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German Pages 224 [225] Year 2019
Angelika Corbineau-Hoffmann Kleine Literaturgeschichte der Großstadt
Angelika Corbineau-Hoffmann
Kleine Literaturgeschichte der Großstadt
Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Meiner Mutter, der Liebhaberin großer Städte, dankbar zugeeignet.
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2003 by Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Einbandgestaltung: Neil McBeath, Stuttgart Umschlagabbildung: Nikolaus Braun: Berliner Straßenszene (1921). Foto: AKG Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-darmstadt.de
ISBN 3-534-15713-3
Inhalt Die Großstadt in der Literatur – Bilder und Bedeutungen Panoramen – Gesamtschau der Großstadt . . . . . . . 1. Lesage: Der hinkende Teufel – Roman einer Nacht 2. Hugo: Notre-Dame de Paris – Roman eines Wortes 3. Stifter mit dem Zeichenstift: Aus dem alten Wien .
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Sittenbilder – die Großstadt als moralisches Tableau . . 1. „Ich male Paris“: Merciers Tableau von Paris . . . . 2. „Stoff zu Betrachtungen“: London bei Dickens . . . 3. „Stadt des Schmerzes“: Balzacs Paris . . . . . . . . .
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Großstadtgemälde – der pittoreske Blick . . . . . . . . . . . . . . 1. „Wimmelnde Stadt, Stadt voller Träume“: Baudelaire . . . . 2. „Sobald mein Auge Raum hat“: Rilke und Paris . . . . . . . 3. „… außerhalb aller Größenordnungen“: Paris bei Zola . . .
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Ansichten der Großstadt – der perspektivische Blick . . . . . . . . . . 1. Schattenrisse – Großstadt und Kriminalität . . . . . . . . . . . . . 2. Eidola und Genrebilder – die Großstadt im Feuilleton . . . . . . 3. (Augen-)Blicke und Visionen – das Bild der Großstadt in der Lyrik
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Skizzen der Großstadt – Der ‘filmische’ Blick . . . . . . . . . . . . . . 1. Dos Passos: Manhattan Transfer oder die perpetuierte Apokalypse 2. „Da rollen die Worte einen an“: Döblin, Berlin Alexanderplatz . . 3. „… wie sonst und doch anders …“: Andrej Belyjs Petersburg . . .
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Collagen – Kompositionen des Ungewohnten . . . . . . . . . . . . . . . 1. „RE-A-LI-TÄ-TEN“: Aragons Pariser Bauer . . . . . . . . . . . . . 2. „Jubelruf in Stein?“: Brinkmann, Rom, Blicke . . . . . . . . . . . . . 3. Irgendwo, in New York und anderswo: Die Geisterstädte des Alain Robbe-Grillet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Visionen – die Idee der Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Bibliografische Hinweise
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Die Großstadt in der Literatur – Bilder und Bedeutungen In der Großstadt, so schrieb Horaz, könne man nicht schreiben. Umdrängt von den Plagen des Lebens, von Freunden um Beistand gebeten, von den beruflichen Verpflichtungen eingeschränkt, solle man alles stehen und liegen lassen und sich auf weite Wege durch die Stadt begeben: „Aber da sind ja die breiten, bequemen Straßen, wo dem Sinnenden nichts im Wege steht!“ – denkt man, aber: „In rücksichtsloser Hast kommt ein Bauführer und hetzt seine Maultiere und Träger; ein Kran windet bald Blöcke, bald Riesenbalken in die Höhe; düstere Leichenzüge verwickeln sich mit Lastfuhrwerken; hier flüchtet ein tollwütiger Hund, dort rennt ein kotbespritztes Schwein: geh hin und sinne da mit Andacht auf klangschöne Verse!“ Ein Schreckbild weitaus eher als ein Refugium für Dichter, steht für Horaz die Stadt in flagrantem, ja geradezu schreiendem Gegensatz zur Poesie, und der Dichter, der sie nicht flieht, sieht sich um seine Ruhe gebracht. Dass die Großstadt selbst ein poetischer Gegenstand sein könnte, kommt Horaz schon gar nicht in den Sinn. Sie hält denn auch ihren Einzug in die Literatur unter negativem Vorzeichen: in Form der Satire. Antagonistin der Ruhe und damit a fortiori Feindin des Poeten, erlegt die Großstadt denjenigen, die sich dem Geistigen, dem Schönen und der Konzentration anheim gegeben haben, unzumutbare Beschränkungen auf und wird nicht müde, ihnen die schlimmsten Hindernisse in den Weg zu legen. Der Weg der Großstadt in die Literatur scheint von Störungen verstellt. Und doch wird im Laufe der Zeiten die Großstadt zu einem der ‘großen’ Gegenstände der Literatur – so weit, dass eine ‘kleine’ Literaturgeschichte der Großstadt ein (nicht nur durch ihren Gegenstand, sondern auch durch dessen poetische Gestaltungen) ‘großes’ Thema auf ein Quasi-Miniaturformat zurückschneiden muss. Mit Beginn der Moderne, als sich die Literatur von ihren seit Horaz traditionellen Aufgaben der Erbauung und der Unterhaltung zu emanzipieren beginnt und ein eigenes künstlerisches Selbstbewusstsein entwickelt, entsteht ihr auch ein Gegenstand, auf den sie die neu gewonnenen Kräfte richten, an dem sie sich bewähren kann: die moderne Großstadt. Aus einer Konzentration politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Kräfte an einem Ort hervorgegangen und von ihr fortwährend genährt, bildet die moderne Großstadt einen Mikrokosmos von intensiver, ganz eigener Strahlkraft. Die allmähliche Herausbildung der Metropolen verläuft einer literarischen Entwick-
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lung parallel, die sich in der Auseinandersetzung mit einem neuen Gegenstand zunehmend energischer und selbstbewusster artikuliert. Lebensraum für zahlreiche Menschen, Handels-, Verwaltungs- und Kulturzentrum, sozialer Raum von großer Vielfalt, Ort der unterschiedlichsten Angebote für Arbeit und Freizeit, Zentrum überregionalen Verkehrs, Ursprung komplexer Wahrnehmungsreize, braucht die Großstadt ihren Anspruch auf literarische Darstellung offenbar gar nicht erst zu begründen: ihre Wichtigkeit ist evident. Doch die plakativ-kunstlose Art unserer Formulierung, die als bloße Aufzählung ihre Lieblosigkeit gar nicht erst zu verbergen sucht, lässt Bedenken anklingen: So einfach steht es wohl nicht um die Beziehung zwischen Großstadt und Literatur, dass angesichts eines bedeutenden Themas eine reflexartige Reaktion in den Künsten einsetzen müsste, so wie ein nur irgend wichtiges Geschehen heutzutage sogleich die Medien auf den Plan ruft, um von ihnen als Information auf einen unersättlichen Markt geworfen zu werden. Wenn sich die Literatur über Jahrhunderte hinweg in zahlreichen Sprachen und Darstellungsformen der Großstadt zuwendet, ist deren bloße Existenz dafür noch kein hinreichender Grund. Es besteht vielmehr eine Allianz zwischen diesem Thema und seinem Darstellungsmedium – eine besondere Herausforderung, die von der Großstadt an die Literatur ergeht. Aber: zu thematisieren, was (zumeist) den Lebensraum der Autoren, häufig auch die Erfahrungsdomäne der Leser ausmacht, bedarf es wahrlich, so möchte man meinen, keiner besonderen Kunstfertigkeit, denn das Darstellen auf der einen Seite, so vermutet man weiter, das Verstehen auf der anderen Seite sind, in einer großstädtisch geprägten Umgebung, denkbar simpel. Genügt es nicht für den Autor, dem Gegenstand einen (hier: überdimensionierten) Spiegel vorzuhalten, reicht es nicht für den Leser, einfach in diesen hineinzuschauen? Doch solche Spiegelbilder, statt plan und abbildend zu sein, können täuschen, wenn nämlich die Spiegel verformt sind und das ‘Abbild’ verzerren, wenn die gewohnte Wirklichkeit, gegen die gerade der Städter so leicht abstumpft, plötzlich in verfremdender Brechung erscheint. Mag die Verführung, die Großstadt bloß (in Sprache) abzubilden, auch fast unwiderstehlich sein: gelingen wird ein solches Unterfangen kaum, denn der Gegenstand ist heterogen und vielfältig und bricht sich in zahlreichen Facetten – der Spiegel wird unbrauchbar. Mit anderen Worten: das angenommene Entsprechungsverhältnis zwischen Großstadt und Kunst erweist sich als Illusion. Wenn Versuche, den Gegenstand einfach einzufangen, scheitern, so kann diese für einen Realisten enttäuschende Erfahrung durchaus in einen künstlerischen Gewinn einmünden. Wäre die Kunst wirklich nur Abbild dessen, was uns umgibt, dann müssten wir Platons Einsicht folgen, uns doch lieber statt den Abbildern den Urbildern zuzuwenden und uns statt Erfahrungen aus zweiter Hand doch besser jenen anzuvertrauen, die uns selbst unmittelbar und unvermittelt zugehören. Dass die Kunst mehr und anderes sei
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als bloßes Abbild der Wirklichkeit, ist auch dem Leser nicht fremd; was diese Einsicht indes bedeutet, kommt am Beispiel der Großstadtliteratur unverstellt zur Anschauung. Es wurde schon angedeutet: Ihren mehr oder minder dienenden Funktionen entwachsend, versteht sich die Literatur seit der Mitte des 18. Jahrhunderts als ein eigenständiges Kulturphänomen, das sich nun, im Sinne einer Autonomie der Kunst, eigene Regeln setzt und in einem primären Bezug auf sich selbst ihre vornehmste Zielstellung erkennt. Ähnlich manifestiert sich in den Großstädten bürgerliches, später auch proletarisches Selbstbewusstsein, und die wachsende Bedeutung der Metropolen läuft der politischen, moralischen und künstlerischen Emanzipationsbewegung parallel, ja wird sogar zu einem nicht geringen Teil von ihr mitgetragen. Wie La Bruyère als Erster erkannte, bilden die Städte – auch dann, wenn sie Residenzen sind – zum Hofleben einen Gegenpol von ganz eigenem Gewicht, der von spezifischen gesellschaftlichen Verhaltensweisen (in der Sprache der Zeit: Sitten) geprägt ist. Wachsende Größe – der Fläche, der Bevölkerungszahl, der Bedeutung – führt auch zu wachsendem Einfluss, was eine Ausblutung des Umlandes bewirken kann; ein Vorgang, der noch heute an den tristen Rändern der Metropolen und besonders im Moloch Megalopolis zu beobachten ist. Größe muss freilich nicht auch Glanz bedeuten – im Gegenteil kann das ständige Wachstum, statt von Bewunderung, auch von Ängsten begleitet sein, jenen Befürchtungen, die mit dem sich oft als ambivalent erweisenden Fortschritt nicht selten einhergehen. Das Anwachsen der Städte – bis sie zu Großstädten und Metropolen werden – wäre indes als ein kontinuierlicher Vorgang, den natürlichen Wachstumsprozessen vergleichbar, missverstanden. Vielmehr ereignet sich im Übergang von der Stadt zur Großstadt ein Umschlag von Quantität in Qualität, so dass die Großstadt gegenüber der Stadt nicht nur der Größe und der Bedeutung, sondern auch ihrem Erfahrungsgehalt nach verschieden ist. Die Großstadt ist nicht einfach eine vergrößerte Stadt, sondern ein Erfahrungsraum von eigener Qualität. Der Vorgang ist uns vertraut: Die Stadt wird, zur Großstadt geworden, unüberschaubar, der Mensch fühlt sich fremd und ist so vielfältigen Reizen ausgesetzt, dass er oftmals nur mit Abschirmung reagieren kann – mit Blasiertheit, wie es Simmel in seinem Essay „Die Großstädte und das Geistesleben“ nannte. Die Großstadt verliert das menschliche Maß, ihre verschiedenen Viertel haben selbst schon die Größe von Städten, das Angebot an Kultur und Unterhaltung übersteigt bei weitem Zeit, Kraft und Finanzen der Großstädter, soziale Kontakte sind schwer zu knüpfen und oft nicht von langer Dauer: der Großstädter als ‘Single’ – allein lebend, isoliert, vereinsamt. So will es eine geläufige Vorstellung. Dass im Zuge der Industrialisierung die Großstädte auch zu Stätten der Armut, ja des sozialen Elends werden, vervollständigt das düstere Bild – einem Horrorszenario weitaus ähnlicher als
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einer Wunschwelt und ihrem Spiegelbild in der Literatur wohl nicht unähnlich: wirklich? Wenn diese Skizze der Großstadt den Gegenstand nicht total verfehlt, erweist sich dieser für die von ihren traditionellen Aufgaben und Regeln befreite Literatur, die nun nicht mehr im Bann des horazischen „nützen und erfreuen“ steht, als ein geradezu ideales Gegenüber. Als die Literatur die sie bindenden Regelpoetiken außer Kraft setzte, ihre moralisch-erbaulichen Aufgaben abschüttelte und die Funktion der Erheiterung und Zerstreuung autopoetisch durch eigenes Kunstwollen ersetzte, wuchsen ihr auch die Mittel und Möglichkeiten zu, sich dem proteischen Gegenstand ‘Großstadt’ zu stellen: Was nämlich wäre an ihm erbaulich, was erheiternd, wie ließe sich die Nachahmung des Giganten bewerkstelligen, welche poetischen Regeln wären für ihn pass- und maßgerecht? Die moderne Großstadt und die Literatur sind im Verständnis der Moderne gleichsam Geschwister, hervorgegangen aus der Emanzipationsbewegung der europäischen Aufklärung, beide mit neuer Freiheit versehen, mit deren Reiz und deren Risiko. Eine aus den traditionellen Schemata befreite Literatur fand sich mit einem Gegenstand konfrontiert, für den es Darstellungsmodelle ohnehin nicht gab – ein weites Experimentierfeld, dessen Wandelbarkeit der modernen Erfahrung von Fortschritt und Beschleunigung bestens entsprach: Aus dem anfänglichen Schreckbild scheint sich ein künstlerischer Idealzustand zu entwickeln. Doch trotz sich immer weiter ausdifferenzierender Kunstmittel bleibt die Darstellung der Großstadt ein Problem, das sich, im proteischen Wandel begriffen wie der Gegenstand selbst, nicht letztgültig fixieren und definitiv benennen lässt; hieraus erwächst die Aufgabe der folgenden Darstellung. Von einer (wenngleich nur ‘kleinen’) Literaturgeschichte der Großstadt zu sprechen mag dem Leser suggerieren, es erwarte ihn die Beschreibung eines kontinuierlichen historischen Verlaufs von den bescheidenen Anfängen der Großstadtliteratur bis hin zu ihrer extremen Ausdifferenzierung in unserer Zeit – oder auch umgekehrt eine Verfallsgeschichte, die nach einem Beginn auf höchstem künstlerischem Niveau in einem Prozess steter Dekadenz schließlich ihren Tiefpunkt erreicht. Auch ein wellenförmiges Auf und Ab wäre denkbar, triff aber ebenso wenig den Sachverhalt wie die beiden anderen Modelle. Was bleibt? Ein Faszinosum, das mit unseren ganz aktuellen Erfahrungen ebenso verschwistert ist, wie Großstadt und moderne Literatur derselben Generation angehören. Die Geschichte der Großstadtdarstellung in der modernen Literatur ist eine Summe der unterschiedlichsten Momente. Sie lässt sich nicht schreiben – und hierbei spielt der Unterschied von wissenschaftlicher oder populärer Darbietung kaum eine Rolle – ohne die Konzentration auf herausragende Augenblicke, vor denen die Vorstellung von einem historischen Kontinuum keinen Bestand hat. Während die Geschichte zum Mitgehen einlädt, fordert der
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Moment das Innehalten; während, auf Veränderungen gerichtet, der Blick schweift, formt er in Augenblicken Bilder. Hier begegnet unser Medienzeitalter mit seiner ‘Bilderflut’ dem schon in die Jahre gekommenen Gegenstand ‘Großstadt’; hier kann sich unsere bilderfahrene Wahrnehmung an dem bewähren, was ‘nur’ Literatur ist. Doch zunächst zurück zu dem Gedanken, dass die Literatur in der Großstadt einen idealen Gegenstand fand. Georg Simmel, Soziologe zwar, aber von hoher Einfühlungskraft, was die Künste anbelangt, hatte schon 1903, als die große, immer weiterem Wachstum verpflichtete Zeit der Großstadt noch gar nicht angebrochen, Megalopolis noch nur ein Name war, eine kurze Studie (ursprünglich ein Vortrag) mit dem Titel „Die Großstädte und das Geistesleben“ vorgelegt – scheinbar ohne Bezug zur Literatur, für diese aber dennoch von größter Bedeutung. In Simmels Perspektive sind die Großstädte nicht nur Orte eines besonderen ‘Geisteslebens’, sie sind auch dessen tieferer Grund. Während nämlich das Leben in den kleineren sozialen Einheiten auf dem Lande in hohem Maße die Emotionalität befördert und freisetzt, sind die Großstädte Räume des Intellekts. Im Unterschied zum Landleben führen sie durch die Vielzahl ihrer sinnlichen Eindrücke zu einer „Steigerung des Nervenlebens“, indem die Wahrnehmung permanent angesprochen und herausgefordert wird. Dem versucht sich der Einzelne durch die Reaktionen des Verstandes zu entziehen; er schirmt sich gegen die Reizüberflutung ab. Für Simmel sind deshalb die Beziehungen innerhalb der Großstädte, sowohl auf ökonomischer als auch auf psychischer Ebene, durch Versachlichung geprägt. Der Mensch „reagiert im wesentlichen mit dem Verstande“, sucht seine Eindrücke zu objektivieren und sich gegen die hypertrophen Sinnesreize durch „Blasiertheit“ zu wappnen: Er fährt sein Sensorium gleichsam auf das unabdingbar Nötige zurück: Das Wesen der Blasierheit ist die Abstumpfung gegen die Unterschiede der Dinge, nicht in dem Sinne, daß sie nicht wahrgenommen würden, wie von dem Stumpfsinnigen, sondern so, daß die Bedeutung und der Wert der Unterschiede der Dinge und damit der Dinge selbst als nichtig empfunden wird.
Daraus ergibt sich die Beobachtung, dass dem Blasierten alle Dinge in einer grauen Tönung erscheinen und, wie Simmel weiter ausführt, keines wert sei, dem anderen vorgezogen zu werden. Wäre dies auch der ‘Ton’ der Großstadtdichtung, so könnte man schon jetzt die Überlegungen getrost beschließen. Graues Einerlei möchte niemand (be)schreiben, niemand lesen. Das Vorherrschen des Verstandes in der Großstadt, die ihr eigene Versachlichung und schließlich das Sich-Abschirmen des Großstädters gegen Sinneseindrücke machen aus dem prominentesten Lebensraum der Moderne einen unkünstlerischen, ja geradezu antiästhetischen Gegenstand. Ein solches kunstfremdes Gebilde mag Soziologie und Geschichte interessieren, die Literaturwissenschaft
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hingegen kaum. Oder richtet sich die Literatur gegen jene Diagnose, ist sie der Raum, in dem nun doch die Großstadterfahrung ohne Blasiertheit und ohne Versachlichung vollzogen werden kann? Erst auf literarischer Ebene, im Raum des Fiktionalen, könnten dann ohne Gefahr jene Erfahrungen zur Sprache kommen, die der Großstädter in der Realität auf Distanz halten muss. Die Städte, deren literarischen Bildern und Stimmen die kommenden Überlegungen gelten, treten zu historisch verschiedenen Zeiten in den Blick der Literatur. Den Entwicklungen der Städte selbst stehen die unterschiedlichen Kunstmittel der Literatur gegenüber, die sich bezüglich der Großstadt in einem permanenten Prozess des Experimentierens befindet. Die schon weiter oben gestellte Frage nach einer möglichen Entwicklungslinie in der Darstellung der Städte findet ihren Gegenpart in einer Problemstellung, die nunmehr deren Individualität betrifft. Sind zwischen Rom und Wien, Paris und London, New York und Berlin charakteristische Unterschiede auszumachen, die dem umfassenden Großstadt-Konzept zum Trotz Individuen auf die Bildfläche treten lassen, Städte mit besonderen Namen und unterscheidbaren äußeren Zügen? Solche Unterschiede mögen existieren (und führen ja im Übrigen dazu, dass wir, die Besucher der Städte, einige von ihnen besonders mögen, andere weniger); für eine komparatistisch ausgerichtete Untersuchung aber, die auch und vielleicht in erster Linie die literarische Physiognomie der Städte im Blick hat, relativieren sich die Differenzen, so wie es Robert Musil zu Beginn von Der Mann ohne Eigenschaften ausführt: Es soll also auf den Namen der Stadt kein besonderer Wert gelegt werden. Wie alle großen Städte bestand sie aus Unregelmäßigkeit, Wechsel, Vorgleiten, Nichtschritthalten, Zusammenstößen von Dingen und Angelegenheiten, bodenlosen Punkten der Stille dazwischen, aus Bahnen und Ungebahntem, aus einem großen rhythmischen Schlag und der ewigen Verstimmung und Verschiebung aller Rhythmen gegeneinander, und glich im ganzen einer kochenden Blase, die in einem Gefäß ruht, das aus dem dauerhaften Stoff von Häusern, Gesetzen, Verordnungen und geschichtlichen Überlieferungen besteht.
Panoramen – Gesamtschau der Großstadt Die Großstadt, Gegenstand von höchster Vielfalt, in einer panoramatischen Gesamtschau darstellen zu wollen, gehört zum Schwierigsten, das diese Thematik für die Literatur bereit hält. Was sich per se einerseits der Größe und der Totalität verpflichtet weiß, entzieht sich andererseits und eben deswegen jedem totalisierenden Zugriff. Nach den einleitenden Überlegungen will es scheinen, als könne das Bild der Großstadt in der Literatur kein Gesamtbild sein, sondern allenfalls aus einer Serie von Einzelbildern bestehen, die im besten Falle vom Leser zu einem Bild der Vorstellung zusammengefügt werden: Das Gesamtbild der Großstadt als Leistung der Imagination, als (Ab-)Bild des Imaginären? Schon dieses wäre schwierig genug, müssten doch die Einzelbilder mit dem Anspruch versehen sein, sich entweder mosaikartig in das Gesamtbild einzupassen oder aber exemplarisch für die Großstadt insgesamt stehen zu können. So leicht aber macht es sich die Großstadtliteratur nicht. Denn sie beabsichtigt nicht weniger, als dass ihre jeweilige Darstellungsweise die Großstadt mit einem umfassenden Gestus einholt, selbst wenn die Darstellung selbst nur aus Einzelbildern besteht. So steht die Großstadtdarstellung in der Literatur von Anbeginn an im Zeichen des Paradoxen und erlegt sich eine Absicht auf, deren Realisierung alles andere als gesichert erscheint. Wenn diese überhaupt gelingen soll, ist sie auf die Mithilfe, ja die aktive Teilnahme des Lesers angewiesen, der im Akt der Lektüre selbst schon jene Eigenarten entwickeln muss, die für den Gegenstand typisch sind; für die Dauer der Rezeption ist der Leser sowohl dem Text als auch dem Thema ähnlich, wird er selbst gleichsam ‘großstädtisch’. Dies soll nicht als Warnung verstanden werden, die den Leser unserer Darstellung abschrecken soll; im Gegenteil möchten unsere Lesarten eine Hilfe sein, sich für die Zeit der Lektüre dem Gegenstand anzuverwandeln. Alle in diesem Kapitel zu betrachtenden Texte, vom Beginn der Großstadtdarstellung in der Moderne bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, das diesen Gegenstand auf einen Gipfel seiner poetischen Potenz trieb, entspringen der risikoreichen Absicht, die Stadt in ihrer Totalität erfassen zu wollen. Es handelt sich dabei um erzählende Texte bei Lesage und Victor Hugo, um einen beschreibenden Text bei Stifter. Scheint diese Zuordnung gesichert, ist sie doch vielleicht im Zuge der Darstellung zu revidieren: Sind die beiden Romane so narrativ, wie man zunächst vermuten würde, sind die Skizzen Stifters wirklich nur deskriptiv? Ungeachtet ihrer jeweiligen Unterschiede streben die Texte da-
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nach, einen erhöhten Standpunkt einzunehmen und die Stadt ‘von oben’ zu betrachten; sie implizieren damit auch, sich gleichsam über die Dinge zu stellen und aus einer Perspektive höherer Ordnung das Geschehen zu sichten. So könnte sich herausstellen, dass die Schilderung der Stadt immer mehr meint als das Faktische und Sichtbare, dass sie Reflexionen mit einschließt und Bedeutungen zu setzen sucht.
1. Lesage: Der hinkende Teufel – Roman einer Nacht Nichts deutet im Titel von Réne Lesages Der hinkende Teufel darauf hin, dass mit diesem 1707 erstmals erschienenen, 1726 in überarbeiteter Fassung publizierten Roman ein Bild der Großstadt, und ein ‘realistisches’ zumal, entworfen werden soll: Allzu skurril gestaltet sich die Rahmenhandlung, in der ein Teufel, Asmodeus, von einem Studenten aus seinem Gefängnis befreit wird und doch am Ende in dieses zurückkehren muss; allzu zahlreich und romanesk sind die eingestreuten Geschichten, kaum je mit dem Schauplatz ‘Großstadt’, so will es scheinen, auf andere als zufällige Weise verbunden. Die Entstehungszeit – zu früh, um ein Bild der modernen Großstadt überhaupt zu ermöglichen – verweist durch die Quellen, an denen sich Lesage orientierte, noch weiter zurück: Auf Louis Velez de Guevaras Diablo Cojuelo (1641), Fernandez de Riberas Los autojos de mejor vista (1625) und Francisco Santos Día y noche de Madrid (1663). Und doch hält die Großstadt in Lesages Diable boiteux, einem zu seiner Zeit sehr erfolgreichen Werk, das auch heute noch zu den Klassikern des 18. Jahrhunderts zählt, ihren Einzug in die Literatur – bleibt abzuwarten, ob durch das Hauptportal oder die Hintertür. Der kurze Hinweis auf die Vorbilder, im Falle Velez’ von Lesage selbst legitimiert, weil er diesem sein Werk zueignet, soll weder pedantisch noch belehrend wirken (beides liefe denn auch dem Ansatz des Romans zuwider); er soll nur bei einem Werk, das einerseits zu Recht der Großstadtdarstellung zugeordnet wird, auf der anderen Seite die Distanz zu seinem Gegenstand betonen, und dies in gleich mehrfacher Weise: Die Vorbilder verweisen auf Spanien, und tatsächlich spielt auch Lesages Hinkender Teufel in Madrid, das heißt: nicht in Paris. Doch ist nicht auch oder ausschließlich Paris gemeint? Zudem: Kommt die Stadt im Sinne einer mehr oder minder poetischen Beschreibung ihrer Bauwerke, ihrer Atmosphäre, der für sie typischen Bewohner überhaupt zur Darstellung? Ist sie der originäre, nicht austauschbare Schauplatz des Geschehens oder sogar der stille Held ohne Schicksal und ohne Physiognomie, der das Geschehen im Hintergrund steuert – gleichsam ein weiterer, nunmehr namenloser Teufel, der ‘Geist’ des Geschehens? Dass sich solche Fragen ergeben, zeigt den durchaus problematischen Status der Großstadt im Hinkenden Teufel: Um
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welche Stadt handelt es sich, wie ist sie konkret beschaffen, welche Rolle spielt sie für diesen Text? Die Geschichte einer Nacht, die zunächst zarten Banden vorbehalten schien, führt den Studenten Don Cleophas, bei einer Dame überrascht und zur Flucht genötigt, in die Dachstube eines Astrologen und Magiers, in der er einen Teufel, Asmodeus, aus einer Phiole befreit. Dieser hatte Don Cleophas versprochen, ihm, in Freiheit gesetzt, „alles [zu] enthüllen, was in der Welt geschieht“; er wolle ihm „die Schwächen der Menschen entdecken“, sein „Schutzgeist“ sein und ihn weiser machen als Sokrates. Verführerische Versprechungen, gewiss, denen der junge Mann verständlicherweise nicht widersteht, die aber von den Reizen der Großstadt nichts verlauten noch vermuten lassen. Bei der Schilderung der Befreiung, der Präsentation und Beschreibung des Teufels (ob seiner Größe von zweieinhalb Fuß eher ein ‘Teufelchen’) lässt der Erzähler kein pittoreskes Detail aus, und vor allem dem Mantel wird überraschende Aufmerksamkeit zuteil: Übersät von unzähligen, in einer „unmissverständlichen Deutlichkeit ausgeführten Figuren“, bietet er ein Bild nationaler Stereotypen dar: die in eine Mantille gehüllte Spanierin, die kokett-verführerische Französin, singende und Gitarre spielende italienische Kavaliere, ein Engländer, der seiner Dame Bier und eine Tabakspfeife (!) anbietet, Deutsche während eines wüsten Zechgelages – alles durchaus comme il faut. All dies geschieht auf der Welt nicht nur auf Asmodeus’ Anstiften hin, sondern ist, auf den weißen Atlas des Mantels in hoher Kunst gebannt, ein nach Nationen aufgefächertes Sittenbild. Mehr als nur pittoreskes Detail, lässt diese Gestaltung des Mantels bereits erahnen, was mit dessen Hilfe – denn der Mantel bildet, für den nun kommenden Flug über Madrid, die Flügel des Teufels – im Weiteren ans Licht kommt: ein schonungsloses, aber nicht nur negatives Sittenbild, nicht mehr nach Ländern unterschieden, sondern auf eine Stadt konzentriert. Unbesehen seiner verschiedenen Motive und Perspektiven und unabhängig von seinem jeweiligen Kolorit und seiner – noch zu beschreibenden – Komposition trägt das Bild (nicht einen Titel, sondern) einen Namen: Tableau. Schon in der Widmung an Velez, in der Lesage offen seine Abhängigkeit bekennt, aber auch selbstbewusst auf den eigenen Anteil an seinem Werk hinweist, ist, sowohl in der Zueignung der ersten als auch in jener der zweiten Ausgabe, von ‘Bildern’ die Rede: „Eure bizarren Bilder und Eure außergewöhnlichen Einfälle“ betonen die Besonderheit des Textes, der in Spanien Bewunderung hervorgerufen habe, aus eben diesem Grund in Frankreich aber nicht erfolgreich habe sein können, denn der französische Geschmack ist auf Genauigkeit und Natürlichkeit gerichtet. Der Begriff ‘Bild’ dient offenbar zur Charakterisierung des Textes von Velez, während der eigene als „tableau des mœurs du siècle“, als „Sittengemälde des Zeitalters“ präsentiert wird, gegenüber der ersten Fassung verändert und erweitert, denn die Zeiten ändern sich,
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und der Stoff für ein Sittenbild ist unerschöpflich. Schon jetzt, am Anfang unserer Darstellung und noch bevor die Großstadtliteratur recht eigentlich begonnen hat, zeichnet sich ihre Besonderheit in Umrissen ab: Offenbar ist sie dem Wandel unterworfen wie ihr Gegenstand und verändert sich mit den Zeiten oder genauer: muss dieser Veränderung angepasst werden; da ferner die Verhaltensweisen der Menschen variieren und menschliche Torheit ohnehin unerschöpflich ist, bietet ein Sittenbild den Stoff für ausgedehnte Beschreibungen, die ganze Regale füllen können und noch immer nicht vollständig wären – kurz: Die Großstadt, als Vorlage für ein Sittenbild verstanden, sprengt jeden Rahmen und ist immer nur Ausschnitt aus einem darstellerisch nicht einholbaren, letzthin rein imaginären ‘Tableau’. Das Sittenbild, bloße Formel oder auch abgenutzte, als ‘Bild’ kaum mehr wahrnehmbare Metapher, erfährt indes durch die poetische Anlage des Romans von Lesage eine unvermutete, plastische Revitalisierung. ‘Bild’ bezeichnet fortan auch konkret den Blick auf Madrid, so wie er sich Asmodeus und Don Cleophas im Flug und bei den ‘Landungen’ darbietet. Der Turm von San Salvador bietet einen ersten Halt und, durch seine erhöhte Position, die Möglichkeit eines Überblicks. Da aber die Einblicke in die Häuser – man vergesse nicht: Lesage zeichnet nicht die Topographie der Stadt, sondern die Sitten ihrer Bewohner – durch Dächer und Mauern verstellt sind, werden diese durch den Teufel flugs entfernt, und schon blickt der Student „wie am hellen Mittag“ in das Innere der Wohnungen: „Der Anblick war ganz überraschend und fesselte ihn über die Maßen. Neugierig wanderten seine Augen umher und verweilten lange bei den bunten Szenen, die sich ihm darboten.“ Dieser „Wirrwarr von Dingen“, so meint der Teufel, gewähre zwar „einen ergötzlichen Anblick“, sei aber doch nur ein „nichtiges Vergnügen“ – und in der Tat ist schwer vorstellbar, dass die bloße Beschreibung dessen, was der Student erblickt, einen ganzen Roman ausmachen könnte, ohne dabei mehr als nur Langeweile zu verbreiten. Das Schauen allein erfasst die Bedeutung der Stadt noch nicht; vielmehr soll ein Nutzen entstehen, der Student das Leben kennen lernen. So will der Teufel „erklären, was alle die Menschen treiben“, möchte „die Beweggründe ihres Handelns enthüllen und Euch [sc. den Studenten, aber auch den Leser] in ihre verborgenen Gedanken eindringen lassen“. Von der Höhe des Kirchturms geht der Blick in die Tiefe, empfängt der Betrachter nicht nur optische Eindrücke, sondern gewinnt auch – tiefgehend in einem anderen Sinne – Einsichten. Die Öffnung der Häuser, indem Dächer und Mauern beiseite geräumt werden, legt die Handlungen, Gedanken und Motive der Menschen offen, dringt nicht nur in deren privaten Lebensraum ein, sondern auch in deren Seelen. Doch dazu bedarf es gleichsam übernatürlicher Kräfte; die Fiktion des allwissenden Erzählers wird auf den Teufel übertragen und gewinnt damit eine fantastische, ja geradezu magische Komponente: Entsteht daraus auch ein ‘realistisches’ Bild der Großstadt? Kaum; denn
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nicht anrührende, sondern erschreckende, nicht lebensnahe, sondern skurrile Szenen werden wie in einem Panorama entfaltet: Dabei sitzt der Student nicht selten dem Anschein auf, während der Teufel den verborgenen Kern der Szene enthüllt: „Wenn mich die Augen nicht trügen“, sagte Zambullo, „sehe ich im gleichen Hause ein stattliches, bildschönes junges Mädchen. Ach, ist die reizend!“ – „O je“, erwiderte der Hinkende, „die jugendliche Schönheit, die Euch in die Augen sticht, ist die ältere Schwester des Stutzers, der schlafen geht. Man kann sie als das Gegenstück der alten Kokette ansehen, die bei ihr wohnt. Die von Euch bewunderte Taille ist eine höchst sinnreiche Maschinerie. Busen und Hüften sind künstlich. Unlängst, als sie zur Predigt ging, verlor sie vor versammelten Zuhörern ihr Hinterteil. Da sie sich aber auf jugendlich zurechtmacht, streiten sich zwei junge Kavaliere gleichzeitig um ihre Gunst. Sie gerieten ihretwegen einander bereits in die Haare. Die Verrückten! Sie kommen mir wie zwei Hunde vor, die sich um einen Knochen raufen.“
In der Nacht und in der Heimlichkeit eines tabubrechenden Blickes offenbart sich die verborgene Kehrseite einer dem Schein hingegebenen Welt. Das Moment der Täuschung, das durch diese Einblicke aufgehoben werden soll, zeigt eine Welt im Zeichen der Illusion, die nur durch eine schonungslose Satire als das erscheinen kann, was sie ist: bloßer Anschein, der nach Ent-Täuschung (desengaño) verlangt – eine verkehrte, gleichsam auf dem Kopf stehende Welt. Beobachtung und Reflexion als dem Menschen gegebene Mittel der Erkenntnis reichen nicht hin, den Schein zu entlarven; dazu bedarf es übernatürlicher, ‘teuflischer’ Mittel. So einleuchtend und, aus der Sicht der Erkenntnis und der Belehrung, so notwendig das Mittel der Sozialsatire sich ausnehmen mag, so wenig kann es einen ganzen Roman tragen und alimentieren. Die Abfolge einzelner ‘Bilder’ und Szenen, zuerst beschrieben, dann in offen legender, enthüllender Manier kommentiert, müsste, konsequent und ausschließlich ins Werk gesetzt, eine Monotonie hervorrufen, die dem ‘aufklärerisch’-kritischen Anspruch des Romans zuwiderliefe – einen Leser, der sich gelangweilt abwendet, kann man nicht belehren. Die Darstellung der Großstadt als einer Ansammlung von Typen und Szenen, deren Vielfalt sich nur in einem komplexen sozialen Raum konzentrieren kann, ist bei aller Differenziertheit dann doch zu mager, um einem Werk größeren Umfangs Interesse und Spannung zu verleihen. Es bedarf nicht nur einzelner additiver Szenen, so prägnant sie auch sein mögen – das weiß Lesage, der Dramatiker –, es bedarf auch der (möglichst ausgreifenden) Handlung romanesken Charakters –was läge näher, als diese aus jenen zu entwickeln? Am Ende des dritten Kapitels, dessen Verlauf und Inhalt schon dargestellt wurden, beginnt die erste der zahlreichen und ausführlichen Erzählungen, die nicht eigentlich in die Schilderungen bloß eingestreut sind, sondern die den Figuren der Stadt ihre Geschichte verleihen. Das Bild von Madrid ist zwar einer-
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seits und auf einer primären Darstellungs- und Erfahrungsebene Tableau eines Augenblicks; es ist aber anderseits auch Ausgangspunkt von Geschichten, mit denen die Figuren, über die gegebene Situation hinaus, an Tiefe gewinnen. Der Leser erfährt ihre Erlebnisse und gewinnt auf diese Weise Einblicke in Schicksale und Charaktere. So bietet die Großstadt nicht nur eine Serie von Bildern dar, sondern enthält auch einen Fundus von Geschichten. Deren Tiefe – im einen, deskriptiven wie auch im anderen, narrativen Sinn – wird allein durch den erhöhten Standpunkt: auf dem Kirchturm oder jedenfalls von oben, auf der Basis einer allwissenden Figur, gewonnen. Das absichtsvoll zutreffende Sittenbild, das dem Leser und dessen ‘Bild’, dem Studenten Don Cleophas, Einsicht und Erkenntnis vermitteln, ihnen die Welt so zeigen will, wie sie ist, nämlich verkehrt: dieses ‘realistische’ Bild verdankt sich der Fiktion, bedarf der magischen Kräfte und des übernatürlichen Wissens. Eine Paradoxie mag man es auch nennen und damit den scheinbar einfachen Gleichlauf von der Entwicklung der Großstadt und der Geschichte ihrer Literatur in Zweifel ziehen. Es wäre müßig, schon jetzt und generell darüber zu streiten, ob die Literatur die Großstadt nicht abbilden kann oder nicht abbilden will; was im Ergebnis auf dasselbe hinausläuft – nämlich dass sie es nicht tut –, ist für die Problemstellung jedoch nicht ohne Relevanz und lehrt zumindest so viel, dass die Relation von Literatur und Großstadt, von Poetik und Thematik eines Textes nicht einschichtig, einförmig und schon gar nicht einfach ist: Zwischen den Extremen einer Abbildung des Gegenstandes und seiner künstlerischen Neuschöpfung liegen sicher, theoretisch wie konkret, viele mögliche Stadien, und es gehört zum Reiz einer Literaturgeschichte der Großstadt, diese zahlreichen Möglichkeiten zu betrachten und ihre vielfältigen Realisierungen zu würdigen. So als hätte der Text neben der Anhäufung von Einzelbildern durch die Erzählung längerer Geschichten die Chance einer Kombinatorik von Narration und Deskription allererst entdeckt, führt das achte Kapitel, „Asmodeus zeigt Don Cleophas viele Leute und enthüllt was sie den Tag über taten“, im Wechsel beides vor. „Bitte fangt mit dem Hauptmann dort an“, fordert der Student den Teufel auf, „der seine Stiefel anzieht; irgendeine wichtige Sache ruft ihn offenbar weit weg von hier.“ Und in der Folge erfährt man, warum der Hauptmann nach Katalonien reisen will. Das gesamte Kapitel besteht aus solchen Kurz-Geschichten, welche die Bilder erklären, jedoch gegenüber den satirischen Deutungen der Szenen zu Anfang erbaulich-aufbauenden und nicht destruktiven Charakter haben – auch dies gehört zu einem Sittenbild. Die bloß additive Abfolge – der Bilder, der Geschichten, der Kapitel – vermeidend, lässt der Erzähler das neunte Kapitel schon am Ende des achten beginnen, als nämlich, die Reden des Asmodeus übertönend, ein Lärm einsetzt, der vom benachbarten Irrenhaus herrührt: Dorthin führt nun der Teufel seinen Begleiter und bietet ihm wie-
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derum keine bloße Abfolge von Bildern, sondern erklärt ihm, worüber die Insassen ihren Verstand verloren. Doch der satirische Impetus des Textes lässt sich auch bei diesem eher mitleiderregenden Gegenstand nicht lange unterdrücken: „Aber“, fuhr der Teufel fort, „nachdem ich Euch jetzt die eingesperrten Narren gezeigt habe, muss ich Euch noch die vor Augen führen, die man einsperren sollte.“ – Und darauf folgt das zehnte Kapitel, „Dessen Stoff unerschöpflich“: „‘Wohin ich auch blicke’, fuhr der Teufel fort, ‘entdecke ich lauter Geistesgestörte.’“ Die Enthüllung moralischer Abgründe im scheinbar Harmlos-Privaten, die Ausweitung des – man muss sagen: seiner Natur nach geschlossenen – Raumes einer Irrenanstalt auf den ‘normalen’ Lebensraum der Madrider Bürger, die Verbindung von bloßen Bildern mit den sie erklärenden Geschichten sind für den Roman von Lesage typische Kunstmittel, die gleichsam die Stadt mit einem poetischen Koordinatensystem versehen: Sie ist nicht nur Bildergalerie, sondern auch Aktionsraum, nicht nur Gegenstand der Beschreibung, sondern auch Objekt der Reflexion. Nicht selten führt der Weg aus der Gegenwart in die Vergangenheit oder von einem Teil der Stadt in einen anderen. Könnte mit diesem Befund die Darstellung von Lesages Hinkendem Teufel schon ihrem Ende entgegengehen, so hätte eine solche Eile die Rechnung ohne den Wirt gemacht, denn gegen Schluss hält der Roman noch einige Überraschungen bereit, die indes wieder auf den Anfang zurückverweisen. Der Auflösung dieser Komplikationen sollen die abschließenden Darlegungen dienen. Dem gescheiten, kritischen, etwas boshaften, jedenfalls aber allwissenden (freilich nicht allmächtigen) kleinen Teufel fiel die Aufgabe zu, dem zwar liebes-, jedoch nicht unbedingt lebenserfahrenen Studenten die Welt der menschlichen Gebräuche und Verhaltensweisen, der Charaktere und Schicksale, kurz die Welt der Sitten zu zeigen und zu erläutern. Das umfassende Wissen des Asmodeus macht hierbei indes nicht halt, und die Ansätze zur Innenschau werden gegen Ende des Romans noch vertieft. So zeigt das zwölfte Kapitel, „Gräber, Schatten und der Tod“, wiederum aus einer Kirchturmspitzen-Perspektive nicht nur die umliegend gelagerten Grabstätten, enthüllt der Teufel auch nicht nur die Lehren des Lebens und des Todes; vielmehr lässt des Asmodeus Zauberkraft den Studenten die Leichen sehen, die sich bewegen und handeln – ein schauerlicher Anblick, der indes nicht nur, nach Art der Totentänze, die Gleichheit der sozialen Schichten sub specie aeternitatis zeigt, sondern Don Cleophas auch den eigenen Tod buchstäblich vor Augen führt. Doch damit nicht genug, wird dieses Schauspiel noch dadurch überboten, dass Asmodeus dem jungen Mann auch den Tod im Bilde zeigt – also nicht nur Gräber und Tote, sondern auch Sterbende in der Hand des Sensenmannes: Wie um die schauerlichen Effekte auf ihren Höhepunkt zu treiben, erscheint nun der Tod in effigie:
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„Blickt nach Sonnenaufgang; dort zeigt er sich Euch: eine riesige Schar Vögel von schlimmer Vorbedeutung fliegt ihm schreckenverbreitend voraus und verkündet sein Nahen mit Todesgekrächz. Seine unermüdliche Hand schwingt die schreckliche Sense, unter der Geschlechter und Geschlechter fallen. Sein einer Flügel ist mit Krieg, Pest, Hungersnot, Schiffbruch, Feuersbrunst und anderen todbringenden Unglücksfällen, die ihm stündlich neue Beute liefern, bemalt, auf dem anderen Flügel sieht man junge Ärzte im Beisein des Todes promovieren, der ihnen, nachdem sie geschworen, die Heilkunst nie anders als nach heutigem Brauch zu üben, selbst den Doktorhut aufsetzt.“
Obwohl der Student dem Anblick nicht recht traut und an der sich darbietenden Gestalt des Todes zweifelt, vermutet er doch: „Diese grausige Gestalt zieht gewiss nicht umsonst über Madrid ein und wird ihre Spuren zurücklassen.“ Die beiden „Schaugäste“ beginnen nun zu fliegen, folgen dem Tod und nehmen Einblick in sein Wissen: Das Tableau des Todes, zunächst optisch und weithin statisch, wird nun in Aktion versetzt und zeigt das Sterben in vielfachen, variablen Szenen, die sich auf der Bühne des Lebens, an deren Rand gleichsam, ereignen; dass die letzte Sterbeszene als „Schauspiel“ bezeichnet wird und damit die Dramatisierung des Tableaus ankündigt, leitet unmittelbar über zu einem weiteren handlungsbezogenen Darstellungsverfahren, der schon bekannten Erzählung, die das Bild erläutert. Hier zu verharren bedarf es nicht mehr, denn dadurch würde nur Bekanntes wiederholt. Wie der Tod gleichsam an den Rändern des Sittenbildes positioniert, dabei aber von besonderer optischer und emotionaler Prägnanz ist, führt auch ein weiteres Kapitel vom Üblichen, Normalen und im Rahmen einer Sittenschilderung Erwartbaren weg: „Träume“. Außergewöhnlich ist dabei, dass Don Cleophas – sei es, dass er seine Passivität langsam überwindet, sei es auch, dass er mehr und mehr Interesse an den Bildern Madrids entwickelt – ausdrücklich die Träume der Menschen zu sehen wünscht; und da die Nacht (und damit auch der Roman) dem Ende entgegengeht, wird es Zeit. „Ihr liebt wechselnde Bilder [so sagt der Teufel]; Ihr sollt zufrieden sein.“ In der Folge entsteht jedoch keine Prosa von visionärem Charakter, sondern nur eine Beschreibung durchaus realistischer, wenngleich eben nicht realer Szenen, die sich vor dem inneren Auge der Schläfer abspielen: Die Träume tragen zwar nicht den Charakter des Wirklichen, wohl aber die Züge des Möglichen; es scheint, als habe Lesage hier die Chance vertan, sein realistisches Sittentableau ins Imaginäre auszudehnen. Auch die dem Text beigegebene Illustration zeigt nicht die Träume, sondern nur die Schlafenden und scheint auf dieselbe Weise wie der Text den Reiz des Themas zu verfehlen: darstellerisches Unvermögen im einen wie im anderen Falle? Wohl nicht ganz. Denn der Status der Träume und die Glaubwürdigkeit des Berichteten werden am Ende der Geschichte noch einmal in einer so kühnen wie schelmischen Konstruktion dem Urteil des Lesers anheim gegeben – am Schluss der Geschichte, als nun endlich der Autor das Wort ergreift.
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„Einundzwanzigstes Kapitel: Was Don Cleophas nach der Trennung vom hinkenden Teufel tat, und wie zu endigen der Autor des vorliegenden Werkes für angebracht befunden“. Der hinkende Teufel, Roman einer Nacht, endet damit, dass Asmodeus der Macht des Zauberers gehorchen und zu ihm zurückkehren muss und dass Don Cleophas sich erschöpft zu Bett legt: „Auf die Dauer eines Tages und einer Nacht [sc. fiel er] in einen todähnlichen Schlaf.“ Nicht sicher, ob nicht seine nächtlichen Abenteuer ein Traum gewesen seien, findet er nach dem Aufwachen die Spuren jener Feuersbrunst, aus der Asmodeus, in der Nacht des Romans und während des Romans der Nacht, ein junges Mädchen befreit hatte. Don Cleophas aber gilt nun als ihr Retter und soll sie zur Frau erhalten, ganz wie es Asmodeus, als letzte Tat in Freiheit, noch gerichtet hatte. Doch der Student, naiv oder nur ehrlich, bekennt dem Vater, den eigenen Abenteuern nun offenbar glaubend, dass nicht er, sondern der Teufel die kühne Tat vollbracht habe. Der Vater des Mädchens erbittet Aufklärung und hört nun von Don Cleophas jene Geschichte, die der Leser soeben verfolgt hatte – am Ende wird der Roman einer Nacht im Licht des Tages und vor neutralen Augen noch einmal erzählt. Doch statt, wie zu erwarten wäre, durch seine abenteuerliche Erzählung jegliche Glaubwürdigkeit einzubüßen, erscheint der Student dem Vater nun erst recht als der Richtige, um das Glück der Tochter auszumachen, was nicht weniger bedeutet, als dass die Geschichte Glauben findet: ein letztes Augenzwinkern der Fiktion, verantwortet nun vom Autor, der mit dieser Hoffnung, der Leser möge ihm glauben, sein Werk beschließt.
2. Hugo: Notre-Dame de Paris – Roman eines Wortes Lesage schrieb, so viel sollte aus dem vorangehenden Kapitel hervorgehen, den Roman einer Nacht, deren Eröffnungen ein grelles Licht warfen auf die Sitten der Städte – nicht nur der einen Stadt Madrid. So wie sich bei Lesage der Text auf einen begrenzten Zeitraum konzentrierte und von erhöhten Standpunkten aus nicht nur topographisch Umgrenztes, sondern auch Menschlich-Allgemeines (freilich in enger Bindung an die Großstadt, den moralischen Mikrokosmos) zutage förderte, so ist auch Victor Hugos Roman Der Glöckner von NotreDame einer Zentralperspektive verpflichtet, in der eine Kirche, genauer: die Kirche von Paris, das Geschehen wie in einem Brennspiegel zusammenfasst und es ins Symbolische überhöht. Hatte Lesage durch seine Quellen Vergangenes evoziert und im Sittentableau die alte Tradition der Stadtsatire wiederbelebt, richtet Hugos Roman, 1831, also mehr als ein Jahrhundert später entstanden als Der hinkende Teufel, mitten in der Ära der klassischen Moderne den Blick zurück in eine ferne Vergangenheit: in das späte Mittelalter, genauer ins
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Jahr 1482, dessen Bezeichnung im Untertitel die deutsche Übersetzung (warum? Es wäre nicht einmal zu ‘übersetzen’!) eliminierte. Der Roman einer Kirche erzählt die Geschehnisse eines Jahres, und es ist der Konsequenz seines Autors zuzuschreiben, dass er auch aus einem Wort entstand: „Ananke“, Schicksal. Hugo, der in der Vorrede die Genese seines Romans aus jenem von ihm nicht übersetzten Wort beschreibt, belässt diesem seine Fremdheit und bereitet damit ein Befremden vor, das bald auch, angesichts der blutigen und hoch dramatischen Handlung, den Leser ergreift. Der Verfasser, der sich im Vorwort nicht in der ersten, sondern in der dritten Person singularis („der Autor“) äußert, konzentriert die Handlung in der und um die Kirche Notre-Dame, wobei die Ereignisse, dramatisch zugespitzt, als exemplarisch für eine Entwicklung erscheinen, die Altes auslöscht und mit dem Tod der Kathedralen die Vergangenheit zum Verschwinden bringt. So verschwand auch die Inschrift ‘Ananke’, die eine „gepeinigte Seele“ hinterließ. Notre-Dame de Paris (der Leser mag es mir nachsehen, dass ich, der deutschen Übersetzung und dem Filmtitel zum Trotz, am Originaltitel festhalte) ist ein Roman gegen das Vergessen, gegen die Auslöschung der Vergangenheit im Zeichen der Moderne und im Namen eines Fortschritts, der respekt- und geschichtslos Altes vernichtet und damit gesichtslos wird. In einem kontradiktorischen Gestus gegenüber dem Wandel der Zeiten wird die Literatur zu einem Medium des Bewahrens und ist selbst ein „Denkmal“ von einer dem Kirchenraum ähnlichen Symbolkraft. Aus dem einen Wort ‘Ananke’ entsteht ein Monument aus Sprache: Der Mann, der das Wort in die Mauer schrieb, ist vor Jahrhunderten dahingegangen; nun ist auch das Wort an der Mauer der Kirche gelöscht, und die Kirche selbst wird bald vom Erdboden verschwinden. Aus diesem Wort aber ist dieses Buch entstanden.
Konzentriert auf eine Kirche, ausgerichtet auf die Geschehnisse eines Jahres, entstanden aus einem Wort: So ergibt sich die Einheit des Buches. Das Ende einer Inschrift, das Verklingen eines Wortes ist zugleich der Anfang eines Textes, der indes dem Gestaltungsprinzip der Einheit, so wie es im Vorwort und im Titel suggeriert wird, sehr bald schon nicht mehr zu folgen vermag. Bereits zu Anfang nämlich – mit der Genauigkeit „[heute] vor dreihundertachtundvierzig Jahren, sechs Monaten und neunzehn Tagen“ – wird entgegen der Erwartung des Rezipienten, nun einen historischen Roman in der Art des auch in Frankreich seinerzeit berühmten Walter Scott zu lesen, das Vergangene im Licht der Gegenwart perspektiviert: Koinzidenz (oder: Kollision?) zwischen 1482 und 1831 oder: 2003 …? Der Text-Gestus des Anfangs rückt die Zeitpunkte auf den Tag genau in unmittelbare Nähe: Beginnt so ein historischer Roman? Das Prinzip der Einheit wird sogleich erneut gebrochen, indem alle Pariser Glocken (und nicht nur jene von Notre-Dame) läuten, um das Fest der Heiligen Drei Könige und gleichzeitig die Wahl des Narrenpapstes anzukündigen. Doch
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bevor der Leser dies erfährt, wird ihm in einer Serie von Negationen, die sämtlich darlegen, welches Ereignis nicht stattfindet, ein poetisches Prinzip dieses Romans des Singulären vor Augen geführt: das Prinzip der Fülle. Es bezeichnet die Nahtstelle zwischen einer längst vergangenen und einer noch gegenwärtigen Zeit, denn die Vermassung der Moderne wird auf das Mittelalter projiziert, dessen Geräusche und Gewimmel in ferner Vergangenheit ein Gesetz der modernen Großstadt evozieren: Der Platz vor dem Palast mit dem sich drängenden Volke bot den Neugierigen an den Fenstern den Anblick eines Meeres, in das fünf oder sechs Straßen gleich ebenso vielen Flussmündungen jeden Augenblick neue Fluten von Köpfen ergossen. Die Wogen der Menge, die sich beständig vergrößerten, brachen sich an den Häuserecken, die sich hier und dort wie Vorgebirge in das unregelmäßige Becken des Platzes vorschoben. Die große Treppe in der Mitte der hohen gotischen Fassade des [sc. Justiz-] Palastes, auf der ein doppelter Strom unermüdlich hinauf und hinunter zog und, nachdem er am Treppenabsatz gebrandet, sich in großen Wogen über ihre beiden seitlichen Abhänge ergoß, die große Treppe, sage ich, rieselte unaufhörlich in den Platz hinunter, gleich einem Wasserfall in einen See.
Die Fülle wird nicht mit den Mitteln städtischer Größe, nicht nach Maßgabe einer kulturell geprägten Metaphorik, sondern im Rückgriff auf die Natur geschildert, deren Gewalt die Massenaufläufe in der Stadt wohl allemal übertrifft. Obschon es scheinen könnte, als verwende der Erzähler eine vertraute, wenn nicht schon abgedroschene Metaphorik (das ‘Wogen’ der Menge), erreicht diese doch eine neue Prägnanz: die „Fluten von Köpfen“, die ‘rieselnde’ Treppe gewinnen einer gewohnten Sprechweise neue Qualitäten ab. Diese Fülle ist so zugleich etwas, das der Stadt (an diesem Feiertag, an dem das Dreikönigsfest begangen wird) inhärent ist und sie gleichwohl transzendiert. Das scheinbar nur beiläufig eingestreute „sage ich“ erweist aber schon jetzt, am Beginn des Romans, den Text als etwas, das von einer Sprecher-Figur nicht nur gesteuert, sondern auch initiiert ist. Wie der Roman auf der Ebene des Anekdotischen seinen Ursprung in einem fremden Wort fand, Ananke, so verdankt er die Dynamik seines Verlaufs der Rede des Dichters; dass er zudem einen Dichter, Pierre Gringoire, zu seinen Hauptfiguren zählt, dass er auch nicht selten fremde Rede, dichterische zumeist, zitiert und darüber hinaus mit fremdsprachigen Zitaten, Gelehrsamkeit signalisierend, durchsetzt ist – all das unterstreicht den genuin sprachlichen Charakter des Textes, der immer auch die eigene Rede, den eigenen Diskurs reflektiert. Sogar der Name Paris wird, mit Du Breul als Gewährsmann, gleich in doppeltem Sinne sprachlich gedeutet: „Ich bin“, so wird Du Breul zitiert, „Pariser von Geburt und Parrhisier von Sprache, denn parrhisia meinet auf griechisch Freiheit der Sprache, deren ich mich allzeit bedienet habe […].“ Das könnte als Motto auch für Victor Hugo gelten, der nicht nur in dichterischer Freiheit
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spricht, sondern auch der Sprache alle Freiheit gibt, die sie braucht, um sich eines so gigantischen Gegenstandes wie der Großstadt zu bemächtigen. Diese Freiheit, zur Fülle führend, kennzeichnet nicht nur den Text des Romans, sondern auch, wie sein Spiegelbild, die Moralität, die Pierre Gringoire aus Anlass des Festes dichtete: Gringoire schwelgte darin, zu hören, zu sehen, zu fühlen, wie der unendliche Wortschwall, der unaufhörlich aus allen Teilen seiner hochzeitlichen Dichtung hervorsprudelte, eine ganze große Versammlung – von Gesindel freilich, aber was kümmerte das ihn – betäubte, lähmte und versteinerte.
Der „Wortschwall“, dem Wogen der Menge analog, auf ihr Rufen und Geschrei als Fülle der gesprochenen Worte antwortend, scheint das der Großstadt adäquate Darstellungsmedium zu sein, und nur zögerlich treten aus dem Menschengewimmel die Figuren des Romans hervor: Gringoire, der Dichter, Dom Frollo, der Erzdechant von Notre-Dame, Quasimodo, der Glöckner und Titelträger der deutschen Übersetzung, der in einem mit seinem Namen betitelten Kapitel eingeführt und sogleich zum Narrenpapst gekrönt wird, einer Figur, deren Wahl das größte Geschick im Schneiden grotesker Fratzen belohnt. An die Vorstellungskraft des Lesers appellierend („stellt euch jeden möglichen menschlichen Gesichtsausdruck vom Zorn bis zu Wollust vor, jedes Alter von den Runzeln des Neugeborenen bis zu den Runzeln einer sterbenden Greisin, alle religiösen Wahngebilde vom Faun bis zum Beelzebub“), verfolgt der Erzähler das Spektakel, bis schließlich, nach den vergeblichen Versuchen der Mitbewerber, die „erhabene Fratze“ des Quasimodo den Sieg davonträgt. Die schon bekannte Fülle als Darstellungsprinzip des Textes, hier ins Groteske ausgeweitet, bestimmt auch die Schilderung des Siegers; doch welche Fratze führt er vor! Wir wollen nicht versuchen, dem Leser eine Vorstellung von der siegreichen Fratze zu geben, von ihrer vierflächigen Nase, ihrem hufeisenförmigen Mund, ihrem kleinen, linken Auge, das halb unter einem Gestrüpp fuchsroter Augenbrauen verschwand, während ihr rechtes Auge ganz von einer ungeheuren Warze bedeckt war, ihren schiefen Zähnen, zwischen denen Lücken klafften, ihrer schwieligen Lippe, die einer der Zähne wie ein Hauer überragte […].
„Die Fratze war sein wirkliches Gesicht.“ Wie sich in der Kathedrale Paris gleichsam konzentriert, ist auch die Fratze Quasimodos, in der kaum vorstellbaren Übersteigerung des Wirklichen ins Groteske, das Konzentrat einer Erscheinung, die, den ganzen Körper betreffend, den Menschen in ein Ungeheuer verwandelt hat. Der total verwachsene Quasimodo „sah aus wie ein zerbrochener Riese, den eine ungeschickte Hand schlecht wieder zusammengelötet hat“. Gleichsam das inkarnierte Groteske, Kunstfigur, die für ein Kunstprinzip steht, stellt Quasimodo durch seine Erscheinung (nicht durch seinen Charakter, der
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in denkbar großer Differenz zu seinem Aussehen steht) die Verbindung zur Pariser Unterwelt dar, die, nicht minder grotesk, aber dem Bösen verschrieben, im Roman ihr Unwesen treibt. Das Erhabene der Kathedrale, von welcher Quasimodo als ihr Glöckner, vom Getöse der Glocken taub geworden, ein Teil ist, findet seinen niederen Gegenpart in der Welt der Bettler und des Gesindels, dem auch die weibliche Hauptfigur, die Zigeunerin Esmeralda, zugehört, von dem sie sich aber durch ihre Schönheit, ihre Tanz- und Gesangskunst positiv abhebt. Notre-Dame de Paris ist nicht nur, mit ‘hohen’ ebenso wie mit ‘niederen’ Themen, der Roman der Fülle – er ist auch der Roman der Gegensätze, vermittelt im Mikrokosmos der Stadt, in der sich, der Gattung ‘Roman’ scheinbar entgegengerichtet, ein Drama von solchen Ausmaßen ereignet, dass allein die Größe und Majestät der Kathedrale ihm ein Bild sein kann. Notre-Dame ist, anders als das Geschehen, nicht zeitlich gebunden; das alte Paris, in dem die Handlung 1482 spielt, ist zugleich das neue des Jahres 1831, und für die Kontinuität der Geschichte steht, symbolisch dem Mittelalter zugeordnet, diesem zugleich aber entwachsen, die Kathedrale Notre-Dame de Paris. Nachdem das Drama begonnen hat, die Handlung eröffnet ist, widmet der Erzähler das gesamte dritte Buch der Kirche, und erst jetzt wird sie in den Roman eingeführt, bildet mit ihrem Namen den Titel eines Kapitels. Diesem Retardierungsmoment folgend, soll auch in unserer Darstellung von der Kirche erst später die Rede sein, denn noch sind nicht alle Figuren des Romans eingeführt. Dom Claude Frollo, der Dompropst von Notre-Dame, „war wirklich kein ganz gewöhnlicher Mensch“ – das hatte man, mit dem bunten Spektrum der kuriosesten Figuren schon vertraut, auch nicht erwartet. Unter den übrigen Personen des Romans – der grazilen Zigeunerin Esmeralda, dem eitlen, sensiblen, in Armut lebenden Dichter Gringoire, dem ungestalten, kaum noch einem Menschen gleichenden Quasimodo sowie einer Fülle weiterer, ebenfalls skurriler Figuren – ist Claude Frollo gleichwohl etwas Besonderes, das sich sogar vor diesem alles andere als gewöhnlichen Panoptikum abhebt. Ein eifriger Schüler und Student, „war er zwischen Messbuch und Wörterbuch groß geworden“, beherrscht, wie nur wenige damals, die drei klassischen Sprachen Hebräisch, Griechisch und Latein, studierte Theologie, aber auch die Medizin und die freien Künste: „Er war von einem wahren Fieber des Lernens besessen, wollte sich das ganze Gebiet der Wissenschaft aneignen und alle ihre Schätze in sich anhäufen.“ Als ihm durch den Tod seiner Eltern die Fürsorge für den kleinen Bruder Jean anvertraut ist, entdeckt dieser Buchgelehrte sein Herz und nimmt auch, als er, nach seiner Predigt am Sonntag Quasimodo, ein Findelkind vor der Kirche entdeckt, dieses in seine Obhut; er nennt es nach dem Tag, an dem er es fand, Quasimodo, und der Name des Kindes ist sprechend: „Der einäugige, bucklige, krummbeinige Quasimodo war wirklich nur ein ‘Quasi’.“
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Nachdem nun, nach Pierre Gringoire und Esmeralda, wieder zwei Personen des Romans zusammengeführt sind, nimmt die Handlung ihren romanesken Lauf – romanesk deshalb, weil sie dem Ungeheuerlichen, dem Grausamen und Schrecklichen – dem für die neuere Zeit dann doch nicht ‘Realistischen’ – verhaftet ist, jener Dimension, die eingangs mit dem Wort Ananke bezeichnet worden war: Der Schicksalsbegriff steht, die Handlung prägend, wie ein Fatum über diesem Geschehen, das so blind ist für die Leiden der Menschen, dass sie allein im Buch der Kathedrale jenen Raum finden, der sublimiert, was ihnen zustößt. Hatte eingangs eine leidende Seele (man erfährt später, dass es Dom Frollo war) das bedeutungsschwere Wort ‘Ananke’ in die Mauer geritzt, findet man am Ende in der Gruft unter dem Galgen von Montfaucon zwei Gerippe: Das eine, ein männliches, hält das andere, ein weibliches, fest umschlungen: „Es musste das Gerippe eines Mannes sein, der den Keller lebend betreten hatte und dort gestorben war. Als man versuchte, ihn von dem Gerippe loszulösen, das er umarmt hielt, da zerfiel er in Staub.“ Vom Ende her die Handlung zu skizzieren mag ungewöhnlich anmuten, ist aber einem Roman, der in sehr gemächlichem Duktus beginnt, nicht unangemessen. Die beiden breit ausladenden Tableaus des Anfangs, als das Dreikönigsfest und die Wahl des Narrenpapstes dargestellt werden, waren eher geeignet, einige der Figuren einzuführen und die Poetik des Romans, der im Mittelalter moderne Massenszenen aufbietet, zu beleuchten: die Szenen des Anfangs waren autotelisch, wurden eher zur Charakterisierung des Textes aufgeboten, als dass sie den Fortgang der Handlung eingeleitet hätten. Diese ist von melodramatischer Art und insofern der ideale Stoff für eine HollywoodVerfilmung, die jedoch, dem Medium gemäß, auf die poetologische und ideengeschichtliche Ausrichtung des Romans verzichten muss. Wie die Kirche im Zentrum der Stadt, so steht Esmeralda im Mittelpunkt der Handlung. Sie hatte den Dichter Gringoire vor dem Tod gerettet, Quasimodo auf dem Pranger den Durst gelöscht. Alle sind von ihr fasziniert, sogar Dom Frollo, der sich heftig in sie verliebt, sie aber, als sie ihn abweist, an die Inquisition verrät. Das topographische und das ideelle Zentrum des Textes, die Kathedrale und die Zigeunerin, werden zusammengeführt, indem Esmeralda in Notre-Dame Schutz genießt. Als durch ein Parlamentsurteil, das Frollo herbeigeführt hatte, Esmeraldas Asyl aufgehoben wird, will die Bande von Dieben und Bettlern, der schon vorher Gringoire in die Hände gefallen war, die Zigeunerin befreien, scheitert aber bei diesem Versuch. Esmeralda wird, nach einigen Retardierungen in der Handlung, schließlich doch als Hexe gehängt, Dom Frollo, der an ihrem Schicksal Schuldige, durch Quasimodo vom Turm der Kathedrale in die Tiefe gestürzt. Quasimodo ist danach verschwunden, und erst etwa zwei Jahre später wird sein Leichnam gefunden: In der Gruft, die sich unter dem Galgen von Montfaucon befindet und welche die Leichen der Gehängten aufnimmt,
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hält ein Gerippe ein anderes umschlossen, und nach den Beschreibungen kann kein Zweifel daran bestehen, dass es sich bei diesen beiden Gerippen um die Überreste von Esmeralda und Quasimodo handelt – gesagt wird es nicht, aber mit Gewissheit suggeriert. „Die Hochzeit des Quasimodo“ ist das letzte Kapitel betitelt – eine schauerliche Vereinigung im Tode, erneut die Verbindung des Erhabenen mit dem Grotesken aufrufend, die den Kern und den Grund bildet für Notre-Dame de Paris. Das letzte Wort des Romans, „Staub“, evoziert nicht nur die Vergänglichkeit, die an den beiden Figuren Esmeralda und Quasimodo, in einer Totenhochzeit vereint, zur Anschauung kommt; es verdeutlicht auch die Gefahren, denen ausgesetzt ist, was in der Geschichte Menschenwerk war. Notre-Dame de Paris, der Roman – thematologisch – der Massenaufläufe, der Roman – poetologisch – der Fülle, bietet mit einer weit ausgreifenden, das Romaneske tangierenden Imaginationskraft das Bild einer verschwundenen, gleichsam ihrerseits zu Staub zerfallenen Epoche auf, aus der, gefährdet zwar, aber noch nicht zerstört, die Kirche wie ein Mahnmal hervorragt: ein historischer Roman, der im Text zu bewahren sucht, was den Spuren der Zeit zum Opfer fiel. Ein historischer Roman? Die Frage sei erneut aufgeworfen unter Hinweis auf das ausgiebige Quellenstudium, das Hugo für seinen Roman betrieb: Der Roman der Kathedrale ist ein Buch aus Büchern, der Autor jenen Figuren mutatis mutandis offenbar nicht unähnlich, die im Text den Texten verschrieben sind: dem erfolglosen, gleichwohl (oder deshalb?) ehrsüchtigen Dichter Gringoire, dem fürchterlichen Dom Frollo (deshalb: mutatis mutandis). Die Kirche, Denkmal einer Zeit, die sich in der Architektur verwirklichte und bewahrte, wird zum Mittelpunkt einer Handlung, der sie immer wieder Zuflucht bietet und für die sie eine symbolisierende Überhöhung vollzieht; durch die Kirche, einen (für Paris: den) sakralen Ort, wird das Geschehen nobilitiert. Doch Notre-Dame ist auch und noch heute das Zentrum einer Stadt, von der zweifelhaft ist, ob sie sich in diesem Bauwerk bruchlos wiedererkennt. Wenn durch die Frage nach dem historischen Roman Zweifel an dieser Gattungszuordnung laut wurden, sind dafür jene Kapitel verantwortlich, in denen der Erzähler mit dem Autor eine Personalunion bildet und in diese Doppelrolle auch den Leser als Dritten im Bunde mit einbezieht. Kaum hatte mit der Beschreibung des doppelten Festes, die zwei Bücher in Anspruch nahm, die ausführliche Exposition des Romans eingesetzt, ist das dritte Buch mit seinen beiden Kapiteln „Notre-Dame“ und „Paris aus der Vogelschau“ ganz der Kirche gewidmet, indem sie zuerst beschrieben, sodann als Standort für einen Blick über Paris verwendet wird. Mit Beginn des dritten Buches wird die Kirche Notre-Dame de Paris selbst zum Gegenstand der Darstellung, das heißt genauer: zum Gegenstand der Beschreibung – aus einer Perspektive, die wie am Anfang das Alte mit dem Neuen
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verknüpft. Hier spricht nicht mehr allein der Erzähler, sondern wohl auch, mit einem konservativen, der eigenen Zeit skeptisch begegnenden kulturkritischen Impetus, der Autor: „Am Angesicht dieser alten Königin unserer Dome wird man neben einer Runzel immer eine Wunde finden. Tempus edax, homo edacior. Diese Worte möchte ich gern also übersetzen: die Zeit ist blind, der Mensch ist dumm.“ Das ist gut gesagt, aber falsch übersetzt, müsste es doch heißen: ‘Die Zeit ist gefräßig, der Mensch gefräßiger’, und tatsächlich führt Hugo im Weiteren aus, welche furchtbaren Zerstörungen, mit jenen der Zeit gar nicht zu vergleichen, der Mensch an dieser Kirche anrichtete. Dabei zeigt sich ein Kunstprinzip, das für den Roman insgesamt, besonders aber für jene Passagen wirksam wird, die der Beschreibung von Kirche und Stadt gewidmet sind und die das gesamte dritte Buch ausmachen: das Imaginäre. Real und konkret gesehen, hatte sich die Zeit – zu jenem Zeitpunkt, da der Text entsteht – schon gefräßig gezeigt, der Mensch indes noch gefräßiger. Doch ungeachtet dieses Zerstörungswerkes ist die Kathedrale im Text konserviert, was nichts anderes bedeutet als die Bewahrung ihres originalen Bildes in der Vorstellung, deren Ort nicht nur der mentale Innenraum der Imagination, sondern auch der Text des Buches ist: Eine der herrlichsten Ruhmestaten der Baukunst ist doch gewiß diese Fassade mit den drei Spitzbogenportalen, mit dem reichgezackten Gesims der achtundvierzig Königsnischen, mit der ungeheuren Rosette, der die beiden Fenster zu Seiten stehen wie die Dechanten dem Priester, mit dem hohen Bogengang, der auf seinen schlanken Säulen eine schwere Plattform trägt, und den beiden schwarzen massigen Türmen mit ihrem Fensterschutz aus Schiefer. Alle Teile verschmelzen harmonisch zum prächtigen Ganzen, dessen fünf gigantische Stockwerke sich dem Auge auf einmal darbieten und sich doch stufenweise vor ihm entfalten, überwältigend durch ihre zahllosen Einzelheiten […] und doch nicht verwirrend, weil alles durch die ruhige Größe des Ganzen mächtig zusammengefasst wird. Eine ungeheure steinerne Symphonie ist diese Fassade, das Riesenwerk eines Mannes und eines Volkes, einheitlich und doch zusammengesetzt, wie die Iliaden und Romanzen, deren Schwester sie ist […]. (Hbg. A. C.-H.)
Die Kathedrale als gleichsam steinernes Buch ist in der beschriebenen Weise, mit einer steinernen Symphonie verglichen, nicht mehr in der Wirklichkeit anzutreffen, sondern wurde von Zerstörungen heimgesucht, die im weiteren Verlauf der Beschreibung minutiös aufgeführt werden, als sollte Zug um Zug das fatale Wirken der Zeit und der Menschen festgehalten, ja geradezu dokumentiert werden. Man glaubt, eher einem Archäologen oder einem Konservator zuzuhören als einem Dichter, und Befremden stellt sich ein: Hat Victor Hugo über seinen ausgiebigen Quellenstudien bei Du Breul, Sauval und anderen den eigenen Antrieb verloren, seine Geschichte vergessen, seine Schreibweise (um nicht zu sagen: seinen Tonfall) aufgegeben? Die Häufung der Fragen suggeriert schon die Antwort: mitnichten, denn die Exaktheit der Beschreibung konfron-
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tiert das Alte, nur noch Vorstellbare, mit dem Neuen, das sich dem erschrockenen Auge als Bild der Zerstörung darbietet. Nun ist zwar eine Destruktion beklagenswert, nicht unbedingt aber ein adäquater Gegenstand für einen poetischen Text. Was führt dazu, dass gerade bei Notre-Dame die Veränderungen durch die Zeit solche, offenbar der poetischen Rede würdigen Dimensionen annimmt? Bauwerke einer Übergangszeit wie die Kathedrale Notre-Dame beweisen, dass ihre [sc. der Baukunst] großen Werke weniger individuelle als soziale Schöpfungen sind, von arbeitenden Völkern geboren, nicht von genialen Männern erdacht, ein Niederschlag von Nationen, eine von Jahrhunderten angehäufte Masse, der Rückstand einer langen Reihe verdunstender Geschlechter, kurz eine Art Naturerzeugnis.
Nicht weniger wird hier versucht, als die Unterscheidung von Natur und Geschichte zu versöhnen. Die Fülle des Textes, eingangs an den Massenszenen aufgezeigt, die weniger an eine Stadt des Mittelalters als an eine moderne Großstadt denken ließen, findet in der Zeitentiefe der Kirche ihre konzeptionelle, dabei gleichwohl anschauliche Begründung. Wer solche Bauwerke, und sei es nur teilweise, zerstört, vergeht sich an Traditionen, vor deren Würde die Gegensätzlichkeit von Natur und Geschichte vergeht. Der Respekt vor ihnen ist zugleich die Achtung vor der eigenen Genealogie, einer Entwicklung, die in die Tiefe der Zeiten zurückreicht – bis hin nach Babel, dem „großen Sinnbild der Baukunst“, wie Victor Hugo schreibt, aber auch dem Symbol für die Aufsplitterung der einen menschlichen Sprache in eine Vielzahl von Idiomen. Wenn Notre-Dame, wie schon zuvor bemerkt, das Symbol der Romanhandlung ist, der zentrale Ort, an dem alle Fäden der Handlung zusammenlaufen, so stellt sich nun, im Übergang zum folgenden Kapitel, „Paris aus der Vogelschau“, heraus, dass die Kathedrale auch das Sinnbild der Stadt ist, Konzentrat eines Schicksals, das sich in der Geschichte von Paris widerspiegelt und wiederholt. Der Anblick von Paris, „wie er sich damals [!] von der Höhe ihrer Türme dem Auge darbot“, ist „ihre größte Schönheit“. Ihm gilt, in einem der längsten Kapitel des Romans, die scheinbar detailverliebte, in Wirklichkeit aber nostalgisch-melancholische Aufmerksamkeit Victor Hugos, die im Text zu bewahren sucht, was in der Realität längst verschwand. Man sieht: Dieses Kapitel ist nicht minder dem Imaginären verschrieben als die Darstellung der Kirche, und es wäre dem Reiz des Textes wenig zuträglich, wollte man ihn, der doch ein Gesamtbild zu entwerfen trachtet, in der literaturwissenschaftlichen Textanalyse zerlegen. Die Stadt, von den Türmen der Kirche aus ‘gesehen’ (in Wahrheit: imaginiert), ersteht in ihrer ganzen Fülle und Pracht neu, immer mit dem impliziten Vorwurf versehen, dass das neue Paris dem alten nicht adäquat, die Geschichte der Stadt nicht nur eine Verfallsgeschichte ist (das wäre ‘natürlich’), sondern vor allem eine Geschichte der Zerstörungen durch Menschenhand. Dabei bietet Hugo nicht nur ein Panorama von gigantischen Dimensionen dar,
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denn: „Das Paris vor dreihundertfünfzig Jahren, das Paris des fünfzehnten Jahrhunderts war schon eine Riesenstadt“, sondern vermittelt zudem die Vorstellung eines lebendigen Wesens, das sich entwickelt, seine Grenzen überwuchert, mit einem Bienenstock, dem Meer oder, auf die Ile de la Cité bezogen, mit einer „riesigen Schildkröte“ verglichen wird. Zugleich Lebewesen und steinerne Chronik, der Natur und dem Buch verwandt, gewinnt das alte Paris Dimensionen zwischen dem imaginären und dem realen Bild, die schließlich den Bereich des Sichtbaren transzendieren. Diese Stadt hat ihren Ort nicht nur nicht mehr in der Wirklichkeit, sie kann ihn dort, der Realität entwachsen, auch nicht mehr, nie mehr finden. Der Versuch, das Paris des fünfzehnten Jahrhunderts in Gedanken wieder zu errichten, Versuch, den der Leser auf Geheiß des Autors unternehmen soll, führt denn auch letztlich über architektonische und topographische Gegebenheiten hinaus und schließt die Natur in die Stadt mit ein: Denkt euch die Stadt im Winter, wenn der Nebel an den zahllosen Schornsteinen hängt: denkt sie euch in dunkler Nacht, wenn Licht und Finsternis im Irrgarten der Straßen ein seltsames Spiel miteinander treiben; denkt sie euch vom Monde beschienen, verschwommen im bleichen Dunst, aus dem nur die Türme klar ihr Haupt erheben; denkt sie euch als schwarze Silhouette gegen glühendes Abendrot – und dann vergleichet!
Das neue Paris wird zum ‘Negativ’ des alten, die Zeit, der das Buch entstammt, zur Kontrastfolie für das Paris des späten Mittelalters. Die Gegenwart des Schreibens steht im Zeichen des Verlusts und kann nur Altes evozieren, um es im Medium der Vorstellung, deren eigentlicher Ort nun der Text ist, zu bewahren. Wie aber verbindet Hugo die Stadt mit dem Text? Dieser letzten Frage, die wir an Notre-Dame de Paris richten, gelten die abschließenden Überlegungen dieses Kapitels. Am Ende des ausgreifenden Panoramas, das Hugo in „Paris aus der Vogelschau“ entwirft, steht nicht das Gesamtbild, sondern der Zusammenklang, die symphonische Harmonie der Glocken, die am Morgen eines Festtages (zum Beispiel jenes, mit dem der Roman beginnt) erklingen. Die Beschreibung von Klängen, zum Schwierigsten gehörend, was die Literatur darstellen kann, umfasst bei Hugo einen langen Abschnitt, der die zahlreichen Bilder des Kapitels in einer Symphonie aufgehen lässt: Sagt, ob ihr auf Erden etwas Köstlicheres, Freudigeres wisst als diesen Aufruhr von Klängen und Tönen, als diese Glut von Wohlklang, als diese zehntausend erzenen Stimmen, die in steinernen Flöten von dreihundert Fuß Höhe alle auf einmal ertönen, als diese Stadt, die in ein Orchester verwandelt ist, als diese Symphonie, die mit der Macht eines Sturmes erbraust!
Die Klänge sind verhallt, die Kirche ist entstellt, die Stadt verändert: Und doch blieben alle erhalten, in Form der Sprache und im Medium des Buches. Ein letzter Schritt der Darstellung soll zeigen, dass mit dem großen Paris-
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Roman, dem Roman einer Kathedrale, nicht nur ein Werk poetisch hochrangiger Literatur, sondern auch ein singuläres Dokument und Denkmal einer zerronnenen geschichtlichen Epoche entstand. Der Roman über die Kathedrale behandelt nicht allein, in wie gesehen durchaus romanesker, das Drama tangierender Weise, das Schicksal von Personen, er verbindet auch nicht bloß das auf ihnen lastende Fatum, die Ananke, mit der Symbolkraft einer Kirche. War die Kathedrale früher, im Zeitalter der Architektur, ein steinernes Buch, eine Chronik aus Stein, so hat sie diese Bedeutung mit dem Aufkommen des Buchdrucks verloren. Der kollektiven Geschichte der Menschheit, die sich in der Architektur artikulierte, steht nun die individuelle Stimme des Buches entgegen, und es ist der durch Bücher gelehrte Claude Frollo, der mit dem prophetischen Satz: „Wehe! Dieses wird jenes töten“ (nämlich: das Buch die Kirche), eine erst noch kommende Zeit voraussagt. Doch im Zeichen des Verlusts eröffnet sich eine neue Chance. War die historisch authentische Dichterfigur des Romans, Pierre Gringoire, das Bild des poeta pauper, der zu Anfang mit seiner Moralität gegen den Prunk des Dreikönigsfestes nicht ankam, so ist das dem Anspruch nach ebenfalls authentische Bild des neuen Dichters von höherer Würde. Indem er den Satz Frollos: „Ceci tuera cela“, aufgreift und in einem eigenen Kapitel reflektiert, liefert Hugo zugleich die Legitimation für sein Buch. Was die Figur des Erzdechanten, in der Zeit der Handlung befangen, nur als Verlust beklagen kann, wird für den Autor der späteren Zeit zu einer neuen Herausforderung des Schreibens: So hat die Menschheit zwei Bücher, zwei Testamente: ein gebautes und ein gedrucktes, eine Bibel aus Stein und eine Bibel aus Papier. Wenn man sich in diese beiden aufgeschlagenen Bibeln vertieft, so ist es gewiß verzeihlich, der majestätischen steinernen Schrift, den Riesenalphabeten der Säulenhallen, Kuppeln und Obelisken nachzutrauern. […] Aber man sollte nicht die Großartigkeit des Gebäudes leugnen, das die Buchdruckerkunst aufrichtet.
Doch was, wenn das Buch der neuen Zeit das Buch der alten zu seinem Thema macht, es den Zerstörungen entreißt, es imaginär wieder aufbaut? Dann sind die Zeiten versöhnt, hat die neue Epoche der alten ein Denkmal gesetzt. Dieses Buch, man sieht es deutlich, ist selbst imaginär, gleichsam eine Metapher wie jene, die aus der Baukunst eine steinerne Chronik der Menschheit machte. Damit verliert die Eingangsfrage, ob Hugo das alte Paris oder nicht letztlich das neue darstelle, den Beiklang der Alternative: Dieses alte Paris existiert nur aus der Perspektive des neuen, dieses Mittelalter ist eine Funktion der Moderne. Die moderne Großstadt Paris generiert ihre Geschichte – im Medium des Buches und im Zeichen des Imaginären. Bei Victor Hugo ist die Stadt Paris der Aktionsraum für ein Geschehen, dessen Mischung aus Hohem und Niederem, aus Erhabenem und Groteskem dem Ort der Handlung ein subtiles Doppelgesicht verleiht. Die schrecklichen Ereignisse,
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dem ‘dunklen’ Mittelalter zugeschrieben, sind weniger, nach Art einer flächigen Darstellungsweise, der Pariser Topographie geschuldet als vielmehr einer Raumkonstruktion, für deren ausgreifende Dynamik die Kathedrale NotreDame das ‘Bild’ abgibt. Doch dieser Raum, nicht nur im Sinne der Geometrie verstanden, wird durch die Tiefe der Zeiten, für welche die Kirche sinnbildlich einsteht, amplifiziert. Die Temporalität, dem Bauwerk als die Zeiten überspannende Dauer schon mitgegeben, gewinnt durch den Text eine Dimension, die den fernen Geschehnissen die Gegenwart von Erzähler, Autor und Leser zuordnet: singuläre Koinzidenz der Zeitpunkte, die den zahlreichen, der Handlung selbst inhärenten Spannungen und Gegensätzen die für das Selbstverständnis der Moderne so charakteristische Denkfigur einer Opposition von ‘alt’ und ‘neu’ hinzufügt. Mag die Handlung dem Mittelalter zugeordnet sein, so ist doch der Modus ihrer Darstellung – im Medium eines erst im Roman zu sich selbst kommenden ‘Dramas’ – eine Errungenschaft der Moderne, so wie Hugo sie im Vorwort zu seinem Drama Cromwell selbst exemplifiziert. Der Roman NotreDame de Paris vermag die Gegensätze zwischen den Zeiten und Denkweisen nicht zu versöhnen, strebt dies aber auch gar nicht an, denn sie sind Voraussetzungen und Garanten gleichermaßen für eine poetische Konzeption, welche das alte Paris im Horizont des neuen und umgekehrt das neue im Horizont des alten zur Erscheinung bringt. Auch die Moderne, dem Prinzip permanenter Erneuerung verschrieben, hat, so wäre die Botschaft von Hugo zu entschlüsseln, ihre Geschichte, und erst aus der Vielgestaltigkeit der Personen und Ereignisse, aus der Vielstimmigkeit der Klänge, Sprechweisen und Texte erwächst der Stadt Paris, Großstadt im Sinne der Komplexität, die sie – nicht in der konkreten, historischen Gegebenheit, sondern als Ort der Diskurse – umschließt, die Dichte der Geschichte und der Rang des Exemplarischen.
3. Stifter mit dem Zeichenstift: Aus dem alten Wien Im Unterschied zu Lesage, der für die Darstellung der Stadt (wenngleich augenzwinkernd) das Übernatürliche bemühte, anders auch als Hugo, dessen ins Symbolhafte ausgreifende Synthese des alten und neuen Paris die Komplexität der Stadt ins Werk setzte, mag die Gangart des Textes von Stifter, Aus dem alten Wien, gemächlich erscheinen, dem Image des Autors als eines Exponenten des literarischen Biedermeier durchaus entsprechend. Einigen hundert Seiten bei Lesage und Hugo stehen hier nur wenige Kapitel gegenüber, und der Text gehört, anders als die genannten Romane, dem pragmatischen Genre an – nach den Anstrengungen, die Hugos die Zeiten überspannender Totalitätsgestus dem Leser und dem Interpreten abverlangte, zeichnet sich eine durchaus willkommene Entspannung ab.
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War der Zeitensprung zwischen Lesage und Hugo mit mehr als hundert Jahren relativ groß, ist jener zwischen Hugo und Stifter eher klein: von 1831 zu 1844. Die Studien Aus dem alten Wien waren Stifters Beitrag zu dem von ihm herausgegebenen Band Wien und die Wiener in Bildern aus dem Leben von 1844. Solche der Unterhaltung breiterer Leserschichten dienenden, dem Feuilleton nachempfundenen Skizzen und Bilder aus dem Leben der Großstädte erschienen zuerst in Frankreich: Paris ou le livre des cent-et-un, 1831–34 in fünfzehn Bänden, Paris au dix-neuvième siècle, recueil de scènes de la vie parisienne (1839), Le Diable à Paris. Paris et les Parisiens (1845–46). Aber auch Dickens, dessen Sketches by Boz noch zu behandeln sein werden, beteiligt sich an diesem, fast schon als Modegattung zu bezeichnenden Genre, bei dem, seiner Herkunft und der von ihm anvisierten Leserschichten gemäß, zunächst wenig ‘Poetisches’ zu erwarten ist. Stifters Studien sind mit einem nostalgischen Beiklang versehen, der das alte Wien dem Älterwerden des Autors anverwandelt und eine sentimentale Anekdote als Vergleich zwischen der Stadt und einem Menschenschicksal anführt: Es geht ihm mit seiner Stadt Wien wie mit einer ehemals geliebten Frau, die er nach langer Zeit wiederfindet und die ihm noch schöner vorkommen will als zuvor; doch bald wird ihm klar, dass er ihre Fehler vermisst: Es wird mir bei Wien mit seinen guten und bösen Veränderungen ein wenig so gehen wie bei meiner Freundin […]. Die im alten Wien fröhlich waren, werden die harmlosen Dinge, welche in diesen Blättern folgen, ansehen wie die ausgebleichte Schleife einer Geliebten, die jetzt alt geworden ist, und von der sie nicht einmal wissen, wo sie sich befindet.
Was dem Leser als Eigenart der kommenden Skizzen vermittelt werden soll – dass sie nämlich, bleich geworden, alten Zeiten angehören und als harmlos gelten können –, wird durch das sogleich folgende Kapitel, „Vom Sankt Stephansturme“, zunächst bestätigt. Es setzt mit einer Sprachregelung ein, die auch weiterhin, dem Brauch gemäß, an der Wendung vom Sankt Stephansturm festhalten will, obwohl sie grammatisch nicht korrekt ist: ‘der Turm von Sankt Stephan’ müsste es richtig heißen, führt Stifter aus. Nun, der Anfang ist nicht dazu angetan, den Leser hier etwas Neues im Umgang mit dem Panorama von Wien erahnen zu lassen, denn der Text kommt gemächlich und durchaus altertümlich daher, indem zunächst der Anblick der Stadt von einer Anhöhe beschrieben wird. Aus dieser Perspektive bildet der Stephansdom den Mittel- und Anhaltspunkt, oder, mit Stifter, den „Schwerpunkt, um welchen sich die Scheibe der Stadt lagert“. Und an der Kirche ist wiederum der Turm „der Zeiger ihrer Majestät“. Eine oberflächliche Lektüre könnte über das hinweggehen, hinwegsehen, was die Besonderheit dieser Beschreibung ausmacht: die Kirche als Schwerpunkt, der Turm als Zeiger, die Scheibe der Stadt. Offenbar soll der
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Raum Wiens geometrisch vermessen, in eine Ordnung gebracht werden – ein Vorgang, bei welchem der Turm deiktische, ‘Zeige’-Funktion übernimmt: So kündet der Turm in Weiten, aus denen man sonst nichts sehen kann, immer den Platz an, auf welchem die Stadt steht. Wenn ich von den Anhöhen Wien betrachtete, so hielt ich den Stephansturm für den Stift, an dem man die Scheibe der Stadt emporheben könnte.
Das Bild ist kaum so lächerlich, wie es der Autor in der Folge den Leser glauben machen möchte, denn sieht man in ihm einerseits, konturenhaft, Stifter, den Maler und Zeichner, so zeigt sich in poetologischer Sicht eine Zusammenführung des pittoresken Elements mit dem Bestreben nach geometrischer Strukturierung. „Dieser erhabene Leitstift“, eine ungewöhnliche, durch die ordnende und ‘weisende’ Funktion des Turms bedingte Wendung, zeigt die leitende Idee, das zeichnerische Element und Stifters ‘Liebe zur Geometrie’ an, die er schon vorher in aller Deutlichkeit ausgesprochen hatte: Man sagt den Eingebornen Wiens nach, daß sie Herzweh bekommen, wenn sie den Stephansturm nicht mehr sehen. Man könnte ihn auch den Stift eines Sonnenzeigers nennen, zu dem alle Straßen in der Umgegend wie die Halbmesser eines Kreises zu ihrem Mittelpunkte zusammenlaufen.
In der Mitte steht das Werk mit seinen „großen Linien“ – gemeint sind hier die Kirche und der Text gleichermaßen, und warum die Linienführung, den geometrischen Formen entsprechend, für Stifter eine solche Bedeutung erlangt, wird spätestens dann ersichtlich, wenn der Diskurs, der zunächst die Annäherung an Wien, geleitet vom Stephansturm, aus der Ferne vollzieht, dann aber, der Stadt nahe gekommen, sogar in ihrer Mitte befindlich, die Bewältigung jener Fülle zu leisten hat, durch welche sich selbst das alte Wien als der Großstadt zugehörig erweist – so wie die Kirche dem Betrachter „zugeartet“ wird. In einer langen, über eine ganze Seite sich hinlagernden Kette von elliptischen Sätzen, alle eingeleitet durch „sei es, dass“, wird die Fülle von Wien als eine Folge von Gemälden dargestellt; das Zitat muss die Gemäldegalerie auf einige Bilder begrenzen: […] sei es, dass er [der Einheimische] in Gedanken oder gedankenlos durch eine Gasse heraus geht, und nun den Bau vor sich hat, der wie ein Gebirge einfach und doch so schön ist, und der seinen Geist erhebt und kräftigt; sei es, daß er aus der Goldschmiedgasse kommend immer wieder durch das plötzliche Vorspringen der großen Gestaltungen überrascht ist, oder sei es, daß an nebligen Spätherbstabenden, auf welche der Vollmond scheint, der Turm einen phantastischen Schatten auf den Nebel wirft, welcher Schatten unten durch das feurige Rot der Stadtlichter und oben durch das Silberblau des Mondlichtes begrenzt ist, sei es, daß in klaren Nächten, wenn man gegen die große Schulenstraße zugeht, breite Silberströme von dem glasierten Dache der Kirche niederrinnen, gegen die der Turm wie ein dunkler Riese emporragt und zu dem Monde weiset, welcher diese Wirkung hervorgebracht hat […].
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In ihrem Verlauf strebt diese Textpassage einen immer höheren Grad des Pittoresken an, so dass nicht nur eine Folge von Gemälden entsteht, sondern das malerische Element gleichsam aus dem Diskurs herausgetrieben wird: die Geometrie wird räumlich, die Zeichnung farbig, der Eindruck ‘bebildert’ sich. Durch die verschiedenen Standpunkte des Betrachters, je nachdem ein beliebiger Wiener oder der Autor selbst, ändern sich auch die Bilder. War zunächst die Kirche gleichsam ‘von unten’, aus der Perspektive der Stadt erschienen, so erscheint bald die Stadt als ein An-Blick vom Stephansturm herab: Erst gegen Morgen hin wird die Stadt stille, und es gibt nur eine kurze Zeit nach Mitternacht und vor dem Morgen, in welcher es in der Stadt Nacht ist. Da liegt sie unten wie tot und starr. Und wenn man auf dem Turme hoch oben ist, von den prangenden Sternen umgeben, von der umliegenden Landschaft nichts im einzelnen gewahrend, sondern nur die dunkle Scheibe derselben erblickend, die von der lichten, sternflimmernden Himmelsglocke geschnitten wird, und wenn man dann niedersieht in die schwarzen Klumpen der Häuserdurchschlingungen, in denen sich die Nachtlichter wie trübe irdische Sterne zeigen, so erscheint einem erst recht das menschliche Treiben, das hier eine Größe darstellen will, als Tand.
Dem Raum der Großstadt wird die Zeit angelagert, in der (Toten-)Stille herrscht, sich der Blick nach oben richtet und, nachdem er wieder auf die Stadt gefallen war, die Welt der Menschen als Tand erkennt. Obwohl an dieser Stelle noch nicht erkennbar, verweist der Text, in einer vertikalen Bewegung begriffen, schon auf das Kapitel voraus, das jenem über den Stephansturm folgen wird – das Kapitel über die Katakomben. Doch zunächst trübt hier nur ein Anflug von Zweifel das insgesamt malerisch-harmonische Bild von Wien, dem im Weiteren Klangbilder der Stadt zugeordnet werden. Noch bevor der Tag anbricht, ertönen Geräusche: das Rasseln der Wagen, die der Stadt ihre Nahrung bringen, und mit den „Zeichen des Lebens“ am frühen Morgen wird das „Rollen, Rasseln und Prasseln immer dichter“, bis die ganze Stadt von diesem Tönen erfasst wird. Erst mit dem Heraufziehen des Morgens wird die Stadt zu Füßen der Kathedrale sichtbar, und erneut greift der Autor zur ordnungsstiftenden Geometrie: Wir sehen sie [sc. die eigentliche Stadt] wie eine Scheibe um unsern Turm herumliegen, ein Gewimmel und Geschiebe von Dächern, Giebeln, Schornsteinen, Türmen, ein Durcheinanderfliegen von Prismen, Würfeln, Pyramiden, Parallelopipeden, Kuppeln, als sei das alles in toller Kristallisation aneinandergeschlossen und starre nun da so fort.
Je weiter der Blick schweift – so weit, dass sogar der Leser ein imaginäres Fernrohr in die Hand bekommt und mit dem Autor zusammen aus erhöhter Perspektive die Stadt betrachtet –, desto größer wird die im Text zu bewältigende Fülle. Um Wien herum endet das Bauen, die Stadt vergrößernd, nicht, und in den Wiener Gebirgen lagert noch Baumaterial für (wie Stifter, den Plural
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von Wien vermeidend, schreibt:) „noch ein Wien und noch eins, und weiß Gott wie viele“, so dass durch diesen Anblick die Majestät des vom Menschen Geschaffenen zur Anschauung kommt. Damit hat Stifter den Raum dessen, was bis jetzt das Zentrum seiner Aufmerksamkeit ausmachte, das optische Erscheinungsbild der Stadt, kaum merklich verlassen oder besser: erweitert, denn fortan bestimmen auch die Reflexionen über menschliches Vermögen und menschliches Verhalten den Gang des Diskurses. Ein moralistischer Gesichtspunkt, die Kraft, die Schönheit des vom Menschen Gemachten betreffend, führt allmählich noch einen weiteren Aspekt der Darstellung von Wien ein: Durchaus kritische Überlegungen zu Wert und Funktion des Geldes erweitern den Horizont der Stadt um Bilder menschlichen Verhaltens, so dass dem äußeren Bild von Wien gleichsam ein moralisches Tableau an die Seite gestellt wird. War den Stadt-Bildern im Sinne der ‘bildenden’ Kunst durch die Geräusche der Stadt eine Begleitmusik beigegeben, so lagern sich nun diesem Gebilde auch innere Bilder, Reflexionen über die conditio humana an. Dies brauchte nicht eigens akzentuiert zu werden, ergäben sich nicht hieraus, durch den Gedanken der Tiefe miteinander verflochten, wiederum Verbindungen zum Kapitel über die Katakomben. Der Leser, so hatten wir gesagt, wird in das Anschauen der Stadt mit einbezogen, als sich Wien in seiner ganzen Größe und mit der Vielzahl seiner Gebäude dem Blick erschließt. Nachdem der moralistische Aspekt der Betrachtung gewonnen war, hat sich auch der Raum erschlossen, in den nun der Leser als Partner des Autors, von diesem im Führen des Fernrohrs geleitet, eintreten kann. Doch dieser Raum ist weniger der Stadt-Raum im topographischen Verständnis als vielmehr der Handlungsraum der Menschen, deren vielgestaltiges Gewimmel den Einzelnen leicht in eine Randposition drängt, ihn ausschließt und auf diese Weise dem aussetzt, was als Einsamkeit in der Menge, als Anonymität des Großstadtlebens zu den Konstanten der Großstadterfahrung und -darstellung rechnet. Konnte die Stadt, zumal mit dem Stephansturm in ihrem Mittelpunkt, geometrisch vermessen und klarer Strukturierung unterworfen werden, so entzieht sich das Leben der Menschen einem solchen Ordnungsfaktor und kann nur durch eine sprachlich ungeordnete, in Satzfetzen daherkommende Aufzählung überhaupt in die Darstellung einbezogen werden: „Einer hat das große Los gezogen – einer in den Armen der schönsten Frau gezittert […] Geizhälse zählten das Geld – Träume zuckten durch tausend Herzen – Wüstlinge feierten eine Orgie […].“ Die Gedankenstriche sind den Gedanken, Eindrücken und Erinnerungen der Leser offen, so dass der Text, im Fortschreiten durch den Raum der Stadt, sich thematisch und poetisch immer weiter öffnet. Der Versuch, das Geschehen einer Nacht zu schildern, für den Lesage einige hundert Seiten benötigte, erscheint hier auf das strikte Minimum beschränkt, auf Wörter statt auf Sätze und Diskurse; er lässt aber der Vorstellung
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einen nicht minder großen Raum als denjenigen, den Lesage mit seinem Roman ausfüllte: „Welch eine Fülle, unermesslich reich an Freude und an Schauer, liegt nicht in der Geschichte einer einzigen Nacht einer solchen Stadt […].“ Während Autor und Leser noch das Geschehen der Nacht, das sichtbare und das nur imaginierte, verfolgen, bricht erneut der Tag herein, und der Kreis schließt sich – in weiterer Bewegung begriffen, der viele andere, neue Tage und Nächte folgen … Sie zu beschreiben würde dem Gesagten nichts hinzufügen, denn die menschlichen Dinge, unter dem Gesichtspunkt der Moralistik betrachtet, ändern sich nicht, zumindest nicht so schnell. Das Beenden des Textes aber, der sich nun in eine Kreisbewegung begeben hat und somit die anfängliche Liebe zur Geometrie auch am Schluss noch erkennen lässt, ist ohne einen entschlossenen Gestus kaum möglich. Als die Glocken des Stephansturms, zusammen mit den anderen Kirchen der Stadt, Mittag verkünden, fordert der Autor seinen Begleiter freundlich auf: „so lasse uns denn wieder hinabsteigen.“ Vom Autor gleichsam geleitet, hat der Leser an den letzten Betrachtungen dieses Kapitels teil, die wir einem späteren Ort vorbehalten wollen, dem Ende unseres Kapitels, das erst nach dem Abstieg in die Katakomben von Sankt Stephan erreicht sein wird. Der Glockenklang zu Mittag, mit dem der Abstieg vom Stephansturm eingeläutet wurde, mag den Leser auf seinem „Gang durch die Katakomben“ noch eine Weile begleiten, denn was in dieser allgemeinen Weise kaum direkt an Hugos Notre-Dame de Paris zu erinnern vermag, führt, mit einer anderen Bemerkung Stifters zusammen gelesen, dann doch zurück zum Roman der Kathedrale, der das Ende der Baukunst durch den Buchdruck heraufziehen sah. Indem Stifter jene Vorzeit des Glaubens evoziert, die auch das Zeitalter der Kathedralen prägte, rückt die moderne Epoche kontrastiv in den Blick, die nur das Materiell-Nützliche noch kennt; der Buchdruck trägt zur ‘Verwässerung’ der Literatur mit bei und führt dazu, dass, von fremden Gedanken geradezu überflutet, die Menschen keine eigenen mehr kennen – ein Anklang an die Idee Hugos: „Ceci tuera cela“? Die Einleitung des Katakomben-Kapitels enthält eben jene Gedanken, die dem Autor kamen, als er nach dem Gang durch die Totenstadt wieder ans Tageslicht trat; mit anderen Worten: Das Kapitel beginnt mit seinem Ende, so wie Victor Hugos Roman mit dem Ende einer Inschrift, Ananke, begann. „So etwas geschieht in dem Jahr 1842!“ Und nicht: 1482, möchte man hinzufügen, die Verbindung zu Hugo imaginär unterstreichend. Im Sinne des Fortschritts, der angeblich die Menschheit erfasste, erscheint manches im Jahr 1842 gar nicht mehr möglich, und es geschieht doch. Warum?, fragt Stifter. Zwar hätten Einzelne vom Fortschritt profitiert, doch „was wir verloren haben, das verloren alle“. Die Idee, einzelne Entwicklungen von der Gesamtentwicklung zu unterscheiden, das Individuelle dem Kollektiven entgegenzustellen, war eine der Grundkonzeptionen von Notre-Dame de Paris; deshalb die Massensze-
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nen auf der einen, die Darstellung von Einzelschicksalen auf der anderen Seite. Nun ist ein fiktionaler Text geradezu aufgerufen, das Singuläre an Figuren und Schicksalen aufzuweisen, während einer nicht-fiktionalen Studie wie jener von Stifter, selbst wenn sie nicht frei von Erfindungen ist, eher das Nachzeichnen von konkreten Beobachtungen und die allgemein-moralischen Reflexionen aufgegeben sind. Die Leichenberge der Katakomben, die sich den erschrockenen Blicken des Autors darbieten, lassen ohne eine allwissende (Erzähler-) Figur, wie sie bei Lesage durch den Teufel Asmodeus gegeben war, die Rekonstruktion von Einzelschicksalen nicht zu; deshalb kann sich der Autor die Frage, was diese Toten wohl im Leben getan hätten, zwar stellen, aber nicht beantworten: Endlich kamen die ersten Bewohner dieser stillen, finsteren Stadt, nämlich: wie Holz aufgeschichtet, viele Klafter lang und hoch, lauter Knochen von Armen und Füßen – es überläuft einen ein seltsamer Schauer. – Was werden alle diese Werkzeuge, als sie noch ein denkender Geist belebte, ein liebendes oder hassendes Gemüt anstachelte, Schönes, Herrliches oder Entsetzliches getan haben? Und nun liegen sie hier, starr, übereinander geschichtet, eine wertlose, schauererregende Masse.
Dann und wann, „gleichsam symmetrisch geordnet“, ragen Köpfe aus dieser Masse hervor; die Verwendung des Wortes ‘symmetrisch’, das schon vorher die Beziehung zwischen der Stephanskirche und der Stadt Wien bezeichnet hatte, lässt einen Gedanken aufkommen, den es durch die schauerlichen Gänge und Gewölbe der Katakomben hindurch zu verfolgen gilt: Gäbe es vielleicht zwischen der Kirche und ihrem ‘Untergrund’, zwischen den Szenen und Bildern über und unter der Erde, schließlich zwischen den beiden Kapiteln eine mehr oder minder verborgene Symmetrie? Häufig in einer spannungsvollen Stellung, in einem dramatischen Ausdruck verharrend, verweisen die Skelette in ihrer Ruhe „auf einen furchtbar bewegten Moment“ zurück, einen Augenblick freilich, den Lebende nicht kennen können, da er der Moment des Sterbens selbst ist: Die Skelette sind wie Zeichen, die das, worauf sie verweisen, zugleich verschweigen – „fremde Bürger einer anderen Welt“. Der soeben aufgekommene Gedanke einer Symmetrie zwischen der einen und der anderen, der ‘oberen’ und der ‘unteren’ Welt wird durch die Darstellungsweise bekräftigt. Aus der Beobachterperspektive – zunächst vom Stephansturm herab, dann, in den Katakomben, in direkter Konfrontation – lassen sich die Schicksale der Menschen vielleicht erahnen, aber nicht entschlüsseln, und so kann der Autor wiederum Beobachtungen nur anhäufen, Figuren (von Personen mag man bei den Skeletten nicht mehr sprechen) nur beschreiben: so ungeordnet, wie sie sich darbieten: Ein großer nackter Mann lehnte starr an der Mauer; zu seinen Füßen saß ein anderer zusammengekauert, die Hände über der Brust gefaltet, und den Kopf, der nur mehr an
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einem losen Bande des Halses hing, über die Schulter seitwärts gesunken – eine Frau in sich gebückt und eingesunken, gleichfalls mit gefalteten Händen, lauerte in einem Winkel, und an den Wänden lehnten oder saßen, oder lagen andere […].
Die Beschreibung könnte fortfahren, ohne dass anderes oder gar Neues damit erschlossen würde, das der Neutralität des Blickes, die ein unterschwelliges Entsetzen nicht verheimlicht, die Kenntnis der Schicksale erschließen würde. Als Menschen entrückt und verfremdet, als Relikte des Lebens aber dennoch präsent, haben die Leichname teil an beiden Welten, der ‘oberen’ und der ‘unteren’ und vermitteln, so schauerlich es klingen mag, dann doch zwischen Leben und Tod, indem sie Spuren ihrer früheren Existenz, und sei es nur in Form zerfallender Kleidungsstücke, noch bewahren. Wenn der Autor mit einer rührend hilflosen Geste den Leichnam einer Frau mit den Resten ihrer Kleidung bedeckt – nicht mit der Hand, was ihn ekeln würde, sondern mit dem Stock –, spricht daraus nicht nur menschliche Verbundenheit, sondern auch das Bewusstsein von der Nähe des Todes zum Leben, von jener Symmetrie, die oben schon angesprochen wurde. Tatsächlich dringt die Musik eines Gottesdienstes in der Stephanskirche in die Grube hinab: „wie eine goldene Leiter, schien mir’s, gingen diese gedämpften Töne von den geliebten Lebenden zu uns hernieder.“ Ist der Anblick der Leichen in dieser Häufung schon entsetzlich genug, tut sich unter der Gruft noch eine weitere auf, und die Gänge der Katakomben scheinen ohne Grenzen und Ende zu sein. Ebenfalls grenzenlos ist die Phantasie, die sich vorstellt, das Licht ginge aus und der Besucher müsste nun, ohne jede Führung, in den Gewölben umherirren: Sein Rufen würde nicht gehört, Stunden und Tage vergingen, er hörte die Orgel tönen, das Rasseln der Wagen auf den Straßen, das Läuten der Glocken – „und so fort, und so fort – bis in der Gruft um einen Toten mehr ist“. Auch Quasimodo ging, es sei daran erinnert, lebendig in die Gruft, in der er Esmeralda fand – im fiktionalen Raum des Romans war dies Realität, in Stifters Bericht aus der Totenstadt ist es nur eine Vorstellung, aus der Stifter bald erlöst wird, denn die Gruppe kommt nach oben, zurück ans Tageslicht. Für das Ende dieses Kapitels steht noch aus, was oben, zwischen dem Blick vom Stephansturm und dem Gang in die Katakomben, aufgeschoben wurde. Noch müssen der Betrachter und sein Begleiter, der Leser, vom Turm hinabsteigen und die Erfahrung dessen bewahren, was sie, von oben wie auch aus der Perspektive der Katakomben, wahrgenommen haben. Wenn die Menschen und die Bilder genannt werden, haben die einfachen Worte vor dem Hintergrund des Gesehenen und Beschriebenen an Tiefe und Komplexität gewonnen, soll der Leser, woher er auch kam, ein Wiener werden, denn das, was in Wien erlebt, über Wien gesagt wurde, hat längst die Grenzen der Stadt überschritten:
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Panoramen
Nimm die Menschen und die Bilder, wie sie kommen. Jetzt ein kleines, unbedeutendes Wesen, jetzt ein tiefer Mann voll Bedeutung; jetzt ein Scherz, jetzt Ernst, jetzt ein Einzelbild, jetzt Gruppen und Massen – und alles dies zusammen malet dir dann zuletzt Geist und Bedeutung dieser Stadt in allem, was in ihr liegt, sei es Größe und Würde, sei es Lächerlichkeit und Torheit, sei es Güte und Fröhlichkeit. So, nun steige hinab, und trete an das nächste beste Individuum, und beachte es und studiere es, und werde gemach auch einer aus diesen allen, welche in Wien leben, und leben und sterben wollen nur in Wien.
Stifters Zeichenstift, der sich selbst dem Schrecklichen nicht versagte, setzt einen versöhnlichen Schlussstrich. In ihrer Vielfalt bildet Wien die Buntheit des Lebens und die Düsternis des Sterbens ab und umfasst den Kreis des Daseins. Die Allgemeinheit der conditio humana, die in der Stadt zum Ausdruck kommt, führt Stifter, hierin ein wahrer Patriot, schließlich auf Wien zurück. Ein Panorama, ein Gesamtbild der Großstadt zu entwerfen ist im Rahmen der Geschichte der Großstadtliteratur immer wieder ein Wagnis und eine Herausforderung an die literarischen Darstellungsmittel, denn die Größe der Vorlage verlangt nach dem rechten Blickpunkt, einer Perspektive, die sowohl das Besondere als auch das Allgemeine (in) der Metropole erfasst. Die bloße Beschreibung dessen, was sich dem Blick darbietet, könnte nur zu einer Anhäufung von Einzelheiten, nicht aber zu einem Bild der Großstadt, einem Panorama zumal, führen. Um diesem Dilemma zu entgehen, greift Lesage zu dem Mittel des Übernatürlichen, schafft Hugo die sowohl reale als auch imaginäre Kathedrale als symbolisches Kraftzentrum seines Textes. Stifter schließlich, bescheidener als seine Vorgänger, aber nicht weniger kunstvoll, unterwirft die Stadt einer konzeptionellen Ordnung, die in einer geometrischen Konstruktion ihren Ausdruck findet, wobei sich horizontale und vertikale Linienführung durchkreuzen. Die Unterschiede zwischen den Autoren scheinen beträchtlich zu sein, so dass der Vergleich auf den ersten Blick nur das offenbart, was der Leser ohnehin vermutete – dass nämlich die Autoren auf durchaus verschiedene Weise ihren Gegenstand gestalten. Und doch: eines ist allen gemeinsam – die Zuflucht, die rein imaginäre Konstruktionen offenbar dann bieten, wenn eine auch nur annähernd ‘realistische’ Darstellungsweise an der Aufgabe, die Großstadt ins Bild zu fassen, scheitern müsste. Diese Großstadtliteratur ist kein Reflex der Wahrnehmung, sondern Ausdruck künstlerischer Gestaltung, die auf die Wendung in die reine Vorstellung, in die Phantasie von Autor/Erzähler und Leser gleichermaßen nicht verzichten kann. Damit stellt sich erneut und prägnant die Frage nach dem ‘Ort’ der Großstadt: In den Text nicht nur eingebunden, sondern aus ihm geradezu hervorgehend, schafft die Darstellung der Großstadt einen Vorstellungsraum, in dem sich die Figuren des Textes mit den Figurationen des Lesers treffen. Es wäre für einen Literaturwissenschaftler
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verlockend, nun zu behaupten, der Ort der Großstadt sei eben nicht die Wirklichkeit unserer Wahrnehmung, sondern der imaginäre Raum literarischer Texte – verlockend wohl, aber wohl kaum richtig. Denn der Reiz des Imaginären, in dem wir unsere Phantasie spielen lassen können, wird durch die Realität, auf die literarische Texte, in welcher Weise auch immer, beziehbar sind, nicht eingeebnet, sondern erhöht. Aus der Gesamtschau der Großstadtliteratur im Kleinformat, die unserem Leser noch bevorsteht, mag schon jetzt ein Blick zurück auf die Panoramen geworfen werden, die Lesage, Victor Hugo und Stifter auf je verschiedene Weise ins Werk setzten, ein Blick zurück nicht im Sinne eines retrospektiven Resümees, sondern unter einem problematisierenden und in die Zukunft der Großstadtdarstellung gerichteten Gesichtspunkt. Zumal Stifter könnte den Anschein erweckt haben, mit pragmatischen, bloß der Realität entsprechenden Beschreibungen ließe sich der Gegenstand literarisch einfangen. Doch auch Lesage, der es offenbar nicht wagte, Paris zu sagen und zu meinen, sondern der Madrid sagte und Paris meinte, scheint sich nicht in vollem Umfange auf das Risiko einer großstädtischen Sittenschilderung quasi vor der Haustür einzulassen. Victor Hugo schließlich, kühner als die ihn einrahmenden Gefährten dieses Kapitels, entwirft im Bild, im Symbol einer Kirche nicht nur Schicksale, die er kunstvoll miteinander verflicht, sondern zudem noch eine Kulturtheorie. Erscheint bei Lesage und Stifter die Stadt gleichsam ausgezehrt – nur auf die menschlichen Sitten hier, nur auf einen resümierend-moralischen Aspekt dort reduziert –, ist sie bei Hugo im Gegenteil symbolisch besetzt, ja sogar überfrachtet: Die Kirche als Symbol einer Stadt, als Kreuzungspunkt von Schicksalen, vom Buch kulturgeschichtlich überholt und doch wiederum in ein Buch, den Roman selbst, eingebunden – all dies führt zu einer Überdetermination, für die freilich die Kunst viele illustre Beispiele kennt. Die panoramatische Darstellung der Großstadt scheint Beschränkung zu fordern und doch über diese Grenzen immer wieder hinauszuwachsen: ein Balanceakt, für den sich in der Literaturgeschichte der Großstadt nur wenige Belege finden wie zur Bestätigung der These, dass solche Panoramen Ausnahmen bilden und auf der prekären, labilen Grenze angesiedelt sind, die das Wagnis vom Scheitern trennt. Der große Gestus, der Großstadt geltend, gehört im literarischen Spektrum zu den Momenten mit Seltensheitswert; und doch wird er, am Ende des 19. Jahrhunderts, das eine Fokussierung auf die Großstadt erlebt, noch einmal gewagt: in Emile Zolas Paris-Panoramen, die eine Epoche auf ihren Höhepunkt führen und sie zugleich ihrem Ende zutreiben.
Sittenbilder – die Großstadt als moralisches Tableau Gemessen an den Themen der Literatur, gemessen auch an den Versuchen, die Aufgabe der Kunst, die Regeln der literarischen Gattungen zu definieren, ist die Großstadt ein Gegenstand ohne Würde. Wer sich in der Frühzeit der Großstadtdarstellung auf dieses Thema einlässt, muss gewahren, mit diesem Gegenstand gleichsam allein zu sein, und kann sich auf die Unterstützung der Tradition oder auch der zeitgenössischen Diskussion nicht verlassen. Der Gegenstand ‘Großstadt’ wird nicht theoretisch untermauert; Modelle für seine Darstellung stehen nicht bereit: ein klassischer Fall jener Denk- und Erfahrungsfigur des Neuen, die in der sich langsam herausbildenden Moderne den Rang eines Paradigmas gewinnt, für das wiederum die Großstadt selbst zum Paradigma wird. Für die heutigen Leser, von den großstädtischen Erfahrungen geprägt und mit den Kunstmitteln der Großstadtdarstellung vertraut, sind die Schwierigkeiten der Anfänge kaum zu ermessen. Die Vorstellung, dass menschliches Verhalten nicht nur von allgemeinen, naturhaften Vorgaben bestimmt, sondern mindestens in demselben Maße von kulturellen Normen und sozialen Übereinkünften geprägt ist, findet an der Großstadt als eines Ballungsraumes sozialer Schichten und menschlicher Verhaltensweisen eine anschauliche Bestätigung (auch dann, wenn man für diesen Blick erst auf zauberische Weise die Dächer von den Häusern heben muss). Reicht es nicht, die Verschiedenheit der Sitten, aber auch die inneren Antriebe menschlichen Verhaltens in der Großstadt aufzudecken, um die Bedeutung dieses Gegenstandes, und sei es zunächst nur für die Erkenntnis der moralischen Dinge, allen Lesern vor Augen zu stellen? Für eine Literatur, die sich dem Nützlichen verschreibt, mag das ausreichen; soll sie aber auch oder sogar vorrangig künstlerische Qualitäten aufweisen, muss mehr von ihr verlangt werden. Nicht weniger ist der Literatur als Aufgabe gestellt, als dass aus einer räumlichen Beziehung, das Verhalten der Menschen in der Großstadt betreffend, eine kausale wird: Die Großstadt ist am Verhalten, am Schicksal der Menschen ursächlich beteiligt und kann deshalb auch das emotionale Dabei-Sein auf Seiten des Lesers einfordern. Sie generiert Schicksale, begründet Handlungen und bestimmt auch in spezifischer Weise den literarischen Diskurs, die Sprach-‚Handlung’ des Autors oder Erzählers. Wenn in der Benennung dieses Kapitels nicht nur von Sittenbildern, sondern auch von einem moralischen Tableau die Rede ist, bedeutet dies nicht einfach ein Vor-Augen-Stellen der Lebensformen in der Großstadt; vielmehr bezeichnet
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der Begriff ‘Tableau’, der dem bürgerlichen Trauerspiel, genauer: seiner Theorie, entnommen ist, das unmittelbare, das Medium Sprache transzendierende menschliche Interesse, das dem Leser angesonnen wird. Indem dieser der conditio humana in ihrer speziellen, die Moderne charakterisierenden großstädtischen Erscheinungsweise begegnet, soll er Anteil nehmen an menschlichen Schicksalen, an welchen der Mensch, die Großstädte bauend, selbst entscheidenden Anteil hatte.
1. „Ich male Paris“ – Merciers Tableau von Paris Mit der Darstellung von Merciers Tableau von Paris, das erstmals 1781 in zwei Bänden erschien und bis 1789 auf zwölf Bände anwuchs, bewegt sich die Analyse auch weiterhin, ähnlich wie schon bei Stifter, im Rahmen des Pragmatischen. Ungleich größer angelegt als Stifters Genreszenen, strebt das Tableau von Paris nicht weniger an, als das Gesamtbild der Kapitale zu entwerfen, und teilt mit Hugos Roman, der ebenfalls Paris im Titel führt, den Totalitätsanspruch; hier jedoch ein ähnliches Maß an Poesie und Sprachkunst zu erwarten wäre unangebracht: Zu nah ist der Autor selbst an den Gegenstand gebunden, zu sehr hat er, hierin ein Kind der Aufklärung, die konkrete Darstellung der Stadt und die Möglichkeiten im Blick, die Lebensbedingungen der Menschen in der Großstadt zu verbessern. So wird Mercier von der Nüchternheit des Historikers (oder Chronisten) geleitet und vom Anspruch eines Moralisten, der im Unterschied zu Lesage keinerlei Wendung zum Wunderbaren vornehmen muss, um die stetig wachsende Kapitale als ein ‘Tableau’ menschlichen Verhaltens zu entwerfen. Mercier schwebt nicht, wie Asmodeus und Dom Cleophas, über der Stadt und muss auch nicht Dächer und Wände von den Häusern entfernen; er habe, berichtet er selbst, die Stadt so häufig zu Fuß durchquert, dass er mit Fug und Recht sagen könne, das Buch mit den Beinen geschrieben zu haben, und das entsprechende Kapitel trägt den lapidaren Titel „Mes jambes“. Lapidar ist auch der Beginn des Tableau von Paris: „Ich werde von Paris sprechen“. Doch ungeachtet der unprätentiösen Schlichtheit dieses Anfangs sind sowohl das sich selbstbewusst artikulierende ‘Ich’ als auch die Stadt Paris gleichsam unbekannte Größen: Für dieses ‘Ich’ hatte die Darstellung von Paris bis dahin kein Beispiel bereitgestellt, und die Stadt selbst, jene scheinbar unproblematische Gegebenheit – schon vor Mercier topographisch und historisch beschrieben – gewinnt in Merciers Tableau ein neues, gegenüber den früheren Darstellungen präzise ausgeleuchtetes Gesicht. Mehr als tausend Kapitel wird Mercier benötigen, um die Stadt in all ihren Erscheinungsformen, mit ihren verborgenen Abgründen und der Komplexität ihrer Aspekte dem Leser vor
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Augen zu stellen. Vor Augen? Nicht dem optischen Erscheinungsbild von Paris gilt Merciers Interesse, sondern dem, was er in einer paradoxen Formulierung die „moralische Physiognomie“ der Stadt nennt. Dem Leser, mit einer ungewohnten Perspektive konfrontiert, die auf die Gesamtheit der Großstadt ausgerichtet ist, und bei seinem Gang durch die Stadt von einem in neuer Weise sich artikulierenden Ich begleitet, steht mit der Lektüre des Tableau von Paris eine überdimensionierte Aufgabe bevor – ein Grund, den Text zu vermessen. Sowohl das ‘Ich’ als auch die Stadt Paris und vor allem die Art und Weise, wie über sie gesprochen wird, sind neu und bedürfen einiger Aufmerksamkeit. Deshalb sei dem Leser ein Dreischritt vorgeschlagen: Zunächst gilt jenem ‘Ich’ unsere Aufmerksamkeit, sodann der Stadt und schließlich der für Mercier spezifischen ‘Schreibweise’. Selbstbewusst hatte Mercier sein Tableau mit dem schlichten Pronomen ‘ich’ begonnen und in der Folge dieses ‘Ich’ mit der Stadt kombiniert. Bevor Paris in den Blick rückt, sei der Autor kurz vorgestellt, der zwar in seiner Zeit Berühmtheit erlangte, diese aber mit einem weitgehenden Vergessen durch die Nachwelt bezahlte. Er war Pariser von Geburt (1740), Sohn eines wohlhabenden Handwerkers, der auf die Schulbildung seiner Kinder (ein Akt bürgerlicher Emanzipation) großen Wert legte. Doch die gute, an klassischen Vorbildern orientierte Erziehung flößt dem jungen Mann Abscheu vor dem ‘Bildungsgut’ ein und stiftet ein umso größeres Interesse an den Erscheinungen der eigenen Zeit: „So darf alles, was um mich herum ist, meiner ungeteilten Aufmerksamkeit sicher sein, denn leben muss ich unter meinesgleichen, und schließlich ergehe ich mich nicht in Sparta, Rom oder Athen.“ Als Hilfslehrer in Bordeaux verfasst Mercier 1763, unter dem Einfluss von Rousseaus Nouvelle Héloïse, seine ersten Werke. Nach Paris zurückgekehrt, schließt er Freundschaft mit dem jüngeren Crébillon und lernt Diderot sowie den schon schwer erkrankten Rousseau kennen. In rascher Folge erscheinen Erzählungen (Histoire d’Izerben, poète arabe 1766, L’homme sauvage 1767, Songes philosophiques 1768), schließlich 1769 die Contes moraux, ou les Hommes comme il y en a peu. Theaterstücke folgen, das seinerzeit berühmteste, Der Schubkarren des Essighändlers, wurde auf Veranlassung Goethes ins Deutsche übersetzt und von ihm 1798 in Weimar aufgeführt. Mercier war jedoch nicht nur als Dramatiker tätig, sondern wurde berühmter und bedeutender noch durch seine theatertheoretischen Schriften (Du théâtre ou nouvel essai sur l’art dramatique, 1773; Nouvel examen de la tragédie française, 1778), mit denen er, ähnlich wie Diderot, die neue Form des bürgerlichen Trauerspiels propagierte und, wie später Schiller unter Merciers Einfluss, das Theater als eine ‘moralische Anstalt’ betrachtete. Die Veröffentlichung des Tableau von Paris bringt dem Autor die Verfolgung durch die Zensurbehörden ein, vor denen er sich in die Schweiz, nach Neuchâtel, flüchtet. Dort, wo er sich 1781 bis 1786 aufhält, schreibt er weiter an sei-
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nem Tableau von Paris, das somit großenteils gar nicht in Paris entsteht. Als 1789 die Revolution ausbricht, schließt er sich zunächst den Jakobinern, dann den gemäßigten Girondisten an, was ihm ein Jahr Kerkerhaft einträgt; seiner Enthauptung entgeht er nur durch den Sturz Robespierres. Danach setzt er seine politische Karriere fort, wird Mitglied im Direktorium, 1795 Mitglied des Institut de France, der ‘revolutionären’ Nachfolgeorganisation der Académie Française. Er verfasst unter dem Eindruck der revolutionären Ereignisse eine Fortsetzung des Tableau von Paris unter dem Titel Le nouveau Paris, kann aber an den Erfolg des früheren Werkes, das direkt nach Erscheinen ins Deutsche, Englische, Italienische und Niederländische übersetzt wird und in hohen Auflagen kursiert, nicht mehr anschließen. Er stirbt 1814 in Paris und wird auf dem Père Lachaise beigesetzt. Sein Ruhm gründet sich vor allem auf den utopischen Roman L’An 2440, rêve s’il en fût jamais (Das Jahr 2440, der Traum aller Träume) und auf das Tableau von Paris. Freilich: Zu den auch heute noch bekannten und gelesenen Autoren zählt er kaum, obwohl seinerzeit in Deutschland Goethe, Hegel, Jean Paul, Wieland und Schiller zu seinen Lesern rechneten: „Ich habe einen unendlichen Respekt für diesen großen drängenden Menschenozean“, schreibt Schiller 1788 an Caroline von Beulwitz, und er plante sogar, im Anschluss an ein Kapitel bei Mercier, ein Drama mit dem Titel Die Polizey, das jedoch nicht zur Ausführung gelangte. Die Fülle seines Werkes, das über hundert Bände umfasst, ist zugleich Merciers Leistung und sein Problem. Vor allem Grimm schmäht Mercier in seiner Korrespondenz als „Tintenkleckser“; Diderot scheine alles gelesen, Mercier alles geschrieben zu haben, und dieser bilde zusammen mit Restif de la Bretonne und Cubières das „Triumvirat des schlechten Geschmacks“. Dennoch: Merciers Tableau von Paris wirkte stil- und traditionsbildend und ist die Initialzündung für eine Thematik, die fortan ihren Platz im Spektrum der Literatur behauptet: Mit Merciers Tableau von Paris setzt – fulminant, großflächig, engagiert – die Großstadtliteratur ein, und spätere Schriftstellerkollegen wie Balzac und Baudelaire wussten ihm, anders als die wohl auch um des Erfolgs willen neidischen Zeitgenossen, Tribut zu zollen. Nachdem nun der Autor des Tableau von Paris kein ganz Unbekannter mehr ist, gilt die Aufmerksamkeit jenem Thema ‘Paris’, das Mercier zu Anfang seines Textes so kühn mit dem eigenen Ich verband. Die Frage „Was ist Paris?“ kann in dieser allgemeinen Form keine Antwort erheischen; die Frage hingegen, wie die Stadt in Merciers Tableau zur Darstellung kommt, soll ungeachtet der Dimensionen des Werkes gestellt und mit der gebotenen Stringenz beantwortet werden; dass der literaturkritische Diskurs, der immer seinem Thema mehr oder minder hinterherhinkt, in diesem Fall besonders hinter seinem Gegenstand zurückbleibt, muss man gelassen hinnehmen und sich, wie Mercier in Paris, auf den Weg durch dieses Werk machen.
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„Ich“ bildet, als erstes Wort des Werkes, die Initialeinstellung – nicht nur in Bezug auf die ‘Person’, die sich hinter diesem Ich verbirgt, sondern auch als Gegenüber eines hier mitgemeinten ‘Du’, das den Leser bezeichnet. Wenn das Ich immer wieder seine Betroffenheit wegen des Elends in der Großstadt artikuliert, wenn es jene ‘Figur’ ist, die für bestimmte Verfahrensweisen des Textes optiert und die dessen Besonderheit verantwortet, so ist es doch auch, als Erfahrungsmuster, gleichsam der Ursprung des Tableau von Paris: „Ich bin so viel gelaufen, um das Tableau von Paris zu machen, dass ich sagen kann, ich hätte es mit meinen Beinen geschrieben; auch habe ich gelernt, lebhaft und prompt auf dem Pflaster der Hauptstadt zu laufen. Das ist ein Geheimnis, das man, um alles zu sehen, beherrschen muss; man erwirbt es durch Übung […].“ Das Besondere der Stadt erschließt sich nur in der unmittelbaren und konkreten Erfahrung, als Dabei-Sein, denn die Metropole, in dauerndem Wandel begriffen, steht unter dem Gesetz der Veränderung, der man gleichsam hinterherlaufen muss, um sie nicht zu verfehlen. Paris bestimmt nicht nur die Marschgeschwindigkeit Merciers, sondern auch die Gangart des Textes. Das Tableau von Paris eilt von einem Thema zum anderen, kann keine Darstellungsform lange beibehalten und hat so wenig einen konkreten Argumentationsverlauf, wie die Gänge Merciers durch die Stadt einem bestimmten Ziel zustreben. Von der Stadt gleichsam generiert, stellt sich das sprechende Ich in einer Weise dar, dass es weniger an eine Person – mit Familie, Charakter, Beruf – erinnert als an eine textbezogene Figur, die über eben jene Eigenschaften verfügt, die sie für den Text (als dessen Ursprung) benötigt. So lebt Mercier in einer Mansarde; wie nämlich der Kopf am oberen Ende des Körpers das edelste Organ, das Gehirn, beherberge, so wohne auch in der Hauptstadt das Genie, der Fleiß, die Tugend im oberen, billig zu mietenden Teil der Häuser, und während der Geist in den Kutschen fahre, gehe das Genie zu Fuß. Das Tableau von Paris enthält auch ein Bild dessen, der es schuf; es ist die Inszenierung einer individuellen Erfahrung im konkreten Raum der Stadt, mit anderen Worten: die Projektion eines moralischen Raumes auf einen physischen. Aus dieser persönlichen Position eines sprechend-schreibenden Ich ergibt sich als Besonderheit des Textes seine historische Dimension. Hatte noch Lesage und in gewisser Weise sogar Stifter das Allgemeine des Sittenbildes, die generellen Züge der Conditio humana herausgestellt, ist nun bei Mercier das Bild der Stadt auch das Bild einer Zeit, genauer: die Momentaufnahme, denn der stete Wandel der Großstadt erlaubt es nicht mehr, den Anspruch von Dauer und Allgemeinheit des Beobachteten zu erheben. Die davoneilende Geschichte der modernen Großstadt macht das Festhalten des Alltäglichen, Zufälligen und oftmals Unbemerkten zu einem Dokument des Wandels, und Mercier wird nicht müde, die Besonderheit der eigenen Zeit gegenüber vergangenen und noch kommenden Epochen herauszustellen. Immer wenn der Text in frühere Zeiten zurückblendet – ausgelöst von einem
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gegenwärtigen Eindruck –, tendiert er, sonst eher nüchtern verfasst, zur Emphase; als Mercier über die Reste des soeben abgerissenen Petit-Châtelet hinweggeht, klingt sein Kommentar sensibel in präromantischer Art: Ich bin über die Reste hinweggegangen: aber welch ein Anblick! Die Gewölbe halb geöffnet, unterirdische Kerker, die zum ersten Mal seit so vielen Jahren Luft bekamen, schienen den entsetzten Augen der Passanten die in ihrer Finsternis versunkenen Opfer zu enthüllen. Ein unwillkürliches Schaudern ergriff euch, indem ihr den Blick in diese tiefen Gräben warft, und man sagte sich: Wurden tatsächlich an einem solchen Ort, auf dem Grund der Erde, in einem Loch für Tote, Lebende einquartiert?
Nicht nur die Wendung zurück in die Geschichte, sondern auch der Blick in die Zukunft affiziert den sensiblen Betrachter, und er sieht vor dem inneren Auge den Untergang von Paris – nicht ohne die Hoffnung, dass sein Buch die Zerstörung der Stadt überleben möge, damit es dereinst von Paris künde, dessen Bild es bewahrte. Dieses Überschreiten der unmittelbaren Gegenwart auf dem Weg der Vorstellung verbindet Mercier mit seinem Leser, denn auch dieser soll sich nicht streng und gläubig an den Text halten, zumal der Autor nicht alles beschreiben könne; er soll vielmehr über das hinausgehen, was ihm Text und Autor vermitteln, und gerade die in Anbetracht des Gegenstandes unvermeidbare Offenheit der Darstellung – modern würde man von ‘Leerstellen’ sprechen – ist ein Impuls für die Imagination des Lesers. Mit dem Ich des Autors ist das dem Text eingeschriebene Bild des Lesers verbunden; nicht so, dass dieser nur gleichsam hinterhertrottet, sondern in dem Sinne, dass er dort weiterdenkt, wo der Autor bloß Fragmente aus dem Gemälde der Stadt vermitteln kann. Vom Autor zwar geleitet (auch in Gegenden und an Stätten, die der Leser sonst kaum kennen gelernt hätte), aber nicht an ihn gebunden, erschließt sich der Leser neue Erfahrungen, und wie um die Herkunft des Wortes ‘Erfahrung’ (‘Durchstreifen’) zu illustrieren, wird der gemeinsame Gang durch die Stadt zu einer Erprobung dessen, was, als humanitas, die Menschen verbindet. Gleich ob das ‘Ich’ beobachtet, träumt, empfindet oder urteilt, immer ist ihm der Leser beigesellt, dem identische oder ähnliche Reaktionen oder Verhaltensweisen angesonnen werden. Die Komplexität der Stadt macht jedoch alle Bewegung des Körpers oder des Geistes zu einem unabschließbaren Unterfangen: Weder kann man die Stadt ganz durchschreiten, noch kann man sie, in die Tiefe gehend, vollständig beobachten oder gar erklären; doch die Erfahrung, dass alle Beschäftigung mit Paris nur Annäherungswerte bereitstellt, betrifft nicht individuelle Einschränkungen und Defizite, sondern verbindet, tröstlich, Autor und Leser. Er wolle, so beginnt Mercier, von Paris sprechen – doch was meint dieses ‘Paris’? Nicht die Bauwerke, Kirchen, Monumente, Sehenswürdigkeiten – darüber hätten schon andere geschrieben. Ihn interessieren, ganz im Sinne seiner Zeit, die öffentlichen und privaten Sitten, die herrschenden Ideen, die aktuelle
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Situation des Denkens, von ihnen wird er ‘berührt’ („frapper“), und sie verwandeln die Stadt, die architektonisch festgefügt ist und als kaum wandelbar erscheint, in eine „bizarre Anhäufung von verrückten oder vernünftigen, aber immer sich wandelnden Verhaltensweisen“. Statt in ihrer Architektur und den sie beschreibenden Werken quasi festgeschrieben zu sein, verliert die Stadt unter dem Blick Merciers ihre Begrenzungen, zeigt sie ihre „grenzenlose Größe“ und gerät zu einem nicht mehr berechenbaren Monster, das Geld und Menschen ansaugt, die anderen Städte aber aussaugt und verschlingt – mit dem biblischen Wort: „Quaerens quem devoret“. Die ‘moralische Physiognomie’ von Paris bildet den Ausgangspunkt, das eigentliche Interesse jener ausgreifenden, ausufernden Beschreibung der Stadt; ihr ‘Tableau’ ist ihr in seinen/ihren Dimensionen adäquat. Nur durch die immer wieder begonnene, nie aber erreichte Annäherung des Textes an seinen Gegenstand kann das Tableau von Paris beanspruchen, ein Bild der Stadt zu entwerfen – ein Bild freilich, das sich aus Momentaufnahmen, Zufallstreffern, gleichsam Schnappschüssen zusammensetzt und dessen vorgestellte Einheit letztlich so utopisch bleibt wie in Merciers Roman Das Jahr 2440; nur wird hier das utopische Element nicht aus dem imaginären Entwurf heraus gebildet, sondern aus einer vom Text nicht einholbaren Fülle der Erfahrung, vor der auch das schreibende Ich letztlich kapitulieren muss: „Selbst wenn ich die hundert Münder, die hundert Zungen und die eiserne Stimme hätte, von denen Homer und Vergil sprechen, wird man befinden, dass es mir unmöglich gewesen wäre, alle Kontraste der großen Stadt aufzuführen.“ Doch nicht Stimme und Zunge gelten für Mercier als Darstellungsmittel der Stadt, sondern, dem Titel entsprechend, die Instrumente des Malers, Zeichenstift und Pinsel, die nichts anderes wiedergeben können, als der Künstler wahrnahm: in trister Farbgebung erscheint das scheußliche Elend der Stadt. Wie bei Lesage spricht der Moralist, sieht jedoch den Grund des Elends nicht in den individuellen, charakterlich geprägten Verhaltensweisen der Menschen, sondern in den Lebensbedingungen der Großstadt: Zählt Mercier einerseits, ein wenig anachronistisch schon, zu den Moralisten, liegt andererseits seine Besonderheit, ja seine Modernität darin, dass er wie ein Soziologe ante litteram daherkommt. Es geht ihm nicht um allgemein menschliches Verhalten, das, der Großstadt als Ballungsraum der Menschen entsprechend, auch hier am besten zu beobachten und zu beschreiben ist, sondern um die Beziehungen zwischen dem Lebensraum Großstadt und den Verhaltensweisen der Menschen. Erst hier zeigt sich das, was den Moralisten und den ‘Maler’ der Sitten am meisten interessiert: Kontraste auf engstem Raum: „Die Taufe, die sofort nach dem Begräbnis vorgenommen wird, derselbe Priester, der einem Sterbenden die Letzte Ölung erteilt und den man ruft, um zwei junge Leute zu verheiraten.“ Gehen hier die Kontraste aus dem normalen Lebensverlauf hervor, der nur in besonderer Konzentration und Gleichzeitigkeit in der Großstadt zur Anschauung
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kommt, stellt Mercier jedoch auch Kontraste heraus, die immer wieder die Unterschiede der Stände zur Erscheinung bringen und welche die soziale Differenzierung, die zwischen Armen und Reichen klaffende Distanz als schreiendes Unrecht anklagen: Mercier, der Revolutionär, ist auch der Anwalt der Armen und Benachteiligten. Bei aller Unverbindlichkeit, die aus der großstädtischen Ansammlung des Verschiedenen resultieren mag, ist Merciers Tableau von Paris keineswegs kunstlos, und selbst wenn es seinen Ursprung der zeitweiligen journalistischen Arbeit seines Autors verdankt – Mercier war, nicht eben zu dessen Wohl, 1775 bis 1777 Redakteur des Journal des dames –, ist es doch Literatur im besten Sinne des Wortes. Spricht Mercier von Paris als einer „konfusen Anhäufung“, ist dies nicht eine bloße Feststellung, sondern eine Herausforderung an die Kunstmittel des – metaphorisch zu verstehenden – ‘Malers’. Voraussetzung für das Malen ist das Sehen, das in vielfältigen Variationen benannt wird, dem sich aber immer das Verstehen zugesellt. Ein Akt des Verstehens ist, angesichts des pluralen Gegenstandes ‘Großstadt’, immer auch ein Akt des Ordnens – so, dass sich die einzelnen Beobachtungen zu einem ‘Bild’ zusammenfügen. Nimmt der Moralist die Kontraste wahr, hat der Maler sie zu gestalten. Manches Mal bieten sie sich, wie die Annoncen der Vergnügungen und die Todesanzeigen auf derselben Seite des Journal de Paris, dem Blick dar, zumeist aber müssen sie erst durch eine bewusste Anordnung hervorgebracht werden: Der Blick ist ein synthetisierender, der Erinnerung und nicht nur der momentanen Wahrnehmung geschuldet: „Diese Frau [die zum Leihhaus geht] tritt aus einer Equipage heraus und beleiht Diamanten mit 25 000 Francs, um abends zu soupieren. Jene andere bindet ihre Schürze ab und erbittet Geld, um Brot zu kaufen.“ Mag es sein, dass die beiden Frauen unmittelbar hintereinander zum Leihhaus gingen, so ist es ebenso denkbar und vielleicht wahrscheinlicher, dass die Szene eine Kombination auseinander liegender Momente darstellt, die vom Beobachter in Verbindung gebracht wurden; „rapprochement“, Annäherung ist die dafür von Mercier benutzte Vokabel. Dabei wird die Verfahrensweise des Textes von einem Erkenntnisinteresse geleitet, das Mercier mehrfach formuliert: Nur durch das schockartige Aufeinandertreffen von widersprüchlichen Gedanken lerne man, die wahrhafte Idee herauszufinden, und durch die Kontraste sehe man im Großen. So viel ist deutlich: Es genügt nicht, die Stadt einfach abzubilden, um sie zu verstehen; vielmehr muss das, was man in ihr wahrnimmt und beobachtet, in eine Konstellation gerückt werden, so dass sich Kontraste herauskristallisieren. Mag ein solches Verfahren bei einzelnen Szenen überzeugen, bleibt doch unklar, wie auf diese Weise ein Gesamtbild der Stadt entstehen soll; jene kurzen Kapitel bei Mercier lassen sich sicher mit dieser Methode gestalten – aber ein ganzes Buch, sogar ein ‘Tableau’ in zwölf Bänden? Indes: Annäherung und
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Kontrastierung wären als bloß technische Darstellungsmittel verkannt. Vielmehr können die Kontraste auf breitem Raum erstellt werden, der Allgemeinheit des Ansatzes entsprechend; denn es gibt eine Gewissheit, die Merciers ‘Bild’ von Paris bestimmt: „Das moralische Verhalten des Menschen ist durch ein unbekanntes Band mit dem physischen Erscheinungsbild der Gegenstände verbunden.“ Die erste, originäre und grundlegende Verbindung besteht zwischen dem moralischen und dem physischen Raum, und hier liegt, bei allen Schwächen der Darstellung, die man dem eilenden Beobachter von Paris zuschreiben mag, das zeitlose Interesse dieses Textes. Weder ist die Stadt ein isolierter, nur für sich gegebener Gegenstand, noch sind ihre Bewohner in sich ruhende, von ihrer Umgebung unabhängige Menschen. Beide sind auf Gedeih und Verderb miteinander verflochten: Die ‘moralische Physiognomie’ der Großstadt entspricht der ‘physiognomischen Moral’ ihrer Bewohner. Im weiten Raum von Paris lässt sich studieren, wofür sonst weite Reisen notwendig wären; alle Sinne werden angesprochen, und hier findet der Betrachter vor, was Mercier, unübersetzbar, als „abrégé de l’univers“ bezeichnet: das Universum, verkürzt und konzentriert, eine Stadt als Welt, die Welt als Stadt. Den Unterscheidungen zwischen dem Ich, der Stadt und den Schreibweisen Merciers, die zur Orientierung des Lesers (was sowohl den Leser Merciers als auch unseren betrifft) vorgenommen wurden, sind selbst dem Gesetz der Großstadt unterworfen: am Ende heben sie sich auf und gehen in jene Fülle ein, deren Beschreibung und Bewältigung das Tableau von Paris unternommen hatte. Letzten Endes bleibt nur der Text übrig, in den Autor, Leser, Gegenstand und Darstellungsweise eingingen, so dass auch er sie gleichsam verschlingt, quaerens quem devoret. Nur der Text? Was er vermochte, macht die gewohnten Maßstäbe des Gelingens oder Scheiterns obsolet. Wenn er scheitert, so deshalb, weil er, der Dimensionen des Unterfangens eingedenk, gar nicht gelingen kann; wenn er gelingt, liegt der Grund dafür in den bescheidenen Beschränkungen, die er, jedem Anspruch auf Totalität abhold, seinem Gegenstand, dem sprechenden Ich und dem Leser auferlegt – sie alle sind nur Figuren der Annäherung, nicht aber schon die Nähe selbst. Die Frage nach Scheitern oder Gelingen, auf der Ebene des gegebenen Textes nicht zu beantworten, erweist ihren tieferen Sinn erst aus einer anderen Perspektive. Dieses Paris, das mit seinem Namen, aber auch in der Fülle seiner Erscheinungsformen im Text präsent ist, ist diesem auch transzendent, aufgehoben in einem Bewusstsein, das seinen Ort jenseits der Stadt, aber auch jenseits des Textes hat. Und so entscheidet in letzter Instanz der Leser, bereit, dem Text zu folgen (bis hin zu seiner Überschreitung), vielleicht aber auch nicht geneigt, sich ihm anzuvertrauen, über das Gelingen des Unterfangens Tableau de Paris. Die Literaturgeschichte setzte einen letzten Akzent: Sie schrieb, über eine ganze Generation hinweg, am ‘Tableau de Paris’ weiter, und
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sie schrieb selbst dort Merciers Entwurf fort, wo sie sich scheinbar von ihm entfernte: Balzac und Baudelaire sind die Erben des Tableau von Paris, das selbst noch bei Zola seine Spuren hinterließ – Stoff für weitere Kapitel der Literaturgeschichte der Großstadt.
2. „Stoff zu Betrachtungen“: London bei Dickens Bei Mercier, dem geschmähten Vielschreiber und dem bei einem größeren Publikum weitgehend unbekannten Entdecker von Paris, ist die Großstadt durch ein unauflösliches Band mit den Menschen verbunden, die in ihr leben, so wie diese in ihrem Verhalten, in ihrer Befindlichkeit von der Großstadt geprägt sind. Seit Mercier bilden die Stadt und die Städter eine Einheit; die Stadt ist belebt und bevölkert, aber nicht mit individualisierten Personen, sondern mit Repräsentanten der Stände und solchen Figuren, an denen die Allgemeinheit der conditio humana, bei Mercier unter sozialem Aspekt gedeutet, ablesbar ist. Nicht Menschen in ihrer je individuellen Eigenart bevölkern Paris, sondern die Stadt ist der Lebens- und Handlungsraum des Menschen als Spezies: Durch Mercier spricht noch immer der Moralist, der Menschliches im Allgemeinen aufdeckt, und noch nicht der Romancier, der Menschen in ihrer Individualität darstellt. Jenes ‘noch nicht’ deutet an, dass bald nach Mercier (und nicht schon mit Lesage) der Großstadtroman sui generis die Bühne der Literaturgeschichte betritt, vom Autor des Tableau de Paris vorbereitet. Den Gang der Geschichte durchkreuzend, soll in diesem Kapitel noch vor Balzac, dem historisch der Primat zukäme, ein Autor behandelt werden, der ähnlich wie Mercier journalistische Skizzen verfasste, aber anders als dieser solchen scheinbar anspruchslosen Schreibübungen Großstadtromane folgen ließ: Charles Dickens. Seine Londoner Skizzen (im Original: Sketches by Boz) wurden durch seine Tätigkeit als Redakteur beim Mirror of Parliament und der Abendzeitung True Sun vorbereitet; 1833 begannen in verschiedenen Magazinen Skizzen aus dem Leben Londons zu erscheinen, deren Verfasser sich – mit dem Spitznamen seines Bruders – „Boz“ nannte, wohl um seinen Ruf als seriöser Journalist nicht zu gefährden. Im pragmatischen Textmodus verfasst wie Merciers Tableau de Paris, sind die Londoner Skizzen von Dickens gleichwohl von anderer, ganz eigener Art. Allenfalls sind sie jenen späteren Publikationen vergleichbar, in denen Paris und seine Bewohner nicht mehr unter moralischem, sondern nur noch unter sozialem Aspekt im Sinne einer großstädtischen Typenlehre, einer Beschreibung von Genreszenen vor dem Hintergrund von Paris erscheinen; sie wurden schon oben im Zusammenhang mit Stifter genannt. Bei Dickens ist das Bestreben bemerkbar, in die Szenerien des Großstadtlebens Figuren hineinzukomponieren, in deren Verhalten London menschliche Gestalt gewinnt. Geht bei Mercier der
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Entwurf der Stadt den ohnehin wenig zahlreichen Figuren voraus, extrapoliert Dickens das Bild von London aus den vielfältigen Erscheinungsformen der Londoner: dem moralistischen Tableau Merciers folgen die Genreszenen von Dickens. Sie befinden sich schon, aus der historischen Distanz betrachtet, auf dem Weg zum Roman, und es ist kein Geheimnis in der Forschung, dass manche der späteren Romane von Dickens die frühen ‘Zeichnungen’ der Skizzen wieder aufnehmen, so etwa Little Dorrit die Beschreibung von Newsgate. Es soll deshalb Aufgabe dieses Kapitels sein, in aller gebotenen Kürze die Londoner Skizzen zu betrachten und die dort gewonnenen Einsichten auf die Romane Oliver Twist und Der Raritätenladen zu beziehen. Schon der erste Teil der Sketches by Boz, „Unser Kirchspiel“ betitelt, verbindet am Ende („Unsere nächsten Nachbarn“) die Straßen mit dem Studium ihrer Bewohner: Wir sinnen bei unsern Wanderungen durch eine Straße gar gern über Charakter, Stand und Lebensweise ihrer Bewohner nach, wobei uns nichts so wesentlich unterstützt, als das Aussehen der Haustüren. Die Mannigfaltigkeit im Ausdruck der menschlichen Gesichter gibt Stoff zu einem edlen und interessanten Studium: allein die Physiognomie der an jenen befindlichen Türklopfer hat etwas fast ebenso Charakteristisches und ist beinahe ebenso untrüglich.
Dem charakteristischen Detail – hier den Türklopfern – wird Ausdruckswert, Zeichenfunktion zugeschrieben für die Eigenart der Bewohner. Doch darüber hinaus bringt das Herumstreifen in den Straßen eine Reflexion hervor, welche die körperliche Bewegung des ‘Wanderns’ mit der geistigen des Nachsinnens verbindet. Offenbar kommt der Stadt die Bedeutung zu, ihre eigene Besonderheit in gleichem Maße der Beobachtung und der Reflexion zu erschließen, sofern sich der Betrachter, ähnlich wie bei Mercier als ‘Stadtgänger’ konzipiert, auf seinen Gegenstand einlässt. Im Kapitel „Läden und deren Inhaber“ ruft Dickens schon zu Anfang aus: Welch unerschöpflichen Stoff zu Betrachtungen bieten die Straßen der Hauptstadt dar! Mit Recht bemitleidete Sterne den Mann, der von Berseba nach Damaskus reisen könnte und spräche, es wäre alles wüst; noch zehnmal mitleidswürdiger aber ist der, der Hut und Stock nehmen, von Covent-Garden nach dem St. Pauls-Kirchhofe und obenein wieder zurückwandern kann, ohne seiner Wanderung Unterhaltung – wir hätten fast gesagt: und Belehrung – zu verdanken.
Das Gegenbild hierzu sind jene flanierenden Spaziergänger, die aus der Betrachtung der Stadt ihren Lebensgenuss ableiten und diesen, im Falle dass sie schreiben, ihren Lesern vermitteln: Sie suchen nichts und finden alles. Was sich ihrem Auge und ihrer Feder darbietet, ist der großstädtische Alltag in seiner allgemeinsten Form, etwa die Straßen am Morgen und am Abend. An den Rändern des Tages zeigen sich die Straßen in ungewohnter Weise; auch erlaubt
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diese spezifische Perspektive, die Bewegung zu beschreiben, mit der die Stadt ‘erwacht’ und am Abend wieder zur Ruhe findet: Die Analogie zwischen dem Tag der Stadt und jenem ihrer Menschen ist offenkundig. Detailreich, ja geradezu detailverliebt schildert Dickens das Bild der Straßen am Morgen als ungewohnten Kontrast zur Belebtheit des Tages: Es macht einen ganz besonderen Eindruck, die geräuschlosen Straßen, die wir gewohnt sind, zu anderen Zeiten von einer geschäftigen, wogenden Menschenmenge gefüllt zu sehen, so nüchtern, einsam und verödet […] zu schauen, die bei Tage einen so äußerst belebten Anblick darbieten.
Der letzte Zechbruder taumelt durch die Straßen, die Trunkenbolde und Wüstlinge sind schon verschwunden, die ehrbaren Bürger noch nicht erwacht; ein Polizeidiener schaut die verödete Straße entlang, auf der nur ein Kätzchen zu sehen ist. Langsam erwacht die Straße im Morgengrauen zu neuem Leben – für Dickens sogleich eine Gelegenheit, nicht nur die herannahenden Marktkarren mitsamt den Händlern, sondern auch, deutlicher individualisiert, zwei Dienstmädchen im Gespräch zu beschreiben, zu denen, guten Morgen wünschend, der gut aussehende Verkäufer aus dem Laden vis-à-vis tritt. Das folgende angeregte Gespräch wird von der ungeduldigen Herrschaft unterbrochen, und es bleibt nur ein langer Blick des jungen Mannes auf die beiden Mädchen. Bei Dickens tendieren die Stadtszenen zu Genreszenen. Die folgende Beschreibung herannahender Kutschen ist durchsetzt mit ‘Blicken’ auf Lehrlinge und Ladendiener, bevor all jene die Szenerie betreten, die zur Arbeit gehen: „Leute in den mittleren Jahren, deren Saläre nicht in demselben Verhältnisse wie ihre Familien zugenommen haben“, „[k]leine Schreiber mit großen Hüten, zu Männern gemacht, noch ehe sie jemals Knaben gewesen“, eilen vorbei und nehmen mit einem flüchtigen Blick die jungen Putzmacherinnen und Näherinnen wahr: „Arme Mädchen! Sie bilden die Klasse, die sich am sauersten mühen muß, am schlechtesten bezahlt und nur zu oft auch noch am schlechtesten behandelt wird.“ Die soziale Komponente des Dickens’schen Schreibens, das Engagement für die Benachteiligten, zu denen auch der Autor zu rechnen ist, wird schon in diesen frühen Texten spürbar. Die Großstadt ist der Raum, der die verschiedenen sozialen Schichten umfasst und insofern für die Differenzierungen der Gesellschaft reiches Anschauungsmaterial bietet. Gegen Mittag endet die Darstellung der Straßen am Morgen – dann nämlich, wenn die Kontraste der Großstadt zur Evidenz kommen: „Überall in den Straßen ist Gedränge Geputzter und Schäbiger, Reicher und Armer, Fauler und Fleißiger, und die Hitze, das Getümmel und die betriebsame, rührige Tätigkeit des Mittags hat begonnen.“ Der Übergang zum folgenden Kapitel, „Die Straßen am Abend“, gestaltet sich ebenfalls kontrastiv: Doch will man die Straßen Londons in ihrem höchsten Glanze sehen, so muß man sie sehen an einem finstern und trüben Winterabende, wenn sich gerade genug Feuchtigkeit
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niedersenkt, daß das Pflaster schlüpfrig, aber nicht im mindesten reiner wird, und wenn der schwere träge Nebel, der alles umflort, bewirkt, daß die Gaslichter heller strahlen, und die glänzend erleuchteten Läden vermöge des Kontrasts mit der Dunkelheit umher sich noch prachtvoller als gewöhnlich anschauen lassen.
Das Gewöhnliche der Großstadterfahrung wird in beiden Kapiteln durch das Nicht-Alltägliche durchkreuzt und London damit einer besonderen Wahrnehmung zugeführt. Erneut zeigen die Straßen am Abend ihre Bewohner in Aktion – diesmal nicht die Dienstmädchen, sondern zwei Hausfrauen, die ihre Teestunde mit frischen Brötchen begehen wollen. Es geht in diesem Text hauptsächlich um die Straßenhändler und deren Kunden; dieses Thema ermöglicht es, zu späterer Stunde die Schließung der Verkaufsstände zu beschreiben, um dann einen Blick auf die Schauspielbesucher zu werfen, die sich, zu Fuß oder in Wagen, entweder nach Hause begeben oder an einer jener Versammlungen teilnehmen, die sich als Abschluss kultureller Veranstaltungen eingebürgert haben; eine von ihnen wird am Schluss des Kapitels beschrieben. In der Art, Dickens’ Schilderungen zu referieren, zeigt sich indirekt deren Eigenart: Sie wollen Szenen festhalten, so wie sie sich abspielen, und verfahren dabei ohne sprachkünstlerische Ambitionen. Es handelt sich um Genrebildchen, die direkt ‘aus dem Leben gegriffen’ sind, so dass sich der Großstädter, und der Londoner zumal, in ihnen wiedererkennt und die Situationen in seiner Stadt noch einmal literarisch durchleben kann. Künstlerische Gestaltung ist ihnen nicht abzusprechen, doch dient sie vor allem dem genauen Erfassen dessen, was sich tatsächlich in den Straßen Londons abspielt. Anders als Mercier verbindet Dickens mit den Szenen der Großstadt keine moralischen Absichten, sondern lässt London so hervortreten, wie es sich dem Blick aller darbieten mag. Dickens interpretiert nicht; vielmehr sucht er nur darzustellen, sogar eigentlich ‘abzubilden’. Der Stadt eignet kein Verweisungscharakter: Sie ist vielmehr sich selbst genug. Ein Kapitel aus den Londoner Skizzen zeigt schon im Titel, dass es ein wenig anders angelegt ist als die anderen: „Gedanken in Monmouth Street“. Hier geht es offenbar nicht um bloße Schilderung, sondern um jene Reflexionen, die von der Stadt ausgelöst werden können: Ist Dickens damit auf dem Wege von der pragmatischen Großstadt-Skizze zum Großstadt-Roman? In der MonmouthStraße sind die Altkleiderhändler zu Hause, und ein Besuch bei ihnen ruft Betrachtungen hervor: Wir durchwandern gern diese weiten Hallen erlauchter Toten und geben uns den Betrachtungen hin, die durch sie hervorgerufen werden; passen jetzt einen verblichenen Rock, dann ein verstorbenes Beinkleid und dann wieder die sterblichen Reste einer eleganten Weste einem Geschöpf unserer Einbildungskraft an und versuchen es, uns nach der Art und Beschaffenheit der Kleidungsstücke die ehemaligen Eigentümer vorzustellen.
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Hier offenbart die moderne Großstadt, dass sie im Alten, das kaum der Betrachtung wert zu sein scheint, der Imagination ein Anstoß sein kann. Nicht im eigentlichen Sinne die Stadt, sondern ihre Bewohner gewinnen neue Konturen durch das Spiel der Phantasie. Immer ist Dickens, wenn er London im Blick hat, auf die Menschen konzentriert, für deren Leben und Schicksale die Kapitale nur den Hintergrund, allenfalls den Ausgangspunkt bildet. Dies setzt sich fort in den Romanen von Dickens, die in London spielen. Nicht Agens, sondern nur Schauplatz, stellt London einige der düsteren Szenerien bereit, vor denen sich das Schicksal des Waisenknaben Oliver Twist im gleichnamigen Roman abspielt. Waren die Londoner Skizzen gleichsam eine Schreibübung für die späteren Romane, zeigen einige Beschreibungen Londons in Oliver Twist ähnliche Szenen, doch erheblich verdüstert. Aus der Kleinform der Genreszene mit ihren pittoresken Details wird im Roman eine schauerliche Szenerie, die das Dramatische des Geschehens mit düsteren Bildern untersetzt. London zeigt keinen Glanz, der Olivers Schicksal kontrastiv erhellen könnte, sondern nur Elend und Armut: Eine Zeitlang gingen sie durch den belebtesten und am dichtesten bevölkerten Teil der Stadt, bogen dann in eine enge Gasse ein, die schmutziger und elender aussah als alle anderen, durch die sie bisher gekommen waren […]. Die Häuser zu beiden Seiten waren hoch und breit, aber sehr alt und von Angehörigen der ärmsten Schichten bewohnt, was schon ihr vernachlässigtes Äußeres hinreichend bezeugte […]. Etliche Häuser, die durch ihr Alter baufällig geworden waren, wurden durch mächtige Holzbalken, die man gegen die Wände gestemmt und fest in die Erde gerammt hatte, vor dem Einsturz bewahrt. […] Die Rinnsteine waren verstopft und voller Unrat. Selbst die Ratten, die hier und da modernd in dieser Fäulnis lagen, sahen schrecklich verhungert aus.
Nicht einmal der Kontrast zwischen belebten und prächtigen Teilen der Stadt einerseits, deren düsteren Gassen andererseits wird beschworen; vielmehr vollzieht sich eine Steigerung des Elends bis hin zu den vermodernden Ratten, die „schrecklich verhungert“ aussehen. An keiner Stelle der London-Beschreibungen wird das Bild der Stadt auf Oliver Twist übertragen; im Gegenteil bleibt dieser moralisch integer, während die anderen, insbesondere der alte Jude, ihm übel mitspielen – deshalb zeigt dieser Verwandtschaft mit dem Hässlichen und Widerlichen, wie es sich im Bild Londons konzentriert: Die Pflastersteine waren dicht mit Schlamm bedeckt, schwarzer Nebel hing über den Straßen, langsam rieselte der Regen hernieder, und alles fühlte sich kalt und feucht an. Für ein solches Wesen wie den Juden war es anscheinend gerade die geeignete Nacht, um unterwegs zu sein. Wie er so im Schutze der Mauern und Torwege verstohlen schleichend dahinkroch, glich der scheußliche Alte einem ekelhaften Reptil, gezeugt in Schlamm und Finsternis, durch die er sich jetzt dahinbewegte, und nächtlicherweise umherkriechend, auf der Suche nach einem fetten Opfer zum Mahle.
Trotzdem: Die Stadt steht nicht in Beziehung zu den handelnden Figuren, sondern bleibt eine Realität für sich, die mit der schrecklichen Geschichte von
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Oliver Twist die abschreckenden Züge teilt. Dickens ist der Entdecker des Londoner Elends, der Maler enger, düsterer Gassen und ihrer in Armut lebenden Bewohner, der Chronist großstädtischer Misere. Auch wenn das Schicksal Oliver an mehrere Orte treibt, ergibt sich doch nirgendwo sonst als in London die Entsprechung von Elend der Geschichte und Düsternis ihres (partiellen) Schauplatzes. Auch Oliver Twist enthält, wie seinerzeit die Londoner Skizzen, eine Beschreibung der am Morgen erwachenden Stadt; doch der Unterschied zwischen der frühen Genreszene mit ihren pittoresken Zügen und dem Humor ihrer Schilderung einerseits, dem Elend der Stadt in Oliver Twist andererseits springt in die Augen: Es war ein trostloser Morgen, als sie auf die Straße hinunterkamen; es stürmte und regnete heftig, und die Wolken hingen düster am Himmel. Über Nacht war es sehr naß geworden: große Wasserpfützen hatten sich auf der Straße gesammelt, und die Rinnsteine flossen über. Am Himmel verkündete ein schwacher Schimmer den nahenden Tag, aber er machte die Trübseligkeit des Schauplatzes eher noch deutlicher, statt sie zu mildern […].
Der nahende Morgen verheißt nur eine Perpetuierung der Trostlosigkeit, und so verwundert es nicht, dass auch der Markt, an diesem Tag stattfindend, keinerlei Buntheit und Lebendigkeit zeigt, sondern nur ein abstoßendes Bild bietet: Es war Markttag. Der Erdboden war beinahe knöcheltief mit Schlamm und Kot bedeckt, und dicke Dampfwolken, die unablässig von den Leibern der Schlachttiere aufstiegen und sich mit dem Nebel mischten, der auf den Schornsteinkappen zu lagern schien, hingen schwer in der Luft. Alle Gehege inmitten des weiten Platzes und noch so viele behelfsmäßige, wie nur irgend in den verbleibenden Raum hineingepfercht werden konnten, waren mit Schafen angefüllt, und an den Pfählen der Außenseite waren in langen Reihen Kühe und Ochsen zu dritt oder zu viert hintereinander angebunden. Bauern, Fleischer, Viehtreiber, Hausierer, Laufburschen, Diebe, Müßiggänger und Herumtreiber aus allen niederen Klassen waren zu einem dichten Menschenknäuel zusammengedrängt.
Nicht eben vertrauenerweckend wirken die zusammengedrängten Menschen, die in Schlamm und Kot waten, und der „misstönende Lärm“, „die ungewaschenen, unrasierten, schmutzigen und verkommenen Gestalten“ benehmen dem Betrachter die Sinne. Der neue Tag, der sich mit Schmutz und Lärm ankündigt, wird so sein wie der alte und das Elend perpetuieren. Aus der Misere, die sie hervorbringt und die immer wieder auf sie zurückschlägt, kann sich die Stadt nicht befreien, zumal dann nicht, wenn dieses Bild durch die Geschichte Olivers bestätigt wird und das ‘verwirrende Schauspiel’ seinen Widerpart in der Romanhandlung findet. Auch das neblige London des Nachts bringt keine Ruhe in die Szenerie, sondern akzentuiert nur das schon bei Tage düstere Bild:
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Es war eine sehr dunkle Nacht. Der Tag war sehr unfreundlich gewesen, deshalb befanden sich um diese Stunde und an diesem Ort nur wenig Menschen unterwegs. Jene aber, die dort zu finden waren, eilten schnellen Schrittes vorüber; […]. Nebel hing über dem Fluß, er verdüsterte den roten Schein der Feuer auf den kleinen Fahrzeugen, die an den verschiedenen Werften festgemacht hatten, und ließ die düsteren Gebäude an den Ufern noch dunkler und undeutlicher erscheinen. Die alten rauchgeschwärzten Lagerhäuser zu beiden Seiten erhoben sich schwer und düster über dem dichten Gedränge der Dächer und Giebel und blickten finster hernieder auf ein Gewässer, das zu schwarz war, um selbst ihre plumpen Umrisse widerzuspiegeln.
Düsterkeit und Finsternis steigern sich zu totaler Schwärze, in der die Gebäude unterschiedslos untergehen. Ohnehin schon ‘rauchgeschwärzt’, werden die Lagerhäuser bei Nacht noch dunkler, so dass sie sich nicht einmal im selbst schon schwarzen Fluss spiegeln können. Hier ist kein Raum für Genreszenen, kein Publikum für jene Straßenhändler, die in der Schilderung der Straßen am Abend das Bild beleuchten und beleben: Alles ist schwarz, aus Mangel an Licht auch kaum im Bilde wiederzugeben. Nur die Literatur kann, Begriffe der Dunkelheit in Serie bemühend, eine Ahnung von dieser Finsternis vermitteln. Im Verlauf des Romans steigert sich die Hässlichkeit – so weit, dass selbst dem Leser nicht mehr angesonnen werden kann, diese Viertel, und sei es nur dem Namen nach, zu kennen. Ein letztes, langes Zitat aus Oliver Twist soll den Grad von Schäbigkeit verdeutlichen, der London in dieser Geschichte eigen ist: In der Nähe jenes Teiles der Themse, wo die Kirche von Rotherhithe steht, wo die Gebäude am Ufer am schmutzigsten und die Schiffe auf dem Fluß am meisten vom Kohlenstaub und dem Rauch der dichtgedrängten niedrigen Häuser geschwärzt sind, befindet sich der schmierigste, seltsamste und ungewöhnlichste Teil jener vielen Gebäude, die in London selbst dem Namen nach dem größten Teil seiner Bewohner verborgen sind. Wer dorthin gelangen will, muß sich durch ein Labyrinth enger, schmutziger Straßen hindurchwinden, in denen sich die rohesten und ärmsten Bewohner des Flußufers zusammendrängen und ihren gelegentlichen Geschäften nachgehen. Die billigsten und unappetitlichsten Nahrungsmittel liegen zu Haufen in den Läden, die häßlichsten und schlechtesten Kleidungsstücke hängen vor den Türen und Fenstern der Trödler. Nur mit Schwierigkeit bahnt man sich den Weg durch Arbeitslose der niedrigsten Sorte, Lastund Kohlenträger, unverschämte Weiber, zerlumpte Kinder und den Abschaum des Flusses, während man von den engen Seitenstraßen zur Linken und zur Rechten her durch häßliche Anblicke und Gerüche beleidigt und von dem Lärm schwerer Lastwagen betäubt wird, die Berge von Waren aus den Lagerhäusern abtransportieren, welche an jeder Ecke emporragen. Kommt man endlich in abgelegenere und weniger belebte Straßen, so trifft man auf wackelige Häuserfronten, die sich über das Pflaster neigen, verfallene Gemäuer, die beim Vorübergehen zu wanken scheinen, halbeingestürzte Schornsteine, Fenster, die mit rostigen, von Zeit und Schmutz fast völlig zerfressenen Eisenstäben verschlossen sind – kurz, auf jedes nur denkbare Zeichen des Verfalls und der Vernachlässigung.
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Der Text thematisiert hier nicht nur einen entlegenen Teil der Stadt, sondern auch einen Betrachter, der, dieses Viertel nicht kennend, mit dessen Anblick und Gerüchen konfrontiert wird. Jenes ‘man’ bezeichnet den Leser, dem zugemutet wird, sich in Personalunion mit dem Erzähler auf den Weg durch das Labyrinth von Gassen zu machen, einen Weg, der von Hässlichkeit in höchster, superlativischer Steigerungsform begleitet ist und sich am Ende zu allen nur denkbaren „Zeichen des Verfalls und der Vernachlässigung“ verdichtet. Das Bild Londons begleitet nicht nur die Geschichte Olivers, sondern verleiht ihr auch jenen schrecklich-abstoßenden Hintergrund, der allein durch den versöhnlichen Schluss eine Aufhellung erfährt. Wie das Schicksal Olivers im Verlauf des Textes seinem Höhepunkt zutreibt (bevor es glücklich aufgelöst wird), steigert sich das Bild der Stadt kontinuierlich in jene Hypertrophierung des Hässlichen hinein, die allen Glanz Londons vergisst und nur noch das Elend übrig lässt. Dass die Stadt zur handelnden Kraft würde, kann indes nicht behauptet werden; sie ist vielmehr Hintergrund der Geschichte und, zeitweise, Bühne des Dramas. Von anderer Art ist die Darstellung Londons im nur wenig später erschienenen Roman The Old Curiosity Shop (Der Antiquitätenladen, 1840/41). Die Geschichte von Nelly und ihrem Großvater, der sich in London durch Spielschulden ruiniert und zusammen mit seiner Enkelin die Stadt verlässt, war im Zusammenhang mit einer Rahmenerzählung geplant, in der Mister Humphreys Wanduhr, zugleich Titel einer Wochenzeitschrift, als Sammelpunkt für Geschichten verschiedenster Art fungieren sollte. Doch Dickens gab den Plan, in diesen Erzählrahmen kürzere Geschichten einzulassen, bald auf, behielt aber für den Antiquitätenladen die ‘literarische’ Uhr und ihren Besitzer bei. Mr. Humphrey hat die Angewohnheit angenommen, zu später Stunde durch die Straßen der Stadt zu schlendern, um „den Charakter und die Beschäftigung derer, die die Straßen erfüllen, zu beobachten“. Obwohl Mr. Humphrey begonnen hat, seine Eindrücke zu schildern, hält er inne, um eine Geschichte zu erzählen – oder besser: den Beginn einer Geschichte, denn die Begegnung mit einem Mädchen leitet eben jene Begebenheiten ein, die Gegenstand der Geschichte vom Antiquitätenhändler sind. Die Stadt hat ihm nicht nur ein Mädchen zugeführt, das sich in London verirrt hatte und das er nun zu ihrem Großvater zurückbringt; sie hatte ihm auch den Beginn einer Geschichte zugetrieben. Aus dieser Begegnung geht der Roman hervor; er ist das Produkt einer Flanerie auf Londons Straßen. Nun lässt sich nicht sagen, dass London konkrete Gegenwart gewänne, solange von der ruinösen Spielleidenschaft des alten Trent die Rede ist. Als Großvater und Enkelin indes die Stadt verlassen, entfaltet der Text, gleichsam zum Abschied, das Tableau Londons:
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Die Stadt erglänzte im hellen Morgenlicht, Plätze, die die Nacht über häßlich und unheimlich anzusehen gewesen, boten jetzt einen freundlicheren Anblick dar; die auf die Fensterläden fallenden Sonnenstrahlen, durch die Jalousien und Vorhänge bis zu den Schläfern dahinter dringend, gossen ihr Licht sogar in deren Träume und verscheuchten die schweren Schatten der Nacht. […] Das Licht, der Geist der Schöpfung, war überall. Alle Dinge beteten seine Macht an.
Der Aufbruch aus London steht im Zeichen des Lichts, des Lebens und der Hoffnung, die Helligkeit des frühen Morgens bildet einen Kontrast zur Düsternis der Nacht, wie um zu zeigen, dass die beiden Wanderer, optimistisch gestimmt, einer besseren Zukunft entgegengehen und entgegensehen. Die beiden ‘Flüchtlinge’, aus London verstoßen, wechseln von Zeit zu Zeit ein Lächeln oder werfen einander freudige Blicke zu. Doch die Stimmung der Stadt führt zu einer Eintrübung des Bildes: So heiter der Morgen auch war, es lag doch etwas Feierliches in den langen verödeten Straßen, aus denen, wie aus Körpern ohne Seelen, der gewohnte Ausdruck gewichen war, ohne etwas anderes zurückzulassen als die tote einförmige Ruhe, die sie alle gleichmacht.
Die Stille der Stadt ist eine Vorbotin dessen, was sich am Ende des Romans ereignen wird. Insofern ist der Abschied von London aus der Sicht der Figuren zwar der Versuch einer Rettung vor den Forderungen des Gläubigers, in Wirklichkeit aber entscheidet sich schon hier das Schicksal von Nelly und ihrem Großvater. Wenn der Text langsam und detailreich schildert, wie sich beide von London entfernen, steht er, das bittere Ende schon vorausnehmend, im Gleichklang mit deren Schicksal. Die Schilderung, Londons Straßen am Morgen evozierend wie in der frühen Skizze, zeigt noch einmal, unter dem Blick des Abschieds, Leben, Lärm und Bewegung der Großstadt: Ehe sie noch tief in das Labyrinth der Menschenwohnungen eingedrungen waren, das zwischen ihnen und den Vorstädten lag, begann sich dieser Anblick zu verändern und Lärm und geräuschvolles Treiben trat an dessen Stelle. Zuerst unterbrachen einige vorüberrasselnde Karren und Kutschen den Zauber, dann kamen andre und zuletzt ein Gewühl von Fuhrwerken. […] Dann stieg der Rauch langsam aus den Schornsteinen empor, die Schiebefenster wurden zurückgezogen […], die Türen öffneten sich und Dienstmädchen, schläfrig in alle Richtungen blickend, nur nicht nach ihrem Besen, kehrten dunkle Staubwolken in die Augen der Vorübergehenden oder horchten verdrossen den Milchmädchen zu, die von den Jahrmärkten auf dem Lande plauderten und anderen Festen.
Wie ein Genrebild präsentiert sich noch einmal die erwachende Stadt. Und doch ist für den Großvater mit ihrer Bewegung Angst verbunden, die wiederum die Flucht aus der Stadt motiviert. Als die beiden „auf die Plätze kaufmännischen Verkehrs und des Großhandels“ kommen, schiebt sich der Blick der Figuren vor das Bild des Textes:
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Entsetzt und mit verwirrtem Blick schaute der alte Mann – denn das war ein Anblick für ihn, den er nicht zu ertragen vermochte – um sich. Er drückte sich die Hand auf den Mund und zog das Kind mit sich durch enge Höfe und krumme Gassen und schien sich erst zu beruhigen, als all dies weit hinter ihnen lag.
Hier lauert für ihn das Verderben – wiederum eine Präfiguration dessen, was sich am Ende des Romans ereignen wird. Als sich die Wanderer in die entlegenen Teile der Stadt begeben, ergibt sich erneut die Gelegenheit, das Londoner Elend zu beschreiben, so wie es aus Oliver Twist schon bekannt ist – kein Grund also, hier zu verharren. Wichtig aber ist der letzte Blick, den die Figuren auf London zurückwerfen, ein Blick, in dem sich ein allgemeiner Eindruck, der jedem Wanderer eigen ist, mit der konkreten Situation der Romanfiguren verbindet. Aus der Ferne leuchtet nur noch der Turm der St. Paul’s-Kathedrale: Wenn dann der Wanderer seine Blicke auf das große Babel hinter sich warf und dessen Spuren bis zu den äußersten Vorposten der sich herandrängenden Armee von Ziegelsteinen und Mörtelschotter verfolgte, die jetzt zu seinen Füßen lagen, – dann wird er sich endlich bewusst, wirklich außerhalb Londons zu sein.
Der Wechsel der Zeiten – vom epischen Präteritum bis zum Präsens – führt die Perspektive der Figuren in die Allgemeinheit dessen über, was jeder Wanderer wahrnimmt: die Stadt als Sündenbabel. Im Abschied von London vollzieht sich, gebahnt vom Bild der Kirche, die Einsicht, einem Ort der Verführung und der Sünden entronnen zu sein. Und tatsächlich finden am Ende Nelly und Trent eine bescheidene Existenz auf dem Lande. Doch an jenem Ende steht auch ein Abschied. Erschöpft von ihrem Wanderleben und der steten Furcht vor ihrem Gläubiger, sterben der alte Mann und, besonders rührend, das junge Mädchen. Der Abschied von London hatte jenen letzten Abschied präfiguriert.
3. „Stadt des Schmerzes“: Balzacs Paris Paris zu Fuß durchstreifend, hatte Mercier in einer Serie von kleinen Schritten Bildchen, ‘eidola’, entworfen, sie in einzelne, thematisch geschlossene Kapitel eingelassen und zum gigantischen ‘Bild von Paris’ zusammengefasst. Die ‘moralische Physiognomie’ von Paris, die sich, vom Autor selbst so paradox formuliert, dabei ergab, betraf das Allgemeine weitaus mehr als das Besondere. Was dem unmittelbaren Blick, dem sich das Tableau de Paris verdankt, im Moment des Schauens als etwas Singuläres dargeboten wurde, fand sogleich Eingang in eine Konzeption des Generellen, die zwar dem historischen Wandel unterlag, dem Individuellen aber keine Zuflucht bot. Frankreichs Kapitale geriet in Merciers Darstellung zum Exempel für das Leben in den Metropolen generell, so dass auch der Schauplatz, die Bühne für den ‘Auftritt’ der Sitten, weitaus mehr
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dem Allgemeinen zugeordnet war als dem Besonderen. Es bedarf keines spezifischen Scharfsinns, um zu erkennen, in welch idealer Weise der pragmatische Textmodus, die direkte und weitgehend bruchlose Darstellung des Wirklichen in der Literatur, Merciers Ansatz und Anliegen entgegenkam. Jede neue Epoche, so meinte der Autor des Tableau de Paris, könne in dieser Art ein neues ‘Bild von Paris’ entwerfen, und daraus entstünde dann gleichsam eine Galerie von Sittenbildern der Stadt zu verschiedenen Zeiten. Die Literaturgeschichte erhörte diese Aufforderung; noch bis in die späten zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein ist Merciers Einfluss vernehmlich; einen längeren Atem indes hatte er, auf jene Konzeption gestützt, nicht. Die Rezeptionsgeschichte Merciers eröffnet aber weitere Perspektiven; eine von ihnen, Balzac betreffend, ist Gegenstand dieses Kapitels; eine weitere, auf Baudelaire bezogen, wird uns später beschäftigen. Bei Balzac gewinnt der moralische Raum Paris eine sinnliche Erscheinungsform, bekommt die ‘moralische Physiognomie’ der Stadt ein individuelles Gesicht. Damit ist der Schritt vom pragmatischen Textmodus zum fiktionalen, von der moralistisch geprägten ParisBeschreibung zum Paris-Roman vollzogen. Ganz so einfach, wie dieser Vorgang in der Perspektive späterer Darstellung anmutet, ganz so hurtig, wie gesagt ist, was sich im Übergang von Mercier und seiner Tradition zu Balzac ereignete, stellt sich indes die Geburt des Paris-Romans nicht dar. Der scheinbar spontane Schritt, Paris nicht nur zum Schauplatz von Romanen, sondern auch zu einer handelnden, die erzählte Geschichte mitbestimmenden Kraft zu machen, ist in Wahrheit eine verzweigte Problemgeschichte, deren wichtigste Stationen nun ohne Anspruch auf Vollständigkeit kurz zu benennen sind. Diese Problemgeschichte spielt in den dreißiger Jahren und rankt sich um Balzac. Das ‘Ich’ des Erzählers, mit dem die 1836 verfasste Novelle Facino Cane einsetzt und das, um es gleich vorwegzunehmen, mit dem des Autors Balzac weitgehend identisch ist, wird im Pariser Vorort Saint-Antoine lokalisiert, dem Viertel der Arbeiter und kleinen Handwerker, wo jenes ‘Ich’ eine Mansarde bewohnt und sich, in fast klösterlicher Abgeschiedenheit lebend, wissenschaftlichen Studien hingibt. Diese in einer Bibliothek betriebenen Lektüren finden eine Art Verlängerung in den fast wissenschaftlich zu nennenden Beobachtungen, die der Erzähler den einfachen Leuten seines Viertels angedeihen lässt. Balzac wäre verkannt, würde man dies nur auf einer Ebene deuten, die das bloß Anekdotische eines ‘fait divers’ tangierte: Die Beobachtungen sind nämlich von einer Eigenschaft des Ich begleitet, die darin besteht, sich in die Menschen intuitiv einzufühlen und von den äußeren Erscheinungen auf deren Tiefe zu schließen. Mit dieser Fähigkeit ausgestattet, die vielleicht, so vermutet der Erzähler, auf das zweite Gesicht zurückgeht und die ihn an den Rand des Wahnsinns bringen könnte, nimmt er, während er die Worte der Menschen aufschnappt, deren Leben an, glaubt, ihre Lumpen auf dem Rücken, ihre zerschlis-
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senen Schuhe an seinen Füßen zu tragen; ihr Innenleben geht in seines ein, seine Seele verbindet sich mit der ihren. Die hier fiktiv gesetzte Wirklichkeit reicht über alle Vorstellungen, über alle Erfindungsgabe weit hinaus: „Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie viele verlorene Abenteuer, wie viele vergessene Dramen in dieser Stadt des Schmerzes!“ In der Form eines unvollständigen Satzes, der die Emphase des Ausrufs betont, wird der Wirklichkeit der Primat gegenüber der Vorstellungskraft zugesprochen – mit dem Dante-Zitat von der „città dolente“ am Beginn des Dritten Buches des Inferno. Der Autor der Göttlichen Komödie wird als Namensgeber der Menschlichen Komödie an einer Stelle zitiert, die nicht in einem der großen, durch ihr Gewicht und ihre Dimensionen ausgezeichneten Romane steht, sondern am Beginn einer kurzen Erzählung. Was die Wirklichkeit an Dramen bereithält, ist, so der Erzähler weiter, von keiner noch so fruchtbaren Vorstellungskraft einholbar; man muss sich in die Niederungen der Schmerzensstadt begeben, sich in die Seelen einfacher Menschen einfühlen, um dort den „Meisterwerken“ zu begegnen, „die der Zufall zeugte“. Balzac als Realist? Nicht ganz; denn um die Wirklichkeit zu verstehen, ihre geheimen Botschaften zu entschlüsseln, bedarf es jener übernatürlichen, die Grenzen des Krankhaften streifenden Fähigkeiten, mit denen das Erzähler‚Ich’ ausgestattet ist. Die Geschichte, obwohl von besonderem Reiz, weil sie ein Plädoyer für die Träume ist und unter deren Zepter sogar Paris und Venedig im Zeichen der Musik miteinander in Einklang bringt – die Stadt der Kunst und die moderne Metropole –, die Geschichte also soll uns nicht weiter beschäftigen, vielmehr bloß die Frage, wie es Balzac gelingt, die Stadt Paris und ihre Bewohner nicht nur zu schildern, sondern ihnen auch einen tieferen Sinn, eine Botschaft jenseits des Banalen und Alltäglichen zu entlocken. In Facino Cane ist die Intuition der Aufbruch dorthin; in der Geschichte der Dreizehn, mit der die „Szenen des Pariser Lebens“ in der Menschlichen Komödie eingeleitet werden, geht Balzac andere Wege. Die Intuition als Fähigkeit zur Einfühlung in fremde Menschen und Geschehnisse ist, selbst wenn sie die Poesie begründet, eine individuelle Eigenschaft, die dem Dichter des Facino Cane zugeschrieben wird. Damit diese Kraft zum Tragen kommen kann, muss der Dichter/Erzähler selbst auftreten und mit den Figuren in Kontakt treten, was nicht weniger heißt, als dass er in die Geschichte mit eingebunden werden muss. Die Problemstellung der Balzac’schen Parisdarstellung aber ist eine andere: Es geht nicht darum, den Erzähler zu einer Figur der Handlung zu machen, denn damit müsste die Geschichte wiederum im Individuellen verharren, selbst wenn dieses durch die Poesie sanktioniert wäre. Vielmehr soll das Geschehen in Paris als etwas erscheinen, das von Paris hervorgebracht wird, soll der Schauplatz zu einer handelnden Figur werden – keine geringe Aufgabe, die Balzac auf verschiedene Arten zu lösen versucht. Von März 1834 bis April 1835 schreibt Balzac Das Mädchen mit den Gold-
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augen, den nach Ferragus und der Herzogin von Langeais dritten Teil der Geschichte der Dreizehn. Das Mädchen mit den Goldaugen ist eher eine längere Erzählung als ein Roman, deren skandalträchtige Handlung mit dem Ort des Geschehens zunächst in keinem Zusammenhang zu stehen scheint: Ein junger Mann verliebt sich in ein streng bewachtes junges Mädchen, gewinnt auf verschlungenen Wegen dessen Gunst und muss schließlich mit ansehen, wie Paquita, das ‘Mädchen mit den Goldaugen’, von jener Frau aus Eifersucht getötet wird, die Paquita wie unter Verschluss hielt und die sich als seine eigene Schwester herausstellt. Paquita, Objekt sowohl homo- wie heterosexuellen Begehrens, wird das Opfer dieser Doppelrolle. Dieses Inhaltsresümee, mehr Gerippe als Gerüst der Geschichte, lässt zwar die Skandalträchtigkeit des Geschehens erahnen, eine spezifische Rolle des Schauplatzes zunächst aber nicht erkennen. Umso merkwürdiger mutet es an, dass, noch bevor die blutig endende Handlung überhaupt beginnt, der Erzähler eine Schilderung von Paris entfaltet, die immerhin circa ein Fünftel des Gesamtumfangs des Textes umfaßt: Wäre Das Mädchen mit den Goldaugen, wie Balzac im Nachwort zur Herzogin von Langeais ausführt, tatsächlich ein „ganz pariserisches Abenteuer“? Der Begriff des Abenteuers wirkt wie eine Steuerungsinstanz für die Geschichte, die, dem Widmungsträger Eugène Delacroix gemäß, nicht nur die Wohnung (oder sollte man eher sagen: das Gefängnis?) der Paquita auf der Ile Saint-Louis, sondern auch den orientalischen Reiz ihres Boudoirs zur Darstellung bringt: Es ist ein Abenteuer von exotischer Fremdheit, gleichsam visualisiert in der orientalischen Erscheinungsweise seines Schauplatzes – abwegig, ja abartig wie die in jener Zeit skandalträchtige Thematisierung der Homoerotik. Erst nachdem die „Ansicht des moralischen Paris“ die Kreise der Hölle in Paris aufgetan hatte, erreicht der Erzähler triumphierend das „quod erat demonstrandum“, mit dem dieser lange Vorspann endet. Doch was sollte bewiesen werden? Die Seltenheit eines raphaelesken Antlitzes, wie es den Helden der Geschichte, Henri de Marsay, auszeichnet und das sogar dem in anderen Banden befindlichen Mädchen mit den Goldaugen eine Liebe eingibt, die tödlich sein wird: Das Liebesabenteuer endet als Tragödie, es begann aber als Faszination durch eine in Paris seltene, wenn nicht singuläre Schönheit, an Raphael gemahnend und an den Widmungsträger der Erzählung, Eugène Delacroix – „Maler“, wie Balzac hinzufügt. Dem Maler himmlisch-ätherischer Figuren, Raphael, steht der ‘Maler’ der Pariser Hölle, Balzac, gegenüber, und wie Delacroix wohl Pate stand für die Beschreibung des orientalisch anmutenden Salons der Paquita, steht Dante Pate für die Schilderung der Hölle mit Namen Paris. Balzacs Menschliche Komödie ist die auf irdische Belange zurückgeschnittene Göttliche Komödie Dantes, doch bei der Darstellung von Paris steht eher der ‘höllische’ als der ‘paradiesische’ Aspekt der Divina Commedia im Vordergrund.
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Eines der erschrecklichsten Schauspiele ist ohne Zweifel der Gesamtanblick der Bevölkerung von Paris. Diese hohlwangigen, grünen, gegerbten Menschen sind entsetzlich anzusehen. Auf diesem weiten, durch einen Sturm von Interessen unaufhörlich bewegten Felde wächst eine dicht zusammengedrängte Menschensaat, die der Tod öfters und schneller fortmäht als andernwärts.
Die Frage nach der Verbindung von Vorspann und Haupttext wird drängender, die Verbindung selbst zwischen den einleitenden, auf Paris bezogenen Reflexionen und der eigentlichen Geschichte enger; hier wie dort ist der Tod im Spiel. Paris steht im Zeichen des Sensenmannes, der die Menschen frühzeitig, vorzeitig dahinmäht und auf dessen Schwelle alle wartend stehen, Jugendliche wie Greise. Doch der Unterschied der Lebensalter, von denen Paris nur zwei kennt – die Jugend und das Greisentum –, verringert sich, denn die Jugend ist „greisenfahl“, das Greisentum jugendlich geschminkt. Das Sittentableau gerät zur Groteske. Jeglicher Gedanke an ein ausgreifendes moralisches Panorama wird eingeengt, und das Streben der Pariser kennt nur zwei Ziele: Gold und Vergnügen. Steigt man, mit diesen beiden Begriffen ausgerüstet wie mit einer Fackel, in die sozialen Kreise dieser höllischen Stadt hinab, so findet man in allen Schichten dasselbe Streben. Die Diagnose ist leicht gestellt; doch liegt der Kunstgriff Balzacs nicht darin, ein moralisches Urteil auszusprechen und es im Weiteren durch die Geschichte zu belegen. In der Schilderung von Paris kommt vielmehr sinnlich zur Anschauung, was zunächst nur wie der Eindruck eines Moralisten erscheinen könnte: Aus allen Poren dieser schiefen, verzerrten, verrenkten Gesichter dringt der Geist, dringen die Wünsche und Gifte, womit ihre Gehirne geschwängert sind. Nein, es sind nicht Gesichter, es sind häßliche Fratzen, es sind Masken der Schwäche, Masken der Stärke, Masken des Elends, Masken der Freude, Masken der Heuchelei – abgezehrte, mit dem unauslöschlichen Mal einer keuchenden Gier gebrandmarkte Masken.
Die Fratze verstellt, die Maske verbirgt die Individualität: Dieser Maskenzug als Defilee des Generellen, hinter dem sich das Spezifische versteckt, unterstreicht die Besonderheit der Geschichte, die eben nicht nur Masken zur Darstellung bringt, sondern auch Gesichter, die nicht nur das allgegenwärtige Streben nach Gold und Vergnügen, sondern den Wunsch nach Liebe zum Thema hat, der jedoch in diesem Szenario nicht anders kann als scheitern. Das Problem wird evident: Während einerseits das Allgemeine, seiner Natur nach, gegenüber der Vielfalt von Handlungen und Erscheinungsformen (in) der Großstadt eine Leerform bleiben muss, kann auf der anderen Seite das Besondere, durch die Komplexität des Konkreten gekennzeichnet, kein generelles Interesse beanspruchen – die Aporie scheint perfekt. Und doch: Aus dem generellen Bild von Paris, dem Sittengemälde seiner Bewohner treibt Balzac das Spezifische einer Geschichte heraus, die sich vor diesem düsteren Grund zunächst abhebt,
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bald aber von ihm übertüncht wird. In einer solchen Hölle kann eine Liebe nicht gedeihen. Die eine, einsträngige Geschichte gewinnt mit den einleitenden Schilderungen von Paris den Rang einer Ausnahme, steht aber auch im Kontext jener erdrückenden Fülle eines sozialen Raumes, dem „die Liebe ein Gelüste, der Haß eine Laune“ ist. Und nicht nur das: Paris als Paradigma einer verderbten moralischen Welt hat seine Gesetze wie die Natur. Immer geht es darum, die Sitten der Großstadt einer Gesetzmäßigkeit zu unterwerfen: „Wie das Reich der Natur, so hat auch das der Gesellschaft seine Insekten und Eintagsblumen, sein Ungeziefer und Unkraut, und speit Feuer und Flammen aus seinen ewigen Kratern.“ Die Vorstellung von Feuer, mit der Hölle verbunden, aber auch mit den Vulkanen, wird im Weiteren auf Hephaistos/Vulkan bezogen, und vor diesem sowohl naturhaften als auch mythologischen Hintergrund ist Paris eine „Riesenschmiede“, in der das Kleinbürgertum „immer nur Hammer und niemals Amboß“ sein möchte. Das Bild von Paris, vor dem sich die Geschichte von Paquita, dem Mädchen mit den Goldaugen, abspielt, könnte düsterer kaum sein; und doch ist es bemerkenswert dadurch, dass es in größere Kontexte – religiöse, mythologische, wissenschaftliche – eingelassen und damit künstlerisch nobilitiert wird. Im vierten, höchsten der (Höllen-)Kreise ist das Künstlertum angesiedelt – je nach Perspektive auf dem Gipfel oder dem Tiefpunkt des Sozialen. Die zu erzählende Geschichte stellt nicht nur dar, was sie unmittelbar berichtet; sie ist auch die Illustration, das buchstäbliche Vor-Augen-Stellen dessen, was in diesem moralischen Sumpf mit Namen Paris die Kunst zu leisten imstande ist. Der Bogen des Textes spannt sich von der Sittenlehre zur KunstLehre – jener Einsicht in das Außergewöhnliche, die der Text eröffnet. War nicht auch dieses in einem auftrumpfenden, nun aber auf das eigene, künstlerische Tun bezogenen „Quod erat demonstrandum“ zu beweisen? Ein „frisches, anmutiges, wahrhaft jugendliches Antlitz“ zählt in Paris zu den „seltensten Ausnahmen“; es kann „einem jener stillvergnügten Müßiggänger“ gehören, „die als die einzig glücklichen Menschen zu jeder Stunde das poesievolle Treiben von Paris genießen“, einem Poeten. Am Anfang noch ein bloßes Wort, wird im Zuge des Textes diese ‘Poesie’ zur Anschauung gebracht; dass die Geschichte tragisch endet, beweist aber dann doch das Gewicht eines Gesetzes, das Glück nicht ermöglicht – zumindest nicht in Paris. Über dieser Botschaft des Geschehens steht jedoch, das Allgemeine mit dem Besonderen wiederum verknüpfend, der Sinn der Geschichte, insofern diese ein Kunstwerk ist. Das Sittentableau der Pariser Gesellschaft – in dunklem Kolorit am Anfang, als die sozialen Schichten den Kreisen der Hölle zugeordnet werden, in helleren Farben zu Beginn und im Verlauf der Liebesgeschichte zwischen Paquita und de Marsay – hebt sich aus dem bloß Zufällig-Pragmatischen, aus der puren Gegebenheit, die nur zu konstatieren wäre, weit hinaus. Es steht, wie schon zu An-
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fang des Textes gesagt, im Zeichen des Todes, von dem es am Ende definitiv eingeholt wird. Doch in den Momenten dazwischen ist es mit befremdlich-exotischer Leuchtkraft versehen, wird der allgemeine Verfall für einen ‘poetischen’ Moment künstlerisch suspendiert. Der Rahmen der Geschichte ist schwarz wie der Tod, ihre Mitte, vom Abenteuer der Liebe zwischen Paquita und Henri erhellt, leuchtet golden: eine besondere Interpretation jenes Gesetzes, das in Paris nur Gold und Vergnügen zulässt. Das ‘Gold’, statt nur Geld zu sein, wird zur verheißungsvollen Farbe, das ‘Vergnügen’ war, für einen Moment, die Liebe. Gegen Ende enthält Das Mädchen mit den Goldaugen, dritter Text der Geschichte der Dreizehn, einen Hinweis, den nur versteht, wer, anders als wir, mit der ersten dieser Geschichten seine Lektüre begann: Ferragus. Dieses „Haupt der Zerstörer“, ein ehemaliger Sträfling, ist Chef einer Bande, deren düsteres Wirken die Geschichte der Dreizehn nachzeichnet. Mit seiner Hilfe dringt de Marsay in das Haus ein, in dem Paquita gefangen gehalten wird – einziger Auftritt von Ferragus und eher lockere Verknüpfung mit der Erzählung gleichen Namens. Auch hier, in Ferragus, ist das Geschehen düster gefärbt. Ein junger Mann aus der Pariser Gesellschaft, August de Malincour, verliebt sich in eine verheiratete Frau und beobachtet zufällig, wie sie in einer der schäbigsten Gegenden von Paris einen Besuch macht; wem er gilt, bleibt offen und stachelt die Fantasie des jungen Mannes an. Mit dieser Beobachtung, die eine Frau von Stand an einem wenig standesgemäßen Ort entdeckt hatte, versucht Malincour, sich der Frau, Clémentine Desmaret, zu nähern, und stellt weitere Nachforschungen an, die von einer Serie von Unfällen oder Nachstellungen begleitet sind, denen Malincour jeweils nur mit knapper Not entgeht. Die Ehe der nach dem Vornamen ihres Ehemanns so genannten „Frau Jules“ gerät in Gefahr, und schließlich will der Ehemann selbst den Vorgängen auf den Grund gehen. Dabei stellt sich heraus, dass der Mann, dem die Besuche von Frau Jules gelten, ihr Vater ist: Ferragus. Am Ende stirbt Clémentine, und der letzte Blick von Jules Desmaret fällt auf Ferragus. Die Geschichte selbst, in dieser Kurzform nacherzählt, die ihre Tiefen kaum erkennen lässt, spielt wiederum in Paris; am Anfang und gegen Ende der Geschichte erscheint Paris, hat geradezu seinen Auftritt als Stadt des Lebens und des Todes. Die menschlich anrührende Geschichte eines glücklichen Ehepaares, dessen wechselseitiges Vertrauen auf eine ernste Probe gestellt wird, die es indes letzten Endes besteht, ist in eine Darstellung des Schauplatzes eingelassen. Von ihm gilt, dass er das Geschehen sowohl relativiert als auch in seiner besonderen Eigenart hervortreten lässt, ganz entsprechend dem Ansatz des Mädchens mit den Goldaugen, der ebenfalls darauf abzielte, das Besondere im Allgemeinen zu verankern. Dass die Geschichten exemplarischen Wert gewinnen, ist Folge einer Interpretation des Schauplatzes Paris, der die Handlung nicht nur situiert, sondern ihr, gleichsam aus dem Geist der Großstadt, auch
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ihre allgemein moralische Funktion zuweist. War die Geschichte der Paquita mit einem Sittenbild der Pariser Gesellschaft im Zeichen von Dantes Höllenvision eingeleitet worden, sind es in Ferragus zu Beginn die Pariser Straßen, die als Verbindungen zum Geschehen des Textes fungieren: In Paris gibt es Straßen, die ebenso entehrt sind wie schändliche Menschen. Es gibt vornehme adlige Straßen und einfache bürgerliche Straßen, über deren Gesittung sich die Allgemeinheit noch kein Urteil bilden konnte, und Straßen, die älter sind als die ältesten Stiftsdamen. Es gibt Straßen, die immer sauber, und Straßen, die immer schmutzig sind. Es gibt Verbrecherstraßen, Arbeiterstraßen, Fabrikstraßen, Geschäftsstraßen. Kurz, die Pariser Straßen haben menschliche Eigenschaften.
Weil die Pariser Straßen über menschliche Eigenschaften verfügen, können sie auch beim Betrachter bestimmte Empfindungen und Stimmungen hervorrufen, so dass der Gang durch Paris ein ganzes Spektrum von Gefühlen aktiviert. Manche, so der Erzähler weiter, machten sich ein Studienobjekt daraus, „in Paris umherzuschlendern“, und es bedarf keines besonderen Tiefsinns, um zu vermuten, dass der Erzähler (und, angesichts der engen Verbindung von Erzähler und Autor, auch Balzac selbst) sich diesen Menschen zugesellt. Und was bietet sich ihm dar? Paris „als ein ganz seltsames Ungeheuer“, „und dieses Ungeheuer ist so vollständig, wie es ein Lebewesen nur sein kann“. Auch hier erscheint der Gedanke, dass sich in den Häusern von Paris, Stratosphären gleich, die sozialen Schichtungen darstellen, jetzt bezogen auf den Körper eines Lebewesens: so ist der Speicher „sein Kopf voll Wissen und Genie; die ersten Stockwerke – sein glücklicher Magen; die Tore und Geschäftsläden – richtige Füße“. Morgens dehnen sich seine Glieder, die Geräusche werden stärker, „die Straße redet“, zu Mittag frisst sich der Riesenleib satt. Doch in dieser Form allein, in der imaginären Erscheinungsweise eines Ungeheuers, ist Paris noch nicht poesieträchtig: Indes, wer deine dunklen Passagen nicht kennt, wer deine Lichtschächte, deine tiefen, stillen Sackgassen nicht bewunderte, wer dein mitternächtiges Murmeln nicht hörte, der weiß nichts von deiner wahren Poesie, der ahnt nichts von deinen seltsamen gewaltigen Kontrasten.
Wie schon bei Mercier, entsteht auch hier die Poesie der Großstadt aus den Kontrasten. Die dunklen Seiten von Paris, die Ferragus aus der Stadt heraustreibt, machen, im Kontrast zu den strahlenden, erst den poetischen Reiz der Stadt aus. Die Straße redet – und nicht nur die prächtige, sondern weitaus mehr noch die düstere. Paris, „der Schauplatz unzähliger Romane“, ist auch der Handlungsraum vieler kleiner Dramen, der Ort ‘malerischer’ Zwischenfälle; und man sieht, worauf „diese weitschweifige Einleitung“ (eine Kennzeichnung, die auch für den Beginn der Geschichte von Paquita gelten könnte) hinausläuft: auf den Gedanken, dass Paris selbst die Geschichten schon enthält, von
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denen die Texte sprechen, dass Paris nicht nur ein Ort, sondern auch – für denjenigen, der zu beobachten weiß – ein Text ist, Ursprung vieler Geschichten, die nur versteht, wer Paris kennt. Gewisse Straßen von Paris haben das Kolorit moderner Liebesdramen, denn eine Dame, die in solch entlegenen Gegenden, dem „Großstadtsumpf“, von einem Bekannten beobachtet wird, ist diesem rettungslos ausgeliefert: eine allgemeine Vorwegnahme der Geschichte, die ihre Besonderheit aus eben dieser Verstrickung gewinnt. Indem eine Dame der Gesellschaft in diese Untiefen von Paris eindringt, setzt sie ihren guten Ruf aufs Spiel, gefährdet ihre Ehe, ihre Gesundheit, verliert schließlich ihr Leben: Was als bloß gesellschaftliches, vielleicht auch sentimentales Drama erscheinen könnte, auf Menschen und ihre Beziehungen gerichtet, stellt sich im Lichte der einleitenden Überlegungen des Erzählers wie der unberechenbare Zorn jenes Ungeheuers dar, das auch, ähnlich wie bei Mercier, nach dem Motto handelt: Quaerens quem devoret. Die Geschichte der Mme. Jules und ihres Vaters Ferragus ist in einen Erzählrahmen eingelassen, der alles andere darstellt als eine Begrenzung; durch ihn erfährt die Geschichte nicht nur eine Situierung im Raum Paris, sondern auch eine Interpretation durch die Stadt. Denn das Geschehen, eine Geschichte auf Leben und Tod, ist nicht zufällig, könnte nicht auch an jedem anderen Ort stattfinden; es ist vielmehr durch Paris, das gnadenlose Ungeheuer, gespeist und hervorgebracht – es enthält das Ungeheuerliche, das sich im Ungetüm Paris und durch dieses ereignet. Deshalb beginnt der Text gar nicht mit der zu erzählenden Geschichte, sondern mit dem, was diese bedingt und gestaltet; deshalb auch endet er nicht mit dem Tod der Mme. Jules, sondern mit ihrem Begräbnis, das bis dahin nicht genannte Orte von Paris, die Friedhöfe, ins Geschehen rückt und damit die Untergründe der Stadt sichtbar werden lässt – nun nicht mehr im übertragenen (wie noch vorher bei den Straßen), sondern im eigentlichen Sinne. Unterhalb des Glanzes von Paris lauert der Tod, immer bereit, in unvorhergesehenen Eruptionen an die Oberfläche zu treten. Doch ist mit dem Tod der Mme. Jules nicht das Ende der Geschichte erreicht? Ihrer Geschichte vielleicht, nicht aber das Ende jener anderen Geschichte, die nicht ein individuelles Schicksal betrifft, sondern die Wirkungsmacht der Stadt: Hier scheint diese Erzählung zu Ende zu sein. Indes, sie bliebe unvollständig, wenn dem Pariser Leben, dessen launenhafte Schwankungen hier gezeichnet wurden, eine kurze Skizze des Pariser Sterbens fehlte.
Auch das Sterben hängt mit der Geschichte zusammen, erlangt aber in der Darstellung Dimensionen, die dem ersten Paris ein zweites Paris entgegenstellen. Wieder ist die Verbindung zur ursprünglichen Handlung nur locker, will doch Jules Desmarets für seine Frau eine Urnenbestattung, was sich in Anbetracht der Halsstarrigkeit der Pariser Behörden nur mit Hilfe der Dreizehn ver-
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wirklichen lässt. Das düstere Kolorit, mit dem die erste Geschichte endete (und das die Widmung an Hector Berlioz, vor dem Hintergrund seines Requiems, rechtfertigt), findet eine das Groteske streifende Fortsetzung. Auf der Höhe des Père Lachaise, die den Blick auf das lebende, das „wirkliche Paris“ freigibt, das inmitten seiner Hügel „im graublauen Schleier seines dunstigen Odems“ liegt, eröffnet sich dem Moralisten das Paris des Todes, erscheint der Friedhof als Stadt der Toten, verkleinert auf Dimensionen, denen nur eines noch groß ist – die Eitelkeit: Es ist ein zweites Paris mit seinen Straßen, seinen Schildern, seinen Industrien, seinen Palästen – aber ein mikroskopisch verkleinertes, durch den verkehrt gehaltenen Operngucker betrachtetes Paris. Es ist die auf die geringeren Dimensionen der Geisterschatten reduzierte Menschheit, an der nichts mehr groß ist als die Eitelkeit.
Das Gesetz des Kontrastes bestimmt die Geschichte bis in ihr Ende hinein. Während Mme. Jules in der Düsternis der schwarz verhüllten Kirche SaintRoch und mit der Majestät eines bewegenden Totengesanges, „der das ganze Menschenleben“ in sich einschließt (und in dem wiederum die gigantischen Dimensionen des Requiems von Berlioz zu erkennen sind), eine grandiose Totenfeier zuteil wird, offenbart das einfache Begräbnis der Selbstmörderin Ida Gruget in einem Dörfchen an der Seine den Unterschied der Gesellschaftsschichten und die Weigerung der Kirche, Selbstmörder Seite an Seite mit denjenigen zu bestatten, die eines natürlichen Todes starben. Auch der Tod setzt seine Zeichen; er ist die dunkle Fortschreibung des Lebens. Spätestens an dieser Stelle wird vollends klar, dass Ferragus nicht allein die Geschichte der Liebe eines Vaters zu seiner Tochter ist; das Individuelle, so anrührend es auch beschrieben sein mag, wird auf die Ebene des Allgemeinen gehoben. Die Figuren mit ihren scheinbar nur persönlichen Schicksalen stellen Pariser Typen dar; so ist Mme. Jules der Typus der treu liebenden Ehefrau, Ida Gruget die Verkörperung der Pariser Grisette. Wie Paris mit Notwendigkeit solche Typen hervorbringt (zu denen auch der Typus des Dichters, der durch die Stadt streift und sie ‘liest’, gehört), so schreibt Paris auch das Drehbuch für jene Dramen, die sich in seinen Mauern ereignen. Die Straßen, schrieb eingangs der Geschichte ihr Erzähler, verfügen über Eigenschaften wie Menschen; durch die Straßen oder Viertel, in denen sie wohnen und arbeiten oder in die sie sich begeben, erleiden die Menschen ihr Schicksal. Die Kenntnis der Orte, von Balzac weniger herbeigeführt als vielmehr vorausgesetzt (so dass der ideale Leser eigentlich der Pariser ist), führt zum Verstehen der Geschichte und lässt die meisten ihrer Entwicklungen bereits erahnen. An bestimmten Stellen der Stadt auftretende Personen rufen wirre Gedanken hervor, und eine zweite Begegnung mit ihnen lässt sie Gewalt über das Gedächtnis gewinnen: „sie bleiben darin haften wie der erste Band eines Romans, dessen Schluß man nicht
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kennt.“ Am Schluss der Geschichte tritt ihr Namensgeber auf – doch wie eine Person, die, der Beschreibung entsprechend, ‘haften’ bleibt wie der Beginn eines Romans. Nicht in der Nähe des eleganten Père Lachaise, sondern auf dem Gelände des Montparnasse-Friedhofs, im Kreise von Boule-Spielern, sieht man am Ende Ferragus – „blaß und verwelkt, ungepflegt und zerstreut“: eine menschliche Ruine, die jeden Tag gegen vier Uhr von einer alten Frau fortgeschleppt wird, wie eine Bauernmagd ihre widerspenstige Ziege von der Weide zieht. Nicht mit dem Tode endet die Geschichte, sondern mit jener Dekadenz, die dem Tod, schlimmer noch als er selbst, voraufgeht. Das Haupt der schrecklichen Dreizehn, „le chef des dévorants“ (der „Verschlinger“ wörtlich), erheischt nicht einmal mehr jenen Respekt, den Tod und Leiden fordern, sondern ist in Trümmer gefallen. Vor diesem Anblick gibt Jules Desmaret seinem Kutscher den Befehl „Vorwärts!“, wie um Ferragus zu fliehen, denn bevor das Ungeheuer Paris seine Menschen verschlingt, hat es sie zerstört. Das Tableau, so wurde eingangs dieses Kapitels gesagt, will Betroffenheit hervorrufen. Es stellt dem Betrachter die Moral der großen Städte vor Augen und zeigt ihm Schicksale, die in ihnen und durch sie entstehen. Eher düster als glanzvoll, zeigen die Sittenbilder der Städte den Menschen in den Umschlingungen seines Lebensraumes, der eher Fatales als Erhebendes für ihn bereithält. Die Großstadt ist dabei zwar der Raum des Geschehens, zugleich aber auch sein Grund, denn statt nur Hintergrund zu sein, gibt sie selbst die Begründung für das ab, was in ihr geschieht. Dies kann, der Größe und Komplexität der Städte eingedenk, Vieles und Vielfältiges sein, denn virtuell vermag die Großstadt eine Fülle von Schicksalen zu beherbergen und hervorzubringen. Das Sittenbild, ohnehin den unterschiedlichen Verhaltensweisen der Menschen verschrieben, entdeckt in scheinbarer Beschränkung auf diesen einen Aspekt der ‘mores’ die Weiträumigkeit der Großstadt, die Raum bietet für eine nicht auszuschöpfende Fülle von Lebenswegen und Schicksalen. Mit der Großstadt schuf sich der Mensch einen ihm ähnlichen und deshalb ihm gemäßen Lebensraum, musste aber zugleich einsehen, dass diese Größe dazu neigt, sich zu verselbstständigen und sich der Kontrolle zu entziehen. Balzacs Vergleich zwischen Paris und einem Ozean hat diese Weite und Tiefe im Blick, impliziert aber auch den Eigenwillen der Elemente. Kann der Mensch bis zu einem gewissen Grade den von ihm selbst geschaffenen Lebensraum gestalten und bezwingen, endet seine Macht an den Naturgewalten, und so gilt auch für die eigene Natur, dass sie sich uns entzieht. Der Stadt jene Größe (im vielfachen Sinne des Wortes) einzuräumen, die sie im Sittenbild gewinnt, bedeutet auch, ihr ein eigenes Leben, eine autonome Dynamik zuzugestehen, die sich, dem ZauberlehrlingsEffekt ähnlich, gegen die eigene Macht wendet. Die Stadt gleicht an Größe dem Leben und der Natur und entfaltet gleich ihnen die Kraft, sich gegen uns zu
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richten. Insofern ist es verständlich, dass es in der Literatur besonderer Anstrengungen bedarf, um diese Macht zu bezähmen. Sie sind schon bei dem ‘rasenden’ Fußgänger Mercier nicht nur körperlicher Art; auch Dickens eilt, vor allem in den Londoner Skizzen, der Stadt gleichsam hinterher, um ihre signifikanten Momente festzuhalten (fast wünscht man ihm eine Kamera); und Balzac schließlich bietet alle Kräfte des uneigentlichen, raumgreifenden Sprechens auf, um zumindest im (Sprach-)Bild die Stadt zu erfassen. Der Totalitätstraum eines großstädtischen Sittenbildes kam, was seinen umfassenden Anspruch angeht, bald an sein Ende, das intendierte Entsprechungsverhältnis von Großstadt und conditio humana konnte nur für kurze Zeit dem Wandel der Geschichte widerstehen. Doch kann ein Traum auch nach der Nacht, in der man ihn erlebte, noch weiterwirken. Die Vorstellung von der Totalität der Großstadt zieht sich ostinat durch die Literaturgeschichte, immer begleitet von dem Wunsch, sie zu erreichen oder zumindest als Ziel vor Augen zu haben. Ihre Umsetzung in die literarische Realität folgt verschiedenen Wegen, auch solchen, die zunächst scheinbar weit vom Ideal entfernt sind. Von ihnen handelt, wiederum exemplarisch und ohne Anspruch auf Totalität, das folgende Kapitel.
Großstadtgemälde – der pittoreske Blick Gegenüber dem soeben behandelten Sittentableau, das den Anspruch erhob, den Leser in das großstädtische Geschehen nicht nur einzubeziehen, sondern ihn auch betroffen zu machen, scheinen sich die Großstadtgemälde in eine ästhetische Distanz zurückziehen zu wollen: Gemälde betrachtet man aus der Ferne, das Pittoreske genießt man aus der Distanz. Doch bevor sich der Leser bequem zurücklehnt und eine Genießerposition einnimmt, sei er gewarnt; denn was nun auf ihn zukommt, fordert in der Gegenrichtung ein Sich-Einlassen auch auf das scheinbar Banale und Kleinformatige, fordert seine Beobachtungsgabe und seinen Scharfsinn. Die von Baudelaire, Rilke und Zola entworfenen Gemälde bestehen aus verschiedenen Motiven und zeigen unterschiedliche Formate. Scheint somit Variabilität des Blickes angezeigt, muss der Leser darüber hinaus auch seine Fähigkeit schärfen, die Vorstellungskraft in seine Lektüre mit einzubeziehen. Bei den zumeist expliziten Sittenschilderungen bedurfte es kaum der Phantasie über jenes Maß hinaus, das immer erforderlich ist, wenn ein literarischer Text seinen Weg in unsere Vorstellung nimmt, wir ihn in innere Bilder übersetzen. Bei den nun zu betrachtenden Texten sieht sich der Leser hingegen einem Puzzle-Spiel gegenüber, in dem Teile fehlen; sie müssen durch eine nicht nur reproduzierende, sondern durch eine schöpferische Phantasie ergänzt werden. Baudelaire nannte die Imagination „die Königin der Fähigkeiten“, und so steht uns bei Baudelaire und Rilke der literarische Königsweg zur modernen Großstadt offen. Ob er auch ohne Hindernisse und Wegschranken zu Zola führt, muss sich erst noch erweisen.
1. „Wimmelnde Stadt, Stadt voller Träume“: Baudelaire Der Traum von einer Totalität der Großstadtdarstellung, wie er bei Mercier mit dem Anspruch artikuliert wurde, nicht Einzelbilder (‘Tableaux’), sondern das Tableau von Paris zu verfassen, vermittelt dem Beginn der Großstadtliteratur den entscheidenden Impuls, auch dann, wenn er nicht in greifbarer Konkretheit, sondern nur als Appell an die Vorstellungskraft wirksam werden kann. Ein solcher Traum gehörte zur Zeit Baudelaires der Vergangenheit an, hatte ausgedient oder, wie das Französische zutreffender formuliert, „fait son temps“ – das Ende der Zeit, die ihm gegeben war, erreicht. Auch sind die lyrische Gat-
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tung oder die Darstellung der Stadt im Prosagedicht, beide der Kurzform verschrieben, wenig dazu angetan, jenen Totalitätstraum weiter zu träumen oder ihn gar zu realisieren. Baudelaires Gedichtsammlung Les fleurs du mal, deutsch meist mit Die Blumen des Bösen wiedergegeben, obwohl ‘Die Blüten des Bösen’ (jene Blüten also, die das Böse treibt) oder sogar ‘Die Blüten des Übels’ zutreffender wäre – gleichviel, enthält einen Abschnitt „Pariser Bilder“, und seine Prosagedichte tragen den Titel Der Spleen von Paris. Der Spleen, englische Variante der Melancholie, ist, von den schon angeführten Gesichtspunkten der lyrischen Gattung einmal abgesehen, ebenfalls nicht dazu angetan, die Welt in ihrer Totalität zu betrachten: Im Blick des Melancholikers zerfällt sie in Teile. Die Thematik und Poetik der Großstadt bis in die Moderne vorzutreiben heißt auch, alle Hoffnung, den Gegenstand in seiner Gesamtheit zu erfassen, fahren zu lassen. Die Großstadt steht fortan im Zeichen des Partikularen: Allein das je Einzelne erschließt sich dem Blick, wird aber durch diese herausragende Sonderstellung in höchstem Maße bedeutsam: Die Stadt setzt Zeichen, die der Text entschlüsselt. Für den Gang durch die Großstadtliteratur kann dieses Hervortreten des Singulären nur bedeuten, öfter innehalten und noch genauer hinsehen zu müssen als zuvor; wie durch ein Vergrößerungsglas wird die Großstadt nunmehr betrachtet, und so wird sie auch vom Leser zu betrachten sein. Der Text-Raum, dem Stadt-Raum analog, offeriert eine Fülle von Bemerkenswertem und Interessantem, dem selbst der vom Tempo der Moderne gedrängte Betrachter seine Aufmerksamkeit nicht wird versagen können. Geschwindigkeit und Flüchtigkeit der Moderne führen dazu, dass das Aktuelle stets von neuem vom Neuen überholt wird, und es ist ein Gesetz der Moderne, in kürzester Zeit selbst unmodern zu werden. Baudelaire, der Begründer der modernen Lyrik, begibt sich nicht in diesen Sog, sondern setzt, der Großstadt seine Poetik wie ein Banner einpflanzend, Markierungen im Großstadtgedränge und akzentuiert die Besonderheit seiner Erfahrung, seines Schreibens gerade dort, wo die Großstadt die Individualität zu überfluten droht. Im Verschwimmen der Gegenstände und Personen, im Verschwinden der Dauer vor der permanenten Veränderung lässt er sich auf den Augenblick ein und treibt aus dem Einerlei und der Einförmigkeit das Besondere heraus. Eine Frage des kritischen Lesers ist zu erahnen: Wenn Baudelaire das Markante, Individuelle darstellt – wie lässt sich dann auf das andere, offenbar doch gar nicht Thematisierte, das Allgemeine und Einförmige, rückschließen? Der Kunstgriff Baudelaires, die Fingerspur seines Schreibens ist gerade darin bemerkbar, dass der Autor der „Tableaux parisiens“ und des Spleen de Paris jene typischen Merkmale der Großstadt nicht übersieht, vergisst oder verleugnet, sondern sie, gleichsam als Grundierung, seinen Einzelbildern unterlegt.
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Noch nicht in den „Pariser Bildern“, sondern erst im Spleen von Paris entwickelt Baudelaire explizit eine Konzeption, in der Thematik und Poetik der Großstadt kurzgeschlossen werden. In lockerem Plauderton stellt er gegenüber dem Freund und Dichterkollegen Arsène Houssaye heraus, dass die Großstadt, ein für die Lyrik und auch die poetische Prosa neues Thema, einer besonderen Art der Darstellung bedarf: Lieber Freund, hier schicke ich Ihnen ein kleines Werk, von dem sich, ohne ihm Unrecht zu tun, nicht sagen ließe, es habe weder Kopf noch Schwanz, da vielmehr alles daran, abwechselnd und wechselseitig, Kopf und Schwanz ist. Bedenken Sie bitte, welche wunderbaren Bequemlichkeiten diese Kombination uns allen bietet, Ihnen, mir und dem Leser. Jeder kann einhalten, wo er mag, ich in meiner Träumerei, Sie beim Druck, der Leser bei seiner Lektüre; denn ich lasse dessen widerspenstigen Willen nicht am unabsehbaren Faden einer überflüssigen Intrige zappeln.
Alles steht hier potenziell mit allem anderen in Beziehung, kann jeweils „Kopf“ oder „Schwanz“ sein, und die konkret zu aktualisierende Kombinatorik ist unabhängig vom Verlauf des Textes. Wenn ausdrücklich gesagt wird, jeder könne anhalten, wo er mag, ist die Relation hergestellt zu jener Art der Stadterfahrung, die sich im Modus des Flanierens realisiert: Der Flaneur bewegt sich ohne Ziel und ohne jedes System durch die Stadt, lässt sich gleichsam treiben, überantwortet sich dem, was der Zufall ihm zuträgt, und fängt es in einzelnen Bildern oder Szenen literarisch ein. Die Nähe zum Großstadt-Feuilleton, das uns später noch beschäftigen wird, kündigt sich hier bereits an. Nicht die große, allgemeine, die Stadt und das Leben in ihr umgreifende Konzeption, die bei Balzac dem Gegenstand seine Würde verlieh, wird von Baudelaire angestrebt, sondern das Sich-Einlassen auf das jeweils Zufällige und Besondere. Hier jedoch ist kurz innezuhalten, denn die bloße Beiordnung des Zufälligen und des Besonderen, die sich leichthin beim Schreiben einstellte, verkennt die Problematik ihrer Relation. Denn was die Großstadt dem Flaneur zufällig zutreibt, ist nicht schon per se mit Bedeutung versehen, sondern muss in seiner Valenz erst noch entdeckt oder, der Mühen des Schreibens bei Baudelaire eingedenk, erarbeitet werden. Bei Balzac bestand die Bedeutung von Paris gerade darin, dass die Stadt allgemeine Gesetzmäßigkeiten zur Anschauung brachte oder, um die triumphierende Formulierung des Autors aufzugreifen, eben das zur Evidenz führte, was zu beweisen war: quod erat demonstrandum. Anders Baudelaire. Er sucht die Bedeutung aus dem zumeist kontingenten Faktum, aus der konkreten Erfahrung zu gewinnen, sie aus taubem Gestein herauszutreiben wie Gold. Er ist der Immanenz verpflichtet und will sie doch immer wieder überhöhen, sucht zugleich das Typische und das jeweils Besondere. Dieses Problem selbst ist wiederum typisch und spezifisch für den literarischen Gegenstand Großstadt generell. Individueller Erfahrungsraum und Schauplatz allgemeiner Gesetzmäßigkeiten zugleich – wobei diese Gesetzmäßigkeiten auch
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solche des Schreibens, der literarischen Formen und des Diskurses sind –, steht die Großstadt selbst in jenem Spannungsraum, den Baudelaire in der lyrischen Gattung, gleich ob in Vers oder Prosa, ausschreitet. Die poetische Prosa nämlich, für die er im Spleen de Paris optiert, ist vom Ideal einer Prosa gekennzeichnet, die zwar interne Bezugsetzungen erlauben soll, die aber im Weiteren im Zeichen einer speziellen Freiheit der Sprache situiert ist: Wer von uns hätte nicht, in den Tagen seines Ehrgeizes, von dem Wunder einer poetischen Prosa geträumt, einer musikalischen Prosa ohne Rhythmus und ohne Reim, schmiegsam genug, doch auch uneben und rauh genug, um sich den lyrischen Regungen der Seele anzupassen, den Wellenbewegungen der Träumerei, den jähen Ängsten des Gewissens?
Als Modell für die Übertragung innerer Regungen nach außen erlaubt diese Prosa, arabeskenhaft und „schmiegsam“ den Windungen der Seele zu folgen. Nicht der Zwang des Verses und des Metrums, sondern allein die poetische Prosa erlaubt diesen Gleichklang, diesen harmonischen gemeinsamen Gang von Innenwelt und poetischer Entäußerung. Den „Regungen der Seele“, den „Wellenbewegungen der Träumerei“ und den „jähen Ängsten des Gewissens“ (eigentlich eher die jähen Sprünge und Erschütterungen, „soubresauts“) eignet eine Dynamik, die auch eine neue, freie Prosa fordert. Ist diese Seele nicht schon vom Rhythmus der Metropole geprägt? Ist sie die moderne Seele des Großstadtbewohners? „Vor allem der Aufenthalt in den riesigen Weltstädten, wo unzählige Beziehungen sich kreuzen, lässt dieses quälende Ideal [sc. das Ideal einer poetischen Prosa] entstehen.“ Es mag als eine besondere Pointe angesehen werden, dass Baudelaires Konzeption einer poetischen Sprache, die sich den Bewegungen der modernen Seele angleicht, aus dem Kontrast zu einem anderen Werk entsteht, in dem sich nach allgemeiner Anschauung die Geburt der poetischen Prosa ereignet: Aloysius Bertrands Gaspard de la Nuit. Wurde dort das pittoreske Leben der Vergangenheit geschildert, soll die neue Form der Prosa „auf die Schilderung des modernen Lebens“ ausgerichtet, sollen die einzelnen Teile des Werkes gegeneinander austauschbar sein; denn die „Schlange“, so Baudelaire launig gegenüber Arsène Houssaye, bleibt auch dann lebensfähig, wenn man einzelne Wirbel entfernt: ein Werk also, das frei ist sowohl in seiner Sprache als auch in seiner Komposition, ein offenes Werk, an dessen Gestalt(ung) der Leser mitwirkt. Wer bei Baudelaire den Glanz der Großstadt zu finden erwartet, wird enttäuscht. Denn die Orte, Personen, Zeitpunkte, die im Spleen de Paris vorkommen, sind von abseitiger, fast abwegiger Art: „Ein Uhr nachts“, „Die Abenddämmerung“ bezeichnen gewiss nicht die Zeitpunkte, zu denen die Großstadt besonders aktiv ist, sich besonders typisch darstellt. Und wenn der Schauplatz des Geschehens ein neues Café an den großen Boulevards ist – ein Ort somit, der das Flair von Paris geradezu in sich konzentrieren könnte –, dann erlangen
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allein die Augen der Armen, die sich einen Cafébesuch nicht leisten können, Aufmerksamkeit. Abseitige Figuren wie jene, die ihre Chimäre mit sich tragen (ein Einbruch des Grotesken, das auch Bertrand kannte, in die Darstellung der Großstadt) oder, alt geworden, sich dem Gepränge der Stadt als dunkler Kontrast einprägen, erlangen nicht nur die Aufmerksamkeit des Stadt-Dichters, sondern auch sein Mitgefühl, weil er sich in ihnen wiedererkennt. Dieser Gestus der Solidarität ist indes nicht nur ein Humanum, sondern vor allem der Versuch, sich die Großstadt auf dem Wege menschlicher Sympathie auch poetologisch zu erschließen. Dies mag wiederum abwegig, jedenfalls aber abstrakt klingen und soll im Weiteren erläutert und erhellt werden. Ein Prosatext mit dem Titel „Die Menge“ lässt spontan an eine weit ausgreifende, der Tendenz nach ausufernde Schilderung dessen denken, was sich dem Großstadtbewohner alltäglich darbietet: das Schauspiel zahlreicher Menschen auf den Plätzen und den breiten Boulevards von Paris. Doch für Baudelaire gilt: weit gefehlt. Über die Menge sprechend, spricht er über den Dichter, der sich an ihr berauscht und in ihr die Lebenskraft findet, die er zum Schreiben benötigt: Einer, der nachdenklich einsam umhergeht, schöpft eine seltsame Berauschung aus dieser Gemeinsamkeit mit allen. Wer sich leicht mit der Menge vermählt, kennt glühende Genüsse, deren der wie eine Truhe verschlossene Egoist und der molluskenhaft in sich verkapselte Träge auf ewig beraubt sind. Er übernimmt als die seinigen alle Berufe, alle Freuden und alles Elend, welche die Gelegenheit ihm bietet.
Die Einsamkeit – und man darf gleich hinzufügen: die Einsamkeit des Dichters – ist unabdingbare Voraussetzung dafür, dass aus dem Bad in der Menge jener Rauschzustand hervorgeht, der wiederum die Dichtung hervorbringt. In einer eigenartigen Verquickung von Alleinsein und Masse erscheint das eine wie die Bedingung für das andere. Die Menge bringt die Einsamkeit erst hervor, wie umgekehrt das Alleinsein durch die Menge bevölkert wird. Man sieht, dass der Kontrast nicht mehr als eine Erscheinungsform der Vielfalt in der Großstadt verstanden wird, sondern den Dichter als einen der beiden kontrastiven Pole mit einbezieht: Multitudo, solitudo: gleichwertige Ausdrücke und vertauschbar für den tätigen, den fruchtbaren Dichter. Wer seine Einsamkeit nicht zu bevölkern weiß, ist auch außerstande, in einer geschäftigen Menge allein zu sein.
Der Dichter begibt sich in die Menge, gibt sich ihr hin, denn sie trägt ihm immer wieder Unbekanntes und Ungeahntes zu. Wie bedeutsam dieser Vorgang für das Schreiben der Großstadt erscheint, lässt sich nicht zuletzt aus der sprachlichen Emphase ableiten, mit der Baudelaire (oder, wie bei Balzac fast identisch, das dichterische Ich) diesen Vorgang der Vermählung mit der Menge darstellt:
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Was die Menschen Liebe nennen, ist sehr unbedeutend, eingeschränkt und schwächlich, im Vergleich mit jener unsäglichen Orgie, jener heiligen Prostitution der Seele, die sich, dichtend, erbarmend, ganz dahingibt dem Ungeahnten, das sich zeigt, dem Unbekannten, das vorübergeht. (Hbg. A. C.-H.)
Auf das Stichwort vom Vorübergehen scheint eine Rückblende angezeigt, die den Spleen de Paris verlässt und sich den „Pariser Bildern“ aus den Blumen des Bösen zuwendet. Das Gedicht „Einer Vorübergehenden“ setzt eine Situation in Szene, die in der Großstadt wenn nicht alltäglich, so doch nicht selten entsteht: Man streift eine Unbekannte, die sogleich von der Menge fortgetragen wird, und entwickelt die Vorstellung, sie könnte die Partnerin sein, die man lange gesucht hatte. Fast fällt es schwer, in Kenntnis des Textes das Ereignis so zu rekonstruieren, dass es sich einer allgemeinen Erfahrung anpasst. Denn die Reaktion des lyrischen Ich, das „zusammengekrampft wie ein Extravaganter“, als Liebender wiedergeboren wird und sich völlig sicher ist, dass er sie geliebt hätte und dass sie es wusste, gewinnt dem Ereignis die Dimensionen des Transzendenten und einen Glauben ab, der unerschütterlich ist: Er wird sie in der Ewigkeit wiedersehen. Durch das Gedicht selbst erreicht das Geschehen Dauer, Konstanz und Beispielhaftigkeit. Was die Begegnung in ihrer Flüchtigkeit nicht erlaubt, wird ihr durch den Schreibprozess verliehen: Ewigkeit. Doch dabei steht fest, dass dieser Versuch der Deutung die eklatante Fremdartigkeit des Geschehens, die Überspanntheit, die ihm eignet, nicht zu erklären vermag, und der nicht minder merkwürdige Gang der Interpretation bringt etwas zur Evidenz, das die Eigenart (in welchem Sinne auch immer) wiederum befestigt: Das entscheidende Moment dieser Begegnung ist eine Farbe: Schwarz. Die Dame trägt Trauer („en grand deuil“), und erst diese Situation des Verlustes, den sie durch ihre Kleidung dokumentiert, bringt sie in die innere Nähe des Dichters, nachdem äußere Nähe nur momenthaft hatte aufleuchten können: in den sich kreuzenden Blicken („Ich trank in ihren Augen …“). Die deutliche Erotisierung, wiederum in ein emphatisches Vokabular gefasst, entspricht der erotischen Beziehung, die Baudelaire mit seiner Stadt Paris verbindet. Seine Liebe gilt nicht dem großen Panorama ‘Paris’, richtet sich nicht auf die Dynamik des Fortschritts im Zeichen der Moderne und auch nicht auf die Farbigkeit des Straßenbildes, auf die Eleganz der Menschen, das Brausen des Verkehrs. Paris generiert das Schreiben, weil es dem Dichter jene Figuren der Sympathie zutreibt, mit denen er eine nicht nur menschliche, sondern vor allem eine poetische Solidarität empfindet. Paris umfasst eine Fülle von Gestalten, in denen Baudelaire sich als Dichter wiedererkennt; so erlaubt es einerseits jene Einsamkeit, die es andererseits immer wieder produktiv unterläuft. Ob mit diesen Erläuterungen beim Leser eine Nähe zu jener Unbekannten in Trauerkleidung entstanden ist, bleibt indes zweifelhaft. Eine Bemerkung aus dem Prosagedicht „Die Menge“ mag helfen, jene befremdliche Harmonie der Seelen genauer zu erfassen:
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Der Dichter genießt jenes unvergleichliche Vorrecht, nach Belieben er selbst und ein anderer zu sein. Wie jene irrenden Seelen, die nach einem Körper auf der Suche sind, schlüpft er, wenn es ihn gelüstet, in eines jeden Rolle. Ihm allein steht alles offen; […].
Ihm steht alles offen: auch die Seele der anderen. Eben deshalb kann er sich sicher sein, dass die Unbekannte weiß, er hätte sie geliebt. Doch warum entsteht diese enge Verbindung gerade zu dieser Frau? Dass Schwarz auch die Farbe der Melancholie, der ‘schwarzen Galle’ ist, mag ein Grund sein, der entscheidende aber wohl kaum. Das Prosagedicht mit dem Titel „Die Witwen“ verspricht, Aufschluss zu geben: Vauvenargues sagt einmal, in den öffentlichen Gärten gebe es gewisse Alleen, die vornehmlich der enttäuschte Ehrgeiz, der unglückliche Erfinder, der gescheiterte Erfinder, der gescheiterte Ruhm, die gebrochenen Herzen aufsuchen, alle jene stürmischen und verschlossenen Seelen, in denen noch die letzten dunklen Seufzerlaute eines Gewitters nachzittern, und die sich vor dem frechen Blick der sorglosen Müßiggänger zurückziehen. In diesen schattigen Abgelegenheiten treffen sich die vom Leben Verkrüppelten.
Der Beginn des Zitats, der auch der Anfang des Textes ist, stellt die Verbindung zu jenen frühen Zeugnissen der Großstadtliteratur her, die von der Moralistik, für die hier der Name Vauvenargues steht, beeinflusst waren. Doch diese Beschreibung der Sitten ist von anderer Art, geprägt durch jene, denen im Leben etwas fehlt oder genommen wurde: die Gescheiterten, „vom Leben Verkrüppelten“, defizitäre Existenzen. Deren Rang für den Vorgang, mit dem Baudelaire die Großstadt poetisiert, wird vor dem Hintergrund dessen deutlich, was oben über die Vorübergehende schon anklang. Hier nämlich kann die Poesie substituieren, woran es dem Gegenstand mangelt: Zu diesen Orten vor allem zieht es den Dichter und den Philosophen, die sich gerne in Mutmaßungen ergehen. Dort finden sie eine sichere Weide. Denn wenn es eine Stätte gibt, die zu besuchen sie verschmähen, so ist es, wie ich schon andeutete, vor allem die Freude der Reichen. Dieser Wirbel im Leeren hat nichts Verlockendes für sie. Hingegen fühlen sie sich unwiderstehlich angezogen von allem, was schwach, zerrüttet, bekümmert, verwaist ist.
Nicht nur die menschliche Solidarität, sondern vor allem die Möglichkeit, über Menschen, denen offensichtlich etwas fehlt, Mutmaßungen anzustellen, machen jene abgeschiedenen Orte für den Dichter und den Philosophen anziehend. Es ist das Defizit oder – mit einem literaturtheoretischen Terminus – die ‘Leerstelle’, wodurch diese Mangelwesen das Interesse erregen. Die Fähigkeit, die den Dichter in die Lage versetzt, das Fehlende zu substituieren, trägt bei Baudelaire die Bezeichnung ‘Imagination’ und wurde im Zusammenhang mit den Überlegungen zu Constantin Guys, dem „Maler des modernen Lebens“, entwickelt. Wenn die schöne Unbekannte aus dem Gedicht „Einer Vorübergehenden“ nicht nur Trauer-, sondern speziell Witwenkleidung trägt, ist sie
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eine Verwandte jener anderen, majestätischen Erscheinung, die in dem Prosagedicht „Die Witwen“ erscheint: Es war eine stattliche, majestätische und ihrer ganzen Haltung nach so vornehme Frau, daß ich mich nicht entsinne, ihresgleichen in den Sammlungen aristokratischer Schönheiten vergangener Zeiten gesehen zu haben. Ein Duft stolzer Tugend entströmte ihrer ganzen Erscheinung. Traurig und abgehärmt, stimmte ihr Antlitz vollkommen mit ihrer strengen Trauerkleidung überein.
Nicht nur das Defizitäre, sondern auch das gegenüber der banalen Umgebung Kontrastive hebt diese Frauen aus ihrem Kontext heraus: Am Anfang der dichterischen Bewältigung der Großstadt steht die Einsamkeit, deren poetisches Pendant die Isolation des Gegenstandes aus seinem Kontext darstellt. Als beispielhaft für dieses Verfahren kann ein Gedicht gelten, das mit Recht zu den berühmtesten (aber auch zu den schwierigsten) gehört, die Baudelaire verfasste; gewidmet ist es dem im Exil befindlichen Victor Hugo: „Der Schwan“. Ein banaler Titel scheinbar, jedenfalls aber einer, der eher auf ein Landschafts- und Naturgedicht als auf eine lyrische Darstellung der Großstadt zu passen scheint. Auch der Beginn ist befremdlich: „Andromache, ich denke an Euch!“ Jenes Verfahren der Bezugsetzung des scheinbar Verschiedenen, das Baudelaire im Vorwort zu Der Spleen von Paris als charakteristisch für die „Schlange“ bezeichnete, der man Teile entnehmen und diese in eine neue Konstellation bringen könnte, charakterisiert auch das Gedicht „Der Schwan“. Während der Bauarbeiten zur Umgestaltung von Paris nach den Plänen des Barons Haussmann befindet sich das sprechende Ich auf der Place du Carrousel in der Nähe des Louvre, sieht aber nur im Geiste („en esprit“) die Baustelle mit ihrem heillosen Durcheinander; er erinnert sich, an dieser Stelle einen Schwan gesehen zu haben, den es im Staub nach Wasser verlangte und der einen Klagegesang anstimmte, dem der Dichter, dessen Emblem der im Sterben singende Schwan nach antiker Vorstellung ist, Worte unterlegt. Dieses leidende Tier, die im Exil lebende Andromache („Witwe Hektors und, leider!, Gattin des Helenus“), die magere und kranke Negerin, die ihre Heimat verließ, sind der Unterschiede zum Trotz allesamt Gestalten, die etwas verloren haben, das sie nie wieder finden werden: Figuren im Geiste, denen die Erinnerung, das Angedenken des Dichters gilt oder genauer: aus denen überhaupt erst die Gedankenarbeit hervorwächst, deren Ergebnis das Gedicht ist. Das sich wandelnde Paris („Paris verändert sich!“) bringt, was sich nicht verändern lässt, nur umso dramatischer zur Anschauung. Auf dem Weg, die poetische Arbeit zu veranschaulichen und zu verstehen, die Baudelaire als Dichter der Großstadt vollbringt, leistet das Gedicht „Der Schwan“ willkommene Hilfe. Denn es zeigt, dass unter bestimmten Bedingungen, für welche die Baustelle mit ihrem an ein antikes Ruinenfeld gemahnenden Durcheinander beispielhaft ist, sich die Wahrnehmung nur noch partiell,
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bruchstückhaft, immer wieder von Erinnerungen unterbrochen vollziehen kann. Wenn dazu noch die „Melancholie“, gereimt auf „Allegorie“, evoziert wird, gewinnt die poetische Arbeit an Transparenz. Die Stadt wird nicht in ihrer Gesamtheit wahrgenommen, sondern nur noch im Zustand des Zerbrochen-Seins, gleichsam als Ruine. Damit aber heben sich die Gegenstände, die der Erinnerung erhalten blieben, umso deutlicher und sinnhafter, mit Baudelaire: allegorisch, hervor. Nicht Objekte der Wahrnehmung, sondern Figuren der Erinnerung stellen sich ein, die alle einem Konzept unterliegen: dem unwiderruflichen, nur im Gedicht, dem ‘Schwanengesang’ des Dichters, noch zu parierenden Verlust. Baudelaire bringt in eine bedeutsame Konstellation, was sich in die Gesamtheit eines Erscheinungsbildes nicht mehr zusammenfügen will. Durch die Widmung an Victor Hugo, auch er mit Notre-Dame de Paris ein Dichter der Metropole und ein Dichter des Verlusts, weitet sich das Exil aus, gewinnt poetische Würde und ist auf jenen anderen Dichter von Paris übertragbar, der, aus eigenem Leid mit den Verlorenen der Großstadt solidarisch, in Paris ein Exilierter ist: Baudelaire selbst. Anders als bei Balzac ist Paris bei Baudelaire nicht an sich schon mit Bedeutung versehen – einer Bedeutung, aus der die Geschichte hervorwächst und die der Stadt nicht eigentlich zugeschrieben wird, sondern in ihr entdeckt, aus ihr herausgetrieben werden muss; vielmehr rufen bestimmte Figuren des Mangels den poetischen Impuls hervor, ihnen im Gedicht zuzuschreiben, was ihnen in der Wirklichkeit fehlt. So ist die Großstadtdichtung Baudelaires nicht bloße Substitution, auch nicht Ergänzung des Fehlenden (das, wie das Beispiel der Exilierten belegt, gar nicht substituiert werden kann), sondern ein Sinnangebot, das die defizitäre Erscheinungsweise der Großstadt poetisch nobilitiert, dem Ort eine Bedeutung gleichsam zum Geschenk macht. Wenn Baudelaire über die Sonne sagt: „Wenn sie, wie ein Dichter, in die Städte hinabsteigt, veredelt sie das Schicksal der schäbigsten Dinge“ („Quand, ainsi qu’un poète, il descend dans les villes, / Il ennoblit le sort des choses les plus viles“), bezeichnet er damit auch, wie der Vergleich der Sonne mit dem Dichter belegt, die Besonderheit des eigenen poetischen Verfahrens. Indem geadelt wird, was dem formlosen Gewimmel der modernen Großstadt entzogen und dichterisch dargestellt wird, gewinnt das Banale und Belanglose, wie es sich vielfach in Paris zeigt, Bedeutung und Dauer. Nicht selten ist es das Abschreckende, das den Dichter in der Stadt fasziniert. Besonders zwei Gedichte aus den „Pariser Bildern“, beide Victor Hugo gewidmet, setzen das ins Werk, was Hugo als das Spezifisch Moderne gekennzeichnet hatte, das Groteske, und dessen Verkörperung in Notre-Dame de Paris die Figur des Glöckners Quasimodo gewesen war. „Die sieben Greise“ beginnen mit einer Anrede an Paris, das als „Fourmillante cité, cité pleine de rêves“ (unser Titel) apostrophiert wird, „Où le spectre en plein jour raccroche le passant“
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(„Wo am hellen Tage das Gespenst den Passanten an sich zieht“) und das im Weiteren als „colosse puissant“ („mächtiger Koloß“) erscheint. Der Zufall trägt dem bei Regenwetter durch die Straßen streifenden Flaneur eine eigenartige Begegnung zu, die Erscheinung eines Greises, in dem sich alle Schrecknisse zu vereinigen scheinen. Er trägt gelbe Lumpen, hat einen durchbohrenden Blick und einen Bart wie Judas, der Verräter: Il n’était pas voûté, mais cassé, son échine Faisant avec sa jambe un parfait angle droit, Si bien que son bâton, parachevant sa mine, Lui donnait la tournure et le pas maladroit D’un quadrupède infirme ou d’un juif à trois pattes. Nicht krumm nur, nein zerknickt war er, so daß sein Rücken Die Beine fast genau im rechten Winkel schnitt. Und daß vollkommen sei das Bild in allen Stücken, Gab ihm sein Stock das Aussehn und den Humpelschritt Des kranken Vierfüßlers, des Juden auf drei Pfoten.
Unendlich unterwegs wie der Ewige Jude, von groteskem Erscheinungsbild, macht der alte Mann den Eindruck, als sei er dem Universum feindlich gesinnt und als zerdrücke er Tote unter seinem Schritt. Von jener Sympathie mit den Leidenden, die oben als Spezifikum Baudelaires genannt wurde, gibt es hier keine Spur; vielmehr weist die Beschreibung alle Zeichen des Entsetzens auf in einer Szenerie der allgemeinen Trostlosigkeit bei regnerischem Wetter – jenem Wetter, das als Auslöser für den Spleen, die ‘englische’ Krankheit gilt. Die Stimmung zeigt nicht die Würde des Melancholischen, dem sich, aus der Zerrissenheit heraus, neue Bedeutungen erschließen, sondern nur das Niederdrückende des Spleen, der besonderer Anstrengungen bedarf, um den Blick auf die Szenerie überhaupt zu eröffnen („roidissant mes nerfs comme un héro“ [meine Nerven anspannend wie ein Held]). Doch was sich dem Auge bietet, ist noch weit schlimmer als die Trostlosigkeit der vom Regen überschwemmten Pariser Straßen: Es bleibt nämlich (in der Wirklichkeit oder nur in der Vorstellung des vom Spleen erfassten Flaneurs?) nicht bei diesem einen alten Mann, der schon entsetzlich genug ist; vielmehr gesellen sich ihm weitere sechs Greise bei, die das singuläre Bild vervielfachen und die Erscheinung in das makabre Schauspiel eines Totentanzes verwandeln. Der Text ist von nun an durch die Signatur des Entsetzens gezeichnet: Nicht das Bild natürlichen Alterns bietet sich dar, sondern der Eindruck eines absurden Spektakels, das den Betrachter „verletzt“ („blessé“) – doch warum? Die Antwort gibt die vorletzte Zeile, in der gesagt wird, dass auch seine Seele tanzt, sich also dem grotesken Totentanz anschließt.
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Das Ziel des Zuges der sieben Greise bleibt ein Geheimnis, aber in gewisser Weise ein offenes; sie streben keinem anderen Ziel zu als dem Tod, und trotzdem erwecken sie den Anschein, ewig zu sein. Der Tod bringt keine Erlösung, er korrigiert nicht die verbogene, wie gebrochene Erscheinung der Greise, er verewigt nur, was sich schon im Diesseits auf das Schrecklichste kundtut: die Wanderung des Ewigen Juden. Diesem Gedicht folgt unmittelbar und wiederum Hugo gewidmet ein Text mit dem Titel „Die kleinen Greisinnen“. Bei aller scheinbaren Ähnlichkeit der Thematik sind die Unterschiede markant, denn nicht das Entsetzten bestimmt die Beziehung zu jenen alten Frauen, die täglich in Paris sichtbar sind, sondern ein Mitgefühl, das man bei der Darstellung der sieben Greise vermisste. Nicht der beängstigende Zug ohne Ziel der vervielfachten und entindividualisierten alten Männer, sondern die jeweils einzelne Erscheinung der alten Frauen führt dazu, dass sich in diesem Gedicht eine Sublimierung vollziehen kann, an der es dem anderen Gedicht fehlte; der Mangel des einen wird durch den anderen Text gleichsam kompensiert: Dans les plis sinueux des vieilles capitales Où tout, même l’horreur, tourne aux enchantements, Je guette, obéissant à mes humeurs fatales, Des êtres singuliers, décrépits et charmants. In alter Städte vielverschlungnen Straßenzügen, Wo alles, selbst das Graun, sich in Verzaubrung kehrt, Belausch ich immer mit abgründigem Vergnügen Seltsame Wesen, alt und abgezehrt.
Nachdem das Entsetzen („horreur“) schon zum Thema geworden war, ist „Die kleinen Greisinnen“ dem Zauber gewidmet, obgleich das Bild zunächst ganz ähnliche Züge zeigt wie bei den Greisen: Ces monstres disloqués furent jadis des femmes, Eponine ou Lais ! Monstres brisés, bossus Ou tordus, aimons-les ! Ce sont encore des âmes. Diese verrenkten Fratzen waren einmal Frauen, Lais und Eponina! Schief, zerbrochen, krumm, Und Seelen doch! Laßt uns mit Liebe auf sie schauen!
Die Tiefe, den Sinn hinter den Erscheinungen suchend, findet das lyrische Ich zunächst nur Ähnliches vor wie bei den Greisen; und doch: die Augen entziehen sich dem äußeren Verfall, sind leuchtend und göttlich geblieben und ähneln den Augen kleiner Mädchen. Nicht der absurde Totentanz ist Gegenstand der Darstellung, sondern ein Weg der Erneuerung:
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Et lorsque j’entrevois un fantôme débile Traversant de Paris le fourmillant tableau, Il me semble toujours que cet être fragile S’en va tout doucement vers un nouveau berceau ; Und wenn ich sehe, wie im dichten Menschschwarme Ein blasses, kraftloses Gespenst Paris durchquert, So kommt’s mir immer wieder vor, als ob die Arme Ganz still zurück zu einer neuen Wiege kehrt;
Hatte sich bei den sieben Greisen das sprechende Ich mit Schrecken abgewandt, so wendet es sich nun den Greisinnen zu: warum? Zunächst weist der Text einige Anzeichen auf, die im Kontext eine Transzendierung des Geschehens signalisieren: „Ces yeux sont des puits faits d’un million de larmes“ („Die Augen, sie sind Brunnen von Millionen Tränen“). Wo die Greise nur Bosheit erkennen ließen, zeigen die Frauen Spuren des Leidens, jenes Schmerzes, der auch in „Der Schwan“ durch die Tränen der Andromache einen Fluß zum Anschwellen brachte: „Toutes auraient pu faire un fleuve avec leurs pleurs“ („Alle hätten einen Fluss aus ihren Tränen machen können“). Diese Majestät des Leidens bringt das lyrische Ich auf die Spur der alten Frauen, und es entdeckt besonders eine, die nachdenklich einem Konzert lauscht: „Son front de marbre avait l’air fait pour le laurier !“ („Ihre Marmorstirn sah aus wie für den Lorbeer gemacht“) Der Lorbeer, Schmuck des Helden, aber auch des Dichters, schafft die Verbindung zum sprechenden Ich selbst, das sich nun nicht nur mit den Frauen solidarisiert, sondern seine Ähnlichkeit mit ihnen entdeckt: Ruines ! ma famille ! O cerveaux congénères ! Je vous fais chaque soir un solennel adieu ! Où serez-vous demain, Èves octogénères, Sur qui pèse la griffe effroyable de Dieu ? Ruinen! meine Kinder! gleichgeborne Scharen! Ich ruf euch zu: Schlaft wohl! sooft der Tag verfliegt. Wo mögt ihr morgen sein, Evas von achtzig Jahren, Auf denen Gottes fürchterliche Tatze liegt?
„Aus dem Flüchtigen das Ewige herauslösen“ („tirer l’éternel du transitoire“), ist Absicht und Programm des modernen Dichters Baudelaire. Für ihn ist das Moderne und Transitorische nur die eine Seite der Kunst, deren andere das Klassische, das Ewige ist. Was „solennel“, auch als Bezeichnung für Messen verwendet, in den zitierten Zeilen schon ankündigte, wird im letzten Wort manifest. Hier wird nicht nur dem Vergänglichen das Ewige entlockt, sondern auch dem Menschlichen das Göttliche. Die kleinen, gleichsam zusammengeschrumpften Greisinnen mit dem leuchtenden Blick werden zu Symbolen eines
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Glaubens – dass nämlich in den flüchtigen Erscheinungen der Großstadt etwas Dauerhaftes, Verbindliches zum Ausdruck kommt und dass in allem Zufall und den scheinbaren Belanglosigkeiten des modernen Lebens das Göttliche wohne. Modern zu sagen, diese Figuren einer poetischen Erfahrung (oder einer Erfindung des Dichters?) seien Zeichen im Sinne der Semiotik, müsste die Besonderheit dessen, was sich im Verlauf baudelaireschen Dichtens ereignet, in den Sog jener allgemeinen Zeichentheorien hineinziehen, in deren Nüchternheit die Spur des Singulären verloren ginge. Belassen wir es also bei dem Symbolbegriff, der auch ein Bild zum Inhalt hat, das Baudelaire gemäß ist: Im Symbol findet etwas wieder zusammen, das getrennt war – so wie sich scheinbar ausschließt, was Baudelaire mit einer Anstrengung, die an vielen Stellen seiner Darstellung von Paris zum Ausdruck kam, zur Synthese bringt.
2. „Sobald mein Auge Raum hat“: Rilke und Paris Für – sagen wir: – einen Dichter, der sich bei seiner Darstellung der Großstadt auf Baudelaire beziehen will oder muss, steht im Jahr 1910 das gesamte Spektrum der baudelaireschen Paris-Dichtung offen. Welche inneren und äußeren Dimensionen, in der Breite wie in der Tiefe, dieses Werk aufweist, davon hatten die Ausführungen des vorigen Kapitel einen Eindruck zu vermitteln versucht. Doch für Rilke, der von 1904 bis 1910 seine Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge verfasst, ist, zumindest explizit, nur ein Text Baudelaires bemerkbar, „Ein Aas“ („Une charogne“). Wie mager dieser Bezug auch anmuten mag, ist er doch von höchster Ausdruckskraft – wie im Übrigen das Gedicht selbst auch. Der Text stellt einen am Wegesrand verwesenden Tierkadaver dar, an den sich zu erinnern die eigene Seele zu Anfang aufgefordert wird: Diese Erinnerung umfasst alle Sinne, indem sie den Geruch der Fäulnis, die aus dem Bauch herauskrabbelnden Wurmlarven, die über ihm schwirrenden Fliegen wieder vergegenwärtigt – eine Ästhetik des Hässlichen, eher noch eine Ästhetik des Degoutanten. Die aus anderen Texten Baudelaires sich herleitende Vermutung, dass in einem poetischen ‘Aufschwung’ („Élévation“ ist der Titel eines anderen Gedichts von Baudelaire) das Widerwärtige sublimiert wird, bestätigt sich bald: Aus der Steigerung des Abstoßenden leitet Baudelaire das Erhabene ab, so dass in einer kühnen Bewegung des Textes aus dem verwesenden Aas die Vorstellung entsteht, dass auch der schöne Körper der Geliebten in diesen Zustand verfallen wird, dass er aber auch durch die Erinnerung und das Schreiben des Dichters sein „göttliches Wesen“ („essence divine“) bewahren wird, das dem verwesenden Tier, so müsste man folgern, schon im Text zuteil wurde. Das zugleich Singuläre und Exemplarische der Dichtung Baudelaires wird indes nicht, zumindest nicht, was die Verbindungen des Zufälligen zum Trans-
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zendenten anbelangt, von Rilke übernommen. Mag in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge das Unverständliche, das Abstoßende und Widerliche vielfach zur Darstellung kommen, so ist die bei Baudelaire allgegenwärtige Verbindung zur Jenseitigkeit eines tieferen Sinns durchtrennt. Die Stadt präsentiert ihre offenen Wunden, das sprechend-schreibende Ich die seinen. Was bei Baudelaire noch das ästhetisch legitimierte Groteske war, scheint bei Rilke nur noch das bloß Hässliche, ja sogar Abstoßende zu sein, das ohne jegliches Mitleid und ohne jede schonende Modellierung zum Thema wird. Jenseits aller Sympathie stellt Malte das krude Konkrete dar – in einer Weise, welche die Stadt und ihre Gegenstände, ihre Orte und Menschen einer poetischen Transformation unterzieht, über deren Stadien, Richtungen und Verfahrensweisen nun zu sprechen sein wird, die sich aber, so viel ist bereits jetzt klar, von der Poetik Baudelaires sehr unterscheiden werden. Schon beim ersten Eintrag der teilweise tagebuchartigen Aufzeichnungen, datiert vom 11. September, rue Toullier, fällt der Ausspruch: „Ich habe gesehen“ ohne weitere Erklärungen oder Präzisierungen – etwa: was er denn gesehen habe. „Ich lerne sehen“, steht weiter unten, und noch etwas später insistiert er: „Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen, ja ich fange an.“ Was damit ‘sichtbar’ wird, ist nicht eine Gegebenheit der Wahrnehmung, sondern eine poetische Verfahrensweise, nach deren Besonderheit noch zu fragen sein wird. Denn dieses Sehen steht in enger Verbindung mit dem Schreiben und ruft es unmittelbar hervor. Die Verflechtung zwischen Sehen und Schreiben wird klar, wenn Malte notiert: „Ich glaube, ich müsste anfangen, etwas zu arbeiten, jetzt, da ich sehen lerne.“ Die Doppeldeutigkeit von „da“ im temporalen oder kausalen Sinne ist übertragbar auf den Status von Paris in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, denn die Großstadt ist nicht nur der Ort des Schreibens, sondern auch dessen Voraussetzung: Das Thema amplifiziert sich, und über seine spezifischen Inhalte, von denen zu erwarten ist, dass sie auch die poetischen Verfahrensweisen bestimmen (und umgekehrt), wird jetzt zu sprechen sein. Was es genau bedeutet, sehen zu lernen, sagt Malte nicht explizit; er demonstriert es vielmehr an der Art seiner Paris-Beschreibungen. So viel ist zu vermuten: Sehen bedeutet nicht, optisch Gegebenes einfach zu fixieren, sondern Verborgenes aufzudecken; was damit an die Oberfläche kommt, ist nicht der Glanz der Großstadt, sondern das Leidende, Kranke, Abseitige, Wunde. Was jenes Sehen zum Inhalt hat und wie es vor sich geht, wird in folgender Darstellung beispielhaft deutlich: Die Straße war zu leer, ihre Leere langweilte sich und zog mir den Schritt unter den Füßen weg und klappte mit ihm herum, drüben und da, wie mit einem Holzschuh. Die Frau erschrak und hob sich aus sich ab, zu schnell, zu heftig, so daß das Gesicht in den zwei Händen blieb. Ich konnte es darin liegen sehen, seine hohle Form. Es kostete mich unbeschreibliche Anstrengung, bei diesen Händen zu bleiben und nicht zu schauen, was
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sich aus ihnen abgerissen hatte. Mir graute, ein Gesicht von innen zu sehen, aber ich fürchtete mich doch noch viel mehr vor dem bloßen wunden Kopf ohne Gesicht.
Er konnte das Gesicht in den Händen liegen sehen: doch sicher nicht de facto und im eigentlichen Sinne, sondern nur auf übertragene Weise. Das in den Händen verbliebene Gesicht wird zur Maske, der Kopf, von dem es abgerissen wurde, kann folglich nur aus einer Wunde bestehen, dort, wo das Gesicht fehlt. Fremdartige Vorstellung oder Ansicht, der eine sprachliche Wendung zugrunde liegen mag: Jemand verbirgt sein Gesicht in den Händen – das Gesicht bleibt nach einer erschrockenen Geste gleichsam kleben, löst sich vom Kopf ab und hinterlässt eine Wunde. Dieses ‘Sehen’ bildet nichts ab, bewahrt kein Bild, sondern hebt Verbindungen auf, verwundet die Welt. Was damit zum Vorschein kommt, ist das sonst Verborgene, die so gar nicht mehr intakte Innenwelt, die bloßgelegt und wie seziert wird; die Reaktion darauf ist Angst und Entsetzen. Doch das Abreißen des Gesichts vom Kopf ist kein unmittelbarer Vorgang, sondern die Folge eines Prozesses, der nicht minder ungewöhnlich ist als das, was er hervorruft. Die Straße zog Malte „den Schritt unter den Füßen weg und klappte mit ihm herum […] wie mit einem Holzschuh“. Hier wird die Straße zu einer handelnden Person, wird der Schritt zu einem Gegenstand. Es hatte sich eine Verdinglichung des Belebten vollzogen, der sich jene weitere Verdinglichung des Gesichts als blutige Maske anschließt. Das Erschrecken der Frau, durch den beschriebenen Vorgang der Objektivierung ausgelöst, bezieht diese selbst in den Prozess mit ein. Der dekouvrierende Blick, den Rilkes Malte auf Paris wirft, entdeckt das Dingliche im Lebendigen, das Lebendige in den Dingen. Die Geräusche der Stadt bei Nacht rufen die Assoziation an Lebendiges hervor: „Irgendwo klirrt eine Scheibe herunter, ich höre ihre großen Scherben lachen, die kleinen Splitter kichern.“ „Die Elektrische rennt ganz erregt heran.“ Das Ich, wie bei Baudelaire betroffen, aber anders als dort nicht mehr handlungsfähig, gerät in den Sog der Stadt und wird zu ihrem Opfer: „Daß ich es nicht lassen kann, bei offenem Fenster zu schlafen. Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen über mich hin.“ Dass damit Angst entsteht, ist unmittelbar einsichtig; Angst, Betroffenheit und Entsetzen ziehen sich, Spur des Menschlichen in der Verdinglichung, durch den ganzen Text. Und wenn ein Hund bellt, gegen Morgen sogar ein Hahn kräht, ist das „Wohltun ohne Grenzen“, denn im bedrängenden Geräuschpegel der Stadt sind dies Laute des Lebens. Könnte damit einerseits der Eindruck entstehen, Paris werde, vermenschlicht, nicht nur als Gegenüber, sondern als Partner dessen verstanden, der nun arbeiten und ein Dichter werden will, so ist doch andererseits festzuhalten, dass die Großstadt sich dieser Art der Aneignung entzieht. Statt Vertrautheit entsteht durch den Schreibprozess eine immer größere Distanz, in welcher die Versachlichung und die Entindividualisierung zunehmen. Wenn der Text damit
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einsetzt, dass Hospitäler in den Blick geraten, wird wiederum jeder Anflug von Sympathie oder Mitleid im Keim erstickt: „So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier. Ich bin ausgewesen. Ich habe gesehen. Hospitäler. Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und umsank. Die Leute versammelten sich um ihn, das ersparte mir den Rest.“ Durch die Vertauschung des an sich Verschiedenen – hier extrem in der Vertauschung von Leben und Tod – geht die Ordnung verloren und damit auch die Möglichkeit, auf das Geschehen (oder auch nur das Gesehene) deutend oder verändernd einzuwirken. Und selbst dort, wo sich, wie zum Beispiel in den Bemerkungen über das Hôtel-Dieu, noch Illusionen halten, werden sie bald zynisch zerstört: Ich fürchte mich. Gegen die Furcht muß man etwas tun, wenn man sie einmal hat. Es wäre sehr häßlich, hier krank zu werden, und fiele es jemandem ein, mich ins HôtelDieu zu schaffen, so würde ich dort gewiß sterben. Dieses Hôtel ist ein angenehmes Hôtel, ungeheuer besucht. […] Dieses ausgezeichnete Hôtel ist sehr alt, schon zu König Chlodwigs Zeiten starb man darin in einigen Betten. Jetzt wird in 559 Betten gestorben. Natürlich fabrikmäßig. Bei so enormer Produktion ist der einzelne Tod nicht so gut ausgeführt, aber darauf kommt es auch nicht an. Die Masse macht es. Wer giebt heute noch etwas für einen gut ausgearbeiteten Tod? Niemand. Sogar die Reichen, die es sich doch leisten könnten, ausführlich zu sterben, fangen an, nachlässig und gleichgültig zu werden; der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben, wird immer seltener. Eine Weile noch, und er wird ebenso selten sein wie ein eigenes Leben.
Das „angenehme“, „ungeheuer besuchte“, „ausgezeichnete Hôtel“ soll als ein Ort erscheinen, an den man sich, als Reisender, gern begibt; und doch wird diese Idylle als Illusion entlarvt und von den Schreckensvisionen eines Hospitals durchkreuzt, in dem sich das Sterben massenhaft reproduziert. Die Individualität des eigenen Lebens, des eigenen Sterbens wird unter den Bedingungen der modernen Großstadt ad absurdum geführt, wo die Tendenz zur Vermassung selbst das Persönlichste ereilt. Was bleibt, ist die Furcht, die freilich nichts nützt und wie ein Relikt aus alten Zeiten anmutet. Dass Malte in der Stadt nur Einzelnes wahrnimmt, nicht das Panorama von Paris, auch nicht dessen Glanz oder den gewaltigen Gang des Fortschritts, erscheint als Gegenreaktion, die sich poetisch gegen jene Tendenz der Vermassung richtet und wehrt, die Individuelles auslöscht. Wenn „fabrikmäßig“ gestorben, der Tod produziert wird, hat die moderne Industriegesellschaft mit ihrer technischen Fertigung auch Bereiche erfasst, die vormals noch von der Natur besetzt waren; die Verdinglichung erfährt eine Erklärung durch die technisierte Produktion. Nicht nur der Tod wird zur Massenware; auch das, was man als das Persönlichste an einem Menschen wahrzunehmen gewohnt ist, das Gesicht, erscheint unter Maltes Blick wie eine Massenfertigung, die man, der Kleidung ähnlich, wechselt, abträgt, ablegt:
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Daß es mir zum Beispiel niemals zum Bewusstsein gekommen ist, wieviel Gesichter es giebt. Es giebt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere. Da sind Leute, die tragen ein Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf der Reise getragen hat. Das sind sparsame, einfache Leute; sie wechseln es nicht, sie lassen es nicht einmal reinigen. […] Andere Leute setzen unheimlich schnell ihre Gesichter auf, eins nach dem andern, und tragen sie ab. Es scheint ihnen zuerst, sie hätten für immer, aber sie sind kaum vierzig; da ist schon das letzte. Das hat natürlich seine Tragik. Sie sind nicht gewohnt, Gesichter zu schonen, ihr letztes ist in acht Tagen durch, hat Löcher, ist an vielen Stellen dünn wie Papier, und da kommt dann nach und nach die Unterlage heraus, das Nichtgesicht, und sie gehen damit herum.
Die Menschenmassen in der Großstadt sind vollends unfassbar, wenn sie durch die Vielzahl von Gesichtern noch multipliziert werden. Wie der Tod, ist auch das Gesicht eine fabrikmäßige Produktion, ist austauschbar, kann abgenutzt und weggeworfen werden. Mit dem Begriff der Verdinglichung nur teilweise zu erfassen (eher müsste man bei diesen Gesichtern mit Heidegger von ‘Zeug’ sprechen), vollzieht sich durch die Vervielfältigung von Gesichtern ein Prozess, in dem die Rolle das Persönliche ersetzt. Die typisch moderne Arbeitsteilung, das Anwachsen der sozialen Aufgaben des Menschen, die schichtenspezifische Ausdifferenzierung der Gesellschaft führen dazu, dass der Einzelne in Einzelteile zerfällt – und mit ihm der Ort, an dem sich diese „Tragik“ abspielt. Die Angst, teilweise eine Form des Daseinsekels, gewinnt an Einsichtigkeit, ist sie doch nicht nur, als Folge der Konfrontation mit der modernen Welt, der Abscheu vor dem Kranken und Verletzten. Die fremdartige Wortschöpfung vom „Nichtgesicht“ – eigentlich ein Unwort – fasst einen Vorgang zusammen, der in dieser extremen Entindividualisierung, für die es keinen Begriff zu geben scheint, seinen Höhepunkt findet. Indem das Gesicht als Maske erscheint oder als Kleidungsstück, hat es seine Zugehörigkeit zum Menschen verloren; die abgelegten Gesichter werden für die Kinder aufgehoben, und sogar Hunde könnten sie auftragen, fügt Malte hinzu. Dieser Text, ebenso wie der vorher zitierte, braucht kein Resümee, sondern ist in der drastischen Art und Weise seiner Darstellung explizit genug. Eines aber ist festzuhalten: Grundlage dieser Wahrnehmung und auch der Wandlungen, die sich mit dem Gesehenen bei Rilke vollziehen, ist ein an sich schon extremer Vermassungsprozess. Er wird ins Absurde gesteigert, indem nicht nur die Menschen massenhaft auftreten, sondern auch und in noch höherem Maße die Gesichter, die schließlich ob ihrer Zahl und ihrer Austauschbarkeit zu ‘Nichtgesichtern’ werden. Der Ausdruck der Natur und der menschlichen Erfahrung, die sich beide in den Gesichtern spiegeln, wird durch Fabrikation ersetzt – das Gesicht als Ware, so wie auch der Mensch. Nur solche Menschen, deren Schicksal sich den Gesetzen der Produktion glücklich entzieht – sei es, weil sie jung gestorben sind, sei es, weil sie einer an-
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deren Zeit und einer anderen Spezies angehören –, setzen die Zwänge der Moderne momenthaft außer Kraft: eine junge Frau, die ertränkt wurde (oder sich selbst ertränkte), und einer, der keinen Namen trägt, durch sein Gesicht aber, das nun tatsächlich eine Maske ist, erkennen lässt, wer er sei: Der Mouleur, an dem ich jeden Tag vorüberkomme, hat zwei Masken neben seiner Tür ausgehängt. Das Gesicht der jungen Ertränkten, das man in der Morgue abnahm, weil es schön war, weil es lächelte, weil es so täuschend lächelte, als wüßte es. Und darunter sein wissendes Gesicht. Diesen harten Knoten aus fest zusammengezogenen Sinnen. Diese unerbittliche Selbstverdichtung fortwährend ausdampfen wollender Musik. Das Antlitz dessen, dem ein Gott das Gehör verschlossen hat, damit es keine Klänge gäbe, außer seinen. Damit er nicht beirrt würde durch das Trübe und Hinfällige der Geräusche. Er, in dem ihre Klarheit und Dauer war; damit nur die tonlosen Sinne ihm Welt eintrügen, lautlos eine gespannte, wartende Welt, unfertig, vor der Erschaffung des Klanges.
Es ist nicht schwer zu erraten, soll aber offensichtlich erraten werden, wem das „wissende Gesicht“ gehört: Beethoven. In den beiden Gesichtern, das eine eine Toten-, das andere eine Lebendmaske, kommt ein höheres Erkennen zum Ausdruck – nicht nur Empfindung und Erfahrung, sondern Einsicht: Die junge Frau erweckt den Eindruck zu wissen, bei Beethoven ist dies Gewissheit. Die Gesichter der Toten sind ihnen nicht mehr zu nehmen, jeder Austausch verbietet sich, denn sie sprechen über ihr Leben – andeutend nur im Fall der Frau, deutlich artikuliert bei Beethoven. Hier kommen die Klänge nicht von außen (so wie in jenem oben zitierten Beispiel des gestörten Nachtschlafs), sondern es gibt keine Klänge außer jenen, die in ihm und von ihm erschaffen werden. Beide, scheinbar so weit voneinander entfernt, haben sich von der Welt abgegrenzt – die junge Frau durch ihren Tod, der ihr Schönheit gab, Beethoven durch seine Kunst, die für Rilke ohne den musikalisch vermeintlich entscheidenden Sinn, den Gehörsinn, entstand und deshalb als eine autonome Schöpfung erscheint. Die moderne Großstadt trägt ihrem Betrachter auch solches zu, kontrastiv zu ihrem sonstigen Erscheinungsbild, sinngebend aber wohl – doch in welchem Sinne? – für den Text, der die Erfahrung der Großstadt bündelt. Kommt der Kunst, kommt jenem Schreiben, das aus dem Sehen erwuchs, noch die Funktion zu, Sinn zu vermitteln, kann sie, die unter den Bedingungen der Moderne entstand, noch Eigenart und Eigenständigkeit beanspruchen? Oder anders gefragt: Wäre Beethoven ein Vorbild für Malte, für Rilke? Wie bei Baudelaire sind es auch in Rilkes Malte die Armen, Elenden, Alten, denen besondere Aufmerksamkeit zuteil wird, doch fehlt bei Rilke der Gestus der Solidarität ebenso wie das Bemühen, hinter der scheinbaren Häßlichkeit noch Schönheit zu erkennen. Im Gegenteil werden auch sie ihrer Individualität entkleidet und Bereichen des Widerwärtigen zugeordnet, die jede Zuwendung auszuschließen scheinen. Die Armen und Alten erscheinen als „Fortgeworfene“:
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Es sind Abfälle, Schalen von Menschen, die das Schicksal ausgespieen hat. Feucht vom Speichel des Schicksals kleben sie an einer Mauer, an einer Laterne, an einer Plakatsäule, oder sie rinnen langsam die Gasse herunter mit einer dunklen, schmutzigen Spur hinter sich her. Was in aller Welt wollte diese Alte von mir, die, mit einer Nachttischschublade, in der einige Knöpfe und Nadeln herumrollten, aus irgendeinem Loch herausgekrochen war? Weshalb ging sie immer neben mir und beobachtete mich? Als ob sie versuchte, mich zu erkennen mit ihren Triefaugen, die aussahen, als hätte ihr ein Kranker grünen Schleim in die blutigen Lider gespuckt.
Auch in dieser Schilderung ist das Bestreben bemerkbar, Abstraktes (das Schicksal) mit Konkretem in Beziehung zu setzen, damit an den Armen und Alten das Wirken der Großstadt zur Anschauung kommt: Menschen als Abfälle zu betrachten, mit dem Speichel des Schicksals an Laternen oder Plakatsäulen angeklebt, bedeutet nicht weniger als den Versuch, das Allgemeine und gleichsam Abgehobene des Schicksals auf den Boden der modernen Großstadt herabzuziehen. Damit aber werden die Ausgestoßenen, denen bei Baudelaire noch die Sympathie des Dichters galt, zu einer Bedrohung, die prinzipiell jeden erfassen kann, der unter diesen Bedingungen lebt – und eben auch einen Dichter. Die Augen, bei Baudelaire noch Garanten des Lebens in dessen Verfall, sind wie mit grünem Schleim vernebelt, und ihr Blick wird gefährlich dadurch, dass er eine Verwandtschaft zwischen dem Dichter und dieser alten Frau erkennen könnte: wieder entsteht Angst. Und doch wäre zu bedenken, ob nicht diese alten, aus der Gesellschaft ausgestoßenen Menschen eben jenes Nicht-Funktionieren signalisieren können, das als positives, künstlerisch produktives Gegengewicht gegen die funktionalisierte, entindividualisierende Welt gelten könnte. Dieser Gedanke ist Baudelaire nahe, nicht aber Rilke; er wäre eine Sublimierung des Hässlichen und Abstoßenden, die Baudelaire vollzog, Rilke aber ablehnt. Vollzieht dieser die ästhetische Vernichtung der Großstadt, so wie umgekehrt Baudelaire ihre künstlerische Rettung betrieb? Das Scheußliche, während dieser Darstellung schon mehrfach Gegenstand der Reflexion, kennt bei Rilke kaum Grenzen und erreicht wohl in dem folgenden Text seinen Paroxysmus: Ich weiß nicht, ob ich schon gesagt habe, daß ich diese Mauer meine. Aber es war sozusagen nicht die erste Mauer der vorhandenen Häuser (was man doch hätte annehmen müssen), sondern die letzte der früheren. Man sah ihre Innenseite. Man sah in den verschiedenen Stockwerken Zimmerwände, an denen noch die Tapeten klebten, da und dort den Ansatz des Fußbodens oder der Decke. Neben den Zimmerwänden blieb die ganze Mauer entlang noch ein schmutzigweißer Raum, und durch diesen kroch in unsäglich widerlichen, wurmweichen, gleichsam verdauenden Bewegungen die offene, rostfleckige Rinne der Abortröhre. Von den Wegen, die das Leuchtgas gegangen war, waren graue, staubige Spuren am Rande der Decken geblieben, und sie bogen da und dort, ganz unerwartet, rund um und kamen in die farbige Wand hineingelaufen und in ein Loch hinein, das schwarz und rücksichtslos ausgerissen war. Am unvergeßlichsten
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aber waren die Wände selbst. Das zähe Leben dieser Zimmer hatte sich nicht zertreten lassen. Es war noch da, es hielt sich an den Nägeln, die geblieben waren, es stand auf dem handbreiten Rest der Fußböden, es war unter den Ansätzen der Ecken, wo es noch ein klein wenig Innenraum gab, zusammengekrochen. Man konnte sehen, daß es in der Farbe war, die es langsam, Jahr um Jahr, verwandelt hatte: Blau in schimmliches Grün, Grün in Grau und Gelb in ein altes, abgestandenes Weiß, das fault.
Das Sehen als Wahrnehmung des Konkreten scheint hier auf seinen Höhepunkt getrieben, läuft aber auch auf einen Punkt zu, an dem Wahrgenommenes und Interpretiertes nicht mehr klar zu unterscheiden sind. Es ist nicht so, als habe Malte lange vor dieser Hauswand gestanden; vielmehr hat er sie bald ‘erkannt’ und konnte sie deshalb so ausführlich beschreiben: Ein inneres Bild, durchsetzt mit Deutungen, die alle darauf hinauslaufen, das Widerwärtige zu forcieren, hat die äußere Wahrnehmung ersetzt. Das Haus (oder was von ihm blieb) ist nun „zu Hause“ in ihm. Erst dort entfaltet es, was Abstoßendes blieb; denn nicht das Leben der Menschen in seiner Fülle hinterließ Spuren an der Mauer, sondern nur, was es Widerliches, Ekelhaftes produzierte: die Abortröhre, der Achselschweiß, „de[n] Fuselgeruch gärender Füße“, Uringeruch und den Gestank von altem Fett. Sind die Farben – schimmeliges Grün, Grau, fades Weiß – noch wahrnehmbar, so dürften sich die Gerüche längst verzogen haben: ihre Präsenz ist eine imaginäre. Die Vorstellungskraft oder auch die Erinnerung haben poetisch substituiert, was faktisch verloren ist. Die Mauer, die, letzter Rest eines abgebrochenen Hauses, nun zu Hause ist in ihm, hat Dimensionen angenommen, die über ihre konkreten Abmessungen weit hinausgehen. Ähnlich wie in Baudelaires Gedicht „Ein Aas“, aber ohne dessen Ausgreifen ins Transzendente, wird Abstoßendes poesiefähig. In den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge entdeckt und verwirklicht Rilke eine Poetik des Widerwärtigen, die in der Wirklichkeitstreue des Naturalismus ihren Ursprung hat, dort aber nicht in dieser Konsequenz und Schärfe als ein Charakteristikum der Großstadt erschienen war. Die vielfache Thematisierung des Dichtens, der Dichtung und des Dichters erlangt vor diesem Hintergrund eine Bedeutung, die über die Lebenssituation Maltes (und auch Rilkes) in Paris hinausreicht. Dass der Roman gar nicht in Paris entstand, sondern zum Teil in Rom, vor allem aber in Leipzig, mag als unvorhergesehene Pointe erscheinen, entbehrt aber nicht eines tieferen Sinns. Was der Text als unmittelbare Großstadterfahrung Maltes auszugeben sucht, ist längst poetisch überhöht und wurde zu einem Bild – weniger von Paris als vielmehr von jenen poetischen Verwandlungen, die Paris aus diesem Text, diesen Text aus Paris hervorgehen ließen. Das neue Sehen, das Malte in Paris erlernt, ist nicht nur eine sinnliche, auf den Gesichtssinn bezogene Fähigkeit, sondern vor allem das Vermögen, poetische Bilder zu entwerfen – in einem Roman ohne Handlung, der wie eine Collage aus Prosagedichten erscheint.
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Irgendwo habe ich einen Mann gesehen, der einen Gemüsewagen vor sich herschob. Er schrie: Chou-fleur, Chou-fleur, das fleur mit eigentümlich trübem eu. Neben ihm ging eine eckige, häßliche Frau, die ihn von Zeit zu Zeit anstieß. Und wenn sie ihn anstieß, so schrie er. Manchmal schrie er auch von selbst, aber dann war es umsonst gewesen, und er mußte gleich darauf wieder schreien, weil man vor einem Hause war, welches kaufte. Habe ich schon gesagt, daß er blind war? Nein? Also er war blind. Er war blind und schrie. Ich fälsche, wenn ich das sage, ich unterschlage den Wagen, den er schob, ich tue, als hätte ich nicht bemerkt, daß er Blumenkohl ausrief. Aber ist das wesentlich? Und wenn es auch wesentlich wäre, kommt es nicht darauf an, was die ganze Sache für mich gewesen ist? Ich habe einen alten Mann gesehen, der blind war und schrie. Das habe ich gesehen. Gesehen.
Hat er es wirklich nur ‘gesehen’? Ist nicht dieses Sehen zugleich ein ‘Wissen’, ein Erkennen? Zentral im Text ist nicht das, was sichtbar, sondern das, was hörbar ist – ein Schreien, das wie auf Knopfdruck ertönt. Kein Wort davon, dass die Szene einen Straßenverkäufer darstellt, der seine Ware ausruft; vielmehr hat sich das Schreien verselbstständigt, und die Erklärung dafür, die Blindheit des Mannes, wird nachgeschoben, die Szenerie dabei nach und nach entkonkretisiert, denn wichtig ist nur, dass der Mann blind war und schrie. Der Text schildert Maltes eigene Wahrnehmung, das was ihr bedeutend ist, und unterschlägt anderes, das im Nachtrag benannt, aber damit zugleich für unwesentlich erklärt wird. Im Zentrum des Textes steht das Wort ‘sagen’, zugleich Zentrum der Aussage und dem ‘Sehen’ am Ende hinzuzufügen. Denn durch diese Engführung werden sowohl Sehen als auch Sagen als künstlerische Phänomene ausgewiesen. Die Menschen in Paris sprechen nicht in Rilkes Text, sondern äußern sich allenfalls durch Zeichen, jedenfalls aber nicht durch Sprache. Sie ist allein Eigentum Maltes, das er gegen alle anderen verteidigt, denn seine Sprache ist, wie einige Passagen, zumal solche, die den Charakter von Prosagedichten angenommen haben, zum Bewusstsein bringen, gegenüber der Sprache des Alltags von ganz anderer Art. Sie ist, wie schon die Eingangsbemerkungen dieses Kapitels zu zeigen versuchten, ein Instrument des Erkennens, das den Anschein als solchen decouvriert und dabei die Verletzungen der modernen Welt bloßlegt. Die Masken und die fabrikmäßig vervielfältigten Gesichter, das entindividualisierte Sterben unter den Bedingungen der Vermassung werden dadurch momentweise durchkreuzt, dass die Großstadt auch solchen Menschen Raum bietet, die sich – alt, krank, blind, abnorm – dem allgemeinen Konformismus entziehen. Eben dies versucht auch Malte. Doch seine Weigerung, sich in (oder auf) die Großstadt mit ihren Gesetzen einzulassen, findet im Elend kein Echo; vielmehr ist sein Rückzugsraum (emphatisch: sein Arcanum) als Bereich des Sehens und Sagens ausgegrenzt. Zwar sieht er Phänomene der Großstadt, zwar spricht er über Szenen, die er wahrnahm, doch diese Instrumente des Erkennens sind gegenüber der Großstadt von ganz anderer Art. Der
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Rückzug vor der Moderne, gerade indem die von Baudelaire entdeckte poetische Sprache von Paris verändert auch in diesen Text Eingang findet, ist wohl der wahre Grund für die Physiognomie des Degoutanten, die Paris bei Rilke anhaftet; vielleicht ein Gesicht, das man abnehmen, gegen ein anderes vertauschen kann? Wo die Poesie von Paris das Degoutante literaturfähig macht, setzt sie auch – nur gelegentlich zwar, aber eben dadurch umso markanter – die Schönheit ins Werk. Das Sehen bleibt das Paradigma für Malte, denn es mündet für Malte/Rilke ins Schreiben ein, selbst wenn es das erfasst. Das Interesse, zunächst meist auf das Einzelne gerichtet, gewinnt es Weite, „sobald das Auge Raum hat“. Ein solches Gemälde setzt nicht die prägnanten Einzelbilder außer Kraft, was ein tödlicher Verlust für den Text wäre; vielmehr ist, nicht nur in jenem Gemälde, nichts „gering und überflüssig“, sondern alles sinnbildend.
3. „… außerhalb aller Größenordnungen“: Paris bei Zola Außerhalb aller Größenordnungen wächst die Parisdarstellung bei Zola in Dimensionen hinein, die nachzuzeichnen kaum in einer Monographie, geschweige denn in einem Kapitel von wenigen Seiten gelingen kann. Sind bei Zola schon die gigantischen Großstadtgemälde angestrengt von dem Bedürfnis, der sich ausdehnenden Metropole einen ihr angemessenen und damit überdimensionierten Rahmen zu geben, müsste das Bestreben, die Größe reproduzierend wiederzugeben, in Überanstrengung enden – sofern sie überhaupt zu einem guten Ende gelangen kann. Ein pragmatisches Mittel, Fülle zu bewältigen, ist die Auswahl, doch lässt sie wie alle bloß pragmatischen Entscheidungen ein Unbehagen zurück. Es wird im Folgenden um Paradies der Damen (Au bonheur des dames, 1883), den Bauch von Paris (Le ventre de Paris, 1873) und Ein Blatt Liebe (Une page d’amour, 1878) gehen – Ausschnitte nur aus dem Gemälde von Paris. Das große, wiederum überdimensionierte Vorbild Zolas ist das Paris Balzacs, das als Herausforderung im Hintergrund wirkt und Zola zu einer Überbietung einlädt. Doch nehmen wir nichts vorweg. Die Thematik von Paris als Ort des Abbruchs, des melancholisch eingefärbten Verlusts, auch der poetischen Brüche und Zäsuren, wie sie bei Baudelaire und Rilke in Erscheinung trat, weist Zola eine Zwischenstellung, eine Vermittlerrolle zu. Übernimmt dieser einerseits den baudelaireschen Gedanken, über den im „Schwan“ ganz verschiedene Figuren sinnieren: „Das alte Paris ist nicht mehr“, so gibt er ihn ohne allegorische Verbrämung an Rilke weiter, dessen Beobachtungen an einem Abbruchhaus ihr Vor-Bild in einer Passage aus Die Beute haben. Das große Thema der Umgestaltung von Paris durch den Baron Haussmann wird, dichterisch gebrochen, mit dem Gedanken an menschliche
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Schicksale verbunden, die sich den Mauern einschreiben. An nunmehr abgerissenen, aber nicht ganz zerstörten Häusern, „wo vielleicht eine ganze Existenz stattgehabt hatte“, werden Lebensgeschichten lesbar. Wurden die Häuser von der Spitzhacke niedergerissen, „abgetötet“, wie Zola schreibt, ist doch einiges an Mauerresten von der Zerstörung verschont geblieben: Die „geöffneten Bäuche“ der Häuser zeigen „ihre fahlen Eingeweide“. Was weniger den Augen der Romanfiguren, darunter der Spekulant und Geschäftemacher Aristide Saccard, als vielmehr dem Blick des Lesers sich darbietet, ist das melancholieträchtige Szenario einer nicht vollends durchgeführten Zerstörung, die in Resten des Ehemaligen die Erinnerung bewahrt. Eine entlegen scheinende Metaphorik, die „schwarzen Bänder der Schornsteine“, evoziert Trauer und Tod, eingeholt in eine menschliche Klage um verlorene Schicksale, welche die rilkesche Ästhetik des Widerwärtigen noch kaum erahnen lässt. Während der Fortschritt seinen Preis fordert, stellen sich ihm Mitleid und melancholisches Erinnern in den Weg, vermögen ihn aber nicht aufzuhalten. Sind Baudelaire und Rilke Skeptiker des Fortschritts, so gehört Zola zu seinen Apologeten. Dabei ist er nicht blind für die Schattenseiten der modernen Welt, auch nicht ohne Mitgefühl mit jenen, die dem Fortschritt weichen müssen. Doch die Neuerungen der Moderne setzen bei Zola weitaus subtilere Mittel poetischer Gestaltung frei, als das Alte es je vermocht hätte, und die Herausforderung durch die ganz neue Thematik ist vielfach spürbar. Im Paradies der Damen kommt eine junge Verkäuferin aus der Provinz, die ihre Eltern verlor und nun für ihre beiden jüngeren Brüder sorgen muss, zu ihrem Onkel nach Paris und hofft, in dessen Textilgeschäft eine Stelle und damit ihr Auskommen zu finden. Doch die Geschäfte gehen schlecht, seitdem sich gleich gegenüber ein großes Textilkaufhaus, titelgebend für den Roman, angesiedelt hat, das langsam alle Händler der Umgebung in den Ruin treibt; diesen Vorgang beschreibt der Roman. Der absteigenden, ‘dekadenten’ Handlung entspricht auf der anderen, der positiven Seite der berufliche Aufstieg Denises im „Paradies der Damen“, wo sie nicht nur eine Anstellung findet, sondern auch das Herz des Besitzers Mouret erobert. Der Roman endet in dem Moment, da sie ihre vielfältigen rationalen Widerstände gegen Mouret überwindet und sich ihre Liebe zu ihm eingesteht. Dem Happy End steht nun nichts mehr im Wege. Dieser Inhaltsaufriss zeigt bereits, dass auf der Ebene der Handlung von besonderer Subtilität nicht die Rede sein kann; im Gegenteil trägt sie nicht wenige Züge des Banalen und Trivialen, so als wollte sie einer anderen Ebene des Textes allen gebotenen Raum geben: der ausgreifenden Darstellung der neuen Zeit im Gegensatz zur alten, den oftmals geradezu jubilierenden Beschreibungen des immer glanzvoller und größer sich ausdehnenden Kaufhauses vor dem düsteren Hintergrund in den Konkurs getriebener kleinerer Händler, die dem Ansturm des Neuen weichen müssen. Die schon bei Mercier deutliche Kon-
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trastästhetik wird von Zola durch das Kräftemessen des Handels im alten und im neuen Stil noch verschärft. Obwohl Denise aus familiären Gründen auf Seiten der kleinen Händler stehen müsste, ist sie, die in allen ihren Handlungen und Entscheidungen als eine naive Figur erscheint, vom Glanz des Neuen begeistert; sie nimmt in diesem Schwarz-Weiß-Gemälde die Zuweisungen vor: Ein feuchter Hauch, der Atem dieses alten Stadtviertels, drang von der Straße herein; es war, als rinne das Wassergeriesel von den Schirmen bis zu den Ladentischen, als käme das Pflaster mit seinem Schmutz und seinen Pfützen herein, überzöge das alte, von Salpeter weiße Erdgeschoß vollends mit Schimmel. Es war eine Vision des alten, feuchten Paris, bei der sie ein Zittern befiel, zugleich mit einem schmerzlichen Staunen darüber, daß die große Stadt so eisig und so häßlich war. Jenseits des Fahrdamms aber zündete das „Paradies der Damen“ die langen Reihen seiner Gaslampen an. Und sie ging wieder näher heran, erneut angezogen und gleichsam erwärmt von dieser Stätte glühenden Lichts.
Der Außenperspektive, die für Denise zu Anfang die einzig mögliche ist, wird durch ihre Anstellung im „Paradies der Damen“ bald eine Innenperspektive hinzugefügt. Denise ist damit auch faktisch dort, wo sie ihrer Einstellung nach schon von Beginn an war. Selbst wenn sie im Traum von der Tragik des Sterbens der alten Welt noch eingeholt wird, schließt sie sich Darwins These vom Überleben des Stärksten an, um die „ergreifenden Dramen des Untergangs“ als notwendiges historisches Opfer einzuordnen, „und es war ihr bewußt, daß alles gut war, daß dieser Dunghaufen von Elend nötig war für das Wohlergehen des künftigen Paris“. Und weiter sinniert sie: „Ja, das war der Blutzoll, jede Revolution forderte Märtyrer, nur über Leichen schritt man vorwärts.“ Vor dem düsteren Hintergrund einer sozial gnadenlosen Ideologie des Frühkapitalismus, gepaart mit der Glorifizierung blutiger Revolutionen, vollzieht sich der allmähliche, aber unaufhaltsame Aufstieg des Kaufhauses und der jungen Verkäuferin, die am Ende ihren Chef heiratet. Zwar ist der Glanz des „Paradieses der Damen“ immer wieder dunkel grundiert durch die Schicksale von Ruin und Tod, die im Sinne der Spannung nicht verschwiegen werden, doch strahlt der Glorienschein des Kaufhauses damit nur umso heller. Die hyperbolische Formulierung lässt Zweifel anklingen: Sind die Flächen von Schwarz und Weiß tatsächlich so deutlich umrissen und verteilt, ist die Unterscheidung des Positiven und Negativen, des Neuen und des Alten wirklich mit dieser Eindeutigkeit zu treffen, oder sitzt der Interpret, der sich dem Jubel anschließt, nicht vielleicht doch der Perspektive der naiven, wenngleich moralisch integren jungen Heldin auf? Zolas Roman erfordert einen Wechsel der Blickrichtung. Wen könnte diese banale Liebesgeschichte ernsthaft interessieren, wer wollte sich dem Hohelied auf den Fortschritt anschließen, wer die Opfer klaglos für notwendig erklären? Um noch einen Schritt weiter zu gehen: Welchen unserer Leser könnte dieser Text überhaupt zu einer Lektüre anregen?
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Nicht die ‘Story’ ist hier von Interesse; es sind die Bilder, die sie, ihre Banalität so weit übersteigend, dass sie poetisch überhöht wird, aus sich heraustreibt. Die erzählte Geschichte ist bei Zola nicht die raison d’être der Deskriptionen, die somit nicht die Handlung illustrieren (das wäre angesichts der teilweise simplen Geschichte der Mühe nicht wert); vielmehr bringen umgekehrt die Beschreibungen die Geschichte überhaupt erst hervor: Was durch das „Paradies der Damen“ an Glanz entsteht, zieht alles Übrige gleichsam in sich hinein, verschlingt es nach dem Motto: quaerens quem devoret. Den an die Damenwelt sich richtenden Verführungen der Warenwelt erliegt schließlich auch der Text, eingesponnen in seinen Gegenstand, dem er immer neue Bedeutungen abgewinnt. Hat Denise zunächst den Eindruck, das Kaufhaus gleiche einer mit Hochdruck arbeitenden Maschine, so vollzieht sich bald eine Bewegung, die den Gegenstand, das Kaufhaus, beseelt und belebt. Doch die Maschine „verheizt“ die Kunden, die „angesichts der Waren jegliche Besonnenheit verloren und dann der Kasse zum Fraß vorgeworfen wurden“. Die moderne Technik verschlingt die Menschen – so wie beim Bau des Kaufhauses schon die Frau des Besitzers ums Leben gekommen war. Mouret baute diesen Tempel des Konsums, um sich die Frau zu unterwerfen; deshalb sinnt er auch intensiv darüber nach, wie er sie einfangen und dem Warenrausch anheim geben kann: durch die luxuriöse Ausstattung der Geschäftsräume (mit Aufzügen, Büfett und Lesesaal), durch ein aufwendiges Reklamewesen, durch Rabatte und problemlosen Umtausch der Waren, durch Geschenke für die Kinder – dies alles, damit die Kundin Dinge kauft, die sie gar nicht braucht und dabei noch meint, einen vorteilhaften Handel abgeschlossen zu haben. Die Frau, die in einer allegorischen Darstellung vergoldet und von Liebesgöttern umgeben auf der Kuppel des Kaufhauses thront, ist nicht die Beherrscherin des Ortes, sondern sein Opfer. So weit die nüchterne Sicht; die poetische hingegen ist von anderer, ganz eigener Art. Mit beispiellosem verbalem Aufwand und unter dem permanenten Appell an die Vorstellungskraft wird – mit teilweise militantem Vokabular – der Siegeszug dieses Hauses beschrieben, das schließlich, als Kathedrale des Konsums, Paris so in sich fasst und resümiert, wie es seinerzeit Notre-Dame bei Victor Hugo vermochte. Alle Bereiche der Natur, von den Blumen bis zu den Landschaften, den Gewässern bis zu den Jahreszeiten werden aufgeboten, um diesen Tempel der Warenwelt zu nobilitieren: „Es war die Kathedrale neuzeitlichen Handels“, eine „wahre Symphonie von Auslagen“. Ihr Erbauer erscheint gar wie ein Dichter, der kühne Visionen entwickelt und verwirklicht, kühner noch als jene Victor Hugos, denn dort konnte die Kathedrale Paris nur symbolisieren, während jetzt der Konsumtempel die Stadt fast verzehrt: Jenseits davon [sc. von der neuen Anlage des Kaufhauses] breitete sich Paris aus, aber ein klein gewordenes, von dem Ungeheuer halbverzehrtes Paris: die Häuser, in seiner Nähe
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nur bescheidene Hütten, waren weiter weg als ein Staub undeutlicher Schornsteine verstreut; die großen Gebäude schienen zusammenzuschmelzen, links zwei Striche für Notre-Dame, rechts ein Accent circonflexe für den Invalidendom, im Hintergrund das Panthéon, verschämt und verloren, kleiner als eine Linse. Der Horizont war zu nichts geworden, diente nur als unwürdiger Rahmen, bis zu den Höhen von Châtillon, bis zu dem weiten flachen Land, dessen verwischte Fernen Knechtschaft andeuteten.
Angesichts der Herrschaft des Kaufhauses, moderne Kathedrale und Zentrum der Macht, gerinnt die alte Stadt Paris zur Quantité négligeable. Das „Paradies der Damen“ saugt alles in sich hinein und macht sich auch die Mittel der poetischen Beschreibung untertan, gipfelnd in der Darstellung einer Weißwarenausstellung, die zum musikalischen Kunstwerk gerät, einer Orchestration der Fülle. Ist damit, neben der Banalität der Erzählung, auch der Gipfel des Kitsches in der Beschreibung erreicht? Die Verführung des Gegenstandes greift auch auf die Mittel der Darstellung über, die sich, herausgefordert durch die Neuheit dessen, was sich gegen das Alte Bahn bricht, zu immer neuen Konfigurationen zusammenfinden. Zolas Kunst der Beschreibung arbeitet sich an einem Thema ab, das bis dahin ästhetisch ohne Würde war, und bietet dabei eine Kunstfertigkeit auf, die, aller auch dem Autor bewussten Schattenseiten zum Trotz, das Moderne auf die Höhe eines poetischen Gegenstandes treibt. Die „gesamte Dichtung der Frauenkleidung“ erschließt der Literatur ein neues Thema im Zeichen einer modernen Ästhetik, die nun nicht mehr, wie bei Baudelaire, das Alte mit dem Neuen zu versöhnen trachtet, sondern allein auf das Neue setzt. Die weiten Bereiche der Erfahrung, mit denen das „Paradies der Damen“, Naturhaftes ebenso umgreifend wie Künstlerisches, durch den Text in Verbindung tritt, zeigt die Strahlkraft des Neuen im Unterschied zum Alten und akzentuiert das Gewicht des Tatsächlichen, das sich, in seiner Entstehung wie auch in seiner literarischen Darstellung, bei Mouret und Zola, der Vision verdankt. Der Bauch von Paris, Zolas Darstellung der Pariser Markthallen, vollzieht eine ähnliche, angesichts des Gegenstandes noch überraschendere Ästhetisierung des Alltäglichen. In diese Geschichte vom Sträfling Florent, der nach langer Haft hungrig nach Paris zurückkehrt und bei der Familie seines Bruders ganz in der Nähe der Markthallen Unterschlupf findet, ist in der Person des Malers Claude Lantet, der als Protagonist von Das Werk an seiner Kunst scheitert, das Künstlerische mit hineinkomponiert. Die gefräßige Metropole, die Florent sieben Jahre zuvor verlassen musste, will ihm vorkommen, als sei sie „erblüht in dieser riesigen Markthalle, deren gewaltigen, vom Unverdauten des Vortrages noch schweren Atem er nun hörte“. „In dem jäh einfallenden Licht der Laternen sah man nur das fleischige Erblühen eines Artischockenberges, das zarte Grün des Salats, das Korallenrosa der Möhren und das matte Elfenbein der Rüben“ – ein Gemälde aus Gemüse. Der unmittelbar pragmatisch-
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existenziellen, der Perspektive des Hungers wird sogleich eine künstlerische Sicht an die Seite gestellt, aus der ein im Weiteren sich immer mehr amplifizierendes Stillleben der Nahrungsmittel hervorgeht. Claude denkt nicht einmal daran, „dass man diese schönen Dinge auch essen konnte. Er liebte sie wegen ihrer Farben“, denn: „Diese verdammten Gemüse und die Früchte und der Fisch und das Fleisch waren einfach zu schön!“ Die fiktive Figur des Malers wird zum Alter Ego des Dichters, der nun seinerseits literarische Kompositionen der Hallen entstehen lässt, die den pragmatischen Zweck der Versorgung von Paris mit Nahrungsmitteln ins Ästhetische übersteigen. Zolas Poetik der Fülle, in der die moderne Warenwelt ihr künstlerisches Analogon findet, lässt auch im Bauch von Paris jene jubelnden Huldigungen vernehmen, die das Paradies der Damen in die Sphäre der Kunst erhoben: Und Florent sah, wie die großen Markthallen aus dem Schatten hervortraten und aus dem Traum erwachten, in dem er gesehen hatte, wie sie ihre durchbrochenen Paläste bis ins Unendliche aneinanderreihten. Sie verdichteten sich in einem grünlichen Grau und wurden mit ihrem außergewöhnlichen Mastwerk, das die unermeßlich großen Dächer trug, noch riesenhafter; sie stapelten ihre geometrischen Körper aufeinander, und als alle Helligkeit im Innern erloschen war und sie viereckig und gleichförmig in dem erwachenden Tag badeten, wirkten sie wie eine moderne Maschine, die außerhalb aller Größenordnungen lag, wie eine Dampfmaschine, wie ein gewaltiger Dampfkessel, der zur Verdauung eines ganzes Volkes bestimmt war, ein riesiger Metallbauch, zusammengeschraubt und vernietet aus Holz, Glas und Eisen gebaut, von der Eleganz und der Kraft eines Motors, der durch die Hitze einer Heizung angetrieben wurde und die unaufhaltsame Bewegung der zahllosen Räder bewirkte.
Um den ästhetischen Reiz der Markthallen, die sich vor dem Hintergrund der Kirche St.-Eustache ausdehnen, zur Anschauung zu bringen, wird erneut auf die Maschine, Symbol der modernen Technik, Bezug genommen, so als wäre die „außerhalb aller Größenordnungen“ liegende Ausdehnung der Hallen mit natürlichen Erscheinungen gar nicht mehr vergleichbar: Der Bauch von Paris ist wie „ein riesiger Metallbauch“, das ihm zugrunde liegende Gesetz die Geometrie und nicht mehr die Lebendigkeit. Analog zur Kunst und im Gegensatz zur Natur ist die Maschine vom Menschen geschaffen, und hier mag auch der Grund dafür zu finden sein, dass die Technik, die Kunst und die Stadt bei Zola eine so überschwängliche Verbindung eingehen. Dem kann nur die Konzeption eines in den Beschreibungen verwirklichten Gesamtkunstwerks Paroli bieten, hyperbolisch wie der Gegenstand selbst, der sich den Augen des Malers präsentiert: Der Tag erwachte langsam in einem zarten Grau und überzog alle Dinge mit einem hellen Aquarellton. Diese Haufen, die sich wie eilige Fluten kräuselten, und dieser Strom von Grün, der wie ein Niederprasseln heftiger Herbstregen in die engen Straßen und Gassen zu fließen schien, nahmen feine und perlende Schatten an: zartes Violett, mit
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Milchtönen durchsetztes Rosa, in Gelb ertrunkenes Grün – all diese Blässe, die den Himmel bei Sonnenaufgang mit schillernder Seide überzieht. Und je mehr die morgendliche Feuersbrunst am Ende der Rue Rambuteau in Flammenstrahlen gen Himmel stieg, desto stärker erwachte das Gemüse und trat aus der tiefen Blautönung hervor, die sich über die Erde ergoß. Kopfsalat, Endivie, Lattich und Chicorée, aufgeblüht und noch mit Gartenerde verschmiert, zeigten ihre glänzenden Herzen. Spinat- und Sauerampferstapel, Artischockenbunde, Berge von Bohnen und Erbsen und Haufen von Sommerendivie, die mit Strohhalmen zusammengebunden waren, sangen die ganze Tonleiter des Grüns, vom Lackgrün der Schoten bis zum Dunkelgrün der Blätter – eine anhaltende Tonleiter, die noch im Sterben die gesprenkelten Selleriestengel und Porreebunde erreichte. Doch die lebhaften Farbtupfer der Möhren und die reinen Farbflecke der Rüben, die in beachtlichen Mengen auf dem ganzen Markt lagen, den sie mit der bunten Pracht ihrer beiden Farben beleuchteten, sangen die grellsten Töne, die am lautesten erklangen. An der Kreuzung der Rue des Halles lagen bergeweise Kohlköpfe. Die riesigen Weißkohlköpfe waren gepreßt und hart wie blasse Metallkugeln. Die großen Blätter des Grünkohls glichen Bronzeschalen.
Hier wird nicht nur ästhetisch (und utopisch) die Natur mit der Technik versöhnt (indem zum Beispiel die Weißkohlköpfe wie blasse Metallkugeln erscheinen), sondern auch die Natur mit der Kunst. Die Metaphorik des Wassers bringt die Szene in einen größeren Naturzusammenhang, die Evokation von Farben und Tönen (auch als Farbtonleiter) transformiert die Fülle des Vegetalen, für die Ernährung der ewig hungrigen Metropole bestimmt, in ein Kunstwerk, das nicht nur dargestellt, sondern im Akt des Schreibens selbst realisiert wird. Der Fülle verfallen, sie begehrend wie der ausgehungerte Florent, kann Zola die Markthallen metonymisch für die Stadt selbst einsetzen und beide verlebendigen: „Nun hörte er [sc. Florent] das langgezogene Dröhnen, das an den Hallen begann. Paris kaute die Bissen für seine zwei Millionen Einwohner. Es war, als schlüge wütend ein riesiges Herz, welches das Lebensblut in alle Adern pumpte.“ Doch das Leben der Metropole fordert den Tod von Massen von Tieren als seinen Preis. Die Ordnung, in welcher die Körper der Schlachttiere oder Teile davon präsentiert werden („Er ging zwischen den bleichen Kalbsköpfen und -füßen, den ordentlich zu Paketen aufgerollten Eingeweiden in Kartons, den Hirnen, die in flachen Körben sorgfältig aufgereiht waren […] hindurch zum Kaldaunenmarkt“), die pittoreske Sicht, der sich die Fische darbieten, das ästhetische Arrangement der Lebensmittel insgesamt vermögen einen gewissen Hautgout gegenüber der fabrikmäßigen Aufbereitung der Nahrung nicht zu überlagern. Die Untergründe des scheinbar so üppigen Paris tun sich auf, „eine ganz in Fett getauchte Welt“ hat das Umland, das die Kapitale alimentiert, ausgesaugt, und der magere Florent als Personifikation des Mangels hält als Einziger die Gegenposition. Die moderne, experimentelle Kunst, deren Apologie die Darstellung des neuen Paris ist und für deren Ambitionen der Maler Claude steht, lässt das Alte, im Bauch von Paris durch die Kirche St.-Eustache
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symbolisiert, hinter sich. Die fast wissenschaftliche Akribie, mit der Zola die Errungenschaften der Moderne zur Darstellung bringt, schließt sich, mit anderen künstlerischen Mitteln und mit neuer, fortschrittsgläubiger Ausrichtung, an Victor Hugos nostalgischen Gestus des „Ceci tuera cela“ an. Wie im Paradies der Damen die neue Kathedrale des Konsums das alte Paris auf bloße Striche reduziert hatte (bescheidene Grafik gegenüber dem üppigen Gemälde), so wird die Eisenkonstruktion der Hallen den Stein töten, in dem St.-Eustache errichtet wurde. Seit Beginn des Jahrhunderts, führt Claude Lantin aus, habe man in Paris „nur ein einziges echtes Bauwerk, ein Bauwerk, dem kein anderes als Vorbild diente und das natürlich aus dem Boden der Epoche hervorgesprossen ist“, geschaffen: die Markthallen. Sie werden zum Paradigma nicht nur für die Kapitale und die neue Zeit, sondern auch zu einem Manifest der neuen Kunst: Als sie an der Rue du Roule vorbeigekommen waren, hatte er dieses Seitenportal von Saint-Eustache betrachtet, das man von weitem über dem riesigen Schuppen einer überdachten Straße der Markthallen sehen konnte. Er kam immer wieder darauf zurück und wollte ein Symbol darin sehen. „Das ist ein seltsames Zusammentreffen“, sagte er, „dieses Stück der Kirche, eingerahmt von dieser gußeisernen Straße … Das eine wird das andere vernichten, das Eisen wird den Stein töten, und die Zeit ist nah … Glauben Sie an den Zufall, Florent? Ich stelle mir vor, daß nicht allein das Erfordernis der Baulinienführung in dieser Weise eine Rosette von Saint-Eustache genau in die Mitte der Zentralhallen gesetzt hat. Sehen Sie, das ist ein vollständiges Manifest: die moderne Kunst, der Realismus, der Naturalismus, wie Sie es nennen wollen, die gegenüber der alten Kunst herangewachsen sind … Sind Sie nicht auch dieser Meinung?“
Florent schweigt, und der Leser mag sich ihm anschließen. Denn liegt nicht jenseits der Fülle, in nur wenigen Tagen herbeigeführt, die Verderblichkeit? In der Folge des Romans verdirbt das üppige Angebot an Speisen mehr und mehr, werden Verwesung und Verpestung – diese Letztere verdeutlicht in einer wiederum ausgreifenden Beschreibung von stinkenden Käsen – zur degoutanten Kehrseite des vormals Appetitlichen. Doch selbst dies erfährt eine Poetisierung. Den Tonkaskaden der Farben des Anfangs entspricht nun die „Symphonie“ von Gerüchen der Verderbnis. Die Geschichte von Florent, der sich erneut in politische Händel eingelassen hatte, geht jetzt ihrem Ende zu, und der Reiz der Markthallen, die Paris beherrschten, weicht nun dem Eindruck, dass sie alles erdrücken und verpesten. Auch eine Ästhetik – oder nur deren Negation? Der Überfülle des Anfangs war der Degout schon eingeschrieben. Hinter der Fülle zeichnet sich nicht nur der Mangel ab, sondern vor allem das Gesetz der Warenwelt; das alles verschlingende Leben der Metropolen zeigt Zola am Ende, hellsichtig, als Kraft der Zerstörung. Während sich Denise mitten in die Welt des Kaufhauses, Florent mitten in das Leben der Markthallen hineinbegibt – in das neue Paris an den Nahtstellen seines Funktionierens –, ist das Bild der Stadt in Ein Blatt Liebe aus der Distanz
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entworfen. Die (man muss es erneut sagen) sentimentale Geschichte einer jungen Witwe, die sich in den Arzt verliebt, der ihr krankes Kind behandelt, das dann an dieser Liebe seiner Mutter zugrunde geht, spielt nicht im Herzen von Paris (oder seinem Bauch), sondern entwickelt sich im (oder aus dem) Abstand zur großen Stadt, auf den Höhen von Passy. Nicht in der Schilderung des Handlungsortes, sondern aus der erhöhten und zugleich distanzierten Perspektive eines Vorortes fällt der Blick auf Paris und skandiert die Handlung. Indem am Ende eines jeden der fünf Kapitel, deren Zahl an die Akte einer Tragödie erinnert, ein Bild von Paris entworfen wird, das kaum anders denn als Gemälde in Sprache zu kennzeichnen ist, nimmt Zola, so könnte es scheinen, seine progressive Ästhetik zugunsten einer eher romantischen Sicht zurück: die Stadt als Spiegelbild emotionaler Befindlichkeit, die sich nicht oder nur sehr zögernd auszusprechen wagt und die am Ende von dem Entschluss eingeholt wird, einen anderen Mann (nicht den geliebten Arzt) zu heiraten und Paris mitsamt dem Grab der Tochter Jeanne zu verlassen? Eine leise, aber durchaus dramatische Geschichte wird in Ein Blatt Liebe erzählt, eine Geschichte, die nur zu Trauer und Verlust führt und in die an markanten Stellen, jeweils am Ende der Kapitel, ein Bild von Paris hineinkomponiert ist, so dass eine Bilderfolge entsteht, die sich zum Panorama von Paris rundet – Antwort des Ortes auf das Romangeschehen. So möchte man es sich vorstellen, so oder ganz ähnlich könnte sich das Verhältnis von Handlung und Schauplatz in einem romantisch geprägten Roman darstellen; doch nicht bei Zola. Zwar erscheint Paris immer in den Augen der Figuren (zumeist der Hauptperson Hélène), im Blick aus dem Fenster, das die kleine Welt von Passy auf die große Welt der Kapitale hin öffnet. Doch ist es alles andere als ausgemacht, dass die Beschreibungen wiedergeben, was sich aus der Perspektive der Figuren herleitet. Hélène nämlich kann auf Fragen ihrer Tochter Jeanne gar nicht sagen, was genau sie sieht, denn sie kennt Paris nicht. Die Beschreibungen hingegen verfahren mit geradezu topographischer Genauigkeit, benennen alle Bauwerke und bezeichnen die Stadtteile von Paris. Der Blick der Figur ist diffus, der Blick des Erzählers wissend – wissend nicht nur um die Beschaffenheit von Paris unter den verschiedensten Bedingungen des Wetters und der Tageszeit, sondern auch um den Charakter und die Bedeutungen der Stadt. Dieser Ort wäre verkannt, sollte er nur eine sentimentale Geschichte durch einen malerisch-poetischen Hintergrund illustrieren. Paris ist vielmehr eine Welt für sich – weniger durch seine Größe und die Vielfalt seiner Erscheinungsweisen als vor allem durch die Fülle von Verweisen und Bedeutungen, die es im Verlauf der Beschreibungen zur Anschauung bringt oder genauer: die aus den Beschreibungen allererst hervorgehen. Dieser letzte Gedanke mag noch undeutlich bleiben, doch sei auf die Merkwürdigkeit des Titels verwiesen, in dem „Ein Blatt Liebe“ zu verstehen ist im Sinne des Originals Une page d’amour als die Buchseite …
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Während die Geschichte ihrem fatalen Ende zustrebt und durchaus im Sinne der Tragödie, von dem der Roman die Struktur der Fünferzahl übernimmt, eine abfallende Linie bildet, setzen die Beschreibungen von Paris ungeachtet ihrer sich immer mehr ausdifferenzierenden Komplexität einen konstanten Haltepunkt. Paris muss sich nicht verändern, weil es alle Veränderungen bereits in sich fasst. Die während der ausgreifenden Beschreibungen von Paris sich eröffnenden Erfahrungs- und Sinnbereiche umfassen die Verwandlung der Stadt in Natur ebenso wie die Stilisierung der Kapitale zu einem Gemälde oder, unter anderen Lichtbedingungen, zu einer Kohlezeichnung; die Beispiele können nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Panorama von Paris sein: Paris breitete sich aus, ebenso groß wie der Himmel. An diesem strahlenden Morgen wirkte die sonnengelbe Stadt wie ein Feld reifer Ähren; und das unermeßliche Gemälde war schlicht, hatte lediglich zwei Farbtöne, das blasse Blau der Luft und den goldenen Widerschein der Dächer.
Doch der Bezug zu Natur und Kunst reicht bei weitem nicht hin, um der Stadt ihre Bedeutung über das Romangeschehen hinaus zuzuschreiben. Wie schon der Vergleich mit dem Himmel vermuten lässt, kommt der Stadt die Funktion zu, über sich hinauszuweisen und sich doch gleich zu bleiben: die Fülle von Sinnsetzungen verfährt nicht wie eine Verfremdung des Gegenstandes, sondern treibt die ihm inhärenten Bedeutungen in immer wieder sich erneuernden Schilderungen aus ihm heraus. Wenn die Stadt „in ihrer Herrlichkeit“ zu „flammen“ scheint, die Vergoldungen des Invalidendoms „rieseln“, wenn von „Lichtschein“ und „Glimmergefunkel“ die Rede ist, ein „Glorienschein“ das „Himmelsblau“ entflammt – dann gewinnt Paris eine quasi-religiöse Bedeutung. Zu seinen Funktionen gehört auch (und erst insofern ist die Verbindung von Stadt und Romangeschehen zu verstehen), dass es in den Augen von Hélène an ihren Schmerzen und Hoffnungen Anteil nimmt „wie ein Freund“ und dass es ihre Einsamkeit „erfüllt“; aber dies ist seine Rolle und Bedeutung nur im Verständnis der Figur. Für den Erzähler und den Leser (sogar der Autor wäre mit einzubeziehen) geht Paris jedoch in dieser Rolle nicht auf. Der Glanz des Lichtes, der die Stadt mit einer religiösen Bedeutung überzieht, kann umschlagen in einen Brand, dessen apokalyptische Assoziationen durch den „gleißenden Strom“, die „flammenden“ Baudenkmäler, ein „Bett glühender Scheite“, den in Feuer stehenden Invalidendom und das Pantheon als „Königspalast der Feuersbrunst“ geweckt werden: „Ganz Paris entzündete sich jetzt“: „Paris brannte“. Zwar entspricht dieser Brand der Leidenschaft Hélènes und ist insofern eine Antwort auf ihre Liebe, doch nimmt er über das Private hinaus weit größere Dimensionen an, indem er imaginär eine Stadt zu vernichten droht. Wie das Motto der Ile de la Cité, „fluctuat nec mergitur“, das Bild eines Schiffes evoziert, das schwimmt, aber nicht untergeht, so gilt entsprechend für
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das entzündete Paris, dass es zwar brennt, aber sich nicht in den Flammen verzehrt. Wenn Paris entvölkert scheint, „gleich jenen Städten aus Alpträumen, die man im Widerschein eines toten Gestirns sieht“, ist dies nur die eine Facette seiner visionären Wirklichkeit, deren andere das Immer-wieder-Aufleben, die ständige Erneuerung ist: „[…] die Stadt schien mit ihren triefenden Dächern aus einer Sintflut hervorzugehen […].“ Ist Paris einerseits durch ein Unwetter „ein Feld von umgestürzten Steinen unter dem verlöschenden Himmel“, so entfaltet sich andererseits und zu anderer Zeit bald über der Stadt „ein makelloser blauer Himmel“. Diese Veränderungen mögen auf dem Konto des ‘Realisten’ Zola und seiner präzisen Beobachtungsgabe zu verbuchen sein; die Darstellungsweise hingegen ist von ausgreifender Evokationskraft. Im Szenario der vielfältigen Bedeutungen indes fehlt eine: Hätte Zola, der seinem Roman einen die Buchseite bezeichnenden Titel gab, auf literarische Anspielungen ganz verzichtet? Gewiss, Hélène liest, bei ihrer kranken Tochter Wache haltend, oft in einem Buch; aber dieses Detail der Handlung begründet noch nicht die Vermutung, das Literarische der Parisdarstellung, das keineswegs nur aus dem Geist des Realismus geboren ist, könnte den Beschreibungen selbst zeichenhaft einkomponiert sein. Es ist so häufig von Strichen und Linien, von Grafik und Zeichnung (und eben nicht nur von ‘Gemälde’) die Rede, dass zu vermuten ist, die Linienführung könnte sich auch auf den Text selbst übertragen. Die Metaphorik des Gewebes, die Beschreibung des Regens, der wie ein „Vorhang“ Paris verhüllt, weisen den Schreibakt als einen aus, in dem sich zeichnerische und textuelle Linien verschränken; das Gewebe, nicht zu vergessen, ist die traditionelle, den Sinn des Textes (von „tissere“, weben) wiedergebende Metapher für das Schreiben. Mit den Darstellungen der Großstadt im Zeichen des Pittoresken, das dem Gemälde weniger eine moralische als eine künstlerische Qualität zubilligt, vollzieht sich trotz jener Parzellierungen bei Baudelaire und Rilke eine Ausweitung des Gegenstandes ins nun nicht mehr Exemplarische wie bei den Sittenbildern, sondern ins Symbolische. Die Großstadt wird zum Bild für die Leiden des Menschen in der Zivilisation, die ihre Opfer fordert und schließlich frisst, wie es einem Moloch gebührt. Leuchtet bei Baudelaire noch momenthaft Transzendenz auf, ist diese bei Rilke zugunsten des nur noch Partikularen aufgegeben. Und doch herrscht bei beiden Autoren ein sehr ähnliches Prinzip: dass nämlich die Kunst das bloß Zufällige sublimiert, seinen Sinn aus ihm hervortreibt und im Alltäglichen das Besondere und allgemein Gültige aufscheinen lässt. War diese noch bei Baudelaire von der Hoffnung getragen, im Gewimmel der Großstadt Zeichen setzen zu können, die auf eine höhere Welt verweisen, so ist bei Rilke das Partikulare nur durch die Kunst zu retten: Das neue Sehen bewahrt Eindrücke aus dem Leben der Großstadt, die andernfalls dem Verges-
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sen anheim fallen müssten, ja wegen ihrer Alltäglichkeit nicht einmal sichtbar wären. Bei Rilke ist die Großstadt verwundet und bewirkt auch Verwundungen bei den Menschen. Zwar vermag die Kunst nicht mehr zu heilen wie noch bei Baudelaire, sie bewahrt aber die Erinnerung an die Wunden, die, in einen der ersten modernen Romane deutscher Sprache eingebracht, exemplarische Qualität für jene Gefährdungen der Identität gewinnen, von deren Darstellung sich die Literatur des 20. Jahrhunderts, in ihrem Kern betroffen, nur selten noch wird lösen können. Es wäre vermessen zu behaupten, die Identitätsproblematik der modernen Literatur, nicht nur Gegenstände und Personen umfassend, sondern auch das Schreiben selbst, fände ihren einzigen Grund in der Großstadt. Es sind vielmehr die Bedingungen des modernen Lebens selbst mit der Zersplitterung der Wahrnehmung, der industriellen Arbeitsteilung, dem atemberaubenden Tempo des Fortschritts, der Aufweichung sozialer Bindungen, die Identität in vielen Belangen gefährden und schließlich zerstören. Doch lässt sich all dies trefflich an der Großstadt aufweisen, selbst wenn es längst, im Gestus des Ausgreifens auf viele Bereiche des Lebens, über diese hinauswuchs. Das ‘quarens quem devoret’ gilt insoweit nicht nur für die räumliche Ausdehnung der Stadt, sondern auch für ihre spezifischen Lebensbedingungen, die seit langem andere Arten der Sozialisierung verschlungen hat. Unter diesem Aspekt fügt sich Zola fast bruchlos in das Gemälde ein, thematisiert er doch, mit gleichsam wissenschaftlich-technischem Blick, die Lebensbedingungen (in) der Großstadt. Raumgreifend verfährt auch er, sogar in jenem eigentlichen Sinne, dass hier Paris mit dem großen Gestus einer minutiösen Dokumentation umfasst wird. Genauigkeit der Beschreibung wird man ihm kaum absprechen wollen, und doch liegt darin nur ein Teil seiner Kunst. So als wären seine Gemälde der Großstadt noch nicht groß genug, steht nun Paris in weiteren Kontexten: Malerisch in seiner Darstellungsweise, macht Zola Paris zu einem gigantischen Gemälde, schafft ihm aber damit gleichzeitig eine räumliche Tiefe, die so oft, dass es kein Zufall sein kann, mit Elementen der Natur ausstaffiert ist. Leben gewinnt die Stadt nicht nur dadurch, dass sie in die Existenz der Figuren hineingewoben ist, sondern auch, indem sie immer wieder auf das verweist, was ihren Gegenpol bildet, die Natur. Einerseits Herausforderung für die Kunst, die den Gegenstand Großstadt nur unter Einsatz all ihrer Mittel zur Darstellung bringen kann, ist Paris bei Zola auch durchzogen von einer Sehnsucht nach der Natur. Im Wechsel des Wetters, der Tages- und Jahreszeiten gewinnt auch bei Zola die Stadt etwas, das sie, unter ganz anderem Aspekt, auch bei Baudelaire und Rilke schon in sich trug: Zeitlichkeit. Die Thematik des Alterns, der Krankheit und des Todes trägt diese Zeitkomponente bei Baudelaire und Rilke katastrophisch in sich, die Momenthaftigkeit, das ‘Aufblitzen’ des Typischen verdankt sich ebenfalls einem typisch modernen Bewusstsein vom rasenden Entschwinden der Zeit. Weil man so wenig Zeit nur hat,
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stellt man sie dar und verleiht ihr damit, künstlerisch sublimiert, Ewigkeit. Diesen Glauben teilt Zola nicht. Sein Terrain ist die raumgreifende, raumschaffende Imagination, die Paris erfahrungsmäßig erweitert und der Großstadt neue Räume erschließt, so als wäre sie nicht schon umfassend genug: Soll sie nach Weiterem verlangen, das sie verschlingen kann? Doch die erschlossenen Erfahrungsräume, darunter auch die Kunst, sind widerständig und lassen sich nicht der Großstadt einverleiben: Sie verteidigen ihre Eigenständigkeit. Die Kunst der Großstadtromane Zolas besteht darin, eine Imagination zu schaffen und in Freiheit zu setzen, die zwar von der Großstadt ihren Ausgang nimmt, nicht aber die Volte vollzieht, sich ihr wieder zuzuwenden und sich von ihr verschlingen zu lassen. Wie die Figuren der Großstadt bei Baudelaire einerseits von ihr hervorgebracht sind, andererseits aber aus ihr herausragen, werden auch die Räume der Imagination bei Zola von der Großstadt erschlossen, aber doch von ihr getrennt. Die Großstadt schafft Bilder, belässt ihnen aber ihre Eigenständigkeit. Die Grandiosität einer Serie von Großstadt-Gemälden entsteht aus einer Abgrenzung gegenüber dem Gegenstand, der durch diese Grenzziehung, über sich hinausweisend, neue Dimensionen des Imaginären gewinnt.
Ansichten der Großstadt – der perspektivische Blick Bei dem Gang durch die Großstadtliteratur, der ohnehin nicht dem Tempo der Moderne folgte, ergibt sich jetzt, etwa auf der Hälfte der ihm zugestandenen Zeit, die Möglichkeit zu einem Innehalten. Nicht so, dass nun Rast gemacht würde, sondern eher in jenem anderen Sinne, dass der im Titel angekündigte perspektivische Blick auch dem Leser angesonnen wird, der sich, stehend, nur um die eigene Achse dreht und die sich bietenden Bilder einfach zusammenkommen lässt. Ist der Gegenstand selbst durch die Verschiedenheit seiner Ansichten geprägt, treibt das nun folgende Kapitel diese Differenzen auf einen Höhepunkt – mit der Gefahr, sich in ihnen zu verlieren. Denn was könnte unterschiedlicher sein als der Gattungsgesichtspunkt des ersten Teils, der Texte von hoher Komplexität behandeln wird, der thematische Ansatz, dem Verhältnis von Großstadt und Kriminalität geltend, und schließlich das Feuilleton, ein zwar höchst kunstvolles, aber eben nicht im engeren Sinne künstlerisches Genre, das überdies pragmatischen Charakter hat? Ist all dies schon schwierig genug, wird nicht einmal die Geschichte respektiert, denn das Lyrik-Kapitel greift weit zurück in die Antike; die Darstellung von Großstadt und Kriminalität schwenkt noch einmal ins 18. Jahrhundert und scheut sich nicht, horribile dictu, auch Texte eher trivialer Art zu betrachten; das Feuilleton schließlich, im zeitlichen Rahmen einigermaßen kohärent, verspricht nicht unbedingt Einsichten von literarischer Relevanz, so charmant dieses Genre auch daherkommt. Die Befürchtung, dass sich nun der Leser, statt sich im Kreise zu drehen, gleich abwendet, ist nicht von der (schreibenden) Hand zu weisen, und die Autorin wird naturgemäß auch nicht erfahren, ob sie ihn hier zeitweise oder gar definitiv verlor – weil ihm schwindelte.
1. Schattenrisse – Großstadt und Kriminalität Das Bestreben, möglichst ohne große Anstrengung der Literaturgeschichte der Großstadt zu folgen, wurde von einigen Autoren, deren Texte nicht einmal in ganzer Breite darzustellen waren, durchkreuzt, so dass der Leser statt der angekündigten Appetithäppchen ein teilweise etwas schweres Menu vorfand; Entspannung scheint angezeigt, und ihr sind die beiden nun folgenden Kapitel, Exkurse eher, gewidmet: Exkurse aber, die doch, aus anderer Perspektive betrachtet, ins Zentrum der Fragestellung zurückführen – sofern das Thema ein Zentrum überhaupt zulässt.
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Wenn es um die Schattenrisse und Dunkelheiten, die düsteren und oft dem Blick verborgenen Untergründe der Städte geht, stellen sich jetzt, in der Mitte unserer Darstellung, Erinnerungen ein. Indem einerseits ein neues, zugleich erhellendes und düsteres Licht auf die Großstadt fällt, treten in seinem Kegel ‘alte’ Texte wieder in den Blick. Lesage hatte mit seinem Hinkenden Teufel den Anfang gesetzt für eine nächtliche Perspektive, die zutage fördert, was im Tageslicht verborgen bleibt – die Sittenlosigkeit der Großstadt, die nur unter besonderen, eben nächtlichen Bedingungen sichtbar wird. Einen ähnlichen, indes nicht märchenhaft-fiktionalen Ansatz verfolgte Mercier, der sich, ohne Schonung für seine Beine, auf ausschweifende Gänge durch die Stadt begab, um, vom Zufall (der freilich auch erfunden sein kann) unterstützt, das moralische Gemälde von Paris zu entwerfen. Im gemächlichen Tempo der ‘Flanerie’ und ohne den aufklärerischen Gestus Merciers verfolgt Baudelaire ein ähnliches Projekt der Beobachtung und Deutung von Paris, aus dem die „Tableaux Parisiens“, suggestive Einzelbilder (bezeichnenderweise im Plural), entstehen. Rilke schließlich, durchaus in lyrischer Tradition schreibend (und hier den Lyriker einschließend, der er ja vorrangig ist), lässt seinen Malte einem Unbekannten folgen, der den fiktiven Autor der Aufzeichnungen durch sein merkwürdiges Verhalten zugleich abstößt und fasziniert. Auch Victor Hugo, markanten, nicht selten schauerlichen Effekten aufgeschlossen, führt die Handlung von NotreDame de Paris am Ende zu einer Art Leichenschau, die ja auch in Stifters zunächst eher idyllischer Beschreibung von Wien in den Katakomben des Stephansdoms stattfindet. Balzac ist am Schluss dieses kurzen Rückblicks zu nennen, der mit Ferragus, dem Chef der ‘Verschlinger’, den Leser in die abgelegensten Viertel von Paris führt und das Untergründige der Stadt in Todes- und Begräbnisszenen kulminieren lässt. Scheint es damit des Schauerlichen genug zu sein, zieht dieses doch seine düstere Spur durch zahlreiche weitere Zeugnisse der Großstadtliteratur, und so führt das zwar bunte, aber doch dunkel getönte Bild dieses kurzen Rückblicks in den Kern des kommenden Kapitels, das Texte verschiedener Art, aber ähnlichen Inhalts unter einem Gesichtspunkt bündelt: dem der düsteren Untergründe der Städte, in denen sich allerlei Merkwürdigkeiten und nicht selten Verbrechen abspielen. Der erste der Autoren, die hier zu nennen sind, ist Rétif de la Bretonne. Zeitgenosse Merciers, nimmt er sich das Tableau de Paris in gewisser Weise zum Vorbild, strebt aber zugleich anderes an: Auf seinen Gängen durch das nächtliche Paris (und so lautet denn auch der Titel des vielbändigen Werkes: Les nuits de Paris, 1788–94) ist ein Ich-Erzähler auf Wunsch und Bitten einer (namenlosen) Marquise auf der Suche nach Begebenheiten und Geschichten, die sich im Schutz der Nacht ereignen und von denen er der Marquise berichten kann. Seiner nächtlichen Aktivität entsprechend, ist dieser IchErzähler den Parisern als „Kauz der Marquise“ bekannt – so stellt ihn auch, mit
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dem Vogel auf dem Kopf, eine zeitgenössische Abbildung dar. Im Schutze der Nacht geschehen, neben harmlosen Begebenheiten, auch Untaten, deren Zeuge der „Kauz“ wird. Die Verbindung von Großstadt, Kriminalität und Dunkelheit ist auch in Dickens’ Roman Bleakhaus bemerkbar, der wohl als erster Text in diesem Ausmaß den Londoner Nebel als Kulisse evoziert. Edgar Allan Poe, der dritte Autor, der in diesem Kapitel zu Wort kommen soll, stellt in der Erzählung Der Mann der Menge ebenfalls eine nächtliche Szene dar, jener Verfolgung ähnlich, die Rilkes Malte hinter dem Unbekannten hertreibt. Die vermutete Verbindung des Poe’schen Mannes der Menge zu verborgenen Verbrechen führt auf die Spur einer Thematik, die teilweise schon bei Balzac gegeben war, dort aber nicht im Mittelpunkt stand: Großstadt und Kriminalität. Poes Kommissar Dupin, der den Doppelmord in der Rue Morgue aufklärt, ist Vorbild und geistiger Vater (von der literarischen Verwandtschaft gar nicht zu reden) des Sherlock Holmes von Arthur Conan Doyle. Auf den Spuren des Verbrechens führt der Weg von Paris und einem französischen Autor zum Paris des Amerikaners und schließlich nach London, das dem großstädtischen Verbrechen noch seine besondere Atmosphäre, aus Regen und Nebel gemischt, zur Verstärkung des Grauens beigibt. Dieser kriminelle Cocktail mag auch ein Bild dieses Kapitels sein, das seine Einheit in der literarisch-kriminalistischen Spurensuche findet und in New York enden wird. Bleakhaus von Charles Dickens ist der Roman eines sich lang hinziehenden Prozesses, dessen Kosten das Vermögen, um welches der Prozess geführt wird, schließlich aufzehren. Eingangs wird, in einer berühmt gewordenen Beschreibung, die Undurchsichtigkeit des Gerichtswesens im Bild des nebligen London symbolisiert: Der Rauch senkt sich von den Schornsteinen nieder, ein dichter schwarzer Regen von Rußbatzen, so groß wie ausgewachsene Schneeflocken, die in schwarzen Kleidern den Tod der Sonne betrauern wollen. Hunde, unkenntlich vor Schmutz, Pferde, nicht viel besser dran, bis an die Scheuklappen mit Kot bespritzt. Fußgänger drängen sich, von der allgemeinen Seuche übler Laune angesteckt, mit Regenschirmen aneinander vorbei und glitschen an den Straßenecken aus, wo bereits Zehntausende vor ihnen den trüben Tag über ausgerutscht sind und neue Schichten zu den Schmutzkrusten hinzugefügt haben, die an diesen Stellen zäh am Pflaster kleben und sich anhäufen mit Zinseszinsen.
Der Schmutz, im Ruß gegenwärtig und in Krusten angetrocknet, die sich – Anspielung auf den Prozess – mit Zinseszinsen anhäufen, steht für den moralischen Zustand der Stadt. Hier kann, mögen die Gerichte auch noch so zuverlässig sein, nichts ans Licht kommen, denn es ereignet sich der „Tod der Sonne“. Wo sich üble Laune verbreitet, kann auch die Arbeit des Kanzleigerichtshofes nicht vorankommen, der sich ohnehin in einem „versumpften und verschlammten Zustand“ befindet. Der Nebel greift um sich – nicht nur in London, sondern auch in den Provinzen:
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Nebel überall, Nebel stromauf, wo der Fluß zwischen Buschwerk und Wiesen dahinfließt; Nebel stromab, wo er sich schmutzig zwischen Reihen von Schiffen und dem Uferunrat der großen, unsauberen Stadt durchwälzt. Nebel auf den Sümpfen von Essex und Nebel auf den Höhen von Kent. Nebel kriecht in die Kabusen der Kohlenschiffe; Nebel liegt draußen auf den Rahen und klimmt durch das Tauwerk; Nebel senkt sich auf die Deckverkleidung der Barken und Boote. Nebel dringt in die Augen und Kehlen der alten Greenwichinvaliden, die am Kamin in ihren Kämmerchen husten und keuchen, dringt in das Rohr und den Kopf der Shagpfeife des grimmigen Schiffseigners unten in seiner engen Kajüte und beißt grausam in Zehen und Finger des fröstelnden kleinen Schiffsjungen auf Deck. Passanten schauen von den Brücken herab über Geländer in einen Nebelhimmel und sind rings von Nebel umgeben, als ob sie in einem Luftballon mitten in grauen Wolken hingen.
Allein elfmal verwendet diese relativ kurze Textpassage das Wort ‘Nebel’; nicht nur der Ort, sondern auch der Text ist von Nebel buchstäblich durchdrungen. Dabei ergibt sich kein statisches Bild, die Verschwommenheit eines nebligen Tages reproduzierend; vielmehr wird der Nebel als eine wirkende Kraft verstanden, die überall eindringt und den klaren Blick verstellt. Ähnlich verworren und undurchsichtig sind die Handlungen und Ermittlungen des Kanzleigerichts, ist auch die Handlung des Romans, am Ende vom Dunkel eingeholt: Der Erbe des Vermögens stirbt, noch bevor der Prozess endet, der schließlich ins Absurde läuft, da durch die Gerichtskosten von dem Geld nichts mehr bleibt. Von Oliver Twist über Der Antiquitätenladen bis hin zu Bleakhaus, das 1852 erschien, hat Dickens seine Technik der Beschreibung so weit verfeinert, dass über die eindringlichen, mit der Handlung aber nur lose verbundenen Bilder in Oliver Twist hinaus die Darstellung Londons Symbolkraft für die Handlung gewinnt. Undurchdringlich wie der Nebel ist auch die Gerichtsbarkeit, und dass sich im Roman, aufgeklärt von einem der ersten Detektive der Literatur, ein Mord ereignet, verleiht der Eingangsschilderung gleich eine doppelte Bedeutung. Insofern kann Bleakhaus nicht nur als ein Gerichtsroman, sondern auch als ein Kriminalroman gelten, der diesem Genre durch den Londoner Nebel jene Atmosphäre verleiht, in der das Verbrechen gedeiht. Edgar Allan Poes Erzählung Der Mann der Menge beginnt mit einem doppelten Signal der Fremdheit: dem französischen, von La Bruyère stammenden Motto „Le grand malheur, de ne pouvoir être seul“ (das große Unglück, nicht allein sein zu können) und dem auf Deutsch zitierten Satz, man habe von einem gewissen Buch gesagt: „Es lässt sich nicht lesen.“ Worin der Bezug dieser Aussagen zur erzählten Geschichte besteht, bleibt zunächst im Dunkeln und wird sich auch, was das zweite Zitat vom nicht lesbaren Buch betrifft, nicht auflösen. Was der Ich-Erzähler auf nur wenigen Seiten berichtet, ist dem Alltag entnommen, der jedoch die Qualität des Besonderen erhält, weil der Erzähler, soeben
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von einer längeren Krankheit genesen, die Welt mit „aufs höchste gesteigerter Empfänglichkeit“ betrachtet: „Ich empfand eine gelassene, aber wissbegierige Anteilnahme an all und jedem.“ Durch die rauchigen Scheiben eines Londoner Kaffeehauses betrachtet er das Treiben auf einer belebten Straße der Stadt. Bei einbrechender Dunkelheit kommen die Menschen von der Arbeit, und obwohl der Beobachter die Passanten anfangs „nur als Masse“ sieht, kann er sie doch – wenn auch nicht einzeln, so doch in Gruppen – bestimmten sozialen Schichten und beruflichen Tätigkeiten zuordnen. Das Gewühl und die Geschwindigkeit der Vorübereilenden lassen dennoch einzelne Gruppen erkennen: solche, die einen zufriedenen, geschäftsmäßigen Eindruck hinterlassen; andere, ruhelos in ihren Bewegungen und mit geröteten Gesichtern, empfinden offenbar in der Menge ihre Einsamkeit „und redeten gestikulierend mit sich selbst“. Die Gruppen der einfachen und der höheren Angestellten sind deutlich voneinander unterschieden, was der präzisen Beobachtungsgabe des Ich-Erzählers nicht entgeht. Sein Blick ist nicht nur wahrnehmend, sondern auch interpretierend: Das Bild der Menge lässt sich ‘lesen’. Entsprechend erscheinen „verwegen aussehende Individuen“ ohne jeden Zweifel als Taschendiebe, die alle großen Städte heimsuchen, und die Gruppe der Spieler ist sogar noch leichter zu erkennen. In alldem findet der Erzähler „Stoff zum Nachsinnen“, und die Geschichte ließe sich angesichts der sozialen Differenzierungen, wie sie die großen Städte gebündelt bereit halten, noch lange fortspinnen. Was sich ihm unter den Bedingungen des Nachsinnens bietet, wird in einen langen, aufzählend verfahrenden Satz eingelassen, der über eine Druckseite lang die Komplexität des sozialen Lebens in den Großstädten einzufangen versucht. Derweil ist die Nacht hereingebrochen; auch bei künstlichem Licht setzt der Erzähler seine Beobachtungen fort, intensiviert sie sogar noch so weit, dass es ihm vorkommen will, als könne er im kurzen Blick auf die Menschen „oft die Geschichte langer Jahre lesen“. Während der Leser schon mutmaßt, dieser Gang des Textes werde (wie lange noch?) fortgeschrieben, taucht in der städtischen Volksmasse jener titelgebende ‘Mann der Menge’ auf – just in dem Moment, da der Erzähler, durch seine langen Beobachtungen zunehmend fasziniert, seine Studien (er spricht von „erforschen“) mit immer größerer Einsicht betreibt. Der Gesichtsausdruck dieses Mannes „bannt“ die Aufmerksamkeit des Betrachters, weil er mit nichts von dem, was dieser kennt, auch nur im Entferntesten vergleichbar wäre. Die schon eingangs festgestellte Fremdheit schreibt sich fort, und nicht nur das: Fasziniert folgt der Erzähler dem Unbekannten durch die Straßen von London und sagt zu sich selbst: „Welch verworrene Geschichte […] ist in dieser Brust eingeschrieben!“ Indem er dem Fremden folgt, ist er in Wirklichkeit auf der Suche nach einer Geschichte – die Verfolgung wird damit zu einem literarischen Akt. Von Grauen und Wissensdurst gleichermaßen getrieben, gelangt der Verfolger, immer auf den Spuren
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des Unbekannten, in die entlegensten Viertel der Stadt; im abstoßendsten von ihnen trägt alles „den Stempel ärgster, jämmerlichster Armut und schlimmsten Verbrechens“. Durch viele Straßen und Stadtviertel treibt den einen ein unbekanntes Beginnen, den anderen eine „Fahndung“, „die nachgerade mein ganzes Denken und Fühlen absorbierte“. Der Gedanke des Verbrechens und seiner detektivischen Aufklärung lenkt den Erzähler, immer dem Unbekannten folgend, durch die Stadt, die sich ihm in vielen Facetten darbietet, ohne ihn jedoch seinem Ziel näher zu bringen. Nach einer Nacht und einem Tag jener den Mann der Menge verfolgenden, aber doch im Ergebnis verlorenen Gänge durch London schaut der Erzähler schließlich seinem ‘Opfer’ direkt ins Gesicht; dieses wendet sich ab, jener bleibt „gedankenverloren“ zurück: „Dieser alte Mann“, sagte ich schließlich, „ist die Verkörperung, der Genius tiefdunklen Verbrechens. Er schaudert vor dem Alleinsein. Er ist der Mann […] der Menge. Es ist fruchtlos, ihm zu folgen; denn mehr werde ich nicht von ihm oder von seinen Missetaten erfahren. Das böseste Herz auf Erden ist ein ungeheuerlicheres Buch als der ‘Hortulus animae’, und vielleicht ist es nur eine der großen barmherzigen Gaben Gottes, dass ‘es sich nicht lesen lässt’.“
Das Ende greift auf den Anfang zurück, noch immer in der fremden Sprache, das Zitat bestätigend und seine Aussage wiederholend. Poe erzählt im Mann der Menge die Geschichte eines Scheiterns, die ihre Auflösung dem Erzähler und dem Leser gleichermaßen verweigert. So gilt das Zitat des Anfangs am Ende auch für den Text selbst, der sein Bestreben einer Lektüre des menschlichen – hier: vielleicht verbrecherischen – Herzens buchstäblich erschöpft aufgeben muss. Die Innenräume des Unbekannten entschlüsseln Text und Erzähler nicht; wohl aber ergibt sich eine geheime Entsprechung zwischen der Geschichte und ihrem Ort. Auch die Großstadt zeigt sich als ein untergründiger, unergründlicher Ozean menschlichen Verhaltens, das auf der Oberfläche zwar zu deuten, in seinen Tiefenschichten aber nicht zu erkennen ist. Dennoch: Die Lesbarkeit der Stadt ist immerhin, als Aufgabe und als Faszinosum, entdeckt, deren Literarisierung vollzogen, obschon der Text der Tiefe im Dunkeln bleibt. Der Mann der Menge ist im Ansatz eine Kriminalgeschichte – ohne Tat, ohne Täter zwar, aber der Spurensuche und der Verfolgung verschrieben, die indes nicht zum Erfolg führt, wohl aber zur Einsicht in die Unerkennbarkeit des menschlichen Herzens und die Unlesbarkeit gewisser Texte, zu denen auch Der Mann der Menge selber zählt. Der Akt des Lesens ist ein Akt des Verstehens oder aber zumindest, wenn es nichts zu verstehen gibt, der Bemühung darum. Analytische Aktivität, das Entschlüsseln verborgener Botschaften durch genaue Beobachtung und logische Schlussfolgerungen, ein Lesen analog der Lektüre der Stadt macht auch das Faszinosum einer Kriminalgeschichte von Poe aus, die es, ebenso wie der in ihr tätige Detektiv, zu Weltruhm brachte und einen weiteren Detektiv nebst einer
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ganzen Serie seiner Geschichten ins Leben rief: Sherlock Holmes. Sein von Arthur Conan Doyle ausdrücklich als Vorbild anerkannter Pariser Kollege ist C. Auguste Dupin, der in Poes Erzählung Die Morde in der Rue Morgue ein beeindruckendes Beispiel analytischen Scharfsinns abgibt – um diesen ist es dem Autor besonders und sogar weit mehr als um die bloße Aufklärung der Morde zu tun, zumal der Fall alles andere als eine übliche Bluttat darstellt. Der Detektiv ist, die eher einfältigen und banalen Nachforschungen der Polizei ins fast Absurde wendend, kraft seines Verstandes in der Lage, diesen ungewöhnlichen Fall aufzuklären. Weniger die gleichwohl spektakuläre Tat steht im Mittelpunkt der Geschichte als vielmehr der mit besonderen, fast ans Hellseherische grenzenden Fähigkeiten ausgestattete Detektiv, der mit mindestens ebenso großem Recht wie Sherlock Holmes bei Arthur Conan Doyle im von Poe gewählten Titel genannt zu werden verdiente – doch der Titel evoziert eine Straße in Paris, die einen todesträchtigen, finsteren Namen trägt und eine ebensolche Lage aufweist. Bevor von dem Verbrechen überhaupt die Rede ist, wird der bemerkenswerte Detektiv eingeführt, doch ganz am Anfang stehen allgemeine Überlegungen über die analytischen Kräfte des Geistes – ein merkwürdiger Beginn für eine Detektiverzählung, der schon darauf verweist, dass, wie später gesagt wird, die Geschichte selbst „wie ein Kommentar zu den eben vorgebrachten Behauptungen [sc. über die analytische Fähigkeit des menschlichen Geistes]“ anmutet. Nicht wie allgemein angenommen im Schachspiel, sondern beim Whist zeigt sich jenen Darlegungen zufolge die Fähigkeit des Analytikers, Verworrenes zu entwirren; und ein Lehrbuch gibt dafür verständliche Hinweise. Dieser Hinweis auf das Lehrbuch steht in einem Kontext, der bereits zu Anfang die Sprachlichkeit, das im weiteren Sinne ‘Literarische’ des Geschehens andeutet. Während eines Paris-Aufenthaltes macht der Ich-Erzähler in einer Bücherei in der Rue Montmartre die Bekanntschaft von Auguste Dupin, der, aus alter, aber verarmter Familie stammend, durch seine Belesenheit und „die lebhafte Frische seiner Vorstellungskraft“ überrascht. Beide beschließen, eine gemeinsame Wohnung im Faubourg Saint-Germain zu beziehen, wobei der Erzähler bald die merkwürdigen Gewohnheiten des in die Nacht verliebten Dupin bemerkt: Tagsüber werden die Fensterläden geschlossen, Kerzen angezündet, nachts aber streifen beide durch die Straßen von Paris und suchen „inmitten der schwankenden Lichter und Schatten der volkreichen Stadt jenes Übermaß geistig-seelischer Erregung, das ruhige Betrachtung gewähren kann“. Bei solchen Gelegenheiten tritt die analytische Begabung Dupins zutage, die, wie eine geschilderte Szene belegt, ans Hellseherische grenzt, indem sie einen Gedankengang des Erzählers, dessen Verhaltensweisen ‘lesend’, exakt rekonstruiert. Eine Kriminalgeschichte ist dies bis hierher noch nicht, doch wird an jenen Gang der Gedanken die Lektüre einer Abendzeitung angeschlossen, die
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von „ungeheuerlichen Mordfällen“ berichtet: Zwei Frauen wurden auf bestialische Weise ermordet: Die Leiche der einen fand man mit durchschnittener Kehle im Hof eines Hauses liegen, die Leiche der zweiten Frau, ihrer Tochter, steckte kopfüber in einem Kamin; in den Wohnräumen der beiden herrschte eine wüste Unordnung, eine größere Geldsumme ließ der Täter zurück, so dass ein Raubmord ausgeschlossen ist. Die Zeitung des nächsten Tages weiß von zahlreichen Zeugenaussagen zu berichten, die zwei Stimmen gehört haben – eine, die einem Französisch sprechenden Mann gehörte, eine weitere, hohe und schrille, deren Sprache von einer vielsprachigen Zeugengruppe unterschiedlich bezeichnet wird – Deutsch, Englisch, Russisch –, wobei die jeweilige Zuordnung von anderen Zeugen, die der genannten Sprache mächtig sind, verneint wird. Die Zeugen werden mit Namen genannt und in aller Ausführlichkeit in dem Zeitungsbericht wiedergegeben. Dieser Beginn der Kriminalstory überrascht dadurch, dass das Geschehen nicht, wie es ein Leichtes gewesen wäre, von den beiden Männern auf ihren nächtlichen Streifzügen am Ort der Tat selbst entdeckt, sondern durch zwei Zeitungsberichte dargelegt wird: Es findet durch Sprache seinen Eingang in die Geschichte. Nach der Lektüre eines dritten Zeitungsberichts, in dem das Rätselhafte dieser Tat noch einmal unterstrichen und die Ratlosigkeit der Polizei kundgetan wurde, machen sich Dupin und sein Begleiter auf den Weg in das St.-Roch-Viertel (nahe Port-Royal, wo sie nachts unterwegs gewesen waren), um den Tatort in Augenschein zu nehmen, nicht ohne dass Dupin vorher betont hatte, das Dunkel sei in den Tälern, wo man als tiefgründiger Mensch die Wahrheit suche, die Aufschlüsse aber finde man im Licht der Berggipfel. Diese Metaphorik des Erkenntnisprozesses als Aufstieg aus dem Dunkel ins Licht findet ihre Bestätigung durch die Lage des Hauses gleichsam im Dunkel, weit entfernt von der Wohnung der beiden Männer, in einer der „kümmerlichen Verbindungsstraßen“ zwischen der Rue Richelieu und der Rue St.-Roch – im Viertel der Börse und der Bibliothèque Nationale. Dupin untersucht schweigend und mit größter Genauigkeit den Tatort, und erst am Abend kehren beide nach Hause zurück, nachdem Dupin auf dem Wege kurz in der Redaktion einer Zeitung verschwunden war. Der Ich-Erzähler hatte bei der Besichtigung des Tatortes nichts bemerkt, was über den Zeitungsbericht hinausging; umso erstaunter ist er, als ihm Dupin den Besuch einer Person ankündigt, die in das Geschehen verwickelt war. Während der Wartezeit verkündet der Detektiv dem erstaunten Freund den Stand seiner Einsichten, die er bei der Besichtigung des Tatortes gewonnen hatte. Bald erscheint die angekündigte Person – ein Matrose, der von der Tat berichtet, der Tat eines Orang-Utan, den er aus Borneo nach Paris mitgebracht hatte. Auf eine Zeitungsanzeige hin, die Dupin aufgab und die im Wortlaut zitiert wird, meldete sich der Matrose und berichtete, was geschah. Doch eben dies hatte man schon den Ausführungen Dupins entnehmen
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können, so dass die Tat aus zwei verschiedenen Perspektiven, die sich indes decken, geschildert wird. Was folgt aus diesen Beobachtungen am Text? Das Geschehen ist in höchstem Maße versprachlicht und literarisiert: Sei es, dass die Zeitungsberichte zitiert werden, sei es, dass Dupin selbst seine Beobachtungen und Schlüsse darlegt, sei es schließlich, dass der Matrose den Hergang schildert – immer erscheint das Geschehen als sprachlich vermitteltes. Es geht um die Einsicht, die Analyse, die Situierung der Tat – deshalb auch die topographisch genauen Angaben, bezogen auf die verschiedenen Örtlichkeiten der Stadt. Selbst der Orang-Utan findet seinen Ort, indem er an das Tiergehege im Jardin des Plantes verkauft wird. Paris wird nicht eigentlich beschrieben, sondern im Kontext der Geschichte neu geschrieben. Die dem Leser angesonnene Aufgabe und das ihm bereitete Vergnügen bestehen nicht primär darin, ihm zur Entschlüsselung der Geschichte bestimmte Schlussfolgerungen nahe zu legen, noch bevor der Detektiv zu seinem Ergebnis kommt. Vielmehr bezieht sich sein analytischer Scharfsinn auf die Literarität des Textes und auf die Bedeutung des Lesens als Erkenntnisprozess. Die Geschichte, selbst schon Text, ist von Texten und Büchern durchzogen, beginnend mit einer Anleitung zum Whist, endend mit einem Zitat aus Rousseaus Neuer Héloïse, das auf den Pariser Polizeipräsidenten angewandt wird und „seine Gewohnheit, ‘de nier ce qui est, et d’expliquer ce qui n’est pas’“ (zu verneinen, was ist, und zu erklären, was nicht ist). Schon vorher war dieselbe Person im Zuge der Ermittlungen mit Molières Monsieur Jourdain, dem ‘Bürger als Edelmann’, verglichen worden, der nach seinem Morgenmantel verlangte, um die Musik besser zu hören. Bücher und Texte sind omnipräsent, selbst was den Ort des Geschehens anbelangt, der in der Nähe einer Bibliothek liegt. Und, man vergesse nicht, dass die Beziehung der beiden Männer, des namenlosen Ich-Erzählers und des Detektivs, in einer Bücherei beginnt. Während die große Stadt, durch ihre Ausdehnung und die in ihr herrschende Anonymität, einerseits die Undurchsichtigkeit, das Dunkel des Verbrechens gewährleistet, ja dieses geradezu generiert, stellt sie andererseits, in Analogie zu den komplexen Strukturen des Denkens und Erkennens, die Möglichkeiten zu seiner Aufklärung bereit. Der Detektiv bewegt sich im Labyrinth der Stadt ganz ähnlich, wie die Strukturen seines Denkens, durch mentale Schaltprozesse hervorgerufen, im Durchgang durch die Sachverhalte eine Lösung herbeiführen. Dies geschieht gegenüber den Pariser Nächten Rétifs, aber auch im Vergleich zu Arthur Conan Doyle auf sehr komplexe, immer mit der Sprache und dem Text vermittelte Weise. Die Faktizität des Verbrechens und seiner Aufklärung hat ihren Ort nicht in einer wie auch immer gearteten Realität, sondern in der Sprache, im Text, in der Literatur.
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Die Verbindung von Großstadt und Kriminalität detektivisch zu verfolgen müsste bedeuten, weite Teile der Kriminal- und Detektivliteratur in die Darstellung einzubeziehen; wo die Romane selbst spannend sind, ist es deren Analyse nicht unbedingt, und so beschließen wir dieses Kapitel mit einigen Hinweisen, die der Leser mit- und nachverfolgen mag. Die berühmtesten Detektive der Kriminalliteratur, zu denen an erster Stelle George Simenons Kommissar Maigret zählt, ermitteln in Großstädten. Sind diese der Nährboden des Verbrechens, bilden sie auch die zumeist düstere Kulisse der Ermittlungen – bei Edgar Wallace nicht minder als bei Agatha Christie. Und wenn die heutige, jede Woche (einschließlich der Wiederholungen) im Fernsehen präsentierte „Tatort“-Reihe die verschiedenen Großstädte Deutschlands durchspielt, mag dies seinen Grund nicht nur in den Sendeanstalten der Länder finden, sondern auch in der Verbindung von Großstadt und Kriminalität. So wirkt die Tatsache, dass die klassische Kriminalstory ihren Ursprung bei Edgar Allan Poe, den Ort ihres Entstehens in Paris hat, noch lange fort und verbindet die Großstadt mit einem der meistgelesenen Genres der Literaturgeschichte. Ob diese Texte auch unter literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten, den Genius Loci und die Lokalfarben betreffend, noch so ergiebig sind wie seinerzeit bei Poe, mag dahingestellt bleiben. Bis jetzt ist die weitaus spannendste Geschichte, im Urteil der Autorin (was nicht viel besagen muss), jene des ‘Mannes der Menge’ – eine Kriminalgeschichte ohne Verbrechen, aber mit allen Anzeichen einer düsteren und im Dunkeln bleibenden Tat, von der niemand weiß außer (vielleicht) der Mann der Menge. Poe, New Yorker und Erfinder der literarischen Detektivgeschichte, legte Spuren durch die Literatur – so weit, dass sich selbst ein Autor der Gegenwart, Paul Auster mit seiner New York Trilogie, auf ihn beruft: „Und dennoch: wie sagt Dupin bei Poe?“ Im ersten Roman der Trilogie, Stadt aus Glas, bildet Poe indes nicht die einzige literarische Spur: Montaigne, Cervantes, Baudelaire und andere sind die künstlerischen Zeugen für einen Roman, der selbst in so hohem Maße der Sprache verschrieben ist, dass sogar die Stadt New York ihrerseits zu einem Text wird. Die im Ansatz detektivische Handlung – eine Nachforschung, mit der ein Autor von Kriminalromanen betraut wird, die aber wie im Mann der Menge zu keinem Ergebnis führt –, ist von Sprache begleitet und durchzogen. Dabei gerät der großstädtische Charakter von New York indes keineswegs aus dem Blick. Ein kurzer Blick auf die Handlung offenbart ein vor allem auf die Hauptfigur David Quinn bezogenes, von ihm selbst initiiertes Verwirrspiel: Unter dem Pseudonym William Wilson veröffentlicht Quinn Kriminalromane, deren Erzähler ein Privatdetektiv namens Max Work ist. Statt einen Kriminalroman zu schreiben, begibt sich Quinn unter dem Namen Paul Auster selbst in eine Recherche, die sich auf einen gewissen Peter Stillman bezieht, von dem sich sein geistesgestörter Sohn, der sich als Dichter versteht, und
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dessen Frau bedroht fühlen. Eine Figur mit Namen Paul Auster taucht gegen Ende des Romans auf, und man ahnt schon, dass dieser Mann seinerseits Schriftsteller ist. Als schließlich die Geschichte „undurchsichtig“ wird, nimmt der bis dahin auktorial agierende Erzähler die Ich-Form an und ist nun ein Freund von Paul Auster. Beide begeben sich, erfolglos, auf die Suche nach David Quinn, von dem nur sein rotes Notizbuch in der verlassenen StillmanWohnung zurückgeblieben ist. Ob der Ich-Erzähler nun aus diesem Notizbuch das Material für seine Geschichte gewinnt, bleibt offen – es wäre dann eben jene Geschichte, die der Leser bereits kennt. Als Peter Stillman, der Vater, aus der Verwahrung entlassen wird, in die er wegen der unmenschlichen Behandlung seines Sohnes genommen worden war, heftet sich Quinn auf seine Spuren. Durch lange Gänge mit der Stadt vertraut, hat sich Quinn den Ort jedoch nicht erschlossen: New York war ein unerschöpflicher Raum, ein Labyrinth von endlosen Schritten, und so weit er auch ging, so gut er seine Viertel auch kennenlernte, es hinterließ in ihm immer das Gefühl, verloren zu sein. Verloren nicht nur in der Stadt, sondern auch in sich selbst. Jedesmal, wenn er ging, hatte er ein Gefühl, als ließe er sich selbst zurück […]. Die Welt war außerhalb seiner selbst, um ihn herum, vor ihm, und die Schnelligkeit, mit der sie ständig wechselte, machte es ihm unmöglich, bei irgendeiner Einzelheit lange zu verweilen.
Das Ich und die Stadt kommen bei Quinn nicht zur Deckung, und einen Sinn entfaltet dieser Ort vor dem Einsetzen der Geschichte nicht: „New York war das Nirgendwo“, ist so wenig Heimat und Erfahrungsraum, wie das Pseudonym William Wilson Teil von Quinn sein kann. Eine solcherart leere, mit Identitätsproblemen behaftete Existenz ist nur zu leicht in eine Geschichte hineinzuziehen, die, wenngleich in äußerst spekulativer Weise, diesem Leben und diesem Ort einen Sinn verleiht: „Der Detektiv ist einer, der beobachtet, der horcht, der sich durch diesen Morast von Dingen und Ereignissen bewegt auf der Suche nach dem Gedanken, der Idee, die alles zusammenfaßt und allem einen Sinn gibt. Tatsächlich sind der Schriftsteller und der Detektiv austauschbar.“ Tatsächlich ergibt sich aus dem Fall, den Quinn zu recherchieren übernommen hatte, ein dreifacher Schreibakt: die Notizen Stillmans, die Aufzeichnungen Quinns, das Erzählen der Geschichte selbst. Bei seinen Nachforschungen stößt Quinn auf ein Buch, das Stillman verfasst und in dem er die Schrift eines gewissen Henry Dark mit dem Titel Das neue Babel referiert hatte. Peter Stillman, dessen Aufenthaltsort und Beschäftigungen Quinn ermitteln konnte, verhält sich auf höchst merkwürdige Art: Er streift durch die Straßen von New York, hebt Weggeworfenes auf und führt darüber Buch. Quinn seinerseits hält all dies in seinem Notizbuch fest und kommt zu einer sehr eigenartigen, im Text graphisch wiedergegebenen Ein-
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sicht. Die Wege Stillmans ergeben Buchstaben, aus denen sich die Worte THE TOWER OF BABEL zusammensetzen: Die Stadt wird Schrift. Als Quinn mit Stillman ins Gespräch kommt, ist erneut die Sprache der Gegenstand: „Sehen Sie, die Welt liegt in Trümmern, Sir. Wir haben nicht nur unser Ziel verloren, wir haben auch die Sprache verloren, mit der wir darüber sprechen können.“ Daraus zieht Stillman die Konsequenz, mit Hilfe der aufgelesenen, wertlosen Dinge eine neue Sprache zu schaffen, „[d]enn unsere Wörter entsprechen der Welt nicht mehr“. Doch wo in der Welt ist der Ort zu finden, an dem diese neue Sprache geschaffen werden kann? An dieser Stelle erweist sich explizit die Verbindung zwischen Stadt und Sprache, zwischen Topographie und Schrift: „Meine Arbeit ist sehr einfach. Ich bin nach New York gekommen, weil es der verlorenste, der elendste aller Orte ist. Die Zerbrochenheit ist allgegenwärtig, die Unordnung universal. Sie brauchen nur die Augen zu öffnen, um es zu sehen. Die zerbrochenen Menschen, die zerbrochenen Dinge, die zerbrochenen Gedanken. Die ganze Stadt ist ein Schrotthaufen. Sie eignet sich ausgezeichnet für meine Zwecke. Die Straßen sind eine endlose Materialquelle, ein unerschöpfliches Lagerhaus von zertrümmerten Dingen. Jeden Tag gehe ich mit meiner Tasche umher und sammle Gegenstände, die eine Untersuchung wert sind. Ich habe nun schon Hunderte von Proben – vom Zerdrückten bis zum Zerkratzten, vom Verbeulten bis zum Zerplatzten, vom Zerriebenen bis zum Verfaulten.“ „Was tun Sie mit diesen Dingen?“ – „Ich gebe ihnen Namen.“
Es geht Stillman darum, nicht auf der Basis unserer Begriffe (die in der nach Babel veränderten Welt nicht mehr taugen), sondern mit Bezug auf die einfachen Dinge, wie sie in New York, dem „Schrotthaufen“, in Massen zu finden sind, eine neue Sprache zu schaffen, in der Wort und Ding eine präbabylonische Einheit bilden. Nicht die ‘unnatürliche’ Zeichenhaftigkeit der Sprache, sondern ihre Harmonie mit den Gegenständen selbst ist das Ziel dieser zugegebenermaßen überspannten Bemühungen. Stillman wird sich schließlich, offenbar in geistiger Umnachtung, von einer Brücke stürzen, Quinn bleibt am Schluss, wie wir wissen, verschollen. Doch auf dieses anekdotische Ende, das ein Scheitern suggeriert, soll es hier nicht ankommen, weil etwas weitaus Wichtigeres Bestand hat: die Idee, es gäbe zwischen dem Detektiv und dem Ort seiner Recherchen, zwischen dem Schriftsteller und seiner Stadt, zwischen dem überspannten Spracherfinder und dem zertrümmerten New York, schließlich zwischen den Wörtern und den Dingen mehr als eine nur zufällige Verbindung. Gewiss können Großstädte, leichter als kleinere Orte, Verbrechen generieren und deren Aufklärung erschweren, was zur Spannung der Detektivromane nicht unwesentlich beiträgt. Doch in literarischer Optik sind die Labyrinthe der Städte Stätten einer Suche nach Aufklärung und im Weiteren nach Sinn. Die Enthüllungen von Verbrechen sind nur Zeichen für eine tiefere Dechiffrierung von Stadträumen, in denen sich Kryptisches ablagert. Sprachen kann man
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nicht schaffen – nicht als allgemeine Instrumente der Kommunikation, wohl aber als Ausdrucksmittel der Kunst. Es gebe Bücher, schrieb Poe, die sich nicht lesen ließen – und doch haben wir sie gelesen: Aber haben wir sie wirklich verstanden? Der Rest ist nicht jenes Schweigen, in das Quinn nach seinem Verschwinden naturgemäß verfällt, dabei aber einen Text hinterlassend; der Rest ist jenes Dunkel, das auch nach der Aufklärung über dem Verbrechen verbleibt – zumindest in den wahrhaft literarischen Darstellungen von Großstadt und Kriminalität.
2. Eidola und Genrebilder – die Großstadt im Feuilleton Mit der Großstadtdarstellung im Feuilleton erreicht unser Text den Punkt, an dem er am engsten mit seinem Gegenstand verbunden ist; Feuilleton und Essay – der jeweilige Darstellungsmodus einerseits unseres Gegenstandes, andererseits unseres Textes selbst – sind (bei allen einzuräumenden Unterschieden der Qualität) in ihrer Schreibweise verwandt. Damit aber trifft unser Text nicht auf Erleichterungen, wie man meinen könnte, sondern auf erschwerte Bedingungen, denn die Nähe zum Gegenstand kann leicht dazu führen, dass der eigene Text gleichsam verschlungen wird – um noch einmal das Motto „quaerens quem devoret“ zu bemühen. Im Feuilleton der Zeitungen wird die Großstadt auf ein Kleinformat zurechtgeschnitten – dem Medium folgend, das Kürze, Prägnanz und Interesse fordert, ist doch das Tempo der Metropolen von der Art, dass der moderne Mensch, Leser jener sich immer weiter ausbreitenden, an Zahl zunehmenden Blätter, keine Zeit mehr zum Lesen hat: Das in Eile eingenommene Frühstück, die Fahrt zur Arbeitsstelle, die Pausen im Arbeitsablauf bilden jene typischen Lese-Situationen heraus, denen das moderne Medium der Presse zu entsprechen weiß. Wenngleich kurz, sind doch die Feuilletons keineswegs kunstlos. Die Geschichte der Beziehung zwischen Großstadtdarstellung und Presse ist zwar noch ungeschrieben, aber deren ehrwürdiges Alter (seit Beginn der Presse in den moralischen Wochenschriften) entlastet das Feuilleton, aus dem auch nicht wenige Romane – von Dickens und Sue zum Beispiel – hervorgingen, vom Odium der Belanglosigkeit. Die folgende Darstellung, die Feuilletons von Alfred Polgar und Peter Altenberg wird, mag dazu beitragen, die Qualität dieses Genres trotz oder gerade wegen seiner Kürze zur Anschauung zu bringen. Dabei wird es darum gehen, in der ohnehin schon durch die Kleinform konzentrierten Aufmerksamkeit weitere Akzente zu setzen; eine neuerliche Begegnung mit Baudelaire wird dabei wohl zunächst überraschen, bald aber überzeugen.
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Das Feuilleton, weiten Bereichen der Reflexion, des Kommentars und der Kritik offen, bietet auch der Großstadtdarstellung mehr oder minder sporadisch eine Heimstatt. Alfred Polgar, bekannt vor allem als Theaterkritiker, entdeckt die Stadt Wien im Zeichen einer radikalen Veränderung, sozusagen im Modus der Alterität: Es ist Kriegszeit. Mit dem Gestus ‘es ist alles anders als gewohnt’ erfasst Polgar die Stadt als Bild des Krieges und den Menschen als Bild dieser Stadt. Die Darstellung Wiens vollzieht sich vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges, der, so habe es geheißen, „Erhabenes aus der Menschenseele“ heraushole und Gemeines aus ihr tilge. Für die moralische Bilanz des Krieges ergebe sich aber „ein schauerliches Minus“: Es ergibt sich, daß der Krieg die Tugend bestraft und das Laster belohnt. Daß er ein Segen ist für die Schlimmen und ein Fluch für die Braven. Daß es unter seinem Regime den Guten schlecht und den Schlechten gut geht. […] Wer, als es zu Kriegsbeginn hieß – Vergrabt euer Geld nicht!, sein Geld vergrub, der ist jetzt etwa doppelt so reich, als er in Friedenszeiten war. […] Wer, als es hieß: Hamstert nicht!, hamsterte, der hatte für sich und die Seinen noch Nahrung, als die anderen schon längst hungerten.
Diese Moral im Minus ist nicht nur eine Feststellung von der hohen Warte ethischer Erfordernisse, die im Krieg und am Krieg zuschanden werden; es fällt auch auf, wie sehr die pervertierte Moral bei Polgar Sprachform gewinnt: Die Nichtachtung von Verboten wird de facto belohnt, und es reicht, die sprachliche Negation („vergrabe nicht …“) ins Positive zu kehren, damit der erwünschte Effekt sich einstellt – eine Moral des Ungehorsams, sichtbar an den Strukturen der Sprache. Im Krieg ernten die Leichtfertigen, was den Ehrbaren zusteht: „Wer, von Sünden und Lastern zermürbt, schwächliche Kinder in die Welt setzte, der hat sie noch. Die wohlgeratenen düngen längst des Krieges Acker.“ Zugleich die der Situation geschuldete Grabstätte als auch den Aktionsraum des ‘Sensenmannes’ Tod bezeichnend, führt die Wendung vom ‘Acker des Krieges’ schon ansatzweise auf eine andere Ebene der Darstellung, die nicht nur Wahrnehmungen, sondern auch weitreichende Deutungen erkennen lässt, aus denen sich die Poetik Polgars speist: „Kriegsgewinner ist die Hölle. Die Erde zahlt mächtig drauf. Der Himmel hat, wie andere Etablissements auch, zugesperrt. Man munkelt von seinem Bankerott.“ Wie schon früher bei Mercier, führt die moralisch verkehrte Welt des Krieges auch zu Verkehrungen im physischen Bild der Stadt; ja, zwischen beiden besteht eine enge Verbindung, wie der Text „Die Häuser“ belegt: Dem gefräßigen Österreich sind viele Zähne ausgebrochen worden, damit es nicht mehr beißen könne. Geblieben ist der mächtige Stockzahn Wien, durch und durch kariös. Das Email abgesprungen; die Wurzel faul; „die Krone“ bekanntlich ganz und gar weg. Die Stadt zerbröckelt sachte, unaufhaltsam. Seit vielen Jahren gibt es keinen Nachwuchs. Keine neue Menschenwohnung, kein blankes junges Haus wächst aus dem unfruchtbar gewordenen Boden. Und die alten fügen sich ohne Widerstand in das Schicksal des Ver-
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witterns und Vermorschens. Ihre Gesichter sind rissig, grau, wie zernagt von Schmutz und Tränen. Was schief werden kann, wird schief. Was rosten kann, rostet. In ärmeren Stadtteilen tritt an Stelle des Glases im Fensterrahmen Holzverschalung, in den ganz elenden Vierteln ersetzt Zeitungspapier die fehlende Scheibe. Farbe blättert ab, und Stuck zerbricht. […] Wie außen ist es innen. Von den Mauern springt der Mörtel, ohne daß ihm gewehrt würde, die Höhlung der ausgetretenen Stiegenstufen wird täglich tiefer, die Treppenlampen tun zerbrochen ihren matten, reduzierten Dienst, an den Türen baumeln halbe Namenstäfelchen, die Glockenzüge funktionieren nicht, auf den Gängen werden der Kacheln weniger, der Löcher mehr, und der Lift weigert seine Herz und Lunge schonende Hilfe. […] Alles ist abgenutzt, schadhaft, hinfällig, die Moral wie die Möbel.
Die Engführung von ‘Moral’ und ‘Möbeln’, die Gesichter der Häuser, die Metapher vom „Stockzahn Wien“, die den ‘Verlust der Krone’ doppelsinnig anschließbar macht, schließlich die explizite Feststellung „[w]ie außen ist es innen“ unterstreichen, dass hier das Äußere mit dem Inneren korreliert wird, der physische Zustand der Stadt zum Bild ihrer moralischen Verfasstheit gerät. Das nunmehr fast zahnlose Österreich kann nicht mehr ‘zubeißen’ und ist der politischen Harmlosigkeit anheim gegeben. In den Schilderungen eines Zustands des Verfalls offenbart aber die Genauigkeit, mit der sich Polgar den schäbigen Details der Stadt zuwendet, einen liebevoll-verständnisvollen Gestus, der mit Melancholie angereichert ist: Diese Stadt erheischt in ihrer Armseligkeit Mitleid, weil sie zugleich das Abbild derer ist, die sie bewohnen. In einer Wiener Institution wie dem Caféhaus kommt die Schmach der Zeit als Schäbigkeit der Ausstattung zu besonders trüber Anschauung – ist doch das Café in Wien eine kulturelle Institution, die für die Entstehung der Wiener Moderne – im Zusammenhang mit Peter Altenberg wird darauf zurückzukommen sein – prägend wurde: Die Löffel sind aus Blech, die Servietten aus Papier oder gar nicht, die Teller von Sprüngen dicht genetzt, die Gläser an den Rändern schartig gezackt, die Messer locker im Griff, zu Dolchen schmalgeschmirgelt und stumpf wie Urwieners Geist. Die Tische wackeln greisenhaft, in ihren Tuchüberzügen klaffen Löcher, oder sie sind geflickt mit Zeug in allen Farben, erinnernd an Dorfbettelkinds Hose. In den Streichholzbehältern gibt es keine Streichhölzer, in den Brotkörben kein Brot, in der Zuckertasse klebt ein nasses Sacharinpillchen. Von den Schachfiguren fehlt die Hälfte, die verbrauchten elektrischen Birnen glühen ohnmächtig gelb, und der Samt der Stühle ist von allen im Café gebotenen Dingen das fetthaltigste. Das Telephon ist verdorben, die Zeitungen ausgeblieben, und dein Winterrock, den zu tragen du dich schämtest, von einem, der sich seiner nicht schämte, weggenommen worden.
Die Sprachkraft Polgars evoziert ein Bild, dessen äußere Züge erneut mit den Menschen in Verbindung stehen: „stumpf wie Urwieners Geist“, „erinnernd an Dorfbettelkinds Hose“ – ein üppiges Bild des Mangels, der selbst vor Dieb-
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stählen des Schäbigen nicht Halt macht. Welche Qualität der Kaffee hat, kann man nur erahnen – wahrscheinlich ist er ‘unsäglich’. Unabhängig von einzelnen Wahrnehmungen, deren Fülle die Zeit der Not illustrieren, ihr aber auch poetisch ihr Gegenteil zuweisen soll – mit jenen Umschwüngen und Ambiguitäten des Negativen und des Positiven, von denen schon oben die Rede war –, schärft der Krieg den Blick: Wendung des Negativen der Erfahrung ins Positive des Schreibens. Freilich sind die Skizzen Polgars auch Zeitbilder, indem sie festhalten, was bald den neuen Zeiten des Friedens (aus poetischer Sicht müsste man sagen:) zum Opfer fallen wird. Was dann entsteht, ist weniger schäbig und hässlich, aber auch weniger bemerkenswert. Das bloße Erscheinungsbild von Wien erlangt nicht die Aufmerksamkeit Polgars, der weder der Beschreibungsmanie verfällt noch nur ein Chronist ist. Vielmehr ist sein Wien doppelbödig, bedeutsam gerade in seiner Verfallenheit, Zeichen für eine Entwicklung, die es selbst mitverschuldete. Am Bild der Stadt kommt ein Zustand der Zivilisation zur Evidenz, der puren Immanenz entzogen und phantasmagorisches Symbol für eine End-Zeit im doppelten Sinne: Ende des „Lebensfestes“, wie es in einem anderen Text heißt, Ende der Anständigkeit; eine Apokalypse oder vielleicht doch eher ein Wiener ‘Apokalypserl’? Polgars Intention, Inneres im Äußeren anschaulich zu machen, die moralische Verfasstheit der Zeit in den physischen Erscheinungen der Stadt Wien greifbar werden zu lassen, zeigt auch das kurze Prosastück mit dem Titel „Die Uhren“: Die Uhren auf den Straßen, an Kirchtürmen und öffentlichen Gebäuden gehen vor oder zurück oder gar nicht. Mancher fehlt das Zifferblatt, mancher ein Zeiger, mancher beide. Die, welche ein Schlagwerk haben, schlagen nach Laune. Die Zeit ist aus den Fugen, die Uhrmacher können nichts dafür. […] Die Uhren an den Wetterhäuschen der öffentlichen Gärten stehen still, die Barometer dort zeigen unveränderlich „Veränderlich“, die Thermometer sind ausgeronnen, und die Hygrometer haben die Arbeit endgültig eingestellt. Wer, bitte, interessiert sich denn auch noch für unseren Feuchtigkeitsgehalt?
Was die Uhren anzeigen sollen, die Zeit, ist offenbar der Möglichkeit, diese Zeit zu fassen, entglitten. Die aus den Fugen geratene Zeit lässt keine Messungen mehr zu; deshalb, so Polgars Deutung, sind die Uhren nicht nur stehen geblieben, sondern auch technisch defekt. Wie sich niemand mehr für die Anzeigen des Hygrometers interessiert, so ist auch, möchte man schließen, die Zeit im Sinne der Chronologie den Menschen einerlei: Unter den neuen Bedingungen haben sich die Interessen verschoben. Doch dies ist nicht die bloße Feststellung einer gegebenen Situation in geschliffener Sprachgebung; vielmehr bildet das eine, das Sichtbare, nur das Zeichen für einen inneren Zustand, während umgekehrt das andere, die innere Verfasstheit der Menschen, im Äußeren zur Erscheinung kommt:
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Ansichten der Großstadt
Die Menschen machen böse Mienen zum selbstverschuldeten Spiel. Ihre zerlöcherten Seelen sind mit Zeitungspapier verklebt, wie die zerlöcherten Fenster der Vorstadt; und schwankend im Winde gleich den Bogenlampen auf hohem Mast, träumen sie, leer und blind wie jene, von versunkener Herrlichkeit. Sie sind voll bitterer Verneinung einer Gegenwart, die die logische Folge einer von ihnen durchaus bejahten Vergangenheit ist. Sie sind zugrunde gegangen an dem, was war, und klagen, daß es nicht mehr ist. Jede Schaufel Erde, die auf den Leichnam fällt, dessen Fäulnis und Verwesung ihre Luft verpestet, fällt ihnen aufs Herz. Sie ziehen das Mirakel der Wiederauferstehung den Strapazen der Neugeburt vor. Sie sind stehengeblieben und unerleuchtet wie die Uhren der Stadt. Sie sind mit ihrem Übermut und ihrer Depression, ihrer Lebenslust und ihrem Weltschmerz nicht nur Zeugen für den Verfall dieser Stadt, sondern auch Zeugen für solchen Verfalls strenge Logik und innere Notwendigkeit.
Der letzte Satz kennzeichnet Polgars Intention, denn es geht nicht nur um die Beschreibung von Zuständlichkeiten (obschon auch das in einer Situation des Verfalls die besondere Prägnanz der Schäbigkeit unterstreicht), sondern vor allem um jene Mechanismen und Gesetzmäßigkeiten, die allem Elend dieser Stadt zugrunde liegen. Es kam nicht nur ein Unglück über die Stadt; vielmehr enthielt sie lange vorher dessen Gründe in ihrem Kern. Zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit besteht eine Logik des Verfalls – so wie der äußere Anschein notwendig ein Bild des inneren Zustands ist. Dies erst rechtfertigt die Akribie und die Präzision, mit der sich Polgar dem Elend der Wienerstadt zuwendet. Weil in der Gegenwart die Vergangenheit enthalten ist, kann aus dem Ist-Zustand einer nicht mehr funktionsfähigen Großstadt das Bild der vergangenen Aktivität dieser Metropole abgeleitet werden: Herbst, da kam sonst (erinnern wir uns noch?) das Rad der Arbeit donnernd in Schwung. Da begann das Sprühen und Sausen und Lärmen von ungezählten sinnvollen und törichten Tätigkeiten, das den Großstädter Musik dünkt und seine Majestät hat wie Meeresrauschen. Da fiel die sommerliche Müdigkeit von der Stadt, da kam das herrlich mitreißende Tempo in ihre Bewegungen. Wenn es dunkelte, schlug sie hunderttausend Augen auf, spottend der Nacht, und klirrte vor Übermut und Lebensfreude. Jetzt hat sich’s ausgespottet und ausgeklirrt.
Hat es sich wirklich „ausgespottet“? Nicht ganz, denn in leicht veränderter Wendung des ‘Spottes’ hält der Sarkasmus Eingang in die Stadt, zumindest aber in Polgars Darstellung von ihr. Das eigentliche, wiedererkennbare Bild der modernen Großstadt kann nur jenes sein, das sich aus der Erinnerung speist. Während die Vorstellung von der Großstadt als eines moralischen Mikrokosmos, die zu den Konstanten der frühen Darstellungen gehört, auch hier evoziert wird, sind doch die Akzente anders gesetzt – mit dem Schwung der modernen Metropolen, deren Lärm wie Musik ist und der „seine Majestät hat wie Meeresrauschen“. Die „Müdigkeit“ der Stadt, das Aufschlagen ihrer Augen, die Lebensfreude, die sie ausstrahlt, verleihen ihr wiederum anthropomorphe
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Züge. Zu Zeiten der ‘Gesundheit’ mitreißend, ist sie lethargisch in Zeiten des Leidens – wie die Menschen, die in ihr leben: eine Symbiose, der die Sprache Polgars mit ihrem Reichtum an Metaphern und Symbolen, mit ihrem Gestus der Sinnsetzung (selbst wenn der ‘Sinn’ sich ins Negative zu wenden droht…) nicht nur Ausdruck verleiht, sondern welche sie selbst vollzieht. Darstellungen der Kriegszeit in Wien, der Kaffeehäuser, der Dekadenz finden sich auch im feuilletonistischen Werk von Peter Altenberg, doch gewinnen sie dort eine andere Note. Altenberg, der Wien nie verließ (allenfalls Ausflüge in die Umgebung unternahm), der seine Wohnung in einem Hotel, seinen Aufenthalt in einem Kaffeehaus (dem Café Central) nahm, ist unter den Feuilletonisten am entschiedensten ein Individualist – was viel bedeutet in einem Genre, das ohnehin den individuellen Eindrücken und der subjektiven Tonlage gewidmet ist. Hier artikuliert sich nicht das Allgemeine, sondern, prägnant auf die Formel gebracht, das Besondere, gefiltert durch das Temperament des Autors. Diese Individualität gewinnt im Werk Peter Altenbergs, das zwar überall von Wien gespeist ist, die Stadt aber nur selten ausdrücklich zu seinem Thema macht, eine bis zur Schrulligkeit reichende Eigenart, ja geradezu eine dezidierte Eigenwilligkeit. Altenberg ist, so will es nach den Zeugnissen der Zeit anmuten, in seinen überlieferten Texten nur sehr bedingt als Persönlichkeit zu fassen, ist doch sein Schreiben zugleich auch ein Stück Lebens-Philosophie. Der eigenartige ‘Ton’ dieses Autors ist uns zugleich in der Schreibweise seiner Texte gegenwärtig – mit ihrem fast manischen Hang zur Hervorhebung, ihrer häufig eigenwilligen Interpunktion (?!, !?) und ihrer saloppen, an der unmittelbaren Rede orientierten Sprache, der indes, gedruckt, das lebendige Wort, der typische Ton fehlen. Schnodderiges „Genie der Nichtigkeiten“ (Franz Kafka), von dem Egon Friedell eine Fülle von Anekdoten überlieferte, ist Peter Altenberg in der Fülle seiner Genrebilder aus Wien immer auch humorvoll in seiner Betroffenheit, betroffen trotz aller Komik. Die überraschende Verbindung des Verschiedenen ist sein Kunstmittel, Ironie die bevorzugte Art seines Ausdrucks. Vor dem Hintergrund des vergleichsweise ‘hohen’ Tones, den Polgar bei der Darstellung Wiens zu Kriegszeiten angeschlagen hatte, wirkt Altenbergs „Kriegszeit 1915“ auf den ersten Blick geradezu harmlos: Also habt ihr euch schon beruhigt, feine Damen, daß euch das Gebäck aus zartem weißem Weizenmehl abhanden gekommen ist?! Ja, seht, spürt ihr denn nicht, daß Gebäck aus Kartoffelmehl und Maismehl viel schmackhafter, viel nahrhafter ist, viel schönere, goldgelbe, hellbraune delikate glasspröde Rinde ergibt?! Bei dieser Gelegenheit will ich euch statt des völlig unnötigen, meist zähen teuren Fleisches, eine ideale Speise sagen: Kipfel-Erdäpfel (Kipfler!) in dicken Scheiben geschnitten, mit Estragon-Essig, Bertram-Essig angemacht, in einer dicken kalten Eidotter-Sauce (jetzt: Tunke!) schwimmend, in tiefer Glasschüssel serviert! Das Ganze benenne ich: Bertram-Kipfler (früher:
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pommes minces à l’Estragon!). Ja, der Krieg bringt Veränderungen mit sich. Also, nicht mehr so weinen um die Kaisersemmel und sich kränken wegen der Strizerl und Kipferl! Ein jeder muß, so schwer es ihm auch ankommt, sein Scherflein an Opfermut beitragen. Hihihi! („Lebensmaschinerie“).
Der plötzliche Umschlag, der aus Zeiten der Fülle Zeiten des Mangels macht, soll hier dem Anschein nach kompensiert werden. Das Loblied auf die „Kipfler“ – wohl eine Altenberg’sche Wortschöpfung – zunächst in Form eines Gebäcks mit appetitanregenden Eigenschaften, die aber offenbar doch den einen (freilich zu vernachlässigenden) Mangel einer „glasspröden Rinde“ zeigen, an der man sich vermutlich die Zähne ausbeißt, ist von jenem Umschlag gekennzeichnet. Und auch der Hymnus auf das Spezialrezept der „BertramKipfler“ – nicht nur ein Ersatz für das teure und zähe Fleisch, sondern geradezu dessen Überbietung – zeigt jene Ironie, mit der Altenberg seine Texte würzt. Hier erscheint der Krieg im Kleinformat, als Veränderung des Alltags aus der Perspektive der Hausfrauen. Der teilweise zum Pathetischen neigende Betroffenheitsgestus Polgars wird bei Altenberg im Kleinen unterlaufen, die Kriegspropaganda („Opfermut“) ironisch gebrochen und die nur scheinbar dramatische Situation in Gelächter aufgelöst, welches das ganze Deutungsspektrum zwischen Indifferenz, Nonchalance und Perfidie (wäre das Lachen ein satanisches?) zulässt. Stand bei Polgar das Kaffeehaus in Kriegszeiten symbolisch für die allgemeine Not und zeigte deren Züge, ist diese Wiener Institution für Peter Altenberg ein privater Ort, eine Zuflucht in allen Lebenslagen und allen Krisen. Es erscheint als das Allheilmittel für jegliche Art von Problemen: Du hast Sorgen, sei es diese, sei es jene – – – ins Kaffeehaus! Sie kann, aus irgendeinem, wenn auch noch so plausiblen Grunde, nicht zu dir kommen – – – ins Kaffeehaus! Du hast zerrissene Stiefel – – – Kaffeehaus! Du hast 400 Kronen Gehalt und gibst 500 aus – – – Kaffeehaus! Du bist korrekt sparsam und gönnst Dir nichts – – – Kaffeehaus! Du bist Beamter und wärest gern Arzt geworden – – – Kaffeehaus! Du findest Keine, die Dir paßt – – – Kaffeehaus! Du stehst innerlich vor dem Selbstmord – – – Kaffeehaus! Du haßt und verachtest die Menschen und kannst sie dennoch nicht missen – – – Kaffeehaus! Man kreditiert Dir nirgends mehr – – – Kaffeehaus!
Der Text entstammt der Sammlung Vita ipsa, die 1918, also noch im letzten Kriegsjahr, erschien; die Distanz zu Polgar ist leicht ersichtlich: War dort das Besondere des Kaffeehauses seine Verbindlichkeit für die allgemeine Situation, ist bei Altenberg das Café zwar ein besonderer Ort, aber vornehmlich in individuellem Verständnis. Dabei reicht das Spektrum der Hilfe von Geldproblemen
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über sentimentale Spannungen oder sogar den Lebensüberdruss bis hin zu zerrissenen Stiefeln. Obschon es um die Nöte von Einzelnen (oder sogar von Altenberg selbst) geht, ist das Kaffeehaus nicht so sehr der Ort der Sorgen wie vielmehr ein Mittel zu deren Lösung, die in dem einen, immer kursivierten Wort „Kaffeehaus“ konzentriert wird – selbst wenn die ‘Hilfe’ eine nur gewünschte oder dem Leser bloß suggerierte sein sollte. Die Großstadt ist nicht nur der Lebensraum der Menschen, sondern, zugespitzt noch, der Aktionsraum eines spezifischen Individuums mit Namen Peter Altenberg. Ein Verlust im Vergleich zu Polgar? Gewissermaßen schon, denn was dort in den Blick und die Deutung einer beobachtenden Person gefasst und von größeren Sinndimensionen gekennzeichnet war, verkürzt sich bei Altenberg auf die Sichtund Erfahrungsweise einer spezifischen Person, die Allgemeinheit gar nicht erreicht, sie auch nicht anstrebt, dabei aber doch einen poetischen Impetus erkennen lässt. Welcher Art dieser bei Peter Altenberg sein mag, dürfte nach dem Gesagten kaum noch eine Frage sein: Novembertag Du erwachst um 5 morgens, entzündest Deine drei elektrischen goldenen Glühbirnen. Dir gegenüber brennt schon eine hinter dem Tüll-Vorhang. Weshalb sie so früh aufsteht?! Und geheizt ist es doch wahrscheinlich auch noch nicht bei ihr. Vielleicht holt sie Jemanden von der Bahn ab, oder begleitet Ihn?! In schwierigen Zeiten gibt es wenig Ordnung und wenig Schlaf. Wie es geht, so geht es, und solang es geht. Nach der Uhr kannst Du Dich nicht mehr richten. Es ist ein anderes Tempo in der Welt. Hat sie wenigstens heißen Kaffee in dieser frostigen Morgenstunde?! Du tust wirklich, wie wenn sie Dich etwas anginge!? Ja, sie geht mich allerdings etwas an, wir sind nämlich Leidensgefährten, wir erwachen an einem Novembermorgen gleichzeitig um 5! Sie gewiß aus irgendwelcher Sorge. Ich aus reinem Übermute. Nur, um eine November-Stimmung zu schreiben. Nun, werden mir die 8 Kronen schaden? Ich hoffe nicht. Ich komme auf die dunkle Straße und frage mich: Welches Kaffeehaus ist so gut geleitet, daß man darin schon frühstücken kann?! Oder vielmehr: Welches ist so schlecht geleitet, daß es wegen eines einzigen Gastes bereits beleuchtet und beheizt würde?! Ich finde nur gut geleitete. Noch kehrt niemand die Straßen, evoe, noch wird kein Hündchen „äußerln“ geführt, noch liegt das Pflaster, cum grano salis, spiegelblank da. Wenn ich denke, wie oft und wie gut Morgendämmerungen in der Großstadt schon geschildert worden sind, könnte ich mir direkt ins Gesicht spucken!
Ausgehend von einer Alltagsszene, aber vor dem Hintergrund literarischer Darstellungen der Morgendämmerung, von denen eine, Altenberg wohl bekannt, aus der Feder Baudelaires stammt, artikuliert sich hier der Dichter Altenberg, der eine November-Stimmung beschreiben will und dabei gleich an sein Autorenhonorar denkt. Die Absicht bleibt dabei auf der Strecke, indem sie den Umständen und Überlegungen zur Morgenstunde, wieder einmal die Kaffeehäuser betreffend, zum Opfer fällt – oder doch nicht? Das Prosastück ist Altenbergs Beitrag zur Poetik der Großstadt, die viel Prosaisches enthält und
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den Dichter nicht im Kampf mit den Versen wie bei Baudelaire, sondern im Kampf gegen den Hunger und in der Erwartung eines Frühstücks zeigt. Zwar ist, wiederum im Hintergrund, von den schwierigen, veränderten Zeiten die Rede, in denen die Uhren buchstäblich anders gehen; doch die Szene bleibt nicht nur persönlich, sondern darüber hinaus auch alltäglich, so als könnte die Großstadt anderes gar nicht mehr hervorbringen. Doch das Kunstlose ist die Kunst Altenbergs. Die Größe der Stadt wird auf das Kleinformat eines Lebens zurückgeschnitten, das in seinem Duktus allenthalben von ihr gesteuert, in seinem Rhythmus überall von ihr bewegt wird. Die Kunstfertigkeit in der Konfrontation des Unpassenden und Ungewohnten mit einem lange schon literarisch nobilitierten Gegenstand ist Altenbergs Beitrag zur Poetik des Kontrasts: Seine Darstellung von Wien steht insgesamt in Kontrast zu jener Würde und Allgemeinheit, die der Großstadt in litteris zugeschrieben worden war – sie ist gegenüber den ausgreifenden Sittenstudien der Anfänge dem Verhalten eines Menschen, Altenbergs selbst, gewidmet und setzt den piktural angelegten Stadtgemälden die flüchtige, immer dem Sprechakt verbundene Skizze (nicht einmal in Pastell, sondern eher in Bleistift) entgegen. Wenn von den Verbindungen des Ungewohnten bei Altenberg gesprochen werden kann, so ist dem hinzuzufügen, dass auch die Materialien dieser Verbindungen, ihre ‘Stoffe’, selbst schon alles andere als das Gewohnte bezeichnen. „Wiens Hygiene“ suggeriert ein grundlegendes Thema, die Gesundheit der Stadtbewohner, ist aber in der Ausführung durchaus skurril: Ich trage seit dem 9. März 1917, meinem 58. Geburtstage, Sandalen an nackten Füßen. Seitdem erlebe, erleide ich die „Sünden Wiens“ an den armen Lungen und, ziemlich bedeutungsloser, an meinen nackten Füßen! Füße kann man zehnmal täglich reinigen, aber Lungen?!? Sämtliche Geschäfte betrachten Trottoir und Straße, von sieben morgens an als Ablagerungsstätten für den Staub der Staubtücher, der Fußmatten, der Teppiche! Den „geliebten“ Hunden werden die Trottoirs als „Klosetts“ direkt liebevoll anerzogen! […] Unsere Art, die Straße, die Trottoirs als „Mistgrube“ zu betrachten, ist ein „hygienisches Verbrechen“! Nicht jedermanns Sache ist es, den Anderen helfen zu wollen; ich will es. Nichts Richtiges ist zu unwichtig, um dafür nicht ein „Danton, Marat, Robespierre“ sogleich zu werden. Ich, wie erwähnt, kann ja täglich zehnmal meine nackten Füße rein waschen; aber Ihr Eure nackten hilflosen Lungen?!? „Hygienische Reinlichkeit“ ist eine Art von unbewußter „physiologischer Genialität“, aber Wien besitzt sie eben nicht. Es besitzt dafür, auch ein „Gnadengeschenk der Götter“, die „gutmütige Gleichgültigkeit“! Im „Volksgarten“ liegt Zentimeter-dick eine Staubschichte, die von Promenierenden und Kindern stetig aufgewirbelt wird. Fuhren von herrlichem Donausande und ununterbrochene Hand-Spritz-Wägelchen können ein „Paradies“ gestalten, aber Niemand nimmt sich die Mühe. Da kann man nur sagen: Heiliger Rathauspark, und „Anlage um die Minoritenkirche herum“! Dort ist die Luft wenigstens so rein und staubfrei wie es in einer Großstadt überhaupt sein kann. Man muß erst mit nackten Füßen gehen, um Verbrechen an den fremden Lungen ganz zu verstehen und zu hassen.
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Die Verbindung von Füßen und Lungen unter dem Aspekt der Verunreinigung zeigt Altenberg als moralischen Eiferer mit der bei ihm üblichen Portion Humor: Füße kann man waschen, Lungen nicht, und was er an seinen nackten Füßen zu ertragen hat, verschmutzt bei ihm auch noch die Füße, bei den anderen ‘nur’ die Lungen. Die ins Extreme gesteigerte Mitmenschlichkeit, nicht zuletzt verdeutlicht durch eine heftige, mit zahlreichen Hervorhebungen noch zusätzlich akzentuierte Sprache, streift nicht nur im Verlaufe die Geschichte der Französischen Revolution (um für die ‘gerechte’ Sache mit dem Leben zu bezahlen), sondern begibt sich auch in den Raum des Religiösen: Ist hier Altenberg mit seiner Kritik an dem „Gnadengeschenk der Götter“, der „gutmütigen Gleichgültigkeit“, noch Spötter oder nicht vielmehr der Apologet einer Reinlichkeit, die nicht nur Physisches, sondern auch Moralisches umfassen will? Der erste Eindruck von bloßer Subjektivität und heilloser Harmlosigkeit erfährt eine weitere Korrektur. Die Genrebilder Altenbergs gewinnen zunehmend an Tiefe, aber damit auch an Schrecken. Ein so idyllisch anmutender Titel wie „Sonnenuntergang im Prater“ weckt Erwartungen, die der Text gar nicht erfüllt. Denn statt der Versprechung des Titels wird der Leser Zeuge einer Beschreibung des Wiener Winterhafens: Da hatte man einen Rundblick auf bleigraue Hügel, schwarze Fabrikschornsteine und die Glut des Sonnenunterganges. Man sah das düstere Pulvermagazin, den Laaerberg, den Zentralfriedhof, den Kahlenberg – – –. Wie in grauem, flüssigem Blei des Himmels und der Erde wogte die dunkelrote Glut der Sonnenuntergangsstreifen. Die Lederfabrik war wie ein schwarzes Ungeheuer, und drei riesige Schornsteine sandten schwarzen Rauch in die Glut, wie schmale Dampfspritzen, die ungeheuere Brände löschen möchten! Die dünnen, zarten Birken auf dem Donauschütte bebten im Abendwind, und die beiden Freunde suchten schöne, glatte, hellbraune Kieselsteine aus als Andenken an den friedevollen Abend.
Wenig überraschend, ist auch hier das Ende ironischer Art, denn der „friedevolle Abend“ zeigt nicht die Dämmerung im Prater, sondern – mit allen Zügen des Phantastischen und Bedrohlichen versehen – eine Industrielandschaft ohne jede Idyllik. In einem poetischen Aufschwung legt Altenberg die Untergründe der Stadt vor aller Augen offen und vertraut damit dem ‘kleinen’ Genre des Feuilletons eine Diagnose der Moderne an. Dies freilich vollzog sich, weniger augenfällig, schon in den anderen betrachteten Texten. Die Skurrilität gerät zum Bild einer immanenten Bedrohung, das Besinnliche zum dekuvrierenden Mittel unterschwelliger Ängste. Bei allem Charme der Oberfläche, dem Reiz der Bohème, wie ihn Altenberg zu verkörpern scheint, tritt immer wieder eine ungreifbare, deswegen aber nicht minder bedrohliche Gefahr zutage. Den Leser, der sich amüsiert dem Anschein der Texte hingibt, entdeckt bald, in ihrer Tiefenstruktur, so viel Grusliges, dass es ihn schaudert. Mag dies auch nicht in erster Linie dem Temperament Altenbergs, sondern dem Einfluss seines Mentors Karl Krauss zuzuschreiben sein – was tut’s, darauf soll es nicht ankommen.
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Verschiedene Arten des literarischen Großstadtfeuilletons, getragen von den unterschiedlichen Schreibweisen Polgars und Altenbergs, kamen innerhalb dieses Kapitels zur Darstellung. Bei allen Unterschieden der Farbigkeit eignet jenen Genrebildern in gewisser Weise dieselbe Grundierung: die ‘Flanerie’. Wie schon, Walter Benjamin zufolge, Baudelaire als ‘Flaneur’ durch Paris streifte und im Rhythmus der Stadt kein Ziel verfolgte außer jenem, Stoff für sein Schreiben zu gewinnen, ist auch dieses Umherschweifen, gleich ob es sich konkret so vollzog oder eher eine poetische Einstellung bezeichnet, kennzeichnend für das Feuilleton. Die Themen sind nicht so sehr – dem Wort gemäß – Gegebenheiten, sondern eher Entdeckungen, durch den Zufall zugetragene Fundstücke: Die gemächliche, dem Tempo der Metropolen entgegengesetzte Gangart des Flaneurs ist zugleich eine Betrachtungs- und Schreibweise. Doch was ist das Besondere an ihr? Der Flaneur ist die Figur, die dem atemberaubenden Tempo der Großstädte, der Hast ihrer Bewohner widersteht und an den Bildern der Stadt nicht vorbeieilt, sondern sie betrachtet und ‘liest’. Die Lesarten, die das Feuilleton den Städten angedeihen lässt, bewahren die Texte davor, nun ihrerseits so wie der Gegenstand selbst der Mode, dem Wandel, dem Augenblick zu verfallen und damit auf schlechte Weise bloß geschichtlich zu werden. Das Spazierengehen oder die Flanerie, im Anschluss an Baudelaire in den Paris- und Berlin-Feuilletons von Franz Hessel immer wieder evoziert, ist wie eine Kampfansage – wäre nicht dieses Wort zu gewaltsamheftig, um auf Hessel angewendet zu werden –, trotzdem: es ist wie eine Kampfansage an die Zweckgebundenheit einer technisierten Welt, wenn Hessel im Flanieren einen reinen Genuss und wohl auch, obwohl das Wort nicht fällt, einen Hort der individuellen Freiheit erkennt: „Es [sc. das Spazierengehen] ist mehr als jedes andere Gehen zugleich ein Sichgehenlassen.“ Der ‘heimliche Müßiggänger’, der in jedem von uns lebt, möchte sich gelegentlich ‘grundlos’ bewegen; die Straße dankt es ihm dadurch, dass sie besonders liebenswürdig zu ihm ist. Diese larviert erotische Beziehung zwischen dem Betrachter und der Stadt führt dazu, dass der Blickkontakt nicht nur einseitig, sondern ein wechselseitiges Einander-Ansehen ist, das, auf die Ebene der Sprache übertragen, wie ein amouröser, am Ende ins Freundschaftliche gewendeter Dialog anmutet: Wenn du unterwegs etwas näher ansehn willst, geh nicht zu gierig darauf los. Sonst entzieht es sich dir. Laß ihm Zeit, auch dich anzusehn. Es gibt ein Aug in Aug mit den so genannten Dingen. Es genügt nicht, daß du die Straßen, die Stadt wohlwollend anschaust. Sie müssen auch mit dir gut Freund werden.
Mit Kunstfertigkeit betrieben, wird das Spazierengehen für Hessel zu einem „Übermut“, wie es nach Goethe das Dichten ist. Damit ist die Verbindung von Sprache und Spazierengehen, von Diskurs und Flanerie hergestellt und der Grund gelegt für die Beziehung von Stadt und Buch:
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Er [sc. der Spaziergänger] liest die Straße wie ein Buch, er blättert in Schicksalen, wenn er an Hauswänden entlang schaut. Und wenn er wieder wegblickt von den Gegenständen, den Dingen, sagen ihm auch die Gesichter der fremden vorübergehenden Menschen mit einmal mehr. […]
Der sprachlich-literarische Duktus des Spazierengehens, unüberhörbar in den zitierten Texten, verbindet den Gegenstand, die moderne Großstadt, mit dem Diskurs, der Gangart des Textes, so dass der Flaneur gleichsam das – wenn der Kalauer erlaubt ist: – ‘bewegliche’ Verbindungsstück zwischen Text und Thema ist. Für Hessel, den Spaziergänger, ist es entscheidend, keine Deutungen an die Stadt heranzutragen, sondern diese selbst frei ‘sprechen’ zu lassen; es gilt, „das Wanderbild wunschlos in sich aufzunehmen“. Die Aktivität liegt damit eher auf Seiten des Gegenstandes als auf Seiten des Betrachters. Wenn Hessel sich jede Deutung der Stadt versagt, sondern Paris oder Berlin selber sprechen lässt – in den typischen, ‘eloquenten’ Details –, wird die Metropole von Zwängen und Zweckbezügen, und wären es auch nur solche des poetischen Entwurfs, gleichsam schützend ferngehalten. Der Flaneur verbindet mit den Gängen durch die Stadt keine Absichten, sondern ist, als ‘richtiger’ Spaziergänger, „wie ein Leser, der ein Buch wirklich nur zu seinem Zeitvertreib liest“ – ein Leser, wie auch wir ihn uns wünschen …
3. (Augen-)Blicke und Visionen – das Bild der Großstadt in der Lyrik Eine Literaturgeschichte der Großstadt, und selbst eine im Kleinformat konzipierte, wird sich einer Gattung nicht verschließen können, die gleichwohl für die Interpretation eine wenig komfortable Herausforderung bildet: der Lyrik. Nicht nur deshalb, weil die Großstadt zuerst in lyrischen Texten (zumindest im neueren Sinne) zur Darstellung fand – in der Satire von Juvenal, auf die sich Boileau in seiner sechsten Satire bezieht – , sondern auch, weil die Lyrik in ihrer Gedrängtheit und Prägnanz als besonders geeignet erscheint, den Gegenstand ‘Großstadt’ in seinen typischen und markanten Aspekten zu erfassen. Schon die Art und Weise, wie bei Baudelaire die Großstadt Eingang in die moderne Lyrik fand, glich einem künstlerischen Donnerschlag, blieb aber weitgehend auf Frankreich beschränkt. Erst die Großstadtlyrik der Jahrhundertwende schafft eine komplexe Partitur, aus der einige Stimmen hörbar gemacht werden sollen. Ein spezielles Kapitel über die Großstadtlyrik ermöglicht es, nachdem mit Baudelaire der illustre Initiator der modernen Lyrik schon in den Blick getreten war, den Blick weit zurückzulenken in die römische Antike. Für Großstadtlyrik im modernen Sinne, die den jeweiligen Ort nicht nur poetisch einkreist, son-
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dern auch die eigenen Kunstmittel dem Gegenstand entlehnt, bietet die antike Literatur keine Beispiele. Im Gegenteil steht die Kapitale Rom, wenn sie überhaupt literaturfähig wird, unter einem negativen Vorzeichen. In Stück zwei seines zweiten Buches der Episteln entwirft Horaz das Schreckensbild einer Stadt, die, weit entfernt, selbst Thema der Literatur zu werden, das Dichten schlechterdings verhindert: […] glaubst du, in Rom könne ich dichten, umdrängt von den Ansprüchen und Plagen des Lebens? Einer bittet mich, vor Gericht für ihn zu bürgen; ein zweiter, den Vortrag seiner Werke anzuhören; alles andre soll ich stehn und liegen lassen. Da liegt ein Freund auf dem Quirinushügel krank darnieder, dort einer am Ende des Aventin; Besuch erwarten beide. Du siehst, die Entfernungen sind recht menschlich bemessen! „Aber da sind ja die breiten, bequemen Straßen, wo dem Sinnenden nichts im Wege steht.“ Jawohl! In rücksichtsloser Hast kommt ein Bauführer und hetzt seine Maultiere und Träger; ein Kran windet bald Blöcke, bald Riesenbalken in die Höhe; düstere Leichenzüge verwickeln sich mit Lastfuhrwerken; hier flüchtet ein tollwütiger Hund, dort rennt ein kotspritzendes Schwein: geh hin und sinne da mit Andacht auf klangschöne Verse!
Der von den Ansprüchen anderer geplagte Autor, dem weite Wege durch Rom zugemutet werden, sieht sich einem Szenario gegenüber, das von jenem moderner Großstädte nicht völlig verschieden ist. Mögen auch kotspritzende Schweine nicht unbedingt zum Inventar unserer Metropolen gehören, ist uns doch das Treiben, wie es von Horaz beschrieben wird, nicht ungewohnt, und in den ‘Verwicklungen’ von Leichenzügen und Lastfuhrwerken mag man schon ansatzweise jene Kontrastästhetik erahnen, die Mercier ins Zentrum seines Tableau von Paris rücken wird. Doch um diese Seiten der Großstadt ist es Horaz nicht zu tun; vielmehr richtet sich sein Ansinnen darauf, Rom als einen dem Dichten geradezu feindlichen Ort auszuweisen: Dichtung verlangt Ruhe und Konzentration, und „[w]er zur Zunft der Dichter zählt, liebt Waldesstille und flieht die Großstadt“. Der Lärm ist im Gegenteil der Dichtung schädlich: wie man da die Leier stimmen solle, fragt Horaz. Da die Dichtung nach innerer Sammlung verlangt und dem Ideal des Schönen verpflichtet ist, kann sie nur in der – nach Vorstellung der Antike von den Göttern beseelten – Natur gedeihen. So ist festzuhalten, dass die Großstadt nicht nur kein literaturfähiger Gegenstand ist, sondern das Dichten sogar (man möchte anfügen: durch eine Art ‘moderner’ Reizüberflutung) verhindert. Aus den Plagen der Stadt entwickelte sich indes ein satirischer Impetus, der in der dritten Satire von Juvenal seine ‘klassische’ Ausprägung fand und bis zu Boileau fortwirkt. Für Juvenal bietet Rom das Bild einer Stadt, in der alles vom Geld beherrscht ist; viel Geld koste eine schäbige Wohnung, und bei einem Menschen fragt man in Rom zuerst nach seinem Vermögen, dann nach seiner Moral: „Kurz und gut: in Rom hat alles seinen Preis.“ Doch das Geld schützt nicht vor jenen Gefahren, die dem Bewohner Roms allenthalben drohen
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– Hauseinstürze, Brände. Sehr reich müsse man sein, meint Juvenal, um in Rom ruhig schlafen zu können. Wohin immer sich ein ärmerer Bürger der Stadt bewegt, steht ihm eine Menschenmenge entgegen: „einer stößt dich mit dem Ellenbogen, ein anderer mit einer harten Latte; mit einem Balken haut mir an den Schädel der eine, mit einem Ölfaß ein anderer.“ Vor allem nachts fallen dem Fußgänger Dachziegel oder Gefäße auf den Kopf, so dass für leichtsinnig gilt, wer aus dem Hause geht, ohne sein Testament gemacht zu haben. Dem Leser, der in unserer Darstellung bisher wohl wenig Grund zur Erheiterung sah (und der diese in einem Kapitel über Lyrik schon gar nicht erwartet), mögen die Leiden des Großstadtmenschen, wie sie von Juvenal und Boileau dargestellt werden, ein Schmunzeln entlocken; vor allem Boileau treibt in seiner sechsten Satire die Skurrilität auf den Höhepunkt: Tout conspire à la fois à troubler mon repos : Et je me plains ici du moindre de mes maux. Car à peine les coqs, commencant leur ramage, Auront de cris aigus frappé le voisinage. Qu’un affreux Serrurier, que le Ciel en couroux A fait, pour mes pechez, trop voisin de chez nous, Avec un fer maudit, qu’à grand bruit il appreste, De cent coups de marteau me va fendre la teste. J’entens déjà par tout les charettes courir, Les massons travailler, les boutiques s’ouvrir Tandis que dans les airs mille cloches émues, D’un funèbre concert font retentir les nues, Et se mêlant au bruit de la gresle et des vents, Pour honorer les morts, font mourir les vivans.
In einer anonymen Übersetzung „von einem Liebhaber der Poesie“ aus dem Jahre 1694 klingt dies folgendermaßen: Mich dünkt ja / alles hab / sich über mich verschworen Ich bin mein Lebenlang / zu lauter Plag erkohren / Dann bald der Tag anbricht / hört man die Hanen krähn Worauf dann jedermann / zur Arbeit pflegt zu geh’n. Und daß der Himmel nur / mög meinen Sünden lohnen So muß ich allernechst bey einem Schlosser wohnen Der stellt sich morgens früh / zu seinem Amboß hin Bereit sein Eisen-Werck / verschlägt mir Witz und Sinn. Nach diesen höret man / viel tausend Kutschen fahren Es klopft das Mauer-Volck / man öffnet Kaufmanns-Wahren Biß daß der Glocken-Thon / durch alle Lüfte dringt Und leut die Toden aus / das über traurig klingt / Dazu mischt sich der Wind als gieng es aufs Verderben Damit man Tode [sic: Tote!] ehrt / macht man die leben sterben.
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Im lärmenden Paris, wo das sprechende Ich offenbar ein besonders lautes Viertel zu seiner Wohnung erkor, hat sich alles verschworen, den Dichter um seine Ruhe zu bringen. Boileaus Satire zeigt eine Zirkelstruktur, indem auf einen von Getöse und Unruhe erfüllten Tag eine Nacht ohne Ruhe folgt, die zudem schon am frühen Morgen wiederum durch Lärm ihr Ende findet. Die dem Gedanken und der Konzentration feindliche Stadt ist freilich nur das eine Ziel der Darstellung; das andere ist eine Schilderung der Großstadt, deren negatives Vorzeichen von einer Sicht überdeckt wird, die uns, aus neuerer Perspektive betrachtet, nicht fremd ist: Weitaus stärker als noch Horaz oder Juvenal betont Boileau eine kaum vorstellbare Häufung der Schrecken, in der sich das Bild (und der Lärm) von Paris mit vielen Einzelheiten präsentieren. Die Großstadt in ihrer Vielfalt ist schon präsent, selbst wenn sie noch nicht ihre immanenten poesieträchtigen Qualitäten entfalten kann. Ein zentrales Stil- und Ausdrucksmittel der Satire ist die Übertreibung. So überspannt sich die Darstellungen bei Horaz, Juvenal und Boileau auch anhören mögen, eignet ihnen doch ein Kern von Wahrheit, der sich über die Betroffenheit der Autoren dem Leser vermittelt: auch in Zeiten der ‘Großstadt’ ante litteram war das Großstadtleben alles andere als beschaulich (das ahnte man), aber auch alles andere als anregend oder gar erhebend. Erst Mercier wird aus der Erfahrung, dass in Paris alle Sinne zugleich angesprochen werden, den besonderen Reiz der Großstadt konturieren. Divergentes anstelle von Kohärentem findet der Leser auch in diesem Kapitel vor, das die Großstadtlyrik nicht global darstellen, sondern nur, in einzelnen ihrer Ausformungen, schlaglichtartig beleuchten kann. Was dabei an einzelnen Texten hervortritt, ist gleichwohl charakteristisch. William Wordsworth schreibt mit genauer Datumsangabe 3. September 1802 das Gedicht: Composed Upon Westminster Bridge Earth has not anything to show more fair: Dull would he be of soul who could pass by A sight so touching in its majesty: This city now doth, like a garment, wear The beauty of the morning: silent, bare Ships, towers, domes, theatres, and temples lie Open unto the fields, and to the sky; All bright and glittering in the smokeless air. Never did sun more beautifully steep In his first splendour, valley, rock, or hill; Ne’er saw I, never, felt, a calm so deep! The river glideth at his own sweet will: Dear God! The very houses seem asleep; And all that mighty heart is lying still!
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AUF DER WESTMINSTERBRÜCKE Erde hat dir zu zeigen Schönres nicht: Stumpfselig, der vorüber könnte gehn Und fühllos dies erhabne Schaubild sehn! Hier diese Stadt liegt nun gewandet dicht In Morgenschönheit. Still und klar in Sicht Die Schiffe, Türme, Kirchen und Museen, Dem Himmel und dem Feld sich öffnend, stehn Im reinen Äther voller Glanz und Licht. Nie hat die Sonne herrlicher umspült Berg, Fels und Tal mit ihrer frühen Glut. Nie hab ich tiefre Ruh gesehn, gefühlt! Nach eignem Willen läuft des Stromes Flut. Und selbst die Häuser scheinen schlafgekühlt. O Gott! Dies ganze mächtige Herz, es ruht.
Das zum Titel gehörige „composed“ hat die deutsche Übersetzung unterschlagen, obwohl die ‘Komposition’, hier eher im Sinne der Malerei als unter musikalischem Aspekt verwendet, den Blick vom Gegenstand auf die Art der Darstellung lenkt. Auch das entscheidende „dull of the soul“ (‘seelisch stumpf ’) ist mit „stumpfselig“ kaum zutreffend wiedergegeben. An diesem entscheidenden Moment des Textes, der den Betrachter zum Innehalten auf der Westminsterbrücke zwingt, erscheint die Stadt nach Art der Natur ‘komponiert’ („Berg, Fels und Tal“) und führt zu einer Gefühlsreaktion, ja geradezu zu einem religiösen Aufschwung, wie er sich oft in romantischer Naturlyrik vollzieht. Wordsworth ist in diesem berühmten Gedicht auf der Suche nach einem Darstellungsmittel für den neuen Gegenstand ‘Stadt’ und macht dabei Anleihen bei einem bereits etablierten Ausdrucksschema, der inneren Verbindung zwischen einem betrachtenden Subjekt und der von Gott durchdrungenen oder zumindest zu ihm hinführenden Natur. Was dabei entsteht, ist nicht unbedingt eine Darstellung der modernen Großstadt, sondern ein Naturtableau, ein Gemälde, das zwar die Stadt ‘meint’, die Natur aber evoziert. Die Malerei wird zum Paradigma, ein Dilemma zu beheben: Noch hat die Stadt keine lyrische Sprache. Der Versuch, sie gleichwohl literarisch zur Darstellung zu bringen, macht Anleihen bei den bildenden Künsten, führt aber nur zu einer Ausdrucksweise, die im romantischen Bild der Natur verharrt. Was London daraus gewinnt, sind Qualitäten des Lichts und, andeutungsweise, der Farbe („frühe Glut“), und nur durch sie wird der Gefühlswert der Stadt, die allein in der Aufzählung von Türmen, Kuppeln, Theatern und Kirchen (hier ist die Übersetzung ungenau) her-
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vortritt, herbeigeführt. Die Darstellung Londons von der Westminsterbrücke aus ist ein Gemälde in Sprache: in der Sprache der romantischen Naturlyrik und der Sprache der Malerei. Das Idiom der Städte muss sich die Lyrik erst noch schaffen, und es wird noch mehr als eine Generation dauern, bis es bei Baudelaire entsteht; doch davon war schon die Rede. 1896 veröffentlicht Emile Verhaeren einen lyrischen Zyklus mit dem Titel Les villes tentaculaires. „Tentacule“ bedeutet ‘Fangarm’ und deutet die Städte als Orte des Verderbens, in das die Menschen hineingezogen werden; Stefan Zweig übersetzt nur wenige Stücke daraus unter dem Titel „Die Verführung der Städte“. Die moderne industrielle Welt findet hier erstmals Eingang in die Großstadtlyrik, so dass Verhaeren, mit seinem Werk im allgemeinen dem Symbolismus zugeordnet, in diesem Zyklus dem deutschen Expressionismus ante litteram schon nahe steht. Doch was besagen Zuordnungen, wenn die Großstadt hier unter ganz neuem Gesichtspunkt zur Sprache findet: Die Fabriken Längs eines Kanals, der mit Schwefel geschwängert Wie ein Nebelstreif sich in die Ferne verlängert, Starr gegeneinander mit stumpfen Blicken, Die aus zerbrochenen Fenstern gähnen, Stöhnen und dröhnen Durch der Vorstadt schwerfällige Masse, Durch das zerlumpte Elend der Gasse Furchtbar die Werke und schwarzen Fabriken. Granitene Würfel, Rechtecke aus Stein, Wandern die Mauern rastlos nach vorne Schwarz und verräuchert ins Ferne hinein. Hoch auf den Dächern, Mit den Spitzen, die den Nebel durchlöchern, Qualmen die Schorne, Spein die Kamine. Und unter ihnen In den Baracken Stehn Menschen, halbnackt, mit offener Brust, Die feurige Blitze hacken und packen. Kohle und Erdharz, die brandig schwelen, Schweflige Dünste, vergiftet, verrußt, Menschliche Körper und menschliche Seelen Gepreßt in die höllische Nacht der Kavernen. – Und draußen laufen eintönig Laternen Suchend hinaus in alle die Fernen Und schleppen die Opfer in diese Kasernen.
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Starr gegeneinander mit symmetrischen Blicken Rauchen und fauchen tagaus und tagein Am Rande der Stadt die schwarzen Fabriken.
Das Zitat ist nur der Anfang eines längeren Gedichts, das durch einen heftigen Sprachduktus Hässlichkeit und Elend der technisierten Welt im Spiegel einer namenlosen Stadt darstellt, die für alle modernen, industrialisierten Städte stellvertretend stehen mag. Von der Welt außerhalb der Stadt tritt nichts in den Blick; vielmehr reduziert sich die Perspektive auf Fabriken, Mauern, Rauch, einen Kanal, Baracken, Feuer, schweflige Dünste. Die Natur ist abwesend, das Leben nur durch die arbeitenden Menschen repräsentiert, doch welch ein Leben! Bedroht von Hitze, Ruß und giftigem Dunst, führen die Arbeiter eine Existenz im Elend, deren baldiges Ende die schwarzen Fabriken finster zu verkünden scheinen. Die Poetisierung der Arbeitswelt, wie sie sich bei Verhaeren vollzieht, wird durch einen anklagenden Ton moralisch unterlaufen – die Poetik des Hässlichen bezeichnet Lebensbedrohendes und klagt eine Entwicklung an, in welcher die Technik den Menschen zu vernichten droht. Selbst wo der Text Perspektiven entwickelt – längs eines Kanals, im Wandern der Mauern –, führen diese doch nur immer wieder in jene Welt hinein, die schon in heftiger Linienführung holzschnittartig präsentiert worden war. Die Auswege sind nur scheinbar und perpetuieren, was als Gesetz der Moderne mit ihrem Arbeiterelend und ihrer Ausbeutung schon drastisch vor Augen gestellt wurde. Und doch drängt es die Menschen in die Städte hinein, auf der Suche nach Arbeit und Wohlstand. Was sie dort erwartet, ist nur die moderne Variante des alten Sündenbabel: Doch dort, wo die Ferne ihr Ende hat, Verschleiert von schwefliger Himmel Dunst, Wartet die Stadt, Die Stadt mit apokalyptischer Stirn Die Stadt mit ihrer rotglühenden Brunst Und schwarzen Fängen, das Blut zu saugen. Sie lockt der Wandernden fiebrige Augen Grell zu sich hin. Bei Tage bleiern, Reckt sie sich nachts in sprühenden Feuern, Die Stadt aus Eisen, Holz, Stein und Stuck, Die Stadt in Marmor und goldenem Schmuck, Die Stadt, die gigantische Buhlerin!
Wo die Ferne als Motiv der Sehnsucht ihr Ende findet, liegt nicht verheißenes Glück; vielmehr wartet auf die Wanderer eine buhlerische Verführung, ein blutsaugender Moloch, der seine Kinder frisst, das Bild der Apokalypse, die Hure Babylon. Ob die göttliche Strafe, wie sie die Bibel kennt, auch in jenen
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Zeiten die Stadt noch ereilen wird, ist nichts weniger als ausgemacht; klar ist jedoch, wer, wenn nicht die Stadt, untergehen wird: all jene, die ihre Heimat verlassen, um in die Stadt einzuwandern. Das Gedicht, „Die Auswanderer“ betitelt, schildert den langen Weg der Armen vom Lande, die auch in der Stadt die Armen bleiben werden, Arbeiter in den Fabriken, dürftig unterhalten von den Etablissements des Vergnügens, bereit vielleicht für jene Sozialrevolte, der Verhaeren ebenfalls ein Gedicht gewidmet hat: Die Straße, in einem gurgelnden Schaum Von Köpfen und Körpern und Schulterblättern, Daraus sich verzweigende Arme klettern, Scheint selbst emporzufliegen In einem infernalischen Traum.
Was sich an Aufruhr ereignet, wird in das Schreckbild eines gigantischen Totentanzes gekleidet, in dem der Herr der Finsternis selbst mit einem Gewehr erscheint „und mit titanischen Gesten mäht/Er die Körper hin gleich schaukelnden Ähren“. Über nackter Leiber zerschossenen Fetzen Beginnt nun wie höhnischer Mummenschanz Über röchelndem Ruf und eklem Entsetzen Der Laternen phantastischer, spiegelnder Tanz.
Durch die Darstellung der Großstadt gewinnt die Lyrik einen neuen, so gar nicht mehr ‘lyrischen’ Ton. Heftig und bizarr werden Bilder des Schreckens entworfen, die über ihre Inhalte, ‘Motive’ hinaus zu höchster Prägnanz kommen. Sie entstehen aus der neuen Situation bedingungsloser Technisierung mit deren Folgen für das menschliche Leben und sind insofern auch von einem moralischen Impetus getragen. Die Frage, ob sie nicht ihrer Tendenz nach poetisch verherrlichen, was sie ethisch bekämpfen, wäre zu bedenken, muss aber nicht beantwortet werden – zumindest nicht von der Autorin. Während im französischen Sprachraum der Symbolismus, von Baudelaire eingeleitet, die Entdeckung der Großstadt als poetisches Thema vollzieht, geschieht Ähnliches in Deutschland erst mit dem Expressionismus. Ernst Stadler, vor allem aber Georg Heym entdecken mit der Schärfe des Ausdrucks und dem Streben des Expressionismus nach der Unbedingtheit der Wahrnehmung die moderne Großstadt, deren Extreme mit der dem Expressionismus eigenen Heftigkeit zur Darstellung kommen. Nicht mehr die idyllische Beschreibung, sondern die radikale Evokation ihres moralischen Verfalls machen die Schreibweise expressionistischer Großstadtlyrik aus. In Heyms Gedicht „Der Gott der Stadt“ (1910) erscheint die Großstadt im Zeichen des orientalischen Gottes Baal:
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Auf einem Häuserblocke sitzt er breit. Die Winde lagern schwarz um seine Stirn. Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit Die letzten Häuser in das Land verirrn. Vom Abend glänzt der rote Bauch dem Baal, Die großen Städte knien um ihn her. Der Kirchenglocken ungeheure Zahl Wogt auf zu ihm aus schwarzer Türme Meer. Wie Korybanten-Tanz dröhnt die Musik Der Millionen durch die Straßen laut. Der Schlote Rauch, die Wolken der Fabrik Ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut. Das Wetter schwelt in seinen Augenbrauen. Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt. Die Stürme flattern, die wie Geier schauen Von seinem Haupthaar, das im Zorne sträubt. Er streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust. Er schüttelt sie. Ein Meer von Feuer jagt Durch eine Straße. Und der Glutqualm braust Und frißt sie auf, bis spät der Morgen tagt.
Die Göttergestalten des Textes, alle in Kleinasien beheimatet, verweisen, bei den Korybanten, auf orgiastische Tänze, bei Baal auf eine Gottheit, in der sich die Gewalt der Natur inkarniert. Deren Übertragung auf die Stadt macht diese zum Herrschaftsgebiet des Baal, eines Gottes, der „breit“ auf den Dächern sitzt, den Bauch rotglänzend vom Abendlicht. Exotisch-Fremdartiges wird auf die moderne Großstadt übertragen wie um zu suggerieren, dass ihr im Blick des Großstadtbewohners jegliche Vertrautheit fehlt. Baal ist weniger der Gott als der Dämon der Stadt, die, namenlos und für alle Städte stehend, unter seiner brutalen Herrschaft („Fleischerfaust“) steht. Die Kirchenglocken huldigen, statt Gott, dem Dämon, und wie Weihrauch ziehen die Abgase der Stadt zu Baal auf. Indem er durch das Schütteln seiner „Fleischerfaust“ einer Straße ein „Meer von Feuer“ schickt, wird er für die Stadt zum Herrn des Untergangs: Der „Glutqualm“ frisst die Straße auf, verschlingt sie in einer Feuersbrunst. Wie die Stadt diesen Götzen erst hervorbrachte, so kann er ihren Untergang tyrannisch herbeiführen. Die Städte beten an, was sie vernichtet – die Großstadtbewohner verherrlichen, was sie zerstört. Gottlos geworden, verdient die Stadt nichts anderes als einen widerlich beleibten, sich auf ihr breit machenden Götzen, der seinen Zorn an ihr auslässt. Doch immerhin: Die Stadt erscheint nicht, von Fabriken und Schloten beherrscht, in ihrer bloßen Immanenz, sondern verweist
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auf eine ‘höhere’ Instanz, die ihr indes nur Verderben bringt, weil sie selbst schon das Verderben ist. Dieses düster-abstoßende Bild der Stadt bedeutet jedoch für den Text einen poetischen Impetus von solcher Wucht, dass die Sprache all ihre Heftigkeit aufbieten muss, um das Schreckbild von Gott und Stadt gleichermaßen zu bannen. Im Bild des unumschränkten Herrschers kündigt sich schon an, was eine Gefahr, aber auch ein Faszinosum ausmacht: der Untergang der Städte. Er ist nicht beschränkt auf die sündigen Städte der Bibel. Wenn Bertolt Brecht den „Untergang der Städte Sodom und Gomorra“ beschwört, erreicht die Katastrophe auch die modernen Städte: Untergang der Städte Sodom und Gomorra 1 Die Stadt Sodom und die Stadt Gomorra Denkt ihr euch am besten ganz wie unsere Städte. So wie unsre Stadt Berlin und unser London. Weder prächtiger noch schmutziger, weder Reicher, noch auch ärmer, unbewohnbar Und doch unverlaßbar, ganz wie London Und Berlin war Sodom und Gomorra. 2 Ihre Sünden waren wie die unsern Schal und schamlos. Mit der goldenen Scharre Kratzte sich der Aussatz und der Lorbeer Welkte hin von der Berührung Dieser Stirnen. Und ein Lachen Stieg aus Gärten auf und aus Fabriken Stieg ein Rauch.
Die biblische Überlieferung könnte suggerieren, das Schicksal der beiden Städte sei etwas Besonderes, ihrer Sündigkeit geschuldet und an jene Zeiten gebunden, da noch der Glaube herrschte; doch keineswegs: Sodom und Gomorra waren wie unsere Städte, denen folglich auch dasselbe zustoßen kann. Der fast prosaisch anmutende Duktus des Textes hebt nicht nur die Unterschiede zwischen den großen Städten der Antike und der Moderne auf, sondern relativiert auch die Differenz zwischen Lyrik und Prosa. Wie Brecht hier ‘redet’, reden wir alle, jede Besonderheit des Gegenstandes und des Stils verwischend. Im Kontext der Lyrik indes ist Brechts einfache Sprache gleichwohl etwas Besonderes: kein herausgehobenes ‘Schicksal’ der Städte, kein Ruhm (der Lorbeer welkte auf diesen Stirnen), nur das Aufsteigen von Lachen aus Gärten und Rauch aus Fabriken. Heute ist alles wie damals, der Untergang seinerzeit und aktuell nur ein fait divers, das den Aufwand lyrischen Aufschwungs nicht lohnt.
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Am Ende eines Kapitels, das schwierige Texte enthielt und uns manche interpretatorischen Mühen auferlegte, kommen wir noch einmal auf Georg Heym zurück, und zwar aus durchaus eigensinnig-egoistischen Motiven. Denn die Stadt, der die Tendenz eignet, Imaginationsbilder hervorzurufen, neigt auch dazu, ihre eigene Entrückung oder gar Auflösung vorstellbar zu machen. Die Verheißung des Endes, auf Calvinos unsichtbare Städte und die Apokalypse des Johannes ausgerichtet, ist final im doppelten Sinne: in Endposition unserer Darstellung, aber auch auf das Ende unseres Themas orientiert, die Auslöschung der Städte. Heyms Gedicht „Die Stadt in den Wolken“ von 1906 fügt sich in diese Endzeitvisionen als Vorstellungen vom Finalstadium der Städte ein und vermag damit einen weiten Bogen zu schlagen von der Mitte unserer Darstellung zu deren Schluss. Die Wolken lagen gleich getürmten Quadern An hoher Wolkenfeste felsger Pforte, Und brannte gleich des Marmors bunten Adern Rotgoldner Spalten eine breite Borte Hoch um das Tor. Und steile Türme hoben Sich durch die hellen Lüfte in den weiten Dämmernden Raum. Es schien, aus Gold gewoben, Ein Flammenmeer um ihren Fuß zu gleiten. Und prachtvoll rauschte in gewaltgem Strome Das Meer des Lichts, in lauter Glanz zu spinnen Die hellen Kuppeln und die blauen Dome, Ragender Tempel und Paläste Zinnen. Doch stumm war alle Pracht. Und nicht die Laute Des frohen Volkes schollen von den Gassen Und von des Markts Gewühl. Ein Schweigen braute Unheimlich, starr, als hätt das Volk verlassen Schon lang die Stadt. Und lange schon vergaßen Die Menschen ihren Namen. Gräbermale Nur längst Gestorbner flammten ihre Straßen Im Abendrot und spätem Sonnenstrahle. Da wogten um sie hurtig dunkle Schatten Und leckten an dem Glanz, daß bald ertrunken War alles Licht auf breiten Marmorplatten, Und schnelle war die hohe Stadt versunken.
Nicht die Sündenstädte der Bibel bilden den Hintergrund der Darstellung; vielmehr bezieht sich das ‘Versinken’ der „hohen Stadt“ auf Jerusalem. Dem
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glänzenden Bild, dem Versinken schon anheim gegeben, fehlt der Klang: Die Stadt ist lautlos, unbewohnt. Selbst ohne die Sünden der Menschen hat die Stadt keinen Bestand. Sogar eine sozial tote Stadt, obschon in den Glanz des Lichtes getaucht, widersteht nicht dem finalen Versinken. Die Gedichte dieses Kapitels vermochten kaum die Stadt zu besingen; statt verherrlicht zu werden, wird sie in ihrer Verfallenheit (oder auch konkret: ihrem Verfall) vorgestellt und dekuvriert – unterstützt von einem typisch modernen Sprachgestus, der wiederum die Sprache in Teile zerschlägt. Wie ein Fanal leitet Heyms „Die Stadt in den Wolken“ am Beginn des neuen Jahrhunderts eine Vision der Städte ein, die von Verfall und Zerstörung auch und gerade dann bedroht sind, wenn sie sich, technisch glanzvoll, ‘modern’ präsentieren. Das 20. Jahrhundert stellt die Stadt poetisch zur Disposition und gibt sie einer Ästhetik anheim, die sie zugleich zerstört und, in Sprache, neu erbaut.
Skizzen der Großstadt – der ‘filmische’ Blick Der Titel „Skizzen der Großstadt“ suggeriert Eile, Flüchtigkeit, aber auch die Sicherheit des Strichs und den Blick für das Wesentliche. Mit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts erreicht die Geschichte der Großstadtliteratur ihren inzwischen kanonisch gewordenen Höhepunkt, der gleich drei – freilich ungleiche – Klassiker hervorbrachte. Wie der Leser sogleich feststellt, folgt die Darstellung nicht der Chronologie, sondern behandelt den ältesten Text am Ende. Nun mag es auf den Gang der Geschichte nicht unbedingt ankommen, wenn es gilt, den Texten jenen Platz einzuräumen und jene Zeit zu widmen, die sie ihrem Gewicht nach verdienen. Belyjs Platz am Schluss dieses Kapitels ist so wenig ein Zufall wie die Initialposition von Dos Passos, und dass Döblin in der Mitte steht, weist ihm noch nicht eine zentrale Rolle zu. Es verhält sich etwas komplizierter mit der Positionierung der Texte, die sich ohnehin schon der Kontinuität versagen – sowohl in ihrer internen Struktur als auch in ihrer historischen Abfolge. Das Umfassende nämlich, im Sinne der Totalitätserfahrung der Großstadt immer schon auf immanente Bezüge und Verbindungen hin orientiert, wird einer grundlegenden, dieses selbst in Frage stellenden Reflexion unterzogen. Kann die Großstadt zur Zeit der klassischen Moderne, die, von den Avantgarden gespeist, Kontinuität zerstört und Globalentwürfe fragwürdig werden lässt, überhaupt noch in ihrer Gesamtheit ergriffen werden, und sei es nur der Intention nach oder mit Hilfe symbolischer Setzungen? Wenn der Leser, das vorige Kapitel überspringend, sich noch einmal Zola in Erinnerung ruft, zeichnet sich die Problemstellung klar ab. Das Gemälde mit dem Anspruch einer panoramatischen Gesamtsicht scheint einer lange vergangenen Zeit anzugehören und steht im Zeichen des Scheiterns wie in Zolas Maler-Roman Das Werk. ‘Werk’Charakter unter dem Gesichtspunkt, dass sich ein Werk geschlossen und von einer bestimmten Intention getragen präsentiert, kommt den Romanen dieses Kapitels gewiss nicht mehr zu; und doch haben sie den Traum von der Totalität nicht vollends aufgegeben. Die etwa zeitgleichen Werke der klassischen Moderne, Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit und der Ulysses von James Joyce, tragen, bei aller Partikularität ihrer inneren Struktur, die Züge des Globalen, und sei dieses auch nur im Innenraum der Vorstellung und der Erinnerung situiert. Sollte ein solcher Anspruch, vielleicht ja nur als Ideal, auch die Romane des vorliegenden Kapitels kennzeichnen? Aber ist nicht das große Gemälde von der Literatur früherer Epochen bereits geschaffen und damit
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künstlerisch ‘besetzt’ worden? Was bleibt also jenen Texten, in denen sich die Großstadtdarstellung geradezu kristallisiert, poetologisch überhaupt noch als gangbarer Weg offen? Mag der Interpret im Vorfeld der Darstellung seine Ratlosigkeit zum Ausdruck bringen – die Texte folgen ihm darin nicht, sondern greifen das alte Thema Großstadt neu auf: im großen Format und mit einem Seitenblick auf die modernen Medien.
1. Dos Passos: Manhattan Transfer oder die perpetuierte Apokalypse Manhattan Transfer, Name einer Fährstation, an der Menschen aus verschiedenen Ländern New York erreichen, ist, nicht ohne Hintersinn, titelgebend für den 1925 erschienenen Roman von John Dos Passos. Wie von der Rutsche einer Obstpresse ‘kullern’ die Menschen nach New York hinein, dort Glück und Wohlstand suchend, aber nicht selten scheiternd. Der Roman, aus einer Vielzahl von Personen, Handlungen und Szenen zusammengesetzt, die wie bei der Schnitttechnik des Films zumeist ohne Übergänge aufeinander treffen, ist komplex und vielfältig wie die Stadt selbst, und nur zwei Personen, Ellen Thatcher und Jimmy Herf, werden in ihren Entwicklungen und Schicksalen über längere Strecken des Romans verfolgt. Ansonsten herrscht ein buntes Gemisch aus Figuren verschiedener Herkunft und unterschiedlicher sozialer Zugehörigkeit. Weil er nicht erzählt, lässt sich dieser Roman auch nicht nacherzählen; er besteht aus einzelnen Szenen, die sich nicht eine aus der anderen entwickeln, sondern schlaglichtartig Menschen und Situationen beleuchten, ohne sich dabei viel Zeit zu lassen. Im Schreibduktus hastig und zerfahren, reproduziert der Roman bis zu einem gewissen Grade seinen Gegenstand, die moderne Metropole New York, legt aber durch dieses Gewirr von Szenen einige Leitlinien und fängt die nicht selten zu konstatierende Zufälligkeit des Geschehens durch eine neue, stark bildhafte Sprache auf, die bis dahin noch nicht auf die Großstadt angewandt worden war. Man ahnt, dass in diesen Szenarien für einen auktorialen Erzähler, der alles über seine Figuren weiß, der dem Geschehen einen Sinn verleiht, der hinter die Kulissen blickt, kein Platz mehr ist. Wenn überhaupt, werden die Personen nur eilig und mit wenigen Zügen, ‘Strichen’ wie bei der Karikatur, charakterisiert: Ein Mann hat ein „schief verzogenes Affengesicht“, Ed Thatcher, der Vater der Hauptfigur Ellen, „war ein kleiner Mann mit zwei blonden Schnurrbartbüscheln und verwaschenen grauen Augen“ – der Beschreibung nach fast ein Nobody. „McAvoy war ein stämmiger Mann mit fleischigem Nacken.“ Mehr wird nicht gesagt, mehr ist nicht zu sagen, denn die Figuren charakterisieren sich durch ihr Handeln und ihr Sprechen, eigenständig also ohne das Wissen
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und die Interpretationen eines auktorialen Erzählers im Hintergrund. Nach dem Sinn des Geschehens darf man nicht fragen, denn er ist nirgends ersichtlich: Die Figuren haben keine Moral, ihr Handeln ist nur auf Geld und Erfolg ausgerichtet, ein ‘Schicksal’ im emphatischen Sinne eignet ihnen zumeist nicht. Sie betreten die Bildfläche und verschwinden wieder, ohne dass der Leser wissen könnte, ob sie wieder auftreten oder nicht. Manche Szenen, von solchen kurzlebigen Personen bevölkert, illustrieren nur die Macht des Geldes oder die Reichweite der Reklame, zeigen die dumpfe Atmosphäre von Wirtshäusern oder die Quasi-Allgegenwart von Zeitungen, dem Medium der Großstadt neben der Werbung. Der Text ist insgesamt auf das Wahrnehmbare ausgerichtet, ohne dass hinter dieser sinnlichen Präsenz der Stadt Bedeutungen vernehmlich würden. Für Fragen und schon gar für Antworten ist keine Zeit mehr im schnellen Wechsel der Szenen, und so gewinnt das, was wiederholt wahrgenommen und geschildert wird – die Hochbahn, der Hafen mit der Fährstation –, Ausdruckswert für den dauernden Wandel. In diesem Roman ist jeder gleichsam unterwegs, doch nur wenige kommen an: Und der Schluss, der Jimmy Herf zeigt, wie er die Stadt ohne Ziel verlässt, wirft ein gleißendes Licht zurück auf den Roman insgesamt. Die Figuren, Situationen und Handlungen tauchen blitzlichtartig auf und unterstehen dem Gesetz der Schnelligkeit und der abrupten Veränderung; Kontinuität ist dem Roman fremd, und allenfalls bestimmte, wiederkehrende Ereignisse – das Ausbrechen von Feuer, die New York durchquerenden Züge – schaffen leitmotivartig Zusammenhänge zwischen den verschiedenen, untereinander inkohärenten Geschehnissen. Personen aus höheren und niederen Schichten kommen in ihrem jeweiligen Jargon zur Darstellung, der gemäß der Herkunft der Figuren auch fremde Sprachen (Französisch, Italienisch) einschließt. Der mit zahlreichen Passagen in wörtlicher Rede durchsetzte Text ist mit seinem babylonischen Gewirr von Idiomen ein Echo der Stimmen der Stadt. Ob darin auch die Stimme des Erzählers vernehmlich ist, mag man zunächst verneinen; und doch tragen viele Beschreibungen in einem Text, der insgesamt eine gigantische Beschreibung ist, die Signatur eines höchst kunstvollen Willens, das Typische und Besondere der Stadt einzufangen – in einer Prägnanz, die wiederum im Zeichen der Eile, der Verneinung von intensivem Sich-Einlassen steht: An den Ecken regenschäumender Straßen gähnten ihnen Kneipen hell entgegen. Gelbes Licht aus Spiegeln und Messingstangen und vergoldeten Rahmen um die Bilder rosignackter Weiber wogte und patschte in die Schnapsgläser, die mit zurückgeworfenen, schwarzhaarigen Köpfen gierig leergeschluckert wurden, sickerte hell durchs Blut, quoll blasig aus Ohren und Augen, troff sprühend von Fingerspitzen. Zu beiden Seiten hoben und senkten sich die regenfinsteren Häuser, Straßenlampen schwankten wie Lampions in einem Festzug, bis Bud zuletzt in einem Hinterzimmer voll eng aneinandergeschmiegter Gesichter saß, ein Weib auf den Knien.
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Der Gegenstand der Beschreibung ist in diesem Beispiel ein Ort von wenig einladender Art, eine eher übel beleumdete Kneipe, die nicht in ihrem ‘objektiven’ Erscheinungsbild, sondern im Blick der Figuren dargestellt wird: Die Kneipen „gähnen“ ihnen entgegen, gelbes Licht bestimmt die Szenerie selbst dort, wo es gar nicht eindringen kann (in den Körpern), wohl aber auf eklige Art herausquillt. Wenn sich die Häuser heben und senken, die Straßenlampen wie Lampions schwanken, schiebt sich die Perspektive Betrunkener in die Beschreibung hinein. Insofern wird der Stadt bei Dos Passos kein Eigenleben zugestanden; immer erscheint sie in Funktion der Figuren und in deren Perspektive. Immer? Nicht ganz. Denn die einzelnen Kapitel des Romans werden durch kurze, kursiv gesetzte Passagen eingeleitet, deren unmittelbarer Bezug zur Handlung nicht selten rätselhaft ist – wie zum Beispiel am Anfang von Kapitel zwei, „Metropolis“: Einst gab es Babylon und Ninive, die waren aus Backsteinen gebaut. Athen prunkte mit vergoldeten Marmorsäulen. Rom ruhte auf breiten Quaderbögen. In Konstantinopel flammen die Minarette wie große Kerzen rund um das Goldene Horn … Stahl, Glas, Ziegel, Zement werden das Material der Wolkenkratzer sein: dicht gedrängt auf der schmalen Insel ragen millionenfenstrige Gebäude, glitzernd, Pyramide auf Pyramide, wie die weiße Wolkenkappe über dem Gewitter.
Die Pyramiden, hier zunächst als rein geometrische Figuren verstanden, verweisen auf die Antike zurück, die vorher mit Babylon, Ninive, Athen, Rom und Konstantinopel genannt war. Da dem Roman insgesamt eine andere zeitliche Perspektive als die Gegenwart und, zumeist im Wunsch, reich zu werden, die Zukunft fremd ist – die Metropolis der Moderne hat keine Geschichte –, überrascht an dieser Stelle die Evokation des Altertums. Die Baustile und -materialien der Vergangenheit finden nur Erwähnung, weil es dem Text um eine Überbietung zu tun ist, die in der Aufhäufung von Pyramiden und in der Konstruktion von Millionen Fenstern den Himmel erreicht. Der Prunk der Moderne ist der Triumph der Technik, von dem dereinst vielleicht auch zu sagen ist: Einst gab es New York … Wo historische Kontinuität verneint und eine Zukunft im Zeichen der Technik proklamiert wird, scheinen auch jene Gefahren gebannt, die zum Untergang Babylons und Ninives führten. Doch die Überbietung kann auch mit dem ‘klassischen’ Begriff der Hybris bezeichnet werden, so dass New York im Glauben an den Fortschritt unwissentlich das eigene Ende schon in sich trägt. So weit geht der Text nicht; doch sind die menschlichen Katastrophen der Stadt eingeschrieben, die ihre Bürger wie Treibgut den Gesetzen des Geldes ausliefert und sie im Drang nach Erfolg dem Scheitern anheim gibt. Diese Stadt kennt keine Moral, und der ohnehin fast abwesende Erzähler, dessen Sprache dem Duktus des Gegenstandes folgt, vermag die Schicksale nicht versöhnlich aufzufangen. Wie die Figuren, treibt auch die Handlung dahin und lässt eine Fügung, einen Sinn nicht erkennen.
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Die Passagen in Kursivdruck sind aus diesem Treiben herausgehoben und stehen für Überlegungen, die der Text, zumeist durchaus ambivalent, im Leser hervorrufen mag – ein Reflexionsraum anywhere outside the city. Auch der Mythos Amerika, mit dem Ausspruch einer nicht weiter charakterisierten Person als „Land der unbegrenzten Möööchlichkeiten“ sprachlich in seiner Reichweite noch verlängert und zugleich in der Sprachform abgenutzt, findet seinen Ort in einer solchen Kapitel-Einleitung (hier unter dem Titel „Dollars“); eine weitere lenkt den Blick, geleitet durch das „Rampatadam, Rampatadam“ der Züge, auf einen illegalen Einwanderer, der den orangefarbenen Schimmer des Himmels als „Lichter der Großstadt“ bezeichnet. Der Text nimmt sich in den Kapiteleinleitungen gleichsam eine Auszeit, stellt sich jenseits des Geschehens und schafft etwas, das sonst kaum irgendwo einen Platz findet – großstädtische Atmosphäre. Im folgenden Beispiel erweist sich das Hereinbrechen der Dämmerung, das zunächst die Straßen „glättet“, zunehmend als ein Akt der Gewalt: Dämmerung glättet sanft die sprödwinkligen Straßen. Dunkelheit lastet schwer auf der dampfenden Asphaltstadt, zermalmt das Netzwerk der Fenster und Ladenschilder und Wassertanks und Schornsteine und Ventilatoren und Feuerleitern und Simse und Kantenrisse und Wellblechformen und Augen und Hände und Schlipse, zermalmt sie zu blauen Klumpen, zu schwarzen, riesigen Blöcken. Unter dem wälzenden, immer schwereren Druck platzt aus Fenstern grelles Licht. Die Nacht quetscht helle Milch aus Bogenlampen, preßt die trüben Häuserblocks, bis sie rot, gelb, grün in die Straßen tröpfeln, die von Schritten widerhallen. Überall sickert Licht aus dem Asphalt. Licht sprüht aus den Schriften an den Dächern, wirbelt schwindelerregend zwischen den Rädern, färbt wälzende Tonnen Himmel.
Die Dunkelheit, normalerweise eher geeignet, Gegenstände zum Verschwinden zu bringen, umfasst hier, wie eine ausgreifende, ihre Elemente durch „und“ verbindende Beschreibung zeigt, eine Vielzahl von Dingen bis hin zu den Menschen, sie unter einem hohen Druck zermalmend. Blaue Klumpen und schwarze Blöcke heben die Unterschiede auf und unterwerfen alles der Gewalt der Dunkelheit. Selbst das Licht, dem Dunkel entgegengerichtet, entgeht jener Gewalt nicht, sondern steht ebenfalls unter einem Druck, der es aus den Dingen herauspresst. Mag in anderer Perspektive das Hereinbrechen der Nacht Ruhe assoziieren, das Licht dem nächtlichen Dunkel noch etwas Leben verleihen, setzt hier die Nacht nur bedrückende Akzente der Gewalt. Obwohl Vorgänge der Natur, kommen Dämmerung und Dunkelheit bloß an Gegenständen der Technik und, freilich nur andeutend, an Menschen zur Erscheinung; alles Naturhafte ist entweder ganz ausgeblendet oder tritt nur unter technischem Aspekt hervor. „Wälzende Tonnen Himmel“ fügen die Natur der Technik ein, verstärken den Druck und machen den Himmel zur Last. Aus der Gewalt ist selbst in ruhigen Stunden kein Entkommen, und die Technik scheint jene
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mageren Reste von Natur, welche die Stadt noch zulässt, unter ihr Gesetz zu zwingen. Auch die umgekehrte Perspektive, das Hereinbrechen des Morgens, steht bei Dos Passos im Zeichen der Gewalt, aber auch der Hässlichkeit. Waren es im oben betrachteten Beispiel optische Eindrücke, die sich gewaltsam gerierten, sind es nun akustische, mit denen das Ende der Nacht-Ruhe und der Beginn des Tageslärms sich ankündigen: Der Morgen rattert mit dem ersten Hochbahnzug durch die Allen Street. Tageslicht rasselt durch die Fenster, schüttelt die alten Ziegelhäuser, bestreut die Balken des Hochbahngerüsts mit funkelndem Konfetti. Die Katzen verlassen die Mülleimer, die Bettwanzen kriechen in die Wände zurück, verlassen die schweißigen Glieder, verlassen die schmutzigzarten Hälse der schlafenden kleinen Kinder. Männer und Weiber rühren sich unter Decken und Plumeaus auf Matratzen in Zimmerecken, Klumpen kleiner Rangen beginnen sich zu entwirren, zu plärren und zu strampeln.
Wiederum wird ein naturhaftes Geschehen der Technik anverwandelt: Der Morgen rattert heran, das Tageslicht rasselt. Die Lebewesen und Gegenstände, auf die das Licht nun fällt, sind von abstoßender Hässlichkeit und konnotieren Schmutz, Schweiß, Armut. Während die Szenerie Großstadtelend zur Anschauung bringt, fehlen, wie immer bei Dos Passos, Bewertungen. Indem der Erzähler nicht kommentiert, sondern nur die Personen und Szenen vor Augen stellt, verschreibt er sich dem bloß Faktischen und versagt sich jedes Urteil. Die Stadt bedarf nicht der Interpretation, denn alle Maßstäbe der Moral sind in ihr nicht mehr gültig. Jene Anwaltschaft der frühen Sittenschilderer wie Lesage oder Mercier hat im 20. Jahrhundert, in dem Technik und Pragmatismus die Großstadtszenerie beherrschen, ihre Funktion verloren. Es ist nicht einmal entscheidbar, ob sie, da der Erzähler schweigt, dem Leser angesonnen wird. Sind die Personen in ihren jeweiligen Rollen und Funktionen befangen, steht der Leser außerhalb jener Zwänge, gewinnt aber auch folglich keine Kontur. Er muss sich auf das Geschehen und die zerrissene, partialisierende Darstellung einlassen; für sein Entsetzen, das sich einstellen mag, als (um nur ein Beispiel zu nennen) Bud Korpenning Selbstmord begeht, ist im Text keine Zeit, für Mitleid kein Raum. Die Gefühllosigkeit der Technik, die, wie schon mehrfach betont, die Natur zurückdrängt und sogar beherrscht, breitet sich ebenfalls über die Personen aus und holt schließlich auch den Leser ein. Die Einleitungspassagen der verschiedenen Kapitel, in denen jenseits des unmittelbaren Romangeschehens der Erzähler mit dem Leser ins Gespräch eintritt, dienen der Einübung einer Objektivität, die zugleich das Vergessen einer identifizierenden Leserhaltung bewirken. Das Verfahren erinnert an die ‘Camera-eye’-Technik, die Neutralität des Photos anstelle des miterlebenden Blickens; und doch wäre der Roman, vor allem in seinen Beschreibungen, nicht einfach ins Photo oder in den Film zu übertragen, denn die Metaphorik, die das Verschiedene (Natur
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und Technik, zum Beispiel) zusammenzwingt, schafft das Imaginäre und nicht etwa ‘realistisch’ reproduzierbare Bilder. Ein so alltägliches Geschehen wie das Warten von Autos an einer Bahnschranke mit folgender Freigabe der Strecke wird bei Dos Passos zu einem Schauspiel des Hyper-Realismus, zu einer Schau der Technik, bei der wiederum die Natur (hier: der Nachthimmel) in eine bloße Statistenrolle verwiesen wird: Rotes Licht. Glocke. Blocktief warten die Autoreihen am Bahnübergang, Stoßstangen an den Schwanzlichtern, Kotschutz streift Kotschutz, Motoren summen heiß, Auspuffe schwelen, Wagen aus Babylon und Jamaika, Wagen aus Montauk, Port Jefferson, Patschogue, Limousinen aus Long Beach, Far Rockaway, Kabrioletts aus Great Neck. Wagen voller Austern und nasser Badeanzüge, voll sonnverbrannter Hälse, Münder, klebrig von Limonade und Würstchen … Wagen, bestäubt mit dem Blütenstaub des Kreuzkrauts und Goldregens. Grünes Licht. Motoren rasen, Getriebe knirschen in den ersten Gang. Die Autos breiten sich aus, fliehen in langen Bändern die gespenstische Betonstraße entlang, zwischen schwarzfenstrigen Blöcken grauer Fabriken, zwischen den hellen, klatschigen Farben der Reklameplakate, vorwärts dem Glanze dort über der Stadt entgegen, der unglaublich in den Nachthimmel emporglänzt, wie der Glanz eines großen erhellten Zeltes, wie die gelbe ragende Masse einer Zeltschau.
Nicht nur die Technik in Form von Autos, sondern die Ballung der Technik kommt hier zur Darstellung. Der Stau an der Bahnschranke bündelt die Wagen ebenso wie deren Insassen, die ohne jeden Anflug von Individualität auf „sonnverbrannte Hälse“ und von Limonade und Würstchen klebrige Münder reduziert werden. Der Run ins Wochenende und die Rückkehr in die Stadt macht alle gleich, und aus dieser Gleichheit nicht nur des Verhaltens, sondern wohl auch des Wesens folgt die unterschiedslose, der Masse verpflichtete Form der Darstellung. Alle stehen und fahren gleichzeitig, alle haben denselben Weg in den „Glanz“ der Stadt, so dass man an jenen stereotypen Ausdruck von den Lichtern der Großstadt erinnert wird, aber auch feststellt, dass dieser Glanz von der Technik herrührt und jegliche Assoziation an die Transzendenz von vornherein ausschließt. Es gibt keine Welt jenseits dieser Stadt, auch keinen Raum jenseits großstädtisch-technischer Topographie. Wer in dieser ‘Welt’ ohne Erinnerung und ohne Jenseitigkeit stirbt (wie Bud oder Lilli Herf), fällt dem Vergessen anheim, weil es jenen menschlichen Innenraum, der unsere Gedanken und Erinnerungen umfasst, hier nicht gibt. Wer wie die Autorin versucht, diesen Roman darzustellen und in seiner Eigenart zu kennzeichnen, stößt bald an die Grenzen seiner ‘Kunst’ – und dies im doppelten Sinne. Schon die sich unmerklich einstellende Tendenz zur Charakterisierung ex negativo – als eine Einstellung, die herausarbeitet, was der Roman nicht ist – belegt das Neue dieses Ansatzes; wäre es anders, könnte die
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gewohnte Perspektive, die bewährte Terminologie den Text erfassen. Doch die Grenzen der ‘Kunst’ der Interpretation sind auch die Grenzen des Gegenstandes selbst. Aus dieser Stadt, aus dem Text, der sie einzufangen versucht, führt nichts hinaus. Manhattan Transfer ist der Roman der Immanenz – dem Augenblick, dem Einzelbild, der momenthaften Situation verpflichtet. Aus der Anhäufung, die er zu seinem Prinzip macht, folgt kein generell tragender Gesichtspunkt, und die Szenen entziehen sich jeder ‘höheren’ Deutung. Man sieht: Erneut verfällt man der Negation. Doch am Schluss tut sich, über die Stadt hinaus, eine Perspektive auf; auf die ‘Wanderung’ von Jimmy Herf kommen wir am Ende zurück. Der Roman selbst kommt nur gelegentlich auf etwas zurück, das schon aufgetaucht war. Zwar treten im Reigen der zahlreichen Figuren immer wieder dieselben auf, doch stehen sie dann in veränderten Situationen. Die Schnitttechnik, den Übergängen und der Kontinuität entgegengerichtet, führt zu heftigem Aufeinanderprallen der unterschiedlichen Szenen, so als hätte Dos Passos schon ins Werk gesetzt, was Sennett die Kultur des Unterschieds nannte. Verwirrend genug, führt das Prinzip raschen Perspektivwechsels den spezifischen Wahrnehmungsmodus der Großstadt vor und illustriert jene stereotyp mit der Großstadt verbundene Reizüberflutung, von der schon Simmel sprach, in der Verfahrensweise des Textes selbst. Der Roman ist nicht schon durch sein Thema, sondern erst durch die verwirrende Vielfalt seiner Darstellungstechnik selbst großstädtisch. Wenn er sich Bewertungen versagt und sein Thema nicht interpretiert, sondern es dem Leser bloß vor Augen stellt, ist diese scheinbar nur abbildhafte, mimetische Darstellungsweise auch oder sogar in erster Linie ein Kunstmittel. Hier wird Großstadt Text – und doch ist dieser mehr als nur das Bild seiner Thematik. Wenn, wie eingangs gesagt, einerseits die mit der Fähre nach New York transportierten Neuankömmlinge in die Stadt hineinkullern wie Äpfel, entwickelt der Text in seinem Verlauf andererseits auch die Perspektive der erneuten Abfahrt oder der Flucht aus der Stadt. Der Roman ist in Bewegung, die kreisend und ziellos verlaufen, aber auch ein Ziel anstreben kann – oder sogar beides zugleich. Im Gewirr der Szenen und Stimmen, im Gewimmel der Menschenmassen zeichnen sich Schicksale ab von häufig katastrophischer Ausrichtung. So erleidet Gus McNeil durch einen Zusammenstoß mit der Eisenbahn einen schweren Unfall, begeht Bud Korpenning, der von seinem Vater misshandelt worden war und ihn ermordet hatte, an eben jenem Ort Selbstmord, an dem er, voll Hoffnung, New York betreten hatte. Jimmy Herf verlässt verarmt New York mit unbekanntem Ziel, Joe Harland, der einst als Börsenmakler ein Vermögen verdient hatte, muss nun betteln. Die positive Linie, besetzt etwa vom Kellner Emile, der eine wohlhabende Delikatessenhändlerin heiratet, oder von Ellen Thatcher, die als Schauspielerin Karriere macht, fällt gegenüber der Häufung
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von negativen Schicksalen eher schmal aus. Immerhin zeichnet sich ab, dass der Text nicht bloß eine Anhäufung von Einzelszenen und Beschreibungssplittern darstellt, sondern auch zwischen seinen Teilen Beziehungen zu knüpfen versucht. So durchziehen die Züge der Hochbahn die Stadt, tauchen immer wieder Kneipenszenen auf, rückt mehrfach die Feuerwehr an. Auf die zentrale Bedeutung des Geldes, der Werbung und der häufig mit ihren Schlagzeilen zitierten Zeitungen war bereits hingewiesen worden. Eine Geschichte ergibt sich daraus nicht, auch nicht eine kohärente, sinnhafte Beschreibung. Und doch entwickelt der Text eine Technik des Wiederholungsmotivs, die an einer Stelle, die nun genauer zu betrachten sein wird, sogar ein Selbstzitat enthält – ausgerechnet eines, das sich auf die außerhalb des Diskurses stehenden Einleitungen bezieht. Stanwood Emery, ein Student der Architektur, betrinkt sich in einem Wirtshaus und hält anmaßende Reden, woraufhin er von den anderen Gästen verprügelt und hinausgeworfen wird. In diesem Zustand findet er sich schließlich auf der Fähre wieder, auf die schon zu Anfang der Text fokussiert hatte: Jenseits des zinkweißen Wassers die hohen Mauern, das birkenhafte Gestrüpp der Cityhäuser schimmerten in den rosigen Morgen empor wie Hörnerschall durch schokoladebraunen Dunst. Als das Boot näher rückte, verdichteten sich die Gebäude zu einem Granitberg, von messerscharfen Schluchten zerrissen. Die Fähre glitt dicht an einem bauchigen Dampfer vorbei, der vor Anker lag und zu Stan herüberkrängte, so daß er alle Decks sehen konnte. Daneben schaukelte ein Zollboot. Ein schaler Geruch ging von den Decks aus, die vollgepackt waren mit emporgereckten Gesichtern wie mit einer Ladung Melonen.
Einige Besonderheiten der Beschreibung sind auch hier wieder erkennbar: die Vermischung von Natur und Technik („zinkweißes Wasser“) oder die Tendenz zu entlegenen Metaphern und Vergleichen: „das Gestrüpp der Cityhäuser“, der Schimmer des Wassers und der Häuser, der hochsteigt „wie Hörnerschall durch schokoladebraunen Dunst“. Das Entlegene gewinnt in diesem Text eine signifikante Qualität: Wenn in einer Stadt wie New York nichts (oder alles) ‘normal’ und ‘vertraut’ ist, verliert die Unterscheidung zwischen dem Üblichen und dem Entlegenen jeglichen Wert und tendiert gegen Null. New York, die Großstadt generell befinden sich jenseits der gewohnten Kategorien unseres Denkens und unserer Erfahrung – die Konzepte, mit denen wir die Welt erfassen und interpretieren, ‘greifen’ nicht mehr angesichts eines Gegenstandes, der alle Grenzen und Unterscheidungen sprengt. Insofern und ohne jeden weltanschaulich-religiösen Beiklang ist die moderne Großstadt ‘transzendent’. Es ist kein Zufall, dass gerade an dieser Textstelle Anlass zu solchen Überlegungen besteht, denn in der Folge des Zitats klingt der Anfang des Romans an, die Ankunft in New York, aber auch die Hässlichkeit und jenes heillose Durcheinander, in dem Menschen und Gegenstände ununterscheidbar verschwimmen:
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In dem weißerblühenden Licht kreisen Stanniolmöwen über zerbrochenen Kisten, verfaulten Kohlstrünken, Orangenschalen, die zwischen den zersplitterten Plankenwänden langsam schaukeln, grün schäumt es unter dem runden Bug, während das Fährboot, schlitternd auf dem Flutstrom, schnalzend, schluckend die zerspellten Wasser schneidet, schleifend, langsam auf die Helling auffährt. Handwinden wirbeln mit hellem Kettengeklirr, Gittertore werden aufgeschoben. Stan stieg über den Spalt, stolperte durch den stinkenden, hölzernen Tunnel des Fährhauses zu den besonnten Bänken der Battery hinaus. Er setzte sich auf eine Bank und verschränkte die Hände über den Knien, damit sie nicht so sehr zitterten. Seine Gedanken klimperten weiter wie ein mechanisches „Glöckchen am Finger und Ringe am Zeh, Die weiße Dame auf hohem Roß, Soll Stinkstank bringen, wohin sie auch geh …“
Ist auch Stan betrunken und insofern in keinem ‘normalen’ Zustand, so zeigen doch seine „mechanisch klimpernden“ Gedanken, dass ihm jegliche Kontrolle und schon gar jegliche Kraft zur Gestaltung abhanden gekommen sind. In die Faktizität dessen, was existiert und sich nicht rechtfertigen kann noch muss, sind auch die Menschen, ja sogar ihre Gedanken einbezogen. Indem der Text einen temporalen Unterschied zwischen der allgemeinen Szenerie (im Präsens) und den kaum gesteuerten Handlungen Stans (‘Stolpern’) macht, die im Präteritum beschrieben werden, unterscheidet er zwar momenthaft das Allgemeine vom Besonderen, doch tendiert auch diese Unterscheidung zur Auflösung. Wie Stan durch den Tunnel stolpert, sind andere hindurchgekullert, und die Gedichtzeilen, die mechanisch in seinem Kopf klimpern, könnten auch durch die Gedanken eines anderen ziehen. Obwohl mit Eigennamen und unterschiedlichen Lebenswegen versehen, fehlt den Figuren ihre Individualität; sie wirbeln in der Großstadt umher wie jene Waren und Dinge, die überall gegen Geld angeboten werden. Gefühle gibt es nur für den Augenblick, und wenn eine Liebe endet, geht man schnell wieder zum Tagesgeschäft über. In dieser veräußerlichten Welt, die in der Herrschaft des Geldes ihr Pendant findet, herrscht die Uniformität. Auch die Wiederkehr von Zügen, die New York durchziehen, die immer wieder auftauchende Feuerwehr setzen keine Akzente der Sinngebung, sondern unterstreichen die Wiederkehr des Gleichen oder Ähnlichen, und aus diesem Kreislauf führt nichts hinaus. Doch der Wiederholung von Text im Sinne eines Selbstzitats kommt, zumal in anderem Kontext, eine Funktion zu, die nun genauer zu untersuchen ist. Die folgende Textstelle war schon fast wortgenau als Einleitung des Kapitels „Metropolis“ verwendet worden: Einst waren Babylon und Ninive, die waren aus Backsteinen gebaut. Athen prangte mit vergoldeten Marmorsäulen. Rom ruhte auf breiten Quaderbögen. In Konstantinopel flammen die Minarette wie große Kerzen am Goldenen Horn … Ach, ein einziger Strom noch sperrt mir den Weg … Stahl, Glas, Ziegel, Zement werden das Material der Wol-
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kenkratzer sein. Dicht gedrängt auf der schmalen Insel ragen glitzernd die millionenfenstrigen Gebäude, Pyramide an Pyramide, weiße Wolkenberge über dem Gewitter aufgetürmt …
Die schon an der ‘Original’-Stelle geäußerte Vermutung, dass die untergegangenen Städte Babylon und Ninive eine prämonitorische Funktion erhalten könnten, konkretisiert sich hier, denn das Gedicht, das nun wiederum Stan durch den Kopf geht, hat mit dem Regen von vierzig Tagen eine apokalyptische Komponente: „Und es regnete vierzig Tage, und es regnete vierzig Nächte, Und es hörte nicht auf bis zur Weihnacht, Und der einzige, der die Flut überlebt hat, Das war Jack Langbein vom Isthmus …“ Herrje, ach, wär ich ein Wolkenkratzer! …
Das weitere Verhalten des betrunkenen Stan entfaltet sich in einer Szenerie von grotesker Art, in der Handlungen und Ereignisse in einen Wirbel geraten, der die Sicht der Person wiedergibt und das Ausmaß der Katastrophe gar nicht erkennen lässt. Was der Leser für die bloßen Phantasien eines alkoholisierten Mannes hält und angesichts der Reales und Skurriles mischenden Art der Beschreibung für eine weitere Variante großstädtischen Durcheinanders zu halten geneigt ist – was auch bedeutet, dass er es ästhetisch genießen kann –, erweist sich als die im Roman einzige Feuersbrunst, an der eine bekannte Figur beteiligt ist. Das Feuer gehört jetzt nicht mehr allgemein zum großstädtischen Alltag, sondern betrifft Personen der Handlung: Das Schloß drehte sich im Kreise, um den Schlüssel nicht hineinzulassen. Geschickt wartete Stan den geeigneten Zeitpunkt ab und fing es ein. Kopfüber taumelte er durch die offene Tür, durch den langen Korridor, rief „Pearline!“ ins Wohnzimmer. Es roch sonderbar, Pearlines Geruch, der Teufel soll ihn holen. Er hob einen Stuhl auf, der Stuhl wollte fliegen, wirbelte um seinen Kopf und schmetterte ins Fenster. Das Glas zerbrach klirrend. Er blickte zum Fenster hinaus. Die Straße stand an dem einen Ende hoch. Eine Feuerleiter und eine Feuerspritze kletterten holterdiepolter die Steigung hinan, einen dröhnenden Sirenenschrei hinter sich herschleifend. Feuer, Feuer, gießt Wasser drauf, Schottland brennt. Ein Tausenddollarbrand, ein Hunderttausenddollarbrand, ein Millionenbrand. Wolkenkratzer gehen in Flammen auf, in Flammen, Flammen. Er torkelte ins Zimmer zurück. Der Tisch schlug einen Purzelbaum. Die Porzellanvitrine sprang auf den Tisch. Eichenstühle kletterten bis zur Gasflamme hinauf. Gießt Wasser drauf, Schottland brennt. Ich mag den Geruch nicht in dieser Wohnung, in der Stadt New York, Bezirk New York, Staat New York. Rücklings lag er auf dem Fußboden der rotierenden Küche und lachte und lachte.
Dieses fast surreale Tableau, das zunächst nur eine vorgestellte Apokalypse zu beschreiben scheint, ist nicht nur ein Spektakel, wie es die Frau von Stan so gerne sieht:
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Köpfe blickten aus Fenstern, Menschen liefen zusammen. Ein Brand. Sie roch die versengte Luft. Sie bekam eine Gänsehaut – sie sieht so gern zu, wenn es brennt. Sie beschleunigte ihre Schritte. Ach, vor unserem Haus. Aus dem Fenster im fünften Stock wälzte sich Rauch heraus, dicht wie grobe Säcke. Plötzlich fing sie am ganzen Leibe zu zittern an. Der farbige Liftboy kam auf sie zugelaufen, sein Gesicht war grün. „Oh, es ist in unserer Wohnung“, schrie sie, „und die Möbel sind erst vor einer Woche gekommen. Laßt mich vorbei!“ Die Pakete entfielen ihr, eine Flasche mit Sahne zerbrach auf dem Pflaster. Ein Schutzmann vertrat ihr den Weg, sie stürzte sich auf ihn und hämmerte mit den Fäusten gegen die breite blaue Brust. Ihre Schreie wollten nicht verstummen.
Erst jetzt, im eingetretenen Ernstfall, entfaltet die Szene, die wir näher betrachtet hatten, ihre bedrängende Gewalt. Diese Großstadt mit ihrem Gewirr der Menschen, Szenen und Dinge ist schon in ihrer alltäglichen Existenz bedroht. Ihre Bewohner bleiben trotz gelegentlich sich einstellender Erfolge im Wirtschaftsleben wie in Manhattan Transfer angeschwemmtes menschliches Strandgut, auf das ‘menschlich’, sofern es einen humanitären Beiklang hat, nicht einmal zu passen scheint. Jederzeit und mit erschreckender Geschwindigkeit kann ein Schicksal sich ins Tragische wenden, kann ein Leben zerstört werden. Zwar ist Stanwood Emery noch einmal davongekommen, doch die Bedrohung bleibt. Durch Pearline, seine Frau, wird der Leser in das Geschehen hineingezogen und teilt ihren Blick der Betroffenheit. Sollte, müsste sich dieses Mitleiden, jenes Dabeisein beim Leser auch oder gerade dann einstellen, wenn die Romanfiguren selbst, wie zum Beispiel der Kapitän, der beim Selbstmord von Bud nur daran denkt, dass damit sein Hochzeitstag verdorben ist, keinerlei ‘menschliche’ Reaktion zeigen? Wie die Analyse letztlich immer dieselben Resultate erbringt, die sprachliche Darstellung zur Wiederholung und zur Negation neigt – im Extremfall sogar zur Wiederholung der Negation –, ist auch der Gesamteindruck des Textes von Gleichförmigkeit geprägt: immer dieselben Szenen, immer dieselben konturenund gesichtslosen Figuren, Beschreibungen des Immergleichen, ein Kreislauf ohne Ausweg. Am Ende der Lektüre ist der Kopf so leer wie jener des betrunkenen Stan, und in ihm ‘klimpern’ mechanisch und wie Ohrwürmer die banalen Reden der Figuren und die bei aller Exzentrik stereotypen Beschreibungen: Wortgeklingel. Doch in allem lauern Gefahren, und nicht zuletzt jene, die Gefahren zu unterschätzen. Diese Welt ohne Unterschiede und ohne Kategorien mentaler oder ethischer Art, die der Text in der Gleichförmigkeit seines Gegenstandes wie in einem filmischen Ablauf dem Leser vor Augen stellt, ist selbst schon die Gefahr, die er darstellt. Mit äußerster künstlerischer Konsequenz präsentiert er dem Leser die moderne Großstadt als einen Ort, in dem er sich lesend nicht nur selbst befindet, sondern den er in der Lektüre als Abstumpfungsprozess auch an sich selbst erfährt. Nachdem der Text eingangs in die Stadt hineingeführt hatte, führt er am Ende aus ihr hinaus. Jimmy Herf, der als kleiner Junge die Verheißung der Frei-
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heitsstatue erfuhr, der seine Mutter sterben, seine Ehe scheitern, seine berufliche Zukunft zusammenbrechen sah, verlässt New York von Manhattan Transfer aus, ruiniert nicht nur, was sein äußeres Leben, sondern vielleicht auch, was seinen Verstand anbelangt: Lange sitzt er in dem schäbigen, rötlich beleuchteten Wartesaal und wartet auf eine Fähre. Vergnügt sitzt er da und raucht. Er scheint sich an nichts mehr erinnern zu können, es gibt keine andere Zukunft als den nebligen Fluß und das Fährboot, das groß heranschwebt mit seinen Lichtern in einer Reihe wie ein Negerlächeln. Barhäuptig steht er an der Reling und spürt den Flußwind in den Haaren. Vielleicht ist er verrückt geworden, vielleicht hat er das Gedächtnis verloren, vielleicht hat er ein Leiden mit einem langen griechischen Namen, vielleicht wird man ihn erwischen, wie er im Hobokentunnel Brombeeren pflückt. Er lacht laut auf, so daß der alte Mann, der das Tor öffnen will, ihn jäh von der Seite ansieht. Plemplem, meschugge, bestimmt sagt er sich das im stillen. Vielleicht hat er recht. Du lieber Gott, wenn ich ein Maler wäre, vielleicht dürfte ich dann im Irrenhaus malen, ich würde den heiligen Aloysius von Philadelphia malen, mit einem Strohhut auf dem Kopf statt eines Heiligenscheins und in der Hand das Bleirohr, das Werkzeug seines Martyriums, und betend zu seinen Füßen ein kleines Ich. Er ist der einzige Passagier auf der Fähre und streift umher, als ob sie ihm gehörte. Momentan meine Privatjacht. Bei Jupiter, es sind die Kalmen der Nacht – es ist vollbracht, murmelt er vor sich hin. Immer wieder möchte er eine Erklärung dafür finden, warum er so vergnügt ist. Ich bin doch nicht betrunken. Vielleicht bin ich verrückt, aber ich kann es nicht recht glauben …
Das Verlassen der Stadt nimmt sich bei Jimmy Herf aus wie eine Befreiung. Mit nur einem Vierteldollar in der Tasche und einer ungewissen Zukunft vor sich ist er vergnügt, denn er hat die Zwänge der Großstadt abgeworfen. Wohin er nun will, weiß er nicht: Auf die Frage eines Lastwagenfahrers, den er gebeten hatte, ihn mitzunehmen: „Wie weit wollense denn?“, antwortet er: „Das weiß ich nicht … Ziemlich weit.“ Offenbar kann sich der Großstadt nur entziehen, wer nicht nur fortgeht, sondern sich von ihren Zwängen auch innerlich entfernt. Die Verrücktheit, an die Jimmy Herf nicht recht glauben mag, wird zum Zeichen der Befreiung: Sie verlässt die Denk- und Verhaltensmuster, die New York seinen Bewohnern auferlegt, indem es Versprechen von Glück und Reichtum macht – doch um welchen Preis? Der Leser hat zusammen mit Jimmy Herf einen Punkt erreicht, der drohte, zum point of no return zu werden: mit leerem Hirn und stumpfen Augen ein Geschehen zu verfolgen, dem jeglicher Sinn fehlt. Die Großstadt verschlingt ihre Kinder, doch was aus ihnen wird, wenn sie gehen, bleib unklar. Manhattan Transfer, der Roman der Großstadt New York, reicht über ‘seine’ Stadt nicht hinaus und endet in dem Augenblick, da eine seiner Hauptfiguren die Stadt verlässt. Ihr könnte er nur folgen, wenn er aufhörte, ein Großstadtroman zu sein. Doch das wäre ihm, der in einem Totalitätsentwurf von verstörender Kraft seinen Gegenstand nicht nur erfasste,
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sondern mit Hilfe des Lesers auch immer wieder neu schafft, gewiss nicht zu wünschen.
2. „Da rollen die Worte einen an“: Döblin, Berlin Alexanderplatz Der Titel kündigt es an: In Döblins klassischem Großstadtroman, dem ersten in Deutschland, der dieses Etikett verdient, tritt die Stadt nur partiell in Erscheinung. Nicht allein deshalb, weil, titelgebend, der Alexanderplatz im Zentrum steht (des Textes ebenso wie der Stadt), sondern auch vor dem Hintergrund der Personenkonstellationen. Berlin Alexanderplatz ist in demselben Maße ein Sozialroman wie ein Großstadtroman, denn seine Welt ist die Welt der kleinen Leute, die sich mit ihrer jeweiligen Sprache, ihrem Dialekt und Idiolekt, direkt artikulieren. Weniger ein Roman der Bilder als ein Roman der Stimmen, ist Berlin Alexanderplatz Ausdruck jenes Innenlebens benachteiligter (und hier sogar: mit dem Gesetz in Konflikt kommender) Schichten, das nur schwer zur Sprache findet. Deren Sprechen am Rande des Schweigens wird mit einer Vielzahl anderer Stimmen durchsetzt, in denen man die Diskurse der Moderne, wie sie sich in den Metropolen entäußern, wiedererkennt: die Sprache der Behörden und der Tagespresse, die Diskurse der Wissenschaften, einen fremdartigen Akzent setzend, das hymnische Sprechen der Bibel – und zu alldem auch noch die Stimme des Erzählers, der seine stammelnden Figuren nicht allein lässt, sondern ihnen, kommentierend, jenen Sinn entlockt, den sie selbst kaum auszudrücken vermögen. Die Frage: Was tritt von Berlin in den Blick, was kommt von Berlin zur Sprache?, könnte sich in zwei Fragen aufspalten, deren Antworten je verschieden ausfielen. Dem ersten Teil der Frage wird zunächst unsere Aufmerksamkeit gelten; der zweite Teil soll, dieses Kapitel abschließend, gegen Ende beantwortet werden. Dabei erscheint die Unterscheidung oder gar Teilung selbst fragwürdig, denn was in einem sprachlichen Text in den Blick tritt, kommt automatisch zur Sprache, und was zur Sprache kommt, tritt – metaphorisch – auch in den Blick. Wozu also die Differenzierung? Die Antwort ist den weiteren Ausführungen vorbehalten. Zunächst zum Inhalt des Romans, dessen Zusammenfassung mit einigem Vorbehalt zu versehen ist, denn dieser Text dürfte vor allen anderen dem Leser bekannt sein. Trotzdem: Berlin Alexanderplatz erzählt die Geschichte von Franz Biberkopf, der wegen Totschlags inhaftiert war und am Anfang des Textes das Gefängnis verlässt, entschlossen, nunmehr ein anständiges Leben zu führen. Der Entschluss dazu ist leichter gefasst als die konkrete Umsetzung realisiert, denn Biberkopf, der sich mit Gelegenheitsarbeiten durchschlägt, kommt mit dem kriminellen Milieu in Kontakt, wird in Einbrüche verwickelt, verliert durch einen Racheakt seiner Mittäter einen Arm und wird schließlich des Mor-
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des an seiner Geliebten, einer ehemaligen Prostituierten, angeklagt. Obwohl er freigesprochen wird, ist ihm doch das Gefährliche seiner mit verbrecherischen Kreisen verbundenen Existenz zum Bewusstsein gekommen, so dass er nun endgültig beschließt, ehrlich durchs Leben zu gehen, und diesen Entschluss auch in die Tat umsetzt. Das Ende des Romans schildert den ‘Helden’, wie er als Hilfsportier einer anständigen Beschäftigung nachgeht. Dieser Roman der kleinen Leute ist zugleich ein Exempel für die Schwierigkeit, auch und gerade unter extremen sozialen Bedingungen ehrlich zu bleiben, und der Schluss mutet an wie der als Befreiung zu verstehende Triumph der Moral über das Verbrechen. Nachdem der Erzähler seine Figur durch alle Tiefen der Bedrohung ihrer Sittlichkeit begleitet hatte, kann er Biberkopf am Ende getrost seinem weiteren Schicksal überlassen: Was wahr und falsch ist, werd ich jetzt besser wissen. Ich bin schon einmal auf ein Wort reingefallen, ich habe es bitter bezahlen müssen, nochmal passiert das dem Biberkopf nicht. Da rollen die Worte auf einen an, man muß sich vorsehen, daß man nicht überfahren wird, paßt du nicht auf auf den Autobus, fährt er dich zu Appelmus. Ich schwör so bald auf nichts in der Welt. Lieb Vaterland, magst ruhig sein, ich hab die Augen auf und fall so bald nicht rein.
Die Worte („Ich bin schon einmal auf ein Wort reingefallen“) scheinen der Kern dessen zu sein, was Biberkopf bedroht und von ihm in das Bild ihn überrollender Autos gekleidet wird: das Wort als ‘Bild’? Aus der Gefahr der Worte leitet sich für Biberkopf, nun vorsichtig und durch die Ereignisse klug geworden, der Entschluss ab, so bald auf nichts mehr zu schwören, sich somit dem Schwur, der auch mit Worten operiert, zu verweigern. Im Zusammenhang der Worte fällt ein Weiteres auf: die Tendenz zu Liedtexten. Die Zeile aus dem Lied von der Wacht am Rhein wird mit einer weiteren, eigenen kombiniert, ist Anstoß für ganz Persönliches, und Fremdrede wird hier am Schluss zur Eigenrede. Über weite Teile reproduziert der Roman, in personaler Rede, die Sprache seines Protagonisten und kombiniert sie wie in einem Konzert verschiedener Stimmen mit den ‘Sprachen’ der Stadt – ein polyphoner Roman, der freilich auch, in vielfacher Kombinatorik, Bilder abrollen lässt wie in den Sequenzen eines Films und der die Schnitttechnik dieses Mediums nutzt für die schockartige Kontrastierung des Verschiedenen, das seinen Ort hat in der unüberschaubaren, dem Einzelnen keine Heimstatt bietenden Metropole Berlin. Der Text setzt in dem Augenblick ein, da Biberkopf das Gefängnis in Tegel verlässt, in dem er vier Jahre lang wegen Totschlags eingesessen hatte. Was ihn auf der Straße an Bildern und Eindrücken empfängt, ist für ihn, der sich lange in einem gleichsam umfriedeten Raum aufgehalten hatte, verwirrend, noch verwirrender wohl als für einen ‘normalen’ Einwohner Berlins: „Er stand an der Haltestelle. Die Strafe beginnt.“ Nachdem er mit einem Anlauf, der seinen inneren Widerstand besiegte, in die Straßenbahn (die „Elektrische“) eingestiegen
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war, überfallen ihn die Eindrücke, setzt das ein, was man als ‘Reizüberflutung’ zu kennzeichnen gewohnt ist: Er drehte den Kopf zurück nach der roten Mauer [sc. des Gefängnisses], aber die Elektrische sauste mit ihm auf den Schienen weg, dann stand nur noch sein Kopf in der Richtung des Gefängnisses. Der Wagen machte eine Biegung, Bäume, Häuser traten dazwischen. Lebhafte Straßen tauchten auf, die Seestraße, Leute stiegen ein und aus. In ihm schrie es entsetzt: Achtung, Achtung, es geht los. […] Er stieg unbeachtet wieder aus dem Wagen, war unter Menschen. […] Gewimmel, welch Gewimmel. Wie sich das bewegte. […] Man riß das Pflaster am Rosenthaler Platz auf, er ging zwischen den andern auf Holzbohlen.
Nichts tritt genauer in den Blick; alles ist von Biberkopfs Verwirrung und Angst durchsetzt. Elliptische Sätze („Gewimmel, welch Gewimmel“; „Wie sich das bewegte“) bringen die Zerrissenheit der Wahrnehmung zum Ausdruck. Selbst die Einheit des eigenen Körpers wird zersetzt, indem der Kopf in Richtung des Gefängnisses stehen bleibt, während die Straßenbahn davonfährt. Erst jetzt, da ihm anscheinend kein Lebensraum offen steht, erfährt Biberkopf die eigentliche Bestrafung, die, es sei schon an dieser Stelle angedeutet, sich mit Konnotationen der göttlichen Strafe durchsetzt und Biberkopfs Schicksal in Analogie zu jenem des biblischen Dulders Hiob als keineswegs zufällig erscheinen lässt. Der Roman ist eine neue Moralität, sein Ziel die Belehrung des Lesers und die Läuterung seines Helden, der scheinbar so ganz unbiblische Schauplatz die moderne Großstadt. Sie entzieht sich in ihrer Vielfalt und, für Biberkopf, ihrer Fremdheit dem Verstehen; in ihr herrscht die neutralisierende Wirkung der Geldwirtschaft, die sogar den Blick auf die Menschen so stark verändert, dass sie gar nicht mehr wie Personen, sondern nur noch wie Sachen erscheinen: Figuren standen in den Schaufenstern in Anzügen, Mänteln, mit Röcken, mit Strümpfen und Schuhen. Draußen bewegte sich alles, aber – dahinter – war nichts! Es – es – lebte nicht! Es hatte fröhliche Gesichter, es lachte, wartete auf der Schutzinsel gegenüber Aschinger zu zweit oder zu dritt, rauchte Zigaretten, blätterte in Zeitungen. So stand es da wie die Laternen – und – wurde immer starrer.
Die fortschreitende Versachlichung erfasst auch die Menschen, die, mit dem Pronomen des Neutrums versehen, den Unterschied zwischen Lebendem und bloß Gegenständlichem aufheben. Wie einerseits die Passanten zu unbelebten Schaufensterpuppen mutieren, ergreift andererseits die unablässige Bewegung der Großstadt auch Lebloses: Die Wagen tobten und klingelten weiter, es rann Häuserfront neben Häuserfront ohne Aufhören hin. Und Dächer waren auf den Häusern, die schwebten über den Häusern, seine Augen irrten nach oben: wenn die Dächer nur nicht abrutschten, aber die Häuser standen grade. Wo soll ick armer Deibel hin, er latschte an der Häuserwand lang, es nahm kein Ende damit.
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Der Blick und auch die Sprache der Person gehen in die Beschreibung ein, und die sich abhebenden Dächer provozieren, ganz wie die anderen bedrängenden Bewegungen der Stadt auch, Visionen der Angst. So verliert der unheldenhafte ‘Held’ seinen Lebensmittelpunkt, obwohl er ihn nach langer Haft scheinbar wiederfindet. Einer der zentralen Orte Berlins, der Alexanderplatz, führt in einer zentrifugalen Bewegung dazu, dass Biberkopf seine ruhende Mitte verliert und zum Spielball all jener Eindrücke wird, die pausenlos auf ihn einwirken und die ihn vor allem deshalb bedrohen, weil er sie nicht versteht. Auch dort, wo die Stadt topographisch in den Blick tritt, werden Halt und Orientierung nicht größer, sondern verlieren sich in einer Serie von Namen, denen kein spezifischer Ort entspricht – zumindest nicht in jener Art von Wahrnehmung, die Biberkopf eigen ist und die der Text auch dem Leser ansinnt: Die Elektrische Nr. 68 fährt über den Rosenthaler Platz, Wittenau, Nordbahnhof, Heilanstalt, Weddingplatz, Stettiner Bahnhof, Rosenthaler Platz, Alexanderplatz, Straußberger Platz, Bahnhof Frankfurter Allee, Lichtenberg, Irrenanstalt Herzberge.
Die Belegstellen ließen sich vervielfachen, immer im Behördenduktus einer gleichsam verkehrstechnischen Beschreibung des städtischen Liniennetzes. Die „Elektrische“ ist, ähnlich wie bei Dos Passos, dem Text leitmotivisch verbunden, führt aber im Unterschied zu Manhattan Transfer nicht zu einer Orientierung innerhalb der erzählten Geschichte oder zu der Versicherung eines funktionierenden Stadtgefüges, sondern bringt bloße Namen hervor, mit denen sich keine Bilder verbinden, so dass die Bahnen gleichsam im Nichts und ins Nichts hinein unterwegs sind. Hier wird nicht(s) gedeutet, sondern nur nüchtern festgestellt. Deshalb ergibt sich auch nicht Eindruck von einem Ort mit eigener Atmosphäre, sondern nur der Anschein fremder und sogar menschenfeindlicher Neutralität, die dennoch den Einzelnen, nach dem vielfach bewährten und zitierten Motto Merciers, ‘verschlingt’. Was sich bei den die Stadt durchziehenden Straßenbahnlinien immer wieder aufdrängt – die Sachlichkeit bloßer Aufzählung – gilt auch für den Ort, der dem Roman seinen Namen gab: Am Alexanderplatz reißen sie den Damm auf für die Untergrundbahn. Man geht auf Brettern. Die Elektrischen fahren über den Platz die Alexanderstraße durch die Münzstraße zum Rosenthaler Tor. Rechts und links sind Straßen. In den Straßen steht Haus bei Haus. Die sind vom Keller bis zum Boden mit Menschen voll. Unten sind die Läden. Destillen, Restaurationen, Obst- und Gemüsehandel, Kolonialwaren und Feinkost, Fuhrgeschäft, Dekorationsmalerei, Anfertigung von Damenkonfektion, Mehl und Mühlenfabrikate, Autogarage, Feuersozietät […].
Sehr vieles gleitet hier vor den Augen vorbei, doch nichts ist genauer, in seiner Eigenart, wahrnehmbar. Wie eine Serie von Fotografien oder ein schnell ablaufender Film lichtet der Text die Straßen, Häuser und Geschäfte ab, ohne
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sie indes mit einer besonderen Physiognomie zu versehen. Bloße Worte reihen sie aneinander, die den jeweiligen Gegenstand zwar benennen, nicht aber beschreiben. Die ausladenden Tableaus, in denen Zola die Großstadt einfing, gehören definitiv der Vergangenheit an; Berlin gerät bei Döblin zu einer Abfolge von Schnappschüssen, doch ohne jegliche Aussagekraft – so will es scheinen. Und doch übermittelt die Nüchternheit der Stadtdarstellung dem Leser eine Botschaft von bedrängender Präzision. Die Bilder Berlins sind nicht mehr poetisch nach alter Weise, sie sind die extreme Reduktionsform des momenthaft Sichtbaren ohne jeden künstlerischen Anstrich und doch Ausdrucksmedium einer Stadt, die sich der Deutung entzieht und die a fortiori auch keinen Sinn mehr vermittelt außer jenem, dass uns die Städte definitiv fremd geworden sind. So werden zwar Bilder der Stadt mit fotografischer Genauigkeit im Text reproduziert, sind aber, nüchtern, jeglicher Sinnhaftigkeit entkleidet. Bei Döblin tritt uns die Großstadt gleichsam nackt entgegen: nicht verlockend, sondern abstoßend. Statt Nähe schaffen die Bilder Distanz. Optisch ist die Stadt nicht mehr verfügbar, sondern flieht alle, die sich der Bilder bemächtigen wollen. Wie Biberkopf kurz nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis zu sehen vermeint, dass sich die Dächer von den Häusern heben (wie seinerzeit im Madrid Lesages), spielt sich auch später, als er, des Mordes an seiner Geliebten verdächtigt, noch einmal vor dem Gefängnis steht, eine Verwandlung der Realität im Modus des Imaginären ab (oder unter dem Blick der Angst?). „Und die roten Häuser hinter den Mauern fangen an zu zittern und zu wallen und die Backen aufzublasen.“ „Und Franz Biberkopf irrt um das riesige Gefängnis, das immer zittert und wallt und nach ihm ruft […].“ Nach ihm ruft? Es könnte sich im Anschluss an das, was als Neutralität und Unverfügbarkeit der Bilder gekennzeichnet wurde, die Frage ergeben, in welcher Weise, sofern nicht in ihren Bildern, die Großstadt zum Ausdruck kommt. Was von ihr bleibt, wenn die Bilder flüchten, ist etwas, das sich im Text niederschlägt und das ihn als Ausdrucksmittel der Großstadt allererst legitimiert. Das Gefängnis, so wurde gesagt, ruft nach Biberkopf. Es mag ihm so vorkommen, und doch ist dieser Ruf mehr als nur ein persönlicher Eindruck. Die Stadt ist bei Döblin voller Stimmen – Lockrufe, Warnschreie und ganz einfach das, was, als Information, nach Ausdruck verlangt: Behördensprache, Zeitungsnachrichten. So erscheint Berlin nicht als ein Kosmos von Bildern, sondern als Klangraum der Polyphonie oder auch Kakophonie einander durchdringender Stimmen. Nie ging die Anverwandlung der Stadt an den literarischen Diskurs so weit wie in Döblins Berlin Alexanderplatz. Der Leser schaut nicht mehr zu, sondern hört hin. Soll damit gesagt sein, dass der Autor oder sein Erzähler kein Werk eigenen Rechts ins Leben ruft, sondern nur die vorhandenen Stimmen der Stadt zusammenführt? Dann wären nicht der Fotoapparat oder, technisch avan-
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cierter, die Filmkamera das Arbeitsinstrument des Romanciers, sondern das Tonbandgerät und das Mikrofon. Bleiben wir zunächst bei dieser Vermutung. „Der Rosenthaler Platz unterhält sich“ leitet eine Sequenz von Texten ein, in denen verschiedene Stimmen wiedergegeben werden – Unterhaltungen in einer Gastwirtschaft, aber auch Werbetexte („Diverse Fruchtbranntweine zu Engrospreisen, […] Lukutate, das indische Verjüngungsmittel der Elefanten, Fromms Akt, der beste Gummischwamm“) und der Wetterbericht: „Wechselndes, mehr freundliches Wetter, ein Grad unter Null. Für Deutschland breitet sich ein Tiefdruckgebiet aus […].“ Die Invalidenstraße führt zum Stettiner Bahnhof, „wo die Züge von der Ostsee ankommen. Sie sind ja so berußt – ja hier staubts. Guten Tag, auf Wiedersehn. – Hat der Herr was zu tragen, 50 Pfennig. – Sie haben sich aber gut erholt. – Ach die braune Farbe vergeht bald.“ Und noch ein mündlicher Bericht im Stil einer Zeitungsnachricht: „In einem kleinen Hotel da in einer finstern Straße hat sich gestern früh ein Liebespaar erschossen, ein Kellner aus Dresden und eine verheiratete Frau, die sich aber anders eingeschrieben haben.“ Die Gesprächsfetzen, die man auf dem Bahnhof aufschnappen kann, sind zusammenhanglos, die Sprecher bleiben unbekannt. Dem sachlich-neutralen Bild, zu dem man keine Beziehung aufbauen kann, scheint die anonyme Rede zu entsprechen, die man zwar versteht, weil man die Sprache kennt, deren Bedeutung aber, zumal für die Hauptfigur des Romans, im Dunkeln bleibt. Nicht was bestimmte Personen sprechen, wird vernehmlich, sondern Texte und Stimmen umgeben die Hauptfigur und den Leser wie ein ununterbrochenes Raunen und Rauschen. Rede, statt Mitteilung zu sein, ist nur noch zu Text gewordener Klang, Sprache ohne Adressaten. Wer ‘angesprochen’ wird, bezieht Position zu dem, was er hört; nicht so Biberkopf. Ihm schwirrt der Kopf von dem, was er wahrnimmt und was er nicht versteht. Ursprung dieser Fülle von Texten ist das Großstadtleben, das seine Diskurse gleichsam ausspeit. Selbst das Telefonbuch steht Pate für eine Textpassage im Roman: Die AEG ist ein ungeheures Unternehmen, welches nach Telefonbuch von 1928 umfaßt: Elektrische Licht- und Kraftanlagen, Zentralverwaltung, NW 40, Friedrich-Karl-Ufer 2–4, Ortsverkehr, Fernverkehr Amt Norden 4488, Direktion, Pförtner, Bank Elektrischer Werte A.G., Abteilung für Beleuchtungskörper, Abteilung Rußland […].
Die Beschreibung fährt noch eine Weile in dieser Manier fort und verstärkt damit den Effekt, der sich bei der Lektüre einstellt – dass man auf die Dauer die Informationen nicht mehr aufnimmt, weil unklar ist, wozu sie nützen. Denn das Studium des Telefonbuches dient doch normalerweise nur dem Auffinden eines Anschlusses und ist kaum jemals Selbstzweck. Wie im Trubel der Großstadt die Eindrücke verschwimmen, so enthält auch der Text in Form anderer, zitierter Texte eine Fülle an Informationen von reinem Tageswert ohne Bedeu-
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tung über diesen hinaus. Der raschen Abfolge von Bildern entspricht in weitaus größerem Umfang ein Stimmengewirr, dem die Sukzession im Text zwar noch Klarheit, aber keine Bedeutung mehr verschaffen kann. Kunstlos reiht der Erzähler die Texte aneinander, konfrontiert sie miteinander und montiert sie ungeachtet der verschiedenen Quellen, aus denen sie stammen. Immer wieder taucht, besonderes Medium der modernen Metropolen, die Presse als Textproduzentin auf, doch auch die Sprache der Wissenschaft, die der einfache Franz Biberkopf sicher nicht versteht, begleitet seinen Weg durch die Stadt. Gleich nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis sucht Franz nach einer Frau; Minna, so heißt die Auserwählte (oder: das Opfer), ist die Schwester von Ida, der Frau, die er erschlagen hat. In die Begegnung der beiden sind wiederum fremde Texte hineinmontiert – ein Zeitungsbericht über einen Ehebruch (Minna ist verheiratet) und folgender Text, der, leicht variiert, gleich zweimal vorkommt: Da sind Berge, die seit Jahrtausenden stehn, gestanden haben, und Heere mit Kanonen sind drübergezogen, da sind Inseln, Menschen drauf, gestopft voll, alles stark, solide Geschäfte, Banken, Betrieb, Tanz, Bums, Export, soziale Frage, und eines Tages geht es rrrrrr, rrrrrr, nicht vom Kriegsschiff, das macht selber hops, – von unten. Die Erde macht einen Sprung, Nachtigall, wie sangst du so schön, die Schiffe fliegen zum Himmel, die Vögel fallen auf die Erde.
In einer apokalyptischen Vision, freilich eingeleitet von einem etwas wirren ‘Bild’ der Welt, tut sich die Erde auf, kehrt das Unterste zuoberst und umgekehrt. Die Sprache könnte jene von Franz Biberkopf sein, seine Umgangssprache, aber von einem anderen als alltäglichen Thema besetzt. Mit Texten dieser Art, die das unmittelbare Geschehen und seinen Schauplatz übersteigen, nähert sich der Roman seiner Botschaft an, die ebenfalls ‘mehr’ ist als nur die Geschichte von Franz Biberkopf. Mit Verfremdungen ist der Text durchsetzt; schon das Schicksal Biberkopfs mutet fremdartig genug an, doch die Art seiner Darstellung rückt es noch einmal in eine weit größere Distanz. Die Vielfalt der Texte lässt die Vorstellung von einem Text gar nicht aufkommen und entspricht in ihrer scheinbar kunstlosen Montage einem Werk, das sich als Sammelbecken von Bildern und Stimmen ausgibt – in jenem typisch großstädtischen Durcheinander, das eine ordnende Hand nicht erkennen lässt. Entsprechend wird auch Biberkopfs Entschluss, nun ein ehrliches Leben zu führen, immer wieder durchkreuzt, und charakteristischerweise endet der Roman in dem Moment, als Biberkopf endlich sein Ziel erreicht hat. Kontinuität ist gewiss nicht das Konstruktionsprinzip von Berlin Alexanderplatz. Selbst die einzelnen Szenen werden nicht als Einheiten dargeboten, sondern von Fremderfahrungen in wiederum einzelne Teile zerlegt. Und selbst die Darstellung des entscheidenden Moments bei der sexuellen Begegnung zwischen Minna und Franz schert gleichsam aus und aktiviert einen Diskurs der Wissenschaft:
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Zauber, Zucken. Der Goldfisch im Becken blitzt. Das Zimmer blinkt, es ist nicht Ackerstraße, kein Haus, keine Schwerkraft, Zentrifugalkraft. Es ist verschwunden, versunken, ausgelöscht die Rotablenkung der Strahlungen im Kraftfeld der Sonne, die kinetische Gastheorie, die Verwandlung von Wärme in Arbeit, die elektrischen Schwingungen, die Induktionserscheinungen, die Dichtigkeit der Metalle, Flüssigkeiten, der nichtmetallischen festen Körper.
Aus dem wissenschaftlichen ‘Jargon’ entsteht ein grotesker Effekt, denn der Wissenschaftsjargon ist selbst, wie zu erwarten war, alles andere als zutreffend und einheitlich und steht zudem in Kontrast zu der Intimität der Szene. Jede Psychologie vermeidend, wird die sexuelle Begegnung der beiden Figuren auf die nüchterne und sachliche Ebene der Physik gerückt, die ‘Physis’ in eigenwilliger Weise umschreibend. Soll diese scheinbare ‘Wissenschaftlichkeit’ das Peinliche der Szene ausspielen oder im Gegenteil eskamotieren? Schon bevor Franz zu Minna in Kontakt trat, hatte er eine Prostituierte aufgesucht, bei ihr aber schmählich versagt: „Ick kann nischt dafür“, hatte sie gesagt, und er fügt in einem inneren Monolog hinzu: „Raus auf die Straße! Luft! Regnet noch immer. Was ist nur los? Ich muß mir ne andre nehmen. Erst mal ausschlafen, Franz, wat ist denn mit dir los?“ Unvermittelt wird der Leser über die sexuelle Potenz belehrt: Die sexuelle Potenz kommt zustande durch das Zusammenwirken 1. des innersekretorischen Systems, 2. des Nervensystems und 3. des Geschlechtsapparates. Die an der Potenz beteiligten Drüsen sind: Hirnanhang, Schilddrüse, Nebenniere, Vorsteherdrüse, Samenblase und Nebenhoden. In diesem System überwiegt die Keimdrüse. Durch den von ihr bereiteten Stoff wird der gesamte Sexualapparat von der Hirnrinde bis zum Genitale geladen.
Man mag daran denken, dass Döblin als Arzt in eben jenem Viertel um den Alexanderplatz praktizierte (und dessen zumeist einfache Bewohner sehr gut kannte), das er in seinem Roman beschreibt. Doch dieser Hinweis hat allenfalls anekdotische Bedeutung, solange nicht die Funktion des Wissensdiskurses klar zutage tritt. Man erwartet ihn nicht in einem Text, der als Kunstwerk erscheinen will, und, was entscheidend hinzutritt: Man versteht ihn auch nicht. Es ist alles sachlich, nüchtern, richtig in diesem Roman, und doch (oder eben deshalb) entzieht sich die Welt, in der Franz Biberkopf als ehrlicher Mann leben will, unserem Zugriff und unserem Verständnis. Kurios und grotesk, ist die Großstadt ein Raum voller Bilder und Stimmen, die nicht miteinander kommunizieren und die auch dem Leser folglich nichts anderes sagen, als dass es hier nichts zu verstehen gibt. Der Gestus der Deutung kann, wie Rilkes Paris belegte, vom poetischen Akt getrennt werden, doch behält dieser seine Aussagekraft. Nicht so bei Döblin. Die Bilder stehen, die Stimmen sprechen für sich selbst, und die Arbeitsweise Döblins, der in seinen Text eben jene fremden Texte einklebte, zeigt den Respekt vor der Faktizität der Großstadt. Diese ver-
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schiedenen Texte korrespondieren nur in der Art und dem Grad ihrer Verfremdungen, hervorgerufen durch die Verbindung des Heterogenen. Das lässt sich leicht feststellen, verstehen aber zunächst noch nicht. Ist die Präsenz fremder Diskurse eindeutig, so ist es ihre Bedeutung (oder sollte man sachlicher sagen: ihre Funktion?) weitaus weniger, und die Frage danach ist erst dann zu beantworten, wenn eine Sprache erreicht ist, die nun vollends fremdartig ertönt im Diskurstaumel der modernen Großstadt. Doch bis dahin braucht unsere Darstellung, wiederum ein fremdes Moment der Thematik evozierend, noch etwas ‘Zeit’. Denn auf eine weitere Sprache ist noch hinzuweisen, die einfacher zu deuten ist als die Funktion des wissenschaftlichen Idioms. Er stand schon ganz fest auf seinen Beinen in Berlin – seine alte Stubeneinrichtung hatte er zu Geld gemacht, aus Tegel hatte er ein paar Groschen, seine Wirtin und sein Freund Meck schossen ihm was vor – da kriegte er noch einen ordentlichen Schlag. Aber der war nachher nur von Pappe. Lag da eines sonst gar nicht üblen Morgens ein gelbes Papier auf seinem Tisch, amtlich, gedruckt und Schreibmaschine: Der Polizeipräsident, Abteilung 5, Geschäftszeichen, es wird ersucht, bei etwaigen Eingaben in vorliegender Angelegenheit das obige Geschäftszeichen anzugeben. Ausweislich der mir vorliegenden Akten sind Sie wegen Bedrohung, tätlicher Beleidigung und Körperverletzung mit tödlichem Ausgang bestraft worden, mithin als eine für die öffentliche Sicherheit und Sittlichkeit gefährliche Person zu erachten. Demgemäß habe ich auf Grund der mir nach Paragraph 2 des Gesetzes vom 31. Dezember 1842 und nach Paragraph 3 des Gesetzes über die Freizügigkeit vom 1. November 1867 sowie nach den Gesetzen vom 12. Juni 1889 und 13. Juni zustehenden Befugnis beschlossen, Sie von Landespolizei wegen aus Berlin, Charlottenburg, Neukölln, Berlin-Schöneberg, Wilmersdorf, Lichtenberg, Stralau sowie den Amtsbezirken Berlin- Friedenau, Schmargendorf, Tempelhof, Britz, Treptow, Reinickendorf, Weißensee, Pankow und Berlin-Tegel auszuweisen, und fordere Sie deshalb auf, den Ausweisungsbezirk binnen 14 Tagen zu verlassen, mit dem Eröffnen, daß, wenn Sie nach Ablauf der erhaltenen Frist im Ausweisungsbezirk noch getroffen werden oder dorthin zurückkehren, gegen Sie auf Grund des Paragraphen 132 Nummer 2 des Gesetzes über die allgemeine Landesverwaltung vom 30. Juli Q II E 1883 eine Geldstrafe von zunächst 100 Mark oder im Unvermögensfalle eine Haftstrafe von 10 Tagen festgesetzt und vollstreckt werden wird.
Dieser Text ist fremdartig und ist es, vor dem Hintergrund einer Behördensprache, die jeder von uns kennt, auch wiederum nicht. Geradezu genüsslich wird in voller Breite ein Brief ‘zitiert’, der das Bestreben Biberkopfs, in Berlin Fuß zu fassen, gründlich zu vernichten sich anschickt. Zwar kommt es anders, da Biberkopf dann doch ein Gewerbe ausübt (er verkauft auf der Straße Zeitungen und Schlipsbinder), bevor er erneut auf die schiefe Bahn gerät, doch die Präsenz der Behördensprache ist davon unberührt – die Präsenz und die Gewalt, die von ihr ausgeht. Das Amtsdeutsch und der Inhalt des Schreibens stellen für Biberkopf in gleicher Weise eine Bedrohung dar, und was sich auf Para-
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graphen beruft, kann ein Leben vernichten. An dieser Stelle kommt man der Funktion der Fremddiskurse in Berlin Alexanderplatz auf die Spur. Es handelt sich um ‘Sprachen’, die sich nicht nur jedem Zugriff entziehen, sondern die auch unpersönlich-anonymen Ursprungs sind. Hier spricht keine Person, sondern eine Behörde, kein Individuum, sondern, unpersönlich, die Wissenschaft, und es ertönt ohne personalen Urheber die Sprache der Tagespresse. Was auf diese Weise geäußert wird, ist wohl richtig und zutreffend, betrifft uns aber nicht. Die Sachlichkeit der Sprache spart das Persönliche aus. An dieser Stelle ist eine Botschaft des Textes zu erahnen, die jenseits der Geschichte von Franz Biberkopf zu bedenken wäre: In einer Zeit, an einem Ort der Versachlichung und Verfremdung gibt eine Gesellschaft Diskurse aus, die nur noch ihrem Selbstlauf folgen und keinerlei Betroffenheit mehr auslösen. In den sich durchkreuzenden Straßen, durch die ins Niemandsland führenden Straßenbahnlinien und umgeben von Diskursen, die sich dem unverständlichen Lallen annähern, verliert der Bewohner der Großstadt jegliche Beziehung zu dem, was ihn umgibt; dass es sich auch seinem Einfluss und seiner Kontrolle entzieht, ist die notwendige Folge. Doch hat der Held des Romans, hat der Erzähler dieser babylonischen Sprachverwirrung keine eigene Stimme entgegenzusetzen? Biberkopf spricht relativ viel in diesem Text, der häufig die erlebte Rede und den inneren Monolog einsetzt, um dem Leser einen Blick in Kopf und Seele der Figur zu gestatten. Biberkopfs Rede aber hat – abgesehen davon, dass sie zumeist im Berliner Dialekt gehalten ist – eine augenfällige Eigenart, die zum Beispiel an folgenden, beliebig dem Roman entnommenen Passagen hervortritt: „Franz Biberkopf ist wieder da und die Preußen sind lustig und rufen Hurra.“ „Es waren zwei Königskinder, die hatten einander so lieb. Wenn der Hund mit der Wurst übern Rinnstein springt. […] Putt, putt, putt, mein Hühnchen, putt, putt, putt, mein Hahn.“ „Wenn ein Mädchen einen Hörrn hat, den sie liebt und den sie görn hat.“ Was Franz durch den Kopf geht, sind häufig Texte von Volksliedern und Schlagern, und selbst die Stimme des Erzählers schließt sich gelegentlich diesem Duktus an: „Mit den Händchen klapp, klapp, klapp, mit den Füßchen trapp, trapp, trapp, einmal hin, einmal her, ringsherum, es ist nicht schwer.“ Es ist nicht schwer? Das Leben des Franz Biberkopf nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis ist eine sich steigernde Serie von Prüfungen, denen seine Moral stellenweise, aber nicht endgültig unterliegt. In diesen einfachen Texten spiegelt sich die geistige Welt des Protagonisten, und solche gleichsam präfabrizierten Texte bieten der Erfahrung ein Stück Sicherheit: Sie sind bekannt und allzeit abrufbar. Auch Biberkopf verfügt über ‘seine’ Diskurse, spricht sie aus oder schreit sie heraus. Wie er sich, immer im Rahmen seiner eingeschränkten Möglichkeiten, sprachlich äußert, so steht er in einem Sprach-Raum, dessen Diskurse ihn nicht
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selten verfehlen, manchmal aber auch erreichen. In der Vielzahl seiner Stimmen stellt der Roman eine besonders, ‘führend’, heraus, die in einer modernen Großstadt kaum an ihrem Platz zu sein scheint. Am Anfang des zweiten Buches ertönt eine Stimme, die zwar dem Erzähler gehört, deshalb aber keineswegs sein ‘Privatdiskurs’ ist: „Aber es ist kein beliebiger Mann, dieser Franz Biberkopf. Ich habe ihn hergerufen zu keinem Spiel, sondern zum Erleben eines schweren, wahren und aufhellenden Daseins.“ Ein höheres Schicksal waltet über Biberkopf, das nicht nur im Literarischen verankert, sondern auf allgemein moralische Fragen hin ausgerichtet ist. Insofern lässt sich Berlin Alexanderplatz treffend als Moralität kennzeichnen, eine Diagnose, die durch den gelegentlich anzutreffenden biblischen Ton untermalt wird. Und bald danach ist die Rede von Paradies: Es lebten einmal im Paradies zwei Menschen, Adam und Eva. Sie waren vom Herrn hergesetzt, der auch Tiere und Pflanzen und Himmel und Erde gemacht hatte. Und das Paradies war der herrliche Garten Eden.
In diesem Zusammenhang verwundert es nicht, dass, wie schon beiläufig bemerkt, der biblische Dulder Hiob zu Franz Biberkopf in Beziehung gesetzt wird. Der religiöse Diskurs taucht an verschiedenen Textstellen auf, auf Geschichten der Bibel anspielend wie im oben zitierten Beispiel, aber auch den Duktus der Heiligen Schrift reproduzierend. So ertönt in der Kakophonie der modernen Großstadt die Stimme des Herrn: Und ich wandte mich und sah alles Unrecht, das geschah unter der Sonne, und siehe da, es waren Tränen derer, so Unrecht litten und hatten keinen Tröster, und die ihnen Unrecht taten, waren zu mächtig. Da lobte ich die Toten, die schon gestorben waren. Die Toten lobte ich. Jegliches seine Zeit, zunähen und zerreißen, behalten und wegwerfen.
An Stellen wie diesen scheint die Stadt aus dem Blick zu schwinden: Ist nicht die Problematik des Sünders, das Erleiden von Unrecht in allen Bereichen des menschlichen Daseins, auch über die Städte hinaus gültig und nicht einmal spezifisch ihnen zuschreibbar? Gewiss, Franz Biberkopf hat in der Großstadt ein mächtiges Gegenüber, dessen Verführungen er sich zunächst nicht entziehen kann. Doch das Unrecht, das ihm geschieht, indem er eines Mordes angeklagt wird, den er nicht begangen hat, muss nicht unbedingt als eine Folge des Großstadtlebens betrachtet werden. Dennoch: Es gibt die Thematik von Großstadt und Kriminalität, die bei Döblin sogar noch eine religiöse Unterstützung erfährt. Der biblisch gefärbte Moraldiskurs des Romans gipfelt in einem alten, das Ethos der großen Stadt betreffenden Bild, der Vorstellung von der Hure Babylon, wie sie in der Apokalypse entworfen wird: Da sitzt am Wasser die große Babylon, die Mutter der Hurerei und aller Greuel auf Erden. Wie sie sitzt auf einem scharlachroten Tier und sieben Häupter hat und zehn Hörner, das ist zu sehen, das mußt du sehen. Jeder Schritt von dir freut sie. Trunken ist
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sie vom Blut der Heiligen, die sie zerfleischt. Das sind die Hörner, mit denen sie stößt, sie kommt aus dem Abgrund und führt in die Verdammnis, da sieh sie an, die Perlen, den Scharlach, den Purpur, die Zähne, wie sie sie fletscht, die dicken prallen Lippen, über die ist das Blut geflossen, damit hat sie getrunken. Hure Babylon! Goldgelbe giftige Augen, wampiger Hals! Wie sie dich anlacht.
Die Verbindung zwischen dem ‘edlen’ Dulder Biberkopf und der ihn fast vernichtenden Großstadt Berlin wird durch diese Textstelle gestiftet. In der modernen Großstadt lebt das alte Sündenbabel wieder auf und holt sich seine Opfer. Eine Stadt, auf deren Lage (am Wasser) nur kurz angespielt wird, erscheint vollständig allegorisiert im Bild der Hure, das in der Johannes-Apokalypse für die sündige Welt generell steht und dem, als Bild des Heils, das himmlische Jerusalem entgegengesetzt wird. Gegenüber diesem weltumgreifenden Entwurf scheint das Szenario in Berlin Alexanderplatz geradezu auf ein Miniaturformat zurückgeschnitten zu sein. Und doch gewinnt, vor dem Hintergrund dieser biblischen ‘Stimme’, das Schicksal Biberkopfs exemplarischen Wert. Er erleidet das Übel gleichsam stellvertretend und bündelt wie in einem Hohlspiegel alles Leid der Welt und der Menschen. Doch das himmlische Jerusalem, Gegenbild zu Babylon im apokalyptischen Diptychon, bleibt im Text ausgespart. Sollte der schließlich gegen allen Widerstand erreichten Anständigkeit Biberkopfs eine Stellvertreterrolle zukommen? Durch den biblischen Diskurs, der sich in die Polyphonie der Stimmen hineinschiebt, wird das Thema, weniger pittoresk der Großstadt zugeordnet als moralisch ihrem Helden, nobilitiert, das Buch über Berlin in Analogie gesetzt zu dem Buch aller Bücher. Erst jetzt wird deutlich, warum der Text nur so wenige Bilder entwirft und so zahlreiche verschiedene Stimmen erklingen lässt. Die Bibel ist, dem jüdisch-christlichen Glauben zufolge, die Stimme des Herrn und seines Sohnes Jesus Christus; dass sich diese Stimmen ausdifferenzieren, gleichsam aufteilen in jene der Propheten oder der Jünger, ändert nichts an ihrem göttlichen Ursprung. Die Apokalypse des Johannes beginnt mit den Worten: „Am Anfang war das Wort“ und bezeichnet durch den Begriff ‘Logos’ zugleich die göttliche Weltordnung. In einem kühnen Gestus führt Döblin das Bild der Großstadt und des an ihr leidenden Helden auf die Anfänge (‘arche’ ist das entsprechende griechische Wort) zurück – ein ‘archäologisches’ Beginnen, das der Großstadt einen Teil jener Würde zuerkennt, die durch die göttliche Stimme allemal sanktioniert ist. Lange dem Unheil verschrieben, wendet sich das Schicksal Biberkopfs wie im Symbol der sich senkenden Waage der Gerechtigkeit schließlich zum Heil.
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3. „… wie sonst und doch anders …“: Andrej Belyjs Petersburg Andrej Belyjs Petersburg ist in spezifischer Weise ‘anders’ als alle anderen Texte über die Großstadt, und doch stellt sich die Frage, ‘wie sonst’ der Roman sein sollte. Schon eine erste Lektüre, die zum Verständnis gerade dieses Textes kaum hinreichen dürfte, lässt einen Stadtraum entstehen, den anders sich vorzustellen kaum gelingen kann; und doch steht Petersburg in einem sehr dichten intertextuellen Bezugssystem, das auf andere Texte aus dem Mythos von Sankt Petersburg anspielt: auf Puschkins Der eherne Reiter und Pique-Dame, auf Gogols Newskij-Prospekt. Dostoevskij bildet gleichsam den Generalbass in einem Text, der durchgehend musikalisiert ist, der seine Prosa poetisiert und an einigen Stellen auch direkt Musik – von Beethoven, Chopin, Wagner – evoziert. Darüber hinaus handelt es sich bei Petersburg um einen komplex gestalteten, teilweise überinstrumentierten Text, der mit einem großen poetischen Aufwand eine stark reduzierte Handlung entfaltet: das Attentat auf den Senator Apollon Apollonowitsch Ableuchow durch seinen eigenen Sohn Nikolaj. Dieser hatte sich den Umtrieben der Revolution von 1905 angeschlossen und erhält den Auftrag, seinen Vater mit Hilfe einer Bombe, die sich in einer Sardinenbüchse befindet, zu töten. Doch im Zuge der Handlung, in die auch Nikolajs unerfüllte Liebe zu einer verheirateten Frau hineinkomponiert ist, gerät die Bombe, im Schreibtisch von Nikolaj Apollonowitsch Ableuchow abgelegt, in Vergessenheit, wird eher versehentlich aufgezogen (wobei diese vierundzwanzig Stunden bis zur Explosion ein Spannungsmoment des Romans ausmachen) und vom Senator selbst, der die Sardinenbüchse nicht als gefährlich erkennt, in das eigene Büro getragen, wo sie, nur Sachschaden verursachend, am Ende des über sechshundert Seiten langen Romans schließlich explodiert. Die Handlung selbst, in kaum mehr als einem Satz wiederzugeben, ist nicht viel mehr als nichts, obschon sie ‘dramatisch’ sich anlässt und dramatisch auch endet; dazwischen ist viel Raum für Skurriles, Groteskes und Ironisches, so dass die Darstellung auf eher komische Weise den Ernst der Handlung konterkariert. Die Entstehungszeit des Romans, 1912 bis 1914, steht noch im Zeichen des späten Symbolismus und schon im Zeichen der europäischen Avantgarden, und insbesondere der Futurismus hinterlässt, wie noch zu zeigen sein wird, deutliche Spuren im Text. Für die deutsche Übersetzung von Petersburg (1922) kürzt Belyj den Roman um etwa ein Drittel; in dieser (und nicht der ersten, nach dem Verleger „Sirin’sche Fassung“ genannten Petersburger) Fassung wird Petersburg bekannt. Die folgende Darstellung basiert auf der erst kürzlich ins Deutsche übersetzten Erstfassung, die entgegen der gekürzten Version zahlreiche poetologische Arabesken enthält, von denen die Handlung umrankt ist. Diese tritt gegenüber der späteren, gekürzten Version in der Urfassung zurück, ist eher Anlass als Ziel des Schreibens und wirkt gelegentlich wie unter dem er-
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heblichen sprachlichen Aufwand, der eine üppige Partitur orchestriert, verschüttet – so als werde signalisiert, auf das Geschehen selbst solle es nicht weiter ankommen. Und doch ist das Geschehen in seiner Skurrilität geeignet, zu den sprachlichen Subtilitäten des Romans, die teilweise das Angestrengte streifen, einen komischen Kontrapunkt zu bilden. Wie eine Burleske einsetzend, scheint der Roman nichts mit seinem Spott zu verschonen – den Ort der Handlung nicht (über dessen Bedeutung noch zu sprechen sein wird) und schon gar nicht die Figuren oder jene Situationen, in die sie wie fremdgesteuert hineingeraten. So habe der Newskij-Prospekt, wie der feierlich einsetzende Prolog betont, „eine verblüffende Eigenschaft: er besteht aus Raum für das Zirkulieren des Publikums; numerierte Häuser begrenzen ihn; die Numerierung folgt der Abfolge der Häuser – was das Auffinden eines Hauses überaus erleichtert.“ Noch skurriler, die Amtssprache persiflierend, heißt es weiter unten: „Der NewskijProspekt wird am Abend elektrisch beleuchtet. Tagsüber bedarf der NewskijProspekt keiner Beleuchtung.“ Die sich anschließenden wirren Argumentationen über den Status der Hauptstadt Russlands führen zu dem Schluss, dass Petersburg nur existiert, wenn es Hauptstadt Russlands ist; andernfalls scheint es nur so, als existiere es. Bevor sich der Leser auf bloßes Amüsement einstellt, was in Anbetracht des allgemeinen Ernstes der Literatur durchaus etwas Besonderes sein kann, entsteht der begründete Verdacht, solche müßig dahingeworfenen Bemerkungen könnten ernsthaft Poetisches mit dem Absurden und Grotesken verbinden: Gibt es Petersburg wirklich, oder scheint es vielleicht nur so? Die Skurrilität des Textes ist höchst suggestiv, indem sie zumindest die Möglichkeit eines poetologisch fundierten Sinnes aufscheinen lässt, so dass der Leser hin- und hergerissen wird zwischen dem Genuss der Komik und Ahnung einer tieferen Bedeutung. Im Bereich des zwar offenkundig, aber eben nur scheinbar Belanglosen, mit dem der Autor ein subtiles Spiel treibt, ist die Poetik des Textes situiert, der ebenfalls nichts sicher ist. Petersburg ist ein Bewusstseinsroman mit Tendenz zum buchstäblich zu verstehenden Hirngespinst, eine Konstruktion im Kopf (oder in den Köpfen der Figuren), ein Gebilde der Virtualität, passgerecht zur offen gelegten, direkt thematisierten Fiktionalität des Romans. Wie immer die Realität sei, so ist sie jedenfalls nicht – nur: Was ist noch sicher im diesem Text ohne Gewissheiten? Der allwaltende Spott, die Figuren nicht aussparend, gewinnt heimlich erkenntnistheoretische und erkenntniskritische Implikationen: Nikolaj Appollonowitsch Ableuchow, der Senatorssohn, ist Student der Philosophie, Anhänger der Lehre Kants, dessen Büste auf seinem Schreibtisch steht – direkt über der Bombe … Besonderen Eifer legt er im Studium nicht an den Tag; vielmehr bietet er, der immer erst gegen Mittag aufsteht, das Bild eines verbummelten
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Studenten und eines zerstreuten Professors zugleich, denn dass einer der Revolutionäre ihm eine Bombe übergibt (die natürlich auch zum Einsatz kommen soll – so ernsthaft ist der Aufruhr), bemerkt er nicht. Kurz, der Senatorssohn wird als verhinderter Revolutionär karikierend gezeichnet, nicht anders als die anderen Figuren auch – wie Sofja Lichutina, „Engel Peri“ mit dem zu kleinen Köpfchen (in das folglich auch wenig hineingeht), oder Senator Ableuchow, den Herzerweiterung, Hämorrhoiden und Platzangst plagen und den eine hoch entwickelte Liebe zur Geometrie auszeichnet, eine Liebe, die in der Kubusform der Kutsche und des stillen Örtchens ihre besondere Erfüllung findet. Seine hochrangige Tätigkeit in einer zwar detailliert beschriebenen, in ihrer genauen Funktion aber nicht charakterisierten Behörde (vielleicht hat sie ja, was bei Behörden vorkommen mag, gar keine Funktion) besteht im Unterschreiben von Zirkularen, in denen es unter anderem um die Einfuhr amerikanischer Selbstbinder (wohl Krawatten mit bereits vorgefertigtem Knoten) geht. Dieses Beamtentum, das der Senator geradezu verkörpert, ist der Ordnung, vor allem der staatlichen, verpflichtet; kein Wunder, dass der Senator auch privat nichts dem Zufall überlässt. Seine persönlichen Sachen werden in mit Buchstaben versehenen Schubladen aufbewahrt, und die genaue Position des jeweiligen Gegenstandes folgt der Himmelsrichtung: die Wildlederhandschuhe befinden sich in b Nordost. Der musikalischen Leitmotivtechnik folgend, werden die Figuren, oft auch in Aussparung ihres Namens, durch ihre Eigenheiten charakterisiert: Engel Peri durch die trotz ihrer Jugend ausgeprägte Körperfülle oder das einen Damenbart schon ankündigende schwärzliche Haar auf der Oberlippe, der Senator durch ein Gesicht von der Farbe des Pappmachés und seine grünlich-diaphanen, abstehenden Ohren. Einer der Revolutionäre ist an einer Warze an der Nase zu erkennen. Dieses Verfahren leitmotivischer Charakterisierung der Figuren impliziert eine auf Details gerichtete, parzellierende Wahrnehmung und steht damit im Kontext einer besonderen, die Gesamtbilder zerschlagenden Art der Perzeption. So wenig wie die Personen, ist die Handlung von Skurrilitäten frei; zu der schon genannten Aufregung um die Sardinenbüchse (als könnte man eine Bombe vergessen!) kommt, als einer der großen Augenblicke der Komik, der Selbstmordversuch des Offiziers Lichutin, des Gatten von Engel Peri, hinzu, der seinem Leben durch einen am Deckenhaken befestigten Strick ein Ende setzen möchte; doch stürzt, zusammen mit dem solcherart geretteten Selbstmörder, die ganze Decke zu Boden, und dieses doppelt klägliche Bild bietet sich der von einem Ball heimkehrenden Sofja Petrowna Lichutina. Eine ähnliche Absicht verfolgt auch der in Engel Peri verliebte Nikolaj Ableuchow. Wie in Zeitlupe hebt er ein Bein über die Brüstung einer Brücke, um sich zu eben jenem Zweck, den auch Lichutin verfolgte, in die Newa zu stürzen; doch zieht er, sich eines Besseren besinnend, das Bein ebenso langsam wieder
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zurück. Als der Revolutionär Dudkin dem Sohn des Senators das Bündel mit der Bombe übergibt, läuft eine Maus durch das Zimmer und flößt jenem eine solche Angst ein, dass zwischen dem Anlass der Bestürzung und dem revolutionären Tun ein komischer Kontrast entsteht. Da aber der Senator Mäuse mag, wird das gefangene Tier an den Ufern der Newa in Freiheit gesetzt. In Anbetracht der Länge des Textes und der Spärlichkeit der Handlung könnte es scheinen, als sei, ganz im Gegensatz zu Dos Passos’ Manhattan Transfer und im Unterschied zu der erwartbaren Poetik der Großstadtdarstellung, die ‘Langsamkeit des Seins’ das poetische Prinzip von Belyjs Petersburg. Tatsächlich wird die Handlung geradezu genüsslich gedehnt, die Zeit, bis endlich die Bombe explodiert, gemächlich hinziehend. Zahlreiche Szenen bieten sich in epischer Breite dar, Wechselrede nimmt einen breiten Raum ein, so dass ein Effekt entsteht wie beim Betrachten eines Films in permanenter slow motion; Auslassungspunkte größeren Ausmaßes suggerieren zudem etwas, das nicht gesagt wird, und tragen auf diese Weise zur ‘Weite’ des Textes mit bei. Der Leser gerät dabei im Zuge des Diskurses immer mehr in Hochspannung, zumal die Szenen durch einen entschlossenen Schnitt gerade dann ausgeblendet werden, wenn eine Entscheidung ansteht. Während die Situation, aus der man soeben herausgerissen wurde, auf ihren Höhepunkt zutreibt, ist die im Anschluss geschilderte Szene zumeist ohne jede Spannung, so dass sich auch hier der Eindruck herauskristallisiert, in diesem Roman sei alles anders als sonst. Ist auch die Darstellung der Stadt anders oder eher wie sonst? Das Kapitel über Belyjs Petersburg steht gegen die Chronologie am Ende eines Kapitels, das mit Dos Passos’ Manhattan Transfer und Döblins Berlin Alexanderplatz Klassiker der Großstadtliteratur aus den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts umfasst. Nicht die in den zeitlichen Rahmen passende Version von 1922 ist Grundlage unserer Darstellung, sondern die Erstfassung von 1913/14 – ein Grund, Petersburg an den Anfang zu stellen? Nein, denn dieser Roman ist progressiver als die genannten Romane und passt (wenn überhaupt zu irgendetwas) zu den im kommenden Kapitel darzustellenden „Collagen“ – womit nicht weniger gesagt ist, als dass Petersburg sich im Grunde jeder Klassifizierung und zumal der Chronologie der Literaturgeschichte entzieht. 1909 setzt mit der Publikation des ersten Manifests des Futurismus in der französischen Tageszeitung Le Figaro wie mit einem Donnerschlag die künstlerische Avantgarde ein, und es sei nur am Rande vermerkt, dass Petersburg, in dem sich zunächst die Bestrebungen des Symbolismus konzentrierten, auch ein Zentrum des russischen Futurismus war. Der Punkt auf der Landkarte, den, wie der Prolog zu Petersburg betont, die Zarenstadt ausmacht, ist nicht nur im Roman ein Kraftzentrum, aus dem Bücher hervorgehen (dabei wohl vor allem der Roman selbst), sondern auch in der Realität der Literaturgeschichte. Symbolistisches, wie es die traditionelle Sicht auf diesen Text will, findet man bei
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genauerer Betrachtung kaum. Wohl aber enthält Petersburg viel Futuristisches, denn Belyjs ‘Bild’ der Stadt und ihrer Bewohner folgt dem Prinzip der Zerschlagung des vermeintlich Wirklichen in Splitter der Wahrnehmung, die sich im Raum bewegen und dafür sorgen, dass jegliches Gesamtbild, jegliche Einheit der Personen und a fortiori die Kontinuität der Handlung kühn zur Disposition gestellt werden. Petersburg ist die inkohärente Konstruktion eines Stadtraumes im Zeichen des Partikularen. Den Verwirrungen des Textes offenbar zunächst aufsitzend, hat nun unsere Darstellung endlich den Punkt erreicht, der das Zentrum der Fragestellung markiert; ob sich hier Klarheit auftut oder die Wirrnis fortsetzt, muss sich nun erweisen, doch die Chancen für Transparenz scheinen nicht eben groß zu sein. Seiner spannenden Handlung, die auf nicht weniger als ein politisch motiviertes Attentat hinausläuft, zum Trotz ist Petersburg der Roman der Wiederholungen. Nicht nur die Technik des Leitmotivs ist in diese repetierende Struktur eingebaut, aus der sie überhaupt ihre Funktion gewinnt; auch bestimmte Wendungen wie zum Beispiel jene, die wir als Kapitelüberschrift dem Text entlehnten, kehren mehrfach wieder. Wie ein musikalisches Thema oder Motiv, das in immer neuer Bearbeitung auftritt, bewirkt diese sprachliche Wiederholung einen Effekt des Wiedererkennens, der sich dann auch auf die Poetik des Werkes auswirkt. Schaffen auf der einen Seite das Burleske und Skurrile, Figuren der Brechung und Distanzierung, einen durchweg ironischen Ton, der auf Abstand abzielt, so bewirkt andererseits die Wiederholung Vertrautheit: Manches kennt man schon und erkennt es wieder – so das an Dostoevskij erinnernde „plötzlich“, die Anspielungen auf die Handlung von Pique-Dame, in denen sich, da auch von Tschaikovskijs gleichnamiger Oper die Rede ist, Literatur und Musik verbinden wie in Petersburg selbst, schließlich Sätze wie: „Anna Petrowna war in Spanien; Wjatscheslaw Konstantinowitsch tot; der gelbe Fuß betrat dreist die Hügelketten Port Arthurs; China hatte sich erhoben und Port Arthur war gefallen“ – dies alles die Ereignisse der letzten fünf Jahre vor Einsetzen des Romans. Die Darstellung der Stadt schließlich, die dem Roman seinen Namen gab, trägt immer wieder dieselben Züge: Petersburg ist dunstig, neblig, matschig, fieberig und von Bazillen verseucht wie das Wasser der Newa, und um den Newskij-Prospekt, an dem das Haus des Senators Ableuchow gelegen ist, kreisen viele der Beschreibungen wie um ihr Kraftzentrum. Der parzellierende Blick einerseits, häufig identisch mit der Perspektive einer Romanfigur, andererseits das Gesetz der Wiederholung prägen, gleichsam parallel gesetzt, die Darstellung der Stadt; ob sich, entgegen den Gesetzen der Geometrie der endlichen Räume, diese Parallelen irgendwo schneiden, wird die Analyse zu erweisen haben. Wie eine musikalische Introduktion, die Themen und Motive des Stückes vorstellend, setzt das Kapitel ein, in dem gezeigt wird: „Die Kutsche flog in den
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Nebel“. Das ‘Fliegen’ der Kutsche lässt ahnen, dass in diesem Roman der Langsamkeit die Bewegung, und die geschwinde zumal, eine noch näher zu kennzeichnende Rolle spielen könnte: Ist die Handlung verlangsamt, die Beschreibung dagegen beschleunigt? Während sich die Kutsche des Senators auf dem Weg zur Behörde im Nebel eines trüben Petersburger Morgens befindet, ist Raum (Zeit eher nicht!) für eine erste Beschreibung der Stadt: Sprühregen besprengte Straßen und Prospekte, Trottoirs und Dächer; schoß in kalten Rinnsalen aus Blechrinnen. Sprühregen besprengte die Passanten: beschenkte sie mit einer Grippe; mit dem feinen Staub des Regens krochen Influenza und Grippe unter den hochgeschlagenen Kragen: des Gymnasiasten, des Studenten, des Beamten, des Offiziers, des Subjekts; und das Subjekt (sozusagen der Bürger) blickte sich beklommen um; und schaute auf den Prospekt mit verwischt-grauem Gesicht; es zirkulierte in die Unendlichkeit der Prospekte, überwand die Unendlichkeit, ohne jedes Murren – im unendlichen Strom von seinesgleichen, – inmitten von Fliegen, Tosen, Beben, Droschken, von weitem den melodischen Läufen der Automobilhupen lauschend und dem zunehmenden Grollen der gelbroten Straßenbahnen […], unter ununterbrochenem Zuruf der stimmgewaltigen Zeitungsverkäufer.
Das Bild der Stadt steht im Zeichen dessen, was man, nach draußen gehend, als Erstes bemerkt – des Wetters. Jenes ungesunde Wetter, der Sprühregen, lenkt den Blick auf die Passanten (solche, von denen bestimmte auch die Figuren des Romans ausmachen: Nikolaj der Student, Lichutin der Offizier, Ableuchow der Beamte), vor allem aber auf die namenlosen Bürger, die despektierlich in Form des „Subjekts“ auftauchen, das auch eine grammatische Bezeichnung ist: Sollte von diesem „Subjekt“ (= Gegenstand des Textes?), weil in seiner Vervielfachung, im Weiteren eine Bedrohung ausgehen, zumal es, sich unendlich potenzierend, nicht weniger als die Unendlichkeit überwindet? Die Fülle der Passanten ist von einer weiteren Fülle, nunmehr eher akustischer Art, umgeben: den „melodischen Läufen der Automobilhupen“, den Rufen der Zeitungsverkäufer und dem Grollen der Straßenbahnen, das indes der Erzähler schon bald wieder zurücknehmen muss, dabei zugleich den Zeitpunkt des Geschehens bestimmend: Im Jahr 1905 habe es noch keine Straßenbahnen gegeben! Der Stadtkern von Petersburg, hauptsächlicher Schauplatz der Handlung, gibt den Blick auf „neblige, vielschlotige Fernen“ frei, von woher „erschrocken“ die Wassilij-Insel blickt; dieses ‘Erschrecken’ kündigt die revolutionären, von den Petersburg vorgelagerten Inseln ausgehenden Umtriebe an, aus denen der Roman seine Spannung gewinnt, von denen aber auch die Bedrohung des Senators ausgeht: Dort aber, dort: Tiefe, grünliche Trübe: von fern, fern, wie ferner, als sie sollten, hatten erschrocken sich niedergelassen und duckten sich die Inseln: es duckte sich die Erde; es duckten sich auch die Häuser; es war – als sänken die Wasser, und als ergössen sich auf sie in diesem Moment: Tiefe, grünliche Trübe […].
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Während sich noch alles duckt, scheint sich der Moment des Aufstandes anzukündigen, zugleich aber wird mit dem Anschein der Wasser, auf die sich „grünliche Trübe“ ergießt, die Sintflut evoziert: Die Szenerie, eine scheinbar nur harmlose Beschreibung, ist voller Bedrohungen – der Gesundheit, des Staatswesens, ja der Existenz schlechthin. Wenn am Ende des Romans Nikolaj Ableuchow die Offenbarung lesen will, sie aber nicht findet, geht der Hinweis auf das apokalyptische Szenario nicht ins Leere, sondern bezeichnet a posteriori eine Apokalypse, die sich in Petersburg schon ereignet hatte. In der Kutsche indes ist der Senator sicher: „[…] so war er geschützt vor den vorüberflutenden Menschenmengen und den trübsinnig durchweichten roten Umschlägen jener Blättchen, die da hinter der Kreuzung verkauft wurden.“ Hätte er die Zeitungen gelesen, so wäre ihm schon eine Ahnung des Künftigen gekommen, enthalten sie doch Berichte über einen geheimnisvollen roten Domino, der Petersburg unsicher macht und hinter dem sich sein eigener Sohn verbirgt: Rot ist für den Senator die Farbe des Chaos, für die Sache seiner Gegner die Farbe der Revolution – das mag in der Perspektive des Romans letztlich keinen Unterschied machen. Solche Beschreibungen, so viel ist schon jetzt bemerkbar, gewinnen Verweisungsfunktion für das Geschehen und zeigen außerdem die Kunst-Stadt Petersburg, wie Venedig Menschenwerk, das den Kampf gegen die Natur zeitweilig gewinnt, als moderne Metropole, durchströmt von den Massen ihrer Bewohner. Wo sich das Chaos ankündigt, sind Halt und Orientierung erwünscht. Immer wieder blendet der Text auf den gradlinigen, gleichmäßig verlaufenden Newskij-Prospekt, die schwärzlich-graue IsaakKathedrale und, an Puschkin erinnernd, das Reiterdenkmal des Zaren Nikolaj. Doch diese Fixpunkte werden keineswegs in statischer Weise als unverrückbar dargeboten; vielmehr: „Dort wo allein nur neblige Nässe hing, zeigte sich zuerst matt und senkte sich dann vom Himmel auf die Erde – der leicht schmutzige, schwärzlich-graue Isaak; zeichnete sich ab und zeigte sich schließlich ganz: das Reiterstandbild Kaiser Nikolajs […].“ Beschreibungen setzten sich in Bewegung, erscheinen dynamisch wie Kraftzentren. Die Stadt ist in Petersburg niemals bloß Kulisse, sondern Ursprung der Handlungen, die in ihr stattfinden, von ihr ausgehen und sie schließlich verändern. Zielte bei Dos Passos die Handlung des Romans auf das atemlose Erscheinungsbild von New York, die Personen in die Stadt hineinziehend, war bei Döblin Berlin der Ort der Versuchungen und ein Gewirr von kaum zu unterscheidenden, geschweige denn zu befolgenden Stimmen, treibt der Gestus von Belyj Petersburg in Räume hinein, die mit dem konkreten Stadtraum nicht mehr konvergieren. Wie die Menschenmassen auf den Prospekten, ist die Stadt unterwegs in andere Dimensionen, solche, die aus der Realität davonstreben: Im grünlichen Licht des Petersburger Morgens, im rettenden „als ob“ zirkulierte vor Senator Ableuchow auch ein gewöhnliches Phänomen; eine atmosphärische Erschei-
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nung – der Menschenstrom […]. Der im Dunst mit sich selbst verschmolzene Strom zerfiel in die Glieder des Stroms: vorüber strömte Glied und Glied; durchschaubar entfernte sich jedes von jedem, wie Planetensystem von Planetensystem; das nächste befand sich zum nächsten nun in demselben annähernden Verhältnis, wie ein Strahlenbündel des Firmaments sich zur Netzhaut befindet, die per Nerventelegraph zum Hirnzentrum eine unklare, blitzende Sternenbotschaft schickt.
Das „Als-ob“ steht für die Fiktion, die alles so darlegt, als ob es wirklich wäre; und die folgende, wohl im philosophischen Sinne zu verstehende Analyse zerteilt, wie es ihre Aufgabe ist, den Menschenstrom in einzelne Glieder, die sich von einander entfernen und den Planetensystemen vergleichbar werden. Die Stadt schickt sich an, zum Universum in Korrespondenz zu treten – oder handelt es sich nur um eine Spekulation des Senators? An dessen Eigenheiten gewöhnt oder zumindest auf sie vorbereitet, könnte der Leser eine solche Steigerung der Stadt ins Unermessliche für die bloße Ausgeburt einer kranken oder auch nur müßigen Phantasie halten, wäre da nicht die Entsprechung zwischen dem Senator und dem Erzähler. Am Ende des ersten Kapitels resümiert dieser: Wir sind in diesem Kapitel Senator Ableuchow begegnet; begegnet sind wir auch den müßigen Gedanken des Senators in Gestalt seines Hauses, in Gestalt seines Sohnes, der ebenfalls im Kopf müßige Gedanken trägt; begegnet sind wir, schließlich, einem weiteren müßigen Schatten – dem Unbekannten. Dieser Schatten tauchte zufällig auf im Hirn des Senators Ableuchow und erhielt dort seine ephemere Existenz; doch das Bewußtsein Apollon Appollonowitschs ist ein Schattenbewusstsein, weil auch er Träger einer ephemeren Existenz und Ausgeburt der Phantasie des Autors ist: nutzloses, müßiges Hirnspiel.
Das Schattenbewusstsein des Senators verdankt sich allein einem „Hirnspiel“, der Phantasie des Autors, der seine Figur mit eben jenen Merkmalen versah, die einem Hirnspiel eignen. Wie der Autor, bringt auch die Figur, Träger einer ephemeren Existenz, Ephemeres, Schattenhaftes hervor – die doppelte Signatur der Fiktion. Nach seinem Bilde schuf dieser im Text selbst sprechende Autor nicht nur die Figur des Senators, sondern auch diejenige seines Sohnes Nikolaj, beide bewegt von den Kreationen des eigenen Bewusstseins. Die Bilder der Illusion müsste der Autor, so fährt er fort, abnehmen und den Erzählfaden abreißen lassen (am Ende des ersten Kapitels?), doch dies wird er nicht tun, „und dazu hat er Rechte genug“. Wie dem Unbekannten sein Schatten folgt, werde der Senator in seiner Kutsche dem Leser nachjagen, der ihn, so mutmaßt der Erzähler, sein Lebtag nicht vergessen wird. Eine scheinbar anmaßende Aussage, zumal in einer Zeit sich jagender Bilder und Eindrücke. Gedanken schaffen, so die Ansicht des Erzählers, Realität, und was einmal in das Denken eintrat, wird es nie wieder verlassen. Solche philosophischen Spekulationen mögen diskutabel erscheinen, doch erhalten sie in einem poetischen Text eine andere Valenz: Der fiktionale Entwurf schafft Wirklichkeit, und sei es auch nur
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jene des in das Hirn des Lesers eindringenden Textes. Als den Gedanken des Autors/Erzählers entsprungene Figur verfügt der Senator, nicht anders als alle anderen Personen des Romans, nur über die flüchtige, schattenhafte Existenz des bloß Mentalen. Was aber wird vor diesem Hintergrund der Hirnspiele aus Petersburg, das für real zu halten wir alle geneigt sind? Die Bewegtheit des Ortes, die Dynamik seiner Beschreibungen, die wir noch eine Weile weiterverfolgen werden, bezeichnete in diesem spekulativen Kontext nicht nur ein Verfahren der dichterischen Darstellung, sondern auch eine zumindest implizite epistemologische, wenn nicht sogar ontologische Position. Nicht nur die Frage, wie Petersburg beschaffen ist, sondern jene andere, radikale, ob es überhaupt empirisch existiere, wird somit zum Leitfaden der weiteren Betrachtungen: Petersburg eine Schimäre? Wie auch immer die Frage nach dem Realitätsgrad von Petersburg entschieden wird, verfügt doch die Stadt zunächst, als Thema eines Textes, über eine bestimmte poetische Beschaffenheit; diese soll uns beschäftigen, bevor das weiter reichende Problem ihrer ‘Seinsweise’ erörtert wird. Was von Petersburg schon hervorgetreten war – Menschenmassen, Automobile, Zeitungen –, lässt an eine moderne, von Wirtschaft, Technik und Verkehr beherrschte Metropole denken, und das Bild des idyllischen Kunstortes mit Tendenz zum Mythos scheint fern zu sein. Auch der Kommerz wird zum Thema – in einer Darstellungsweise, die besondere Aufmerksamkeit verdient und das lange Zitat verzeihlich macht: Von feurigem Trug erfüllt ist am Abend der Prospekt. Gleichmäßig schweben in der Mitte die Äpfel der elektrischen Lampen. Seitlich jedoch spielt der wechselnde Glanz der Schilder; hier, hier und hier flammen plötzlich Lichtrubine; flammen da Smaragde. Ein Augenblick: da – die Rubine; und die Smaragde – hier, hier und hier. Von feurigem Trug erfüllt ist am Abend der Newskij. Und in brillantenem Licht erstrahlen die Mauern vieler Häuser: hell funkeln aus Diamanten gebildete Wörter: „Kaffeehaus“, „Farce“, „Brillanten Theta“, „Uhren Omega“. Grünlich bei Tag, doch jetzt hellglänzend, sperrt zum Newskij ein Schaufenster seinen feurigen Schlund auf: überall Dutzende, Hunderte feuriger Höllenschlünde; diese Schlünde speien quälend auf die Steinplatten ihr grellweißes Licht; die trübe Nässe spucken sie aus als feurigen Rost. Und vom Feuer zerfressen ist der Prospekt. Weißer Glanz fällt auf Melonen, Zylinder, auf Federn; weißer Glanz stürzt weiter, zur Mitte des Prospekts, stößt die abendliche Dunkelheit vom Trottoir; und die abendliche Nässe löst sich über dem Newskij auf im Geblinke und bildet eine dunkle, gelblich-blutige Trübe, gemischt aus Blut und Schmutz.
Der Newskij-Prospekt löst sich in Licht auf; Edelsteine wie Rubine und Smaragde, als Metaphern verwendet, färben das Licht und bringen die Vorstellung eines feurigen Truges. Flamme und Feuer beherrschen die Szene und führen bald zur Vision von Höllenschlünden, die sich auftun und jene Bewegung ins Bild bringen, die, dramatisch inszeniert, gewaltsam-katastrophische Ausmaße
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annimmt. Die in Bewegung versetzte Stadt treibt auf ihren Untergang zu; Helligkeit ist nicht, anheimelnd, die Überwindung nächtlicher Finsternis, sondern der Vorschein der Katastrophe. Nicht eine Stadt im Raum, sondern eine Stadt in der ihrem Ende zueilenden Zeit kommt in teils stakkatohaft zerschnittener Sprache zur Darstellung; doch ist der Schluss dieser Szenerie zu beachten: Wollte man sich von fern dem Ort nähern und auf die Hölle zugehen, zerfiele sie, harmlos, in eine „Vielzahl von Lichtern“ – „Und keinerlei Hölle wäre da“: ein Spuk. Ob jenes Petersburg im Licht, in der Höllenglut, nächtliche Wahrnehmung ist oder nächtlicher Fiebertraum, vielleicht auch die Übersetzung des einen ins andere, will der Text im Unentschiedenen lassen. Dennoch: die Stadt ist da, und mit ihr auch das abendliche Lichtspiel auf dem Newskij-Prospekt. Der unsichere Status der Realität, die einerseits als eine mentale, dem fiebernden Bewusstsein zugeschriebene Konstruktion, andererseits als Gegebenheit der Wahrnehmung erscheint, erfasst Petersburg in vollem Ausmaße. Können die Figuren als bloße Erfindungen, als Projektionen des Erzählers gelten, befindet sich demgegenüber der Schauplatz in einer Doppelexistenz, in der reale Gegebenheit und fiktionale Konstruktion einander durchdringen. Wenn der Roman mit allen Figuren und narrativen Situationen als bloßes Hirnspiel der Personen, aber auch des auftretenden Autors erscheint, findet dieses Verfahren des ‘Als-ob’ seine Grenze an der Stadt Petersburg, an deren Realität wir zu glauben uns angewöhnt haben. Dass Belyj sein Petersburg in heftige Bewegung versetzt und es als stakkatohafte Addition von Einzelbildern geradezu zersetzt, macht ein poetisches Verfahren evident, das die Dynamik unseres Denkens auf einen scheinbar statisch gegebenen Ort überträgt. ‘Ist’ oder ‘war’ ist dem Roman fremd; immer geht es darum, die Flüchtigkeit der Wahrnehmung, die Schnelligkeit der Veränderung an Verben der Bewegung und nicht des Verharrens zu zeigen. Das ‘Sein’ von Petersburg ist sein Werden, doch führt dieses geradewegs in die Katastrophe. Hintergrund der Darstellung, die sich im grotesken Bild von Bündel und Bombe konzentriert, ist die Revolution von 1905: Jener Aufruhr, der Petersburg wie ein Ring umschloß, drang irgendwann auch in Petersburgs Zentren, ergriff erst die Inseln, schwang sich über die Litejnyj- und NikolajBrücke; und von dort ergoß er sich auf den Newskij-Prospekt: und obwohl auf dem Newskij-Prospekt noch dieselbe Zirkulation des menschlichen Tausendfüßlers herrschte, hatten die Glieder des Tausendfüßlers doch verblüffend gewechselt: der geübte Blick des Beobachters bemerkte schon längst das Auftauchen der schwarzen Fellmütze, in die Stirn gedrückt und hergeschafft von den Feldern der blutgeröteten Mandschurei […].
Handlungsbezogene Verben machen aus der revolutionären ‘Bewegung’ einen sich gewaltsam ausbreitenden Aufruhr, der, von den Inseln kommend, auch die Stadt erfasst und die Zahl der Zylinder auf dem Prospekt verringert. Man hört, als „böse Note auf ‘u’“, ein Geheul, das „Oktoberlied von 1905“, das
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vorher nicht da war und auch nicht wiederkommt. Variiert das Bild der Stadt im Bewusstsein derer, die sie betrachten, so bedeutet die von der Revolution herbeigeführte Veränderung nicht nur eine Variante der Wahrnehmung, sondern eine neue, historisch belegte Realität. Auch hier greifen Beobachtung und Imagination ineinander und transformieren Petersburg (man könnte auch schreiben: Petersburg) in ein komplexes Gebilde aus realen und vorgestellten Elementen: Selbst Hirnspiele kommen ohne ein Quäntchen Wirklichkeit nicht aus. Ein Gesamtbild der Beschreibungen von Petersburg, hier mit seinem totalisierenden Anspruch nicht einlösbar, zeigt auffälligerweise die Stadt immer wieder unter wechselnden atmosphärischen Bedingungen: Petersburg im Regen wie eingangs zitiert; Petersburg unter gleißender Sonne, die plötzlich hervorbricht und alles verwandelt; Petersburg, dem Mythos von der Stadt im Sumpf am besten entsprechend, im Nebel – so wie es sich zum Beispiel dem Senator darbietet, als er aus dem Fenster blickt: Ein phosphoreszierender Fleck jagte nebelnd und rasend am Himmel hin; phosphoreszierendes Funkeln umflorte die nebligen Newa-Weiten und ließ lautlos fliegende Flächen grün glitzern, die mal dort, mal hier einen Goldfunken sprühten; hier und da auf dem Wasser blitzte ein rotes Flämmchen auf und verging, einmal aufgeblinkt, in phosphoreszierend hingebreiteter Trübe. Am anderen Ufer der Newa, dunkel, erhoben sich die riesigen Gebäude der Inseln und warfen in den Nebel fahl leuchtende Augen – unendlich, lautlos, quälend: und es war, als weinten sie.
Mit der (dreifachen) Wiederholung von „phosphoreszierend“ vollzieht sich eine wiederum bewegte Beschreibung, die im letzten Satz gleichsam nicht an ihr Ende kommen kann, sondern den Schluss des Satzes mit einem Gedankenstrich und einem Doppelpunkt retardiert. Wiederum ist das Licht das Zentrum eines Textes, der von dem gegebenen Standort aus auf andere, fern liegende und bedrohliche Gegenden hinblendet. Aus dem Spiel von Licht und Schatten heben sich beleuchtete Fenster heraus – Augen, als weinten sie. So wenig wie die Figuren, kommt die Stadt zur Ruhe; immer vollzieht sich in ihr eine Veränderung, bedingt durch das Wetter, die Jahres- oder Tageszeit oder hervorgerufen durch die spezifische Wahrnehmungsperspektive der Figuren. Was nach gängiger Erfahrung eine Einheit bildet – eine Person, zum Beispiel –, wird in Einzelteile zerschlagen; so folgen Sofja Lichutina auf der Troizkij-Brücke nicht andere Menschen, sondern „über dem bazillenwimmelnden grünlichen Wasser liefen hinter ihr her in der Zugluft des Newa-Winds – Melone, Mantel, Stock, Ohren, Schnurrbart und Nase“. Die Parzellierung, eine der zentralen Verfahrensweisen des Futurismus, sorgt für skurrile, karikaturale Effekte – so wie an anderer Stelle in Petersburg nicht Menschen, sondern nur, wiederum als Reminiszenz an Gogol, Nasen unterwegs sind. Die Stadt selbst ist unterwegs in die Unendlichkeit, begibt sich auf die Reise in die Transzendenz, wo sie freilich
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nicht die Rettung, sondern der Untergang erwartet; oder kann sie ihm, der sie vielfach bedroht, dann doch noch entgehen? Eingeleitet von dem doppelten Appell „Petersburg, Petersburg!“ steht am Ende des ersten Kapitels eine denkwürdige Passage, aus der wir oben schon zitierten, weil dort die Figur des Senators als Hirngespinst des Erzählers ausgegeben wird – eine autopoetische Aussage, in der die Fiktionalität hervorgehoben wird, zu der sich der Erzähler im Weiteren bekennt. Die Frage nach dem Status der Stadt stellt sich nun, in konkretisierter Form, erneut, denn der Erzähler bringt sich selbst in den Kreis seiner Figuren ein, die imaginieren, weil sie selbst imaginär sind: Auch mich hast du, ein fallender Nebel, verfolgt als müßiges Hirnspiel: du bist ein unbarmherziger Quälgeist; du bist ein ruheloses Trugbild; hast dich auf mich gestürzt über Jahre; ich bin gerannt über deine entsetzlichen Prospekte und in vollem Lauf auf jene gußeiserne Brücke geflogen, die, beginnend am Ende der Welt, abführt in endlose Ferne; jenseits der Newa, in jenseitiger, der grünen Ferne dort – erstanden Trugbilder der Inseln und Häuser und verführten mit der vergeblichen Hoffnung, jenes Ende sei die Wirklichkeit, sei nicht heulende Unendlichkeit, die hinaustreibt auf die Petersburger Straße den bleichen Rauch der Wolken.
Wie ein Ruf leitet der verdoppelte Name der Stadt eine Passage ein, die im Weiteren wiederum Rufe enthält, ja geradezu ausstößt: „Oh, große, elektrizitätsfunkelnde Brücke!“, „Oh, grüne, bazillenwimmelnde Wasser!“ Eine poetische Beschwörung evoziert eine Stadt und deren gefährliche Orte: die Brücke, an der er sich über das Geländer beugte wie Nikolaj Appollonowitsch Ableuchow und wie dieser nur knapp dem Sog des Todes entging, das verseuchte Wasser, das sich mit Nebel, Trübe und Matsch zu jenem unheilvollen Gemisch verbindet, das die Gesundheit und sogar das Leben bedroht. In einer Person, dem Erzähler selbst, scheinen die Figuren zentriert, so dass sie Ausgeburten nicht nur seiner Phantasie, sondern auch seiner Erfahrung sind. Wenn sie immer wieder, der Senator an erster Stelle, in andere Denkräume ausweichen, mentale Konstruktionen ersinnen, um sich darin zu verlieren, ist ihnen der Erzähler (vielleicht auch der Autor, der sich nur notdürftig hinter der Maske seines Erzählers verbirgt) hierin vorausgegangen. Petersburg als Trugbild, als Quälgeist, als Hirnspiel (ein Wort, das in geradezu manischer Wiederholung den Text durchzieht) ist die Projektion eines bilderzeugenden Gehirns, das mit dem Schreiben eine ephemere, virtuelle Existenz gewinnt. Petersburg ist in permanenter Bewegung wie unser Hirn, verändert sich, was man noch realistischer Darstellung zuschreiben mag, mit den Jahres- und Tageszeiten; und doch ist die permanente Metamorphose der Stadt im Grunde nur Ausdruck für die Besonderheit ihrer Erscheinungs-, ja Seinsweise im Gehirn der Romanfiguren, in das sie, die Hirnspiele des Erzählers fortsetzend, emaniert. Petersburg gibt es nicht, außer in der Vorstellung und in jenem ‘Text’,
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der sich als Imaginationsbild des Lesers fortschreibt. Es wird damit zum Bild einer mentalen Aktivität, die sich in idealer Weise an diesem Ort abarbeitet, ohne dabei seine Erscheinungsweise zu reproduzieren. Wo es keine unangefochtene Realität mehr gibt, lässt sich folglich auch keine darstellen. Obwohl der Roman, nicht zuletzt mit der Stadt selbst und den hier stattfindenden revolutionären Umtrieben, durchaus Reales enthält, zeigt er nicht, wie etwas ist, sondern nur, wie etwas vorgestellt wird. Nur? Eben dies ist nicht ‘nur’ sein poetisches Anliegen; vielmehr wirft diese Art der Repräsentation eines Kopf-Innenraumes mit seinen Gehirnwindungen und den Arabesken seiner Gedanken ein Licht auch auf die Stadt, in der (oder besser: an der) Petersburg sein Hirnspiel vollführt wie eine Volte ins Unendliche, das ebenfalls im oben angeführten Zitat und nicht nur dort benannt wird. Den von Kant ausgehenden philosophischen Implikationen dieser ‘Weltanschauung’ müssen wir in Anbetracht unserer Fragestellung nicht nachgehen; wichtig aber ist im Rahmen der erörterten Problematik – ein Rahmen, der mit Petersburg gesprengt wird – die Frage, ob das als Hirnspiel erscheinende Petersburg Folgen zeitigt: nach hinten für die schon behandelten, nach vorn für die noch darzustellenden Städte. Sind sie nicht allesamt, auch wenn sie sich ‘realistisch’ gerieren, Ausgeburten der Phantasie ihrer Autoren, Produkte der Poetik der Texte? Zugegeben, Belyj treibt die Frage nach dem Grad der Realität der Städte einer Pointierung zu und mag damit ‘übertreiben’. Das zugrunde liegende Problem aber bleibt virulent (fast möchte man sagen: wie die Bazillen im Wasser der Newa) selbst dann, wenn die dargestellten Städte mit unserer Erfahrung oder Vorstellung von ihnen noch eine gewisse Ähnlichkeit aufweisen. Ist das topographisch genaue Paris bei Balzac mit der französischen Hauptstadt identisch oder nicht auch, weniger plakativ vielleicht als Belyjs Petersburg, nur ein Hirngespinst? Mit Petersburg evoziert Belyj die Unendlichkeit der Prospekte und richtet den Blick weit über das konkret Erfahrbare hinaus. Doch selbst bei größerer Ähnlichkeit der jeweiligen Stadt mit dem, was wir über sie wissen oder zu wissen glauben, sind die Großstädte der Literatur letztlich Ausgeburten der Phantasie, manchmal realistisch verbrämt, dann wieder als bloß mentale Konstruktionen sofort erkennbar. Mag der Ort der literarischen Städte gegenüber der Topographie in dieser oder jener Richtung verschoben scheinen, ist er doch nie mit jenem Punkt auf der Landkarte identisch, den Belyj schon am Anfang seines Textes zu fixieren sucht. Petersburg zerstiebt nach allen Richtungen, zerfällt in Splitter, tönt und dröhnt in allen Variationen, phosphoresziert in vielen Farben; kein Wunder, dass auch die Figuren sich nicht sicher sind, dass man eine Bombe davonträgt wie einen harmlosen Gegenstand, dass man sogar eine Bombe vergisst. Die Stadt ist raumgreifend und füllt vor allem jenen Raum aus, der in unser aller Köpfen ist. Damit gelangen wir am Ende doch und gleich zweimal zu jenem ‘ist’, das sich bei Belyj, der das Werden, den Wandel, die Me-
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tamorphose, die Dynamik – man muss hinzufügen: der Moderne – in Aktion zeigt, eigentlich verbietet. Doch der in Petersburg in Freiheit gesetzte Interpret mag sich diese Lizenz erlauben, damit nicht auch er zu einem Hirngespinst wird. Skizzen der Großstadt versprach das soeben zu Ende geführte Kapitel; Großstädte im kühnen, eiligen Strich gebaut, in ihren verschiedenen Erscheinungsweisen ‘montiert’, evoziert in der Eile der Moderne. Der Großflächigkeit der ‘Gemälde’, zumeist noch dem 19. Jahrhundert angehörig, steht eine Kunst der Skizzierung entgegen, die im Flüchtigen nicht mehr wie noch bei Baudelaire das Ewige, sondern ‘nur’ das Charakteristische aufscheinen lässt. Trug die Großstadt bei Baudelaire dem Dichter die Figuren zu, damit er sie deute und sublimiere, sind sie in den Romanen, die im Zeichen der Skizze stehen, Produkte der Großstadt selbst – in ihrer Existenz an diese gebunden auf Gedeih und Verderb; eher auf Verderb, wird doch niemand in den Metropolen definitiv glücklich. Die Literatur jedoch erprobt, in einem Experiment mit glücklichem Ausgang, an diesem modernen Gegenstand ihre im Zeichen der Medien erneuerten Kunstmittel. Die Schnitt- und Montagetechnik, dem Film abgeschaut, durchbricht das traditionelle kontinuierliche Erzählen und zerschlägt den narrativen Duktus in – freilich höchst signifikante – Einzelteile. Die Fülle der Großstadtdarstellung in diesen ‘Klassikern’ der Moderne ist unmittelbare Folge der vielfältigen Erscheinungsformen der Metropole, die als solche eine neue, partialisierte Wahrnehmung zugleich erfordern und selbst generieren. Noch hält, wenngleich mit äußerster Anstrengung, der Gegenstand ‘Großstadt’, weiterhin Totalitätsträume freisetzend, die divergierenden Kunstmittel konzeptionell zusammen – doch nicht mehr lange, denn schon bald, wie das kommende Kapitel zeigen wird, steht selbst jenes schwache Relikt einer nur noch erträumten Gesamtschau der Großstadt vor dem Tribunal einer radikalisierten Moderne.
Collagen – Kompositionen des Ungewohnten Der Gesichtspunkt der Komposition, des ‘Zusammensetzens’, bestimmte auch jene großen Texte der Großstadtdarstellung, die Gegenstand des vorherigen Kapitels waren. Doch impliziert der Begriff der Komposition eine gewisse Einheit des Verschiedenen und bezeichnet ein mehr als nur zufälliges Zusammenfügen, nämlich eine Zusammengehörigkeit der einzelnen Elemente. ‘Komponiert’ sind insofern auch Texte traditioneller Art: komponiert waren schon die Parisromane Balzacs. Das Prinzip der Montage indes und in noch größerem Umfang das Verfahren der Collage lässt die Ränder der Einzelteile erkennen, macht die Risse in ihrer Verbindung deutlich und betont deren Inkohärenz. Mögen die Teile in einer Montage noch zusammenpassen (wenngleich ihre Nahtstellen zeigend), sind sie in einer Collage von grundsätzlich verschiedener Art. Die besondere Weise der Komposition, in traditionell erzählten Texten eher der Kohärenz und damit dem Bestreben verpflichtet, das ‘Gemachte’ als eine organische Einheit erscheinen zu lassen, tritt in den modernen Texten überdeutlich hervor und entspringt dort einer klar erkennbaren Intention. Die Avantgarden, so viel war im vorigen Kapitel deutlich geworden, finden in der Großstadt gleichsam Nahrung für ihr Kunstprinzip, das Verbindungen zerstört und Zusammenhänge zerschlägt; was wäre ihm gemäßer als ein Gegenstand, der ohnehin das Verschiedenartige in sich fasst und es, wenn überhaupt, nur zu einer labilen und prekären Synthese treiben kann? Die Großstadt ist selbst schon ‘avantgardistisch’ – so wie sie vorher symbolisch gewesen war: der perfekte Proteus. Ist ein solcherart zerschlagener Gegenstand ein Erbe, das die Avantgarden und der Modernismus der zwanziger Jahre auch an die weiteren Ausformungen der Großstadtdarstellung übermittelt, gleichsam der Legat jener Revolutionen der Sinnhaftigkeit, die sich am Anfang des 20.Jahrhunderts ereignen? Oder findet die Großstadt im Laufe des Jahrhunderts doch noch zu einer neuen, homogenen Gestalt in der Literatur?
1. „RE-A-LI-TÄ-TEN“: Aragons Pariser Bauer Der Surrealismus, als literarischer Rahmen in den früheren Arbeiten Aragons präsent, zu denen auch Der Pariser Bauer von 1924 rechnet, lässt nicht unbedingt an geschlossene und kohärente ‘Bilder’ denken, die in den Texten reproduziert oder geschaffen werden. Vielmehr führt der im Surrealismus propa-
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gierte Weg zu den Hinter- und Untergründen des Seelischen, für die Freud Pate steht, und in Erfahrungsbereiche hinein, die zwischen Selbst- und Fremderfahrung kaum noch Unterscheidungen ermöglichen. Die ‘Welt’ ist mit den Zügen des Ich durchsetzt, wie umgekehrt Elemente der ‘Welt’ in das Ich eingehen. Als einer der komplexesten Texte moderner Großstadtdarstellung, die in demselben Maße eine Vermessung der inneren Dimensionen des Traumes und der Fantasie vornimmt, ist Der Pariser Bauer das Dokument einer Begegnung zwischen Ich und Stadt in einem Innenraum, der zugleich das Subjekt und dessen Ort betrifft: Kaum nötig zu betonen, dass in diesem Zwischenreich das Exzentrische und Extreme zu Hause ist. Schon die Räume der Stadt, in denen jene Begegnung stattfindet, sind exzentrisch-exotisch: die Passage der Oper auf der einen (also ein Ort der Pariser Innenstadt in der Nähe der großen Boulevards), die Buttes-Chaumont auf der andern Seite, weit abgelegen im Nordosten der Stadt. Diese merkwürdig kontrastive Verbindung zwischen einem Ort des Konsums und des Kommerzes und einem Stück Natur in Paris überrascht und soll überraschen, ist aber einem Konzept, einer Intention geschuldet, die gleich zu Anfang des Textes dargelegt wird: Es geht Aragon um nicht weniger als eine moderne Mythologie im Herzen oder in den Randzonen von Paris. Es gehört zum Programm, dass diese Reflexionen provokant und nicht selten abstrus daherkommen, große Worte wie ein Banner schwingend. Hier spricht ein sehr junger Autor, der den jugendlichen Schwung seiner Ideen nicht zügelt und den Charme der frühen Jahre, die auch jene des Surrealismus sind, so unvermittelt wie ungeschliffen in seinen Text eingehen lässt. An traditioneller Vorstellung gemessen, ist der Text kunstlos, unmittelbar aus der Erfahrung hervorgehend, pragmatisch und nicht fiktional, aber deshalb umso direkter seinem Autor und dessen Visionen verbunden. Nachdem Aragon im „Vorwort zu einer modernen Mythologie“ die Gewissheit als eine Illusion aufgedeckt, Irrtum und Wahrheit als ununterscheidbar erkannt hatte – immer im Zusammenhang mit philosophischen Reflexionen, die sich als tiefgründig ausgeben –, nähert er sich seinem Thema an. In einer Welt ohne Götter und ohne den Glauben (und auch ohne sonstige verlässliche Gewissheiten) gibt es Orte, an denen sich eine moderne Mythologie ankündigt, gibt es auch jene „prachtvolle[n] Gärten der absurden Glaubensüberzeugungen, der Vorahnungen, der Zwangsvorstellungen und der Delirien“, aus denen sich ein neuer Glaube speist: Dort nehmen unbekannte, sich immer wieder verändernde Götter Gestalt an. Ich werde diese bleiernen Gesichter betrachten, diese Hanfsamen der Phantasie. Wie schön ihr seid, ihr Rauchsäulen, in euren Sandburgen! Neue Mythen entstehen unter jedem unserer Schritte. Dort, wo der Mensch gelebt hat, beginnt die Legende, dort, wo er lebt. Ich will mein Denken nur noch mit diesen verachteten Verwandlungen beschäftigen.
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Der tragende Gedanke, gerade in und aus der modernen Welt entstünden neue Mythen, verwandelt den Gegenstand ‘Großstadt’. Dieser wird zum Erfahrungsraum und Experimentierfeld für neue Bedeutungen, denn die Großstadt als zentraler Ort der Moderne bringt Götter hervor, die sich immer wieder verändern, und generiert permanent andere Mythen. Das Gesetz des Fortschritts, vom 19. Jahrhundert hervorgebracht und von vielen Autoren kritisch kommentiert, wird zum Gesetz des wertneutralen Wandels, aus dem sich auch jene neue Mythologie der Moderne speist: Täglich verändert sich das moderne Daseinsgefühl. Eine Mythologie baut sich auf und zerfällt wieder. Es ist eine Wissenschaft vom Leben, die jenen vorbehalten ist, die keine Lebenserfahrung haben. Es ist eine lebendige Wissenschaft, die sich selbst zeugt und sich selbst tötet. Kommt es mir noch zu – ich bin schon sechsundzwanzig Jahre alt –, dieses Wunders teilhaftig zu sein? Werde ich noch lange das Gefühl für das Wunderbare des Alltäglichen haben? Ich sehe, wie es in jedem Menschen verloren geht, der in seinem Leben wie auf einem immer besser gepflasterten Weg voranschreitet, der sich mit wachsender Leichtigkeit immer mehr an die Welt gewöhnt, der sich nach und nach vom Gefallen am Ungewöhnlichen und von dessen Wahrnehmung löst.
Hier formuliert Aragon das Programm seines Vorhabens: Es gilt zu bewahren, was sich dem Verfall und der Veränderung kaum wird entziehen können – das Gefühl für das „Wunderbare des Alltäglichen“, das „Gefallen am Ungewöhnlichen“ und dessen Wahrnehmung. Der Autor stellt sich gegen das Gewöhnliche und die Gefahr der Gewöhnung. Doch welche Gestalten birgt oder verbirgt diese neue Mythologie, welche Metamorphosen bringt sie hervor? Es handelt sich fraglos um einen privaten Mythos, der, aus den Wahrnehmungen und Interpretationen eines schreibenden Subjekts hervorgehend, idealiter nach Allgemeinheit strebt, dabei aber konservatorische Züge trägt, indem er bewahrt, was verloren zu gehen droht. Für eine moderne Mythologie gehört es sich, dass sie andere Stätten des Kultes kennt als der alte Mythos. Bevor das Kapitel „Passage de l’Opéra“ mit seinem Thema einsetzt, enthält es Reflexionen über die Orte der Götter: Heute betet man die Götter nicht mehr auf den Höhen an. Der Tempel Salomons ist in die Metaphorik eingegangen, in der er Schwalbennestern und bleichen Eidechsen Unterschlupf gewährt. Der Geist der Kulte hat die heiligen Stätten verlassen, indem er sich in Staub auflöste. Aber es gibt andere Orte, die unter den Menschen blühen, andere Orte, an denen die Menschen sorglos ihrem geheimnisvollen Leben nachgehen und die sich allmählich einer tiefen Religion öffnen. Die Gottheit bewohnt sie noch nicht. Sie formt sich dort erst, es ist eine neue Gottheit, die sich in diesen modernen Ephesoi niederschlägt wie von einer Säure zersetztes Metall auf dem Grund eines Glases; es ist das Leben, das hier diese poetische Gottheit ans Licht bringt […].
Eine „poetische Gottheit“ bringt das Leben in den modernen Metropolen hervor, die mit dem Plural jenes Städtenamens bezeichnet werden, der in der
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Antike für einen Ort mit einem berühmten Artemis-Tempel stand: Ephesos. Damit kündigt sich eine Pluralität der modernen Götter, aber auch eine Vielschichtigkeit ihrer Wirkungsorte an. Warum sollte nicht die sich noch kaum formende Gottheit in der Passage der Oper ihre Wohnung nehmen? Was sich daraus ergibt, ist nicht weniger als eine „Metaphysik der Orte“: „Unsere ganze geistige Materie säumt die Strände des Unbekannten und des Erschauerns.“ Immer wieder können sich in den modernen Metropolen Türen auftun, deren Schlösser „gegen das Unendliche hin keine sichere Sperre bilden“. Im Raum der Städte tritt der Spaziergänger, als melancholischer Flaneur in der Tradition Baudelaires verstanden, sich selbst gegenüber und erkennt seine eigenen Abgründe. Denn die Städte sind nicht nur von Passanten bevölkert, sondern auch von rätselhaften Figuren belebt, „von verkannten Sphinxen“: Dort, wo die Lebenden der zweideutigsten Tätigkeit nachgehen, spiegeln sich ihre geheimsten Beweggründe manchmal im Unbelebten: So sind unsere Innenstädte von verkannten Sphinxen bevölkert, die den träumenden Passanten nicht anhalten, wenn er sich ihnen nicht in grüblerischer Zerstreutheit zuwendet, und die ihm auch keine todbringenden Fragen stellen. Aber wenn er sie erraten kann, dieser Weise, dann möge er sie seinerseits befragen, es sind immer noch seine eigenen Abgründe, die er dank dieser gesichtslosen Ungeheuer von neuem ausloten wird. Das moderne Licht des Ungewöhnlichen, das wird ihn von jetzt ab nicht mehr loslassen.
Das Verhältnis zwischen der Sphinx und ihrem Gegenüber kehrt sich um: nicht mehr befragt die Sphinx den Menschen, sondern umgekehrt dieser die Sphinx, hiermit seine eigenen verborgenen Tiefen öffnend. Der Passant, scheinbar mit der Stadt konfrontiert, tritt tatsächlich sich selbst gegenüber und findet im Raum der Städte Spuren des eigenen Inneren, seiner Träume und Fantasien. Doch was ist daran mythisch? Allein das Auftreten mythischen ‘Personals’ wie etwa der Sphinx gewiss noch nicht. Ein Aufschluss über die Mythologie der Großstadt ergibt sich aus dem ersten Blick auf die Passage: Dieses Licht durchflutet in bizarrer Weise jene überdachten Galerien, die man häufig in Paris in der Nähe der großen Boulevards findet und die man irritierenderweise Passagen nennt, als ob es in diesen dem Tageslicht entzogenen Gängen niemandem erlaubt wäre, länger als einen Augenblick zu verweilen. Meergrüner, gewissermaßen tiefseehafter Lichtschein, der der jähen Helligkeit ähnelt, die aufleuchtet, wenn man einen Rock hochhebt und darunter ein Bein bloßlegt. Der von einem Präfekten des Zweiten Kaiserreichs in die Hauptstadt importierte typisch amerikanische Drang, dem Pariser Stadtplan einen neuen, schnurgeraden Zuschnitt zu geben, wird den Fortbestand dieser menschlichen Aquarien bald unmöglich machen; ihr ursprüngliches Leben ist schon erloschen, doch verdienen sie es, als Unterschlupf etlicher moderner Mythen betrachtet zu werden; denn erst heute, da die Spitzhacke sie bedroht, sind sie wirklich zu Heiligtümern eines Kults des Ephemeren geworden, sind sie zur gespenstischen Landschaft der Vergnügen und der versuchten Berufe geworden, gestern noch unverständlich, morgen völlig unbekannt.
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Der Mythos wirkt dort, wo die Moderne, ihrem Drang nach dem immer Neuen nachgebend, sich selbst zerstört; er betrifft nicht nur einen besonderen Ort, sondern auch eine typisch moderne Zeitstruktur, in der jeder Moment seinen Vorgänger überholt. Was auf diese Weise bedroht ist, wandelt sich zu „Heiligtümern eines Kults des Ephemeren“, der, zwei Zeitspannen verbindend, das Alte im Neuen bewahrt. Zwischen „gestern noch unverständlich“ und „morgen völlig unbekannt“ vollzieht die Moderne ihr zerstörerisches Werk, dem nur entgeht, was im Kult des Ephemeren einen Platz fand. An dieser Stelle zeigt ein Text, der jegliche Gewissheit destruiert, dem Eigenwillen der Interpretationen und Visionen huldigt, eine merkwürdig traditionelle Physiognomie, denn der Ort jenes Kultes ist in letzter Instanz nicht die bedrohte Stadt, sondern der Text, in den sie konservatorisch einging. Der Mythos ist eine Figur des Bewahrens und der perpetuierten Reflexion von Problemstellungen, die ihrer Natur nach nicht aufzulösen sind. Formel des Beharrens und der Versöhnung des Verschiedenen, zeigt der Mythos in der Passage de l’Opéra etwas auf, das Paris gänzlich fremd zu sein scheint: deren maritimen Charakter. Ein „meergrüner Lichtschein“ herrscht in diesen „menschlichen Aquarien“ und beschwört eine Wasserwelt, die ihren Ort nun in einem mit der Natur mythisch versöhnten Paris hat. Fremdartige Wendungen wie jene vom „Lauf der Gedanken eines Stadtviertels“ finden ihre Begründung in der modernen Mythologie von Paris, die zugleich das Äußere der Erfahrungswelt mit den Innenräumen des Traumes und der Fantasie versöhnt – für einen Moment, dem der Text, in dem es auch, anderen Sinnes, ‘Passagen’ gibt, Dauer verleiht. Die Auslagen eines Spazierstockhändlers, zunächst in der bizarren Erscheinungsweise ihrer Knäufe beschrieben („Hundeköpfe mit Steinen als Augen, tauschiertes Halbdunkel aus Toledo, rührendes kleines nielliertes Blattwerk, Katzen, Frauen, Hakenschnäbel, zahllose Materialien vom gebogenen Rohr über den blonden Zauber der Karneole bis hin zum Rhinozeroshorn“), führen bald zu einer anderen, dem Mythos verpflichteten Sicht: Wie überrascht war ich [sc. in der verdunkelten Passage], als ich, angezogen von irgendeinem mechanischen, monotonen Geräusch, das wohl aus dem Schaufenster des Spazierstockhändlers drang, bemerkte, daß dieses in ein blaßgrünes, gewissermaßen submarines Licht eingetaucht war, dessen Quelle unsichtbar blieb. Das ähnelte der Phosphoreszenz der Fische, wie ich sie einst als Kind auf der Mole von Port-Ball im Cotentin sehen konnte; doch mußte ich mir eingestehen, daß Spazierstöcke zwar die Leuchteigenschaften der Meeresbewohner durchaus besitzen mögen, daß es aber eine physikalische Erklärung für diese übernatürliche Helligkeit und vor allem für das Geräusch, das das Gewölbe dumpf erfüllte, nicht zu geben schien. Das Geräusch erkannte ich wieder: Es war das Muschelrauschen, das immer wieder Dichter und Filmstars in Staunen versetzt. Das ganze Meer in der Passage de l’Opéra. Die Spazierstöcke wiegten sich sanft hin und her wie Seegras.
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Das Bedeutungen schaffende Potenzial des Mythos führt zu einer Verwandlung des Sichtbaren im Zeichen der Imagination. Es ist ‘nur’ das Schaufenster eines Spazierstockhändlers, an dem sich diese Transformationen vollziehen. Aragon gewährt dem Leser hier Einblick in die Genese und den Charakter des modernen Mythos, der seinen Ausgang nimmt von konkreten Erscheinungen, um diese dann in einem zweiten Schritt zu überbieten. Gleichsam auf den Meeresgrund versetzt, vernimmt man in einer Muschel das Rauschen des Wassers. Es mag sein, dass Aragons langes Warten in einem Café, in dem er sich mit einer Frau verabredet hatte, zu übermäßigem Alkoholkonsum Anlass gegeben hatte; jedenfalls bietet sich seinen Sinnen eine verwandelte Welt dar: Ich war noch ganz von diesem Zauber gefangen, als ich sah, daß eine schwimmende Gestalt sich zwischen die verschiedenen Etagen des Schaufensters gleiten ließ. Sie hatte nicht ganz die normale Körpergröße einer Frau, wirkte aber keineswegs wie eine Zwergin. Der Eindruck ihrer Kleinwüchsigkeit schien sich eher aus der Entfernung zu ergeben, und doch bewegte sich die Erscheinung unmittelbar hinter der Glasscheibe. Ihre Haare hatten sich gelöst, und ihre Finger hielten sich momentweise an den Stöcken fest. Ich hätte geglaubt, es mit einer Sirene im herkömmlichsten Sinn dieses Wortes zu tun zu haben; mir schien nämlich, daß diese zauberhafte, bis zu dem recht tief sitzenden Gürtel nackte Erscheinung in einem Stahl- oder Schildpattkleid oder vielleicht in Rosenblättern endete, aber als ich meine Aufmerksamkeit auf das Hin- und Herschwingen konzentrierte, das sie in die von Streifen durchzogene Atmosphäre trug, erkannte ich plötzlich diese Person wieder […].
Ist dieses Sehen, das in ein Wiedererkennen einmündet, nicht eher eine Vision als eine konkrete Wahrnehmung? Die Frage bietet sich an, ist aber kaum im Geiste des Surrealismus gestellt, für den es auf diesen Unterschied gar nicht ankommt, denn hier vollzieht sich die poetische Umgestaltung der Wirklichkeit in einen Raum der Fantasie. Hilfestellung leistet dabei die Erinnerung an eine Frau, der er früher am Ufer der Saar begegnet war und die nächtelang alte Lieder sang: „Was hatte sie unter den Stöcken wohl zu suchen?“, fragt Aragon, ganz in dem sich ihm bietenden Bild befangen: Und sie sang immer noch, nach der Bewegung ihrer Lippen zu urteilen; denn die Brandung des Schaufensters übertönte ihre Stimme und stieg über sie hinweg zur Spiegeldecke empor, über der man weder den Mond noch das bedrohliche Dunkel der Klippen wahrnahm: „Das Ideal!“ rief ich aus, in meiner Verwirrung fand ich nichts Besseres zu sagen. Die Sirene wandte mir ein erschrecktes Gesicht zu und streckte mir ihre Arme entgegen. Da wurde das Schaufenster von einer allgemeinen Konvulsion gepackt. Die Spazierstöcke drehten sich um neunzig Grad nach vorn, so daß die obere Hälfte der Xe ihr V zur Glasscheibe hin öffnete und dabei den Fächervorhang der unteren Stöcke vor der Sirenen-Erscheinung vervollständigte. Es war, als hätten Spieße jäh den Blick auf eine Schlacht versperrt. Die Helligkeit erstarb mit dem Rauschen des Meeres.
Die Transformation der Realität findet ihr ernüchterndes Gegengewicht in der Person eines Portiers, der, auf die späte Stunde anspielend, den Träumen-
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den aus der Passage entfernt. Während die „Zauberei“ im Geiste noch die ganze Nacht anhält, offenbart der Tag, als alles wieder sein normales Aussehen angenommen hat, den Ursprung der nächtlichen Träumerei: eine Meerschaumpfeife in Form einer Sirene, ausgestellt im zweiten Schaufenster des Ladens – zerbrochen und zu Staub zerfallen bis auf den Busen. Was sich in Aragons Pariser Bauer an verschiedenen Orten und in unterschiedlicher Weise immer wieder vollzieht, ist die Transformation des Konkreten ins Traumhafte. Diese kann nur gelingen, weil die moderne Großstadt nicht bloß den Stoff der Träume in sich schließt, sondern auch ein Ort mit verborgenen Bedeutungen ist, die von einer modernen, das Verschiedene versöhnenden Mythologie ans Licht gebracht werden. Noch sind die Götter nicht gegenwärtig, doch ihr Kommen kündigt sich schon an in einem Text, der die Mythologie der Metropolen gleichsam präfiguriert und gegen die Zeitläufte vorzeitig verwirklicht. Vor diesem Hintergrund sind die zahlreichen in den Text eingestreuten Affichen und Werbeplakate zu sehen, in denen fremde Texte den eigenen durchsetzen: doch was bedeutet angesichts des Projekts einer modernen Mythologie schon dieser Unterschied! Die plakatierte Sprache mit den Veränderungen von Worten durch die (Bewegung in der) Zeit führt bei der Begegnung mit dem allegorisierten Gefühl der Nutzlosigkeit, das ein blaues Akkordeon mit der Aufschrift ‘Pessimisme’ in den Händen hält, zu Variationen des Pessimismus: Reichen Sie mir doch dieses Stück Himmelsblau, mein liebes Gefühl des Unnützen, sein Lied dürfte meinen Ohren gefallen. Wenn ich den Balg zusammenpresse, sieht man nur noch die Konsonanten: PSSMSM Ich ziehe ihn aus, und es tauchen die I auf: Die E:
PSSIMISM
PESSIMISME Und das stöhnt von links nach rechts: ESSIMISME – PSSIMISME – PESIMISME PESIMISME – PESSMISME – PESSIISME PESSIMSME – PESSIMIME – PESSIMISE PESSIMISM – PESSIMISME PESSIMISME Die Welle endet barbarisch berstend an diesem Strand. Und schlägt wieder den Rückweg ein. PESSIMISME – PESSIMISM – PESSIMIS PESSIMI – PESSIM – PESSI PESS – PES – PE – P – p…, nichts mehr.
Auch im Rahmen des Textes ergeben sich immer wieder Gelegenheiten, bestimmte zentrale Begriffe plakativ hervorzuheben: „was wir lauthals fordern,
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das sind, daran gibt es keinen Zweifel, Realitäten, RE-A-LI-TÄ-TEN“ – und es folgt eine Fabel mit diesem Titel. Wenn in Riesenbuchstaben und mit einem Ausrufungszeichen versehen der Name LOUIS! auftaucht, antwortet der Autor: „Ich komme, ich komme schon.“ Wie im Feuilleton, führt auch bei Aragon die Stadt zu Lesarten, allerdings hier im Zeichen des Mythischen. Es gilt, Paris zu entschlüsseln, die Chiffren seines geheimen Lebens, das sich mit der Existenz der Träume trifft, zu deuten. Die Schrift des Mythos ist in der Stadt selbst verborgen und wird in die Schrift des Buches übersetzt – so zumindest die Vorgabe. Doch wenn die Schrift der Stadt nichts anderes wäre als eine poetische Erfindung? In einem pragmatischen Text? Der zweite Teil des Buches, „Das Naturgefühl auf den Buttes-Chaumont“, beginnt wie das Buch insgesamt mit Reflexionen, die scheinbar von der Darstellung der Stadt weit entfernt sind. Ungeachtet der Leistungen der Fantasie auf den Gängen durch die Passage, habe er, so Aragon, „die Götter auf der Straße“ nicht erkannt, war er doch „beladen mit [seiner] wackeligen Wahrheit“. Um die Mythologie zu erkennen, gilt es erst, der Metaphysik den Garaus zu machen. An der Logik erkrankt wie so viele Menschen, verstand er nicht, dass der Mythos „vor allem eine Realität ist“ und nicht nur „eine Sprachfigur, ein Ausdrucksmittel“. In den „Mäandern“ des Denkens und der Stadt beginnt er so etwas „wie eine Gegenwart zu erahnen, die göttlich zu nennen“ ihn alles drängt: „Es wurde mir deutlich, daß der Mensch voller Götter ist wie ein in den Himmel eingetauchter Schwamm.“ Und er beginnt, „eine vorwärts schreitende Mythologie zu entwerfen“, die den Namen „moderne Mythologie“ verdient. Dieser Mythologie eignet eine Bewegungskomponente, die erst ihren eigentlichen Ausdruck findet in jenem nächtlichen Spaziergang auf den Buttes-Chaumont, diesen eine imaginäre Ausdehnung verleihend, die ihrer tatsächlichen Größe gar nicht entspricht. Schon die Taxifahrt dorthin, in Begleitung von André Breton und Marcel Noll, dem eine längere Rede zugeschrieben wird, wird mit den Orten, die sie durchläuft, minutiös beschrieben und suggeriert einen festgefügten Respekt vor der Topographie. Doch der Spannungsbogen der Annäherung gilt dem Ort selbst, „in dem sich das Unbewusste der Stadt eingenistet hat“, obwohl er zunächst mit wiederum topografischer Genauigkeit und scheinbar ohne jede Illusionsbildung beschrieben wird: Der Park der Buttes-Chaumont hat von oben gesehen die Form einer Nachthaube, deren deutlich von West nach Ost verlaufende Achse die Einmündung der Rue Priestley in die Rue Manin mit der Einmündung der Rue d’Hautpoul in die Rue de Crimée verbindet; dabei wird die geradlinige, in Nord-Süd-Richtung mit leichter Schrägung nach Südost verlaufende Basis von dem zwischen der Rue Manin und der Rue du GénéralBrunet liegenden Teil der Rue Crimée gebildet. Von den zwei krummlinigen Seiten dieser Figur wird die nördliche, nach Nordwest hin konvexe, von der Rue Manin gebildet, die südliche, nach Südwest hin konkave, von der Rue Botzaris. Außerdem ist die Spitze,
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der der Basis gegenüberliegende, durch die Vereinigung dieser beiden Seiten entstandene Winkel, nach Süden und leicht nach Osten hin gekrümmt und bildet ein Horn, das den Park nach Süden verlängert, und zwar zwischen dem jenseits der Rue Priestley und der Rue Secrétan gelegenen Teil der Rue Manin und der von der Ecke der Rue Manin – in deren Fortsetzung – bis über die Rue des Dunes hinausführenden Rue Bolivar einerseits und dem zwischen der Rue Fessart und der Rue Bolivar gelegenen Teil der Rue Botzaris andererseits.
Soll hier der Leser durch eine scheinbar korrekte, in Wahrheit aber verwirrende Topografie genasführt werden? Sicher, denn das Bild des Gartens, das, an die transformierenden Beschreibungen der Passage de l’Opéra anschließend, das Projekt einer modernen Mythologie komplettiert, ist alles andere als das Abbild seiner äußeren Erscheinung. Auch hier gilt: „Das Geschehen muß sich in meine Verrücktheit verwandeln.“ Aber das Volk der Passanten und der Spaziergänger in diesen großen, nicht enden wollenden Städten, in denen es sich bewegt und stirbt, kann sich seine Sehnsucht nicht auswählen. Es werden ihm nur diese Mosaiken aus Blumen und Wiesen oder diese willkürlichen Reduktionen der Natur geboten, welche die beiden gängigen Typen des Paradieses darstellen. Ihnen gilt seine Vorliebe, weil es noch trunken ist vom Alkohol der Romantik. Es stürzt sich in diese Illusion, drauf und dran, auf den Buttes- Chaumont Le Lac von Lamartine zu rezitieren, das in der Vertonung so hübsch klingt. Hat es sich erst einmal da hineingestürzt, kentert sein Geist nicht am Rauschen der Sturzbäche: Die Gürtelbahn ist da, und das Keuchen der Straßen begrenzt den Horizont. Große kalte Lampen erheben sich über die ganze moderne Maschinerie, die auch die Felsen, die Dauerpflanzen und die gebändigten Bäche unterwirft, sie einschließt. Und mit Entsetzen findet der Mensch an diesem Ort der Verwirrung die monströse Spur seines Körpers und sein ausgehöhltes Gesicht wieder. Bei jedem Schritt stößt er gegen sich selbst. Da hast du den Palast, den du brauchst, du große Denkmechanik, um endlich zu wissen, wer du bist.
Der nicht enden wollende Spaziergang der drei Freunde auf den ButtesChaumont ist keine Neuauflage romantischen Naturgefühls à la Lamartine (auf dessen berühmtestes Naturgedicht hier angespielt wird), auch keine Stadtflucht im Geiste von Jean-Jacques Rousseau, der freilich mit seinen Träumereien eines einsamen Spaziergängers jenem Unherstreifen ein Vorbild bot. Die Mythologie der Moderne verbindet den Naturort mit der Stadt, begrenzt ihn durch die Geräusche ihrer Technik und dringt sogar in ihn ein. Eine solcherart gebändigte Natur bietet dem Menschen keine Zuflucht, sondern konfrontiert ihn in aller Schärfe mit sich selbst. Die Arbeit der Reflexion, zwar an allen Orten denkbar und möglich, findet ihr eigentliches Reservoir in der Verschiedenheit der Erscheinungsformen moderner Städte. Ihr gilt letztlich Aragons Interesse, auf sie ist die Heftigkeit seiner anti-metaphysischen Position ebenso gerichtet wie der oftmals verbale Taumel seiner visionären, jegliches Maß verlierenden Beschreibungen. Die heiligen Stätten (die heiligen Städte?) bilden „überall auf der Welt
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wie Knotenpunkte des menschlichen Nachdenkens“ und bekunden „die ganze Konkretheit einiger individualisierter großer übernatürlicher Ideen“: auch dies eine sprachliche Hypostase, die weniger über jene Orte aussagt als über das, was sie bewirken – die nicht zu beendende Reflexion auf die modernen Götter, die sich in den Städten verbergen, aber vielleicht doch nichts anderes sind als das sich vielfach spiegelnde Gesicht dessen, der ohne Ende nachdenkt und schreibt. Eine Sprachreflexion soll das Ende dieser Darstellung bilden, nicht weil es gelten könnte, Gesagtes zusammenzufassen, sondern weil der Gestus der Deutung, wie Aragon ihn initiiert, zu keinem Ende kommt. Also: Ah, da habe ich dich, da ist dieses Also, auf das dein Bedürfnis nach Logik frenetisch wartete, mein Freund, das befriedigende Also, das befriedende Also. Dieser ganze lange Abschnitt schleppte am Ende seine große Unruhe mit sich, und die Finsternis der Buttes-Chaumont schwamm irgendwo in deinem Herzen. Das Also verjagt diese bedrückenden Schatten, es ist ein riesenhafter Straßenkehrer, dessen Haare sich zwischen den Sternen verlieren, dessen Füße durch die Luken in die Keller der menschlichen Behausungen eindringen. Das Also ist den Dichtern in ihrem Federbett ein Skandal. Das Also spaziert von Tür zu Tür, sieht nach, ob die Riegel vorgeschoben sind, überprüft die Sicherheit der abgelegenen Wohnstätten. Das Also gehört zur städtischen Wach- und Schließgesellschaft. Ganz zu schweigen vom Fahrrad des Also. … Also erfahre ich die Kraft meiner Gedanken […].
Voller verbaler und gedanklicher Kühnheiten, bietet sich Der Pariser Bauer von Aragon als besonders beherzt dar, weil er Position gegen die Fiktionalität bezieht. Ließen sich in einem fiktionalen Text die verwegenen Gänge der Fantasie wiederum einem Fantasieprodukt – einer erfundenen Figur – zuschreiben, fällt im pragmatischen Diskurs, der solche Verstellungen nicht kennt, alles auf das schreibende Ich zurück. Es ist gleichsam schutzlos der ‘Autor’, der Vorstellungen und Visionen hervorbringt, ohne sie als Erfindungen verbrämen zu können. Für die Bilder seiner Träume und für die Gewissheit, in den modernen Städten wohnten die neuen Götter, kann er keine der Fiktion gemäßen Vorbehalte für sich in Anspruch nehmen: Alles ist wahr oder gibt sich als solches aus. Wenn die Stadt in einzelne Orte zerteilt wird, das in ihnen sich Darbietende nur mehr ein Stückwerk ist (durch das freilich das Göttliche hindurchscheint), dem Prinzip nach alles mit allem in Kontakt treten kann, so ist dies alles keinem Kunstprinzip geschuldet, sondern ist die mit Subjektivität durchsetzte Wirklichkeit selbst. Das Subjekt hat die Stadt erobert; statt sich ihr sympathetisch zu nähern wie Baudelaire oder Rilke, zieht Aragon Paris fast gewaltsam zu sich heran und macht aus der Metropole der vielen den Ort für einen: sich selbst. Aus der Kraft seiner Gedanken ersteht Paris neu – im Zeichen des signifikanten Einzelnen, an dem eine neue Mythologie zur Erscheinung kommt.
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2. „Jubelruf in Stein?“: Brinkmann, Rom, Blicke Zunächst: Der Titel Rom, Blicke stammt nicht vom Autor, sondern von den Herausgebern, und das Buch besteht nur aus Skizzen, Aufzeichnungen, Briefen und optischen Materialien (Straßenpläne, Photos), die Brinkmann von Oktober 1972 bis Januar 1973 zusammenstellte, als er sich mit einem Stipendium in der Villa Massimo aufhielt. Der vorliegende Text ist somit nur die Vorstufe zu einem geplanten, wegen des frühen Unfalltodes des Autors in London (1975) nicht mehr ausgeführten Romanprojekt. Vorstufe zu einem ungeschriebenen Buch, enthält der Text eine Fülle autobiographischer Zeugnisse, in denen sich das Unbehagen an der Stadt Rom, die Unzufriedenheit mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Villa Massimo und zudem die drückenden Geldprobleme immer wieder artikulieren. Ob dem geplanten Roman auch diese durchweg düstere Färbung eigen gewesen wäre, lässt sich nicht sagen, doch ist es wenig wahrscheinlich, dass allein die Fiktion das Persönliche ausgeschaltet, die Düsternis aufgehellt hätte. Mag das Fehlen des ‘eigentlichen’ Buches bedauerlich sein, erhellt doch der Text in seiner vorliegenden Form, dass die Großstadt als geformtes Gefüge, als Funktionszusammenhang, empirisch sowohl als auch texttypologisch, einem Auflösungsprozess unterliegt, mit dem die Prosatexte jene Parzellierungen der Stadt perpetuieren, die einst eine Errungenschaft der Lyrik (und, bei Baudelaire und Rilke, der von ihr geprägten poetischen Prosa) bildeten. Kurz, die Tendenz zu einer totalisierenden Darstellungsform, die freilich immer nur Annäherungswerte schaffen konnte, wird durchkreuzt und ist nicht einmal mehr als poetische Intention erkennbar. Im Gegenteil geraten die Totalitätsträume in den Sog der Vereinzelung, die Charakteristisches allenfalls noch im signifikanten, ‘sprechenden’ Detail zu erfassen vermag. Wenn sich die Stadt auf Einzel-Bilder, die Gesamtschau auf ‘Blicke’, die Räumlichkeit auf den Vordergrund reduziert, entstehen Leerstellen und Zwischenräume, die sich der Interpretation, dem Urteil, der Vermutung und der Vorstellung öffnen. Der aus Parzellen zusammengesetzte, ins Einzelne hinein sich verlierende Stadtraum schafft gleichsam Platz für das Gegenüber des Gegenstandes, sei es, wie bei Brinkmann, zuvörderst der Autor, sei es eine Figur des Textes oder schließlich auch der Leser. Das poetisch hoch komplexe, die Imagination anstachelnde ‘Stückwerk’ moderner Stadtdarstellung scheint einer spezifischen Eigenart von Erfahrung, die mit der Moderne fortschreitend komplexer wird, geradezu ideal zu entsprechen – jener Bilderfülle, die nun nicht mehr der Text sui generis hervorbringt, sondern die der Leser, von Bildern genährt, an den Text heranträgt. Was Brinkmann vom großen, ehrwürdigen Rom, der Roma aeterna, wahrnimmt und in Texten und Bildern festhält, passt kaum ins Bild der Ewigen Stadt; der gesamte, mit Rom verbundene Vorstellungsgehalt wird in
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heftiger Gegenwehr abgeschüttelt und durch zumeist negativ gefärbte Alltagserfahrungen ersetzt: Kein ‘ewiges’, sondern ein banal gegenwärtiges Rom taucht aus Brinkmanns Aufzeichnungen auf. Der Text ist ungestalt wie der Gegenstand selbst, und die Sprache, meist mäandernd über weite Räume, wirkt gelegentlich wie Geröll, das sich auf Rom entlädt und ohne Unterschiede die große Vergangenheit wie die triste Gegenwart überschüttet. Eher registrierend als deutend, entfaltet Brinkmann das Panorama römischen Alltagslebens ohne Rücksicht und ohne Tabus: ein negatives, aber ehrliches Buch auf dem nicht zu Ende gelangten Weg zum Roman. Schon die Fahrt nach Rom ist, bedenkt man das Weitere, auf keinem guten Wege, denn der Schreiber wünscht sich einen „einfachen Ort“, wo er leben und arbeiten kann und wo geregelt ist, was er für den täglichen Bedarf braucht – „Köln ein Schreckgespenst von Stadt, total verwohnt, Straßen die stinkender Kanäle sind“: Sollte Rom anders sein? Als ich aus dem Zug gestiegen war und an der langen Reihe Wagen entlangging zur Halle hin, verlängerte sich wieder der Eindruck einer schmutzigen Verwahrlosung beträchtlich, wieder überall Zerfall, eine latente Verwahrlosung des Lebens, die sich in der riesigen Menge der winzigen Einzelheiten zeigt – und vielleicht hatte ich immer noch Reste einer alten Vorstellung in mir, daß eine Weltstadt wie Rom funkelnd sein würde, bizarr, blendend und auch gefährlich für die Sinne – eben ein wirbelnder Tagtraum und voll rasanter Betriebsamkeit, statt dessen war da ein grauer Zug erschlaffter Reisender, die stumpfe Monotonie der Bahnhofshalle, zwischen den Ankommenden die italienischen Kulis mit großen eisernen Schubkarren – ich hatte vielleicht gedacht, ich würde bereits am Hauptbahnhof in ein verwirrendes Miniatur-Labyrinth kommen – schließlich ist Rom doch eine Weltstadt […]. „Auch ich in Arkadien!“ hat Göthe [sic!] geschrieben, als er nach Italien fuhr. Inzwischen ist dieses Arkadien ganz schön runtergekommen und zu einer Art Vorhölle geworden.
Für deutsche Autoren – aber nicht nur für diese – fährt nach Rom vor allem ein Autor mit, der in Italien sein Arkadien fand: Goethe. Doch im Kontrast zur klassischen Italiensehnsucht, die bei Goethe ihre Erfüllung erfuhr und die als Mythos fortwirkt, ist in das Rom der Gegenwart der moderne Alltag eingezogen, für den Brinkmann ein waches Sensorium mitbringt – was freilich die Enttäuschung nicht mindert. Rom als Weltstadt erfüllt nicht die hiermit verbundenen Hoffnungen, sondern ist so banal und schal wie die moderne Welt in allen Großstädten. Wenn es zuerst nach der Ankunft gilt, Geld zu wechseln, hat Brinkmann damit eines seiner Themen, dem Alltag und der Not entwachsend, schon gefunden. Immer wieder werden im Verlauf des Textes Rechnungen angestellt, welche die Dürftigkeit dieses Lebens zum Vorschein bringen: der möglichst billige Speiseplan, Berichte von Einkäufen oder (seltenen) Restaurantbesuchen, immer begleitet von peniblen Äußerungen über Preise. Schon am Anfang zeigt sich diese Tendenz:
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Ein ödes Taxi, das mir bereits ausgewrackt vorkam, aber sauberste Musik-Wiedergabe des Radios, innen ramponiert, verwetzt – und im Rundfunk wurde ein Stück von Duke Ellington angesagt, kurz angespielt und unterbrochen durch eine dieser elenden italienischen Todesmelodien im Barock-Verschnitt mit Cembalo und Bachtrompeten-Melancholie, während ich eine alte Mauer vorüberziehen sah, also paßte das auch irgendwie exakt, Richtung Largo die Villa Massimo, Fahrt 800 Lire, und der Taxifahrer war freundlich, war ein offizieller Fahrer – sind die anderen von der Mafia und machen enorme Umwege? – In Köln hätte ich auch nicht mehr bezahlt.
Was Brinkmann von der Tradition – hier der musikalischen – hält, wird schon auf der Taxifahrt deutlich, die wiederum im Zeichen des Geldes steht. Kaum dürfte der Autor schon wissen, dass ihn Elend und Melancholie durch seine Monate in Rom begleiten werden. Auch in der Villa Massimo bietet sich ihm kein anderes Bild: „Also zuerst das Atelier: fleckig, groß und leer, nichts für mich zum arbeiten, Namensschmierereien an der Eingangstür, ich denke, ich habe das schäbigste hier bekommen, verwohnt, grauer verblaßter Anstrich.“ Aus diesem Szenario der Tristesse mit seinen banalen Einzelheiten, die aber bei Brinkmann perspektivisch durch die Darstellung zu Bedeutendem (freilich damit nicht: Positivem) erhoben werden, kann er während seiner Zeit in Rom nicht entkommen. Brinkmann betrachtet Rom gleichsam von unten, deckt dessen Schäbigkeit und Verfall auf, begegnet auf seinen Streifzügen durch die Straßen jenen belanglos-alltäglichen Szenarien, die er teilweise auf Fotos festhält, denn das Fotografieren, schreibt er, mache „wach und aufmerksam“. Mit einem ‘fotografischen’ Blick, der alle Einzelheiten registriert, sie in Sprache bannt und dabei das Entlegene, Alltägliche, Banale festschreibt, erfasst Brinkmann nicht nur eine moderne Großstadt, sondern einen besonderen Ort: den religiösen Mittelpunkt der westlichen Welt, das Zentrum eines antiken Weltreichs und die kulturelle Drehscheibe zwischen klassischer Kultur und lateinischem Mittelalter. In Rom befindet man sich auf geschichtsträchtigem Boden, begegnet den Zeugnissen der europäischen Kultur in anderswo nie gekannter Konzentration. Wie verträgt sich dieses Rom (oder ist es nur sein ‘Bild’?) mit dem banalen Alltag einer modernen Metropole? Ein Spannungsverhältnis kündigt sich an, das Brinkmann in aller Schärfe durchlebt und dem sich das historische Rom schließlich geschlagen geben muss. Roms Patina wird von Brinkmann abgekratzt, und das Ergebnis dieses Prozesses der Demystifizierung ist ein Rom ohne historische Aura, dessen Heiligenschein gleichsam zerschmettert wird von einem jungen, 32-jährigen Autor, der den Mythen misstraut. Brinkmann lässt sich bis zu einem gewissen Grade in die Monotonie der Moderne hineinziehen, pariert sie aber durch eine bis ins Kleinste ausgefeilte Beobachtungsgabe und Beschreibungssucht, die alles zergliedert und zerlegt – so lange, bis die Dinge auf ihre Elemente reduziert sind: Das 1. Geräusch in der Stille abends war das Geräusch eines saugenden, hohlen Pfeifens in der Luft, niedrig in der Dunkelheit über dem Haus, ein wundes schleifendes Pfeifen,
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das an schmerzhaftes Schaben auf der Haut erinnerte, dünne und überall kurze Zeit in der Luft draußen verteilt, und es hörte sich auch wie eine riesige Entzündung in der Stille an, die kurz darauf verschwand. Ich hatte offensichtlich die letzte einfliegende Abendmaschine gehört.
Diese Neigung zur Einzelheit ist einerseits das poetische Programm eines Textes, der sich der Totalität längst nicht mehr gewiss ist, andererseits aber auch, jenes untermauernd, ein weltanschauliches Credo, das über die Großstadt hinausweist, in ihr aber zu markanter Erscheinung kommt. In einer Epoche der Vermassung erfährt sich der Einzelne als von allen Seiten gefährdet; für diese Bedrohung ist die Großstadt das zentrale Zeichen. Wenn Brinkmann feststellt: „Also zerfällt bei mir das Gesamte und Panorama in lauter Einzelheiten“, hält dieser Befund Typisches (und nicht nur Negatives) fest. Das Einzelne korrespondiert dem Einzelnen, der nun nicht unangefochten das letzte Relikt der Totalität ist, sondern seine Individualität permanent verteidigen muss: „Ich habe gesehen: Ich. (So verrottet ist man hier schon, daß man so sehr darauf beharren muß.)“ Da sich dieses Ich in einer ständigen Situation der Rechtfertigung befindet, gewinnt auch das Schreiben bei Brinkmann als Selbst-Verteidigung eine besondere Qualität. Schreiben bedeutet Selbstschutz gegenüber einer das Individuum von allen Seiten bedrängenden modernen Zivilisation, die nur durch einen nüchternen Blick und eine ehrliche Sprache entschärft werden kann. So ist die Sprache – die deutsche, in der Brinkmann, des fremden Idioms nicht mächtig, in Italien schreibt – wie eine einsame Insel, bevölkert allein vom Autor und imaginär von den Partnern seiner Korrespondenz: seiner Frau, einigen Freunden. Für seine Kampagne der Individualität ist ihm Giordano Bruno, der 1600 auf dem Campo dei Fiori als Ketzer verbrannt wurde, eine Identifikationsfigur, aus dessen Werken auch weite Passagen in Brinkmanns Rom-Collage (er selbst nennt es sein Rom-„Album“) eingehen. „Was haben sie, die Einzelnen, getan? Daß man sie so verfolgte, zertrat?“, fragt Brinkmann und kennt doch die Antwort: Sie sind anders, und das verträgt die Masse nicht. War für Georg Simmel die Großstadt gerade jener Ort, an dem das Kollektiv Singuläres duldete, so stellt sich für Brinkmann die Situation anders dar: Möglicherweise würde die Großstadt den Einzelnen tolerieren, nicht aber umgekehrt der Einzelne die Großstadt. Sie ist ihm verhasst, weil sie ihm permanent präsentiert, was ihn gefährdet: Masse: […] innerhalb der steigenden Quantität nimmt das Qualitätsgefühl jedes einzelnen immer mehr ab, das ist ein Grund für die Apathie, die sich in der Atmosphäre von Straßenbildern zeigt, dieses graue langsame Verlöschen in einer großen Zahl, das Gefühl der Ohnmacht im Einzelnen wächst.
Indem der Einzelne sich äußert – wie Brinkmann in der subjektiven, sehr privaten Form von Tagebüchern und Briefen –, findet er in der Sprache ein Ge-
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gengewicht, das die Anonymisierung durch die Großstadt zu parieren vermag. Ein solches poetisches Programm muss die Metropole als einen Ort der Vielen, in dem sich auch der Leser wiederfindet, zwar verfehlen; es korrespondiert aber trotzdem mit dem Leser insoweit, als sich dieser wie ein seinerseits individueller Ansprechpartner fühlen kann. Gleich ob man sich der von Brinkmann vollzogenen Entmythifizierung Roms anschließt oder nicht – man sieht sich in das Programm einer Rettung des Individuums einbezogen, das wichtiger und vor allem zeitgemäßer ist als die zur Denkschablone verkommene Glorifizierung der Ewigen Stadt. Bei Brinkmann wird Rom neu erweckt; doch erweckt woraus und zu was? Später ging ich zu Fuß zum Bahnhof, […] dachte, daß ich mich durch einen zerfallenen Traum bewegte und trat im gleichen Moment in Hundescheiße, sah eine Kachel mit einem antiken Kettenhund darauf gebrannt und das berühmte Cave Canem = Hüte Dich vor dem Hund! – auf einem eisernen Abflußkanaldeckel sah ich SPQR/Der Senat und das römische Volk – langsam wachsendes Empfinden einer Bedrückung angesichts der schnörkeligen Architektur von Kirchen und buntem Heiligem Kitsch – in einem Durchgang brannte ein elektrischer Lichterkranz um eine miese Madonna – […].
Ein bekanntes Kompositionsverfahren der Großstadtdarstellung wird hier erneut angewandt: der Kontrast. Das „Cave Canem“ warnt nicht vor Hundekot, und das „SPQR“ ist auf einem Kanaldeckel deplatziert. Gedanken (der zerfallene Traum) und optische Eindrücke stehen in Opposition zueinander – die Wendung von der „miesen Madonna“ treibt die Widersprüche auf einen vorläufigen Höhepunkt. Nicht Größe, sondern Banalität bestimmt das Erscheinungsbild Roms, und der zu erwartende Eindruck von Kunst lässt unversehens den Kitsch auf die Bildfläche treten. Kein religiöser Schauer, sondern Abscheu stellt sich ein: Plötzlich tauchen aus dem Gewimmel der häßlichen Menschen mitten in der verstaubten Ruinenkulisse Heiligenbilder auf, angestrahlte Christusse, mit elektrischen Girlanden umwundene Madonnenbilder in Tordurchfahrten, gespenstisch und blöd.
Die Stadt schafft für das Antike, das Christliche, keinen angemessenen Rahmen, sondern stellt Menschen und Dinge in Kontexte, die entwürdigend wirkten, wären jene nicht selbst schon ohne jede Würde. Gleichmacherei steht dem Individuellen und Besonderen entgegen und erfasst auch solche Gegenstände, die sich – nun freilich in ihrer Hässlichkeit – hervorheben: jene Christusse im charakteristischen Plural und in Massenfertigung, sich dem Heiligen geradezu entgegenstellend. Kaum anders ergeht es in diesem Prozess der Entmythisierung den antiken Stätten, den – so möchte man doch meinen – ehrwürdigen Zeugnissen christlicher Baukunst und den bekannt glanzvollen Bauten des Barock: Im Hintergrund einer breiten mehrspurigen Asphaltstraße stand der Schutthaufen des Kolosseums, lehmig-gelb angeleuchtet und mit den schwarzen Rundbögen, die an Stol-
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leneingänge denken ließen. – Neben mir, zur einen Seite der Via Dei Fori Imperiali, eine tiefergelegene Schrotthalde und eingezäunt. – Altes Zeitungspapier über 3 Tausend Jahre geweht, Säulen-Reste, Rundbogen-Stümpfe, Stein-Klötze – wüst durcheinander, Bruchstücke von Wänden, Andeutungen von Treppenstufen – in der Ecke eine große Rolle rostender Stacheldraht – und eine Katze, die geräuschlos am Rand entlangstreicht. 3 Säulen standen sinnlos hoch.
Das Kolosseum ist für Brinkmann ein Schutthaufen, ein wüstes Durcheinander von Resten, kolossal einzig als Ruine. In Form einer Rolle rostenden Stacheldrahts hat die neuere Zeit Eingang gefunden, das verwehte Zeitungspapier steht für die moderne Zivilisation: Ist dem antiken Bauwerk jeglicher Nimbus abhanden gekommen? Mit der Anspielung auf die „tiefergelegene Schrotthalde“ meint Brinkmann das Forum Romanum, in das sich Assoziationen der Moderne, allesamt dem Verfall ausgesetzt, einschieben – ein Trümmerfeld, das Antike und Neuzeit verbindet: Über schwarze große Basaltbrocken ging ich dann an dem Trümmerfeld hoch, vielleicht habe ich innerlich gegrinst – aufgerissene Rollbahnen eines Flugplatzes in Vechta – Bombentrichter voll Wasser – eingefallene Hallen – Zementmatten, die aus den Eisengerüsten hängen – grünes Sprühen einer Brandbombe – lautlos abbrennendes Stangenpulver nachmittags – Metallwracks von Flugzeugen – geborstene Plexiglasscheibe der Flugkanzel – kleine schwarze Figuren, die unter geblähten Pilzkappen herunterschweben – Unkraut wuchert das Gelände zu. Hier und da eine Trümmerecke herausgerissen von elektrischem Licht.
Wenn das Kolosseum ein Schutthaufen, das Forum Romanum ein Trümmerfeld ist, scheint auch aus rein topographischen Gründen das Kapitol dem Sog des Hässlichen kaum entgehen zu können; und doch findet Brinkmann, das sei „wirklich ein schöner, ein befreiender Platz, mit einem feinen Raumgefühl entworfen“ – allerdings müsse man von den umstehenden Bauwerken absehen. Nicht historischen Zeugnissen begegnet Brinkmann in Rom, sondern dem Müll der Geschichte, der sich umso höher auftürmt, je länger diese dauert. Mit dem Verlauf der Zeit entstehen nicht nur Ruinen, sondern prägt sich auch das Ruinöse einer ganzen Kultur aus. Brinkmanns zivilisationskritischer Ansatz findet in Rom eine beeindruckende Heimstatt, weil sich hier allenthalben der physische und moralische Verfall mit Händen greifen lässt. Bei der Beschreibung des Petersdoms klingt jene andere Bemerkung Brinkmanns mit („Peters? Wer ist dieser Herr Peters?“): mit „unverständlichen Bildern gefüllt“ und „Mammut-Gestalten in Nischen und an Säulen“ entbehrt dieser Ort jeglicher Religiosität; nur die Überlegung schließt sich an, ob die Kultur „kaputt“ sei und das Gehirn nur ein „Schrottplatz“. Hat die „abgetakelte abendländische RomBühne“ diese Gedanken inspiriert? Jedenfalls finden sie in Rom oder in der Art und Weise, mit der Brinkmann Rom entwirft, ihr ideales Pendant. Wenn Rom, „eine abendländische Hauptstadt“, „nur noch billige Kulisse“ ist, ist es um das
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Abendland nicht gut bestellt. Auf dem Petersplatz gewinnt der allgegenwärtige Verfall karikaturale Züge – aus Heiligen werden Witzfiguren: (5. Karte): Do, 23. 11. 72. L. M. [sc. liebe Marleen], Zuerst, betritt man den Vorplatzbogen, das Halbrund: das erstaunliche Raumgefühl, man geht im begrenzten großen Freien / (es ist angenehm, sofern wenig Leute da sind, doch dafür wurde so ein Raum nicht geschaffen!): es ist Weite & doch begrenzt. / Deutlich sieht man die Steingestalten ringsum in der Luft auf den Kolonnaden: zerfressene, von Abgasen verwischte, Figuren in seltsamen Haltungen, schief, gebeugt, zur Seite, gegen den Himmel, & dann stellt sich ein: wie Witzfiguren, die zu öde sind darüber zu lachen. / […] Kitsch! / Überall Reminiszenzen an Päpste. / (= Ahnengalerie!): merkst Du, daß alles sowas nur noch billige Kulisse ist: ich meine Rom, eine abendländische Hauptstadt!
Ist die Vergangenheit real oder metaphorisch nur noch als Ruine gegenwärtig, ist die Gegenwart geprägt von Hässlichkeit, Schmutz und Banalität. Gegenüber den Bemerkungen zu historischen Bauwerken nimmt die Beschreibung der römischen Alltagsbilder einen weitaus größeren Raum ein, hat doch der Alltag, so darf man schließen, den Autor weit mehr beeindruckt und bedrängt als das glorios Geschichtliche. Empörung spricht sich aus gerade dort, wo Brinkmann auf die Erinnerung an eine seiner Leitfiguren stößt, dem Ort, wo Giordano Bruno verbrannt wurde: An einem Blumenstand, gelb und zart wuchernd aus größeren eimerhaften Dosen in dichten Bündeln, oder flammendes Rot aus einer großen Gurkendose, stufenförmiger Pflanzenaufbau, dicke Kleckse, watschelte eine aufgequollene, formlos-fleischige Masse Frau. / Die Tücher hingen um verquollenes Gewabbel, und magere ältere Reinigungsmänner hantierten mit Besen um die starren, leeren Holzgerippe der bereits abgeräumten Stände. Ein Besenwagen mit drei tiefen Blechtonnen, aus denen Reisiggestrüppe an Stielen heraussahen. / Das Pflaster des Platzes feucht und überspült. Noch ein offener Fleischstand mit Würsten und ausgetropften roten Fleischstücken in der Luft an Haken. / Ringsum an den Fenstern bleiche grünliche Unterwäsche, Schlüpfer, Büstenhalter, die tropften. /Ineinandergebaute Kästen, Zimmer, die gestapelt und angesetzt waren, steile, leere Flächen dazwischen, lehmige ausgelaugte Farbe, versetzte a-rhythmische Bauweise, zusammengestückelt im Lauf der Zeit. / Am Verbrennungsplatz mit der Statue aus dem 19.Jahrhundert […].
Das Prinzip der Collage wirkt bis in die Textstruktur hinein und umfasst insofern bei Brinkmann nicht allein die tatsächlich ‘collagierten’ Materialien, aus denen sein Rom-Album besteht. Es betrifft auch nicht nur den Text, sondern ebenso den Gegenstand Rom, der sich in nicht-fiktionaler Weise präsentiert, so wie Brinkmann ihn wahrnahm (und vielleicht so, wie er wirklich ist). Sein Rom ist menschenleer oder nur von solchen Menschen bevölkert, die Ekel einflößen – sei es als Masse, sei es, wie im oben zitierten Text, als Einzelwesen von abstoßendem Äußeren („eine aufgequollene, formlos-fleischige Masse Frau“), das die Wahrnehmung der Individualität verhindert. Formlos, inkohärent, ge-
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schmacklos, präsentiert sich Rom wie jede andere moderne Großstadt, fügt aber diesem öden Bild noch den Anblick des Verfalls hinzu: eine Negativbilanz. Sie ist jedoch von Leben erfüllt durch die Vehemenz, mit der Brinkmann sich diesen Eindrücken widersetzt, indem er sie nicht einfach verdrängt, sondern in Bilder und Worte bannt. Hier artikuliert sich nicht die Überheblichkeit dessen, der sich allem überlegen weiß, sondern die Betroffenheit eines einzelnen Beobachters, der in sich die Kraft fühlt, dem Negativbild zwar nicht ein ‘Positiv’, wohl aber Widerstand entgegenzusetzen. Das individualistische Sich-nicht-eingliedern-Können (oder -Wollen), auch nicht in die tradierte Aura Roms, bringt einen Einzelnen hervor, der schonungslos das Gesehene protokolliert und nichts beschönigt, am wenigsten das eigene Erschrecken. Das Zitat des Gedichts von Gottfried Benn: „Wer allein ist, ist auch im Geheimnis, immer steht er in der Bilderflut“ (hier zitiert Brinkmann mit einem charakteristischen Lapsus falsch: „in der Bilder Flut“, muss es heißen …) steht für die Sanktionierung der Individualität, wie aus philosophischer Perspektive Giordano Bruno. Es ist ein sehr persönlicher, ganz individueller Gestus, mit dem Brinkmann Rom nicht nur entmythisiert, sondern auch geradezu zerstört; eine ohnehin nach Brinkmanns Eindruck modernde Stadt erhält hier noch zusätzlich den literarischen Todesstoß. Da das Individuelle gegen die Tendenz der Zeit mit besonderer Aufmerksamkeit ausgestattet ist – sich freilich auch immer gegen die grassierende Vermassung zur Wehr setzen muss –, gewinnt der Einzelne die Kraft, diese Stadt auszuhalten und mehr noch: sich ihr entgegenzustellen wie in einem kriegerischen Akt. Ohne Rücksicht auf die Tradition wird Rom im Jetzt des jeweiligen Augenblicks erfahren, der durch kontrastive Darstellungsmittel in seiner Prägnanz, gelegentlich aber auch in seiner Absurdität hervortritt: Jubelruf in Stein?: „ach, Ouatsch!“ – „Ewiges Rom?“: na, die Stadt jetzt ist das beste Beispiel dafür, daß die Ewigkeit auch verrottet ist und nicht ewig dauert – Rom ist, das habe ich schnell begriffen, eine Toten-Stadt: vollgestopft mit Särgen und Zerfall und Gräbern – wie kann man da von Ewigkeit faseln? – Und zwischen den Gräbern, auf den Gräbern, durch die zerfallenen Körper, die verbrannten Körper, die eingesperrten Körper, vermoderten Leben schaukelt sich die Gegenwart hindurch – was sind das für Perspektiven? Man müßte ja Nekrophiler sein, um das sein Leben lang aushalten zu können – he?: was?: „also, hier soll man das Eis erfunden haben, ich hol mir mal was.“ – Der deutsche Lyriker schlufft ab […].
Die Verbindung von Totenstadt und Speiseeis läßt an künstlerische Verfahrensweisen des Surrealismus und an Formen der Ironisierung denken; doch schon vorher war Rom dem Gedanken, selbst die Ewigkeit sei hier verrottet, preisgegeben worden. So gerät die Gegenwart, die sich zwischen den Gräbern „hindurchschaukelt“, geradezu in Ansteckungsgefahr. Weniger der Zerfall der Bauwerke als das Vermodern von Körpern im Grab macht aus Rom eine Totenstadt, eine Nekropole, die ihre Bewunderer dem Verdacht aussetzt, sie
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seien allesamt Nekrophile. Der sich hier artikulierende Abscheu der Ewigen Stadt gegenüber bringt freilich – in einer kaum zu verhindernden Paradoxie – engagierte Beschreibungen hervor, die benennen müssen, was sie erneut und nunmehr sprachlich vernichten wollen. Auf diese Weise entsteht gleichsam ein Grabesdiskurs, in dem der Text selbst zum Totengräber seines Gegenstandes wird. Die Akzentuierung jener literarischen Paradoxie, die in der Ablehnung die Gegenwart dessen herbeiführt, was sie zurückweisen, ja geradezu wiederum vernichten will, findet ihre Bestätigung darin, dass auch an anderer Stelle der Tod der modernen Zivilisation beschworen wird. Auf die schon angesprochene Verbindung von der Allgegenwart des Todes und, als Rettung, der Kraft des Individuellen geht Brinkmann vor allem an folgender Stelle ein: Ich überlegte folgendes dazu: die Landschaft, durch die man täglich geht, ist angefüllt mit Hinweisen und Drohungen des Todes, alle möglichen Todesmelodien werden gespielt, an jeder Ecke sind Todesbilder oder Eindrücke der Verrottung, aus Kinoprogrammen, Zeitungsberichten und Fernsehen fallen imaginäre Todesschrecken – überall wird der Tod verherrlicht und angepriesen, eine enorme Einübung in die Todesatmosphäre wird, ich weiß nicht, inwieweit das dem einzelnen überhaupt gewärtig ist und inwieweit das von dem einzelnen bewußt hergestellt ist, betrieben. – […] Was ist dagegenzusetzen, wenn nicht der Einzelne, der radikal, heftig, auch mit einer gewissen Rücksichtslosigkeit und Aggression, sich selbst dagegensetzt? – Auch ein Bruchstück aus einer RollingStones-Platte fiel mir dazu ein: „It’s not easy living on your own, it’s ha-aa-rd“, Aftermath.
Wenn die Künste, wie Brinkmann in derselben Passage schreibt, ihrerseits Todesmelodien intonieren und „Situationen der Ausweglosigkeit nachinszenieren“ (wie zum Beispiel im vorliegenden Text), sind auch sie jenem Tod verfallen, der die moderne Zivilisation von innen aushöhlt. Rom gewinnt in diesem Kontext seine grundlegende Bedeutung und gerät zu einer Begründungsfigur jener Todesatmosphäre, die den Verfall nicht nur darstellt, sondern auch noch verherrlicht. Indem der Text seinen ohnehin leblosen Gegenstand gleichsam noch einmal tötet, entsteht ein destruktiver, in der Sprache gewaltsamer Duktus, der sich freilich nicht allein zerstörerisch geriert, sondern die Kraft des Individuums zum Widerstand beschwört: Nur der Einzelne ist, wie Brinkmann schreibt, dagegenzusetzen. Insofern tritt, wenngleich ex negativo, noch einmal Goethe auf den Plan, der in Italien sein Arkadien fand. Im Kontext der Zeit ist diese Erfahrung keine bloß individuelle; in der Sicht unserer Epoche hingegen wäre jenes Ich, das da sagt: „Et ego in Arcadia“, durchaus ein Individuum, eingedenk allerdings der Tatsache, dass diese Subscriptio unter einem Totenschädel steht: Das Ich, sich in Arkadien wissend, ist der Tod. Das meinte Goethe nicht, ist aber im Kontext Brinkmanns als gleichsam unterschwellige Interpretation mitgemeint. Nicht das individuelle Sterben greift auch auf Arkadien über, sondern darüber hinaus der Tod einer alten Zivilisation – einer Zivilisa-
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tion also, die aus ihrer jahrhundertelangen Dauer den Anspruch auf Ewigkeit ableitet – fälschlich, wie Brinkmann weiß: „Auch ich in Arkadien!“, Göthe. Dieses Arkadien ist die reinste Lumpenschau. Seien es die modischen Lumpen oder die antiken Lumpen, ein Mischmasch, das so weit von Vitalität entfernt ist. Tatsächlich, das Abendland, lieber Henning, geht nicht nur unter – es ist bereits untergegangen, und nur einer dieser kulturellen Fabrikanten taumelt noch gefräßig und unbedarft herum, berauscht sich an dem Schrott – was ist das für ein Bewußtsein, das das vermag!
Verrottet und schrottreif präsentiert sich das Abendland, und Arkadien gerät zur „Lumpenschau“: Der Untergang ist bereits vollzogen. Und doch stellt sich ihm wiederum ein Bewusstsein entgegen, voller Stolz auf diesen Widerstand. Woher ihm die Kraft zuwächst, ist deutlich, obschon mit Understatement, formuliert: „gefräßig und unbedarft“ taumelt „einer dieser kulturellen Fabrikanten“ im ewigen Rom, der Nekropole des Abendlandes, herum und „berauscht sich an dem Schrott“: Am Schluss ist unsere Darstellung, zitierend, ihrem Gegenstand verfallen, und die vermeintliche Metasprache eines literaturwissenschaftlichen Essays wird zur Mit-Sprache, die den Text, der ihr Thema ausmacht, nur noch selbst zur Sprache bringt. Der Titel „Brinkmann, Rom, Blicke“ hatte, nicht zuletzt typographisch, von dem Unterschied zwischen Autor und Werk abgesehen; das ist, zugegeben, philologisch ungenau, sachlich aber zutreffend. Denn der Unterschied zwischen unmittelbarer Erfahrung und literarischer Umsetzung tendiert bei Brinkmann gegen Null. Die scheinbar Rom geltenden Blicke reproduzieren nicht einen äußeren Gegenstand, sondern schaffen ihn neu; hierzu bedarf es einer Demystifikation und Entideologisierung, die Brinkmann mit jener angestrengten Heftigkeit vornimmt, welche die Dimensionen des Unterfangens ahnen lässt. Dennoch ist der Gestus nicht nur destruktiv. Aus der Wucht der Zerstörung ersteht, gestärkt oder überhaupt erst konstituiert, ein Einzelner, der sich kraft der Sprache dem allgemeinen Zerfall widersetzt. Dieses Individuum sieht sich einem großen Gegner gegenüber, einer Stadt, in der sich die Geschichte des Abendlandes konzentriert. Nicht in hohem Stil, sondern mit einer oft ungelenken sprachlichen Schnodderigkeit, die, wie anfangs gesagt, als diskursives Geröll den Gegenstand überschüttet, proklamiert Brinkmann das Ende Roms und den Anfang einer eigenständigen, selbstbewussten Individualität. Doch ist diese ihrerseits nur ein Anfang, denn allzu persönlich gestaltet sich noch ihre Erscheinungsweise. Ganz private Meinungen, Erfahrungen und Phantasmata, diese besonders in sexueller Hinsicht, breiten sich, unterstützt durch den individuellen Schreibmodus von Tagebuch und Brief, ungezügelt und Längen nicht vermeidend, in Brinkmanns Aufzeichnungen aus. Nicht Weggeworfenes und Zerstörtes im Sinne von Schrott und Schutt, jenen Metaphern, die Brinkmann bis zum Exzess bemüht, ist für die Formlosigkeit des
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Textes verantwortlich, sondern, gleichsam am anderen Ende des Prozesses von Werden und Vergehen, Produktion und Destruktion, die Anhäufung einer Fülle ganz verschiedener, noch ungeformter Materialien – Rohstoffe für die Entstehung eines Buches, eines Romans aus dem Rom-Album. Es ist reine Spekulation, sich zu fragen, ob diese Übertragung aus dem Leben in die Literatur gelungen wäre, zumal am Beispiel eines ‘toten’ Gegenstandes. Der vorzeitige Unfalltod des Autors mag die Realisierung des Projekts verhindert haben; Zeit wäre freilich gewesen zwischen dem Aufenthalt in Rom und dem Tod in London, doch hat sie vielleicht nicht gereicht, aus den hastig hingeworfenen, wie manischen Aufzeichnungen ein Werk der Literatur zu machen, das die Spuren der Leidenschaft – dessen, was mit dem Aphorismus von Schopenhauer ‘Leiden schafft’ – hätte verbinden können mit jener intellektuellen Kontrolle, ohne die ein Kunstwerk Gefahr läuft, nur dilettantisch zu sein. Jedenfalls: Brinkmanns Rom, Blicke ist das Protokoll eines Leidens an der Großstadt, das sich dem Leser sympathetisch vermittelt, weil es als Selbstaussage diesen selbst anspricht.
3. Irgendwo, in New York und anderswo: Die Geisterstädte des Alain Robbe-Grillet Mit dem nun beginnenden Kapitel geht uns, das sei dem Leser schon jetzt angekündigt (oder, in anderer Perspektive, angedroht), jegliche Gewissheit, Raum und Zeit betreffend, verloren. Wie die Figuren durch unbenannte oder, im Falle New Yorks, bis zur Unkenntlichkeit verfremdete Orte irren, irrt auch der Leser durch Romane, deren fremdartige Geschehnisse und sich wandelnde Erzählerfiguren ihm das Geleit versagen: Projekt für eine Revolution in New York (1970) und Ansichten einer Geisterstadt (1976). Wie kaum anders zu erwarten bei einem Autor, der zu den wichtigsten Vertretern des Nouveau Roman zählt, erfahren Raum und Zeit, beide konstitutiv für die Gattung ‘Roman’, Perturbationen von der Art, dass sie fremd stehen zu jenen Erfahrungen und Erwartungen, die der Leser an die Texte heranträgt: Geschichten erzählt zu bekommen, Einblicke zu gewinnen in Orte und Szenerien, Figuren zu begegnen, deren Befinden und Handlungsmotivationen er nachvollziehen kann. Nichts von alledem. Stattdessen sieht sich der Leser verwirrenden, sich häufig wiederholenden Szenen gegenüber, ohne deren Sinn entschlüsseln zu können, denn auf eine Handlung mit einem bedeutungsträchtigen und nachvollziehbaren Verlauf haben diese Romane längst verzichtet. Im Gleichlauf kryptischen Geschehens und sich wiederholender Bilder verliert er immer mehr die Orientierung und befindet sich wie bei Proben zu einem Film, dessen Szenario er nicht kennt. Von höchster visueller Prägnanz – bis hin zu Einblicken voyeurhaften Charakters (wobei ein Roman Robbe-Grillets den Titel Le voyeur trägt) – läuft vor seinen
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Augen eine Bilderfolge ab, an Orten spielend, deren Wiedererkennungsgrad gegen Null geht: also eigentlich im Niemandsland oder, wenn der Neologismus erlaubt ist, in Niemandsstädten. Das Singuläre dieser Texte lässt sich kaum noch, sicher aber nicht bruchlos, auf Allgemeines beziehen, bleibt aber nicht deshalb schon im Bereich privater Phantasmen verhaftet. Obgleich jeglicher Wahrscheinlichkeit (und Wirklichkeit sowieso) abschwörend, sind die Romane von Robbe-Grillet auf einer höheren Stufe ihrer Botschaften als jener, die Literatur als doch noch in irgendeiner Weise mit Realem verknüpft erscheinen lässt, dennoch vor dem Hintergrund moderner Erfahrung dechiffrierbar – auf welche Art, wird zu zeigen sein. Der Chronologie folgend und in der Hoffnung, einen bekannten Ort anzutreffen, beginnt die Darstellung mit dem früheren der beiden Romane, Projekt für eine Revolution in New York. Doch welches Chaos! Eine nicht näher bestimmte Organisation, deren Mitglieder sich mit Hilfe von wie natürlich wirkenden Masken eine andere Identität zulegen können (zur Erinnerung: ‘persona’, dem Theater entlehnt, bedeutet ‘Maske’ …), plant eine Revolution in New York; diese Organisation muss, ihrem Projekt folgend, eine Reihe von „Reinigungen“ vornehmen, Frauen betreffend, die sich gegenüber den Zielen der Revolutionäre als nicht konform erwiesen haben. Natürlich arbeitet die Gruppe im Untergrund – was sogar wörtlich zu nehmen ist, denn das New Yorker U-Bahn-Netz mit seinen Stationen bildet einen der Hauptschauplätze des Romans. Ein weiterer zentraler Ort ist das Haus des Erzählers in Greenwich, dessen genaue Lage sich erst im Verlauf des Textes herausstellt: direkt gegenüber dem Central Park. Ein weiterer, weniger wichtiger Schauplatz ist das Lokal Vieux Joe, in dem sich die Mitglieder der revolutionären Zelle zu einer Bloody Mary treffen: Die Farbe Rot, auch an anderen Stellen vielfach gegenwärtig, gewinnt im Text symbolische Funktion als Rot des Blutes, des Feuers und im übertragenen Sinne als Farbe der Revolution. Ein weiterer Schauplatz, dessen Funktion darin besteht, die Topographie dieses Textes gründlich zu perturbieren und jegliches gewohnte Stadt-Bild zu zerstören, liegt am äußersten Stadtrand von New York und ist eine Art Schrottplatz. Erst gegen Ende des Textes erfährt der Leser, dass ganz New York schon zerstört ist, mit Ausnahme des Hauses, in dem der Erzähler seine Nichte Laura gefangen hält und das, von diesen Personen abgesehen, gänzlich unbewohnt ist. Was an großstädtischem Leben noch erhalten ist, spielt sich in den unterirdischen Läden und Gängen der Subway ab, wo auch die Praxis des Psychiaters Dr. Morgan liegt. Eine Szene taucht in wechselnden Variationen immer wieder auf: eine gefesselte junge Frau, der, in welch konkretem Sinne auch immer, Gewalt angetan wird und die man schließlich tot in ihrem Blut liegen sieht. Doch den Frauenfiguren eignet zugleich etwas Puppenhaftes, das vielfach als solches benannt wird und das die Folterungen als gestellte, als Film-Szenen interpretierbar
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macht. Auch die vom Erzähler sowie von anderen Figuren des Romans – von Laura, zwei Halbwüchsigen und jenem Ben Said, der das Haus beobachtet – benutzte U-Bahn ist Schauplatz von teils tödlichen Verbrechen, die an jungen Frauen begangen werden. Wenn es dem Leser vorkommen mag, als sei die Darstellung wenig schlüssig und noch weniger kohärent, sei ihm erwidert: der Text ist es ebenso. Durch die Maskierungen, die nicht nur dem Gesicht, sondern auch dem ganzen Körper eine andere, aber durchaus natürliche Erscheinung verleihen können, verbergen die Figuren ihre Identität und schlüpfen in vielfältige Rollen. Auch der Ursprung der Rede ist in den Dialog- oder Verhörszenen (der Unterschied ist unscharf) nicht immer deutlich, und der Erzähler erscheint teils in der ersten, dann wieder in der dritten Person des Singular und ist auf diese Weise nicht nur eine Funktion, sondern auch eine ‘Figur’ seines Romans. Wenn der Text mit den Worten beginnt: „Die erste Szene läuft sehr schnell ab“, begibt er sich schon am Anfang in eine ambivalente Situation, da ‘Szenen’ zwar in Romanen vorkommen, aber auch auf der Bühne und in Filmen: Haben wir es mit einem Roman zu tun, der Szenen aus anderen Gattungen oder Medien reproduziert als eine Art narrativierter Bühnentext oder als erzähltes Filmszenario? Mit dieser Frage ist eine weitere verbunden: Ist nicht, nach Maßgabe der grundsätzlichen Fiktionalität von Romanen, das Geschehen im Raum der Fiktion als real gesetzt? So lässt zum Beispiel Victor Hugo keinen Zweifel daran, dass die Liebe Quasimodos zu Esmeralda ein unbezweifelbarer Teil eines freilich insgesamt fiktiven Geschehens ist; ob es diese Liebe ‘gegeben’ habe, wird in Notre-Dame de Paris nicht in Frage gestellt. Anders bei Robbe-Grillet. Ob der Erzähler heimkehrt oder im Gegenteil das Haus verlässt, wird im Rahmen der Handlung gleichsam durchgespielt, indem mal die eine, mal die andere Möglichkeit erprobt wird. Der bereits geschriebene Roman verfährt so, als ginge es darum, ihn allererst zu konzipieren. Jene erste Szene nämlich läuft deshalb so schnell ab, weil sie mehrmals geprobt wurde und jeder seinen Part kennt. Wenn die Handlung nach dieser reibungslosen ersten Szene übergangslos aufs Neue einsetzt, „rollt [wiederum] die gleiche Szene ab“: „aber welche Szene“? Diejenige, die der Leser im Text verfolgt, oder vielleicht eine andere? Als der Erzähler fortfährt: „Soeben schließe ich die Tür hinter mir“, mag es sein, dass er seinen Part weiterspielt oder aber aus dem ‘Stück’ heraustritt und nun als reale Figur und nicht mehr als Schauspieler agiert. Diese Tür, scheinbar nur auf die Handlung bezogen, gewinnt selbst Eigenwert für das Geschehen (mit der Ungewissheit, die ihm anhaftet), da sich in ihrer Maserung jene nackte, gefesselte junge Frau abzeichnet, deren Bild in vielen Variationen den Text durchziehen wird. Als ein mit einem Chirurgenkittel bekleideter weißhaariger Mann zu jener Frau tritt, entwickelt sich eine Handlung, die, aus vielen einzelnen Gesten bestehend und insofern zeitlich ausgeweitet, sich kaum als Bild in
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der Türmaserung zeigen kann: Hat der Betrachter die Szene imaginiert oder stammt sie aus jenem Stück oder Film, von dem eingangs die Rede war?: „Die ganze Szene läuft nun sehr schnell ab, bleibt sich immer gleich.“ Es wäre wenig hilfreich, die Analogien im Einzelnen aufzuzeigen, von denen der Text durchsetzt ist, denn in der nachvollziehenden Darstellung müsste ermüdend geraten, was bei Robbe-Grillet sich zu höchster Spannung steigert. Die manische Wiederholung des Gleichen oder Ähnlichen, das Wechselspiel der Figuren, die Eingeschränktheit der Szenerie, die das riesige New York auf wenige und zumeist nicht identifizierbare Schauplätze reduziert, das Vorherrschen von Bildern und Plakaten, das Auftreten derselben, schon geschilderten Folterszene auf dem Umschlag eines zerlesenen Kriminalromans, die Art des Geschehens schließlich, das an eine Mischung aus Horror- und Kriminalfilm erinnert, dabei aber rituelle, wiederum an jungen Frauen begangene Opferhandlungen thematisiert – all dies führt zu einem Spannungsbogen, der nach Auflösung verlangt: keine Frage, dass der Text diese Erklärung verweigert. Nichts ist weniger gewiss, als dass sich Projekt für eine Revolution in New York überhaupt auf eine – wenn auch nur fiktional gesetzte – Realität bezieht, und ob das Geschehen noch auf das traditionelle Wahrheits- oder Wahrscheinlichkeitspostulat antwortet, muss wohl (in Anbetracht des blutigen Geschehens: nicht ohne Erleichterung) verneint werden. Doch wenn dieser Text so vieles nicht ist von dem, was der Leser in Romanen vorzufinden wünscht oder gewohnt ist, was ist dann, ins zumindest grammatisch Positive gewendet, seine Intention, seine Bedeutung? Statt nur Zeuge von Spielen zu sein, was er an der Oberfläche des Textes gleichwohl bleibt, sieht sich der Leser in Vorgänge einbezogen, die zwar nicht Wahrheit vorgeben, wohl aber in einem anderen Sinne Wahrheit sind. Denn der Kern des Geschehens liegt in einer Serie von Werbeplakaten, die sich massenhaft in den U-Bahn-Schächten befinden und auf denen eben jene Szenen abgebildet sind, die der Roman gleichsam zum Leben erweckt. Die junge Frau, von der schon die Rede war, macht Werbung für ein Theaterstück mit dem Titel Das Blut der Träume. Aus der Werbung für ein Bügeleisen: „Heiß wie der Himmel, zuverlässig wie die Hölle“ entsteht eine weitere Folterszene, und die in ihrem Blut liegende Tote macht Werbung für ein Putzmittel: „Gestern war das eine Tragödie … Heute genügt eine Prise von Johnsons diastatischem Waschmittel und der Bodenbelag ist wie neu.“ Darunter hatte jemand mit Filzstift geschrieben „und morgen die Revolution“. Am Ende versteht der Leser die Geburt des Romans aus dem Geist der Werbung – oder besser jenem Ungeist, der auch für uns nach den Vorgängen um die Plakataktion der Firma Benetton keine Fiktion mehr ist. Die Figuren treten, wie in der Kinowerbung gängig, gleichsam aus den Plakaten hervor und werden, auf dem Zelluloid der Spulen, zu lebendigen Menschen. Ähnlich bei
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Robbe-Grillet. Eine ungezügelte und moralisch indifferente Imagination schafft Handlungen und Szenen aus den Bildern der Werbung, vermischt mit jenen Kino- und Theaterbildern, deren Andersheit gegenüber der Realität nicht mehr wahrgenommen wird. Der Handlungsraum dieses Romans, vermeintlich New York, wird zu einer Geisterstadt, von der nur die kalt beleuchteten Untergründe noch erhalten sind, ausgefüllt mit Läden und deren Auslagen, mit Spielhöllen, in denen sich wiederum die Schreckensbilder finden, aus denen der Text besteht. Wie die Szenen selbst, ist auch die Szenerie eine nur vorgestellte, eine Kulisse wie ein Bühnenbild. Aus Plakaten und Gegenständen, die außer Funktion und bloßer Schrott sind, wird gegen Ende des Romans die Requisite für ein Geschehen, das sich an den Außenrändern der zerstörten Stadt abspielt. Auch wenn hier die Folterszenen – fast möchte man sagen: genüsslich – auf ihren Höhepunkt zustreben, ist damit der Paroxysmus des Schrecklichen noch nicht erreicht; weiterhin bewegt sich der Text im Rahmen der Fiktion. Doch eines der Plakate stellt das Haus des Erzählers dar, mit dessen Schilderung der Text eingesetzt hatte; es ist auf einem großformatigen Foto abgebildet, davor steht der Bewacher, den man schon kennt. Doch die Tür auf dem Foto öffnet sich mit dem Hausschlüssel, und was man für einen Trompe-l’œil-Effekt hielt, verbirgt (oder öffnet, je nachdem) eine tatsächlich vorhandene Tür. Hier hat der Text den Höhepunkt seiner Rätselhaftigkeit erreicht. Wäre das, was er im Rahmen seiner Fiktionalität vorgibt zu sein, wirklich? Sowohl Täuschung als auch Realität, führt die Tür nicht nur auf den von Bretterzäunen begrenzten Platz, sondern auch in das poetologische Zentrum des Romans, das, man ahnt es, nicht nur die Literatur und ihre Poetik betrifft. Die Täuschung ist selbst eine Täuschung. In höchst verkünstelter Weise wird der Leser getäuscht, denn das, was er für Fiktion zu halten geneigt ist, wird aus höherer Warte und ohne Eins-zu-einsEntsprechung zu Realität. Projekt für eine Revolution ist kein leer laufendes System von erfundenen Zeichen, sondern Piktogramm einer Medienrealität, einer Welt der Werbung, die sich längst vor unser authentisches Leben geschoben hat, dessen Verbindung zur Erfahrung unterbrechend. Man mag darauf verweisen, dass die Werbung vor allem in den USA allgegenwärtig ist und zumal die Metropolen geradezu überschwemmt. Doch die Wahl des Schauplatzes, der sich in der beschriebenen Weise minimalisiert und auf das Schreckliche konzentriert, bedeutet nicht die Einschränkung der Botschaft. Nicht nur in New York, sondern auch anderswo, in allen Großstädten der Welt, wäre Ähnliches möglich, ist es sogar schon im Ansatz Realität, denn überall hat das Uneigentliche oder nur medial Vermittelte die Erfahrungswirklichkeit verstellt. Die scheinbar autonomen künstlerischen Zeichen, die vermeintlich bloß erfundenen Szenerien verweisen gleichwohl auf eine Entwicklung, die den Zugang zu unserer Welt mit Simulakra verbaut. Im Reich der Zeichen und der konkret ge-
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wordenen Phantasmata, und sei es ‘nur’ in der Kunst, diffundieren schließlich auch die großen Städte und werden zu Phantomen. Deren Bewohner, wenn sie überhaupt noch ins Licht treten (ins gleißende Neonlicht der unterirdischen U-Bahn-Schächte), haben ihre Individualität längst verloren, gleichen sogar Schaufensterpuppen und erinnern, obwohl sie noch halbwüchsig sind, „an die einbalsamierten Totengesichter in den Glassärgen der Friedhöfe“. Der Eindruck des Unechten wird noch verstärkt durch die affektierten Posen dieser jungen Leute, die wohl darauf abzielen, Selbstzufriedenheit auszudrücken […], während ihre steife Haltung und das Demonstrative der belanglosesten Gesten vielmehr an das bemühte Auftreten schlechter Komparsen erinnert.
Hier wird der Film ins Leben getragen. Die Langsamkeit der Bewegungen, die wie in Zeitlupe ablaufen, lässt „den endgültigen Stillstand“, die Entropie befürchten. Befürchten? Die Zerstörung oder Selbsttötung dieser Welt käme fast einer Erlösung gleich und könnte einen Ausweg weisen aus einer ‘Revolution’ in New York oder anderswo, deren Gelingen nichts anderes wäre als die finale Katastrophe. Die Differenz zwischen dem bloß Imaginierten und dem Realen oder in der Wirklichkeit Möglichen erscheint bei Robbe-Grillet als vielfach verschwommen und verschoben, und in dieser Virtualität liegt der eigentliche Handlungsraum seiner Romane, der damit Spielräume der Gestaltung eröffnet, aber auch solche einer bis ins Letzte getriebenen Fiktionalisierung, die am Ende doch, durch die Mitarbeit des Lesers, in ein bedrohlich reales Szenario umschlägt. Aus der vermeintlich weitesten Entfernung von der Erfahrung wird diese auf einer höheren Ebene, die sich erst durch die Lektüre konstituiert, wieder eingeholt. Ein solch extremer Umschlag aus der puren, mit allen Signalen der Künstlichkeit versehenen Fiktion in eine bedrückende Welt des zumindest Möglichen wird auch in Robbe-Grillets Ansichten einer Geisterstadt (im Original: Topologie d’une cité fantôme, 1976) angestrebt. Hier ist es nicht die moderne Gegenwart einer schon, aus äußeren oder inneren Gründen, destruierten Metropole, sondern die mentale Konstruktion einer Stadt mit historisch-antikem Hinter- oder Untergrund, die freilich auch nicht als funktionierendes Gemeinwesen, sondern als das Relikt einer schon vorher erfolgten Zerstörung erscheint. War es in Projekt einer Revolution in New York vor allem die Welt der Werbung und der modernen Medien, aus der sich die fast krankhafte Imagination speiste, ist es in Ansichten einer Geisterstadt ein eher traditioneller KunstRaum – als Raum der Malerei, der Architektur, der Fotografie –, der das Geschehen mitbestimmt und die Darstellungsweise inspiriert. Von der Stadt treten hauptsächlich drei Schauplätze in den Blick: ein mit dicken Mauern versehenes, gefängnisartiges Gebäude, ein leeres Wohnhaus
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und das Theater der Stadt. Auch die Figuren, obschon in vielfachen ‘Rollen’ auftretend, scheinen sich letztlich auf wenige zu reduzieren: eine junge Mutter mit den Zwillingen Déana und David sowie den Erzähler, der sich immer wieder in das Geschehen einbringt. Bei diesem handelt es sich (und in den Texten Robbe-Grillets ist kaum etwas so schwierig wie die Aussage über das ‘Geschehen’) um Ritualmorde an jungen Frauen, die im Geschlechtsbereich mit einer spitzen Waffe durchbohrt werden und dabei einen Schrei ausstoßen, der in vielen Variationen den Text durchzieht – vielleicht aber handelt es sich in Wahrheit nur um einen Tötungsakt, der sich wie in Schallwellen oder reproduzierten Bildern (Fotos) durch den ganzen Text fortsetzt. Der Roman, insgesamt in fünf Kapitel (fünf ‘Räume’) gegliedert, setzt mit einem ‘Incipit’ ein und endet musikalisch mit einer Coda, so dass seine Konstruktion an eine ausgedehnte sinfonische Form erinnern mag, jedenfalls aber deutliche Züge einer strukturellen, den Künsten angelehnten Durcharbeitung erkennen lässt. Die runden Formen spielen dabei ebenso eine Rolle wie das vektoriale ‘V’: dieses als eingeritztes Zeichen – vielleicht nur der entsprechende Buchstabe –, als spitze Waffe, als perspektivische Fluchtlinien oder, der Form nach, als Verweis auf das weibliche Schambein; jene als Kieselstein, als Melone, als Blut- bzw. Wasserlache oder als (halbkugelförmige) weibliche Brust. Nach den Gesetzen der Geometrie und nach den Regeln der Architektur (die vielleicht, aber das sei nur am Rande gesagt, auch mit dem Ingenieurberuf des Autors in Zusammenhang stehen könnten) tauchen immer wieder dieselben oder ähnliche Figuren und Szenen auf und immer wieder dieselben Schauplätze. Dabei ruft die im Nouveau Roman bekannte Hypertrophie des Deskriptiven einen paradoxen Effekt hervor: Je präziser die Beschreibungen sind – und der Leser mag sich vorstellen, dass sie bei Robbe-Grillet zu äußerster Genauigkeit getrieben werden –, desto mehr verschwimmt das Bild, das sie doch vermitteln wollen. Hat damit der Autor oder Erzähler sein favorisiertes Kunstmittel verfehlt? Keineswegs, denn die Beschreibungen führen nicht auf optische Eindrücke hin, sondern demonstrieren bis zum Exzess die Kunstmittel selbst und nicht die durch sie hervorzubringenden Gegenstände, Personen oder Situationen. Mit fortschreitender Subtilität des Beschreibens zersetzt sich das Beschriebene; entsprechend nimmt auch im Fortgang des Textes die Klarheit über das Geschehen ab, dessen vielfache Variationen als Durchspielen verschiedener Varianten wenige Grundsituationen immer wieder evozieren wie die Themen und Motive einer musikalischen Komposition. Und dabei beginnt alles ganz einfach. Das „Incipit“ setzt ein: „Vor dem Einschlafen, erneut, die Stadt“ – ohne Schlusspunkt, in der zweiten Zeile von drei Auslassungspunkten gefolgt. Auf eine Traumsequenz gefasst, die den Augenblick des Übergangs vom Einschlafen in den Schlaf einschließt, vermutet der Leser in Ansichten einer Geisterstadt einen jener zahlreichen Traum-Texte der
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Literatur, die sich, mit Höhepunkten zur Zeit der Romantik und des Surrealismus, in jener Literaturgeschichte der Moderne immer wieder finden, in die auch unser Großstadtthema eingelassen ist. Ist er damit auf der richtigen oder nicht doch auf einer Spur, die ihn irreführt? Muss man, um diesen ‘Raum’ (die Topografie) zu gewinnen, nur vom ‘Traum’ (der Geisterstadt) abstrahieren? Jedenfalls: Incipit Vor dem Einschlafen, erneut, die Stadt … Aber es gibt nichts mehr, weder Schrei noch Grollen noch entferntes Geräusch; noch den geringsten wahrnehmbaren Umriß, der irgendeine Kontur, irgendwelche unterscheidbaren Merkmale der aufeinanderfolgenden Grundrisse dessen zu erkennen gäbe, was hier einmal Häuser, Paläste und Alleen waren. Der Nebel, der zunimmt und von Stunde zu Stunde dichter wird, hat bereits alles in seinem gläsernen Schleier ertränkt, alles stillgelegt, alles ausgelöscht. Vor dem Einschlafen, hartnäckig noch immer, die tote Stadt …
Ihren einzigen Ort scheint die tote, ausgelöschte Stadt in der Erinnerung dessen zu finden, der sie vor dem Einschlafen als Vision erneut evoziert und vor dem inneren Auge rekonstruiert. Doch entstehen daraus nicht nur Bilder der Stadt, sondern auch Geschehnisse, die sich in ihr ereigneten, und Personen, die in ihr lebten. In der Ungewissheit der Zeit („Es ist Morgen, es ist Abend“) entsteht ein Bild – ein Mädchen, das sich vor einem Spiegel kämmt, ein anderes, dessen verunstalteter Körper auf einen Diwan hingestreckt ist, von dem Blut rinnt – und damit, wie der Leser freilich erst bei der zweiten Lektüre wissen kann, eine der Keimzellen des Romans. Die Topographie ruft schon im Rahmen des „Incipit“ zwei Hauptschauplätze auf: das Zimmer, in dem sich die beiden Mädchen befinden, und das gegenüber dem Wohnhaus liegende Gefängnis. So hat der Text sein Thema gefunden; die Variationen stehen noch aus. Die Herausforderung, die von diesem Thema einer ‘Geisterstadt’ ausgeht, schließt die Position des Erzählers mit ein: „Ich bin hier. Ich war hier. Ich erinnere mich“, und stellt ihn, der, ein alter Mann, gleichsam die Zeiten überdauerte (und damit auch die Zerstörungen), in die Stadt hinein: Vor dem Einschlafen erhebt sich vor meinem bleichen Gesicht mit müden und vom Alter gezeichneten Zügen noch einmal die Stadt, erhebt sich sehr hoch vor mir, sehr weit hinter mir, von allen Seiten, soweit das Auge reicht, geschwärzte Mauerflächen, verstümmelte Statuen, verbogene Eisenträger, Reihen verfallener Säulen, deren riesige geborstene Schäfte inmitten der Trümmer liegen. Ich bin allein. Ich gehe aufs Geratewohl vor mich hin. Ich irre, wie zufällig, zwischen den unkenntlichen Fragmenten dessen umher, was einmal fürstliche Residenzen, öffentliche Bauwerke, herrschaftliche Häuser, Lustund Spielhöllen, Theater, Tempel und Fontänen waren. Ich suche irgend etwas. Es beginnt Abend zu werden.
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In der eigenen, naturgemäß subjektiven Erinnerung einen Ort wiederzufinden, der allenfalls als unbewohnte Ruine noch überdauert, mag als legitim erscheinen; ein Kunstwerk entsteht auf diese Weise gewiss noch nicht. Die Erinnerung vor dem Einschlafen ist nur der Anfang. Wie ein sich aus dieser Keimzelle heraus öffnender Raum präsentiert sich der weitere Text, dessen Thema genannt, dessen Kunstprinzip bezeichnet wird; aus dem Nichts einer toten Stadt, dem bis ins Extrem reduzierten ‘Thema’ entsteht eine künstlerische Konstruktion: Vor dem Einschlafen erhebt, noch einmal, die Stadt vor meinen geschlossenen Augen ihre ausgeglühten Mauern mit blinden Fenstern und klaffenden Türöffnungen, die ins Nichts führen: Grauer Himmel, Schalheit, leere Zimmer, die selbst von ihren Phantomen verlassen worden sind. Die Dämmerung bricht herein. Ich nähere mich zögernd und lege die Hand auf das wiedererkaltete Mauerwerk, auf das ich, mit der Spitze der breiten Messerklinge den Schiefer ritzend, jetzt das Wort KONSTRUKTION schreibe, augentäuschende Malerei, imaginäre Konstruktion, mit der ich die Ruinen einer künftigen Gottheit benenne.
Wiederbevölkerung einer Stadt mit ihren ‘Phantomen’, die sie verlassen hatten, oder nicht vielleicht eher mit Visionen, die, gleichermaßen vom Traum und von der künstlerischen Konstruktion hervorgerufen, eine andere ‘Phantomstadt’, eine neue, erschaffen? Die Stadt, so viel ist sicher, gibt es nicht mehr, abgesehen von jenen Ruinen, die von ihrer Vergangenheit künden. Wenn der Erzähler auch hier von der „augentäuschende[n] Malerei“, dem Trompe-l’œil spricht, vielleicht als Selbstzitat mit dem Bezug auf die Eingangstür zum finalen Schrottplatz von New York, und die „imaginäre Konstruktion“ gleich anschließt, verweist er auf einen Text, der mit empirischer Wirklichkeit nun nicht mehr das Geringste zu tun hat: die „Ruinen einer künftigen Gottheit“, Vergangenheit und Verfall mit der Zukunft eines göttlichen Wirkens verbindend, eskamotieren etwas, das für den Roman im traditionellen Sinne von elementarer Bedeutung gewesen war: die Zeit. (Dass auch hier, wie so oft im Nouveau Roman, eine Proust-Reminiszenz im Spiele ist, mag man immerhin vermuten.) Die Ansichten einer Geisterstadt durchlaufen nicht nur weite und heterogene Räume (indem die Stadt ans Meer grenzt und der Blick immer wieder auf einen Güterbahnhof fällt) und lange Zeitspannen, indem sie die antiken Fundamente der Stadt mit in den Blick nehmen; sie komponieren auch Bizarres – etwa eine Tempelkonstruktion auf einem Schiff. 39 vor Christi von einem Vulkanausbruch zerstört, wird die antike Stadt Vanadium ein Opfer der Flammen. Im Zuge der Verwüstung wird ein Mädchen getötet, das sich anmaßend den Namen der Göttin Vanadé der Siegreichen zugelegt hatte; in den ersten fallenden Stein ist ein „V“ wie ‘victoria’ eingraviert. Am Tempel dieser Göttin könne man, so der Text, noch heute eine Inschrift lesen, die schon auf das Unheil anspielt, das die Stadt vernichtet: eine chronologische Ungereimtheit, die noch
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niemand habe auflösen können. Die Schrift, vor allem in Form verschiedener Auf- und Inschriften, durchzieht den Text mit einer ‘literarischen’ Spur, die insbesondere die Verbindung zwischen Vanadé und dem hermaphroditischen Lustgott David stiftet, die als Doppelgottheit erscheinen, ähnlich Apoll und Artemis. Wie komplex sich die Bezüge in diesem Text darstellen, zeigt sich daran, dass David als einer der Zwillinge vorkommt, eines der Kinder von Frau Hamilton. Dass sich daraus der Namen David Hamilton ergibt, der wiederum das Thema der Fotografie in den Roman einbringt, führt zu der Verbindung zwischen der Thematik junger, noch jungfräulicher Mädchen und den verschiedenen ‘Bild’-Motiven, die den Text durchziehen. Der spitze Stift, mit dem eine Gravur hergestellt wird, vermittelt dabei zwischen der Schrift und der Malerei, die vielfach, auch als Bühnenbild im Stadttheater, präsent ist. Das Geschehen steht im Zeichen der Uneigentlichkeit, erscheint nicht selten auf Bildern, und aus den Motiven eines Tarot-Spiels ergeben sich, ins Imaginäre weitergedacht, Szenen des Romans. Ein Schrei, immer derselbe oder auch aus verschiedenen Szenen der Folterung oder des Ritualmordes sich herleitend, durchzieht den Roman; er wurde magnetisch aufgezeichnet und kann deshalb auch dann ertönen, wenn er faktisch gar nicht ausgestoßen wird. Ein Kapitel gar ist, wie ein Bild, betitelt: „Landschaft mit Schrei“. Dieser wiederholte Schrei reißt schließlich, in der „Coda“ des Textes, den Erzähler oder Träumer aus dem Schlaf und führt damit zur Entschlüsselung des so fremdartigen, aus immer gleichen Szenen sich zusammensetzenden Geschehens. Erneut setzt eine Erinnerung ein, diesmal an den Tag zuvor, an dessen Abend, man erinnert sich, der Traumtext eingesetzt hatte. Ein Schmetterlingsjäger taucht aus dem Gedächtnis auf, der seine Opfer zunächst mit Gift betäubt „und schließlich ihren noch lebenden Leib auf eine aufrechtstehende Nadel“ spießt, „die für sie [d.i. die Schmetterlinge] die Größenordnung einer breiten Schwertklinge oder eines langen Dolches hat“. Hier, am Ende des Romans, hat der Text seine Schlüsselszene erreicht, die so (relativ) harmlos ist, dass im Vergleich zu ihr jenes ungeheure Potenzial der Vorstellungskraft sich abzeichnet, das in immer neuen Variationen den Roman ausmacht. Aus dem Bild einer Zerstörung entsteht ein verstörender Text. Die in ihm vorherrschende, für die Stadt wie für die weiblichen Opfer tödliche Gewalt mag Ausdruck jener ‘violence’ sein, die im Französischen das Wort für „Vergewaltigung“, ‘viol’, mit in sich schließt – im Deutschen ist es umgekehrt. Ein gewaltsames Ende war auch der antiken Stadt Vanadium beschieden, doch künden ihre Reste noch von ihrem Schicksal. Was der Text aus diesen Ruinen entwickelt, ist nicht ein neues, vollständiges Bild einer wieder erstandenen Stadt auf den Fundamenten der alten; vielmehr ist auch die moderne Stadt nur eine, freilich von der Industrialisierung und der Technik geprägte Ruine:
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Um dann durch die stillen Straßen der toten Stadt hierher zurückzukehren, mußte ich eine mit schmutzigen Trümmern übersäte Zone durchqueren, vorbei an schwankenden Mauern und von der Feuersbrunst deformierten Stahlskeletten. In weiten Bereichen waren sogar die – wahrscheinlich umgewehten – Wände selbst verschwunden, und man ging neben Fluchtlinien von Eisenträgern, die stehengeblieben waren und nur noch an einigen wenigen gefährdeten Stellen halbabgesunkene Decken trugen, deren in der Luft schwebende Reste wie Zeltbahnen nachgaben. Kurz darauf tauchten verfallene Säulen, Arkaden und eine Art antiker Tempel auf, der nahezu völlig in seinem ursprünglichen Zustand erhalten geblieben war.
Das Neue ist verschwunden wie das Alte, und wenn sich „eine Art antiker Tempel“ erhalten hat, ist unklar, ob damit auf den Tempel der Vanadé oder vielleicht eher auf das Stadttheater angespielt wird, das ähnlich antikisierend gebaut ist. Was Rilke mit den bestürzenden Bildern von Paris in die Großstadtliteratur eingeführt hatte, wird bei Robbe-Grillet in einer Vorstellung gesteigert, die überhaupt nur mit Resten und Teilen umgeht. In einer groß angelegten Collage, die das Verschiedene versammelt und mit ihm – postmodern – ‘spielt’ (so dass auch in dieser Hinsicht dem Kartenspiel eine weitere Bedeutung zuwächst), verwirklicht sich eine ‘Konstruktion’, die den wenig umfänglichen Text von nur ca. 160 Seiten räumlich übertrifft. Der relativ kurze Text erscheint sehr lang im Prozess der Rezeption, was auch als Zeichen dafür gewertet werden kann, dass bei kurzer (Handlungs-)Zeit seine räumlichen Dimensionen kaum auszuschöpfen sind. Robbe-Grillet vollbringt, gespeist aus der bloßen, traumhaften Vorstellung, die Rekonstruktion der Stadt im Imaginären, der rein inneren Bilderwelt. Ob es sich dabei noch um eine Großstadt im Verständnis unserer Darstellung handelt, ist nichts weniger als gewiss in dem Moment, da ohnehin nur noch Fragmente übrig sind. Doch die Ruinen, auch als solche der Antike gegenwärtig, verschaffen der Stadt eine Zeitentiefe, die den modernen Metropolen fehlt. Robbe-Grillet stimmt den Abgesang auf die Stadt an, die nur noch als Phantom weiterlebt: Nicht eigentlich geisterhaft im Sinne einer ‘toten’ Stadt, sondern eher als Geister-Stadt, will man darunter eine Stadt verstehen, die ihre Existenz allein einer mentalen Konstruktion verdankt. War es die Aufgabe der Großstadtliteratur gewesen, die gigantisch wuchernde, alles verschlingende Metropole, die sich als solche der Erfahrung des Einzelnen verweigert, dieser doch immer wieder anzuverwandeln, hat die Thematik der Großstadt bei RobbeGrillet offenbar ihr nec plus ultra erreicht: Von hier aus ist weder Fortschritt noch auch nur das Fortschreiten dieses Themas vorstellbar. Den Raum des Realen hat die Thematik (definitiv?) verlassen, um als Kunst-Traum einen Kunst-Raum zu entwerfen. Doch die Entfernung, wenn nicht Entfremdung von den Metropolen unserer Erfahrung zeitigt dennoch – bei allem Befremden
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gegenüber den Stadt-Texten von Robbe-Grillet – einen sympathetischen Effekt. So wie der Erzähler sich immer wieder dem Geschehen einschreibt, sind die Städte als mentale Konstruktionen ihren ‘Architekten’ offen, auch und gerade dann, wenn sie den ganz individuellen Planungen entspringen. Das Reißbrett, auf dem die Städte Robbe-Grillets entworfen sind, könnte in unser aller Zimmer stehen. Je weiter sich die Städte der Literatur von der intersubjektiven Wirklichkeit entfernen, umso näher rücken sie uns als Individuen. Die subjektive Affinität zu den Städten unserer Vorstellung beruht darauf, dass Grenzen (finis) fallen. Mögen wir auch die Städte zerstören, so hindert uns nichts, sie wieder neu zu schaffen. Aus den Stadt-Räumen sind Kunst-Städte geworden, die wir ohne die Grenzen der Wirklichkeit durchschreiten und die uns alle Freiheit geben, die wir uns wünschen – haben wir sie doch selbst geschaffen.
Visionen – die Idee der Stadt Je weiter die Literaturgeschichte der Großstadt in die neuere Zeit hinein fortschreitet, desto irrealer wird das Bild ihres Gegenstandes – so weit, dass von einem Bild im Sinne der Abbildhaftigkeit oder der Ähnlichkeit mit einer wie auch immer beschaffenen ‘Realität’ die Rede kaum sein kann. Nicht nur, dass sich die Literatur von ihrem Sujet, einer konkreten Großstadt, immer weiter entfernt – sie emanzipiert sich auch zunehmend von ihm, indem sie in zumindest gleichem, wenn nicht erhöhtem Maße wie ihr Thema auch die eigenen Kunstmittel ins Werk setzt. Mit den „Collagen“ der Großstadt, dort vor allem bei Robbe-Grillet, schien den Texten ihr Gegenstand zu entgleiten, schien er sich aufzulösen in eine lose Folge einzelner Eindrücke, deren interner Zusammenhalt nicht nur fehlte, sondern auch grundsätzlich gar nicht mehr intendiert war. Diese Partikularität der Darstellung – eigentlich eher die Darstellung der Partikularität – war auch in der Perspektive des Lesers nicht mehr zu ‘Bildern’ zu runden, so dass der Rezeptionsprozess kein anderes Ergebnis herbeiführen konnte, als die Texte selbst schon enthalten hatten: Er bedeutete kein aktives Hinausgehen über die Werke (um ihnen dann doch, auf einer höheren Ebene des Verstehens, einen ‘Sinn’ zu verleihen), sondern ein passives HineingezogenWerden. Blieb der Verweis auf reale Orte hintergründig erhalten, war doch die Ähnlichkeit, besonders bei Robbe-Grillet, nur vom Wert einer Illusion: Die von den Texten entworfenen Bilder wollten auf konkrete Vorstellungen nicht mehr passen, so dass schließlich, wiederum bei Robbe-Grillet, die Darstellung in den Entwurf einer Geisterstadt einmündet, die jeden Bezug zu konkreten Städten verleugnet. Von der „cité fantôme“ Robbe-Grillets zu Calvinos Città invisibili, den unsichtbaren Städten, ist es nur noch ein (konsequenter) Schritt. Der Leser dieses Textes hätte seine Rechnung ohne die bei Calvino allgegenwärtige Schalkhaftigkeit gemacht, wollte er in diesen unsichtbaren Städten nur solche Schemen erkennen, wie sie ihm aus Robbe-Grillets Geisterstadt vertraut sind. Nein, selten wurden Städte so genau beschrieben wie die „città invisibili“ Calvinos: Die unsichtbaren Städte sind der inneren Anschauung so präsent, wie es sichtbare Städte kaum sein können – eine der zahlreichen Paradoxien der Literatur. Calvinos Unsichtbare Städte, nur auf Beschreibungen idealer, visionärer Städte gerichtet, die in keinem anderen Handlungszusammenhang als dem des Schreibens stehen, sind – abgesehen von den Texten Baudelaires – das kürzeste der behandelten Werke, umfassen aber den weitesten imaginären Raum. Der
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Text, beschreibend in seinem Duktus und ‘orientalisch’ insoweit, als er, gleichsam deskriptives Analogon der Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht, von Marco Polo dem Kublai Khan zur Unterhaltung vorgetragen wird, entwirft eine Serie von Städtebildern im Modus der Virtualität, ohne dabei von deren äußerem Erscheinungsbild abzusehen; doch wo ist dieses situiert? Die Beobachtung, dass bei Calvino alle Städte weibliche Namen tragen, verweist auf eine Struktur des Begehrens, auf den Willen, sich diese Städte anzueignen und über sie zu verfügen: doch auf welche Weise? Aus der Stadt Zirma kommen die Reisenden mit sehr genauen Erinnerungen zurück: ein blinder Neger, der in die Menge hineinschreit, ein Verrückter, der sich über den Dachsims eines Wolkenkratzers lehnt, ein Mädchen, das mit einem Puma an der Leine spazierengeht. Tatsächlich sind viele Blinde, die den Stock auf Zirmas Straßenpflaster schlagen, Neger, gibt es in jedem Wolkenkratzer einen, der verrückt wird, stehen alle Verrückten stundenlang auf den Simsen, gibt es keinen Puma, der nicht für die Laune eines Mädchens aufgezogen worden wäre. Die Stadt ist übervoll: Sie wiederholt sich, damit irgend etwas im Gedächtnis haftenbleibe.
Zwischen „Erinnerungen“ und „Gedächtnis“ ist diese Stadt, deutlich an Städte der USA erinnernd, im Innenraum gelegen, nicht mit immer wieder Neuem, sondern mit Wiederholungen angefüllt, damit das Gedächtnis etwas erhalte, das es bewahren kann. Das scheinbar Singuläre wird zum Regelfall: Wären damit alle Städte, die Calvino (oder seine Figur Marco Polo bzw. der Kublai Khan) beschreibt, nichts weiter als Ausformungen einer einzigen Stadt? Das Eine und das Viele scheinen nicht mehr Gegensätze zu sein, sondern Erscheinungsweisen einer Ur-Stadt gleichsam, die sich nur in einzelne Orte ausdifferenziert – freilich unter der unabdingbaren Voraussetzung, dass die Städte nicht in der Realität, sondern im Gedächtnis situiert sind – Städte der Erinnerung, unsichtbar: Auch ich komme aus Zirma: Meine Erinnerung umfaßt Luftschiffe, die in Fensterhöhe in alle Richtungen fliegen, Straßen mit Läden, wo man die Haut der Matrosen tätowiert, Untergrundbahnen voller beleibter Frauen, denen die Stickigkeit zusetzt. Meine Mitreisenden aber schwören, daß sie ein einziges Luftschiff gesehen haben, das sich über die Türme der Stadt erhob, einen einzigen Tätowierer, der Nadeln und Tinten und perforierte Zeichnungen auf seinem Schemel ordnete, eine einzige Tonne von Frau, die sich auf der Plattform eines Wagens Luft zufächelte. Das Gedächtnis ist übervoll: Es wiederholt die Zeichen, damit die Stadt zu existieren beginnt.
Die Erinnerung erscheint als ein Verfahren der Vervielfältigung; nicht ein Bild, ein Ereignis, sondern zahlreiche Bilder und Ereignisse machen die Stadt aus, wenn sie im Gedächtnis bewahrt bleibt. Die Identität einer Stadt entsteht aus einer potenziell unendlichen Wiederholung: Erst dadurch gelangt die Stadt zur Existenz. Doch diese Wiederholung vollzieht sich nicht in der Wirklichkeit, sondern allein im Gedächtnis. Die Stadt gewinnt Realität und Dauer erst dann,
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wenn sie in den Innenraum eingegangen ist, der sie wie in einer Serie von Spiegelungen repetiert. Nicht die Stadt wiederholt sich, wie zunächst gesagt wird, sondern die Erinnerung wiederholt die Stadt, genauer noch: ihre Zeichen. Zeichen bezeichnen etwas: Wären es die Städte selbst, die auf dieses Weise ikonisch reproduziert werden? Oder anders gefragt: Verweisen die Zeichen, im Gedächtnis wiederholt, auf die Erfahrung der Städte oder nicht vielmehr auf etwas anderes? Mit dieser aus den Erinnerungen zurückkehrenden Woge saugt sich die Stadt voll wie ein Schwamm und breitet sich aus. Eine Beschreibung Zairas, wie es heute ist, müßte Zairas gesamte Vergangenheit enthalten. Aber die Stadt sagt nicht ihre Vergangenheit, sie enthält sie wie die Linien einer Hand, geschrieben in die Straßenränder, die Fenstergitter, die Brüstungen der Treppengeländer, die Blitzableiter, die Fahnenmasten, jedes Segment seinerseits schraffiert von Kratzern, Sägspuren, Einkerbungen, Einschlägen.
Die Spuren der Vergangenheit, mit den Zeichen der Zeit versehen, sind dem Text ebenso eingeschrieben wie die Signale des Schreibens. Nicht mit den Zeichen der Sprache, indem die Stadt ihre Vergangenheit „sagt“, sondern in den Signaturen der Gegenstände selbst gewinnt die Geschichte Präsenz. Der Vergleich mit den Linien der Hand, die metaphorische Verwendung des Begriffs ‘Schreiben’ lassen aufhorchen. Wäre die Schrift dieser Stadt nicht nur ihr selbst inhärent, sondern auch dem Text, der sie vermeintlich bloß darstellt? Was ist hier ‘Stadt’, was ‘Text’? Nicht das Gedächtnis ist hier aufgerufen, sondern die Schrift der Stadt, bewahrend, was sich aus der Vergangenheit herleitet. Der alte Gedanke, den schon Horaz äußerte, dass nämlich die Kunst Dinge und Menschen vor dem Vergessen bewahrt, wird hier auf einen Gleichklang von Stadt und Text übertragen: Die Städte werden nicht vom Text ‘thematisiert’ – dargestellt, wiedergegeben –, sondern von ihm hervorgebracht, genauer noch: gehen in den Text bruchlos ein, weil sie selbst schon Text sind. Schließlich führt die Reise zur Stadt Tamara. Man kommt ins Innere durch Straßen, randvoll mit Ladenschildern, die aus den Mauern herausragen. Nicht Dinge sieht das Auge, sondern Figuren von Dingen, die andere Dinge bedeuten: Die Zange bezeichnet das Haus des Zahnbrechers, der Becher die Taverne, die Hellebarden das Wachkorps, die Handwaage die Gemüseverkäuferin. Trägt ein Gebäude kein Wahrzeichen oder keine Figur, genügen seine Form und seine Lage im Gefüge der Stadt, um die Funktion auszuweisen […]. Der Blick überfliegt die Straßen wie beschriebene Seiten: Die Stadt sagt alles, was du zu denken hast, läßt dich ihre Rede wiederholen, und während du Tamara zu besuchen glaubst, registrierst du nur die Namen, mit denen sie sich selbst und alle ihre Teile bezeichnet.
Die Vermutung, dass die Städte Calvinos eigentlich Texte sind – nicht bildhaft sichtbar, sondern nur als Schrift lesbar –, bestätigt sich beim ‘Bild’ Tamaras. Wenn das Auge nicht Dinge, sondern Figuren von Dingen sieht (Zeichen
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somit), wenn Lage und Form der Gebäude zugleich Aussagen über deren Funktion machen und wenn schließlich die Straßen mit beschriebenen Seiten verglichen werden, bedarf es kaum noch des Hinweises auf das ‘Sagen’, das ‘Reden’ und die Namen, damit sich die Stadt als Text ausweist. Tamara wird nicht beschrieben, sondern beschreibt, ‘schreibt’ sich selbst. Die unsichtbaren Städte, ihrerseits zeichenhaft, sind auf wiederum repetierende Weise angefüllt mit ‘Zeichen’, die auf das Schreiben verweisen. Hat somit jede Stadt ihren eigenen Diskurs, ist sie doch nichts weniger als autonom. Vielmehr laufen alle Linien, die Marco Polos Städte miteinander verbinden – jener Linienführung verwandt, die sich auch beim Schreiben vollzieht –, in einem Punkt zusammen, einer Stadt, von der zu vermuten ist, dass auch sie nur im Inneren existiert. Und doch trägt sie einen realen Namen: Venedig. Wie Venedig der Ursprung – die Geburtsstadt – Marco Polos ist, so ist es auch die „erste Stadt“ („prima città“), aus der alle anderen Städte hervorgehen, und schließlich in dieser Funktion auch der Ursprung des Textes. Sie kommt, umgeben von erfundenen Städten, zu dem Zeitpunkt in den Blick, als Marco Polo seine Rolle des Beschreibens von Städten an den Khan abtreten muss. „Von nun an werde ich die Städte beschreiben“, hatte der Khan gesagt. „Du wirst bei deinen Reisen feststellen, ob es sie gibt.“ Aber die von Marco Polo besuchten Städte waren stets anders als die vom Kaiser erdachten. „Und doch habe ich in meinem Geiste ein Stadtmodell konstruiert, von dem sämtliche möglichen Städte abzuleiten sind“, sagte Kublai. „Dieses enthält alles, was der Regel entspricht. Da die existenten Städte sich in unterschiedlichem Maße von der Regel entfernen, brauche ich nur die Ausnahmen von der Regel in Betracht zu ziehen und die wahrscheinlichsten Kombinationen zu errechnen.“
Die Stadt als Rechenmodell stellt einen Versuch dar, die Vielfalt der Städte auf die Einheit zurückzuführen, darüber hinaus aber die „città invisibili“ als Ergebnis einer mentalen Konstruktion auszuweisen. Nicht reale, sondern nach allen Regeln virtuelle, mögliche Städte, deren Beschreibung dem Versuch, sie zu finden, vorausgeht und ihn zugleich unmöglich macht, führen zu einer Kehrtwende im Text. Er gibt nun nicht mehr vor, Städte, die der Erfahrung angehörten, schreibend zu bewahren, sondern geht das Risiko ein, Städte zu konstruieren, die in der Realität nicht auffindbar sind. Dabei ist das Stadtmodell, das allen zugrunde liegen soll, eine nur geistige Gegebenheit. Marco Polo folgt diesem Beispiel; doch ist seine Modell-Stadt ebenfalls nur ‘cosa mentale’? „Auch ich habe mir das Modell einer Stadt ausgedacht, von dem ich alle anderen ableite“, erwiderte Marco. „Es ist eine Stadt, die nur aus Ausnahmen, Ausschließungen, Gegensätzlichkeiten, Widersinnigkeiten besteht. Wenn eine solche Stadt das Unwahrscheinlichste ist, was es gibt, so erhöhen sich bei zahlenmäßiger Verringerung der abnormen Elemente die Wahrscheinlichkeiten, daß die Stadt wirklich besteht. Ich brauche also bei meinem Modell nur Ausnahmen zu subtrahieren und habe dann, gleichgültig, nach welcher Reihenfolge ich vorgehe, eine von den Städten vor mir, die, wenn auch stets als Ausnahmeerscheinung, exi-
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stieren. Doch kann ich mein Unterfangen nicht über eine bestimmte Grenze vorantreiben: Ich würde Städte erhalten, die zu wahrscheinlich sind, um wahr zu sein.“
Das Modell einer Stadt, die nur aus Ausnahmen besteht und das Unwahrscheinlichste darstellt, was es gibt, braucht nur um bestimmte Widersinnigkeiten reduziert zu werden, damit die Wahrscheinlichkeit wächst, dass eine solche Stadt wirklich existiert. Je größer indes die Wahrscheinlichkeit ist, eine Stadt dieser Art könnte existieren, desto geringer wird zugleich die Möglichkeit, dass es diese Stadt auch wirklich gibt. Eine Stadt, zu wahrscheinlich, um wahr zu sein, lässt die im Text existierenden, beschriebenen Städte als Individualitäten erscheinen, die Erwartungen immer wieder durchbrechen. Die Modelle für Städte taugen nicht, es sei denn, sie tragen der (Text-)Wirklichkeit durch Widersinnigkeiten Rechnung. Obwohl auf eine Ursprungs-Stadt bezogen, bleiben alle Städte Individuen, die sich Regeln und Regulierungen entziehen – eine Aussage auch über die Städte der Wirklichkeit oder nur über jene der Literatur? „Da ist noch eine, von der du nie sprichst.“ Marco Polo senkte den Kopf. „Venedig“, sagte der Khan. Marco lächelte. „Wovon dachtest du denn, daß ich dir gesprochen hätte?“ Der Kaiser zuckte nicht mit der Wimper. „Doch hörte ich dich nie den Namen aussprechen.“ Und Polo: „Jedesmal, wenn ich dir eine Stadt beschreibe, sage ich etwas über Venedig.“ „Wenn ich dich über andere Städte befrage, will ich dich über sie sprechen hören. Und über Venedig, wenn ich dich über Venedig befrage.“ „Um die Eigenschaften der anderen zu unterscheiden, muß ich von einer ersten Stadt ausgehen, die inbegriffen ist. Für mich ist sie Venedig.“
Venedig, die zugleich reale und künstlerisch überhöhte, gleichermaßen existierende und unwahrscheinlich-widersinnige Stadt, liegt als paradoxe Vorgabe allen Stadtbeschreibungen Marco Polos zugrunde. Mit Venedig geht erstmals der Name einer wirklichen Stadt, auch dieser ein Femininum (Venezia), in den Text ein. Doch könnte damit Venedig, in den Kreis der unsichtbaren Städte aufgenommen, aufhören, eine unangreifbare Realität zu sein: Es hat sich als Spur im Text verflüchtigt. Die Städte Calvinos sind nicht mehr sichtbar, sondern nur noch (be)schreibbar; ihre einzige Realität ist der Text, ihre einzige Wirkung der Prozess der Lektüre. Ins Extreme getrieben, sind die Bilder dieser Städte nur noch mentale Konstruktionen, die in den Text eingehen, den Schritt in die Erfahrungsrealität ipso factu aber nicht mehr vollführen können. Die Stadt ist Text geworden, Literatur, Fiktion. Und doch wird die Frage nach ihrer realen Existenz immer wieder aufgeworfen, so als ginge es darum, die Fiktionen mit den Realitäten zu versöhnen. Man dürfe, so sagt Marco Polo dem Khan, die Städte nicht mit den Texten verwechseln, die sie beschreiben; eine Verwechslung hingegen ist nur möglich, wenn beide in ihrer jeweils eigenen Art existieren. Der Gedanke von einer Realität im Text, die allenfalls einer mental-imaginären Wirklichkeit entspräche, ist zwar verlockend und in höchstem Maße konsequent, für Calvinos
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Unsichtbare Städte aber kaum die Ultima Ratio: Er wäre für diesen Text viel zu einfach. Das Auftauchen Venedigs in vielfältigen Beschreibungen anderer Städte, die in Wahrheit doch auf diese eine, identische Stadt verweisen, und die Nennung seines wirklichen Namens verfestigen den Zweifel, ob sich Calvinos Text wirklich mit seiner Textualität, der Realität als literarischer Fiktion abfindet. Oder träumt nicht auch er davon, Wirklichkeit, auf welchen Wegen auch immer, einzuholen und in sich einzubeziehen? Diese Fragestruktur ist unterwegs zu einem anderen Gesichtspunkt, aber auch zu einem anderen Text. Einige jener Städte, die bei Calvino unsichtbar bleiben, erinnern an sichtbare Städte – solche, die in der Realität zu besichtigen sind, solche auch, deren visionäre Wirklichkeit keineswegs nur fiktiv ist, sondern – mit einem theologischen Begriff – Realpräsenz erhält. Eine Stadt, die Erinnerungen evoziert, trägt bei Calvino einen biblisch klingenden Namen, Bersabea: In Bersabea ist dieser Glaube überliefert: daß es oben am Himmel hängend ein anderes Bersabea gibt, wo der Stadt hehrste Tugenden und Gefühle schweben, und daß das irdische Bersabea, wenn es sich das himmlische zum Vorbild nimmt, mit diesem zu einem einzigen werden wird. Die überlieferte Vorstellung ist die einer Stadt aus massivem Gold mit silbernen Scharnieren und diamantenen Toren, einer Juwel-Stadt, ganz Intarsien und kostbare Einfassungen, wie sie nur ein Höchstmaß an Überlegung und Arbeitsamkeit aus wertvollstem Material herzustellen vermag. Diesem Glauben getreu halten die Einwohner Bersabeas alles in Ehren, was sie an die himmlische Stadt erinnert: Sie horten Edelmetalle und seltene Steine, entraten vergänglicher Mühen, erarbeiten Formen von abgemessener Gemessenheit.
Das himmlische Bersabea, eine kostbar ausgestattete Juwel-Stadt mit einem irdischen Pendant, dessen Bewohner die Erinnerungen an die höhere Stadt pflegen, ist so wenig ‘unschuldig’ und bloß erdacht wie die meisten der unsichtbaren Städte, sondern ist bezogen auf die ‘erste Stadt’, die allen Städten als Idealbild voransteht: das himmlische Jerusalem. Zwar ist jeder Vergleich zwischen der Topographie, die in literarischen Texten vollzogen wird, und der Hagiographie, so wie sie in der Offenbarung des Johannes niedergelegt wird, vermessen; dieser grundsätzlichen Ungleichheit eingedenk aber ist doch festzustellen, dass auch die Apokalypse zugleich visionär, also bildbezogen, und sprachbezogen ausgerichtet ist. „Und ich sah“, beginnt das 21. Kapitel, das die Darstellung des himmlischen Jerusalem enthält. „Und ich Johannes sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem“, fährt der Text fort, um sogleich auch eine Stimme hörbar zu machen, die zu Johannes spricht: eine Vision verbunden mit einer akustischen Halluzination? Was der, welcher auf dem Stuhl sitzt, spricht, wird zur Schrift: „Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiß.“ Die Schrift ist durch Wahrheit beglaubigt, und alles, was nun folgt, steht im Zeichen göttlicher Offenbarung. Ein Engel führt Johannes „hin im Geiste auf einen großen Berg“, wo diesem die Vision des vom Himmel herniederfahren-
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den Jerusalem zuteil wird. Das Bild, das gesprochene Wort und die Schrift werden zu einer Einheit verschmolzen, die im Zeichen der offenbarten göttlichen Wahrheit steht. Indes: das oben zitierte „im Geiste“ sollte hellhörig machen, denn das Geschehen ereignet sich offenbar im Innern des Johannes. Aber dieser „Geist“ ist ein anderer als der bloß individuelle Innenraum der Vorstellung, ist er doch erleuchtet von Gott selbst. Die Stadt, die nicht auf Erden ist, sondern „aus dem Himmel von Gott“, trägt alle Zeichen des Besonderen und Kostbaren: „Und der Bau ihrer Mauer war von Jaspis und die Stadt von lauterem Golde, gleich einem reinen Glase. Und die Grundsteine der Mauer um die Stadt waren geschmückt mit allerlei Edelgestein.“ Was dann in aufwendiger Beschreibung der Mauer mit ihren Grundsteinen folgt, liest sich wie ein Lapidarium: Jaspis, Calzonit, Smaragd, Saphir, Beryll, Topas, Amethyst, um nur einige zu nennen, bilden eine Serie von Edelsteinen, die alle mit Namen genannt werden; dass die Gassen aus Gold, die Tore aus Perlen bestehen, untermauert den Eindruck, dass aus dieser Stadt alles Leben – und damit auch alle Sterblichkeit – getilgt ist. Das natürliche Wachstum der Städte, das zu Unregelmäßigkeiten der Baulichkeit führt, ist hier zugunsten der reinen Geometrie aufgegeben, die in perfekter Harmonie einen Würfel bildet: „Und die Stadt liegt viereckig, und ihre Länge ist so groß als die Breite. Und er [sc. der Engel] maß die Stadt mit dem Rohr auf zwölftausend Feld Wegs. Die Länge und die Breite und die Höhe der Stadt sind gleich.“ Eine Stadt ohne Natur, eine Stadt ohne Geschichte stellt das himmlische Jerusalem dar, in einer Synthese aus Vision, Stimme und Schrift. Auch die Schrift hinterlässt ihre Spuren, denn auf den zwölf Toren der Stadt stehen die Namen der Geschlechter des Volkes Israel geschrieben. Diese Offenbarung zu sehen, zu sagen und zu schreiben bedeutet nicht weniger, als ihren Inhalt selbst zu reproduzieren: Der biblische Text der Apokalypse ist gleichsam die Fortschreibung dessen, was das offenbarte himmlische Jerusalem seinerseits schon ist. Mit einer solchen ‘Offenbarung’ ausklingen zu lassen, was als Darstellung der Großstadt in der Literatur vollzogen wurde, ist vielleicht anmaßend, jedenfalls aber kühn. Die Apokalypse des Johannes ist kein Text wie jene anderen, ist nicht zeichenhaft, uneigentlich, fiktional; sie ist göttlich verbürgte Wirklichkeit und damit Glaubensrealität. Sie verweist nicht zeichenhaft auf etwas anderes, sondern ist, was sie sagt. Wenn, was zu vermuten wäre, dieser Text jenem von Calvino als Paradigma und Wunschziel zugrunde liegt, zeigt sich an ihm die Kluft, die einen literarischen von einem hagiographischen Text trennt: Der literarische kann immer nur Zeichen sein, Ähnlichkeiten mit der Erfahrungsrealität anstreben oder auch verleugnen (was indes doch implizit die Anerkennung der Wirklichkeit bedeutet); der ‘heilige’ Text hingegen, den Glauben vorausgesetzt, ist nicht Zeichen, sondern ‘Offenbarung’, verweist nicht semiotisch auf etwas anderes, son-
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dern ist selbst, was er sagt: Apokalypse. Wäre die Offenbarung Johannis mit ihrer Vision/Schrift (scriptura) des himmlischen Jerusalem der Anfang aller Stadtdarstellung – so wie Venedig die ‘erste’ aller Städte ist? Das Ende unserer Darstellung soll nicht der Ort von Wiederholungen des Gesagten sein; was dem Leser im Verlauf des Textes nicht einleuchtete, wird ihm jetzt nicht plötzlich klar werden, und wenn ich vorher sein Verständnis verfehlte, werde ich es mit meinen Überlegungen am Schluss nicht noch gewinnen können: Es ist zu spät. Glücklicher scheint ein Ende zu sein, das die ungewissen (hypothetischen) Überlegungen des Anfangs vor dem Hintergrund der Darstellung selbst noch einmal aufgreift, um ihnen etwas mehr Gewissheit zu verleihen. Georg Simmel hatte in seinem Essay „Die Großstädte und das Geistesleben“ den permanenten, vom Individuum kaum zu parierenden Appell der großen Städte an die Wahrnehmung – oder, elementarer, die Nerven – dargestellt und jene dem Selbstschutz dienenden Abwehrmechanismen beschrieben, die der Städter entwickelt. Auf die Formel gebracht könnte Simmels These lauten: Die Großstadt hält man nicht aus. Doch der Mensch ist erfinderisch und reduziert seine sinnliche Sensibilität zugunsten einer Kultur des Verstandes. Er schützt sich gegen die ihn überfordernden Eindrücke der Großstadt durch eine Hypostasierung des Mentalen, wird gleichsam ganz Kopf. Die Bedeutung der Großstädte als Zentren der Geldwirtschaft, des Handels und Verkehrs, als Orte der Bildung und des Wissens und nicht zuletzt als Stätten einer sozial organisierten und zentralisierten Kultur wäre insofern unmittelbarer Ausdruck jener Herrschaft des Geistes über die Sinne. Das „quaerens quem devoret“ beträfe unter diesem Aspekt die Welt der Sinne und Gefühle, die von dem Intellektualismus der Städter fast verschlungen würde. Ob es sich bei dieser Diagnose, die Simmel mit vielen einzelnen Beobachtungen untermauert, um eine Positiv- oder eine Negativliste handelt, ist am Text schwer zu entscheiden. Die intellektuelle Brillanz Simmels, selbst zum Teil aus der Erfahrung der Großstadt erwachsen, lässt die Reduktionen der Sinnenwelt als eine nur relative Beschränkung erscheinen, der auf der anderen Seite ein hohes Maß nicht nur intellektueller Freiheit entspricht. Doch ein Verlust ist es gleichwohl, denn Sinnlichkeit und Emotionalität sind mit der menschlichen Natur untrennbar verbunden und werden der Kultur zumindest teilweise aufgeopfert. Vor dem Hintergrund der literarischen Darstellung von Großstädten, deren Leistungen dem Schöngeist Simmel zumindest teilweise vertraut gewesen sein dürften, ergibt sich ein anderes Bild. Hatte die Kultur des Verstandes die sinnlichen Eindrücke zurückdrängen müssen, so werden sie in der Kunst wiedergewonnen. Großstadtdarstellung in der Literatur bedeutet nicht nur und nicht einmal in erster Linie Wiedergabe dessen, was sinnlich erfahrbar ist, obschon eine alte Erfahrung lehrt, dass durch den Umgang mit den Künsten die
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Sinne geschärft werden. Zugleich aber wird, was in der Realität bedrängend, gefährlich, abstoßend sein mag, durch die künstlerische Darstellung entschärft. Zolas „Paradies der Damen“ bedroht nicht meinen Geldbeutel, Baudelaires phantasmagorische Greise machen mir keine Angst, das Elend von Franz Biberkopf droht mir nicht, und mein Leben ist nicht in Gefahr, wenn ich RobbeGrillets Ansichten einer Geisterstadt lese. Die Großstädte der Literatur können wir ruhig und distanziert betrachten und genießen, so wie Derrida, die ‘Wirklichkeit’ der Sprache im Blick, bemerken konnte, das Wort ‘Hund’ beiße nicht. So machen auch die Städte der Literatur keinen Lärm, überspannen nicht unsere Nerven. Solche Wohltaten der Literatur enden indes nicht mir der Negierung von Schrecken, sondern lassen auf der Haben-Seite der Bilanz noch weitere Positivposten erkennen. Wenn die Befürchtungen Simmels, der Großstädter werde ohne den Schutzschild des Intellekts von seinem Lebensraum emotional überfordert, auch nur annähernd zutreffen, kann die Literatur im Gegenzug eben jene Sinnlichkeit wiederherstellen, die der unmittelbaren Erfahrung, soll sie nicht den Menschen entkräften, abgehen muss. Es ist keine neue Einsicht, dass die Kunst sinnliche Eindrücke nicht nur vermittelt, sondern zu ihrem Verständnis auch erfordert: Das Medium ist die Botschaft oder doch zumindest ein wesentlicher Teil von ihr. Die aus vielfältigen Perspektiven entworfenen Ansichten, Bilder und Visionen der Großstadt in der Literatur fangen die Dimensionen des Gegenstandes ein, ohne damit den Leser und sein Sensorium zu überfordern. Man kann sich ihnen lesend zuwenden, sich aber auch, partiell oder total, momenthaft oder dauernd, von ihnen abwenden. Obwohl im Medium der künstlerischen Sprache mit der Großstadt konfrontiert, wird man gleichwohl von ihr nicht vereinnahmt. Das Maß an Freiheit, das Simmel der Großstadt zusprach, vergrößert sich noch in der Begegnung mit jenen Ausdrucksformen der Kunst, in denen die Großstadt zur Darstellung kommt. Diese Freiheit der Lektüre und der Interpretation zeichnet freilich alle literarischen Texte aus und nicht nur jene, die sich der Großstadt widmen. Für die Großstadt aber ist diese Qualität allerdings von besonderer Bedeutung, weil der Gegenstand, in der Realität gesehen, wegen seiner Vielfalt und Größe eine Annäherung erschwert, von der Beherrschung ganz zu schweigen. Aber sind nicht die Großstädte der Literatur von völlig anderer Art als jene der Wirklichkeit? Sicher, ihre Bilder sind Bilder der Vorstellung, doch hat diese gegenüber der Realität die größeren Freiheiten. Weil solche Bilder eben nicht wirklich, sondern nur vorgestellt sind, besitzen sie eine größere Nähe zu unserem Innenraum und zu den Fähigkeiten, die uns in die Lage versetzen, Gegenstände nicht nur wahrzunehmen und wiederzugeben, sondern auch in inneren Bildern zu entwerfen. So erschafft sich jeder Leser bei der Begegnung mit einem literarischen Text ‘seine’ Großstadt, und dass Städte gleichen Namens mit solchen der
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Realität durchaus ganz andere Züge tragen können als ihr vermeintliches Vorbild, haben die Analysen erwiesen. Die Texte sind nicht selten nicht über, sondern geradezu gegen die Städte geschrieben oder zumindest gegen jene allgemeinen ‘Bilder’, die ihnen Glanz und Größe zuerkennen wollen und ihre dunklen Seiten vernachlässigen. An der Großstadtthematik kommt etwas zur inneren Anschauung, das dem Gegenstand als solchem gar nicht eignet: Bedeutung, Sinn. Die Städte ‘sprechen’, und ihr ‘Diskurs’ (um ein Modewort zu bemühen) weist ihnen einen Sinn zu, der von Text zu Text variiert, immer aber Signifikanzen setzt. Die Städte werden in Texten nicht nur als – partielle oder umfassende – ‘Bilder’ entworfen; sie sind selbst Bilder, Zeichen, Symbole (auf den Unterschied soll es hier nicht ankommen) für etwas anderes: die Moral, die Kunst, den Tod, die Transzendenz – den Text in seiner poetologischen Anlage selbst. So führt die Darstellung der Großstadt in der Literatur immer wieder über ihren unmittelbaren Gegenstand hinaus, stellt ihn in neue Kontexte und verleiht ihm jenseits der alltäglichen Pragmatik einen übergreifenden Sinn. Die Prozesse der Thematisierung der Großstadt in der Literatur sind, als Sinnzuweisungen, semiotischer Art. Indem die Literatur ihren Gegenständen Bedeutungen zuschreibt, fordert sie auch zu ihrem Verständnis Interpretationen ein; sie, die andernfalls ‘stumm’ bliebe, ist selbst schon Interpretation dessen, was sie darstellt, und kann deshalb sozusagen mit Recht verlangen, dass ihr wiederum Interpretationen zuteil werden. Das ist hier geschehen, aber hier nicht abgeschlossen worden – ein letzter, finaler Reflex jener eingangs dargestellten Totalitäts(t)räume, in denen die Stadt exemplarische Gestalt gewann.
Bibliografische Hinweise Altenberg, Peter: Wiener Geschichten. Hrsg. von Burkhard Spinnen. München: Schöffling 1995. Aragon, Louis: Der Pariser Bauer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996. Auster, Paul: New York Trilogie (Stadt aus Glas; Schlagschatten; Hinter verschlossenen Türen). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 19. Aufl. 2001. Balzac, Honoré de: Die Geschichte der Dreizehn. Frankfurt am Main und Leipzig: Insel Taschenbuch 1996. Baudelaire, Charles: Die Blumen des Bösen. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1986. Belyi, Andrej: Petersburg. Frankfurt am Main und Leipzig: Insel 2001 (Erstfassung). Belyi, Andrej: Petersburg. Berlin: Aufbau 1999 (= Aufbau-Taschenbuch) (nach der vom Autor gekürzten Fassung). Brinkmann, Rolf Dieter: Rom, Blicke. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 3. Aufl. 1997 (= dnb). Calvino, Italo: Die unsichtbaren Städte, München: Hanser 1984. Dickens, Charles: Oliver Twist. Frankfurt am Main und Leipzig: Insel Taschenbuch 1976. Dickens, Charles: Bleakhaus. Zürich 1984 (= Diogenes Taschenbuch). Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 39. Auflage 1999. Dos Passos, John: Manhattan Transfer. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2. Aufl. 2000. Hugo, Victor: Der Glöckner von Notre-Dame. Frankfurt am Main und Leipzig: Insel Taschenbuch 1994. Lesage, Alain-René: Der hinkende Teufel. München: Beck 1983 Mercier, Louis-Sébastien: Pariser Nahaufnahmen. Ausgewählt, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Wolfgang Tschöke. Frankfurt am Main: Eichborn Verlag 2000 (= Die Andere Bibliothek). Poe, Edgar Allan: Detektivgeschichten. Mit einem Nachwort von Ulrich Broich. 7. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1992. Polgar, Alfred: Kleine Schriften, 4 Bde. Hrsg. von Marcel Reich-Ranicki. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1983–1984. Rilke, Rainer Maria: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Herausgegeben und kommentiert von Manfred Engel. Stuttgart: Reclam 1997. Robbe-Grillet, Alain: Ansichten einer Geisterstadt. München und Wien: Hanser 1977. Robbe-Grillet, Alain: Projekt für eine Revolution in New York. München und Wien: Hanser 1971. Stifter, Adalbert: Aus dem alten Wien. In: Insel Stifter. 4 Bde., Frankfurt am Main: Insel 1978, Bd. 4, S.23–125.
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Bibliografische Hinweise
Zola, Emile: Der Bauch von Paris. Bergisch Gladbach: Bastei-Lübbe Taschenbuch 2000. Zola, Emile: Ein Blatt Liebe. Berlin: Rütten und Loening 1981. Zola, Emile: Das Paradies der Damen. Berlin: edition ebersbach 2002 (Lizenz Wissenschaftliche Buchgesellschaft).