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German Pages 480 Year 2009
de Gruyter Lehrbuch Müller · Klassische Mechanik
Rainer Müller
Klassische Mechanik Vom Weitsprung zum Marsflug
≥
Walter de Gruyter Berlin · New York
Prof. Dr. Rainer Müller Physikdidaktik Technische Universität Braunschweig Pockelsstr. 11 38106 Braunschweig E-Mail: [email protected]
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. 앪
ISBN 978-3-11-021315-7 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Einbandgestaltung: Martin Zech, Bremen. Druck: Mercedes-Druck GmbH, Berlin. Buchbinderische Verarbeitung: Stein ⫹ Lehmann GmbH, Berlin.
Je genauer wir verstehen, um so größer soll das Staunen sein. Alfred Brendel
Vorwort Die Physik ist weder trocken noch langweilig – auch wenn dies oft sorgsam verborgen wird. Beim Aufschlagen eines Lehrbuchs der Physik geht es einem allzu oft wie Georg Christoph Lichtenberg, der sich fein stichelnd beklagte: Ein etwas vorschnippischer Philosoph, ich glaube Hamlet Prinz von Dänemark hat gesagt: es gebe eine Menge Dinge im Himmel und auf der Erde, wovon nichts in unsern Compendiis steht. Hat der einfältige Mensch, der bekanntlich nicht recht bei Trost war, damit auf unsere Compendia der Physik gestichelt, so kann man ihm getrost antworten: gut, aber dafür stehn aber auch wieder eine Menge von Dingen in unsern Compendiis wovon weder im Himmel noch auf der Erde etwas vorkömmt. (Sudelbuch L, 155)
Aus der Fülle des Lebens zu schöpfen – das ist auch heute nicht die Art der Physikbücher. Den Grund dafür kann man aus der Geschichte der Physik verstehen. In allen ihren Teilgebieten lag die besondere Schwierigkeit darin, aus der Vielfalt der Alltagserfahrungen diejenigen zu identifizieren, die für die Begriffsbildung fruchtbar sind. Nicht umsonst hat es in der Mechanik Jahrhunderte gedauert, bis es gelang, aus den für jedermann im Alltag erkennbaren Phänomenen das Trägheitsgesetz zu abstrahieren, von dem aus das weitere Forschen nach Gesetzmäßigkeiten erst fruchtbar wird. Traditionell wird den Lernenden der Weg von den Phänomenen zu den Begriffen erspart. Man beginnt gleich auf der abstrakten Begriffsebene, alles steril und säuberlich herauspräpariert. Die Konsequenz ist bekannt: Die Physik, so wie sie den Lernenden begegnet, scheint sich mit Dingen zu beschäftigen, „wovon weder im Himmel noch auf der Erde etwas vorkömmt“. In diesem Buch werden Sie die klassische Mechanik in Kontexten aus Alltag und Technik kennenlernen. Die Palette der Themen reicht vom Bungeesprung bis zum Start einer Saturn V, von den Fouettés im Schwanensee bis zum Klothoidenlooping einer Achterbahn. Es wird interessant werden – aber die gedankliche Auseinandersetzung mit den Grundlagen der Mechanik wird Ihnen nicht erspart. Am Ende, wenn Sie alle 14 Kapitel durchgearbeitet haben, werden Sie das Fachgebiet der klassischen Mechanik in seiner Breite durchmessen haben. In der theoretischen Physik geht es noch tiefer, aber nicht viel weiter. Das Buch ist folgendermaßen organisiert: In jedem der Kapitel wird ein Teilgebiet der Mechanik behandelt. Der Weg geht entlang der physikalischen Fachsystematik vom Trägheitsgesetz über die newtonschen Gesetze bis zur Himmelsmechanik, den Stoßgesetzen und den Zwangskräften. Einige der Kapitel, wie zum Beispiel das über Energie, sind mit „Fundamentale Konzepte“
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Vorwort
überschrieben. Hier werden fachliche Grundlagen gelegt, ohne dass ein Bezug auf lebensweltliche Kontexte im Vordergrund steht. Die meisten Kapitel sind aber einem Thema aus Alltag oder Technik gewidmet: Mit den Gesetzen des schrägen Wurfs schätzen wir ab, wo der „endgültige“ Weitsprung-Weltrekord liegen könnte, als Beispiel für einen elastischen Stoß behandeln wir das Swingby-Manöver von Pioneer 10 an Jupiter, der Corioliskraft nähern wir uns mit der Frage, ob man in einer rotierenden Raumstation gehen kann. Wir werden die Gesetze der Physik kennenlernen, indem wir sie anwenden und mit ihnen umgehen. Dabei wird sich herausstellen, dass die Probleme aus dem wirklichen Leben oft ein wenig „störrisch“ sind, wenn es um die physikalische Analyse geht. Wir werden sie durch das Aufstellen vereinfachender Modelle zähmen müssen. Das ist kein Nachteil, sondern ein Vorzug, denn es ist gerade die beim „Wühlen im Schlamm“ zu erwerbende Fähigkeit zum Lösen komplexer Probleme, die für die Arbeitsweise von Physikern charakteristisch ist und die sie im Berufsleben so erfolgreich macht. Neben dem Alltagsbezug hat das Buch noch ein zweites Standbein: die Erkenntnisse der physikalischen Fachdidaktik aus mehr als 25 Jahren Forschung zu den Lernschwierigkeiten in der Mechanik. Heute weiß man sehr gut, dass Lernende oft Schwierigkeiten mit der Beschleunigung als Vektorgröße, mit dem dritten newtonschen Gesetz, mit dem Begriff der Arbeit und mit der Zentrifugalkraft haben. Man kennt auch Maßnahmen, die erwiesenermaßen das Verständnis fördern, etwa das Betrachten von zweidimensionalen Stoßvorgängen (der Kopfball im dritten Kapitel). Auf diese Ergebnisse wird im ganzen Buch zurückgegriffen, ohne dass dies im Einzelfall durch Zitate zum Ausdruck gebracht werden kann. Braunschweig, im Mai 2009
Rainer Müller
Inhaltsverzeichnis Vorwort
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Fundamentale Konzepte: Das Trägheitsgesetz 1.1 Die Aufgabe der Mechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Formulierung des Trägheitsgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Das Trägheitsgesetz und die Physik des Auffahrunfalls . . . . .
13 14 15 20
2
Geschwindigkeit und Beschleunigung – Bewegungen im Sport 2.1 Geschwindigkeit und Beschleunigung im Sport . . . . . . . 2.2 Hammerwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Geschwindigkeit und Beschleunigung beim Bungeesprung 2.4 Weitsprung und schräger Wurf . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Der Grand Jeté und die Wurfgesetze . . . . . . . . . . . . . .
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27 28 28 38 43 54
Fundamentale Konzepte: Das newtonsche Bewegungsgesetz 3.1 Kinematik und Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Kopfball . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Das newtonsche Bewegungsgesetz . . . . . . . . . . . . . 3.4 Umgang mit der newtonschen Bewegungsgleichung . .
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57 58 59 64 68
4
Das newtonsche Gesetz anwenden – Sicherheit im Auto 4.1 Unfall ohne Sicherheitsgurt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Das newtonsche Bewegungsgesetz und die Sicherheit im Auto 4.3 Die Knautschzone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Sicherheitsgurte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Gurtstraffer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Die Bewegung des Fahrers relativ zum Auto . . . . . . . . . . . 4.7 Airbags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73 74 77 79 81 84 85 88
5
Fundamentale Konzepte: Arbeiten mit der newtonschen Mechanik 5.1 Systemgrenzen und äußere Kräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Das dritte newtonsche Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Wechselwirkungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Zwei Arten, das zweite newtonsche Gesetz zu verwenden . . . 5.5 Mechanische Probleme nach Rezept lösen . . . . . . . . . . . . 5.6 Haft- und Gleitreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7 Genauere Analyse einiger einfacher Beispiele . . . . . . . . . .
91 92 97 100 104 110 113 118
3
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10 6
Inhaltsverzeichnis
Reale Bewegungen modellieren – Ein Sturz aus 30 000 m Höhe 6.1 Die höchste Stufe der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Erstes Modell: Freier Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Modellieren des Sturzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Fallschirmsprünge mit konstanter Luftdichte . . . . . . . . 6.5 Numerische Integration der Bewegungsgleichungen . . .
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127 128 130 131 136 149
Fundamentale Konzepte: Energieerhaltung 7.1 Energieformen . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Energieumwandlungen . . . . . . . . . 7.3 Felder, Kraft und potentielle Energie . . 7.4 Energieerhaltung . . . . . . . . . . . . . 7.5 Antrieb aus eigener Kraft . . . . . . . . 7.6 Muskelkraft und Arbeit . . . . . . . . . 7.7 Die Bedeutung der potentiellen Energie 7.8 Feldenergie und potentielle Energie . . 7.9 Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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161 162 167 168 170 182 187 190 195 198
8
Impulserhaltung – Bruce Willis rettet die Welt 8.1 Kann man einen Asteroiden sprengen? . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Der Impulserhaltungssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Impulssatz für offene Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Der Asteroid wird gesprengt: Anwendung der Erhaltungssätze 8.5 Modell des Asteroiden als Schutthaufen . . . . . . . . . . . . . 8.6 . . . und wie sieht es in der Realität aus? . . . . . . . . . . . . . .
201 202 205 210 211 215 217
9
Raketen – Der Start einer Saturn V 9.1 Kann man mit einer Kanone bis zum Mond schießen? 9.2 Gravitationspotential und Fluchtgeschwindigkeit . . . 9.3 Raketenantrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4 Der Start einer Saturn V . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.5 Die Raketengleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.6 Flugbahn und Geschwindigkeit von Apollo 12 . . . . . 9.7 Beschleunigung während des Raketenstarts . . . . . . 9.8 Das Stufenprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.9 Was ist J002E3? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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219 220 226 231 233 237 242 246 248 250
10 Himmelsmechanik – Per Anhalter zu den Planeten 10.1 Energien im Sonnensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Die keplerschen Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Flächensatz und Drehimpulserhaltung . . . . . . . . . . . 10.4 Hohmann-Übergangsbahnen . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.5 Energetik der Reise zum Mars . . . . . . . . . . . . . . . . 10.6 Das Kaninchen-Paradoxon: Gratisenergie für Mitreisende
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253 254 257 269 273 278 280
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11
Inhaltsverzeichnis
11 Elastische Stöße – Der Swingby-Mechanismus 11.1 Raumsonden auf dem Weg ins Weltall . . . . . . . . . . . . 11.2 Reisen zu den äußeren Planeten . . . . . . . . . . . . . . . 11.3 Elastische Stöße in einer Dimension . . . . . . . . . . . . . 11.4 Einige Spezialfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.5 Elastische Stöße in drei Dimensionen . . . . . . . . . . . . 11.6 Pioneer 10: Start und Flug zu Jupiter . . . . . . . . . . . . . 11.7 Das Swingby-Manöver als himmelsmechanisches Problem 11.8 Das Swingby-Manöver als elastischer Stoß . . . . . . . . . 11.9 Der „Grand Tour“ von Voyager 2 . . . . . . . . . . . . . . 11.10 Pioneer- und Flyby-Anomalie . . . . . . . . . . . . . . . .
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285 286 287 288 292 294 299 302 305 309 311
12 Gezeiten und beschleunigte Bezugssysteme – Raumstationen 12.1 Schwerelosigkeit und künstliche Gravitation . . . . . . . . 12.2 Gezeitenkräfte im inhomogenen Gravitationsfeld . . . . . 12.3 Weltraumseile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.4 Gezeitenkräfte bei Monden und Planeten . . . . . . . . . . 12.5 Gezeiten auf der Erde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.6 Newtonsche Mechanik in beschleunigten Bezugssystemen 12.7 Künstliche Gravitation in einer rotierenden Raumstation . 12.8 Umgang mit Scheinkräften . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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315 316 317 322 329 332 337 344 358
13 Gleichgewicht und Drehbewegungen – Ein Ballett-Divertissement 13.1 Statisches Gleichgewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2 Drehbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3 Pirouetten und Fouettés . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.4 Gleichgewicht in der Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5 Kräfte am starren Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.6 Unmögliche Ballettsprünge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.7 Kreisel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.8 Die Stabilität des Fahrradfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . .
361 362 374 379 384 394 396 398 404
14 Geführte Bewegungen und Zwangskräfte – Achterbahnen 14.1 Achterbahn-Design . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2 Energieerhaltung und Geschwindigkeit . . . . . . . . . 14.3 Die Geometrie geführter Bewegungen . . . . . . . . . . 14.4 Zwangskräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.5 Kreisförmiges Tal und Pendel . . . . . . . . . . . . . . . 14.6 Die Achterbahn-Formel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.7 Airtime – schwerelose Hügel . . . . . . . . . . . . . . . 14.8 Warum gibt es keine kreisförmigen Loopings? . . . . . 14.9 Der Klothoidenlooping . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.10 Mauskurven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.11 Herzlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.12 Vorn oder hinten sitzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . .
407 408 408 413 419 425 433 436 437 443 448 449 450
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12 A Mathematische Methoden A.1 Vektoren und Skalare . . . . . . . . . . . . . . . . . A.2 Addition von Vektoren . . . . . . . . . . . . . . . . A.3 Skalarprodukt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.4 Komponentendarstellung . . . . . . . . . . . . . . . A.5 Gemeinheiten beim Fahrradfahren . . . . . . . . . . A.6 Das Vektorprodukt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.7 Differentiation von Vektoren . . . . . . . . . . . . . A.8 Ortsvektor, Geschwindigkeit und Beschleunigung . A.9 Drehwinkel und Winkelgeschwindigkeit . . . . . . A.10 Integration von Vektoren . . . . . . . . . . . . . . . A.11 Linienintegrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.12 Gradient und Äquipotentiallinien . . . . . . . . . .
Inhaltsverzeichnis
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A1 A1 A1 A3 A4 A5 A8 A9 A9 A11 A13 A13 A15
B Literatur
A17
C Bildnachweis
A21
Sachregister
A23
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Kapitel 1 Fundamentale Konzepte: Das Trägheitsgesetz
1.1 Die Aufgabe der Mechanik Warum man beim Bogenschießen zielt In der Mechanik geht es um Bewegung. Alles dreht sich um die Frage, wie Dinge sich von Ort zu Ort bewegen und auf welche Weise sie dabei ihre Geschwindigkeit verändern. Wir können so unterschiedliche Vorgänge beschreiben wie die Flugbahn eines Pfeils, die Bewegung eines Zahnrädchens in einem komplizierten Getriebe oder den Start einer Rakete. Die Mechanik stellt uns die begrifflichen und mathematischen Hilfsmittel zur Verfügung, die wir dazu benötigen. Dabei ist mit „beschreiben“ nicht einfach nur gemeint, dass wir nach einem Schuss des Bogenschützen im Bild unten die Bahnkurve seines Pfeils erfassen und wiedergeben. Es würde den Sportler wenig befriedigen, wenn er nach jedem Schuss lediglich zur Kenntnis nehmen könnte, ob er getroffen hat oder nicht – ohne daraus für den nächsten Schuss eine Lehre zu ziehen. Nein, die Möglichkeiten in der Mechanik gehen viel weiter. Man kann Vorhersagen für den nächsten Schuss treffen. Wenn der Bogenschütze es beim Wettkampf schafft, genauso zu zielen, wie er es im Training tausendmal geübt hat, wird ihm der Schuss ins Schwarze glücken. Er weiß auch, dass er nach einem missglückten Schuss etwas höher oder tiefer zielen muss, um ins Ziel zu treffen. Das Zielen hat nur deshalb einen Sinn, weil sich der Pfeil nach bestimmten Gesetzen bewegt und nicht einfach einen völlig unvorhersehbaren Weg nimmt. Ob er ins Ziel treffen wird, steht schon im Augenblick des Abschusses fest.
Abschnitt 1.2 Formulierung des Trägheitsgesetzes
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Die Flugbahn des Pfeils ist determiniert. Ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, setzt der Bogenschütze voraus, dass er die Flugbahn des Pfeiles bereits durch sein Zielen festlegen kann. In der Mechanik suchen wir nach den Gesetzen, nach denen sich Gegenstände bewegen. Um ein vertieftes Verständnis zu erlangen, formulieren wir sie mathematisch, denn dadurch können wir Regelmäßigkeiten hinter den Phänomenen entdecken, die uns bei ihrer bloßen Beobachtung und Beschreibung verborgen geblieben wären. Die Beschäftigung mit den Gleichungen, die ein physikalisches Phänomen beschreiben, kann unser intuitives Verständnis ebenso schulen wie der experimentelle Umgang mit ihm.
1.2 Formulierung des Trägheitsgesetzes Das Grundgesetz der Mechanik kann man qualitativ in wenigen Worten formulieren: „Die Ursache von Geschwindigkeitsänderungen eines Körpers sind Kräfte“. So einfach sich das anhört, so gründlich wird es von den meisten Menschen missverstanden. Daher wollen wir schrittweise vorgehen. Bevor wir Bewegungen unter dem Einfluss von Kräften betrachten, soll dieses Kapitel ganz den Bewegungsformen gewidmet sein, bei denen keine Kräfte auf die betrachteten Körper wirken. Ist das nicht ein müßiges Unterfangen? Mancher denkt sich: „Körper, auf die keine Kräfte wirken, bewegen sich auch nicht. Das lehrt mich meine Alltagserfahrung“. Mit einer solchen Auffassung kann man sich sicherlich erfolgreich durchs Leben schlagen. Sie muss sich nicht oft bewähren, denn im Alltag begegnen uns nur selten Körper, auf die keine Kräfte wirken. Physikalisch ist die Aussage aber falsch. Sehen wir uns ein Beispiel an. Der Sturz der Skateboarderin Eine Skateboarderin fährt auf einer Straße gleichmäßig mit konstanter Geschwindigkeit (Abb. 1.1). Sie passt nicht auf und rollt auf eine Bordsteinkante, die das Skateboard abrupt abbremst. Die Skaterin kann sich nicht auf den Beinen halten, fällt nach vorn und liegt schließlich bäuchlings auf dem Boden. Wenn man das Geschehen als Zuschauer beobachtet, fragt man sich vielleicht, aus welchem Grund die Skaterin nach vorn fällt. Was ist die Ursache dafür, dass sie sich nach dem Stopp des Skateboards „in Bewegung setzt“? Ein physikalisch halbgebildeter Passant antwortet vielleicht: „Es sind die Trägheitskräfte, die dafür verantwortlich sind“. Spätestens jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, uns mit leichtem Grauen von der Szenerie abzuwenden und den Vorgang aus physikalischer Perspektive zu betrachten (was man unter dem Begriff „Trägheitskräfte“ zu verstehen hat, wird in Kapitel 12 erläutert). Physikalische Beschreibung des Sturzes Die Frage, was die Skaterin in Bewegung setzt, ist einfach falsch gestellt. Sie wird nämlich gar nicht in Bewegung gesetzt. Sie ändert ihren Bewegungszustand überhaupt nicht, denn sie bewegt sich (jedenfalls anfänglich) gleichmäßig weiter. Sehen Sie sich Abb. 1.1 genauer an: Die Strecke, die der Kopf
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Kapitel 1 Fundamentale Konzepte: Das Trägheitsgesetz
Abb. 1.1: Eine Skateboarderin fährt gegen eine Bordsteinkante.
der Skaterin in jeweils einer Sekunde zurücklegt, ist immer die gleiche – auch noch nach dem Aufprall. Ihre Geschwindigkeit ändert sich anfangs also nicht. Allerdings ändert sich die Geschwindigkeit des Skateboards durch das Auffahren auf die Bordsteinkante. Es bleibt plötzlich stehen. Dadurch werden auch die Füße der Skaterin abgebremst, denn sie haften durch Reibung am Skateboard. Weil Rumpf und Kopf sich zunächst unverändert weiterbewegen, bleiben die Füße hinter dem Kopf zurück. Der Körper gerät in eine Schräglage. Das Ganze endet damit, dass die Skaterin vom Brett kippt und in intensiven Körperkontakt mit dem Boden tritt. Wir können die aus physikalischer Sicht wichtige Beobachtung festhalten: Die Skaterin bewegt sich mit konstanter Geschwindigkeit weiter, solange keine äußere Kraft auf sie wirkt. Die äußere Kraft, die ihre Füße schließlich abbremst, ist die Reibungskraft, die vom Skateboard ausgeübt wird. Der Rumpf bewegt sich noch eine Zeitlang weiter. Das Trägheitsgesetz Diese Feststellung, die wir hier an einem speziellen Beispiel illustriert haben, gilt ganz allgemein. Sie gibt eines der drei newtonschen Grundgesetze der Mechanik wieder: das Trägheitsgesetz. Erstes newtonsches Gesetz (Trägheitsgesetz): Jeder Körper beharrt in seinem Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen geradlinigen Bewegung, wenn er nicht durch einwirkende Kräfte gezwungen wird, seinen Zustand zu ändern. Einige Bemerkungen zu diesem Gesetz (das hier traditionsgemäß in der ins Deutsche übersetzten Originalformulierung Newtons wiedergegeben wurde): (1) Für eine geradlinige Bewegung mit konstanter Geschwindigkeit („geradlinig-gleichförmig“) wird keine Ursache angegeben. Wenn ein Körper sich mit einer bestimmten Geschwindigkeit bewegt, tut er das unbegrenzt,
Abschnitt 1.2 Formulierung des Trägheitsgesetzes
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solange keine bremsenden, beschleunigenden oder ablenkenden Kräfte auf ihn einwirken. Die Frage „Was treibt den Körper bei der geradliniggleichförmigen Bewegung an?“ ist demnach irreführend und falsch gestellt. (2) Im Alltag sind Ruhe und Bewegung Gegensätze. Das Trägheitsgesetz unterscheidet dagegen nicht zwischen Ruhe und geradlinig-gleichförmiger Bewegung. Ruhe ist im Trägheitsgesetz nur ein Spezialfall der geradliniggleichförmigen Bewegung (der Fall nämlich, für den die konstante Geschwindigkeit gerade den Wert null besitzt). Die Unmöglichkeit, Ruhe und gleichförmige Bewegung zu unterscheiden, ist eng mit einem grundlegenden Prinzip verknüpft, das erst 1905 von Einstein wirklich ernst genommen wurde: dem Relativitätsprinzip. Es besagt, dass die Gesetze der Mechanik (also auch das Trägheitsgesetz) in allen Bezugssystemen, die sich mit konstanter Geschwindigkeit relativ zueinander bewegen, die gleiche Gestalt haben. Der Ruhezustand kann nach dem Relativitätsprinzip schon deshalb nicht ausgezeichnet sein, weil man jeden geradlinig-gleichförmig bewegten Körper zu einem ruhenden Körper machen kann, wenn man ihn aus einem mitbewegten Bezugssystem betrachtet. (3) In rotierenden oder beschleunigten Bezugssystemen gilt das Trägheitsgesetz nicht (von einem rotierenden Bezugssystem aus betrachtet werden geradlinige Bahnen zu Spiralbahnen und Ähnlichem). Vollständig ausformuliert sollte das Trägheitsgesetz deshalb lauten: „Man kann immer Bezugssysteme finden, in dem sich kräftefreie Körper geradliniggleichförmig bewegen“. Solche Bezugssysteme sind nichtrotierend und unbeschleunigt. Man nennt sie Inertialsysteme. Unanschaulichkeit des Trägheitsgesetzes Warum kommt uns das Trägheitsgesetz so unanschaulich vor? Dem „gesunden Menschenverstand“ will es gar nicht einleuchten, dass ein Körper, der einmal angestoßen wurde, sich unbegrenzt weiter bewegen soll. Alle unsere Alltagserfahrungen sprechen dagegen. In Dortmund einmal kurz auf das Gaspedal drücken und damit bis nach Berlin kommen – praktisch wäre das schon. Reibung und Luftwiderstand verhindern es leider. Weil Reibungskräfte in unserer Umwelt so allgegenwärtig sind, kommen kräftefreie Bewegungen kaum vor. Das Trägheitsgesetz wird man daher kaum durch reine Beobachtung von Alltagsvorgängen gewinnen. Und entsprechend zeigt die Wissenschaftsgeschichte auch, dass 2000 Jahre bewusster Naturbeobachtung bis zu seiner Formulierung vergingen (Kasten 1.1). Die unreflektierten Vorstellungen, die wir seit der Kindheit in der Auseinandersetzung mit unserer Umwelt entwickelt haben, entsprechen ziemlich genau dem „motor“-Konzept von Aristoteles. Für jegliche Bewegung scheint uns ein Antrieb nötig, damit sie nicht zum Erliegen kommt. Ruhe und Bewegung sind für uns wesensverschieden.
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Kapitel 1 Fundamentale Konzepte: Das Trägheitsgesetz
Kasten 1.1 Geschichte des Trägheitsgesetzes Obwohl in der Antike an spekulativen Entwürfen zur Erklärung der Welt kein Mangel herrschte, gelang es doch nicht, in der richtigen Weise von der Alltagserfahrung zu abstrahieren und eine tragfähige Vorstellung von der Trägheit zu entwickeln. Aristoteles kam einer wirklichen Theorie der Bewegung am nächsten. In bewusster Abgrenzung zur spekulativen Ideenlehre Platons blieb aber gerade er zu nahe an den beobachtbaren Phänomenen, um den Abstraktionsschritt zum Trägheitsgesetz vollziehen zu können. Für Aristoteles erforderte jede Bewegung einen Beweger („motor“): „Alles was sich bewegt, wird von etwas anderem bewegt“. Wenn der Beweger wegfällt, kommt die Bewegung zum Erliegen. Schon ganz in die Nähe des modernen Trägheitsbegriffs gelangte Galilei. Ausgehend von seinen Rollversuchen an der schiefen Ebene, erklärte er in seinem „Dialogo“, dass eine einmal angestoßene Kugel nach Beseitigung aller äußeren Hindernisse auf einer „weder steilen noch geneigten Ebene“ sich unbegrenzt weiter bewegen würde. Aus dem Zusammenhang wird jedoch auch klar, dass Galilei hier eine unbegrenzte Kreisbewegung (entlang der Erdoberfläche) im Sinn hatte. Die tradierten Denkmuster waren mit Galilei noch nicht ganz überwunden. Zum vollständigen Trägheitsgesetz war der Schritt aber nur noch so klein, dass nicht mehr sicher zu rekonstruieren ist, wer ihn als erster getan hat: Beeckman, Descartes oder Huygens. Newton war es dann, der das Trägheitsgesetz 1685 in seinen „Principia“ endgültig formulierte (die Abbildung oben zeigt die drei newtonschen Bewegungsgesetze im Original).
Abschnitt 1.2 Formulierung des Trägheitsgesetzes
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Abb. 1.2: Ganz ohne Antrieb bewegt sich die Raumsonde Voyager I nach Verlassen des Sonnensystems immer weiter geradlinig durch den Weltraum.
Antriebslose Reise durch den Weltraum Im Weltraum offenbart sich das Trägheitsgesetz viel deutlicher als auf der Erde. Ein Beispiel ist die 1977 gestartete Raumsonde Voyager I (Abb. 1.2). Sie ist seither in eine Sonnenentfernung von 17 Milliarden Kilometern vorgestoßen. Dort ist es kalt, dunkel und leer. Vor allem gibt es keine Luftreibung, die die Bewegung der Sonde abbremsen würde. Auch die Anziehungskraft der Sonne spielt keine nennenswerte Rolle mehr. Auf Voyager wirken keine Kräfte, und so bewegt sich die Sonde nach dem Trägheitsgesetz geradlinig-gleichförmig in Richtung des Sternbilds Schlangenträger. Ihre Geschwindigkeit beträgt 17 km/s, und dabei bleibt es. Auch in einer Million Jahren wird sie noch die gleiche Geschwindigkeit besitzen. Ein Antrieb wird dazu nicht benötigt; die Sonde braucht keinen Treibstoff mehr. Das Trägheitsgesetz ist wohl deshalb so unanschaulich, weil wir in unserer Erfahrungswelt Reibungskräften auf Schritt und Tritt begegnen. Würden wir als voyagerähnliche Wesen durch den Weltraum schweben, wäre das Trägheitsgesetz für uns selbstverständlich. Wir hätten schon als Kinder die Erfahrung gemacht, dass wir unser Spielzeug nicht wegwerfen dürfen, weil es dann unaufhaltsam davonschwebt. Wenn wir uns von zuhause entfernten, würden wir auch stets dafür sorgen, dass wir in der Lage wären, durch Kräfte (z. B. mit einem Raketenantrieb) unseren Bewegungszustand wieder zu ändern. Wir würden sonst die unangenehme Überraschung erleben, dass es uns nicht gelingt, nach Hause zurückzukehren. Dieses Schicksal widerfährt einem der Raumfahrer in Stanley Kubricks Film „2001 – Odyssee im Weltraum“, einem der wenigen Science-Fiction-Filme, in dem die Gesetze der Physik ernst genommen werden.
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Kapitel 1 Fundamentale Konzepte: Das Trägheitsgesetz
„Falsche“ Trägheitsgesetze Wenn man im Alltag von der „Trägheit eines Körpers“ spricht, ist meist nicht das Trägheitsgesetz, sondern der Kraftaufwand bei der Geschwindigkeitsänderung eines Körpers gemeint. Ein schwerer Körper lässt sich z. B. schwerer anschieben oder abbremsen als ein leichter. Dies führt oft zu Missverständnissen, die das Erfassen des Trägheitsgesetzes noch zusätzlich erschweren. Ein großer Teil der im Schulunterricht und in Vorlesungen vorgeführten Experimente zum Trägheitsgesetz hat mit diesem nicht das Geringste zu tun, sondern betrifft Kräfte und Geschwindigkeitsänderungen. Hierfür ist aber das zweite newtonsche Gesetz zuständig, dem wir in Kapitel 3 begegnen werden. Ein Beispiel ist das bekannte Tischtuchexperiment: An einem gedeckten Tisch kann man das Tischtuch unter dem Geschirr wegziehen, ohne etwas umzuwerfen, sofern man nur schnell genug zieht. Zur Erklärung wird oft angeführt, dass „jeder Körper einer Veränderung seiner Lage oder Bewegung einen Widerstand entgegensetzt, seine Trägheit“. Lehrsätze dieser Art hören sich zwar plausibel an, zeugen aber von einer zutiefst nicht-newtonschen Denkweise (zumindest wenn man „Widerstand“ mit „Kraft“ übersetzt). Sollte man Sie mit dergestalten Häresien bedrängen, so rufen Sie die Heiligen Kosmas und Damian an, die Schutzheiligen der Physik, und führen die armen Irregeleiteten mit allen Mitteln, die die heilige Inquisition dafür bereitstellt, auf den Weg der rechten newtonschen Lehre zurück.
1.3 Das Trägheitsgesetz und die Physik des Auffahrunfalls Ein intuitives Gespür für physikalische Gesetze entwickelt man am besten dadurch, dass man mit ihnen umgeht. Deshalb soll in diesem Abschnitt das Trägheitsgesetz verwendet werden, um die Vorgänge bei einem Auffahrunfall näher zu analysieren (Abb. 1.3). Die mit dem Trägheitsgesetz verbundenen Phänomene treten beim Auffahrunfall besonders deutlich zutage. Deshalb soll uns dieses Beispiel dabei helfen, die Phänomene nicht mehr „naiv“ aus der Alltagsperspektive zu betrachten, sondern eine physikalische Sichtweise zu entwickeln. Die Alltagssichtweise auf einen Auffahrunfall lässt sich vielleicht folgendermaßen wiedergeben: Das Auto vor mir kommt zum Stillstand, ich kann nicht rechtzeitig bremsen und es kommt zur Kollision. Ich werde nach vorn geschleudert, und wenn ich nicht angeschnallt bin, landet mein Kopf auf dem Lenkrad oder in der Windschutzscheibe. Aber auch wenn ich angeschnallt bin, kann ich ein Schleudertrauma zurückbehalten. Physikalische Beschreibung des Auffahrunfalls Zur Orientierung im Alltag ist diese Beschreibung zweckmäßig, weil sie die Auswirkungen des Unfalls auf die eigene Person zufriedenstellend wiedergibt. Möchte man aber einen Auffahrunfall näher analysieren, z. B. weil man
Abschnitt 1.3 Das Trägheitsgesetz und die Physik des Auffahrunfalls
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Abb. 1.3: Auffahrunfall
die Verkehrssicherheit verbessern möchte, muss man über eine solche, an der Oberfläche der Phänomene bleibende Beschreibung hinausgehen und nach Details und Ursachen fragen: Wie kommt es eigentlich, dass der Kopf gegen das Lenkrad geschleudert wird? Was verursacht das Schleudertrauma? Um diese Fragen zu beantworten, kann man den Auffahrunfall physikalisch untersuchen. Das soll im Folgenden geschehen. Betrachten wir die in Abb. 1.4 skizzierte Situation: Das hintere Auto nähert sich mit einer Geschwindigkeit von 40 km/h einer Kreuzung, an der das vordere Auto an einer roten Ampel hält. Ohne zu bremsen fährt es auf das vordere Auto auf. Leichtsinnigerweise sind beide Fahrer nicht angeschnallt, und die Autos besitzen auch keine Airbags. Obwohl die möglichen Verletzungen der beiden Fahrer ähnlich sind, unterscheiden sich die physikalischen Vorgänge im vorderen und hinteren Auto. Deshalb werden wir die beiden Fälle getrennt untersuchen. 1.3.1 Was im hinteren Auto passiert
Beginnen wir mit dem hinteren Auto. Um die Ereignisse besser überblicken zu können, unterteilen wir den Unfall in verschiedene Phasen: (1) Das hintere Auto fährt auf das vordere auf und kommt dabei plötzlich zum Stillstand. Das Abbremsen von 40 km/h auf 0 km/h dauert nicht
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Kapitel 1 Fundamentale Konzepte: Das Trägheitsgesetz
Abb. 1.4: Das hintere Auto fährt auf das vordere auf.
länger als wenige Zehntel Sekunden. Alle fest mit dem Auto verbundenen Teile (z. B. die Sitze) kommen gleichzeitig mit ihm zum Stillstand. (2) Der Fahrer ist nicht fest mit dem Auto verbunden, denn er ist nicht angeschnallt. In horizontaler Richtung wirken keine Kräfte auf ihn, während das Auto zum Stehen kommt (abgesehen von den vernachlässigbaren Reibungskräften zwischen Sitz und Fahrer). Was passiert mit dem Fahrer des hinteren Autos? Das Trägheitsgesetz gibt uns Auskunft: Da keine horizontalen Kräfte auf ihn wirken, verharrt er im Zustand der gleichförmigen Bewegung. Er behält seine ursprüngliche Geschwindigkeit von 40 km/h bei. Die linke Bilderserie in Abb. 1.5 zeigt den Verlauf eines Crashtests gegen eine feste Wand. Man kann deutlich erkennen, dass sich die nicht angeschnallte Dummypuppe auch nach dem Aufprall mit unverminderter Geschwindigkeit weiterbewegt. (3) Die gleichförmige Bewegung wird abrupt beendet, wenn der Fahrer auf das Lenkrad aufprallt oder wie in der Bilderserie sein Kopf gegen die Windschutzscheibe stößt. Dann wirken starke Kräfte auf den Fahrer, die seine gleichförmige Bewegung abbremsen. Diese starken Kräfte sind die Ursache für die schweren Verletzungen, die bei Unfällen mit nicht angeschnallten Fahrzeuginsassen auftreten. Die rechte Bilderserie in Abb. 1.5 zeigt den Aufprall eines Fahrradfahrers auf eine Wand. Auch hier ist gut zu erkennen, dass sich die Dummypuppe zunächst mit unverminderter Geschwindigkeit weiterbewegt. Auch in diesem Fall wirken anfangs keine Kräfte in horizontaler Richtung, so dass das Trägheitsgesetz anwendbar ist. Bezugssysteme – verschiedene Sichtweisen der gleichen Bewegung Wie schon bei der Diskussion des Skateboard-Sturzes weiter oben ist in der hier gegebenen physikalischen Beschreibung des Unfalls nicht von „nach vorn geschleudert werden“ die Rede. Trotzdem wird dieser Ausdruck unweigerlich in den Schilderungen eines Unfallbeteiligten auftauchen? Wie kommt das? Zur Erklärung ist es angebracht, ausführlicher auf den Begriff des Bezugssystems einzugehen, der oben schon benutzt wurde. Immer wenn wir einen Vorgang in Raum und Zeit beschreiben, greifen wir implizit auf ein vorher
Abschnitt 1.3 Das Trägheitsgesetz und die Physik des Auffahrunfalls
23
Abb. 1.5: Momentaufnahmen zweier Zusammenstöße mit einer festen Wand. Die Bilder sind im Abstand von jeweils 40 ms aufgenommen.
24
Kapitel 1 Fundamentale Konzepte: Das Trägheitsgesetz
festgelegtes Koordinatensystem zurück, das uns Positionsangaben für die beteiligten Körper erlaubt. Beim Auffahrunfall möchten wir etwa den Ort des Fahrerkopfes zu verschiedenen Zeitpunkten angeben. Dieses zur Beschreibung verwendete Koordinatensystem nennt man Bezugssystem. Meist ist vom Bezugssystem nicht die Rede, weil es aus dem Zusammenhang klar hervorgeht. Manchmal allerdings entsteht eine gehörige Verwirrung, weil nicht klar ist, welches Bezugssystem man gerade benutzt. So auch beim Auffahrunfall: In der Beschreibung oben wurde ein Bezugssystem verwendet, das in Bezug auf den Erdboden ruht (es wird oft „Laborsystem“ genannt). Die Bilderserien in Abb. 1.5 wurden mit einer Kamera aufgenommen, die in diesem Bezugssystem ruht. Im Laborsystem konnten wir mit dem Trägheitsgesetz argumentieren und wir haben gesehen, dass in dieser Beschreibung der Fahrer nicht nach vorn geschleudert wird, sondern schlicht seine Geschwindigkeit beibehält. In der Alltagssicht stellt sich alles ganz anders dar, und die Ursache dafür ist ein anderes Bezugssystem. Für den Fahrer (oder für jemanden, der sich in seine Lage versetzt) ist das Innere des Autos das „natürliche“ Bezugssystem. Die Formulierung: „Mein Kopf befindet sich 90 cm über dem Fahrersitz“ liegt wesentlich näher als: „Mein Kopf bewegt sich zusammen mit dem Auto mit 40 km/h relativ zur Straße“. Wählt man das Innere des Autos als Bezugssystem, wird der Kopf des Fahrers tatsächlich nach vorn geschleudert. Während der Fahrt befand er sich über dem Sitz in Ruhe. Nach dem Unfall nähert er sich dem Lenkrad und der Windschutzscheibe, bis er auf eines von beiden aufprallt. Inertial- und Nichtinertialsysteme Welche Beschreibung ist die richtige? Zunächst ist die eine so richtig wie die andere. Niemand kann Ihnen vorschreiben, welches Bezugssystem Sie verwenden sollen. Sie müssen nur – wie überall – die Folgen Ihrer Entscheidung ausbaden. Bevor Sie sich für das Innere des Autos als Bezugssystem entscheiden, sollten Sie bedenken, dass es sich dabei nicht um ein Inertialsystem handelt, sondern um ein beschleunigtes Bezugssystem (denn das Auto wird ja durch äußere Kräfte abgebremst). In Nichtinertialsystemen gilt aber das Trägheitsgesetz nicht, ebenso wenig wie die beiden anderen newtonschen Gesetze, die wir in den folgenden Kapiteln behandeln werden. Die physikalischen Gesetze haben in beschleunigten Bezugssystemen eine wesentlich kompliziertere Gestalt als in Inertialsystemen (siehe Kapitel 12). Bevor Sie also davon reden, dass der Kopf des Fahrers beim Auffahrunfall nach vorn geschleudert wird, sollten Sie die Wahl ihres Bezugssystems noch einmal überdenken. Sie können mit beschleunigten Bezugssystemen arbeiten, aber Sie müssen es dann konsequent tun. In der Physik gibt es eine Demokratie der Bezugssysteme: Im Prinzip sind alle gleichberechtigt. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass die wenigsten es schaffen, mit beschleunigten Bezugssystemen richtig umzugehen.
Abschnitt 1.3 Das Trägheitsgesetz und die Physik des Auffahrunfalls
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Abb. 1.6: (a) Unmittelbar nach dem Aufprall schiebt der Sitz die Fahrerin nach vorn; (b) kurze Zeit später trifft die Kopfstütze auf den Kopf. (c) Bei zu niedrig eingestellter Kopfstütze muss der Hals den Kopf nach vorn beschleunigen.
1.3.2 Was passiert im vorderen Auto?
Wenden wir uns nun dem vorderen Auto zu, in dem die Fahrerin davon überrascht wird, dass ihr Auto plötzlich von hinten gerammt wird. Wieder können wir den Ablauf des Unfalls in mehrere Phasen einteilen. (1) Auf das vordere Auto wird durch den Aufprall eine Kraft ausgeübt. Es wird daher beschleunigt. (2) Der Fahrersitz ist mit dem Auto fest verbunden und wird mitbeschleunigt. Er drückt gegen den Rücken der Fahrerin und schiebt sie nach vorn (Abb. 1.6 (a)). Anders ausgedrückt: Der Sitz übt eine Kraft auf die Fahrerin aus. Auch sie wird daher beschleunigt. (3) Die Kraft der Rückenlehne, die den Rumpf der Fahrerin nach vorn beschleunigt, wirkt nur auf den Rücken der Fahrerin. Auf ihren Kopf werden zunächst keine beschleunigenden Kräfte ausgeübt, denn der Kopf ist ja nicht völlig starr am Rumpf befestigt. Er verharrt also nach dem Trägheitsgesetz zunächst in Ruhe. Erst wenn die Kopfstütze den Kopf „mitnimmt“, setzt auch er sich in Bewegung. Das ist der Sinn von Kopfstützen (Abb. 1.6 (b)). Die Unfallstatistiken zeigen, dass die Kopfstützen oftmals zu niedrig eingestellt sind. Dann wird der Kopf nicht durch die Kopfstützen beschleunigt, sondern bleibt so lange in Ruhe, bis ihn schließlich der Hals dem Körper „hinterherzieht“ (Abb. 1.6 (c)). Das ist eine unerfreuliche Erfahrung, die zu dem bekannten Schleudertrauma führt. (4) Auto und Fahrerin haben durch den feindlichen Angriff von hinten gemeinsam ihren Bewegungszustand geändert und besitzen nun eine gewisse Geschwindigkeit. Was danach kommt, hängt davon ab, ob zum Zeitpunkt des Unfalls die Bremsen das Auto am Rollen hindern oder nicht. Wenn das Auto frei rollen kann, wirkt nach der Kollision keine horizontale Kraft mehr auf Auto oder Fahrerin (bis auf die geringe Rollreibung). Gemäß dem Trägheitsgesetz rollt dann das Auto inklusive Fah-
26
Kapitel 1 Fundamentale Konzepte: Das Trägheitsgesetz
rerin so lange weiter, bis sie durch die Rollreibung irgendwann wieder zum Stehen kommen. (5) Im anderen Fall, wenn die Bremsen (oder bei eingelegtem Gang das Getriebe) das freie Rollen verhindern, wirken wieder abbremsende Kräfte auf das Auto, und es kommt schnell wieder zum Stillstand. Nun passiert mit der Fahrerin das Gleiche, was mit dem Fahrer des hinteren Autos geschehen ist: Da keine Kräfte auf sie wirken, wird sie nicht mit abgebremst, sondern sie behält ihre Geschwindigkeit bei, bis sie auf Lenkrad oder Windschutzscheibe aufprallt. Sowohl im hinteren als auch im vorderen Auto ziehen sich nicht angeschnallte Insassen Verletzungen zu. Wenn sich auch die Einzelheiten des Unfallverlaufs unterscheiden, spielt doch in beiden Fällen das Trägheitsgesetz eine Rolle. Was man tun kann, um das Verletzungsrisiko für die Insassen bei einem Unfall zu vermindern, wird ausführlich in Kapitel 4 behandelt, in dem es um Sicherheitssysteme im Auto geht.
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Kapitel 2 Geschwindigkeit und Beschleunigung – Bewegungen im Sport
2.1 Geschwindigkeit und Beschleunigung im Sport Geschwindigkeit und Beschleunigung sind zwei fundamentale Begriffe, auf denen das begriffliche Gebäude der Mechanik ruht. Kaum ein Problem der Mechanik kann man lösen, ohne dabei einen der beiden Begriffe zu verwenden. Wir wollen uns in diesem Kapitel verschiedene Sportarten ansehen – Hammerwurf, Bungeespringen, Weitsprung und Ballett – und dabei den sicheren Umgang mit Geschwindigkeit und Beschleunigung trainieren.
2.2 Hammerwurf 2.2.1 Warum sich ein Hammerwerfer vor dem Abwurf dreht
Der Hammerwurf ist eine der traditionellen Disziplinen in der Leichtathletik. Es gewinnt, wer eine schwere Kugel, die an einem Stahldraht befestigt ist, am weitesten schleudert. Dabei darf der Wurfkreis nicht verlassen werden, bis der Hammer den Boden berührt hat. Wie immer, wenn es darum geht, etwas weit zu werfen, sollte der Hammer eine möglichst große Geschwindigkeit in 45◦ -Richtung besitzen, wenn der Werfer den Griff des Stahlseils loslässt. Die Hammerwerfer haben eine spezielle Technik entwickelt, um das zu erreichen. Sie beschleunigen den Hammer in einer Folge von drei bis vier Körperdrehungen, bevor sie ihn loslassen. Das ist nicht einfach; das Hammerwerfen zählt zu den technisch anspruchsvollsten Disziplinen der Leichtathletik. Wie kompliziert die Bewegung des Hammers in der Drehphase ist, erkennt man an Abb. 2.1. Sie zeigt die Bahn der Kugel bei einem Wurf der Olympiasiegerin Olga Kusenkowa. Die Daten stammen aus einer Videoanalyse. Wie die meisten Weltklasse-Werfer dreht sie sich vier Mal, bevor sie den Griff loslässt. In der Abbildung sind die vier Drehungen beziffert. Modellieren einer komplexen Bewegung Sehen wir uns die Drehphase näher an. Es soll dabei gar nicht darum gehen, die sportlichen Details zu verstehen. Wir wollen in diesem Kapitel Beispiele aus dem Sport betrachten, um mit Geschwindigkeiten und Beschleunigungen in realen Situationen umzugehen. Wir fragen dabei noch nicht nach den Gesetzmäßigkeiten, die den Bewegungen zugrunde liegen. Das kommt später im Zusammenhang mit den newtonschen Gesetzen. Durch die Analyse der Bewegungen gewinnen wir auch einen Einblick in die Herangehensweise von Physikern angesichts komplexer Phänomene. Um ein solches handelt es sich beim Hammerwurf sicherlich. Wenn man sich Abbildung 2.1 anschaut, fragt man sich, ob man aus derart komplizierten Daten überhaupt etwas Sinnvolles herauslesen kann. Damit das Problem handhabbar wird, nehmen wir drei Vereinfachungen vor: (1) In Abbildung 2.1 verläuft die Bewegung der Kugel schräg im Raum. Die Darstellung ist auf ein Koordinatensystem bezogen, dessen Achsen waagerecht und senkrecht zum Erdboden verlaufen. Wir werden stattdes-
Abschnitt 2.2 Hammerwurf
29
Abb. 2.1: Die Olympiasiegerin Olga Kusenkowa beim Hammerwurf. Links ist die Bahn der Kugel in der Drehphase vor dem Abwurf dargestellt. Die Ziffern bezeichnen die erste bis vierte Umdrehung (Daten: Jacques Piasenta).
sen ein besser geeignetes Koordinatensystem wählen. Die Koordinatenachsen legen wir schräg, und zwar so, dass die Bewegung – von Drehung 1 abgesehen – näherungsweise in der x-y-Ebene verläuft (Abb. 2.2). So müssen wir die Bewegung nicht mehr räumlich (dreidimensional), sondern nur noch flächig (zweidimensional) beschreiben. Eine geschickte Koordinatenwahl erleichtert das Leben in der Physik oft sehr. (2) Die Bahn der Kugel ist näherungsweise kreisförmig. Idealisierend nehmen wir an, dass die Kugel exakt im Kreis läuft. Kreisbewegungen sind viel einfacher zu beschreiben als die komplizierten Bahnen in Abb. 2.1. Wir müssen dafür in Kauf nehmen, dass unsere idealisierende Beschreibung die wirkliche Bewegung nur noch näherungsweise wiedergibt. (3) Im Verlauf der vier Drehungen wird die Kugel immer schneller. Das ist ja schließlich der Sinn der Drehungen. Trotzdem werden wir dies in einem ersten Schritt ignorieren und zunächst eine Kugel betrachten, die mit gleichmäßiger Geschwindigkeit umläuft. Erst wenn wir diese einfachere Situation verstanden haben, werden wir uns dem Fall der schneller werdenden Kugel zuwenden. Auch dieses schrittweise Erhöhen der Komplexität ist eine typische Vorgehensweise in der Physik. 2.2.2 Geschwindigkeit als Vektorgröße
Die Geschwindigkeit wird in Meter pro Sekunde gemessen und gibt an, wie schnell sich ein Körper bewegt. Darüber hinaus hat sie eine Richtung; sie ist also ein Vektor. Der Umgang mit Vektoren wird im Anhang erläutert.
30
Kapitel 2 Geschwindigkeit und Beschleunigung – Bewegungen im Sport y
y
x
x
Abb. 2.2: Wahl des Koordinatensystems
Die Richtung des Geschwindigkeitsvektors ~v an einem Punkt der Bahn entspricht der momentanen Bewegungsrichtung der Kugel (Abb. 2.3 (a)). Der Geschwindigkeitsvektor ist immer tangential zur Bahn gerichtet. Dies gilt nicht nur bei der Kreisbewegung, sondern ganz generell für jede Bewegung. Für unseren Hammerwurf ist dies in Abb. 2.4 illustriert, die den Geschwindigkeitsvektor der Kugel an verschiedenen Stellen einer Kreisbahn zeigt. Der Betrag des Geschwindigkeitsvektors (die Länge des Vektorpfeils) gibt die Größe der Geschwindigkeit an. Je schneller die Kugel, umso größer der Betrag ihres Geschwindigkeitsvektors. In Abb. 2.4 bewegt sich die Kugel gleichförmig auf ihrer Kreisbahn. Sie wird weder schneller noch langsamer. Der Betrag ihres Geschwindigkeitsvektors ist daher an allen Stellen der Bahn der gleiche. Um die genannten Eigenschaften des Geschwindigkeitsvektors in einer Formel auszudrücken, definiert man ihn wie folgt:
~v =
∆~x . ∆t
(2.1)
Abb. 2.3: (a) Der Vektor der Geschwindigkeit ist tangential zur Bahn gerichtet. (b) Zur Definition des Geschwindigkeitsvektors. ∆t ist zur besseren Veranschaulichung übertrieben groß gewählt, so dass ∆~x nicht ganz tangential zur Bahn liegt.
31
Abschnitt 2.2 Hammerwurf
Abb. 2.4: Momentangeschwindigkeit der Kugel an verschiedenen Stellen der Kreisbahn
Hier ist ∆t ein kleines Zeitintervall und ∆~x die in diesem Zeitintervall zurückgelegte Strecke (Abb. 2.3 (b)). Mit dieser Definition gilt:
~v ∼ ∆~x,
(2.2)
so dass der Geschwindigkeitsvektor wie gewünscht tangential zur Bahn liegt, wenn wir die Zeitdifferenz ∆t nur klein genug machen. Daneben gilt für den Betrag des Geschwindigkeitsvektors v = |~v|: ∆~x , v= (2.3) ∆t
entsprechend der gewöhnlichen Definition der Geschwindigkeit als Weg/Zeit. Störend an dieser Geschwindigkeitsdefinition ist noch, dass man sich in jedem Einzelfall fragen muss, welches Zeitintervall für den jeweiligen Zweck „genügend klein“ ist. Um uns das zu ersparen, gehen wir von Differenzenquotienten zu Differentialquotienten über und definieren die Geschwindigkeit als zeitliche Ableitung des Ortes. Die Geschwindigkeit eines Körpers ist eine Vektorgröße, die die zeitliche Änderung des Ortes wiedergibt:
~v =
d~x . dt
(2.4)
Oft drückt man zeitliche Ableitungen durch einen Punkt über der entsprechenden Größe aus. Gleichung (2.4) lautet dann:
~v = ~x˙ .
(2.5)
32
Kapitel 2 Geschwindigkeit und Beschleunigung – Bewegungen im Sport
Kasten 2.1 Ableitung und zeitliche Änderung
In der Mathematik lernt man die Ableitung als Steigung in einem Funktionsgraphen kennen. Bei der Definition der Geschwindigkeit haben wir die zeitliche Änderung einer physikalischen Größe (des Ortes) mit ihrer Ableitung nach t in Verbindung gebracht. Wie passt das zusammen? In der Abbildung oben ist der Graph einer Funktion f (t) dargestellt, die eine physikalische Größe repräsentieren soll (es muss sich nicht unbedingt um den Ort handeln). Nehmen wir an, die Größe f habe zur Zeit t0 den Wert f 0 . Wenn wir an der zeitlichen Änderung von f interessiert sind, fragen wir nach dem Wert der Funktion f (t0 + ∆t) eine kleine Zeitspanne ∆t später. Wenn ∆t klein genug ist, ist es eine gute Näherung, die Funktion lokal durch eine Gerade zu approximieren, wie in der Abbildung gezeigt. Dann können wir das eingezeichnete Dreieck als Steigungsdreieck interpretieren, so dass
∆f · ∆t ∆t df ≈ f0 + · ∆t. dt
f (t0 + ∆t) ≈ f 0 +
(2.6)
Auf diese Weise ist die zeitliche Änderung einer Größe f mit ihrer zeitlichen Ableitung d f /dt verknüpft. Wenn d f /dt zu einem Zeitpunkt t0 groß ist, ändert sich f in diesem Moment stark.
2.2.3 Beschleunigung
Kommen wir wieder zum Hammerwurf zurück und schauen uns noch einmal Abb. 2.4 an. Weil wir angenommen haben, dass sich die Kugel gleichförmig bewegt, sind die Geschwindigkeitsvektoren zu verschiedenen Zeitpunkten alle gleich lang. Aber das bedeutet nicht, dass sich die Geschwindigkeit nicht ändert. Das ist sogar ganz ausgeschlossen, denn eine Bewegung mit konstantem Geschwindigkeitsvektor ist geradlinig-gleichförmig, und das ist die Kreisbewegung sicher nicht. Im Falle der gleichförmigen Kreisbewegung ist es die Richtung des Geschwindigkeitsvektors, die sich von Punkt zu Punkt ändert. Zu verschiedenen Zeiten zeigt der Geschwindigkeitsvektor jeweils in eine andere Richtung.
33
Abschnitt 2.2 Hammerwurf
®
Dv ®
v(t0) Abb. 2.5: Der Vektor der Beschleunigung ist proportional zur Differenz der Geschwindigkeitsvektoren zu verschiedenen Zeiten.
®
v(t0+Dt)
Für einen Vektor ist eine Änderung der Richtung genauso wichtig wie eine Änderung des Betrags. Definition der Beschleunigung In der Mechanik sind Geschwindigkeitsänderungen so entscheidend, dass sie durch eine eigene physikalische Größe beschrieben werden: durch die Beschleunigung. So wie die Geschwindigkeit die zeitliche Änderung des Ortes ist, definiert man die Beschleunigung als zeitliche Änderung der Geschwindigkeit eines Körpers: Die Beschleunigung
~a =
d~v dt
(2.7)
eines Körpers ist eine Vektorgröße, die die Änderung der Geschwindigkeit beschreibt. Dabei können sich sowohl Betrag als auch Richtung der Geschwindigkeit ändern. Die Richtung des Beschleunigungsvektors gibt an, in welche Richtung die Geschwindigkeit des Körpers sich momentan verändert. Sie ist proportional zur Differenz der Geschwindigkeitsvektoren zu aufeinanderfolgenden Zeiten (Abb. 2.5):
~a ∼ ∆~v
∼ ~v(t0 + ∆t) − ~v(t0 ).
Sehen wir uns das konkret am Beispiel der gleichförmigen Kreisbewegung beim Hammerwurf an. Die Kugel läuft auf der Kreisbahn um und ändert dabei die Richtung ihrer Geschwindigkeit. Ein kleiner Ausschnitt der Bahn ist in Abb. 2.6 (a) mit den entsprechenden Geschwindigkeitsvektoren gezeigt. Wenn wir die Geschwindigkeitsvektoren zu den Zeitpunkten t0 und t0 + ∆t vergleichen, erkennen wir, dass ihre Differenz nach innen gerichtet ist. Der Beschleunigungsvektor zeigt in Richtung Kreismittelpunkt. In Abb. 2.6 (b) sind Geschwindigkeits- und Beschleunigungsvektor zu verschiedenen Zeitpunkten dargestellt.
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Kapitel 2 Geschwindigkeit und Beschleunigung – Bewegungen im Sport
(a)
®
(b)
®
v
®
v
Dv
®
®
a
v(t0)
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a ®
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v(t0+Dt)
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v
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a
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®
v
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a ®
v
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v
Abb. 2.6: Bei der gleichförmigen Kreisbewegung zeigt der Vektor der Beschleunigung in Richtung Kreismittelpunkt.
Die Beschleunigung hat eine andere Richtung als die Geschwindigkeit Das letzte Ergebnis ist für viele nicht sehr intuitiv. Nach einer weit verbreiteten, aber falschen Vorstellung haben Geschwindigkeit und Beschleunigung immer die gleiche Richtung. Diese Vorstellung beruht auf einem falschen Verständnis des Begriffs der Beschleunigung. Die Richtung des Beschleunigungsvektors beschreibt, in welche Richtung sich die Geschwindigkeit eines Körpers nach der Zeit ∆t geändert haben wird. Sie zeigt nicht an, in welche Richtung die Geschwindigkeit dann zeigen wird. Man kann sich das etwas klarer machen, wenn man weiß, dass die Beschleunigung eines Körpers proportional zur Kraft ist, die man auf ihn ausübt (das besagt die berühmte Formel ~F = m ·~a, die uns noch ausgiebig beschäftigen wird). Wenn Sie an die Hammerwerferin denken, die die Kugel im Kreis umherschleudert, dann ist klar, dass sie im Wesentlichen an dem Stahlseil zieht (sehr viel mehr kann man mit einem Seil nicht tun) und dadurch eine Kraft in Richtung auf den Mittelpunkt ausübt. Was wir hier für den speziellen Fall des Hammerwurfes gefunden haben, gilt allgemein für alle gleichförmigen Kreisbewegungen: Bei einer gleichförmigen Kreisbewegung zeigt der Beschleunigungsvektor immer in Richtung des Kreismittelpunktes. Man nennt die Beschleunigung, die nötig ist, um einen Körper auf einer Kreisbahn zu halten, auch Zentripetalbeschleunigung (zentripetal = „nach der Mitte strebend“).
35
Abschnitt 2.2 Hammerwurf Abb. 2.7: Richtung der Beschleunigung, (a) wenn sich die Richtung des Geschwindigkeitsvektors ändern soll, (b) wenn sich der Betrag des Geschwindigkeitsvektors ändern soll.
Eine anschauliche Vorstellung von der Richtung der Beschleunigung Die Beschleunigung ist eine Größe, die nicht so unmittelbar anschaulich wie die Geschwindigkeit ist. Wenn Sie Schwierigkeiten haben, sich die Richtung der Beschleunigung vorzustellen, kann die folgende bildhafte Vorstellung hilfreich sein. Stellen Sie sich vor, der Geschwindigkeitsvektor sei ein materielles Gebilde, das Sie mit einem Hammer so verformen müssten, dass aus dem alten Vektor der neue entsteht: Hammer
~v(t0 ) −−−−→ ~v(t0 + ∆t).
(2.8)
Die Richtung der Beschleunigung entspricht der Richtung Ihres Schlags auf die Spitze des Geschwindigkeitsvektors. Abb. 2.7 veranschaulicht dies bildlich. Es gibt zwei Grundmöglichkeiten, den Geschwindigkeitsvektor zu ändern. Zum einen kann man die Richtung des Vektors ändern, ohne seine Länge zu ändern (Abb. 2.7 (a)). Dazu müssen Sie den Schlag auf die Pfeilspitze senkrecht zum Geschwindigkeitsvektor selbst ausführen. Diesen Fall haben wir beim Hammerwurf untersucht. Die Beschleunigung zeigt dann senkrecht zur Bahn. Zum andern kann man die Länge des Geschwindigkeitsvektors ändern, ohne seine Richtung zu verändern. In diesem Fall müssen Sie in Längsrichtung so auf die Pfeilspitze klopfen, dass der Pfeil länger oder kürzer wird (Abb. 2.7 (b)). Die Beschleunigung zeigt nun parallel zur Bahn und damit auch zum Geschwindigkeitsvektor. Weil dieser spezielle Fall in einführenden Darstellungen so oft behandelt wird, entsteht bei vielen der schon erwähnte Eindruck, dass Geschwindigkeit und Beschleunigung immer parallel zueinander sind. Natürlich sind auch Kombinationen aus beiden Fällen möglich. Betrag und Richtung des Geschwindigkeitsvektors können sich gleichzeitig ändern. In welche Richtung der Beschleunigungsvektor dann zeigt, wollen wir nun bei einer etwas realitätsgetreueren Analyse der Hammerwurfdrehung untersuchen. 2.2.4 Die Kugel wird schneller: ungleichförmige Kreisbewegung
Mit unseren bisherigen Modellannahmen haben wir ein etwas unrealistisches Bild von der Hammerwurfdrehung gezeichnet. Wir haben angenommen, dass die Kugel gleichmäßig auf ihrer Bahn umläuft, ohne schneller oder langsamer zu werden. In Wirklichkeit soll die Kugel aber durch die Drehung auf eine möglichst große Abwurfgeschwindigkeit gebracht werden. Das bedeutet: Der
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Kapitel 2 Geschwindigkeit und Beschleunigung – Bewegungen im Sport
Abb. 2.8: Zentripetal- und Tangentialbeschleunigung (a) bei gleichförmiger Kreisbewegung, (b) bei schneller werdender Kugel
Betrag der Geschwindigkeit muss sich ändern. Während der vier Umdrehungen muss die Kugel aus der Ruhe auf eine Abwurfgeschwindigkeit gebracht werden, die für Spitzenwerfer bei 25–30 m/s liegt. Damit unser Modell der Hammerwurfdrehung realitätsgetreuer wird, müssen wir es um die zunehmende Bahngeschwindigkeit der Kugel erweitern. Hammerwurfdrehung mit zunehmender Bahngeschwindigkeit Links in Abb. 2.8 sieht man, was wir bisher untersucht haben: die gleichförmige Kreisbewegung, bei der die Kugel weder schneller noch langsamer wird und die zur Mitte zeigende Zentripetalbeschleunigung ~aZP wirkt. Die Zentripetalbeschleunigung muss auch dann aufgebracht werden, wenn die Kugel schneller werden soll. Zusätzlich muss in diesem Fall die Kugel eine Beschleunigung in Bahnrichtung erfahren. Diese sogenannte Tangentialbeschleunigung ~aT ist im rechten Teil von Abb. 2.8 als Vektor in Richtung der Bahn dargestellt. Wie wir aus Abb. 2.7 wissen, gibt es zwei grundsätzliche Möglichkeiten, den Geschwindigkeitsvektor zu ändern: senkrecht zur Bahn oder parallel zur Bahn. Im vorliegenden Fall sind beide Möglichkeiten ausgenutzt. Die Zentripetalbeschleunigung ändert die Richtung des Geschwindigkeitsvektors, ohne seine Länge zu ändern, während die tangentiale Beschleunigung allein die Länge des Geschwindigkeitsvektors ändert (den Betrag der Geschwindigkeit). Die Gesamtbeschleunigung ist ebenfalls in Abb. 2.8 (b) eingezeichnet. Sie ist die Vektorsumme der beiden Anteile: ~ages = ~aZP +~aT . Sie zeigt nun nicht mehr genau zum Mittelpunkt, sondern besitzt eine kleine Komponente in Bewegungsrichtung. Wenn die Athletin die Kugel beschleunigen will, muss
Abschnitt 2.2 Hammerwurf
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Kasten 2.2 Nach dem Loslassen des Hammers Nachdem die Hammerwerferin das Stahlseil losgelassen hat, gibt es nichts mehr, was sie noch tun kann, um die Weite des Wurfs zu beeinflussen. Wie weit der Hammer fliegt, ist durch den Abwurfwinkel und die Abwurfgeschwindigkeit bestimmt. Ein derartiges Problem wird uns noch beim Weitsprung in Abschnitt 2.4 beschäftigen. Einen wichtigen Punkt können wir aber jetzt schon klären. Sehen Sie sich die beiden Abbildungen oben an. Welche von ihnen beschreibt (aus der Vogelperspektive gesehen) die Flugbahn der Kugel unmittelbar nach Loslassen des Seils besser? Viele tippen auf die Bahn (a). Ihre (bewusste oder unbewusste) Begründung lautet etwa wie folgt: „Die Kugel bewegte sich bei den Drehungen auf einer Kreisbahn und behält dieses Bewegungsmuster noch eine Zeitlang bei. Die Kreisbewegung wurde ihr gewissermaßen eingeprägt.“ Das hört sich zwar sehr plausibel an, ist aber falsch. Dass die tatsächliche Bahn wie in (b) aussieht, können Sie mit Ihrem Wissen aus Kapitel 1 begründen. Nach dem Loslassen des Hammers wirken keine Kräfte mehr auf ihn (abgesehen von der Schwerkraft und der Luftwiderstandskraft). Nach dem Trägheitsgesetz wird er sich deshalb auf einer geradlinigen Bahn bewegen. Die Bewegungsrichtung im Augenblick des Loslassens wird beibehalten. Aus der Vogelperspektive betrachtet behält er diese Bewegungsrichtung auch bei, bis er wieder aufkommt. In vertikaler Richtung ist die Bewegung natürlich nicht geradlinig, denn es wirkt die Schwerkraft, die dafür sorgt, dass der Hammer von der Seite betrachtet entlang einer Wurfparabel fliegt.
ihr Arm der Kugel immer ein kleines Stück vorauseilen (genauer gesagt ihre Schulter, denn die Arme sollen bei der Bewegung rein passiv sein). Sie muss die Kugel gewissermaßen wie einen Hund „an der Leine hinter sich herziehen“, damit sie schneller wird. Der Winkel zwischen der Radialrichtung und der Richtung der Gesamtbeschleunigung heißt beim Hammerwurf tracking angle („Führungswinkel“). Er ist ein Maß dafür, wie stark die Kugel in der jeweiligen Bewegungsphase den Betrag ihrer Geschwindigkeit ändert. Im oben abgebildeten Wurf von Olga Kusenkowa lag der maximale Wert dieses Winkels bei 12◦ , und zwar in der ersten Drehung an der tiefsten Stelle der Kugel. In dieser Phase der Drehung wird die Kugel „am schnellsten schneller“. Wenn wir zusammenfassen, was wir über die Drehung beim Hammerwurf herausgefunden haben, wird deutlich, warum der Hammerwurf als eine technisch so schwierige Disziplin gilt. Mit jeder Drehung muss die Kugel schneller werden. Die Drehungen müssen gleichmäßig ausgeführt werden, damit die Werferin nicht die Balance verliert. Und wir dürfen nicht vergessen, dass das
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Kapitel 2 Geschwindigkeit und Beschleunigung – Bewegungen im Sport
Abb. 2.9: Moderner Bungeesprung
Ganze in einer Ebene stattfindet, die um etwa 45◦ gegenüber dem Erdboden geneigt ist. Nur Spitzenwerfer schaffen es, vier Drehungen auszuführen. Die meisten Hammerwerfer müssen sich mit drei Drehungen begnügen und auf die zusätzliche Beschleunigung einer vierten Drehung verzichten.
2.3 Geschwindigkeit und Beschleunigung beim Bungeesprung Der Legende nach liegt der Ursprung des Bungeespringens auf der SüdseeInsel Pentecost. Dort floh einst eine unglückliche junge Frau vor ihrem gewalttätigen Mann auf eine hohe Kokospalme. Der Mann stieg ihr nach, und sie, in ihrem weißen Kleid ausweglos im Palmschopf sitzend, sah den bulligen Unhold grimmig-langsam auf sich zu kommen. Er erreichte sie fast, wollte sie ergreifen. Da stürzte sie sich in die Tiefe. Sie hatte sich aber eine Liane um den Fußknöchel gewickelt, von der sie aufgefangen wurde. Der Bösewicht ließ sich von ihrer List täuschen und sprang in den Tod. Seither springen auf der Insel jährlich im Frühling junge Männer zur Mutprobe von einem hohen Holzturm, gesichert von Lianen (Foto auf S. 27). Aus diesem Brauch entwickelte sich das heutige Bungeespringen als AbenteuerSportart. Statt von Holztürmen springen Mutige von Kränen oder Brücken (Abb. 2.9). An die Stelle der Liane ist ein dehnbares Seil aus Latexfasern getreten, das den Fall weniger ruckartig beendet.
Abschnitt 2.3 Geschwindigkeit und Beschleunigung beim Bungeesprung
39
Abb. 2.10: Verlauf eines Bungeesprungs
2.3.1 Physikalische Analyse eines Bungeesprungs
Zur Vertiefung der Begriffe Geschwindigkeit und Beschleunigung wollen wir im Folgenden einen Bungeesprung physikalisch analysieren. Die Bilderfolge in Abb. 2.10 zeigt den Verlauf eines Sprungs aus 56 m Höhe. Die Bilder sind im Abstand von etwa 1,2 s aufgenommen. Zunächst fällt der Springer ungebremst, doch sobald das Seil gestrafft ist, wird er von ihm abgebremst. Dicht über der Wasseroberfläche kommt er für einen kurzen Moment zur Ruhe. Danach wird er vom gespannten Seil wieder nach oben geschleudert.
40
Kapitel 2 Geschwindigkeit und Beschleunigung – Bewegungen im Sport
Im Gegensatz zum Hammerwurf, wo die Bewegung in einer zweidimensionalen Ebene ablief, ist für den Bungeesprung nur die Vertikale interessant; es handelt sich um ein eindimensionales Problem. Der Bungeesprung ist daher einfacher zu beschreiben als der Hammerwurf. Wir brauchen nicht mit Vektoren zu arbeiten, die Angabe ihrer Vertikalkomponente reicht aus. Zeit-Weg-Diagramm Für eine präzise physikalische Beschreibung des Sprungs ist es hilfreich, die Höhe y des Springers nicht nur für die in Abb. 2.10 dargestellten sechs ausgewählten Momente zu kennen, sondern für jeden beliebigen Zeitpunkt. Diese Information ist im Zeit-Weg-Diagramm in Abb. 2.11 (a) enthalten. Um es zu erstellen, wurde der Sprung auf Video aufgenommen und mit einem Messwerterfassungssystem die Position des Springers in jedem Teilbild registriert (also im Abstand von 1/25 Sekunde). Die Datenpunkte, die den Bildern aus Abb. 2.10 entsprechen, sind besonders hervorgehoben. Aus dem Zeit-Weg-Diagramm kann man schon viel Information über den Sprung herauslesen. Betrachten wir den Verlauf der Kurve von links nach rechts. Man kann verschiedene Phasen unterscheiden. In den ersten 1,4 Sekunden (im Bereich positiver y-Werte) erkennt man den für den freien Fall charakteristischen parabelförmigen Verlauf der y(t)-Kurve. Wir werden später noch darauf zurückkommen. Nach 1,4 Sekunden ist der Springer ca. 14 m frei gefallen und das Seil ist gestrafft (an diese Stelle wurde willkürlich der Nullpunkt der y-Achse gelegt). Das Seil wird nach und nach stärker gespannt und beginnt den Fall abzubremsen. Der tiefste Punkt ist nach 4 Sekunden Fallzeit erreicht. Nach 53 durchstürzten Metern ist der Springer vorübergehend zur Ruhe gekommen und bleibt eine ganze Weile in der Nähe der tiefsten Position. Vom gespannten Seil wird er anschließend noch einmal gut 30 Meter nach oben gezogen. Das Auf und Ab wiederholt sich noch einige Male, bis der Springer dann irgendwann, kopfunter am Seil hängend, zur Ruhe kommt. Zeit-Geschwindigkeits-Diagramm Ein zweites nützliches Diagramm ist das Zeit-Geschwindigkeits-Diagramm in Abb. 2.11 (b), in dem die vertikale Geschwindigkeit v des Springers zu jedem Zeitpunkt eingezeichnet ist. Man kann sie nicht direkt aus den Fotos ablesen, sondern muss sie aus Orts- und Zeitdifferenzen berechnen. Die negativen Geschwindigkeitswerte in den ersten 4 Sekunden bedeuten, dass die Geschwindigkeit nach unten gerichtet ist. Sie wird null, wenn der Springer bei t = 4 s seinen tiefsten Punkt erreicht hat. Danach setzt die Aufwärtsbewegung ein und v nimmt positive Werte an. Das t-v-Diagramm zeigt eine Gerade, wenn das Seil noch nicht gespannt ist und der Springer sich im freien Fall befindet (d. h. für t < 1,4 s). Das lineare Zunehmen der Geschwindigkeit ist typisch für den freien Fall. Nach 2 Sekunden hat die Bremswirkung des Seils so weit eingesetzt, dass die Fallbewegung nicht mehr schneller wird. Die Geschwindigkeitskurve hat an diesem Punkt ein Extremum. Man liest eine Maximalgeschwindigkeit von
Abschnitt 2.3 Geschwindigkeit und Beschleunigung beim Bungeesprung
(a)
y in m
freier Fall
41
Zeit-Weg-Diagramm
10 t in s 1
2
–10 –20 –30
5
6
Aufwärtsbewegung
Zeit-Geschwindigkeits-Diagramm
20
10
4
Springer erreicht seinen tiefsten Punkt
Seil beginnt den Fall abzubremsen
v in m/s (b)
3
Aufwärtsbewegung freier Fall t in s 1
2
3
4
Springer wird nicht mehr schneller
–10
5
6
Geschwindigkeit null am tiefsten Punkt
–20
(c)
a in m/s2 Seilspannung nimmt ab
15 10 5
konstante Beschleunigung nach unten 1
–5 –10
Beschleunigung nach oben t in s 2
3
4
5
6
Seil verringert die Beschleunigung nach unten Zeit-Beschleunigungs-Diagramm
Abb. 2.11: Verlauf des Bungeesprungs: (a) Höhe, (b) Geschwindigkeit, (c) Beschleunigung
42
Kapitel 2 Geschwindigkeit und Beschleunigung – Bewegungen im Sport
v in m/s
t in s
2
3
4
v(t+Dt)
v(t) –10
Dt Dv –20
Abb. 2.12: Die Geschwindigkeitsänderung ∆v ist entgegengesetzt zur Geschwindigkeit v gerichtet.
etwa 20 m/s ab. Wenn der Springer zu diesem Zeitpunkt, in 25 m Höhe, nach unten schaut, sieht er den Boden mit 72 km/h auf sich zu rasen. Zu seinem Glück verringert sich die Geschwindigkeit anschließend wieder bis zu v = 0 am Umkehrpunkt. Zeit-Beschleunigungs-Diagramm Welche Beschleunigung muss der menschliche Körper beim Bungeesprung aushalten? Diese Frage lässt sich mit dem Zeit-Beschleunigungs-Diagramm in Abb. 2.11 (c) beantworten. Zu Beginn, in der Phase des freien Falls, wirkt die konstante Erdbeschleunigung g = 9,81 m/s2 nach unten. Danach bremst das Seil den Springer ab, und | a| wird geringer. Nach 2 Sekunden ist das Seil so weit gedehnt, dass der Springer nach oben beschleunigt wird (a > 0). Beschleunigung nach oben bedeutet aber noch nicht, dass nun auch die Geschwindigkeit nach oben gerichtet ist. Die Beschleunigung beschreibt ja die zeitliche Änderung der Geschwindigkeit, und daher ist nur die Geschwindigkeitsänderung ∆v in der Zeit ∆t nach oben gerichtet. Für den Bungeespringer äußert sich das darin, dass er nun langsamer wird. Das ist im t-v-Diagramm zu erkennen und wird in Abb. 2.12 noch einmal verdeutlicht. Der größte Wert der Beschleunigung ist bei t = 4 s erreicht, zu dem Zeitpunkt also, zu dem der Springer am tiefsten Punkt für einen Moment zur Ruhe kommt (auch hier muss man aufpassen: Die Geschwindigkeit ist in diesem Moment null, die Geschwindigkeitsänderung aber maximal). Das Seil ist jetzt am straffsten gespannt und zieht den Springer nach oben. Die maximale Beschleunigung, die der Springer ertragen muss, liegt bei 16 m/s2 , also etwa 1,9 g. Diese moderate Beschleunigung stellt zwar medizinisch noch kein Problem dar, aber ein wenig unangenehm wird die Lage für den Springer trotzdem: Er hängt mit dem Kopf nach unten am Seil, und nach dem Trägheitsgesetz fließt sein Blut bei der Aufwärtsbewegung in Richtung Kopf.
Abschnitt 2.4 Weitsprung und schräger Wurf
43
2.3.2 Gleichmäßig beschleunigte Bewegung
Der Bungeesprung ist ein komplexer Bewegungsvorgang. Die Diagramme für Ort, Geschwindigkeit und Beschleunigung in Abb. 2.11 lassen sich mathematisch nicht ohne Weiteres durch einfache Funktionen erfassen. Wir haben sie deshalb grafisch analysiert. Es gibt jedoch Bewegungsformen, deren mathematische Beschreibung einfacher ist. Wir können sie durch Formeln erfassen. Ein Beispiel ist die gleichmäßig beschleunigte Bewegung, bei der die Beschleunigung a sich nicht ändert, sondern während der gesamten Bewegung konstant ist. Die Formeln für Ort y und Geschwindigkeit v in Abhängigkeit von der Zeit t lauten wie folgt: y(t) = y0 + v0 t + 21 at2 , v(t) = v0 + at.
(2.9) (2.10)
Dabei ist y0 die Position zur Zeit t = 0 und v0 die Anfangsgeschwindigkeit. Der freie Fall zu Beginn des Bungeesprungs ist ein Beispiel für eine gleichmäßig beschleunigte Bewegung. Abb. 2.11 (c) zeigt, dass die Beschleunigung in der Phase des freien Falls (t < 1,4 s), den konstanten Wert a = − g besitzt. Nach Gl. (2.9) hängt der Ort bei der gleichmäßig beschleunigten Bewegung quadratisch von der Zeit ab, die Geschwindigkeit linear. Beide Abhängigkeiten sind in Abb. 2.11 gut zu erkennen: Das Zeit-Weg-Diagramm zeigt in der Phase des freien Falls einen parabelförmigen Verlauf; im Zeit-Geschwindigkeits-Diagramm sieht man eine Gerade. Eine Warnung zum Schluss Dass man den weiteren zeitlichen Verlauf des Bungeesprungs offensichtlich nicht durch die Gleichungen (2.9) und (2.10) beschreiben kann, sollte Sie vor allzu unkritischem Gebrauch dieser Formeln warnen. Wenn es in der Physik Formeln gibt, die zu bekannt sind, dann gehören diese sicherlich dazu. Dass sie jedermann kennt, bedeutet aber noch lange nicht, dass man sie auch immer anwenden kann. Sie gelten wirklich nur für den Fall einer Bewegung mit konstanter Beschleunigung. Oftmals muss man aber Bewegungen untersuchen, für die das nicht gilt. Dann werden Sie mit Gl. (2.9) und (2.10) Schiffbruch erleiden. In solchen Fällen bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als die newtonschen Bewegungsgleichungen zu lösen.
2.4 Weitsprung und schräger Wurf Kommen wir zu einer anderen Sportart, bei deren Analyse man Physik lernen kann: zum Weitsprung. Das Ziel der Disziplin ist leicht formuliert: anlaufen, kurz vor dem Absprungbalken abspringen und in möglichst großer Entfernung in der Sandgrube wieder landen. Das hört sich einfach an, doch zu einem guten Weitsprung gehört viel Technik, Koordination und Schnelligkeit.
44
Kapitel 2 Geschwindigkeit und Beschleunigung – Bewegungen im Sport
Abb. 2.13: Landung beim Weitsprung
Wie ein guter Sprung aussieht Aus Erfahrung wissen Weitspringer, dass ein möglichst schneller Anlauf wichtig ist. Nur sehr gute Sprinter haben Chancen auf große Sprungweiten. Weltklassespringer erreichen kurz vor dem Absprung Geschwindigkeiten von etwa 10 m/s – damit hätten sie auch beim 100-m-Lauf gute Chancen. Die Kunst beim Weitsprung besteht darin, die große Anlaufgeschwindigkeit beim Absprung möglichst beizubehalten und noch dazu eine große Sprunghöhe zu erzielen. Flache Sprünge sind keine weiten Sprünge. Es ist allerdings nicht einfach, große Absprungwinkel zu erreichen, denn mit einem einzigen Schritt muss der Körper stark nach oben beschleunigt werden. Die Sportler haben dafür eine besondere Anlauftechnik entwickelt (die letzen drei Schritte im Rhythmus kurz-lang-kurz), wobei sie für einen möglichst hohen Sprung sogar eine Verringerung der Horizontalgeschwindigkeit in Kauf nehmen. Nachdem der Weitspringer einmal abgesprungen ist, steht die Flugbahn des Körperschwerpunkts unwiderruflich fest. Der Sportler kann nichts tun, um sie zu verändern (nach dem zweiten newtonschen Gesetz, das wir in Kürze behandeln werden, müssten dazu äußere Kräfte auf seinen Körper wirken – in der Flugphase wirkt aber nur die Schwerkraft). An welcher Stelle der Körperschwerpunkt in der Sandgrube aufkommt, ist durch die Flugbahn eindeu-
Abschnitt 2.4 Weitsprung und schräger Wurf
45
tig bestimmt. Trotzdem ist die Landung ein wichtiger Bestandteil des Sprungs. Denn für die Wertung zählt nicht der Körperschwerpunkt, sondern derjenige Körperteil, der im Sand die entscheidende Furche hinterlässt (Abb. 2.13). Es zählt der Abdruck, der dem Absprungbalken am nächsten liegt. Im Flug müssen die Weitspringer daher ihre Gliedmaßen so ordnen, dass sie möglichst weit vorn aufkommen. Die Bewegungen, die ein Weitspringer während des Sprungs ausführt (und die Namen wie Hangsprung- oder Laufsprungtechnik bekommen haben), beeinflussen nicht den Sprung selbst, sondern dienen zur Vorbereitung der Landung. Sie sorgen dafür, dass der Springer so landet, dass die bei der Landung „verschenkte“ Weite möglichst gering bleibt. 2.4.1 Der schräge Wurf
Um den Weitsprung physikalisch beschreiben zu können, müssen wir zunächst auf eine Bewegungsform eingehen, die dabei die entscheidende Rolle spielt: den „schrägen Wurf“. Schon sein Name sagt aus, worum es geht: Ein Körper wird im Winkel α zur Horizontalen abgeworfen und bewegt sich unter dem Einfluss der Schwerkraft, bis er wieder landet (Abb. 2.14). Wie beim Hammerwurf ist die Bewegung zweidimensional; die beiden Koordinaten sind die momentane Weite x (t) und die momentane Höhe y(t). Auch wenn es auf den ersten Blick so aussieht, handelt es sich bei Abb. 2.14 nicht um ein Zeit-Weg-Diagramm, sondern um die Bahnkurve des Körpers in der x-y-Ebene. Beim schrägen Wurf hat die Bahnkurve die Gestalt einer Parabel, der Wurfparabel. Der geworfene Körper steigt an, erreicht in der Höhe h seinen höchsten Punkt und trifft nach der Wurfweite w wieder auf. Schräger Wurf: Eine Kombination zweier unabhängiger Bewegungen Die mathematische Beschreibung des schrägen Wurfs ist einfacher als man meinen könnte. Die Bewegung in x-Richtung verläuft nämlich völlig unabhängig von derjenigen in y-Richtung. Deshalb können wir beide einzeln betrachten.
Abb. 2.14: Schräger Wurf
46
Kapitel 2 Geschwindigkeit und Beschleunigung – Bewegungen im Sport
Abb. 2.15: Geschwindigkeitsvektor und Geschwindigkeitskomponenten
In x-Richtung folgt der Körper einfach dem Trägheitsgesetz: Es wirken keine Kräfte in dieser Richtung, also ändert sich seine Geschwindigkeit nicht. Er behält seine Anfangsgeschwindigkeit v0x bei, ungestört vom Auf- und Absteigen in y-Richtung. In y-Richtung bewegt sich der Körper unter dem Einfluss der Schwerkraft. Die resultierende Auf- und wieder Abwärtsbewegung ist nichts anderes als der freie Fall, die gleichmäßig beschleunigte Bewegung mit der Beschleunigung − g. Die zweidimensionale Bewegung beim schrägen Wurf setzt sich demnach aus zwei einfachen eindimensionalen Bewegungsformen zusammen: gleichförmige Bewegung in x-Richtung und gleichmäßig beschleunigte Bewegung in y-Richtung. Das Weg-Zeit-Gesetz lautet entsprechend: x (t) = x0 + v0x t, y ( t ) = y0 + v0 y t −
(2.11) 1 2 2 gt .
(2.12)
Der Vektor der Anfangsgeschwindigkeit Die Geschwindigkeit des geworfenen Körpers ist eine Vektorgröße. Zur Angabe der Anfangsgeschwindigkeit gibt es zwei Möglichkeiten: (1) Wir können angeben, wie schnell und unter welchem Winkel er abgeworfen wurde (also Betrag und Richtung des Geschwindigkeitsvektors). (2) Die zweite, etwas ungewohntere Möglichkeit besteht darin, die Komponenten v0 x und v0 y des Vektors der Anfangsgeschwindigkeit einzeln anzugeben. Diese Möglichkeit wurde in den Gleichungen (2.11) und (2.12) gewählt. Die beiden Möglichkeiten zur Beschreibung der Vektorgröße „Anfangsgeschwindigkeit“ werden in Abb. 2.15 verdeutlicht. Der Vektor ~v0 der Anfangsgeschwindigkeit ist als Pfeil eingezeichnet. Betrag und Richtung des Vektors sind durch die Länge und Richtung des Pfeils gegeben. Die Horizontal- und die Vertikalkomponente des Vektors ergeben sich aus der Projektion auf die horizontale bzw. vertikale Koordinatenachse. Der Zusammenhang zwischen Betrag |~v0 |, Abwurfwinkel α und den beiden Komponenten v0x und v0y lässt sich mit etwas Trigonometrie aus der Abbildung ablesen: v0x = |~v0 | cos α, v0y = |~v0 | sin α.
(2.13) (2.14)
47
Abschnitt 2.4 Weitsprung und schräger Wurf
Wurfparabel Wie kommt man von den beiden Gleichungen (2.11) und (2.12) zur Wurfparabel? In den beiden Formeln wird der zeitliche Verlauf x (t) und y(t) der Bewegung wiedergegeben, d. h. es sind Weg-Zeit-Gleichungen, und zwar für jede Raumrichtung x und y eine. Wir können aus Gl. (2.11) und (2.12) die Position des geworfenen Körpers für jeden Zeitpunkt t berechnen. Aus der Wurfparabel in Abb. 2.14 können wir diese Information nicht ablesen, weil hier nur die räumliche Gestalt der Bahn gezeigt ist, die Bahnkurve. Um sie aus den Weg-Zeit-Gleichungen zu gewinnen, lösen wir Gl. (2.11) nach t auf: x ( t ) − x0 . (2.15) t= v x0 Nun setzen wir Gl. (2.12) ein, um t zu eliminieren. Es ergibt sich: y − y0 =
v0y v0x
( x − x0 ) −
g ( x − x0 )2 . 2v x 20
(2.16)
Diese Gleichung beschreibt die Bahnkurve y( x ) des geworfenen Körpers. Sie hat eine etwas komplizierte Gestalt, weil die beiden Komponenten der Anfangsgeschwindigkeit (v0x , v0y ) und der Abwurfort ( x0 , y0 ) auftreten. Aber wenn man sich die Struktur der Gleichung anschaut, erkennt man, dass y quadratisch von x abhängt. Die Gleichung bestätigt die Aussage von oben: Bei der Bahnkurve des schrägen Wurfes handelt es sich um eine nach unten geöffnete Parabel wie in Abb. 2.14. Wurfhöhe und -weite Was uns am schrägen Wurf interessiert, sind die Wurfweite w und die Wurfhöhe h (beide sind in Abb. 2.14 eingezeichnet). Mit ein wenig mathematischem Aufwand kann man beide Größen aus Gl. (2.16) ermitteln. Um die Wurfweite herauszufinden, bestimmt man denjenigen Wert von x, bei dem der geworfene Körper wieder am Boden aufkommt, für den also y − y0 = 0 gilt. Man findet: w=
2v0x v0y g
=
|~v0 |2 sin 2α , g
(2.17)
wobei im zweiten Schritt Gl. (2.13) und Gl. (2.14) benutzt wurden. Die Wurfhöhe kann man berechnen, indem man durch Differenzieren das Maximum der Parabel (2.16) und den dazugehörigen Wert der Höhe y − y0 ermittelt. Man erhält: v0 2y |~v |2 sin2 α h= = 0 . (2.18) 2g 2g Ist Ihnen aufgefallen, dass dies die gleiche Höhe wie beim senkrechten Wurf mit Abwurfgeschwindigkeit v0y ist? Wenn Sie die vorangegangenen Abschnitte noch einmal sorgfältig lesen, können Sie dieses Ergebnis auch völlig ohne Rechnung gewinnen.
48
Kapitel 2 Geschwindigkeit und Beschleunigung – Bewegungen im Sport
Abb. 2.16: Während des Sprungs folgt der Körperschwerpunkt einer Parabel.
2.4.2 Wie weit kann ein Mensch springen?
Kehren wir zu unserem eigentlichen Ziel zurück: der physikalischen Analyse des Weitsprungs. Wir fragen: Wie sieht der „ideale“ Sprung aus, auf den man im Training hinarbeiten sollte? Wie weit kann ein Mensch überhaupt springen? Jahrzehntelang konnte der „Jahrhundertsprung“ von Bob Beamon (8,90 m, 1968) nicht überboten werden. Doch im Jahr 1991 gelang Mike Powell ein noch weiterer Sprung, und seitdem liegt der Weltrekord bei 8,95 m. Um wie viel kann diese Sprungweite noch gesteigert werden? Mit physikalischen Mitteln können wir dieser Frage (jedenfalls in Teilaspekten) nachgehen. Wie beim schrägen Wurf folgt der Körperschwerpunkt des Springers einer Wurfparabel (Abb. 2.16). Für die Form der Bahn ist unmaßgeblich, dass der Springer im Gegensatz zu einem geworfenen Ball aktiv abspringt. Was zählt, sind die Kräfte während der Flugphase, und beim Ball wie beim Springer wirkt ausschließlich die Schwerkraft (wenn man vom Luftwiderstand absieht). Die Bewegungen des Springers während der Flugphase beeinflussen die Bahn des Körperschwerpunkts nicht. Der beste Absprungwinkel Um die ersten qualitativen Erkenntnisse zu gewinnen, betrachten wir die Weite beim schrägen Wurf (Gl. (2.17)). Sie hängt von den beiden Parametern Abwurfgeschwindigkeit |~v0 | und Abwurfwinkel α ab. Wir sehen schon hier, dass
Abschnitt 2.4 Weitsprung und schräger Wurf
49
für den Weitsprung ein schneller Anlauf besonders wichtig ist, denn die Weite hängt quadratisch von der Abwurfgeschwindigkeit ab. Die Sprungweite vervierfacht sich, wenn die Geschwindigkeit verdoppelt wird. Nach Gl. (2.17) läge der optimale Absprungwinkel bei 45◦ . Für diesen Wert hat die Weite als Funktion von α ihr Maximum. Tatsache ist allerdings, dass kein Springer einen so steilen Absprungwinkel erreicht. Selbst die besten Weitspringer, die ihre Sprungtechnik über Jahre hinweg optimiert haben, erreichen nur Absprungwinkel zwischen 20◦ und 30◦ . Der Grund für den ungünstig flachen Absprungwinkel liegt darin, dass bei einem Absprungwinkel von 45◦ die Vertikal- und die Horizontalkomponente der Absprunggeschwindigkeit gleich sein müssten (vgl. Abb. 2.15 sowie Gl. (2.13) und (2.14)). Die Horizontalgeschwindigkeit kann durch einen langen Anlauf allmählich aufgebaut werden (dies ist der einzige Zweck des Anlaufs). Dagegen muss die Vertikalgeschwindigkeit durch einen einzigen Schritt beim Absprung erreicht werden. Obwohl die Weitspringer – wie oben erwähnt – für einen steileren Absprungwinkel sogar etwas von ihrer Horizontalgeschwindigkeit opfern, wird der optimale Absprungwinkel bei weitem nicht erreicht. Wir werden das bei unseren Überlegungen zur maximalen Sprungweite berücksichtigen müssen. Beispielaufgabe: Überzeugen Sie sich davon, dass beim Weitsprung ein Absprungwinkel von 45◦ unrealistisch ist. Modellieren Sie in einer ersten Abschätzung den Weitsprung als schrägen Wurf. Berechnen Sie Wurfweite und Wurfhöhe für eine Abwurfgeschwindigkeit |~v0 | = 10 m/s und einen Abwurfwinkel von 45◦ . Lösung: Um die Wurfweite zu berechnen, gehen wir von Gl. (2.17) aus und setzen die angegebenen Werte für die Abwurfgeschwindigkeit und den Abwurfwinkel ein:
w=
|~v0 |2 sin 2α (10 m/s)2 sin 2 · 45◦ = = 10,20 m. g 9,81 m/s2
Die Wurfhöhe können wir aus Gl. (2.18) ermitteln:
h=
|~v0 |2 sin2 α (10 m/s)2 sin2 45◦ = = 2,55 m. 2g 2 · 9,81 m/s2
Mit einem solchen Sprung hätte man nicht nur den Weitsprung-Weltrekord um einen guten Meter überboten, sondern läge (jedenfalls mit dem Körperschwerpunkt) auch noch um 10 cm über der derzeitigen Hochsprung-Bestmarke. Einen solchen Sprung haben Sie sicherlich weder im Stadion noch im Fernsehen jemals gesehen.
Physikalisches Modell des Weitsprungs Versuchen wir ein mathematisch handhabbares und doch möglichst realitätsnahes Modell eines Weitsprungs zu entwerfen. Die erste Modellannahme haben wir stillschweigend bereits vorgenommen: Statt des ganzen Springers betrachten wir nur seinen Körperschwerpunkt (der beim Menschen etwas über
50
Kapitel 2 Geschwindigkeit und Beschleunigung – Bewegungen im Sport
Abb. 2.17: Bahnkurve beim Weitsprung
Hüfthöhe liegt). Beim Absprung und während des Flugs bereitet diese Annahme keine Probleme. Die Landung jedoch ist ein komplizierter Vorgang, dessen Details wir nicht modellieren können. In unserer mathematischen Beschreibung können wir nur den Landepunkt des Körperschwerpunkts berechnen. Unsere Abschätzung der Sprungweite sollte unter dieser Vereinfachung aber nicht allzu sehr leiden, denn bei einem guten Sprung muss der Springer darauf hinwirken, dass das letzte Körperteil so wenig wie möglich hinter dem Schwerpunkt landet. Alles andere ist „verschenkte Weite“. Um die Flugphase zu modellieren, ist es auf den ersten Blick naheliegend, den Weitsprung wie im Beispiel oben einfach als schrägen Wurf des Körperschwerpunkts zu betrachten. Für eine genauere Beschreibung wird das aber nicht ausreichen, denn wie man in Abb. 2.17 erkennen kann, ist die Bahnkurve des Springers nicht symmetrisch. Er springt aufrecht ab und landet im Sitzen oder Liegen. Wir können daher den Weitsprung nicht einfach als einen symmetrischen schrägen Wurf beschreiben, sondern müssen uns einen verfeinerten Ansatz einfallen lassen. Elegant ist die folgende Lösung: Wir zerlegen den unsymmetrischen schrägen Wurf gedanklich in zwei Hälften und setzen die Bahn aus zwei halben Wurfparabeln zusammen (Abb. 2.18). Zur Beschreibung der beiden halben Parabeln verwenden wir die Gleichungen für den schrägen Wurf. Die Gesamtweite des Sprungs ist dann die Summe der beiden Teilweiten w1 und w2 . Erste Hälfte des Sprungs Die erste Hälfte des Sprungs ist einfach zu beschreiben. Wir setzen den Absprungwinkel α und die Absprunggeschwindigkeit |~v0 | in die Formel (2.17) für die Wurfweite ein. Wir wählen α = 25◦ und |~v0 | = 10 m/s. Das sind die Werte eines ausgezeichneten Athleten, denn mit einer Geschwindigkeit von 10 m/s läuft man 100 m in 10 Sekunden. Damit ergibt sich: w1 = Mit dem Faktor
1 2
1 |~v0 |2 sin 2α = 3,90 m. 2 g
berücksichtigen wir die „halbe“ Wurfparabel.
(2.19)
51
Abschnitt 2.4 Weitsprung und schräger Wurf
®
v0
h1
h2
a Dh
1m
a2 30 cm ®
w1
w2
erste Hälfte
zweite Hälfte
v2
Abb. 2.18: Modellieren des Weitsprungs mit zwei halben Wurfparabeln
Zweite Hälfte des Sprungs Bei der zweiten Hälfte des Sprungs wird es schwieriger. Der „Landewinkel“ α2 ist ein anderer als α, und auch die Landegeschwindigkeit |~v2 | hat einen anderen Wert als die Absprunggeschwindigkeit. Wir müssen zwei Gleichungen für die beiden unbekannten Größen α2 und |~v2 | suchen, damit wir sie aus bekannten Größen berechnen und in Formel (2.17) einsetzen können. Wir erinnern uns, dass die Horizontalgeschwindigkeit |~v| cos α während des gesamten Sprungs konstant bleibt (Trägheitsgesetz). Insbesondere sind die Horizontalkomponenten von Absprunggeschwindigkeit ~v0 und Landegeschwindigkeit ~v2 gleich. Wir erhalten so die erste der beiden gesuchten Gleichungen (vgl. Gl. (2.13)):
|~v0 | cos α = |~v2 | cos α2 .
(2.20)
Die zweite Gleichung ergibt sich aus der Geometrie des Sprungs. Der Körperschwerpunkt befindet sich beim Absprung in einer Höhe von ungefähr einem Meter; im Moment des Aufkommens liegt er niedriger. Die Höhendifferenz ∆h beträgt etwa 70 cm (Abb. 2.18). Weil die beiden Wurfparabelhälften sich aber im Scheitelpunkt treffen müssen, sind ihre Höhen wie folgt miteinander verknüpft: h2 = h1 + ∆h. (2.21) Einsetzen der Wurfhöhen aus Gl. (2.18) ergibt:
|~v2 |2 sin2 α2 |~v |2 sin2 α = 0 + ∆h. 2g 2g
(2.22)
Durch Multiplizieren der Gleichung auf beiden Seiten mit 2g erhalten wir:
|~v2 |2 sin2 α2 = |~v0 |2 sin2 α + 2g∆h.
(2.23)
52
Kapitel 2 Geschwindigkeit und Beschleunigung – Bewegungen im Sport
Nun addieren wir auf beiden Seiten |~v0 |2 cos2 α und benutzen die Relation (2.20): |~v2 |2 sin2 α2 + cos2 α2 = |~v0 |2 sin2 α + cos2 α +2g∆h. (2.24) {z } | {z } | =1
=1
Der Ausdruck in Klammern ist auf beiden Seiten gleich 1, so dass sich ergibt:
|~v2 |2 = |~v0 |2 + 2g∆h.
(2.25)
Durch Wurzelziehen erhalten wir die Bestimmungsgleichung für |~v2 |: q |~v2 | = |~v0 |2 + 2g∆h. (2.26)
Mit den Gleichungen (2.20) und (2.26) liegen nun die beiden Relationen vor, mit denen wir die unbekannten Größen |~v2 | und α2 berechnen können. Der Rest ist einfach: Zunächst ermitteln wir die Parameter für die zweite Sprunghälfte aus den oben schon benutzten Werten α = 25◦ und |~v0 | = 10 m/s: α2 = 31,8◦
und
|~v2 | = 10,66 m/s.
(2.27)
Durch Einsetzen dieser Werte in Gl. (2.17) erhalten wir die Weite der zweiten Sprunghälfte (wobei wir den Faktor 12 für die halbe Parabel nicht vergessen): w2 =
1 |~v2 |2 sin 2α2 = 5,18 m. 2 g
(2.28)
Übrigens hätten wir die Relationen (2.20) und (2.26) auch durch Anwenden von Energie- und Impulssatz statt wie hier geometrisch gewinnen können. Können Sie herausfinden, hinter welchen der Gleichungen sich Energie- und Impulssatz verbergen? Der Sprung zum Weltrekord Mit dem Ergebnis für w2 können wir zu unserer eigentlichen Absicht zurückkehren, der Berechnung der Gesamtweite w aus den beiden Teilweiten w1 und w2 : w = w1 + w2 = 3,90 m + 5,18 m = 9,08 m. (2.29) Diese Abschätzung der maximal möglichen Sprungweite liegt bemerkenswert nahe am gegenwärtigen Weltrekord von 8,95 m. Unser Modell und die Annahmen für die beiden Parameter α und |~v0 | kommen also der Realität durchaus nahe. Man sieht aber auch, dass die Spitzensportler ihre Technik so weit entwickelt haben, dass sie mit ihren besten Sprüngen das unter den gegebenen Bedingungen physikalisch Mögliche fast ausschöpfen. Wie weit lässt sich der Weitsprungweltrekord noch steigern? Größere Weiten lassen sich durch eine höhere Absprunggeschwindigkeit und einen größeren Absprungwinkel erzielen. Abb. 2.19 zeigt die Sprungweite für verschiedene Absprunggeschwindigkeiten und Absprungwinkel. Der optimale Absprungwinkel liegt in der Nähe von 45◦ , bei etwa 42◦ . Dass es nicht genau 45◦
53
Abschnitt 2.4 Weitsprung und schräger Wurf
Weite in m
13
v0 = 11 m/s
12 11 v0 = 10 m/s
10 9
v0 = 9 m/s
8 7
20
25
30
35
40
45
50
Absprungwinkel in Grad Abb. 2.19: Maximale Weite beim Weitsprung als Funktion der Geschwindigkeit und des Absprungwinkels
sind, liegt am unsymmetrischen Verlauf des Sprungs. Die üblichen flachen Absprungwinkel sind also alles andere als optimal. Wir haben schon erörtert, dass viel steilere Winkel aus physiologischen Gründen wohl kaum zu erreichen sind. Der eher flache Verlauf der Kurven in Abb. 2.19 zeigt aber auch, dass die Abhängigkeit der Sprungweite vom Winkel nicht allzu stark ist: Eine Verbesserung beim Absprungwinkel führt nur zu recht geringen Verbesserungen in der Weite. Anders sieht es bei der Absprunggeschwindigkeit aus: Wie wir aus der quadratischen Abhängigkeit der Wurfweite von der Geschwindigkeit schon vermutet hatten, führt eine höhere Geschwindigkeit zu deutlich verbesserten Sprungweiten. Allerdings braucht man mit etwa 10 m/s schon Weltklassegeschwindigkeiten, um auf wirklich gute Sprungweiten zu kommen. Nur erstklassige Sprinter können den Weitsprung-Weltrekord gefährden. Um mit aller Vorsicht eine Prognose für den „endgültigen Weitsprung-Weltrekord“ zu wagen, gehen wir von unveränderten Absprungwinkeln aus, setzen aber die höchsten bisher gemessenen Momentangeschwindigkeiten beim Sprint ein, die bei etwa 11 m/s liegen. Wenn es durch Verbesserungen der Technik gelänge, eine solche Geschwindigkeit beim Absprung beizubehalten, könnten die Springer Weiten von bis zu zehn Metern erzielen.
54
Kapitel 2 Geschwindigkeit und Beschleunigung – Bewegungen im Sport
Abb. 2.20: Beim Grand Jeté muss die Tänzerin einen Spagat während des Sprungs schaffen.
2.5 Der Grand Jeté und die Wurfgesetze Auch die Sprungfiguren im Ballett gehorchen den Gesetzen des schrägen Wurfes – selbst wenn man beim Zuschauen nicht unbedingt daran denkt. Ein Beispiel ist der Grand Jeté, ein Sprung, mit dem die Tänzerin den Eindruck erweckt, ein Stück weit fast waagerecht durch die Luft zu fliegen. Es ist ein sehr schwieriger Sprung. Die Beine werden in der Luft bis in den Spagat gestreckt (Abb. 2.20). Wie kommt es zu dieser vermeintlichen Waagerechtbewegung? Es scheint, als würden die Gesetze der Physik beim Grand Jeté nicht mehr gelten. Denn die Tänzerin sollte nach dem Absprung die Parabelform ihrer Flugbahn ebenso wenig beeinflussen können wie ein Weitspringer. Natürlich kann eine Balletttänzerin die Gesetze der Physik nicht aufheben. Sie kann sie sich aber zunutze machen. Und hier hat das Ballett eine jahrhundertelange Erfahrung. Immer weiter sind die Figuren verfeinert worden, zwar immer im Einklang mit den physikalischen Gesetzen, aber immer auch die Physik und die Möglichkeiten des menschlichen Körpers bis ins Letzte aus-
Abschnitt 2.5 Der Grand Jeté und die Wurfgesetze
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Abstand Kopf– Körperschwerpunkt
Position des Körperschwerpunkts
Abb. 2.21: Durch Anheben der Beine und Arme verschiebt sich der Körperschwerpunkt im Verhältnis zum Rumpf.
nutzend. Der Schlüssel zum Verständnis des Grand Jeté sind die Körperbewegungen während des Sprungs. Sie sind nicht nur bloße Dekoration. Wenn die Tänzerin abspringt, wenn sie während des Sprungs ihre Arme anmutig hebt und ihre Beine scheinbar mühelos in den Spagat bringt, sieht das zwar auch schön aus. Es dient aber in der Hauptsache einem anderen Zweck: dem Verlagern des Körperschwerpunkts mitten im Sprung. Verlagerung des Körperschwerpunkts Beim stehenden Menschen liegt der Schwerpunkt etwa in Höhe des Bauchnabels. Werden im Sprung die Beine und Arme nach oben bewegt, wandert auch der Körperschwerpunkt nach oben oder, anders ausgedrückt, Rumpf und Kopf wandern in Bezug auf den Körperschwerpunkt nach unten. Beim Grand Jeté verlagert sich der Schwerpunkt schätzungsweise um 10 cm nach oben (Abb. 2.21). Der in den Ballettschulen einstudierte Verlauf der Bewegung ist perfekt abgestimmt: Die Bewegung des Körperschwerpunkts auf einer Wurfparabel einerseits und die Schwerpunktverlagerung andererseits spielen so zusammen, dass beim Zuschauer der oben geschilderte Eindruck des Waagerechtfliegens entsteht. Im Idealfall sind die Beine für kurze Zeit im Spagat, wenn der Schwerpunkt den Scheitel der Wurfparabel durchläuft. Was die Zuschauer sehen Die Zuschauer verfolgen die Bewegung von Kopf und Rumpf. Der Schwerpunkt der Tänzerin ist für sie gar nicht sichtbar. Um herauszufinden, was die Zuschauer sehen, konstruieren wir die Bahnkurve des Kopfes aus der Wurfparabel des Schwerpunkts. In Abb. 2.21 markiert die gestrichelte Linie den höchsten Punkt des Kopfes, während die durchgezogene Linie die Lage des Schwerpunkts in Bezug auf den Körper angibt. Der Abstand Kopf– Schwerpunkt entspricht also in der Zeichnung dem Abstand zwischen beiden
56
Kapitel 2 Geschwindigkeit und Beschleunigung – Bewegungen im Sport
Abb. 2.22: Die Bahn des Kopfes (obere Linie) ist flacher als eine Parabel und verläuft stellenweise fast waagerecht.
Linien. Die Bahnkurve des Kopfes ergibt sich, indem wir diese Strecke zu jedem Zeitpunkt zur Wurfparabel addieren: Bahnkurve des Kopfes = (Parabelbahn des Schwerpunkts)
+ (Abstand Kopf–Schwerpunkt). Die auf diese Weise konstruierte Bahnkurve des Kopfes ist in Abb. 2.22 gezeigt (obere Kurve). Im Gegensatz zur ebenfalls eingezeichneten Wurfparabel besitzt sie keinen ausgeprägten Scheitel mehr. Sie verläuft stellenweise fast waagerecht. Der Eindruck des „Waagerechtfliegens“ wird so verständlich. Ohne die Gesetze der Physik zu verletzen.
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Kapitel 3 Fundamentale Konzepte: Das newtonsche Bewegungsgesetz
3.1 Kinematik und Dynamik Es gibt zwei Ebenen der Beschreibung mechanischer Probleme. Sie unterscheiden sich durch ihre Begründungstiefe. Die erste Ebene ist die Kinematik. Sie enthält all das, was wir bisher behandelt haben. In unseren Beispielen aus dem Sport war meist die Bahn vorgegeben, und wir haben Geschwindigkeiten und Beschleunigungen analysiert, wie beim Hammerwurf oder Bungeesprung. Oder wir haben Bewegungen mathematisch durch einfache Bewegungsgesetze erfasst, etwa die gleichmäßig beschleunigte Bewegung oder den schrägen Wurf beim Weitsprung. All dies gehört zur Kinematik. Sie beschäftigt sich mit Bahnkurven von Körpern, mit Geschwindigkeiten und Beschleunigungen. Die Bewegungsgesetze der Kinematik haben wir nicht aus tieferen Prinzipien hergeleitet, sondern wir haben sie als „aus der Schule bekannt“ vorausgesetzt. Das kann uns nicht befriedigen. Als Physiker ist es unser Anliegen, die Vielzahl der Fakten, Erscheinungen und Regeln auf einige wenige Grundgesetze zurückzuführen. Für die Bewegungsformen der Mechanik geschieht dies in der Dynamik. Das äußere Kennzeichen der Dynamik ist die Beschreibung von Bewegungen durch einwirkende Kräfte. Mit einer einzigen Grundgleichung, der newtonschen Bewegungsgleichung, lässt sich die ganze Fülle der in der Natur möglichen Bewegungsformen beschreiben, sofern man die jeweils wirkenden Kräfte kennt. Verglichen mit der Kinematik bedeutet dies eine gewaltige Reduktion der Komplexität. Will man ein Problem analysieren, muss man nicht mehr wissen, um welche Bewegungsform es sich handelt – um einen schrägen Wurf zum Beispiel – und das entsprechende Weg-Zeit-Gesetz in der Formelsammlung nachschlagen (für die meisten physikalisch interessanten Bewegungsformen steht es dort ohnehin nicht). Man muss allein die Kräfte und die newtonsche Bewegungsgleichung kennen, um an die Lösung der Aufgabe heranzugehen. Leider gibt es niemals etwas umsonst. Das gilt auch hier. Die newtonsche Bewegungsgleichung gibt nämlich nicht direkt das Weg-Zeit-Gesetz ~x (t) für die Bewegung an. Sie ist eine Differentialgleichung für ~x (t), d. h. eine Gleichung, in der nicht nur die Funktion ~x (t) vorkommt, sondern auch ihre Ableitungen nach der Zeit. Bevor man das Weg-Zeit-Gesetz erhält, muss die Differentialgleichung gelöst werden, und das ist nicht immer einfach. Für einige Fälle werden wir in den folgenden Kapiteln die newtonsche Bewegungsgleichung lösen. Kinematik und Dynamik sind verknüpft: Die Dynamik beschäftigt sich mit der Beschreibung von Bewegungen durch Differentialgleichungen. Die WegZeit-Gesetze der Kinematik sind deren Lösungen für spezielle Fälle. Weil es immer wiederkehrende Bewegungsformen gibt (wie die Bewegung im Schwerefeld der Erde), ist es bequem, die newtonsche Bewegungsgleichung einmal zu lösen und künftig nur noch kinematisch mit den Lösungen umzugehen. Darin liegt die Daseinsberechtigung der Kinematik.
Abschnitt 3.2 Kopfball
59
Abb. 3.1: Muss man beim Kopfball direkt aufs Tor zielen?
3.2 Kopfball Die newtonsche Bewegungsgleichung hat die Form ~F = m ·~a. Hinter dieser Gleichung steckt mehr, als Sie vielleicht denken. Deshalb lohnt es sich, die der Gleichung zugrunde liegende Physik ausführlicher an einem Beispiel darzustellen: dem Köpfen beim Fußball (Abb. 3.1). Spielen Sie Fußball? Dann haben Sie bestimmt schon einmal von dieser Situation geträumt: Sie stehen frei in einer Entfernung von 10 Metern vor dem Tor, der Torwart liegt am Boden und aus der Tiefe des Raumes kommt in Kopfhöhe eine scharf geschossene Flanke. Die Gelegenheit für einen Kopfball. Sie versetzen dem Ball einen gewaltigen Stoß direkt in Richtung Tor, und – da ist der Traum vorbei – der Ball geht am Tor vorbei. Enttäuschung, Ärger und die Frage: „Was habe ich falsch gemacht?“ Die letzte Frage lässt sich beantworten: „Die newtonschen Gesetze nicht richtig verstanden“. Sie haben dem Ball einen Stoß in diejenige Richtung versetzt, in die er nach dem Stoß fliegen sollte. Das war falsch. Wenn man ihn in die richtige Richtung stößt (und das ist nicht direkt aufs Tor zu), wird man von der Südkurve auch als Kopfballheld gefeiert. Wundert Sie diese Aussage? Wenn Sie schon jemals einen Ball erfolgreich ins Tor geköpft haben, dann haben Sie die newtonschen Gesetze richtig angewandt, auch wenn Sie sich dessen vielleicht gar nicht bewusst waren. Gerade im Sport stellt man fest, dass der Körper die physikalischen Gesetze oft besser „begriffen“ hat als der Kopf. 3.2.1 Kraft und Geschwindigkeitsänderung
Wohin muss man beim Köpfen zielen? Betrachten wir zwei Fußballer, Abel und Bebel, die das Köpfen unterschiedlich gut beherrschen. Abel hängt der Vorstellung an: „Ich muss beim Köpfen aufs Tor zielen.“ Bebel hat es dagegen gelernt, so zu köpfen, dass der Ball (manchmal) ins Tor trifft.
60
Kapitel 3 Fundamentale Konzepte: Das newtonsche Bewegungsgesetz
®
®
v + Dv
®
Kopfball
v
®
®
v +Dv
®
Dv
®
Krafteinwirkung
v
Abb. 3.2: Geschwindigkeitsänderung durch Krafteinwirkung
Denken wir uns einen Ball, der von der Seite mit einer Geschwindigkeit ~v angeflogen kommt. In dem kurzen Bahnausschnitt, um den es hier geht, können wir die Wirkung der Schwerkraft und des Luftwiderstandes in erster Näherung vernachlässigen. Nach dem Trägheitsgesetz bewegt sich der Ball ohne äußere Einwirkung geradlinig und gleichförmig (~v = konst.). Soll der Geschwindigkeitsvektor seinen Betrag oder seine Richtung ändern, muss ein anderer Gegenstand (der Kopf des Fußballers) eine Kraft auf den Ball ausüben (Abb. 3.2). Der Zusammenhang zwischen dieser Kraft und der von ihr verursachten Geschwindigkeitsänderung ∆~v soll nun genauer untersucht werden. Ein Experiment für Abel Wenn wir Abel köpfen lassen, wird er auf das Tor zielen, d. h. er wird die Kraft auf den Ball genau in Richtung Tor wirken lassen. Seinen Erfolg können wir mit einem kleinen Experiment überprüfen, das sich leicht nachbauen lässt. Der Aufbau ist in Abb. 3.3 gezeigt: Eine Kugel rollt eine Rampe herunter und
Abb. 3.3: Der senkrecht zur Bewegungsrichtung gestoßene Ball verfehlt das Tor.
Abschnitt 3.2 Kopfball
61
Abb. 3.4: (a) Vermutete und (b) tatsächliche Bahn des gestoßenen Balls
gewinnt dadurch eine gewisse Geschwindigkeit. In Höhe des Tors wird die Kugel mit einem Stab in dessen Richtung gestoßen. Um sicherzustellen, dass der Stoß genau in Richtung Tor erfolgt, wird der Stab von einem Anschlagbrett geführt. Wenn Sie das Experiment durchführen, wird es Ihnen nicht gelingen, den Ball ins Tor zu stoßen. Er wird immer rechts am Tor vorbei laufen, wie es die eingezeichnete Linie zeigt. Man darf – beim Kopfball wie bei diesem Experiment – nicht aufs Tor zielen. Krafteinwirkung und Zusatzgeschwindigkeit Was ist falsch an Abels physikalischer Vorstellung? Er glaubt, dass ein fliegender oder rollender Ball, der senkrecht zu seiner Bewegungsrichtung angestoßen wird, sich nach dem Stoß exakt in Richtung der auf ihn wirkenden Kraft bewegt (Abb. 3.4 (a)). Bebel hat sich dagegen mit newtonscher Mechanik beschäftigt und weiß, dass eine Kraft, die auf einen Körper wirkt, ihm höchstens eine Zusatzgeschwindigkeit erteilt. Unser kleines Experiment lässt sich leicht modifizieren, um dies zu zeigen. Wie in Abb. 3.5 dargestellt ergänzen wir es um eine zweite Kugel. Sie wird gleichzeitig mit der ersten losgelassen, läuft aber ungestört weiter. Wenn Sie das Experiment durchführen, werden Sie feststellen, dass die erste Kugel die zweite trifft. Die beiden müssen also auch noch nach dem Stoß in x-Richtung die gleiche Geschwindigkeit besessen haben, denn sonst hätten sie sich verfehlt. Physikalisch bedeutet das: Die gestoßene Kugel behält ihre anfängliche Geschwindigkeit (in x-Richtung) bei. Durch die Krafteinwirkung des Stabes erhält sie eine Zusatzgeschwindigkeit in Stoßrichtung, also in y-Richtung. Beide Geschwindigkeitskomponenten zusammen ergeben die Endgeschwindigkeit nach dem Stoß. Mit dieser Erkenntnis haben wir einen ersten Schritt zum Verständnis des newtonschen Bewegungsgesetzes getan. Wenn eine Kraft auf einen Körper einwirkt, kann das zu einer Änderung seiner Geschwindigkeit ~v in Kraftrichtung führen.
62
Kapitel 3 Fundamentale Konzepte: Das newtonsche Bewegungsgesetz
Abb. 3.5: Die gestoßene Kugel erhält eine Zusatzgeschwindigkeit in y-Richtung und trifft die ungestört laufende zweite Kugel.
Wie kam Abel zu seiner physikalisch falschen Vorstellung? Vermutlich hatte er bisher eher Erfahrungen mit ruhenden Bällen. Wenn ein ruhender Körper durch eine Krafteinwirkung eine Zusatzgeschwindigkeit erhält, setzt er sich überhaupt erst in Bewegung. Und in diesem Fall bewegt sich der Ball dann auch in Richtung der einwirkenden Kraft. Falls Abels Erlebnisse bisher auf ruhende Bälle beschränkt waren, so wurden seine Vorstellungen sogar durch die Erfahrung bestätigt. Beim Umgang mit bewegten Bällen muss er sie revidieren. Verformung statt Bewegungsänderung Was bedeutet die zurückhaltende Formulierung „kann“ im Merksatz oben? Man findet viele Beispiele, in denen ein Körper seine Geschwindigkeit nicht ändert, wenn eine Kraft auf ihn wirkt. Wenn Sie sich auf den Fußball setzen, um der verpassten Chance nachzuweinen, wird er seine Geschwindigkeit nicht ändern, sondern sich nur ein wenig verformen. Sie können auch gegen den Torpfosten treten oder mit Ihrem Kopf wutentbrannt auf den Rasen hämmern, ohne dass Sie dadurch Geschwindigkeitsänderungen verursachen. In all diesen Fällen wird der Gegenstand, auf den Sie eine Kraft ausüben, auf irgendeine Weise daran gehindert, sich aufgrund der Krafteinwirkung in Bewegung zu setzen, meist weil er direkt oder indirekt mit der Erde verbunden ist. Physikalisch bedeutet „gehindert“ Folgendes: Wenn Sie sich auf Ihren Ball setzen, üben Sie zwar eine Kraft auf ihn aus. Er setzt sich aber nicht in Bewegung, weil im selben Moment auch der Erdboden eine gleich große und entgegengesetzt gerichtete Kraft auf ihn ausübt. Deshalb wird er nur etwas platt gedrückt. Um auch die Fälle zu erfassen, in denen Körper daran gehindert werden, durch eine einwirkende Kraft ihre Geschwindigkeit zu ändern, sagt man allgemein: Kräfte bewirken Geschwindigkeitsänderungen oder Verformungen.
63
Abschnitt 3.2 Kopfball
Abb. 3.6: Die Krafteinwirkung ändert die Geschwindigkeit von ~vvor auf ~vnach .
3.2.2 Wie man ins Tor trifft
Nachdem der Ball in all unseren bisherigen Versuchen am Tor vorbei geflogen ist, fragt man sich nachdenklich, wie Bebel es eigentlich anstellt, seinen Kopfball so souverän in die linke obere Ecke zu platzieren. Dass man nicht in Richtung Tor zielen darf, wissen wir inzwischen. Aber welches die richtige Richtung ist, in die der Kopf den Ball stoßen muss, wurde bisher noch nicht geklärt. Mit dem bisher Erarbeiteten und etwas Vektorrechnung können wir es nachholen. Wir wissen, dass der Ball durch die Krafteinwirkung eine Zusatzgeschwindigkeit ∆~v erhält, die in Richtung der Kraft ~F zeigt. Dadurch ändert sich die Geschwindigkeit des Balls von ~vvor auf ~vnach :
~vnach = ~vvor + ∆~v.
(3.1)
Bebel ist klar, dass der Ball ins Tor fliegt, wenn der Vektor der Endgeschwindigkeit ~vnach in Richtung Tor zeigt. Beim Köpfen besteht die Kunst also darin, die dem Ball erteilte Zusatzgeschwindigkeit ∆~v gerade so zu bemessen, dass dies der Fall ist (Abb. 3.6). Betrag und Richtung von ∆~v kann man rechnerisch aus Gl. (3.1) bestimmen oder grafisch durch Vektoraddition wie in Abb. 3.7. Man erkennt, dass ∆~v schräg nach links zeigt. Damit ist auch die Richtung der Kraft festgelegt; sie zeigt in die gleiche Richtung wie ∆~v. Wenn Bebel seinen fernsehreifen Treffer erzielt, hat er nicht auf das Tor gezielt, sondern schräg links am Tor vorbei (Abb. 3.6).
Abb. 3.7: Geschwindigkeit und Geschwindigkeitsänderung
64
Kapitel 3 Fundamentale Konzepte: Das newtonsche Bewegungsgesetz
Nicht nur die Richtung der Kraft auf den Ball muss stimmen, sondern auch ihr Betrag. An dieser Stelle können wir darüber noch keine Aussage machen. Der quantitative Zusammenhang zwischen Kraft und Geschwindigkeitsänderung wird Gegenstand des folgenden Abschnittes sein.
3.3 Das newtonsche Bewegungsgesetz 3.3.1 Quantitativer Zusammenhang zwischen Kraft und Geschwindigkeitsänderung
Eine Kraft, die auf einen Körper wirkt, ändert dessen Geschwindigkeit. Diese Erkenntnis ist der erste Schritt auf dem Weg zum newtonschen Bewegungsgesetz. Die Richtung von ∆~v entspricht der Richtung der Kraft, und wenn man die Kraft verdoppelt, dann ändert sich auch die Geschwindigkeit doppelt so stark. Die Geschwindigkeitsänderung ist proportional zur Kraft: ∆~v ∼ ~F.
(3.2)
Die Geschwindigkeitsänderung wird auch davon abhängen, wie lange man die Kraft auf den Körper wirken lässt. Dass ∆~v umso größer ausfällt, je länger diese Zeitspanne ∆t ist, dass also ∆~v ∼ ∆t
(3.3)
gilt, vermutet man intuitiv. Stellen Sie sich zur Illustration die in Abb. 3.8 gezeigte Abwandlung unseres Experiments vor. Statt des Stabes ist es nun ein Luftstrom aus einem Gebläse, der eine Kraft auf den Ball ausübt. Im oberen Teilbild ist der Ball dem Luftstrom doppelt so lange ausgesetzt wie im unteren. Seine Geschwindigkeitsänderung wird oben entsprechend doppelt so groß sein wie unten. Natürlich gilt Gl. (3.3) nur, wenn man sicherstellt, dass die Kraft in der Zeitspanne ∆t konstant bleibt.
Abb. 3.8: Längere Einwirkungsdauer der Kraft ~ F bedeutet größere Geschwindigkeitsänderung.
Abschnitt 3.3 Das newtonsche Bewegungsgesetz
65
3.3.2 Masse
Die bisher gefundenen Abhängigkeiten lassen sich in der folgenden Formel zusammenfassen: ∆~v ∼ ~F · ∆t. (3.4)
Das kann aber noch nicht alles sein. Denn bisher stehen auf der rechten Seite der Gleichung noch gar keine Größen, die vom betrachteten Körper abhängen. Und die Geschwindigkeitsänderung kann nicht ganz unabhängig von der Beschaffenheit des Körpers sein. Denken Sie wieder an das Beispiel des Kopfballs und stellen Sie sich vor, Sie sollten einen Medizinball köpfen, der auf Sie zugeflogen kommt. Die Geschwindigkeitsänderung fällt weitaus geringer als beim Fußball aus (wenn Sie den Kopfball nicht sogar glatt verweigern). Es gibt also eine Eigenschaft von Körpern, die beschreibt, wie stark sie auf einwirkende Kräfte reagieren. Man nennt diese Eigenschaft die Masse des Körpers; sie wird in Kilogramm gemessen. Die Masse eines Körpers gibt an, wie leicht oder schwer es ist, ihn aus einer geradlinig-gleichförmigen Bewegung abzulenken. Ein Medizinball hat eine größere Masse als ein Fußball; seine Geschwindigkeit lässt sich schwerer ändern als die des Fußballs. Je größer die Masse eines Körpers ist, umso größere Kräfte muss man aufwenden, um Betrag oder Richtung seiner Geschwindigkeit zu ändern.
3.3.3 Formulierung des newtonschen Bewegungsgesetzes
Körper größerer Masse lassen sich schwerer ablenken. Um diese Abhängigkeit in Gl. (3.4) zu berücksichtigen, müssen wir die Masse auf der rechten Seite in den Nenner schreiben: ~F · ∆t ∆~v = . (3.5) m Damit ist die gesuchte Gleichung für die Geschwindigkeitsänderung vollständig. Die experimentelle Erfahrung zeigt, dass keine weiteren Einflussfaktoren mehr eingehen. Deshalb steht in Gl. (3.5) das Gleichheitszeichen statt des Proportionalitätszeichens. Es ist bemerkenswert, dass Größen wie Form oder Volumen des Körpers für die Bewegung irrelevant sind. Von seinen Eigenschaften spielt nur die Masse eine Rolle. Körper gleicher Masse haben identische Geschwindigkeitsänderungen, unabhängig von ihrer Farbe, ihrem Geruch und ihrer Härte. Diese Behauptung kann man nicht beweisen, sie muss letztlich im Experiment überprüft werden. Das Naturgesetz, das wir mit Gl. (3.5) plausibel gemacht haben, ist das newtonsche Bewegungsgesetz, die Grundgleichung der Mechanik. Es ist auch unter dem Namen „zweites newtonsches Gesetz“ bekannt (das erste newtonsche Gesetz ist das Trägheitsgesetz). In Worten kann man es wie folgt formulieren:
66
Kapitel 3 Fundamentale Konzepte: Das newtonsche Bewegungsgesetz
Wenn eine Kraft auf einen Körper wirkt, ändert sich seine Geschwindigkeit (sofern dies nicht durch andere Kräfte verhindert wird). Dabei gilt: • Je größer die Kraft ~ F, desto größer die Geschwindigkeitsänderung ∆~v. •
Je größer die Dauer ∆t der Krafteinwirkung, desto größer ∆~v.
Je größer die Masse m des Körpers, desto kleiner ∆~v. Die Geschwindigkeitsänderung ∆~v hat die gleiche Richtung wie die einwirkende Kraft. •
®
Dv
®
Dv
®
®
vvor
®
F
®
®
vnach = vvor + Dv Kraft wirkt
Verschiedene Schreibweisen des newtonschen Bewegungsgesetzes Meist schreibt man das newtonsche Bewegungsgesetz in etwas anderer Anordnung der Terme, ~F = m ∆~v , (3.6) ∆t und geht vom Differenzenquotient zum Differentialquotient über. Wir haben bisher vorausgesetzt, dass die Kraft ~F über die Zeitspanne ∆t konstant ist. Wenn wir zeitlich nicht konstante Kräfte behandeln möchten, müssen wir zu immer kleineren Zeitintervallen übergehen, in denen man die Konstanz der Kräfte näherungsweise voraussetzen darf. Im Grenzfall wird aus dem Differenzenquotient der Differentialquotient. Auf der rechten Seite steht dann die Ableitung der Geschwindigkeit, also die Beschleunigung (vgl. Gl. (2.7)):
oder
~F = m d~v , dt
(3.7)
~F = m ~a.
(3.8)
Oft sieht man eine weitere Schreibweise des Bewegungsgesetzes, die seinen Charakter als Differentialgleichung deutlich werden lässt. Wir erinnern uns an Gl. (2.4), in der die Geschwindigkeit ~v als zeitliche Änderung des Ortes ~x eines Körpers definiert wird. Die Beschleunigung ist die zweite Ableitung des Ortes nach der Zeit, was man durch die beiden folgenden Schreibweisen ausdrücken kann: d2~x ~a = 2 oder ~a = ~x¨ . (3.9) dt Keine Angst, wenn Sie diese Notation nicht kennen: Es sind nur zweite Ableitungen. Die endgültige Fassung des newtonschen Bewegungsgesetzes lautet damit folgendermaßen:
Abschnitt 3.3 Das newtonsche Bewegungsgesetz
67
Zweites newtonsches Gesetz (Bewegungsgesetz): Ein Körper der Masse m, auf den eine Kraft ~ F wirkt, bewegt sich auf einer Bahn ~x(t ), die man mit der Gleichung 2 ~F = m d ~x dt 2
(3.10)
berechnen kann. In dieser Formulierung wird deutlich, dass es sich bei Gl. (3.10) um eine Gleichung für die Bahn ~x (t) des betrachteten Körpers handelt. Aus Gl. (3.10) kann man ~x (t) berechnen, wenn man die einwirkende Kraft ~F zu jedem Zeitpunkt kennt. Allerdings kommt in Gl. (3.10) nicht ~x (t) direkt vor, sondern seine Zeitableitung. Es handelt sich um eine Differentialgleichung, die man nicht einfach durch Umstellen der Terme lösen kann. Differentialgleichungen zu lösen ist oft schwierig; einige Beispiele werden wir noch kennenlernen. Beispielaufgabe: Die Einheit der Kraft Die Einheit der Kraft ist das Newton (N). Drücken Sie sie durch bekanntere Einheiten aus. Lösung: Die Einheit der Kraft kann man an Gl. (3.6) ablesen und sie auf die Grundeinheiten Kilogramm, Meter und Sekunde zurückführen:
1 N = 1 kg ·
1 ms kg · m =1 . 1s s2
Aus Gl. (3.6) kann man auch eine Messvorschrift für die Einheit Newton ableiten: Wenn ein Körper mit einer Masse von 1 kg in einer Sekunde aus der Ruhe auf eine Geschwindigkeit von 1 m/s beschleunigt wird, wirkt auf ihn eine Kraft von 1 N. In der Praxis führt man zum Messen von Kräften allerdings keine Beschleunigungsversuche durch, sondern benutzt z. B. Federkraftmesser, bei denen eine Kraft von 1 N einer bestimmten Dehnung der Feder entspricht. Beispielaufgabe: Kräfte beim Kopfball Berechnen Sie die Kraft, die ein Fußballer beim Kopfball aufbringen muss, wenn er den Ball um 90◦ ablenkt (Abb. 3.6). Der Ball soll vor und nach dem Kopfball eine Geschwindigkeit von 15 m/s (= 54 km/h) besitzen. Nehmen Sie an, dass die Kontaktzeit zwischen Kopf und Ball 6 ms beträgt und dass die Kraft während dieser Zeit konstant ist. Die Masse des Balls beträgt 420 g. Lösung: In dieser Aufgabe ändert sich nicht der Betrag der Geschwindigkeit, sondern nur ihre Richtung. Gesucht ist die zur Geschwindigkeitsänderung erforderliche Kraft. Da wir ~ F während der Kontaktzeit ∆t näherungsweise als zeitlich konstant annehmen, können wir Gl. (3.6) anwenden. Den Betrag der Geschwindigkeitsänderung ∆~v berechnen wir für den Ablenkungswinkel von 90° nach Abb. 3.7 mit dem Satz des Pythagoras:
|∆~v|2 = |~vvor |2 + |~vnach |2 .
68
Kapitel 3 Fundamentale Konzepte: Das newtonsche Bewegungsgesetz
Kasten 3.1 Wie viel ist ein Newton? Eine anschauliche Vorstellung von der Einheit Newton gewinnt man durch den Vergleich mit Gewichtskräften. Die Formel FG = m · g stellt eine Verbindung zwischen der Masse eines Körpers und seiner Gewichtskraft her. Die Gewichtskraft einer Masse von 1 kg beträgt 9,81 N ≈ 10 N. Eine praktische Merkregel ist daher: Eine Kraft von 1 N entspricht etwa der Gewichtskraft einer Tafel Schokolade (m = 100 g). Ein weiterer Tipp: Verwenden Sie das Wort „Gewicht“ sparsam. Es schafft nur Verwirrung. Wenn Sie von dem „Gewicht eines Körpers“ reden, meinen Sie entweder seine Masse (die in kg gemessen wird) oder die von ihm ausgeübte Gewichtskraft (gemessen in Newton), die Sie dann auch so bezeichnen sollten.
Da der Ball vor und nach dem Kopfball eine Geschwindigkeit von 15 m/s haben soll, ergibt sich: √
|∆~v| =
2 · 15 m/s = 21,2 m/s.
Die Geschwindigkeitsänderung ist größer als die Geschwindigkeit selbst. Mit Gl. (3.6) berechnen wir nun die auf den Ball wirkende Kraft:
|∆~v| 21,2 m/s = 1490 N. |~F | = m · = 0,420 kg · ∆t 6 · 10−3 s
Das entspricht der Gewichtskraft einer Masse von etwa 150 kg. Es ist schwierig, die Kräfte und Kontaktzeiten zu messen, die bei einem wirklichen Kopfball auftreten. Die in verschiedenen Untersuchungen gewonnenen Ergebnisse schwanken relativ stark. Sie liegen aber in der Größenordnung der Werte in diesem Beispiel.
3.4 Umgang mit der newtonschen Bewegungsgleichung Ein Verständnis der newtonschen Bewegungsgleichung gewinnt man am besten dadurch, dass man mit ihr umgeht. Dazu betrachten wir eines der einfachsten Beispiele: den schrägen Wurf, den wir schon im Zusammenhang mit dem Weitsprung behandelt haben. Dort haben wir uns mit einer rein kinematischen Betrachtung begnügt. Die Weg-Zeit-Gesetze in Gl. (2.11) und (2.12) waren einfach vorgegeben. Nun geht es darum, diese Weg-Zeit-Gesetze, also den Verlauf der Bahn beim schrägen Wurf, aus der newtonschen Bewegungsgleichung zu gewinnen. Aus den einwirkenden Kräften ermitteln wir die Beschleunigung und schließen daraus auf die Bahn. Wir werden zwei Verfahren zur Ermittlung der Bahn betrachten: zuerst ein grafisches und anschließend ein rechnerisches. 3.4.1 Grafisches Verfahren
Bevor wir das Problem lösen, können Sie überprüfen, ob Sie schon ein intuitives Verständnis des Begriffs „Beschleunigung“ gewonnen haben. Sehen Sie sich die Bahnkurve in Abb. 3.9 an und überlegen Sie, in welche Richtung der
Abschnitt 3.4 Umgang mit der newtonschen Bewegungsgleichung
69
Kasten 3.2 Naturgesetze beweisen? Unsere Argumentation bei der „Herleitung“ des newtonschen Bewegungsgesetzes hat höchstens den Charakter eines Plausibilitätsarguments. Warum haben wir nicht mehr Sorgfalt darauf verwendet, eine so wichtige Gleichung hieb- und stichfest zu beweisen? Es mag erstaunlich klingen, aber grundlegende Naturgesetze kann man nicht beweisen. Solange wir die Natur nicht mit dem „Auge Gottes“ sehen und ihren grundlegenden Bauplan kennen, müssen wir die Grundgesetze der Natur erraten. Dieser Prozess des Erratens kann nicht unabhängig von Experimenten erfolgen, denn Experimente sind die einzige Möglichkeit, sich bei der Konstruktion einer Theorie von der Natur leiten zu lassen, mit ihr zu kommunizieren. Konstruktion und Bewährung von Theorien Wenn man eine Theorie konstruiert hat, muss sie im Experiment überprüft werden. Dies ist der Prüfstein, an dem sie sich bewähren muss. Schon viele Theorieentwürfe konnten sehr plausibel begründet werden, haben aber den Test durch das Experiment nicht bestanden. Alle bei der Theoriekonstruktion verwendeten Argumente zählen nicht, wenn das Experiment gegen sie entscheidet. Umgekehrt ist es schon oft vorgekommen, dass die Begründer einer Theorie von völlig falschen heuristischen Vorstellungen ausgegangen sind und trotzdem eine Theorie formuliert haben, die sich später im Experiment bewährte. Beim Aufstellen einer Theorie kann man sich von Experimenten leiten lassen. Aber mit Experimenten lassen sich Gesetze nicht „beweisen“. Naturgesetze sind von Menschen gemacht, und die Erfahrung kann uns jederzeit zeigen, dass unsere Gesetze noch nicht gut genug auf die Natur passen. Alle unsere Theorien haben den Charakter von Vermutungen, die vielleicht immer begründeter werden, je besser sie sich im Experiment bewähren, die aber niemals den Status der Endgültigkeit erreichen. Anfang des 20. Jahrhunderts mussten sogar die bis dahin bestens bewährten newtonschen Gesetze revidiert werden. Es zeigte sich, dass sie die Phänomene nicht vollständig beschreiben. Die Grenzen der Gültigkeit der newtonschen Mechanik wurden durch die Quantenmechanik sowie durch Einsteins spezielle und allgemeine Relativitätstheorie aufgezeigt. Die newtonsche Mechanik ist dadurch nicht „falsch“ geworden. Nur ihr Gültigkeitsbereich, in dem sie zuverlässige Vorhersagen macht, ist eingeschränkt worden: schwache Gravitationsfelder, wesentlich kleinere Geschwindigkeiten als die Lichtgeschwindigkeit, Quanteneffekte müssen vernachlässigbar sein. Innerhalb dieses Gültigkeitsbereiches verlassen sich Ingenieure und Physiker in ihrer täglichen Arbeit vollständig auf die newtonschen Gesetze.
Vektor der Beschleunigung zu jedem der Zeitpunkte t1 , t2 , . . . zeigt. Ob Ihre Antwort stimmt, können Sie gleich überprüfen, wenn wir die newtonsche Bewegungsgleichung aufgestellt haben. Wir identifizieren dazu die Kräfte, die auf den Weitspringer wirken. Wenn man die Luftwiderstandskraft vernachlässigt, wirkt auf den Springer allein seine Gewichtskraft
~FG = m · ~g.
(3.11)
70
Kapitel 3 Fundamentale Konzepte: Das newtonsche Bewegungsgesetz
Abb. 3.9: Aus dem Anfangsort und der Anfangsgeschwindigkeit wird der Ort zu späteren Zeitpunkten t1 , t2 , t3 , . . . ermittelt.
Dabei hat der Vektor ~g den Betrag 9,81 m/s2 und zeigt senkrecht nach unten (denn die Schwerkraft wirkt nach unten). Nach der newtonschen Bewegungsgleichung ~F = m ·~a zeigt dann auch der Vektor der Beschleunigung zu jedem Zeitpunkt nach unten (nicht in Bewegungsrichtung!). Lagen Sie mit Ihrer Vermutung richtig? Um die Bahnkurve grafisch zu konstruieren, betrachten wir den Springer zu verschiedenen Zeitpunkten im Abstand ∆t. In einem Zeitintervall ∆t wird sich der Springer näherungsweise gemäß ∆~x = ~v · ∆t
(3.12)
in Richtung des Geschwindigkeitsvektors ~v bewegen. Aber ~v ist nicht konstant. Sie erinnern sich: Kräfte bedeuten Geschwindigkeitsänderungen. Der Vektor der Geschwindigkeit ändert sich im Zeitintervall ∆t durch die Einwirkung der Kraft. Diese Änderung kann man mit der newtonschen Bewegungsgleichung (3.5) ausrechnen:
~F · ∆t . m
(3.13)
∆~v = ~g · ∆t.
(3.14)
∆~v = Setzen wir ~F = m · ~g ein, ergibt sich:
Weil ~g nach unten zeigt, ist auch die Geschwindigkeitsänderung nach unten gerichtet. Zu jedem der betrachteten Zeitpunkte muss die Geschwindigkeit um den berechneten Wert von ∆~v geändert werden, z. B. ~v(t2 ) = ~v(t1 ) + ∆~v. Dann kann man mit Gl. (3.12) die Bahn zum nächsten Zeitpunkt verfolgen (Abb. 3.10). Auf diese Weise wird die Bahn aus stückweise geraden Abschnitten aufgebaut. Je kleiner die Zeitintervalle ∆t sind, umso genauer wird das Verfahren und umso mehr erinnert die konstruierte Kurve an die Parabelbahn des schrägen Wurfes.
71
Abschnitt 3.4 Umgang mit der newtonschen Bewegungsgleichung ®
®
v(t2) ®
Dv
®
v(t1)
v(t3) ®
Dv
®
®
v(t4)
Dv
®
Dv
® ®
v(t5)
®
Dx = v Dt
®
Dv Abb. 3.10: Konstruieren der Bahn aus stückweise geraden Elementen
3.4.2 Analytisches Verfahren
Das grafische Verfahren funktioniert zwar, aber für praktische Zwecke ist es etwas unbequem. Wenn es ans konkrete Ausrechnen geht, möchte niemand die obige Konstruktionsvorschrift für Tausende von Schritten abarbeiten. Sie können die Aufgabe allerdings einem Computer überlassen – und Simulationsprogramme funktionieren auch auf diese Weise. Beim analytischen Verfahren sucht man durch Lösen der newtonschen Bewegungsgleichung einen mathematischen Ausdruck für das Weg-Zeit-Gesetz. Für das Beispiel des schrägen Wurfs löst man die Differentialgleichung (3.10), um die kinematischen Gleichungen (2.11) und (2.12) zu gewinnen. Für die xund die y-Komponente der Bewegung lautet die newtonsche Gleichung (3.10): d2 x , dt2 d2 y Fy = m · 2 . dt
Fx = m ·
(3.15) (3.16)
In unserem speziellen Fall, in dem nur die senkrecht nach unten zeigende Gewichtskraft wirkt, ist Fx = 0 und Fy = −m · g. Weg-Zeit-Gesetz für die Vertikale Zu lösen ist die Differentialgleichung d2 y = − g. dt2
(3.17)
Sie enthält die 2. Ableitung der gesuchten Funktion y(t). Es handelt sich um eine sehr einfache Differentialgleichung, weil auf der rechten Seite nur eine Konstante steht. Man kann die Gleichung auf beiden Seiten nach t integrieren: dy = − g · t + konst. dt
(3.18)
72
Kapitel 3 Fundamentale Konzepte: Das newtonsche Bewegungsgesetz
Die sich aus der Integration ergebende Konstante auf der rechten Seite nennen wir v0 y (der Grund für diese Bezeichnung wird gleich ersichtlich). Weil die Gleichung immer noch eine Ableitung enthält, integrieren wir noch einmal beide Seiten und nennen die auftretende Integrationskonstante diesmal y0 : y(t) = − 12 gt2 + v0y t + y0 .
(3.19)
Das ist das Weg-Zeit-Gesetz (2.12), das wir jetzt nicht mehr als bekannt voraussetzen müssen, sondern durch Lösen der newtonschen Bewegungsgleichung gewonnen haben. Weg-Zeit-Gesetz für die Horizontale Wenn Sie möchten, können Sie das Verfahren nun für die x-Richtung wiederholen. Man kann sich diese Arbeit jedoch sparen: Die newtonsche Gleichung für die x-Richtung hat die gleiche Gestalt wie diejenige für die y-Richtung, wenn man g = 0 setzt und y durch x ersetzt. Damit ergibt sich: x ( t ) = v0 x t + x0 , was mit dem entsprechenden Weg-Zeit-Gesetz (2.11) übereinstimmt.
(3.20)
4
Das newtonsche Gesetz anwenden
Sicherheit im Auto
74
Kapitel 4 Das newtonsche Gesetz anwenden – Sicherheit im Auto
4.1 Unfall ohne Sicherheitsgurt Manch einer denkt insgeheim, man könne sich bei einem Unfall am Lenkrad abstützen und mit den Armen die Wucht des Aufpralls abfangen. Zwar hört und liest man immer wieder, dass dies nicht möglich sei, aber wohlmeinenden Ratschlägen schenkt man ja oft wenig Glauben. Mit dem newtonschen Bewegungsgesetz kann man physikalisch begründen, warum auch der Stärkste mit den Armen keinen Aufprall auf das Lenkrad verhindern kann. Betrachten wir die folgende Situation: Ein Auto prallt frontal auf ein Hindernis. Das Auto (inklusive Lenkrad) ist schon zur Ruhe gekommen, aber der Fahrer bewegt sich im ersten Moment noch mit der ursprünglichen Geschwindigkeit v0 weiter (Abb. 4.2). Er versucht seinen Körper abzubremsen, indem er sich mit den Armen am Lenkrad abstützt (Abb. 4.1). Er hofft, dass die so erzielte Beschleunigung ausreicht, um ihn noch vor dem Lenkrad auf die Geschwindigkeit null zu bringen. Um die newtonschen Gesetze anzuwenden, müssen wir die auf Fahrer und Lenkrad wirkenden Kräfte identifizieren. Das entscheidende Element sind hierbei die Arme des Fahrers (Abb. 4.3). Sie üben auf der einen Seite eine Kraft auf das Lenkrad aus, auf der anderen Seite eine Kraft auf den Rumpf des Fahrers, die diesen abbremst. Wie stark sind Ihre Arme? Die maximale Kraft, die Ihre Arme aufbringen können, ist durch die Belastbarkeit der Armmuskeln begrenzt. Die Größe dieser maximalen Muskelkraft kann man durch folgende Überlegung abschätzen: Die Gewichtskraft Ihres Körpers beträgt FG = m · g. Ihre Beine tragen das leicht; Ihre Arme schaffen es auch so gerade eben, etwa beim Handstand oder bei einem Liegestütz. Sie werden den Liegestütz aber kaum schaffen, wenn jemand auf Ihrem Rücken sitzt, wenn also die Arme die doppelte Gewichtskraft aufbringen müssten. Die maximale Kraft beim Abstützen entspricht also dem Ein- bis Zweifachen der Gewichtskraft des Körpers. Die entsprechende Beschleunigung beträgt (gemäß a = F/m) das Ein- bis Zweifache der Erdbeschleunigung g. Man sagt, dass die Stützkraft der Arme für eine Beschleunigung von 1 bis 2 g ausreicht.
Abb. 4.1: Geometrische Verhältnisse in der betrachteten Unfallsituation
Abschnitt 4.1 Unfall ohne Sicherheitsgurt
75
Abb. 4.2: Nach dem Aufprall bewegen sich die Insassen noch eine Zeitlang mit der ursprünglichen Geschwindigkeit weiter.
Kinematik des Abbremsens Nehmen wir an, dass die Arme während des gesamten Vorgangs den Rumpf mit konstanter Kraft abbremsen. Die Beschleunigung a ist dann konstant und negativ (Abbremsen bedeutet negative Beschleunigung). Wir können die kinematischen Gleichungen (2.9) und (2.10) benutzen: x (t) = 12 at2 + v0 t,
(4.1)
v(t) = at + v0 .
(4.2)
Der Fahrer versucht, sich so abzustützen, dass er seine Geschwindigkeit bis zum Lenkrad (also nach der Strecke d ≈ 40 cm) auf den Wert null gebracht hat. Mit den Formeln (4.1) und (4.2) kann man diese Bedingung wie folgt ausdrücken: d = 21 at2brems + v0 tbrems 0 = atbrems + v0
(in der Zeit tbrems die Strecke d zurückgelegt), (4.3) (Geschwindigkeit null nach der Zeit tbrems ). (4.4)
Das sind zwei Gleichungen für die bisher noch unbekannte Dauer tbrems des Abbremsvorgangs und die dabei auftretende Beschleunigung a. Aus Gl. (4.4)
76
Kapitel 4 Das newtonsche Gesetz anwenden – Sicherheit im Auto
Abb. 4.3: Die Arme üben eine Kraft auf das Lenkrad sowie eine Kraft auf den Rumpf aus.
folgt die Gleichung tbrems = −v0 /a, die man in Gl. (4.3) einsetzen kann. Man erhält: v2 d = − 0. (4.5) 2a Auflösen dieser Gleichung nach a ergibt die Beschleunigung, die die Arme aufbringen müssen, damit der Körper innerhalb der Strecke d abgebremst werden kann: v2 (4.6) a = − 0. 2d Probieren wir aus, ob Sie stark genug sind: Setzen wir v0 = 50 km/h = 13,9 m/s2 und d = 40 cm ein. Es ergibt sich: a = −241 m/s2 = −24,6 g. Vergleichen Sie die 1 bis 2 g, die Sie mit den Armen aufbringen können mit den fast 25 g, die bei 50 km/h zum Abstützen nötig wären. Keine guten Aussichten für einen Unfall. Unsere Berechnung liefert eine gute Begründung für das Anschnallen. Was man abfangen kann Sicher interessiert es Sie auch, welches die höchste Geschwindigkeit ist, bei der man sich gerade noch mit den Händen abstützen kann. Sie können es ausrechnen. Lösen Sie Gl. (4.6) nach v0 auf und setzen Sie a = −1 g ein: √ v0 = −2ad (4.7) r m = 2 · 9,81 2 · 0,4 m = 2,8 m/s = 10,1 km/h. (4.8) s Diese erschreckend niedrige Geschwindigkeit illustriert eindrucksvoll, wie groß die bei einem Unfall auftretenden Beschleunigungen und Kräfte in Wirklichkeit sind. Dabei ist in unserer Rechnung noch nicht einmal berücksichtigt, dass man bei einem realen Unfall nicht sofort und optimal reagieren wird. Manchmal ist auf Veranstaltungen zur Verkehrssicherheit ein sogenannter Gurtschlitten zu sehen. Es handelt sich dabei um einen Schlitten, der eine
Abschnitt 4.2 Das newtonsche Bewegungsgesetz und die Sicherheit im Auto
77
Rampe hinunterfahren kann. Um einen Unfall zu simulieren, wird der Schlitten am Fuß der Rampe aus einer Geschwindigkeit von 11 km/h abrupt gestoppt. Wenn Sie die Gelegenheit haben, einen solchen Gurtschlitten auszuprobieren, können sie unsere Rechnung experimentell überprüfen. Mit den gerade hergeleiteten Formeln lässt sich übrigens auch der Bremsweg eines Autos berechnen, wenn man die Bremsbeschleunigung kennt. Machen Sie sich das klar, indem Sie Ansatz und Rechenweg noch einmal für diesen Fall durchgehen.
4.2 Das newtonsche Bewegungsgesetz und die Sicherheit im Auto Nachdem wir uns davon überzeugt haben, dass das Autofahren ohne Sicherheitsgurt fahrlässig wäre, können wir uns einen Überblick über die Einrichtungen verschaffen, die im Lauf der Zeit entwickelt wurden, um die Sicherheit der Insassen bei einem Unfall zu erhöhen. Die grundsätzliche Funktionsweise aller Schutzmaßnahmen – wie Sicherheitsgurt, Knautschzone oder Airbag – kann man physikalisch aus einem einzigen Prinzip heraus verstehen: dem newtonschen Bewegungsgesetz. Alles ist darauf ausgelegt, die Kraft auf die Insassen möglichst klein zu halten. Es soll vermieden werden, dass auf einen Körperteil eine Kraft wirkt, die so groß ist, dass es zu äußeren oder inneren Verletzungen kommt. Sicherheitsgurte sind nicht nur dazu da, den Fahrer bei einem Unfall abzubremsen (das würde das Lenkrad schon besorgen), sondern ihn möglichst sanft abzubremsen. Darüber hinaus soll die auf den Körper wirkende Kraft gleichmäßig auf eine möglichst große Fläche A verteilt werden. Der Sinn dieser Bedingung wird unmittelbar klar, wenn Sie sich überlegen, warum Sie zwar ohne Bedenken mit ihrem Daumen kräftig auf die Tischplatte drücken, aber nicht ebenso kräftig auf die Spitze eines daneben liegenden Reißnagels. Insgesamt müssen die Sicherheitssysteme also so beschaffen sein, dass während des Unfalls die Größe F/A (die die Dimension eines Drucks besitzt) so klein wie möglich gehalten wird. Dieser Leitgedanke reicht aus, um all das zu verstehen, was die Ingenieure in den Entwicklungsabteilungen der Automobilindustrie konstruiert haben, damit wir bei Unfällen vor Verletzungen bewahrt bleiben. In diesem Kapitel soll Ihnen gezeigt werden, dass die Funktionsweise hoch komplexer technischer Systeme auf einfachen physikalischen Prinzipien beruht. Wie man die Kraft auf die Insassen klein hält Ausgehend vom newtonschen Bewegungsgesetz F=m
∆v ∆t
(4.9)
untersuchen wir, auf welche Weise man die zum Abbremsen der Insassen nötige Kraft klein halten kann. Auf manche Parameter hat man Einfluss, auf
78
Kapitel 4 Das newtonsche Gesetz anwenden – Sicherheit im Auto
andere nicht. Zum Beispiel kann man die Masse der Insassen nicht ändern. Solange die Appelle gegen das Rasen nichts nutzen, lässt sich auch die Größe der Geschwindigkeitsänderung nicht beeinflussen. Neben dem Verteilen der Kraft auf eine größere Fläche ist die Abbremszeit ∆t = tbrems der einzige Parameter, den man durch konstruktive Maßnahmen verändern kann. Die technischen Vorkehrungen zum Schutz der Insassen laufen daher auf ein Verlängern der Abbremszeit hinaus. Um die Verletzungsgefahr für die Insassen bei einem Unfall zu verringern, muss man die Abbremszeit ∆t möglichst verlängern und die auftretenden Kräfte gleichmäßig auf eine möglichst große Fläche verteilen. Abbremszeit ohne Sicherheitsgurt Wie wir noch aus Kapitel 1 wissen, bewegt sich ein nicht angeschnallter Fahrer nach der Kollision ungebremst weiter, bis er auf das Lenkrad oder die Windschutzscheibe stößt. Beim Aufprall besitzt er noch nahezu die ursprüngliche Geschwindigkeit. Die Windschutzscheibe ist hart und verformt sich nicht, daher dauert der Aufprall nur wenige Millisekunden. Das bedeutet Beschleunigungen von mehreren Hundert g und eine entsprechend große Kraft. Noch dazu ist diese ohnehin schon große Kraft auf eine kleine Fläche konzentriert. Die Folgen eines solchen Unfalls (für die Windschutzscheibe) sind in Abb. 4.4 gezeigt. Dass der Fahrer schwere Verletzungen davongetragen hat, kann man sich ausmalen. Mit den im Folgenden beschriebenen Sicherheitssystemen verlängert sich die Zeit, in der die abbremsenden Kräfte auf den Körper wirken, auf etwa 250 ms (eine Viertelsekunde). Die Sicherheitssysteme sorgen dafür, dass das Abbremsen des Körpers früher beginnt und später aufhört. Aus der newtonschen Gleichung folgt, dass dann die auf den Körper wirkende Kraft entsprechend kleiner ist.
Abb. 4.4: Die Kräfte zwischen Kopf und Windschutzscheibe waren so stark, dass die Windschutzscheibe zerbrochen ist.
Abschnitt 4.3 Die Knautschzone
79
Abb. 4.5: Unfall ohne Knautschzone
4.3 Die Knautschzone Ein nicht angeschnallter Fahrer ist nur lose mit dem Auto verbunden und kann deshalb nicht kontrolliert abgebremst werden. In den fünfziger Jahren, als man sich der Risiken beim Autofahren bewusster wurde, kamen deshalb zwei wesentliche Neuerungen auf: der Sicherheitsgurt und die Knautschzone. Der Nutzen des Sicherheitsgurtes ist evident: Er „befestigt“ den Fahrer am Sitz, so dass er zusammen mit dem Auto abgebremst wird. Gehen wir in Gedanken zunächst ganz radikal vor und „fesseln“ den Fahrer so an den Sitz, dass er während des ganzen Unfalls fest darauf sitzen bleibt. Hilft diese Maßnahme, die Abbremszeit zu verlängern? Weil wir den Fahrer fest mit dem Auto verbunden haben, ist seine Abbremszeit nun die gleiche wie die des Autos, also die Zeitspanne zwischen der ersten Berührung mit dem Hindernis und dem vollständigen Stillstand. Sie hängt von der Konstruktion des Autos ab, die mehr oder weniger günstig sein kann. Stabiler = sicherer? Bis in die fünfziger Jahre glaubte man, ein Auto sei umso sicherer, je starrer es ist. Bei einem Unfall sollte es sich so wenig wie möglich verformen. Abb. 4.5 zeigt einen Unfall mit einem derart konzipierten Auto. Im Vergleich zum modernen Auto in Abb. 4.6 erkennt man das „stabilere“ Verhalten beim Aufprall auf das Hindernis. Wenn wir annehmen, dass sich das stabile Auto um etwa 10 cm verformt, können wir nach Gl. (4.6) die auftretende Beschleunigung berechnen. Bei einer Aufprallgeschwindigkeit von 50 km/h liegt sie bei etwa 100 g. Das ist schon wesentlich geringer als beim ungeschützten Aufprall auf das Lenkrad, und vor allem kontrollierter. Die Kräfte werden besser verteilt, wenn der Fahrer nicht auf das Lenkrad prallt, sondern am Sitz festgeschnallt ist. Obwohl dies schon einen Fortschritt gegenüber der Abwesenheit jeglicher Sicherheitsmaßnahmen darstellt, kann man bei solch hohen Beschleunigungen noch nicht
80
Kapitel 4 Das newtonsche Gesetz anwenden – Sicherheit im Auto
Abb. 4.6: Frontalaufprall mit Knautschzone
von einem Schutz des Fahrers reden. Immerhin waren bei Unfällen mit starren Autos die Kräfte noch so groß, dass teilweise die Sitze aus den Verankerungen gerissen wurden. Knautschzone und Abbremszeit Mit der Entwicklung der Knautschzone änderten sich die Vorstellungen davon, wie ein sicheres Auto zu konstruieren sei. Man erkannte, dass es zum Schutz der Insassen genügt, wenn das Auto eine stabile Fahrgastzelle besitzt, die sich bei einem Unfall kaum verformt (in Abb. 4.7 farbig markiert). Frontund Heckbereiche dürfen und sollen sich bei einem Unfall verformen. Ein Auto mit Knautschzone sieht nach einem Unfall wesentlich mitgenommener aus als ein stabiles Gefährt aus der „guten alten Zeit“, aber die Vorteile einer vorn und hinten relativ weich gestalteten Karosserie liegen auf der Hand. Durch das „Zerknautschen“ der Karosserie dauert es länger, bis das Auto endgültig zum Stillstand kommt. Die Abbremszeit ∆t wird länger, und das bedeutet eine geringere Beschleunigung für den Fahrer. Mit Gl. (4.6) können Sie die Beschleunigung bei einem Auto mit Knautschzone selbst ausrechnen. Wenn das Auto mit 50 km/h aufprallt und dabei die Knautschzone um 50 cm deformiert wird, liegt die Beschleunigung bei etwa 20 g. Im Vergleich zum „starren“ Auto beträgt die Beschleunigung, die der
Abschnitt 4.4 Sicherheitsgurte
81
Abb. 4.7: Die Fahrgastzelle ist farbig markiert.
Fahrer aushalten muss, nur ein Fünftel. Das ist ein großer Unterschied, der lebensrettend sein kann. Bei modernen Autos wird die Karosserie um 40 bis 70 cm deformiert. Während der Entwicklung des Autos wird am Computer und in Versuchen ermittelt, wie sich die Karosserie in verschiedenen Unfallsituationen verformt. Um das Biegen, Knicken und Verformen der einzelnen Karosserieteile detailgetreu zu verfolgen, werden äußerst komplexe Computersimulationen durchgeführt (Abb. 4.8). Zunehmend wird auch die Sicherheit von anderen Verkehrsteilnehmern berücksichtigt, etwa von Fußgängern oder Radfahrern. Kraft und Energie Meist beschreibt man die Wirkung einer Knautschzone anders als im vorigen Abschnitt: Bei einem Unfall wird die Knautschzone verformt. Bei der Verformung nimmt sie Energie auf, die damit im Wortsinne „aus dem Verkehr gezogen“ wird und dem Fahrer nicht mehr schaden kann. Diese Beschreibungsweise drückt den oben erläuterten Sachverhalt in anderen Worten aus. Es ist kein zusätzlicher Effekt. Man kann also nicht sagen: Es wird Energie aufgenommen und zusätzlich wird die Abbremszeit verlängert. Ganz allgemein kann man mechanische Vorgänge oft sowohl durch die Wirkung von Kräften als auch durch energetische Überlegungen beschreiben. Es handelt sich dabei um die beiden Seiten derselben Medaille.
4.4 Sicherheitsgurte Materialien für Sicherheitsgurte In den bisherigen Überlegungen haben wir den Fahrer gedanklich fest am Sitz befestigt. Intuitiv vermutet man: Am besten wäre es, ihn mit Eisenketten an den Sitz zu fesseln, denn je beständiger er dort befestigt ist, desto besser für ihn. Das ist jedoch nicht ganz richtig. Zwar wäre die Eisenkette immer noch besser, als gar nicht auf dem Sitz gehalten zu werden, aber wie im Fall der Knautschzone ist auch hier das völlig Starre nicht das Beste. Die Abbremszeit
82
Kapitel 4 Das newtonsche Gesetz anwenden – Sicherheit im Auto
Abb. 4.8: Simulation eines seitlich versetzten Frontalaufpralls
des Körpers soll verlängert werden, und das schafft man durch Verlängerung des Abbremsweges. Mit der Knautschzone haben wir 50 cm Abbremsweg hinzugewonnen. Die 40 cm bis zum Lenkrad lassen wir aber ungenutzt, wenn wir den Fahrer starr an den Sitz fesseln. Man kann diesen zusätzlichen Abbremsweg mit einer flexibleren Befestigung wenigstens teilweise ausnutzen. In der Realität wird der Fahrer vom Sicherheitsgurt am Sitz gehalten. Wir können nun eine physikalisch begründete Empfehlung für die Wahl des Materials geben, aus dem die Sicherheitsgurte gefertigt werden. Es sollte nicht ganz unnachgiebig sein, sondern sich bei Belastung etwas dehnen. In der Praxis wird auch so verfahren: Die in der Automobilindustrie eingesetzten Materialien dehnen sich bei einem Unfall um bis zu 15%. Weil sie das nur einmal können, muss man die Sicherheitsgurte nach einer entsprechenden Belastung ersetzen. Bei der Planung des Rückhaltesystems wird man aus Sicherheitsgründen natürlich nicht die vollen 40 cm ausnutzen können. Man muss ja auch berücksichtigen, dass verschiedene Fahrer durch ihre verschiedenen Massen die Gurte unterschiedlich dehnen. Aber wenn man es durch richtige Wahl des Gurtmaterials schafft, den gesamten Abbremsweg des Fahrerkörpers von 50 cm auf 70 cm zu erhöhen, hat man die Beschleunigung, die er aushalten muss, auf 50 70 ≈ 70% der ursprünglichen Belastung vermindert. Moderne Autos verlassen sich für diese Aufgabe im Allgemeinen nicht allein auf die Dehnbarkeit des Materials, sondern besitzen einen Gurtkraftbegrenzer. Er „verteilt“ die Kraft, die der Sicherheitsgurt auf den Körper ausübt, über eine größere Zeitspanne, indem er kontrolliert Gurtband freigibt. Automatikgurte Rekapitulieren wir das bisher Erarbeitete: Das technisch optimale Rückhaltesystem bestünde darin, den Fahrer mit einem einigermaßen dehnbaren Material am Sitz festzubinden, wobei der Körper möglichst großflächig erfasst wird (um die auftretenden Kräfte möglichst gleichmäßig zu verteilen). Statt ihn mit Eisenketten anzubinden, sollten wir ihn also lieber mit einer Art Frischhaltefolie am Sitz „festwickeln“. Leider ist das Einwickeln in Frischhaltefolie der Bewegungsfreiheit abträglich, und so hätte ein solches System wenig Chancen, sich auf dem Markt durchzusetzen. Die Dreipunkt-Automatikgurte, die
Abschnitt 4.4 Sicherheitsgurte
83
Abb. 4.9: Das Gurtband wird durch Federkraft zurückgezogen.
Sie aus dem Auto kennen, entspringen einem Kompromiss zwischen Bewegungsfreiheit und Sicherheit. Ihre geringe Fläche wird zum Teil dadurch kompensiert, dass die Kräfte auf belastbare Stellen des Körpers ausgeübt werden. Blockieren des Gurtes: Das Trägheitsgesetz wird wieder gebraucht Das Gurtband ist auf einer Spindel aufgewickelt (Abb. 4.9). Im Normalbetrieb wird Gurtband freigegeben, wenn sich der Fahrer nach vorn beugt. Durch Federkraft wird es wieder zurückgezogen. Bei einem Unfall soll allerdings kein Gurtband freigegeben werden. Die Spindel soll blockieren. Deshalb wird beim Automatikgurt ein Sensor benötigt, der nur im Notfall für das Blockieren der Spindel sorgt. Diese Aufgabe kann mit einem ganz einfachen Mechanismus gelöst werden, dessen Prinzip in Abb. 4.10 skizziert ist. Seine Funktion beruht auf dem Trägheitsgesetz. Die entscheidende Rolle spielt ein Pendel, an dessen Ende sich eine Sperrklinke befindet. In der Ruhelage des Pendels ist die Sperrklinke nicht eingerastet, so dass sich die Gurtspindel frei drehen kann. Bei einem Unfall wird das Auto plötzlich abgebremst, mitsamt der Achse, an der das Pendel befestigt ist. Nach dem Trägheitsgesetz schwingt der Pendelkörper gegenüber der Achse nach vorn, was dazu führt, dass am anderen Ende die Sperrklinke in den Zahnkranz der Spindel einrastet. Dadurch ist die Spindel blockiert.
Abb. 4.10: Blockierungsmechanismus für die Gurtspindel
84
Kapitel 4 Das newtonsche Gesetz anwenden – Sicherheit im Auto
Abb. 4.11: Wirkung eines Gurtstraffers
4.5 Gurtstraffer Mit der Einführung des Automatikgurts gewinnt man zwar Bequemlichkeit für den Fahrer, man hat aber auch eine Komplikation geschaffen. Denn wenn man die gewonnene Bewegungsfreiheit nutzt und ein Stück entfernt von der Rückenlehne sitzt, geht bei einem Unfall wertvoller Abbremsweg verloren. Um dies zu kompensieren, hat man den Gurtstraffer entwickelt. Er strafft im Fall einer Kollision den Sicherheitsgurt und sorgt so dafür, dass der Rumpf in Richtung Rückenlehne zurückgezogen wird (Abb. 4.11). Das Abbremsen des Rumpfes soll möglichst früh beginnen. Deshalb muss der Gurtstraffer sehr schnell arbeiten. Die Verlängerung der Abbremszeit ist ja das Hauptanliegen, und dabei ergänzen sich Gurtstraffer und Knautschzone: Der Gurtstraffer sorgt dafür, dass das Abbremsen früher beginnt, die Knautschzone dafür, dass es später aufhört. Damit alles sehr schnell geht, funktioniert der Gurtstraffer pyrotechnisch, das heißt mit Explosivstoffen. Ein Wankelmotor als Gurtstraffer Wenn Ihr Auto einen Gurtstraffer besitzt, kann es sein, dass sich darin eine technische Seltenheit verbirgt, von der Sie gar nichts ahnen: ein Wankelmotor. Abb. 4.12 zeigt eine Schemadarstellung dieser Form des Gurtstraffers. Bei einem Unfall werden die Zündpillen gezündet und der Explosionsdruck versetzt den Kolben in Rotation. Innerhalb einer Hundertstel Sekunde wird das Gurtband auf der Spindel straff gezogen. Wegen der pyrotechnischen Zündung kann ein Gurtstraffer nur einmal verwendet werden. Dann müssen die Zündpillen ersetzt werden. Deshalb darf er nur in Gefahrensituationen ausgelöst werden. Ein Beschleunigungssensor erfasst zu jedem Zeitpunkt die momentane Beschleunigung und entscheidet, ob eine harmlose Situation oder ein Unfall vorliegt.
Abschnitt 4.6 Die Bewegung des Fahrers relativ zum Auto
85
Abb. 4.12: Schemazeichnung eines Gurtstraffers mit Wankelmotor
4.6 Die Bewegung des Fahrers relativ zum Auto Mit unseren bisherigen Ergebnissen können wir eine wichtige Frage beantworten: Wie bewegt sich der Fahrer bei einem Unfall relativ zur Fahrgastzelle? Die Antwort ist vor allem für das Auslösen des Airbags wichtig, mit dem wir uns im folgenden Abschnitt beschäftigen werden. Wenn der Airbag gezündet wird, muss der Kopf des Fahrers noch ausreichend weit vom Lenkrad entfernt sein. Sonst kann der Explosionsdruck des sich aufblasenden Airbags zu schweren Verletzungen führen. Als wir den Fahrer noch starr am Sitz befestigt hatten, mussten wir uns um seine Bewegung im Wageninnern keine Sorgen machen. Wegen der Fesselung des Fahrers an den Sitz verlief der Abbremsvorgang von Fahrgastzelle und Fahrer vollkommen synchron. Es gab keine Relativbewegung. Unterschiedliche Beschleunigungen von Fahrer und Fahrgastzelle Mit der Einführung von dehnbaren Gurten und Gurtkraftbegrenzern hat sich das geändert. Der Fahrer erfährt nun eine andere Beschleunigung als die Fahrgastzelle. Gerade das war ja der Grund, weshalb wir die Gurte dehnbar gemacht haben: Der Fahrer sollte sanfter abgebremst werden. Die Beschleunigungen von Fahrer und Fahrgastzelle lassen sich mit Gl. (4.6) aus dem Abbremsweg berechnen. Für das Auto hatten wir einen Abbremsweg von 50 cm angenommen (Deformation der Knautschzone). Wenn wir wieder von einer Aufprallgeschwindigkeit von 50 km/h = 13,9 m/s ausgehen, ergibt sich für die Beschleunigung des Autos: aAuto = −
=−
v20 2dAuto
(13,9 ms )2 m = −193 2 = −19,7 g. 2 · 0,5 m s
(4.10)
86
Kapitel 4 Das newtonsche Gesetz anwenden – Sicherheit im Auto Fahrer (ungebremst)
x/m 1
Lenkrad
0,8 Fahrer (gebremst)
0,6 0,4 0,2
0
0,02
0,04
0,06
0,08
0,1
0,12
t/s
Abb. 4.13: Zeit-Weg-Diagramme für Fahrer und Lenkrad. Die gestrichelte Linie gilt für einen nicht angeschnallten Fahrer.
Die Beschleunigung des Fahrers erhält man genauso, nur dass wir jetzt von 20 cm zusätzlichem Abbremsweg ausgehen, also insgesamt von 70 cm: aFahrer = −
v20 2dFahrer
=−
(13,9 ms )2 m = −138 2 = −14 g. 2 · 0,7 m s
(4.11)
Zeit-Weg-Diagramme für Fahrer und Lenkrad Mit diesen Angaben können wir die Bewegung von Fahrer und Lenkrad quantitativ beschreiben. Wir nehmen an, dass die abbremsenden Kräfte während des gesamten Vorgangs gleichmäßig wirken, so dass die Beschleunigung konstant ist. Dann können wir die Bewegung durch das Weg-Zeit-Gesetz der gleichmäßig beschleunigten Bewegung beschreiben (Gl. (4.1)). Natürlich kann dies nur eine Annäherung an die tatsächlichen Verhältnisse darstellen. So wird etwa vernachlässigt, dass der Sicherheitsgurt erst nach ca. 2 Hundertstel Sekunden eine Kraft auf den Fahrer ausübt (wenn der Gurtstraffer den Gurt gespannt hat). Aber mit diesen vereinfachenden Annahmen erhalten wir schon verwertbare Daten, ohne gleich für viel Geld eine Serie von Crashtests durchführen zu müssen. Abb. 4.13 zeigt die mit Gl. (4.1) berechneten Zeit-Weg-Diagramme für Fahrer und Lenkrad. Der Aufprall erfolgt zur Zeit t = 0. Der Fahrer befindet sich zu dieser Zeit an der Position x = 0 (auf seinem Sitz). Das Lenkrad befindet sich 40 cm weiter vorn (an der Position x = 0,4 m). Die obere durchgezogene Kurve gibt die Position des Lenkrads wieder. Es wird zusammen mit der ganzen Fahrgastzelle mit der Beschleunigung aAuto abgebremst. In den ersten 7 Hundertstel Sekunden nach dem Aufprall wird
87
Abschnitt 4.6 Die Bewegung des Fahrers relativ zum Auto
Dx / m
Abstand Lenkrad – Fahrer
0,4
0,3
Fahrer angeschnallt
0,2
0,1
Fahrer nicht angeschnallt
0
0,02
0,04
0,06
0,08
0,1
0,12
t/s
Abb. 4.14: Abstand zwischen Fahrer und Lenkrad. Die gestrichelte Linie beschreibt wieder einen nicht angeschnallten Fahrer.
die Knautschzone verformt. Dann ist das Auto zum Stillstand gekommen; die Position des Lenkrads verändert sich danach nicht mehr. Weil der Fahrer mit der geringeren Beschleunigung aFahrer abgebremst wird, kommt er erst 3 Hundertstel Sekunden später zur Ruhe, bei t = 0,10 s. Seine Entfernung vom Lenkrad beträgt in diesem Moment 20 cm (das ist kein Ergebnis, sondern die Ausgangsannahme der Berechnung.) Danach setzt eine Rückwärtsbewegung ein, der Fahrer fällt zurück in seinen Sitz. Die gestrichelte Linie gibt die Bewegung eines nicht angeschnallten Fahrers wieder, der sich nach dem Trägheitsgesetz ungebremst mit konstanter Geschwindigkeit weiterbewegt. Er prallt nach 6,5 Hundertstel Sekunden auf das Lenkrad. Unsere Ausgangsfrage war, wie sich der Fahrer relativ zum Lenkrad bewegt. In Abb. 4.14 ist der Abstand zwischen Fahrer und Lenkrad als Funktion der Zeit dargestellt (durchgezogene Kurve). Man erkennt, dass er sich in den ersten 5 Hundertstel Sekunden um weniger als 10 cm verändert (die beiden durchgezogenen Kurven in Abb. 4.13 verlaufen anfangs fast parallel). Das bedeutet, dass der Fahrer bis zu diesem Zeitpunkt seine Sitzposition kaum verändert und sich erst anschließend nennenswert in Richtung auf das Lenkrad bewegt. Die gestrichelte Kurve zeigt den Abstand zum Lenkrad für einen nicht angeschnallten Fahrer. Er nähert sich dem Lenkrad sehr viel schneller und ist schon nach 5 Hundertstel Sekunden nur 20 cm davon entfernt.
88
Kapitel 4 Das newtonsche Gesetz anwenden – Sicherheit im Auto
Abb. 4.15: Der Airbag wird aufgeblasen und anschließend rasch wieder entleert.
4.7 Airbags Bei allen technischen Sicherheitsvorrichtungen, die wir bisher besprochen haben, blieb eines unberücksichtigt: der Kopf des Fahrers. Für ihn gibt es keinen Sicherheitsgurt. Nachdem der Körper durch den Sicherheitsgurt abgebremst wurde, bewegt sich nach dem Trägheitsgesetz der Kopf noch weiter, bis er dadurch abgebremst wird, dass der Hals an ihm zieht und eine Kraft ausübt. Ein Schleudertrauma ist die Folge dieses unangenehmen Abbremsvorgangs. Hier kann das letzte Glied in der Kette der Sicherheitseinrichtungen wenigstens teilweise Abhilfe schaffen: der Airbag. Im Prinzip handelt es sich um einen Luftsack, der im Ruhezustand im Lenkrad verstaut ist und bei einem Unfall schlagartig aufgeblasen wird (Abb. 4.15). Er bremst den Kopf und auch den Rumpf des Fahrers einigermaßen sanft ab. Dabei verhindert er auch einen Aufprall auf das Lenkrad. Ursprünglich wurde der Airbag nicht nur als Ergänzung, sondern als Alternative zum Sicherheitsgurt entwickelt. In den USA war die Anschnallquote recht gering, es gab lange Zeit auch keine Anschnallpflicht. Um die Insassen auf andere Weise zu schützen, wurde der Airbag entwickelt. Wegen der immer noch niedrigen Anschnallquote werden auch heute noch Airbags für den amerikanischen Markt „straffer“ eingestellt als in Europa, damit sie auch nicht angeschnallte Insassen ohne die Unterstützung durch den Sicherheitsgurt auffangen können.
Abschnitt 4.7 Airbags
89
Zeit zum Aufblasen Wie beim Gurtstraffer muss auch beim Airbag alles sehr schnell gehen. Aber wie schnell genau? Wenn wir einen Airbag konstruieren wollen, müssen wir den Entwicklungsingenieuren präzise vorgeben, wie viel Zeit er zum Aufblasen benötigen darf. Diese Information haben wir aber aus unseren bisherigen Überlegungen schon gewonnen; wir müssen sie nur aus Abb. 4.14 ablesen. Innerhalb der ersten 4–5 Hundertstel Sekunden, in denen der Fahrer seine Sitzposition noch kaum verändert hat, muss das Aufblasen des Airbags abgeschlossen sein. Länger darf es nicht dauern. Der Airbag muss vollständig aufgeblasen sein, bevor der Fahrer in ihn hineintaucht. Andernfalls bekommt der Kopf des Fahrers den Explosionsdruck des sich entfaltenden Airbags zu spüren – und das kann womöglich zu größeren Verletzungen führen als der eigentliche Unfall. Funktionsweise der Airbags Fünf Hundertstel Sekunden bis zum vollständigen Aufblasen – das ist also die Rahmenbedingung. In dieser Zeit muss eine Menge passieren. Sehen wir uns die Vorgänge im Einzelnen an. Zuerst muss über Beschleunigungssensoren festgestellt werden, dass überhaupt ein Unfall vorliegt. Beschleunigungssensoren sind mikromechanisch hergestellte Bauteile, die ein Signal abgeben, wenn große Beschleunigungen auftreten. Ihre Funktionsweise ist physikalisch so interessant, dass sie eigentlich ein eigenes Kapitel in diesem Buch verdient hätten. Wenn die Beschleunigungssensoren ein Signal geben, darf der Airbag aber noch nicht gleich gezündet werden. Es muss zuerst beurteilt werden, ob es sich tatsächlich um einen Unfall handelt oder doch nur um unsanftes Fahren über eine Bordsteinkante oder ein Schlagloch. Dazu wird der zeitliche Verlauf der Beschleunigung durch Auswertealgorithmen mit gespeicherten Mustern verglichen, die in Versuchen ermittelt wurden. Dies alles muss innerhalb der ersten zwei Hundertstel Sekunden nach dem Aufprall passieren. Dann wird das Zündsignal an Gurtstraffer und Airbags geschickt, und es bleiben noch drei Hundertstel Sekunden für das Aufblasen des Airbags. Drei Hundertstel Sekunden ist eine kurze Zeit. In dieser Spanne muss das Gas zum Aufblasen erst einmal erzeugt, der Luftsack damit gefüllt und die
Abb. 4.16: Das Aufblasen eines Airbags geschieht innerhalb weniger Hundertstel Sekunden.
90
Kapitel 4 Das newtonsche Gesetz anwenden – Sicherheit im Auto
Abdeckung durchstoßen werden (Abb. 4.16). Wie beim Gurtstraffer geschieht das Aufblasen des Airbags pyrotechnisch. Man benutzt einen chemisch sehr schnell reagierenden Feststoff, bei dessen Verbrennung eine definierte Menge Gas frei wird, das den Luftsack aufbläst. Es gibt auch Hybridsysteme, bei denen ein komprimiertes Gas freigesetzt wird und nur die Zündung pyrotechnisch erfolgt. Der Airbag ist nun nach etwa 5 Hundertstel Sekunden aufgeblasen und der Fahrer taucht in ihn ein. Nach 8–9 Hundertstel Sekunden ist die maximale Belastung erreicht, danach bewegt sich der Fahrer wieder nach hinten (Abb. 4.14). Nach dem Aufprall wird der Airbag rasch entleert, damit der Fahrer noch handlungsfähig bleibt und durch den Luftsack im Fahrerraum nicht behindert wird. Der ganze Vorgang ist nach einer Zehntel Sekunde beendet. Er dauert nicht länger als ein Wimpernschlag, und für den Fahrer erscheint er nur als ein kurzer weißer „Lichtblitz“. Die Sicherheitstechnik im Auto wird ständig weiterentwickelt. Ein wichtiger Schritt war z. B. die Einführung von Seiten- und Kopfairbags, denn bei immerhin 20% der Unfälle handelt es sich um einen Seitenaufprall. Hier muss der Airbag die gesamte Schutzwirkung übernehmen, denn seitlich gibt es keine Knautschzone.
92
Kapitel 5 Fundamentale Konzepte: Arbeiten mit der newtonschen Mechanik
5.1 Systemgrenzen und äußere Kräfte Mit dem newtonschen Bewegungsgesetz sind wir bisher ziemlich pragmatisch umgegangen: Wir haben die Gleichung ~F = m · ~a einfach benutzt. In Wirklichkeit gibt es dabei allerdings eine ganze Reihe von Feinheiten zu beachten. Dieses Kapitel soll deshalb anhand von einfachen Beispielen eine praktische Anleitung zum Umgang mit dem newtonschen Gesetz geben. 5.1.1 Gesamtkraft
Das erste Beispiel: Zwei Personen möchten zusammen eine Bierkiste heben (Abb. 5.1 (a)). Welche Kraft ~F muss man in die newtonsche Bewegungsgleichung einsetzen, um die Bewegung der Kiste zu beschreiben? Es wirkt ja nicht nur eine Kraft, beide Arme üben eine Kraft auf die Kiste aus. Umgekehrt übt die Kiste auch eine Kraft auf die Arme aus. Die Schwerkraft kommt noch hinzu. Welches ist das richtige ~F? (a)
(b)
®
®
F1
F2
®
FG Abb. 5.1: Zwei Personen heben eine Getränkekiste.
Systemgrenzen festlegen Ganz allgemein ist es von Vorteil, sich zuerst über das System klar zu werden, das man betrachtet. In diesem Fall ist man an der Bewegung der Kiste interessiert. Unser System besteht demnach aus der Kiste mit Inhalt, also aus allem, was sich innerhalb der gestrichelten Linie in Abb. 5.1 (a) befindet. Zur Verdeutlichung ist rechts die Kiste allein gezeichnet, mit allen Kräften, die von außen auf sie wirken. ~F1 und ~F2 sind die Kräfte, mit der die Arme an der Kiste ziehen, ~FG ist die Gewichtskraft, mit der die Erde an der Kiste zieht. Die drei Kräfte, die an der Kiste angreifen, werden durch Vektoraddition zu dem einen „~F“ in der newtonschen Bewegungsgleichung zusammengefügt: Für die Bewegung eines Körpers ist die an ihm angreifende Gesamtkraft maßgeblich. In die newtonsche Bewegungsgleichung ist daher die Vektorsumme aller auf das System einwirkenden Kräfte einzusetzen.
Abschnitt 5.1 Systemgrenzen und äußere Kräfte
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Einzelkräfte zur Gesamtkraft addieren Um die auf dem Boden stehende Kiste in Bewegung zu setzen, muss die Summe der nach oben wirkenden Kräfte (also ~F1 + ~F2 ) größer sein als die nach unten wirkende Gewichtskraft. In Abb. 5.2 ist die Gesamtkraft auf die Kiste als gelber Pfeil eingezeichnet. Sie ist von null verschieden und nach oben gerichtet. Daher wird die Kiste nach oben beschleunigt.
Abb. 5.2: Die einzelnen auf das System wirkenden Kräfte werden vektoriell zur Gesamtkraft addiert.
An Abb. 5.2 können Sie noch etwas anderes ablesen: Die Horizontalkomponenten der beiden Kräfte ~F1 und ~F2 heben sich gegenseitig auf, ohne irgendetwas zur Bewegung beizutragen. Von den Armen muss die entsprechende Kraft natürlich trotzdem aufgebracht werden. Wenn Sie zu zweit etwas tragen wollen, dann ist es günstig, das mit möglichst senkrechten Armen zu tun, so dass die Horizontalkomponenten der Armkräfte klein sind. 5.1.2 Kräftegleichgewicht
Ist die Summe aller angreifenden Kräfte null, dann ändert sich die Geschwindigkeit der Kiste nicht. Man spricht in diesem Fall von Kräftegleichgewicht. Intuitiv ist Ihnen sicher klar, dass Kräftegleichgewicht herrscht, wenn Sie die ruhende Kiste in konstanter Höhe festhalten. Was vielleicht nicht so anschaulich ist: Auch wenn die Kiste mit konstanter Geschwindigkeit nach oben bewegt wird, herrscht Kräftegleichgewicht. Wann immer die Beschleunigung der Kiste null ist, ist nach der newtonschen Bewegungsgleichung auch die Gesamtkraft auf die Kiste null. Die Geschwindigkeit behält dann ihren momentanen Wert (Trägheitsgesetz). Damit sich ein Körper mit konstanter Geschwindigkeit bewegt, muss die Gesamtkraft auf ihn null sein. Es muss Kräftegleichgewicht herrschen. Das Anheben einer Kiste – physikalisch betrachtet Ein wirklich spektakulärer Vorgang ist das Heben einer Kiste ja nicht – aber es ist physikalisch komplizierter, als man denkt. Es herrscht dabei nämlich nicht die ganze Zeit Kräftegleichgewicht. Wenn Sie eine Kiste anheben, dann üben
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Kapitel 5 Fundamentale Konzepte: Arbeiten mit der newtonschen Mechanik
Sie zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedlich große Kräfte auf die Kiste aus. 1) Am Anfang müssen Ihre Arme eine Kraft aufbringen, die etwas größer ist als die Gewichtskraft der Kiste. Die Kiste wird dann nach oben beschleunigt. 2) Hat die Kiste die erwünschte Geschwindigkeit erreicht, können Sie die Kraft reduzieren. Die von den Armen aufzubringende Kraft ist jetzt genauso groß wie die Gewichtskraft. In dieser Phase herrscht Kräftegleichgewicht, und die Kiste bewegt sich mit konstanter Geschwindigkeit nach oben. 3) Wenn die Kiste in einer bestimmten Höhe zum Stillstand kommen soll, müssen Sie ihre Kraft auf die Kiste noch weiter verringern, so dass die Gesamtkraft für einen Moment nach unten zeigt und die Kiste abgebremst wird. 4) In dem Moment, in dem die Kiste zum Stillstand gekommen ist, müssen Sie Ihre Kraft wieder auf den Wert der Gewichtskraft erhöhen. Die Kiste hat dann die konstante Geschwindigkeit null. Normalerweise legt man sich beim Heben einer Kiste keine Rechenschaft über diesen komplexen Ablauf der Ereignisse ab. Aber das gerade beschriebene Hin und Her der Kräfte geschieht tatsächlich jedes Mal, wenn Sie einen Gegenstand anheben. Die Ergebnisse des Experiments, das auf S. 124 beschrieben wird, bestätigen dies. Ihr Körper übt in der Bewegung unbewusst die richtige Kraft auf die Kiste aus; er hat die physikalischen Gesetze so weit „begriffen“, dass er die Aufgabe sicher und ohne bewusste Steuerung lösen kann. 5.1.3 Statik
In der Statik betrachtet man Körper deren Geschwindigkeit null ist und auch null bleiben soll. Ein Beispiel ist das Haus in Abb. 5.3 (a). Seine Bewohner legen sicher Wert darauf, dass das Dach dauerhaft in der Bewegungslosigkeit verharrt. Dazu muss Kräftegleichgewicht herrschen; die Summe aller auf das Dach einwirkenden Kräfte muss verschwinden. Die Kraft der Wände auf das Dach muss die Gewichtskraft des Daches gerade kompensieren. Dass an allen Bauteilen Kräftegleichgewicht herrschen muss, ist nur eine der Gleichgewichtsbedingungen in der Statik. Es gibt noch eine zweite Bedingung, die damit zusammenhängt, dass man es nicht mit Punktmassen, sondern mit ausgedehnten Körpern zu tun hat (Mauern, Träger und Balken). Am Balken in Abb. 5.3 (b) herrscht zwar Kräftegleichgewicht, aber Sie sehen sofort, dass er nicht liegen bleiben wird. Die auf den Balken wirkenden Kräfte greifen nicht entlang der gleichen Linie an, sondern in unterschiedlichem Abstand zur Auflagefläche. Daher wirkt ein Drehmoment, das zu einer Rotationsbewegung des Balkens führt. Statisches Gleichgewicht ausgedehnter Körper herrscht dann, wenn an allen ihren Teilen die Summe aller Kräfte und die Summe aller Drehmomente null ist (vgl. Kapitel 13).
Abschnitt 5.1 Systemgrenzen und äußere Kräfte
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Abb. 5.3: (a) Kräftegleichgewicht am Dach eines Hauses. (b) Ein Drehmoment an dem Balken führt trotz Kräftegleichgewicht zu einer Rotationsbewegung.
5.1.4 Äußere Kräfte: Münchhausen und sein Zopf
Sie kennen sicherlich die Geschichte vom Baron Münchhausen, der sich mitsamt seinem Pferd an seinem Zopf aus dem Sumpf gezogen haben soll (Abb. S. 91). Der Wahrheitsgehalt dieser Erzählung wird ja allgemein angezweifelt. Es „geht irgendwie nicht“. Aber haben Sie sich schon einmal Gedanken über die physikalischen Gründe gemacht, die diesem „Nicht-gehen“ zugrunde liegen? Der Baron hat sich in seiner Geschichte zunutze gemacht, dass die Kräfteverhältnisse in komplexeren Situationen der Mechanik oft nicht einfach zu überblicken sind. Wenn er an seinem Zopf zieht, übt er ja sicherlich eine Kraft aus. Aber offenbar führt diese Kraft nicht zu einer Beschleunigung. Schon gerät man ins Grübeln: Wie war das noch? Liegt das nicht irgendwie an der Gegenkraft . . . ? Wer übt denn hier eigentlich eine Kraft auf wen aus? Meist versandet dann die Überlegung ziemlich ergebnislos im Ungefähren und man wechselt das Argumentationsschema: „Der gesunde Menschenverstand sagt einem ja ganz offensichtlich, dass es nicht geht.“ Nun ist der gesunde Menschenverstand ja nach Descartes die am gerechtesten verteilte Sache der Welt, denn niemand meint, davon zu wenig bekommen zu haben. Aber eigentlich hätte man das Problem schon gerne mit physikalischen Argumenten gelöst. Um die Sache erfolgreicher anzugehen, sollte man wieder auf die Strategie aus dem letzten Abschnitt zurückgreifen und zuerst das System identifizieren, mit dem man sich beschäftigt. Hier wie in vielen anderen Problemen der Mechanik gibt es bei der Wahl der Systemgrenzen verschiedene Möglichkeiten, zwischen denen man bei der Argumentation nicht einfach hin- und herspringen darf. Man tut also gut daran, die Systemgrenzen am Anfang explizit festzulegen.
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Kapitel 5 Fundamentale Konzepte: Arbeiten mit der newtonschen Mechanik
Äußere und innere Kräfte Wir benötigen auch noch eine weitere Präzisierung des newtonschen Bewegungsgesetzes. Wenn das System räumlich ausgedehnt ist, wenn es also aus mehr als einer Punktmasse besteht, kann es äußere Kräfte und innere Kräfte geben. Äußere Kräfte werden von Körpern außerhalb der Systemgrenzen auf Körper innerhalb des Systems ausgeübt. Sie überschreiten die Systemgrenzen. Dagegen wirken innere Kräfte nur innerhalb des Systems, zwischen verschiedenen Bestandteilen, die alle im Inneren der Systemgrenzen liegen. Um gleich einem Missverständnis vorzubeugen: Es gibt keinen prinzipiellen Unterschied in der Natur der äußeren und inneren Kräfte. Sie unterscheiden sich nur darin, dass sie über Systemgrenzen hinweg wirken oder nicht. Ändert man die Systemgrenzen, können dadurch äußere zu inneren Kräften werden und umgekehrt. In der newtonschen Bewegungsgleichung für ein ausgedehntes System sind nur äußere Kräfte zu berücksichtigen. Die Gleichung beschreibt dann die Bewegung des Schwerpunkts des ausgedehnten Systems. Diese Aussage wird in Kapitel 8 noch detaillierter begründet. Dort wird auch der Begriff des Schwerpunkts mathematisch definiert. Das Münchhausen-Problem Nun sind wir gerüstet, Münchhausens Lügengeschichte physikalisch zu entlarven. Dabei wollen wir die Schwerkraft (eine äußere Kraft) außer Acht lassen. Auch schon ohne die Schwerkraft kann sich Münchhausen nicht durch Ziehen am eigenen Zopf beschleunigen. Wie schon erwähnt, gibt es mehrere sinnvolle Möglichkeiten für die Wahl der Systemgrenzen. Wir wollen sie der Reihe nach besprechen: a) System = Münchhausen plus Pferd Die erste Möglichkeit besteht darin, Münchhausen mitsamt seinem Pferd als System zu wählen (Abb. 5.4). Dann ist die Kraft, mit der Münchhausen sich am Zopf zieht, eine innere Kraft, die nichts zur Schwerpunktsbewegung des Systems beiträgt. Mit inneren Kräften kann sich selbst ein Lügenbaron nicht aus dem Sumpf ziehen. b) System = Münchhausens Kopf Eine andere Möglichkeit für die Wahl der Systemgrenzen ist in Abb. 5.5 gezeigt. Nur Münchhausens Kopf (ohne den Zopf) wird als System gewählt. Dann ist die „Zopfkraft“ eine äußere Kraft, die prinzipiell zur Schwerpunktsbewegung beiträgt. Bei dieser Festlegung der Systemgrenzen gibt es allerdings noch eine andere äußere Kraft, nämlich die Kraft, die Münchhausens Hals auf den Kopf ausübt. Sinnvollerweise hat die Natur nämlich für eine feste Verbindung zwischen Kopf und Hals gesorgt.
Abschnitt 5.2 Das dritte newtonsche Gesetz
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Abb. 5.4: Der Baron Münchhausen und sein Pferd bilden das System.
Abb. 5.5: Wählt man als System nur den Kopf von Münchhausen, dann wirken äußere Kräfte.
Wie man in Abb. 5.5 erkennt, sind die „Zopfkraft“ ~F1 und die „Halskraft“ ~F2 gleich groß und entgegengesetzt gerichtet, so dass Kräftegleichgewicht herrscht: ~Fges = ~F1 + ~F2 = 0. (5.1) Auch in diesem Fall also keine Bewegung. Trüge Münchhausen dagegen einen Hut, dann könnte er ihn ohne Weiteres abnehmen. Anders als der Kopf ist der Hut nicht fest mit dem Körper verbunden, so dass die Kraft ~F2 in diesem Fall nicht auftritt. Die nach oben gerichtete Kraft ~F1 kann den Hut dann beschleunigen.
5.2 Das dritte newtonsche Gesetz Das dritte newtonsche Gesetz wird meist in der knappen Form „Kraft = Gegenkraft“ oder „actio = reactio“ angegeben. Aber was bedeutet das eigentlich? Welche Kraft ist da gleich welcher Gegenkraft? Diese Frage ist oft eine Quelle großer Konfusion. Es gibt viele Möglichkeiten, sich in der Mechanik durch
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Kapitel 5 Fundamentale Konzepte: Arbeiten mit der newtonschen Mechanik
Abb. 5.6: Illustration des dritten newtonschen Gesetzes: Drücken einer Taste
unbedarftes Argumentieren in selbstverschuldete Schwierigkeiten zu stürzen; dabei ist der falsche Umgang mit Kräften und Gegenkräften sicherlich der Königsweg in die Selbstverwirrung. Eine Taste drücken Illustrieren wir den unaufhaltsamen Gang in die argumentative Katastrophe an einem Beispiel. Nehmen wir an, Sie sitzen an Ihrem Computer und wollen eine Taste auf der Tastatur drücken (Abb. 5.6). Die Taste ist mit einer Feder am Gehäuse befestigt. Sie versuchen die Taste zu drücken und üben dabei eine Kraft auf sie aus. Aber nach dem dritten newtonschen Gesetz übt die Taste eine Gegenkraft aus, die genauso groß und entgegengesetzt gerichtet ist. Wie fest Sie auch drücken, heimtückisch wächst die Gegenkraft immer mit. Hat die Gegenkraft zur Folge, dass sich die Taste überhaupt nicht in Bewegung setzen lässt? Das widerspricht der alltäglichen Erfahrung. Aber wo liegt der Fehler in der Argumentation? Bevor Sie weiterlesen, nehmen Sie sich einen Moment Zeit und denken Sie über das Problem nach. Sehr beliebt, aber darum nicht minder falsch, ist der folgende „Ausweg“: „Vielleicht ist die Kraft auf die Taste ja um ein weniges größer als die Gegenkraft. Darum kann man die Taste drücken.“ Ist man erst in diesem Denkmuster gefangen, gelingt es kaum, sich aus der selbstgestellten Falle zu befreien. Kräfte an der Taste Sie sollen nicht länger auf die Folter gespannt werden. Wenn man die Auflösung kennt, ist es eigentlich sehr einfach. Kraft und Gegenkraft aus dem dritten newtonschen Gesetz greifen immer an unterschiedlichen Körpern an: die Kraft an der Taste, die Gegenkraft am Finger (Abb. 5.7). Für die Bewegung eines Körpers sind aber nur diejenigen Kräfte maßgebend, die an ihm selbst angreifen. Diejenigen, die er selbst auf andere Körper ausübt, sind hier nicht von Belang. Für die Bewegung der Taste muss demzufolge nur die Kraft des Fingers auf die Taste berücksichtigt werden. Die Gegenkraft, die auf den Finger wirkt, spielt keine Rolle. Häufig wird die Formulierung „Kraft gleich Gegenkraft“ so missverstanden, als handele es sich um einen Fall des in Abschnitt 5.1.2 angesprochenen
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Abschnitt 5.2 Das dritte newtonsche Gesetz
Abb. 5.7: Kraft und Gegenkraft beim Drücken einer Taste
Kräftegleichgewichts. Diese Verwechslung war auch die Quelle der Verwirrung in der obigen Formulierung des Tasten-Beispiels. Lassen Sie uns den Unterschied noch einmal klarstellen: Kräftegleichgewicht herrscht, wenn an einem Körper zwei verschiedene Kräfte angreifen, die gleich groß und entgegengesetzt gerichtet sind. Kraft und Gegenkraft beziehen sich dagegen immer auf zwei verschiedene Körper. Formulierung des dritten newtonschen Gesetzes Wenn man sich unsicher ist, welche Kraft auf welchen Körper wirkt, kann man eine Notation benutzen, die das klarer macht (wegen ihrer Sperrigkeit werden wir sie im Folgenden aber nur in Zweifelsfällen verwenden): ~F1→2 ist die Kraft, die Körper 1 auf Körper 2 ausübt; ~F2→1 ist die Kraft, die Körper 2 auf Körper 1 ausübt.
Eine sorgfältige Formulierung des Gesetzes lautet dann folgendermaßen: Drittes newtonsches Gesetz („actio = reactio“):
Wenn ein Körper eine Kraft auf einen zweiten ausübt, so übt auch der zweite Körper auf den ersten eine gleich große und entgegengesetzt gerichtete Kraft aus:
~F1→2 = −~F2→1 .
(5.2)
Kraft und Gegenkraft greifen niemals am gleichen Körper an. Analyse des Tasten-Beispiels Das Tasten-Beispiel kann man nun fachgerecht wie folgt analysieren: Das betrachtete System ist die Taste ohne Feder und ohne Finger (Abb. 5.8). Auf die Taste wirken zwei Kräfte: die Kraft FFinger→Taste des Fingers auf die Taste und die Kraft FFeder→Taste der Feder auf die Taste.
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Kapitel 5 Fundamentale Konzepte: Arbeiten mit der newtonschen Mechanik
Abb. 5.8: Tasten-Beispiel: (a) Wahl der Systemgrenzen, (b) Kräfte auf die Taste
Abb. 5.9: Der Planet übt eine Kraft auf den Stern aus. Deshalb „wackelt“ der Stern hin und her, wenn ihn der Planet umrundet.
Die Größe der Federkraft ist durch die Auslenkung der Feder aus ihrer Ruhelage bestimmt (z. B. nach dem hookeschen Gesetz, vgl. S. 122). Über die Fingerkraft können Sie frei bestimmen. Je nach der Größe der Fingerkraft im Vergleich zur Federkraft kann Kräftegleichgewicht herrschen oder die Taste in die eine oder die andere Richtung beschleunigt werden.
5.3 Wechselwirkungsprinzip Das dritte newtonsche Gesetz wird auch oft als Wechselwirkungsprinzip bezeichnet. Niemals wirkt nur ein Körper auf einen anderen. Kräfte treten stets als Paar auf. Einige Beispiele können das verdeutlichen: •
Planet und Stern Ein Stern wie die Sonne zwingt durch seine Gravitationsanziehung die Planeten auf ihre Bahnen. Aber nicht nur der Stern übt eine Kraft auf die Planeten aus. Die Planeten „ziehen“ mit einer gleich großen Kraft zurück. Daher „wackelt“ der Stern ein wenig hin und her, wenn die Planeten ihn
Abschnitt 5.3 Wechselwirkungsprinzip
101
Abb. 5.10: Auch wenn nur einer der beiden Skateboarder zieht – beide setzen sich in Bewegung, und am Ende treffen sie sich in der Mitte.
Abb. 5.11: RückstoßExperiment
umrunden (Abb. 5.9). Dem Nachweis dieser „Wackelbewegung“ (durch die damit verbundene Doppler-Verschiebung des vom Stern ausgesandten Lichtes) verdanken wir die Entdeckung von Planeten außerhalb des Sonnensystems. •
•
Ziehen und ziehen lassen In Abb. 5.10 ist ein Experiment gezeigt, das Sie selbst ausprobieren können. Jules und Jim stehen sich mit einem Seil auf Skateboards gegenüber. Nur Jules zieht und strengt sich an. Über das Seil übt er eine Kraft auf Jim aus, der das Seil einfach festhält. Es ist nicht verwunderlich, dass Jim sich in Bewegung setzt. Trotz Jims „Passivität“ übt auch er eine gleich große Kraft auf Jules aus. Dieser setzt sich daher ebenfalls in Bewegung. Wenn beide gleich schwer sind, treffen sie sich in der Mitte. Rückstoß Und noch ein Experiment mit einem Skateboard, das Sie selbst ausprobieren können: Der Skateboarder stößt einen Medizinball von sich weg (Abb. 5.11). Dabei wirkt umgekehrt eine gleich große Kraft auf den Skateboarder. Er setzt sich dadurch in Bewegung, und zwar in die entgegengesetzte Richtung wie der Ball. Diesen Effekt nennt man Rückstoß. Er ist die Grundlage des Raketenantriebs, der uns noch in Kapitel 9 beschäftigen wird.
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Kapitel 5 Fundamentale Konzepte: Arbeiten mit der newtonschen Mechanik
Abb. 5.12: Die Straße treibt das Auto an.
•
•
Der Tisch übt eine Kraft aus Wenn Sie mit der Faust fest auf den Tisch hauen, schmerzt Ihre Hand hinterher. Die Faust übt eine Kraft auf den Tisch aus – aber auch der Tisch auf die Faust. Sie ist die Ursache des Schmerzes. Vielen Lernenden bereitet es Schwierigkeiten, dass „passive“ Körper wie die Tischplatte eine Kraft ausüben können. Im nächsten Beispiel ist diese „psychologische Hürde“ noch höher. Die Straße treibt das Auto an Die Frage, welche Kraft ein Auto antreibt, mag Ihnen vielleicht banal vorkommen. Der Motor sorgt dafür, dass sich die Räder drehen, und diese „bringen die Kraft auf die Straße“. Bedenken Sie aber, dass die Kraft FAuto→Straße nicht auf das Auto wirkt, sondern auf die Straße. Sie kann daher nicht dessen Bewegung beeinflussen, sondern höchstens diejenige der Straße. Sie ist nach hinten gerichtet und kann daher Gegenstände auch nur in diese Richtung beschleunigen (Abb. 5.12).
Abb. 5.13: Die Autoräder üben beim Beschleunigen eine Kraft auf die Straße aus. Im Lauf der Zeit wird die Haltelinie durch diese Kraft verformt.
Abschnitt 5.3 Wechselwirkungsprinzip
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Abb. 5.14: Der starke Mann und das Pferd (nach Hewitt, 2004)
Im Winter oder auf einer Schotterpiste kann man die Wirkung dieser Kraft manchmal beobachten: Schnee oder Steine werden nach hinten geschleudert. Sehr eindrucksvoll ist auch eine andere ihrer Auswirkungen: Manchmal sieht man wie in Abb. 5.13 wellenartig „verbogene“ Haltelinien vor Ampeln. Im Sommer, wenn der Asphalt weich ist, schieben die Räder beim Anfahren die Linie ein wenig nach hinten – eine Folge der Kraft FAuto→Straße . Relevant für die Bewegung des Autos ist aber nicht diese Kraft, sondern ihre Gegenkraft FStraße→Auto . Sie wirkt von der Straße auf die Räder (Abb. 5.12). Es ist eine Kraft, die am Auto angreift und die dessen Bewegung folglich beeinflussen kann. Das Auto wird also von einer Kraft beschleunigt, die die Straße ausübt. So unanschaulich können einfache Probleme der Mechanik sein.
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Kapitel 5 Fundamentale Konzepte: Arbeiten mit der newtonschen Mechanik
Beispielaufgabe: Der starke Mann und das Pferd Ein besonders perfides Beispiel zum Kräftegleichgewicht und zum dritten newtonschen Gesetz illustriert Abb. 5.14. Auf den starken Mann in Teilbild (a) wirken zwei durch Seile übertragene Kräfte. Eines der Seile ist an einem Baum befestigt, das zweite führt zum Pferd. Der starke Mann kann die Kräfte ohne Weiteres aushalten. Wie sieht es aber in den beiden Situationen mit zwei Pferden in (b) und (c) aus? Wie groß sind dort die Kräfte? Lösung: Wir setzen für alle drei Situationen Kräftegleichgewicht voraus, denn der starke Mann soll weder nach links noch nach rechts beschleunigt werden. Die nach links wirkenden Kräfte müssen dann in allen drei Situationen genauso groß sein wie die nach rechts wirkenden. Auf den starken Mann wirken daher in (a) und (b) gleich große Kräfte. Es spielt keine Rolle, ob die Kräfte von zwei Pferden oder von Pferd und Baum ausgeübt werden: Beide Male wirkt jeweils eine „Pferdekraft“ auf den linken und auf den rechten Arm. In Teilbild (c) wirkt jedoch die doppelte Kraft, denn zwei Pferde ziehen am rechten Arm. Damit Kräftegleichgewicht herrscht, muss auch der Baum mit der doppelten Kraft am linken Arm ziehen. Oder, anders ausgedrückt: Der starke Mann zieht nun mit doppelter Kraft am Baum, und nach dem dritten newtonschen Gesetz zieht auch der Baum mit doppelter Kraft am Mann. Das Hinterhältige an diesem Beispiel ist, dass die meisten Leute nicht glauben, dass ein Baum genauso am Mann ziehen kann wie ein Pferd (der Baum ist ja schließlich ein „passiver“ Gegenstand). Die diesem Beispiel vorangegangene Diskussion sollte Sie gelehrt haben, dass es darauf nicht ankommt. Die entscheidende Größe ist nicht die Zahl der Pferde, sondern die an den Armen des Mannes angreifende Kraft.
5.4 Zwei Arten, das zweite newtonsche Gesetz zu verwenden Das zweite newtonsche Gesetz ist die grundlegende Gleichung der Mechanik. Alles, was Sie in der Mechanik berechnen können, steckt in der Formel
~F = m ·~a.
(5.3)
Wenn man ein mechanisches Problem bearbeiten will, muss man sich als Erstes die grundlegende Frage stellen: Was will ich eigentlich herausfinden? Welche Größen sind gegeben, welche Angaben kann ich mir beschaffen und was
Abb. 5.15: Wie groß ist die Seilkraft?
Abschnitt 5.4 Zwei Arten, das zweite newtonsche Gesetz zu verwenden
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möchte ich berechnen? Für die newtonsche Gleichung gibt es zwei prinzipielle Verwendungsmöglichkeiten: Entweder ist die Bahnkurve vorgegeben und man sucht mit Gl. (5.3) die Kräfte, oder die Kräfte sind vorgegeben, und man benutzt Gl. (5.3), um die Bahnkurve zu ermitteln. 5.4.1 Aus der Bahnkurve auf die Kräfte schließen
Erinnern Sie sich noch an die Hammerwerferin aus Kapitel 2? Können Sie beantworten, wie groß die Kraft ist, die sie aufbringen muss, um ihren Hammer im Kreis zu schwingen? Diese Fragestellung ist ein Beispiel für die erste Verwendungsmöglichkeit des newtonschen Gesetzes. Die Bahnkurve ~x (t) des Hammers ist bekannt. Aus der Kenntnis der Bahnkurve kann man die Geschwindigkeit berechnen und aus der Geschwindigkeitsänderung wiederum die Beschleunigung des Hammers zu jedem Zeitpunkt ermitteln (Abb. 5.15). Wenn man aber die Beschleunigung kennt, kann man mit Gl. (5.3) die Kraft zu jedem beliebigen Zeitpunkt berechnen. Man schließt also in diesem Fall von der bekannten Bahn auf die unbekannte Kraft. Unter welchen Umständen ist man an dieser Art von Problem überhaupt interessiert? Wann kennt man die Bewegung und sucht die entsprechenden Kräfte dazu? Oft tritt eine solche Fragestellung in der Technik auf. Man kennt die Bewegung, die ein Bauteil ausführen soll und möchte die einwirkenden Kräfte kennen, um das Material und seine Stärke zu optimieren. Auch wenn es um die Sicherheit geht, ist man an den Kräften interessiert, die in einem Material wirken. Zwar muss man beim Hammerwurf nicht befürchten, dass das Stahlseil reißt. Aber wenn Sie das nächste Mal in eine Achterbahn steigen, werden Sie sicher Wert darauf legen, dass jemand eine entsprechende Berechnung durchgeführt hat. Beispielaufgabe: Abschleppseil Betrachten Sie die in Abb. 5.16 gezeigte Situation. Ein Auto der Masse m1 = 1800 kg schleppt ein zweites der Masse m2 = 1000 kg mit einem Abschleppseil ab. Gesucht ist die maximale Belastung, die das Abschleppseil bei sinnvoller Verwendung aushalten muss. Nehmen Sie an, dass das Abschleppseil (Masse 1 kg) nicht dehnbar ist. Als realistische Werte für die Rollreibungskraft setzen Sie 270 N für das vordere Auto und 150 N für das hintere Auto ein. Da nur langsame Geschwindigkeiten betrachtet werden, können Sie von der Luftwiderstandskraft absehen.
Abb. 5.16: Ein Auto wird abgeschleppt.
106
Kapitel 5 Fundamentale Konzepte: Arbeiten mit der newtonschen Mechanik
m2
FR2
m1
mS
FS®A2
FA2®S
FA1®S
FS®A1
FStr
FR1
Abb. 5.17: Die an den drei Teilsystemen angreifenden Kräfte
Lösung: Bevor wir an die Lösung der Aufgabe herangehen, schätzen Sie zunächst ab, wie groß die zum Ziehen benötigte Kraft sein wird und von welchen Größen sie abhängt. Das Ergebnis der Aufgabe ist nicht besonders tiefsinnig; durch etwas Nachdenken kann man es herausbekommen. Überlegen Sie sich insbesondere: Hängt die zum Ziehen nötige Kraft von der Masse des ziehenden Autos ab? Hängt sie von der Masse des gezogenen Autos ab? Was vermuten Sie aus Ihrer praktischen Lebenserfahrung? (a) Bewegungsgleichungen Gesucht ist die auf das Seil wirkende Kraft. Gemäß der ersten Verwendungsart des newtonschen Gesetzes müssen wir also die Beschleunigung a1 des vorderen Autos vorgeben. Weil das Seil nicht dehnbar ist, folgt das hintere Auto dem vorderen immer mit der gleichen Geschwindigkeit und der gleichen Beschleunigung a2 . Unser Gesamtsystem besteht aus drei Teilsystemen: den beiden Autos und dem Seil. In Abb. 5.17 sind für jedes dieser drei Teilsysteme die Systemgrenzen und die äußeren Kräfte eingezeichnet. Dabei bedeutet FA2 →S die von Auto 2 auf das Seil ausgeübte Kraft. FStr ist die von der Straße auf Auto 1 ausgeübte Kraft, die das Auto antreibt. FR1 und FR2 sind die Rollreibungskräfte, die auf die beiden Autos wirken. Für jedes der drei Teilsysteme erhält man eine Bewegungsgleichung (mS und aS sind Masse und Beschleunigung des Seils): Auto 1: Seil: Auto 2:
m1 a1 = FStr − FR1 − FS→A1 ,
(5.4)
m2 a2 = FS→A2 − FR2 .
(5.6)
mS aS = FA1 →S − FA2 →S ,
(5.5)
Auf der rechten Seite jeder Gleichung stehen die in Abb. 5.17 eingezeichneten Kräfte. Beim Festlegen der Vorzeichen für die Kräfte muss man ein wenig aufpassen. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder man trifft die Festlegung, dass das Vorzeichen einer Kraft positiv ist, wenn sie so gerichtet ist wie in der Skizze eingezeichnet. Beim Aufstellen der Bewegungsgleichung wird dann die Richtung der Kraft durch das Vorzeichen gekennzeichnet. So ist es oben in den Gleichungen geschehen: In der Skizze nach links zeigende Kräfte wurden in der newtonschen Gleichung mit einem Minuszeichen berücksichtigt. Wenn sich in der Rechnung ein negativer Wert für eine Kraft ergibt, weiß man, dass sie anders gerichtet ist als in der Skizze eingezeichnet. Bei der zweiten, hier nicht gewählten Möglichkeit trifft man die Konvention, dass Kräfte in positive x-Richtung (also nach rechts) immer positiv gerechnet werden. Ob eine Kraft nach links oder nach rechts gerichtet ist, kann man daran ablesen, ob F einen negativen oder positiven Wert hat. Bei dieser Konvention darf man die (vermutete)
Abschnitt 5.4 Zwei Arten, das zweite newtonsche Gesetz zu verwenden
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Richtung der Kraft dann aber nicht mehr durch ein Vorzeichen in der newtonschen Gleichung ausdrücken. In den Bewegungsgleichungen oben stünde also vor jeder Kraft ein Pluszeichen. Der Wert von F wäre entsprechend positiv oder negativ. Man kann sich frei für eine der beiden Möglichkeiten entscheiden, man darf sie nur nicht durcheinanderwerfen. Eine weitere Bemerkung: Warum eigentlich das Aufteilen in Teilsysteme? Warum nicht das Gesamtsystem betrachten? Der Grund dafür ist einfach. Schreiben Sie einmal die newtonsche Gleichung für das Gesamtsystem auf und Sie werden sehen, dass Ihnen das nichts nützt. Das Ergebnis unserer Rechnung soll der Wert der Seilkraft sein. In der newtonschen Bewegungsgleichung stehen aber nur äußere Kräfte. Daher müssen wir die Systemgrenzen so wählen, dass die Seilkraft eine äußere Kraft ist. Das ist bei der Wahl der Systemgrenzen in Abb. 5.17 der Fall. (b) Bewegung mit konstanter Geschwindigkeit Zur Berechnung der Seilkraft betrachten wir zuerst den Fall, dass sich das Gespann mit konstanter Geschwindigkeit fortbewegt. Dann sind alle drei Teilsysteme unbeschleunigt, a1 = a2 = aS = 0, und die linken Seiten der Gleichungen (5.4) – (5.6) sind null. Den Wert der Kraft FA2 →S auf das Seil erhalten wir am einfachsten aus Gl. (5.6) mit dem dritten newtonschen Gesetz FS→A2 = FA2 →S (Vorzeichenkonvention! Beide Kräfte haben einen positiven Wert!). Es ergibt sich:
FA2 →S = FR2 .
(5.7)
Können Sie diese Gleichung in Worten interpretieren? Es ist sehr einfach: Die Seilkraft wird dazu verwendet, um die auf das hintere Auto wirkende Reibungskraft zu kompensieren. Im Fall konstanter Geschwindigkeit sind dazu 150 N nötig. (Wie viel ist das? Erinnern Sie sich an Kasten 3.2: Es ist so viel wie die Gewichtskraft einer Masse von 15 kg). Die zum Abschleppen nötige Kraft hängt weder von der Masse des vorderen noch von der Masse des hinteren Autos ab (außer dadurch, dass die Rollreibungskraft für ein schwereres Auto größer ist). Aus den Gleichungen (5.4) – (5.6) lassen sich noch einige andere Erkenntnisse gewinnen: •
Die Kraft der Straße auf das vordere Auto muss so groß sein wie die Summe beider Reibungskräfte:
FStr = FR1 + FR2 .
(5.8)
Sie können das bestätigen, indem Sie die Summe aller drei Gleichungen bilden und das dritte newtonsche Gesetz benutzen. Noch einfacher ist es, die newtonsche Bewegungsgleichung für das Gesamtsystem hinzuschreiben. FStr , FR1 und FR2 sind dann die einzigen äußeren Kräfte und Gl. (5.8) ergibt sich unmittelbar. •
Die Kräfte auf die beiden Enden des Seils sind gleich groß. Das folgt unmittelbar aus Gl. (5.5) mit aS = 0.
(c) Beschleunigte Bewegung Das bisher Gesagte gilt für den Fall konstanter Geschwindigkeit. Beim Anfahren, wenn die Autos schneller werden, sieht es ein wenig anders aus. Weil das Seil nicht dehnbar sein soll, hat die Beschleunigung für alle drei Teilsysteme den gleichen Wert: a ≡ a1 = a2 = aS (das Symbol „≡“ bedeutet „nach Definition gleich“, d. h. a wird durch die rechte Seite definiert).
108
Kapitel 5 Fundamentale Konzepte: Arbeiten mit der newtonschen Mechanik
Den Wert der Seilkraft, die am hinteren Ende des Seils herrscht, liest man wieder aus Gl. (5.6) unter Berücksichtigung von FS→A2 = FA2 →S ab:
FA2 →S = FR2 + m2 a.
(5.9)
Gegenüber dem vorherigen Wert ist noch der Beitrag m2 a hinzugekommen. Man kann leicht verstehen warum: Durch die Seilkraft muss nicht mehr nur die auf Auto 2 wirkende Reibungskraft aufgebracht werden, sondern es ist eine zusätzliche Kraft m2 a nötig, um Auto 2 zu beschleunigen. Beim Beschleunigen ist die Seilkraft höher als bei konstanter Geschwindigkeit. Damit Sie ein Gefühl für die Größenordnung dieses zusätzlichen Beitrags bekommen, setzen wir einen mittelgroßen Wert der Beschleunigung ein. Um ein Auto in moderaten 30 s von 0 auf 100 km/h zu bringen, ist eine Beschleunigung a = 0,93 m/s2 nötig. Schleppt man mit dieser Beschleunigung ab, hat der Zusatzterm m2 a den Wert 1000 kg · 0,93 m/s2 = 930 N. Die aufgrund des Beschleunigungsvorgangs zusätzlich erforderliche Kraft ist also sechsmal so groß wie die Seilkraft bei konstanter Geschwindigkeit. Wenn man sich der Belastbarkeit des Seils nicht so ganz sicher ist, sollte man beim Beschleunigen vorsichtig sein. Ähnlich wie oben kann man aus den Bewegungsgleichungen (5.4) – (5.6) wieder einige zusätzliche Einsichten gewinnen: •
Durch Addition der drei Gleichungen (oder durch Aufschreiben der Bewegungsgleichung des Gesamtsystems) ergibt sich, dass die Kraft der Straße auf das vordere Auto so groß ist wie die Summe der beiden Reibungskräfte plus der Kraft (m1 + m2 + mS ) a, die nötig ist, um Auto 1, Auto 2 und Seil mit der Beschleunigung a zu beschleunigen.
•
Die Kräfte, die an den beiden Enden des Seils angreifen, sind nun nicht mehr gleich groß. Die Kraft nach rechts ist um den Betrag mS a größer. Dieses Ergebnis, das man an Gl. (5.5) ablesen kann, mag sich zunächst etwas überraschend anhören. Es wird aber unmittelbar verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass zum Beschleunigen des Seils eine Gesamtkraft dieser Größe erforderlich ist. Gleich große Kräfte an beiden Enden würde Kräftegleichgewicht bedeuten (und damit unbeschleunigte Bewegung des Seils).
(d) Anfahren mit durchhängendem Seil Die größte Belastung des Abschleppseils tritt auf, wenn man aus dem Stillstand anfährt und das Seil vorher lose durchhing. Wenn nun das Seil plötzlich gespannt wird, besitzt das vordere Auto schon eine bestimmte Geschwindigkeit v, auf die das hintere Auto nun innerhalb kürzester Zeit gebracht werden muss. Das bedeutet eine hohe Beschleunigung und damit eine große Kraft. (Im Alltag nutzen Sie diesen Effekt, wenn Sie einen Faden durchreißen wollen: Sie lassen ihn lose durchhängen und ziehen dann ruckartig daran.) Der genaue Wert der Kraft hängt von der Elastizität des Seils ab. Wenn sich das Seil etliche Meter dehnen lässt, bevor sich das hintere Auto merklich in Bewegung setzt, ist die Seilkraft nicht sehr groß. Andererseits ergibt sich eine theoretisch unendliche Kraft für ein gar nicht dehnbares Seil (das es in Wirklichkeit nicht gibt).
109
Abschnitt 5.4 Zwei Arten, das zweite newtonsche Gesetz zu verwenden
Kasten 5.1 Rollreibung als äußere Kraft Haben Sie sich im Beispiel mit dem Abschleppseil nicht auch gewundert? Ein paar Seiten vorher haben Sie gelernt, dass man beim Aufstellen der Bewegungsgleichungen nur äußere Kräfte berücksichtigen darf, und nun sehen Sie mit Empörung, dass in der Bewegungsgleichung Rollreibungskräfte auftauchen. Die Rollreibungskräfte werden doch wohl zum Großteil durch die Reibung in den Achslagern verursacht und sollten daher – so wie wir die Systemgrenzen gewählt haben – innere Kräfte sein. Wenn die Rollreibung eine äußere Kraft ist, wieso verringert man sie dann durch Kugellager, die tief im Inneren des Autos eingebaut sind?
®
v
®
FAchse®Rad
®
r1 r2
FStrasse®Rad Ja, Sie haben recht – und doch wieder nicht. Weil es am einfachsten ist, nehmen wir an, dass die Räder ohne Kugellager auf starren Achsen sitzen wie bei einem LegoModell. Betrachten wir genauer, welche Kräfte an einem Rad angreifen, wenn man das Auto anschiebt. Um das Rad in Bewegung zu versetzen, muss die Haftreibungskraft überwunden werden, die überall dort wirkt, wo sich Achse und Rad berühren (linkes Rad in der Abbildung oben). Damit dies geschieht und sich das Rad dreht, muss eine andere Kraft FStrasse→Rad vorhanden sein, die von der Straße auf das Rad ausgeübt wird. Dies ist die äußere Kraft, die nötig ist, damit die Räder rollen, und sie haben wir oben mit Rollreibungskraft bezeichnet. Fehlte sie (etwa im Fall einer spiegelglatten Unterlage), könnte die Haftreibungskraft zwischen Achse und Rad nicht überwunden werden, und Sie müssten das Fahrzeug mit blockierten Rädern über die Unterlage schieben. Etwas übersichtlicher sind die Kräfteverhältnisse am Rad rechts in der Abbildung dargestellt, wo die vielen Einzelkräfte zwischen Achse und Rad zu einer Gesamtkraft FAchse→Rad zusammengefasst sind. Auf das Rad wirken die beiden Kräfte FAchse→Rad und FStrasse→Rad in unterschiedliche Richtungen. Die beiden „Hebelarme“ bezüglich der Drehachse sind ebenfalls eingezeichnet. Nach dem Hebelgesetz muss r1 · FAchse→Rad = r2 · FStrasse→Rad gelten, damit das Rad sich gleichmäßig dreht (vornehmer ausgedrückt müssen die Drehmomente der beiden Kräfte gleich groß sein). Mit dieser Beziehung können Sie auch erklären, warum (a) Rollreibungskräfte relativ klein sind (im Vergleich zur Gleitreibung) und (b) bei großen Rädern die Rollreibung kleiner ist.
110
Kapitel 5 Fundamentale Konzepte: Arbeiten mit der newtonschen Mechanik
5.4.2 Von den Kräften auf die Bahnkurve schließen
Bei der zweiten Art, die newtonsche Bewegungsgleichung zu verwenden, sind die Kräfte vorgegeben, und man möchte die Bahnkurve bestimmen. In der Physik sind die meisten Aufgaben von diesem Typ. Ein Beispiel dafür haben wir in Abschnitt 3.4 kennengelernt, in dem wir die Bewegungsgleichung für den schrägen Wurf grafisch und analytisch gelöst haben. Einige allgemeine Kennzeichen dieser Art von Problem können wir aus diesem Beispiel ablesen: Die Kräfte zwischen den beteiligten Körpern kennt man. Oft handelt es sich um Wechselwirkungen, für die man allgemeine Kraftgesetze angeben kann (wie die Schwerkraft oder elektrostatische Kräfte). Setzt man das Kraftgesetz für den betrachteten Fall in die newtonsche Bewegungsgleichung ein, ergibt sich eine Differentialgleichung. Durch Vorgabe der Anfangsbedingungen (d. h. Ort und Geschwindigkeit der beteiligten Körper) zu einem bestimmten Anfangszeitpunkt erhält man aus der Differentialgleichung eine eindeutige Lösung für die Bahnkurve. In den folgenden Kapiteln werden wir uns mit Problemen dieser Art ausführlicher beschäftigen.
5.5 Mechanische Probleme nach Rezept lösen Nach den vielen wohlgemeinten Ermahnungen, abschreckenden Beispielen und anderen erzieherischen Maßnahmen der letzten Abschnitte haben Sie vielleicht so viel Respekt vor Problemen der Mechanik bekommen, dass Sie sich gar nicht mehr an sie herantrauen. Das soll nun gerade nicht der Zweck der Ausführungen gewesen sein. Es ist nämlich eigentlich alles ganz einfach, wenn man nur systematisch herangeht. Mechanische Probleme kann man in den meisten Fällen „nach Kochrezept“ lösen. Es gibt eine Reihe von Punkten zu beachten, aber wenn man das Grundprinzip verstanden hat, ist man für alle Aufgaben der Mechanik gut gerüstet. Falls Sie Bedenken gegen rezeptartige Vorgehensweisen hegen: Ihre physikalische Kreativität soll dadurch nicht gebremst werden. Im Gegenteil, wenn Sie sich über die Äußerlichkeiten einer Aufgabe keine Gedanken mehr machen müssen, können Sie Ihre Kreativität in ihren wirklichen physikalischen Gehalt fließen lassen. Die einzelnen Schritte des Rezepts werden wir an einem einfachen Beispiel illustrieren: Ein Arbeiter schiebt eine schwere Holzkiste über einen Asphaltboden (Abb. 5.18). Wir nehmen zunächst an, dass wir alle Kräfte kennen, die auf die Kiste einwirken und stellen mit dem zweiten newtonschen Gesetz die Differentialgleichung auf, deren Lösung die Bewegung mathematisch beschreibt. a) System identifizieren Der erste Schritt besteht darin, das betrachtete System zu identifizieren. Man legt fest, aus welchen Bestandteilen das zu betrachtende System bestehen soll und isoliert es gedanklich durch eine imaginäre Grenzfläche von seiner Umgebung. Den Grund dafür kennen wir schon: In der newtonschen Bewegungsgleichung ~F = m ~a bedeutet ~F die Vektorsumme der äußeren Kräfte. Das De-
111
Abschnitt 5.5 Mechanische Probleme nach Rezept lösen
Abb. 5.18: Systemgrenzen beim Schieben einer Kiste
®
FS ®
y ®
FG
x Abb. 5.19: Die „freigestellte“ Kiste
FN
®
FR
finieren der Systemgrenzen legt diesen Begriff erst fest. Eine äußere Kraft ist eine Kraft, die über die Systemgrenzen hinweg wirkt. Wir haben schon in einigen Beispielen gesehen, dass es die Lösung mechanischer Probleme erleichtert, wenn man sich genau darüber im Klaren ist, von welchem System gerade die Rede ist. Für das Beispielproblem ist in Abb. 5.18 die Systemgrenze als gestrichelte Linie eingezeichnet. Genauso wäre es möglich, die Kiste inklusive des schiebenden Menschen als System zu wählen. b) Angreifende Kräfte identifizieren Als Nächstes bestimmt man die äußeren Kräfte, die am System angreifen und zeichnet sie in eine Skizze ein. Damit hat man das System „freigestellt“. Alles, was außerhalb des Systems liegt, ist nur noch durch die Kräfte repräsentiert, die über die Systemgrenzen hinweg wirken. Beim Einzeichnen der Kräfte muss man darauf achten, dass man wirklich nur die Kräfte berücksichtigt, die von anderen Körpern auf das System ausgeübt werden. Dazu gehören insbesondere nicht: Kräfte, die nur innerhalb des Systems wirken oder Kräfte, die das System auf andere Körper ausübt (etwa die Kraft der Kiste auf den Boden). In unserem Beispiel wirken die folgenden Kräfte auf das System „Kiste“ (Abb. 5.19):
•
Die „Schiebekraft“ ~FS , die der Arbeiter auf die Kiste ausübt, die Gewichtskraft ~FG , die die Erde über die Gravitationsanziehung auf die Kiste ausübt, die Normalkraft ~FN , die vom Boden auf die Kiste wirkt,
•
und schließlich die Reibungskraft ~FR .
• •
Die vom Boden auf die Kiste wirkende Normalkraft verhindert, dass diese durch den Boden fällt. Die Normalkraft ist so groß wie die Gewichtskraft und
112
Kapitel 5 Fundamentale Konzepte: Arbeiten mit der newtonschen Mechanik
entgegengesetzt gerichtet. Ohne sie wäre in y-Richtung die Gewichtskraft die einzige Kraft auf die Kiste, und die Kiste würde nach unten beschleunigt. Der Wert der Normalkraft ist nicht von vornherein festgelegt, sondern stellt sich dynamisch so ein, dass an der Kiste immer Kräftegleichgewicht in yRichtung herrscht. Erhöht man die Gewichtskraft, indem man einen schweren Stein auf die Kiste legt, wird die Normalkraft um den gleichen Betrag größer. Die Normalkraft ist übrigens nicht die Gegenkraft zur Gewichtskraft (an welchem Körper greift diese an?). Sie ist die Gegenkraft zur Kraft, die die Kiste auf den Boden ausübt. Der Boden drückt mit der gleichen Kraft zurück. c) Bewegungsgleichung lösen Wenn alle am System angreifenden Kräfte identifiziert sind, kann man die Bewegungsgleichung aufstellen. Die newtonsche Bewegungsgleichung ist eine Vektorgleichung. In unserem Beispiel sind lediglich die x- und die y- Komponente relevant (Kraftkomponenten werden wieder wie eingezeichnet als positiv gerechnet). In x-Richtung wirken Schiebe- und Reibungskraft: m
d2 x = FS − FR . dt2
(5.10)
In y-Richtung wirken Normal- und Gewichtskraft: m
d2 y = FN − FG = 0. dt2
(5.11)
Wir wissen schon, dass in y-Richtung keine Bewegung der Kiste stattfindet. Es herrscht Kräftegleichgewicht; Gewichtskraft und Normalkraft kompensieren sich gerade. Daher ist die rechte Seite von Gl. (5.11) null. Bei der Bewegung in x-Richtung gibt es zwei Möglichkeiten: 1) FS > FR : Die Schiebekraft ist größer als die Reibungskraft. In diesem Fall steht auf der rechten Seite von Gl. (5.10) ein positiver konstanter Wert. Die entsprechende Differentialgleichung wurde schon in Abschnitt 3.4.2 gelöst. Die Kiste wird (entsprechend Gl. (3.19)) gleichmäßig beschleunigt. 2) FS = FR : Es herrscht Kräftegleichgewicht. Die rechte Seite von Gl. (5.10) hat den Wert null und die Geschwindigkeit der Kiste ändert sich nicht. Sie ist entweder in Ruhe oder bewegt sich mit konstanter Geschwindigkeit. Überlegen Sie: Warum kann es den Fall FS < FR nicht geben? Was würde dies physikalisch bedeuten und in welche Richtung würde sich die Kiste bewegen? Mit dem Lösen der Bewegungsgleichung ist das Rezept abgearbeitet. Man kennt nun den Ort des betrachteten Körpers als Funktion der Zeit. Damit hat man die vollständige Information, die man aus den newtonschen Bewegungsgleichungen gewinnen kann.
Abschnitt 5.6 Haft- und Gleitreibung
113
5.6 Haft- und Gleitreibung Bei der Analyse des Kistenbeispiels setzten wir voraus, dass wir alle am System angreifenden Kräfte kennen, entweder als Zahlenwert (z. B. 260 N) oder in Form eines allgemeinen Gesetzes (z. B. FG = −m · g). Den Wert der Schiebekraft können wir als bekannt annehmen. Auch die Gewichtskraft kann man durch Wiegen bestimmen, und die Normalkraft stellt sich entsprechend ein. Einzig über den Wert der Reibungskraft können wir bisher noch nichts aussagen. Um die Bewegung der Kiste detaillierter beschreiben zu können, müssen wir uns ausführlicher mit Reibungskräften beschäftigen. Bei der Reibung zwischen festen Körpern unterscheidet man grundsätzlich zwischen Haftreibung und Gleitreibung, je nachdem ob die beiden beteiligten Oberflächen sich gegeneinander bewegen oder nicht. Die Haftreibungskraft wirkt bei der ruhenden Kiste. Sie ist die Kraft, die verhindert, dass man die ruhende Kiste ohne Weiteres wegschieben kann. Die Gleitreibungskraft wirkt, wenn man es geschafft hat, die Kiste in Bewegung zu setzen. Man muss zum Schieben immer weiter eine Kraft ausüben, sonst bremst die Gleitreibungskraft die Kiste wieder ab. Reibung ist ein sehr komplexer Vorgang. Die Prozesse, die sich auf der mikroskopischen Ebene abspielen, sind bis heute noch nicht in allen Einzelheiten verstanden. Es gibt allerdings einige empirische Gesetzmäßigkeiten, die schon seit Leonardo da Vinci bekannt sind und die für viele Materialien recht gut erfüllt sind. Obwohl wir, um die Reibung in der newtonschen Bewegungsgleichung zu berücksichtigen, nur diese empirischen Gesetzmäßigkeiten benötigen, lohnt es sich doch, sich etwas eingehender mit dem zu beschäftigen, was man über das Thema weiß. 5.6.1 Haftreibung
Kehren wir dazu noch einmal zu unserem Arbeiter zurück, der die Kiste schieben möchte (Abb. 5.20). Er spuckt in die Hände und übt eine Kraft auf die Kiste aus – aber sie rührt sich nicht. Er versucht es ein weiteres Mal mit einer größeren Schiebekraft: Noch immer bewegt sie sich nicht. Erst beim dritten Versuch mit einer noch größeren Kraft setzt sie sich in Bewegung. Versuchen wir die auf die Kiste wirkenden Kräfte zu rekonstruieren. Bei den ersten beiden Versuchen blieb die Kiste unbewegt. Die Beschleunigung war null, es herrschte Kräftegleichgewicht zwischen Schiebekraft und Haftreibungskraft. Bei den beiden Versuchen war die Schiebekraft aber jeweils unterschiedlich. Wie kann Kräftegleichgewicht zwischen der Haftreibungskraft und zwei unterschiedlich großen Schiebekräften herrschen? Die Haftreibungskraft ist wie die Normalkraft eine Kraft, die sich dynamisch einstellt. Sie wirkt der Schiebekraft entgegen und kompensiert diese gerade. Man kann nicht im Voraus sagen: „Die Haftreibungskraft hat diesen oder jenen Wert, den ich in die newtonsche Bewegungsgleichung einsetze“. Wenn man die Schiebekraft von null bis zu einem Maximalwert kontinuierlich erhöht, steigt auch die entgegengerichtete Haftreibungskraft kontinuierlich an
114
Kapitel 5 Fundamentale Konzepte: Arbeiten mit der newtonschen Mechanik
Abb. 5.20: Haftreibung und Gleitreibung beim Schieben einer Kiste
– bis zu einer gewissen Grenze. Die Haftreibungskraft kann einen bestimmten Maximalwert nicht überschreiten. Ist die Schiebekraft größer als der Maximalwert der Haftreibungskraft, setzt sich die Kiste plötzlich in Bewegung (probieren Sie es mit einem Buch auf der Tischplatte aus – es ist ein alltägliches Phänomen). Gesetz für die maximale Haftreibungskraft Für den maximalen Wert der Haftreibungskraft zwischen einem Körper und seiner Unterlage gibt es ein empirisches Gesetz, das man wie folgt formulieren kann: (1) Die maximale Haftreibungskraft ist proportional zur Normalkomponente der Kraft, die der Körper auf seine Unterlage ausübt. (2) Die maximale Haftreibungskraft ist unabhängig von der Größe der Auflagefläche. In unserem Beispiel ist die Kraft, mit der die Kiste den Boden belastet, die Gewichtskraft der Kiste. „Normalkomponente“ bedeutet, dass wir nur denjenigen Anteil berücksichtigen dürfen, der senkrecht zur Fläche wirkt. Man spricht meist einfach von der „Normalkraft“, obwohl man die hier gemeinte Kraft eigentlich von der vorher unter diesem Namen eingeführten Kraft des Bodens auf den Körper unterscheiden sollte. Praktisch spielt der Unterschied aber keine Rolle, da beide Kräfte den gleichen Betrag haben. Quantitativ kann man die bisher gewonnenen Aussagen folgendermaßen zusammenfassen: Die Haftreibungskraft FH zwischen einem ruhenden Körper und seiner Unterlage ist genauso groß und entgegengesetzt gerichtet wie die Schiebekraft, die parallel zur Unterlage auf den Körper wirkt. Sie kann allerdings einen bestimmten Maximalwert nicht übersteigen, der durch FH,max = µH · FN (5.12) gegeben ist. In dieser Formel ist FN der Betrag der Normalkraft und µH eine Proportionalitätskonstante, die von den beteiligten Materialien und Oberflächenbeschaffenheiten abhängt.
115
Abschnitt 5.6 Haft- und Gleitreibung
Stoffpaar
µH
µG
Stoffpaar
µH
µG
Stahl auf Stahl Stahl auf Holz Stahl auf Stein Stein auf Holz
0,2 0,5 0,8 0,9
0,1 0,4 0,7 0,7
Leder auf Metall Holz auf Holz Stein auf Stein Stahl auf Eis
0,6 0,5 1,0 0,03
0,4 0,4 0,9 0,01
Tab. 5.1: Haft- und Gleitreibungskoeffizienten für einige Materialienpaare. Die Zahlenangaben können nur als grobe Richtwerte verstanden werden, da die Größe von Reibungskräften sehr stark von der genauen Oberflächenbeschaffenheit der beteiligten Körper abhängt.
Der Wert des Haftreibungskoeffizienten µH für einige Materialienpaare ist in Tabelle 5.1 zusammengestellt. Man darf allerdings nicht glauben, dass es sich dabei um exakt reproduzierbare Werte handelt. Die Größe der Haftreibungskraft kann für gleiche Materialienpaare sehr stark variieren, denn die mikroskopische Rauigkeit der Oberflächen ist kaum jemals exakt zu kontrollieren, und auch die immer vorhandenen dünnen Oxidschichten oder Schichten aus adsorbiertem Wasser beeinflussen das Ergebnis stark. Wo greift die Reibungskraft eigentlich an? In Abb. 5.20 ist sie ungefähr in der Mitte der Kistenunterseite eingezeichnet. Die Frage nach dem Angriffspunkt der Reibungskraft ist zwar berechtigt, aber zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht zu beantworten. Wir modellieren unsere Körper immer noch als Punktmassen ohne Ausdehnung. Die Lösung der Bewegungsgleichung ist das WegZeit-Gesetz ~x (t) für einen einzelnen Punkt, den wir, ohne dies bisher näher begründet zu haben, mit dem Schwerpunkt des Körpers gleichsetzen. Der Formalismus gestattet uns nichts anderes, als alle Kräfte an diesem Punkt angreifen zu lassen. Erst wenn wir in Kapitel 13 ausgedehnte Körper behandeln, wird die Frage nach dem Angriffspunkt von Kräften relevant. Dort wird sich herausstellen, dass man bei starren Körpern (wie der Kiste) Kräfte entlang ihrer Wirkungslinie (in Richtung des Kraftpfeils) verschieben darf. Davon haben wir in Abb. 5.20 Gebrauch gemacht. Die Reibungskraft greift nämlich an allen Berührungspunkten zwischen Körper und Unterlage an. Wir haben alle diese Teilkräfte entlang ihrer Wirkungslinie an einen beliebigen Punkt der Kistenunterseite verschoben und zu einer Gesamt-Reibungskraft aufaddiert. Für nichtstarre Körper (also z. B. elastische Körper oder Flüssigkeiten) ist dies nicht zulässig, und man muss mit flächenhaften Reibungskräften arbeiten. Beispielaufgabe: Schiefe Ebene Eine experimentelle Methode, um Haftreibungskoeffizienten zu bestimmen, besteht darin, einen Probekörper auf eine geneigte Unterlage zu legen und den Neigungswinkel α so lange zu erhöhen, bis der Körper zu gleiten beginnt. Erklären Sie das Verfahren physikalisch.
116
Kapitel 5 Fundamentale Konzepte: Arbeiten mit der newtonschen Mechanik
Abb. 5.21: Versuch zur Bestimmung des Haftreibungskoeffizienten
Lösung: Der Aufbau ist in Abb. 5.21 dargestellt. Auf den Klotz, der auf der schiefen Ebene liegt, wirken Gewichtskraft ~ FG , Normalkraft ~FN und Haftreibungskraft ~FH . Bis zum Grenzwinkel α0 , für den der Block gerade noch nicht rutscht, herrscht Kräftegleichgewicht. Es gilt ~ FG + ~FN + ~FH = 0. Für den Grenzwinkel hat die Haftreibungskraft ihren maximalen Wert FH,max . Den Betrag von ~ FN und ~FH,max kann man aus dem eingezeichneten Dreieck bestimmen:
FH,max = FG sin α0 ;
FN = FG cos α0 .
(5.13)
Durch Eliminieren von FG erhält man die folgende Gleichung für FH,max :
FH,max = FN tan α0 .
(5.14)
Der Vergleich mit Gl. (5.12) liefert die gesuchte Beziehung zwischen α0 und µH :
µH = tan α0 .
(5.15)
5.6.2 Gleitreibung
Wird die maximale Haftreibungskraft überschritten, beginnt der Körper über die Unterlage zu rutschen. Zwischen den beiden gegeneinander gleitenden Flächen wirkt jetzt eine Reibungskraft, die die Bewegung hemmt: die Gleitreibungskraft. Die Größe der Gleitreibungskraft gehorcht für viele Materialien einem einfachen empirischen Gesetz: Immer wenn zwei Flächen trocken (d. h. ungeschmiert) gegeneinander gleiten, wirkt eine Kraft die proportional zur Normalkraft, aber unabhängig von der Gleitgeschwindigkeit und der Auflagefläche ist: FG = µG · FN . (5.16)
Die Proportionalitätskonstante µG heißt Gleitreibungskoeffizient. Wie bei µH hängt auch ihr Wert von der genauen Beschaffenheit der beteiligten Flächen ab. Richtwerte für µG sind in Tabelle 5.1 zusammengetragen. Der Gleitreibungskoeffizient ist immer kleiner als der Haftreibungskoeffizient. Gleichung (5.16) gilt nur für trockene Reibung. Wenn man ein Schmiermittel (z. B. Öl) zwischen die beiden aufeinander gleitenden Flächen bringt, verringert sich die Reibungskraft stark. Die Oberflächenmoleküle der beiden
Abschnitt 5.6 Haft- und Gleitreibung
117
Festkörper, die durch starke Kräfte an ihren Plätzen festgehalten werden, stehen nun nicht mehr direkt in Kontakt, sondern sind durch einen Flüssigkeitsfilm voneinander getrennt. Die Moleküle der Flüssigkeit sind leicht gegeneinander verschiebbar, so dass die relative Bewegung der beiden Oberflächen erleichtert wird. Für geschmierte Reibung gelten kompliziertere Gesetzmäßigkeiten als die einfache Beziehung (5.16). 5.6.3 Mikroskopisches Modell der Reibung
Die Reibungsgesetze (5.12) und (5.16) sind rein empirische Gesetze, d. h. sie wurden experimentell gefunden, ohne dass eine theoretische Begründung für ihre Gestalt oder ein Hinweis auf den Bereich ihrer Gültigkeit bekannt war. Natürlich hat man versucht, die zugrunde liegenden Mechanismen auch auf mikroskopischer Ebene zu verstehen. Insbesondere erschien die Unabhängigkeit der Reibungskraft von der Kontaktfläche zwischen Körper und Unterlage erklärungsbedürftig. Die Begründung dafür kann man finden, wenn man die mikroskopische Struktur von Oberflächen betrachtet. Selbst die am feinsten polierten Flächen sind auf molekularer Ebene noch sehr rau. Bringt man zwei Flächen in Kontakt, dann berühren sie sich nicht überall, sondern nur an wenigen Stellen (Abb. 5.22 (a)). Die „wahre Kontaktfläche“ Awahr ist sehr viel kleiner als die „nominale Kontaktfläche“, typischerweise um einen Faktor 10 000 bis 100 000.
Abb. 5.22: Nominale und wahre Kontaktfläche
Hat man den Unterschied zwischen wahrer und nominaler Kontaktfläche erkannt, dann ist die folgende Hypothese sehr einleuchtend: Nur dort, wo sich die Oberflächen berühren, kann eine Kraft zwischen Körper und Unterlage wirken. Die Reibungskraft ist umso größer, je mehr Moleküle sich berühren. Die Reibungskraft ist daher proportional zur wahren Kontaktfläche der beiden Oberflächen: FR ∼ Awahr , (5.17)
wobei FR für die Gleitreibungskraft oder die maximale Haftreibungskraft stehen kann. Wie aber kommt die makroskopische Abhängigkeit von der Normalkraft zustande? Erhöht man die Normalkraft, werden die beiden Oberflächen stär-
118
Kapitel 5 Fundamentale Konzepte: Arbeiten mit der newtonschen Mechanik
ker gegeneinander gepresst. Es kommt zu Verformungen an den Kontaktstellen. Die ursprünglichen Kontaktstellen werden etwas „flacher gedrückt“, und weil sich dabei die Oberflächen etwas stärker annähern, geraten neue Stellen in Kontakt (Abb. 5.22 (b)). Die wahre Kontaktfläche erhöht sich also, wenn die Normalkraft größer wird (während die nominale Kontaktfläche völlig unverändert bleibt). Was sich bei diesem Vorgang im Detail abspielt, ist nicht völlig geklärt. Theoretische Modelle und Messungen deuten darauf hin, dass die wahre Kontaktfläche proportional zur Normalkraft ist: Awahr ∼ FN .
(5.18)
Kombiniert man die beiden Gleichungen (5.17) und (5.18), ergibt sich: FR ∼ FN .
(5.19)
Ausgehend von der Annahme, dass die Reibungskräfte proportional zur wahren Kontaktfläche sind, haben wir eine Gleichung gefunden, deren Form den experimentell gefundenen Beziehungen (5.12) und (5.16) entspricht. Die Abhängigkeit der Reibungskräfte von der (makroskopisch nicht beobachtbaren) wahren Kontaktfläche der Oberflächen äußert sich im Experiment als Proportionalität zur Normalkraft. Für einige Materialien, darunter so wichtige wie Gummi, gilt die Relation (5.18) nicht. Gummi besteht aus langen Polymerketten und ist so beschaffen, dass die wahre Kontaktfläche fast so groß ist wie die nominale. Darum sind die Reibungsgesetze (5.12) und (5.16) für Gummi nur schlecht erfüllt.
5.7 Genauere Analyse einiger einfacher Beispiele 5.7.1 Eine Kiste schieben – noch einmal
Lassen wir unseren bedauernswerten Arbeiter, der schon lebhaft nach einem Gabelstapler verlangt, wieder zum Schieben der schweren Kiste antreten. Mit der Kenntnis der Reibungsgesetze können wir dort, wo in Gl. (5.10) noch allgemein von der Reibungskraft die Rede war, nach Haft- und Gleitreibung differenzieren. Es ergeben sich die folgenden Fälle. Fall 1: Ruhende Kiste, Schiebekraft zu klein Der Arbeiter übt auf die ruhende Kiste eine Kraft aus, die kleiner als die maximale Haftreibungskraft ist. Die Haftreibungskraft stellt sich so ein, dass an der Kiste Kräftegleichgewicht herrscht. Die Beschleunigung ist nach Gl. (5.10) null, so dass sich die Kiste nicht von der Stelle rührt. Fall 2: Ruhende Kiste, große Schiebekraft In einem Akt der Verzweiflung spuckt der Arbeiter noch einmal in die Hände und übt eine Kraft auf die Kiste aus, die größer als die maximale Haftreibungskraft ist. Die Kiste setzt sich in Bewegung, und nun wirkt nur noch
Abschnitt 5.7 Genauere Analyse einiger einfacher Beispiele
119
die kleinere Gleitreibungskraft. Die newtonsche Bewegungsgleichung (5.10) lautet dann: d2 x m 2 = FS − µG · FN (= konst.) (5.20) dt Wenn der Arbeiter die Schiebekraft beibehält, ist die rechte Seite zeitlich konstant und größer als null. Es handelt sich dann um eine gleichmäßig beschleunigte Bewegung mit der Beschleunigung a = ( FS − µG FN )/m. Das Weg-ZeitGesetz für die Kiste lautet nun: =0
1 2 x ( t ) = x0 + v 0 t + 2 at .
(5.21)
Wird die Schiebekraft nicht reduziert, dann wird die Kiste immer schneller. Fall 3: Die Kiste bewegt sich mit konstanter Geschwindigkeit Üblicherweise schiebt man einen Gegenstand mit konstanter Geschwindigkeit. Damit sich die Geschwindigkeit nicht ändert, muss gelten: d2 x dv ≡ 2 = 0. dt dt
(5.22)
Damit diese Bedingung erfüllt ist, muss Kräftegleichgewicht herrschen. Die Schiebekraft muss so groß sein wie die Gleitreibungskraft: FS = µG · FN . Weicht die Schiebekraft auch nur ein wenig von diesem Wert ab, wird die Kiste schneller oder langsamer. Es erfordert also eine genaue Abstimmung der Schiebekraft, um eine Kiste mit konstanter Geschwindigkeit zu schieben. Dass uns das Schieben mit konstanter Geschwindigkeit so „normal“ erscheint, zeugt davon, dass unser Körper diese Abstimmung mit großer Zuverlässigkeit erledigt. Eine Tatsache, die der Alltagsvorstellung vielleicht widerspricht: Die (konstante) Geschwindigkeit der Kiste hängt nicht vom Wert der Schiebekraft ab. Es gilt also nicht: Je höher die Geschwindigkeit, desto höher auch die benötigte Schiebekraft. Für alle Geschwindigkeiten herrscht Kräftegleichgewicht, wenn die Schiebekraft so groß ist wie die geschwindigkeitsunabhängige Gleitreibungskraft. Fall 4: Anschieben der Kiste aus dem Stand Bei den bisher betrachteten Fällen mit konstanter Schiebekraft war der „Normalfall“ noch nicht vertreten: Man setzt eine ruhende Kiste in Bewegung und schiebt sie mit konstanter Geschwindigkeit weiter. Die Kraft auf die Kiste ist dabei zeitlich nicht konstant. Man muss drei Phasen unterscheiden: (1) Bevor sich die Kiste in Bewegung setzt, muss die Haftreibungskraft überwunden werden. In dieser Phase ist der größte Kraftaufwand erforderlich. (2) Wenn sich die Kiste in Bewegung gesetzt hat, muss sie auf die gewünschte Geschwindigkeit beschleunigt werden. Die Schiebekraft muss also etwas größer als die Gleitreibungskraft sein (bei einer beschleunigten Bewegung herrscht kein Kräftegleichgewicht an der Kiste).
120
Kapitel 5 Fundamentale Konzepte: Arbeiten mit der newtonschen Mechanik
Haftreibung
Gleitreibung
9
0,45
x in m
F in N 8
0,4
Kraft F(t)
7
0,35
6
0,3
5
0,25
4
0,2
3
0,15
Weg x(t)
2
0,1
1
0,05
Zeit t in s
0 0
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
0 13
14
15
Abb. 5.23: Anschieben einer Kiste aus dem Stand: (a) Weg-Zeit-Diagramm, (b) Schiebekraft als Funktion der Zeit
(3) Ist die Endgeschwindigkeit schließlich erreicht, muss die Schiebekraft so weit reduziert werden, dass Kräftegleichgewicht herrscht und sich die Kiste mit konstanter Geschwindigkeit bewegt. In dieser Phase ist der Kraftaufwand am geringsten. Abb. 5.23 zeigt die Ergebnisse einer Messung mit einer kleinen Kiste. Gezeigt sind die Schiebekraft auf die Kiste und ihre Position als Funktion der Zeit. Der linke, blau unterlegte Teil entspricht der ersten Phase. Die Schiebekraft ist kleiner als die maximale Haftreibungskraft, und die Kiste bewegt sich nicht. Die Beschleunigungsphase nach Überwinden der maximalen Haftreibungskraft dauert nur so kurz, dass sie in der Grafik nicht sichtbar wird. Im rechten, grün unterlegten Teil der Grafik ist die Geschwindigkeit ungefähr konstant. Da die Beschaffenheit der Unterlage unvermeidlich von Ort zu Ort etwas variiert, ist auch die Gleitreibungskraft nur näherungsweise konstant. Schätzen Sie aus den Kraftangaben in Abb. 5.23 ab, welche Masse die im Versuch verwendete Kiste besaß (1 Gramm? 1 Kilogramm? 1 Tonne?). Benutzen Sie einen typischen Wert für den Reibungskoeffizienten (Tabelle 5.1 auf S. 115). 5.7.2 Federwaage
Stellen wir uns die einfachste denkbare Ausführung einer Federwaage vor: Eine Skala und eine Feder, an die das zu wiegende Massestück gehängt wird (Abb. 5.24 (a)). Je schwerer das Massestück ist, umso weiter wird die Feder
Abschnitt 5.7 Genauere Analyse einiger einfacher Beispiele
121
Abb. 5.24: (a) Federwaage, (b) am Massestück angreifende Kräfte
ausgelenkt. Der an der Feder angebrachte Zeiger erlaubt das Ablesen des entsprechenden Wertes an der Skala. Es handelt sich um ein eindimensionales Problem, denn nur die Vertikale spielt eine Rolle. Wir wählen zuerst das Massestück und danach die Feder als zu analysierendes System. Die Beschleunigung setzen wir als bekannt voraus. Im Normalfall wird sie null sein (wer beschleunigt schon eine Waage?). Weil es aber noch nützlich sein wird, soll ein von null verschiedener konstanter Wert der Beschleunigung zugelassen sein. Die am Massestück angreifenden Kräfte sind rechts eingezeichnet. FF ist die Federkraft, FG = m · g die Gewichtskraft. Die newtonsche Bewegungsgleichung für das Massestück lautet: m · a = FF − m · g,
(5.23)
so dass sich für die Federkraft ergibt: FF = m( a + g).
(5.24)
Für ein unbeschleunigtes Massestück (a = 0) hat die Federkraft den Wert FF = m · g. Dieses Ergebnis ist nicht sehr überraschend. Betrachten wir nun die Feder als zu analysierendes System (Abb. 5.25). Am unteren bzw. oberen Ende greifen die Kräfte FF bzw. FF0 an, die die Feder dehnen. Die Kraft FF haben wir in Gl. (5.24) schon berechnet, denn nach dem dritten newtonschen Gesetz ist die Kraft des Massestücks auf die Feder ebenso
Abb. 5.25: An der Feder angreifende Kräfte
122
Kapitel 5 Fundamentale Konzepte: Arbeiten mit der newtonschen Mechanik
groß (wenn auch entgegengesetzt gerichtet) wie die der Feder auf das Massestück. Obwohl es sich um unterschiedliche Kräfte handelt, haben wir aus diesem Grund beide mit dem gleichen Symbol FF bezeichnet. Um die Dinge nicht unnötig kompliziert zu machen, nehmen wir an, dass die Feder sehr leicht im Vergleich zum Massestück ist, so dass wir ihre Masse in guter Näherung vernachlässigen können. Die newtonsche Bewegungsgleichung lautet: =0 m F· a = F 0 − FF . (5.25) F
Die Kraft am oberen Ende der Feder ist gleich derjenigen am unteren Ende: FF0 = FF . Auch dieses Ergebnis löst kein großes Erstaunen aus. Die Frage, die uns eher interessiert, ist: Wie weit wird der Zeiger ausgelenkt, wenn man eine Masse von 1 kg an die Feder hängt? An welcher Stelle der Skala müssen wir die entsprechende Markierung anbringen? Zur Beantwortung dieser Fragen müssen wir mehr über die Feder wissen. Lässt sie sich leicht oder schwer dehnen? Je nachdem wird sie bei einer vorgegebenen Kraft mehr oder weniger ausgelenkt. Wir benötigen eine Relation zwischen Federkraft und Auslenkung, eine Kraft-Dehnungs-Relation. Stahlfedern werden so hergestellt, dass sie einer besonders einfachen KraftDehnungs-Relation gehorchen. Solange sie nicht überdehnt werden, führt die doppelte Kraft zur doppelten Dehnung. Die Auslenkung aus der Ruhelage y − y0 ist proportional zur Kraft FF , mit der an der Feder gezogen wird: FF = − D (y − y0 ).
(5.26)
Diese Relation wird als hookesches Gesetz bezeichnet. Die Proportionalitätskonstante D heißt Federkonstante. Je größer D ist, umso „härter“ ist die Feder. Das negative Vorzeichen sorgt dafür, dass FF wie eingezeichnet positiv ist, denn nach Abb. 5.25 ist y − y0 < 0. Man kann Gl. (5.26) nach y auflösen, um die Position des Zeigers in Abhängigkeit von der Federkraft zu erhalten: y = y0 −
FF . D
(5.27)
Wenn die Federkraft null ist, hat y den Wert y0 , so dass dies die Ruhelage bezeichnet. Der zweite Term auf der rechten Seite gibt die Auslenkung durch die Kraft FF wieder. Wie groß die Federkraft FF bei angehängtem Massestück ist, wissen wir aus Gl. (5.24). Damit ergibt sich: y = y0 −
m · ( a + g) . D
(5.28)
Für eine unbeschleunigte Waage wird dies zu: y = y0 −
m·g . D
(5.29)
Abschnitt 5.7 Genauere Analyse einiger einfacher Beispiele
123
Abb. 5.26: Waage im beschleunigten Aufzug
Die Auslenkung y − y0 der Feder ist proportional zur Masse m des Massestücks. Das ist beruhigend, denn darin liegt die Rechtfertigung, die vorliegende Anordnung als Waage zu bezeichnen. Bei bekannter Federkonstante D kann man Gl. (5.29) benutzen, um eine Skala für die Zeigerposition für verschiedene Massenwerte zu erstellen. Beschleunigte Waage An Gl. (5.28) erkennt man, dass die Anzeige der Waage sich ändert, wenn die Beschleunigung nicht mehr null ist. Damit man sich besser vorstellen kann, was das bedeutet, stellen wir uns vor, dass die Waage in einer Aufzugkabine steht (Abb. 5.26). Mit Hilfe des Aufzugseils soll die Kabine gleichmäßig beschleunigt werden. Es gibt zwei Möglichkeiten: a > 0: Der Aufzug beschleunigt nach oben. Der Zeiger wird weiter ausgelenkt; die Waage zeigt ein höheres Gewicht an. a < 0: Der Aufzug beschleunigt nach unten. Die Waage zeigt ein geringeres Gewicht an. Was bedeuten diese Aussagen? Ist man in einem beschleunigten Aufzug tatsächlich leichter oder schwerer? Es kommt darauf an, was man unter „leichter“ und „schwerer“ versteht. Natürlich bleibt die Masse eines Körpers unverändert, wenn er beschleunigt wird. Auch die Gewichtskraft, die auf ihn wirkt, ändert sich nicht. Aber die Federkraft, die nötig ist, um das Massestück zu halten, verringert sich in einem nach unten beschleunigten Aufzug. Das Gleiche gilt für die Kraft, mit der Ihre Beine den Körper aufrecht erhalten. Wenn Sie das Gefühl nicht kennen, sollten Sie bei der nächsten Aufzugfahrt darauf achten: Während der Aufzug sich nach oben in Bewegung setzt, haben Sie das Gefühl, schwerer zu werden. Ihre Beinmuskeln werden stärker belastet. Dagegen werden Sie scheinbar leichter, wenn der Aufzug nach unten anfährt. Anders als unser gedachter Aufzug, der eine gleichmäßige Beschleunigung erfährt, beschleunigen normale Aufzüge nur kurzzeitig zu Beginn und Ende der Fahrt. Dazwischen fahren Sie mit konstanter Geschwindigkeit. Die beschriebenen Effekte dauern in einem echten Aufzug daher nicht lange.
124
Kapitel 5 Fundamentale Konzepte: Arbeiten mit der newtonschen Mechanik
Das Leichter- und Schwererwerden können Sie sogar mit einer Personenwaage überprüfen, wenn Sie sich während der Aufzugfahrt darauf stellen. Sie müssen damit rechnen, dass Sie von Ihren Mitfahrern verdutzt angesehen werden, während Sie das Experiment durchführen. Daran können Sie sich schon einmal gewöhnen, denn als Physiker wird Ihnen das sicher noch öfter passieren. Beim Achterbahnfahren kann man die scheinbaren Gewichtswechsel besonders deutlich spüren, denn vertikale Geschwindigkeitsänderungen (also Beschleunigungen) treten dort ständig auf. Unschön wird es, wenn das Gehirn findet, der Magen habe nicht ständig leichter und schwerer zu werden und mit entsprechenden Gegenmaßnahmen reagiert. Beispiel: Experiment zur beschleunigten Waage Abb. 5.27 zeigt das Ergebnis eines kleinen Experiments. Wie im Bildeinsatz gezeigt, wurden Feder und Massestück mit der Hand gehalten und die zum Halten der Feder nötige Kraft mit einem elektronischen Kraftmesser registriert. Anfangs hängt das Massestück unbewegt an der Feder, und der Kraftmesser zeigt eine mehr oder weniger konstante Kraft von 5 N an (was man bei einer Masse von 500 g auch erwartet). Nach 1,5 s wird die Masse nach oben beschleunigt. Wie von Gl. (5.24) vorhergesagt erhöht sich die gemessene Federkraft. Etwa eine Sekunde lang wird das Massestück mit konstanter Geschwindigkeit (d. h. unbeschleunigt) nach oben gezogen. Bedingt durch die begrenzte Länge des Experimentatorarms wird es dann wieder zur Ruhe abgebremst. Während des Abbremsens hat die Beschleunigung einen negativen Wert, so dass die Federkraft (ebenfalls gemäß Gl. (5.24)) kleiner als in der Ruhe ist.
F in N
6
y in m
Weg y(t)
0,6 5,5
0,5
Kraft F(t)
0,4
5
0,3 4,5
Kraftmesser
0,2
4
Massestück
0,1 0
3,5 0
1
2
3
4
5
Zeit t in s Abb. 5.27: Ein Massestück wird an einer Feder nach oben beschleunigt und wieder abgebremst.
Abschnitt 5.7 Genauere Analyse einiger einfacher Beispiele
125
5.7.3 Schwerelosigkeit: frei fallende Waage
Kehren wir wieder zur Waage im beschleunigten Aufzug zurück. Eine besondere Situation tritt ein, wenn die Beschleunigung von Waage und Massestück den Wert a = − g annimmt. Man kann dies (für eine gewisse Zeit) sehr leicht erreichen, indem man das Aufzugseil durchtrennt und den ganzen Aufzug samt Inhalt frei fallen lässt. An Gl. (5.28) können Sie etwas Verblüffendes ablesen: Wenn a = − g ist, verbleibt der Zeiger der Waage in seiner Ausgangsposition y = y0 . Die Waage zeigt den Wert null an. Dieses Phänomen nennt man Schwerelosigkeit. Es handelt sich um einen speziellen Fall des „Leichterwerdens“ bei der Abwärtsbeschleunigung. Die Feder wird nun nicht nur weniger belastet, sondern sie wird überhaupt nicht mehr benötigt, um das Massestück in konstantem Abstand zum Boden zu halten. Während des freien Falls ist die Feder völlig entspannt. An Gl. (5.24) können Sie ablesen, dass die Federkraft für a = − g null ist. Wenn Sie sich selbst im frei fallenden Aufzug befinden (eine Erfahrung, die sicher nur temporär interessant ist), stellen Sie fest, dass auch Ihre Beine nicht belastet sind. Der Boden des Aufzugs muss keine Normalkraft ausüben. Er muss Sie nicht daran hindern, den Aufzugschacht hinunterzufallen, denn das tun Sie ja gerade. Der Aufzugboden übt keine Kraft auf Ihre Füße aus, und Ihre Füße keine Kraft auf den Boden. Statt auf dem Boden zu stehen, könnten Sie daher in konstantem Abstand einige Zentimeter über dem Aufzugboden schweben. Das ist bei Schwerelosigkeit ohne Weiteres möglich, wie Sie aus den Bildern von Astronauten in ihren Raumfähren wissen. Wichtig ist, dass es sich bei der Schwerelosigkeit nicht um einen Fall von aktivem „Fliegen“ oder Ähnlichem handelt. Nein, so wie sich eine Raumstation mit ihren Astronauten im „freien Fall“ um die Erde befindet, sind der Aufzug und Sie zwei Körper, die gemeinsam im Gravitationsfeld der Erde frei fallen und dabei keine Kräfte aufeinander ausüben. Immer dann tritt Schwerelosigkeit auf. (Können Sie die verbreitete Vorstellung entkräften, die Astronauten seien schwerelos, weil in dieser Entfernung von der Erde die Schwerkraft schon sehr schwach ist?) Einen einfachen Versuch zur Schwerelosigkeit können Sie selbst durchführen. Sie brauchen nur einen großen Joghurtbecher, in dessen Boden Sie ein nicht zu großes Loch bohren. Wenn Sie den Becher mit Wasser füllen, wird es aus dem Loch im Boden herausfließen. Nun werfen Sie den gefüllten Becher nach oben. In dem Moment, in dem der Becher Ihre Hand verlässt, fließt das Wasser plötzlich nicht mehr aus dem Loch. Der Grund dafür ist die Schwerelosigkeit des frei fallenden Wassers im frei fallenden Becher. Für viele verblüffend ist der Umstand, dass das Wasser schon bei der Aufwärtsbewegung nicht mehr aus dem Loch fließt. Der „freie Fall“, die ansonsten kräftefreie Bewegung im Gravitationsfeld der Erde, setzt in dem Moment ein, in dem Sie den Becher loslassen. Auch bei der Aufwärtsbewegung ha-
126
Kapitel 5 Fundamentale Konzepte: Arbeiten mit der newtonschen Mechanik
ben Wasser wie Becher die Beschleunigung a = − g, so dass Schwerelosigkeit herrscht. Zur Gewöhnung von Astronauten an die Schwerelosigkeit führt man Parabelflüge durch, bei denen ein Flugzeug eine „Wurfparabel“ durchfliegt. Beim Einleiten des Parabelflugs bringt das Flugzeug die Insassen auf eine bestimmte Anfangsgeschwindigkeit. Dann fliegt es die Flugbahn, die ein mit dieser Anfangsgeschwindigkeit geworfener Körper bei einem schrägen Wurf durchlaufen würde. Da keine anderen Kräfte wirken, bewegen sich die Insassen wie das Flugzeug auf einer Wurfparabel. Es herrscht Schwerelosigkeit. Während des Parabelflugs ist das Flugzeug einfach ein passiver Behälter, der die Insassen beim Durchlaufen der Wurfparabel umgibt und sie von der störenden Luftwiderstandskraft der Außenluft abschirmt.
6 Reale Bewegungen modellieren
Ein Sturz aus 30 000 m Höhe
128
Kapitel 6 Reale Bewegungen modellieren – Ein Sturz aus 30 000 m Höhe
6.1 Die höchste Stufe der Welt Mit dem Fallschirm aus eisiger Höhe Am frühen Morgen des 16. August 1960 erhebt sich in der Wüste von New Mexico ein 110 m hoher Heliumballon. In eine Höhe von 30 Kilometern soll die Fahrt gehen, höher als jemals zuvor. Im Inneren der nur 1,40 m breiten Ballonkapsel wartet, eingezwängt in einen engen Druckanzug, der LuftwaffenTestpilot Joe Kittinger auf seinen Einsatz: einen Sprung durch die Atmosphäre, bei dem er 26 km im freien Fall zurücklegen wird. Offizieller Zweck des Unternehmens ist der Test eines neuen Fallschirmsystems für Militärpiloten zur Rettung aus großen Höhen. Fallschirmsprünge aus diesen Höhen haben ihre ganz eigenen Probleme. Muss ein Pilot wegen einer Notsituation abspringen, kann er seinen Schirm nicht sofort öffnen. Kälte und Sauerstoffmangel in den oberen Atmosphärenregionen wären lebensgefährlich. Da wegen der geringeren Luftdichte auch hohe Fallgeschwindigkeiten auftreten, wäre zudem sein Körper beim Öffnen des Fallschirms sehr großen Kräften ausgesetzt. Dagegen kann man auch nicht einfach frei fallend, ohne den Fallschirm zu öffnen, in niedrigere, weniger unwirtliche Regionen gelangen. Dummypuppen, die aus großer Höhe aus Ballons geworfen wurden, gerieten in eine propellerartige Rotationsbewegung, in der sie mit 200 Umdrehungen pro Minute herumwirbelten. Ein Mensch verlöre dabei nach kurzer Zeit das Bewusstsein. Kittinger testete bei seinem Sprung eine Methode, um das unkontrollierte Herumwirbeln zu verhindern. Ein kleiner Hilfsfallschirm von 1,80 m Durchmesser sollte die Bewegung stabilisieren, ohne den Springer allzu sehr abzubremsen. Auf diese Weise sollte es gelingen, schnell und kontrolliert in niedrigere Höhen zu gelangen. Allerdings konnte Kittinger schon auf unangenehme Erfahrungen zurückblicken: Bei einem ersten Testsprung ein Jahr zuvor hatte sich der Stabilisierungsfallschirm zu früh geöffnet und sich um ihn gewickelt. Ohne irgendetwas dagegen tun zu können, begann er wie ein Windrad zu rotieren und verlor das Bewusstsein. Er hatte jedoch Glück: Als er aus der Bewusstlosigkeit erwachte, schwebte er ruhig an seinem Notfallschirm, der sich automatisch in 3000 m Höhe geöffnet hatte, und konnte unversehrt landen. Der Absprung Diesmal soll alles besser gehen. Nach dem Start muss der Ballon anderthalb Stunden aufsteigen. Jede Minute gewinnt er 400 m an Höhe. Druck und Temperatur sinken. In 15 000 m Höhe, in der Tropopause, fällt die Temperatur auf −70 ◦ C. Je höher der Ballon steigt, umso spektakulärer wird des Ausblick aus der offenen Tür der Ballonkapsel. Der Horizont liegt 1200 km entfernt und die Rundung der Erde ist deutlich zu erkennen. Nur innerhalb eines kleinen Streifens von 15◦ über dem Horizont ist der Himmel blau. Darüber wird er immer dunkler, und über dem Ballon sieht man einen vollkommen schwarzen Himmel ohne Sterne.
Abschnitt 6.1 Die höchste Stufe der Welt
129
In 31 300 m Höhe ist es Zeit für den Sprung. Vorsichtig nähert sich Kittinger der Gondeltür, wo ihn ein vorsorglich angebrachtes Schild vor der „höchsten Stufe der Welt“ warnt. Dann springt er ab. Er selbst beschreibt seinen Sprung in einem „National Geographic“-Artikel (Kittinger, 1960): Am Ende des Countdowns mache ich den Schritt ins Leere. Kein Wind pfeift, meine Kleidung bläht sich nicht. Ich habe nicht die geringste Empfindung von der zunehmenden Geschwindigkeit, mit der ich falle. Ich stürze in Richtung der Wolken. Nun drehe ich mich auf den Rücken. Es ist ein unheimlicher Anblick: Der weiße Ballon hebt sich grell von einem Himmel ab, an dem es dunkel wie in der Nacht ist. Dabei ist es 7:12 Uhr am Morgen und die Sonne strahlt mich an. Wieder halte ich nach Sternen Ausschau, sehe aber keine. [. . . ] In schauerlicher Stille drehen sich Erde, Himmel und der sich entfernende Ballon um mich, als wäre ich die Mitte des Universums.
Abb. 6.1: Joe Kittinger nach seiner Landung
130
Kapitel 6 Reale Bewegungen modellieren – Ein Sturz aus 30 000 m Höhe Ich fühle mich wie in einem Schwebezustand. Obwohl sich mein Stabilisierungsfallschirm in einer Höhe von 29 000 m öffnet, gewinne ich noch über weitere 2000 m an Geschwindigkeit, bis ich eine Maximalgeschwindigkeit von 988 km/h erreiche. Das entspricht neun Zehnteln der Schallgeschwindigkeit in dieser Höhe. [. . . ] Die Wolken, die vor einigen Sekunden noch ganz entfernt und bewegungslos aussahen, stürzen nun förmlich auf mich zu. Ich bin vorher noch nie im freien Fall in ein Wolkenfeld gesprungen und muss mir klarmachen, dass sie nur aus Wasserdampf bestehen und nicht aus festem Erdboden. In 6400 m Höhe umgibt mich die dichte Wolkenhülle. Ungefähr 1000 m tiefer, 4 Minuten 38 Sekunden nach Beginn meines Sturzes, öffnet sich mein Hauptfallschirm. Ich kann weder Himmel noch Erde sehen, aber ich weiß jetzt, dass das Schlimmste vorbei ist. [. . . ] In 4500 m Höhe entkomme ich den Wolken, und es bietet sich ein wunderbarer Anblick: zwei Hubschrauber, die aufmerksam ihre Kreise ziehen. Ich weiß, dass die Bergungsmannschaft in Richtung meines Landeplatzes unterwegs ist. [. . . ] Die Landung ist die härteste meines Lebens. Aber ich bin am Boden, und anscheinend auch heil in einem Stück. Sand, Salzgras und Salbei umgeben mich, doch kein Garten Eden könnte schöner aussehen. Seit meinem Absprung sind 13 Minuten und 45 Sekunden vergangen.
Als Kittinger am Boden ankommt (Abb. 6.1), hat er vier Weltrekorde aufgestellt, die bis heute noch nicht gebrochen worden sind: der höchste Ballonaufstieg in einer offenen Gondel, der höchste Fallschirmsprung, der längste freie Fall und die höchste Geschwindigkeit eines Menschen ohne „Fluggerät“.
6.2 Erstes Modell: Freier Fall In diesem Kapitel werden wir Kittingers Rekordsprung physikalisch beschreiben. Wir wollen herausfinden, welche Geschwindigkeit er während des Sturzes erreicht und die theoretisch ermittelte Maximalgeschwindigkeit mit dem überlieferten Wert vergleichen. Wir möchten auch das Weg-Zeit-Gesetz für seine Bewegung durch die Atmosphäre gewinnen und die Frage beantworten, wie sich die Fallgeschwindigkeit nach dem Öffnen des Fallschirms ändert. Das sind keine ganz einfachen Fragestellungen, und wir müssen uns der Lösung in mehreren Schritten nähern. Wir werden unser physikalisches Modell des Sprungs immer weiter verfeinern, bis es den realen Sprung zufriedenstellend abbildet. Auf diese Weise gehen Physiker an komplexe Probleme heran. Anfänger- und Expertenstrategien Zuerst aber sollen Sie einige typische Anfängerstrategien kennenlernen, damit Sie sehen, wie man es nicht macht. Die einfachste dieser Strategien könnte man als „Problemlösen durch Kommunikation“ bezeichnen. Sie besteht in Herumlaufen und Umhertelefonieren, um zu sehen, ob man sich die Lösung nicht
Abschnitt 6.3 Modellieren des Sturzes
131
irgendwo besorgen kann. Das ist sicherlich eine gute Idee, und eine solche Vorgehensweise wird in der Wissenschaft als „Literaturrecherche“ bezeichnet. Trotz ausgefeilter Kommunikationsstrategien klappt dies jedoch manchmal nicht. Auch sind leider in Klausuren alle Arten von Literaturrecherche verpönt. In diesen Fällen muss ein weiterführender Plan zum Einsatz kommen. Hier nimmt die Tragödie dann oft ihren Lauf. Die unterschiedlichen Herangehensweisen von Anfängern und Experten sind so interessant, dass sie von Psychologen ausführlich untersucht worden sind. Während fortgeschrittene Problemlöser („Experten“) zunächst einige Zeit damit verbringen, ein qualitatives Bild des physikalischen Problems zu gewinnen und die Aufgabe anhand der zugrunde liegenden physikalischen Prinzipien zu klassifizieren, stürzen sich Novizen vorschnell auf die Oberflächenmerkmale der Aufgabe: Welche Formel gibt es, in der die physikalischen Größen aus der Aufgabenstellung auftauchen? In welcher Aufgabe kam schon einmal ein Fallschirmspringer vor? Man könnte diese Vorgehensweise die „Strategie des kalten Buffets“ nennen: Schnappe dir das Erstbeste, das du bekommen kannst, es ist besser als gar nichts. Typischerweise argumentieren Anfänger auch sehr schnell auf der Ebene von Formeln (bevor das Problem qualitativ analysiert worden ist) und setzen bald Zahlen in die Formeln ein (denn Zahlen sind ja einfacher als Buchstaben). Ist es ein freier Fall? Für unseren Sprung kommt einem zuerst die Gleichungen (2.9) und (2.10) für den freien Fall in den Sinn; sie sind ja meist in einer leicht zugänglichen Gehirnregion abgespeichert: z(t) = z0 + v0 t − 12 gt2 ,
v(t) = v0 − gt.
(6.1) (6.2)
Wenn Sie in diese Gleichungen eine Fallzeit von 4 Minuten 38 Sekunden einsetzen (d. h. die Zeit zwischen dem Absprung und dem Öffnen des Hauptfallschirms), erhalten Sie eine Fallhöhe von 379 km und eine Endgeschwindigkeit von 2730 m/s (das entspricht etwa der achtfachen Schallgeschwindigkeit am Boden). Dieses Ergebnis ist ein guter Anlass, um wieder zur ersten Problemlösestrategie zurückzukehren und mit dem Umhertelefonieren zu beginnen.
6.3 Modellieren des Sturzes 6.3.1 Luftwiderstand
Bei der Beschreibung eines Sturzes durch die Atmosphäre darf man den Luftwiderstand nicht außer Acht lassen. Das Modell des freien Falls ohne Luftwiderstand geht in grober Weise an der Realität vorbei. Für den freien Fall mit Luftwiderstand gibt es allerdings keine fertige Formel, in die man einfach nur Zahlen einsetzen müsste. Lassen Sie uns die Expertenstrategie anwenden und systematischer vorgehen.
132
Kapitel 6 Reale Bewegungen modellieren – Ein Sturz aus 30 000 m Höhe
Abb. 6.2: Skizze zur Definition der Koordinaten und zum Identifizieren der wirkenden Kräfte
Kräfte auf den Springer Analysieren wir zuerst die Physik des Problems qualitativ. Wir möchten die Höhe und die Geschwindigkeit des Springers als Funktion der Zeit bestimmen. Diese Art von Information gewinnt man durch Lösen der newtonschen Bewegungsgleichung. Wir wenden das Rezept aus Kapitel 5 an: System identifizieren – angreifende Kräfte identifizieren – Bewegungsgleichungen lösen. Am Anfang einer physikalischen Betrachtung sollte immer eine Skizze stehen, in die man alles für die Problemlösung Relevante einzeichnet (Abb. 6.2). Als System wählen wir den Springer selbst. Auf ihn wirken die Gewichtskraft ~FG und die Luftwiderstandskraft ~FL . Nur eine Raumdimension ist relevant; die entsprechende Koordinate z nimmt von unten nach oben zu. Wenn wir die Geschwindigkeit in der üblichen Weise als v(t) = z˙ (t) definieren, müssen wir uns ständig mit negativen Geschwindigkeitswerten plagen, denn der Springer fällt nach unten. Deshalb definieren wir abweichend vom üblichen Gebrauch (und nur für dieses Problem) die Geschwindigkeit durch v(t) = −z˙ (t). Mit dieser Definition ist die Geschwindigkeit positiv, wenn sie nach unten gerichtet ist (wie in Abb. 6.2 eingezeichnet). Die Luftwiderstandskraft ist der Geschwindigkeit immer entgegengesetzt gerichtet; sie wirkt abbremsend. Da der Springer nach unten fällt, ist die Luftwiderstandskraft nach oben gerichtet, in positive z-Richtung. Die Gewichtskraft ist wie immer nach unten gerichtet. Luftwiderstandskraft Die Luftwiderstandskraft wird mathematisch durch „die Formel mit dem cW Wert“ beschrieben (der Ihnen vielleicht aus der Autowerbung ein Begriff ist): FL =
1 2 cW
· ρ · A · v2 .
(6.3)
Sie gilt nicht nur für Autos und Fallschirmspringer, sondern ganz allgemein für Körper, die in einem gasförmigen oder flüssigen Medium der Dichte ρ turbulent umströmt werden. Die Kraft FL ist proportional zur Frontfläche A des umströmten Körpers und zum Quadrat der Strömungsgeschwindigkeit v. Eine Verdoppelung der Geschwindigkeit bedeutet eine Vervierfachung der Luftwiderstandskraft. Der dimensionslose Widerstandsbeiwert cW hängt von der Form des Körpers ab. Er gibt an, wie „windschnittig“ das umströmte Objekt ist. Der Wert von cW liegt zwischen 0,05 („Stromlinienkörper“) und 1,3 („Bremsfallschirm“).
133
Abschnitt 6.3 Modellieren des Sturzes
Tab. 6.1: Widerstandsbeiwerte für verschiedene Formen umströmter Körper
Einige Richtwerte für verschiedene geometrische Formen sind in Tabelle 6.1 zusammengestellt. Gleichung (6.3) ist kein Grundgesetz der Physik, sondern hat halbempirischen Charakter. In der Strömungsdynamik kann man die Formel für einige idealisierte Geometrien zwar aus der Theorie herleiten und den cW -Wert berechnen. Das gelingt aber nur für die einfachsten Fälle (und ist auch dort schon so kompliziert, dass Sie es lieber nicht sehen wollen). Für realistische Geometrien muss man cW im Windkanal bestimmen oder sich näherungsweise mit den Richtwerten aus Tabelle 6.1 begnügen.1 Im cW -Wert steckt die gesamte komplizierte Strömungsphysik inklusive aller Abhängigkeiten von der Oberflächenbeschaffenheit und der genauen Form des umströmten Körpers. Man kann froh sein, dass cW nicht über viele Größenordnungen schwankt, sondern sich im großen und ganzen in einem engen Wertebereich bewegt. Für praktische Probleme kann man cW als Konstante auffassen. 6.3.2 Ein Modell definieren
Nach diesen Vorüberlegungen können wir nun die newtonsche Gleichung für den Sturz mit Luftwiderstand aufstellen: m · z¨ (t) = −m g +
1 ˙2 2 cW ρA · z ( t ).
(6.4)
Eine Gleichung, die unser Problem beschreibt, haben wir damit. Aber bevor es mit der Rechnerei losgehen kann, sollten wir uns noch einige Gedanken über die Annahmen machen, die wir dabei zugrunde legen. Wir müssen unser Modell sauber definieren. 1
Gl. (6.3) gilt für turbulente, d. h. verwirbelte Strömungen. Das sind fast alle Strömungen, die Ihnen im Alltag begegnen. Unter dem Stichwort „stokessche Reibung“ versuchen Ihnen etliche Bücher und Internet-Abhandlungen eine Reibungskraft aufzunötigen, die proportional zu v ist. Dieses Kraftgesetz ist jedoch nur für nichtturbulente Strömungen gültig. Sie dürfen es verwenden, wenn die Strömungsgeschwindigkeit nicht größer als einige Millimeter pro Sekunde ist oder wenn Sie in eine Wanne mit Honig gefallen sind. In allen anderen Fällen müssen Sie Gl. (6.3) benutzen.
134
Kapitel 6 Reale Bewegungen modellieren – Ein Sturz aus 30 000 m Höhe
Die Gravitationskraft der Erde nimmt bekanntlich nach oben hin ab. In 30 km Höhe ist sie etwa 1% geringer als am Erdboden. Wir müssen uns entscheiden: Sollen wir für unsere Rechnung eine konstante Gravitationskraft annehmen und uns die Lösung der Aufgabe damit sehr erleichtern, oder ist die dadurch eingeführte Ungenauigkeit im Ergebnis nicht akzeptabel? Die Entscheidung fällt sicherlich nicht schwer. Mit 1% Ungenauigkeit können wir gut leben. Aber selbst wenn Ihnen diese Näherung unproblematisch erscheint: Es ist wichtig, sich über solche Modellannahmen Rechenschaft abzulegen, bevor man mit dem Rechnen anfängt. Als Nächstes müssen wir Festlegungen für die Parameter cW und A aus der Luftwiderstandsformel treffen. Wie schon erwähnt öffnete sich bei Kittingers Sprung nach 16 s ein Hilfsfallschirm mit 1,80 m Durchmesser. Zum Luftwiderstand des Springers trägt er den Löwenanteil bei (denn das ist seine Aufgabe). Den Hilfsfallschirm können wir als eine von hinten angeströmte offene Halbkugel modellieren, deren cW -Wert nach Tabelle 6.1 bei 1,3 liegt. Die Frontfläche des Hilfsfallschirms beträgt A = πr2 = 2,6 m2 . 6.3.3 Konstante oder variable Luftdichte?
Für fast alle Parameter, die in den Gleichungen für Luftwiderstand und Gewichtskraft vorkommen, haben wir nun unsere Modellannahmen festgelegt – bis auf die Luftdichte ρ, die in Gl. (6.3) eingeht. Hier wird es problematisch. Auf Meereshöhe hat die Luftdichte den Wert ρ = 1,2 kg/m3 . Sie nimmt aber mit der Höhe ab, und zwar nahezu exponentiell. In 7 km Höhe ist die Luftdichte schon auf die Hälfte gesunken, und in Kittingers Ausstiegshöhe auf 1,2% ihres Wertes auf Meereshöhe. Einen konstanten Wert für die Luftdichte anzunehmen, wäre da schon eine ziemlich verwegene Näherung. Andererseits ist die newtonsche Gleichung (6.4) mathematisch ohnehin schon kompliziert genug. Sie gehört zu der berüchtigten Spezies der nichtlinearen Differentialgleichungen (sie ist quadra˙ Wenn nun auch noch die „Konstante“ ρ nicht mehr konstant ist, tisch in z). sondern eine Funktion der Höhe, dann kann man die Hoffnungen, sie zu lösen, am dunklen Horizont entschwinden sehen. Der letzte Ausweg besteht darin, den Computer eine numerische Lösung von Gl. (6.4) finden zu lassen – und das werden wir für den Kittinger-Sprung auch tun. Als Vorbereitung darauf betrachten wir zunächst ein einfacheres Problem. Statt über die Atmosphäre hinaus zu gehen, kümmern wir uns um Fallschirmsprünge, die so weit „unten“ stattfinden, dass eine konstante Luftdichte keine allzu schlechte Näherung ist. In einer Höhe von 3000 m besitzt die Luftdichte noch 75% ihres Wertes auf Meereshöhe. Wenn wir bis 3000 m mit einer konstanten, mittleren Luftdichte von 95% des Wertes auf Meereshöhe rechnen, erhalten wir eine annehmbare Beschreibung für „normale“ Fallschirmsprünge. Wir werden versuchen, dieses Modell gründlich zu verstehen; mit dem dabei gewonnenen Hintergrundwissen werden wir wieder auf den Kittinger-Sprung zurückkommen.
Abschnitt 6.3 Modellieren des Sturzes
135
6.3.4 Die Bedeutung von Modellen
Idealisierungen in der Physik Bei unserer Beschreibung des Sprungs haben wir eine ganze Reihe von Annahmen und Näherungen gemacht: Wir betrachten keinen Menschen mehr, der an einem Fallschirm hängt, sondern nur noch eine Halbkugel mit offenem Boden, die durch ihre Fläche und ihren cW -Wert gekennzeichnet wird. Mit der Annahme einer konstanten Luftdichte entfernen wir uns auch von dem, was die meisten für ein hehres Ziel der Physik halten: der möglichst exakten Beschreibung von Naturvorgängen. Wir befassen uns nicht mehr mit einem Fallschirmsprung, wie er tatsächlich stattfindet, sondern nur mit einem Modell davon, das der Wirklichkeit mehr oder weniger nahekommt. Statt die Realität möglichst getreu abzubilden, zeichnen wir eine flüchtige Skizze. Aber seien Sie beruhigt: Physikalische Beschreibungen basieren immer auf Modellen, die mehr oder weniger realitätsgetreu sind. Es geht gar nicht anders. Die Wirklichkeit ist viel zu komplex, um sie mit hundertprozentiger Genauigkeit zu erfassen. Aus einer Rechnung, die die physikalische Realität exakt abbildet, könnten Sie auch kaum etwas lernen. Sie wäre so kompliziert wie die Natur selbst. Die entsprechenden Gleichungen ließen sich – wenn überhaupt – nur mit einem Computer lösen, und am Ende ergäbe sich ein Computerausdruck mit einer Menge von Zahlen. Vielleicht würde das Ergebnis sogar gut mit den experimentellen Daten übereinstimmen. Aber Sie persönlich hätten kein physikalisches Verständnis gewonnen, denn Sie könnten die Ergebnisse nicht auf physikalische Wirkungsmechanismen zurückführen. Sie hätten auch kein Gefühl für die gesetzmäßigen Zusammenhänge entwickelt, so dass Sie kaum intuitive Vorhersagen treffen könnten. Spielzeugmodelle Physiker versuchen meist, ein Problem zuerst auf seine einfachste nichttriviale Form zu reduzieren. Das bedeutet: Weg mit allen Komplikationen, nur das physikalisch Wesentliche bleibt übrig. So etwas nennt man oft ein „Spielzeugmodell“. Anschauliche Einsichten werden fast immer an solch einfachen Modellen gewonnen. Auch wenn die Realität weniger gut abgebildet wird, gewinnt man so ein besseres Grundverständnis der physikalischen Vorgänge. Beherrscht man das Modell sicher und hat die zugrunde liegende Physik verstanden, kann man immer noch schrittweise zu komplexeren und realitätsgetreueren Modellen übergehen. Anders ausgedrückt: Würden Sie sich am Fallschirmsprung mit variabler Luftdichte die Zähne ausbeißen, ohne vorher Ihr physikalisches Verständnis am „Spielzeugmodell“ mit konstanter Luftdichte geschult zu haben, so würde man Ihnen das als unprofessionelle Vorgehensweise ankreiden. Ein Beispiel für eine physikalische Argumentation mit einem vereinfachten Modell haben Sie bereits in Kapitel 4 kennengelernt. Weil wir den Abbremsvorgang bei einem Unfall als gleichmäßig beschleunigte Bewegung modelliert haben, konnten wir ein qualitatives Verständnis der physikalischen Vorgänge
136
Kapitel 6 Reale Bewegungen modellieren – Ein Sturz aus 30 000 m Höhe
gewinnen, und wir sind auch zu ersten quantitativen Abschätzungen gelangt. In einem realistischen Modell hätten wir die Verformungen aller Teile der Karosserie verfolgen müssen. Die Entwicklungsabteilungen der Autoindustrie müssen natürlich für jeden Autotyp solche Rechnungen durchführen und sie mit Crashtests vergleichen. Aber auch hier werden erfahrene Ingenieure ihr Gespür nicht ausschalten: Wenn die komplizierte Simulation völlig andere Ergebnisse liefert als das einfache Modell, kann das ein Hinweis auf Fehler sein, die sich im Programmcode verbergen.
6.4 Fallschirmsprünge mit konstanter Luftdichte 6.4.1 Die Differentialgleichung
Untersuchen wir also einen Sprung durch die Atmosphäre und nehmen dabei eine konstante Luftdichte an. Unser erstes Ziel ist, die Geschwindigkeit als Funktion der Zeit zu bestimmen. Mit der Substitution v(t) = −z˙ (t)
(6.5)
wird aus der newtonschen Gleichung (6.4) eine Differentialgleichung für v:
−m · v˙ (t) = −m g + 21 cW ρA · v2 (t).
(6.6)
Betrachten wir die Gleichung zunächst vom mathematischen Standpunkt. Die Differentialgleichung ist immer noch nichtlinear (quadratisch in v). Durch die Substitution hat sich aber ihre Ordnung reduziert. Statt zweiter Ableitungen enthält Gl. (6.6) nur noch erste Ableitungen. In mathematischer Hinsicht ist das noch kein großer Fortschritt. Äquivalent zu Gl. (6.4), einer Differentialgleichung zweiter Ordnung, ist nämlich erst das System aus zwei Differentialgleichungen erster Ordnung, Gl. (6.5) und Gl. (6.6). Die Gestalt von Gl. (6.6) lässt sich noch etwas vereinfachen, wenn wir auf beiden Seiten durch −m dividieren: v˙ (t) = g − κv2 (t),
(6.7)
wobei die Abkürzung
cW ρA (6.8) 2m eingeführt wurde. Das ist die Gleichung, die wir im Folgenden untersuchen wollen. κ=
cW -Wert des Springers Leider können wir mit der Modellbildung an dieser Stelle noch nicht aufhören. Im Fall des Kittinger-Sprungs waren die Annahmen für cW -Wert und Frontfläche wegen des Hilfsfallschirms einfach zu treffen. Der cW -Wert eines Fallschirmspringers, dessen Fallschirm sich noch nicht geöffnet hat, hängt jedoch von der Körperhaltung ab. Wenn der Springer wie auf S. 127 „quer zum
137
Abschnitt 6.4 Fallschirmsprünge mit konstanter Luftdichte
Wind“ fällt, ist der cW -Wert größer, als wenn er windschnittig mit den Füßen voran springt. Auch die Frontfläche (d. h. die Projektion der Körperoberfläche senkrecht zur Strömungsrichtung) hängt stark von der Körperhaltung ab. Da wir keine näheren Informationen über die Körperhaltung besitzen, müssen wir plausible Annahmen treffen. Vernünftig wäre es zum Beispiel, die verschiedenen Körperhaltungen durch die am besten passenden geometrischen Formen aus Tabelle 6.1 zu modellieren und einen mittleren Wert für cW und A zu wählen. Der Körperhaltung „Breitseite nach vorn“ entspricht am ehesten die quer angeströmte Platte oder der quer angeströmte Zylinder mit cW -Werten zwischen 1,1 und 1,3. Die Frontfläche können wir mit 0,5 m2 abschätzen. Für „Füße nach vorn“ passt eher der längs angeströmte Zylinder mit einer Frontfläche von etwa 0,2 m2 . Wenn wir mittlere Werte wählen, sieht unsere Modellannahme so aus: Während des gesamten Sprungs nehmen wir die konstanten Werte A = 0,35 m2 und cW = 1,1 an. Die Masse des Springers inklusive Fallschirm schätzen wir mit 90 kg ab. In Tabelle 6.2 sind die Parameter unseres Problems noch einmal zusammengestellt. 6.4.2 Grenzfälle der Bewegung
Freier Fall am Anfang des Sprungs Über die Lösung von Gl. (6.7) kann man viel herausfinden, ohne sie explizit zu lösen. Dazu betrachten wir verschiedene Grenzfälle. Sehen Sie sich zunächst den zweiten Term auf der rechten Seite an. Er ist proportional zum Quadrat der Geschwindigkeit. Bei geringen Geschwindigkeiten ist dieser Term klein gegenüber dem konstanten ersten Term und kann vernachlässigt werden. Dann nimmt die Differentialgleichung eine einfache Gestalt an: die des freien Falls ohne Luftwiderstand mit der Lösung v(t) = g · t. Die Bedingung für das Vernachlässigen des Luftwiderstands-Terms ist ganz am Anfang des Sprungs erfüllt, wenn die Geschwindigkeit desp Springers noch g/κ. Mit den gering ist. Es muss κv2 g gelten, oder umgeformt: v Zahlenwerten aus Tabelle 6.2 ergibt sich: v 63 m/s. Zeichnet man das t-vDiagramm des Sprungverlaufs, so beginnt es wie beim freien Fall mit einer Geraden (linke durchgezogene Linie in Abb. 6.3).
Tab. 6.2: Die Parameter des Modells
Newtonsche Bewegungsgleichung .
v(t) = g – k v (t) 2
Anfangsbedingung v(t = 0) = 0
Parameter cW = 1,1 A = 0,35 m2 r = 1,17 kg/m3 m = 90 kg k = 0,0025 m-1
138
Kapitel 6 Reale Bewegungen modellieren – Ein Sturz aus 30 000 m Höhe
Abb. 6.3: Die beiden durchgezogenen Kurven geben die Grenzfälle der Bewegung wieder. Die exakte Lösung verbindet sie stetig.
Endgeschwindigkeit Gleichung (6.7) hat eine spezielle Form: Sie beschreibt die zeitliche Änderung einer physikalischen Größe, nämlich der Geschwindigkeit. Auf der lin˙ die Änderungsrate der Geschwindigkeit; auf ken Seite der Gleichung steht v, der rechten Seite stehen die Einflussfaktoren, die zu einer Änderung führen: Schwerkraft und Luftwiderstand. Bei Gleichungen dieser Art ist es immer sinnvoll zu fragen, ob es einen Gleichgewichtszustand gibt, bei dem sich die Geschwindigkeit nicht mehr ändert, sondern einen konstanten Wert vG hat. In diesem Fall hat die Differentialgleichung die einfache Lösung v(t) = konst. = vG . Um zu prüfen, ob es sich tatsächlich um eine Lösung handelt, setzen wir den Ansatz in Gl. (6.7) ein. Die linke Seite wird zu null, denn eine konstante Geschwindigkeit bedeutet v˙ = 0. Auch auf der rechten Seite wird gemäß dem Ansatz v = vG eingesetzt. Die resultierende Gleichung ist die Bedingung dafür, dass der Ansatz die Differentialgleichung löst: 0 = g − κv2G (t)
(6.9)
oder, nach vG aufgelöst, vG =
r
g = κ
s
2mg . cW ρA
(6.10)
Als Lösung der newtonschen Bewegungsgleichung gibt es somit einen Gleichgewichtszustand, in dem der Springer mit der konstanten Geschwindigkeit vG fällt (Abb. 6.4). Die physikalische Interpretation dieses Gleichgewichtszustands fällt nicht schwer. Eine konstante Geschwindigkeit besitzt ein Körper dann, wenn an ihm Kräftegleichgewicht herrscht. Bei der Gleichgewichtsgeschwindigkeit vG ist die (geschwindigkeitsabhängige) Luftwiderstandskraft genauso groß wie die entgegengesetzt gerichtete Gewichtskraft des Körpers. Hat die Geschwindigkeit erst einmal den Gleichgewichtswert vG erreicht, ändert sie sich nicht mehr (deshalb die Bezeichnung „Gleichgewicht“ oder auf
Abschnitt 6.4 Fallschirmsprünge mit konstanter Luftdichte
139
Abb. 6.4: Im Gleichgewichtszustand ist die Fallgeschwindigkeit konstant.
Englisch „steady state“). Auch zufällige kleine Abweichungen werden immer wieder ausgeglichen. Ist nämlich die Geschwindigkeit des Springers ein wenig zu groß, wird die Luftwiderstandskraft ebenfalls größer und bremst ihn auf den Gleichgewichtswert ab. Ist dagegen die Geschwindigkeit zu klein, so ist auch die Luftwiderstandskraft kleiner als die Gewichtskraft. Der Springer wird dann schneller, bis er den Gleichgewichtswert wieder erreicht hat. Die Geschwindigkeit eines durch die Atmosphäre stürzenden Springers nimmt daher nicht einfach immer weiter zu, wie das bei unserem naiven (und physikalisch falschen) Lösungsversuch in Abschnitt 6.2 der Fall war. Nach einer anfänglichen Beschleunigungsphase, in der man den Luftwiderstand vernachlässigen kann, erreicht der Stürzende die Gleichgewichtsgeschwindigkeit vG als Endgeschwindigkeit (waagerechte durchgezogene Linie rechts im t-vDiagramm 6.3). Mit den Sprungparametern aus Tabelle 6.2 ergibt sich eine Endgeschwindigkeit von 63 m/s bzw. 225 km/h. Es spielt keine Rolle, ob Sie sich aus einer Höhe von 500 m, 1000 m oder 2000 m in die Tiefe stürzen – schneller als 225 km/h werden Sie nicht. Sie beschleunigen, bis Sie nach einer gewissen Zeit die Endgeschwindigkeit erreichen, und Sie fallen bis zum Ende des Sprungs mit dieser Geschwindigkeit (oder, falls Sie einen Fallschirm dabei haben, bis zum Öffnen des Fallschirms). Natürlich gilt der hier errechnete Wert für die Endgeschwindigkeit nur unter der Annahme, dass die Sprungparameter konstant sind. Ändert der Sprin-
140
Kapitel 6 Reale Bewegungen modellieren – Ein Sturz aus 30 000 m Höhe
ger z. B. seine Frontfläche, weil er eine andere Körperhaltung einnimmt, ergibt sich ein anderer Wert für κ und damit eine andere Endgeschwindigkeit. Auf diese Weise kann man bei einem Sprung durch die Körperhaltung seine Geschwindigkeit steuern. Wie schnell wird die Endgeschwindigkeit erreicht? Das durch unsere qualitative Argumentation gewonnene t-v-Diagramm gibt schon einen recht detaillierten Eindruck vom Verlauf des Sprungs. Die exakte Lösung der Differentialgleichung verbindet die beiden durchgezogenen Kurven stetig. Was wir noch nicht beantworten können: Wie lange wird es dauern, bis der Springer seine Endgeschwindigkeit erreicht hat? Gesucht ist die Zeitskala der Bewegung. Eine Abschätzung erhalten wir durch die folgende Überlegung: Wenn wir die beiden durchgezogenen Linien in Abb. 6.3 verlängern, schneiden sie sich bei der Zeitkoordinate tG . Den Wert von tG kann man durch Gleichsetzen der beiden Geradengleichungen bestimmen: g · tG = vG oder v tG = G = g
s
2m . cW ρgA
(6.11)
(6.12)
Die Zeitskala tG lässt sich folgendermaßen interpretieren: Fiele der Springer ohne Luftwiderstand (d. h. mit der Beschleunigung g) bis zum Erreichen der Endgeschwindigkeit vG , so bräuchte er dazu die Zeit tG . Durch die abbremsende Wirkung des Luftwiderstands benötigt er in Wirklichkeit etwas länger, bis er die Endgeschwindigkeit erreicht. Setzt man die Sprungparameter aus Tabelle 6.2 ein, ergibt sich ein Wert von 6,4 s für tG . Die Beschleunigungsphase eines Fallschirmspringers, der aus dem Flugzeug springt, müsste nach dieser Überlegung also relativ schnell vorüber sein. Nach 5–10 Sekunden sollte er seine Endgeschwindigkeit erreicht haben. Das Ermitteln von typischen Zeit- oder Längenskalen gehört zur Analyse eines physikalischen Problems und hilft beim Verständnis der Lösung. Meist ergeben sich ihre Werte wie in Gl. (6.12) in mathematisch einfacher Form aus den relevanten physikalischen Parametern. Oft kann man sie schon durch geschicktes Kombinieren der Parameter anhand der Einheiten erraten (man bezeichnet dies als Dimensionsanalyse). 6.4.3 Lösen der Differentialgleichung
Brauchen wir überhaupt noch eine mathematische Lösung der Differentialgleichung (6.7)? Eigentlich wissen wir schon alles Interessante über den Verlauf des Sprungs. Wir wissen, dass der Springer eine Endgeschwindigkeit erreicht und kennen ihren Wert. Wir kennen die Zeitskala bis zum Erreichen der Endgeschwindigkeit, und wir können den Verlauf des t-v-Diagramms qualitativ angeben. All dies haben wir allein durch halbquantitative Betrachtungen
141
Abschnitt 6.4 Fallschirmsprünge mit konstanter Luftdichte
erreicht, ohne die Differentialgleichung zu lösen. Alles was wir von einer mathematischen Lösung noch erwarten können, ist der genaue Verlauf der Kurve zwischen den beiden durchgezogenen Linien in Abb. 6.3. Wir tun etwas ganz Schlimmes Nun, Sie haben sich sicher schon darauf gefreut, endlich wieder eine Differentialgleichung lösen zu dürfen, und Sie haben viel Geld für dieses Buch bezahlt. Deshalb sollen Sie die Lösung auch bekommen. Aber Sie dürfen nur weiterlesen, wenn Sie versprechen, keinem Mathematiker zu verraten, was wir jetzt tun. Wir schreiben nämlich Gl. (6.7) noch einmal in anderer Notation auf: dv = g − κ v2 . dt
(6.13)
Nun „zersägen“ wir das Ableitungssymbol dv/dt und rechnen mit den Differentialen dv und dt, als seien es ganz gewöhnliche Größen. Alle Physiker tun das, und es funktioniert prächtig. Aber geben Sie sich nicht der Illusion hin, das sei strenge Mathematik. Es ist nicht mehr als eine symbolische Notation, die uns effizient rechnen lässt. Das Verfahren, das wir zur Lösung der Differentialgleichung anwenden, heißt Trennung der Variablen. Es eignet sich für Differentialgleichungen erster Ordnung, und wenn es funktioniert, nennt man die Differentialgleichung separierbar. Das Verfahren wird durch seinen Namen gut beschrieben: Wir versuchen durch Umformungen alle Terme, die die Variable t enthalten, auf die linke Seite zu bekommen und alle Terme mit v auf die rechte. Dazu müssen wir mit dt multiplizieren und durch g − κv2 teilen: dt =
dv . g − κv2
(6.14)
Integration der Differentialgleichung Diese Gleichung wird vom Anfang der Bewegung bis zum betrachteten Zeitpunkt integriert, also von den Koordinatenwerten (t0 , v(t0 )) bis (t, v(t)): Z t t0
dt =
Z v(t) v ( t0 )
dv . g − κv2
(6.15)
Nun können wir nach den ganz gewöhnlichen Integrationsregeln integrieren. In den mathematischen Formelsammlungen finden Sie das Grundintegral ! r Z dx 1 b = √ artanh x (falls a · b > 0). (6.16) a a − bx2 ab Damit wird die Integration der Gleichung sehr einfach: r v(t) 1 κ t − t0 = √ artanh . v gκ g v(t ) 0
(6.17)
142
Kapitel 6 Reale Bewegungen modellieren – Ein Sturz aus 30 000 m Höhe
Die Lösung Wenn wir die Anfangsbedingungen t0 = 0 und v(t0 ) = 0 einsetzen (d. h. Start zum Zeitpunkt t = 0 mit der Geschwindigkeit null), ergibt sich: r κ 1 v(t) . (6.18) t = √ artanh gκ g
Um die Geschwindigkeit als Funktion der Zeit zu erhalten (und nicht umgekehrt), müssen wir diese Gleichung noch nach v(t) auflösen: r g √ v(t) = (6.19) tanh gκ t . κ
Abb. 6.5 zeigt den Verlauf der Lösung, zusammen mit den beiden oben diskutierten Grenzfällen (gestrichelte Linien). Die exakte Lösung enthält beide Grenzfälle und schmiegt sich glatt an die gestrichelten Linien an. 80 v in m/s 70
v = konst. = vG
60 50 40 30 20 10
t in s 0
5 tG
10
15
20
25
Abb. 6.5: Sturz durch die Atmosphäre – exakte Lösung (durchgezogene Linie) und Grenzfälle (gestrichelte Linien)
6.4.4 Vergleich mit realen Daten
Gleichung (6.19) enthält die Vorhersage unseres Modells für den zeitlichen Verlauf der Fallgeschwindigkeit. Damit haben wir unser Ziel erreicht, einen Sturz durch die Atmosphäre physikalisch zu beschreiben. Aber wie gut beschreibt unser Modell reale Sprünge? Diese Frage können wir klären. Jeder Fallschirmspringer trägt einen Höhenmesser (und vielleicht ein GPS-Gerät) bei sich. Außerdem gibt es heutzutage elektronische Aufzeichnungssysteme, die den Verlauf eines Sprungs dokumentieren. Die Datenpunkte in Abb. 6.6 geben die Geschwindigkeitsmessungen der ersten 35 Sekunden eines Sprungs aus 4300 m Höhe wieder. Abweichungen vom Modell und ihre Ursachen Die Übereinstimmung mit der Vorhersage unseres Modells ist „ganz in Ordnung“ – nicht überwältigend, aber die Grundzüge des Kurvenverlaufs werden korrekt wiedergegeben. Zu Beginn des Sprungs steigt die Geschwindigkeit 10 Sekunden lang ungefähr linear an; nach einiger Zeit stellt sich eine stabile Endgeschwindigkeit ein. Dazwischen gibt es allerdings eine Phase, in der
143
Abschnitt 6.4 Fallschirmsprünge mit konstanter Luftdichte
v in m/s 80
60
40
20
t in s 0
5
10
15
20
25
30
35
Abb. 6.6: Sturz durch die Atmosphäre – Vorhersage des Modells und gemessene Daten eines Sprungs (Daten: Klaus Rheinwald, Firma Paralog)
die Geschwindigkeit stark schwankt. Schaut man sich den Verlauf eines realen Sprungs an, wird der Grund dafür deutlich. Nach dem Absprung ändert der Springer seine Körperhaltung (und damit seine Frontfläche und seinen cW -Wert), bis er schließlich eine „stabile Bauchlage“ erreicht (vgl. Abb. 6.4). Da wir von konstanten Werten für A und cW ausgegangen sind, werden diese Körperbewegungen von unserem Modell nicht erfasst. Der Wert für die Endgeschwindigkeit liegt mit etwa 53 m/s (190 km/h) ein wenig niedriger als vorhergesagt. Ist unser Modell deshalb falsch? Nein, das ist es nicht. Erinnern Sie sich an unsere Annahmen: Das Produkt aus Frontfläche und cW -Wert konnten wir wegen mangelnder Information über die Körperhaltung nur bis auf einen Faktor 2 festlegen. Größere Genauigkeit dürfen wir auch von den Vorhersagen des Modells nicht erwarten. In die Endgeschwindigkeit gehen beide Größen mit der Wurzel ein (Gl. (6.10)), und deshalb müssen wir damit rechnen, dass die wahre Endgeschwindigkeit in einem Bereich zwischen 70% und 140% unserer Vorhersage liegt. Dieser Bereich ist in Abb. 6.6 durch das blaue Band markiert. Sie sehen, dass die gemessene Endgeschwindigkeit innerhalb dieses Bandes liegt. Man kann sich sogar ihren relativ geringen Wert klarmachen. Die in Abb. 6.4 gezeigte Bauchlage bedeutet eine größere Frontfläche (und damit einen größeren Luftwiderstand) als oben angenommen. Dreht man den Spieß um und berechnet aus der gemessenen Endgeschwindigkeit mit Gl. (6.10) die Frontfläche, erhält man A = 0,45 m2 (bei einem cW -Wert von 1,2). Das ist ein durchaus plausibler Wert.
144
Kapitel 6 Reale Bewegungen modellieren – Ein Sturz aus 30 000 m Höhe
Abb. 6.7: Moderner Flächenfallschirm
6.4.5 Wenn sich der Fallschirm öffnet
Wir müssen nicht mehr rechnen Aha? Sie wollen sich nicht länger mit Leuten befassen, die gerade dabei sind, frei durch die Atmosphäre zu fallen? Sie wollen lieber etwas über Fallschirme hören? Und eigentlich wollen Sie auch keine Differentialgleichung mehr lösen? Das können Sie alles bekommen. Und zwar gleich. Wir müssen überhaupt nicht mehr rechnen, um auch die Sprungphase mit geöffnetem Fallschirm physikalisch zu beschreiben. Wie das geht? Der freie Sturz durch die Luft war ja schon nicht ganz einfach. Wird es nicht aussichtslos kompliziert, wenn jetzt auch noch der Fallschirm dazukommt? Es klingt erstaunlich: Aber vom physikalischen Standpunkt macht es fast keinen Unterschied, ob Sie mit oder ohne Fallschirm springen. (Das zum Trost den vielen Filmhelden, die ohne Fallschirm aus einem Flugzeug geschubst werden.) In beiden Fällen handelt es sich um eine Bewegung unter dem Einfluss von Luftwiderstandskraft und Schwerkraft (Abb. 6.2). Die Luftwiderstandskraft auf den Fallschirm wird hier wie dort durch Gl. (6.3) wiedergegeben. Der einzige Unterschied liegt in den Werten von A und cW . In beiden Fällen ist Gl. (6.7) die newtonsche Bewegungsgleichung, die das physikalische Geschehen beschreibt, und ihre Lösungen sind mit und ohne Fallschirm gleich – bis auf den Wert von κ.
145
Abschnitt 6.4 Fallschirmsprünge mit konstanter Luftdichte
v in m/s 70 60 50
Öffnen des Fallschirms
40 30 20 10 0 20
40
60
80
100
120
140 t in s
Abb. 6.8: Vollständige Geschwindigkeitsdaten des Fallschirmsprungs aus Abb. 6.6 (Punkte) und Vorhersage des Modells (Linie)
Reale Sprungdaten Sehen wir uns die Daten an. Abb. 6.8 zeigt die vollständigen Geschwindigkeitsdaten des Sprungs, dessen erste 35 Sekunden wir schon aus Abb. 6.6 kennen. Das Öffnen des Fallschirms nach ca. 70 Sekunden kann man an den Daten unmittelbar ablesen. Die Geschwindigkeit sinkt plötzlich auf 7 m/s und bleibt danach bis zur Landung nach 150 s ziemlich konstant. Um den Sprung physikalisch zu beschreiben, unterteilen wir ihn in zwei Phasen: vor dem Öffnen und nach dem Öffnen des Fallschirms. Die erste Phase haben wir in den vorangegangenen Abschnitten bereits beschrieben. Einziger Unterschied: Statt einer Abschätzung für κ verwenden wir den „am besten passenden“ Wert κ = 0,0035 m−1 , den wir mit Gl. (6.10) aus der Endgeschwindigkeit von 53 m/s berechnen. Das Öffnen des Fallschirms modellieren wir durch eine plötzliche Änderung des Parameters κ zum Zeitpunkt t0 = 69 s. Physikalisch entspricht das einer abrupten Änderung der Luftwiderstandskraft. Den Wert von κ erhalten wir auch hier aus der Endgeschwindigkeit: κ = 0,20 m−1 . Wie schon erläutert, hat die newtonsche Differentialgleichung vor und nach dem Öffnen die gleiche Form und daher auch die gleiche Lösung (6.17). Die Anfangsbedingung für Phase 2 ist allerdings eine andere. Anders als vorher ist die Geschwindigkeit v(t0 ) nun nicht mehr null, da der Springer beim Öffnen des Fallschirms ja schon eine Geschwindigkeit von 53 m/s besitzt. Der Anfangswert der Geschwindigkeit, den wir in Gl. (6.17) einsetzen müssen, beträgt daher v(t0 ) = 53 m/s.
146
Kapitel 6 Reale Bewegungen modellieren – Ein Sturz aus 30 000 m Höhe
Vergleich mit den Daten Damit haben wir alle Parameter, die wir zur Beschreibung der zweiten Phase brauchen. In Abb. 6.8 ist die resultierende Lösung als durchgezogene Linie eingezeichnet. Auch hier erkennen Sie eine zufriedenstellende Übereinstimmung, außer in dem Bereich kurz vor und kurz nach dem Öffnen des Fallschirms. Der Grund lässt sich auch in diesem Fall durch Vergleich von Modell und Realität einsehen. Im Modell hat die Zeitskala zum Erreichen der Endgeschwindigkeit den Wert vG /g = 0,7 s (vgl. Gl. (6.12)). Das ist kürzer als die Zeit, die vergeht, bis sich ein realer Fallschirm öffnet und sich eine stabile Luftströmung eingestellt hat. Die Annahme des plötzlichen Öffnens trägt hier also nicht allzu weit. Es gibt noch einen weiteren Grund, weshalb das Modell den Vorgang des Öffnens nicht sehr gut beschreibt. Bei modernen Fallschirmsystemen wird alles unternommen, damit das Öffnen weniger ruckartig vor sich geht. Der Grund dafür wird Ihnen sofort klar, wenn Sie mit den oben angenommenen Werten die Luftwiderstandskraft FL = mκv2 (t0 ) des Fallschirms unmittelbar nach dem Öffnen ausrechnen. Durch den gewaltigen Ruck einer derartig großen, urplötzlich einsetzenden Kraft würde dem Fallschirmspringer sicherlich schwarz vor Augen. Um eine „harte Öffnung“ zu vermeiden, versuchen Fallschirmspringer, ihre Geschwindigkeit vor dem Öffnen des Schirms noch einmal zu verringern („. . . jedes Stück Luft greifen, das man erwischen kann“). Zum Abmildern des „Öffnungsrucks“ haben moderne Fallschirmsysteme kleine Hilfsfallschirme, die sich vor dem Hauptschirm entfalten. Dadurch wird der Springer schon vor dem Öffnen des Hauptschirms etwas gebremst. Moderne Fallschirme Auch der Hauptschirm selbst soll seine Bremswirkung erst nach und nach entwickeln. Dies wird durch einen sogenannten „Slider“ erreicht: ein viereckiges Stück Stoff, das nach dem Öffnen die Leinen bündelt und so das Entfalten des Fallschirms verzögert (Abb. 6.9). Nach und nach rutscht der Slider an den Leinen herunter, und der Fallschirm kann sich weiter öffnen. Aus unserer Rechnung können Sie noch mehr über moderne Fallschirme lernen. Berechnet man mit dem Wert κ = 0,20 m−1 (der durch die Endgeschwindigkeit eindeutig festgelegt ist) die Fläche des Fallschirms, kommt man auf 23,6 m2 . Das stimmt aber nicht. Der tatsächlich benutzte Fallschirm hat die viel kleinere Fläche von 10,1 m2 . Woher kommt diese Diskrepanz? Heutzutage verwenden Fallschirmspringer fast ausschließlich Flächenfallschirme (Abb. 6.7), die durch ihre flugzeugflügelartige Form einen Auftrieb erzeugen. Der cW -Wert ist durch diese Formgebung ein gutes Stück höher als bei den „Standardformen“ aus Tabelle 6.1. Statt von cW spricht man in diesem Fall auch vom „Auftriebsbeiwert“ cA . Die modernen Flächenfallschirme können bei gleicher Bremswirkung wesentlich kleiner sein als die alten Rundkappenfallschirme.
147
Abschnitt 6.4 Fallschirmsprünge mit konstanter Luftdichte
Slider
Abb. 6.9: Der „Slider“ sorgt für ein verlangsamtes Entfalten des Schirms.
6.4.6 Weg-Zeit-Gesetz für einen Fallschirmsprung
Welche Fallhöhe hat der Springer 30 Sekunden nach dem Absprung erreicht? Diese Frage können wir noch nicht beantworten, da wir uns bisher ganz auf den zeitlichen Verlauf der Fallgeschwindigkeit konzentriert haben. Im Grunde ist die Antwort aus dem bereits Bekannten nicht schwer zu ermitteln: Wenn wir die Geschwindigkeit in der ersten Sekunde kennen, können wir auch berechnen, wie weit der Springer in dieser Sekunde gekommen ist, und so weiter für die zweite und alle nachfolgenden Sekunden. Das Weiterrechnen im Sekundentakt wäre allerdings nur annähernd richtig, weil sich die Geschwindigkeit kontinuierlich ändert. Daher müssen wir eine Differentialgleichung lösen. Es ist die oben schon aufgestellte Differentialgleichung für die Höhe (Gl. (6.5)): z˙ (t) = −v(t). (6.20) Erst wenn wir neben der Gleichung für v(t), die uns bisher beschäftigt hat, auch Gl. (6.20) für die Höhe z(t) gelöst haben, verfügen wir über die volle Information, die in der newtonschen Bewegungsgleichung enthalten ist.
Lösen der Differentialgleichung für die Höhe Um die Differentialgleichung (6.20) für die erste Sprungphase (vor dem Öffnen des Fallschirms) zu integrieren, müssen wir unsere Lösung (6.19) für v(t) einsetzen: r √ g z˙ (t) = − tanh gκ t . (6.21) κ
148
Kapitel 6 Reale Bewegungen modellieren – Ein Sturz aus 30 000 m Höhe
z in m 4000
3000
2000 Öffnen des Fallschirms
1000
25
50
75
100
125
150 t in s
Abb. 6.10: Zeit-Weg-Diagramm – Vorhersage des Modells und empirische Daten
Diese Differentialgleichung hat entgegen dem äußeren Anschein eine sehr einfache Gestalt. Sie lässt sich durch simples Integrieren auf beiden Seiten von t = 0 bis t lösen: r Z t g √ z ( t ) − z (0) = − tanh gκ t0 dt0 . (6.22) κ 0
Das Integral ist wieder ein Grundintegral, das man in einer Integraltabelle nachschlagen kann. Als Lösung ergibt sich: z ( t ) = z (0) −
1 √ ln cosh gκ t . κ
(6.23)
Dies ist unser Ergebnis – das Weg-Zeit-Gesetz für den Sturz durch eine Atmosphäre konstanter Luftdichte. Und wieder fragen wir: Wie gut beschreibt es die Realität? Vergleich mit den Daten Vergleichen wir das Ergebnis mit den gemessenen Daten unseres Referenzsprungs. Die Punkte in Abb. 6.10 geben die aufgezeichneten Daten des Höhenmessers wieder. Die durchgezogene Linie im linken Teil der Abbildung (vor dem Öffnen des Fallschirms) ist die Vorhersage von Gl. (6.23). Die Konstante z(0) wurde so angepasst, dass die Abweichungen zur Messung möglichst gering sind. In den ersten Sekunden des Sprungs, in denen die Geschwindigkeit
Abschnitt 6.5 Numerische Integration der Bewegungsgleichungen
149
Abb. 6.11: Kittingers Sprung aus 30 000 m Höhe. Die Luftdichte beträgt dort nur noch etwa 1,5% ihres Wertes auf Meereshöhe.
des Springers deutlich größer ist als in unserem Modell (vgl. Abb. 6.8), gibt es deshalb eine Diskrepanz zwischen Messung und theoretischer Kurve. Der zweite Teil des Sprungs lässt sich auch hier durch einen plötzlich größer werdenden Wert von κ wiedergeben. Allerdings werden die Formeln sperrig, denn es muss die von null verschiedene Anfangsgeschwindigkeit v(t0 ) berücksichtigt werden. Daher vergleichen wir lediglich die Vorhersage mit den gemessenen Daten (rechter Teil von Abb. 6.10). Insgesamt ist die Übereinstimmung recht gut. Aus Abb. 6.10 können Sie auch die eingangs gestellte Frage beantworten: Nach einer Zeit von 30 Sekunden befindet sich der Springer in 2750 m Höhe.
6.5 Numerische Integration der Bewegungsgleichung bei variabler Luftdichte 6.5.1 Atmosphärenmodell
Mit Fallschirmsprüngen in den unteren Bereichen der Atmosphäre kennen wir uns nun ziemlich gut aus. Aber eigentlich sollte das Modell mit konstanter Luftdichte nur als „Fingerübung“ für unsere wirkliche Aufgabe dienen, der Beschreibung von Kittingers Sprung aus 30 000 m Höhe (Abb. 6.11). Wir müssen unser Modell erweitern, um die nach oben hin abnehmende Dichte der Luft zu berücksichtigen. Eine geringere Luftdichte bedeutet einen reduzierten
150
Kapitel 6 Reale Bewegungen modellieren – Ein Sturz aus 30 000 m Höhe
Luftwiderstand und damit eine höhere Geschwindigkeit. Um dies quantitativ in den Bewegungsgleichungen zu erfassen, müssen wir herausfinden, wie die Luftdichte mit der Höhe variiert – wir brauchen ein Atmosphärenmodell. Zusammengedrückte Luft Die Luftdichte ändert sich mit der Höhe, weil die unten liegende Luft durch die Gewichtskraft der gesamten darüberliegenden Luft zusammengedrückt wird. In der Thermodynamik lernt man, dass dies zu einer exponentiellen Abnahme der Luftdichte mit der Höhe führt – sofern die Temperatur überall gleich ist. Leider ändert sich die Temperatur in den verschiedenen Schichten der Atmosphäre stark, so dass eine Exponentialfunktion den Verlauf der Luftdichte nur ungefähr beschreibt. Empirisches Modell der Atmosphäre Man behilft sich mit empirischen Atmosphärenmodellen, in denen der Höhenverlauf aller physikalischen Größen den Daten stückweise numerisch angepasst wird. Ein Atmosphärenmodell kann ja ohnehin nur ein „mittleres“ oder „typisches“ Abbild der Atmosphäre wiedergeben, denn die Temperatur der Atmosphäre ändert sich von Tag zu Tag und von Ort zu Ort. Die Punkte in Abb. 6.12 stellen die Luftdichte in einem solchen Atmosphärenmodell dar, der sogenannten U.S.-Standardatmosphäre von 1976. Um in unserer Rechnung die Daten des Atmosphärenmodells durch eine Formel zu beschreiben, können wir uns verschiedene Ansätze überlegen
r/r0
1 0.1 0.08
0.8
0.06 0.04
0.6
0.02 0 26
27
28
29
30
30
z in km
0.4
0.2
5
10
15
20
25
Abb. 6.12: Anpassen des Ansatzes aus Gl. (6.24) (durchgezogene Linie) an die U.S.Standardatmosphäre von 1976 (Punkte). Die gestrichelte Linie zeigt die am besten passende Exponentialfunktion.
Abschnitt 6.5 Numerische Integration der Bewegungsgleichung
151
und durch „Fitten“ (Minimieren der Fehlerquadrate) den Daten anpassen. Die durchgezogene Linie zeigt das Ergebnis des Fittens an den Ansatz 2
ρ(z) = ρ0 e−(bz+cz ) .
(6.24)
Sie entspricht den Daten relativ gut.2 ρ0 = 1,23 kg/m3 ist die Luftdichte auf Meereshöhe bei 15 ◦ C. Die Parameter b und c werden beim Fitten vom Computer variiert. Die beste Übereinstimmung ergibt sich für b = 0,092 km−1 und c = 0,0019 km−2 . Die gestrichelte Linie zeigt zum Vergleich die am besten passende Exponentialfunktion. Sie gibt die Daten nicht besonders gut wieder; besonders in großer Höhe wird die Luftdichte (und damit die Luftwiderstandskraft auf den Springer) um mehr als das Doppelte überschätzt (vgl. den Einsatz in der Abbildung). 6.5.2 Qualitative Analyse der Bewegungsgleichungen
Mit dem Atmosphärenmodell (6.24) lauten die zu lösenden Bewegungsgleichungen (die Konstante κ wird nun definiert durch κ = cW ρ0 A/(2m)): 2
v˙ = g − κv2 e−(bz+cz ) , z˙ = −v.
(6.25) (6.26)
Für diese Gleichungen werden wir keine analytische Lösung finden. Die Differentialgleichung (6.25) ist immer noch nichtlinear in v. Zusätzlich hängt ihre rechte Seite in komplizierter Weise von z ab, d. h. von der Lösung von Gl. (6.26). Das Lösen eines Systems gekoppelter nichtlinearer Differentialgleichungen ist nicht einfach. Genauer gesagt ist es sogar ausgesprochen schwierig. Analytische Lösungen sind nur in Einzelfällen bekannt. Wir werden unsere Differentialgleichungen also auf dem Computer lösen müssen. Vor der numerischen Lösung sollten wir die Differentialgleichungen aber qualitativ analysieren, so wie wir es oben beim einfacheren Beispiel mit konstanter Luftdichte getan haben. Selbst wenn die Gleichungen so komplex sind, dass wir sie nicht mehr lösen können, erhalten wir dadurch immer noch Aufschluss über das grundsätzliche Verhalten der Lösung. Freier Fall am Anfang des Sprungs Wie beim letzten Mal kann man für kleine Werte von v den zweiten Term auf der rechten Seite von Gl. (6.25) vernachlässigen. Wegen der geringen Luftdichte in großer Höhe wird die Näherung sogar noch besser als vorher. Zu Beginn des Sprungs ist also der freie Fall ohne Luftwiderstand eine gute Näherung, und die Lösung von Gl. (6.25) steigt anfangs linear an. 2
Wenn Sie mathematisch versiert sind, können Sie sich den Ansatz (6.24) plausibel machen. Im Argument der Exponentialfunktion steht eine unbekannte Funktion f (z), die wir in eine Potenzreihe entwickeln: f (z) = a + b z + c z2 + O(z3 ). Weil sich bei z = 0 die Luftdichte ρ0 ergeben soll, ist a = 0.
152
Kapitel 6 Reale Bewegungen modellieren – Ein Sturz aus 30 000 m Höhe
Kehren wir noch einmal zu Kittingers Beschreibung seiner Empfindungen kurz nach dem Absprung zurück (Zitat am Anfang des Kapitels). Er hatte nicht das Gefühl, dass seine Geschwindigkeit immer mehr zunahm. Im Gegenteil, er fühlte sich bewegungslos schwebend. Als er sich umdrehte, um nach oben zu schauen, erschien es ihm, als ob der Ballon in Richtung Himmel entschwände, wie von einem riesigen Gummiband gezogen. Dass sich ein Mensch im freien Fall schwerelos fühlt, haben Sie schon in Kapitel 5 erfahren. Hier aber fühlt sich Kittinger vollkommen bewegungslos. Natürlich wusste er, dass er selbst fällt und nicht der Ballon plötzlich nach oben schießt. Aber um ihn herum gab es keine Anhaltspunkte, die ihm ein Gefühl von Bewegung vermittelt hätten, und vor allem fehlte wegen der geringen Luftdichte der „Fahrtwind“, der uns normalerweise anzeigt, dass wir uns durch die Luft bewegen. Das zweite Ergebnis der qualitativen Analyse von Sprüngen bei konstanter Luftdichte war die Existenz einer Gleichgewichtsgeschwindigkeit, die sich nach einiger Zeit einstellt. Gibt es etwas Ähnliches auch hier? Wenn wir die Bedingung v˙ = 0 in Gl. (6.25) einsetzen, ergibt sich: 2
oder, nach v aufgelöst:
0 = g − κv2 e−(bz+cz ) ,
(6.27)
r
g (bz+cz2 )/2 e . (6.28) κ Sie sehen, dass die rechte Seite von z abhängt; die „Gleichgewichtsgeschwindigkeit“ ist höhenabhängig. Beim Fallen ändert sich die Höhe aber ständig, und damit auch der nach Gl. (6.28) berechnete Wert. Die Gleichgewichtsgeschwindigkeit wird daher niemals wirklich erreicht, vielmehr hinkt ihr der tatsächliche Geschwindigkeitswert immer ein wenig hinterher. Er kann sie höchstens asymptotisch erreichen. v=
6.5.3 Numerisches Lösen von Differentialgleichungen: Euler-Verfahren
Kommen wir zur numerischen Lösung der Bewegungsgleichungen. Das Verfahren, das Sie dabei kennenlernen werden, ist nicht nur für unser spezielles Problem geeignet, sondern wird in vielen Fällen zum Lösen von Differentialgleichungen gebraucht. Seine Grundidee ist Ihnen schon in Kapitel 3 begegnet. Dort haben wir grafisch eine Lösung der Gleichung mv˙ = F
(6.29)
konstruiert (Abb. 3.10). Wir haben dazu die Zeitvariable t in kleine Intervalle ∆t unterteilt. Man nennt dies den Übergang zu einer diskreten Zeitvariablen. Die diskretisierte Fassung von Gl. (6.29) lautet: ∆v =
F ∆t. m
(6.30)
153
Abschnitt 6.5 Numerische Integration der Bewegungsgleichung Verlauf nach dem Euler-Verfahren
v
Dv
v(t+Dt)
Dt wahrer Verlauf wahrer Verlauf
Dt Dv
v(t)
Abb. 6.13: Lösen einer Differentialgleichung mit dem Euler-Verfahren
1. Schritt
2. Schritt
Dt
Dt
t
Ausgehend von einem Anfangswert der Geschwindigkeit v(t) berechnet man mit Gl. (6.30) die Geschwindigkeitsänderung ∆v im Zeitintervall ∆t. Damit bestimmt man den neuen Wert der Geschwindigkeit: v(t + ∆t) = v(t) + ∆v. Abb. 6.13 erläutert das Verfahren für zwei aufeinanderfolgende Zeitschritte. Im Zeitintervall ∆t wird die wahre Lösung durch ein kleines Geradenstück approximiert. Der zeitliche Verlauf der Geschwindigkeit wird somit durch eine Folge von stückweise geraden Abschnitten beschrieben. Das Ganze ist natürlich nur eine Näherung, die man durch Wahl eines kleineren Zeitintervalls ∆t verbessern kann. Euler-Verfahren Bevor wir mit der numerischen Lösung unserer Differentialgleichungen beginnen, muss noch eine Komplikation erwähnt werden: Im Allgemeinen wird der Wert von F in Gl. (6.30) über das Zeitintervall ∆t nicht konstant sein. Zu welchem Zeitpunkt wird F ausgewertet? Darin unterscheiden sich die numerischen Verfahren. Am einfachsten ist das Euler-Verfahren. Hier bestimmt man F zum Zeitpunkt t, also am linken Rand des betrachteten Zeitintervalls. Dieses Verfahren hat einen großen Vorteil: Alle Werte auf der rechten Seite von Gl. (6.30) sind für diesen Zeitpunkt bekannt oder können leicht berechnet werden. Für spätere Zeitpunkte kennt man die Kraft noch nicht (sie hängt vom Ort oder von der Geschwindigkeit zum jeweiligen Zeitpunkt ab, und die möchte man ja gerade erst berechnen). In Abb. 6.13 sind die Geradenstücke nach dem EulerVerfahren konstruiert: Die Steigung des ersten Geradenstücks stimmt mit der Steigung der roten Kurve am linken Rand überein (Steigungsdreieck für den Zeitpunkt t).
154
Kapitel 6 Reale Bewegungen modellieren – Ein Sturz aus 30 000 m Höhe
Abb. 6.14: Auswertung der Differentialgleichungen mit einem Tabellenkalkulationsprogramm
Um mit dem Computer den Zeitschritt ∆t zu „überwinden“, muss man die folgende Formel programmieren: v(t + ∆t) = v(t) +
F (t) ∆t. m
(6.31)
Die entsprechende Gleichung für den Ort lautet: z(t + ∆t) = z(t) − v(t)∆t.
(6.32)
Die Berechnung lässt sich ohne Schwierigkeiten mit einem Tabellenkalkulationsprogramm durchführen (Abb. 6.14). Wenn man eine Programmiersprache beherrscht, geht es sogar noch einfacher. Bessere Verfahren Für unsere Zwecke ist das Euler-Verfahren ausreichend. Wenn man allerdings größere Probleme (z. B. mit vielen Teilchen) lösen möchte, sollte man ein besseres Verfahren wählen. Man darf nicht vergessen: Die bei jedem Zeitschritt gemachten Fehler summieren sich auf. Es kann passieren, dass die Lösung „wegläuft“, wie man es bereits ansatzweise in Abb. 6.13 beobachten kann. Viel besser als das unsymmetrische Euler-Verfahren ist es, die Kraft in der Mitte des Zeitintervalls auszurechnen. Das führt zum sogenannten RungeKutta-Verfahren. Man kann zeigen, dass hier der Fehler nicht mehr linear mit der Größe des Zeitintervalls ∆t wächst, sondern nur noch quadratisch.
Abschnitt 6.5 Numerische Integration der Bewegungsgleichung
155
Abb. 6.15: Kittinger vor seiner Ballonkapsel
Halbieren von ∆t bedeutet Vervierfachen der Genauigkeit. Der Nachteil: Man kennt den Wert der Kraft in der Mitte des Intervalls noch nicht, sondern muss sich F (t + ∆t/2) zuerst durch einen „Probeschritt“ beschaffen. Es gibt sogar noch weiter entwickelte Verfahren. Der Computer kann z. B. prüfen, ob sich die Funktion momentan stark oder nur schwach ändert. Je nachdem wird die Schrittweite ∆t dynamisch angepasst (adaptive Schrittweitensteuerung). Das Runge-Kutta-Verfahren mit adaptiver Schrittweitensteuerung ist das „Arbeitspferd“ bei der numerischen Lösung von Differentialgleichungen. Eine besonders pfiffige Idee ist bei der sogenannten „Richardson-Extrapolation“ verwirklicht. Die Berechnung wird mehrere Male für immer kleiner werdende Werte von ∆t durchgeführt. Die gewonnenen Ergebnisse werden numerisch extrapoliert, um dem real nicht zu erreichenden Grenzwert ∆t → 0 nahezukommen. 6.5.4 Numerische Analyse eines Sturzes mit variabler Luftdichte
Die diskretisierte Version der Differentialgleichungen (6.25) und (6.26) lautet: h i 2 v(t + ∆t) = v(t) + g − κv2 e−(bz+cz ) ∆t, (6.33) z(t + ∆t) = z(t) − v∆t.
(6.34)
Wenn wir das Euler-Verfahren benutzen, können wir für z und v auf der rechten Seite der beiden Gleichungen die im jeweils vorigen Zeitschritt bereits berechneten Werte einsetzen. Auf diese Weise können wir die Gleichungen (6.33) und (6.34) direkt zur Programmierung oder in einem Tabellenkalkulationsprogramm verwenden (Abb. 6.14).
156
Kapitel 6 Reale Bewegungen modellieren – Ein Sturz aus 30 000 m Höhe
Zeit
Höhe in km
0s
31,3
0
30 s
27,4
274
15,2
110
2,5 min
12,1
3,5 min
9,1
4,4 min s
6,1
4 min 38 s
5,5
Geschwindigkeit in m/s
Tab. 6.3: Überlieferte Höhen- und Geschwindigkeitsangaben für Kittingers Sprung
Überlieferte Daten Der Wert von κ ist zunächst noch nicht festgelegt, es ist ein freier Parameter. Durch Variation von κ kann man versuchen, den numerisch berechneten Verlauf von Höhe und Geschwindigkeit mit den überlieferten Daten zur Deckung zu bringen. Leider enthalten die veröffentlichten Quellen nur ausgesprochen spärliche Angaben. Tabelle 6.3 gibt die in den Berichten genannten Höhenund Geschwindigkeitsangaben wieder (Mohazzabi und Shea, 1996). Wie wurden diese Werte ermittelt und wie genau sind sie? Kittinger selbst bestimmte seine Höhe mit einem barometrischen Höhenmesser. In der jeweiligen Höhe wird der Luftdruck gemessen und daraus die Höhe bestimmt. Diese Messungen setzen also (wie unsere Berechnungen) ein Atmosphärenmodell voraus. Die Höhe des Ballons konnte auch vom Boden aus bestimmt werden. Kittinger schreibt zur Ermittlung der Ausstiegshöhe (erste Zeile der Tabelle): „Eine Stunde und einunddreißig Minuten nach dem Start hält mein barometrischer Höhenmesser bei 103 000 ft (31,4 km). Auch in der Bodenstation haben die Radar-Höhenmesser gestoppt – bei einer Anzeige von 102 800 ft (31,3 km), bei dem Wert, auf den wir uns später als den verlässlicheren einigen“ (Kittinger, 1960). Kittingers Geschwindigkeit wurde anscheinend nicht gemessen, sondern im Nachhinein berechnet. Jedenfalls ist in Kittingers Aufzählung seiner Messgeräte nicht von einem Geschwindigkeitsmesser die Rede: „Meine Ausrüstung mit ihren Instrumenten und Kameras übernimmt die Funktion, mich mit Sauerstoff zu versorgen, meine Herz- und Atemfrequenz zu messen sowie Höhe und Azimut aufzuzeichnen.“ Da es sich ja immerhin um die schnellste je von einem Menschen erreichte Geschwindigkeit im freien Fall handelt, wird der in Kittingers Aufzeichnungen genannte Rekordwert von 614 Meilen pro Stunde (= 274 m/s; zweite Zeile der Tabelle) immer wieder zitiert. Das Guiness-Buch der Rekorde nennt den leicht abweichenden Wert von 1006 km/h (= 279 m/s).
157
Abschnitt 6.5 Numerische Integration der Bewegungsgleichung
30 z in km 25 20 15 10 5
50
100
150
200
250
t in s
Abb. 6.16: Zeit-Weg-Diagramm für Kittingers Sprung – numerische Lösung mit dem Parameterwert κ = 0,0085 und überlieferte Höhenangaben
Zeit-Weg-Diagramm Können wir die genannten Werte mit unserem Modell reproduzieren? Um dies herauszufinden, müssen wir unser Programm für verschiedene Werte von κ laufen lassen und sehen, ob sich eine befriedigende Übereinstimmung erreichen lässt. Wir gehen dabei von den Höhenangaben in der Tabelle aus, denn sie erscheinen zuverlässiger als die Geschwindigkeitsangaben. Abb. 6.16 zeigt das Ergebnis der numerischen Berechnung der Höhe als Funktion der Zeit für den Parameterwert κ = 0,0085.3 Die berechnete Kurve stimmt mit den Daten sehr gut überein, insbesondere wenn man ihre relativ komplizierte Gestalt berücksichtigt. Unser Modell scheint Kittingers Sprung für den angegebenen Wert von κ gut zu beschreiben. Zeit-Geschwindigkeits-Diagramm Schauen wir uns den Verlauf der Geschwindigkeit an, der sich mit dem gerade ermittelten „besten“ Wert für κ ergibt (durchgezogene Linie in Abb. 6.17). Wie aus der qualitativen Analyse zu erwarten war, gibt es am Anfang eine Phase des freien Falls, in der der Luftwiderstand keine Rolle spielt. In den ersten ca. 15 Sekunden steigt die Geschwindigkeit linear an, um dann nach 34 Sekunden einen Maximalwert von 224 m/s zu erreichen. Danach sinkt die Geschwindigkeit aufgrund des zunehmenden Luftwiderstands immer weiter ab und nähert sich in niedrigen Höhen schließlich der aus Abschnitt 6.4.2 be3
Wenn Sie überprüfen wollen, ob dieser Wert realistisch ist, setzen Sie 141 kg für die Masse und 2,5 m2 für die Fläche des Hilfsfallschirms ein. Berücksichtigen Sie auch, dass die damaligen Fallschirmstoffe offenbar noch so viel Luft durchließen, dass man nach NASA-Angaben einen cW -Wert von nur 0,6 bis 0,8 annehmen muss.
158
Kapitel 6 Reale Bewegungen modellieren – Ein Sturz aus 30 000 m Höhe
350 v in m/s 300 250 200 150 100 50
50
100
150
200
250
t in s
Abb. 6.17: Zeit-Geschwindigkeits-Diagramm – numerische Lösung (Parameterwert κ = 0,0085) und „Gleichgewichtsgeschwindigkeit“ (eng gestrichelte Linie). Die waagerechte gestrichelte Linie zeigt die Endgeschwindigkeit bei konstanter (Meereshöhen-)Luftdichte.
kannten Endgeschwindigkeit bei konstanter Luftdichte (waagerechte gestrichelte Linie). Im Unterschied zum Sprung bei konstanter Luftdichte gibt es hier also eine maximale Geschwindigkeit, die der Fallende erreicht, bevor ihn der wachsende Luftwiderstand wieder abbremst. Wie sieht es mit der auf S. 152 diskutierten höhenabhängigen Gleichgewichtsgeschwindigkeit aus? Ihren Verlauf zeigt die eng gestrichelte Linie in Abb. 6.17. Die Gleichgewichtsgeschwindigkeit ist umso größer, je geringer die Luftdichte ist. Deshalb nimmt sie während des Sturzes ständig ab. Der Springer, der ja aus der Ruhe startet, wird immer schneller, bis er nach 34 Sekunden die Gleichgewichtsgeschwindigkeit erreicht (Schnittpunkt der beiden Kurven). Das ist der Weltrekord; in diesem Moment ist er am schnellsten. Schon gleich darauf wird er langsamer, weil er in immer niedrigere Höhen kommt, wo seine Geschwindigkeit größer ist als die Gleichgewichtsgeschwindigkeit. Die entsprechende Luftwiderstandskraft übersteigt die Gewichtskraft, und er wird abgebremst. Die ersten 16 Sekunden Hätten wir nicht berücksichtigen müssen, dass sich Kittingers Hilfsfallschirm erst nach 16 Sekunden öffnete? In diesen Sekunden war der cW -Wert (und damit der Wert von κ) geringer als angenommen. Sie können es in Ihrem Programm ausprobieren: Es macht so gut wie keinen Unterschied. Am Anfang des Sprungs ist wegen der geringen Geschwindigkeit der Luftwiderstand ohnehin zu vernachlässigen, und daran ändert auch ein kleinerer Wert von κ nichts.
159
Abschnitt 6.5 Numerische Integration der Bewegungsgleichung
Kittinger spürte zu Beginn des Fallens keinen „Wind“, und der Fallschirm hätte ihn ebenfalls nicht gespürt. Auch bei dem schon erwähnten, fast missglückten früheren Sprung war der „fehlende Fahrtwind“ daran Schuld, dass sich der zu früh geöffnete Hilfsfallschirm nicht aufblähte, sondern sich um Kittingers Körper wickelte. Bei so niedriger Luftdichte ist eine hohe Geschwindigkeit erforderlich, damit der Luftwiderstand groß genug zum Entfalten des Hilfsfallschirms ist. Kann der Weltrekord stimmen? Die spannendste Frage kommt zum Schluss: Kann unsere Rechnung die Geschwindigkeitsangaben für den Rekordwert beim freien Fall bestätigen? Ein Blick auf die Datenpunkte in Abb. 6.18 zeigt Ihnen: Es sieht schlecht aus. Die Maximalgeschwindigkeit von 274 m/s, die in den Berichten angegeben wird, weicht von unserem Modell um 50 m/s ab. Das sind über 20%. Natürlich müssen wir Geschwindigkeitsschwankungen berücksichtigen, wie wir sie in Abb. 6.6 gesehen haben. Jedoch sollte sich 15 Sekunden nach Öffnen des Hilfsfallschirms eine einigermaßen stabile Lage eingestellt haben, so dass derart große Schwankungen nicht mehr auftreten. Gegen große Abweichungen von der berechneten Geschwindigkeit spricht auch die sehr gute Übereinstimmung zwischen Modell und Daten im Zeit-Weg-Diagramm (Abb. 6.16). Man kann rekonstruieren, wie es zu der Weltrekordangabe kam. Die gestrichelte Linie in Abb. 6.18 zeigt den Verlauf der Geschwindigkeit für den freien Fall ohne Luftwiderstand. Wenn man argumentiert, dass man in großer Höhe den Luftwiderstand vernachlässigen kann und Kittinger bis zum Erreichen
v in m/s
250 200 150 100 50
50
100
150
200
250
t in s
Abb. 6.18: Zeit-Geschwindigkeits-Diagramm – numerische Lösung mit Parameterwert κ = 0,0085 (durchgezogene Linie), überlieferte Angaben (Punkte), freier Fall ohne Luftwiderstand (gestrichelte Linie)
160
Kapitel 6 Reale Bewegungen modellieren – Ein Sturz aus 30 000 m Höhe
der Maximalgeschwindigkeit 30 Sekunden lang frei gefallen ist, landet man nahezu beim überlieferten Wert der Geschwindigkeit. Die gestrichelte Linie trifft den Datenpunkt fast. Eine derartige Argumentation findet man in verschiedenen Quellen, in jüngerer Zeit etwa bei Robinson und Patrick (2008). Dass sie physikalisch nicht haltbar ist, sollten Sie inzwischen leicht begründen können. Beim Erreichen der Maximalgeschwindigkeit herrscht Kräftegleichgewicht zwischen Luftwiderstandskraft und Gewichtskraft. Nicht umsonst schneidet in Abb. 6.17 die eng gestrichelte „Kräftegleichgewichtskurve“ die durchgezogene Linie gerade in diesem Augenblick. Und „Maximalgeschwindigkeit“ bedeutet ja gerade: Anschließend wird der Springer wieder langsamer, so dass die Luftwiderstandskraft unmittelbar nach Erreichen der Maximalgeschwindigkeit sogar größer ist als die Gewichtskraft – zu vernachlässigen ist sie jedenfalls nicht. Alle Versuche, eine Maximalgeschwindigkeit ohne Berücksichtigung des Luftwiderstands zu berechnen, sind ebenso unter die Anfängerstrategien einzuordnen wie die traurige Rechnung am Anfang des Kapitels.
162
Kapitel 7 Fundamentale Konzepte: Energieerhaltung
7.1 Energieformen 7.1.1 Die Energie in ihren verschiedenen Rollen
Was Energie ist – davon haben Sie ohne Zweifel bereits eine Vorstellung. Verschiedene Anschauungen lassen sich mit dem Begriff verbinden, einem der wichtigsten in der Physik. Die im Alltag verbreitetste ist wohl die eines Antriebs: Sie betanken Ihr Auto und führen ihm dadurch Energie zu. Sie frühstücken, um Ihren Körper für den Tag mit Energie zu versorgen. Von Lebensmittelverpackungen und Kalorientabellen ist den meisten auch die Einheit der Energie bekannt: das Joule, oder früher, die Kalorie. Eng damit verknüpft ist die zweite Vorstellung von Energie: Energie ist etwas Knappes; man muss Energie sparen und darf sie nicht verschwenden. Das Öl für unsere Heizungen und Autos wird immer teurer, und die Quellen werden in absehbarer Zeit aufgebraucht sein. Wir sind auf der Suche nach erneuerbaren Energiequellen, die unser Energieproblem lösen sollen. Diese Aspekte des Energiebegriffs sind für unser Leben sehr wichtig. Sie sind aber nicht der Grund dafür, dass die Energie innerhalb der Physik eine so besonders hervorgehobene Position einnimmt. Physikalisch ist die Energie darum so bedeutsam, weil sie eine der wenigen physikalischen Größen ist, für die ein Erhaltungssatz gilt. Alle Prozesse in der Natur laufen so ab, dass die Energie dabei konstant bleibt. Es können zwar Umwandlungen von einer Energieform in eine andere stattfinden, aber der Gesamtbetrag der Energie ändert sich nicht. Die Energieerhaltung gilt nicht nur für die Mechanik, sondern ausnahmslos für alle Gebiete der Physik. Der Erhaltungssatz für die Energie ist in dieser Hinsicht fundamentaler als die Grundgesetze der physikalischen Einzeldisziplinen (etwa die newtonsche Gleichung, die Gesetze der Elektrodynamik oder der Elementarteilchenphysik). Naturgesetze, die die Energieerhaltung nicht respektieren, kommen nicht vor. Jedenfalls haben die Physiker bisher noch keine gefunden. 7.1.2 Die Energieformen
Energie kann uns in verschiedenen Formen begegnen. Es gibt zum Beispiel die kinetische Energie, die mit der Bewegung von Körpern verbunden ist und die potentielle Energie im Gravitationsfeld der Erde. Die folgende Zusammenstellung gibt eine (nicht vollständige) Übersicht über die verschiedenen Energieformen. Kinetische Energie Ein Körper, der sich mit einer Geschwindigkeit v bewegt, besitzt aufgrund dieser Bewegung kinetische Energie. Je größer seine Masse, umso größer ist auch seine kinetische Energie. Vergrößert man seine Geschwindigkeit, so wird auch die kinetische Energie größer. Aber um wie viel? Ist die kinetische Energie bei doppelter Geschwindigkeit doppelt so groß? Nein – es stellt sich
163
Abschnitt 7.1 Energieformen
heraus, dass die kinetische Energie nicht linear, sondern quadratisch von der Geschwindigkeit abhängt. Ist der Körper doppelt so schnell, dann ist seine kinetische Energie vier Mal so groß. Diese Aussage ist anschaulich nicht leicht zu begründen. Ein Argument dafür finden Sie im Kasten auf S. 164. Die kinetische Energie eines Körpers mit der Geschwindigkeit v beträgt: Ekin = 12 m|~v|2 . (7.1) Prallt also Ihr Auto mit 150 km/h statt mit 75 km/h gegen einen Baum, muss nicht nur der doppelte, sondern der vierfache Energiebetrag in Verformungsenergie umgewandelt werden. Das macht es wahrscheinlicher, dass ihr Körper an der Energieumwandlung beteiligt ist. Potentielle Energie Einem Körper im elektrischen Feld oder Gravitationsfeld eines anderen Körpers kann man potentielle Energie zuschreiben. Der einfachste Fall ist das konstante Gravitationsfeld an der Erdoberfläche. Hier wirkt die konstante Gewichtskraft FG = m · g. Hebt man einen Körper ein Stück höher, steigt seine Energie (er kann nun beim Hinunterfallen mehr Schaden anrichten). Die potentielle Energie ist proportional zur Höhe z über dem Erdboden; ihr Wert ist Epot = m · g · z. Ausführlicher wird die potentielle Energie noch in Abschnitt 7.3 behandelt. Die potentielle Energie eines Körpers in der Höhe h (nahe der Erdoberfläche) beträgt: Epot = m · g · z. (7.2) Auf welche Weise die Einheit der Energie, das Joule, mit den Einheiten der anderen mechanischen Größen verknüpft ist, können Sie aus den beiden Formeln (7.1) und (7.2) ablesen: 1J = 1
kg · m2 = 1 N · m. s2
(7.3)
Chemische Energie Eine eng mit der Antriebsvorstellung der Energie verbundene Energieform ist die chemische Energie. Das dem Motor zugeführte Benzin hat eine größere chemische Energie als die Verbrennungsprodukte, die den Auspuff verlassen. Die bei der Verbrennung frei werdende Energie kann dazu benutzt werden, das Auto anzutreiben. Die pro Kilogramm Brennstoff frei werdende Energiemenge bezeichnet man in der Technik als Brennwert. Auch Nahrungsmittel besitzen einen Brennwert,1 der in Kilojoule (kJ) pro Kilogramm angegeben wird und der auf vielen Lebensmittelpackungen ab1
Das ist durchaus wörtlich zu nehmen. Dunkle Schokolade können Sie mit einem Streichholz anzünden.
164
Kapitel 7 Fundamentale Konzepte: Energieerhaltung
Kasten 7.1 Warum die kinetische Energie proportional zu v2 ist Johann Bernoulli gab schon im Jahr 1724 ein anschauliches Argument, warum die kinetische Energie (bzw. das, was er damals als „vis viva“ bezeichnete) proportional zum Quadrat der Geschwindigkeit ist. Er setzt dabei nur voraus, dass – modern gesprochen – die Geschwindigkeit eine Vektorgröße ist, deren Komponenten man unabhängig voneinander beeinflussen kann.
Bernoulli definiert die kinetische Energie operational über die Fähigkeit, eine Feder zu spannen (Abbildung oben). Ein Körper mit einer bestimmten Masse, dessen Geschwindigkeit gerade eine „Einheit“ beträgt, trifft auf die Feder. Diese bremst den Körper bis zur Ruhe ab und wird dabei um eine Längeneinheit gestaucht. So wird eine Einheit der kinetischen Energie definiert. Um das Vielfache der Einheit festzulegen, betrachtet man denselben Körper, der sich nun mit zwei Geschwindigkeitseinheiten bewegt. Es nutzt nichts zu fragen, wie weit die Feder jetzt gestaucht wird, denn über den Zusammenhang zwischen Federstauchung und Energie können wir nichts voraussetzen. Bernoulli geht an dieser Stelle sehr trickreich vor und fragt stattdessen: Wie viele Federn der gleichen Art kann man mit dem doppelt so schnellen Körper um eine Längeneinheit stauchen? Diese Anzahl legt die Vielfachheit der Energie fest.
Er nutzt an dieser Stelle den Vektorcharakter der Geschwindigkeit aus und lässt den Körper schräg auf die Feder aufprallen. Der Führungsmechanismus der Feder soll so beschaffen sein, dass nur die Geschwindigkeitskomponente in Federrichtung zum Stauchen der Feder beiträgt. Der Einfachheit halber nehmen wir an, dass eine einmal gestauchte Feder von einer Sperre daran gehindert wird, sich wieder zu entspannen. Der Körper muss unter einem solchen Winkel auf die Feder aufprallen, dass die Vektorkomponente der Geschwindigkeit in Federrichtung gerade 1 ist (denn dann wird die Feder genau um eine Längeneinheit gestaucht). In der Skizze oben ist eine Komponentenzerlegung der Geschwindigkeit eingezeichnet, an der Sie ablesen können, dass der Winkel zwischen Einfallsrichtung und Federrichtung in diesem Fall 60◦ betragen muss. Beim Aufprall auf die Feder wird diese um eine Einheit gestaucht, und die Geschwindigkeit des Körpers verringert sich in Federrichtung um eine Einheit. Die „übrig ge√ bliebene“ Geschwindigkeit ist senkrecht dazu gerichtet und hat den Betrag 3 (wenden Sie den Satz von Pythagoras in der Abbildung oben an).
Abschnitt 7.1 Energieformen
165
Nun können wir den Vorgang wiederholen und eine zweite Feder um eine Einheit spannen. Wieder muss der Einfallswinkel so gewählt werden, dass die Geschwindigkeitskomponente in Federrichtung gerade eine Einheit beträgt. Weil der Betrag der Einfallsgeschwindigkeit ein anderer als vorher ist, ergibt sich auch ein anderer Wert für den Einfallswinkel (54,7◦ ). Die Endgeschwindigkeit nach Verlassen der Feder be√ trägt nun 2 Geschwindigkeitseinheiten (Abbildung oben). Das Spiel setzt sich nun noch ein weiteres Mal mit einem Einfallswinkel von 45◦ fort, bis die Endgeschwindigkeit noch eine Geschwindigkeitseinheit beträgt. Damit kann noch eine Feder gespannt werden, bis der Körper endgültig zur Ruhe kommt. Insgesamt hat der Körper mit doppelter Geschwindigkeit also nicht zwei, sondern vier Federn um eine Einheit gespannt. Wenn man die „Federspann-Definition“ der kinetischen Energie akzeptiert, ist damit gezeigt, dass diese proportional zum Quadrat der Geschwindigkeit ist.
gedruckt ist. Wenn Sie Ihrem Körper mehr chemische Energie zuführen, als er bei seinen Tätigkeiten umsetzt, speichert er die Differenz in Form von Fettpölsterchen – ein „handgreifliches“ Beispiel für die Energieerhaltung. Weitere Energieformen Es gibt noch eine ganze Reihe weiterer Energieformen, von denen hier nur die wichtigsten erwähnt werden sollen, um Ihnen einen Überblick zu verschaffen. Allgegenwärtig ist die Energie des elektrischen und magnetischen Feldes.
166
Kapitel 7 Fundamentale Konzepte: Energieerhaltung
Wenn Sonnenlicht in Ihr Fenster fällt, transportiert es diese Form von Energie, denn Licht ist elektromagnetische Strahlung. Auch Mikrowellenofen, Handy und Laser übertragen elektromagnetische Energie. Im Alltag setzen wir die elektrische Energie sehr oft ein, denn sie lässt sich mit Hilfe von Kabeln transportieren. Deshalb können wir Staubsauger, Computer und Kaffeemaschinen damit betreiben. Um mechanische Energieformen handelt es sich bei der Spannenergie einer Feder oder der Rotationsenergie eines sich drehenden Körpers (z. B. Frisbeescheibe, Windrad, Autorad). Eine wichtige Rolle spielt die innere Energie eines Körpers, die mit seiner Temperatur verknüpft ist. Obwohl sie bei allen Vorgängen auftritt, bei denen Reibung oder Verformungen eine Rolle spielen, werden wir uns erst in der Thermodynamik ausführlicher damit beschäftigen. Und schließlich gibt es noch die Ruheenergie eines Körpers, die nach Einsteins berühmter Formel E = mc2 mit seiner Masse verbunden ist. Da sich die Masse der beteiligten Körper aber normalerweise nicht ändert, kann man sie für gewöhnlich in Energiebilanzen getrost ignorieren. Eine Ausnahme bilden die Vorgänge in Kernkraftwerken und im Innern der Sonne (wo fast alle unsere Energie, die wir auf der Erde umsetzen, letztlich herkommt). Beispielaufgabe: Wie viel ist ein Joule? In Kapitel 3 haben wir die Einheit Newton durch die Gewichtskraft einer Tafel Schokolade veranschaulicht. Versuchen Sie etwas Ähnliches mit der Einheit Joule. Lösung: Beginnen wir mit der kinetischen Energie. Wie schnell muss sich eine Tafel Schokolade (m = 100 g) bewegen, damit sie eine kinetische Energie von einem Joule hat? Auflösen von Gl. (7.1) nach v ergibt:
v=
r
2Ekin . m
(7.4)
Wir setzen Ekin = 1 J = 1 kg m2 /s2 und m = 0,1 kg ein:
v=
s
2·
1 kg · m2 m = 4,4 = 16 km/h. s 0,1 kg · s2
(7.5)
Wenn Ihnen jemand eine Tafel Schokolade mit einer Geschwindigkeit von 16 km/h an den Kopf wirft, wird auf Ihren Körper eine Energie von 1 J übertragen. Auch die potentielle Energie kann man sich auf diese Weise veranschaulichen. Wie hoch müssen Sie eine Tafel Schokolade heben, um ihre potentielle Energie um 1 J zu erhöhen? Wir lösen Gl. (7.2) nach h auf und setzen Epot = 1 J und m = 0,1 kg ein:
z=
Epot 1 N ·m = m = 1,02 m. m·g 0,1 kg · 9,81 s 2
(7.6)
Wenn Sie eine Tafel Schokolade um einen Meter anheben, haben Sie ihre potentielle Energie um 1 J erhöht.
Abschnitt 7.2 Energieumwandlungen
167
Am einfachsten und angenehmsten ist die Veranschaulichung der chemischen Energie: Essen Sie die Schokolade einfach auf. Sie müssen auch nicht rechnen. Um welchen Betrag sich die chemische Energie Ihres Körpers durch das Vertilgen von 100 g Schokolade erhöht, ist nämlich auf der Packung aufgedruckt: Es sind 2300 kJ. Versuchen Sie nicht zu berechnen, wie viele Treppenstufen Sie steigen müssten, um diesen Energiebetrag wieder loszuwerden. Ihre gute Laune würde sofort verfliegen.
7.2 Energieumwandlungen Die verschiedenen Energieformen beschreiben nur Einzelaspekte des übergreifenden Begriffs „Energie“, denn es können Energieumwandlungen zwischen ihnen stattfinden. Wenn Sie einen Stein in die Luft werfen, wird kinetische Energie in potentielle Energie umgewandelt und umgekehrt. Der Motor Ihres Autos wandelt beim Anfahren die chemische Energie des Benzins in kinetische Energie des Autos um. In einer Solarzelle wird die elektromagnetische Energie des Sonnenlichts in elektrische Energie umgewandelt. Manchmal geschehen Energieumwandlungen von selbst (kinetische in potentielle Energie beim Steinwurf); sehr oft ist aber auch ein Energiewandler dazu nötig. Automotor und Solarzelle sind Beispiele für solche Energiewandler. In der Menschheitsgeschichte hat die Konstruktion von geeigneten Energiewandlern sehr lange gedauert. Über Jahrtausende verließ man sich auf Pferde, Esel und Ochsen, die die chemische Energie in ihrem Futter „von selbst“ in andere Energieformen umwandelten (Abb. 7.1). Erst in der industriellen Revolution lernte man, Maschinen zu konstruieren, die die chemische
Abb. 7.1: Pferd und Automobil können chemische in kinetische Energie umwandeln.
168
Kapitel 7 Fundamentale Konzepte: Energieerhaltung
Abb. 7.2: Verlauf eines Stabhochsprungs
Energie aus Öl und Kohle in mechanische Energieformen umwandelten. Heute sehen wir uns gezwungen, langfristig wieder andere, erneuerbare Energiequellen an den Anfang unserer Energieumwandlungsketten zu stellen. Auch im Sport kommen zahlreiche Energieumwandlungen vor. Eine ganze Reihe davon findet man im Stabhochsprung, dessen Bewegungsablauf in Abb. 7.2 gezeigt ist. (1) Beim Anlauf wird chemische Energie, die in den Muskeln der Springerin gespeichert ist, in kinetische Energie umgewandelt. (2) Kurz vor dem Absprung sticht die Springerin den Stab in den Einstichkasten. Während sich der Stab biegt, wird kinetische Energie in Spannenergie umgewandelt. (3) Nun entspannt sich der Stab wieder, wobei er die Springerin nach oben befördert. Die Spannenergie wird in kinetische Energie umgewandelt, . . . (4) . . . diese beim Steigen wiederum in potentielle Energie. (5) Nachdem die Springerin die Latte überquert hat, fällt sie nach unten, und die potentielle Energie wird wieder in kinetische Energie umgewandelt. (6) Sie landet in der Matte und wird abgebremst, wobei sich die Matte verformt. Die kinetische Energie wird dabei in innere Energie der Matte umgewandelt.
7.3 Felder, Kraft und potentielle Energie Erfährt ein Körper eine physikalische Wirkung, ohne in unmittelbarem Kontakt mit einem anderen Körper zu stehen, der diese Wirkung verursacht, sagt man, die Wirkung werde von einem Feld vermittelt. Beispiele für physikali~ (~x ). Sie sche Felder sind das elektrische Feld ~E(~x ) und das Gravitationsfeld G vermitteln Kräfte. Eine Ladung q am Ort ~x im elektrischen Feld erfährt die
169
Abschnitt 7.3 Felder, Kraft und potentielle Energie
Epot geringe Steigung ... große Steigung ... Abb. 7.3: Zusammenhang zwischen potentieller Energie und Kraft
... große Kraft
z ... kleine Kraft
Kraft ~F = q · ~E(~x ). Eine Masse m am Ort ~x im Gravitationsfeld erfährt die ~ (~x ). Kraft ~F = m · G Die potentielle Energie ist eine Energieform, die solchen Feldern zugeordnet ist. Einem Körper, der sich am Ort ~x in einem Feld befindet, das dort eine Kraft ~F (~x ) auf ihn ausübt, kann man eine potentielle Energie zuschreiben. Um die Gesetzmäßigkeiten nicht gleich vektoriell formulieren zu müssen, beschränken wir uns zunächst auf eine Dimension mit der Raumkoordinate z. Zwischen Kraft und potentieller Energie besteht im eindimensionalen Fall der folgende Zusammenhang: Kraft und potentielle Energie:
F (z) = −
d Epot (z). dz
(7.7)
Eine Kraft wirkt immer dann, wenn sich die potentielle Energie räumlich ändert, d. h. wenn ihre Ortsableitung von null verschieden ist. Abb. 7.3 erläutert diesen Zusammenhang. Eine große Änderung der potentiellen Energie entspricht einer großen Kraft. Ändert sich die potentielle Energie von Ort zu Ort nur geringfügig, ist die Kraft klein. Ist die potentielle Energie räumlich konstant, wirkt gar keine Kraft. Vorzeichen der potentiellen Energie Warum steht das Minuszeichen in Gl. (7.7)? Es sorgt dafür, dass die potentielle Energie so definiert ist, wie man es intuitiv erwarten würde: Die Kraft soll in Richtung abnehmender potentieller Energie gerichtet sein. In Abb. 7.3 können Sie ablesen, dass eine positive Steigung des Graphen von Epot (z) einer Kraft in negative z-Richtung entspricht. Das ist der Effekt des Minuszeichens. Es gibt auch Kräfte, die sich nicht durch Gl. (7.7) mit einer potentiellen Energie in Verbindung bringen lassen. Typischerweise handelt es sich um Reibungskräfte. Ein Beispiel ist die Luftwiderstandskraft (6.3). Man spricht dann von nichtkonservativen (d. h. nichterhaltenden) Kräften, um sie von den konservativen Kräften abzugrenzen, für die Gl. (7.7) gilt. Die Bezeichnungen deuten schon an, welche Rolle diese Kräfte im Energiesatz spielen werden.
170
Kapitel 7 Fundamentale Konzepte: Energieerhaltung
Beispielaufgabe: Überprüfen Sie den Zusammenhang (7.7) für die konstante Gravitationskraft in der Nähe der Erdoberfläche. Lösung: Die potentielle Energie für diesen Fall ist nach Gl. (7.2) durch Epot = m · g · z gegeben. Einsetzen in die zu überprüfende Gleichung (7.7) ergibt:
F (z) = −
d m · g · z = −m · g. dz
(7.8)
Sie kennen diese Kraft: Es ist die Gewichtskraft eines Körpers mit der Masse m. Das Minuszeichen zeigt an, dass sie nach unten gerichtet ist.
7.4 Energieerhaltung 7.4.1 Energie als Systemeigenschaft
Kommen wir nun zum Energieerhaltungssatz und seiner Anwendung. Aus Kapitel 5 wissen Sie noch, dass es beim Umgang mit dem newtonschen Bewegungsgesetz hilfreich ist, sich zunächst über das System klar zu werden, das man betrachtet. Das gilt auch für den Umgang mit dem Energiesatz. Sie müssen einige Vorbereitungen treffen, um erfolgreich damit umzugehen. a) Prozess identifizieren Wie beim newtonschen Bewegungsgesetz sollten Sie zuerst das betrachtete System festlegen und es gedanklich von seiner Umgebung isolieren. Zusätzlich zum Bestimmen der Systemgrenzen muss aber noch die Zeitdauer festgelegt werden, über die man das System beobachten will. Je nach Wahl dieses Intervalls liefert der Energiesatz verschiedene Aussagen, die mehr oder weniger nützlich sein können. Um die letzte Aussage zu erläutern, sehen wir uns noch einmal den Stabhochsprung an. Je nach Wahl von Anfangs- und Endzeitpunkt beschreibt der Energiesatz die folgenden Energieumwandlungen: • chemische Energie der Muskeln in kinetische Energie der Springerin, • chemische Energie des Frühstücks in innere Energie der Matte, • kinetische Energie der Springerin in Spannenergie des Stabes, • Spannenergie des Stabes in potentielle Energie der Springerin, • kinetische Energie der Springerin in potentielle Energie der Springerin. Über die beiden ersten Aussagen werden Sie nicht sehr umfassend informiert sein wollen. Die letzte Aussage ist physikalisch interessant, und wir werden sie noch näher erörtern. Ihr entspricht die in Abb. 7.5 auf S. 173 dargestellte Wahl des Zeitintervalls vom Zeitpunkt t1 unmittelbar vor dem Einstich des Stabs bis zum Überqueren der Latte zur Zeit t2 . b) Offenes oder abgeschlossenes System? Der Unterschied zwischen offenen und abgeschlossenen Systemen ist für die spätere Formulierung des Energiesatzes wichtig.
171
Abschnitt 7.4 Energieerhaltung
Kasten 7.2 Kraft und potentielle Energie in drei Dimensionen Der Zusammenhang zwischen Kraft und potentieller Energie,
F (z) = −
d Epot (z), dz
(7.9)
wurde in Gl. (7.7) nur für eine Raumdimension formuliert. Die analoge Beziehung in drei Raumdimensionen muss etwas komplizierter ausfallen, da sie eine Verbindung zwischen einem Vektor (der Kraft ~ F) und einer skalaren Funktion dreier Variablen (der potentiellen Energie Epot ( x, y, z)) herstellen soll. Die zusätzliche Schwierigkeit ist „nur“ mathematischer Natur und betrifft die Differentialrechnung von Funktionen mit mehreren Variablen. Physikalisch bleibt alles sehr ähnlich. Die Beziehung (7.9) gilt auch weiterhin, und zwar für jede Raumkomponente getrennt. In drei Dimensionen ist Epot eine Funktion der drei Variablen x, y und z. Für die z-Komponente des Kraftvektors gilt nun eine ähnliche Gleichung wie (7.9), nur dass statt der gewöhnlichen Ableitung die partielle Ableitung steht:
Fz = −
∂ Epot ( x, y, z). ∂z
(7.10)
∂ d Das Symbol für die partielle Ableitung ∂z , das statt des vertrauten dz steht, bedeutet: Leite die dahinter stehende Funktion der Variablen x, y und z nach z ab und behandle dabei x und y als Konstanten. Etwas Derartiges hätten Sie wahrscheinlich auch dann getan, wenn man Ihnen kein neues Symbol dafür aufgedrängt hätte. Die beiden anderen Komponenten des Vektors ~ F werden entsprechend gebildet:
Fx = −
∂ Epot ( x, y, z), ∂x
Fy = −
∂ Epot ( x, y, z). ∂y
(7.11)
Damit hat man drei Gleichungen für die drei Vektorkomponenten Fx , Fy und Fz : alles was man braucht. Es geht jedoch noch eleganter, nämlich in einer einzigen Gleichung, die in Vektornotation formuliert ist. Es wird Sie freuen zu hören, dass man für ~ einführt: den Vektor aus den drei partiellen Ableitungen ein weiteres neues Symbol ∇
~ Epot = ∇
∂Epot ∂Epot ∂Epot , , ∂x ∂y ∂z
.
(7.12)
Es wird „Nabla“ genannt und ist angeblich nach einer antiken Form einer ägyptischen ~ Epot wird auch als Gradient von Epot bezeichnet. Mit der NablaHarfe benannt. ∇ Notation fasst man den Zusammenhang zwischen potentieller Energie und Kraft in drei Dimensionen in der Gleichung
~ Epot ~F = −∇
(7.13)
zusammen und meint damit eigentlich nichts weiter, als dass Gl. (7.9) für jede Richtung einzeln gilt.
172
Kapitel 7 Fundamentale Konzepte: Energieerhaltung
Abb. 7.4: Weil Kräfte über die Systemgrenzen hinweg wirken, handelt es sich um ein offenes System.
•
•
Offene Systeme: Kräfte wirken über die Systemgrenzen hinweg. Wählt man die Systemgrenzen im Haus der Witwe Bolte wie in Abb. 7.4, handelt es sich um ein offenes System. Über die Angel wirkt (in heimtückischer Absicht) eine Kraft von außerhalb des Systems auf das Hähnchen. Abgeschlossene Systeme: Alle Kräfte wirken innerhalb des Systems.
c) Energieformen identifizieren und Gesamtenergie berechnen Sobald Sie Systemgrenzen, Anfangs- und Endzeitpunkt Ihres Prozesses festgelegt haben, können Sie im System nach Energieformen suchen. Betrachten Sie das System zum Anfangszeitpunkt t1 und spüren Sie alle Energieformen auf, die sich innerhalb der Systemgrenzen verbergen. Berechnen Sie die Gesamtenergie des Systems zum Zeitpunkt t1 , indem Sie kinetische Energie, potentielle Energie, Spannenergie usw. aller Körper im System addieren. Anschließend berechnen Sie auch die Gesamtenergie für den Endzeitpunkt t2 . Jedem System wird zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Gesamtenergie Eges zugeordnet: Eges = Ekin + Epot + andere Energieformen.
(7.14)
Mit „andere Energieformen“ ist der ganze oben aufgeführte „EnergieformenZoo“ gemeint. Teilweise werden Sie dafür noch explizite Formeln kennenlernen, teilweise müssen Sie sich die entsprechenden Energiewerte aus Tabellen beschaffen (z. B. die Reaktionsenergien chemischer Umwandlungen).
173
Abschnitt 7.4 Energieerhaltung
en
nz
re mg
ste
Sy
t2
t1
Abb. 7.5: Wahl der Systemgrenzen und Festlegen von Anfangs- und Endzeitpunkt des betrachteten Prozesses
Beispielaufgabe: Wenden Sie das gerade beschriebene Verfahren auf den Stabhochsprung in Abb. 7.5 an. Lösung: Identifizieren wir zuerst die Energieformen zum Zeitpunkt t1 , kurz vor dem Einstich des Stabs in den Einstichkasten. Aufgrund ihrer Anlaufgeschwindigkeit v1 besitzt die Springerin die kinetische Energie 21 mv21 . Wenn wir die Höhe vom Boden aus messen, hat ihre potentielle Energie den Wert mgz1 , denn ihr Körperschwerpunkt befindet sich in der Höhe z1 (etwa 1 m) über dem Boden. Schließlich besitzt sie chemische Energie, denn sie hat gut gefrühstückt, und es sind ausreichend energietragende Moleküle in ihren Muskeln vorhanden. Über den Absolutbetrag der chemischen Energie lässt sich jedoch kaum eine Aussage machen (und wir werden später sehen, dass das auch nicht nötig ist). Die Gesamtenergie zum Zeitpunkt t1 beträgt also:
Eges (t1 ) = 12 mv21 + mgz1 + Echem (t1 ).
(7.15)
Zum Zeitpunkt t2 , beim Überqueren der Latte, sind die gleichen Energieformen relevant. Die Geschwindigkeit hat nun den (geringeren) Wert v2 ; der Körperschwerpunkt befindet sich in der (größeren) Höhe z2 . Die Gesamtenergie beträgt:
Eges (t2 ) = 12 mv22 + mgz2 + Echem (t2 ).
(7.16)
Wenn Sie die Gleichungen (7.15) und (7.16) vergleichen, erkennen Sie – gar nichts. Einen Sinn erhält die Berechnung erst dadurch, dass der Energiesatz eine Verknüpfung zwischen den Werten der Gesamtenergie zu den Zeitpunkten t1 und t2 herstellt.
174
Kapitel 7 Fundamentale Konzepte: Energieerhaltung
7.4.2 Energieerhaltungssatz für abgeschlossene Systeme
Nach den vorbereitenden Schritten aus dem vorangegangenen Abschnitt können wir nun den Energiesatz anwenden. Für abgeschlossene Systeme nimmt er eine sehr einfache Form an. Energieerhaltungssatz für abgeschlossene Systeme: Eges (t1 ) = Eges (t2 ).
(7.17)
Mit anderen Worten: In einem abgeschlossenen System ist die Gesamtenergie konstant; ihr Wert ändert sich zeitlich nicht. Beispielaufgabe: Schätzen Sie mit dem Energiesatz die maximale Sprunghöhe ab, die beim Stabhochsprung möglich ist. Lösung: Es soll eine Abschätzung für die Sprunghöhe gefunden werden. Eine gute Näherung dafür ist die Höhe z2 des Körperschwerpunkts beim Überqueren der Latte. Zur Berechnung betrachten wir wieder die beiden Zeitpunkte aus Abb. 7.5. Die kinetische Energie der Springerin zur Zeit t1 (kurz vor dem Absprung) wird mit Hilfe des Stabs in potentielle Energie umgewandelt. Aus dem Wert der potentiellen Energie zur Zeit t2 (am höchsten Punkt) können wir die Sprunghöhe berechnen. Der Energiesatz lautet:
Eges (t1 ) = Eges (t2 ).
(7.18)
Die Gesamtenergie zu beiden Zeitpunkten wurde oben schon berechnet: 2 1 2 mv1
≈0
X
X
2 1 XX XX + mgz1 + Echem (tX (tX 2) . 1) = 2 mv2 + mgz2 + Echem
(7.19)
Näherungsweise können wir annehmen, dass sich die chemische Energie des Körpers zwischen t1 und t2 nicht ändert. Das ist nicht in Strenge korrekt, denn die Muskeln sind in dieser Zeit beim Einstechen des Stabs und beim Absprung tätig und reduzieren dabei ihre Energievorräte. Ein Teil davon könnte in potentielle Energie (und damit Sprunghöhe) umgewandelt werden. Wir diskutieren das später und betrachten die chemische Energie zunächst als konstant. Auf beiden Seiten der Gleichung steht dann der gleiche Betrag, und wir können ihn wegstreichen. (Sie sehen daran: Energieformen, die am jeweils betrachteten Prozess „unbeteiligt“ sind, kann man bei Energiebilanzen unberücksichtigt lassen.) In Gl. (7.19) wurde auch angenommen, dass die kinetische Energie beim Überqueren der Latte vernachlässigbar klein ist, dass also der gesamte „Vorrat“ an kinetischer Energie in potentielle Energie umgewandelt wurde. Aus Gl. (7.19) wird:
mgz2 = mgz1 + 12 mv21 ,
(7.20)
oder, auf beiden Seiten durch mg geteilt:
z2 = z1 +
v21 . 2g
(7.21)
175
Abschnitt 7.4 Energieerhaltung
Um eine Abschätzung für die maximal erzielbare Höhe zu gewinnen, gehen wir von Anlaufgeschwindigkeiten aus, die beim Sprint von sehr guten Läufern erreicht werden: Für Männer nehmen wir v1 = 10 m/s an, für Frauen v1 = 9 m/s. Daneben setzen wir z1 = 1 m (Ausgangshöhe des Körperschwerpunkts) und g ≈ 10 m/s2 . Damit erhalten wir: 2
für Männer:
z2 = 1 m +
100 ms2 = 6 m, 2 · 10 sm2
für Frauen:
z2 = 1 m +
81 ms2 = 5,05 m. 2 · 10 sm2
(7.22)
2
(7.23)
Zum Vergleich: Die aktuellen Weltrekorde liegen bei 6,14 m (Männer) bzw. 5,05 m (Frauen). Die Übereinstimmung ist beeindruckend. Zwei Effekte, die sich in ihren Auswirkungen auf die Sprunghöhe in etwa kompensieren, wurden in der Energiebilanz nicht berücksichtigt: (1) Mit einem Stab in der Hand kann man nicht ganz so schnell laufen wie beim Sprint. (2) Stabhochspringer nutzen den folgenden Trick, um noch etwas zusätzliche Höhe zu gewinnen: Nach dem Absprung setzen sie die Muskelkraft ihrer Arme ein, um sich am Stab nach oben abzustoßen und ihren Körper in eine senkrechte Stellung mit den Füßen nach oben zu bringen (vgl. Abb. 7.2). Bei diesem Vorgang wird chemische Energie der Muskeln in potentielle Energie umgewandelt. Wir haben die chemische Energie als konstant angenommen, deshalb ist dieser Effekt in unserer Rechnung nicht berücksichtigt.
7.4.3 Herleitung des Energiesatzes
Obwohl der Energiesatz über die Grenzen der Mechanik in die anderen Gebiete der Physik hinausgreift, kann man seine Gültigkeit innerhalb der Mechanik sogar beweisen. Man muss dazu voraussetzen, dass die newtonsche Bewegungsgleichung gilt und dass alle Kräfte im System konservativ sind. Wir müssen keine Annahmen darüber machen, ob es sich um elektrische, Gravitations- oder andere Kräfte handelt, solange sie sich nur nach Gl. (7.7) aus einer potentiellen Energie herleiten lassen. Betrachten wir zur Illustration ein einfaches Beispiel: einen einzelnen Körper mit kinetischer Energie 12 mv2 und potentieller Energie Epot (z). Man bildet die zeitliche Ableitung der Gesamtenergie des Körpers: i d h1 2 d Eges = mv + E ( z ) . (7.24) pot dt dt 2
Um die Differentiation auszuführen, muss man berücksichtigen, dass sowohl der Ort des Körpers, der im Argument der potentiellen Energie auftritt, als auch seine Geschwindigkeit von der Zeit abhängen. Man muss daher in beiden Termen die Kettenregel der Differentialrechnung benutzen: Wenn f ( x ) = g(h( x )), dann ist f 0 ( x ) = g0 (h( x )) · h0 ( x ) (innere Ableitung mal äußere Ableitung): dEpot dz d dv Eges = mv · + · . (7.25) dt dt dt |{z} | dz {z } |{z} = z¨
= − F (z)
=v
176
Kapitel 7 Fundamentale Konzepte: Energieerhaltung
Die durch geschweifte Klammern gekennzeichneten Terme kann man mit den Definitionen von Geschwindigkeit, Beschleunigung und potentieller Energie (Gl. (7.7)) vereinfachen. Damit lautet die Gleichung: d Eges = v · mz¨ − F (z) = 0. dt | {z }
(7.26)
= 0 (Newton)
Das bedeutet: Die Gesamtenergie ist konstant, sofern, wie im letzten Schritt angenommen, die newtonsche Gleichung F (z) = mz¨ gilt. Die Gültigkeit der newtonschen Gleichung sichert die Konstanz der Energie in der Mechanik. Was bedeutet dieser „Beweis“ des Energiesatzes? Naturgesetze lassen sich ja, anders als die Gesetze der Mathematik, normalerweise nicht beweisen. Sie müssen sich im Experiment bewähren. Der Sachverhalt ist folgendermaßen zu verstehen: Die Gültigkeit des Energiesatzes ist eine direkte Folgerung aus der newtonschen Gleichung und dem konservativen Charakter der Kräfte. Sollte also jemals experimentell (bei nachgewiesenermaßen konservativen Kräften) eine Verletzung des Energiesatzes festgestellt werden, dann wäre damit auch gleichzeitig die newtonsche Gleichung experimentell widerlegt. 7.4.4 Energieerhaltungssatz für offene Systeme
Für offene Systeme, bei denen Kräfte über die Systemgrenzen hinweg wirken, gilt der Energieerhaltungssatz in der Form (7.17) nicht mehr. Die Gesamtenergie innerhalb der Systemgrenzen ist nicht mehr konstant. Aufgrund der äußeren Kräfte wird dem System Energie zugeführt oder entzogen (Abb. 7.6). Man kann das am Beispiel von Witwe Boltes Hühnchen erläutern. Die Gesamtenergie des in Abb. 7.4 abgegrenzten Systems steigt während des Diebstahls an, denn das Hühnchen wird in einen Zustand größerer potentieller Energie gehoben. Alle übrigen Energien innerhalb der Systemgrenzen bleiben unverändert. Die Ursache für die Zunahme der Gesamtenergie ist die äußere Kraft, die durch Max’ Angel auf das Hühnchen wirkt. Die Energie, die durch äußere Kräfte über die Systemgrenzen zu- oder abgeführt wird, nennt man mechanische Arbeit W. Im Energiesatz für offene Systeme wird die Energieänderung durch mechanische Arbeit berücksichtigt. Energieerhaltungssatz für offene Systeme: Eges (t2 ) − Eges (t1 ) = W.
(7.27)
In Worten ausgedrückt besagt diese Gleichung, dass im betrachteten Zeitraum die Änderung der Gesamtenergie des Systems so groß ist wie die von außen zugeführte mechanische Arbeit. Die Energie innerhalb des Systems kann sich nur dadurch ändern, dass Energie in Form von Arbeit die Systemgrenzen überquert (Abb. 7.6). Innerhalb des Systems kann Energie weder erzeugt noch vernichtet werden.
177
Abschnitt 7.4 Energieerhaltung
Abb. 7.6: Bei offenen Systemen wirken äußere Kräfte über die Systemgrenzen hinweg. Energie, die aufgrund dieser äußeren Kräfte die Systemgrenzen überquert, nennt man mechanische Arbeit.
Für ein eindimensionales System (nur eine Raumrichtung, Kraft parallel oder antiparallel zum Weg) ist die durch eine äußere Kraft Fext verrichtete mechanische Arbeit wie folgt definiert. Mechanische Arbeit (eindimensional): W=
Z l 0
Fext dx.
(7.28)
Das Integral erstreckt sich entlang des Weges, den der Angriffspunkt der äußeren Kraft zurücklegt, während die Arbeit verrichtet wird (Abb. 7.7). Im einfachsten Fall ist die Kraft über den ganzen Weg konstant. Dann reduziert sich das Integral auf eine einfache Multiplikation mit der Weglänge l, und es ergibt sich die einfache und sehr bekannte Formel: „Arbeit = Kraft · Weg“,
W = Fext · l.
(7.29)
Der Begriff der mechanischen Arbeit bedarf noch einiger Erläuterungen. (1) Anders als die Gesamtenergie beschreibt die Arbeit nicht den Zustand des Systems; sie ist keine Zustandsgröße. Man kann sagen: „Die Gesamtenergie im System beträgt 45 kJ“. Die Aussage: „Die Arbeit des Systems beträgt 45 kJ“ ist dagegen sinnlos. Die Arbeit, die während des betrachteten Zeitintervalls am System verrichtet wird, ist hinterher im System als potentielle, elektrische oder innere Energie gespeichert, in einer der Energieformen die zur Gesamtenergie beitragen. Arbeit ist keine Energieform, sondern „Energie auf dem Weg“. Sie ist eine Prozessgröße, die nur in Bezug auf die Systemgrenzen und nur während des betrachteten Vorgangs definiert ist.
178
Kapitel 7 Fundamentale Konzepte: Energieerhaltung äußere Kraft Fext x=l Weg x=0
Abb. 7.7: Kraft und Weg bei der Definition der mechanischen Arbeit
(2) Die in Gl. (7.28) definierte mechanische Arbeit kann positives oder negatives Vorzeichen haben. Stimmen die Richtung der äußeren Kraft und die Richtung des Weges überein (wie in Abb. 7.7), so ist die Arbeit positiv. Die Gesamtenergie des Systems erhöht sich, dem System wird Energie zugeführt. Umgekehrt ist die Arbeit negativ, wenn Kraft und Weg entgegengesetzte Richtungen haben (wenn Max seine Angel absenken würde). Die Gesamtenergie innerhalb der Systemgrenzen nimmt dann ab. (3) In der Literatur gibt es verschiedene Konventionen für das Vorzeichen der Arbeit. Die hier gewählte Vorzeichenkonvention betont den Systemcharakter der Energieerhaltung: Ein positiver Wert der Arbeit heißt, dass die Energie innerhalb des Systems ansteigt. Entwirft man andererseits Maschinen, so ist es naheliegend, der vom System verrichteten Arbeit ein positives Vorzeichen zuzuweisen. Man wird dann die Arbeit nicht wie in Gl. (7.28) mit der von außen auf das System einwirkenden Kraft Fext definieren, sondern mit der Gegenkraft dazu, also der Kraft, die vom System auf die Außenwelt ausgeübt wird. Wenn man verschiedene Quellen benutzt, muss man hier sorgfältig vergleichen. (4) Gl. (7.28) gilt nur für den eindimensionalen Fall, wenn die Kraft parallel oder antiparallel zum Weg gerichtet ist. Steht die Kraft schräg zum Weg, wird in der Formel nur die parallele Kraftkomponente berücksichtigt, d. h. die Projektion des Kraftvektors auf den Weg. Schließen Kraft und Weg den Winkel φ ein, lautet die allgemeinere Fassung von Gl. (7.28): W=
Z l 0
Fext cos φ dx.
(7.30)
179
Abschnitt 7.4 Energieerhaltung
Kasten 7.3 Arbeit in drei Dimensionen
Mathematisch am elegantesten lässt sich die Arbeit in der dreidimensionalen Vektornotation definieren. Wir betrachten eine gekrümmte Kurve in drei Dimensionen, entlang der ein Körper bewegt wird. Mit s soll die Bogenlänge der Kurve bezeichnet werden, und ~eT ist ein Tangentenvektor der Länge 1 am jeweils betrachteten Punkt. Auf den Körper soll die äußere Kraft ~ Fext unter dem Winkel φ zur Tangente wirken. Das Skalarprodukt der beiden Vektoren ~ Fext und ~eT ist:
~Fext ·~eT = |~Fext | · |~eT | · cos φ = |~Fext | cos φ.
(7.31)
Das ist gerade der Ausdruck, der in der Definition der Arbeit vorkommt (Gl. (7.30)). Wir können somit auch schreiben: Z B Z B
W=
A
~Fext ·~eT ds =
A
~Fext d~s.
(7.32)
Im letzten Schritt wurde das Integral mit der Schreibweise ~eT ds = d~s als Linienintegral aufgefasst (siehe Gl. (A.41) im Anhang über Vektorrechnung).
Eine noch umfassendere Version in vektorieller Formulierung, die auch den Fall gekrümmter Wege einschließt, finden Sie in Kasten 7.3. (5) Ein Spezialfall liegt vor, wenn der Winkel φ gerade 90◦ beträgt. Die Kraft steht dann senkrecht zum Weg. Die Projektion des Kraftvektors auf den Weg ist gleich null (cos 90◦ = 0). In diesem Fall wird keine Arbeit verrichtet. Kräfte senkrecht zur Wegrichtung verrichten keine Arbeit. (6) Handelt es sich bei Fext um eine konservative Kraft, so existiert eine entsprechende potentielle Energie Epot . Der Wert des Integrals in der Definition der Arbeit hängt in diesem Fall nur von Anfangs- und Endpunkt ab: W = Epot (0) − Epot (l ). Sie können das für den eindimensionalen Fall überprüfen, indem Sie Gl. (7.7) in Gl. (7.28) einsetzen, aber es gilt auch in drei Dimensionen. Die Arbeit ist für konservative Kräfte unabhängig vom Verlauf des Weges und von der Geschwindigkeit des Körpers. Insbesondere ist sie null für Wege, die wieder zum Ausgangspunkt zurück führen. Sie sollten bei der nächsten Bergwanderung daran denken. (7) Der physikalische Gebrauch des Wortes Arbeit deckt sich oftmals nicht mit dem Alltagsgebrauch. Das macht den Umgang mit der physikalischen Größe Arbeit fehleranfällig. Deshalb sollten Sie nur dann mit der Arbeit argumentieren, wenn gute Gründe dafür sprechen. Zu leicht ist
180
Kapitel 7 Fundamentale Konzepte: Energieerhaltung
der Weg in die selbstverschuldete Verwirrung, wenn man den Umgang mit dem Energiesatz für offene Systeme nicht sicher beherrscht. Analysieren Sie zum Beispiel den folgenden physikalisch sehr einfachen Vorgang: Ein Mensch steht aus der Hocke in den Stand auf. Überlegen Sie sich, welche Arbeit beim Aufstehen verrichtet wird, welcher Körper sie verrichtet und an welchem Körper sie verrichtet wird. Die Lösung folgt später in diesem Kapitel. Beherzigen Sie eine einfache Regel: Betrachten Sie abgeschlossene Systeme, wann immer es möglich ist. Ihre Energiebilanzen sollen so oft es geht die einfache Form „Gesamtenergie nachher = Gesamtenergie vorher“ besitzen. Beispielaufgabe: Berechnen Sie die Arbeit beim Spannen einer Feder, für die das hookesche Gesetz gilt. Lösung: Der Nullpunkt der x-Achse wird so gewählt, dass das Ende der Feder im entspannten Zustand bei x = 0 liegt. Die Systemgrenzen wählen wir wie in Abb. 7.8. Es gibt bei dieser Wahl der Systemgrenzen zwei externe Kräfte. Wir müssen also den Energiesatz für offene Systeme benutzen und die am System verrichtete Arbeit berechnen. Der Angriffspunkt der Kraft FWand , die die Wand auf die Feder ausübt, bewegt sich nicht. Diese Kraft verrichtet daher keine Arbeit. Die zweite äußere Kraft FZug verrichtet dagegen Arbeit am System. Sie gehorcht dem hookeschen Gesetz: FZug = D · x. Damit gilt: Z l Z l
W=
0
FZug dx = D ·
0
x dx = 21 Dl 2 .
(7.33)
Der Energiesatz lautet:
(
(( = 1 Dl 2 . Eges (nachher) − ( Eges vorher) ((( 2 =0
(7.34)
Der einzige Unterschied zwischen Anfangs- und Endzustand des Systems besteht darin, dass die Feder am Ende gespannt ist. Die entsprechende Energieform heißt Spannenergie: Eges (nachher) = ESpann . Die Formel dafür haben wir soeben berechnet:
ESpann = 12 Dl 2 .
FWand
(7.35)
FZug
x=0
x=l
Abb. 7.8: Zur Berechnung der Spannenergie einer Feder
181
Abschnitt 7.4 Energieerhaltung
An diesem Beispiel sehen Sie, wie man den Energiesatz für offene Systeme verwenden kann, um eine neue Energieform quantitativ zu erfassen. Nachdem das einmal geschehen ist, kann man – im Einklang mit der gerade aufgestellten Regel – bei ähnlichen Problemen die Systemgrenzen so wählen, dass alle Kräfte im Systeminnern wirken und die Spannenergie als Energieform im Energiesatz für abgeschlossene Systeme verwenden.
Abb. 7.9: Abstoßen von einer Wand
Beispielaufgabe: Ein Skateboarder stößt sich von einer Wand ab. An welchem Körper wird Arbeit verrichtet? Lösung 1: Sind die Systemgrenzen wie in Abb. 7.9 (a) gewählt, so ist die einzige relevante äußere Kraft diejenige, die von der Wand auf die Hand wirkt. Der Angriffspunkt dieser Kraft bewegt sich jedoch nicht. Deshalb wird auch keine Arbeit verrichtet. Obwohl es sich um ein offenes System handelt und obwohl die Kraft zur Beschleunigung des Skaters führt, ist die Arbeit null. Kräfte, die über die Systemgrenzen wirken, dabei aber keine Arbeit verrichten, werden manchmal als „zero-work forces“ bezeichnet. Der Energiesatz für offene Systeme hat hier die Form:
∆Ekin + ∆Echem = W = 0,
(7.36)
∆Ekin = −∆Echem
(7.37)
so dass gilt. Die kinetische Energie, die der Skater während des Vorgangs gewinnt, stammt aus der chemischen Energie, die bei der Tätigkeit der Muskeln umgesetzt wird. Ein Teil davon wird auch zur Erwärmung der Muskeln verwendet, also in innere Energie umgewandelt. Über die Systemgrenzen strömt keine Energie. Alle Energieumwandlungen spielen sich im Innern des Systems ab.
182
Kapitel 7 Fundamentale Konzepte: Energieerhaltung
Lösung 2: Wählt man dagegen die Systemgrenzen wie in Abb. 7.9 (b), sieht der Energiesatz anders aus. Nur der Körper des Skaters gehört zum System, nicht jedoch die Arme. Die Kraft F der Arme auf den Körper ist eine äußere Kraft. Ihr Angriffspunkt bewegt sich um die Strecke l . Der Energiesatz für offene Systeme lautet dann:
∆Ekin = W = F · l.
(7.38)
Die chemische Energie, die in den Armmuskeln gespeichert ist, gehört nun nicht mehr zum System. Dafür wird die Arbeit berücksichtigt, die die Arme durch die Kraft F verrichten. Das Beispiel zeigt, dass man durch unterschiedliche Wahl der Systemgrenzen die Art der Information beeinflussen kann, die man aus dem Energiesatz gewinnen kann.
7.5 Antrieb aus eigener Kraft Sofern man die Systemgrenzen so wählt, dass sie den Skater vollständig umschließen, wird beim Abstoßen von der Wand keine Arbeit verrichtet. Chemische Energie wird innerhalb des Systems direkt in kinetische Energie umgewandelt, ohne dass Energie die Systemgrenzen überquert. Physikalisch ist das plausibel: Die einzige relevante äußere Kraft, die auf das System wirkt, ist die Kraft von der Wand auf die Hände des Skaters. Der einzige Körper, der am System Arbeit verrichten könnte, ist daher die Wand. Aus eigener Erfahrung wissen Sie, dass sie Ihnen diesen Gefallen nicht tut. Eine Wand, von der Sie sich abstoßen, wird Sie nicht mit Energie versorgen. Möglich ist nur das Umgekehrte: Der Skater kann einen Teil der chemischen Energie, die er eigentlich innerhalb des Systems in kinetische Energie umwandeln wollte, an die Wand abgeben, zum Beispiel indem er sie verformt. In diesem Fall bewegt sich der Angriffspunkt der Kraft während des Verformens, und es wird Arbeit verrichtet. Am effizientesten stößt sich der Skater mit einer „zero-work force“ ab, um das „Vergeuden“ seiner chemischen Energie nach außen zu vermeiden. Das Beispiel ist typisch für alle Vorgänge, bei denen Körper sich aus eigener Kraft antreiben: Gehende Menschen, fahrende Autos und Fahrräder, schwimmende Schiffe und Fische, fliegende Vögel. Bei allen geschieht die Fortbewegung am effizientesten, wenn die Kraft, mit der sie sich von ihrer Umgebung abstoßen, eine „zero-work force“ ist. Ein Beispiel, an dem man dies deutlich erkennt, ist in Abb. 7.10 gezeigt. Ein Gondoliere stößt sich mit seinem Stab vom Boden der Lagune ab. Zwei äußere Kräfte sind eingezeichnet: Die Wasserwiderstandskraft FW und die Kraft des Lagunenbodens auf den Stab FStab . Letztere hat während des gesamten Abstoßvorgangs einen gleichbleibenden Angriffspunkt. Sie verrichtet also keine Arbeit. Würde der Stab den Untergrund verformen, so würde dabei Arbeit verrichtet und die Antriebseffizienz verringert. Gleitet die Gondel mit konstanter Geschwindigkeit über das Wasser, dann herrscht Kräftegleichgewicht. Die Wasserwiderstandskraft ist im zeitlichen Mittel genauso groß wie die Kraft auf den Stab. Die Geschwindigkeit und
183
Abschnitt 7.5 Antrieb aus eigener Kraft
FW Abb. 7.10: Die Kraft, die der Lagunengrund auf den Stab ausübt, ist eine „zero-work force“.
FStab
damit auch die kinetische Energie sind konstant. Im Energiesatz für offene Systeme ist somit nur die chemische Energie beteiligt: =0 X ∆EX X + ∆Echem = FW · l, kin
(7.39)
wobei FW · l < 0 die vom Wasser an der Gondel verrichtete Arbeit ist. Das System verliert chemische Energie, während die Gondel die Strecke l zurücklegt. Sie wird als Arbeit nach außen (an das Wasser abgegeben). Nach Abb. 7.10 wird ein Teil der chemischen Energie des Gondolieres offenbar auch für die Erzeugung von Schallwellen genutzt, ein Effekt, den wir hier lieber nicht näher untersuchen. Beim Gehen ist die Kraft, die der Boden auf die Füße ausübt, eine „zerowork force“, da ihr Angriffspunkt stationär bleibt. Ähnlich sieht es beim Rollen von Reifen aus, obwohl die Sachlage hier etwas unanschaulicher ist. Stellen Sie sich am besten einen Mountainbike-Reifen mit vielen Profilstollen vor, die nacheinander den Boden berühren, eine Zeit lang Bodenkontakt besitzen und sich dann wieder vom Boden lösen. Während der Zeit des Bodenkontaktes ändert sich der Angriffspunkt der Kraft auf einen Stollen nicht. Sehr deutlich wird der Sachverhalt auch, wenn man an Kettenfahrzeuge denkt: Während des gesamten Zeitraums, in dem ein bestimmtes Kettenglied Bodenkontakt hat und eine Kraft zwischen ihm und dem Boden wirkt, bleibt der Angriffspunkt dieser Kraft unverändert (Abb. 7.11). Bei Gummireifen treten Verluste durch vorübergehende Verformungen des Gummis auf: Selbst bei optimalem Bodenkontakt bleibt die Mantelfläche des Reifens immer ein wenig hinter der antreibenden Felge zurück – ein Phänomen, das man als „Schlupf“ bezeichnet. Beim Schwimmen und Fliegen sind die Verhältnisse kompliziert, weil turbulente strömende Flüssigkeiten und Gase die detaillierte Betrachtung sehr schwierig machen. Am effizientesten ist das Schwimmen, wenn man dem Ideal der „zero-work force“ möglichst nahekommt. Deshalb gibt man als Maß zur
184
Kapitel 7 Fundamentale Konzepte: Energieerhaltung
Abb. 7.11: Beim Kettenfahrzeug übt der Boden eine Kraft auf jedes Kettenglied aus. Ihr Angriffspunkt bleibt unbewegt; es handelt sich um eine „zero-work force“.
Bewertung von Schwimmleistungen die froudésche Effizienz an, die bemisst, wie nahe eine tatsächliche Schwimmbewegung dem Abstoßen von einem festen Angriffspunkt kommt. Das Schwimmen von Menschen besitzt eher den Charakter des Umrührens von Wasser, während Fische auf gute Schwimmeffizienzen kommen. Eine andere Situation liegt beim Raketenantrieb vor. Die Rakete bewegt sich durch den Ausstoß von Gasen fort, d. h. die Systemgrenzen werden von Materie überquert. In Kapitel 9 werden wir näher auf die Physik von Raketenantrieben eingehen. Beispielaufgabe: Eine interessante Frage, die kaum jemand beantworten kann: Wie viel frisst ein Hai eigentlich pro Tag? Die Schätzungen reichen von einigen Kilogramm Fisch bis zu mehreren Tonnen. Geben Sie mit dem Energiesatz eine Abschätzung der beim Schwimmen umgesetzten Energie pro Tag. Lösung: Wir wollen die Frage als Fermiproblem auffassen. Bei diesem besonderen Aufgabentyp handelt es sich um Fragestellungen aus dem Alltag oder aus der Physik, bei denen aufgrund der Komplexität des Problems eine genaue Lösung aussichtslos erscheint. Man zielt daher gar nicht auf eine exakte Berechnung ab, sondern versucht mit Hilfe einfacher physikalischer Zusammenhänge und etwas Alltagswissen eine
Abschnitt 7.5 Antrieb aus eigener Kraft
185
Abb. 7.12: Wie viel Gramm, Kilogramm oder Tonnen Fisch frisst ein Hai pro Tag?
sinnvolle Abschätzung der Größenordnung zu finden. Frisst der Hai einige Gramm, einige Kilogramm oder einige Tonnen Fisch pro Tag? Durch geschickte Strukturierung des Problems findet man oft recht gute Näherungswerte für die gesuchte Größe. Der Ansatzpunkt zur Lösung unseres Fermiproblems liegt in einer physiologischen Besonderheit der Haie: Sie müssen schwimmen, um atmen zu können. Haie sind nicht in der Lage, das Atemwasser aktiv in ihre Kiemen zu spülen. Sie werden nur dann mit Sauerstoff versorgt, wenn durch ihre Eigenbewegung ausreichend Wasser durch die Kiemen strömt. Selbst wenn sie schlafen, müssen die Haie schwimmen. Aus eigener Erfahrung weiß man, dass Schwimmen eine anstrengende Beschäftigung ist. Um die Bewegung aufrechtzuerhalten, muss auch ein Hai ständig Arbeit gegen den Strömungswiderstand des Wassers verrichten. Die Vermutung liegt nahe, dass hier der Grund für seinen großen Appetit liegt. Sind Haie so gefräßig, weil sie ständig schwimmen müssen? In dieser Formulierung wird das Problem einer physikalischen Behandlung zugänglich. Wir nehmen an, dass das Schwimmen die Haupttätigkeit eines Hais ist, bei der er am meisten Energie verliert. Dann können wir die Arbeit berechnen, die er während eines Tages gegen die Wasserwiderstandskraft FW verrichtet und daraus auf seinen Nahrungsbedarf schließen. Ein Punkt muss vorher noch geklärt werden: Die Wärmeabgabe an das Wasser muss bei dieser Bilanz nicht berücksichtigt werden. Haie sind wechselwarme Tiere, die ihre Körpertemperatur nicht auf einem bestimmten Niveau stabilisieren müssen. Zwar wird Wärme an das Wasser abgegeben, es handelt sich dabei aber um „Abwärme“, die dadurch entsteht, dass die Muskeln die chemische Energie aus der Nahrung nicht vollständig in mechanische Energie umwandeln können. Wir werden dies durch Annahme eines Wirkungsgrades kleiner als 1 berücksichtigen.
186
Kapitel 7 Fundamentale Konzepte: Energieerhaltung
Abb. 7.13: Systemgrenzen um den Blauhai
Ein Blauhai (Abb. 7.13) wird etwa 3–4 m lang, und sein Körperdurchmesser liegt bei etwa 50 cm. Seine Frontfläche beträgt daher A = r2 π = 0,2 m2 . Wir nehmen an, dass der Hai mit einer konstanten Geschwindigkeit von 0,5 m/s (also etwa 2 km/h) schwimmt. Damit ergibt sich eine Schwimmstrecke pro Tag von etwa l = 43 km. (Die größte beobachtete Wegstrecke, die ein Blauhai während eines Tages zurückgelegt hat, liegt bei 55 km.) Zwei Kräfte sind für unsere Berechnung maßgebend: Die Wasserwiderstandskraft FW und die Kraft FT , die das Wasser auf den Hai aufgrund seiner Flossenbewegungen ausübt und die ihn nach vorn treibt (Abb. 7.13). Es wurde schon diskutiert, dass die Bewegung am effizientesten ist, wenn FT eine „zero-work force“ ist. Wir nehmen an, dass einige Millionen Jahre Evolution dies fertiggebracht haben. Eine geringere Schwimmeffizienz kann gegebenenfalls im Wirkungsgrad berücksichtigt werden. Mit dieser Annahme muss im Energiesatz für offene Systeme nur die Wasserwiderstandskraft FW berücksichtigt werden (Kräfte positiv wie eingezeichnet): =0 X ∆EX X + ∆Echem = − FW · l. kin
(7.40)
Dabei ist l der in der betrachteten Zeitspanne, also einem Tag, zurückgelegte Weg. Die kinetische Energie soll am Anfang und am Ende des Tages den gleichen Wert haben, so dass ∆Ekin =0 gilt. Mit der Formel für die Widerstandskraft in turbulent strömenden Medien haben wir schon in Kapitel 6 Bekanntschaft geschlossen:
FW =
1 c 2 W
· ρ · A · v2 ,
(7.41)
wobei das strömende Medium nun das Meerwasser ist (Dichte ρ ≈ 1000 kg/m3 ). Um eine Abschätzung für den cW -Wert eines Hais zu gewinnen, berufen wir uns wieder auf die Evolution und nehmen an, dass der Hai den Widerstandsbeiwert cW = 0,05 einer optimalen Stromlinienform besitzt. Das Einsetzen aller Zahlenwerte liefert:
W = − FW · l = − 21 · 0,05 · 1000
= −54 kJ.
kg m 2 · 0,2 m2 · 0,5 · 43 km 3 s m
(7.42)
Wie schon angesprochen, können die Muskeln nicht ihre gesamte chemische Energie für die Fortbewegung nutzen. Der typische Wirkungsgrad von Muskeln liegt bei 25%.
Abschnitt 7.6 Muskelkraft und Arbeit
187
Damit der Hai 24 Stunden schwimmen kann, muss sein Organismus daher aus der gefressenen Nahrung die vierfache Energiemenge, also etwa 200 kJ entnehmen. Welche Menge an Fisch muss der Hai dazu fressen? Wir gehen davon aus, dass der Stoffwechsel eines Hais die gleiche Energiemenge aus der Nahrung entnehmen kann wie derjenige des Menschen und schauen im Kochbuch nach. Dr. Oetkers Schulkochbuch verrät uns, dass 100 g Rotbarsch einen Energiegehalt von 230 kJ besitzen. Nach unserer Abschätzung heißt das: Um täglich über 40 km weit zu schwimmen, muss ein Blauhai weniger als 100 g Fisch fressen. Dieses Ergebnis erscheint zunächst absurd. Man würde nicht vermuten, dass ein Hai sich mit so wenig Nahrung begnügt. Ein Mensch würde mit einer derart kleinen Essensration glatt verhungern. Umso verblüffender ist es, wenn die Biologen uns bestätigen, dass der berechnete Wert tatsächlich in der richtigen Größenordnung liegt (und eine größere Genauigkeit als die richtige Größenordnung wird man bei einem Fermiproblem ohnehin nicht erwarten dürfen). Ein Blauhai nimmt pro Jahr nur etwa 100 kg Nahrung zu sich, also etwa 300 g pro Tag. Die Übereinstimmung wird sogar noch beeindruckender, wenn man berücksichtigt, dass das Schwimmen nicht die einzige Aktivität ist, die der Organismus des Hais zu bewältigen hat. Auch für andere physiologische Funktionen muss Energie aufgewendet werden.
7.6 Muskelkraft und Arbeit Wenn der menschliche Körper beteiligt ist, weicht die subjektive Anstrengungsempfindung oft sehr vom physikalischen Energie- bzw. Arbeitsbegriff ab. Wenn Sie z. B. über längere Zeit einen Medizinball am ausgestreckten Arm halten, wird Ihnen das recht bald anstrengend vorkommen. Die Physik sagt etwas anderes: Für sie handelt es sich um eine völlig statische Situation. Ein Kran oder eine Brücke können unter vergleichbaren Umständen große Lasten tragen, ohne dass Energieumwandlungen stattfinden oder Arbeit verrichtet wird. Ein noch anschaulicheres Beispiel sind Liegestütze: Der Schwerpunkt des Körpers wird für einen Moment angehoben, so dass er eine höhere potentielle Energie besitzt. Gleich darauf wird aber wieder der Ausgangszustand hergestellt. Bei dem Vorgang wird keine Arbeit verrichtet, denn die Kraft des Bodens auf die Hände ist eine „zero-work force“. Der Energieerhaltungssatz hat daher die Form ∆Eges = 0. Weder kinetische noch potentielle Energie ändern sich: Vor und nach dem Liegestütz haben beide den gleichen Wert. Zu ∆Eges tragen sie deshalb nicht bei. Es findet einzig eine Umwandlung von chemischer Energie in innere Energie statt (man „wird warm“ beim Sport). Auch bei der Bergwanderung, die wieder zum Ausgangspunkt zurückführt, ist die physikalisch verrichtete Arbeit null, denn die Gravitation ist eine konservative Kraft. Nichts könnte unserer Erfahrung stärker widersprechen. Physiologie der Muskelaktivität Die Diskrepanz zwischen physikalischer Beschreibung und Körperwahrnehmung, die Energieanalysen in Bezug auf Muskelkräfte so sehr von der Erfahrung abweichen lässt, ist in der physiologischen Funktionsweise von Muskeln begründet. Muskeln „arbeiten“ auch, wenn sie nur statisch angespannt sind.
188
Kapitel 7 Fundamentale Konzepte: Energieerhaltung
Abb. 7.14: Hierarchischer Aufbau eines Muskels
Zum besseren Verständnis ist es hilfreich, sich die Prozesse bei der Muskelkontraktion näher anzusehen. Dabei soll es an dieser Stelle schematisch nur um die physikalisch relevanten Aspekte gehen. Der Aufbau eines Muskels ist in Abb. 7.14 gezeigt. Es gibt fünf Hierarchieebenen: Muskel → Fasern → Fibrillen → Sarkomere → Filamente. Die Fibrillen bestehen aus Hunderten von hintereinander angeordneten Funktionseinheiten, den Sarkomeren (links in Abb. 7.14). Ein Sarkomer ist wiederum aus zwei Sorten von fadenförmigen Molekülsträngen aufgebaut, den Aktin- und den Myosinfilamenten, die sich gegeneinander verschieben können. Wenn ein Muskel sich verkürzt, gleiten Aktin- und Myosinfilamente relativ zueinander ohne ihre Länge selbst zu verändern. Aus dem Myosin ragen viele kleine „Köpfchen“ heraus, die sich an jeder Stelle der Aktinkette „festhaken“ können. Der Elementarprozess, bei dem Kraft ausgeübt und Energie umgesetzt wird, ist das sogenannte „Nicken“ eines dieser Myosinköpfchen. Er verläuft zyklisch in vier Phasen (Abb. 7.15): (1) Im Ruhezustand ist das Myosinköpfchen um 45 Grad angewinkelt und mit dem Aktin verbunden (1. Teilbild in Abb. 7.15). (2) Bei Zufuhr der körpereigenen „Energiewährung“ ATP löst sich das Myosinköpfchen vom Aktin und klappt in eine 90-Grad-Stellung (2. Teilbild). Der Energieumsatz im Elementarprozess erfolgt in diesem Schritt. (3) Nach kurzer Zeit beginnt das Myosinköpfchen, sich in der neuen Stellung wieder mit dem Aktin zu verbinden (3. Teilbild) . . . (4) . . . und klappt wieder in die Ausgangsstellung zurück. Dies ist der Moment, in dem eine Kraft ausgeübt wird und der Muskel verkürzt wird. Myosin- und Aktinfilamente verschieben sich während des Prozesses um etwa 10–20 nm gegeneinander. Nun ist der Ausgangszustand wieder hergestellt und der Zyklus kann von Neuem beginnen.
Abschnitt 7.6 Muskelkraft und Arbeit
189
Abb. 7.15: Das zyklische „Nicken“ von Myosinköpfchen verschiebt Aktin- und Myosinfilamente gegeneinander.
Da sehr viele Myosinköpfe gleichzeitig am Werk sind, kann man sich ihre Tätigkeit ähnlich wie die einer Seilmannschaft vorstellen, die ein Seil (das Aktin) durch wiederholtes Nachgreifen an sich vorbeizieht. Der Zyklus läuft pro Sekunde etwa 10–100 Mal ab. Jedes Mal wird ein ATPMolekül irreversibel verbraucht. Es wird beim Entspannen des Muskels nicht wieder neu gebildet. Wenn der Muskel ein zweites Mal verkürzt werden soll, muss dafür neues ATP bereitgestellt werden. Das erklärt die Anstrengung beim Liegestütz: Obwohl keine Arbeit im physikalischen Sinn verrichtet wird, ist der ATP-Verbrauch real, und das ist es, was der Körper als Anstrengung spürt. Je mehr Köpfchen gleichzeitig aktiv sind und je rascher der Zyklus durchlaufen wird, umso mehr ATP wird verbraucht. Auch das entspricht der Alltagserfahrung: Große Kräfte und schnelle Bewegungen sind anstrengend. Wirkungsgrad Im Elementarprozess wird vom Myosinköpfchen auf das Aktinfilament eine Kraft ausgeübt, deren Angriffspunkt sich um eine gewisse Strecke verschiebt. Der Muskel kann Arbeit an einem anderen Gegenstand verrichten. Die dazu nötige chemische Energie kommt aus der Nahrung. Man muss allerdings mehr chemische Energie zuführen als Arbeit verrichtet wird, denn ein beträchtlicher Teil wird in innere Energie umgewandelt. Der Wirkungsgrad der menschlichen Muskelarbeit, d. h. das Verhältnis von umgesetzter chemischer Energie zu verrichteter Arbeit, beträgt nicht mehr als 25–35%. Das „Heizen“ der Muskeln mit der restlichen Energie nutzt der Körper z. B. beim Kältezittern aus. Statische Muskelaktivität Beim statischen Halten eines Gegenstandes findet keine makroskopische Muskelbewegung statt. Im Muskel bleiben Aktin- und Myosinfilamente relativ zueinander in Ruhe. Trotzdem findet der oben beschriebene Elementarprozess ständig statt. Die statische Kraft bei der isometrischen Anspannung des Muskels kommt durch eine elastische Dehnung der „Hälse“ der Myosinköpfchen zustande. Durch die ständige Tätigkeit der Myosinköpfchen wird ATP verbraucht und chemische Energie in innere Energie umgewandelt. Völlig zu Recht wird auch die statische Anspannung von Muskeln als anstrengend empfunden.
190
Kapitel 7 Fundamentale Konzepte: Energieerhaltung
FG
FN
Abb. 7.16: Ein Mädchen steht aus der Hocke auf. Wer verrichtet hier Arbeit an wem?
7.7 Die Bedeutung der potentiellen Energie Möchten Sie jemanden mit einem möglichst simplen physikalischen Problem an den Rand der Verzweiflung und des Jammers treiben? Dann stellen Sie ihm die Frage, die auf S. 180 aufgeworfen, aber nicht beantwortet wurde. Ein Mädchen steht aus der Hocke auf (Abb. 7.16) – wie lautet der Energiesatz? An welchem Körper wird Arbeit verrichtet? Der Gedanke, der Ihnen unmittelbar durch den Kopf schoss: „Natürlich verrichtet das Mädchen an sich selbst Arbeit!“, haben Sie hoffentlich sogleich wieder verworfen. Nach unserer Definition der mechanischen Arbeit können nur äußere Kräfte Arbeit an einem System verrichten. Da das Mädchen Teil des Systems ist, kann es auf sich selbst nur innere Kräfte ausüben (siehe auch die Diskussion um die Heldentaten des Barons Münchhausen in Kapitel 5). Die Antwort, die Ihnen 90% aller Befragten beim zweiten Versuch geben werden, lautet: Das Mädchen verrichtet beim Aufstehen Arbeit, und zwar ist die verrichtete Arbeit gleich der Änderung der potentiellen Energie, ∆Epot = FG · ∆z.
(7.43)
Diese Antwort hat mehrere Schönheitsfehler. Der größte davon ist, dass sie falsch ist. Oder noch schlimmer – um einen Ausspruch Wolfgang Paulis zu paraphrasieren – noch nicht einmal falsch. Man kann sich leicht klarmachen, dass Gl. (7.43) nicht der Energiesatz sein kann: • Die chemische Energie kommt in Gl. (7.43) nicht vor. Erzählen Sie das nicht den Myosinköpfchen! Beim Aufstehen wird im Körper des Mädchens Energie umgesetzt, und diese Energie muss in der korrekten Version des Energiesatzes berücksichtigt sein. •
Die Energieänderung hat das falsche Vorzeichen. Die potentielle Energie wird bei dem Vorgang größer. Die linke Seite ist also positiv. Die rechte Seite ist aber negativ, denn die Kraft FG zeigt entgegengesetzt zum Weg!
Abschnitt 7.7 Die Bedeutung der potentiellen Energie
191
Nach einigem Nachdenken werden Sie darauf kommen, welche Situation von Gl. (7.43) eigentlich beschrieben wird: Jemand packt das Mädchen am Zopf und zieht es eine Strecke ∆z nach oben. Dabei übt er eine nach oben gerichtete Kraft FZug auf das Mädchen aus. Die vom Hochziehenden verrichtete Arbeit FZug · ∆z ist positiv, genauso wie die Änderung der potentiellen Energie. Chemische Energie wird nicht umgesetzt, denn das Mädchen muss bei der ganzen Sache gar nichts tun. Die potentielle Energie ist Schuld an der Verwirrung An dieser Stelle rächt sich ein Versäumnis, das wir bei der Einführung der Energieformen begangen haben. Wir hätten schon dort fragen sollen: „Was ist eigentlich potentielle Energie?“ Durch langjährigen Umgang sind wir an die Energieform „potentielle Energie“ schon so gewöhnt, dass wir sie ganz selbstverständlich als alte Bekannte im Kreise der Energieformen begrüßt haben, ohne nach ihrer Abstammung zu fragen. Bei den meisten Anwendungen des Energiesatzes bereitet sie auch keinerlei Schwierigkeiten. Offenbar kommt es aber zu Problemen, sobald es um die Arbeit geht. Die Ursache ist ein kleiner Makel in der Herkunft der potentiellen Energie. Es ist nämlich gar nicht selbstverständlich, dass es sie überhaupt gibt. Genauer gesagt hängt es von einer Entscheidung ab, die Sie selbst fällen müssen und die – wer hätte es gedacht – die Wahl der Systemgrenzen betrifft. Vielleicht ist Ihnen schon aufgefallen, dass wir mit der Gravitationskraft bisher eher leichtsinnig bis fahrlässig umgegangen sind – auch wenn System dahinter steckte. Denken Sie noch einmal an die energetische Beschreibung des Stabhochsprungs auf S. 173. Dort wurde implizit behauptet, dass es sich bei dem System in Abb. 7.5 um ein abgeschlossenes System handelt, über dessen Systemgrenzen hinweg keine Kräfte wirken. Hier hätten Ihre physikalischen Alarmglocken heftig schrillen sollen. Denn natürlich wirkt die Gravitationskraft über die Systemgrenzen hinweg; sie wirkt ja von der Erde auf die Springerin. Trotz dieses scheinbaren Versäumnisses ist die StabhochsprungRechnung völlig korrekt – wir müssen nur begründen warum. Der Schlüssel liegt in der potentiellen Energie, und deren Status soll im Folgenden gründlich aufgeklärt werden. 7.7.1 Felder und Feldenergie
Was man in der Physik unter einem Feld versteht, wurde bereits kurz in Abschnitt 7.3 erläutert. Elektrische, magnetische und Gravitationskräfte werden nicht direkt durch Kontakt übertragen, sondern durch ein Feld vermittelt. Es ist im vorliegenden Zusammenhang von entscheidender Bedeutung, dass Felder vollwertige Teilnehmer an Energieaustauschprozessen sind. In einem Feld kann Energie gespeichert sein, es kann Energie aufnehmen und zu einem späteren Zeitpunkt wieder abgeben. Wenn Sie beispielsweise langsam zwei Magnete auseinanderziehen, benötigen Sie dafür Energie. Man kann diese Energie jedoch keinem der beiden
192
Kapitel 7 Fundamentale Konzepte: Energieerhaltung
Abb. 7.17: Im Magnetfeld ist Energie gespeichert. Hier wird es symbolisiert durch eine magnetische Flüssigkeit zwischen den Polen eines Magneten (nicht sichtbar).
Magnete individuell zuordnen. Sie steckt im Magnetfeld (Abb. 7.17). Beim Auseinanderziehen vergrößern Sie die Energie des Magnetfeldes. Sie können die hineingesteckte Energie später wiedergewinnen, wenn Sie die Magnete zusammenführen und dadurch die Energie des Magnetfeldes verringern. Analoges gilt für das Gravitationsfeld: Wenn Sie zwei Körper entgegen der Gravitationsanziehung auseinanderziehen, erhöhen Sie dadurch die Energie des Gravitationsfeldes. Im Energiesatz muss diese Energie berücksichtigt werden. Das tut man auch – meist jedoch, ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen. Im folgenden Abschnitt werden wir begründen, dass diese im Feld gespeicherte Energie identisch ist mit der potentiellen Energie. Potentielle Energie ist Feldenergie. Um sich bei der Anwendung des Energiesatzes nicht in selbstverschuldete Verwirrung zu stürzen, muss man die verschiedenen Möglichkeiten zur Wahl der Systemgrenzen im Auge behalten. Sie können nämlich das Gravitationsfeld in die Systemgrenzen mit einbeziehen oder es ausschließen. Die beiden unterschiedlichen Formen des Energiesatzes, die sich aus der jeweiligen Wahl ergeben, werden im Folgenden diskutiert. Systemgrenzen schließen das Gravitationsfeld aus Das Gravitationsfeld erfüllt den gesamten Raum; jedem Raumpunkt ist ein ~ zugeordnet. Deshalb ist es nicht räumlich Wert der Gravitationsfeldstärke G zu verstehen, sondern rein gedanklich, dass die Systemgrenzen das Gravitationsfeld ausschließen. Abb. 7.18 (a) illustriert dies schematisch. Da die Gravitation über die Systemgrenzen greift und damit eine äußere Kraft ist, liegt ein offenes System vor. Zur Formulierung des Energiesatzes müssen wir die Fassung für offene Systeme verwenden: ∆Eges = W. Welche Energieformen ändern sich während des Aufstehvorgangs innerhalb der Systemgrenzen? Die kinetische Energie soll am Anfang und am Ende null sein, deshalb ist ∆Ekin = 0. Die chemische Energie des Körpers verringert sich um den Betrag ∆Echem .
Abschnitt 7.7 Die Bedeutung der potentiellen Energie
193
Abb. 7.18: Zwei Möglichkeiten die Systemgrenzen zu wählen: (a) Die Systemgrenzen schließen das Gravitationsfeld aus, (b) die Systemgrenzen umfassen das Gravitationsfeld.
Nun kommt der Punkt, an dem in der Regel die Fehler passieren: Die potentielle Energie gehört bei unserer Wahl der Systemgrenzen nämlich nicht zu den Energieformen des Systems. Denn wenn die potentielle Energie identisch mit der Energie des Gravitationsfeldes ist, dann handelt es sich um eine außerhalb der Systemgrenzen liegende Energieform. Auf der linken Seite des Energiesatzes ist daher allein die chemische Energie zu berücksichtigen. Schauen wir auf die rechte Seite des Energiesatzes. Bei der Berechnung der Arbeit W können wir gleich zu Anfang die Kraft FN aus der weiteren Diskussion ausschließen, denn sie ist eine „zero-work force“. Die Gravitationskraft FG verrichtet die Arbeit W = FG · ∆z am System. Der Energiesatz lautet somit: ∆Echem = FG · ∆z.
(7.44)
Vergleichen Sie dies mit Gl. (7.43). Im Gegensatz zu dort ist hier der Energieumsatz des Körpers berücksichtigt, und auch die Vorzeichen stimmen nun. Bei dem Vorgang nimmt die chemische Energie des Körpers ab. Entsprechend ist die verrichtete Arbeit auf der rechten Seite negativ. Es fließt Energie aus dem System ab (ins Gravitationsfeld). Systemgrenzen schließen das Gravitationsfeld ein Wenn wir entscheiden, dass die Systemgrenzen das Gravitationsfeld umfassen sollen (Abb. 7.18 (b)), dann ist die Gravitation eine innere Kraft. Sie ver-
194
Kapitel 7 Fundamentale Konzepte: Energieerhaltung
richtet daher keine Arbeit. Weil das Gravitationsfeld nun zum System gehört, müssen wir seine Energie auf der linken Seite des Energiesatzes berücksichtigen. Der Energiesatz lautet: ∆Echem + ∆EFeld = 0.
(7.45)
Wir greifen auf ein Ergebnis des folgenden Abschnitts voraus (Gl. (7.55)) und setzen den dort hergeleiteten Ausdruck für die Änderung der Feldenergie ein: ∆EFeld = m · g · ∆z. Es ergibt sich: ∆Echem + m · g · ∆z = 0.
(7.46)
Die Gleichung lässt sich sinnvoll interpretieren: Die chemische Energie im Körper des Mädchens verringert sich (∆Echem < 0). Dafür steigt die Energie des Gravitationsfeldes um den gleichen Betrag an (m · g · ∆z > 0). Es fließt keine Energie über die Systemgrenzen; Arbeit wird nicht verrichtet. Alle Energieumwandlungen finden innerhalb des Systems statt. In der Praxis wird bei der Wahl der Systemgrenzen fast ausschließlich diese zweite Variante genutzt, auch wenn man meist nicht darüber nachdenkt. Normalerweise lässt man aus gedanklicher Sparsamkeit das Gravitationsfeld völlig unter den Tisch fallen und spricht stattdessen von potentieller Energie, die man in Gedanken dem betrachteten Körper zuschreibt. Dabei muss man allerdings daran denken, die Gravitation als innere Kraft zu behandeln – die letzte Erinnerungsspur, die das ansonsten vergessene Gravitationsfeld hinterlässt. Merken kann man sich: Entweder verrichten Gravitationkräfte Arbeit oder man benutzt die potentielle Energie. Beides zusammen geht nicht. Beispielaufgabe: Wenden Sie den Energiesatz auf den Diebstahl von Witwe Boltes Hähnchen an. Nehmen Sie an, dass das Diebesgut mit konstanter Geschwindigkeit um die Strecke l nach oben gezogen wird. Zeigen Sie, zu welchen Aussagen die beiden Möglichkeiten zur Wahl der Systemgrenzen führen. Lösung: a) Schließt man das Gravitationsfeld aus den Systemgrenzen aus, gibt es zwei äußere Kräfte, die über die Systemgrenzen hinweg wirken: Die Gravitationskraft und die Kraft der Angel. Weil sich das Hähnchen mit konstanter Geschwindigkeit nach oben bewegt, herrscht zu jedem Zeitpunkt Kräftegleichgewicht zwischen Gewichtskraft FG und „Angelkraft“ FA . Die von äußeren Kräften insgesamt verrichtete Arbeit ist also null:
W = ( FA − FG ) · l = 0.
(7.47)
Da die potentielle Energie nicht zu den Energieformen des Systems zählt und die kinetische Energie des Hähnchens während des gesamten Vorgangs konstant bleibt, ist die Änderung der Gesamtenergie ebenfalls null: ∆Eges = 0. Der Energiesatz ist zwar erfüllt, liefert aber eine wenig brauchbare Aussage.
195
Abschnitt 7.8 Feldenergie und potentielle Energie
b) Bezieht man das Gravitationsfeld ins System ein, ist die Angelkraft die einzige äußere Kraft. Sie verrichtet die Arbeit W = FA · l > 0. Der Energiesatz besagt, dass dies gleich der Änderung der potentiellen Energie des Hähnchens ist:
∆Epot = FA · l.
(7.48)
Diese Gleichung lässt sich leicht interpretieren und entspricht unseren Erwartungen.
7.8 Feldenergie und potentielle Energie Die gegenseitige Anziehungskraft zwischen zwei Punktmassen m1 und m2 im Abstand r wird durch das newtonsche Gravitationsgesetz F = −G
m1 · m2 r2
(7.49)
beschrieben (die Konstante G = 6,67 · 10−11 Nm2 /kg2 heißt newtonsche Gravitationskonstante). Die Anziehungskraft wird in der newtonschen Gravita~ (~x ). Es wird tionstheorie durch ein Feld vermittelt, das Gravitationsfeld G ~ (~x ). Für ei~ durch die Kraft auf eine Testmasse m1 definiert: F (~x ) = m1 · G ne Punktmasse m2 lesen Sie aus Gl. (7.49) das Analogon zum elektrischen Coulomb-Feld einer Punktladung ab: G (r ) = − G
m2 . r2
(7.50)
FA
FG
Abb. 7.19: Beim Diebstahl wirksame Kräfte
196
Kapitel 7 Fundamentale Konzepte: Energieerhaltung
Abb. 7.20: WechselwirkungsEnergiedichte zweier Punktmassen (durch orange Kreise symbolisiert). Blaue Regionen entsprechen einem positiven Wert der Energiedichte, gelbe einem negativen, grün dem Wert null. Die Energiedichte ist rotationssymmetrisch um die Verbindungslinie zwischen den beiden Massen. Vergleichen Sie die Gestalt, die der Tropfen der magnetischen Flüssigkeit in Abb. 7.17 angenommen hat, mit dem Verlauf der Linien gleicher Energie.
Dem Gravitationsfeld ist eine Energieform, die Feldenergie, zugeordnet. Das Feld kann Energie von anderen Körpern aufnehmen, es kann Energie speichern und wieder abgeben. Die Feldenergie ist eine Energieform wie die kinetische Energie, die chemische Energie oder die Spannenergie und muss im Energiesatz berücksichtigt werden. In der Feldtheorie der newtonschen Gravitation kann man die Energiedichte E des Gravitationsfeldes (d. h. die Energie pro Volumeneinheit) berechnen. Betrachten wir wieder das Beispiel zweier Punktmassen m1 und m2 im Abstand r. Die Gleichung für die Energiedichte EFeld weist die folgende mathematische Struktur auf (die Details finden Sie z. B. in Jackson 2006, Abschnitt 1.11, wo das analoge Problem für das elektrische Feld behandelt wird): Masse 1 Masse 2 WW EFeld = EFeld + EFeld + EFeld .
(7.51)
Masse 1 die Energiedichte des Gravitationsfeldes von Masse 1 allein Dabei ist EFeld Masse WW ist durch die gleichund EFeld 2 diejenige von Masse 2 allein. Der Anteil EFeld zeitige Anwesenheit der beiden Massen bedingt. Dieser letzte Anteil, dessen räumliche Verteilung Abb. 7.20 zeigt, ist für uns relevant. Er spiegelt die Energieänderungen im Feld wider, die mit der Wechselwirkung der beiden Körper einhergehen. Befinden sich die beiden Punktmassen in sehr großer Entfernung voneinWW ≈ 0. Beim Annähern der beiden Massen verringert sich ander, so ist EFeld die Feldenergie aufgrund der Wechselwirkung. Die im Feld (wie in einer gespannten Feder) gespeicherte Energie wird durch das Zusammenführen der Massen abgerufen; entsprechend geringer wird die im Feld gespeicherte Energie. Quantitativ kann man das zeigen, wenn man von der Energiedichte zur
197
Abschnitt 7.8 Feldenergie und potentielle Energie
Abb. 7.21: Zur Herleitung der potentiellen Energie in der Nähe der Erdoberfläche
WW über den ganzen Raum integriert. Dabei ergibt Energie übergeht und EFeld sich ein Ausdruck, den Sie vielleicht kennen: WW EFeld =
Z
WW dV EFeld = −G
m1 · m2 . r
(7.52)
WW hängt außer vom Betrag der beiden Massen Die so berechnete Energie EFeld nur noch vom Abstand zwischen den beiden Körpern ab. Die potentielle Energie ist gerade dieser Wechselwirkungsanteil der Feldenergie. Oft wird der Ausdruck (7.52) kurz als Feldenergie bezeichnet, und man wundert sich, dass ein Feld eine negative Energie haben kann. Die tatsächliche Gesamtenergie des Feldes (7.51) ist jedoch immer positiv. Das negative Vorzeichen der Wechselwirkungsenergie entspricht lediglich der Änderung der Feldenergie beim Zusammenführen der beiden Massen aus sehr großer Entfernung. Um zu zeigen, dass Gl. (7.52) auch den wohlbekannten Ausdruck Epot = m · g · h beinhaltet, den wir bisher für alle Bewegungen benutzt haben, die sich in der Nähe der Erdoberfläche abspielen, nehmen wir an, dass die Höhe h, um die es dabei geht, sehr viel kleiner als der Erdradius R ≈ 6370 km ist: h R. Mit Hilfe der für e 1 gültigen Näherungsformel
1 ≈ 1−e 1+e
(7.53)
kann man Gl. (7.52) für r = R + h in der Nähe der Erdoberfläche annähern: WW EFeld ( R + h) = − G
≈ −G
m1 · m2 m1 · m2 = −G R+h R(1 + h/R) m1 · m2 G · m2 + m1 · · h. 2 R | R {z } =g
(7.54)
198
Kapitel 7 Fundamentale Konzepte: Energieerhaltung
Die Konstante g im letzten Term auf der rechten Seite hängt nur von Radius und Masse der Erde ab. Setzt man die entsprechenden Werte ein (Erdmasse m2 = 5,97 · 1024 kg), ergibt sich für g der vertraute Wert von 9,81 m/s2 , den wir hierdurch auf fundamentalere Konstanten zurückgeführt haben. Mit Gl. (7.54) lässt sich die potentielle Energie in der Nähe der Erdoberfläche als die Änderung der Feldenergie beim Anheben eines Gegenstands definieren: WW WW Epot = EFeld ( R + h) − EFeld ( R) = m1 · g · h. (7.55) Diese Gleichung rechtfertigt die Interpretation der potentiellen Energie als Feldenergie des Gravitationsfeldes.
7.9 Leistung Die Leistung ist eine wichtige physikalische Größe, die eng mit der Energie verbunden ist. Gemessen an den Schwierigkeiten, die uns der Begriff der Arbeit gemacht hat, ist die Leistung eine sehr unproblematische Größe. Sie ist definiert als Energieumsatz pro Zeit, d. h. als Energieänderungsrate. Man bezeichnet sie mit dem Formelsymbol P. Leistung =
Energieumsatz , Zeit
P=
∆E . ∆t
(7.56)
Welche Energieform Sie dabei betrachten, bleibt Ihnen überlassen. Es spielt keine Rolle, ob Sie eine Energieumwandlung zwischen verschiedenen Energieformen in einem abgeschlossenen System betrachten oder den Energiefluss über Systemgrenzen hinweg. Mit der Leistung können Sie beides erfassen. Die Einheit der Leistung ist das Watt (abgekürzt: W). Aus Gl. (7.56) kann man die Beziehung 1 W = 1 J/s ablesen. Autobesitzer geben die Leistung ihres Wagens gern in PS an: 1 PS = 0,735 kW. Mit der Leistung beschreibt man die Schnelligkeit, mit der Energie umgesetzt wird. Wenn Sie eine Treppe in der halben Zeit hinaufsteigen wie Ihr Nachbar, dann ist zwar die Änderung der potentiellen Energie für Sie beide die gleiche, Ihre Leistung ist aber doppelt so groß, denn Sie haben sich den Energiebetrag in der halben Zeit abgerungen. Beispielaufgabe: Jemand sagt Ihnen die Motorleistung seines Autos. Schätzen Sie aus dieser Angabe die Höchstgeschwindigkeit ab. Lösung: Auf ein fahrendes Auto wirken verschiedene abbremsende Kräfte, z. B. die Luftwiderstandskraft FL oder die Rollwiderstandskraft FRoll (Abb. 7.22). Damit das Auto mit konstanter Geschwindigkeit fährt, muss eine Antriebskraft wirken, deren Betrag so groß ist, dass die abbremsenden Kräfte gerade kompensiert werden. Dazu ist eine gewisse Leistung, die Motorleistung erforderlich. Die maximale Motorleistung eines Autos wird im Kfz-Schein angegeben.
199
Abschnitt 7.9 Leistung
Abb. 7.22: Die Motorleistung dient hauptsächlich zum Überwinden des Luftwiderstands.
Bei konstanter Geschwindigkeit ist der Zusammenhang zwischen äußerer Kraft F (entgegen der Fahrtrichtung), Arbeit W und Leistung P gegeben durch
P=
−F · l W = = − F · v. ∆t ∆t
(7.57)
Im vorliegenden Fall ist die Luftwiderstandskraft
FL =
1 2 cW
· ρ · A · v2
(7.58)
entscheidend. Die Antriebskraft, die die Straße auf das Auto ausübt, ist eine „zerowork force“, die zur Arbeit keinen Beitrag leistet. Die dritte äußere Kraft, die Rollwiderstandskraft, ist bei einer Geschwindigkeit von 150 km/h etwa fünfmal kleiner als die Luftwiderstandskraft und kann daher näherungsweise vernachlässigt werden. Einsetzen von Gl. (7.58) in Gl. (7.57) ergibt:
P = − 12 cW · ρ · A · v3 .
(7.59)
Wenn P die maximale Motorleistung ist, können wir aus dieser Formel die Geschwindigkeit v bei dieser Leistung, also die Höchstgeschwindigkeit des Autos, ermitteln:
v=
300
s 3
2P . cW · ρ · A
(7.60)
v / (km/h)
250 200 150 100 50
50
100
150
200
250
300
P / kW
Abb. 7.23: Motorleistung und Höchstgeschwindigkeit: Vergleich zwischen Vorhersage und wirklichen Daten
200
Kapitel 7 Fundamentale Konzepte: Energieerhaltung
Man kann die Zahlenwerte für die Frontfläche A und für den cW -Wert individuell für jeden Autotyp einsetzen. Wir gehen das Problem etwas pauschaler an und legen für alle „normalen“ Autos die Schätzwerte A = 2,5 m2 und cW = 0,35 sowie die Luftdichte ρ = 1,3 kg/m3 zugrunde. Wenn Ihnen also jemand die PS-Zahl seines Autos sagt, können Sie ihm die Höchstgeschwindigkeit nennen (sofern es sich um ein Auto handelt, für das die Angaben für Frontfläche und cW -Wert einigermaßen zutreffen). Vergleichen wir unser Ergebnis mit der Wirklichkeit. Die durchgezogene Kurve in Abb. 7.23 zeigt die Vorhersage von Gl. (7.60). Die Datenpunkte geben die Herstellerangaben für Motorleistung und Höchstgeschwindigkeit verschiedener Autotypen wieder. Das Spektrum der erfassten Autotypen erstreckt sich über einen sehr weiten Leistungsbereich. Die Punkte ganz links entsprechen dem Fiat 126, der „Ente“ Citroën 2 CV und dem Renault 4 (Autos mit einer so geringen Leistung werden heute nicht mehr hergestellt). Am anderen Ende der Kurve liegen Jaguar XJS, Ferrari Testarossa und Lamborghini Countach. Die Übereinstimmung zwischen Vorhersage und realen Daten ist verblüffend gut, insbesondere wenn man die recht pauschale Abschätzung von A und cW berücksichtigt. Physikalisch bemerkenswert ist auch, dass die Masse des Autos in Gl. (7.60) nicht auftritt. Die Masse eines Autos hat keinen Einfluss auf seine Höchstgeschwindigkeit. Sie macht sich nur beim Beschleunigen bemerkbar.
8 Impulserhaltung
Bruce Willis rettet die Welt
202
Kapitel 8 Impulserhaltung – Bruce Willis rettet die Welt
8.1 Kann man einen Asteroiden sprengen? 8.1.1 Gefahr aus dem All
Vor 65 Millionen Jahren erschütterte ein Ereignis die Erde, das große Folgen für den Verlauf der Naturgeschichte haben sollte: Auf der Halbinsel Yucatan im heutigen Mexiko schlug ein 10–15 km großer Meteorit ein. Riesige Mengen an Staub und Gasen wurden durch den Einschlag in die Atmosphäre geschleudert. Sehr wahrscheinlich war das katastrophale Ereignis der Auslöser für eines der größten Massenaussterben in der Erdgeschichte – auch die Dinosaurier fielen ihm zum Opfer. Das gleiche Schicksal, nur in weitaus größerem Umfang, droht der Erde im Film „Armageddon“ (1998) erneut. Astronomen entdecken einen riesigen Asteroiden („so groß wie Texas“), der genau auf die Erde zu rast. Es bleiben 18 Tage, dann wird er auf der Erde einschlagen und alles Leben auslöschen. Die NASA entwickelt einen Plan, wie die Welt vielleicht doch noch zu retten ist: Mit einer nuklearen Explosion soll der Asteroid in zwei Stücke gesprengt werden. Durch die Wucht der Explosion sollen die beiden Fragmente so weit auseinander getrieben werden, dass sie links und rechts an der Erde vorbeifliegen (Abb. 8.1). Da die Geschichte doch stark an Dramatik verlöre, wenn man einfach nur eine Rakete mit einer großen Wasserstoffbombe zu dem Asteroiden schicken würde, muss eine Mannschaft mitfliegen. Held der Mission ist ein – nein, kein Astronaut oder Pilot, sondern ein Erdölbohrer (gespielt von Bruce Willis), der auf die Schnelle zum Astronauten ausgebildet wird. Er soll ein Loch in den Asteroiden bohren, um die Bombe darin zu versenken und dann zu zünden. Der NASA ist klar: Je später die Explosion stattfindet, umso weniger Zeit bleibt für das Auseinanderdriften der Asteroidenfragmente. Wenn die Explo-
Abschnitt 8.1 Kann man einen Asteroiden sprengen?
203
Abb. 8.1: Ablauf der Ereignisse nach dem Plan der NASA
sion zu spät (zu weit rechts in Abb. 8.1) stattfindet, verlaufen die Bahnen der beiden Fragmente nicht mehr an der Erde vorbei. Der letztmögliche Zeitpunkt für die Sprengung wird im Film als „zero barrier“ bezeichnet und mit 3 Stunden und 37 Minuten vor dem Aufprall angegeben. Wie es in einem Hollywood-Film sein muss, verhindern verschiedene Pannen und Unglücksfälle die rechtzeitige Zündung der Bombe bis fast zur letzten Sekunde – und dann gelingt sie doch, weil der Held sein Leben opfert, um die Erde zu retten. Efthimiou und Llewellyn (2003) haben gezeigt, dass der Film nicht nur spannend ist, sondern auch ein lohnendes Objekt für eine physikalische Analyse. Mit elementaren physikalischen Überlegungen lässt sich überprüfen, ob die Rettung der Erde in Wirklichkeit hätte gelingen können. Bevor wir das physikalische Rüstzeug dafür bereitstellen, müssen wir klären, was ein Asteroid eigentlich ist. 8.1.2 Asteroiden
Bei der Entstehung des Sonnensystems konnte sich im Bereich zwischen der Mars- und der Jupiterbahn kein Planet bilden, weil jede Materieansammlung bald durch die Gezeitenkräfte von Jupiter wieder zerrissen wurde. Daher bewegen sich dort, im sogenannten Asteroidengürtel, Millionen von kleinen Objekten, die Asteroiden, auf Umlaufbahnen um die Sonne (Abb. 8.2). Asteroiden umkreisen die Sonne auch auf anderen Bahnen, aber der Löwenanteil von ihnen befindet sich im Asteroidengürtel. Um die Frage beantworten zu können, was beim Auseinandersprengen eines Asteroiden geschieht, sollten wir eine Vorstellung von seiner Beschaffenheit entwickeln. Spektroskopische Untersuchungen zeigen, dass es verschiedene Arten gibt, die aus Gestein, Kohlenstoff oder Metallen (hauptsächlich Eisen) bestehen. Im Film wird angenommen, dass der Asteroid eine feste Struktur besitzt. Die Darsteller können auf ihm laufen (was in Wirklichkeit schon allein deshalb nicht geht, weil sein Gravitationsfeld zu schwach ist) und beim Sprengen zerbirst er in zwei Fragmente.
204
Kapitel 8 Impulserhaltung – Bruce Willis rettet die Welt
Abb. 8.2: Der Asteroid Ida (größter Durchmesser ca. 60 km) besitzt sogar einen gravitativ gebundenen Begleiter, den kleinen Mond Dactyl.
In den späten 1990er Jahren (also nach Fertigstellung des Drehbuchs für den Film) haben neue Erkenntnisse unser Bild von den Asteroiden noch einmal geändert. Durch nahe Vorbeiflüge verschiedener Raumsonden gelang es nämlich, die Masse von drei Asteroiden zu bestimmen. Von der Erde aus ist das nicht ohne Weiteres möglich; man kann die Masse eines Himmelskörpers nur durch seine Gravitationswirkung auf andere Objekte bestimmen. Dabei wurde eine überraschend geringe Dichte der Asteroiden festgestellt. Eine neue Modellvorstellung wurde entwickelt, das „Schutthaufen-Modell“. Man glaubt heute, dass viele Asteroiden aus einzelnen Gesteinsfragmenten bestehen, die nur lose durch ihre gegenseitige Gravitationsanziehung aneinander gebunden sind und zwischen denen sich zahlreiche Hohlräume befinden. Schließlich noch eine letzte Frage: Was sind Meteoriten und wie unterscheiden sie sich von Asteroiden? Die Antwort ist einfach: Es muss gar keinen Unterschied geben. Als Meteoriten bezeichnet man lediglich alle Objekte, die aus dem Weltraum auf die Erde fallen und die Erdoberfläche auch erreichen (die also nicht vollständig in der Atmosphäre verglühen). Die meisten Meteoriten sind Asteroidenbruchstücke, die z. B. bei einer Kollision aus ihrer ursprünglichen Bahn geschleudert wurden. 8.1.3 Ein Modell definieren
Die Explosion einer nuklearen Bombe, das Auseinanderbrechen des Asteroiden in unzählige Fragmente und das Verfolgen der Bahnen dieser Fragmente – es scheint unmöglich, diesen Prozess in seinen Einzelheiten zu verfolgen. Und das ist es auch. Wie Sie sehen werden, lässt sich mit physikalischen Mitteln trotzdem beurteilen, ob die Mission gelingen kann. Der Schlüssel dazu wurde schon in Kapitel 6 angesprochen: Wir müssen ein Modell definieren, das den betrachteten Vorgang so einfach wie möglich beschreibt und dabei immer noch eine angemessene Darstellung der physikalischen Abläufe liefert. Im vorliegenden Fall haben wir es besonders leicht. Wir möchten die prinzipielle Durchführbarkeit des Vorhabens überprüfen. Dazu werden wir mög-
Abschnitt 8.2 Der Impulserhaltungssatz
205
Abb. 8.3: Systemgrenzen bei der Anwendung des Impulssatzes
lichst optimistische Modellannahmen treffen. Alle Unwägbarkeiten, z. B. die Materialeigenschaften des Asteroiden, werden zur günstigen Seite hin abgeschätzt. So werden wir etwa annehmen, dass für das Aufbrechen des Asteroiden in Fragmente keinerlei Energie benötigt wird. Stellt sich am Ende der Rechnung heraus, dass das Vorhaben selbst unter den optimistischsten Annahmen den elementaren Gesetzen der Physik widerspricht – dann kann man getrost davon ablassen und nach einer besseren Idee suchen. Das Scheitern des Unternehmens ist dann keine Frage der Technik, sondern durch die Gesetze der Physik vorherbestimmt. Auch mit den besten technischen Maßnahmen kann man sie nicht umgehen. Wenn sich umgekehrt ergibt, dass das optimistische Modell funktionieren könnte, muss man genauer hinsehen und das Modell verfeinern. Jetzt schlägt auch die Stunde der technischen Entwicklungen, die man konstruieren kann, um das Gelingen des Plans zu ermöglichen.
8.2 Der Impulserhaltungssatz 8.2.1 Stoßprozesse
Abb. 8.3 stellt noch einmal das Geschehen bei der Sprengung des Asteroiden dar. Es wird Ihnen zwar merkwürdig vorkommen, aber in der Sprache der Physik handelt es sich um einen Stoßprozess. Trotz des suggestiven Namens müssen bei einem Stoßprozess nicht unbedingt Körper aufeinanderprallen (auch wenn das meistens der Fall ist). Ein Stoßprozess ist physikalisch durch folgende Merkmale gekennzeichnet: Anfangszustand: Eine Anzahl von Gegenständen bewegt sich – ohne gegenseitig oder mit anderen Körpern zu wechselwirken – in die betrachtete Region hinein (die in Abb. 8.3 durch eine gestrichelte Linie abgegrenzt ist). Wechselwirkung: Hier geschehen komplizierte Dinge. Endzustand: Aus der Wechselwirkungsregion kommt eine Anzahl von Körpern heraus (nicht notwendigerweise die gleichen, die hineingegangen sind). Auch sie wechselwirken nicht miteinander, d. h. sie bewegen sich geradlinig-gleichförmig.
206
Kapitel 8 Impulserhaltung – Bruce Willis rettet die Welt
Bei unserer Rettungsaktion besteht der Anfangszustand aus dem herannahenden Asteroiden und der Endzustand aus den Fragmenten, die bei der Explosion entstehen. Die komplizierten Dinge in der Wechselwirkungsregion werden durch die Handlung des Films in seiner spannendsten Phase beschrieben. Entscheidend ist die Explosion der Bombe. 8.2.2 Der Impuls
Für die Behandlung von Stoßprozessen gibt es in der Physik ein einfaches Rezept: Benutze die Erhaltungssätze von Energie und Impuls, zwei der fundamentalen Gesetze der Physik. Den Energieerhaltungssatz kennen Sie bereits, den Impulserhaltungssatz sollen Sie nun kennenlernen. Der Impuls ~p eines Körpers ist sehr einfach definiert. Der Impuls eines Körpers mit der Geschwindigkeit ~v ist:
~p = m · ~v.
(8.1)
Der Impuls ist demnach ein Vektor, also eine gerichtete Größe. Er ist proportional zur Geschwindigkeit des Körpers und zu seiner Masse. Oftmals wird der Impuls als eine unanschauliche Größe empfunden; vor allem die Abgrenzung zur kinetischen Energie fällt schwer. Die Alltagsbegriffe „Schwung“ oder „Wucht“ beschreiben mehr den Impuls als die kinetische Energie, denn mit beiden Begriffen würde man eher ein lineares Anwachsen mit der Geschwindigkeit assoziieren als ein quadratisches. Der gerichtete Charakter des Impulses ist allerdings in beiden nicht enthalten. Der Unterschied zwischen Impuls und kinetischer Energie wird für einen einzelnen Körper noch nicht besonders deutlich. Die eine Größe wird hier durch die andere bestimmt. Erst wenn man Systeme aus mindestens zwei Körpern betrachtet, wird erkennbar, dass die beiden Größen etwas Verschiedenes beschreiben: Zwei Teilchen gleicher Masse, die aufeinander zufliegen, besitzen den Gesamtimpuls null: ~pges = m · ~v + m · (−~v) = 0, doch die Summe ihrer kinetischen Energien ist von null verschieden. 8.2.3 Impulserhaltung für abgeschlossene Systeme
Formulierung des Impulserhaltungssatzes Der Impulserhaltungssatz lässt sich ganz ähnlich wie der Energieerhaltungssatz formulieren und anwenden. Hier wie dort muss man zuerst den Prozess identifizieren, also das betrachtete System gedanklich von seiner Umgebung abgrenzen sowie einen Zeitraum festlegen, über den man das Geschehen verfolgen will. Weiterhin muss man herausfinden, ob es sich um ein abgeschlossenes oder um ein offenes System handelt, ob also Kräfte über die Systemgrenzen hinweg wirken oder ob nur innere Kräfte am Werk sind.
207
Abschnitt 8.2 Der Impulserhaltungssatz
Drittens muss man für den Anfangszeitpunkt t1 und den Endzeitpunkt t2 des betrachteten Prozesses den Gesamtimpuls des Systems berechnen. Das ist einfacher als bei der Energie, denn man muss keine verschiedenen „Impulsformen“ betrachten. Es ist z. B. nicht üblich, analog zur potentiellen Energie einen „potentiellen Impuls“ zu definieren, der im Gravitationsfeld oder anderen äußeren Feldern gespeichert ist. So bleibt nur das Analogon zur kinetischen Energie, nämlich die oben definierte, einfach als „Impuls“ bezeichnete Größe m ·~v. Der Gesamtimpuls wird berechnet, indem die Impulse aller Körper im System (vektoriell) addiert werden. Wenn das System n Körper enthält, müssen n Impulsvektoren addiert werden. Jedem System wird zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Gesamtimpuls ~pges zugewiesen:
~pges = ~p1 + ~p2 + · · · + ~pn .
(8.2)
Der Impulserhaltungssatz für abgeschlossene Systeme lässt sich ganz analog zum Energieerhaltungssatz formulieren: Impulserhaltungssatz für abgeschlossene Systeme:
~pges (t1 ) = ~pges (t2 ).
(8.3)
Wie auch immer man die Systemgrenzen, den Anfangs- und den Endzeitpunkt wählt – im abgeschlossenen System ist der Gesamtimpuls konstant. Impulserhaltung und drittes newtonsches Gesetz Ebenso wie den Energieerhaltungssatz kann man auch den Impulserhaltungssatz „beweisen“, wenn man die Gültigkeit der newtonschen Bewegungsgesetze voraussetzt. Bemerkenswert ist dabei die zentrale Rolle, die das dritte newtonsche Gesetz spielt („Kraft = Gegenkraft“). Wir betrachten einen einfachen Fall (Abb. 8.4): ein System aus drei Körpern, die nur untereinander wechselwirken. Da keine äußeren Kräfte über die Systemgrenzen hinweg wirken, sind alle Kräfte innere Kräfte. Wir müssen nichts Näheres über die Art dieser Kräfte wissen. Mit der Notation aus Kapitel 5 bezeichnet ~F1→2 die von Körper 1 auf Körper 2 ausgeübte Kraft. Die newtonschen Bewegungsgleichungen für die drei Körper lauten: d m ~r˙ = ~F2→1 + ~F3→1 , dt 1 1
d m2~r˙ 2 = ~F1→2 + ~F3→2 , dt
d m3~r˙ 3 = ~F1→3 + ~F2→3 . dt
(8.4) (8.5)
208
Kapitel 8 Impulserhaltung – Bruce Willis rettet die Welt
Abb. 8.4: Innere Kräfte in einem System aus drei Körpern
Addiert man diese drei Formeln, erhält man eine Gleichung für die zeitliche Änderung des Gesamtimpulses: d d ~pges = m1~r˙ 1 + m2~r˙ 2 + m3~r˙ 3 dt dt H +H +H +H ~F2→ ~F3→ ~F1→ ~F3H ~F1→ ~F2H = H H →H 2 →H 3 1 1 + 2 3 + H H
= 0.
(8.6)
Die Terme auf der rechten Seite der Gleichung heben sich paarweise auf. Der Grund dafür ist das dritte newtonsche Gesetz ~Fi→ j = −~Fj→i . Deshalb gilt die hier für drei Körper hergeleitete Aussage auch für beliebig viele Körper, denn nach dem dritten newtonschen Gesetz treten innere Kräfte immer paarweise auf. Für ein abgeschlossenes System aus n Körpern lautet der Impulserhaltungssatz in Verallgemeinerung von Gl. (8.6) daher: ! n d d ˙ ~pges = 0, mk~r k = 0 bzw. (8.7) ∑ dt k=1 dt woraus die Formulierung (8.3) unmittelbar folgt. Schwerpunkterhaltung Der Impulserhaltungssatz ist eng mit einem anderen Gesetz verknüpft, das als Schwerpunkterhaltungssatz bezeichnet wird. Der aus dem Alltag vertraute Begriff des Schwerpunkts (oder Massenmittelpunkts) ist physikalisch wie folgt definiert: 1 n ~rS = mk~rk . (8.8) M k∑ =1 Die Summe erstreckt sich dabei über alle Körper innerhalb der Systemgrenzen, und M = ∑ mk ist die im System vereinte Gesamtmasse. Man kann Gl. (8.8) interpretieren als den mit den Einzelmassen mk gewichteten Ortsmittelwert der Systembestandteile. Wenn man die Definition des Schwerpunkts mit dem Impulserhaltungssatz vergleicht (Gl. (8.7)), erkennt man unmittelbar, dass man diesen auch als ei-
209
Abschnitt 8.2 Der Impulserhaltungssatz
Bahnen der Fragmente
Bahn des Schwerpunkts
Abb. 8.5: Nach dem Impulssatz für abgeschlossene Systeme ändert sich die Bahn des Schwerpunkts durch die Explosion nicht. Eine Änderung der Schwerpunktsbewegung allein durch innere Kräfte (Bild rechts) ist durch den Impulssatz ausgeschlossen.
durch den Impulssatz ausgeschlossen
ne Aussage über die Schwerpunktsgeschwindigkeit des Systems formulieren kann. Durch Einsetzen erhält man nämlich die Gleichung d ˙ ~r = 0. dt S
(8.9)
Mit anderen Worten: Die Geschwindigkeit des Schwerpunkts ~rS bleibt konstant. Er bewegt sich geradlinig-gleichförmig. Man kann den Schwerpunkterhaltungssatz somit als Verallgemeinerung des Trägheitsgesetzes auf ein System wechselwirkender Körper auffassen (und in dieser Eigenschaft haben wir ihn schon einige Male stillschweigend benutzt). Schwerpunkterhaltung: Der Schwerpunkt eines abgeschlossenen Systems aus beliebig miteinander wechselwirkenden Körpern bewegt sich geradliniggleichförmig. Seine Geschwindigkeit und seine Richtung ändern sich nicht, unabhängig davon, welche Vorgänge im Innern des Systems ablaufen. Die Bezeichnung „Schwerpunkterhaltung“ ist streng genommen nicht ganz richtig, denn es bleibt ja nicht die Lage des Schwerpunkts erhalten, sondern nur seine Geschwindigkeit. Da aber kaum die Gefahr von Missverständnissen besteht, soll die Bezeichnung hier beibehalten werden. Schwerpunkterhaltung bei der Sprengung des Asteroiden Die Schwerpunkterhaltung hat unmittelbare Auswirkungen auf unser Problem mit dem heranrasenden Asteroiden. Da die Bombe in einem Loch in-
210
Kapitel 8 Impulserhaltung – Bruce Willis rettet die Welt
nerhalb des Asteroiden explodieren soll, kann sie gewiss nur innere Kräfte auf ihn ausüben. Die Bahn des Schwerpunkts kann sie deshalb nicht ändern. Der Schwerpunkt des Asteroiden bewegt sich nach wie vor geradewegs auf die Erde zu (Abb. 8.5 oben). Alles was die Bombe tun kann, ist den Schwerpunkt „von Materie frei zu räumen“, d. h. den Asteroiden aufzuspalten und die Fragmente so weit auseinanderzutreiben, dass sie links und rechts an der Erde vorbeifliegen. Die Bahn des Asteroidenschwerpunkts abzulenken (wie in Abb. 8.5 unten) ist für innere Kräfte durch die Impulserhaltung ausgeschlossen. Etwas Derartiges kann nur mit äußeren Kräften gelingen. Ein Raumschiff müsste dazu in die Nähe des Asteroiden fliegen und eine Kraft senkrecht zur Bewegungsrichtung auf ihn ausüben. Bevor Sie diese Alternative allzu euphorisch ins Auge fassen, sollten Sie sich allerdings ins Gedächtnis rufen, dass auch in dieser Situation „Kraft = Gegenkraft“ gilt. Welche Auswirkungen hätten die zwangsläufig auftretenden Rückstoßkräfte wohl auf das Raumschiff?
8.3 Impulssatz für offene Systeme Wenn neben den inneren auch noch äußere Kräfte auf die Körper im System einwirken, wird die Formulierung des Impulssatzes ein wenig komplizierter. Wir betrachten der Einfachheit halber wieder ein System aus drei Körpern. Neben den inneren Kräften treten in den newtonschen Bewegungsgleichungen nun noch die äußeren Kräfte ~Fiext hinzu (Notation: ~F1ext = Summe aller von außerhalb des Systems auf den Körper 1 einwirkenden Kräfte): m1 ~r¨1 = ~F2→1 + ~F3→1 + ~F1ext , m2 ~r¨2 =
~F1→2 + ~F3→2 + ~F2ext ,
m3 ~r¨3 = ~F1→3 + ~F2→3 + ~F3ext .
(8.10) (8.11) (8.12)
Beim Addieren der drei Gleichungen passiert das Gleiche wie vorher: Die inneren Kräfte heben sich gegenseitig auf. Die äußeren Kräfte bleiben übrig. m1~r¨1 + m2~r¨2 + m3~r¨3 = 0 + ~F1ext + ~F2ext + ~F3ext .
(8.13)
Die Null auf der rechten Seite steht für die Summe der inneren Kräfte. Bei den restlichen Termen auf der rechten Seite handelt es sich um die Summe aller äußeren Kräfte, die auf das System einwirken. Wir haben diese Größe in Kapitel 5 als Gesamtkraft bezeichnet. Wenn wir auf der linken Seite der Gleichung noch die Definition des Schwerpunkts verwenden, erhalten wir den einfachen Ausdruck: ext . (8.14) M ~r¨S = ~Fges Er hat die Gestalt der newtonschen Bewegungsgleichung, gilt aber für ein System aus untereinander wechselwirkenden Körpern. Mit dieser Gleichung liefert uns der Impulssatz für offene Systeme eine Erkenntnis, die wir schon in
Abschnitt 8.4 Der Asteroid wird gesprengt: Anwendung der Erhaltungssätze
211
Kapitel 5 benutzt haben (dort aber nicht begründen konnten). Wir schreiben den dort formulierten Merksatz zur Illustration von Gl. (8.14) noch einmal auf: In der newtonschen Bewegungsgleichung für ein ausgedehntes System sind nur äußere Kräfte zu berücksichtigen. Die Gleichung beschreibt dann die Bewegung des Schwerpunkts des ausgedehnten Systems.
8.4 Der Asteroid wird gesprengt: Anwendung der Erhaltungssätze 8.4.1 Modellannahmen
Nachdem wir alle Zutaten für eine Modellrechnung zur Asteroidensprengung beisammen haben, können wir mit der physikalischen Analyse beginnen. Hat Bruce Willis’ Unternehmen Aussicht auf Erfolg oder kann er die Raumfähre gleich in der Garage stehen lassen? Wie schon erwähnt, sollen bei der Rechnung die jeweils optimistischsten Annahmen zugrunde gelegt werden, die mit den Gesetzen der Physik verträglich sind. Das betrachtete System ist durch die gestrichelte Linie in Abb. 8.6 abgegrenzt. Es handelt sich um einen Stoßprozess. Der Anfangszustand besteht aus dem Asteroiden und der Bombe; der Endzustand aus den Fragmenten, die bei der Explosion entstehen. Das betrachtete System ist abgeschlossen, denn es wirken keine Kräfte über die Systemgrenzen hinweg. Wir können somit den Energie- und den Impulserhaltungssatz für abgeschlossene Systeme anwenden: ~pges (t1 ) = ~pges (t2 ). Eges (t1 ) = Eges (t2 ); (8.15) Zum Anfangszeitpunkt t1 hat der Asteroid samt Bombe gerade die Systemgrenzen überquert; zum Endzeitpunkt t2 verlassen die Fragmente die betrachtete Region. Die gegenseitige Gravitationsanziehung der Fragmente beein-
y
®
w1 ®
u
x ®
w2 Abb. 8.6: Modell der Sprengung
212
Kapitel 8 Impulserhaltung – Bruce Willis rettet die Welt
flusst ihre Bahn so wenig, dass man sie vernachlässigen und die Fragmente als nicht miteinander wechselwirkend ansehen kann. Wie im Film gehen wir davon aus, dass die Bombe den Asteroiden genau in zwei Stücke sprengt (später werden wir aber auch noch den Fall betrachten, dass er in viele kleine Stücke zerfällt). In unserem optimistischen Modell wollen wir annehmen, dass die gesamte Energie der Bombe in kinetische Energie der Fragmente umgewandelt wird. Das bedeutet insbesondere, dass für das Aufbrechen des Asteroiden keine Energie aufgewendet werden muss. In einem realistischeren Modell müsste man die Energie berücksichtigen, die nötig ist, um den Asteroiden in Stücke zu brechen, sowie auch die Energie, die einfach ungenutzt verpufft. Wir nehmen ferner an, dass die beiden Fragmente die gleiche Masse besitzen. Das macht die Rechnung einfacher und entspricht auch wieder – wie Sie durch Nachrechnen überprüfen können – der optimistischsten Annahme in Bezug auf die Ablenkung der Fragmente. Der Asteroid hat also die Masse m, die beiden Fragmente jeweils die Masse m2 . Unser Koordinatensystem wählen wir so, dass die x-Achse gerade mit der Bahn des herannahenden Asteroiden übereinstimmt (Abb. 8.6). Die y-Achse wird so gewählt, dass die Flugbahnen der beiden Fragmente in der x-y-Ebene liegen. Die Geschwindigkeit des Asteroiden bezeichnen wir mit ~u, die Ge~ 1 und w ~ 2. schwindigkeiten der beiden Fragmente mit w 8.4.2 Impulserhaltung
Der Impulserhaltungssatz ist eine vektorielle Aussage. Er enthält also eigentlich drei Erhaltungssätze, einen für jede Vektorkomponente. Ausgeschrieben lauten sie: m m pges,x (t1 ) = pges,x (t2 ) ⇒ m · ux = · w1,x + · w2,x , (8.16) 2 2 m m · w1,y + · w2,y , (8.17) pges,y (t1 ) = pges,y (t2 ) ⇒ 0= 2 2 m m pges,z (t1 ) = pges,z (t2 ) ⇒ 0= · w1,z + · w2,z . (8.18) 2 |{z} 2 |{z} =0
=0
Tiefgestellte Indizes bezeichnen die Vektorkomponenten, d. h. w1,y ist die y~ 1 , der Geschwindigkeit von Fragment 1. Die letzte GleiKomponente von w chung für die z-Komponente des Impulses ist identisch erfüllt, weil wir das ~ 1 und Koordinatensystem so gewählt haben, dass die z-Komponenten von w ~ 2 null sind. Aus der zweiten Gleichung ergibt sich sofort die Aussage w w1,y = −w2,y .
(8.19)
Die y-Komponenten der Fragmentgeschwindigkeiten sind gleich groß und entgegengesetzt gerichtet. Die erste Gleichung verknüpft die bekannte Anfluggeschwindigkeit u x des Asteroiden mit den beiden unbekannten Geschwindigkeitskomponenten w1,x
Abschnitt 8.4 Der Asteroid wird gesprengt: Anwendung der Erhaltungssätze
213
und w2,x . Insgesamt reduziert sich die Zahl der unbekannten Variablen von sechs auf zwei, z. B. w1,x und w1,y . Der Energiesatz liefert nur noch eine weitere Gleichung, so dass das Gleichungssystem unterbestimmt ist: Die Kinematik des Stoßprozesses wird durch Energie- und Impulssatz nicht vollständig festgelegt. Physikalisch ist das durchaus verständlich: Die Richtung des Impulsübertrags auf ein Asteroidenfragment wird von den Erhaltungssätzen nicht bestimmt, sondern hängt von den Details des Detonationsprozesses ab. Der Impulssatz sagt nur, dass das andere Fragment einen gleich großen Schubs in die entgegengesetzte Richtung bekommt. Wir vereinfachen die Situation, indem wir wieder das Optimistischste annehmen: Bei der Explosion sollen die Fragmente nur in y-Richtung auseinandergetrieben werden, nicht auch noch in x-Richtung. Sie können sich leicht klarmachen, dass es für den Ablenkwinkel am günstigsten ist, wenn die Energie der Bombe ausschließlich dazu verwendet wird, die Fragmente senkrecht zur Flugrichtung abzulenken. Der Drehbuchautor hat sich vielleicht etwas Ähnliches gedacht, denn wozu bräuchte man einen Sprengexperten, wenn nicht für eine Präzisionssprengung? Gl. (8.16) reduziert sich mit dieser Annahme einfach auf die Aussage, dass sich die Fragmente in x-Richtung mit der gleichen Geschwindigkeit weiterbewegen, die der Asteroid ursprünglich besaß: w1,x = w2,x = u x .
(8.20)
8.4.3 Energieerhaltung
Um den Energieerhaltungssatz anzuwenden, müssen wir alle Energieformen innerhalb der Systemgrenzen identifizieren und aufaddieren. In unserem Fall sind das: (1) die kinetische Energie Ekin und (2) die nukleare Energie (Kernbindungsenergie) der Bombe. Wie schon erwähnt lassen wir eine mögliche Bindungsenergie EBind des Gesteins unberücksichtigt. Der Energieerhaltungssatz für abgeschlossene Systeme lautet damit: Ekin (t1 ) + Enukl (t1 ) = Ekin (t2 ) + Enukl (t2 ), | {z }
(8.21)
=0
oder ausgeschrieben:
1 m |~ u |2 2
+ Enukl (t1 ) =
1 m w |2 1 2 2 |~
+
1 m w |2 2 2 2 |~
(8.22)
bzw. 2 1 mu x + 2
Enukl (t1 ) =
1m 2 2
2 2 w + w 1,y + 1,x
1m 2 2
2 2 w + w . 2,x 2,y
(8.23)
In der letzten Gleichung wurden schon diejenigen Terme herausgestrichen, die sich aufgrund des Impulssatzes (Gl. (8.20)) aufheben. Es bleibt: 1 m w2 + w2 = Enukl (t1 ), (8.24) 2,y 1,y 2 2
214
Kapitel 8 Impulserhaltung – Bruce Willis rettet die Welt
oder, da w1,y = −w2,y ,
1 mw2 1,y 2
= Enukl (t1 ),
(8.25)
so dass wir die folgende Formel als Endergebnis erhalten: r 2Enukl . (8.26) w1,y = m Mit dieser Gleichung haben wir eine Beziehung zwischen der Energie der nuklearen Explosion und der Geschwindigkeit gefunden, mit der sich die Asteroidenfragmente von der ursprünglichen Bahn entfernen. Damit können wir abschätzen, ob die beiden Fragmente in 3 Stunden und 37 Minuten so weit auseinanderdriften, dass sie links und rechts an der Erde vorbeifliegen. 8.4.4 „Technische Daten“ von Asteroid und Bombe
Um unsere Ausgangsfrage mit Hilfe von Gl. (8.26) zu beantworten, benötigen wir die Masse des Asteroiden und die Energie der Bombe. Im Film wird der Asteroid nur mit den Worten „so groß wie Texas“ beschrieben. Das ist nicht sehr präzise. Stellen wir ihn uns einfach als ein kugelförmiges Objekt mit einem Durchmesser von 1000 km vor. Wenn wir für seine Dichte diejenige von Stein ansetzen (2500 kg/m3 ), errechnet sich seine Masse zu m = 3 · 1020 kg. Für die Energie der Bombe setzen wir die Daten der größten jemals gezündeten thermonuklearen Bombe ein (UdSSR 1961), die eine Sprengkraft von etwa 50 Megatonnen TNT-Äquivalent hatte. Umgerechnet entspricht das einer freigesetzten Energie von 2 · 1017 J. 8.4.5 Wie weit driften die Fragmente auseinander?
Mit Gl. (8.26) können wir die Geschwindigkeit berechnen, mit der die beiden Fragmente zur Seite driften: s 2 · 2 · 1017 J w1,y = = 3,7 cm/s. (8.27) 3 · 1020 kg
Weniger als vier Zentimeter in der Sekunde ist nicht sehr schnell. Wie weit ein Asteroidenfragment mit dieser Geschwindigkeit in 3 Stunden 37 Minuten (ca. 13 000 s) kommt, kann man ausrechnen: s = v · t = 3,7 cm/s · 13 000 s = 480 m.
(8.28)
Mit anderen Worten: Die Bombe nützt gar nichts. Sie lenkt die Fragmente um nicht einmal 500 m ab. Um die Erde durch die Sprengung zu retten, müsste die seitliche Ablenkung ein gutes Stück größer als der Erdradius (6370 km) sein. Man kann umgekehrt fragen: Zu welchem Zeitpunkt müsste denn die Bombe gezündet werden, damit – in unserem optimistischen Modell – die Fragmente seitlich um 10 000 km abgelenkt würden? Sie können es wie in Gl. (8.28) ausrechnen: Die Detonation hätte 8,5 Jahre vorher erfolgen müssen. Schlechte Aussichten für die Erde . . .
Abschnitt 8.5 Modell des Asteroiden als Schutthaufen
215
Abb. 8.7: Explosion in viele Trümmer, betrachtet im Schwerpunktsystem
8.5 Modell des Asteroiden als Schutthaufen 8.5.1 Schwerpunktsystem
Nach den in Abschnitt 8.1.2 angesprochenen neueren astrophysikalischen Erkenntnissen trifft das Modell der zwei Fragmente für reale Asteroiden nicht besonders gut zu. Erhalten wir ein hoffnungsvolleres Ergebnis, wenn wir den Asteroiden im Schutthaufen-Modell als eine Ansammlung von vielen nur lose zusammenhängenden Felsbrocken beschreiben? Für diese Aufgabe lohnt es sich, in ein anderes Bezugssystem zu wechseln. Viele Stoßprozesse lassen sich nämlich einfacher im Schwerpunktsystem beschreiben, dem Inertialsystem, in dem der Schwerpunkt ruht. In unserem Fall ist das Schwerpunktsystem das Ruhesystem des herannahenden Asteroiden. Eine Beschreibung der Explosion im Schwerpunktsystem geschieht also aus der Perspektive eines Beobachters, der mit dem Asteroiden mitfliegt. Im Schwerpunktsystem ist die Geschwindigkeit und damit auch der Impuls des Asteroiden null. Der Impulssatz nimmt daher eine sehr einfache Form an: Der Gesamtimpuls ist null, und er bleibt es auch. Wie auch immer die Explosion verläuft, der Endzustand muss so symmetrisch sein, dass die Impulse der weggesprengten Fragmente sich zu null addieren 8.5.2 Modell der Explosion
Wir legen das in Abb. 8.7 skizzierte Modell zugrunde. Der (im Schwerpunktsystem ruhende) Asteroid explodiert in N Fragmente mit gleicher Masse m/N. Die Explosion verläuft dreidimensional kugelsymmetrisch (in der Abbildung nur unzureichend angedeutet). Der Impulserhaltungssatz ~pges = 0 ist damit erfüllt. Der Energieerhaltungssatz nimmt eine einfache Form an. Im Schwer-
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Kapitel 8 Impulserhaltung – Bruce Willis rettet die Welt
punktsystem ist die kinetische Energie des Asteroiden null, und so ist der einzige Beitrag zur Gesamtenergie vor der Explosion die nukleare Energie: Enukl (t1 ) = Ekin (t2 ).
(8.29)
Die gesamte kinetische Energie nach der Explosion ist gleich der Summe der kinetischen Energien der Schuttteilchen: 2 2 2 |~ w | . (8.30) Enukl (t1 ) = 21 m + |~ w | + · · · + |~ w | 2 N 1 N {z } | N Faktoren
Wir haben angenommen, dass die Explosion kugelsymmetrisch verläuft. Daher sind alle Geschwindigkeiten gleich groß |~ w1 |2 = |~ w2 |2 = · · · = |~ w N |2 und 2 die Summe in der Klammer reduziert sich auf N · |~ w1 | . Als Ergebnis erhalten wir wieder eine Relation zwischen der Geschwindigkeit |~ w1 | der Schuttteilchen und der Explosionsenergie der Bombe: 1 w1 | 2 2 m |~
= Enukl (t1 ).
(8.31)
Es ist das gleiche Ergebnis wie in Gl. (8.25). Die Schuttteilchen driften nach der Explosion mit einer Geschwindigkeit von 3,7 cm/s kugelsymmetrisch auseinander und haben sich zum Zeitpunkt des Einschlages um weniger als 500 m voneinander entfernt. Die beiden doch recht verschiedenen Asteroiden- bzw. Explosionsmodelle unterscheiden sich in ihren Vorhersagen nicht. Für Bruce Willis’ Mission folgt die deprimierende Erkenntnis: Es besteht leider nicht die geringste Hoffnung, die Erde zu retten. Kommt Ihnen ein Asteroid mit 1000 km Durchmesser ein wenig zu groß vor? Rechnen Sie die Sache doch einmal für den „Dinosaurier-Meteoriten“
Abb. 8.8: Der 70 km große Manicouagan-Krater in Kanada ist nach einem Meteoriteneinschlag vor 200 Millionen Jahren entstanden.
Abschnitt 8.6 . . . und wie sieht es in der Realität aus?
217
Abb. 8.9: Umgestürzte Bäume nach dem TunguskaEreignis von 1908. Das Foto entstand 1927, fast 20 Jahre später.
durch, der einen Durchmesser von ca. 15 km hatte. Wie sähen die Erfolgsaussichten hier aus? Würde ein früherer Zeitpunkt für die Sprengung in diesem Fall helfen? Probieren Sie ruhig verschiedene Parameter aus und spielen Sie verschiedene Szenarien durch.
8.6 . . . und wie sieht es in der Realität aus? Von Asteroiden mit erdnahen Bahnen geht tatsächlich eine gewisse Gefahr für die Erde aus. Die Geologie zeigt, dass Einschläge von Himmelskörpern in der Vergangenheit vorgekommen sind und ihre Spuren auf der Erdoberfläche hinterlassen haben (Abb. 8.8). In Deutschland sind das Nördlinger Ries und das Steinheimer Becken durch Meteoriteneinschläge entstanden. In historischer Zeit verwüstete der Einschlag eines schätzungsweise 60–100 m großen Meteoriten im Jahr 1908 eine Fläche von über 2000 km2 in der Tunguska im mittelsibirischen Bergland. Möglicherweise hat der Film „Armageddon“ das Bewusstsein für die potentielle Gefährdung durch Asteroiden geschärft (jedenfalls bei den Geldgebern der Forschungsprogramme). Denn erst seit den neunziger Jahren wurden die Suchprogramme für Asteroiden und Kometen auf erdnahen Bahnen intensiviert. Drei Probleme erschweren die Suche: (1) Die Objekte sind klein, (2) sie leuchten nicht selbst und (3) es gibt sehr viele davon. Bisher sind einige hunderttausend Asteroiden und wiederkehrende Kometen identifiziert worden. Die meisten davon sind sehr viel kleiner als der Asteroid im Film. Da sich die Bahnen dieser Objekte mit den newtonschen Gesetzen vorausberechnen lassen, kann man diejenigen identifizieren, die irgendwann einmal in gefährliche Nähe zur Erde gelangen. Sie werden als „Near Earth Objects“ (NEO) bezeichnet. Derzeit sind über 4500 NEOs bekannt, und fast täglich werden neue entdeckt. Aufsehen erregte 2004 ein kleiner Asteroid, der die Erde in nur einem Zehntel des Mondabstands passierte. Er wurde erst drei Tage vor dem Vorbeiflug entdeckt. Im März 2009 flog ein ca. 30 m großer
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Kapitel 8 Impulserhaltung – Bruce Willis rettet die Welt
Asteroid in einem Fünftel der Mondentfernung an der Erde vorbei. Auch er wurde erst drei Tage vorher entdeckt. Was würde passieren, wenn man einen Himmelskörper entdeckte, der sich auf Kollisionskurs mit der Erde befindet? Generell gilt: Je später man das Objekt entdeckt, desto geringer sind die Möglichkeiten, seine Bahn zu beeinflussen. Wenn ein Einschlag erst in vielen Jahrzehnten zu erwarten ist, kann man auf sogenannte „Keyholes“ hoffen: Beim Vorbeiflug an anderen Himmelskörpern können kleine Bahnabweichungen einen großen Einfluss auf die zukünftige Flugbahn haben. Man kann aber sagen: Würde morgen ein großer Asteroid auf Kollisionskurs mit der Erde entdeckt, könnte die Menschheit vermutlich nicht viel mehr tun als damals die Dinosaurier.
9 Raketen
Der Start einer Saturn V
220
Kapitel 9 Raketen – Der Start einer Saturn V
9.1 Kann man mit einer Kanone bis zum Mond schießen? 9.1.1 Jules Vernes Reise zum Mond
Als Jules Verne im Jahr 1865 sein Buch „Von der Erde zum Mond“ verfasst, lässt er seine Helden in einem hohlen Geschoss von einer gigantischen Kanone in Richtung Mond schießen (Abb. 9.1 (a)). Im Roman wird die MondfahrtIdee im „Gun Club“ zu Baltimore geboren, und zwar aus einem gewichtigen Grund: Dem Club der Kanonenbegeisterten ist der Krieg ausgegangen. Notgedrungen muss man sich andere Ziele setzen. So entsteht der Gedanke, eine Kanone zu bauen, die ein Projektil bis zum Mond schießen kann. Seinem Anspruch als wissenschaftlich informierendem Autor gerecht werdend, beschreibt Jules Verne die physikalischen Überlegungen zur Dimensionierung von Kanone und Geschoss sehr detailliert und weitgehend korrekt. Die grundlegende Forderung an die Kanone: Sie muss in der Lage sein, das Geschoss mit einer Anfangsgeschwindigkeit von 11 km/s abzufeuern. Dieser Wert, der im Roman in einem Gutachten des Observatoriums von Cambridge mitgeteilt wird, hat einen realen physikalischen Hintergrund. Es handelt sich um die Fluchtgeschwindigkeit der Erde: die Mindestgeschwindigkeit, die ein senkrecht nach oben abgeschossenes Projektil benötigt, um den Anziehungsbereich der Erde zu verlassen. Eine einfache energetische Betrachtung (die wir in Abschnitt 9.2 anstellen werden) zeigt, dass ein Geschoss mit geringerer Geschwindigkeit durch die Gravitation abgebremst wird und wieder zurück auf die Erde fällt. In Wirklichkeit müsste die Anfangsgeschwindigkeit wegen der Luftreibung beim Durchqueren der Atmosphäre noch höher liegen. Der technische Ehrgeiz der Mitglieder des Gun Clubs ist herausgefordert, und so wird mit der Planung von Geschoss und Kanone begonnen. Das Geschoss soll aus Gewichtsgründen hohl sein und aus Aluminium geformt werden. Bei einem Durchmesser von 2,75 m soll es eine Masse von etwa 9000 kg besitzen. Kleinlichen Zweiflern, denen der Abschuss eines solchen Projektils undurchführbar erscheint, entgegnet Präsident Barbican mit dem Hinweis auf die Belagerung von Konstantinopel durch die türkische Armee im Jahr 1453. Schon damals wurden mit der Riesenkanone „Basilica“ Steingeschosse von über 500 kg mehr als eine Meile weit geschossen. Die Technik des 19. Jahrhunderts sollte dem doch etwas entgegenzusetzen haben. Vorbereitung des Unternehmens Die Kanone wird also geplant. Sie soll eine Länge von 275 m haben und mit 180 Tonnen Schießbaumwolle gefüllt werden. Da eine freistehende Konstruktion mit diesen Ausmaßen nicht in Frage kommt, soll sie senkrecht in den Erdboden eingelassen werden. Die Finanzierung des Projekts gelingt durch Spenden aus aller Welt und die Kanone wird gegossen. Völlig unerwartet trifft das Telegramm eines französischen Abenteurers ein: Er will im Innern des Projektils mit zum Mond fliegen. Das ändert die Situation grundlegend. Die amerikanischen Clubmitglieder können da natür-
Abschnitt 9.1 Kann man mit einer Kanone bis zum Mond schießen?
221
Abb. 9.1: (a) Mit einem Geschoss zum Mond, (b) Abschuss des Projektils
lich nicht zurückstehen. Am Ende wird das Geschoss mit drei Passagieren bemannt in Richtung Mond geschossen (Abb. 9.1 (b)). Die Passagiere überstehen den Abschuss unbeschadet und fliegen in Richtung Mond. Nach einer Umrundung des Mondes und etlichen technischen Herausforderungen gelangen die Raumfahrer wieder zur Erde zurück. Die Reise endet damit, dass die Raumkapsel im Pazifik „wassert“ und die Passagiere wohlbehalten von einem Bergungsschiff aufgesammelt werden. Schwerelosigkeit Wissenschaftsgeschichtlich interessant ist das Erlebnis der Schwerelosigkeit, das den drei Passagieren auf dem Weg zum Mond widerfährt (Abb. 9.2). Jules Verne beschreibt hier nicht die in Kapitel 5 besprochene Schwerelosigkeit im freien Fall, die uns heute aus den Fernsehbildern von Weltraummissionen vertraut ist. Auch im Projektil des Gun Club müsste in Wirklichkeit während der gesamten Reise Schwerelosigkeit geherrscht haben. Jules Verne argumentiert jedoch anders (physikalisch nicht korrekt): Mit zunehmender Entfernung von der Erde nimmt die Schwerkraft der Erde ab, die des Mondes zu. An dem Punkt, an dem beide den gleichen Betrag haben, heben sie sich gegenseitig auf, und es herrscht für kurze Zeit Schwerelosigkeit in der Raumkapsel. Hätte Jules Verne bei gründlicherer Recherche eine bessere Darstellung geben können? Wohl kaum. Auch professionelle Physiker des 19. Jahrhunderts
222
Kapitel 9 Raketen – Der Start einer Saturn V
Abb. 9.2: Schwerelosigkeit
hätten seiner Darstellung nicht widersprochen. Obwohl alle Voraussetzungen zum Verständnis der Schwerelosigkeit seit Newtons „Principia“ (1685) vorlagen, scheint das subtile und kontraintuitive Konzept nicht vor Einstein erkannt worden zu sein. Einstein stieß im Jahr 1907 darauf, bei der Suche nach einer relativistischen Beschreibung der Gravitation, und bezeichnete diese Einsicht als den „glücklichsten Gedanken meines Lebens“. 9.1.2 Die Mondkanone und der Energiesatz
Ist es physikalisch möglich, ein Geschoss mit einer Kanone bis zum Mond zu schießen? Das ist die Frage, die Jules Vernes in vieler Hinsicht visionäres Buch für uns aufwirft. Es scheint nicht praktikabel zu sein, denn wie wir wissen, werden für Weltraummissionen Raketen benutzt. Aber können wir dafür eine physikalische Begründung finden? Eine Anforderung an die Kanone wurde von Jules Verne schon richtig formuliert: Sie muss in der Lage sein, ein Geschoss mit einer Geschwindigkeit von 11,2 km/s senkrecht nach oben abzufeuern. Ob das gelingen kann, lässt sich mit dem Energiesatz analysieren. Eine Explosion, wie sie in der Kanone erfolgt, ist natürlich ein komplizierter Prozess, für dessen realistische Beschreibung man viel thermodynamisches Wissen benötigt. Für eine grobe Abschätzung der erzielbaren Geschossgeschwindigkeit reicht aber eine einfache „vorher-nachher-Analyse“, wie wir sie in den vorangegangenen Kapiteln schon mehrfach durchgeführt haben.
223
Abschnitt 9.1 Kann man mit einer Kanone bis zum Mond schießen?
v t = t1
v t = t2
Kanone mG
mG v
Projektil
v
v mG mS mS
Sprengstoff
v v v v
Abb. 9.3: Das betrachtete System vor und nach der Explosion (links und Mitte); idealisiertes Modell der Explosion (rechts)
Energiesatz Um den Energiesatz zu benutzen, grenzen wir wie immer das betrachtete System ab und legen Anfangs- und Endzeitpunkt fest. Die Systemgrenzen wählen wir wie in Abb. 9.3 eingezeichnet. Sie umfassen das Innere der Kanone mitsamt Geschoss (Masse mG ) und Sprengstoff (Masse mS ). In einer idealisierten Betrachtung sehen wir das System als abgeschlossen an. Die Wärmeübertragung an die Wände der Kanone wird damit ebenso vernachlässigt wie eventuelle Undichtigkeiten. Anfangs- und Endzeitpunkt sind ebenfalls in Abb. 9.3 dargestellt. Vor der Zündung liegt die gesamte Energie als chemische Energie der Schießbaumwolle vor. Zum Endzeitpunkt ist der Sprengstoff explodiert und es hat eine chemische Reaktion stattgefunden. Die entstehenden Gase treiben das Geschoss aus der Mündung. Wir nehmen an, dass die gesamte Sprengstoffmasse mS am Ende als Gas vorliegt. Außerdem soll die komplette bei der Reaktion frei werdende chemische Energie in (a) kinetische Energie der Gasmoleküle und (b) kinetische Energie des Geschosses umgewandelt werden. Der Energiesatz lautet somit: Echem (t1 ) = Ekin (Gasmoleküle; t2 ) + Ekin (Geschoss; t2 ).
(9.1)
In Tabellenwerken kann man nachschlagen: Die bei der Explosion von Schießbaumwolle freigesetzte Energie (fachsprachlich: die Reaktionsenthalpie) beträgt 4400 kJ pro Kilogramm Sprengstoff. Die spezifische chemische Energie (d. h. die chemische Energie pro Masseneinheit) beträgt somit: echem =
kJ Echem = 4400 . mS kg
(9.2)
224
Kapitel 9 Raketen – Der Start einer Saturn V
Der Zustand des Gases nach der Explosion ist durch eine hohe Temperatur und damit durch eine starke thermische Bewegung der Gasmoleküle gekennzeichnet. In einem extrem vereinfachten Modell nehmen wir an, dass alle Gasmoleküle (also die gesamte Sprengstoffmasse mS ) die gleiche Geschwindigkeit v in Richtung auf die Kanonenmündung besitzen (Abb. 9.3 rechts). Die thermische Bewegung von Gasmolekülen ist in Wirklichkeit ungeordnet und ungerichtet. Das hier betrachtete Modell, in dem sich die Gasmoleküle in völliger Ordnung bewegen, kann daher nur ein erster Ansatz zur Beschreibung eines realen Explosionsvorgangs sein. Die kinetische Energie, die in der ungeordneten Bewegung von Gasmolekülen enthalten ist, bezeichnet man in der Thermodynamik als innere Energie. Molekülgeschwindigkeit und Geschossgeschwindigkeit Was kann man über die Geschwindigkeit des Geschosses nach der Explosion aussagen? Fest steht: Das Geschoss kann nicht schneller werden als die Explosionsgase, die es beschleunigen. Im Idealfall hat es an der Kanonenmündung die gleiche Geschwindigkeit v wie die Gasmoleküle. Weil wir an der Obergrenze für die Geschossgeschwindigkeit interessiert sind, nehmen wir diesen Fall an. Der Energiesatz wird damit zu: mS echem = 12 mS v2 + 21 mG v2 .
(9.3)
Aufgelöst nach v ergibt sich: v=
s
2mS e . mS + mG chem
(9.4)
Für Jules Vernes Mondkanone betrug die Sprengstoffmasse 180 t und die Geschossmasse 9 t. Die Masse des Geschosses spielt gegenüber der Sprengstoffmasse kaum eine Rolle. In guter Näherung können wir daher im Nenner mG gegenüber mS vernachlässigen, so dass sich ein einfacherer Ausdruck für v ergibt: p v = 2echem . (9.5) Im hier betrachteten Modell hängt die Geschossgeschwindigkeit ausschließlich von der spezifischen chemischen Energie, d. h. von der Art des Sprengstoffs ab. Setzen wir den oben genannten Wert für echem ein, erhalten wir: s kJ v = 2 · 4400 = 3000 m/s. (9.6) kg
Diese Geschossgeschwindigkeit ist geringer als die benötigten 11 200 m/s, aber nicht hoffnungslos geringer. Es besteht Raum für technische Entwicklungen, etwa von verbesserten Sprengstoffen. In der Tat waren Fortschritte möglich: Mehrere kleine Forschungsprojekte von den 1960er bis in die 1990er Jahre haben sich um die Entwicklung einer „Jules-Verne-Kanone“ bemüht. Dabei
Abschnitt 9.1 Kann man mit einer Kanone bis zum Mond schießen?
225
wurden Mündungsgeschwindigkeiten von 8–9 km/s, für sehr leichte Projektile sogar von 11 km/s erreicht. Natürlich ist auch das Militär an Kanonen interessiert. Die entsprechenden Entwicklungsabteilungen machen jedoch nur wenig Werbung für ihre Produkte. 9.1.3 Beschleunigung
Offenbar ist die Entwicklung einer Kanone, die bis zum Mond schießen kann, nicht an einem grundlegenden physikalischen Hinderungsgrund gescheitert. Dennoch gibt es eine physikalische Begründung für die Tatsache, dass Astronauten nicht auf diese Weise nach oben geschossen werden: Man möchte die Personen möglichst lebend ins All befördern. Eine einfache Betrachtung zeigt, dass das mit einer Kanone so gut wie ausgeschlossen ist. Niemand könnte die beim Abschuss auftretenden Beschleunigungen überleben. Gehen wir wieder von Jules Vernes Daten aus: Die Kanone hat eine Länge von 275 m. Auf dieser Strecke soll das Projektil von null auf eine Geschwindigkeit von 11,2 km/s gebracht werden. Welche Beschleunigungen müssen die Insassen aushalten? Um die Frage zu beantworten, sind keine aufwändigen Herleitungen nötig, denn ein analoges Problem haben wir schon in Kapitel 4 im Zusammenhang mit der Knautschzone von Autos betrachtet – welchen Beschleunigungen ist der menschliche Körper beim Abbremsen innerhalb einer Strecke d ausgesetzt? Die dort hergeleitete Formel (4.6) für die Bremsbeschleunigung gilt mit umgekehrtem Vorzeichen auch für das Beschleunigen aus dem Stand auf eine Geschwindigkeit v: v2 . (9.7) a= 2d Setzen wir die oben genannten Werte für v und d ein, ergibt sich: a=
(11 200 ms )2 m = 228 000 2 = 22 800 g. 2 · 275 m s
(9.8)
Ein Passagier in Jules Vernes Geschoss müsste mehr als das 20 000-fache der Erdbeschleunigung ertragen. Wer das aushält, kann auch 45 Steinway-Konzertflügel auf seinem Körper balancieren. Jules Verne wusste natürlich um die Problematik und stattete sein Projektil mit einem hydraulischen Kompensationsmechanismus aus. Wie auch immer dieser Mechanismus funktioniert haben mag: So wie die Knautschzone und der Sicherheitsgurt in Kapitel 4 kann er nur dahin wirken, die Beschleunigungsstrecke zu verlängern (und damit die Beschleunigung zu verringern). Allerdings kann die Beschleunigungsstrecke maximal um die Länge des Projektils verlängert werden, d. h. um wenige Prozent. Ohne dass wir etwas über die genauere Beschaffenheit des Kompensationsmechanismus wissen müssten, können wir ausschließen, dass er etwas Wesentliches zur Verringerung der Beschleunigung beitragen kann.
226
Kapitel 9 Raketen – Der Start einer Saturn V
9.2 Gravitationspotential und Fluchtgeschwindigkeit 9.2.1 Newtonsches Gravitationsgesetz
Bevor wir klären, wie man Menschen mit Raketen auf schonendere Weise ins All befördern kann, soll erläutert werden, was es mit dem immer wieder erwähnten Wert von 11,2 km/s für die Fluchtgeschwindigkeit der Erde auf sich hat. Da die Gravitation die Verantwortliche dafür ist, dass nach oben geworfene Körper wieder auf die Erde zurück fallen, werden wir uns etwas ausführlicher mit ihr beschäftigen müssen. Das newtonsche Gravitationsgesetz ist eines der Grundgesetze der klassischen Physik. Es ist nicht auf tiefere Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen. Nach Newton ziehen alle Körper, die eine Masse besitzen, sich gegenseitig an. Je größer die beteiligten Massen, umso größer die gegenseitige Anziehung. Die Masse ist in der newtonschen Gravitationstheorie das Analogon zur Ladung in der Elektrizitätslehre. Im Unterschied zu dort gibt es bei Newton allerdings keine gravitative Abstoßung. Die Masse hat anders als die Ladung nur ein Vorzeichen, „negative“ Massen treten nicht auf. Dass man die Gravitationskraft zwischen zwei Körpern als die Wirkung eines Feldes (des Gravitationsfeldes) interpretiert, wurde ebenso schon in Kapitel 7 angesprochen wie die quantitative Form des newtonschen Gravitationsgesetzes: Zwischen zwei Punktmassen m1 und m2 im Abstand r wirkt eine Kraft, die dem folgenden Gesetz genügt.
Newtonsches Gravitationsgesetz:
F = −G
m1 · m2 . r2
(9.9)
Die Kraft nimmt quadratisch mit dem Abstand der beiden Punktmassen ab (auch das ist analog zur elektrischen Kraft zwischen zwei Ladungen). Die im Gravitationsgesetz auftretende Konstante G = 6,67 · 10−11 Nm2 /kg2 wird newtonsche Gravitationskonstante genannt. Gravitationsfeld kugelsymmetrischer Masseverteilungen Das Gravitationsgesetz (9.9) gilt zunächst nur für Punktmassen. Um die Gravitationswirkung ausgedehnter Körper zu beschreiben, müssten wir den Körper gedanklich in infinitesimale Punktmassen zerlegen und deren Beiträge addieren. Das wäre eine ziemlich schwierige Sache. Zum Glück ist die Lage nicht so verfahren, denn eine komplizierte Rechnung mit einfacher Mathematik oder eine einfache Rechnung mit komplizierter Mathematik (gaußscher Integralsatz) ergibt die folgende bemerkenswerte Aussage: Um das Gravitationsfeld außerhalb eines kugelsymmetrischen Körpers zu beschreiben, können wir so verfahren, als sei die gesamte Masse des Körpers in seinem Mittelpunkt konzentriert.
Abschnitt 9.2 Gravitationspotential und Fluchtgeschwindigkeit
227
Kasten 9.1 Vektorielle Formulierung des newtonschen Gravitationsgesetzes
Die Gravitationskraft zwischen zwei Körpern wirkt in Richtung der Verbindungslinie zwischen ihnen. Wählt man das Koordinatensystem so, dass einer der Körper sich im Ursprung befindet, kann man das Gravitationsgesetz vektoriell folgendermaßen schreiben:
~F = − G m1 · m2 ~er . r2
(9.10)
Dabei ist ~er ein Vektor der Länge 1, der in radiale Richtung zeigt:
~er =
~r |~r |
(9.11)
(zur Definition des Ortsvektors ~r siehe Gl. (A.19) im Anhang über mathematische Methoden).
Dieser Satz erleichtert uns das Leben ungemein. Selbst so riesige Körper wie die Sonne können wir damit als Punktmassen auffassen, für die das newtonsche Gravitationsgesetz gilt. Die Gültigkeit der Aussage hängt entscheidend davon ab, dass die Gravitationskraft durch ein 1/r2 -Gesetz beschrieben wird. Für eine andere Abhängigkeit gälte sie nicht. 9.2.2 Potentielle Energie der Gravitation
Bei der Diskussion des Energiesatzes in Kapitel 7 haben wir gesehen, dass die Beschreibung physikalischer Vorgänge in vielen Fällen durch eine energetische Betrachtung erleichtert wird. So wird es uns auch mit dem Energiesatz einfacher gelingen, den gesuchten Wert für die Fluchtgeschwindigkeit aus dem Gravitationsfeld der Erde zu finden, als es durch eine direkte Analyse mit dem newtonschen Gravitationsgesetz möglich wäre. Zwischen Kraft und potentieller Energie besteht der durch Gl. (7.13) beschriebene allgemeine Zusammenhang: ~ Epot . ~F = −∇ (9.12) Aus dem newtonschen Gravitationsgesetz ergibt sich der folgende Ausdruck für die potentielle Energie der Gravitation (s. die Beispielaufgabe auf S. 228):
228
Kapitel 9 Raketen – Der Start einer Saturn V
Epot r0
r
Epot(r0)
Abb. 9.4: Die 1/rAbhängigkeit der potentiellen Energie der Gravitation
Potentielle Energie der Gravitation:
Epot = − G
m1 · m2 . r
(9.13)
Wie immer ist der Nullpunkt der potentiellen Energie frei wählbar. Gl. (9.12) legt den Wert von Epot nur bis auf eine additive Konstante fest. Im Fall der Gravitation ist es üblich, den Energienullpunkt so zu wählen, dass Epot → 0 wenn r → ∞ (vgl. Abb. 9.4). Dieser Konvention folgt auch Gl. (9.13). Die Folge davon ist, dass die potentielle Energie für alle endlichen Abstände der beiden Massen negativ ist. Beispielaufgabe: Zeigen Sie, dass zwischen dem newtonschen Gravitationsgesetz (9.10) und der po~ Epot gilt. tentiellen Energie (9.13) die Beziehung ~ F = −∇ Lösung: ~ Epot ist eine vektorielle Beziehung. Sie muss für jede VekDie Gleichung ~ F = −∇ torkomponente einzeln erfüllt sein. Wir prüfen die Gültigkeit der Gleichung für die x-Komponente nach; für die y- und z-Komponenten verläuft die Rechnung analog. p Mit r = x2 + y2 + z2 sowie der Definition des Gradienten (Gl. (7.12)) gilt:
∂ ∂ − Epot = − ∂x ∂x
−G p
m1 · m2
x 2 + y2 + z2
!
= −G
2x · m1 · m2 1 . 2 ( x2 + y2 + z2 )3/2
(9.14)
Zusammenfassen der Terme ergibt:
Fx = − G
m1 · m2 x · . r r2
(9.15)
Den letzten Term identifizieren wir als die x-Komponente von ~er = ~r/|~r |. Damit ist gezeigt, dass Gl. (9.15) mit der x-Komponente von Gl. (9.10) übereinstimmt, so dass zwischen Epot und ~ F der behauptete Zusammenhang besteht.
Abschnitt 9.2 Gravitationspotential und Fluchtgeschwindigkeit
229
Kasten 9.2 Träge und schwere Masse Bisher ist uns die Masse als Eigenschaft eines Körpers in der newtonschen Bewegungsgleichung F = m · a begegnet. Sie beschreibt dort, wie Körper auf Kräfte reagieren. Bewirkt eine einwirkende Kraft eine große oder eine geringe Beschleunigung des Körpers? Das hängt von seiner Masse (und nur von ihr) ab. Von der Schwere eines Körpers ist in der newtonschen Bewegungsgleichung nicht die Rede. Zwischen der Reaktion eines Körpers auf einwirkende Kräfte und seiner Schwere besteht nicht der geringste logische Zusammenhang. Dennoch werden beide durch die Eigenschaft „Masse“ beschrieben. Empirisch findet man: Körper, deren Geschwindigkeit sich nur durch große Kräfte ändern lässt, wiegen auch viel. Der gleiche Parameter m erscheint sowohl in der newtonschen Bewegungsgleichung als auch im Gravitationsgesetz. Um die beiden Rollen der Masse wenigstens gedanklich voneinander abzugrenzen, unterscheidet man die „träge Masse“ von der „schweren Masse“. Heinrich Hertz wunderte sich schon 1884 über die Gleichheit von schwerer und träger Masse: „Wer sich nur oberflächlich mit Physik beschäftigt hat, vermag kaum die Masse der Materie, oder die in exakten Maßen ausgedrückte Trägheit derselben, auseinanderzuhalten von dem Gewicht derselben. Ihm erscheint daher die Proportionalität zwischen dieser Trägheit und der Gravitation gegen die Erde nicht als etwas besonders Merkwürdiges. Auch in den Lehrbüchern wird es gewöhnlich als etwas Naheliegendes und nicht besonders Hervorzuhebendes hingestellt, dass die Schwere, das Gewicht eines Körpers, seiner Masse proportional ist, unabhängig von dem Stoffe aus welchem er besteht. Und doch haben wir hier in Wahrheit zwei Eigenschaften, zwei Haupteigenschaften der Materie vor uns, die völlig unabhängig voneinander gedacht werden können und die sich durch die Erfahrung und nur durch diese als völlig gleich erweisen. Diese Übereinstimmung ist also vielmehr als ein wunderbares Rätsel zu bezeichnen, sie bedarf einer Erklärung.“ H. Hertz (1884)
9.2.3 Fluchtgeschwindigkeit
Wie sah die Berechnung aus, mit der das Observatorium von Cambridge die Mindestgeschwindigkeit des Geschosses berechnete? Sie lässt sich mit dem Energiesatz leicht nachvollziehen. Wir betrachten die in Abb. 9.5 dargestellte Situation: Ein Körper (das Projektil) wird von der Oberfläche der Erde mit der Geschwindigkeit v senkrecht nach oben abgeschossen. Wie groß muss v sein, damit das Geschoss im Gravitationsfeld der Erde nicht mehr umkehrt und auf die Erdoberfläche zurückfällt, sondern „ins Unendliche“ entkommen kann? Zur Beantwortung dieser Frage wählen wir das betrachtete System sowie Anfangs- und Endzeitpunkt anders als vorher. Den Sprengstoff rechnen wir nun nicht mehr zum System, sondern nur das Geschoss (und das Gravitationsfeld der Erde). Der Luftwiderstand, den das Geschoss in der Erdatmosphäre erfährt, wird ebenso wenig berücksichtigt wie die Gravitationswirkung anderer Körper (z. B. des Mondes).
230
Kapitel 9 Raketen – Der Start einer Saturn V
Abb. 9.5: Zur Berechnung der Fluchtgeschwindigkeit
Der Anfangszeitpunkt t1 der Betrachtung liegt direkt nach dem Abschuss, wenn das Geschoss die Geschwindigkeit v besitzt und sich unmittelbar an der Erdoberfläche befindet (r = rE , wobei rE = Erdradius). Die Gesamtenergie zu diesem Zeitpunkt ist Eges (t1 ) = Ekin (t1 ) + Epot (r = rE ). Zum Endzeitpunkt t2 soll sich das Geschoss in sehr großer Entfernung von der Erde befinden (so dass wir r → ∞ annehmen können). Die Gesamtenergie zum Endzeitpunkt hat den Wert Eges (t2 ) = Ekin (t2 ) + Epot (r → ∞). Der Energiesatz für abgeschlossene Systeme lautet: Ekin (t1 ) + Epot (r = rE ) = Ekin (t2 ) + Epot (r → ∞), | {z }
(9.16)
Ekin (t1 ) + Epot (r = rE ) = 0
(9.17)
=0
wobei die potentielle Energie im Gravitationsfeld der Erde durch Gl. (9.13) mit der Erdmasse mE und der Geschossmasse mG beschrieben wird. Wir sind an der Fluchtgeschwindigkeit vFlucht interessiert, der minimalen Geschwindigkeit, mit der es das Geschoss „gerade so eben“ schafft, ins Unendliche zu entkommen. Entsprechend soll das Geschoss zum Endzeitpunkt der Betrachtung keine „überschüssige“ kinetische Energie mehr besitzen; die gesamte Anfangsenergie soll in potentielle Energie umgewandelt worden sein. Im Energiesatz setzen wir daher Ekin (t2 ) ≈ 0:
oder
1 m v2 2 G Flucht
=G
mG · mE . rE
(9.18)
Abschnitt 9.3 Raketenantrieb
231
Nach vFlucht aufgelöst ergibt sich für die Fluchtgeschwindigkeit von der Erdoberfläche: s 2GmE . (9.19) vFlucht = rE Wenn wir rE = 6370 km und mE = 5,97 · 1024 kg einsetzen, ergibt sich: r 2 · 6,67 · 10−11 Nm2 /kg2 · 5,97 · 1024 kg km vFlucht = = 11,2 , 6370 km s
(9.20)
der im Roman angegebene Wert für die minimale Geschossgeschwindigkeit.
9.3 Raketenantrieb 9.3.1 Prinzip des Raketenantriebs
Nachdem wir mit der Mondkanone keine Überlebensmöglichkeit für die Passagiere sehen, wollen wir uns nun damit beschäftigen, wie es in Wirklichkeit gelingt, Personen ins All zu befördern – mit Raketen. Die Grundlage des Raketenantriebs wurde bereits auf S. 101 beschrieben. Wenn Sie wie in Abb. 5.11 auf einem Skateboard stehen und einen Medizinball von sich weg werfen, werden Sie in die entgegengesetzte Richtung beschleunigt. Dieses Phänomen, das man als Rückstoß bezeichnet, ist eine Folge des dritten newtonschen Gesetzes. Einen Rückstoß gibt es immer, wenn ein Körper etwas ausstößt: eine Pistole ihre Kugel oder ein Tintenfisch einen Schwall Wasser. Was stößt eine Rakete aus? Sie schleudert die bei der Verbrennung des Treibstoffs entstandenen Gase aus sich heraus. Warum muss überhaupt eine Verbrennung stattfinden? Damit die ausströmenden Gasmoleküle eine möglichst hohe Geschwindigkeit besitzen. Das ist im Grunde die ganze Physik des Raketenantriebs. Der Rest des Kapitels handelt von den Details.
Abb. 9.6: Prinzipieller Aufbau einer Rakete
9.3.2 Aufbau und Funktion einer Rakete
Eine Rakete besteht hauptsächlich aus Treibstoff, der in zwei Tanks untergebracht ist (Abb. 9.6). In einem der Tanks befindet sich der eigentliche Treibstoff (z. B. Kerosin oder flüssiger Wasserstoff), im anderen ein Oxidationsmittel, z. B. flüssiger Sauerstoff. Die beiden Komponenten werden in der Brenn-
232
Kapitel 9 Raketen – Der Start einer Saturn V
kammer zusammengeführt, wo eine möglichst heftige chemische Reaktion abläuft. Die Verbrennungsgase strömen aus der Düse aus und der dabei auftretende Rückstoß beschleunigt die Rakete nach vorn. Vergleichen Sie das Wegwerfen des Medizinballs auf dem Skateboard mit dem Antrieb der Rakete. Das Skateboard entspricht der Rakete, der Medizinball den ausgestoßenen Verbrennungsgasen. Die zugrunde liegende Physik ist in beiden Situationen die gleiche. Statt eines großen Gegenstandes stößt die Rakete viele kleine Partikel aus, nämlich die Moleküle der Verbrennungsgase. Physikalisch macht das keinen Unterschied: Auf dem Skateboard könnte man statt des Medizinballs auch die gleiche Masse an Sand wegschleudern. Das Resultat wäre identisch. Anders als beim Automotor sind die bei der Verbrennung des Treibstoffs erzeugten Gase nicht einfach „Abgase“, die möglichst unauffällig abgeführt werden müssen. Im Gegenteil, die Verbrennungsgase sind das Entscheidende für die Funktion des Raketenantriebs. Und, um gleich noch eine andere falsche Vorstellung auszuräumen: Die Rakete stößt sich nicht an der umgebenden Luft ab. Wenn man das Phänomen des Rückstoßes überhaupt mit
Abb. 9.7: Eine Saturn V in der Montagehalle. Die Schnittzeichnung rechts zeigt ihren Stufenaufbau.
Abschnitt 9.4 Der Start einer Saturn V
233
Abb. 9.8: Beim Transport zum Startplatz
„Abstoßen“ beschreiben will (was vielleicht eher irreführend ist), sollte man sagen, dass sich die Rakete an ihren eigenen Verbrennungsgasen abstößt. Nur so kann man verstehen, warum ein Raketenantrieb auch im luftleeren Weltraum funktionieren kann. Im Gegensatz zur Mondkanone wird der Treibstoff nicht in einem kurzen Augenblick beim Start verbrannt, sondern erst nach und nach. Das hat den großen Vorteil, dass die Beschleunigung am Anfang nicht so groß ist wie bei der Kanone. Eine Rakete hebt vergleichsweise sanft ab. Es gibt allerdings auch einen Nachteil: Der noch unverbrannte Treibstoff befindet sich in der Rakete und muss mit angehoben werden, bis er ausgestoßen wird. Es muss also nicht nur für das Anheben der Nutzlast Energie aufgewendet werden, sondern auch für das Anheben des unverbrauchten Treibstoffs in den Tanks.
9.4 Der Start einer Saturn V Damit im Jahr 1969 tatsächlich Menschen auf den Mond fliegen konnten, bedurfte es eines immensen technischen Aufwands. Die dafür entwickelte Saturn V ist bis heute die größte jemals gebaute Rakete (Abb. 9.7). Sie hat eine Höhe von 110 m und eine Startmasse von fast 2900 t. Nur ein winziger Bruch-
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Kapitel 9 Raketen – Der Start einer Saturn V
teil davon gelangt zum Mond. Das Kommandomodul, in dem sich die Astronauten während des Flugs aufhalten, wiegt gerade einmal 5,8 t. In Abb. 9.7 ist es rechts kurz unterhalb der Spitze erkennbar („Command Module“). Unter dem Kommandomodul sitzt das „Servicemodul“ mit dem Antrieb und den Treibstoffvorräten für den Rückflug (Masse: 25 t, davon 18 t Treibstoff). Und nicht zuletzt gehört zur Nutzlast noch die Mondlandeeinheit mit einer Masse von 16,6 t. Um diese Nutzlast von insgesamt 47,4 t von der Erde zum Mond zu bringen, benötigt die Saturn V sage und schreibe 2700 t Treibstoff, der beim Start innerhalb von 16 Minuten verbrannt wird. Das alles hört sich sehr beeindruckend an, und nicht umsonst wurde der „rocket scientist“ neben dem „Atomforscher“ in den sechziger Jahren zu einer Ikone der amerikanischen Populärkultur. Doch als Physiker müssen wir diese technischen Angaben nicht einfach nur staunend zur Kenntnis nehmen. Mit Hilfe der Physik können wir die Vorgänge beim Start und beim Aufstieg einer Rakete verstehen und quantitativ beschreiben. 9.4.1 Vorbereitungen für den Start
Als konkretes Beispiel sehen wir uns den Start von Apollo 12 an, denn ihre Flugbahn ist in öffentlich zugänglichen Quellen sehr gut dokumentiert. Apollo 12 startet am 14. November 1969 mit einer Mannschaft von drei Astronauten. Es ist der zweite Flug zum Mond nach der erfolgreichen Mondlandung von Apollo 11 vier Monate vorher. Der Start einer Saturn V wird über lange Zeit vorbereitet. Schon zwei Monate vorher rollt die Rakete zur Startrampe (Abb. 9.8). Das Betanken beginnt eine Woche vor dem Start. Ein letztes Mal wird alles kontrolliert. Das ist auch nötig: Bei Apollo 12 muss noch zwei Tage vorher ein Tank wegen eines Lecks ausgetauscht werden. Die Saturn V verwendet Sauerstoff als Oxidationsmittel. Bei gewöhnlichen Temperaturen ist Sauerstoff ein Gas. Die Sauerstoffmenge, die für den Aufstieg gebraucht wird, ist aber viel zu groß, um sie als Gas in Tanks zu pressen. Deshalb wird flüssiger Sauerstoff verwendet, der allerdings, damit er auch flüssig bleibt, auf −183 ◦ C gekühlt wird. Der Sauerstoff kann daher erst ganz zum Schluss eingefüllt werden. Trotzdem beginnt er nach dem Einfüllen sofort zu verdampfen und muss bis unmittelbar vor dem Start immer wieder nachgefüllt werden. Der Countdown dauert 104 Stunden, aber richtig ernst wird es erst drei Minuten vor dem Start. Die Verbindungen zwischen Startrampe und Rakete werden nach und nach gelöst, und neun Sekunden vor dem Abheben wird das mittlere der fünf Triebwerke gezündet. Kurze Zeit später folgen die restlichen. Die Haltearme, die die Rakete bisher am Boden festhielten, fahren zurück. Die Saturn V hebt sehr langsam ab. Sie benötigt 12 Sekunden, um den 150 m hohen Tower hinter sich zu lassen. Bei Apollo 12 passiert kurz nach dem Start Dramatisches: Die Rakete wirkt als gigantischer Blitzableiter. Die tief hängenden Wolken haben schon den ganzen Tag immer wieder kalte Regenschauer gebracht. Nun schlagen zwei
Abschnitt 9.4 Der Start einer Saturn V
235
Abb. 9.9: Die Saturn-IC, die erste Stufe der Saturn V
Blitze in die Rakete ein. Die gesamte Bordelektronik wird lahmgelegt. Zum Glück kann das System auf Notversorgung umgestellt werden, so dass die Elektronik wieder funktioniert. Die erste Stufe der Saturn V lässt ihre Muskeln spielen, und der zweite Flug zum Mond beginnt. 9.4.2 Die Stufen der Saturn V
Die Saturn V besteht aus drei Stufen. Die erste und größte wird S-IC genannt. Sie ist in Abb. 9.9 gezeigt. Ihre Technik stützt sich auf Bewährtes: In ihren fünf Triebwerken verbrennt sie ein Gemisch aus Kerosin und flüssigem Sauerstoff. Im Raketenjargon wird das Kerosin als RP-1 bezeichnet (RP = rocket propellant), der flüssige Sauerstoff als LOX (liquid oxygen). Die S-IC ist 42 m lang und hat einen Durchmesser von 10 m. Sie bringt die Rakete bis in eine Höhe von 66 km. Für diese erste kurze Etappe des Weges zum Mond wird der größte Teil des Treibstoffs gebraucht. Wie man in Abb. 9.9 links erkennt, besteht die S-IC hauptsächlich aus Tankvolumen. Befüllt wird sie mit 1500 t LOX und 648 t RP-1. Eine Vorstellung von dieser Menge gewinnt man aus Abb. 9.10, in der die beiden unmontierten Treibstofftanks einer S-ICStufe zu sehen sind. Der größere der beiden Tanks enthält den flüssigen Sauerstoff, der andere das Kerosin. Dieser gewaltige Treibstoffvorrat von über 2000 t wird in den ersten zweieinhalb Flugminuten komplett verbrannt. In dieser Zeit verringert sich die Masse der Rakete durch den Treibstoffausstoß von 2880 t auf etwa 760 t.
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Kapitel 9 Raketen – Der Start einer Saturn V
Abb. 9.10: Die beiden Treibstofftanks der S-IC-Stufe in unmontiertem Zustand
Nach dem Ausbrennen wird die erste Raketenstufe vom Rest der Rakete abgesprengt. Nun übernimmt die S-II-Stufe den Antrieb und bringt die Rakete innerhalb von 6 Minuten auf eine Höhe von 165 km. Anders als die erste Stufe arbeiten die beiden letzten Stufen der Saturn V nicht mit einem KerosinSauerstoff-Gemisch, sondern mit flüssigem Wasserstoff (genannt LH2 = liquid hydrogen) und flüssigem Sauerstoff. In ihren Triebwerken findet eine kontrollierte Knallgasreaktion statt. Auch die zweite Stufe wird nach ihrem Ausbrennen abgesprengt, und übrig bleibt die letzte Stufe, die S-IVB. Von der ursprünglichen Rakete ist nicht mehr viel übrig geblieben. Die S-IVB selbst ist 18 m lang und hat inklusive Treibstoff eine Masse von 118 t. Dazu kommt die Masse der Nutzlast. Die Mondlandefähre verbirgt sich hinter einer aufklappbaren vierteiligen Verkleidung oben in der S-IVB-Stufe (Abb. 9.11). Die S-IVB wird zweimal gezündet: Zuerst muss die Geschwindigkeit erreicht werden, die es erlaubt, die Rakete für einige Umrundungen in einer Umlaufbahn um die Erde zu „parken“. Apollo 12 absolviert in zwei Stunden und 40 Minuten eineinhalb Erdumrundungen, bei denen die Funktion aller Komponenten noch einmal überprüft und insbesondere nach möglichen Schäden durch die Blitzeinschläge gesucht wird. Danach ist alles fertig für die eigentliche Reise zum Mond. Für sechs Minuten wird das Triebwerk der S-IVB ein zweites Mal gezündet, bis auch diese Stufe ausgebrannt ist. Die Mondlandefähre wird aus der S-IVB „ausgepackt“ und an die Apollo-Kapsel angedockt. Damit hat die S-IVB-Stufe ihren Zweck erfüllt und kann mit etwas Rest-
Abschnitt 9.5 Die Raketengleichung
237
Abb. 9.11: Die S-IVB-Stufe der Saturn V mit Kommandomodul, Servicemodul und Mondlandeeinheit
treibstoff „aus dem Weg geräumt“ werden. Wir werden ihr unter höchst ungewöhnlichen Umständen wiederbegegnen. Die Apollo-Kapsel mit den Astronauten befindet sich nun auf einer Bahn, die sie ohne weiteren Antrieb in drei Tagen zum Mond bringen wird.
9.5 Die Raketengleichung 9.5.1 Modellannahmen
Das Grundprinzip des Raketenantriebs wurde im vorletzten Abschnitt bereits erklärt: Die Rakete stößt verbrannten Treibstoff aus, und durch den Rückstoß wird sie in die entgegengesetzte Richtung beschleunigt. Wir müssen diesen Vorgang nun in Formeln fassen und dabei wird uns der Impulssatz helfen. Wir sehen in einem ersten Schritt von Schwerkraft und Luftwiderstandskraft ab und betrachten eine Rakete, die im Weltraum ihre Triebwerke zündet. Es ist klar, dass uns das Modell einer einzelnen Punktmasse nicht weiterführen kann, weil wir nicht nur die Rakete, sondern auch den verbrannten Treibstoff in die Betrachtung mit einbeziehen müssen. Die Triebwerke stoßen kontinuierlich Treibstoff aus, so dass wir neben der Rakete eine Gaswolke beschreiben müssen, die sich ständig vergrößert. Solche Probleme mit kontinuierlichen Massenverteilungen werden eigentlich in der Strömungsmechanik behandelt, die mathematisch ein gutes Stück komplizierter ist als die Mechanik von Punktmassen. Was die Sache weiter erschwert: Wir können dem ausgestoßenen Gas noch nicht einmal eine feste Geschwindigkeit zuschreiben. Die Ausstoßgeschwindigkeit der Gase ist nämlich relativ zur Rakete konstant, und die Rakete ändert ständig ihre Geschwindigkeit gegenüber dem Inertialsystem, von dem aus wir das Geschehen betrachten.
238
Kapitel 9 Raketen – Der Start einer Saturn V
Abb. 9.12: Zur Herleitung der Raketengleichung
9.5.2 Impulssatz für ein System mit veränderlicher Masse
Glücklicherweise kann man das Problem durch geschickte Wahl der Systemgrenzen handhabbar machen. Wir legen die Systemgrenzen wie in Abb. 9.12 eingezeichnet. Sie umfassen nur die Rakete und den unverbrannten Treibstoff, die zusammen die Masse m und die Geschwindigkeit v besitzen. Die im System enthaltene Masse ändert sich ständig dadurch, dass verbrannter Treibstoff die Systemgrenzen überquert. Damit kommen zwei neue Aspekte bei der Verwendung des Impulssatzes ins Spiel: (1) Die Masse innerhalb der Systemgrenzen ist zeitabhängig, (2) Materie überquert die Systemgrenzen. Trotzdem bleibt der Impulssatz in seiner allgemeinen Form „äußere Kräfte = zeitliche Änderung des Gesamtimpulses des Systems“ gültig. Wir müssen allerdings sorgfältig über die Impulsänderungen Buch führen. Die Änderung des Gesamtimpulses des Systems kann in zwei Anteile zerlegt werden (Geschwindigkeiten werden wie in Abb. 9.12 eingezeichnet als positiv gerechnet): (1) Der Impuls der Materie im System ändert sich. In unserem Fall befindet sich die Rakete mit dem unverbrannten Treibstoff innerhalb des Systems. Ihr Impuls ist m · v. Wenn wir zur Berechnung der Impulsänderung die zeitliche Ableitung bilden, müssen wir die Produktregel anwenden, weil sowohl m als auch v zeitlich veränderliche Größen sind. dpges d ˙ = (m · v) = m˙ · v + m · v. (9.21) dt dt innerhalb (2) Der Impuls des Systems ändert sich auch dadurch, dass Materie das System verlässt. Die verbrannten Gase, die von der Rakete ausgestoßen werden, haben die Geschwindigkeit vGas und daher einen entsprechenden Impuls. Wenn sie die Systemgrenzen überschreiten, geht dem System dadurch Impuls verloren. Die Impulsänderung, die das System auf diese Weise erfährt, ist dpges = m˙ · vGas . (9.22) dt Grenzen Diese Größe ist für eine Rakete negativ, da wegen m˙ < 0 ihre Masse abnimmt.
239
Abschnitt 9.5 Die Raketengleichung 9.5.3 Herleitung und Interpretation der Raketengleichung
Da wir von Gravitation und Luftwiderstand abgesehen haben, wirken keine äußeren Kräfte. Der Impulssatz nimmt somit die Form an: dpges dpges 0= + = m˙ · v + m · v˙ + m˙ · vGas . (9.23) dt dt innerhalb Grenzen Auflösen nach m · v˙ ergibt: m · v˙ = −m˙ · vrel ,
(9.24)
wobei auf der rechten Seite die Ausströmgeschwindigkeit des Gases relativ zur Rakete steht: vrel = vGas + v. Während sowohl v als auch vGas sich mit der Zeit ändern, ist vrel eine Konstante, die den Verbrennungsvorgang charakterisiert. Sie wird durch den Brennstoff, die Verbrennungstemperatur und den Aufbau des Triebwerks bestimmt. Die Größe m˙ · vrel wird in der Technik oft als Schubkraft bezeichnet, denn Gl. (9.24) hat die Form der newtonschen Gleichung mit diesem Term als „Kraft“. Division durch m auf beiden Seiten ergibt: m˙ (9.25) v˙ = − · vrel . m Um die Geschwindigkeit der Rakete als Funktion der Zeit zu bestimmen, integrieren wir Gl. (9.25) auf beiden Seiten: Z t 1 t0
v˙ dt = −vrel
Z t 1 m ˙ t0
m
dt.
(9.26)
Die Integrationen lassen sich leicht ausführen: v(t1 ) − v(t0 ) = −vrel
Z m(t ) 1 dm m ( t0 )
m
(9.27)
= −vrel (ln m(t1 ) − ln m(t0 )) . Die letzte Zeile lässt sich noch weiter vereinfachen zu unserem Endergebnis, der Raketengleichung (oft auch als Ziolkowski-Gleichung bezeichnet): m ( t0 ) v(t1 ) − v(t0 ) = vrel ln . (9.28) m ( t1 ) Die Aussage dieser Gleichung ist bemerkenswert einfach: Die Zunahme der Raketengeschwindigkeit in der Zeit zwischen t0 und t1 hängt nur von der Ausströmgeschwindigkeit der verbrannten Treibstoffgase und dem Verhältnis der Massen am Anfang und am Ende ab. Die Gleichung macht deutlich, warum bei der Konstruktion von Raketentriebwerken die Ausströmgeschwindigkeit der Verbrennungsgase (die in der Raketentechnik oft als spezifischer Impuls bezeichnet wird) ein so entscheidender Parameter ist. Änderungen im
240
Kapitel 9 Raketen – Der Start einer Saturn V
Massenverhältnis wirken sich nicht so stark aus wie Änderungen der Ausströmgeschwindigkeit, da der Logarithmus eine „fast konstante“ Funktion ist, die nur sehr schwach auf Veränderungen ihres Arguments reagiert. Die typischen Ausströmgeschwindigkeiten von Raketentreibstoffen liegen im gleichen Bereich, wie die in Gl. (9.6) gefundene Geschwindigkeit der Gasmoleküle bei einer Explosion: bei etwa 3000 m/s. Das ist kein Zufall, denn hier wie dort wird (bei gleichen Reaktionspartnern) die gleiche spezifische chemische Energie umgesetzt. 9.5.4 Endgeschwindigkeit einer Rakete
Wenn man für t0 den Startzeitpunkt einsetzt und für t1 den Zeitpunkt, an dem der gesamte Treibstoff verbrannt ist, liefert Gl. (9.28) die Endgeschwindigkeit der Rakete: mvoll , (9.29) vEnd = vrel ln mleer
wobei mvoll die Masse der vollgetankten Rakete und mleer ihre Leermasse ist. Bei mehrstufigen Raketen schließt die „Leermasse“ natürlich noch die Massen der nachfolgenden Stufen ein. Beispielaufgabe: Bei Apollo 12 arbeiteten die Triebwerke der ersten Stufe für 161 Sekunden. Die Masse der Rakete verringerte sich dabei von 2880 t auf 761 t. Berechnen Sie, welche Endgeschwindigkeit die Rakete besessen hätte, wenn sie nicht gegen die Schwerkraft anzukämpfen gehabt hätte. Für die Ausströmgeschwindigkeit der Verbrennungsgase können Sie einen Wert von 2630 m/s ansetzen. Lösung: Die Lösung ergibt sich durch Einsetzen in Gl. (9.29):
vEnd = 2630 m/s · ln
2880 t 761 t
= 3500 m/s.
(9.30)
Die tatsächliche Geschwindigkeit von Apollo 12 nach 161 s betrug 2359 m/s. Für den Unterschied ist die Schwerkraft verantwortlich. Das Beispiel zeigt, dass eine Rakete – anders als ein Kanonengeschoss – schneller werden kann als die Geschwindigkeit der Verbrennungsgase. Das liegt daran, dass der Treibstoff mit der Geschwindigkeit vrel relativ zur Rakete ausgestoßen wird und diese daher immer weiter beschleunigen kann. Dieser Vorteil wird dadurch erkauft, dass der noch unverbrannte Treibstoff mitbeschleunigt werden muss.
9.5.5 Raketengleichung mit Gravitation
Bei der Herleitung der Raketengleichung haben wir die Gravitation außer Acht gelassen. Es ist jedoch nicht schwierig, den Einfluss der Gravitation zu berücksichtigen. Im Impulssatz tritt sie als äußere Kraft Fext hinzu: dpges dpges Fext = + (9.31) dt dt innerhalb Grenzen
241
Abschnitt 9.5 Die Raketengleichung
(wir nehmen einen senkrechten Aufstieg an, so dass wir bei der eindimensionalen Betrachtung bleiben können). Einsetzen der Terme ergibt (s. Gl. (9.24)): m · v˙ = −m˙ · vrel + Fext .
(9.32)
Bei konstanter Gravitationskraft Fext = −m · g kann man diese Gleichung wieder leicht integrieren und erhält: m ( t0 ) − g ( t1 − t0 ). (9.33) v(t1 ) − v(t0 ) = vrel ln m ( t1 ) Bei senkrechtem Aufstieg überlagern sich die beiden Bewegungen ungestört. Die Geschwindigkeit der Rakete erhöht sich nach der Raketengleichung (9.28); hinzu tritt die freie Fallbewegung im Gravitationsfeld (letzter Term auf der rechten Seite von Gl. (9.33)). Beispielaufgabe: Berechnen Sie die Geschwindigkeit von Apollo 12 nach Brennschluss der ersten Stufe unter der Annahme, dass die Bewegung der Rakete senkrecht nach oben erfolgt. Lösung: Wir legen die gleichen Zahlenwerte wie im vorangegangenen Beispiel zugrunde, gehen aber diesmal von Gl. (9.33) aus:
vEnd = 2630 m/s · ln
2880 t 761 t
− 9,81 m/s2 · 161 s = 1921 m/s.
(9.34)
Dieses Ergebnis liegt nun niedriger als der tatsächliche Wert von 2359 m/s. Der Grund dafür ist, dass die Flugbahn von Apollo 12 nicht einfach geradlinig nach oben führt. Ein Vergleich zwischen Theorie und gemessenen Daten ist daher etwas aufwändiger. Er soll im nächsten Abschnitt erfolgen.
Abb. 9.13: Flugdaten von Apollo 12: Zeit, Ort, Geschwindigkeit und Beschleunigung, jeweils für x-, y- und z-Richtung
242
Kapitel 9 Raketen – Der Start einer Saturn V
Abb. 9.14: Titelseite des Flugberichts von Apollo 12
9.6 Flugbahn und Geschwindigkeit von Apollo 12 9.6.1 Die Rakete kippt
Die Flugbahn von Apollo 12 ist ungewöhnlich gut dokumentiert. Auf dem NASA Technical Reports Server findet man den in Abb. 9.14 gezeigten Bericht Apollo/Saturn V Postflight Trajectory AS-507 (die Zahl 507 steht für den siebten Flug einer Saturn V). In einem Anhang befindet sich eine über 60-seitige Tabelle, in der die Position, die Geschwindigkeit und die Beschleunigung von Apollo 12 im Sekundenabstand dreidimensional dokumentiert ist (Abb. 9.13). Wie schon erwähnt erfolgt der Aufstieg nicht einfach senkrecht nach oben. 16 Sekunden nach dem Start beginnt die Rakete zu „kippen“ und erhöht ihren Winkel zur Vertikalen kontinuierlich (Abb. 9.15). Am Brennschluss der ersten Stufe beträgt er 60◦ , d. h. die Rakete ist zu diesem Zeitpunkt eher waagerecht als senkrecht gerichtet. Das Kippmanöver hat natürlich einen Sinn: Schließlich soll die Rakete ja in eine Erdumlaufbahn einschwenken, und dazu muss sie nicht nur nach oben, sondern auch in horizontaler Richtung an Geschwindigkeit gewinnen. Abb. 9.16 zeigt die Flugbahndaten von Apollo 12. Aufgetragen sind die Höhe x und die Entfernung über der Erdoberfläche z (die NASA hat in ihren Unterlagen die Koordinaten etwas eigenwillig bezeichnet, und um die Konfusion nicht zu vergrößern, sollen die Bezeichnungen hier übernommen wer-
Abschnitt 9.6 Flugbahn und Geschwindigkeit von Apollo 12
243
Abb. 9.15: Kurz nach dem Start beginnt die Rakete zu „kippen“.
den). Die Punkte geben die Position der Rakete bis zum Brennschluss der ersten Stufe nach 161 Sekunden wieder. Der Zeitabstand zwischen zwei Punkten beträgt jeweils 5 Sekunden. Die Abbildung zeigt, dass die S-IC-Stufe die Rakete nicht nur in 67 km Höhe bringt, sondern auch in 93 km horizontale Entfernung vom Startpunkt. Das erklärt, warum die beiden Beispiele zu falschen Werten für die Raketengeschwindigkeiten führten. Mit Gl. (9.33) können wir eine rein vertikale Bewegung beschreiben und mit Gl. (9.28) die Horizontalbewegung bei seitwärts gerichtetem Raketenstrahl. Keiner der beiden Fälle trifft hier jedoch zu. 9.6.2 Transformation in ein frei fallendes Bezugssystem
Was die Lage noch erschwert: Es ist zu mühsam, die Bewegung in einen horizontalen und einen vertikalen Anteil zu zerlegen und beide getrennt zu betrachten. Weil die Rakete kontinuierlich kippt, ändert sich ständig die Richtung des Antriebsstrahls und damit auch diejenige der Beschleunigung. Das Problem lässt sich vereinfachen, wenn man gegen seine Ursache angeht: Die Gravitation stört. Wäre die Erdanziehung nicht vorhanden, könnten wir Gl. (9.28) für alle Raumrichtungen anwenden, und es spielte keine Rolle, in welche Richtung die Raketenspitze gerade zeigt. Die gute Nachricht: Man kann das erreichen. Es geht allerdings nur über einen Wechsel des Bezugssystems, in dem wir die Vorgänge beschreiben. Man kann die Gravitation dadurch „wegtransformieren“, dass man in ein „frei fallendes“ Bezugssystem
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Kapitel 9 Raketen – Der Start einer Saturn V
Höhe x in km 60 50 40 30 20 10 Entfernung z in km 20
40
60
80
Abb. 9.16: Die Flugbahn von Apollo 12. Die Punkte geben die Höhe und die Entfernung über der Erdoberfläche im Abstand von jeweils 5 Sekunden wieder.
wechselt. Das bedeutet einfach, dass wir das Geschehen aus der Perspektive eines Beobachters beschreiben, der sich im freien Fall in Richtung Erdoberfläche befindet (natürlich vor dem Aufprall). In einem solchen Bezugssystem herrscht Schwerelosigkeit. Ein frei fallender Beobachter spürt keine Erdanziehungskraft, sie ist „wegtransformiert“. Man kann dies auch mathematisch zeigen. Der Übergang vom erdfesten Bezugssystem in das frei fallende System erfolgt durch die folgende Koordinatentransformation: (9.35) x 0 = x + 21 g · t2 .
Dabei ist x 0 die Höhe, die ein frei fallender Beobachter in seinem mitgeführten Koordinatensystem für einen Gegenstand angibt, der im erdfesten Bezugssystem die Höhe x hat. Einen Ballon in einer festen Höhe von x = 1000 m sieht er sich immer schneller nach oben bewegen: x 0 nimmt ständig zu. Die Transformation der Geschwindigkeit ergibt sich durch Differentiation: v0 = v + g · t.
(9.36)
Mit dieser Formel kann man auch Gl. (9.33), die Raketengleichung mit Gravitation, ins frei fallende Bezugssystem transformieren. Auflösen von Gl. (9.36) nach v und Einsetzen führt zu: m ( t0 ) − g ( t1 − t0 ). (9.37) v0 (t1 ) − g · t1 − v0 (t0 ) − g · t0 = vrel ln m ( t1 )
Auf der linken und rechten Seite heben sich die Terme auf, die g enthalten. Es ergibt sich: m ( t0 ) v0 (t1 ) − v0 (t0 ) = vrel ln . (9.38) m ( t1 )
Abschnitt 9.6 Flugbahn und Geschwindigkeit von Apollo 12
245
Im frei fallenden Bezugssystem gilt also die Raketengleichung ohne Gravitation – durch den Bezugssystemwechsel hat sich die mathematische Beschreibung wesentlich vereinfacht. Die Idee einer Transformation in ein frei fallendes Bezugssystem ist weniger hanebüchen als Sie vielleicht denken. Immerhin ist das frei fallende Bezugssystem ein Inertialsystem (geworfene Körper bewegen sich geradlinig), das erdfeste System nicht (geworfene Körper bewegen sich auf Parabelbahnen). Bereits zu Anfang des Kapitels wurde Einsteins Suche nach einer relativistischen Formulierung der Naturgesetze unter dem Einfluss der Gravitation angesprochen. Einer der entscheidenden Schritte bei der Entwicklung der allgemeinen Relativitätstheorie war das lokale „Wegtransformieren“ der Gravitation durch Betrachten des Geschehens aus einem frei fallenden Bezugssystem. Hier hatten die Naturgesetze die aus der Physik ohne Gravitationseinfluss wohlbekannte Gestalt. In Einsteins eigenen Worten: „In einem Gravitationsfelde [. . . ] verhalten sich die Dinge so wie in einem gravitationsfreien Raume, wenn man in diesem statt eines Inertialsystems ein gegen ein solches beschleunigtes Bezugssystem einführt.“ 9.6.3 Vergleich der Messdaten mit der Theorie
Durch den Übergang ins frei fallende Bezugssystem ist es erheblich einfacher geworden, die Bewegung von Apollo 12 zu beschreiben. Die Raketengleichung ohne Gravitation ist anwendbar, einerlei wohin die Spitze der Rakete zeigt. Um die Theorie mit den Daten der NASA zu vergleichen, müssen wir die Daten in das frei fallende Bezugssystem transformieren. Alle vertikalen Geschwindigkeitswerte, die die NASA angibt, müssen mit Gl. (9.36) umgerechnet werden. Abb. 9.17 zeigt den Vergleich zwischen den derart umgerechneten NASAMesswerten (Punkte) und der Vorhersage der Raketengleichung (Gl. (9.33)). Aufgetragen ist der Betrag der Geschwindigkeit für die Zeit bis zum Brennschluss der ersten Stufe. Zur Berechnung wurden die gleichen Daten wie in den Beispielen oben eingesetzt: Startmasse 2880 t sowie Endmasse 761 t. Für die Ausströmgeschwindigkeit liegen keine exakten Angaben vor. Der hier zugrunde gelegte Wert von 2630 m/s ergibt die beste Anpassung der theoretischen Kurve an die Messdaten. Für die Treibstoffkombination RP-1/LOX liegt er im üblicherweise angegebenen Wertebereich. Bei der Berechnung der theoretischen Kurve wurde weiterhin angenommen, dass der Treibstoff gleichmä˙ ausströmt. ßig (d. h. mit konstanter Rate m) Für die ersten 135 Sekunden ist die Übereinstimmung zwischen Messdaten und Theorie beeindruckend. Die Abweichung gegen Brennschluss kann man erklären: Beim Flug von Apollo 12 wurde das mittlere der fünf Triebwerke schon nach 135 Sekunden abgeschaltet (vgl. Abb. 9.13, vierte Zeile). Nur die vier äußeren arbeiteten tatsächlich bis Brennschluss. Dadurch reduzierte sich der Schub gegen Ende der Brennphase, und entsprechend fiel der Geschwindigkeitszuwachs geringer aus.
246
Kapitel 9 Raketen – Der Start einer Saturn V
Geschwindigkeit in m/s 3000 2500 2000 1500 1000 500
Zeit in s 50
100
150
Abb. 9.17: Betrag der Geschwindigkeit von Apollo 12 in den ersten 160 Sekunden nach dem Start. Die Werte sind umgerechnet auf ein Bezugssystem, das gegenüber der Erde mit der Beschleunigung − g frei fällt.
9.7 Beschleunigung während des Raketenstarts Das Hauptargument gegen Jules Vernes Mondkanone war die ungeheure Beschleunigung, die die Insassen beim Abschuss des Projektils ertragen mussten und die sie mit Sicherheit nicht überlebt hätten. Wie groß ist im Vergleich die Beschleunigung, die man beim Start einer Saturn V (Abb. 9.18) aushalten muss? Mit dem bisher Erarbeiteten ist die Antwort einfach: Die Raketengleichung (Gl. (9.28)) beschreibt die Geschwindigkeit der Rakete als Funktion der Zeit. Differentiation nach t ergibt die Beschleunigung a(t) = vrel
m˙ . m(t)
(9.39)
Bei konstanter Ausströmrate m˙ ist die Beschleunigung am größten, wenn der Nenner möglichst klein ist. Das ist gegen Ende der Brennphase der Fall, wenn die noch verbliebene Masse m(t) am geringsten ist. Beispielaufgabe: Berechnen Sie die Beschleunigung von Apollo 12 unmittelbar nach dem Start sowie nach 100 s. Lösung: ˙ aus Voll- und Wir nehmen an, dass die Ausströmrate konstant ist. Dann lässt sich m ˙ = (761 t − 2880 t)/161 s = −13,2 t/s. Wenn wir wieder Leergewicht berechnen: m vrel = 2630 m/s zugrunde legen, ergibt sich: (a) unmittelbar nach dem Start:
a(0) = 2630 m/s ·
−13,2 t/s = −12 m/s2 = −1,2 g, 2880 t
(9.40)
Abschnitt 9.7 Beschleunigung während des Raketenstarts
247
Abb. 9.18: Der Start einer Saturn V
(b) die Beschleunigung von Apollo 12 nach 100 s beträgt:
a(100 s) = 2630 m/s ·
−13,2 t/s = −22 m/s2 = −2,2 g. 2880 t − 13,2 t/s · 100 s
(9.41)
Die auftretenden Beschleunigungswerte liegen in einem Bereich, der für die Insassen der Rakete durchaus erträglich ist.
Abb. 9.19 zeigt den von der NASA gemessenen Zeitverlauf der Beschleunigung von Apollo 12, und zwar für alle drei Raketenstufen. Der Bereich ganz links (bis 161 s) entspricht der S-IC-Brennphase. Die im Beispiel berechneten Beschleunigungswerte stimmen recht gut mit den Messdaten überein (der gemessene Wert nach 100 s liegt etwas über dem berechneten Wert). Die maximale Beschleunigung von knapp 4 g tritt wie erwartet gegen Ende der Brennphase der S-IC auf. Man erkennt deutlich den plötzlichen Rückgang der Beschleunigung nach dem Abschalten des mittleren Triebwerks (CECO = center engine cutoff), worauf die Beschleunigung erneut anwächst, bis auch die restlichen vier Triebwerke abgeschaltet werden (OECO = outboard engine cutoff). Die durchaus erträglichen 4 g sind auch schon die größte Beschleunigung, die die Astronauten während des Raketenaufstiegs auszuhalten haben. Die beiden anderen Stufen beschleunigen deutlich „sanfter“. Im Vergleich zur Mondkanone sind die Insassen der Rakete einer wesentlich geringeren Beschleunigung ausgesetzt, die dafür über einen längeren Zeitraum verteilt ist (in Abb. 9.19 sind es etwa 700 s).
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Kapitel 9 Raketen – Der Start einer Saturn V
Abb. 9.19: Beschleunigung von Apollo 12 während des Aufstiegs in die Erdumlaufbahn (gemessene Daten).
9.8 Das Stufenprinzip Die drei Raketenstufen der Saturn V sind nun schon mehrfach angesprochen worden. Jede größere Rakete ist aus mehreren Stufen zusammengesetzt. Aber was ist der Grund für diese Konstruktionsweise? Sie bringt ja einen erhöhten Aufwand mit sich, weil jede Stufe ihre eigenen Triebwerke mit Brennkammer, Zuleitungen und Pumpen braucht. Mit der Raketengleichung (9.28) lässt sich die Frage beantworten. Die mit einer Raketenstufe erreichbare Endgeschwindigkeit hängt neben der Austrittsgeschwindigkeit vrel vom Verhältnis zwischen Startmasse und Leermasse der Stufe ab (vgl. Gl. (9.29)). Und hier kommt man an dem Grundsatz „viel Treibstoff braucht viel Verpackung“ nicht vorbei. Wir haben gesehen, dass es beim Raketenantrieb unvermeidlich ist, einen Teil des Treibstoffs mit anzuheben. Dieser Treibstoff muss in Tanks gespeichert werden. Die Idee hinter dem Stufenprinzip besteht einfach darin, die überflüssig gewordenen Tanks des bereits verbrannten Treibstoffs abzuwerfen, um dadurch ein günstigeres Massenverhältnis zu erreichen. Sehen wir uns wieder die Daten der S-IC an: Sie hat eine Leermasse von 131 t und kann 2150 t Treibstoff aufnehmen. Das für die Endgeschwindigkeit entscheidende Verhältnis mleer /mvoll („Strukturmassenverhältnis“) beträgt etwas über 5%. Mit viel weniger „Verpackung“ für den Treibstoff kommt man auch heute nicht aus. Die Raketengleichung (9.29) sagt aus, dass mit diesem Strukturmassenverhältnis die Endgeschwindigkeit der Rakete nicht größer werden kann als 1 vEnd = vrel ln ≈ 3 vrel , (9.42) 0,05 selbst ohne Berücksichtigung einer zusätzlichen Nutzlast.
Abschnitt 9.8 Das Stufenprinzip
249
Die Geschwindigkeit einer einstufigen Rakete kann daher beim gegenwärtigen Stand der Konstruktionstechnik nicht größer werden als das dreifache der Austrittsgeschwindigkeit ihrer Verbrennungsgase. Für die S-IC bedeutet das eine Endgeschwindigkeit von 3 · 2630 m/s = 7890 m/s (ohne Nutzlast und Gravitation). Das reicht nicht aus, um der Erdanziehung zu entkommen. Eine einstufige Rakete schafft es nicht in den Weltraum. Die sinnvollste Maßnahme, um dem Problem abzuhelfen, ist die Suche nach besseren Raketentreibstoffen: Die Endgeschwindigkeit ist direkt proportional zur Austrittsgeschwindigkeit, die Masse geht dagegen nur über den schwach veränderlichen Logarithmus ein. Hier setzt aber die Chemie Grenzen. Viel mehr Energie als bei der Knallgasreaktion kann man aus einem Kilogramm Treibstoff kaum herausholen. Die Austrittsgeschwindigkeiten bei den besten bekannten Treibstoffkombinationen liegen knapp unter 5000 m/s. Natürlich müssen auch praktische Probleme (etwa die Kühlung von flüssigem Sauerstoff) und die Kosten bedacht werden. Da der Erhöhung der Austrittsgeschwindigkeit Grenzen gesetzt sind, bleibt noch die zweite Alternative: am Massenverhältnis arbeiten. So kommt es zum Stufenprinzip. Die Masse der Saturn V nach dem Ausbrennen der S-IC beträgt in unserem Beispiel 761 t. Das Abwerfen der leeren S-IC verringert die Masse um 131 t, das sind etwa 17%. Dann zündet die zweite Raketenstufe, und das Spiel beginnt von neuem. Auch die durch die S-II (und später die S-IVB) bewirkte Geschwindigkeitsänderung lässt sich mit der neuen Masse durch die Raketengleichung (9.28) beschreiben, wobei man die mit der jeweils vorigen Raketenstufe erreichte Geschwindigkeit als Startgeschwindigkeit v(t0 ) einsetzen muss.
Abb. 9.20: Eine 10 Minuten lang belichtete Aufnahme von J002E3 vor dem Hintergrund des Sternbildes Stier. Die periodischen Helligkeitsschwankungen rühren von der Rotation des Objektes her.
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Kapitel 9 Raketen – Der Start einer Saturn V
Abb. 9.21: Abgeworfene S-IVB-Stufe. Man erkennt die vier Klappen der Verkleidung, hinter der die Mondlandeeinheit verstaut war.
9.9 Was ist J002E3? Bei der Suche nach unentdeckten Asteroiden stieß ein amerikanischer Amateurastronom im September 2002 auf ein vorher unbekanntes Objekt, das auf den Namen J002E3 getauft wurde. Seine Helligkeit entsprach der eines 30 m großen Asteroiden, und weitere Beobachtungen zeigten, dass es etwa einmal in der Minute um seine Achse rotierte (Abb. 9.20). Soweit nichts Ungewöhnliches. Die Analyse der Bahn von J002E3 ergab allerdings Merkwürdiges: Das Objekt befand sich auf einer Umlaufbahn um die Erde. Für einen Asteroiden wäre das ausgesprochen ungewöhnlich. Nur der Mond kreist um die Erde, aber keine Asteroiden. Bahnstörungen im Erde-Mond-System hätten jeden Asteroiden schon vor langer Zeit aus der Erdumlaufbahn hinauskatapultiert. (Eine Ausnahme bildet der zweite Begleiter der Erde, der 3,3 km große Asteroid (3753) Cruithne, der sich auf einer sehr komplexen mit der Erde synchronisierten Bahn bewegt.) Einen die Erde umkreisenden Asteroiden dieser Helligkeit hätte man eigentlich schon viel früher bei einer der automatisierten Himmelsdurchmusterungen finden müssen, die alle paar Monate jedes Fleckchen des Himmels erfassen. Mit anderen Worten: J002E3 konnte die Erde erst seit sehr kurzer Zeit umrunden. Als plausibelste Erklärung bot sich an, dass die Erde einen vagabundierenden Asteroiden eingefangen hatte. Derartiges hatte man vorher auch schon bei Jupiter oder Saturn beobachtet. Eine gute Hypothese – bis man die Farbe des Objekts untersuchte. Spektroskopische Messungen des von J002E3 reflektierten Sonnenlichts ergaben nichts, was auch nur im entferntesten an das Reflexionsspektrum eines Asteroiden erinnerte. Zur Überraschung der Astronomen ähnelte es eher demjenigen von Zahnpasta. Genauer gesagt waren die Messer-
Abschnitt 9.9 Was ist J002E3?
251
Abb. 9.22: Die Bahn von J002E3 während der sechs Erdumrundungen 2002/03
gebnisse konsistent mit Titandioxid. Dieser weiße Farbstoff wurde auch in der Anstrichfarbe der Saturn V und ihrer Komponenten verwendet. War J002E3 ein Teil einer alten Saturn-Rakete? Eine himmelsmechanische Rückrechnung der Bahn von J002E3 zeigte, dass sich das Objekt in einer Umlaufbahn um die Sonne befand, bevor es 2002 von der Erde eingefangen wurde. In Erdnähe war es zuletzt im Jahr 1971, vor 30 Sonnenumrundungen. Es handelte sich also sehr wahrscheinlich um ein Überbleibsel der Apollo-Mondflüge. Die NASA wusste recht gut über den Verbleib der meisten Raketenstufen Bescheid. Nach Ausscheiden aller Alternativen blieb nur noch eine Möglichkeit: J002E3 musste die abgeworfene S-IVBStufe von Apollo 12 sein. Wie wir uns erinnern, fand die Apollo-12-Mission aber schon 1969 statt und nicht 1971. Was passierte mit der S-IVB in der Zwischenzeit? Ihre Geschichte ist ein Lehrstück dafür, wie komplex die Bahnen von Himmelskörpern sein können, wenn mehr als nur zwei Körper beteiligt sind. Nach dem Abwurf der S-IVB von Apollo 12 wurden ihre Triebwerke noch einmal gezündet, um sie „aus dem Weg zu räumen“. Geplant war, sie in eine stabile Bahn um die Sonne einzuschießen. Ihre Triebwerke brannten aber länger als vorgesehen, und so gelangte sie in eine unstabile Bahn um Erde und Mond (ganz ähnlich wie die Bahn von J002E3 im Jahr 2002). Sie umlief die Erde einige Male, bis sie offenbar im Jahr 1971 durch eine Bahnstörung aus dem Erde-Mond-System hinausgeworfen wurde. Für die nächsten 30 Jahre umrundete sie auf einer Ellipsenbahn die Sonne – bis sie im Jahr 2002 der Erde zu nahe kam und von ihr für einige Zeit eingefangen wurde. Statt um die Sonne lief sie nun um die Erde, und zwar auf einer komplexen, rosettenförmigen Bahn mit einer Periode von 50 Tagen (Abb. 9.22). Wie
252
Kapitel 9 Raketen – Der Start einer Saturn V
wir wissen, blieb sie dabei nicht unbeobachtet. Aber auch dieser Abschnitt in ihrem Lebenslauf blieb ein Intermezzo. Nach sechs Erdumläufen kam sie im Juni 2003 dem Mond zu nahe und wurde durch die Begegnung erneut auf eine Sonnenumlaufbahn geschleudert. Die Geschichte wiederholt sich. Vielleicht kommt die unstete Raketenstufe wieder. Es kann sein, dass J002E3 im Jahr 2032, nachdem sie lange genug ihre Runden um die Sonne gezogen hat, wieder einmal für einige Zeit um die Erde kreisen und dabei die Astronomen erfreuen wird.
10 Himmelsmechanik
Per Anhalter zu den Planeten
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Kapitel 10 Himmelsmechanik – Per Anhalter zu den Planeten
10.1 Energien im Sonnensystem Mit Raketen kennen Sie sich inzwischen gut aus, und das Starten einer Saturn V sollte kein großes Problem mehr für Sie darstellen. Aber was kommt dann? Sie „parken“ vorübergehend in einem Erdorbit und überlegen sich, wohin die Reise nun gehen soll. Zum Mars? Kein Problem. Aber bevor Sie die Triebwerke zünden und auf dem kürzesten Weg dorthin fliegen, sollten Sie noch ein Stück weiterlesen. Prüfen Sie einmal, ob Sie der folgenden verbreiteten Vorstellung zustimmen können: Zum Start einer Rakete ist sehr viel Energie nötig. Die große Hürde ist das Überwinden der Erdanziehungskraft. Wenn sie das geschafft hat, steht ihr der Weltraum offen. Hat eine Raumsonde erst den Anziehungsbereich der Erde verlassen, dann fliegt sie „einfach so“ weiter. Wenn man gut gezielt hat, trifft sie den Mars. Und sollte die Raumsonde den Mars verfehlen, dann fliegt sie hinaus in die unendlichen Weiten des Weltalls. Mit anderen Worten: Es geht im Wesentlichen geradeaus. Diese Vorstellung ist leider falsch. In Richtung Mars geht es nämlich im Wesentlichen bergauf. Und zwar ziemlich lange und ziemlich steil. Mit dem Verlassen des Anziehungsbereichs der Erde ist erst das kleinere Problem gemeistert. Denn wie Sie sich erinnern, bewegt sich die Erde um die Sonne. Sie tut das, weil die Gravitationskraft der Sonne auf sie wirkt. Und mit der Gravitationsanziehung der Sonne müssen Sie auch auf Ihrer Reise durch das Sonnensystem zurechtkommen. Bei der Wahl des Reiseziels müssen Sie sich entscheiden. Soll Ihre Reise in Richtung Sonne gehen, etwa zur Venus, dann wirkt die Gravitationskraft der Sonne in die richtige Richtung. Sie können sich dann einfach fallen lassen. Allerdings müssen Sie am Ziel für das Abbremsen sorgen. Anders sieht es aus, wenn Sie nicht zur Sonne wollen, sondern zu den äußeren Planeten oder noch weiter hinaus. Dann wirkt die Gravitationskraft der Sonne dem Vorhaben entgegen. Sie müssen bergauf. Genauso, wie Sie mit Ihrer Rakete die Gravitationsanziehung der Erde überwunden haben, müssen Sie nun gegen die Gravitationsanziehung der Sonne kämpfen. Wie wir gleich sehen werden, ist dies für alle in Frage kommenden Reiseziele die größere Aufgabe. Die Sonne ist zwar weit weg, aber sie ist eben auch sehr, sehr viel massereicher als die Erde. 10.1.1 Potentielle Energie beim Verlassen der Erde
Um die „Bergaufbewegung“ im Gravitationsfeld von Erde und Sonne physikalisch zu erfassen, verwenden wir die in Gl. (9.13) eingeführte potentielle Energie der Gravitation. Ist m die Masse des Raumschiffs, mE die Masse der Erde und r der Abstand zwischen Raumschiff und Erdmittelpunkt, dann ist die potentielle Energie der Erdgravitation: Erde Epot (r ) = − G
m · mE . r
(10.1)
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Abschnitt 10.1 Energien im Sonnensystem
Wir fragen zunächst: Wie viel Energie müssen wir mindestens aufwenden, um unser Raumschiff von der Erdoberfläche aus dem Anziehungsbereich der Erde hinauszubefördern? Man nennt diese Energie die Fluchtenergie der Erde Erde . Eine ganz ähnliche Fragestellung haben wir bereits bei der Berechnung EFlucht der Fluchtgeschwindigkeit in Kapitel 9 gelöst. Wir mussten dazu die Differenz der potentiellen Energien an der Erdoberfläche und sehr weit weg von der Erde bilden: Erde Erde Erde EFlucht = Epot (∞) − Epot (rE ). (10.2)
„Sehr weit weg von der Erde“ bedeutet hier: So weit entfernt von der Erde, dass man ihre Gravitationsanziehung vernachlässigen kann, ohne dass sich jedoch die Entfernung zur Sonne nennenswert verändert hat (z. B. an dem mit „Raumschiff“ bezeichneten Ort in Abb. 10.1). Einsetzen der Werte für den Erdradius rE = 6370 km und die Erdmasse mE = 5,97 · 1024 kg ergibt: m · mE rE J = m · 63 · 106 . kg
Erde EFlucht = 0+G
(10.3)
Das bedeutet: Um den Anziehungsbereich der Erde zu verlassen, müssen für jedes Kilogramm Nutzlast 63 Megajoule aufgewendet werden. Rechnen Sie es nach: Ein Körper mit der Fluchtgeschwindigkeit von 11,2 km/s besitzt gerade den in Gl. (10.3) berechneten Wert der kinetischen Energie.
Erde
Raumschiff
r Sonne r = RE
Abb. 10.1: Zur Berechnung der Fluchtenergie aus dem Anziehungsbereich von Erde und Sonne
256
Kapitel 10 Himmelsmechanik – Per Anhalter zu den Planeten
10.1.2 Potentielle Energie im Gravitationsfeld der Sonne
Sie befinden sich nun in ausreichender Entfernung von der Erde. Wie die Erde selbst sind auch Sie der Gravitationsanziehung der Sonne ausgesetzt, und Sie befinden sich daher auf einer Umlaufbahn, die Sie synchron zur Erde in einem Jahr um die Sonne führt. Ihre Entfernung zur Sonne ist so groß wie die der Erde: 149,6 Millionen Kilometer. Man bezeichnet diesen Abstand auch als eine Astronomische Einheit (1 AE). Die Fluchtenergie von hier aus dem Anziehungsbereich der Sonne heraus kann man genauso berechnen wie die von der Erdoberfläche. Statt der potentiellen Energie der Erde müssen wir nun diejenige der Sonne betrachten (Sonnenmasse mS = 1,99 · 1030 kg, und statt des Erdradius den Radius der Erdbahn um die Sonne einsetzen (RE = 1 AE): Sonne Sonne Sonne EFlucht ( RE ) = Epot (∞) − Epot ( RE ).
(10.4)
Es ergibt sich: Sonne EFlucht ( RE ) = 0 + G
m · mS RE
= m · 888 · 106
J . kg
(10.5)
Um von der Erdbahn aus dem Sonnensystem hinauszugelangen, müssen Sie für jedes Kilogramm Nutzlast demnach eine Energie von 888 MJ aufwenden. Das ist 14 Mal mehr Energie als für das Verlassen der Erdanziehung erforderlich ist. Die entsprechende Fluchtgeschwindigkeit beträgt 42 km/s. Dieses Ergebnis bedeutet nicht, dass Sie in Ihre Rakete auf der Erde einfach nur 14 Mal so viel Sprit einfüllen müssen und damit das Sonnensystem verlassen können. Für den Start von der Erdoberfläche muss diese Treibstoffmenge als Nutzlast gerechnet werden, denn Sie müssen sie aus dem Anziehungsbereich der Erde befördern. Verglichen mit der Saturn V besteht Ihre Nutzlast nicht nur aus der Mondlandefähre mit einer Masse von wenigen Tonnen, sondern Sie müssten ein Monsterraumschiff mit der 14-fachen Treibstoffmasse der Saturn V in den Orbit bringen. Welche Treibstoffmenge eine Trägerrakete für 14 vollgetankte Saturn-V-Raketen benötigen würde, können Sie sich leicht ausmalen. So wie es aussieht, scheiden damit Flugziele außerhalb des Sonnensystems wegen unüberwindbarer energetischer Schwierigkeiten aus. 10.1.3 Kinetische Energie aufgrund der Erdbewegung
Einen Umstand haben wir noch nicht bedacht: Unser Raumschiff ist von der Erde aus gestartet, und daher bekommt es die Bahngeschwindigkeit der Erde und die damit verbundene kinetische Energie „geschenkt“. Wir können leicht berechnen, wie viel das ausmacht: Die Erde bewegt sich in einem Jahr um die
257
Abschnitt 10.2 Die keplerschen Gesetze
Sonne. Wir gehen von einer Kreisbahn mit dem Radius von 1 AE aus und erhalten für die Bahngeschwindigkeit: v=
2π · 1 AE Weg = = 29,8 km/s. Zeit 1 Jahr
(10.6)
Die entsprechende kinetische Energie ist: Ekin = 12 mv2 = m · 444 · 106
J . kg
(10.7)
Das ist genau die Hälfte der zum Verlassen des Sonnensystems benötigten Energie (siehe Gl. (10.5)). Die Diskussion in Kasten 10.1 zeigt Ihnen, dass dies kein Zufall ist. 10.1.4 Energieverhältnisse für eine Reise zum Mars
Stecken wir unsere Ziele ein wenig niedriger und betrachten zunächst einen Flug zum Mars, bevor wir das Sonnensystem verlassen. Die benötigte Energie ist die Differenz der potentiellen Energien von Erdbahn und Marsbahn (R M = 1,52 AE): Sonne Sonne ∆Epot = Epot ( R M ) − Epot ( RE ). (10.8) Es ergibt sich:
∆Epot = − G · m · mS
= m · 305 · 106
1 1 − RM RE
J . kg
(10.9)
Das ist zwar immer noch knapp das Fünffache der Fluchtenergie von der Erde, aber schon bedeutend weniger als der in Gl. (10.5) errechnete Wert für das Verlassen des Sonnensystems. Und wir haben ja noch die kinetische Energie durch die Bahnbewegung der Erde. Um zu verstehen, wie man in dieser Ausgangslage eine Reise zum Mars plant, muss man einiges über die Bahnen von Körpern im Gravitationsfeld der Sonne wissen. Deswegen beschäftigen wir uns jetzt etwas ausführlicher mit Himmelsmechanik, bevor wir mit unserer Expedition fortfahren.
10.2 Die keplerschen Gesetze 10.2.1 Formulierung der keplerschen Gesetze
Die klassische Mechanik erwuchs historisch aus dem Versuch, die Bewegung der Planeten zu verstehen. In diesem Bemühen, das bis in die griechische Antike zurückreicht, gelang Johannes Kepler (1571–1630) einer der entscheidenden Schritte. Nach Tycho Brahes (1546–1601) Tod kam er in den Besitz von dessen enormen Korpus an Beobachtungsdaten. Mit einem geradezu unglaublichen Streben nach Genauigkeit konnte Kepler ein konsistentes und einfaches
258
Kapitel 10 Himmelsmechanik – Per Anhalter zu den Planeten
Kasten 10.1 Der Virialsatz und die Hierarchie der Erhaltungssätze Bei der Berechnung der kinetischen und der potentiellen Energie unseres Raumschiffs ergab sich, dass die kinetische Energie exakt halb so groß ist wie der Betrag der potentiellen Energie. Diese bemerkenswerte Übereinstimmung beruht nicht einfach auf Zufall, sondern ist durch ein allgemeines Gesetz erklärbar: den Virialsatz. Betrachten wir ein abgeschlossenes System aus Körpern, das durch innere Kräfte gebunden ist (d. h. keiner der Körper soll im Lauf der Zeit ins Unendliche entwischen). Für die potentielle Energie der Wechselwirkung zwischen den Körpern wird eine Abstandsabhängigkeit der Form
a (10.10) rn vorausgesetzt. Dabei ist a eine Konstante. Für n = 1 beschreibt dies z. B. die GraviEpot (r ) =
tation (vgl. Gl. (10.1)) oder die elektrische Wechselwirkung aufgrund des CoulombGesetzes. Der Virialsatz besagt, dass für ein solches System
h Ekin i = −
n h Epot i 2
(10.11)
gilt, wobei h. . .i das zeitliche Mittel über einen längeren Zeitraum bedeutet (mehrere Umläufe, Schwingungsdauern etc.). Für die Gravitation (n = 1) ergibt sich:
h Ekin i = −
1 h Epot i, 2
(10.12)
was gerade unserem Ergebnis entspricht, h Ekin i = 444 MJ/kg und h Epot i = −888 MJ/kg. Eine Mittelung über mehrere Umläufe war bei der betrachteten Kreisbahn nicht erforderlich, weil in diesem Fall die kinetische und die potentielle Energie ohnehin zeitlich konstant sind. Ein weiterer interessanter Fall ist die Feder, an der ein Massestück schwingt. Nach dem hookeschen Gesetz ist n = −2 (vgl. Gl. (7.35)), und damit ergibt sich:
h Ekin i = h Epot i.
(10.13)
Der Virialsatz ist mit der newtonschen Bewegungsgleichung beweisbar, kann also unter den genannten Voraussetzungen als allgemeingültig angesehen werden. Trotzdem nimmt er in der Hierarchie der Erhaltungssätze einen niedrigeren Rang ein als die „höheren Würdenträger“, die mit der majestätischen Erhabenheit eines Energieoder Impulserhaltungssatzes aufwarten können. Letztere werden als theorienübergreifende Rahmenkonzepte angesehen, die tiefgründig auf räumliche oder zeitliche Symmetrien der Naturgesetze zurückgeführt werden können (das ist der Inhalt des sogenannten Noether-Theorems). Ganz unten in der Rangskala stehen Erhaltungssätze, die von den Physikern eher als Kuriosa angesehen werden und deren Herkunft eigentlich niemand so recht erklären kann. Ein Beispiel für diese Kategorie ist die Erhaltung des Runge-Lenz-Vektors bei der gegenseitigen Gravitationsanziehung zweier Körper (z. B. Sonne und Erde). Von diesem Erhaltungssatz wollen wir deshalb auch nichts weiter berichten, außer dass er weder von Runge noch von Lenz entdeckt wurde. (Damit erfüllt er die Grundregel für die Benennung physikalischer Größen: Nichts wird nach dem benannt, der es entdeckt hat.)
259
Abschnitt 10.2 Die keplerschen Gesetze
Modell entwickeln, das er 1609 in drei Gesetzen zusammenfasste. Isaac Newton setzte 75 Jahre später den Schlusspunkt in der Entwicklung der Himmelsmechanik, indem er zeigte, dass die keplerschen Gesetze aus seiner Mechanik und seiner Theorie der Gravitation herleitbar sind. Auch mehr als 300 Jahre später ist dieser letzte Schritt mit einigem mathematischen Aufwand verbunden, und so wollen wir uns auf die Wiedergabe der keplerschen Gesetze beschränken, ohne sie aus der newtonschen Theorie zu begründen. Keplersche Gesetze: Die drei von Kepler aufgestellten Gesetze für die Bewegung der Planeten um die Sonne lauten wie folgt: (1) Die Planeten bewegen sich auf Ellipsen, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht. (2) Die Verbindungslinie Sonne–Planet überstreicht in gleichen Zeiten gleiche Flächen (Abb. 10.2). (3) Für alle Planeten gilt: a3 = konst. T2
=
GmS 4π 2
,
(10.14)
wobei a die große Halbachse der Ellipse ist, T die Umlaufzeit des Planeten um die Sonne und mS die Masse der Sonne. Der Term in Klammern in Gl. (10.14) soll andeuten, dass Kepler zwar den numerischen Wert der Konstanten bestimmen konnte. Ihre Rückführung auf die Konstanten G und mS gelang aber erst mit Newtons Gravitationstheorie. 10.2.2 Bemerkungen zu den keplerschen Gesetzen
Einige Bemerkungen sollen zum besseren Verständnis der keplerschen Gesetze beitragen. (1) Eine Ellipse ist die Menge aller Punkte, für die die Summe der Entfernungen von den beiden Brennpunkten konstant ist (ihr Wert ist 2a). Abb. 10.3 zeigt die Lage der großen Halbachse a und der kleinen Halbachse b. Ein Kreis ist ein Spezialfall einer Ellipse mit a = b. Die beiden Brennpunkte fallen im Kreismittelpunkt zusammen. (2) Die Bahnen der Planeten sind fast kreisförmig. Abb. 10.4 zeigt eine maßstäbliche Darstellung der Marsbahn (durchgezogene Linie). Mit bloßem Auge ist sie von einem Kreis nicht zu unterscheiden. Die kleine Halbachse misst 99,6% der großen Halbachse. Deutlich sichtbar ist dagegen, dass die Position der Sonne im Brennpunkt der Ellipse nicht mit dem durch ein Kreuz markierten Kreismittelpunkt zusammenfällt. Die gestrichelte Linie zeigt zum Vergleich eine Kreisbahn mit der Sonne im Zentrum.
260
Kapitel 10 Himmelsmechanik – Per Anhalter zu den Planeten
Abb. 10.2: Zum 2. keplerschen Gesetz
a
a
b a große Halbachse
kleine Halbachse
Brennpunkte
Abb. 10.3: Eine Ellipse mit Brennpunkten sowie großer und kleiner Halbachse a und b
(3) In keinem der keplerschen Gesetze kommt die Planetenmasse vor. Die Bahn eines Planeten hängt daher nicht von seiner Masse ab. Diese Aussage gilt nicht nur für die Planetenbewegung, sondern für alle Bahnen unter dem alleinigen Einfluss der Gravitation. Auch beim freien Fall auf der Erde fallen schwere und leichte Körper gleich. Ein schönes Beispiel sind die sogenannten Trojaner. Es handelt sich dabei um eine Gruppe von Asteroiden, die auf der gleichen Bahn um die Sonne laufen wie Jupiter. Nach dem dritten keplerschen Gesetz ist ihre Umlaufzeit um die Sonne die gleiche wie die von Jupiter. Die winzigen Trojaner bewegen sich in konstantem Abstand vor und hinter dem riesigen Jupiter, ohne ihm jemals in die Quere zu kommen. (4) Hat man durch astronomische Beobachtungen die Bewegung eines Körpers um ein Zentralgestirn erfasst (z. B. eines Mondes um einen Planeten oder eines Planeten um die Sonne), kann man mit dem dritten keplerschen Gesetz die Masse des Zentralgestirns berechnen. Da umgekehrt die Masse des umlaufenden Körpers keinen Einfluss auf seine Bahn hat, kann man sie durch Bahnbeobachtungen auch nicht herausfinden.
261
Abschnitt 10.2 Die keplerschen Gesetze
Abb. 10.4: Gestalt der Marsbahn, maßstäblich dargestellt (durchgezogene Linie)
Als Beispiel ermitteln wir die Sonnenmasse aus dem Abstand der Erde von der Sonne und der Länge eines Jahres: 4π 2 a3 4π 2 mS = · 2 = G T 6,67 · 10−11
= 1,99 · 1030 kg.
m3 kg·s2
·
1,496 · 1011 m
3
(365,26 · 24 · 3600 s)2
(5) Wie bei jedem abgeschlossenen System ist auch bei der Planetenbewegung die Gesamtenergie Eges = Ekin + Epot konstant. Ihr Wert hängt nur von der großen Halbachse a der Umlaufbahn ab, nicht von der kleinen: Eges = −
1 G m mS . 2 a
(10.15)
Für den Spezialfall einer Kreisbahn kann man die Gleichung leicht nachvollziehen. Die potentielle Energie eines Planeten der Masse m im Abstand r = a von der Sonne ist nach Gl. (9.13): Epot = −
G m mS . a
(10.16)
Nach dem Virialsatz gilt für die kinetische Energie h Ekin i = − 12 h Epot i. Bei einer Kreisbahn ist die Mittelung nicht notwendig, so dass sich für die Summe Ekin + Epot die Gleichung (10.15) ergibt. (6) Die Bahngeschwindigkeit eines Körpers auf einer Kreisbahn um die Sonne ist zeitlich konstant. Bewegt er sich jedoch auf einer elliptischen Bahn, variiert seine Geschwindigkeit. Nahe an der Sonne ist der Planet schneller, in weiter Entfernung bewegt er sich langsamer. Das folgt unmittelbar
262
Kapitel 10 Himmelsmechanik – Per Anhalter zu den Planeten
E
r1
Ekin(r1)
r
r2
Ekin(r2)
Gesamtenergie des Planeten
potentielle Energie des Planeten Abb. 10.5: In größerer Entfernung von der Sonne ist die potentielle Energie eines Planeten größer und seine kinetische Energie daher geringer.
aus dem Flächensatz, ist aber auch über den Energiesatz zu verstehen (Abb. 10.5). Die Gesamtenergie des Körpers ist konstant. Weil die potentielle Energie mit der Entfernung ansteigt (weniger negativ wird), bleibt in großem Abstand von der Sonne nur ein geringerer Betrag für die kinetische Energie übrig. (7) Nach Gl. (10.15) ist die Gesamtenergie eines Planeten auf einer Ellipsenbahn immer negativ. Sie ist nicht groß genug, um ihn aus dem Sonnensystem entkommen zu lassen. Ein Körper auf einer Ellipsenbahn ist an die Sonne gebunden. Es gibt im Gravitationsfeld aber auch Bahnen mit positiver Energie. Es handelt sich dabei um Hyperbelbahnen (Abb. 10.6). Eine Hyperbel ist die Menge aller Punkte, deren Abstandsdifferenz von zwei
Abb. 10.6: Hyperbelbahn
Abschnitt 10.2 Die keplerschen Gesetze
263
Abb. 10.7: Newtons Illustration aus den „Principia“, die den Übergang vom Wurf zum Erdumlauf zeigen soll: Ein Stein, den man mit immer größerer Geschwindigkeit von einer Bergspitze wirft, wird schließlich nicht mehr auf dem Erdboden landen, sondern die Erde „umfallen“. In diesem Sinn „umfällt“ auch der Mond die Erde.
Punkten (den Brennpunkten) konstant ist. Wie bei den Ellipsenbahnen steht in einem der Brennpunkte die Sonne. Ein Körper auf einer Hyperbelbahn ist nicht an die Sonne gebunden, denn seine Gesamtenergie ist größer als die potentielle Energie im Unendlichen. Die gestrichelte Linie, die in Abb. 10.5 die Gesamtenergie anzeigt, „rutscht“ nach oben über den Wert E = 0 hinaus. Hyperbelbahnen kommen aus dem Unendlichen und gehen ins Unendliche. In großer Entfernung von der Sonne wird die Bewegung geradlinig-gleichförmig; die Bahn nähert sich den in Abb. 10.6 eingezeichneten Asymptoten. Ist die Gesamtenergie eines Körpers exakt null (gewissermaßen an den Grenze zwischen Ellipsen- und Hyperbelbahn), besitzt seine Bahn die Form einer Parabel. (8) Dem freien Fall und der Bewegung des Mondes um die Erde liegt die gleiche physikalische Ursache zugrunde: die Gravitationsanziehung der Erde. Es war eine der großen Leistungen Newtons zu erkennen, dass diese beiden so verschieden scheinenden Bewegungen auf die gleiche physikalische Ursache zurückzuführen sind (sicherlich kennen Sie die Geschichte vom herunterfallenden Apfel). Newton veranschaulichte den graduellen Übergang von der Wurfbewegung zum Erdumlauf mit der Zeichnung in Abb. 10.7. Wirft man einen Ball, so ist die resultierende „Wurfparabel“ in Wirklichkeit ein Ausschnitt aus einer Ellipsenbahn, die vom Aufprall auf die Erdoberfläche unterbrochen wird. Für den betrachteten kleinen Ellipsenausschnitt ist die Übereinstimmung mit der Parabel so gut, dass man sich über die Abweichung keine Sorgen machen muss. Der Einfluss des Luftwiderstandes ist z. B. sehr viel größer. Dass Wurfparabeln eine gute Beschreibung der Flugbahnen geworfener Körper darstellen, kann man auch anders verdeutlichen: Parabeln sind Lösungen der newtonschen Bewegungsgleichung für eine flache Erde, bei der die Gravitationskraft überall dieselbe Richtung hat (d. h. nicht auf
264
Kapitel 10 Himmelsmechanik – Per Anhalter zu den Planeten
ein Zentrum hin gerichtet ist). Solange die Bewegung auf ein so kleines Gebiet beschränkt bleibt, dass man die Erdoberfläche als flach ansehen kann, ist eine Wurfparabel eine gute Beschreibung des Wurfs ohne Luftwiderstand. (9) Die Bahngeschwindigkeit der Planeten nimmt von innen nach außen hin ab. Von allen Planeten bewegt sich der innerste (Merkur) mit der höchsten Geschwindigkeit. Für eine Kreisbahn mit Radius r lässt sich die Bahngeschwindigkeit aus dem Verhältnis von zurückgelegter Strecke (Kreisumfang 2πr) und Umlaufzeit T berechnen: v=
2πr . T
(10.17)
Die Umlaufzeit ergibt sich aus dem dritten keplerschen Gesetz, das wir nach T auflösen (mit a = r für eine kreisförmige Bahn): 2π · r3/2 . T= √ GmS
(10.18)
Einsetzen von Gl. (10.18) in Gl. (10.17) ergibt: v (r ) =
p
1
GmS · r − 2 .
(10.19)
Die Bahngeschwindigkeit der Planeten nimmt demnach mit dem Ab1 stand von der Sonne wie r − 2 ab. Abb. 10.8 zeigt die sehr gute Übereinstimmung dieser Vorhersage der keplerschen Gesetze mit den tatsächlichen Werten.
Abb. 10.8: Bahngeschwindigkeit und Abstand von der Sonne
Abschnitt 10.2 Die keplerschen Gesetze
265
Kasten 10.2 Flache Rotationskurven und dunkle Materie Galaxien sind riesige, durch Gravitation gebundene Ansammlungen von Sternen. Eine Galaxie wie die Milchstraße enthält mehrere Hundert Milliarden Sterne. Viele Galaxien besitzen neben einem kugelförmigen Kern („bulge“) eine ausgeprägte Spiralarmstruktur. Spiralgalaxien befinden sich in Rotation, d. h. die Sterne umlaufen das galaktische Zentrum (oft dauert ein Umlauf Hunderte von Millionen Jahren). In den späten sechziger Jahren gelang es den Astronomen erstmals zuverlässig, die Bahngeschwindigkeiten dieser Umlaufbewegung zu messen. Die Abbildung oben zeigt eines der bedeutungsvollsten Diagramme der Astrophysik: ein optisches Bild der Andromedagalaxie, unserer Nachbargalaxie, zusammen mit den damals von Vera Rubin gemessenen Geschwindigkeitsdaten. Eine solche Darstellung der Bahngeschwindigkeit in Abhängigkeit vom Abstand zum Zentrum nennt man die Rotationskurve der Galaxie. Die Messungen erstrecken sich bis weit jenseits ihres sichtbaren Randes. Die Daten zeigen, dass die Bahngeschwindigkeiten der Sterne bis zu den größten gemessenen Abständen fast unabhängig vom Radius sind. Die Rotationskurve ist flach. Differentielle Rotation Was bedeutet das? Zunächst kann man folgern, dass eine Galaxie nicht als Ganzes gleichförmig rotiert (etwa wie ein Frisbee). Wäre das der Fall, müssten die Sterne weiter außen mit höherer Bahngeschwindigkeit um das galaktische Zentrum laufen: Sie müssten einen größeren Weg in der gleichen Umlaufzeit zurücklegen. Ein Stern im Abstand r vom Zentrum legt bei einem Umlauf die Strecke 2πr (Kreisumfang) zurück. Seine Bahngeschwindigkeit ist daher v(r ) = 2πr/T . Bei der Frisbeebewegung müsste daher die Bahngeschwindigkeit der Sterne in der Galaxie linear mit dem Abstand vom Zentrum ansteigen. Dies entspricht aber nicht den Beobachtungen. Die Spiralarme einer Galaxie rotieren folglich nicht als Ganzes. Sie „zerfließen“ nur deshalb nicht im Lauf der Zeit, weil sie sich dynamisch als Dichtewellen aus den hindurchlaufenden Sternen ausbilden (ganz ähnlich wie der Stau vor einer Autobahnbaustelle immer an der gleichen Stelle bleibt, obwohl die Autos, die den Stau bilden, ständig wechseln). Dunkle Materie Die weitaus größere Überraschung für die Astrophysiker war die flache Form der Rotationskurve. Für Sterne, die das Zentrum der Galaxie sehr weit außen umkreisen, liegt der Großteil der galaktischen Masse im Innern ihrer Umlaufbahn.
266
Kapitel 10 Himmelsmechanik – Per Anhalter zu den Planeten
Wenn wir uns wie im Merksatz auf S. 226 die gesamte Masse innerhalb der Umlaufbahn im Zentrum konzentriert denken und das dritte keplersche Gesetz anwenden, 1
würde man erwarten, dass die Bahngeschwindigkeit am Rand der Galaxie wie r − 2 abfällt, etwa wie in Abb. 10.8. Bei den meisten Galaxien findet man aber bis zu den größten beobachtbaren Entfernungen diesen sogenannten „Kepler-Falloff“ nicht. Die Rotationskurven bleiben flach. Diese Beobachtung war ein erster Hinweis auf die sogenannte dunkle Materie. Sie leuchtet nicht, bestimmt aber durch ihre Gravitationswirkung die Bewegung der Sterne in einer Galaxie. Die flachen Rotationskurven zeigen, dass sich die dunkle Materie sehr viel weiter nach außen erstrecken muss als die optische Erscheinung einer Galaxie suggeriert. In der Andromeda-Galaxie muss der Raum bis über die äußersten Messpunkte hinaus mit dunkler Materie erfüllt sein. Man vermutet, dass die dunkle Materie die Galaxien wie ein kugelförmiger Halo umgibt. Ihre Masse übersteigt die der sichtbaren Materie um ein Mehrfaches. Für die Existenz dunkler Materie spricht inzwischen eine Vielzahl voneinander unabhängiger Hinweise. Sie kommen aus der Interpretation der kosmischen Hintergrundstrahlung, aus der Dynamik von Galaxienclustern, aus Modellen für die Galaxienentstehung und aus der Erklärung der kosmischen Elementhäufigkeiten. Es bleibt aber unklar, um was es sich bei der dunklen Materie eigentlich handelt. Fest steht nur, dass sie zum allergrößten Teil nicht aus gewöhnlicher Materie, d. h. aus Atomen besteht. Niemand weiß es genau, aber die meisten Physiker tippen auf neue, noch unbekannte Elementarteilchen. Die Abbildung unten zeigt den bisher direktesten Nachweis dunkler Materie. Die Verteilung der leuchtenden Materie im Galaxienhaufen 1E 0657-556 ist rot eingezeichnet. Mit Hilfe des Gravitationslinseneffekts konnte zusätzlich die Verteilung der gesamten – also auch der nichtleuchtenden – Materie bestimmt werden (im Bild blau). Den Unterschied zwischen beiden Verteilungen interpretiert man als starken Hinweis auf dunkle Materie, die sich nur durch ihre Gravitationswirkung bemerkbar macht.
267
Abschnitt 10.2 Die keplerschen Gesetze
Beispielaufgabe: Ein Schwarzes Loch im Zentrum der Milchstraße Schon seit Mitte der siebziger Jahre vermuten die Astronomen, dass sich im Zentrum der meisten Galaxien sehr massereiche schwarze Löcher verbergen. Auch unsere Milchstraße soll ein solches schwarzes Loch beherbergen. Abb. 10.9 zeigt eine Infrarotaufnahme des Zentrums der Milchstraße mit der sehr hellen Lichtquelle Sgr A (die Bezeichnung Sgr = Sagittarius weist darauf hin, dass das galaktische Zentrum im Sternbild des Schützen liegt). Im Innern von Sgr A, exakt im Zentrum der Milchstraße, befindet sich die kompakte Radio- und Röntgenquelle Sgr A∗ . Sie ist der hauptverdächtige Kandidat für das schwarze Loch. Wissenschaftlern vom Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik in Garching gelang es, den Stern S2, der sich in einem Abstand von nur wenigen Lichttagen um Sgr A∗ bewegt, über 10 Jahre zu verfolgen. Nach den in Abb. 10.9 rechts gezeigten Daten stimmt seine Bahn sehr gut mit der eingezeichneten Kepler-Ellipse mit einer großen Halbachse von 5,5 Lichttagen überein. Die Messungen ergeben eine Bahnperiode von 15,2 Jahren. Berechnen Sie mit dem dritten keplerschen Gesetz, wie groß die Masse ist, deren Gravitationswirkung die Bahn von S2 verursacht. Lösung: Wir gehen vor wie auf S. 261 bei der Berechnung der Sonnenmasse aus den Daten für den Umlauf der Erde um die Sonne. Nach dem dritten keplerschen Gesetz gilt:
mSgr A∗ =
4π 2 a3 · . G T2
(10.20)
Für a setzen wir 5,5 Lichttage (= 1,4 · 1014 m) ein, für die Umlaufzeit T 15,2 Jahre (= 4,8 · 108 s):
mSgr A = ∗
4π 2 6,67 · 10−11
m3 kgs2
·
1,4 · 1014 m
3
(4,8 · 108 s)
2
= 7,4 · 1036 kg
= 3,7 · 106 Sonnenmassen. Im Zentrum der Milchstraße sind demnach 3,7 Millionen Sonnenmassen auf engstem Raum zusammengeballt. Der geringste Abstand zwischen S2 und Sgr A∗ beträgt nur 17 Lichtstunden (unteres Ende der Ellipse in Abb. 10.9), das ist etwa das Dreifache des Abstands Sonne–Pluto. Die Masse, die S2 auf seiner Umlaufbahn hält, muss innerhalb dieses Raumbereiches konzentriert sein. Für eine derart große Massenansammlung innerhalb eines so geringen Volumens gibt es nach unserem derzeitigen physikalischen Wissensstand nur eine Erklärung: Bei Sgr A∗ muss es sich um ein schwarzes Loch mit 3,7 Millionen Sonnenmassen handeln.
10.2.3 Gravitationsgesetz und drittes keplersches Gesetz
Für den speziellen Fall der Kreisbahn kann man das dritte keplersche Gesetz auf einfache Weise aus dem newtonschen Gravitationsgesetz herleiten. Der Planet befindet sich in einer beschleunigten Bewegung. Erinnern Sie sich an den Hammerwurf aus Kapitel 2: Jeder Körper auf einer Kreisbahn erfährt eine nach innen gerichtete Beschleunigung (Abb. 2.6). Es muss ständig eine zum
268
Kapitel 10 Himmelsmechanik – Per Anhalter zu den Planeten
Abb. 10.9: Links: Infrarotaufnahme des galaktischen Zentrums mit Sgr A (hellster Fleck). Rechts: Tief im Innern von Sgr A bewegt sich der Stern S2 auf der eingezeichneten Ellipse um die Quelle Sgr A∗ , die für ein supermassives schwarzes Loch gehalten wird (Abb. aus R. Schödel et al., Nature 419, S. 694, 2002).
Kreismittelpunkt zeigende Kraft auf ihn wirken, die ihn auf die Kreisbahn zwingt. Beim Hammerwurf übernimmt die Seilkraft diese Aufgabe, beim Planeten die Gravitationskraft (Abb. 10.10). Jede Kraft, die einen Körper auf eine Kreisbahn zwingt, bezeichnet man in dieser Funktion als Zentripetalkraft ~FZP . Es handelt sich nicht um eine neue Art von Kraft, sondern um eine Bezeichnung für die „Aufgabe“ der Seil- oder der Gravitationskraft. Wie groß die Zentripetalkraft sein muss, um einen Körper auf einer Kreisbahn mit Radius r zu halten, kann man mit der folgenden Formel berechnen: FZP = m ·
v2 , r
(10.21)
Planet w = v/r ®
r
®
FZP = FG
Sonne
Abb. 10.10: Zur Herleitung der Umlaufbedingung
269
Abschnitt 10.3 Flächensatz und Drehimpulserhaltung
die im Anhang hergeleitet wird (Gl. (A.33)). Die Bedingung „Zentripetalkraft = Gravitationskraft“ lautet (mit Gl. (9.9)): m· oder
v2 m · mS =G r r2
(10.22)
v2 · r = G · mS .
(10.23)
r3 G · mS = . T2 4π 2
(10.24)
Setzen wir den Zusammenhang zwischen Geschwindigkeit und Umlaufzeit v = 2πr/T aus Gl. (10.17) ein, ergibt sich:
Das ist das dritte keplersche Gesetz für den speziellen Fall der Kreisbahn.
10.3 Flächensatz und Drehimpulserhaltung 10.3.1 Drehimpuls
Das zweite keplersche Gesetz, der Flächensatz, lässt sich auf einen grundlegenden Erhaltungssatz zurückführen: auf die Erhaltung des Drehimpulses. Neben Energie und Impuls ist der Drehimpuls die dritte und letzte der fundamentalen Erhaltungsgrößen (sie müssen also nicht befürchten, in den folgenden Kapiteln mit weiteren Erhaltungssätzen konfrontiert zu werden). Drehimpuls eines einzelnen Körpers Wie der Impuls ist der Drehimpuls eine Vektorgröße, allerdings mit einer mathematisch komplizierteren Definition. Betrachten wir einen Körper, der sich mit der Geschwindigkeit ~v bewegt, und somit den Impuls ~p = m · ~v besitzt. Sein Drehimpuls ist definiert als das Vektorprodukt zwischen Ortsvektor ~r und Impulsvektor ~p (die Begriffe Ortsvektor und Vektorprodukt sind im Anhang erklärt).
Abb. 10.11: Zur Definition des Drehimpulses
270
Kapitel 10 Himmelsmechanik – Per Anhalter zu den Planeten
Abb. 10.12: Drehimpuls bei der Kreisbewegung
Definition des Drehimpulses:
~L =~r ×~p = m ·~r ×~v.
(10.25)
Wie Abb. 10.11 zeigt, steht der Drehimpulsvektor sowohl senkrecht zum Ortsvektor als auch senkrecht zum Impulsvektor. Mathematisch ist dies durch die Eigenschaften des Vektorprodukts bedingt (Rechte-Hand-Regel, Abb. A.11). Im Gegensatz zum Impuls hängt der Drehimpuls explizit von der Wahl des Koordinatenursprungs ab (~r ist der Vektor, der den Koordinatenursprung mit dem betrachteten Körper verbindet). Das ist nicht weiter schlimm; man muss nur darauf achten, dass man innerhalb einer Rechnung alle Aussagen auf den gleichen Koordinatenursprung bezieht. Der Betrag des Drehimpulses lässt sich nach der Definition des Vektorprodukts (A.16) angeben: L = r · p · sin α, (10.26)
wobei α der zwischen ~r und ~p eingeschlossene Winkel ist (Abb. 10.11). Das Ganze wird besonders einfach, wenn die Geschwindigkeit senkrecht auf dem Ortsvektor steht, wie etwa bei der Kreisbewegung (Abb. 10.12). In diesem Fall ist α = 90◦ und der Betrag des Drehimpulses einfach das Produkt aus r und p: L = r · p.
Abb. 10.13: Addition zweier Drehimpulse zum Gesamtdrehimpuls
Abschnitt 10.3 Flächensatz und Drehimpulserhaltung
271
Besteht ein System aus mehreren Körpern, addieren sich die Einzeldrehimpulse vektoriell zum Gesamtdrehimpuls:
~Lges = ~L1 + ~L2 + · · · = ~r1 ×~p1 +~r2 ×~p2 + · · · .
(10.27)
Bei dem in Abb. 10.13 gezeigten „Doppelsternsystem“ ist der Gesamtimpuls null, aber nicht der Gesamtdrehimpuls. Je schneller die beiden Sterne einander umkreisen, je schneller ein Diskus oder ein Reifen rotiert, desto größer ist der Gesamtdrehimpuls. 10.3.2 Der Erhaltungssatz für den Drehimpuls
Beim Erhaltungssatz für den Drehimpuls geht man nach dem gleichen Rezept wie bei Energie und Impuls vor: (1) Prozess identifizieren: Systemgrenzen festlegen und Anfangs- und Endzeitpunkt der Betrachtung festlegen; (2) prüfen, ob das System abgeschlossen oder offen ist; (3) Gesamtdrehimpuls berechnen (nach Gl. (10.27)). Voraussetzung für den Drehimpulserhaltungssatz ist, dass die beteiligten Körper durch Zentralkräfte wechselwirken, d. h. durch Kräfte, die entlang der Verbindungslinie zwischen den beiden Körpern gerichtet sind. Ein Beispiel ist die Gravitationskraft. Wir wollen hier nur abgeschlossene Systeme betrachten, bei denen keine Kräfte über die Systemgrenzen hinweg wirken. Für abgeschlossene Systeme kann man den Drehimpulserhaltungssatz ganz analog zum Energie- und Impulserhaltungssatz formulieren: Drehimpulserhaltungssatz für abgeschlossene Systeme:
~Lges (t1 ) = ~Lges (t2 ).
(10.28)
In einem abgeschlossenen System, in dem Zentralkräfte wirken, ist der Gesamtdrehimpuls zeitlich konstant.
Beispielaufgabe: Zeigen Sie, dass die in Abb. 10.14 dargestellte Bewegung eines Planeten nicht mit dem Drehimpulserhaltungssatz vereinbar ist, sofern nicht äußere Kräfte auf das System wirken. Lösung: Erhaltung des Drehimpulses bedeutet, dass der Drehimpulsvektor seine Lage im Raum beibehält. Daraus und aus der Definition des Drehimpulses folgt: Die Bahn eines Körpers, dessen Drehimpuls erhalten ist, liegt in einer Ebene. Die Orientierung dieser Ebene ist ebenfalls festgelegt: Sie muss senkrecht zum Drehimpulsvektor liegen. Damit ist die in Abb. 10.14 gezeigte Bahn nicht mit der Drehimpulserhaltung
272
Kapitel 10 Himmelsmechanik – Per Anhalter zu den Planeten
Abb. 10.14: Eine Bewegung, die nicht mit der Drehimpulserhaltung vereinbar ist
verträglich. Man kann sich diese Aussage folgendermaßen verdeutlichen: Die drei Vektoren Drehimpuls, Impuls und Ortsvektor stehen – wie in Abb. 10.11 gezeigt – immer senkrecht aufeinander. Wenn die Richtung des Drehimpulses festliegt, müssen die beiden anderen Vektoren zwangsläufig in einer dazu senkrechten Ebene liegen. In Abwesenheit von äußeren Kräften kann der Körper diese Ebene, die in Abb. 10.14 eingezeichnet ist, nicht verlassen.
Herleitung des Flächensatzes aus der Drehimpulserhaltung Wie die Drehimpulserhaltung mit dem Flächensatz zusammenhängt, kann man sich anhand von Abb. 10.15 verdeutlichen. Gedanklich zerlegen wir die Fläche A, die von der Verbindungslinie Sonne-Planet in der Zeit T überstrichen wird, in viele kleine Segmente, die wir durch Dreiecke annähern können. Eines dieser Dreiecke ist rechts im Bild gezeigt. Die Fläche dieses Dreiecks ist ∆A = 12 |~r | · |∆~r | · sin α.
(10.29)
∆A = 21 |~r | · |~v| · sin α ∆t = 12 |~r ×~v| ∆t,
(10.30)
Wegen ∆~r = ~v∆t gilt:
wobei im letzten Schritt Gl. (A.16) aus dem Anhang benutzt wurde. Mit der Definition des Drehimpulses L schreiben wir: L ∆A = = konst. ∆t 2m
(10.31)
Ist der Drehimpuls konstant, dann ist es auch die überstrichene Fläche pro Zeit. Damit ist der Flächensatz auf die Drehimpulserhaltung zurückgeführt.
Abb. 10.15: Drehimpulserhaltung und Flächensatz
273
Abschnitt 10.4 Hohmann-Übergangsbahnen
– 600
potentielle Energie pro Masseneinheit (in MJ/kg)
Mars
– 700
– 800 Erde – 900 Entfernung zur Sonne in AE 1,0
1,1
1,2
1,3
1,4
1,5
1,6
Abb. 10.16: Potentielle Energie pro Masseneinheit im Gravitationsfeld von Sonne, Erde und Mars
10.4 Per Anhalter durch das Planetensystem – Hohmann-Übergangsbahnen 10.4.1 Mit wenig Treibstoff zum Mars
Vor unserem kleinen Ausflug in die Himmelsmechanik waren wir gerade dabei, zum Mars aufzubrechen. Rekapitulieren wir noch einmal das Energieproblem, das uns an der sofortigen Abreise gehindert hat. Abb. 10.16 hilft uns dabei. Sie zeigt maßstabsgerecht die potentielle Energie pro Masseneinheit im Gravitationsfeld von Sonne, Erde und Mars. Nach dem Start von der Erdoberfläche müssen wir die Gravitationsanziehung der Erde überwinden. In der Abbildung ist das der schmale, mit „Erde“ beschriftete Energietrichter mit einer Tiefe von 63 MJ/kg. Danach müssen wir im Gravitationsfeld der Sonne von der Erdbahn zum Mars gelangen. Das kostet uns 305 MJ/kg und entspricht einer Startgeschwindigkeit von 24,7 km/s, mehr als das Doppelte der Fluchtgeschwindigkeit von der Erdoberfläche. Kurz vor der Landung auf dem Mars gelangen wir schließlich in seinen Anziehungsbereich und gewinnen beim Herunterfallen wieder etwas Energie. Der kleine „Dip“ in der potentiellen Energie, der die Marsanziehung beschreibt, ist immerhin 12,7 MJ/kg tief. Auf der Haben-Seite schlägt die kinetische Energie zu Buche, die wir allein dadurch besitzen, dass wir uns gemeinsam mit der Erde um die Sonne bewegen. Wie oben errechnet sind das 444 MJ/kg. Damit haben wir schon allein
274
Kapitel 10 Himmelsmechanik – Per Anhalter zu den Planeten
Erde
Sonne Raumschiff startet hier...
...und trifft hier auf den Mars.
Mars Hohmann-Bahn
Abb. 10.17: Die Hohmann-Bahn ist eine Ellipse, die Erd- und Marsbahn tangential berührt.
durch die Bahnbewegung mehr als genug Energie, um die Strecke „bergauf“ zum Mars zurückzulegen. Allerdings müssen wir bedenken, dass wir nicht mit der Geschwindigkeit null an der Marsbahn ankommen möchten. Dann würden wir nämlich von dem Planeten, der mit seiner Bahngeschwindigkeit von 24,1 km/s auf uns zu gerast kommt, schlicht zerschmettert werden. Wir wollen sanft auf Mars landen, und deshalb sollten wir bei der Ankunft ungefähr dessen Bahngeschwindigkeit in der richtigen Richtung besitzen. Durch eine geschickte Wahl der Flugbahn zum Mars werden wir dieses Ziel erreichen. Die gerade erworbenen Kenntnisse der Himmelsmechanik werden sich für das Verständnis der Flugbahn unseres Raumschiffs als hilfreich erweisen. 10.4.2 Hohmann-Übergangsbahnen
Die spezielle Bahnform, die eine energieeffiziente Reise zu anderen Planeten ermöglicht, heißt Hohmann-Übergangsbahn. Sie ist benannt nach dem Essener Ingenieur Walter Hohmann, der sie schon 1925 publizierte. Ihre Gestalt, die in Abb. 10.17 gezeigt ist, überrascht auf den ersten Blick. Sie führt nämlich nicht auf möglichst direktem Weg zum Mars, sondern durchquert einen gu-
Abschnitt 10.4 Hohmann-Übergangsbahnen
275
Abb. 10.18: Geometrie der Hohmann-Bahn
ten Teil des Sonnensystems. Man startet von der Erde auf der einen Seite der Sonne und kommt auf der anderen Seite auf dem Mars an. Der große Vorteil dabei: Man kann in Richtung der Erdgeschwindigkeit um die Sonne starten und dabei die Eigengeschwindigkeit der Erde voll ausnutzen. Die Triebwerke des Raumschiffs werden nur zweimal gezündet: Beim Verlassen der Erdbahn und bei der Ankunft an der Marsbahn. Während der übrigen Zeit bewegt sich das Raumschiff nur unter dem Einfluss der Gravitation der Sonne. Nach den Gesetzen der Himmelsmechanik bedeutet das: Eine Hohmann-Bahn ist eine Ellipse, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht. Ihr sonnennächster Punkt (genannt Perihel) ist die Erde. Weil der Treibstoffaufwand so gering wie möglich gehalten werden soll, werden die Triebwerke zu Beginn der Reise nur so lange gezündet, dass der Mars am äußersten Punkt der Ellipse gerade erreicht wird. Der sonnenfernste Punkt (Aphel) der Hohmann-Ellipse liegt daher auf der Marsbahn. Bei der Ankunft des Raumschiffs an der Marsbahn ist es vorteilhaft, wenn der Planet zur selben Zeit ebenfalls an diesem Punkt seiner Bahn angelangt ist. Sonst wird die Marsmission ein Fehlschlag. Es ist also eine gewisse Zeitplanung nötig. Verfehlt das Raumschiff den Mars, dann fällt es wieder zurück „nach unten“ und bewegt sich so lange auf seiner Hohmann-Ellipse, bis es an Perihel oder Aphel irgendwann auf Erde oder Mars trifft.
276
Kapitel 10 Himmelsmechanik – Per Anhalter zu den Planeten
10.4.3 Wie lange dauert die Reise zum Mars?
Um zu arrangieren, dass sich unser Raumschiff und der Planet zur selben Zeit am gleichen Ort befinden, müssen wir ermitteln, wie lange die Reise vom Perihel zum Aphel der Hohmann-Bahn dauert. Das erscheint zunächst schwierig, denn immerhin handelt es sich um eine komplexe Bahn, auf der sich die Gravitationskraft der Sonne von Ort zu Ort ändert. Hier kommen uns die frisch erworbenen Kenntnisse aus der Himmelsmechanik zugute. Die Hohmann-Bahn ist eine Kepler-Ellipse, und über KeplerEllipsen wissen wir alles Notwendige. Aus Abb. 10.18 liest man leicht den Zusammenhang zwischen der großen Halbachse a der Hohmann-Bahn und den Bahnradien von Erde RE und Mars R M ab: 2a = RE + R M .
(10.32)
Das dritte keplersche Gesetz (Gl. (10.14)) liefert sofort die Dauer T eines vollständigen Umlaufs: 4π 2 (10.33) T 2 = a3 GmS bzw. T=
s
RE + R M 2
3
·
4π 2 . GmS
(10.34)
Einsetzen der Zahlenwerte (RE = 1 AE, R M = 1,52 AE) ergibt für die Umlaufdauer T = 518 Tage = 1,42 Jahre. Von der Erde bis zum Mars durchquert das Raumschiff genau die halbe Hohmann-Ellipse, und deshalb beträgt die Flugdauer zum Mars T = 259 Tage = 0,71 Jahre. 2
(10.35)
Auf der Hohmann-Bahn ist man zum Mars mehr als ein halbes Jahr unterwegs. Der geringe Treibstoffverbrauch wird mit einer langen Flugdauer erkauft. Es gibt schnellere Bahnvarianten, die aber entsprechend mehr Treibstoff erfordern. 10.4.4 Startfenster
Wenn in den Nachrichten davon berichtet wird, dass der Start einer Rakete wegen schlechten Wetters verschoben werden muss, ist meist von einem Startfenster die Rede, das sich bald schließt. Was hat es damit auf sich? Unser Raumschiff kann nicht zu jedem beliebigen Zeitpunkt starten. Die Reise dauert 259 Tage, und wir müssen den Startzeitpunkt genauso wählen, dass sich Mars nach dieser Zeit genau am vereinbarten Treffpunkt befindet. Da auch er sich nach den Gesetzen der Himmelsmechanik bewegt, lässt sich der richtige Startzeitpunkt vorausberechnen.
Abschnitt 10.4 Hohmann-Übergangsbahnen Startdatum
Raumsonde
Oktober 1960
Marsnik 1/2
Oktober/November 1962
Mars 1, Sputnik 22/24
November 1964
Mariner 3/4, Zond 2
Februar – April 1969
Mariner 6/7, Mars 1969 A/B
Mai 1971
Mariner 8/9, Mars 2/3, Kosmos 419
Juli/August 1973
Mars 4 – 7
August/September 1975
Viking 1/2
Juli 1988
Fobos 1/2
September 1992
Mars Observer
November/Dezember 1996
Mars Global Surveyor, Mars 96, Pathfinder
Juli – Dezember 1998
Nozomi, Mars Climate Orbiter
Januar 1999
Mars Polar Lander, Deep Space 2
April 2001
Mars Odyssey
Juni/Juli 2003
Mars Express, Beagle 2, MER-A, MER-B
(März 2004)
Rosetta
August 2005
Mars Reconnaissance Orbiter
August/September 2007
Phoenix, Dawn, Mars Science Laboratory
Oktober 2009
Fobos-Grunt
277
Abb. 10.19: Startdaten der bisherigen (unbemannten) Raumflüge zum Mars. Ein beträchtlicher Teil der Raumsonden ging verloren.
Obwohl es nicht ganz richtig ist (Flächensatz), nehmen wir näherungsweise an, dass Mars sich mit konstanter Geschwindigkeit um die Sonne bewegt. Seine Umlaufdauer für die vollen 360◦ beträgt 687 Tage. Der in 259 Tagen zurückgelegte Winkel ist demnach 360◦ ·
259 Tage = 135,6◦ . 687 Tage
(10.36)
Das Raumschiff muss also genau dann starten, wenn sich Mars in einem Winkel von 180◦ − 135,6◦ = 44,4◦ vor der Erdposition befindet, wie es in Abb. 10.17 und 10.18 eingezeichnet ist. Jedes Mal, wenn sich Sonne, Erde und Mars in dieser relativen Stellung zueinander befinden, öffnet sich ein Startfenster. Das ist alle 2,1 Jahre der Fall. Ein Flug zum Mars auf einer Hohmann-Bahn ist also nur alle 2,1 Jahre für einige Wochen oder Monate möglich. Die Breite des Startfensters hängt von der akzeptablen Menge an zusätzlichem Treibstoff ab. Wie die Tabelle in Abb. 10.19 zeigt, werden die Startfenster auch regelmäßig ausgenutzt. Zwischen 1960 und 1975 und danach wieder seit 1988 hat man kaum eine der Startgelegenheiten verstreichen lassen, ohne eine oder mehrere Raumsonden in Richtung Mars zu schicken.
278
Kapitel 10 Himmelsmechanik – Per Anhalter zu den Planeten
Abb. 10.20: Beim Flug zum Mars werden die Triebwerke nur zweimal kurz gezündet.
10.5 Energetik der Reise zum Mars 10.5.1 Wie groß ist „Delta vee“?
Mit welcher Menge an Treibstoff müssen Sie Ihr Raumschiff befüllen, um es auf die Reise zum Mars zu schicken? In der Praxis ist das die alles entscheidende Frage. Es wurde zwar schon mehrfach erwähnt, dass die HohmannBahn ein energieeffizienter Weg zu anderen Planeten ist. Quantitativ wurde dies bisher aber noch nicht erhärtet. Beim Flug zum Mars werden die Triebwerke zweimal für kurze Zeit gezündet: Einmal zu Beginn, um aus der Erdumlaufbahn in die Hohmann-Bahn einzuschwenken und dann noch einmal am Ende, um die Hohmann-Ellipse zu verlassen und auf eine Marsumlaufbahn zu gelangen. Um die Treibstofffrage zu beantworten, werden wir für beide Brennphasen ∆v („Delta vee“) berechnen: die Geschwindigkeitsänderung, die wir unserem Raumschiff durch das Zünden der Triebwerke erteilen müssen. Über die Raketengleichung (9.28) ist ∆v direkt mit der benötigten Treibstoffmenge verknüpft. Dass wir bereits von der Erde gestartet sind und uns außerhalb ihres Anziehungsbereiches befinden, setzen wir voraus. Gesamtenergie und kinetische Energie auf einer Hohmann-Bahn Wie bei allen Kepler-Ellipsen ist die Gesamtenergie eines Raumschiffs auf einer Hohmann-Bahn konstant. Sie hängt über Gl. (10.15) von der großen Halbachse ab, und ihr Wert ist nach Gl. (10.32) Eges = −
1 G m mS G m mS = . 2 a RE + R M
(10.37)
279
Abschnitt 10.5 Energetik der Reise zum Mars
Um das Raumschiff auf die Hohmann-Bahn zu bringen, müssen die Triebwerke seine Gesamtenergie auf diesen Wert erhöhen. Die potentielle Energie des Raumschiffs beim Verlassen der Erdbahn ist auch die potentielle Energie auf der Hohmann-Bahn an dieser Stelle: Epot ( RE ) = −
G m mS . RE
(10.38)
Um auf die erforderliche Gesamtenergie zu kommen, muss das Raumschiff nach Brennschluss der Triebwerke die folgende kinetische Energie besitzen: 1 1 Ekin ( RE ) = Eges − Epot ( RE ) = − GmmS . (10.39) − RE + R M RE Setzt man Zahlen ein, ergibt sich: Ekin ( RE ) = m · 535 · 106
J . kg
(10.40)
Das ist mehr als die in Gl. (10.9) errechnete Differenz der potentiellen Energien zwischen Erd- und Marsbahn von m · 305 · 106 J/kg. Das Raumschiff wird also noch kinetische Energie besitzen, wenn es am Mars ankommt. Geschwindigkeit zu Beginn der Reise Berechnen wir aber zunächst aus der kinetischen Energie die nötige Startgeschwindigkeit des Raumschiffs. Aus Ekin = 21 mv2 erhalten wir v = 32,7
km . s
(10.41)
Allein durch die Bahngeschwindigkeit der Erde besitzt das Raumschiff aber schon eine Geschwindigkeit von 29,8 km/s relativ zur Sonne. Das heißt: Die Triebwerke müssen seine Geschwindigkeit nur um ∆v = 32,7
km km km − 29,8 = 2,9 s s s
(10.42)
erhöhen. Das ist ein sehr moderater Wert, viel geringer als etwa die Fluchtgeschwindigkeit von der Erde (11,2 km/s). Wie ist es energetisch möglich, mit einer so geringen Geschwindigkeitsänderung zum Mars zu gelangen? In Anbetracht von Abb. 10.16 erscheint dies zunächst völlig unplausibel. Die Frage ist ein Beispiel für das „Kaninchenparadoxon“, das wir im nächsten Abschnitt erläutern werden. 10.5.2 Ankunft am Mars
Bei der Ankunft am Mars ist das Raumschiff während des gesamten Weges „bergauf“ gelaufen. Seine potentielle Energie ist nun größer, seine kinetische
280
Kapitel 10 Himmelsmechanik – Per Anhalter zu den Planeten
Energie entsprechend geringer. Ihr Wert an der Marsbahn lässt sich wie in Gl. (10.39) berechnen: 1 1 − Ekin ( R M ) = Eges − Epot ( R M ) = − G m mS RE + R M RM
= m · 232 · 106
J . kg
(10.43)
Die Geschwindigkeit des Raumschiffs am Mars errechnet sich daraus zu v = 21,5
km . s
(10.44)
Das ist etwas weniger als die Bahngeschwindigkeit von Mars (24,1 km/s). Beim zweiten Zünden der Triebwerke muss das Raumschiff also noch einmal eine Zusatzgeschwindigkeit von 2,6 km/s bekommen, um aus der HohmannBahn in die Umlaufbahn von Mars um die Sonne einzuschwenken.
10.6 Das Kaninchen-Paradoxon: Gratisenergie für Mitreisende Sicherlich hat es Sie auch gewundert, dass das Raumschiff beim Einschwenken von der Erdumlaufbahn in die Hohmann-Bahn mit der sehr kleinen Geschwindigkeitsänderung von 2,9 km/s auskommt. Das entspricht einer Energie von m· 4,2 ·106 J/kg, die der Treibstoff auf das Raumschiff überträgt. Addieren Sie dazu die m· 444 ·106 J/kg aus Gl. (10.7), die das Raumschiff aufgrund der Erdbewegung um die Sonne schon vorher hatte, und Sie sehen das Problem: Es ergibt sich nicht die kinetische Energie von m· 535 ·106 J/kg, die das Raumschiff auf der Hohmann-Bahn besitzt. Wir haben uns nicht verrechnet, es ist alles mit rechten Dingen zugegangen, aber es fehlen ungefähr m· 86 ·106 J/kg. Wie ist das Raumschiff zu dieser Energie gekommen? 10.6.1 Das Kaninchen-Paradoxon
Das Problem ist einfacher zu klären, wenn man zuerst eine einfachere Situation betrachtet, die von der folgenden Geschichte illustriert wird (Gerthsen, 2006): Ein französischer TGV fährt mit 100 m/s durch die Landschaft. Darin sitzt Monsieur Cinglé (das ist nicht der Name eines Physikers, sondern es bedeutet auf Französisch „durchgeknallt“). Er hat eine Pistole bei sich, die Kugeln mit einer Geschwindigkeit von ebenfalls 100 m/s abfeuern kann. Aus dem Zug schießt Monsieur Cinglé auf ein unschuldiges Kaninchen, das am Bahndamm sitzt. Aus humanitären Gründen wollen wir annehmen, dass er das Kaninchen verfehlt und einen daneben liegenden Maulwurfshügel trifft. Das Paradoxe an der Situation entspricht genau unserem Problem mit der fehlenden Energie des Raumschiffs: Die chemische Energie des Pulvers ist gerade so groß, dass sie die Kugel auf 100 m/s beschleunigen kann. Das Kaninchen sieht die Kugel aber mit 200 m/s auf sich zukommen. Die kinetische
Abschnitt 10.6 Das Kaninchen-Paradoxon: Gratisenergie für Mitreisende
281
Abb. 10.21: Das betrachtete System besteht aus Zug und Kugel.
Energie für 200 m/s ist aber vier Mal so groß wie die für 100 m/s. Es handelt sich nicht um einen fiktiven Wert, denn der Maulwurfshügel wird ganz handfest mit dieser Energie zerschmettert. Woher kommt die fehlende Energie? 10.6.2 Energie- und Impulssatz im Schwerpunktsystem
Das Kaninchen-Paradoxon ist so übersichtlich, dass man es mit Hilfe von Energie- und Impulssatz aufklären kann. Aus physikalischer Sicht handelt es sich um einen Stoßprozess, wie wir ihn schon in Kapitel 8 und 9 behandelt haben. Wir gehen auch hier ganz analog vor. Das betrachtete System besteht aus Zug und Kugel (Abb. 10.21). Es ist abgeschlossen (wir lassen den Luftwiderstand außer Acht), und wir können den Energie- und den Impulssatz für abgeschlossene Systeme anwenden. Der Anfangszeitpunkt t1 liegt vor dem Abschuss der Kugel, der Endzeitpunkt t2 danach. Vor dem Abschuss bewegen sich Zug und Kugel (Masse mZ und mK ) gemeinsam mit der Geschwindigkeit vZ (t1 ) = vK (t1 ) ≡ vi (der Index i steht für „initial“). Dies ist auch gleichzeitig die Geschwindigkeit des Schwerpunkts, die während des gesamten Vorgangs unverändert bleibt (Impulserhaltung). Übergang ins Schwerpunktsystem Zur Anwendung von Energie- und Impulssatz wechseln wir ins Schwerpunktsystem, das sich gegenüber dem Bahndamm mit der Geschwindigkeit vi bewegt. Die Geschwindigkeiten von Kugel und Zug im Schwerpunktsystem lassen sich durch Addition von vi ins Bahndammsystem umrechnen: 0 vK = vK + vi ,
vZ = vZ0 + vi .
(10.45)
Der Strich zeigt an, dass die entsprechende Größe im Schwerpunktsystem gemessen wird. Impuls- und Energiesatz Vor dem Abschuss der Kugel bewegen sich Zug und Kugel im Bahndammsystem mit der Geschwindigkeit vi , sie ruhen also im Schwerpunktsystem. In diesem System ist der Gesamtimpuls vor dem Abschuss null, die Gesamtenergie
282
Kapitel 10 Himmelsmechanik – Per Anhalter zu den Planeten
umfasst allein die chemische Energie Echem des Schießpulvers. Impuls- und Energiesatz lauten: 0 0 = mZ vZ0 (t2 ) + mK vK ( t2 ),
Impulssatz: Energiesatz:
Echem =
1 2
2
mZ vZ0 (t2 ) +
1 2
(10.46) 2
0 mK vK ( t2 ).
(10.47)
Aus dem Impulssatz folgt: vZ0 (t2 ) = −
mK 0 v ( t2 ). mZ K
(10.48)
Der Zug erhält beim Abschuss der Kugel eine Rückstoßgeschwindigkeit, die der Richtung der Kugel entgegengesetzt ist und um den Faktor mK /mZ kleiner ist. Setzen wir diese Formel in den Energiesatz ein und fassen Terme zusammen, ergibt sich: 2Echem 0 2 . (10.49) vK ( t2 ) = K mK 1 + m mZ
Im Schwerpunktsystem besitzt die Kugel nach dem Abschuss somit die Geschwindigkeit v u 2Echem u 0 ≡ v0 . vK ( t2 ) = t (10.50) K mK 1 + m mZ Weil dies die messbare Kenngröße der Pistole ist (es ist das „Delta vee“ bzw. die 100 m/s aus der Geschichte), bezeichnen wir sie mit der Abkürzung v0 .
10.6.3 Energien im Bezugssystem des Kaninchens
Mit Gl. (10.45) können wir die gerade berechneten Geschwindigkeiten in das Bezugssystem des Kaninchens transformieren. So wie es in der Geschichte die Kugel mit 100 m/s + 100 m/s = 200 m/s auf sich zukommen sah, beobachtet es nun eine Kugelgeschwindigkeit vK = vi + v0
(10.51)
(das Zeitargument t2 lassen wir von nun an weg). Die Geschwindigkeit des Zugs erhält man durch Einsetzen von Gl. (10.48) in Gl. (10.45): vZ = vi −
mK v0 . mZ
Durch den Abschuss der Kugel wird der Zug leicht abgebremst.
(10.52)
283
Abschnitt 10.6 Das Kaninchen-Paradoxon: Gratisenergie für Mitreisende
Interpretation der Energieterme Die kinetische Energie der Kugel nach dem Abschuss ist nach Gl. (10.51): Ekin, Kugel =
1 2
mK ( vi + v0 )2 .
(10.53)
Die beim Ausmultiplizieren entstehenden Terme lassen sich einzeln interpretieren: mK v2i | {z } 1 2
Ekin, Kugel =
+
hatte die Kugel schon vorher durch die Zugbewegung
mK vi · v0 | {z }
vom Zug auf die Kugel übertragen
mK v20 . | {z } 1 2
+
(10.54)
vom Pulver auf die Kugel übertragen
Die kinetische Energie des Zuges nach dem Abschuss ergibt sich ganz analog: Ekin, Kugel =
1 2
mZ ( vi −
mK v0 )2 . mZ
(10.55)
Auch hier lassen sich die resultierenden Terme interpretieren: Ekin, Kugel =
mZ v2i − | {z } 1 2
hatte der Zug schon vorher
mK vi · v0 | {z }
vom Zug auf die Kugel übertragen
m2K 2 v . mZ 0 | {z } 1 2
+
(10.56)
vom Pulver auf den Zug übertragen
Die Interpretation der jeweils letzten Terme in den beiden Formeln (10.54) und (10.56) als vom Pulver übertragene Energie ist dadurch gerechtfertigt, dass sich für ihre Summe gerade Echem ergibt (mit Gl. (10.50)). Ihr Analogon bei unserem Raumschiff ist die chemische Energie, die der Raketentreibstoff auf das Raumschiff und die Erde überträgt, um ein ∆v von 2,9 km/s zu erzeugen. Die Lösung des Rätsels Der mittlere Term mK vi · v0 in Gl. (10.54) beschreibt die fehlende Energie unseres Raumschiffs. Berücksichtigen wir, dass die Zuggeschwindigkeit der Erdgeschwindigkeit und die Kugelgeschwindigkeit der Raumschiffgeschwindigkeit entspricht, und setzen Zahlen ein, ergibt sich: m · 29,8
km km J · 2,9 = m · 86 · 106 . s s kg
(10.57)
Das ist genau der Energiebetrag, den wir auf S. 280 vermisst haben. Und wir können nun auch sagen, wo er herkommt: In der Energiebilanz des Zuges (Gl. (10.56)) tritt nämlich genau dieser Term mK vi · v0 mit einem negativen Vorzeichen auf. Die Energie ist vom Zug auf die Kugel (bzw. von der Erde auf das Raumschiff) übertragen worden. 10.6.4 Die an der Kugel verrichtete Arbeit
Um den Vorgang der Energieübertragung noch klarer zu analysieren, wählen wir die Systemgrenzen wie in Abb. 10.22 nun so, dass sie nur die Kugel umfassen. Es handelt sich jetzt um ein offenes System, denn auf die Kugel wirkt
284
Kapitel 10 Himmelsmechanik – Per Anhalter zu den Planeten s s’
vi
Abb. 10.22: In verschiedenen Bezugssystemen unterscheidet sich der Weg, der bei der Berechnung der Arbeit berücksichtigt werden muss.
die Kraft F, die sie im Pistolenlauf beschleunigt. Die an der Kugel verrichtete Arbeit im Schwerpunktsystem (in dem die Pistole vor dem Abschuss ruht) ist: W 0 = F · s0 ,
(10.58)
wobei s0 die Länge des Laufes bezeichnet (Abb. 10.22). Dagegen hat die Arbeit im Bezugssystem des Kaninchens einen anderen Wert: W = F · s.
(10.59)
Der in der Definition „Kraft mal Weg“ auftretende Weg s, den die Kugel in der Zeit ∆t bis zum Verlassen des Laufs zurücklegt, ist in diesem Bezugssystem sehr viel größer. Zur Länge des Laufs tritt nämlich noch die Strecke hinzu, um die sich der Zug in dieser Zeit bewegt (Abb. 10.22). Daher ist auch die an der Kugel verrichtete Arbeit größer, und zwar, im Einklang mit dem Ergebnis oben, um den Betrag v0 mK · · vi · ∆t = mK · vi · v0 . ∆t | {z } | {z } Kraft F
Weg
(10.60)
11 Elastische Stöße
Der Swingby -Mechanismus
286
Kapitel 11 Elastische Stöße – Der Swingby-Mechanismus
11.1 Raumsonden auf dem Weg ins Weltall Unendliche Weiten . . . ? Wenn Sie regelmäßig Science-Fiction-Filme sehen, sind Sie mit Reisen zu anderen Sonnensystemen sicher gut vertraut. Zwar haben wir im letzten Kapitel gesehen, dass es energetisch gar nicht so einfach ist, „bergauf“ das Sonnensystem zu verlassen. Aber die Hohmann-Bahnen scheinen uns einen geschickten Weg zu eröffnen, mit moderatem Energieaufwand an den Rand des Sonnensystems zu gelangen – und darüber hinaus. Raten Sie doch einmal, wie viele von Menschen gemachte Objekte es bisher geschafft haben, das Sonnensystem zu verlassen – und wie viele davon in den letzten dreißig Jahren gestartet sind. Die Antworten: vier und null. Es ist vielleicht etwas überraschend, dass die über das Sonnensystem hinausreichenden Aktivitäten der Menschheit einen so geringen Umfang haben. Umso interessanter ist es, sich diese vier Raumsonden, die zusammen eine Masse von nicht mehr als zwei Tonnen haben, genauer anzuschauen. Sie heißen Pioneer 10 und 11 sowie Voyager 1 und 2. Ihre Bahnen führen in vier verschiedene Richtungen aus dem Sonnensystem hinaus (Abb. 11.1). Pioneer 10 und 11 Die beiden 1972 und 1973 gestarteten Raumsonden Pioneer 10 und 11 waren die ersten, die den Asteroidengürtel zwischen Mars- und Jupiterbahn durchquerten. Beide passierten Jupiter in geringer Entfernung (dieser Vorbeiflug wird uns im Rest des Kapitels noch ausführlich beschäftigen). Dabei konnten sie erstmals Messergebnisse und detaillierte Bilder von Jupiter zur Erde senden. Pioneer 11 flog anschließend noch an Saturn vorbei, während Pioneer 10 sich schon auf dem Weg hinaus aus dem Sonnensystem befand.
Abb. 11.1: Die Bahnen von Pioneer 10 und 11 sowie Voyager 1 und 2
Abschnitt 11.2 Reisen zu den äußeren Planeten
287
Derzeit bewegen sich die beiden Sonden mit einer Geschwindigkeit von etwa 12 km/s in Richtung Weltall. Der letzte Funkkontakt zu Pioneer 11 konnte im November 1995 hergestellt werden; Pioneer 10 antwortete noch bis Januar 2003. Sie können ermessen, was diese Angaben bedeuten, wenn Sie die Sendeleistung der Pioneer-Sonden von 7,5 W mit derjenigen Ihres Handys vergleichen (max. 2 W). Der Kontakt mit Pioneer 10 gelang bis in eine Entfernung von 12 Milliarden Kilometern. Voyager 1 und 2 Die Voyager-Mission war in wissenschaftlicher Hinsicht eines der erfolgreichsten Unternehmen der NASA. Die beiden Sonden starteten im August und September 1977. Bei ihrem Vorbeiflug an Jupiter und Saturn gelangen ihnen spektakuläre Bilder von beiden Planeten und ihren Monden (die mit einer für die damalige Zeit erstaunlichen Datenrate von 115 kbit/s über die große Entfernung übertragen wurden). Voyager 2 besuchte auch noch die äußeren Planeten Uranus und Neptun. Sie ist bis heute die einzige Sonde, die in die Nähe dieser beiden Planeten gekommen ist. Im Jahr 1998 wurde Pioneer 10 von Voyager 1 überholt, so dass diese Sonde als erstes vom Menschen geschaffene Objekt das Sonnensystem verlassen hat. Die Geschwindigkeit von Voyager 1 beträgt 17 km/s und, wie schon in Kapitel 1 erwähnt, wird sich nach dem Trägheitsgesetz daran in den nächsten Jahrmillionen auch nichts mehr ändern. Voyager 1 und 2 sind bislang noch intakt. Instrumente und Stromversorgung funktionieren, und sie senden regelmäßig Signale zur Erde. New Horizons Nach fast dreißigjähriger Pause wurde 2006 mit „New Horizons“ wieder eine Sonde gestartet, die sich auf dem Weg hinaus aus dem Sonnensystem befindet. Sie soll Pluto im Jahr 2015 erreichen, danach einige Objekte im Kuiper-Gürtel untersuchen, bevor auch sie das Sonnensystem verlässt.
11.2 Reisen zu den äußeren Planeten Wie kommt es, dass nur so wenige Raumsonden an den Rand des Sonnensystems vorgedrungen sind? Ist es dort draußen so uninteressant? Man kann noch leicht einsehen, dass das Verlassen des Sonnensystems in wissenschaftlicher Hinsicht kein besonders erstrebenswertes Ziel ist. Schließlich ist es dort draußen leer und dunkel, und der nächste Stern liegt Hunderttausende von Flugjahren entfernt. Die Erforschung der äußeren Planeten interessiert die Wissenschaftler dagegen sehr. Trotzdem sind nur wenige Raumsonden dort gewesen. Während die Zahl der Mars-Sonden noch ganz beachtlich ist (vgl. Abb. 10.19), nimmt die Anzahl der Besucher für die weiter außen liegenden Planeten rapide ab. Die Tabelle in Abb. 11.2 zeigt die bisherigen Forschungsmissionen.
288 Planet
Saturn
Neptun
Kapitel 11 Elastische Stöße – Der Swingby-Mechanismus Raumsonde Pioneer 10 Pioneer 11 Voyager 1 Voyager 2 Ulysses Galileo Cassini-Huygens Pioneer 11 Voyager 1 Voyager 2 Cassini-Huygens
Jahr
1979 1980 1981 seit 2004
Voyager 2
1989
Abb. 11.2: Raumsonden zur Erforschung der äußeren Planeten
Ein Zeitproblem Der Grund dafür liegt wieder in der Himmelsmechanik. Die Treibstofffrage lässt sich mit der Hohmann-Bahn in den Griff bekommen: Die ∆v-Werte liegen bei moderaten 9–12 km/s. Das eigentliche Problem ist die Flugzeit. Um auf einer Hohmann-Bahn zu Jupiter zu kommen, braucht man zweieinhalb Jahre. Zu Saturn sind es schon 6 Jahre, zu Uranus 16 Jahre, und 30 Jahre gar bis zu Neptun. Kein Wissenschaftler, der den Start einer Sonde plant, möchte so lange warten, bis er in den Genuss der Ergebnisse seiner Forschungsmission kommt. Swingby an Jupiter Aus der Tabelle in Abb. 11.2 können Sie ablesen, dass Voyager 2 vom Startzeitpunkt im Jahr 1977 nur 12 Jahre bis zum äußersten Planeten Neptun benötigt hat. Aus eigener Kraft kann die Sonde diese Verkürzung der Flugzeit gegenüber der Hohmann-Bahn nicht bewirkt haben. Und tatsächlich gibt es einen Trick: Das sogenannte Swingby-Manöver an Jupiter, mit dem eine Raumsonde ihre Geschwindigkeit beträchtlich steigern kann. Die Physik des SwingbyManövers gehört zu den komplizierteren Kapiteln der Himmelsmechanik. Wir werden ihr mit Energie- und Impulserhaltungssatz auf den Leib rücken und bei dieser Gelegenheit ganz nebenbei einiges über elastische Stöße lernen.
11.3 Elastische Stöße in einer Dimension Was man in der Physik unter einem Stoß versteht, wissen Sie bereits aus Kapitel 8 (S. 205): Mehrere Körper treffen zusammen, beeinflussen sich gegenseitig und fliegen wieder auseinander. Entscheidend ist, dass die Körper im Anfangs- und im Endzustand so weit voneinander entfernt sind, dass man ihre Wechselwirkung vernachlässigen kann.
Abschnitt 11.3 Elastische Stöße in einer Dimension
289
Abb. 11.3: Stoß zweier Körper in einer Dimension
11.3.1 Notation
In diesem Kapitel werden wir den Stoß von zwei Körpern betrachten. Dabei wird die in Abb. 11.3 dargestellte Notation verwendet: Die Indizes 1 und 2 kennzeichnen den ersten und zweiten Körper (mit den Massen m1 und m2 ). Wir brauchen noch mehr Indizes: Der Index i steht für den Zustand vor dem Stoß (initial), während f sich auf Zeitpunkte nach dem Stoß bezieht (final). Die Geschwindigkeit des ersten Körpers nach dem Stoß wird folglich mit v1f bezeichnet. Wir wenden uns zunächst dem eindimensionalen oder geraden Stoß zu. Dabei bewegen sich die beiden Stoßpartner während des gesamten Stoßes entlang derselben Geraden. Wie sie sich z. B. am Stoß von Münzen auf einer Tischplatte veranschaulichen können, müssen dazu die Geschwindigkeitsvektoren beider Stoßpartner vor dem Stoß auf derselben Gerade liegen. Im eindimensionalen Fall müssen wir nicht mit Vektoren arbeiten, sondern nur das Vorzeichen der Geschwindigkeit festlegen. Nach rechts gerichtete Geschwindigkeiten werden wir positiv rechnen. Die in Abb. 11.3 eingezeichnete Geschwindigkeit v2i hat demnach ein negatives Vorzeichen. 11.3.2 Elastische und inelastische Stöße
Bei einem inelastischen Stoß kommt es zu dauerhaften Veränderungen bei einem oder beiden Stoßpartnern, etwa zu Verformungen oder chemischen Veränderungen. Alle unsere bisherigen Stoßprozesse waren inelastische Stöße. Bei der Asteroidensprengung in Kapitel 8 erfährt die Bombe bei ihrer Sprengung eine (drastische) Veränderung, und ebenso ergeht es dem Schießpulver in der Mondkanone (Kapitel 9). Formal ist der inelastische Stoß dadurch gekennzeichnet, dass in der Energiebilanz innere Energieformen (Verformungsenergie, innere Energie, chemische Energie) berücksichtigt werden müssen. In unseren Beispielen waren das Echem in Gl. (9.1) und Enukl in Gl. (8.21). Aus einem elastischen Stoß gehen die Stoßpartner dagegen ohne Veränderungen hervor. Wenn ein Tennisball mit einem Tennisschläger kollidiert, werden beide zwar vorübergehend verformt, die Verformung geht aber nach dem Aufprall vollständig zurück. Ähnliches gilt für den Zusammenstoß zweier Stahl- oder Billardkugeln. Weil sich keine inneren Energieformen ändern,
290
Kapitel 11 Elastische Stöße – Der Swingby-Mechanismus
bleibt bei einem elastischen Stoß nicht nur die Gesamtenergie erhalten, sondern man kann die viel speziellere Aussage treffen, dass die Summe der kinetischen Energien der Stoßpartner konstant bleibt. Im Rest des Kapitels werden wir uns nur mit elastischen Stößen befassen. 11.3.3 Schwerpunkterhaltung
Wir setzen voraus, dass keine Kräfte von außen auf das System wirken. Es liegt ein abgeschlossenes System vor und die Geschwindigkeit des Schwerpunkts ändert sich während des gesamten Vorgangs nicht (Gl. (8.9)). Sie beträgt nach Gl. (8.8): vS =
1 ( m1 v1 + m2 v2 ) . m1 + m2
(11.1)
Diese Gleichung gilt zu jedem Zeitpunkt (und damit auch vor und nach dem Stoß, wo wir den Geschwindigkeiten noch den Index i oder f anheften). Betrachten wir als Beispiel den Stoß zweier gleich schwerer Körper (Billardkugeln) mit m1 = m2 . Der Schwerpunkt bewegt sich in diesem Fall mit dem Durchschnitt der Einzelgeschwindigkeiten: vS = 21 (v1 + v2 ). Ist dagegen einer der Körper wesentlich massiver als der andere (m2 m1 ), besitzt der Schwerpunkt näherungsweise die Geschwindigkeit des schwereren Körpers. 11.3.4 Laborsystem und Schwerpunktsystem
Wie wir bereits des Öfteren erfahren haben, ist es einfacher, den Stoßprozess im Schwerpunktsystem zu beschreiben, dem Bezugssystem, in dem der Schwerpunkt ruht (vgl. Abschnitt 8.5.1). Wir vollziehen einen Wechsel des Bezugssystems aus dem Laborsystem, aus dem wir das Geschehen betrachten in das Schwerpunktsystem, in dem die Berechnungen leichter sind. Die Werte physikalischer Größen unterscheiden sich in den beiden Bezugssystemen. Im Beispiel oben hat der massivere Körper im Laborsystem die Geschwindigkeit v1 , im Schwerpunktsystem ist sie dagegen fast gleich null. Wir brauchen eine Notation, die uns unterscheiden hilft, auf welches Bezugssystem wir eine Größenangabe beziehen. Im Folgenden sollen Größen im Schwerpunktsystem durch einen Strich gekennzeichnet werden: v10 ≈ 0 ist eine Geschwindigkeitsangabe im Schwerpunktsystem. Grundsätzlich gilt also: Laborsystem: ungestrichene Größen (Beispiel: v1i oder v2f ), 0 oder v0 ). Schwerpunktsystem: gestrichene Größen (Beispiel: v1i 2f Für die Umrechnung physikalischer Größen vom Schwerpunkt- ins Laborsystem und umgekehrt gibt es eine mathematische Vorschrift, die man GalileiTransformation nennt. Die Geschwindigkeit v eines Körpers, die ein Beobachter im Laborsystem misst, und die Geschwindigkeit v0 , die von einem Beobachter im Schwerpunktsystem gemessen wird, unterscheiden sich um die Schwerpunktgeschwindigkeit vS : v 0 = v − vS .
(11.2)
291
Abschnitt 11.3 Elastische Stöße in einer Dimension
Die entsprechende Beziehung gilt natürlich auch für alle „indizierten Größen“ wie v1f , v2i . Die leicht zu veranschaulichende Gleichung (11.2) zwischen den Geschwindigkeiten im Labor- und im Schwerpunktsystem ist die GalileiTransformation für die Geschwindigkeit. 11.3.5 Elastischer Stoß im Schwerpunktsystem
Im Schwerpunktsystem ist die Schwerpunktgeschwindigkeit null, und nach Gl. (11.1) ist auch der Gesamtimpuls zu jedem Zeitpunkt null. Das ist schon die ganze Aussage des Impulserhaltungssatzes. Für Anfangs- und Endzustand gilt daher im Schwerpunktsystem: 0 0 m1 v1i = −m2 v2i ,
(11.3)
0 0 m1 v1f = −m2 v2f .
(11.4)
In Worten ausgedrückt: Die Impulse der beiden Stoßpartner sind zu jedem Zeitpunkt gleich groß und entgegengesetzt gerichtet. Der Energieerhaltungssatz besagt, dass die Summe der kinetischen Energien im Anfangs- und im Endzustand gleich sind: 02 1 2 m1 v1i
02 02 02 + 12 m2 v2i = 12 m1 v1f + 12 m2 v2f .
(11.5)
Durch Einsetzen der beiden Gleichungen (11.3) und (11.4) lassen sich die Variablen von Körper 2 eliminieren: 1 m v 02 2 1 1i
+
1 2
m21 02 m2 02 02 v1i = 12 m1 v1f + 12 1 v1f . m2 m2
(11.6)
Ausklammern ergibt: 1 2
m2 m1 + 1 m2
!
02 v1i
=
1 2
m2 m1 + 1 m2
!
02 v1f ,
(11.7)
so dass zwischen den Geschwindigkeiten von Körper 1 vor und nach dem Stoß die folgende Beziehung gilt: 02 02 v1i = v1f
bzw.
0 0 v1i = ±v1f .
(11.8)
Das obere Vorzeichen entspricht einem nicht stattfindenden Stoß (Geschwindigkeit bleibt unverändert) und scheidet daher aus. Die Geschwindigkeit von Körper 1 behält demnach beim Stoß ihren Betrag und kehrt ihr Vorzeichen um. Mit Gl. (11.3) und (11.4) gilt analog für den zweiten Körper: 02 02 v2i = v2f .
(11.9)
Damit ist das Stoßproblem im Schwerpunktsystem gelöst. Für beide Körper können wir die Endgeschwindigkeit aus der Kenntnis der Anfangsgeschwindigkeiten berechnen. Das Ergebnis nimmt im Schwerpunktsystem eine besonders einfache Form an: Beide Stoßpartner kehren das Vorzeichen ihrer Geschwindigkeit um.
292
Kapitel 11 Elastische Stöße – Der Swingby-Mechanismus
11.3.6 Transformation ins Laborsystem
Wie wir gerade festgestellt haben, gilt im Schwerpunktsystem für jeden der beiden Körper: vf0 = −vi0 . (11.10)
Die Gleichung gilt sowohl für Körper 1 als auch für Körper 2. Daher lassen wir die entsprechenden Indizes von jetzt an weg und verschlanken dadurch die Notation. Weil wir an den Geschwindigkeiten im Laborsystem interessiert sind, rechnen wir mit Gl. (11.2) gestrichene in ungestrichene Größen um. Wir setzen ein: vf0 = vf − vS und vi0 = vi − vS . Wir erhalten: vf = 2 vS − vi .
(11.11)
Das ist das Ergebnis unserer Rechnung. Um ein eindimensionales elastisches Stoßproblem zu lösen, ermitteln wir die Schwerpunktgeschwindigkeit vS mit Gl. (11.1) aus den Anfangsbedingungen und berechnen mit Gl. (11.11) für jeden der beiden Stoßpartner die Endgeschwindigkeit. Beim elastischen Stoß in einer Dimension gilt für jeden der beiden Stoßpartner die folgende Beziehung zwischen Anfangs- und Endgeschwindigkeit: vf = 2 vS − vi .
(11.12)
11.4 Einige Spezialfälle Billardstoß Eine Billardkugel stößt mit der Geschwindigkeit v auf eine gleich schwere ruhende Kugel. Es gilt m1 = m2 , v1i = v und v2i = 0 (Abb. 11.4). Die Schwerpunktgeschwindigkeit beträgt 12 v. Mit Gl. (11.12) berechnen wir die Geschwindigkeiten nach dem Stoß. Für die stoßende Kugel gilt v1f = 2 · 12 v − v = 0. Sie bleibt nach dem Stoß liegen.
vor dem Stoß:
nach dem Stoß:
v m
m v
Abb. 11.4: Eine Billardkugel stößt mit der Geschwindigkeit v auf eine gleich schwere ruhende Kugel.
293
Abschnitt 11.4 Einige Spezialfälle
vor dem Stoß:
v
w
m
m w
nach dem Stoß:
v
Abb. 11.5: Zusammenstoß zweier gleich schwerer Kugeln
vor dem Stoß:
nach dem Stoß:
v
v
Abb. 11.6: Reflexion an einer Wand
Entsprechend gilt für die gestoßene Kugel: v2f = 2 · 21 v − 0 = v. Sie „übernimmt“ die Geschwindigkeit der stoßenden Kugel. Dieses „Übernehmen“ der Geschwindigkeit mit dem auffälligen Liegenbleiben des stoßenden Körpers können Sie z. B. auch beim Stoß zweier gleicher Münzen auf einem Tisch beobachten. Elastischer Zusammenstoß zweier gleich schwerer Kugeln Laufen zwei gleich schwere Kugeln mit den Geschwindigkeiten v1i = v und v2i = w aufeinander zu (Abb. 11.5), ist die Schwerpunktgeschwindigkeit der Durchschnitt von v und w: Es gilt vS = 21 (v + w). Beim Stoß „tauschen“ sie ihre Geschwindigkeit. Für die erste Kugel gilt v1f = 2 · 12 (v + w) − v = w, und für die zweite v2f = 2 · 12 (v + w) − w = v. Reflexion an einer Wand Eine Wand kann man als Körper ansehen, der eine sehr viel größere Masse als der stoßende Körper besitzt (Abb. 11.6). Die Schwerpunktgeschwindigkeit ist dann in guter Näherung die gleiche wie die der Wand, nämlich null. Wenn der stoßende Körper zu Beginn mit der Geschwindigkeit v in Richtung Wand läuft, beträgt seine Geschwindigkeit am Ende v1f = 2 · 0 − v = −v. Er wird an der Wand elastisch „reflektiert“. Die Wand ändert ihre Geschwindigkeit nicht. Tennisschläger und Ball Ein Tennisball fliegt mit der Geschwindigkeit v > 0 auf einen Schläger zu. Dieser kommt mit der Geschwindigkeit vW < 0 auf ihn zu (Abb. 11.7). Den Schläger (samt dem Spieler, der ihn fest in den Händen hält) kann man phy-
294
Kapitel 11 Elastische Stöße – Der Swingby-Mechanismus
vW
v
vor dem Stoß:
2vW – v
nach dem Stoß:
vW
Abb. 11.7: Bewegt sich die „Wand“, wird der reflektierte Körper schneller.
sikalisch als sich bewegende „Wand“ modellieren, mit einer Masse, die sehr viel größer ist als die des Balls. Die Schwerpunktgeschwindigkeit ist gleich der Geschwindigkeit des Schlägers: vS = vW . Nach dem Schlag bewegt sich der Ball mit der Geschwindigkeit v1f = 2 · vW − v. Sie ist nach links gerichtet und größer als die Geschwindigkeit, mit der der Ball ankommt (sowohl vW als auch −v haben negatives Vorzeichen; die Beträge addieren sich). Die elastische Reflexion an einer bewegten „Wand“ kann die Geschwindigkeit eines Körpers erhöhen. Das ist der tiefere Sinn des Tennisschlags, und es ist auch der prinzipielle Mechanismus, mit dem die Geschwindigkeit des „Tennisballs“ Pioneer am „Tennisschläger“ Jupiter erhöht wird. Die zugrunde liegende Physik ist die gleiche, aber um die Details zu verstehen, müssen wir den Stoßvorgang in drei Dimensionen betrachten.
11.5 Elastische Stöße in drei Dimensionen Bei einem schiefen Stoß liegen die Geschwindigkeitsvektoren beider Stoßpartner nicht auf der gleichen Geraden (Abb. 11.8). In diesem Fall ändern die beiden Stoßpartner im Allgemeinen auch die Richtung ihrer Geschwindigkeit. Der Vorgang muss dreidimensional mit Vektoren beschrieben werden. Die drei Dimensionen muss man allerdings gleich wieder relativieren, denn in Wirklichkeit findet ein Stoßprozess mit zwei Stoßpartnern immer nur in zwei Dimensionen statt. Die Bahnen der Stoßpartner liegen nämlich vor und nach dem Stoß in der gleichen Ebene. Können Sie das mit der Drehimpulserhaltung begründen?
®
v1f
®
v1i m1
®
v2i m2
®
v2f
Abb. 11.8: Beim dreidimensionalen Stoß ändern die Stoßpartner ihre Geschwindigkeitsrichtung.
Abschnitt 11.5 Elastische Stöße in drei Dimensionen
295
11.5.1 Transformation ins Schwerpunktsystem
Bei der mathematischen Behandlung des Stoßprozesses in drei Dimensionen verläuft fast alles genauso wie in einer Dimension. Die Aussagen werden nun vektoriell formuliert. Die Formel zur Berechnung der Schwerpunktgeschwindigkeit ist z. B. die direkte Verallgemeinerung von Gl. (11.1):
~vS =
1 (m1 ~v1 + m2 ~v2 ) . m1 + m2
(11.13)
Auch die Umrechnung zwischen Schwerpunkt- und Laborsystem (zwischen gestrichenen und ungestrichenen Größen) verläuft ebenso wie in Gl. (11.2):
~v0 = ~v − ~vS .
(11.14)
11.5.2 Impuls- und Energieerhaltung im Schwerpunktsystem
Einen wesentlichen Unterschied zwischen der eindimensionalen und der dreidimensionalen Version des elastischen Stoßes gibt es: In einer Dimension lässt sich der Endzustand mit Energie- und Impulserhaltung vollständig bestimmen, in drei Dimensionen nicht. Der Endzustand wird im eindimensionalen Fall durch zwei unbekannte Größen charakterisiert, nämlich durch die beiden Endgeschwindigkeiten v1f und v2f . Für ihre Bestimmung liefern Energie- und Impulssatz jeweils eine Gleichung. Zwei Unbekannte, zwei Bestimmungsgleichungen – die Rechnung geht auf. Unterbestimmtheit des dreidimensionalen Stoßes In drei Dimensionen gibt es zwei vektorielle Unbekannte ~v1f und ~v2f . Es sind daher sechs Vektorkomponenten zu bestimmen. Wir haben aber nur vier Gleichungen zur Verfügung: Der Impulssatz ~p = konst. ist eine vektorielle Aussage, ergibt also drei Gleichungen. Der Energiesatz E = konst. wird jedoch auch in drei Dimensionen nur durch eine Gleichung beschrieben. Das Gleichungssystem ist somit unterbestimmt (sechs Unbekannte, vier Gleichungen). Physikalisch heißt das: Es gibt eine ganze Schar von Endzuständen, die mit Energie- und Impulserhaltung verträglich sind. Zur näheren Bestimmung des Endzustands sind weitere Angaben erforderlich. Oft wird die Richtung eines der beiden Stoßpartner nach dem Stoß angegeben (zwei Winkel). Alles andere kann aus den Erhaltungssätzen berechnet werden. Impuls- und Energiesatz Impuls- und Energieerhaltungssatz im Schwerpunktsystem haben die gleiche Gestalt wie im eindimensionalen Fall (Gl. (11.3)–(11.5)). Der Impulserhaltungssatz lautet: 0 0 , m1~v1i = −m2~v2i
0 0 m1~v1f = −m2~v2f
(11.15) (11.16)
296
Kapitel 11 Elastische Stöße – Der Swingby-Mechanismus
(die erste Gleichung definiert das Schwerpunktsystem, die zweite ergibt drei Bestimmungsgleichungen für die Endgeschwindigkeit). Die Energieerhaltung ergibt die vierte Gleichung: 02 1 v1i 2 m1~
02 02 02 = 12 m1~v1f + 12 m2~v2i + 12 m2~v2f .
(11.17)
Dieselbe Abfolge von Rechenschritten wie im eindimensionalen Fall führt zum Analogon von Gl. (11.8) und (11.9):
~vf02 = ~vi02 ,
(11.18)
wobei diese Gleichung wieder für die beiden Stoßpartner 1 und 2 jeweils einzeln gilt. 11.5.3 Transformation ins Laborsystem
Zur Transformation von Gl. (11.18) ins Laborsystem ersetzen wir mit Gl. (11.14) gestrichene durch ungestrichene Größen. Es ergibt sich:
(~vf − ~vS )2 = (~vi − ~vS )2 .
(11.19)
Die Gleichung hat eine bemerkenswert einfache Gestalt, und wir werden sie im folgenden Abschnitt geometrisch interpretieren. Drei weitere Gleichungen ergeben sich durch Transformation von Gl. (11.16) ins Laborsystem:
~v2f − ~vS = −
m1 (~v − ~vS ) . m2 1f
(11.20)
Aus einer der beiden Endgeschwindigkeiten kann man mit dieser Gleichung die andere berechnen. Beim dreidimensionalen elastischen Stoß gelten die folgenden Beziehungen zwischen Anfangs- und Endgeschwindigkeit der beiden Stoßpartner: (11.21) (~vf − ~vS )2 = (~vi − ~vS )2 , m ~v2f − ~vS = − 1 (~v1f − ~vS ) . (11.22) m2
11.5.4 Geometrische Lösung des Stoßproblems
Am anschaulichsten lässt sich das dreidimensionale Stoßproblem grafisch lösen. Die grafische Lösung beruht auf der geometrischen Interpretation von Gl. (11.21). Eine Gleichung der Form r2 = konst. definiert nämlich einen Kreis und daher ist die geometrische Aussage der Gleichung, dass die beiden quadriert darin vorkommenden Differenzvektoren auf dem gleichen Kreis liegen.
297
Abschnitt 11.5 Elastische Stöße in drei Dimensionen
vy
®
v1i
®
vS vx
Abb. 11.9: Anfangsgeschwindigkeit und Schwerpunktgeschwindigkeit sind bekannt und werden in das Koordinatensystem eingezeichnet.
vy
®
®
v1i – vS
®
v1i
®
vS Ric
vx htun g
vo n
®
vf
Abb. 11.10: Um die Spitze von ~vS zeichnet man einen Kreis, der durch die Spitze von ~v1i verläuft.
vy
®
v1i
®
vS ®
vx
v1f
Abb. 11.11: Die Spitze von ~v1f muss ebenfalls auf diesem Kreis liegen.
298
Kapitel 11 Elastische Stöße – Der Swingby-Mechanismus
An Eingangsdaten wird benötigt: Die Anfangsgeschwindigkeiten beider Körper sowie die Bewegungsrichtung eines der beiden Körper nach dem Stoß. Mit der folgenden grafischen Konstruktion wird der Geschwindigkeitsbetrag dieses Körpers ermittelt und mit Gl. (11.22) Betrag und Richtung des anderen Körpers nach dem Stoß berechnet. Die Lösung erfolgt schrittweise: (1) Man berechnet die Schwerpunktgeschwindigkeit mit Gl. (11.13). (2) In ein Koordinatensystem werden die Vektoren ~vS und ~v1i eingezeichnet (Abb. 11.9). (3) Der Differenzvektor ~v1i − ~vS zeigt von der Spitze von ~vS zur Spitze von ~v1i (Abb. 11.10). Die rechte Seite der Gleichung (~v1f − ~vS )2 = (~v1i − ~vS )2 definiert daher einen Kreis um die Spitze von ~vS , der durch die Spitze von ~v1i verläuft. Dieser Kreis wird nun eingezeichnet. (4) Da die rechte Seite der Gleichung gleich der linken sein muss, liegt die Spitze des gesuchten Vektors ~v1f ebenfalls auf dem Kreis. Wir haben die Richtung von ~v1f als bekannt vorausgesetzt. Somit können wir den Vektor direkt einzeichnen und seinen Betrag ablesen (Abb. 11.11). Die Endgeschwindigkeit von Körper 1 ist nun bekannt. (5) Mit Gl. (11.22) wird die Endgeschwindigkeit von Körper 2 berechnet. Das Stoßproblem ist gelöst. 11.5.5 Rechte Winkel beim Billardstoß
Es gibt einen interessanten Spezialfall des zweidimensionalen Stoßes, der sich im Alltag häufig beobachten lässt (sofern man in Etablissements verkehrt, in denen dem Billardspiel nachgegangen wird). Wenn die stoßende Billardkugel auf eine ruhende Kugel trifft, schließen die Bewegungsrichtungen der beiden Kugeln nach dem Stoß einen Winkel von 90◦ ein (Abb. 11.12). Die Aussage gilt nur für Körper gleicher Masse und unter der Voraussetzung, dass man von allen Rotationsbewegungen der Kugeln (Effet) absehen kann. Das Problem ist so einfach, dass man ohne den Umweg über die geometrische Konstruktion direkt von Impuls- und Energiesatz ausgehen kann. Der Impulssatz lautet (gleiche Massen, zweite Kugel ruht im Anfangszustand):
~v1i = ~v1f + ~v2f .
(11.23)
®
v1f ®
v1i 90° ®
v2f
Abb. 11.12: Stößt ein Körper auf einen ruhenden Körper gleicher Masse, schließen ihre Endgeschwindigkeiten einen rechten Winkel ein.
Abschnitt 11.6 Pioneer 10: Start und Flug zu Jupiter
299
Der gemeinsame Faktor m wurde dabei bereits herausgekürzt. Quadriert man beide Seiten, erhält man nach Ausmultiplizieren:
~v21i = ~v21f + 2 ~v1f · ~v2f + ~v22f .
(11.24)
Das ist mit dem Energiesatz
~v21i = ~v21f + ~v22f
(11.25)
nur dann verträglich, wenn der mittlere Faktor null ist,
~v1f · ~v2f = 0,
(11.26)
also wenn ~v1f und ~v2f senkrecht aufeinander stehen. Das ist die Aussage, die wir beweisen wollten.
11.6 Pioneer 10: Start und Flug zu Jupiter 11.6.1 Die Bahn von Pioneer 10
Für Pioneer 10 (in Abb. 11.13 während der Montage gezeigt) begann die Reise aus dem Sonnensystem hinaus am 3. März 1972. Starker Wind hatte den Start von Cape Canaveral um mehrere Tage verzögert. Nun aber stieg die Sonde auf, an der Spitze einer Atlas-Centaur-Rakete, die eigens für diesen Zweck um eine Raketenstufe erweitert worden war. Der zusätzliche Schub war mehr als ausreichend: Nachdem die Erdanziehung überwunden war, eilte die Sonde der Erde mit einer Geschwindigkeit von ∆v = 9 km/s voraus. Eine so große
Abb. 11.13: Pioneer 10 während der Montage
300
Kapitel 11 Elastische Stöße – Der Swingby-Mechanismus
RJ
Erde
RE Sonne
Aphel der Pioneer-Bahn
2a = RE + RAphel
Jupiter Bahn von Pioneer 10
Abb. 11.14: Die Route von Pioneer 10 zu Jupiter
Geschwindigkeit relativ zur Erde wurde erst 1990 von der Raumsonde Ulysses wieder erreicht. Die Gestalt der Flugbahn von der Erde bis zu Jupiter ist in Abb. 11.14 gezeigt. Sie sollte in Ihnen Erinnerungen an das letzte Kapitel wecken, denn sie sieht fast wie eine Hohmann-Übergangsbahn aus. Nur fast – denn die Sonde erreicht Jupiter schon vor dem Aphel ihrer Bahn (sie berührt die Jupiterbahn nicht tangential). Sie hat etwas mehr Energie mitbekommen, als zum Erreichen von Jupiter nötig gewesen wäre. Beispielaufgabe: Berechnen Sie aus der Startgeschwindigkeit von 39,1 km/s die große Halbachse der Bahn von Pioneer 10. In welche Entfernung von der Sonne hätte Pioneer ohne den Swingby an Jupiter vordringen können? Lösung: Wir berechnen zuerst die Gesamtenergie (kinetische + potentielle Energie) der Sonde nach Verlassen der Erdanziehung und ermitteln dann mit Gl. (10.15) die große Halbachse a. Weil uns die genauen Angaben später nützlich sein werden, rechnen wir im Folgenden nicht mit den bisher benutzten mittleren Werten für den Abstand von Erde und Jupiter von der Sonne, sondern verwenden die genauen Daten aus den Aufzeichnungen der NASA. Die Ephemeriden-Daten der NASA enthalten alle Angaben über die Bahnen von Raumsonden, Planeten und Monden, die Sie jemals benötigen werden. Suchen Sie im Internet nach dem Horizons-Server des JPL (Jet Propulsion La-
301
Abschnitt 11.6 Pioneer 10: Start und Flug zu Jupiter
boratory). Wir erfahren dort, dass Pioneer 10 bei r = 0,99 AE startete und relativ zur Sonne eine Geschwindigkeit von 39,1 km/s besaß. Kinetische und potentielle Energie ergeben sich damit zu:
Ekin = 21 m · (39,1 km/s)2 = m · 764 · 106 Epot (r = 0,99 AE) = −
J , kg
G m mS J = −m · 894 · 106 . 0,99 AE kg
(11.27) (11.28)
Daraus ergibt sich die Gesamtenergie zu
Eges = −m · 130 · 106
J . kg
(11.29)
Aus der Gesamtenergie können wir nun mit Gl. (10.15) die große Halbachse a der Bahn berechnen:
a=−
G m mS = 3,41 AE. 2Eges
(11.30)
Um zu sehen, wie weit Pioneer damit im Sonnensystem gekommen wäre, vergleichen wir Abb. 10.18 und Abb. 11.14. Die Geometrie ist die gleiche, nur dass die Sonde auf Jupiter trifft, bevor sie das Aphel ihrer Bahn erreicht. In Abwesenheit von Jupiter gälte die gleiche Beziehung wie für die Hohmann-Bahn (Gl. (10.32)):
2a = RE + RAphel .
(11.31)
Damit ergibt sich für das Aphel der Pioneer-Bahn:
RAphel = 2a − RE = 5,8 AE.
(11.32)
Die Sonde schafft es mit ihrer Startgeschwindigkeit leicht bis zu Jupiter (5,05 AE), hätte das Sonnensystem ohne das Swingby-Manöver aber nicht verlassen können.
11.6.2 Ankunft an Jupiter
Auf dem Weg zu Jupiter durchquerte Pioneer 10 als erste Raumsonde den Asteroidengürtel, der sich zwischen Mars und Jupiter befindet. Entgegen manchen Befürchtungen wurde sie dabei nicht beschädigt. Ansonsten waren die zwanzig Monate Flugzeit nicht besonders ereignisreich. Erst die Ankunft an Jupiter ist für uns wieder interessant. Wieder können wir mit unserem bisherigen Wissen einige quantitative Aussagen machen. Geschwindigkeit bei der Ankunft Für die Analyse des Swingby-Manövers ist die Geschwindigkeit relevant, mit der die Sonde in Jupiternähe eintrifft, bevor dessen Gravitation einen nennenswerten Einfluss hat. Da es keinen wohldefinierten „Rand des Gravitationseinflusses“ von Jupiter gibt, legen wir relativ willkürlich einen Sonnenabstand von 5 AE fest (d. h. es fehlen noch 0,05 AE bis zu Jupiter). Aus der Kenntnis der Gesamtenergie der Sonde können wir mit dem Energiesatz ihre Ankunftsgeschwindigkeit an Jupiter bestimmen.
302
Kapitel 11 Elastische Stöße – Der Swingby-Mechanismus
Beispielaufgabe: Berechnen Sie die Geschwindigkeit von Pioneer 10 bei der Ankunft an Jupiter (bei r = 5 AE). Lösung: Die Gesamtenergie der Pioneer-Bahn wurde bereits zu Eges = −m · 130 · 106 J/kg berechnet. Die kinetische Energie im Abstand von 5 AE zur Sonne beträgt daher:
Ekin = Eges − Epot = −m · 130 · 106
= m · 47,6 · 106
J G m mS + kg 5 AE
J . kg
(11.33) (11.34)
Mit Ekin = 12 mv2 ergibt sich daraus die Geschwindigkeit
v = 9,76
km . s
(11.35)
Nach den NASA-Archiven erreichte Pioneer 10 am 22. November 1973 eine Sonnenentfernung von 5 AE. Die tatsächliche Geschwindigkeit zu diesem Zeitpunkt betrug 9,94 km/s. Die Geschwindigkeit ist geringfügig größer als die von uns berechnete. Dies ist auf die (bereits seit dem Start von der Erde ständig wirksame) Gravitationsanziehung von Jupiter zurückzuführen.
11.7 Das Swingby-Manöver als himmelsmechanisches Problem 11.7.1 Möglichkeiten für die Berechnung der Flugbahn
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, den Vorbeiflug von Pioneer 10 an Jupiter zu analysieren. Eine Methode funktioniert immer: Die Kräfte aller relevanten Himmelskörper auf die Raumsonde aufsummieren und die Bahn in kleinen Zeitschritten vom Computer berechnen lassen (ähnlich wie beim Fallschirmsprung in Kapitel 6). In den Zeiten, als die Flugbahn von Pioneer 10 geplant wurde, war das eine „brute force“-Methode. Heute kann man in wenigen Sekunden Tausende von möglichen Flugbahnen durchrechnen. Dabei fällt es allerdings schwer, physikalische Einsichten zu gewinnen oder ein „Gefühl“ für die Situation zu entwickeln. Wenn man eine hohe Genauigkeit benötigt, gibt es dazu jedoch keine Alternative. 11.7.2 Zweikörperproblem in Teilstücken
Eine andere Methode besteht darin, die Flugbahn von Pioneer in mehrere Teilstücke zu zerlegen, für die jeweils nur der Gravitationseinfluss eines einzigen Himmelskörpers (Sonne oder Jupiter) maßgeblich ist. Diese Teilstücke werden einzeln mit den keplerschen Gesetzen der elementaren Himmelsmechanik behandelt.
Abschnitt 11.7 Das Swingby-Manöver als himmelsmechanisches Problem
303
Im vorliegenden Fall teilen wie die Pioneer-Bahn in drei Teilstücke auf: (1) Das erste Teilstück erstreckt sich von der Erde bis in Jupiternähe. Hier berücksichtigen wir nur den Gravitationseinfluss der Sonne und lassen den viel kleineren Beitrag von Jupiter außer Acht. Die Bahn ist eine KeplerEllipse im Gravitationsfeld der Sonne. (2) Das zweite Teilstück umfasst die wenigen Tage des Vorbeiflugs an Jupiter. Hier überwiegt die Anziehungskraft von Jupiter, und wir vernachlässigen diejenige der Sonne. (3) Im dritten Teilstück schließlich entfernt sich die Sonde wieder von Jupiter und bewegt sich näherungsweise ausschließlich unter dem Einfluss der Sonne auf einer Kepler-Bahn. Das Zusammenstückeln der Bahn aus Teilabschnitten, in denen nur jeweils zwei Körper vorkommen, ist ein häufig angewandtes Verfahren (man spricht von „patched conic trajectories“). Auch wir werden es im Folgenden benutzen. Während des Vorbeiflugs von Pioneer an Jupiter wird allein die JupiterGravitation berücksichtigt. Gerechtfertigt wird die Näherung dadurch, dass die Sonne in der kurzen Zeit des Vorbeiflugs den Betrag und die Richtung der Geschwindigkeit von Pioneer nur wenig ändert (vgl. Abb. 11.14). 11.7.3 Bewegung der Sonde unter dem Einfluss von Jupiter
Wie wir wissen, geht im Schwerpunktsystem meist alles viel einfacher. Für das zweite Teilstück, in dem es nur um Jupiter und die Sonde geht, liegt der Schwerpunkt des Gesamtsystems in außerordentlich guter Näherung im Mittelpunkt von Jupiter. Das Schwerpunktsystem ist darum identisch mit dem Ruhesystem von Jupiter. Sehen wir uns den Vorbeiflug an, so wie er sich von Jupiter aus darstellt. Physikalisch haben wir das Problem eigentlich schon gelöst. Ein kleiner Körper bewegt sich unter der Gravitationsanziehung eines großen Körpers: Das ist nichts anderes als das Kepler-Problem. Alles, was wir darüber wissen müssen, steht bereits in Kapitel 10. In unserem Fall bewegt sich Pioneer auf einer Hyperbelbahn, in deren einem Brennpunkt Jupiter steht (Abb. 10.6). Dass die von Jupiter aus betrachtete Flugbahn von Pioneer tatsächlich Hyperbelgestalt hat, können Sie in Abb. 11.15 sehen. Hier sind die NASA-Bahndaten von Pioneer 10 in einem Bezugssystem dargestellt, in dessen Koordinatenursprung Jupiter ruht. Die Punkte geben die Position der Sonde im Abstand von jeweils 2 Stunden wieder. Die fettgedruckten Punkte kennzeichnen die Position der Sonde um 2:00 Uhr des jeweiligen Tages. Am Abstand der Punkte können Sie erkennen, dass Pioneer mit recht konstanter Geschwindigkeit ankommt. In der Nähe von Jupiter wird die Sonde schneller (Flächensatz bzw. Energieerhaltung), um sich anschließend mit konstanter Geschwindigkeit wieder zu entfernen. Die Geschwindigkeiten bei der Ankunft und beim Wegflug besitzen den gleichen Betrag, nur die Richtung hat sich geändert.
304
Kapitel 11 Elastische Stöße – Der Swingby-Mechanismus 8
1. Dez. 1973
y in 10 km
0,03
2. Dez.
0,02
6. Dez.
3. Dez. 0,01
5. Dez.
8
x in 10 km
Jupiter –0,01
0,01
0,02
0,03
4. Dez. Abb. 11.15: Von Jupiter aus gesehen ist die Bahn von Pioneer 10 eine perfekte Kepler-Hyperbel.
Wenn Sie den Vorbeiflug auf himmelsmechanische Weise beschreiben möchten, gehen Sie folgendermaßen vor: Von der NASA oder aus den Bahnberechnungen in den Beispielen oben erhalten Sie Ort und Geschwindigkeit von Pioneer 10 zu Beginn des zweiten Teilstücks (irgendwann Ende November oder Anfang Dezember 1973). Üblicherweise werden die Daten in einem Bezugssystem angegeben, das gegenüber der Sonne ruht. Sie müssen sie noch in das hier verwendete Ruhesystem von Jupiter umrechnen. Für die kurze relevante Zeitspanne bewegt sich Jupiter in guter Näherung mit konstanter Geschwindigkeit gegenüber der Sonne, so dass die Umrechnung von einem Inertialsystem in ein anderes erfolgt. Die Kepler-Hyperbel ist durch die gegebenen Anfangsbedingungen eindeutig festgelegt. Wenn Sie sie aus den Kepler-Gesetzen konstruiert haben, können Sie Pioneers Ort und Geschwindigkeit zu späteren Zeitpunkten vorhersagen. So gelangen Sie bis zum Beginn von Teilstück 3, in dem der Gravitationseinfluss der Sonne wieder überwiegt. Hier müssen Sie Ihre Angaben wieder ins Ruhesystem der Sonne umrechnen, um die Teilstücke aneinander anzuschließen.
Abschnitt 11.8 Das Swingby-Manöver als elastischer Stoß
305
11.7.4 War das wirklich alles?
Die hier beschriebene himmelsmechanische Methode führt mit Sicherheit zum Ziel. Sie können die Bahn von Pioneer 10 damit erfolgreich vorhersagen. Aber sehr wahrscheinlich haben Sie bisher noch nicht das Gefühl, die Physik hinter dem Swingby-Manöver verstanden zu haben. Ja, vermutlich haben Sie noch nicht einmal bemerkt, dass die Geschwindigkeit von Pioneer im heliozentrischen Bezugssystem am Ende viel größer ist als am Anfang, denn im Ruhesystem von Jupiter bleibt sie ja exakt konstant. Das, worauf es uns ankommt, verbirgt sich hinter den beiden Transformationen von einem Bezugssystem ins andere. Die Methode funktioniert, ist aber physikalisch nicht besonders aufschlussreich. Eine erheblich größere Einsicht in die Physik des SwingbyManövers erhalten wir, wenn wir den Vorbeiflug an Jupiter als elastischen Stoß auffassen. Das wird das Thema des nächsten Abschnitts sein.
11.8 Das Swingby-Manöver als elastischer Stoß 11.8.1 Beschreibung als Stoß im Schwerpunktsystem
Sind wir überhaupt berechtigt, den Vorbeiflug als Stoß anzusehen? Der landläufigen Verwendung des Wortes „Stoß“ entspricht der Vorgang jedenfalls nicht. Pioneer prallt ja gar nicht auf Jupiter, sondern fliegt völlig unversehrt im Abstand von 130 000 km daran vorbei. Hier unterscheidet sich der physikalische Gebrauch des Wortes „Stoß“ vom Alltagsbegriff. Was man in der Physik unter einem Stoß versteht, wurde zu Beginn des Kapitels erläutert (S. 288). Zu prüfen haben wir nur, ob die beteiligten Körper im Anfangs- und im Endzustand als wechselwirkungsfrei angesehen werden können. Die Geschehnisse im Innern der Wechselwirkungszone spielen bei dieser Frage überhaupt keine Rolle. Ein „körperlicher Kontakt“ der Stoßpartner ist nicht notwendig. Für den elastischen Stoß im Schwerpunktsystem hatten wir aus Impulsund Energiesatz die Aussage hergeleitet, dass der Betrag der Geschwindigkeit beider Stoßpartner konstant bleibt (Gl. (11.18)). Es ändert sich höchstens die Richtung der Geschwindigkeit. Sie finden dies in Abb. 11.15 bestätigt. Im Schwerpunktsystem (dem Ruhesystem von Jupiter) besitzt Pioneer vor und nach dem Vorbeiflug den gleichen Betrag der Geschwindigkeit. Es wurde schon erwähnt, dass wir den Winkel, um den die Sonde abgelenkt wird, nicht aus den Gesetzen des Stoßes ermitteln können. Energieund Impulssatz „wissen“ nichts von den Einzelheiten der Wechselwirkung und können diese Information nicht liefern. Das ist ein Nachteil gegenüber der himmelsmechanischen Methode, die eine vollständige physikalische Beschreibung bietet. In die Berechnung der Hyperbelbahnen ist das Gravitationsgesetz eingeflossen, und alle Eigenschaften der Bahn von Pioneer lassen sich damit vorhersagen.
306
Kapitel 11 Elastische Stöße – Der Swingby-Mechanismus y in 108 km
– 4,97
zur Sonne
– 4,98
1. Dez. 1973
5. Dez. 5. Dez.
2. Dez. 3. Dez.
– 5,00
4. Dez.
3. Dez.
– 5,01
2. Dez. 5,65
x in 108 km 5,67
5,69
1. Dez. 1973 Abb. 11.16: Der Vorbeiflug von Pioneer 10 an Jupiter in einem heliozentrischen Bezugssystem
11.8.2 Beschreibung im heliozentrischen System
Für die Beschreibung des Swingby-Manövers ist das heliozentrische Bezugssystem, in dem die Sonne im Koordinatenursprung ruht, aufschlussreicher als das Jupiter-System. Glücklicherweise haben wir in unserer Diskussion des elastischen Stoßes die Transformation zwischen beiden Bezugssystemen bereits in Abschnitt 11.5.3 durchgeführt. Wir müssen das dort entwickelte Verfahren nur noch anwenden. Betrachten wir zuerst die Bahndaten von Pioneer 10 und Jupiter im heliozentrischen Bezugssystem. Sie sind in Abb. 11.16 eingezeichnet. Es sind die gleichen Daten wie in Abb. 11.15 dargestellt, nur das Bezugssystem hat sich geändert. Gegenüber der Sonne bewegt sich Jupiter während des gesamten Vorgangs mit der (näherungsweise konstanten) Geschwindigkeit von 13,44 km/s. Sein Geschwindigkeitsvektor schließt mit der horizontalen Koordinatenachse den Winkel φJ = 50,1◦ ein. Die fettgedruckten grünen Punkte geben seine Position jeweils um 2:00 Uhr eines Tages wieder. An den Positionsdaten von Pioneer können Sie den Effekt schon ablesen, den wir im Folgenden noch begründen werden. Nach dem Vorbeiflug an Ju-
307
Abschnitt 11.8 Das Swingby-Manöver als elastischer Stoß
piter ist die Geschwindigkeit der Sonde erheblich größer als vorher. Der Abstand zweier Punkte (die wieder die Position im Abstand von 2 Stunden angeben) ist beim Wegflug deutlich größer als vor der Ankunft. Damit die Voraussetzungen für die Behandlung des Vorgangs als elastischer Stoß erfüllt sind, wählen wir einen Anfangs- und Endzustand, in dem die Sonde noch eine hinreichend große Entfernung von Jupiter hat. Als Anfangszeitpunkt der Betrachtung wählen wir (wie auf S. 301 schon kurz angesprochen einigermaßen willkürlich) den 22. November 1973 um 0:00 Uhr. Pioneer 10 hatte zu diesem Zeitpunkt eine Geschwindigkeit von 9,94 km/s, und sein Geschwindigkeitsvektor lag gegenüber der Horizontalen unter einem Winkel von φi = 3,8◦ gegen den Uhrzeigersinn. Als Endzeitpunkt wählen wir den 22. Dezember 1973 um 0:00 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt wies der Geschwindigkeitsvektor einen Winkel von φf = 49,6◦ zur Horizontalen auf. a) vy
b)
Pioneer out ff = 49,6° vf = 23 km/s
vy
Jupiter fJ = 50,1° vf = 13,4 km/s
®
v1f
®
®
vJ ®
v1i
Pioneer in ff = 3,8° vi = 9,94 km/s
vJ ®
vx
v1i
vx
Abb. 11.17: Konstruktion des Vektors der Endgeschwindigkeit von Pioneer 10
11.8.3 Anwenden des Stoßformalismus
Wie schnell war Pioneer nach dem Vorbeiflug an Jupiter? Um die Frage zu beantworten, benutzen wir den Formalismus für den elastischen Stoß aus Abschnitt 11.5. Die Endgeschwindigkeit von Pioneer wird mit der grafischen Konstruktion aus Abb. 11.9–11.11 bestimmt. In Abb. 11.17 sind links die Anfangsgeschwindigkeiten von Pioneer und Jupiter, ~v1i und ~vJ , eingezeichnet. Wir konstruieren einen Kreis um die Spitze von ~vJ , der durch die Spitze von ~v1i verläuft. Mit der Kenntnis des Winkels φf können wir den Vektor der Endgeschwindigkeit ~v1f konstruieren (Abb. 11.17 rechts). Wenn Sie die Konstruktion durchführen und die Länge von ~v1f ausmessen, erhalten Sie einen Wert von 23 km/s. Das stimmt gut mit den NASAAufzeichnungen überein, nach denen die tatsächliche Geschwindigkeit bei 22,7 km/s lag. Pioneer hat durch den Vorbeiflug an Jupiter seine Geschwindigkeit mehr als verdoppelt. In diesem deutlichen Geschwindigkeitszuwachs liegt der Sinn des Swingby-Manövers.
308
Kapitel 11 Elastische Stöße – Der Swingby-Mechanismus
Beispielaufgabe: Berechnen Sie die Gesamtenergie, die Pioneer 10 nach dem Swingby-Manöver im Gravitationsfeld der Sonne besitzt. Lösung: Am 22. Dezember 1973 ist Pioneer 5,06 AE von der Sonne entfernt; die Geschwindigkeit hat den oben genannten Betrag von 22,7 km/s. Die Gesamtenergie im Gravitationsfeld der Sonne ist daher:
Eges = Ekin + Epot =
= m · 81,4 · 106
1 2
m (22,7 km/s)2 −
G m mS 5,06 AE
J . kg
(11.36) (11.37)
Vor dem Swingby-Manöver besitzt die Sonde die Gesamtenergie −m · 130 · 106 J/kg (Gl. (11.29)). Das negative Vorzeichen bedeutet, dass sie gravitativ an die Sonne gebunden ist und einer Ellipsenbahn folgt. Nach dem Swingby-Manöver ist die Gesamtenergie positiv. Pioneer 10 ist somit nicht mehr an die Sonne gebunden und folgt einer Hyperbelbahn, die aus dem Sonnensystem hinaus führt (Abb. 11.1). Noch über einige Wochen hinweg „zieht“ Jupiter, der nun hinter Pioneer her eilt, von hinten an der Sonde und raubt ihr dadurch ein wenig von ihrer Energie. Dies ändert aber nichts an der Folgerung, dass Pioneer dank des Swingby-Manövers aus dem Sonnensystem entkommen kann.
11.8.4 Physikalische Interpretation des Swingby-Manövers
Um dem Geheimnis des Swingby-Manövers noch näher auf die Spur zu kommen, fragen wir, unter welchen Umständen Pioneers Endgeschwindigkeit maximal wird. Aus Abb. 11.17 lesen Sie ab: Der Betrag von ~v1f wird dann besonders groß, wenn der eingezeichnete Kreis einen möglichst großen Radius besitzt. Das wiederum lässt sich dadurch erreichen, dass wir die Richtung der Anfangsgeschwindigkeit ~v1i gerade entgegengesetzt zu ~vJ wählen (Abb. 11.18). Der Swingby-Effekt ist dann besonders groß, wenn die Sonde um 180 Grad abgelenkt, also sozusagen „reflektiert“ wird. Sie sollte Jupiter gerade entgegenfliegen, ihn genau ein halbes Mal umkreisen und parallel zu seiner Bewegungsrichtung wieder auslaufen. Abb. 11.18 zeigt Ihnen, dass die Endgeschwindigkeit der Sonde dann 2|~vJ | + |~v1i | beträgt. In diesem effizientesten Fall reduziert sich das Problem auf eine Dimension. Alle Körper bewegen sich entlang derselben Gerade. Und, was noch schöner ist: Wir haben es bereits gelöst. Es handelt sich um nichts anderes als die Reflexion am Tennisschläger von S. 293. Die eben hergeleitete Formel für die Endgeschwindigkeit ergab sich dort direkt aus Energie- und Impulssatz. Unsere Analyse des Stoßprozesses ergibt: Die Physik des Swingby-Manövers ist vergleichbar mit der des Tennisschlags. In beiden Fällen gewinnt ein kleiner Körper an Geschwindigkeit durch „Reflexion“ an einem großen Körper, der sich auf ihn zu bewegt. Sie sehen auch, dass die Bewegung von Jupiter entscheidend ist: Am ruhenden Jupiter gewinnt die Sonde ebenso wenig an Geschwindigkeit wie der Tennisball bei der Reflexion an einer ruhenden Wand (Beispiel „Reflexion an einer Wand“ auf S. 293).
309
Abschnitt 11.9 Der „Grand Tour“ von Voyager 2 vy
®
v1f
®
vJ
Abb. 11.18: Die größte Endgeschwindigkeit erreicht man bei der „Reflexion“ der Sonde, d.h. bei einer Ablenkung um 180 Grad.
vx ®
v1i
Ein letzter Punkt bleibt noch zu klären: Warum muss Pioneer hinter Jupiter vorbeifliegen, um Geschwindigkeit zu gewinnen, während der Tennisball an der Vorderseite des Schlägers reflektiert wird? Der Unterschied liegt in der Art der Wechselwirkung. Zwischen Tennisball und Schläger wirkt zum Zeitpunkt der Wechselwirkung eine abstoßende Kraft, während sie bei Pioneer und Jupiter anziehend ist. Am einfachsten kann man sich den Sachverhalt von der Energieerhaltung her verdeutlichen. Jupiter muss durch den Vorbeiflug von Pioneer ein klein wenig abgebremst werden, damit die Sonde an Energie gewinnen kann. Mit einer anziehenden Wechselwirkung wie der Gravitation kann Pioneer den Planeten aber nur dadurch abbremsen, dass sie hinter ihm vorbeifliegt.
11.9 Der „Grand Tour“ von Voyager 2 Das Swingby-Manöver an Jupiter verschaffte den Pioneer-Sonden die nötige Geschwindigkeit zum Verlassen des Sonnensystems. Daneben bereitete es den Weg für ein noch ehrgeizigeres Projekt: Den „Grand Tour“ der VoyagerSonden. In den sechziger Jahren war den Wissenschaftlern aufgefallen, dass sich in den Jahren 1976–1980 eine ganz besondere Gelegenheit bot, die äußeren Planeten zu besuchen. Eine in diesem Zeitraum gestartete Sonde konnte nach einem Swingby an Jupiter „von Planet zu Planet hüpfen“ – die äußeren Planeten waren alle zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort. Eine solche Konstellation ist nicht allzu häufig. Bedingt durch die unterschiedlichen Umlaufzeiten der Planeten stellt sie sich nur alle 176 Jahre ein – das nächste Mal um das Jahr 2150. Es war ein großes Glück, dass sich das Startfenster für den „Grand Tour“ gerade öffnete, als die Raumfahrt eine gewisse Reife erlangt hatte. So konnte die Gelegenheit wissenschaftlich ergiebig genutzt werden.
310
Kapitel 11 Elastische Stöße – Der Swingby-Mechanismus
v in km/s
40
30
20
Uranus Saturn 10
Neptun
Jupiter
r in AE 0
10
20
30
40
Abb. 11.19: Betrag der Geschwindigkeit von Voyager 2 auf der Reise durch das Sonnensystem
Die ursprüngliche Planung sah vier Raumsonden vor: zwei mit dem Reiseweg Jupiter-Saturn-Pluto, zwei weitere auf der Route Jupiter-Uranus-Neptun. Damit wären alle äußeren Planeten besucht und erforscht worden. Kostengründe schränkten die Planung ein. Voyager 2 wurde schließlich ausersehen, die vier großen der äußeren Planeten zu besuchen: Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun. Nur Pluto ging leer aus. Statt eines Besuches im Jahr 1985, wie im ursprünglichen Plan vorgesehen, wird ihn die Sonde „New Horizons“ nun erst im Jahr 2015 erreichen. Da ihm in der Zwischenzeit auch noch der Planetenstatus aberkannt wurde, kann er die zweifelhafte Ehre für sich in Anspruch nehmen, der am wenigsten erforschte Ex-Planet im Sonnensystem zu sein. Voyager 2 wurde kurz nach dem Start zum Sorgenkind. Der Hauptempfänger der Sonde fiel aus, und der Reserveempfänger entpuppte sich als defekt: Er konnte seine Frequenz nicht durchstimmen. Das wäre aber erforderlich gewesen, denn wegen der sich ständig ändernden Geschwindigkeit der Sonde relativ zur Erde änderte sich durch den Doppler-Effekt auch die Empfangsfrequenz des Kommunikationssignals. Da Voyager seine Frequenz nicht ändern konnte, musste man diejenige des Signals ändern, das von der Erde gesendet wurde. Und so kommuniziert man mit Voyager bis heute, indem man ihm ein exakt auf seine Geschwindigkeit abgestimmtes Sendesignal übermittelt. Nach dem Swingby-Manöver an Jupiter reisten Voyager 1 und 2 weiter zu Saturn, und Voyager 2 noch darüber hinaus. In Abb. 11.19 erkennt man, dass die Sonde bei fast allen Planeten-Vorbeiflügen ihre Geschwindigkeit durch
Abschnitt 11.10 Pioneer- und Flyby-Anomalie
311
Swingby erhöhte. Der Geschwindigkeitsverlust während des Neptun-Vorbeiflugs war geplant und ermöglichte Voyager 2 die Begegnung mit dem Neptunmond Triton. Die Voyager-Sonden waren ein wissenschaftlicher Erfolg. Sie wurden durch ihre Bilderausbeute auch in der Öffentlichkeit populär, weil man zum ersten Mal Nahaufnahmen von Planeten und Monden des äußeren Sonnensystems sah, die man vorher nur aus Bildern von Teleskopen kannte.
11.10 Effekte, die wir nicht verstehen: Pioneer-Anomalie und Flyby-Anomalie 11.10.1 Die Pioneer-Anomalie
Neben der Erforschung von Jupiter und Saturn war ein Ziel der PioneerMission, mögliche noch unbekannte Himmelskörper auf der Bahn der Sonden zu entdecken. Da sich diese durch ihre Gravitationswirkung bemerkbar machen würden, konstruierte man die Sonden so, dass ihre Position mit großer Präzision zu bestimmen war. Von den Bodenstationen des Deep Space Network der NASA gingen Signale zu den Pioneer-Sonden. Diese sendeten die Signale auf einer anderen Frequenz zurück, die zur empfangenen Frequenz in einem festen Verhältnis stand. Mit Hilfe des Doppler-Effekts konnte auf der Erde aus den zurückgesendeten Signalen auf die Geschwindigkeit der Sonden geschlossen werden. Gleichzeitig und unabhängig davon konnte ihre Position aufgrund der Signallaufzeit bestimmt werden. Zum Vergleich wurde die Bahn der Sonde numerisch modelliert. Dies geschah mit der oben erwähnten „brute force“-Methode, bei der die Gravitationswirkung aller relevanten Himmelskörper berücksichtigt wurde. Aus Abweichungen zwischen gemessenen und modellierten Daten erhoffte man sich Anzeichen für die Existenz neuer Himmelskörper. Was man tatsächlich fand, war viel spannender. Seit 1979 zeigte sich eine stetig anwachsende Differenz zwischen gemessener und berechneter Geschwindigkeit (Abb. 11.20). Pioneer 10 und 11 werden ständig ein klein wenig stärker abgebremst, als es aufgrund der Wechselwirkung mit den anderen Himmelskörpern im Sonnensystem zu erwarten wäre. Der Effekt lässt sich als eine zur Sonne gerichtete konstante Beschleunigung interpretieren. Obwohl beide Sonden das Sonnensystem in ganz verschiedene Richtungen verlassen, sind die anomalen Beschleunigungen für beide gleich groß. Zwar hat die anomale Beschleunigung nur den winzigen Betrag von 9 · 10−10 m/s2 , aber der Effekt lässt sich nicht wegdiskutieren. Die nicht erklärbaren Geschwindigkeitsänderungen kumulieren, so dass die Pioneer-Sonden heute über eine Million Kilometer von ihren vorhergesagten Positionen entfernt sind. Große Bemühungen wurden unternommen, um den Effekt auf bekannte Ursachen zurückzuführen. Natürlich glaubte man zuerst an einen Fehler in der numerischen Modellierung. Als dies ausgeschlossen werden konnte, wurde systematisch versucht, mögliche Einflüsse auf die Geschwindigkeit der Pioneer-Sonden quantitativ zu erfassen. Einen relativ großen Einfluss hat z. B.
312
Geschwindigkeit in mm/s
Kapitel 11 Elastische Stöße – Der Swingby-Mechanismus
200 100 0 –100 –200 –300 0
500
1000 1500 2000 Tage ab 1. Januar 1987, 9 Uhr
2500
Abb. 11.20: Unerklärter Anteil der Doppler-Geschwindigkeitsmessungen von Pioneer 10 (Daten: J. D. Anderson et al.)
der Sonnenwind, ein Strom geladener Teilchen, der von der Sonne ausgeht. Die gemessene konstante Beschleunigung konnte aber weder darauf noch auf unbekannte Himmelskörper zurückgeführt werden (diese müssten auch die Bahnen der Planeten stören). Auch versuchte man alle sondeninternen Effekte mit großer Genauigkeit zu erfassen. So verursacht etwa das gerichtete Senden der Signale zur Erde (mit den erwähnten 7,5 W Sendeleistung) einen „Rückstoß“ in Höhe von 15% der gemessenen Anomalie. Die Zusatzbeschleunigung wird heute als real angesehen und ist offenbar mit der bekannten Physik nicht zu erklären. Ein solches Phänomen, bei dem sich in einem scheinbar wohlverstandenen Gebiet einige gesicherte Beobachtungsdaten der Erklärung entziehen, nennt man eine Anomalie. In der Geschichte der Physik waren Anomalien oft Wegweiser zu neuer Physik. Ein berühmtes Beispiel ist die Periheldrehung des Merkur. Hier führte die unerklärte Winzigkeit von 43 Bogensekunden pro Jahrhundert zu einer der ersten und wichtigsten Bestätigungen von Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie. 11.10.2 Die Flyby-Anomalie
Eine weitere Anomalie, die bisher noch wenig Beachtung gefunden hat, wurde 1990 bei einem Swingby der Raumsonde Galileo an der Erde entdeckt. Die Sonde legte einen verwickelten Weg zu ihrem eigentlichen Zielplaneten Jupiter zurück. Bedingt durch ihre große Masse (über 2 t) und das Aussetzen auf der niedrigen Erdumlaufbahn eines Space Shuttles benötigte sie vor allem eines: Schwung. Den holte sie sich durch insgesamt drei Swingbys: einen an
313
Abschnitt 11.10 Pioneer- und Flyby-Anomalie
Unerklärter Anteil (Hz) 0,10 0,08 0,06 0,04 0,02 0,0 07.12.90 04:00
08.12.90 06:00
09.12.90 08:00
10.12.90 10:00
Abb. 11.21: Unerklärter Anteil der Doppler-Geschwindigkeitsmessungen beim ersten Swingby-Manöver der Sonde Galileo an der Erde (Daten: P. Antreasian, J. Guinn)
der Venus und zwei an der Erde. Zur Bahnkontrolle wurden Geschwindigkeit und Position vom Deep Space Network routinemäßig gemessen, ohne dass man mit Unerwartetem rechnete. Zur allgemeinen Überraschung war die Geschwindigkeit der Sonde nach dem Erdvorbeiflug etwas größer als erwartet (Abb. 11.21). Mit 3,92 mm/s durfte man den Effekt zwar mit Fug und Recht als klein bezeichnen, aber verglichen mit der üblichen Modellierungsgenauigkeit von 0,1 mm/s war die Geschwindigkeitsabweichung erklärungsbedürftig. Steckte mehr dahinter als eine unerklärte Einzelmessung? Das war die Frage beim nächsten Swingby-Manöver. Die Sonde NEAR holte 1998 ebenfalls Schwung an der Erde, und auch bei ihr wurde der Effekt gefunden. Nach dem Vorbeiflug war NEARs Geschwindigkeit um (13,46 ± 0,13) mm/s größer als berechnet. Bei Cassini-Huygens 1999 zeigte sich der Effekt ebenfalls, während er bei Messenger 2005 nicht nachgewiesen werden konnte. Eigenartig ist die Befundlage bei der 2004 gestarteten Raumsonde Rosetta, deren komplizierte Flugroute zum Kometen Churyumov-Gerasimenko drei Swingby-Manöver an der Erde enthält. Beim ersten Erd-Swingby im März 2005 wurde der FlybyEffekt gefunden ((1,82 ± 0,05) mm/s), beim zweiten dagegen, im November 2007, trat er nicht auf. Die Flyby-Anomalie ist mit der überwältigend gut bestätigten newtonschen Himmelsmechanik offenbar nicht zu erklären. Gibt es eine Verbindung zur Pioneer-Anomalie? Sind die beiden Anomalien als Hinweise zu werten, dass das derzeitige physikalische Theoriengebäude der Erweiterung bedarf? Niemand hat eine Erklärung, keiner weiß es.
314
Kapitel 11 Elastische Stöße – Der Swingby-Mechanismus
11.10.3 Rätselhafte Energieformen in der Kosmologie
Die Hinweise auf noch Unverstandenes in der Physik häufen sich. Das Rätsel der dunklen Materie wurde schon in Kapitel 10 angesprochen, und noch rätselhafter ist die sogenannte dunkle Energie, die nach den modernen kosmologischen Modellen sogar den überwiegenden Anteil des Energieinhaltes im Universum ausmachen soll. Nachdem die dunkle Materie schon verwirrend genug ist, bleibt die Natur der dunklen Energie vollends rätselhaft. Offenbar erfüllt sie den Kosmos gleichmäßig und wirkt gravitativ abstoßend. Alternativ zu einer Interpretation als Materieform lässt sie sich als reiner GeometrieEffekt in Einsteins Feldgleichungen der allgemeinen Relativitätstheorie deuten („kosmologische Konstante“). Erste Hinweise auf ihre Existenz fand man 1998, als man aus Helligkeitsmessungen entfernter Supernovae schloss, dass sich die Expansion des Universums nicht wie erwartet im Lauf der Zeit verlangsamt, sondern beschleunigt. Seit 2003 gibt es präzise Messungen der Fluktuationen der kosmischen Hintergrundstrahlung, die nur mit der Existenz dunkler Energie zu deuten sind. Diese Messungen erlauben darüber hinaus erstmals eine quantitative Angabe der Zusammensetzung des Universums: Es besteht demnach zu 73% aus dunkler Energie, zu 23% aus dunkler Materie unbekannter Natur und nur zu 4% aus gewöhnlicher atomarer Materie (Sterne, Planeten), wovon nur ein Zehntel leuchtet. Nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung wissen wir über die Beschaffenheit von 95% des Inhalts unseres Universums buchstäblich nichts. Aber immerhin ist es schon ein gewaltiger Erkenntnisfortschritt, dass wir aufgrund empirischer Daten um unser Nichtwissen wissen. Ein wenig erinnert die derzeitige Situation an die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, in denen ähnliche Anomalien zum Umsturz des damaligen physikalischen Weltbilds führten und die unverstandenen experimentellen Befunde Quantenmechanik und Relativitätstheorie ankündigten.
Gezeiten und beschleunigte Bezugssysteme
Künstliche Gravitation in Raumstationen
12
316
Kapitel 12 Gezeiten und beschleunigte Bezugssysteme – Raumstationen
Abb. 12.1: Rotierende Raumstation in „2001 – Odyssee im Weltraum“
12.1 Schwerelosigkeit und künstliche Gravitation 12.1.1 Warum es im Kino keine Schwerelosigkeit gibt
Seitdem es bemannte Weltraummissionen gibt, sind schwerelose Astronauten zu einem gewöhnlichen Anblick geworden. Im Fernsehen kann man sie regelmäßig in den Raumstationen umherschweben sehen. Nur in HollywoodFilmen sieht man nichts dergleichen. Im gesamten Genre des Weltraum-Films stehen die Akteure mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Und wenn sie etwas loslassen, dann fällt es herunter. Es gibt nur eine Handvoll Filme, in denen die Schwerelosigkeit ernst genommen wird, allen voran natürlich Stanley Kubricks Klassiker „2001 – Odyssee im Weltraum“. Originell aber auch die Szenen in „Star Trek VI – Das unentdeckte Land“, in denen man Blut in der Schwerelosigkeit sehen kann – als frei schwebende, runde, rote Tropfen. Man kann es ja verstehen, dass die Schwerelosigkeit im Film ignoriert wird. Es wäre ziemlich aufwändig, einen Film mit schwerelosen Darstellern zu drehen. Und so ist es bequem, dass man einfach ins Drehbuch hineinschreiben kann: Im Raumschiff herrscht künstliche Gravitation. Eine erstklassige Ausrede, die nur noch vom Antimaterie-Antrieb übertroffen wird. Leider scheinen die Drehbuchschreiber von den Eigenschaften physikalisch realisierbarer künstlicher Gravitation noch weniger Ahnung zu haben als von Antimaterie. Sie wissen zwar, dass ein Raumschiff rotieren muss, damit künstliche Gravitation herrscht. Aber sie wissen nicht, dass es bei 1 g Rotationsgravitation fast unmöglich ist zu gehen, weil die Füße schwer sind und von selbst seltsame Seitwärtsbewegungen ausführen – dies aber nur manchmal. Sie wissen auch nicht, dass losgelassene Objekte auf merkwürdig gebogenen Bahnen zu Boden fallen und dass ein nach rechts geworfener Gegenstand unter Umständen von links wieder zurückgeflogen kommen kann.
Abschnitt 12.2 Gezeitenkräfte im inhomogenen Gravitationsfeld
317
Zum Glück für die Produzenten weiß das alles auch niemand aus dem Publikum. Nur Sie werden sich am Ende dieses Kapitels damit auskennen. Es werden auch ein paar Ihrer Illusionen zerstört sein. Aber Sie werden dem eigentlichen Zweck des Kapitels nähergekommen sein und einiges über Gezeitenkräfte und beschleunigte Bezugssysteme gelernt haben. 12.1.2 Grundideen künstlicher Gravitation
Es gibt zwei unterschiedliche Grundideen, um künstliche Gravitation zu realisieren: Zum einen kann man die Raumstation rotieren lassen. Ein Raumfahrer im Innern „fährt Karussell“; er ruht in einem rotierenden Bezugssystem. Beim Karussellfahren wird man nach außen gedrückt, und das passiert auch dem Raumfahrer. Die Außenwand der Raumstation ist für ihn „unten“. Er kann auf dem „Boden“ stehen, und losgelassene Gegenstände fallen „hinunter“. Die zweite Möglichkeit funktioniert nur für Raumstationen in einer Umlaufbahn um die Erde (oder um einen anderen Himmelskörper). Man nutzt dabei aus, dass die Schwerkraft mit dem Abstand variiert. Ist die Raumstation groß genug, dann treten in ihrem Innern Gezeitenkräfte auf, die die Insassen in Richtung Boden und Decke ziehen. Weil sich die Erdgravitation in einer „normal großen“ Raumstation vom Boden zur Decke nur in äußerst geringem Ausmaß ändert, ist der Effekt entsprechend klein. Um nicht eine Raumstation von mehreren Kilometern Größe bauen zu müssen, ist man auf eine Idee gekommen, von der man manchmal unter dem Namen „Weltraumseile“ hört. Zwei kleine Raumstationen, die in unterschiedlichem Abstand um die Erde laufen, werden durch ein kilometerlanges Seil verbunden. In beiden Stationen herrscht eine vom Seil weg gerichtete künstliche Schwerkraft. Diese abenteuerlich erscheinende Idee funktioniert tatsächlich, wenn auch die erzeugte „Gravitation“ nur einen geringen Betrag hat. Um das dahinterstehende Prinzip zu durchschauen, beschäftigen wir uns zuerst mit der Frage, was Gezeitenkräfte eigentlich sind.
12.2 Gezeitenkräfte im inhomogenen Gravitationsfeld 12.2.1 Warum zwei Flutberge?
Den Begriff „Gezeiten“ kennen Sie von Ebbe und Flut auf der Erde. Der gleiche Wirkungsmechanismus, der die künstliche Gravitation bei Weltraumseilen erzeugt, ist auch für die Entstehung der Gezeiten auf der Erde verantwortlich. Auf der Erde kommt der Wechsel von Ebbe und Flut hauptsächlich durch die Anziehungskraft des Mondes zustande. Auf der mondzugewandten und der mondabgewandten Seite der Erde bildet sich jeweils ein Flutberg (Abb. 12.2). Die Erde dreht sich in 24 Stunden einmal unter den beiden Flutbergen hinweg. Daher setzt die Flut alle 12 Stunden ein. Kaum jemand kann befriedigend erklären, warum es zwei Flutberge sind. Dass sich auf der mondzugewandten Seite ein Flutberg bildet, leuchtet noch ein. Die Gravitationskraft des Mondes ist hier größer als im Erdmittelpunkt
318
Kapitel 12 Gezeiten und beschleunigte Bezugssysteme – Raumstationen
Mond Erde
Flutberge Abb. 12.2: Die Flutberge auf der Erde werden durch die Gravitation des Mondes erzeugt.
und daher wird das Wasser stärker in Richtung Mond gezogen. Aber warum existiert ein Flutberg auf der Rückseite der Erde? Dort ist die Anziehungskraft des Mondes doch schwächer. . . Damit ist die Gretchenfrage zum Thema Gezeiten gestellt, und wir werden einige Zeit damit verbringen, sie zu beantworten. Es ist ungeschickt, die Frage direkt für das Erde-Mond-System anzugehen, denn hier sind die Verhältnisse aufgrund der komplexen Rotationsbewegungen recht undurchschaubar. Hat man dagegen erst einmal die künstliche Gravitation bei den Weltraumseilen verstanden, ist man dem Verständnis von Ebbe und Flut schon sehr nahegekommen. Im Mittelpunkt steht bei beiden die Inhomogenität des Gravitationsfeldes, also die Tatsache, dass die Gravitationsanziehung auf der einen Seite stärker ist als auf der anderen. 12.2.2 Schwerelosigkeit und Gezeitenkräfte
Schwerelosigkeit im homogenen Gravitationsfeld Ein Körper im freien Fall ist schwerelos – das gilt auch für die Raumstation in einer Erdumlaufbahn. Das Umkreisen der Erde unter dem Einfluss der Gravitation ist ja nichts anderes als ein fortgesetzter freier Fall (erinnern Sie sich an Abb. 10.7). Die Entstehung der Schwerelosigkeit wird noch einmal in Abb. 12.3 illustriert. Die gekrümmten Linien sind Wurfparabeln. Es sind die Bahnen von waagerecht abgeworfenen Körpern im räumlich konstanten homogenen Gravitationsfeld ~g, das durch die hellroten Pfeile symbolisiert wird. Drei frei fallende Körper sind eingezeichnet: ein Ball, ein Hammer und ein Kasten, dessen Schwerpunkt durch das gelbe Symbol markiert ist. Die Wurfparabeln verlaufen alle parallel. Kasten, Hammer und Ball fallen völlig unabhängig voneinander. Sie nehmen Hammer und Ball als schwerelos wahr, wenn Sie im Kasten (ebenfalls schwerelos) mitfallen. Auseinanderdriften von Körpern im inhomogenen Gravitationsfeld Anders sieht es in einem inhomogenen Gravitationsfeld aus, das sich von Ort zu Ort ändert. Die Situation ist für einen solchen Fall in Abb. 12.4 dargestellt. Am oberen Bildrand ist das Gravitationsfeld null (die oberste Bahnkurve ist kaum gekrümmt). Nach unten wird es zunehmend stärker; die Schwerkraft wird größer. Entsprechend sind dort die Bahnkurven stärker gekrümmt. Der
Abschnitt 12.2 Gezeitenkräfte im inhomogenen Gravitationsfeld
319
Abb. 12.3: Schwerelosigkeit im homogenen Gravitationsfeld: Die Wurfparabeln von Ball und Hammer verlaufen parallel zu derjenigen des Kastenschwerpunkts.
Abb. 12.4: Die Schwerkraft nimmt nach unten hin zu (hellrote Pfeile). Die Bahnen von Körpern im freien Fall laufen nun nicht mehr parallel.
Kasten folgt der Bahnkurve seines Schwerpunkts. Sie ist stärker gekrümmt als die Bahnkurve des Hammers, die weiter oben verläuft, aber weniger stark gekrümmt als die des Balls. Ball und Hammer befinden sich im freien Fall und folgen deshalb ihren jeweiligen Bahnkurven. Weil diese wie in der Abbildung gezeigt immer weiter auseinanderlaufen, driften auch Ball und Hammer im Kasten auseinander. Sie werden schließlich von der Kastenwand gestoppt. Wenn Sie sich in der Mitte des Kastens befinden, sind Sie weiterhin schwerelos (Sie fallen genauso wie der Schwerpunkt). Aber oben und unten herrscht künstliche Gravitation, und zwar in unterschiedliche Richtungen. Im unteren Teil des Kastens können Sie auf dem Boden stehen; im „oberen“ Teil werden Sie dagegen an die „Decke“ gedrückt. Sie werden dort Ihre Füße hinstellen und die „Decke“ als „unten“ definieren (Abb. 12.5). Gezeitenkräfte Den gleichen Sachverhalt kann man sich auf andere Weise durch eine Argumentation mit Kräften statt mit Bahnkurven erklären. Man kann sagen: Gezeiten werden durch die Abweichung von der Schwerelosigkeit hervorgerufen. Abb. 12.6 verdeutlicht, was damit gemeint ist.
320
Kapitel 12 Gezeiten und beschleunigte Bezugssysteme – Raumstationen
Abb. 12.5: Im Kasten herrscht künstliche Gravitation.
Nehmen wir der Einfachheit halber an, dass Kasten, Hammer und Ball die gleiche Masse besitzen. Wenn auf alle drei die gleiche Gravitationskraft wirkt, herrscht im freien Fall Schwerelosigkeit (mittleres Bild). Im inhomogenen Gravitationsfeld ist die Gravitationskraft allerdings oben schwächer und unten stärker (linkes Bild). Die Differenz führt zu einer Relativbeschleunigung der drei Körper (rechtes Bild). Die Teile der Gravitationskraft, die diese Relativbeschleunigung hervorrufen, nennt man Gezeitenkräfte. Nur sie sind für einen im Kasten mitfallenden Beobachter wahrnehmbar und messbar. Gezeitenkräfte treten auf, wenn ein ausgedehnter Körper in einem inhomogenen Gravitationsfeld frei fällt. Auf beiden Seiten des Körpers sind sie entgegengesetzt gerichtet. Der im inhomogenen Gravitationsfeld fallende Kasten ist das einfachste Beispiel für das Auftreten von Gezeitenkräften. Alles Wesentliche zeigt sich hier schon: die Tatsache, dass die Inhomogenität des Gravitationsfeldes dafür verantwortlich ist, dass man auf diese Weise künstliche Gravitation erzeugen kann und dass die Gezeitenkräfte auf beiden Seiten nach außen wirken (zwei Flutberge). 12.2.3 Gezeitenkräfte im Gravitationsfeld eines Himmelskörpers
Bisher haben wir nur qualitativ argumentiert und die genaue Form der Gravitationskraft nicht näher angegeben. Sehen wir uns zur quantitativen Beschreibung einen kugelsymmetrischen Himmelskörper an (Masse mK ). Die Gravitationskraft, die er auf eine Masse m im Abstand r ausübt, wird durch das newtonsche Gravitationsgesetz (Gl. (9.9)) beschrieben: FG (r ) = − G
m · mK . r2
(12.1)
Das Gravitationsfeld ist inhomogen; die Kraft variiert mit dem Abstand. Es werden also Gezeitenkräfte auftreten.
321
Abschnitt 12.2 Gezeitenkräfte im inhomogenen Gravitationsfeld
FG(rS+ Dr)
=
FG(rS)
– FGez
FG(rS)
+
FG(rS)
FGez
FG(rS)
FG(rS – Dr)
Abb. 12.6: Erklärung der Gezeiten als Abweichung von der Schwerelosigkeit
Lassen wir unseren Kasten in diesem Gravitationsfeld fallen und nehmen wieder an, dass Kasten, Ball und Hammer jeweils die Masse m besitzen. Den Abstand zwischen Hammer und Schwerpunkt nennen wir ∆r. Die Gezeitenkraft ist die Differenz der Gravitationskräfte am Ort des Hammers und am Ort des Schwerpunkts (vgl. Abb. 12.6), FGez = FG (rS + ∆r ) − FG (rS ), so dass FGez = − G · m · mK
1 1 − (rS + ∆r )2 rS2
(12.2) !
.
(12.3)
Der Kasten soll wesentlich kleiner sein als rS . In guter Näherung ist dann ∆r rS . Daher können wir nach Ausklammern von rS2 im Nenner die Näherungsformel 1 ≈ 1 ∓ 2e (12.4) (1 ± e )2 anwenden, die für e 1 gilt:
FGez ≈ − G ·
m · mK rS2
1 −
2∆r − 1 , rS
und damit FGez ≈ 2 G · m · mK ·
∆r . rS3
(12.5)
(12.6)
Dies ist die Gleichung für die Gezeitenkraft im Gravitationsfeld eines kugelförmigen Himmelskörpers. Eine gleich große, entgegengesetzt gerichtete Kraft ergibt sich für den Ball auf der anderen Seite des Kastens. Die Gezeitenkräfte auf einen ausgedehnten Körper im Gravitationsfeld eines Himmelskörpers fallen mit 1/r 3 ab und sind proportional zur räumlichen Erstreckung ∆r des Körpers.
322
Kapitel 12 Gezeiten und beschleunigte Bezugssysteme – Raumstationen
Charakteristisch ist die Abstandsabhängigkeit der Gezeitenkraft, die mit der dritten Potenz des Abstands abfällt (und damit viel stärker als die Gravitationskraft). Das erklärt, warum die Gezeitenkräfte der Sonne auf der Erde geringer sind als die des Mondes, obwohl die Gravitationskraft der Sonne 178-mal größer ist.
12.3 Weltraumseile 12.3.1 Bisherige Missionen
Schon seit den sechziger Jahren werden Weltraumseile im praktischen Einsatz erprobt. Bei den bemannten Missionen Gemini 11 und 12 wurden 30 m lange Seile mit einer Kapsel am Ende entrollt. Die Versuche glückten zwar, aber bei einer solch kurzen Seillänge waren die Gezeiteneffekte natürlich unmerkbar klein. Das Interesse an Weltraumseilen wuchs in den siebziger Jahren, weil man die Idee hatte, sie zur Stromerzeugung im All einzusetzen. Durch die Bewegung des Seils im Magnetfeld der Erde wird eine elektrische Spannung induziert, und unter geeigneten Bedingungen kommt ein Stromfluss zustande. In den italienischen TSS-Experimenten 1992 und 1996 konnte gezeigt werden, dass dies im Prinzip funktioniert. Aber wie alle anderen WeltraumseilMissionen waren auch sie von technischen Problemen geplagt. Abb. 12.7 zeigt, wie bei der Mission TSS-1R das 20 km lange Seil aus einem Space Shuttle entrollt wird. Fast die gesamte Seillänge konnte abgerollt werden, bevor das Seil zerriss (vermutlich aufgrund der Erhitzung durch den erzeugten Strom). Das 19 km lange abgerissene Ende konnte man für einige Wochen als hell leuchtenden Fleck am Himmel beobachten (Abb. 12.8).
Abb. 12.7: Langsames Entrollen des Seils aus dem Space Shuttle bei der Mission TSS-1R
Abschnitt 12.3 Weltraumseile
323
Abb. 12.8: Das entrollte Seil von TSS-1R in einer Teleskopaufnahme von der Erde (mit einigen Sternen aus dem Sternbild Auriga im Hintergrund). Aufnahme: Kym Thalassoudis.
Das bisher längste Seil wurde im Herbst 2007 entrollt. Der ESA-Satellit YES2 (Young Engineers’ Satellite) wurde vollständig von Studenten entworfen und gebaut. Der kleine Satellit entrollte trotz geringer Störungen erfolgreich ein 30 km langes Seil, das bei 0,4 mm Dicke nur 5 kg wog und eine Kapsel von 40 cm Durchmesser am Ende trug. Die Geschichte der Weltraumseile ist kurz, von Pannen geplagt und bisher nicht von praktischer Bedeutung. Trotzdem handelt es sich um eine originelle Idee, deren Analyse uns beim weiteren Verständnis der Gezeiten nützlich sein wird. 12.3.2 Modellannahmen, Umlauf des Schwerpunkts
Modell des Weltraumseils Wir betrachten ein einfaches Modell eines Weltraumseils (Abb. 12.9 (a)): zwei als punktförmig gedachte Kapseln der Masse m, verbunden durch ein masseloses, starres Seil. Der Schwerpunkt der Anordnung liegt in der Mitte des Seils, jeweils im Abstand ∆r zu den beiden Kapseln. Die Länge des Seils beträgt somit 2 · ∆r. Wir lassen das Seil auf einer Kreisbahn um die Erde laufen und argumentieren im Ruhesystem der Erde; mE bezeichnet die Masse der Erde. Zur Beschreibung des Umlaufs wenden wir unser vielfach erprobtes Rezept an. In einem ersten Schritt legen wir die Systemgrenzen wie in Abb. 12.9 (b) um das ganze Seil einschließlich der Kapseln. Die newtonsche Bewegungsgleichung für ausgedehnte Systeme sagt dann, dass sich der Schwerpunkt des Gesamtsystems auf einer Bahn bewegt, die durch die Summe aller äußeren Kräfte bestimmt wird. Äußere Kräfte Im vorliegenden Fall sind die äußeren Kräfte die Gravitationskräfte auf die beiden Kapseln. Sie greifen im Abstand ±∆r vom Schwerpunkt an: 1 1 ges + . (12.7) Fext = − G · m · mE (rS − ∆r )2 (rS + ∆r )2
324
Kapitel 12 Gezeiten und beschleunigte Bezugssysteme – Raumstationen
(a)
(b)
Weltraumseil
w m ®
®
FZP = FG
Dr
rS Schwerpunkt Erde
m
Abb. 12.9: (a) Modell des Weltraumseils. (b) Umlauf um die Erde.
Die Seillänge ist wesentlich geringer als der Abstand des Seils vom Erdmittelpunkt. In guter Näherung gilt also ∆r rS , und wir können wieder die Näherungsformel (12.4) anwenden: m · mE 2∆r ges = − G · 2m · mE . + 1 − 2∆r 1 + (12.8) Fext ≈ − G · rS2 rS2 rS rS Die auf das Gesamtsystem einwirkende Gravitationskraft ist in guter Näherung die gleiche wie für eine Punktmasse der Masse 2m im Abstand rS vom Erdmittelpunkt. Umlaufbedingung Den Zusammenhang zwischen Umlaufgeschwindigkeit und Bahnradius gewinnen wir wie in Gl. (10.22) durch die Bedingung „Zentripetalkraft = Gravitationskraft“. Anders als dort ist es diesmal jedoch praktischer, wenn wir uns auf die Winkelgeschwindigkeit ω beziehen statt auf die Bahngeschwindigkeit v. Daher verwenden wir die entsprechende Version von Gl. (A.33) aus dem Anhang: 2m · mE 2m · ω 2 · rS = G · . (12.9) rS2 Auflösen nach ω führt uns zu einem Zusammenhang zwischen Winkelgeschwindigkeit und Bahnradius: ω2 =
G · mE . rS3
(12.10)
Sehen Sie der Gleichung an, dass sich nichts anderes dahinter verbirgt als das dritte keplersche Gesetz?
325
Abschnitt 12.3 Weltraumseile 12.3.3 Künstliche Gravitation beim Weltraumseil
Festlegen der Systemgrenzen Um der künstlichen Gravitation auf die Spur zu kommen, ändern wir die Systemgrenzen und legen sie jetzt nur noch um die obere Kapsel (Abb. 12.10). Über die Systemgrenzen hinweg wirken jetzt zwei Kräfte: die Seilkraft und die Gravitationskraft der Erde auf die obere Kapsel. Die obere Kapsel läuft wie das Gesamtsystem mit der eben errechneten Winkelgeschwindigkeit ω um die Erde. Weil die obere Kapsel weiter von der Erde entfernt ist als der Schwerpunkt, ist die Gravitationskraft hier schwächer. Sie ist geringer als die Zentripetalkraft, die für eine Bewegung mit der Winkelgeschwindigkeit ω erforderlich ist. Die Differenz wird vom Seil aufgebracht. Ohne das Seil würde die obere Kapsel auf einer weniger gekrümmten Bahn weiterfliegen. Umlaufbedingung Die Umlaufbedingung lautet nun in Worten: „Zentripetalkraft (im Abstand rS + ∆r) = Gravitationskraft (im Abstand rS + ∆r) + Seilkraft“. In Formeln ausgedrückt: m · mE + FSeil . (12.11) m · ω 2 · (rS + ∆r ) = G · (rS + ∆r )2
m ®
FG w Dr
®
FSeil
rS m zur Erde Abb. 12.10: Systemgrenzen zum Ermitteln der Seilkraft und damit der Gezeitenkraft. Die Erde ist nicht mehr gezeigt, die Pfeile deuten ihr Gravitationsfeld an.
326
Kapitel 12 Gezeiten und beschleunigte Bezugssysteme – Raumstationen
Wir lösen nach FSeil auf und verwenden wieder die Näherung (12.4): ∆r m · mE 1 − 2 . FSeil = m · ω 2 · (rS + ∆r ) − G · rS rS2 Aus Gl. (12.10) setzen wir ω 2 ein und sortieren die Terme: m · mE ∆r ∆r FSeil = G · − 1 + 2 , 1 + rS rS rS2
(12.12)
(12.13)
so dass sich für die Seilkraft ein ganz ähnlicher Ausdruck wie Gl. (12.6) ergibt: FSeil = 3 G m mE ·
∆r . rS3
(12.14)
Führt man die Rechnung für die untere Kapsel durch, ergibt sich das gleiche Ergebnis, nur mit umgekehrter Richtung der Seilkraft. Künstliche Gravitation in den Kapseln Die Seilkraft ist nach innen gerichtet. Sie hindert die obere Kapsel daran, ihren Abstand zum Schwerpunkt zu vergrößern. Schneidet man das Seil durch, driften die beiden Kapseln auseinander. Das Seil hat die Aufgabe, dieses Auseinanderdriften zu verhindern. Denken wir uns einen Passagier in der Kapsel, der einen Ball in der Hand hält. Solange er den Ball festhält, bringt sein Arm die gerade errechnete „Seilkraft“ auf, die den Ball in Bezug auf die Kapsel ruhen lässt. Lässt er den Ball los, wird dieser nach „außen“ beschleunigt, bis er von der seilabgewandten Wand der Kapsel gestoppt wird. Dort bleibt der Ball liegen, weil nun die Wand eine Kraft gemäß Gl. (12.14) auf ihn ausübt. In beiden Kapseln herrscht künstliche Gravitation: Gegenstände fallen nach „unten“ und bleiben auf dem „Boden“ liegen. Die Situation ist ganz ähnlich wie in Abb. 12.5. In Gedanken können Sie den mittleren Teil des dort abgebildeten Kastens einschnüren, bis er zum dünnen „Seil“ wird. Beispielaufgabe: In einem 50 km langen Seil, das in 300 km Höhe um die Erde läuft, wird in der beschriebenen Weise künstliche Gravitation erzeugt. Berechnen Sie die Seilkraft in den Endkapseln und vergleichen Sie die „Gravitationsbeschleunigung“ mit der Erdbeschleunigung g. Lösung: Die Gravitationsbeschleunigung ergibt sich aus der in Gl. (12.14) angegebenen Seilkraft, indem wir durch m dividieren. Beim Einsetzen der Werte müssen wir darauf achten, dass rS nicht der Abstand des Seils von der Erdoberfläche, sondern vom Erdmittelpunkt ist. Es gilt also rS = rE + 300 km = 6370 km + 300 km = 6670 km.
327
Abschnitt 12.3 Weltraumseile
Ferner ist ∆r die halbe Seillänge, hier also 25 km. Als weitere Angabe benötigen wir die Erdmasse mE = 5,97 · 1024 kg. Damit ergibt sich:
aGez =
∆r FGez = 3 GmE · 3 m rS
= 3 · 6,67 · 10−11 = 0,10 m/s2 .
m3 25 · 103 m 24 · 5,97 · 10 kg · kg s2 (6670 · 103 m)3
Die künstliche Gravitation in den Kapseln entspricht einem Prozent der Erdbeschleunigung ( aGez = 0,01 g).
12.3.4 Gezeitenkräfte und gebundene Rotation
Das Modellsystem des Weltraumseils wird uns später helfen, die Gezeiten auf der Erde zu verstehen. Allerdings gibt es einen Stolperstein, der dem Verständnis immer wieder im Weg steht: der Unterschied zwischen gebundener Rotation und richtungstreuem Umlauf und ihr Zusammenhang mit den Gezeiten. Abb. 12.11 illustriert diesen Unterschied. Das Weltraumseil läuft in gebundener Rotation um die Erde (links). Wie der Mond kehrt es der Erde immer dieselbe Seite zu: im Bild die gelbe Kapsel. Die schwarze Kapsel läuft in einem größeren Abstand um die Erde als der Schwerpunkt (äußerer helloranger Kreis). Auf sie muss daher eine größere Zentripetalkraft wirken (was in unserer Rechnung auf der linken Seite von Gl. (12.11) berücksichtigt ist), und diese trägt zur Seilspannung bei. Für das Weltraumseil ist die gebundene Rotation die stabile Bewegungsform. Beim richtungstreuen Umlauf (rechts) hingegen behält das Seil seine Orientierung während des Umlaufs bei. Die schwarze Kapsel bleibt immer rechts oben. Manchmal ist sie zur Erde gerichtet, manchmal von ihr weg. Schwerpunkt, schwarze und gelbe Kapsel laufen auf Kreisen mit gleichem Radius,
gebundene Rotation
richtungstreuer Umlauf
Abb. 12.11: Gebundene Rotation und richtungstreuer Umlauf
328
Kapitel 12 Gezeiten und beschleunigte Bezugssysteme – Raumstationen
aber verschiedenen Mittelpunkten. Auf beide Kapseln wirkt die gleiche Zentripetalkraft. Wegen der unterschiedlichen Orientierung zur Erde ändert sich die Seilspannung mit der Zeit. Anschaulich kann man sagen: „Gebundene Rotation = richtungstreuer Umlauf + Rotation um den eigenen Schwerpunkt“. Bei der gebundenen Rotation hat das Seil nach einem halben Umlauf seine Orientierung im Raum um 180° geändert (die schwarze Kapsel ist jetzt links unten). Nach einem ganzen Umlauf ist es einmal um seinen Schwerpunkt rotiert. Was hat das Ganze nun mit den Gezeiten zu tun? Die Gezeitenkräfte hatten wir oben über die Inhomogenität des Gravitationsfeldes definiert. Wenn auf einen Punkt eines ausgedehnten Körpers eine andere Gravitationskraft wirkt als auf den Schwerpunkt, dann bezeichnen wir die Differenz als Gezeitenkraft. Quantitativ wird dies durch Gl. (12.6) ausgedrückt. Wenn Sie sich die Rechnung ansehen, die uns auf Gl. (12.14) geführt hat, dann stellen Sie fest, dass sich die beiden Formeln um die Vorfaktoren 2 bzw. 3 unterscheiden. Nur 2/3 der Seilkraft sind auf die Gezeitenkräfte zurückzuführen. Das restliche Drittel wird durch die Zentripetalkraft verursacht, die mit der Rotation des Seils um seinen Schwerpunkt einhergeht. Sie spannt das Seil ebenfalls. Dieser Anteil ist jedoch keine Gezeitenkraft im Sinne unserer Definition. Anders ausgedrückt: Die künstliche Gravitation in den Kapseln wird nicht nur durch Gezeitenkräfte hervorgerufen, sondern zu einem Drittel auch durch die Zentripetalkraft der Rotationsbewegung. Durch Messungen kann man die Anteile nicht unterscheiden. Man kann sie nur gedanklich auseinanderhalten. Wenn wir später Planeten betrachten, deren Umlauf um die Sonne ebenfalls von einer Rotation um ihre Achse begleitet wird, wird sich der Unterschied als wichtig erweisen.
Io ®
r
FG(r) Schwerkraft º Zentripetalkraft
Jupiter Abb. 12.12: Der Jupitermond Io, im Abb. 12.13: Die Schwerkraft von Jupiter Jahr 1979 von Voyager 1 fotografiert wirkt als Zentripetalkraft für Io.
329
Abschnitt 12.4 Gezeitenkräfte bei Monden und Planeten m ®
®
FSeil
Seil
Io Abb. 12.14: Ein Seil dient als Modell für die Kräfte, die in Wirklichkeit innerhalb des Gesteins wirken.
Richtung Jupiter
FG
m
12.4 Gezeitenkräfte bei Monden und Planeten 12.4.1 Gezeiten auf dem Jupitermond Io
Als Voyager 1 im März 1979 am Jupitermond Io vorbeiflog und Nahaufnahmen von ihm zur Erde funkte, war man überrascht. Eigentlich hatte man eine kraterüberdeckte Oberfläche wie beim Erdmond erwartet. Was man auf den Bildern sah, ließ aber auf eine junge, geologisch hoch aktive Oberfläche schließen, auf der man sogar Anzeichen für aktiven Vulkanismus ausmachen konnte (Abb. 12.12). Des Rätsels Lösung ließ in diesem Fall nicht lange auf sich warten. Die Erklärung gab ein Artikel, der schon zwei Tage vor dem Eintreffen der überraschenden Voyager-Fotos in der Zeitschrift „Science“ veröffentlicht worden war. In ihm legten die Autoren dar, dass man einen „heißen“ Mond erwarten sollte, weil ihn die Gezeiteneffekte von Jupiters Schwerkraft fortlaufend „durchkneten“. Dass die Oberfläche des Mondes tatsächlich ständigen Wandlungen unterworfen ist, wurde auf eindrückliche Weise fünf Monate später bestätigt. Im Juli 1979 sendete auch Voyager 2 während ihres Jupiter-Vorbeiflugs Bilder von Io zur Erde. Teile der Oberfläche hatten sich inzwischen verändert; unter anderem war einer der im März gefundenen Vulkane erloschen. Modell für die Gezeiten auf Io Wir können das Durchkneten von Io mit unserem Modell für die Gezeitenkräfte beschreiben. Die Analyse verläuft völlig analog zu unserer Berechnung beim Weltraumseil. Io läuft in gebundener Rotation um Jupiter (sie kehrt ihm immer dieselbe Seite zu). Legen wir zunächst die Systemgrenzen um den gesamten Mond (Abb. 12.13, in Analogie zu Abb. 12.9 (b)). Wir erhalten dann den gleichen Ausdruck für die Winkelgeschwindigkeit des Umlaufs wie in Gl. (12.10) – das dritte keplersche Gesetz. Die Erdmasse mE ist natürlich durch die Jupitermasse mJ zu ersetzen.
330
Kapitel 12 Gezeiten und beschleunigte Bezugssysteme – Raumstationen
Um die Analogie mit dem Weltraumseil weiter zu verfolgen, denken wir uns ein Loch mitten durch Io gebohrt. Zwei Gesteinsbrocken an der Oberfläche des Mondes denken wir uns durch ein Seil verbunden (Abb. 12.14). Auf die Gesteinsbrocken werden Gravitationskräfte von zweierlei Herkunft ausgeübt: Es wirkt die Schwerkraft des Mondes selbst und diejenige von Jupiter. Wir sehen von Ios Eigengravitation ab und denken uns einen gravitationsfreien Mond, gewissermaßen nur eine leere Hülle, auf die wir unsere Gesteinsbrocken setzen. Im gegenwärtigen Zusammenhang interessieren uns nur die von Jupiter ausgeübten Gravitationskräfte. Mit diesem Modell können wir die Rechnung, die auf Gl. (12.14) führte, direkt übertragen. Die Gleichung gilt demnach auch für die Gezeitenkräfte auf Io, die in der Realität nicht über ein Seil, sondern durch die Bindungen im Gestein kompensiert werden. Grafische Veranschaulichung Ähnlich wie in Abb. 12.6 können wir uns die Herkunft der Gezeitenkräfte auch grafisch verdeutlichen (Abb. 12.15). Die Gleichung „Gravitationskraft = Zentripetalkraft“ ist nur im Mittelpunkt von Io erfüllt. Der Mond kann sich nur als Ganzes bewegen, und die Bewegung des Schwerpunkts gibt die erforderliche Zentripetalkraft an jeder Stelle vor (Abb. 12.15 Mitte). Der nicht von Jupiters Schwerkraft aufgebrachte „Rest“ zieht die Oberfläche von Io auf Vorder- und Rückseite in entgegengesetzte Richtungen (Abb. 12.15 rechts).
Richtung Jupiter
Deformation des Mondes Die Gezeitenkräfte zeigen auf beiden Seiten von der Mondoberfläche weg. So wie sich dadurch das Weltraumseil spannt, bauen sich im Gestein im Innern des Mondes Zugspannungen auf. Wenn das Seil nicht ganz starr ist, sondern ein wenig elastisch, dehnt es sich unter dem Einfluss dieser Kräfte. Analoges passiert mit dem Gestein. Es verformt sich durch die Wirkung der Gezeitenkräfte, es bilden sich steinerne „Flutberge“ – auf der jupiterabgewandten wie auf der jupiterzugewandten Seite. – FGez
FG(r + Dr)
FG(r)
Io FG(r)
FG(r – Dr)
=
FG(r)
FG(r)
+
FGez
Abb. 12.15: Die Gezeitenkräfte als Differenz zwischen Gravitationskraft und der durch die Bewegung von Io vorgegebenen Zentripetalkraft
Abschnitt 12.4 Gezeitenkräfte bei Monden und Planeten
331
Warum wird Io durchgeknetet? Noch ist das „Durchkneten“ von Io nicht erklärt. Aufgrund der gebundenen Rotation bleibt die Vorderseite immer Vorderseite und die Rückseite immer Rückseite. Die Gezeitenkräfte scheinen an jeder Stelle des Mondes zeitlich konstant zu sein. Über lange Zeiträume kann das Gestein „fließen“ und an Vorder- und Rückseite steinerne Flutberge ausbilden. Damit scheint ein Gleichgewichtszustand erreicht, an dem sich nichts mehr ändert. Ios Bahn um Jupiter ist jedoch nicht kreisförmig, sondern weicht aufgrund von Bahnstörungen durch den Mond Europa leicht von der Kreisform ab. Der Abstand zu Jupiter ändert sich während eines Umlaufs um etwa 3500 km. Wegen der starken Abstandsabhängigkeit der Gezeitenkräfte (der Abstand geht in der dritten Potenz ein) schlägt sich das in einer verhältnismäßig großen Variation der Gezeitenkräfte nieder. Bei jedem Umlauf von Io um Jupiter variieren die Gezeitenkräfte zwischen einem minimalen und einem maximalen Wert. Die Oberfläche von Io hebt und senkt sich dadurch um bis zu 100 m. Durch innere Reibung bei der Verformung heizt sich Io auf. Modellrechnungen ergeben für die gezeitenbedingte „Heizleistung“ Werte zwischen 1012 W und 1014 W, je nach den Annahmen, die man für den Aufbau von Ios Innerem zugrunde legt. Beispielaufgabe: Berechnen Sie die Größe der Gezeitenbeschleunigung auf der Oberfläche von Io für den jupiternächsten und den jupiterfernsten Punkt der Umlaufbahn (rS = 420 000 km bzw. rS = 423 500 km). Der Radius von Io beträgt 1815 km. Lösung: Wir können wieder wie im Beispiel auf S. 326 vorgehen und Gl. (12.14) anwenden. Dabei muss die Erdmasse mE durch die Jupitermasse mJ = 1,9 · 1027 kg ersetzt werden. Am jupiternächsten Punkt ergibt sich:
aGez =
FGez ∆r = 3 GmJ · 3 m rS
= 3 · 6,67 · 10−11
1815 · 103 m m3 · 1,9 · 1027 kg · 2 kg s (420 000 · 103 m)3
= 9,31 · 10−3 m/s2 .
Entsprechend findet man für den jupiterfernsten Punkt:
aGez = 9,08 · 10−3 m/s2 . Die Differenz der beiden Werte ist für das Heben und Senken der Oberfläche von Io verantwortlich, das zum „Durchkneten“ des Mondes führt.
Vergleich mit dem Erdmond Alles bisher Gesagte gilt für den Erdmond unter dem Gravitationseinfluss der Erde ebenso wie für Io. Auch er läuft in gebundener Rotation um die Erde, auch seine Bahn ist nicht kreisförmig. Die Bahnexzentrizität des Erdmondes
332
Kapitel 12 Gezeiten und beschleunigte Bezugssysteme – Raumstationen
ist sogar noch etwas größer als die von Io. Man beobachtet aber keinerlei Anzeichen für ein Aufheizen durch veränderliche „steinerne Gezeiten“. Warum wird Io durchgeknetet, der Erdmond aber nicht? Die Erde besitzt eine weitaus geringere Masse als Jupiter. Daher sind auch die von ihr verursachten Gezeitenkräfte kleiner (beim Erdmond etwa 300-mal schwächer als bei Io). Hinzu kommt die größere Umlaufdauer des Erdmondes (27,3 Tage; bei Io sind es 1,8 Tage). Das „Kneten“ geschieht also mit einer geringeren Frequenz. Als Resultat beider Effekte wird der Mond etwa 7000-mal schwächer durch Gezeitenkräfte aufgeheizt als Io.
12.5 Gezeiten auf der Erde 12.5.1 Schwierigkeiten beim Verständnis der durch den Mond verursachten Gezeiten
Die Bewegungen im Erde-Mond-System sind deutlich komplexer als in den bisher betrachteten Beispielen. Das erschwert das Verständnis der Gezeiten auf der Erde. Die gedankliche Hauptschwierigkeit liegt wohl darin, dass wir beim Erde-Mond-System an der Wirkung des kleinen Körpers (Mond) auf den großen Körper (Erde) interessiert sind. Das anschauliche Verständnis wird dadurch erschwert, dass die entsprechende Fallbewegung keine einfache Gestalt wie „Io kreist um Jupiter“ besitzt. Der freie Fall von Erde und Mond um den gemeinsamen Schwerpunkt widersetzt sich der Anschauung, weil sich die Erde dabei nur wenig bewegt. Ihre Eigenrotation macht die Sache auch nicht einfacher. Es ist daher vorteilhaft, in einem Zwischenschritt zuerst einen einfacheren Fall zu betrachten: die von der Sonne hervorgerufenen Gezeiten. Sie sind zwar schwächer als die Mondgezeiten, dafür aber einfacher zu verstehen. 12.5.2 Die von der Sonne verursachten Gezeiten
Um die von der Sonne auf der Erde verursachten Gezeiten zu beschreiben, gehen wir von der bekannten Tatsache aus, dass die Erde in 365 Tagen um die Sonne läuft und dabei um ihre eigene Achse rotiert (Abb. 12.16). Genau genommen läuft die Erde nicht um den Mittelpunkt der Sonne, sondern um den gemeinsamen Schwerpunkt von Sonne und Erde, der aber nur 450 km vom Sonnenmittelpunkt entfernt liegt. Die Situation sieht ganz ähnlich aus wie bei Io und Jupiter – wenn nicht das in Abschnitt 12.3.4 angesprochene Problem wäre. Die Erde umkreist die Sonne nämlich keinesfalls in gebundener Rotation. Sie kehrt ihr nicht immer dieselbe Seite zu. Das erschwert die Beschreibung des Problems. Ein fester Punkt auf der Erdoberfläche (ein Stück Wasser oder ein Schiff, das auf dem Meer schwimmt) ändert aufgrund der Erdrotation dauernd seinen Abstand von der Sonne. Dadurch erfährt er eine ständig wechselnde Gravitationskraft von der Sonne – das Problem wird zeitabhängig. Das sollte uns jedoch nicht weiter schrecken. Irgendwo muss der 12-Stunden-Rhythmus von Ebbe und Flut ja herkommen.
333
Abschnitt 12.5 Gezeiten auf der Erde
Rotation in 23 h 56 min Erde Schwerpunkt Sonne-Erde-System
Umlauf in 365 Tagen
Sonne
Abb. 12.16: Die Erde läuft in 365 Tagen um die Sonne und rotiert dabei um ihre Achse.
Um die Sachlage überschaubar zu machen, denken wir uns wieder ein Seil quer durch die Erde gelegt. Es wird aus zwei Gründen gespannt: (1) durch die immer gleiche Zentripetalkraft der Erdrotation und (2) durch die ständig sich ändernden Gezeitenkräfte der Sonne (aufgrund der Erdrotation ändert das Seil ja dauernd seine Orientierung zur Sonne). Es gibt somit einen zeitunabhängigen und einen zeitabhängigen Teil der Seilkraft bzw. der entsprechenden Kräfte im Innern der Erde. Für die Entstehung von Ebbe und Flut sind wir am zeitunabhängigen Teil, also an der Zentripetalkraft, nicht interessiert. Er führt zu einer permanenten Verformung des Erdkörpers: Der Äquatordurchmesser der Erde ist um 46 km größer als der Poldurchmesser. An dieser Verformung erfreuen sich vielleicht die Erdvermesser. Wir als einfache Seeleute und Küstenbewohner bekommen hiervon aber nichts mit. Wir nehmen nur den zeitabhängigen Teil im 6-stündigen Wechsel von Ebbe und Flut wahr. Quantifizieren wir den zeitabhängigen Teil. Aufgrund der Gezeitenkräfte im inhomogenen Gravitationsfeld der Sonne bilden sich auf der sonnenzugewandten und der sonnenabgewandten Seite der Erde stationäre Flutberge aus, unter denen sich die Erde hinwegdreht. Das in Abb. 12.17 eingezeichnete Schiff liegt vor Anker und rotiert zusammen mit dem umgebenden Wasser innerhalb von 12 Stunden vom sonnenfernsten Punkt A (Flutberg) über die „90°-Position“ B (Niedrigwasser) zum sonnennächsten Punkt C (wieder Flutberg). Die Besatzung erlebt den Wechsel von Hoch- und Niedrigwasser im 12-Stunden-Rhythmus. Der Sonnenanteil der Gezeiten wird somit durch den Unterschied der Gravitationskraft der Sonne an den verschiedenen Punkten (A und B bzw. B und C) verursacht. Das macht rückblickend klar, weshalb es sinnvoll war, den Begriff „Gezeitenkraft“ gerade als Differenz der Gravitationskräfte an verschiedenen Orten in einem inhomogenen Gravitationsfeld zu definieren: FGez = FG (rS ± ∆r ) − FG (rS ). (12.15)
334
Kapitel 12 Gezeiten und beschleunigte Bezugssysteme – Raumstationen
Flutberg r = rS – Dr
zur Sonne
B C
A
Niedrigwasser r = rS
Flutberg r = rS + Dr Abb. 12.17: Entstehung der Flutberge für den von der Sonne verursachten Anteil der Gezeiten
Wir haben diesen Ausdruck oben schon berechnet und können nun darauf zurückgreifen. Für den Betrag der durch die Sonne verursachten Gezeitenkräfte gilt Gl. (12.6), wenn man für mK die Sonnenmasse einsetzt, für ∆r den Erdradius und für rS den Abstand Erde-Sonne. 12.5.3 Die vom Mond verursachten Gezeiten
Der Mond verursacht den Hauptanteil der Gezeiten auf der Erde. Dass dies der am schwersten verständliche Teil ist, wissen Sie schon. Durch die Vorarbeit mit der Sonne sollten die Verständnisschwierigkeiten nun aber gering bleiben. Die relevante Bewegung von Erde und Mond ist in Abb. 12.18 dargestellt. Beide laufen in 27,3 Tagen um den gemeinsamen Schwerpunkt, der noch innerhalb der Erde liegt. Im Bild ist auch die tägliche Rotation der Erde um ihre Achse dargestellt. Wenn Sie die Bewegungen mit denen aus dem vorangegangenen Abschnitt (Abb. 12.16) vergleichen, stellen Sie fest, dass exakt die gleiche Situation vorliegt. Der Mittelpunkt der Erde läuft um einen Punkt (hier um den Erde-Mond-Schwerpunkt, dort um den Sonne-Erde-Schwerpunkt), während gleichzeitig die Erde um ihre Achse rotiert. Einzig die Größenmaßstäbe und Zeitverhältnisse haben sich geändert. Der Radius der Erdumlaufbahn um den gemeinsamen Schwerpunkt ist drastisch geschrumpft. Für die Entstehung der Gezeiten hat dies aber keine Auswirkungen. Was zählt, ist der freie Fall und das inhomogene Gravitationsfeld. Wie bei den von der Sonne verursachten Gezeiten können wir einen zeitabhängigen und einen zeitunabhängigen Anteil der Kräfte auf ein imaginäres Seil durch den Erdmittelpunkt identifizieren. Der zeitunabhängige Anteil ist der gleiche wie oben; er geht auf die Zentripetalkräfte bei der Erdrotation zurück. Auch der zeitabhängige Anteil, der uns allein interessiert, hat den gleichen Ursprung wie oben: Ein festgehaltener Punkt auf der Erdoberfläche verändert im Lauf der 24-Stunden-Rotation der Erde seinen Ort im inhomogenen Gravitationsfeld des Mondes. Hochwasser herrscht an der mondzugewandten und der mondabgewandten Seite (r = rS ± ∆r), Niedrigwasser an den „90°-Positionen“ dazwischen (r = rS ). Für die vom Mond verursachten Ge-
335
Abschnitt 12.5 Gezeiten auf der Erde
Erdmittelpunkt
Mond 27,3 Tage 27,3 Tage
Schwerpunkt Erde-Mond-System
23 h 56 min
Erde
Abb. 12.18: Bewegungen im Erde-Mond-System
zeitenkräfte gilt Gl. (12.6), wenn man für mK die Masse des Mondes einsetzt und für rS den Abstand Erde-Mond. Berechnet man die Gezeitenbeschleunigungen durch Mond und Sonne, so ergibt sich 1,1 ·10−6 m/s2 für den Mond und 0,5 ·10−6 m/s2 für die Sonne. Der Einfluss des Mondes auf die Gezeiten ist doppelt so groß wie derjenige der Sonne. Die Gezeiten des Mondes haben eine Periode, die etwas länger als 12 Stunden ist. Während sich die Erde um ihre eigene Achse dreht, wandert der Mond in seinem monatlichen Umlauf ebenfalls ein Stück weiter. Von der Erde aus gesehen steht der Mond erst nach einem Tag und 53 Minuten (= 1/27,3 Tage) wieder in der gleichen Richtung. Daher verschieben sich die vom Mond verursachten Gezeiten Tag für Tag um 53 Minuten nach hinten. Für die Sonne beträgt die entsprechende tägliche Verschiebung nur 4 Minuten, mit denen wir von den oben erwähnten 23 h 56 min des siderischen Tages auf die 24 Stunden des Sonnentages kommen. 12.5.4 Verschiedene Modelle für Ebbe und Flut
Eigentlich haben wir noch nicht die Entstehung von Ebbe und Flut selbst untersucht, sondern nur die Kräfte, die sie hervorrufen. Um zu verstehen, auf welche Weise die Wassermassen der Erde auf die Gezeitenkräfte reagieren, braucht man ein Modell der Erde. Hier gibt es verschiedene Ansätze, die unterschiedliche Aspekte des Ebbe-Flut-Phänomens erklären. (1) Im einfachsten Modell denken wir uns eine Erde aus Gestein mit einer durchgehenden Wasserschicht darauf – ein Meer ohne Kontinente. Wie in Abb. 12.18 angedeutet, bildet sich ein Flutberg auf der mondzugewandten und der mondabgewandten Seite der Erde aus. Bei ihrer Eigenrotation dreht sich die Erde „unter den Flutbergen hinweg“. Das Wasser dreht sich natürlich mit der Erde mit; nur die Lage der Flutberge bleibt stationär. Für einen Beobachter auf der Oberfläche der Erde scheinen die Flutberge wie zwei große Wellen um die Erde „herumzuschwappen“. Quantitativ ergibt dieser Ansatz eine Höhe von etwa 1 m für die Flutberge (vergleichen Sie das mit den 23 km aufgrund der Zentripetalkraft). Dieses Ergebnis entspricht etwa der Gezeitenhöhe im freien Ozean. Die teilweise wesentlich höheren Gezeiten an Küsten werden nicht beschrieben (das Modell kennt ja auch keine Küsten).
336
Kapitel 12 Gezeiten und beschleunigte Bezugssysteme – Raumstationen
Abb. 12.19: Vektorielle Darstellung der Gezeitenkräfte auf der Erdoberfläche
(2) Bisher war unsere Analyse rein eindimensional. Kräfte, die senkrecht zur Verbindungslinie Erde-Mond wirken, haben wir nicht betrachtet. In einer vektoriellen Beschreibung ergibt sich das in Abb. 12.19 gezeigte Bild für die Gezeitenkräfte. Das Muster ist rotationssymmetrisch um die Verbindungslinie Erde-Mond. Abseits von den Flutbergen haben die Gezeitenkräfte auch horizontale Komponenten. Sie sind für die Entstehung der Gezeiten von elementarer Bedeutung. „Ebbe“ und „Flut“ sind ja gerade Bezeichnungen für das Fließen des Wassers zwischen Hoch- und Niedrigwasser. Zum Fließen wird das Wasser von den Anteilen der Gezeitenkräfte angetrieben, die parallel zur Erdoberfläche gerichtet sind. Die horizontalen Anteile sind am größten zwischen Niedrigwasser und Flutbergen. Die größten Gezeitenströmungen werden also in die Zeit zwischen Hoch- und Niedrigwasser fallen. Das ist auch der Grund, warum in Binnenseen und kleinen Gewässern keine Gezeiten auftreten. Von den senkrecht nach oben wirkenden Gezeitenkräften wird das Wasser ebenso wenig angehoben wie Sie und ich. Ebbe und Flut gibt es erst, wenn die Wasserfläche so groß ist, dass die horizontalen Gezeitenkomponenten sich bemerkbar machen. Bei einer dreidimensionalen Analyse ist auch die Neigung der Erdachse gegenüber der Ekliptik zu berücksichtigen. Der mondnächste Punkt befindet sich normalerweise nicht auf dem Äquator. Innerhalb eines Mondumlaufes wandert er von der Süd- auf die Nordhalbkugel und wieder zurück. Damit wandert auch die Lage der Flutberge auf der Erde, und die Höhe der Gezeiten an einem bestimmten Ort variiert entsprechend. (3) Ein dritter, ganz anders gearteter Ansatz, nimmt die Periodizität der Gezeitenkräfte ernst. Wie oben beschrieben sind die Gezeitenkräfte zeitabhängig und besitzen an jedem Punkt der Erdoberfläche eine 12-StundenPeriodizität. Die Erdoberfläche wird als eine Abfolge mehr oder weniger
Abschnitt 12.6 Newtonsche Mechanik in beschleunigten Bezugssystemen
337
großer und tiefer Becken beschrieben, in denen die Gezeitenkräfte das Wasser periodisch anregen. Die Auswirkungen periodischer Anregungen können Sie durch rhythmisches Planschen in einer Badewanne selbst erforschen. Wenn Anregungsperiode, Beckentiefe und -größe im richtigen Verhältnis stehen, kann das Wasser zu mächtigen Schwingungen angeregt werden. Auf diese Weise lassen sich die teilweise sehr großen Tidenhübe in manchen Regionen der Erde erklären (Abb. 12.20).
12.6 Newtonsche Mechanik in beschleunigten Bezugssystemen 12.6.1 Inertialsysteme und beschleunigte Bezugssysteme
Nachdem wir jetzt alles Wesentliche über Gezeitenkräfte wissen, können wir uns der zweiten Idee zur Erzeugung künstlicher Gravitation zuwenden. Wenn schon nicht in der Realität, so ist diese Methode doch in den Science-FictionFilmen allgegenwärtig. Man lässt die Raumstation rotieren. Die Passagiere werden dabei an die Außenwand gedrückt und können dieses „außen“ als „unten“ empfinden. Um das Geschehen in der Raumstation näher zu beschreiben, müssen wir zuerst ein Bezugssystem wählen, auf das wir unsere Beobachtungen beziehen. Es gibt zwei naheliegende Möglichkeiten für die Wahl des Bezugssystems: Entweder man bezieht den Standpunkt eines außenste-
Abb. 12.20: Bei Niedrigwasser können Schiffe trockenfallen.
338
Kapitel 12 Gezeiten und beschleunigte Bezugssysteme – Raumstationen Mit dem Flugzeug mitbeschleunigtes Bezugssystem
Unbeschleunigtes Bezugssystem (Startbahn)
y´ x´
y x
z´
Beschleunigung b
z
Abb. 12.21: Inertialsystem ( x, y, z) und linear beschleunigtes Bezugssystem ( x 0 , y0 , z0 ) bei einem Flugzeug, das auf der Startbahn beschleunigt
henden Beobachters, der die Raumstation mitsamt den Passagieren als rotierend wahrnimmt, oder man wählt die Sicht von „innen“, bei der man die Beschreibung auf die als ruhend angesehene Raumstation bezieht. Bei der zweiten Vorgehensweise legt man seiner Beschreibung ein beschleunigtes (weil rotierendes) Bezugssystem zugrunde. Nun ist es nichts Verwerfliches, mit beschleunigten Bezugssystemen zu arbeiten. Man darf beschleunigte Bezugssysteme benutzen, sofern man damit umgehen kann. Wir werden zum Vergleich einige Vorgänge aus beiden Perspektiven beschreiben. Bevor wir aber zu rotierenden Bezugssystemen kommen, sehen wir uns das einfachste, anschaulichste und am leichtesten verständliche Beispiel für ein beschleunigtes Bezugssystem an: die konstante Beschleunigung in einer Richtung. Wie erkenne ich ein beschleunigtes Bezugssystem? Wenn wir von beschleunigten Bezugssystemen reden, stellt sich zunächst die Frage, wie sich ein beschleunigtes von einem unbeschleunigten Bezugssystem unterscheidet. Kann ich überhaupt erkennen, ob mein Bezugssystem beschleunigt ist? Betrachten wir ein Beispiel. Bei einem Flugzeugstart beschleunigt die Maschine auf der Startbahn von 0 km/h auf mehr als 300 km/h. Auch im Fall der linearen Beschleunigung haben Sie die Wahl zwischen zwei Bezugssystemen (Abb. 12.21): (1) Sie können das Bezugssystem eines Beobachters auf der Startbahn wählen, dessen Koordinaten wir mit ( x, y, z) bezeichnen. Die Markierungen auf der Startbahn sind Ortsangaben, denen dieses Bezugssystem zugrunde liegt. (2) Sie können aber auch das mit dem Flugzeug verknüpfte Bezugssystem mit den Koordinaten ( x 0 , y0 , z0 ) verwenden. Sitzbezeichnungen wie 21F sind Koordinatenangaben in diesem Bezugssystem. Das Startbahn-Bezugssystem ist ein Inertialsystem, das im beschleunigenden Flugzeug ruhende Bezugssystem dagegen nicht. Woran erkennt man das? Machen Sie es wie Galilei (Kasten 12.1). Führen Sie Experimente im Innern des Flugzeugs durch. Werfen Sie z. B. im beschleunigenden Flugzeug Ihren
Abschnitt 12.6 Newtonsche Mechanik in beschleunigten Bezugssystemen
339
Schlüsselbund von Sitz 21F zu Ihrem Freund auf Sitz 21A. Die Flugbahn des Schlüsselbundes verläuft ungewöhnlich; er trifft den dösenden, unfreundlich dreinblickenden Hünen auf Sitz 22A. Der Schlüsselbund fliegt auf einer nach hinten gekrümmten Bahn, obwohl kein Anzeichen dafür spricht, dass in dieser Richtung eine Kraft auf ihn wirkt. Daran können Sie erkennen, dass Sie sich nicht in einem Inertialsystem befinden. Meistens müssen Sie etwas genauer hinschauen, denn normalerweise gibt der Pilot nicht so viel Gas, dass die Ablenkung eine ganze Sitzreihe ausmacht. Aber sie ist vorhanden und durch Messungen innerhalb des Flugzeugs feststellbar. Transformation zwischen den beiden Bezugssystemen Für quantitative Betrachtungen benötigen wir eine Gleichung, mit der wir Ortsangaben von einem Bezugssystem in das andere umrechnen können. Wir nehmen an, dass das Flugzeug auf der Startbahn die konstante Beschleunigung b hat. Betrachten wir wieder den Sitz 21F. Im gestrichenen Koordinatensystem bleibt sein Ort konstant, z. B. x 0 = 4 m (wenn wir den Koordinatenursprung ins Heck des Flugzeuges legen). Von der Startbahn aus gesehen, bewegt sich der Sitz mit konstanter Beschleunigung. Nach der altbekannten Formel für die Bewegung mit konstanter Beschleunigung gilt: (12.16) x = x 0 + 21 b t2 . Das ist schon die Transformationsgleichung zwischen den beiden Bezugssystemen. Sie gilt nicht nur für den Sitz, sondern auch für alle anderen Ortsangaben. Umgekehrt kann man auch vom ungestrichenen in das gestrichene Koordinatensystem umrechnen: x0 = x −
1 2
b t2 .
(12.17)
12.6.2 Beschreibung zweier einfacher Experimente im Inertialsystem
Sehen wir uns zwei einfache Situationen an und beschreiben sie zuerst im Inertialsystem und dann im beschleunigten Bezugssystem. Wir möchten die folgenden Beobachtungen erklären: (1) Während der Beschleunigungsphase werden Sie „nach hinten in Ihren Sitz gedrückt“. Wie kommt das? Welche Kraft ist dafür verantwortlich? (2) Der genau in Richtung auf ihren Freund geworfene Schlüsselbund landet nicht bei ihm, sondern in der Reihe dahinter. Über die Erklärung dieser Beobachtungen im Inertialsystem müssen Sie gar nicht mehr lange nachdenken. (1) Damit Ihr Körper seine Geschwindigkeit ändert, muss eine Kraft auf ihn wirken. Diese Kraft wird vom Sitz auf Ihren Rücken ausgeübt, während das Flugzeug beschleunigt.
340
Kapitel 12 Gezeiten und beschleunigte Bezugssysteme – Raumstationen
Kasten 12.1 Galilei und die gleichförmige Bewegung
Sie können durch Messungen entscheiden, ob Sie sich in einem beschleunigten Bezugssystem befinden. Sie können aber nicht unterscheiden, ob Sie ruhen oder sich mit konstanter Geschwindigkeit bewegen. Das liegt daran, dass die newtonsche Mechanik diesen Unterschied nicht kennt. Schon das Trägheitsgesetz behandelt Ruhe und gleichförmige Bewegung völlig gleich. Jeder unbeschleunigte Beobachter kann sich mit gleichem Recht als „ruhend“ bezeichnen; der Begriff ist nicht absolut definierbar, sondern immer nur in Bezug auf andere Körper. Bereits Galilei erkannte, dass es durch Messungen nicht gelingen kann, zwischen Ruhe und gleichförmiger Bewegung zu unterscheiden. Seiner Beschreibung kann man auch heute nichts hinzusetzen: Schließt Euch in Gesellschaft eines Freundes in einen möglichst großen Raum unter dem Deck eines großen Schiffes ein. Verschafft Euch dort Mücken, Schmetterlinge und ähnliches fliegendes Getier; sorgt auch für ein Gefäß mit Wasser und kleinen Fischen darin; hängt ferner oben einen kleinen Eimer auf, welcher tropfenweise Wasser in ein zweites enghalsiges darunter gestelltes Gefäß träufeln lässt. Beobachtet nun sorgfältig, solange das Schiff stille steht, wie die fliegenden Tierchen mit der nämlichen Geschwindigkeit nach allen Seiten des Zimmers fliegen. Man wird sehen, wie die Fische ohne irgendwelchen Unterschied nach allen Richtungen schwimmen; die fallenden Tropfen werden alle in das untergestellte Gefäß fließen. Wenn Ihr Eurem Gefährten einen Gegenstand zuwerft, so braucht Ihr nicht kräftiger nach der einen als nach der anderen Richtung zu werfen, vorausgesetzt, dass es sich um gleiche Entfernungen handelt. Wenn Ihr, wie man sagt, mit gleichen Füßen einen Sprung macht, werdet Ihr nach jeder Richtung hin gleich weit gelangen. Achtet darauf, Euch aller dieser Dinge sorgfältig zu vergewissern, wiewohl kein Zweifel obwaltet, dass bei ruhendem Schiffe alles sich so verhält. Nun lasst das Schiff mit jeder beliebigen Geschwindigkeit sich bewegen: Ihr werdet – wenn nur die Bewegung gleichförmig ist und nicht hier- und dorthin schwankend – bei allen genannten Erscheinungen nicht die geringste Veränderung eintreten sehen. Aus keiner derselben werdet Ihr entnehmen können, ob das Schiff fährt oder stille steht. Galilei: Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme (1632)
Abschnitt 12.6 Newtonsche Mechanik in beschleunigten Bezugssystemen
341
(2) Nachdem Sie den Schlüsselbund losgelassen haben, wirkt in horizontaler Richtung keine Kraft mehr auf ihn. Gemäß dem Trägheitsgesetz bleibt seine Geschwindigkeit in dieser Richtung konstant. Das beschleunigende Flugzeug wird dagegen schneller, so dass der Schlüsselbund hinter dem Flugzeug zurückbleibt. 12.6.3 Newtonsche Gleichung im beschleunigten Bezugssystem
Während Sie darüber nachdenken, wie man die beiden Phänomene im beschleunigten Bezugssystem erklären kann, tragen wir schon einmal zusammen, was es eigentlich zu erklären gibt: (1) Im flugzeugfesten Bezugssystem ist Ihr Ort konstant: x 0 = konst. (Sitz 21F). Ihre Geschwindigkeit x˙ 0 ist und bleibt null. Der Sitz übt eine Kraft auf Ihren Körper aus, ohne dass sich dadurch Ihre Geschwindigkeit ändert. (2) Der geworfene Schlüsselbund wird nach hinten abgelenkt (von Sitzreihe 21 nach Sitzreihe 22), obwohl in dieser Richtung keine Kraft auf ihn wirkt. Bewegungsänderungen ohne Kräfte und Kräfte ohne Geschwindigkeitsänderungen: Das hört sich ausgesprochen un-newtonsch an. Und das stimmt auch. In der Formulierung, in der wir sie bisher kennengelernt haben, gilt die ganze newtonsche Mechanik nur in Inertialsystemen. Schon das Trägheitsgesetz gilt im beschleunigten Bezugssystem nicht mehr. Man kann die newtonschen Gesetze auf beschleunigte Bezugssysteme verallgemeinern, und wir werden das im Folgenden auch tun. Aber immer wenn man sich in ein beschleunigtes Bezugssystem begibt, muss man sich darüber im Klaren sein, dass die Grundgesetze der Mechanik eine andere Form haben und bewährte Argumentationsmuster nicht mehr gelten. Mit beschleunigten Bezugssystemen ist es wie mit jedem anderen Werkzeug: Wer sicher damit umgehen kann, darf es auch benutzen. Transformation der newtonschen Bewegungsgleichung Welche Gestalt hat die newtonsche Bewegungsgleichung im gleichmäßig beschleunigten Bezugssystem? Wir können uns das Ergebnis selbst herleiten. Wir betrachten einen Körper, auf den eine Kraft F wirkt (z. B. die Kraft des Sitzes auf Ihren Rücken). Vom Inertialsystem aus betrachtet bewegt er sich unter dem Einfluss dieser Kraft auf der Bahn x (t). Es gilt die newton¨ Wie kann man dieselbe Bewegung im sche Bewegungsgleichung F = m · x. beschleunigten Bezugssystem beschreiben? Wir benutzen die Transformationsgleichung (12.16), die ja den Zusammenhang zwischen den Koordinaten x und x 0 vermittelt, um die Verknüpfung herzustellen. Sehen wir uns an, was herauskommt, wenn wir Gl. (12.16) zweimal differenzieren und in die newtonsche Bewegungsgleichung einsetzen. Einmal differenzieren: Noch einmal differenzieren:
x˙ (t) = x˙ 0 (t) + b · t.
x¨ (t) = x¨ 0 (t) + b.
342
Kapitel 12 Gezeiten und beschleunigte Bezugssysteme – Raumstationen
Einsetzen in F = m · x¨ ergibt die newtonsche Bewegungsgleichung in einem gleichmäßig beschleunigten Bezugssystem: m · x¨ 0 (t) + b = F. (12.18)
Im beschleunigten System hat die Bewegungsgleichung eine kompliziertere Gestalt als in einem Inertialsystem. Das ist verständlich: Die kinematische Beschreibung der Bewegung bleibt vom Wechsel ins beschleunigte Bezugssystem nicht unberührt. Ort, Geschwindigkeit und Beschleunigung ändern sich. Die linke Seite, die „Kinematikseite“ der newtonschen Bewegungsgleichung, spiegelt diese Änderungen wider. Die rechte Seite, die „Kraftseite“, ändert sich dagegen nicht. Trägheitskräfte Nun kommt die große Dummheit. Anstatt zu akzeptieren, dass in einem beschleunigten Bezugssystem die newtonsche Bewegungsgleichung nicht mehr so einfach aussieht, wollen manche Leute lieber eine Gleichung in der „alten Form“. Nichts leichter als das: Den Zusatzterm auf der linken Seite von Gl. (12.18) bringen sie auf die rechte Seite und interpretieren ihn als Kraft. Die Bewegungsgleichung im beschleunigten Bezugssystem lautet dann: m · x¨ 0 = F + FTräg .
(12.19)
In dieser Interpretation wirkt auf alle Körper in einem gleichmäßig beschleunigten Bezugssystem die Trägheitskraft FTräg = −m · b. Kinematisch verursachte „Kräfte“ dieser Art nennt man Scheinkräfte. Ob der Name andeuten soll, dass diese Kraft nur scheinbar wirkt oder dass sie nur scheinbar eine Geschwindigkeitsänderung verursacht? Eher wird man den Begriff auf den hexerischen Schein und das teuflische Blendwerk zurückführen, denen die Scheinkräfte ihre Herkunft zweifellos verdanken. Mathematisch liefert Gl. (12.19) natürlich richtige Ergebnisse. Sie unterscheidet sich von Gl. (12.18) ja nur dadurch, dass ein Term auf die andere Seite gebracht wurde. Aber wenn ein Term eindeutig kinematischen Ursprungs als Kraft interpretiert wird, ist die Grenze zur böswilligen Verschleierung physikalischer Einsichten erreicht (einer ähnlichen Verwirrung von kinematischen und dynamischen Anteilen verdanken wir übrigens auch die „relativistische
FTräg
FSitz
21F
x´
Abb. 12.22: Kräftegleichgewicht zwischen der Trägheitskraft und der vom Sitz ausgeübten Kraft
Abschnitt 12.6 Newtonsche Mechanik in beschleunigten Bezugssystemen
343
Kasten 12.2 Zum Angeben auf der nächsten Physikerparty: Christoffel-Symbole Formeln aus Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie sehen oft beeindruckend und unverständlich aus, weil in ihnen merkwürdige Symbole auftauchen, z. B. die k . Was sich dahinter verbirgt, können Sie mit dem gerade ErarChristoffel-Symbole Γij
beiteten verstehen. In der Relativitätstheorie sind komplizierte Bezugssysteme an der Tagesordnung. Man möchte ja sogar gekrümmte Raumzeiten beschreiben, über die sich gar kein rechtwinkliges Koordinatensystem mehr legen lässt. Die Christoffel-Symbole beschreiben mathematisch die komplexere Geometrie und Kinematik in gekrümmten und beschleunigten Bezugssystemen – also das, was wir von Hand gemacht haben, um auf die linke Seite von Gl. (12.18) zu kommen. Die relativistische Bewegungsgleichung (die Geodätengleichung) hat die Gestalt
m · x¨ k + ∑ Γijk x˙ i x˙ j = F k , ij
(12.20)
wobei x k = ( x, y, z, t). Für unser gleichmäßig beschleunigtes Bezugssystem haben k schon ermittelt. Sie können Gl. (12.18) und Gl. (12.20) vergleichen und wir die Γij 0
x = b, alle anderen sind null. stellen fest: Γtt
Masse“). Es ist fast überflüssig darauf hinzuweisen: Fragen Sie nicht, ob es einen Körper gibt, von dem die Trägheitskraft ausgeübt wird; fragen Sie auch nicht, ob es zu dieser Kraft eine Gegenkraft gibt, die auf einen anderen Körper wirkt. Erklärung der Experimente mit Trägheitskräften Bei aller Polemik: Die beobachteten Phänomene lassen sich durch eine konsistente Argumentation mit Trägheitskräften korrekt beschreiben. Schauen wir uns an, wie die beiden Experimente im Flugzeug erklärt werden. (1) Der Sitz übt eine Kraft m · b auf Ihren Rücken aus. Gleichzeitig wirkt die Trägheitskraft, die gleich groß und entgegengesetzt gerichtet ist. Es herrscht Kräftegleichgewicht (Abb. 12.22). Ihre Geschwindigkeit ändert sich nicht (sie bleibt null). In Bezug auf das Flugzeug bleiben Sie am selben Ort. (2) Auf den geworfenen Schlüsselbund wirkt die zum Heck zeigende Trägheitskraft. Sie lenkt ihn nach hinten ab. Geben Sie in einem Bezugssystem Ihrer Wahl eine Erklärung für das folgende Phänomen: Wenn ein Zug zum Stillstand kommt, werden die stehenden Fahrgäste im letzten Moment noch einmal fast umgeworfen. In welche Richtung? Ein Tipp: Werfen Sie schon einmal einen Blick auf Abschnitt 13.4.
344
Kapitel 12 Gezeiten und beschleunigte Bezugssysteme – Raumstationen
12.7 Künstliche Gravitation in einer rotierenden Raumstation 12.7.1 Qualitative Erklärung der künstlichen Gravitation im Inertialsystem
Kehren wir zur rotierenden Raumstation zurück. Um die in ihr herrschende künstliche Gravitation zu beschreiben, verwenden wir das gleiche Argumentationsmuster wie beim gleichmäßig beschleunigten Bezugssystem. Suchen wir uns zunächst wieder einige Phänomene, die es zu erklären gilt: (1) Ein mitrotierender Raumfahrer wird mit den Füßen an die Außenwände der Station gedrückt („auf den Boden“). (2) Lässt man einen Gegenstand fallen, bewegt sich dieser ebenfalls in Richtung der Außenwände („nach unten“). Sehen wir uns das Geschehen aus der Perspektive eines außenstehenden inertialen Beobachters an. Für ihn rotiert die Raumstation mit der Winkelgeschwindigkeit ω. Auch alle Gegenstände, die in der Raumstation ruhen, rotieren mit dieser Winkelgeschwindigkeit um die Drehachse. Die beobachteten Phänomene lassen sich folgendermaßen mit den newtonschen Gesetzen erklären. (1) Der Raumfahrer bewegt sich auf einer Kreisbahn um das Zentrum der Raumstation. Wie immer, wenn ein Körper sich auf einer Kreisbahn bewegt, muss dazu eine nach innen gerichtete Zentripetalkraft auf ihn wirken. Hier wird diese Rolle von der Kraft übernommen, die der Boden auf die Füße ausübt (Abb. 12.23 (a)). Fällt sie weg (wenn sich z. B. eine Klappe im Boden öffnet), dann bewegt sich der Raumfahrer geradliniggleichförmig durchs Weltall.
(a)
FZP
(b)
w w
v=wr FZP
Abb. 12.23: (a) Zentripetalkraft in der Station. (b) Warum ein Ball nach „unten“ fällt.
Abschnitt 12.7 Künstliche Gravitation in einer rotierenden Raumstation
345
(2) Der Ball, den die Person in Abb. 12.23 (b) in der Hand hält, rotiert vor dem Loslassen ebenfalls mit der Raumstation mit. Die entsprechende Zentripetalkraft wird von der Hand aufgebracht (der Ball „wiegt etwas“). Nach dem Öffnen der Hand, die ihn festhielt, ist der Ball kräftefrei. Wie der Raumfahrer nach dem Öffnen der Klappe bewegt er sich gleichförmig auf einer geradlinigen Bahn (Abb. 12.23 (b)). Seine Geschwindigkeit ist konstant. Sie wird durch die momentane Bahngeschwindigkeit v = ω · r bestimmt, die er aufgrund der Rotation unmittelbar vor dem Öffnen der Hand besaß (vgl. Gl. (A.36)). Nach kurzer Zeit wird er von der Außenwand der Station gestoppt. Die Person, die ihn hielt, hat sich mit der Station inzwischen weitergedreht, so dass der Ball in der Nähe ihrer Füße aufkommt. Er fällt nach „unten“. Entscheidend für die künstliche Gravitation: Der Raumfahrer muss an der Rotation der Raumstation teilnehmen. Stellen Sie sich eine Raumstation vor, in der Schwerelosigkeit herrscht und die Astronauten frei herumschweben. Wenn Sie die Hülle der Station plötzlich in Rotation versetzen, ohne die Astronauten mitzubeschleunigen, bleiben diese natürlich auch weiterhin schwerelos (Abb. 12.24). Die Station rotiert um sie herum. Können Sie sich ausmalen, wie die Beschreibung dieser Situation im rotierenden Bezugssystem aussieht? 12.7.2 Rotierende Bezugssysteme
Wie werden die beiden Phänomene von einem Beobachter beschrieben, der mit der Raumstation mitrotiert? Wir können uns die Frage beantworten, indem wir die newtonsche Bewegungsgleichung in das rotierende Bezugssystem transformieren. Dazu müssen wir zunächst den Zusammenhang zwischen dem Inertialsystem eines außenstehenden Beobachters und dem rotierenden Bezugssystem herstellen (Abb. 12.25). Die Koordinaten des Inertial-
w
Abb. 12.24: Nur die Hülle dreht sich; die Raumfahrer nehmen an der Rotation nicht teil. Sie sind schwerelos.
346
Kapitel 12 Gezeiten und beschleunigte Bezugssysteme – Raumstationen
mitrotierendes Bezugssystem
y´ x´
y
z´
w
x z unbeschleunigtes Bezugssystem
Abb. 12.25: Rotierendes Bezugssystem und Inertialsystem. Zur Verdeutlichung sind die in Wirklichkeit zusammenfallenden Koordinatenursprünge getrennt gezeichnet.
systems bezeichnen wir mit ( x, y, z), die des rotierenden Bezugssystems mit ( x 0 , y0 , z0 ). Die Winkelgeschwindigkeit der Rotation ist ω. Transformation ins rotierende Bezugssystem Anders als die eindimensionale lineare Beschleunigung muss die Rotation zweidimensional beschrieben werden (sie findet in einer Ebene statt). Daher sieht die Transformation ins rotierende Koordinatensystem nicht ganz so einfach aus. Das gestrichene Koordinatensystem ist gegenüber dem ungestrichenen um den mit der Zeit zunehmenden Winkel ωt gedreht (Abb. 12.26). In der Mathematik-Formelsammlung können Sie nachschlagen, wie der Übergang in ein um die z-Achse gedrehtes Koordinatensystem zu beschreiben ist: x0 =
x cos ωt + y sin ωt,
0
y = − x sin ωt + y cos ωt,
(12.21)
z0 = z.
Jede im Inertialsystem vorgegebene Bahn können wir hiermit ins rotierende Bezugssystem transformieren. Als einfachstes Beispiel betrachten wir einen der schwerelosen Raumfahrer in Abb. 12.24. Im Inertialsystem ruht er an der Position (x = 0, y = 1, z = 0). Ein Beobachter im rotierenden System sieht nach Gl. (12.21) eine Kreisbahn: x 0 = sin ωt,
y0 = cos ωt,
z0 = 0.
(12.22)
Da die newtonsche Gleichung im Inertialsystem erfüllt ist, muss die Bahnkurve (12.22) eine Lösung der newtonschen Gleichung im rotierenden Bezugssystem sein (andernfalls ist etwas Furchtbares schiefgegangen). Eine Kreisbahn als Lösung der kräftefreien (!) newtonschen Bewegungsgleichung – es wird nicht einfach werden.
347
Abschnitt 12.7 Künstliche Gravitation in einer rotierenden Raumstation
y
y´
x´
x Abb. 12.26: Das gestrichene Koordinatensystem ist gegenüber dem ungestrichenen um den zeitabhängigen Winkel ωt gedreht.
wt
z´ z
Newtonsche Bewegungsgleichung im rotierenden Bezugssystem Um die newtonsche Gleichung ins rotierende Bezugssystem zu transformieren, muss man genau wie vorher die Beschleunigung ~x¨ mit den Transformationsgleichungen (12.21) durch gestrichene Koordinaten ausdrücken. Die Rechnung verläuft nach dem gleichen Schema wie beim linear beschleunigten Bezugssystem, bei dem sich Gl. (12.18) ergab. Trotzdem wird es im Detail doch etwas kompliziert, weil der zeitlich sich ändernde Drehwinkel in Gl. (12.21) bei der Berechnung der Zeitableitungen ins Spiel kommt. Wir geben deshalb nur das Endergebnis an. Newtonsche Gleichung in einem rotierenden Bezugssystem: m · ~r¨ 0 +~aZF +~aC = ~ F, (12.23) mit der
Zentrifugalbeschleunigung: Coriolisbeschleunigung:
0 ~aZF = −ω2~r⊥ ,
(12.24)
~aC = 2 ω×~v0 .
(12.25)
In diesen Gleichungen werden Ort und Geschwindigkeit im rotierenden Be0 die Projektion des Ortsvektors ~r 0 in eine zugssystem gemessen. Dabei ist ~r⊥ ~ (Abb. 12.27); mit ~v0 wird die Geschwindigkeit des KörEbene senkrecht zu ω pers relativ zum rotierenden Bezugssystem bezeichnet. Das Symbol × steht für das Vektorprodukt, dessen Eigenschaften in Anhang A.6 erklärt werden. Die Bewegungsgleichung (12.23) hat die gleiche Struktur wie die entsprechende Gleichung (12.18) im linear beschleunigten Bezugssystem – nur dass die Details etwas komplizierter sind. Hier wie dort ist die Grundaussage: Durch den Übergang in ein beschleunigtes Bezugssystem ändert sich die Kinematikseite der newtonschen Bewegungsgleichung. Scheinkräfte Betrübt nehmen wir zur Kenntnis, dass die neu auftretenden Terme auch beim rotierenden Bezugssystem meist als Kräfte interpretiert werden. Bringt man
348
Kapitel 12 Gezeiten und beschleunigte Bezugssysteme – Raumstationen
y´ ®
v´ a
®
w Drehachse
®
r´
x´ ®
r´^ z´
Abb. 12.27: Zur Definition 0 und des des Vektors ~r⊥ Winkels α
in Gl. (12.23) den Zentrifugalterm und den Coriolisterm auf die rechte Seite, erhält man eine Bewegungsgleichung mit zwei Scheinkräften ~FZF und ~FC : m ·~r¨0 = ~F + ~FZF + ~FC .
(12.26)
Sehen wir uns die Wirkungen dieser Scheinkräfte einzeln an: 0 (1) Die Zentrifugalkraft ~ FZF = mω2~r⊥ Sie ist immer radial nach außen gerichtet, senkrecht zur Richtung von ~ . Ihr Betrag nimmt quadratisch mit der Winkelgeschwindigkeit zu. Sie ω beschreibt die Tatsache, dass ein Körper wie der Ball in Abb. 12.23 (b), der in der Raumstation ruht und plötzlich losgelassen wird, sich nach außen in Bewegung setzt. Sehr häufig wird die Zentrifugalkraft nicht durch die Winkelgeschwindigkeit, sondern durch die Bahngeschwindigkeit v des Körpers ausgedrückt (nun bezogen auf das Inertialsystem!). Mit Gl. (A.36) erhält man für ihren Betrag: v2 (12.27) FZF = m · . r 0 Dabei ist r = ~r⊥ der senkrechte Abstand von der Drehachse. Die Zentrifugalkraft wird durch die gleiche Formel beschrieben wie die Zentripetalkraft (Gl. (10.21)), nur dass sie nach außen statt nach innen gerichtet ist. Viele Bücher schreiben die Zentrifugalkraft in der Form ~FZF = ~ ×(~ −m ω ω ×~r 0 ). Mit ein wenig fortgeschrittener Vektoralgebra kann man zeigen, dass dies der oben angegebenen Formel äquivalent ist.
(2) Die Corioliskraft ~ FC = −2m ω×~v0 Die Corioliskraft wirkt nur auf Körper, die im rotierenden Bezugssystem eine Geschwindigkeit ~v0 besitzen. Körper, die in der Raumstation ruhen, spüren sie nicht. Anders als die Zentrifugalkraft hängt die Corioliskraft nicht vom Abstand zur Drehachse ab; sie ist unabhängig vom Ort
Abschnitt 12.7 Künstliche Gravitation in einer rotierenden Raumstation
349
w
®
v´
®
FC
Abb. 12.28: Zur Richtung ~ der Corioliskraft. Der Vektor ω zeigt senkrecht aus der Zeichenebene heraus.
innerhalb der Raumstation. Dagegen hängt sie vom Winkel α zwischen Drehachse und Geschwindigkeit ~v0 ab (Abb. 12.27). Der Betrag von ~FC ist nämlich (vgl. Gl. (A.16)) FC = −2m ω v0 sin α.
(12.28)
Wenn sich der Körper in der Raumstation parallel zur Drehachse bewegt (α = 0), tritt die Corioliskraft nicht in Erscheinung. Sie ist am größten bei allen Bewegungen, die in einer Ebene senkrecht zur Drehachse stattfinden (α = 90◦ ). Die Corioliskraft ist eine ablenkende Kraft, die immer senkrecht auf ~v0 ~ ) steht. Sie ändert somit nicht den Betrag der Geschwindig(und auf ω keit, sondern ihre Richtung. Die Entstehung von Kreisbahnen wird auf diese Weise einsichtig. Abb. 12.28 zeigt die Richtung der Corioliskraft für einige Körper mit verschiedenen Geschwindigkeitsrichtungen (grüne Pfeile = Geschwindigkeitsvektoren, rote Pfeile = Corioliskräfte). Der ~ zeigt senkrecht aus der Zeichenebene Winkelgeschwindigkeitsvektor ω heraus. Mit der Rechte-Hand-Regel aus Abb. A.11 können Sie überprüfen, ob alles stimmt. Anschauliche Deutung der Corioliskraft Abb. 12.29 verdeutlicht, was die Corioliskraft eigentlich beschreibt. Derselbe Vorgang – das Werfen eines Balles – wird hier aus zwei Perspektiven dargestellt: links im Inertialsystem, rechts im rotierenden Bezugssystem. Captain Kirk und Mr. Spock sitzen sich auf einer rotierenden Scheibe gegenüber. Kirk wirft Spock einen Ball zu. Er versucht es jedenfalls. Er zielt genau in die Richtung von Spock und der Ball fliegt nach dem Abwurf auf einer geradlinigen
350
Kapitel 12 Gezeiten und beschleunigte Bezugssysteme – Raumstationen
w
Raumfahrer rotieren im Inertialsystem
Ball fliegt auf gekrümmter Bahn
Raumfahrer ruhen im rotierenden Bezugssystem
Abb. 12.29: Die Corioliskraft beschreibt, dass die im Inertialsystem geradlinigen Bahnen kräftefreier Körper im rotierenden Bezugssystem gekrümmt sind.
Bahn in diese Richtung. Weil die Scheibe rotiert, hat sich Spock aber schon ein Stück weiter bewegt, als der Ball ankommt. Er kann ihn nicht fangen. Dieses Geschehen, dessen Beschreibung im Inertialsystem man bestenfalls banal nennen kann, sieht im rotierenden Bezugssystem ganz anders aus. Auch hier verfehlt der Ball Mr. Spock (diese Tatsache ist bezugssystemunabhängig). Kirk und Spock ruhen im Bezugssystem der Scheibe. Worte wie „weitergedreht“ dürfen daher in der Argumentation nicht vorkommen. Kirk sagt: „Ich habe genau in Ihre Richtung gezielt, aber der Ball ist abgelenkt worden“, woraufhin er von Spock trocken belehrt wird: „Das war die Corioliskraft“. Aus der geradlinigen Bahn des Balles im Inertialsystem wird im rotierenden Bezugssystem eine gekrümmte Bahn (Abb. 12.29 rechts). Ein Beobachter im rotierenden Bezugssystem wird dies auf die Wirkung der Corioliskraft zurückführen. 12.7.3 Grundphänomene der künstlichen Gravitation
Die beiden Grundphänomene der künstlichen Gravitation in einer rotierenden Raumstation haben wir auf S. 344 bereits vom inertialen Standpunkt aus beschrieben. Holen wir nun die Erklärung im beschleunigten Bezugssystem nach. (1) Ein in der Station ruhender Raumfahrer wird mit den Füßen an die Außenwand gedrückt. Er macht dafür die Zentrifugalkraft verantwortlich. Der Boden hält mit einer gleich großen und entgegengesetzt gerichteten Kraft dagegen, so dass insgesamt Kräftegleichgewicht herrscht. Das Gleiche gilt für alle in der Raumstation ruhenden Gegenstände. (2) Auf den Ball in der Hand des Raumfahrers in Abb. 12.23 (b) wirkt die nach außen gerichtete Zentrifugalkraft. Vor dem Loslassen herrscht Kräftegleichgewicht am Ball, weil die Hand mit einer gleich großen und entgegengesetzt gerichteten Kraft seine Bewegung verhindert. Nach dem Loslassen fällt diese Kraft weg, so dass nur noch die Zentrifugalkraft auf den Ball wirkt und ihn nach außen beschleunigt.
Abschnitt 12.7 Künstliche Gravitation in einer rotierenden Raumstation
351
Zur Mitte hin abnehmende Gravitation Die Zentrifugalkraft, die für die künstliche Gravitation in der rotierenden Station verantwortlich ist, nimmt linear mit dem Abstand von der Drehachse zu. Die künstliche Gravitation ist daher nicht überall in der Raumstation gleich groß. An den Außenwänden der Station (also „unten“) ist sie maximal. Nähert man sich dem Zentrum der Station, wird man immer leichter, und in der Mitte (an der Drehachse) ist man schwerelos. Es empfiehlt sich, die Raumstation sehr groß zu konzipieren. Denn wenn ihr Radius nicht viel größer ist als die Körperlänge eines Menschen, dann variiert die Zentrifugalkraft zwischen Kopf und Füßen wahrnehmbar. Man hat dann schwere Füße und einen leichten Kopf (zugegeben – es gibt sicher Schlimmeres). Vermutlich um derartige Effekte zu vermeiden, ist die in der Abbildung auf S. 316 gezeigte Raumstation aus „2001 – Odyssee im Weltraum“ sehr groß und ringförmig. Nur in ihren Speichen erlebt man das Abnehmen der künstlichen Gravitation zum Zentrum hin. Beispielaufgabe: Berechnen Sie, mit welcher Winkelgeschwindigkeit sich eine Raumstation mit einem Radius von 50 m drehen muss, damit an ihrer Außenseite eine künstliche Gravitation von 1 g herrscht. Lösung: Wir definieren die Zentrifugalbeschleunigung gStation durch FZF = m · gStation . Sie charakterisiert die Stärke der künstlichen Gravitation in der Raumstation und soll mit der Erdbeschleunigung verglichen werden. Setzen wir FZF = m ω 2 r ein, ergibt sich:
gStation = ω 2 · r, oder, nach ω aufgelöst:
ω=
r
gStation . r
(12.29)
(12.30)
Aus Gl. (12.29) liest man ab, dass man die Station schneller rotieren lassen muss, um eine höhere künstliche Gravitation zu erreichen, oder aber man muss ihren Radius vergrößern. Die erste Maßnahme ist effektiver, weil eine Verdoppelung der Rotationsgeschwindigkeit die künstliche Gravitation vervierfacht. An der Außenseite der Station soll eine Zentrifugalbeschleunigung von 1 g herrschen. Wir setzen in Gl. (12.30) r = 50 m und gStation = 9,81 m/s2 ein und erhalten:
ω=
s
9,81 sm2 1 = 0,443 . 50 m s
(12.31)
Mit T = 2π/ω (Gl. (A.26)) ergibt sich für die Umlaufzeit:
T = 14,2 s.
(12.32)
Die Station muss demnach in 14 Sekunden einmal um ihre Achse rotieren – recht schnell für eine Station mit 100 m Durchmesser.
352
Kapitel 12 Gezeiten und beschleunigte Bezugssysteme – Raumstationen
Abb. 12.30: Joggen in einer Raumstation (aus 2001 – Odyssee im Weltraum)
12.7.4 Gehen und Laufen in einer rotierenden Raumstation
Zur Erklärung der künstlichen Gravitation in einer Raumstation benötigt man nur die Zentrifugalkraft. Von der Corioliskraft haben wir bisher nicht gesprochen. Das ist auch die stillschweigende Absprache zwischen Drehbuchautoren und Publikum in den Weltraumfilmen: „Lassen wir die Corioliskraft einfach weg. Vorsichtig geschätzte 90 Prozent der Bevölkerung wissen ohnehin nichts von ihrer Existenz.“ Bei Gegenständen, die bewegungslos in der Station herumliegen, muss man sich um die Corioliskraft tatsächlich nicht kümmern. Sie wirkt nur auf Körper, die sich relativ zur Station bewegen, wie der Jogger in Abb. 12.30. Hier führt sie allerdings zu ziemlich bizarren Effekten, vor allem wenn man so komplizierte Bewegungsformen wie Gehen oder Laufen betrachtet. Weil die Corioliskraft von der Bewegungsrichtung innerhalb der Station abhängt, werden Sie jedes Mal, wenn Sie um die Ecke gehen, einer neuen arglistigen Art von Kraft ausgesetzt, die Ihre Gliedmaßen in nicht beabsichtigte Richtungen lenkt – unwahrscheinlich, dass man sich jemals daran gewöhnt. Ihr gemütliches Morgenjogging wird kaum so aussehen wie in Abb. 12.30, sondern eher Ähnlichkeit mit den Stammestänzen Ihrer urzeitlichen Vorfahren aufweisen. Betrachten wir jede Bewegungsrichtung einzeln und sehen uns an, welche Auswirkung die Corioliskraft auf das Gehen hat. Abb. 12.31 verdeutlicht ihre Richtung im Verhältnis zur Bewegungsrichtung und zur Drehachse der Station (vgl. auch Abb. 12.28). (1) Bewegung in radialer Richtung Wenn Sie sich nach „oben“ oder „unten“ bewegen (z. B. auf der Leiter in den ersten beiden Teilbildern von Abb. 12.31), wirkt die Corioliskraft zur Seite. Besonders lästig ist das für Ihre Füße, die sich bei jedem Tritt schneller als der übrige Körper nach oben oder nach unten bewegen
Abschnitt 12.7 Künstliche Gravitation in einer rotierenden Raumstation
353
Abb. 12.31: Richtung der Corioliskraft für verschiedene Fortbewegungsrichtungen in der Station (aus der Beschreibung der im Text erwähnten NASA-Experimente)
und dabei zur Seite gezogen werden. Beim schnellen Erheben aus der Hocke oder beim Aufstehen von einem Stuhl wirkt die Corioliskraft nicht nur auf Ihren Rumpf, sondern auch auf die Gleichgewichtsorgane in Ihrem Innenohr. Während des Aufstehens werden sie nicht das als „unten“ empfinden, was gerade eben noch „unten“ war und was Ihre Augen als „unten“ ans Gehirn melden. Sie sollten das nicht zu oft machen, sonst werden Sie seekrank. (2) Bewegung in oder gegen die Drehrichtung Was passiert, wenn Sie „den Ring entlang“ bummeln, hängt davon ab, in welche Richtung Sie gehen (Abb. 12.31, drittes und viertes Teilbild). Spazieren Sie in Richtung der Drehung, zeigt die Corioliskraft nach unten. Sie werden schwerer. In der Gegenrichtung werden Sie leichter. Beim Gehen ist Vorsicht geboten. Stellen Sie sich vor, Sie laufen in Drehrichtung. Dann werden Ihre Füße beim Anheben nach vorn gezogen, beim Absenken nach hinten. Das wird Ihrem Gangbild etwas Erheiterndes verleihen. Noch lustiger wird es, wenn Sie Ihre Füße beim Gehen etwas zu schnell nach vorn bewegen. Die Corioliskraft wirkt nach unten und Ihr Fuß kommt früher als geplant auf dem Boden auf. Auf dem Rückweg kehrt sich die Richtung der Corioliskraft um. Sie kommen in großen Schritten mächtig dahergestiefelt, weil ihre Füße nun beim Anheben nach hinten, in der Vorwärtsbewegung nach oben und beim Absenken nach vorn gezogen werden.
354
Kapitel 12 Gezeiten und beschleunigte Bezugssysteme – Raumstationen
Abb. 12.32: Modell einer aufblasbaren rotierenden Raumstation
Abb. 12.33: Aufhängung einer Versuchsperson bei den Experimenten zur künstlichen Gravitation
(3) Bewegung in Richtung der Drehachse Am einfachsten ist es, parallel zur Drehachse zu laufen (Abb. 12.31, letztes Teilbild). In dieser Richtung ist die Corioliskraft null (in Gl. (12.28) ist α = 0). Sie können sich ziemlich normal fortbewegen, solange Sie sich einer etwas schlurfenden Gehweise befleißigen. Heben Sie die Füße beim Gehen dagegen an, werden sie zur Seite gezogen. Beim Anheben und Absenken der Füße wirkt die Corioliskraft nach links oder rechts. Ihre Schritte werden zu eleganten Seitwärtsbögen, und Sie werden in geschmeidigen Bewegungen einherschreiten. 12.7.5 Experimente zum Gehen unter künstlicher Gravitation
Die Corioliseffekte in Raumstationen mögen Ihnen unterhaltsam, aber auch etwas fremdartig vorkommen. Doch es gibt dazu sogar experimentelle Ergebnisse. Schon in den sechziger Jahren untersuchte die NASA Modelle für rotierende Raumstationen (Abb. 12.32) und führte in rotierenden Zentrifugen
Abschnitt 12.7 Künstliche Gravitation in einer rotierenden Raumstation
355
Abb. 12.34: Simulator für rotierende Raumstationen
Versuche mit Freiwilligen durch. Abb. 12.34 zeigt den Simulator am Langley Research Center, der einen Radius von 6 m besaß. Die Versuchspersonen waren horizontal an Seilen aufgehängt (Abb. 12.33), um die Erdgravitation auszuschalten. Nachdem die Zentrifuge in Rotation versetzt wurde, waren die Tester einer künstlichen Gravitation zwischen 0,05 g und 0,75 g ausgesetzt. Dabei sollten sie versuchen, sich durch Gehen fortzubewegen, und zwar sowohl in Richtung der Drehung als auch in der Gegenrichtung. Eine Zusammenfassung ihrer Berichte ist in Abb. 12.35 gezeigt. Bei weniger als 0,1 g war es schwierig, mit dem Gehen zu beginnen oder anzuhalten, denn es ist kaum möglich, horizontale Kräfte auf den Boden auszuüben, wenn man fast nichts wiegt. Zwischen 0,1 g und 0,3 g herrschten die besten Gehbedingungen. Es gab allerdings Unterschiede zwischen dem Gehen in Rotationsrichtung und in entgegengesetzter Richtung, weil die Corioliskraft die Versuchspersonen im einen Fall schwerer machte, im anderen leichter. Bei Werten der künstlichen Gravitation über 0,3 g wurde das Gehen mühselig. Hier forderte die Corioliskraft ihren Tribut. Die Versuchspersonen berichteten über „schwere Beine“ (durch die abwärts gerichtete Corioliskraft beim Gehen in Drehrichtung). Der Effekt machte das Gehen bei 0,5 g und 0,75 g sehr mühsam. Bei den Experimenten in der relativ kleinen Zentrifuge kam zu den Corioliskräften die schon erwähnte Abstandsabhängigkeit der Zentrifugalkraft hinzu: Der Kopf ist leichter als die Füße. Die Versuchspersonen scheinen in den Experimenten hiermit aber keine Probleme gehabt zu haben.
356
Kapitel 12 Gezeiten und beschleunigte Bezugssysteme – Raumstationen
Abb. 12.35: Zusammenfassung der Berichte von Versuchspersonen
12.7.6 Freier Fall und Wurf unter dem Einfluss der Corioliskraft
Seitwärtsablenkung beim freien Fall Nicht nur das Gehen wird in der rotierenden Raumstation durch die Corioliskraft beeinträchtigt. Auch fallende Gegenstände verhalten sich anders als gewohnt. Der hinabfallende Ball kommt nicht einfach unterhalb der Hand auf. Er beschreibt eine gekrümmte Bahn, weil ihn die Corioliskraft seitlich ablenkt (vgl. die Bahn in Abb. 12.29). Beispielaufgabe: Ein Gegenstand in der Raumstation wird aus der Höhe h fallen gelassen. Schätzen Sie ab, wie groß die Coriolisbeschleunigung im Vergleich zur Stärke der künstlichen Gravitation gStation ist. Lösung: Wir nehmen an, dass die Station so groß und die Fallhöhe so klein ist, dass wir die Fallbeschleunigung gStation als konstant annehmen können. Die Coriolisbeschleunigung ergibt sich aus der Corioliskraft (12.28), indem man durch die Masse m dividiert. Die Bewegung soll senkrecht zur Drehachse stattfinden, so dass in Gl. (12.28) sin α = 1 ist. Der Betrag der Coriolisbeschleunigung ist dann:
aC = 2 · ω · v 0 .
(12.33)
Die Winkelgeschwindigkeit drücken wir mit Gl. (12.30) durch die Zentrifugalbeschleunigung gStation aus. Die Corioliskraft auf einen fallenden Gegenstand ist zeitlich nicht konstant, weil seine Geschwindigkeit ständig zunimmt. Um einen Richtwert für seine
Abschnitt 12.7 Künstliche Gravitation in einer rotierenden Raumstation
357
Geschwindigkeit v0 zu erhalten, bilden wir den pMittelwert aus Anfangsgeschwindigkeit (v0 = 0) und Endgeschwindigkeit v0 = 2gStation h (die sich – noch ohne Be2
rücksichtigung der Corioliskraft – aus dem Energiesatz 21 mv0 = mgStation h ergibt). In p Gl. (12.33) setzen wir also v0 = 12 2gStation h ein:
aC = 2 ·
r
gStation 1 p · · 2gStation h. r 2
(12.34)
Nach Zusammenfassen der Terme ergibt sich:
aC = gStation ·
r
2h . r
(12.35)
Die relative Größe der Corioliskraft auf fallende Gegenstände hängt demnach vom Verhältnis der Fallhöhe zum Radius der Station ab. Je größer die Station, umso geringer der seitwärts wirkende Einfluss der Corioliskraft. Trotzdem bleibt er auch bei großen Stationen spürbar. Setzt man in Gl. (12.35) einen Stationsradius von 50 m und eine Fallhöhe von 1 m ein, findet man:
aC = 0,2 gStation .
(12.36)
Die seitlich ablenkende Coriolisbeschleunigung auf einen fallenden Körper beträgt nach dieser Abschätzung ungefähr 20% der nach unten wirkenden Zentrifugalbeschleunigung.
√ Eine genauere Rechnung zeigt, dass der Faktor 2h/r nicht nur das Verhältnis von Coriolisbeschleunigung und Zentrifugalbeschleunigung beschreibt, sondern auch das Verhältnis von Fallhöhe und horizontaler Ablenkung ∆x 0 kennzeichnet: r 2h 0 2 . (12.37) ∆x = 3 h · r In der Physik wird diese seitliche Ablenkung fallender Körper als Ostabweichung bezeichnet, weil sie auch auf der rotierenden Erde auftritt (Artilleristen müssen das wissen). Eine Schraube, die in der 50 m großen Station aus 1 m Höhe hinunterfällt, wird um 13 cm seitlich abgelenkt – unabhängig davon, welchen Betrag die künstliche Gravitation hat. Geworfene Gegenstände Ganz burlesk wird es, wenn Sie die Bahnen geworfener Gegenstände betrachten. Je nach Abwurfwinkel und -geschwindigkeit können Sie die merkwürdigsten Phänomene beobachten. Ein Ball, den Sie nach links werfen, kommt vielleicht von rechts wieder zurück. Wenn Sie geschickt werfen, können Sie auch erreichen, dass er beliebig lange auf einer Kreisbahn in der Station umherfliegt. (Wie sieht seine Bewegung in diesem Fall im Inertialsystem aus? Interpretieren Sie Abb. 12.24 unter diesem Blickwinkel noch einmal neu). Abb. 12.36 zeigt ein herausgegriffenes Beispiel für die Flugbahn eines geworfenen Körpers in der Raumstation. Im Internet finden Sie Simulationsprogramme und Videos, die Ihnen die drolligsten Wurfexperimente zeigen. Es lohnt sich, eine Weile mit den Coriolissimulationen herumzuspielen.
358
Kapitel 12 Gezeiten und beschleunigte Bezugssysteme – Raumstationen
Abb. 12.36: Bahn eines geworfenen Balls in der rotierenden Raumstation
Bei aller Vielfalt der zu entdeckenden Bahnen: Man sollte immer bedenken, dass dieselbe Bewegung eine ungleich einfachere Gestalt annimmt, wenn man sie aus einem Inertialsystem betrachtet. Geworfene Körper bewegen sich auf geraden Bahnen – mit der Geschwindigkeit, die sie beim Abwurf mitbekommen haben. All die seltsamen Ablenkungen, Kurven und Spiralen, die man vom rotierenden Bezugssystem aus sieht, sind lediglich Artefakte der Rotation; sie sind rein kinematischer Natur. An dieser Stelle erkennt man vielleicht am besten die Perversion, die darin steckt, solche Effekte dynamisch, also durch Kräfte, erklären zu wollen.
12.8 Umgang mit Scheinkräften 12.8.1 Schein oder Nicht-Schein? – Das ist hier die Frage
Bei der Beschreibung von Kreisbewegungen wird in den meisten Fällen mit der Zentrifugalkraft argumentiert. In neun von zehn Fällen misslingt dabei jedoch etwas. Die Erfahrung zeigt, dass nur die wenigsten es schaffen, konsistent mit Scheinkräften und beschleunigten Bezugssystemen umzugehen. Was ist hier schiefgegangen? Die Zeichnung und der Text in Abb. 12.37 stammen aus einer Physik-Formelsammlung für Studierende. Sie sind kennzeichnende Beispiele für eine falsche Erklärung der Kreisbewegung. Das Grundübel liegt darin, dass keine Klarheit über das verwendete Bezugssystem herrscht und die verschiedenen Begriffe wahllos durcheinandergeworfen werden. (1) Die eingezeichnete Kreisbahn bezieht sich auf ein Inertialsystem. Im rotierenden Bezugssystem ruht der Körper.
Abschnitt 12.8 Umgang mit Scheinkräften
359
®
®
FZ
v
®
Fr
Bei der Kreisbewegung herrscht ® Gleichgewicht zwischen der Zentrifugalkraft FZ und der ® Zentripetalkraft Fr, die den Körper auf der Kreisbahn hält.
Abb. 12.37: Falsche Erklärung der Kräfte bei der Kreisbewegung
(2) Der Begriff Zentrifugalkraft ist nur in Bezug auf ein rotierendes Bezugssystem definiert. Wenn es überhaupt Zentrifugalkräfte gibt, dann sicher nicht in Inertialsystemen. (3) Als Zentripetalkraft bezeichnet man jede Kraft, die einen Körper auf eine Kreisbahn zwingt. Daher bezieht sich der Begriff auf das Inertialsystem, weil die Bahn des Körpers nur hier eine Kreisbahn ist. (4) Der eingezeichnete Geschwindigkeitsvektor bezieht sich ebenso auf das Inertialsystem; im rotierenden Bezugssystem hat die Geschwindigkeit den Wert null. Das gleichzeitige Vorkommen von Zentripetal- und Zentrifugalkraft in einer physikalischen Argumentation ist ein sicheres Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimmt. 12.8.2 Konsistente Beschreibungen der Kreisbewegung
Einerlei ob Sie die Bewegung eines Planeten oder der Kugel beim Hammerwurf beschreiben möchten – es gibt immer zwei Möglichkeiten, die Kreisbewegung konsistent zu beschreiben: im Inertialsystem oder im rotierenden Bezugssystem. Bei jeder Argumentation muss man sich zu Beginn für ein Bezugssystem entscheiden und diese Wahl dann konsequent durchhalten. (1) Beschreibung im Inertialsystem Im Inertialsystem bewegen sich Kugel und Planet auf Kreisbahnen. Es handelt sich um eine beschleunigte Bewegung, daher kann kein Kräftegleichgewicht herrschen. Auf den Körper wirkt eine nach innen gerichtete Kraft, die ihn auf eine Kreisbahn zwingt. Man bezeichnet sie als Zentripetalkraft. Es ist keine eigenständige Kraft, immer muss eine andere Kraft (Seilkraft, Gravitationskraft) die Rolle der Zentripetalkraft über-
360
Kapitel 12 Gezeiten und beschleunigte Bezugssysteme – Raumstationen
nehmen. Zentrifugalkräfte kommen in dieser Beschreibung nicht vor. Die dieser Argumentation angemessene Skizze sehen Sie auf S. 268. (2) Beschreibung im rotierenden Bezugssystem Im rotierenden Bezugssystem wird nicht mehr von Kreisbewegung gesprochen. Planet und Kugel ruhen. Ihre Geschwindigkeit v0 = 0 ändert sich nicht, weil Kräftegleichgewicht zwischen Zentrifugalkraft und Gravitationskraft (bzw. Seilkraft) herrscht. In der Wahl des Bezugssystems sind Sie völlig frei. Vernünftig wäre es, das einfachere zu wählen. Wie Ihnen die Beispiele gezeigt haben sollten, wird dies meist das Inertialsystem sein. Nur in speziellen Fällen, wie etwa bei der Beschreibung von Tiefdruckgebieten auf der Erdoberfläche, kann das rotierende Bezugssystem sinnvoll sein. Hier würde der Übergang vom erdfesten System in ein Inertialsystem zu viel Umdenken erfordern. 12.8.3 Kann man Scheinkräfte spüren?
Oft wird eingewendet, dass man die Scheinkräfte doch spüren kann. Jedes Mal wenn man in einem Bus steht, der um eine Kurve fährt, wird man nach außen gedrückt und fällt fast um. Lassen Sie uns analysieren, welche Kräfte man bei der Kurvenfahrt eigentlich spürt. Sehen wir uns den Vorgang vom Standpunkt eines am Straßenrand stehenden Beobachters an (also aus einem Inertialsystem). Der Bus fährt um die Kurve, und nach dem Trägheitsgesetz sieht Ihr Körper erst einmal keine Veranlassung dazu, das Gleiche zu tun. Allerdings übt der Bus auf Ihre Fußsohlen eine Reibungskraft aus, die Ihre Füße mit ihm in die Kurve zwingt. Die Reibungskraft wirkt als Zentripetalkraft. Ihr Rumpf bewegt sich unterdessen noch weiter geradeaus. Deshalb fallen Sie fast hin und bewegen sich (gegenüber dem Bus) nach außen. Eine Kraft, die nach außen auf Ihren Rumpf wirkt, haben Sie während des ganzen Vorgangs nicht gespürt. Wenn Sie sich mit den Händen an einer Haltestange festhalten oder an der Außenwand des Busses abstützen, wirkt die Kraft der Stange (oder der Wand) auf ihre Hände zusätzlich als Zentripetalkraft. Sie können auf diese Weise das Umfallen verhindern. Eine analoge Argumentation gilt für die Fahrt im Kettenkarussell, für den Looping in der Achterbahn und für alle anderen Bewegungen auf Kreisbahnen. Die Kräfte, die Sie spüren, werden immer von anderen Gegenständen auf Ihren Körper ausgeübt. Für die Zentrifugalkraft dagegen bleibt die Frage: „Welcher Körper übt sie aus?“ unbeantwortet.
Gleichgewicht und Drehbewegungen
13 Ein Ballett-Divertissement
362
Kapitel 13 Gleichgewicht und Drehbewegungen – Ein Ballett-Divertissement
13.1 Statisches Gleichgewicht 13.1.1 Balance im Ballett
Das Ballett ist eine Kunstform, die von der Auseinandersetzung mit der Physik geradezu geprägt ist – auch wenn diese Auseinandersetzung für die meisten Tänzer eher unbewusst verläuft. Im klassischen Ballett ist die Wechselbeziehung zwischen Physik und menschlichem Körper (im Wortsinn) auf die Spitze getrieben. Die komplexen Bewegungsabläufe sind im Lauf der Zeit so verfeinert worden, dass sie sich den Grenzen des physikalisch Möglichen genähert haben. Anders als in den meisten Sportarten prallt der menschliche Körper im Ballett nicht auf die Gesetze der Physik – er gleitet geschmeidig in sie hinein. Ein Beispiel dafür haben Sie in der Analyse des Grand Jeté in Kapitel 2 kennengelernt. Gleichgewicht und Balance sind im Ballett immens wichtig. Eine Vielzahl von Begriffen, die die Grundlagen guten und sicheren Tanzes bezeichnen, bewegen sich in diesem Wortfeld: Équilibre (die Fähigkeit, eine Pose sicher halten zu können), Vertikalität (das Ausgehen der Bewegung von der Körperachse), Aplomb (das selbstverständliche, traumwandlerisch sichere Beherrschen des eigenen Körpers und der Schwerkraft). Der Körper regelt das Gleichgewicht Auch wenn Sie im Alltag laufen, stehen oder sitzen, immer muss der Körper „arbeiten“, um nicht umzufallen, um das Gleichgewicht aktiv aufrecht zu erhalten. Es ist ein dynamischer Vorgang, der unbewusst abläuft, der aber sehr viel Steuerung erfordert. Sie können sich die Bewegungen, mit denen der Körper das Gleichgewicht herstellt, mit einer einfachen Übung bewusst machen: Probieren Sie einmal, eine Minute lang mit geschlossenen Augen ruhig auf einem Bein zu stehen. Besonders deutlich werden diese unbewussten Bewegungen, wenn man sie trickreich verhindert. Versuchen Sie sich einmal an den beiden folgenden Übungen. Beispiel: Zwei einfache Übungen (die Ihnen nicht gelingen werden) (1) Stellen Sie sich mit dem Rücken an eine Wand. Die Fersen sollen die Wand berühren. Nun beugen Sie sich nach vorn und versuchen, mit den Händen die Fußspitzen zu erreichen (Abb. 13.1 links). Haben Sie es geschafft? Ah, Sie kommen mit Ihren Armen auch ohne Wand nicht bis an die Fußspitzen? Schlechte Voraussetzungen für das Ballett. Dann probieren Sie doch die zweite Übung. (2) Ganz gerade hinstellen, seitlich so weit von der Wand entfernt, dass Sie sie mit ausgestrecktem Arm eben noch berühren können (Abb. 13.1 rechts). Nicht an der Wand abstützen. Beine etwas mehr als hüftbreit auseinander. Und jetzt, immer noch mit ausgestrecktem Arm, den von der Wand abgewandten Fuß um einen Zentimeter vom Boden anheben. Hört sich einfach an, oder?
363
Abschnitt 13.1 Statisches Gleichgewicht
®
®
FG Abb. 13.1: Zwei Übungen zum Bewusstwerden der Körperbalance
FG
anheben
®
FN
®
FN
13.1.2 Erste Position – Kräftegleichgewicht verhindert das Umkippen nicht
Physikalisch kann man das Ballett als die Kunst charakterisieren, nicht umzufallen und dabei auch noch schön auszusehen. Das fiele sehr viel einfacher, wenn es die Schwerkraft nicht gäbe. Wie Sie in den beiden Übungen am eigenen Leib erfahren konnten, legt die Schwerkraft gerne einmal ihr Veto gegen missliebige Körperbewegungen ein. Wie sehen die Bedingungen aus, unter denen der Körper im Gleichgewicht bleibt? Beginnen wir mit der physikalischen Analyse ganz vorn. Erinnern Sie sich an den Merksatz aus Kapitel 5: In der newtonschen Bewegungsgleichung für ein ausgedehntes System sind nur äußere Kräfte zu berücksichtigen. Die Gleichung beschreibt dann die Bewegung des Schwerpunkts des ausgedehnten Systems. Diese Aussage ist immer richtig. Aber hier trifft sie die Situation nicht. Sehen wir uns die zweite Übung an (Abb. 13.1 rechts). Das betrachtete System ist durch die gestrichelte Linie abgegrenzt; die äußeren Kräfte vor dem Anheben des Fußes sind die Schwerkraft ~FG und die Normalkraft ~FN , die der Boden auf die Füße ausübt. Die Summe der Kräfte ist null; es herrscht Kräftegleichgewicht. Der Schwerpunkt des Systems bleibt in Ruhe. Wenn Sie jetzt einen Fuß anheben, ändert das am Kräftegleichgewicht gar nichts. Ihr anderer Fuß steht nun mit dem ganzen Körpergewicht auf dem Boden, und der Boden drückt im Gegenzug mit einer gleich großen Kraft zurück. Ihr Fuß hält das sehr leicht aus, und das Kräftegleichgewicht bleibt erhalten. Daran kann es also nicht liegen, dass Sie den Fuß nicht heben konnten. Unsere Analyse greift zu kurz. Das Kräftegleichgewicht ist nicht der entscheidende Faktor, jedenfalls nicht für das Umkippen. Es gibt im Ballett allerdings auch Situationen, in denen das Kräftegleichgewicht zwischen Gewichtskraft und Normalkraft entscheidend gestört ist – etwa wenn die Bühnenarbeiter wieder einmal eine dieser Klappen im Bühnenboden offen gelassen haben. In diesem Fall wird eine beschleunigte Bewegung des Körperschwerpunkts einsetzen.
364
Kapitel 13 Gleichgewicht und Drehbewegungen – Ein Ballett-Divertissement
Ein weiteres Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie konnten bei der ersten Übung das Umkippen nicht verhindern. Sie stehen zwar noch auf den Füßen, aber ihr Schwerpunkt bewegt sich beschleunigt in Richtung Boden. Wie groß ist die Normalkraft in dieser Situation? Offenbar liegt ja kein Kräftegleichgewicht mehr vor. Probieren Sie es vorsichtig mit einer Badezimmerwaage aus. 13.1.3 Passé – Gleichgewichtsbedingung
Die Tänzerin in Abb. 13.2 hat graziös ihr Bein ins Passé gebracht. In den beiden Bildern rechts ist ihr Umriss nachgezeichnet, wobei der gelbe Kreis jeweils den Körperschwerpunkt markiert. Steht die Tänzerin denn auch „schön gerade“? In der linken Silhouette (Abb. 13.2 Mitte) ist sie mit ganz senkrechter Körperachse dargestellt. Vergleichen Sie mit dem Foto links: Die reale Tänzerin steht so nicht. Die Körperachse verläuft in Wirklichkeit leicht schräg. Der Körperschwerpunkt liegt senkrecht über dem Fuß wie in Abb. 13.2 rechts. Die Tänzerin hat intuitiv die Gleichgewichtsbedingung erfüllt. Ein drehbar gelagerter Körper ist im Gleichgewicht, wenn sich sein Schwerpunkt genau senkrecht über oder unter dem Drehpunkt befindet. Zugegeben: Nur Physiker würden auf die Idee kommen, eine Ballett treibende junge Frau als drehbar gelagerten Körper zu bezeichnen. Dafür lässt sich der Satz aber nicht nur im Ballett anwenden. Er gilt ganz allgemein für alle drehbaren Körper. Bei der Tänzerin ist der Drehpunkt der Auflagepunkt des
Abb. 13.2: Der Körper ist im Gleichgewicht, wenn sich sein Schwerpunkt genau über dem Auflagepunkt befindet.
Abschnitt 13.1 Statisches Gleichgewicht
365
Fußes auf dem Boden. Beim Umkippen würde die Tänzerin um eine Achse rotieren, die durch diesen Punkt geht. Während sie das Bein anhob, hat die Tänzerin ihren Schwerpunkt verlagert. Zu Beginn stand sie ganz aufrecht. Um auf einem Fuß stehend ins Gleichgewicht zu gelangen, musste sie ihren Schwerpunkt durch eine Seitwärtsbewegung über das Standbein bringen. Ähnlich lag der Fall in der zweiten Übung von S. 362. Auch dort verlief die Körperachse zu Beginn senkrecht (Abb. 13.2 rechts). Die Seitwärtsbewegung, die den Schwerpunkt über den inneren Fuß bringt, haben wir durch den ausgestreckten Arm verhindert. Deshalb konnten Sie den äußeren Fuß nicht anheben. Befindet sich der Schwerpunkt eines drehbar gelagerten Körpers genau über dem Drehpunkt, ist das Gleichgewicht instabil. Jede kleine Störung führt zum Umkippen. Die Tänzerin führt ständig unwillkürliche Bewegungen aus, mit denen sie wie in einem Regelkreis das Gleichgewicht immer wieder aktiv herstellt. Wenn Sie auf einem Bein stehen und die Augen schließen, wird ein Teil der „Sensorik“ dieses Regelkreises ausgeschaltet. Dadurch wird Ihnen seine Existenz bewusst. Das stabile Gleichgewicht, bei dem sich der Schwerpunkt genau unter dem Drehpunkt befindet, kommt im Ballett praktisch nicht vor. Es wäre zu fade. Wenn Sie sich schlapp von einer Reckstange herunterhängen lassen, befinden Sie sich im stabilen Gleichgewicht. 13.1.4 Starre Körper
Die gerade formulierte Gleichgewichtsregel lässt sich – Sie ahnen es schon – auf eine grundlegendere Gesetzmäßigkeit zurückführen. Um uns dies zu erleichtern, entwerfen wir ein einfaches Modell der Tänzerin. Abgesehen von der Punktmasse ist der starre Körper das einfachste Modellsystem in der Mechanik. Im Gegensatz zu dieser besitzt der starre Körper eine Ausdehnung. Er ist dadurch charakterisiert, dass die Lage seiner Bestandteile relativ zueinander unveränderlich ist. Bewegen kann sich ein starrer Körper nur als Ganzes, ohne die geringste Formänderung. Statt einer lebendigen Tänzerin betrachten wir also eine Marmorstatue, aber dafür wird die Betrachtung einfach. Warum ist ein starrer Körper etwas Einfaches? Um die Lage einer Punktmasse vollständig zu beschreiben, muss man drei Zahlen angeben: ihre Position in x-, in y- und in z-Richtung. Man spricht von den drei Freiheitsgraden einer Punktmasse. Ein System aus zwei Punktmassen hat schon 6 Freiheitsgrade (2 × 3 Positionsangaben), eines aus n Punktmassen hat 3n Freiheitsgrade. Stellen Sie sich eine aus Punktmassen zusammengesetzte Tänzerin vor, und Sie können ermessen, wie schnell die Beschreibung kompliziert wird. Ein starrer Körper hat nur 6 Freiheitsgrade. Zur vollständigen Beschreibung seiner Lage im Raum reicht die Angabe von 6 Zahlen aus: der drei Koordinaten des Schwerpunkts (oder eines beliebigen anderen Punktes) und der drei Winkel, die seine Orientierung bezüglich der drei Raumachsen bestimmen. Will man komplexere Systeme als ausdehnungslose Punktmassen beschreiben, ist der starre Körper die einfachste Wahl.
366
Kapitel 13 Gleichgewicht und Drehbewegungen – Ein Ballett-Divertissement
®
®
®
M= rxF
®
r
a
®
F a Abb. 13.3: Zur Definition des Drehmomentes
13.1.5 Drehmoment
Das Drehmoment ist diejenige physikalische Größe, mit der sich die Gleichgewichtsbedingung für unsere erstarrte Tänzerin formulieren lässt. Jeder Kraft, ~ zudie an einem Ort ~r eines Körpers angreift, kann man ein Drehmoment M ordnen: Drehmoment einer Kraft:
~ =~r ×~F. M
(13.1)
Wenn Sie die Definition des Drehmomentes mit derjenigen des Drehimpulses (Gl. (10.25)) vergleichen, stellen Sie fest, dass die beiden Größen formal ganz analog definiert sind. Sie unterscheiden sich nur darin, dass beim Drehmoment die Kraft anstelle des Impulses steht. Infolgedessen lassen sich die mathematischen Eigenschaften des Drehmomentes durch einfaches Übertragen formulieren: (1) Das Drehmoment ist eine Vektorgröße. Der Drehmomentvektor steht sowohl senkrecht zum Ortsvektor als auch zum Kraftvektor. Seine Richtung ergibt sich aus der Rechte-Hand-Regel (Abb. A.11 im Anhang). (2) Der Betrag des Drehmomentes ist: M = r · F · sin α,
(13.2)
wobei α der Winkel zwischen ~r und ~F ist (Abb. 13.3). (3) Gleichbedeutend ist die folgende Formulierung: Der Betrag des Drehmomentes ist gleich dem Produkt aus Kraft und Hebelarm: M = F · a.
(13.3)
Der Hebelarm a ist der senkrechte Abstand zwischen der sogenannten Wirkungslinie der Kraft (strichpunktierte Linie in Abb. 13.3) und dem Koordinatenursprung. (Zeigen Sie an Abb. 13.3 mit ein wenig Geometrie, dass die beiden Formeln (13.2) und (13.3) äquivalent sind.)
Abschnitt 13.1 Statisches Gleichgewicht
367
(4) Die Drehmomente verschiedener Kräfte kann man vektoriell addieren. (5) Bezüglich einer Drehachse kann man „rechtsdrehende“ und „linksdrehende“ Drehmomente unterscheiden. Bei der vektoriellen Drehmomentaddition wird dies durch die unterschiedlichen Richtungen der Drehmomentvektoren automatisch berücksichtigt. Rechnet man dagegen mit Beträgen, muss man die Richtung der Drehmomente bei der Addition mit einem Vorzeichen versehen (positiv für linksdrehende, negativ für rechtsdrehende Drehmomente). (6) Das Drehmoment ist immer relativ zum Koordinatenursprung definiert. Wenn man das Drehmoment einer Kraft angibt, muss man auch immer mit angeben, auf welchen Koordinatenursprung man sich bezieht. Bei einer Drehbewegung ist es naheliegend, die Drehachse als Koordinatenursprung zu wählen. 13.1.6 Bedingung für statisches Gleichgewicht
Mit dem Begriff des Drehmomentes können wir erstens das Umfallen oder Nichtumfallen der Tänzerin verstehen und zweitens ganz allgemein formulieren, unter welchen Bedingungen sich ein starrer Körper im statischen Gleichgewicht befindet. „Statisch“ bedeutet: Der Körper bewegt sich nicht (die Geschwindigkeit all seiner Bestandteile ist null) und setzt sich auch nicht in Bewegung (die Beschleunigung aller Bestandteile ist null). Insbesondere im Fall von Bauwerken findet man das sehr vorteilhaft. Deshalb spielen die folgenden Gleichgewichtsbedingungen vor allem im Bauwesen eine große Rolle. Statisches Gleichgewicht: Soll ein starrer Körper in Ruhe bleiben, müssen die beiden folgenden Bedingungen erfüllt sein. (1) Die Summe aller äußeren Kräfte muss null sein (Kräftegleichgewicht). (2) Die Summe aller durch die äußeren Kräfte hervorgerufenen Drehmomente muss null sein (Drehmomentgleichgewicht). Ist die erste Bedingung erfüllt, setzt keine Schwerpunktsbewegung ein (Klappe im Bühnenboden); die zweite Bedingung verhindert das Einsetzen einer Rotationsbewegung. Was hat die oben formulierte Voraussetzung für das Gleichgewicht – der Schwerpunkt muss sich über dem Drehpunkt befinden – mit diesen beiden Bedingungen zu tun? Das Kräftegleichgewicht kann nicht entscheidend sein, denn es lag in unseren bisherigen Beispielen jeweils vor. Die Normalkraft hatte immer den gleichen Betrag wie die Schwerkraft. Die zweite Bedingung, das Drehmomentgleichgewicht, stellt den Zusammenhang her. Sehen wir uns in der folgenden Beispielaufgabe noch einmal zwei Tänzerinnen an, um die Beziehung zwischen der Gleichgewichtsbedingung und dem Drehmomentgleichgewicht zu veranschaulichen.
368
Kapitel 13 Gleichgewicht und Drehbewegungen – Ein Ballett-Divertissement
Abb. 13.4: Hier ist die Gleichgewichtsbedingung nicht erfüllt.
Beispielaufgabe: Dem Urheber der Zeichnung in Abb. 13.4 war die Gleichgewichtsbedingung offenbar nicht bekannt. Die Körperachse des dargestellten Mädchens verläuft senkrecht und trifft den Auflagepunkt nicht. Deshalb sieht das Bild auch so unnatürlich aus. Berechnen Sie die Summe der äußeren Drehmomente. Nehmen Sie an, dass die beiden strichpunktierten Wirkungslinien einen Abstand von a = 2 cm haben. Die Tänzerin soll 45 kg wiegen. Berechnen Sie zum Vergleich auch die Summe der äußeren Drehmomente für die wirkliche Tänzerin in Abb. 13.5. Lösung: Bei der Berechnung von Drehmomenten muss man den Koordinatenursprung angeben, auf den man sich bezieht. Eine naheliegende Wahl ist die potentielle Drehachse, d. h. die Stelle, an der der Fuß den Boden berührt (ebenso gut könnte man den Schwerpunkt nehmen). Das Drehmoment der am Fuß angreifenden Normalkraft ~ FN ist null, denn ihre Wirkungslinie verläuft durch den Koordinatenursprung. Das Vektorprodukt in Gl. (13.1) verschwindet, da die beiden zu multiplizierenden Vektoren parallel sind (oder, anders formuliert: weil die Normalkraft ohne Hebelarm angreift). Das Drehmoment der Gewichtskraft ist dagegen von null verschieden. Wir können seinen Betrag mit Gl. (13.3) berechnen:
M = F·a = m·g·a
= 45 kg · 9,81 m/s2 · 0,02 m = 8,8 Nm. Die Summe der Drehmomente ist nicht null, und daher ist auch die Gleichgewichtsbedingung nicht erfüllt. Eine echte Tänzerin würde zu kippen beginnen.
369
Abschnitt 13.1 Statisches Gleichgewicht
®
FG
®
FN Abb. 13.5: Das Gesamtdrehmoment ist null, weil beide Kräfte auf der gleichen Wirkungslinie liegen.
Bei der wirklichen Tänzerin in Abb. 13.5 verlaufen die Wirkungslinien von Gewichtsund Normalkraft durch den Koordinatenursprung. Beide Hebelarme verschwinden, und damit auch beide Drehmomente – die Tänzerin kippt nicht. Damit haben wir eine allgemeine Regel gefunden: Immer wenn sich der Körperschwerpunkt senkrecht über dem Auflagepunkt befindet, verlaufen Gewichts- und Normalkraft entlang der gleichen Wirkungslinie, und das Gesamtdrehmoment ist null. Auf diese Weise haben wir die Gleichgewichtsbedingung auf das Drehmomentgleichgewicht zurückgeführt.
13.1.7 Arabesque – die Balance halten
Was kann man tun, wenn man ein wenig aus dem Gleichgewicht geraten ist? Sie wissen es aus Erfahrung: Mit dem Fuß kann man Drehmomente erzeugen. Um das Umkippen zu verhindern, hat die Natur den Menschen mit länglich geformten Füßen ausgestattet. Stellen Sie sich auf ein Bein und konzentrieren sich beim Balancieren auf Ihren Standfuß. Sie werden bemerken, dass sich die Belastung ständig ändert. Sie wandert von der Fußspitze zur Ferse, von links nach rechts und wieder zurück. Der Grund dafür liegt darin, dass es Ihnen niemals gelingt, Ihren Körperschwerpunkt vollkommen im Raum zu fixieren. Er wankt und schwankt ständig um die Gleichgewichtsposition, und als Reaktion darauf erzeugen die Regelmechanismen Ihres Körpers Drehmomente am Fuß. Sie kompensieren das Drehmoment der Gewichtskraft und stellen so das Drehmomentgleichgewicht wieder her.
370
Kapitel 13 Gleichgewicht und Drehbewegungen – Ein Ballett-Divertissement
Abb. 13.6: Arabesque penchée auf dem ganzen Fuß
In Abb. 13.6 sehen wir eine Tänzerin, die eine spezielle Form der Arabesque (eine Arabesque penchée) auf dem ganzen Fuß ausführt. Wie sieht die Kräfteverteilung aus, die sie mit ihrem Standfuß hervorrufen muss, um die Balance zu bewahren? Abb. 13.7 zeigt unser Modell. Wir ersetzen der Einfachheit halber die in Wirklichkeit flächenhaft wirkende Normalkraft durch zwei einzelne Kräfte an der Ferse und an der Fußspitze. Der Koordinatenursprung liegt in der Ferse, so dass die dort angreifende Kraft ~FN,1 kein Drehmoment hervorruft. Der Körperschwerpunkt liegt nicht über der Ferse. Die Gewichtskraft ruft daher ein Drehmoment mit dem Betrag FG · a1 hervor. Die Tänzerin kann es dadurch kompensieren, dass sie mit der Fußspitze ein gleich großes und entgegengesetztes Drehmoment erzeugt. Beispielaufgabe: Berechnen Sie mit Hilfe der Bedingungen für das statische Gleichgewicht, wie groß die Kräfte an Ferse und Fußspitze sind. Die Wirkungslinie der Schwerkraft soll einen Abstand a1 = 24 cm von der Ferse haben; der Fuß soll 30 cm lang sein. Die Gewichtskraft der Tänzerin hat einen Betrag von 540 N (entsprechend einer Masse von 55 kg). Lösung: Gesucht sind die beiden Kräfte FN,1 und FN,2 . Für diese beiden Unbekannten haben wir zwei Bestimmungsgleichungen: die Gleichungen für das Kräfte- und für das Drehmomentgleichgewicht.
371
Abschnitt 13.1 Statisches Gleichgewicht
®
FG a1 a2 ®
FN,2
Abb. 13.7: Kräfte an Ferse und Fußspitze
®
FN,1
Beim Aufsummieren der Drehmomente müssen wir die Richtung beachten. Linksdrehende Drehmomente erhalten ein positives Vorzeichen, rechtsdrehende ein negatives. Kräfte und Strecken sind positiv wie eingezeichnet. Die Bedingungsgleichung für das Drehmomentgleichgewicht lautet:
Auflösen nach FN,2 führt zu:
Mges = FG · a1 − FN,2 · a2 = 0.
(13.4)
a1 · FG . a2
(13.5)
24 cm · 540 N = 432 N. 30 cm
(13.6)
FN,2 = Einsetzen der Zahlenwerte ergibt:
FN,2 =
An der Fußspitze wirkt eine Kraft, die so groß ist wie die Gewichtskraft einer Masse von 44 kg. Die Tänzerin muss den Großteil ihres Körpergewichts mit der Fußspitze aufbringen, entsprechend dem Verhältnis der beiden Hebelarme a1 und a2 . Wenn Sie Gl. (13.5) stark an das vertraute Hebelgesetz erinnert, dann trügt Sie Ihr Gefühl nicht (vgl. Kasten 13.1). Die Kraft an der Ferse können wir aus der Bedingung für das Kräftegleichgewicht ermitteln:
Daraus ergibt sich:
Fges = FG − FN,1 − FN,2 = 0. FN,1 = FG − FN,2
= 540 N − 432 N = 108 N.
(13.7) (13.8)
Die Ferse ist nur gering belastet, mit der Gewichtskraft einer Masse von 10 kg. Damit haben wir aus den Gleichgewichtsbedingungen der Statik alle gesuchten Größen bestimmt.
372
Kapitel 13 Gleichgewicht und Drehbewegungen – Ein Ballett-Divertissement
13.1.8 En pointe – Kippbedingung
Die Beispielaufgabe hat Ihnen gezeigt, dass man eine Verschiebung des Körperschwerpunkts nach vorn dadurch ausgleichen kann, dass man die Normalkraft an der Fußspitze erhöht. Versuchen Sie einmal, sich im Stand immer weiter nach vorn zu neigen. Sie werden sich bald „mit den Zehen in den Boden krallen“, um das Umkippen zu verhindern. Gleichzeitig wirkt auf Ihre Fersen so gut wie keine Kraft mehr. Das Ganze geht jedoch nur bis zu einer gewissen Grenze. Mehr als Ihr ganzes Körpergewicht können Sie zum Erzeugen eines kompensierenden Drehmomentes nicht einsetzen. Größer als FG kann die Normalkraft in Abb. 13.7 nicht werden, und daher kann im Gleichgewicht a1 auch nicht größer als a2 werden. Mit anderen Worten: Sie können das Drehmomentgleichgewicht nur herstellen, solange der Körperschwerpunkt sich noch über dem Fuß befindet und nicht vor der Fußspitze liegt. In Abb. 13.8 (Mitte) ist dies für eine klassische Arabesque illustriert. Analoges gilt in umgekehrter Richtung natürlich auch für die Ferse (Abb. 13.8 links). Damit haben wir ein allgemeines Ergebnis für das Kippen von starren Körpern gefunden: Kippbedingung: Bei einem frei aufliegenden starren Körper ist nur dann Gleichgewicht zu erreichen, wenn die Wirkungslinie der Gewichtskraft zwischen den äußersten Punkten verläuft, an denen der Körper noch unterstützt ist (den sogenannten Kippkanten). Abb. 13.8 rechts zeigt eine Situation, in der die Kippbedingung nicht erfüllt ist. Der Körperschwerpunkt liegt vor der Fußspitze. Um Drehmoment- und Kräftegleichgewicht herzustellen, müsste die Kraft, die der Boden auf die Ferse ausübt, nach unten gerichtet sein. Man kann nach unten gerichtete Normalkräfte durch Nageln, Schrauben, Kleben oder Vertäuen mit einem Seil erreichen. Keine dieser Methoden hat sich jedoch im Ballett durchgesetzt.
Schwerpunkt liegt über der Ferse
Schwerpunkt liegt über der Fußspitze
Kippbedingung nicht erfüllt
Abb. 13.8: Der Körperschwerpunkt muss über dem Fuß liegen, sonst ist das Kippen nicht zu verhindern.
373
Abschnitt 13.1 Statisches Gleichgewicht
®
FN Drehachse ®
F1
®
a1
a2
F2
Kasten 13.1: Das Hebelgesetz Zwei verschieden schwere Kinder sitzen auf einer Wippe. Damit die Wippe im Gleichgewicht ist, muss das (schwerere) Mädchen in geringerem Abstand von der Drehachse sitzen als der Junge. Nach dem Hebelgesetz ist Last · Lastarm = Kraft · Kraftarm. Damit kann man ermitteln, wo sich das Mädchen hinsetzen muss, um die Wippe im Gleichgewicht zu halten. Das Hebelgesetz ist nur eine andere Formulierung für das Drehmomentgleichgewicht Mges = 0. Wenn Sie den Balken als System wählen, den Koordinatenursprung in die Drehachse legen und linksdrehende Drehmomente wieder positiv zählen, erhalten Sie ähnlich wie in der Beispielaufgabe auf S. 371 die Bedingung: Mges = F1 · a1 − F2 · a2 = 0. Am Balken (oder allgemeiner: an jedem Hebel) herrscht Drehmomentgleichgewicht, wenn das Hebelgesetz gilt:
F1 · a1 = F2 · a2 .
(13.9)
Als zusätzliche Information aus der Kräftegleichgewichtsbedingung erhält man die Lagerkraft FN in der Drehachse.
Die Kippbedingung erklärt, warum es beim Stehen auf einem Fuß einfacher ist, das Kippen nach vorn oder hinten zu verhindern als nach links oder rechts. Wegen der länglichen Form des Fußes ist der Bereich, in dem der Körperschwerpunkt in Längsrichtung wandern darf, größer als der entsprechende Bereich in Querrichtung. Auf diese Weise verstehen wir auch, warum die Balance en pointe, auf der Fußspitze, so schwierig ist (Abb. 13.9). Eine Tänzerin, die en pointe auf einem Fuß steht, muss den Körperschwerpunkt bis auf wenige Zentimeter an der richtigen Stelle halten – auch wenn sie mit Armen, Spielbein und Oberkörper in Bewegung ist. Wie kann man die Balance auf der Spitze bewahren? Zum einen ist natürlich sehr viel Training nötig, um überhaupt erst in diese Position zu gelangen und sie über einen nennenswerten Zeitraum aufrechtzuerhalten. Sodann braucht man einen gut geschulten Gleichgewichtssinn. Abweichungen des Körperschwerpunkts von der idealen vertikalen Lage sollten wahrgenommen werden, solange sie noch klein sind, denn kleine Abweichungen lassen sich leichter korrigieren als große.
374
Kapitel 13 Gleichgewicht und Drehbewegungen – Ein Ballett-Divertissement
Abb. 13.9: En pointe
Hat sich der Körperschwerpunkt aus der korrekten Position senkrecht über dem Fuß entfernt, gibt es im Prinzip zwei Möglichkeiten, das Gleichgewicht wieder zu erlangen. Erstens kann man den Körperschwerpunkt durch kleine Bewegungen des Oberkörpers verlagern. Daher ist ein entspannter Rumpf beim Herstellen der Balance von Vorteil. Zweitens kann man den Fuß wieder unter den Körperschwerpunkt bringen, indem man die Position des Standbeins verändert. Dieser Vorgang wird als „Hopsen“ bezeichnet, seine Eleganz ist begrenzt.
13.2 Drehbewegungen 13.2.1 Der Pirouetteneffekt
Es gibt einen Begriff aus dem Ballett, der es geschafft hat, in die Umgangssprache der Physik einzudringen. Man spricht vom Pirouetteneffekt, um ein Phänomen zu bezeichnen, das auf den ersten Blick ganz erstaunlich erscheint. Der Effekt wird besonders deutlich im bekannten Drehschemelversuch: Ein Freiwilliger sitzt auf einem leicht drehbaren Schemel und hält zwei Hanteln in den ausgestreckten Händen. Ein Helfer versetzt den Schemel in Rotation. Nun zieht die Versuchsperson die Hände an den Körper. Sofort dreht sich der
375
Abschnitt 13.2 Drehbewegungen
®
L
mH
®
vH ®
rH
®
– rH
mH Abb. 13.10: Modell zum Drehschemelversuch
®
– vH
Schemel viel schneller. Beim Wiederausstrecken der Arme geht die Drehgeschwindigkeit auf ihren ursprünglichen Wert zurück. Man kann das Phänomen auch sehr gut an Drehkarussells auf Kinderspielplätzen ausprobieren. Der Schlüssel zum Verständnis des Effekts ist die Drehimpulserhaltung. Den gut gelagerten Drehschemel können wir näherungsweise als abgeschlossenes System betrachten, für das der bereits in Kapitel 10 formulierte Erhaltungssatz für den Drehimpuls gilt: In einem abgeschlossenen System ist der Gesamtdrehimpuls zeitlich konstant. Zur Beschreibung des Versuchs legen wir das in Abb. 13.10 dargestellte Modell zugrunde. Der Körper der Versuchsperson wird als Punktmasse im Koordinatenursprung beschrieben; er trägt zum Drehimpuls nicht bei. Arme und Hanteln werden als Punktmassen mit der Masse mH modelliert, die ihren Abstand ~rH vom Körper verändern. Der Gesamtdrehimpuls beträgt:
~L = mH · [~rH ×~vH + (−~rH )×(−~vH )] = 2mH ·~rH ×~vH .
(13.10)
Da Ortsvektor ~rH und Geschwindigkeitsvektor ~vH senkrecht aufeinander stehen, gilt nach den Regeln aus Anhang A.6 für den Betrag des Drehimpulses:
|~L| = 2mH · rH · vH .
(13.11)
Nach dem Zusammenführen der Arme muss der Gesamtdrehimpuls so groß sein wie vorher. Das ist nur möglich, wenn zum Ausgleich für den geringer werdenden Abstand rH die Geschwindigkeit vH größer wird. Die Hanteln (und mit ihnen auch der ganze Körper) beginnen, schneller zu rotieren. Das Umgekehrte geschieht beim Wiederausstrecken der Arme: rH wird größer und vH nimmt ab. Bei dem Versuch finden Geschwindigkeitsänderungen statt, ohne dass äußere Kräfte wirken. Steht das nicht im Widerspruch zum newtonschen Gesetz? Nein, denn die Geschwindigkeit des Schwerpunkts ändert sich nicht. Nur innere Kräfte sind am Werk. Versuchen Sie sich über die Art und Weise, wie hier Kräfte wirken, Klarheit zu verschaffen. Es ist gar nicht so einfach. Wenn Sie
376
Kapitel 13 Gleichgewicht und Drehbewegungen – Ein Ballett-Divertissement
w
r2 r1 v2 = w · r 2
Abb. 13.11: Drehung einer Stange
v1 = w · r1
den Versuch selbst durchführen, spüren Sie die entsprechenden Kräfte am eigenen Körper. Leichter ist die folgende Frage zu beantworten: Offensichtlich nimmt die gesamte kinetische Energie beim Anziehen der Arme zu. Wie ist das mit dem Energiesatz vereinbar? Wo kommt die zusätzliche Energie her? Der Versuch wirft eine Menge Fragen auf, die aber alle durch eine sorgfältige Analyse zu beantworten sind. 13.2.2 Drehimpuls und Trägheitsmoment
In unserem Punktmassenmodell des Drehschemelversuchs war die Berechnung des Drehimpulses nicht schwer. Das ändert sich allerdings umgehend, wenn man komplizierter geformte Körper betrachtet. Eine rotierende Stange können wir z. B. als eine Kette von Punktmassen modellieren (Abb. 13.11). Jede der Punktmassen hat eine andere Geschwindigkeit. Sie ist umso höher, je größer der Abstand von der Drehachse ist. Bei der Berechnung des Drehimpulses erhalten wir eine Summe mit vielen Summanden, verschiedenen Abständen und Geschwindigkeiten. Die mühevolle Berechnung einer Summe wäre nicht weiter tragisch, wenn man nicht das Gefühl hätte, dass das Problem in Wirklichkeit einfach sei. Es handelt sich nicht um eine komplexe Bewegung – die Drehgeschwindigkeit ist konstant. Diese Konstanz spiegelt sich aber nirgendwo in der Rechnung wider. Ihr physikalisches Gespür sollte auf Alarm schalten: Ein Problem mit einer nicht ausgenutzten Symmetrie fleht Sie geradezu an, nach einer geeigneteren Beschreibung zu suchen. Drehbewegungen beschreibt man am besten nicht durch Strecken, sondern durch Winkel. Alle Punkte der rotierenden Stange legen in einer Sekunde unterschiedliche Wege zurück – aber den gleichen Winkel. Nicht die Geschwindigkeit ist konstant, sondern die Winkelgeschwindigkeit, der zurückgelegte Winkel pro Zeit (vgl. Abschnitt A.9 im Anhang). Der Gesamtdrehimpuls ~L der Stange ist die Summe aller Einzeldrehimpulse:
~L = ∑ mi ~ri ×~vi . i
(13.12)
377
Abschnitt 13.2 Drehbewegungen
Wenn wir den Koordinatenursprung in die Drehachse legen, steht für jede Punktmasse der Geschwindigkeitsvektor ~v senkrecht zum Ortsvektor ~r, so dass für den Betrag von ~L gilt: L=
∑ mi · ri · vi .
(13.13)
i
Die Bahngeschwindigkeit einer Punktmasse drücken wir mit Gl. (A.36) durch die Winkelgeschwindigkeit aus: vi = ω · ri . So erhalten wir: ! L=
∑ mi · ri2 i
· ω.
(13.14)
Damit ist die entscheidende Vereinfachung gelungen. Der letzte Term, die Winkelgeschwindigkeit ω, hängt nicht mehr von der Form und Art des Körpers ab, sondern charakterisiert nur seinen augenblicklichen Bewegungszustand. Dagegen hängt der Term in Klammern allein von der Geometrie des Körpers ab (und nicht vom Bewegungszustand). Dieser Term bekommt einen eigenen Namen und ein eigenes Formelsymbol: das Trägheitsmoment Θ. Trägheitsmoment:
Θ=
∑ mi · ri2 .
(13.15)
i
Setzen wir die Definitionen des Trägheitsmomentes in Gl. (13.14) ein, ergibt sich ein einfacher Zusammenhang zwischen Drehimpuls, Trägheitsmoment und Winkelgeschwindigkeit. Drehimpuls bei der Rotation:
L = Θ · ω.
(13.16)
Für jede Körpergestalt berechnet man das Trägheitsmoment bezüglich einer Drehachse ein für allemal. Danach kann man die komplizierte Summe in der Klammer von Gl. (13.14) vergessen und einfach Gl. (13.16) mit dem berechneten Wert von Θ benutzen. In Abb. 13.12 sind die Trägheitsmomente einiger einfacher Körper zusammengestellt. Beachten Sie aber, dass das Trägheitsmoment von der Lage der Drehachse abhängt. 13.2.3 Pirouetteneffekt und Trägheitsmoment
Der Pirouetteneffekt beim Drehschemelversuch ist mit den neu eingeführten Begriffen einfach zu verstehen. Es gilt die Drehimpulserhaltung: L = Θ · ω = konst.
(13.17)
Beim Zusammenführen der Arme nimmt das Trägheitsmoment ab (kleineres ri in Gl. (13.15)). Im Gegenzug muss die Winkelgeschwindigkeit anwachsen, um der Drehimpulserhaltung Genüge zu tun. Der Schemel rotiert schneller.
378
Kapitel 13 Gleichgewicht und Drehbewegungen – Ein Ballett-Divertissement
Abb. 13.12: Trägheitsmomente einiger einfacher Körper
Bei der Rotation unsymmetrischer Körper kann es passieren, dass die Richtung des Drehimpulses nicht mit der Richtung der Drehachse übereinstimmt. In diesem Fall (oder wenn die Drehachse nicht durch den Schwerpunkt verläuft), spricht man von einer Unwucht. Auf die Drehachse wirken dann Drehmomente (bzw. Kräfte, wenn der Schwerpunkt beschleunigt werden muss). Falls Sie das interessiert, recherchieren Sie den Begriff Trägheitstensor. 13.2.4 Rotationsenergie
Mit Hilfe von Trägheitsmoment und Winkelgeschwindigkeit lässt sich auch die kinetische Energie einer Drehbewegung einfach ausdrücken. Die Rech-
379
Abschnitt 13.3 Pirouetten und Fouettés
nung verläuft ganz ähnlich wie beim Drehimpuls. Die gesamte kinetische Energie eines rotierenden Körpers ist die Summe der kinetischen Energien aller Punktmassen, aus denen er besteht: rot Wkin =
1 2
∑ mi v2i .
(13.18)
i
Die Bahngeschwindigkeit drücken wir wieder mit vi = ω · ri durch die Winkelgeschwindigkeit aus, so dass sich für die kinetische Energie ergibt: ! rot Wkin =
1 2
∑ mi · ω2 · ri2 = 12 ∑ mi ri2 i
i
· ω2 .
(13.19)
Der Term in Klammern entspricht wieder dem Trägheitsmoment und so erhalten wir die folgende einfache Gleichung. Kinetische Energie der Rotation:
rot Wkin =
1 2
Θ ω2 .
(13.20)
13.3 Pirouetten und Fouettés 13.3.1 Die Pirouette im Ballett
Eine Pirouette ist eine Drehung auf einem Fuß en pointe (Abb. 13.13) oder demi-pointe (auf dem Fußballen). Selten werden mehr als drei oder vier Drehungen hintereinander ausgeführt, denn Ballett soll etwas anderes sein als reine Akrobatik. Die Figuren sollen nicht einfach nur spektakulär wirken, sondern Ausdruck, Bedeutung und Gefühl vermitteln. Entsprechend stammt eine der eindrucksvollsten Pirouetten auch nicht aus einer Ballett-Choreografie, sondern aus einem Kinofilm: In „White Nights“ (1985) zeigt der russischamerikanische Tänzer Michail Baryschnikow eine Pirouette mit 11 Drehungen (die er im Film aufgrund einer Wette vorführen muss). Eine gute Pirouette muss gleichförmig und fließend ausgeführt werden, und hier kommt wieder die Physik ins Spiel. Am Fuß wirken nämlich immer Reibungskräfte, die die Drehung verlangsamen. Um dies zu verhindern, kann man den Pirouetteneffekt nutzen und das Trägheitsmoment im Verlauf der Figur verkleinern – entweder mit dem Spielbein oder indem man die Arme langsam in Richtung Körpermitte führt. Auf diese Weise gelingt es, die Winkelgeschwindigkeit der Drehung konstant zu halten. Wenn Sie sich den Filmausschnitt mit Baryschnikows Pirouette ansehen,1 werden Sie deutlich erkennen, wie er mit ausgebreiteten Armen beginnt und sie dann langsam zusammenführt. Er beendet die Drehung, indem er die Arme wieder ausbreitet. Dadurch wird das Trägheitsmoment erhöht und die Drehung abgebremst. 1
Siehe z. B. youtube.com: Mikhail Baryshnikov does 11 pirouettes
380
Kapitel 13 Gleichgewicht und Drehbewegungen – Ein Ballett-Divertissement
Abb. 13.13: Pirouette
Sich drehen ohne Schwung zu holen? Der Pirouetteneffekt hilft noch an anderer Stelle. Um eine Drehung einzuleiten, müssen Sie den Körper „anstoßen“. Physikalisch ausgedrückt: Es muss ein Drehmoment angreifen. Nun lebt das Ballett von der Illusion der Mühelosigkeit und Selbstverständlichkeit. Die Vorstellung einer Tänzerin, die mit dem Fuß zuerst kräftig Schwung holt, und erst in der Drehung auf die Spitze kommt, passt eher zu einem derben steirischen Volkstanz als zur Leichtigkeit von „Giselle“. Es soll so aussehen, als ob es „von selbst geht“. Die Drehung soll einfach einsetzen, wenn die Tänzerin bereits auf der Spitze steht. Leider geht das nicht, auch wenn es der Choreograf so wünscht. Es ist einfach unmöglich, eine Drehung auf der Spitze einzuleiten. Mit dem Pirouetteneffekt kann man aber erreichen, dass es so aussieht, und das allein zählt. Wie es geht? Die Tänzerin leitet eine Drehung mit relativ langsamer Drehgeschwindigkeit ein, während sie auf dem ganzen Fuß oder der halben Spitze steht. Dabei sorgt sie mit Armen und Spielbein für ein großes Trägheitsmoment. Nun erhebt sie sich auf die ganze Spitze und verkleinert dann ihr Trägheitsmoment, indem sie Arme oder Spielbein zur Körpermitte führt. Durch den Pirouetteneffekt wird sich in diesem Moment ihre Drehgeschwindigkeit erhöhen, so dass es für die Zuschauer aussieht, als setze die Drehung ohne sichtbare Anstrengung der Tänzerin gerade in diesem Moment ein – eine perfekte Illusion.
Abschnitt 13.3 Pirouetten und Fouettés
381
Abb. 13.14: Tänzerin während der 32 Fouettés
13.3.2 Fouettés – Drehimpuls im Schwanensee
Einfach nur die bloße Virtuosität zur Schau stellen – so lange es Ballett gibt, so lange wird es auch das geben. Ein berühmtes Beispiel sind die 32 Fouettés des schwarzen Schwans in der klassischen Schwanensee-Inszenierung, wo die Primaballerina eine ununterbrochene, höchst schwierige Folge von Drehungen auf einem Bein tanzt. Im Vergleich zu den Fouettés erscheint eine einfache Pirouette relativ banal. Der Bewegungsablauf ist in Abb. 13.15 skizziert.2 Wenn die Tänzerin dem Publikum das Gesicht zuwendet, streckt sie das Spielbein in einer ausdrucksvollen Pose waagerecht aus (Abb. 13.14). Sie scheint für einen Moment fast zum Stillstand zu kommen – nur um mit anmutigen Arm- und Beinbewegungen scheinbar antriebslos wieder zu beschleunigen. Das Spielbein „peitscht“ den Körper in die Drehung (fouetter = peitschen). Das Fesselnde an den Fouettés ist das Variieren der Drehgeschwindigkeit, das die Tänzerin allein durch das Verändern ihrer Körperhaltung bewirkt. Der Pirouetteneffekt wird dabei ständig genutzt. Kurz vor der en-face-Position werden die Arme geöffnet und das Spielbein abgespreizt, so dass das Trägheitsmoment zunimmt (zweites Bild von links in Abb. 13.15). Die Drehgeschwindigkeit nimmt schlagartig ab. Nun führt die Tänzerin ihre Arme zusammen und winkelt das Spielbein an. Dadurch nimmt die Drehgeschwindigkeit plötzlich wieder zu, und sie dreht sich schnell weiter, während sie dem Publikum den Rücken zukehrt. 2
Siehe z. B. youtube.com: Uliana Lopatkina@Swan Lake
382
Kapitel 13 Gleichgewicht und Drehbewegungen – Ein Ballett-Divertissement
Abb. 13.15: Körperbewegungen beim Fouetté
13.3.3 Drehmoment und Drehimpulsänderung
Wie kann es gelingen, 32 Fouettés am Stück zu tanzen? Die Tänzerin kann noch so perfekt auf der Spitze stehen: Der Schwung reicht für so viele Drehungen nicht. Zur Faszination der Fouettés gehört, dass man erst bei genauem Hinsehen erkennt, wie die Drehung aufrecht erhalten wird. Versuchen wir, die Frage physikalisch zu klären: Läge ein abgeschlossenes System vor, dann bliebe der Drehimpuls erhalten. Die Tänzerin könnte ohne Antrieb in Ewigkeit ihre Fouettés drehen, solange sie nur die Balance hielte. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Die Reibungskräfte zwischen Schuh und Boden bremsen die Drehung langsam ab. Das System ist nicht in Strenge abgeschlossen. Wenn die Tänzerin nichts unternimmt, verringert sich ihr Drehimpuls allmählich. Der Pirouetteneffekt hilft auch nicht weiter, denn man kann den Drehimpuls damit nicht erhöhen. Das physikalische Grundgesetz, das hier zur Anwendung kommt, ist der Drehimpulserhaltungssatz für offene Systeme. Die Grundregel lautet: Der Drehimpuls ändert sich aufgrund eines Drehmomentes. Während der Fouettés verursachen die Reibungskräfte ein Drehmoment an der Fußspitze, und deshalb verringert sich der Drehimpuls der Tänzerin. Die Reibungskräfte sind gleich groß, entgegengesetzt gerichtet und greifen in einem gewissen Abstand 2a voneinander an (Abb. 13.16 (a)). Bei einer Rechtsdrehung ist das abbremsende Drehmoment der Reibungskräfte linksdrehend. Was kann die Tänzerin tun, um die Abnahme ihres Drehimpulses zu verhindern? Sie können es erkennen, wenn Sie genau hinsehen. Sie schlägt mit
Abb. 13.16: (a) Linksdrehendes Drehmoment an der Spitze, (b) rechtsdrehendes Drehmoment am ganzen Fuß
Abschnitt 13.3 Pirouetten und Fouettés
383
gleichen Waffen zurück und erzeugt ein rechtsdrehendes Drehmoment an ihrem Fuß (Abb. 13.16 (b)). Dazu geht sie immer in der en-face-Position kurz auf den ganzen Fuß (zweites Bild in Abb. 13.15). Das so erzeugte Drehmoment erhöht ihren Drehimpuls, so dass ihre Winkelgeschwindigkeit zunimmt. Durch diese kleine Aktion, die dem unbefangenen Zuschauer kaum auffällt, ist die Anzahl der Fouettés jedenfalls nicht mehr durch den abnehmenden Drehimpuls begrenzt. In der Praxis sind es andere Schwierigkeiten, die die Figur so höllisch schwierig machen: Es wird schwerer und schwerer, nach jeder Drehung mit dem Gesicht zum Publikum zu landen, die Unsicherheiten in der Balance nehmen mit jeder weiteren Drehung zu – oder es wird einem schlicht schwindlig. Mit dem gerade gelernten Gesetz „Drehmoment = Drehimpulsänderung“ können wir auch erklären, warum die „Spitzenlagerung“ so vorteilhaft für Drehungen ist: Auf der Spitze ist der Abstand 2a sehr klein, so dass die Reibungskräfte kein großes abbremsendes Drehmoment erzeugen können, selbst wenn die Kräfte ebenso groß sind wie auf dem ganzen Fuß. 13.3.4 Drehimpulserhaltung für offene Systeme
Den Drehimpulserhaltungssatz für abgeschlossene Systeme haben wir schon in Kapitel 10 im Zusammenhang mit der Planetenbewegung kennengelernt. Wie der Energie- und der Impulserhaltungssatz hat auch er ein Pendant für offene Systeme. Dessen Aussage ist in Worten gerade formuliert worden. Die Wichtigkeit dieses allgemeinen Gesetzes rechtfertigt, dass wir es im Folgenden noch einmal sorgfältig begründen. Wir betrachten das in Abb. 13.17 dargestellte System aus zwei Körpern. Zwischen ihnen wirken innere Kräfte, und zusätzlich greifen über die Systemgrenzen noch äußere Kräfte an. Die newtonsche Bewegungsgleichung für den ersten Körper lautet: ~p˙ 1 = ~F2→1 + ~F1ext . (13.21) Eine analoge Gleichung gilt für den zweiten Körper. Für die zeitliche Ableitung des Gesamtdrehimpulses ~Lges können wir nach Gl. (10.27) schreiben: d~Lges d = (~r ×~p +~r2 ×~p2 ) . dt dt 1 1
Abb. 13.17: Kräfte bei der Drehimpulserhaltung in einem offenen System
(13.22)
384
Kapitel 13 Gleichgewicht und Drehbewegungen – Ein Ballett-Divertissement
Anwenden der Produktregel für die Differentiation führt zu: d~Lges = ~r˙ 1 ×~p1 + ~r1 ×~p˙ 1 + ~r˙ 2 ×~p2 + ~r2 ×~p˙ 2 , dt | {z } | {z } =0
(13.23)
=0
wobei der erste und der dritte Term verschwinden, da die Vektoren ~p und ~r˙ (=~v) parallel sind. Nun drücken wir mit Hilfe von Gl. (13.21) die Impulsänderungen durch Kräfte aus. Es ergibt sich: d~Lges = ~r1 ×~F2→1 + ~r2 ×~F1→2 + ~r1 ×~F1ext + ~r2 ×~F2ext , | {z } dt | {z } = 0 für Zentralkräfte (s. Kasten S. 385)
(13.24)
ext ~ ext + M ~ ext = M ~ ges =M 2 1
ext die Summe der äußeren Drehmomente ist. Insgesamt erhalten wir ~ ges wobei M die einfache Formel d~Lges ext ~ ges =M . (13.25) dt Diese wichtige Gleichung gilt nicht nur für unser System aus zwei Punktmassen, sondern sie beschreibt ein ganz allgemeines Gesetz.
Drehimpulserhaltung für offene Systeme: Der Gesamtdrehimpuls ~Lges eines Systems, in dem als innere Kräfte Zentralkräfte wirken, ändert sich zeitlich aufgrund des Gesamtdrehmomentes, das die am System von außen angreifenden Kräfte verursachen: d~Lges ext ~ ges =M . (13.26) dt Diese Aussage gilt unabhängig davon, ob die äußeren Kräfte neben dem Drehmoment noch eine Bewegungsänderung des Schwerpunkts erzeugen (Impulssatz).
13.4 Gleichgewicht in der Bewegung 13.4.1 Schräg in der Kurve – ohne zu kippen
Die in Abschnitt 13.1 gelernte Gleichgewichtsbedingung der Statik („Summe aller äußeren Drehmomente gleich null“) lässt sich mit Hilfe des Drehimpulssatzes für offene Systeme in einen größeren Zusammenhang einordnen. Wenn die Gleichgewichtsbedingung erfüllt ist, ändert sich der Drehimpuls des Systems nicht (~L˙ ges = 0), und das bedeutet für die Tänzerin: Sie kippt nicht. Damit haben wir einen Ansatzpunkt, um unseren Begriff des Gleichgewichts von statischen auf dynamische Situationen zu erweitern. Denn, ganz ehrlich: Das
Abschnitt 13.4 Gleichgewicht in der Bewegung
385
Kasten 13.2: Zentralkräfte und Drehimpulserhaltung Warum heben sich die ersten beiden Terme in Gl. (13.24) gegenseitig auf? Nach dem dritten newtonschen Gesetz (Kraft = Gegenkraft) gilt ~ F2→1 = −~F1→2 , so dass sich die beiden Terme zu
(~r2 −~r1 ) × ~F1→2
(13.27)
zusammenfassen lassen. Dieses Vektorprodukt ist null, wenn die Kraft parallel zum Verbindungsvektor ~r2 −~r1 zwischen den beiden Körpern ist. Das ist für Zentralkräfte erfüllt, die entlang der Verbindungslinie beider Körper wirken. Viele Kräfte sind Zentralkräfte, aber nicht alle. Für magnetische Kräfte etwa kann der Ausdruck (13.27) von null verschieden sein. Der Drehimpuls ist trotzdem erhalten, denn auch das elektromagnetische Feld kann Drehimpuls tragen, und dieser muss in der Drehimpulsbilanz berücksichtigt werden. Unsere rein newtonsche Analyse reicht in diesem Fall zur Beschreibung der Drehimpulserhaltung nicht aus; der Erhaltungssatz übergreift die Grenzen der physikalischen Teildisziplinen.
statische Gleichgewicht ist für das Tanzen zwar wichtig, aber es ist auch etwas langweilig. Ballett lebt von der Bewegung, nicht vom Stillstand. Was soll der Ausdruck „Gleichgewicht in der Bewegung“ bedeuten? Er gibt die Alltagserfahrung wieder, dass Sie bestimmte Körperhaltungen, die statisch nicht stabil sind, in der Bewegung sehr wohl einnehmen können. Das bekannteste Beispiel ist die Schräglage in der Kurve. Wenn Sie einen Bogen laufen, dann neigen Sie Ihren Körper schräg nach innen. Sie kippen dabei nicht, obwohl sie die Schräglage statisch nicht aufrechterhalten könnten. Tanzfiguren, bei denen Gleichgewicht nur in der Bewegung herrscht, können Sie statisch nicht üben. Sie „funktionieren“ nur dynamisch. Schauen Sie sich die Körperhaltung des Tänzers in Abb. 13.18 an. Auf den ersten Blick ist zu erkennen: Statisches Gleichgewicht herrscht hier nicht. Sie sehen dem Foto an, dass es sich um die Momentaufnahme einer Bewegung handelt. Der Körperschwerpunkt liegt nicht im entferntesten oberhalb des Fußes. In einer statischen Situation würde der Tänzer nach der oben formulierten Kippbedingung umfallen. Was es bedeutet, wenn sich Kräfte oder Drehmomente nicht zu null addieren, wissen Sie: Der Körper wird beschleunigt. Wenn wir im Folgenden versuchen, die Bedingungen für das Gleichgewicht des Tänzers herauszufinden, müssen wir uns mit beschleunigten Bewegungen und mit Drehbewegungen ausgedehnter Systeme befassen. 13.4.2 Dynamik ausgedehnter Systeme – Zusammenstellung bisheriger Resultate
Die Analyse des Gleichgewichts in der Bewegung erlaubt es uns, abschließend noch einmal alles zusammenzutragen und anzuwenden, was wir im Verlauf der vorangegangenen Kapitel über Systeme gelernt haben, die sich nicht ein-
386
Kapitel 13 Gleichgewicht und Drehbewegungen – Ein Ballett-Divertissement
Abb. 13.18: Hier herrscht kein statisches Gleichgewicht.
fach als Punktmassen modellieren lassen, also über ausgedehnte Systeme. Allgemein gelten die folgenden Erhaltungssätze. (1) Impulssatz für offene Systeme: Für die Bewegung des Schwerpunkts eines ausgedehnten Systems (Gesamtmasse m) gilt die newtonsche Bewegungsgleichung ext m ~r¨S = ~Fges . (13.28) (2) Drehimpulssatz für offene Systeme: Der Drehimpuls eines ausgedehnten Systems ändert sich zeitlich gemäß der Gleichung ext ~L˙ ges = M ~ ges ,
(13.29)
deren Voraussetzungen bei Gl. (13.26) angeführt sind. Aus unserem Methodenarsenal stünde uns noch der Energieerhaltungssatz für offene Systeme (7.27) zur Verfügung, den wir allerdings für unsere Untersuchung nicht benötigen werden. Dafür vereinfachen wir unser Modell des Tänzers, indem wir ihn als starren Körper betrachten. Dessen Drehimpuls ist mit der Winkelgeschwindigkeit durch die Beziehung (13.16) verknüpft:
~Lges = Θ · ω ~.
(13.30)
387
Abschnitt 13.4 Gleichgewicht in der Bewegung
y s sin f x ®
FG s cos f
s f Abb. 13.19: Koordinatenachsen, Winkel und Strecken, die bei der Kräfte- und Drehmomentberechnung benötigt werden
®
®
FN
FR
Das Handwerkszeug für unsere Berechnung liegt nun bereit. Wir wählen das Koordinatensystem so wie in Abb. 13.19 gezeigt; der Koordinatenursprung wird in den Schwerpunkt des Tänzers gelegt. Die Länge der Strecke zwischen Fuß und Schwerpunkt wird mit s bezeichnet, ihr Winkel zur Vertikalen mit φ. Kräfte werden positiv wie eingezeichnet gerechnet. Gesuchte und gegebene Größen Vor Beginn einer Berechnung sollte man sich darüber Rechenschaft ablegen, welche der in den Gleichungen auftretenden Größen gesucht werden und welche bekannt sind. Die lineare Bewegung des Schwerpunkts (die sogenannte Translationsbewegung) wird von der newtonschen Gleichung (13.28) beschrieben. Anders als in den meisten Problemen der Mechanik wird die Beschleunigung ~a (=~r¨S ) vom Tänzer willentlich bestimmt. Er kann sich mit seinem Fuß so fest vom Boden abstoßen, wie er möchte, und kann damit die Beschleunigung bestimmen. Der Boden drückt zurück, die Normalkraft ~FN und die Haftreibungskraft ~FR stellen sich entsprechend ein (vgl. Kapitel 5). Sie lassen sich mit der newtonschen Gleichung berechnen. Stärker interessiert uns allerdings die Rotationsbewegung um den Schwerpunkt. Wir betrachten nur das Kippen und nehmen an, dass der Tänzer nicht auch noch wie bei einer Schraube um seine Körperachse rotiert. Wir möchten erfahren: Gibt es bei vorgegebener Schwerpunktsbeschleunigung ~a einen Winkel φ0 , unter dem der Tänzer im Gleichgewicht ist und nicht kippt? Genauer
388
Kapitel 13 Gleichgewicht und Drehbewegungen – Ein Ballett-Divertissement
formuliert: Können wir einen Winkel φ0 finden, für den die Winkelgeschwindigkeit des Tänzers ihren Anfangswert ω = 0 behält? Kann der Tänzer dieses Gleichgewicht vielleicht für jeden Winkel erreichen? Oder gar nicht? Diese Fragen werden wir im Folgenden klären. 13.4.3 Kräftebilanz
Die Kräftebilanz ist bei vorgegebener Beschleunigung einfach aufzustellen. Wir betrachten die x- und y-Komponenten getrennt. In x-Richtung wirkt nur die Haftreibungskraft, die der Boden auf den Tänzer ausübt. Sie hängt mit seiner Horizontalbeschleunigung a x nach Gl. (13.28) wie folgt zusammen: m · a x = FR .
(13.31)
Diese Beziehung leuchtet ein: Möchte der Tänzer seinen Schwerpunkt horizontal beschleunigen, muss dazu auf seinen Körper eine horizontale Kraft wirken. Für die Vertikale gilt: m · ay = FN − FG .
(13.32)
Beschleunigt der Tänzer nach oben (ay > 0), ist die Normalkraft größer als die Gewichtskraft: FN = FG + m · ay . (13.33) 13.4.4 Drehimpuls und Drehmomente
Für die Drehimpulsbilanz liest man die Drehmomente der am Körper angreifenden Kräfte aus Abb. 13.19 ab. Da alle Kräfte in der x-y-Ebene wirken, hat das Drehmoment nur eine z-Komponente. Linksdrehende Drehmomente werden in der Bilanz positiv gerechnet, so wie auch für den Winkel φ der mathematisch positive Drehsinn gilt. Bezüglich des Schwerpunkts ist das Drehmoment der Gewichtskraft null, denn ihr Hebelarm verschwindet. Das Drehmoment der Normalkraft hat den Wert FN · s sin φ („Kraft · Hebelarm“), das der Reibungskraft − FR · s cos φ. Mit Gl. (13.29) und (13.30) und der Beziehung ω = φ˙ lautet der Drehimpulssatz: Θ · φ¨ = FN · s sin φ − FR · s cos φ.
(13.34)
Dies ist eine nichtlineare (und daher komplizierte) Differentialgleichung für die Funktion φ(t). Wir werden sie nicht explizit lösen, sondern die Struktur der Lösung diskutieren. 13.4.5 Statisches Umfallen
Um ein „Gefühl“ für die durch Gl. (13.34) beschriebene Physik zu bekommen, untersuchen wir zuerst einen Fall, den wir schon kennen: das statische Gleichgewicht der Tänzerin im Passé (Abb. 13.2). Sie versucht, nicht zu beschleunigen (a x = ay = 0), so dass nach Gl. (13.31) und Gl. (13.33) FN = FG = m · g
389
Abschnitt 13.4 Gleichgewicht in der Bewegung
f > 0, w > 0 Drehgeschwindigkeit nimmt nach links zu
f = 0, w = 0
f < 0, w < 0
Drehgeschwindigkeit bleibt konstant (= 0)
Drehgeschwindigkeit nimmt nach rechts zu
f
f
Abb. 13.20: Winkel und Winkelgeschwindigkeit für die unbeschleunigte Tänzerin
gilt und die horizontale Reibungskraft FR null ist. Die Differentialgleichung (13.34) wird dann zu: s·m·g φ¨ = sin φ. (13.35) Θ } | {z = konst. > 0
Diese Differentialgleichung trägt den Namen des „invertierten Pendels“, und dieser Name gibt eine ganz anschauliche Vorstellung vom Charakter der Lösung. Sie beschreibt z. B. auch den Bleistift, den Sie senkrecht auf der Fingerspitze balancieren (falls Sie das schaffen). Um die Gleichung zu interpretieren, betrachten wir nur ihre Grundstruktur: ω˙ ∼ sin φ,
(13.36)
wobei die Proportionalitätskonstante positiv ist. Für den uns interessierenden Bereich −π/2 < φ < +π/2 (also zwischen −90◦ und +90◦ ) können wir ablesen: Nur wenn φ den Wert null hat, ist die rechte Seite gleich null, so dass die Winkelgeschwindigkeit ω der Tänzerin konstant bleibt. Wenn zu Beginn ω = 0 gilt, dann bleibt es in diesem Fall dabei (Abb. 13.20 Mitte). Das ist die wohlbekannte Bedingung für das Drehmomentgleichgewicht: Liegt der Schwerpunkt genau über dem Fuß, fällt die Tänzerin nicht um. Mit der Differentialgleichung lässt sich nun auch begründen, warum es sich um ein instabiles Gleichgewicht handelt. In Abb. 13.20 sehen sie links und rechts, was bei einer kleinen Störung des Gleichgewichts geschieht. Wenn φ > 0 ist (leichte Neigung nach links), wird nach Gl. (13.36) ω˙ > 0, d. h. die Winkelgeschwindigkeit wächst an. Dadurch wird φ größer, und im Gegenzug wächst
390
Kapitel 13 Gleichgewicht und Drehbewegungen – Ein Ballett-Divertissement
ω noch stärker an (die rechte Seite von Gl. (13.36) wird größer). Die kleinste Störung „schaukelt sich auf“. Jede noch so kleine Abweichung vom Gleichgewichtswert φ = 0 führt dazu, dass sich das System vom Gleichgewicht weg bewegt. Dies ist das allgemeine Kennzeichen eines instabilen Gleichgewichts. Die Tänzerin muss durch die weiter oben besprochenen Körperbewegungen das Gleichgewicht immer wieder aufs Neue aktiv herstellen. 13.4.6 Schräglage in der Bewegung
Der allgemeine Fall, das Gleichgewicht in der beschleunigten Bewegung, lässt sich ganz ähnlich diskutieren. Auch hier fragen wir, ob es (für vorgegebene Horizontal- und Vertikalbeschleunigungen a x und ay ) einen Wert des Neigungswinkels φ gibt, für den Gleichgewicht herrscht. Einsetzen in Gl. (13.34) zeigt, dass die Funktion φ(t) = konst. eine Lösung der Differentialgleichung ist, wenn die rechte Seite der Gleichung null ist: FN · s sin φ − FR · s cos φ = 0,
(13.37)
und damit ergibt sich die Bedingung für das Gleichgewicht in der Bewegung tan φ =
FR . FN
(13.38)
Sie lässt sich geometrisch sehr einfach interpretieren: Damit die Körperneigung in der Bewegung stabil ist, muss die Resultierende aus Normalkraft und Haftreibungskraft von ihrem Angriffspunkt zum Körperschwerpunkt hin zeigen. In Abb. (13.21) ist die Gleichgewichtsbedingung für eine Situation aus dem Sport illustriert, wo unsere Analyse natürlich auch gültig ist. Die Vektorsumme aus Normal- und Haftreibungskraft entspricht der Gesamtkraft, die der Boden auf den Läufer ausübt (rosafarbener Pfeil). Anhand der Abbildung können Sie sich eine weitere Interpretation der Gleichgewichtsbedingung verdeutlichen: Im Gleichgewicht muss das Drehmoment dieser Gesamtkraft bezüglich des Körperschwerpunkts verschwinden. Beispielaufgabe: Schätzen Sie die horizontale Kraft ab, mit der sich der Läufer in Abb. 13.21 vom Startblock abstößt. Nehmen Sie eine Gewichtskraft von 700 N an (entsprechend einer Masse von ca. 70 kg). Lösung: Aus der Abbildung kann man den Winkel φ zu 42◦ bestimmen. Löst man die Gleichgewichtsbedingung (13.38) nach der gesuchten Größe FR auf, ergibt sich
FR = FN · tan φ = 700 N · tan 42◦ = 630 N. Die beschleunigende Kraft ist also nicht viel geringer als die Gewichtskraft.
(13.39)
Abschnitt 13.4 Gleichgewicht in der Bewegung
391
Abb. 13.21: Grafische Veranschaulichung der Gleichgewichtsbedingung. Die Verbindungslinie zwischen Fuß und Körperschwerpunkt (strichpunktierte Linie) muss mit der Resultierenden aus Normal- und Reibungskraft ~ FN + ~FR zusammenfallen.
Bei der Analyse des statischen Falls stellte sich heraus, dass das Gleichgewicht instabil war. Auch für den allgemeinen Fall kann man fragen: Führen kleine Störungen des Gleichgewichts wieder zum Gleichgewichtszustand zurück oder davon weg? Die Stabilitätsanalyse ist nun nicht mehr so einfach, aber sie ergibt das gleiche Resultat: Das Gleichgewicht ist unstabil. Die kleinste Abweichung vom Gleichgewichtswinkel führt vom Gleichgewicht weg. Der Körper muss aktiv eingreifen, um das Umkippen zu verhindern. 13.4.7 Schräglage beim Laufen, Gehen und Fahren
Die Aussage der Gleichgewichtsbedingung lässt sich auch andersherum lesen. Wie ist es überhaupt möglich, eine horizontale Kraft auf den Boden auszuüben, um etwa eine Vorwärts- oder Seitwärtsbewegung einzuleiten? Unsere Rechnung zeigt: Ohne zu kippen geht das nur in Schräglage. Der Tänzer in Abb. 13.19 kann bei aller Körperkontrolle seinen Neigungswinkel nicht selbst bestimmen. Soll am Fuß eine Haftreibungskraft ~FR nach links wirken, so muss auch der Körper nach links geneigt sein. Ebenso wenig kann der Sprinter in Abb. 13.21 die Schräglage seines Körpers ändern. Es wird ihm nicht gelingen, in senkrechter Körperhaltung mit der gleichen Horizontalbeschleunigung zu starten. Wer beschleunigen will, muss sich nach vorn neigen, und wer abbremst, neigt sich nach hinten. Comiczeichner nützen das intuitive Wissen um diesen Zusammenhang, um Bewegungen zu verdeutlichen. Selbst bei einem so alltäglichen Vorgang wie dem Gehen spielt die Schräglage in der Bewegung eine Rolle. Probieren Sie es aus: Man beginnt das Gehen durch Vornüberkippen des Körpers, bis man eine Kraft in horizontaler Richtung auf den Boden ausüben kann. Ohne Kippen kein Gehen. Die treffendste Formulierung dieses Sachverhalts stammt von dem Polizisten Xaver Bartl aus der bayerischen Fernsehserie „München 7“: „Die beste Art zu gehen ist, indem man durch Vorwärtsbewegung vermeidet, dass man umfällt.“
392
Kapitel 13 Gleichgewicht und Drehbewegungen – Ein Ballett-Divertissement
Abb. 13.22: Beschleunigen „aus dem Stand“
Im modernen Ballett wird eine trickreiche Methode benutzt, um sich aus dem Stand ganz unvermittelt in Bewegung zu setzen. Das Körpergewicht liegt auf den Fußspitzen, und man steht leicht nach vorn geneigt, so dass der Körperschwerpunkt über den Zehen liegt (links in Abb. 13.22). Nun verlagert man, ohne dass es für das Publikum sichtbar wäre, das Körpergewicht auf die Ferse (rechts in Abb. 13.22). Sofort wirkt eine horizontale Kraft ~FR , denn die Steuerungsmechanismen des Körpers lassen das Umkippen nicht zu und sorgen dafür, dass die Gleichgewichtsbedingung erfüllt ist. Ohne die sonst unvermeidliche Kippbewegung nach vorn setzt sich der Tänzer in Bewegung und erzeugt dadurch einen abrupten, automatenhaften Bewegungseindruck. Autos, Fahrräder und Motorräder legen sich zum Beschleunigen nicht in eine Schräglage. Das resultierende Drehmomentungleichgewicht können sie ausgleichen, weil sie im Gegensatz zum Läufer oder Tänzer mehrere Kontaktpunkte mit der Straße (Vorder- und Hinterräder) besitzen. Beim Beschleunigen werden die Hinterräder stärker belastet, beim Abbremsen die Vorderräder. Das Auto führt eine entsprechende „Nickbewegung“ aus, die man z. B. in Abb. 5.13 auf S. 102 deutlich erkennen kann. Wenn leistungsstarke Motorräder beschleunigen, kann es geschehen, dass die Resultierende aus Haftreibungskraft und Normalkraft unterhalb des Schwerpunkts verläuft. Das Vorderrad hebt dann vom Boden ab. Unter dem Winkel, den die Gleichgewichtsbedingung vorgibt, kann man über längere Zeit einen „Wheelie“ fahren. 13.4.8 Schräglage in der Kurve
Als Fahrradfahrer wissen Sie: In einer Kurve muss man sich schräg legen. Ohne Schräglage kommt man nicht um die Kurve, man kippt nach außen. Abb. 13.23 zeigt, dass der Neigungswinkel nicht beliebig ist. Alle Radfahrer in der Gruppe haben die gleiche Schräglage eingenommen. Es muss also eine Gesetzmäßigkeit geben. Mit unserer Analyse des Gleichgewichts in der Bewegung können wir eine Regel für den Neigungswinkel bei der Kurvenfahrt finden. Es handelt sich einfach um einen Spezialfall des bisher Erarbeiteten.
Abschnitt 13.4 Gleichgewicht in der Bewegung
393
Abb. 13.23: Schräglage in der Kurve beim Fahrradfahren
Da die Radfahrer auf einer Kreisbahn fahren, muss es eine Kraft geben, die als Zentripetalkraft wirkt. In diesem Fall ist es die Haftreibungskraft des Bodens, die das Fahrrad auf eine Kreisbahn lenkt. Im Winter können Sie dies experimentell nachvollziehen. Das Geradeausfahren bei Glatteis funktioniert erstaunlich gut – der Boden übt auch dann bereitwillig eine nach oben gerichtete Normalkraft auf die Reifen aus, wenn er vereist ist. Sie stürzen erst dann, wenn Sie versuchen zu bremsen oder eine Kurve zu fahren. Der vereiste Boden weigert sich, horizontal gerichtete Reibungskräfte auszuüben. Im Sommer ist das alles kein Problem, und Sie können schräg durch die Kurve fahren. Wir setzen in der Gleichgewichtsbedingung (13.38) FN = m · g und identifizieren FR mit der Zentripetalkraft (A.33) FZP = m ·
v2 . R
(13.40)
Damit ergibt sich für den Gleichgewichtswinkel in der Kurve: tan φ =
v2 . R·g
(13.41)
Je enger die Kurve ist (je kleiner R), umso schräger müssen Sie hindurchfahren. Der Gleichgewichtswinkel hängt aber auch von der Geschwindigkeit ab, mit der Sie die Kurve durchfahren. Schnelleres Kurvenfahren erfordert eine größere Schräglage. Achten Sie beim Fahrradfahren einmal darauf, auf welche Weise Sie eine Kurvenfahrt einleiten. Sie schlagen den Lenker kurz in die Gegenrichtung ein, um dadurch in die richtige Schräglage zu gelangen.
394
Kapitel 13 Gleichgewicht und Drehbewegungen – Ein Ballett-Divertissement
13.5 Kräfte am starren Körper Die in diesem Kapitel gewonnenen Kenntnisse über ausgedehnte und starre Körper erlauben es uns, einige Fragen zu beantworten, die bisher offen geblieben waren, weil sie im Rahmen eines reinen Punktmassenmodells gar nicht sinnvoll zu stellen waren. Darf man den Angriffspunkt einer Kraft verschieben? Bei Punktmassen stellt sich die Frage nicht, denn nach der Modellannahme besitzt der Körper nur einen Ort, an dem eine Kraft angreifen kann. Bei ausgedehnten Körpern ist das anders, und hier lautet die Antwort auf die Frage: Im Allgemeinen dürfen Sie das nicht. So beruht etwa die ganze Aussage des Hebelgesetzes gerade darauf, dass es einen Unterschied macht, ob eine Kraft mit einem langen oder einem kurzen Hebelarm angreift. Technisch gesprochen: Durch Verschieben des Angriffspunktes ändert sich im Allgemeinen das Drehmoment, das die Kraft am Körper hervorruft. Es gibt jedoch eine genau umschriebene Ausnahme vom Verbot, den Angriffspunkt einer Kraft zu verschieben: Am starren Körper darf man eine Kraft entlang ihrer Wirkungslinie verschieben. Die Bewegung eines starren Körpers wird vollständig durch die Bewegungsgleichungen (13.28) und (13.29) beschrieben. Für seine Bewegung sind demnach allein die Summe aller äußeren Kräfte und das Gesamtdrehmoment relevant. Beide Größen ändern sich nicht, wenn man die Kraft entlang ihrer Wirkungslinie verschiebt (der Hebelarm der Kraft bleibt konstant, und damit auch ihr Drehmoment). Etwas plastischer kann man sich den Sachverhalt mit der folgenden geometrischen Argumentation veranschaulichen. Auf einen starren Körper soll die in Abb. 13.24 links oben eingezeichnete Kraft ~F1 wirken. Der starre Körper kann sich nicht verformen. Deshalb hat es keine Auswirkung, wenn man entlang der Wirkungslinie dieser Kraft zwei zusätzliche Kräfte ~F2 und ~F3 angreifen lässt, die gleich groß und entgegengesetzt gerichtet sind.
+
®
F1
=
®
F2
®
F1
®
®
F2
®
F3
F3
=
®
F2
Abb. 13.24: Geometrische Argumentation zum Verschieben einer Kraft am starren Körper
395
Abschnitt 13.5 Kräfte am starren Körper
Die beiden an einem Punkt angreifenden, entgegengesetzt gerichteten Kräfte ~F1 und ~F3 heben sich in ihrer Wirkung gegenseitig auf, so dass am Ende nur noch ~F2 übrig bleibt. Diese Kraft ist aber nichts anderes als die ursprüngliche Kraft ~F1 , entlang ihrer Wirkungslinie verschoben. Das Verschieben entlang der Wirkungslinie ändert also beim starren Körper nicht die Wirkung der Kraft. Die Wirkung einer Kraft, die nicht am Schwerpunkt angreift Eine Kraft, die am Schwerpunkt eines starren Körpers angreift, ruft eine reine Translationsbewegung hervor. Ihr Drehmoment bezüglich des Schwerpunkts ist null, und daher ändert sie den Drehimpuls des Körpers nicht. Greift die Kraft dagegen außerhalb des Schwerpunkts an, so verursacht sie eine Kombination aus Translations- und Rotationsbewegung (probieren Sie es an dem Stift aus, der vor Ihnen auf dem Tisch liegt). Um diese Bewegung zu beschreiben, können Sie natürlich einfach die Gleichungen (13.28) und (13.29) lösen. Aber auch hier gibt es eine einfachere Veranschaulichung. Wir betrachten den Körper in Abb. 13.25, an dem die Kraft ~F1 angreift. Wieder addieren wir ein wirkungsloses Paar von Kräften ~F2 und ~F3 , die beide am Schwerpunkt angreifen. Nun teilen wir die drei Kräfte gedanklich auf, wie in der Abbildung unten gezeigt. Die Kraft ~F3 greift am Schwerpunkt an und ruft eine Translationsbewegung ohne Rotationsbewegung hervor. Das Kräftepaar ~F1 und ~F2 dagegen hat keine Auswirkung auf die Translationsbewegung des Körpers, erzeugt aber ein Drehmoment. Mit dieser gedanklichen Aufteilung können Sie Translations- und Rotationsbewegung getrennt untersuchen. Beim Beschleunigen verrichtet die Kraft ~F1 Arbeit am Körper. Greift sie außerhalb des Schwerpunkts an, bewirkt sie zusätzlich zur Schwerpunktsbewegung noch eine Rotationsbewegung des Körpers. Diskutieren Sie, wo die zusätzliche Energie für die Rotationsbewegung herkommt. Achtung, diese Aufgabe ist knifflig. ®
®
F1
F1
®
=
®
F2
F3
®
= Abb. 13.25: Wirkung einer Kraft, die nicht am Schwerpunkt angreift
®
F3 Kraft am Schwerpunkt
+
F1 ®
F2 Drehmoment eines Kräftepaars
396
Kapitel 13 Gleichgewicht und Drehbewegungen – Ein Ballett-Divertissement
Mehrere Kräfte, die an einem starren Körper angreifen Auch wenn mehrere Kräfte an einem starren Körper angreifen, lässt sich ihre Wirkung immer auf eine am Schwerpunkt angreifende Gesamtkraft und ein Kräftepaar reduzieren. Für jede der angreifenden Kräfte wird die entsprechende Aufteilung nach Abb. 13.25 vorgenommen. Anschließend bildet man die Summe der am Schwerpunkt angreifenden Kräfte und der Drehmomente.
13.6 Unmögliche Ballettsprünge Wir haben in diesem Kapitel einige Figuren aus dem Ballett kennengelernt, die zwar in der Ausführung erstaunlich aussehen, die sich aber alle mit den Gesetzen der Physik vertragen. Es gibt aber auch Grenzen der Bewegung. Im Folgenden einige Beispiele, bei denen die Physik sagt: „Das geht nicht“. Man kann nicht um die Kurve springen Wenn die Füße einer Tänzerin den Boden verlassen haben, kann sie die Bewegung ihres Schwerpunkts nicht mehr beeinflussen (Abb. 13.26). Während
Abb. 13.26: Während des Sprungs kann man weder die Parabelbahn des Körperschwerpunkts noch den Drehimpuls ändern.
Abschnitt 13.6 Unmögliche Ballettsprünge
397
eines Sprungs wirkt (abgesehen vom Luftwiderstand) nur noch die Schwerkraft, die den Schwerpunkt auf eine Wurfparabel zwingt. In horizontaler Richtung wirkt keine Kraft, und so bewegt sich der Schwerpunkt der Tänzerin nach dem Trägheitsgesetz geradeaus. Prinzipiell könnte man wie beim Grand Jeté (vgl. Kapitel 2) durch Verlagerung des Körperschwerpunkts erreichen, dass es so aussieht, als bewege sich der Körper auf einer gekrümmten Bahn. Bei gedrehten Sprüngen wie dem Tour jeté erscheint dies auf den ersten Blick durch Verschieben der Drehachse weg vom Körperschwerpunkt möglich. Wie wir gleich sehen werden, wird leider gerade Letzteres durch die Gesetze der Drehbewegung verhindert. Bei einem Sprung muss die Drehachse durch den Schwerpunkt verlaufen Es gibt im Ballett eine ganze Reihe von Sprüngen mit Drehungen. Ihnen allen ist gemeinsam, dass die Drehachse durch den Körperschwerpunkt verläuft. Man kann sich während des Sprungs nicht um eine Achse drehen, die nicht durch den Körperschwerpunkt verläuft. Die Aussage lässt sich leicht begründen. Wie auch immer die Tänzerin ihren Sprung ansetzt: In dem Moment, in dem die Füße vom Boden abheben und nur noch die Schwerkraft auf ihren Körper wirkt, bewegt sich nach der Bewegungsgleichung (13.28) der Schwerpunkt entlang einer Wurfparabel – unabhängig von einer wie auch immer gearteten Rotation des Körpers. Das impliziert aber, dass der Körperschwerpunkt an der Rotationsbewegung nicht teilnimmt. Folglich muss die Drehachse durch ihn verlaufen. Punkte außerhalb der Drehachse beschreiben komplizierte (Zykloiden-) Bahnen. Ganz allgemein gilt: Die Drehachse eines frei beweglichen Körpers (dem nicht durch eine feste Stange eine Drehachse aufgezwungen wird) verläuft immer durch den Schwerpunkt. Man kann eine Drehung nicht im Sprung beginnen Um den Körper in Drehung zu versetzen, muss ein Drehmoment auf ihn wirken. Aus den schon mehrfach genannten Gründen ist dies nur am Boden möglich, nicht während des Sprungs. Nach dem Absprung bleibt der Drehimpuls des Körpers konstant. Allerdings kann man wieder den Pirouetteneffekt nutzen. Das geschieht z. B. beim Tour jeté. Das Trägheitsmoment des Körpers beim Absprung ist groß, die Drehgeschwindigkeit daher klein. In der Luft wird durch Zusammenführen der Beine das Trägheitsmoment verkleinert und dadurch die Rotationsgeschwindigkeit erhöht. Der optische Eindruck ist, dass die Drehung des Körpers während des Sprungs plötzlich einsetzt. Auch fallende Katzen, die ja bekanntlich immer auf den Füßen landen, sind von dem Verdikt betroffen. Sie ändern während des Fallens nicht den Drehimpuls ihres Körpers, sondern nur seine Lage im Raum. Sie nutzen den Pirouetteneffekt zuerst für ihren Vorderkörper, dann noch einmal für ihren Hinterkörper, und bringen sich auf diese Weise in zwei Schritten in die richtige Landeposition (Abb. 13.27).
398
Kapitel 13 Gleichgewicht und Drehbewegungen – Ein Ballett-Divertissement
Abb. 13.27: Wenn der Hinterkörper durch die gestreckten Hinterbeine ein großes Trägheitsmoment hat, lässt sich der Vorderkörper leicht drehen. Im zweiten Schritt wird dann mit gestreckten Vorderbeinen auch noch der Hinterkörper in die richtige Position gedreht.
Dass dies gut zu funktionieren scheint, belegt eine 1987 erschienene Studie aus New York, wo offenbar öfter einmal Katzen aus Hochhäusern fallen. Von den 132 in eine dortige Tierarztpraxis eingelieferten Katzen, die durchschnittlich 5,5 Stockwerke tief gefallen waren, überlebten 90%. Auch der Rekordhalter mit 32 Stockwerken kam mit leichten Verletzungen davon (Whitney & Mehlhaff, 1987). Sehr wahrscheinlich wird die Statistik allerdings durch Auswahleffekte verfälscht: Tote Katzen werden einfach weniger häufig in eine Tierarztpraxis eingeliefert.
13.7 Kreisel Kaum jemand kann sich der Faszination entziehen, die vom merkwürdigen Bewegungsverhalten eines Kreisels ausgeht – auch nicht die bedeutendsten Physiker sind davor gefeit (Abb. 13.29). Eine Darstellung der Physik von Drehbewegungen wäre unvollständig, wenn der Kreisel darin fehlte (selbst wenn die physikalischen Kreiseleffekte im Ballett keine Rolle spielen). Schon über die einfachste Beobachtung am Kreisel muss man sich wundern: seine eigenartige Stabilität. Solange er sich schnell genug dreht, trotzt seine Drehachse der Gravitation und bleibt aufrecht (Abb. 13.28). Höchstens vollführt sie eine kreisende Bewegung um die Vertikale. Sie können den Kreisel sogar etwas anstoßen – er wird nicht umfallen, sondern, gewissermaßen leicht empört, mit einer schlingernden Bewegung reagieren.
Abschnitt 13.7 Kreisel
399
Abb. 13.28: Spielzeugkreisel
Abb. 13.29: Wolfgang Pauli und Niels Bohr bei der wissenschaftlichen Untersuchung der Kreiselbewegung
Eine Warnung am Anfang: Kreisel sind kompliziert. Alle Ihre Versuche, sich auf physikalische Weise damit zu beschäftigen, werden zwangsläufig fragmentarisch bleiben (es sei denn, Sie vertieften sich in das vierbändige Werk von Felix Klein und Arnold Sommerfeld über die Theorie des Kreisels, in dem das am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts bekannte Wissen über Kreisel dargestellt wurde). Im Bewusstsein der notwendigen Bescheidung sollen im Folgenden nur die einfachsten Fälle diskutiert werden. 13.7.1 Kräftefreier Kreisel
Ein Kreisel, auf den kein Drehmoment wirkt, heißt kräftefreier Kreisel. Kräftefrei ist ein Kreisel, wenn er im Schwerpunkt gelagert oder kardanisch aufgehängt ist (Abb. 13.30). Aufgrund der Drehimpulserhaltung ist sein Drehimpuls konstant. Sofern man den Kreisel bestimmungsgemäß benutzt, d. h. ihn so in Rotation versetzt, dass die Drehachse mit seiner Symmetrieachse zusammenfällt, folgt aus der Drehimpulserhaltung, dass die Drehachse ihre Lage
400
Kapitel 13 Gleichgewicht und Drehbewegungen – Ein Ballett-Divertissement
im Raum beibehält. Den kardanisch aufgehängten Kreisel in Abb. 13.30 können Sie im Raum verschieben, Sie können seine Aufhängung in alle Richtungen drehen – er wird seine Drehachse immer beibehalten. Dies wird z. B. beim Kreiselkompass zur Navigation von Schiffen und Flugzeugen ausgenutzt. 13.7.2 Nutation beim kurzen Anstoßen eines Kreisels
Wenn Sie den Kreisel durch einen kurzen Stoß stören, reagiert er darauf mit den schon erwähnten Taumel- oder Schlingerbewegungen. Diese Bewegung bezeichnet man als Nutation (vom lateinischen Wort für nicken oder schwanken). Durch den Stoß haben Sie den Drehimpuls etwas verändert, so dass danach die Richtung der Rotationsachse nicht mehr mit der Richtung des Drehimpulses zusammenfällt. Es resultiert die Nutationsbewegung des Kreisels. 13.7.3 Präzession beim dauerhaften Einwirken einer Kraft
Von der Nutation (beim kurzzeitigen Einwirken einer Kraft) muss man die Präzession unterscheiden. Von Präzession spricht man beim dauerhaften Einwirken einer Kraft, die ein Drehmoment erzeugt und daher den Drehimpuls des Kreisels ständig ändert. In Reinform wird die Präzession in einem Versuch sichtbar, dessen Ergebnis der Alltagserfahrung in verblüffender Weise widerspricht. Ein Kreisel mit horizontaler Drehachse ist frei drehbar im Schwerpunkt seiner Aufhängung gelagert (Abb. 13.31). Wird der Kreisel in Gang gesetzt, behält er aufgrund der Drehimpulserhaltung seine Rotationsachse zunächst bei. Nun wird ein kleines Massestück ans Ende der Aufhängungsstange gehängt. Erstaunlicherweise führt dies nicht dazu, dass sich die Stange senkt. Stattdessen beginnt die ganze Apparatur, sich in waagerechter Richtung zu drehen. Diese Drehung, die als Präzession bezeichnet wird, hält an, bis das Massestück wieder entfernt wird oder der Kreisel seinen Schwung verloren hat.
Abb. 13.30: Kreisel in kardanischer Aufhängung
401
Abschnitt 13.7 Kreisel
Abb. 13.31: Versuch zur Kreiselpräzession
Drehimpulsänderung bei der Präzession Die Erklärung des Versuchs geht vom Vektorcharakter von Drehimpuls und Drehmoment aus (Abb. 13.32). Es wirkt ein Drehmoment und dadurch ändert sich der Drehimpuls. Der Kreisel ist nicht mehr kräftefrei; durch das Massestück haben wir einen schweren Kreisel aus ihm gemacht. Der anfängliche Drehimpuls des Kreisels ist rechts in Abb. 13.32 als Vektor ~L(t) dargestellt. Nach dem Anhängen des Massestücks bewirkt dessen Ge~ Es ist in horizontaler Richtung senkrecht zur wichtskraft ein Drehmoment M. Drehachse gerichtet. Gemäß Gl. (13.26) ändert ein Drehmoment den Drehimpuls. In einem kleinen Zeitintervall ∆t beträgt die Drehimpulsänderung ~ ∆t. Entscheidend sind nun die Richtungen der beteiligten Vekto∆~L = M ren: Das Drehmoment steht senkrecht auf dem Drehimpuls (Abb. 13.32) und ändert daher nicht dessen Betrag, sondern lediglich seine Richtung. Der Drehimpulsvektor dreht sich langsam in einer waagerechten Ebene, und weil der Kreisel durch die Stange geführt wird, wandert seine Rotationsachse. Auf diese Weise kommt die Präzessionsbewegung zustande, die meist noch von einer Nutation begleitet wird. Kreisel a ®
FG
®
L
®
®
L(t+Dt)
M
Drehmoment ® der Kraft FG
Df
®
L(t) ®
®
DL = M Dt
Horizontale Präzessionsbewegung
Abb. 13.32: Drehmoment und Drehimpulsänderung beim Präzessionsversuch
402
Kapitel 13 Gleichgewicht und Drehbewegungen – Ein Ballett-Divertissement
Winkelgeschwindigkeit der Präzession Mit dem bisher Erarbeiteten können wir bestimmen, wie schnell die Präzessionsbewegung des Kreisels verläuft. In der Zeit ∆t bewegt sich der Drehimpulsvektor ~L in der Horizontalen um einen Winkel ∆φ weiter (Abb. 13.32 rechts). Aus der Geometrie liest man ab (für kleine ∆t handelt es sich näherungsweise um einen Kreisbogen): ∆L = L · ∆φ bzw. ∆L M∆t = . (13.42) L L Für die Winkelgeschwindigkeit der Präzessionsbewegung Ω = dφ/dt (die man nicht mit der Winkelgeschwindigkeit ω der Kreiselbewegung selbst verwechseln sollte) gilt daher: ∆φ =
dφ M = . (13.43) dt L In unserem Fall können wir für den Drehimpuls des Kreisels L = Θ · ω und für das Drehmoment des Massestücks M = m · g · a einsetzen und erhalten: m·g·a Ω= . (13.44) Θ·ω Die Präzessionsbewegung erfolgt also umso langsamer, je schneller der Kreisel rotiert und umso größer sein Trägheitsmoment ist. Je schwerer das Massestück und je größer der Hebelarm a ist, umso größer ist die Winkelgeschwindigkeit der Präzession. Ω=
Warum ein Kreisel nicht umfällt Mit der Präzession lässt sich die Grundbeobachtung am Kreisel erklären: dass er nicht umfällt, solange er sich dreht. Der in Abb. 13.28 gezeigte Spielzeugkreisel ist ein schwerer Kreisel, da er nicht im Schwerpunkt gelagert ist. Liegt sein Schwerpunkt nicht über dem Auflagepunkt, dann bewirkt die Gewichts~ und dieses Drehmoment ruft eine Drehimpulsändekraft ein Drehmoment M, rung hervor. Ein nicht rotierender Kreisel fällt dadurch um, wie der kippende
Abb. 13.33: Präzession und Nutation beim schweren Kreisel
Abschnitt 13.7 Kreisel
403
Tänzer weiter oben. Beim rotierenden Kreisel führt die Drehimpulsänderung dagegen nicht zum Umfallen, sondern sie erzeugt eine Präzessionsbewegung. Die Drehachse wandert (begleitet von Nutationen) auf einem Kegel um die Senkrechte (Abb. 13.33). Um den Unterschied zwischen Kippen und Präzession zu verstehen, betrachten wir noch einmal die Apparatur in Abb. 13.32. Rotiert der Kreisel nicht, dann ist der Drehimpuls zu Anfang null. Das Drehmoment erzeugt ~ besitzt, in diesem Fall aleinen Drehimpuls, der die gleiche Richtung wie M so aus der Papierebene heraus zeigt. Als Folge davon senkt sich die Stange auf der linken Seite, wie bei einer Waage. Dieses Verhalten entspricht unserer Alltagserfahrung. Rotiert der Kreisel, dann bewirkt das Anhängen des Massestücks dasselbe Drehmoment und dieselbe Drehimpulsänderung. Der Unterschied liegt darin, dass anfänglich schon ein Drehimpuls vorhanden ist und das senkrecht dazu stehende Drehmoment nur dessen Richtung ändert. Dieser in formaler Hinsicht scheinbar kleine Unterschied führt zu phänomenologisch völlig unterschiedlichem Verhalten. 13.7.4 Stabilität der Rotation beim unsymmetrischen Kreisel
Ein interessanter Effekt tritt bei unsymmetrischen Kreiseln auf. Die bisher betrachteten Kreisel waren symmetrisch. Man nennt einen Kreisel symmetrisch, wenn es eine Achse gibt, durch die mehr als zwei Symmetrieebenen verlaufen (bei einem rotationssymmetrischen Körper sind es sogar unendlich viele). Der linke Quader in Abb. 13.34, der eine quadratische Grundfläche besitzt, ist ebenfalls ein symmetrischer Kreisel (vier Symmetrieebenen durch die Längsachse). Für zwei der drei eingezeichneten Achsen ist das Trägheitsmoment gleich; Rotationsbewegungen um diese Achsen lassen sich beliebig überlagern. Dagegen ist der rechte Quader ein unsymmetrischer Kreisel, der für
Abb. 13.34: Symmetrischer und unsymmetrischer Kreisel
404
Kapitel 13 Gleichgewicht und Drehbewegungen – Ein Ballett-Divertissement
jede der drei eingezeichneten Achsen ein unterschiedliches Trägheitsmoment besitzt (siehe Abb. 13.12): m 2 m 2 m 2 Θx = a + c2 , b + c2 , a + b2 . Θy = Θz = 12 12 12
Mit einer Streichholzschachtel oder einem Verpackungskarton können Sie den folgenden erstaunlichen Effekt selbst ausprobieren: Wenn Sie den Quader rotierend in die Luft werfen, funktioniert das ohne Probleme für zwei der drei Achsen, und zwar für die mit dem größten und dem kleinsten Trägheitsmoment. Die Rotation um die Achse mit dem mittleren Trägheitsmoment ist unstabil; der Quader gerät ins Taumeln.
13.8 Die Stabilität des Fahrradfahrens Wie kommt es, dass ein Fahrrad stabil fahren kann? Diese Frage ist ein regelmäßiger Gegenstand physikalischer Stammtischgespräche. Es handelt sich um ein dankbares Thema, weil niemand Bescheid weiß und jeder eine Meinung hat. Es gibt mehrere Fraktionen: Die einen meinen, dass ein Fahrrad von der Kreiselwirkung der Räder stabilisiert wird; die anderen meinen, das sei Unsinn, und in Wirklichkeit habe es etwas mit der Biegung der Vordergabel (dem Nachlauf) zu tun. Um wenigstens die genaue Fragestellung abzuklären, muss man zwei Fälle unterscheiden: (1) die Stabilität eines frei rollenden Fahrrads ohne Fahrer und (2) diejenige eines Fahrrads, das von einem Fahrer gesteuert wird. Unridable Bikes Im Jahr 1970 versuchte der Physiker David E. H. Jones, die zweite Frage experimentell zu beantworten. In einem populär gewordenen Artikel stellte er seine Versuche vor, ein „unridable bike“ (URB) zu konstruieren. Um die Kreiseltheorie zu überprüfen, baute er das Modell URB I (Abb. 13.35 links). Dieses Fahrrad besaß vorn ein zusätzliches Rad, das gegenläufig zu den Laufrädern in Rotation versetzt werden konnte, um damit die Kreiseleffekte zunichte zu machen (den Gesamtdrehimpuls null zu erzeugen). Jones stellte fest, dass er URB I ohne Schwierigkeiten fahren konnte, mit einiger Anstrengung sogar freihändig. Damit war die Kreiseltheorie für Fall 2 widerlegt: Die Stabilität eines Fahrrads mit Fahrer beruht nicht wesentlich auf Kreiselkräften. URB III entstand aus einem normalen Fahrrad, dessen Vordergabel um 180◦ gedreht wurde, so dass ihre Biegung nach hinten zeigte. Dadurch wurde der Nachlauf vergrößert. Der Nachlauf ist der Abstand zwischen dem Punkt, in dem die Verlängerung der Lenkachse den Boden trifft und der Stelle, an dem das Vorderrad den Boden berührt (Abb. 13.36). Es stellte sich heraus, dass URB III außerordentlich stabil war und sogar ohne Fahrer über weite Strecken lief. Aus der Umkehrung dieses Effekts entstand das Modell URB IV mit negativem Nachlauf, das endlich fast unsteuerbar war (Abb. 13.35 rechts).
Abschnitt 13.8 Die Stabilität des Fahrradfahrens
405
Abb. 13.35: Die „unridable bikes“ von David E. H. Jones (aus Physics Today, September 2006, S. 52)
Wie beeinflusst der Nachlauf die Stabilität eines Fahrrads? Wenn das Fahrrad z. B. nach rechts kippt, dann dreht sich das Vorderrad bei positivem Nachlauf ebenfalls nach rechts (ein Effekt, den Sie jedes Mal beobachten können, wenn Sie ihr Fahrrad abstellen). Geschieht dies während der Fahrt, so gerät das Fahrrad in eine Rechtskurve. Hier ist eine Schräglage aber gerade stabil (siehe Abschnitt 13.4.8). Der positive Nachlauf erhöht daher die Stabilität. Stabile Fahrt ohne Fahrer Während die zweite Fragestellung durch die Versuche von Jones eine experimentelle Lösung gefunden hat, wirft die erste größere Verständnisprobleme auf. Sie können es ausprobieren: Wenn Sie Ihr Fahrrad mit einer Geschwindigkeit von etwa 20 km/h anschieben und dann loslassen, fährt es stabil weiter, bis es zu langsam wird und schließlich umfällt. Beim Fahrrad ohne Fahrer gibt es drei Geschwindigkeitsbereiche: Bei niedrigen Geschwindigkeiten ist es un-
Abb. 13.36: Der Nachlauf ist der Abstand zwischen dem Punkt, in dem die Verlängerung der Lenkachse den Boden trifft und der Stelle, an dem das Vorderrad den Boden berührt.
406
Kapitel 13 Gleichgewicht und Drehbewegungen – Ein Ballett-Divertissement
stabil, darüber gibt es einen stabilen Geschwindigkeitsbereich, und bei noch höheren Geschwindigkeiten wird es wieder unstabil. Es fällt schwer, diese Erscheinung anschaulich zu erklären. In einem fast dreißigseitigen Artikel, der im Jahr 2007 in den altehrwürdigen „Proceedings of the Royal Society“ erschien, hat eine Autorengruppe der TU Delft versucht, die Ergebnisse von 110 Jahren theoretischer Modellierungsbemühungen zusammenzufassen. Ihre Gleichungen geben die beobachteten Phänomene korrekt wieder, aber sie entziehen sich einer Interpretation. Alle oben genannten Effekte spielen beim fahrerlosen Fahrrad offenbar auf nicht entwirrbare Weise zusammen. Die Autoren schließen etwas resigniert, dass ihre Untersuchung die Frage nach der Stabilität eines fahrerlosen Fahrrads nur dadurch beantwortet, dass sie zeigt: Sie folgt aus den Gleichungen.
408
Kapitel 14 Geführte Bewegungen und Zwangskräfte – Achterbahnen
14.1 Achterbahn-Design Achterbahnen gehören zu den großen Attraktionen in Vergnügungsparks. Geschwindigkeit, Beschleunigung, Kräfte – hier kann man Physik am eigenen Leib erleben. Aber können wir die Fahrt über Berge und Täler, durch Kurven und Loopings auch physikalisch beschreiben? Sehen wir uns an, wie eine Fahrt mit der Achterbahn funktioniert. Zu Beginn der Fahrt wird der Zug von einem Kettenlift auf den höchsten Punkt der Bahn transportiert, den sogenannten Lifthügel (Abb. 14.1 oben). Hier in der Höhe haben die Achterbahnfahrer den besten Rundblick und der Zug besitzt die größte potentielle Energie. Letzteres ist entscheidend, denn diese potentielle Energie muss für die ganze Fahrt reichen. Bei einer klassischen Achterbahn besitzen die Wagen weder Antrieb noch Bremse. Während der Fahrt verringert sich die Energie des Zuges ständig durch den Luftwiderstand und die Rollreibung. Deshalb folgt dem Lifthügel meist sogleich der spektakuläre „First Drop“ (Abb. 14.1 unten). Das ist eine steile, tiefe Abfahrt, deren Hauptzweck die Erzeugung von lautem Kreischen ist. Am Ende des First Drop besitzt der Zug seine maximale Geschwindigkeit. Im Anschluss kann die Strecke noch abenteuerliche Elemente wie Loopings und enge Kurven enthalten, aber so hoch und so schnell wie am Anfang wird es nicht mehr. Eine Achterbahn ist aus verschiedenen Fahrelementen zusammengesetzt. Die Beschriftungen im Grundriss des Eurofighter Typhoon (Abb. 14.2), der im belgischen Bobbejaanland steht, zeigen einige davon: „Tal“, „Kreisel“ und „Heartline Roll“. In Abb. 14.3 und 14.4 ist zu erkennen, was sich hinter diesen Bezeichnungen verbirgt. Der Lifthügel (im Grundriss mit „Turm“ bezeichnet) ist in der Mitte von Abb. 14.4 zu sehen. Eine Besonderheit des Eurofighter: Die Wagen werden hier senkrecht nach oben geschleppt. Im First Drop geht es sofort wieder nach unten. Beim Eurofighter hat der First Drop sogar einen Überhang und führt im Winkel von 97° nach unten. Können Sie begründen, warum es bei einer Abfahrt mit Überhang nicht schneller, sondern langsamer nach unten geht als bei einer 90°-Abfahrt? Danach geht es sofort in einen Looping, der aber gar nicht rund ist (ebenso wenig wie der auf der vorhergehenden Seite gezeigte). Ist das eine Laune des Konstrukteurs oder steckt ein tieferer Grund hinter dieser gestreckten Form? Wenn wir in diesem Kapitel die Physik kennenlernen, die den Designelementen von Achterbahnen zugrunde liegt, wird auch diese Frage beantwortet werden – denn bei Achterbahnen hat fast alles mit Physik zu tun.
14.2 Energieerhaltung und Geschwindigkeit Wie immer in der Physik müssen wir Modellannahmen treffen. Wir wählen die einfachste Beschreibung: Den Zug modellieren wir als Punktmasse, die ohne Reibung über die Schiene läuft. Vom Luftwiderstand sehen wir ebenfalls ab.
Abschnitt 14.2 Energieerhaltung und Geschwindigkeit
409
Abb. 14.1: Lifthügel und First Drop der Achterbahn Colossos im Heidepark Soltau
Die erste Annahme (Punktmasse) werden wir am Ende des Kapitels wieder aufgeben, denn es gehen einige interessante physikalische Effekte verloren, wenn man von der räumlichen Ausdehnung des Zugs absieht. Die beiden anderen Annahmen vereinfachen uns die Betrachtung ungemein, denn mit ihnen können wir den Energieerhaltungssatz anwenden. In Wirklichkeit ist der Luftwiderstand eines Achterbahnzugs sogar ganz beachtlich, so dass die Näherung einer reibungsfreien Fahrt nicht allzu gut ist. Wie wir sehen werden, ist es auch möglich, die Reibung zu berücksichtigen. Wesentliche physikalische Einsichten brächte dies allerdings nicht, lediglich die Gleichungen würden komplizierter. Deshalb befassen wir uns lieber mit reibungsfreien Achterbahnen. Energieerhaltung Um den Energieerhaltungssatz anzuwenden, muss man Systemgrenzen festlegen. Wir schließen in unser System nur den Zug ein. Handelt es sich um ein abgeschlossenes System? Es wirken zwei äußere Kräfte über die Systemgrenzen hinweg: (1) die Schwerkraft, die wir über die potentielle Energie berücksichtigen und (2) die Kraft, die die Schiene auf den Zug ausübt.
410
Kapitel 14 Geführte Bewegungen und Zwangskräfte – Achterbahnen
Abb. 14.2: Grundriss des Eurofighter Typhoon
Abschnitt 14.2 Energieerhaltung und Geschwindigkeit
Abb. 14.3: 3D-Modell des Eurofighter Typhoon
Abb. 14.4: Eurofighter Typhoon: Ansicht mit Lifthügel und Looping
411
412
Kapitel 14 Geführte Bewegungen und Zwangskräfte – Achterbahnen
Um zu zeigen, dass die Kraft der Schiene auf den Wagen nicht mit einer Energieübertragung über die Systemgrenzen hinweg verbunden ist, können wir folgendermaßen argumentieren: In Abwesenheit von Reibungskräften wird sich weder die Schiene noch der Zug erwärmen. Die Schiene verliert oder gewinnt auch weder potentielle noch kinetische noch Spannenergie, wenn der Zug über sie hinwegfährt. Sie ist an der Energiebilanz des Zuges einfach unbeteiligt (diese Aussage lässt sich in Kürze auch strenger rechtfertigen). Wir können daher den Energieerhaltungssatz für abgeschlossene Systeme anwenden. Zu jeder Zeit gilt folglich: Ekin (t) + Epot (t) = konst. = Epot (Lifthügel).
(14.1)
Die Gesamtenergie ist gleich der potentiellen Energie oben auf dem Lifthügel, wo die kinetische Energie des Zuges so gut wie null ist. Wenn wir die Höhe des Lifthügels mit y0 bezeichnen, können wir auch expliziter schreiben: 1 mv2 ( t ) 2
= m · g · (y0 − y(t)) .
(14.2)
Das bedeutet: Kennt man die Höhe y(t) des Zuges zu einem bestimmten Zeitpunkt, so kann man auch die Geschwindigkeit v(t) berechnen, die der Zug in diesem Moment besitzt: q v(t) = 2g · (y0 − y(t)). (14.3)
Jeder Höhe kann man eine Geschwindigkeit zuordnen. Von anderen Variablen hängt die Zuggeschwindigkeit im reibungsfreien Modell nicht ab. Durch pures Anschauen des Achterbahnmodells in Abb. 14.3 können Sie daher schon Aussagen über die Zuggeschwindigkeiten in den verschiedenen Kreiseln, Loopings und Kurven machen. Je höher der Zug gerade ist, umso langsamer fährt er. Im „Untergeschoss“ fährt er am schnellsten. Natürlich gilt Gl. (14.3) nur unter der Annahme einer reibungsfreien Fahrt. In Wirklichkeit nimmt ja die Energie mit der gefahrenen Strecke ab. Aber die Grundregel „oben langsam, unten schnell“ kann man sich trotzdem merken. Beschleunigung und Zwangskräfte Der Energiesatz erlaubt uns die Vorhersage der Zuggeschwindigkeit an jeder Stelle der Achterbahn. Können wir damit die Achterbahn physikalisch „abhaken“? Dass dem nicht so ist, sehen Sie an der folgenden Fragestellung: Betrachten Sie den Achterbahnzug in Abb. 14.5. Er wird gleich durch ein parabelförmiges Tal fahren. Wie groß ist die maximale Beschleunigung, die die Insassen aushalten müssen? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Wir sind es gewohnt, Beschleunigungen über die Formel F = m · a aus den wirkenden Kräften zu berechnen. Aber in diesem Fall kennen wir die Kräfte gar nicht. Wir wissen nicht, wie groß die Kraft ist, die die Schiene beim Durchfahren des Tals auf den Zug ausübt. Aus der Erfahrung kann man nur sagen, dass sie größer als die Gewichtskraft ist. Auch hängt sie sicher vom Tempo ab, mit dem der Zug das Tal durchläuft. Je schneller er das Tal durchfährt, umso größer ist die Kraft.
Abschnitt 14.3 Die Geometrie geführter Bewegungen
413
Abb. 14.5: Wie groß sind die Kräfte auf die Insassen, wenn der Zug durch das Tal fährt?
Mit unseren bisherigen Mitteln ist die Frage nicht zu beantworten. Der Grund ist, dass es sich bei der Achterbahnfahrt um eine geführte Bewegung handelt, bei der ein Körper gezwungen wird, entlang einer vorgegebenen Bahn zu laufen. Die Kräfte, die dies bewirken, nennt man Zwangskräfte. Für sie gelten zwar immer noch die newtonschen Gesetze, aber wir haben noch nicht das begriffliche und mathematische Rüstzeug, um sie auch auf den Fall geführter Bewegungen anzuwenden. Damit wollen wir uns im Folgenden beschäftigen.
14.3 Die Geometrie geführter Bewegungen 14.3.1 Tangenten- und Normalenvektor einer Kurve
Abb. 14.6 zeigt eine dreidimensionale Kurve. Der eingezeichnete Körper soll wie eine aufgefädelte Perle gezwungen sein, sich entlang dieser Kurve zu bewegen. Wir fragen zunächst nicht nach Kräften oder anderen physikalischen Größen, sondern einfach danach, wie diese Bewegung mathematisch darzustellen ist. Mit der elementaren Differentialgeometrie stellt uns die Mathematik ein leistungsfähiges Hilfsmittel zur Verfügung. Kurven im Raum und in der Ebene
414
Kapitel 14 Geführte Bewegungen und Zwangskräfte – Achterbahnen y
®
eT ®
r
®
eB ®
eN x Abb. 14.6: Tangenten- und Normalenvektor an einer Kurve im Raum
®
r (t)
z
werden hierbei durch einen Satz von drei senkrecht aufeinander stehenden Vektoren an jedem Kurvenpunkt beschrieben. An jedem Punkt der Kurve ~r (t) kann man einen Vektor einzeichnen, der tangential zur Kurve liegt und die Länge 1 besitzt. Ihn nennt man den Tangentenvektor ~eT (Abb. 14.6). Gehen wir die Kurve entlang, ändert sich die Richtung des Tangentenvektors von Ort zu Ort, aber seine Länge bleibt definitionsgemäß gleich 1. Wir können einen zweiten Vektor konstruieren, der senkrecht zum Tangentenvektor liegt und ebenfalls die Länge 1 besitzt. Das ist der Normalenvektor ~eN . Er zeigt in Richtung der Kurveninnenseite, also in Richtung des Krümmungsmittelpunktes an der jeweiligen Stelle. Tangenten- und Normalenvektor spannen die sogenannte Schmiegeebene der Kurve auf. Mit diesem anschaulichen Namen bezeichnet man die Ebene, in der die Bewegung momentan stattfindet. Als Drittes kommt noch ein Einheitsvektor hinzu, der auf den beiden anderen senkrecht steht, der sogenannte Binormalenvektor ~eB . Er wird uns nur wenig beschäftigen, denn er spielt in unserer Beschreibung geführter Bewegungen kaum eine Rolle. Tangenten-, Normalen- und Binormalenvektor nennt man zusammen das begleitende Dreibein. Man kann die Kurve durch eine beliebige Variable t parametrisieren, indem man durch ~r (t) = x (t), y(t), z(t) die x-, y- und z-Koordinate als Funktion von t angibt. Besonders geschickt ist es allerdings, zur Parametrisierung die Bogenlänge s zu verwenden. Das ist die entlang der Kurve gemessene Länge von t = 0 bis t = t0 : Z t0 q s= v(t) dt mit v(t) = x˙ 2 (t) + y˙ 2 (t) + z˙ 2 (t). (14.4) 0
Wenn man die Kurve durch die Bogenlänge parametrisiert, werden viele Zusammenhänge besonders einfach. Durch „Umkehrung“ (Differentiation) von Gl. (14.4) erhält man den Zusammenhang v=
ds ˙ = s. dt
(14.5)
415
Abschnitt 14.3 Die Geometrie geführter Bewegungen y
lokaler Krümmungskreis
®
r
eN ®
eT Abb. 14.7: Der Normalenvektor ~eN zeigt in Richtung des Mittelpunktes des Krümmungskreises an der jeweiligen Stelle der Kurve.
x
z
Berechnung von ~eT und ~eN Für eine vorgegebene Kurve ~r (s) kann man den Tangentenvektor durch Differentiation berechnen: d~r ~eT = . (14.6) ds Sofern ~r nach der Bogenlänge parametrisiert ist, hat der so definierte Vektor automatisch die Länge 1. Der Normalenvektor ist wie folgt definiert:
~eN = ρ ·
d~eT . ds
(14.7)
Dabei ist die Richtung von ~eN so bestimmt, dass der Proportionalitätsfaktor ρ ~eT positiv ist. Mit anderen Worten: ~eN zeigt in die Richtung von dds , und der Faktor ρ wird durch die Forderung festgelegt, dass ~eN die Länge 1 besitzen soll. ρ lässt sich geometrisch als lokaler Krümmungsradius der Kurve interpretieren. Es ist der Radius des Krümmungskreises der Kurve an der jeweiligen Stelle (Abb. 14.7). ~eN zeigt in Richtung des Kreismittelpunktes. In der Mathematik wird oft mit dem Kehrwert von ρ gearbeitet: κ = 1/ρ. Man nennt κ die Krümmung der Kurve an der jeweiligen Stelle. Das ist intuitiv plausibel: Je größer die Krümmung, desto kleiner der Radius des Krümmungskreises. Um ein Gespür für den etwas abstrakten Formalismus der elementaren Differentialgeometrie zu entwickeln, sehen wir uns einige Beispiele an, die uns später beim Achterbahnbau noch hilfreich sein werden. Beispielaufgabe: Kreisbahn Ermitteln Sie Tangenten- und Normalenvektor sowie Krümmungsradius für die Kreisbahn in Abb. 14.8:
x (t) = R sin ωt,
y(t) = − R cos ωt,
z(t) = 0.
(14.8)
(Dies ist die gleiche Bahn wie in Gl. (A.25) im Anhang, nur dass im Hinblick auf den Achterbahn-Looping die „Einfahrt“ bei t = 0 am Fußpunkt gewählt wurde).
416
Kapitel 14 Geführte Bewegungen und Zwangskräfte – Achterbahnen ®
eT y ®
eT
®
®
eN
eN
s R x
f
s=0
Abb. 14.8: Kreisbahn
Lösung: In Gl. (14.8) ist die Kurve durch die Zeit t parametrisiert. Da wir stattdessen die Bogenlänge verwenden möchten, berechnen wir nach Gl. (14.4):
v=
q
x˙ 2 (t) + y˙ 2 (t) + z˙ 2 (t) = ωR,
(14.9)
wobei die Relation sin2 ωt + cos2 ωt = 1 benutzt wurde. Damit können wir herausfinden, wie s und t miteinander verknüpft sind:
s=
Z t 0
ωR dt = ωRt.
(14.10)
Um nun die Kurve durch die Bogenlänge zu parametrisieren, ersetzen wir in Gl. (14.8) t durch s:
~r (s) = x (s), y(s), z(s) s s , − R cos , 0 . = R sin R R
(14.11)
Geometrisch ist Ihnen das alles recht vertraut, denn der Ausdruck im Argument der Winkelfunktion ist nichts anderes als der Winkel φ = s/R. Differentiation von Gl. (14.11) liefert den Tangentenvektor ~eT :
~eT =
s s d~r = cos , sin , 0 . ds R R
(14.12)
Wie erwartet ist die Länge dieses Vektors gleich 1, und durch Einsetzen verschiedener Werte für s (z. B. Viertelumfang 2πR/4 oder halber Umfang 2πR/2) können Sie verifizieren, dass er tatsächlich wie in Abb. 14.8 tangential zum Kreis liegt. Der Normalenvektor wird nach Gl. (14.7) ebenfalls durch Differentiation berechnet:
s s 1 d~eT · − sin = , cos , 0 . ds R | R {z R |{z} } = 1/ρ
=~eN
(14.13)
417
Abschnitt 14.3 Die Geometrie geführter Bewegungen
Er zeigt immer in Richtung auf den Kreismittelpunkt (Abb. 14.8). Der Krümmungsradius ρ ist entlang der Kurve konstant und hat den Wert ρ = R. Jedes andere Ergebnis hätte Sie auch sicherlich überrascht.
Beispielaufgabe: Bahnkurve, die als Funktion y = f ( x) darstellbar ist Bestimmen Sie Tangenten- und Normalenvektor sowie Krümmungsradius für eine Bahnkurve in der x-y-Ebene, die sich als Funktion y = f ( x ) darstellen lässt. Lösung: Sehr viele achterbahnrelevante Kurven fallen in diese Kategorie, z. B. das parabelförmige Tal in Abb. 14.5, das sich durch die Funktion y = c · x2 darstellen lässt. Die Lösung dieses Beispiels wird also einen sehr weiten Anwendungsbereich erschließen. Fast die einzige Ausnahme ist der Looping, weil hier zu einem x-Wert zwei y-Werte gehören, so dass der Kurvenverlauf nicht durch eine Funktion y = f ( x ) dargestellt werden kann. Der Ortsvektor lautet:
~r (t) = x (t), f ( x (t)), 0 .
(14.14)
Mit der Kettenregel schreiben wir:
y˙ (t) = so dass
v= und
s=
q
d f dx ˙ · = f 0 ( x ) · x, dx dt
x˙ 2 (t) + y˙ 2 (t) + z˙ 2 (t) =
Z tq 0
1 + f 02 ( x ) ·
dx dt = dt
q
(14.15)
x˙ 2 (t) (1 + f 02 ( x ))
Z x (t) q x (0)
1 + f 02 ( x ) dx.
(14.16) (14.17)
Zur Berechnung des Tangentenvektors benutzen wir noch einmal die Kettenregel:
~eT =
d~r d~r dx = · . ds dx ds
(14.18)
Durch Differentiation von Gl. (14.17) erhalten wir:
ds = dx
q
1 + f 02 ( x ),
so dass
1 dx = p . ds 1 + f 02 ( x )
(14.19)
Mit ~r aus Gl. (14.14) und d~r/dx = (1, f 0 ( x ), 0) ergibt sich für den Tangentenvektor:
dx ~eT = 1, f 0 ( x ), 0 · ds
=
1 p
1+
f 02 ( x )
· 1, f 0 ( x ), 0 .
(14.20)
Schließlich wird der Normalenvektor berechnet. Hier muss ein weiteres Mal die Kettenregel benutzt werden. Es ergibt sich:
d~eT d~e dx = T· ds dx ds sign( f 00 ( x )) | f 00 ( x )| p = · − f 0 ( x ), 1, 0 . 3 · 0 2 (1 + f 02 ( x )) 2 | 1 + f ( x ) {z } | {z } = 1/ρ
=~eN
(14.21)
418
Kapitel 14 Geführte Bewegungen und Zwangskräfte – Achterbahnen
Der lokale Krümmungsradius einer durch y = f ( x ) dargestellten Kurve ist also:
1 + f 02 ( x ) ρ= | f 00 ( x )|
32
(14.22)
.
Er wird durch den Betrag der zweiten Ableitung der Funktion bestimmt, wobei allerdings ein Korrekturfaktor hinzukommt, der von der Steigung (der ersten Ableitung) abhängt. Der Grund für das Auftreten des Korrekturfaktors liegt darin, dass die Krümmung der Kurve durch die Änderung des Tangentenvektors mit der Bogenlänge bestimmt wird und nicht durch seine Änderung bezüglich der x-Koordinate.
14.3.2 Geschwindigkeit und Beschleunigung
Abgesehen davon, dass einige Größen mit suggestiven Bezeichnungen (wie etwa v) versehen wurden, war der ganze bisherige Formalismus reine Mathematik. Obwohl die Thematik nicht ganz einfach war, gab es bisher noch nichts Physikalisches zu verstehen. Aber wir haben nun das mathematische Handwerkszeug beisammen, um uns mit der Physik geführter Bewegungen zu befassen. Sehen wir uns nun physikalische Bahnen von Körpern statt mathematischer Kurven im Raum an. Die Beschreibung können wir einfach übernehmen. Ein Körper soll sich entlang einer Bahn ~r (t) bewegen. Seine Geschwindigkeit ~v = d~r/dt können wir mit dem Tangentenvektor ~eT folgendermaßen schreiben: d~r ds d~r ~v = = · . (14.23) dt ds |{z} dt |{z} =~eT
=v
Die Gleichung besagt, dass der Geschwindigkeitsvektor tangential gerichtet ist und den Betrag s˙ hat.
~v = v ·~eT
mit
˙ v = s.
(14.24)
Wir wissen dies eigentlich schon seit Kapitel 2, ganz am Anfang des Buches. Da aber nun das Ergebnis aus unserem Formalismus so ohne jeden Aufwand herausgepurzelt ist, freuen wir uns, dass wir es jetzt auch auf saubere Weise hergeleitet haben. Zur Berechnung der Beschleunigung muss Gl. (14.24) differenziert werden:
~a =
d~v d = (v ·~eT ) . dt dt
(14.25)
Anwenden der Produktregel ergibt: d~eT dt ds d~eT · . = v˙ ·~eT + v · ds |{z} dt |{z}
~a = v˙ ·~eT + v ·
=~eN /ρ
=v
(14.26)
419
Abschnitt 14.4 Zwangskräfte
Das ist das zentrale Ergebnis dieses Abschnitts: Die Beschleunigung eines Körpers auf einer beliebigen Bahn lässt sich durch Tangenten- und Normalenvektor ausdrücken. Per Definition des begleitenden Dreibeins kann es keine Beschleunigungskomponente in Richtung des Binormalenvektors geben. Die Beschleunigung eines Körpers lässt sich in eine Tangential- und eine Normalkomponente zerlegen:
~a = v˙ ·~eT +
v2 ·~eN . ρ
(14.27)
Auch das ist eine Einsicht, die schon aus Kapitel 2 stammt (Abb. 2.8), die nun aber quantitativ untermauert wird. Die entlang der Bahn gerichtete Tangentialbeschleunigung ist durch v˙ gegeben, d. h. durch die Änderung des Geschwindigkeitsbetrages. Die Normal- oder Zentripetalbeschleunigung steht senkrecht zur Bahn und beschreibt eine Richtungsänderung. Die Gleichung für ihren Betrag, aZP = v2 /ρ, verallgemeinert Gl. (A.32) auf den Fall von Bahnen mit von Ort zu Ort sich ändernder Krümmung. Die durch Gl. (14.27) quantitativ dargestellte Zerlegung der Beschleunigung in eine Tangential- und eine Normalkomponente ist anschaulich recht einsichtig. Sie ist das einzige Ergebnis unserer mathematischen Vorüberlegungen, das wir für die Diskussion von Zwangskräften benötigen werden. Im Grunde können Sie also den Rest des mathematischen Vorspanns wieder vergessen.
14.4 Zwangskräfte In einer Achterbahn wird der Wagen durch Schienen entlang der Bahn geführt (Abb. 14.9). Soll der Wagen in einer Kurve oder einem Looping seine Bewegungsrichtung ändern, so müssen Kräfte auf ihn wirken. Die umlenkenden Kräfte der Schiene auf den Wagen sind die schon erwähnten Zwangskräfte. Die Bewegung des Achterbahnwagens wird durch das newtonsche Gesetz ~F = m ·~a beschrieben. Diese Grundgleichung der Mechanik gilt auch für Probleme mit Zwangskräften. Wir müssen nur noch ein wenig Gedankenarbeit
®
FZ ®
FG Abb. 14.9: Die Zwangskraft ~ FZ wirkt senkrecht zur Schiene.
420
Kapitel 14 Geführte Bewegungen und Zwangskräfte – Achterbahnen
leisten, um sie auf den Fall geführter Bewegungen anwenden zu können. Als Erstes trennen wir gedanklich die Zwangskräfte von den übrigen Kräften, um sie einer Sonderbehandlung zugänglich zu machen. Wir unterteilen entsprechend die Gesamtkraft ~F, die auf den Wagen wirkt, in Zwangskräfte und sonstige Kräfte: ~F = ~FZ + ~Fsonst . Die Zwangskräfte spielen eine besondere Rolle in der newtonschen Bewegungsgleichung. Anders als z. B. die Gewichtskraft haben sie keinen feststehenden Wert, sie sind variabel. Ihr Betrag stellt sich so ein, dass der Körper der vorgegebenen Bahn folgt. Eine Vorstellung davon, wie dieses Einstellen geschieht, werden wir in Kürze diskutieren. Wir nehmen an, dass die Zwangskräfte nur die Richtung ändern, also senkrecht zur Führung wirken. Ihre zunächst noch unbekannten Komponenten in Richtung von ~eN und ~eB bezeichnen wir mit FZ bzw. FZ0 . Die sonstigen Kräfte ~Fsonst sind z. B. Gewichtskraft, Luftwiderstand und Rollreibung. Sie bereiten uns keine Probleme; es sind diejenigen, mit denen wir immer schon zu tun gehabt haben. Insgesamt lautet die newtonsche Gleichung folgendermaßen: Newtonsche Gleichung mit Zwangskräften: m ·~a = ~ Fsonst + FZ ·~eN + FZ0 ·~eB .
(14.28)
Die Besonderheit dieser Gleichung liegt darin, dass wir sie nicht einfach lösen können, denn FZ und FZ0 sind noch unbekannt – das Problem, das wir bereits im Zusammenhang mit Abb. 14.5 konstatiert haben. Die newtonsche Gleichung (14.28) muss jetzt also mehr leisten als bisher: Wie immer muss sie den Ort und die Geschwindigkeit als Funktion der Zeit liefern; zusätzlich aber auch noch den Wert der Zwangskräfte an jeder Stelle der Bahn. Nur nebenbei bemerkt: Mit der Annahme, dass die Zwangskräfte immer senkrecht zur Führung wirken, ist im Grunde noch keine physikalische Aussage getroffen. Es handelt sich nur um eine Benennung. In der Realität übt eine Achterbahnschiene auf den Wagen sowohl senkrecht als auch parallel zur Bahn gerichtete Kräfte aus. Nur bezeichnen wir die tangential gerichteten Anteile nicht als Zwangskräfte, sondern als Reibungskräfte. Sie werden durch die Gesetze der Roll- oder Gleitreibung beschrieben und zu den sonstigen Kräften gerechnet. Wir können nun auch begründen, weshalb wir auf S. 412 die Wirkung der Zwangskräfte nicht im Energiesatz berücksichtigen mussten. Wenn wir die von den Zwangskräften am Wagen verrichtete Arbeit berechnen, ergibt sich einfach null, weil sie definitionsgemäß senkrecht zur Bahn stehen. Zu einem Energieübertrag zwischen Schiene und Wagen tragen sie somit nicht bei. 14.4.1 Komponenten der newtonschen Bewegungsgleichung
Das Problem der unbekannten Zwangskraft lässt sich lösen, wenn wir Tangential-, Normal- und Binormalkomponente der newtonschen Bewegungsglei-
421
Abschnitt 14.4 Zwangskräfte
chung getrennt betrachten. Genau das war der Beweggrund für die Zerlegung von ~a in Gl. (14.27). Mit ihr lautet die newtonsche Bewegungsgleichung: m · v˙ ·~eT +
mv2 ·~eN = ~Fsonst + FZ ·~eN + FZ0 ·~eB . ρ
(14.29)
Tangentialkomponente Die Tangentialkomponente dieser Gleichung erhalten wir durch Multiplikation mit ~eT . Wir benutzen die Relationen ~eT ·~eT = 1, ~eT ·~eN = 0 und ~eT ·~eB = 0. Es ergibt sich der folgende Ausdruck für die Tangentialkomponente der newtonschen Bewegungsgleichung. Newtonsche Bewegungsgleichung entlang einer vorgegebenen Bahn: m · v˙ = ~ Fsonst ·~eT . (14.30) Bemerkenswert ist, dass hier die unbekannten Zwangskräfte nicht auftreten. Auf der rechten Seite steht nur die Tangentialkomponente der sonstigen Kräfte, ~Fsonst ·~eT . Sie bestimmt die Änderung des Geschwindigkeitsbetrages. Mit Gl. (14.30) können wir umgehen, wie wir es immer schon mit der newtonschen Bewegungsgleichung getan haben: Die angreifenden Kräfte identifizieren, ihre Tangentialkomponente bestimmen und dann die Bewegungsgleichung lösen, so dass sich v(t) bzw. s(t) ergeben. Binormalkomponente Die Binormalkomponente von Gl. (14.29) ist besonders einfach zu diskutieren. Definitionsgemäß gibt es keine Beschleunigungskomponente in dieser Richtung. Es herrscht Kräftegleichgewicht zwischen der Zwangskraft FZ0 und der Binormalkomponente der Kraft ~Fsonst : FZ0 = −~Fsonst ·~eB .
(14.31)
Zwangskräfte in Binormalenrichtung treten etwa bei einer waagerecht durchfahrenen Kurve auf. FZ0 kompensiert dann gerade die Gewichtskraft, während FZ als Zentripetalkraft wirkt. Im Rest des Kapitels werden wir uns jedoch mit Zwangskräften in Binormalenrichtung nicht mehr beschäftigen. Normalkomponente Um nun auch die Normalkomponente der newtonschen Bewegungsgleichung zu erhalten, multiplizieren wir Gl. (14.29) mit ~eN : mv2 = ~Fsonst ·~eN + FZ . ρ
(14.32)
Diesen Ausdruck können wir nach FZ umstellen und erhalten für die Normalkomponente der newtonschen Bewegungsgleichung die folgende Gleichung.
422
Kapitel 14 Geführte Bewegungen und Zwangskräfte – Achterbahnen
Bestimmungsgleichung für die Zwangskräfte bei der geführten Bewegung: mv2 ~ FZ = − Fsonst ·~eN . (14.33) ρ Das ist ein sehr erfreuliches Ergebnis: Wenn wir v(t) mit Gl. (14.30) gefunden haben, kennen wir alle Größen auf der rechten Seite und können somit FZ berechnen. Damit ist unser Ziel erreicht. Mit der Zerlegung der Bewegungsgleichung in Tangential- und Normalkomponente gelingt es, neben v(t) und s(t) auch noch die Zwangskraft zu ermitteln. Beispielaufgabe: Schiefe Ebene Ein Achterbahnwagen saust einen Abhang mit der Steigung α hinunter (Abb. 14.10). Untersuchen Sie seine Bewegung und berechnen Sie die Zwangskraft. Lösung: Diese Aufgabe können Sie spätestens seit Kapitel 5 auch ohne die eben entwickelte Methode lösen. Auf S. 111 oder S. 116 traten gleichartige Zwangskräfte auf, die wir dort als Normalkräfte bezeichnet haben. Die Aufgabe soll als Übung dienen, um Ihnen den Umgang mit Zwangskraft-Problemen an einem einfachen Beispiel zu zeigen. Auf den Achterbahnwagen wirken die Gewichtskraft ~ FG (die hier – anders als in Kapitel 5 – die einzige „sonstige Kraft“ ist, weil wir ja von der Reibung absehen) und die Zwangskraft ~ FZ , die die Schiene auf den Wagen ausübt. Um die Bewegung des Wagens zu beschreiben, würden Sie wahrscheinlich die Komponente der Gewichtskraft FG · sin α, die parallel zum Hang wirkt, in die newtonsche Bewegungsgleichung einsetzen und die resultierende Gleichung lösen. Das ist vollkommen richtig, und wir werden gleich sehen, wie sich das Ergebnis aus unserem Formalismus ergibt. Die abfallende Gerade des Hangs lässt sich als Funktion darstellen: y = f ( x ) = −b · x mit b = tan α. Somit können wir zur Berechnung von Tangenten- und Normalenvektor auf die Ergebnisse des Beispiels auf S. 417 zurückgreifen. Der Tangentenvektor ist nach Gl. (14.20):
~eT = p
1
1 + f 02 ( x )
· 1, f 0 ( x ), 0 .
(14.34)
Mit f 0 ( x ) = −b = − tan α erhalten wir unter Ausnutzung der Relationen zwischen den Winkelfunktionen:
~eT = (cos α, − sin α, 0) . Komponenten ® ® von FG FZ
(14.35)
® ®
®
FHA = FG·eT = FG·sin a ®
eN a
®
eT
®
FG
a
Abb. 14.10: Kräfte und ihre Komponenten an der schiefen Ebene
423
Abschnitt 14.4 Zwangskräfte Die Tangentialkomponente der Gewichtskraft ist daher
~FG ·~eT = (0, −m · g, 0) · (cos α, − sin α, 0) = m · g · sin α,
(14.36)
so dass die Tangentialkomponente der newtonschen Bewegungsgleichung wie folgt lautet: Sie hat die Lösung
m · v˙ = m · g · sin α.
(14.37)
v(t) = ( g · sin α) · t.
(14.38)
Der Wagen wird immer schneller, seine Geschwindigkeit ist proportional zur Zeit. Es handelt sich um eine gleichmäßig beschleunigte Bewegung mit der Beschleunigung g · sin α. Beschleunigend wirkt nur die Tangentialkomponente der Gewichtskraft (dargestellt durch den mit ~ FHA beschrifteten gelben Vektorpfeil in Abb. 14.10). Sie führt an der schiefen Ebene den Namen Hangabtriebskraft. Der Normalenvektor an der schiefen Ebene ist:
~eN = p
1 1 + f 02 ( x )
· − f 0 ( x ), 1, 0 = (sin α, cos α, 0) ,
(14.39)
so dass die Normalkomponente der Gewichtskraft ~ FG ·~eN = m · g · cos α wird. Wegen f 00 ( x ) = 0 ist die Krümmung der Kurve null, und der Krümmungsradius ρ geht gegen unendlich. Gl. (14.33) lautet dann einfach:
FZ = ~FG ·~eN = m · g · cos α.
(14.40)
Mit anderen Worten: Die Zwangskraft, die die Schiene auf den Wagen ausübt, ist so groß wie die Normalkomponente der Gewichtskraft und entgegengesetzt gerichtet (Abb. 14.10). Senkrecht zur Schiene herrscht Kräftegleichgewicht; der Wagen ist in dieser Richtung unbeschleunigt. Dies wird für kompliziertere Bewegungen an gekrümmten Schienen nicht mehr der Fall sein.
14.4.2 Zwangskräfte und Energiesatz
Mit den Gleichungen (14.30) und (14.33) haben wir ein allgemeines Verfahren zur Behandlung geführter Bewegungen gefunden: Man löst die Gleichung für die Tangentialkomponente und setzt die gefundene Funktion v(t) in Gl. (14.33) ein. Dann berechnet man die Zwangskräfte. Die Methode ist sogar leistungsfähiger als wir es für unser Achterbahnmodell benötigen. Sie kommt nämlich auch mit Reibungskräften zurecht, die den Wagen nach und nach abbremsen. Reibungskräfte werden einfach unter den „sonstigen Kräften“ in der Bewegungsgleichung berücksichtigt. Wenn das nicht nötig ist, wenn also, wie in unserem Fall, Energieerhaltung angenommen werden kann, dann geht es sogar noch einfacher. Denn Sie sehen an Gl. (14.33), dass zur Berechnung der Zwangskräfte nur der Wert von v an jeder Stelle der Bahn bekannt sein muss. Dazu müssen wir aber nicht die Tangentialgleichung lösen. Wir erhalten v ganz einfach aus dem Energiesatz, aus unserer Gleichung (14.3), die wir am Anfang des Kapitels schon hergeleitet haben. So können wir die Zwangskräfte ermitteln, ohne je eine Differentialgleichung lösen zu müssen. Aus der Energieerhaltung bestimmen wir
424
Kapitel 14 Geführte Bewegungen und Zwangskräfte – Achterbahnen
die Geschwindigkeit an jeder Stelle der Bahn; mit Gl. (14.33) berechnen wir dann FZ . Mit dieser Methode wollen wir einige Fahrelemente der Achterbahn behandeln. Zuvor muss allerdings eine noch offen gebliebene Frage geklärt werden. 14.4.3 Wie können sich Zwangskräfte „einstellen“?
Bisher ist noch ungeklärt, wie es möglich ist, dass die Zwangskräfte einen „unbestimmten Betrag“ haben. Sie stellen sich je nach Bedarf ein, um die nötige Beschleunigung für die geführte Bewegung zu erzeugen. Aber woher „weiß“ die Schiene, wie groß die Kraft in der jeweiligen Situation sein muss? Physiker werden unruhig, wenn sie keine eindeutige Gesetzmäßigkeit für die Kraft zwischen zwei Körpern angeben können. Zur Erläuterung betrachten wir den einfachsten Fall: Ein leerer und ein besetzter Wagen stehen auf einer Unterlage, einer ebenen Schiene (Abb. 14.11). Die Schiene übt Kräfte auf die Wagen aus, die verhindern, dass sie im freien Fall nach unten fallen. Die y-Koordinate der Wagen bleibt konstant; darin besteht die geführte Bewegung. Wie groß sind die Zwangskräfte der Schiene auf die Wagen? Sie sind für beide Wagen unterschiedlich, nämlich gleich groß wie die jeweilige Gewichtskraft und entgegengesetzt gerichtet. Ein einfaches Modell kann uns verdeutlichen, wie es eine Unterlage bewerkstelligt, je nach Bedarf unterschiedlich große Kräfte auf darauf liegende Gegenstände auszuüben. Wir stellen uns vor, dass die Unterlage aus Massepunkten zusammengesetzt ist, die durch Federn verbunden sind (Abb. 14.12). Wenn wir einen leichten Gegenstand (den leeren Wagen) auf die Unterlage stellen, werden die Federn etwas zusammengedrückt. Die Unterlage verformt sich ein wenig (oberes Bild). Die Kraft, die die gespannten Federn gemeinsam auf den Gegenstand ausüben, ist genauso groß und umgekehrt gerichtet wie die Gewichtskraft des Gegenstands, die sie zusammendrückt (drittes newtonsches Gesetz). Die Zwangskraft ist so groß wie die Gewichtskraft. Das Gleiche gilt auch, wenn man einen schwereren Gegenstand auf die Unterlage legt. Die Federn werden weiter zusammengedrückt, und im Gegenzug üben sie auch eine größere Kraft auf den Gegenstand aus. Diese Kraft ist auch hier genauso groß wie die Gewichtskraft. Das Federmodell macht die variable Natur der Zwangskräfte plausibel. Ihr Ursprung liegt in der Idealisierung einer unendlich starren Führung, die den
®
FZ
®
FZ
®
FZ
®
FZ
Abb. 14.11: Auf den leeren und den vollen Wagen wirken unterschiedlich große Zwangskräfte des Bodens.
425
Abschnitt 14.5 Kreisförmiges Tal und Pendel leichter Gegenstand ®
FZ
schwerer Gegenstand Abb. 14.12: Durch den schwereren Gegenstand werden die Federn der Unterlage weiter zusammengedrückt.
®
FZ
Gegenstand auf eine mathematisch exakt bestimmte Bahn zwingt. Würde man (wie im Federmodell) die Materialeigenschaften der Schienen mitmodellieren, so könnte man die winzigen elastischen Verformungen erfassen, die die Schiene erfährt, wenn ein Wagen darüber rollt. Damit könnte man auch die Kräfte bestimmen, die dabei auf den Wagen zurückwirken. In der Praxis ist eine solche Vorgehensweise natürlich viel zu aufwändig, und wir tun gut daran, das Problem über den Zwangskraft-Formalismus zu beschreiben.
14.5 Kreisförmiges Tal und Pendel Kehren wir wieder zu unserem Achterbahnwagen zurück, den wir auf dem Lifthügel verlassen haben. Lassen wir ihn den Abhang hinunterbrausen und analysieren seine Bewegung. Der Wagen wird schneller und schneller, und im Tal erreicht er seine maximale Geschwindigkeit. Wenn Sie mitfahren, mögen Sie das toll finden. Aus physikalischer Sicht liegt der Thrill aber nicht hierin. Die Geschwindigkeit schreiben wir mit dem Energiesatz locker aus dem Handgelenk hin (Gl. (14.3)). Was uns viel mehr interessiert, sind die Kräfte. Wenn Sie mit vollem Tempo durch das Tal fahren, werden Sie fest in den Sitz gedrückt – oder, um es gleich physikalischer auszudrücken – der Sitz übt eine Kraft auf ihr Hinterteil aus, um die Bewegungsrichtung ihres Körpers zu ändern. Die Größe dieser Kräfte und die dadurch verursachten Beschleunigungen sind das physikalisch Spannende: Kommen wir auf eine Beschleunigung von 2 g, entsprechend der doppelten Gewichtskraft des Körpers? Oder sogar noch höher? Welche Beschleunigung kann man dem Körper eigentlich zumuten? Und wie viel ist erlaubt? Den eigentlichen Reiz des Achterbahnfahrens macht der Wechsel der Kräfte aus: aufwärts und abwärts gerichtete Beschleunigungen, Seitwärtsbeschleunigungen und Rollbewegungen – die Konstrukteure überbieten sich gegenseitig mit spektakulären Streckenführungen, bei denen die entsprechenden Kräfte auf möglichst abenteuerliche Art zusammenspielen. Grenzen sind nur durch
426
Kapitel 14 Geführte Bewegungen und Zwangskräfte – Achterbahnen
Eurofighter Typhoon (Streckenbeginn)
y Lifthügel
9,8 m
y0
First Drop x
25,7 m
R
=
13
16,2 m
,6
m
Looping
Bahnhof
2,3 m Abb. 14.13: Lifthügel, First Drop und Looping des Eurofighter Typhoon
die Gesundheitsrisiken gesetzt, die insbesondere seitlich gerichtete Beschleunigungen mit sich bringen. Maximale Geschwindigkeit im Eurofighter Typhoon In Abb. 14.13 sehen wir den Beginn der Strecke des Eurofighter Typhoon im Bobbejaanland, dem wir zu Beginn dieses Kapitels schon begegnet sind. Seine realen Maße sind eingezeichnet. Der Lifthügel hat eine Höhe von 25,7 m. Dahinter fällt der Wagen fast senkrecht in den First Drop. Mit hohem Tempo rollt er anschließend durch ein Tal in den Looping. Wir wollen uns dieses erste Tal näher anschauen. Sicher wollen Sie wissen, wie schnell der Wagen wird. Deshalb, wie versprochen, zuerst die Berechnung der Maximalgeschwindigkeit. Beispielaufgabe: Berechnen Sie die Geschwindigkeit, die ein Wagen im Eurofighter Typhoon am tiefsten Punkt des ersten Tals erreicht. Lösung: Der Lifthügel ist 25,7 m hoch (Abb. 14.13); der tiefste Punkt des Tals liegt in 2,3 m Höhe. Die maximale Geschwindigkeit des Wagens beträgt daher:
v=
=
q q
2g (y0 − y) 2 · 9,81 m/s2 · (25,7 m − 2,3 m) = 77 km/h.
(14.41)
Die Herstellerangabe für die Maximalgeschwindigkeit auf der Strecke ist 80 km/h. Die Differenz liegt in der Größenordnung der Schrittgeschwindigkeit und ist dadurch
427
Abschnitt 14.5 Kreisförmiges Tal und Pendel
Kasten 14.1: Zwangskräfte bei der kreisförmigen Bewegung – Voraussetzungen
R x
®
f
FZ ®
FG
y
(1) Die Zwangskräfte für die Fahrt durch das kreisförmige Tal werden mit Gl. (14.33) berechnet. (2) Mit der Geometrie der Kreisbahn (einschließlich Krümmung, Tangenten- und Normalenvektor) haben wir uns bereits auf S. 415f befasst. Wir betrachten hier nur die untere Hälfte des Kreises, also den Winkelbereich zwischen −π/2 und +π/2 (Abb. oben). Der Krümmungsradius ist konstant, ρ = R. Die beiden folgenden Beziehungen können wir ebenfalls von dort übernehmen:
y = − R · cos φ,
(14.42)
~eN = (− sin φ, cos φ, 0) .
(14.43)
(3) Die Gewichtskraft eines Körpers, der sich durch das Tal bewegt, zeigt in negative y-Richtung, ~ FG = (0, −m · g, 0). Damit ist ihre Normalkomponente:
~FG ·~eN = −m · g · cos φ.
(14.44)
(4) Aus der Energieerhaltung lässt sich die Geschwindigkeit des Wagens an jeder Stelle ermitteln (Gl. (14.3)). Die Gesamtenergie ist gleich der potentiellen Energie auf dem Lifthügel, also Eges = m · g · y0 .
zu erklären, dass der Wagen auf dem Lifthügel ja doch eine geringe Geschwindigkeit besitzt, so dass die Gesamtenergie geringfügig höher ist als die potentielle Energie.
14.5.1 Zwangskräfte im kreisförmigen Tal
Kommen wir nun zu den Kräften, die während der Durchfahrt durch das Tal auf die Körper der Insassen wirken. Wir beschreiben das Tal näherungsweise als kreisförmig mit einem konstanten Krümmungsradius von 13,6 m (Abb. 14.13). Fast alles, was wir zur Lösung des Problems benötigen, haben wir in den vorangegangenen Abschnitten bereits erarbeitet. Zur Übersicht sind die Zwischenergebnisse, auf die wir zurückgreifen werden, in Kasten 14.1 noch einmal zusammengestellt.
428
Kapitel 14 Geführte Bewegungen und Zwangskräfte – Achterbahnen
Die Zwangskraft bei der Durchfahrt durch das kreisförmige Tal berechnen wir mit Gl. (14.33): mv2 ~ FZ = − Fsonst ·~eN . (14.45) ρ Alle Größen auf der rechten Seite sind bereits bekannt und wir können die entsprechenden Ausdrücke aus dem Kasten einsetzen. Wir erhalten: FZ =
2mg (y0 − y) + m · g · cos φ. R
(14.46)
Um y zu ersetzen, verwenden wir Gl. (14.42); außerdem benutzen wir die Beziehung Eges = m · g · y0 . Damit ergibt sich: Zwangskraft bei der kreisförmigen Bewegung: FZ =
2Eges + 3 mg cos φ. R
(14.47)
Je größer der Schwung, mit dem Sie in das Tal hineinfahren, umso größer ist Eges und umso größer ist auch die umlenkende Zwangskraft. Gemäß ihrer Definition ist die Zwangskraft immer nach innen gerichtet, in Richtung auf den Kreismittelpunkt. Ihren Maximalwert erreicht sie am tiefsten Punkt des Tals. Dort ist erstens die Geschwindigkeit des Wagens am höchsten, so dass eine große Zentripetalkraft erforderlich ist, um ihn durch die Kurve zu führen. Zweitens ist dort auch die Gewichtskraft genau senkrecht zur Schiene gerichtet, d. h. parallel zur Zwangskraft. Die Winkelabhängigkeit im zweiten Term der Formel gibt den Einfluss dieser beiden Faktoren wieder. Beispielaufgabe: Berechnen Sie den Betrag der Zwangskraft, die am tiefsten Punkt des ersten Tals im Eurofighter Typhoon wirkt. Lösung: Zuerst berechnen wir die Gesamtenergie Eges . Sie ist gleich der potentiellen Energie auf dem Lifthügel. Das Nullniveau der y-Koordinate legen wir durch den Mittelpunkt des Krümmungskreises, damit wir das vorher mit dieser Geometrie erhaltene Resultat (14.47) benutzen können. Aus Abb. 14.13 lesen wir ab, dass der Lifthügel 9,8 m höher als dieses Nullniveau liegt. Die Gesamtenergie hat also den Wert
Eges = m · g · y0 = m · 9,81 m/s2 · 9,8 m = m · 96,1
J . kg
(14.48)
Für die Masse des Wagens wurde kein expliziter Wert eingesetzt, weil keines unserer späteren Ergebnisse von m abhängen wird. Aus Abb. 14.13 lesen wir ab, dass der Krümmungsradius im Tal 13,6 m beträgt. Am tiefsten Punkt des Tals ist φ = 0. Aus Gl. (14.47) ergibt sich:
FZ =
2 · m · 96,1 J/kg m m + 3 m · 9,81 2 = m · 43,6 2 . 13,6 m s s
(14.49)
Abschnitt 14.5 Kreisförmiges Tal und Pendel
429
Zur Kontrolle können Sie nach Gl. (14.33) Zentripetalkraft und Gewichtskraft einzeln berechnen und nachprüfen, dass ihre Summe den gleichen Wert ergibt. Wenn wir FZ durch m dividieren, erhalten wir die entsprechende Beschleunigung, die wir mit der Erdbeschleunigung g vergleichen können:
aZ = 43,6
m = 4,4 g. s2
(14.50)
Sie werden also am tiefsten Punkt des Tals mit der 4,4-fachen Erdbeschleunigung in den Sitz gepresst.
Welche Kräfte berechnen wir hier eigentlich? Bei der Rede von Zwangskräften haben wir bisher etwas unsystematisch mal von den Kräften auf die Körper der Insassen gesprochen und mal von den Kräften, die die Schiene ausübt. Es ist an der Zeit, innezuhalten und darüber nachzudenken, welche Kräfte wir eigentlich meinen. Überlegen Sie: Welche von den folgenden Kräften wird durch unseren Zwangskraft-Formalismus beschrieben? a) Wagen auf Schiene, b) Schiene auf Wagen, c) Sitz auf Körper, d) Körper auf Sitz. Ja, Sie haben recht – egal, was Sie gesagt haben. Ganz salomonisch können wir nämlich alle der genannten Kräfte beschreiben. Die Kräfte a) und d) sind die Gegenkräfte zu b) und c) und sind daher nach dem dritten newtonschen Gesetz gleich groß und entgegengesetzt gerichtet. Die eigentlichen Zwangskräfte, die die Geschwindigkeitsänderungen von Körpern bewirken, sind b) und c). Welche davon Sie mit dem Zwangskraft-Formalismus beschreiben, hängt davon ab, welchen Körper Sie in das betrachtete System einbeziehen. Die Formel ist die gleiche; Sie müssen nur den entsprechenden Wert für die Masse einsetzen. Sie können entweder den gesamten Wagen mit Insassen betrachten. Dann ist die berechnete Zwangskraft FZ diejenige Kraft, die die Schiene auf den Wagen ausübt. Für Standsicherheitsberechnungen ist die Gegenkraft wichtig (Wagen auf Schiene), denn sie gibt die Belastung an, die die Konstruktion aufnehmen muss. Wie Sie im Beispiel gesehen haben, muss die Schiene am tiefsten Punkt des Tals nicht nur die Gewichtskraft des Wagens tragen, sondern mehr als das Vierfache davon. Diese dynamisch wechselnden Lasten müssen bei der Bemessung der Stahlkonstruktion berücksichtigt werden. Sie können aber auch spaßorientiert denken und für m die Masse Ihres Körpers einsetzen. Dann ist FZ die Kraft, die der Sitz auf Ihren Körper ausübt. Das ist die entscheidende Größe für den Nervenkitzel während der Fahrt. Am einfachsten ist es, statt der Zwangskraft die entsprechende Beschleunigung anzugeben, so wie wir es oben im Beispiel gemacht haben. Sie ist unabhängig von der Masse und daher für Wagen und Insassen gleich. Außerdem kann sie anschaulich mit der Erdbeschleunigung verglichen werden.
430
Kapitel 14 Geführte Bewegungen und Zwangskräfte – Achterbahnen
Einfahrt aus 9,8 m Höhe
y/m
1,4 g 2,2 g
Zwangsbeschleunigung
g
g
2,9
x/m
4,4 g
4,3 g
4,0
g
3, 5
Abb. 14.14: Zwangsbeschleunigung bei der Fahrt durch ein kreisförmiges Tal aus einer Höhe von 9,8 m
Einfahrt aus 9,8 m Höhe
y/m
x/m
1,8 g
Gesamtbeschleunigung
2,2 g
2,6 g
3,4 g
3,
3,4 g
g
g
2
2,9
Abb. 14.15: Gesamtbeschleunigung im kreisförmigen Tal
14.5.2 Zwangskraft und Gesamtkraft im kreisförmigen Tal
Nach unserem Ergebnis beträgt die Zwangsbeschleunigung am tiefsten Punkt des Tals 4,4 g. Die gleiche Rechnung können wir mit anderen Punkten der Bahn wiederholen. Für einen Wagen, der aus 9,8 m Höhe in das kreisförmige Tal einfährt, ergeben sich die in Abb. 14.14 dargestellten Werte. Aus den bereits genannten Gründen ist die Zwangskraft bei der Einfahrt in das Tal am geringsten und auf dem Talgrund am größten. Der Streckenverlauf des Eurofighter Typhoon wird allerdings am Rand des Tals nur sehr angenähert durch die Kreisbahn wiedergegeben (vgl. Abb. 14.13). Mit der Kenntnis der Zwangskraft können wir nun auch die auf den Körper wirkende Gesamtkraft berechnen, die Summe aus der nach innen gerichteten Zwangskraft und der nach unten gerichteten Gewichtskraft (die rechte Seite von Gl. (14.28)). Sie bestimmt über die newtonsche Bewegungsgleichung letztlich die Beschleunigung des Körpers. Die Gesamtbeschleunigung für den aus 9,8 m Höhe in das kreisförmige Tal einfahrenden Wagen ist in Abb. 14.15 gezeigt. In der Zeichnung kann man anschaulich die Tangential- und Normalkomponenten der Beschleunigung identifizieren. Die parallel zur Bahn gerichteten Tangentialkomponenten lassen den Wagen auf der linken Seite des Tals schneller und auf der rechten Seite wieder langsamer werden. Die Normalkomponenten hingegen ändern die Bewegungsrichtung des Wagens.
431
Abschnitt 14.5 Kreisförmiges Tal und Pendel
Abb. 14.16: Schiffschaukel Bounty im Heidepark
14.5.3 Schiffschaukel und Pendel
Mit zittrigen Knien steigen wir aus der Achterbahn aus und sehen uns vor der nächsten Fahrt an, was es sonst noch alles an Attraktionen gibt. Abb. 14.20 zeigt die 15 m hohe Schiffschaukel Bounty im niedersächsischen Heidepark. Auch hier handelt es sich um eine geführte Bewegung entlang einer kreisförmigen Bahn. Das Schiff pendelt zwischen zwei Umkehrpunkten. Physikalisch gesehen handelt es sich bei der Schiffschaukel um ein Pendel. Das macht die Schiffschaukel vom physikalischen Standpunkt interessant, denn Pendel treten in der Physik allerorten auf. Wenn wir mit Gl. (14.47) die Zwangskräfte bei der Schiffschaukel analysieren, gilt dies auch für alle anderen Arten von Pendeln. Die Pendellänge der Bounty beträgt etwa 12 m und sie schwingt bis zu einer Winkelauslenkung von etwa 75 Grad. Damit haben wir alle Angaben, um die Zwangskräfte zu berechnen. Sie sind in Abb. 14.17 dargestellt. An den Umkehrpunkten ist die Geschwindigkeit null, und die Bahn verläuft ziemlich steil. Die Gewichtskraft wirkt dann nahezu parallel zur Bahn; die Zwangskraft verschwindet dort fast. Ihren höchsten Wert von 2,5 g erreicht die Zwangsbeschleunigung wieder am tiefsten Punkt der Bahn. y/m Zwangsbeschleunigung
0,26 g 8g
2,5 g
2,4 g
g
Abb. 14.17: Zwangsbeschleunigung bei der Schiffschaukel (und beim Pendel)
2,1
1,
6
g
0,9
x/m
432
Kapitel 14 Geführte Bewegungen und Zwangskräfte – Achterbahnen
y/m
x/m
Gesamtbeschleunigung
0,97 g 0,99 g
1,1 g 1,5 g
g
g 1,4
3
1,
Abb. 14.18: Gesamtbeschleunigung bei der Schiffschaukel (und beim Pendel)
Die Gesamtkraft (Zwangskraft plus Gewichtskraft) für die Pendelbewegung ist in Abb. 14.18 dargestellt. Ihre Richtung und ihr Betrag ändern sich auf komplizierte Weise von Ort zu Ort. Intuitiv würde man vielleicht ein so schwer durchschaubares Muster für das gewöhnliche Pendel nicht erwarten. Physikalisch lässt sich der Verlauf der Gesamtkräfte jedoch sinnvoll interpretieren: An den Umkehrpunkten wirkt die Gesamtkraft rein tangential zur Bahn (die Zwangskraft stellt sich ja für v = 0 exakt so ein). Am tiefsten Punkt dagegen verläuft die Bahn fast waagerecht; die Geschwindigkeit ändert sich momentan nicht und die Tangentialkomponente der Kraft verschwindet. Dazwischen gibt es sowohl eine tempo-ändernde Tangentialkomponente als auch eine ablenkende Normalkomponente. 14.5.4 Gesundheitliche Risiken
Eine Fahrt mit der Achterbahn ist keine Gesundkur, darüber gibt es keinen Zweifel. Aber wo hört der Spaß auf, wo fängt es an gesundheitsschädlich zu werden? Wie können wir die 4,4 g des Eurofighter Typhoon einordnen? Welche Beschleunigungswerte sind noch tolerierbar, und wo sollte man lieber nicht einsteigen? Wie immer im medizinischen Bereich gibt es keine eindeutige Antwort und man muss die näheren Umstände betrachten. Auf jeden Fall sollten Sie sich darüber im Klaren sein, dass ihre Bandscheiben bei 4 g viermal so stark zusammengepresst werden wie normal. Wer in dieser Hinsicht anfällig ist, sollte sich überlegen, ob er nicht lieber mit der Seepferdchenbahn fährt oder in den Märchenwald geht. Kontrollierte Untersuchungen zu den Gefahren des Achterbahnfahrens gibt es nur wenige. Um die Risiken hoher Beschleunigungen zu bewerten, wird hauptsächlich auf die Ergebnisse von Versuchen der Luftwaffe zurückgegriffen. In den bereits auf S. 354 angesprochenen Zentrifugenexperimenten zeigte sich, dass die kurzfristigen gesundheitlichen Auswirkungen sowohl von der Größe der Beschleunigung als auch von ihrer Dauer abhängen. Eine starke, länger andauernde Beschleunigung nach oben reduziert die Blutzufuhr ins Gehirn. Zuerst geht die Wahrnehmung an den Seiten des Gesichtsfeldes verloren (Tunnelblick), dann die Farbwahrnehmung („Grayout“).
433
Abschnitt 14.6 Die Achterbahn-Formel
Schließlich kann es zum vorübergehenden Verlust des Sehvermögens kommen, gefolgt von Bewusstlosigkeit. In der Folge können Kopfschmerzen und Schwindel auftreten. Die Dauer der Beschleunigung spielt eine große Rolle. So kann Bewusstlosigkeit schon ab einer Beschleunigung von 3 g auftreten, wenn diese länger als 4 Sekunden anhält. Dagegen gelten 5 g, die für 2 oder 3 Sekunden wirken, noch als tolerierbar. Bei der Beurteilung dieser Daten sollte man aber berücksichtigen, dass sie mit jungen, gesunden und trainierten Männern gewonnen wurden. Die Ergebnisse lassen sich nur mit Vorsicht auf den durchschnittlichen Vergnügungsparkbesucher übertragen. Wer zum Beispiel eine Herzschwäche hat, sollte sicherlich nicht Achterbahn fahren. Bei Achterbahnen dauern die hohen Beschleunigungen meist nur sehr kurze Zeit an, oft nur Sekundenbruchteile. In der Diskussion um die Gesundheitsrisiken von Achterbahnen werden Beschleunigungen von 6 g oder mehr auch für gesunde Erwachsene als sehr bedenklich angesehen. Es gibt eine Reihe von Achterbahnen, die diese Werte erreichen, z. B. der ehemalige Thriller (der heute Tsunami heißt und auf den wir noch zurückkommen werden) mit 6,5 g. Beschleunigungen, die nach oben wirken, sind für den Körper noch relativ gut erträglich. Kritischer (und auch schlechter untersucht) sind Seitwärtsbeschleunigungen. Wird der Körper plötzlich zur Seite beschleunigt, kann der Kopf hin und her geschleudert werden, mit ähnlichen Folgen wie bei einem Schleudertrauma. Für seitwärts wirkende Beschleunigungen gelten bereits Werte von 1,5 g als riskant.
14.6 Die Achterbahn-Formel Wir lassen uns den Spaß trotz allem nicht verderben: Auf zur nächsten Runde in der Achterbahn! Diesmal wollen wir mit unserer physikalischen Analyse etwas weiter als nur bis zum ersten Abhang kommen. Wir wollen nicht jedes einzelne Fahrelement einzeln durchgehen, sondern konstruieren gleich eine „Theory of Everything“ – eine Formel, mit der man die Zwangskraft für alle Fahrelemente berechnen kann, die in der Form y = f ( x ) darstellbar sind. Der Bahnverlauf kann also beliebig kompliziert sein, wie etwa in Abb. 14.19. Alle Zutaten für diese „Achterbahn-Formel“ sind schon vorhanden, wir müssen sie nur noch zusammenrühren. Die Zwangskraft wird wie immer mit Gl. (14.33) berechnet. Im Beispiel auf S. 417 haben wir für diesen allgemeinen Fall bereits den lokalen Krümmungsradius 1 + f 02 ( x ) ρ= | f 00 ( x )|
23
(14.51)
und den Normalenvektor sign( f 00 ( x )) ~eN = p · − f 0 ( x ), 1, 0 1 + f 02 ( x )
(14.52)
434
Kapitel 14 Geführte Bewegungen und Zwangskräfte – Achterbahnen
Abb. 14.19: Mit der Achterbahn-Formel kann man die Zwangskräfte auch für kompliziert geformte Bahnen berechnen.
berechnet. Mit der abwärts gerichteten Gewichtskraft wird demnach sign( f 00 ( x )) ~FG ·~eN = − p · m · g. 1 + f 02 ( x )
(14.53)
Wie üblich wird die Geschwindigkeit mit dem Energiesatz berechnet: q (14.54) v = 2g (y0 − f ( x )).
Alles zusammen in Gl. (14.33) eingesetzt gibt uns eine Formel, mit der wir die Zwangskraft für eine beliebig geformte Fahrstrecke y = f ( x ) angeben können und die wir die Achterbahn-Formel nennen wollen. Achterbahn-Formel für die Zwangskraft entlang einer Strecke, die in der Form y = f ( x) darstellbar ist:
FZ =
2 | f 00 ( x)|
(1 + f 02 ( x))
3 2
sign( f 00 ( x)) Eges − m · g · f ( x) + p · m · g. 1 + f 02 ( x ) (14.55)
435
Abschnitt 14.6 Die Achterbahn-Formel
Beispielaufgabe: Abheben am parabelförmigen Hügel Der parabelförmige Berg in Abb. 14.20 lässt sich durch die Funktion y = −c · x2 (mit c > 0) darstellen. Berechnen Sie mit der Achterbahn-Formel die Zwangskraft. Was passiert für FZ > 0? Lösung: Die zu berechnenden Ableitungen sind f 0 ( x ) = −2cx und f 00 ( x ) = −2c, so dass überall sign( f 00 ( x )) = −1 gilt. Es ergibt sich:
FZ =
4c
(1 + 4c2 x2 )
3 2
mg Eges + mgcx2 − √ . 1 + 4c2 x2
(14.56)
Betrachten wir nur den höchsten Punkt des Hügels, also x = 0. Dort ist:
FZ (Gipfel) = 4c · Eges − m · g.
(14.57)
Der Energiesatz sagt uns, dass es der Wagen nur dann über den Berg schafft, wenn Eges > 0 gilt. Ist die Gesamtenergie positiv, aber ihr Betrag klein, überwiegt der letzte Term in Gl. (14.57). Dann ist FZ < 0 und die Zwangskraft nach oben gerichtet. Sie ist etwas geringer als die Gewichtskraft, so dass die Insassen sich leichter fühlen, wenn sie über die Kuppe rollen. Wenn die Zwangskraft positiv wird, d. h. wenn Eges > mg/(4c) gilt, ist die Zwangskraft nach unten gerichtet. Der Wagen ist dann so schnell, dass ihn die Schiene gewissermaßen „ansaugen“ müsste, um ihn entlang der Bahn zu führen. Eine gewöhnliche Schiene kann keine nach unten gerichteten „Ansaugkräfte“ auf den Wagen ausüben, so dass dieser der gestrichelten Bahn in Abb. 14.20 folgt und davonfliegt (auf einer Wurfparabel, falls Sie das in diesem Moment interessiert). In Vergnügungsparks werden derartige Eskapaden von Achterbahnwagen nicht gern gesehen. Deshalb haben bei Achterbahnen, in deren Streckenführung nach oben gerichtete Zwangskräfte auftreten, die Wagen sogenannte „Gegenräder“ auf der Unterseite der Schiene. Die Gegenräder können den Wagen entlang der Schiene führen und ermöglichen nach innen gerichtete Zwangskräfte. Nun fliegen nur noch die Passagiere auf der gestrichelten Bahn davon. Erst wenn auch diese mit Sicherheitsbügeln an ihren Sitzen befestigt sind, kann der Achterbahnbetrieb zur allgemeinen Zufriedenheit fortgesetzt werden.
FZ > 0 ®
Abb. 14.20: Wenn die Zwangskraft nach außen gerichtet ist, hebt der Wagen ab.
eT ®
eN
436
Kapitel 14 Geführte Bewegungen und Zwangskräfte – Achterbahnen
Abb. 14.21: Parabelförmige Hügel geben „Airtime“ – der Silver Star im badischen Europapark.
14.7 Airtime – schwerelose Hügel Schwerelos in der Achterbahn – das ist „Airtime“. Der Wagen fährt über einen Hügel, einen Abhang hinunter, und Sie haben das Gefühl, frei in der Luft zu schweben. Völlig losgelöst, der Sitz hält einen nicht mehr. Das Gefühl der Schwerelosigkeit ist für viele der große Reiz beim Achterbahnfahren. Physikalisch bereitet es uns keine Schwierigkeiten mehr, die Schwerelosigkeit in der Achterbahn zu erklären. Ein geworfener Körper folgt einer Wurfparabel. Wenn man die Bahn so anlegt, dass der Streckenverlauf gerade einer Wurfparabel entspricht, dann folgt der Wagen der Schiene, auch ohne dass diese eine Kraft auf ihn ausübt. Die Zwangskraft zwischen Schiene und Wagen verschwindet ebenso wie diejenige zwischen Sitz und Passagier. Achterbahnen mit Airtime müssen demzufolge Hügel in Parabelform besitzen. Sehen Sie sich in Abb. 14.21 den Silver Star im badischen Europapark an, für den eine Airtime von insgesamt 20 Sekunden angegeben wird. Die charakteristische Gestalt der Hügel ist deutlich erkennbar. Ein parabelförmiger Hügel allein reicht aber noch nicht aus. Der Wagen muss auch mit der richtigen Geschwindigkeit einfahren, nämlich gerade so, dass die Hügelform die Wurfparabel für diese Geschwindigkeit darstellt. Überprüfen wir, ob unser Zwangskraft-Formalismus die Schwerelosigkeit am parabelförmigen Hügel korrekt wiedergeben kann. Die Wurfparabel lässt sich in der Form g (14.58) y = − 2 · x2 2v0 schreiben (vgl. Gl. (2.16) auf S. 47), wobei v0 die Geschwindigkeit des Wagens am Gipfel ist.
Abschnitt 14.8 Warum gibt es keine kreisförmigen Loopings?
437
Die Zwangskraft für eine parabelförmige Bahn haben wir schon in Gl. (14.56) berechnet. Wir müssen für unsere spezielle Bahn nur c=
g 2v20
und
Eges = 12 mv20
(14.59)
einsetzen. Nach einigen algebraischen Umformungen heben sich auf scheinbar wundersame Weise alle Terme gegenseitig weg und es bleibt FZ = 0.
(14.60)
Die Zwangskraft verschwindet, und zwar nicht nur an einem Punkt der Bahn, sondern für alle x. Die Schiene übt keine Kraft auf den Wagen aus; der Wagen ist schwerelos.
14.8 Warum gibt es keine kreisförmigen Loopings? Kehren und Wenden, Hügel und Täler können noch so spektakulär sein – die Attraktion einer Achterbahn ist der Looping. Es ist schon ein besonderes Gefühl, wenn man kopfunter durch den Looping fährt, ohne dabei herunterzufallen, entgegen der Schwerkraft allein von der Geschwindigkeit auf dem Sitz gehalten. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass Sie niemals einen kreisförmigen Looping in einer Achterbahn sehen? Alle Loopings haben eine länglich gestreckte Gestalt, die an eine auf dem Kopf stehende Träne erinnert (Abb. 14.22). Die Form ist bei allen Achterbahnen die gleiche. Es scheint sich also nicht einfach um eine Laune der Entwerfer zu handeln, denen kreisförmige Loopings irgendwann zu langweilig waren. Nein, der Grund dafür ist physikalischer Natur, und mit dem bisher Erarbeiteten können wir ihn leicht verstehen. 14.8.1 Durchfahrbedingung
Betrachten wir einen kreisförmigen Looping und fragen, unter welchen Bedingungen ein Achterbahnwagen die Durchfahrt schafft, ohne dass er herunterfällt. In der Antwort auf diese Frage liegt auch die Lösung des Rätsels, das uns beschäftigt. Die Geometrie des Problems ist in Abb. 14.23 dargestellt. Für das kreisförmige Tal haben wir die Zwangskraft bereits in Gl. (14.47) berechnet; das Ergebnis ist auch für den Looping gültig: FZ =
2Eges + 3 mg cos φ. R
(14.61)
Zunächst ist klar, dass der Lifthügel mindestens ebenso hoch sein muss wie der höchste Punkt des Loopings. Schon der Energiesatz sagt uns, dass der Wagen andernfalls nicht bis ganz nach oben käme und kläglich wieder zurückrollen würde. Das reicht aber nicht aus. Der Wagen muss am Scheitel des
438
Kapitel 14 Geführte Bewegungen und Zwangskräfte – Achterbahnen
Abb. 14.22: AchterbahnLoopings sind nie kreisförmig.
Loopings auch noch eine gewisse Geschwindigkeit besitzen, damit er nicht aus der Bahn fällt. Physikalisch ausgedrückt: An jeder Stelle der Bahn muss FZ > 0 gelten. Wie im vorletzten Abschnitt schon diskutiert, kann die Schiene nur „drücken“ und nicht „saugen“; sie kann keine negativen Zwangskräfte ausüben, um den Wagen entlang der Bahn zu führen. Wird die Zwangskraft negativ, bedeutet das: An dieser Stelle der Bahn löst sich der Wagen von der Schiene und fällt auf einer Wurfparabel aus dem Looping. Man kann diesen Effekt sehr anschaulich am Looping einer Kinder-Autorennbahn erproben. Schreiben wir die Forderung FZ > 0 mit Gl. (14.61) auf, so erhalten wir die folgende Bedingung für die Gesamtenergie: 3 Eges > − mgR cos φ. (14.62) 2 Soll es der Wagen durch den Looping schaffen, muss diese Bedingung für alle Winkel φ erfüllt sein, insbesondere auch ganz oben, am Scheitel des Loopings. Dort nimmt für φ = π die Kosinusfunktion ihren kleinsten Wert an, nämlich −1. Damit ergibt sich die Durchfahrbedingung:
3 mgR. (14.63) 2 Am anschaulichsten wird dieses Ergebnis, wenn wir fragen, wie hoch der Lifthügel mindestens sein muss, damit die Durchfahrbedingung erfüllt ist. Wir Eges >
439
Abschnitt 14.8 Warum gibt es keine kreisförmigen Loopings?
½R
Lifthügel
y
FZ > 0 R
h x f R
®
eT
®
eN
Abb. 14.23: Geometrie des kreisförmigen Loopings
nehmen an, dass Eges gleich der potentiellen Energie am Lifthügel ist und berücksichtigen, dass die Einfahrt zum Looping bei y = − R liegt. Für die Mindesthöhe h des Lifthügels finden wir damit: h > 2,5 R.
(14.64)
Der Lifthügel muss höher sein als der Looping, und zwar mindestens um einen halben Loopingradius (Abb. 14.23). 14.8.2 Zwangskraft im kreisförmigen Looping
Hat der Wagen die von der Durchfahrbedingung geforderte Gesamtenergie, dann ist die Zwangskraft am Scheitel des Loopings gerade eben nicht negativ. Aber wie sieht es weiter unten aus, wie groß ist die Zwangskraft dort? Wir können es berechnen. Setzen wir Eges aus Gl. (14.63) in Gl. (14.61) ein, finden wir: FZ = 3 mg + 3 mg cos φ. (14.65) Die kleinste Zwangskraft FZ = 0 tritt wie erwartet am Scheitel des Loopings auf. Der maximale Wert wird an der Einfahrt und an der Ausfahrt erreicht (φ = 0 bzw. φ = 2π): FZ,max = 6 mg. (14.66) Die Fahrgäste werden mit der sechsfachen Gewichtskraft in die Sitze gedrückt. Das ist ein unakzeptabel hoher Wert. Will man die Gesundheit der Fahrgäste nicht gefährden, kann man die Strecke so nicht planen.
440
Kapitel 14 Geführte Bewegungen und Zwangskräfte – Achterbahnen y/m
0,1g
FZ /mg Einfahrt
0,9g
Ausfahrt
2,2g x/m
4,5g
Scheitel s 6g
5,6g
Abb. 14.24: Zwangsbeschleunigung im kreisförmigen Looping. Sie schnellt bei der Einfahrt abrupt von 1 g auf 6 g.
Hier liegt das Dilemma des kreisförmigen Loopings: Entweder die Durchfahrbedingung ist nicht erfüllt, und der Zug kippt im Scheitel aus der Schiene. Oder die Beschleunigung, der die Fahrgäste ausgesetzt werden, liegt unten an der Einfahrt bei über 6 g. Es gibt keine planerische Freiheit, die ein Entrinnen aus dieser Zwickmühle erlauben würde. Die Einfahrtsbeschleunigung ist unabhängig von allen Parametern, die ein Entwerfer verändern könnte, sogar unabhängig vom Loopingradius (R kommt in Gl. (14.66) nicht vor). Es kommt noch schlimmer: Die Beschleunigung trifft einen nämlich wie ein Hammerschlag. Auf der geraden Strecke, bevor der Wagen in den Looping einfährt, liegt die Zwangsbeschleunigung bei 1 g. Die Schiene trägt genau die Gewichtskraft des Wagens. Mit dem Einfahren in das kreisförmig gebogene Kurvenstück steigt die Beschleunigung urplötzlich von 1 g auf 6 g an. Der abrupte Übergang von der geraden in die gekrümmte Streckenführung ist bei dieser Geschwindigkeit ein veritabler Anschlag auf die Gesundheit der Fahrgäste. Abb. 14.24 zeigt den Verlauf der Zwangsbeschleunigung bei der Durchfahrt durch den Looping. Im rechten Teilbild ist aus Gründen der Übersichtlichkeit nur die rechte Hälfte des Loopings gezeigt; die Kraftverteilung ist symmetrisch. 14.8.3 Erfahrungen mit kreisförmigen Loopings
Mit Loopings experimentieren Vergnügungssuchende seit Mitte des 19. Jahrhunderts (Chemin du Centrifuge, Paris 1846). Die ersten Aufbauten hatten teilweise halsbrecherischen Charakter, wie das Foto in Abb. 14.25 zeigt. Im Bild darunter (Abb. 14.26) sieht man einen frühen Achterbahn-Looping: den ebenso legendären wie berüchtigten Flip-Flap auf Coney Island (1895). Wie alle frü-
Abschnitt 14.8 Warum gibt es keine kreisförmigen Loopings?
441
Abb. 14.25: Ein FahrradLooping im Jahr 1903
Abb. 14.26: Die Achterbahn Flip-Flap (1895) mit ihrem gesundheitsschädigenden Looping
hen Achterbahnen mit wenig theoretischem Hintergrund konstruiert, hält er vermutlich bis heute den Rekord für die höchsten g-Werte. Die armen Passagiere mussten bei der rasanten Einfahrt in den Looping einen Stoß von geschätzten 10–12 g verkraften. Die Folge sollen Schleudertraumata und das Ausbleiben der zahlenden Kundschaft gewesen sein. Die VergnügungsparkBesucher zogen das Zuschauen offenbar dem Mitfahren vor, und so wurde die Achterbahn einige Jahre später wieder geschlossen. Die Lösung für das „g-Problem“ wurde am gleichen Ort gefunden, auf Coney Island. Da man den entsetzlichen Stoß beim Übergang vom geraden in das gekrümmte Streckenstück versetzt bekam, lag die Überlegung nahe, diesen Übergang sanfter zu machen. Der Looping durfte keine konstante Krümmung (und damit auch keine Kreisform) besitzen. Bei der Einfahrt in den Looping musste die Krümmung zuerst gering sein und erst nach und nach größer werden. Dieses Konzept wurde 1903 beim Loop-the-loop auf Coney Island in die Tat umgesetzt. Hier besaß der Looping schon fast die moderne Form (Abb. 14.27). Die verbesserte Konstruktion blieb jedoch ohne große Nachwirkungen und fiel der Vergessenheit anheim. Lange Zeit wurden keine Achterbahnen mit Looping mehr gebaut.
442
Kapitel 14 Geführte Bewegungen und Zwangskräfte – Achterbahnen
Abb. 14.27: Der Loop-theloop: Die Krümmung nahm von unten nach oben allmählich zu.
Die neuere Geschichte des Achterbahn-Loopings begann erst wieder 1976 mit der Great American Revolution von Schwarzkopf/Stengel. Für diese Bahn wurde der Klothoidenlooping entwickelt, das Vorbild für alle modernen Konstruktionen. Die Maximalbeschleunigung lag bei 4,9 g und damit durchaus im ungefährlichen Bereich. Wie beim Loop-the-loop wurde dies durch eine allmählich zunehmende Krümmung der Strecke erreicht. Die letzte Achterbahn mit kreisförmigem Looping ist noch in Betrieb. Es ist der ehemalige Thriller, eine 1986 konstruierte transportable Achterbahn. Ihre spektakuläre Streckenführung wies vier Loopings mit bis zu 26 m Durchmesser auf. Die maximale Beschleunigung lag bei 6,5 g, und insbesondere aus den hinteren Wagen konnte man durchaus lädiert wieder aussteigen. Der Thriller zog bis 1997 über die deutschen Volksfeste, dann wurde er für einige Jahre als Zonga in Texas aufgebaut. Seit 2008 heißt er Tsunami und steht im mexikanischen Aguascalientes. y
S/R
S/R
= Ö2
=0 x
Abb. 14.28: Bei der Klothoide steigt die Krümmung linear mit der Bogenlänge an.
443
Abschnitt 14.9 Der Klothoidenlooping
C(t)
S(t)
Abb. 14.29: Die beiden Funktionen C ( x ) und S( x ), mit denen sich die Klothoide mathematisch darstellen lässt
t
14.9 Der Klothoidenlooping 14.9.1 Die Geometrie der Klothoide
Zur Vorbereitung auf die Physik des Klothoidenloopings müssen wir uns ein wenig mit der Geometrie der Klothoide beschäftigen. Sie wird oft auch als „Cornu-Spirale“ bezeichnet und ist dadurch gekennzeichnet, dass ihre Krümmung linear mit der Bogenlänge zunimmt. Die Krümmung im Nullpunkt ist null; dort verläuft die Kurve gerade (Abb. 14.28). Je weiter man sich vom Nullpunkt entfernt, umso stärker krümmt sich die Kurve, bis sie sich schließlich vor lauter Krümmung fast selbst in den Schwanz beißt. Parameterdarstellung Abbildung 14.28 zeigt, dass die Klothoide sich nicht in der Form y = f ( x ) darstellen lässt (mehrere y-Werte gehören zu einem x-Wert). Wir können jedoch eine Parameterdarstellung angeben: x ( t ) = R · C ( t ), y ( t ) = R · S ( t ).
(14.67)
Die beiden Funktionen C (t) und S(t) sind in Abb. 14.29 gezeigt. Sie tragen den Namen „Fresnel-Integrale“. Sie lassen sich nicht auf elementare Funktionen zurückführen, sondern sind durch bestimmte Integrale definiert: Z t π C (t) = cos u2 du, 2 0 Z t π S(t) = sin u2 du. (14.68) 2 0
Das ist kein Grund zum Erschrecken; schließlich kann man die Sinusfunktion auch nicht durch elementare Funktionen ausdrücken. Die Eigenschaften der Fresnel-Integrale sind in fortgeschrittenen Formelsammlungen dokumentiert (etwa Abramowitz und Stegun, 1964). In Mathematik-Software wie Mathematica oder Maple sind sie als vordefinierte Funktionen einprogrammiert. Kurzum, wir können mit ihnen ebenso unbeschwert umgehen wie mit Sinus und Kosinus.
444
Kapitel 14 Geführte Bewegungen und Zwangskräfte – Achterbahnen
Bogenlänge Die Fresnel-Integrale sind als Funktionen der oberen Integrationsgrenze definiert. Daher lassen sich ihre Ableitungen ohne jede Rechnung finden: π d C (t) = cos t2 , dt 2 π d S(t) = sin t2 . dt 2
(14.69)
Die Bogenlänge der Klothoide ist ebenso einfach berechenbar. Nach Gl. (14.4) gilt: s=
=
Z tq 0
Z t 0
x˙ 2 (u) + y˙ 2 (u) du
π π 12 R · cos2 u2 + sin2 u2 du 2 2 {z } | =1
= R · t.
(14.70)
Die Bogenlänge hängt mit dem Parameter t also über t = s/R zusammen. In der Parameterdarstellung (14.67) ersetzen wir im Folgenden t durch s/R. Konstruktion des Klothoidenloopings Die Kurve in Abb. 14.28 sieht noch nicht wie ein Looping aus. Wir setzen ihn aus zwei identischen Teilstücken der Klothoide zusammen. Die erste Hälfte des Loopings besteht aus dem ansteigenden Teil der Klothoide zwischen dem √ Nullpunkt bei s/R = 0 und dem höchsten Punkt der Kurve bei s/R = 2. Der zweite Teil geht daraus einfach durch Spiegelung an der senkrechten Achse hervor. Setzen wir die beiden Teile am Scheitel zusammen, ergibt sich die in Abb. 14.30 gezeigte Kurve. Dies ist die Form von Achterbahn-Loopings (vergleichen Sie sie mit den Fotografien in diesem Kapitel). x S/R
S/R
=0
= Ö2
y
Abb. 14.30: Der AchterbahnLooping wird aus zwei Klothoiden-Teilstücken zusammengesetzt.
445
Abschnitt 14.9 Der Klothoidenlooping
Die Krümmung der Bahn steigt vom Nullpunkt bis zum Scheitel linear an und nimmt dann linear wieder auf null ab. Setzt man vorn und hinten Geradenstücke an, erfolgt der Anstieg der Krümmung stetig, nirgendwo wird es einen „Ruck“ geben. Qualitativ kann man dies schon jetzt einsehen, der Zwangskraft-Formalismus wird es später in Strenge bestätigen. Tangenten- und Normalenvektor In der Parameterdarstellung (14.67) lautet der Ortsvektor der Klothoidenbahn: s s ~r (s) = R · C , R·S . (14.71) R R
Wir betrachten im Folgenden nur die erste Hälfte des Loopings zwischen √ s/R = 0 und s/R = 2 (Abb. 14.30). Weil der Looping spiegelsymmetrisch ist, gelten alle Ergebnisse entsprechend auch für die zweite Hälfte. Wie gewohnt berechnen wir durch Differentiation den Tangentenvektor an die Bahn: s s d~r ~eT = , S0 . (14.72) = C0 ds R R Mit Gl. (14.69) ergibt sich:
~eT =
cos
π s2 2 R2
, sin
π s2 2 R2
.
(14.73)
Durch eine weitere Differentiation finden wir den Normalenvektor und den lokalen Krümmungsradius: π s2 π s2 ~eN = − sin , cos (14.74) 2 R2 2 R2 und
R2 . (14.75) πs Die definierende Eigenschaft der Klothoide lässt sich an Gl. (14.75) ablesen: Der Krümmungsradius ρ ist umgekehrt proportional zur Bogenlänge s. Das bedeutet aber, dass wie oben behauptet die Krümmung κ = 1/ρ linear mit s anwächst. ρ=
14.9.2 Zwangskraft im Klothoidenlooping
Berechnung der Zwangskraft Zur Berechnung der Zwangskraft fehlt uns noch die Geschwindigkeit des Wagens an den verschiedenen Stellen im Looping, die wir mit dem Energiesatz ermitteln: q v(s) = v20 − 2g · y(s) r s = v20 − 2gR · S . (14.76) R
446
Kapitel 14 Geführte Bewegungen und Zwangskräfte – Achterbahnen
Damit haben wir alles, was nötig ist, um mit Gl. (14.33) die Zwangskraft im Klothoidenlooping zu berechnen: FZ =
s 2πs 2πs Eges − mg S + mg cos 2 R R R
π s2 2 R2
.
(14.77)
Das ist unser Ergebnis: ein analytischer Ausdruck für die Zwangskraft im Klothoidenlooping. Wir müssen es noch diskutieren, um zu verstehen, weshalb der Klothoidenlooping dem kreisförmigen Looping überlegen ist. Durchfahrbedingung Wie für den kreisförmigen Looping ermitteln wir zuerst die Mindestenergie, mit der der Wagen in den Looping einfahren muss, damit er nicht aus der Bahn fällt. Wieder ist die Bedingung dafür, dass FZ > 0 an jeder Stelle gilt. Die rechte Seite von Gl. (14.77) muss demnach für alle s größer als null √ sein. Am kritischsten ist der Scheitelpunkt des Loopings. Dort gilt s/R = 2. Um die Zwangskraft an dieser Stelle √ zu berechnen, setzen wir den numerischen Wert des Fresnel-Integrals S( 2) = 0,71 ein (vgl. Abb. 14.29). Als Durchfahrbedingung ergibt sich: Eges > 0,83 mgR, (14.78) oder, umgerechnet auf die Höhe des Lifthügels: h > 0,83 R.
(14.79)
√ Zum Vergleich: Die Höhe des Loopings beträgt R · S( 2) = 0,71R (nach Gl. (14.67)). Um die Durchfahrbedingung zu erfüllen, muss also der Lifthügel um 16% höher liegen als der Scheitel des Loopings. Für einen 14 m hohen Looping muss der Lifthügel mindestens 16,60 m hoch sein. Hier liegt ein erster Vorteil des Klothoidenloopings: Der Wagen kann langsamer einfahren als bei einem gleich hohen kreisförmigen Looping. Dort waren es nach Gl. (14.64) 25%, um die der Lifthügel den Looping-Scheitel überragen musste. Den Grund kann man wieder anschaulich verstehen: Der Klothoiden-Looping ist an der entscheidenden Stelle, am Scheitel, stärker gekrümmt. Daher ist dort auch bei gleicher Geschwindigkeit die Zentripetalkraft mv2 /ρ größer, die dort oben der Gewichtskraft des Wagens entgegenwirkt. Zwangskräfte bei der Durchfahrt Lassen wir unseren Wagen durch den Looping fahren und betrachten die dabei auftretenden Zwangskräfte. Anders als beim kreisförmigen Looping gibt es bei der Einfahrt keinen abrupten Stoß. Wir konnten schon oben den Grund dafür angeben: der stetige Übergang der Krümmung beim Übergang von der Geraden in den Looping. Die Rechnung bestätigt unsere qualitative Analyse. Abb. 14.31 zeigt den mit Gl. (14.77) berechneten Verlauf der Zwangskraft für einen 14 m hohen Looping, in den der Wagen mit der Mindestgeschwindigkeit aus Gl. (14.78) einfährt.
447
Abschnitt 14.9 Der Klothoidenlooping
FZ /mg
y/m 0,9g
Einfahrt
Ausfahrt 3,0g Scheitel
3,5g 1g s
2,5g x/m
Abb. 14.31: Zwangsbeschleunigung bei einem 14 m hohen Klothoidenlooping mit minimaler Einfahrgeschwindigkeit
Vergleichen Sie mit Abb. 14.24. Gegenüber dem kreisförmigen Looping hat der Betrag der Zwangsbeschleunigung drastisch abgenommen, sie wird nirgendwo größer als 3,6 g. Den plötzlichen Beschleunigungsstoß am Anfang und am Ende gibt es wie erwartet nicht mehr. Von ihrem Ausgangswert 1 g steigt die Zwangsbeschleunigung nahezu linear bis zu ihrem Maximalwert an, den sie etwas unterhalb der halben Höhe erreicht. Dann wird sie wieder kleiner, bis sie am Scheitel den kleinsten Wert erreicht. Dort ist sie null, was ja gerade das Kennzeichen der Minimalgeschwindigkeit ist, mit der wir einfahren. Die Rechnung zeigt, dass es mit einem klothoidenförmigen Looping gelingt, Streckenverläufe mit orthopädisch vertretbaren Beschleunigungswerten zu entwerfen. Der erste Klothoidenlooping bedeutete 1976 den Durchbruch zu einer neuen Generation von Achterbahnen, die in den achtziger und neunziger Jahren mit immer spektakulärer werdenden Bahnführungen geplant wurden. Beispielaufgabe: Eurofighter Typhoon Beim Eurofighter Typhoon ist die Einfahrtgeschwindigkeit in den Looping größer als die oben berechnete Mindestgeschwindigkeit. Lesen Sie aus Abb. 14.13 die nötigen Daten ab und berechnen Sie die Zwangskraft sowie die Gesamtkraft auf einen Wagen, der durch den Looping fährt. Lösung: Nach Abb. 14.13 liegt der Lifthügel um 23,4 m höher als die Einfahrt in den Looping. Die Einfahrtgeschwindigkeit haben wir schon auf S. 426 mit dem Energiesatz berechnet: Sie liegt bei 77 km/h = 21,4 m/s. Das sind knapp 20% mehr als die Mindestgeschwindigkeit von 18 m/s. Der Eurofighter Typhoon hat eine Loopinghöhe von etwa 14 m. Um auf diese Höhe zu kommen, müssen wir in Gl.√(14.67) R = 20 m wählen, denn am Loopingscheitel hat die Funktion S den Wert S( 2) = 0,71. Die Zwangskraft wird mit Gl. (14.77) berechnet. Wir setzen den entsprechenden Wert von Eges ein und tragen FZ als Funktion von s auf. Es ergibt sich die blaue Kurve in Abb. 14.32.
448
Kapitel 14 Geführte Bewegungen und Zwangskräfte – Achterbahnen
F/mg Zwangskraft Gesamtkraft
Einfahrt
Scheitel
Ausfahrt s in m
Abb. 14.32: Zwangsbeschleunigung (blau) und Gesamtbeschleunigung (rot) bei der Durchfahrt durch den Looping des Eurofighter Typhoon
Man erkennt: Auch hier steigt die Zwangsbeschleunigung bei der Einfahrt in den Looping linear an; der Maximalwert liegt bei 5,2 g. Zum Scheitel hin nimmt die Zwangsbeschleunigung nicht so stark ab wie bei der Einfahrt mit Minimalgeschwindigkeit, sondern nur bis auf ca. 3 g. Der minimale Wert der Zwangsbeschleunigung tritt schon etwas vor dem Scheitel des Loopings auf, daher die „Zacke“ im Verlauf der Kurve. Ebenso wie beim kreisförmigen Tal lässt sich die Gesamtkraft auf den Wagen durch vektorielle Addition von Zwangskraft und Gewichtskraft berechnen (Gl. (14.28)). Der Betrag der Gesamtbeschleunigung ist als rote Kurve in Abb. 14.32 eingezeichnet. Nach einem linearen Anstieg bis auf 4,8 g bleibt er annähernd konstant, um zur Ausfahrt hin wieder linear abzufallen.
14.10 Mauskurven Wie fährt man möglichst sanft durch eine Kurve? Es gibt zwei Maßnahmen, die das Kurvenfahren angenehm machen. Eine davon haben wir gerade beim Looping kennengelernt, und wir können unsere Erkenntnis auf waagerecht liegende Kurven übertragen. Wir wissen: Koppelt man eine Kurve mit konstanter Krümmung direkt an ein Geradenstück, gibt es einen Ruck bei der Einfahrt, weil dort die Zwangskraft plötzlich einsetzt. Um diesen Ruck zu vermeiden, kann man zwischen Gerade und Kreis ein klothoidenförmiges Übergangselement einbauen, auf dem die Zwangskraft linear von null auf den endgültigen Wert ansteigt. Im Straßenbau ist dies schon seit Jahrzehnten übliche Praxis, und auch moderne Bahntrassen werden so geplant. Die zweite Maßnahme ist die Kurvenüberhöhung. Aus Kapitel 13 (S. 392) wissen wir, dass eine gewisse Schräglage das stabile Durchfahren der Kurve ermöglicht. In einer Achterbahn kann man diese Schräglage durch eine geneigte Schienenführung erreichen. Der richtige Neigungswinkel hängt von der Geschwindigkeit ab (vgl. Kapitel 13). Bei der Achterbahn ist dies kein Problem, denn alle Wagen durchlaufen die Strecke mit der gleichen Geschwindigkeit. Im Straßen- und Gleisbau, wo die Kurvenüberhöhung ebenfalls eingesetzt wird, muss man eine „Sollgeschwindigkeit“ voraussetzen, für die die Kurve geplant wird.
Abschnitt 14.11 Herzlinie
449
Abb. 14.33: Die Wilde Maus mit den Mauskurven in der oberen Etage
Dass Kurvenüberhöhungen und Übergangselemente die Kurvenfahrt komfortabel machen, wussten auch die Konstrukteure der Achterbahn Wilde Maus. Deshalb haben sie beides weggelassen. Die nach dieser Achterbahn benannten Mauskurven sind enge 180°-Kehren, die abrupt einsetzen und keine Überhöhung haben (Abb. 14.33). Alle Instrumente aus dem Schatzkästlein der Konstruktionsbosheiten werden hervorgeholt, um die Kurvenfahrt aufregend zu machen. Schädliche Beschleunigungswerte treten trotz des „gefährlichen Gefühls“ in den Mauskurven nicht auf.
14.11 Herzlinie Eine häufig eingesetzte Fahrfigur ist die Rolle. Hierbei dreht sich die Bahn einmal oder mehrmals um ihre Längsachse (Abb. 14.34). Der Streckenverlauf ist schraubenartig gewendelt. Es gibt verschiedene Möglichkeiten für den Verlauf der Drehachse und entsprechend eine ganze Reihe von Fahrfiguren mit fantasievollen Namen. Die Drehachse kann im Mittelpunkt der Schiene verlaufen. Dann spricht man von einem „inline twist“. Die Achterbahnfahrer, die etwas oberhalb der Drehachse in ihren Wagen sitzen, beschreiben eine korkenzieherförmige Bahn um die Mitte der Schiene. Auf den Kopf, der am weitesten von der Drehachse entfernt ist, wirkt dabei eine besonders große Zentripetalkraft. Daher sind „inline twists“ für die Mitfahrer leicht strapaziös.
450
Kapitel 14 Geführte Bewegungen und Zwangskräfte – Achterbahnen
Abb. 14.34: „Heartline Roll“ beim Eurofighter Typhoon
Schonender ist der „heartline roll“, bei dem die Drehachse durch die Passagiere selbst verläuft. Der Mittelpunkt des Mitfahrers bewegt sich auf einer geraden Linie (der Herzlinie), Kopf und Füße drehen sich um diese Achse. Die Schiene muss so gewendelt sein, dass bei der Durchfahrt des Wagens die Herzlinienbewegung entsteht (Abb. 14.34). Weil die Belastungen für die Insassen nicht so groß sind, kann man im Gegenzug spektakulärere Streckenführungen konstruieren. Wie der Klothoidenlooping wurde auch das Konzept der Herzlinie 1976 von Stengel entwickelt. Seither ist eine Fülle unterschiedlicher Fahrelemente entstanden, die das Prinzip variieren (Abb. 14.35).
14.12 Vorn oder hinten sitzen? Haben Sie es gemerkt? Bei den Mauskurven und der Herzlinie haben wir unser Modell des punktförmigen Achterbahnwagens durchbrochen. Überhöhte Kurven und Herzlinien braucht man nur, wenn sich die Passagiere oberhalb der Schiene befinden, wenn also der Achterbahnwagen ein ausgedehntes Objekt ist. Bei vielen Achterbahnen fahren nicht einzelne Wagen, sondern Züge aus mehreren Wagen. Dann wird auch die Ausdehnung in Längsrichtung relevant. Ist der Spaß größer, wenn man vorn oder wenn man hinten einsteigt? Vielleicht haben Sie bei Achterbahnfahrten in verschiedenen Sitzpositionen schon eigene Erfahrungen gesammelt. In physikalischer Hinsicht bringt es der Übergang vom Wagen zum Zug (vom Punkt zum ausgedehnten Körper) mit sich, dass aufgrund der starren Kopplung alle Wagen mit der gleichen Geschwindigkeit fahren. Es ist die Geschwindigkeit des Schwerpunkts, die wir mit dem Energiesatz berechnen. Sehen wir uns an einem konkreten Beispiel an, welche Folgen dies haben kann. In Abb. 14.36 durchfährt ein Zug eine Korkenzieherschraube. Der Schwerpunkt des Zuges ist gelb eingezeichnet. Er liegt außerhalb des Zuges, deutlich unterhalb des Scheitels. Nach dem Energiesatz gehört aber zu einem niedriger liegenden Schwerpunkt eine höhere kinetische Energie. Für einen ausgedehn-
Abschnitt 14.12 Vorn oder hinten sitzen?
451
Abb. 14.35: Das Sky Wheel im Allgäu Skyline Park
ten Zug haben wir also z. B. in unserer Looping-Analyse die Geschwindigkeit unterschätzt. Die Konstrukteure von Achterbahnen müssen die Zuglänge beim Entwurf berücksichtigen, und tatsächlich haben verschiedene Zuglängen leicht unterschiedliche Loopingformen zur Folge. Die ausgeprägtesten Effekte der Zuglänge gibt es bei der Abfahrt von Hügeln. Blättern Sie noch einmal zurück auf S. 413 und sehen sich Abb. 14.5 an. Der Zug fährt gerade einen Berg hinunter; die ersten Wagen haben schon fast ein Drittel des Weges zurückgelegt. Wie groß ist ihre Geschwindigkeit? So groß wie die Schwerpunktsgeschwindigkeit des ganzen Zuges. Der Zugschwerpunkt liegt aber noch ein ganzes Stück weiter oben am Berg. Die ersten Wagen rollen viel langsamer als es ihrer Höhe eigentlich entsprechen würde. Das dämpft die Freude doch erheblich. Wenn Sie im ersten Wagen sitzen und gerade über die Kuppe eines Hügels rollen, erwarten Sie, dass sie im nächsten Augenblick mit Spitzengeschwindigkeit den Berg hinuntersausen. Daraus wird aber nichts, denn die hinteren Wagen betätigen sich als Spaßbremse. Sie ziehen von hinten an Ihrem Wagen, so dass Sie am Berg buchstäblich in den Seilen hängen, bis endlich der ganze Zug in Bewegung gekommen ist. In die vorderen Wagen sollten Sie sich also nur dann setzen, wenn Sie die Aussicht genießen wollen. Wenn dagegen die Passagiere des letzten Wagens die Hügelkuppe erreichen, besitzt der Zug schon eine gewisse Geschwindigkeit. Beim Überfahren
452
Kapitel 14 Geführte Bewegungen und Zwangskräfte – Achterbahnen
Schwerpunkt des Zuges
Abb. 14.36: Die Achterbahn Cork Screw im Vergnügungspark Cedar Point, Ohio. Der Schwerpunkt des Zuges liegt unterhalb des Scheitels.
der Kuppe spüren sie eine geringere Gewichtskraft (vgl. das Beispiel „Abheben am parabelförmigen Hügel“ auf S. 435). Auch am Berg haben sie eine höhere Geschwindigkeit als ihre Vorderleute. Wenn sie allerdings im Tal ankommen, ist der Schwerpunkt des Zuges schon wieder etwas nach oben geklettert und die Geschwindigkeit hat sich ein wenig verringert. Die Zwangskräfte am Talgrund sind in den hinteren Wagen deshalb nicht so spektakulär. Sie können die in diesem Kapitel diskutierten Effekte der Reihe nach durchgehen und entscheiden, ob der Spaß im vorderen oder im hinteren Wagen größer ist. Bei der nächsten Achterbahnfahrt können Sie ihre physikalische Analyse in der Praxis überprüfen.
Anhang: Mathematische Methoden Die folgende Darstellung gibt eine kurze Einführung in die mathematischen Begriffe und Methoden der Physik. Sie ist als eine Art Formelsammlung zu verstehen, in der das Wichtigste an Mathematik zusammengestellt ist, was Sie für das Verständnis dieses Buches benötigen. Sie soll keine gründliche Einführung ersetzen.
A.1 Vektoren und Skalare Grundsätzlich unterscheidet man in der Physik zwei Arten von Größen. Skalare: Physikalische Größen, die durch die Angabe ihres Wertes (einer Zahl) schon vollständig beschrieben sind. Beispiele dafür sind: Temperatur, Masse, Spannung, Frequenz. Vektoren: Gerichtete Größen (wie Geschwindigkeit, Kraft, Magnetfeld) werden durch Vektoren beschrieben. Ein Vektor wird durch die Angabe seines Betrags und seiner Richtung charakterisiert. Man symbolisiert Vektoren durch Pfeile, deren Länge ihren Betrag angibt. In Formeln werden Vektoren durch einen Pfeil über dem Formelbuchstaben gekennzeichnet, z. B. ~v für den Vektor der Geschwindigkeit. Für den Betrag schreibt man Betragsstriche: |~v|. Ist einer Größe an jedem Raumpunkt ein Wert zugewiesen, so spricht man von einem Feld. Es gibt Skalar- und Vektorfelder. Die Temperaturverteilung T (~x ) über Deutschland ist beispielsweise ein Skalarfeld, während es sich bei der Verteilung der Windgeschwindigkeit ~v(~x ) um ein Vektorfeld handelt.
A.2 Addition von Vektoren Für Vektoren sind eine Anzahl von mathematischen Operationen definiert. (1) Erstens kann man einen Vektor ~a mit einem Skalar k multiplizieren. Der Vektor k ·~a hat die gleiche Richtung wie ~a, aber den k-fachen Betrag. Ist z. B. k = 5, dann ist der zu k ·~a gehörende Vektorpfeil fünfmal so lang wie derjenige von ~a. ®
b ®
a
®
®
a+b
Abb. A.1: Addition von Vektoren
A2
Anhang A Mathematische Methoden
(2) Zweitens kann man zwei Vektoren addieren. Dazu legt man den Fußpunkt von ~b an die Spitze von ~a (Abb. A.1). Die Summe ~a + ~b ist der rot eingezeichnete Vektor vom Fußpunkt von ~a bis zur Spitze von ~b.
®
vF ®
vS
®
vres Abb. A.2: Beispiel für die Addition von Geschwindigkeitsvektoren
Beispielaufgabe: Ein Schwimmer schwimmt senkrecht zur Strömung durch einen Fluss. Seine Geschwindigkeit ~vS relativ zur Wasseroberfläche hat einen Betrag von 1,5 m/s. Der Fluss selbst strömt mit einer Geschwindigkeit ~vF mit einem Betrag von 2 m/s. Konstruieren Sie grafisch den Geschwindigkeitsvektor des Schwimmers relativ zum Ufer und bestimmen Sie seinen Betrag. Lösung: Fertigen Sie eine Zeichnung wie in Abb. A.2 an. Die eingezeichneten Vektorpfeile sollen eine Länge von 1,5 bzw 2 Einheiten haben. Konstruieren Sie den Summenvektor ~vres = ~vS +~vF nach der oben angegebenen Vorschrift und messen Sie mit dem Lineal seine Länge. Sie sollten 2,5 Einheiten erhalten. Die Geschwindigkeit des Schwimmers relativ zum Ufer hat also die Richtung des roten Vektorpfeils ~vres und einen Betrag von 2,5 m/s. ®
®
–a
a
Abb. A.3: Die Vektoren ~a und −~a unterscheiden sich nur in ihrer (entgegengesetzten) Richtung.
Subtraktion von Vektoren Wenn man einen Vektor ~a mit dem Skalar −1 multipliziert, erhält man den Vektor −~a. Er unterscheidet sich von ~a nur durch seine Richtung: Fuß und Spitze des Vektorpfeils sind vertauscht (Abb. A.3). Die Differenz zweier Vektoren ~b und ~a ist durch die Addition des Vektors −~a definiert:
~b −~a = ~b + (−~a).
(A.1)
®
a a
®
b
Abb. A.4: Zur Definition des Skalarprodukts
A3
Abschnitt A.3 Skalarprodukt
A.3 Skalarprodukt Definition Aus zwei Vektoren ~a und ~b kann man durch Produktbildung wieder einen Skalar, also eine einfache Zahl erhalten. Die entsprechende Multiplikationsvorschrift nennt man das Skalarprodukt von ~a und ~b (Abb. A.4):
~a · ~b = |~a| · |~b| · cos α.
(A.2)
Dabei bezeichnet α den Winkel, den die beiden Vektoren einschließen. Parallele und orthogonale Vektoren Aus der Definition des Skalarprodukts liest man einige Spezialfälle ab: (1) Sind ~a und ~b parallel, erhält man das Skalarprodukt durch Multiplikation der beiden Beträge: ~a ·~b = |~a| · |~b|. Grund: Der Winkel α ist in diesem Fall null, und es gilt cos 0◦ = 1. (2) Sind ~a und ~b antiparallel (α = 180◦ ), dann ergibt sich ~a · ~b = −|~a| · |~b|. (3) Stehen ~a und ~b senkrecht zueinander, ist ihr Skalarprodukt null: ~a ·~b = 0. In diesem Fall ist nämlich α = 90◦ , und es gilt cos 90◦ = 0. Man sagt: ~a und ~b sind orthogonal.
Rechenregeln Für das Skalarprodukt gelten die folgenden Rechenregeln: (1) Kommutativität: ~a · ~b = ~b ·~a,
(2) Assoziativität bezüglich der Multiplikation mit einem Skalar: k · (~a ·~b) = (k ·~a) · ~b, (3) Distributivität: ~a · (~b +~c) = ~a · ~b +~a ·~c. Es gilt allerdings nicht: ~a · (~b ·~c) = (~a · ~b) ·~c. Dies sieht man schon daran, dass die linke Seite der Gleichung ein Vektor mit der Richtung von ~a ist, während der Vektor auf der rechten Seite die Richtung von ~c besitzt. Geometrische Interpretation des Skalarprodukts Geometrisch kann man das Skalarprodukt folgendermaßen interpretieren: Da |~b| · cos α die Projektion des Vektors ~b auf ~a ist (Abb. A.5), kann man ~a · ~b als Produkt dieser Projektion mit |~a| auffassen. ®
b a ®
|b| cos a
®
|a|
®
a
cos
a ®
b
a ®
a
Abb. A.5: Zwei gleichwertige Interpretationen des Skalarprodukts ~a · ~b
A4
Anhang A Mathematische Methoden
Das rechte Bild in Abb. A.5 illustriert, dass diese Interpretation symmetrisch in ~a und ~b ist. Das heißt: ~a · ~b ist ebensogut das Produkt der Projektion von ~a auf ~b mit |~b|.
A.4 Komponentendarstellung Kartesische Vektorkomponenten In einem kartesischen Koordinatensystem mit den Koordinaten x, y und z kann man einen Vektor ~a eindeutig durch die Zahlenwerte charakterisieren, die sich durch Projektion auf die drei Koordinatenachsen ergeben (Abb. A.6). Diese drei Zahlenwerte nennt man (kartesische) Komponenten des Vektors und man bezeichnet sie mit a x , ay und az . Oft spezifiziert man einen Vektor durch die Angabe seiner Komponenten:
~a = ( a x , ay , az ),
z. B.: ~a = (4, 4, 1).
(A.3)
z
y
®
az
a
®
ay
a
ax ax
x
y
ay
x
Abb. A.6: Kartesische Vektorkomponenten in zwei und in drei Dimensionen
Einheitsvektoren Eine mathematisch elegante Schreibweise erreicht man durch die Einführung der in Abb. A.7 gezeigten Einheitsvektoren ~e x , ~ey und ~ez . Es sind Vektoren der Länge 1, die an jedem Raumpunkt definiert sind und in Richtung der drei Koordinatenachsen zeigen. Sie sind untereinander orthogonal. Das Skalarprodukt des Einheitsvektors ~e x mit einem Vektor ~a ergibt die x-Komponente von ~a, a x = ~a ·~e x , (A.4)
denn nach der Definition des Skalarprodukts handelt es sich um die Projektion von ~a auf die Richtung der x-Achse, multipliziert mit der Länge von ~e x , also mit der Zahl 1. Analoges gilt natürlich auch für die beiden anderen Raumrichtungen. Den Vektor ~a kann man mit Hilfe von Komponenten und Einheitsvektoren folgendermaßen ausdrücken:
~a = a x ·~ex + ay ·~ey + az ·~ez .
(A.5)
A5
Abschnitt A.5 Gemeinheiten beim Fahrradfahren
z ®
ez ®
ey ®
y
ex Abb. A.7: Die Einheitsvektoren
x
~ex , ~ey und ~ez
Skalarprodukt in Komponentendarstellung Sie können den Umgang mit den Einheitsvektoren üben und das Skalarprodukt zweier Vektoren ~a und ~b mit der Formel (A.5) explizit ausschreiben: ~a · ~b = a x ·~ex + ay ·~ey + az ·~ez · bx ·~ex + by ·~ey + bz ·~ez . (A.6) Multiplizieren Sie die Klammern aus und benutzen Sie die Orthogonalitätsrelationen ~e x ·~e x = 1, ~e x ·~ey = 0 usw., um zu zeigen, dass:
~a · ~b = a x · bx + ay · by + az · bz . Betrag in Komponentendarstellung Der Betrag eines Vektors lässt sich nach Gl. (A.2) durch √ |~a| = ~a ·~a darstellen. Einsetzen in (A.7) ergibt: q |~a| = a2x + a2y + a2z .
(A.7)
(A.8)
(A.9)
Vektoraddition in Komponentendarstellung Auch die Addition zweier Vektoren lässt sich in Komponenten schreiben: ~a + ~b = a x + bx , ay + by , az + bz . (A.10)
A.5 Physikalisches Anwendungsbeispiel: Gemeinheiten beim Fahrradfahren Das folgende Beispiel aus der Physik illustriert den Umgang mit der Vektorschreibweise und den Vektorkomponenten. Wenn Sie Fahrrad fahren, entspricht es sicherlich Ihren Alltagserfahrungen, dass der Wind immer aus der
A6
Anhang A Mathematische Methoden
®
u ®
w
y x
Abb. A.8: Fahrradfahrer mit Wind in Fahrtrichtung
Gegenrichtung zu kommen scheint. Das Schlimme daran ist: Es stimmt, jedenfalls meistens. Wie Sie gleich sehen werden, müssen Sie sogar gegen den Wind strampeln, wenn dieser genau von der Seite kommt. Die Ursache dafür liegt in der speziellen Form der Abhängigkeit der Luftwiderstandskraft von der Geschwindigkeit. Erste Gemeinheit: Luftwiderstandskraft bei Hin- und Rückfahrt Der Fahrradfahrer bewegt sich mit der Geschwindigkeit ~u in Richtung der ~ bläst x-Achse (nach Osten), während der Wind mit der Geschwindigkeit w (Abb. A.8). Die Relativgeschwindigkeit zwischen Medium (Luft) und Körper ~ und ~u, ~v = w ~ − ~u. Der Betrag (Radler) ist die Differenz der beiden Vektoren w der Luftwiderstandskraft ist nach Gl. (6.3) proportional zum Quadrat von ~v:
|~FL | = k · |~v|2 .
(A.11)
~ = 0 und deshalb |~v|2 = |~u|2 ist, beschreibt Gl. A.11 die Bei Windstille, wenn w abbremsende Wirkung des Fahrtwindes. Lassen wir den Wind nun von hinten (also aus westlicher Richtung) kommen. Seine Geschwindigkeit soll der Einfachheit halber gleich der Fahrtgeschwindigkeit sein. Dann ist ~v = 0, und auf dem Fahrrad spüren Sie keinen Luftzug. Später, wenn Sie die Strecke mit der entgegengesetzten Geschwindigkeit ~u wieder zurückfahren, müssen Sie gegen die doppelte Windgeschwindigkeit ankämpfen: ~v = −2~u. „Gleicht sich aus“ denken Sie? Leider nicht. Die Realität ist viel boshafter, als Sie denken. Schauen wir uns den Luftwiderstand bei der Hin- und Rückfahrt an. Auf dem Hinweg fahren Sie guter Dinge los. Die Windgeschwindigkeit ist gleich der Fahrtgeschwindigkeit, so dass ~v = 0 und | FL | = 0 ist. Das dicke Ende kommt auf der Heimfahrt, wenn ~v = −2~u ist. Dann ist nämlich |~FL | = 4 k · |~u|2 ,
(A.12)
also das vierfache des Fahrtwindes bei Windstille. Ein schlechtes Geschäft. Im Schnitt haben Sie auf der ganzen Tour doppelt so kräftig strampeln müssen wie ohne Wind. Wenn das so ist, wollen Sie bestimmt beim nächsten Mal senkrecht zur Windrichtung fahren? In diesem Fall lernen Sie gleich die zweite Gemeinheit des Fahrtwindes kennen.
Abschnitt A.5 Gemeinheiten beim Fahrradfahren ®
a)
b)
–u ®
v
®
w
A7
vx
®
v
vy
Abb. A.9: Die Relativge~ − ~u und schwindigkeit ~v = w ihre Komponenten
Zweite Gemeinheit: Luftwiderstandskraft bei Seitenwind Der Wind hat nun gedreht und es herrscht Seitenwind. Der Fahrradfahrer bewegt sich mit der Geschwindigkeit ~u in Richtung der x-Achse (nach Osten), ~ genau aus Süden bläst (in Richwährend der Wind mit der Geschwindigkeit w tung der y-Achse). Wir nehmen der Einfachheit halber wieder an, dass die Beträge von Windgeschwindigkeit und Fahrtgeschwindigkeit gleich groß sind. Wir müssen nun die Gleichung für die Luftwiderstandskraft vektoriell formulieren. Die Richtung der Kraft ist die der Relativgeschwindigkeit ~v. Die folgende Gleichung bringt dies kompakt zum Ausdruck:
~FL = k · |~v| · ~v.
(A.13)
Abbremsend auf das Fahrrad wirkt nur die Kraftkomponente in Fahrtrichtung. Die Komponente senkrecht dazu wird von der Haftreibung zwischen Reifen und Straße aufgefangen. Intuitiv würde man erwarten, dass die Luftwiderstandskraft so groß ist wie die des Fahrtwindes bei Windstille. Denn im Bezugssystem des Fahrers kommt der Wind schräg von vorn, wobei die x-Komponente der Relativgeschwindigkeit wieder genau der Fahrtgeschwindigkeit entspricht (Abb. A.9). Die Intuition trügt allerdings. Der Luftwiderstand ist auch jetzt größer als erwartet. Die x-Komponente von Gl. (A.13) ist nämlich FL,x = k · |~v| · v x . (A.14) √ Aus Abb. A.9 liest man |~v| = 2|~u| und v x = −|~u| für die Vektorkomponenten und -beträge ab, so dass √ FL,x = − 2 k · |~u|2 . (A.15) Die bei Seitenwind wirkende Luftwiderstandskraft ist 1,4 Mal so groß wie diejenige bei Windstille. Und das gilt auf der Hinfahrt ebenso wie auf der Rückfahrt. Senkrecht zum Wind fahren ist also nur 30% effektiver als entlang der Windrichtung hin und zurück. Das ist die zweite Gemeinheit beim Fahrradfahren mit Wind. q Der mathematische Grund der Gemeinheit liegt im Faktor |~v| = v2x + v2y , der in Gl. (A.14) auftritt, d. h. letztendlich in der Tatsache, dass die Luftwiderstandskraft quadratisch von der Geschwindigkeit abhängt. Der Faktor |~v| bewirkt, dass bei Seitenwind auch die Komponente vy senkrecht zur Fahrtrichtung zum Luftwiderstand beiträgt, die ja in der intuitiven Betrachtung von
A8
Anhang A Mathematische Methoden
der Haftreibung abgefangen wird. Bei stärkerem Seitenwind verschlechtert ~ das 2-, 3-, 4-fache von |~u|, versich die Sache noch weiter. Ist der Betrag von w größert sich die Luftwiderstandskraft auf das 2,2-, 3,2-, 4,1-fache des Wertes bei Windstille.
A.6 Das Vektorprodukt Es gibt noch ein weiteres Produkt zwischen zwei Vektoren ~a und ~b, das Vektorprodukt oder Kreuzprodukt ~a × ~b. Wie man schon aus der Benennung erschließen kann, ist ~a × ~b kein Skalar, sondern ein Vektor (Abb. A.10):
~a × ~b = (|~a| · |~b| · sin α) · ~n.
(A.16)
Dabei ist α der Winkel zwischen ~a und ~b. Die Richtung von ~a × ~b wird durch den Einheitsvektor ~n bestimmt, der senkrecht sowohl auf ~a als auch auf ~b steht (d. h. er steht senkrecht auf der durch ~a und ~b festgelegten Ebene). Abb. A.11 erläutert die Rechte-Hand-Regel, mit der man die Richtung von ~a × ~b bestimmen kann. ®
®
®
a xb
®
a xb
®
a
®
®
n
b
a
®
a
Abb. A.10: Zur Definition des Vektorprodukts
®
b
Abb. A.11: Rechte-Hand-Regel für das Vektorprodukt
Geometrisch lässt sich der Betrag von ~a × ~b als die Fläche des in Abb. A.10 blau schattierten Parallelogramms interpretieren: |~a × ~b| = |~a| · |~b| · sin α. Aus der Definition des Vektorprodukts lassen sich einige Spezialfälle ablesen: (1) Sind ~a und ~b parallel oder antiparallel, dann ist ihr Vektorprodukt null (dann gilt sin α = 0). (2) Insbesondere ist das Vektorprodukt eines Vektors mit sich selbst null. (3) Stehen ~a und ~b senkrecht zueinander (d. h. α = 90◦ ), dann hat das Vektorprodukt seinen maximalen Betrag und es gilt: |~a × ~b| = |~a| · |~b|. Rechenregeln Es gelten die folgenden Regeln: (1) Das Vektorprodukt ist nicht kommutativ: ~a × ~b = −~b ×~a,
A9
Abschnitt A.7 Differentiation von Vektoren
(2) die Multiplikation mit einem Skalar ist assoziativ: k · (~a × ~b) = (k ·~a) × ~b = ~a × (k · ~b),
(A.17)
(3) Distributivität: ~a × (~b +~c) = ~a × ~b +~a ×~c. Es gilt jedoch keine Assoziativität bezüglich der zweifachen Anwendung des Vektorprodukts: ~a × (~b ×~c) 6= (~a × ~b) ×~c.
A.7 Differentiation von Vektoren Vektoren können Funktionen eines Parameters sein, z. B. der Zeit t. Die Differentiation nach diesem Parameter erfolgt einfach komponentenweise: dbx (t) dby (t) dbz (t) d~b(t) = , , . dt dt dt dt
(A.18)
Als Beispiel betrachten wir den Vektor ~b(t) = (t2 , 3t, 1). Die Differentiation nach t ergibt den Vektor d~b(t)/dt = (2t, 3, 0). z
®
r
P y
x
Abb. A.12: Zur Definition des Ortsvektors ~r
A.8 Ortsvektor, Geschwindigkeit und Beschleunigung Den Vektor ~r zwischen dem Ursprung des Koordinatensystems und einem Punkt P (z. B. einem Punkt auf der Bahn eines Körpers) nennt man den Ortsvektor von P. Seine Koordinaten sind ( x, y, z). Mit Einheitsvektoren kann man ihn folgendermaßen schreiben:
~r = x ·~ex + y ·~ey + z ·~ez .
(A.19)
Betrachtet man einen Körper, der sich entlang einer Bahn bewegt, so ist der Vektor der Geschwindigkeit als zeitliche Ableitung des Ortsvektors definiert:
~v =
d~r . dt
(A.20)
In Kapitel 2 wird ausführlicher auf die dadurch bestimmte Richtung des Geschwindigkeitsvektors eingegangen. Er liegt immer tangential zur Bahn. Da
A10
Anhang A Mathematische Methoden
die Einheitsvektoren zeitlich konstant sind, kann man aus Gl. (A.19) durch Differentiation eine Darstellung von ~v gewinnen:
~v = x˙ ·~ex + y˙ ·~ey + z˙ ·~ez ,
(A.21)
oder, in Komponenten geschrieben: ˙ y, ˙ z˙ ). (v x , vy , vz ) = ( x,
(A.22)
Der Beschleunigungsvektor ~a ist als zeitliche Änderung des Geschwindigkeitsvektors definiert: d2~r d~v ~a = = 2. (A.23) dt dt Auch auf diesen Vektor wird in Kapitel 2 näher eingegangen. Seine Komponenten sind: ¨ y, ¨ z¨ ). ( a x , ay , az ) = ( x, (A.24) y
®
v (t) y (t) ®
r
R
x
x (t)
Abb. A.13: Kreisbewegung
Beispielaufgabe: Die Bahn eines Körpers, der eine gleichmäßige Kreisbewegung mit dem Radius R in der x-y-Ebene ausführt, wird durch die folgenden Komponenten des Ortsvektors beschrieben:
~r (t) = ( x (t), y(t), z(t)) = ( R cos ωt, R sin ωt, 0).
(A.25)
Die Konstante ω nennt man die Winkelgeschwindigkeit. Sie wird im folgenden Abschnitt noch detaillierter besprochen. Je größer ω , umso schneller verläuft die Kreisbewegung. Zwischen ω und der Umlaufzeit T besteht der Zusammenhang
ω=
2π , T
(A.26)
wie Sie sich anhand von Gl. (A.25) klarmachen können. Bestimmen Sie für die durch Gl. (A.25) beschriebene Bewegung die Komponenten und den Betrag des Geschwindigkeits- und des Beschleunigungsvektors.
A11
Abschnitt A.9 Drehwinkel und Winkelgeschwindigkeit
Lösung: Den Geschwindigkeitsvektor erhält man durch Differentiation des Ortsvektors (vgl. Gl. (A.22)):
~v(t) = (v x (t), vy (t), vz (t)) = (−ωR sin ωt, ωR cos ωt, 0).
(A.27)
Sie können sofort nachprüfen, dass er orthogonal zum Ortsvektor steht, indem Sie das Skalarprodukt ~r · ~v bilden und überprüfen, dass es null ist:
~r · ~v = −ωR2 sin ωt cos ωt + ωR2 cos ωt sin ωt = 0.
(A.28)
Der Betrag von ~v ist:
|~v| =
q
v2x + v2y + v2z =
= ωR.
q
ω 2 R2 sin2 ωt + cos2 ωt
(A.29)
Die Komponenten des Beschleunigungsvektors sind proportional zu denen des Ortsvektors, und zwar mit umgekehrtem Vorzeichen:
~a(t) = ( a x (t), ay (t), az (t)) = (−ω 2 R cos ωt, −ω 2 R sin ωt, 0).
(A.30)
Bei der gleichförmigen Kreisbewegung ist der Beschleunigungsvektor radial nach innen gerichtet (vgl. Kapitel 2), und es gilt ~a = −ω 2~r. Man spricht in diesem Fall von der Zentripetalbeschleunigung. Für den Betrag der Zentripetalbeschleunigung ergibt sich: q
|~a| =
a2x + a2y + a2z = ω 2 R.
(A.31)
Ein oft benutzter Zusammenhang zwischen Bahngeschwindigkeit und Zentripetalbeschleunigung ergibt sich, wenn man Gl. (A.29) in Gl. (A.31) einsetzt:
|~a| =
|~v|2 . R
(A.32)
Entsprechend muss auf einen Körper eine nach innen gerichtete Zentripetalkraft wirken, um ihn auf eine Kreisbahn mit dem Radius R zu zwingen:
FZP = m ·
v2 R
oder
FZP = m · ω 2 · R.
(A.33)
A.9 Drehwinkel und Winkelgeschwindigkeit Drehbewegungen beschreibt man am besten nicht durch Strecken, sondern durch Winkel. Sehen Sie sich die rotierende Stange in Abb. A.14 an. Alle ihre Punkte legen in einer Sekunde unterschiedliche Wege si zurück – aber den gleichen Winkel φ. Nicht ihre Geschwindigkeit ist konstant, sondern ihre Winkelgeschwindigkeit, die Sie bereits aus der vorigen Beispielaufgabe kennen. Der Drehwinkel φ wird, wie in Abb. A.15 (a) gezeigt, von der x-Achse im mathematisch positiven Drehsinn gerechnet (also „linksherum“). Es ist vorteilhaft, den Drehwinkel im Bogenmaß anzugeben (so dass φ bei einem ganzen Umlauf von 0 bis 2π variiert und nicht von 0◦ bis 360◦ ). Der Grund dafür
A12
Anhang A Mathematische Methoden
r2
s1
s2
f s4
s3
f
s6
s5
s7
s8
r6
Abb. A.14: Eine rotierende Stange
ist, dass in diesem Fall die folgende einfache Beziehung für den Kreisbogen s gilt (Abb. A.15 (b)): s = r · φ, (A.34)
die Sie in mathematischen Formelsammlungen nachschlagen können. Die Winkelgeschwindigkeit wird ganz ähnlich wie die gewöhnliche Geschwindigkeit definiert, nur dass man eben nicht die Streckenänderung, sondern die Winkeländerung pro Zeitintervall betrachtet. Die Winkelgeschwindigkeit ist die zeitliche Änderung des Drehwinkels: ω=
dφ . dt
(A.35)
Der Winkelgeschwindigkeit wird eine Richtung zugewiesen, so dass sie zum ~ wird. Mit der Visualisierungshilfe in Abb. A.15 (a) können Sie sich Vektor ω ihre Richtung merken: Zeigen die gekrümmten Finger der rechten Hand in ~ an. Drehrichtung, dann gibt der Daumen die Richtung von ω Für einen Körper, der auf einer Kreisbahn mit dem konstanten Radius r umläuft, erhält man eine wichtige Beziehung zwischen Bahngeschwindigkeit ®
w
®
v ®
r
s
f
f = Drehwinkel
r (a)
(b)
~ , (b) Abb. A.15: (a) Zur Definition von Drehwinkel φ und Winkelgeschwindigkeit ω Kreisbogen s und Drehwinkel φ
A13
Abschnitt A.10 Integration von Vektoren
und Winkelgeschwindigkeit, indem man den Zusammenhang (A.34) zwischen Kreisbogen und Drehwinkel nach der Zeit ableitet (vgl. auch Gl. (A.29)): v = ω · r.
(A.36)
Beispielaufgabe: Berechnen Sie die Winkelgeschwindigkeit der Erddrehung. Lösung: Die Erde dreht sich in 24 Stunden einmal vollständig um ihre Achse (Drehwinkel 2π ). Ihre Winkelgeschwindigkeit hat den Betrag
ω=
2π 1 2π = = 7,3 · 10−5 . 24 h 24 · 3600 s s
(A.37)
Da die Drehung in Richtung Osten verläuft, zeigt der Vektor der Winkelgeschwindigkeit in Richtung Nordpol.
A.10 Integration von Vektoren Vektoren kann man bezüglich einer skalaren Größe komponentenweise integrieren. Betrachten wir als Beispiel das zweite newtonsche Gesetz in der Form
~F = dp . dt
(A.38)
Die Impulsänderung ∆~p in einem Zeitintervall von t1 bis t2 ist dann gegeben durch Z t2 ~F dt. ∆~p = (A.39) t1
Wenn z. B. ~F = (4 N/s · t, 5 N, 0), dann ist ∆~p =
Z t2 t1
~F dt = (4 N/s · 1 (t22 − t21 ), 5 N(t2 − t1 ), 0). 2
(A.40)
A.11 Linienintegrale Eine besondere Form der Integration von Vektoren tritt z. B. bei der Berechnung der mechanischen Arbeit auf (vgl. Kapitel 7). Betrachtet werden die Bahnkurve eines Körpers ~r (t) und ein Vektorfeld ~F, das an jedem Punkt der Bahnkurve definiert ist (im Fall der Arbeit ist dies die äußere Kraft, die auf den Körper wirkt). Das Linienintegral des Vektors ~F entlang der Bahn ist eine skalare Größe. Es ist folgendermaßen definiert (vgl. Gl. (7.32)): W=
Z B A
~F d~r =
Z B A
~F ·~eT dr.
(A.41)
Dabei ist ~eT ein Tangentenvektor der Länge 1 am jeweiligen Punkt der Bahn (Abb. A.16) und ~F ·~eT = F · cos φ ist die Projektion von ~F auf die Bahn.
A14
Anhang A Mathematische Methoden ®
F
f
®
eT
B
Abb. A.16: Berechnung der Arbeit durch ein Linienintegral
A
Die Berechnung eines Linienintegrals ist weniger kompliziert als es nach seiner Definition den Anschein hat. Man führt es auf die Berechnung eines gewöhnlichen Integrals zurück, indem man die Kurve durch eine skalare Größe t parametrisiert (z. B. durch die Zeit). Man „erweitert“ im Integral mit dt: Z B A
~F d~r =
Z B A
~F d~r dt = dt
Z B A
~F · ~v dt
(A.42)
und hat damit ein ganz gewöhnliches Integral der skalaren Größe ~F · ~v über t vor sich. Beispielaufgabe: Berechnen Sie die Arbeit, die das Gravitationsfeld der Erde an einer Kugel der Masse m verrichtet, wenn sie auf dem in Abb. A.17 gezeigten Viertelkreis nach oben bewegt wird. Lösung: Die Parametrisierung ~r (t) der Bahn kennen wir bereits aus Gl. (A.25), ebenso den Ausdruck für den Geschwindigkeitsvektor (Gl. (A.27)). Den gezeigten Viertelkreis legt die Kugel zurück, wenn sie die Bahn von t = 0 bis ωt = π/2 durchläuft, d. h. bis zum Zeitpunkt t 1 = π/(2ω ). Der Vektor der Kraft ist 4
~F = (0, −mg, 0),
(A.43)
~F · ~v = −mg · ωR cos ωt.
(A.44)
und der Integrand ~ F · ~v wird zu
y ®
R
v(t) ®
F
x
Abb. A.17: Beispiel für die Berechnung eines Linienintegrals
A15
Abschnitt A.12 Gradient und Äquipotentiallinien Damit können wir das Linienintegral für die Arbeit berechnen:
W=
Z t1 4
0
~F d~r =
Z t1 4
0
~F · ~v dt
= −mg · ωR
Z t1
4
0
cos ωt dt
1 sin ωt = −mg · ωR ω π = −mg · R sin 2
t 1 4
0
= −mg · R. Die Arbeit ist negativ, denn die Bewegungsrichtung ist entgegengesetzt zur Richtung der äußeren Kraft. Das Ergebnis sollte Ihnen in der Gestalt m · g · h vertraut erscheinen. Die an der Kugel verrichtete Arbeit hängt nur von Anfangs- und Endpunkt ab, nicht aber vom genauen Verlauf der Kurve. Für jede andere Kurve zwischen den beiden Punkten hätten wir das gleiche Ergebnis bekommen. Kraftfelder, für die das Linienintegral der Arbeit wegunabhängig ist, nennt man konservativ. Nur für sie kann man eine potentielle Energie definieren.
Abb. A.18: Höhenlinien
A.12 Gradient und Äquipotentiallinien Höhenlinien sind Ihnen sicher von Wanderkarten vertraut (Abb. A.18). Sie zeigen diejenigen Punkte in einer Landschaft an, die auf gleicher Höhe liegen. Physikalisch entsprechen sie Linien gleichen Gravitationspotentials φ auf der Erdoberfläche (Äquipotentiallinien). Wandert man entlang einer Höhenlinie, verläuft der Weg flach; senkrecht dazu geht es auf- oder abwärts. Ganz allgemein kann man jeder skalaren Funktion Linien (oder, in drei Dimensionen: Flächen) konstanter Werte zuordnen. Von der Wetterkarte kennen Sie die Isobaren, die Linien konstanten Druckes.
A16
Anhang A Mathematische Methoden
Abb. A.19: Der Gradient steht senkrecht auf den Äquipotentiallinien.
Betrachtet man ein skalares Feld φ( x, y, z), dann gibt es an jedem Punkt eine Richtung, in der sich das Skalarfeld am stärksten ändert. Der Gradient von φ gibt für jeden Punkt diese Richtung an. Er zeigt auf der Karte die Himmelsrichtung an, in der es am steilsten bergauf geht oder in der der Luftdruck am stärksten zunimmt. Er steht senkrecht auf den Äquipotentiallinien oder Äquipotentialflächen. In Abb. A.19 ist der Gradient des durch die eingezeichneten Äquipotentiallinien beschriebenen Skalarfeldes an einigen Stellen angegeben. Nicht nur die Richtung, sondern auch der Betrag des Gradienten besitzt eine Bedeutung. Er gibt darüber Auskunft, wie stark sich das Skalarfeld in Richtung der größten Steigung ändert, d. h. wie steil der Anstieg ist. Je enger die Äquipotentiallinien zusammenliegen, umso steiler geht es an der jeweiligen Stelle bergauf oder bergab und umso länger ist auch in Abb. A.19 der Pfeil, der den Gradienten darstellt. ~ φ. MaIn Formeln schreibt man den Gradienten eines Skalarfeldes φ als ∇ thematisch gewinnt man ihn durch Differentiation (das ist einleuchtend, denn es geht ja um eine Steigung): ∂φ ∂φ ∂φ ~ , , . (A.45) ∇φ = ∂x ∂y ∂z ∂ Das Symbol ∂x steht für die partielle Ableitung und wird auf S. 171 erläutert. ~ auch allein benutzt, Oft wird das Symbol ∇ ∂ ∂ ∂ ~ ∇= , , , (A.46) ∂x ∂y ∂z
als Operator, der auf eine rechts von ihm stehende Funktion wirkt. Man bezeichnet ihn als Nabla-Operator.
Literatur Die Grundlagen der klassischen Mechanik sind seit langer Zeit gut verstanden. In den meisten Gesamtdarstellungen der Physik fallen die entsprechenden Kapitel daher sehr ähnlich aus. Sie können Ihren persönlichen Geschmack entscheiden lassen. Wegen ihrer Originalität besonders hervorzuheben sind die „Feynman Lectures“ aus dem Jahr 1965: R. P. Feynman, Vorlesungen über Physik. Bd.1: Mechanik, Strahlung und Wärme, München: Oldenbourg (5 2007). Von den Einzeldarstellungen der Mechanik ist das folgende, sehr sorgfältig und anschaulich geschriebene Buch besonders zu empfehlen: A. P. French, Newtonsche Mechanik, Berlin: de Gruyter (1996). Zwei Standardwerke der theoretischen Physik mit einem höheren mathematischen Anspruch: H. Goldstein, C. P. Poole, J. L. Safko, Klassische Mechanik, Weinheim: Wiley (3 2006). A. Sommerfeld, Vorlesungen über Theoretische Physik. Bd. 1: Mechanik, Frankfurt: Harri Deutsch (1994). Einen ähnlichen Zugang wie das vorliegende Buch, die Vermittlung der Physik in Alltagskontexten, verfolgt Bloomfield, wobei der mathematische und physikalische Anspruch deutlich niedriger ist. L. Bloomfield, How Everything Works: Making Physics out of the Ordinary, New York: Wiley (2007). Kapitel 1: Die historische Entwicklung, die zum Trägheitsgesetz führte, wird in den folgenden Büchern nachvollzogen: E. Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, (1991; Nachdruck der 9. Auflage 1933). K. Simonyi, Kulturgeschichte der Physik, Frankfurt: Harri Deutsch (3 2001). W. Kuhn, Ideengeschichte der Physik, Wiesbaden: Vieweg (2001). Kapitel 2: Würfe und Sprünge werden aus physikalischer Sicht behandelt in: L. Mathelitsch, Sport und Physik, Wien: Hölder-Pichler-Tempsky (1991). Kapitel 3: Die Veranschaulichung der Geschwindigkeitsänderung als Zusatzbewegung, speziell die Einführung über einen zweidimensionalen Stoßversuch geht auf einen Vorschlag von Jung, Wiesner und Wodzinski zurück: R. Wodzinski, H. Wiesner: Einführung in die Mechanik über die Dynamik: Zusatzbewegung und Newtonsche Bewegungsgleichung, Physik in der Schule S. 202 (1994) sowie weitere Artikel der Autoren im gleichen Jahrgang dieser Zeitschrift.
A18
Literatur
Kapitel 4: Eine empfehlenswerte und umfangreiche englischsprachige Webseite, auf der die Frage „Wie funktioniert das?“ für viele Themenbereiche des Alltags beantwortet wird, finden Sie unter www.howstuffworks.com. Dort gibt es auch einen Themenbereich „Sicherheit im Auto“, in dem die technischen Aspekte der hier angesprochenen Sicherheitssysteme vertieft werden. Kapitel 5: Systembetrachtungen und das „Freistellen“ von Körpern werden in englischsprachigen Büchern im Allgemeinen stärker betont als in deutschsprachigen. Als weiterführende Lektüre zu Kapitel 5 kann man das schon erwähnte Buch von French empfehlen. Einen Überblick über typische „Stolperfallen“ in der Mechanik, d. h. über häufig auftretende Lernschwierigkeiten, geben die entsprechenden Kapitel in R. Müller, R. Wodzinski, M. Hopf, Schülervorstellungen in der Physik, Köln: Aulis (2004). A. B. Arons, Teaching Introductory Physics, New York: Wiley (1997). Das Beispiel „Pferd und starker Mann“ auf S. 103f stammt aus: P. Hewitt, Figuring Physics, The Physics Teacher 42, S. 456 (2004). Kapitel 6: Eine von Kittinger selbst verfasste Beschreibung seines Sprungs findet man in: J. W. Kittinger, The Long, Loneley Leap, National Geographic, S. 856 (Dezember 1960). Zwei Artikel, die den Sprung aus physikalischer Sicht beleuchten, wobei der zweite die auf S. 159 angesprochene fehlerhafte Abschätzung der Höchstgeschwindigkeit enthält: P. Mohazzabi, J. H. Shea, High-altitude free fall, American Journal of Physics 64, S. 1242 (1996). A. W. Robinson, C. G. Patrick, The physics of Colonel Kittinger’s longest lonely leap, Physics Education 43, S. 477 (2008). In der Lernpsychologie hat die Experten-Novizen-Forschung zum physikalischen Problemlösen in den 1980er Jahren für Aufsehen gesorgt: M. T. H. Chi, P. J. Feltovich, R. Glaser, Categorization and representation of physics problems by experts and novices, Cognitive Science 5, S. 121 (1981). Kapitel 7: Welche Kraft und welcher Weg in „Arbeit = Kraft · Weg“ gemeint ist und welche Schwierigkeiten dahinter stecken, diskutieren die folgenden Autoren: Arnold B. Arons, Development of energy concepts in introductory physics courses, American Journal of Physics 67, S. 1063 (1999). Carl Mungan, A Primer on Work-Energy Relationships for Introductory Physics, Physics Teacher 43, S. 10 (2005). Wie Muskeln funktionieren, wird in Physiologiebüchern erklärt: R. Klinke, S. Silbernagl (Hrsg.), Lehrbuch der Physiologie, Stuttgart: Thieme (4 2003). R. F. Schmidt, G. Thews, F. Lang (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Berlin: Springer (30 2007).
Literatur
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Feldenergieberechnungen findet man z. B. im folgenden Standardwerk: J. D. Jackson, Klassische Elektrodynamik, Berlin: de Gruyter (4 2006). Die Abschätzungen, wie viel ein Hai frisst und welcher Zusammenhang zwischen Leistung und Höchstgeschwindigkeit eines Autos besteht, sind Beispiele für Fermiprobleme. Ein ganzes Zeitschriftenheft, das sich mit Fermiproblemen befasst: Fermiprobleme – Vereinfachen, Nähern, Abschätzen. Themenheft aus "Praxis der Naturwissenschaften – Physik in der Schule". Heft 8/50 (Dezember 2001). Kapitel 8: Die Idee, den Film „Armageddon“ für das Lernen von Physik nutzbar zu machen, stammt von Efthimiou und Llewellyn, die auch noch zahlreiche andere Filme physikalisch analysiert haben. C. J. Efthimiou, R. A. Llewellyn, Avatars of Hollywood in physical science. Physics Teacher 44, S. 28 (2006), online verfügbar unter arxiv.org/pdf/physics/ 0609154. Kapitel 9: Wie eine Mondkanone heute aussehen könnte, findet man unter: The Jules Verne Gun, Popular Mechanics, April 1998 www.popularmechanics.
com/science/air_space/1277296.html Eine Fülle an Informationen bietet der NASA Technical Report Server (ntrs.nasa. gov). Die Pressemappen der Apollo-Missionen findet man unter www-lib.ksc.nasa. gov/lib/public/archives/presskits.html, Um die Flugdaten von Apollo 12 zu erhalten, suchen Sie dort nach Apollo/Saturn 5 Postflight Trajectory AS-507. Kapitel 10: Ausführlichere Darstellungen der Himmelsmechanik findet man in den schon erwähnten Büchern von Goldstein et al. und French. Weitere im Kapitel angesprochene Literatur: V. Rubin, Seeing dark matter in the Andromeda galaxy, Physics Today 59, S. 8 (Dezember 2006). S. Tremaine, The dynamical evidence for dark matter, Physics Today 45, S. 28 (Februar 1992). D. Meschede, Gerthsen Physik, Heidelberg: Springer (23 2006). Kapitel 11: Detaillierte Bahndaten von Himmelskörpern und Raumsonden findet man auf dem Ephemeriden-Server der NASA: ssd.jpl.nasa.gov/horizons.cgi. Die einfache Gleichung (11.12) als Lösung des eindimensionalen elastischen Stoßproblems wurde von Millet gefunden. Van Allen behandelt die energetischen Aspekte des Stoßes von Pioneer 10 an Jupiter. L. E. Millet, The one-dimensional elastic-collision equation: vf = 2vc − vi , The Physics Teacher 36, S. 186 (1998). J. A. van Allen, Gravitational assist in celestial mechanics – a tutorial, American Journal of Physics 71, S. 448 (2003). Über die Pioneer- und die Flyby-Anomalie berichten Preuss, Dittus und Lämmerzahl: O. Preuss, H. Dittus, C. Lämmerzahl, Überraschungen vor der Haustür, Sterne und Weltraum 46, S. 26 (April 2007).
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Literatur
Kapitel 12: Zwei Artikel, die sich um die Erklärung der Gezeiten bemühen: H. J. Schlichting, P. Farwig, Ebbe und Flut im Unterricht der Sekundarstufe I und II, Physica Didactica 4, S. 197 (1977). H. Näpfel, W. B. Schneider, Die Gezeiten und ihre Behandlung im Physik- und Astronomieunterricht. Physik und Didaktik 2, S. 124 (1990). Um sich über die Experimente zur künstlichen Gravitation zu informieren, suchen Sie auf dem NASA Technical Report Server ntrs.nasa.gov nach den Berichten Certain aspects of onboard centrifuges and artificial gravity und Fifth Symposium on the Role of the Vestibular Organs in Space Exploration. Weitere Literatur: E. Lorenzini, J. Sanmartin, Magnetantrieb für Raumfahrzeuge, Spektrum der Wissenschaft, S. 82 (Dezember 2004). S. J. Peale, P. Cassen, R. T. Reynolds, Melting of Io by Tidal Dissipation, Science 203, S. 892 (1979). Kapitel 13: Das Buch von Laws ist die umfangreichste Referenz zur Physik des Balletts. Die weitere im Kapitel zitierte Literatur findet man in folgenden Quellen: Kenneth Laws, Physics and the Art of Dance, Oxford: Oxford UP (2002). W. O. Whitney, C. J. Mehlhaff, High-rise syndrome in cats, J. Am. Vet. Med. Assoc. 191, S. 1399 (1987). F. Klein, A. Sommerfeld, Über die Theorie des Kreisels, Leipzig: Teubner, (1903– 1910); digital zugänglich über www.archive.org. D. E. H. Jones, The stability of the bicycle, Physics Today, S. 34 (April 1970); wiederabgedruckt ebd., S. 51 (September 2006). J. P. Meijaard et al., Linearized dynamics equations for the balance and steer of a bicycle: a benchmark and review, Proc. Roy. Soc. A 463, S. 1955 (2007). Kapitel 14: Sehr viel Information über Achterbahnen findet man auf der Webseite coastersandmore.de. Zwangskräfte werden in der theoretischen Physik meist über den Lagrange-Formalismus eingeführt. Einen einfacheren Zugang (der aber immer noch komplizierter ist als der hier dargestellte) gibt Budo. A. Budo, Theoretische Mechanik, Weinheim: Wiley-VCH (12 1990). Anhang A: Es gibt einige gute Bücher über die in der Physik nötige Mathematik. Zu empfehlen ist das Buch von Großmann. Bei Greiner findet man mehr über die in Kapitel 14 verwendete elementare Differentialgeometrie. Alles was Sie jemals über mathematische Funktionen wissen müssen (und noch etwas mehr) steht bei Abramowitz und Stegun. Dies ist das Standardwerk, nach dem sich die Physiker weltweit richten. S. Großmann, Mathematischer Einführungskurs für die Physik, Stuttgart: Teubner (7 2005). W. Greiner, Klassische Mechanik I, Frankfurt: Harri Deutsch (8 2008). M. Abramowitz und I. A. Stegun, Handbook of mathematical functions, www.
math.sfu.ca/~cbm/aands/
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A22
Bildnachweis
Folgende Tänzer und Ensembles sind in den Ballett-Kapiteln dargestellt: Robin Cornwell, Smuin Ballet: The Christmas Ballet 2.20; Staatstheater Braunschweig: Nussknacker 13, Messias 13.6, And I love you so 13.26; Eve Chan, Hong Kong Ballet 13.5; Jurgita Dronina 13.9; Pascal Molat: Alles Walzer 13.18; Russisches Staatsballett: Schwanensee 13.14
Sachregister 2001 – Odyssee im Weltraum, 19, 316, 352
A Abbremszeit, 78 Abgeschlossenes System, 170 Ableitung und zeitliche Änderung, 32 Abschleppseil, 105 Absprungwinkel, 44 Achterbahnen, 408–452 Achterbahn-Formel, 433 Airbag, 88 Alltagserfahrungen und physikalische Gesetze, 17 Anlaufgeschwindigkeit, 44 Apollo 12, 234 Beschleunigung, 246 Flugbahn, 242 Äquipotentiallinie, A15 Arbeit, 177 Aristotelische Mechanik, 18 Asteroid, 203 Atmosphärenmodell, 149 Auffahrunfall, 20–26 hinteres Auto, 21 vorderes Auto, 25 Aufzug, beschleunigter, 123 Auto, 102 Sicherheitseinrichtungen, 77–90
B Bahngeschwindigkeit der Planeten, 261, 264 Bahnkurve, 45 Ballett, 53, 362–397 schräger Wurf, 54 Ballettfiguren Arabesque, 369 Fouetté, 381 Grand Jeté, 54 Passé, 364 Pirouette, 379 Tour jeté, 397
Beschleunigtes Bezugssystem, 337–360 Beschleunigung, 32, 33, 418 beim schrägen Wurf, 69 gleichmäßige, 43 Richtung, 34 und Geschwindigkeitsänderung, 32, 33 Beschleunigungssensor, 89 Bewegungsmuster, eingeprägte, 37 Bezugssystem, 22 beschleunigtes, 337, 360 frei fallendes, 243 rotierendes, 345 Billardstoß, 292 Bogenlänge, 414 Bremsbeschleunigung, 76 Bremsweg, 77 Brennwert, 163 Bungeespringen, 38–42
C Chemische Energie, 163 Corioliskraft, 348 Crashtest, 23, 75 cW -Wert, 132
D Determinismus, 15 Differentialgleichung numerische Lösung, 152 Runge-Kutta-Verfahren, 154 Trennung der Variablen, 141 Drehbewegungen, 374–384 Drehimpuls, 270 Drehimpulserhaltung, 269–272 für offene Systeme, 383 Drehmoment, 366 und Drehimpulsänderung, 382 Drehmomentgleichgewicht, 94, 367 Drehschemelversuch, 374 Dreibein, 414
A24 Dunkle Materie, 265 Dynamik ausgedehnter Systeme, 385 Dynamik und Kinematik, 58
E Ebbe und Flut, 335 Ebene, schiefe, 116, 422 Elastischer Stoß, 285–311 Elektrisches Feld, 168 Ellipsenbahnen, 259 En pointe, 372 Energie chemische, 163 -formen, 162 kinetische, 162 potentielle, 163, 190, 195 Energieerhaltung, 170–184 für abgeschlossene Systeme, 174 für offene Systeme, 176 Herleitung, 175 Energieumwandlungen, 167 Euler-Verfahren, 152 Experiment u. Theorienbewährung, 69
F Fahrgastzelle, 80 Fahrrad, 392, 404 Fall freier, 130 mit Luftwiderstand, 131, 136 Fallschirmsprung, 128–160 Bewegungsgleichung, 136 Endgeschwindigkeit, 138 konstante Luftdichte, 136 variable Luftdichte, 149 Federwaage, 120 Feld, 168 Feldenergie, 191, 195 First Drop, 408 Flächenfallschirm, 146 Flächensatz, 259 und Drehimpulserhaltung, 269 Fluchtenergie der Erde, 255 des Sonnensystems, 256 Fluchtgeschwindigkeit, 229, 255 Flutberge, 317–337 Flyby-Anomalie, 312
Sachregister Freier Fall, 130 mit Luftwiderstand, 131, 136 und Corioliskraft, 356 Freiheitsgrade, 365 Fußball, 59
G Galaxie flache Rotationskurven, 265 Galilei-Experiment, 340 Galileischer Trägheitsbegriff, 18 Gegenkraft, 97, 103 Gehen in rotierender Raumstation, 352 Geradlinig-gleichförmige Bewegung, 16 Gesamtenergie, 172 im Gravitationsfeld, 261 Gesamtimpuls, 207 Gesamtkraft, 92 Geschwindigkeit, 29, 418 Geschwindigkeitsänderung, 32 änderung und Kraft, 59, 61, 64 vektor, 29 Gewicht, 123 Gewichtskraft, 68 Gezeiten vom Mond verursachte, 334 von der Sonne verursachte, 332 Gezeitenkräfte, 317–337 Gleichgewicht in der Bewegung, 384 instabiles, 365, 388 statisches, 362 Übungen, 362 Gleichgewichtsbedingung, 94, 364, 367 Gleichmäßig beschleunigte Bewegung, 43 Gleitreibung, 116 Gradient, A15 Grafische Lösung der Bewegungsgleichung, 68 Grand Jeté, 54 Gravitation der Erde, 254 der Sonne, 256 Wegtransformieren durch Bezugssystemwechsel, 245
A25
Sachregister Gravitationsfeld, 168, 226 inhomogenes, 317 kugelsymmetrischer Masseverteilungen, 226 Gravitationsgesetz, 226 und drittes keplersches Gesetz, 267, 324 Gravitationspotential der Erde, 254 der Sonne, 256 Gurtkraftbegrenzer, 82 Gurtstraffer, 84
H Haftreibung, 113 Hai, 184 Halbachsen einer Ellipse, 259 Hammerwurf, 28 Bahn nach dem Abwurf, 37 Hebelgesetz, 373 Herzlinie, 449 Höchstgeschwindigkeit, 198 Hohmann-Übergangsbahn, 274, 288 Energetik, 278 Hyperbelbahn, 263
I Idealisierung, 135 Impuls, 206 Impulserhaltung für abgeschlossene Systeme, 206 für offene Systeme, 210 für Systeme mit veränderlicher Masse, 238 Inertialsystem, 17, 24 Io, 329
J J002E3, 250 Joule, 163 Jules-Verne-Kanone, 220
K Kaninchen-Paradoxon, 280 Kanone Beschleunigung, 225 Energiesatz, 222 Katzen, fallende, 397 Keplersche Gesetze, 257–264
Kinematik, 58 des Abbremsvorgangs, 75 Kinetische Energie, 162 Kippbedingung, 372 Kiste, Schieben einer, 110, 118 Klothoidenlooping, 443 Knautschzone, 79 Konservative Kraft, 169 Kontaktfläche, 117 Kopfball, 59 Körper, starrer, 365 Körpergleichgewicht, 362 Körperneigung, 390 Körperschwerpunkt, 44, 364 Verlagerung, 54 Kraft am starren Körper, 394 äußere, 96, 109 beim Anheben einer Kiste, 93 beim Autounfall, 77 innere, 96, 109 konservative, 169 und Geschwindigkeitsänderung, 59, 61, 64 und potentielle Energie, 169 Kräftefreie Bewegung, 15 Kräftegleichgewicht, 93, 363 Kreisbewegung, 29 Umlaufbedingung, 268, 324 ungleichförmige, 35 Kreisel, 398–404 Krümmungsradius, 417 Künstliche Gravitation, 316–327, 343–358 Kurvenfahrt, Schräglage, 392
L Leistung, 198 Lifthügel, 408 Looping, 437–448 Luftdichte, 134, 149 Luftwiderstandskraft, 132, 199, A7
M Marsflug, 254 Dauer, 276 Energetik, 278 Masse, 65 träge und schwere, 229
A26
Sachregister
Massebestimmung von Himmelskörpern, 260 Materie, dunkle, 265 Mauskurve, 448 Mechanische Arbeit, 177 Milchstraße, 267 Modell, physikalisches, 28, 131, 135 Molekülgeschwindigkeiten bei einer Explosion, 224 Mondkanone, 220 Beschleunigung, 225 Münchhausen, 95 Muskeln, 187 Aufbau und Funktion, 188 maximale Kraft, 74 Wirkungsgrad, 189 Myosinköpfchen, 188
Pioneer 10, 286, 299 Ankunftgeschwindigkeit an Jupiter, 302 Geschwindigkeit nach dem Swingby, 307 große Halbachse, 300 Pioneer-Anomalie, 311 Pirouetteneffekt, 374 Planeten, extrasolare, 100 Planetenbahnen, 259 Potentielle Energie, 163 beim Verlassen der Erde, 254 der Gravitation, 227 im Sonnensystem, 256, 273 und Gravitationsfeld, 190, 195 Präzession, 400
N
Rakete, 231–249 Beschleunigung, 246 Endgeschwindigkeit, 240 Stufen, 248 Raketenantrieb, 231 Raketengleichung, 237–240 mit Gravitation, 240 Raketenstart, 234 Raketentreibstoffe, 235 Raumstation, rotierende, 344 Reibung mikroskopisches Modell, 117 und Trägheitsgesetz, 17 Reibungsgesetze, 113 Relativitätsprinzip, 17 Rezept für mechanische Probleme, 110 Rollreibung, 109 Rotation, 374 differentielle, 265 gebundene, 327 Rotationsenergie, 378 Rotationskurve von Galaxien, 265 Rotierende Bezugssysteme, 345 Rotierende Raumstation, 344 Gehen und Laufen, 352 geworfene Gegenstände, 357 Rückstoß, 101, 231 Ruhezustand, 17
Near Earth Objects, 217 New Horizons, 287 Newton (Einheit), 67 Newtonsches Gesetz drittes, 97, 99 erstes (Trägheitsgesetz), 16 in beschleunigten Bezugssystemen, 341 in rotierenden Bezugssystemen, 347 mit Zwangskräften, 421 Originalformulierung, 18 zweites, 59–72 Newtonsches Gravitationsgesetz, 226 Noether-Theorem, 258 Normalenvektor, 414 Normalkraft, 111, 422 Nutation, 400
O Offenes System, 170 Ortsvektor, A9 Ostabweichung, 357
P Parabelflug, 126 Passive Körper, 102 Patched conic trajectories, 303 Pendel, 431
R
A27
Sachregister
S Saturn V, 233 Scheinkräfte, 342, 347, 358 Schiefe Ebene, 116, 422 Schleudertrauma, 25, 88 Schräger Wurf, 45 Herleitung aus newtonscher Bewegungsgleichung, 68 und Ballett, 54 Schräglage bei der Kurvenfahrt, 392 Schwarzes Loch, 267 Schwerelosigkeit, 125, 316, 436 Schwerpunkt, 96, 208 Schwerpunkterhaltung, 208, 290 Schwerpunktsystem, 215, 281, 290, 303 Galilei-Transformation ins Laborsystem, 292 Seitlicher Stoß, 60 Sicherheit im Auto, 77–90 Sicherheitsgurte, 81 Skalar, A1 Skalarprodukt von Vektoren, A3 Skateboard, 15, 181 Spannenergie, 180 Spiralgalaxie, 265 Sprengung, Modellieren einer, 211 Stabhochsprung, 168, 170, 174 Stabilität, 365 beim Fahrradfahren, 404 Starker Mann, 104 Starrer Körper, 365 Kräfte verschieben, 394 Startfenster, 276 Statik, 94 Steigungsdreieck, 32 Stoß, 205 dreidimensionaler elastischer, 294 elastischer, 285–311 geometrische Lösung, 296 inelastischer, 289 rechte Winkel, 298 seitlicher, 60 Strategien, Anfänger- und Experten-, 130 Stufenprinzip bei Raketen, 248 Swingby-Manöver, 285–311 als elastischer Stoß, 305 physikalische Interpretation, 308
Systemgrenzen, 92, 96, 170, 192
T Tangentenvektor, 414 Tangentialbeschleunigung, 36, 419 Taste, Drücken einer, 98 Tennisschläger und Ball, 293 Theorienkonstruktion, 69 Tischtuchexperiment, 20 Tracking angle, 37 Trägheit als Widerstand, 20 Trägheitsgesetz, 15–20 Trägheitskräfte, 342 Trägheitsmoment, 377 und Pirouetteneffekt, 377 Trojaner, 260
U Umlaufbedingung für ein Weltraumseil, 324 für Kreisbewegungen, 268 Umlaufzeit der Planeten, 259 Unridable Bikes, 404
V Vektor, A1 Vektorkomponente, 46, A4 Vektorprodukt, A8 Virialsatz, 258 Vorzeichenkonvention, 106 Voyager, 19, 287, 309, 329
W Waage, 120 beschleunigte, 123 frei fallende, 125 Watt, 198 Wechselwirkungsprinzip, 100 Weitsprung, 43–53 Absprungwinkel, 48 physikalisches Modell, 49 Weltrekord, 52 Weltraumseile, 322–328 Widerstandsbeiwert, 132 Winkelgeschwindigkeit, A11 Winkelgrößen bei der Drehbewegung, 376
A28 Wirkungsgrad von Muskelarbeit, 189 Wurf und Erdumlauf, 263 Wurf, schräger, 45 Herleitung aus newtonscher Bewegungsgleichung, 68 Höhe, 47 und Ballett, 54 Weite, 47 Wurfparabel, 45 Gleichung, 47 und Ellipsenbahn, 263
Z Zeit-Beschleunigungs-Diagramm, 42 Zeit-Geschwindigkeits-Diagramm, 40 Zeit-Weg-Diagramm, 40 beim Autounfall, 86 Zentrifugalkraft, 348 Zentripetalbeschleunigung, 34, 36, 419 Zentripetalkraft, 268, 324 bei der Kurvenfahrt, 393 Zero-work force, 181–184 Ziolkowski-Gleichung, 237–240 Zusatzgeschwindigkeit, 61 Zwangskräfte, 412, 419–448 und Energiesatz, 423 Zweidimensionaler Stoß, 60
Sachregister