Kippbilder der Familie: Ambivalenz und Sentimentalität moderner Adoption in Film und Video 9783839436639

The ambiguities of modern adoption produce sentimental filmic images - what are their affirmative meanings and critiques

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German Pages 142 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung: Adoption als Kippbild
Teil 1: Das »Mutteropfer« im Hollywood-Melodram. Biopolitik und Klassenhierarchie
1. Biopolitische Verantwortung und mütterliche Entlastungsfantasien
2. Klassendifferenz und ›ideale‹ Mutterschaft
Teil 2: Krisennarrative transnationaler Adoption: Ursprung, ›Rasse‹, Heimat
3. Mediale Ursprungsfantasien. Fehlende Väter und Public Parents
4. Das Kippbild der ›Rassendifferenz‹
5. »We’re going home.« Transnationale Adoption als ›Heimatfilm‹
Schluss: Zur Bedeutung ›biologischer‹ Beziehungen für die ›neue‹ Familie
Filme/Fernsehserien
Literatur
Dank
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Kippbilder der Familie: Ambivalenz und Sentimentalität moderner Adoption in Film und Video
 9783839436639

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Anja Michaelsen Kippbilder der Familie

Film

Anja Michaelsen (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Gender und Medien, Queer Theory sowie politische Gefühle.

Anja Michaelsen

Kippbilder der Familie Ambivalenz und Sentimentalität moderner Adoption in Film und Video

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld, nach einem Entwurf von Anja Michaelsen Umschlagabbildung: © Deann Borshay Liem, First Person Plural, USA 2000. Mit freundlicher Genehmigung. Satz: Anja Michaelsen Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3663-5 PDF-ISBN 978-3-8394-3663-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt



EINLEITUNG : ADOPTION ALS KIPPBILD | 9  Das Versprechen moderner Adoption | 11 Sentimentalität als Ambivalenz-Management | 14 Moderne Adoption | 21 Sentimentale Topoi: Mutteropfer und Identitätskrise | 23

 TEIL 1: DAS »MUTTEROPFER « IM HOLLYWOOD MELODRAM . BIOPOLITIK UND KLASSENHIERARCHIE | 29  1

Biopolitische Verantwortung und mütterliche Entlastungsfantasien (S TELLA D ALLAS und M ILDRED P IERCE ) | 31  Das Rettungsnarrativ moderner Adoption | 31

»Der Fall STELLA DALLAS«. Feministische Filmkritik und die Lust am Sentimentalen | 35 »It’s your fault«. Das Gefühlsbild der modernen Familie ( MILDRED PIERCE) | 39 Biopolitisches Sexualitäts- als Familiendispositiv | 42 Mütterliche Entlastungsfantasien | 48 2

Klassendifferenz und ›ideale‹ Mutterschaft (S TELLA D ALLAS und A LL I D ESIRE ) | 50

Die Klassenfrage als weibliche Aufstiegsfantasie | 50 Stellas Erkennen | 52 Klassenspezifische Familienökonomien (ALL I DESIRE) | 54 Die soziale Frage | 58 Die Zuschauerin als ›ideale‹ Mutter (STELLA DALLAS und THE BLIND SIDE) | 63

TEIL 2: KRISENNARRATIVE TRANSNATIONALER ADOPTION : URSPRUNG , ›RASSE ‹, HEIMAT | 69 3

Mediale Ursprungsfantasien. Fehlende Väter und Public Parents | 72

Fehlende Väter: Das Rettungsnarrativ transnationaler Adoption | 77 Public Parents: Zur Medialität transnationaler Adoption | 82 Ambivalente Gleichgültigkeit der Herkunft | 88 4

Das Kippbild der ›Rassendifferenz‹ | 89

5

»We’re going home.« Transnationale Adoption als ›Heimatfilm‹ | 103  Die Adoptionserzählung als Reise- und ›Heimatfilm‹ | 105 Erkennen der Heimatfantasie | 108 Entwürfe gleichzeitiger Zugehörigkeit | 112 Bilder der Unvereinbarkeit | 114

»My parents … two white American people« | 89 Color Blindness und Racial Passing | 91 Amerikanisierung als ›Weißwerdung‹ | 95 Adoption als Racial Melodrama | 99 »It runs in the family«. ›Rassendifferenz‹ als intimer Familienscherz | 102

Wiederherstellung der Heimatfantasie/ Normalisierung von Adoption | 116

 SCHLUSS : ZUR BEDEUTUNG ›BIOLOGISCHER ‹ BEZIEHUNGEN FÜR DIE ›NEUE ‹ FAMILIE | 121  Hinwendung zur Adoptivfamilie als Ambivalenz-Management | 121 Queere Biologie? | 124  Andere Gemeinschaften imaginieren | 127 Filme/Fernsehserien | 129  Literatur | 131 Dank | 139

 As a concept, even what was then its most widely approved narrative carried bad news: if someone »chose« you, what does that tell you? Doesn’t it tell you that you were available to be »chosen«? Doesn’t it tell you, in the end, that there are only two people in the world? The one who »chose« you? And the other who didn’t? JOAN DIDION, BLUE NIGHTS

Für Julia Goldmann

Einleitung Adoption als Kippbild

Kippbilder zeigen zwei Dinge zugleich. Bekanntes Beispiel ist etwa die Zeichnung, die, je nach Perspektive, entweder einen Hasenkopf oder einen Entenkopf darstellt. Ob ich eine Ente oder einen Hasen sehe, ist davon abhängig, wie ich meinen Blick ausrichte. Kippbilder veranschaulichen, dass Sehen häufig mehr als ›bloße‹ optische Wahrnehmung ist. Es setzt Vorstellungskraft voraus und unterliegt Deutungskonventionen.1 Ich verwende das Kippbild hier metaphorisch zur Beschreibung zweier gleichzeitig bestehender Wahrnehmungsweisen moderner Adoption: ihre Wahrnehmung als progressives Instrument der Modernisierung traditioneller Familienkonzepte und als ambivalenter Kreuzungspunkt verschiedener Machtachsen. Wie bei einem Kippbild hängt es von der eingenommenen Perspektive ab, welche Bedeutung erkennbar ist. Die doppelte Bedeutung moderner Adoption manifestiert sich, so meine Ausgangsthese, in einem sentimentalen Darstellungs- und Wahrnehmungsmodus. Sentimentalität ist signifikant für moderne Adoption. Ein Beispiel eines solchen Kippbildes ist das Titelbild dieses Buches. Es ist dem autobiografischen Dokumentarfilm FIRST PERSON PLURAL (USA 2000) von Deann Borshay Liem entnommen, auf den ich im zweiten Teil dieses Buches ausführlicher eingehe. Das hier gewählte Titelbild zeigt Borshay Liem als Kind – sie wurde 1966 im Alter von neun Jahren aus 1

Siehe zum Kippbild in der sprachphilosophischen Tradition und insbesondere bei Ludwig Wittgenstein: Sara Fortuna: Wittgensteins Philosophie des Kippbilds. Aspektwechsel, Ethik, Sprache. Wien, Berlin 2012.

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Südkorea in die USA adoptiert – mit ihrer Adoptivmutter Alveen Borshay während eines Familienausflugs. Adoptivmutter und -tochter essen Pfannkuchen. Eine Betrachtungsmöglichkeit ist nun, auf ihre Ähnlichkeit zu fokussieren. Beide lächeln, tragen Sommerkleider und Schleifen im Haar, außerdem verbindet sie visuell das Orange ihrer Kleidung und das Weiß ihrer Accessoires, die Perlenkette der Mutter und die Sonnenbrille der Tochter. Mit Blick auf ihre Ähnlichkeit ist eine unbeschwerte, intime Familiensituation zu sehen. Aus einer anderen Perspektive gerät die Differenz zwischen Mutter und Tochter in den Blick. Diese lässt sich an der besonderen Bedeutung von Borshay Liems Sonnenbrille festmachen und einer durch diese verdeckten und zugleich hervorgehobenen rassisierten Differenz. Die Sonnenbrille verbirgt Borshay Liems Augen, die im Anschluss an Frantz Fanon ein Element eines epidermischen Rassenschemas darstellen.2 Die Sonnenbrille verbirgt rassisierte Differenz, hebt sie aber zugleich auch hervor, denn sie sitzt in irritierender Weise nicht ›richtig‹ in Borshay Liems Gesicht. Dies ist kein Zufall, denn wir können davon ausgehen, dass die Brille Normwerten weißer Physiognomie entspricht. Beide Blickperspektiven bedingen einander: Durch das Verdecken rassisierter Differenz ist das Sehen von Familienähnlichkeit möglich. Das Problem der Passform der Sonnenbrille wirft die Frage auf, welche Bedeutung rassisierte (und rassistische) Beziehungen und Strukturen für Adoptivbeziehungen haben, eine Frage, die sich dadurch noch deutlicher stellt, dass die Szene in einer Filiale der US-amerikanischen Restaurantkette Aunt Jemima’s aufgenommen wurde. Aunt Jemima’s ist eine Lebensmittelmarke, die seit Ende des 19. Jahrhunderts mit einem dem Kontext der Sklaverei entspringenden Bild einer schwarzen mammy für ihre Produkte (ursprünglich Fertigpulver für Pfannkuchen) wirbt.3 Wie korrespondiert die

2

Frantz Fanon: Schwarze Haut, weiße Masken. Frankfurt am Main 1985 (im Original 1952). Das epidermische Schema definiert ›Rasse‹ anhand einer vermeintlichen Evidenz des Sichtbaren, wobei die Haut »sichtbarster aller Fetische« ist (Homi Bhabha: Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000, S. 116). Ich verstehe daher »epidermisch« als übergeordneten Begriff, der andere Elemente sichtbarer ›Evidenz‹ miteinschließt.

3

Aunt Jemima’s konsumkulturelle Nutzbarmachung ist in Douglas Sirks Hollywood-Melodram IMITATION OF LIFE (USA 1959) in der Figur der Aunt Delilah verewigt. Siehe hierzu Lauren Berlant: The Female Complaint. The Unfinished

E INLEITUNG

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verdeckte und zugleich in irritierender Weise präsente rassisierte Differenz zwischen Adoptivmutter und -tochter mit der gewaltvollen Geschichte der Beziehungen zwischen schwarzen und weißen US-Amerikaner_innen, hier manifestiert in einer Konsumsituation? Familienintimität oder historisch gewachsene, hierarchische Differenzbeziehung – das Kippbild der Adoption beinhaltet beide Bedeutungen zugleich, sie sind jedoch unterschiedlich ›offensichtlich‹: Obwohl rassisierte Differenz als visuelle Differenz gefasst wird, ist sie hier eher ›unterschwellig‹ präsent. In einer im Weiteren genauer zu betrachtenden Weise ist die Bedeutung hierarchischer Differenzen für moderne Adoption schwer erkennbar. Die Gleichzeitigkeit dieser widersprüchlichen Deutungsmöglichkeiten und die aus ihr folgende Ambivalenz sind in besonderer Weise für einen sentimentalen Darstellungsmodus produktiv. Das Versprechen moderner Adoption Die zwei Wahrnehmungsweisen von Adoption finden sich auch in kulturwissenschaftlicher und historischer Adoptionsforschung, die zum Teil einer pro/contra-Argumentation folgt. So wägt Lisa Cartwright ein Versprechen moderner Adoption gegen möglicherweise problematische Aspekte ab. Sie schreibt bezüglich des in transnationalen Adoptionsprozessen üblichen Gebrauchs von Fotografien der Kinder: »The material I reference could easily be used to support a critique of the practice of transnational adoption or its use of images. However, it would be misguided to condemn transnational adoption in total, to fault agencies for using images, or to criticize clients for looking at or for using these portraits. To argue for the restriction of

Business of Sentimentality in American Culture. Durham, London 2008; Anja Michaelsen: »Passing im Konsum. Instabilität von ›Rasse‹ und Farbenblindheit in IMITATION OF LIFE (1959) und FIRST PERSON PLURAL (2000)«. In: Michael Andreas, Natascha Frankenberg (Hg.): Im Netz der Eindeutigkeiten. Bielefeld 2013, S. 19-37.

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these practices would be to overlook the positive potential of global humanitarian movements that recognize the uses of global market systems.«4

Im Bemühen einer möglichen Kritik an transnationalen Vermittlungspraktiken zu begegnen, betont Cartwright ein hier als humanitäres verstandenes Versprechen von Adoption. (Nicht nur) US-amerikanische Befürworter_ innen betonen, dass der Gewinn von Adoption darin besteht, Elternschaft und Fürsorge unabhängig von ›natürlichen‹, biologisch definierten Beziehungen zu denken. Adoption ermöglicht es, Familien über kulturelle, nationale und rassisierte Grenzen hinaus und jenseits heteronormativer Beziehungen bilden zu können: »[Adoption] is advancing the ethnic, racial, and cultural diversity that is a hallmark of twenty-first-century America, and it is contributing to a permanent realignment in the way we think of family structure.«5 Aufgrund der konzeptuellen Trennung von Familienbeziehungen und sexueller Reproduktion erscheint Adoption als Instrument progressiver Veränderung. Insbesondere transnationale Adoption, die in der Regel die Aufnahme eines nicht-weißen Kindes durch eine weiße Adoptivfamilie bedeutet, sowie die Adoption durch gleichgeschlechtliche Paare scheinen dazu beizutragen, weniger normative Ausschlüsse in Bezug auf die Kernfamilie zu produzieren. Hierin besteht das Versprechen moderner Adoption. Dieses Versprechen wird in zahlreichen populärkulturellen Darstellungen formuliert und wiederholt, exemplarisch etwa in der US-amerikanischen Fernsehserie MODERN FAMILY (USA 2009-2017), in der ein schwules Paar ein Kind aus Vietnam adoptiert. In der Pilotfolge werden Mitchell und Cameron damit eingeführt, dass sie Eltern und Geschwistern die Adoption von »Lily« mitteilen, was zu einem ersten dramaturgischen Höhepunkt und der Beschwörung des Familienzusammenhalts führt. Die Adoption eines nicht-weißen Kindes durch eine weiße Familie legitimiert hier zugleich das homosexuelle Paar als vollwertige Mitglieder der Familieneinheit. Adoption ist Medium der Modernisierung der Familie.

4

Lisa Cartwright: »Photographs of ›Waiting Children‹. The Transnational Adoption Market«. Social Text 74, Jg. 21, Nr. 1 (2003). Sonderausgabe zu transnationaler Adoption, hg. von Toby Alice Volkman. S. 83-109, hier S. 84.

5

Adam Pertman: Adoption Nation. How the Adoption Revolution is Transforming America. New York 2000, S. 7.

E INLEITUNG

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Cartwright verteidigt das Versprechen der Adoption gegen eine in den letzten Jahren deutlich schärfer gewordene Kritik, wie sie exemplarisch der Koreanist und Adoptions-Aktivist Tobias Hübinette in seiner Studie zur Repräsentation von Adoption in südkoreanischen Medien formuliert: »I am here making no secret of the fact that I am totally against any kind of continuation of international adoption from Korea […]. I am also deeply sceptical towards Korea’s essentialist and nationalistic attempts at making claims at, and wanting to recover and re-Koreanise adoptees like myself, while I am at the same time strongly critical towards European assimilationism, which strips the adoptees of everything Korean, as well as American multiculturalism with its ethnic chic and orientalist fetishism. The same ambiguous attitude goes for the fact that I do not on the one hand consider myself as being an ordinary member of the Korean nation or even a natural part of the Korean diaspora, while I am on the other hand anxious at bringing back the overseas adoptees to a Korean context, to at least give them a place in modern Korean history and in contemporary Korean society.«6

Hübinette deutet einen spezifischen Identitätskonflikt koreanischer Adoptierter an und kritisiert ihre nationalistische Vereinnahmung, während ihre Existenz in koreanischer Geschichtsschreibung kaum anerkannt werde. Auf Seiten der Adoptivnationen verweist er auf Assimilationsdruck und exotisierenden Multikulturalismus. David Eng fügt dieser mehrschichtigen Kritik die Beschreibung transnationaler Adoption als eine der privilegiertesten Formen von Migration hinzu, bei der einer rassistischen Logik folgend, Kindern die Immigration ermöglicht wird, die ihren Verwandten und sonstigen Angehörigen verwehrt bleibt.7 Adoption ist als humanitäre Hilfe8 und

6

Tobias Hübinette: Comforting an Orphaned Nation. Representations of International Adoption and Adopted Koreans in Korean Popular Culture. Paju 2006, S. 4.

7

David Eng: The Feeling of Kinship. Queer Liberalism and the Racialization of

8

Vgl. Julie Berebitsky: »Rescue a Child and Save the Nation. The Social Con-

Intimacy. Durham, London 2010, S. 101. struction of Adoption in the Delineator, 1907-1911«. In: Wayne E. Carp (Hg.): Adoption in America. Historical Perspectives. Ann Arbor 2002, S. 124-139.

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als Zwangsmigration 9 beschrieben worden, als »Geschenk« 10 und Geschäft11, als Zeichen voraussetzungsloser Liebe und Instrument von »social engineering«12, als antirassistische Maßnahme und Ausdruck problematischer Color Blindness13. Das Instrument der Modernisierung der Familie ist umstritten, umkämpft und ambivalent. Sentimentalität als Ambivalenz-Management »Popular genres are about the management of ambivalence«, schreibt Lauren Berlant.14 Als Ambivalenz-Management ermöglicht die sentimentale Form, mit der Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Bedeutungen moderner Adoption in sowohl affirmierender wie zumindest potenziell machtkritischer Weise umzugehen. Melodramatische und sentimentale Darstellungsformen adressieren indirekt komplexe Machtverhältnisse, die dadurch zu möglichen Gegenständen von Kritik werden. Sentimentalität ist daher do-

9

Siehe Richard H. Weil: »International Adoptions. The Quiet Migration«. International Migration Review, Jg. 18, Nr. 2 (1984), S. 276-293; Tobias Hübinette: »From Orphan Trains to Babylifts. Colonial Trafficking, Empire Building, and Social Engineering«. In: Jane Jeong Trenka, Julia Chinyere Oparah, Sun Yung Shin (Hg.): outsiders within. Writing on Transracial Adoption. Cambridge, MA 2006, S. 139-150.

10 Vgl. Barbara Yngvesson: »Placing the ›Gift Child‹ in Transnational Adoption«. Law and Society Review, Jg. 36, Nr. 2 (2002), S. 227-256. 11 Siehe Kim Park Nelson: »Shopping for Children in the International Marketplace«. In: Jane Jeong Trenka, Julia Chinyere Oparah, Sun Yung Shin (Hg.): outsiders within. Writing on Transracial Adoption. Cambridge, MA 2006, S. 89-104; vgl. auch Berebitsky, Rescue a Child; Ann Anagnost: »Scenes of Misrecognition. Maternal Citizenship in the Age of Transnational Adoption«. Positions. East Asia Cultures Critique, Jg. 8, Nr. 2 (2000), S. 389-421. 12 Siehe Brian Paul Gill: »Adoption Agencies and the Search for the Ideal Family, 1918-1965«. In: Wayne E. Carp (Hg.): Adoption in America. Historical Perspectives. Ann Arbor 2002, S. 160-180; Ellen Herman: Kinship by Design. A History of Adoption in the Modern United States. Chicago, London 2008. 13 Siehe Pamela Anne Quiroz: Adoption in a Color Blind Society. Lanham u.a. 2007; Eng, Feeling of Kinship. 14 Berlant, Female Complaint, S. 5.

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minanter Darstellungsmodus moderner Adoption. Er ist ›angemessen‹, da er ihre Widersprüchlichkeit und Ambivalenz erfasst. Ich verstehe das Sentimentale hier nicht als manipulativ oder eskapistisch.15 Stattdessen nehme ich die sentimentale Darstellungsform zum Ausgangspunkt einer Analyse der mit ihr thematisierten ambivalenten Konflikte sowie der Formen des Ambivalenz-Managements. Im Sentimentalen werden die adressierten Konflikte zumindest vorübergehend stillgestellt. Mit Berlant fasse ich Sentimentalität als eine Form von Negativität, als »Kritik ohne Bewusstsein«16. Anstatt bloßer Ausdruck von Destruktivität zu sein, bzw. wie im Fall von Sentimentalität von Realitätsflucht, verstehe ich Negativität hier als eine Form nicht vollständig artikulierter Kritik. Sentimentalität ist dort naheliegender Darstellungsmodus, wo Kritik an strukturell bedingten sozialen Konflikten aufgrund diskursiver und/oder ästhetischer Konventionen nicht offen artikuliert werden kann. Berlant bezeichnet daher sentimentale Unterhaltung als »juxtapolitical«, als auf nicht offensichtliche Weise politisch, aber sich in der Nähe zum Politischen befindend.17 Diese Analyseperspektive schließt auch an Erkenntnisse filmwissenschaftlicher Sentimentalitäts- und Melodramforschung an. Sentimentale Unterhaltung zielt auf die Produktion sentimentaler Emotionalität – Traurigkeit, Rührung und das empathische Mitfühlen mit dem Leiden anderer.18 Sie verwirklicht sich in den Tränen des Publikums.19 Die bis zum bürgerlichen Trauerspiel des 18. Jahrhunderts zurückreichende Tradition sentimentaler Unterhaltung zielt auf ein Weinen des Publikums ab, weil

15 Vgl. zur Geschichte der Kritik sentimentaler Unterhaltung seit der Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert Hermann Kappelhoff: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit. Berlin 2004, S. 13ff., sowie in Bezug auf den melodramatischen Film Linda Williams: Playing the Race Card. Melodramas of Black and White from Uncle Tom to O.J. Simpson. Princeton 2002, S. 10ff. 16 Lauren Berlant: »Critical Inquiry, Affirmative Culture«. Critical Inquiry, Nr. 30 (2004), S. 445-451, hier S. 450f. 17 Berlant, Female Complaint, S. x. 18 Kappelhoff, Matrix der Gefühle, S. 13. 19 Vgl. Steve Neale: »Melodram und Tränen«. In: Christian Cargnelli, Michael Palm (Hg.): Und immer wieder geht die Sonne auf. Texte zum Melodramatischen im Film. Wien 1994, S. 147-166.

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sich darin seine Empfindungsfähigkeit und »moralische Begabung« zeige. Nach Peter Brooks ist das Melodram im Kontext einer säkularisierten Welt entstanden, in der auf keine eindeutige moralische und soziale Ordnung habe zurückgegriffen werden können. Das Melodram habe diese Suche nach moralischer Legitimität in den Bereich des Privaten verlagert.20 Linda Williams bezeichnet das melodramatische Kino daher als »emotional porn«.21 Um physische Involvierung und sentimentales Genießen anzuregen, werden Themen und Konflikte bevorzugt, die dem Raum des Privaten, Liebesund Familienbeziehungen entstammen und eine besondere emotionale Bedeutsamkeit für das Publikum nahelegen.22 Diese privaten und alltäglichen Konflikte aber sind von Differenz- und Machtachsen – ›Rasse‹, Klasse und Geschlecht, und anderen – durchkreuzt. In ihrer Adressierung besteht, entgegen dem Vorwurf des Eskapismus, der Realitätsbezug des Sentimentalen. Sentimentale Unterhaltung übersetzt soziale Konflikte in ein ästhetisches Prinzip wiederholender Verschiebung. Das heißt, so Christine Gledhill, sie orientiert sich an Darstellungskonventionen und »kultureller Plausibilität« dessen, was in einem bestimmten historischen Moment als utopischer Horizont für ein Massenpublikum vermutet wird: »Heteroglossia and dialogism are built into the genre product’s need both to repeat, bringing from the past acculturated generic motifs, and to maintain credibility with changing audiences by connecting with the signifiers of contemporary veri-

20 Peter Brooks: The Melodramatic Imagination. Balzac, Henry James, Melodrama, and the Mode of Excess. New Haven, London 1976; vgl. auch Williams, Race Card, S. 18. Auf ähnliche Weise versteht Thomas Elsaesser das Hollywood-Melodram als Ausdruck der Widersprüche der amerikanischen Gesellschaft in den 1940er und 50er Jahren (»Tales of Sound and Fury. Anmerkungen zum Familienmelodram«. In: Christian Cargnelli, Michael Palm [Hg.]: Und immer wieder geht die Sonne auf. Texte zum Melodramatischen im Film. Wien 1994, S. 93-130). 21 Linda Williams: »Film Bodies. Gender, Genre, and Excess«. In: Robert Stam, Toby Miller (Hg.): Film and Theory. An Anthology. Malden, MA 2000, S. 207221, hier S. 207. 22 Vgl. Kappelhoff, Matrix der Gefühle, S. 23f.

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similitude […].«23 Sentimentale Unterhaltung greift wiedererkennbare, vertraute Motive auf und berücksichtigt zugleich den Wandel im moralischen Horizont des Publikums: »[Melodramatic modality] asks of the protagonists and actors available: who can personify – body forth in their physical presence, in the particularities of personality in their social representativeness – the cause of innocence, justice, hope?«24 Welche sozialen Machtkonstellationen »kulturell plausibel« sind und welche Konflikte dementsprechend sentimentales Mitleiden ermöglichen, ist vom jeweils historisch spezifischen Horizont sozialer und politischer Imagination bestimmt. Das Sentimentale privilegiert Opferperspektiven. So stellt der melodramatische Film den abstrakten, nicht als solches visuell darstellbaren Wert der ›Tugend‹ durch physisches und psychisches Leiden dar.25 Gerade (USamerikanische) Massenmedien rücken daher marginalisierte Figuren in den Vordergrund.26 Dadurch bezieht sich sentimentale Unterhaltung auf gesellschaftliche Machtverhältnisse, sie ist jedoch zugleich darauf bedacht, ästhetische und ideologische Grenzen kultureller Plausibilität nicht zu überschreiten. Das Sentimentale ist daher nicht einfach reaktionär, es bewegt sich an der Grenze des Konventionellen. Berlant veranschaulicht dies an zeitgenössischer US-amerikanischer »Frauenkultur«, deren Schwerpunkt auf der Artikulation von »weiblicher Klage« liege, was eine zumindest potentiell patriarchatskritische Perspektive eröffne.27 Anders als etwa feministische Avantgarde-Kunst verfolgt sentimentale Unterhaltung nicht das politische Ziel, Lust (am Leiden) zu zerstören. Stattdessen strebt sie an, die Lust am (Mit-)Leiden aufrechtzuerhalten. »Frauenkultur« ermöglicht es, sich in geschlechtsspezifisch definiertem Leiden wiederzuerkennen. Berlant erklärt die Lust an einem solchen Wiedererkennen damit, dass es die Zuschauerin Teil einer »intimen Öffentlichkeit« werden lässt, eines Gefühls-Kollektivs: »[Expressing] the sensational, embodied experience of

23 Christine Gledhill: »Rethinking Genre«. In: dies., Linda Williams (Hg.): Reinventing Film Studies. London 2000, S. 221-243, hier S. 238. 24 Ebd., S. 238. 25 Williams, Race Card, S. 29. 26 Vgl. Thomas Elsaesser: »Melodrama: Genre, Gefühl oder Weltanschauung?« In: Margrit Frölich, Klaus Gronenborn, Karsten Visarius (Hg.): Das Gefühl der Gefühle. Zum Kinomelodram. Marburg 2008, S. 11-34. 27 Berlant, Female Complaint.

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living as a certain kind of being in the world, [an intimate public] promises also to provide a better experience of social belonging«.28 Sentimentale Unterhaltung verspricht, »you are not alone (in your struggles, desires, pleasures)«.29 Die Identifikation mit einer bestimmten Form weiblichen Leidens bringt performativ und zirkulär intime Öffentlichkeiten sich als ›weiblich‹ verstehender Subjekte hervor: »By ›intimate public‹ I do not mean a public sphere organized by autobiographical confession and chest-baring, although there is often a significant amount of first-person narrative in an intimate public. What makes a public sphere intimate is an expectation that the consumers of its particular stuff already share a worldview and emotional knowledge that they have derived from a broadly common historical experience.«30

Intime Öffentlichkeiten basieren auf Darstellungen, die als gemeinsam vorausgesetzten Erfahrungen Ausdruck verleihen. Als solche wirken sie auf Vorstellungen dessen zurück, was als genuin weibliche Erfahrung verstanden wird. Die potenziell eine patriarchatskritische Perspektive hervorbringende Klage über die Bedingungen weiblicher Erfahrungen steht in sentimentaler Unterhaltung im Spannungsverhältnis zu einem Bedürfnis nach Normalität: »The texts of women’s intimate public worry about what it means to live within the institutions of intimacy, across all kinds of domestic, laboring, cosmopolitan, rural, and political spaces, but they worry even more about what it would mean not to be framed by them.«31 Das Bedürfnis nach Normalität ist ein Begehren nach Linderung von Beschwerlichkeit: »[…] to desire belonging to the normal world, the world as it appears, is at root a fantasy of a sense of continuity, a sense of being generally okay; it is a desire to be in proximity to okayness, without passing some test to prove it.«32 Deutlich wird mit Berlants Konzept intimer Öffentlichkeit die enge Beziehung zwischen Sentimentalität und Ambivalenz: Sentimentale Unterhaltung ist von der Spannung geprägt, einerseits reale

28 Ebd., S. viii. 29 Ebd., S. ix. 30 Ebd., S. viii. Hervorhebung im Original. 31 Ebd., S. 27. 32 Ebd., S. 9.

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soziale Konflikte, Machverhältnisse und Vorstellungen von Normalität zu adressieren und zu problematisieren, andererseits dem Bedürfnis nach Okayness folgend, die Kritik nicht auszuformulieren und in politischer Hinsicht weiterzudenken, wie Berlant anhand der doppelten Bedeutung der Familie veranschaulicht: »For example, the critique of patriarchal familialism that sentimental texts constantly put forth can be used to argue against the normativity of the family; at the same time, the sacred discourse of family values also sustained within this domain works to preserve the fantasy of the family as a space of sociability in which flow, intimacy, and identification across difference can bridge life across generations and model intimate sociability for the social generally.«33

Der Modus des Sentimentalen will »Unversöhnbares versöhnen«, Klage und Okay-Sein.34 Am Beispiel von James Camerons TITANIC (USA 1997) veranschaulicht Williams eine ähnliche Ambivalenz in Bezug auf Klassenverhältnisse. In der Liebesbeziehung zwischen Jack und Rose deutet sich die Kritik an einer klassenhierarchischen Trennung zwischen Ober- und Unterdeck an. Zugleich reproduziert der Film in seiner aufwändigen Inszenierung die Lust an dieser Trennung. Durch Jacks Tod im Eismeer ist es möglich, die Restriktionen einer Klassengesellschaft zu thematisieren und zugleich an ihr festzuhalten.35 Der Bezug auf strukturelle Machtverhältnisse ist von zentraler Bedeutung für das Sentimentale, wird doch aus den sozialen Hierarchien das Konfliktmaterial sentimentaler Geschichten generiert, indem sie in individualisierte und privatisierte Beziehungen und emotionale Begriffe übersetzt werden. Die Ambivalenz, Unversöhnbares versöhnen zu wollen, Ungerechtigkeiten beseitigen und zugleich das Begehren nach Normalität nicht aufgeben zu wollen, ist Kern sentimentaler Lust. Sie kulminiert ästhetisch in den »sensation scenes«36, Szenen sichtbaren Leidens, oder, wie Thomas Elsaesser für die Melodramen Douglas Sirks und Vincente Minellis beschrieben hat, Szenen, die sich durch Hyperbolik im Dekor, der Mise en scène

33 Ebd., S. 21. 34 Williams, Race Card, S. 37. 35 Ebd., S. 40. 36 Ebd., S. 18.

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und der Musik auszeichnen.37 Aufgrund dieser Mischung aus Realitätsbezug und symbolischer Funktion sind die Darstellungen sentimentaler Unterhaltung nur bedingt als authentische Artikulation marginalisierter Subjekte zu verstehen. Vielmehr werden deren Geschichten für sentimentale Unterhaltung ›aufbereitet‹.38 Das Melodram präferiert Opferperspektiven und marginalisierte Figuren, jedoch immer in der doppelten Funktion, reale Konflikte im Rahmen kultureller Plausibilität aufzunehmen und sie im Sinne von Ambivalenz-Management im sentimentalen Genießen stillzustellen. Es geht in sentimentaler Unterhaltung nicht vorrangig darum, eine Kritik an gesellschaftlichen Machtverhältnissen zu formulieren, sie ist jedoch auf diese für ihre mediale Produktivität angewiesen. Die Ambivalenz von Unterdrückungserfahrungen und Begehren nach Normalität ist Voraussetzung sentimentaler, ›sensationeller‹ Lust. Unter Berücksichtigung dieses diskursiven wie ästhetischen Funktionierens kann von dem Umstand, dass Sentimentalität dominanter Darstellungsmodus moderner Adoption ist, auf ein Involviertsein in ambivalente, soziale Machtbeziehungen und die Bedeutsamkeit eines Begehrens nach Okayness geschlossen werden. Wie die Analyse der sentimentalen Darstellungen zeigt, betrifft moderne Adoption Vorstellungen ›guter‹ Elternschaft und insbesondere Mutterschaft, in Verschränkung mit ökonomischer und klassenhierarchischer Differenz. In Zusammenhang mit transnationaler Adoption kommt die Dimension geopolitischer und rassisierter Beziehungen zwischen Herkunfts- und Adoptivnationen hinzu. Die komplexen Machtbezüge moderner Adoption bilden einen idealen Ausgangspunkt für das Erzählen sentimentaler Geschichten und das Erzeugen sentimentalen Genießens. Wie werden die sozialen Konflikte in den sentimentalen Darstellungen adressiert? Welche Vorstellungen von Normalität und Okayness stehen dem gegenüber? Inwiefern wird dabei eine Vorstellung von Adoption als Instrument der Modernisierung von Familie plausibilisiert oder infrage gestellt? Wird eine ambivalente, kritische Perspektive auf das Versprechen der Adoption vollständig verdeckt?

37 Siehe Elsaesser, Tales of Sound and Fury. 38 Vgl. Berlant, Female Complaint, S. ix, 6.

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Moderne Adoption Die Bedeutung von Adoption unterliegt historischem Wandel, sie meint je spezifische Konzepte und Praktiken. Bevor ich auf die einzelnen Kapitel und die darin untersuchten Beispiele eingehe, möchte ich kurz die moderne Form von Adoption, um die es in dieser Arbeit geht, von historisch früheren Formen abgrenzen. Mit moderner Adoption ist hier eine Praxis der Kindesannahme gemeint, die das Konzept der intimen Kleinfamilie voraussetzt, das sich in Europa im 17. und 18. Jahrhundert durchsetzt.39 Unter dieser Voraussetzung bedeutet Adoption die Aufnahme eines fremden, zumeist minderjährigen Menschen in den privaten Raum emotionaler Nähe und Fürsorge. Dieser Form von Adoption entspricht das »Adoptionsdreieck« psychologischer und pädagogischer Literatur, das die Beziehungen zwischen ›abgebender‹ Mutter, Adoptiveltern und Adoptivkindern bezeichnet.40 Der ›biologische‹ Vater stellt im konventionellen westlichen modernen Adoptionsdiskurs eine konzeptionelle Leerstelle dar. Als maßgebliche Zäsur setzt die historische Adoptionsforschung den 1851 in Massachusetts kodifizierten Act to Provide for the Adoption of Children, der als erstes modernes Adoptionsgesetz gilt. An diesem historischen Wendepunkt werde Adoption zum ersten Mal im modernen Sinn als Fürsorgeverhältnis definiert und nicht mehr wie zuvor als privatrechtlicher Vertrag zur Erbschaftsregelung oder Erklärung der Verfügungsgewalt über Minderjährige, die als Hausangestellte oder Lehrlinge (»indenture«) ins Haus genommen werden.41 Die moderne Form ist auch von einer antiken römischen Rechtstradition abzugrenzen, in der Adoptionen dazu dienen,

39 Vgl. zur Geschichte der Kernfamilie: Philippe Ariès: Die Geschichte der Kindheit. München 1978 (im Original 1960); Rebekka Habermas: »Bürgerliche Kleinfamilie – Liebesheirat«. In: Richard van Dülmen (Hg.): Entdeckung des Ich. Köln u.a. 2001, S. 287-309. 40 Siehe Annette Baran, Arthur D. Sorosky, Reuben Pannor: The Adoption Triangle. Sealed or Opened Records: How They Affect Adoptees, Birth Parents, and Adoptive Parents. New York 1978. 41 Wayne E. Carp: »Introduction. A Historical Overview of American Adoption«. In: ders. (Hg.): Adoption in America. Historical Perspectives. Ann Arbor 2002, S. 1-26.

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Besitz und Namen des pater familias zu übertragen.42 Auch die römische Form der Adoption beruht auf einem privatrechtlichen Vertrag zwischen Adoptierten und Adoptierenden und ist ein Instrument der gesellschaftlichen Elite, mit vorrangig repräsentativer und politischer Bedeutung.43 Diese Form der Adoption ist männlich kodiert, die für die moderne Adoption zentrale Frage der Mutterschaft gilt hier als nebensächlich.44 Adoption nach dem Act to Provide for the Adoption of Children begründet Familie nicht nur im materiellen und institutionellen, sondern auch im moralischen und emotionalen Sinn. Voraussetzung ist ein richterlicher Akt, der die rechtlichen Bindungen zwischen ›biologischen‹ Eltern und Kindern auflöst und das Verhältnis zwischen Adoptiveltern und -kindern dem biologisch definierten Familienverhältnis gleichsetzt: »Instead of defining the parent-child relationship exclusively in terms of blood kinship, it was now legally possible to create a family by assuming the responsibility and emotional outlook of a biological parent.«45 Der Zweck der neuen Adoption besteht darin, Familie unabhängig von blutsverwandtschaftlichen Bindungen, aber analog zu diesen zu bilden. Dies entspricht in der Ausrichtung der bis heute im Rahmen westlicher Jugendfürsorge praktizierten Form der Adoption.46 Adoption hat sich von einer Sonderform des Erbrechts zu einem Instrument an der Grenze öffentlicher und privater Fürsorge gewandelt. Im Unterschied zu historisch früheren Formen steht der Adoptionsprozess nun unter öffentlich-staatlicher Entscheidungsgewalt, wobei die »best interests of the child«, das »Kindeswohl«, als primäres Kriterium gelten.47 An der Grenze zwischen privat und öffentlich verdichten sich die Beziehungen zwischen Klassen, ›Rassen‹ und Nationen in besonders starker emotionaler Aufladung. Dass sich diese Differenzbeziehungen

42 Christoph Neukirchen, Die rechtshistorische Entwicklung von Adoption. Frankfurt am Main. 2005, S. 5f. 43 Anneke Napp-Peters: Adoption. Das alleinstehende Kind und seine Familien. Geschichte, Rechtsprobleme und Vermittlungspraxis. Neuwied, Darmstadt 1978, S. 11, 3. 44 Ebd., S. 30, 45; vgl. auch Bernhard Jussen: Patenschaft und Adoption im frühen Mittelalter. Göttingen 1991. 45 Carp, Introduction, S. 6; siehe auch Napp-Peters: Adoption, S. 11f. 46 Napp-Peters, Adoption, S. 10. 47 Carp, Introduction, S. 5, Napp-Peters, Adoption, S. 10.

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im intimen Raum der Kernfamilie verschränken, verstärkt die Ambivalenz moderner Adoption und begründet ihre Produktivität für das Sentimentale.48 Historische Adoptionsforschung bezeichnet ihren Gegenstand immer wieder als ›sentimental‹. Wayne E. Carp etwa führt die Praxis der Adoption im 19. Jahrhundert auf sentimentale, christliche Vorstellungen von Seelenrettung und Wohltätigkeit zurück.49 Ellen Herman bezieht sich auf eine zu Beginn des 20. Jahrhunderts geführte Diskussion, in der Adoption als altruistische Handlung gilt, die Kinder aus ›elenden‹ Umständen in ehrenhafte Bürger_innen transformieren könne. Sentimentale Adoption wurde, so Herman, zur »civic duty«.50 Julie Berebitsky dagegen unterscheidet christliche/wohltätige und sentimentale Adoption. Letztere setze sich erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts durch, als Annahme eines Kindes zur Verwirklichung voraussetzungsloser familiärer Liebe, »solely to create a family«, ohne religiösen oder weltanschaulichen Hintergrund.51 Mit Blick auf einen sentimentalen Darstellungsmodus schließen sich religiös/weltanschaulich motivierte und auf Vorstellungen voraussetzungsloser Liebe basierende Adoption nicht aus. Beide Formen gehen mit sentimentalen Figuren und Topoi einher: Leidende Mütter und verlassene Kinder, emotionaler Betrug und Missverständnisse, Trennung und Verlust von und Wiedervereinigung mit verloren geglaubten Angehörigen, Heimkehr zu fremd gewordenen Orten der Kindheit. In sentimentalen Darstellungen ergänzen und verstärken unterschiedliche Motivationen die Ambivalenz moderner Adoption. Sentimentale Topoi: Mutteropfer und Identitätskrise Die vorliegende Studie besteht aus zwei Teilen, die jeweils von einem zentralen Topos des Leidens – Adoption als mütterliches Opfer und krisenhafte Identität der Adoptierten – in sentimentalen Darstellungen ausgehen. Topoi sind rhetorische Gemeinplätze, die als allgemein bekannt und selbstver-

48 Vgl. zu einer verwandten und sich zum Teil überlagernden Verschränkung im kolonialen Diskurs: Ann Laura Stoler: Carnal Knowledge and Imperial Power. Race and the Intimate in Colonial Rule. Berkeley, Los Angeles 2002. 49 Carp, Introduction, S. 6. 50 Herman, Kinship by Design, S. 40. 51 Berebitsky, Rescue a Child, S.132.

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ständlich gelten und daher in ihrer Geschichtlichkeit nicht mehr wahrgenommen werden. Das heißt, dass auch ihre Funktion als rhetorische Figuren nicht mehr erkennbar ist und die damit einhergehenden normativen Interessen im Anschein des Selbstverständlichen verdeckt sind.52 Die Topoi des Mutteropfers und der Identitätskrise stellen in Zusammenhang mit moderner Adoption in einer solchen ›verschliffenen‹ Weise rhetorische Gemeinplätze dar. Der Topos des Mutteropfers kreist um die Figur der ›abgebenden‹ Mutter, die im sentimentalen, westlichen Adoptionsdiskurs des 20. Jahrhunderts zugleich heroisiert und marginalisiert wird. Im ersten Teil der Studie betrachte ich die Machtbezüge dieser paradoxen Mutterfigur und frage nach ihrer Bedeutung für sentimentales Genießen in der Tradition des Hollywood- bzw. »Muttermelodrams«. Die von Williams für sentimentale Unterhaltung beschriebene charakteristische tugendhafte Opferposition nehmen hier mütterliche Figuren ein, deren Konflikthaftigkeit sich in einer Variation weiblicher Klage auf konventionelle Vorstellungen von Weiblichkeit und Familie bezieht. Der wesentliche Fluchtpunkt von Muttermelodramen ist eine geschlechterhierarchische Definition von Mutterschaft, die erfordert, sich für das Kind aufzuopfern.53 Dass in Bezug auf Adoption das Mutteropfer etwas anders funktioniert, zeigt in besonders symptomatischer Weise King Vidors STELLA DALLAS (USA 1937). STELLA DALLAS ist ein melodramatischer ›Klassiker‹ insbesondere auch feministischer filmwissenschaftlicher Rezeption. Anhand der Dramaturgie und Ästhetik lässt sich die Verschiebung der Perspektive auf die ›abgebende‹ Mutter von ihrer Heroisierung zur Marginalisierung nachvollziehen, ein Umstand, der in der bisherigen Forschung kaum berücksichtigt wurde, jedoch, so meine ich, für den Film von zentraler Bedeutung ist. Die entscheidende und bisher nicht beschriebene Differenz besteht darin, dass das Mutteropfer in STELLA DALLAS bedeutet, den Anspruch auf Mutterschaft aufzugeben. Dies stellt einen signifikanten Unterschied zur mütterlichen Selbstaufgabe für das Kind dar, der unter den Voraussetzungen einer gewaltförmigen Klassengesellschaft verständlich wird. Anhand des Mutteropfers in STELLA DALLAS lässt sich

52 Donna Haraway: Modest_Witness@Second_Millenium.FemaleMan©_Meets_ OncoMouse™. Feminism and Technoscience. New York, London 1997, S. 11. 53 Kappelhoff spricht in diesem Sinne vom »Mutteropfer«, siehe Matrix der Gefühle, S. 42.

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eine klassenhierarchische Rhetorik ›guter‹ Elternschaft nachvollziehen, die bis heute der Sentimentalität von Adoption inhärent ist. In STELLA DALLAS verschränken sich Klassendifferenz und der Imperativ ökonomischer Unabhängigkeit mit Definitionen ›guter‹ Mutterschaft. Die besondere Bedeutung von Klassenzugehörigkeit für das Mutteropfer in STELLA DALLAS zeigt sich im Vergleich mit anderen einschlägigen Hollywood-Melodramen wie MILDRED PIERCE (USA 1945, R: Michael Curtiz), ALL I DESIRE (USA 1953, R: Douglas Sirk) und, als jüngeres Beispiel, THE BLIND SIDE (USA 2009, R: John Lee Hancock). Um den diskursiven Kontext zu verdeutlichen, führe ich die filmische Darstellung klassendifferenter Mutterschaft mit Michel Foucaults, und im Anschluss an diesen, Jacques Donzelots Überlegungen zu einem biopolitischen Familiendiskurs zusammen. Im sentimentalen Modus von STELLA DALLAS scheint ein Wissen um klassenhierarchische Bewertung von Mutterschaft auf, das jedoch durch Heroisierung ›bewältigt‹ wird. Der zweite Teil der Arbeit widmet sich der Darstellung der Adoptierten. Dies betrifft einen anderen historischen und medialen Kontext: Erwachsene Adoptierte werden erst Ende des 20. Jahrhunderts zu Figuren sentimentaler Unterhaltung, insbesondere in (auto-)biografischen und dokumentarischen Fernseh- und Videoarbeiten zu transnationaler Adoption, die in Ansätzen ein eigenes transnationales ›Adoptionsgenre‹ darstellen.54 Diese Darstellungen sind von einem Fokus auf eine krisenhafte Identität geprägt, die nicht nur Gegenstand zahlreicher Ratgeber und psychologischer Literatur ist, sondern rhetorischer Allgemeinplatz auch in einem von erwachsenen Adoptierten selbst geführten öffentlichen Diskurs.55 Die Krisenrhetorik beinhaltet das Sprechen von einem Gefühl der ›Entwurzelung‹, das auf die Trennung von Herkunftsmutter und -nation zurückgeführt wird. Mit dem Hinweis auf die für transnationale Adoption konstitutive räumliche Trennung stellt sich die Frage nach der Bedeutung der ›abgebenden‹ Mutter, wie in Bezug auf das Mutteropfer ausgeführt. In den sentimentalen

54 Vgl. zur Herausbildung eines spezifischen ›Adoptionsgenres‹ Eleana Kim: »Korean Adoptee Auto-Ethnography. Refashioning Self, Family and Finding Community«. Visual Anthropology Review, Jg. 16, Nr. 1 (2000), S. 43-70. 55 Vgl. Julia Chinyere Oparah, Sun Yung Shin, Jane Jeong Trenka: »Introduction«. In: dies. (Hg.): outsiders within. Writing on Transracial Adoption. Cambridge, MA 2006, S. 1-15.

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Darstellungen seit den 1990er Jahren manifestiert sich diese Frage als ein Gefühl einer krisenhaften Identität der erwachsenen Adoptierten. Der Figur der ›Entwurzelung‹ entsprechend erzählen die im zweiten Teil dieser Arbeit betrachteten Darstellungen erwachsener Adoptierter Narrationen der Suche nach den ›biologischen‹ Eltern, der Wiederentdeckung einer Herkunftskultur und der ›Heimkehr‹. Ich betrachte exemplarisch zwei Dokumentationen, DAUGHTER FROM DANANG (USA 2002, R: Gail Dolgin, Vicente Franco) und den eingangs genannten FIRST PERSON PLURAL, die auf Filmfestivals und als Fernsehproduktionen auch international bekannt wurden. Ausgehend vom Topos der Identitätskrise lassen sich drei thematische Hauptstränge nachvollziehen: Die Vorgeschichte der jeweiligen Adoption, das Leben der Adoptierten in den Adoptivfamilien und die ›Wiedervereinigung‹ mit ›biologischen‹ Eltern und Verwandten. Fragen der Zugehörigkeit und Identität werden dabei durchgehend problematisiert, wobei insbesondere Rassismuserfahrungen von Bedeutung sind. Im Kontext transnationaler Adoption verschränken sich Klassen- und Geschlechterverhältnisse mit Aspekten rassisierter Differenz und Fragen postkolonialer/post-Kalter-Kriegs-Beziehungen zwischen Herkunfts- und Adoptivnationen. So wie der Topos des Mutteropfers symptomatisch für die adressierten und verdeckten Klassenhierarchien moderner Adoption ist, so verstehe ich auch die zum Allgemeinplatz gewordene Krisenhaftigkeit von Adoptiert-Sein als Hinweis auf strukturelle und soziale Konflikte. Die sentimentalen Darstellungen erwachsener Adoptierter entstehen zu einem Zeitpunkt, an dem transnationale Adoption in den USA und Westeuropa institutionalisiert und als kulturell plausible Form der Familienbildung etabliert ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg und während des Kalten Krieges, unter Einfluss alliierter Besatzungen in Europa und Asien, entstehen globale Infrastrukturen, die Vermittlung und Transport zu adoptierender Kinder ermöglichen. Die globale Reichweite von Berichterstattung und Kommunikationstechnologien vergegenwärtigt die Existenz der Kinder an ›fernen‹ Orten und rückt deren Adoption in den Bereich des Vorstellbaren. Unter diesen geopolitischen, infrastrukturellen und medialen Voraussetzungen wird insbesondere transnationale Adoption in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum ›Rassengrenzen‹ überschreitenden Instrument der Modernisierung, auf das in Darstellungen wie MODERN FAMILY in ›natürlicher‹ Weise referiert werden kann. Imaginationen globaler Familienbeziehungen korrespondieren mit der globalen Sicht des Fernsehens.

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Während der erste Teil dieser Studie moderne Adoption und sentimentale Darstellungskonventionen des Kinos, Mutterschaft und Klassenhierarchie, Biopolitik und Hollywood-Melodram zusammenführt, geht es im zweiten Teil um das Verhältnis von transnationaler Adoption und Fernsehästhetik, konflikthafter Identität und rassisierter Differenz. Miteinander verschränkte rassisierte, Klassen- und Geschlechterverhältnisse manifestieren sich in der sentimentalen Darstellung einer krisenhaften Identität und eines ambivalenten Heimatbegehrens. Der erste Teil der Studie richtet den Blick gewissermaßen auf die Vorgeschichte moderner Adoption. Das Muttermelodram als filmischer Ort der Klassenfrage stellt eine Art genealogischer Vorgänger sentimentaler Adoptionsfilme am Ende des 20. Jahrhunderts dar. STELLA DALLAS durchschreitet eine ambivalente Plausibilisierung des adoptionsspezifischen heroischen Mutteropfers, die im jüngeren Adoptionsfilm vorausgesetzt werden kann. In STELLA DALLAS wird Adoption als Klassenfrage erkennbar, deren Signifikanz und Dramatik bisherigen Deutungen der Hauptfigur als feministischer Heldin entgeht. Dadurch wird die Heroisierung der ›abgebenden‹ Mutter als Topos im Kampf um ein klassenspezifisches Recht auf Fürsorge verkannt. In späteren Darstellungen wie FIRST PERSON PLURAL scheint die Marginalisierung der ›abgebenden‹ Mutter voraussetzbar. Im Topos krisenhafter Identität deutet sich ein ambivalentes Begehren an, sie wieder ins Zentrum zu rücken. Diese Studie entspringt auch einem Interesse am Erkenntnisgewinn aus der Beschäftigung mit ›negativen‹ Gefühlen – mit Adoption als »bad news«, wie Joan Didion es formuliert. Negative Gefühle, wie sie sich im Sentimentalen manifestieren, sind oft auf eine Weise strukturell bedingt, die aufgrund eines wirkmächtigen Begehrens nach Okayness nicht auf den ersten Blick erkennbar ist: »Depressed? … It Might Be Political«.56 Es geht mir hier darum, das prekäre Verhältnis zwischen einem kritischen Artikulationsbedürfnis und dem Begehren nach Normalität – zum Beispiel nach eindeutigen Familienbeziehungen und Identitäten – in den sentimentalen Darstellungen nachzuvollziehen, ohne dabei Authentizität oder Determinierung durch das Sentimentale zu behaupten. Eine einseitige Bestimmung

56 Es handelt sich hierbei um einen Slogan des Feel Tank Chicago, einem Verbund feministischer Wissenschaftler_innen, Künstler_innen und Aktivist_innen, die sich der politischen Dimension negativer Gefühle widmen (Berlant, Critical Inquiry, S. 450f.).

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von Sentimentalität und Adoption als progressiv oder affirmierend muss zu kurz greifen. Festhalten lässt sich an dieser Stelle, dass es sich bei Adoption nicht um ein neutrales Instrument der Modernisierung der Familie handelt, und dass die Wahrnehmung ihrer problematischen Aspekte in symptomatischer Weise erschwert ist.

Teil 1: Das »Mutteropfer« im Hollywood-Melodram Biopolitik und Klassenhierarchie

Es besteht ein Ungleichgewicht im »Adoptionsdreieck«. ›Abgebende‹ Mütter und Adoptivkinder sind in den hier untersuchten Beispielen sentimentaler besetzt als Adoptiveltern. In Filmen wie HOLY LOLA (Frankreich 2004, R: Bertrand Tavernier), VA, VIS ET DEVIENS (Frankreich/Israel/Belgien/Italien 2005, R: Radu Mihaileanu) oder THE BLIND SIDE sind auch die Adoptiveltern Figuren sentimentalen Mitfühlens. Auf THE BLIND SIDE komme ich am Ende dieses ersten Teils zurück. Der Schwerpunkt liegt hier jedoch auf der Sentimentalität der ›abgebenden‹ Mutter und des Kindes – denn die Perspektive der Adoptiveltern ist darin indirekt bereits enthalten. Das Verhältnis zur tendenziell unsichtbaren, im Hintergrund bleibenden Adoptivmutter wird in den Darstellungen der ›abgebenden‹ Mutter und des Adoptivkindes immer mitverhandelt. STELLA DALLAS überrascht dadurch, dass der Film Schuldzuweisung, Heroisierung und Marginalisierung der ›abgebenden‹ Mutter in erstaunlich offener Weise ausstellt, sowie auch den beobachtenden Blick der Adoptivmutter, der in seiner Unsichtbarkeit sichtbar wird. Im ›klassenbewussten‹ Muttermelodram überlagern sich die Perspektiven der innerdiegetischen ›idealen‹ Mutter und der Zuschauer_in im empathisch-normativen Blick auf die ›abgebende‹ Mutter. Wodurch macht sich die ›abgebende‹ Mutter schuldig? Und worin besteht ihre Heldinnentat? Um diese Fragen zu beantworten möchte ich zunächst im Vergleich von STELLA DALLAS und MILDRED PIERCE den Unterschied im Mutteropfer ver-

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deutlichen, bzw. die signifikante Verschiebung von der Selbstaufgabe für das Kind zur Aufgabe von Mutterschaft. In den beiden Muttermelodramen manifestiert sich diese Verschiebung in der ›Lösung‹ des jeweils zentralen Konflikts um mütterliche Verantwortung. MILDRED PIERCE inszeniert eine Fantasie der Entlastung von dieser, STELLA DALLAS ihre Verwirklichung. Auf unterschiedliche Weise ist in beiden Filmen ein Wissen um eine biopolitische Ordnung enthalten, die sich anhand Michel Foucaults Darstellung einer modernen Familienökonomie veranschaulichen lässt. Die Sentimentalität des Mutteropfers im Hollywood-Melodram stellt ein Gefühlsbild biopolitischer, allumfassender elterlicher Verantwortung dar, wobei es sich, eine weibliche intime Öffentlichkeit adressierend, insbesondere der ambivalenten Macht-/Ohnmachtsposition der Mütter widmet. Deren Autorität leitet sich von der Verantwortung für ihre Kinder ab, zugleich wird sie genau durch diese Verantwortung unterlaufen, weil die Interessen der Kinder höchste Priorität sind. Das Muttermelodram transformiert diese paradoxe Position mütterlicher Autorität und Selbstaufgabe in ein sentimentales, lustvolles Gefühlsbild. Klassenspezifische Familienökonomie produziert unterschiedliche Momente sentimentalen Genießens. Während sich Sentimentalität in MILDRED PIERCE auf die Legitimierung der Trennung vom Kind durch eine äußere Instanz richtet, bezieht sie sich in STELLA DALLAS auf die Inszenierung einer ›Selbsterkenntnis‹ der Unterschichtsmutter. Diese Selbsterkenntnis wird in Bezug auf einen klassenhierarchischen Sorgerechtsdiskurs verständlich, wie ihn Jacques Donzelot in Anschluss an Foucault ausführt. Donzelot versteht die Drohung des Entzugs des Sorgerechts als ein Instrument biopolitischer Regulierung und ›Selbstsanktionierung‹. Schuldzuweisung, Heroisierung und Marginalisierung der ›abgebenden‹ Mutter werden in diesem, über einen patriarchalen hinausgehenden, biopolitischen Rahmen kulturell plausible Topoi sentimentaler Lust. Der Vergleich mit einem weiteren Hollywood-Melodram verdeutlicht die Signifikanz von Klasse. In ALL I DESIRE richtet sich sentimentales Genießen auf das Begehren, die dysfunktionale bürgerliche Familie wiederherzustellen. STELLA DALLAS dagegen zeigt die Bildung familiärer Einheit durch die Trennung vom Kind und den Ausschluss der ›abgebenden‹ Mutter als Voraussetzung einer ›angemessenen‹ Familie. Im empathischen Blick auf die Figur der Stella entsteht ein Wissen um eine klassenhierarchische Definition ›guter‹ Elternschaft, die in ihrer Gewaltförmigkeit erkenn-

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bar wird, ohne das ihr zugrunde liegende normative Familienideal aufgeben zu müssen. Dies zeigt sich insbesondere an der kontrastierenden Gegenüberstellung von Unter- und Oberschichtsmutter. In einer aktuellen Version in THE BLIND SIDE ist die legitimierende Heroisierung und Marginalisierung der ›abgebenden‹ Mutter weiterhin präsent. Bemerkenswert ist jedoch, dass das Verhältnis zwischen den Müttern ambivalenter geworden zu sein scheint, bzw. die Adoptivmutter nun selbst auch sentimentalisiert wird.

1 B IOPOLITISCHE V ERANTWORTUNG UND MÜTTERLICHE E NTLASTUNGSFANTASIEN (S TELLA D ALLAS UND M ILDRED P IERCE ) Das Rettungsnarrativ moderner Adoption Im Jahr 1907 initiiert die New Yorker Zeitschrift The Delineator. A Journal of Fashion, Culture and Fine Arts die »Child Rescue Campaign«. Der Delineator hat zu dieser Zeit als drittgrößte Frauenzeitschrift in den USA fast eine Million Abonnent_innen, an deren empathisches und moralisches Empfinden die Kampagne appelliert. Monatlich werden Fotografien und Biografien von Kindern in staatlichen Kinderheimen veröffentlicht, zu deren Adoption aufgerufen wird. Nach Veröffentlichung der ersten beiden Porträts gehen Hunderte von Anfragen ein. Mehr als 2000 Adoptionen werden in den folgenden drei Jahren durch den Delineator vermittelt.1 Ein Hauptanliegen der Kampagne besteht darin, Vorbehalten gegen die Aufnahme eines fremden Kindes zu begegnen. Zu diesem Zweck wird insbesondere für ein neues Verständnis von Mutterschaft geworben: unabhängig von ›biologischen‹ Beziehungen und im Sinne einer allgemeinen weiblichen Fähigkeit, ein Kind zu versorgen und zu lieben. Durch die »Child Rescue Campaign« wird moderne sentimentale Adoption das erste Mal zum Thema einer größeren US-amerikanischen Öffentlichkeit. Adoption wird als »civic duty« propagiert, da die Kinder ohne den Einfluss weiblicher, mütterlicher Fürsorge eine vermeintliche Bedrohung für die gesamte

1

Berebitsky, Rescue a Child, S. 124f.

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Gesellschaft darstellten. Die Vermittlung der vor allem ›migrantischen‹ Kinder dient einem nationalen Interesse.2 Eine weitere Strategie, die Leser_innen des Delineator für die Interessen der Kampagne zu gewinnen, liegt in der Art der Präsentation der Biografien. Diese folgt einem literarischen Genre, die Berebitsky als »rescue fiction« bezeichnet. Das Rettungsnarrativ stelle die Kinder als Opfer tragischer Schicksale dar: von den Eltern vernachlässigt oder verwaist. Adoption wird zur glücklichen Schicksalsfügung, die die Leser_innen selbst herbeiführen können: »The rescue plot gave readers the thrills of a tragedy with the comfort of a happy ending.«3 Aufgrund der aus fiktionaler Literatur vertrauten Narration sei es den Leser_innen leicht gefallen, einen direkten Zusammenhang zwischen den geschilderten Schicksalen der Kinder und ihrer eigenen Lebenswirklichkeit herzustellen: »Familiarity with the rescue convention provided the readers with a clear blueprint for action: the stories described children in desperate circumstances – all that was left was for the Delineator’s readers to step in and rescue the children from their imminent fate.« 4 Das sentimentale Genießen tragischer Biografien wird durch die Möglichkeit verstärkt, sich selbst in das Geschehen einzubringen und das Schicksal der Kinder zum Positiven zu wenden. Die spezifische Involviertheit der Leser_innen basiert auf einer Mischung aus Fakt und Fiktion. Der Topos der Kindesrettung ist von zentraler Bedeutung, um Adoption kulturell plausibel zu machen, wobei das Verhältnis zwischen Adoptiveltern und -kindern in einer einfachen Gleichung aufzugehen scheint: »The campaign hoped to match up the nation’s childless homes and homeless children […].«5 Dort, wo die ›abgebende‹ Mutter erwähnt wird, verkompliziert sich das Rettungsnarrativ. 6 Berebitsky beschreibt ihre Darstellung im Delineator folgendermaßen:

2

Ebd., S. 127.

3

Ebd., S. 128f.

4

Ebd., S. 130.

5

Berebitsky, Rescue a Child, S. 124.

6

Wie bereits erwähnt ist im sentimentalen Diskurs moderner Adoption in der Regel weder von ›abgebenden‹ noch von Adoptivvätern, die Rede. Ich gehe auf das diskursive Fehlen der ›biologischen‹ Väter in Bezug auf transnationale Adoption in Kapitel 3 genauer ein.

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»Women who adopted had a ›mother consciousness‹; women who abandoned their infants and children to the mercy of the city lacked such a consciousness. The fact that a woman might give up her child to an institution did not necessarily mean she lacked a maternal instinct: women who acknowledged they could no longer care for their children and consciously surrendered them for their best interest were portrayed as heroes, having made the supreme maternal sacrifice.«7

Die Abgabe des Kindes wird als widersprüchliches Zeichen zugleich fehlenden und außerordentlichen mütterlichen Bewusstseins gedeutet: Die ›abgebende‹ Mutter macht sich eines Mangels an Mutterinstinkt schuldig und verwirklicht diesen in wahrhaftiger, heroischer Weise. Berebitsky zitiert direkt aus dem Delineator: »[H]owever low her lot has fallen, [a birth mother] surrenders her baby willingly, feeling, with the remnant of motherlove that lives within her, that her child must have a better chance in life than that which has come to her.«8 Im Rettungsnarrativ der Adoption wird das Kind von zwei Mutter-Heldinnen vor einem ungewissen, düsteren Schicksal bewahrt. Die Widersprüchlichkeit und Ambivalenz ›wahrer‹ Mutterschaft, die sich im Verzicht auf diese verwirklicht, ist für die sentimentale Konflikthaftigkeit moderner Adoption wesentlich. Im Folgenden betrachte ich den Topos des »supreme maternal sacrifice« genauer hinsichtlich der sich darin andeutenden aber nicht ausformulierten Machtbezüge und sozialen Hierarchien. Was macht die Figur der ›abgebenden‹ Mutter als gleichzeitig verantwortungslos und ganz besonders verantwortungsvoll kulturell plausibel? Wodurch macht sie sich ›schuldig‹ und wie genau kommt es zu ihrem heroischen Opfer? Um diese Fragen zu beantworten ist zu berücksichtigen, dass sich die Zuschauer_innenperspektive mit der Perspektive der außenstehenden Adoptivmutter überlagert, die Figur der ›abgebenden‹ Mutter ist nur bedingt identifikatorisch angelegt. Als Zuschauer_innen blicken wir mit der innerdiegetischen Adoptivmutter eher beobachtend ›auf‹ sie als ›durch‹ ihre eigenen Augen. Warum ist es im Sinne kultureller Plausibilität notwendig, nicht nur die Aufnahme eines fremden Kindes moralisch zu begründen, als »civic duty« oder als Akt der Kindsrettung, sondern darüber hinaus die Abgabe des Kindes zu heroisieren? In STELLA DALLAS, eines der meist diskutierten Mut-

7

Berebitsky, Rescue a Child, S. 127f. Hervorhebung A.M.

8

Ebd., S. 136, Zitat aus dem Delineator, Nr. 72 (1908), S. 114.

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termelodramen9, geht es nur indirekt um Adoption, als angedeutete Folge des Mutteropfers, so dass, im Unterschied zu den im zweiten Teil dieser Arbeit besprochenen Filme, die (Identitäts-)Konflikte, die sich aus der Adoption selbst ergeben, noch kein Thema sind. Anhand von STELLA DALLAS wird jedoch die untergründige, zentrale Bedeutung des heroischen Mutteropfers für das Gefühlsbild moderner Adoption erkennbar, die auch in späteren Darstellungen implizit fortwirkt. Mit der Protagonistin Stella lässt sich Schritt für Schritt die Abgabe des Kindes als moralisch zwingende und selbstgewählte Entscheidung nachvollziehen. Ausgehend von der Darstellungstradition leidender Weiblichkeit und Mutterschaft möchte ich in einer Neubetrachtung von STELLA DALLAS die Emotionalität und Ambivalenz der ›abgebenden‹ Mutter veranschaulichen, die den Diskurs moderner Adoption nicht nur in fiktionalen Darstellungen bestimmt. Feministische filmwissenschaftliche Analysen haben STELLA DALLAS neben anderen Muttermelodramen als Verhandlung einer patriarchalen Geschlechterordnung interpretiert. Ein solcher Referenzrahmen kann jedoch nur bedingt erklären, wodurch der Film ein sentimentales Genießen ermöglicht. Erst der Bezug zu einer spezifisch biopolitischen Familienökonomie – die nicht allein von patriarchalen Interessen bestimmt ist, sondern Geschlecht und Klasse miteinander verschränkt – erklärt die Möglichkeit lustvollen Mitleidens mit der ›abgebenden‹ Mutter. Diese Familienökonomie kreist um den Topos elterlicher Verantwortung. Im Vergleich mit MILDRED PIERCE zeigt sich das klassenspezifische Funktionieren des Verantwortungstopos in STELLA DALLAS als Motor des Mutteropfers und seiner Heroisierung.

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Siehe zur umfassenden Diskussion des Films: E. Ann Kaplan: »The Case of the Missing Mother. Maternal Issues in Vidor’s STELLA DALLAS« (im Original 1983). In: Patricia Erens (Hg.): Issues in Feminist Film Criticism. Bloomington 1990, S. 126-136; Linda Williams: »Something Else Besides a Mother. STELLA DALLAS and the Maternal Melodrama« (im Original 1984). In: Patricia Erens (Hg.): Issues in Feminist Film Criticism. Bloomington 1990, S. 137-162; Stanley Cavell: »Stella’s Taste. Reading STELLA DALLAS«. In: ders.: Contesting Tears. The Hollywood Melodrama of the Unknown Woman. Chicago 1996, S. 197-222; Annette Brauerhoch: Die gute und die böse Mutter. Kino zwischen Melodram und Horror. Marburg 1996; Kappelhoff, Matrix der Gefühle.

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»Der Fall S TELLA D ALLAS «. Feministische Filmkritik und die Lust am Sentimentalen Die Schlussszene in King Vidors STELLA DALLAS gilt als eine der bewegendsten, das heißt, lustvollsten, des Films. Darin sehen wir die Heldin Stella im strömenden Regen vor einem eleganten Gebäude der New Yorker Fifth Avenue von der dunklen Straße aus, umringt von anderen schaulustigen Passant_innen, zu einem hell erleuchteten Fenster aufblicken. Die unterschiedlichen Helligkeiten verstärken den Kontrast zwischen außen und innen, der Zuschauer_innenposition Stellas und dem Geschehen im Haus. Drinnen findet die Hochzeitszeremonie von Stellas Tochter Laurel statt, die nicht weiß, dass ihre Mutter von draußen zuschaut. Stella hatte Laurel zuvor unter Angabe falscher Gründe in die Obhut einer anderen Frau, Helen Morrison, der zweiten Frau ihres Ex-Mannes Stephen, gegeben. Laurel, enttäuscht, dass ihre Mutter nicht erschienen ist, wird von Helen in dem Glauben belassen, Stella wisse nichts von der Hochzeit. In der Schlussszene verdichtet sich noch einmal das Spiel von Wissen und Nicht-Wissen, das die Darstellung der Beziehungen zwischen den drei Frauenfiguren in STELLA DALLAS bestimmt. Die emotionale Aufladung kulminiert in der Sensation Scene, der Großaufnahme von Stellas Gesicht, auf dem sich Regentropfen und Tränen vermischen. Ein Polizist, der Stella und die anderen Schaulustigen zum Weitergehen auffordert, gewährt ihr einen letzten Moment, nachdem sie ihn bittet: »Oh, let me see her face when he kisses her, please!« Es folgt der Hochzeitskuss. Mit einem Ausdruck zufriedener Gewissheit wendet sich die lächelnde und weinende Heldin vom Geschehen ab und läuft auf die Kamera zu, in das Dunkel des Filmendes hinein. Thomas Elsaesser hat diese Szene in seinem maßgeblichen Aufsatz zum Hollywood-Melodram als »archetypisch« bezeichnet.10 Für Annette Brauerhoch stellt STELLA DALLAS den Inbegriff des melodramatischen Kinos dar.11 Der Film basiert auf dem 1923 erschienenen gleichnamigen Roman von Olive Higgins Prouty.12 Er spielt im Jahr 1919 im fiktiven Mill-

10 Elsaesser, Tales of Sound and Fury, S. 125. 11 Vgl. Brauerhoch, Die gute und die böse Mutter. 12 Die Schriftstellerin stand der Suffragetten- und Frauenbewegung nahe und war Mentorin Silvia Plaths. Der äußerst erfolgreiche Roman wurde ein Jahr nach Erscheinen in ein gleichnamiges Bühnenstück umgewandelt, 1925 folgte eine erste

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hampton, Massachusetts und erzählt davon, wie der aus einer Arbeiterfamilie stammenden Stella Martin (Barbara Stanwyck) durch die Heirat mit dem Millionärssohn Stephen Dallas (John Boles) der soziale Aufstieg gelingt – jedoch nur bis zur Scheidung. Danach erlebt sie einen ökonomischen und sozialen Niedergang, der nach einer Reihe von Missverständnissen und zum Teil öffentlichen Beschämungen Stella zu der Entscheidung bringt, ihre Tochter Laurel (Anne Shirley) in die Obhut des Vaters und dessen, aus großbürgerlichen Verhältnissen stammenden, zweiter Frau Helen (Barbara O’Neil) zu geben. Der Film endet mit besagter Hochzeit Laurels und einem jungen Mann mit Adelstitel. Zu Beginn scheint der Film die romantische Liebesgeschichte von Stella und Stephen zu erzählen, aber nach der Geburt Laurels verschiebt sich der Fokus auf die detaillierte Darstellung der Beziehung zwischen Mutter und Tochter. Aufgrund dieser besonderen Thematisierung von Weiblichkeit und Mutterschaft war der Film besonders in den Anfängen feministischer Filmwissenschaft wichtig, wie Brauerhoch resümiert: »Kaum ein anderer Film hat unter feministischen Filmtheoretikerinnen eine so lang anhaltende Diskussion und solche Kontroversen ausgelöst wie STELLA DALLAS. Die Diskussion scheint mir deshalb so wichtig, weil es in den verschiedenen Texten, die sich mit dem Film auseinandersetzen, immer auch ganz grundsätzlich um die Bedeutung der feministischen Filmtheorie geht, die Bedeutung von Mutterschaft in sozialen und symbolischen Systemen und um die Potenz der weiblichen Zuschauerin gegen die des sozialen und des Repräsentationssystems.«13

Gerade die letzte Szene – die Hochzeit als Resultat des Mutteropfers und das Verschwinden Stellas – wurde in der feministischen Diskussion als paradigmatisch für die melodramatische Darstellung der aufopferungsvollen Mutter angesehen. Aus psychoanalytisch-patriarchatskritischer Perspektive schrieb Ann E. Kaplan, Stella durchlaufe einen Prozess der Unterwerfung

Stummfilmversion von Henry King. Im selben Jahr wurde in Anlehnung an den Roman eine der ersten Soap Operas produziert, die über 18 Jahre lang täglich im Radio lief. 1990 wurde der Roman unter dem Titel STELLA (USA) von John Erman mit Bette Midler in der Hauptrolle erneut verfilmt. 13 Brauerhoch, Die gute und die böse Mutter, S. 91.

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weiblichen Begehrens unter patriarchale Familienstrukturen.14 Die Lust, die Stella zu Beginn sowohl in Bezug auf ihre Weiblichkeit als auch auf ihre Mutterschaft zu empfinden scheint, sei in einer patriarchalen Ordnung inakzeptabel. Entsagungsvolle Mutterschaft kenne kein eigenes Begehren, weshalb das Mutteropfer erforderlich werde.15 Belege für Kaplans These wurden insbesondere in einer exzessiv-lustvollen Weiblichkeitsinszenierung gesehen. Der Konflikt zwischen weiblichem Begehren und normativen Anforderungen ›guter‹ Mutterschaft wird durch Stellas Art sich zu kleiden ins Bild gesetzt.16 In der sich an Kaplans Überlegungen anschließenden Diskussion fand ihr Befund einer nach patriarchalen Maßstäben ›problematischen‹ Weiblichkeit Zustimmung, kritisiert wurde jedoch ihre Schlussfolgerung in Bezug auf die Rezeption des Films. Kaplan ging (Berlants Konzept intimer Öffentlichkeit zum Teil vorwegnehmend) davon aus, dass das weibliche Publikum zwar mit Stella mitleide, es jedoch gleichzeitig das durch das Mutteropfer erreichte Ziel, Laurels Oberschichtshochzeit, unterstütze.17 Dadurch »lehre« der Film das Publikum, dass die Position der ›guten‹ Mutter die einer passiven Zuschauerin sei.18 Dieser Publikumseffekt wurde unter anderem von Linda Williams als zu einseitig kritisiert.19 Das weibliche Publikum stimme dem Mutteropfer nicht ungebrochen zu, es fühle mit Stella mit, wisse jedoch auch um den Preis, den sie für das Happy End zu zahlen hat.20 Gerade die Diskrepanz zwischen Mitleiden und Zustimmung produziere einen doppelten Blick, mit dem die Konflikthaftigkeit auch der eigenen Situation wahrnehmbar werde. STELLA DALLAS ermögliche es demnach, das Verschwinden Stellas als patriarchal bedingt zu erkennen und zu kritisieren.21 In einer späteren erneuten Betrachtung richtet Williams den Blick weg von Fragen der Repräsentation, hin zu den sinnlich-medialen Eigenschaften

14 Kaplan, The Case of the Missing Mother. 15 Ebd., S. 132f. 16 Brauerhoch, Die gute und die böse Mutter, S. 80. 17 Kaplan, The Case of the Missing Mother, S. 134. 18 Ebd. 19 Williams, Something Else Besides a Mother. 20 Ebd., S. 156. 21 Ebd.

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des melodramatischen Kinos.22 In den früheren Diskussionen sei die Fähigkeit des Films, zu emotionalisieren, nicht ausreichend berücksichtigt worden, weil der Feminismus der 1980er Jahre im Pathos einen Agenten weiblicher Unterdrückung sah, der drohte, die Zuschauerin in einer masochistischen »Überidentifikation« mit der Opfer-Protagonistin zu überwältigen.23 Ein kritisches Potenzial des Melodrams musste jenseits empathischer Einfühlung und in distanzierter Reflexion gefunden werden. Das hieß jedoch, die medienspezifischen – lustvoll emotionalisierenden – Effekte auszublenden.24 Stattdessen ging es darum, so Williams, einen möglichen kritischen Gehalt in der gleichzeitigen Anziehung und Ablehnung des weiblichen Publikums durch das Pathos tugendhaften Leidens zu finden.25 Bei der Suche nach weiblichen Blickpositionen jenseits einer Identifizierung mit der leidenden und sich aufopfernden Protagonistin und der damit einhergehenden Unterwerfung unter die Herrschaftsstrukturen ging es um die Möglichkeit subversiver Rezeption: »Is the female viewer so identified with Stella’s triumphant tears […] that she has no ability to criticize or resist the patriarchal value system that makes her presence in her daughter’s newly acquired social milieu excessive?«26 Das feministische Bemühen um eine kritische, distanzierte Zuschauerinnenposition musste das sentimentale Genießen der Ambivalenz des Films verfehlen. Ambivalenz und sentimentale Lust werden plausibler, wenn die Machtverhältnisse, auf die das Mutteropfer in STELLA DALLAS referiert, nicht nur als patriarchale, sondern auch als biopolitische erfasst werden, die sich in einem klassenspezifisch ausgeformten Topos der Verantwortung zuspitzen.

22 Linda Williams: »Melodrama Revised«. In: Nick Browne (Hg.): Refiguring American Film Genres. History and Theory. Berkeley u.a. 1998, S. 42-88. 23 Mary Ann Doane: The Desire to Desire. The Woman’s Film in the 1940’s. Bloomington 1987. 24 Williams, Melodrama Revised. 25 Ebd., S. 45. 26 Ebd., S. 46.

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»It’s your fault«. Das Gefühlsbild der modernen Familie (M ILDRED P IERCE ) Der Hochzeitskuss, den sehen zu dürfen Stella dem Polizisten in der Hochzeitsszene abringt, korrespondiert mit zwei anderen Küssen zu Beginn des Films. Der erste Kuss ist ein Film-im-Film-Kuss. Kurz nachdem sie sich kennengelernt haben, gehen Stella und Stephen ins Kino. Das Publikum blickt mit den beiden aus dem dunklen Kinosaal hoch auf die hell erleuchtete Leinwand. Stellas Blickposition in der Schlussszene, in der sie zum Fenster aufschaut, wird hier bereits vorweggenommen. Gezeigt wird ein romantischer Liebesfilm, der mit dem Kuss des heterosexuellen Paares endet. Dem Film-im-Film-Kuss folgen ein Kuss zwischen Stella und Stephen unmittelbar nach dem Kinobesuch, sowie der finale Kuss des Hochzeitspaars am Ende des Films. Die innerdiegetische Kino-Fantasie scheint sich für Mutter und Tochter zu verwirklichen, wobei sich zwischen dem zweiten und dem dritten Kuss das Mutteropfer ereignet. Während Stellas Kuss durch den Konsum romantischer Unterhaltung vorbereitet wird, geht Laurels Kuss Stellas aktives Eingreifen in das Geschehen voraus. Dies schlägt sich im abschließenden Hochzeitsbild darin nieder, dass, anders als zuvor, die Braut rechts und der Bräutigam links im Bild sind. Während bisher das Gesicht des männlichen Protagonisten erkennbar war, sehen wir jetzt das Gesicht Laurels, so wie es Stella zuvor – wie in einer Regieanweisung – erbeten hat: »let me see her face when he kisses her«. Die Bilderreihe legt nahe, dass Stephen und Stella zu Beginn des Films die Posen der Protagonist_innen des Film-im-Films nur imitieren, Stellas Happy End scheint nur eine Kopie romantischer Unterhaltung zu sein und wird durch die Scheidung revidiert. Das eigentliche Happy End ist Laurels Hochzeit – herbeigeführt durch das Mutteropfer. Es stimmt, dass die Handlung des Films auf das Begehren nach romantischer Liebe ausgerichtet ist, das heißt, auf, wie Kaplan resigniert feststellt: »what we have all been socialized to desire – romantic marriage into the upper class«.27 Dieses normative Begehren realisiert sich im Film jedoch erst in der Hochzeit des Kindes, der soziale Aufstieg der Mutter erscheint als Fake, sie rückt in den Hintergrund. Die Figur der ›abgebenden‹ Mutter wechselt zwischen der Rolle einer passiven Zuschauerin und einer aktiven

27 Kaplan, The Case of the Missing Mother, S. 134.

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›Regisseurin‹, die die Handlung aus dem Off steuert. Die ›Regieanweisung‹ am Ende veranschaulicht Stellas paradoxe Position, sie inszeniert ihre eigene Marginalisierung.28 Die gleichzeitige Passivität und Aktivität der auf eine bessere Zukunft der Tochter ausgerichteten Mutterfigur verkompliziert eine patriarchatskritische Analyse. Das Mutteropfer Stellas folgt nicht nur einer patriarchalen Ordnung, sondern ist auch in einem klassenhierarchischen Topos elterlicher Verantwortung begründet. Das Melodramatische zielt eher darauf, ein »Bild des Gefühls«29 zu entwerfen, als einen bestimmten ideologischen ›Inhalt‹ zu vermitteln. Dies führt zur spezifischen Diskrepanz zwischen dem, was im »Film Raum und Zeit gewinnt«, und dem, was sich als Handlung in wenigen Sätzen zusammenfassen lässt.30 Die Darstellung des Gefühls ist die eigentliche Aufgabe sentimentaler Unterhaltung, wobei es nicht darum geht, übersteigerte Bilder zu produzieren – eine solche Bewertung würde den Konventionen realistischer Darstellung folgen. Stattdessen folgt das Sentimentale einer eigenen formalen Logik, die eine emotionale Realität zum Ausdruck bringt.31 Sentimentale Unterhaltung, von den Briefromanen des 18. Jahrhunderts bis zum melodramatischen Kino, präferiert das Private, verstanden als Raum der Kernfamilie: »[D]ie Phantasietätigkeit des sentimentalen Publikums [trifft] auf die immer gleiche Szene – den Konflikt von Liebe und Sexualität […], die Szene der bürgerlichen Familie.«32 Es geht im Sentimentalen vorrangig um die Vermittlung und Modulierung des Gefühls, das Philippe

28 Auch durch den Umstand, dass wir den Hochzeitskuss von Stella und Stephen nicht sehen (die Hochzeit wird nicht gezeigt), wird Stellas Fantasie weniger innerdiegetische Realität eingeräumt. 29 Kappelhoff, Matrix der Gefühle, S. 32. 30 Ebd., S. 35. 31 Ebd., S. 36. Kappelhoff grenzt sich damit von Brooks ab, der die hyperbolische Aufladung des Alltäglichen mit einem Übermaß an Bedeutungen als »moral occult« bezeichnet hat. Darin zeige sich, so Brooks, der Schein einer moralisch begründeten und moralisch lesbaren Welt. Für Kappelhoff richtet sich das ästhetische Begehren der Zuschauer_innen nicht auf die Illusion eines transzendental begründeten Guten und Bösen. 32 Ebd., S. 25f.

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Ariès als Familiensinn bezeichnet hat33, und das sich durch ein besonders emotionales Verhältnis zwischen Eltern und Kindern auszeichnet: »Nichts erinnert mehr an den alten Geschlechterverband […]. Die Probleme, die mit der Ehre der Sippe zusammenhängen, sei es nun die Ungeteiltheit des Erbgutes oder die Altehrwürdigkeit und das Fortbestehen des Namens, werden ihr immer fremder. Das Familiengefühl hat seine Wurzeln ausschließlich in der unvergleichlichen Verbindung von Eltern und Kindern. […] Worauf es dabei hauptsächlich ankommt, ist die gefühlsmäßige Anteilnahme, die man dem Kind als dem lebenden Abbild seiner Eltern nunmehr entgegenbringt.«34

Auf dieses Familiengefühl der Beziehungen zwischen Eltern und Kindern referiert das melodramatische Kino. In historisch und medial spezifischer Weise führt es – unter Einfluss der Psychoanalyse – eine Tradition sentimentaler Modulierung des Familiensinns, als Gefühlsbild der ›deformierten‹, dysfunktionalen Familie, fort.35 Dieses spezifische Gefühlsbild lässt sich anhand eines anderen bekannten Muttermelodrams veranschaulichen. Auch in MILDRED PIERCE steht der Topos des Mutteropfers im Zentrum. Nach dem Unfalltod der jüngeren Tochter Kay widmet Mildred (Joan Crawford) alle ihre emotionalen und ökonomischen Anstrengungen dem Wohlergehen ihrer älteren Tochter Veta (Ann Blyth). Die Entsagungsbereitschaft der Mutter scheint grenzenlos, nicht nur versucht sie jeden materiellen Wunsch der Tochter zu erfüllen, sie gibt auch ihre Ehe für sie auf, da ihr Ehemann Bert (Bruce Bennett) sich weigert, sein Leben auf dieselbe Weise dem Wohl der Tochter zu widmen. Diese ist a real brat, die nicht nur eine Affäre mit dem Liebhaber (Zachary Scott) der Mutter eingeht, sondern diesen auch noch im Strandhaus erschießt, nachdem er sie ›abserviert‹. Auf die Spitze getrieben wird das Mutteropfer, als Veta Mildred für den Mord verantwortlich macht. Sie fleht ihre Mutter an, die Tat zu verheimlichen, in einem invertierten Appell an mütterliches Verantwortungsbewusstsein:

33 Ariès, Geschichte der Kindheit, S. 479. Wie am französischen Originaltitel L’enfant et la vie familiale sous l’Ancien Régime zu sehen, handelt es sich dabei zugleich um eine Geschichte der Familie. 34 Ebd., S. 500f. 35 Vgl. Elsaesser, Tales of Sound and Fury.

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»VETA:

Think what will happen if they find me. […]

MILDRED:

I don’t care anymore, Veta.

VETA:

Yes, you do, yes, you do. Give me another chance, it’s your

VETA:

I’ll change, I promise I will, I’ll be different, just give me

fault as much as mine. […] another chance … It’s your fault I’m the way I am!«

Der Vorwurf, für Vetas missratene Persönlichkeit verantwortlich zu sein, hält Mildred, den Telefonhörer bereits in der Hand, davon ab, die Polizei zu rufen. Worauf sich die Schuldzuweisung bezieht, wird nicht ausgeführt. Gerade dadurch, dass sie nicht erklärt wird, entsteht für die Zuschauerin der Eindruck eines emotionalen Wiedererkennens, eines unbestimmten Wissens um eine ›generelle‹, immer anführbare Schuldighaftigkeit der Mutter. Im Hollywood-Melodram wird der Familiensinn klaustrophobisch und sexualisiert inszeniert.36 Das Mutteropfer, basierend auf einem immer währenden Schuldgefühl, lässt sich auf ein Konzept von Familie zurückführen, das größtmögliche Nähe zwischen Eltern und Kind voraussetzt und den Eltern allumfassende Verantwortung für das Wohlergehen der Kinder zuweist. Dieses Familienkonzept lässt sich als ein biopolitisches verstehen, wie ich exkurshaft anhand von Michel Foucaults wissensgeschichtlicher Darstellung des Sexualitätsdispositivs veranschaulichen möchte. Das Sexualitätsdispositiv begründet zugleich ein sentimentales Familiendispositiv. Biopolitisches Sexualitäts- als Familiendispositiv Wie Ariès beschreibt Foucault die moderne Familie als um das Kind zentriert, jedoch führt er deren Entwicklung mit der wissenshistorischen Entwicklung von ›Sexualität‹ im Sexualitätsdispositiv zusammen. Foucault begründet die spezifische moderne Gestalt der Familie seit dem 18. Jahrhundert mit einer historisch neuen Sorge insbesondere um die kindliche Sexualität. In der Vorlesungsreihe Die Anormalen widmet sich Foucault (ausführlicher als in Der Wille zum Wissen) den Effekten des modernen Sexualitätsdispositivs auf die familiäre Ordnung. Ausgehend von der an Einfluss gewinnenden Degenerationsthese betont Foucault die Bedeutung des »mas-

36 Dies ist insbesondere in Bezug auf die Filme Douglas Sirks diskutiert worden, siehe Elsaesser, Tales of Sound and Fury.

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turbierenden Kindes«,37 die das Verhältnis von Sexualität und Familie neu organisiert: »Der Onanist. Eine ganz neue Figur im 18. Jahrhundert. Er taucht auf im Wechselspiel mit den neuen Bezügen zwischen Sexualität und Organisation der Familie, mit der neuen Stellung des Kindes inmitten der Elterngruppe, mit der neuen Bedeutung, die dem Körper und der Gesundheit beigemessen wird. Erscheinen des sexuellen Körpers des Kindes.«38

Die Sexualisierung der Familie geht, so Foucault, von der Sexualisierung des Kindes aus. Mit ihrer ›Entdeckung‹ lassen sich alle biografisch späteren ›Anomalien‹ ursächlich auf sie zurückführen. Kindlicher »Autoerotismus« gilt als Beginn einer »endlosen Reihe physischer Störungen, deren Auswirkungen in allen Formen und allen Lebensaltern spürbar werden können«, und stelle demensprechend, in biopolitischer Ableitung, eine Gefahr für die gesamte Bevölkerung dar.39 Die Behauptung späterer ›Schäden‹ führe zu einem »Kreuzzug gegen die Masturbation«, für den die Eltern mittels konstanter Kontrolle des Kindes verantwortlich seien. Foucault weist nun darauf hin, dass diese Kontrolle im neuen Familiendispositiv als Dispositiv der Sorge und Intimität zwischen Eltern und Kindern installiert werde, was einen grundsätzlichen Wandel der Familienökonomie zur Folge habe:

37 Michel Foucault: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (19741975). Aus dem Französischen von Michaela Ott und Konrad Honsel. Frankfurt am Main 2007. Die Vorlesungen sind zwischen Überwachen und Strafen (1975) und Der Wille zum Wissen (1976) angesiedelt und untersuchen vor allem psychiatrische Gutachten des 19. Jahrhunderts. Foucault unterscheidet drei Figuren, die den Bereich der Anomalie abstecken, das »Menschenmonster«, das »zu bessernde Individuum« und das »masturbierende Kind«. Die drei Figuren unterscheiden sich sowohl zeitlich wie auch wissenssystematisch voneinander, sie gehören für Foucault jedoch zusammen, weil sie in einer übergeordneten Theorie der Degeneration aufgehen und gleichermaßen, »in Verteidigung der Gesellschaft«, einem institutionellen Netz »an der äußersten Grenze von Medizin und Justiz« unterworfen sind (ebd., S. 428f.). 38 Ebd., S. 425. 39 Ebd., S. 426.

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»Durch diese Kampagne [gegen die Masturbation] hindurch zeichnet sich der Imperativ eines neuen Verhältnisses von Eltern und Kindern und, weiter gefaßt, eine neue Ökonomie der in[n]erfamiliären Verhältnisse ab: Festigung und Intensivierung der Bezüge zwischen Vater, Mutter und Kindern (zu Lasten der mannigfaltigen Bezüge, die die ›Hausgemeinschaft‹ im weiten Sinne charakterisierten), Umkehrung des Systems der familiären Verpflichtungen (die einst für die Kinder gegenüber den Eltern bestanden und die jetzt dahin gehen, das Kind zum ersten und unaufhörlichen Objekt der elterlichen Pflichten zu machen, die als moralische und medizinische Verantwortung zugewiesen wird, die bis ins tiefste Innerste ihrer Nachkommenschaft hinein gilt), Auftauchen des Prinzips der Gesundheit als Grundgesetz der familiären Bande, Verteilung der Kernfamilie rund um den Körper – und zwar den sexuellen Körper – des Kindes herum, Organisation eines unmittelbaren physischen Bandes von Körper zu Körper zwischen Eltern und Kindern, in dem auf komplexe Weise Begehren und Macht verknüpft werden, und schließlich die Notwendigkeit einer Kontrolle und eines externen medizinischen Wissens, um diese neuen Bezüge zwischen der pflichtgemäßen Wachsamkeit der Eltern und dem so zerbrechlichen, reiz- und erregbaren Körper der Kinder zu entscheiden und zu regulieren.«40

Die moderne Familie, ihre Zeitlichkeit, ihre Moral, muss, so Foucault, von der Sexualität des Kindes aus gedacht werden: »Die für unsere Gesellschaften charakteristische inzestuöse Kleinfamilie und der sexuell saturierte winzige Raum der Familie, in dem wir aufgezogen werden und in dem wir leben, ist dadurch gebildet geworden.«41 Bemerkenswert ist dabei die Neuordnung bestehender familiärer Verantwortlichkeiten und Machtverhältnisse. Die eigentliche Autorität geht nun von den Kindern aus, da ihre Interessen mit den Interessen der Bevölkerung gleichgesetzt werden. In Die Anormalen gibt Foucault der Ausformulierung dieser neuen familiären Ökonomie viel Raum, in Der Wille zum Wissen ist sie in die Gegenüberstellung von Allianz- und Sexualitätsdispositiv integriert.42 Diese

40 Ebd., S. 427f. 41 Ebd., S. 428. 42 Foucault unterscheidet das Sexualitätsdispositiv von einem historisch früheren (aber nicht vollständig aufgehobenen) Allianzdispositiv. Damit ist ein System des Heiratens, der Festlegung und Entwicklung der Verwandtschaften und der Übermittlung der Namen und der Güter gemeint, das darauf abzielt, bereits bestehende Genealogien und Beziehungen zu erhalten. Michel Foucault: Der Wille

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sind wiederum den »Taktiken« zweier verschiedener Machtformen zugeordnet, der Souveränitäts- und der Biomacht, wobei die Macht des Souveräns darin bestehe, »sterben zu machen und leben zu lassen«.43 Auch dieses Recht beschreibt Foucault im Rahmen familiärer – patriarchaler – Ökonomie: »Eines der charakteristischsten Privilegien der souveränen Macht war lange Zeit das Recht über Leben und Tod. Es leitet sich von der alten patria potestas her, die dem römischen Familienvater das Recht einräumte, über das Leben seiner Kinder wie über das seiner Sklaven zu ›verfügen‹: er hatte es ihnen ›gegeben‹, er konnte es ihnen wieder entziehen.«44

Die Biomacht werde dagegen nicht im Namen eines Souveräns ausgeübt, sie sei stattdessen eine Machtform, die »das Leben verwaltet und bewirtschaftet«,45 sie nehme »das Leben in ihre Hand […], um es zu steigern und zu vervielfältigen, um es im einzelnen zu kontrollieren und im gesamten zu regulieren […] im Namen der Existenz aller«.46 »Alle«, das heißt, »die Bevölkerung« als Ganzes nehme somit den Platz des Souveräns ein, wobei die Familie »pulsierende Zelle« des Bevölkerungskörpers wird.47 Orientierung an der Steigerung der Existenz »aller« im Gegensatz zur Existenz des Souveräns bedeutet, dass Biomacht als eine nationalstaatliche Machtform zu verstehen ist.48 Die neue Ökonomie der Familie, ihre Zentrierung auf und Steuerung durch die kindliche Sexualität, ist mit Foucault auf die Anforderungen dieser Biomacht zurückzuführen, bei der es darum geht, die Konstitution der Bevölkerung zu optimieren. In der allumfassenden elterlichen Verantwortung für das Kind konkretisiert sich die Verantwortung für den nationalen Volkskörper.

zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1. Aus dem Französischen von Ulrich Raulff und Walter Seitter. Frankfurt am Main 1983 (im Original 1976), S. 105f. 43 Ebd., S. 132. Hervorhebung im Original. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 132f., Hervorhebung A.M. 47 Ebd. 48 Vgl. Mauro Bertani: »Zur Genealogie der Biomacht«. In: Martin Stingelin (Hg.): Biopolitik und Rassismus, Frankfurt am Main 2003, S. 228-259.

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Dem Sex bzw. dem Sexualitätsdispositiv kommt in der Analyse der Biomacht so große Bedeutung zu, weil er ein »Scharnier« zwischen den einzelnen Körpern und – »aufgrund seiner Globalwirkungen«49 – der abstrakten, statistischen Größe der Bevölkerung bildet. Der Sex öffnet »den Zugang sowohl zum Leben des Körpers wie zum Leben der Gattung«.50 Analog zur Kritik an der Repressionsthese bezüglich der Sexualität in Der Wille zum Wissen sei die moderne Familie, so Foucault, nicht Unterdrückungsinstanz, sondern sie konstituiere sich erst innerhalb des Sexualitätsdispositivs und durch die Funktion, die dem Sex als Schaltstelle zwischen individuellem und Bevölkerungskörper zukomme: »Weit davon entfernt, das Resultat dieser Konstitution einer Familie neuen Typs zu sein, war die Jagd auf die Masturbation meines Erachtens im Gegenteil ihr Instrument: Durch diese Jagd, durch diesen Kreuzzug hindurch hat sich nach und nach diese eng beschränkte und substantielle Familie gebildet. Dieser Kreuzzug mit all den praktischen Anweisungen, die er mit sich brachte, war ein Mittel, die Familienbande enger zu knüpfen und das zentrale Rechteck des Eltern-Kind-Verhältnisses zu einer substantiellen, festen und gefühlsmäßig gesättigten Einheit zusammenzuschließen. Und eines der Mittel, die eheliche Familie zusammenbacken zu lassen, war ebendies, die Eltern verantwortlich zu machen, und zwar über die Vermittlung eines drohenden Autoerotismus, der im medizinischen Diskurs und durch ihn sagenhaft gefährlich gemacht worden ist.«51

Die medizinischen Anweisungen zum familiären Umgang mit der kindlichen Sexualität haben einen doppelt produktiven Effekt: Sie bringen die Sexualität des Kindes als Gegenstand der Sorge und dadurch zugleich die Familie als deren Agentin hervor. Die Verantwortung für die Sexualität des Kindes ist nicht nur eine Aufgabe der modernen Familie neben anderen – in einem wissens- und machttheoretischen Sinn existiert die moderne Familie nicht ohne diese. Aufgrund dieser Sorge um die Konstitution der Bevöl-

49 Ebd., S. 140. 50 Ebd., S. 141. 51 Michel Foucault: »Vorlesung vom 12. März 1975«. In: ders.: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974-1975). Aus dem Französischen von Michaela Ott und Konrad Honsel. Frankfurt am Main 2007, S. 344-379, hier S. 346.

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kerung in ihrer Konkretisierung in der kindlichen Sexualität versteht Foucault die »Aufwertung der Familienzelle« als ein »großes Manöver« in der Organisation der modernen Gesellschaft.52 Die neue Sorge um das Leben führt Foucault auf eine veränderte Bedeutung des Todes zurück: »Der Tod hört auf, dem Leben ständig auf den Fersen zu sein.«53 Dabei geht es nicht nur um die Feststellung erhöhter Überlebenschancen infolge technischen und medizinischen Fortschritts. Die nicht mehr allgegenwärtige alltägliche Drohung des Todes ermögliche erst eine Vorstellung vom Leben im epistemologischen Sinn. Durch Beobachtungen und Messungen bilde es sich als Gegenstand von Wissen und Macht heraus: »Der abendländische Mensch lernt allmählich, was es ist, eine lebende Spezies in einer lebenden Welt zu sein, einen Körper zu haben sowie Existenzbedingungen, Lebenserwartungen, eine individuelle und kollektive Gesundheit, die man modifizieren, und einen Raum, in dem man sie optimal verteilen kann. Zum ersten Mal in der Geschichte reflektiert sich das Biologische im Politischen. Die Tatsache des Lebens ist nicht mehr der unzugängliche Unterbau, der nun von Zeit zu Zeit, im Zufall und in der Schicksalhaftigkeit des Todes ans Licht kommt. Sie wird zum Teil von der Kontrolle des Wissens und vom Eingriff der Macht erfaßt.«54

Im Rahmen dieser neuen Wahrnehmung des Lebens als Gegenstand von Wissen und Kontrolle wird ›Kindheit‹ als eine eigenständige Lebens- und Entwicklungsphase, die spezifischer Formen der Sorge bedarf, ›entdeckt‹.55 So ist die »Aufwertung der Familienzelle« als Effekt und Instrument einer Machtform zu verstehen, die das Leben der Bevölkerung in unmittelbaren Zusammenhang zu kindlicher Sexualität stellt. Diese Verantwortung legi-

52 Foucault, Der Wille zum Wissen, S.100. 53 Ebd., S. 137. 54 Ebd. Vgl. auch Georges Canguilhem: Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze. Aus dem Französischen von Michael Bischoff und Walter Seitter. Herausgegeben von Wolf Lepenies. Frankfurt am Main 1979; François Jacob: Die Logik des Lebenden. Eine Geschichte der Vererbung. Aus dem Französischen von Jutta und Klaus Scherrer. Frankfurt am Main 2002 (im Original 1970). 55 Ariès, Geschichte der Kindheit.

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timiert die Familie als Macht- und Kontrollinstanz. Sie wird jedoch gleichzeitig gerade dadurch unterlaufen, dass sie letztlich den Interessen des Kindes (das heißt, den Interessen »aller«) unterworfen ist; darin besteht der zentrale Konflikt der modernen Familie. Mütterliche Entlastungsfantasien Das Gefühlsbild der modernen Familie bezieht sich auf dieses ambivalente, biopolitisch begründete Machtverhältnis zwischen Eltern und Kindern, in dem allumfassende Sorge um die kindliche Entwicklung elterliche Autorität zugleich legitimiert und unterläuft. In MILDRED PIERCE klingt der Topos der Verantwortung in Vetas Schuldzuweisung an die Mutter an. Im Unterschied zu Foucault erfasst das Hollywood-Melodram mit dem Mutteropfer die vergeschlechtlichte Dimension der modernen Familie und produziert spezifische intime Öffentlichkeiten derjenigen, die sich mit der mütterlichen Macht/Ohnmachts-Position identifizieren können. In der Darstellung mütterlichen Leidens wird anerkannt, dass der elterlichen Verantwortung nicht gerecht zu werden ist. MILDRED PIERCE lässt sich daher als Inszenierung einer mütterlichen Entlastungsfantasie verstehen. In einem für den Film noir typischen Kriminalszenario wird die elterliche Verantwortung für die Entwicklung des Kindes zurückgewiesen und die Mutter von ihrer ›Schuld‹ freigesprochen. Veta wird doch noch der Polizei übergeben, polizeiliche Staatsgewalt stellt eine Ordnung (wieder) her, die biopolitische Anforderungen relativiert: »MILDRED:

I thought maybe, in a way, it was my fault. So I tried to help her. I wanted to take the blame for it.

POLICE OFFICER:

Not this time, Mrs. Beragon. This time your daughter pays for her own mistake.«

Am Ende wird eine patriarchale Ordnung reinstalliert. Mildred versöhnt sich mit Bert, der sie wegen ihrer exzessiven Sorge um das Kind verlassen hatte. In einer seltsamen Schlussszene geht Mildred, vom ›Schmutz‹ des selbstzerstörerischen, allumfassenden mütterlichen Schuldgefühls ›bereinigt‹, in der Vorhalle des Polizeipräsidiums an dem auf Knien den Boden schrubbenden weiblichen Reinigungspersonal vorbei und auf Bert zu. Ge-

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meinsam treten sie ins Licht, befreit von allumfassender elterlicher Verantwortung. In einer Mischung aus Kriminalgeschichte und Muttermelodram inszeniert MILDRED PIERCE das Gefühlsbild der dysfunktionalen modernen Kernfamilie und die, innerhalb eines biopolitischen Familiendispositivs, unsagbare Zurückweisung von Verantwortung. Im geschützten Kinoraum ermöglicht der Film die tröstliche Zuflucht in mütterliche Entlastungs- und Rachefantasien. Entlastung und Befreiung bedeutet in MILDRED PIERCE die Trennung vom Kind, durchgesetzt von einer schützenden (patriarchalen, souveränen) Staatsgewalt und gegen einen mütterlichen ›Instinkt‹. Die Lust an der Entlastungsfantasie bietet guilty pleasure, heimliches Vergnügen an einem ›verbotenen‹ Begehren nach Freiheit. MILDRED PIERCE könnte eine Emanzipationserzählung sein, die jedoch durch die Notwendigkeit eines legitimierenden staatlichen Akteurs an Radikalität verliert. Auch die Trennung von Stella und Laurel in STELLA DALLAS könnte als eine Entlastungsfantasie verstanden werden, möglicherweise sogar noch eindeutiger, da die Trennung vom Kind als selbstgewählt dargestellt wird.56 Mutteropfer und Verantwortung stehen jedoch in STELLA DALLAS in einem anderen Verhältnis zueinander. Hier führt die Entlastung nicht zur Befreiung von mütterlicher Verantwortung, stattdessen erfüllt sich diese in der ›Entlastung‹. Die ›Befreiung‹ wird als wahre – heroische – Verwirklichung mütterlicher Verantwortung inszeniert. Während MILDRED PIERCE einen sentimentalen Imaginationsraum der Entlastung von elterlicher Verantwortung eröffnet, plausibilisiert STELLA DALLAS die Enthebung von mütterlicher Verantwortung als Ausdruck von wahrem Verantwortungsbewusstsein. MILDRED PIERCE übersetzt den biopolitischen Familienkomplex in ein Kriminalstück um mütterliche Schuld und Unschuld. Sentimentales Genießen in STELLA DALLAS bezieht sich dagegen nicht auf die Befreiung von unerfüllbaren Anforderungen, sondern auf deren ambivalente Verwirklichung. Es wird nicht nur ein anderer Machtbezug aufgerufen, Stella macht sich auch auf andere Weise ›schuldig‹.

56 Williams hat das Mutteropfer in diese Richtung gedeutet, vgl. Williams, Something Else Besides a Mother.

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2 K LASSENDIFFERENZ UND › IDEALE ‹ M UTTERSCHAFT (S TELLA D ALLAS UND A LL I D ESIRE ) Die Klassenfrage als weibliche Aufstiegsfantasie STELLA DALLAS durchzieht die Frage, was die Protagonistin davon überzeugen wird, sich von ihrer Tochter Laurel zu trennen.57 In MILDRED PIERCE konnte die Trennung von Mutter und Kind nur als durch äußere Gewalt erzwungene imaginiert werden. In STELLA DALLAS verwirklicht sich in der Trennung das »supreme maternal sacrifice« der ›abgebenden‹ Mutter. Warum ist diese Art des Mutteropfers in der Lage, sentimentale Lust zu erzeugen? Dem Mutteropfer geht eine mehrschrittige Problematisierung legitimer bzw. ›defizitärer‹ Mutterschaft in Verschränkung mit Klassendifferenz voraus. Die Klassenfrage wird in zahlreichen Verweisen angedeutet. So beginnt der Film mit einer Kamerafahrt über die monotone Architektur der fiktiven Arbeiterstadt Millhampton. In der folgenden Einstellung sehen wir Arbeiter eine Fabrik verlassen, die anschließend an der im Vorgarten ihres Elternhauses stehenden Stella vorübergehen. Stephen, einer der Männer in dieser ›Parade‹, ist durch Kleidung und Haltung von den anderen abgehoben. Über den Rand ihrer Lektüre – India’s Love Lyrics – hinweg treffen sich Stellas und Stephens Blick zum ersten Mal. In dieser ersten Szene wird nicht gesprochen, der Komplex von Klassen- und Geschlechterdifferenz, Fantasien romantischer Liebe und sozialem Aufstieg wird in wenigen Bildern aufgerufen. In dem Moment, in dem sich Stellas und Stephens Blick kreuzen, wird die Reihe der anonymen Arbeiter zu potenziellen und verworfenen Ehemännern. Die Klassenfrage wird anhand einer weiblichen Aufstiegsfantasie verhandelt. Während die Frage der Klassenhierarchie über die Reihe männlicher Arbeiter zunächst eingeführt wird und dann wieder in den Hintergrund rückt, manifestiert sie sich nach Laurels Geburt umso deutlicher in Stellas zunehmend prekärer werdendem Status als Mutter. Stellas klassenspezifisches Muttersein wird erstmalig durch Stephens frühe Drohung ›problematisch‹, ihr das Kind wegzunehmen. Der Drohung geht eine kleine häusliche Feier voraus, deren Harmlosigkeit visuell dadurch vermittelt wird, dass die 57 Robert Lang: American Film Melodrama. Griffith, Vidor, Minelli. Princeton 1989, S. 138.

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Blickachsen der Protagonist_innen und der Kamera auf das Kleinkind Laurel ausgerichtet sind. Als Stephen überraschend nach Hause kommt, wechselt die Kamera zu seiner Perspektive: In Großaufnahmen ist Laurel nun inmitten von vermeintlich alkoholischen Getränken und qualmenden Zigarren zu sehen. Daraufhin spricht Stephen besagte Drohung aus: »Stella, I can’t have our child living this way. […] I haven’t wanted to take Laurel away from you, but … « Da die Klassenfrage zu Beginn des Films eingeführt wurde, ist »living this way« in dieser Szene als klassenbezogen zu verstehen. Von nun an rückt die Frage nach Stellas Qualifikation als ›guter‹ Mutter in den Vordergrund, wobei ›angemessenes‹ Verhalten mit Klassendistinktion verschränkt wird. Zum Zeitpunkt von Stephens Drohung ›wissen‹ die Zuschauer_innen aufgrund der wechselnden Kameraperspektiven, dass es sich um ein Missverständnis handelt. Stephens Urteil erscheint ungerechtfertigt, die Sympathien sind noch auf der Seite der um ihr Kind kämpfenden Mutter. Die väterliche Drohung bleibt zunächst ohne Konsequenzen – die Trennung von Mutter und Kind wird dadurch als dramatischer Horizont des Filmgeschehens aufgerufen, Stephens Autorität als ausführende Gewalt wird jedoch relativiert. Im weiteren Verlauf des Films trennen sich Stephen und Stella zunächst nur räumlich, Stella wird als alleinerziehende Mutter dargestellt, deren Legitimität immer mehr infrage steht. In einer besonders herzzerreißenden Szene warten die Protagonistinnen vergeblich auf Laurels Geburtstagsgäste. Stella hat eine aufwändige Feier für ihre Tochter organisiert, aber die Freundinnen sagen eine nach der anderen ab. Die Zuschauer_innen wissen, dass Stella zuvor von einer Lehrerin Laurels in der Öffentlichkeit beobachtet und abschätzig beurteilt wurde. Wie in der Szene mit Stephen erzeugt das Mehrwissen des Publikums Empathie mit Stella und Laurel, die nicht ahnen, weshalb die Gäste der Geburtstagsfeier fernbleiben. Auch dieses Mal erscheint das von der Lehrerin verkörperte gesellschaftliche Urteil ungerecht. Szenen wie diese, in denen Stella aufgrund ›unkonventionellen‹ Verhaltens – hier lautes öffentliches Lachen – Missfallen erregt, stehen neben Szenen, die sie in zunehmender ökonomischer Bedrängnis zeigen, etwa, wenn sie ihre Kleider selbst näht oder ihre Haushaltshilfe entlassen muss.

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Stellas Erkennen Stella wird als hart arbeitende Mutter und Hausfrau dargestellt, deren Lebensstandard sich radikal ändert, nachdem sie in die Scheidung einwilligt und einen hohen Unterhalt erstreitet. Dies ist der Moment an dem Stellas Perspektive und die der Zuschauer_innen auseinandergehen. Der bis dahin mit Stella empathische Kamerablick blickt nun nicht mehr mit ihr auf das Geschehen, sondern richtet sich beobachtend und beurteilend ›auf‹ sie. Ihr lebhaftes Auftreten erscheint dadurch nicht mehr als unkonventionell, sondern fahrlässig: Die Unterhaltszahlungen werden für einen ›extravagenten‹ Lebensstil, für Kleidung und Schmuck und teure Reisen ausgegeben. Während sich Laurel in einem exklusiven Ferienresort problemlos in die ›höhere Gesellschaft‹ integriert, erscheint Stellas Selbst- und Weiblichkeitsinszenierung als deplatziert, sie erreicht ihren Höhepunkt in einem ›Auftritt‹ auf der Hotelterrasse. Der Modus der Darstellung wechselt in dieser Szene vom Sentimentalen zum Komischen. In einer vorausgehenden längeren Einstellung im Hotelzimmer wurde bereits gezeigt, wie sich Stella mit Schmuck und Pelz ›kostümiert‹ und sich dabei versonnen in verschiedenen Spiegeln betrachtet. Fertig ›ausstaffiert‹ stolziert sie nun durch das Resort und wird von den anderen Hotelgästen grausam verspottet, ohne dass sie dies zu bemerken scheint.58 Die Kamera blickt mit den sie umringenden anderen Gästen auf die ihrer Umgebung gegenüber ignoranten Stella. Es findet kein Perspektivwechsel statt, der Blick bleibt auf Stella gerichtet, anstatt Einfühlung mit ihr zu begünstigen. Der Kamerablick stimmt mit dem Blick der dargestellten ›Gesellschaft‹ überein, der sich wiederum mit dem Blick der außerdiegetischen Zuschauer_innen überlagert, anstatt wie zuvor eine kritische Einschätzung nahezulegen. Empathie mit Stella wird nicht ganz aufgehoben, sie wird jedoch ambivalent. Stella macht sich nun auch aus der Perspektive des Kinopublikums ›lächerlich‹, was ihre zuvor unzweifelhafte moralische Integrität diskreditiert.59 Die in der Hotelszene zum Ausdruck kommende Klassenhierarchie plausibilisiert auch für das Kinopublikum, Stellas Legitimation als Mutter infrage zu stellen.

58 Vgl. zur Komik in STELLA DALLAS: Brauerhoch, Die gute und die schlechte Mutter; Cavell, Stella’s Taste. 59 Vgl. Kappelhoff, Matrix der Gefühle, S. 43.

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Parallel zur sich verändernden Wahrnehmung des Publikums zeigt der Film, wie sich Stellas Selbstwahrnehmung wandelt. Auf der Rückfahrt vom Ferienresort hört Stella im Zug, wie andere Feriengäste über ihren ›Auftritt‹ auf der Hotelterrasse herziehen. Nicht nur machen sie sich erneut über sie lustig, explizit ausgesprochen werden nun auch die Konsequenzen von Stellas Erscheinung auf Laurel. »To have such a common looking creature for a mother« bedeute, dass die sich anbahnende Beziehung zu dem jungen Adligen (den sie am Ende heiraten wird) keine Zukunft haben kann. Die Szene im Zug ist eine zentrale Sensation Scene des Films: In grausamer Weise zur Selbsterkenntnis gezwungen, verliert Stella ihre Unschuld bezüglich des Eindrucks, den sie auf ›die Gesellschaft‹ macht. Das diffamierende Reden ist aus dem Off zu hören, während zu melancholischen Streicherklängen die Kamera langsam an Stellas Gesicht heranzoomt, auf dem sich Realisierung und Schamgefühl abzeichnen. In Bezug auf APPLAUSE (USA 1929, R: Rouben Mamoulian) beschreibt Kappelhoff den »Raum des Empfindens«, den das Melodram an Stelle objektiven Geschehens darstelle, »als wäre das kinematographische Bild das nach außen gestülpte Empfindungssensorium der Protagonistin«, das die »innere Sicht der Figur« offenbart.60 In melodramatischen Sensation Scenes artikuliert sich ein nicht verbalisiertes Erkennen,61 das weitreichende Konsequenzen für die Narration hat. In APPLAUSE führt das Erkennen zum Suizid, in STELLA DALLAS zum Mutteropfer. In der anschließenden Szene veranlasst Stella Laurels weiteren Aufenthalt bei Stephen und Helen – somit ihre ›Adoption‹. Ich werde auf diese Begegnung zwischen den beiden Müttern am Ende dieses Kapitels zurückkommen. Für den Moment möchte ich festhalten, dass sich die Abgabe von Mutterschaft unmittelbar aus Stellas ›Selbsterkenntnis‹ ableitet und durch sie plausibel scheint. Die Engführung von Erkennen und Kindesabgabe in der Sensation Scene wird mit Blick auf den diskursiven Kontext klassenhierarchischer Familienökonomie verständlich.

60 Ebd., S. 45. Im Vergleich mit APPLAUSE bemerkt Kappelhoff, die Hochzeitsszene in STELLA DALLAS sei in ihrem Entwurf eines Gefühlsbilds uneindeutiger. Ich meine, dass es vielmehr die hier beschriebene Szene im Zug ist, in der sich ein melodramatisches Erkennen im Sinne Kappelhoffs vollzieht. 61 Vgl. Williams, Race Card, S. 18.

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Klassenspezifische Familienökonomien (A LL I D ESIRE ) Der zentrale Konflikt in STELLA DALLAS beruht auf der Verschränkung von Geschlechter- und Klassendifferenz bzw. ›guter‹ Mutterschaft und Klassenhierarchie. Im vorangegangenen Kapitel habe ich das melodramatische Mutteropfer im Hollywood-Kino auf eine biopolitische Familienordnung bezogen. Weil STELLA DALLAS die Klassenfrage stellt, ist der diskursive Kontext etwas verschoben, der sich wiederum mit Blick auf die von Foucault beschriebene Verschränkung von Sexualitäts- und Familienordnung nachvollziehen lässt. Wie bereits Ariès 62 führt auch Foucault die Zentrierung der modernen Familie um das Kind auf ein bürgerliches Distinktionsbedürfnis gegenüber sowohl dem Adel als auch dem Kleinbürgertum zurück. Indem sich das Bürgertum einen Körper und eine Sexualität gebe, vollziehe es die »Selbstaffirmation einer Klasse«63. Sexualität und die an sie gebundene Familienordnung ist also nach Foucault zunächst bürgerlich. Erst mit den sozialen Konflikten des 19. Jahrhunderts im städtischen Raum und unter ökonomischem Druck werde es erforderlich, auch den proletarischen Körper, die Bevölkerungsbewegungen und die Demographie der Arbeiterschaft zu erfassen und zu kontrollieren. Erst in diesem Moment kommt es nach Foucault zur Einbindung auch der Arbeiter_innen in das Sexualitätsdispositiv,64 das jedoch klassenspezifisch greift: »Man muß darum wieder zu Formulierungen zurückkehren, die seit langem in Verruf sind. Man muß sagen, daß es eine bürgerliche Sexualität gibt, daß es Klassensexualitäten gibt. Oder vielmehr daß die Sexualität in ihrem historischen Ursprung bürgerlich ist und daß sie in ihren sukzessiven Verschiebungen und Übertragungen zu spezifischen Klasseneffekten führt.«65

Auch wenn das Proletariat in den Bereich des Sexualitäts- und Familiendispositivs rückt, so erfolge dies nicht in einer einfachen Übertragung. Foucault veranschaulicht dies erneut anhand der Inzestthematik: Der für die moderne Familie konstitutive »Kreuzzug« gegen die Masturbation sei der

62 Ariès, Geschichte der Kindheit, S. 550. 63 Foucault, Der Wille zum Wissen, S. 120. 64 Ebd., S. 124. 65 Ebd., S. 125.

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bürgerlichen Familie gewidmet. Auf die Familien des städtischen Proletariats ziele eine andere Kampagne zur »Moralisierung der armen Klassen«66 und gegen die »wilde Ehe«67. Um die soziale Stabilität der Arbeiterklasse in den Städten zu gewährleisten, seien Strategien »der Überwachung und der politischen Kontrolle, der Nichtmobilität und Nichtagitation«68 notwendig, durch Institutionen (z.B. Sparkassen und öffentlicher Wohnungsbau) zur Förderung von Eheschließungen und Familienbildung. Im Gegensatz zum Nähe-Gebot der bürgerlichen Familie herrsche hier jedoch das Gebot größtmöglicher Distanz.69 Das Inzestbegehren wird hier nicht ödipal, als von den Kindern ausgehend, problematisiert, sondern als Gefahr, die die Älteren (ältere Geschwister, Erwachsene) für die Jüngeren (Kinder) bedeuten: »Während das Sexualitätsdispositiv seit dem 18. Jahrhundert die Gefühlsbeziehungen und die körperliche Nähe zwischen Eltern und Kindern intensiviert hatte, während in der bürgerlichen Familie ein ständiger Anreiz zum Inzest herrschte, zielt das auf die unteren Klassen gerichtete Sexualitätsregime auf die Ausschließung der Inzestpraktiken oder zumindest auf ihre Verschiebung in andere Formen. […] Man darf nicht vergessen, daß die Entdeckung des Ödipus zeitlich mit den französischen Gesetzen von 1889 und 1898 zusammenfällt, die den Entzug des elterlichen Erziehungsrechts regeln.«70

66 Foucault, Der Wille zum Wissen, S. 120. 67 Foucault, Die Anormalen, Vorlesung vom 12. März 1975, S. 351. 68 Ebd., S. 352. 69 Ebd., S. 353. 70 Foucault, Der Wille zum Wissen, S. 127. Foucault erläutert: »In ihrem historischen Auftreten ist die Psychoanalyse nicht zu trennen von der Verallgemeinerung des Sexualitätsdispositivs und den damit zusammenhängenden Differenzierungsmechanismen. Das Problem des Inzests ist auch unter diesem Gesichtspunkt bedeutsam. Einerseits wird das Inzestverbot als absolut universales Prinzip angesehen, das sowohl das Allianzsystem wie auch das Sexualitätsregime zu denken gestattet; dieses Verbot gilt demnach in dieser oder jener Form für jede Gesellschaft und für jedes Individuum. Aber in ihrer Praktik macht sich die Psychoanalyse anheischig, bei denen, die sich ihre Hilfe leisten können, die Wirkungen jener Verdrängung aufzuheben; sie gestattet ihnen, ihr inzestuöses Begehren zu artikulieren. Gerade zur selben Zeit aber setzte eine systematische

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Foucault stellt hier einen Zusammenhang zwischen der Sexualisierung der Arbeiterklasse und dem »Entzug des elterlichen Erziehungsrechts« her, also der Trennung von Eltern und Kind zum Schutz des Kindes. Foucault entwirft somit zwei unterschiedliche »Organisationsweisen der Familienzelle um die Gefahr der Sexualität herum, zwei Arten, die gefährliche und zugleich unvermeidbare Sexualisierung des familiären Raums zu erwirken, zwei Weisen, darin den Verankerungspunkt einer autoritären Intervention zu markieren«.71 Während die bürgerliche Familie durch kindliche Sexualität als Kern ihrer Verantwortung hervorgebracht wird, ist, so lässt sich schlussfolgern, für die proletarische Familie die Drohung des Entzugs des Sorgerechts konstitutiv. Wie das Hollywood-Melodram zwischen verschiedenen biopolitischen Familienordnungen und ihren Sexualisierungen differenziert, lässt sich im Vergleich von STELLA DALLAS und Douglas Sirks ALL I DESIRE verdeutlichen. Das Hollywood-Melodram tendiert dazu, die bürgerliche Kernfamilie zusammenhalten zu wollen bzw. ein Auseinanderfallen zu problematisieren. In ALL I DESIRE besteht der Konflikt in einer unvollständigen bürgerlichen Kernfamilie, deren Einheit schließlich wiederhergestellt wird. Wieder spielt Barbara Stanwyck die Hauptfigur, Naomi Murdoch, dieses Mal in einer Rolle, die an Stella erinnert, dieser aber gewissermaßen entgegengesetzt ausgerichtet ist.72 In einer frühen Szene blickt die Protagonistin – wie am Ende in STELLA DALLAS – durch ein hell erleuchtetes Fenster ins Innere eines Wohnhauses. In ALL I DESIRE ist die Fensterszene jedoch Ausgangspunkt und nicht Schlusspunkt der Erzählung. Naomi beobachtet ihren Ehemann Henry (Richard Carlson) und die zwei Töchter Lily und Joyce (Lori

Jagd auf inzestuöse Praktiken ein, wie sie auf dem Land oder in bestimmten städtischen Milieus üblich waren – in solchen Milieus, zu denen die Psychoanalyse keinen Zutritt hatte. Ein enges administratives und gerichtliches Verfolgungsnetz wurde geknüpft, um diesen Praktiken ein Ende zu bereiten. Eine ganze Politik des Schutzes der Kindheit oder der gerichtlichen Bevormundung von ›gefährdeten‹ Minderjährigen zielte unter anderem darauf ab, sie aus Familien zu entfernen, die man – wegen Platzmangels, zweifelhaften Zusammenlebens, gewohnheitsmäßiger Ausschweifung, ›Primitivität‹ oder Entartung – inzestuöser Praktiken verdächtigte.« (Ebd., S. 126f.) 71 Foucault, Die Anormalen, Vorlesung vom 12. März 1975, S. 355. 72 ALL I DESIRE basiert auf dem Roman Stopover von Carol Ryrie Brink (1951).

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Nelson, Marcia Henderson) beim Abendessen.73 Sie hatte die Familie und die Stadt Jahre zuvor aufgrund einer ›skandalösen‹ Affäre verlassen. Das Figurenarsenal ist ein ähnliches wie in STELLA DALLAS: eine ›unangemessene‹ Mutter, welche die Handlung vorantreibt, und ein die gesellschaftliche Ordnung repräsentierender, zunächst statischer Vater. Auch zwischen Naomi und Henry besteht eine Klassenhierarchie, jedoch sind die Unterschiede kleiner, anstatt Millionär und Arbeitertochter streiten in ALL I DESIRE ein Schuldirektor und eine (Boulevard-)Schauspielerin miteinander. Die geringere Klassen- und ökonomische Differenz trägt zur Plausibilität der Narration bei, die darauf ausgerichtet ist, Naomi wieder mit ihrer Familie zu vereinen. Dementsprechend blickt Naomi auch nicht wie Stella zum Fenster auf, sondern sieht ›auf Augenhöhe‹ in ihr ehemaliges Zuhause. Sie ist zunächst nur zu Besuch und das Geschehen wird von der impliziten Frage geleitet, ob sie bleiben darf oder ihre Familie ein zweites Mal verlassen muss. In STELLA DALLAS steht die Trennung von Mutter und Kind als ›Lösung‹ am Schluss der Erzählung, in ALL I DESIRE stellt die Trennung den zu lösenden Konflikt selbst dar. Naomi wird im Verlauf des Films in die Familie und die Stadt ›re-integriert‹, wobei familiäre Ordnung hier vom Ehemann/Vater wiederhergestellt wird, der Naomi verzeiht und den ehemaligen Konkurrenten zur Rede stellt.74 Die Trennung der Frau/Mutter von ihrer Familie wird durch patriarchale Souveränität wieder aufgehoben. Auch in ALL I DESIRE kreist der Konflikt um die Frage, inwiefern die Mutter Teil der Familie sein darf. Während sich jedoch in STELLA DALLAS der Konflikt von der heterosexuellen Beziehung auf das Verhältnis von Mutter und Kind verschiebt und eine von der Mutter ausgehende Gefahr suggeriert wird, steht in ALL I DESIRE die Beziehung der Eltern im Vordergrund. In STELLA DALLAS wird sexuelles Begehren entdramatisiert, das Verhältnis zwischen Vater und Tochter als gänzlich unschuldig dargestellt. In ALL I DESIRE sind

73 Auch diese Szene sei, so Elsaesser, »archetypisch« für das melodramatische Kino (siehe Elsaesser, Tales of Sound and Fury, S. 125). 74 Henrys Autorität bleibt brüchig. Es sind letztlich auch hier die weiblichen Figuren, die die Handlung vorantreiben. So handelt Naomi, bevor Henry sich dazu durchringen kann und weist ihren ehemaligen Liebhaber unter Einsatz einer Schusswaffe zurück. Männliche Autorität ist auch in ALL I DESIRE abhängig von weiblicher Aktivität, und wenn Henry Naomis ehemaligen Liebhaber im Krankenhaus aufsucht, dann wirken beide gleichermaßen ›angeschossen‹.

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die Familienbeziehungen sexualisiert: Die ältere Tochter reagiert eifersüchtig auf die zurückgekehrte Mutter. In diesem ödipalen Szenario, das STELLA DALLAS vermeidet, wird patriarchale Autorität zumindest vorübergehend wieder eingeführt. Die Reintegration der bürgerlichen Familie geht mit der Reinstallation väterlicher Souveränität einher. Die soziale Frage Die unterschiedlichen »Klassensexualitäten« rufen unterschiedliche biopolitische Interventionen hervor. Die Gefahr, die von der Sexualität des Kindes ausgeht, verlangt nach medizinischem und therapeutischem Wissen; der Gefahr, die von den Erwachsenen ausgeht, wird mit repressiven Interventionen durch Justiz, Polizei und Sozialarbeit begegnet.75 Dabei geht es nicht darum, inzestuöses Begehren zu ›behandeln‹, wie es die Psychoanalyse für die bürgerliche Familie tut, sondern das Verhalten der Eltern durch institutionelle Anreize zu disziplinieren und durch Androhung des Sorgerechtssentzugs zu kontrollieren: »D.h., im einen Fall gliedert die Psychoanalyse das Begehren wieder in den Schoß der Familie ein […], während man im andern Fall nicht vergessen darf, daß es symmetrisch dazu und in absoluter Zeitgenossenschaft diese andere ebenfalls ganz reale

75 Foucault, Die Anormalen, Vorlesung vom 12. März 1975, S. 355f. Die Repressionsthese, die Foucault im Allgemeinen ablehnt, hat hier Berechtigung, jedoch nicht bezogen auf eine der Zivilisation äußerliche Sexualität, sondern als Begrenzung einer proletarischen Sexualität, die gleichermaßen diskursiv ist: »Die Theorie der Repression, die das Sexualitätsdispositiv allmählich überziehen und ihm den Sinn eines verallgemeinerten Verbots geben sollte, hat da ihren Ursprung. Sie ist historisch an die Ausbreitung des Sexualitätsdispositivs gebunden. Auf der einen Seite rechtfertigt sie seine gebieterische und zwingende Ausdehnung, indem sie das Prinzip durchsetzt, daß alle Sexualität dem Gesetz zu unterwerfen ist […]. Aber auf der anderen Seite kompensiert die Theorie der Repression die allgemeine Ausbreitung des Sexualitätsdispositivs durch ein analytisches Untersagungssystem, das nach Gesellschaftsklassen differenziert.« (Foucault, Der Wille zum Wissen, S. 125f.)

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Operation gab, die darin bestanden hat, aus Furcht vor inzestuösen Übergriffen der Erwachsenen das Kind aus der Familie herauszunehmen.«76

In beiden Fällen konstituiert sich die moderne Kernfamilie durch eine Schutzfunktion, die sich auf die Gesundheit und Sexualität des Kindes bezieht; familiäre Verantwortung meint jedoch jeweils grundsätzlich anderes.77 STELLA DALLAS ruft die disziplinierend-kontrollierende Ordnung der proletarischen Familie in affirmativer Weise auf. Da den Zuschauer_innen zunächst eine mit Stella empathischer Blick nahegelegt wird, eröffnet sich eine zumindest potenziell kritische Perspektive auf die Verknüpfung von Klassenhierarchie und ›guter‹ Elternschaft. Gerade weil jedoch die Trennung von Mutter und Kind nicht wie in MILDRED PIERCE als von außen kommende, repressive Maßnahme dargestellt wird, sondern sich von einem Moment des ›Selbsterkennens‹ ableitet und als Ausdruck mütterlicher Verantwortung dargestellt wird, wird Klassenhierarchie letztlich affirmiert. Die Mischung aus repressiver Umgebung und ›freiwilliger‹ Selbstsanktionierung ist besonders produktiv für die Sentimentalität und Ambivalenz des Films. In ihr manifestiert sich, was Jacques Donzelot, Schüler von Foucault, als »soziale Frage« zusammenfasst. Donzelot knüpft an der Unterscheidung der Familienordnungen bei Foucault an und fragt, wie die Repression der proletarischen Familie in »fortgeschrittenen liberalen Gesellschaften« genau gestaltet ist.78 Die Drohung des Entzugs des elterlichen

76 Foucault, Die Anormalen, Vorlesung vom 12. März 1975, S. 356. Foucault schlägt vor, eine auf das Proletariat bezogene soziologische von einer psychoanalytischen Inzesttheorie zu unterscheiden (ebd., S. 357). 77 Foucault geht dem im Weiteren nicht anhand der Familie nach, sondern er fragt, wie eine Macht, die sich über die Sorge um das Leben legitimiert, töten kann. Er formuliert dies als Frage nach den Möglichkeiten der ›Binnendifferenzierung‹, die sich auf die Notwendigkeit zur »Verteidigung der Gesellschaft gegen die von innen drohenden Gefahren« beruft und einen »internen Rassismus« begründet. Siehe Michel Foucault: »Vorlesung vom 17. März 1976«. In: ders.: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-1976). Aus dem Französischen von Michaela Ott. Frankfurt am Main 1999, S. 159190. 78 Jacques Donzelot: Die Ordnung der Familie. Frankfurt am Main 1980 (im Original: La police des familles. Paris 1977), S. 15. Vgl. zur liberalen Gouverne-

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Sorgerechts stelle eine letzte Maßnahme dar, die erst ergriffen wird, wenn eine Reihe vorangehender Anreize zur Selbstregulierung nicht die erwünschte Wirkung zeigt. Auch auf die proletarische Familie werde nicht nur ›einfache‹ Gewalt ausgeübt, sie werde von einer neuen »Politik des Sozialen« reguliert, die sich von einer älteren Vorstellung von Wohltätigkeit abgrenzt.79 Die Philanthropie hat nun die Funktion, die Armen zu disziplinieren: »Das Problem ist um so heikler, als es nicht mehr wie unter dem Ancien Régime schlicht und einfach durch Repression aus der Welt geschaffen werden kann, weil die liberale Ökonomie auf die Anwendung von Verfahren zur Erhaltung und Bildung der Bevölkerung angewiesen ist. […] Wie lassen sich Praktiken zur Erhaltung

mentalität als Prinzip und Methode der Rationalisierung der Regierung, die der internen Regel maximaler Ökonomie im Gegensatz zu einer auf den Staat ausgerichteten disziplinierenden Gouvernementalität gehorcht: Michel Foucault: »Die Geburt der Biopolitik«. In: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits (1970-1975), Bd. 3. Aus dem Französischen von Michael Bischoff u.a. Hg. von Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt am Main 2003, S. 1020-1028. 79 Ebd., S. 106. Vgl. Foucault zur Familie als Instrument der Regierung der Bevölkerung: »Dagegen zeigt sich die Familie in diesem Moment als Element innerhalb der Bevölkerung und als grundlegendes Relais zu deren Regierung. Anders gesagt, die Regierungskunst konnte bis zum Aufkommen der Bevölkerungsproblematik nur vom Modell der Familie, von der als Verwaltung der Familie verstandenen Ökonomie her gedacht werden. Von dem Moment an, wo die Bevölkerung im Gegenteil als etwas auftaucht, das sich durchaus nicht auf die Familie reduzieren läßt, wechselt die Familie im Verhältnis zur Bevölkerung folglich auf eine niedrigere Ebene; sie erscheint als Element innerhalb der Bevölkerung. Sie ist also kein Modell mehr, sie ist ein Segment, ein einfach deshalb privilegiertes Segment, weil man, sobald man bei der Bevölkerung hinsichtlich des Sexualverhaltens, hinsichtlich der Demographie, der Kinderzahl, hinsichtlich der Konsumtion etwas erreichen will, sich an die Familie wenden muß« (Michel Foucault: »Die Gouvernementalität, Vorlesung 4, Sitzung vom 1. Februar 1978«. In: ders.: Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977-1978. Aus dem Französischen von Claudia Brede-Konersmann und Jürgen Schröder, hg. von Michel Sennelart. Frankfurt am Main 2004, S. 134-172, hier S. 157).

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und Bildung der Bevölkerung entwickeln, die von jeder direkten politischen Zuordnung ausgeschlossen sind, sich aber nichtsdestoweniger zur Beruhigung, Befriedung und Integration heranziehen lassen? Antwort: durch die Philanthropie. Die Philanthropie, die man nicht als eine naiv apolitische Formel zur privaten Intervention in der Sphäre der sogenannten sozialen Probleme verstehen darf, sondern als eine entschieden entpolitisierende [und dadurch politische, A.M.] Strategie […].«80

Die ältere, christliche Armenfürsorge hatte ihre Wohltätigkeit an die kirchliche Mitgliedschaft und Prüfung der Moral und Ehrbarkeit sowohl der Empfänger_innen wie der Spender_innen gebunden.81 Aus Perspektive der neuen Philanthropie bedeutet dies eine »falsche Wahrnehmung der Armut«.82 Weder Repression noch Wohltätigkeit seien angemessene Mittel, um der sozialen Frage in der gemeinnützigen, ökonomischen und patriotischen Gesellschaft zu begegnen, in der es nicht mehr nur um die Interessen der (männlichen) Bürger gehe, sondern um den gesunden Körper des Gemeinwesens. Dieser erfordere nicht individuelle Almosen, sondern systematische Besserung mit gesamtgesellschaftlichen Effekten. Philanthropie ersetzt Wohltätigkeit, Repression wird durch moralisierende Norm ersetzt.83 So entstehen die soziale Frage und ›das Soziale‹ zu Beginn des 19.

80 Donzelot, Die Ordnung der Familie, S. 67f.; vgl. auch Wolf Rainer Wendt: Geschichte der Sozialen Arbeit 1. Die Gesellschaft vor der sozialen Frage. Stuttgart 2008, S. 162, 239. 81 Donzelot, Die Ordnung der Familie, S. 72f. 82 Ebd., S. 73. Vgl. zum Übergang von der Armenpolitik zur Sozialpolitik: Wendt, Geschichte der Sozialen Arbeit, S. 306. Auch Wendt unterscheidet zwischen Wohltätigkeit, Spende und menschlicher Zuwendung der Wohlhabenden für die Armen und der eigentlichen »sozialen Frage«. 83 Donzelot, Die Ordnung der Familie, S. 70. Norm wird hier im Sinne der Normalisierungsgesellschaft bei Foucault verstanden, als Verknüpfung einer Norm der Disziplin und einer Norm der Regulierung (siehe Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, S. 293; vgl. auch Thomas Lemke, Susanne Krasmann, Ulrich Bröckling: »Gouvernementalität, Neoliberalismus, Selbsttechnologien. Eine Einleitung«. In: Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann, Thomas Lemke (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt am Main 2000, S. 7-40, hier S. 13f.

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Jahrhunderts84, mit dem Ziel, die Allgemeinheit von der Armenfürsorge zu entlasten, ohne repressive Mittel einsetzen zu müssen, indem Forderungen nach staatlicher Unterstützung und politischen Rechten mit der Behauptung individuellen moralischen Verschuldens und individueller Verantwortlichkeit zurückgewiesen werden.85 Die neue Politik des Sozialen regiert, so Donzelot, »durch die Familie«.86 Dabei gehe es zunächst ganz konkret darum, das Aussetzen von Kindern, wilde Ehen und Landstreicherei zu verhindern, indem insbesondere Mutterschaft aufgewertet wird. Die Familie diene als »Stützpunkt« für jene Individuen, die sich sonst in Unterhaltsbelangen an den Staat wenden würden, sowie als Instrument zur Erziehung zu ökonomischer Selbstständigkeit. Gleichzeitig sei die Familie jedoch auch »Zielscheibe«: Insbesondere die in dieser neuen Ordnung tendenziell problematische patriarchale Autorität muss durch Normen der Selbstregulierung (des Sparens, der Hygiene, der Erziehung) diszipliniert werden.87 Die Familie entlastet den liberalen Staat als Versorgungsstätte und ermöglicht zugleich moralisch-pragmatische Intervention. Vor der Drohung des Sorgerechtsentzugs stehen Anreize zur Unabhängigkeit und Prävention.88 Nach der Logik der sozialen Frage ist Armut eine Frage des Charakters.89 So ist zu verstehen, dass in STELLA DALLAS Bilder ökonomischer Abhängigkeit in Bilder sozialer ›Unangemessenheit‹ und moralischer ›Fragwürdigkeit‹ übergehen. Vor dem Hintergrund einer spezifisch proletarischen Familienordnung wird nachvollziehbar, dass sich patriarchale Sanktionierung mit der Drohung durch Stephen nur andeutet; die eigentli-

84 Wendt, Geschichte der Sozialen Arbeit, S. 7. Die »soziale Frage« werde zuerst im Frankreich der 1820er Jahre, nach 1840 als Reaktion auf die Krise der bürgerlichen Gesellschaft auch in Deutschland diskutiert. Kritische Punkte sind die Ungleichheit der Einkommensentwicklung, das sittliche Problem allgemeiner Verwahrlosung in den Familien der Armen, Bedrohung durch Besitzlose, Gefahr des Umsturzes (ordnungspolitisch, polizeilich), Seuchengefahr in Wohngebieten der Armen, materielle Versorgung der Armen als Problem öffentlicher und privater Wohltätigkeit (ebd., S. 117). 85 Donzelot, Ordnung der Familie, S. 68f. 86 Ebd., S. 104. 87 Ebd., S. 71. 88 Ebd. 89 Wendt, Geschichte der Sozialen Arbeit, S. 128.

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che, biopolitische Macht manifestiert sich in einer Rhetorik des Sozialen, der Sorge und Selbstsanktionierung als Ausdruck moralischen Verantwortungsgefühls. Die besondere Ambivalenz und Sentimentalität von STELLA DALLAS sind nicht nur auf die Klassenhierarchie zurückzuführen, sondern vor allem auf die Inszenierung der Selbstbestrafung, dargestellt als freiwillig gewählte Aufgabe des Kindes und als Folge sozialer ›Unangemessenheit‹ und ökonomischer Abhängigkeit. Indirekt ist ein Wissen um die Drohung des Sorgerechtsentzugs aufgerufen, die in Bezug auf die bürgerliche Familie nicht in derselben Form besteht. STELLA DALLAS veranschaulicht in besonderer Weise eine klassenspezifische Logik moralischer Selbstverurteilung und -sanktionierung, die dem modernen Diskurs der Adoption zugrunde liegt. Adoption geht die Verwirklichung der Drohung des Sorgerechtsentzugs voraus. Die Heroisierung der ›abgebenden‹ Mutter im sentimentalen Adoptionsdiskurs ist symptomatisch für die moralisierende Logik klassenhierarchischer und biopolitischer Familienökonomie. Die Zuschauerin als ›ideale‹ Mutter (S TELLA D ALLAS und T HE B LIND S IDE ) Noch nicht beantwortet ist mit den exkurshaften Ausführungen zu den biopolitischen Bestimmungen klassenspezifischer Familienökonomie und ihrer melodramatischen Inszenierung, warum die Figur des proletarischen Mutteropfers in besonderer Weise sentimentales Genießen zu produzieren vermag. Geht es darum, ein Gefühlsbild ›abgebender‹ Mutterschaft zu entwerfen? Wie bereits erwähnt zielt sentimentale (Mainstream-)Unterhaltung nur bedingt auf die Artikulation subalterner Stimmen. Aufschlussreicher ist es, an die Funktion des Sentimentalen zu erinnern, die Kappelhoff im Anschluss an Brooks beschreibt: Sentimentale Unterhaltung ist darauf ausgerichtet, durch das Erzeugen von Emotionalität den Zuschauer_innen ihre eigene Empfindungsfähigkeit (ihre »moralische Begabung«) vor Augen zu führen – im Sinne eines selbstaffirmierenden Beweises der eigenen moralischen Integrität, angesichts des Leidens anderer. Das dies auch für STELLA DALLAS eine Rolle spielt, lässt sich anhand der Beziehung zwischen Stella und Helen Morrison veranschaulichen. Helen, die bis dahin nur am Rande des Geschehens auftaucht, verkörpert – stellvertretend für die außerdiegetische Zuschauerin – das empathische, mit-leidende Wissen um das Mutter-

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opfer. Nach dem zentralen Moment der ›Selbsterkenntnis‹ geht Stella zu ihr und bittet sie, sich Laurels anzunehmen: »STELLA:

You see … Lollie’s growing up now, and she – well, she’s quite a responsibility. […] so I feel that I’ve done about all I can for her. […] well, if you and Stephen got married, why, Lollie could come and live with you, and … your name being Mrs. Dallas, you see, everybody would naturally think she was … your little girl, and … than when you went places, you see, well … you see … you’re the kind of a mother that … any girl would be proud of.

HELEN:

I didn’t know anyone could be so unselfish.«

Diese Szene ist in Bezug auf Adoption ganz besonders bemerkenswert. Sie ist von der Gegensätzlichkeit der Frauenfiguren geprägt, Kleidung und Habitus markieren die Klassendifferenz. Zugleich wird der Eindruck größtmöglicher emotionaler Nähe vermittelt. Nebeneinander auf dem Sofa in Helens großbürgerlichem Haus sitzend bringt Stella stockend und stotternd ihre Sorge und Bitte vor und rückt dabei immer näher an Helen heran. In dem Moment, in dem Helen Stellas ›außerordentliche‹ Opferbereitschaft erkennt, ergreift sie Stellas Hand. Die Kamera zeigt nun neben Stellas hilflosem Blick auch Helens gequälten Gesichtsausdruck – und damit ihr Mitleiden angesichts des Leidens der anderen. Helen erfasst, im Gegensatz zu den anderen Figuren, die gesamte Dimension des Mutteropfers. Dieses Verstehen wird nicht explizit ausgesprochen, sondern in einem Bild stummen Leidens vermittelt: Helen, so scheint es, leidet fast noch mehr an der Entscheidung, als Stella selbst. Häufiger Perspektivwechsel erzeugt das für sentimentale Unterhaltung typische Mehrwissen, das Helen mit dem Kinopublikum teilt. Perspektivwechsel und Mehrwissen haben den Effekt, aus einer »liberalen« Sicht, alle Figuren als Opfer erscheinen zu lassen.90 Wie das Publikum von Soap Operas sehen die Zuschauer_innen im sentimentalen Kino aus einer mütterlichen Perspektive auf die Protagonist_innen, so

90 Elsaesser spricht von der »liberalen« Mise en Scène in Bezug auf die Filme Douglas Sirks (Tales of Sound and Fury, S. 123, 125). Vgl. zur diesbezüglichen Ähnlichkeit zwischen Sirks Filmen und STELLA DALLAS: Williams, Something Else Besides a Mother, S. 153.

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Williams in Referenz auf Tania Modleski. Soap Operas legen keine Identifikation mit nur einer handlungstragenden Figur nahe, stattdessen vermitteln sie einen Blick, der die Interessen aller Figuren gleichberechtigt erfasst.91 Modleski bezeichnet diese umfassend empathische Perspektive als Position der »idealen« Mutter, die sich durch Mehrwissen im Vergleich mit ihren ›Kindern‹ (den Serienfiguren) auszeichnet und in der Lage ist, mit allen Familienmitgliedern und ihren konfliktuösen Bedürfnissen mitzufühlen, ohne eigene Interessen zu verfolgen.92 In STELLA DALLAS verkörpert Helen die Position der interesselosen, die Bedürfnisse aller im Blick habenden, ›idealen‹ Mutter.93 So veranlasst Helen in der Schlussszene, die Vorhänge aufzuziehen und dadurch für Stella den Blick auf die Hochzeitszeremonie freizugegeben. Sie versichert jedoch auch Laurel, dass Stella nichts von der Hochzeit weiß. Im Gegensatz zu Modleskis ›idealer‹ Mutter-Zuschauerin ist sie nicht nur passive Beobachterin. Als Repräsentantin der gesellschaftlichen Oberschicht, gleichbedeutend mit ›guter‹ Mutterschaft, verkörpert sie das Gegenteil von Stella. Wo Stella laut, ungeschickt, ignorant und ›vulgär‹ scheint, ist Helen zurückhaltend, verständnisvoll, umsichtig und ›makellos‹. Das Frauenpaar verkörpert jene Klassenhierarchie, innerhalb derer Stellas Legitimation als Mutter infrage steht. An Helens Position der ›idealen‹ Mutter macht sich der typisch sentimentale Widerspruch fest, Klassendenken zugleich auszustellen und zu affirmieren. STELLA DALLAS ermöglicht eine potenziell kritische Perspektive, indem der Film einen Zusammenhang zwischen Klassenhierarchie und ›legitimer‹ bzw. ›defizitärer‹ Mutterschaft herstellt. Dieses implizite kritische aber nicht ausgesprochene Wissen wird mit den Bildern gemeinsamen, stummen Leidens auf Helens Couch ausgedrückt. Indem jedoch in der Figur der Helen die Perspektiven der ›idealen‹ Zuschauerin/ Mutter und der Repräsentantin der Oberschicht miteinander verschmelzen, erscheint es plausibel, ihr das Kind zu übergeben. STELLA DALLAS veranschaulicht nicht nur die Trennung von Mutter und Kind in der proletarischen Familie als ›zwingende‹ Konsequenz aus ökonomischer Abhängig-

91 Tania Modleski: »The Search for Tomorrow in Today’s Soap Opera: Notes on a Feminine Narrative Form«. Film Quaterly, Jg. 33, Nr. 1 (1979), S. 12-21, hier S. 14. 92 Ebd. 93 Williams, Something Else Besides a Mother, S. 153.

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keit und ›defizitärem‹ sozialen Verhalten; mit der Figur der Helen wird außerdem dem Kinopublikum die Möglichkeit gegeben, die Affirmation von Klassenhierarchie in sentimentaler Weise zu genießen. Die Vermittler_innenfigur ist fester Bestandteil einer sentimentalen Darstellungstradition. Berlant und in ähnlicher Weise Williams beschreiben diese »soft supremacy«94 etwa in Bezug auf Darstellungen des Verhältnisses weißer und afroamerikanischer Figuren. Die Melodramen der »Tom tradition«, der Filme, die in Nachfolge von UNCLE TOM’S CABIN die Perspektive sympathisierender weißer Protagonist_innen hervorheben, sei, so Williams, Ausdruck weißen Schuldbewusstseins: »[…] melodrama is the alchemy with which white supremacist American culture first turned its deepest guilt into a testament of virtue.«95 ›Rassengrenzen‹ ließen sich durch »tears to cross racial barriers«96 zumindest imaginär und emotional überwinden. Helen nimmt eine solche Stellvertreterposition in Bezug auf Klasse ein. Sie verkörpert ein implizites Wissen um Klassenhierarchie und veranschaulicht dadurch ihre eigene moralische Integrität – im Sinne eines Ambivalenz-Managements biopolitischer und klassenhierarchischer Elternschaft. Wie wirkmächtig die sentimentale Anordnung von ›abgebenden‹ und ›annehmenden‹ Mutterfiguren auch weiterhin ist, verdeutlicht John Lee Hancocks Publikumserfolg THE BLIND SIDE (USA 2009), der eine ähnliche, historisch aktualisierte Konstellation inszeniert.97 In THE BLIND SIDE nimmt sich die wohlhabende Leigh Anne Tuohy (Sandra Bullock) des schwarzen Jugendlichen Michael Oher (Quinton Aaron) an, der mit ihrer Hilfe zum Football-Star avanciert. THE BLIND SIDE ist ›Rassen‹-, Klassen- und Muttermelodram in einem. Bevor die Familie Tuohy Michael (nun auch) offiziell adoptiert, sucht Leigh Ann dessen Mutter Denise (Adriane Lenox) in deren verwahrloster Wohnung auf. Es wird angedeutet, dass Denise alkohol- und drogenabhängig sei und ihren Sohn sich selbst überlassen habe. In einer parallelen Szene zur sentimental-therapeutischen Couch-Situation in

94 Berlant, Female Complaint, S. 6. 95 Williams, Race Card, S. 44. 96 Ebd., S. 55. 97 Der Film war 2010 als bester Spielfilm für einen Oscar nominiert, Sandra Bullock erhielt für ihre Rolle einen Oscar als beste Hauptdarstellerin.

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STELLA DALLAS ›erkennt‹ Denise ihr ›Versagen‹ als ›gute‹ Mutter.98 Im Unterschied zu STELLA DALLAS ist THE BLIND SIDE jedoch offensichtlicher auf eine moralische Legitimierung der Position der Adoptivmutter ausgerichtet. Der Film folgt der Perspektive Leigh Anns, die zunächst zögert, Michael aufzunehmen. Der historische Abstand zu STELLA DALLAS zeigt sich darin, dass hier die Adoptivmutter die ›abgebende‹ Mutter aufsucht und um ihr Einverständnis zur Adoption bittet. Es geht also nicht mehr darum, die ›Abgabe‹ des Kindes zu plausibilisieren und zu legitimieren. Stattdessen deutet sich in THE BLIND SIDE eine, im Kontext des USamerikanischen ›Rassendiskurses‹ problematischer werdende weiße Savior-Position an. Aber auch in Bezug auf Adoption scheinen andere Legitimationsanforderungen zu bestehen, worauf ich im zweiten Teil dieses Buches eingehe. Der Topos des Mutteropfers als Selbstsanktionierung ist jedoch weiterhin präsent. Auch Denise ›erkennt‹ ihre ›Schuld‹, was Leigh Ann in empathisch-heroisierender Weise anerkennt. Die kurze Begegnung und wiederum stumme Verständigung der beiden Mütter plausibilisiert und legitimiert die anschließende offizielle Adoption Michaels. Die sentimentale Lust am Topos der ›abgebenden‹ Mutter als zugleich schuldhaft und heroisch lässt sich auf die Perspektive der ›idealen‹ Zuschauerin/Mutter zurückführen, die in Filmen wie STELLA DALLAS und THE BLIND SIDE der Position der Adoptivmutter entspricht. Helen bzw. Leigh Ann repräsentieren innerdiegetisch eine Zuschauer_innenperspektive, die die Ambivalenz ›abgebender‹ Mutterschaft erfasst, das heißt, um die sich darin manifestierenden sozialen Hierarchien weiß, und diese zugleich im empathischen Mitfühlen legitimiert. Sentimentale Unterhaltung übersetzt soziale Machtverhältnisse in Gefühlsbilder. Im Fall von STELLA DALLAS lässt sich ein implizites Wissen um die komplexe Verschränkung von Klassenhierarchie und moderner biopolitischer Familienordnung, von drohendem Sorgerechtsentzug und mütterlicher Selbstsanktionierung nachvollziehen. Die Artikulation dieses impliziten Wissens wird durch die affirmativen und normalisierenden Tendenzen des Sentimentalen begrenzt. In STELLA DALLAS bedeutet dies die Normalisierung des Topos schuldhaftheroischer, ›freiwilliger‹ Kindesabgabe. Moderne Adoption ist ihr Effekt – in dessen anhaltender Ambivalenz und Sentimentalität ist die Gewaltförmigkeit eben dieser Normalisierung weiterhin enthalten.

98 Ich danke Eva Warth für diesen Hinweis.

Teil 2: Krisennarrative transnationaler Adoption Ursprung, ›Rasse‹, Heimat

Gegenstand des zweiten Teils dieser Studie sind (fernseh-)dokumentarische Darstellungen erwachsener transnational Adoptierter, die den Topos der Identitätskrise zum Ausgangspunkt haben. Im ersten Teil dieser Arbeit habe ich den ambivalenten Topos heroischer ›abgebender‹ Mutterschaft im Verhältnis zur Position ›idealer‹ Mutter- bzw. Elternschaft betrachtet. Das heroische Mutteropfer vermittelt ein implizites Wissen um eine biopolitische klassenhierarchische Familienordnung, zugleich ermöglicht es deren Affirmation. Die sentimentale Lust am Mitleiden ist dabei weniger als Ausdruck des Leidens ›abgebender‹ Mutterschaft zu verstehen, denn als Gefühlsbild der ›idealen‹ Mutter/Zuschauerin. Im Vergleich von STELLA DALLAS, MILDRED PIERCE und ALL I DESIRE war der diskursive und dramaturgische Aufwand nachvollziehbar, den es bedarf, um die Trennung von Mutter und Kind zu legitimieren. An THE BLIND SIDE ist zu sehen, dass der Topos heroischer Mutterschaft weiterhin wirkmächtig ist, jedoch anscheinend nicht mehr dieselben Legitimierungsanstrengungen erfordert. Die Heroisierung der ›abgebenden‹ Mutter ist ein Allgemeinplatz im Diskurs moderner Adoption, der kontinuierlich im sentimentalen Diskurs und in sentimentaler Unterhaltung, in Soap Operas, Spiel- und Dokumentarfilmen, eingesetzt wird. Der zweite Teil dieser Arbeit wendet sich einer anderen Perspektive zu, die aufgrund der historischen Entwicklung moderner Adoption erst Ende des 20. Jahrhunderts zum Topos sentimentaler Unterhaltung wird. Mit der Einführung und Normalisierung transnationaler Adoption seit Ende des

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Zweiten Weltkriegs sind seit den 1990er Jahren vermehrt nicht nur die Eltern, sondern auch die – jetzt erwachsenen – Adoptierten medial präsent. Wie in den Darstellungen der ›abgebenden‹ Mutter zeichnen sich deren Geschichten durch eine spezifische Negativität aus, die ein implizites Machtwissen vermuten lässt, sowie eine normative Begrenzung von dessen Artikulation. Diese Negativität manifestiert sich im Topos der Identitätskrise. Ich betrachte die Darstellungen erwachsener Adoptierter in Bezug auf drei dominante Themenfelder: die Vorgeschichte der individuellen Adoptivkonstellation (Kapitel 3); die Bedeutung von ›Rasse‹ und Rassismus (Kapitel 4); und die Rückversicherung von Heimat und Zugehörigkeit (Kapitel 5). Die im ersten Teil der Arbeit dargestellte Rettungsnarration und das heroische Mutteropfer sind auch in jüngeren, fiktionalen und dokumentarischen Darstellungen mehr oder weniger unterschwellig präsent, während weitere sentimentale Figuren und Topoi hinzukommen. Exemplarisch möchte ich an zwei Fernsehproduktionen – DAUGHTER FROM DANANG und FIRST PERSON PLURAL – veranschaulichen, wie sich die, hier vietnamesisch- bzw. koreanisch-amerikanischen Adoptionsgeschichten, auf einen ihnen vorausgehenden, sentimentalen Adoptionsdiskurs beziehen. Ausgehend vom Topos der Identitätskrise wird transnationale Adoption in den Filmen problematisiert, der Fokus liegt jedoch weiterhin auf den Beziehungen zu den Müttern. Insbesondere die Bedeutung der ›biologischen‹ Väter bleibt diffus. Dies ist in den US-amerikanischen Produktionen signifikant, da in beiden Filmen durchaus thematisiert wird, dass die Etablierung der Adoption aus Südkorea bzw. Vietnam maßgeblich von der Militärpräsenz der USA geprägt ist. Im Fall von Heidi Bub, der Protagonistin in DAUGHTER FROM DANANG, ist der ›biologische‹ Vater ein amerikanischer Soldat, den die Mutter während ihrer Arbeit auf einer Militärbasis kennenlernt. Der angedeutete Komplex aus Militärpräsenz und möglicher sexualisierter Gewalt stellt einen missing link zwischen ›abgebender‹ und ›annehmender‹ Familie dar, der sich in der ambivalenten Position der Soldaten im Film manifestiert. In den hier betrachteten tendenziell kritischen Darstellungen wird der in vielen Fällen traumatische Beginn der Adoptionsgeschichte aufgerufen, aber nicht ausgeführt. Stattdessen überwiegen Figuren diffuser, emotionaler Krisenhaftigkeit. Zunächst lässt sich dies an der Art und Weise veranschaulichen, wie in den Filmen auf die Mediatisierung der Adoptivbeziehungen eingegangen wird. Adoptivgeschichten beinhalten häufig eine Reminiszenz

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an eine erste ›Begegnung‹ durch Fotografien oder Fernsehbilder. Anhand der Filme lässt sich nachvollziehen, wie die Medialität des – aus Perspektive der Adoptivfamilien – Beginns des Adoptivverhältnisses die komplexen und prekären Vorgeschichten sowohl der einzelnen Adoptionen, als auch der kollektiven Geschichte transnationaler Adoption verdeckt. Die Medienreferenz wird als sentimentale Figur erkennbar, die problematische Aspekte und Ambivalenzen in den Entstehungs- und Vorgeschichten verschwinden lässt. Darin besteht ein wesentlicher Aspekt sentimentaler Wahrnehmung moderner Adoption: Soziale, politische und ökonomische Differenzen und Hierarchien sind in spezifischer Weise unsichtbar. Dies wird mit Blick auf die (Nicht-)Thematisierung von ›Rasse‹, dem sichtbarsten Zeichen von Differenz im transnationalen Adoptivverhältnis, noch deutlicher. In DAUGHTER FROM DANANG und FIRST PERSON PLURAL nimmt daher die Thematisierung von »Farbenblindheit« und Racial Passing eine besondere Bedeutung ein, wodurch das liberale Versprechen transnationaler Adoption als anti-rassistisches Instrument problematisiert wird. Die Ambivalenzen bezüglich transnationaler Adoption erscheinen in den Darstellungen als für eine stabile Identität und ein Zugehörigkeitsempfinden problematisch. Der Topos der Heimkehr und Wiedervereinigung lässt sich in diesem Zusammenhang als Ausdruck eines sentimentalen Begehrens nach Okayness verstehen, eines Bedürfnisses, eine eindeutige Zugehörigkeit zur einen oder anderen Familie (wieder-)herzustellen. In Sensation Scenes, die an die Hollywood-Melodramen erinnern, werden Momente des Selbst-Erkennens inszeniert, in denen sich die Ambivalenzen aufzulösen scheinen. Ambivalenz-Management heißt in den hier betrachteten Darstellungen, sich letztlich zur Adoptivfamilie zu bekennen. Aber die Gespenster einer gewaltvollen individuellen wie kollektiven Adoptionsvergangenheit machen ein uneingeschränktes Bekenntnis zu einer Familie problematisch. Ich verstehe das (vorläufige) Bekenntnis zur Adoptivfamilie als Hinweis darauf, dass dieses im modernen Adoptionsdispositiv aus einer dominanten Perspektive ›plausibler‹ scheint und eher ein Gefühl von Okayness ermöglicht. Die Darstellungen deuten eine kritische Perspektive auf Adoption an; sie vermitteln ein implizites Machtwissen und die Ambivalenz transnationaler Adoption. Aufgrund des Begehrens nach (zumindest vorübergehend) eindeutiger Zugehörigkeit und Okayness werden die Beziehungen zur Herkunftsfamilie erneut verworfen und die zur Adoptivfamilie restabilisiert.

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Die biopolitische und klassenhierarchische Familienordnung, die in Bezug auf die ›abgebende‹ Mutter greift, setzt sich in den Auseinandersetzungen der erwachsenen Adoptierten fort – nun verschränkt mit nationalen und rassifizierten Hierarchien.

3 M EDIALE U RSPRUNGSFANTASIEN . F EHLENDE V ÄTER UND P UBLIC P ARENTS Gegen Ende des 20. Jahrhunderts entstehen zahlreiche (auto-)biografische Darstellungen von Adoptierten, in denen Ambivalenzen und Konflikte bezüglich rassifizierter, familiärer und sozialer Zugehörigkeit auf den Umstand der Adoption zurückgeführt werden.1 Diese Konflikte werden typischerweise durch Bilder des Verlusts biografischer, ›biologischer‹ und kultureller ›Wurzeln‹, und eines Begehrens nach ›Ganzheit‹ und emotionaler ›Schließung‹ (»closure«) veranschaulicht.2 Adoption wird als Erfahrung der ›Entwurzelung‹ gedacht, der mit Imaginationen einer Rückkehr ins Geburtsland und der Wiedervereinigung mit den ›biologischen‹ Eltern begegnet wird.3 Ich betrachte die Topoi der ›Entwurzelung‹ und der Identitätskrise im Folgenden in Bezug auf die sich darin artikulierenden Ambivalenzen hinsichtlich eines impliziten Machtwissens und eines Bedürfnisses nach Okayness. Das heißt, ich verstehe ›Entwurzelung‹ und Identitätskrise nicht als unmittelbaren Ausdruck einer psychisch-emotionalen Disposition, son1

Besonders eindrücklich in der Dokumentation des Verhältnisses einer erwachsenen koreanischen Adoptierten zu ihrer US-amerikanischen Adoptivfamilie in ADOPTED. WHEN LOVE IS NOT ENOUGH (USA 2008, R: Barb Lee). Frühe Beispiele sind LIVING IN HALFTONES von Me-K. Anh (USA 1994) und GREAT GIRL von Kim Su Theiler (USA 1993). Siehe auch Kim, Korean Adoptee AutoEthnography. Literarische Beispiele sind Jane Jeong Trenkas The Language of Blood. A Memoir (Saint Paul, Minnesota 2003) und Berlin, Seoul, Berlin. Die Reise zu mir selbst (Berlin 2008) von der koreanisch-deutschen Autorin Miriam Young Min Stein.

2

Barbara Yngvesson: »Going ›Home‹. Adoption, Loss of Bearings, and the Mythology of Roots«. In: Toby Alice Volkman (Hg.): Cultures of Transnational Adoption. Durham, London 2005, S. 25-48, hier S. 27.

3

Ebd.

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dern als Effekt diskursiver und darstellerischer Konventionen im modernen Adoptionsdiskurs. Sowohl DAUGHTER FROM DANANG als auch FIRST PERSON PLURAL setzen an den Beginn einen Zustand der Krisenhaftigkeit, auf die im Film mit einer Reise ins Geburtsland geantwortet wird. In DAUGHTER FROM DANANG wird die Krise auf eine problematische Beziehung zur Adoptivmutter zurückgeführt. Im Gegensatz dazu verspricht die Wiedervereinigung mit der ›biologischen‹ Mutter Heilung und Ganzheit. Zu Beginn sehen wir abwechselnd die Protagonistin Heidi Bub/Mai Thi Hiep und ihre vietnamesische Mutter Mai Thi Kim. Beide schildern Erinnerungen an eine schmerzhafte Trennung, und beide artikulieren die Hoffnung, dass ein Wiedersehen eine heilende Wirkung habe. Auch in FIRST PERSON PLURAL wird ein Zusammenhang zwischen der Depression der Regisseurin/ Protagonistin Deann Borshay Liem und ihrem Verhältnis zu ihrer Adoptivfamilie nahegelegt. In beiden Filmen wird die Trennung von den ›biologischen‹ Eltern als fortwährende Krise dargestellt, wodurch in gewisser Weise die vertraute sentimentale Szene dysfunktionaler Familien aufgerufen wird. Neu ist jedoch die Darstellung (aus) der Perspektive der Kinder/ Adoptierten. Gefühle von Verlust, Unvollständigkeit und einer gespenstisch anwesenden Vergangenheit sind typisch für die Geschichten erwachsener transnational Adoptierter.4 Zugleich thematisieren die Dokumentationen die sozialen, politischen und ökonomischen Bedingungen moderner Adoption direkter, als dies in den bisher diskutierten fiktionalen Hollywood-Filmen der Fall war. Der spezifische historische Moment des Erscheinens dieser biografischen Darstellungen hat mit der Geschichte transnationaler Adoption im 20. Jahrhundert zu tun. In Bezug auf die von US-amerikanischen Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg gezeugten »Besatzungskinder« wird transnationale Adoption zunächst auch im deutschen Kontext diskutiert. Mehrere Tausend »Mischlingskinder« werden vor allem von Afroamerikaner_ innen adoptiert.5 Im Zuge politischer und ökonomischer Restitution setzt sich die Auslandsadoption, anders als in Südkorea und Vietnam, nicht in

4

Eleana Kim: Adopted Territory. Transnational Korean Adoptees and the Poli-

5

Heide Fehrenbach: Race after Hitler. Black Occupation Children in Postwar

tics of Belonging. Durham. London 2010, S. 91. Germany and America. Princeton, New Jersey 2005. Ich danke Maja Figge für diesen Hinweis.

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großem Umfang durch. Kein anderes Land hat eine so lange, sich bis heute fortsetzende Adoptionsgeschichte wie Südkorea. Nach Hübinette werden zwischen 1953 und 2004 über 150.000 Kinder aus Korea zur Adoption vermittelt, zwei Drittel gehen in die USA, ein Drittel verteilt sich auf Frankreich, Skandinavien und andere westeuropäische Länder.6 Als unvorhergesehene Folgewirkung entsteht Ende des 20. Jahrhunderts eine komplementäre Bewegung in umgekehrter Richtung. Etwa 2000 erwachsene Adoptierte kehren seitdem jedes Jahr für kurze Besuche und längere Studien- und Arbeitsaufenthalte nach Südkorea zurück. Ein paar hundert entscheiden sich für die vollständige Remigration.7 In Zusammenhang mit dieser neuen Form transnationaler Bewegungen erwachsener Adoptierter entstehen die hier untersuchten Darstellungen, die inzwischen Teil einer umfassenderen Auseinandersetzung mit transnationaler Adoption vor allem in den USA und in Südkorea sind, aber auch in Schweden und Dänemark, Länder, in denen vergleichsweise viele südkoreanische Kinder adoptiert wurden. Aufgrund ähnlicher Motive und Narrationen hat sich ein eigenes »Adoptionsgenre« herausgebildet, das die spezifische Adoptionserfahrung der Trennung, Identitätskrise und Rückkehr zum Thema hat.8 Der zum Teil sentimentale Darstellungsmodus kann auf das Bemühen zurückgeführt werden, angesichts der komplexen Beziehungen eine zumindest vorübergehend stabile Zugehörigkeit zu behaupten. Die Darstellungen der erwachsenen Adoptierten verleihen den vereinfachenden Rettungsnarrationen moderner Adoption Komplexität und Historizität. Dies lässt sich exemplarisch an den Fernsehdokumentationen

6

Hübinette, Comforting an Orphaned Nation, Appendix, S. 261f.

7

Siehe Eleana Kim: »Wedding Citizenship and Culture: Korean Adoptees and the Global Family of Korea«. In: Toby Alice Volkman (Hg.): Cultures of Transnational Adoption. Durham, London 2005, S. 49-80, hier S. 58. Die Erfahrungen südkoreanischer Adoptierter sind zumindest in den USA für die öffentliche Wahrnehmung transnationaler Adoption prägend. Siehe Toby Alice Volkman: »Introduction: New Geographies of Kinship«. In: dies. (Hg.): Cultures of Transnational Adoption. Durham, London 2005, S. 1-22, hier S. 10.

8

Siehe Kim, Korean Adoptee Auto-Ethnography, S. 46. Die Anthropologin Kim, die sich umfassend mit der Konstitution einer transnationalen Community koreanischer Adoptierter befasst hat, bezeichnet die (auto-)biografischen Filme als »performances of the search for identity« (ebd., Hervorhebung im Original).

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DAUGHTER FROM DANANG und FIRST PERSON PLURAL nachvollziehen. DAUGHTER FROM DANANG dokumentiert die Wiedervereinigung der Protagonistin Bub mit ihrer Geburtsfamilie im Jahr 1997 in Vietnam. Heidi Bub/Mai Thi Hiep wurde 1975 am Ende des Vietnamkrieges im Alter von sieben Jahren im Rahmen der Operation Babylift aus Vietnam ausgeflogen und in den USA adoptiert. FIRST PERSON PLURAL ist der autobiografische Dokumentarfilm von Deann Borshay Liem, die 1966 aus Südkorea nach Kalifornien zur Adoption vermittelt wurde. In dem Film setzt sie sich mit ihrer Kindheit und Jugend in den USA und dem Verhältnis zu ihrer Adoptivfamilie auseinander und dokumentiert das Zusammentreffen beider Familien in Südkorea. In beiden Filmen geht es, wie für autobiografische Dokumentationen typisch, darum, »inoffizielle« Geschichten zu vermitteln.9 Dass es sich um Fernsehproduktionen handelt, ist in beiden Filmen an der Verbindung mehrerer Darstellungsmodi, narrativer Stränge und unterschiedlicher Materialien erkennbar, einer Fernsehästhetik entsprechend, die heterogene Elemente gleichwertig nebeneinanderstellt.10 Vor allem in DAUGHTER FROM DANANG werden verschiedene Genres eingesetzt, mit denen neben der Darstellung historischer ›Fakten‹, Eindrücke im Stil einer Reisereportage und die emotionalen Beziehungen zwischen den Beteiligten vermittelt werden. FIRST PERSON PLURAL konzentriert sich stärker auf die Beziehung zwischen Adoptivtochter und -eltern, aber auch hier wird durch unterschiedliche Filmtechniken wie Interviews und beobachtender Kamera, sowie durch den Einsatz weiterer Medien (Fotografien, Fernseharchivmaterial, Briefe, Ausschnitte aus Home Movies) eine filmische Collage erzeugt. Beide Filme verbinden historische Dokumentation, Reisebericht und emotionale Entwicklungsgeschichte, wobei DAUGHTER FROM DANANG einen stärkeren Reportagecharakter aufweist, FIRST PERSON PLURAL dagegen auch experimentellere Bilder beinhaltet und stärker auf die Darstellung der emotionalen Schwierigkeiten der Protagonistin konzentriert ist. Die unterschiedlichen thematischen Stränge – historischer Kontext der Adoption; Rückblick in Kindheit und Jugend der

9

Vgl. Jim Lane: The Autobiographical Documentary in America. Madison, WI 2002, S. 4.

10 Vgl. John Ellis: »Fernsehen als kulturelle Form« (im Original 1992). In: Ralf Adelmann u.a. (Hg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse. Konstanz 2001, S. 44-73, hier S. 50.

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Protagonistinnen und Dokumentation der Rückkehr ins Herkunftsland – folgen nicht chronologisch aufeinander, sondern sind dramaturgisch miteinander verwoben und auf einen emotionalen Spannungsbogen hin ausgerichtet. Biografisches dient als Ausgangspunkt sowohl zur Thematisierung von politischen Zusammenhängen als auch zur Herstellung verdichteter Gefühlsbilder. Die Welt ›draußen‹ wird mit Bildern intimen und subjektiven Empfindens kontrastiert. Beide Dokumentationen waren zunächst auf Filmfestivals zu sehen, bevor sie in den USA vom öffentlichen Sender PBS im Fernsehen ausgestrahlt wurden.11 DAUGHTER FROM DANANG lief in der Reihe American Experience, einer Dokumentarfilmreihe zur US-Geschichte, FIRST PERSON PLURAL in der Reihe Point of View, die subjektivere Darstellungen präsentiert.12 Die Filme unterscheiden sich daher in der Art und Weise, wie die Protagonist_innen gezeigt werden. Während die Kamera in DAUGHTER FROM DANANG eher beobachtend auf Bub blickt, gibt in FIRST PERSON PLURAL Borshay Liem als Regisseurin und Protagonistin die Perspektive vor. So blickt sie z.B. in einigen Szenen direkt in die Kamera, um ihre Sicht zu vermitteln. In vergleichbaren Szenen in DAUGHTER FROM DANANG ist Bubs Blick an der Kamera vorbei, auf eine unsichtbare Interviewer_in gerichtet, der Bub zu antworten scheint. DAUGHTER FROM DANANG erlaubt

11 DAUGHTER FROM DANANG erhielt 2002 den Preis für die beste Dokumentation beim Sundance Film Festival und war 2003 für den Academy Award als bester Dokumentarfilm nominiert. In Deutschland wurde der Film 2002 auf dem Internationalen Dokumentarfilmfestival in München und auf dem Internationalen Frauenfilmfestival Dortmund/Köln gezeigt. PBS (Public Broadcasting Service) ist ein Zusammenschluss nicht-kommerzieller Lokalsender, der sich hauptsächlich durch Spenden und zu einem geringeren Anteil durch staatliche Zuschüsse finanziert und nach seinem Selbstverständnis einen öffentlichen Bildungsauftrag verfolgt (siehe www.pbs.org/aboutpbs). DAUGHTER FROM DANANG war im deutschen Fernsehen am 22.4.2005 im WDR in der Reihe dok&Doku am Freitag um 23.55 Uhr zu sehen. 12 Siehe www.pbs.org/wgbh/americanexperience/about. Siehe auch die Homepage zu DAUGHTER FROM DANANG www.pbs.org/wgbh/amex/daughter/.

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einen voyeuristischeren Blick auf die emotionalen Konflikte der Protagonistin, wofür der Film kritisiert wurde.13 Trotz der formalen Unterschiede und der daraus entstehenden Effekte für den Subjektstatus der Protagonistinnen möchte ich hier die Ähnlichkeiten in den Darstellungsweisen in den Vordergrund stellen. Sie geben Aufschluss über die Wirkmächtigkeit sentimentaler Konventionen und über die sentimentale Produktivität transnationaler Adoption. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit ähneln sich die Filme in ihren potenziell kritischen Machtbezügen und Ambivalenzen und sie generieren ähnliche Momente sentimentalen Genießens. In diesem Kapitel betrachte ich, wie sich offizielle, einem Rettungsnarrativ folgende Entstehungsgeschichten transnationaler Adoption in ambivalenter Weise in die persönlichen Familiengeschichten einschreiben. Besonders wichtig ist dabei die Bedeutung der medialen Vermittlung zwischen prospektiven Adoptiveltern und -kindern. Die konstitutive Medialität transnationaler Adoption ist zugleich ein Moment ambivalenten Machtbezugs. Fehlende Väter: Das Rettungsnarrativ transnationaler Adoption Transnationale Adoption wird häufig auf christliche und humanitäre Motivation zurückgeführt. In Vorstellungen von Waisenkindern in existentiellen Notsituationen und einem ›besseren‹ Leben im Westen setzt sich das zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufkommende Rettungsnarrativ moderner Adoption fort, und verstärkt sich in Bezug auf transnationale Beziehungen. Zu Archivbildern des Koreakriegs zitiert in FIRST PERSON PLURAL Borshay Liem im Voice-over den historischen Entstehungskontext transnationaler Adoption aus Korea. Angesichts der verheerenden Kriegsfolgen habe 1956 zunächst ein US-amerikanischer Zivilist, Harry Holt, mit einer kleinen Ret-

13 Vgl. Paul Gregory Choy, Catherine Ceniza Choy: »What Lies Beneath. Reframing Daughter from Danang«. In: Jane Jeong Trenka, Julia Chinyere Oparah, Sun Yung Shin (Hg.): outsiders within. Writing on Transracial Adoption. Cambridge, MA 2006, S. 221-231; Natalie Cherot: »Transnational Adoptees: Global Biopolitical Orphans or an Activist Community?«. Culture Machine, Nr. 8 (2006), http://www.culturemachine.net/index.php/cm/article/viewArticle/46/ 54

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tungsaktion 91 südkoreanische Waisenkinder ausgeflogen und in den USA zur Adoption vermittelt. Diese private Aktion von Holt, der mit seiner Frau Bertha selbst acht Kinder adoptiert hat,14 sei der Anstoß zu tausenden von Adoptionen in den folgenden Jahrzehnten gewesen. Allein zwischen 1953 und 1963 adoptierten US-Amerikaner_innen 8812 Kinder aus Asien, die meisten von ihnen aus Südkorea.15 Bertha und Harry Holt eröffneten Holt International Children’s Services, die erste amerikanische und bis heute weltweit größte Vermittlungsagentur transnationaler Adoptionen, die wie viele andere einer christlichen Überzeugung folgt.16 Holt, so heißt es, habe Änderungen im US-amerikanischen Adoptions- und Immigrationsrecht bewirkt, unter anderem die Einführung der »Proxy-Adoption«, die ermöglichte, stellvertretend für die zukünftigen Adoptiveltern mehrere Kinder zugleich ins Land zu bringen.17 Diesem populären Helden- und Rettungsnarrativ fügt FIRST PERSON PLURAL eine kritische Perspektive auf die weitere Entwicklung transnationaler Adoption aus Südkorea hinzu. Borshay Liem weist darauf hin, dass es in der vom nationalen Wiederaufbau geprägten Nachkriegszeit keine staatliche Unterstützung für den Großteil der verarmten Bevölkerung und die zahlreichen Kriegswaisen gab. Eine Folge davon war, dass die Anzahl der Kinder in Kinderheimen auch noch Jahre nach Kriegsende kontinuierlich anstieg. Dies hatte auch damit zu tun, dass sich die Heime häufig durch Spenden vom westlichen Ausland finanzierten, deren Höhe von der Anzahl der zu versorgenden Kinder abhing. In den 1960er Jahren forcierte die südkoreanische Regierung Auslandsadoptionen. Borshay Liem schlussfolgert: »What Harry Holt began as a humanitarian gesture right after the war became big business in the decades that followed. South Korea became the largest supplier of children to developed countries in the world, causing some to argue that the country’s economic miracle was due in part to the export of its most precious natural resource – its children.« Zum Zeitpunkt des Films existiert bereits eine kritische Perspektive auf die südkoreanische

14 Kim, Adopted Territory, S. 43. 15 Christina Klein: Cold War Orientalism. Asia in the Middlebrow Imagination 1945-1961. Berkeley u.a. 2003, S. 175. 16 Ebd. Siehe zu Harry Holt auch Kim, Adopted Territory, S. 43f.; Herman, Kinship by Design, S. 221f. 17 Herman, Kinship by Design, S. 218.

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Adoptionspolitik, auf die sich die Filmemacherin beziehen kann. Insbesondere ein fehlendes Sozialsystem und wirtschaftliche Interessen, sowie die Stigmatisierung unverheirateter Mütter werden zunehmend als eigentliche Ursache für den besonderen ›Erfolg‹ transnationaler Adoption in Südkorea ausgemacht.18 FIRST PERSON PLURAL schließt sich dieser kritischen Sicht an, wobei mit der Referenz auf Harry Holt ein ursprüngliches Rettungsnarrativ erhalten bleibt. Auch DAUGHTER FROM DANANG bezieht sich auf eine solche Entstehungs- als Rettungsgeschichte, nach der der damalige Präsident Gerald Ford die Operation Babylift initiiert habe, im Rahmen derer Ende des Krieges 3300 »mixed-race children« aus Vietnam ausgeflogen und überwiegend in den USA zur Adoption vermittelt werden.19 Wie in FIRST PERSON PLURAL wird der Beginn transnationaler Adoption auf eine amerikanische Rettungsaktion inmitten von Kriegszerstörung zurückgeführt. Auch DAUGHTER FROM DANANG fügt eine kritische Einschätzung an: Eigentliches Ziel der Operation Babylift sei es gewesen, eine größere Zustimmung zum Vietnamkrieg zu erlangen. Auch in Bezug auf Südkorea wird transnationale Adoption in kritischen Darstellungen als politisches Instrument angesehen, das sowohl für die neue südkoreanische als auch für die US-amerikanische Regierung eine geeignete Lösung des ›Problems‹ der »GI-Babies« gewesen sei, auch wenn dies eine Reform des Einwanderungsgesetzes erforderte: »Stationed in countries around the world, U.S. soldiers fathered and then abandoned children that host countries neither wanted nor had the resources to care for. […] The Korean War, in combination with the passage of the Immigration and Nationality Act of 1952, which lifted the racial bar on Asian immigration, cleared the way for the adoption of Asian children.«20

Aus amerikanischer Sicht ersetzt Adoption als Schutzgeste belastende Kriegsschuld. Im Rückgriff auf Familien-Metaphorik scheint Adoption darüber hinaus ein besonderes Verhältnis zwischen den USA und Asien zu begründen:

18 Vgl. zur Kritik an der südkoreanischen Adoptionspolitik: Hübinette, Comforting an Orphaned Nation; Oparah, Shin, Trenka, Introduction. 19 Siehe www.pbs.org/wgbh/amex/daughter/peopleevents/e_babylift.html 20 Klein, Cold War Orientalism, S. 174f.; vgl. auch Kim, Adopted Territory, S. 48.

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»During the postwar period the hybrid, multiracial, multinational family created through adoption […] offered a way to imagine U.S.-Asian integration in terms of voluntary affiliation: they presented international bonds formed by choice (at least on the part of the American parents), rather than by biology. In doing so they foregrounded the idea of alliance among independent parties – the model of postwar integration – rather than the idea of an empire unified by blood and force. […] it served as a model for a ›free world‹ community that included Western and nonWestern, developed and underdeveloped, established and newly created nations. The family became a framework within which these differences could be both maintained and transcended, and offered an imaginative justification for the permanent extension of U.S. power, figured as responsibility and leadership, beyond the nation’s borders.«21

Adoption ermöglicht die euphemistische Übersetzung politischen Einflusses in eine Rhetorik von Verantwortung.22 Die Imagination eines familiären Verhältnisses zwischen den USA und Asien und die Rhetorik der Fürsorge und kulturellen Vermittlung verschleierten, so Klein, ein postkoloniales Macht- und Dominanzverhältnis. Eine prominente Vertreterin dieser Adoptionsrhetorik ist Pearl S. Buck. Die als Missionarstochter in China aufgewachsene Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin gründete 1949 in den USA das Welcome House, die erste Adoptionsagentur, die sich speziell um amerikanische Adoptivfamilien für asiatische und »mixed-race children« bemühte. Klein bezieht sich auf einen Zeitungsartikel von 1952, in dem die Schriftstellerin erklärt, dass Adoptierte in einzigartiger Weise in der Lage seien, im ›schwierigen‹ Verhältnis zwischen Asien und den USA amerikanische Interessen zu vermitteln: »She proposed Welcome House as part of a solution to America’s foreign policy problems: in her view, the mixed-race children available for adoption were ›key children‹ who could facilitate relations between the U.S. and Asia and perhaps prevent further losses of Asian nations to communism.«23 Die einst geretteten »mixed-race children«

21 Klein, Cold War Orientalism, S. 146. 22 Vgl. zu dieser Umkehrung des Mottos »das Private ist politisch« Lauren Berlant: The Queen of America Goes to Washington. Essays on Sex and Citizenship. Durham, London 1997. 23 Ebd., S. 144.

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wurden so als »cultural ambassadors« im Namen amerikanischer Interessen imaginiert. Sowohl DAUGHTER FROM DANANG als auch FIRST PERSON PLURAL deuten eine kritische Perspektive auf die sozialen, politischen und ökonomischen Voraussetzungen transnationaler Adoption an. In beiden Filmen bleibt jedoch die Bedeutung der ›biologischen‹ amerikanischen Väter diffus und mit ihnen die gewaltvollen Kriegs- und Geschlechterverhältnisse, die transnationaler Adoption zugrunde liegen. Dabei sind die Väter nicht einfach abwesend. In DAUGHTER FROM DANANG erzählt Bub zu Beginn, dass ihr ›biologischer‹ Vater, den sie nicht kennengelernt hat, als USamerikanischer Soldat in der zentralvietnamesischen Stadt Danang stationiert war. Ihre ›biologische‹ Mutter schildert, ihr vietnamesischer Ehemann habe sich dem kommunistischen Widerstand angeschlossen und sie mit den Kindern zurückgelassen, weshalb sie wie viele andere Vietnamesinnen auf einer US-amerikanischen Militärbasis gearbeitet habe. In der weiteren Darstellung von Mai Thi Kims Arbeit, ihrer Schwangerschaft und der Entscheidung zur Adoption gerät die Frage nach dem ›biologischen‹ Vater aus dem Blick. Die Abgabe des Kindes wird stattdessen auch hier als schicksalhaftes »Mutteropfer« dargestellt. Wie in STELLA DALLAS wird die Trennung vom Kind im Sinne individueller Verantwortung heroisiert. In Bezug auf den Vater erzählt die Mutter lediglich, er sei ein freundlicher Mann gewesen, der sich ihr »langsam genähert« habe, Sexarbeit wird angedeutet, eine weitergehende Thematisierung der Bedeutung für die Adoptionsgeschichte bleibt aus. Der emotionalen Darstellung der Mutter wird Archivmaterial gegenübergestellt, das in Vietnam stationierte amerikanische Soldaten beim Basketballspielen und im fürsorglichen Umgang mit (ihren?) Kindern zeigt. Der Zusammenhang zwischen Mais Mutteropfer und einem, durch den Umstand der Besatzung rassifizierten, prekärem Geschlechterverhältnis wird nicht direkt benannt. Indem sich die in DAUGHTER FROM DANANG explizit formulierte Kritik auf die Instrumentalisierung der Operation Babylift durch die Regierung Ford konzentriert, rücken die Umstände, unter denen die Kinder gezeugt wurden, in den Hintergrund. Auch in der Darstellung der historischen Bedingungen transnationaler Adoption aus Korea in FIRST PERSON PLURAL sind amerikanische Soldaten nur in Zusammenhang mit Rettungsaktionen zu sehen, nicht jedoch als ›biologische‹ Väter der zu rettenden Kinder. Ihr ambivalenter Status bleibt auch in kritischen Darstellungen tendenziell ausgespart. Eine Problemati-

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sierung der Anfänge transnationaler Adoption erscheint dort um so schwerer, wo politische und persönliche Machtverhältnisse nicht voneinander getrennt werden können. Auf dieser Ebene stellen die ›biologischen‹ Väter der »mixed-race children« eine diskursive Leerstelle dar, die mit sentimentalen Bildern des Mutteropfers überlagert wird. Mit dem Rückgriff auf den vertrauten Topos heroischer Mutterschaft werden gewaltvolle Geschlechterverhältnisse aufgerufen und zugleich unsichtbar gemacht. Die Entstehungs- und Rettungsgeschichten transnationaler Adoption umfassen verschiedene Ebenen der Machtbeziehungen, die unterschiedlich direkt benannt werden. Die diskursive Abwesenheit der ›biologischen‹ Väter veranschaulicht, dass transnationale Adoption besonders dort prekär ist, wo sich politische, nationale Beziehungen mit intimen und persönlichen Beziehungen überkreuzen. Public Parents: Zur Medialität transnationaler Adoption Geschichten transnationaler Adoption beginnen häufig mit der Ankunft des Kindes am Flughafen des Adoptivlandes. Sowohl in DAUGHTER FROM DANANG als auch in FIRST PERSON PLURAL wird die Ankunft der Protagonistin als ambivalentes Ereignis dargestellt, wobei nicht direkt benannt wird, worin die Problematik des – häufig ersten – physischen Zusammentreffens von Adoptiveltern und -kindern bestehen könnte. In DAUGHTER FROM DANANG wird unkommentiert Archivmaterial eingesetzt, das enthusiastische Adoptiveltern und verunsichert wirkende Kinder zeigt. In FIRST PERSON PLURAL äußert sich die Adoptivmutter aus dem Off rückblickend nachdenklich bezüglich Borshay Liems Ankunft: »Well, when you arrived … little stoic face … bundled up in all those clothes … we couldn’t talk to you, you couldn’t talk to us … I realize now that you were terrified, but because we were so happy … you know, we just didn’t think about that.« Auch diese Äußerung wird nicht kommentiert, aber die Szene zeigt VideoAufnahmen der Ankunft am Flughafen, in denen Borshay Liem wie erstarrt scheint. Beide Filme kontrastieren die Euphorie der neuen Adoptiveltern mit einer diffusen ›negativen‹ Emotionalität der Kinder. Die Ankunftsbilder deuten eine Ambivalenz an, die etwas mit dem Zustandekommen der jeweiligen Adoptivkonstellation zu tun hat, und mit einer spezifischem Form medialen Verkennens, die für moderne Adoption im Allgemeinen

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konstitutiv ist. Dies lässt sich insbesondere anhand von FIRST PERSON PLURAL nachvollziehen. Die Adoptionsgeschichte der Borshays ist (wie die vieler anderer Familien) kompliziert und beginnt mit einer ›Verwechslung‹. Nach Jahren der Spenden-Patenschaft für ein Mädchen namens Cha Jung Hee möchten die Borshays es adoptieren. Cha Jung Hee wird jedoch von ihrem Vater aus dem koreanischen Kinderheim abgeholt, so erfahren wir im Film. An ihrer Stelle schickt das Heim ein anderes Mädchen – Kang Ok Chin/Deann Borshay Liem – unter dem Namen Cha Jung Hee in die USA. Borshay Liem schildert, dass sie nach ihrer Ankunft in den USA eine Zeit lang versucht, die Erinnerungen an ihren eigentlichen koreanischen Namen und ihre koreanische Familie wach zu halten, sie diese aber nach und nach verliert. Erst als sie als Erwachsene beginnt, ihre ›Vorgeschichte‹ zu recherchieren, wird sie sich des Namens- und Identitätswechsels bewusst. Dieser für Borshay Liem offensichtlich verstörende Umstand wird im Film von der Adoptivmutter in scheinbar gleichgültiger Weise abgetan: »Well, I didn’t care that they had switched child on us. You couldn’t be loved more and just because suddenly you weren’t Cha Jung Hee, you were Ok Chin Kang, Kung or whatever, didn’t matter to me – you were Deann and you were mine.« Diese Mischung aus Gleichgültigkeit und Besitznahme ist, so meine ich, in Zusammenhang mit einem medialen Verkennen zu verstehen, dass das fremde Kind bereits vor dem physischen Zusammentreffen in ein ›eigenes‹ transformiert, unabhängig von dessen spezifischer Biografie. »You were Deann and you were mine« – bereits vor der realen Präsenz als Mitglied der Familie Borshay ist Cha Jung Hee/Kang Ok Chin Deann. Der imaginäre Status macht das tatsächliche physische Kind austauschbar. Gleichgültigkeit gegenüber der spezifischen Vorgeschichte begünstigt, die größeren sozialen, politischen und ökonomischen Zusammenhänge transnationaler Adoption zu vernachlässigen. Die Imagination einer bereits vor der Adoption bestehenden Beziehung lässt das tatsächliche Zusammenkommen von Adoptiveltern und -kind als voraussetzungslos erscheinen – im Sinne einer ›Geburt‹ des Adoptivkindes ›aus den Medien‹. Deren zentrale Bedeutung für das Zustandekommen der Adoptivfamilien wurde bereits in Zusammenhang mit der »Child Rescue Campaign« im ersten Teil dieser Arbeit angedeutet. Dort war zu sehen, wie sich das sentimentale Genießen der tragischen Geschichten in produktiver Weise mit dem Imaginieren des eigenen Eingreifens in die Schicksale der Kinder verbindet. In Be-

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zug auf transnationale Adoption setzt sich diese Logik fort. Fernsehen und Briefe erzeugen emotionale Nähe. Nach dem Zweiten Weltkrieg rufen zahlreiche Wohlätigkeitsorganisationen dazu auf, Kinder an einem der politischen »trouble spots« – Indien, Korea, Japan und Deutschland – zu unterstützen. So beschreibt etwa Heide Fehrenbach, wie im Zusammenhang mit der Adoption der von afroamerikanischen Soldaten in Deutschland gezeugten »brown babies« die Presse explizit dazu aufrief, sich der Kinder anzunehmen: »[Press] coverage played an important role in stimulating awareness and action among African Americans on behalf of black German children abroad. From the late 1940s through the mid-1950s […] stories about ›brown babies‹ fathered abroad by black American occupation troops appeared with regularity in the American press. Newspapers such as the Pittsburgh Courier and the Baltimore Afro-American published appeals to their predominantly black readership, urging them to send special CARE packages to black German children residing in German children’s homes or with their unwed mothers. The Pittsburgh Courier went so far as to publish the names and addresses of two hundred German mothers of black children. Readers were encouraged to contact the women directly and pledge long-distance material and moral support over the long term.«24

Die Berichterstattung macht nicht nur auf die Situation der alleinstehenden Mütter in Deutschland und deren Kinder aufmerksam, sie ermöglicht auch die direkte Kontaktaufnahme und Involvierung. Diese Form medialen InBeziehung-Setzens über große räumliche Distanzen hinweg ist für transnationale Adoption konstitutiv. In den hier diskutierten Dokumentationen wird ein Zusammenwirken verschiedener Medien – Briefe, Fotografien, Fernsehen – dargestellt, mittels derer die räumliche Entfernung zwischen Adoptiveltern und -kindern scheinbar überwunden werden kann. So vermittelt FIRST PERSON PLURAL das Bild einer wohlhabenden weißen Mittelschichtsfamilie, ein Umstand, aufgrund dessen Alveen Borshay das Bedürfnis gehabt habe »to do something for somebody«, wie sie im Film sagt. Nicht ohne Ironie zeigen Ausschnitte aus Home Movies aus der Zeit vor Borshay Liems Adoption die Familie – Vater, Mutter und zwei ›biologische‹ Kinder – unter dem Weihnachtsbaum, umgeben von ›Bergen‹ von

24 Fehrenbach, Race after Hitler, S. 133f.

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Geschenken. Die Szene wird durch einen historischen Fernsehbericht über europäische und asiatische Kriegskinder kontrastiert, der mit einem Spendenaufruf des Foster Parents Plan endet, der Wohltätigkeitsorganisation, mittels derer auch die Borshays spenden: »For fifteen dollars a month you can help a child.« Die Borshays übernehmen die Patenschaft für ein südkoreanisches Kind, im Gegenzug erhalten sie Briefe von einer Mitarbeiterin des Kinderheims, im Namen ›ihres‹ Kindes verfasst. Auf Grundlage der doppelten Vermittlung durch die Mitarbeiterin und die Briefe entwickeln die Borshays ein Gefühl von Elternschaft, wie Alveen Borshay erzählt: »Then we got a letter saying that they have a little girl in Korea in the Sun-duk orphanage. Then the nurse sent us letters every month. We wrote for two and a half years I think. And … we became attached to you through the mail. And I found myself saying every time we did something, I wonder what would Cha Jung Hee think about this, I wish Cha Jung Hee was here and it finally got to be an obsession with me … and I said to Daddy, I said, you know, I’d like to adopt her.«

Sentimentales Genießen und das Versprechen eigener Involvierung verstärken sich gegenseitig, wie es bereits bei der »Child Rescue Campaign« der Fall war. Im Rahmen des Foster Parents Plan heißt Adoption zunächst nur die finanzielle Unterstützung eines Kindes über einen längeren Zeitraum, ohne dass eine physische Begegnung vorgesehen ist.25 FIRST PERSON PLURAL erzählt, wie sich die unbekannte Empfängerin – »somebody« – vor ihrem tatsächlichen Eintreffen in ein imaginäres Familienmitglied verwandelt.26 Ann Anagnost verweist auf die »magische« Eigenschaft der Fotografien, die Vermittlungsagenturen an prospektive Adoptiveltern versenden. Diese vermittelten das Gefühl einer bereits bestehenden emotionalen Bindung und der »Schicksalhaftigkeit« ihrer ›Begegnung‹.27 Die Fotografie eines Kindes wird zur Abbildung meines Kindes. Briefe und Fotografien suggerieren ›immer schon‹ bestehende Zusammengehörigkeit. Das Fernsehen verstärkt aufgrund seiner spezifischen medialen Eigenschaften diesen mediengenerierten Eindruck einer emotionalen Beziehung über räumliche und zeitliche Entfernungen hinweg. In Bezug auf die drasti-

25 Vgl. auch Klein, Cold War Orientalism, S. 153ff. 26 Ebd., S. 158. 27 Anagnost, Scenes of Misrecognition.

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sche Berichterstattung der Situation in rumänischen Kinderheimen nach Ende des Ceaușescu-Regimes 1990 beschreibt Lisa Cartwright ähnliche »elterlichen Fantasien« der Zuschauer_innen. Die verstörenden Fernsehbilder der medizinischen und sozialen Verhältnisse hätten nicht nur zu erhöhten Spendensummen geführt; der Eindruck eines unmittelbaren Verhältnisses zu den gezeigten Kindern habe wiederum das Bedürfnis produziert, direkt in das Geschehen einzugreifen. So seien viele Zuschauer_innen nach Rumänien gefahren, um eines der im Fernsehen gezeigten Heimkinder zu ›retten‹, einige auf der Suche nach dem einen Kind, das sie zuvor auf dem Bildschirm gesehen hatten.28 Nicht berücksichtigt wurde dabei die Medialität der ›Begegnung‹29, die, wie in den Äußerungen Alveen Borshays in FIRST PERSON PLURAL, eine spezifische Gleichgültigkeit gegenüber den individuellen Vorgeschichten – und dadurch auch, den größeren politischen Zusammenhängen, produziert. Public Parents empfänden sich, so Cartwright, als Eltern potentiell ›aller‹ Kinder; 30 jedes Kind kann auf der Grundlage der Medialität der Situation als ›eigenes‹ imaginiert werden. Aufgrund der Schwierigkeit der Distanznahme, die für das Medium im Allgemeinen gilt, eignet sich das Fernsehen besonders für die Produktion von Public Parents. Samuel Weber weist darauf hin, dass das Spezifische des Mediums in der imaginären Überwindung von Raum und Zeit liegt: »Denn das Fernsehen ist uns so nah, daß wir Schwierigkeiten haben, den nötigen Abstand zu gewinnen, um zu einer Einschätzung zu gelangen. Gerade diese Schwierigkeit könnte uns aber auf eine wichtige Spur bringen. Denn vielleicht trifft gerade diese Schwierigkeit etwas Wesentliches am Fernsehen, nämlich die Tendenz, Abstand an sich zu reduzieren. Diese Tendenz teilt das Fernsehen mit anderen Medien. Doch bei ihm wird sie wohl auf die Spitze getrieben.«31

28 Lisa Cartwright: »Images of ›Waiting Children‹. Spectatorship and Pity in the Representation of the Global Social Orphan in the 1990s«. In: Toby Alice Volkman (Hg.): Cultures of Transnational Adoption. Durham, London 2005, S. 185-212, hier S. 195. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 198. 31 Samuel Weber: »Zur Sprache des Fernsehens: Versuch einem Medium näher zu kommen«. In: Jean-Pierre Dubost (Hg.): Bildstörung. Gedanken zu einer Ethik der Wahrnehmung. Leipzig 2004, S. 72-88, hier S. 75.

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Das Fernsehen charakterisiert eine irritierende Gleichzeitigkeit der vermeintlichen Nähe der Dinge und von deren Unerreichbarkeit. Deshalb ist es sowohl das Medium des Privaten und Häuslichen, als auch der Fremde. Im Gegensatz etwa zum Kino hat sich das Fernsehen als ›Haushaltsmedium‹ etabliert, das privat rezipiert wird und in den Alltag integriert ist.32 Dies erklärt die besondere Affinität zu privaten, familiären und intimen Themen. Typische Fernsehästhetik, die Präferenz für Großaufnahmen oder die Imitation von Face-to-Face-Situationen, verstärken den Eindruck emotionaler Nähe. Das Fernsehen galt aufgrund seiner einfachen, das gesprochene Wort illustrierenden Bilder und scheinbar transparenten Bedeutungen lange Zeit als Medium der Unmittelbarkeit und Authentizität. Das wiederholte Zeigen immer gleicher Orte, Situationen und Kontexte verstärkt den Eindruck der Allgegenwärtigkeit, selbst wenn wir nicht einschalten.33 Als Medium der ›Fernsicht‹ suggeriert das Fernsehen einen von der körperlichen Präsenz losgelösten Blick, der es ermöglicht, Objekte in beliebiger Distanz zu betrachten, während sich die Zuschauer_innen als Privatpersonen angesprochen fühlen, die Medialität der Rezeptionssituation vergessend. Entfernte Dinge scheinen in größte Nähe zu rücken, gleichzeitig bleiben sie in Distanz, weil sie nicht im wörtlichen Sinn näher gebracht werden.34 Das Fernsehen, so Weber, produziere keine Bilder oder Abbilder, sondern eine grundsätzlich andere Wahrnehmung von Raum und Zeit: »Das Unheimliche am Fernsehen hängt damit zusammen, daß sich Nähe und Ferne nicht mehr ausschließen: das andere Sehen ist sehr nah und sehr fern zugleich. Kurzum, der Raum und seine Beziehung zur Zeit werden durch die Fernsehübertragung – d.h. durch das Fernsehen als Übertragung – verändert.«35 Die Zuschauer_innen verfügen scheinbar selbst über die Fähigkeit des erweiterten Sehens; so wird das Entfernte mit dem Nahen kurzgeschlossen und der Eindruck erweckt, wir wären von dem, was das Fernse-

32 Lynn Spigel: »Television in the Family Circle. The Popular Reception of a New Medium«. In: Patricia Mellencamp (Hg.): Logics of Television. Essays in Cultural Criticism. Bloomington 1990, S. 73-97. 33 Siehe Ellis, Fernsehen als kulturelle Form. Dies gilt für die konventionelle Form des Fernsehens vor der Entwicklung von digitalem Fernsehen und sogenanntem Quality TV. 34 Weber, Sprache des Fernsehens, S. 76. 35 Ebd., S. 79.

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hen zeigt, unmittelbar selbst gemeint. Das Sehen »entfernten Leidens«36 innerhalb der häuslichen Rezeptionssituation und die Ästhetik der Unmittelbarkeit legen die Schlussfolgerung nahe, wir würden direkt als Instanz der Intervention angesprochen und aufgefordert, selbst die Distanz zu überwinden, die auf der Bildebene bereits aufgehoben scheint.37 Ambivalente Gleichgültigkeit der Herkunft Fotografien, Briefe und Fernsehbilder produzieren Public Parents und scheinbar außerhalb von Zeit und Raum entstandene Familienbeziehungen. Paradoxerweise begründet die imaginäre Beziehung zum ›eigenen‹ Kind zugleich jene Verallgemeinerbarkeit und Austauschbarkeit, die Alveen Borshay zum Ausdruck bringt und die auch die Adoptivschwester Denise Borshay vermittelt. Sie erinnert sich im Film an die Ankunftsszene am Flughafen: »I think mother went up to the wrong person. […] I think we didn’t know until we checked your name tag or someone told us who you are … It didn’t matter, I mean … one of them was ours.« Das Kind, zu dem bereits eine imaginäre – das heißt emotional real erscheinende – intime Beziehung besteht, ist an keinen physischen Körper gebunden. Diese Szenen sind ambivalent, weil sie neben der Ausblendung der individuellen Vorgeschichte auch darauf hinweisen, dass die Austauschbarkeit in gewisser Weise eine Voraussetzung dafür darstellt, zur Adoptivfamilie zu gehören. Dies lässt sich wiederum anhand des Gesprächs der Adoptivschwestern über Borshay Liems Ankunft veranschaulichen. Auf Denise Borshays scherzhafte Feststellung »one of them was ours« reagieren beide mit einem gemeinsamen Lachen, das darauf hindeutet, dass die ›Gleichgültigkeit‹ der Adoptivfamilie auch als Ausdruck davon verstanden werden kann, dass sie der Herkunft und den ›biologischen‹ Beziehungen Borshay Liems keine Bedeutung geben (wollen). Zugehörigkeit zur Adoptivfamilie scheint durch

36 Luc Boltanski: Distant Suffering. Morality, Media and Politics. Cambridge, UK 1999 (im Original 1993). 37 Vgl. die Diskussion der Adressierung und Mobilisierung angesichts des »Leidens anderer« bei Boltanski, Distant Suffering; Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten. Frankfurt am Main 2003; Lisa Cartwright: Moral Spectatorship. Technologies of Voice and Affect in Postwar Representations of the Child. Durham, London 2008.

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demonstratives Desinteresse an Borshay Liems Vorgeschichte betont zu werden. Das heißt jedoch im Umkehrschluss, dass die Behauptung der Zugehörigkeit zur Adoptivfamilie mit der Ausblendung der Existenz der ›biologischen‹ Familie und möglicher Bindungen zu dieser einhergeht. Borshay Liem reagiert im Film auf die Äußerungen von Adoptivmutter und -schwester mit Lachen und gleichzeitig mit einem Ausdruck stummer Bestürzung. Die hier diskutierten Darstellungen transnationaler Adoption nehmen eine kritische Perspektive auf die politischen und ökonomischen Bedingungen transnationaler Adoption ein, wobei insbesondere die Bedeutung der ›biologischen‹ Väter eine Leerstelle bleibt. Die Austauschbarkeit des Adoptivkindes veranschaulicht, wie sehr transnationale Adoptionen als voraussetzungslos gedacht werden, Effekt eines mediengenerierten imaginären Empfindens der Nähe zum fremden Kind. Die Medialität der Adoption unterstützt die Imagination scheinbar voraussetzungsloser Zugehörigkeit und trägt dazu bei, Vorgeschichten und Bedingungen des Zustandekommens der transnationalen Adoptivfamilie auszublenden. In Darstellungen wie DAUGHTER FROM DANANG und FIRST PERSON PLURAL lassen sich ambivalente Spuren dieser konstitutiven Medialität der Adoptivbeziehungen nachvollziehen. Dies wird im Umgang mit ›Rassendifferenz‹ noch deutlicher, den ich im nächsten Kapitel genauer betrachte. Wie auch in Bezug auf das hier diskutierte Ausblenden der Vorgeschichten entsteht Ambivalenz durch ein kritisches Wissen darum, dass in Darstellungen von Adoption als liberales, antirassistisches Instrument individuelle Realität verkannt wird und zugleich ein Begehren nach voraussetzungsloser Zugehörigkeit besteht.

4 D AS K IPPBILD

DER

›R ASSENDIFFERENZ ‹

»My parents  two white American people« In FIRST PERSON PLURAL beschreibt Borshay Liem ihr Verhältnis zu ihren Adoptiveltern mit einem Kippbild von Ähnlichkeit und Differenz: »There’s a way in which I see my parents as my parents, but sometimes I look at them … and I see two white American people that are so different from me that I can’t fathom how we are related to each other and how it could be

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possible that these two people could be my parents.« Adoptiveltern und -tochter sind in dieser Szene auf der Autofahrt zum Haus der ›biologischen‹ Mutter in Korea zu sehen. Es ist das erste Mal, dass sich Adoptiv- und ›biologische‹ Eltern begegnen werden. Die Kamera richtet sich zuerst auf Deann und Alveen und dann auf Deann und Arnold. Borshay Liems Voiceover-Kommentar folgend können die Zuschauer_innen entweder die Ähnlichkeiten oder die Unterschiede zwischen ihnen in den Blick nehmen. Die Szene endet mit einer Großaufnahme von Alveens und Deanns Händen, ein Bild, das Intimität und Nähe vermittelt. Der Kontrast zwischen den Bildern physischer und emotionaler Nähe und Distanz erzeugt Ambivalenz. Worin bestehen die Konflikthaftigkeit und sentimentale Produktivität der Szene? Im vorangegangenen Kapitel habe ich darauf hingewiesen, dass eine Schwierigkeit, die Machtbedingtheit transnationaler Adoptivbeziehungen zu benennen, in der Gefahr besteht, die Zugehörigkeit zur Adoptivfamilie infrage zu stellen. So wird der Konflikt, der sich in Borshay Liems Gegenüberstellung von »my parents« und »two white American people« andeutet, nicht ausformuliert. Durch die Attributierung als weiß wird deutlich, dass sich »so different from me« auf eine rassifizierte Differenz bezieht. Der Unterschied, der die Intimität zwischen Adoptiveltern und -tochter infrage stellt, bezieht sich auf ›Rassendifferenz‹. Angedeutet ist damit auch, dass Familienintimität eine geteilte ›Rassenzugehörigkeit‹ impliziert. Der hier angedeutete Konflikt bezieht sich also auf die Schwierigkeit, Familienbeziehungen und ›Rassendifferenz‹ gleichzeitig zu thematisieren. Bei einem Fokus auf ›Rasse‹ scheint es nicht möglich, zugleich intime Familienbeziehungen zu sehen, umgekehrt scheint die Betrachtung der Familienbeziehungen ›Rassendifferenz‹ aus dem Blick zu rücken. ›Rasse‹ ist das sichtbarste Zeichen von Differenz in transnationalen Adoptivbeziehungen. Im Folgenden betrachte ich die Sagbarkeit und Unsagbarkeit von ›Rassendifferenz‹ im Adoptivverhältnis, ihre Verschränkungen mit anderen Machtachsen und die Herausforderungen an eine rassismuskritische Perspektive auf transnationale Adoption. Es ist zu betonen, dass die besondere Bedeutung von ›Rassenzugehörigkeit‹ in Zusammenhang mit transnationaler Adoption im Allgemeinen und in den hier untersuchten Darstellungen nicht in einfacher Weise auf ein biologistisches Denken zurückzuführen ist. Stattdessen verstehe ich die Thematisierung von ›Rasse‹ als symptomatisch für Fragen ambivalenter Identität und Zugehörigkeit unter gewaltförmigen Bedingungen. Ich schließe mich hier ei-

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nem nur auf den ersten Blick paradoxen antirassistischen Verständnis von ›Rasse‹ an: Ohne eine wissenschaftliche Berechtigung dieser zu behaupten, ist zu berücksichtigen, dass die Gewalt von Rassifizierungen und Rassismus in historisch unterschiedlicher aber kontinuierlicher Weise fortwirkt und dass dabei auch eine gewaltvoll rassifizierte Identität affirmiert und in kritischer Weise angeeignet werden kann.38 In Bezug auf transnationale Adoption sind aufgrund ihrer Verflechtung mit intimen Familienbeziehungen die gleichzeitige Unhaltbarkeit von ›Rasse‹ und ihre diskursive und materielle Wirkmächtigkeit auf spezifisch sentimentale Weise produktiv. Transnationale Adoption spitzt die Frage zu, wie mit der Wirkmächtigkeit von Rassifizierung und Rassismus umzugehen ist, wenn unterschiedliche Rassifizierungen Familienbeziehungen herausfordern, ›Rassendifferenz‹ jedoch nicht thematisierbar ist. Der zentrale Konflikt besteht also darin, dass das Benennen von Differenz und die damit einhergehenden unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten die Zugehörigkeit zur Adoptivfamilie zu bedrohen scheinen. Color Blindness und Racial Passing Im Rückblick auf ihre gemeinsame Kindheit beschreibt Borshay Liem im Gespräch mit ihrer Adoptivschwester Denise, wie sie ›amerikanisch‹ wurde. Dabei spricht sie rassifizierte, physische Unterschiede zwischen den Adoptivschwestern an: »One of the ways I kind of learned how to be American was by observing you and […] family and friends and the TV. I always thought you had the perfect eyes. It was always frustrating because I couldn’t get my eyelashes to look like yours.« Borshay Liem beschreibt ihr Nicht-Weißsein als empfundenes Defizit, ihre Adoptivschwester verkörpert dagegen im Rückblick ein unerreichbares vergeschlechtlichtes und rassifiziertes Ideal.39 Im Anschluss hören wir Denise: »People would see us […] and they’d say is that your sister? You guys look just alike.« Der Film kontrastiert die Darstellung von Differenz und das Insistieren auf Gleich-

38 Vgl. Fatima El-Tayeb: »Vorwort«. In: Maisha Eggers u.a. (Hg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster 2005, S. 7-10; Patricia Williams: The Alchemy of Race and Rights. Diary of a Law Professor. Cambridge, MA 1991. 39 Vgl. Eng, Feeling of Kinship, S. 116.

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heit. Auf der Bildebene folgen verschiedene Kindheitsfotografien aufeinander, die die Zuschauer_innen erneut vor die Wahl stellen, auf Ähnlichkeit oder Verschiedenheit zu achten. Wie zuvor in der Beschreibung des Verhältnisses zu den Adoptiveltern erzeugt die Szene ein Kippbild, das entweder intime Familienbeziehungen oder ›Rassendifferenz‹ veranschaulicht. Fotografien von Borshay Liem als All American Girl, HighschoolProm Queen oder als Cheerleader können als vergeschlechtlichte Darstellungen eines idealtypischen Amerikanisch-Seins verstanden werden, die sie als (fast) perfekte Imitation der Schwester zeigen, oder aber als Veranschaulichungen scheiternder Performances von Weißsein. Ambivalenz und Sentimentalität entstehen hier nicht aufgrund von Darstellungen expliziter rassistischer Gewalt, sondern aufgrund widersprüchlicher Wahrnehmungsweisen von Differenz und Zugehörigkeit. FIRST PERSON PLURAL räumt der Darstellung dieser Verkennungen der Bedeutung von ›Rasse‹ viel Platz ein. Das demonstrative Nicht-Sehen von ›Rassendifferenz‹ wird dadurch problematisch; die Frage, inwiefern es selbst gewaltförmig ist, wird jedoch nicht ausgeführt. Das Kippbild der Familienzugehörigkeit/›Rassendifferenz‹ deutet einen komplexen strukturellen Zusammenhang zwischen rassifizierten Strukturen und transnationaler Adoption an. ›Rassendifferenz‹ ist einer der umstrittensten Aspekte moderner Adoption. So ist es ist kein Zufall, dass ein gängiges Bild transnationaler Adoption weiße Adoptiveltern und nicht-weiße, häufig asiatische Kinder beinhaltet. In den USA ist die Popularität der Adoption asiatischer Kinder in Relation zur kontroversen Diskussion der Adoption afroamerikanischer Kinder zu verstehen. 1972 spricht sich die National Association of Black Social Workers (NABSW) dagegen aus, schwarze Kinder in weiße Familien zu geben; dadurch werde strukturell eine ›Rassenhierarchie‹ unterstützt, da den Kindern in den Adoptivfamilien eine stärkende Community fehle und sie dadurch nicht ausreichende Widerstandsfähigkeit gegen Rassismus entwickeln würden.40 Dass die Adoption asiatischer Kinder so beliebt ist, wird auch als Versuch gedeutet, dieser schuldbehafteten Diskussion auszuweichen. 41 Die Adoption asiatischer

40 National Association of Social Black Workers: »Position Statement on TransRacial Adoption«. September 1972, siehe The Adoption History Project, http://pages.uoregon.edu/adoption/archive/NabswTRA.htm 41 Vgl. Herman, Kinship by Design, S. 252; Eng, Feeling of Kinship, S. 108.

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Kinder scheint das Problem des ›Rassenkonflikts‹ zu umgehen. Dieser indirekte Bezug zum asymmetrischen Verhältnis zwischen weißen und Afroamerikaner_innen schlägt sich hinsichtlich der Adoption asiatischer Kinder in einer Haltung nieder, die als Color Blindness bezeichnet wird.42 Bei der Adoption asiatischer Kinder durch weiße Familien lässt sich ›Rassendifferenz‹ einfacher ausblenden. Auch FIRST PERSON PLURAL thematisiert die Bedeutung von ›Rasse‹ im Adoptivverhältnis in Bildern der Color Blindness: Rassifizierte Differenz wird entweder, wie in den bisher zitierten Szenen, in ihrer Existenz und/ oder ihren Effekten negiert.43 Alle Mitglieder der Adoptivfamilie bringen auf die eine oder andere Weise zum Ausdruck, dass die physische und biografische Differenz Borshay Liems zum Rest der Adoptivfamilie nicht von Bedeutung sei, da es keine Differenz gebe oder diese keine nennenswerten Folgen habe. So erklärt die Adoptivschwester: »From the moment you came here you were my sister and we were your family and that was it. And even though we may look different and different nationality or whatever, we were your family.« Auf ähnliche Weise antwortet auch der Adoptivbruder Duncan auf Borshay Liems Frage, ob er je daran gezweifelt habe, dass sie seine Schwester sei. Er erklärt, dass sie nicht von derselben ›biologischen‹ Mutter geboren wurden und Deann auch nicht die »family eyes« habe – er markiert also Differenz, um diese dann mit »but I don’t care« zu relativieren. Abschließend insistiert er: »Color and look doesn’t [sic] make any difference.« In den Äußerungen der Adoptivgeschwister erscheint Color Blindness als betonte Gleichgültigkeit: »whatever«, »I don’t care«. Die Betonung der fehlenden Bedeutung rassifizierter Differenz verdeutlicht, dass das Nicht-Sehen von Differenz eine permanente Anstrengung des Ausblendens erfordert. Gerade in der Verneinung wird ›Rassendifferenz‹ als etwas behandelt, das keine Bedeutung haben darf, diese aber dennoch immer wieder für sich beansprucht. Die stets von Neuem wiederholten Negationen haben den Effekt, die Signifikanz von ›Rasse‹ für die Beziehungen zu vergrößern und sie letztlich zu reproduzieren. Color Blindness führt nicht zum Ende von ›Rassendifferenz‹, stattdessen nimmt sie eine »geister-

42 Eng, Feeling of Kinship, S. 117. 43 Die Benennung von Differenz erscheint innerhalb dieser Logik selbst als rassistisch, vgl. El-Tayeb, Vorwort.

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hafte« Gestalt an.44 Sie wird zu etwas, das nicht benannt werden darf und als das Nicht-Benennbare kontinuierlich fortwirkt. Die Bedeutung von ›Rasse‹ für Adoptivbeziehungen wird gerade durch das Betonen ihrer Unbedeutsamkeit unterstrichen. Die Verlegenheit im Bekenntnis Duncans zu seiner Adoptivschwester deutet einen prekären Status ihrer Beziehung an, den ich nicht darauf zurückführe, dass es sich um kein ›biologisches‹ Verhältnis handelt, sondern auf die Voraussetzung, ›Rassendifferenz‹ auszublenden. Eng bezeichnet diese Weigerung, Differenz wahrzunehmen oder ihr Bedeutung zuzusprechen, als eine neue Form des Racial Passing: »Unlike previous historical incarnations of passing that demand the concealment of racial (or sexual) difference […] here we witness not the suppression of difference, but the collective refusal to see difference in the face of it.«45 Racial Passing beschreibt historisch im Kontext der USA das Phänomen, von anderen nicht als schwarz wahrgenommen zu werden, sondern als weiß ›durchzugehen‹. In ihrer Betrachtung von Racial Passing in Nella Larsens Roman Passing stellt Berlant fest, dass der Umstand, nicht als schwarz ›erkannt‹ zu werden, bedeutet, von Körperlichkeit selbst »abstrahiert« betrachtet zu werden. 46 In Larsens Roman lebt die weibliche Hauptfigur das Mittelschichtsleben einer wohlhabenden weißen New Yorkerin, die nach den geltenden Jim-Crow-Gesetzen schwarz ist und fürchten muss, ›entlarvt‹ zu werden, mit tödlichen Konsequenzen. In dieser historisch früheren Form des Racial Passing ist ›Rasse‹ zugleich über die One-Drop Rule körperlich eingeschrieben und auf der »epidermischen« Oberfläche unsichtbar.47 Im Gegensatz dazu beruht das Passing der transnational Adoptierten darauf, so Eng, dass es sichtbare, physische Differenz ist, die geleugnet bzw. der Relevanz abgesprochen wird. Auch dies stellt eine Form der Abstraktion von Körperlichkeit dar.

44 Eng, Feeling of Kinship, S. 11. 45 Ebd., S. 95. 46 Berlant, Female Complaint, S. 108f.; Nella Larsen: Passing. New York 1929. Siehe zu einer ausführlicheren Auseinandersetzung zum Passing in FIRST PERSON PLURAL: Michaelsen,

Passing im Konsum.

47 Vgl. das »epidermische« ›Rassenschema‹ bei Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken.

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Amerikanisierung als ›Weißwerdung‹ In DAUGHTER FROM DANANG vergleicht eine Freundin der Adoptivfamilie Bub mit einer sonnengebräunten Amerikanerin: »Heidi’s features and her complexion and everything – it’s just like an American that’s had a sun tan. When she was growing up and even ‘till now I still look at her as a white American. Uhm, because there’s really not much oriental in her.«48 Amerikanerin zu sein heißt hier, weiß zu sein. Amerikanisch-Sein und »Oriental«-Sein schließen einander hingegen aus. Color Blindness bezieht sich in den Darstellungen transnationaler Adoption auf die Leugnung von Differenz, aber auch auf eine vermeintliche Assimilation der Adoptierten: Das Nicht-Sehen von Differenz korrespondiert mit einer spezifischen Form des Verschwindens von Differenz. So sprechen Borshay Liems Adoptiveltern von einer Transformation, die diese nach ihrer Ankunft in den USA erfahren habe. An die medial bedingte Transformation des räumlich entfernten, fremden Kindes in ein ›eigenes‹, wie im vorangegangenen Kapitel geschildert, schließen Schilderungen einer weiteren Transformation nach der physischen Ankunft des Kindes an. In FIRST PERSON PLURAL hat sich Cha Jung Hee/Kang Ok Jin nicht nur imaginär bereits vor ihrer Ankunft in Deann Borshay verwandelt. Mit ihrer Ankunft in den USA und der Adoption verwandelt sich auch ihr materieller und rechtlicher Status von einem anonymen, hilfsbedürftigen Objekt der Wohltätigkeit in ein Individuum mit eigenen Rechten, dem die Vorteile dieser »privilegiertesten Form der Migration«49 zugutekommen: »[Through] her adoption and crossing over an invisible national boundary, a needy […] object is miraculously transformed into an individuated and treasured U.S. subject, one worthy of investment – that is, economic protection (capital accumulation), political rights (citizenship), and social recognition (family).«50

48 Der Film zeigt in einer verwunderlichen Entscheidung der Filmemacher_innen in dieser Szene ein anscheinend aktuell aufgenommenes Bild eines braunhaarigen Mädchens, das in keinem nachvollziehbaren Verhältnis zu Bub zu stehen scheint. 49 Eng, Feeling of Kinship, S. 94. 50 Ebd., S. 99.

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Transnationale Adoption wird aufgrund ihrer Privilegierung selten als Migrationsform diskutiert. 51 Das Privileg transnational Adoptierter besteht auch darin, nicht als Migrant_innnen wahrgenommen zu werden, das heißt, nicht in derselben Weise um Aufenthaltsstatus, materielle Ressourcen und soziale Anerkennung konkurrieren zu müssen. Dass transnational Adoptierte kaum als Migrant_innen erscheinen, lässt sich an der Schwierigkeit erkennen, sie zu geflüchteten Menschen, Arbeits- oder Heiratsmigrant_innen in Beziehung zu setzen. Transnationale Adoption scheint ganz anderer ›Natur‹ zu sein.52 Der Migrationsforscher Richard H. Weil hat transnationale Adoption daher bereits 1984 als »stille Migration« bezeichnet und begründet dies mit dem Umstand, dass die Migrationsforschung in der Regel nur Erwachsene oder Gruppen in den Blick nehme.53 Transnationale Adoption basiere außerdem im Gegensatz zu anderen Migrationsformen nicht auf einer selbst getroffenen Entscheidung. Es handle sich daher um »forced migration«.54 Infolge von Weils Feststellungen ist transnationale Adoption stärker als Migrationsform untersucht worden.55 In Bezug auf die Frage der Color Blindness gegenüber transnational Adoptierten scheint die Unsichtbarkeit als Migrant_innen jedoch weiterhin zu bestehen. Das bedeutet auch, dass die Adoptierten in der Regel nicht als Gruppe wahrgenommen werden. Sie erscheinen als alleinstehend, scheinbar frei schwebend, ohne Familienoder andere Angehörige, letztlich ohne eine spezifische Herkunft. Das heißt aber auch, dass sie scheinbar keine Vergangenheit haben, »born […] the moment I stepped off the airplane«, wie Borshay Liem zu Beginn des Films feststellt. Die Szene der Ankunft des Kindes am Flughafen ist in vielen Erzählungen transnationaler Adoption der scheinbar voraussetzungslose Beginn einer neuen (Adoptiv-)Familiengeschichte. Die Figur der Transformation macht die Adoptierten als Migrant_innen gänzlich unsichtbar.

51 Ebd., S. 94. Vgl. zur Unsichtbarkeit von Privilegierungen: Ruth Frankenberg: White Women, Race Matters. The Social Construction of Whiteness. Minneapolis, MN 1993, S. 447. 52 Eng, Feeling of Kinship, S. 2. 53 Weil, International Adoptions. 54 Ebd. 55 Vgl. Peter Selman: »Intercountry Adoption in the New Millennium: The ›Quiet Migration‹ Revised«. Population Research and Policy Review, Nr. 21 (2002), S. 205-225.

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Color Blindness und Transformationsfigur produzieren Imaginationen beziehungs- und geschichtsloser Adoptivkonstellationen, die dadurch unproblematisch erscheinen, weit entfernt von ›Rassen‹- und anderen politischen Konflikten. Borshay Liems Adoptivmutter erinnert sich: »You just went from being stoic into smiling and … you just blossomed like a flower.« Die Transformation des »needy object« wird als Erfolgsgeschichte erzählt, die zugleich eine Geschichte der Amerikanisierung und ›Weißwerdung‹ ist. In den Ausschnitten aus den Home Movies sehen wir Borshay Liem im Schwimmbad, auf Urlaubsreisen und an Feiertagen, mit Mickey-Mouse-Ohren und als Prinzessin verkleidet zu Halloween. Transformation wird anhand von Bildern der Annahme einer nationalen, US-amerikanischen Identität vermittelt. In DAUGHTER FROM DANANG erzählt eine Grundschullehrerin, Bub sei in kürzester Zeit »typical all American« geworden, ihre ehemalige GirlScouts-Leiterin erklärt voller Stolz: »We made her a Southerner real quick.« Amerikanisierung aber bedeutet nicht nur, nationale und kulturelle Identität der Adoptierten zu vereindeutigen, sie überlagert sich auch mit Prozessen der Rassifizierung. Dies wird anhand der Aufnahmen des Familienausflugs deutlich, den die Borshays in FIRST PERSON PLURAL zu einer Filiale von Aunt Jemima’s unternehmen und dem das Titelbild des Buches entnommen ist, auf das ich bereits in der Einleitung eingegangen bin. Wie erwähnt steht die Figur der Aunt Jemima im US-amerikanischen Kontext in besonderer Weise für konsumierbare ›Rassendifferenz‹. Sie repräsentiert rassistische Assoziationen schwarzer Weiblichkeit mit ›tröstlicher‹ Häuslichkeit, die das Versprechen beinhalten, weiße Mittelschichtsfrauen von der »Sklaverei der Hausarbeit« zu befreien.56 Aunt Jemima wurde in den verschiedenen Roman- und Filmversionen von IMITATION OF LIFE in der Figur der Aunt Delilah reinkarniert.57 IMITATION OF LIFE stellt in sentimentaler Weise die Instrumentalisierung und Objektivierung der schwarzen Helferin aus, in dem sich Jemima/Delilah in die Karikatur der schwarzen Mammy verwandelt. Als Marke begründet sie den Erfolg des zu verkaufen-

56 Ebd. Berlant bezieht sich auf Hazel Carby: Reconstructing Womanhood. The Emergence of the Afro-American Woman Novelist. New York 1987. 57 Die Romanvorlage Imitation of Life stammt von Fannie Hurst (New York 1933). Der gleichnamige Film von John Stahl kam 1934, die Version von Douglas Sirk 1959 in die US-amerikanischen Kinos.

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den Produkts und die Emanzipation ihrer weißen ›Partnerin‹.58 In das flüchtige Bild der Pfannkuchen essenden Borshay Liem und ihrer Adoptivmutter ist also eine nationale Ikonografie ›konsumierbarer‹ schwarzer Weiblichkeit eingeschrieben. Als Konsumentin nimmt Borshay Liem zwangsläufig eine Position in dieser rassifizierten Hierarchie warenförmiger Differenz ein. Amerikanisierung heißt hier, in einem rassifizierten und vergeschlechtlichten Beziehungsnetz positioniert zu werden. Auf der Seite der weißen Konsument_innen verortet wird erkennbar, dass der Erfolgsgeschichte der transnational Adoptierten – unter der Voraussetzung von Color Blindness – die Affirmation von ›Rassenhierarchie‹ inhärent ist. Die Transformation der transnational Adoptierten in ein vollwertiges Mitglied der amerikanischen Familie und damit die Annahme einer privilegierten Position in der ›Rassenhierarchie‹ bedeutet auch ›Weißwerdung‹. Das Kippbild der intimen Familienbeziehungen auf der einen Seite und der Frage der ›Rassendifferenz‹ auf der anderen deutet auf diese ›Weißwerdung‹ der transnational Adoptierten hin. Dies setzt nicht nur voraus, Verbindungen zu Angehörigen im Herkunftsland auszublenden, sie werden im binären hierarchischen ›Rassendispositiv‹ des Adoptivlandes unsagbar. Die Ambivalenz und Sentimentalität des Kippbildes zeigt jedoch auch, dass sich Transformation und ›Weißwerdung‹ nicht in einem einmaligen und linearen Prozess vollziehen. FIRST PERSON PLURAL und DAUGHTER FROM DANANG veranschaulichen in exemplarischer Weise Color Blindness und nicht artikulierbare ›Rassenhierarchie‹ im Diskurs transnationaler Adoption. Im sentimentalen Kippbild der ›Rassendifferenz‹ – »my parents« auf der einen Seite, »two white American people« auf der anderen – bleibt jedoch ein potenziell kritisches Moment erhalten, das nicht in der Affirmation aufgeht, ein Potenzial, das sich vor allem in der Drohung zeigt, die Zugehörigkeit zur Adoptivfamilie infrage zu stellen.

58 Lauren Berlant: »National Brands, National Body«. In: dies., Female Complaint, S. 107-144. Berlant zeigt in ihrer vergleichenden Analyse der Filme, konkret im Vergleich der Figuren Lora Meredith und Sarah Jane, wie schwarze und weiße Weiblichkeit in Douglas Sirks Version auf unterschiedliche Weise der Kommodifizierung unterliegen.

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Adoption als Racial Melodrama An einigen Stellen scheint DAUGHTER FROM DANANG eine explizite Kritik an rassistischen Bedingungen transnationaler Adoption zu formulieren. So nimmt der Film, wie bereits erwähnt, bezüglich der Operation Babylift eine kritische Perspektive ein. Nicht nur sei die Aktion darin begründet gewesen, Zustimmung und Finanzierung der US-amerikanischen Vietnam-Politik zu sichern, die ›geretteten‹ Kinder seien auch, anders als offiziell behauptet, in der Mehrheit keine Waisen gewesen, sondern unter häufig dubiosen Umständen von ihren vietnamesischen Eltern getrennt worden. In historischen Fernsehaufnahmen zeigt DAUGHTER FROM DANANG etwa eine US-amerikanische Sozialarbeiterin, die zu versuchen scheint, eine vietnamesische Mutter dazu zu überreden, ihr Kind zur Adoption wegzugeben, damit es in den USA »a good home« haben könne. Dies sei »better for everyone«. Hier klingt deutlich das klassenhierarchische sentimentale Mutteropfer des Hollywood-Melodrams an. Die Szene ist kurz und es bleibt unklar, unter welchen Umständen sie gedreht und ausgestrahlt wurde. Im Kontext von DAUGHTER FROM DANANG vermittelt sie einen bevormundenden, kolonialen Gestus. Sie legt nahe, das Verhältnis zwischen Sozialarbeiterin und ›biologischer‹ Mutter als rassifiziertes Täter-Opfer-Verhältnis zu verstehen. Das klassenhierarchische Muttermelodram wird als Racial Melodrama aktualisiert.59 Während das Melodram im Allgemeinen auf moralische Vereindeutigungen abzielt, versteht Williams das Racial Melodrama als eine spezifisch US-amerikanische Form der Auseinandersetzung mit Sklaverei und Rassismus.60 Rassifiziertes Leiden sei aufgrund der gewaltvollen Geschichte der Sklaverei fortdauernder Gegenstand moralischer Krisenhaftigkeit in den USA.61 Die Darstellung vietnamesischer Mütter und Kinder als Opfer postkolonialer Intervention legt in DAUGHTER FROM DANANG eine ähnlich problematische moralische Legitimität nahe. DAUGHTER FROM DANANG begünstigt hier die Identifikation mit den rassifizierten Opfern US-amerikanischer Intervention. Die im Film nahegelegte kritische Perspektive auf die Bedingungen transnationaler Adoption

59 Williams, Race Card. 60 Ebd., S. 44. 61 Ebd., S. 9. Williams schließt an den Begriff der »moral legibility« bei Peter Brooks an (Brooks, The Melodramatic Imagination).

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produziert wiederum eine für sentimentale Unterhaltung typische moralisch legitimierende Zuschauer_innenposition, in der von Williams als Racial Melodrama beschriebenen, rassifizierten Form. Aus einer Perspektive empathischer und moralischer Empörung richtet der Film den Blick auf die sich ihrerseits in moralischer Überlegenheit wähnende Vermittlerin transnationaler Adoption. Das Racial Melodrama produziert Positionen moralischer Intelligibilität, sowohl für die dargestellten Opfer als auch für diejenigen, die sich mit ihnen identifizieren. Mai Thi Kim und Heidi Bub erscheinen als Kriegsopfer und Opfer weißer, hegemonialer Wohltätigkeit. Durch die Überlagerung von Opfer/Täter-Opposition und rassifizierter Differenz entsteht jedoch der Effekt, dass Bub hier als nicht-weiß erscheint, im Gegensatz zu einem weißen dominanten Amerika. Das heißt, auch in DAUGHTER FROM DANANG schließen sich Zugehörigkeit zur Adoptivfamilie und Nicht-Weißsein aus. Während jedoch FIRST PERSON PLURAL auf eine grundlegende Ambivalenz von Rassifizierung hinweist, tendiert DAUGHTER FROM DANANG dazu, die Protagonistin in ihrer – jeweils unterschiedlich – rassifizierten Position zu vereindeutigen. In der Logik des Racial Melodrama legt DAUGHTER FROM DANANG eine kritische Perspektive auf den Zusammenhang zwischen transnationaler Adoption und postkolonialen Dominanzverhältnissen nahe. Eine solche Perspektive wird seit einiger Zeit auch von transnational Adoptierten selbst formuliert. So betonen die Herausgeberinnen von outsiders within. Writing on Transracial Adoption, dem ersten, 2006 erschienenen, nur von Adoptierten herausgegebenen Sammelband zu dem Thema, die besondere Bedeutung von ›Rassendifferenz‹ für transnationale Adoption: »Discussions about adoption have typically separated adoptees who were adopted across racial lines within their country of origin (often referred to as ›transracial‹ adoptees) from those who were adopted transnationally (referred to as ›international‹ or ›intercountry‹ adoptees). This separation prevents us from recognizing our commonalities as a source of solidarity. It also suggests that the problems facing transnational adoptees are primarily related to finding a family and adapting to a new country, rather than to the traumatic experience of racism, marginalization, and discrimination, both systemically and on the personal level, within our adoptive communities.«62

62 Oparah, Shin, Trenka, Introduction, S. 2.

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In der Unterscheidung zwischen transracial und inter- bzw. transnationaler Adoption wird erneut deutlich, wie sehr die dominante Wahrnehmung letzterer von Color Blindness geprägt ist. Auch die Unterscheidung zwischen ›problematischer‹ Adoption afroamerikanischer Kinder und einer vermeintlich weniger problematischen Adoption asiatischer Kinder klingt darin an. Die Selbstpositionierung der Herausgeberinnen als transracial macht dagegen deutlich, dass ›Rassendifferenz‹ auch in Bezug auf transnationale Adoption wesentlich ist. Entgegen dominanter Figuren der Transformation und ›Weißwerdung‹ weisen die Herausgeberinnen auf die Relevanz von Rassifizierung für transnational Adoptierte hin, die sie mit Transracial Adoptees in den USA und mit anderen Migrant_innen und People of Color verbindet: »As transracial adoptees, we share experiences of bordercrossing, family disruption and reinvention, racism, and survival with nonadopted people of color. We do not have to separate ourselves along the heavily policed borders of ethnicity […].«63 Durch die Betonung der Frage der ›Rassendifferenz‹ wird auch eine historische Kontinuität von Zwangsadoptionen im Kontext christlicher Mission oder des Umgangs mit NativeKindern und -Familien erkennbar.64 Repräsentationen wie in outsiders within tragen dazu bei, historische Bezüge zwischen transnationaler Adoption, Rassismus und Kolonialismus sichtbar zu machen. Sie deuten die gewaltvollen Voraussetzungen der »privilegiertesten Form von Migration« an. In den hier betrachteten Darstellungen transnationaler Adoption stehen die unterschiedlichen Formen der Rassifizierung nebeneinander, als ambivalente Kippfigur von ›Rassendifferenz‹ in FIRST PERSON PLURAL bzw. in parallelen, widersprüchlichen narrativen Strängen in DAUGHTER FROM DANANG. Erst im Zusammentreffen von Bub mit ihrer vietnamesischen Familie kollidieren die unterschiedlichen Rassifizierungen als »needy object« und »typical all American«. Zuvor war es möglich, je nach narrativem Strang, Bub als nicht-weiß und marginalisiert darzustellen (im historischen Archivmaterial und den rückblickenden Erzählungen) oder als ›amerikanisiert‹, weiß und privilegiert (in den LiveAufnahmen). Die verschiedenen Subjektpositionen werden mit unterschiedlichen Zeiten und Räumen verbunden – Marginalisierung mit räumlich und zeitlich entfernter, unschuldiger Kindheit, Privilegierung und

63 Ebd., S. 14. 64 Ebd., S. 9.

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›Weißwerdung‹ mit dem bis in die Gegenwart hineinreichenden Leben in den USA. In dem Moment, in dem Bub als Erwachsene auf ihre vietnamesische Familie trifft, kollidieren die Zeit und der Raum des asiatischen Kindes mit der Zeit und dem Raum der weißen Erwachsenen. Diese Kollision wird als ›Kulturkonflikt‹ inszeniert: Die erwachsene, ›weiße‹ Amerikanerin scheint sich mit ihrer bedürftigen asiatischen Familie nicht mehr verständigen zu können. Dadurch ändern sich jedoch auch die Positionen im Racial Melodrama, die moralisch legitime Position von Bub und dementsprechend auch die Position eines sich mit ihr identifizierenden Publikums. Bisher war es relativ problemlos möglich, zwischen den Bildern der Adoptierten als weiß oder nicht-weiß, als privilegiert oder marginalisiert zu wechseln. In der Szene der Familienzusammenführung wird die Widersprüchlichkeit der Rassifizierungen der transnational Adoptierten deutlich, erst hier wird ›Rassendifferenz‹ in DAUGHTER FROM DANANG ambivalent. Das rassifizierte Täter-Opfer-Schema verliert an Eindeutigkeit. Am Ende des Film wird die Ambivalenz zumindest vorübergehend ›aufgelöst‹, indem sich die Protagonistin für eine weiße, amerikanische Identität zu entscheiden scheint, worauf ich im nächsten Kapitel genauer eingehe. »It runs in the family«. ›Rassendifferenz‹ als intimer Familienscherz Das zu Beginn dieses Kapitels beschriebene Kippbild von Familienintimität und rassifizierter Differenz in FIRST PERSON PLURAL korrespondiert mit einer Szene zu Beginn des Films, in der Borshay Liem ihre Adoptiveltern vorstellt. Zunächst sind Adoptivtochter und -vater dabei zu sehen, wie sie sich gegenseitig filmen. Der so über das Medium Video eingeführte Vater ist im Verlauf des Films durch die zahlreichen Ausschnitte aus den Home Movies präsent. Borshay Liem eignet sich so das Material des Adoptivvaters an und gibt ihnen eine neue Bedeutung. An anderer Stelle erklärt sie, ihre eigene Arbeit als Filmemacherin sei von ihrer »Obsession« mit den väterlichen Videos inspiriert.65 Die Ausschnitte aus den Home Movies und Borshay Liems Kommentare sowie das von ihr selbst gedrehte Material

65 Siehe IN THE MATTER OF CHA JUNG HEE (USA 2010), der zweite autobiografische Film Borshay Liems, in dem sie nach dem koreanischen Mädchen sucht, an deren Stelle sie in die USA geschickt wurde.

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werden aufeinander bezogen und miteinander kontrastiert. Das Verhältnis zwischen Adoptivtochter und -vater erscheint als intim, nicht spannungsfrei und über das Medium Video vermittelt. Sie scheinen durch ihre wechselseitigen Aufnahmen zu kommunizieren, weshalb sie in der Konsequenz selten gemeinsam im Bild sind. Die Frage rassifizierter Differenz stellt sich daher deutlicher in den Bildern, die Borshay Liem gemeinsam mit ihrer Adoptivmutter – häufig aufgenommen vom Adoptivvater – zeigen. Die Beziehung zwischen Adoptivtochter und -mutter wirkt im Vergleich mit der zum Vater direkter und emotionaler, so wie in dem eingangs genannten, intimen Bild ihrer Hände. Dieses Motiv erscheint bereits zu Beginn des Films. Im Anschluss an die wechselseitigen Aufnahmen von Adoptivvater und -tochter sehen wir, wie Borshay Liem ihrer Adoptivmutter die Fingernägel lackiert, in einem leuchtenden Rot. Ihr Verhältnis erscheint besonders nah. Es herrscht eine heitere Stimmung, Alveen Borshay mokiert sich über die bestimmende und kontrollierende Art ihres Ehemannes und Borshay Liem erwidert, dass sie diese Eigenschaft mit ihm teile. Aus dem Off kommentiert der Adoptivvater: »It runs in the family … It’s part of the gene pool.« Die geteilten Gene sind ein ›interner‹ Witz, der damit spielt, dass Vertrautheit und Ähnlichkeit eben keine ›biologische‹ Grundlage haben, wodurch gerade Zusammengehörigkeit demonstriert wird. FIRST PERSON PLURAL beginnt also mit einer Szene, in der das Fehlen geteilter ›biologischer‹ Voraussetzungen familiäre Nähe produziert. Am Ende der Szene wird der gemeinschaftsbildende Scherz auf der Bildebene wiederholt. Adoptivmutter und -tochter blicken frontal in identischer Pose in die Kamera. Sie zeigen ihre Hände und die frisch lackierten Fingernägel. Dass die der Adoptivmutter leuchtend rot, Borshay Liems jedoch unlackiert sind, ist eine ironische Verdoppelung des Spiels mit Ähnlichkeit und Differenz. Es gibt keinen sichtbaren ›Grund‹ für Intimität und Verbundenheit, das Wissen um diese Grundlosigkeit aber kann ein verbindendes Moment in der Adoptivbeziehung darstellen.

5 »W E ’ RE GOING HOME .« T RANSNATIONALE A DOPTION

ALS

›H EIMATFILM ‹

In DAUGHTER FROM DANANG reist Bub zum ersten Mal, seitdem sie als Kind das Land verlassen hat, nach Vietnam, begleitet von der vietname-

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sisch-amerikanischen Journalistin Tran Tuong Nhu, die für sie übersetzen wird. Der Film verspricht die Darstellung einer Heimkehr. Bub scheint die Reise unbeschwert anzutreten, lachend verkündet sie: »We’re going home!« Wie häufig in Geschichten transnationaler Adoption wird ein krisenhafter ›entwurzelter‹ Zustand der Adoptierten im Adoptivland dem Versprechen der ›Heilung‹ durch die Rückkehr ins Geburtsland gegenübergestellt. Die Darstellung der Rückkehr in DAUGHTER FROM DANANG bietet den Zuschauer_innen drei Momente sentimentalen Genießens: die zunächst aufgerufene Fantasie einer ›erlösenden‹ Wiedervereinigung mit der ›biologischen‹ Familie am Geburtsort; der Moment des ›Erkennens‹ einer Selbsttäuschung – ähnlich den melodramatischen Sensation Scenes – der sich hier darauf bezieht, dass das Herkunftsland nicht das ersehnte Heimats- und Zugehörigkeitsgefühl bietet; und schließlich der Moment der erneuten Vergewisserung der Zugehörigkeit zur Adoptivfamilie. Sowohl in DAUGHTER FROM DANANG als auch in FIRST PERSON PLURAL verschiebt sich der Fluchtpunkt der sentimentalen Darstellung vom Heimatversprechen hin zur Enttäuschung über das unerfüllte Versprechen und zur Erkenntnis, dass Heimat nicht mehr im Land der Geburt zu finden ist. Diese zu einem gewissen Maß hervorsehbare Heimaterzählung wird in den Filmen auf unterschiedliche Weise verkompliziert. Die Begegnungen der Protagonistinnen mit ihren Herkunftsfamilien sind in beiden Filmen durch Bilder der Sprachlosigkeit geprägt. Nur ansatzweise scheint es möglich, zu thematisieren, was beide Familien verbindet: die Weggabe des Kindes und die Umstände, die dies erforderlich bzw. möglich gemacht haben. Eine Betrachtung der übergeordneten politischen, vergeschlechtlichten und rassifizierten Bedingungen transnationaler Adoption findet in den Szenen der Wiedervereinigung nicht statt. Sie vermitteln vor allem fehlende oder scheiternde Kommunikation, woraufhin die Vorstellungen und Hoffnungen, die mit der Rückkehr verbunden waren, infrage gestellt und aufgegeben werden. Auf die Verunsicherung folgt die Inszenierung einer Erkenntnis, die darin besteht, dass die Heimatfantasie als Fantasie verstanden wird. An die Erkenntnis des Verkennens von Heimat schließt in jeweils unterschiedlicher Weise eine Abwendung der Protagonistinnen vom Herkunftsland und der ›biologischen‹ Familie an sowie die Hinwendung zur Adoptivnation und -familie. Dieses sentimentale Ambivalenz-Management ermöglicht es, in einem vorübergehenden Ende die Sprachlosigkeit, die Ambivalenzen und Widersprüche in den Begegnungen stillzustellen, ohne

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›Heimat‹ als Konzept aufgeben zu müssen. So führt die unerfüllte Heimatfantasie zu einem sentimentalen Genießen des Verkennens von Heimat. Trotz der Ambivalenzen, die sich in beiden Filmen andeuten, ermöglichen die Sensation Scenes des Erkennens, Zugehörigkeit und Heimat an einen Ort zu binden – hier das Adoptivland als letztlich ›wahre‹ Heimat. Die sentimentalen Darstellungen, die zu Beginn eine Geschichte der Heimkehr in das Herkunftsland versprechen, erzählen schließlich von der Heimkehr ins Adoptivland. Sie klären nicht die Beziehungen zu den ›biologischen‹ Verwandten, sondern legitimieren die Adoptivbeziehungen. Uneindeutigkeiten und Konflikte in den Beziehungen zu beiden Familien und zwischen beiden Familien treten dabei in den Hintergrund. Im sentimentalen Diskurs wird Heimat als ein »Ort der Unschuld«66 imaginiert, als konfliktfreier Raum familiärer Einheit. Das heißt auch, dass Heimat als frei von sozialen, politischen und ökonomischen Machtverhältnissen gedacht wird, die ein Gefühl voraussetzungsloser Zugehörigkeit infrage stellen können. Die Geschichten transnationaler Adoption bieten sich für solche Heimatfantasien an, da sie die Möglichkeit einer tatsächlichen Wiedervereinigung mit verlorenen Familienangehörigen beinhalten. Am Ende von DAUGHTER FROM DANANG bekennt sich Bub zu ihrer amerikanischen Großmutter: »You are who I know.« Damit nimmt sie indirekt auch die USA als ihre Heimat an. Auch FIRST PERSON PLURAL endet mit einer Hinwendung zur Adoptivfamilie. Auf den ersten Blick scheinen die zirkulären Reiseerzählungen einen Prozess des Erkenntnisgewinns und emotionaler Entwicklung zu veranschaulichen, der mit der Emanzipation von einer nostalgischen Kindheitsfantasie einhergeht und zu einem aufgeklärten Erkennen der Zugehörigkeit zur Adoptivfamilie führt. Der Topos der überwundenen Kindheitsfantasie stellt jedoch selbst eine sentimentale Strategie des Ambivalenz-Managements dar, wie ich im Weiteren zeigen möchte. Die Adoptionserzählung als Reise- und ›Heimatfilm‹ Die hier untersuchten Darstellungen transnationaler Adoption folgen einem vertrauten Reisenarrativ. Die Zuschauer_innen folgen Bub bzw. Borshay Liem in ihr jeweiliges Geburtsland und kehren mit ihnen zum Ausgangspunkt der Reise und des Films zurück. Parallel zu den Stationen der Reise

66 Williams, Race Card, S. 28.

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inszenieren die Filme eine Auseinandersetzung mit der Frage, was Heimat bedeutet.67 Wenn Bub zu Beginn ihrer Reise sagt »We’re going home«, dann ist mit »home« Vietnam gemeint. Das Ziel von Borshay Liems Reise ist nicht so einfach zu benennen. Sie hat zum Zeitpunkt des Films ihre koreanische Familie bereits wiedergetroffen. FIRST PERSON PLURAL dokumentiert das Zusammentreffen ihrer Adoptiveltern und ihrer ›biologischen‹ Mutter und Geschwister. Mit der Reise und dem Film geht es darum, einen Ort zu schaffen, an dem beide Familien gleichzeitig existieren können. In DAUGHTER FROM DANANG ersehnt die Adoptivtochter die Wiedervereinigung mit ihrer vietnamesischen Mutter und Familie, in FIRST PERSON PLURAL versucht Borshay Liem, ihre beiden Familien in einem physischen und emotionalen Raum zusammenzubringen. Im Gegensatz zum deutschen Begriff der ›Heimat‹ bezeichnet das englische ›home‹ eher ein Zuhause, das temporär sein kann und sich durch die darin verbrachte Zeit auszeichnet.68 ›Heimat‹ bezieht sich dagegen auf ein nostalgisches Bild der Vergangenheit, das etwa in Zusammenhang mit dem deutschen Heimatfilm der 1960er-Jahre diskutiert wird und den Ort der Kindheit als Ort authentischer Zugehörigkeit imaginiert.69 Bub versteht zu Beginn ihrer Reise und des Films Vietnam als Home, einen Ort, der ihr, nach Jahren der Abwesenheit, nicht mehr vertraut ist. Home entspricht hier eher der nostalgischen Bedeutung von Heimat. In den hier diskutierten Darstellungen transnationaler Adoption schwankt die Bedeutung von Home

67 Vgl. zur zentralen Frage von Heimat und Zugehörigkeit in den Geschichten transnationaler Adoption: Kim, Korean Adoptee Auto-Ethnography; Kim, Adopted Territory. 68 Vgl. David Morley, Kevin Robins: »No Place Like Heimat: Images of Home(land) in European Culture«. In: Erica Carter, James Donald, Judith Squires (Hg.): Space and Place. Theories of Identities and Location. London 1993, S. 332. 69 Johannes von Moltke: No Place Like Home. Locations of Heimat in German Cinema. Berkeley, Los Angeles 2005. Die Bedeutung des Heimatbegriffs ist sehr viel komplexer als sie hier dargestellt werden kann. So weist etwa von Moltke auf das spezifische Verhältnis von Heimat und Deutschsein hin. Ich beziehe mich hier auf eine nostalgische Heimatfantasie, die auf einen Ort der Kindheit ausgerichtet ist, und grenze diese von der ›zweiten Heimat‹, dem Adoptiv-Zuhause, ab.

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zwischen einem vertrauten Adoptiv-Zuhause und einer fremd gewordenen Geburts-Heimat. Im Adoptionsdiskurs ist im Allgemeinen eine Tendenz zu beobachten, diese Ambivalenz aufheben zu wollen. Es scheint eine Notwendigkeit zu bestehen, sich zwischen Home/Zuhause und Home/Heimat als Ort eindeutiger Zugehörigkeit entscheiden zu müssen.70 In einem komplexen Zusammenwirken aus diskursiven und medialen Konventionen erscheint letztlich das Adoptiv-Zuhause, vermeintlich frei von Ambivalenz, als ›eigentliches‹ Home. In einer zirkulären Bewegung erzählen DAUGHTER FROM DANANG und FIRST PERSON PLURAL von einer Rückkehr, jedoch nicht zum Ort der Kindheit, sondern zu dem Ort, der den Ausgangspunkt der Filme darstellt. Die Filme folgen, so ließe sich schließen, einem klassischen Reise- und Entwicklungsnarrativ von Aufbruch, Erkundung und Rückkehr der Protagonistinnen. In der klassischen Form, wie sie Johannes von Moltke in seiner Studie zum Heimatfilm anhand von THE WIZARD OF OZ (USA 1939, R: Victor Fleming) beschreibt, ergibt sich die narrative Notwendigkeit der Rückkehr zum Ausgangspunkt aus der Erkenntnis, dass ›Heimat‹ einen unersetzlichen Wert darstelle, der nur durch die Kontrastierung mit der ›Fremde‹ erkannt werden könne. 71 Das klassische Entwicklungsnarrativ vermittelt eine konventionelle Botschaft von Regionalismus und Nationalismus. In den Geschichten transnationaler Adoption besteht jedoch eine signifikante Spannung zwischen diesem klassischen Narrativ und einem ähnlichen, aber nicht identischen Rückkehrnarrativ, das aus migrantischen und diasporischen Darstellungen vertraut ist.72 Als ›Heimat‹ wird hier nicht

70 Drucilla Cornell beobachtet eine ähnliche Notwendigkeit im Adoptionsdiskurs, sich zwischen den beiden Müttern entscheiden zu müssen. Siehe Drucilla Cornell: »Adoption and Its Progeny: Rethinking Family Law, Gender, and Sexual Difference«. In: Sally Haslanger, Charlotte Witt (Hg.): Adoption Matters. Philosophical and Feminist Essays. Ithaca, London 2005, S. 19-46. 71 Ebd., S. 2f. Von Moltke weist jedoch mit Bezug auf Freud auf die instabile Unterscheidung von »heimlich«, »heimatlich« und »unheimlich«, »fremd« in THE WIZARD OF OZ selbst hin. 72 Vgl. Linda Williams: »Home Sweet Africa: Alex Haley’s and TV’s Roots«. In: dies.: Playing the Race Card. Melodramas of Black and White from Uncle Tom to O.J. Simpson. Princeton 2002, S. 220-251; Stuart Hall: »Cultural Identity and Cinematic Representation« Framework, Nr. 36 (1989), S. 68-82.

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der Ausgangspunkt der Narration (der diasporische Ort) imaginiert, sondern der Ort der Vorfahren. Heimat und narrativer Ausgangspunkt sind nicht identisch, letzterer hat dementsprechend nicht dieselbe zentrale Bedeutung. Diese Geschichten sind tendenziell ambivalenter und durchlässiger bezüglich der Verortung von Heimat und Herkunft.73 Das diasporische Zuhause erscheint nach der Rückkehr aus der Heimat in veränderter Weise, hybrid.74 Die Geschichten transnationaler Adoption deuten eine ähnliche Ambivalenz an. Klassische und diasporische Reisenarrative konkurrieren miteinander. Während jedoch das diasporische Reisenarrativ die Vermischung von Heimat und Zuhause betont, tendieren die Adoptionserzählungen zur erneuten Vereindeutigung von Heimat. Borshay Liem sucht in FIRST PERSON PLURAL zunächst nach einer Möglichkeit, eine gleichzeitige Existenz beider Familien zu denken. Heimat wird so als eine Frage nach dem Verhältnis zwischen Herkunfts- und Adoptivfamilie angedeutet. Obwohl von unterschiedlichen Punkten ausgehend, nehmen die Narrationen in beiden Filmen dennoch dieselbe Wendung. Auch FIRST PERSON PLURAL endet mit dem Bekenntnis zur Adoptivfamilie. Die Darstellung wechselt von einer Perspektive, die nach der Denkbarkeit heterogener Zugehörigkeiten fragt, hin zur Suche nach eindeutigen Beziehungen. Ausgangs- und Zielpunkt der Reise werden reformuliert und die komplexe Situation mehrerer Herkunftsorte wird letztlich in eine konventionelle, zirkuläre Erzählform eingepasst. Erkennen der Heimatfantasie In DAUGHTER FROM DANANG formuliert Bub zu Beginn, dass sie sich von dem Wiedersehen mit ihrer ›biologischen‹ Mutter Heilung und Versöhnung verspricht: »It’s going to be so healing for both of us, you know, to see each other … it’s gonna make all those bad memories go away and all those lost years, you know, just not matter anymore.« Die empathische Zuschauer_in folgt zunächst Bubs Hoffnung, gemeinsam mit ihr erlebt sie das Wiedersehen mit ihrer vietnamesischen Familie als Enttäuschung. Scheiternde Kommunikation und vermeintliche kulturelle Konflikte machen die

73 Vgl. Hall, Cultural Identity. 74 Ebd., S. 80. Vgl. auch Roger Bromley: Narratives for a New Belonging. Diasporic Cultural Fiction. Edinburgh 2000.

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Heimatfantasie sowohl für die Protagonistin als auch für die Zuschauer_in problematisch. Bubs letztliche Erkenntnis, dass ihr Bild einer ›unschuldigen Heimat‹ eben lediglich eine Wunschvorstellung war, wird jedoch für die Zuschauer_innen wiederum zum Gegenstand sentimentalen Genießens. Der Film ermöglich ein solches Genießen von Bubs Leiden, indem die Heimatfantasie rückblickend als Fantasie dargestellt wird. Das von Kappelhoff beschriebene sentimentale Erkennen wird hier in medienreflexiver Weise auf die inszenierte Sentimentalität selbst bezogen. Dies lässt sich etwa an der Geschichte der Suche nachvollziehen, die dem Wiedersehen von Mutter und Tochter vorausgeht. Wie im Film berichtet wird, hat Mai seit der Trennung nach ihrer Tochter gesucht. Sie erfährt vom Orderly Departure Program, das die Emigration in die USA regelt, und trifft auf einen Freund von Tran Tuong Nhu, jener Journalistin, die Bub später auf ihrer Reise nach Vietnam begleiten wird. Tran erfährt von Mai und hinterlegt bei Holt in den USA einen Brief der Mutter an die Tochter. Bub stößt ihrerseits einige Zeit später im Internet auf Holt. Sie erfährt, dass es bei Holt eine Akte über sie gibt, mit einem Brief für sie. Bub kann, so sagt sie, zunächst nicht glauben, wer die Verfasserin des Briefes sein soll. Erst als sie eine Fotografie von ihr erhält und sich vergleichend im Spiegel betrachtet, ›weiß‹ sie, dass es sich um ihre Mutter handelt. Die Filmemacher_innen illustrieren dieses emotionale Wiedererkennen, in dem sie die Fotografie Mais mit der Aufnahme Bubs überblenden. Durch die Überblendung wird physischer Ähnlichkeit eine – hier fotografisch vermittelte – Beweiskraft attestiert. Wieder wird ein Kippbild von Ähnlichkeit und Differenz erzeugt, dieses Mal allerdings nicht zwischen Adoptivfamilie und -tochter, sondern zwischen der Protagonistin und ihrer vietnamesischen Mutter. Dem physischen Wiedersehen geht ein mediales Erkennen voraus. Dieses aber kann nach der Enttäuschung der Heimatfantasie in Vietnam im Rückblick als Verkennen identifiziert werden. Die Vorstellung einer heilenden Wiedervereinigung mit der Mutter wird als medial generierte Fantasie ›erkannt‹, als Trugschluss, der aus der fotografischen Suggestion physischer Ähnlichkeit gezogen wurde. Ein ähnliches mediales Erkennen bzw. Verkennen wird in Bezug auf Bubs Bruder inszeniert, an den sie sich erst erinnert, als sie sich gemeinsam mit ihm auf einer Fotografie sieht: »And I saw a picture of my brother, that’s when I really connected with him, it was just like instant connection there and I just stared and stared at his picture, you know, and remembering

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how he used to hold me and play with me all the time …« Die Filmemacher_innen unterstreichen diesen Moment des Wiedererkennens durch aktuelle Aufnahmen singender und spielender Kinder. Weichzeichner und ›verblasste‹ Farben suggerieren einen Rückblick in eine unbeschwerte Kindheit, jene Zeit der ›Unschuld‹, die Bub wiederzufinden hofft. In diesem Moment scheint sich Bubs Hoffnung zu erfüllen. Die Kinderaufnahmen haben keine narrative Funktion, sie dienen nur der Vermittlung eines Gefühls und halten die Erzählung in sentimentaler Ästhetik für einen Moment des Verweilens in der nostalgischen Kindheitsfantasie an. Die Bilder stehen für die vergangenen gelebten Beziehungen, die Bub bei ihrer Rückkehr nach Vietnam wieder aufnehmen will, und zugleich für den imaginären Status von ›Heimat‹ in der Gegenwart. Sie produzieren eine Fantasie von Heimat, ermöglichen es im Nachhinein aber auch, diese als medial generierte, illusionäre Fantasie zu identifizieren, was wiederum ein sentimentales Genießen des Erkennens der Täuschung erlaubt. Weichzeichner und Zeitlupe werden als ästhetische Mittel eingesetzt, um die Heimatfantasie zu markieren. Noch stärker wird die Fantasie als Fantasie in der Szene des ersten Wiedersehens von Mutter und Tochter betont. Es wird zunächst sehr schnell erzählt: In den ersten drei Minuten des Films werden der Vietnamkrieg, die Operation Babylift, Bubs Erinnerungen an die Mutter und Mais Suche nach der Tochter zusammengefasst. Die Narration ist in diesen ersten Minuten auf den emotionalen Höhepunkt des Zusammentreffens von Mutter und Tochter ausgerichtet. In einem Mittelteil wird dann die Operation Babylift und Bubs Kindheit und Jugend in der Adoptivfamilie ausführlicher dargestellt. Dieser historische und politische Informationen vermittelnde Teil zögert den sentimentalen Höhepunkt des Wiedersehens heraus. Um die Suspense zu vergrößern, ist die Zeitspanne unmittelbar davor in mehrere Segmente aufgeteilt.75 Während zuvor und danach Ereignisse aus mehreren Jahrzehnten in wenigen Bildern zusammengefasst werden, ist die Darstellung von Bubs Reisevorbereitungen in quälend viele Einzelszenen im Flugzeug, in den Straßen Hanois, im Hotelzimmer und auf dem lokalen Flughafen in Danang zerlegt. Wir sehen, wie ihre vietnamesische Familie nach ihr Ausschau hält und wie Bub die Wartehalle betritt. Dann endlich fallen sich Mutter und Tochter in die Arme. Es

75 Vgl. zu diesem »melodramatischen Masochismus« Elsaesser, Tales of Sound and Fury, S. 123.

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ist jedoch bezeichnender Weise der Moment vor dem eigentlichen Zusammentreffen, der – durch Zeitlupe verlangsamt – als Moment erscheint, in dem sich Bubs Hoffnung erfüllt. Auf den letzten Schritten zur Wartehalle dreht sich die Protagonistin in dramatischer Geste zur Kamera um und ruft: »Here is the moment.« Der dem eigentlichen Wiedersehen vorgelagerte Moment kommt – im Rückblick erkennbar – der Verwirklichung der Fantasie der Wiedervereinigung am nächsten, bevor diese im tatsächlichen Wiedersehen der Gefahr ausgesetzt ist, enttäuscht zu werden. Indem der emotionale Höhepunkt auf diese Weise zeitlich vorverlagert ist, wird die Fantasie der Wiedervereinigung als Fantasie markiert, die mit der konflikthaften Realität der darauf folgenden Begegnungen und Auseinandersetzungen Bubs mit ihrer vietnamesischen Familie kollidiert. Bubs Hoffnung auf ein heilendes Wiedersehen mit ihrer Mutter wird mit einer anderen, ökonomischen Form von Bedürftigkeit ihrer vietnamesischen Familie konfrontiert. Für beide Seiten scheint es nicht möglich, die Folgen der erlebten Traumata in der Wiederbegegnung zu lindern, ein Umstand, den der Film vereinfachend als ›Kulturkonflikt‹ inszeniert. Für die Zuschauer_innen verschiebt sich zunehmend der Gegenstand des sentimentalen Genießens, weg von der Hoffnung auf Wiedervereinigung hin zum Erkennen der Täuschung, die schließlich als eigentlicher sentimentaler Konflikt erscheint. Am Ende ihrer Reise wünscht sich Bub unter Tränen einen früheren Zustand zurück: »I wish this didn’t happen … I wish I could have just kept the memories I had, they were so happy … I wish this trip never happened now … because I’m gonna leave with all those bad memories and all these bad feelings … this is not how I wanted it to be.« Bub erkennt hier, was den Zuschauer_innen bereits medial nahegelegt wurde. Die Perspektiven von Protagonistin und Zuschauer_in fallen zusammen, was auf beiden Seiten Tränenfluss provoziert. 76 DAUGHTER FROM DANANG problematisiert durch sentimentale ästhetische Mittel die zu Beginn von der Protagonistin entworfene nostalgische Heimatfantasie familiärer Unschuld und Einheit. Ausgehend von dieser Fantasie vermittelt der Film durch die wiederum sentimentale Figur des Selbsterkennens, dass ›Heimat‹ der Gegenwart unzugänglich, in der Vergangenheit liegt. Indem die filmische Darstellung den medialen, imaginären Status der Heimatfantasie betont, verbirgt sie jedoch zugleich ihre eigene Medialität, worauf ich

76 Vgl. Neale, Melodram und Tränen.

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im Weiteren genauer eingehe. Zuvor möchte ich zeigen, wie trotz der komplexeren Anordnung in FIRST PERSON PLURAL eine ähnliche Gegenüberstellung von imaginärer Heimatfantasie und Realität erzeugt wird. Fantasie und Realität sind darin, wie in DAUGHTER FROM DANANG, jeweils einer der beiden Familien der Protagonistin zugeordnet. Entwürfe gleichzeitiger Zugehörigkeit Während in DAUGHTER FROM DANANG ›Heimat‹ zunächst scheinbar eindeutig in Vietnam und bei Bubs vietnamesischer Familie zu verorten ist, ist die Ausgangssituation in FIRST PERSON PLURAL von Beginn an ambivalenter. Der Film beginnt damit, dass Borshay Liem die verschiedenen Namen aufzählt, die sie als Kind erhalten hat, sowie die ›Geburtstage‹, die mit den jeweiligen Namen korrespondieren. Mit diesen sind, wie sie sagt, verschiedene »sets of histories«, verschiedene Sprachen und Familien verbunden. Der Ausgangspunkt der Geschichte ist eine beunruhigende Gleichzeitigkeit multipler Erzählungen, Familien, Herkünfte und Identitäten. Borshay Liem erzählt von ihrer Ankunft als Cha Jung Hee in der Adoptivfamilie und von ihrer Kindheit und Jugend, in der sie alle Erinnerungen an Korea und ihr vorangegangenes Leben verliert. Erst als junge Erwachsene, erzählt sie, beginnt ihre koreanische Vergangenheit sie in Form von unverhofft wiederkehrenden Bildern zu ›verfolgen‹, in (Tag-)Träumen, die sie als Erinnerungen versteht: »Over the course of a year or so I started realizing that these must be … these must be memories coming back from Korea, that they weren’t just dreams, that there had to be something about them that were [sic] real.« Diese geisterhaften Erinnerungen werden auf der Bildebene durch historische Schwarz-Weiß-Fotografien, unter anderem von ihrer ›biologischen‹ Mutter, veranschaulicht. Die Umstände von Borshay Liems Wiedersehen mit ihrer koreanischen Familie sind nicht Teil der Filmhandlung. In nur wenigen Bildern deutet der Film an, dass die Begegnung von einem schmerzhaften Erleben physischer Vertrautheit und von gleichzeitigen fehlenden Verständigungsmöglichkeiten geprägt ist.77 Die ›geisterhaften‹ Figuren ihrer Träume und Erinnerungen aber werden ›real‹ – sie er-

77 Hall beschreibt eine ähnliche Erfahrung des »shock of ›doubleness‹ of similarity and difference« in Bezug auf diasporische Rückkehrnarrationen. Siehe Hall, Cultural Identity, S. 72.

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scheinen nun in ›lebendigen‹, aktuellen Farbfotografien. Zum Zeitpunkt des Films betont Borshay Liem die gleichzeitige und gleichwertige Existenz beider Familien in ihrem Leben. In FIRST PERSON PLURAL ist, anders als in DAUGHTER FROM DANANG, die Wiedervereinigung der Adoptierten mit ihrer ›biologischen‹ Familie Teil der Vorgeschichte. Im Film geht es stattdessen um das Bedürfnis, beiden Familien Raum zu geben. Die Schwierigkeit gleichzeitiger Beziehungen zu beiden Familien wird durch das Bild des Familienalbums symbolisiert. An den kurzen Rückblick auf die Wiedervereinigung schließt eine Szene an, in der Borshay Liem Fotografien ihrer koreanischen Familie in ein Fotoalbum einfügt, in dem bereits Bilder ihrer amerikanischen Familie enthalten sind. Abwechselnd sind jeweils Fotografien der einen und der anderen Familie zu sehen. Marianne Hirsch hat das Familienalbum als konstitutives Medium der Familieneinheit beschrieben. Es dient zum einen der Dokumentation vergangenen Zusammenlebens, zum anderen ist es ein Medium zur Herstellung von Zugehörigkeit und generiert als solches Familienmythen. 78 Auch für Pierre Bourdieu besteht eine der wichtigsten Alltagsfunktionen der Fotografie darin, die Einheit insbesondere der Familie zu bestätigen. Ihr eigentliches Objekt seien nicht die abgebildeten Individuen, sondern die Beziehungen zwischen ihnen. Das Fotoalbum bewahre geteilte Erinnerungen und produziere dadurch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit.79 Im Symbol des erweiterten Familienalbums wird die spätere räumliche Zusammenführung beider Familien visuell vorweggenommen. Auch Borshay Liem formuliert die Hoffnung auf eine emotional stabilisierende Vereinigung: »Over time I realized I needed to see both families together at the same time in the same room. I thought that if I could actually see them come together in real life that somehow both families could then live within myself. So I asked my parents to go to Korea with me.« Zu einem früheren Zeitpunkt im Film erklärt Borshay Liem, dass es ihr besonders schwerfalle, das Verhältnis zwischen ihr und ihren beiden Müttern zu fassen: »I had a particular difficulty talking to my American mother about my Korean mother. […] Emotionally

78 Marianne Hirsch: Family Frames. Photography, Narrative, and Postmemory. Harvard 1997, S. 13. 79 Pierre Bourdieu: »Kult der Einheit und kultivierte Unterschiede«. In: ders. u.a.: Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie. Hamburg 2006 (im Original 1965), S. 25-84, hier S. 43.

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there wasn’t room in my mind for two mothers. […] I didn’t know how to talk to my mother about my mother … because she was my mother.« Die Heimatfantasie in FIRST PERSON PLURAL bezieht sich nicht so sehr auf einen fernen Kindheitsort, sondern auf einen Raum in der Gegenwart, der für beide Mütter und Familien zugleich ›bewohnbar‹ ist. FIRST PERSON PLURAL wirft die Frage auf, worin die Schwierigkeit besteht, beide Familien als zusammengehörig zu denken. Bereits das Bild des Familienalbums veranschaulicht eine Diskrepanz zwischen den beiden Familien. Im Gegensatz zu den ›lebendigen‹ Farbfotografien der Adoptivfamilie entsprechen die Fotografien der koreanischen Familie jenen Schwarz-Weiß-Bildern aus Borshay Liems Träumen. Der Kontrast in den Bildern des Familienalbums lässt bereits erahnen, dass die Zusammenführung der beiden Familien von einer gespenstisch anwesenden Vergangenheit erschwert sein wird. Die ›geisterhaften‹ Figuren repräsentieren eine subalterne Geschichte und nicht artikulierte Trauer.80 Einen Möglichkeitsraum zu imaginieren, in dem beide Familien neben- und miteinander existieren können, würde die Artikulation des traumatischen Moments der Trennung von Borshay Liem und ihrer Geburtsfamilie erfordern – jenes Momentes also, der beide Familien miteinander verbindet – sowie eine Betrachtung seiner gewaltförmigen Bedingungen. Bilder der Unvereinbarkeit Auch die Begegnung zwischen Borshay Liems amerikanischer und koreanischer Familie ist von Bildern erschwerter Verständigung geprägt. Dies lässt sich wiederum am Symbol des Familienalbums veranschaulichen. Zu Beginn des Besuchs bei Borshay Liems koreanischer Familie überreicht die Adoptivmutter der ›biologischen‹ Mutter ein Fotoalbum, in dem das Aufwachsen der Adoptivtochter bei den Borshays dokumentiert ist, beginnend mit einer Fotografie ihrer Ankunft in den USA. Borshay Liems ›biologische‹ Familie betrachtet das Familienalbum der Adoptivfamilie. Die ›biologische‹ Mutter bedankt sich bei der Adoptivmutter für deren Fürsorge. Unausgesprochen bleibt der Umstand, dass die Zeit, die das Familienalbum repräsentiert, jener Zeit entspricht, in der Borshay Liem in ihrer ›biologi-

80 Vgl. Arnika Fuhrmann: Ghostly Desires. Queer Sexuality and Vernacular Buddhism in Contemporary Thai Cinema. Durham 2016.

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schen‹ Familie fehlt. Die emotionale Diskrepanz zwischen beiden Familien artikuliert sich indirekt durch die Gegenüberstellung von ›Dankbarkeit‹ auf Seiten der koreanischen und ›Freude‹ auf Seiten der amerikanischen Mutter. So übersetzt die Dolmetscherin den Dank der ›biologischen‹ Mutter: »She said she’s very happy … She’s very thankful that you brought her up well.« Die Adoptivmutter antwortet: »It was our joy.« Weinend wenden sich die beiden Frauen voneinander ab. In der Artikulation von Dankbarkeit scheint der Moment der ›Übergabe‹ des Kindes nachgeholt zu werden, ein Moment des Kontakts, der zugleich die Trennung von Borshay Liem und ihrer koreanischen Familie wiederholt. In der emotionalen Diskrepanz deutet sich die Unsagbarkeit der asymmetrischen diskursiven, sozialen, ökonomischen und politischen Bedingungen der Trennung von Mutter und Kind und des Zusammentreffens von Adoptiv- und Herkunftsfamilie an. FIRST PERSON PLURAL zeigt die räumliche Zusammenführung beider Familien, emotional scheinen beide für sich zu bleiben. Die Begegnung verstärkt tendenziell Gefühle der Trennung.81 So betonen sowohl die koreanische Mutter als auch der Bruder, dass sie Borshay Liem als Teil ihrer US-amerikanischen Familie ansehen. Erneut hören wir die Dolmetscherin: »She says that although she is your mother, she only gave birth to you and so you should really love and do everything you can for your adoptive parents.« Der Bruder erläutert die Umstände der Trennung und verweist auf die damalige prekäre finanzielle Situation. Er ruft vertraute sentimentale Topoi des Mutteropfers und des ›besseren‹ Lebens auf: »By sending her away we thought … she might have better opportunities than us. […] It’s not that they [adoptees] were abandoned. The children were sent for a better life.« Und die ›biologische‹ Mutter ergänzt: »We had to send her to be educated and to have a worthwhile life.« Der Bruder vergrößert die Distanz zwischen Borshay Liem und ihrer koreanischen Familie, indem er auf eine ›kulturelle Differenz‹ verweist: »She really needs to consider the cultural difference between us. Only then will she understand us.« Borshay Liems Hoffnung auf eine Zusammenführung beider Familien im selben physischen wie mentalen Raum erfüllt sich nur bedingt. Wie in DAUGHTER FROM DANANG stehen in FIRST PERSON PLURAL dem Wunsch nach Einheit scheinbar unüberbrückbare Differenzen – zurückzuführen auf nicht teilbare Trauer und eine wirkmächtige sentimentale Adoptionsrheto-

81 Eng, Feeling of Kinship, S. 129.

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rik – entgegen. Am Ende gibt es kein gemeinsames Bild der beiden Familien, das ein gemeinsames Familienalbums begründen könnte. Die Frage, worin die Schwierigkeit besteht, die Gleichzeitigkeit beider Familien zu denken, bleibt unbeantwortet. Am Ende der Reise deutet Borshay Liem das Ziel ihrer Reise neu. Der Wunsch, beide Familien im selben Raum zusammenzuführen, sei ein kindlicher gewesen. Auch in FIRST PERSON PLURAL ›erkennt‹ die Protagonistin eine Selbsttäuschung: »When I was younger I held on to this fantasy, that if I was good enough in my new home and good enough with my American parents, that if everything was perfect and I behaved properly, did well in school and all of that, that I would somehow be send back to Korea to be with my Korean family. … What’s happening is that that childhood fantasy of returning to my family is starting to … get away from me … and that I have to develop another relationship, a different kind of relationship with my Korean family. It’s not that I can just plop back in as a child. It’s no longer my childhood fantasy. It’s … approaching them as an adult.«

Wie Bub scheint auch Borshay Liem einen Erkenntnisprozess zu durchlaufen, der ihr zu einem erwachseneren Verständnis von ›Heimat‹ und Verwandtschaft verhilft. Allerdings richtete sich Borshay Liems Hoffnung in FIRST PERSON PLURAL nicht darauf, einen vergangenen Kindheitsort wiederzufinden, sondern einen utopischen Ort multipler Familienbeziehungen herzustellen. Am Ende verschiebt sich auch in FIRST PERSON der Fokus von der Frage des Verhältnisses beider Familien zueinander zur Frage nach der ›richtigen‹ Familie. Wiederherstellung der Heimatfantasie/ Normalisierung von Adoption Die Protagonistinnen beider Filme sehen ihr Heimatbegehren in der Begegnung mit ihren Herkunftsfamilien enttäuscht. Für Protagonistinnen und Zuschauer_innen entsteht der Eindruck eines Verkennens einer imaginären Heimatfantasie unschuldiger Kindheit bzw. einer Fantasie der Vereinigung von ›biologischer‹ und Adoptivfamilie. In beiden Filmen wird im Ambivalenz-Management – der Inszenierung des Selbsterkennens – die Adoptivfamilie als Ort wahrer Zugehörigkeit und als eigentliche ›Heimat‹ (re-) installiert. Am Ende von DAUGHTER FROM DANANG sehen wir Bub mit ih-

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rem Ehemann und ihren zwei Töchtern beim Besuch der US-amerikanischen Großmutter. Während zu Beginn des Films diese als streng und sogar gewalttätig dargestellt wurde, sehen wir sie nun in einem harmonischen Bild gemeinsam mit ihren Urenkelinnen die Fotografien der Reise nach Vietnam betrachten. Im Voice-over kommentiert Bub: »This is what I know, this is what I grew up with.« Bubs Vorstellung von Heimat, so suggeriert der Film, hat sich durch ihre Reise nach Vietnam gewandelt. Anstelle einer medialen Täuschung zu unterliegen scheint sie nun gelebte Beziehungen anerkennen zu können, das heißt, es geht nicht mehr um ›Heimat‹, sondern um das, was vertraut ist – Home. Ausgeblendet wird, dass die Beziehungen zu beiden Familien prekär sind. Die Enttäuschung der Heimatfantasie führt die Gefahr einer grundsätzlichen Ambivalenz von Zugehörigkeit ein. Indem der Film seine eigene, vorangegangene Darstellung ausstreicht, wird es möglich, Fantasien der Zugehörigkeit herauszufordern und zu enttäuschen, ohne sie endgültig aufgeben zu müssen.82 Diese Bestätigung sentimentaler Konvention gilt auch für FIRST PERSON PLURAL. Nachdem es nicht möglich scheint, beide Familien auch in einem emotionalen Raum zusammenzuführen, bekennt sich Borshay Liem im Gespräch mit der Adoptivmutter zu dieser: »I think … you’re my real mother.« Mit der Rückkehr an den Ort der Kindheit ging die Hoffnung einher, Familienbeziehungen, Zugehörigkeit und Identität klären zu können. In beiden Erzählungen werden diese Erwartungen enttäuscht. Trotz der Enttäuschung der Heimatfantasie aber halten die Filme tendenziell an der Vorstellung einer eindeutigen Zugehörigkeit fest. Mit Blick auf die von Berlant beschriebene Logik sentimentalen Begehrens und Ambivalenz-Managements sind die Hinwendungen der Protagonistinnen zur Adoptivfamilie als notwendige Bedingung zu verstehen, ein Gefühl von Okayness zu erzeugen, für sich selbst und für die Zuschauer_innen. Indem die Adoptivfamilie abschließend als die ›wahre‹ Familie erscheint, bleibt der Konflikt ambivalenter Zugehörigkeit, der den Ausgangspunkt der Narration darstellt, unbewältigt, aber er wird vorübergehend verdeckt. Ganz am Schluss von DAUGHTER FROM DANANG deutet Bub an, möglicherweise in einer unbestimmten Zukunft den Kontakt zu ihrer vietnamesischen Familie wieder aufzunehmen: »I guess I have closed the door on them … but I didn’t lock the door … It’s closed, but not locked …« Ihr

82 Vgl. Berlant, Female Complaint, S. 4.

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Blick ist dabei an der Kamera vorbei, auf einen unbestimmten, zukünftigen Ort gerichtet, an dem ein Happy End für alle Beteiligten möglich werden könnte. Die »geschlossene«, aber nicht »verschlossene« Tür birgt ein doppeltes Versprechen: das einer allen Beteiligten emotional gerecht werdenden Lösung und das weiterer sentimentaler Geschichten von der (scheiternden) Suche dieser Lösung. Die Andeutung einer Fortsetzung verspricht auch die Fortsetzung des sentimentalen Genießens – darin aber besteht der größte sentimentale Genuss.83 Der Blick ins ›Anderswo‹ verspricht doch noch eine Wiedervereinigung mit der Mutter, vielleicht in einem nächsten Film. Die Zuschauer_innen können sich an einer Fortsetzung aktiv beteiligen, indem sie der Bitte der Filmemacher_innen folgen, Bubs vietnamesische Familie durch finanzielle Spenden zu unterstützen und dadurch eine erneute Begegnung zu ermöglichen.84 Auf FIRST PERSON PLURAL folgt ein weiterer Film Borshay Liems, der ein Wiedererkennen der Protagonistin und der Fragen und Konflikte ermöglicht. In IN THE MATTER OF CHA JUNG HEE sucht sie nach dem Mädchen, an dessen Stelle sie zur Adoption vermittelt wurde. Sie trifft in dem Film verschiedene Frauen namens Cha Jung Hee, die sich alle nicht als die ›richtige‹ herausstellen. Wieder muss das Ende ein vorläufiges bleiben. Die hier untersuchten Erzählungen transnationaler Adoption kontrastieren eine kindliche Heimatfantasie mit der erwachsenen Einsicht in die Realität gelebter Adoptivbeziehungen. Diese ›aufgeklärte‹ Position muss jedoch wiederum als sentimentale verstanden werden. Sie vereindeutigt die ambivalenten Familienbeziehungen bzw. reinszeniert eine lediglich verschobene Heimatfantasie. Ausgeblendet werden dabei das Trauma der Trennung, das die Adoptivbeziehungen bedingt und die Uneindeutigkeiten und Unsagbarkeiten im Verhältnis zwischen den ›biologischen‹ und den Adoptivfamilien. Anhand von DAUGHTER FROM DANANG und FIRST PERSON PLURAL sind die diskursiven und medialen Widerstände nachvollziehbar, ein Bild von Familie und Verwandtschaft zu imaginieren, das der asymmetrischen Gleichzeitigkeit beider Familien gerecht werden würde. Stattdessen wird, sentimentaler Konvention folgend, die zu Beginn aufgerufene Heimatfantasie zwar vorübergehend aufgegeben, letztlich aber mit

83 Vgl. Neale, Melodram und Tränen. 84 Siehe die Internetseite zum Film http://www.daughterfromdanang.com/about/ family_fund.html

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dem Erkennen der Adoptivheimat als ›wahre‹ Heimat erneut eingeführt. Die Gespenster der Vergangenheit, die hartnäckig auf die verschwiegenen und unsagbaren Machtbedingungen transnationaler Adoption hinweisen, verschwinden so zumindest vorübergehend. Aus dem Blick gerät dabei die Komplexität der durch Adoption hergestellten Beziehungen, eine Komplexität, die Vorstellungen eindeutiger und unschuldiger Familienbeziehungen infrage stellt.

Schluss: Zur Bedeutung ›biologischer‹ Beziehungen für die ›neue‹ Familie

Hinwendung zur Adoptivfamilie als Ambivalenz-Management In STELLA DALLAS bedeutet Ambivalenz-Management, mit der Protagonistin mitzuleiden, letztlich aber im Namen des Kindeswohls eine klassenhierarchische Definition ›guter‹ Mutterschaft – und damit die Abgabe des Kindes – zu affirmieren. In DAUGHTER FROM DANANG und FIRST PERSON PLURAL bleibt bis fast zum Schluss unklar, worin eine Lösung bestehen könnte, mit der sich die Konflikthaftigkeit und Ambivalenz der Adoptivsituation auflösen ließe. Der Versuch, mit der Heimkehr ins Herkunftsland eindeutige Zugehörigkeitsverhältnisse zu schaffen, bringt neue Verunsicherungen mit sich. Die Hinwendung zu den Adoptivfamilien und -nationen erscheint daher in beiden Filmen (in unterschiedlicher Weise) als nur bedingt plausibles, vorläufiges Ende. Die hier betrachteten Darstellungen veranschaulichen im Modus des Sentimentalen sowohl die konflikthaften und ambivalenten Aspekte moderner Adoption, als auch zur Verfügung stehende narrative und mediale Strategien, um diese vorübergehend stillzustellen. Die Sensation Scenes leidvoller Selbsterkenntnis – mütterlicher ›Unzulänglichkeit‹ und kindlicher Heimatfantasien – leiten zu einer Position über, die es den Protagonistinnen in kulturell plausibler Weise ermöglicht, trotz aller Verunsicherungen an konventionellen Vorstellungen von Okayness festzuhalten. Inwiefern ist die Rückkehr zur Adoptivfamilie als eine ›konventionelle‹ Lösung zu verstehen? Die Legitimierung der Adoptivfamilie bzw. die

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Rückkehr zu ihr stellt im Rahmen sentimentaler Unterhaltung einen zentralen Moment sentimentaler Lust für die Protagonist_innen und Zuschauer_innen dar. Die Auflösung der Klassen- und Zugehörigkeitskonflikte besteht sowohl im Hollywood-Melodram wie auch in den (auto-) biografischen Dokumentationen in der (Wieder-)Herstellung von Adoptivbeziehungen, also in der Affirmation eines Familienkonzepts, das auch als Abwendung von konventionellen Vorstellungen von Familie im Sinne biologisch definierter Verwandtschaft verstanden werden kann. Welche Schlussfolgerung ergibt sich aus der Zuwendung zu dieser un-/konventionellen Familienform? Man könnte sagen, dass in den sentimentalen Adoptionsgeschichten zwischen zwei Lösungen abgewogen wird – Erhalt bzw. Rückkehr zur ›biologischen‹ Familie bzw. Hinwendung zur Adoptivfamilie – die gleichermaßen ›konventionell‹ und ›unkonventionell‹ sind. Der Umstand, dass auf die Rückkehr zur Adoptivfamilie als ein kulturell plausibles Mittel des Ambivalenz-Managements zurückgegriffen wird, veranschaulicht, dass die historische Autorität ›biologischer‹ Verwandtschaftskonzepte begrenzt ist, wenn, wie in STELLA DALLAS, klassenhierarchische, biopolitische Interessen oder, wie in DAUGHTER FROM DANANG und FIRST PERSON PLURAL, rassifizierte und nationale Machtverhältnisse ins Spiel kommen. Im historisch spezifischen, westlichen Kontext moderner Adoption kommt Adoptivbeziehungen dann eine dominante Position zu, wenn Klassen-, rassifizierte und nationale Hierarchien die Legitimation ›biologischer‹ Beziehungen infrage stellen. Das bedeutet nicht, dass ›Biologie‹ mit Adoption bedeutungslos wird, sie nimmt stattdessen einen ungreifbaren, ›gespenstischen‹ Status an. Welche Bedeutung hat ›Biologie‹ für moderne Adoption? Befürworter_innen betonen, dass mit Adoption Familie nicht mehr normativ durch ›biologische‹ Abstammung definiert sei. Adoption verspricht größere Freiheit bei der Gestaltung zentraler intimer Beziehungen; in der Überschreitung von ›Rassengrenzen‹ bei der Familienbildung scheint sich das progressive Versprechen von Adoption zu verwirklichen. Neben dem Versprechen einer progressiven Kraft ›multikultureller‹ Familien ist Adoption auch ein zentrales Thema im Kampf um die Gleichstellung schwuler und lesbischer Paare: Adoption steht aus dieser Perspektive für eine Familienpolitik, mit der sich die Hoffnung verbindet, weniger Ausschlüsse zu produzieren. Auf der anderen Seite sind die hier betrachteten Darstellungen bemerkenswert, nicht nur weil sie veranschaulichen, wie kulturell plausibel und ak-

Z UR B EDEUTUNG › BIOLOGISCHER ‹ B EZIEHUNGEN

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zeptiert Adoptivfamilien im Horizont (nicht nur) sentimentaler Unterhaltung sind – so dass sie sich als ›konventionelle‹ Lösung zum AmbivalenzManagement eignen; die Darstellungen veranschaulichen auch die Notwendigkeit, mit der gespenstisch anwesenden Vergangenheit umzugehen, das bedeutet, mit den Beziehungen zu denjenigen, die durch ›biologische‹ Beziehungen zum Adoptivkind definiert sind. Aus einer machtanalytischen Perspektive zeichnet sich ein Dilemma ab, ›Biologie‹ nicht als essenzielle Größe reinstallieren zu wollen, auf der anderen Seite aber möglicherweise mit der Ausblendung ›biologischer‹ Beziehungen materielle Bedingungen und Realitäten des Adoptionskomplexes zu vernachlässigen. Mit Donna Haraway lässt sich dieses Dilemma als Konflikt zwischen Sozialkonstruktivismus und Empirismus, Relativismus und Positivismus beschreiben.1 Für Haraway kann dies keine Frage des Entweder-oder sein, wie sie in ihrem methodologisch-epistemologischen Aufsatz »Situiertes Wissen« schreibt: Daher glaube ich, daß mein und ›unser‹ Problem darin besteht, wie wir zugleich die grundlegende historische Kontingenz aller Wissensansprüche und Wissenssubjekte in Rechnung stellen, eine kritische Praxis zur Wahrnehmung unserer eigenen bedeutungserzeugenden, ›semiotischen Technologien‹ entwickeln und einem nicht-sinnlosen Engagement für Darstellungen verpflichtet sein könnten, die einer ›wirklichen‹ Welt die Treue halten […].2

Ich habe in diesem Buch den Modus des Sentimentalen als eine solche »semiotische Technologie« betrachtet. Die Beschreibung der Produktion von Darstellungs- und Wahrnehmungsmodi ermöglicht es, weder konstruktivistische ›Beliebigkeit‹, hier in Bezug auf die Konstruiertheit von Biologie, noch unvermittelt zugängliche Wirklichkeiten, also etwa eine Wahrheit der Biologie, zu behaupten. Eine Betrachtung des Modus des Sentimentalen im Kontext moderner Adoption ermöglicht – entlang der darin sich manifestierenden Unbestimmtheiten und Ambivalenzen – Rückschlüsse auf die materiellen, machtförmigen Bedingungen der ›wirklichen‹ Welt, sowie anders-

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Donna Haraway: »Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive«. In: dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt am Main 1995, S. 73-97.

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Ebd., S. 78. Hervorhebung im Original.

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herum auch auf die rückwirkende Wirkmächtigkeit medialer Modi. Sentimentalität ist als symptomatisch für gefühlte, gespenstisch präsente Machtverhältnisse zu verstehen. Der Modus des Sentimentalen ist ein guter Ausgangspunkt, um nachzuvollziehen, warum moderne Adoption teilweise nur schwer offen kritisierbar ist – auf dem Spiel stehen die Rahmen sozialer Zugehörigkeit und damit die Möglichkeit von Okayness. Queere Biologie? Für ›biologische‹ Eltern und Adoptierte ist die Frage ›biologischer‹ Beziehungen nicht mit einem Verweis auf die grundsätzliche soziale Konstitution von Familienbeziehungen zu beantworten. Dies lässt sich auch auf den Kontext jüngerer Reproduktionsmedizin übertragen, in Bezug auf durch Samen- oder Eizellspende, Embryonenadoption oder Leihmutterschaft gezeugte Menschen. Die Annahme, Verwandtschaftsbeziehungen seien mit biologisch definierten Beziehungen identisch, verliert spätestens mit der Geburt des ersten IVF-Kindes Louise Brown 1978 in Großbritannien an Selbstverständlichkeit. Der Status ›biologischer‹ Beziehungen ist dabei ähnlich ungreifbar. Dabei steht im Unterschied zum Adoptionsdiskurs die Frage nach dem ›biologischen‹ Vater im Vordergrund. So spricht sich der Verein erwachsener »Spenderkinder« gegen anonyme Samenspenden aus und für ein Recht auf Wissen um genetische Abstammung. Auf der seit 2006 existierenden Internetseite spenderkinder.de des gleichnamigen Vereins heißt es: »Die Sicht der betroffenen Kinder wird oft vernachlässigt […]. Ähnlich wie auch adoptierte Menschen haben […] Spenderkinder ein Bedürfnis zu erfahren, wer ihr biologischer Vater ist.«3 Spenderkinder begründet die Bedeutung von ›Biologie‹ im Kontext von Reproduktionsmedizin mit der Bedeutung »vererbter Anlagen« und dem Wunsch, familiäre Krankheitsgeschichten zu kennen. Ähnlichkeiten zur kritischen Diskussion (transnationaler) Adoption sind offensichtlich. Hier geht es mir jedoch weniger um ein durch Anonymität verwehrtes Wissen genetischer Verwandtschaft, sondern um die Frage, was an Unbestimmbarem in den ›neuen‹ Verwandtschaftsbeziehungen mit dem Ausblenden ›biologischer‹ Verbindungen aus dem Blick gerät. Ich verstehe ›Biologie‹ als einen Platzhalter für die konstitutiven Bedingungen der ›neuen‹ Familien,

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http://www.spenderkinder.de/

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deren Unzugänglichkeit zum Teil darin besteht, dass sie komplexe machtbezogene, (bio-)politische Fragen betreffen, wie in Bezug auf Adoption. Im Kontext von Reproduktionsmedizin geht es auch um den prekären Status von Normalität, wie sich anhand eines anderen Films, THE KIDS ARE ALL RIGHT (USA 2010, R: Lisa Cholodenko), veranschaulichen lässt. Der Spielfilm erzählt von dem lesbischen US-amerikanischen Mittelschichtspaar Nic (Annette Bening) und Jules (Julianne Moore), deren Kinder Joni (Mia Wasikowska) und Laser (Josh Hutcherson) ihren Samenspender Paul (Mark Ruffalo) ausfindig machen. THE KIDS ARE ALL RIGHT ist insbesondere für die Darstellung einer ›ganz normalen‹ lesbischen Familie gefeiert worden. Zwischen dem ›biologischen‹ Vater und den Kindern entstehen fragile Beziehungen, denen Nic in Berufung auf »my house« und »my family« ein autoritäres Ende setzt. Diese Besitzwahrung dadurch hergeleitet, dass Jules und Paul eine Affäre miteinander haben – ich verstehe dies jedoch lediglich als ein dramaturgisches Mittel, um zu bestätigen, was Nic von Beginn an befürchtet: Der Samenspender (Nic nennt ihn einen »interloper«) dringt in die Normalität der lesbischen Kleinfamilie ein und unterminiert mittels einer diffusen Autorität des Biologischen deren Legitimität. Die Darstellung der Normalität lesbischer Eltern und durch Samenspende gezeugter Kinder ist Gewinn und Krux zugleich. THE KIDS ARE ALL RIGHT erweitert, was als Familie gedacht werden kann. Noch deutlicher als MODERN FAMILY zeigt der Film jedoch (ungewollt) auch den Preis, mit dem Normalität einhergeht. In ihrer selbstironischen Filmkritik schreiben Jasbir Puar und Karen Tongson, THE KIDS ARE ALL RIGHT sei ein »ugly« Film, er biete »glimpses of ourselves doing terrible things in order to exert a tighter grasp on the people, places and things we imagine belong to us alone«.4 Puar und Tongson stellen fest, dass THE KIDS ARE ALL

4

Jasbir Puar, Karen Tongson: »The Ugly Truth about why The Kids ARE All Right«. http://velvetparkmedia.com/blogs/ugly-truth-about-why-kids-are-allright vom 20.01.2012 (zuerst in: Oh! Industry. Pop Culture, Media, Fashion, 08. Februar 2010). Puar und Tongson schlagen angesichts der harschen Kritik, die der Film von Seiten eines queeren Publikums erhalten hat, vor, THE KIDS ARE ALL RIGHT als Sichtbarmachung all dessen zu betrachten, was »ugly« ist, an dem auch von ihnen, wie sie zugeben, geteilten Bedürfnis nach ›ganz normalen‹, liberalen schwulen/lesbischen Familien. Während Puar und Tongson einen produktiven Perspektivwechsel bezüglich dieser letztlich sentimentalen Darstel-

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RIGHT dann am interessantesten – und am ›queersten‹ – ist, wenn die Beziehungen zum Samenspender in ihrer Ambivalenz und Vorläufigkeit erfasst werden: »The family in [THE KIDS ARE ALL RIGHT] is the most queer when it is porous to Paul’s presence, the lines of affiliation arising and dissipating – an assemblage of alliances uncertain and open to changes, unexpected, convivial encounters and sudden, random intimacies.«5 Dabei geht es nicht darum, die Figur des ›biologischen‹ Vaters als Autorität zu reinstallieren, sondern die durch Adoption und Reproduktionsmedizin erzeugten ambivalenten Beziehungen zu ›biologischen‹ Verwandten in ihrer momentanen Unbestimmtheit anzuerkennen. Die Unbestimmtheit und Ambivalenz der Beziehungen zu Paul stehen für die unbestimmte Bedeutung von ›Biologie‹ für die ›neuen‹ Familienbeziehungen. Anhand der Frage der Normativität schwuler/lesbischer Familien spitzt sich dabei lediglich zu, was in Bezug auf ›neue‹ Familien grundsätzlich gilt. Die Vertreibung des ›biologischen‹ Vaters in THE KIDS ARE ALL RIGHT und die Marginalisierung der Beziehungen zu den ›biologischen‹ Eltern in den Erzählungen transnationaler Adoption – beides geschieht auf sehr unterschiedliche Weise – zeigen die Anstrengung, die es erfordert, ›ganz normale‹ Familien herzustellen. Dass die Frage der ›Biologie‹ aus der Perspektive der ›neuen‹ Familie tendenziell vermieden oder relativiert wird, bestätigt, dass ›biologische‹ Verwandtschaft in diesen Kontexten eher droht, die normative Kleinfamilie infrage zu stellen, als sie zu stärken.6

lung ›neuer‹ Familien vornehmen, würde ich auch im Fall von THE KIDS ARE ALL RIGHT weniger von einer subversiven Intention der Regisseurin ausgehen, als davon, dass sich in der »hässlichen« Darstellung die gespenstische Ungreifbarkeit der ›biologischen‹ Verwandtschaftsbeziehungen manifestiert. 5

Ebd.

6

Siehe zu einer weiterführenden Betrachtung der neuen Bedeutung ›biologischer‹ Beziehungen in THE KIDS ARE ALL RIGHT: Anja Michaelsen: »Zur Bedeutungsverschiebung des Biologischen. Queere und feministische Kritik an der Normativität der ›neuen‹ Familien mit The Kids Are All Right (USA 2010) und First Person Plural (USA 2000)«. In: Fachgesellschaft Gender Studies (Hg.): Wanderungen. Migrationen & Transformationen aus geschlechterwissenschaftlichen Perspektiven. Bielefeld 2013, S. 201-215.

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Andere Gemeinschaften imaginieren Judith Butler hat darauf hingewiesen, dass die liberale Forderung nach Eheund Familienrechten für homosexuelle Paare dazu tendiert, an konventionellen, ausschließenden Konzepten von Verwandtschaft und nationaler Identität festzuhalten und neue Bereiche des Illegitimen zu produzieren.7 Gleichzeitig argumentieren konservative Positionen gegen Adoptionsrechte und den Zugang zu Reproduktionstechnologien für Schwule und Lesben, mit der Behauptung, gleichgeschlechtliche Elternschaft stelle eine Bedrohung der Grundlagen abendländischer Kultur und kultureller Intelligibilität selbst dar.8 ›Verteidigung der Kultur‹ heißt hier, reaktionäre Vorstellungen der heteronormativen, weißen Kleinfamilie zu verteidigen.9 Eine gegenüber liberalen Gleichheitsforderungen kritische Haltung sieht sich also in unangenehmer Nähe zu homophoben und rassistischen Positionen. Wie bereits in früheren Texten10 betrachtet Butler dieses Dilemma in differenzierter Weise, weist aber zum Schluss darauf hin, dass es gilt, ein weitergehendes Ziel nicht aus den Augen zu verlieren: den Raum denkbarer, legitimer (Verwandtschafts-)Beziehungen größtmöglich zu erweitern. Ihre kritische Haltung gegenüber liberaler schwul-lesbischer Politik rührt daher aus der Frage, was aus dem Blick verloren geht, wenn an Ehe und Kernfamilie (ob homo- oder heterosexuell) als privilegiertem Ort der Fürsorge, Sexualität und sozialen Beziehung festgehalten wird: »[The] task at the end is to rework and revise the social organization of friendship, sexual contacts, and community to produce non-state-centered forms of support and alliance, because marriage [und Familie, A.M.], given its historical weight, becomes an ›option‹ only by extending itself as a norm (and thus foreclosing options), one

7

Judith Butler: »Is Kinship Always Already Heterosexual?« In: dies.: Undoing

8

Ebd., S. 110ff. Butler bezieht sich insbesondere auf Aussagen der französischen

Gender. London, New York 2004, S. 102-130, hier S. 105. Philosophin Sylviane Agacinski. 9

Ebd.

10 Vgl. Judith Butler: Bodies that Matter. On the Discursive Limits of »Sex«. New York, London 1993; dies.: Antigone’s Claim. Kinship between Life and Death. New York 2000.

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that also extends property relations and renders the social forms for sexuality [und Geschlecht, ›Rasse‹, Klasse, A.M.] more conservative.«11

Mit Butler stellt sich die Frage nach neuen Formen von Verwandtschaft nicht nur hinsichtlich einer Freiheit, zwischen verschiedenen Lebensmodellen zu wählen, sondern vor allem hinsichtlich der Denk- und Lebbarkeit von Formen des Sozialen, die sich jenseits dessen befinden, was im Moment als familiäres, verwandtschaftliches Zusammenleben intelligibel ist. Diesen Raum denk- und lebbarer Verwandtschaftsformen zu erweitern ist notwendig, um nicht immer wieder neue Verwerfungen zu produzieren, die als melancholischer Untergrund das verfolgen, was als Norm angesehen wird: »The life of sexuality, kinship, and community that becomes unthinkable within the terms of these norms constitutes the lost horizon of radical sexual politics, and we find our way ›politically‹ in the wake of the ungrievable.«12 Moderne Adoption ist ein zwiespältiges Phänomen. Ihre Konflikte und Ambivalenzen sind symptomatisch für die aktuelle und alltägliche Verwobenheit intimer und affektiver Beziehungen mit strukturellen, politischen und ökonomischen Machtverhältnissen. Adoption stellt eine biologistische Definition von Verwandtschaft infrage und macht dadurch alternative Formen der Fürsorge lebbar. Zugleich reproduziert sie in ihrer derzeitigen Form Geschlechter- und Klassenhierarchien und Hierarchien zwischen Nationen des globalen Nordens und Südens. Sie verstärkt prekäre soziale und Geschlechterverhältnisse im Herkunftsland und tendiert dazu, rassistische Strukturen im Adoptivland unsichtbar zu machen. Am Beispiel der Adoption ist zu sehen, dass ›Biologie‹ an diskursiver Autorität verliert, wenn Klassen-, ›Rassen‹- und nationale Beziehungen die Voraussetzungen von Familiengründung komplexer machen. Aus einer kritischen Perspektive ist die Frage daher nicht so sehr, ob wir eine Position für oder gegen Adoption einnehmen, sondern durch welche Machtverhältnisse diese wie bestimmt wird und welche Realitäten und andere Formen sozialer Gemeinschaft darin undenkbar werden. Eine Antwort auf diese Frage fordert die individuelle und kollektive Vorstellungskraft heraus, bessere Formen von Zugehörigkeit, Gemeinschaft und Familie zu imaginieren.

11 Butler, Is Kinship Always Already Heterosexual, S. 109. 12 Ebd., S. 130.

Filme/Fernsehserien

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Dank

Mein Dank gilt zunächst meinen Betreuerinnen Astrid Deuber-Mankowsky und Eva Warth für ihre kontinuierliche Unterstützung, richtungsweisende Diskussionen sowie Pep Talk zur rechten Zeit. Die Teilnehmer_innen des Kolloquiums »Medien und Gender« am Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum haben mit anhaltendem Interesse und produktiven Fragen das Projekt in bester Weise vorangebracht. Ein vom Rektorat der Ruhr-Universität Bochum geförderter einmonatiger Rechercheaufenthalt in Seoul war für die Ausrichtung der Arbeit entscheidend. Gefördert wurde die Dissertation außerdem von der Research School der Ruhr-Universität. Ganz besonders möchte ich den Aktivist_innen und Filmemacher_ innen danken, mit denen ich in Korea und anderswo über das Projekt sprechen konnte, insbesondere Daewon Wenger, tammy ko Robinson, Kelsey Hyesun March und Do-Hyun Kim. Deann Borshay Liem hat sich geduldig und wohlwollend meine Überlegungen zu ihrem Film angehört und zu meiner großen Freude ein Still zur Verwendung als Titelbild zur Verfügung gestellt. Das sorgfältige Lektorat von Ulf Heidel hat wesentliche Verbesserungen einer früheren Version des Manuskripts bewirkt. Ohne die Unterstützung von Katja Rothe, Maja Figge, Arnika Fuhrmannn, Lena Meierkord, Aline Oloff, Jenniver Sehring, Maja Löffler, Claudia Schaefer, Karin Michalski und Vina Yun in unterschiedlichen Stadien der Erstellung und Korrektur wäre das Buch nicht fertig geworden.

Medienwissenschaft Florian Sprenger, Christoph Engemann (Hg.) Internet der Dinge Über smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische Durchdringung der Welt 2015, 400 S., kart., zahlr. Abb., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3046-6 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3046-0 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3046-0

Ramón Reichert (Hg.) Big Data Analysen zum digitalen Wandel von Wissen, Macht und Ökonomie 2014, 496 S., kart., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2592-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2592-3 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2592-3

Gundolf S. Freyermuth Games | Game Design | Game Studies Eine Einführung 2015, 280 S., kart., 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2982-8 E-Book: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2982-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Medienwissenschaft Gundolf S. Freyermuth Games | Game Design | Game Studies An Introduction (With Contributions by André Czauderna, Nathalie Pozzi and Eric Zimmerman) 2015, 296 p., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2983-5 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2983-9

Beate Ochsner, Robert Stock (Hg.) senseAbility – Mediale Praktiken des Sehens und Hörens September 2016, 448 S., kart., zahlr. Abb., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3064-0 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3064-4

Pablo Abend, Mathias Fuchs, Ramón Reichert, Annika Richterich, Karin Wenz (eds.) Digital Culture & Society Vol. 2, Issue 1/2016 – Quantified Selves and Statistical Bodies März 2016, 196 p., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3210-1 E-Book: 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3210-5

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