also nicht gering; dennoch muß seine Würdigung an dieser Stelle mit dem doppelten Eingeständnis beginnen: in dem, was er wissenschaftlich geschrieben hat, liegt nur ein geringer Teil seiner 37 Bedeutung, und in dem, was er in Göttingen geschrieben hat, liegt nur ein geringer Teil seiner wissenschaftlichen Bedeutung. Der Dienst der Wissenschaft gehört in das Reich der vita contemplativa, Sauppe aber hatte sich in den Dienst der vita activa gestellt, beide Ausdrücke natürlich nicht in dem denaturierten Sinne genommen, den das Mönchslatein zunächst an die Hand gibt, sondern 1. Nachrichten von der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Geschäftliche Mitteilungen aus dem Jahre 1894, S. 36—48.

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1. Gedächtnisrede auf Sauppe (1894)

in dem echten, des Aristoteles, der dem anschauenden, das Ewige anschauenden, theoretischen Leben das praktische, dem Wirken in der Gegenwart gewidmete Leben entgegenstellt. Gewiß sollte auch nach Sauppes Sinne die Wirkung in der Gegenwart dem Ewigen dienen, gewiß zwingt das gegenwärtige Leben auch dem unbedingten Verehrer des $ECOpr|TiKÖs ßios seine Forderungen auf, zumal in unserer Zeit; aber es bleiben doch immer zwei verschiedene Reiche. Wollen wir nun in das Innere eines Mannes schauen, der als Kind sich vor den französischen Freunden seiner kursächsischen Heimat und vor den feindlichen Kosaken bergen mußte, der ganz auf sich gestellt, genötigt Armut und Körperschwäche durch Willenskraft und Selbstbescheidung zu bezwingen und daher früh gereift seine Weltanschauung gewonnen hat, da Goethe noch unter den Sterblichen weilte — wollen wir diesen Mann verstehen, so müssen wir uns in die Zeit seines Werdens zurückversetzen. Schon mit elf Jahren verlor er den Vater, einen strengen Prediger, der unbeirrt durch die Kränklichkeit des Sohnes, den er für eine gelehrte Laufbahn bestimmt hatte, den Unterricht bereits auf das Griechische ausgedehnt hatte. Den gänzlich mittellosen Knaben nahm ein Oheim, Kantor in Naumburg, in sein Haus und seine noch strengere Zucht. So konnte er die Domschule besuchen, der er besonders für die Erziehung zu scharfem und konsequentem Denken und Handeln durch Grammatik und Mathematik dankt. Mit siebzehn Jahren wagte er es, die Universität Leipzig zu beziehen, um Philologie zu studieren, ohne Mittel, ohne Verbindungen, ohne Aussichten, so gebrechlich, daß er bald in eine schwere Krankheit verfiel, aus der er aber dauernd gesundet erstand. Die Vorurteile unserer Tage, denen der allmächtige S t a a t seine die Individualität mordende Hand leiht, würden solche Erziehung verdammen, und ein Versuch, wie ihn der junge Sauppe wagte, würde heute unrettbar scheitern. Damals zogen viele so auf die Universität, als die rechten Schatzgräber, arm am Beutel, gesund am Herzen. Damals galt noch der Glaube, daß nur die Reichtümer des Geistes und 38 die Schätze der Seele des Strebens wert, diese aber auch jedem Strebenden erreichbar seien. Und den Mut des reinen Lebens tranken sie aus dem neuerschlossenen Jungbrunnen des Hellenentumes. Nicht ein Objekt der Forschung war es ihnen, es war j a noch klassisch; es war ein unentbehrliches Vehikel zu dem allgemeinen Ziele, zu echter Menschenbildung und Tugend. Darum verband es sich mit der idealistischen

1. Gedächtnisrede auf Sauppe (1894)

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Philosophie der Zeit und mit Goethes Lehre von Natur und Kunst zu einer unlöslichen Einheit: das wars, was jeder Strebende sich innerlich zu eigen machen wollte, auf daß er eine höhere Kraft und Tugend erwürbe. In welcher Sphäre er diese später einmal anwenden würde, das war zunächst Nebensache, taugte sie doch für jede; besonders hoch gewertet ward freilich die Aufgabe, dieselben Schätze anderen Menschen wieder zu übermitteln, und dieser diente dann auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Altertum. In diesem Sinne hat auch Sauppe Philologie studiert. Es haben mir durch das Vertrauen der Seinen außer zahlreichen Auszügen und Aufzeichnungen seiner Studentenzeit auch eine Vita vorgelegen, die er mit 20 Jahren verfaßt hat und die einen Abdruck verlohnt*), namentlich aber eine große Zahl von Gedichten. Denn auch darin teilte er den Vorzug jener schöneren Zeit, daß er sagen konnte, was er empfand und litt, und er hat diese Fähigkeit zeitlebens geübt, als Schüler für offizielle Festgedichte, deren sogar gedruckt sind, als Jüngling zur Befreiung des eigenen Herzens, später zur vertrauten Freude der Seinen 2 ). Es ergibt sich, daß er schon als Student eine feste Anschauung über Wert und Aufgabe des Lebens gewonnen hat und auch eine feste Formel für sie gefunden. Wie natürlich hat er sich philosophisch gebildet, selbst an Schelling, viele Seiten hat der Arme sich aus Goethes Werken abgeschrieben, dem er später die hundertjährige Geburtstagsfeier in Weimar ausrichten sollte, aber das Entscheidende für ihn war die Bekanntschaft mit Piaton, und wie er 1830 bekennt, „mir ward der Blick zum Licht in Piatons Hallen", so hat bis in die letzten Tage diese Zentralsonne Athens Licht und Wärme in sein Herz gesandt. Indem er, allerdings in begrifflich anfechtbarer Weise, den platonischen Eros mit der paulinischen Agape verquickt, wird er nicht müde, die Liebe als das alleinige Prinzip des Lebens und Handelns zu preisen und den inneren Frieden als ihren Lohn. „Wirkenspfade sind verschieden und verschieden Wirkenskraft, aber alles Tun ist heilig, und nur das, was Liebe schafft" 3 ). ') Vgl. Anlage 1 [nicht wieder abgedruckt]. Vgl. Anlage 2 [nicht wieder abgedruckt]. 3 ) Die Urschrift des Spruches im Nachlaß ist auf den 15. Sept. 1831 datiert.

2)

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1. Gedächtnisrede auf Sauppe (1894)

Dagegen findet sich niemals die Wissenschaft oder gar die Philologie verherrlicht, niemals Eros, was er doch ist, als der Schaffensdrang des wissenschaftlichen Forschers, der in das Reich des reinen Anschauens emporstrebt. Diese Lebensauffassung hat ihn befähigt, in den sehr verschiedenen Kreisen, in die ihn das Leben führte, rasch sich zurechtzufinden, und indem er sich selbst einordnete und fügte, zuleiten und zubestimmen. Nicht die wissenschaftliche Produktion in ihrer Einsamkeit mit dem Blicke ins Ungemessene war ihm das erste Lebensbedürfnis, sondern die fördernde Tätigkeit im engeren und weiteren, wie sich die Gelegenheit bot. Wie wohl muß ihm gewesen sein, als ihm 1833 eine Berufung nach Zürich die Bahn frei machte, zu wirken am Gymnasium, an der sich eben bildenden Universität, an der Bibliothek, und auch an den öffentlichen Angelegenheiten in der bald entschieden demokratisierten Republik. Hier fand er Verkehr mit geistig angeregten und politisch aufgeregten Männern, Einheimischen und Zugewanderten, und bald half eine jugendschöne, lebensmutige und lebenslustige Gattin auch über die sauren Wochen Festesfrohsinn verbreiten. Selbst der Tod hat diesen Treubund nicht zu scheiden, sondern nur neu zu besiegeln vermocht, indem er die Gattin fast gleichzeitig in sein Reich hinüberrief. Aus der Schweizer Demokratie siedelte Sauppe 1845 als Gymnasialdirektor nach Weimar über: ein kleines Städtchen, ein kleiner Hof mit seiner Etikette und seinen Konventionen, freilich auch mit dem Erbe der vornehmsten Auffassung von Fürstenpflicht und der Weihe der größten, noch so nahen Vergangenheit, eine bedeutende und dauernde Verbindung mit dem edlen Fürstenhause, mit Dichtern und Künstlern, und in dem nahen altvertrauten Leipzig jener schon öfter, aber noch nicht ausreichend beschriebene Kreis bedeutender Männer, aus dem namentlich Salomon Hirzel, der führenden einer, mit Sauppe schon von der Zeit her nah befreundet war, da er dem armen Studenten Korrekturen verschaffte. Und wieder ganz andere Verhältnisse in den gemessenen Zirkeln der 40 exklusiven und anspruchsvollen Gelehrtenoligarchie, in die er 1856 hier in Göttingen trat, sofort als einer der maßgebenden wenigen, aber dauernd frei von dem Hofratsdünkel, gewillt, sich als Bürger des Landes und der Stadt zu fühlen, und des Vaterlandes zu vergessen nicht gewillt. Denn die staatsbürgerlichen Pflichten sind ihm allezeit Herzenssache gewesen, seit ihn die alte, echte Burschenschaft mit ihren

1. Gedächtnisrede auf Sauppe (1894)

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reinen Idealen begeistert hatte. Den schwülen Druck und die Demütigungen der Metternichschen Zeit, die Hoffnungen, Enttäuschungen und Kränkungen des Revolutionsjahres und der Reaktion, die reinigenden Gewitter und den hellen Siegestag, die Bismarck endlich emporzuführen verstand, dies halbe Jahrhundert deutscher Kämpfe hat Sauppe nicht nur mitfühlend durchlebt," sondern mithandelnd, wo in seinem Kreise sich Gelegenheit bot, oft getragen von dem Vertrauen seiner Mitbürger, nicht selten den Weg weisend, einzeln in furchtlosem Gegensatze, immer als ein ganzer Patriot. Nur einmal habe ich ihn in plötzlichem Impulse zu den Studenten reden gehört, das war Weihnachten 1886: da mahnte er angesichts äußerer Gefahr und inneren Haders ergreifend zum Anschlüsse an das Vaterland. Wer also leben will und lebt, dem wird es an Freunden nicht fehlen ; gern gedachte er der vielen, aber einer war es, bei dessen Namen schon der freudige Glanz in den scharfen Augen aufzuckte, den wir alle kennen: das war Gottfried Hermann, der Lehrer, der für Sauppes wissenschaftliche Richtung bestimmend geworden war. Philologorum princeps hat er den Lebenden genannt, und er hat 50 Jahre später nicht anders geurteilt. Hermann hat die Huldigung mit Anerkennung und Freundschaft erwidert und doch waren sie im innersten Wesen so verschieden, daß sich wohl ein Gegensatz herausgebildet haben würde, wenn Sauppe nicht als Jüngling in den Bann der bezaubernden Persönlichkeit getreten wäre. Ich brauche den Philologen Hermann nicht zu charakterisieren, den Systematiker in Metrik und Grammatik, den Kritiker der griechischen Poesie. Sauppe hat sich von der systematischen Grammatik, von aller Metrik und von der gesamten griechischen Poesie so gut wie ganz ferngehalten. Dagegen zieht er, sobald er in Zürich in Lehre und Schrift stellerei eigene Wege gehen kann, sofort die geschichtliche Erforschung des antiken Lebens heran 2 ), ver4) Von mehreren Zeugnissen, die er seinem Schüler ausgestellt hat, schien eines die Veröffentlichung als Anlage 3 zu verdienen [hier nicht ivieder abgedruckt] ; freundschaftliche Briefe späterer Zeit, die natürlich einen anderen Ton zeigen, enthält der Nachlaß mehrere. 2 ) Besonders bezeichnend ist ein teilweise ausgearbeitetes Heft zu Vorlesungen über „Geschichte des griechischen Staatsrechts", die er im Winter 1837/38 gehalten hat, ersichtlich durch Bluntschli angeregt. Es ist eine geschichtliche Darstellung der griechischen Verfassungen der alten Zeit, ganz offenbar in den Bahnen Otfried Müllers mehr noch als in denen Boeckhs. Das Heft befindet sich auf der Göttinger Bibliothek mit vielen anderen.

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1. Gedächtnisrede auf Sauppe (1894)

wertet die Inschriften, sucht die englischen Forschungen über attische Topographie zu verbreiten, wandelt also auf Boeckhs und 0 . Müllers Bahnen. Mich will es bedünken, als wehe ein besonders frischer Zug in den zahlreichen antiquarisch-epigraphischen Aufsätzen, die er geschrieben hat, und ihr Wert wird dadurch nicht gemindert, daß sie zu einer Literatur gehören, die das frisch zuströmende Material rasch veralten läßt. E s ist auch bezeichnend, daß er nach dieser Richtung, die er doch in seiner hiesigen Lehrtätigkeit zurücktreten ließ, auf seine namhaftesten Schüler besonders nachhaltig gewirkt hat. Wenn man sich ihn neben L . Roß in Griechenland oder neben Boeckh in Berlin für die Inschriftsammlung tätig denkt, wie vieles würde seine Sorgfalt und Methode, seine Umsicht und besonders seine Sprachkenntnis geleistet haben. So kam ihm das Neue immer erst durch lange Vermittlung zu Gesicht, und wenn ihm die Schweiz schon wertvolle Analogieschlüsse für Griechenlands Geschichte lieferte, wie ganz anders hätte die lebendige Anschauung des Landes gewirkt. Beschieden ist ihm eine Fahrt dorthin noch gewesen, 1875, und er hat diese Offenbarung mit jugendlicher Empfänglichkeit in sich aufgenommen; aber es war zu spät, seiner wissenschaftlichen Produktion einen neuen Anstoß zu geben. Verkörpert somit Sauppes Einlenken in die sogenannte Sachphilologie den notwendigen Sieg der neuen Richtung, so darf man in seiner Berufung nach Göttingen den Einzug der strengen Sprachphilologie Hermanns in eine Hauptburg der Gegner sehen. Sauppe selbst hat das so aufgefaßt und seine Aufgabe hier in der sprachlichen und kritischen Schulung der Studenten gesucht. In dieser Ausgleichung der Gegensätze liegt der entscheidende Punkt für seine Einordnung in die Geschichte der Philologie. Sein spezifisch wissenschaftliches Verdienst ist der methodische Fortschritt über die Textkritik nicht nur Hermanns, sondern auch I. Bekkers, den insbesondere seine Arbeiten für die attischen Redner bezeichnen, die in der Epistula critica ad G. Hermannum (1841) und der Züricher Ausgabe der Redner (1839—50) gipfeln. Hermann hat bekanntlich die willkürliche Textbehandlung methodisch nicht überwunden, aber er hat die Sprache können gelehrt. Bekker hat den ersten, wichtigsten Schritt getan, auf die Handschriften zurückzugehen, also einen urkundlichen Text anzustreben, Sauppe hängt ganz und gar von seinen Kollationen a b ; aber in der Auswahl

1. Gedächtnisrede auf Sauppe (1894)

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der Handschriften und Lesarten verließ Bekker sich wesentlich auf sein Sprach- und Stilgefühl. Schwerlich auch nur unter dem unbewußten Einflüsse der Vollender unserer Methode, Lachmanns und Madvigs, hat Sauppe die Vorfrage nach dem Werte und der Verwandtschaft der Rednerhandschriften zu lösen begonnen. Dabei ward ihm der Treffer zuteil, die Abhängigkeit aller erhaltenen Lysiashandschriften von einer noch erhaltenen zu bemerken, so daß sich die Vorzüge einer anderen, auf die sich Bekker verlassen hatte, als Trug erwiesen. Durch diesen Nachweis wird die Epistula critica immer eine paradigmatische Bedeutung behalten. Für die beiden großen Stilkünstler Isokrates und Demosthenes hatte Bekker j e eine alte Handschrift von ganz besonderem Werte herangezogen, die einen durchgreifend anderen Text zeigte. Sauppe hat es versucht, sich dieser einen Überlieferung möglichst eng anzuschließen; er hat auch in den anderen Rednern, im Piaton und sonst das Bestreben gehabt, eine Handschrift oder eine Klasse zum Führer zu nehmen, und ist geneigt gewesen, sehr viel auf trügerische Überarbeitungen ähnlich wie bei Lysias zu schieben. E s ist ausgemacht, daß er sich zuweilen vergriffen hat, so bei dem einzigen lateinischen Schriftsteller, Eugippius, den er herausgegeben hat, und in der Beurteilung des Plutarch von Seitenstetten; ich persönlich halte nicht nur in sehr vielen Einzelfällen die auf eine Handschrift oder Handschriftfamilie ausschließlich begründete Kritik für unberechtigt, ich glaube sogar, daß die tiefere Einsicht in die Textgeschichte und die Entdeckungen antiker Handschriften des Demosthenes, Isokrates, Piaton, Aischines für die griechischen Klassiker die Aufgabe der Recensio prinzipiell anders gestellt haben: aber das ändert nicht das mindeste daran, daß Sauppes Methode eine notwendige E t a p p e auf unserem Wege bildet, mag nun das Wahre selbst oder nur die Erkenntnis, inwieweit wir dem Wahren uns nähern können, unser Ziel sein müssen. Und noch viel weniger läßt sich bestreiten, daß er sehr häufig positiv das absolut Wahre oder doch das für uns praktisch mit dem Wahren zusammenfallende Wahrscheinlichste gefunden hat. Dazu hat die Methode das ihre, aber sehr viel mehr das Wissen und Können getan, das er bei Hermann wie bei keinem andern lernen konnte. Er konnte Griechisch: das ist ein Prädikat, das zu allen Zeiten nur wenigen mit wirklichem Rechte erteilt werden kann. Die Philologie verfehlt nicht, immer frische Aufgaben zu stellen, die ein Prüf- 43 2

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1. Gedächtnisrede auf Sauppe (1894)

stein f ü r diese K u n s t sind. Als S a u p p e gerade seine Oratores Attici v o l l e n d e t h a t t e , f ü h r t e ein gütiges Geschick d e n f e h l e n d e n z e h n t e n der a t t i s c h e n R e d n e r aus e i n e m G r a b e Ä g y p t e n s ans L i c h t . A n d e n v e r k o h l t e n Rollen des P h i l o d e m o s aus H e r c u l a n e u m beweist d e r E r gänzer, m a g er t r e f f e n oder f e h l e n , d a s eine ganz sicherlich, ob er Griechisch k a n n oder n i c h t . I m H y p e r e i d e s h a t S a u p p e a n der G r u n d l e g u n g m i t g e s c h a f f t ; seine L e i s t u n g f ü r P h i l o d e m ist gerade d a r i n u n ü b e r t r o f f e n , d a ß er sich v o n d e n b e l i e b t e n E r g ä n z u n g e n in s c h l e c h t h i n u n m ö g l i c h e m Griechisch f r e i g e h a l t e n h a t . N u r u n a u s g e s e t z t e L e k t ü r e h ä l t eine solche S p r a c h k e n n t n i s l e b e n d i g ; o h n e sie r o s t e t die S c h ä r f e des Urteils u n d die Schneide der K r i t i k , m a g a u c h die R o u t i n e sich u n d die Urteilslosen t ä u s c h e n . E r h a t lesend, b e o b a c h t e n d , s u c h e n d u n d findend w e i t e r g e a r b e i t e t ; die I n d i c e s l e c t i o n u m u n s e r e r Univ e r s i t ä t legen d a f ü r Zeugnis a b . I m Griechischen ü b e r s c h r i t t er k a u m die selbstgesetzten S c h r a n k e n des e c h t e n u n d des n a c h g e a h m t e n A t t i s c h e n . D a g e g e n w a n d t e er sich n u n n i c h t ganz selten a u c h z u d e n l a t e i n i s c h e n K l a s s i k e r n , hier a u c h d e n D i c h t e r n , u n d er ü b t e seine M e t h o d e m i t v o l l e n d e t e r Sicherheit. A u c h auf die T e x t e u n s e r e r g r o ß e n D i c h t e r ü b e r t r u g er sie, u n d wie er a n der k r i t i s c h e n A u s g a b e Schillers m i t t ä t i g gewesen ist, so w a r er a u c h u n t e r die B e a r b e i t e r der W e i m a r e r G o e t h e a u s g a b e b e r u f e n , in der ü b r i g e n s die K r i t i k , die er a n einigen schweren G e d i c h t e n g e ü b t h a t t e , keineswegs g e n ü g e n d b e h e r z i g t ist. U b e r die T e x t k r i t i k ging er selten h i n a u s ; eine l i t e r a t u r g e s c h i c h t l i c h e E n t d e c k u n g wie die des S o p h i s t e n A n t i p h o n , eine A n a l y s e wie die des p l u t a r c h i s c h e n Perikles, eine b i o g r a p h i s c h e W ü r d i g u n g wie die m i t b e s o n d e r e r Liebe g e a r b e i t e t e seines A m t s v o r g ä n g e r s J . M. Gesner lassen e r k e n n e n , d a ß er n a c h allen Seiten einzugreifen b e f ä h i g t w a r , wo sich scharf u m g r e n z t e A u f g a b e n d a r b o t e n . W i r Philologen h a b e n m e h r als ein M e n s c h e n a l t e r l a n g b e d a u e r t , d a ß er seit 1850 zu k e i n e m g r o ß e n W e r k e m e h r g e k o m m e n i s t : das W i r k e n in der v i t a a c t i v a h a t es v e r h i n d e r t . Die P i e t ä t einiger Schüler u n d der W e i d m a n n s c h e n B u c h h a n d l u n g , m i t der er sein L e b e n l a n g e n g v e r b u n d e n w a r , w i r d d a f ü r sorgen, d a ß eine A u s w a h l seiner kleinen S c h r i f t e n [erschienen Berlin 1895] d e n k o m m e n d e n Geschlechtern v o n seiner w i s s e n s c h a f t l i c h e n E i g e n a r t ein Vollbild zeige: alle a b e r , die sein auf Liebe g e g r ü n d e t e s u n d d u r c h Liebe geadeltes W i r k e n i h m n a h e g e b r a c h t h a t , w e r d e n i h m Treue bewahren.

2. Theodor Mommsen I n T h e o d o r M o m m s e n k u l m i n i e r t die W i s s e n s c h a f t v o m r ö m i s c h e n A l t e r t u m , die i m Q u a t t r o c e n t o I t a l i e n s a m H o r i z o n t e a u f g e h t . L o r e n z o Valla, der die E l e g a n z des klassischen L a t e i n s e r f a ß t u n d die F ä l s c h u n g der konstantinischen Schenkung durchschaut, aber auch P o m p o n i u s L a e t u s , der A n t i q u a r , der d e m J u p i t e r o p f e r t , m ö g e n als t y p i s c h e Vert r e t e r g e n a n n t sein. D a n n k o m m t die große Zeit der f r a n z ö s i s c h e n R e n a i s s a n c e : sie s c h a f f t die W i s s e n s c h a f t v o m r ö m i s c h e n R e c h t e , a u s i h r e r w ä c h s t der erste ganz große Philologe J o s e p h Scaliger, d e r d a s a l t e L a t e i n v o m klassischen u n t e r s c h e i d e n l e h r t , ein Corpus I n s c r i p t i o n u m L a t i n a r u m a n r e g t u n d in der t h e o r e t i s c h e n u n d p r a k t i s c h e n C h r o n o logie f ü r alle historische F o r s c h u n g das F u n d a m e n t l e g t . N e b e n u n d n a c h i h m b a u e n alle K u l t u r v ö l k e r a n der r ö m i s c h e n W i s s e n s c h a f t ; a b e r es w ä h r t zwei J a h r h u n d e r t e , bis in B a r t h o l d N i e b u h r d e r e r s t e H i storiker e r s t e h t , der diesen N a m e n in d e m Sinne v e r d i e n t , d e n e r s t diese Zeit zu erfassen v e r m o c h t h a t . A b e r erst in M o m m s e n , d e m J u r i s t e n , Philologen, H i s t o r i k e r , k u l m i n i e r t die W i s s e n s c h a f t v o m röm i s c h e n A l t e r t u m . Schwerlich wird die Z u k u n f t e i n e n z w e i t e n sehen, der sie als eine E i n h e i t u n d ein Ganzes zu u m f a s s e n v e r m a g . D a s wissen wir alle. D a r u m ist es so u n n ö t i g , wie es u n m ö g l i c h ist, d e n u n v e r g l e i c h lichen G e l e h r t e n a n diesem O r t e z u c h a r a k t e r i s i e r e n . A b e r eine zugleich d e u t s c h e u n d i n t e r n a t i o n a l e W o c h e n s c h r i f t d a r f in M o m m s e n einen V o r k ä m p f e r der G e d a n k e n sehen, d e n e n sie d i e n e n will. D e n n der A n b a h n u n g des i n t e r n a t i o n a l e n Z u s a m m e n a r b e i t e n s h a t der g r o ß e Org a n i s a t o r bis i n seine l e t z t e n T a g e eine T ä t i g k e i t g e w i d m e t , die i h m selbst b e s o n d e r s w e r t w a r . So m a g es n i c h t u n a n g e b r a c h t sein, d a v o n e t w a s zu sagen, wie sehr seine eigene B i l d u n g eine i n t e r n a t i o n a l e w a r . 2. Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, K u n s t und Technik 1 (1907) 263-270.

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2. Theodor Mommsen (1907)

E i n D e u t s c h e r w a r er, ein V o l l b l u t d e u t s c h e r , u n d wie die V a t e r landsliebe in i h m bis z u m l e t z t e n A t e m z u g e g l ü h t e u n d er sich als d e u t s c h e r S t a a t s b ü r g e r f ü h l t e , lange ehe es einen d e u t s c h e n S t a a t g a b , so sind wir D e u t s c h e n stolz d a r a u f , d a ß der K e r n seines W e s e n s d e u t s c h w a r . E b e n d a r u m h a t er i m m e r das B e d ü r f n i s e m p f u n d e n , sich a n d e n B i l d u n g s e l e m e n t e n zu n ä h r e n , die uns die Völker älterer K u l t u r b i e t e n ; willig h a t er sich i h n e n h i n g e g e b e n u n d erst d a d u r c h seinen Genius bef r e i t . E i n Friese w a r e r ; a n d e m S t r a n d e des N o r d m e e r e s , das Schleswigs K ü s t e n b e n a g t , h a b e n seine V o r f a h r e n auf d e m f r e i e n G r u n d e gesessen, den ihr P f l u g d u r c h s c h n i t t . D a n n vollzog sich a u c h hier wie in so vielen F a m i l i e n unseres Volkes, aus d e n e n ein b e d e u t e n d e r Geist e r w a c h s e n sollte, der Ü b e r g a n g v o m B a u e r n h o f e in das p r o t e s t a n t i s c h e 265 P f a r r h a u s ; in der Stille eines solchen h a t sich a u c h dieses T a l e n t geb i l d e t . D e r V a t e r , d e m die u n e r f ü l l t e S e h n s u c h t n a c h freier geistiger B e t ä t i g u n g auf der Seele b r a n n t e , u n t e r r i c h t e t e seine S ö h n e ; eine M u t t e r t r a t h i n z u , die i h n e n ein F r a n z ö s i s c h m i t z u g e b e n w u ß t e , wie es auf d e n G y m n a s i e n n i c h t zu holen w a r ; a u c h das Englische b o t sich in der F a m i l i e . So d u r f t e er bis a n die Schwelle der J ü n g l i n g s j a h r e d e m nivellierenden Einflüsse der Schule e n t z o g e n bleiben, u n d als er d a n n die P r i m a des A l t o n a e r G y m n a s i u m s b e z i e h t , ist die E i g e n a r t , die H e r r e n a r t , b e r e i t s in i h m a u s g e b i l d e t . Belege d a f ü r sind h i n r e i c h e n d e r h a l t e n . W i c h t i g e r als die Schule w a r das L e b e n v o r d e n T o r e n einer W e l t h a n d e l s s t a d t , u n d dies H a m b u r g w a r das E i n f a l l s t o r der englischen K u l t u r . I n Kiel findet d a n n der S t u d e n t der J u r i s p r u d e n z ü b e r r a s c h e n d schnell die A u f g a b e seines L e b e n s : er h a t sich als H e r a u s geber des Corpus I n s c r i p t i o n u m schon g e f ü h l t , ehe er die H e i m a t verließ. E i n e n eigentlichen L e h r e r h a t er n a t ü r l i c h n i c h t g e h a b t ; w o h l a b e r f a n d er in O t t o J a h n einen F r e u n d u n d B e r a t e r v o n hing e b e n d e r T r e u e : J a h n h a t wohl d e n Genius z u e r s t e r k a n n t . U n d er k a m a u s I t a l i e n u n d wies den W e g zu der e n t s c h e i d e n d e n F a h r t in den Süden. I t a l i e n i s c h h a t M o m m s e n erst in I t a l i e n wirklich g e l e r n t ; F r a n z ö sich u n d E n g l i s c h w a r e n i h m bereits ganz geläufig. Als das Italienische h i n z u g e t r e t e n w a r , v e r l a n g t e er eigentlich, u m sich ganz geben zu k ö n n e n , ein b e z e i c h n e n d e s W o r t oder ein Z i t a t aus diesen drei S p r a c h e n e i n f l e c h t e n zu d ü r f e n , n a t ü r l i c h a u c h aus d e m L a t e i n i s c h e n . Diese alle b e h e r r s c h t e er a u c h i m schriftlichen G e b r a u c h e m ü h e l o s ; a u c h englische, f r a n z ö s i s c h e , italienische Verse h a t er gelegentlich g e m a c h t ;

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lateinische nicht. Für manchen anderen ist die Hingabe an das, was in den dreißiger Jahren aus England und namentlich aus Frankreich herüberkam, verhängnisvoll geworden, hat ihr politisches Streben in Bahnen gelenkt, die von dem Ziele abführten, das sie doch auch verfolgten, der Herstellung des deutschen S t a a t e s ; mancher ist auch dem Besten entfremdet worden, das der deutsche Genius von Lessing und Herder bis Schleiermacher und Hegel erreicht hatte. Vor all dem blieb Mommsen bewahrt. In Holstein hielt die Fremdherrschaft, so milde sie auch damals noch war, das gesunde Vaterlandsgefühl wach und wies bestimmte, erreichbare Ziele. Die römische Wissenschaft bewegte sich 266 auf dem Boden jener Kultur, die für die gesamte westeuropäische Welt der Mutterboden ist, aber sie lehrte auch den Segen und die Macht eines nationalen Staates. Vor allem aber hatte Mommsen sich mit der ganzen Liebe seiner heißen Natur der Führung Goethes hingegeben, des Dichters, der zuerst die Welt gezwungen hatte, Deutsch zu lernen, und sie dazu ewig zwingen wird, wie Homer zum Griechischlernen, der aber zugleich der Prophet einer Weltkultur ist, deren Harmonie aus dem vielstimmigen Konzert der nationalen Kulturen zusammenklingt. E s haben sich umfangreiche Abschriften Goethescher Gedichte erhalten, die Mommsen sich genommen hat, als Eckermann und Riemer den Nachlaß ans Licht brachten. Sie beweisen, daß Mommsen nicht erst in dem Leipziger Kreise Hirzeis, in dem die Goethephilologie entstanden ist, jene Vertrautheit mit dem Dichter gewonnen hat, die mehr noch in seinem Gespräche als in seinen Schriften hervortrat: gerade die Weisheit des alten Goethe pflegte er besonders gern im Munde zu führen. Aus ihr hat er sich die Ziele genommen; das römische Imperium gab den Boden: beide sind ökumenisch. Nach England ist er erst als Greis gekommen; die vornehme Stille und Behaglichkeit, die stolze Tradition gediegenster Bildung in den alten Universitätsstädten hat ihn angeheimelt; aber er hat auch den Mangel wissenschaftlicher Organisation und Zentralisation beklagt. Mit der englischen Literatur lebte er in dauernder Verbindung. Ohne etliche Tauchnitzbände war er auf der Eisenbahn nicht wohl denkbar; da war er nicht wählerisch, las die ungezählten Romane freilich wirklich meist zum Zeitvertreib. Seine Liebe blieb den Dichtern seiner J u g e n d ; er grollte, wenn er fand, daß der Witz der Pickwickier auf verminderte Empfänglichkeit stieß, und unter den Dichtern behauptete Lord Byron den Ehrenplatz; Lyrik war überhaupt für ihn die eigentliche Poesie.

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E s darf aber angenommen werden, daß der Jüngling Mommsen nicht nur für den Witz, sondern auch für die Sentimentalität Byrons empfänglich gewesen ist. Damals übersetzte er ihn, und die Spenserstanze hat er noch später als eine besonders bedeutende Form angewandt. Wer würde nicht annehmen, daß Italien ihm, der auf das linke 267 Elbufer noch nicht gekommen war, die Welt der Sonne und des Südens erschlossen hätte. Tagebücher, die er in den ersten Wanderjahren geführt hat, lehren, daß es vielmehr Frankreich war. E r fuhr direkt von Hamburg nach Havre, besuchte Paris und zog langsam, wie jene glücklichere Zeit reiste, durch das schöne Land in die Provence, die ihm also jenes südliche romanische Leben offenbart hat, das auf den geschichtlich gebildeten Nordländer gerade darum so befreiend wirkt, weil sich mit dem Erbe alter Kultur bald mehr, bald weniger natürliche und primitive Lebensformen mischen. Italien hat dann freilich diese französischen Eindrücke ganz verdrängt, und Frankreich ward für ihn Paris, wie für die meisten. E r kam in das Italien, das noch unter dem Banne der Tedeschi lag, die er sich rasch gewöhnte mit den Augen G. Giustis anzusehen. Heimisch ward er in dem Rom, das noch kein liberales Pontifikat aus seiner Lethargie aufgerüttelt hatte. Unteritalien durchzog er als das Reich der Bourbonen, und Basilicata und Molise brachten ihn hinlänglich in Kontakt mit einer mehr als oskischen Barbarei. Bald kannte er das Land besser als irgendein Eingeborener, denen ihre Zwingherren das Reisen untersagten. Und in der Tat hat sein Wesen viel Italienisches angenommen: die ausdrucksvolle Sprache seiner Gesten, schon des energisch verneinenden Zeigefingers, war italienisch, und der bewunderte und zuweilen gefürchtete Causeur hatte diese romanische, den Teutonen so selten erreichbare K u n s t bei den Italienern gelernt: es war brio darin, der sich eben nur italienisch benennen läßt. Mommsen hat B . Borghesi immer mit voller Pietät als seinen Meister anerkannt; darin lag minder, daß er das epigraphische Handwerk bei ihm gelernt hätte, als daß ihm die Epigraphik, die überall auf die Monumente selbst zurückgeht, in Italien aufgegangen ist, doch wohl wesentlich durch den Verkehr mit den Monumenten. Dann war aber die Aufgabe der römischen Epigraphik nur durch das Zusammenwirken der Gelehrten in allen Provinzen des Imperiums lösbar: die Forderung einer internationalen Arbeitsgemeinschaft war gegeben. Und in dem römischen archäolo-

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gisehen Institute, so bescheiden seine Mittel waren, hatte E . Gerhard ein Organ für diese Arbeitsgemeinschaft geschaffen; dort fand der Deutsche zugleich einen Heimatsboden in der Fremde: denn rechten Ernst mit dieser Selbstorganisation der Wissenschaft machten doch 268 unsere Landsleute allein, und von den Regierungen kam dem Institute nur Preußen oder besser König Friedrich Wilhelm IV. zu Hilfe. E s ist begreiflich, aber es bleibt ein Ruhm für Gerhard, daß er Mommsens Sache in der Berliner Akademie hochhielt, deren Führer nur zu lange Zeit sich dem Fortschritte verschlossen. Nachdem endlich der Widerstand gebrochen war, ist der Leiter des Corpus noch manches Mal über die Alpen gezogen, und das junge Königreich hat ihn fast als einen Landsmann begrüßt. In der Tat hatte er die K ä m p f e um die Italia una und den Sieg mit der vollen Teilnahme des Patrioten durchlebt und den edlen Männern, die ihr Vaterland retteten, die Treue gehalten; am nächsten hat er wohl Q u . Sella gestanden. E s konnte nicht ausbleiben, daß ihn später manches befremdete, als ein neues Geschlecht zur Herrschaft gekommen war, und als sich gar nationale Engherzigkeit, die den Italienern so schlecht steht wie den Deutschen, gepaart mit bornierter Befehdung der historischen Kritik ans Licht wagte, hat er das ganz ebenso bitter empfunden wie die Verirrungen des teutonischen Rassendünkels. Kurz nachdem er von den ersten Wanderjahren heimgekehrt war, schien für seine eigentliche Heimat der T a g der Befreiung angebrochen zu sein, und ohne Besinnen schlug er dafür seine ganze Existenz in die Schanze. Mit demselben Patriotismus stand N. Madvig auf dänischer Seite. So sind sich zwei Meister der lateinischen Philologie, die eigentlich ganz nahe zueinander gehörten, zeitlebens fremd geblieben und haben sich wohl nicht volle Gerechtigkeit widerfahren lassen; doch hatte Mommsen sehr scharfe Worte, als deutsche Gelehrte, die ihm durchaus nicht ebenbürtig waren, einen unschicklichen Ton gegen Madvig anschlugen. E s braucht hier nicht der langen und schweren Nöte gedacht zu werden, die Mommsen durchmachen mußte, bis er in Preußen, dem er durch sein Staatsgefühl immer angehörte, den gebührenden Platz erhielt, um dann jahrzehntelang die wissenschaftliche Politik Preußens wesentlich mitzubestimmen. Sehr rasch ist er ganz Berliner geworden; es wird mancher beklagen, daß er die Verbindung mit der alten Heimat auch innerlich ganz gelöst hatte.

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Die Sorge für das Corpus und den Nachlaß Borghesis brachte ihn in nahe Berührung mit den französischen Forschern und mit dem Kaiser Napoleon, dessen einsichtige und tatkräftige Fürsorge für die Wissenschaft Mommsen nach seinem Sturze lebhaft anerkannt h a t . An der kaiserlichen Tafel hat er, vielleicht mehr als erforderlich war, die Stimmung durchblicken lassen, die er gegenüber dem Kaiserreiche und jener politischen und sozialen Atmosphäre empfand, im Grunde doch wenig anders als später der große Patriot E . Zola. Als dann der Krieg kam, focht Mommsen wieder mit ganzer K r a f t für die Sache des Vaterlandes; seine Feder war immer eine schneidende Waffe. E s war ihm beschieden, nach dem Siege im Namen der Universität die Tafeln zu weihen, auf denen ihre 1870 gefallenen Söhne neben denen der Freiheitskriege stehen. Der Chor sang ihnen ein Gedächtnislied, das der Rektor gedichtet hatte, und dieser empfand diese Stunde als einen Höhepunkt seines Lebens. Tiefe Wunden hatte der Krieg aber auch ihm geschlagen. Liebe Freundschaften waren zerrissen, und in Worten bittersten Schmerzes, deren edle lateinische Schönheit keine Nachbildung erreichen kann, hat er in einer III 1 (1873) p. VIII] geklagt, daß die Respublica Vorrede [CIL litterarum zertrümmert war. Wohl vertraute er, daß die Wissenschaft die unterbrochenen, nicht abgebrochenen Beziehungen wieder aufnehmen würde; aber er verzweifelte daran, es selbst noch zu erleben. E s versteht sich von selbst, daß er alles getan hat, um Frieden und Freundschaft wiederherzustellen, und wem diese Gefühle heilig sind,

270 wie sie es jedem sein müssen, der wert ist, an der Wissenschaft mitzuarbeiten, der empfindet es mit besonderer Dankbarkeit, daß es Mommsen beschieden war, seine letzte Auslandsfahrt zu unternehmen, um die Berliner Akademie in Paris zu vertreten, als dort die Association des Academies zum ersten Male öffentlich tagte, wie sich gebührte unter dem Vorsitz der ältesten und vornehmsten dieser Körperschaften. Der Greis, dem nicht nur die Fachgenossen, sondern jedermann mit Ehrfurcht begegnete, war für den Zauber der Stadt und des Volkes nicht minder empfänglich als es 60 J a h r e früher der Jüngling gewesen war. Ein Fremder aber war er wirklich nicht, hatte er doch die große Bewegung der französischen Literatur von Lamartine und Musset bis Rostand und Anatole France in allen Phasen mitverfolgt; wer sein Französisch hörte, konnte spüren, daß er sich noch an der strengen klassischen Sprache gebildet hatte, und in der Tat huldigte er

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liier sehr viel mehr klassizistischen Idealen als in seinem Lateinisch. So hat er auch noch Swinburne und Kipling gelesen, und belohnte die Freude, die ihm jemand durch die Gedichte der Ada Negri bereitet hatte, durch die Villa Gloria von Cesare Pascarella. Der goethische Geist ist niemals von ihm gewichen. Wissenschaftliche Beziehungen mit Amerika wird niemand erwarten; daß die menschlichen nicht fehlten, des sei das Bild Zeuge, das diesem Aufsatze beigegeben ist 1 ). Es ist für G. Bancroft gemacht und hat den Vorzug, Mommsen auf der Höhe seiner Kraft zu zeigen. So blickte der Feldherr, als er die Führung der Akademie übernahm. !) [hier

nicht wieder

abgedruckt;

vgl. S.

382].

3. Theodor Mommsen Wenn die schwere Zeit es nicht verböte, würden wir nicht versäumt haben, den Einzug in diese neuen schönen Räume durch eine Gedächtnisfeier zu weihen, denn es ist etwas Bedeutendes, Avas nun erreicht ist. Das philologische Seminar, das August Boeckh vor hundert J a h r e n bei der Gründung der Universität übernahm, hat sich ausgewachsen zu einem Institut, in dem alle Zweige der Altertumskunde vereinigt sind, so daß ihre Einheit und die Größe des Ganzen jedem Besucher immer vor Augen steht. An seiner Geschichte läßt sich die Geschichte der Wissenschaft und des Unterrichtes in ihr ablesen, und wie gern würden wir denen danken, die beides so hoch geführt haben. Das ist friedlichen Zeiten vorbehalten. Theodor Mommsen gehört nicht unter unsere Direktoren, aber seine Büste zeigt, daß wir ihn unter die Geister rechnen, die hier dauernd walten sollen, und so durften wir uns nicht versagen, seiner am heutigen Tage zu gedenken, da seit seiner Geburt ein Jahrhundert verstrichen ist. E s trifft sich gut, daß in wenigen Tagen Winckelmanns zweihundertster Geburtstag kommt. Denn gern stellt man Mommsen und Winckelmann zusammen. Zwei grundverschiedene norddeutsche Männer, der Friese mit dem stolzen ungebändigten Selbstgefühl, das auf der freiwilligen Selbsthingabe an die Wissenschaft beruht, und der Altmärker, der sich die innere Freiheit mühsam durch beständiges Ducken und Lavieren erhält; jener ein Mann aus einem Gusse, dieser eine problematische Natur. Aber Eroberer sind sie beide, beide begabt mit dem Tiefblicke, der in der Fülle der Erscheinung das Gesetz, die Idee erschaut, beide Rompilger, die nur ganz würdigt, wer wehmütig 3. Ansprache, gehalten am 30. November 1917 im Institut für Altertumskunde der Berliner Universität. Sokrates, Zeitschr. i. d. Gymnasialwesen, N. F. 6 (1918) 1-10.

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s c h e i d e n d seinen B a j o c c o i n die F o n t a n a T r e v i g e w o r f e n h a t , u n d d o c h so sehr d e u t s c h , d a ß der A u s l ä n d e r g e z w u n g e n ist, sich in u n s e r W e s e n z u v e r s e n k e n , w e n n er die v e r s t e h e n will, bei d e n e n er d o c h l e r n e n m u ß . W i n c k e l m a n n ist schon ganz historisch g e w o r d e n . N i c h t m e h r wird der A n f ä n g e r , wie es n o c h i n m e i n e r L e r n z e i t w a r , n o t w e n d i g Winckelm a n n s G e s c h i c h t e der K u n s t lesen, greift er d a n a c h , so suche er sich 2 a b e r n i c h t die b e r ü h m t e n H y m n e n auf den Apoll u n d d e n Torso h e r a u s . M o m m s e n ist n o c h f a s t ein L e b e n d e r , u n d er w ü r d e es n o c h m e h r sein, w e n n n i c h t der K r i e g alles F r ü h e r e wie in eine a n d e r e W e l t schöbe. A b e r d a s ist M o m m s e n der Greis, der F e r t i g e , V o l l e n d e t e . D e n n wir sehen j a die j ü n g s t A b g e s c h i e d e n e n leiblich u n d geistig in i h r e r l e t z t e n E r s c h e i n u n g . D a s ist n i c h t gerecht. I m K a m p f e zeigt sich der H e l d , a u c h die M e n s c h e n b l ü t e ist in der K n o s p e a m s c h ö n s t e n ; freilich w ü r d i g t ihre S c h ö n h e i t erst, w e r die F r u c h t g e k o s t e t h a t , u m d e r e n t w i l l e n die K n o s p e sich erschließen, die B l ü t e w e l k e n m u ß t e . U n d so will ich v o n d e m j u n g e n M o m m s e n r e d e n , z u m a l ich zu u n s e r e r J u g e n d r e d e , n i c h t n u r der a n w e s e n d e n , u n t e r der so m a n c h e m i t e h r e n v o l l e n W u n d e n geistig d e n n o c h g e s t ä r k t aus d e m K r i e g e h e i m g e k e h r t s i n d : ich d e n k e a u c h derer, die b e v o r z u g t sind, d r a u ß e n die W a f f e n o c h w e i t e r f ü r d a s V a t e r l a n d zu f ü h r e n . E s b i l d e t d a s T a l e n t sich in der Stille. Still u n d e n g w a r d a s P f a r r h a u s v o n Oldesloe, in d e m er a u f g e w a c h s e n ist. G e b o r e n w a r er n o c h in G a r d i n g , u n w e i t des B a u e r n h o f e s , auf d e m seine A h n e n m i n d e s t e n s ein v i e r t e l J a h r t a u s e n d gesessen h a t t e n , v e r m u t l i c h viel viel l ä n g e r , als A u t o c h t h o n e n . J e t z t h a t t e die Ü b e r s i e d e l u n g die V e r b i n d u n g m i t der v ä t e r l i c h e n F a m i l i e gelöst, w ä h r e n d die d e r M u t t e r n a c h A l t o n a hinü b e r w i e s , wo T h e o d o r a u c h einige J a h r e die Schule b e s u c h t h a t . D e r Vater, durch Begabung und Wissensdrang zum Studium, dann zur Theologie g e d r ä n g t , f ü h r t e ein g e d r ü c k t e s L e b e n , ä u ß e r l i c h , d a er in der z w e i t e n P f a r r s t e l l e des kleinen Ortes v e r b l i e b , innerlich a u c h ; d a w a r e t w a s g e k n i c k t , das er doch seinen drei S ö h n e n m i t der Leiblichkeit v e r e r b t h a t , das n u n in allen, in T h e o d o r a m reichster» u n d f r e i e s t e n z u r E n t f a l t u n g k a m . I h n e n d a z u die Möglichkeit zu g e w ä h r e n , d a r a n s e t z t e n die E l t e r n alles; es w a r ihre F r e u d e u n d ihr T r o s t . E i n wenig v o n d e m H a n g e z u t r ü b e r S t i m m u n g n e b e n gelegentlicher Ausgelassenh e i t g e h ö r t e a u c h zu d e m V a t e r e r b e ; a b e r d a v o n ist bei d e m j u n g e n T h e o d o r n o c h k a u m e t w a s zu s p ü r e n . G a n z leicht ist seine S t u d i e n z e i t in d e m n a h e n kleinen Kiel sicherlich n i c h t g e w e s e n ; die Sorgen der

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Eltern hat er früh geteilt und nach Kräften erleichtert, auch dadurch, daß er eine Weile Mädchenlehrer in Altona war, wo eine Tante ein Pensionat leitete. Aber schön war das enge Zusammenleben mit den Brüdern und einem jüngeren Schwesterchen doch, und namentlich darf nicht unterschätzt werden, daß er, der Jurist, in dem nur ein J a h r jüngeren Bruder Johannes-Tycho einen Philologen zur Seite hatte, der seinen Pindar gerade damals auch von der historischen Seite zu betrachten versuchte. Wir nennen den trefflichen Mann und Gelehrten Tycho mit dem Namen seiner Wahl; auch Theodor hatte versucht, sich J e n s umzunennen, ist aber davon zurückgekommen. Uber seine Studentenzeit wissen wir wenig, über sein wissenschaftliches Werden 3 nichts. Das befremdet, da er bekanntlich zuerst auch als Lyriker aufgetreten ist. Diese Gedichte zeigen ein hervorragendes Formtalent, er bevorzugt künstliche Gebilde, ottave rime, Sonett, Spenserstrophe, in der Suche nach seltenen Reimen folgt er Freiligrath, und diese Neigungen hat er nie verloren, wie er denn als Gelegenheitsdichter, und nicht nur dann, Verse machte, und zwar durchaus in den alten Tönen. Man würde seine Beiträge zum Liederbuche dreier Freunde ganz sicher auf die J a h r e ihres Entstehens datieren. Darin liegt schon, daß sie, wie gemeiniglich solche Jugenddichtung, der Widerklang kenntlicher Vorbilder auch in Stimmung und Motiven sind, selbst wenn persönliche Anlässe zugrunde liegen. Von dem ernsten Ringen und Streben des künftigen Forschers, von Hoffen und Glauben klingt k a u m etwas durch; nur hie und da ein echt Mommsenscher Zug des schneidenden Spottes; am ehesten wird man den Verfasser in den Parabasen heraushören, die er selbst so nennt und so den Einfluß Platens verrät, den man neben Mörike kaum erwartet; Mörike hat hier eine seiner ersten Huldigungen erfahren. Wie wenig also diese Verse auch ausgeben: auf Jugendmut und Jugendlust lassen sie hinreichend schließen, und durch die Empfänglichkeit für Lebensgenuß und Geselligkeit hat er sich auch später die Spannkraft seines Geistes, jene Unermüdlichkeit erhalten, die wirklich fabelhaft war, und von der Fabeln genug umgehen. Einige schöne Zeilen mögen doch künden, was ihm sein Dichten war. E s ist doch süß, wenn man das bittre Denken, den schweren Ernst gedankenlos verträumt, so süß wie mit dem Arm die Flut zu lenken, die erst das Boot gewaltig überschäumt.

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E s ist wie süßer Märchen leises Regen — ihr wißt, im Märchen glückt es nur dem Trägen. Wenn dann dich so die Augenblicke tragen, wie Meeresvögel trägt der günst'ge Wind, so magst du wohl von guten Stunden sagen, von den Minuten, welche ewig sind. Diese J a h r e der Arbeit und des Spieles fanden in dem juristischen E x a m e n ihren Abschluß, das er mit dem ersten 'Charakter' bestand, ein Erfolg, der den Eltern die feierlichen Glückwünsche von ganz Oldesloe eintrug und in der T a t den Grund zu allem legte. Denn nun fand sich ein Gönner, der die Mittel zur Promotion, summa cum laude, gewährte, und der Landesherr, der König von Dänemark, erteilte ihm ein Reisestipendium in der ungewöhnlichen Höhe von 600 Talern. Am 20. September 1844 schiffte er sich in Hamburg nach Havre ein; Paris war das erste Reiseziel. Hinaus in die weite große Welt ging es aus mehr als provinzieller, kleinstädtischer Enge. Wo sollte das den jungen Doktor iuris hinführen? Wer hätte das zu sagen gewagt? E r sagte es sich im Herzen. E r ist nicht ausgezogen, wie Saul, der Sohn Kis, der ausging, seines Vaters Esel zu suchen, und ein Königreich f a n d : 4 er zog aus, sich das Königreich zu erobern, das er gewonnen hat, das Corpus Inscriptionum Latinarum. 'Wie lange sollen wir auf das Corpus noch warten?' Mit dieser Frage schließt das Büchlein De collegiis et sodaliciis Romanorum [1843J, mit dem er sich schon vor seiner Dissertation bei der gelehrten Welt eingeführt hatte, und das in der T a t schon den fertigen Gelehrten zeigt. E s verweist auch auf den Mann, der, Freund und Lehrer zugleich, doch mehr F r e u n d , allein einen bestimmenden Einfluß auf sein wissenschaftliches Werden ausgeübt hat, Otto J a h n , der kurze Zeit in Kiel Privatdozent gewesen war. J a h n hatte Italien bereist, er konnte die Sehnsucht nach R o m nähren; er hatte aus des Dänen Kellermann Nachlaß Vorarbeiten zu einer Inschriftsammlung erworben und damit den P l a n des großen Corpus aufgenommen, der damals in der Luft lag. Mommsen äußert in j e n e m Schlußworte noch die Hoffnung, daß dies zur Ausführung k ä m e ; aber daß J a h n zu der Unternehmung weder B e r u f noch Neigung hatte, kann er nicht verkannt haben. E r selbst hat te sich mit Feuereifer auf die Inschriften gestürzt, deren Bedeutung für seine juristischen Studien ihm sofort klar geworden war, und die

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Herstellung ihres Textes hatte ihn gereizt. Denn von J a h n hatte er auch den Hinweis auf Lachmann erhalten, den größten Sprachmeister, wie er ihn genannt hat, und so ist er bereits ein Textkritiker so recht in Lachmanns Sinne, als er auszieht: eine schöne philologische Entdeckung, eine Blattversetzung in Ciceros Briefen, war ihm bereits gelungen. So beginnt er denn die herrlichsten Wanderjahre. Durch das schöne Frankreich geht der Zug. E r sieht die erste Weltstadt in Paris, damals wirklich die Hauptstadt Europas. E r geht auf die Bibliothek, und sofort beginnt er ein Suchen, das sich durch Funde lohnt, und kann ein Ineditum an Bergk schicken. E r durchmißt Frankreich, Montpellier, Marseille, er betritt Italiens ersehnten Boden, Rom wird erreicht. Dort wird er heimisch. Bald spricht er auch diese Sprache so, daß er sich gleich vertraulich unter Canonici, Conti und Lazzaroni bewegen kann, und er bewegt sich auch unter allen, aber als der freie Mann, der keinerlei gesellschaftliche Bande trägt, ganz anders als der Abate Winckelmann. E r steht nun vor den Steinen, und es erfaßt ihn der rechte Ekel vor der Epigraphik, die zu Hause am Gedruckten herumirrlichteliert. Die Steine selber suchen, das macht die Aufgabe ungeheuer, aber so ist sie einmal: das Ungeheure reizt ihn nur. Wirkliche Epigraphik gibt es nur, wo es die Steine gibt; er muß sie lernen. Daher pilgert er hinauf nach San Marino, wo Bartolomeo Borghesi sitzt, der für ihren vollkommenen Meister gilt, und gewinnt sich als gelehrigster Schüler dessen Herz. Arbeit gibt es auch in R o m die Fülle, aber es zieht ihn hinaus aufs Land, in die alten Kleinstädte, dort selbst nach den Steinen zu sehen und neue zu suchen. So hat er das Königreich Neapel kreuz und quer durchstreift, in jenen Jahren ein Wagnis, aber die 5 Abruzzesen merkten bald, daß Schätze bei diesem seltsamen Fremden nicht zu holen waren, der sich arglos unter sie mischte, und so übten sie die Gastfreundschaft der Wilden. Sie war oft minder beschwerlich als der Verkehr mit den Lokalgrößen. Wer ähnliche Pfade gewandelt ist, kennt die Küsse mit Schnupftabak, die geistliche Herren zum Abschied austeilten. Entbehrungen an Reinlichkeit, Schlaf und Nahrung brachte Apulien und Calabrien genug; aber das hat Mommsen nie empfunden, und zum Entgelt bot Neapel ein Schlaraffendasein, und auch das genoß er gern. I m ganzen waren diese Jahre köstlich in der Freiheit und Neuheit, in der erfrischenden Einsamkeit, arm an Ereignissen, reich an Arbeit und Gewinn. Die Winter brachten in Rom

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den a n r e g e n d e n V e r k e h r m i t j u n g e n u n d a l t e n G e l e h r t e n aller N a t i o n e n , die F r e u n d s c h a f t m i t J u l i u s F r i e d l ä n d e r , d e m n u m i s m a t i s c h e n , u n d m i t W i l h e l m H e n z e n , d e m e p i g r a p h i s c h e n Genossen. Sie b r a c h t e n i h n a u c h d e n I t a l i e n e r n so n a h e , d a ß sie i h n f a s t als e i n e n d e r I h r e n z ä h l t e n . D a s s p ä t e r e L e b e n h a t i h n als b e r ü h m t e n M a n n n o c h o f t i n das L a n d g e f ü h r t , als es k e i n regno di N a p o l i m e h r g a b . E r h a t t e a n d e r Befreiung u n d Einigung Italiens lebhaften Anteil genommen, war mit f ü h r e n d e n S t a a t s m ä n n e r n wie Q u i n t i n o Sella b e f r e u n d e t , n i c h t weniger m i t G i a m b a t t i s t a Rossi, der d e m V a t i k a n t r e u b l i e b ; es v e r k ö r p e r t e sich in i h m die d a m a l s n a h e B e z i e h u n g zwischen D e u t s c h l a n d u n d I t a l i e n . B a l d n a c h 70, als j e d e r P r e u ß e ü b e r a l l m i t o f f n e n A r m e n a u f g e n o m m e n w a r d , stieß i h m in N e a p e l d a s A b e n t e u e r zu, d a ß er a u f d e m W e g e n a c h Camaldoli angefallen u n d i h m die U h r a b g e n o m m e n w a r d . Sofort k a m a u s R o m a n die Polizei d e r B e f e h l , die U h r z u schaffen, u n d er b e k a m sie wieder. ' D a s h ä t t e m i r i m T i e r g a r t e n ebenso passieren k ö n n e n ' , s a g t e er, ' n u r h ä t t e sich k e i n Minister d a r u m b e m ü h t , u n d ich h ä t t e sie a u c h n i c h t w i e d e r b e k o m m e n ' . Gewiß b e z e i c h n e n d u n d r i c h t i g ; a b e r er b e k a m sie n u r wieder, weil die N e a p l e r Polizei m i t der C a m o r r a sich u n t e r d e r D e c k e v e r s t ä n d i g t e ; d e m R ä u b e r geschah n i c h t s zu Leide. I n den l e t z t e n J a h r e n e m p f a n d M o m m s e n sehr lebh a f t die E n t f r e m d u n g , persönlich u n d politisch, die als ein E r f o l g des n a t i o n a l i s t i s c h e n G r ö ß e n w a h n e s u n d der p a r l a m e n t a r i s c h e n K o r r u p t i o n i m m e r deutlicher h e r v o r t r a t . I t a l i e n s V e r r a t w ü r d e i h n n i c h t gew u n d e r t h a b e n ; a u c h i h n h a b e n sie v e r r a t e n . D o c h wir s t e h e n n o c h in der Mitte der vierziger J a h r e , M o m m s e n ist n o c h r a g a z z o i m archäologischen I n s t i t u t u n d l e b t das schöne h ö h e r e S t u d e n t e n l e b e n j e n e r Zeit, das leider keine D a r s t e l l u n g g e f u n d e n h a t u n d n u n n i c h t m e h r finden k a n n . A u f g e h ö r t h a t es j a schon seit J a h r z e h n t e n . I n d e m , w a s er d a m a l s schafft, o f f e n b a r t sich n o c h eine Seite seiner vorbildlichen G r ö ß e , die d e n m e i s t e n B e t r a c h t e r n e n t g e h t . Weil er sich der W i s s e n s c h a f t als D i e n e r v e r s c h w o r e n h a t , n i m m t er j e d e A u f g a b e a u f , die sie i h m v o r die F ü ß e w i r f t , einerlei, ob er Zeit u n d L u s t h a t , ob er v o r b e r e i t e t ist. E s ist i h m P f l i c h t , u n d er z a u d e r t n i c h t . D a ß er die A b s c h r i f t e n v e r l o r e n e r Steine möglichst bis auf d e n z u r ü c k - 6 verfolgen m u ß , der d e n Stein gesehen h a t , liegt in seiner A u f g a b e , a b e r es h a t i h n ganz tief in die Geistes- u n d G e l e h r t e n g e s c h i c h t e v o n d e r K a r o l i n g e r z e i t bis in u n s e r e T a g e g e f ü h r t , o f t sehr v e r s c h l u n g e n e P f a d e . D a b e i h a t er i m m e r wieder d u n k l e n E h r e n m ä n n e r n die M a s k e

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a b r e i ß e n m ü s s e n , u n d u n t e r diesen F ä l s c h e r n b e f i n d e n sich r e c h t vorn e h m e N a m e n , a u c h sie aus allen Zeiten, h a r m l o s e Gesellen, die k a u m •wissen, w a s sie t u n , r a f f i n i e r t e B e t r ü g e r , M o n o m a n e n , die n u r i h r e r L u s t f r ö h n e n , Gelehrte, die sich a n der U b e r t ö l p e l u n g der C o n f r a t r e s e r g ö t z t e n . E r h a t sie n a c h V e r d i e n s t b e h a n d e l t , b a l d m i t e r n s t e r S t r e n g e , b a l d m i t g u t m ü t i g e m H u m o r das U r t e i l gesprochen. E s ist i h m w o h l ö f t e r b e g e g n e t , z u r a s c h einen T e x t zu v e r w e r f e n , g e t ä u s c h t ist er k a u m j e . A u f seinen Reisen in der T e r r a d ' O t r a n t o , d e m a l t e n Messapien, k a m e n i h m I n s c h r i f t e n in u n b e k a n n t e r S p r a c h e zu G e s i c h t ; U n t e r italien b r a c h t e hie u n d d a oskische T e x t e ; hier u n d auf e t r u s k i s c h e n G e f ä ß e n f a n d e n sich sowohl italische A l p h a b e t e wie ihre griechische V o r l a g e . W i e h i n g das alles z u s a m m e n , S c h r i f t u n d S p r a c h e ? D a r a u f k o n n t e n i e m a n d die A n t w o r t v o n d e m J u r i s t e n e r w a r t e n , u n d m a n c h e r Philologe w ü r d e sich gescheut h a b e n , das schlüpfrige Gebiet zu bet r e t e n . M o m m s e n a b e r s t ü r z t e sich in die G r a m m a t i k , in das, w a s m a n S p r a c h v e r g l e i c h u n g n a n n t e , u n d schrieb seine U n t e r i t a l i s c h e n Dial e k t e , ein B u c h , v o n d e m er s p ä t e r n i c h t s wissen wollte u n d d a s d o c h i m h ö c h s t e n Sinne B e w u n d e r u n g v e r d i e n t , sowohl als g r a m m a t i s c h e wie als historische U n t e r s u c h u n g . T o p o g r a p h i s c h e F r a g e n m u ß t e n i h m fernliegen, d e n n sein Auge, in der N ä h e w u n d e r b a r scharfsichtig, vers a g t e i h m , das G e l ä n d e i m g a n z e n a u f z u f a s s e n . D e n n o c h h a t er d a m a l s a u c h in solche F r a g e n eingegriffen. Die N u m i s m a t i k b e g a n n er ebenfalls h e r a n z u z i e h e n , u n d welcher Segen, d a ß er es als H i s t o r i k e r t a t . D a s w a r er g e w o r d e n ; a b e r er t r ä g t die Geschichte in sich als d e n R a h m e n , d e m er alle einzelnen E r s c h e i n u n g e n e i n o r d n e t ; sicherlich lag i h m ganz f e r n , d a ß er sie j e m a l s z u r D a r s t e l l u n g b r i n g e n sollte. W a s er f ü r sich i m m e r i m Auge h a t , ist das Corpus I n s c r i p t i o n u m , die S a m m l u n g aller l a t e i n i s c h e n I n s c h r i f t e n , v o n d e n e n R o m u n d I t a l i e n d o c h n u r einen B r u c h t e i l liefern. U m das Corpus g e h t sein K a m p f , das ist die B r a u t , die er aus d e m B a n n e erlösen m u ß , die er h e i m f ü h r e n will. I m B a n n e h ä l t sie die Berliner A k a d e m i e , u n d der feindliche Z a u b e r e r ist A u g u s t B o e c k h . So ist es; die W i s s e n s c h a f t d u l d e t keine B e s c h ö n i g u n g , a m allerwenigsten bei i h r e n F ü r s t e n . U m das P r i n z i p k o n n t e es sich n i c h t h a n d e l n ; d a ß auf die Steine selbst z u r ü c k g e g a n g e n w e r d e n m ü ß t e , k o n n t e n i e m a n d b e s t r e i t e n . A b e r seine D u r c h f ü h r b a r k e i t w a r e t w a s ganz a n d e r e s . D a s P r i n z i p w a r f ü r die H a n d s c h r i f t e n z u g e s t a n d e n , a b e r L a c h m a n n h a t t e d o c h die r ö m i s c h e n E l e g i k e r her-

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ausgegeben, ohne das notwendige Material zu besitzen, und diese Ausgaben galten als vorbildlich. Die Jugend machte E r n s t ; Tycho Momm- 7 sen reiste eben jetzt in dem Sinne für seinen Pindar und hat Boeckhs berühmte Ausgabe nach dieser Seite überholt. Boeckh hatte weder handschriftliche noch epigraphische Arbeit vor den Originalen gemacht, und auch als er aus Athen Abklatsche erhielt, waren sie ihm doch nur Texte, die er mit glücklichstem Scharfsinn ergänzte; an das Monument, von dem sie stammten, dachte er kaum, brauchte es auch nicht. Daher fehlte ihm die Vorbedingung, Mommsens Forderungen und Leistungen so zu schätzen, wie es E d u a r d Gerhard tat, der die Monumente kannte und immer Mommsens Partei nahm. Dagegen nach einer anderen Seite war Boeckh der einzige Sachverständige; er schätzte die Schwere des Unternehmens, den Mangel an Mitarbeitern, die Kosten. Und in der T a t , mit den damaligen Mitteln der Akademie ließ sich das Werk nicht durchführen, und auf ihre Vermehrung war keine Aussicht. Sie war es eigentlich auch nicht, als Mommsen schließlich den Auftrag erhielt; dazu mußte erst ein Bismarck kommen, der Preußen die K r a f t gab, auch solche Pläne zu verfolgen, und dann war immer noch der Erfolg von Mommsens ersten Bänden und sein persönlicher Einfluß notwendig, den er doch erst als Akademiker, erst recht als Boeckhs Nachfolger im Sekretariate der Akademie gewonnen hat. Und fertig ist das Corpus doch bis heute nicht. Dafür ist es aber auf Mommsens Grundsätzen erbaut, und nicht nur d a s : Boeckhs Corpus hat sich diesen Grundsätzen unterworfen, und wer immer auf Erden Epigraphik wissenschaftlich betreibt, der ist Mommsens Schüler und weiß, daß er es ist; bestreitet er es, so ist es eine bewußte Lüge. Das lag alles noch im Schöße dunkler Zukunft. In seinen römischen Tagen waren die Verhandlungen mit Berlin aufregend und selten ermutigend. So treu ihm J a h n zur Seite stand und obwohl kleinere Unterstützungen nicht ausblieben, zum Teil durch Savignys hochherziges Eintreten, endlich kam doch der Scheidetag; er mußte heimkehren, sogar wieder Mädchenlehrer werden und empfand 1849 die Berufung nach Leipzig zum juristischen Extraordinarius geradezu als Erlösung. J a h n führte hier den Freund in einen weiten Kreis bedeutender Männer, in dem er für das Leben heimisch ward. Aber schon hatte die politische Bewegung ihn in ihren Strudel gezogen. E r hatte eine Weile in Kiel den Zeitungsredakteur gespielt, in Leipzig ereilte ihn gar nach 3

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d e m Siege der R e a k t i o n die A m t s e n t s e t z u n g . D a s h i n d e r t e alles seinen K a m p f u m d a s Corpus n i c h t . I n zahlreichen kleinen k ö s t l i c h e n A u f s ä t z e n schießt er K u g e l auf K u g e l a b . J e d e r ist ein T r e f f e r . J e d e s m a l k o m m t a n d e n T a g , wie unabweislich seine F o r d e r u n g e n sind, welche S c h ä t z e dieser Sucher findet, welche s c h e i n b a r e n S c h ä t z e sich als K a t z e n g o l d ausweisen, welche B e l e h r u n g dieser B e a r b e i t e r d e m gesicherten Materiale zu e n t n e h m e n weiß. E n d l i c h folgt das s c h w e r e G e s c h ü t z . E r will zeigen, wie eine I n s c h r i f t s a m m l u n g a u s s i e h t , w e n n 8 sie richtig, w e n n sie v o n i h m g e m a c h t wird, u n d d a er in seinem F r e u n d e , d e m B u c h h ä n d l e r H ä r t e l , einen w a g e m u t i g e n Verleger findet, k a n n er 1852 die Inscriptiones regni Neapolitani erscheinen lassen. D a s B u c h sieht j a j e t z t n i e m a n d m e h r a n , d e n n er h a t es d u r c h die N e u b e a r b e i t u n g innerh a l b des Corpus selbst der Vergessenheit ü b e r a n t w o r t e t , u n d d o c h ist dies das W e r k , das die E n t s c h e i d u n g g e b r a c h t h a t . D a begriff d e n n d o c h j e d e r , d a ß hier der r e c h t e M a n n w a r , u n d u n t e r gewissen eins c h r ä n k e n d e n B e d i n g u n g e n ü b e r t r u g i h m die A k a d e m i e das C o r p u s . N o c h a b e r w a r er n i c h t so gestellt, d a ß er sich ganz dieser A u f g a b e w i d m e n k o n n t e . Die j u r i s t i s c h e P r o f e s s u r in Z ü r i c h , d a n n in Breslau f o r d e r t e seine K r a f t in erster Linie, u n d n e b e n h e r schrieb er die Römische Geschichte. F ü r diese w a r die V e r z ö g e r u n g w i l l k o m m e n . E r s t 1857 w a r d er als A k a d e m i k e r n a c h Berlin b e r u f e n u n d d a m i t z u m H e r r n in seinem H a u s e . Seine B e r u f u n g w a r eine der e r s t e n A m t s h a n d l u n g e n des P r i n z r e g e n t e n W i l h e l m . N a c h w e n i g J a h r e n t r a t er a u c h in die philosophische F a k u l t ä t als P r o f e s s o r der Geschichte. N u n w a r er der M o m m s e n , d e n wir alle k e n n e n . Die E p i g r a p h i k h a t i h n n o c h in m a n c h e L a n d e g e f ü h r t , n a c h U n g a r n u n d S i e b e n b ü r g e n , a n den Hof v o n St. Cloud u n d in die z a u b e r h a f t e K l o s t e r w e l t v o n O x f o r d , a b e r Berlin w a r d o c h d u r c h ihn z u r K a p i t a l e des e p i g r a p h i s c h e n i m p e r i u m R o m a n u m g e m a c h t . N e b e n dieser L e b e n s a r b e i t gingen die j u r i s t i s c h - h i s t o r i s c h e n S t u d i e n , die e m p o r f ü h r t e n z u m S t a a t s r e c h t , d e m f ü n f t e n B a n d e der Geschichte, schließlich z u m S t r a f r e c h t , in d e m der Greis auf G e d a n k e n der f r ü h e s t e n J u g e n d zurückgriff, wie d e n n ü b e r h a u p t der J u r i s t z u l e t z t v o r w o g . D a s verfolge ich n i c h t . W o h l a b e r n o c h ein W o r t d a r ü b e r , wie er das w e i t e r ü b t e , w a s ich die D i e n s t b a r k e i t g e g e n ü b e r der W i s s e n s c h a f t gen a n n t h a b e . W a s er f ü r die S t e i n s c h r i f t e n leistet, die u r k u n d l i c h e H e r stellung des T e x t e s , das s u c h t er a l l m ä h l i c h d e m g a n z e n l i t e r a r i s c h e n N a c h l a ß des R ö m e r t u m e s zu v e r s c h a f f e n . Z u e r s t den R e c h t s b ü c h e r n ,

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die es besonders nötig hatten. Da hat er es selbst oder durch andere vollkommen erreicht, noch zuletzt für den Codex Theodosianus. Einer Reihe spätlateinischer Texte zu helfen, gaben die Monumenta Germaniae erwünschte Gelegenheit; auch dies führt er leitend bis zu Ende, bearbeitet selbst nicht nur den schwierigen Jordanes und die drei Bände Chroniken, denen sicherlich kein anderer gewachsen war, sondern tritt auch für einen versagenden Bearbeiter im Cassiodorius ein. E r hält sich nicht für zu gut, von einem elenden Compendium wie dem Solinus eine Musterausgabe zu liefern, sogar zweimal, die nur zu wenige Nachachtung gefunden hat. Unübersehbar aber sind die Texte, an denen er in dieser oder jener Weise helfend und belehrend Hand angelegt hat. Zu den Briefen des Plinius von Keil hat er gar den Personenindex geliefert. Diese aufopfernde Mitarbeit, die sich auf die Bände des Corpus und der auctores antiquissimi pflichtmäßig erstreckte, d. h. so, wie er seine Pflicht auffaßte, muß bei der Schätzung seiner Lebensarbeit wesentlich in Rechnung gesetzt werden; es steckt 9 aber auch darin eine Offenbarung nicht nur seines Wissens und Könnens, sondern seines Wollens, seiner bezaubernden Persönlichkeit. Weh dem, der diese Mitarbeit nicht vertragen konnte oder sie verscherzte; es ist auch das vorgekommen. Der hat damit die Wissenschaft selbst von sich gewiesen. Mommsen wünschte gleiche Teilnahme anderer auch an seiner Arbeit, wünschte Kritik und Belehrung. Hier spreche ich aus Erfahrung: es kann keinen höheren Genuß geben, keine stärkere innere Förderung in dem, was da gerade zur Debatte stand und in dem, was wissenschaftliches Forschen überhaupt ist, als dieses Zusammenarbeiten, wo die Person hinter der Sache zugleich verschwand und alles durchleuchtete. Man preist Mommsen als den großen Organisator, als einen der Begründer des Großbetriebes in der Wissenschaft. Dieser hat seine Berechtigung insofern, als große Aufgaben sich nur lösen lassen, wenn sie den Zufälligkeiten des Menschenlebens möglichst entzogen, planmäßig und von fester Hand eines Leiters geführt werden, also auch viele in einer gewissen Abhängigkeit halten. Aber die Organisation garantiert nicht die Güte der Arbeit; sie kann die Gefahr bringen, daß der Rahmen gespannt wird, aber halbleer bleibt oder auch minderwertig ausgefüllt wird, weil er einmal gespannt ist. Denn wissenschaftliche Arbeit ist am Ende immer etwas Individuelles. Ich fürchte, daß Mommsen mit der Zeit das Rahmenspannen überschätzte 3*

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und die Gefahr der unzulänglichen Lösungen unterschätzte. Dann lag das aber eben daran, daß er selbst immer bereit war, auf jedem Gebiete, wo es not zu tun schien, die ganze K r a f t einzusetzen und das Ganze zu leisten. Auch in dem großen Organisator wollen wir den großen Gelehrten, den vorbildlichen Diener der Wissenschaft preisen. Das sage ich der J u g e n d vor allem. Ein so überragender Geist und eine so unnachahmliche Leistung soll uns nicht niederdrücken, weil wir nichts entfernt Vergleichbares erreichen werden. Ganz im Gegenteil. Denn auf das Quantum, das Was, kommt es nicht an, sondern auf das Wie. Die Gesinnung, aus der er schuf, die Dienstwilligkeit gegenüber der Wissenschaft können und sollen wir auch besitzen; gerade dann werden wir auch das erhebende Gefühl der Freiheit nicht einbüßen, selbst wenn wir uns der organisierten Wissenschaft als ein dienendes Glied einfügen, denn wir sind nicht das Glied einer Maschine, sondern leisten unsere Arbeit, in der unsere individuelle Seele lebt. Mit dem Loben und dem Danken ist es nicht abgetan, wenn man den Geist eines großen Toten aufruft. Lob braucht er nicht, und der rechte Dank wird nur durch die Tat geleistet. Helfen soll er uns, zu erfüllen, was unser Lebenstag von uns fordert. E r hat im Leben so vielen geholfen; diese K r a f t besitzt er noch heute. Vertrauen Sie sich seiner 10 Führung an, wie wir es getan haben. Lernen Sie aus seinen Schriften nicht nur die Sachen, sondern die rechte Weise, die rechte Gesinnung des Forschers. Dringen Sie durch bis zu seiner lebendigen Seele. E s ist etwas Großes, wie dieser Mann ganz das wird, was er zu werden berufen ist, was er werden will, weil er den Beruf dazu in sich fühlt. Auch an Winckelmanns Leben ist dies das Große. Aber erreicht hat er es nur, weil er sich ganz diesem Berufe opferte. E r hat das Leben eingesetzt, darum hat er das Leben gewonnen.

4. Theodor Mommsen W a r u m h a t er d e n v i e r t e n B a n d d e r R ö m i s c h e n G e s c h i c h t e nicht geschrieben? Am 30. November ist Theodor Mommsens hundertster Geburtstag. Auch wenn kein Krieg wäre, würden wir keine Gedächtnisfeier halten; dazu ist Mommsen noch viel zu lebendig. Noch herrschen die Gedanken des Forschers und des Organisators zu unmittelbar in der Wissenschaft, der er diente; erst wenn die Arbeit neue Wege eingeschlagen hat und selbständige Forscher über ihn hinausgeschritten sind, wird die Zeit zu rückschauender, bei aller Dankbarkeit abwägender Betrachtung gekommen sein. Aber seine Römische Geschichte, für die meisten das Werk, nach dem sie auch den Gelehrten beurteilen (also falsch beurteilen), ist über fünfzig J a h r e alt und wäre daher längst zu solcher Beurteilung reif, auch wenn die Wissenschaft nicht gerade durch ihn auf diesem Gebiete so gewaltige Fortschritte gemacht hätte wie k a u m auf einem anderen. Das gilt zunächst nur von den ersten drei B ä n d e n ; man darf es aber auf den fünften ausdehnen, den er 1885 folgen ließ, entschlossen, den vierten nie zu schreiben, wenn er auch äußerlich diese Möglichkeit offen ließ. Das hat die Folge gehabt, daß er immer wieder gedrängt ward, die Lücke zu füllen, nicht nur von urteilslosen Bewunderern, sondern auch von berechnenden Schmeichlern, die wissen mußten, daß er es nicht konnte, j a daß es unmöglich war, weil der fünfte B a n d ein selbständiges Werk war, unvereinbar mit dem alten, ebenso selb- 206 ständigen. E s mag sein, daß er in den letzten Jahren sinkender K r a f t mit einer Möglichkeit gespielt hat, die er verworfen hatte, als er noch ganz er selbst war. Gelegentlich stößt man in Kleinigkeiten, wie er sie für Tages- und Monatsblätter hinwarf, auf Versuche, den Stil der 4. Internationale (1918)205-220.

Monatsschrift für "Wissenschaft,

Kunst

und

Technik

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4. Theodor Mommsen, Rom. Geschichte IV (1918)

Jugend zu erzwingen, die doch nicht vorteilhaft von der monumentalen Schlichtheit seiner reifen Meisterwerke und dem großartigen Ethos seiner akademischen Reden abstechen. In Wahrheit war es immer eine Unmöglichkeit, die Römische Geschichte fortzusetzen. Gewiß mußte es ihn reizen, mußte es ihn einen inneren Kampf kosten, darauf zu verzichten; aber dieser Kampf war viel früher ausgekämpft, die echte Wissenschaftlichkeit des Gelehrten hatte über die Verlockungen eines äußerlichen schriftstellerischen Erfolges gesiegt. Darin liegt Größe. Das darf nicht vergessen werden. Ich weiß darum; darüber zu berichten ist auch für mich an der Zeit. Als 1856 die Römische Geschichte fertig war, mußte ihr Verfasser wie die ganze Welt überzeugt sein, daß ein abgeschlossenes Werk vorlag. Weiter dachte niemand. Nicht eigener Entschluß, sondern ein Antrag Karl Reimers hatte Mommsen zu dieser Arbeit getrieben. In unfreiwilliger Muße hatte sie der abgesetzte Leipziger Extra207 Ordinarius begonnen; der juristische Ordinarius von Zürich und Breslau hatte sie mit unvergleichlicher Energie vollendet. Die erste Neuauflage brachte noch bedeutende Besserungen. Dann kam die Übersiedelung nach Berlin, wo endlich der zähe Widerstand in der Berliner Akademie gegen seine Leitung des Corpus Inscriptionum überwunden war. Rasch folgte der Eintritt in die philosophische Fakultät, in der er in den nächsten Jahren eine starke Lehrtätigkeit ausübte, soweit die Reisen für das Corpus nicht hinderten. Die großen Werke dieser Zeit, Münzwesen und Chronologie, sind aus der Arbeit an der Römischen Geschichte erwachsen, ebenso die bedeutenden Römischen Forschungen Band I, die zugleich das Staatsrecht vorbereiten, das zwar auch der Aufforderung des Verlegers Salomon Hirzel verdankt wird, aber etwas ganz anderes geworden ist : der reinste Ausdruck des Mommsenschen Geistes. Die Geschichte der Kaiserzeit lag ihm noch fern. Beleg dafür ist eine Vorlesung, die er im Jahre 70 über dieses Thema hielt und von der ich einmal eine Nachschrift eingesehen habe; gehört habe ich ihn nicht. Er verweilte lange bei der Nacherzählung der Bürgerkriege ; Augustus war ihm nur ein halbierter Cäsar ; einigermaßen geriet er durch die Quellen doch in die Hofgeschichte. Der einzige Glanzpunkt war Tiberius, den er bekanntlich mit Friedrich dem Großen verglich. Die spätere Zeit war flüchtig behandelt, da er bis Valentinian II., einzeln noch weiter herabging. Seltsame Schätzungen fehlten nicht: Hadrian als Scheusal, Severus günstig beurteilt.

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K e i n G e d a n k e a n Reichsgeschichte, kärgliche B e h a n d l u n g der Liter a t u r . I m g a n z e n w a r d e u t l i c h , d a ß , wer so s p r a c h , sich n o c h n i c h t als G e s c h i c h t s c h r e i b e r der Kaiserzeit f ü h l e n k o n n t e . Drei J a h r e s p ä t e r , als der erste B a n d des S t a a t s r e c h t e s f e r t i g w a r , s t a n d er a n d e r s . I c h h a b e i h n d a m a l s k e n n e n g e l e r n t , als er f ü r die E r - 203 n e u e r u n g seiner I n s c r i p t i o n e s R e g n i N e a p o l i t a n i in N e a p e l w a r . I c h d u r f t e i h n auf einer k u r z e n Reise d u r c h A p u l i e n b e g l e i t e n u n d i h m w e n i g s t e n s d a d u r c h n ü t z l i c h w e r d e n , d a ß ich die S t r a ß e n j u n g e n f e r n h i e l t , w e n n er Steine k o p i e r t e , u n d die n o c h a u f d r i n g l i c h e r e n uomini dotti dei paesi auf m i c h a b l e n k t e , a u c h die S t a d t v ä t e r b e g ü t i g t e , w e n n er i h n e n wegen der V e r w a h r l o s u n g der A l t e r t ü m e r eine S t r a f p r e d i g t h i e l t , wie in Venosa, wo er i h n e n das E p i g r a m m ins Gesicht w a r f : credete essere la patria d,Orazio, ma siete la patria dei porchi. Auf einer n ä c h t l i c h e n F a h r t d u r c h die E b e n e des A u f i d u s , w ä h r e n d rings die b r e n n e n d e n S t o p p e l n l e u c h t e t e n , v e r t r i e b er m i r u n d sich d e n H u n g e r d u r c h ein l a u t e s h a l b e s T r ä u m e n ü b e r die A r t , wie er die Zeit des A u g u s t u s schildern wollte. U n s e r italienischer Begleiter schlief oder m u r r t e ü b e r d e n uomo stupendo „Vinstancabile", der a m Abend mit e i n e m K u h e u t e r in Essig vorlieb n a h m u n d a m a n d e r e n T a g e das solenne pranzo bei d e n V ä t e r n der patria dei porchi a u s s c h l u g . I c h a b e r h a b e , w a s ich h ö r t e , in e i n e m f e i n e n H e r z e n b e w a h r t . A u g u s t u s w a r d n o c h i m m e r gescholten, d a ß er v o n Cäsars B a h n e n a b g e w i c h e n w a r , n i c h t B r i t a n n i e n u n d A r a b i e n u n t e r w o r f e n , also die E r w a r t u n g e n der R ö m e r oder doch der D i c h t e r n i c h t erfüllt h a t t e ; m e h r als der T e s t a m e n t s v o l l s t r e c k e r eines G r ö ß e r e n , wie er i h n n o c h s p ä t e r g e n a n n t h a t , ist A u g u s t u s f ü r M o m m s e n w o h l ü b e r h a u p t n i c h t g e w o r d e n . U b e r die D i c h t e r fielen Urteile, die m i c h b e f r e m d e t e n . Vergil h a t er w o h l nie gerecht b e u r t e i l t u n d k o n n t e es k a u m : w e r s t a t t d e r hellenistischen E p i k H o m e r bei i h m s u c h t , wird das n i e m a l s t u n , u n d das Hellenistische ist a u c h h e u t e n o c h l ä n g s t n i c h t g e n ü g e n d d u r c h g e a r b e i t e t . A b e r H o r a z h a t s p ä t e r eine schöne W ü r d i g u n g g e f u n d e n , m a g a u c h der I n t e r p r e t 209 die A u s d e u t u n g der R ö m e r o d e n b e r i c h t i g e n . E i n s s t a n d a b e r i h m schon d a m a l s f e s t : d e n H o f k l a t s c h wollte er n u n ganz b e i s e i t e w e r f e n ; Messalina u n d P o p p a e a m o c h t e n ihre V e r e h r e r a n d e r s w o s u c h e n . E r wollte n u r n a c h D y n a s t i e n o r d n e n . E s ist k l a r , d a ß er n u n die F o r t s e t z u n g seiner G e s c h i c h t e e r n s t h a f t v o r h a t t e . A b e r a u ß e r d e m Corpus d r ä n g t e das S t a a t s r e c h t . D o c h e b e n dieses f ü h r t e i m zweiten B a n d e v o n selbst zu der D a r s t e l l u n g des

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P r i n z i p a t s , in der ein großer, j a d e r b e s t e Teil der K a i s e r g e s c h i c h t e gegeben ist, die M o m m s e n geben k o n n t e u n d 'wollte. Als dieser B a n d 1875 v o l l e n d e t w a r , w a r d der V e r s u c h der F o r t s e t z u n g wirklich u n t e r n o m m e n . E r e n t s c h l o ß sich, a n d e n e r s t e n B ä n d e n n i c h t s m e h r zu ä n d e r n ; ich k o n n t e i h n in diesem V o r s ä t z e b e s t ä r k e n , d e n n schon d a m a l s w ä r e es o h n e Z e r s t ö r u n g der k ü n s t l e r i s c h e n E i n h e i t n i c h t möglich gewesen. A b e r die F o r t s e t z u n g e r s e h n t e ich n a t ü r l i c h h e i ß u n d b e g r ü ß t e ihr erstes K a p i t e l in der a k a d e m i s c h e n A b h a n d l u n g ü b e r das M i l i t ä r s y s t e m Cäsars ( j e t z t Historische S c h r i f t e n I 156). E r w a r e t w a s ärgerlich, als ich i h n zu diesem A n f a n g e b e g l ü c k w ü n s c h t e : a b e r er wies es n i c h t a b , u n d der Stil ist u n v e r k e n n b a r . D e r a n d e r e Beleg ist „ D e r l e t z t e K a m p f der r ö m i s c h e n R e p u b l i k " , m i t d e m er die Teiln e h m e r a n der Feier seines sechzigsten G e b u r t s t a g e s b e s c h e n k t e , a b e r d a s M o t t o z u f ü g t e : „ G e r n e h ä t t ' ich f o r t g e s c h r i e b e n , a b e r es ist liegen b l i e b e n . " D a r i n liegt, d a ß er d e n V e r s u c h a u f g e g e b e n h a t t e . E r ging v i e l m e h r d a r a n , seine A b h a n d l u n g e n z u r ä l t e r e n r ö m i s c h e n G e s c h i c h t e zu s a m m e l n u n d zu ü b e r a r b e i t e n . D e r zweite B a n d der R ö m i s c h e n F o r s c h u n g e n ist 1879 e r s c h i e n e n ; g e p l a n t w a r a u c h ein B a n d j u r i s t i 210 scher kleiner S c h r i f t e n ; ich h a b e die F a h n e n des e r s t e n B o g e n s in H ä n d e n g e h a b t . Alles ist d u r c h d e n B r a n d in seinem H a u s e 1880 u n t e r g e g a n g e n , v o n d e m P l a n e nie m e h r die R e d e gewesen. Die Feier seines sechzigsten G e b u r t s t a g e s w a r ein H ö h e p u n k t seines L e b e n s . E s w a r d a m a l s n o c h n i c h t a n e r k a n n t , d a ß die E r r e i c h u n g dieses Alters V e r d i e n s t g e n u g ist, eine Feier zu r e c h t f e r t i g e n , u n d eine S a m m e l s c h r i f t , z u m a l u n t e r B e t e i l i g u n g des A u s l a n d e s , w a r a u c h n o c h e t w a s B e s o n d e r e s . E i g e n t l i c h h ä t t e n die C o m m e n t a t i o n e s M o m m s e n i a n a e a b s c h r e c k e n d w i r k e n sollen, dieser k y k l o p i s c h e B a n d , d e m sogar das eine A u g e f e h l t : der I n d e x , wie J a k o b B e r n a y s scherzte. D o c h diese K r i t i k lag u n s F e i e r n d e n f e r n , u n d M o m m s e n a u c h . E r d u r f t e sich wirklich f r e u e n . T r e i t s c h k e hielt i h m die F e s t r e d e ; seine Briefe h a b e n gelehrt, d a ß das erste Lesen der R ö m i s c h e n Geschichte in i h m das V e r l a n g e n w e c k t e , eine T r a g ö d i e H a n n i b a l zu schreiben. J e t z t feierte er in M o m m s e n n i c h t n u r d e n H i s t o r i k e r , s o n d e r n a u c h den P a t r i o t e n ; n u r zu b a l d sollte die P o l i t i k das T a f e l t u c h zwischen b e i d e n f ü r i m m e r z e r s c h n e i d e n : h e u t e w ü r d e n die m u t i g e n , t r e u e n D e u t s c h e n wieder e i n t r ä c h t i g gegen die Schwächlinge z u s a m m e n s t e h e n . I n k l e i n e r e m Kreise s p r a c h W i l h e l m Scherer, dessen F r e u n d s c h a f t bis zu seinem f r ü h e n T o d e M o m m s e n s n ä c h s t e J a h r e d u r c h l e u c h t e t e u n d er-

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w ä r m t e . D e r J u b i l a r f ü h l t e sich d u r c h a u s n i c h t alt, s o n d e r n a r b e i t s u n d l e b e n s f r o h . E r n a h m u m diese Zeit die schwere L a s t der a u c t o r e s a n t i q u i s s i m i der M o n u m e n t a G e r m a n i a e auf seine S c h u l t e r n . D a h ä u f t e n sich t r ü b e E r f a h r u n g e n . E i n m a l die W e n d u n g in Bism a r c k s P o l i t i k , die M o m m s e n f ü r v e r d e r b l i c h h i e l t , d a n n der B r a n d , der i m J a h r e 1880 seine B i b l i o t h e k z e r s t ö r t e ; h ä u s l i c h e s Leid t r a t h i n z u . A u f r i c h t e n k o n n t e i h n n u r die A r b e i t , a b e r eine a n d e r e A r b e i t m u ß t e es sein als die A u s g a b e des J o r d a n e s , die e r m i t S e l b s t v e r l e u g n u n g 211 vollendete, a u c h als die zweite B e a r b e i t u n g des M o n u m e n t u m A n c y r a n u m , so m e i s t e r h a f t beide W e r k e sind. D a s L e h r e n b e f r i e d i g t e i h n n i c h t m e h r ; er s u c h t e die Vorlesungen a b z u s c h ü t t e l n u n d e r r e i c h t e 1885, d a ß 0 . H i r s c h f e l d auf seine P r o f e s s u r b e r u f e n w a r d . F ü r sich b r a u c h t e er e t w a s , das Gelegenheit zu f r i s c h e m u n d f r e i e m s c h r i f t stellerischen G e s t a l t e n b o t . So f a ß t e er d e n P l a n , d a s L e b e n i m r ö m i s c h e n K a i s e r r e i c h e w ä h r e n d der e r s t e n J a h r h u n d e r t e g e o g r a p h i s c h n a c h d e n P r o v i n z e n g e o r d n e t zu s c h i l d e r n ; m i t d e m E n t w ü r f e dieses S c h e m a s h a t er b e g o n n e n . D a er die U n t e r n e h m u n g e n gegen ä u ß e r e F e i n d e als Grenzkriege j e n a c h i h r e m S c h a u p l a t z e i n o r d n e t e , v e r m i ß t m a n schmerzlich eine B e h a n d l u n g I t a l i e n s in gleichem Stile. Sie h ä t t e sich sehr w o h l geben l a s s e n ; a b e r das v e r b o t i h m die B e z e i c h n u n g des B u c h e s als 5. B a n d der R ö m i s c h e n Geschichte, w a s d e n t r ü g l i c h e n Schein e r w e c k t e , als k ö n n t e sich die L ü c k e e i n m a l schließen, b e s s e r , als w ä r e d a eine L ü c k e . O h n e die S t i m m u n g u n d V e r s t i m m u n g j e n e r J a h r e h ä t t e er das B u c h vielleicht nie geschrieben. E s h a t i h n v o n e i n e m seelischen D r u c k e b e f r e i t , a b e r r e c h t f r o h ist er w e d e r b e i m S c h r e i b e n g e w o r d e n , n o c h h a t i h n die A u f n a h m e b e f r i e d i g t , die das W e r k bei d e m P u b l i k u m f a n d ; er n a n n t e sie einen A c h t u n g s e r f o l g . E r s t a n d e m l e t z t e n B a n d e des S t a a t s r e c h t s , d e n er gleich d a n a c h i n k a u m glaublicher Schnelligkeit schrieb, u n d s p ä t e r a n d e m n i c h t g e n u g z u b e w u n d e r n d e n , a b e r w e n i g gelesenen Abrisse des S t a a t s r e c h t s h a t er m i t voller Liebe u n d d e m G e f ü h l e , d e n Stoff s o u v e r ä n zu b e h e r r s c h e n , g e a r b e i t e t . A m liebsten h ä t t e er d a n n S t a a t s r e c h t u n d V e r w a l t u n g d e r d i o k l e t i a n i s c h - , konstantinischen Monarchie dargestellt. I c h h a b e die E n t s t e h u n g dieses B u c h e s v e r f o l g e n k ö n n e n . Die 212 m e i s t e n K a p i t e l h a b e ich i m e r s t e n E n t w ü r f e gelesen, alle i n d e n F a h n e n . N u r das s c h ö n s t e v o n allen, J u d ä a u n d die J u d e n , h i e l t er z u r ü c k . D a s ist wirklich m i t Liebe geschrieben, u n d w o h l d u r f t e er

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d a r a u f stolz sein, in j e n e n T a g e n , w o die anti- u n d p h i l o s e m i t i s c h e n Ü b e r t r e i b u n g e n v i e l S t a u b a u f w i r b e l t e n , sich als H i s t o r i k e r ü b e r d e n P a r t e i e n z u h a l t e n , so l e i d e n s c h a f t l i c h er i m L e b e n P a r t e i ergriff. A b e r sonst k l a g t e er b e s t ä n d i g , h a t t e , als die e r s t e n K a p i t e l

geschrieben

w a r e n , g e s c h w a n k t , ob er n i c h t a b b r e c h e n sollte, n a n n t e seine A r b e i t ein „ S t r i c k e d r e h e n aus S a n d " , „ d i e g r a u e n v o l l e V e r l o g e n h e i t unserer U b e r l i e f e r u n g ü b e r das d r i t t e J a h r h u n d e r t u n d die öde L e e r e

des

z w e i t e n h ä t t e n i h n g e r a d e z u s e e k r a n k g e m a c h t " , u n d als es eine S t r e c k e l e i c h t e r ging, k o m m t der R ü c k s c h l a g : „ e s ist d o c h ein R i n g e n m i t d e m U n m ö g l i c h e n , u n d der V e r s u c h selbst eine D u m m h e i t " . U n d d o c h k o n n t e ich 1 ) die i n t u i t i v e Sicherheit n i c h t g e n u g b e w u n d e r n , m i t der er aus S c h r i f t s t e l l e r n , die i h m f e r n g e b l i e b e n w a r e n u n d i c h i h m v e r m i t t e l n d u r f t e , A r i s t i d e s , D i o , P l u t a r c h , L u k i a n , h e r a u s z u f i n d e n u n d einzuo r d n e n w u ß t e , w a s in sein G e m ä l d e p a ß t e . I n d e n F a h n e n s t a n d z u e r s t ein s p ö t t i s c h e s W o r t ü b e r die V e r s u c h e , die O r t l i c h k e i t der V a r u s s c h l a c h t z u b e s t i m m e n . D a n n w a r d er a u f die M ü n z f u n d e v o n B a r e n a u a u f m e r k s a m u n d b a u t e a u f sie seine b e k a n n t e H y p o t h e s e . A u f a n d e r e n G e b i e t e n w i e s er j e d e leise M a h n u n g , e t w a s t i e f e r e i n z u g e h e n , a b . U n d er h a t t e das R e c h t , die K u l t u r der K a i s e r z e i t so z u zeigen, w i e er sich g e w ö h n t h a t t e , sie z u sehen, alles v o n d e m S i t z e der W e l t h e r r s c h a f t a u s b e t r a c h t e n d , als ein S t ü c k R ö m i s c h e r G e s c h i c h t e . D a ß die W i s s e n schaft überall Ergänzung, auch wohl Berichtigung fordert, daß

es

213 m a n c h e n a n d e r n , a u c h w o h l einen h ö h e r e n S t a n d p u n k t der B e t r a c h t u n g g i b t , d a r f die B e w u n d e r u n g dieses B i l d e s n i c h t b e e i n t r ä c h t i g e n . W a s ein solcher Meister n a c h f ü n f z i g j ä h r i g e r A r b e i t d a r b i e t e t , sind wir gehalten mit Ehrfurcht und Dankbarkeit hinzunehmen. I m m e r n o c h b l e i b t die F r a g e : w e s h a l b k o n n t e er die eigentliche K a i s e r g e s c h i c h t e n i c h t schreiben, w e d e r v o r n o c h h i n t e r d e m s o g e n a n n t e n f ü n f t e n B a n d e . D a sei z u e r s t ein g e d a n k e n l o s e s W o r t z u r ü c k g e w i e s e n , das m a n n u r z u o f t liest. E r h ä t t e die B e h a n d l u n g des C h r i s t e n t u m s g e s c h e u t . D a s C h r i s t e n t u m ging die G e s c h i c h t e , w i e er sie sah u n d schrieb, g a r n i c h t s a n . D e n n eine ernste B e d e u t u n g h a t es f ü r das R e i c h s r e g i m e n t erst d u r c h die m a c h t v o l l organisierte K i r c h e g e w o n n e n , g e g e n die M i t t e des d r i t t e n J a h r h u n d e r t s . O b v o r h e r hier oder da etliche P r o v i n z i a l e n , z u w e i l e n a u c h ein p a a r B ü r g e r w e g e n R e l i g i o n s f r e v e l a b g e u r t e i l t w u r d e n , ob hier oder da die V e r e h r e r v e r s c h i e d e n e r ') [in der Originalpublikation,

wohl nur versehentlich:

er/

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Götter aneinander gerieten, so daß die Polizei und die Gerichte einschreiten mußten, war für das Ganze herzlich gleichgültig. So etwas kam nicht bloß bei Christen vor; es gab j a zahllose alte und neue Religionen. Etwas ganz anderes ist die geistige Bewegung, die Sehnsucht breiter Massen, durch einen die Seele befreienden Glauben aus der entsetzlichen Ode des Daseins erlöst zu werden, und daneben die Versumpfung des geistigen, die Verrohung des sittlichen Lebens, die ganze so überaus bedeutsame innere Geschichte der Menschheit in diesen Jahrhunderten, da ein altes reiches Leben abstirbt, ein neues langsam keimt, das doch erst zur Blüte kommt, als frische Völker die Herrschaft ergreifen, im Westen die Germanen, im Osten die Araber. Aber alles dies lag dem Meister der Römischen Geschichte ganz fern, hatte auch der Wissenschaft in der Zeit seines Werdens ganz ferngelegen. Von R o m aus führt auch kein Weg dorthin. Dazu muß das 214 Orientalische herangezogen werden, wie es allen voran Franz Cumont tut, muß die späthellenistische Religiosität erschlossen werden, woran viele emsig schaffen, darf aber auch die noch echt hellenische Religion, Metaphysik und Ethik nicht vergessen werden, Plutarch, Epiktet, Plotin. Vor allen Dingen muß die Schranke zwischen christlichen und heidnischen Religionen, zwischen Kirchengeschichte und Profangeschichte bis auf den Grund abgetragen werden, wozu E . Schwartz das Beste tut. Das ist ein fernes Ziel. Nicht mit seiner Geschichte, wohl aber mit vielen seiner Editionen hat Mommsen auch hier manche Vorarbeit geleistet, gefördert, wo er konnte; das Wichtigste wäre auch für diese Forschung das Staatsrecht der konstantinischen Monarchie geworden. Der wahre Grund, weshalb die Römische Geschichte keine Fortsetzung ertrug, liegt darin, daß sie ein abgeschlossenes Kunstwerk ist. Der Poet, der in jedem Historiker stecken soll, hatte nicht ohne Gewaltsamkeit seinem Drama den Schluß da gegeben, wo es für dieses am wirksamsten war. Das war sein Poetenrecht, aber es war Poetenwillkür. Ihm gipfelte Roms Geschichte in seinem Helden Cäsar; daher schloß er mit der Schlacht bei Thapsus, die Cäsar zum unumschränkten Herrn der Welt machte, auf wenige Monate. Ein Ruhepunkt der Geschichte ist das nicht. Das letzte Buch heißt „Die Begründung der Militärmonarchie". Wir dürfen sagen, daß diese Bezeichnung falsch ist. Was Cäsar begründen wollte, war ein Königtum im Stile Alexanders. D a s mißlang. Dauer erlangte erst der Prinzipat des Augustus; daß der keine Monarchie war, was er war, hat kein anderer als Momm-

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sen gelehrt, a b e r erst d e r M o m m s e n des S t a a t s r e c h t s . Die R ö m i s c h e 215 Geschichte wird d a u e r n d Leser finden u m ihres k ü n s t l e r i s c h e n W e r t e s willen, ein V o r z u g , d e n sie m i t wenig G e s c h i c h t s w e r k e n t e i l t . Vielleicht n o c h m e h r Leser w e r d e n sie zur H a n d n e h m e n , weil sie l e u c h t e n d e r als e t w a s a n d e r e s die politischen S t i m m u n g e n u n d H o f f n u n g e n z u m A u s d r u c k b r i n g t , a n d e n e n sich die P a t r i o t e n in der R e a k t i o n s z e i t a u f r i c h t e t e n . Cäsar ist der E x p o n e n t dieser H o f f n u n g e n . D a ß d e r R ö m e r C. J u l i u s Cäsar ein ganz a n d e r e r gewesen ist, b r a u c h t n i c h t m e h r gesagt zu w e r d e n ; die Folien dieser I d e a l g e s t a l t , P o m p e i u s , C a t o , Cicero, sind j a a u c h ganz a n d e r e M e n s c h e n gewesen, als sie bei M o m m s e n scheinen. Als die R ö m i s c h e Geschichte erschien, e r r e g t e sie bei vielen E n t s e t z e n , weil sie so gar viel der geheiligten l i v i a n i s c h e n T r a d i t i o n beiseite w a r f . H e u t e wissen wir, n i c h t z u m w e n i g s t e n d u r c h d e n M o m m s e n der R ö m i s c h e n F o r s c h u n g e n , d a ß er bis z u m P y r r h u s kriege n u r zu viel n o c h h a t t e b e s t e h e n lassen. V o n j e n e m K r i e g e a n h a t die Geschichte der M i t t e l m e e r l a n d e ein ganz a n d e r e s Gesicht b e k o m m e n , weil der H e l l e n i s m u s erst j e t z t w e n i g s t e n s so w e i t erschlossen ist, d a ß sich die Zeit lediglich als R ö m i s c h e Geschichte, wie M o m m s e n sie geben m u ß t e , gar n i c h t m e h r b e g r e i f e n u n d d a r s t e l l e n l ä ß t . All d a s ist ein E r f o l g der D u r c h f o r s c h u n g der a n t i k e n L ä n d e r , ganz b e s o n d e r s der E p i g r a p h i k , also einer w i s s e n s c h a f t l i c h e n B e w e g u n g , die M o m m s e n v o r allen h e r v o r g e r u f e n h a t . Sein W e r k ist es, d a ß seine R ö m i s c h e Geschichte i n h a l t l i c h ü b e r w u n d e n ist, u n d in vielem w a r sie es s c h o n , als er u m 1876 m i t d e m V e r s u c h e i h r e r F o r t s e t z u n g E r n s t m a c h t e . Zwanzig J a h r e w a r er ä l t e r g e w o r d e n ; e i n f a c h f o r t z u s e t z e n w ä r e stillos gewesen, a u c h w e n n sich n i c h t das a b g e r u n d e t e K u n s t w e r k gegen j e d e s A n s t ü c k e n g e s t r ä u b t h ä t t e . A b e r n a t ü r l i c h k o n n t e er ein 216 a n d e r e s W e r k schreiben, das n u r i n h a l t l i c h a n s c h l o ß . D a ist h ö c h s t bezeichnend, d a ß er nie v e r s u c h t h a t , die Ereignisse zu e r z ä h l e n , die zwischen der S c h l a c h t bei T h a p s u s u n d der F r i e d e n s h e r r s c h a f t des A u g u s t u s liegen. E s ist eine A u s f l u c h t , d a ß m a n sie n u r d e n Quellen n a c h e r z ä h l e n k ö n n t e ; gerade der R e i c h t u m der U b e r l i e f e r u n g h ä t t e zur U n t e r s u c h u n g l o c k e n sollen. E r h a t k a u m eine a n d e r e reiche Zeit so sehr beiseite gelassen. E s lag d a r a n , d a ß sein Cäsar die F o r t s e t z u n g n i c h t v e r t r u g . E i n a n d e r e s k a m h i n z u . E s w a r n i c h t n u r der W i d e r w i l l e gegen d e n H o f k l a t s c h , der M o m m s e n v o n der D a r s t e l l u n g der K a i s e r z u r ü c k h i e l t , so d a ß er d e n „ l e t z t e n K a m p f der r ö m i s c h e n R e p u b l i k " als erstes u n d einziges erzählendes K a p i t e l a u s g e a r b e i t e t h a t . E s l a g

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n i c h t in seiner N a t u r , die I n d i v i d u a l i t ä t eines M e n s c h e n zu e r f a s s e n , n o c h weniger, die E n t w i c k l u n g eines C h a r a k t e r s zu v e r f o l g e n . Die ber u f e n e n Zerrbilder v o n P o m p e i u s u n d Cicero sind v o n D r u m a n n v o r gezeichnet. Selbst d e n Tiberius h a t er n u r d u r c h ein glückliches W o r t c h a r a k t e r i s i e r t , eine Vergleichung, wie sie i h m n i c h t selten gelang. D e r M a n n , der die g e s e t z m ä ß i g e n G e d a n k e n , der das R e c h t oder d o c h seine F o r m e n selbst in d e n Gebilden des r e v o l u t i o n ä r e n R ö m e r s t a a t e s zu erk e n n e n w u ß t e , k o n n t e n i c h t w o h l zugleich d e n Blick f ü r d a s I n d i viduelle besitzen. E r w a r J u r i s t u n d k a n n t e seine S t ä r k e , a b e r a u c h die G r e n z e n seiner B e g a b u n g . Als J u r i s t ist er gebildet, h a t er b e g o n n e n ; er ist es i m m e r geblieben u n d h a t als l e t z t e s W e r k sein S t r a f r e c h t geschrieben. E s ist i h m d a s seltene G l ü c k geworden, das ganz w e r d e n zu d ü r f e n , w a s i n i h m lag, w a s die J u g e n d sich w ü n s c h t e , n o c h vor d e m Alter in F ü l l e z u h a b e n . D a r i n liegt zugleich, d a ß m a n d e n j u n g e n M o m m s e n k e n n e n m u ß , u m d e n v o l l e n d e t e n r i c h t i g zu s c h ä t z e n ; die vielen, w e l c h e a u ß e r m e i s t g e f ä l s c h t e n A n e k d o t e n n u r die G e s c h i c h t s w e r k e k e n n e n , wissen ü b e r - 217 h a u p t n i c h t , w a s u n d wie er w a r . U n t e r d e n T h e s e n seiner D o k t o r d i s s e r t a t i o n s t e h t : „ D a s W o r t Graeca non leguntur ist r i c h t i g u n d verd i e n t A n e r k e n n u n g , d e n n die griechische Geschichte g e h ö r t d e m P h i lologen, die r ö m i s c h e d e m J u r i s t e n . " D a n a c h h a t er g e h a n d e l t , h a t er die R ö m i s c h e Geschichte geschrieben u n d die Zeit des A u g u s t u s , N e r o , H a d r i a n n i c h t geschrieben. I n der T a t w a r d a s o h n e die K e n n t n i s u n d ein inneres V e r h ä l t n i s z u m H e l l e n e n t u m n i c h t möglich, u n d das wollte er n i c h t b e s i t z e n . I n W a h r h e i t h a t t e er sich ein S p r a c h - u n d S t i l g e f ü h l in d e m Griechisch aller Z e i t e n , die ihn a n g i n g e n , a n g e e i g n e t , das n u r zu vielen f e h l t , die f ü r Griechisch geeicht s i n d ; a b e r m i t w a h r h a f t r ü h r e n d e r B e s c h e i d e n h e i t m i ß t r a u t e er sich u n d s u c h t e s a c h k u n d i g e n B e i r a t . E s g e h ö r t e zu d e n r e i n s t e n Genüssen, m i t i h m e t w a bei der E r g ä n z u n g einer I n s c h r i f t z u s a m m e n z u a r b e i t e n . Als K a i b e l i h m a n der griechischen F a s s u n g des A n c y r a n u m h a l f , zeigte sich, d a ß M o m m s e n diese S p r a c h e unvergleichlich besser b e h e r r s c h t e als K i r c h h o f f , d e m er sich in der e r s t e n A u f l a g e u n t e r w o r f e n h a t t e . Auf S c h r i t t u n d T r i t t begegnete er der V e r l o c k u n g , auf das griechische Gebiet ü b e r z u g r e i f e n : er h a t es ängstlich g e m i e d e n , ängstlicher als n ö t i g ; a b e r d a ß er es mied u n d d a h e r a u c h die K a i s e r g e s c h i c h t e n i c h t schrieb, g e h ö r t zu seiner ganz eigenen G r ö ß e . I c h h a b e i h n a n s e i n e m a c h t z i g s t e n Geb u r t s t a g b e g l ü c k w ü n s c h t , weil er die R ö m i s c h e G e s c h i c h t e geschrieben

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u n d weil er d e n v i e r t e n B a n d n i c h t geschrieben h ä t t e . D a s w a r ihm w i l l k o m m e n , d e n n er e m p f a n d , w a s d a r i n lag. Dieser J u r i s t w a r auf seinem lateinischen Gebiete der v o l l k o m m e n s t e Philologe, v o n d e m E p i g r a p h i k e r zu schweigen. I n d e m N a c h l a s s e , d e n 218 er leider n o c h auf lange der Öffentlichkeit e n t z o g e n h a t , b e f i n d e n sich A u f z e i c h n u n g e n aus der J u g e n d z e i t , aus d e n e n h e r v o r g e h t , d a ß er d e n G e d a n k e n des Corpus I n s c r i p t i o n u m g e f a ß t h a t t e , ehe er z u m e r s t e n Male n a c h d e m S ü d e n a u f b r a c h ; n u r das H a n d w e r k der E p i g r a p h i k h a t er bei Borghesi gelernt. U n v e r k e n n b a r ist der W u n s c h des J ü n g lings, dieses W e r k selbst a u s z u f ü h r e n . D a s ist i h m g e w o r d e n , h a t sein L e b e n b e s t i m m t , w a r d i h m wohl a m E n d e eine B ü r d e , a b e r n i e m a l s w ü r d e er sie abgelegt h a b e n . Wie er hier vorbildlich f ü r alle Z e i t e n das Material z u s a m m e n g e t r a g e n , gereinigt, d e m V e r s t ä n d n i s erschlossen h a t , so h a t er dasselbe f ü r eine u n ü b e r s e h b a r e Reihe v o n S c h r i f t stellern u n d U r k u n d e n g e t a n , auf den B i b l i o t h e k e n s u c h e n d u n d findend, h e r a u s g e b e n d , e r l ä u t e r n d . A u c h das bis z u m l e t z t e n A t e m z u g e ; d e n T e x t eines Heiligenlebens auf die r e c h t e G r u n d l a g e z u stellen w a r wohl die l e t z t e A r b e i t , die i h m F r e u d e m a c h t e . Ü b e r d e m T h e o d o s i a n u s u n d der K i r c h e n g e s c h i c h t e des R u f i n ist er g e s t o r b e n . Sein V e r d i e n s t v o r allem w a r es, d a ß die lateinischen T e x t e so weit sicher h e r a u s g e g e b e n w a r e n , d a ß der T h e s a u r u s linguae L a t i n a e , wesentlich d u r c h seine I n i t i a t i v e , in Angriff g e n o m m e n w e r d e n k o n n t e , einer j e n e r g i g a n t i s c h e n P l ä n e , m i t d e n e n der O r g a n i s a t o r a u c h die Zuk u n f t seinemWillen d i e n s t b a r zu m a c h e n s u c h t e , wenig b e k ü m m e r t u m die G r e n z e n des Möglichen, unwillig ü b e r j e d e n W i d e r s t a n d , dessen Ber e c h t i g u n g sich n u n doch f ü h l b a r m a c h t . W e r d a sagen wollte (und a u c h das h ö r t m a n v o n solchen, die u m die ungeschriebene Kaisergeschichte klagen), d a ß er a n diese P h i l o l o g e n a r b e i t k o s t b a r e Zeit u n d K r a f t v e r s c h w e n d e t h ä t t e , weil so e t w a s a u c h a n d e r e g e k o n n t h ä t t e n , der h a t seines Geistes k e i n e n H a u c h v e r s p ü r t . Des ist Zeuge, wie er 219 ü b e r G i b b o n geurteilt h a t . E r w a r aus E n g l a n d a u f g e f o r d e r t , bei einer Gibbonfeier ein W o r t zu dessen E h r e n zu schreiben, u n d l e h n t e das in einem Briefe a b , den I m e l m a n n i m ' T a g ' ( 1 2 . 1 1 . 1909) in Ü b e r s e t z u n g v e r ö f f e n t l i c h t h a t . E r b e w u n d e r t den „ S c h r i f t s t e l l e r e r s t e n R a n g e s " , a b e r dieser g e n ü g t i h m n o c h n i c h t , weil er kein „ p l o d d e r " w a r , keiner, der die grobe A r b e i t t u t , sich die Steine seines B a u e s selber b r i c h t u n d z u r i c h t e t . W i r k ö n n e n es a u c h so sagen, weil er i m eigentlichen Sinne kein M a n n der W i s s e n s c h a f t w a r . M o m m s e n w a r es i m h ö c h s t e n S i n n e :

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er hat seine historisch darstellenden Werke überhaupt nicht aus ganz freiem Antriebe geschrieben, und die Kaisergeschichte hat er nicht ge- 220 schrieben, weil er seine Wissenschaft im höchsten Sinne trieb. Der versteht ihn und die Wissenschaft überhaupt nicht, der das Fehlen des vierten Bandes beklagt. Was er über die Kaisergeschichte zu sagen wußte, was er allein sagen konnte, das steht in der Fülle seiner Werke: da sollen wir es suchen. Finden werden wir es, wenn wir in die Einzeluntersuchungen über die verschiedensten Dinge tief genug eindringen, um des Vollbildes gewahr zu werden, das der in der Seele haben mußte, der alle diese Einzelheiten immer als Teile eines Ganzen zu behandeln wußte.

5. Gedächtnisrede auf Adolf Kirchhoff Ü b e r 47 J a h r e ist Adolf Kirchhoff Mitglied u n s e r e r A k a d e m i e gewesen u n d der A n t r a g auf seine W a h l w a r d bereits d a m i t b e g r ü n d e t , d a ß er in i h r e m A u f t r a g e eine r e c h t u n d a n k b a r e A u f g a b e v o l l e n d e t h ä t t e . Seit seinem E i n t r i t t h a t er hier die m e i s t e n seiner A r b e i t e n vorgelegt u n d die l ä n g s t e Zeit das älteste U n t e r n e h m e n der A k a d e m i e geleitet. So ist es P f l i c h t , seiner h e u t e b e s o n d e r s zu g e d e n k e n , wie er d e n n selbst auf Moriz H a u p t hier eine tief e m p f u n d e n e G e d ä c h t n i s r e d e g e h a l t e n h a t ; auf B o e c k h allerdings n i c h t , der wie v o r i h m Schleiermacher wohl m i t d e m L e b e n der A k a d e m i e zu eng v e r w a c h s e n w a r , als d a ß m a n sofort über ihn h ä t t e reden mögen. E s k a n n m i r n i c h t b e i k o m m e n , d e n g a n z e n M a n n individuell z u erf a s s e n u n d in seinem W e r d e n d a r z u s t e l l e n ; d a z u w ü r d e auf E l t e r n h a u s u n d J u g e n d b i l d u n g , F r e u n d s c h a f t e n u n d E h e , W i r k s a m k e i t a n Schule u n d U n i v e r s i t ä t eingegangen w e r d e n m ü s s e n , u n d f ü r alles dieses f e h l t m i r das M a t e r i a l . N u r was wir alle wissen, m u ß d o c h v o r a b ausgesprochen w e r d e n , weil es a u c h f ü r d e n G e l e h r t e n v o n g r u n d l e g e n d e r B e d e u t u n g w a r . K i r c h h o f f w a r P r e u ß e u n d Berliner in so ausschließl i c h e m Sinne, d a ß f ü r i h n jenseits des W e i c h b i l d e s seiner H e i m a t s t a d t die F r e m d e b e g a n n , in der er auf die D a u e r n i c h t a t m e n k o n n t e . D a f ü r v e r k ö r p e r t e er d e n n a u c h das, w a s m a n a l t p r e u ß i s c h e s W e s e n zu n e n n e n p f l e g t , die u n b e d i n g t e T r e u e d e m K ö n i g e u n d d e m S t a a t e , d e m A m t e u n d der P f l i c h t , der W a h r h e i t u n d der eignen Ü b e r z e u g u n g . D e n n w e n n er sich a u c h i m m e r i m D i e n s t e f ü h l t e , so w a r das die D i e n s t b a r k e i t des freien M a n n e s , u n d das S e l b s t g e f ü h l des u n g e b u n d e n f r e i e n D e n k e n s u n d der F r e i m u t des e r n s t e n W o r t e s g e h ö r t e n ganz 5. Abhandlungen der Kgl. Preußischen Akademie der Wissenschaften, phil. hist. Klasse 1908, Gedächtnisreden S. 1—11.

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wesentlich dazu. Soldat hat der Kurzsichtige nicht sein können; aber er brauchte auch jene Vereinigung von Freiheit und Gehorsam, die den rechten Soldaten macht, nicht erst zu lernen ebensowenig wie die aufrechte und gemessene Haltung seines Leibes, der in den Tagen der 4 Vollkraft von imponierender strenger Schönheit war. Die Arbeit des Gelehrten trägt den Stempel dieses ihm eingeborenen Wesens in der Entschlossenheit, mit der er das selbstgewählte Problem angreift, in der unbeirrten Verfolgung des eingeschlagenen Weges bis zum äußersten Ende, in der Zuversichtlichkeit, die sich bei dem gewonnenen Ergebnis endgültig beruhigt. Für diese Natur war Karl Lachmann der rechte Lehrer, und er ist es wirklich für Kirchhoff gewesen, weit mehr als Boeckh, dessen Nachfolger er an der Universität ward und dessen Werk er zum Teil in der Akademie fortsetzte; kein Wunder, daß Haupt und Kirchhoff sich so trefflich verstanden. Nur darf nicht vergessen werden, daß an Stelle der Romantik, die für Lachmann in der Tiefe sehr wirksam war, bei Kirchhoff der berlinische Rationalismus stand. Seine wissenschaftliche Eigenart ist schon in den ersten Arbeiten zur vollkommenen Reife gelangt, so daß sich eine Fortentwicklung schwerlich aufzeigen läßt. Um so reizvoller müßte es sein, wenn man in die Zeit des Werdens Einblicke tun könnte. D a steht nur eins außer Frage: neben dem Einflüsse seiner Universitätslehrer muß der Geist der ehrwürdigen Schule stark in Anschlag gebracht werden, in deren Dienst er trat und noch bei seinem Eintritt in die Akademie stand. Das Joachimsthalische Gymnasium hat seit über hundert Jahren unter seinen Lehrern immer geistig und wissenschaftlich hochstehende Männer gehabt und, solange es der Universität und Akademie räumlich nahe war, auf die Elite der philologischen J u g e n d eine starke Anziehungskraft geübt, zum höchsten Segen für die bedeutenden Männer, die so auf kürzere oder längere Zeit in einem vertrauten engen Kreise zusammenstanden. Über allen erhob sich die ehrfurchtgebietende Gestalt Meinekes, und er hat als Akademiker den Wahlantrag für Kirchhoff gestellt, den er als Adjunkten in das Joachimsthal eingeführt hatte. Bei diesem ist besonders gegenüber August Nauck eine gegenseitige Beeinflussung kenntlich; Nauck ist als Petersburger Akademiker zeitlebens auf dem Boden geblieben, den er als Adjunkt des Joachimsthals gewonnen hatte. Staunenswert ist die Fülle erfolgreicher Arbeit, die Kirchhoff neben den schweren Pflichten des Lehrers und Erziehers geleistet hat. Das 4

Wilamowitz, Kleine Schriften V I

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liegt heute fünfzig J a h r e zurück; wir lesen den Plotin und Euripides nicht mehr in seinen Texten, lernen Umbrisch und Oskisch bei Bücheler 5 und glauben nicht mehr an den alten Nostos des Odysseus. Aber überall stehen wir auf dem Grunde, den Kirchhoff gelegt h a t ; im Plotin fand er aus unglaublich kritiklosen Ausgaben die echte Uberlieferung heraus und ward überhaupt der Erste, der die in Sprache und Gedanken gleich schwierigen Werke des letzten großen Philosophen der Griechen Schritt für Schritt mit philologischem Auge durchmaß. E s ist, wie Meineke lebhaft anerkannte, eine wahrhaft große Leistung; sie würde bekannter sein, wenn sie einem geringeren Schriftsteller zugute gekommen wäre. Nahe liegt die Frage, ob nicht die weltflüchtige und doch so tiefe und warme Philosophie des einsamen Denkers auf seinen jugendlichen Herausgeber innerlich eingewirkt hat. Auch am Euripides reizte Kirchhoff zunächst die Ordnung der komplizierten Überlieferung, und diese erreichte er schon in zwei sauberen Einzelausgaben der Medea und der Troerinnen. Dann machte er sich an die große Gesamtausgabe, ging auch einmal nach Venedig, um zu kollationieren, aber nicht weiter, so daß das Fundament ungenügend blieb. Auch zahlte er der Mode jener Zeit Tribut, indem er von den zwei Klassen der Uberlieferung, die er treffend unterschied, einer ganz ausschließlich Glauben schenkte. E s war ein Verdienst Näucks, dies nicht mitzumachen; dafür zog er Kirchhoff auf das Feld gewaltsamer Konjektur, und wenn dieser das überwand und in einer späteren kleinen Ausgabe einen sehr konservativ gestalteten Text gab, so hatte er doch nichts getan, um die Lücken des Fundamentes auszufüllen. In ähnlicher Weise hat er 1880 den Aischylos gedruckt, ohne die Handschrift zu vergleichen, die er doch nach der herrschenden falschen Meinung für die einzige hielt, und die durchaus nicht genau genug bekannt war. Dennoch war diese Ausgabe überaus wirksam: sie zwang die Philologen, den uninterpolierten Text ins Auge zu fassen, den sie ganz vergessen hatten, und sofort war die Masse der Interpolationen für immer abgetan. Neben diesen textkritischen Arbeiten gingen ebenso erfolgreiche auf einem ganz anderen Gebiete her. Die iguvinischen Tafeln waren durch Lepsius sicher gelesen. Die oskischen Inschriften erschloß Mommsen, dessen Einzeluntersuchungen in den genialen Unteritalischen Dialekten zusammengefaßt wurden. Was die Wissenschaft weiter forderte, war unverkennbar. Die junge Sprachvergleichung hatte der Grammatik

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neue Kräfte verliehen, und so gelang den Freunden Aufrecht und Kirchhoff die Lösung des so lange unheimlichen Rätsels der umbrischen Sprache. An dem vornehmsten Dokumente der oskischen versuchte 6 sich Kirchhoff allein; und wenn wir es das Stadtrecht von B a n t i a nennen, so hat er ihm diesen Namen gegeben und die Deutung in einem offenen Briefe an Mommsen erhärtet. Seine Art war es nicht, Grammatik systematisch darzulegen; doch hat er später durch seine Vorlesungen über die griechischen Dialekte stark und günstig gewirkt; wenn er dialektische Inschriften behandelte, bewies er immer die vollste Beherrschung der Grammatik, aber nur selten zog er allgemeinere Folgerungen, wie über die Sprachform der attischen Epigramme (Hermes V), ein kleiner, ungemein wirksamer Aufsatz, dessen Ergebnisse durch die Vermehrung des Materials stark eingeschränkt, aber im Kerne bestätigt sind. Und immer noch nicht genug. I n seiner Joachimsthalischen Zeit hat er in angestrengtem zusammenhängendem Denken die Ergebnisse gezeitigt, die er 1859 in einem Abdrucke der Odyssee vorlegte. Die späteren Abhandlungen und Ausgaben sprechen im wesentlichen nur aus, was er damals bereits wußte. Selbstverständlich stand er unter Lachmanns Einfluß. Die Betrachtungen über die Ilias waren ganz frisch, als er Student ward, und hatten seine Doktordissertation unmittelbar hervorgerufen. E s war unvermeidlich, daß Leute kamen, die nun die Odyssee in Lieder zerlegten. Das waren unfreie Nachtreter. Der seines Lehrers würdige Schüler wird gewiß auch zunächst in der Odyssee nach Liedern gesucht haben; aber er fand sie nicht, sondern bewies, daß unsere Odyssee aus größeren Gedichten zusammengearbeitet ist, die den Namen Epos verdienen. Darin liegt der Fortschritt über Lachmann hinaus, und damit war unmittelbar gegeben, daß Lachmanns Analyse und noch mehr seine Methode nachgeprüft würde. Wieviel von ihren Einzelaufstellungen standhält, ist bei Kirchhoff wie bei Lachmann gegenüber dem prinzipiellen Fortschritt nebensächlich. Soweit sie etwas taugt, steht die Homerkritik, auch wenn sie sie bestreitet, auf dem Grunde, den sie gelegt haben, womit sich die leidige Tatsache verträgt, daß das meiste, was sich j e t z t Homerforschung nennt, auf diesem Boden weder steht noch stehen will. Höchst merkwürdig ist, daß KirchhofF in einer seiner letzten Arbeiten auf den Lachmannschen Standpunkt zurückgewichen ist, als er die Erga Hesiods in Lieder zerlegte. Treffend erkannte er, daß bei Hesiod im 4*

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G e g e n s a t z e zu H o m e r die P e r s o n des D i c h t e r s i m M i t t e l p u n k t s t e l l t ; t r o t z d e m e r z w a n g er eine E i n h e i t u n d Geschlossenheit des Gedichtes, 7 die er zu f o r d e r n sich a priori b e r e c h t i g t hielt, o h n e zu f r a g e n , ob diese P e r s o n Hesiodos so e t w a s erreicht oder e r s t r e b t h ä t t e . Die urteilsf ä h i g e n F a c h g e n o s s e n w e r d e n sich wohl a u c h einig sein, d a ß seine Zerlegung der d e m o s t h e n i s c h e n K r a n z r e d e auf einer U b e r s p a n n u n g dieses P o s t u l a t e s der klassischen V o l l k o m m e n h e i t b e r u h t , w ä h r e n d die vielu m s t r i t t e n e n U n t e r s u c h u n g e n ü b e r die E n t s t e h u n g des h e r o d o t i s c h e n Geschichtswerkes vielleicht das a u ß e r a c h t lassen, was f ü r H e r o d o t eine p l a n m ä ß i g e Anlage w a r . A u c h die u n s c h ä t z b a r e S c h r i f t ü b e r die a t h e n i s c h e V e r f a s s u n g , deren T e x t er definitiv b e g r ü n d e t e u n d deren geschichtlichen W e r t er t r e f f e n d w ü r d i g t e , h a t u n m ö g l i c h die G e s t a l t g e t r a g e n , die er ihr d u r c h eine B e h a n d l u n g a u f z w a n g , f ü r die er selbst keine W a h r s c h e i n l i c h k e i t in A n s p r u c h n a h m ; w o m i t n i c h t gesagt i s t , d a ß die ü b e r l i e f e r t e U n g e s t a l t original oder d u r c h ihre V e r t e i d i g e r g e r e c h t f e r t i g t w ä r e . Gewiß h a t j e n e G e n e r a t i o n u n s e r e K r a f t , Zers t ö r t e s w i e d e r h e r z u s t e l l e n , ü b e r s c h ä t z t u n d vieles selbst z e r s t ö r e n wollen, weil es i h r e n A n f o r d e r u n g e n a n ein klassisches K u n s t w e r k n i c h t g e n ü g t e . D e n k e n wir n u r a n die F o r m , die H a u p t d e n pseudovirgilischen G e d i c h t e n Culex Copa Ciris A e t n a g a b , Meineke d e m Kallim a c h o s , H e r c h e r m i t H a u p t s u n d K i r c h h o f f s Hilfe d e m B u c h e des T a k t i k e r s Aineias, u m i n n e r h a l b u n s e r e r A k a d e m i e zu bleiben. Gewiß w a r es ein n o t w e n d i g e r F o r t s c h r i t t , diese A n f o r d e r u n g e n d u r c h die individuelle u n d die geschichtliche W ü r d i g u n g h e r a b z u s t i m m e n . A b e r ü b e r h e b e n wir u n s n i c h t . D a s V e r t r a u e n auf das Uberlieferte f ü h r t n u r zu leicht d a z u , auf seine P r ü f u n g zu v e r z i c h t e n , u n d w e n n der k ü n s t lerisch n i c h t weniger als sittlich v e r w e r f l i c h e G r u n d s a t z tout comprendre est tout pardonner erst a n e r k a n n t ist, so wird i h n die h ö h e r e u n d niedere T e x t k r i t i k sehr b a l d a u c h in der U m k e h r u n g b e k e n n e n tout pardonner est tout comprendre. Die l e t z t e r w ä h n t e n A r b e i t e n w a r e n d u r c h die L e h r t ä t i g k e i t Kirchhoffs a n der U n i v e r s i t ä t h e r v o r g e r u f e n , die er als E r s a t z n e b e n B o e c k h b e g a n n u n d f a s t bis zu seinem T o d e f o r t f ü h r t e . E s ist Zeit, v o n d e n I n s c h r i f t e n zu r e d e n , die i h n in die A k a d e m i e g e f ü h r t h a b e n . B o e c k h h a t t e d e n begreiflichen W u n s c h , sein Corpus zu e i n e m Abschlüsse geb r a c h t zu sehen u n d f a n d n a c h l a n g e n M ü h e n endlich in K i r c h h o f f d e n M a n n , der E n t s a g u n g g e n u g b e s a ß , die christlichen I n s c h r i f t e n auf G r u n d des zufällig v o r h a n d e n e n Materiales f e r t i g z u m a c h e n , so d a ß

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nur die Indizes fehlten, die erst 1877 erscheinen konnten, als Kirchhoff in seinem Schüler H. Röhl einen Mann von gleicher Entsagung gefunden hatte. Nun gab es aber eine Masse bekannter Inschriften, die 8 im Corpus fehlten. Sie wollte Boeckh, man muß sagen unbegreiflicherweise, in einem Supplemente vereinen, und Kirchhoff war schon jahrelang im Auftrage der Akademie mit dem Exzerpieren der Literatur beschäftigt, als er in sie eintrat. Zu derselben Zeit war bei der preußischen Gesandtschaft in Athen Arthur von Velsen angestellt, der sich eifrig mit dem Abschreiben der Steine beschäftigte. Die Akademie erreichte, und das war zu jener Zeit ein großer Erfolg, daß Velsens Nachlaß, als dieser plötzlich starb, erworben und seine Stelle als Dolmetscher durch einen Gelehrten besetzt ward, der imstande war, sein Werk fortzusetzen. Aber noch 1865 redet selbst Kirchhoff noch von dem Supplemente, vielleicht nur aus Rücksicht auf Boeckh. Denn unmittelbar nach dessen Tode zeigen unsere Akten eine Kommission am Werke, der neben Kirchhoff Mommsen und Haupt, später auch Curtius, angehörten, und diese faßte rasch den Entschluß, mit Verzicht auf alle weiteren Pläne ein Corpus der attischen Inschriften zu machen. Diesen Verzicht hat Kirchhoff ganz ernst genommen und das Sammeln der übrigen epigraphischen Literatur nicht nur eingestellt, sondern seine eigenen Scheden vollkommen vergessen; wir haben sie erst kürzlich wiedergefunden, nachdem dieselbe Arbeit zumeist von neuem getan war. Wohl sind im Laufe der J a h r e andere Inschriftsammlungen neben die attische getreten, allein diese hat Kirchhoff mehr geschehen lassen als hervorgerufen, außer den Inscriptiones antiquissimae, die H. Röhl 1882 herausgab, ein seiner Zeit hochwillkommenes Werk, das in dieser Form indessen keine Erneuerung finden wird. Dem attischen Corpus hat Kirchhoff allezeit die treuste Sorgfalt gewidmet. Sobald er 1867 freie Hand hat, greift er es mit ganzer Energie an, übernimmt selbst den ersten Band und gewinnt zwei durch Hermann Sauppe für diese Aufgaben trefflich vorgebildete Gelehrte zu Mitarbeitern, Wilhelm Dittenberger, der es wie keiner verstand, auch großer und disparater Massen epigraphischer Texte kritisch und exegetisch Herr zu werden, und Ulrich Köhler, Velsens Nachfolger, zuletzt, leider nur für wenige Jahre, Mitglied unserer Akademie. Ohne ihn wäre das attische Corpus ganz unmöglich gewesen, denn er lieferte die Abschriften der Steine, und seine Leistung, Quantität und Qualität zusammengerechnet, steht unerreicht da. Gut abschreiben kann nur, wer die Kenntnis von Sprache

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u n d S a c h e n m i t b r i n g t , die f ü r die D i v i n a t i o n n ö t i g ist, u m v o r h e r zu a h n e n , w a s d a g e s t a n d e n h a b e n k a n n u n d w a s n i c h t , a b e r zugleich d a s •9 u n b e s t e c h l i c h e A u g e b e s i t z t , d a s n i c h t m e h r sieht, als auf d e m Steine s t e h t . Gewiß k a n n d e r G e l e h r t e zu H a u s e a m Schreibtische a u c h Schlüsse b e r i c h t i g e n , die angesichts des Steines ü b e r dessen ä u ß e r e G e s t a l t u n d f r ü h e r e Schicksale plausibel erschienen (Kirchhoff h a t das g e g e n ü b e r K ö h l e r a n d e n S t e i n g e f ü g e n der T r i b u t l i s t e n erreicht), a b e r z u m a l f ü r t r ü m m e r h a f t e B r o c k e n wird die H a u p t a r b e i t v o n d e m geliefert, der d e n Stein u n t e r d e n H ä n d e n h a t , soviel i h m a u c h f r e m d e G e l e h r s a m k e i t h e l f e n m a g . W o ein A b k l a t s c h vorliegt, k a n n das a n d e r s sein; a b e r wie selten K ö h l e r s A b s c h r i f t e n aus d e m A b k l a t s c h e v o n K i r c h h o f f b e r i c h t i g t sind, weiß j e d e r Leser des Corpus. I n d e m K ö h l e r die Steine der l e t z t e n vier J a h r h u n d e r t e v . Chr. ü b e r n a h m , fiel i h m q u a n t i t a t i v m e h r z u als seinen b e i d e n M i t a r b e i t e r n z u s a m m e n ; es ist begreiflich, d a ß er sich zuerst ü b e r die Masse b e t r ä c h t l i c h t ä u s c h t e u n d J a h r z e h n t e z u m Abschlüsse des W e r k e s b r a u c h t e , das er d a n n d o c h sof o r t f ü r e r n e u e r u n g s b e d ü r f t i g hielt, leider o h n e m i t seiner A n s i c h t bei d e r A k a d e m i e d u r c h z u d r i n g e n . A b e r j e n e r s t a r k e u n d folgenreiche A n s t o ß , d e n die Philologie d u r c h das Corpus I n s c r i p t i o n u m A t t i c a r u m e m p f i n g , erfolgte d o c h ganz wesentlich d u r c h K i r c h h o f f s B a n d (1873) u n d d e n e r s t e n K ö h l e r s (1877), d a n e b e n d u r c h die e r l ä u t e r n d e n Abh a n d l u n g e n b e i d e r , die sie b e g l e i t e t e n . D a ß sie in der k n a p p e n Sachlichkeit, die in i h r e n T e x t a u s g a b e n ebenso h e r r s c h t e wie in d e n E r l ä u t e r u n g e n (noch h e u t e gibt es n i c h t s Besseres, u m einen E p i g r a p h i k e r zu schulen), so d u r c h a u s h a r m o n i e r t e n , d a ß beide auf die s t r e n g s t e U r k u n d l i c h k e i t des T e x t e s h i e l t e n u n d d o c h die allgemeinen K o n s e q u e n z e n f ü r Geschichte u n d R e c h t der A t h e n e r j e d e s m a l g e n a u so weit v e r f o l g t e n , wie sie der T e x t h e r g a b , steigerte die W i r k u n g , u n d w e n n wir die G r ö ß e des a t t i s c h e n Reiches u n d seiner I n s t i t u t i o n e n , also d e n H ö h e p u n k t der n a t i o n a l e n griechischen Geschichte, ganz a n d e r s w ü r d i g e n , als es B o e c k h selbst d u r c h die U r k u n d e n gelernt h a t t e , die der zweite B a n d seines S t a a t s h a u s h a l t e s v e r e i n i g t , so h a t d a s das Corpus I n s c r i p t i o n u m A t t i c a r u m b e w i r k t , u n d K i r c h h o f f ist d u r c h z u s a m m e n f a s s e n d e U n t e r s u c h u n g e n wie die ü b e r die T r i b u t pflichtigkeit der a t t i s c h e n K l e r u c h e n u n d ü b e r den S t a a t s s c h a t z der A t h e n e r a n dieser h i s t o r i s c h e n F o r s c h u n g wesentlich beteiligt, wie er a n d e r e r s e i t s die bei T h u k y d i d e s e r h a l t e n e n U r k u n d e n a n der H a n d des n u n b e k a n n t e n U r k u n d e n s t i l s e r l ä u t e r t h a t . E s ist n u r ein kleiner Teil

5. Gedächtnisrede auf Kirchhoff (1908)

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seines Werkes, aber als der Schöpfer des attischen Corpus wird er in der Geschichte der Philologie neben Boeckh fortleben wie als Homeriker neben Lachmann. Und doch hat er mit den Studien zur Geschichte des griechischen 10 Alphabets wohl noch Höheres erreicht, denn die Ergebnisse seiner Forschung sind zu selbstverständlichen Voraussetzungen geworden. Die zahllosen Entdeckungen alter Schriftdenkmale, namentlich auch semitischer, lassen vieles als Tatsache erscheinen, was er mühsam erschließen mußte. Heute wäre es mehr als eine Torheit, eine Sünde wäre es, wenn jemand die Studien als solche in irgendeiner Form erneuern wollte, denn nur eine systematische Geschichte der Schrift, nicht bloß der griechischen, ist berechtigt, aber auch sehr erwünscht. Dagegen 1863 gab es nur den Weg, der vom einzelnen Monument ausging. Nur wer schätzen kann, wie spärliches Material damals vorlag, wie chaotisch die Vorstellungen über das Alter und die Originalität der Monumente waren, wer sich klargemacht hat, daß das Beste an den italischen Tochteralphabeten des Griechischen namentlich durch Mommsen beobachtet war, kann Kirchhoffs Leistung richtig schätzen; hatte er doch auch diese Probleme in langem Denken zur Reife gebracht, denn seine erfolgreiche Untersuchung über den Ursprung des Runenalphabetes lag J a h r e zurück, ebenso wie seine Beschäftigung mit den italischen Inschriften, die ihn unmittelbar auf die Herkunft der Schrift hingewiesen hatten. Der Mann, der so vielerlei aus dem Vollen und Frischen geschaffen hatte oder doch in der Seele trug, hat gleichwohl in seiner Antrittsrede resigniert gesagt: „gerechtfertigt ist das Gefühl der Wehmut, daß die Heroen uns verlassen und das Zeitalter der Epigonen begonnen h a t ; ich gehöre zu diesen Epigonen". Hr. Harnack hat diesen Ausspruch zum Ausgangspunkt für seine Betrachtung der letzten Periode in der Geschichte der Akademie genommen. In die Weite allgemeiner Betrachtung folge ich nicht; was die Philologie anlangt, so ward ihr Epigonentum angesichts von Theodor Mommsen proklamiert, und in Bonn war sich eine philologische Jugend im Hochgefühle ihres Wollens und Könnens wohl bewußt, daß der neue T a g sie zu neuen Zielen riefe. So erwiderte denn auch der Altmeister Boeckh ablehnend. „ D a s klassische Altertum ist unsterblich; es wird nur an der Philologie liegen, sich selbst zu helfen, vorzüglich, indem sie die Willkür des subjektiven Beliebens durch strenge Methode beschränkt, sich objektiv in den

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5. Gedächtnisrede auf Kirchhoff (1908)

Geist des Altertums versenkt und dessen geistigen Gehalt erfaßt und in Umlauf setzt." Könnte er heute sprechen, und die Parusie seines 11 Geistes in unserer Mitte ist unsere Hoffnung und unser Glaube, so würde er anerkennen, daß die Philologie seiner Mahnung eingedenk gewesen ist, und dann verschwindet wirklich die Frage nach Heroenund Epigonentum. Für Kirchhoff aber wird seine Rede zu einem wertvollen persönlichen Bekenntnis. Nicht nur begreiflich, sondern schön und rührend ist es, wenn er aufschauend zu Lachmann, Grimm, Boeckh sich so gar klein erschien: fühlen wir etwa anders gegenüber unseren Heroen, selbst ohne die persönliche Berührung? Rührender noch, daß der strenge, verschlossene Mann etwas verrät, was wir nicht ohne Bedauern in seinem Wirken bestätigt finden: das Gefühl, dem er Ausdruck gab, hat sicherlich die Frische und Fröhlichkeit seines Schaffens nicht selten herab gestimmt. Wir aber, die wir seine Werke und sein Wirken überschauen, wissen, daß die Kraft eines ganzen und originalen Gelehrten in ihm war, und unsere Dankbarkeit soll ihm nie vergessen, daß er sie selbstlos und manchmal selbstverleugnend in den Dienst der Wissenschaft und unserer Akademie gestellt hat.

6. August Boeckh In memoriam Als die Berliner U n i v e r s i t ä t ihr f ü n f z i g j ä h r i g e s J u b i l ä u m beging, v e r s t a n d es sich v o n selbst, d a ß A u g u s t B o e c k h sie als R e k t o r vert r e t e n m ü ß t e , n i c h t n u r , weil er diese f ü n f z i g J a h r e a n ihr gelehrt h a t t e u n d enger als irgendein a n d e r e r m i t ihrer V e r w a l t u n g v e r b u n d e n w a r (war er d o c h schon v i e r m a l R e k t o r gewesen), s o n d e r n weil er schon als J ü n g l i n g zu d e n w a h r h a f t g r o ß e n F o r s c h e r n g e h ö r t h a t t e , auf d e n e n das r a s c h g e w o n n e n e A n s e h e n der U n i v e r s i t ä t b e r u h t e . So h a t d e n n der Greis z u m l e t z t e n Male b e i m J u b i l ä u m das W o r t f ü r sie g e f ü h r t . L a n g e J a h r e h a t t e er das d a m a l s b e d e u t s a m e , j e t z t a u f g e h o b e n e A m t des Professors der E l o q u e n z b e k l e i d e t u n d in d e n T a g e n der B e d r o h u n g u n d B e d r ü c k u n g , die m i t d e n K a r l s b a d e r B e s c h l ü s s e n b e g a n n e n , sich a b e r m e h r f a c h w i e d e r h o l t e n , n u r d a ß die B e d r o h e r a n d e r e w a r e n , v o r sichtig u n d gemessen, a b e r f r e i m ü t i g u n d e i n d r u c k s v o l l die F r e i h e i t d e r W i s s e n s c h a f t u n d L e h r e v e r t e i d i g t . F r ü h schon h a t t e er eine ä h n l i c h ü b e r r a g e n d e Stellung in der A k a d e m i e e r r u n g e n , ü b e r die H a r n a c k s G e s c h i c h t e u n t e r r i c h t e t . W i e weit sonst der E i n f l u ß des stillen Gel e h r t e n , der seine P e r s o n z u r ü c k h i e l t , gereicht h a t , e r k e n n t m a n s c h o n aus den v e r ö f f e n t l i c h t e n S t ü c k e n seiner K o r r e s p o n d e n z m i t A l e x a n d e r v o n H u m b o l d t . N o c h liegt ein S c h a t z v o n D o k u m e n t e n u n d B r i e f e n p i e t ä t v o l l v o n seiner F a m i l i e g e h ü t e t u n d h a r r t auf d e n H i s t o r i k e r , der einmal k o m m e n u n d ein w a h r h e i t s g e t r e u e s Bild v o n d e m geistigen L e b e n der l e i t e n d e n Kreise P r e u ß e n s in d e n T a g e n F r i e d r i c h Wilh e l m s I V . e n t w e r f e n w i r d . E s wird d e m K ö n i g e z u r E h r e gereichen, u n d a u c h B o e c k h s Bild wird d a n n f a r b i g e r h e r v o r t r e t e n , als es j e t z t in d e r E r i n n e r u n g d a s t e h t . D e n n sein b e r ü h m t e r N a m e b e d e u t e t n u r f ü r wenige eine lebendige I n d i v i d u a l i t ä t , u n d m a n c h e m m a g M o m m s e n s 6. Das literarische Echo 13 (1910/11) 31-36.

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6. Boeckh in memoriam (1910)

Glanz auch einen Boeckh so zu beschatten scheinen wie Bismarck die Staatsmänner vor ihm. Gewiß repräsentiert Mommsen den Fortschritt 32 der Wissenschaft über Boeckh, und es darf nicht verschleiert werden, daß er sich gegen Boeckh durchsetzen mußte, aber ebenso sicheristes, daß Mommsens wissenschaftliche Arbeit und Stellung ohne Boeckhs Vorgang gar nicht denkbar wäre. Wie so viele der besten Männer Preußens war Boeckh ein Wahlpreuße. Seine Familie saß in Nördlingen schon vor der Reformation; der Zweig, dem er entsproß, war in Karlsruhe heimisch geworden; einer seiner Brüder, später badischer Finanzminister, hat am Eintritte Badens in den Zollverein mitgewirkt. Aber seine wissenschaftliche Bildung verdankte August Boeckh schon Preußen; er war nach Halle zu Fr. A. Wolf gezogen, denn in Süddeutschland konnte er die neue Philologie nicht lernen. E r hat dann auch in Berlin mit den bedeutenden Gelehrten Fühlung genommen, die schon vor Gründung der Universität den würdigsten Lehrkörper bildeten. Diese Verbindung bewirkte die Berufung des noch nicht dreißigjährigen, kaum in Heidelberg in das Lehramt getretenen Professors. E r war frühreif; zu allem, was er geschaffen hat, lagen die Keime bereits in seiner Seele; in den ersten Berliner Jahren hat er seine bedeutendsten Schüler gezogen; seine wichtigsten Werke fallen in die nächsten zwanzig J a h r e . Auf seine Seele hatte wohl der Platoniker Schleiermacher am tiefsten gewirkt, und für seine wissenschaftliche Art ist jener mathematische Sinn charakteristisch, den Piaton als Vorbedingung für alle wissenschaftliche Arbeit forderte und in seiner Schule auf das Große und Allgemeine richtete. Solche Wege ging der junge Boeckh und vertiefte sich in die kosmischen Spekulationen und astronomischen Erkenntnisse der Griechen; des Greises letztes Buch gilt der auf die Zeitrechnung angewandten Astronomie. Diese Objekte führten von selbst über die Griechen hinaus. Die 60 Minuten der Stunde, die 360 Grade des Kreises, weltbeherrschende Willkürsatzungen, die ähnlichen Willkürsatzungen 33 in Maß und Gewicht und Münze stellen in ihrer Stetigkeit und ihrem Wandel ein großes Kapitel aus der menschlichen Kulturgeschichte dar. Dies zu verstehen erfordert lange Arbeit des Messens, Wägens und Rechnens, um die Systeme zu erfassen, die Zusammenhänge aufzuzeigen : wirklich fruchtbar und belehrend wird aber alles erst, wenn der geschichtliche Zusammenhang und Fortschritt erkannt wird. Boeckh hat beides geleistet und so zuerst einen nie abgerissenen Faden des

6. Boeckh in memoriam (1910)

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u n b e w u ß t e n K u l t u r z u s a m m e n h a n g e s d u r c h d a s L a b y r i n t h der Z e i t e n bis n a c h B a b y l o n z u r ü c k v e r f o l g t . E r h a t a u c h a u s d e n Zinszahlen a t t i s c h e r R e c h n u n g e n u n d d e n D a t e n a t t i s c h e r U r k u n d e n die J a h r e u n d d a r a u s wieder d e n K a l e n d e r der A t h e n e r b e r e c h n e t , u n e n d l i c h m ü h s a m e A r b e i t e n , die er, o h n e viel A u f h e b e n s d a v o n zu m a c h e n u n d o h n e viel D a n k z u finden, d u r c h f ü h r t e . H i e r b o t i h m die E n t d e c k u n g der U r k u n d e n d e n A n l a ß . E b e n s o u n v e r d r o s s e n h a t er sich a u c h in das D e t a i l des a t t i s c h e n S c h i f f b a u e s u n d der T a k e l a g e h i n e i n g e a r b e i t e t , als i h m zufiel, I n v e n t a r e der a t t i s c h e n Marine h e r a u s z u g e b e n . D a zog i h n k e i n e N e i g u n g , s o n d e r n er g e h o r c h t e d e m P f l i c h t g e f ü h l e , die A r b e i t zu leisten u n d g u t zu leisten, die der T a g i h m n a h e b r a c h t e , j e n e s P f l i c h t g e f ü h l des e c h t e n G e l e h r t e n , das a u c h M o m m s e n so g r o ß a r t i g b e t ä t i g t h a t , u n d das n i c h t n u r die T r ä g e n u n d die Ä s t h e t e n , s o n d e r n selbst die, welche m i t H i n g e b u n g die W i s s e n s c h a f t als S p o r t b e t r e i b e n , als K ä r r n e r a r b e i t v e r a c h t e n . Als eine solche n o t w e n d i g e L a s t h a t B o e c k h a u c h die I n s c h r i f t s a m m l u n g ü b e r n o m m e n , u n d w i c h t i g e r , als w a s er selbst a n i h n e n g e t a n h a t , ist, d a ß sein großes V o r b i l d u n s u n d u n s e r e E n k e l z w i n g t , dieselbe L a s t z u m B e s t e n d e r A l l g e m e i n h e i t o h n e R ü c k s i c h t auf eigene N e i g u n g u n d a n d e r e r D a n k willig z u t r a g e n . E i n e freie L e i s t u n g ist n a t ü r l i c h sein b e r ü h m t e s W e r k „Die S t a a t s h a u s h a l t u n g der A t h e n e r " ; n a t ü r l i c h v e r l e u g n e t sie seine S i n n e s a r t n i c h t . W i e gern w ü r d e er m i t d e n Z a h l e n des a t t i s c h e n B u d g e t s u n d d e n P r e i s e n des a t t i s c h e n M a r k t e s g e w i r t s c h a f t e t h a b e n ; es ist V a t e r e r b e , w e n n sein S o h n R i c h a r d der b e r ü h m t e S t a t i s t i k e r g e w o r d e n ist. A b e r j e n e a u t h e n t i s c h e n Z a h l e n f e h l t e n ; es f e h l t e n a u c h f a s t alle Vora r b e i t e n . W a r es d e n n n i c h t ü b e r h a u p t eine P r o f a n a t i o n , bei d e n A t h e n e r n der perikleischen Zeit, der B l ü t e des f r e i e n M e n s c h e n t u m s , n a c h T a g e l o h n u n d Weizenpreis, n a c h Zöllnern u n d S c h r e i b e r n , n a c h S c h u l d h a f t u n d S t a a t s a n l e i h e zu f r a g e n ? Gewiß l a g schon in d e m A u f w e r f e n solcher F r a g e n , d a ß die alte G r a m m a t i k z u r Geschichtswissens c h a f t g e w o r d e n w a r . K e i n W u n d e r , d a ß B o e c k h als H a u p t einer P a r t e i 34 v o n N e u e r e r n a n g e s e h e n u n d a n g e f o c h t e n w a r d . Des F o r t s c h r i t t e s w a r er sich b e w u ß t u n d h a t i h n m i t N a c h d r u c k v e r t r e t e n ; a b e r dieser F o r t s c h r i t t k o n n t e n i c h t eines einzelnen W e r k sein. V i e l m e h r w a r die allg e m e i n e geistige E n t w i c k l u n g n u n m e h r d a h i n g e k o m m e n , d a ß sich endlich eine wirkliche G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t e n t f a l t e t e . D a ß sie d a n n z u n ä c h s t die Völker des A l t e r t u m s sich z u m O b j e k t e n a h m , l a g e b e n s o in der allgemeinen E n t w i c k l u n g , wie d a ß hier die n e u e B e t r a c h t u n g

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6. B o e c k h in m e m o r i a m (1910)

den stärksten Anstoß erregte; auf dem Teile dieser Geschichte, bei dem die kirchlichen Traditionen durch die Erforschung der Wahrheit berichtigt werden, ist dieser Widerspruch j a noch unbezwungen. Wir sind gewöhnt, mit Niebuhrs Vorträgen über römische Geschichte den Beginn der neuen Geschichtswissenschaft zu markieren. An ihnen war die Negation das im Momente und auf die Dauer Bedeutende. Bei Boeckh ist es die gewaltige Erweiterung des positiven Wissens und die unabweisbare Forderung an die Arbeit der Zukunft, weil das Reich des Wißbaren sich ungeheuer erweiterte. Die Inschriftsammlung war zunächst als Urkundenbuch für die Staatshaushaltung geplant; daß 35 ihr Umfang sich seitdem verhundertfacht hat und das Forschungsmaterial auf allen Gebieten sich ähnlich gemehrt hat und mehren wird, konnte Boeckh kaum ahnen. Aber alle diese Entdeckungen sind j a zumeist durch das Erstarken der Geschichtswissenschaft hervorgerufen. Immer wieder hat Boeckh ein Kolleg über Enzyklopädie der Philologie gehalten; es hat nicht nur den Zuhörern am meisten imponiert, sondern galt weithin als die maßgebende Darstellung von dem, was die neue Altertumswissenschaft wäre oder sein sollte. Nach seinem Tode hat man es gedruckt. Imponieren wird noch heute die Weite des Blickes, der überall bis an die Grenzen vorzudringen sucht, die durch das Objekt der geschichtlichen Wissenschaft gegeben sind, während die meisten das Eckchen, das sie von bequemem Sitze übersehen, mit dem Reiche der Wissenschaft identifizieren. Die Tiefe der Auffassung 36 und auch die Definitionen der Philologie und ihrer Teile befriedigen uns nicht mehr. Das Individuelle und vollends das Unbewußte, das doch auch erfaßt werden muß, wenn man fremdem Seelenleben nachkommen will, kommt bei dem mathematisch gerichteten Platoniker nicht zu seinem Rechte, wie es denn unleugbar ist, daß seine Verdienste um die Dichtung vornehmlich auf dem Gebiete der Metrik liegen und auch da mehr der abstrakten Theorie zugute gekommen sind. Aber heute mögen und dürfen wir nicht auf das schauen, worin die Wissenschaft weitergekommen ist: heute besinnen wir uns darauf, was wir den Großen schulden, und gern rühmen wir am festlichen Tage ihr Werk, das in Dankbarkeit und Treue zu behüten und zu mehren unserer Werkeltage L a s t und Freude ist.

7. Gedächtnisrede auf Johannes Vahlen Den Gönnern, die unseren öffentlichen Sitzungen ihre Teilnahme schenken, wird die Akademie gar nicht mehr sie selbst zu sein scheinen, weil aus der Reihe unserer Vorsitzenden das eindrucksvolle Haupt Johannes Vahlens verschwunden ist, in dessen scharfgeschnittenen Zügen der eindringende Verstand, die unerbittliche Strenge, die asketische Selbstzucht des Kritikers unverkennbar waren, dessen stets wohlgebaute und wohllautende Perioden den Anschluß an die ihrer Mittel bewußte klassische Redekunst verrieten, wie sie denn ihren vollen Wohllaut erst in der Sprache Ciceros gewannen. Fügen wir hinzu, daß auch die zarte und spitze Handschrift der abgemessenen Feinheit seines Wesens entsprach, so ist es gesagt, daß er es erreicht hatte, seine Eigenart nach allen Seiten zu eng geschlossener Harmonie auszubilden. Vahlen ist im April 1893 als Sekretär an Curtius Stelle getreten und im Dezember 1874 Mitglied der Akademie geworden, als Mommsen Sekretär ward, der als ein baumeisterlicher Mann, wie Goethe den Aristoteles genannt hat, die Akademie Aufgaben angreifen und bewältigen lehrte, die über die Kräfte des einzelnen Sterblichen gehen, auch wenn er wie Mommsen das Reste daran selber tut. An diesen Arbeiten hat Vahlen sich nur so weit beteiligt, daß er ratend und helfend in ihre geschäftliche Rehandlung mit eingriff, so daß ihn das Vertrauen der Akademie an Mommsens Seite stellen konnte. Selbst gehörte er zu den Akademikern alter Art, die doch auch eine gute Art ist, wo jeder nach Neigung und Geschmack den eigenen Garten pflegt und die reifen Früchte einem Kreise darbietet, dessen Glieder Duft und Glanz zu würdigen wissen, auch wenn sie auf den Genuß ver7. Sitzungsberichte der Kgl. Preußischen Akademie der Wissenschaften 1912, 617-622.

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7. Gedächtnisrede auf Vahlen (1912)

ziehten, weil ein jeglicher in seinem Gärtlein eine andere Sorte zieht. Doch wollen wir nicht vergessen, daß es besonders liebenswürdige Arbeiten sind, zu denen Mommsen und Vahlen einander angeregt haben, wozu freilich auch die Liebenswürdigkeit des Horatius beiträgt, dem der Historiker und der Philologe beide huldigten. Vahlens Eigenart war vollkommen ausgebildet, als er in die Akademie trat, und sie hat sich so wenig verändert, wie seine Gestalt, nur daß das Alter allmählich die Züge tiefer furchte. Vielleicht hängt das mit seiner Frühreife zusammen, denn er war erst 22 J a h r e alt, als er sich mit seiner Erstlingsarbeit, seinem Ennius, gleich in die vorderste Reihe der Latinisten schwang. Ritsehl hatte das Thema gestellt, die Konkurrenz war scharf, und der Sieger hat das Urteil seines Lehrers 618 in der Neuausgabe 1903 abdrucken lassen. E r war ein Bonner Kind, 1830 geboren, in Bonn gebildet; da war es natürlich, daß er sich zuerst in den Gleisen der Bonner Schule bewegte. Auch die akademische Lehrtätigkeit begann er unter des Meisters Augen; sie führte ihn rasch über Breslau und Freiburg nach Wien, und dort hat seine Lehre anderthalb Jahrzehnte eine Wirkung geübt, deren Segen noch jetzt lebhaft empfunden wird. Auch er selbst hat die Erinnerung an die Wiener J a h r e hochgehalten, mit Recht, denn dort hat er seine eigene feste Stellung zur Wissenschaft gefunden und die Werke verfaßt, denen man zuversichtlich die längste Dauer und die tiefste Wirkung zuschreiben darf, seine Abhandlungen über Aristoteles und seine Ausgabe der Poetik. Durch sie trat er unserer Akademie bereits nahe. Denn unsere Ausgabe hatte für das Studium des Aristoteles überhaupt erst den Grund gelegt, und in Wien stand neben Vahlen Hermann Bonitz, beschäftigt mit seinem Index zu Bekkers Ausgabe, in dem er durch die T a t lehrte, was ein Index sein soll, die Darstellung des Sprachgebrauches durch einen Kenner; es ist freilich sehr viel bequemer, das Lob der Vollständigkeit durch wahlloses Ausschütten aller Wörter und Phrasen zu erlangen. Der Stil des Aristoteles, dessen Ungleichförmigkeit für die unvergleichliche Ausdrucksfähigkeit der griechischen Sprache kein geringeres Zeugnis ablegt als die Poesie Piatons, führte den, der die drei Kardinaltugenden des Kritikers, Gewissen, Geduld und Geschmack, mitbrachte, von selbst auf den richtigen Weg, sich in die allgemeine Denk- und Sprechweise der Griechen und die des Aristoteles besonders hineinzuleben, und so lehrte er an einem der sprachgewaltigsten Denker, was die Kritiker beinahe vergessen hatten, daß es ihre Auf-

7. Gedächtnisrede auf Vahlen (1912)

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gäbe ist, zu verstehen, zu verstehen auch, was unserer Art zu denken und zu reden widerstrebt, j a wohl gar, aus Flüchtigkeit oder Manier entsprungen, berechtigtem Tadel unterliegt. Zu solchem Verständnis zu führen, hat Vahlen dann zeitlebens ganz besonders als seine Aufgabe betrachtet, und gegenüber den Ausschreitungen konjekturaler Willkür mußte es zumeist als Rechtfertigung der Uberlieferung erscheinen. Natürlich behandelte er in Wien auch andere Schriftsteller, Livius, Cicero, Horaz; er beschränkte sich aber damals durchaus nicht auf Textkritik. In dem Rhetor Alkidamas hat er eine charakteristische Person für die Literaturgeschichte zurückgewonnen, indem er zugleich eine der beiden unter diesem Namen überlieferten, aber damals allgemein verworfenen Reden rettete; die andere hat er, wie es scheint, dauernd für unecht gehalten, obwohl er die historischen Gründe nicht angefochten hat, die auch für ihre Echtheit sprechen. Auf Alkidamas war er durch Aristoteles geführt; wie er auf Lorenzo Valla gekommen ist, habe ich nicht ermittelt. Von diesem klarsten und feinsten K o p f e 619 unter den Humanisten des Quattrocento hat er drei vergessene Schriften herausgegeben, hat sein Leben und seine Schriftstellerei so behandelt, wie es nur eindringende literarische und historische Forschung vermag, hat auch alles zu einem Vollbilde zusammengefaßt. Wenn er sich später solche Aufgaben nicht mehr gestellt hat, so gebührt sich hervorzuheben, daß er den Beweis des Könnens in seinem Valla erbracht hatte. Hier in Berlin trat er an Haupts Stelle, der seine Aufgabe vornehmlich darin gesehen hatte, die Methode Lachmanns zu verkünden. Das geschah in einem gewissen Gegensatze zu der Bonner Philologie, die sich ebenfalls auf Methode besonders viel zugute tat. Heute wird man die sachliche Berechtigung dieses Gegensatzes kaum anerkennen, denn hier wie da trieb man ausschließlich Wortphilologie, mit J a k o b Grimm zu reden, in Wahrheit die vor\ der antiken Grammatik und den Humanisten ererbte Textkritik. Vahlen ward also seinem Lehrer gewiß nicht untreu, aber den Kultus Lachmanns hat er allerdings von Haupt übernommen. E r gab sofort dessen Lucilius heraus, unfertig, wie er hinterlassen war, sammelte seine kleinen Schriften zur klassischen Philologie, gab später (1892) seine Briefe an Haupt heraus, alles ohne eigenem Urteil j e R a u m zu gönnen. Endlich hat er (1892) Lachmann eine Gedächtnisrede gehalten, auf die man sehr wohl eine Darstellung und Kritik seiner eigenen Auffassung vom Wesen der Philologie bauen

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7. Gedächtnisrede auf Yahlen (1912)

k ö n n t e . V o n H a u p t ü b e r n a h m er die Revision der zierlichen Hirzelschen D r u c k e des H o r a z u n d Catull, Tibull, P r o p e r z , die er m e h r f a c h w i e d e r h o l t h a t . E r h a t a u c h selbstlos seine A r b e i t f ü r H . A. K o c h s p o s t u m e A u s g a b e v o n Senecas Dialogen eingesetzt, obwohl d a r i n j e n e K r i t i k g e ü b t w a r d , die er ü b e r w u n d e n h a t t e . D a ß er v o n O t t o J a h n die A u s g a b e der S c h r i f t v o m E r h a b e n e n ü b e r n a h m , m u ß t e i h m eine F r e u d e sein, h a t t e er d o c h selbst die peinlich g e n a u e V e r g l e i c h u n g der H a n d s c h r i f t geliefert, u n d diesen T e x t auszupolieren u n d gegen voreilige Ä n d e r u n g zu s c h ü t z e n , w a r eine A u f g a b e , wie geschaffen f ü r seine N e i g u n g . Aus eigenem A n t r i e b h a t er a u ß e r der E r n e u e r u n g seines E n n i u s , einem i m p o n i e r e n d e n N e u b a u , a b e r auf den a l t e n F u n d a m e n t e n , die B ü c h e r Ciceros v o n den Gesetzen h e r a u s g e g e b e n u n d f ü r seine V o r l e s u n g e n die M e n ä c h m e n des P l a u t u s ; a b e r diese A u s g a b e n illustrieren n u r a n u m f a s s e n d e r e n O b j e k t e n dieselbe M e t h o d e der T e x t k r i t i k wie alle seine a k a d e m i s c h e n A b h a n d l u n g e n u n d ebenso die I n dices l e c t i o n u m , die er n o c h selbst in zwei s t a t t l i c h e n B ä n d e n vereinigt h a t , als er diese P u b l i k a t i o n einstellte, w o m i t d e n n die l a t e i n i s c h e E l o q u e n z a n den d e u t s c h e n U n i v e r s i t ä t e n e n d g ü l t i g v e r s t u m m t ist. A u c h in diesen P r o ö m i e n h a t er H a u p t s Weise t r e u l i c h f o r t g e s e t z t , u n d 620 w e n n sie a u c h beide ü b e r den Z w a n g zuweilen geklagt h a b e n , j e d e s S e m e s t e r e t w a s schreiben zu m ü s s e n , e n t s p r a c h diese A r t d e r Schriftstellerei d o c h ganz i h r e m W o l l e n u n d K ö n n e n . I n h a l t l i c h ist j a a u c h das m e i s t e gleicher A r t , w a s V a h l e n in der A k a d e m i e v o r g e t r a g e n h a t . E s pflegt sich u m E r k l ä r u n g u n d K r i t i k einzelner Stellen zu h a n d e l n , die H a u p t gewöhnlich ä n d e r n will, Y a h l e n v e r t e i d i g e n . U n d a u c h w e n n dieser ganze G e d i c h t e oder G e d i c h t a b s c h n i t t e e r l ä u t e r t , pflegt ihn ein Angriff auf ihre I n t e g r i t ä t oder eine A u s d e u t u n g gereizt zu h a b e n , die sich v o n d e m sicheren B o d e n des richtigen W o r t v e r s t ä n d n i s s e s entf e r n t . O f t g e n u g r e d e t er v o n der K l e i n h e i t seiner O b j e k t e , a b e r d a ß ihre B e h a n d l u n g keine Kleinigkeit ist, weiß er sehr wohl, u n d w a h r l i c h , der a h n t n i c h t s v o n W i s s e n s c h a f t , d e m so e t w a s wie das P r o ö m i u m ü b e r die I n t e r p u n k t i o n (1880) n i c h t i m p o n i e r t , u n d der n i c h t d e n m e t h o d i s c h e n F o r t s c h r i t t , hier gerade ü b e r L a c h m a n n , a n e r k e n n t , der in der A b h a n d l u n g ü b e r die A n f ä n g e v o n Ovids H e r o i d e n (1881) erzielt ist. H i n t e r all d e m s t e h t eine S p r a c h k e n n t n i s u n d ein S p r a c h gefühl, wie sie H a u p t z . B . schwerlich besessen h a t , u n d wie sie n u r a u f m e r k s a m s t e B e o b a c h t u n g bei u n a u s g e s e t z t e r L e k t ü r e der K l a s s i k e r lebendig e r h ä l t .

7. Gedächtnisrede auf Yahlen (1912)

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Ein glänzendes Beispiel ist das Proömium des Winters 1895, das eine besondere Art der Vergleiclmng durch die Literaturen verfolgt. Freilich jene Observation ist es doch auch hier nicht, die Bentley zuerst und in Vollkommenheit Lachmann geübt hat, der in der Arbeit am Lukrez innehält, weil er erst sämtliche römische Dichter durchsehen muß, um zu wissen, wie es um die Elision iambischer Wörter steht. Nur so wird gefunden, was wir Gesetze der Sprache und des Versbaus nennen, und zugleich die geschichtliche Entwicklung, die lehrt, wieweit solche Gesetze tatsächlich gegolten haben. All so etwas lag Vahlen fern, zumal alles Metrische und Rhythmische. Man darf auch nicht verkennen, daß seine eigentliche Arbeit doch nur dem beschränkten Kreise der klassischen Schriftsteller gegolten hat,.wenn auch natürlich die ausgebreitete Lektüre manchem Späteren gelegentlich zugute kam, wenigstens in der lateinischen Literatur, wo er doch auch Werke der klassizistischen Nachahmung wie die Dialoge des Tacitus und Minucius bevorzugte. I m Griechischen vollends hat er das alte Epos und alle Lyrik, auch die szenische, alles Ionische, Hellenistische, Vulgäre so gut wie ganz beiseite gelassen, also von den Massen der späteren Literatur nur einiges streng Klassizistische, wie die Schrift vom Erhabenen, Dion, Lukian, behandelt. Inschriften, zumal griechische, hat er kaum j e auch nur zitiert. D a würde jeder halbwegs Sachkundige, auch wenn ich es unterlassen wollte, die Parallele zu Franz Bücheler ziehen, der, auch ein Kind des Niederrheines, auch ein Schüler Ritschis, auch ein Textkritiker, auch vorwiegend kleine Einzelbeobachtungen veröffentlicht 621 hat und auch den Respekt vor der Uberlieferung wieder zu Ehren gebracht. Bücheler beherrschte die lateinische, besser die italische Sprache, in allen Mundarten und Stilen, von den stammelnden Anfängen bis in das Chaos der werdenden romanischen Sprachen. In ihm lebte jene Kunst der Observation, die gepaart ist mit dem historischen Sinne, der vor dem Normalisieren schützt. An ihn schickte Mommsen die inschriftlichen lateinischen Gedichte zur Ergänzung, und zahllosen Werken anderer lieh er seine helfende Hand. E r verstand die altkretischen Gesetze und die ionischen Iamben des Herodas sofort, als sie aus der Erde aufstiegen, und die Treffer seiner divinatorischen Kritik werden für alle Zeit im Homer und Pindar, im Philodem und Hermes Trismegistos stehen. Bücheler rangiert eben mit Lachmann. 5

Wilamowitz, Kleine Schriften V I

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7. Gedächtnisrede auf Vahlen (1912)

Mit Lachmann hat sich Vahlen niemals vergleichen wollen. Aber mit Haupt, dem er ebenbürtig ist, teilt er einen Vorzug auch über Lachmann und Bücheler. Deren Schriften sind nur den Eingeweihten verständlich, auch nur auf sie berechnet: Haupt und Vahlen sind Lehrer und Erzieher, auch in ihren Schriften, die zu lesen für jedermann, der lernen will, ein fast müheloser Genuß ist. Wozu sie erziehen, gerade weil sie auch das Kleine ganz ernst nehmen, ist vor allem Redlichkeit, das Höchste wie im Leben so in der Wissenschaft, und in ihr wenigstens gibt es keine Kompromisse. Was sie lehren, ist das, was jeder lernen muß, der Schriftwerke benutzen will, eben verstehen, aus jedem Satze holen, was in ihm steht, nicht mehr aber auch nicht weniger. Gewiß gehört zu solchem Verstehen noch mancherlei anderes, hier dieses, dort jenes, aber hier und dort und überall gehört vor allem dazu das einfache sprachliche Verständnis. Auf dieses muß sich also die erste und unerläßliche Führung des philologischen Lehrers richten. Damit müssen wir alle anfangen, und dafür und dadurch zu lernen hören wir nicht auf, solange unsere Lehre etwas taugt. Wenn es denn Pflicht ist, die Lebensarbeit des scheidenden Genossen an dieser Stelle auf der Waage der Wissenschaft zu wägen, zu betrachten sub specie aeternitatis, soweit das ein Sterblicher vermag, so fordert die Gerechtigkeit, daß dieses letzte Wort ausklinge in dem Ruhm von dem, was der Lehrer und Erzieher Vahlen für die Wissenschaft getan hat und durch seine Schriften weiter tun kann und soll. Seines Lehramtes hat er zu walten vermocht, bis der Körper ganz versagte, und wie einst an Hermann Sauppe habe ich an ihm beobachten und bewundern können, wie tief das Ethos eines greisen lehrenden und lernenden Meisters auf die empfänglichen jungen Seelen wirkt. Dies Ethos aber hatte ihm nicht erst das Alter verliehen, er strahlte es aus, schon da er nach 622 Berlin k a m : auch das kann ich aus eigener Erfahrung bezeugen. Ich habe seit jenen fernen Tagen mit Ehrfurcht zu ihm emporgesehen wie zu einem Lehrer, und aus dieser Ehrfurcht, vor ihm und vor der Wahrheit, die uns allen das Heiligste ist, habe ich gesprochen.

8. Gedächtnisrede auf Alexander Conze und Georg Loeschcke Am letzten Leibniz-Tage werden viele eine Gedächtnisrede auf Alexander Conze schmerzlich vermißt haben. Wer den Grund der Versäumnis kannte, empfand es nur schmerzlicher, denn Georg Loeschcke sollte die Rede halten, aber schwere Krankheit hatte ihn kurz vor der Sitzung ergriffen. Am 26. November rief ihn der Tod ab, grausam und doch gnädig. Gnädig, denn der rast- und ruhelos Tätige durfte nicht kraftlosem Siechtum verfallen; aber grausam auch. Siechtum und Tod hatten sein Haus jahrzehntelang verfolgt. Dem widerstand die wunderbare Elastizität seines Wesens jahrzehntelang, wenn auch eine gewisse Ruhelosigkeit die Folge dieses mutvollen Widerstandes war. Die Übernahme einer neuen schweren Verantwortung an der Berliner Universität, der B a u eines neuen großen Instituts, die Gründung einer Lehrsammlung, wie er sie in Bonn zu unvergleichlichem Reichtum gebracht hatte, sollten die ermatteten Kräfte verjüngen, der Eintritt in unsere Akademie die versiegte wissenschaftliche Produktion wecken. Schon glaubten wir an den Erfolg. E s hat nicht sollen sein. Hier trauern, hier klagen wir. Alexander Conze dagegen zählen wir unter die Gesegneten, denen der Tod nur die Krönung eines vollen und reichen Menschenlebens ist. Selbstgesetzten Zielen zustrebend, ist er jung hinausgezogen, die griechische Kunst auf griechischem Boden zu suchen. E s waren Entdeckerfahrten, vorbereitend, vordeutend auf sein großes Lebenswerk, das ihm als Lohn, der jugendlichen Kühnheit zufiel. Der deutschen Wissenschaft hat er eine neue Provinz erobert, sein Pergamon. Dort war seine zweite Heimat. Noch den Greis trug das hurtige anatolische Pferd über 8. Sitzungsberichte der K g l . Preußischen A k a d e m i e der Wissenschaften 1916, 754-759. 5*

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8. Gedächtnisrede auf Conze und Loeschcke (1916)

die Gefilde des Kaikos, und auf den Kuppen der mysischen Berge grüßte ihn die Sonne, grüßten ihn auch die Stürme, belebend beide. Endlich, als er fühlte, daß seines Lebens Maß voll war, hat er noch einmal zu friedlichem Abschied, zu schauendem Genüsse mit seiner Gemahlin den heiligen Boden Athens besuchen können. Befriedigt kehrte er heim. Sein Lebenswerk war getan, sein Einleitungsband zu dem Prachtwerke Pergamon erschienen, der Abschluß der attischen 755 Grabreliefs gesichert: da trat ihn als ein freundlicher Bote des Jenseits der Tod an. Im eigenen Hause, das er eigenem Wesen entsprechend erbaut und geschmückt hatte, umgeben von der Schar der längst zu eigenem reichstem Wirken erblühten Söhne, durfte er scheiden, in letzter Stunde, ehe noch der Weltkrieg auch seine Wissenschaft in ihren Grundfesten erschütterte und der, ach so köstlichen, so unentbehrlichen Freundschaft zwischen ihren Dienern Wunden schlug, die wir Alten nimmer verwinden werden, auch wenn wir fest darauf vertrauen, daß die Wissenschaft ihre ehrlichen Diener wieder zusammenführen wird. So verschieden war Leben und Tod der beiden Fachgenossen, deren wir heut vereint gedenken müssen. Auch in ihrem Wesen war, nicht nur äußerlich, der Unterschied des Obersachsen von dem Niedersachsen nicht gering. Ihr amtliches Wirken stand vollends im Gegensatze. Loeschcke war der unvergleichliche akademische Lehrer, der hinreißende Redner, der zuletzt in dieser Tätigkeit mündlicher Unterweisung fast ganz aufging. Conze ist nach kürzerer, vorbereitender Tätigkeit in Göttingen und Halle nur noch in Wien acht Jahre Universitätslehrer gewesen, und schon da hat er am stärksten als Organisator gewirkt. Dann trat er an die Spitze der Berliner Skulpturensammlung, um selbst die Schäden einer verderblichen Verwaltung zu heilen, die er mutig gerügt hatte. Zehn Jahre darauf übernahm er in einer schweren Krisis die Leitung des Deutschen Archäologischen Instituts. Er hat ohne Zweifel den starken Widerstand vorausgesehen, auf den die Neuordnung stoßen mußte, und ganz hat dieser Widerstand, hat lautes und leises Murren niemals aufgehört. Aber sein mutiges Pflichtgefühl und seine Selbstlosigkeit gaben ihm die Kraft, unbeirrt seines Weges zu gehen, und der aufrechte und aufrichtige Mann gewann das Herz eines jeden, der länger mit ihm zusammenarbeitete, auch wenn der Gegensatz der Ansichten unausgeglichen blieb. Seinen Willen hat er im wesentlichen durchgesetzt, lange noch maßgebend,

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auch als er 1905 von der leitenden Stellung zurücktrat. Unbestreitbar ist, daß die Tätigkeit des Institutes unter ihm dauernd gestiegen ist, und der wichtigste Fortschritt, die Gründung des römisch-germanischen Institutes, ist sein eigenstes Werk. Der Erfolg hat bewiesen, daß er hier das Richtige gewollt h a t ; er hat es unter schweren K ä m p f e n durchgesetzt, und zu den Gegnern gehörte auch Mommsen. Hier nun war es, wo er sich mit Loeschcke zusammenfand. Denn dieser hatte, sobald er die Bonner Professur übernahm, als seine Aufgabe erkannt, sich der Überreste aus der Römerzeit anzunehmen, die unsere Rhein- und Mosellande so zahlreich bewahren. Nur der Archäologe, der die monumentale Überlieferung der Mittelmeerländer beherrscht, ist imstande, diese Weltkultur auch in der Grenzprovinz zu verstehen: dann ist das aber auch seine Pflicht. Und indem er die 756 provinzielle Eigenart begreift, wird er befähigt, auch die eingeborenen Elemente zu unterscheiden. Nur von hier aus, vom römischen Germanien aus, kann ein wissenschaftliches Verständnis der Reste auch des national-germanischen Lebens erreicht werden, schrittweise vordringend, wozu denn auch hoffnungsvolle Anfänge gemacht sind. Auf dem rheinischen Boden ist auch Loeschcke als Ausgräber aufgetreten; daß ihm die wichtigsten Entdeckungen und Deutungen gelungen sind, ist bekannt, mag er sie auch nur mündlich vorgetragen und durch das Versagen seiner Feder nicht nur sich, sondern auch die Sache geschädigt haben. E s würde doch wohl auch auf gutgläubige Dilettanten einen heilsamen Eindruck gemacht haben, wenn sofort scharf und klar vor der Öffentlichkeit der Nachweis geführt worden wäre, daß das Gräbchen, das sich vor dem späteren Limes nachweisen ließ, keinen mystischen Bezug gehabt hat, sondern einen Palisadenzaun getragen. Auf dem Ausgrabungsfelde von Haltern sind Conze und Loeschcke zusammengetroffen und werden sich bewußt geworden sein, daß sie trotz allen Verschiedenheiten demselben Ziele zustrebten. Loeschcke war von der Geschichte und Epigraphik Athens ausgegangen: als er begann, war die Ausgrabung in Olympia und Pergamon begonnen: da war es natürlich, daß er unter die Aufgaben der Archäologie rechnete, dem antiken Boden alle Zeugnisse abzugewinnen, die er bieten kann, und für den Augenblick war dies die dringendste Aufgabe. Ebendaher aber war es, wie er mir noch selbst gesagt hat, seine Absicht, Conze an dieser Stelle als denjenigen zu rühmen, der die Archäologie auf diesen Boden gewiesen hat. In der Tat, die Anregung dazu hat Conze bei

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keinem Lehrer gefunden. Die führenden Archäologen seiner J u g e n d verfolgten entweder nur die großen Kunstwerke und die großen Künstler, oder sie entnahmen den Monumenten die Erläuterung und Ergänzung der literarischen Uberlieferung, beides gewiß wichtige Aufgaben, aber nicht die einzigen der Archäologie. Das zweite hat Conze immer ferngelegen; Beiträge zur Geschichte der Plastik hat er einmal in der J u g e n d veröffentlicht, und wer sie jetzt ansieht, wird nicht verkennen, daß sie unfreundlich und unbillig aufgenommen wurden und in wesentlichen Punkten Recht behalten haben. Aber es war doch für ihn ein Seitenweg, und er ist nicht auf ihn zurückgekommen. Was ihn zunächst reizte, war neues Material zu gewinnen, daher machte er sich auf den Weg, die schönen Inselreisen von L. Roß im thrakischen Meere fortzusetzen. Der Ertrag an dem, was man damals archäologische Funde nannte, scheint ihn doch nicht befriedigt zu haben 1 ), und es 757 mag ihm das liebste gewesen sein, daß er in dem Kabirenheiligtum auf Samothrake ein vielversprechendes Ausgrabungsfeld erkannt hatte. In Wien gelang es ihm, seine Untersuchung in die Wege zu leiten, und er dachte sich nun die Aufgabe als eine Aufdeckung der ganzen Anlage, etwa so wie Charles Newton, den er persönlich kennengelernt hatte, das Mausoleum von Halikarnaß ausgegraben hatte. So griff denn Conze in Samothrake die Sache an, mußte aber die Vollendung seinem Nachfolger auf dem Wiener Lehrstuhl überlassen. Übrigens war es in Samothrake und Halikarnaß nur nach dem Maßstabe jener Zeit eine Vollendung: Conze selbst würde später nicht geruht haben, bis er in die Tiefe, zu dem vorhellenischen Kabirenheiligtum durchgedrungen wäre. Nach Pergamon lockten zuerst die zufällig entdeckten Platten des Gigantenfrieses, und zuerst grub das Museum nur nach Museumsstücken; aber Conze wußte die Arbeitspläne gemäß den Forderungen der Wissenschaft Schritt für Schritt zu erweitern, und als die Museen füglich nicht mehr graben konnten, bestimmte er das Institut zur Fortsetzung und ward nicht müde, neue Mitarbeiter zu werben und neue Mittel flüssig zu machen. Der Erfolg führte von selbst dazu, die Ziele immer höher zu stecken, auf die Freilegung der ganzen Königsstadt, die Erforschung der ganzen Landschaft. Daß seine Augen dies ersehnte Ziel nicht mehr schauen würden, beirrte ihn nicht: in schlichten Vorwort zur Reise auf der Insel Lesbos. 1865.

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aber ergreifenden Worten hat er die Nachwelt gemahnt, das Ihre zu tun, als er in dem Einleitungsbande die Geschichte der Entdeckung erzählte. Seine ebenda gegebene Schilderung von Stadt und Landschaft verwertet auch die späteren Grabungen, die eigentlich in die Publikation der Museen nicht mehr gehörten. Dieses monumentale Werk, die Altertümer von Pergamon, und ebenso die Sammlung der attischen Grabreliefs, die Conze von der Wiener Zeit bis an seinen Tod geleitet hat, gehören unter die Prachtpublikationen, die so kostbar sind, daß sie wenigstens zu erschöpfendem Studium in zu wenige Hände kommen. E s ist eine, wie es scheint, unvermeidliche aber doch sehr bedenkliche Folge der Anforderungen, die wir uns gewöhnt haben an Fülle und Genauigkeit solcher Materialsammlungen zu stellen. Kranken doch unsere Inschriftsammlungen an demselben Leiden. E s liegt wohl zum Teil daran, daß die Verarbeitung der pergamenischen Entdeckungen für die allgemeine Geschichte und Kultur des Hellenismus ziemlich im Rückstände ist; allerdings ist auch nie ein der Sprache und der literarischen Uberlieferung wirklich mächtiger Mitarbeiter herangezogen. Der erste Eindruck des Gigantenfrieses war so überwältigend, daß manche, ich z. B., sich verleiten ließen, die Bedeutung von Pergamon hiernach zu bemessen. Aber mit pergamenischer Naturforschung und Grammatik ist wenig S t a a t zu machen, 758 von Philosophie und Poesie zu schweigen. Die Königsstadt ist nie die wirkliche Hauptstadt Asiens gewesen. Samos, Ephesos, Milet, K o s , Rhodos haben ihr eigenes Leben, und erst wenn man sie alle zusammennimmt, läßt sich die allerdings großartige Kultur darstellen, die zweite, die hellenistische Blüte Asiens. An der ersten, geistig noch viel bedeutenderen, von Homer bis Hekataios hatte Pergamon noch keinen Anteil. Aber wenn wir über das alte Ionien jetzt wenigstens einiges wissen, so danken wir es den Ausgrabungen, die das Vorbild der pergamenischen Forschungen Conzes ins Leben gerufen hat, danken es zugleich den Lehren Loeschckes, der seinen Schülern nachdrücklich gepredigt hat, die Wurzeln der mutterländischen und auch der etruskischen Kunst in Ionien zu suchen, von Ionien auch den Anschluß an die vorgriechische sog. mykenische Kunst zu verfolgen. Die allgemeine Geschichte des Hellenentums muß hier den Bahnen folgen, welche die Archäologie eröffnet h a t ; wer die literarische Uberlieferung und Wert und Unwert der antiken Gelehrsamkeit hinreichend beherrscht, wird den Anschluß leicht finden und sich weder

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durch kritiklosen Köhlerglauben noch durch windige quasikritische Machtsprüche beirren lassen. Gerade für die Verfolgung der historischen Kontinuität hat Loeschke in der Bearbeitung der mykenischen Vasen in Verein mit Furtwängler den sicheren Weg gewiesen. Wir dürfen wohl seine Verbindung mit diesem Forscher von fast übermenschlicher Produktivität und kühnstem Wagemute als ein besonderes Glück betrachten. Loeschcke hat dann selbst und durch seine erfolgreichsten Schüler, unter die er zuletzt mit Stolz einen Sohn rechnen durfte, die Keramik durch alle Zeiten und nach allen Seiten verfolgt. Auch für die Datierung der römischen Ansiedelungen in Deutschland sind die Scherben die verläßlichsten Zeugnisse geworden. Aber auch wenn wir jetzt in der Verwertung der bildlichen Tradition für Heldensage und E p o s vorsichtig geworden sind, hat Loeschcke in seinen wohl bedeutendsten kleinen A u f s ä t z e n d e n Weg gewiesen. Und ihm stand das hellenische Leben in seiner Ganzheit vor der Seele. Wenn er auf einigen wenigen Seiten die Folgerungen aus einem äginetischen Scherbenfunde zog 2 ), so lernten wir unmittelbar die Bedeutung und das Leben Aiginas ganz anders kennen als aus den Siegesliedern Pindars. Beides braucht die Wissenschaft, die Scherben und die Lieder: erst wenn wir beide zusammen geschichtlich verwerten, vermögen wir das Einzelne und das 759 Ganze recht zu verstehen, ein Einzelbild, das dann wieder dem Gesamtbilde des hellenischen Lebens eingeordnet werden muß; ob man diese Wissenschaft dann Historie oder Archäologie oder Philologie nennen will, ist einerlei: es ist die Wissenschaft Ofried Müllers. Und wieder würde Loeschcke gerühmt haben und müssen wir rühmen, daß es Conze gewesen ist, der zuerst die altgriechischen Vasen zusammengefaßt und stilistisch gewertet hat, die wir nach ihrem Schmucke die geometrischen nennen. E r hat ihnen auch ihre richtige geschichtliche Stelle angewiesen. Ihre Bedeutung ist immer noch gewachsen, und wenn er die Kunstrichtung gekennzeichnet h a t , die sich mit diesem linearen Stilisieren begnügte, so darf man vielleicht sagen, daß sie spezifisch hellenisch ist und sich später in dem Wunderwerke des dorischen Tempels, aber auch in der griechischen Metrik, in der griechischen Geometrie und, wenn das, selbst in Piatons Philosophie Über die Reliefs der altspartanischen Basis, Dorpat 1879. Bildliche Tradition, in den Bonner Studien für Kekule, 1890. 2 ) Vase aus Aigina, Athenische Mitteilungen X X I I , 1897.

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offenbart. Für Conze selbst waren die historischen Folgerungen nicht die Hauptsache: sein Sinn war vielmehr darauf gerichtet, das Werden der Kunst und ihrer Stilisierung überhaupt zu erfassen, und ein Aufsatz über den Ursprung der bildenden Kunst in unseren Sitzungsberichten dürfte wohl die tiefsten Gedanken enthalten, die er, alle Beobachtung des Einzelnen philosophisch zusammenfassend, in einem langen Leben gewonnen hatte. In unserer Akademie hat Loeschcke kaum eine Spur seiner Mitarbeit hinterlassen; Pläne, die er mitteilte, sind nicht zur Ausführung gekommen, werden vielleicht einmal als Anregung noch nützlich werden. Conze war der unsere seit 1877; zahlreiche eigene und fremde Arbeiten hat er unseren Sitzungsberichten und Abhandlungen zugeführt und aus Mitteln der Akademie namentlich zwei besonders reich lohnende Unternehmungen ins Leben gerufen, die Untersuchung der pergamenischen Wasserleitungen und die schöne Karte der pergamenischen Landschaft. Wenn wir ihm heute danken, so wollen wir es in seinem Sinne tun. Er war kein Mann der Worte, sondern der Tat. Taten für sein Pergamon hat er von der Nachwelt gefordert. Wenn in der Akademie der Wille lebendig bleibt, ihm mit der Tat zu danken, so wird auch einmal der Tag kommen, wo die Attalidenstadt oben und das Asklepiosheiligtum unten so dem Lichte zurückgeführt werden, wie er es anstrebte und als eine Ehrenpflicht der deutschen Wissenschaft uns vor allem ans Herz gelegt hat. Diesem Ziele wollen wir zustreben, auch wenn wir die Vollendung so wenig erleben werden, wie derjenige, dessen Ruhm es bleiben wird, „Pro Pergamo" gestritten zu haben, siegreich bis zum letzten Atemzuge. ») [1897, S. 98ff.]

9. Zum hundertsten Geburlstage Tycho Mommsens (23. Mai 1919)

Am 30. November 1917 haben wir den 100. Geburtstag von Theodor Mommsen in dankbarem Gedächtnis so laut, als es die Zeit erlaubte, gefeiert. Wir wollen es nicht versäumen, auch seinem jüngeren Bruder denselben Zoll der verdienten Anerkennung zu entrichten, und die Stadt, der er in seiner letzten und würdigsten Berufsstellung gedient hat, ist dazu der rechte Ort. Das Leben hat es dem deutschen Mann nicht leicht gemacht, der um des Vaterlandes willen die Heimat verloren hatte, und die bitteren J a h r e zwischen seiner Vertreibung aus Holstein und seiner Berufung nach Frankfurt hat er wohl nie ganz verwunden. Auch das Licht des größeren Bruders warf unwillkürlich auf ihn seinen Schatten. Und doch hatten sie als Studenten nicht nur nebeneinander gearbeitet, sondern bei beiden ist die innere Förderung durch den Bruder dem tiefer Blickenden unverkennbar. Ich kann nur von dem Gelehrten Tycho Mommsen reden; persönlich habe ich ihn nur einmal gesehen, fand aber sofort, nicht nur durch unsere gemeinsame Liebe der pindarischen Dichtung, den Weg zur inneren Verständigung, sondern staunte über die Weite des Blickes und die Tiefe der historischen Auffassung, die überall hervortrat, wohin das Gespräch uns führte. Mit Pindar wird sein Name dauernd verbunden sein. Der Kieler Student hat den kühnen Plan gefaßt, die Uberlieferung dieses Dichters bis aufs letzte zu erforschen, was der große Boeckh unterlassen hatte. Und er hat es erreicht, hat weite Reisen gemacht, Dutzende von Handschriften verglichen, richtig geordnet, den Text danach fertig gestellt. Alles Weitere ist auf diesem festen Grunde erbaut. Auch für die antiken Erklärungsschriften hatte er gesammelt, hat schöne Proben gegeben und zuletzt großherzig sein Material einem dänischen Forscher abgetreten. 9. Mitteilungen aus dem F r a n k f u r t e r Schulmuseum I V (1920) 56.

9. Zum 100. Geburtstag Tycho Mommsens (1920)

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Aber die philologische Aufgabe genügte ihm nicht. Der Bruder Theodors hatte das Bedürfnis, den Dichter geschichtlich zu begreifen. Mag sein jugendlicher Versuch gemäß unserer damals noch in den Anfängen stehenden Geschichtswissenschaft überholt sein: daß er es wagte, ist nichts Geringes. Erst in Frankfurt ist er dann mit dem Ergebnis langer, entsagender Arbeit hervorgetreten. E s wirkte geradezu verblüffend, als die Philologen sich sagen lassen mußten, daß eine große Reihe der Schriftsteller, die sie täglich in den Händen hielten, eine Präposition nicht anwandten, die bei anderen ganz gewöhnlich war. Damit ist ein Stück Sprach- und Stilgeschichte aufgehellt, und dieser Vorgang hat viele zu ähnlichen Untersuchungen angeregt. E r selbst hat dann die Riesenarbeit unternommen, die ganze griechische Literatur nach diesen und ähnlichen Erscheinungen zu durchmustern. Das verdienten allerdings viele Schriftsteller, die nur eine angelernte Kunstsprache nachahmen, überhaupt nicht, und das Ganze überstieg weit die K r ä f t e des einzelnen. So ist es ein Torso geblieben; die Sammlungen harren auf der Göttinger Bibliothek des Fortsetzers. Wer aber klagen wollte, daß diese rastlose Arbeit Stückwerk geblieben ist, der vergesse nicht, daß wir alle nur Stückwerk liefern: denn das Leben ist kurz, die Kunst ist lang. Und statt zu klagen, daß dieser groß angelegte Gelehrte nicht so viel fertig gebracht hat, wie sein Talent und sein Charakter bringen konnte, wollen wir in Dankbarkeit uns dessenfreuen, was er Dauerndes, Unvergängliches geleistet hat.

10. Gedächtnisrede aul Richard Schöne Richard Schöne ist unser Ehrenmitglied gewesen; das kam der Stellung zu, die er als Generaldirektor der Königlichen Museen in der Staatsregierung einnahm; aber wir haben nie verkannt, daß er gemäß dem, was er persönlich war und wie er war, in unsern engen Kreis gehörte, wie er denn in akademischen Kommissionen uns gern seinen R a t gespendet hat, und so wollen wir heute seiner ganz als eines der Unseren dankbar gedenken. Für sein Leben war entscheidend, daß er 1873 aus dem akademischen Lehramt, das er mit schönem Erfolge begonnen hatte, in das Kultusministerium übertrat und bald als Generaldirektor die Leitung der Museen übernahm. E s war die höchste Zeit, daß der frische Geist jener J a h r e , der die ganze preußische Verwaltung verjüngte, auch Gewalt über die staatlichen Kunstschätze erhielt und an die Spitze statt eines Höflings ein Fachmann trat. Endlich setzte der preußische S t a a t auch hier seine Macht und seine Mittel so ein, wie es seiner Weltstellung und der deutschen Wissenschaft entsprach. Die drei Könige, denen Schöne gedient hat, haben alle persönlich mitgeholfen, Regierung und Volksvertretung haben nie geknausert, allmählich ist auch die freiwillige Hilfe großmütiger Schenker hinzugetreten, und so sind unsere Museen in ihrer Art eine Weltmacht unter Schönes Leitung geworden. Gemäldegalerie, Kupferstichkabinett, Münzsammlung, Museum für Völkerkunde, Kunstgewerbemuseum, m a n braucht nur diese zu nennen, dann steht jedem von uns vor der Seele, was in die sen J a h r zehnten geschaffen und erwachsen ist, und die Männer brauchen nicht erst genannt zu werden, die durch Sachverstand und T a t k r a f t jeder auf seinem Gebiete diese stolzen Erfolge erreicht haben. So viele 10. Sitzungsberichte

s. xcvi-xcvm.

der Preußischen Akademie

der Wissenschaften 1922,

10. Gedächtnisrede auf Schöne (1922)

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B ä u m e , n a h b e i e i n a n d e r e m p o r s t r e b e n d , b r i n g e n die G e f a h r m i t sich, d a ß der r a s c h e r w a c h s e n d e d e n N a c h b a r d u r c h seinen S c h a t t e n erd r ü c k t . W e n n dies v e r m i e d e n u n d a u c h die P f l a n z u n g r e c h t z e i t i g erw e i t e r t ist, so h a t d a e b e n ein G ä r t n e r ü b e r d e m G a n z e n W a c h t geh a l t e n , der G e n e r a l d i r e k t o r , der j e d e m B a u m e L i c h t u n d N a h r u n g g ö n n t e , soviel das W o h l des G a n z e n v e r t r u g , u n d d e r n u r selbst freiwillig in d e n S c h a t t e n t r a t u n d das Opfer b r a c h t e , selbst keine A b t e i l u n g zu leiten, o b w o h l er, w e n n einer, d a z u b e f ä h i g t w a r . So e t w a s zu leisten ist n u r i m s t a n d e , w e r wirklich w e i ß , w a s die W i s s e n s c h a f t ist u n d was sie f o r d e r t . D a s k a n n der D i l e t t a n t n i c h t , der v o n allem e t w a s u n d n i c h t s R e c h t e s weiß, u n d der P e d a n t , der die S c h e u k l a p p e n seiner Disziplin t r ä g t , k a n n es ebensowenig. Schöne w a r Archäologe, a b e r freilich reichte sein Blick ü b e r die ganze W e i t e der h i s t o r i s c h e n A l t e r t u m s w i s s e n s c h a f t h i n , r e i c h t e a u c h w e i t e r . S c h o n sein B i l d u n g s g a n g h a t t e d e m e n t s p r o c h e n . E r h a t t e m i t einer philologischen A r b e i t p r o m o v i e r t u n d d a n n eine L e h r z e i t als Maler u n t e r L u d w i g Preller d u r c h g e m a c h t . D e m e n t s p r i c h t es, d a ß der G e n e r a l d i r e k t o r n o c h Zeit f a n d , v e r n a c h l ä s s i g t e S c h r i f t e n griechischer T e c h n i k e r s a u b e r auf G r u n d der e c h t e n U b e r l i e f e r u n g h e r a u s z u g e b e n , einen o p t i s c h e n T r a k t a t des D a m i a n o s , d e n Kriegsschriftsteller A n e a s u n d d e n M e c h a n i k e r P h i l o n : d a h a t er d e n G r u n d zu d e m Meisterwerke gelegt, d a s d u r c h die glückliche Vereinigung eines v o l l e n d e t e n philologischen u n d m i l i t ä r i s c h e n F a c h - XCVII m a n n e s in der A u s g a b e v o n Diels u n d S c h r a m m eine b e s o n d e r e Zierde u n s e r e r A b h a n d l u n g e n ist. Seine Z e i c h e n k u n s t h a t Schöne v e r w e r t e t , als er v o r b a l d sechzig J a h r e n zuerst A t h e n b e s u c h t e , u n d so ist der B a n d griechischer Reliefs (1872) e n t s t a n d e n . E r m a g j e t z t selten a u f g e s c h l a g e n w e r d e n , a b e r d a m a l s g a b e n die f e i n e n Striche seines S t i f t e s u n s z u e r s t eine A h n u n g v o n der b e s c h e i d e n e n u n d d o c h so reizvollen K u n s t der a t t i s c h e n U r k u n d e n r e l i e f s , u n d w e r das m i t e r l e b t h a t , d e m w e r d e n die p r ä c h t i g s t e n H e l i o g r a v ü r e n die J u g e n d l i e b e zu Schönes schlichten Z e i c h n u n g e n n i c h t v e r k ü m m e r n . Die E i n s i c h t in die P r a x i s des Malens h a t d a n n in der f ö r d e r n d e n A b h a n d l u n g ü b e r die p o l y g n o t i s c h e n Gem ä l d e ( J a h r b u c h V I I I ) u n d b e s o n d e r s in der e n t s c h e i d e n d e n D e u t u n g d e r S k i a g r a p h i e ( J a h r b u c h X X V I I ) schöne F r ü c h t e g e t r a g e n . F ü r die Archäologie in D e u t s c h l a n d w a r e p o c h e m a c h e n d , d a ß d a s r ö m i s c h e I n s t i t u t p r e u ß i s c h w a r d u n d R e i s e s t i p e n d i e n verlieh. Als e r s t e zogen Conze u n d Michaelis d u r c h die griechischen L a n d e , u n d Conze e r w a r b sich d u r c h die B«reisung der I n s e l n des t h r a k i s c h e n

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10. Gedächtnisrede auf Schöne (1922)

Meeres die Sporen: er sollte der Entdecker von Samothrake und Pergamon werden. Dann fanden sich in R o m Schöne, Kekule und Benndorf zusammen; sie griffen die Aufgabe an, den Antikenbestand der Sammlungen zu katalogisieren, eine ebenso notwendige wie unendliche Aufgabe. Schöne hat mit Benndorf das Museum des Lateran beschrieben. Aber was er Besonderes plante, war etwas anderes, Neues; doch hat er in Carlo Promis einen Vorgänger immer mit besonderer Dankbarkeit verehrt. E r wollte Pompejis Baugeschichte schreiben. Bisher hatte man in Pompeji kaum mehr als einen besonders ergiebigen Fundplatz gesehen: jetzt sollte die ganze Stadt und jeder einzelne B a u geschichtlich begriffen werden. In H. Nissen fand Schöne einen Arbeitsgenossen, der schließlich in seinen pompejanischen Studien die Aufgabe gelöst hat, aber seine Vorrede verzeichnet, wieviel er dem Freunde verdankt. Wie ungemein stark die pompejanischen Studien auf die gesamte Forschung gewirkt haben, läßt sich in Kürze gar nicht sagen. Man muß es erlebt haben, um es zu schätzen. Ich wage auszusprechen, daß sich darin der wissenschaftliche Weitblick zeigt, der die Ausgrabungen unserer Museen in den ionischen Städten so bewunderungswert, so vorbildlich macht. Museen wollen zunächst Schätze für sich erwerben. Noch in Pergamon hörte die Grabung der Museen auf, als die Reliefs des Altars geborgen waren. Die Grabungen in Magnesia, Priene, Milet sind so geführt, wie es die reine, uneigennützige Wissenschaft erforderte. Aber wenn es so scheinen kann, als wäre dabei unser Museum zu kurz gekommen, so liegt das nur an der beklagenswerten Verborgenheit unseres Besitzes. Wenn erst der Neubau, wie er geplant und begonnen ist, unverkümmert vollendet ist, dann wird die Welt etwas sehen, was sie nicht ahnt, denn wohl darf ich es sagen: so etwas gibt es nirgend. Und wir vertrauen, daß der gute Geist des Generaldirektors Richard Schöne und die gute preußische Tradition alle Widerstände, Beschränktheit, Eigenbrötelei und Mißgunst überwinden wird. Wenn nur sein Geist weiterwirkt, die Person Richard Schönes mag ruhig im Schatten bleiben. Er hat es nicht anders verlangt. Wir aber, die wir ihn gekannt, vergessen ihn nicht, XCVIII und die fast ängstliche Bescheidenheit und liebenswürdige Zurückhaltung seines Wesens, aus dem die stille Harmonie der edelsten wissenschaftlichen und künstlerischen Bildung leuchtete, hat es nicht geändert und kann es nicht ändern, daß wir mit Ehrfurcht zu ihm aufschauten, und mit Ehrfurcht wollen wir sein Gedächtnis bewahren.

11. Gedächtnisrede auf Hermann Diels Am ersten Pfingsttage ist Hermann Diels einem plötzlichen Herzschlage erlegen. „Pfingsten 1922" hatte er noch als D a t u m unter die Vorrede eines der beiden Bücher gesetzt, deren Vollendung er mit Eifer betrieb, um die Hände für eine neue große Arbeit frei zu bekommen. Mit gesteigerter Arbeitskraft und Schaffenslust war er eben von einer Vortragsreise nach Schweden und Dänemark heimgekehrt, gehoben durch die ehrenreiche Aufnahme, die er bei Freunden und Fachgenossen gefunden hatte. Schön ist es, so zu sterben, beneidenswert; aber klagen müssen wir doch, wenn wir und die Wissenschaft eine solche K r a f t verlieren; unersetzlich hat sie unser korrespondierendes Mitglied J . L . Heiberg genannt, und er weiß es am besten zu schätzen. Was Diels seiner Wissenschaft gewesen ist auch nur anzudeuten, ist heute hier unmöglich, vielleicht findet sich später dazu Gelegenheit; aber gedacht muß seiner doch werden, und so wollen wir uns wenigstens darauf besinnen, was er unserer Akademie gewesen ist. 1881 ist er eingetreten; noch war er Oberlehrer an einem Berliner Gymnasium; die Universität hat ihn erst später zu finden gewußt. Wir wollen stolz darauf sein, daß die Akademie ihr zuvorkam und ein Mitglied gewann, das fünfundzwanzig Jahre, 1895 bis 1920, als ihr Sekretär nach manchen Seiten bestimmend gewirkt hat. Das Haupt- CV verdienst an dieser Wahl gebührt E . Zeller, der in dem jungen Manne den ebenbürtigen Forscher erkannte und heranzog, dem er sogleich ein Vorbild, bald ein vertrauter Freund werden sollte. Die schöne Gedächtnisrede, die Diels ihm bei uns gehalten hat, ist nur eins der 11. Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1922, S. CIY bis CVII.

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11. Gedächtnisrede auf Diels (1922)

zahlreichen Zeichen seiner Verehrung, aber auch des einfühlenden Verständnisses in das Wesen des seltenen Mannes. I n der Tat waren sie verwandt, beide aristotelische Naturen, Diels noch mehr als Zeller. Das Meisterwerk, durch das Diels zugleich Akademiker und ein Philologe ersten Ranges ward, seine Doxographi Graeci, war zunächst die Lösung einer von Zeller gestellten akademischen Preisaufgabe, in Wahrheit war es viel mehr. Diels hatte es schon J a h r e vorher in Angriff genommen, in seiner Dissertation eine Probe gegeben. Die Anregung dazu stammte von Usener, dem Bonner Lehrer, dem Diels zeitlebens in hingebender Treue angehangen hat. E r verdankte ihm die philologische Methode, die er von Anfang an mit noch größerer Strenge als sein Lehrer geübt hat, und die Richtung auf die Geschichte der antiken Philosophie, die freilich seiner eigenen Geistesart vollkommen entsprach. Ist es doch ein ganz gerader Weg, der ihn über viele einzelne Arbeiten von den Doxographi zu den Vorsokratikern geführt hat, die heute jedem Philologen, jedem Philosophen unentbehrlich sind, ein in seiner Art unvergleichliches Werk. Die Akademie hat sehr bald, wieder auf Zellers Anregung, ihrem jungen Mitgliede eine überaus schwere Unternehmung anvertraut, die Sammlung der Aristoteleskommentare. Das ließ sich nur durch den Großbetrieb der Wissenschaft durchführen; denn es mußten viele Mitarbeiter unter einheitliche Leitung gestellt werden, und mancher B a n d hat von dem Bearbeiter schwere Entsagung gefordert. Um so großartiger, daß das Werk vollendet ist, sogar mit drei Supplementbänden, die besonders erwünschte Ergänzungen bringen. Was Diels dafür geleistet hat, abgesehen von der Ausgabe einer der umfangreichsten, wichtigsten und schwersten Schriften, mag sich dem oberflächlichen Blick verbergen. Nur wer sich an ähnlichen Aufgaben versucht hat, kann es schätzen, und der wird es bewundern. Teilnahme an der Arbeit anderer, wie sie hier erfordert war, hat Diels auch sonst gern geübt, und das hat seine Krönung in den Ausgaben des Heron und Philon gefunden, die er gemeinsam mit dem genialen Erneuerer der antiken Geschütze, dem General Schramm, noch jüngst in unseren Abhandlungen gedruckt hat. Gern rücke ich das Zeugnis seines verehrten Mitarbeiters aus einem Briefe an mich hier ein. „ E r ist mir ein leuchtendes Vorbild, ein geradezu väterlicher Freund; es ist ein Genuß, mit ihm zu arbeiten, und ich bin ihm zu einem Dank verpflichtet, den ich nie wettmachen k a n n . "

11. Gedächtnisrede auf Diels (1922)

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Der Erfolg der Aristoteleskommentare hat Diels ganz für den Großbetrieb der Wissenschaft gewonnen. So hat er den Thesaurus linguae Latinae mit Feuereifer gefördert, hat viele J a h r e als Vertreter der Akademie für ihn gesorgt, unbeirrt auch, als die Schwierigkeiten und Kosten ins Ungemessene stiegen. Aber seine kühnste Tat war es, daß er unmittelbar nach Vollendung der Kommentare die Akademie zur Sammlung der antiken Ärzte bestimmte, einer Unternehmung, von der er wußte, daß ihre Durchführung sich weit über sein Leben hinaus CVI erstrecken mußte und daß sie die Kräfte Deutschlands tatsächlich überstieg. E s bestimmte ihn wohl vornehmlich die Bedeutung der Mediziner für die Geistesgeschichte der Hellenen; aber ein persönlicher Anstoß kam hinzu. Als ein großer Papyrus medizinischen Inhaltes in das British Museum gekommen war, hatte er sofort die überaus schwierige Lesung und Herausgabe übernommen. E r hat später manchem Papyrus unserer Museen dieselbe opferwillige Hingabe gewährt. So handelt der rechte Diener der Wissenschaft. Alles Eigene wirft er beiseite und greift an, was sie jetzt gerade fordert. Egoisten, die von der Wissenschaft nur vornehmen, wozu sie der eigene Geist und die eigene Neigung treibt, mögen von der Höhe ihrer Inspiration vornehm darauf herabsehen. Wir wissen, daß wir Diener sind, tun unsere Pflicht und bringen willig die Opfer, die gerade ein freiwillig übernommener Dienst immer verlangt. Die Sammlung der Ärzte forderte nicht nur J a h r e der Vorbereitung, nicht nur die Zusammenarbeit von vielen, sondern auch die Mitarbeit ausländischer Akademien. Aber damit durften wir rechnen, war doch das Kartell der deutschen Akademien und die internationale Association ins Leben getreten. Dazu hat Diels, seit 1895 Sekretär an Mommsens Stelle, ganz in Mommsens Sinne reichlich mitgearbeitet; dauernd und erfolgreich ist er der Vertreter seiner Klasse in der Association gewesen. Erreicht ist so die Mitarbeit der dänischen Akademie an den Medizinern, und auf sie gründet sich unsere Hoffnung für diese Unternehmung, und daß schwedische Hilfe hinzutritt, ist eine tröstliche Erfahrung der letzten Jahre. Diels hatte schon für die Kommentare die besten Gelehrten des Auslandes gewonnen, Vitelli aus Florenz, Lambros aus Athen, Heiberg aus Kopenhagen, Kenyon aus London. D a war es ihm selbstverständlich, daß sich sämtliche Kulturvölker zugunsten der Wissenschaft, die ihnen allen gemeinsam gehört, zusammenschließen müßten, uneigennützig, hilfsbereit, neidlos. Unser aller Uberzeugung war das und ist es noch. Niemals sind wir einen 6

Wilamowitz, Kleine Schriften V I

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11. Gedächtnisrede auf Diels (1922)

Schritt von diesem Standpunkt gewichen und werden nicht weichen, unbeirrt dadurch, ob andere die Gesinnung verleugnen, die sie einst bekannten. Gerade weil sich von der deutschen Wissenschaft sagen ließ, was Diels als Rektor der Universität ausgesprochen hat, „daß ihr mit Tatkraft verbündeter Idealismus über den Erdkreis hin seine Überlegenheit siegreich zur Anerkennung gebracht hatte", kannten wir kein höheres Ziel, als in einen Friedens- und Freundschaftsbund mit allen Akademien der Welt auf dem Boden der Gleichberechtigung zu treten. Keine Enttäuschung wird uns in dem Glauben und der Hoffnung irre machen. Wir einzelnen mögen dahinsterben, die Wissenschaft hat Zeit. Kommen wird der T a g der Erfüllung. Sorgen wir nur dafür, wie die klugen Jungfrauen im Gleichnis des Evangeliums, daß immer Öl auf unserer Lampe ist. Daran wird es nicht fehlen, wenn die Akademie Führer behält, wie Hermann Diels einer war, der dem Vaterlande und der Wissenschaft gleichermaßen die Treue zu halten wußte, „halsstarrige Treue", wie er mit Tacitus sagte, als er Friedrich den Großen und seine Akademie in einer seiner schönen Festreden wegen der Treue rühmte, die sie ihrem Präsidenten Maupertuis trotz Voltaire gehalten hatten. In jenen Reden hat er gelegentlich auch CVII seinen feinen Humor spielen lassen, aber die vollsten Töne findet er, wenn der Stolz des preußischen und deutschen Patrioten mit dem Stolz auf das Gedeihen der übernationalen Wissenschaft zusammenklingt. Dem Vaterlande hat dieser aufrechte Mann unverbrüchlich die Treue gehalten und mit stiller, aber um so herberer Verachtung auf Treulosigkeit herabgeschaut, wo immer er sie bemerkte. Aber das Höchste und Heiligste war ihm doch die Wissenschaft, und gern schließe ich mit dem ergreifenden Bekenntnis seines Glaubens, das er in seiner Rektoratsrede abgelegt hat. Da offenbart sich der hohe Sinn, in dem er wirkte und fortwirken soll, unvergessen. Daß er das tun wird, ist der Trost in unserer frischen Trauer. Also hat er gesprochen: „Wir wollen hinabtauchen in die Einzelschachte der Wissenschaft bis zu den Müttern, wo das Gold der Wahrheit uns entgegenblinkt, wir wollen dann wieder emporsteigen auf die schöne Erde und mit weltfrohem Sinne die reiche Entfaltung irdischer Dinge und Betätigungen überschauen, aber wir wollen über der Tiefe und der Weite unserer Studien auch nicht vergessen, den Blick in die Höhe zu richten, wo sich, wie der Himmel über der Erde, das ideale Reich des Einen, Ewigen und Unendlichen ausspannt, über alle die verwirrende und zerstreuende Mannigfaltigkeit hinieden."

12. Der griechische Unterricht auf dem Gymnasium Zwischen der B e d e u t u n g , welche die griechischen S t u d i e n in d e r W i s s e n s c h a f t i m m e r m e h r gewinnen, u n d d e m N u t z e n , d e n dieser L e h r g e g e n s t a n d auf der Schule s t i f t e t , ist ein u n l e u g b a r e s M i ß v e r h ä l t n i s . Die S p r a c h w i s s e n s c h a f t h a t in d e n l e t z t e n J a h r z e h n t e n e r k a n n t , d a ß n i c h t das S a n s k r i t , s o n d e r n das Griechische die w i c h t i g s t e S p r a c h e f ü r die E r k e n n t n i s des S p r a c h b a u e s ü b e r h a u p t i s t ; a n d e r e r s e i t s h a t sie d e n B a u dieser S p r a c h e völlig d u r c h s i c h t i g g e m a c h t , w ä h r e n d d a s L a t e i n in der L a u t - u n d F o r m e n l e h r e ziemlich so schwierig geblieben ist, wie es w a r . Die geschichtliche F o r s c h u n g h a t gezeigt, d a ß d e r O r i e n t , z u m Teil schon der j ü d i s c h e , d a n n Syrisch u n d A r m e n i s c h , A r a b i s c h , j a I n d i s c h , u n t e r griechischem Einflüsse s t e h t . Die Theologie b e g r e i f t täglich m e h r , d a ß das C h r i s t e n t u m aus d e m zeitgenössischen H e l l e n e n t u m v e r s t a n d e n w e r d e n m u ß , u n d in rastloser Z u s a m m e n a r b e i t m i t der Philologie g e w i n n t sie herrliche n e u e E r g e b n i s s e . Die Philosophie h a t Cicero u n d H o r a z d u r c h ihre griechischen V o r l a g e n e r s e t z t . Die Medizin u n d N a t u r w i s s e n s c h a f t b e s i n n t sich auf die Beg r ü n d e r aller i h r e r Disziplinen: ihre Geschichte zu e r f o r s c h e n ist k a u m b e g o n n e n , a b e r d a ß das E r g e b n i s ähnlich sein w i r d , wie es f ü r A s t r o n o m i e , M a t h e m a t i k u n d Geographie f e s t s t e h t , u n t e r l i e g t k e i n e m Zweifel; in diesen h a t die m o d e r n e selbständige F o r s c h u n g eine e n g e r e F ü h l u n g m i t der griechischen g e n o m m e n u n d dieser selbst n e u e A u f schlüsse e n t l o c k t . D a s R e c h t , das öffentliche u n d d a s P r i v a t r e c h t g a n z g l e i c h e r m a ß e n , s p r e n g t die engen S c h r a n k e n des Corpus iuris, seit das syrische R e c h t s b u c h , die u r a l t e n Gesetze v o n K r e t a (älter als die X I I Tafeln) u n d die Masse der ä g y p t i s c h e n U r k u n d e n b e k a n n t s i n d . 12. Verhandlungen über Fragen des höheren Unterrichts. Berlin 6. b i s 8. Juni 1900. Nebst einem Anhange v o n Gutachten hrsg. i m Auftrage des Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten. Halle 1901, S. 205—217.

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12. Der griechische Unterricht auf dem Gymnasium (1901)

Demgegenüber lernt der Abiturient immer noch nichts als einige wenige Dichtungen und Prosawerke kennen, die um ihres Kunstwertes willen schon zu Ciceros Zeit für klassisch galten. Von der Sprache hat der Abiturient nicht so viel gelernt, daß er diejenigen Schriften lesen könnte, die ihn wissenschaftlich interessieren und sich nicht übersetzen lassen: dies gilt insbesondere für die philosophische und wissenschaftliche Literatur, aber auch von der historischen, und selbst von der attischen Poesie. Das ist nicht erfreulich und kaum erträglich, aber es findet seine Erklärung in der geschichtlichen Entwicklung des griechischen Unterrichtes. Soweit dieser im 16. Jahrhundert überhaupt in den Lehrplan der deutschen gelehrten Schulen Eingang fand, geschah das wesentlich in protestantischen Kreisen, und die Hauptabsicht war oder ward doch 206 bald, daß das neue Testament im Original gelesen würde. Der Erfolg ist zwei Jahrhunderte lang recht kümmerlich gewesen, auch für die Theologie. Der Gedanke, in die griechische Literatur selbst einzuführen, lag eigentlich noch J . M. Gesner fern, dessen Chrestomathie vor 150 J a h r e n dem Unterrichte zuerst ein besseres Substrat gab. E r s t der Aufschwung der großen Zeit unserer eignen Literatur macht mit dem Griechischen E r n s t ; man glaubt, daß in den großen Werken der Dichtung und Beredsamkeit ewig gültige und absolut vollkommene Vorbilder gegeben seien; die Interessen sind ganz wesentlich humanistisch-ästhetisch; danach wird die Wahl getroffen. Die Poesie steht unbedingt im Vordergrunde, die Philosophie tritt zurück (sie war wissenschaftlich vor Schleiermacher noch unentdeckt, und dieser hatte auf die Gestaltung des Unterrichts keinen Einfluß), das Neue Testament wird aus Abneigung gegen die plebejische Sprache ganz abgestoßen. Aber die Sprache, und zwar die klassische, soll möglichst entsprechend dem Lateinischen bewältigt werden. Wieder hat ein Lesebuch, von dem trefflichen F r . J a c o b s , bedeutenden Anteil an der Reform, wenn es auch nur auf die Anfänger berechnet war. Die Primaner sollten ihre Texte mehr oder minder philologisch bewältigen. Diese Grundlage ist bis heute beibehalten; aber die Philologie hat selbst dazu beigetragen, die Erfolge zu beeinträchtigen. Es galt als unwissenschaftlich, etwas anderes als vollständige Schriftsteller zu lesen, und da man die Unterschiede der klassischen Sprache von den Nachahmern studierte, verdrängte man alles Unklassische aus der Schule, zuletzt den Arrian, an dem Krügers Schulausgabe freilich mehr die unattischen Wendungen

12. Der griechische Unterricht auf d e m G y m n a s i u m (1901)

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gerügt als die Größe Alexanders gezeigt hatte. Der Kreis der Schriftsteller wurde immer mehr eingeengt. Die alte, eigentlich auf die Hegeische Ästhetik gegründete Bevorzugung des Sophokles ist ausschließlich geworden, obwohl der Schüler längst nicht mehr dazu gelangt, ihn selbständig zu verstehen. Piaton ist auf im Grunde unphilosophische Schriften zurückgedrängt; Homer dagegen schließlich so in den Vordergrund gerückt, daß vier J a h r e an ihm gelesen wird. Und wenn einst die Grammatik Ph. Buttmanns die ganze Sprache erschöpfen wollte und so für die Schule ungeeignet ward, so stellen sich die modernen Schulgrammatiken als geschickte Versuche dar, das Notdürftige für die Bewältigung der paar Bücher zu geben, die für die Schule existieren. Daß das Neue Testament zu diesen Büchern gehört, vergessen diese Grammatiken immer noch. Dieser Sprachunterricht setzt voraus, daß die Schüler die paar Stücke auf der Schule lesen und dann nie wieder eine Zeile. Sie werden also den Eindruck mitnehmen, daß eine ungeheure Masse Sprachstoff bewältigt werden muß, nicht um werbendes Kapital zu werden, sondern damit einmal ein Blick in eine fremde Kunstwelt getan wird, auf Homer und Sophokles: es tritt k a u m noch ein dritter hinzu. E s ist kaum zu bestreiten, daß dieser Einblick, wertvoll vor allem, um Lessing und Goethe zu verstehen, recht wohl durch Übersetzungen und andere Vermittlung gewährt werden kann, ganz ebensogut, wie die Geschichte der Philosophie und die politische und Kulturgeschichte später ohne die Sprachkenntnis vermittelt wird. Auf diesem Wege gelangt man zur Beseitigung des griechischen Unterrichtes; keineswegs erst seit der letzten Schulreform kann man das auch von Männern gefordert hören, die für die wissenschaftliche und künstlerische Größe der Griechen ein Auge und ein Herz haben. Dahin ist es gekommen, weil dieser Unterricht weder mit den Wandlungen in der Richtung unserer geistigen Interessen Fühlung behalten hat noch auch mit dem Fortschritte der Wissenschaft selbst. Die Antike als Einheit und als Ideal ist dahin; die Wissenschaft selbst hat diesen Glauben zerstört. Dagegen ist unseren Blicken kenntlich geworden eine 207 anderthalbtausendjährige Periode der Weltkultur, nicht nur die Grundlage, sondern sozusagen ein Typus der unsern, und diese ist griechisch, denn selbst das ganze Römertum ist nur eine integrierende Provinz derselben. E s ist kein Phantasma, daß die Zukunft, weil sie es besser verstehen wird, das Griechentum noch viel höher werten wird. Dem

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12. Der griechische Unterricht auf d e m G y m n a s i u m (1901)

Okzident ist ehedem die letzte Phase dieser Kultur und das Christentum, ihr letztes großes Erzeugnis, durch lateinische Sprache vermittelt: aber wie die Reform des Christentums bewirkt worden ist, indem man auf die griechische Bibel zurückging, wie die Wissenschaft in allen ihren Zweigen sich durch das Aufsuchen der griechischen Lehre allmählich zur Selbständigkeit erhoben hat, so kann hinfort der Zusammenhang mit den Grundlagen unserer Kultur nur durch den lebendigen Verkehr mit der antiken Weltsprache und Weltkunst und Weltwissenschaft erhalten werden. Ein evangelisches Christentum wird sich nicht behaupten, wenn das griechische Neue Testament nur noch von den Professoren der Theologie verstanden wird, wozu das Verständnis der Welt gehört, der das Evangelium verkündet ward. Der Positivismus und Materialismus ist nicht ohne Grund dem Hellenentume so feind, wie der geistige Primat Frankreichs im sechzehnten und siebzehnten, Englands im achtzehnten, Deutschlands im neunzehnten Jahrhundert nicht zufällig mit der Führung in den griechischen Studien zusammenfällt. Aber jedes Jahrhundert hat sich gesucht, was seinen Bedürfnissen und Bestrebungen entsprach: was unser Gymnasium jetzt geben will, ist der verkümmerte Rest von dem, was vor hundert Jahren für die damaligen Bedürfnisse gesucht und auch gefunden war. Denn jenes Gymnasium hat die Männer erzogen, die Deutschland groß gemacht haben, und sie haben es ihm gedankt. Preußen würde sich selbst verleugnen, wenn es mit den Traditionen Wilhelms von Humboldt brechen wollte; aber es bleibt ihnen nur dann wahrhaft treu, wenn es sie fortbildet, wie Wissenschaft und Leben es erheischen. Was wir jetzt anstreben dürfen, ist zunächst bedingt durch das, was die allgemeine Schulordnung an Zeit und K r a f t der Schüler zur Verfügung stellt. E s soll vorausgesetzt sein, daß nur die letzten vier Schuljahre, diese aber mit neun wöchentlichen Stunden zur Verfügung stehen. Da es nun verkehrt ist, wenn die Lehrgegenstände ohne Berührung nebeneinander stehen, so greift das Griechische in den Religionsunterricht ein, wenn das Neue Testament gelesen wird (und was könnte der evangelische Unterricht Höheres bieten), in den deutschen, wenn unsere Klassiker in Theorie und Praxis die griechische Poesie voraussetzen, in den Geschichtsunterricht, wenn dieser mehr tut als tote Zahlen und Fable convenue einzuprägen, und das Latein darf außer der Sprache gar nichts spezifisch Römisches treiben, sondern was zur antiken Weltkultur gehört wie Cicero (der trotz Mommsen

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d o r t d e n M i t t e l p u n k t bilden m u ß ) u n d H o r a z . D a s ist das W e s e n t l i c h e , d a ß die K n a b e n in diesen s c h ö n s t e n J a h r e n i h r e r Schulzeit d u r c h d a s Griechische eine Disziplin b e k o m m e n , die alles Vereinzelte z u s a m m e n f a ß t . D a r u m m u ß Bedacht genommen werden, daß auch zu der Mathem a t i k u n d m a t h e m a t i s c h e n N a t u r b e t r a c h t u n g die v o r h a n d e n e n F ä d e n aufgezeigt w e r d e n . All dies ist freilich n u r möglich, w e n n die S p r a c h k e n n t n i s r a s c h , u n d z w a r lediglich als Mittel des V e r s t ä n d n i s s e s , a b e r als das Mittel zu allem, ü b e r m i t t e l t u n d zu einer l e b e n d i g e n K r a f t g e m a c h t w i r d . Die M ü h e der G r a m m a t i k w i r d n i c h t m e h r zu groß erscheinen, w e n n sie n i c h t m e h r d a z u d a ist, ein p a a r T r o p f e n H o n i g oder N e k t a r zu v e r s c h a f f e n , die b a l d n a c h d e m Genüsse vergessen w e r d e n , s o n d e r n w e n n der S t a c h e l z u r ü c k b l e i b t , der T r i e b , d e n geschichtlichen Z u s a m m e n h a n g z u verfolgen, sich d u r c h A n s c h a u e n der 208 e i n f a c h e n L e b e n s f o r m e n das V e r s t ä n d n i s der k o m p l i z i e r t e n z u erl e i c h t e r n . D a z u m u ß die F ä h i g k e i t äußerlich u n d innerlich v e r l i e h e n w e r d e n . D a b e i bleibe f e s t g e h a l t e n , d a ß wir n i c h t eine Schule h a b e n wollen, welche ausschließlich Gelehrte v o r b i l d e t , s o n d e r n eine geistige E l i t e , F ü h r e r des Volkes, in welche Stellungen u n d B e r u f e sie a u c h d a s L e b e n f ü h r e . D a z u ist erstens n ö t i g , d a ß die Philologie als Disziplin u n n a c h s i c h t l i c h der Schule f e r n g e h a l t e n w i r d . D e r Begriff reines A t t i s c h , Klassisch i m Sinne der a n t i k e n Schule, die W e r t u r t e i l e d e r R h e t o r e n sind das erste, w a s der a n g e h e n d e Philologe l e r n e n m u ß : u n s e r e Schule k a n n sie n i c h t b r a u c h e n . U n s ist d a s E v a n g e l i u m a u c h klassisch, o b w o h l es f ü r d e n Klassizisten v o n S p r a c h f e h l e r n w i m m e l t . E r s t diese W e l t s p r a c h e ist die T r ä g e r i n der W e l t k u l t u r . D a m a l s , als sie das w a r , m u ß t e der Gebildete sich d e n Sophokles u n d T h u k y d i d e s erk l ä r e n lassen, die i h m so schwer w a r e n wie d e m E n g l ä n d e r C h a u c e r . E s ist zwar auf die a t h e n i s c h e L i t e r a t u r n i c h t zu v e r z i c h t e n , a b e r w o h l auf ihre u n v e r m i t t e l t e B e w ä l t i g u n g . A u c h dies A t t i s c h ist n o c h D i a l e k t , liegt v o r der B i l d u n g der W e l t s p r a c h e . H o m e r t u t das n o c h m e h r , a b e r er ist allerdings die G r u n d l a g e der griechischen K u l t u r ; wir b r a u c h e n i h n , a b e r wir b r a u c h e n i h n d e m e n t s p r e c h e n d a m A n f a n g e . E s ist a u c h f ü r i h n ein U n s e g e n , w e n n er so s t a r k in d e n V o r d e r g r u n d gezogen w i r d wie in den l e t z t e n L e h r p l ä n e n , die sich d a r i n m i t der a n t i k e n Verfallzeit b e r ü h r e n . D e n n M ä r c h e n w i r k e n p r ä c h t i g auf K n a b e n , J ü n g l i n g e pflegen sich i h n e n eher a b z u w e n d e n . D a h e r soll H o m e r z w a r in d e r S e k u n d a das H a u p t s t ü c k des griechischen U n t e r r i c h t s b i l d e n , a b e r i n P r i m a n i c h t m e h r in der Klasse gelesen w e r d e n . E s ist ü b e r h a u p t ein

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Widersinn, die Odyssee ganz durchzulesen, während feststeht, daß ein Sechstel von ihr aus -wertlosen Wiederholungen besteht. E s drängt sich durch diesen Ansatz der Homerlektüre (übrigens nichts Neues; in Schulpforta ward vor 30 Jahren Homer in der Sekunda erledigt) eine Änderung des grammatischen Unterrichts auf, die aber eigentlich schon bei den heutigen Lehrplänen nötig ist, auch von erfahrenen Schulmännern gefordert wird. J e t z t prägt sich der Knabe die attische Grammatik ein, um sofort die homerische darauf zu setzen. Da ist es doch natürlich, daß man mit dem homerischen Griechisch anfängt. An ihm soll die noch ganz durchsichtige Formenlehre und das für das Griechische gegenüber dem Lateinischen Charakteristische erfaßt werden, daß die Syntax nicht logisch, sondern psychologisch ist. Der K n a b e lerne hier wirklich die Rede der Natur. Und da Herodot so homerisch ist, so hat man auch eine passende Prosa neben ihm. Die grammatische Unterweisung hat dann im zweiten J a h r e die Aufgabe, theoretisch die Lautveränderungen zu lehren, die das spätere Griechisch erfahren h a t : man lernt so, was weder Latein noch Französisch geben kann, Deutsch nicht leicht gibt, das Wachsen der Sprache, die Unterwerfung des Gefühles durch den Verstand. Diese wichtige Sache und das Ziel, daß die Sprachfertigkeit als Besitz erworben werde, macht es notwendig, daß eine Stunde der Grammatik während aller vier J a h r e gewidmet wird: die Erklärung der Schriftsteller soll die Grammatik nicht zum Zweck machen, wie es Sitte war, aber diese hat hier einen Wert an sich, der jeder Sprache und dem Können in jeder zugute kommt. Die Sprache bleibt doch immer das wunderbarste Erzeugnis des menschlichen Geistes: an der griechischen kann auch der Schüler, freilich erst auf der Oberstufe, den organischen B a u dieses Kunstwerkes der Natur begreifen. Sehr vieles, was wir an den Klassikern der Griechen bewundern, danken sie ihrer gebildeten Sprache; gerade das wird den Deutschen lehren, den Geist und die Würde seiner eigenen 209 Muttersprache zu achten. An Latein und Französisch, den Sprachen der Regel, hat sich mancher Deutsche die eigene Rede verdorben, am Griechischen keiner; wohl aber kann man in Frankreich noch heute wie für das 16. Jahrhundert zeigen, daß die höchste stilistische Kunst dem Studium des Griechischen verdankt wird. Das letzte J a h r ist bestimmt einmal für das Lesen einer Tragödie, die j a nicht immer Sophokles sein soll. Die J a m b e n , im gewöhnlichen Dialekte gehalten, sind auch bei Sophokles nicht zu schwer, Euripides ist ganz leicht. Aber die

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Chöre soll der Lehrer vorlesen und erklären: das ist gar nichts Unwürdiges; tut es doch der akademische Lehrer. Ferner aber fehlt jetzt der Prima der erhebende Prosaiker. Dieses ist ein spezifisch deutscher Fehler. Die Ausländer wundern sich immer von neuem, daß man bei uns die Philosophie so gut wie ganz beiseite läßt; von der rein formalistisch logischen Propädeutik kann man ganz absehen; Ciceros philosophische Schriften werden nun auch nicht mehr gelesen, was seinen guten Grund hat. Nun sehen wir aber zahlreiche Jünglinge in Verirrungen geraten und manchen zu Grunde gehen, weil sie von einer gefährlichen Philosophie oder Halbphilosophie, jetzt von Nietzsche, berückt werden. Das ist im Auslande besser. Wer von den Verhältnissen weiß oder auch nur die Bücher kennt, sieht mit Beschämung, wie England uns in allem Platonischen wissenschaftlich und in der Geltung des Philosophen in der Nation überholt hat, j a man wird in Deutschland nicht leicht finden, was in französischen Romanen nicht unerhört ist, daß die feinsinnige Frau im Piaton liest. Das ist auch noch ein Erbteil Hegels; es wäre anders geworden, wenn Schleiermacher statt seiner das Ohr des Kultusministeriums gehabt hätte. E s ist unerlaubt, daß wir die Jugend ohne diese Offenbarung ins Leben lassen. Dazu reichen Apologie und Kriton nicht, so schön sie sind. Dazu brauchen wir einen Dialog, der das Herz packt und ernstes Denken fordert, Phaedon, Gorgias, das erste Buch des Staates; aber ein guter Lehrer mag jeden tiefen und künstlerisch schönen wählen, den er bewältigen kann. Diese Dialoge mit ihrem religiösen Feuer sind dazu angetan, in der J u g e n d statt blasierter Fertigkeit den schwärmerischen Zug zu wecken, der ihr so gut steht, und von selbst schlägt sich die Brücke zu Paulus, der in seiner ganzen Person wirksam gemacht werden kann, nicht immer nur durch den Römerbrief und seine Dogmatik. Piaton im griechischen, Goethe im deutschen, Paulus im Religionsunterrichte, diese drei Herzenskündiger zusammen wirkend werden unseren Söhnen die Seele mit einem Geiste stärken, der sie gegen die Ansteckung durch die schlimmsten Gifte der Gegenwart immun macht. E s bleibt das J a h r in Unterprima, und es bleibt auch sonst noch Zeit. Dafür ist ein Lesebuch zu schaffen, das aber auch abgesehen davon, daß es das Material der Lektüre in der Klasse gibt, Lesebuch sein und werden soll, ganz wie es das deutsche ist. Man mag daraus in der Regel in einem Halbjahr die historisch-geographische, im andern die philosophisch-wissenschaftliche Seite bevorzugen. Besser als Worte wird die

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b e i g e f ü g t e Skizze l e h r e n , wie die A u s w a h l b e s t r e b t i s t , d e n B i l d u n g s stoff n a c h allen S e i t e n z u l i e f e r n , d e m S c h ü l e r die U b e r z e u g u n g z u v e r s c h a f f e n , d a ß v o n allen S e i t e n u n s e r e s D e n k e n s die F ä d e n u n m i t t e l b a r n a c h H e l l a s f ü h r e n . W i r w o l l e n i h m so k e i n e H e r o e n , k e i n e a n d e r e W e l t zeigen, s o n d e r n M e n s c h e n , s o n d e r n die g e m e i n s a m e n V o r f a h r e n aller m o d e r n e n zivilisierten V ö l k e r . D e r A u s w a h l d e r L e k t ü r e k a n n m a n zwei V o r w ü r f e m a c h e n . E r s t e n s f e h l t die g a n z e B e r e d s a m k e i t . O h n e Zweifel ist D e m o s t h e n e s d e m R e d n e r Cicero w e i t ü b e r l e g e n u n d ließe sich a n I s o k r a t e s s e h r W i c h t i g e s 210 f ü r die p r o s a i s c h e D a r s t e l l u n g ü b e r h a u p t l e h r e n ; allein stilisierte R e d e ist j a i m L a t e i n u n d F r a n z ö s i s c h , a u c h d e r D i c h t u n g dieser S p r a c h e n , a u s g i e b i g v e r t r e t e n , u n d es s c h e i n t i n d e n v i e r J a h r e n G r i e c h i s c h k e i n P l a t z v e r f ü g b a r . A m E n d e l i e ß e n sich a u c h einige w e n i g e k u r z e R e d e n a u f n e h m e n . D a s a n d e r e ist d e r M a n g e l a n P o e s i e . D a w i r d v i e l l e i c h t ein w e n i g v o n E p i g r a m m e n u n d E l e g i e z u g e b e n sein. D a s s i n d a b e r K l e i n i g k e i t e n : v o r d e n F r a g m e n t e n d e r L y r i k ist z u w a r n e n . Sie f o r d e r n w e i t e r e d i a l e k t i s c h e S t u d i e n , u n d es i s t eine m o d e r n e V e r k e n n u n g , w e n n m a n diesen S t ü c k c h e n einen ewigen W e r t beilegt. D a g e g e n ist, wenn der Unterricht mit H o m e r beginnt, X e n o p h o n s Anabasis mit einer P r o b e zu berücksichtigen. D a ß d a s so g e s t e c k t e Ziel e r r e i c h t w e r d e , d a z u b e d a r f es f ü r die Schüler einer E r l e i c h t e r u n g der e l e m e n t a r e n G r a m m a t i k . Diese ist in v i e l e m d a d u r c h z u e r r e i c h e n , d a ß m i t d e r g r ö ß e r e n g e i s t i g e n R e i f e g e r e c h n e t w i r d , also die G r a m m a t i k m e h r d e r W e i s e a n g e g l i c h e n , wie a u f d e r U n i v e r s i t ä t e i n e n e u e S p r a c h e g e l e h r t w i r d : die L a u t g e s e t z e s e l b s t u n d die G r ü n d e d e r E r s c h e i n u n g e n m ü s s e n d e n L e r n e n d e n n a h e g e b r a c h t w e r d e n , d a n n v e r s c h w i n d e t die M a s s e d e r A u s n a h m e n . D a z u h i l f t v o r allen D i n g e n d a s A n f a n g e n m i t H o m e r . D a s w i r d sich l e i d e r n i c h t s o f o r t d u r c h f ü h r e n l a s s e n , d a die G r a m m a t i k e n f e h l e n , a u c h die L e h r e r a n d e n a l t e n W e g g e w ö h n t s i n d . A b e r die s p r a c h w i s s e n s c h a f t l i c h g e b i l d e t e n G r a m m a t i k e r w e r d e n die A u f g a b e r a s c h l ö s e n : h a t d o c h e i n e r d e r M e i s t e r , H . L . A h r e n s , eine solche G r a m m a t i k v e r f a ß t , die i n H a n n o v e r bis z u r A n n e x i o n in G e b r a u c h g e w e s e n i s t , a l l e r d i n g s d e r Zeit g e m ä ß überlastet mit entbehrlicher Gelehrsamkeit, u n d doch sind die E r f o l g e g ü n s t i g g e w e s e n . E s g i b t f e r n e r ein S t ü c k , i n d e m s o f o r t e i n e s e h r s t a r k e E n t l a s t u n g d e r E l e m e n t a r g r a m m a t i k erzielt w e r d e n k a n n : 1

) [hier nicht wieder abgedruckt; (1902) zugrunde.]

sie liegt im wesentlichen

dem Griechischen

Lesebuch

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die Beseitigung der Akzentlehre und des Schreibens der Akzente durch die Schüler. Die Begründung dieser Neuerung, in Wahrheit der Rückkehr zur antiken Weise, ist auf der zweiten Anlage gegeben. Es soll nicht unausgesprochen bleiben, daß diese Reform des griechischen Unterrichtes recht stark auf die Tüchtigkeit der Lehrer rechnet. Der Lehrer, der die moderne Kultur in ihrem Zusammenhang mit der antiken auf allen Gebieten zeigen soll, muß ein gebildeter Mensch sein, dem beide nicht fremd sind. Der Pedant, der mit den Geheimnissen einer fremden Sprache und der Anbetung alter Kunstwerke, die er überkommen hatte, eine höhere Weihe zu verleihen glaubte, ist dieser Aufgabe nicht gewachsen. Er hat unendlichen Segen gestiftet, aber die Welt glaubt ihm nicht mehr. Es ist der neue Lehrer des Griechischen ein Lehrer, der nur in den Oberklassen unterrichten wird; die Untersekunda macht für diesen Gegenstand einen Teil der Oberklassen aus. Es darf also keine beschränkte Lehrbefähigung im Griechischen mehr gegeben werden, und es muß streng darauf gehalten werden, daß das auch nicht so geschieht, wie es bisher unvermeidlich und berechtigt war, daß die größeren Kenntnisse im Latein den Mangel im Griechischen kompensierten. Es muß, so schwer es der Betrieb der Philologie auf der Universität empfinden wird, gewünscht werden, daß die Lehrbefähigung im Griechischen gar nicht einmal vorwiegend mit der vollen Lehrbefähigung im Lateinischen verkoppelt wird, denn dies Griechisch geht das Deutsche und die Religion und die Alte Geschichte (mit der es auch nicht bleiben kann, wie es ist) kaum minder nahe an. Ein Lehrer, der in zwei Klassen Griechisch gibt, wird zwar eine dieser Kombinationen, aber kaum eine Oberklasse Latein nebenher ertragen. Es wird dagegen von selbst dazu kommen, daß er eine vornehme Stellung im Kollegium erhält. Diese ihm zu geben, ihn mit Stunden nicht zu überlasten, ihn für das auszunutzen, was er kann, wird eine Aufgabe der Verwaltung sein. Wird ihm so das Seine, so kann man auch 211 etwas von ihm verlangen. Ohne Zweifel wächst die Anforderung, die an den Universitätsunterricht gestellt wird, einmal weil die künftigen Philologen für dies Studium direkt viel weniger vorbereitet erscheinen werden, zum andern, weil die Einführung in das Ganze der antiken Kultur sehr viel notwendiger wird. Auch da wird es nicht an Widerständen fehlen; dafür aber sollte schon das eine entschädigen, daß der echte Betrieb der Wissenschaft auf der Universität sich mit erneuter Liebe der Aufgabe

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zuwenden wird, direkt für die Schulbedürfnisse zu sorgen. Schließlich sei es ausgesprochen, daß sehr vielen ein Widerspruch darin zu liegen scheinen wird, daß hier einerseits der Beginn des griechischen Unterrichtes auf die Sekunda geschoben wird, andererseits sehr viel mehr durch diesen Unterricht erreicht werden soll. Es ist wahr, die Zeit ist kurz, und es ist das Minimum: darüber soll man sich nicht täuschen; ehe man den Versuch macht, an den Jahren oder den wöchentlichen Stunden noch mehr abzuziehen, gebe man lieber alles auf. Andererseits ist nicht mehr beabsichtigt, sondern anderes. Und wenn der Stoff des Lesebuches überreich erscheint, so ist seine Erschöpfung j a nicht obligatorisch. Im Gegenteil, wo der Lehrer nach einer bestimmten Seite besonders talentiert ist, da mag er diese vorwalten lassen; nur das Höchste, Tragödie, Piaton, Paulus, ist unbedingt erfordert. Wenn wir erreichen, daß an jedem Gymnasium zwei solche wirklich gebildete Philologen tätig sind, so können wir der Entfaltung ihrer Individualität weiten Spielraum lassen: wie auch immer, sie werden den Jünglingen mitgeben, was nur dieser Unterricht vermag, den geschichtlichen Sinn, der das Menschenleben als ein organisches Gebilde, die Kultur als etwas nicht Gemachtes, sondern Gewachsenes begreift, und das Verständnis für die ewigen einfachen Formen, die trotz aller Vielgestaltigkeit der Erscheinung die Welten der Natur und die Welten des Geistes durchdringen: wir werden keine Gelehrten bilden und keine Schöngeister, wohl aber Philosophen im Sinne Piatons, die den Trieb und die Sehnsucht nach dem Ewigen im Busen tragend eben dadurch Meister der Kunst werden, in dem Leben des Tages zu bestehen, seinen Nöten und seinen Kämpfen gegenüber die Freiheit der Seele nicht zu verlieren, nicht abgewandt der Welt zu werden, aber auch nicht ihr Untertan, sondern sie beherrschend. [Anlage 1: Skizze eines Griechischen Lesebuches. Vgl. oben S. S4 1 .] Anlage 2. 215

Die L e s e z e i c h e n der g r i e c h i s c h e n S c h r i f t . Zu den größten Leistungen der griechischen Grammatiker gehört die Einführung der Zeichen, welche wir mit üblen Namen Akzente und Spiritus nennen. Jene feinen Beobachter bemerkten, daß die Buchstaben den gesprochenen Laut nicht genügend wiedergaben, und ihren Zeichen verdanken wir, daß wir die Betonung der griechischen und

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damit in vielem die der arischen Ursprache kennen. Die Grammatiker hatten gar nicht im Sinne, diese Zeichen für den allgemeinen Gebrauch einzuführen, sondern nur für schwere, dialektische Dichtertexte, und dann durch Beobachtung der Analogie die Aussprache verschollener Wörter zu erschließen. Nun war, was sie bezeichneten, der Satzakzent, die gesprochene Rede, die j a keine Einzelwörter kennt. Wenn sie einen Text mit den Zeichen versahen, so bekam jede Silbe ein Zeichen, entweder den sogenannten Gravis, das Zeichen, daß sie tief gesprochen wurde, wobei keine relative Höhe und Tiefe bezeichnet ward, oder den sogenannten Akut, das Zeichen der Höhe, oder die Vereinigung beider, wenn nämlich auf derselben Silbe die Stimme von der Höhe hinabglitt. Sie beobachteten auch, daß in der Wortverbindung sich unter dem Einfluß des folgenden Wortes der hohe Ton verrückte, die sogenannte Enklisis und ihre Folgen. Diese Erscheinung gilt für alle lebendige Rede; im Latein z. B. sehr weit; aber man beachtet sie da nicht, weil die Zeichen fehlen. Wir besitzen noch ein Blatt eines antiken Buches (des altspartanischen Dichters Alkman), das auf jeder Silbe einen Akzent zeigt. Aber allmählich sah man ein, daß es genügte, die betonten Silben zu fixieren, und unser System, die Silbe, die den Akut haben könnte, wenn sie im Satze nicht zur Geltung kommt, mit dem 216 Gravis zu versehen, ist überhaupt nicht antik. Nun war aber der Akzent im echten Griechisch rein musikalisch, also Höhe und Tiefe in diesem Sinne zu verstehen; erst im dritten Jahrhundert n. Chr. hat sich das in den Akzent, wie ihn die Neugriechen haben, umgesetzt, und erst da ist das Griechische auf den Zustand gekommen, den das Germanische immer gehabt hat. Wir Modernen können den musikalischen Akzent überhaupt nicht sprechen, auch Zirkumflex und Akut nicht unterscheiden, die Neugriechen auch nicht. Akzentuierte gewöhnliche Bücher hat es im Altertume nie gegeben, geschrieben hat die Akzente niemand außer dem Grammatiker. Erst seit dem neunten Jahrhundert, als man die alte Literatur wieder studiert, kommt das Akzentuieren durch Gelehrte auf: alle Bücher waren nun so fremdartig wie Alkman im 3. Jahrhundert v. Chr. Aus diesen gelehrten Kreisen hat sich die Sitte dann verallgemeinert: die Buchschreiber waren eben nun Gelehrte. Sie brachten die Kenntnis des Griechischen in den Okzident, der übernahm, was er gelehrt ward. Wenn im vorigen Jahrhundert Griechisch oft ohne Akzente gedruckt ward, z. B. bei Lessing, so war Unkenntnis, nicht überlegene Einsicht, allein im Spiele. So ist es auch

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heute nicht selten. Aber in unserer von der Philologie noch nicht getrennten Schule wird diese Lehre so als das spezifisch Griechische angesehen, daß die Leute gar nicht selten sind, die meinen, die Inschriften und Papyri müßten die Zeichen tragen, die von den Herausgebern verständigermaßen beigefügt werden. E s sollte keines Wortes bedürfen, daß die Schüler nicht setzen sollen, was kein Grieche gesetzt hat, daß sie nur in den Büchern, die sie lesen, diese bequemen Hilfsmittel benutzen sollen und ebenso wie der Lehrer danach sprechen, daß aber die Geheimnisse des Perispomenon und Paroxytonon, die Enklisis, die Atona usw. aus dem Schulunterricht zu verschwinden haben. In der Prima mag das System gezeigt werden, dabei die allgemeinen sprachwissenschaftlichen Lehren, auch für das Lateinische und Deutsche, gezogen: aber der Schüler soll keinen Spiritus und keinen Akzent jemals setzen. Vom Spiritus muß allerdings gesagt werden, daß der Asper von uns als h gesprochen wird, weil die attische und andere Mundarten ihn noch hatten, als sie die ionische Schrift aufnahmen, die das entbehrlich gewordene Zeichen für das lange e verwendet. Aber die herrschende Verwendung des Asper ist in vielen Stücken fehlerhaft und verdient, nur von den Fachgelehrten gelernt zu werden. Geradezu ein Zopf ist das N y ephelkystikon, das den Schülern viel Fehler einträgt: dabei handeln sie wie die Griechen während des ganzen Altertumes, wenn sie es regellos vor Vokal weglassen, vor Konsonant setzen. E s wird den Professoren der Philologie allerdings ein weiteres Kreuz auferlegt, wenn sie erst den Studenten die Akzente einprägen sollen, die der Philologe innehaben muß: aber das Kreuz, das den Knaben abgenommen wird, ist gewiß schwerer. E s sei noch mit einem Worte die Aussprache berührt, nicht um den neugriechischen Unsinn zu besprechen, was er nicht verdient (Einsichtige fehlen auch in Griechenland nicht), sondern weil eine verständige Aussprache die Erlernung der Sprache wesentlich erleichtern kann. Erstens ist Theta in manchen Gegenden schon zu Solons Zeiten als englisches th gesprochen worden: das ist notwendig, da wir den Unterschied der Tenuis und Aspirata doch nicht hervorbringen. Zweitens muß s scharf gesprochen werden wie im Französischen, z nie als deutsches z, sondern ds oder wie im Französischen als weiches s. Die Lautlehre wird durch das erste sehr erleichtert. Die Hauptsache aber ist die Aussprache der Diphthonge. D a ist allen Mißbildungen und Verwechslungen mit einer kurzen Regel ein Ende gemacht: sprich

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den ersten Bestandteil des Diphthonges b e t o n t . W e n n das zehnmal 217 irrig wäre, so würde es sich u m der Sicherheit willen empfehlen, denn wir wollen j a keine Experimente echter Aussprache machen. N u n ist es aber so sehr richtig, daß die jetzt bekanntwerdenden antiken Bücher wirklich den ersten Bestandteil akzentuiert h a b e n . Endlich ist der Mißbrauch des J o t a subscriptum zu beseitigen: es existiert erst seit dem ausgehenden Mittelalter. S t a t t seiner sagt m a n dem K n a b e n : hinter langem a e o ist es uns zu m ü h s a m ein i zu sprechen, da lassen wir es in der Aussprache weg, wie es die Griechen auch oft getan h a b e n . R a t s a m ist nur, in Schülertexten langes a als solches zu bezeichnen. W e n n das Lesebuch das einführt, wird es bald eingebürgert sein. Durch all dies wird die Sprache gerade in den ersten Berührungen das F r e m d artige verlieren; könnte m a n den Lehrern angewöhnen, das griechische a ebenso wie das deutsche a s t a t t alpha zu nennen, usw., so wäre das auch dienlich, aber das sind am E n d e Bagatellen.

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Wilamowitz, Kleine Schriften V I

13. Der Unterricht im Griechischen I.

Das Griechische ist der für das Gymnasium spezifische Unterrichtsgegenstand. Indem die Kenntnis dieser Sprache und der vornehmsten und schwierigsten Werke, die in ihr verfaßt sind, von allen denen verlangt wird, die eine führende Stelle in der Zivilverwaltung des Staates, der Kirche oder in gleichstehenden Berufen erwerben wollen, stellt das 19. Jahrhundert ein neues Bildungsideal auf. Allein schon 1870 wird die Universität für eine Anzahl Fächer, darunter die neueren Fremdsprachen, der Realschule eröffnet, die zwar Latein, aber nicht Griechisch lehrt; in der lateinlosen Oberrealschule bildete sich ein neuer Typus, und das Urteil der Sachverständigen erkannte seine Vorbereitung für manche Studien mindestens als gleichwertig an. 1900 wird durch nahezu einstimmigen Beschluß der Schulkonferenz das Gymnasium nur noch eine von drei gleichberechtigten Formen der Knabenbildung, und auf der Tagesordnung steht die Frage, ob nicht das Griechische auch am Gymnasium fakultativ werden solle oder auch so spät erst beginnen, daß von einer wirklichen Erlernung keine Rede mehr sein würde. Wenn das auch zur Zeit nicht beliebt worden ist, so kann doch nicht geleugnet werden, daß die völlige Preisgabe des Gymnasiums, das während nur eines Jahrhunderts geherrscht hat, sehr wohl denkbar ist. Ganz ohne Zweifel wird das eintreten, wenn die Stimmung des Volkes, insbesondere der früheren Gymnasiasten, dem Griechischen feindlich ist oder wird. Denn auch eine entgegengesetzte Haltung der Regierung könnte auf die Dauer sich nicht behaupten. 13. Die Reform des höheren Schulwesens in Preußen. In Verbindung mit P. Cauer, W. Fries, H. Halfmann, M. Heynacher, E. Horn, F. Klein, R. Lehmann, W. Mangold, F. Neubauer, J . Norrenberg, L. Pallat, F. Paulsen, K. Reinhardt, C. Rethwisch, A. Tilmann, H. Wagner, A. Waldeck, H. Wickenhagen, U. von WilamowitzMoellendorfF hrsg. v. W. Lexis. Halle 1902, 1 5 7 - 1 7 6 .

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Das Gymnasium schwebt also solange in Gefahr, als der Bildungswert des Griechischen in Frage gezogen werden kann. Daran wird die wiederholte Versicherung seiner Anhänger wenig ändern, so lange sie dieselben Ziele aufrichten wie vor hundert Jahren, wie das zu geschehen pflegt. Eine geschichtliche Betrachtung des abgelaufenen Jahrhunderts, zumal in wenig Zeilen, wird also ins Auge zu fassen haben, wie diese Konstanz und ihr gegenüber der Wandel der Wertschätzung sich herausgebildet hat. Sie hat, wenn überhaupt, nur Wert, insofern aus der durchlaufenen Bahn ein Schluß auf das Künftige und auf die Maßnahmen möglich ist, die unter dieser Zukunftsberechnung angezeigt sind. Insbesondere würde der Verfasser es sich nicht zugetraut haben, das Wort zu ergreifen, wenn er nicht den Augenpunkt 158 so hoch nehmen konnte, daß das Detail verschwindet, dagegen die gesamte Entwicklung der Kultur und der Wissenschaft in das Gesichtsfeld tritt. Denn das ist ihm die entscheidende Voraussetzung, daß die Schule nicht eine Welt für sich ist, sondern was der Jüngling von ihr empfangen soll, sich nach der allgemeinen Kultur richtet, und was in einem Lehrgegenstande geboten werden soll, durch die Wissenschaft von diesem Gegenstande reguliert wird. Wie es gelehrt wird, das allein ist Frage der Schultechnik, und über sie erlaubt er sich kein Urteil. E s kann nicht scharf genug betont werden, daß die Schulordnung der Reformation, die in ihren Grundzügen und sogar noch in ihren grammatischen Schulbüchern bis ans Ende des 18. Jahrhunderts geherrscht hat, dem Griechischen lediglich deshalb eine kümmerliche Stelle gewährt hatte, weil es die Sprache des Neuen Testamentes war; es stand nicht wesentlich anders als das Hebräische. Erreicht ist damit auch für das Neue Testament nichts; man fand doch nur im Originale, was die jeweilige orthodoxe Auslegung verlangte. Die Wertlosigkeit des sonstigen Griechisch zeigt genugsam die bevorzugte Lektüre. Wenn der falsche Phokylides, der falsche Isokrates an Demonikos und der falsche Plutarch über Kindererziehung ausgesucht waren, in Herodian glücklich der um des Inhaltes und der Form des Lesens unwürdigste griechische Historiker herausgefunden war, so bedarf es keiner weiteren Worte. Homer mußte für die deutsche Schule erst entdeckt werden. Der brave Rektor Damm, der in Berlin unter Friedrich Wilhelm I. eine mit Recht angestaunte Leuchte der Gelehrsamkeit war, hat zwar dem Homer und sogar dem Pindar seine kauderwelsche Wissenschaft zugewandt, las aber auch den Froschmäusekrieg in der Schule, und v o m 7*

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wirklich Homerischen verstand nicht er oder ein anderer Schulmonarch etwas, sondern die, welche nach dem Rezepte Goethes an der H a n d der lateinischen Ubersetzung sich ein höchst ungrammatisches Verständnis aus der eignen Kongenialität schöpften. Es fehlte eben zwar niemals ganz an einzelnen Gelehrten, die die griechische Philologie w a h r h a f t förderten (am liebsten aber außerhalb Deutschlands), aber an einem philologischen Universitätsunterricht. Das ward erst besser, als J . M. Gesner, der auch f ü r die Lektüre in einer auf geschichtliche u n d philosophische Belehrung zielenden Chrestomathie etwas besseres Material schaffte 4 ), u n d d a n n Chr. G. Heyne in Göttingen eine blühende Schule der Philologie errichteten, aus der die geistigen F ü h r e r des Neuhellenismus, W . v. H u m b o l d t , die Schlegel, F r . A. Wolf hervorgingen. E r s t durch Gottfried H e r m a n n in den neunziger J a h r e n t r a t Leipzig dazu, n a h m aber sofort die F ü h r u n g . Die preußischen Universitäten h a t erst dieselbe großartige Reform zu K r ä f t e n gebracht, welche auch das Gymnasium schuf. E s erscheint f ü r die Gewinnung einer richtigen Einsicht in das Verhältnis zwischen dem, was angestrebt u n d was erreicht wird, geraten, 159 zuerst in einem kurzen Uberblicke die amtlichen Verordnungen zu verfolgen. Grundlegend ist das E d i k t wegen P r ü f u n g der zu den Universitäten übergehenden Schüler, vom Könige in P o t s d a m a m 12. Oktober 1812 gezeichnet, gegengezeichnet von Hardenberg u n d Schuckm a n n , das denkwürdige Aktenstück, das durch die Einrichtung des Abiturientenexamens Schule u n d Universität ebenso v e r b a n d wie schied. Gefordert wird: „ I m Griechischen m u ß der E x a m i n a n d u s die attische Prosa, wozu auch der leichtere Dialog des Sophokles u n d Euripides zu rechnen, nebst dem Homer auch ohne vorhergegangene P r ä p a r a t i o n verstehen; einen nicht kritisch schwierigen tragischen Chor aber, im Lexikalischen u n t e r s t ü t z t , erklären können. Auch m u ß er eine kurze Ubersetzung aus dem Deutschen ins Griechische ohne Verletzung der G r a m m a t i k und Accente abzufassen im stände sein". Die schriftliche P r ü f u n g fordert „eine deutsche Übersetzung eines Stückes aus einem in der Schule nicht gelesenen, den K r ä f t e n angemessenen Autor, von den nötigen Sprach- u n d Sacherklärungen begleitet", u n d „eine kurze U b e r s e t z u n g aus dem Deutschen ins Griechische, wobei etymologische Er mutete darin den Schülern einen plutarchischen Essay, ein Stück aus der aristotelischen Rhetorik und sogar aus Sextus Empiricus zu, sehr wertvolle Dinge, die von dem Klassizismus preisgegeben worden sind.

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und überhaupt grammatische Richtigkeit in jeder Hinsicht in Betracht kommen" Diese ganz gewaltigen Forderungen, die gegenwärtig weit über das hinausgehen, was hinreicht, um die Lehrbefähigung für die mittleren Klassen zu erwirken, werden gewiß um so weniger allgemein durchgesetzt worden sein, als die Lehrpläne noch recht verschieden waren und auch überhaupt die Gleichförmigkeit noch gering. Inmmerhin sehen wir Ahnliches z. B . in Sachsen und Hannover gefordert, als dort das Abiturientenexamen nach preußischem Muster geordnet wird. In Hannover 2 ) ist für die schriftliche Prüfung eine Ubersetzung nebst einer in lateinischer Sprache abgefaßten Interpretation einer Stelle aus einem schwereren griechischen oder lateinischen Schriftsteller, namentlich Dichter, verlangt, über die nähere Bestimmungen erfolgen, die u. a. auch Altertümer, Mythologie und Geschichte heranziehen. Daneben sollen Fragen aus der älteren und neueren Geographie und Geschichte, ferner aus der Literaturgeschichte der Klassiker der Griechen und Römer, der Deutschen und Franzosen schriftlich und ausführlich beantwortet werden. Die mündliche Prüfung nennt von Griechen Homer, Sophokles, Euripides, Thukydides, Xenophon, Piaton und Plutarch; die Dichter dürfen in der Schule längere Zeit vorher gelesen sein, die Prosaiker nicht. Bei den schwereren ist eine kurze Präparation mit Hilfe des Lexikons gestattet. Auch hier wird außer dem sicheren Verständnisse der Sprache weitgehende sachliche Kenntnis gefordert. In Sachsen 3) fordert man zwei schriftliche Arbeiten, eine in lateinischer Sprache geschriebene Erklärung einer Stelle aus einem lateinischen oder griechischen Schriftsteller; vorzugsweise sind aber, mit Ausnahme Homers, Dichter, namentlich von den Griechen Pindar und die Tra- 160 giker, zu wählen. Das andere ist eine Übersetzung ins Griechische. Man wird in diesen beiden Prüfungsordnungen den Gegensatz nicht verkennen, in dem sich das Ziel der Göttinger und Leipziger Philologie befanden. 1 ) Ich entnehme dieses denkwürdige Dokument dem Buche „Die Abiturientenprüfung vornehmlich im Preußischen Staate. Liegnitz und Halle 1831". Das Exemplar der Bibliothek des Kultusministeriums, das ich benutzen durfte, trägt handschriftlich als Verfassernamen F . Schultze; unter ihm zitiere ich. Das Angeführte steht S. 10 und 15. 2 ) Instruktion vom 30. November 1829. Schultze S. 180, 181, 183. 3 ) Regulativ über die Maturitätsprüfung, gegeben Leipzig 5. März 1830. Schultze S. 236.

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I n d e s s e n gleichzeitig h a t t e sich in P r e u ß e n der Minister A l t e n s t e i n v e r a n l a ß t gesehen, die F o r d e r u n g e n i m Griechischen b e d e u t e n d h e r a b zustimmen. I n e i n e m Z i r k u l a r v o m 11. D e z e m b e r 1828, auf das s p ä t e r sehr o f t z u r ü c k g e g r i f f e n w o r d e n ist, wird z u e r s t m i t Mißbilligung k o n s t a t i e r t : „ I n einigen G y m n a s i e n h a t m a n die T r a g ö d i e n des Sophokles, d e n T h u k y d i d e s u n d die in H i n s i c h t i h r e r A n l a g e oder ihres I n h a l t e s schwierigeren, z u m Teil eine B e k a n n t s c h a f t m i t der s p e k u l a t i v e n I d e e v o r a u s s e t z e n d e n Dialoge P i a t o s z u r u n u n t e r b r o c h e n e n u n d f a s t ausschließlichen L e k t ü r e der e r s t e n griechischen Klasse g e w ä h l t , . . . a n a n d e r e n gar d e n P i n d a r , A r i s t o p h a n e s u n d A s c h y l u s . . . . " D e m g e g e n ü b e r wird v e r o r d n e t , „ d a ß , u m das in d e m A l l e r h ö c h s t e n E d i k t e v o m 12. O k t o b e r 1812 v o r g e s c h r i e b e n e Ziel erreichen zu k ö n n e n , z w a r die eine oder a n d e r e T r a g ö d i e des Sophokles oder E u r i p i d e s u n d die k ü r z e r e n u n d l e i c h t e r e n Dialoge P i a t o s wie K r i t o n , L a c h e s , C h a r m i d e s , Apologie, M e n e x e n u s , Meno a u c h f e r n e r h i n in der e r s t e n Klasse gelesen, dagegen a b e r die g r ö ß e r e n u n d schwierigeren Dialoge wie P r o t a g o r a s , Gorgias, P h ä d r u s , P a r m e n i d e s , P h a e d o , die K o m ö d i e n des A r i s t o p h a n e s , die O d e n P i n d a r s u n d die T r a g ö d i e n des Aschylus, a u ß e r in wiefern einzelnes . . . i n C h r e s t o m a t h i e n . . . e t w a v o r k o m m t , v o n der L e k t ü r e ausgeschlossen w e r d e n sollen . . . Die L e k t ü r e der h o m e rischen Gesänge m u ß d u r c h die erste u n d zweite Klasse h i n d u r c h g e h e n . . . Die L e k t ü r e des T h u k y d i d e s ist n u r sehr b e d i n g t e r w e i s e u n t e r A u s w a h l der l e i c h t e r e n Stellen g e s t a t t e t . . . . " I n ä h n l i c h e r Weise w e r d e n die Ü b e r s e t z u n g e n in das Griechische e i n g e s c h r ä n k t , die in einzelnen G y m n a s i e n zu S t i l ü b u n g e n g e w o r d e n w ä r e n 1 ) . Auf diesem W e g e s c h r i t t die n e u e P r ü f u n g s o r d n u n g v o n 1834 f o r t . Sie v e r l a n g t in der s c h r i f t l i c h e n P r ü f u n g n u r die U b e r s e t z u n g eines S t ü c k e s aus e i n e m i m Bereiche der e r s t e n Klasse des G y m n a s i u m s liegenden u n d in der Schule n i c h t gelesenen D i c h t e r oder P r o s a i k e r ins D e u t s c h e u n d stellt als A n f o r d e r u n g f ü r die Reife a u f , a u ß e r der F e s t i g k e i t in den H a u p t regeln der S y n t a x , f o l g e n d e B ü c h e r a u c h o h n e P r ä p a r a t i o n zu vers t e h e n : H o m e r , H e r o d o t B u c h 1 u n d 5—9, X e n o p h o n s K y r o p ä d i e u n d ') Das merkwürdige Zirkular steht vollständig bei Schultze 71 ff. Der Verfasser ist offenbar der „spekulativen Idee" feindselig; das kontrastiert stark mit dem Einflüsse, den Hegel auf die Universitätsverwaltung Altensteins besaß. Von Piaton hat der Verfasser wenig gewußt, sonst würde er den Charmides nicht empfohlen haben; daß jemand darauf verfallen könnte, den Parmenides zu lesen, ist kaum glaublich.

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A n a b a s i s u n d die l e i c h t e r e n Dialoge P i a t o n s 1 ) . Die Z a h l der U n t e r r i c h t s s t u n d e n w a r d i m J a h r e 1837 auf w ö c h e n t l i c h sechs v o n Q u a r t a a b b e s t i m m t , n i c h t u n b e d i n g t v e r b i n d l i c h , a b e r d o c h so, d a ß es als das i m m e r m e h r a u c h wirklich E i n g e h a l t e n e b e z e i c h n e t w e r d e n k a n n . D a s h a t R e c h t s k r a f t g e h a b t bis 1882; n u r h a t die Z i r k u l a r v e r f ü g u n g 161 v o m 12. J a n u a r 1856 die U b e r s e t z u n g a u s d e m Griechischen d u r c h eine solche in das Griechische e r s e t z t , m i t a u s d r ü c k l i c h e r B e r u f u n g auf das Z i r k u l a r v o n 1828 2 ). W e n n allgemein h i e r n a c h v e r f a h r e n w ä r e , so h ä t t e der U n t e r r i c h t k a u m e t w a s N e n n e n s w e r t e s e r r e i c h t u n d d e m g e m ä ß w e n i g Zweck g e h a b t . W e d e r die T r a g ö d i e n o c h die B e r e d s a m k e i t n o c h die Geschichte n o c h die Philosophie b r a u c h t e d e m Schüler in sieben S c h u l j a h r e n wirklich n a h e g e b r a c h t zu sein, u n d n e b e n H o m e r w a r allein X e n o p h o n b e r u f e n , als obligatorischer griechischer K l a s s i k e r zu figurieren; m i t einem der langweiligsten u n d w i r k u n g s l o s e s t e n B ü c h e r , die es in griechischer S p r a c h e gibt, der K y r o p ä d i e , w a r d a u s d r ü c k l i c h exemplifiziert. A b e r die Schulen, die es wollten, h a b e n g e r a d e in d e n 50 J a h r e n , die diese B e s t i m m u n g galt, sehr viel H ö h e r e s a n g e s t r e b t u n d geleistet, u n d m a n h a t sie n i c h t g e h i n d e r t . Die r e v i d i e r t e n L e h r p l ä n e v o m 31. März 1882 n a h m e n d e m Griechischen die Q u a r t a , e r h ö h t e n d a f ü r die S t u n d e n z a h l der T e r t i a auf 7, w a s sich n u r bis 1892 hielt. Sie griffen v o n 1856 auf 1834 d a r i n z u r ü c k , d a ß w i e d e r eine U b e r s e t z u n g aus d e m Griechischen s t a t t der in d a s Griechische i m A b i t u r i e n t e n e x a m e n e i n t r a t . Sie ä n d e r t e n a n d e n E r f o r d e r n i s sen f ü r die Keife k a u m e t w a s , stellten a b e r die L e h r a u f g a b e n in einer Weise fest, die als Verfasser einen S a c h k e n n e r wie B o n i t z v e r r ä t : „ S i c h e r h e i t in der a t t i s c h e n F o r m e n l e h r e u n d B e k a n n t s c h a f t m i t d e r F o r m e n l e h r e des epischen D i a l e k t e s ; K e n n t n i s der H a u p t l e h r e n d e r S y n t a x . E r w e r b u n g eines a u s r e i c h e n d e n W o r t s c h a t z e s . E i n e n a c h d e m M a ß e der v e r f ü g b a r e n Zeit u m f a s s e n d e L e k t ü r e des b e d e u t e n d s t e n a u s der klassischen p o e t i s c h e n u n d prosaischen L i t e r a t u r , welche geeignet ist einen b l e i b e n d e n E i n d r u c k v o n d e m W e r t e der griechischen Liter a t u r u n d v o n i h r e m Einflüsse auf die E n t w i c k l u n g der m o d e r n e n Liter a t u r e n zu h i n t e r l a s s e n " . Die E r l ä u t e r u n g e n w e n d e n sich v o r n e h m l i c h gegen die Ü b e r t r e i b u n g des g r a m m a t i s c h e n , i n s b e s o n d e r e s y n t a k t i schen U n t e r r i c h t e s . 2

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v. Rönne, Unterrichtswesen in Preußen II 264, 273. ) Wiese, Verordnungen und Gesetze für die höheren Schulen in Preußen (1875)

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Die Lehrpläne von 1892 sehen das Ziel einfach in „dem Verständnis der bedeutenderen klassischen Schriftsteller der Griechen." Man hat damals geglaubt, mit sehr wenig Grammatik dieses Ziel zu erreichen, und man muß sehr sicher in der Abschätzung der Klassiker gewesen sein, da die Freiheit in der Wahl der Lektüre auf das äußerste eingeschränkt ist. Homer soll womöglich ganz gelesen werden; Xenophon ist in drei Klassen obligatorisch. Mit einer solchen Beschränktheit und Uberhebung, die Aischylos und Aristophanes, Pindar und Aristoteles für unbedeutend oder unklassisch erklärt, weil sie in der Schullektüre keinen Platz haben, kann niemand transigieren, der von den Griechen etwas versteht. Die Lehrpläne von 1901, die in das Äußere des Schulbetriebes für diesen Gegenstand wenig Änderung bringen, atmen einen andern Geist, nicht nur als 1892, sondern auch als 1828. Sie geben als allgemeines Lehrziel an „auf ausreichende Sprachkenntnisse gegründete Bekannt 162 schaft mit einigen nach Inhalt und Form besonders hervorragenden Literatürwerken und dadurch Einführung in das Geistes- und Kulturleben des griechischen Altertums". Demgemäß fordern sie an grammatischen Kenntnissen nur das für die Lektüre Notwendige: nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und in der Auswahl für die Lektüre geben sie tatsächlich jede mögliche Freiheit. Sie wünschen eine Auswahl aus Homer und gestatten die Benutzung eines Lesebuches, das „neben der ästhetischen Auffassung auch die den Zusammenhang zwischen der antiken Welt und der modernen Kultur aufweisende Betrachtung zu ihrem Rechte bringe". Betrachten wir nun demgegenüber, wie sich der Schulbetrieb während des 19. Jahrhunderts gestaltet hat.

II. Als erstes fällt auf, daß das Neue Testament bei dem griechischen Unterrichte ganz außer Frage bleibt: so vollkommen ist mit der Tradition gebrochen. Darin spricht sich nicht nur die ästhetische Richtung der Zeit aus; der Religionsunterricht mochte sehen, wie er sich half. Der Erlaß von 1812 redet überhaupt nicht von der Religion. Das Prüfungsreglement von 1834 fordert in der Religion, daß in der Grundsprache des Neuen Testaments einiges mit dem Erfolge eines

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im ganzen leichten Verständnisses gelesen sei. 1856 ist das bereits aufgegeben. Man mag geglaubt haben, daß die vollkommene Aneignung der Sprache die Fähigkeit, dies Griechisch zu lesen, mit verliehe. Aber dem war nicht so. Die Schulgrammatik nahm auf die als plebejisch verachtete Sprache kaum irgendwo Rücksicht; heute tut sie es weniger denn je. Schulausgaben biblischer Bücher existieren nicht. Bei Paulus hatte der Schüler nicht selten eine ganz ähnliche Aufgabe wie bei Thukydides, einem Schriftsteller zu folgen, dessen Gedankenreichtum des sprachlichen Ausdruckes nicht vollkommen Herr wird. Aber wenn er bei dem Historiker vielleicht den Inhalt über der grammatischen Analyse vergessen lernte, lagen hier die dogmatischen Probleme scheinbar hinter einem selbstverständlichen Wortlaut. Der Erfolg ist für die Theologie der Wahnglaube an eine besondere biblische Gräzität gewesen, für die Schule, daß sie gegenwärtig meist die deutsche Übersetzung neben dem griechischen Texte benutzt, der dann k a u m mehr als ornamentalen Wert hat. Die geltenden Lehrpläne lassen „den Urtext stellenweise heranziehen". Die Gymnasiasten nehmen weder die Fähigkeit noch den Antrieb mit, die griechische Bibel zu lesen; die Studenten der Philologie machen große Augen, wenn man ihnen zutraut, den Wortlaut des Vaterunser zu kennen. Während so eins der wichtigsten griechischen Bücher inhaltlich und sprachlich von dem griechischen Unterrichte ganz losgerissen worden ist, weil es in ein anderes Fach gestellt war, ist in dem Betriebe sowohl der Grammatik wie der Lektüre sehr vielfach der Unterschied zwischen Schule und Universität vernachlässigt worden. Man hat mit den Schülern Philologie getrieben. Mit Recht hat das der Minister Altenstein schon 1828 gerügt. Das lag indessen in der Tradition. Universität und Schule hatten sich durchaus nicht immer zueinander wie Unter- 163 und Oberbau verhalten. Die Universität war ihrer Bestimmung nach vor dem 19. Jahrhundert nichts als Unterrichtsanstalt, gar oft im entschiedensten Gegensatze zu Wissenschaft und lebendiger Kultur. Wo an der Schule ein Gelehrter wirkte, da glaubte er, auch gelehrt wirken zu dürfen. Selbst in dem Zustande äußerster Verkümmerung, den die Schule von Seehausen unter dem Konrektor Winckelmann zeigt, berühmt sich dieser, Antiquitäten und Variantenkram getrieben zu haben: das war der Nachhall der Philologie, die sich in den holländischen Kommentaren und Dissertationen niederschlug. Ist dies eine

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a b s c h r e c k e n d e E r s c h e i n u n g , so m u ß es andererseits einem Philologen i m p o n i e r e n , d a ß A u g u s t Meineke bereits als Schüler die A r b e i t des F r a g m e n t s a m m e l n s u n d E m e n d i e r e n s b e g a n n , die seinen w i s s e n s c h a f t lichen R u h m a u s m a c h t , u n d d a ß n a c h ganz k u r z e m S t u d i u m in Leipzig eine E m p f e h l u n g G. H e r m a n n s g e n ü g t e , u m d e m j u n g e n Philologen o h n e weiteres eine v e r a n t w o r t u n g s v o l l e Lehrerstelle zu v e r s c h a f f e n . D e r E r f o l g h a t gezeigt, d a ß es a u c h so g i n g ; a b e r ein gefährliches W a g n i s w a r es doch, u n d v e r w u n d e r n w e r d e n wir u n s n i c h t , w e n n derselbe U n t e r r i c h t , der Meineke z u m T e x t k r i t i k e r m a c h t e , ein D i c h t e r g e m ü t wie F r a n z v o n G a u d y a n w i d e r t e , weil die H e r o e n k ä m p f e v o n Äolismen u n d D o r i s m e n ü b e r t ö n t w u r d e n . I n den f o l g e n d e n Glanzzeiten der Philologie h a b e n sich G y m n a s i a l lehrer zahlreich u n t e r i h r e n erfolgreichsten F ö r d e r e r n b e f u n d e n . E s w a r begreiflich, d a ß i h n e n a u c h in der Schule v o n d e m der M u n d ü b e r ging, w a s ihr H e r z erfüllte, u n d wo das der F a l l w a r , wird es f ü r die g u t e n Schüler, auf die es v o n R e c h t s wegen v o r n e h m l i c h a n k o m m t , v o n Segen gewesen sein. A b e r sie b e s t i m m t e n d e n Z u s c h n i t t des U n t e r r i c h t s a u c h f ü r solche, die den Mangel a n p ä d a g o g i s c h e r R ü c k s i c h t n i c h t d u r c h das F e u e r der eignen P r o d u k t i o n ersetzen k o n n t e n . E i n e A u s g a b e des Sophokles, wie sie C. N e u e g e m a c h t h a t , ist ganz ausges p r o c h e n gelehrt, zu gelehrt selbst f ü r den philologischen A n f ä n g e r . Sie h a t sich a n der Schule, f ü r die er sie m a c h t e , viele J a h r z e h n t e beh a u p t e t . F r . J a c o b s u n d Yal. R o s t w a r e n h e r v o r r a g e n d e S c h u l m ä n n e r , a b e r die bibliotheca scriptorum Graecorum, die sie ins L e b e n riefen, ist d u r c h a u s gelehrt, o f t t e x t k r i t i s c h . U m die M i t t e des J a h r h u n d e r t s verd r ä n g e n H a u p t u n d S a u p p e i n einer ä h n l i c h e n S a m m l u n g die lateinische S p r a c h e ; a b e r i m m e r n o c h t r i t t selbst die T e x t k r i t i k in die A n m e r k u n g e n , u n d ein m i t R e c h t allgemein v e r e h r t e r S c h u l m a n n wie J . Classen h a t seinen T h u k y d i d e s d u r c h a u s philologisch g e h a l t e n . W e n n er das t a t u n d E r f o l g m i t seinem B u c h e h a t t e , so ist j e d e m Zweifel e n t r ü c k t , d a ß v o r t r e f f l i c h e M ä n n e r m i t diesen H i l f s m i t t e l n Vortreffliches erzielt h a b e n , u n d der W i s s e n s c h a f t ist sehr g r o ß e r N u t z e n e r w a c h s e n , so lange ihr zugleich z u g u t e k a m , was a n der Schule u n d f ü r die Schule g e s c h a h . Allein d a s M i ß v e r s t ä n d n i s k o n n t e n i c h t ausbleiben, d a ß Philologie e t w a s w ä r e , w a s ein P r i m a n e r l e r n e n k o n n t e u n d sollte, d a ß m a n ihr O b j e k t m i t d e m des S c h u l u n t e r r i c h t e s identifizierte. D a m i t t a t m a n der W i s s e n s c h a f t zu n a h , u n d die Schüler b e k a m e n in W a h r h e i t r e c h t o f t zwar die vannus critica bei ihrer A r b e i t

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zu sehen, aber wenig von dem Korne zu kosten, das diese von der un- 164 genießbaren Spreu sondern soll. Als dann vollends die Philologie jene Krankheitsperiode durchmachte, in der sie ihre angeblich so stolze Methode zum Spiele mißbrauchte, da war es begreiflich, daß auch die Schüler von dem Herrlichen etwas abbekamen, was ihre Lehrer von der Universität mitbrachten. E s erhöhte jedoch ihr Verständnis des Sophokles und ihre Achtung vor ihm wenig, wenn sie seine Verse umschreiben oder ausstreichen mußten, oder auch wenn ihnen die Echtheit und Integrität demonstriert ward. Die Reaktion konnte nicht ausbleiben; und sie ist nicht durch die Gesundung der Wissenschaft erst hervorgerufen, sondern die Schule hat sich selbst geholfen, indem sie die Philologie gänzlich aus dem Unterrichte vertrieben hat. Das erste Ziel des Unterrichtes muß aller Zeit die wirkliche Kenntnis der Sprache sein, und da mußte die Grammatik in Wahrheit erst neu fundiert werden. Das war auch für die Wissenschaft die nächste Aufgabe. Die Bedürfnisse beider fielen hier wirklich zusammen, der entscheidende Anstoß kam aber von der Schule, Ph. Buttmann erhielt den Auftrag, die brandenburgische Schulgrammatik neu aufzulegen, die seit der Reformation sich so ziemlich behauptet hatte. Das gab ihm Veranlassung, zunächst den Stoff der Formenlehre selbständig durchzudenken, um Ordnung in das Chaos von Regeln zu bringen. Später hat er dann auch das Sprachmaterial durch eigne Sammlung möglichst erschöpfend zusammenzubringen versucht und ist der Begründer der wissenschaftlichen Grammatik geworden. Als er die letzte Auflage seiner bewunderungswürdigen „Ausführlichen Sprachlehre" veranstaltete, die A. Lobeck zu vollenden nicht verschmähte, herrschte in der Schule eine kürzere Fassung, die aber nach heutigem Maßstabe in kaum begreiflicher Weise mit sprachlichen Singularitäten überlastet ist. Wer selbst die Werkstücke zusammengetragen hat, dem kann man nicht verdenken, daß sie ihm wert sind; aber die Schule mußte hier mitleidlos aussondern. Ihr kamen die ordnenden Gedanken zugute. Bisher hatte die Tradition der ältesten Grammatiken vorgehalten, die von den byzantinischen Gelehrten für den Unterricht entworfen waren, den sie in Italien zuerst an Ausländer zu geben hatten. Für sie wieder lag eine reiche Tradition vor, hauptsächlich aus frühbyzantinischer Zeit, als man die Kunstsprache, die man in der Literatur einzig anwandte, mit saurer Mühe lernen mußte. Die Grundbücher waren Kompilationen der Kaiserzeit, die auch schon eine längst überwundene

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Sprache lehrten, u n d erst durch sie die wirkliche alexandrinische Wissenschaft. Mit dieser byzantinischen Doktrin war d a n n die Theorie der lateinischen Sprache verbunden worden, die in ähnlicher Weise auf das Altertum, schließlich auf dieselben griechischen G r a m m a t i k e r zurückging. Sie lieferte die Ubersetzungen der Terminologie; wo diese versagte, t r a t e n die griechischen K u n s t w ö r t e r ein: so k o m m t es, d a ß sich die Tertianer noch heute an W ö r t e r n wie Properispomenon, N y ephelkystikon die Zunge zerbrechen; der geschichtlichen Berechtigung entspricht freilich durchaus keine sachliche. B u t t m a n n ging n u n auf die grammatische Literatur der Byzantiner zurück, so viel er k o n n t e , über sie hinaus, u n d f a n d bei bedeutenden Gelehrten des Altertums so 165 Wichtiges wie die einsilbigen Verbalwurzeln. Es unterliegt k a u m einem Zweifel, d a ß unsere Schulgrammatik auch allmählich in die B a h n e n der antiken guten Theorie eingelenkt haben würde, die in der Wissenschaft Lobeck beschritt, wenn nicht die Sprachwissenschaft ganz neue Wege gewiesen h ä t t e . Sie h a t freilich auf die Schule erst spät u n d verhältnismäßig schwach gewirkt. G. Curtius ging in seiner Schulgrammatik alles andere eher als umstürzlerisch vor, aber er traf auf einen zähen Widerstand 1 ), der heute prinzipiell aufgegeben ist. Die Tradition, die in der spätgriechischen G r a m m a t i k so oft als entscheidendes Moment angerufen wird, b e h a u p t e t indessen auch heute noch sehr viel weiter die Herrschaft, als ihren Verfechtern selber bewußt ist. F ü r die S y n t a x t r a t G. H e r m a n n mit seinem Buche De emendanda ratione grammaticae Graecae als Reformator a u f ; was darin zu der Akzentlehre u n d einigen Stücken der Formenlehre steht, ist wieder stark von den Byzantinern beeinflußt. H e r m a n n e n t b e h r t e n o c h fast ganz des geschichtlichen Sinnes; alles war i h m b e w u ß t u n d rationell; immer operierte er mit logischen Distinktionen, obwohl er m i t Vorliebe die Anomalie v e r t r a t . Ergänzend k a m e n von E n g l a n d , dessen Philologen die exakteste Sprachkenntnis besaßen, höchst präzise u n d meist auch richtige Regeln, die den Unterschied des echten Attisch von der übrigen Gräzität feststellten. Das war der Anfang zu einer Geschichte der Sprache, an der seitdem die Observation von Unzähligen arbeitet u n d arbeiten wird. Gemeint war es zunächst als Mittel der Textkritik. Man n a h m es aber als die Konstatierung des Richtigen u n d ergab sich In Preußen ist 1862 sehr zögernd einer Anstalt die Einführung dieser Grammatik gestattet worden. Wiese, Verordn. (1875) 80.

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damit dem Attizismus der Kaiserzeit. So sollte denn die Schule dieses klassische Griechisch, das Analogon zum Ciceronianismus, vor allen Dingen lehren. E s hielt zwar schwer, die griechische Freiheit unter das Joch zu zwängen, zumal in der Satzlehre. Ein Glück, daß Herodot und Piaton klassisch waren; sie hätten sonst bei der Zensur nach diesem Maßstabe übel bestanden. Denn man suchte jene logische Strenge des Gedankenausdruckes, die man in den rhetorisch stilisierten Schriften der römischen Klassiker fand, und man zwängte dem Griechischen wohl oder übel eine solche S y n t a x auf, selbst eine consecutio temporum. In Deutschland eroberte K . W . Krüger mit seiner Grammatik die Schule, und N. Madvig, einer der größten Philologen des Jahrhunderts, hat in seiner bedeutenden und einflußreichen griechischen S y n t a x den Stoff so durchgedacht, daß er immer fragte, wie weit entspricht das korrekte Attisch den für die lateinische Grammatik aufgebrachten logischen Kategorien, Final-, Bedingungs-, Konsekutivsatz, u. dgl. m. Das logisch Korrekte und Vollständige schien dieser Sprachbetrachtung das Frühere zu sein (mindestens das TIQOTEQOV (pvaei, aristotelisch zu reden), und so erschien die lebendige, aus der Empfindung und Stimmung herausquellende Rede unvollkommen, ward mit Hilfe von Anakoluthien und Ellipsen auf das Korrekte zurückgeführt; die figura der antiken Grammatik erhielt direkt oder indirekt eine wichtige Rolle. So bekam man freilich ein Griechisch, das sich gut lernen ließ, weil es so fest w a r ; nur war es in Wahrheit eine Fiktion. Ganz wie man in der Formenlehre das exklusive Attisch zu Grunde legte, so daß die Verba contracta der Schrecken des Tertianers wurden und der Sekundaner die ohne weiteres durchsichtigen ionischen Formen später als deren Nebenformen lernen mußte. Es war begreiflich, daß die Übung im schriftlichen Gebrauche dieser Sprache nun zu größter Wichtigkeit gedieh und im Abiturientenexamen oft den Ausschlag gab. Eigentlich hätte man zur Forderung stilistischer Korrektheit schreiten müssen, wie das der Minister Altenstein auch wirklich zu tadeln Veranlassung fand. In der Erklärung des Schriftstellers ward das Wichtigste, inwieweit seine Sprache diese Korrektheit zeigte. Wenn man die Anmerkungen Krügers zum Thukydides ansieht, so macht es den Eindruck, als ob der Historiker nur dem Schüler Gelegenheit geben sollte, sich über seine sprachlichen Wagnisse und Sünden zu informieren; Singularitäten aller A r t werden verzeichnet, auch wohl von dem kenntnis- und erfindungsreichen Kritiker durch Konjektur entfernt. D a ß ein Nach-

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ahmer der alten Sprache wie Arrian schlecht bestand, war natürlich; der Purismus hat ihn am Ende ganz aus der Schule verwiesen. Daß Xenophon schlechtes Attisch schrieb, mochte man nicht hören; ob der Schüler von Alexanders Welteroberung oder von den Raubzügen Xenophons in Diensten eines Thrakerhäuptlings etwas läse, verschlug für diese formal-ästhetische Betrachtung nichts. Es ist unleugbar, daß dieser Unterricht für Philologen eine sehr gute Vorbildung war; er verlieh die Sprachkenntnis, die sich durch Ausbreitung der Lektüre leicht von ihrer Einseitigkeit erhob; die Fähigkeit, Griechisch zu lesen, verblieb wohl auch vielen, die nicht mehr fortarbeiteten. Es ist ebenso sicher, daß die formal erziehende Wirkung des Lateinischen dabei bedeutend gesteigert ward. Aber ebenso unzweifelhaft ist, daß damit der geistige Gehalt der griechischen Werke vernachlässigt ward, das Griechisch-Schreiben aus dem Mittel ein Zweck geworden war, und daß die berechtigte Kritik hervortreten mußte: wenn das Griechische auch nur wesentlich formale Bildung gibt, so ist es neben dem Lateinischen überflüssig. Endlich aber, und das trifft die wissenschaftliche Berechtigung, ist diese Behandlung der Sprache im Grunde verkehrt, weil sie das als absolut gültig annimmt, was das Ergebnis einer langen Entwicklung und kunstmäßigen Schulung ist. Dabei ist vergessen, daß die alte lebendige Rede, wie sie unmittelbar aus dem Herzen kommt, nicht ein logisches, sondern ein psychologisches Verständnis verlangt, daß auch die Kunst Piatons gesprochene Rede gibt und die grammatische Schablone für sie so wenig zutrifft, wie die Sprache aus Buchstaben statt Lauten besteht oder der Akzent Wortakzent statt Satzakzent ist. Wie das Griechische in der Laut- und Flexionslehre innerhalb der indogermanischen Sprachen die erste Stelle erhalten hat, so muß an ihm der Fortschritt von der gesprochenen, sozusagen improvisierten Rede zu der schulmäßig stilisierten vor allem dargelegt werden. Und dies ist auch dem Schüler sowohl verständlich wie allgemein, auch für die Muttersprache, belehrend. Nicht möglichst parallel, sondern möglichst gegensätzlich zum Latein muß die griechische Syntax gehalten werden. Was denn freilich minder durch Regeln als durch die richtige Erklärung der unverkünstelten Rede geschieht. Jene Übertreibung der grammatischen Schulung ist vorüber. Das griechische Scriptum ist aus dem Abiturientenexamen verbannt, und man hatte es im Unterrichte überhaupt so stark zurückgedrängt, daß

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die l e t z t e n L e h r p l ä n e wieder eine E r w e i t e r u n g v o r g e n o m m e n L a b e n , die j e d o c h n u r z u r A u f f r i s c h u n g des e l e m e n t a r e n g r a m m a t i k a l i s c h e n Wissens dienen soll u n d hoffentlich n i c h t zu e i n e m R ü c k f a l l e in die alte Weise f ü h r t . Die Schule h a t sehr r e c h t g e t a n , u m die K l a g e n sich n i c h t zu k ü m m e r n , die der U n i v e r s i t ä t s l e h r e r freilich n i c h t u n t e r d r ü c k e n k a n n , w e n n er sich n u n genötigt sieht, stilistische Ü b u n g e n zu h a l t e n . Freilich h a t der E r s a t z , d e n eine Ü b e r s e t z u n g a u s d e m Griechischen b i e t e n soll, a u c h eine sehr große G e f a h r . Die Ü b e r s e t z u n g d i e n t d e m V e r s t ä n d n i s s e der T e x t e n u r so lange, als sie f ü r dieses einen Beleg liefert. W e n n sie b e g i n n t , k ü n s t l e r i s c h a d ä q u a t e W i r k u n g a n z u s t r e b e n , so t r e i b t sie etwas» das m i t d e m Griechischen n i c h t s m e h r zu t u n h a t , so viel A n r e g u n g u n d B e l e h r u n g geistreiche L e h r e r d a d u r c h g e w ä h r e n m ö g e n . D e r Schüler, der b e g r e i f t , w e s h a l b sich dies u n d das n i c h t ü b e r s e t z e n l ä ß t , h a t m e h r g e l e r n t , als w e n n er sich die G e w a n d t h e i t a n e i g n e t , in leidlichem D e u t s c h d e n u n g e f ä h r e n Sinn zu treffen. Die Ü b e r t r e i b u n g des G r a m m a t i s c h e n ist seit z w a n z i g J a h r e n abges t e l l t ; die Schule v e r d i e n t diesen V o r w u r f w a h r h a f t i g n i c h t m e h r . A u c h die gelehrten A u s g a b e n sind aus d e n H ä n d e n der Schüler v e r s c h w u n d e n , n i c h t n u r weil die P ä d a g o g i k in der Klasse n u r die n a c k t e n T e x t e w ü n s c h t , s o n d e r n aus der richtigen E r k e n n t n i s , d a ß die Gelehrs a m k e i t n u r die L e h r e r a n g e h t . E s ist also i n der O r d n u n g , d a ß in steigender Fülle A u s g a b e n erschienen sind, die n u r das B e d ü r f n i s d e r Schule ins A u g e fassen, also prinzipiell auf F ö r d e r u n g d e r Wissens c h a f t v e r z i c h t e n . T a t s ä c h l i c h t u n sie das d o c h n i c h t ganz, soweit sie v o n wirklich wissenschaftlich B e r u f e n e n a u s g e h e n . E s f e h l t allerdings a u c h n i c h t a n solchen, die sich d a r a u f e t w a s z u g u t e t u n , u n w i s s e n schaftlich zu sein, oder a u c h d e n Schülern a u t o r i t a t i v P r i v a t m e i n u n g e n ihrer Verfasser v o r s e t z e n , die v o n der W i s s e n s c h a f t a b g e l e h n t sind. T y p o g r a p h i s c h e Vorzüge sind gewiß n i c h t zu v e r a c h t e n ; a b e r d a ß sie f ü r die W a h l eines S o p h o k l e s t e x t e s d e n A u s s c h l a g geben, ist k a u m ein F o r t s c h r i t t gegen die Zeiten Neues. E s ist a u c h eine L i t e r a t u r e r w a c h sen, die d e m Schüler die M ü h e des P r ä p a r i e r e n s a b n i m m t ; allerdings n i c h t o h n e b e t r ä c h t l i c h e n W i d e r s p r u c h . Diese konzessionierten Eselsb r ü c k e n h a b e n n u r d e n V o r z u g , d a ß d a n n der Schüler keine Ü b e r s e t z u n g b r a u c h t , d e r e n A n w e n d u n g die Schule zu v e r h i n d e r n a u ß e r s t a n d e ist, solange die Moral der E r w a c h s e n e n d e n B e t r u g des L e h r e r s als Schülerrecht b e t r a c h t e t . Vielleicht ist es eine ganz g u t e Vorberei-

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t u n g auf das Leben, daß der deutsche Knabe nur ehrlich bleiben kann, wenn er den moralischen Mut besitzt, gegen den Strom zu schwimmen. Auch Lesebuch und Grammatik h a t sich die Schule ganz ausschließlich f ü r ihre Bedürfnisse selbst gemacht. Einst h a t t e Fr. Jacobs, nach ihm J o h . Classen, f ü r den Anfangsunterricht aus den alten Schriftstellern ein reiches Lesebuch zusammengestellt, das von einzelnen 168 Sätzchen rasch zu Fabeln und Anekdoten, Naturgeschichte u n d Länder- und Völkerkunde fortschritt. Das ist abgeschafft. Mit echt griechischem Materiale ließ sich der Sprachstoff nicht in der Reihenfolge und Auswahl darbieten, wie er dem Lehrplane der Grammatik entsprach. Man h a t also künstliche Lesestücke verfertigt, deren Inhalt sich auf Sage und Geschichte beschränkt, so daß der Wortschatz sich leicht in der Enge halten läßt, die das Gedächtnis nicht mehr beschwert, als die Pädagogik zur Zeit f ü r angemessen hält. Die Grammatik ist darauf bedacht, nur ja nicht zu viel zu lehren. I m vollen Gegensatze zu der v o n den Byzantinern überkommenen Weise, die an dem schrecklichen Yerbum tutttco alle Formen vorführte, die die Sprache h ä t t e bilden können, werden nicht nur löblicherweise mit scharfer Genauigkeit die fiktiven und irrigen ausgemerzt, sondern auch darauf geachtet, was in den Schulschriftstellern nicht vorkommt. Wenn dieser Begriff einen festen Inhalt h a t , und wenn zugestanden ist, daß Griechisch nur für die Schule gelernt wird, so kann m a n diesen S t a n d p u n k t k a u m beanstanden. Von ihm aus ist auch in den Schulwörterbüchern der Sprachschatz verzeichnet; dabei sind sie immer dünner und billiger geworden; allerdings sind sie auch einfestes Bollwerk gegen die Privatlektüre. Aber die Vereinfachung geht weiter. Man h a t nicht selten den Dual bei der Einprägung von Deklination und Konjugation fallen lassen, weil er zu Xenophons Zeiten in Athen im Aussterben war, in lonien ausgestorben ; er m u ß sich dann bei der Lektüre Homers gelegentlich vorstellen, dessen ganze Formenfülle nicht mehr systematisch gelehrt wird, das Ionische Herodots natürlich noch weniger. So ist gewiß erreicht worden, daß die Grammatik weder bei der systematischen Erlernung noch bei der Lektüre überwuchert. Dabei kann freilich dem genetischen und dem historischen Prinzip, die sich in der Sprachwissenschaft durchdringen, wenig Rechnung getragen werden. Ebensowenig haben die Bestrebungen auf das Griechische nennenswert gewirkt, die den Unterricht in den modernen Sprachen gänzlich umgestaltet haben, indem gleich von dem gesprochenen Satze ausgegangen ward. Hier be-

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ginnen die Buchstaben ganz wie in Byzanz, und dann kommen noch ausschließlicher byzantinisch die Regeln über die prosodischen Zeichen, sogar unbeschadet dessen, daß sie zum guten Teile widersinnig sind. Schwerlich versöhnen den Tertianer die Freiübungen, die er vielfach machen darf, wenn er die Akzente beim Vokabelaufsagen in die Luft malt; aber er hat den Trost, daß er sie als Primaner vergessen haben darf. Hier wird eine starke Entlastung eintreten, sobald die Einsicht Verbreitung gefunden hat, daß die Lesezeichen als solche vortreffliche Dienste tun, daß aber sie setzen zu können nur von dem verlangt werden darf, der einen Text in antiker Buchschrift, ohne Akzente und Wortabteilung, lesen können muß. Das ist nicht der Schüler, sondern der Lehrer. Es wird gewiß richtig sein, daß die Not zu dieser auf das Dürftigste beschränkten attischen Sprachlehre geführt hat. Aber es ist auch nicht zu bestreiten, daß damit der spezifische Bildungswert, den die Durchsichtigkeit ihrer Formen und ihres Satzbaues der griechischen Grammatik verleiht, ziemlich preisgegeben wird. Das würde sich anders stellen, wenn die geschichtliche Entwicklung eingehalten würde, also 169 mit Homer der Anfang gemacht. Es ist bezeichnend, daß der erste Philologe, der sich der sprachvergleichenden Methode bemächtigt hatte, H. L. Ahrens, diesen Weg eingeschlagen hat. Er hatte im Königreich Hannover als Gymnasialdirektor der Hauptstadt und als Gelehrter Einfluß genug, so daß seine auf dieses Prinzip gebaute Grammatik zur Einführung kam. Das ist nach kurzer Zeit durch die Annexion Hannovers abgestellt worden; aber es lebt in dankbarer Erinnerung mancher Schüler, und die widerstrebenden Urteile werden mindestens zum Teil durch die Unbequemlichkeiten erklärt, die der Übergang auf Anstalten mit anderem Lehrplane hervorrufen mußte. Daß die Grammatik von Ahrens viel Stoff enthält, der heute ausgesondert werden würde, liegt in den Zeitverhältnissen. Ohne Frage könnte der Anfang mit Homer nicht ohne eine durchgreifende Änderung der ganzen Grammatik und der Methode ihrer Einprägung gemacht werden, aber das dürfte die pädagogische Regsamkeit und Erfindungsgabe schon überwinden. Vom höchsten Werte wäre schon das, daß keine Zeit an die Lektüre von gemachtem Griechisch verloren würde. Dagegen ist der Einwand wohl triftig, daß zu einer mehr geschichtlichen Betrachtung der Sprache der Tertianer noch nicht reif ist. Daher kommt man gerade von dieser Seite auf den Versuch, durch eine andere Verteilung 8

W i l a m o w i t z , Kleine Schriften V I

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des Lernstoffes den griechischen Unterricht um zwei J a h r e hinauszuschieben und das durch intensiveren Betrieb in den letzten vier Jahren zu kompensieren. Dies geschieht auf dem Gymnasium nach dem s. g. Frankfurter Aufbau, das freilich nur vier mal acht Stunden statt sechs mal sechs hat. Die Ergebnisse dieser neuen Form sind noch nicht sicher zu übersehen; allein es liegt auf der Hand, daß über das Griechische nicht abgeurteilt ist, wenn man auch leugnet, daß das Französische geeignet wäre, an Stelle des Lateinischen die formale Schulung zu übernehmen, die der grammatische Unterricht verleiht. Wer sich davon überzeugt hat, daß der Gehalt der griechischen Bücher es ist, um dessentwillen man sie lesen soll, wird damit sehr einverstanden sein, daß sie in einem möglichst urteilsfähigen Alter gelesen werden. Und wer den Wert der griechischen Sprache darin sieht, daß sie Einblick in Sprachbildung und Sprachgeschichte gewährt, der wird sie erst recht in die höheren Klassen gerückt wünschen, den grammatischen Unterricht aber auch um seiner selbst willen getrieben, also neben der Lektüre. Beides ist nur möglich, wenn mit Homer begonnen wird. Ob sich das durchführen läßt, ist Frage der Schultechnik; aber der Frankfurter Lehrplan wird erst mit dieser Änderung seine volle Frucht tragen. Während die Vereinfachung und Einschränkung im allgemeinen sonst überall angestrebt worden ist, hat man mehr noch in der theoretischen Forderung als in der Praxis nach einer Seite eine Erweiterung des griechischen Unterrichts angestrebt. E s kann unberechtigt erscheinen, daß die Schule in die griechische Kunst nicht einführt, die doch ganz ebenso hervorragend ist wie die griechische Poesie, j a noch viel mehr als absolut kanonisch angesehen worden ist. Indessen müßte dann das Deutsche ebensogut von Dürer und Holbein handeln, um so 170 mehr, als der Klassizismus in der Kunst gründlich überwunden ist. Aber überhaupt soll man Kunstverständnis nicht durch fremde Worte, sondern durch eigne Augen gewinnen. Gewiß wird es sehr schön sein, wenn den Schülern Gelegenheit gegönnt ist, wirklich große Kunstwerke zu sehen, und Lehrer da sind, die ihnen beim Sehen behilflich sind; das Auge zu bilden ist der Zeichenunterrricht da. Gern mögen wir die Schulzimmer mit einigen wirklich schönen Abbildungen schmücken, wie deren z . B . das Archäologische Institut geliefert hat, neben denen Ansichten griechischer Landschaften gleiche Belehrung gewähren können. Sie sollten in einem so hübschen Atlas mit Abbildungen zur

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Alten Geschichte nicht fehlen, wie ihn z. B. Luckenbach mit Unterstützung mehrerer Badischer Ministerien und Behörden mehrfach herausgegeben hat; allerdings drängt sich in ihm Kunstgeschichte viel mehr als angemessen vor. Dagegen kümmerliche Abbildungen, wie sie zur Illustration von Homer und Ovid (die deren gar nicht bedürfen) auf den Markt gebracht sind, können höchstens schaden. Am meisten wird die Schule dem Kunstverständnis Vorschub leisten, wenn sie aufhört, die überwundene Kunsttheorie Lessings zu kanonisieren. Etwas ganz anderes ist es, daß die monumentale Überlieferung des Altertums ganz ungeheuer gewachsen ist und noch wächst, so daß wir unser Bild von den Zuständlichkeiten des antiken Lebens vorwiegend aus ihr entnehmen. Daraus folgt freilich, daß der Lehrer unbedingt archäologische Studien gemacht haben muß, damit er nicht nur mit diesem Teile der Uberlieferung wirtschaften kann, sondern auch ein sinnlich anschauliches Bild vom Altertum in der Seele trägt (was mindestens ebenso von dem Lehrer gilt, der Alte Geschichte vorträgt); dazu ist eigentlich ein Aufenthalt im Süden außer den Universitätsstudien notwendig, da die Natur ein noch viel wichtigerer Hintergrund des Lebens ist als die Gebäude, geschweige das antiquarische Detail. Es ist ziemlich einerlei, ob Lehrer und Schüler den Becher Nestors nach dem Schliemannischen Exemplare richtig kennen, aber wie Homer das purpurne Meer, die Morgenröte und die schnelle Nacht beschreibt, das wird den deutschen Knaben erst lebendig machen, wer die Wahrheit Homers von der ewigen Natur bestätigt gesehen hat. Wie mit seiner Erfahrung, so wird er dann mit geeignetem Anschauungsmateriale gelegentlich den Unterricht beleben; aber die Archäologie selber gehört so viel und so wenig auf die Schule als die Philologie. So ist denn der Betrieb des Unterrichtes in den letzten Jahrzehnten durchgreifend geändert worden. Das hängt damit zusammen, daß die Pädagogik selbst ein theoretisches Lehrfach geworden ist, das für den angehenden Lehrer als Ergänzung seiner wissenschaftlichen Ausbildung hinzutritt, während er früher auf eigene Begabung und Erfahrung, auf Beispiel und Rat der älteren Genossen angewiesen war. Die Erreichung des Lehrzieles soll durch die bewußte Kunst des Unterrichts gesichert werden. Darauf ist eine sehr starke Energie der Arbeit verwandt worden, und es sind nicht nur Mißbräuche abgestellt, sondern namentlich in der Gleichartigkeit der Leistungen ohne Frage Erfolge erreicht worden. Allein die Leistungen selber sind keineswegs 8*

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171 erhöht; die Klagen der Universitätslehrer gehen nicht nur dahin, daß das positive, namentlich grammatische Wissen stark abgenommen hat, sondern daß die Fähigkeit der jungen Leute, ein griechisches Buch zu lesen, kaum noch vorhanden ist. Daher konnte nicht nur von vielen, die es angeblich gelernt hatten, sondern von der Regierung selbst gefragt werden, ob das Griechische beibehalten zu werden verdiente. Wenn es auf der Schulkonferenz ein glänzendes Vertrauensvotum erhielt, so ist das geschehen, weil es in einem neuen Sinne verteidigt ward. Die Schule wollte immer noch das Griechische in demselben Sinne lehren wie vor hundert Jahren und immer noch dasselbe Griechentum zeigen. Aber der Gegenwart genügen weder die Ideale des KünstlerischSchönen jener Zeit: die Nachahmung der Griechen hat sich als ein falscher Weg herausgestellt; noch ihre Ideale vom Sittlich-Schönen: die Gesellschaft gestattet dem einzelnen den humanen Individualismus nicht mehr. Und jenes Griechentum in seiner olympischen Vollkommenheit ist ebenso dahin wie in seiner Einheit. Die geschichtliche Wissenschaft hat es zerstört, indem sie die Griechen wirklich erst verstehen lehrte. Statt der Einheit hat sie eine kontinuierliche Entwicklung gezeigt, und wenn die Bewunderung des Epos, der Tragödie und der Philosophie der Griechen auch nur wächst, je besser sie verstanden werden, so sind sie doch griechisch, gebunden, wie alles Menschenwerk, an R a u m und Zeit. Aber das geschichtliche Griechentum ist die Grundlage unserer Kultur auf allen Gebieten; erst sein Verständnis gewährt die Möglichkeit, unsere Kultur genetisch zu begreifen. Selbst an den großen Kunstwerken, die j a unmittelbar wirken, ist es doch erst die geschichtliche Macht, die sie durch die Jahrtausende geübt haben, was ihnen ihren Platz in der Jugendbildung sichert. Wenn ein Gedicht von dem absoluten Werte der Ilias heut in irgendeinem Winkel der Erde entdeckt würde, so könnte es, wie ein geistreicher Mann, Karl Hillebrand, fein gesagt hat, die Bedeutung Homers niemals erringen. In diesem Sinne wird das Gymnasium das Griechische lehren, oder es wird es nicht lehren. Man hört freilich sagen, daß man seiner bedürfte, weil es zum Verständnis unserer eignen Klassiker nötig wäre. Gewiß, dazu braucht man die Vorstellung von der Antike, die Schiller und Goethe hatten; aber das Griechische ist überflüssig: sie haben es j a selbst nicht gekonnt. Man hört auch von angesehenen Schulmännern höchst selbstbewußte Äußerungen, daß nur der Gymnasiallehrer das eigentliche Verständnis Homers vermittelte, das dem Philologen durch die Home-

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rische Frage verdunkelt würde, oder gar daß die allgemeinere Bildung des Lehrers, der diverse Fakultäten besitzt, dem Spezialistentum überlegen wäre, das seine Lebensarbeit auf die wissenschaftliche Erforschung der Griechen verwendet. Aber damit ist j a nichts anderes bewiesen, als daß die Gefahr dringend ist, die Schule wolle ein anderes lehren, als was vor der Wissenschaft besteht, das heißt vor der Wahrheit. Vollends Humanität: wenn das edle Menschenbildung bedeuten soll, so soll und wird diese hoffentlich auch auf den Schulen verliehen, die kein Griechisch lehren. Unsere Frauen haben doch wohl auch teil an ihr. Wenn es das Lebensideal des Klassizismus sein soll, so weiß der Philologe genau, daß Humanität gerade etwas so sehr Ungriechisches 172 ist, daß die Sprache nicht einmal ein Wort dafür hat. Die Griechen sollen und können wahrhaftig auch sittlich wirken; wie tief Piatons Gorgias packt, davon wissen Gymnasiallehrer Ergreifendes zu berichten, die ihn zu beleben verstehen. Aber was er weckt, ist Mannestugend, apETT); das Menschliche ist den Griechen das Sterbliche: darum weisen sie dem Menschen den Weg nicht zum Menschen, sondern zu Gott. Wer weder weiß noch seine Schüler lehrt, was Piaton und Aristoteles als Ziel des menschlichen Strebens aufgestellt haben, der hat weder über die Griechen mitzureden, noch verdient er, Griechisch in Prima zu unterrichten. Die gewaltige wissenschaftliche Arbeit, die in dem letzten Jahrhundert, nicht zum kleinsten Teile an den Schulen, auf die Erkenntnis des Hellenentums verwandt ist, soll doch auch der Schule zugute kommen. E s ist nicht schön, wenn das Zirkular von 1828 Xenophon neben Homer rangiert, aber es ist verzeihlich; Goethe würde so nicht geurteilt haben, aber Wieland. E s ist eine wenig schmeichelhafte Parallele zu den Verirrungen des 18. Jahrhunderts in der Wahl der Lektüre, wenn von dem beschränkten Anempfinder, den Piaton und Aristoteles nicht einmal einer Ablehnung wertgehalten haben, so viel mehr gelesen worden ist als von denen, die er nachzuahmen versuchte; aber die Wissenschaft hat erst allmählich das echte Gold vom Katzengold zu scheiden gelernt. Wenn nun trotz ihr die Schule sagen wollte, bei uns kursiert das Katzengold weiter als vollwertig, so würde sie sich ihr Urteil selber sprechen. Genug mit dem einen Beispiel. E s ist nicht erforderlich, bei Dingen zu verweilen, bei denen Gefahr ist, daß der Blick von dem Wesentlichen auf Unbedeutendes und Unwürdiges abgelenkt werde, das sich selber vordrängt oder zufällig nahe liegt.

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III. Nichts kann helleres Licht auf die allerdings kritische L a g e 'werfen, in der sich der griechische Unterrricht befindet, als ein geschichtlicher Rückblick auf die Geltung, die das Griechentum seit der Renaissance bei den Völkern gehabt hat, die für die moderne Kultur bestimmend gewesen sind 1 ). Dabei handelt es sich nicht um den Jugendunterricht: ihn hat der S t a a t erst im letzten Jahrhundert zentralisiert und monopolisiert. Um die großen geistigen Strömungen handelt es sich, die am letzten Ende auch für den Staat bestimmend sind. Die erste große Flutwelle des Hellenismus hat kräftig nur bis in die Südwestecke Deutschlands herübergeschlagen; in den Norden und Osten kamen k a u m ihre letzten Kreise. Die religiöse Bewegung, die eben von hier ausging, hat dann rasch dem deutschen Leben eine andere Richtung gegeben. Die Verwahrlosung der äußeren Form und der Mangel an jeder inneren Form, der Schmutz des Grobianismus und bald darauf die Verödung der Literatur kontrastieren dementsprechend mit dem Aufschwünge der Länder, die griechische Bildung aufnahmen. Die Gesellschaft war freilich überhaupt noch nicht dazu reif. Wie sollte man einer deutschen Fürstin, etwa Anna von Cleve, die Holbein j a 173 gemalt hat, zutrauen, daß sie sich auf dem Todeswege an Piaton tröstete wie J a n e Grey. Nach England kam zunächst das Griechentum durch italienische und französische Vermittlung; aber es ward doch eine Voraussetzung der elisabethischen Kultur, und weder die puritanische Revolution noch die Gallomanie der Restauration haben den gesunden und geraden Weg verrücken können. E s hat in England keine Gräkomanie gegeben wie bei uns, allein das Griechische ist immer eine anerkannte Macht gewesen, immer hat sich auch in der höchsten Gesellschaft nicht bloß Achtung, sondern Verständnis dafür gehalten. Nicht als Analogie, sondern als Kontrast ist England für uns belehrend. Dagegen Frankreich ergibt sich seit Franz I. mit Leidenschaft dem humanistischen Wesen und erfaßt das Griechentum mit wahrhafter Kongenialität, wie Deutschland um 1800. In Rabelais steckt trotz aller Bildung und Eleganz noch ein gut Teil Grobianismus: unter der griechischen Zucht gewinnt die französische Sprache und Poesie l) [Vgl.

unten

S.

144ff.]

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und Prosa Form, Maß und Stil. In Politik und Kultur erringt die Nation den verdienten Primat in Europa. Auch in der Zeit Ludwigs X I V . ist die Kenntnis des Griechischen weit über die Kreise der Fachgelehrten verbreitet. Racine und Fénélon haben mehr von der Sprache gekannt als Goethe, Boileau nicht weniger als Lessing. Und in der höfischen Gesellschaft hat mancher Kavalier und Abbé mehr wirkliches Gefühl für griechische Philosophie und Kunst besessen als die von Molière gezeichneten Pedanten der Gelehrsamkeit. Das Frankreich des X V I . Jahrhunderts hat ja auch den Ruhm, die griechische Philologie in Wahrheit erst erzeugt zu haben, und zwar mit so weitem und tiefem Blicke, wie sie erst um 1800 wieder aufgenommen ist. Das war in den Zeiten, da es sich darum handelte, ob Frankreich calvinistisch werden sollte. Der Sieg des Katholizismus trieb die großen Philologen aus ihrem Vaterlande, Henri Estienne nach Genf, Isaak Casaubonus nach Oxford, Joseph Scaliger nach Leyden. Das war verhängnisvoll. Die Wissenschaft hörte auf, die Griechen von immer neuer Seite und immer wahrer und klarer zu zeigen. Zunächst wandten sich freilich die griechischen Studien Frankreichs nur einem anderen Gebiete zu: was namentlich der Benediktinerorden, aber auch Jesuiten für die griechischen Denkmale der Kirche geleistet haben, findet erst im 20. Jahrhundert hoffentlich seine rechte Fortsetzung; aber das ging die Hellenen nichts mehr an. An Ausschreitungen der Gräkomanie hat es gewiß nicht gefehlt; der berechtigte Stolz mußte die eignen künstlerischen Leistungen den Vorbildern gleichsetzen; die Naturwissenschaften, insbesondere die im 17. Jahrhundert dominierende Mathematik, mußten die Autorität der antiken Tradition, die sie so weit überflügelten, notwendig brechen. Die Reaktion war unvermeidlich, die sich in dem Streite um den Vorzug der Antiken oder Modernen am Ende des 17. Jahrhunderts ausspricht, der in seinen Folgen bis tief in das folgende Jahrhundert hineinreicht. Der Abbé Perrault hat durch seine Angriffe auf Homer einen Platz bei Zoilus und Thersites erhalten; aber wenn man sieht, daß zu den Modernen P. Bayle hält, in den Reihen der andern Partei der kümmerliche Blaustrumpf Anna Dacier eine Führerrolle hat, so kann man sich nicht verhehlen, daß die Antike ausgespielt hatte, um die man damals stritt. Der größte Philologe derZeit 174 (nun schon ein Engländer, freilich an geschichtlichem Weitblick und organisatorischer Kraft mit Scaliger nicht zu vergleichen), Richard Bentley, hat ja zu seinem berühmtesten Werke die Anregung durch

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P o l e m i k gegen einen V o r f e c h t e r der A l t e n , Sir W . T e m p l e , e r h a l t e n . W a s er leistete, w a r zweierlei: E r s t e n s eine historische R i c h t i g s t e l l u n g ; u n d der Mangel a n geschichtlichem Sinne w a r es j a , der die ganze A u f f a s s u n g f ü r u n s u n a n n e h m b a r m a c h t , die m a n in der B a r o c k z e i t v o n d e n Griechen h a t t e . Zweitens a b e r schreibt er ü b e r den g e l e h r t e n philologischen G e g e n s t a n d in klassischem E n g l i s c h ; die k ü n s t l i c h e Gel e h r t e n s p r a c h e , einerlei ob M ö n c h s l a t e i n oder Ciceronianismus, g e n ü g t f ü r die lebendige W i s s e n s c h a f t so wenig, wie sie m i t d e m wirklichen H e l l e n e n t u m e irgend e t w a s zu t u n h a t . So k ü n d i g t sich in B e n t l e y eine n e u e Philologie u n d eine n e u e p o p u l ä r e M a c h t des G r i e c h e n t u m s a n . I n E n g l a n d gehen die S p r a c h s t u d i e n d a n n n i c h t schnell, a b e r stetig v o r w ä r t s u n d d r i n g e n z u e r s t n a c h H o l l a n d , d a n n weiter auf d e n K o n t i n e n t . A b e r in F r a n k r e i c h k o n n t e n die Zeitgenossen j e n e s Streites u n möglich zwischen der w a h r e n A n t i k e u n d der h e r r s c h e n d e n Vorstellung v o n ihrer a u t o r i t a t i v e n geschlossenen E i n h e i t u n t e r s c h e i d e n . D a s G r i e c h e n t u m s c h e i n t v e r l o r e n ; n u r die P e d a n t e n g l a u b e n d a r a n . Die E n c y c l o p é d i e s t e h t i h m innerlich ganz f e r n . E i n e Philologie b e s t e h t in F r a n k r e i c h so g u t wie gar n i c h t m e h r . D a s ist alles geschichtlich ganz b e g r e i f l i c h ; a b e r wir wissen a u c h , d a ß es eine Zeit des N i e d e r g a n g e s f ü r die N a t i o n w a r . D e r R e v o l u t i o n t r i e b m a n e n t g e g e n , die der Gesells c h a f t u n d d e m S t a a t e ganz n e u e G r u n d l a g e n u n d F o r m e n geben sollte. U n d gleichzeitig e r s t a n d u n t e r der F ü h r u n g D e u t s c h l a n d s ein neues K u l t u r - u n d Bildungsideal, u n d wie in der R e n a i s s a n c e s t a n d wieder d a s G r i e c h e n t u m in der v o r d e r s t e n Reihe der geistigen M ä c h t e , d u r c h die eine E r n e u e r u n g erreicht w a r d ; a b e r ein a n d e r e s Griechent u m . N i c h t d a s S t r e b e n n a c h einer feineren, reicheren F o r m des L e b e n s u n d der K u n s t , n i c h t ein D u r s t n a c h d e m F ü l l h o r n e des Wissens u n d K ö n n e n s h a t t e die S e h n s u c h t n a c h Hellas g e w e c k t , sond e r n d e r D u r s t n a c h r e i n e m , f r i s c h e m Quellwasser, der D r a n g n a c h der N a t u r u n d d e n p r i m i t i v e n , ewigen, t y p i s c h e n F o r m e n w a r b e s t i m m e n d . N i c h t Aristoteles, s o n d e r n H o m e r w a r der F ü h r e r . I n i h m sah m a n zugleich die reine N a t u r ( u n d gern z w a n g m a n ihn in die Volkspoesie hinein, die m a n e n t d e c k t e ) u n d die edle e i n f a c h e K u n s t , n a c h der m a n v e r l a n g t e . D e n n diese S e h n s u c h t w a r in die Seelen der N o r d l ä n d e r g e f a h r e n , d e n e n die K a h l h e i t i h r e r U m g e b u n g ebensowenig g e n ü g t e wie die i m p o r t i e r t e R o k o k o b u n t h e i t . Als sich das W u n d e r b e g a b , d a ß a u s der S t e n d a l e r S c h u s t e r h ü t t e der V e r k ü n d e r der G r i e c h e n s c h ö n h e i t h e r v o r g i n g , w i r k t e v i e l m e h r die O f f e n b a r u n g der a b s o l u t e n Schönheit

13. Der Unterricht im Griechischen (1902)

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denn das, w as wir bewundern, der erste Versuch einer Darstellung geschichtlicher Entwicklung. Wieder wie in der Renaissance suchte man ein Ideal menschlicher freier Persönlichkeit; man fand es bei den Griechen oder setzte vielmehr das eigne Ideal, das man Humanität nannte, mit dem Griechentume gleich. So ward dieses eine Autorität, der man sich beugte bis zur sklavischen Imitation. Sehr viel weiter als in der Kunst, von der wir den Namen gemeiniglich brauchen, regierte der Klassizismus. Grade in der Zeit seines Zusammenwirkens mit 175 Schiller hat ihn Goethe am entschiedensten vertreten; seine Propyläen sind dieser Propaganda gewidmet. Gleichzeitig treiben die Gebrüder Schlegel das Wesen, das Goethe trotz manches Spottes dennoch fördert. Und Fr. A. Wolf kann in dem Programm, das die Philologie als eine neue und große Wissenschaft einführt, die verletzendste Unterschätzung alles modernen Wesens aussprechen. In diesem Sinne tritt das Griechische in die Schule. Aber nicht die Anbetung der Griechen ruft das großartige geistige Leben hervor, sondern der historische und philosophische Sinn, den die Griechen freilich auch wecken helfen. Die Universität wird jetzt erst eine Stätte wissenschaftlicher Forschung, die Lehrer an den höheren Schulen werden durch wissenschaftliche Arbeit innerlich befreite, auf das Höhere gerichtete Männer. Weil sie selbst sich strebend bemühen, nicht fertige Formeln überliefern, erwecken sie das Streben der Jugend. Die Humanität dagegen hat schon durch die Knechtschaft und Befreiung eine starke Einschränkung erfahren. Dem wissenschaftlichen Fortschritte gesellt sich der Drang nach politischem Fortschritt. Auch in diesen Kämpfen ruft man sich Hilfe aus Hellas; aber das ist nicht mehr das ästhetische Griechentum Goethes. E s kommen viele auch ohne dasselbe aus, nicht bloß die Modernen, das junge Deutschland; auch Bismarck hat bekannt, daß er keine Förderung von seinem Schulgriechisch verspürt hat, und es ist nicht der gräzisierende Goethe, den er im Herzen trägt und der seinen Stil geadelt hat. Daneben spielen sich die wirtschaftlichen K ä m p f e ab, der industrielle Aufschwung, die Gründung des Wohlstandes der Nation. Für das Griechentum des Klassizismus ist das nur Banausentum; wer von Milet und Alexandreia wirklich etwas weiß, sieht hier bewundernd die Kräfte tätig, die auch in jenen Städten dem geistigen Aufschwünge die Stätte bereitet haben, deren Erlahmen auch dort den geistigen Verfall begleitet. Wahrlich, die Deutschen, die sich ihr Reich gegründet haben mit Blut und Eisen,

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13. Der Unterricht im Griechischen (1902)

die sich mächtig behaupten wollen im friedlichen Wettkampfe zu Wasser und zu Lande, können sich an dem Ideal von Bildung und Kultur nicht genügen lassen, das die Zustände des Baseler Friedens zur Voraussetzung hat. Wenn die Wertschätzung des Hellenentums am Klassizismus hinge, so wäre es gefallen und wären seine Tage als Unterrichtsgegenstand gezählt. Die Modernen würden den Sieg behalten, wie in Frankreich um 1700. Aber das moderne Leben, das den Klassizismus perhorresziert, bringt dem wirklichen Hellenentume allerorten Neigung und Verständnis entgegen, sobald es ihm so nahe gebracht wird, wie das die Wissenschaft eben kann. Denn die geschichtliche Forschung des neunzehnten Jahrhunderts hat alle möglichen Völker und Kulturen mit Liebe erforscht; sie ist emsig bei der Arbeit, die Genesis der großartigen menschlichen Kultur zu begreifen, welche sich den ganzen Erdball zu erobern anschickt. Dabei hat das Hellenentum nur gewonnen, sowohl durch die Vergleichung seiner Erzeugnisse wie durch die Verfolgung der gegenwärtig lebendigen Kräfte auf ihre Quellen. Diese Wissen176 schaft wird das Griechische immer aufrecht halten, und wahrhaft große Kunstwerke altern überhaupt nicht. Gesetzt, das Griechische verschwände aus dem Unterrichte der deutschen Schule, so würde eben ein anderes Volk sich eine Jugendbildung schaffen, die geschichtliches und philosophisches Begreifen der Weltkultur aus der Quelle schöpfen lehrte (Amerika ist längst auf dem rechten Wege): dieses würde dann aber auch die Früchte ernten. Doch so wird es nicht gehen. Es fehlt in Deutschland nicht, wie in Frankreich um 1700, an der Wissenschaft, die eine verlebte Vorstellung vom Altertume durch die richtige ersetzen könnte. Es fehlt nicht an Lehrern, die den Zusammenhang mit der Wissenschaft in steter Fortarbeit aufrechthalten und die pädagogische Kunst beherrschen, das frische Quellwasser der Schule zuzuführen. Wenn nur das Ziel erkannt und dem Streben auf das rechte Ziel die Bahn frei ist, so darf die Gegenwart ohne Beschämung auf die große Zeit zurückblicken, die nun ein Jahrhundert hinter ihr liegt, erst recht dankbar, weil sie sich durch jene Autorität nicht mehr gebunden fühlt. Dieses Ziel erkannt, diese Bahnen geöffnet zu haben, ist die Absicht der „Lehrpläne und Lehraufgaben von 1901."

14. Offener Brief an J. Bidez Vous avez souhaité de me voir ajouter quelques mots à l'exposé des idées qui nous sont communes sur le rôle des études grecques. Je ne puis m'y refuser, bien que partout ailleurs j'évite d'intervenir dans les débats provoqués par mon mémoire sur cette question [oben S. 90 ff.]. Il est à espérer que les comptes rendus sténographiques de la conférence scolaire prussienne seront imprimés et paraîtront sous peu: on verra mieux tout ce qu'elle a donné, et surtout l'importante décision qu'elle a prise de faire mettre sur le même pied tous les établissements d'instruction moyenne ayant un programme de neuf années d'études. Les universités auront le devoir de s'acquitter de leur tâche avec des étudiants auxquels manquera non seulement le grec, mais aussi le latin. Nous n'avons pas à nous occuper ici de l'organisation nouvelle que cet état de choses rendra nécessaire. L'important est que, à présent, le gymnase peut avoir la liberté de se développer conformément à son caractère propre. La carrière est ouverte; si les champions d'études humanitaires sainement conçues n'obtiennent pas que la nation leur accorde de nouveau son entière sympathie, ce sera leur faute à eux. Je vois à votre exposé la nature de l'objection que vous prévoyez surtout : pour des lectures du genre de celles que je recommande, faites en vue du contenu des textes bien plus que de la perfection de leur forme, des traductions ne pourraient-elles pas suffire? Mais cela même fût-il vrai, l'étude du grec demeurerait indispensable. Les grands poètes, Homère et les tragiques, sont loin d'être exclus de mon programme. Adolphe Harnack, qui a rendu à la bonne cause des services 35 incomparables, a cité un joli mot d'un étudiant: «Tant que je lisais 14. R e v u e de l ' i n s t r u c t i o n p u b l i q u e e n B e l g i q u e 4 4 ( 1 9 0 1 ) 3 4 - 3 8 . [Übersetzt Adres säten, dessen Aufsatz zu diesem Thema dort vorausgeht.]

vom

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14. Offener Brief a n J. B i d e z ( 1 9 0 1 )

H o m è r e u n i q u e m e n t en t r a d u c t i o n , j e n ' y voyais q u e contes et lég e n d e s ; c'est d a n s le t e x t e grec q u e m ' e s t a p p a r u p o u r la p r e m i è r e fois t o u t ce qu'il r e n f e r m e de vie et de réalité.» J e n ' a i p a s besoin d e v o u s le dire à v o u s , m a i s n o u s d e v o n s le dire a u p u b l i c : il en est a b s o l u m e n t de m ê m e p a r e x e m p l e p o u r la philosophie grecque. L ' é t h i q u e grecque, ev Tigarreir, evôaifiovelv, t o u t cela n ' e s t c o m p r é h e n s i b l e q u e d a n s la l a n g u e grecque. Ici s e u l e m e n t , on t r o u v e u n e l a n g u e qui, p o u r le s e n t i m e n t de c e u x qui la p a r l e n t , est a b s o l u m e n t sans m o t s é t r a n g e r s ; qui p e u t leur sembler ê t r e la l a n g u e en soi; u n e l a n g u e d o n t la logique a b s t r a i t e s'est dégagée, mais n ' a p u se dégager q u e péniblem e n t . C'est d a n s la l a n g u e grecque q u e l ' h u m a n i t é a a p p r i s à p e n s e r ; c'est d a n s c e t t e l a n g u e q u e l ' i n d i v i d u a p p r e n d r a le plus a i s é m e n t à le faire. P o u r m a p a r t , cet a p p e l a u x t r a d u c t i o n s m e d o n n e p e u d ' i n q u i é t u d e s . I l suffira que le livre de l e c t u r e existe, et qu'il soit mis d a n s les m a i n s de la j e u n e s s e . L ' i n u t i l i t é et l'impossibilité des t r a d u c t i o n s s a u t e r o n t a u x y e u x . S u p p o s é m ê m e q u e n o u s en fassions de b o n n e s , n o u s les m e t t r i o n s t o u t e s d a n s u n e seule et m ê m e l a n g u e , t a n d i s q u e les o r i g i n a u x se dispersent sur u n espace d ' a u m o i n s mille a n s . Des différences de style, que l ' o n p e u t i m i t e r j u s q u ' à u n c e r t a i n p o i n t , ne s u p p l é e n t p a s à la différence qui se m a r q u e d a n s les pensées et d a n s l ' e x p o s é des pensées, q u a n d il s'agit d'oeuvres a p p a r t e n a n t à des périodes successives d ' u n m ê m e d é v e l o p p e m e n t . Celui q u i p a r t de la prose ionienne d ' H i p p o c r a t e , qui passe p a r A r i s t o t e et P o l y b e , et v a j u s q u ' à S t r a b o n et É p i c t è t e , sans oublier le N o u v e a u T e s t a m e n t , v o i t se succéder d e v a n t lui u n e série de styles t o u t à f a i t différents, q u i , t o u s , réalisent p a r f a i t e m e n t ce qu'ils o n t v o u l u . Si m ê m e il n e d e v e n a i t p a s clair — et ce n ' e s t c e p e n d a n t p a s t r o p difficile à c o m p r e n d r e — q u e c h a c u n e de ces différences c o r r e s p o n d à u n e p h a s e d ' u n e é v o l u t i o n h i s t o r i q u e l o n g u e de cinq c e n t s a n s , on a c q u e r r a i t p a r cet e x a m e n u n e idée i n f i n i m e n t précieuse p o u r l ' é m a n c i p a t i o n d u j u g e m e n t : q u e l ' a n o malie a u n d r o i t à l'existence. U n e telle connaissance, d a n s u n e école 36 où le l a t i n , f o r c é m e n t classiciste, a c c o u t u m e e x c e l l e m m e n t l ' e s p r i t à la règle, à la n o r m e inflexible, est u n c o m p l é m e n t nécessaire de l ' é d u c a t i o n p o u r qui v e u t se p r é s e r v e r d'excès d a n g e r e u x . L ' a b s u r d e résis t a n c e q u i s'est opposée d a n s les v i n g t dernières années à u n a r t p l a s t i q u e n o u v e a u , l ' a v e u g l e m e n t t o u t aussi i n e p t e des j e u n e s écoles, m o d e r n i s t e s et u l t r a - m o d e r n i s t e s , à croire q u ' a v a n t elles il n ' y a v a i t rien q u e d ' i m p a r f a i t , t o u t e s ces p r é t e n t i o n s à c o u r t e v u e seraient-elles

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l x 17

m ê m e possibles chez l ' h o m m e q u i a u r a i t c o m p r i s l ' h i s t o i r e des s t y l e s d e la p r o s e g r e c q u e ? Mais j u s t e m e n t l'école a v a i t c l o u é le c o r p s v i v a n t d u v é r i t a b l e h e l l é n i s m e à la c r o i x de la règle c l a s s i q u e . I l e s t v r a i , c ' e s t t o u t d ' a b o r d e n v u e d u c o n t e n u des œ u v r e s q u e n o u s d e v o n s t r a n s f o r m e r le c h o i x des l e c t u r e s ; m a i s l ' i m p o r t a n c e des t e x t e s q u e n o u s r e c o m m a n d o n s r é s i d e a u s s i d a n s l e u r f o r m e ; j e crois q u e , à elle seule, la c o n s i d é r a t i o n i n d i q u é e ci-dessus le m o n t r e r a i t s u f f i s a m m e n t . L e s a v a n t a g e s q u e d o i t p r o c u r e r la l e c t u r e d e c e t t e série d e t e x t e s , n e p e u v e n t ê t r e o b t e n u s q u ' a u m o y e n d e l ' é t u d e des t e x t e s o r i g i n a u x . F o r c é m e n t les t r a d u c t i o n s p r o j e t t e r a i e n t s u r la s u r f a c e u n i f o r m e d e la l a n g u e a c t u e l l e , des o b j e t s q u i s o n t e n r é a l i t é s é p a r é s p a r des siècles. A m o n a v i s , c e t t e c o n s i d é r a t i o n a son i m p o r t a n c e p o u r t o u t e s les n a t i o n s m o d e r n e s , m a i s , d ' a p r è s l ' â g e e t la n a t u r e d e l e u r c u l t u r e p a r t i culière, elle p r e n d r a d i f f é r e n t s a s p e c t s . N o u s , A l l e m a n d s , n o u s a v o n s u n e l i t t é r a t u r e t r è s j e u n e . P a r m i les livres é c r i t s a v a n t 1789, t r è s p e u s o n t e n c o r e v r a i m e n t v i v a n t s . D é j à la p r o s e d e L e s s i n g c o m m e n c e à vieillir. Mais m ê m e les l i t t é r a t u r e s f r a n ç a i s e e t a n g l a i s e , q u i s o n t t a n t p l u s a n c i e n n e s , e t d o n t les m o d è l e s o n t a i d é les A l l e m a n d s à se f o r m e r u n e p r o s e l i t t é r a i r e , n ' o n t p a s e u , il s ' e n f a u t de b e a u c o u p , u n d é v e l o p p e m e n t aussi long ni s u r t o u t aussi continu que la l i t t é r a t u r e grecque. L a l a n g u e de T h u c y d i d e n ' e s t p a s aussi loin d e celle d e P a l l a d e q u e R a b e l a i s n e l ' e s t d e T a i n e ; m a i s e n t r e la p e n s é e d u s t r a t è g e d ' A t h è n e s e t les m o i n e s d e la T h é b a ï d e , il y a u n e b i e n a u t r e d i s t a n c e q u ' e n t r e l ' é p o p é e de Béowulf et le Livre de la Jungle. Celui q u i n e c o n n a î t p a s g r a n d c h o s e à la philologie, s ' é t o n n e r a d e v a n t c e t t e a s s e r t i o n , c a r les a n c i e n s , p o u r le g r a n d p u b l i c , c ' e s t e n c o r e t o u j o u r s u n e u n i t é . Mais, p u i s q u e la philologie a a p p r i s à v o i r et à d i s t i n g u e r , elle d o i t b i e n m o n t r e r à l'école q u e ce n ' e s t q u e l ' u n i t é d ' u n e é v o l u t i o n j a m a i s i n t e r - 37 r o m p u e . L ' a n c i e n classicisme n e m o n t r a i t q u ' u n o u d e u x a n n e a u x : n o u s m o n t r e r o n s la c h a i n e . N o u s s a v o n s q u e le g r e c seul est à m ê m e d e d o n n e r à l ' e s p r i t le sens e t la c o n n a i s s a n c e d u p a s s é . Q u a n d le p u b l i c le s a u r a , n o u s a u r o n s g a g n é la p a r t i e . I n c o n t e s t a b l e m e n t , c h a q u e n a t i o n m o d e r n e o f f r i r a à ses e n f a n t s u n c h o i x d i f f é r e n t . M ê m e de l o i n , e t a v e c u n e c o n n a i s s a n c e i n s u f f i s a n t e d e la l i t t é r a t u r e f r a n ç a i s e , j e vois b i e n q u e , e u é g a r d à M o n t a i g n e , à B o s s u e t e t F é n e l o n , à V o l t a i r e , j e t r a i t e r a i s les Œuvres morales d e P l u t a r q u e , les g r a n d s o r a t e u r s c h r é t i e n s , e t L u c i e n , t o u t a u t r e m e n t q u e j e n e le fais p o u r des élèves a l l e m a n d s . Mais ces e x i g e n c e s spéciales à

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14. Offener Brief a n J . Bidez (1901)

chaque nation se réduisent au fond à peu de chose, et elles s'effacent devant l'importance de ce qui est destiné à former le p a t r i m o i n e comm u n de l'enseignement dans tous les pays. C'est pour cela que j ' a i cru pouvoir m'exprimer une fois encore sur ce sujet, d e v a n t u n public étranger. Nous ne devons pas oublier qu'en p r i v a n t la jeunesse de la culture classique, nous mettons le monde civilisé en danger de voir disparaître son unité. La langue latine a irrévocablement perdu sa valeur universelle. Les maîtres bénévoles qui même p a r m i nous p a r l e n t encore de l'idéal de l'humanité que la philosophie de Cicéron doit révéler, sont aussi loin d'une philologie vivante et de la vie elle-même, que M. Bergeret 1 ), quand il travaille à son Virgilius nauticus. Ils feraient mieux de le suivre dans son aimable scepticisme. Les sciences naturelles ne peuvent apprendre à aucun peuple ce qu'il est; il ne s'en rendra compte que p a r la connaissance de son passé. Alors il ne reste plus q u ' à a d m e t t r e une multiplicité d'éducations nationales. Certes nous ne voulons pas leur perte, au contraire. Mais elles seront toutes mutilées, le jour où elles oublieront ce qui leur est commun, le fondement sur lequel reposent les fiers édifices de t o u t e s nos grandes civilisations. Ce f o n d e m e n t n'est pas, il est vrai, l'hellénisme classique, mais u n hellénisme plus large et plus grand, qui comprend à la fois la poésie classique et le christianisme de l'Église ancienne, encore v r a i m e n t universelle. C'est pour rendre ses droits à la vérité que l'on a mis cet hellénisme à la place de l'ancien latin et d ' u n e Église 38 devenue occidentale, par conséquent particulariste ; nous devons dans la p r a t i q u e aussi rendre les mêmes hommages à la vérité. J e serais le premier à considérer comme u n malheur dont mon propre peuple aurait sa p a r t , que les nations romanes risquent le saut f a t a l , et qu'elles renient l'héritage commun, constitué par la force vivante de l'hellénisme. Tôt ou t a r d , l'harmonie de la civilisation universelle perdrait ses notes les plus sonores, d'abord faussées, puis complètement éteintes. Mais je suis loin de désespérer. J e donnerais beaucoup pour pouvoir éviter à tous les peuples civilisés comme au mien une triste période de fourvoiement. Mais, j'en ai la confiance, ils traverseront l'épreuve sans y succomber. L'Amérique nous donne le spectacle admirable d'une nation jeune, se m e t t a n t en possession du patrimoine ' ) [Typ

des Professors

in Anatole

France's

Romanzyklus

Histoire

contemporaine.]

14. Offener Brief an J. Bidez (1901)

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antique de la civilisation, avec une idée n e t t e du b u t qu'elle poursuit. L'Église catholique, la plus ancienne des puissances civilisatrices, apprécie l'importance du grec t o u t a u t r e m e n t a u j o u r d ' h u i qu'il y a cent ans. Les évêques allemands ont réclamé récemment encore pour leur clergé qu'il fasse ses études préparatoires dans les gymnases. A ce qu'on m ' a raconté, le p a r t i socialiste est intervenu il y a quelque temps dans u n canton de la Suisse en faveur du grec, qui était menacé p a r la démocratie bourgeoise. Ce qui est t a n t d e m a n d é n'est pas u n jouet ni u n objet de l u x e : c'est une force v i v a n t e . Nous qui nous sommes voués à son service, nous sentons bien cette force en nous. Prenons nos mesures pour que l'hellénisme apparaisse à la jeunesse non comme une formule morte, mais comme une force vivante, et rien ne sera en péril. Mais pour cela la science doit dire à l'école ce qu'il y a dans le grec de plus digne d'être enseigné. Nous devons donner à l'école sur-le-champ le meilleur de ce que nous avons. Le t e m p s viendra ou ces biens eux-mêmes auront vieilli à leur t o u r , comme a vieilli l'idéal du culte des formes classiques. Alors nous devrons faire place à d ' a u t r e s ; l'art est long. Mais l'hellénisme se m a i n t i e n d r a ; la vie est éternelle.

15. Die Autobiographie im Altertum 1 ) Die v o r n e h m s t e n W e r k e der w i s s e n s c h a f t l i c h e n L i t e r a t u r sind die, welche keiner Spezialwissenschaft a n g e h ö r e n , u n d v o n d e n e n d o c h die v e r s c h i e d e n s t e n F a c h g e l e h r t e n u r t e i l e n m ü s s e n , d a ß sie i h n e n n e u e L i c h t e r a u f s t e c k e n . N i c h t jedes J a h r b r i n g t ein solches B u c h ; h i e r ist eins. D a m i t ist Lobes g e n u g gesagt. A u c h d a s ist d a m i t gesagt, d a ß es k e i n F a c h g e l e h r t e r eigentlich b e u r t e i l e n k a n n . D a indessen der erste B a n d n u r das A l t e r t u m b e h a n d e l t , so w i r d der Philologe, w e n n er d a v o n wirklich e t w a s v e r s t e h t , d a r ü b e r ein U r t e i l h a b e n , ob das Material h i n r e i c h e n d a u s g e n ü t z t ist, u n d d a n n sich des F o r t s c h r i t t s f r e u e n , d e n das V e r s t ä n d n i s der W e r k e n o t w e n d i g m a c h e n m u ß , w e n n sie als Teil der W e l t l i t e r a t u r b e t r a c h t e t w e r d e n . U n d das ist hier n i c h t e i n m a l die H a u p t s a c h e , s o n d e r n j e n e philosophische B e t r a c h t u n g des Mens c h e n u n d seiner Geistesgeschichte, die Misch aus der Schule W i l h e l m D i l t h e y s m i t b r i n g t , d e m das B u c h m i t vollem R e c h t e g e w i d m e t ist. E i n e einzige S e l b s t b i o g r a p h i e v o n u n v e r g ä n g l i c h e m W e r t e h a t d a s A l t e r t u m h e r v o r g e b r a c h t , die K o n f e s s i o n e n des h. A u g u s t i n . D a s h a t d a z u v e r l e i t e t , sie als e t w a s ganz N e u e s a n z u s e h e n u n d gar d e n R h e t o r A u g u s t i n als d e n ersten m o d e r n e n Menschen a n z u s p r e c h e n . D a b e i verg a ß m a n , d a ß der h . Gregor v o n N a z i a n z v o r A u g u s t i n eine Selbstb i o g r a p h i e in Versen geliefert h a t , die m a n n u r m i t R ü h r u n g lesen w i r d , w e n n m a n sie lesen k a n n . Leider sind die G r ö ß e n der griechischen K i r c h e d e n Philologen m e i s t e n s b y z a n t i n i s c h u n d allen ü b r i g e n griechisch. D e m H i s t o r i k e r der A u t o b i o g r a p h i e e r w u c h s die A u f g a b e , 15. Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 1 (1907) 1105-1114. G e o r g M i s c h , Privatdozent der Philosophie an der Universität Berlin, Geschichte der Autobiographie, B d . I : D a s Altertum. Leipzig, B. G. Teubner.

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die Konfessionen aus der antiken literarischen Überlieferung verständlich zu machen; auch was in ihnen neu ist, kommt erst so heraus. Nun umfassen sie aber sehr viel mehr als die Erzählung des Lebenslaufes, eine Offenbarung des inneren Seelenlebens, der Erlösung und des Zustandes nach dieser. Sehr viel in ihnen ist Äußerung des Gefühles, man 1106 kann kaum anders sagen als: es ist Lyrik. Auch das war also zu zeigen, wie der Mensch zu der Fähigkeit gelangt ist, so zu empfinden und solche Empfindungen zu formulieren. Das verlangte dann die Vorführung einer ganz anderen Entwicklungsreihe als die der Lebensbeschreibung. Misch hat gleichwohl danach gestrebt, alles in eine geschichtliche Darstellung zu verarbeiten, die er nach den Epochen der griechischen Literaturgeschichte eingeteilt hat. Vielleicht hat er es dem Leser damit etwas schwer gemacht, denn es werden mehrere Linien verfolgt, die sich erst am Ende schneiden. Altorientalische Könige haben ihre Taten oder die Taten, welche ihr Gott durch sie wirkte, in feierlichen Inschriften der Ewigkeit erzählt. Diese haben nichts Individuelles, können und sollen es nicht: es gibt von der Göttin Isis ähnliche Inschriften. Aber allmählich spürte man doch den Menschen. Daß uns Dareios mehr als ein großer Schatten ist, macht die Inschrift von Behistun. Und doch erscheint er auch dort in einer Majestät, die ihn hoch über das Menschliche erhebt, kaum anders als wie er bei Aischylos als Gott aus dem Grabe aufsteigt. Diese Königsinschriften sind die beste Folie für den Bericht, den Augustus in der Hoffnung auf den Eingang seiner Seele in den Himmel (er spricht sie in einem Privatbriefe geradezu aus) und in der sicheren Voraussicht seiner Konsekration über seine Taten verfaßt hat. Misch hat dies auch psychologisch unvergleichliche Dokument treffend gewürdigt; wir hatten erleben müssen, daß es für eine Grabschrift erklärt und von textkritischem Dilettantismus zerpflückt ward [vgl. Kl. Sehr. V 1, 267ff.J. Kein Grieche hat etwas Vergleichbares geschrieben. Wohl aber könnte und möchte man den Bericht des Hannibal über seine Taten vergleichen, den dieser, als er Italien verließ, bei der Hera von Kroton aufstellte. Auch in ihm würde sich die Seelenstimmung eines großen Mannes offenbaren, aber auch nur indirekt. Der Reisebericht des Hanno über seine Ozeanfahrt, der in Karthago inschriftlich aufgezeichnet war, zeigt, daß Hannibal heimischer Sitte folgte. An der Erhaltung seines Namens hat dem Hellenen unendlich viel 1107 gelegen; daher muß er auf dem Grabe stehen. Aber das Leben wird in 9

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der Grabschrift nicht beschrieben, auch nicht, wenn sie ein Gedicht ist, und so gern man ein Bild hinzufügt, individuelle Ähnlichkeit erstrebt man nicht. Edle Tat bedarf des rühmendes Wortes, darum muß der Held mit dem Dichter gehen. So sagt Pindar immer wieder, und vielen Edlen hat er den Namen erhalten. Aber der Dichter verklärt in dem Liede, das nach dem Vortrag bei dem Festzuge Enkomion heißt: auch dies Porträt sucht keine individuelle Ähnlichkeit. Alexander nahm einen Stab von Literaten und Künstlern mit; seine Kanzlei verzeichnete Tag für T a g die Ereignisse mit peinlicher Gewissenhaftigkeit; die Berichte seiner Offiziere waren so genau wie die Beschreibungen, die seine Gelehrten von der Neuen Welt und ihren Wundern aufnahmen. Aber die Wahrheit der Akten genügte dem Könige nicht, dessen Feldherrngröße wir doch nur dank dieser wahrhaftigen Uberlieferung würdigen. E r sehnte sich nach einem Homer, den er nicht fand, und die Künstler, die er fand, haben ihn heroisch porträtiert. Von Menschen, die so empfanden, kann man keine Selbstbiographie erwarten. Wohl fangen die Dichter sehr früh an, ihren Werken das Siegel ihrer Urheberschaft aufzudrücken, indem sie ihren Namen nennen, auch wohl einiges Persönliche zufügen. In der hellenistischen Zeit bedienen sie sich dazu gern verschiedener Arten des Epigramms. Aber etwas wie eine Selbstbiographie bringen erst ihre römischen Nachahmer hinein, indem sie wie oft das Epigramm zur Elegie ausdehnen. Die Historie ist insofern ganz auf die Person gestellt, als der Schriftsteller erzählt, was er für wahr hält, oder doch, was er erkundet hat. So muß jeder auch etwas von sich sagen; aber selbst, wenn es so ausführlich und so ruhmredig geschieht wie von Theopomp (der vor allen zu nennen war), ist der Historiker doch nicht eigentlich sein eigenes Objekt; spielt er aber in den Ereignissen eine Rolle, so objektiviert er sich ganz. So haben es Thukydides und Polybios gehalten, und Xenophon hat gar Pseudonym geschrieben, um scheinbar ganz objektiv seine Sache vor der Öffentlichkeit zu führen. Die publizistische Vertretung ihrer Interessen hat die Menschen gezwungen, von sich zu reden, seit die 1108 attische Demokratie der „ K u n s t des Uberredens" die Bahn öffnete. Die Gerichtsrede forderte mindestens den Schein eines Berichtes nicht sowohl über die eigenen Taten als über die eigene Gesinnung. Sie lieferte damit eine Form, die auch als Fiktion bequem war. Als Isokrates, der Großmeister der Rhetorik, spürte, daß die Wissenschaft der Sokratik ihm und seiner Kunst das Wasser abgrub, hat er für beide

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eine solche Verteidigung geschrieben und sich als einen größeren Sokrates stilisiert. E s verdient große Anerkennung, daß Misch die relative Bedeutung dieser Leistung erkannt hat, aber sie zeigt am besten, daß auf dem Boden dieser Rhetorik überhaupt keine Individualität gedeiht, auch nicht im Bilde. Der Feldherr, der in der Ferne Krieg führt, muß über seine Erfolge nach Hause berichten. Wir haben ein solches Stück von Ptolemaios I I I . E r mag auch in die L a g e kommen, sein Verhalten nachträglich durch einen solchen Bericht zu rechtfertigen, wie Cäsar die Eroberung Galliens. Dasselbe wird der Staatsmann tun, zumal wenn er hat zurücktreten müssen, wie Demetrios von Phaleron und Arat. Noch die elende Schrift des Josephus über sein Leben ist in Wahrheit eine Verteidigung seines Verhaltens im jüdischen Krieg gegen J u s t u s von Tiberias. Merkwürdige Bücher sind dabei genug herausgekommen, aber Selbstbiographie in unserem Sinne ist nichts. In diese Reihe werden wir auch die Schriften über das eigene Leben stellen, die von mehreren Politikern der römischen Revolutionszeit verfaßt sind. E s ist k a u m zulässig, sie in dem Lichte zu sehen, in das sie Tacitus im Agrícola gerückt hat. Aber Individuelles wird doch genug darin gewesen sein; und wie gern würden wir diesen noch wenig hellenisierten Römern in die Seele schauen, einem Sulla, der uns psychologisch ein Rätsel bleibt. Die Fortuna, als deren Günstling er sich betrachtete, war nicht der Zufall, die Tyche, sondern Aphrodite: er nennt sich auf lateinisch Felix, auf griechisch Epaphroditos. Was gibt nicht das allein zu denken. Aber alle diese Schriften sind so ephemere Erscheinungen geblieben wie die vereinzelt erwähnten Selbstbiographien und Memoiren von Kaisern und sogar Kaiserinnen. Für die antike Biographie und das literarische Porträt hatten F . Leo und I. Bruns die Wege gewiesen. Die gelehrte Biographie sammelt Einzelzüge, ordnet sie nach bestimmten Kategorien und versucht 1109 kaum ihre Zusammenfassung zur Einheit. Die Schule des Aristoteles, die so vortrefflich Pflanze und Tier zu beobachten und zu beschreiben weiß, tut es auch für die Menschen. Sie erfaßt die Kennzeichen, die Charaktere (sie hat dies Wort für uns umgeprägt) und verfolgt das Spezifische durch die ganze Lebensführung. Aber das Individuelle kommt dabei selten in Betracht, immer zu kurz. Sie hatte zudem einen Kanon der Tugenden ausgebildet, der sich bequem an jedes Objekt anlegen ließ. Schlagend zeigt Misch, wie der peripatetische Hofgelehrte 9*

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des Herodes, Nikolaos, sein Leben in der Art behandelt hat, daß er darlegte, wie vollkommen es dem ethischen Kanon entsprach. E s ist ein philosophisches Enkomion; vermutlich versteckt sich dahinter eine Apologie. Die Fähigkeit, das Typische zu sehen, bleibt der hellenistischen Wissenschaft; aber ein Fortschritt wird nicht gemacht. Wie wunderbar schildert Poseidonios die Kelten: die persönlichen Charakteristiken, deren wir doch einige aus seiner Geschichte kennen, sind genau so schematisch wie die hellenistische Porträtbildnerei seiner Zeit. Wir dürfen nicht verschleiern, daß die Hellenen, ebensowenig wie sie eine wirkliche Geschichtsforschung erzeugt haben, einen Menschen ganz wirklich aufzufassen nicht verstanden haben. Immer bleibt der Betrachter draußen stehen, wo er sich doch in die fremde Seele versetzen sollte. Statt zu verstehen, lobt oder tadelt er. Und immer ist ihm der Mensch etwas Fertiges, Ganzes, niemals wird er als etwas Werdendes betrachtet. Wo hätten sie j e die Widersprüche erfaßt, die sich in jeder reicheren Seele finden, und deren Vereinigung erst ihre Individualität macht? Nur ihre Tragiker (denn das menandrische Lustspiel versagt schon) haben solche ganzen Menschen zu schaffen vermocht, bei denen wir empfinden, wie sie so werden mußten, durch das Leben und trotz dem Leben. Und dann natürlich Piaton. Aber Piaton hat eben mindestens in der Potenz auch die Schranken des Hellenentums ziemlich alle gesprengt. Wie die Hellenen so geworden sind, wollen wir hier nicht fragen: in denen des 6. und 5. Jahrhunderts steckt die K r a f t zu einer ganz anderen Entwicklung. Aber seit sie so geworden sind, muß man glauben, daß sie von wirklicher Eigenart wenig besaßen und noch weniger zeigten. Die allgemeine Bildung und 1110 die späteren Philosophien, die alle auf den Normalmenschen aus sind, hatten sie nivelliert. Wie ganz anders die Römer derselben Zeit; denn die hellenisierende Kaiserzeit nivelliert sie auch. Man kann ihre Überlegenheit nicht genug hervorheben. Von Lucilius hören wirs, bei Horaz sehen wirs, wie die Dichtung zur Selbstdarstellung des Menschen wird. Und dann Cicero, welche reiche Individualität atmen alle seine Schriften trotz aller Rhetorik. Das ist ein ganzer Mensch: seine griechischen Zeitgenossen sind im besten Falle Professoren. Mit vollem Rechte hat ihm Misch eine ausführliche Behandlung gegönnt, und dann dem Seneca und dem Marcus, der doch auch ein Römer ist, auch dem E p i k t e t ; aber so eindringlich die Predigt des Phrygers ist, sie ist im Grunde auf e i n e n Ton gestimmt, und der Reichtum seines eigenen

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Seelenlebens ist ärmlich gegenüber den drei Römern. Hält man dann neben sie den Dion, der doch sogar eine Bekehrung erlebt hatte, und den Aristides, der über den Verkehr mit seinem Gotte Buch führt, so wird man inne, wie viel weniger die Griechen von ihren inneren Erlebnissen zu sagen wissen. Daher sind jene in der Tat Vorläufer Augustins, nicht für die Selbstbiographie, aber für die Beichte. Seneca ist direkt sein Vorbild. Es lohnt sich, große Partien der Briefe neben den Konfessionen zu lesen. Nicht nur der Stil mit dem unaufhörlichen (unausstehlichen) Spiele von Antithesen und Pointen, sondern auch die Mischung von philosophischer Dialektik und moralischer Paränese zeigt die Verwandtschaft. Innerlich ist der Gegensatz freilich vollkommen; denn von der Mystik, die den Konfessionen ihre Glut gibt, ist bei Seneca nichts, und Marcus wird grade deshalb für viele ein wirksameres Erbauungsbuch sein, weil weder Mystik noch Rhetorik seine Beichte stört. Er betet, wie Jesus verlangt, in seinem Kämmerlein und sucht den Frieden der eigenen Seele: Augustin ist auch, wenn er persönlich zu beten scheint, der Prediger für die Gemeinde. Auch die Mystik Augustins hat ihre Wurzeln in einer Vergangenheit, die weit über das Christentum zurückreicht. Misch hat auch hier bis auf die Quellen gegraben. Empedokles, der die Erlösung predigen kann, weil er Gott geworden ist, was die Christen des 4. Jahrhunderts ja auch begehren; die Mythen von der Wanderung der Seele, wie sie Piaton gedichtet hat, wie sie in den verschiedensten Gestalten durch 1111 die orientalischen Religionen gehen und nur mit Mühe von der Kirche abgewehrt werden (Augustin dürfte manches aus seiner manichäischen Vergangenheit bewahrt haben); die Mysterien, von denen Apuleius, der Landsmann Augustins, berichtet; die Vereinigung mit der Gottheit, die von den Neuplatonikern erlebt wird: all das muß man zu den Offenbarungen, die Paulus über seine Seelenkämpfe gibt, hinzunehmen, um zu verstehen, wie Augustin das Drama der Erlösung erleben und darstellen konnte. Dazu kommt die Stimmung der entsetzlichen Zeit, wo alles mindestens einen Anhauch der verwesenden Kultur trägt. Die Ecclesia triumphans ist keineswegs davon frei. Nur von daher begreift man, daß die Menschen in die Wüste fliehen und die Negation des Lebens um sich greift. Die Besten ziehen sich in ihr Herz zurück, wo ihnen der Zugang in eine bessere Welt geöffnet ist. Begreiflich, daß die Beschäftigung mit dem eigenen Ich häufiger wird. Allein steht Augustin also nicht, aber das Griechische neben ihm hebt

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nur seine Bedeutung. Nicht zu reden von der Rede des Libanios über das Walten der Tycbe in seinem Leben. Der alte Mann und seine attische Rhetorik macht neben dem Christentum genau dieselbe Figur wie Isokrates neben der Philosophie. Aber auch Synesios, nicht der Mensch, aber der Schriftsteller, krankt doch zu sehr daran, daß er das Spiel mit abgelebten Formen, des Denkens geradesogut wie des Redens, nicht lassen kann; vielleicht hat es Misch zu ernst genommen. Und die Selbstbiographie Gregors ist hervorgerufen durch das bittere Gefühl des Exbischofs von Konstantinopel: sie ließe sich in mancher Hinsicht mit den persönlichen Rechtfertigungsschriften der Politiker vergleichen, wenn der geborene Lyriker nicht seinen Stimmungen freien L a u f ließe, viel unmittelbarer als Augustin, freilich auch viel unkünstlerischer, gerade weil er in bequemen Versen schreibt. Doch die formale Seite, auch an der Lyrik der Konfessionen, bleibt überhaupt noch ganz zu untersuchen. Die Philologie hat j a bisher noch nicht einmal versucht, diese Literatur zu erläutern; von dem Philosophen wird das niemand erwarten. So ist das Buch des Augustin eingeordnet in die geschichtliche Konti1112 nuität. E s versteht sich von selbst, daß es darum nicht aufhört, eine eigene und neue und unvergleichliche Leistung zu sein. Hier erscheint es als Autobiographie, die doch nur einen Teil der Beichte umfaßt. Denn auch Augustin hat nicht geschrieben, um über sein Leben zu berichten; seine Konfessionen sind die Potenzierung seiner Soliloquien. E s drängt ihn vor allem, in Dankbarkeit sich und der Welt das ganz bewußt zu machen, was er ist; dazu erzählt er, wie er es ward. Eine Seele, die den Hafen gefunden hatte, von ihren Irrfahrten erzählen zu hören, das war der Welt noch nicht geboten: es ist viel mehr als eine Bekehrungsgeschichte, es ist wirklich Bildungsgeschichte, aber das Ziel für ihn soll zugleich das Ziel für alle sein. Gott ist er nicht geworden wie Empedokles, aber der Erlösung ist er auch gewiß geworden. Was dem Neuplatoniker ein Moment gewährt, die Vereinigung mit Gott, hat hier Dauer gewonnen. Und er hat die K r a f t und den Mut, von den heiligsten Gefühlen des Herzens laut zu reden. Was hatte ein Piaton alles in sich erlebt und durchgekämpft: er hat mit Bedacht alles dazu getan, seine Person auszulöschen. Bei ihm kann von Unvermögen keine Rede sein: er hat es getan nach seiner Schätzung von Gott und Mensch, ewig und vergänglich. Vielleicht schadete es nichts, wenn die Leute, denen ihr Ich so sehr merkwürdig ist, zuweilen an

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Piaton dächten; aber die Welt hat Grund, sich zu freuen, daß auch von den Besten nicht wenige dem Vorbilde Augustins gefolgt sind. Von ihnen wird Misch in den folgenden Bänden erzählen, wo dann der Philologe schweigend lernen wird. Noch ein letztes Wort über die Entstehung des Werkes. Es ist eine von der Akademie gekrönte Preisschrift, aber den Preis ausgesetzt und das Thema bezeichnet hat Herr Stadtrat Professor W. Simon in Königsberg. Gewiß ein seltener Fall, und besonders haben sich die Mitglieder der Akademie gefreut, die zu dem Erfolge einer solchen Preisaufgabe wenig Zutrauen hatten. Denn eine Seltenheit ist nicht nur die einsichtige Liberalität eines Privaten, sondern auch der Erfolg. Preisaufgaben, die mehr als Beschaffung und Ordnung von Material verlangen, finden darum selten Bearbeitung, weil die, welche Höheres zu leisten vermögen, sich ihre Aufgaben selbst stellen. Das ist nur in der Ordnung. Dem entspricht es, daß die Pariser Akademie erschienene Werke krönt und belohnt, wozu ihr private Liberalität mehr als reichliche Mittel zur Verfügung gestellt hat. Aber auch das hat seine Mißstände; wenn ein Preis verfügbar ist, wird man immer so gutmütig sein, ein Werk für ihn zu finden. Das Natürliche wäre, daß derijunge Schriftsteller die Mittel bekäme, sich ganz der Arbeit zu widmen: mehr pflegt er, wenn er die Wissenschaft wirklich liebt, nicht zu verlangen, und eigentlich hat er auf so viel ein Anrecht. Aber bei allem guten Willen können weder unsere Akademien noch unsere Ministerien auch nur von fern diesem Bedürfnisse genügen. Es wird nachgerade eine Gefahr für die Wissenschaft.

16. Geschichtsschreibung W e n n ich rechtzeitig d a r a n g e d a c h t h ä t t e , d a ß in diese T a g e Winckelm a n n s z w e i h u n d e r t s t e r G e b u r t s t a g fiele, so w ü r d e ich h e u t e v o n i h m r e d e n , obgleich es schwer h ä l t , ü b e r d e n e t w a s zu sagen, dessen Biog r a p h i e G o e t h e u n d K a r l J u s t i geschrieben h a b e n . D e n n das Ged ä c h t n i s des Mannes m u ß l e b e n d i g e r h a l t e n w e r d e n , der als e r s t e r D e u t s c h e r a u c h das A u s l a n d z w a n g , bei i h m zu lernen, w a s Lessing u n d H e r d e r n i c h t e r r e i c h t e n . N o c h in der Zeit, d a ich s t u d i e r t e , geh ö r t e seine Geschichte der K u n s t des A l t e r t u m s zu d e n B ü c h e r n , die w i r u n b e d i n g t lesen m u ß t e n . N i e b u h r s B ö m i s c h e Geschichte schon n i c h t m e h r . H e u t e d ü r f t e n sie beide in gleicher B e i h e s t e h e n . W i r sind g e w o h n t , die w a h r h a f t wissenschaftliche G e s c h i c h t s f o r s c h u n g v o n Nieb u h r zu d a t i e r e n , u n d das t r i f f t zu, w e n n m a n a n die politische Geschichte d e n k t , t r i f f t d u r c h a u s zu f ü r die K r i t i k der Ü b e r l i e f e r u n g . W i n c k e l m a n n h a t t e eine U b e r l i e f e r u n g so g u t wie gar n i c h t v o r sich, m u ß t e also e t w a s n o c h Größeres u n t e r n e h m e n , eine G e s c h i c h t e d e r K u n s t aus i h r e n B e s t e n , i h r e n D o k u m e n t e n , a u f b a u e n . D a s h a t er m i t d e m Geiste des e c h t e n H i s t o r i k e r s g e t a n , e i n e m n e u e n Geiste, der Lessing n o c h ganz f r e m d w a r . H e r d e r v e r s t a n d i h n ; in H e r d e r l e b t e er w e i t e r . H e y n e v e r s t a n d i h n , u n d seine L e h r e z ü n d e t e in vielen. A u s d e m S t u d i u m des A l t e r t u m s , z u n ä c h s t seiner K u n s t w e r k e in S c h r i f t 354 u n d Bild, u n d d e r K r i t i k seiner Ü b e r l i e f e r u n g ist j a die w i s s e n s c h a f t liche G e s c h i c h t s f o r s c h u n g geboren, die wir als einen ebenso g r o ß e n F o r t s c h r i t t ü b e r die hellenische W i s s e n s c h a f t preisen d ü r f e n wie die moderne Naturwissenschaft.

16. Vortrag, gehalten zum Besten des Akademischen Hilfsbundes 16. X I I . 1917. Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 12 (1917/18) 353-376.

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W a h r e W i s s e n s c h a f t k e n n t ihr Ziel, a b e r sie weiß, d a ß sie i h m z w a r i m m e r n ä h e r k o m m t , a b e r es n i e m a l s erreicht. J e schneller sie f o r t schreitet, u m so r a s c h e r t r e t e n a u c h die W e r k e der b e d e u t e n d s t e n F o r s c h e r in d e n S c h a t t e n . Die E r g e b n i s s e i h r e r U n t e r s u c h u n g e n w e r d e n , meist u m g e b i l d e t , G r u n d l a g e n n e u e r A r b e i t ; n a c h d e n Beweisen f r a g t m a n n i c h t m e h r . Die z u s a m m e n f a s s e n d e n D a r s t e l l u n g e n g e n ü g e n erst r e c h t n i c h t m e h r . W e n n sie sich d e n n o c h in d e n H ä n d e n der Leser e r h a l t e n , so d a n k e n sie es i h r e n k ü n s t l e r i s c h e n V o r z ü g e n , b e w i r k t es der P o e t , der in H i s t o r i k e r n dieses R a n g e s s t e c k t . Diese T a g e h a b e n u n s V e r a n l a s s u n g gegeben, a u c h T h e o d o r M o m m s e n s besonders zu g e d e n k e n [o. S. 18 f f . ] . Seine R ö m i s c h e G e s c h i c h t e l e b t n o c h , u n d wir k ö n n e n u n s k a u m vorstellen, d a ß sie e i n m a l das Los N i e b u h r s teilen wird, der allerdings als P o e t lange n i c h t so h o c h s t e h t . U n d doch m u ß t e n wir b e k e n n e n , d a ß sie n i c h t m e h r g e n ü g t , w e n n wir n a c h der W a h r h e i t ü b e r R o m f r a g e n . M o m m s e n selbst h a t d a z u das meiste g e t a n . Die W i s s e n s c h a f t ist n i c h t m i n d e r g r a u s a m als die N a t u r ; a u c h sie m u ß z e r s t ö r e n , d a m i t das L e b e n w e i t e r g e h t . 355 W e n n wir u n s ü b e r die K u n s t der Griechen u n d d e n S t a a t der R ö m e r b e l e h r e n , so ist u n s e r Ziel, diese O b j e k t e zu v e r s t e h e n , a n s c h a u e n d zu genießen. L e r n e n w e r d e n wir d a b e i indessen a u c h f ü r u n s e r U r t e i l d a r ü b e r , was i m K u n s t s c h a f f e n u n d in der O r d n u n g der Gesellschaft, die wir S t a a t n e n n e n , e c h t u n d r e c h t u n d l e b e n s k r ä f t i g ist, u n d z w a r l e r n e n u n b e i r r t d u r c h die Vorurteile u n d L e i d e n s c h a f t e n des T a g e s . D a r u m ist die B e s c h ä f t i g u n g m i t der W e l t p e r i o d e , die v o r d e m E i n t r e t e n der N o r d v ö l k e r liegt, z u r B i l d u n g des geschichtlichen, a u c h des politischen Sinnes u n e n t b e h r l i c h , die A b s c h a f f u n g des U n t e r r i c h t s in der A l t e n Geschichte u n v e r a n t w o r t l i c h , die v o n d e n e n o k t r o y i e r t ist, die m i t a u t o k r a t i s c h e r W i l l k ü r ü b e r u n s e r e Schule s c h a l t e n d ü r f e n . D a s J a h r t a u s e n d , in d e m die K i r c h e die n e u e n Völker b e h e r r s c h t u n d erzieht, bis sie m ü n d i g w e r d e n , ist z w a r a u c h a b g e s c h l o s s e n ; m a n k a n n a u c h a n i h m geschichtliches F o r s c h e n u n d U r t e i l e n l e r n e n ; a b e r t r o t z der zeitlichen N ä h e f o r d e r t es ein viel stärkeres U m d e n k e n : D a n t e ist u n e n d l i c h schwerer als Aischylos, u n d die P h i l o s o p h i e der K i r c h e s e t z t die griechische v o r a u s . A n m o d e r n e r Geschichte a b e r , g a r der L i t e r a t u r u n d K u n s t , l ä ß t sich n a c h m e i n e r U b e r z e u g u n g u n d E r f a h r u n g w a h r h a f t wissenschaftliches F o r s c h e n n i c h t l e r n e n . D a s liegt (von a n d e r e m wie der M a s s e n h a f t i g k e i t der Zeugnisse abgesehen) e b e n a n d e m , w a s die Geschichte des eigenen Volkes, zu der f ü r u n s die ganze e u r o p ä i s c h e

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Geschichte mit gehört, voraus h a t : sie wirkt unmittelbar auf unsere politische, moralische, religiöse Uberzeugung, auf unsern Glauben und unser Handeln. Das tut sie, und das soll sie. Die rein wissenschaftliche Ermittelung des Tatsächlichen muß vorhergehen; dazu muß die Me356 thode an andern Objekten gelernt werden; in der Darstellung aber tritt ira et Studium hinzu. Mancher von uns hat das Erscheinen von Treitschkes Deutscher Geschichte erlebt und jeden B a n d mit steigender Bewunderung begrüßt. Wir empfanden wohl, empfinden jetzt noch deutlicher, daß das leidenschaftliche Pathos des großen Patrioten und Publizisten der Bismarckzeit bei aller Wahrheitsliebe Licht und Schatten nicht immer gerecht verteilte: aber das konnte nicht anders sein, und gerade auf der praktisch-patriotischen Tendenz wird die Wirkung des Werkes auch dann noch beruhen, wenn es in dem Tatsächlichen vielfach berichtigt sein wird. Das sind Gedanken, die zwar auch zu dem gehören, was ich heute behandle, aber nicht sie haben mich auf mein Thema gebracht, sondern was uns alle beherrscht, der Krieg. In unausgesetzter Spannung suchen wir den Ereignissen zu folgen, empfinden schmerzlich, wie schlecht wir dazu imstande sind; schauen wir zurück, so bemerken wir, wie rasch die Erinnerung schwindet, schauen wir vorwärts, so fragen wir, wie soll das in Zukunft werden? Das Ungeheure, das unser Volk leistet und leidet, darf doch nicht vergessen werden, nicht verblassen, weder das Erhebende noch das Beschämende, denn auch daran sollen noch die fernsten Enkel lernen. Mit den kriegerischen Ereignissen ist es j a nicht abgetan, auch nicht mit den politischen: das Leben, das die Unsern draußen führen, unser Leben zu Hause gehört durchaus zu der Geschichte dieses Krieges. Wir wollen einmal nur an unser Volk denken, obwohl der Weltkrieg weltgeschichtliche Behandlung fordert. D a liegen über uns die dicken Schwaden der Lüge, die mit wahrhaft satanischer Bosheit, aber auch 357 mit entsprechendem Erfolge über die Welt ziehen, und immer neue Stinkbomben der Verleumdung werden gegen uns geschleudert. Diese Wolken verziehen sich nicht von selbst. Auch bei uns muß sich manches noch verbergen, und manches hat auch das Licht zu scheuen, das gerade unnachsichtlich hervorgezogen werden muß. E s gehört schon eine große Stärke des Vertrauens auf die Macht der Wissenschaft dazu, wenn man hofft, daß sie jemals die Wahrheit zur Herrschaft bringen wird; aber wann kann das sein, wann wird sich ihr das unentbehrliche

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Material erschlossen haben? Man mag sich ausmalen, daß so um 2050 eine große Kommission eingesetzt wird, die Gedrucktes überallher zusammenbringt, Ungedrucktem nachspürt, Memoiren, Briefe, Tagebücher hervorzieht, Spezialuntersuchungen in Menge führt, das wirtschaftliche und geistige Leben bis in die Tiefen erforscht. Lange Reihen von Bänden werden entstehen, viele sehr lesenswert, andere auch nicht, sicherlich aber so viele, daß kaum die Historiker von F a c h , Spezialhistoriker dieser einen Zeit sie bewältigen. Wer wagt darauf zu rechnen, daß dann der Künstler kommt, der das alles in einem Gesamtbilde zusammenfaßt? Und bis dahin? Da wird die Erinnerung fortleben, die wir mitnehmen und weitergeben. Die kriegerischen Ereignisse werden j a allmählich in ihrem äußeren Verlaufe klargestellt werden, Aufzeichnungen von Teilnehmern werden einzelnes erhalten, auch manches Politische wird ans Licht kommen. Auf die Beurteilung werden die künftigen politischen Erfahrungen und Stimmungen einwirken, aber trotz allen Schwankungen und Umfärbungen wird es eine Einheit sein, etwas Fließendes und doch eine Einheit, so paradox es klingt, eine Sage von dem großen Kriege; der Rationalist, j a der starre Wissenschaftler mag sagen, eine fable con- 358 venue. Wir wollen aber hoffen, daß bei uns im wesentlichen die Wahrheit festgehalten wird, wie es in der echten Sage auch geschieht. I s t es etwa nicht eine solche Sage, die wir unsern Kindern vom alten Fritz, vom alten Blücher, auch vom alten Kaiser erzählen, freilich, damit sie später, wenn sie sie vertragen, die volle Wahrheit erfahren. Das soll auch für diesen Krieg kommen, wenn es kommen kann. Sage ist j a die lebendige Erinnerung eines Volkes nicht erst dann, wenn sie sich auf wenige gewaltige F a k t a , auf wenige Helden und Verräter zusammengezogen hat. Sage hört darum nicht auf, daß schriftliche Überlieferung besteht und sie fortdauernd beeinflußt. Das Wesentliche ist, daß sie gesagt wird, sich mündlich fortpflanzt, eine starke Vereinfachung der Handlung, der Personen, der Motive, eine Umgestaltung auf das Typische hin und in allem eine teleologische Betrachtungsweise mit sich bringt. Wie Herodot die Perserkriege erzählt, das ist Sage in diesem Sinne. Gleicher Art wird zunächst die lebendige Uberlieferung des Weltkrieges sein, daher ganz verschieden bei den verschiedenen Völkern. Die Wissenschaft wird j a schon immer das Ihre tun. Sie darf nicht warten, bis sie das Vollkommene geben k a n n : das Halbe ist mehr als das Ganze. Sie darf auch nicht vor lauter Kritik zu einer

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Sphinx werden, die auf der Völker Hochgericht schaut, ohne das Gesicht zu verziehen. Der Historiker hat die heilige Pflicht, Liebe und Treue zum Vaterlande zu erhalten. Möge er sich ganz als das fühlen, was er ist, der Nachfolger des Sängers der Heldenlieder, des Skalden. Wir aber wollen diese Wandlung der historischen Uberlieferung und ihrer Träger in einem raschen Blicke überschauen. 359

E s hat lange gewährt, bis unter den Menschen ein Historiker auftrat, j a es kann ein Volk auf anderen geistigen Gebieten das Höchste erreichen und gar nicht das Bedürfnis empfinden, das Gedächtnis seiner Vergangenheit, j a selbst das der Gegenwart zu erhalten. So steht es mit den Indern. Zu einem Historiker haben es auch die alten orientalischen Völker alle nicht gebracht, die doch die Urheber der Mittelmeerkultur und damit auch der unsern sind. Die ägyptische Geschichte, welche unsere Gelehrten aufbauen, gewinnen sie zwar aus den Prunkinschriften der Könige, aus Bildern und Inschriften der Grabbauten und aus den Papieren des schreiblustigen Volkes. Auch daß Regentenlisten geführt wurden, ist wichtig; aber selbst die Chronik war mehr als dürftig, und diese allerdings gleichzeitige Aufzeichnung ist nicht zu einer Literaturgattung ausgewachsen, gehört vielmehr zu den Akten. Der Erfolg ist, daß die Fremdenführer dem Herodot höchstens zusammenhangslose einzelne Geschichten von novellistischem Charakter erzählen konnten, und sehr viel anderes wird auch der Priester Manetho seinem griechischen Könige nicht als Geschichte vorgesetzt haben. Das historische Interesse nahmen nur die Griechen.

Auch einen semitischen Historiker hat es nicht gegeben; nicht einmal in Karthago, das so stark unter griechischem Kultureinfluß stand; Hannibal, der das Bedürfnis empfand, hielt sich griechische Literaten; er selbst hat einen Bericht über seine Taten in einem griechischen Tempel niedergelegt. Hier fehlt auffallenderweise sogar die Chronik, die es in Karthagos Mutterstadt Tyros gab; ein griechischer Gelehrter hat sie benutzt. Bei den Assyrern mag man wohl von historischen Büchern reden, aber auch sie bleiben unpersönlich, offizielle Chronik 360 vermutlich mit einzelnen ausgeführten Erzählungen, und es scheint bisher Bedeutendes nicht entdeckt zu sein, sicherlich nichts, das die Vergleichung mit den lebensprühenden Erzählungen aushalten könnte, die sich in den Geschichtsbüchern der Bibel finden, von Saul, David, Ahab, und schon von Abimelech, daneben die prächtigen Sagen von Gideon und Simson. Wir besitzen freilich alles mehrfach übermalt und

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eingereiht in ein viel späteres Werk von priesterlicher Tendenz, die man abstreifen muß. E s sollte jemand die echten Stücke gesäubert von dem dicken erbaulichen Firnis im echten Stile übersetzt vorlegen. So etwas wie der Aufstand des Absalom kann nur von einem Zeitgenossen herrühren. In diesen Stücken steckt bei aller Schlichtheit eine große Kunst der Erzählung, sie runden sich auch fast immer zu kleinen Einheiten ab, so daß wir ihre Verwandtschaft mit der orientalischen Novelle erkennen, die auf einen Stand von geschulten Erzählern deutet, den wir j a auch dort in verschiedenen Zeiten antreffen; ob er wirkliche oder fabelhafte Geschichte erzählt, ist für die Kunst einerlei. Wir treffen ebendenselben Stil in vielen Geschichten bei Herodot und seinesgleichen an, die wir eben auch Novellen nennen. Als die Perser das Erbe von Assyrien antraten, haben sie die Formen der Kultur im ganzen übernommen, auch die Chronik des Hofes; daneben gab es echte Sagen, vielleicht auch historische Lieder, und auch die historische Novelle besitzen wir durch die Griechen in einigen Proben. Eine Fortentwicklung findet das nicht, weder unter Achämeniden noch unter Arsakiden, und das Königsbuch, das schließlich Firdusi in so großartiger Weise episch bearbeitet, gilt als abgefaßt erst in der späten Sassanidenzeit. Dann treten die Araber ein. Ihnen war es Herzenssache, die Erinnerungen an den Propheten zu erhalten, der ihnen S t a a t und Re- 361 ligion zugleich schuf; die Gründung eines großen Reiches schloß sich unmittelbar an, und eine höchst bedeutende historische Literatur erwuchs, der das Abendland noch lange nichts Ähnliches zur Seite zu stellen hatte. Sie ist ein bodenständiges Gewächs und zeigt ihre Herkunft in der Sitte, den einzelnen Bericht auf bestimmte Erzähler, oft durch eine lange Reihe von Zwischengliedern, zurückzuführen, die mit der Zeit wohl fiktiv werden. E s gebricht also an der kritischen Verarbeitung, aber es sind doch großartige Leistungen erzielt, auch für die Kunde ferner Länder, und die durch die Syrer vermittelte Berührung mit der hellenischen Philosophie hat sogar zu allgemeinen historischen Betrachtungen geführt. Die Invasion der Turanier hat leider diese hohe Kultur bis auf den Grund zerstört. Von den Indogermanen Europas sind die Illyrier und Thraker illiterat geblieben, und sehr viel weiter haben es die Italiker aus eigenem auch nicht gebracht. Von oskischen Chroniken verlautet nichts, und die der Römer ist kümmerlich genug gewesen. Ihre Sage

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auch. Denn was sich uns als solche bietet, ist j a fast durchaus hellenistische Romanerfindung, einzelnes auch etruskischer Herkunft. Was die Römer später an Geschichtsschreibung hervorbringen, gehört der Kunstform nach zu ihren griechischen Vorbildern. So sind auch auf diesem Gebiete die Griechen einzig schöpferisch, schöpferisch durch das Auftreten individuell schaffender Menschen. Lassen wir den ganzen Reichtum der historischen Sagen und E p e n beiseite, ebenso die Chroniken, die doch sehr früh von benannten Personen bearbeitet und fortgesetzt werden, und erkennen wir an, daß Hero362 dotos der Vater der Geschichte nur in bedingter Weise heißen kann. Denn was er gibt, das nennt er den Rechenschaftsbericht über seine Erkundung, und er erzählt von fremden Ländern, ihren Völkern und Sitten und Bauten ebenso wie das, was sie ihm über ihre Geschichte mitgeteilt haben. Freilich gibt er auch als seine Absicht an, große Taten der Vergangenheit nicht der Vergessenheit anheimfallen lassen zu wollen, und so bringt er, was ich die Sage von den Perserkriegen genannt habe. Erst in diesen Büchern ist er durch seinen Eintritt in den politisch denkenden und handelnden Kreis der Athener zur Geschichtsschreibung fortgeschritten; aber seine Darstellung trägt noch die Spuren ihrer Herkunft, einmal aus dem Epos, zum andern aus der ionischen Novelle; den Anschluß an die Chronik hat er versäumt. Der Archeget der wahren Geschichtsschreibung ist erst der Athener Thukydides, und es ist gleichermaßen für seine Genialität wie für die geistige Höhe seiner Zeit bezeichnend, daß er als junger Mann, der sich nach Herkunft und Neigung zum Staatsmann berufen fühlte, sich beim Beginne eines Krieges, von dem er die Entscheidung über die Zukunft seines Volkes erwartete, daran machte, dieses Krieges Geschichte zu schreiben. Diese Aufgabe hat er so gelöst, daß ihn bis heute niemand übertroffen hat. Sein Werk ist nicht nur wegen seines Inhaltes als Quellenwerk, nicht nur wegen seines Kunstwertes, der seine Grenzen hat, sondern als unübertreffliches Muster politischer Geschichtsschreibung des ewigen Lebens sicher. Oft genug habe ich daran gedacht, wie er die äußeren Anlässe und den inneren Grund des Peloponnesischen Krieges auseinander hält, wenn über die Vorgeschichte unseres Krieges geredet ward. In engem Anschlüsse an Thukydides könnte man die serbischen Händel erzählen und dann kurz sagen: 363 das waren die Anlässe; der wahre Grund aber war, daß Deutschland den Engländern zu mächtig geworden war.

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Thukydides hat einen Typus historisch-politischer Geschichtsschreibung aufgestellt, der manchen noch heute als der einzig wahre gilt. Er beschränkt sich auf die militärisch-politischen Ereignisse, so daß die innere Geschichte nur so weit zur Darstellung kommt, als sie auf die äußere hinüberwirkt. Die hervorragendsten Personen werden charakterisiert; die politischen Motive und Absichten teils von dem Schriftsteller selbst angegeben, teils als fiktive Reden benannten oder unbenannten Sprechern in den Mund gelegt. In der annalistischen Ordnung, die er noch zu steigern versucht, und einigen Rudimenten, z. B . Angaben über Sonnenfinsternisse und Erdbeben, wirkt die Chronik nach. Das ist später von denen aufgegeben, die sich der thukydideischen Form bedienen. Das sind Männer, die wie er nicht zünftige Literaten sind, sondern im praktischen Leben stehen oder gestanden haben, die Geschichte ihrer Zeit schreiben und demnach die wertvollsten Quellenwerke liefern, freilich nicht immer in einer Form, die den Ansprüchen eines verwöhnten Leserkreises genügt, so daß geschicktere Bearbeiter für die Nachwelt an ihre Stelle treten. Das leuchtendste Beispiel für solche Bearbeitung ist Tacitus, der j a nicht nur in den Annalen, sondern auch in dem erhaltenen Teile seiner Historien, Jahren, die er selbst erlebt hatte, ein fremdes Werk zur Unterlage für seine Erzählung genommen hat, so daß ihm wesentlich nur die Gestaltung gehört: er ist, wie Leo gesagt hat, mehr Tragiker als Historiker. Aus der Zahl der Geschichtsschreiber thukydideischer Gattung sei nur noch Polybios genannt, der nicht nach dem ersten Teile be- 364 urteilt werden darf, der uns erhalten ist, denn da berichtet er noch über ältere Zeit, also aus anderen Büchern: man soll auch auf seine methodischen, nur zu langen Abschweifungen nicht viel geben, denn mit seiner pragmatischen Methode ist nichts Neues oder Großes geleistet, wohl aber steht er als Historiker, wenn auch nicht als Künstler, auf der Höhe, soweit er Geschichte der eignen Zeit erzählt, die er selbst übersieht; das trifft auf Syrien und Ägypten nicht zu, aber dafür kann er nichts, und so, wie er Weltgeschichte schreibt, um den notwendigen Ubergang der Weltherrschaft an Rom darzulegen, das ist echter thukydideischer Geist. Polybios fühlt sich im Gegensatze zu der Geschichtsschreibung der Literaten, die bald nach Thukydides aufgekommen waren und im ganzen das Feld behaupteten. Sie bildeten sich ein, schöner zu schreiben, was die Leser in der Tat auch fanden. Die Geschichts-

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erzählung erschien ihnen mit Recht als eine der höchsten Aufgaben der Prosaschriftstellerei. Wenn es ihnen an politischer Einsicht und Erfahrung gebrach, so meinten sie, das durch politische oder moralische Tendenz zu ersetzen. Hinzu kam, daß das feine und tiefe Wort des Aristoteles: „Die Poesie ist philosophischer als die Geschichte" in seiner Schule den Versuch zeitigte, so zu schreiben, daß die Erzählung es mit der Tragödie an pathetischer Wirkung aufnehmen könnte. Dabei ist Reizvolles genug herausgekommen; es genügt, an Tacitus zu erinnern. Aber daß die Wahrheit nur zu oft der Tendenz und dem Effekt geopfert ward, wird niemand anders erwarten. Mehr oder weniger in dieser Weise ist die Geschichte der älteren Zeit immer dargestellt worden, weil ihr Inhalt notwendig von anderen herübergenommen 365 werden mußte. Denn das kann nicht scharf genug betont werden: eine wirklich historische Forschung hat es bei den Hellenen nicht gegeben. Die einzigen, die wenigstens nach den zuverlässigen, womöglich urkundlichen Daten gesucht haben, die Grammatiker, sind über das Zusammentragen doch nicht hinausgekommen, und vollends sich in die Denkart und Empfindung einer anderen Zeit zu versetzen, hat niemand auch nur angestrebt. Daher hat es auch keine Biographie gegeben, welche den Menschen nach den Bedingungen seiner Zeit maß, welche ihn überhaupt als einen Werdenden faßte. Und doch hat Plutarch, der Philosoph, ungemein anziehende Bilder historischer Menschen geschaffen und so als Biograph auf die moderne Literatur überaus stark gewirkt. Von dieser hellenistischen Geschichtsschreibung, die von den Rhetoren in Theorie und Praxis ausgebildet war, muß man eine Vorstellung haben, um das Werk des Livius richtig zu beurteilen, der j a seines Zeichens ein Redelehrer war. Sein ungemeiner Erfolg beruht auf seinem formalen Geschick. E r bringt die abschließende Bearbeitung der chaotischen Masse der römischen Chroniken, denn diese Form war fast durchweg beibehalten, obgleich sonst nach dem Rezepte der hellenistischen Halbromane gearbeitet ward, aber alles war dem Geschmack der ciceronischen Zeit ungenießbar geworden. Wie Livius die auch für ihn im ganzen märchenhafte Urzeit bis zum Dezemvirat erzählt, wie er dann die öden zwei ersten Jahrhunderte der republikanischen Chronik durch farbige Episoden, leider auch durch das kalte Feuerwerk hohler Reden belebt, das macht dem Rhetor Ehre. Wir dürfen nur nicht vergessen, daß Romulus und Remus aus einer Tragödie des Sophokles

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stammen, daß die Tugendheldinnen Lucretia und Virginia hellenistische Romanfiguren sind, und doch ist Emilia Galotti die verkappte 366 Virginia des Livius. Echt ist bei ihm der römische Nationalstolz, und der war willkommen zu der Zeit, da Augustus den Italikern im Gegensatze zu dem Griechentum ein nationales Reich gründete, weshalb der Kaiser dem Livius auch seinen zahmen Republikanismus verzieh. Ein Historiker ist er freilich selbst dadurch nicht geworden, daß er auf lange Strecken den Polybios übersetzte, hat er doch ahnungslos für die Scipionenprozesse ein politisches Pamphlet der allerjüngsten Vergangenheit benutzt. Aber den Italienern der Renaissance mußte er als das große Vorbild erscheinen, einschließlich seiner leeren Reden und seiner patriotischen Rhetorik. Der jähe Verfall der römischen Kultur zeigt sich darin, daß die Geschichtsschreibung schon im zweiten Jahrhundert abstirbt, während die Griechen im Anschlüsse an ihre klassischen Vorbilder noch bis zum Einbruch der Araber höchst achtungswerte Werke hervorbringen; zu ihnen gehört Ammian, wenn er auch lateinisch schreibt. Selbst später haben die byzantinischen Chroniken immer noch einen benannten Verfasser und kann die Prinzessin Anna Komnena immer noch eine lesenswerte Darstellung liefern. Nur dünkelhafte Unkenntnis kann die Byzantiner verachten. Die Historie des Okzidents verrinselt in stammelnde Chroniken, und für diese selbst sind die Tabellen der Weltchronik des Eusebios die Grundlage, die der heilige Hieronymus übersetzt hatte. Das gelehrte Werk selbst hatte schon dieser für entbehrlich gehalten. Der Gallier Sulpicius Severus bringt noch einen Abriß der Weltgeschichte fertig, wie ihn das Christentum und die verhältnismäßig hohe Bildung seiner Heimat verlangte. Der Spanier Orosius tut etwas Ähnliches noch zur Verteidigung der neuen Religion, wo dann die Tendenz in anderer 367 Richtung die Wahrheit vergewaltigt, als es Livius tat. Was bedeutet das gegenüber den einzigen lesenswerten Geschichtsbüchern, die der Gote Jordanes, der Franke Gregor von Tours und der Langobarde Paulus liefern, lesenswert trotz ihrer Form. Das fremde Gewand ist namentlich bei den beiden ersten schäbig; es sitzt schlottrig, aber es ist durchwirkt von den Goldfäden der echten Sage, j a des Heldenliedes, und alles beseelt von dem Stolz auf das eigene Volkstum. Bei den Germanen stand der Sänger neben dem Krieger wie einst im vorhomerischen Hellas. Das tat er auch bei den Kelten, und auf 10

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Irland hat sich dadurch auch historische Erinnerung erhalten. Noch viel später, bis an unsere Tage beobachten wir das historische Lied bei den Serben; doch ich muß mir versagen, das historische Volkslied heute zu verfolgen. Aber eine volle Parallele zu der hellenischen Entwicklung bieten auch nur die Germanen und die durch die germanische Einwanderung belebten Romanen. Die Entwicklung würde genau den gleichen Verlauf genommen haben, wenn nicht die antik römische, durch die Kirche dargebotene Einwirkung hemmend und fördernd zugleich hinzugetreten wäre. Ermanarich und Theodorich, Attila und die Burgundenkönige sind ganz emporgehoben in den Äther der freien Dichtung und verhelfen uns dazu, Agamemnon und Odysseus vor plump historisierendem Rationalismus zu schützen. Wie immer ist die Erhebung in die Poesie um den Verlust der geschichtlichen Wahrheit erkauft. Desselben Weges zieht Karl der Große mit seinen Paladinen im französischen Epos. Bei den Nordgermanen, die sich noch lange der 368 Störung durch das Latein entziehen, treffen wir noch den Skalden zur Seite des Königs; Ibsen hat es in den Kronprätendenten ergreifend vorgeführt. Das echte Heldenlied tönt sogar noch durch das Latein des Saxo Grammaticus ganz vernehmlich. Auf Island, das uns in letzter Stunde einiges von dem Liederreichtum erhalten hat, vollzieht sich dann, als es weder einen wirklichen Staat noch große Ereignisse gibt, der Ubergang zu der Prosaerzählung, in der bäuerliche Menschen ein heroisches Leben führen und Tragisches erleben. Erst in diesem Stadium, in der Prosa, steigert sich das durch die Kunst unbenannter Erzähler zu einer bewundernswerten Epik. Das steht der ionischen Novelle parallel; aber während die Nordgermanen den Schritt vom Liede zum Epos, den Schritt, den Homer tut, nicht getan haben, so gelingt ihnen das hier, weit über die hellenische und auch die orientalische Novelle hinaus. In Mitteleuropa ist großes politisches Leben, aber es gibt keine Skalden, und die Sprache der Kirche herrscht. Die Männer der Tat beherrschen sie selten, so daß Geschichte im Kloster geschrieben wird, was den Horizont einengt. Dennoch ist es nichts Geringes, daß Widukind von Corvey dem Ruhme seines Stammes zum Ausdrucke verhilft, als die sächsischen Kaiser dem deutschen Namen und dem Deutschen Reiche zur Ehre, zum Ansprüche auf die Herrschaft in der Christenheit verhelfen; diese Größe wird freilich dem Mönche nicht wahrnehmbar. Bald kann Liudbrand von Cremona, ein italienisierter Langobarde, eigene Erlebnisse mit scharfer Beobachtung und starkem Tempera-

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mente aufzeichnen. In der Hohenstaufenzeit regt sich dann etwas, das wir dem Auftreten des Thukydides vergleichen mögen, freilich nur so weit, daß der Politiker Zeitgeschichte schreibt. Denn die schriftstel- 369 lerische Leistung wird durch die Nachahmung der lateinischen Vorbilder auf das schwerste beeinträchtigt; es geht bis zur Herübernahme von Einzelzügen und Motiven der Erzählung. E s sind die Franzosen, die zuerst befähigt werden, sich der Muttersprache zu bedienen, schon auf dem vierten Kreuzzuge, und so hat sich bei ihnen jene großartige Memoirenliteratur gebildet, die bis in unsere Tage reicht. Der Staatsmann schreibt; es macht nicht viel aus, ob er die Form geschichtlicher Darstellung oder die der persönlichen Erinnerung wählt, auch nicht, wenn einmal in der Hochrenaissance lateinische Form gewählt wird. Hier ist in der Tat etwas dem thukydideischen Schreiben Vergleichbares; nur ist modern, französisch das Vordrängen der eigenen Person. Das wird im Altertum verborgen, selbst wo es vorhanden ist wie bei Xenophon. Die Chronik spielt in Frankreich keine Rolle; wohl aber zeigt der Florentiner Dino Compagni denselben Ubergang von ihr zu der Schilderung der Zeitgeschichte auf Grund eigner Beobachtung wie etwa die letzten Bearbeiter der athenischen Chronik. Nach der Entdeckung der antiken Historiker bearbeitet dann Macchiavelli denselben Stoff, deutlich unter der Einwirkung der bewunderten Stilistik des Livius, in seltsamem Kontraste zu dem reifen politischen Urteil und der politischen Theorie, die auf dem Grunde der antiken Denker ruht, von denen Livius unberührt war. Die meisten griechischen Historiker waren durch die Initiative von Papst Nikolaus IV. übersetzt, schon ehe die Hauptschriften des Tacitus, wichtige Stücke des Livius, Ammian und anderes Lateinische ans Licht traten. Damit waren Vorbilder in reicher Auswahl aufgestellt, an die sich die Zeitgeschichte halten konnte. E s stellte sich daneben das Verlangen ein, zunächst für das Altertum eine Gesamtgeschichte zu besitzen, also das gesamte 370 Material zu sammeln und zu ordnen. Das ist mit Bienenfleiß, aber auch nicht mit viel mehr in den sog. Altertümern geschehen, deren Sammlungen wir ohne Dank, oft ohne es zu wissen, benutzen. In wahrhaft wissenschaftlichem Sinne hat eigentlich nur der große Joseph Scaliger gewirkt, der die Grundlage aller Historie, die Chronologie, zu sichern suchte, auch die Inschriften sammeln ließ. Kritik regte sich noch nicht viel; nur in der Geschichte der alten Kirche und ihren Dokumenten 10«

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führte zu ihr der Streit der Konfessionen. Wohl die größte Leistung hat Claude Tillemont fertiggebracht, und wenn ihn die von der Kirche vorab festgestellte Wahrheit bindet, nimmt das der Tatsache nichts an ihrer Bedeutung, daß er einer Geschichte der Kirche und des Reiches das Material bereitet hatte. Es mußten nur die Bearbeiter kommen, Leben und Ideen hineinzubringen. Dadurch ergab sich etwas jener Historiographie Vergleichbares, für die Tacitus und Plutarch als die vornehmsten Beispiele erwähnt sind. So hat Voltaire Geschichte geschrieben, viele Bände, und wer dies und das davon gelesen hat, wird sich dem Reize der Darstellung durch den glänzenden Stilisten nicht entzogen haben, freilich auch die Tendenzen, die statt der Wahrheit leitend sind, nicht verkennen. Immerhin ist er mehr als Livius. „Charles XII", an dem ich noch Französisch lesen gelernt habe, packt als tragische Novelle, und das „Siècle de Louis XIV" erhält durch die Person des beurteilenden Schriftstellers ziemlich überall wirklichen Wert, nur eben nicht wahrhaft historischen. Das Höchste in diesem Stile hat Gibbon erreicht: das ist in der Tat Weltgeschichte. Man wird immer wieder gefesselt, wo man ihn zur Hand nimmt. Und doch ist er zwar 371 ein großer Geschichtsschreiber, aber kein Historiker, und seine voltairische Tendenz blendet das Licht der Wahrheit nicht minder als bei Tillemont der Glaube der Kirche. Nun ist die Zeit erreicht, wo die Deutschen die historische Wissenschaft begründen, die Vorläufer Winckelmann, Heyne, Herder, dann Niebuhr, Ranke, Mommsen. Diese wissenschaftliche Historie liefert reichlich dafür Ersatz, daß die Deutschen seit Jahrhunderten kein großes Geschichtswerk hervorgebracht hatten. Der Geist war neu. Aber wer Niebuhr noch gelesen hat, wird sich eingestehen müssen, daß in der Form Livius und Polybios, der ja auch kritische Abschweifungen liebt, noch immer nachwirken. Und gilt das nicht auch noch für Ranke, nur daß Thukydides statt Livius zu nennen ist? Bei ihm sowohl wie bei Polybios konnte Ranke sogar die Anregung erhalten, die in dem Wirrsal des Geschehens wirkenden Ideen herauszuarbeiten. Der Anschluß liegt namentlich in der Beschränkung auf die politische Geschichte, wie sie z . B . streng in seiner französischen und englischen Geschichte herrscht. Diesen engen Rahmen hat die Darstellung doch sprengen müssen, weil ihn die Forschung sprengte. Wer Macaulay neben Rankes entsprechender Geschichte liest, kann sich dem Fortschritt nicht wohl verschließen und auch dem nicht, daß Voltaire und

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Gibbon schon mit Recht weitergegriffen hatten. So hat denn Mommsen das ganze Leben des römischen Volkes einbezogen, und anders kann es keine Darstellung auf dem Gebiete des Altertums mehr ungestraft versuchen. Dabei ist es bezeichnend, daß Mommsen zuerst daran dachte, sich bei Ritsehl für die Literatur R a t s zu erholen, aber dieser Grammatiker kam mit seinem Verständnis über die Form der Sprache und des Verses nicht hinaus. Mommsen dagegen schuf die erste Geschichte 372 der altrömischen Literatur. Der Reichtum des modernen Lebens und die erdrückende Fülle der Zeugnisse mag es undurchführbar machen, in der allgemeinen Darstellung so weit auszugreifen; selbst bei Treitschke wird kaum jemand behaupten, daß seine doch so umfassenden Schilderungen des geistigen Lebens voll genügen. Da liefert die Biographie die Möglichkeit des Ersatzes, auch sie erst eine Errungenschaft der kritisch historischen Wissenschaft, denn nun erst lernte der Mensch sich in eine fremde Seele versenken, indem er sich selbst unter die Voraussetzungen der fernen Zeit stellte. Der Held muß freilich einer der wirklichen Führer sein, damit der geistige K a m p f und der Fortschritt zum Ausdruck kommen, wenn nicht ein tragisches Menschenschicksal als solches wirkt, wo denn die Umgebung unwesentlicher wird. Die Biographie, wie sie J u s t i und Dilthey uns geschenkt haben, leistet viel; aber um das Leben in seinem Flusse zu zeigen, braucht man auch die Masse, den Durchschnitt, das Typische, mit all dem Drum-und-Dran. So begreift man mindestens als geschichtlich berechtigt, daß neben die wissenschaftliche Historie der historische Roman trat, und insofern erhält die Bestrebung der hellenistischen, tragischen Historiographie auch ihre Berechtigung. Walter Scott geht voran, der die ganze Welt in seinem schottischen Berglande heimisch machte. Unter seiner zahllosen Nachkommenschaft ist gewiß viel elendes Zeug, denn das breite Publikum will immer Bettelsuppen. Aber des Wertvollen ist auch genug. Was kann der Preuße seinen Kindern Besseres in die Hand geben, um den echten vaterländischen Sinn zu wecken, als die Romane von Willibald Alexis, und was verleiht dem Norddeutschen das Verständnis für die Schwaben, das er auch erwerben soll, besser 373 als Hauff und H. Kurz? Der historische Roman will belehren, will also nicht rein als Poesie wirken. Selbst der strengste Bekenner des falschen Grundsatzes l'art pour l'art, Gustave Flaubert, hat sich der archäologischen Studien gerühmt, die er für Salambö gemacht hatte, bean-

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spruchte also Wahrheit des Kolorits. So ist es nicht billig, daß diese G a t t u n g der Prosadichtung zur Zeit bei uns ziemlich in Mißkredit ist, mag das auch die aufdringlich belehrende Tendenz des Professorenromans verdient haben. Dabei ist eines belustigend: auch zu dem historischen Romane gehört ein Liebespaar, um dessen Endschicksal, Hochzeit oder Tod, sich die Handlung mindestens zum Teile dreht. Wissen Sie, wo das herstammt? Aus dem spätgriechischen Romane, den man geradezu „Liebesgeschichte" nannte, und der, so geringen Wert er hat, doch auf den modernen Roman bestimmend eingewirkt hat. Diese griechischen Liebesgeschichten ihrerseits stammen aber aus der romanhaften Umarbeitung der Geschichte, wie wir jetzt durch Reste älterer Romane sicher wissen. Auf dieses recht entbehrliche erotische Element glaubte Gustav Freytag nicht verzichten zu können, als er in seinen Ahnen einen Längsschnitt durch die deutsche Geschichte zu geben versuchte, mit nur zu bald erlahmender K r a f t , so daß er nichts erreicht hat, das seinen Bildern aus der deutschen Vergangenheit gleichkäme, die uns durch Proben befriedigen, wo sie hinreichend zu Gebote standen. F ü r das Mittelalter reichen sie allerdings nicht, da kommt die Kirche, also die Seele, nicht zu ihrem Rechte; da geben sich auch die Menschen nicht selbst hinreichend, weil sie noch nicht aus sich herauskommen; daher hätte der Dichter eintreten müssen. 374

Der Dichter wird auch allein imstande sein, die Bewegungen und Gefühle der Masse zur Anschauung zu bringen. Tolstoi hat es in Krieg und Frieden einigermaßen vermocht. Täusche ich mich nicht, so hat ein schwedischer Dichter unserer Tage einen neuen Weg gezeigt, Werner von Heidenstamm in seinen Karolinern. In einer mäßigen Zahl von Einzelbildern, verschieden im Ton, verschieden in der Beleuchtung, führt er uns Karl X I I . , den nationalen tragischen Helden, seine anomale und doch bezaubernde Natur, sein Heer und sein Volk vor. Ich kann das nur eine neue und bedeutende Art des historischen Prosaepos nennen. Heidenstamm hat auch Schwedens Könige so behandelt, die alte nationale Geschichte, aber mich dünkt, der Erfolg ist nicht so glücklich. Mich hatten die Karoliner tief gepackt und den Wunsch erzeugt: wenn wir doch auch so etwas erhielten; meine Freude war daher groß, als Ricarda Huch, unsere vornehmste Dichterin, das Epos vom Dreißigjährigen Kriege in die Form Heidenstamms kleidete. Sie gibt uns das Wesentliche, was der Deutsche sich aus jener furchtbaren Zeit einprägen soll, wertvoller als Daten und Regenten und Schlachten,

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die doch a u c h alle hineinspielen. R i c a r d a H u c h h a t das C h a r a k t e r b i l d W a l l e n s t e i n s d a n e b e n gestellt, eine große L e i s t u n g , in der sich der P o e t als P s y c h o l o g e b e w ä h r t . E i n solches Seelengemälde setzt die B i o g r a p h i e eigentlich v o r a u s , u n d sie w ü r d e in der T a t eine h ö c h s t w ü n s c h e n s w e r t e E r g ä n z u n g der Folge v o n Einzelszenen b i e t e n . W i e d e n n n e b e n Alexis' R o m a n e n D r o y s e n s Y o r k a m b e s t e n schon der J u g e n d das echte, freie, stolze P r e u ß e n t u m e i n z u i m p f e n v e r m a g ; wir l e r n e n leider, d a ß die k r i t i s c h e H i s t o r i e sich selbst d a r u m b r i n g t ; d a n n g e h t es ihr wie i m M ä r c h e n : sie v e r g i ß t ü b e r d e m S a m m e l n der S c h ä t z e d i e b l a u e B l u m e , die i h r allein die S c h a t z h ö h l e erschloß, u n d die S c h ä t z e w e r d e n K o t . 375 F ü r die H e l d e n u n s e r e s j e t z i g e n Krieges, die w i r zu u n s e r m Leidwesen n o c h gar n i c h t alle u n d n o c h ganz u n v o l l k o m m e n k e n n e n , wird die B i o g r a p h i e erst in f e r n e r e r Z u k u n f t ihr W e r k b e g i n n e n k ö n n e n . A b e r in der F o r m , die H e i d e n s t a m m u n d R i c a r d a H u c h geschaffen h a b e n , l ä ß t sich meines B e d ü n k e n s d a s d e u t s c h e L e b e n i n dieser g r o ß e n g r a u s e n Zeit sehr w o h l s c h o n b a l d z u r D a r s t e l l u n g b r i n g e n , der J u b e l der e r s t e n sonnigen T a g e , T a n n e n b e r g , die J u g e n d o p f e r des e r s t e n H e r b s t e s , die H e l d e n f a h r t e n der Schiffe d r a u ß e n bis zu i h r e m U n t e r gange, d a n n R ü c k s c h l ä g e , langes b a n g e s H a r r e n z u H a u s e , W a r t e n u n d W a c h e n in Schnee u n d Eis, in S u m p f u n d K r e i d e d r a u ß e n , u n d wieder Märsche, u n d w i e d e r Siege, u n d k e i n E n d e . G a s a n g r i f f e u n d B r a n d b o m b e n aus der L u f t ; d a n n a u c h die L a n d s c h a f t e n , K a r p a t e n u n d B a l k a n , die S ü m p f e W o l h y n i e n s u n d die W ü s t e n Syriens. U n d 376 n i c h t n u r d a s : a u c h die D i p l o m a t e n a n i h r e n g r ü n e n Tischen, die K r i e g s g e s e l l s c h a f t e n in i h r e n Klubsesseln, die K r i e g s g e w i n n l e r m i t i h r e m P r o t z e n t u m u n d die Schlangen der w a r t e n d e n F r a u e n m ü s s e n erscheinen. D a n n erst, w e n n wir alles in c h a r a k t e r i s t i s c h e n B i l d e r n zu sehen b e k o m m e n , F e l d h e r r e n u n d Musketiere, U b o o t u n d U n t e r s t a n d , G e s c h ä f t s p o l i t i k e r u n d H a m s t e r , die F r a u , die sich o p f e r t , u n d die F r a u , die sich p u t z e n d die S e g n u n g e n des Krieges genießt, d a n n sehen w i r das ganze L e b e n . D e n H i n t e r g r u n d der Ereignisse wird die l e b e n dige Sage h i n r e i c h e n d liefern. Sei das eine U t o p i e ; d a s eine l ä ß t sich n i c h t b e s t r e i t e n , d a ß die W i s s e n s c h a f t a u ß e r s t a n d e ist, dieses Meer der T a t e n u n d L e i d e n a u s z u s c h ö p f e n . A b e r g e r a d e , weil ich die U n z u länglichkeit des eigenen H a n d w e r k s e r k e n n e , g e t r ö s t e ich m i c h d e r Hoffnung: S c h ö p f t des Dichters reine H a n d , W a s s e r wird sich ballen.

17. Die Geltung des klassischen Altertums im Wandel der Zeiten Wenn eine fremde, längst vergangene Kulturwelt als mehr oder minder kanonisch gilt, muß sich dagegen auch eine Opposition richten, um so lebhafter, je mehr Selbstgefühl die Gegenwart hat. Das hat auch das sogenannte klassische Altertum mehr als einmal erfahren. In unserer Zeit, schon vor dem Kriege, wo die Deutschen sich in dem Gefühle sonnten, wie herrlich weit sie es gebracht hätten, und vollends jetzt gilt es den herrschenden Massen für abgetan wie alles, was einmal heilig war. E s ist auch richtig: wenn nicht nur die Gesellschaft, sondern die einzelne Menschenseele gewaltsam nach abstrakten Theorien in eine neue Form gepreßt werden soll, so muß alles geschichtlich Gewordene beiseite geworfen werden. Hinzu kommt, daß die meisten bei der Bewertung der sogenannten Antike an die Schule denken, das Gymnasium, das immer Lateinschule gewesen war und vor hundert Jahren das Griechische hinzuzog. Obgleich seit zwanzig Jahren drei gleichberechtigte Schulen bestanden, ward doch das Gymnasium von den Eltern immer noch bevorzugt. Dagegen wenden sich nicht nur die, welche es nicht oder mit ungenügendem Erfolge besucht haben: auch mancher, der es ordnungsgemäß durchgemacht hat, sagt mit Recht, daß ihm das Gymnasium nicht gegeben hätte, was es versprach, und diese Zahl ist immer stärker angewachsen, seit die Schulbürokratie und Schulpädagogik an ihm herumgeändert haben. Von der Schule ist nun ganz abzusehen, wenn man nach dem absoluten und geschichtlichen Werte der griechisch-römischen Kulturwelt fragt, der doch davon ganz unabhängig ist, inwieweit dieses oder jenes aus jener Welt für die Bildung der deutschen Jugend geeignet ist. Wohl aber wird auch hier die geschichtliche Betrachtung allein zu einem gerechten Urteil führen. 17. Velhagen und K l a s i n g ' s Monatshefte 36 (1921/22) 7 3 - 7 7 . [ Vgl oben S.

HOff.]

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Wir wollen sehen, wie die verschiedenen Zeiten sich zu der Antike gestellt haben und was sie ihnen geboten hat. Als die Germanen das römische Westreich erobern, beginnt eine neue Weltperiode. Abgelebt ist der alte Staat und die alte Gesellschaft. Die Eroberer stehen noch in der Kindheit, und die römische Kirche, der sie sich unterwerfen, übernimmt ihre Erziehung. Die Kirche ist die Erbin des Weltreiches, das in ihr dauert, und die Religion, die sie der Welt bringt, ist und bleibt ein Erzeugnis der antiken Kultur. Das muß sich jeder vor allem klarmachen, daß das Christentum selbst zur Antike gehört, mögen auch schon die italienischen Humanisten durch die ältere Literatur häufig zu der Kirche in Gegensatz treten und dieser Gegensatz sich nach dem Eindringen der hellenischen Wissenschaft verschärfen. Die Bibel ist und bleibt nun einmal ein antikes Buch, nicht nur in der Form, auch in den Gedanken. Auch aus dem Alten Testamente stammt sehr viel aus der hellenistischen Zeit, und auch was älter ist, hat das J u d e n t u m dieser Zeit überliefert, das wie der ganze Orient unter hellenischer Herrschaft steht. Die Kirche bringt die Weltsprache, das Latein; das ist bis heute ihre Sprache; sie kann es nicht aufgeben, und in ihr ist es eine lebendige Sprache. Dies Latein hat auch auf die germanischen Sprachen eine ganz gewaltige Wirkung ausgeübt. Nicht nur alles Kirchliche wird mit Lehnwörtern bezeichnet, auch unendlich vieles, was nun zu dem Leben, seinen Bedürfnissen und Voraussetzungen gehört. Meister und Arzt, Kammer und Keller, Mauer und Ziegel, Tisch und Schüssel, Pferd und Esel, Wein und Kirsche, Butter und Käse, Rose und Veilchen, schreiben und dichten, kaufen und prüfen und tausend andere Worte sind fremder Herkunft, und unsere ganze Sprache in Wortbildung und Satzbildung ist von dem Lateinischen umgeformt. Der Vers h a t dem lateinischen Reim die Alliteration geopfert, und der Fortschritt v o m Heldenliede zum Epos ist nach dem Vorbilde Vergils getan. Das ist alles der Erfolg der Schule, welche die Kirche so übernahm, wie sie in den letzten Zeiten des Römertums war. Sie überlieferte eine grammatische und rhetorische Schulung, die eine unverächtliche, formale Geistesbildung verlieh, daneben den letzten Abhub des Wissens, aber keinen Hauch von Wissenschaft. Insbesondere war jedes Streben, die Natur zu beobachten und zu verstehen, auch nur um sie zu beherrschen, ganz verloren. Was von technischen Fertigkeiten blieb, erhielt sich nur durch die Tradition in der Praxis. Selbstverständlich wirkte vieles

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74 unmittelbar, was die Eroberer trotz allen Zerstörungen noch vorfanden, in der Lokalverwaltung, im städtischen Leben, in Tracht und Hausrat. Als Karl der Große das Kaisertum erneuert, wird den Uberresten der lateinischen Literatur eifrig nachgeforscht; Nachahmungen in Vers und Prosa werden versucht. E s kommt auch manches aus dem Osten herüber, in dem j a das Römerreich bestehengeblieben war. Später kommt aus dem arabischen Spanien nicht weniges, das griechischen Ursprunges ist, gerade auch für Naturwissenschaft und Technik. Dann bringen die Kreuzzüge mehr, namentlich Aristoteles und Galen, und die Welt ist reif, diese Anregungen aufzunehmen und zu verarbeiten. Aber noch ist die Kirche imstande, sie sich einzuverleiben, ohne an ihrer Allmacht Einbuße zu erleiden. Dennoch ist die Welt eine andere geworden. E s haben sich die romanischen und germanischen Völker und Staaten zu eignem Leben erhoben. Die Volkssprachen treten neben das Latein, die Denker der Scholastik gehen ihre eigenen Wege. Das Erbe der Antike, wie sie überliefert war, hatte das Seine getan, indem es den neuen Menschen dazu verholfen hatte, ihre Eigenart herauszubilden, sich von der Bevormundung zu befreien. Der Geist war reif für die geistige Erhebung, die wir Renaissance nennen, ein Name, der richtig verstanden nur bedeutet, daß die Menschen dieser Weltperiode wieder auf eine Stufe des geistigen Lebens gelangen, auf der sie in der früheren gestanden hatten. Wir sind gewohnt, die Renaissance mit Petrarca beginnen zu lassen. An ihm ist gleich deutlich zu sehen, daß der neue Geist nicht daher kommt, daß er die alten Schriften aufsucht und studiert, sondern er sucht sie auf, weil sein Lebensgefühl neu ist; aber er findet in ihnen Bestätigung und Kräftigung. Bei dem Italiener spricht das nationale Gefühl sehr stark m i t : es ist die Größe des eigenen Volkes, an der er sich aufrichtet. Ihm darf das Latein auch die eigene Sprache sein, und so ist es begreiflich, daß er und die Italiener überhaupt die reine alte Sprache wieder schreiben wollen, mit der sich die antiken Formen der Literatur von selbst einstellen. Das alte R o m ist für die italienischen Humanisten selbstverständlich nach jeder Richtung vorbildlich. Vergil und Cicero weisen auf die Griechen als ihre Vorbilder; nach ihnen schaut man verlangend hinüber. Allmählich kommen griechische Lehrer und bringen die griechischen Bücher. I n Byzanz war die Kirche engherziger gewesen als in R o m . Als sie die Slawen des Ostens sich unterwarf, hat sie ihnen keinen Hauch des hellenischen Wesens

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übermittelt. Aber nun war auch bei den Griechen der Ansatz zu einer Renaissance vorhanden, und namentlich Philosophie konnten die Byzantiner lehren, freilich nur so, wie sie ihnen von ihren letzten antiken Vertretern überkommen war. Im übrigen führten sie nur in das sprachliche Verständnis der alten Literatur ein. Denn es springt in die Augen, daß für den hellenischen Geist nur der Westen empfänglich war, zuerst die Italiener, dann die andern, soweit sie für den Humanismus gewonnen waren. Wirken konnte das Hellenentum noch lange wesentlich durch die lateinische Ubersetzung, obgleich der Buchdruck bald auch die Originale verbreitete. Die lateinischen Übersetzungen, namentlich der Historiker und Philosophen und der Werke exakter Wissenschaft, sind eine gewaltige Leistung; aber die Poesie ließ sich nicht so übersetzen, daß sie zur Geltung kommen konnte, und auch in den Kunstformen der Prosa behaupteten die römischen Kopien ihre Vorherrschaft. Es ist wohl nur der kleine satirische Dialog Lukians, der als eine neue Gattung übernommen ward; aber es genügt, an Hutten zu erinnern, um die Bedeutung dieses Gewinnes zu zeigen. Daß neben die Vulgata das griechische Neue Testament trat, kommt für die Einzelkritik noch kaum in Betracht, aber die Tatsache ist zwar keine Vorbedingung, aber wohl eine starke Hilfe für die Reformation geworden. Das Wesentliche ist, daß der hellenische Gedanke in die Herzen einzieht, die echte, durch keine Autorität gebundene Wissenschaft, die es nur bei den Hellenen gegeben hatte. Darum ist es nicht die ungeheure Summe von Erkenntnissen, die auf einmal offenbar wird, Mathematik, Astronomie, alle wahre Naturforschung, freilich auch die Afterwissenschaft der Astrologie, was Epoche macht, sondern die Kraft, auf dem Grunde dieser Erkenntnisse weiterzubauen. Ohne Ptolemäus wäre Kolumbus nicht westwärts nach Indien gefahren. Das heliozentrische System fand Kopernikus als eine antike Hypothese vor. An Spielereien Herons knüpft Lionardo seine technischen Entdeckungen und Ahnungen. Lorenzo Valla, der Ubersetzer des Herodot und Thukydides, gewinnt bereits den Scharfsinn und den Mut, die Fälschung der konstantinischen Schenkung zu entlarven, und Macchiavelli nährt an der antiken Staatslehre sein politisches Urteil, an der Kunst der antiken Geschichtsschreibung die Fülle seiner Storie fiorentine, an der antiken Freiheitsliebe seinen italienischen Patriotismus. Das Höchste für die Befreiung der Geister bringt die Philosophie. Schon unter Cosimo wird die platonische Akademie gestiftet, und wenn Piatons Sonne auch noch 75

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durch neuplatonische Nebel verhüllt wird, sie leuchtet und wärmt doch, und Strahlen von ihr dringen bis in die Erotik der Sonette Michel Angelos. Giordano Bruno verbindet die neue kopernikanische Erkenntnis mit diesem Piatonismus, und seine Phantasie reißt uns durch den nun erst in seiner Unendlichkeit begriffenen Weltraum. Montaignes Weltweisheit bleibt auf der Erde, ganz menschlich. Er bringt eine Erneuerung der Ethik, wie sie ihm Seneca und Plutarch boten, und der letztere wirkt weithin, da er in Amyot einen Übersetzer gefunden hat, der bereits eine der Volkssprachen meisterlich handhabt. Die stoische Moral hat in den nächsten Jahrhunderten weit und tief gewirkt, unverkennbar noch auf Kant. Überraschend schnell entdecken moderne Forscher so gewaltige neue Wahrheiten, daß uns die Überwindung des Alten, das Jahrhunderte gegolten hatte, zunächst in die Augen fällt. Daher vergessen wir leicht, daß jenes Alte doch die Voraussetzung des Neuen ist, der Forschertrieb und die Forscherkraft erst recht von jenem stammt. Die Mathematik des Cartesius, die Astronomie des Kopernikus eröffnen Bahnen, von denen jetzt nur noch der geschichtliche Blick auf die Griechen zurückschaut. Die Entdeckung des Kreislaufes des Blutes entwertet eigentlich die physiologischen Grundlagen der galenischen Medizin, und namentlich anatomische Entdeckungen treten hinzu. Auf diesem Gebiete ist uns der Kampf gegen die antike Autorität durch Molière besonders geläufig. Gewiß werden die Alten überwunden, aber es geschieht mit der Waffe der freien Forschung, die sie selbst geschmiedet haben. Wenn Bacon gegen Aristoteles ficht, so ist sein Feind der von der kirchlichen Philosophie kanonisierte Aristoteles, man mag auch sagen, der des spätantiken Dogmatismus: der wirkliche Aristoteles würde auf Bacons Seite fechten. Man konnte damals ja das echte Hellenentum noch gar nicht anders sehen, als es der unwissenschaftlichen Römerzeit erschienen war. Wir machen wieder und wieder die Erfahrung, daß der damals ganz unkenntlichen hellenistischen Zeit in Wissenschaft und Technik Dinge geläufig waren, die uns erst wahrnehmbar geworden sind, seit die moderne Forschung auf neuen Wegen ebendahin und dann unendlich weiter gelangt ist. Doch das kann hier nicht dargelegt werden. Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts übernimmt Frankreich die geistige Führung. Das Verständnis der griechischen Sprache wächst so sehr, daß große Philologen die Zeiten und die Geister zu unterscheiden

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beginnen, wenn im allgemeinen auch die Antike noch als eine Einheit erscheint, so daß noch lange zwischen Homer und dem angeblichen Orpheus k a u m ein Unterschied gefühlt wird, obwohl mehr als ein J a h r t a u s e n d zwischen beiden liegt. Der Geschmack bleibt r o m a n i s c h : Homer steht hinter Vergil weit zurück. E s bleibt die lateinische Schule, und Latein ist nicht nur die allgemeine Gelehrtensprache, sondern wird i m m e r noch in Versen und in Prosa als Sprache internationaler K u n s t geschätzt. Sehr bezeichnend, daß Griechisch nicht geschrieben wird, und wenn einmal Gelehrte ersten Ranges mit griechischen Versen spielen, fällt es kläglich aus. Aber nun bringen es die Franzosen des 17. J a h r h u n d e r t s fertig, die Gattungen der höchsten Poesie in ihrer zu klassischer Vollkommenheit erzogenen Sprache zu pflegen. Dabei suchen sie den Anschluß an die griechischen Vorbilder, aber in der rechten Weise, ohne ihre Freiheit dranzugeben. Corneille beruft sich auf die Lehren des Aristoteles. Racine schließt sich unmittelbar an Euripides an. Molière erreicht es, wie wir erst j e t z t recht erkennen, seit uns Menander wieder geschenkt ist, daß er über die römischen Kopien zu der attischen Feinheit des Originals durchdringt. K e i n Wunder, daß die Frage aufgeworfen wird, ob nicht die Alten überwunden wären, zumal die Naturwissenschaft alles Alte weit hinter sich gelassen h a t , auch die Philosophie ein gleiches erreicht zu haben scheint, da j a Gassendi sogar die Lehre Epikurs erneut h a t . Der Streit zwischen Antik und Modern wirbelt so viel Staub auf, daß man von der querelle reden kann, ohne ihren Gegenstand näher zu bezeichnen. Der ehrliche B e t r a c h t e r kann nicht wohl leugnen, daß die Verteidiger der Alten nicht allzugut abschneiden, und so ist auch der Erfolg, daß die Autorität des gesamten Altertums, von der K i r c h e abgesehen, für F r a n k reich ganz dahinfällt und in dem J a h r h u n d e r t Voltaires und Rousseaus gar keine Rolle spielt. E r s t die Revolution beruft sich wieder auf die Republik R o m s , Napoleon auf das Weltreich der Cäsaren; wenn die F r a u e n t r a c h t der Republik griechisch sein will, so geschieht das wahrhaftig nicht aus hellenischer Gesinnung. E r s t von Deutschland her ist im 19. J a h r h u n d e r t die Beschäftigung mit dem Griechentum wieder in Frankreich aufgenommen; aber die romanischen Völker werden immer den Umweg über die R ö m e r machen. E t w a mit dem Anfang des 18. J a h r h u n d e r t s beginnt von E n g l a n d aus eine neue Wendung, nicht mehr zur Antike, sondern zu dem echten, 76 großen Hellenentum. E r s t j e t z t wird seine Sprache wirklich verstan-

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den; das kostet lange Arbeit von Engländern und Holländern; Deutsche kommen erst später dazu und übernehmen dann die Führung. Engländer bringen Kunde von dem griechischen Lande und seinen Monumenten. Entscheidend ist die Abkehr von Barock und Rokoko, die Sehnsucht nach einer Rückkehr zur Natur, zum Einfachen und Erhabenen. Die Alpen werden gleichzeitig mit den Hellenen entdeckt. Wieder ist es wie in der Renaissance. Weil die neue Generation neu sieht und neu fühlt, bemerkt sie in der hellenischen Dichtung und Plastik die Einfalt, Schönheit und Menschlichkeit, die sie ersehnt, und so wird Homer eine Offenbarung der höchsten Poesie, die Griechen werden ein ideales Volk, ihr Land ein Wunschland, und das griechische Volk soll seine politische und namentlich seine künstlerische Entwicklung ganz organisch aus sich vollzogen haben. Damit ist der Welt ein Vorbild von absoluter Vollkommenheit gegeben, und der verhängnisvolle Schritt der Nachahmung wird getan. Dafür brauchen nur wenige Namen genannt zu werden, Canova und Thorwaldsen, Hermann und Dorothea und die Braut von Messina, Platens Hymnen und Komödien, des jungen Fritz Schlegel ästhetische Aufsätze. Trotz aller Bewunderung des vielen Schönen, das so entstanden ist, wissen wir, daß diese Nachahmung ein Mißgriff war. Die Künstler der Renaissance hatten sich auch an den Ruinen Roms, den Statuen und Gemälden gebildet, die dem Boden entstiegen, aber nur selten das Prinzip der Nachahmung aufgestellt oder befolgt, wie es etwa durch Palladio geschehen ist. Wir sind vielleicht gegen den Klassizismus ungerecht, weil er uns noch zu nahe liegt, aber die Theorien der Weimarer Kunstfreunde sind wirklich ebenso unerfreulich wie die Zeichnungen, welche sie krönen. Der Klassizismus ist heute überwunden; für viele scheint damit das Urteil über die Klassiker gesprochen, und daß sie darunter leiden, ist ein unvermeidlicher Rückschlag. So viel ist j a auch wahr, daß das Hellenentum niemals wieder die absolute Vorbildlichkeit erhalten wird; die Antike hatte sie schon lange vorher verloren. Das weiß niemand besser als der Philologe, denn gerade die nun erst zu einer wirklichen Geschichtswissenschaft erstarkende Philologie hat gelehrt, was die Hellenen wirklich gewesen sind. Eben durch den Feuereifer, mit dem sich die deutsche Wissenschaft auf die Erforschung von Hellas und R o m warf, entstand die historische Kritik, die manchen lieb gewordenen Glauben zerstörte, aber jeder Zeit und jedem ihrer Werke und Personen das Seine gab oder geben wird. Als F . A.Wolf in

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einer W i d m u n g a n G o e t h e das P r o g r a m m der n e u e n A l t e r t u m s w i s s e n s c h a f t a u f s t e l l t e , geschah das n o c h m i t einer so m a ß l o s e n Ü b e r s c h ä t z u n g des A l t e r t u m s , wie sie eigentlich n a c h H e r d e r n i c h t m e h r s t a t t h a f t w a r . S e i t d e m sind so viele Völker u n d K u l t u r e n m i t gleicher Liebe u n d gleicher K r i t i k e r f o r s c h t , d a ß keine einzige m e h r e i n e n a b s o l u t e n V o r r a n g b e a n s p r u c h t . I n n e r h a l b des A l t e r t u m s selbst a b e r ist erst d u r c h die U n t e r s c h e i d u n g der Zeiten e r m ö g l i c h t , d a ß j e d e einzelne E r s c h e i n u n g u n t e r d e n B e d i n g u n g e n ihres W e r d e n s g e w ü r d i g t w e r d e n k a n n u n d so der ganze R e i c h t u m erst e n t d e c k t , d e n dieser A b l a u f einer g a n z e n W e l t p e r i o d e e n t h ä l t . N u r völlige U n k e n n t n i s v o n d e m , w a s j e t z t A l t e r t u m s w i s s e n s c h a f t ist, k a n n n o c h v o n der A n t i k e als einer E i n h e i t r e d e n , wie es das b e r u f e n e B u c h v o n O. Spengler t u t , dessen s c h e m a t i s c h e K o n s t r u k t i o n e n g e n a u so geistreich u n d g e n a u so u n h i s t o r i s c h sind wie die v o n F r i t z Schlegel. B r i n g t er es d o c h f e r t i g , T h e m i s t o k l e s u n d Tiberius in eine F a m i l i e zu r ü c k e n , die so viel u n d so wenig m i t e i n a n d e r g e m e i n h a b e n wie e t w a G u s t a v W a s a u n d F r i e d rich der G r o ß e . J e t i e f e r die E i n z e l f o r s c h u n g d r i n g t , u m so k l a r e r e r k e n n e n wir, d a ß die a n t i k e W e l t der m o d e r n e n m i t all i h r e m Reicht u m a n G e g e n s ä t z e n , a n Weisheit u n d T o r h e i t d u r c h a u s v e r g l e i c h b a r ist. Auf die klassische K u n s t ist a u c h d a m a l s B a r o c k , R o k o k o u n d Klassizismus gefolgt; a u c h I m p r e s s i o n i s m u s h a t es gegeben. A u c h d a m a l s sind die m e i s t e n Menschen innerlich sehr b a l d f e r t i g g e w o r d e n , a b e r die G r ö ß t e n h a b e n a u c h n i c h t gefehlt, die sich b e s t ä n d i g w a n d e l t e n , weil die T r i e b k r a f t ihrer Seele vorhielt, E u r i p i d e s , P i a t o n , Aristot e l e s ; m a n k a n n es a u c h v o n Cicero u n d H o r a z sagen. D a b e i s t e h t die j u n g e A l t e r t u m s w i s s e n s c h a f t erst in i h r e n A n f ä n g e n . K a u m h a b e n wir b e g o n n e n , die H e l l e n e n a n die ältere asiatische u n d ä g y p t i s c h e K u l t u r a n z u k n ü p f e n . Mit der H e r s t e l l u n g der h o c h b e d e u t e n d e n hellenistischen Zeit sind wir n o c h sehr i m R ü c k s t ä n d e , u n d d a ß n i c h t n u r die K i r c h e n geschichte, s o n d e r n das C h r i s t e n t u m ü b e r h a u p t m i t allen seinen S c h r i f t e n u n d G e d a n k e n in die allgemeine griechisch-römische K u l t u r e i n g e r e i h t w e r d e n m u ß , m ö g e n viele n o c h n i c h t einsehen. W e r k a n n a h n e n , welche f r i s c h e n K r ä f t e eine k ü n f t i g e Zeit aus d e m d a n n e r s t voll v e r s t a n d e n e n A l t e r t u m s c h ö p f e n w i r d ? N i e m a l s wird m a n a u f h ö r e n , aus seiner Geschichte, seinem L e b e n in S t a a t , R e c h t u n d W i r t s c h a f t t h e o r e t i s c h e u n d p r a k t i s c h e B e l e h r u n g zu e n t n e h m e n . Vollends der P h i l o s o p h wird nie vergessen, d a ß d a m e h r zu h o l e n ist als die 77 Geschichte seiner W i s s e n s c h a f t . E s m u ß in das allgemeine B e w u ß t s e i n

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17. Die Geltung des klassischen Altertums (1921)

dringen, daß unsere Geschichte nicht da beginnt, wo die Germanen erscheinen, sondern da, wo der Grund zu unserer gesamten Kultur gelegt wird, wo unsere Religion und alle Wissenschaft zu Hause ist. Auch das darf nicht unterschätzt werden, daß die Völker europäischer Kultur in dem Erbe des Altertums einen gemeinsamen Besitz haben, der sie zusammenbringen, zusammenhalten soll. Schon darum muß das Gedächtnis des Altertums lebendig bleiben. Ein unersetzlicher Verlust wäre es, wenn der Schatz von Poesie, der in den Gestalten der Götter und Helden des Altertums liegt, zu denen wir auch die Legenden von den Perserkriegen und der alten Römergröße rechnen mögen, nur noch den Gelehrten vertraut bliebe; von den Sagen des Alten Testamentes gilt das gleiche. Allein am letzten Ende mögen das alles relative Werte sein. Dann bleibt immer noch das große Kunstwerk, der große Gedanke, der große Mensch. Vor dem Tempel von Pästum, im Pantheon, auf der Burg Athens wird der Mensch immerdar eine innere Erhebung erfahren, ein Geist wird zu ihm reden, der ihn zur Andacht zwingt. Aischylos wird dasselbe tun, Piaton auch. Pheidias ebenfalls, und schon hier wird der Denkende doch auch starke Unterschiede finden. Um wie viel mehr, wenn er sich zu Praxiteles und Lysippos wendet, zum pergamenischen Altar und der Ära Pacis oder gar den Diokletiansthermen. Unsterblich ist, was das archaische Hellenentum seine Jugend lehrt, daß der Tod fürs Vaterland in das Heroentum führt, der Staat den freien Bürgern gehört, die Mahnung: erkenne dich selbst, die Erziehung zur Sophrosyne, der unübersetzlichen hellenischen Tugend, und zugleich die Zuversicht, daß die menschliche Vernunft befähigt ist, die Rätsel der Natur zu lösen. Unsterblich ist das Diesseitsevangelium des Sokrates. Unsterblich auch Piatos Lehre, daß Unrecht leiden besser ist als Unrecht tun. Unsterblich die Mahnungen der Stoa: lebe in Einklang mit der Natur, Gott dienen ist die höchste Freiheit. Und so noch vieles aus vielen Zeiten. Vollends die großen Menschen, die uns nicht nur Lehrer werden, die uns als Freunde durch unser Leben begleiten oder doch so packen, daß wir sie nimmer vergessen. Wie viele sind deren von Herakleitos bis Augustin. Gibt es zwischen diesem und Dante auch nur einen? Wahrlich, es hat dem Werte des Altertums keinen Abbruch getan, daß es nicht mehr klassisch ist, kein Ideal, das angebetet wird, kein Tyrann, der Gehorsam fordert. Verständnis ist besser als Apotheose. Aber den

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Dienst, den es mehr als einmal den Nachlebenden geleistet hat, ihre eigene nationale Kraft und Art zu beleben und zu steigern, hat es nicht verloren, so weit es eben selbst Unvergängliches zu bieten hat, den Gehalt für unsern Busen und die Form für unsern Geist. Es mögen immer wieder Zeiten kommen, die sich von ihm abkehren: das sind immer Zeiten des Niederganges gewesen. Dann hat es wieder zum Aufstiege geholfen. — Des getrösten wir uns auch heute.

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Wilamowitz, Kleine Schriften VI

18. Die Kunst der Übersetzung D e r d e u t s c h e Klassizismus h a t d e n V e r s u c h g e m a c h t , die P r i n z i p i e n des a n t i k e n V e r s b a u s auf das D e u t s c h e zu ü b e r t r a g e n , u n d das h a t zu d e m G l a u b e n g e f ü h r t , es ließen sich alle f r e m d e n M a ß e in u n s e r e r S p r a c h e w i e d e r g e b e n . D a h e r scheint es eine f ü r alles wichtige F r a g e , ob m a n in der Weise v o n V o ß ü b e r s e t z e n k a n n u n d soll. Als K l o p s t o c k ein E p o s d i c h t e n wollte, w a r d e r f r a n z ö s i s c h e A l e x a n d r i n e r die z u n ä c h s t gegebene F o r m , a b e r sie g e n ü g t e i h m n i c h t , u n d a u c h d e r R e i m z w a n g w a r i h m z u w i d e r . So griff er n a c h d e m lateinischen H e x a m e t e r , d e n auf d e u t s c h n a c h z u b i l d e n schon ö f t e r , z u l e t z t von Gottsched versucht war. Der Erfolg war gewaltig; nicht minder, als er die O d e n m a ß e des H o r a z aufgriff u n d in dieser A r t n e u e S t r o p h e n bildete. A u c h das geschah i m A n s c h l u ß a n die Ü b u n g der n e u l a t e i n i schen Poesie, die j a seit J a h r h u n d e r t e n rege w a r . A n das Griechische d a c h t e er gar n i c h t . A b e r n u n w a r d H o m e r e n t d e c k t , wie m a n w o h l sagen k a n n : d e n wollte m a n d e u t s c h h a b e n , u n d F r i t z S t o l b e r g schlug m i t der Ilias in H e x a m e t e r n d u r c h ; Bürger h a t t e noch den Blankvers gewählt. Noch b a u t e m a n o h n e viel E i n s i c h t in die a n t i k e n Regeln, v e r s t a n d die S p r a c h e u n g e n ü g e n d , u n d v o n griechischer V e r s k u n s t w u ß t e n i e m a n d i r g e n d e t w a s . D a k a m Voß, der philologisch besser g e r ü s t e t w a r , u n d er erst h a t m i t B e w u ß t s e i n d e m D e u t s c h e n eine q u a n t i t i e r e n d e M e t r i k a u f g e z w u n g e n , u m so strenger, j e ä l t e r er w a r d . Zahllose V e r s u c h e sind gefolgt. G o e t h e h a t in der P a n d o r a m i t i h r e n l o n i k e r n das Ä u ß e r s t e gewagt, P l a t e n n e u e M a ß e i m Stile P i n d a r s e r f u n d e n , d e r e n S c h e m a t a er v o r das G e d i c h t stellen m u ß t e , wie es in d e n griechischen A u s g a b e n P i n d a r s g e s c h a h . So ging das weiter, u n d der persische Vers F i r d u s i s , 18. Der Spiegel. Jahrbuch des Propyläen-Verlages 1924, 21—24.

18. Die Kunst der Übersetzung (1924)

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d e r epische der I n d e r sind n a c h g e b i l d e t , o b w o h l sie wie die griechischen l o n i k e r i m D e u t s c h e n s c h l e c h t h i n u n s p r e c h b a r sind. E s ist a u c h u n v e r k e n n b a r , d a ß d a s d e u t s c h e V o r b i l d auf die a n d e r e n g e r m a n i s c h e n S p r a c h e n g e w i r k t h a t , w e n n es a u c h zu g r o ß e n , allgemein a n e r k a n n t e n D i c h t u n g e n in a n t i k e m M a ß e d o r t n i c h t g e k o m m e n i s t ; U b e r s e t z u n g e n sind o f t v e r s u c h t , w ä h r e n d der F r a n z o s e sich m i t P r o s a b e h e l f e n m u ß ; der I t a l i e n e r k a n n m e h r w a g e n , a u c h w i d e r die N a t u r seiner s c h ö n e n Sprache. J e d e r m a n n m u ß h e u t e wissen, d a ß der g a n z e W e g f a l s c h ist, s p r a c h widrig, weil die g e r m a n i s c h e n oder v i e l m e h r alle h e u t i g e n e u r o p ä i s c h e n S p r a c h e n n i c h t lange u n d k u r z e , s o n d e r n b e t o n t e u n d u n b e t o n t e Silben h a b e n . T a t s ä c h l i c h ist der W e g a u c h h e u t e v o n d e n D i c h t e r n verlassen, u n d n u r H e x a m e t e r u n d D i s t i c h o n , allenfalls n o c h zwei O d e n m a ß e w e r d e n n o c h gelegentlich a n g e w a n d t , v o l k s t ü m l i c h ist n i c h t s . Diese d e u t s c h e n H e x a m e t e r folgen n o c h i m m e r n i c h t d e n Griechen, s o n d e r n d e n L a t e i n e r n , so d a ß d e r d a k t y l i s c h e C h a r a k t e r v e r l o r e n g e h t u n d ein- u n d zweisilbige S e n k u n g e n sich die W a a g e h a l t e n . D e r P e n t a m e t e r ist ovidisch, d a h e r seine E i n t ö n i g k e i t . D a b e i w i r d d a s D i s t i c h o n so n a c h g e a h m t , wie es k l i n g t , w e n n es w i d e r d e n l a t e i n i s c h e n W o r t a k z e n t gelesen wird, w ä h r e n d sein Reiz bei O v i d g e r a d e d a r a u f beruht, daß im Pentameter Wort- und Versakzent miteinander s t r e i t e n . D e r I t a l i e n e r liest a u c h die Verse n a c h d e m W o r t a k z e n t u n d bildet d a n n d e n K l a n g n a c h , d e n der n e u e A k z e n t i h n e n g i b t , w a s d e n E r f o l g h a t , d a ß die m e i s t e n D e u t s c h e n die P e n t a m e t e r Carduccis g a r n i c h t e r k e n n e n . Die griechische L y r i k lesen wir alle n a c h d e m Versa k z e n t ; kein Grieche w ü r d e das v e r s t e h e n , a b e r wir t u n r e c h t , d e n n die Lieder w u r d e n j a gesungen, u n d n u r i n d e m wir d e n R h y t h m u s h e r a u s h e b e n , schaffen wir e t w a s E r s a t z f ü r die verlorene M u s i k . H i e r sei a u c h der K u n s t p r o s a g e d a c h t , z u n ä c h s t der lateinischen, d e n n sie ist a u c h g e b u n d e n e R e d e , ihre Satzglieder gehen auf b e s t i m m t e V e r b i n d u n g e n v o n L ä n g e n u n d K ü r z e n aus, u n n a c h a h m l i c h f ü r u n s . Also selbst eine R e d e Ciceros, ein Brief Senecas sind eigentlich u n ü b e r s e t z b a r . Die Ü b e r t r a g u n g der l a t e i n i s c h e n Metrik auf u n s e r e S p r a c h e e r z e u g t n u r B a s t a r d v e r s e , a b e r freilich: „ D i c h t e r sind K ö n i g e u n d k ö n n e n a u c h einen B a s t a r d l e g i t i m i e r e n " . H e r m a n n u n d D o r o t h e a e r h ä l t i h r e n Vers lebendig, die X e n i e n w e r d e n i m m e r z u r A n w e n d u n g des Distichons reizen, u n d Hölderlin h a t selbst A s k l e p i a d e e n v o n e i n e m so v o l l e n d e t e n W o h l l a u t gebildet, d a ß es w u n d e r v o l l e d e u t s c h e Verse li*

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sind, einerlei, wo er sie hernahm. Reimlose Verse sind sie, über die sogenannten freien Rhythmen Goethes dadurch noch gesteigert, daß sie ein festes Maß erhalten haben. Dies dürfte als das deutscheste auch die größte Zukunft haben, denn der Reim ist j a von den Römern entlehnt. Wie aber sollen wir nun die antiken Gedichte wiedergeben? Da ist gleich eins zu sagen: Homer ist unübersetzlich, weil wir j a kein episches Versmaß haben, keine Erzählungen in Versen dichten. Jedes irgendwie strophische Maß zerstört die freie Bewegung der homerischen Erzählung, und schon ein Reimpaar bildet ein Distichon. Aber auch der in vielem formelhafte Stil mit seinen Schmuckwörtern ist unnachahmlich: Homer ist j a nicht Volks-, sondern durchaus Kunstpoesie. Ein Homer in Prosa aber muß seinen Schmuck ablegen, das heißt alle Farbe des Lebens verlieren. Besser steht es für den Dialog des Dramas, weil wir da unsern klassischen Stil und einen Vers besitzen, der sich auch für die Komödie abtönen läßt; für Menander müßte da freilich der Künstler noch kommen. I m Epigramm mag man die Goetheschen Disticha nehmen können (ich glaube, nur selten), für die griechische Elegie aber, auch z. B . für Properz, sind sie unbrauchbar, weil sie 23 ovidisch sind. Und nun gar alle gesungene Poesie, alle Lyrik und dann die hellenistische und römische Kunstpoesie, da lassen sich Regeln gar nicht geben. Wer sich daran versucht, muß sich in jedem Falle eine dem Stile und der Stimmung entsprechende deutsche Form suchen; wie weit er sich an die Form des Originales anlehnen kann, mag er entscheiden. Bestimmend wird sein, was er als Übersetzer beabsichtigt, aber auch, wie er seine Vorlage versteht. Dafür ist es sehr belehrend, Stolbergs Ilias oder Wielands Shakespeare anzusehen. Ihr Verständnis ist eng begrenzt, aber so weit es geht, reicht ihre Wiedergabe. Man kann sich denken, daß jemanden etwa bei Pindar der allgemeine Eindruck von Erhabenheit, Pracht und fremdartiger Klangfülle reizt, wo denn etwas herauskommen kann, das formell imponiert, freilich von Pindars individueller Kunst gar nichts 24 geben wird, weil der Übersetzer an dem Konventionellen, an der Oberfläche haften geblieben ist. Eigentlich muß man doch verlangen, daß er die fremde Sprache bis in die feinste Nuance nachempfinde und dem Dichter so nahe gekommen sei, daß er die Schwingungen von dessen Seele mit der seinen aufnehmen kann. Ob er daneben das Kunstvermögen besitzt, dies Verständnis in der Übersetzung wiederzugeben,

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ist eine Frage für sich. Aber wenn das auch unvollkommen bleibt, so wird er doch leisten, was Goethe in der Rede auf Wieland an dessen Übersetzungen lobt, er wird uns seine Einsicht mitteilen, auf daß wir auch seinen Genuß teilen. Mit dem vergeblichen Bemühen, die Versmaße der Urschrift zu bewahren, wie es Voß und bessere Männer als Voß, Humboldt z. B., versucht haben, würde er sich nur selbst den rechten Weg verbauen: sind doch ihre Ubersetzungen, übrigens auch Schleiermachers Piaton, heute gänzlich tot. Ein ganz anderes ist es, wenn ein schöpferischer Dichter ein altes Werk aufgreift und nachdichtend aus seinem Geiste umschafft. Das ist etwas an sich Berechtigtes, ist sogar etwas Größeres, aber Übersetzung ist es nicht. Denn sie will nur den alten Dichter zu uns so vernehmlich und so unmittelbar verständlich reden lassen, wie er zu seiner Zeit geredet hat. E r soll zu Worte kommen, durch unsern Mund reden: „ D i e wahre Übersetzung ist Metempsychose." Darin liegt, daß der alte Dichter, dessen eigene Verse unsterblich leben, immer wieder seinen Geist auf einen neuen Übersetzer übertragen muß, weil die Übersetzungen sterblich, j a sogar kurzlebig sind. Und wenn dann ein alter Philologe, der sich vielfach daran versucht hat, sagen soll, wie man es zu machen habe, so kann er zwar angeben, wie man es nicht machen soll, aber sonst wird er sich hüten, Rezepte zu geben. Schon den Text zu verstehen, reicht das Lernen nicht hin, so nötig es ist, und wenn Übersetzen auch so etwas wie Dichten ist, muß vollends die Muse helfen.

19. Die beiden Elektren Die Elektra des Sophokles beginnt mit Sonnenaufgang (17). Orestes und der bereits verkleidete Pädagoge kommen vor das Königsschloß des Agamemnon und besprechen ihren Plan, den sie beide schon wissen; die Urne, deren sie dazu bedürfen, haben sie irgendwo in einen Busch gestellt, man sieht nicht recht weshalb. Als im Schlosse ein Klageruf laut wird, meint der Pädagoge, ohne daß man den Grund einsieht, eine Sklavin hätte gerufen. Orestes vermutet, es sei seine Schwester; gleichwohl gehen sie schleunigst ab, um am Grabe Agamemnons zu opfern 1 ); die ganze Wanderung zum Schlosse kann somit nur geschehen sein, um die Sehnsucht des Orestes, die heimatlichen Stätten wiederzusehen, ein paar Stunden früher zu befriedigen. In Wahrheit ist natürlich der Zweck des Prologes ein lediglich theatralischer. Der Zuschauer soll erfahren, was sich die beiden ohne Not erzählen, diesem Bedürfnis genügt der Prolog, gerade so gut und so schlecht wie die geringeren euripideischen. Auch Sophokles hat sich darauf verlassen, daß das Publikum sich bei der herkömmlichen Theaterpraxis beruhigen würde, und die innere Motivierung für überflüssig gehalten. Trachinie19. Hermes 18 ( 1 8 8 3 ) 2 1 4 - 2 6 3 . ') Dies Opfer h a t Apollon befohlen (51). Das ist in diesem Zusammenhange befremdlich, wo dasselbe ohne Belang f ü r das Gelingen des Anschlages ist. Das ist also ein übernommener stesichorischer Zug: denn bei jenem w a r d so die W i e d e r e r k e n n u n g mit Elektra und dadurch die Möglichkeit der Sache bewirkt. D a ß das S u b j e k t in den W o r t e n cos E5' etpdAois kAictiois herstellen; die Überlieferung elidiert das zweite Hl2) [vgl. Gr. Verskunst 100], Die modernen Herstellungen elidieren ein poi, was vor kurzer Sylbe nicht zu ertragen ist, oder ändern gewaltsam. 1) Robert, Bild und Lied S. 155. Mon. d. Inst. VIII 15. Euripides hat die Chrysothemis Or. 23 ebenso überflüssig wie Sophokles die Iphianassa. Sonst kommt sie wohl nicht vor, wenigstens nicht so, daß man etwas lernte. Der Name steht z. B. Schol. Lykophr. 183. 2 ) Jedenfalls ist sie identisch mit der des Pherekydes, welche beim Scholiasten steht [FGrHist 3 F 37b]: dort kehrt Pelops mit den Flügelpferden ¿Tri TT)V TTeAottövvr|aov zurück und stürzt unterwegs Myrtilos in das Meer, also kamen sie von Osten, also war hier die Voraussetzung der Sage dieselbe wie sie Robert (B. u. L . S. 187) fordert, d. h. Oinomaos König von Lesbos. Eine Illustration dieser Sage ist das Vasenbild Mon. d. Inst. X 25.

19. Die beiden Elektren (1883)

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jede Reminiszenz an die Sagenform, welche den Muttermord verurteilt, billig vermieden sein. Aber die Macht der Tradition, welcher der Dichter sich sonst entzog, war hier stärker als er, und so blieb eine Andeutung des ehemaligen Zusammenhanges stehen. Klytaimnestra t r i t t auf, schilt Elektren, läßt sich aber doch auf ein Wortgefecht ein, in welchem sie den kürzeren zieht, u n d k o m m t erst dann zu ihrem Geschäft, einem Opfer an Apollon wegen des Traumgesichtes. Unmittelbar darauf bringt der verkleidete Pädagoge die Nachricht von Orestes' Tode. Auch hier ist die Szenenfiihrung nach dem Vorbilde einer anderen erhaltenen Tragödie gemacht. I m König Oidipus 1 ) erscheint lokaste, u m Apollon zu opfern, kurz eh der Bote den Tod des Polybos meldet. Nicht bloß, daß das Auftreten der f ü r den Boten nötigen Person also motiviert wird, auch das Ethos der Szenen ist dasselbe, denn beide Male durchschauen Chor u n d Zuschauer die Hohlheit der Gesinnung und die Gewissensangst, welche zu dem Opfer trieb, und beide Male scheint die Erfüllung des Gebetes unmittelbar zu folgen. Nur ist es im Oidipus ein wichtiges Mittel zur Charakteristik lokastes und sorgt das vorhergehende Chorlied genügend dafür, den Kontrast zwischen Handlung u n d Gesinnung hervorzuheben, während hier das Opfer an Apollon neben der Grabspende f ü r Agamemnon zurücktritt und wesentlich nur das Auftreten der Person motiviert. Fast anstößig ist der Redekampf zu nennen. Sophokles m u ß t e daran liegen, Klytaimnestra möglichst schwarz zu malen, 219 damit Elektra auch nur Teilnahme finden konnte. Wollte er sie die Mutter i m Wortgefechte besiegen lassen, so m u ß t e diese freilich *) No ch eine andere Stelle seines Oidipus hat Sophokles hier verwandt. Dort sagt der Chor, als Oidipus sich als Findelkind kennengelernt hat (1087) 'eiTiep eyob nduTis stpl Kai K orra yvcöut)v ISpis, werden wir morgen am Vollmondfeste den Kithairon, der dieses K näblein beschützt hat, feiern können'. Es wird also eine Vermutung ausgesproeh en, unmittelbar angeregt durch die Entdeckung, daß ein Geheimnis obwalte, und die freudige Hoffnung birgt sich unter der Form der Prophezeiung. El. 472 si nf| eyco tt ccp&9pcov h&vtis £tocüt' £iraiv6aai|ji' ä v ; f| Kai toüt' EpEis cos Tfj; Suyorrpö; ävTiTroiva Aaußavsis; [aiaxpcos 5 ' lavTTEp Kai Aey^s- oü y ä p KaAöv ex-Spols yaneicrSai Tfj? Suycrrpös eiveko] äAA' oü y ä p oü5e vouSeteiv E^Eari a£ kte. Die eingeklammerten Verse 593. 4 h a t ein a n d e r e r als Sophokles als Antwort der rhetorischen F r a g e gedichtet, denn die A n t w o r t i s t f a l s c h : nicht EX-Spös ist Aigisthos, sondern kockös, und was K l y t a i m n e s t r a getan h a t , ist viel mehr, es wäre etwa ÜTTEp niäs SuyaTpös Savoüaris TdcAAa TEKva cnroAAüvai. E n d l i c h bricht äAAa, begründet durch oü y ä p ectti cte vouSeteiv, a b ; das wirkt n a c h einer rhetorischen F r a g e ; nach einer vollen Beantwortung derselben ist nichts a b z u b r e c h e n . D a ß Se 593 eine schlechte P a r t i k e l ist, hat vielleicht schon der b y z a n t i n i s c h e Schreiber gesehen, der sie in einer der wertlosen Handschriften gestrichen h a t . Aber weder das Asyndeton noch eine andere Partikel kann eine Verbindung herstellen, die m a n ertragen könnte.

563 Epoü 8e tt|v Kuvayöv "ApTSHiv, -rivos Troiväs Tä -rroAAä ttveuucct' ectx' ev AüAiSifi 'yco 9paaco- keivtis y ä p oü Se^is uoSeTv- Trorrfip tto3' oüpos, cos Eycb kAüco kte. c&S' fjv tä keivtis Süncrra. D e r Gegensatz der richtigen Version gegen die fälschlich geglaubte ist evident. D e r Vers f| 'yco S Tàx'crra TOIS Çévois Tis aipÉTCO. Nachdem zugegeben ist, daß 1051—54 dem Chore

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der keinen Dank für seine Mühe, sondern nur hochfahrende Zurechtweisung für seine leichtsinnigen Hoffnungen zu hören bekommt, und doch zeigt auch hier der Erfolg, wie sehr er recht gehabt hat. Dieser frivolen Seele sind natürlich alle tieferen Empfindungen gänzlich fremd. Als sie den Bruder wiedererkennt, bringt sie nichts mehr hervor als ein paar konventionelle Phrasen (577); im Eingang klagt sie zwar breit genug, aber was ist die ganze Monodie mehr als eine Summe von Gemeinplätzen: EYEVOUOCV 'Aya|J£|Jvouos KCCTEKEV |JE K A U T A I U V Q C J T P A 232 c r T u y v a TuvSapsco KÖpa, KiKArjaKouai SE p,' a S A i a v 'HAEKTpav TroAifjTai.

Das ist nicht die gewöhnliche Selbstvorstellung, denn Elektra ist den Zuschauern schon bekannt: es soll inhaltsleer sein; sie treibt das Klagen, um gegen Aigisthos und die verfluchte Mutter zu demonstrieren 1 ), wie sie das Wasserholen selbst besorgt, 'obwohl sie es nicht gerade nötig hätte' (57), und mitten zwischen den Klagen einer Sklavin, die also füglich zum Brunnen gehen könnte, befiehlt: 'nimm mir die Hydria vom Kopfe; ich muß mein Klagelied singen' (140). Auch der Refrain dient hier, die eintönige Wiederholung zu malen. Der Muttermord selbst ist ihr ein vertrauter Gedanke; sie ist mit sich längst darüber einig, von einer Entschlossenheit, über die Orestes, trotzdem er auf Geheiß des Gottes dasselbe zu tun gekommen ist, sich entsetzt (278), und als es den Mordplan gilt, wird sie erfinderisch und gibt die List an, welche Klytaimnestra in das Garn lockt. Die Tochter rechnet auf der Mutter Mitleid, die Jungfrau heuchelt ein Wochenbett. Wirklich kommt die Mutter; Elektra redet dem zaudernden Bruder die gehören (An. Eur. 72), wird man auch nicht Bedenken tragen dürfen, demselben das Distichon 1100. 1 1 0 1 zu lassen, das so viel Zweck hat wie diese Interloquien häufig, d. h. nur den des rhetorischen Ruhepunktes. Die drei vorhergehenden Verse sind hier unecht, auch wenn sie nicht aus den Kreterinnen (Fgm. 467 [vgl. 464 N. 2]) stammen sollten, da Stobaeus" Autorität hier schwerlich über allen Zweifel erhaben ist. Aber die Chorworte stimmen ztf ihnen wenig besser als zu dem Redekampfe der Elektra. 1103. 4 sind ganz unentbehrlich: in ihnen liegt ja das, was vor Klytaimnestra ihre Tochter entschuldigt. *) ou 8r| TI XPe'aS ES TOCTÖVS' äcpiypivrp äAA' 6 s üßpiv Sei^co^sv AiyiaSou SEOTS, yoous & AÜXST' "ATTOAAOV OI

£EVOI

1315.

1) O. T. 1468. 71. 75. O. K. 315. 318. Tr. 865. 868. Phil. 219. 750. 787. 804. 2 ) Ipli. Aul. 1133 steht ein Monometer E'X' fjauxos. Diese Ausnahme bestätigt die Regel. Das ist eben nicht Euripides des Mnesarchos Sohn.

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Kürze des zweiten Metrons unterdrückt . Die Analyse unterliegt keinen Zweifeln, aber ein solches mixtum compositum von allerhand Rhythmen würde man dennoch nicht für möglich halten, wenn es nicht bei Yergleichung des ganzen Liedes klar würde, daß die Epode nichts tut als die Rhythmen, welche in den drei Strophen viel oder wenig vorgekommen sind, alle wieder aufnehmen, eine Kompositionsart, welche von großer Bedeutung ist und weithin ihre Wirkung erstreckt. Wir können das Faktum also nicht beanstanden und sicher darauf bauen, auch ist der Schluß nicht auf einem geringen Induktionsmateriale aufgebaut, vielmehr auf dem, was sich schon nach oberflächlicher Betrachtung als charakteristisch für die Hauptphasen der tragischen Metrik ergibt. Die Zeit 440—420, welcher die ältere Serie der sophokleischen und euripideischen Dramen angehört, verwendet höchst selten mehrere Versmaße in einer und derselben Strophe, oder beschränkt den Zusatz wenigstens auf ein oder zwei Zeilen. Dagegen herrscht seit der sizilischen Expedition etwa, offenbar infolge des 249 Ubergewichtes der neuen Musik, eine zügellose Polymetrie. Für die Gesänge der Bühne bildet sich eine Rhythmengattung aus, die man eben nur danach bezeichnen kann, daß sie alles Mögliche miteinander mischt. Es läßt sich nachweisen, daß der neue Dithyrambus ähnlich gebaut hat, und von hier aus ist die Brücke zu den Maßen des römischen Dramas zu schlagen. Bei Sophokles sind solche Partien die letzten crorpocpa des Philoktetes und die der Parodos im Oidipus auf Kolonos, bei Euripides die Epode der Bakchenparodos (ein Dithyrambus) und die Monodien der Phoenissen, der beiden Iphigenien, des Orestes. Ich kann für die Parodos der sophokleischen Elektra wirklich keine schlagendere Parallele beibringen als die Kastratenarie des Orestes, und auch da wiederholen die Schlußverse (1495—1502) die 1) [233] XO. ÒÀA' oöv EÙVOÌOC y' aüSco HÓTT)p ¿basi Tis TTiarà UT) T Ì K T S I V a' CRRAV crrais. HA. K a i T Ì N É T P O V KOCKÓTOTOS £opicov [106]- 'AyxiaÀo Bpaupcova, KEv^piov 'IcpiyEVEÌris, und in anderer Fassung S O K E Ì 5è 'Aya^énvcov CKpayiäcrai TT^V 'IcpiyÉVEiav Èv Bpaupcovi, O Ù K èv AùWSi Kaì apKTOv Ó V T ' aÜTfis, O V K EÀaq>ov q>avfjvoa- S S E V N U A T T J P I A ä y o u a i v A Ü T F J . Et. M. 747, 57 oi SÈ XÉyoucriv, Ö T I TCÖV 'EAAf|vcov ßouXonEvcov CCVEAEÌV TT)v 'IcpiyÉVEiav Èv AOMSi ri " A P T E I J I ; CCVTÉSCOKEV ÉAatpov. K O T Ò 6è (DavóSrinov, cxpKTov (natürlich nicht in Aulis, sondern in Brauron), K O T Ò Sè NÌKavSpov, T a ö p o v . Pausanias selbst entnahm die Hypothesis natürlich seiner Quelle, den 'ApyoÀiKCt, welche ich schon f r ü h e r nachgewiesen habe (Comm. gramm. II 16 [=K1. Sehr. IV 616]).

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taimnestra, welche sie dem Agamemnon unterschob. Den Fortgang der Hypothesis gibt das Scholion zu Arist. Lysistr. 645. Agamemnon schlachtet seine vermeintliche Tochter in Brauron, Artemis schiebt statt ihrer eine Bärin unter und macht sie zur Göttin. Das Letzte, nicht ausdrücklich Gesagte, folgt daraus, daß Euphorion ihr auch von Euripides (I. T. 1464) erwähntes Grab ein KEvqpiov nennt. Die Unterschiebung der Bärin und das Lokal des Opfers mußte so in der brauronischen Legende notwendigerweise erzählt werden, und wirklich können wir die Bärin noch in der Atthis, bei Phanodem [FGrHist 325 F 14], nachweisen. Ihn nennt Apollodoros Trepi Secov im E. M. s. v. TaupoTröAov1). Euphorion hat also die bei Lykophron vorliegende Fassung mit der brauronischen Legende kontaminiert. Sein Gedicht 260 las Nonnos noch und entlehnte den Vers dyxictAov Bpcxupcova KEvripiov 'Iqnyevsiris (XIII 186), in der echten Weise alexandrinischer Gelehrsamkeit und Eleganz, indem er gegen ihn polemisierte, denn für ihn heißt K£vr|piov 'Icpiyevgiris „das fälschlich (von Euphorion) als Opferstätte Iphigeneias ausgegeben wird". In demselben Buche hat er nämlich das aulische Opfer nach der Kyprienhypothesis erzählt, mit dem euripideischen Schlüsse und lykophronischen Reminiszenzen im Ausdruck 2 ). Die Erzeugung und Erziehung Iphigeneias erzählt auch Nikandros (Anton. Lib. 27) wie Euphorion, aber das Opfer verlegt er nach Aulis, hat also wohl die Tradition der älteren Dichter des dritten Jahrhunderts befolgt. Statt des Hirsches oder Bären setzt er einen Farren, um so die Namen Taöpoi und TocupouöAos abzuleiten (dies berichtet aus ihm auch Apollodoros). Dann aber verdoppelt Nikander die Versetzung Iphigeneias; zu den Taurern kommt sie als Mensch, zur Göttin wird sie erst auf Leuke, endlich mit Achilleus vereinigt. Hier erhält sie den Namen Orsilocheia. In dieser Erzählung kann alles freie Fortbildung von Motiven sein, die wir schon kennen, nur der Name ') Die Glosse bezieht sich auf den Vers Aristoph. Lys. 4 4 7 : vf| TT) v TotupoiröAov, wo jetzt im Scholion steht TFJV AITIAU 'AiroAAöScopos EV TCÖ Trepl Sscov [FGrHist 244 F111] EKTiStTai, wodurch die Herleitung der Aufzählung im E. M. aus Apollodor gesichert ist. Der stoische und zugleich grammatische Verfasser zeigt sich auch darin, daß er zwar die mythischen Erklärungen sammelt, aber selbst eine physische befolgt. Recht wichtig ist, daß Apollodor den Nikander benutzt und aus ihm jedenfalls auch das Zitat aus Xenomedes stammt, der in den Scholien den Namen TotupoiroAos auf Athene bezieht. 2 ) Über X I I I 1 1 7 vgl. S. 2 0 1 1 ; 'Qpicov Tpnr&rcop V. 99 stammt aus der falschen Erklärung der Scholien zu Lykophron.

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„Geburtsbeförderin" ist älter. In dem Periplus desPontos, denAmmian X X I I 8, 33 wiedergibt, ist Leuke in das taurische Gebiet gerückt und heißt die taurische Göttin selbst Orsiloche. Offenbar ist dies die echte Tradition, welche Nikander mit Iphigeneia verquickt hat. Andere Schiffer als die, welche die barbarische Göttin mit der Geburtshelferin Iphigeneia-Hekate identifizierten, haben ihr den redenden Namen 'OpcriAöxT) gegeben. Diese Durchmusterung hat manches gelehrt, nur nichts über Iphigeneia, Theseus' Tochter. Denn wir sind über die Dichter des dritten Jahrhunderts nicht hinausgekommen, welche alle die Tochter Agamemnons und ihre Sage in diesen Kreis hineingezogen haben, dem sie fremd ist. Aber wenn man auch zugibt, daß diese Dichter nicht bloß, 261 wie es ihnen zustand, selbst einzelnes erfinden, sondern häufig den Ton der alten Sagen, die sie aufnehmen, verfehlen, da sie unter dem überwältigenden Einfluß der attischen Poesie stehen, trotzdem sie gegen dieselbe ankämpfen, so ist doch das unbestreitbar, daß sie alter, verschütteter Tradition folgen, welcher wir nachgehen müssen, wenn wir ein Urteil über die Sage und über ihren ersten Niederschlag, das Epos, gewinnen wollen. Freilich Iphigeneia, Theseus' und Helenes Tochter, gehört nicht in die Atridensage noch in die troische Sage. Aber gehört denn Helene ursprünglich in die Sage von Troia und den Atriden? Der doppelten Genealogie Iphigeneias entspricht der doppelte Raub der Helene durch Paris und durch Theseus. Der letztere nun läßt sich nicht als eine spätere Replik der troischen Sage auffassen, es sei denn, daß man für die Sage taube Ohren und blinde Augen hat. Nur einordnen läßt er sich auch nicht, sonst kommt man zu dem törichten Unterfangen, die Jahre der mythologischen Frau zu zählen (Hellanikos bei Schol. Lyk. 183), oder zu komischen Scherzen (Photius kuctoAcckcov). E s sind parallele Fassungen von genau derselben Berechtigung. Ein Gedicht der Ilias selbst setzt j a diese Sage voraus, die Teich oskopie, dagegen helfen Aristarchs schale Exegetenkünste (zu T 144 und N 626) nichts. Aithra ist die aus Aphidna geraubte Mutter des Theseus, und die Dioskuren sind auch nur mit diesem Raube verbunden, wie sie denn gleichfalls im V vorkommen. Ebenso setzen die K y p rien und die Kleine Ilias, wenn sie von den Dioskuren und den The seussöhnen erzählen, diesen Raub voraus und stellen auf die eine oder andere Weise eine Konkordanz her. In der Entstehung des Epos bei den Lesbiern und seiner Ausbildung bei den Nordionern hat es

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s e i n e n G r u n d , d a ß g e r a d e die troische H e l e n a s a g e in d e n ä l t e r n h o m e r i s c h e n G e d i c h t e n v o r w a l t e t e u n d bei d e m Ü b e r g e w i c h t e dieser Poesien alles a n d e r e in d e n H i n t e r g r u n d d r ä n g t e , wie j a selbst d a s a t t i s c h e D r a m a v o n T h e s e u s u n d H e l e n a schweigt. I m M u t t e r l a n d e l e b t e n die a n d e r e n F a s s u n g e n der a l t e n Sage i m stillen f o r t , u n d sie erhielten sich reiner, weil die T r ü b u n g d u r c h die Niederschläge n e u e r K ä m p f e u n d n e u e r W a n d e r u n g e n n i c h t so s t a r k w a r . Als n u n das ionische E p o s h e r ü b e r k a m , d a f a n d e n die a l t e n G e s c h i c h t e n in d e n j ü n g s t e n Sprossen des E p o s wie d e n K y p r i e n , d e n N o s t e n u n d m a n c h e n der hesiodeischen G e d i c h t e E i n g a n g , a n d e r e s erst i m D r a m a , m a n c h e s n o c h s p ä t e r in gelehrter Poesie oder S a m m l u n g , u n e n d l i c h vieles ist auf ewig verschollen. E s ist a b e r e i n f a c h Anistoresie, w e n n a n t i k e o d e r m o d e r n e 262 A r i s t a r c h e e r die P o s t e r i o r i t ä t der A u f z e i c h n u n g auf d e n I n h a l t ü b e r t r a g e n , wie es Anistoresie ist, den N a m e n H o m e r auf die b e i d e n erh a l t e n e n E p e n (und h o f f e n t l i c h d e n Margites) zu b e s c h r ä n k e n . D e r M y t h o s ist j a n i c h t das K n ä b l e i n , das Archelaos v o n P r i e n e d e m H o m e r libieren l ä ß t ; H o m e r ist ehrlicher, er weiß, d a ß i h m die Muse aus i h r e m u n e n d l i c h e n R e i c h t u m dpiöSsu y e e t w a s e r z ä h l t . W i r h a b e n n i c h t n u r die A u f g a b e , die R e s t e der a l t e n S a g e n h e r r l i c h k e i t z u s a m m e l n : wie d e n v e r l o r e n e n K u n s t w e r k e n , so g e b ü h r t a u c h d e n v e r l o r e n e n Sagen der V e r s u c h einer R e k o n s t r u k t i o n . U n d es ist k e i n geringerer als G o t t f r i e d H e r m a n n , d e r das ariolari ü b e r d a s stupere stellt. T h e s e u s r a u b t Helene, Z e u s ' T o c h t e r . Zeus' S ö h n e z e r s t ö r e n A p h i d n a u n d b e f r e i e n die S c h w e s t e r . H e l e n e gebiert v o n T h e s e u s die I p h i g e n e i a . I p h i g e n e i a w ä c h s t a u f , u m der A r t e m i s g e o p f e r t zu w e r d e n . A r t e m i s e r h e b t sie zu i h r e r D i e n e r i n H e k a t e . D a s sind die Züge, welche u n s z u m Teil vereinzelt vorliegen, a b e r sich v o n selbst als B r u c h s t ü c k e desselben S a g e n k ö r p e r s ausweisen. W e i t e r h i l f t es u n s , w e n n wir f r a g e n , wo g e h ö r e n diese Sagen h i n . U m A p h i d n a s t r e i t e t sich L a k e d a i m o n u n d die s p ä t e r a t t i s c h e D i a k r i a ; a b e r I p h i g e n e i a g e h ö r t n i c h t n a c h L a k e d a i m o n , s o n d e r n n a c h B r a u r o n . U n d wer ist H e l e n e s M u t t e r ? I m t r o i s c h e n E p o s L e d a ; a n sie w e r d e n wir n i c h t d e n k e n . Die K y p r i e n n e n n e n Nemesis, selbst schon die Sagen k o n t a m i n i e r e n d , hier wie bei I p h i g e n e i a . Z u m E p o s stellt sich die T r a g ö d i e ; a b e r die K u n s t u n d die v o l k s t ü m l i c h e D i c h t u n g d e r perikleischen Zeit weiß es besser. H e l e n e s M u t t e r ist n i c h t die blasse A b s t r a k t i o n der K y p r i e n 1 ) , A u c h darin zeigt sich, wie der Dichter der Kyprien alte Motive ohne Verständnis weitergibt. Themis berät sich mit Zeus, wie Ge v o n der Übermasse der

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s o n d e r n die G ö t t i n v o n R h a m n u s . D a m i t r ü c k t die g a n z e F a b e l i n e i n e n so n a h e n g e o g r a p h i s c h e n Z u s a m m e n h a n g , d a ß w i r w o h l w a g e n d ü r f e n , z u v e r e i n i g e n u n d z u d e u t e n . Die A u f f a s s u n g H e l e n e s g i b t u n s d e r K e n n e r aller H ö h e n u n d T i e f e n seiner h e i m i s c h e n Sage, A i s c h y l o s . I m sumpfigen Tale der Diakria, ' u n t e r den Dornen', w o h n t Nemesis, 263 die j u n g f r ä u l i c h e G ö t t i n , s c h ö n wie A p h r o d i t e , a b e r s p r ö d e wie A s t e r i a u n d u n e r b i t t l i c h w i d e r j e d e üßpis wie A r t e m i s ; wie A r t e m i s t o d s e n d e n d 1 ) . Z e u s e n t b r e n n t v o n L i e b e z u i h r , t r o t z a l l e m S t r ä u b e n erliegt sie i h m u n d g e b i e r t d a s s c h ö n s t e W e i b , H e l e n e . A l l s c h ö n s t i s t sie, wie die ' A l l b e g a b t e s t e ' , a b e r ein F l u c h wie sie: sie ist w i r k l i c h eine S c h w e s t e r P a n d o r a s . 8r)£i3u|aov "EpGOTOS avSos, a b e r vu|itpÖKAauTOS 'Epivus. Der Fürst von Aphidna, das von den nahen Bergen herabschaut auf d a s r h a m n u s i s c h e T a l , s i e h t sie, l i e b t sie, r a u b t sie. D i e S ö h n e des Z e u s a u f i h r e n w e i ß e n R o s s e n , die i n B ö o t i e n o d e r a u c h in A t t i k a zu H a u s e s i n d , e r s c h e i n e n , die S c h w e s t e r z u b e f r e i e n , u n d b r e c h e n die B u r g . D e r F l u c h h a t sich e r f ü l l t . A b e r s c h o n t r ä g t die s c h ö n s t e F r a u v o n d e m e d e l s t e n M a n n e eine F r u c h t i m S c h ö ß e . D a s K i n d d e r S ü n d e g e b i e r t sie, die ' G e w a l t g e b o r n e ' . F ü r I p h i g e n e i a h a t die E r d e k e i n e n R a u m . D i e u n e r b i t t l i c h e J u n g f r a u v o n B r a u r o n löst z w a r die B ü r d e d e r H e l e n e , a b e r d a s K i n d ist i h r v e r f a l l e n ; &pTC(|ais u n d Koupcnrpöcpos zugleich, f o r d e r t sie d a s s c h u l d l o s e B l u t , a b e r e r h e b t I p h i g e n e i a z u i h r e r e i g n e n D i e n e r i n . U n d w a s w i r d a u s H e l e n e ? Die S c h ö n h e i t u n d d e r F l u c h d e r S c h ö n h e i t s t e r b e n n i c h t . S o l a n g e des W e i b e s S c h ö n h e i t d e n M a n n b e r ü c k t u n d die L e i d e n s c h a f t i h n zu j ä h e r T a t v e r f ü h r t , so l a n g e r i n g t e i n e r n a c h d e m a n d e r e n u m d e n k ö s t l i c h s t e n P r e i s , so l a n g e f o l g t F l u c h d e m F l u c h e . S i m o n d e r M a g i e r h a t H e l e n e z u seiner S e i t e , u n d d e m F a u s t h a t sie j a n o c h j ü n g s t w i e d e r ein h o l d e s K i n d g e b o r e n , d a s die s t r e n g e n G e w a l t e n s o f o r t d e m R e i c h e des L i c h t e s e n t z o g e n . I c h h a b e es g e w a g t a u s z u s p r e c h e n , w a s die a l t e n D i a k r i e r m i r ged i c h t e t z u h a b e n s c h e i n e n . U n d w e n n ich m i c h d a b e i g e i r r t h a b e , so w e i ß ich d o c h , d a ß sie m i r ' s v e r g e b e n w e r d e n . D e n n es ist k e i n e ger i n g e P o e s i e , die ich i h n e n z u t r a u e . Menschen befreit werden soll: er hat keine Ahnung davon, daß Themis und Ge identisch sind. Bekanntlich hat Rhamnus neben dem Kulte der Nemesis auch den der Themis, um so mehr wird die Grundlage der Kypriensage rhamnusisch sein. Die NE|iEOEia sind ein Totenfest, vgl. dazu Stellen wie Soph. El. 792. 1467. Noch Caesar nannte die Stelle, wo das Haupt des Pompeius beigesetzt ward, Ne^ecteiov [Appian bell. civ. 2, 90, 380 Nehectecos teijevos].

20. Exkurse zum Oedipus des Sophokles Die Herausgabe einer Übersetzung des Oedipus Tyrannos [Griech. Tragödien, übersetzt, Heft 1, 1899] hat mir Veranlassung gegeben, das Drama von neuem durchzuarbeiten und zu überdenken; was ich zuletzt getan hatte, als E . Bruhn seine Ausgabe machte [erschienen 1897] und wir darüber unsere Ansichten austauschten. Diese bitte ich also zum folgenden in erster Linie zu vergleichen. I . Sie haben so viel von Schuld und Strafe im Oedipus geredet. Das ist Unverstand. Oedipus hat sich nichts vorzuwerfen; der Gott hat ihm weder gesagt: du wirst Vatermörder, w e i l du das und das getan hast, noch: w e n n du das und das tust. E r hat einen Menschen auf der Straße erschlagen, aber )(£ipoov apxovra aSixcov und sv oScoi K C C S E A C O V 1 ) ; er hatte im besten Glauben an sein Recht gehandelt und durfte das. Niemand wirft ihm eine juristische oder moralische Schuld vor. E r büßt auch keine vererbte Schuld. Laios war nicht gesagt: w e n n du einen Sohn zeugst, so wird er dich töten, sondern es war ihm einfach die Zukunft enthüllt. Aischylos und Euripides wissen, daß er sich durch die Zeugung verging: die Oedipodie hatte in der Knabenliebe den Grund des Verbotes aufgezeigt: das kannte Sophokles: er wußte also, daß er es anders darstellte. Sie haben das blinde Schicksal in diesem entsetzlichen Menschenunglück gefunden. Das ist nicht so direkt wider die Worte des Dichters. Wenn dieser seinen Oedipus ganz wie den Chor das Fazit ziehen läßt, daß nichts Sterbliches selig zu preisen sei, wenigstens solange es sterblich ist, so kann ein Moderner daraus das Schicksal erschließen. 20. Hermes 34 (1899) 5 5 - 8 0 . ') Diese Begriffe muß jeder aus dem attischen Rechte einsetzen; 0 . K. 993 steigert das erste bis zur Notwehr.

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Aber den Glauben des Dichters verfehlt er nur noch mehr. Nicht ein blindes Schicksal steht über den Menschen, kein Neutrum, sondern ein 56 allsehender Gott mit seinem Willen. I m Gegensatze zu seinen beiden Genossen hat Sophokles an dem Apollon von Delphi zeitlebens mit unbedingtem heißen Glauben festgehalten. Der Gott weiß die Zukunft und sagt dem Menschen, was er will 1 ), durch den Mund der Pythia, durch Propheten, Vogelflug usw. Der Gott ist rein und heilig; was er sagt, ist heilig, weil er es sagt; die Menschen haben es als solches hinzunehmen. E s ist vollkommen einerlei, ob die Wege Gottes nach menschlicher Einsicht gerecht sind; sie sind eben Gottes Wege; damit muß sich jeder abfinden. Der Oedipus auf Kolonos zeigt die Verklärung eines Verfluchten, wie der König die Verfluchung eines Beglückten, beides ist gleichermaßen ein Beleg für die unerforschlichen Wege des göttlichen Willens. Den schwachen Sterblichen umgeben rings beseelte Wesen, als solche ihm ähnlich, aber unendlich mächtiger, schädlich und hilfreich j e nach ihrer Art und Neigung: man darf nicht durch gut und böse falsche Begriffe menschlicher Sittlichkeit hineintragen. Da sind die Götter alle, die der Kultus kennt, und unzählige andere, die wir einzeln erkennen oder ahnen. Wie denn Sophokles selbst einen neuen Gott, den Asklepios, geschaut und seine Verehrung bei seinem Volke durchgesetzt h a t 2 ) . Da sind die Mächte, die wir wohl ahnen, die wir aber nicht individuell benennen können, so daß wir uns oft mit Abstrakten behelfen. Da sind auch die Seelen, die eine Macht bewahrt haben, wie denn Sophokles selbst nach seinem Tode ein sogar benannter Dämon geworden ist. All das sind keine Abstracta, auch keine bloßen Ursachen bestimmter Wirkungen, sondern lebeitdige wollende Wesen mit Seelen wie Menschen, aber mit göttlicher K r a f t . I n diesem Getriebe steht der Mensch: was will, was kann seine Schwäche? Wer will der Zukunft auch nur der nächsten Stunde sicher sein? !) Was er nicht will, das sagt er nicht, und da hat man sich eben zu bescheiden, 2 8 0 ; das hat Oedipus selbst getan, 788. 2 ) Seit man weiß, daß Aischylos diesen Gott so wenig wie Homer gekannt hat, gewinnt die Stelle, die ihn erwähnt, Klarheit und Bedeutung; Ag. 1021 oúSe t ö v öpSoSccfj t w v qjSinévcov áváyeiv Zeus árrÉTrauaev i t i ' aßAaßEiai (so zu lesen, so gut wie überliefert) „und dem Asklepios hat Zeus seine Kunst, nicht ohne ihn schwer zu kränken, gelegt." [in der Aischylos-Ausgabe (1914) schließt sich Wil. jedoch den Konjekturen Hermanns an]. Sie ist eine strafwürdige Hybris, wie im Märchen vom Gevatter Tod; so war es in der Eoee, auf die auch Euripides Alk. 125 ganz in ihrem Sinne deutet.

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D a ist die einzige Hilfe, sich die Ü b e r m ä c h t i g e n geneigt zu m a c h e n , i h r e m Willen n a c h z u k o m m e n , u n d daher ist es die größte G n a d e , d a ß ein u n f e h l b a r e r u n d allwissender Berater d a ist, der, soweit er es will, d e m Einzelnen u n d d e n S t a a t e n sagt, was sie zu t u n h a b e n , u m die 57 göttlichen Gewalten günstig zu s t i m m e n ; ist das nicht möglich, sagt der G o t t n u r das k ü n f t i g e Unheil voraus, so m u ß der Mensch in seiner O h n m a c h t sich bescheiden. D a n n leidet er e b e n . W o h l gibt es a u c h eine Sittlichkeit u n a b h ä n g i g v o n d e m Willen einer göttlichen P e r s o n ; das sind die ungeschriebenen Gesetze, die im Gewissen s t e h n , die der Chor verherrlicht, f ü r die Antigone s t i r b t ; aber ihre Verletzung wird z w a r b e s t r a f t , ihre E r f ü l l u n g dagegen g a r a n t i e r t n i c h t das irdische G l ü c k . W e n n einem g r a u s a m e n D ä m o n beliebt, einen Menschen zu verfolgen, zu t r e t e n , zu peinigen, was gibt es f ü r Hilfe dagegen? 1 ) M a n m a g versuchen, ob Apollon oder sonst ein G o t t etwas weiß, sich des D ä m o n s in g u t e m oder bösem zu e r w e h r e n ; wo nicht, so h e i ß t es wieder, sich bescheiden. M a n m u ß sich in diese A n s c h a u u n g e r n s t h a f t hineinleben, sie sich nicht t r ü b e n , i n d e m m a n die freie F r ö m m i g k e i t des Aischylos oder den R a t i o n a l i s m u s des E u r i p i d e s oder gar D e t e r m i n i s m u s , Deism u s oder andere m o d e r n e A b s t r a k t i o n e n hineinzieht. Sophokles ist der v o r n e h m s t e V e r t r e t e r der geltenden Religion der A t h e n e r ; w e n n m a n will, ist er der einzige wirklich gläubige Heide n e b e n P i n d a r o s , der a b e r anders s t e h t , weil er eine eigene I n s p i r a t i o n zu besitzen g l a u b t . J e d e r d u r c h Philosophie g e l ä u t e r t e n Denkweise s t e h t er viel f e r n e r als die beiden a n d e r e n ; seinen A t h e n e r n sprach er eben d a r u m a m meisten z u m H e r z e n . E r w a r in keiner Weise s p e k u l a t i v , a b e r er w a r n i c h t m i n d e r L e h r e r u n d Prediger als jene. E s w a r i h m so e r n s t m i t seiner v ä t e r l i c h e n F r ö m m i g k e i t wie ihnen auch m i t ihrer Lehre. V e r m u t l i c h wird d e n Sophokles a m b e s t e n h e u t z u t a g e ein christliches Mütterlein v e r s t e h e n , das in all den unbegreiflichen u n d u n g e r e c h t e n Lebensschicksalen, die sie gesehen h a t , die H a n d des persönlichen in alles eing r e i f e n d e n gerechten G o t t e s findet, u n d sie h a t nicht U n r e c h t , w e n n sie d a n n d e n a r m e n H e i d e n b e d a u e r t , dem die Gewißheit der (potentiellen) E r l ö s u n g gefehlt h ä t t e , sosehr a u c h Sophokles dies B e d a u e r n a b zulehnen b e r e c h t i g t wäre. Wir Philologen h a b e n die Pflicht, alle

O. T. 828 ap' oük cnr' ¿>|joü Tccüra 6ainovös Tis av Kpivcov ett' dvSpi tcöi8' av öpSoir) Ae ycov; man muß das nur nicht für eine Redensart halten, sondern so sinnlich nehmen wie 1311, das unten erläutert ist.

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20. Exkurse zum Oedipus des Sophokles (1899)

d r e i T r a g i k e r gleich z u w ü r d i g e n , e i n e n j e d e n n a c h s e i n e m M a ß s t a b e 58 E s ist a u c h ein f a l s c h e r M a ß s t a b , w e n n m a n d a r ü b e r k l a g t , d a ß d e r O e d i p u s k e i n e n v e r s ö h n e n d e n A b s c h l u ß h a t . M a n gebe d e m D i c h t e r n u r seine e r n s t e F r ö m m i g k e i t z u . A p o l l o n s W a h r h a f t i g k e i t t r i u m p h i e r t , der Mensch geht zu G r u n d e . E s gibt eben eine W e l t a n s c h a u u n g , der ist m e h r a n d e m T r i u m p h e i h r e s G o t t e s gelegen als a n d e m U n t e r g a n g e eines j e d e n M e n s c h e n . W e n n er a n d e r s a u s g i n g e , d a n n g ä b e es k e i n H e i l , d a n n w ä r e Z e u s n i c h t a l l m ä c h t i g , h ä t t e die V e r e h r u n g d e r G ö t t e r k e i n e n Z w e c k , w ü r d e d e r C h o r n i c h t t a n z e n (896) u n d d e r D i c h t e r n i c h t d i c h t e n . D a ß er es t u t , d a ß er selbst s a g t , w a s i m a n d e r e n F a l l e e i n t r e t e n m ü ß t e , b e w e i s t u n w i d e r l e g l i c h , i n w e l c h e m S i n n e e r die Ges c h i c h t e s e i n e m V o l k e v o r f ü h r t . D a s L i e d i n d e r M i t t e des D r a m a s g i b t ü b e r seine S t i m m u n g volle K l a r h e i t . E s ist s c h o n r i c h t i g , d a ß h i e r d e r D i c h t e r d e n C h o r D i n g e s a g e n l ä ß t , die a u s d e m S t ü c k e h e r a u s f a l l e n , d e r e n E r k l ä r u n g also a u ß e r h a l b g e s u c h t w e r d e n m u ß . D i e F r i v o l i t ä t l o k a s t e s m o t i v i e r t die F o r d e r u n g , d a ß sich d a s O r a k e l b e w a h r h e i t e , u n d die S c h i l d e r u n g d e r F o l g e n des G e g e n t e i l e s . D a a n d e n G ö t t e r n a u c h die m o r a l i s c h e H a l t u n g des M e n s c h e n l i e g t , so i s t es n o c h b e g r ü n d e t , d a ß d e r C h o r b i t t e t , die M o i r a m ö g e i h n b e i d e r Ü b u n g d e r s i t t l i c h e n R e i n h e i t b e g l e i t e n , d . h . er m ö g e n i c h t i m G l a u b e n u n d i n d e n W e r k e n d e r „ R e i n h e i t " w a n k e n . A b e r d e r F l u c h a u f f r e v e l h a f t e Gesinnung, Vergreifen an dem U n a n t a s t b a r e n und Streben nach unlauter e m G e w i n n e ist d u r c h die S i t u a t i o n n i c h t b e g r ü n d e t , u n d d a ß d e r U m s t u r z der Verfassung bei der f r e v e l h a f t e n Zügellosigkeit schließlich d r o h e , ist v o l l e n d s i n T h e b e n u n t e r K ö n i g O e d i p u s k e i n e n a h e l i e g e n d e 59 B e f ü r c h t u n g . ) 2

Das

sagt der athenische

Dichter

und

Staatsmann

1) D a m i t ist anerkannt, daß ich der Elektra des Sophokles Unrecht g e t a n habe, wenn ich an sie den Maßstab der Sittlichkeit anlegte, den die beiden anderen anerkennen wie wir, Sophokles aber nicht. Für ihn ist alles damit entschieden, wie der reine Gott befiehlt. Weil er aber wußte, daß die Empfindung des Volkes, im Grunde gewiß auch die seine, die Tat anders beurteilte, hat er die alte Geschichte nur als Hintergrund behandelt, und sein letzter A k t ist ziemlich so konventionell wie o f t bei Euripides. Alles Licht fällt auf die wunderbare Gestalt Elektras, der m a n keine Anwandlung v o n Reue unterschieben soll, die v o n furchtbarer, fast grauenhafter Schönheit ist. E b e n hat Parmentier in den Mélanges Weil darüber sehr wahr geurteilt. Meine Datierung des Dramas hinter das euripideische [oben S. 170 ff.] ist widerlegt; wie Euripides dazu kam, das seine zu schreiben, h a t H. Steiger (Philol. 56, 1897) so gezeigt, wie ich es hätte zeigen sollen. 2

) 873 Tvpcxvvis ist, was es allein sein kann, die durch die KcrrâÀucns der Ka3ecrrr|Kuta TTOÀiTEÎa begründete Gewaltherrschaft. Ihr gegenüber steht das ttôàei köAc05

20. Exkurse zum Oedipus des Sophokles (1899)

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Sophokles. Aber vergeblich ist es, nach konkreten Anlässen zu suchen, die bezeichnet wären. Den Dichter umgab eine Gesellschaft, in der die Gesinnungen lokastes verbreitet waren, wo es genug üßpis und orio'xpo- K£p5£ia und Ubergriffe in das, was ihm CCSIKTOV schien, gab. E r hat den Sturz des Areopags, die B a u t e n im Pelargikon, die Politik Kleons, die sich bei Thukydides selbst Tyrannis nennt, die Hermokopiden und die Vierhundert erlebt, auf die er alle zielen könnte. Solch eine Äußerung gibt keinen chronologischen Anhalt; für seine eigene dauernde Gesinnung ist sie ein Beleg. Nur weil wir wissen, daß er zu den Staatsmännern gehört hat, die neben Perikles zur Zeit von dessen höchster Macht tätig waren, ist nicht wahrscheinlich, daß er damals so trübe gesehen hat, und die Warnung vor der Tyrannis möchte m a n mit den Besorgnissen der älteren aristophanischen Komödien vergleichen. Aber das reicht nicht hin 1 ). E s ist auf das schärfste zu sagen, daß keine sophokleische Tragödie eine unmittelbare Beziehung auf ein F a k t u m der Gegenwart enthält 2 ). Wenn Oedipus die Lehre geben sollte, daß das Menschenschicksal unberechenbar und immerfort jeder göttlichen Heimsuchung ausgesetzt ist, so durfte er kein Frevler sein, auch nicht in der Gesinnung. I n der T a t versagt er dem Gotte nur einen Augenblick den Glauben. Die Frivolität l o k a s t e s liegt am T a g e ; wichtiger ist, daß der Chor einmal den Satz aufstellt, daß der Seher als solcher nicht mehr sähe als ein anderer Mensch (501), und ein andermal sich selbst eine Prophezeiung 60 erlaubt (1086). Beidemale geht er in die Irre. D a s ist genug zur K r i t i k ; so sah Sophokles sein Volk die staatlich angestellten und oft so einEXOV TidAaiCT|ia, d a s G o t t n i c h t A ö a a l s o l l , d a s ä | i i A A ä S a i ETTI TCOI TT)S TTÖAECOS KOCACÖI.

Der Glaube des Chores ist eigentlich: „ich bleibe fromm, denn Gesetzlosigkeit und Gottlosigkeit führt in den Abgrund; gerechtes Handeln zum Heile der Stadt segnet Gott; die Werke der Ruchlosigkeit bestrafen sich". Jetzt hat ihn ein beängstigender Zweifel angewandelt, daher sich die Zuversichtlichkeit fast überall in den "Wunsch umsetzt, zuletzt in den, daß er den Zweifel loswerde. ') Als sicher betrachte ich die Reihenfolge Antigone, Oedipus, Elektra; vor diese gehört sicher noch der Aias (nach 438, Euripides' Kreterinnen und Telephos), voll von den Erfahrungen des politischen Getriebes. Der Parallele zwischen den Verteidigungsreden des Kreon und des Hippolytos kann ich einen zuverlässigen Anhalt nicht entnehmen. 2 ) Auch nicht der Oedipus auf Kolonos, einerlei wann die Boeoter an dem Orte geschlagen sind, denn darauf insistiert der Dichter nicht. Daß die Sage vor dieser Bearbeitung geläufig war, zeigen die Phoenissen, aus denen dieser Zug absolut nicht gestrichen werden kann.

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20. E x k u r s e z u m O e d i p u s des S o p h o k l e s (1899)

flußreichen Seher e b e n s o o f t verlachen. Darüber wird er sich n i c h t get ä u s c h t h a b e n , daß sich viel Schwindler aus G e w i n n s u c h t in d e n heiligen S t a n d d r ä n g t e n , u n d so ist es ganz natürlich auch in s e i n e m Sinne, daß der K ö n i g , d e m Teiresias ein Verbrechen z u s c h i e b t , v o n d e m er sich rein weiß, in i h m einen falschen, b e s t o c h e n e n A g e n t e n sieht und sich gar keine Mühe gibt, die P r o p h e z e i u n g ernst z u n e h m e n 1 ) . E r ist gar kein T y r a n n , würde er sich sonst solche W o r t e sagen u n d d e n Teiresias ungefährdet h e i m k e h r e n lassen? Er ist erregbar, aber so rasch er den Laios erschlug, den K r e o n beschuldigt u n d sich selbst b l e n d e t , das ist d e m Dichter alles keine S c h u l d : die Kritik des F e i n d e s 2 ) ist doch n i c h t m a ß g e b e n d . Aber ein anderes ist f ü r i h n bez e i c h n e n d ; er h a t den Teiresias nicht geholt, er redet ihn m i t übertriebener D e v o t i o n an, n e n n t ihn sogar avcc£, aber er h a t kein Verhältnis zu i h m , wie es K r e o n in der A n t i g o n e h a t 3 ) . D a s b e g r ü n d e t e B e d e n k e n gegen seine K u n s t , daß der S e h e r gegen die S p h i n x n i c h t geholfen h a t , m o c h t e i h m früher g e k o m m e n sein. Er ist aber a u c h 61 geneigt wie der Chor, auf seine eigene yvcö|ir) zu p o c h e n ; er ist stolz darauf, daß i h m kein G o t t geholfen h a t , daß er der nr|8£V £18005 war. Er h a t t e ja auch so helle A u g e n (419. 1483); das l ä ß t seine B l i n d h e i t u m so trauriger erscheinen, auch seine innerliche. 1) So m u ß die P a r t i e 354—378 gespielt w e r d e n . Oedipus a h n t schon 346 m e h r als die Beteiligung des Sehers a n d e m M o r d e ; d a h i n t e r zu k o m m e n , ist seine A b s i c h t , die B e z i c h t i g u n g des Sehers h a t n u r i n s o f e r n W e r t f ü r ihn. D a h e r s u c h t er, wie Teiresias d u r c h s c h a u t (360), i h n zu w e i t e r e n R e d e n zu v e r a n l a s s e n . E n d l i c h , als Apollons N a m e fällt (377), m a c h t er die V e r m u t u n g : zu Apollon h a t m i c h K r e o n gewiesen, also K r e o n . 2

) K r e o n 675: d a s ist die Ü b e r l e g e n h e i t des k a l t e n R e c h n e r s , der m e i n t , er b r a u c h e nie zu b e r e u e n . Solche N a t u r e n sind freilich m i t sich selbst i m m e r z u f r i e d e n , a b e r d a r u m v o r G o t t u n d Menschen die U n a u s s t e h l i c h s t e n . :! ) A n t . 993. 1059. Die Szenen sind innerlich gar n i c h t ä h n l i c h . E r s t e n s bezweifelt K r e o n die S e h e r k r a f t des Teiresias nie, zweitens f ü g t er sich i h m auf die D r o h r e d e , d r i t t e n s wird er gar n i c h t wirklich l e i d e n s c h a f t l i c h ; er b e k l a g t sich b i t t e r , d a ß alle gegen i h n s t e h n , weigert sich e n t s c h i e d e n , a b e r m i t r a t i o n e l l e r B e g r ü n d u n g , e i n e m S p r u c h e , der aus i m G r u n d e überlegener S i t t l i c h k e i t d a m a l s o f t gegen d e n G l a u b e n a n p h y s i s c h e |J.iaCT|JaTa v o r g e b r a c h t w e r d e n m o c h t e (vgl. zu E u r . H e r . 1232), u n d d e r ü b e r l e g e n e n A b f e r t i g u n g „ m e i n lieber alter M a n n , es k o m m t v o r , d a ß a u c h sehr k l u g e L e u t e s c h m ä h l i c h hereinfallen, w e n n sie s c h m ä h l i c h e R e d e n f ü h r e n u m des P r o f i t e s w i l l e n " . E i n e persönliche I n s i n u a t i o n in d e r F o r m des G e m e i n p l a t z e s . Die aicrxpoKEpSeia w e r f e n sich T y r a n n u n d Seher d a n n gegenseitig v o r . I m M u n d e des O e d i p u s w i r d sie e i n m a l g e s t r e i f t (388), n u r weil sie der gewöhnliche Vorwurf gegen die Seher w a r , die j a Sr]pioupyoi sind, also Geld f ü r ihre D i e n s t e n e h m e n .

20. Exkurse zum Oedipus des Sophokles (1899)

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M a n h a t i h n viel gescholten, d a ß er seinen b i e d e r n S c h w a g e r so leicht eines A t t e n t a t e s b e z i c h t i g t . O h n e Zweifel f ü h r t i h n seine yvcbur) irre, a b e r d a ß er ins B l a u e w ü t e t e , ist n o c h i r r i g e r ; es ist d o c h d a m i t zu r e c h n e n , welche Mittel die Politiker d a z u m a l a n w a n d t e n u n d welche vollends i n m o n a r c h i s c h e n S t a a t e n v o r a u s g e s e t z t w u r d e n 1 ) . Dionysios v o n S y r a k u s w ü r d e d e n A r g w o h n des O e d i p u s schwerlich ü b e r t r i e b e n g e f u n d e n h a b e n . E s s t e h t n i r g e n d , a b e r es liegt i n d e n V e r h ä l t n i s s e n , d a ß K r e o n wie n a c h d e m T o d e des O e d i p u s so n a c h d e m des Laios d a s K ö n i g t u m v e r w a l t e t h a t u n d der Kupios d e r l o k a s t e gewesen ist (1448). V o n d e n S ö h n e n des O e d i p u s ist a u c h s p ä t e r keine R e d e . Also t r i f f t d a s cui bono auf i h n zu. K r e o n selbst weiß in seiner V e r t e i d i g u n g a u c h n i c h t s v o r z u b r i n g e n , als d a ß er die K r o n e n i c h t n ö t i g g e h a b t h ä t t e , d a er so schon die M a c h t b e s ä ß e ; u n d i n d e r T a t , er h a t I n i t i a t i v e m e h r als sein S c h w a g e r u n d g e b ä r d e t sich g e r n als dessen ü b e r l e g e n e r V o r m u n d . J a , er h a t d e n Seher h e r a n g e h o l t , u n d als d a s Orakel gefallen ist, b e w a h r t er i h m seinen G l a u b e n (557), s o d a ß O e d i p u s m i t vollem R e c h t e s a g t (657), d a ß die B e g n a d i g u n g K r e o n s seine eigene B e s t r a f u n g als M ö r d e r i n sich schließe. E s ist n i c h t a n z u n e h m e n , d a ß Oedipus d e n B e r a t e r i m m e r g e r n g e h ö r t h a b e . W e n n er n u n auf sein B e t r e i b e n einen Seher g e f r a g t h a t , v o n d e m i h m d a s V e r b r e c h e n zugeschoben wird, w a s W u n d e r , d a ß er d a r i n A b s i c h t w i t t e r t ? D a ß er b i s h e r d e n S c h w a g e r u n d die G a t t i n so neidlos h a t g e w ä h r e n lassen, c h a r a k t e r i s i e r t seine neyaAopiKT|, und E k e l weckt, so ist es u m die R u h e der Überlegung getan, die zum Stellen der Fragen nötig ist. Und merkt m a n diese Erregung nicht in der Häufung und der Anapher? Das ist ein häßlicher S c h n i t t der kalten logischen Schere. Nein, so ist e s : der Chor t u t die erste der Fragen, da übermannt ihn der Schauder, er bricht ab. D a mag moder- 70 ner Stil eine Pause m a c h e n ; die genügt v o l l k o m m e n ; aber die attische B ü h n e pflegt mit Worten die Ubergänge zu bezeichnen oder mit I n t e r jektionen, die wir so nicht haben. Diesen Übergang füllt der R u f