Kinderhandel oder Koranerziehung?: Kontroversen um die bettelnden Talibé in Senegal 9783839454565

Über die Lebensbedingungen von Senegals bettelnden Koranschülern empören sich Kinderrechtsaktivisten weltweit. Ein genau

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German Pages 320 Year 2020

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Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Menschenhandel in Senegal
3. Das historische Erbe der gegenwärtigen Kontroversen
4. Andere Zeiten?
5. Von »sozialer Realität« zum »gesellschaftlichen Problem«
6. Kontroverse Hilfe
7. Von Talibé und Straßenkindern
8. Von »Menschenhandel« zu »Modernisierung«?
9. Schluss
10. Literatur
11. Empirische Quellen
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Kinderhandel oder Koranerziehung?: Kontroversen um die bettelnden Talibé in Senegal
 9783839454565

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Sarah Fuchs Kinderhandel oder Koranerziehung?

Kultur und soziale Praxis

Sarah Fuchs (Dr. rer. soc.), geb. 1984, ist Ethnologin und forschte u.a. zu Kinderrechten und Islam in Westafrika. Sie promovierte im Exzellenzcluster »Kulturelle Grundlagen von Integration« der Universität Konstanz und war Teil der Projektgruppe »The Anthropology of Transnational Crime Control and Human Trafficking« am Lehrstuhl für Kulturanthropologie und Ethnologie. Sie ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Stiftungssektor tätig.

Sarah Fuchs

Kinderhandel oder Koranerziehung? Kontroversen um die bettelnden Talibé in Senegal

Dissertation der Universität Konstanz Tag der mündlichen Prüfung: 28.07.2017 1. Referent: Prof. Dr. Thomas G. Kirsch 2. Referent: Prof. Dr. Roman Loimeier

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Inhalt

Danksagung .............................................................................. 9 Abkürzungsverzeichnis................................................................... 11 1. Einleitung........................................................................... 15 Gegenstand und Perspektive .............................................................. 19 Die bettelnden Talibé als kontroverses Kinderrechtsproblem .............................. 23 Ausblick auf die Kapitel .................................................................. 28 Methodik ................................................................................ 30 2. Menschenhandel in Senegal........................................................ 39 »Wenn was nicht klappt, macht man was Neues«:  Transnationale Kinderrechtsparadigmen im senegalesischen Kontext ..................... 46 Von Sklaven und Drogen: Die terminologische Last des Menschenhandels.................. 55 Menschenhandel und Talibé: eine sperrige Verbindung .................................... 59 Menschenhandel – quo vadis? ............................................................ 67 Zusammenfassung ....................................................................... 74 3. Das historische Erbe der gegenwärtigen Kontroversen ............................ 77 Die Verbreitung des Islam und frühe islamische Reformer in Senegal ...................... 78 Von Gegnerschaft zum Gesellschaftsvertrag: Das Verhältnis  zwischen marabouts und Kolonialregierung ................................................ 81 Die religionspolitischen Entwicklungen nach der Unabhängigkeit .......................... 89 Zusammenfassung ....................................................................... 97 4. Andere Zeiten? ................................................................... 103 Das Dorf, die Dürre und die Stadt:   Das Narrativ des Verfalls der Koranschulen .............................................. 105 Business und Aberglaube: Die Almosenpraxis als Spannungsfeld ......................... 108 Das »terminologische Amalgam«: Von »richtigen« und »falschen« marabouts............. 119 »Ich will nur seine Knochen zurück…«: Die Eltern der Talibé im Fadenkreuz der Kritik .... 124

Die Stadt als Nährboden für neue Gerüchte und Gefahren ................................ 130 Zusammenfassung ...................................................................... 134 5. Von »sozialer Realität« zum »gesellschaftlichen Problem« ....................... Zwischen »Modernisierung« und »Retraditionalisierung«: Neue familiäre Leitbilder für die Landbevölkerung .................................................................... Zwischen Nähe und Distanz: Die Eltern der Talibé im Ziel der Kampagne .................. Die strategische Islamisierung der Botschaft ............................................ Weder »Freund« noch »Feind«: Die transnationale Zivilgesellschaft und der Staat ........ Mehr »Brüder« denn »Opfer« : Das Engagement des Mouvement Africain des Enfants et Jeunes Travailleurs für die Talibé ........................................................ Zusammenfassung ......................................................................

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6. Kontroverse Hilfe ..................................................................167 Die (Anti-)Politik medizinischer Hilfen.....................................................175 Do ut des: Fragile Kooperationen mit den Koranlehrern....................................179 Die Performanz des Gebens und Nehmens ............................................... 189 Egoist oder Held? Die ambivalente Figur des humanitären Helfers ........................ 193 Zusammenfassung ...................................................................... 198 7. Von Talibé und Straßenkindern ................................................... 203 Die Macht des Begriffs: Von »Talibé« und »Straßenkindern« ............................. 204 Opfer oder Ausreißer? Die ambivalente Rolle der geflohenen Talibé ........................ 211 Die Bedeutung von Zeit und Raum für die »Wiedereingliederung« ........................ 218 Die Sozialarbeiter: Schlüsselakteure der »Wiedereingliederung« ..........................221 Kontroverses Kindeswohl: Die »Wiedereingliederung« als Aushandlungsfeld sozialer und kultureller Normen ...................................................................... 225 Zusammenfassung ...................................................................... 229 8. Von »Menschenhandel« zu »Modernisierung«? ................................... 231 Gesetz ohne Geltung? Die (Nicht-)Anwendung des Gesetzes gegen Menschenhandel ...... 233 Moderne daaras statt Bettelverbot? ...................................................... 243 Modernisierung per Gesetz? Machtkämpfe zwischen Staat und Koranlehrern ............. 254 Zusammenfassung ...................................................................... 261 9.

Schluss ........................................................................... 265

10.

Literatur .......................................................................... 275

11. Empirische Quellen ............................................................... 313 Informanten ............................................................................ 313 Veranstaltungen .........................................................................317

Danksagung

Mein Dank geht an Prof. Dr. Thomas Kirsch für die fachlich wie menschlich großartige Erstbetreuung der Dissertation und an meinen Zweitgutachter Prof. Dr. Roman Loimeier für seine wertvolle thematische Beratung und Expertise zu Islam und Politik in Senegal. Stellvertretend für viele weitere Personen in Senegal, ohne die diese Arbeit nicht hätte geschrieben werden können, möchte ich mich bei Mamadou Ndiaye (»Ndiayedaara«) für seine immense Unterstützung bedanken und auch bei allen meinen Kollegen, Freunden, meinem Partner und meiner Familie, die diese Arbeit begleitet haben.

Abkürzungsverzeichnis

ACRWC The African Charter on the Rights and Welfare of the Child ADE Avenir des Enfants AECID Agencia Española de Cooperación Internacional para el Desarrollo AEMO Action Éducative en Milieu Ouvert ANPPCAN African Network for the Prevention and Protection against Child Abuse and Neglect AU Afrikanische Union BIT Bureau International du Travail CAINT Cadre d’Appui à l’Initiative Nationale en faveur des Talibés CAPE Cellule d’Appui à la Protection d´Enfance CEDEAO Communauté Économique des États de l’Afrique de l’Ouest CEEAC Communauté Économique des États de l’Afrique Centrale CEGID Centre de Guidance Infantile et Familiale de Dakar CNLTP Cellule Nationale de Lutte contre la Traite des Personnes, en particulier des femmes et des enfants COGEP Conseil en Gestion, Études et Projets COMOD Collectif pour la modernisation des Daara CONAFE Coalition Nationale des Associations et ONG en faveur de l’Enfant DDC Direction du Développement Communautaire DPPE Direction de la Protection de la Petite Enfance

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Kinderhandel oder Koranerziehung?

DDPEGV Direction des Droits, de la Protection de l’Enfant et des Groupes Vulnérables DGAS Direction générale de l’Action sociale ETSS École Nationale des Travailleurs Sociaux Spécialisés FCFA Franc de la Communauté Financière Africaine FNAECS Fédération Nationale des Associations d’Ecoles Coraniques du Sénégal HRW Human Rights Watch ILO International Labour Organization IOM International Organization for Migration IPEC International Program on the Elimination of Child Labour JCLTIS Jeunesse Culture Loisirs Technique Interventions Sociales JICA Japan International Cooperation Agency MAEJT Mouvement Africain des Enfants et Jeunes Travailleurs MCA Millennium Challenge Account MSF Médecins sans Frontières OHCHR Office of the High Commissioner for Human Rights PAMOD Projet d’Appui pour la Modernisation des Daaras PAQUET-EF Programme d’Amélioration de la Qualité, de l’Équité et de la Transparence du secteur de l’Éducation et de la Formation PARRER Partenariat pour le Retrait et la Réinsertion des Enfants de la Rue PDEF Programme Décennal de l’Éducation et de la Formation PDS Parti Démocratique Sénégalais PPDH Plateforme pour la Promotion et la Protection des Droits de l’Homme RAO Réseau Afrique de l’Ouest [pour la protection des enfants] SNPE Stratégie Nationale de Protection de l’Enfant

Abkürzungsverzeichnis

SPER Solidarité pour les Enfants de la Rue SSI Service Social International UCAD Université Cheikh Anta Diop UCM Union Culturelle Musulmane UCW Understanding Children’s Work UN United Nations UNHCR United Nations High Commissioner for Refugees UNICEF United Nations Children’s Fund UNODC United Nations Office on Drugs and Crime USAID United States Agency for International Development WARC West African Research Center

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1. Einleitung

In Kolda, Hauptstadt der gleichnamigen Region im südlichsten Teil Senegals, bin ich zu Gast in der Koranschule von Thierno1 Fode, um seine Sichtweise auf die Koranerziehung und das Betteln der Koranschüler kennenzulernen. Unzählige Kinder meist jungen Alters bitten in Lumpen und barfüßig mit der schon längst für sie symbolhaften leeren roten Tomatenmarkdose in der Hand auf Senegals Straßen um Almosen. Dieser sichtbare, objektiv festzustellende Ausschnitt der sozialen Realität bildet den Ankerpunkt der Kontroversen, die sich an den bettelnden Talibé entzünden. Ob es sich überhaupt um Talibé, Koranschüler, oder vielmehr um »Straßenkinder« handelt, ob sie von ihren maîtres, ihren Lehrern, »ausgebeutet« werden, eine sinnhafte Erziehungspraktik ausüben oder die Leidtragenden des laizistischen Bildungssystems sind, ist gesellschaftlich hingegen umstritten. Fode bittet mich und Bacary – ein Mitarbeiter des örtlichen Büros der Organisation ChildFund, der das Treffen arrangiert hat und mir bei Übersetzungen behilflich ist – in seinen salon, der gemessen an den Verhältnissen der senegalesischen Provinz gut ausgestattet ist. Freundlich und selbstbewusst, auf einem bequemen Stuhl thronend, berichtet er von seinem Werdegang als Koranlehrer, der Herkunft seiner Talibé und seinen Vorstellungen einer an islamischen Werten orientierten Erziehung. »Fast alle der Kinder, die Sie da draußen auf den Straßen betteln sehen, werden Ihnen sagen, dass sie meine Talibé sind«, versichert er mir stolz (Kolda, 10.05.2013). Seine Bemerkung ließ mich aufhorchen, gilt doch die »Ausbeutung des Bettelns Anderer« in Senegal seit dem Jahr 2005 als eine »dem Menschenhandel gleichge-

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Für die Koranlehrer werden in den Nationalsprachen Senegals unterschiedliche Begriffe verwendet, z.B. »Thierno« auf Peul, das in der Region Kolda vorherrschend ist, »Sëriñe« (Serigne) auf Wolof, der Hauptverkehrssprache Senegals. Ich übernehme im Text den französischen Begriff »maître (coranique)« aus dem senegalesischen Diskurs bzw. die deutsche Übersetzung »Koranlehrer«, auch wenn dieser ebenso wie der der »Koranschule« von manchen Autoren in Hinblick auf die grundlegend andere Pädagogik der Koranausbildung problematisiert wird (z.B. Akkari 2004: 6; Fortier 2003: 235-236). Als Namensbestandteil und zur besseren Unterscheidung von gleichnamigen Informanten verwende ich zum Teil, wie in meinem Feld üblich, den Zusatz »Serigne (…)« bzw. »Thierno (…)«.

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Kinderhandel oder Koranerziehung?

stellte Praktik« und wird, zumindest laut Gesetzestext, mit empfindlichen Strafen geahndet. Die meisten der zuvor in Dakar von mir interviewten Koranlehrer hatten, auf das Betteln ihrer Schüler angesprochen, entsprechend eher defensiv reagiert und versucht, die Praktik einerseits als überlebensnotwendig und andererseits als nicht den Alltag der Kinder dominierend darzustellen. In Kolda bei Thierno Fode aber, weitab vom Zentrum der aufgeheizten Debatten um die bettelnden Koranschüler, schienen andere »Gesetze« zu gelten. Für Fode war die große Anzahl seiner bettelnden Schüler mitnichten Ausdruck unlauterer finanzieller Interessen, sondern seiner überregionalen Reputation als Korangelehrter und -erzieher. Auch dass sich mehrere ältere Talibé, die ihn im Kreis sitzend umringten, entschlossen hatten, nach Abschluss ihrer grundständigen Koranausbildung als Assistenten und Schüler bei ihm zu bleiben, bewies in seinen Augen ihre Wertschätzung seiner Erziehung und Lehre. Die vielen Menschen aus der Umgebung, die ganz von allein Spenden und Geschenke in seine Koranschule brächten, zeugten für ihn wiederum vom starken Wunsch der Bevölkerung, die Koranschulen zu unterstützen, weshalb dem Bitten um Almosen der Talibé nichts entgegenstünde. Während für Fode das Betteln seiner Schüler eine unaufgeregte und sogar sinnstiftende Normalität darstellte, kocht die Empörung trans- und internationaler Kinderrechtsakteure darüber seit einigen Jahren hoch. »Ausbeutung im Namen der Ausbildung« titelte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch ihren Report im Jahr 2014, als »nicht tolerierbar[e]«, »schwere Kinderrechtsverletzung« und »demütigend« beschrieb Anti-Slavery (2011: 16, 2, 3) die Situation der bettelnden Talibé. Auch die politisch machtvollen Trafficking in Persons Reports der Vereinigten Staaten stellen sie alljährlich als Senegals bedeutendste Form des »Menschenhandels« ins Zentrum ihrer Berichterstattung. Die Kritik am Betteln (mendicité)2 der Talibé an sich ist nicht neu, sondern lässt sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen, als die französische Kolonialregierung die Koranschulen, daaras3 auf Wolof, im Zuge ihrer Kontroll- und Zivilisationsbemühungen einzudämmen versuchte. Die Koranschulen stellten die ersten institutionalisierten Bildungseinrichtungen in Senegal dar und wurden in den früh islamisierten Gebieten seit dem 11. Jahrhundert, verstärkt jedoch seit dem 19. Jahrhundert, von islamischen Reformkriegern und Sufi-Gelehrten, in Westafrika marabouts 2

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Ich verwende im Text neben dem deutschen auch den französischen Begriff der mendicité (das Betteln), der den senegalesischen Diskurs um die Talibé zentral prägt. Viele religiös-konservative Akteure jedoch lehnen den Begriff in diesem Kontext ab und sprechen stattdessen von einem »Bitten um Almosen« (»quête des aumônes«). Der etymologische Ursprung des Begriffs daara ist das arabische Wort dār für Haus. In Senegal bezeichnet die daara eine Koranschule nach klassischem Modell. Khadim Mbacké definiert diese daaras als Institutionen, in denen über Generationen hinweg und unter gemeinsamer Anstrengung des maître, der Talibé und ihrer Eltern eine islamische Ausbildung vermittelt wird (ders. 1994: 7 in PARRER et al. 2011: 44).

1. Einleitung

genannt, gegründet. Deren starker Rückhalt in der Bevölkerung konnte sämtlichen kolonialen Bestreben trotzen, das Koranschulwesen zugunsten der neuen staatlichen säkularen Schulen zurückzudrängen. Zudem war das sich im 20. Jahrhundert entwickelnde politisch-ökonomisch motivierte Austauschverhältnis zwischen marabouts und Kolonialregierung ausschlaggebend dafür, dass diese das Interesse an einem allzu restriktiven Umgang mit den Koranschulen bald verlor und den marabouts weitestgehend die Handlungsmacht über das islamische Bildungswesen überließ. Da die Koranlehrer bis heute nicht vom staatlichen Bildungsetat profitieren, aber auch von den Eltern der Talibé gemeinhin keinen hinreichenden Unterhalt erhalten, und die Koranausbildung Werte wie Bescheidenheit und Demut vermitteln will, hat sich das Betteln der Koranschüler in Senegal als existenziell und edukativ legitimierte Praktik etabliert. Es waren zunächst islamische Reformbewegungen, die Mitte des 20. Jahrhunderts die Kritik an den Lebensbedingungen der Talibé wieder aufgriffen, um die marabouts der Sufi-Bruderschaften zu schwächen. Auch der nun unabhängigen senegalesischen Regierung war das Betteln der Koranschüler, das infolge von Landfluchtprozessen in den Städten verstärkt sichtbar geworden war und die aufblühende touristische und wirtschaftliche Entwicklung des Landes zu beeinträchtigen drohte, seit Mitte der 1970er Jahre zunehmend ein Dorn im Auge. Erste, wenn auch wenig einschneidende staatliche Kritiken am Koranschulwesen erfolgten jedoch erst in den 1980er Jahren, als die Bande zwischen Regierung und marabouts Risse zu zeigen begannen (s. Kapitel 3). Einhergehend mit der UN-Kinderrechtskonvention (1989), die den Weg für umfassende globale Kooperationen im Bereich des Kinderschutzes ebnete, gerieten die bettelnden Talibé verstärkt ins Visier inter- und transnationaler Kinderrechtsakteure. Diese fokussierten zunächst hauptsächlich deren prekäre Lebensbedingungen (vgl. Perry 2004: 68-69; Wiegelmann & Naumann 1997: 286-287), bis sich einige Jahre nach Senegals Ratifizierung des UN-Protokolls zur »Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels« (2003) immer mehr die Interpretation der bettelnden Talibé als Opfer von Menschenhandel durchsetzte. Die Bekämpfung des Bettelns unter dem Vorzeichen des Menschenhandels war nicht nur mit neuen ökonomischen, politischen und interpretativen Ressourcen verbunden, sondern brachte auch einen Perspektivenwandel zum Ausdruck, in Zuge dessen sich der Fokus des globalen Kinderrechtsdiskurses von strukturellen, sozioökonomischen Themen zunehmend auf Formen interpersoneller Gewalt verlagert hatte (vgl. Poretti et al. 2014: 26). Auch wenn sich zum Teil verblüffende Parallelen zwischen vergangenen und aktuellen Diskursen gegen das Betteln erkennen lassen (vgl. Loimeier 2002: 133), hat sich die Reichweite der Kritik ebenso wie ihre politische Einbettung im Laufe des vergangenen Jahrhunderts verändert. Aus einer Besorgnis um die koloniale Ordnung und aus religionspolitischen Machtkämpfen seit den 1980er Jahren wurde ein transnationales »Kinderrechtsproblem«. Obwohl es sich bei den bettelnden Talibé also um

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ein Phänomen mit langer Vergangenheit handelt, unterliegt es stetig wandelnden politischen und gesellschaftlichen Sinngebungen. Gegenwärtig positionieren sich in Senegal vor allem der Staat, zivilgesellschaftliche Kinderrechtsakteure und religiöse Vertreter in den Kontroversen um die bettelnden Talibé, die versuchen, ihre teils überschneidenden, teils konkurrierenden Interessen und Deutungen durchzusetzen. Für den senegalesischen Staat ist das Betteln der Talibé in ein Spannungsfeld innen- und außenpolitischer Interessen eingebettet. Im Zeitraum zwischen 2009-2015, in dem meine Forschung stattfand, hingen zum Beispiel immense Summen US-amerikanischer Entwicklungsgelder im Rahmen des Millennium Challenge Account 4 unter anderem davon ab, bei den jährlichen Evaluierungen des staatlichen Engagements gegen Menschenhandel als Zeugnis einer »guten Regierungsführung« nicht unter eine bestimmte Bewertungsstufe zu fallen. Neben diesen außenpolitischen Anliegen üben senegalesische länderübergreifend vernetzte zivilgesellschaftliche Menschen- und Kinderrechtsakteure Druck auf ihre Regierung aus, um dem Betteln der Talibé ein Ende zu setzen. Sie wollen ihren Staat ebenso wie die »rückständige« (Land-)Bevölkerung gemäß transnational orientierten politischen und gesellschaftlichen Idealen »erziehen« (vgl. Geschiere et al. 2008: 1). Der senegalesische Staat hat aber auch ein eigenes Interesse, die vollständige Kontrolle über ein einheitliches nationales Bildungssystem zu erlangen und der heranwachsenden Generation »vermarktbare Fähigkeiten« (Loimeier 2002: 135 nach Launay 1992) und ein staatsbürgerliches Bewusstsein zu vermitteln. Jedoch kann sich der Staat innenpolitisch nicht erlauben, die religiöse Lobby des Landes, zum Beispiel die Koranlehrervereinigungen, die auf die Solidarität der gesellschaftlich einflussreichen marabouts der Sufi-Bruderschaften und weiter Bevölkerungsteile zählen können, mit einem allzu restriktiven Vorgehen gegen sich aufzubringen. Diese sogenannten großen marabouts zeigen oft eine ambivalente Haltung gegenüber dem Betteln der Talibé. Auch wenn sie selbst aufgrund ihrer privilegierten sozialen und ökonomischen Stellung in direkter Hinsicht wenig mit denjenigen ärmlichen Koranschulen zu tun haben, deren Talibé ihren Unterhalt durch Betteln verdienen müssen, verbindet sie als Nachkommen der Gründerväter der daaras ideologische und teils klientelistische Bande mit den betreffenden Koranlehrern. Zudem ermöglicht das Koranschulwesen außerhalb der staatlichen Kontrolle, den tradierten Weg islamischer Bildung und Sozialisation fortzuführen, auf dem ihr 4

Der Millennium Challenge Account (MCA) ist ein im Jahr 2004 von der US-amerikanischen Regierung aufgelegter weltweiter Entwicklungshilfefonds. Wirtschaftswachstum, Armutsbekämpfung und die Stärkung von Institutionen sind die wichtigsten Ziele des Fonds. Förderkriterien sind eine gute Regierungsführung, freie Wirtschaft und Investment in die Bevölkerung. In der Projektphase 2009-2015 unterzeichnete Senegal einen Vertrag über insgesamt 540.000.000 USD (ca. 484.000.000 EUR). Ein zweiter Fünfjahresvertrag über Investitionen in Höhe von insgesamt 600.000.000 USD wurde 2018 geschlossen (vgl. MCC 2019 [html]).

1. Einleitung

gesellschaftlicher Einfluss basiert (vgl. Loimeier 2001: 373-374). Dennoch sprechen sich viele marabouts gegen das Betteln der Talibé aus, das sie in seiner gegenwärtigen Form als nicht konform mit dem Islam betrachten und das den Ruf der Koranausbildung ernsthaft zu schädigen droht. Ebenso herrscht in der Allgemeinbevölkerung eine geteilte Meinung über die bettelnden Talibé. Die meisten betrachten sie zwar insbesondere in den Städten als ein »Problem«, schreiben die Verantwortlichkeiten jedoch unterschiedlichen Akteuren zu und befürworten oftmals andere Lösungsansätze als inter- und transnationale Kinderrechtsakteure.

Gegenstand und Perspektive Die gesellschaftlichen Kontroversen um die bettelnden Talibé sind Gegenstand dieser Untersuchung. Ich betrachte sie als ein prinzipiell offenes und historisch situiertes Diskursfeld, in dem staatliche, religiöse und zivilgesellschaftliche senegalesische wie ausländische Akteure »symbolische Kämpfe« austragen. Mit ihren unterschiedlichen Perspektiven und Interessen konkurrieren sie in sich zum Teil überschneidenden Diskursen, die implizit oder explizit miteinander in Verbindung stehen, um die Deutungshoheit über dieses Phänomen (vgl. Schiffauer 2000: 320). Damit nehme ich eine sozialkonstruktivistische Sicht auf die bettelnden Talibé ein und verstehe deren Bedeutung als emergent. Sie wird in spezifischen sozialen und politischen Kontexten diskursiv generiert und unterliegt einem permanenten Wandel. Ich beziehe mich in meiner Analyse auf den Zeitraum zwischen 2012 und 2015 mit einem Fokus auf die Jahre 2012 und 2013, in denen ich längere Feldforschungen in Senegal durchführte. Die Analyse ist dadurch zwar hinsichtlich der Aktualität der konkreten politischen Situation beschränkt, zeigt jedoch exemplarisch, wie ein bestimmter Ausschnitt der sozialen Realität vor dem Hintergrund zunehmender globaler Vernetzungen und konkurrierender Interessen zum Gegenstand umstrittener, mehrdeutiger und wandelbarer Interpretationen werden kann, die wiederum Teil weitreichenderer gesellschaftlicher Aushandlungskämpfe sind. Da es sich bei den bettelnden Talibé um Kinder handelt, die religiöse, staatlich nicht reglementierte Bildungseinrichtungen besuchen, überlappen in diesem Diskursfeld sich wechselseitig beeinflussende Diskursfelder um identitär stark aufgeladene Themen. Indem unterschiedliche Akteure, die jeweils an mehreren Diskursfeldern teilhaben können, um die Definitionshoheit über die »bettelnden Talibé« rivalisieren, rivalisieren sie auch um die Deutungsmacht über eine »gute« Kindheit, die »richtige« Ausübung des Islam oder die Rolle eines »modernen«, unabhängigen »Rechtsstaates«. Das Konzept des Diskursfeldes entlehne ich Werner Schiffauer, der es in Bezug auf konkurrierende Repräsentationen des Islam durch muslimische Gruppierungen in Deutschland entwickelte, um darunter eine »Arena« zu verstehen, in

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der »zahlreiche Akteure untereinander aushandeln, was der Islam ›ist‹« (Schiffauer 1998: 419). Damit wandte er sich in einer radikal konstruktivistischen und agnostischen Perspektive gegen alle essentialistischen Definitionen des Islam (vgl. Schiffauer 1998: 420). Um ihre Sichtweise innerhalb eines Diskursfeldes als »Wahrheit« etablieren zu können, ist es für die beteiligten Akteure nach Schiffauer wesentlich, von einer möglichst großen Anzahl von Personen als Sprecher anerkannt zu werden. Dafür müssen sie überzeugende Repräsentationen entwerfen und inszenieren sowie versuchen, ihre jeweiligen Adressaten von konfligierenden Deutungsmustern zu entfremden (vgl. Schiffauer 2000: 321-322). Die sozialen Gruppierungen existieren häufig nicht a priori, sondern konstituieren sich erst über die gemeinsame Anerkennung bestimmter Auslegungen und stehen innerhalb des Diskursfeldes unterschiedlich »nah« oder »entfernt« zueinander (vgl. Schiffauer 1998: 420, 423). Nach Schiffauer teilen sie sich in Anlehnung an Ludwig Wittgenstein »Familienähnlichkeiten«, sind also nicht durch ein einziges durchgängiges Merkmal, aber dennoch durch bestimmte Gemeinsamkeiten direkt oder indirekt miteinander verbunden (vgl. Schiffauer 2000: 325). Das Konzept des Diskursfeldes betont somit die Brüche und Inkonsistenzen der auf einen bestimmten Gegenstand bezogenen Deutungen, indem sich unterschiedliche Akteure zum Beispiel auf dieselben Erzählungen berufen – bei Schiffauer auf Überlieferungen über den Propheten Mohammed –, diese jedoch mit variierenden Sinngebungen versehen (vgl. Schiffauer 2000: 324-325). Schiffauers theoretische Grundlage bilden die Diskursanalyse Foucaults und Bourdieus Konzept des Sozialen Raums beziehungsweise des Symbolischen Kampfes, die er miteinander verknüpft (vgl. Schiffauer 2000: 319). Nach Foucault bestehen Diskurse aus einer Menge an Aussagen, in denen sich Regelmäßigkeiten bezüglich ihrer Objekte, Themen und Begriffe erkennen lassen (vgl. Foucault 1988 [1969]: 58). Sie bilden als Praktiken die Gegenstände, von denen sie sprechen (vgl. Foucault 1988 [1969]: 74). Diskurse zeichnen sich also durch spezifische Regeln der Bedeutungserzeugung und durch sie stabilisierende Praktiken aus, die mit den ihnen zugrunde liegenden Denk- oder Deutungsschemata verbunden sind (vgl. Keller 2011a: 133; ders. 1997: 314). Die wirklichkeitskonstituierenden Effekte von Diskursen objektivieren und institutionalisieren sich in einer materiellen und ideellen Infrastruktur, dem Dispositiv. Dieses ist sowohl Voraussetzung für als auch Konsequenz von Diskursen. Es umfasst ein »heterogenes Ensemble« von Elementen – zum Beispiel Institutionen, Gesetze oder architektonische Formen – und stellt die Schnittstelle dar, an der diskursive Praktiken mit tradierter gesellschaftlicher Praxis in eine Wechselbeziehung treten (vgl. Foucault 1978: 119). Das Zusammenspiel von diskursivem und außer-diskursivem Handeln spielt im Kontext der bettelnden Talibé eine wichtige Rolle, indem inkorporiertes Wissen wie die Almosengabe oder bestimmte Erziehungspraktiken zunehmend zum Gegenstand von Diskursen wird und gleichzeitig selbst die Art und Weise prägt, wie diese Diskurse real

1. Einleitung

wirkmächtig werden. Ich stelle daher zwar die Diskurse um die bettelnden Talibé in den Fokus, betrachte jedoch auch das implizite Praxishandeln von Akteuren (z.B. Reckwitz 2003: 291-292). Dieses bildet eine »relativ eigensinnige Wirklichkeitsebene mit eigenen Dynamiken« (Keller 2011a: 138), steht aber über das Dispositiv und die Akteure selbst in einem untrennbaren Bezug zu unterschiedlichen Diskursen. Die Rolle der Akteure bezieht Foucault in seine diskurstheoretischen Überlegungen nur unzureichend mit ein und vernachlässigt, dass sich ein Diskurs nicht selbst vollzieht, sondern im praktischen, sozialen Handeln durch Personen produziert, reproduziert und transformiert wird (vgl. Keller 2011a: 146). Daher gelingt es ihm nicht, das Verhältnis zwischen Diskursen und anderen Ebenen des Sozialen, die Transformation von Diskursen oder Brüche zwischen und innerhalb von Wissensordnungen zu theoretisieren (vgl. Keller 2010: 72). Hier bietet Bourdieus Konzept eines dynamischen sozialen Raums eine Ergänzung, das die relationale Stellung einzelner Akteure in der sozialen Wirklichkeit in den Fokus rückt. Diese Stellung, die sich durch eine bestimmte Konstellation eines kulturellen, sozialen und ökonomischen Kapitals definiert, ist mit einem jeweils spezifischen, sozial inkorporierten Habitus verbunden und prägt den Lebensstil einer Person (vgl. Bourdieu 1982: 188). Abhängig von ihrer Stellung innerhalb des sozialen Raums positionieren sich Akteure wiederum in den symbolischen Kämpfen, in denen unterschiedliche Gruppen konkurrierende Repräsentationen der Wirklichkeit durchzusetzen versuchen (vgl. Bourdieu 1992: 148-151; vgl. Keller 2011b: 37). Indem Schiffauer die Ansätze Foucaults und Bourdieus zusammenführt, kann er die soziale und institutionelle Einbettung von Diskursen stärker herausarbeiten (vgl. Keller 2011b: 38) und konkret die Beziehung zwischen verschiedenen Diskursen, die Praxis des Verfertigens der Diskurse und des Machens von Repräsentationen sowie die Konstruktion von Kollektiven, Institutionen und Organisationen als Träger von Diskursen hervorheben (vgl. Schiffauer 2000: 319). Übertragen auf die bettelnden Talibé stellt das Konzept des Diskursfeldes die Vieldeutigkeit und Dynamik dieses Phänomens in den Vordergrund, das auf verschiedene Weise problematisiert oder plausibilisiert wird und wandelnde Aufmerksamkeitskonjunkturen erfährt. Eine wesentliche Rolle spielt, dass sich die Deutungsmöglichkeiten vor dem Hintergrund wachsender inter- und transnationaler politischer und gesellschaftlicher Verflechtungen vergrößert haben, was sich staatliche, zivilgesellschaftliche und religiöse Akteure für ihre Zwecke zunutze machen. Aus meiner diskursanalytischen Perspektive gelten transnational etablierte ebenso wie lokale Interpretationen der sozialen Wirklichkeit als epistemologisch, kulturell und politisch gebunden und prinzipiell gleichermaßen legitim. Gesellschaftlich dominierende Vorstellungen über die bettelnden Talibé werden nicht als objektive Tatsachen betrachtet, sondern als Ergebnisse »erfolgreicher« Repräsentationen machtvoller Akteure des Diskursfeldes (vgl. Schiffauer 2000: 321-322).

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Gegenwärtig hat die Repräsentation der bettelnden Talibé als ein Kinderrechtsproblem innerhalb dieses Diskursfeldes eine besonders große Anhängerschaft. Eine Vielzahl inter- und transnationaler, senegalesischer wie ausländischer Kinderrechtsakteure engagiert sich gegen das Betteln der Talibé und beruft sich dabei auf die Konventionen, die Senegal in diesem Zusammenhang ratifiziert hat. Dies führt dazu, dass transnationale Muster der Interpretation und Verrechtlichung von Kindheit in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und sozialen Konstellationen mit soziokulturell und religiös tradierten Vorstellungen von Sozialisation ausgehandelt werden. Solche Prozesse stehen im Zentrum meiner Analyse. Sie sind in weitere Fragestellungen eingebettet, insbesondere mit welchen Interessen zivilgesellschaftliche, staatliche und religiöse Akteure den bettelnden Talibé durch flexible Interpretations- und Handlungsmuster wandelnde und variierende Bedeutungen zuschreiben, wie sie sich aufeinander beziehen und welche tiefer reichenden gesellschaftlichen Macht- und Deutungskämpfe sich hinter der gegenständlichen Ebene der Kontroversen verbergen. Mit der Untersuchung möchte ich einen Beitrag zu einem Forschungsdiskurs leisten, der sich damit auseinandersetzt, auf welche Weise und mit welchen Konsequenzen transnationale Kindheitskonzepte und lokale soziokulturelle Praktiken in Westafrika miteinander in Verbindung gesetzt werden. Im Kontext der bettelnden Talibé haben zum Beispiel bereits Jónína Einarsdóttir und Hamadou Boiro (2016: 7-8; vgl. auch Höchner 2015: 11-12) dargelegt, dass das entbehrungsreiche Koranstudium weit entfernt von ihrem Herkunftsdorf aus der Sicht der Talibé und ihrer Eltern selbst oft mit Chancen und nicht mit »Misshandlung« oder »Ausbeutung« in Zusammenhang gebracht wird und dass viele Eltern es als stigmatisierend empfinden, wenn Kinderrechtsorganisationen ihre Kinder als »Opfer von Menschenhandel« klassifizieren und zu ihnen »zurückbringen«. Rudolph T. Ware (2004: 537) und Donna Perry (2004: 78) schlussfolgerten nach einer soziohistorischen Kontextualisierung des Phänomens und der Einbeziehung lokaler Sichtweisen, dass die Kritik am Betteln und an den harten Lebensbedingungen der Talibé vor allem eine Orientierung an einem transnationalen, westlich geprägten Kindheitskonzept widerspiegelt und diese Erziehungspraktiken in Kontinuität mit den Werten der Disziplin und Demut stehen, welche die daaras seit jeher vermitteln wollen. Auch wenn die erwähnten Forschungen ebenso die kontroversen Diskurse verschiedener Akteure um die Talibé thematisieren, betonen sie in erster Linie die Diskrepanz zwischen lokalen und transnationalen Deutungsmustern und schärfen das Verständnis für die Koranausbildung als soziokulturelle und religiöse Erziehungstradition. Mir geht es stärker darum, die bettelnden Talibé als Politikum zu untersuchen, das keine feste »Gestalt« besitzt. Es wird vor dem Hintergrund konfligierender Interessen und Perspektiven von unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteuren diskursiv generiert, indem sie in ihren jeweiligen Kommunikations- und

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Handlungsansätzen lokale und transnationale Konzepte verschieden interpretieren und aufeinander beziehen. Diese politische Dimension kommt auch in historischen Arbeiten (z.B. Loimeier 2001; Coulon 1981; Cruise O’Brien 1967) zum Verhältnis zwischen (post-)kolonialem Staat und religiösen Akteuren in Senegal zur Geltung. Roman Loimeier (2001) zeigt zum Beispiel, wie die bettelnden Talibé in den religionspolitischen Machtkämpfen des 19. und 20. Jahrhunderts zwischen (post-)kolonialem Staat, marabouts und islamischen Reformisten instrumentalisiert wurden. Meine ethnografische und diskursanalytisch ausgerichtete Untersuchung stellt weniger eine Analyse solcher makropolitischer Entwicklungen in den Vordergrund, sondern schenkt der sozialen Praxis und der Bedeutungsproduktion in Mikrokontexten, die mit übergeordneten gesellschaftlichen Zusammenhängen in Bezug gesetzt werden, eine größere Beachtung. Indem sie insbesondere der Frage nachgeht, wie transnational vernetzte zivilgesellschaftliche Kinderrechtsakteure mit staatlichen und religiösen Akteuren um die Deutungs- und Handlungsmacht über die bettelnden Talibé rivalisieren, nimmt sie zudem eine veränderte gesellschaftspolitische Konstellation und die damit einhergehenden neuen diskursiven Ressourcen und Schwerpunkte in den Blick.

Die bettelnden Talibé als kontroverses Kinderrechtsproblem Die Empörung transnationaler Kinderrechtsakteure über die Lebensbedingungen der Talibé basiert auf einer global machtvollen Vorstellung von Kindheit als eine streng vom Erwachsenenalter getrennte, sorgenfreie, ökonomisch unproduktive und durch die Nuklearfamilie beschütze, aber gleichermaßen kontrollierte Lebensphase. Kinder gelten danach als »unreife«, sich entwickelnde Wesen, denen sowohl wesentliche Kompetenzen und Fähigkeiten Erwachsener abgesprochen als auch besondere Bedürfnisse zugestanden werden (vgl. Boyden & Levison 2000: 24). Dieses Ideal einer universellen Kindheit aber entstand im spezifischen historischen und kulturellen Kontext Europas und Nordamerikas des 19. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und ideologischen Interessen, die mit der Industrialisierung einhergingen (z.B. Boyden 1997: 189-192; Hendrick 1990: 36; Zelizer 1985: 62). Seit den 1970er Jahren rückt die Kindheitsforschung und -politik zwar verstärkt die agency, die Handlungsmacht, von Kindern in den Fokus (vgl. Bluebond-Langner & Korbin 2007: 242-244), dennoch werden sie nach wie vor gemeinhin als passiv, abhängig und verletzlich (z.B. O’Connell Davidson 2011: 462463; Manzo 2005: 395), aber gleichzeitig als die »Zukunft« einer Gesellschaft betrachtet (z.B. Shaw 2014: 308; Diouf 2003: 3-4). Aufgrund dieser Zuschreibungen stehen Kinder im Zentrum des transnationalen humanitären Diskurses und stellen ideale »Opfer« und verdiente Empfänger von Hilfeleistungen dar (z.B. Slim

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1994: 189; Malkki 2010: 64-67; Merry 2007: 195). »Kinderuntypische Kinder« (Aitken 2001: 123) hingegen wie zum Beispiel »Straßenkinder« werden nicht nur als »gefährdet«, sondern selbst als »Gefahr« für die Gesellschaft wahrgenommen (z.B. Ennew & Swart-Kruger 2003: 84) und abweichende Sozialisationspraktiken, etwa die »Arbeit« von Kindern oder deren Aufwachsen außerhalb der Herkunftsfamilie, oft pathologisiert oder kriminalisiert (z.B. Howard & Morganti 2015: 92; Robson 2005: 79-80; Boyden 1997: 203-205). Die Art und Weise, wie über Kindheit gedacht wird, impliziert also stets kulturelle Auffassungen über das Menschsein, über Moral und soziale Ordnung (vgl. Sheper-Hughes & Sargant 1998: 1-2) und kann als Pars pro Toto für eine übergeordnete gesellschaftliche Vision gelten. Auch internationalen Verträgen wie der UN-Kinderrechtskonvention (1989) und dem sogenannten Palermo-Protokoll zur »Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels« (UN 2000), die im Laufe der 2000er-Jahre die wichtigsten Referenzen für inter- und transnationale Maßnahmen gegen das Betteln der Talibé darstellten, ist dieses westlich fundierte Kindheitskonzept inhärent. Diese Dokumente vermitteln eine Vorstellung von Kindheit als biologisch definierte Lebensphase und lassen deren soziokulturell konstruierten Charakter weitgehend außer Acht (vgl. Ennew 2000 [html]; Boyden 1997: 194). International legitimierte Konzepte wie universelle »Kinderrechte« müssen daher als machtvolle politische Instrumente verstanden werden, die von der Geschichte und Kultur eines spezifischen Kontexts geprägt sind und eine bestimmte Weltsicht zum Ausdruck bringen. Dies wird allerdings hinter einer neutralen und rationalen Sprache verborgen, um eine globale Gültigkeit zu suggerieren (vgl. Shore & Wright 1997: 7-9; Cowan et al. 2008: 11-13). So entsprechen zentrale Ideen des Menschen- beziehungsweise Kinderrechtsansatzes, insbesondere der Begriff des Individuums, das Primat von Rechten gegenüber Pflichten oder Bedürfnissen und dessen legal-technisches anstatt ethisch fundiertes Verständnis von Leiden (vgl. Cowan et al. 2008: 12) in vieler Hinsicht nicht den pädagogischen Prinzipien, auf denen die senegalesische Koranausbildung basiert. Während aus einer Kinderrechtsperspektive Kinder als individuelle Subjekte und als Träger umfassender Schutz-, Versorgungs- und Partizipationsrechte gelten (vgl. Messer 1993: 228), geht die Koranausbildung in Senegal auf ein Erziehungskonzept zurück, nach dem Kinder erst durch das Verinnerlichen des Wortes Gottes zu vollständigen Menschen und muslimischen Gemeinschaftsmitgliedern werden (z.B. Last 2000: 376; Ware 2014: 70). Es betrachtet das religiöse Wissen als Voraussetzung für den Erwerb jeglicher weiterer säkularer Wissensformen und strebt nicht die Vermittlung spezifischer berufspraktischer Fähigkeiten an, sondern die Ausbildung eines holistischen Persönlichkeitsideals (z.B. Eickelman 1978: 495-496; Boyle 2006: 489-490). Die »koranische Pädagogik« (Fortier 2003) ist von einem Leitwert der körperlichen und geistigen Disziplin geprägt, der sich in

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ihrem zentralen Ziel, den gesamten Koran rezitieren zu erlernen, reflektiert, aber auch in einfachsten Lebensbedingungen, körperlicher Züchtigung als Erziehungsmittel und der Aufgabe, durch das Bitten um Almosen den Unterhalt der daara zu sichern (z.B. Boyle 2006: 487-490; Ware 2014: 49). Dementsprechend sehen viele Eltern der Talibé die mit der harten Koranausbildung einhergehenden Leiden als untrennbar mit dem Erwerb von Wissen verbunden und als Möglichkeit für ihre Kinder, sozialen Status, Bildung und Chancen zu gewinnen und nicht wie aus einer Kinderrechtsperspektive als etwas, wovor es sie in jedem Fall zu bewahren gilt (z.B. Höchner 2015: 11-12; Perry 2004: 78; Einarsdóttir & Boiro 2016: 7-8). Ebenso steht die Tatsache, dass die bettelnden Talibé den Koran nicht im eigenen Herkunftsdorf erlernen und einem Koranlehrer anvertraut werden, gegenwärtig zwar in der Kritik inter- und transnationaler Kinderrechtsakteure, stellt jedoch eine Form der in Westafrika lang zurückreichenden und weit verbreiteten Erziehungspraktik der confiage5 dar. Diese bezeichnet die temporäre oder dauerhafte Weggabe eines Kindes in einen anderen Haushalt aus sozialen, ökonomischen oder edukativen Motiven und bringt zum Ausdruck, dass nicht nur die biologischen Eltern Erziehungsrechte an einem Kind geltend machen können, sondern die ganze familiäre und dörfliche Gemeinschaft (vgl. Alber 2014: 91, 222). Während die meisten Kinderrechtsakteure das Betteln der Talibé strikt ablehnen, nehmen viele religiös-konservative Akteure daher eine andere Sichtweise auf die Bedeutung einer »guten« Kindheit ein. Sie gewichten den Stellenwert einer islamischen Ausbildung und die Verinnerlichung bestimmter sozial erwünschter Werte höher als die individuellen »Rechte« von Kindern auf körperliche Unversehrtheit oder auf einen »angemessenen« Lebensstandard (vgl. UN 1989, Art. 19, 21). Da das Betteln der Talibé ein Koranschulsystem ohne staatliche Einflussnahme und damit die einzige rein religiöse Ausbildungsform in Senegal gewährleistet, antizipieren viele Koranlehrer und marabouts in dessen Bekämpfung unvorteilhafte politische und epistemologische Veränderungen und fürchten um ihre religiöse Deutungsmacht und ihren gesellschaftlichen Einfluss (vgl. Loimeier 2001: 373-374; Brenner 2001: 7). Aber auch unter großen Teilen Senegals überwiegend muslimischer Bevölkerung haben repressive Politiken gegenüber den Koranschulen einen schweren Stand, die als älteste Bildungsinstitutionen und Gegengewicht zu den staatlichen, kolonial geprägten säkularen Schulen eine wichtige religiöse und soziokulturelle Bedeutung innehaben. Hinzu kommt, dass die marabouts von vielen als religiöse Respektspersonen verehrt werden und die sozioreligiöse Praxis der Almosengabe

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Ich verstehe »confiage« als feststehenden Begriff. Im Gegensatz zu Erdmute Alber (2014: 13) entscheide ich mich gegen eine Übersetzung als »Kindspflegschaft«, um die problematisierende medizinisch-rechtliche Konnotation, die dieser ohnehin konstruiert wirkende Begriff im deutschen Kontext hervorruft, zu vermeiden und nicht unterschwellig zu einer negativen Imagination der Institution der confiage beizutragen.

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gesellschaftlich stark verankert ist. Der senegalesische Staat wiederum gilt zwar als »Musterschüler«, was die umgehende Unterzeichnung internationaler Konventionen und Abkommen betrifft und setzt sich dadurch außenpolitischen Kontrollund Druckmitteln aus, zeigt sich aufgrund der innenpolitischen Macht der marabouts jedoch zögerlich, konsequent gegen das Betteln der Talibé vorzugehen. Der – in Randerias (2006: 229) Worten – »listige« Staat passt sein politisches Handeln flexibel temporär wandelnden außen- oder innenpolitischen Anliegen an. Für die Machtverhältnisse innerhalb des Diskursfeldes um die bettelnden Talibé spielt eine wesentliche Rolle, dass in Senegal der Staat keine alleinige und vertikale Souveränität ausübt, sondern diese mit lokalen, insbesondere religiösen, und inter- und transnationalen Autoritäten teilt. Zwar gilt für alle gegenwärtigen Gesellschaften, dass sie von einem »Rechtspluralismus« geprägt sind, indem sich unterschiedlich machtvolle, lokale, nationale und transnationale Rechtsordnungen überlappen, aber auch gegenseitig konstituieren (vgl. Merry 1992: 358), jedoch trifft dies in besonderer Weise für postkoloniale Gesellschaften zu (vgl. Comaroff & Comaroff 2006: 35; Hansen & Stepputat 2006: 295; Randeria 2006: 254). In Senegal haben einerseits historisch bedingt die marabouts und etablierte religiöse Vorgaben ein großes politisches und gesellschaftliches Gewicht, während staatliche Gesetze von der Bevölkerung häufig als außenpolitisch motiviert und soziokulturell entkoppelt wahrgenommenen werden. Andererseits können inter- und transnationale Politiken, die oft an wirtschaftliche Interessen geknüpft sind, zunehmend Einfluss ausüben. Vor allem zivilgesellschaftliche Akteure machen sich zunutze, dass sie durch supra- und internationale Rechtsordnungen und Verbindungen zu einer global vernetzten ressourcenstarken Zivilgesellschaft die Souveränität des Staates zu umgehen und (partiell) auszuhöhlen sowie sich staatliche Machttechniken anzueignen in der Lage sind (vgl. Randeria 2007: 27-28; Appadurai 2001: 42), sie sich aber auch mit dem Staat zu ihrem beiderseitigen Vorteil zu alliieren vermögen. Dieses »fragmentierte Autoritätssystem« (Hansen & Stepputat 2006: 306) trägt wesentlich dazu bei, dass sich trans- und internationale Konzepte zu Kindheit und Bildung nicht unilateral auf die bettelnden Talibé beziehen lassen, sondern an soziokulturelle Realitäten und Bedeutungsgebungen angepasst und mit konkurrierenden Referenzen für Recht und Gerechtigkeit ausgehandelt werden müssen. Daher bietet sich der Ansatz der Übersetzung für meine Analyse an, der die Idee ablehnt, globale Konzepte würden unverändert in einem Top-down-Prozess in lokale Kontexte implementiert (vgl. Latour 1986: 266-269; Merry 2006b: 39). Durch den breiten Deutungsspielraum und die sensible soziopolitische Einbettung des Phänomens der bettelnden Talibé erweisen sich Übersetzungsprozesse als essenziell, um konfligierende Interpretationen in unterschiedlichen sozialen Umgebungen anschlussfähig zu machen. Der Blick darauf, wie universelle Konzepte wie Menschen- beziehungsweise Kinderrechte mit lokalen Denk- und Handlungsmustern in Bezug gesetzt werden, bringt so ihr »soziales Leben« (Wilson 2006: 3) zum

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Vorschein. Trotz bestimmter grundlegender Prinzipien wie ein säkulares, egalitäres und individuelles Menschenbild entpuppen sie sich als ideologisch vage und lassen Raum für eine große Bandbreite an teils widersprüchlichen Auslegungen und politischen Forderungen (vgl. Wilson 2006: 78). Universelle Konzepte werden mit Anna Tsing (2005: 5) erst praktisch wirksam, indem sie über »Reibungen« in Interaktionsprozessen Veränderungen erfahren und zu »neuen Arrangements von Kultur und Macht« führen. Sally Engle Merry (2006a, b), auf die ich mich zentral beziehe, untersucht die vielfältigen diskursiven Strategien, mit denen Akteure transnationale Ideen wie Menschenrechte und lokale Deutungs- und Handlungsweisen in spezifischen Kontexten wechselseitig aneinander anpassen (vgl. auch Rottenburg 2002: 15-17; Bierschenk et al. 2002: 21-22; Mosse 2004: 663-665). Diese »Übersetzer« oder »Vermittler« zeichnet aus, dass sie sowohl mit transnationalen als auch mit lokalen Wissensformen vertraut sind und selbst den verschiedenen sozialen Milieus meist ambivalente Loyalitäten entgegenbringen. Vertreter lokaler NGOs, die mit transnationalen Organisationen kooperieren und gleichzeitig ihre Projekte in lokalen, häufig konservativ geprägten Milieus in die Praxis umsetzen müssen, nehmen zum Beispiel typischerweise die Rolle solcher »Vermittler« ein. Sie orientieren sich unterschiedlich stark an transnationalen und lokalen Konzepten, sind aber stets an ungleiche Machtverhältnisse gebunden, da manche Diskurse ökonomisch und politisch einflussreicher sind als andere. Soziale Probleme werden daher von den vermittelnden Akteuren oft in bestimmte transnational etablierte Begriffe gefasst, auch wenn sie selbst andere Interpretationslogiken bevorzugen würden (vgl. Merry 2006b: 49). Sämtliche Ausschnitte des Diskurs- und Praxisfeldes um die bettelnden Talibé, die ich untersuche, sind von solchen vielschichtigen Formen der Übersetzung und Inbezugsetzung transnationaler und lokaler Deutungs- und Handlungsmuster durchzogen. Diese Prozesse finden unterschiedlich explizit und gezielt statt und sind, abhängig vom Kontext und den beteiligten Akteuren, entweder stärker von transnationalen oder von lokalen Ideen geprägt. Sie zeigen sich in den variierenden Kommunikationsstrategien zivilgesellschaftlicher Kinderrechtsakteure gegenüber trans- und internationalen Organisationen, dem Staat und der Landbevölkerung, aber auch in informellen diskursiven Einbettungen, mittels derer verschiedene Akteure divergierende Interpretationslogiken kombinieren und so konfligierende identitäre Rollen in Einklang bringen. Das Projekt der »Modernisierung« der Koranschulen, das gegenwärtig auf der politischen Agenda des senegalesischen Staates steht, stellt ein Beispiel par excellence dar, wie dieses Konzept dank seiner ambivalenten Konnotationen gegenüber religiös-konservativen und trans- und internationalen Akteuren mit unterschiedlichen Bedeutungsgebungen versehen werden kann. Im Kontext der direkten humanitären Unterstützung für die Talibé wird deutlich, wie transnationale Akteure und Koranlehrer über wenig kontroverse materielle oder medizinische Hilfen ihre abweichenden Vorstellungen von Kindheit

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in Einklang bringen. In der alltäglichen Praxis des staatlichen Kinderheims für geflohene Talibé und »Straßenkinder«, in dem ich eine mehrwöchige teilnehmende Beobachtung durchführte, kam wiederum zum Ausdruck, dass die Mitarbeiter de facto an lokalen Erziehungspraktiken festhielten, sie jedoch strategisch in die Sprache des transnationalen Kinderrechtsdiskurses übersetzten. Lokale und transnationale Deutungs- und Handlungsmuster stehen somit in diesem Diskurs- und Praxisfeld in einer komplexen Wechselbeziehung und werden von unterschiedlichen Akteuren situationsbedingt auf verschiedene Weise miteinander verknüpft. Wie im Akteur-Netzwerk-Ansatz (vgl. Callon 1986: 196-224; Latour 1996: 369-380) hervorgehoben, nehmen dabei neben semiotischen auch materielle Entitäten als Teil des Sozialen Einfluss. Ich werde im Verlauf der Analyse zeigen, inwiefern die dahinterstehenden Anliegen über die konkrete gegenständliche Ebene der Kontroversen hinausgehen, aber auch, zu welchen unintendierten Folgen und scheinbar widersprüchlichen Konstellationen solche Übersetzungen mitunter führen.

Ausblick auf die Kapitel Um sowohl die politische Brisanz als auch den großen Deutungsspielraum aufzuzeigen, welche die gegenwärtigen Kontroversen um die bettelnden Talibé prägen, stelle ich im nachfolgenden zweiten Kapitel den transnationalen Diskurs um Menschenhandel in Senegal in den Fokus, der zu meiner Forschungszeit wegweisend für zentrale Maßnahmen gegen das Betteln der Talibé war. Ausgehend von der politischen Institutionalisierung dieses Diskurses interessieren hier insbesondere die Übersetzungen der bis dahin unvertrauten Kategorie des Menschenhandels durch unterschiedliche senegalesische Akteure und deren kontroverse Inbezugsetzung zu den bettelnden Talibé. Dabei untersuche ich die komplexen und teils ambivalenten Wirkungen, die der Diskurs dadurch entfaltet, dass er zum einen an machtvolle politische und ökonomische Ressourcen gebunden ist, seine Interpretationsmuster jedoch stark kriminalisierend und assoziativ aufgeladen sind. Das dritte Kapitel nimmt eine historische Perspektive auf die bettelnden Talibé ein und setzt damit einen Kontrapunkt zu der ahistorischen Logik, die dem normativen Rechtsbegriff des Menschenhandels inhärent ist. Die Darstellung des historischen Hintergrundes dient aber in erster Linie einer Kontextualisierung der gegenwärtigen Kontroversen, die im Fokus der Arbeit stehen. Das Kapitel zeichnet vor allem die gesellschaftliche Bedeutung der marabouts als Gründerväter der daaras im kolonialen Senegal und die Dynamik des Austauschverhältnisses zwischen religiöser und (kolonial)staatlicher Elite nach, das sich im frühen 20. Jahrhundert zu etablieren begann und sich noch heute auf den politischen Umgang mit den Koranschulen auswirkt.

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Das nachfolgende vierte Kapitel legt die multiplen, teils konfligierenden, teils überlappenden diskursiven Register offen, die die gegenwärtigen Kontroversen um die bettelnden Talibé wesentlich prägen und mittels derer sich die Problematik jeweils auf eine bestimmte Art und Weise konstruieren und repräsentieren lässt. Nur manche dieser diskursiven Register sind eindeutig definierten Akteursgruppen zuzuordnen. Für viele erweist es sich gerade als kennzeichnend, dass sie von unterschiedlichen Akteuren, die oft konkurrierende identitäre Rollen miteinander aushandeln müssen, je nach Kommunikationskontext flexibel und inkonsistent eingesetzt werden. Im Gegensatz zu solchen gesellschaftlich diffundierenden Interpretationsmustern diskutiert das fünfte Kapitel die gezielten Kommunikationsstrategien transund international vernetzter Kinderrechtsakteure gegen das Betteln der Talibé, die sie besonders explizit als »Übersetzer« unterschiedlicher Denk- und Handlungslogiken in Kontexten ungleicher Machtverhältnisse (vgl. Merry 2006b: 40) in Erscheinung treten lassen. Dabei zeigt sich, dass sie wechselnde temporäre Allianzen eingehen und auf aufwändige kommunikative Dramaturgien mit teils widersprüchlichen Logiken und Rhetoriken zurückgreifen, um ihrer gesellschaftlichen Rolle als »Erzieher« des Staates einerseits und der Landbevölkerung andererseits gerecht zu werden und kulturelle Deutungs- und politische Einflussmacht auszuüben. Die Kommunikations- und Handlungsansätze der Afrikanischen Kinderund Jugendarbeiterbewegung (MAEJT) stellen dagegen ein Beispiel für ein Engagement zugunsten der Talibé aus einer geringen sozialen Distanz und einer stärker lokal ausgerichteten Perspektive dar. Das sechste Kapitel betrachtet den Umgang mit dem Betteln der Talibé als humanitäre Problematik. Im Gegensatz zu den vorherigen Kapiteln stehen weniger Ansätze im Vordergrund, die einen langfristigen politischen oder soziokulturellen Wandel anstreben, sondern den Talibé unmittelbare gegenständliche »Hilfen« anbieten. Auch diese Unterstützungsformen geben Aufschluss über ihre jeweiligen ideologischen Prämissen. Sie bringen eine spezifische Sichtweise auf die Problematik, insbesondere auf die Koranlehrer, aber auch auf Kindheit zum Ausdruck. Dabei schärfe ich den Blick für die Machtverhältnisse und Subjektkonstruktionen, die durch solche humanitären Geber-Empfänger-Verhältnisse, oft performativ, (re)produziert werden und zeige die komplexen sozialen Verstrickungen und Interessenslagen zwischen Gebern und Empfängern auf. Das siebte Kapitel beleuchtet zunächst das ambivalente diskursive Verhältnis zwischen den Kategorien der »bettelnden Talibé« und der »Straßenkinder«. Da es sich bei einem hohen Anteil der »Straßenkinder« um Talibé handelt, die aus ihrer Koranschule geflohen sind, und weil sich die Unterscheidung zwischen »Straßenkind« und »Talibé« selbst als kontrovers und uneindeutig erweist, wird deutlich, wie solche Kategorisierungen vor dem Hintergrund unterschiedlicher Interessen und Perspektiven konstruiert und mit wandelnden, teils widersprüchlichen, iden-

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titären Zuschreibungen verknüpft werden. Anschließend analysiere ich, wie durch das Konzept und die Praxis der familiären »Wiedereingliederung« von »Straßenkindern« transnationale und lokale normative Vorstellungen von Kindheit miteinander in Bezug gesetzt und (re)produziert werden. Das achte und letzte Kapitel zeichnet schließlich das kontroverse Projekt der staatlichen »Modernisierung« der Koranschulen nach. Dieser Diskurs ist zwar nicht unmittelbar durch den Diskurs um Menschenhandel entstanden, wurde aber durch diesen maßgeblich befördert, da konkurrierende außen- und innenpolitische Kräfte eine Zwangslage geschaffen hatten, die es erforderte, gegen das Betteln der Talibé vorzugehen, ohne einen allzu kriminalisierenden Ansatz zu verfolgen. Da eine »Modernisierung« der daaras in der senegalesischen Bevölkerung großen Anklang findet, sich hinter der breiten Zustimmung jedoch unterschiedliche Vorstellungen einer solchen verbergen, betrachtet das Kapitel zunächst die ambivalenten Assoziationen, mit denen der Konzeptbegriff der daara moderne verknüpft wird. Die anschließende Analyse der Kontroversen um einen Gesetzesentwurf zur »Modernisierung« der daaras aus dem Jahr 2014 soll zeigen, mit welchen pädagogischen und epistemischen Veränderungen die staatliche Vision einer daara moderne verbunden ist, aber auch, wie sich das Macht- und Beziehungsverhältnis zwischen staatlicher und religiöser Elite in der aktuellen politischen Praxis konstituiert.

Methodik Die Untersuchung basiert auf einer insgesamt fünfzehnmonatigen ethnografischen Feldforschung (vgl. Malinowski (2002 [1922]: 5-19), die ich hauptsächlich in Dakar und in anderen urbanen Gegenden Senegals durchführte. Auf eine vierwöchige explorative Sondierungsreise im Dezember 2011 folgten zwei jeweils siebenmonatige Feldphasen in den Jahren 2012 und 2013. Um einen analytischen Zugang zu den vielschichtigen Kontroversen um die bettelnden Talibé zu erhalten, setzte ich mich mit dem Forschungsgegenstand im Sinne einer multi-sited ethnography nach George Marcus (1995: 97-98) multiperspektivisch auseinander. Nach der Identifikation derjenigen gesellschaftlichen Bereiche und Akteure, die in das Diskursfeld um die Talibé eingebunden waren, untersuchte ich in unterschiedlichen Beziehungskonstellationen und Verfahren der Materialgewinnung deren jeweils spezifische Interpretations- und Handlungsmuster. Teilstrukturierte leitfadengesteuerte Interviews, informelle Gespräche und die Protokollierung öffentlicher beziehungsweise eingeschränkt öffentlicher Äußerungen ergänzte ich mit den Methoden der »teilnehmenden Beobachtung« (Malinowski 2002 [1922]:

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5-19) und der »dichten Teilnahme«6 (Spittler 2001: 12-21). Ich verzichtete meist auf eine Aufnahme der Interviews, um eine möglichst natürliche Gesprächssituation herzustellen und eine sozial oder politisch erwünschte Anpassung der Aussagen und andere kommunikative Blockaden gering zu halten. Die Interviewsprache war Französisch. Kontakte zu Gesprächspartnern, insbesondere zu Koranlehrern, die dieser Sprache nicht mächtig waren, kamen ohnehin nur über die Vermittlung durch Dritte zustande, die mir dann in der Regel gleichzeitig bei Übersetzungen behilflich waren. Zitate im Text wurden von mir ins Deutsche übersetzt, einige zentrale Begriffe führe ich im Original ein und verwende sie durchgängig oder als Synonym zum jeweils entsprechenden deutschen Begriff. Bei der Gesprächsführung und -auswertung orientierte ich mich an der induktiven und rekonstruierenden Methode des »verstehenden Interviews« nach Jean-Claude Kaufmann, die einen Zugang zum »emotionalen und kognitiven Inneren« des Gegenübers und eine empirisch fundierte Hypothesenformulierung im Sinne einer Grounded Theory (vgl. Glaser & Strauss 1967: 1-6) zum Ziel hat (vgl. Kaufmann 1999: 12, 75-77). Ergänzend nahm die Analyse von Artefakten wie Broschüren und Reporten maßgebender Akteure und medialer Darstellungen einen wichtigen methodologischen Stellenwert ein, um ein umfassendes Verständnis für die Interpretations- und Handlungsmuster sowie die Kommunikationsstrategien in diesem Diskursfeld zu entwickeln. Eine zentrale Rolle für meine Forschung spielte der Kontakt zu transnational eingebundenen zivilgesellschaftlichen Kinderrechtsakteuren7 , die sich besonders aktiv für die bettelnden Talibé engagierten. Ich verwende den Begriff »Akteure« überwiegend für einzelne Personen in ihrer Rolle als Vertreter bestimmter Körperschaften, aber auch für solche selbst. Der individuelle oder kollektive Bezug soll jeweils kontextuell deutlich werden. Zwecks einer besseren Lesbarkeit verzichte ich durchgängig auf genderspezifische Endungen, schließe aber immer alle beteiligten Geschlechter gleichberechtigt mit ein. Da die Kinderrechtsakteure innerhalb 6

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Gerd Spittler (2014: 212-13) stellt das von ihm entwickelte Methodenkonzept der »dichten Teilnahme« in die Tradition der teilnehmenden Beobachtung nach Malinowski, betrachtet sie aber als »Radikalisierung« dessen Ansatzes. Wesentlich für eine »dichte Teilnahme« nach Spittler ist die Annäherung an natürliche Situationen. Dafür sollen »Gespräche unterschiedlicher Gattung« geführt, systematische Beobachtungen durch »offenes Sehen« gemäß der fremden Tradition ergänzt und alle Sinne des Forschenden eingesetzt werden. Ich bezeichne meine Informanten meist als »Kinderrechtsakteure« (und nicht als »Kinderschutzakteure«). Dieser Begriff entspricht dem vorherrschenden transnationalen Paradigma, die Handlungsfähigkeit und das Mitspracherecht von Kindern in den Fokus zu rücken anstatt deren passive Schutzbedürftigkeit. Da jedoch die meisten meiner Informanten sich in ihrer Argumentations- und Handlungslogik sowohl auf die »Rechte« von Kindern (vgl. UN 1989; AU 1990) als auch auf deren »Schutzbedürftigkeit« bezogen und auch führende Organisationen wie z.B. UNICEF (2019 [html]) nach wie vor vom Tätigkeitsfeld des »Kinderschutzes« sprechen, nehme ich keine dichotome Trennung dieser Begriffe vor.

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dieses Diskursfeldes oft weitläufig vernetzt waren und sich der Kontakt zu ihnen relativ leicht knüpfen ließ, stellten sie für mich wertvolle Vermittler für stärker zugangskontrollierte Bereiche wie das religiöse Milieu oder manche staatlichen Stellen dar. Wie in den Kapiteln ersichtlich werden wird, dürfen sie jedoch nicht als homogene Gruppe wahrgenommen werden, da sie ganz verschiedene berufliche und soziale Positionen bekleideten und sich ihre Transnationalität auf unterschiedliche Art und Weise konstituierte. Die Denk- und Handlungslogiken senegalesischer Sozialarbeiter, deren Einrichtungen mit trans- oder internationalen Organisationen kooperierten, waren andere als die (ausländischer) Führungskräfte namhafter global tätiger NGOs. Die Akteure waren zudem zwar stets von den Politiken der Organisation, der sie angehörten, geprägt und ihnen in ihrer professionellen Rolle verpflichtet, handelten diese aber mit ihren eigenen, zum Teil divergierenden Interpretationslogiken aus. Daher musste ich bei der Materialauswertung vermeiden, Akteure anhand naheliegender Unterscheidungskriterien vorschnell in separate Kategorien einzuordnen, etwa Mitarbeiter von Ministerien, Jugendämtern oder Jugendpolizei als »staatliche« Repräsentanten »zivilgesellschaftlichen« Kinderrechtsakteuren dichotom gegenüberzustellen. Stattdessen versuchte ich in Hinblick auf einzelne analytische Themenfelder einen möglichst unvoreingenommenen Blick für volatile Vergemeinschaftungen, Abgrenzungen und partielle Rollenüberschneidungen unterschiedlicher Akteure zu bewahren. Zwar erwies sich das Unterscheidungsmerkmal »staatlich« beziehungsweise »zivilgesellschaftlich« durchaus häufig als bedeutsam für die diskursive Positionierung einzelner Akteure, zum Beispiel hinsichtlich ihrer Kritikbereitschaft gegenüber dem Staat, jedoch beeinflussten andere, zum Teil geteilte identitäre Kategorien, etwa Religion oder ethnische Herkunft, ihre Interpretations- und Handlungsmuster ebenso. Manche Kontaktpersonen hatten sogar gleichzeitig sowohl staatliche als auch zivilgesellschaftliche Positionen inne und auf institutioneller Ebene kooperierten zivilgesellschaftliche Akteure mit dem Staat, attackierten diesen aber mitunter scharf (s. Kapitel 5). Auch muss bedacht werden, dass sich bestimmte Argumentationsweisen nicht immer eindeutig durch naheliegende kategoriale Zuordnungen begründen lassen, sondern unausgesprochene, zum Beispiel biografische, Hintergründe haben können, die mir vor allem bei oberflächlichen Kontakten verborgen blieben. Bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt meiner ethnografischen Forschung lernte ich Mamadou Ndiaye, genannt »Ndiayedaara«, kennen, der meine wichtigste Kontaktperson, mein Gatekeeper, werden sollte. In der eher diffusen Rolle als facilitateur innerhalb der PPDH (s.u.) und Vorsitzender einer selbst gegründeten, aber seit mehreren Jahren brachliegenden NGO war seine offizielle Position zwar wenig bedeutend, sein »soziales Kapital« (vgl. Bourdieu 1983: 191-195) durch unzählige Kontakte zu Vertretern von Regierung und UN-Organisationen ebenso wie zu einer ganzen Reihe von Koranlehrern jedoch enorm. Auf institutioneller Ebene

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stellten besonders zentrale Kontakte für mich die »Nationale Koordinierungsstelle zur Bekämpfung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels« – Cellule Nationale de Lutte contre la Traite des Personnes, en particulier des Femmes et des Enfants – (CNLTP) und die »Plattform zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte« – Plateforme pour la Promotion et la Protection des Droits de l’Homme – (PPDH) dar. Die CNLTP oder Cellule, wie sie von allen beteiligten Akteuren nur genannt wurde, ist ein im Jahr 2010 auf außenpolitischen Druck und mithilfe internationaler Finanzierungen gegründetes, dem Justizministerium unterstelltes Koordinierungsorgan sämtlicher staatlicher wie zivilgesellschaftlicher Aktivitäten gegen Menschenhandel. Die PPDH bezeichnet einen Zusammenschluss von rund vierzig zivilgesellschaftlichen, überwiegend senegalesischen Organisationen unterschiedlicher Größe, die sich vorwiegend im Kinderrechtsbereich engagieren. In den vergangenen Jahren wurde die Bekämpfung des Bettelns der Talibé zum tragenden Thema der PPDH, die so nicht nur zu den Hauptakteuren innerhalb der Cellule zählte, sondern auch zu den wichtigsten Kooperationspartnern von ressourcenmächtigen trans- und internationalen Akteuren wie UNODC oder Human Rights Watch. Die staatliche Cellule und die zivilgesellschaftliche Plateforme stifteten durch regelmäßige Seminare und andere Aktivitäten temporäre diskursive Allianzen zwischen einer Vielzahl von Akteuren, die aber zum Teil in anderen sozialen und institutionellen Zusammenhängen auf abweichende Interpretations- und Handlungsmuster zurückgriffen. Da bei sämtlichen Veranstaltungen mit Bezug zu Kinderrechtsthemen in der Regel ein bestimmter Kreis von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren anwesend war, konnte ich die meisten meiner Kontaktpersonen über einen längeren Zeitraum hinweg mehrmalig treffen und ihre Praktiken in unterschiedlichen Konstellationen prozessual verfolgen. Die Prämisse, dass Menschen nicht immer so handeln, wie sie zu handeln angeben, und das Wissen um die Tatsache, dass viele Praktiken implizit vollzogen und nicht verbalisiert werden (vgl. Polanyi 1966: 20), nehmen in der Ethnologie einen hohen methodologischen Stellenwert ein. Entsprechend ergänzte ich das Material aus Kommunikationskontexten wie Interviews, Seminaren und Konferenzen, in denen Akteure häufig dazu tendieren, ihre Aussagen und ihr Verhalten relativ stark zu kontrollieren, nach Möglichkeit mit den Methoden der »teilnehmenden Beobachtung« (Malinowski: 2002 [1922]: 5-19) und der »dichten Teilnahme« (Spittler 2001: 12-21). Diese Vorgehensweise erlaubte, die mehrdimensionalen Diskurslogiken und das tacit knowledge (vgl. Polanyi 1966: 20) der untersuchten Akteure in verschiedenen Kontexten zu erschließen. Überwiegend sprachliche Äußerungen konnten so zu Praxishandeln in Bezug gesetzt werden, zum Beispiel dem Umgang mit Koranlehrern bei gemeinsamen Besuchen in daaras oder mit den geflohenen Talibé in den Kinderheimen. Ndiayedaara, aber auch andere Kinderrechtsakteure, die ich vor allem über die PPDH kennenlernte, waren meine Bindeglieder zum religiösen Milieu, insbe-

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sondere zu Koranlehrern. Nur in den wenigsten Fällen kontaktierte und traf ich Koranlehrer ohne eine vermittelnde Kontaktperson. Zum einen beherrschte ich die senegalesische Hauptverkehrssprache Wolof nicht ausreichend, um komplexe Gespräche führen zu können und zum anderen zeigten Koranlehrer mitunter ein gewisses Misstrauen gegenüber toubabs8 . Sie fühlten sich durch die in ihren Augen »westlich« geprägten Diskurse um das Betteln der Talibé oft stigmatisiert, sodass es wichtig war, ihnen gegenüber ein wertschätzendes Interesse an ihrer Sichtweise auf die Thematik zum Ausdruck zu bringen. Ich konnte sowohl mit Koranlehrern in Verbindung treten, die selbst in den Kinderrechtsdiskurs gegen das Betteln der Talibé eingebunden waren, als auch mit Leitern sogenannter problematischer Koranschulen, mit denen manche der mir bekannten Organisationen »zusammenarbeiteten«. Jedoch sind kontroverse Bewertungen und Einbettungen des Bettelns oder der prekären Lebensbedingungen der Talibé kennzeichnend für dieses Diskursfeld. So ließen sich viele der von mir besuchten Koranschulen in einer interpretativen Grauzone verorten, in der sich normative transnationale Perspektiven häufig als nicht deckungsgleich mit denen der Koranlehrer oder der senegalesischen Kinderrechtsakteure erwiesen. Neben den zivilgesellschaftlichen, staatlichen und religiösen Akteuren, die im Fokus meines Forschungsinteresses standen, erschloss ich induktiv über deren Diskurse weitere sekundäre Akteursgruppen, deren Stimmen in meine Analyse einfließen sollten. Zum Beispiel kristallisierte sich das nicht angewendete Gesetz gegen Menschenhandel als zentrales wiederkehrendes Thema zivilgesellschaftlicher Akteure heraus, sodass ich senegalesische Rechtsexperten zu den Hintergründen dieses Gesetzes und den Verstrickungen zwischen Politik und Justiz im Kontext der Koranschulproblematik befragte. Da es mir darum ging, das Phänomen der bettelnden Talibé als Politikum zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteuren zu untersuchen, nahm hingegen die Sprecherschaft der Talibé selbst und derer Eltern nur einen untergeordneten, komplementären Stellenwert ein. Wenn auch forschungspragmatische Gründe hierfür eine Rolle spielten, stand für mich weniger im Vordergrund, die tatsächlichen Beweggründe der Eltern der Talibé für die Koranausbildung und die von den Talibé subjektiv erlebte Realität zu untersuchen als die Art und Weise, wie solche Aspekte aus divergierenden Perspektiven interpretiert und welche diskursiven Ziele damit verfolgt werden. Ich nehme auf meine Kontaktpersonen mit ihren vollständigen realen Namen und beruflichen Funktionen Bezug, sofern mir diese bekannt und durch die Aussagen für die Betreffenden keine potenziell schädigenden Konsequenzen zu erwarten sind. Im Zweifelsfall habe ich insbesondere bei denjenigen Personen auf eine 8

Als »toubab« werden in Senegal allgemein Personen weißer Hautfarbe bezeichnet. Der Begriff ist jedoch in erster Linie als kulturräumliche Bezeichnung für Menschen mit westlichem Hintergrund zu verstehen.

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Anonymisierung zurückgegriffen, die meines Wissens nach noch immer im selben Netzwerk aktiv und leicht zu identifizieren sind. Trotz einer größtmöglichen Transparenz gegenüber meinen Kontaktpersonen war es für die meisten ohne sozialwissenschaftlichen Hintergrund schwer einzuschätzen, auf welche diskursiven Spannungsfelder sich meine Analyse fokussieren und welchen öffentlichen Radius die einmal fertiggestellte Arbeit erreichen würde. Meine Abwägungen sind in erster Linie von forschungsethischen Gesichtspunkten geleitet und nur sekundär von der pragmatischen Perspektive, dass die deutschsprachige Publikation in Senegal voraussichtlich eine nur geringe Resonanz erzeugen wird. Letztlich stellt es in einer Ethnografie immer einen Balanceakt dar, nicht zu viel über die Identitäten der Kontaktpersonen preiszugeben, aber auch nicht die soziale, räumliche und zeitliche Kontextualisierung des Materials zu unterminieren. Diese methodologische Entscheidung muss abhängig von den Zielen und dem Kontext der jeweiligen Forschung ausgehandelt werden (vgl. Heley 2012: 11, 21). Für eine möglichst gute Lesbarkeit des Textes habe ich, bei einer Bezugnahme auf weniger zentrale Kontaktpersonen, mithin auf die Einführung eines weiteren Namens verzichtet und stattdessen auf andere Kennzeichen wie zum Beispiel die Berufsbezeichnung hingewiesen. Da sich der ethnografische Erkenntnisprozess wesentlich in sozialen Interaktionssituationen vollzieht, ist er von einem hohen Maß an Subjektivität geprägt. Der Ethnologe wird zu seinem eigenen »Forschungsinstrument«. Jede Feldforschung wird von nur bedingt steuerbaren sozialen Dynamiken wesentlich mitgestaltet, was eine Reflexion über den persönlichen Einfluss auf die Materialgewinnung und -analyse unerlässlich macht (vgl. Clifford 1986: 7-8). Zu meinen auffälligsten und objektivsten Kennzeichen, die in meinem Feld wirkmächtig und von meinen Kontaktpersonen mit bestimmten Vorannahmen belegt wurden, zählten zweifellos meine sichtbare westliche Herkunft, mein weibliches Geschlecht und mein junges Alter. Die an diese Charakteristika geknüpften ambivalenten Assoziationen entfalteten je nach Kontext zugangserleichternde oder zugangsversperrende Wirkungen. Einerseits wurde ich gemeinhin mit den im Kinderrechtsbereich häufig tätigen ausländischen Praktikantinnen gleichgesetzt und nahm dadurch eine »harmlose« Rolle ein, die mir oft eine Teilnahme an aufschlussreichen Geschehnissen und Besprechungen erleichterte. Vor allem weniger etablierte Organisationen oder Akteure schienen mitunter an meine europäische Herkunft zudem materielle Erwartungen zu knüpfen. Andererseits erschwerte meine Rolle als toubab auch den Zugang zu manchen forschungsrelevanten Anlässen. Zum Beispiel gaben Sozialarbeiter mir gegenüber zu bedenken, meine Teilnahme bei Familienrückführungen geflohener Talibé könnte den Eindruck verstärken, ihre Organisation versuche die Kinder unter westlicher Einflussnahme aus den Koranschulen »wegzulocken«. Das Zusammenspiel verschiedener, kontextuell unterschiedlich wirksamer Rollenattribute, »Status-Marker« und Ressourcen führte zu jeweils spezifischen

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Beziehungskonstellationen mit meinen Kontaktpersonen. Diese ließen sich zumeist nicht eindeutig einem »studying up«, »studying down« (Nader 1974: 27-46) oder »studying sideways«-Prozess (Schrijvers 1991: 162-179) zuordnen. Einer meiner wichtigsten Informanten zum Beispiel, der mir gegenüber die Rolle eines »väterlichen Freundes« einnahm, hatte aufgrund seines langjährigen zivilgesellschaftlichen Engagements und seines fortgeschrittenen Alters innerhalb meines Feldes einen weitaus höheren sozialen Status und verfügte über mehr praktisches Handlungswissen als ich, war jedoch, ohne feste berufliche Anstellung, des Öfteren auf meine finanzielle Unterstützung angewiesen und mir hinsichtlich formaler Bildungsqualifikationen unterlegen. Insgesamt stellte Senegal mit seinem sprichwörtlichen nationalen Ethos der teranga, der Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft gegenüber Fremden, eine sozial sehr aufgeschlossene Forschungsumgebung dar. Beziehungen konnten, vor allem über Humor oder die Suche nach gemeinsamen Verbindungen, relativ leicht geknüpft werden. Eine Teilhabe am Feld ließ sich so häufig über bürokratische Grenzen und andere formale Hindernisse hinweg aushandeln. Durch die auf soziale Beziehungen ausgerichtete gesellschaftliche Praxis waren gut vernetzte Kontaktpersonen für meine Forschung von zentraler Bedeutung, womit einherging, dass die Art und Weise, wie ich selbst und meine jeweilige Vermittlungsperson wahrgenommen wurde, auf mich rückwirkte. Dies vereinfachte zwar die Kontaktaufnahme zu stärker zugangskontrollierten Milieus, etwa zur Polizei oder zu Koranlehrern, indem der Prozess der Vertrauensbildung abgekürzt werden konnte, bewirkte aber auch, dass ich in meinem Forschungsvorgehen auf soziale Dynamiken unter meinen Kontaktpersonen, zum Beispiel auf Konflikte und Konkurrenzverhältnisse, Rücksicht nehmen musste. Folgende zwei forschungsethische Überlegungen erscheinen mir ferner für meine Untersuchung spezifisch und sollen kurz skizziert werden. Zum einen lässt ein vordergründiger Blick auf meine Forschung annehmen, dass sie sich durch einen problemorientierten Fokus auszeichnet. Sie hat den von den meisten Akteuren als Problematik eingestuften Phänomenbereich der bettelnden Talibé zum Gegenstand und stellt zudem die oft reibungsvollen und mitunter sogar widersprüchlichen Praktiken in den Vordergrund, die mit den Übersetzungs- und Aushandlungsprozessen transnationaler und lokaler Denk- und Handlungsmuster einhergehen. Jedoch verstehe ich diese Vorgänge mehr als Ressource denn als »Defizit«, indem sie verschiedenen Akteuren ermöglichen, konfligierende Konzepte und Logiken wechselseitig anschlussfähig zu machen und dadurch in vielen Fällen überhaupt erst kommunikations- und kooperationsfähig zu werden. Auch gelten in einer diskursanalytischen Betrachtung die bettelnden Talibé nicht a priori als Problematik, sondern die kontroversen Bedeutungen, die ihnen unterschiedliche Akteure zuschreiben, als ungleich machtvolle, sozial konstruierte Repräsentationen.

1. Einleitung

Dies erforderte – und hier schließt sich die zweite Überlegung an –, meinen eigenen Standpunkt konsequenterweise als ebenso relativ und bedingt wahrzunehmen wie denjenigen der Akteure, die ich untersuchte (vgl. Schiffauer 2000: 318), und mich damit von einem intervenierenden und wertexpliziten Ansatz einer action anthropology (vgl. Tax 1975: 514-517) oder einer applied anthropology (vgl. van Willigen 2002 [1986]: 3-17) abzugrenzen. Trotzdem nimmt, wie zum Beispiel Didier Fassin (2008a: 337-338) und Miriam Ticktin (2014: 277-278) herausstellen, die eigene, wenn auch nur implizite moralische Positionierung immer in irgendeiner Weise politischen und epistemischen Einfluss auf eine ethnografische Forschung. Die von mir gewählte radikal relativierende Perspektive hinterließ in mir mitunter so jenes Gefühl der »Ungenügsamkeit«, das Liisa Malkki (2015: 73) im Kontext ihrer eigenen Forschung mit Geflüchteten in Tansania beschreibt. Angesichts derer Gewalterfahrungen wollte sie »mehr tun« als nur über sie zu schreiben und fühlte sich schuldig, ihre eigene Karriere »auf dem Rücken der Geflüchteten« voranzutreiben. Auf derartige und ähnliche dilemmatische Konstellationen komme ich im sechsten Kapitel zurück, in dem ich Parallelen zwischen meiner eigenen Rolle als Ethnologin und der der von mir begleiteten Kinderrechtsakteure ziehe und kritisch frage, inwiefern ich durch mein Forschungsprojekt von den miserablen Lebensbedingungen der Talibé mehr selbst profitiere als zu deren Verbesserung beitrage. Jedoch verlangte mein Anspruch, ein weitreichendes Verständnis für die Kontroversen um die bettelnden Talibé zu gewinnen, einen analytischen »Schritt zurück« (Hirschauer & Amann 1997: 27) zu machen und mich dem Gegenstand nicht mit einem sozialpolitischen oder moralischen Impetus anzunähern. Indem meine Untersuchung aber den Blick dafür schärft, welche »symbolischen Kämpfe« in diesem Diskursfeld über die gegenständliche Ebene hinaus geführt werden und unterschiedliche Formen des Engagements zugunsten der Talibé in ihrer Konzeption und Praxis analysiert, hat sie dennoch das Potenzial, neue Denk- und Handlungsansätze für einen nachhaltigen Umgang mit der Thematik anzustoßen.

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2. Menschenhandel in Senegal Einführung und Übersetzung  eines transnationalen Diskurses

Im Sommer 2013 nahm ich an einem mehrtägigen Seminar der senegalesischen zivilgesellschaftlichen Dachorganisation PPDH zur Ausarbeitung eines »Aktionsplans« gegen das Betteln der Talibé teil, welches das United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC) im Rahmen seines Engagements gegen Menschenhandel finanzierte. Am Morgen der Seminareröffnung fand sich auf jedem Platz ein Kit mit Informationsmaterial des UNODC zu Menschenhandel. Die Broschüren waren in englischer Sprache verfasst, welche die meisten Anwesenden nicht beherrschten, und mit diversen Fotografien illustriert, die beispielsweise in dunkle Räume eingesperrte Frauen, verweinte Gesichter, einen Pass mit beigefügten Geldscheinen und asiatisch aussehende Hafenarbeiter zeigten. Dem Material wurde zwar weder in den Eröffnungsreden noch im weiteren Verlauf des Seminars explizite Aufmerksamkeit geschenkt, dennoch waren es die ersten und am professionellsten aufbereiteten Dokumente, mit denen die Teilnehmer in Berührung kamen. Der anwesende Koordinator der UNODC-Projekte gegen Menschenhandel in Senegal und Mali, Issa Saka, erklärte einleitend das Interesse seiner Organisation an den bettelnden Talibé als Teil der Bekämpfung transnational organisierter Kriminalität, in den nachfolgenden Beiträgen und Aktivitäten des Seminars fand diese Einbettung jedoch keine weitere Beachtung mehr (Thiès, 05./06.07.2013). Hintergrund der inadäquat anmutenden, wenn auch nur impliziten, diskursiven Verknüpfung solcher ganz unterschiedlichen Phänomene ist das sogenannte Palermo-Protokoll zur »Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels« (UN 2000). Beeinflusst von mehreren, teils konfligierenden Bereichen des internationalen Rechts legt es erstmals eine sehr breite Definition des Menschenhandels fest, die es seither juristisch ermöglicht, Problematiken aus den verschiedensten sozialen und geografischen Kontexten unter diesem Begriff zu fassen (vgl. Warren 2007: 264; Morcom & Schloenhardt 2011: 26-27; Einarsdóttir & Boiro 2014: 389-390). Über längere Zeit war die Thematik des Menschenhandels nicht im Fokus internationaler Politik gestan-

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den, bevor das Interesse an ihr in den 1980er Jahren durch einen expandierenden globalen Markt für sexuelle Dienstleistungen und die Zunahme anderer »illegaler« grenzüberschreitender Migrationsbewegungen neu entfachte (vgl. Chuang 2006 in Morcom & Schloenhardt 2011: 24; Outshoorn 2015: 7; Bertone 2004: 13). Nach der Annahme des Palermo-Protokolls stieg die politische und akademische Aufmerksamkeit für diese Verbrechensform nochmals rapide an (vgl. Dragiewicz 2015: 1-2). Rechtsgeschichtlich lässt sich das Palermo-Protokoll in die Abolitionsbewegung des 19. und in die internationalen Abkommen zur Bekämpfung der Prostitution seit dem frühen 20. Jahrhundert rückbinden, ist aber ebenso von der neueren internationalen Gesetzgebung zur Durchsetzung der Menschen- und Kinderrechte sowie gegen Zwangsarbeit beeinflusst (vgl. Morcom & Schloenhardt 2011: 20-22; Quirk 2006: 568). Nachdem bis Mitte des 19. Jahrhunderts alle Kolonialmächte unter der Vorreiterrolle Großbritanniens den Handel mit afrikanischen Sklaven zumindest formal abgeschafft hatten, gewann Anfang des 20. Jahrhunderts die Bekämpfung der sogenannten Weißen Sklaverei (League of Nations 1904) an Bedeutung. Die systematische transnationale Verschleppung europäischer Mädchen und junger Frauen zu Prostitutionszwecken in großem Ausmaß gilt heute aus der Sicht vieler Wissenschaftler mehr als Mythos denn als empirische Realität und die »moralische Panik« um die »Weiße Sklaverei« vielmehr als Ausdruck von Deutungskämpfen um Geschlechter- und Klassenverhältnisse und anderer gesellschaftlicher Ängste jener Zeit (vgl. Irwin 1996 [html]; Doezema 1999: 25-26). Dieser frühe rassistisch geprägte und auf Frauen beschränkte Prostitutions-Abolitionismus erfuhr in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in weiteren internationalen Abkommen eine terminologische Öffnung (vgl. League of Nations 1921; dies. 1933) und mündete im Jahr 1949 in der »Konvention zur Unterbindung des Menschenhandels und der Ausnutzung der Prostitution anderer« der Vereinten Nationen. Gemäß dieser galt nun die Verbringung oder Anstiftung einer Person zur Prostitution unabhängig von deren Zustimmung als Straftat. Auch der Begriff des Menschenhandels wurde ansatzweise ausgeweitet, stand jedoch weiterhin in einem engen Zusammenhang mit der Ausbeutung durch Prostitution (vgl. Morcom & Schloenhardt 2011: 15). Parallel dazu entwickelten sich im Lauf des 20. Jahrhunderts die internationalen Rechtsinstrumente gegen die Sklaverei weiter. Das Sklavereiabkommen des Völkerbundes (1926), das »Sklaverei« als den »Zustand oder die Stellung einer Person, an der die mit dem Eigentumsrechte verbundenen Befugnisse oder einzelne davon ausgeübt werden« (League of Nations 1926, Art. 1, Abs.1) definierte, ermöglichte erstmals eine Perspektive auf Sklaverei, die über eine vollständige Leibeigenschaft hinausging. Die kolonialen Machthaber jener Zeit hüteten sich aber davor, sich durch eine breiter gefasste Auslegung des Gesetzes in ihren Hoheitsgebieten weitere »Probleme« zu schaffen (vgl. Quirk 2006: 568). Eine wachsende Sensibilität gegenüber Menschenrechtsverletzungen führte im Jahr 1956 zu einer Erweiterung dieser Konvention um den Zusatz des Verbots »sklavereiähnlicher Praktiken« (meine Hervorhe-

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bung) wie Schuldknechtschaft, Zwangsheirat und Kinderarbeit (vgl. Quirk 2006: 569; Morcom & Schloenhardt 2011: 7). Im Zuge der mit der zunehmenden Globalisierung einhergehenden Entwicklungen sah die UN-Arbeitsgruppe zu Sklaverei im späten 20. Jahrhundert Bedarf nach einer neuen und breiter gefassten Definition der Sklaverei, um auf deren zeitgenössische Dimensionen und Ausprägungen adäquat antworten zu können (vgl. Quirk 2006: 570). Die bis dahin bestehenden Gesetzgebungen gegen Sklaverei und Menschenhandel sollten zusammengeführt werden und zudem Aspekte der bereits ratifizierten Konventionen zum Schutz vor Arbeitsausbeutung1 , der UNKinderrechtskonvention (1989) und weiteren internationalen Menschenrechtsinstrumenten berücksichtigen (vgl. Morcom & Schloenhardt 2011: 17-22). Das daraus resultierende UN-Protokoll zur »Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels« wurde im Jahr 2000 in Palermo verabschiedet. Es definiert »Menschenhandel« als »die Anwerbung, Beförderung, Verbringung, Beherbergung oder Aufnahme von Personen durch die Androhung oder Anwendung von Gewalt oder anderen Formen der Nötigung, durch Entführung, Betrug, Täuschung, Missbrauch von Macht oder Ausnutzung besonderer Hilflosigkeit oder durch Gewährung oder Entgegennahme von Zahlungen oder Vorteilen zur Erlangung des Einverständnisses einer Person, die Gewalt über eine andere Person hat, zum Zweck der Ausbeutung« (UN 2000, Art. 3). Auch wenn das sogenannte Palermo-Protokoll in einer kompromisshaften Weise zwischen einer genderneutralen und einer auf »Frauen und Kinder« fokussierten Sprache oszilliert, wurde ihm vielfach ein verengter Opferbegriff auf sexuell ausgebeutete »Frauen und Kinder« vorgeworfen (z.B. Warren 2007: 249; Chapkis 2003: 927; Goździak 2015: 29-30; Weitzer 2014: 7; Farrell & Pfeffer 2014: 51). In seinem Wortlaut schlägt sich nieder, dass der Ausarbeitungsprozess des Protokolls zentral von konfligierenden neoabolitionistischen und liberaleren Perspektiven auf Prostitution der beteiligten Staaten und zivilgesellschaftlichen Lobbygruppen geprägt war. Während erstere Prostitution unabhängig von einem möglichen Konsens der 1

Konventionen zum Schutz gegen Zwangsarbeit und Arbeitsausbeutung: Übereinkommen über Zwangs- und Pflichtarbeit (ILO 1930), Übereinkommen über die Abschaffung der Zwangsarbeit (ILO 1957), Übereinkommen über das Mindestalter für die Zulassung zur Beschäftigung (ILO 1973), Übereinkommen über das Verbot und unverzügliche Maßnahmen zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit (ILO 1999). Konventionen zum Schutz von Arbeitsmigranten: Übereinkommen über Wanderarbeiter (ILO 1949), Übereinkommen über Mißbräuche bei Wanderungen und die Förderung der Chancengleichheit und der Gleichbehandlung der Wanderarbeitnehmer (ILO 1975), Internationale Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen (UN 1990) (vgl. Morcom & Schloenhardt 2011: 17-19).

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Beteiligten als »Menschenhandel« definierten, drängten die anderen auf eine Unterscheidung zwischen »freiwilliger« und »unfreiwilliger« Prostitution und wollten dem Thema keinen Vorrang gegenüber anderen Formen der Arbeitsausbeutung einräumen (vgl. Warren 2007: 260-261; Outshoorn 2015: 16-17). Zivilgesellschaftliche Lobbygruppen und staatliche Akteure waren sich zudem uneinig über den Stellenwert des Schutzes und der Rechte der Opfer gegenüber dem restriktiver Maßnahmen zur Strafverfolgung der Täter (vgl. Warren 2007: 254). Die Einbettung des Protokolls in die UN-Konvention gegen die »grenzüberschreitende organisierte Kriminalität« mit seinen weiteren Zusatzprotokollen gegen die »Schleusung von Migranten auf dem Land-, See- und Luftweg« und gegen die »unerlaubte Herstellung von Feuerwaffen, deren Teilen, Komponenten und Munition sowie gegen den unerlaubten Handel damit« impliziert jedoch eine Verortung des Menschenhandels in den Kontext der transnationalen Verbrechensbekämpfung und schmälert die Rolle des Protokolls als Instrument zur Durchsetzung von Menschenrechten (vgl. Warren 2007: 245). Obwohl der nicht territorial definierte »Menschenhandel« durch sein konstitutives Element der vorsätzlichen Ausbeutung als Verbrechen gegen ein Individuum gilt und nicht wie die »Schleusung« von Migranten – die auf gegenseitigem Einverständnis beruht, ein determiniertes »Ende« hat und per definitionem grenzüberschreitend ist – als ein Verbrechen gegen einen Staat, wurde das Protokoll gegen Menschenhandel dafür kritisiert, den Fokus auf Maßnahmen zur Sicherung staatlicher Grenzen anstatt der Menschenrechte der Opfer zu setzen (z.B. Jordan 2002: 30; Warren 2007: 252; Morcom & Schloenhardt 2011: 24-25).2 Die »Schleusung von Migranten« und der »Menschenhandel« stellen aber selbst nach normativer Definition zwei Phänomene dar, die sich in einer Vielzahl von Konstellationen überschneiden. Sie liegen auf einem Kontinuum und sind nicht trennscharf voneinander abgrenzbar (z.B. Botte 2003: 17-18; Skilbrei & Tveit 2008: 24-28; Bhabha & Zard 2006: 6-8). Kritiker sehen in der juristischen Unterscheidung daher vielfach ein Instrument zur Rechtfertigung einer restriktiven und ideologisch geprägten Einwanderungspolitik, um eine kleine Anzahl von »Opfern von Menschenhandel« als verdiente Empfänger staatlicher Unterstützungsleistungen von kriminalisierten »freiwilligen« Migranten abzugrenzen (z.B. O’Connell Davidson 2010: 245; Chapkis 2003: 928-932; Anderson 2008: 2-5). Der juristische Tatbestand des Menschenhandels besteht somit aus den drei grundlegenden Aspekten einer nicht konsensuellen Form der Verbringung einer Person zum Zweck ihrer Ausbeutung. Handelt es sich bei den »Opfern« allerdings um Kinder – Minderjährige unter achtzehn Jahren –, ist die Frage nach einem Konsens hinfällig (vgl. UN 2000, Art. 3). Heranwachsenden wird also nicht wie in an2

Die Juristin und Menschenrechtsaktivistin Anne T. Gallagher (2010: 336) beobachtet jedoch einen in vielen Staaten zunehmenden Fokus auf den Schutz und die Rechte der Opfer von Menschenhandel.

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deren Rechtsbereichen, zum Beispiel der Erwerbstätigkeit, eine graduell zunehmende Verantwortungs- und Entscheidungsfähigkeit zugesprochen. Damit reflektiert das Palermo-Protokoll ein Kindheitskonzept, das Kinder als verletzlich, passiv und abhängig betrachtet und als moralische Kategorie Erwachsenen dichotom gegenüberstellt (vgl. O’Connell Davidson 2011: 462-463; Manzo 2005: 395). Indem der Tatbestand des Kinderhandels nur zwei der ansonsten drei notwendigen Elemente erfordert, erfüllen zudem mehr soziale Phänomene diese Bedingungen. Die »Verbringung« »zum Zweck der Ausbeutung« steht jedoch in Bezug zur Mobilität und zur Arbeit von Kindern und Jugendlichen und rückt damit zwei Aspekte in die Nähe des Kinderhandels, die zum Beispiel in vielen afrikanischen Gesellschaften von großer sozialer und ökonomischer Bedeutung sind. In Westafrika geriet die weit verbreitete Erziehungspraktik der temporären oder dauerhaften confiage eines Kindes in den Haushalt eines sozial oder biologisch Verwandten in den Generalverdacht des Kinderhandels, obwohl diese Zuschreibung und die an sie gekoppelten Maßnahmen häufig nicht der Wahrnehmung der Beteiligten selbst entsprachen (z.B. Howard 2011: 6-7; Hashim & Thorsen 2011:13-16; Jacquemin 2006: 398-402; Howard & Morganti 2015: 95-100; Busza et al. 2004: 1369-1371). Vor allem den Begriff der Ausbeutung definiert das Palermo-Protokoll nur vage als »mindestens die Ausnutzung der Prostitution anderer oder andere Formen sexueller Ausbeutung, Zwangsarbeit oder Zwangsdienstbarkeit, Sklaverei oder sklavereiähnliche Praktiken, Leibeigenschaft oder die Entnahme von Organen« (UN 2000, Art. 3). Unterschiedliche soziale Ordnungen und sozioökonomische Bedingungen können so zu ganz unterschiedlichen Interpretationen führen, wann der Tatbestand der »Ausbeutung« vorliegt (vgl. UNODC 2015: 22; O’Connell Davidson 2015: 153). Der globale Diskurs um Menschenhandel stellt damit nicht nur Politiken zur nationalstaatlichen Grenzsicherung und zur Bekämpfung sexueller Ausbeutung in den Vordergrund, sondern greift auch in Kindheits- und Sozialisationskonzepte ein, die von transnational etablierten Idealvorstellungen abweichen. Er vernachlässigt die Rolle sozioökomischer und kultureller Faktoren zugunsten eines Fokus auf dramatische Verbrechen, die von individuellen Kriminellen verübt werden (vgl. O’Brien & Wilson 2015: 130). Auf diese Weise werden andere, zum Beispiel strukturelle Formen von Gewalt wie Armut (vgl. Farmer 1996: 278-280) unsichtbar gemacht (vgl. Warren 2007: 242) und neoliberale Politiken legitimiert, die jedoch gerade selbst viele der normativ als »Menschenhandel« definierten Phänomene begünstigen (vgl. Botte 2000: 16; O’Brien & Wilson 2015: 131). Anstatt die enge wechselseitige Verbindung zwischen Formen der Arbeitsausbeutung und den politischen Strukturen und der Nachfrage in den Empfängerländern herauszustellen, lenkt das Protokoll den Blick auf die »Täter« außerhalb der eigenen Grenzen (vgl. Warren 2007: 266; Bertone 2004: 19). Kriminalisiert und viktimisiert werden im Diskurs um Menschenhandel in erster Linie die Anderen, die »Menschenhändler« und ihre »Opfer« aus den Ländern des globalen

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Südens.3 Da die Vermeidung von »Ausbeutung« und ein umfassender Opferschutz nach transnationalen Standards gegenwärtig allenfalls für reiche Industrienationen realisierbar sind, können kulturell oder ökonomisch bedingte Sozialisationskonzepte und Überlebensstrategien pauschal pathologisiert und das Problem des Menschenhandels weitgehend ausgelagert werden (vgl. Howard & Morganti 2015: 92; Einarsdóttir & Boiro 2014: 390-392). Es handelt sich somit um einen elitären Diskurs, der vor allem aus der Perspektive westlicher Staaten geführt wird, sich aber vorwiegend auf die Lebensrealitäten weniger wohlhabender Länder bezieht (vgl. Warren 2007: 256). Über Slogans wie »End Human Trafficking Now«4 , »Human Trafficking is Real« (IOM South Africa 2009) oder »Open Your Eyes to Human Trafficking« (UN.GIFT 2008) versuchten allen voran die UN-Organisationen in den Folgejahren nach der Annahme des Palermo-Protokolls die globale Aufmerksamkeit für das Phänomen des Menschenhandels zu stärken. Aus diskursanalytischer Sicht lassen sich solche Kampagnen weniger als Appell gegen als vielmehr für Menschenhandel verstehen, der als Verbrechensbegriff für gegenwärtige Gewaltkonfigurationen erst ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden musste, um überhaupt bekämpft werden zu können. Jedoch führten die Diskrepanz zwischen der juristischen und der soziokulturellen Realität sowie unterschiedliche ideologische Positionen in vielen lokalen Kontexten dazu, dass sich neben dem offiziellen Diskurs um Menschenhandel reinterpretierte oder gegenläufige Subdiskurse herausbildeten. Der »offizielle« und die »inoffiziellen« Diskurse um Menschenhandel beeinflussen sich wechselseitig und sind nicht klar voneinander abtrennbar. Auch abweichende Interpretationen des »Menschenhandels« und der solchermaßen qualifizierten Problematiken werden von normativen Konzepten mitgeprägt, inter- und transnationale politische Paradigmen wiederum entsprechend ihrer lokalen Anschlussfähigkeit weiterentwickelt. Das Konzept des Menschenhandels ist somit ausreichend machtvoll, um über geografische, institutionelle und kulturelle Distanzen hinweg zu »reisen«, wird aber von unterschiedlichen Akteuren auf divergierende Weise angeeignet und erfährt durch solche Übersetzungsprozesse selbst wiederum Veränderungen (z.B. Czarniawska & Joerges 1996: 21-26; Latour 1986: 266-269). Indem ich in

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Der von der Walk Free Foundation veröffentlichte Global Slavery Index zum Beispiel platzierte 2013 an prominenter Stelle eine »Name and Shame-Liste« (Weitzer 2014: 14) der zehn am stärksten von »moderner Sklaverei« betroffenen Staaten, darunter eine überproportional große Anzahl afrikanischer Länder (Benin, Gabun, Gambia, Elfenbeinküste und Mauretanien) (vgl. Walk Free Foundation 2013 [html]). »End Human Trafficking Now« war der Name einer Kampagne des im Jahr 2006 gegründeten gleichnamigen transnationalen Bündnisses wirtschaftlicher, zivilgesellschaftlicher und staatlicher Akteure gegen Menschenhandel, das unter anderem von den UN-Organisationen unterstützt wurde: (07.05.2016).

2. Menschenhandel in Senegal

diese Übersetzungs- und Aushandlungsprozesse zwischen normativen und sozialen Logiken in Senegal betrachte, nehme ich keine essentialistische Perspektive auf »Menschenhandel« ein und verstehe ihn nicht, wie andere Autoren (z.B. Bravo 2011: 556-557; Manzo 2005: 393-394; Bales 2012: 265-268; Adesina 2014: 165-166; Dottridge 2002: 38-39), als ein objektives Phänomen, sondern als ein Deutungsmuster, das in spezifischen Kontexten vor dem Hintergrund politischer, ideologischer oder ökonomischer Interessen sozial konstruiert wird (z.B. O’Connell Davidson 2011: 455458; Anderson 2007[o. S.]; Warren 2007: 252-263; Chapkis 2003: 924-928). In Senegal zeigte sich die Diskrepanz zwischen der juristischen Definition und lokalen soziokulturellen Interpretationen besonders deutlich, da der Diskurs um Menschenhandel hauptsächlich auf die bettelnden Talibé bezogen wurde und diese Thematik von einer großen politischen und gesellschaftlichen Sensibilität gekennzeichnet ist. Da die Talibé meist in einer von ihrem Herkunftsdorf weit entfernten Koranschule untergebracht sind und ihren maîtres oft festgelegte tägliche Geldbeträge abliefern müssen, kann ihre Situation zwar nach dem Palermo-Protokoll als »Menschenhandel« interpretiert, aber auch in ganz andere Sinnbezüge eingebettet werden. Während inter- und transnationale Organisationen Senegal nach seiner Ratifizierung des Palermo-Protokolls im Jahr 2003 zunächst nicht als prioritäres Land für Maßnahmen zur Bekämpfung des Menschenhandels betrachteten, verstärkte sich die Aufmerksamkeit auf Senegal ab Mitte der 2000er Jahre mit Blick auf die bettelnden Koranschüler. Diese waren längst kein unbekanntes Phänomen mehr und erfuhren bereits seit Beginn der 1990er Jahre Beachtung im transnationalen Kinderrechtsdiskurs. Deren neue Kontextualisierung als Form des Kinderhandels stellte so nur eine von multiplen wechselnden »Rahmungen«5 dar, die gegenwärtig wieder im Zeichen eines Wandels steht. Die bettelnden Talibé sind damit in synchrone und diachrone Übersetzungsprozesse eingebunden. Sie werden von unterschiedlichen sozialen Akteuren auf divergierende Weise interpretiert und »durchwandern« gleichzeitig innerhalb des zentralen transnationalen Kinderrechtsdiskurses verschiedene dominante Paradigmen. Da der Diskurs um Menschenhandel in Senegal mit seinem Fokus auf die bettelnden Talibé nahezu ausschließlich als Diskurs um Kinderhandel geführt wird, soll seine politische und institutionelle Einführung in diesem Kapitel zunächst genealogisch in den übergeordneten trans- und internationalen Kinderrechtsdiskurs eingebettet werden. Daraufhin analysiere ich auf der Grundlage meines empirischen Materials Formen 5

David A. Snow et al. (1986: 464, 476) untersuchten, ausgehend von Erving Goffmans (1974: 21) Konzeption von Rahmungen als »Interpretationsschemata, die es Individuen ermöglichen, Vorkommnisse in ihrem Leben und der Welt allgemein zu lokalisieren, wahrzunehmen, zu identifizieren und zu benennen«, Anpassungen von Rahmungen als Voraussetzung für soziale Bewegungen, um Anhänger zu gewinnen. Snow et al. identifizierten unterschiedliche Formen solcher Prozesse als »konzeptionelle Brücke«, um sozialpsychologische und strukturelle bzw. organisationslogische Gründe für eine Anhängerschaft miteinander zu verbinden.

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der Übersetzung des Konzepts des Menschenhandels in Bezug auf die bettelnden Talibé, um anschließend die sich trans- und international abzeichnende Abkehr von diesem Paradigma zu skizzieren.

»Wenn was nicht klappt, macht man was Neues«:  Transnationale Kinderrechtsparadigmen im senegalesischen Kontext Schon im 19. Jahrhundert wurde »Kindheit« im Zuge der Industrialisierung und der durch die Abolitionsbewegung beförderten, weltweit wachsenden Aufmerksamkeit für Menschenrechte zunehmend als universelle schutzbedürftige Phase institutionalisiert. Das dahinterstehende Ziel war aber nicht nur die Kinder selbst, sondern auch die Gesellschaft vor nicht angepassten Heranwachsenden zu schützen (z.B. Hendrick 1990: 42-45). Jedoch stand erst das 20. Jahrhundert, ausgelöst durch die Notsituation vieler Kinder nach dem Ersten Weltkrieg, im Zeichen umfassender internationaler Kinderschutzpolitiken. Der Völkerbund verabschiedete im Jahr 1924 ein erstes Abkommen über die »Rechte« von Kindern, das 1959 durch die Vereinten Nationen erneuert wurde, aber noch keine Rechtsgültigkeit besaß. Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen (1989) läutete daher eine neue Ära des politischen Bewusstseins gegenüber Kindern ein, indem sie erstmals eine völkerrechtlich bindende Grundlage unter anderem für das Überleben, die Gesundheit, Bildung und Beteiligung von Kindern festlegte. Als einzige UN-Konvention wurde sie von allen Mitgliedsstaaten bis auf die USA ratifiziert. Sie stellte zudem das erste Rechtsinstrument dar, das »Kinderhandel« als ein eigenständiges und breit gefasstes, nicht auf sexuelle Ausbeutung reduziertes Phänomen kriminalisierte (vgl. Morcom & Schloenhardt 2011: 20-21). Ein Zusatzprotokoll zur Kinderrechtskonvention aus dem Jahr 2000 richtete sich daneben explizit gegen den Verkauf von Kindern, Kinderprostitution und Kinderpornografie. Außerdem betonte die Kinderrechtskonvention erstmals das Recht von Kindern auf »Partizipation« und brachte damit eine sich wandelnde Perspektive zum Ausdruck, aus der Kinder zunehmend nicht nur als schutzbedürftige Objekte, sondern als handlungsfähige Subjekte wahrgenommen wurden (z.B. Ennew 2000 [html]; Bluebond-Langner & Korbin 2007: 241-244). Dennoch, so resümierte Judith Ennew (2000 [html]) ein Jahrzehnt nach Ratifizierung der Kinderrechtskonvention, erweisen sich »Kinderrechte« in der globalen Praxis weiterhin in erster Linie als »Rechte«, die Kindern von Erwachsenen zugestanden werden. Die Kinderrechtskonvention basiert auf den vier Leitprinzipen des Rechts auf »Gleichbehandlung« und auf »Leben und persönliche Entwicklung«, des »Vorrangs des Kindeswohls« und der »Achtung vor der Meinung und dem Willen der Kinder«, aus denen umfassende Versorgungs-, Schutz- und Beteiligungsrechte für Kinder

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abgeleitet werden (UNICEF 2016).6 Auch wenn die Konvention die unterschiedliche ökonomische Situation der Vertragsstaaten einräumt und eine kompromisshafte Formulierung »geeignete« Maßnahmen zur ihrer Umsetzung fordert (Part I, Art. 4), wurde sie vielfach dafür kritisiert, ein westlich geprägtes, elitäres Kindheitskonzept zu universalisieren und die soziokulturelle Dimension von Kindheit zugunsten eines biologistischen Verständnisses zu vernachlässigen. Dies führte dazu, dass sich manche der transnationalen Programme, die im Namen der »Kinderrechte« entwickelt wurden und lokale Kontexte nicht ausreichend berücksichtigten, sogar zum Nachteil der betreffenden Kinder auswirkten (vgl. Bass 2004: 19; Jacquemin 2006: 398-402; Boyden 1997: 205). Die Mitgliedstaaten der Afrikanischen Union (AU), die bei der Konzeption der UN-Konvention unterrepräsentiert waren, verabschiedeten wenig später zusätzlich die »Afrikanische Charta der Rechte und des Wohlergehens des Kindes« (ACRWC), um spezifisch afrikanische Problematiken wie die weibliche Genitalbeschneidung und weitere »schädliche soziale und kulturelle Praktiken« stärker einzubeziehen. Die ACRWC legt nicht nur die Rechte von Kindern fest, sondern auch deren Verantwortung, ihre Eltern und andere Erwachsenen zu »respektieren« und in diesen Beziehungen »afrikanische kulturelle Werte« zu bewahren und zu stärken (AU 1990, Art. 31). Sie begreift »Kinderrechte« somit als Teil einer reziproken Konstellation und relativiert die unilaterale Ausrichtung der UN-Kinderrechtskonvention. Allerdings erweist sich der Auslegungsspielraum der UN-Kinderrechte als relativ groß, etwa wenn einzelne Kinderrechte interferieren und gegeneinander priorisiert werden müssen (vgl. Montgomery 2008: 96). Die Ausübung einer ökonomischen Tätigkeit oder die Trennung von ihrer Familie ermöglicht Kindern zum Beispiel oft erst, ihr »Recht auf Bildung« in Form eines Schulbesuchs wahrzunehmen (vgl. Myers 1999: 14-15). Auch bringt das Prinzip des »Vorrangs des Kindeswohls« zwar ein individuumszentriertes Kindheitsverständnis zum Ausdruck, aber zugleich die Notwendigkeit einer Kontextualisierung des jeweiligen Einzelfalls anstelle vordefinierter universeller Lösungen. Wird der Ansatz der Kinderrechtskonvention auf das Kindheitskonzept bezogen, das die klas-

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Diese Kinderrechte lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: das Recht auf Gleichbehandlung und Schutz vor Diskriminierung unabhängig von Religion, Herkunft und Geschlecht, das Recht auf einen Namen und eine Staatsangehörigkeit, das Recht auf Gesundheit, das Recht auf Bildung und Ausbildung, das Recht auf Freizeit, Spiel und Erholung, das Recht, sich zu informieren, sich mitzuteilen, gehört zu werden und sich zu versammeln, das Recht auf eine Privatsphäre und eine gewaltfreie Erziehung im Sinne der Gleichberechtigung und des Friedens, das Recht auf sofortige Hilfe in Katastrophen und Notlagen und auf Schutz vor Grausamkeit, Vernachlässigung, Ausnutzung und Verfolgung, das Recht auf eine Familie, elterliche Fürsorge und ein sicheres Zuhause, das Recht auf Betreuung bei Behinderung (vgl. UNICEF 2016 [html]).

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sische7 Koranausbildung in Senegal vermittelt, geht damit dennoch ein grundlegender Wandel der Kindern zugeordneten Subjektposition einher. Während gemäß einer konservativen, islamisch geprägten senegalesischen Erziehung Kinder vor dem Hintergrund einer gerontokratischen und familienfokussierten Gesellschaftsordnung über nur wenig eigene Handlungsmacht verfügen und sich in der Beziehung zwischen Talibé und maître das Verhältnis der Unterwerfung zwischen Gott und Mensch widerspiegelt (vgl. Perry 2004: 59), wurden Kinder durch die Kinderrechtskonvention zu Trägern individueller »Rechte«. Leiden als sinnstiftendes Erziehungsmittel oder Werte wie Demut und Disziplin verloren mit der Ächtung jeglicher Formen physischer und psychischer Gewalt zugunsten des Rechts auf »Erholung und Spiel« oder auf einen »angemessenen Lebensstandard« an Legitimität. Kindern, die nach einer konservativen muslimischen Auffassung erst durch die Verinnerlichung des Korans zu vollständigen Personen werden (vgl. Last 2000: 376; Ware 2014: 70; Loimeier 2001: 98), wird aus einer Kinderrechtsperspektive dieser Status bedingungslos zuerkannt. Die Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention und der ACRWC führte in Senegal wie in vielen anderen Ländern zu einer erhöhten politischen Aufmerksamkeit gegenüber den Belangen von Kindern. Im Jahr 1991 wurde der erste »Nationale Aktionsplan« für Kinder (PANE) verabschiedet und 1992 das umfassende Programm für »Kinder in besonderen Schwierigkeiten« der senegalesischen Regierung in Zusammenarbeit mit UNICEF lanciert. Dieses Programm richtete sich erstmals explizit an die »Rechte« der Talibé, indem die Koranschulen durch materielle und finanzielle Unterstützung besser ausgestattet, Alphabetisierungskurse eingeführt und im Gegenzug dafür das Betteln und Körperstrafen ausgesetzt werden sollten. UNICEF fokussierte, wie später auch andere zivilgesellschaftliche Organisationen, vor allem die sanitären Probleme, die mit dem Aufenthalt der Talibé auf der Straße einhergingen und setzte sie weitgehend mit »Straßenkindern« gleich. Auf diese Weise konnte die Thematik sowohl in Senegal politisch entschärft als auch für ein transnationales Publikum verständlicher kommuniziert werden (vgl. Perry 2004: 68; Wiegelmann & Naumann 1997: 289). Dennoch befürchteten viele Koranlehrer eine westliche, islamkritische Einflussnahme durch das Projekt und verweigerten ihre Teilnahme (vgl. Loimeier 2002: 132-133; Wiegelmann & Naumann 1997: 287). Der inter- und transnationale Kinderrechtsdiskurs, der sich in den von einer weltweiten Wirtschaftskrise gezeichneten 1980er Jahren auf urbane Armutsphä-

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In Anlehnung an Robert Launay (2016: 3) verwende ich den Begriff der »klassischen« – und nicht den der »traditionellen« – Koranausbildung, sofern ich nicht explizit Feldaussagen zitiere. Damit soll vermieden werden, die koloniale Vorstellung einer fundamental afrikanischen, auf einem synkretischen »afrikanischen Islam« beruhenden Erziehungsform, die im Kontrast zu einem »modernen« europäischen Schulsystem steht, zu reproduzieren (s. dazu ausführlich Kapitel 8).

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nomene wie »Straßenkinder« konzentriert hatte, richtete sich darauf aufbauend in den frühen 1990er Jahren auf eine allgemeine Bekämpfung jeglicher ökonomischen Aktivitäten von Kindern.8 Diese Agenda relativierten Kinderrechtsakteure im Laufe des Jahrzehnts jedoch zunehmend, da sich ein globaler Konsens hinsichtlich der Abschaffung von »Kinderarbeit« als schwierig zu erreichen erwies. Zudem wurden in vielen etablierten Politiken gegen »Kinderarbeit« überholte entwicklungslogische Konzepte oder sogar unintendierte schädigende Wirkungen für die betreffenden Kinder erkannt (vgl. Myers 1999: 22; Nieuwenhuys 1996: 239-242). Die im Jahr 1999 von der ILO angenommene Konvention über die schlimmsten Formen von Kinderarbeit hatte so nur noch die Ächtung international wenig umstrittener besonders drastischer Ausprägungen zum Ziel. Als solche klassifiziert wurden »Sklaverei, Kinderhandel, Schuldknechtschaft und andere Formen von Zwangsarbeit, Zwangsrekrutierung für den Einsatz in bewaffneten Konflikten, Prostitution und Pornographie sowie illegalen Aktivitäten« und jegliche Arbeiten, die eine Gefahr für »die Gesundheit, Sicherheit oder das moralische Wohlbefinden« eines Kindes darstellen. Zwar wird diese Konvention mit ihrem Fokus auf die »schlimmsten« Fälle von Kinderarbeit stärker unterschiedlichen Sozialisationskonzepten und sozioökonomischen Lebensrealitäten gerecht, konzentriert sich allerdings auf die proportional selteneren Fälle krimineller oder schwer missbräuchlicher Handlungen. Dies sind Bereiche, die nicht zum klassischen Aufgabenfeld der ILO gehören und in denen wenig Veränderungen zu erwarten sind (vgl. Smolin 2000: 947, 963-964). Senegal als Unterzeichnerstaat der Konvention über die schlimmsten Formen von Kinderarbeit nahm im Jahr 2003 das Betteln der Kinder als »moralisch schädigende Tätigkeit« formal in diese Kategorie mit auf (vgl. République du Sénégal 2003, Art. 2). Die Tendenz einer zunehmenden Hinwendung zu besonders gravierenden Kinderrechtsverletzungen, für die klar identifizierbare »Täter« anstatt struktureller Ursachen verantwortlich gemacht werden können, verschärfte sich mit der erhöhten Aufmerksamkeit für das Phänomen des Kinderhandels nach der Annahme des Palermo-Protokolls durch die UN-Generalversammlung im Jahr 2000 (vgl. Poretti et al. 2014: 26). Während jedoch »Kinderarbeit« oder »schlimmste Formen« der Kinderarbeit in Senegal zwar je nach Perspektive und Ausmaß unterschiedlich bewertet, aber nicht als gesellschaftliche Realität in Frage gestellt werden, musste ein solches Problembewusstsein in Hinblick auf »Kinderhandel« unter lokalen zivilgesellschaftlichen, staatlichen und juristischen Akteuren zu weiten Teilen erst geschaffen werden.

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Das »International Program on the Elimination of Child Labour« (IPEC) der International Labour Organization (ILO) zum Beispiel wurde im Jahr 1992 gegründet und fördert inzwischen in weltweit 88 Ländern Projekte zur »progressiven Abschaffung der Kinderarbeit« (23.07.2014).

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So wurde die Thematik des Menschenhandels in Senegal auch nach der Unterzeichnung des Palermo-Protokolls im Jahr 2000 und trotz zusätzlicher regionaler und bilateraler Abkommen gegen Menschenhandel9 nahezu in der gesamten ersten Dekade des neuen Jahrtausends weitgehend vernachlässigt. Selbst inter- und transnationale Akteure betrachteten andere Länder der westafrikanischen Region als vorrangige Ziele bei der Bekämpfung des Menschenhandels.10 Diese anfänglich nur marginale Einbindung Senegals in den Anti-Menschenhandels-Diskurs lässt sich auch darauf zurückführen, dass »Menschenhandel« im Alltagsverständnis ebenso wie in seiner politischen Auslegung primär als grenzüberschreitendes Phänomen wahrgenommen wird (vgl. Martin 2006: 13; Adesina 2014: 171). Innerstaatliche Formen des Menschenhandels, die nach normativen Kriterien in Senegal überwiegen, erregen gemeinhin weniger Aufmerksamkeit und werden widerwilliger überhaupt als »Menschenhandel« verstanden. Auffälligere und unstrittigere Fälle von Kinderhandel in anderen westafrikanischen Ländern, zum Beispiel ausbeuterische Arbeitsverhältnisse auf Kakao- und Baumwollplantagen und im Minenabbau in Gabun, der Elfenbeinküste oder Nigeria, lenkten den Fokus zunächst weg von Senegal (vgl. Dottridge 2002: 40). Die bettelnden Talibé, Senegals sichtbarstes Kinderrechtsproblem, wurden von trans- und internationalen Kinderrechtsakteuren schließlich sehr zurückhaltend in die Nähe des Menschenhandels gerückt. Diese Zögerlichkeit lässt sich sowohl mit der politischen Sensibilität der Thematik erklären als auch damit, dass die Passgenauigkeit der Definition des Menschenhandels mit den bettelnden Talibé erst »erkannt« werden musste. Diese waren zum einen bereits in andere strukturellökonomische Problemzusammenhänge eingebettet worden und entsprachen zum anderen nicht den gängigen Imaginationen des Menschenhandels. Zum Beispiel erwähnt der von USAID im Jahr 2004 in Auftrag gegebene Report »Study on the Practice of Trafficking in Persons in Senegal« zwar die bettelnden Talibé, spricht aber vorsichtig von einer »Minderheit« von »marabouts«, welche die »Tradition« in Form eines »Kinderhandels« missbrauche (vgl. Moens et al. 2004: xi). Eine ähnlich unschlüssige Haltung kommt in einem Report von UNICEF aus dem Jahr 2006 zum Ausdruck, der das Betteln der Talibé als ein Phänomen beschreibt, hinter dem 9

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z.B. CEDEAO 2002-2003 : Plan d’action contre la traite des personnes, particulièrement des femmes et des enfants, CEDEAO-CEEAC 2006 : Accord multilatéral de coopération régionale de lutte contre la traite des personnes, en particulier des femmes et des enfants, République du Sénégal 2008 : Accord bilatéral en matière de lutte contre la traite transfrontalière des enfants Sénégal-Mali 2004. Zum Beispiel wurde Senegal erst in der dritten Projektphase in das Programm LUTRENA (1999-2008, »Lutte contre la traite des enfants à des fins d’exploitation de leur travail en Afrique de l’Ouest et du Centre« [»Bekämpfung des Kinderhandels zum Zweck ihrer Arbeitsausbeutung in West- und Zentralafrika«]) der International Labour Organization (ILO) integriert. Auch der im Jahr 2002 von UNICEF herausgegebene Report »Child Trafficking in West Africa: Policy Responses« betrachtet die Situation in acht Ländern der Region, nicht aber in Senegal.

2. Menschenhandel in Senegal

sich »auch« eine Form von »Kinderhandel« verstecken »kann«, dessen Ausmaß jedoch aufgrund unzureichender Informationen nur schwer einzuschätzen sei. Dieser Verdacht wird bezeichnenderweise anhand eines Falles illustriert, in dem ein Koranlehrer mit einem »Menschenhändler« (»traffiqueur«) »zusammenarbeitet«, was ihm lediglich die Rolle eines Komplizen zuweist (vgl. UNICEF 2006: 37). Auf internationalen Druck hatte Senegal bereits im Jahr 2005 ein Gesetz gegen »Menschenhandel und gleichgestellte Praktiken« (loi 2005-06) verabschiedet, das die »Ausbeutung des Bettelns Anderer« besonders in den Fokus rückte, und einen ersten Nationalen Aktionsplan gegen Menschenhandel 2008 ausgearbeitet. Die staatlichen Aktivitäten Senegals gegen Menschenhandel intensivierten sich jedoch erst im Kontext des US-amerikanischen Millennium Challenge Account (MCA), in den Senegal im Jahr 2009 für eine erste fünfjährige Projektphase eingebunden wurde. Dieser Fonds mit dem Ziel der weltweiten Armutsbekämpfung durch wirtschaftliches Wachstum war mit immensen Summen an nicht zurückzuzahlenden Entwicklungsgeldern zur Nutzung in Landwirtschaft und Straßenbau verbunden. Seine Fortführung hing von einer regelmäßigen Evaluation verschiedener Kriterien ab, darunter die des staatlichen Engagements gegen Menschenhandel als Indikator für eine »gute Regierungsführung«. Senegals Einsatz gegen Menschenhandel stand daher in diesem Zeitraum besonders stark in einem reaktiven Bezug zu den jährlichen Trafficking in Persons Reports der US-Regierung. Diese Reporte sind nach eigener Aussage das wichtigste diplomatische Instrument der Vereinigten Staaten, um ausländische Regierungen zur Bekämpfung des Menschenhandels anzuhalten. Sie evaluieren die jeweiligen staatlichen Bemühungen, die im US-amerikanischen Trafficking Victims Protection Act (2000) gesetzlich festgelegten »Mindeststandards für die Beseitigung des Menschenhandels« einzuhalten und bewerten sie mit einer von drei möglichen Klassifizierungen (vgl. US Department of State 2016 [html]). Anne Gallagher (2010: 485) kritisiert die politisch machtvollen Reporte als »paralleles unilaterales Regime«, da sie die Bemühungen von Staaten gegen Menschenhandel anhand intern generierter Maßstäbe anstatt anhand internationaler Rechtsvorschriften beurteilen. Sie sieht ferner eine Gefahr darin, dass viele staatliche Initiativen gegen Menschenhandel lediglich aus Furcht vor den Konsequenzen einer negativen Evaluation erfolgen und sich aus einer Menschenrechtsperspektive als bedenklich erweisen. Vor dem Hintergrund dieser jährlich anstehenden Beurteilungen war der performative Wert, vor allem die Sichtbarkeit und Messbarkeit der Maßnahmen gegen Menschenhandel für Senegal im untersuchten Zeitraum von grundlegender Bedeutung. Ein erster Meilenstein stellte bei Aufnahme des MCA-Projekts im Jahr 2010 die Gründung der Cellule Nationale de Lutte contre la Traite des Personnes, particulièrement des Femmes et des Enfants (CNLTP) als nationale, dem Justizministerium unterstellte Koordinierungsstelle aller staatlichen und zivilgesellschaftlichen Aktivitäten zur Bekämpfung des Menschenhandels dar. Die CNLTP besteht aus ständigen Mitgliedern – mehrheitlich staatliche Repräsentan-

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ten der beteiligten Ministerien, aber auch Vertreter der Zivilgesellschaft und des religiösen Milieus – und geht zudem flexible Kooperationen mit weiteren relevanten inter-, trans- und nationalen Akteuren ein. Formen des Menschenhandels zu signalisieren, regionale Mechanismen und Kooperationen gegen Menschenhandel aufzubauen, Politiken zur Sensibilisierung der Bevölkerung auszuarbeiten, zivilgesellschaftliche Akteure und Entwicklungspartner zu assoziieren sowie zur Verbesserung des gesetzlichen Disposivs gegen Menschenhandel beizutragen, stellen die offiziellen Aufgaben der CNLTP dar.11 Die CNLTP wurde erst im Jahr 2012 durch eine Finanzierung der UNODC tatsächlich handlungsfähig. Im Rahmen der Operationalisierung des Nationalen Aktionsplans gegen Menschenhandel für die Periode 2012-2014 fanden in den Jahren 2012 und 2013 diverse Seminare, Konferenzen, informelle Besprechungen und andere Veranstaltungen statt, an denen ich während meiner Feldforschung teilnehmen konnte. Ein erstes gemeinsam von UNODC und ILO organisiertes Seminar im August 2012 mit dem Titel »Stärkung der Fähigkeiten der Mitglieder der CNLTP – Identifikation und Schutz der Opfer von Menschenhandel« hatte zunächst zum Ziel, die beteiligten Akteure über die Bedeutung des international normierten Konzepts des Menschenhandels in Kenntnis zu setzen. Dies stellte die Grundvoraussetzung dar, um die solchermaßen qualifizierten Phänomene überhaupt »bekämpfen« zu können und um koordinierte Kooperationen der Organisationen untereinander zu diesem Zweck aufzubauen. Nachfolgende zentrale Aktivitäten der CNLTP waren die Ausarbeitung eines Kommunikationsplans zur Sensibilisierung der Bevölkerung über Menschenhandel und Ende des Jahres 2012 eine Fortbildung für Staatsanwälte, die an Jugendgerichten tätig waren. Diese hatte zum Ziel, die juristische Expertise über das bis dahin de facto nicht wirksame Gesetz 2005-06 gegen »Menschenhandel und gleichgestellte Praktiken« zu stärken. Die Institutionalisierung der Bekämpfung des Menschenhandels durch die CNLTP trug zumindest unter den regelmäßig eingebundenen Akteuren wesentlich zur Anerkennung des Menschenhandels als gesellschaftliche Realität bei. Dabei dominierte die Thematik der bettelnden Talibé sämtliche von der CNLTP organisierte Aktivitäten, die ich verfolgen konnte. Zwar gaben diverse Mitglieder gelegentlich zu bedenken, dass »Menschenhandel« nicht mit dem »Betteln« gleichgesetzt werden dürfe, dennoch beherrschte die Koranschulproblematik die Aktivitäten und die Debatten in den Zusammenkünften der CNLTP in unterschiedlich expliziter Weise (z.B. Sitzung, 11

Beteiligt sind folgende Ministerien : Ministère de la Famille, Ministère de l’Intérieur, Ministère de la Justice, Ministère des Forces armées, Ministère des Affaires étrangères, Ministère de l’Education, Ministère du Travail et des Organisations syndicales, Ministère de la Formation professionnelle et de l’Emploi, Ministère de la Santé, Ministère de la Communication, Ministère des Droits humains, la Direction de l’Education surveillée et de la Protection sociale. Weitere Informationen zur CNLTP finden sich auf ihrer Webseite unter: Qui sommes Nous? (08.05.2016).

2. Menschenhandel in Senegal

Dakar, 10.05.2012). Auch der Kommunikationsplan der CNLTP stand ganz im Zeichen der Entwicklung sozial anschlussfähiger Botschaften gegen das Betteln der Talibé und deren medialer Verbreitungsmöglichkeiten. Die CNLTP zeigte sich zudem früh bemüht, Koranlehrer und andere religiöse Akteure einzubeziehen und rief im Oktober 2012 eine Versammlung ein, um deren Vorschläge zur Bekämpfung der mendicité zu berücksichtigen. Bereits 2011 hatte der US-amerikanische Trafficking in Persons Reports jedoch kritisiert, dass Senegals Maßnahmen andere Formen des Menschenhandels außer den bettelnden Koranschülern vernachlässigen würden und diese Kritik 2012 wiederholt (vgl. U.S. Department of State 2011 [html], 2012: 304). Die CNLTP stand so im Zugzwang, den Fokus ihrer Aktivitäten auszuweiten. Noch im Jahr 2012 fand eine Konferenz zur Sensibilisierung des Privatsektors für Menschenhandel statt, um den Blick auf Ausbeutung im produktiven Sektor und im Minenabbau, aber auch auf den sexuellen Missbrauch von Kindern in den Touristengebieten zu lenken. Eine der wichtigsten Aktionen der CNLTP im Jahr 2013 stellte eine Caravane de Sensibilisation für Medienvertreter dar mit dem Ziel, die Präsenz der Thematik des Menschenhandels in der öffentlichen Debatte zu stärken. Diese »Karawane« verband drei Etappenziele als Anschauungsorte für verschiedene Ausprägungen des Menschenhandels. Sie führte zu den Goldminen in Kédougou im malisch-guineischen Grenzgebiet, um die Minenarbeit von Kindern und die Zwangsprostitution junger Mädchen und Frauen an die Öffentlichkeit zu bringen, und nach Koumpentoum in Zentralsenegal, die Herkunftsregion vieler der Mädchen, die sich unter oft ausbeuterischen Bedingungen als Haushaltshilfen in den urbanen Zentren verdingen. Im Departement Nioro unweit der gambischen Grenze besichtigten die Journalisten alternative Koranschulmodelle, die lediglich eine zeitlich limitierte und non-monetäre Form des Bettelns praktizierten und sich mit Unterstützung einer lokalen NGO erfolgreich etabliert hatten. Mit dieser empirischen Auswahl wurde das Feld des Menschenhandels sowohl geografisch als auch assoziativ abgesteckt. Aufschlussreich an der Auswahl der Schauplätze war, dass die Koranschulproblematik im Gegensatz zu den anderen Themen anhand eines vorbildlichen Beispiels erfahrbar wurde. Diese Repräsentationsweise reflektierte die dominierende Meinung über die Koranausbildung als essenziell positive Praktik. Indem die teilnehmenden Journalisten nach ihrer Rückkehr über die Problematiken der besuchten Orte in verschiedenen medialen Formaten unter Bezugnahme auf »Menschenhandel« berichteten, multiplizierten und reproduzierten sie die durch die Karawane geprägte Bedeutungsgebung dieses Begriffs im öffentlichen Diskurs. Alle zeigten sich besonders entsetzt über die Situation in Kédougous Minen, in denen minderjährige Sexarbeiterinnen12 und Arbei12

Die Akteure meines Feldes verwendeten fast ausschließlich den alltagssprachlich geläufigen und negativ konnotierten Begriff »Prostitution« und nicht den liberalen Begriff »Sexarbeit« (s. hierzu Kempadoo 1998: 3-6).

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ter aus der ganzen westafrikanischen Region unter schwersten Bedingungen und unter nahezu völliger Abwesenheit staatlicher Strukturen ihren Lebensunterhalt zu verdienen versuchen (vgl. CNLTP 2013). Die vor den Augen der Allgemeingesellschaft weitestgehend verborgenen Lebensrealitäten ausländischer, minderjähriger Sexarbeiterinnen, die häufig unter falschen Versprechungen in das Gebiet gelockt wurden, schienen ihrer Imagination des Menschenhandels am meisten zu entsprechen. Dennoch war der Fokus des transnationalen Diskurses um Menschenhandel in Senegal aufgrund ihrer großen Sichtbarkeit und hohen Anzahl in den urbanen Zentren nur schwer von den bettelnden Talibé wegzubewegen, auch wenn gerade deren Hypervisibilität dazu führt, dass sie von weiten Teilen der Bevölkerung als »Normalität« wahrgenommen werden und ihre Kriminalisierung dadurch zusätzlich erschwert wird. Die Minen hingegen erregten zwar unter den an der Karawane teilnehmenden Journalisten die größte Aufmerksamkeit, sind jedoch durch ihre periphere geografische Lage und unzureichende infrastrukturelle Erschlossenheit für zivilgesellschaftliche Organisationen ein sehr unzugängliches Handlungsfeld. Hinsichtlich erwachsener Sexarbeiterinnen zeigte sich unter meinen Kontaktpersonen ohnehin nur eine geringe Bereitschaft, diese als potentielle »Opfer von Menschenhandel« zu viktimisieren, da sie ihnen vielmehr die Suche nach »schnellem Geld« unterstellten (z.B. PARRER (Workshop), Dakar, 19.04.2012). Die petites bonnes (junge Hausmädchen) wiederum halten sich zwar in Dakar, aber in den Häusern ihrer Arbeitgeber auf, sodass ausbeuterische Formen einer prinzipiell soziokulturell akzeptierten Tätigkeit für junge Mädchen der Öffentlichkeit weitgehend verborgen bleiben. Die Hausmädchen sind zudem meist älter als die bettelnden Talibé und ihre, wenn auch gering bezahlte, Beschäftigung stellt einen schon lange und allgemein üblichen Weg dar, um die Aussteuer für eine Heirat (vgl. Roquet 2008: 45) oder in den Sommermonaten die Unkosten für einen Schulbesuch zu verdienen (vgl. Sam, Seneweb, 27.08.2015). Damit wurde der Diskurs um Menschenhandel, der sich global vor allem auf die (sexuelle) Ausbeutung von Frauen und Mädchen konzentriert (z.B. Goździak 2015: 29-30; Dottridge 2002: 38; Weitzer 2014: 7; Farrell & Pfeffer 2014: 51) im senegalesischen Kontext nahezu ausschließlich auf Jungen, die bettelnden Talibé, bezogen. Diese sind zwar Teil der moralischen Kategorie der Kinder (vgl. O’Connell Davidson 2011: 462-463), als zukünftige junge Männer ohne aussichtsreiche Chancen auf legale Verdienstmöglichkeiten und aufgrund ihrer Gewohnheit, sich auf der Straße »durchzuschlagen« (s. Kapitel 4), ist ihre öffentliche Wahrnehmung jedoch ambivalent. Ihre empirische Sonderstellung innerhalb des transnationalen Diskurses um Menschenhandel trug neben soziokulturellen Ursachen mit dazu bei, dass sich die assoziative Verbindung zwischen »Menschenhandel« und den »Talibé« in Senegal gesamtgesellschaftlich nicht verankern konnte.

2. Menschenhandel in Senegal

Von Sklaven und Drogen: Die terminologische Last des Menschenhandels Kennzeichnend für den Diskurs um Menschenhandel in Senegal war, dass sich der Begriff trotz bemühter öffentlichkeitswirksamer Kampagnen nicht im allgemeinen Sprachgebrauch durchsetzen konnte. Dieser Widerstand war auch durch die aufgeladenen Konnotationen begründet, die er transportiert. Die breit gefasste Definition des Menschenhandels durch das Palermo-Protokoll deckte sich nicht mit der assoziativen Verengung, die der Begriff bei vielen Senegalesen unmittelbar hervorrief. Mein Feldmaterial legte zwei Assoziationsfelder mit jeweils gegensätzlichen Wirkungen offen, die sich aus dem gängigsten französischen Begriff für »Menschenhandel«, »traite des personnes« (auch: »traite des êtres humains«), ableiten. Eines der Assoziationsfelder ergibt sich dadurch, dass der Begriff »traite« stark an den der »maltraitance« erinnert, der »Misshandlung« bedeutet und sehr häufig benutzt wird. Zudem kann das Verb »traiter« nicht nur neutral als »behandeln« übersetzt werden, sondern auch als »(jemanden) beschimpfen (als)«. So wurde in mehreren Gesprächen – auch mit Kinderrechtsakteuren – deutlich, dass meine explorativen und bewusst ignoranten Fragen nach in Senegal existierenden Formen von Menschenhandel mit Bezug auf mögliche Formen von Misshandlung beantwortet wurden (z.B. Grimaud, Dakar, 06.04.2012; Diallo, Mbao, 13.09.2012). Die Gleichsetzung mit dem Begriff »maltraitance« führte dazu, dass der des »traite (des personnes)« inflationär verwendet wurde. Aufgrund einer ohnehin nur vagen und stereotypen Vorstellung von »Menschenhandel« in der Bevölkerung und selbst unter Menschen- und Kinderrechtsakteuren sowie einer wenig verbreiteten Kenntnis der juristischen Definition mutierte der Begriff auf diese Weise zu einem polemischen Schlagwort für sämtliche Formen des besonders schweren körperlichen oder psychischen Missbrauchs (vgl. Quirk 2006: 594-595). Gerade weil das Konzept des Menschenhandels nach dem Palermo-Protokoll durch wenige, teils abstrakte und vage Aspekte definiert ist und dadurch Raum für vielfältige, mitunter widersprüchliche Interpretationen bietet, verlor es in seiner diskursiven Verwendung an analytischer Schärfe. So konnte der Begriff des Menschenhandels, der keine objektive, selbsterklärende Bedeutung besitzt (vgl. O’Connell Davidson 2015: 154), über seine Gleichsetzung mit dem der »maltraitance« assoziativ konkretisiert und relativiert werden. Kinder wurden weitaus einvernehmlicher als »Opfer von Misshandlung« bezeichnet, auch wenn sie die offiziellen Kennzeichen eines »Opfers von Menschenhandel« erfüllten. Ein Zeitungsartikel zitierte sogar den Präsidenten der Nationalen Koordinierungsstelle zur Bekämpfung des Menschenhandels (CNLTP) mit der nebulösen Aussage, »90 % der Opfer von traite und maltraitance« (meine Hervorhebung) seien Talibé (vgl. Seck, Le Soleil, 11.11.2013). Viele der am transnationalen Diskurs um Menschenhandel beteiligten Kinderrechtsakteure gebrauchten zudem nicht den langen und etwas umständlich anmutenden Begriff »traite des personnes«, sondern sprachen meist nur von »traite«, »Handel«. Diese

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vordergründig rein sprachliche Abkürzung implizierte eine abschwächende Wirkung, indem das Betteln der Talibé explizit nicht mit »Menschenhandel«, lediglich mit einem »Handel« gleichgesetzt wurde. Dass ökonomische Interessen beim Betteln der Talibé im Spiel sind, also eine Art »Handel« betrieben wird, entsprach wiederum durchaus der Wahrnehmung vieler Senegalesen über unterschiedliche Berufsgruppen und gesellschaftliche Milieus hinweg (z.B. Gaye, Dakar, 31.07.2013; DPDE (Gruppendiskussion), Dakar, 12.06.2013). Das andere Assoziationsfeld, das den Diskurs noch deutlicher prägte, nahm Bezug auf den Begriff »traite des esclaves« (auch: »traite negrière«), den transatlantischen Sklavenhandel. Sprachübergreifend wird »Menschenhandel« mit »Sklaverei« assoziiert und »Sklaverei« wiederum vor allem mit dem transatlantischen Sklavenhandel (vgl. Kopytoff 1982: 225; Quirk 2011: 587; Bravo 2011: 561-572). In der französischen Terminologie kommt diese Konnotation jedoch besonders stark zum Tragen, da sowohl für »Menschenhandel« (»traite des personnes«) als auch für »Sklavenhandel« (»traite des esclaves«) der Begriff »traite« verwendet wird. Im Englischen hingegen sind die Begriffe »slave trade« als (transatlantischen) »Sklavenhandel« und »human trafficking« als »Menschenhandel« gebräuchlich.13 Rechtshistorisch und formaljuristisch bestehen über die Aspekte der Ausbeutung und der Beherrschung einer Person Verbindungen zwischen der »Sklaverei« und dem »Menschenhandel« (vgl. Morcom & Schloenhardt 2011: 7-8). Dennoch handelt es sich um zwei unterschiedliche Konzepte, indem Sklaverei über die Ausübung der Eigentumsrechte an einer Person definiert wird und eine besonders schwere Form der Ausbeutung darstellt, für den Tatbestand des Menschenhandels hingegen die nicht konsensuelle Verbringung zum Zweck der Ausbeutung konstitutiv ist (vgl. Gallagher 2010: 55; Botte 2003: 19-20; Manzo 2005: 395-397). Die auffallend enge Assoziation des Begriffs des Menschenhandels mit dem Sklavenhandel lässt sich in Senegal zudem dadurch erklären, dass die historische Erfahrung des transatlantischen Sklavenhandels zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert einen unauslöschlichen Platz im kollektiven Gedächtnis innehat. Er nimmt eine besondere Präsenz dadurch ein, dass sich direkt vor der Küste Dakars die Île de Gorée befindet, die als Umschlagplatz für die Verschiffung von Sklaven nach Amerika diente und heute einen hoch symbolträchtigen Ort darstellt.14 Seit 13

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Terminologisch ist der englische Begriff »human trafficking« somit analog zu dem des »white slave traffic«, dem Handel mit »weißen« Frauen und Mädchen zu Prostitutionszwecken, und nicht zu dem des »slave trade«, dem Handel mit (afrikanischen) Sklaven. Die Bedeutung der Île de Gorée und des dortigen »Sklavenhauses« für den transatlantischen Sklavenhandel fochten die Historiker Abdoulaye Camara und Joseph Roger de Benoist an. Ihnen zufolge wurde das Sklavenhaus erst im Jahr 1783 erbaut, als die Europäer von den Küsten Senegals aus bereits keinen Sklavenhandel mehr betrieben, und diente als Warenlager. Auch sollen über die Île de Gorée selbst zu Blütezeiten des transatlantischen Sklavenhandels nur mehrere Hundert (und nicht Tausende) Sklaven nach Amerika verschifft worden sein.

2. Menschenhandel in Senegal

dem Jahr 2015 zelebriert Senegal nicht nur den internationalen, sondern zudem einen nationalen Gedenktag des transatlantischen Sklavenhandels und war im Jahr 2010 das erste afrikanische Land, das »Sklaverei und den Handel mit schwarzen Sklaven« gesetzlich zum »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« erklärte. Auch wenn anlässlich solcher Gedenktage stets die bis in die Gegenwart reichende Kontinuität der Sklaverei und der ihr unterliegenden Ideologien und Mechanismen sowie heutige Formen der Sklaverei zur Sprache kommen, ist die Reichweite solcher Veranstaltungen relativ gering (z.B. Senenews, 10.04.2019). Mit Blick auf den transatlantischen Sklavenhandel dominiert in Senegal ein selbstviktimisierender Blick. Dabei stellte der innerafrikanische Sklavenhandel gerade in Westafrika jahrhundertelang eine Konstante dar und die französische Abolitionsbewegung ab Mitte des 19. Jahrhunderts stieß in der streng hierarchischen senegambischen Kastengesellschaft zunächst auf großen Widerstand (z.B. Coulon 1981: 60). Auch das tatsächliche Ausmaß der Bevölkerungsverluste durch den transatlantischen Sklavenhandel ist unter Historikern umstritten (vgl. Inikori 1976: 197). Er wird in der öffentlichen Wahrnehmung jedoch häufig in Kontinuität zur Kolonialvergangenheit des Landes und zu neuen neoliberalen globalen Machtverhältnissen gesetzt und mitunter dazu instrumentalisiert, um gegenwärtige gesellschaftliche Missstände zu rechtfertigen (vgl. Botte 2000: 8, 32-34). Eine moderne Reinterpretation der Sklaverei als »Menschenhandel« steht diesen Narrativen dadurch entgegen, dass damit einhergehend Täter- und Opferschaften invertiert werden, indem die globalen Brennpunkte des Menschenhandels gemeinhin in Afrika und anderen Ländern des Südens, weniger aber in Europa oder den USA vermutet werden. Ebenso wie die damaligen europäischen Großmächte die Abschaffung der Sklaverei als zivilisatorisches Projekt repräsentierten (vgl. Osterhammel 2000: 62-65), werden auch heute mit »Menschenhandel« Rückständigkeit und Barbarei assoziiert (vgl. Quirk 2006: 585, 588). Tatsächlich betonten mehrere meiner Interviewpartner, dass es sich bei »Menschenhandel« um ein »westliches« Konzept handele, das einen negativen, kolonialen Blick auf Afrika zum Ausdruck bringe und die damit verbundenen Phänomene nicht treffend fasse (z.B. Ndiaye, Guédiawaye, 27.04.2012; Fall, Dakar, 16.05.2012; Ly, Dakar, 25.08.2012). Während also die Assoziation mit dem Begriff »maltraitance« zu einer übermäßigen und verallgemeinernden diskursiven Verwendung des Begriffs »Menschenhandel« verleitete, führte die Assoziation mit dem transatlantischen Sklavenhandel dazu, dass »traite des personnes« für kaum eine gegenwärtige soziale Problematik als adäquate Bezeichnung betrachtet wurde. Indem sie die »heilige Wunde« (Fall, Dakar, 16.05.2012) des transatlantischen Sklavenhandels berührte, erschien sie einem Großteil der Bevölkerung zu extrem oder schlicht unpassend für zeitgenössiDiese Enthüllungen erreichten in Senegal jedoch keine öffentliche Durchschlagskraft und schmälerten nicht die symbolische Bedeutung des Ortes (vgl. Prier, Le Figaro, 26.06.2013).

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sche Formen der Ausbeutung und Misshandlung (vgl. Vandenberg 2012: 726 nach Gallagher 2010). Diese historischen Assoziationen kommen deutlich weniger beim Gebrauch des Begriffs »trafic« zum Tragen, der für viele mit einer »moderneren« Konnotation verbunden ist (vgl. Botte 2003: 17). »Trafic« bedeutet »Schmuggel« beziehungsweise »Schleusung« und ist daher nicht die juristisch korrekte Bezeichnung für »Menschenhandel«. Jedoch wurde auf menschenhandelsähnliche Phänomene in Senegal vor der Annahme des Palermo-Protokolls (UN 2000), das die Übersetzung als »traite des personnes« für »Menschenhandel« in Abgrenzung zu »trafic des migrants« als »Migrantenschleusung« formalisierte, gemeinhin als »trafic des personnes« Bezug genommen (vgl. Enda 2000: 12-14; Anti-Slavery 2003: 17). Die terminologische Konfusion wurde dadurch verstärkt, dass der englische Begriff »trafficking« somit das Pendant zum französischen »traite« darstellt, während »trafic« hingegen mit »smuggling« übersetzt werden muss (vgl. Botte 2003: 17). Da viele meiner senegalesischen Informanten die Unterscheidung zwischen »traite« und »trafic« ohnehin als konstruiert empfanden, trug die sprachliche Uneindeutigkeit zusätzlich dazu bei, dass die Begriffe auch von Vertretern großer zivilgesellschaftlicher oder staatlicher Institutionen, wie zum Beispiel Avenir des Enfants oder PARRER, die eng in diesen Diskurs eingebunden waren, oft einfach synonym verwendet oder intuitiv definiert wurden (z.B. Diaw, Dakar, 29.03.2012; Thioub, Dakar, 17.08.2012; Dione, Dakar, 09.04.2012; Kouyate, St. Louis, 03.08.2012). Daher muss auch die Einflussnahme der mit dem Begriff »trafic« verbundenen Assoziationen auf den Diskurs um »Menschenhandel« berücksichtigt werden. In den medialen Schlagzeilen kommt er am häufigsten als »trafic des stupéfiants« (auch: »trafic des drogues«) und damit in Verbindung mit »Drogenhandel« vor, der in Dakar als Umschlagplatz und Transitpunkt ein blühendes Geschäft darstellt. Projiziert auf das umgangssprachliche Konzept des »trafic des personnes« führten diese Bilder zur Imagination professioneller »Netzwerke« »organisierter Banden«, wodurch das Phänomen des Menschenhandels in einer nicht greif- und sichtbaren »Schattenwelt« verortet wird (z.B. Dione, Dakar, 09.04.2012; Diouf, Dakar, 30.03.2012; Diatta, Kolda, 13.05.2013). Daher löste diese Bezeichnung für soziale Problematiken, die allenfalls als »Ausbeutung« oder sogar als mit einer sozioreligiösen Tradition in Verbindung stehend wahrgenommen wurden, bei vielen meiner Informanten ebenso Unbehagen aus wie die des »traite des personnes« (z.B. DPDE (Gruppendiskussion), Dakar, 12.06.2013). Somit repräsentierten beide Begriffe, »traite« und »trafic«, jeweils implizit bestimmte Prototypen, die neben einer assoziativen Verengung und extrem kriminalisierenden Konnotation dazu führten, dass im Alltagsverständnis zumeist eine formaljuristisch nicht vorausgesetzte grenzüberschreitende Verbringung für notwendig erachtet wurde, um einen Tatbestand als »Menschenhandel« zu qualifizieren (z.B. Ndiayedaara, Pikine, 08.05.2012; Diop, Pikine, 05.04.2012). Ein Spannungsfeld war aber auch, dass »Menschenhandel« in Senegal zum einen stark mit dem Sklavenhandel, also mit einer historisch lang zurücklie-

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genden Vergangenheit, und zum anderen mit den negativen Folgen der Globalisierung assoziiert wurde. Während im Französischen mit »trafic des personnes« und »traite des personnes« zumindest zwei Begriffskonstruktionen dem juristischen Konzept des Menschenhandels entsprechen beziehungsweise nahekommen, ist in keiner der senegalesischen Nationalsprachen Wolof, Seereer, Diola, Mandinka, Fulfulde und Soninke ein solcher Begriff bekannt. So lässt sich zum Beispiel auf Wolof, der Hauptverkehrssprache Senegals, das Konzept »Menschenhandel« nur mit »jay nit«, »eine Person verkaufen«, umschreiben (vgl. Enda 2008: 15-17) und ist damit auf die Facette einer monetären Transaktion und Beteiligung einer abgebenden Person reduziert. Solche sprachlichen Übersetzungsprozesse verstärkten die Verzerrungen, die ohnehin mit den unterschiedlichen Interpretationen dieses gesellschaftlich kaum vertrauten Konzepts einhergingen.

Menschenhandel und Talibé: eine sperrige Verbindung Die generell schwache Akzeptanz des Begriffs des Menschenhandels für gegenwärtige soziale Problematiken verstärkte sich in Bezug auf die bettelnden Talibé umso mehr. Wohl zögerten viele Senegalesen nicht, die Situation mancher Talibé als »Ausbeutung« zu bezeichnen oder sich darüber zu empören, dass das Betteln von skrupellosen maîtres zu einem »Geschäft« oder einer »Geldquelle« gemacht würde (z.B. Gaye, Dakar, 31.07.2013; DPDE (Gruppendiskussion), Dakar, 12.06.2013). Von »Menschenhandel« zu sprechen schien den meisten aber nur in den seltenen Fällen angemessen, in denen maître und Eltern selbst unmittelbar und strategisch von den Bettelerträgen profitieren (z.B. Dramé, Pikine, 30.05.2012). Zwar unterstellten insbesondere Akteure aus dem urbanen Milieu den Eltern in den ländlichen Gegenden, ihre Kinder einem Koranlehrer anzuvertrauen, um die eigenen Haushaltskosten zu senken (z.B. Ka, Dakar, 05.06.2013; Basse, Dakar, 10.04.2013; PARRER (Workshop), Dakar, 18./19.09.2012; Diao, Ziguinchor, 05.05.2013, s. Kapitel 4), jedoch entsprechen vermeintlich kalkulierte wegfallende Ausgaben nicht der gängigen Imagination eines »Handels«. Der Sprecher der Dachorganisation PPDH wiederum, Mamadou Wane, der bereits unter anderem für UNICEF gearbeitet hatte und auch mit der formalen Definition des Konzepts des »Menschenhandels« gut vertraut war, kommentierte einmal ironisch, noch nie gehört zu haben, dass die Talibé aus den Dörfern »gekidnapped« würden (Wane, Dakar, 19.04.2012). Da viele Afrikaner auf diese Weise für den Sklavenhandel gefangen genommen worden waren, brachte auch seine Bemerkung die typische historische Assoziation zum Ausdruck, die zumindest unterschwellig beim Gebrauch des Begriffs »Menschenhandel« für viele mitschwingt. Auch Prof. Dr. Ibrahima Thioub, Historiker an der Universität Dakar, zu dessen Forschungsschwerpunkten der transatlantische und innerafrikanische Skla-

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venhandel gehört, wandte sich in unserem Gespräch strikt dagegen, das Phänomen der bettelnden Talibé über die juristische Definition des Menschenhandels assoziativ mit der »Sklaverei« gleichzusetzen (Dakar, 17.08.2012). Er hielt es für bedenklich, solche spezifischen historischen Begriffe zu »missbrauchen«, betonte aber gleichzeitig, dass es gegenwärtige Formen der Ausbeutung und des Missbrauchs geben könne, die noch »schlimmer« seien. Aus seiner Sicht bedeutete ein »Sklave« zu sein, seine »Identität« und »Menschlichkeit« zu verlieren sowie mit »Gewalt« seiner Freiheit beraubt zu werden. Seine Interpretation entsprach damit der Orlando Pattersons (1982: 38), für den mit Sklaverei ein »sozialer Tod« einherging, indem dem Sklaven als »Unperson« alle Verbindungen mit seiner ethnischen oder verwandtschaftlichen Gruppe verweigert wurden und auch der Martin A. Kleins (1993: 4), der den Sklaven als »antiparent« ohne Verwandtschaftsrechte beschrieb. Diese Kennzeichen träfen auf die Talibé nicht zu, die meist noch sporadisch Kontakt zu ihren Familien pflegten oder zumindest nach ihrer Koranausbildung in ihre Herkunftsdörfer zurückkehrten und somit ihre biografische Einbettung nicht verlören. Sogar die Koranlehrer selbst gehören häufig dem erweiterten Familienkreis an und die confiage begründet sich durch Rechte und Pflichten, die mit (sozialer oder biologischer) Verwandtschaft einhergehen. Die Interpretation von Ibrahima Thioub kann in Bezug auf die Talibé dahingehend weitergeführt werden, dass den bettelnden Koranschülern aus einer radikalen Menschenrechtsperspektive grundlegende Persönlichkeitsrechte nicht gewährt, sie also entmenschlicht werden, sie gemäß einer konservativen muslimischen Auslegung hingegen durch die Koranausbildung gerade den Status eines vollwertigen Menschen erlangen (z.B. Last 2000: 376; Ware 2014: 70). Issa Kouyate wiederum, Leiter von Maison de la Gare, einer Hilfseinrichtung für Talibé in St. Louis und zugleich in der Dachorganisation PPDH aktiv, zeigte sich damit einverstanden, die Situation der bettelnden Talibé als »Menschenhandel« zu bezeichnen, hielt jedoch deren Lebensbedingungen für noch dramatischer als die der historischen Sklaven. Während diese zumindest offiziell als solche benannt worden seien, würden die Talibé ein »verstecktes« Sklavendasein fristen, das die Gesellschaft nicht wahrnehme (Kouyate, St. Louis, 03.08.2012). Seine Interpretation zeigte damit Parallelen zu Kevin Bales‹ Analyse der »neuen Sklaverei«. Bales streicht heraus, dass Sklaven vormals als legales Eigentum galten und damit Pflichten für den Besitzer einhergingen, während sie gegenwärtig unter dessen totaler Kontrolle stünden, indem sie keine aufwendige Investition mehr darstellten und sich Formen der Sklaverei häufig hinter Arbeitsverträgen versteckten (vgl. Bales 2012: 4-6, 31). Übertragen auf die Talibé trifft aus der Perspektive Issa Kouyates zu, dass sie für ihre maîtres mit keinerlei finanziellen Aufwendungen verbunden sind und der sozioreligiöse Kontext als »Tarnung« für deren sklavenartige Lebensbedingungen dienen kann. Die unterschiedlichen Argumentationen für oder gegen eine Klassifizierung der bettelnden Talibé als »Menschenhandel« zeugten nicht nur von

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der durchgängig engen Assoziation dieses Konzepts mit dem der »Sklaverei«, sondern auch davon, dass »Sklaverei« selbst mit divergierenden Imaginationen verbunden sowie das Verhältnis ihrer vergangenen und gegenwärtigen Formen unterschiedlich interpretiert wird (vgl. Manzo 2005: 396; Quirk 2011: 565-566). Außerhalb des Kreises derjenigen, die mit dem transnationalen Kinderrechtsdiskurs in Berührung kamen, hat mir gegenüber keiner meiner Gesprächspartner in Senegal von sich aus die Situation der Talibé als Menschen- oder Kinderhandel bezeichnet, sie wohl aber heftig kritisiert. Da das Betteln der Talibé nicht den gängigen an »Menschenhandel« geknüpften Assoziationen entspricht, erfordert diese Gleichsetzung eine hohe Abstraktionsleistung. Das Phänomen muss aus seiner habituellen soziokulturellen Einbettung gelöst und in Analogie zur Sklaverei mit ihrem völlig anderen historischen Kontext oder zu Verbrechensformen wie dem Drogenhandel gesetzt werden. Die Reibung zwischen der sozialen Realität und dem normativen Diskurs um Menschenhandel ist nicht nur auf die Alltagssemantik dieses Begriffs zurückzuführen, sondern zeigt sich in weiteren Paradoxien, die dessen Übertragung auf die bettelnden Talibé hervorbringt. So stellt die gemeinhin als hoch kriminalisierend wahrgenommene Klassifizierung als »Menschenhandel« formal das Ergebnis einer sehr reduzierten Summierung von Teilaspekten der Lebensrealität der Talibé dar. Juristisch betrachtet genügt der Umstand, dass die Talibé von einem Koranlehrer (vorsätzlich) »ausgebeutet« werden. Viele andere Kennzeichen ihres Alltags, die aus der Perspektive der Talibé selbst zum Teil als noch leidvoller empfunden werden, finden damit keine Berücksichtigung. Einige ehemalige Talibé, mit denen ich sprechen konnte, beklagten zum Beispiel weniger das Betteln als ihren völlig überfüllten Schlafraum, Gewalterfahrungen oder die Tatsache, ihre »Mutter« jahrelang nicht sehen zu können (z.B. Silla, Kolda, 12.05.2013; Gruppendiskussion, Dakar, 25.04.2013). Da die aus ihrer Koranschule geflohenen Talibé ferner in aller Regel in ihre Familien »wiedereingegliedert« werden, den Familien jedoch oft unterstellt wird, sich ihrer Kinder aus ökonomischen Gründen zu »entledigen«, und auch die »ausbeutenden« Koranlehrer selbst mitunter dem erweiterten Familienkreis angehören, erweist sich das transnational vorherrschende Narrativ der schützenden biologischen (Nuklear-)Familie in Kombination mit dem kriminalisierenden Konzept des Menschenhandels in diesem Kontext als dilemmatisch. Die Einbettung des Protokolls gegen Menschenhandel in das Übereinkommen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität vermittelt wiederum, dass die Täter eher transnational operierende Fremde als Vertraute aus dem näheren lokalen und sozialen Umfeld sind (vgl. Warren 2007: 247) und erschwert damit indirekt den Zusammenhang, den inter- und transnationale Akteure in Senegal gerade herzustellen versuchten. Zudem führt die durch das Palermo-Protokoll in den Fokus gerückte individuell-personelle Täterschaft dazu, dass die bedeutende Rolle der Almosen gebenden Allgemeinbevölkerung ebenso wie die historisch begrün-

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dete staatliche Nicht-Einmischung in das Koranschulwesen vernachlässigt wird. Da gerade die Talibé ein besonders hohes Maß an agency aufbringen müssen, um ihren Alltag mit kreativen Überlebensstrategien zu bewältigen, steht auch ihre extreme diskursive Viktimisierung als »Opfer von Menschenhandel« in einem Spannungsfeld zu ihrer tatsächlichen Lebenspraxis. Dahingehend stellte es wiederum einen zynischen Umstand dar, dass die Talibé trotz ihrer öffentlichen Sichtbarkeit erst eigenmächtig aus ihrer Koranschule fliehen mussten, bevor ihnen dieser Status und die damit einhergehenden Unterstützungsmaßnahmen offiziell zuerkannt wurden. Ebenso erwies sich der für das Konzept des Menschenhandels notwendige Aspekt der »Ausbeutung« im Kontext der bettelnden Talibé als besonders kontrovers, da in den Augen vieler gläubiger Muslime das Koranstudium jegliche Kosten und Mühen aufwiegt. Eine moderate feste tägliche Abgabe, die manche Talibé ihren maîtres abzuliefern haben, wird sogar von den Betroffenen selbst nicht zwingend als »Ausbeutung« interpretiert, wie das Gespräch mit einem ehemaligen Koranschüler zeigte (Silla, Kolda, 12.05.2013). Auch der Aspekt ungleicher Machtverhältnisse, die dem Konzept der »Ausbeutung« inhärent sind (vgl. UNODC 2015: 22), gilt in der klassischen Koranausbildung nicht als negativ, sondern als konstitutiver Bestandteil einer »dialektischen Beziehung« (Hammoudi 1997: 141) zwischen maître und Talibé. In den Augen religiös-konservativer Akteure ist die Koranausbildung im Gegensatz zu einer Ausbildung in den säkularen Schulen gerade nicht einer Marktlogik untergeordnet und stattdessen auf eine holistische, werteorientierte Persönlichkeitsschulung ausgerichtet, in der die Bitte um Almosen eine integrale Rolle einnimmt (z.B. Fode, Kolda, 10.05.2013). Durch die lange Tradition des Almosengesuchs als Bestandteil der Koranausbildung messen viele Senegalesen dem Aspekt, ob die Talibé tatsächlich in ausreichendem Umfang Koranunterricht erhalten, eine höhere Bedeutung bei als dem, ob sie betteln müssen, um von »Ausbeutung« zu sprechen (z.B. Bousso, Touba, 24.06.2013; Ndiayedaara, Touba, 24.06.2013; Silla, Kolda, 12.05.2013). Auf diese Weise können wiederum Korankenntnisse zu einem Deckmantel für multiple Formen von Leiden werden, die von den Kindern erlebt werden. Außerdem unterstellten manche der von mir befragten Koranlehrer und andere Akteure vielmehr den Eltern der Talibé, die maîtres »auszubeuten«, indem sie ihnen ihre Kinder ohne eine finanzielle Beteiligung in Obhut geben (z.B. Cissé Ndiaye, Touba, 24.06.2013; Bousso, Touba, 24.06.2013; Mbodji, Dakar, 24.04.2013; Gaye, Pikine, 05.09.2012). Dadurch wurde die mendicité oft lediglich als reaktives, zum Teil alternativloses Verhalten der Koranlehrer betrachtet, während die Definition des Menschenhandels gerade die intentionale Verbringung oder Aufnahme einer Person zum Zweck ihrer Ausbeutung erfordert. Die Tatsache, dass in den meisten Fällen weder die Eltern die Koranlehrer noch diese die Eltern finanziell entschädigen, distanziert das Betteln der Talibé durch die beschriebenen Assoziationsketten wiederum von einer Wahrnehmung als »Menschenhandel«. Gleichzeitig

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liegt es zumindest normativ im klassischen Koranschulwesen allein in der Entscheidungsgewalt des maître, wann er das Koranstudium eines Talibé für beendet erklärt (vgl. Akkari 2004: 11-12), wodurch ihm eine zusätzliche Macht zukommt. Diese Aspekte tragen dazu bei, dass ein fruchtbarer Nährboden für gesellschaftlich legitimierte Formen der »Ausbeutung« durch das Betteln entstehen kann. Fordert der maître hingegen nur eine moderate tägliche Abgabe, gelingt es den Talibé mitunter, beträchtliche Summen für ihren eigenen Bedarf anzusparen. Vereinzelt wurden daher schon – wenn auch umstrittene – Bankkonto-Projekte für die Talibé initiiert (z.B. Diop, Guédiawaye, 20.04.2013). Somit profitieren die Talibé zum Teil selbst in ökonomischer Hinsicht von ihrer eigenen »Ausbeutung«. Ebenso können sie zu Opfern sekundärer Formen von Ausbeutung werden, indem sie mit Minimalbeträgen für Arbeiten bezahlt werden, die sie verrichten, um die von ihrem maître geforderte Summe zu verdienen oder von ihren »Patinnen« im Gegenzug für die erhaltenen Mahlzeiten zu allerhand Hausarbeiten verpflichtet werden (z.B. Kouyate, St. Louis, 04.08.2012). Andere Talibé begehen Diebstähle, um ihr versement (festgesetzte Abgabe) zu erfüllen und werden so selbst zu »Tätern«. Juristisch wird eine Person zwar nicht für Straftaten zur Rechenschaft gezogen, die in direktem Zusammenhang mit ihrem Status als »Opfer von Menschenhandel« stehen (vgl. OHCHR 2002: 2), jedoch ist die Unterscheidung zwischen »Opfer« und »Täter« graduell und führt zu einer ambivalenten gesellschaftlichen Wahrnehmung der Talibé. Die in diesem Kontext kontroversen Interpretationen des Konzepts der »Ausbeutung« führen so zu flexiblen und diffusen Zuschreibungen von Täter- und Opferrollen, die sowohl dem dichotomen Ansatz des Palermo-Protokolls als auch den darin unterschwellig propagierten Idealtypen der »Täter« und »Opfer« widersprechen. Senegalesische zivilgesellschaftliche wie staatliche Akteure zeigten einen unterschiedlichen Umgang mit der Kategorie des Menschen- und Kinderhandels, um ihre offizielle Sprecherposition mit ihren teils abweichenden Sichtweisen auf die stark aufgeladenen Themen des Menschenhandels und des Bettelns der Talibé zu vereinbaren (z.B. Ndiayedaara, Pikine, 08.05.2012; Diena, Pikine, 03.06.2013; Centre Ginddi, Dakar, 26.08.-27.09.2013). Manche brachten ein essentialistisches Verständnis von Menschenhandel als top-down definiertes juristisches Phänomen zum Ausdruck. So betonte ein Leiter eines Jugendamtes (Action Éducative en Milieu Ouvert, AEMO), dass in Senegal noch kein »wissenschaftlich erwiesener« Fall von Menschenhandel vorgekommen sei (Diop, Guédiawaye, 14.05.2012). Awa Ndour, Ständige Sekretärin der Nationalen Koordinierungsstelle zur Bekämpfung des Menschenhandels (CNLTP), hob hingegen hervor, wie wichtig eine umfassende Aufklärung der Bevölkerung sei, der nahegebracht werden müsse, dass es Menschenhandel in ihrer Gesellschaft gebe (Ndour, Dakar, 24.05.2012). Und ein Sozialarbeiter von Samu Social Sénégal, einer Einrichtung für Straßenkinder unter französischer Leitung, bestätigte mir meine Frage, ob es sich bei den Talibé manchmal um »Op-

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fer von Menschenhandel« handele, mit dem Hinweis, dass er dank einer Schulung durch die Internationale Organisation für Migration (IOM) nun wisse, was Menschenhandel sei (Gomis, Dakar, 01.06.2012). Andere Kinderrechtsakteure wiederum zeigten einen flexiblen Umgang mit dem Begriff des Menschenhandels, indem sie vom jeweiligen Kommunikationskontext abhängig machten, ob sie in Bezug auf die Talibé von »Kinderhandel« sprachen oder eine alternative, relativierende Rhetorik verwendeten. Neben religiös-konservativen Akteuren wie Koranlehrern oder den Sufi-Bruderschaften nahestehenden Personen wie zum Beispiel Idrissa Cissé Ndiaye, Präsident der Bildungskommission in Touba, verneinten vor allem manche staatlichen Repräsentanten, unter anderem aus den Bereichen Kinderschutz (DPDE/CAPE) und Sozialwesen (DAS), mir gegenüber, dass die bettelnden Talibé als »Opfer von Kinderhandel« klassifiziert werden könnten. Sie kontextualisierten die Problematik vielmehr als »pervertierte kulturelle Praxis« oder gingen von vereinzelten Ausbeutungsfällen aus (z.B. DPDE (Gruppendiskussion), Dakar, 12.06.2013; Ba, Kolda, 14.05.2013; Diallo, Dakar, 06.09.2012; Cissé Ndiaye, Touba, 24.06.2013). Dieselben Akteure waren jedoch auch Teil desjenigen sozialen Gefüges, das zu den meist von den UN-Organisationen finanzierten Konferenzen zu Menschenhandel geladen wurde. Sie verfolgten dabei das ambivalente Anliegen, das Vorkommen von Menschenhandel in Senegal zwar anzuerkennen, um an einem politisch bedeutsamen inter- und transnationalen Diskurs teilzuhaben, den Umfang dieses Verbrechens aber gleichzeitig quantitativ möglichst gering einzuschätzen. Dies ermöglichte, ein funktionierendes Staatssystem nicht in Frage zu stellen und ein mäßiges staatliches Engagement gegen Menschenhandel zu rechtfertigen. Solche diskursiven Widersprüche verdeutlichten, wie sich vielschichtige Interessen und Loyalitäten unterschiedlicher Akteure überlagern, die ihre persönlichen Überzeugungen und sozialen Vernetzungen mit ihrer beruflichen Rolle in Einklang bringen müssen. In den Aufnahmeheimen, deren Schutzbefohlene meist mehrheitlich geflohene Talibé waren, zeigte sich wiederum besonders deutlich, dass die Kategorisierung von Kindern als »Opfer von Menschenhandel« in der Praxis keinerlei Rolle spielte, sie in Förderanträgen und Statistiken, wenn auch in inkonsistenter Weise, hingegen durchaus zum Einsatz kam (Centre Ginddi, Dakar, 26.08.-27.09.2013). Ihre praktische Irrelevanz konnte vor allem darauf zurückgeführt werden, dass die Aktivitäten und Zielgruppen dieser Heime durch die Institutionalisierung des Diskurses um Menschenhandel unverändert blieben. Im alltäglichen direkten Umgang mit den Kindern waren solche Akteure am stärksten mit der Tatsache konfrontiert, dass sie sich nicht mit eindeutig separierbaren Kategorien von Kindern, aber mit einzelnen Biografien und Charakteren auseinandersetzen mussten. Offizielle »Opfer von Kinderhandel« wiesen dann zum Teil mehr Gemeinsamkeiten mit Kindern auf, die nicht als solche klassifiziert wurden als mit ihren Pendants nach juristischer Definition.

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Stark transnational orientierte Kinderrechtsakteure wie die Mitglieder der Plateforme pour la Promotion et la Protection des Droits de l’Homme (PPDH), deren Finanzierungen zu großen Teilen von den UN-Organisationen wie dem United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC) abhingen, ließen tendenziell eine größere Bereitschaft als staatliche oder religiöse Akteure erkennen, das Betteln der Talibé als »Kinderhandel« zu bezeichnen. Sie adaptierten das Interpretationsmuster als Identitätsmarker einer transnationalen Menschenrechtsbewegung, die sie als »moderne Akteure« (vgl. Meyer & Jepperson 2000: 106-108) bestätigte. Diese Rhetorik ermöglichte ihnen zudem, sich gegenüber einem vermeintlich untätigen oder schwachen Staat scharf abzugrenzen und eine größere Aufmerksamkeit zu erreichen, zumal sie nicht unmittelbar auf ein gutes Verhältnis mit dem religiös-konservativen Milieu angewiesen waren. Dabei wurde ihr Status nicht nur dadurch aufgewertet, dass sie an einem Diskurs von globaler Bedeutung teilhatten, sondern auch dadurch, dass sie mit dem »Menschenhandel« eine besonders gravierende Problematik bekämpften. Je unpersönlicher und konstruierter der Kommunikationskontext war, desto weniger zögerlich zeigten sich solche Akteure, Begriffe wie »Menschenhandel« und »moderne Sklavenhalter« zu verwenden. In einer Pressekonferenz anlässlich der symbolischen Anklage des senegalesischen Staates wegen Nicht-Anwendung des Gesetzes gegen Menschenhandel durch die PPDH (s. Kapitel 5) fanden die Initiatoren dieser Aktion sowohl gegenüber dem Staat als auch gegenüber den Koranlehrern äußerst aggressive Worte. Im direkten Kontakt mit diesen drückten sich dieselben Akteure hingegen deutlich moderater aus. In Interviews und informellen Gesprächen bemerkte ich zudem, dass es von der jeweiligen Sprecherpersönlichkeit abhing, ob das Betteln der Talibé als »Menschenhandel« bezeichnet oder eher dezentere Begriffe gebraucht wurden. So empfanden manche meiner Gesprächspartner, auch wenn sie zum Beispiel als Sozialarbeiter durch ihre berufliche Tätigkeit sehr eng mit den Lebensrealitäten der Talibé in Kontakt kamen, die Bezeichnung »Menschenhandel« als »zu stark« oder »zu brutal«. Dies bedeutete aber nicht, dass sie sich weniger strikt gegen das Betteln der Talibé aussprachen (z.B. Sambo, Dakar, 23.04.2012; DPDE (Gruppendiskussion), Dakar, 12.06.2013; Mbow, Dakar, 23.07.2013; Diena, Pikine, 03.06.2013). Andere wiederum befürworteten den Begriff aus demselben Grund und hofften, dass er durch seine »schockierende Wirkung« der Bevölkerung die »Augen öffnen« könne (z.B. PARRER (Workshop), Dakar, 19.04.2012). Wieder andere zivilgesellschaftliche und staatliche Kinderrechtsakteure schienen unschlüssig und glaubten in einigen Fällen der mendicité lediglich »Anfänge« von Menschenhandel zu erkennen oder sahen die Talibé in Gefahr, zwecks Organentnahme oder sexueller Ausbeutung entführt und erst dadurch zu »Opfern von Menschenhandel« zu werden (z.B. Laison, Dakar, 30.04.2012; Diatta, Kolda, 13.05.2013). Solche Argumentationen zeugten weniger per se von einer relativierenden Haltung gegenüber dem Betteln der Talibé als von einem divergierenden Verständnis von Menschenhandel. Da in Senegal un-

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umstritten ist, dass das Bitten um Almosen der Talibé in einer langen sozioreligiösen Tradition steht, kann dessen Kontextualisierung als »Kinderhandel« zudem nur gerechtfertigt werden, wenn von grundlegenden Veränderungen dieser Praktik ausgegangen wird. Somit stützte der Diskurs um Menschenhandel das weit verbreitete Narrativ eines radikalen Bruchs zwischen moralisch integren früheren Formen des Bettelns und seiner modernen Perversion (s. Kapitel 4), stärkte also nicht nur eine diffamierende Perspektive auf die klassische Koranausbildung, sondern auch die Annahme der originären Sinn- und Werthaftigkeit dieser Institution. Da Menschenhandel gemeinhin primär als grenzüberschreitendes Phänomen imaginiert wurde, half diese Rhetorik zudem, in erster Linie die maîtres aus den Nachbarländern Senegals mit dem Verbrechen in Verbindung zu bringen und die Problematik von senegalesischen gesellschaftlichen Zusammenhängen zu entkoppeln. Die Inbezugsetzung der bettelnden Talibé zur Kategorie des Menschenhandels erfolgte somit in einem Diskurs, an dem verschiedene Akteure mit unterschiedlichen Blickwinkeln und Motiven teilnahmen. Führende inter- und transnationale Organisationen, zum Beispiel der UN, hatten ein Interesse daran, den auf »Menschenhandel« gerichteten programmatischen Schwerpunkt zu rechtfertigen und die Kategorie mit empirischem Inhalt zu »füllen«, während sich viele senegalesische staatliche und zivilgesellschaftliche Kinderrechtsakteure die rhetorischen, politischen oder ökonomischen Ressourcen des Diskurses zunutze machten. Auch wenn sie zum Teil die Bezeichnung »Menschenhandel« nicht als adäquat erachteten, eigneten sie sich diese Rahmung an, indem sie sie zum Beispiel nur selektiv auf besonders dramatische Szenarien der mendicité bezogen oder in ausgewählten Kommunikationssituationen verwendeten. Das politische und ökonomische Gewicht des Diskurses erwies sich gemeinhin als ausreichend, um den Begriff des Menschenhandels entweder als juristisch definierte Kategorie oder als formale Rahmung für Maßnahmen gegen das Betteln der Talibé anzuerkennen. Dabei war es oft nur der Titel einer Konferenz oder der Name des Veranstalters, der einen expliziten Bezug zur Thematik des Menschenhandels herstellte, während sich die konkreten Diskussionen und Vorträge auf spezifische Facetten der Koranschulproblematik konzentrierten. Der übergeordnete Diskurs um Menschenhandel büßte so mitunter selbst in Kontexten, die in direkter Verbindung zu ihm standen, unmittelbar an Bedeutung ein. Dafür beispielhaft war die eingangs geschilderte Eröffnung des Seminars zur Ausarbeitung des »Aktionsplans« gegen das Betteln der Talibé, dessen programmatische Einbettung zwar eine formale Bezugnahme zum Konzept des Menschenhandels erforderte, dieses jedoch im weiteren Verlauf kaum einen inhaltlichen Einfluss auf die Aktivitäten hatte. Die diskursive Kopplung des »Menschenhandels« mit den bettelnden Talibé prägte die Diskurse um beide Phänomene und auch die Beziehung der beteiligten Akteure untereinander. Dahingehend barg eine Bekämpfung der mendicité unter dem Paradigma des Menschenhandels die konterkarierende Implikation, dass be-

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stimmte Kooperationen und Allianzen erschwert wurden. Insbesondere Koranlehrer und Akteure unterschiedlicher Hintergründe, die sich mit ihnen solidarisierten, sahen die maîtres dadurch auf pauschale Weise »dämonisiert« und verweigerten eine Identifikation mit dem Diskurs (z.B. Diagne, Pikine, 11.07.2012; Bousso, Touba, 24.06.2013; Ndiayedaara, Dakar, 19.09.2012). Obwohl in unterschiedlichen Kommunikationskontexten auf eine adaptierte Rhetorik geachtet wurde, standen diese durch die mediale Berichterstattung und die gleichzeitige Teilhabe mancher Akteure an konkurrierenden (Sub-)Diskursen in Verbindung zueinander, sodass Deutungsmuster wie das des »Menschenhandels« ein konfrontatives Klima im Diskursfeld um die bettelnden Talibé beförderten. Ein konstruktiver Dialog und Möglichkeiten für gesellschaftlich breit legitimierte Lösungsansätze, welche die Perspektiven aller Beteiligten einbeziehen, wurde so behindert (vgl. Quirk 2006: 595). Der Diskurs um Menschenhandel entfaltete damit gleichzeitig sowohl eine sozial integrative Wirkung, indem er neue transnationale Allianzen schaffte, als auch eine sozial desintegrative Wirkung, indem sein kriminalisierender Ansatz andere Allianzen, vor allem mit religiösen Akteuren, beeinträchtigte. Da gerade die stark kriminalisierende Konnotation des Begriffs jedoch ermöglichte, ihn nur auf extreme Fälle des Bettelns zu beziehen, beteiligten sich sogar mitunter Koranlehrer an dem Diskurs und zeigten, dass sich dessen radikale Rhetorik ambivalent aneignen lässt. In mehreren Interviews zeichnete sich zudem die dem Ziel der Bekämpfung des Bettelns konträr laufende Tendenz ab, dass senegalesische Akteure zum Teil eine verteidigende Position gegenüber der mendicité der Talibé einnahmen, wenn sie diese, aus ihrer Sicht ungerechtfertigterweise, in die Nähe des Menschenhandels gerückt sahen (z.B. Diallo, Dakar, 06.09.2012; Diena, Pikine, 03.06.2013). Die Tatsache, dass »Menschenhandel« für viele Senegalesen ein »westliches« und unvertrautes Konzept darstellt (z.B. Ly, Dakar, 25.08.2012; Fall, Dakar, 16.05.2012), steht zum einen dessen Akzeptanz entgegen, hat aber zum anderen auch materiale Folgen, indem ein Teil der für die Bekämpfung des Menschenhandels vorgesehenen Ressourcen nicht direkt für die betroffenen Zielgruppen, sondern für eine Aufklärung über das Konzept des Menschenhandels selbst aufgewendet werden muss.

Menschenhandel – quo vadis? Der Programmkoordinator der Jugendarbeitervereinigung Mouvement Africain des Enfants et Jeunes Travailleurs (MAEJT) Moussa Harouna Sambo hinterfragte in unserem Gespräch den »Nutzen« des Konzepts des Menschenhandels kritisch, da keine Einigung in der Bevölkerung darüber herrsche, was »Menschenhandel«, wohl aber darüber, was »nicht gut« für Kinder sei (Sambo, Dakar, 23.04.2012). Er bemängelte zudem, dass die meisten transnationalen Kinderrechtsorganisationen immer »gegen etwas kämpfen« wollten, anstatt bereits vorhandene positive gesellschaftliche

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Ressourcen zu stärken. Ähnlichen Einstellungen begegnete ich immer wieder im Laufe meiner Feldforschung. Djibril Fall, ein für die Organisation Terre des Hommes arbeitender Ethnologe, wandte sich besonders vehement gegen das Konzept des Kinderhandels. In seinen Augen befremdet es die betroffenen Kinder gegenüber der Gesellschaft, indem sie zwar auf größtmögliche Weise viktimisiert, dadurch jedoch auch stigmatisiert würden (Fall, Dakar, 16.05.2012). Diese wechselwirksamen Prozesse der Viktimisierung und Stigmatisierung, die mit dem Status »Opfer von Menschenhandel« verbunden sind, gestanden den geflohenen Talibé zum Beispiel einerseits »Wiedereingliederungsmaßnahmen« zu, rückten sie und noch mehr ihre Eltern aber andererseits in die Nähe schwerer Verbrechensformen. Sie wiesen damit Parallelen zu Talcott Parsons (1951: 437-438) Analyse der »Patientenrolle« auf, die manche Handlungsoptionen verschließt, andere hingegen öffnet, und so die betreffende Person gleichzeitig ermächtigt und entmächtigt. Kategorisierungen als machtvolle soziale Konstruktionen und komplexitätsreduzierende Ordnungsschemata wurden bereits in Bezug auf ganz unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche interdisziplinär dafür kritisiert, intrakategoriale Differenzen zu verschleiern und zu einer Deindividualisierung zu führen, in Deutschland zum Beispiel durch Jan Weisser (2005: 196) und Hans Wocken (2011: 2) im Kontext des Inklusionsdiskurses. Mein Interviewpartner von Terre des Hommes betonte vor allem, dass von den jeweiligen Kindern bestimmte Situationen, keine Kategorien erlebt würden und rückte deren subjektive Perspektive anstatt (diskursiv machtvollerer) normativer Zuschreibungen in den Vordergrund (Fall, Dakar, 16.05.2012). Aus einer solchen Sicht wurde auch deutlich, dass sich die Talibé in ihren Erfahrungen wie körperliche Gewalt, Armut oder dem Druck, einen Beitrag zu ihrem Lebensunterhalt leisten zu müssen, nur graduell von vielen anderen senegalesischen Kindern unterscheiden, aber durch die Kategorisierung als »Opfer von Menschenhandel« zu essentiell Anderen gemacht werden. Zudem befürchteten mehrere Kinderrechtsakteure meines Feldes ebenso wie andere Autoren, dass durch den paradigmatischen Schwerpunkt auf »Kinderhandel« andere Leiden von Kindern vernachlässigt sowie Formen des Leidens vorab definiert würden und plädierten dafür, stattdessen spezifischen Lebensrealitäten stärker Rechnung zu tragen (Sambo, Dakar, 23.04.2012; Gbedemah, Dakar, 24.07.2012; vgl. UNICEF et al. 2011: 66; O’Connell Davidson 2011: 461; Einarsdóttir & Boiro 2014: 391-392). Zur Zeit meiner Feldforschung zeichnete sich auch unter führenden Akteuren des inter- und transnationalen Kinderrechtsdiskurses die Tendenz ab, von ihrer isolierten Fokussierung auf den Kinderhandel abzurücken. Stattdessen ließ sich zunehmend ein in konzeptioneller Hinsicht holistischer und in operativer Hinsicht systemischer, netzwerkorientierter Ansatz erkennen, der einzelne soziale Phänomene als Teile komplexer Problemzusammenhänge und Kausalketten verstand (z.B. Theiss, Dakar, 09.10.2012; Département de Guédiawaye (Workshop), Guédiawaye, 27.08.2012; African Child Policy Forum et al. (Konferenz), Dakar, 07.-

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09.05.2012; vgl. Wulczyn et al. 2010: 1-4). Eine solche konzeptionelle Öffnung sollte auch dazu beitragen, eine größere Anzahl von Kindern zu erreichen. »Immer wenn man merkt, etwas klappt nicht, macht man etwas Neues (…)«, kommentierte Joachim Theiss, Projektkoordinator bei UNICEF, in unserem Gespräch lapidar die periodischen Paradigmenwechsel und die sich wandelnden Ansätze des inter- und transnationalen Kinderrechtsdiskurses (Dakar, 09.10.2012). Eine holistische und systemische Perspektive setzte sich in Senegal auch verstärkt auf staatlicher Ebene durch. Im Jahr 2013 erarbeitete die senegalesische Regierung eine »Nationale Kinderschutzstrategie« (Stratégie Nationale de Protection de l’Enfant, SNPE), die Kindern Schutz vor jeglichen Formen der Misshandlung bieten sollte und sich nicht nur auf staatliche, inter- und transnationale Institutionen als Ressourcen berief, sondern auch auf die »Werte« der senegalesischen Gesellschaft. Ziele der SNPE waren neben einer besseren Koordinierung des nationalen Kinderschutzsystems ein »positiver sozialer Wandel« und eine graduelle »Entverrechtlichung« (République du Sénégal 2013c). Damit ging sie mit einem Paradigmenwandel konform, der sich von der Bekämpfung einzelner, eng kategorisierter und kriminalisierter Missstände abwandte, um Kinderschutz stattdessen als integralen Bestandteil in der Gesellschaft zu verankern. Diese Entwicklungen spiegelten sich insbesondere in Bezug auf die »Mobilität« von Kindern wider, die von führenden trans- und internationalen Organisationen in expliziter Abgrenzung zum zuvor vorherrschenden Fokus auf »Kinderhandel« zunehmend – auch terminologisch (vgl. UNICEF et al. 2011: 22) – entproblematisiert wurde.15 Eine geografische Mobilität gehört zwar nicht zu den juristisch notwendigen Bestandteilen des Menschenhandels, stellt aber einen Hauptaspekt der Phänomene dar, die im Zentrum dieses Diskurses standen. Der neue, liberalere Ansatz betrachtete neben den potenziellen negativen Seiten der Mobilität auch die Chancen, die mit ihr einhergehen können. Deshalb sollten anstatt eines auf die proportional seltenen Fälle des Menschenhandels verengten Blickfeldes vielfältigen Mobilitätsformen und den dahinterstehenden Motiven der Kinder eine stärkere Beachtung geschenkt werden. Anstelle repressiver Maßnahmen stellte die »schützende Begleitung« von Kindern das leitende Prinzip der neuen Handlungsansätze dar (vgl. UNICEF et al. 2011: 49-50). Da die juristische Definition des Menschenhandels Minderjährigen keine Entscheidungsfähigkeit zugesteht und somit ihrem Anspruch auf »Partizipation« der UN-Kinderrechtskonvention (1989, Art. 12) nicht 15

Die interorganisationale Projektgruppe Mobilités (2009-2015; UNICEF, ILO, IOM, Save the Children, Plan, Terre des Hommes und Enda Jeunesse Action/MAEJT), auf deren Zwischenbericht Quelle protection pour les enfants concernés par la mobilité en Afrique de l’Ouest? Nos positions et recommandations (2011) ich mich im Folgenden beziehe, war federführend bei der Entwicklung neuer Ansätze bezüglich der Mobilität von Kindern beteiligt. Ihr Ziel war es, auf der Basis einer empirischen Untersuchung gegenwärtiger Mobilitätspraktiken von Kindern neue Strategien zu deren Schutz auszuarbeiten.

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gerecht wird, plädierten Kinderrechtsakteure unter diesem emanzipatorischen Paradigma dafür, zwischen »erzwungener« und »freiwilliger« Mobilität, nicht zwischen »Kinderhandel« und »Nicht-Kinderhandel« zu unterscheiden (vgl. UNICEF et al. 2011: 17, 36). Trotz dieser Stärkung des eigenen Willens der Kinder wurden mit »freiwillig« und »unfreiwillig« Migrierenden zwei neue dichotome Subjektkategorien kreiert, die die Komplexität und graduelle Abstufung zwischen »freiwilligen« und »unfreiwilligen« Entscheidungen nicht berücksichtigten. Die Mobilität von Kindern kann in einem liberalen »Gewand« ebenso als Ursache bestimmter sozialer Problematiken konstruiert oder an Maßnahmen gekoppelt werden, die den tatsächlichen Bedürfnissen der Kinder entgegenstehen. »Mobilität« wurde von den Organisationen, die an der Ausarbeitung dieses neuen Ansatzes beteiligt waren, zudem weniger als geografische Entfernung vom Herkunftsmilieu denn als Ereignis mit multidimensionalen direkten und indirekten biografischen Auswirkungen verstanden. Die Aufmerksamkeit richtete sich daher nicht nur auf verschiedene Mobilitätsformen von Kindern, sondern auch auf potenziell mobile Kinder, auf Kinder mit mobilen Angehörigen oder auf Kinder, die sich in einer Situation der Mobilität befunden hatten. Dadurch sollten die Verbindungen zwischen vormals isoliert betrachteten Gruppen wie »Straßenkinder«, »Opfer von Kinderhandel«, »migrierende Kinder« oder »Kindersoldaten« sichtbar gemacht werden. Im Bewusstsein, dass ein und dasselbe Kind gleichzeitig oder zu unterschiedlichen Momenten während, vor oder nach seiner »Mobilität« aufgrund seiner Vulnerabilität mehreren Kategorien angehören kann, standen nun mehr die Ursachen dieser Vulnerabilität im Interesse als die einzelnen Kategorien selbst. Die neue Perspektive auf die Mobilität von Kindern bezog sich vornehmlich auf das Recht auf »Nicht-Diskriminierung« (Art. 2) und auf »(Über-)leben und Entwicklung« (Art. 6, Satz 2) sowie auf die Prinzipien des übergeordneten Wohls (Art. 3) und der Partizipation (Art. 12) des Kindes der UN-Kinderrechtskonvention (1989). Damit wurde deutlich, dass »Kinderrechte« in tendenziell paternalistische oder liberale Politiken übersetzt und mit einem »moderat kulturrelativistischen Ansatz«, den führende inter- und transnationale Kinderrechtsakteure zunehmend befürworteten (Theiss, Dakar, 09.10.2012), ebenso wie mit einem universalistischen Anspruch in Einklang gebracht werden können. Weiterentwicklungen des Kinderrechtsdiskurses stellen keinen synchronen, homogenen und linearen Prozess dar, da multiple »Übersetzungsketten« (vgl. Rottenburg 2002: 17, 112-115) zwischen unterschiedlichen institutionellen Akteuren und deren divergierenden Interessen und Diskurspositionen sowohl zu zeitlichen als auch zu inhaltlichen und terminologischen Verschiebungen führen. So sind die maßgebenden inter- und transnationalen Organisationen um ihrer Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit willen verpflichtet, ihre Paradigmen und Terminologie aktuellen Kindheitsdiskursen, aber auch den jeweiligen soziopolitischen Realitäten anzupassen. Ähnlich wie mehrere führende Organisationen

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wie Save the Children oder Terre des Hommes die Kategorie des »Kinderhandels« zunehmend durch die der »Mobilität« von Kindern ersetzten, führten zum Beispiel Plan und USAID ein Projekt zur »Rehabilitierung« der Koranschulen unter dem Überbegriff der Education und nicht etwa unter dem der Bekämpfung des »Kinderhandels« durch (Numer, Dakar, 04.05.2012). Solche breiter gefassten und entkriminalisierten Rahmungen vermieden nicht nur eine mitunter politisch sensible Stigmatisierung bestimmter Gruppen, sondern eröffneten den Organisationen auch ein erweitertes Tätigkeitsfeld. Lokale, an der Basis tätige Organisationen, zum Beispiel Kinderheime, waren in noch stärkerem Maße pragmatischen Zwängen ausgesetzt und mussten bestimmte politische Maßgaben in konkreten sozialen Kontexten in die Praxis übersetzen. Dabei blieben ihre tatsächlichen Aktivitäten oft über einen längeren Zeitraum unverändert, während sich ihre formale programmatische Einbettung strategisch an den politischen Vorgaben der geldgebenden inter- oder transnationalen »Partner« orientierte. Von diesen wurden regelmäßig Seminare und Schulungen zu kinderrechtsrelevanten Themen abgehalten, wobei weder die vertretenen lokalen Organisationen noch deren jeweilige Repräsentanten immer identisch waren und sich unter den Akteuren daher abweichende Wissensbestände konsolidierten. Neben einem unregelmäßigen und zeitversetzten Wissenstransfer oder feldpragmatisch bedingten Anpassungen waren für einen divergierenden Umgang mit Kinderrechtsparadigmen und -konzepten unterschiedliche Interessen und Existenzberechtigungen verschiedener Organisationen ausschlaggebend. Diese nahmen gemäß ihrem Zuständigkeitsbereich jeweils eine bestimmte Perspektive auf soziale Phänomene ein. Die UN-Organisationen zum Beispiel waren aus verschiedenen Motiven in den Diskurs um Menschenhandel involviert. UNICEF engagierte sich für die Bekämpfung des Kinderhandels vor dem Hintergrund ihres Einsatzes zur Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen von Kindern, während sich das UNODC, zuständig für »Drogen- und Verbrechensbekämpfung«, für Kinderbeziehungsweise Menschenhandel als transnationalen strafrechtlichen Tatbestand interessierte. Das UNODC wandte sich daher zunächst gegen einen liberaleren Ansatz gegenüber der Mobilität von Kindern, in dessen Ausarbeitung neben anderen transnationalen die UN-Organisationen UNICEF, die Internationale Organisation für Migration (IOM) und die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) eingebunden waren und der eine Schwächung des Diskurses um Menschenhandel ankündigte (Theiss, Dakar, 09.10.2012). Das UNODC blieb unter den beteiligten UN-Organen und -Organisationen in Senegal am aktivsten in die Bekämpfung des Menschenhandels involviert. Die IOM hingegen finanzierte schon seit dem Jahr 2012 in Westafrika keine ausschließlich gegen Menschenhandel gerichteten Projekte mehr und rückte stattdessen mit Blick auf die Talibé neben »psychosozialen Ansätzen« die Schulung von Grenzpolizisten und Juristen in den Vordergrund (Daffe, Dakar, 06.04.2012). Phänomenübergreifend stellte die IOM die Themen ländliche

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Entwicklung und unter dem Schlagwort »Integrated Border Management« explizit grenzüberschreitende Migrationsformen ins Zentrum ihrer Agenda, um Staaten dabei zu unterstützen, eine Balance zwischen »offenen« und »geschlossenen« Grenzen zu finden (IOM (Konferenz), Dakar, 31.05.2012; IOM 2015[o. S.]). Die ILO beendete ein großes internationales Projekt16 zur Abschaffung der »schlimmsten Formen der Kinderarbeit« – darunter »Kinderhandel« – im Jahr 2014. Für Senegals staatliche Koordinierungsstelle gegen Menschenhandel (CNLTP) wiederum stellt dieses Phänomen die einzige Existenzberechtigung dar. Sie verfolgt daher nicht die Logik, soziale Realitäten gegebenenfalls zu reinterpretieren, sondern wendet sich stattdessen anderen potenziell »passenden« Schauplätzen zu. Die CNLTP befindet sich dabei in der paradoxen Position, nach außen die nicht nachlassende Dringlichkeit der Problematik des Menschenhandels ebenso zu vermitteln wie den Erfolg ihrer dagegen unternommenen Aktivitäten. In den von der CNLTP verfassten Referenzpapieren wurde Menschenhandel daher meist als ein »trotz aller Bemühungen stetig wachsendes […] Übel der modernen Zeit« dargestellt (vgl. CNLTP & UNODC 2013[o. S.]). Paradoxerweise hoben Mitglieder der CNLTP in anderen Kontexten gerade die fehlenden zuverlässigen Daten über die gemeinhin im Verborgenen stattfindenden Formen des Menschenhandels als ein Haupthindernis für dessen effektive Bekämpfung hervor (z.B. PARRER (Workshop), Dakar, 18.04.2012). Die Ungereimtheit, dass Menschenhandel als eines der »am schnellsten wachsenden« und nach dem Drogen- und Waffenschmuggel »lukrativste transnationale Verbrechen« bezeichnet wurde, obwohl nur vage und ideologisch gefärbte Schätzungen über dessen Ausmaße bestehen, prägte den Diskurs auch auf globaler Ebene (z.B. Weitzer 2014: 9-11; Tyldum & Brunovskis 2005: 30-31; Goździak 2015: 23-24). Da die institutionalisierte Bekämpfung des Menschenhandels durch die CNLTP aus außenpolitischem Druck entstand sowie finanziell stark von externen Geldgebern, zum Beispiel den Vereinten Nationen, abhängig ist und das Konzept des Menschenhandels bislang keine gesellschaftliche Akzeptanz fand, lässt sich die diskursive Existenz des Menschenhandels in Senegal als äußerst fragil erahnen. Im Zuge der paradigmatischen Öffnung des Kinderrechtsdiskurses und im Bewusstsein, dass bestimmten Praktiken ein gesetzliches Verbot allein nicht Einhalt gebieten kann, wurden das Betteln der Talibé und andere vermeintlich missbräuchliche Praktiken gegenüber Kindern in meinem Feld häufig als »schädliche kulturelle Praktiken« bezeichnet (vgl. Plan & UN 2012). So stand die »Woche des Afrikanischen Kindes«, die zum Gedenken an den blutigen sogenannten Schüleraufstand im Jahr 1976 in Soweto (Südafrika) jährlich um den 16. Juni von der Afrikanischen Union veranstaltet wird, 2013 unter dem (länderübergreifenden) Motto »Schädliche 16

BIT/AECID: Project pour la prevention et l’élimination du travail des enfants en Afrique de l’Ouest (IPEC, 2009-2014).

2. Menschenhandel in Senegal

soziale und kulturelle Praktiken abschaffen – unsere gemeinsame Verantwortung«. Dazu zählte das offizielle senegalesische Referenzpapier unter anderem Körperstrafen, das Betteln von Kindern, die confiage, verfrühte Heiraten und die weibliche Genitalbeschneidung (vgl. République du Sénégal 2013a: 2). Diese Kriminalisierung oder zumindest starke Diffamierung bestimmter, gesellschaftlich mehr oder weniger anerkannter und verbreiteter Praktiken führt deutlich vor Augen, wie das Verständnis von Gewalt an kulturelle Narrative gebunden und damit wandelbar ist. Spezifische Gewaltkulturen bestimmen darüber, wie Formen der Gewalt interpretiert, legitimiert, verurteilt und kontrolliert werden (vgl. Wood 2007: 79-80). Der Begriff der »schädlichen kulturellen Praktiken« aber suggeriert nicht nur eine objektive und statische Bedeutung von »Gewalt«, sondern reduziert bestimmte Praktiken auch auf ihre vermeintlich »kulturellen« Ursachen. Die Tendenz, Kinderrechtsverletzungen als »schädliche kulturelle Praktiken« zu betrachten, denen wiederum positiv bewertete kulturelle Praktiken und Werte, zum Beispiel gegenseitige Solidarität, entgegengehalten werden sollen, verweist auf eine Kulturalisierung des Kinderschutzes. Eine solche führt zwar dazu, dass Phänomene stärker mit ihrem jeweiligen spezifischen soziokulturellen Umfeld in Bezug gesetzt werden, anstatt universelle, abstrakte Deutungsmuster auf sie zu beziehen, löst sie jedoch ebenso aus strukturellen, makroökonomischen Zusammenhängen (vgl. Hart 2008: 12-14; Poretti et al. 2014: 34-35). Damit geht einher, dass bestimmte »kulturelle« Normen und Praktiken zwar problematisiert werden, ihnen aber gleichzeitig ein größeres Gewicht und eine gesellschaftskonstituierende Wirkung beigemessen wird. Die Rahmung der »schädlichen kulturellen Praktiken« nimmt implizit nicht auf die UN-Kinderrechtskonvention (1989), sondern auf die Afrikanische Charta der Rechte und des Wohlergehens des Kindes (AU 1990, Art. 1) Bezug, da nur diese auf solche Praktiken eingeht, und lässt sich so in den Kontext panafrikanischer Emanzipierungsbestreben einordnen. Auch einige Kinderrechtsakteure meines Feldes betonten die nationale Eigenverantwortung gegenüber den bettelnden Talibé. Da diese ein senegalesisches Problem darstellten, müsse dessen Lösung ebenso aus dem »Inneren« der Gesellschaft kommen (z.B. Diaw, Dakar, 19.06.2013; Département de Guédiawaye (Workshop), Guédiawaye, 27.08.2012; Kassoka, Dakar, 19.06.2013). In Anbetracht dessen, dass viele senegalesische Akteure sektorenübergreifend das exzessive Betteln der Talibé ohnehin als »pervertierte kulturelle Praktik« wahrnahmen (z.B. DPDE (Gruppendiskussion), 12.06.2013; Soko, Dakar, 25.04.2012; Diallo, Dakar, 06.09.2012), stieß diese Rahmung auf weitaus mehr Zustimmung als die des »Kinderhandels«. Sie vermied eine religiöse Kontextualisierung des Bettelns und somit eine Diffamierung des Islam und ermöglichte gleichzeitig wechselseitige Zuschreibungen unter den verschiedenen ethnischen Gruppen (s. Kapitel 4). In unterschiedlichen Kommunikationszusammenhängen wurde die mendicité also sowohl als eine mit einer »rückständigen« Vergangenheit assoziierten »schäd-

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Kinderhandel oder Koranerziehung?

liche kulturelle Praktik« bezeichnet als auch als »Kinderhandel« als ein »Übel der modernen Zeit«. Damit zeigten sich überlappende entwicklungslogische und modernisierungskritische Sinngebungen dieses Phänomens. Während eine Interpretation des Bettelns der Talibé als Form des Menschenhandels die Koranlehrer ohne jegliche soziokulturelle Kontextualisierung kriminalisierte, zeigte die als »schädliche kulturelle Praktik« die Tendenz, unlautere Absichten mancher Koranlehrer mit deren »kultureller« Prägung zu relativieren. Dennoch ging mit ihr sogar eine allgemeinere Verurteilung der mendicité einher als mit dem definitorisch enger gefassten Konzept des Menschenhandels. Ein kulturalistischer Blick auf gesellschaftliche Problematiken führt zu einer umfassenden Verantwortungsumverteilung, indem bestimmte Akteure vor allem als Reproduzenten kultureller Deutungs- und Handlungsmuster gelten. Dabei kommt gegenüber den betreffenden Individuen und gegenüber deren »Kulturen« eine entwicklungslogische Denkweise zum Ausdruck. Kinderrechtsverletzungen werden nicht primär als Straftaten mündiger Bürger betrachtet, sondern bestimmte »Kulturen« an transnationale Standards angepasst, die ihrerseits aber ebenso kulturell geprägt sind (vgl. Wedel et al. 2005: 37-38). Wohlweislich forderten die Anhänger dieses Ansatzes in meinem Feld gleichzeitig die Stärkung »positiver kultureller Werte« und wandten sich gegen eine pauschale Diffamierung der senegalesischen Gesellschaft. Dabei nahmen sie in erster Linie auf universell anerkannte Werte wie eine »gegenseitige Solidarität« Bezug, die einen kulturellen Anstrich erhielten. Diejenigen Praktiken hingegen, die tatsächlich von einem transnationalen Kindheitsideal abwichen, wurden überwiegend als »schädlich« pathologisiert. Im Gegensatz zum Konzept des Menschenhandels verortet eine solche Einbettung das jeweilige »Fehlverhalten« nicht in einem einzelnen Individuum, sondern in einem bestimmten sozialen Kollektiv. Die Zuschreibung der »schädlichen kulturellen Praktik« ist auf eine weniger explizite Weise stigmatisierend, da sie mehr mit Unwissenheit als mit moralischer Verwerflichkeit begründet wird. Sowohl »Menschenhandel« als auch »schädliche kulturelle Praktiken« werden aber als Phänomene wahrgenommen, die inter- und transnational legitimierte Strukturen und Konzepte bedrohen und damit gesellschaftliche Desintegrationsprozesse befördern können. Beide Klassifizierungen erfolgen aus der Perspektive politisch und ökonomisch dominierender Akteure und zeigen die Tendenz, komplexe Praktiken auf wenige Teilfaktoren zu reduzieren und bestimmte soziale Milieus zu stigmatisieren.

Zusammenfassung Nach der Annahme der UN-Kinderrechtskonvention (1989) wuchs die politische Aufmerksamkeit gegenüber dem Wohlergehen und den Interessen von Kindern

2. Menschenhandel in Senegal

weltweit. Während bis Ende der 1990er Jahre die Bekämpfung der »Kinderarbeit« inter- und transnational einen zentralen Stellenwert einnahm, folgte anschließend eine Differenzierung zwischen deren akzeptablen und »schlimmsten« Formen, um schließlich den »Kinderhandel« als »schlimmste« der »schlimmsten Formen der Kinderarbeit« ins Visier zu nehmen. Diesem Thema wurde zu Beginn der 2000er Jahre im senegalesischen Kinderrechtsdiskurs zunächst wenig Beachtung geschenkt, was sich mit der Einbindung des Landes in den US-amerikanischen Millennium Challenge Account ab dem Jahr 2009 änderte. Wenige Jahre später zeigte sich jedoch bereits eine Abkehr von dieser zuspitzenden und inhaltlich verengenden Tendenz und eine Hinwendung zu einem holistischen Ansatz, der verstärkt einen kulturalistischen Blick auf Kinderrechtsverletzungen zum Ausdruck brachte. Die Bezeichnung des Bettelns der Talibé als »schädliche kulturelle Praktik« erwies sich zwar als weniger konfrontativ, aber implizit als genauso stigmatisierend und nur vordergründig stärker endogen ausgerichtet. Die Klassifizierung als »Kinderhandel« stellt also lediglich eine von multiplen Rahmungen dar, in die das Betteln der Talibé im Zuge seines gesellschaftlichen Problematisierungsprozesses eingebunden wurde. Auch wenn sich über die Ablehnung solcher extremer Gewaltformen leichter ein transnationaler Konsens herstellen lässt (vgl. Anderson 2007 [o. S.]), entstehen umso mehr Kontroversen darüber, welche sozialen Missstände tatsächlich mit einer derart kriminalisierenden Terminologie adäquat gefasst werden können. Dieses Spannungsfeld wurde in Hinblick auf die bettelnden Talibé besonders deutlich. Der Begriff des Menschenhandels ist in Senegal stark mit Assoziationen um den transatlantischen Sklavenhandel aufgeladen und wurde für gegenwärtige Phänomene nur selten als angemessen erachtet. Transnational vernetzte Kinderrechtsakteure akzeptierten das Konzept häufig als international definierten Sachverhalt und passten seine Verwendung in ihrem eigenen Interesse kontextbezogen an. Die vielfältigen Arten der Übersetzung des Konzepts legen eine sozial konstruktivistische Sicht auf Menschenhandel nahe, die diesen nicht als einen objektiven Tatbestand, sondern als sozial und raum-zeitlich gebundene politische Kategorie versteht. Eine genaue Übereinstimmung mit dem juristischen Konzept ging selbst unter Akteuren, die dessen Definitionshoheit anerkannten, oft zugunsten einer metaphorischen, polemischen Verwendung des Begriffs für besonders schwere Kinderrechtsverletzungen verloren. Durch seine stark kriminalisierende und konfrontative Ausrichtung entsprach das Interpretationsmuster des Menschenhandels längst nicht der Wahrnehmung aller an diesem Diskursfeld beteiligten Akteure und konterkarierte daher mithin das Engagement gegen das Betteln der Talibé. Aber auch den bettelnden Talibé selbst wurde die Klassifizierung als »Opfer von Menschenhandel« nicht gerecht. Sie missachtete deren agency und befremdete sie gegenüber der Allgemeinbevölkerung, obwohl gerade die gesellschaftliche Verankerung der

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Almosengabe einen bedeutenden Bestandteil der Problematik ausmacht. Die radikal kriminalisierende beziehungsweise viktimisierende Kategorisierung erhielt angesichts der öffentlichen Präsenz der bettelnden Talibé und der staatlichen Untätigkeit gegenüber ihnen sogar eine zynische Konnotation. Die politische Tendenz auf trans-, internationaler und nationaler Ebene, die bettelnden Talibé immer seltener in einen Kontext des Menschenhandels einzubetten, verspricht so eine Hürde für eine breite Identifizierung mit dem Diskurs gegen die (missbräuchliche) mendicité zu nehmen. Aus einer Kinderrechtsperspektive erweisen sich die Zustände in den Koranschulen auch in einer deskriptiven Darstellung – ohne eine abstrahierte, zugespitzte Rhetorik – als ausreichend alarmierend. Dieses Kapitel verortete den Diskurs um Menschenhandel in Senegal aus einer genealogischen Perspektive politisch und institutionell sowie diskutierte die Formen seiner Übersetzung und Inbezugsetzung zu den bettelnden Talibé durch unterschiedliche Akteure. Die Kategorisierung der bettelnden Talibé als »Opfer von Menschenhandel« bildete einen vorläufigen »Höhepunkt« ihrer Problematisierung und führte besonders deutlich vor Augen, wie der Deutungsspielraum für soziale Phänomene durch international normierte Rechtskonzepte und eine allgemeine Zunahme transnationaler politischer und zivilgesellschaftlicher Verflechtungen vergrößert wird. Dabei gab der Diskurs um Menschenhandel der Bekämpfung des Bettelns der Talibé zwar durch seine politischen, rhetorischen und ökonomischen Ressourcen einerseits Aufschwung und führte zur Bildung neuer temporärer Allianzen, entfaltete jedoch andererseits durch seinen konfrontativen Ansatz und die inadäquaten Assoziationen, die er hervorrief, auch sozial desintegrative Wirkungen. Die Widerstände gegen eine allzu scharfe Kriminalisierung des Bettelns der Talibé lassen sich mit einem Blick in Senegals Geschichte leichter verstehen, da koranschulfeindliche Politiken erstmals von der französischen Kolonialregierung verfolgt wurden. Die kolonialen Konnotationen, die seither jeglichen Restriktionen der daaras anhaften, sowie der historisch begründete »Gesellschaftsvertrag« (Cruise O’Brien 1992: 9-10) zwischen politischer und religiöser Elite erklären maßgeblich, warum staatliche Eingriffsversuche in das Koranschulwesen bis heute so schwer zu realisieren sind und selbst zivilgesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung des Bettelns der Talibé leicht in den Verdacht geraten, unter »westlicher« islamkritischer Einflussnahme zu stehen. Diese historischen Hintergründe werden im nachfolgenden Kapitel dargestellt. Es will ein grundlegendes Kontextwissen zu den gegenwärtigen Kontroversen vermitteln und damit auch einen Kontrapunkt zu der ahistorischen Perspektive des Diskurses um Menschenhandel setzen.

3. Das historische Erbe der gegenwärtigen Kontroversen Senegals politische Geschichte zwischen Islam und Säkularität

Im Jahr 1911 berichtete der Leutnant und Gouverneur des kolonialen Senegal, Henri Cor, in einem Brief seinem Vorgesetzten, Generalgouverneur William Ponty, von der Habgier und Heuchelei der meisten Koranlehrer. Der Unterricht stelle für sie nur einen »Vorwand« dar, um die »religiösen Gefühle der Massen auszubeuten«, indem sie die Kinder, die ihnen zum Koranstudium anvertraut worden waren, zum Betteln ausschickten (vgl. Ware 2004: 519-520). Gut hundert Jahre später, im Jahr 2014, veröffentlichte die transnationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch einen Report mit dem Titel Exploitation sous prétexte d’éducation, »Ausbeutung unter dem Vorwand der Ausbildung«, um die elenden Lebensbedingungen der Talibé in Senegal anzuprangern. Es lassen sich zahlreiche weitere Parallelen zwischen früheren (post-)kolonialen und gegenwärtigen Diskursen um die Koranschulen finden (vgl. Loimeier 2002: 133). Helen N. Boyle (2006: 478) beschreibt, wie vor allem nach den Ereignissen des 11. Septembers 2001 weltweit das Misstrauen gegenüber Koranschulen wuchs, die als idealen Nährboden für die Indoktrination islamistischen Gedankenguts betrachtet wurden. Das »rein konfessionelle und mechanische« Auswendiglernen in den Koranschulen missfiel bereits Paul Marty (1917 II: 109 in Loimeier 2001: 97), seinerzeit Leiter des Referats für Muslimische Angelegenheiten (Service des Affaires Musulmanes), und anderen Kolonialverwaltern in Senegal, auch wenn deren Furcht vor einer dort vermittelten antikolonialen Propaganda mit zunehmender Annäherung an die marabouts abnahm. Und ebenso wie für die französische Kolonialverwaltung in Senegal mögliche panislamische Bewegungen, insbesondere in den Vorjahren des ersten Weltkrieges, eine permanente latente Gefahrenkulisse darstellten, begründet jetzt die senegalesische Regierung ihr Projekt der »Modernisierung« der daaras unter anderem mit deren undurchsichtigen Finanzierungen und Lehrinhalten. Vor dem Hintergrund des transnational grassierenden islamistischen Terrorismus wird eine größere Transparenz dieser Ausbildungsstätten ge-

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fordert (vgl. République du Sénégal 2014a: 2). Sicher lässt sich nicht behaupten, dass die kolonialen Diskurse um die Koranschulen in Senegal exakt den heutigen gleichen. Zu groß sind die Veränderungen des gesamtpolitischen Kontextes. Senegals republikanisches System gilt als stabil und muss keine religiös motivierten Revolutionen fürchten, stattdessen spielen außenpolitische Verpflichtungen verstärkt eine Rolle für den staatlichen Umgang mit den Koranschulen. Dennoch zeigen die aktuellen Kontroversen, dass nicht nur die gegenwärtig gelebte Realität der bettelnden Talibé zu weiten Teilen von der historischen Vergangenheit hervorgebracht wurde, sondern sich auch eine Kontinuität zwischen den heutigen und früheren Formen ihrer Problematisierung erkennen lässt. Das vorangehende Kapitel hat gezeigt, dass das Betteln der Talibé in Senegal durch die extrem kriminalisierende und historisch stark vorbelastete Konnotation des Begriffs gemeinhin nur widerwillig als »Menschenhandel« interpretiert wird und dass die große religiöse Bedeutung des Koranstudiums für Senegals überwiegend muslimische Bevölkerung eine pauschale Verurteilung dieser Praktik häufig erschwert. Divergierende Konzepte zu Kindheit und Erziehung stellen für viele Senegalesen ebenso wie die staatlich mitverschuldete ökonomische Notlage der Koranschulen diskursive Register dar, um das Betteln der Talibé vielmehr zu plausibilisieren als zu kriminalisieren (s. Kapitel 4). Auf welche Entwicklungen und Narrative lässt sich der politische Einfluss religiöser Akteure in Senegal zurückführen, der bereits mehrmals dazu geführt hat, dass staatliche Versuche eines strengeren Vorgehens gegen das Betteln der Talibé schnell wieder aufgegeben wurden? Eine historische Einbettung bietet wichtige Erklärungen für den Rückhalt der Koranlehrer in der Bevölkerung und für die zögerliche Einmischung des Staates in das Koranschulsystem. Dabei will dieses Kapitel keine geschichtswissenschaftliche Diskussion aufnehmen und beschränkt sich weitgehend auf eine deskriptive Darstellung, um die aktuellen Kontroversen historisch zu kontextualisieren. Im Fokus steht nachfolgend vor allem die (wandelnde) politische Rolle der marabouts in Senegal seit der Kolonialzeit, die als religiöse Gelehrte und Führer der SufiBruderschaften (franz. confréries, arab. ṭarīqa, pl. ṭuruq) verehrt werden und eine äußerst bedeutende gesellschaftliche Stellung einnehmen. Der staatliche Umgang mit den Koranschulen betrifft auch gegenwärtig deren ideologischen Einflussbereich, obwohl das Betteln in ihren eigenen, ökonomisch privilegierten islamischen Bildungseinrichtungen kaum praktiziert wird.

Die Verbreitung des Islam und frühe islamische Reformer in Senegal Der in Senegal vorherrschende Sufi-Islam betont dessen mystische Dimension (vgl. Loimeier 2006: 193) und ist in Bruderschaften organisiert. Deren Führungspersonen, in Westafrika marabouts genannt, werden aufgrund ihres religiösen Wissens

3. Das historische Erbe der gegenwärtigen Kontroversen

und aufgrund ihrer baraka, ihrer Segenskraft, von ihren Anhängern verehrt (vgl. Brenner 2000: 148; Behrman 1970: 13-15). Die marabouts entwickelten jeweils ihre eigenen Wege, um Gott näherzukommen und fokussierten in ihren Bruderschaften entweder stärker die spirituelle Lehre oder eine soziopolitische oder ökonomische Agenda (vgl. Loimeier 2006: 193). Unter den Sufi-Bruderschaften ist die Tiğānīya, gegründet durch Cheikh Tiğānī aus dem heutigen Algerien, nach der Qādirīya die älteste, die Senegal erreichte. Während letztere von einer konservativ-aristokratischen Struktur geprägt war, zeichnete sich die Tiğānīya durch vergleichsweise demokratische und antiaristokratisch-revolutionäre Züge aus (vgl. Coulon 1981: 52). Später bildete sich um Cheikh Amadou Bamba die Murīdīya, die erste Bruderschaft lokalen Ursprungs, die heute zusammen mit der Tiğānīya in Senegal gesellschaftlich weitaus am einflussreichsten und anhängerstärksten ist. Im Gebiet des heutigen Senegal nahm der Islam im elften Jahrhundert durch die Eroberungen (ǧihād) der Almoraviden-Bewegung (1040-1147) eine konkrete Präsenz ein, erste Kontakte zum Islam ergaben sich jedoch schon durch arabo-berberische Händler seit dem achten Jahrhundert. Die Almoraviden bildeten eine Allianz mit dem bereits weitgehend islamisierten Reich der Tekrur, das in etwa der Region des gegenwärtigen Futa Toro im Grenzgebiet zwischen Senegal und Mauretanien entsprach (vgl. Ware 2014: 94). Der Islam wurde aber vielerorts zunächst nur von der gesellschaftlichen Elite angenommen. Weite Teile des heutigen Senegal blieben in der Hand aristokratischer Herrscher, die indigene Glauben1 praktizierten. Seit dem 17. und verstärkt seit dem späten 18. Jahrhundert kam es zuerst im Futa Toro und später auch in den weiter südlich gelegenen Wolof-Gebieten zu islamischen Reformbewegungen durch militante Ğihād-Führer, die theokratische, »gerechtere« Staaten errichten wollten (z.B. Klein 1972: 429-431). Bis heute ist das Narrativ geläufig, dass gerade deren Ausbildung in den Koranschulen, die einhergehend mit der Verbreitung des Islam gegründet wurden und Werte wie Demut, Solidarität und Disziplin vermittelten, dazu führte, dass sie tyrannische Herrschaftsformen bekämpften (vgl. Der Thiam, Asfiyahi, 12.03.2013). Die Reformbewegungen weiteten sich im 19. Jahrhundert im Zuge der fortschreitenden Kolonialisierung aus und trugen zu einer wachsenden Anhängerschaft des Islam in der gemeinen Bevölkerung bei. Aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Bruderschaft der Tiğānīya, in geringeren Teilen zur Qādirīya, und ihrer »prophetischen« Mission (vgl. Coulon 1981: 51) werden diese frühen islamischen Reformer oft als marabouts bezeichnet, auch wenn ihr Erfolg weniger auf ihr spirituelles Charisma (baraka) als auf ihre politische und militärische Stärke zurückzuführen

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Während im kolonialen und auch gegenwärtigen öffentlichen Diskurs Senegals auf die vorislamischen Glauben als »animistische« oder »heidnische« (pagan) Praktiken Bezug genommen wird, lehnen manche Autoren diese Begriffe ab, da sie bei ihnen alle Kennzeichen komplexer religiöser Systeme erfüllt sehen (vgl Camara & Seck 2010: 860-861).

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war (vgl. Villalón 1993: 83). Eine der historisch bedeutendsten Persönlichkeiten unter den Ğihād-Führern war der Tiğānī al-Ḥāğğ ‘Umar Tāl al-Fūtī, dem es gelang, weite Teile des Futa Toro zu erobern (vgl. Behrman 1970: 19). Obwohl al-Ḥāğğ ‘Umar heute in Senegal als Widerstandskämpfer gegen die französische Kolonialbesetzung schlechthin gilt, wandte er sich zunächst nicht gegen diese, sondern wollte mit ihr eine Allianz gegen die herrschenden Aristokraten schließen (vgl. Clark 1999: 154). Die Franzosen fürchteten aber sowohl sein radikal islamisches Projekt als auch seine militärische Macht und waren erst zu einer (ökonomischen) Kooperation mit ihm bereit, nachdem er sich, im Bewusstsein um seine militärische Unterlegenheit, mit seinen Anhängern in die noch nicht kolonial besetzten Gebiete im Osten des Futa zurückgezogen hatte (vgl. Coulon 1981: 34). Al-Ḥāğğ ‘Umar prägte bis Anfang des 20. Jahrhunderts das Bild der Franzosen von der Tiğānīya als besonders militante und wenig kooperationsbereite Sufi-Bruderschaft (vgl. Clark: 1999: 154) und gibt ein frühes Beispiel für das ambivalente und realpolitische Verhältnis zwischen kolonialem Staat und marabouts. Zwar kam es in den Gebieten der Wolof im Zentrum des heutigen Senegal etwa zeitgleich zur Entwicklung muslimischer Reformbewegungen, jedoch waren diese zumeist weniger militant. Sie zeichneten sich überwiegend durch einen indirekten Protest gegenüber den bestehenden Verhältnissen aus, indem sich einzelne marabouts mit ihren Anhängern in autochthonen Gemeinschaften isolierten (vgl. Coulon 1981: 99). Die marabouts propagierten eine egalitäre Gesellschaft und wandten sich gegen die streng hierarchische Kastenordnung und die Versklavung besiegter Nachbarvölker, die für die Wolof-Könige (damels) im 17. und 18. Jahrhundert die wichtigste Einnahmequelle darstellte (vgl. Klein 1972: 430). Nach dem Verbot des Sklavenhandels im 19. Jahrhundert versuchten die damels, ihre finanziellen Einbußen durch Steuererhöhungen auszugleichen, was die Unzufriedenheit ihrer Untertanen noch mehr schürte (vgl. Coulon 1981: 60). Während sich die Herrscher der einzelnen Königreiche gegen eine Konversion zum Islam sträubten, da sie in ihm eine Gefahr für ihren Machtanspruch fürchteten, führte die »Krise der Wolof« im 19. Jahrhundert dazu, dass die marabouts in der Bevölkerung an wachsender Beliebtheit und Anziehungskraft gewannen und sich zu einer Parallelmacht neben den herrschenden Aristokraten etablieren konnten (vgl. Coulon 1981: 54-55). Die Gemeinschaften der marabouts wurden zu Zufluchtsorten verarmter Bauern und mitunter zu Keimzellen politischer Revolten (vgl. Coulon 1981: 61). Die Tatsache, dass die Islamisierung des heutigen Senegal sowohl »früh« als auch »spät« erfolgte, indem sich die Religion in der breiten Bevölkerung erst im 19. Jahrhundert, zeitgleich zu der sich verstärkenden kolonialen Kontrolle, verankern konnte, erste Kontakte zum Islam jedoch bereits vor dem 11. Jahrhundert entstanden, wird in den gegenwärtigen Kontroversen um die Koranschulen für unterschiedliche identitätspolitische Auslegungen genutzt.

3. Das historische Erbe der gegenwärtigen Kontroversen

Von Gegnerschaft zum Gesellschaftsvertrag: Das Verhältnis  zwischen marabouts und Kolonialregierung Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfolgte Frankreich unter General Louis Faidherbe im gesamten Gebiet des heutigen Senegal eine Kolonialpolitik der direkten Kontrolle. Dies hatte zur Folge, dass sich neue Allianzen zwischen anti-französischen Herrschern und muslimischen Reformern bildeten, die sich zuvor bekämpft hatten (vgl. Klein 1972: 437). Die Versuche einzelner Wolof-Aristokraten wie Lat Dior, Widerstandsbewegungen im Namen des Islam ins Leben zu rufen, scheiterten jedoch allesamt (vgl. Coulon 1981: 63-65). Die ehemaligen Herrscher wurden de facto entmachtet und zu reinen Exekutiven der Kolonialmacht degradiert. Während sie als »Handlanger« der Kolonialherren von der Bevölkerung noch mehr als bereits zuvor aufgrund ihrer despotischen Politik verachtet wurden, wuchs das Ansehen der marabouts, die zumindest für einen passiven Widerstand gegen die französische Besatzung standen (vgl. Coulon 1981: 70). Die marabouts erfüllten vor allem in den Wolof-Gebieten, in denen der von der Kolonialregierung vorangetriebene Erdnussanbau etablierte Sozialstrukturen zusätzlich zersetzte, für die Bevölkerung eine stützende soziomoralische Rolle (vgl. Coulon 1981: 71-72). In diesem gesellschaftspolitischen Kontext gelang es Cheikh Amadou Bamba aus dem Königreich Baol in Zentralsenegal in den 1880er Jahren, eine stetig wachsende Schar von Anhängern an sich zu binden. Ursprünglich der Qādirīya angehörend, machte er sich nach langen Koranstudien einen Namen als Gelehrter und gründete mit der Murīdīya die erste lokale Bruderschaft. Bamba gilt bis heute für viele Senegalesen als die nationale Symbolfigur des friedlichen islamischen Widerstandes gegen die Kolonialregierung schlechthin (vgl. Loimeier 2006: 191). Andere wiederum stellen weniger seinen Widerstand gegen die Kolonialregierung, der zeitlebens passiv geblieben war, in den Fokus, sondern verehren ihn als Sufi-Mystiker und spirituellen Weisen (vgl. Coulon 1981: 73). Die Kolonisatoren aber fürchteten in Bambas Bewegung eine Fortführung der nicht lange zurückliegenden Religionskriege durch die Anhänger der Tiğānīya (vgl. Loimeier 2006: 195). Sie verbannten ihn gleich zweimal ins Exil, zuerst nach Gabun und später nach Mauretanien, woraufhin ihn seine Gefolgschaft als »Märtyrer des Kolonialismus« nur noch mehr verehrte (vgl. Coulon 1981: 75). Nach seiner Rückkehr im Jahr 1907 zeigte sich Bamba zunehmend zu einer stärkeren Kooperation mit den Franzosen bereit, die 1912 in einer Anweisung (fatwa) an seine Talibé gipfelte, ihre Regierungsmacht anzuerkennen (vgl. Loimeier 2006: 196). Für Amadou Bamba, der nicht nach weltlicher Macht strebte, war seine politische Unterordnung vor allem ein Mittel zum Zweck, um seine religiöse Mission erfüllen zu können (vgl. Coulon 1981: 7981). Seine Anhänger gehorchten fortan der französischen Autorität, jedoch mehr als »Talibé« denn als politische »Untertanen«; aus Treue zu ihrem marabout und nicht aus Überzeugung für die französische »Zivilisation« (vgl. Coulon 1981: 175).

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Wenn auch die Kolonialregierung nie ganz ihr Misstrauen gegenüber Bamba ablegte, beobachtete sie dennoch mit Wohlwollen den sich abzeichnenden Wandel von einer messianisch-politischen hin zu einer ökonomischen, auf den Erdnussanbau fokussierten Murīdīya. Der zentrale Stellenwert der Arbeit und der bedingungslosen Unterwerfung unter einen marabout in der mouridischen Ethik trug zu einem schnell wachsenden wirtschaftlichen Erfolg dieser Bruderschaft bei (vgl. Dumont 1975: 90). Fast zeitgleich zu Amadou Bamba erklärte al-Ḥāğğ Malik Sy, als Khalifa Général nomineller Führer der Tiğānīya, öffentlich seine Unterstützung für die französische Kolonialregierung. Die marabouts der Tiğānīya, die im 19. Jahrhundert noch militante Widerstandsbewegungen ins Leben gerufen hatten, entwickelten sich im 20. Jahrhundert zu besonders loyalen Kollaborateuren der Kolonialverwaltung (vgl. Loimeier 2006: 197). Damit war zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Grundstein für den »Gesellschaftsvertrag« (»contrat social«, Cruise O’Brien 1992: 9-10) zwischen Staat und marabouts gelegt, der auf dem Prinzip eines gegenseitigen »Austauschs von Leistungen« (»échange des services«, Coulon 1981: 174-190) aufbaute. Das Verhältnis zwischen Kolonialmacht und religiösen Führern entwickelte sich von einer gegenseitigen Bekämpfung zu einer Form der Kooperation, im Zuge derer die »zivilisatorische Mission« der Kolonialregierung zunehmend hinter wirtschaftlichen Interessen zurücksteckte und ihre Politik der »Assimilation« mehr und mehr der einer »Assoziation« wich (vgl. Valette & Adick 2002: 28). Während die kolonialen Autoritäten den Staatsapparat und damit das administrative Zentrum kontrollierten, kontrollierten die marabouts die ländliche Peripherie und waren dort als Mittler zwischen Bevölkerung und Kolonialregierung gefragt (vgl. Coulon 1981: 174). Ihre Rolle war umso bedeutsamer, da das koloniale Modernisierungsprojekt auf die Städte beschränkt werden sollte und der ausbleibende »Fortschritt« auf dem Land die Legitimierung der Kolonisation erschwerte (vgl. Coulon 1981: 175). Zwar büßte die Kolonialverwaltung an Autorität ein, indem sie auf die marabouts als administrative Mittelsmänner zurückgriff, gewann dadurch jedoch beträchtlich an Effizienz (vgl. Coulon 1981: 179). Das neue kooperative Verhältnis zwischen Staat und marabouts spiegelte sich auch im politischen Umgang mit den Koranschulen wider. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die Kolonialregierung unter General Louis Faidherbe aufgrund ihrer »zivilisatorischer« Bestreben versucht, die Koranschulen einzudämmen und mögliche Keimzellen antikolonialer Propaganda zu ersticken (vgl. Coulon 1981: 159; Adebisi 1996: 60). Die staatlichen Eingriffe in das Bildungssystem sollten aber auch den französischen Missionaren ihr Monopol im Schulwesen entreißen (vgl. Valette & Adick 2002: 53-54) und standen in Zusammenhang mit einer antiklerikalen Stimmung in Frankreich zu jener Zeit (vgl. Cruise O’Brien 1967: 307). Sie waren weniger Ausdruck einer generellen Islamfeindlichkeit der französischen Kolonialverwaltung, sondern hatten in erster Linie die Kontrolle der muslimischen Elite zum

3. Das historische Erbe der gegenwärtigen Kontroversen

Ziel, um über sie die Loyalität und Kooperation der Bevölkerung sicherzustellen (vgl. Cruise O’Brien 1967: 309). General Faidherbe teilte die ambivalente Annahme vieler seiner kolonialen Zeitgenossen, der Islam stelle ein notwendiges, aber hinter sich zu lassendes »Stadium« von einer »barbarischen«, »fetischistischen« Kultur hin zur französischen Zivilisation dar (vgl. Cruise O’Brien 1967: 305). Jedoch war die koloniale Islampolitik weder im ganzen Herrschaftsgebiet gleichgeartet noch linear in ihrer Entwicklung. Islamfreundliche oder -feindliche Maßnahmen einzelner Kolonialverwalter spiegelten deren persönliche Einstellungen, den jeweiligen gesamtpolitischen Kontext und auch spezifische örtliche Begebenheiten der Verwaltungseinheiten wider, zum Beispiel unterschiedlich kooperativ oder konfrontativ ausgerichtete marabouts (vgl. Coulon 1981: 145). Die Kolonialregierung erkannte in der Religion zunehmend ein politisches Werkzeug und sah ein, dass antireligiöse Maßnahmen sich bei einer mehrheitlich muslimischen Bevölkerung als politisch unklug erwiesen (vgl. Cruise O’Brien 1967: 308). In ihrer pragmatischen Islampolitik orientierte sich die französische Kolonialverwaltung vor allem an ihren Erfahrungen in ihrer algerischen Kolonie. Dort war es ihr bereits erfolgreich gelungen, die religiösen Führer als Verbindung zur Bevölkerung zu nutzen und durch eine kontrollierte Förderung des islamischen Lebens eine Art »offiziellen« Islam zu etablieren (vgl. Cruise O’Brien 1967: 306). Die erste Maßnahme gegen die Koranschulen unter General Faidherbe, ein Erlass aus dem Jahr 1857, der eine Lizenzpflicht für alle Koranschulen erforderte (vgl. Ndiaye 1985: 76 in Loimeier 2001: 105), muss so auch in den Kontext der erbitterten Kriegsführung mit al-Ḥāğğ ‘Umar dieser Zeit eingeordnet werden (vgl. Robinson 1988: 421). Im selben Jahr wurde für die Söhne der marabouts und der lokalen Verwaltungschefs eine islamische Schule nach algerischem Vorbild in der Kolonialhauptstadt St. Louis gegründet. Ziel war es, den Schülern neben einigen wenigen Unterrichtsstunden in Arabisch und Koranlehre ein für die Kolonialregierung nützliches Wissen und die Werte der »französischen Zivilisation« zu vermitteln und ein »Korps von regimetreuen ›frankophonen‹ religiösen Gelehrten und Funktionären« auszubilden (Ndiaye 1985: 109-111 in Loimeier 2001: 109; vgl. Adebisi 1996: 60).2 Ein Dekret aus dem Jahr 1903 beschloss weitere umfangreiche Maßnahmen zur Kontrolle der Koranschulen, deren Einhaltung eine eigens eingerichtete Inspektion überprüfen sollte (vgl. Ndiaye 1985: 98-99; Behrman 1970: 39-40 in Loimeier 2001: 105). Der Besuch einer Koranschule wurde Kindern nur noch unter der Bedingung einer gleichzeitigen Einschulung in eine école publique und ausschließlich in der unterrichtsfreien Zeit gestattet. Die Koranlehrer mussten ihre »gute Führung« eben-

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Unter General Faidherbe wurde diese Schule im Jahr 1857 zunächst unter dem Namen École des Otages (»Schule der Geiseln«) gegründet, im Jahr 1982, entsprechend ihrem Auftrag, Dolmetscher und Verwaltungsangestellte auszubilden, in Collège des fils de chefs et d’interprètes und 1908 schließlich in Médersa umbenannt (vgl. Loimeier 2001: 96).

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so nachweisen wie ihre Identität als französische Untertanen und Lehrqualifikationen und -erfahrungen. Koranschulen mit weniger als zwanzig Schülern sollten geschlossen werden, um ihre Anzahl zu verringern und dadurch wiederum den Besuch der französischen Schulen zu steigern. Das Dekret von 1903 verbot auch das Betteln der Talibé (vgl. Loimeier 2001: 105), das die ökonomische Grundlage vieler Koranschulen darstellte. Dieses Verbot wurde im Jahr 1911 verschärft, indem fortan allen körperlich unversehrten marabouts, die ihre Talibé betteln schickten, obwohl sie selbst zu einer Tätigkeit imstande wären, eine Anklage wegen vagabondage drohte (vgl. Loimeier 2002: 120-121; Behrman 1970: 40 in Loimeier 2001: 106). Die Kolonialregierung versuchte nicht nur mit restriktiven Mitteln, die Koranschulen zu überwachen und einzudämmen, sondern ließ eine politische Strategie nach dem Prinzip »Zuckerbrot und Peitsche« (Cissé 1992: 85) erkennen. Ab dem Jahr 1906 erhielten zum Beispiel diejenigen Koranlehrer Bonuszahlungen, die in ihren Schulen täglich mindestens zwei Stunden Französisch unterrichteten (vgl. Cissé 1992: 85). Dennoch konnte keiner der Erlässe erfolgreich umgesetzt werden. Die finanziellen und personellen Ressourcen der Kolonialregierung waren unzureichend, um gegen den ungebrochen starken Rückhalt der marabouts vor allem in den ländlichen Gebieten anzukommen. Es gelang ihr nicht, die Bevölkerung von einem Besuch der Koranschulen zugunsten der neu eingerichteten säkularen Schulen abzuhalten oder dazu zu veranlassen, gesetzesbrüchige marabouts den französischen Behörden zu melden. Auch das Bettelverbot konnte durch Spenden der Bevölkerung leicht umgangen beziehungsweise ausgeglichen werden (vgl. Loimeier 2001: 106). Die Menschen drückten auf diese Art ihre Unterstützung für die Koranschulen aus und erfüllten zugleich das religiöse Gebot der zakāt, der Almosengabe (vgl. Loimeier 2001: 106). Die Rolle der marabouts in ihren Gemeinschaften war deshalb so bedeutsam, da sie nicht nur Wissende und Vermittler des Koran sowie häufig auch Rechtsexperten waren, sondern aufgrund ihres eigenen Ausbildungsweges der »jeweilige Endpunkt einer langen Kette von Gelehrten«, die letztlich auf den Propheten selbst zurückging (vgl. Loimeier 2001: 101). Die muslimischen Eltern nahmen die koranische Ausbildung ihrer Kinder zudem als eine religiöse Pflicht und nicht als eine Wahl wahr (vgl. Fortier 1997: 94). Sie erhofften eine gottgefällige Erziehung ihrer Kinder, aber auch soziale Anerkennung und Aufstiegschancen und profitierten davon, dass die Koranausbildung kostengünstiger als andere Schulformen war (vgl. Saul 1984: 82-83). Sie hatte für die Söhne verarmter Bauern einerseits den symbolischen Wert, sich von ihrem ehemaligen Sklavenstatus zu distanzieren und zu einem freien Muslim zu werden und ermöglichte ihnen andererseits ein gesichertes Auskommen unter der Obhut eines marabout (vgl. Last 2000: 381). Auch für selbst ernannte marabouts war es vielversprechend, sich mit ihren Talibé in dem nun befriedeten senegalesischen Hinterland niederzulassen und Erdnussanbau zu betreiben. Auf diese Weise konnten sie der gerontokratischen Ordnung ihrer Her-

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kunftsdörfer entkommen und wirtschaftliche Unabhängigkeit erlangen (vgl. Kopytoff 1989 in Perry 2004: 56). Für die Bewirtschaftung der Anbauflächen wiederum benötigten die marabouts möglichst viele Talibé, weshalb eine große Schülerschaft nicht nur für ihre Reputation bedeutsam war, sondern auch ökonomische Gewinne mit sich brachte. Insbesondere die Anzahl der typisch mouridischen Koranschulen, die als landwirtschaftliche Gemeinschaften im Erdnussanbau tätig waren (vgl. Cruise O’Brien 1971: 165), nahm so in der Zeit des späten 19. bis frühen 20. Jahrhunderts beträchtlich zu. Der Kolonialverwalter und Verantwortliche des Referats für Muslimische Angelegenheiten (Service des Affaires Musulmanes) Paul Marty diffamierte zwar die Ausbildung in den daaras als ein »rein konfessionelles und mechanisches« Auswendiglernen (ders. 1917 II: 109 in Loimeier 2001: 97), gestand jedoch bereits im Jahr 1913 ein, dass die Bekämpfung des in der Bevölkerung verankerten und politisch nicht länger zu fürchtenden Koranschulwesens sinnlos sei (vgl. Bouche 1974: 229 in Loimeier 2001: 106). Martys abfällige Äußerungen zeugten vom Unverständnis der Kolonisatoren gegenüber der »koranischen Pädagogik« (Fortier 2003), die der vollständigen Verinnerlichung des Korans als Gottes Wort und der Fähigkeit zu dessen perfekter Rezitation den höchsten Stellenwert beimisst (vgl. Fortier 2003: 250-252). Während aus gegenwärtiger westlicher Perspektive »Auswendiglernen« und »Verstehen« häufig als Gegensätze wahrgenommen werden, gilt in der islamischen Ausbildung die mnemonische Beherrschung des Korans sowohl als erster Schritt und Voraussetzung für dessen tiefer gehendes Verständnis als auch als notwendige Grundlage für jeden weiteren Wissenserwerb (vgl. Boyle 2006: 465-467). Die Exegese des Korans stellt eine eigenständige Wissenschaft dar und dessen informelle Auslegung in orthodoxer Lesart sogar eine Form der Blasphemie. Dies schließt jedoch nicht ein vorausgehendes implizites Verstehen des Korans durch die Rezitation bestimmter Suren in ihren passenden sozialen Kontexten aus (vgl. Eickelman 1978: 494). Ferner wird dem verinnerlichten Koran selbst ohne dessen wörtliches Verständnis eine Wirkung als »moralischer Kompass« (Boyle 2006: 492) zugeschrieben. Das Verinnerlichen – also Auswendiglernen – des Korans zeugt von der bedeutsamen Rolle des Körpers zur Wissensvermittlung im Islam, insbesondere im Sufismus, und stellt eine Übung in physischer und mentaler Disziplin dar, der im islamischen Erziehungsverständnis ein zentraler Wert beigemessen wird (vgl. Ware 2014: 6; Boyle 2006: 489). Dazu gehört, dass Kinder ihre körperlichen Bedürfnisse wie Schlaf und Hunger sowie ihren »Mund« zu kontrollieren und ihren Körper zu »überwinden« lernen (Ware 2014: 49; vgl. Last 2000: 374-375). Auch Körperstrafen und die Praktik des Bettelns, die Beharrlichkeit und Demut lehren sollte, lassen sich in diese Erziehungslogik und religiöse Ästhetik sinnstiftend einbetten (vgl. Kane 1961: 28; Ware 2014: 8). Der Koranlehrer erfüllt über die strenge Disziplinierung der Talibé seine Pflicht, die Heiligkeit des Wortes Gottes zu bewahren (vgl. Ware 2014: 43) und ein Kind auf dieses vorzubereiten, indem es »gebrochen«

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und anschließend moralisch und spirituell neu geformt wird (vgl. Ware 2014: 49). Die Koranausbildung ist somit holistisch ausgerichtet und lehrt den Schülern keinen bestimmten Beruf, sondern Gläubige und »vollständige« Menschen zu sein, die ihren Körper ebenso wie ihren Geist zu beherrschen vermögen (vgl. Gandolfi 2003: 265; Adebisi 1993: 209). Darüber hinaus vermittelt sie die gesellschaftlich wesentlichen »kulturell-religiöse[n] Grundeinstellungen, Deutungsmuster, Werte und Weltansichten« (Assmann 1999: 141-142 in Loimeier 2001: 98). Martys Einsicht, dass ein restriktiver Umgang mit den Koranschulen wenig Erfolg versprach, hatte zur Folge, dass den Koranlehrern fortan nach dem Prinzip einer »überwachten Autonomie« weitgehend freie Hand gelassen wurde. Ziel war es, die Koranschulen wenigstens allmählich in das koloniale Bildungssystem zu integrieren (vgl. Coulon 1981: 159-161). Das sich intensivierende Austauschverhältnis zwischen marabouts und Staat trug zudem dazu bei, dass die Kolonialregierung von repressiven Maßnahmen gegenüber den Koranschulen abrückte. Schließlich waren deren wirtschaftliche Interessen weitaus ausgeprägter als die »zivilisatorischen« Bestreben und die daaras mussten durch die mittlerweile bewährten und beidseitig profitablen Arrangements längst nicht mehr als Keimzellen aufwieglerischen Gedankenguts gefürchtet werden (vgl. Loimeier 2001: 106-107). Die gesellschaftliche Autorität der marabouts ließ sich von der Kolonialregierung sowohl administrativpolitisch als auch ökonomisch zunutze machen. Insbesondere in der Erdnusswirtschaft war ihre Rolle als Vermittler zwischen Staatsapparat und ländlicher Bevölkerung für die Produktion, aber auch zum Eintreiben von Steuern von unverzichtbarem Wert. Nur die marabouts verfügten über den Einfluss, ihre Anhänger von einer Aufgabe des Erdnussanbaus und einer Zuwendung zur Subsistenzwirtschaft in den 1930er Jahren und der Nachkriegszeit nach 1945 abzuhalten, als der Marktpreis für Erdnüsse massiv einbrach (vgl. Coulon 1981: 182). Die marabouts stellten ihre Talibé zudem als Arbeitskräfte für den Ausbau der für die Erdnusswirtschaft notwendigen Infrastruktur, zum Beispiel der Eisenbahnlinie Diourbel-Touba, zur Verfügung (vgl. Coulon 1981: 182). Selbst während der Arbeiterstreiks in den urbanen Zentren, die in den Jahren 1938 und 1947 eskalierten, unterstützten die marabouts die staatliche Führung zuverlässig und ersetzten die Streikenden sogar zum Teil mit ihren eigenen Talibé (vgl. Coulon 1981: 178-179). Auf den Prüfstand gestellt wurde die Allianz zwischen Staat und marabouts vor allem während des ersten und zweiten Weltkrieges. Beide Male zeigten sich die marabouts solidarisch mit Frankreich und beteten nicht nur öffentlich für dessen Sieg, sondern bewiesen zusätzlich durch die Rekrutierung von Soldaten unter ihren Talibé Loyalität (vgl. Cruise O’Brien 1967: 315; Coulon 1981: 180). Die Kolonialregierung wiederum entlohnte die marabouts mit immateriellen und materiellen Gütern für ihre Kollaboration. Sie gewährte ihnen staatsmännische Ehren, obwohl sie keine offiziellen öffentlichen Funktionen bekleideten, aber auch finanzielle und andere ökonomisch bedeutsame Zuwendungen. Zum Beispiel waren die staatlichen Autoritäten bei allen großen

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Zeremonien der führenden marabouts zu Gast und werteten sie dadurch auf (vgl. Coulon 1981: 186). Die Vergabe von Land erwies sich mit Beginn des Erdnussexporthandels als am lukrativsten, aber auch religionspolitische Zugeständnisse wie Pilgerfahrten nach Mekka oder der Bau neuer Moscheen hatten symbolischen und materiellen Wert. Ein Teil der Begünstigungen kam über Redistributionsmechanismen der marabouts dann den Talibé selbst zugute, um diesen wechselseitig gewinnbringenden Austauschkreislauf am Leben zu erhalten (vgl. Coulon 1981: 183). Nichtsdestotrotz blieb für die französische Kolonialregierung die Entwicklung panislamischer Bewegungen eine latente Gefahrenkulisse, weshalb sie jegliche Kontakte und Beziehungen der marabouts mit den arabischen Ländern zu limitieren und zu kontrollieren versuchte. Diese Befürchtung konkretisierte sich insbesondere in den Vorjahren des Ersten Weltkriegs durch von der Türkei ausgehende panislamische Bestrebungen und führte zu einem restriktiveren Umgang mit den marabouts. Auch eine gemeinsame Sache der marabouts der verschiedenen Bruderschaften sollte verhindert werden, indem Unstimmigkeiten unter ihnen nach Möglichkeit geschürt wurden und die Kolonialregierung sich direkt in die Nachfolgedebatten um das Kalifat der Murīdīya einmischte. Robert Arnaud, der die Kolonialregierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts in »islamischen Angelegenheiten« beriet, empfahl explizit die Strategie »divide ut imperes«, um die Macht der marabouts zu beschränken und zu steuern (vgl. Cruise O’Brien 1967: 313). Bei Zwistigkeiten innerhalb einer Bruderschaft war es für einzelne marabouts wiederum vorteilhaft, gut mit den kolonialen Autoritäten gestellt zu sein und auf deren Unterstützung zählen zu können (vgl. Coulon 1981: 184). Marabouts, die zu kritisch gegenüber der Regierung auftraten, verloren hingegen ihre Privilegien und wurden in einzelnen Fällen sogar inhaftiert (vgl. Behrman 1970: 95 in Loimeier 2001: 203). Aber obwohl die Kolonialregierung in bestimmten Perioden eine Islampolitik der Eindämmung verfolgte, intervenierte sie weder in bereits islamisierten Gemeinschaften noch gab sie den administrativ wichtigen respektvollen Umgang mit den kooperationsbereiten einflussreichen marabouts auf (vgl. Cruise O’Brien 1967: 314-315). Ihrerseits achteten die marabouts ebenso sorgsam darauf, nicht zu reinen »Handlangern« der Kolonialregierung degradiert und vor allem nicht von ihrer Anhängerschaft als solche wahrgenommen zu werden. Wohl werteten die Talibé die Tatsache, dass ihre marabouts von den staatlichen Autoritäten hofiert wurden, prinzipiell positiv als Zeichen deren Bedeutsamkeit (vgl. Coulon 1981: 184). Ein wesentlicher Teil ihrer Popularität und Autorität beruhte jedoch nach wie vor darauf, dass sie für die Bevölkerung Symbolfiguren eines, zumindest passiven und ideologischen, Widerstandes gegen die französische Besetzung darstellten und eine identitäre Alternative zu den kolonialen Umwälzungen boten. Der mit dem Erdnussanbau verbundene neue Reichtum und ihr politisches Gewicht führten so im 20. Jahrhundert zu einer zweiten »Hochkonjunktur« der maraboutischen Bewegungen nach den Religionskriegen der islamischen Refor-

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mer des 19. Jahrhunderts. Die Kolonialzeit hatte eine neue Generation von marabouts hervorgebracht, deren Verhältnis zum Staat nicht mehr durch Konfrontation, sondern durch beidseitig profitable Arrangements gekennzeichnet war. Die einst gegenüber jedem westlichen Einfluss so kritischen marabouts statteten sich bald selbst gern mit europäischen Konsumgütern wie luxuriösen Autos aus (vgl. Coulon 1981: 168-170). Diese Verstrickungen der staatlichen und der religiösen Sphäre führten seither dazu, dass sowohl die marabouts mitunter politische Interessen gegenüber religiösen Vorgaben priorisierten als auch staatliche Autoritäten sozioreligiösen Normen gegenüber offiziellen Gesetzen Vorrang gewährten. Christian Coulon (1981: 234) beschreibt zum Beispiel, dass sich im Jahr 1970 der Imam der Großen Moschee in Dakar entgegen den islamischen Regeln weigerte, das Ende des Ramadan für einen Montag3 auszurufen. Einer lokalen Überlieferung zufolge nämlich hätte das den Fall des bestehenden Regimes zur Folge gehabt, was offensichtlich nicht im Interesse des religiösen Führers lag. Die Regierung wiederum verzichtete damals wie heute häufig auf eine rigide Gesetzesanwendung, um ihren durch die marabouts gewährleisteten gesellschaftlichen Rückhalt nicht zu verlieren (s. Kapitel 8). Trotz der staatlich-religiösen Austauschbeziehung wird die Rolle der marabouts in der Erdnusswirtschaft aus gegenwärtiger Perspektive von Wissenschaftlern kontrovers interpretiert. Manche sehen die marabouts in marxistischer Lesart als Komplizen der Kolonialregierung, die diese bei der Ausbeutung der Massen unterstützten und dafür freie Hand in der finanziell undurchsichtigen und undemokratischen Verwaltung ihrer Landwirtschaftskooperativen hatten (vgl. Coulon 1981: 189191; Copans 1980: 228-232). Andere hingegen heben die Rolle der marabouts als Beschützer der Landbevölkerung vor der kolonialen Willkür und ihren Beitrag zu einer ökonomischen Redistribution hervor (vgl. Cruise O’Brien et al. 2002: 11, 36). Do3

Während Coulon an dieser Stelle von einem Montag spricht, ist mir durch meine senegalesischen Informanten – ich danke insbesondere Prof. Dr. Souleymane Faye für seine Erläuterungen – nur der Glaubenssatz bekannt, dass Machthaber ihre Stellung verlieren oder sogar zu Tode kommen, wenn das Fest zum Ende des Ramadans (wolof: Korité/arab.: Aïd el-Fitr) oder das Opferfest (wolof: Tabaski/arab.: Aïd el-Kebir) auf einen Freitag fällt. So titelte auch eine Zeitung im Jahr 2015 »Macky Sall feiert Aïd el-Fitr diesen Samstag, weil man seine Macht verliert, wenn man es an einem Freitag macht« (Ndao, Koaci, 18.07.2015, meine Übersetzung). Diesem Artikel zufolge hat in Senegal kein Staatsoberhaupt jemals den Fastenmonat an einem Freitag beendet (vgl. auch Seck, Politicosn, 11.09.2010). Der Glaubenssatz geht bis auf vorkoloniale Zeit zurück, wird jedoch zunehmend vor allem von Bevölkerungsteilen, die einen salafistisch orientierten Islam praktizieren, als nicht islamisch legitimierter »Aberglaube« diskreditiert. Selbst in Politikerkreisen überwiegt heute die Rhetorik, die bedeutenden religiösen Feiertage mögen einheitlich von allen Senegalesen am selben Tag begangen werden. Im Jahr 2010 nahm der damalige Premierminister Souleymane Ndéné Ndiaye mit einer Regierungsdelegation an einem Freitag am Gebet zum Ende des Ramadans in der Großen Moschee in Dakar teil (vgl. APS, 10.09.2010).

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nal Cruise O’Brien bezeichnet die maraboutischen Gemeinschaften gar als »Afrikas erste autonome landwirtschaftliche Handelsgemeinschaften« (ders. 1979 in Villalón & Kane 1998: 153). Die Interpretation als eine indirect rule nach dem Modell der britischen Kolonialgebiete, die mehrere Autoren in diesem Zusammenhang vertreten, zweifeln Cruise O’Brien et al. (2002: 35; vgl. Markowitz 1970: 89) hingegen an, da die Mittlerrolle der marabouts niemals politisch offizialisiert wurde und sie eine größere Unabhängigkeit gegenüber dem Staat behielten.

Die religionspolitischen Entwicklungen nach der Unabhängigkeit Vor allem junge urbane Intellektuelle Senegals kritisierten seit Ende der 1950er Jahre die marabouts immer lauter als »Feudale« und schlossen sich reformistischen islamischen Bewegungen an. Reformistische, salafistisch orientierte Zusammenschlüsse gehen in ihren Anfängen in Senegal bereits bis in die 1920er Jahre und reformistisches muslimisches Gedankengut bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück, erreichten aber mit der von Cheikh Touré gegründeten Union Culturelle Musulmane (UCM, arab. ITI) im Jahr 1953 eine neue organisatorische Dimension. Die UCM richtete sich gegen das koloniale System und gegen die marabouts als dessen Kollaborateure (vgl. Loimeier 2000a: 172; ders. 1995: 195), aber auch gegen deren in ihren Augen »unislamische« mystische Praktiken und den Personenkult um sie. Die Kolonialregierung reagierte zunächst mit Einschüchterungsversuchen gegen die UCM, konnte jedoch nicht deren beachtlichen Erfolg verhindern. Dieser fußte unter anderem darauf, dass die Reformisten der UCM die ersten frankoarabischen Schulen errichteten und der Öffentlichkeit religiöse Themen mit neuen medialen Formaten vermittelten. Sie kommunizierten auf Wolof oder Französisch, nicht mehr nur auf Arabisch wie die Sufi-Gelehrten. Damit demokratisierten sie den religiösen Diskurs, trugen aber auch zu dessen Desakralisierung und Politisierung bei (vgl. Loimeier 2000a: 175). Das Programm der UCM hat alle nachfolgenden islamischen Reformbewegungen in Senegal und zum Teil auch in seinen Nachbarländern beeinflusst (vgl. Loimeier 2013: 241). Dennoch überwog das gesellschaftliche Gewicht der marabouts nach wie vor und bestätigte sich bei kritischen politischen Ereignissen. Das Referendum über eine sofortige Unabhängigkeit Senegals im Jahr 1958 entschied sich zugunsten der marabouts, die sich, im Gegensatz zu den Reformisten, mehrheitlich für einen Verbleib der westafrikanischen Kolonien in der Communauté Française ausgesprochen hatten. Dadurch zeigte sich nicht nur die von weiten Teilen der Bevölkerung unangefochtene Stellung der marabouts, sondern auch, dass diesen viel daran gelegen war, den bequemen kolonialen Status quo beizubehalten und sich nicht in ungewisse politische Abenteuer zu stürzen. Dieselbe Tendenz bestätigte sich im Jahr 1962, als sich der muslimische Premierminister Mamadou Dia in einem innerparteili-

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chen Konkurrenzkampf gegen den katholischen und frankophilen Léopold Senghor geschlagen geben musste, da er sich mit seinen geplanten Landwirtschaftsreformen und seinen Sympathien für die reformistische UCM sowohl ideologisch als auch ökonomisch wichtigen Interessen der marabouts entgegenstellte (vgl. Loimeier 1995: 195). Dias Reformvorhaben wurden ihm schließlich als Versuch eines Staatsstreichs ausgelegt, was zu seiner Verhaftung und einer langjährigen Gefängnisstrafe führte (z.B. Monjib 2005: 49-51). Unter Léopold Senghor, dem ersten Präsidenten nach Senegals Unabhängigkeit im Jahr 1960, wurde das Austauschverhältnis zwischen Staat und marabouts in seinen wesentlichen Mechanismen fortgeführt. Coulon (1981: 233) bezeichnete die Dekade zwischen 1960 und 1970 sogar als »goldenes Zeitalter« dieses politischen Arrangements. Lokale staatliche Positionen wie die des chef de village (Dorfvorsteher) und die des marabout wurden oft in Personalunion ausgeübt (vgl. Coulon 1981: 236). Die marabouts trieben nach wie vor Steuern für den Staat ein, waren jedoch zugleich darauf angewiesen, nicht in der Gunst der Bevölkerung zu sinken und verzichteten daher vor allem in schlechten Erntejahren auf ein rigides Vorgehen (vgl. Coulon 1981: 237). Insbesondere während der Studentenproteste im Jahr 1968 waren die staatlichen Autoritäten vom beschwichtigenden Einwirken der marabouts abhängig (vgl. Coulon 1981: 235). Gleichzeitig florierte der Erdnussexporthandel, sodass die marabouts als Mittelsmänner nicht nur für politische, sondern auch für ökonomische Zwecke gefragt blieben. Ihrerseits erhielten sie in bewährter Tradition Unterstützung für ihr »religiöses Unternehmen« (Samson 2000: 6) in Form von materiellen Gütern, zum Beispiel Gelder für den Moscheenbau, Zugang zu Medien und öffentlichen Räumen oder Rechtsschutz in Streitfällen (vgl. Loimeier 2001: 203). Nach wie vor erwiesen sich aber Zuwendungen in der Erdnusswirtschaft als finanziell am lukrativsten. Dazu gehörten unter anderem Saatgutzuteilungen, günstige Kredite zum Erwerb von Landmaschinen und das Recht, die staatlichen Zwischeninstitutionen zu umgehen, um für die Ernteerträge einen höheren Preis zu erzielen (vgl. Coulon 1981: 242). In den 1970er Jahren machte sich eine langsame Entfremdung zwischen marabouts und Staat bemerkbar. Präsident Senghor strebte zunehmend nach mehr Unabhängigkeit von den marabouts. Teil dieser Strategie war, die Reformbewegung der UCM zwar zu schwächen, gleichzeitig aber neue regimefreundliche islamische Organisationen aufzubauen und in staatlich kontrollierte Vereinigungen wie die Fédération des Associations Islamiques du Sénégal (FAIS) einzugliedern (vgl. Loimeier 2013: 241; ders. 2001: 201). Da Bildung und intellektueller Sachverstand das einzige Gut der Reformisten waren und sie nicht wie die marabouts auf andere soziale oder ökonomische Ressourcen zurückgreifen konnten, versuchten sie durch die Gründung franko-arabischer Schulen nach dem Vorbild der arabischen médersas ihren Einfluss im islamischen Bildungswesen auszuweiten (vgl. Coulon 1981: 262). Diese Schulen lehrten zwar den Koran, nicht aber mit dem Ziel seiner vollständigen Be-

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herrschung, sondern mit einem größeren Fokus auf dessen inhaltliches Verständnis. Darüber hinaus vermittelten sie eine Lese- und Schreibkompetenz im Arabischen (vgl. Bodian & Villalón 2012: 25). Zusätzlich beinhaltete der Lehrplan Fächer wie Französisch, Geschichte, Mathematik und Sport (vgl. Loimeier 2002: 123-124). Die reformierte Ausbildung in den écoles franco-arabes in Klassenverbänden und mit einem festen, erweiterten Kurrikulum näherte sich stark dem westlich-säkularen Schulsystem an und bedeutete einen tiefgreifenden Umbruch im islamischen Bildungswesen Senegals. Indem die Reformisten zahlreiche Lehrer in ihren Schulen beschäftigten, die ihr Studium in den arabischen Ländern absolviert hatten, konnten sie ihre Sympathisantenschaft erweitern. Durch die Anstellung der ansonsten arbeitslosen Arabischlehrer (arabisants) trugen sie zudem zur Wahrung des sozialen Friedens bei, was wiederum dem Staat zugutekam (vgl. Loimeier 2001: 349). Zwar wurden die franko-arabischen Schulen staatlich nicht subventioniert, Arabisch jedoch als fakultatives Schulfach an den öffentlichen Schulen gestärkt und einige staatliche franko-arabische Schulen gegründet. Dadurch hofierte die Regierung Senghors die Reformisten der staatstreuen Fédération des Associations Islamiques du Sénégal (FAIS) und übte gleichzeitig Kontrolle über sie aus. Sie wollte auch verhindern, dass sich die reformistischen Organisationen ihre Sponsoren und Allianzen ausschließlich in arabischen Ländern suchen mussten, was die Gefahr ihrer Radikalisierung vergrößert hätte (vgl. Loimeier 2001: 229). Solche pro-islamischen Maßnahmen ergriff Präsident Senghor, um sich vor dem Hintergrund seiner eigenen katholischen Konfession nicht dem Vorwurf der Islamfeindlichkeit auszusetzen, mehr aber noch, um sich von den marabouts unabhängiger zu machen und ihnen nicht das Monopol über das islamische Schulwesen zu überlassen (vgl. Fall 1986: 69 in Loimeier 2001: 349). Durch die Kooperation mit den reformistischen Organisationen im islamischen Bildungswesen ergaben sich für den Staat neue und zuvor verschlossene Möglichkeiten, in die religiöse Sphäre einzudringen. Toleranz gegenüber den Aktivitäten der Reformisten stellte für ihn den einfachsten Weg dar, um den Einfluss der marabouts zu schmälern (vgl. Loimeier 2000a: 185). Um wiederum einem zu starken Einfluss der Reformisten entgegenzuwirken, näherte sich Senghor zudem den Wolofisants an, die mit ihrem Wegbereiter Cheikh Anta Diop für die Aufwertung der Nationalsprache Wolof kämpften. Diese Bewegung richtete sich vor allem gegen die Frankophonie, aber auch gegen das arabisch-islamische Erziehungswesen als nicht senegalesische Tradition. Der Staat sorgte vor, um diese beiden Gruppen gegebenenfalls gegeneinander ausspielen zu können (vgl. Loimeier 2001: 229). Das wachsende staatliche Interesse für das reformistische Bildungswesen erklärte sich ferner dadurch, dass der Regierung Senghors Ende der 1970er Jahre verstärkt das Betteln der Talibé und anderer Bevölkerungsteile ein Dorn im Auge war, das im Zuge zunehmender Landfluchtbewegungen in den Städten immer sichtbarer wurde. Aus Furcht, die touristische und wirtschaftliche Entwicklung des

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Landes zu behindern, wurde das Betteln im öffentlichen Raum im Jahr 1975 unter Strafe gestellt.4 Da in diesem Gesetz die Bitte um Almosen »gemäß den religiösen Traditionen« explizit vom Akt des Bettelns ausgenommen wurde, stellte es keine reelle Gefahr für das Koranschulsystem dar. Erst Ende der 1970er Jahre entwickelte der Staat erste Maßnahmen, um die Koranschulen zu reglementieren und die Lebensbedingungen der Talibé zu verbessern. Aufgrund fehlender Ressourcen und eines mangelnden politischen Willens mündeten diese jedoch lediglich in Pilotprojekten. Zum einen waren die marabouts für die Regierung nach wie vor ökonomisch und politisch zu bedeutsam, um eine offensive Kritik am Koranschulwesen zu üben (vgl. Loimeier 2002: 128). Zum anderen hatte Senghor, wie auch später sein Nachfolger Abdou Diouf, kein Interesse daran, reelle Alternativen zum säkularen Bildungssystem zu schaffen, wollte aber Senegal durch eine symbolträchtige islamische Bildungspolitik in der arabischen Welt in ein günstiges Licht rücken (vgl. Loimeier 2001: 235; ders. 1995: 203). So waren es zu dieser Zeit, anders als zu (frühen) kolonialen Zeiten, nicht staatliche Akteure, die das Betteln der Koranschüler offen verurteilten, sondern islamische Reformisten (vgl. Loimeier 2001: 367). In den 1970er Jahren hatten zudem schwere Dürreperioden der Erdnusswirtschaft erheblich geschadet und damit eines der stärksten Bande zwischen marabouts und Staat geschwächt. Der »Gesellschaftsvertrag« (Cruise O’Brien 1992: 910) konnte nicht mehr für beide Seiten zufriedenstellend erfüllt werden (vgl. Loimeier 2006: 211). Die gegenseitige Entfremdung gipfelte in den Unstimmigkeiten über den neuen Code de la famille (1972), mit dem der Staat das bislang pluralistische Familienrecht in eine einheitliche säkulare Gesetzgebung zusammenführte und diese Änderung trotz gemeinsamer Missbilligung der marabouts und der islamischen Reformisten durchsetzte. Damit deuteten sich eine Emanzipierung des Staates von intermediären Lobbygruppen und eine Entwicklung zu einem integralistischen Staat an (vgl. Coulon 1981: 290). Ungeachtet der Niederlagen auf dem politischen Parkett, welche die marabouts in jener Zeit hinnehmen mussten, blieb ihre gesellschaftliche Bedeutung ungebrochen. Das erkannten zunehmend auch die islamischen Reformbewegungen. Sie gaben in den 1980er Jahren ihren Kampf gegen die marabouts mehrheitlich auf, um sich zum Teil mit ihnen gegen den Staat zu stellen (vgl. Loimeier 2000a: 183; ders. 2001: 227) und auch den Vorwurf abzuwenden, gegen muslimische Glaubensbrüder vorzugehen (vgl. Loimeier 2013: 242). Diese Haltung spiegelte sich deutlich in einem Aufsatz Cheikh Tourés (1983: 129, 131) wider, der die von ihm gegründete und von Senghor instrumentalisierte UCM 1979 verlassen hatte und daraufhin an der Gründung der regierungskritischen Jama’atou Ibadou Rahmane (JIR) beteiligt war (vgl. Loimeier 2001: 258-259). In seinem Text verurteilte Touré das staatliche Schulsystem kolonialer Tradition und hielt dem Staat vor, die Koranschulen aus Sorge 4

Code Pénal du Sénégal. Livre Troisième, Titre Premier. Chap. IV, Sect. V, § III, Art. 245.

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um den erblühenden Tourismus zu kritisieren, anstatt in ihre »Modernisierung« zu investieren. Gleichzeitig äußerte er sich wertschätzend über die großen mouridischen Bildungszentren. Aufgrund verstärkter und erfolgreicher Bemühungen der reformistischen Gruppierungen seit Beginn der 1980er Jahre, das reformistische islamische Bildungswesen flächendeckend auszuweiten, hatten sich nämlich auch viele marabouts zunehmend gezwungen gesehen, selbst islamische Institute nach diesem Modell zu gründen, um einen Anhängerschwund zu verhindern (vgl. Loimeier 2001: 352; ders. 2002: 126). Im Jahr 1985 wurde zudem in Konkurrenz zur staatlich kontrollierten FAIS mit der Organisation pour l’Action Islamique (OAI) eine neue Dachorganisation reformistischer Organisationen gegründet als Ausdruck des Protests gegen den säkularen Staat und dessen Versuch, den Islam für seine Zwecke zu instrumentalisieren (vgl. Loimeier 2013: 266). Die vormals dichotomen Positionen zwischen marabouts und Reformisten wurden in den 1980er Jahren durch die Bewegung der sogenannten marabouts-petits fils, der Enkelgeneration der Gründerväter des »Gesellschaftsvertrags« (Cruise O’Brien 1992: 9-10) zwischen staatlicher und religiöser Elite, zusätzlich aufgeweicht. Die erfolgreichsten dieser neuen Jugendorganisationen waren die aus der Bruderschaft der Tiğānīya hervorgegangene Dā’irat al-Mustaršidīn wa-l-Mustaršidāt (DMM) und die mit der Murīdīya verbundene Hizb al-tarqiya (HT) (vgl. Loimeier 2013: 244). Die jungen marabouts hauchten den Bruderschaften neuen Atem ein, indem sie mystisches mit reformistischem Gedankengut vereinten. Sie zeigten sich rebellisch gegenüber den herrschenden Kalifen, ihrer Vätergeneration, und begehrten zum Beispiel gegen deren Wahlempfehlungen (ndiggël, Wolof: »Empfehlung«, »Anweisung«) auf (vgl. Loimeier 2006: 200). Die ndiggël der marabouts prägten den politischen Wahlkampf seit der Unabhängigkeit des Landes und galten in der Regel der Regierungspartei, die über die meisten Geldmittel und größte Macht verfügte, um sich für die Unterstützung ihres Wahlkampfes erkenntlich zu zeigen. Zwar brachten die öffentlichen Wahlempfehlungen die politische Einflussnahme der marabouts am explizitesten zum Ausdruck, dennoch warnen Leonardo A. Villalón und Ousmane Kane (1998: 154) vor einer Überbewertung des Gewichts der ndiggël. In den 1960er und 1970er Jahren hatte die Oppositionspartei ohnehin keine reellen Gewinnchancen und in den 1980ern, als es durch das neu eingeführte Mehrparteiensystem riskanter für die marabouts wurde, sich für einen bestimmten Kandidaten auszusprechen, zeichnete sich bald ein Rückgang der ndiggël ab. Durch das Mehrparteiensystem, das im Zuge der liberaleren Politik unter Präsident Abdou Diouf in den 1980ern zugelassen wurde, konnten sich die islamischen Reformbewegungen weiter ausdifferenzieren und von der staatlichen Kontrolle emanzipieren. Sie standen zunehmend auch thematisch in einem Konkurrenzverhältnis zu politischen Oppositionsgruppen. Die Reformisten müssen daher in vieler Hinsicht weniger als rein religiöse denn als politische Akteure verstanden werden, die zu unterschiedlichen und wechselnden Allianzen bereit waren,

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um ihre Interessen durchzusetzen (vgl. Loimeier 2000a: 186-187). Die bis heute erfolgreichste dieser damals neu gegründeten reformistischen Organisationen ist die Jama’atou Ibadou Rahmane (JIR), aber auch Organisationen wie die Ḥarakat alFalāḥ (ḤF) konnten durch Aktivitäten im sozialen und Bildungsbereich vor allem in den Städten eine beträchtliche Anhängerschaft aufbauen (vgl. Loimeier 2001: 257; ders. 2013: 242). Gleichzeitig wuchs seit den 1980er Jahren auch die Anzahl der Senegalesen, die sich, unterstützt durch politische Interessen des Iran, dem schiitischen Islam zuwandten (vgl. Leichtmann 2013: 111-112). Weder brachen sie aber alle Verbindungen zur islamischen Mystik ab noch fassten sie die unterschiedlichen religiösen Traditionen als antagonistisch zueinander auf. Vielmehr versuchten sie, einen »senegalisierten« schiitischen Islam als »authentische« Alternative zu einer Anhängerschaft an die Sufi-Orden zu etablieren (vgl. Leichtman 2013: 114, 129130). Bis heute konnte jedoch keine der zahlreichen reformistischen Bewegungen und aktivistischen Gruppierungen der Tiğānīya oder der Murīdīya ihre überragende Machtposition streitig machen (vgl. Loimeier 2013: 242). Während sich die Kritik der Jugend am säkularen Staat, geschürt durch die andauernde krisenhafte wirtschaftliche Situation des Landes, in den 1980er Jahren noch in einem verstärkten religiösen Interesse niedergeschlagen hatte, mussten die reformistischen Gruppen seit den 1990er Jahren vermehrt andere Themen aufgreifen, um in der Bevölkerung weiter überzeugen zu können: »Der Islam [allein] verkauft[e] sich nicht mehr« (Loimeier 2001: 383-384, ders. 2000a: 169). Die Regierung Dioufs profitierte gleichzeitig von der erweiterten politischen Landschaft, indem sie eine Vielzahl von Gruppen bei Bedarf gegeneinander auszuspielen und säkulare Anliegen trotz Proteste von marabouts und Reformisten durchzusetzen vermochte (vgl. Loimeier 2000a: 187). So konnte sie Forderungen nach einem obligatorischen Religionsunterricht in den staatlichen Schulen übergehen und dessen gesetzlich beschlossene fakultative Einführung vernachlässigen (vgl. Loimeier 2001: 359). Dennoch bemühte sich Diouf in seiner Rhetorik zu vermitteln, dass die Säkularität des Staates nicht als Ausdruck einer Religionsfeindlichkeit zu verstehen sei, sondern vielmehr die freie Ausübung aller Religionen gewährleisten solle (vgl. Loimeier 2006: 191). Im Zuge dieser politischen Entwicklungen kritisierten neben reformistischen Gruppierungen auch staatliche Vertreter die Koranschulen. Die Regierung wagte im Jahr 1987 schließlich, in einer nationalen Konferenz die Debatte über eine Erneuerung des Koranschulsystems wieder aufzunehmen und entwickelte ein PilotKurrikulum, das einen ergänzenden säkularen Pflichtunterricht beinhaltete (vgl. Loimeier 2001: 360-361). Roman Loimeier (2002: 134) interpretiert diese anfängliche Empörung des Staates über die elenden Bedingungen in den Koranschulen in erster Linie als politisch motiviert, um über die Vorführung der Unfähigkeit der marabouts, ein »würdiges« islamisches Ausbildungssystem zu unterhalten, eine Einmischung in diese zuvor weitgehend unangetastete Domäne zu rechtfer-

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tigen. Die »Kampagne gegen die Koranschulen« (Loimeier 2002: 130) wurde im Jahr 1992 mit der Einführung des nationalen Programms für »Kinder in besonderen Schwierigkeiten« in Kooperation mit UNICEF vorangetrieben, in dessen Fokus die bettelnden Talibé standen. Damit hielt die Thematik, befördert durch die UNKinderrechtskonvention (1989), Einzug in den inter- und transnationalen Kinderrechtsdiskurs, was die Ressourcen wie auch die Aufmerksamkeit für sie vergrößerte. Jedoch konnten sich das religiöse Milieu die »westliche« Einflussnahme durch koloniale Assoziationen argumentativ zunutze machen. Das UNICEF-Programm erreichte aufgrund des Misstrauens vieler marabouts letztlich nur relativ wenige Talibé (vgl. Wiegelmann & Naumann 1997: 287). Aber es wurde erstmals ein umfassender transnationaler Diskurs über das Leiden der Talibé angestoßen (vgl. Loimeier 2002: 134). Während sich also der Staat zu Beginn der 1990er Jahre verstärkt ermächtigte, in das Koranschulwesen einzugreifen, nahmen die marabouts ihrerseits für sich in Anspruch, selbst als aktive politische Akteure und nicht länger nur als Unterstützer der Regierungspartei in Erscheinung zu treten (vgl. Samson 2000: 8-9). Deutlich zeigte sich dies am Beispiel der DMM, der Jugendorganisation der Tiğānīya, die bis in die 1980er Jahre das herrschende Regime unterstützte, dadurch aber Ende der 1980er Jahre selbst Teile ihrer Anhängerschaft verlor und das Bündnis mit der Regierungspartei schließlich aufkündigte. Moustapha Sy, Anführer der Bewegung, sprach sich im Wahlkampf 1993 öffentlich in bis dahin beispiellos scharfer Form für den Konkurrenten des regierenden Abdou Diouf, Abdoulaye Wade, aus. Sy wurde 1993 verhaftet und die DMM im Jahr darauf vorübergehend verboten (vgl. Loimeier 2001: 281-284). Im Jahr 1999 schloss er seine Bewegung der oppositionellen Partei PUR (Partie de l’Unité et du Rassemblement) an. Als deren Vorsitzender kandidierte er im Jahr 2000 im ersten Präsidentschaftswahlgang, trat aber kurz vor der Wahl zurück. Seine Furcht, ein schlechtes Abschneiden könne seiner Reputation als religiöser Führer schaden, war zu groß (vgl. Samson 2006: 13-15). Es zeichnete sich also ein Wandel ab von einem mystischen, esoterischen hin zu einem sozialen, exoterischen, in der Welt verorteten Islam. Diese Entwicklung war inspiriert durch die Reformbewegungen und gekennzeichnet von einer Kritik und Faszination gegenüber westlichen Einflüssen (vgl. Samson 2006: 10-11). Gleichzeitig sprachen manche marabouts keine Wahlempfehlungen mehr aus. Sie kamen damit ihren Anhängern entgegen, welche die Wahlempfehlungen für die Regierungspartei angesichts der wirtschaftlich dauerhaft schlechten Situation des Landes zunehmend missbilligten, brachten aber auch ihre eigene Unzufriedenheit mit der Regierung zum Ausdruck, die ihren Teil des »Gesellschaftsvertrags« (Cruise O’Brien 1992: 9-10) nicht mehr ausreichend erfüllte (vgl. Loimeier 2006: 192). Bereits bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1988 hatte sich die Bevölkerung sogar in den Hochburgen der Murīdīya über die eindringliche Aufforderung ihres Khalifa

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Général, für den regierenden Abdou Diouf zu stimmen, weitläufig hinweggesetzt (vgl. Villalón & Kane 1998: 154). Angesichts wirtschaftlicher Krisen und der wachsenden Anzahl der marabouts war der Staat kaum noch in der Lage, das bewährte Austauschverhältnis im Gleichgewicht zu halten. Die Dezentralisierungspolitik Dioufs hatte die Verteilungsmacht der staatlichen Autoritäten zum Nachteil der marabouts verringert (vgl. Loimeier 2006: 192). Die von der Weltbank gesteuerte strukturelle Anpassung führte zudem zu Landwirtschaftsreformen, welche die marabouts aus ihrer Mittlerrolle im Erdnussanbau verdrängten (vgl. Loimeier 1995: 204). Vor allem die Mouriden erschlossen nun vermehrt lukrative Geschäftszweige im Privatsektor, hauptsächlich im Transport- und Handelswesen, sodass sie ökonomisch immer weniger auf staatliche Begünstigungen angewiesen waren. Sowohl die zunehmende politische Einmischung der marabouts als auch deren Rückzug aus der politischen Sphäre, zum Beispiel durch die Verweigerung von Wahlempfehlungen, zeugten somit davon, dass sich die klare, komplementäre Trennung der Kompetenzen von Staat und marabouts auflöste und sich eine wachsende Unabhängigkeit zwischen ihnen abzeichnete. Im Jahr 2000 gelang es Abdoulaye Wade von der Parti Démocratique Sénégalais (PDS) schließlich, die Sozialistische Partei (Parti Socialiste) nach vierzig Jahren der Regierung abzulösen, gerade weil in diesem Wahlkampf religiöse Akteure verstärkt in den politischen Diskurs interferiert hatten. Dies wurde von der Bevölkerung derart missbilligt, dass sie sich zu weiten Teilen der Aufforderung mancher marabouts, für die Regierungspartei zu stimmen, widersetzte (vgl. Samson 2000: 89). Der Wunsch der Bevölkerung nach »Wandel«, den Wade mit seinem Wahlslogan »Sopi« (»Wandel«) versprach, war stark genug, um jegliche Wahlempfehlungen für die bestehende Regierung auszuschlagen (vgl. Samson 2000: 11). Insbesondere die mouridischen Wähler erhofften sich von Wade, einem bekennenden Anhänger der Murīdīya, mehr Vorteile als von der amtierenden Regierung. Wade nannte sich selbst »le Président Mouride« und sein erster Besuch nach seinem Wahlsieg galt dem Khalifa Général der Murīdīya. Er präsentierte sich dabei nicht als Staatsmann, sondern als einfacher Talibé, der seinem marabout Ehrerbietung erweist (vgl. Samson 2000: 11). Diese neue Nähe wurde im mouridischen Milieu ambivalent, sowohl mit Stolz als auch mit Unbehagen, aufgenommen, während die zuvor weitaus diskreter in Erscheinung tretende Tiğānīya ihre Interessen zunehmend »lauter« in der Öffentlichkeit vertreten musste (vgl. Loimeier 2006: 212). Wade rückte von einem rigiden Laizismus ab und berücksichtigte religiöse Aspekte, zum Beispiel die Einführung von Religionsunterricht an staatlichen Schulen, stärker in seiner Politik (vgl. Asdonk 2002: 152). Die veränderte wirtschaftliche und politische Situation des Landes hat also unter Wade nicht zu einer weiter fortschreitenden Auflösung des »Gesellschaftsvertrags« (Cruise O’Brien 1992: 9-10) zwischen staatlicher und reli-

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giöser Elite geführt, wohl aber in vieler Hinsicht zu dessen Reinterpretation (vgl. Loimeier 2006: 211). Ungeachtet seiner Zugeständnisse gegenüber dem religiösen Milieu ging die Ära Wade im Jahr 2012 zu Ende und Macky Sall von der Alliance pour la République (APR-Yakaar), einst selbst Ministerpräsident unter Wade, löste ihn als Staatsoberhaupt ab. Lediglich einer der bekannteren mouridischen marabouts, Cheikh Bethio Thioune, hatte sich im zweiten Wahlgang zu einer Empfehlung für Wade hinreißen lassen, obwohl dieser im Vorfeld der Wahlen wiederholte Höflichkeitsbesuche bei zahlreichen marabouts absolviert und um einen ndiggël gebuhlt hatte. Die marabouts waren sich zunehmend bewusst, dass die Bevölkerung gegenüber ihrer direkten politischen Einflussnahme angesichts der schlechten wirtschaftlichen Situation kritischer geworden war. Die Unzufriedenheit über Wades Politik erwies sich vor allem unter den jungen Wählern als zu groß und der Einfluss des einzelnen marabouts als zu gering, als dass er vor einer Niederlage bewahrt werden konnte. Macky Sall distanzierte sich stärker als alle seine Vorgänger vom herrschenden politisch-religiösen Klientelismus. »Es ist ausgeschlossen, den marabouts Gefälligkeiten oder einen besonderen Status zuzugestehen. Sie sind Bürger wie alle anderen«, waren seine unerhört deutlichen Worte in einem Interview noch zur Wahlkampfzeit, auch wenn er sich die bedeutende gesellschaftliche Rolle der marabouts zu betonen beeilte (vgl. Holzbauer, La Croix, 11. 03. 2012, meine Übersetzung). Die Festnahme von Cheikh Bethio Thioune, des marabout, der öffentlich für Wade gestimmt hatte und nun verdächtigt wurde, in den Todesfall zweier seiner Anhänger verwickelt zu sein, bestätigte bereits im Jahr 2012 die Gültigkeit Salls Worte. Die konsequente Durchsetzung des Gesetzes gegenüber einem religiösen Würdenträger wäre politisch zuvor undenkbar gewesen und versinnbildlichte – wenngleich von immensen Protesten begleitet – eine wachsende »Entmystifizierung und Desakralisierung« der marabouts in Senegal (vgl. Ndiaye, Slateafrique, 19.07.2012). Nichtsdestotrotz achtet Sall bis heute auf gute Beziehungen zu den wichtigen maraboutischen Familien aller Bruderschaften. Es wird in den folgenden Kapiteln zu den aktuellen Kontroversen um die Koranschulen ersichtlich werden, dass auch er sich nicht über das Erbe des »Gesellschaftsvertrags« (Cruise O’Brien 1992: 9-10) hinwegsetzen kann und sich mit der sozialen Macht der marabouts und deren Interessen arrangieren muss.

Zusammenfassung Dieses Kapitel setzte sich mit dem dialektischen Verhältnis zwischen dem (post-) kolonialen säkularen Staat Senegal und den religiösen Führungspersönlichkeiten, den marabouts, auseinander. Da die Koranschulen seit der Ausbreitung des Islam in Senegal in der Hand der marabouts waren und einen wesentlichen Teil derer

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Einflusssphäre darstellten, stehen Politiken, die das Koranschulsystem betreffen, zu diesem Verhältnis stets in einer Wechselwirkung. Gleichzeitig wurde deutlich, dass die diskursive Tradition des Islam in Senegal nicht nur durch die Sufi-Orden geprägt wurde (vgl. Leichtman 2013: 116). Seit dem späten 19. Jahrhundert erlebte Senegal Reformen, in denen Bruderschaften und neue islamische Organisationen vielfältige Formen (post)kolonialer Modernität in muslimische Kontexte zu übersetzen versuchten und, in gegenseitigem Bezug, aufeinander Einfluss nahmen (vgl. Loimeier 2013: 242-243). Die Beziehung zwischen Staat und marabouts ist grundlegend durch den »Gesellschaftsvertrag« (Cruise O’Brien 1992: 9-10) geprägt, der sich im Laufe des 20. Jahrhunderts etabliert hat und sich seither in beidseitigen Zugeständnissen materialisiert. Vorläufer solcher Arrangements zwischen säkularen politischen und religiösen Eliten können bis in vorkoloniale Zeit zurückverfolgt werden, als nicht islamisierte Herrscher und marabouts bereits in vieler Hinsicht auf komplementäre Weise voneinander profitierten (z.B. Ware 2014: 97-98; Curtin 1971: 13-14; Brenner 2000: 147). Der große Rückhalt der marabouts in der Bevölkerung geht auf die islamischen Reformbewegungen seit dem späten 18. Jahrhundert zurück, als militante Ğihād-Führer die Untertanen von ausbeuterischen Herrschern zu befreien und »gerechtere«, theokratische Staaten zu errichten versuchten. Stärker im kollektiven Gedächtnis Senegals verankert ist die Rolle der marabouts während der direkten kolonialen Kontrolle seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Vor allem Cheikh Amadou Bamba, Gründer der Murīdīya, gilt bis heute als Symbolfigur des friedlichen, aber – zunächst – beharrlichen Widerstandes gegen die Kolonialmacht. Neben ihrem politischen, wirtschaftlichen und religiösen Gewicht haben die marabouts daher eine wichtige identitäre Bedeutung für die senegalesische Bevölkerung. Ihre Bereitschaft zur Kollaboration mit der Kolonialregierung wird rückblickend weitgehend ausgeblendet oder uminterpretiert. Nach der Unabhängigkeit wurde der »Gesellschaftsvertrag« (Cruise O’Brien 1992: 9-10) zwischen Staat und marabouts fortgeführt, jedoch vergrößerte sich das Spektrum der politischen Akteurs- und Interessengruppen in den 1970er und stärker noch im Zuge der liberalen Politik Dioufs in den 1980er Jahren. Dadurch konnte sich der Staat von den marabouts emanzipieren, während auch diese durch neue ökonomische Aktivitäten im Privatsektor zunehmend autonomer wurden. Die islamischen Reformisten entwickelten sich im Bildungswesen durch die Gründung der écoles franco-arabes zu einer Konkurrenz für die marabouts, verfügten aber nicht über vergleichbare soziale und ökonomische Ressourcen. Zwar lassen sich als machtvollste gesellschaftspolitische Akteure jener Zeit der säkulare Staat, die marabouts der Sufi-Orden und die salafistisch oder schiitisch orientierten reformistischen Gruppierungen skizzieren, jedoch ist für ein komplexes Verständnis wichtig, divergierende Positionen und Konflikte innerhalb dieser »Blöcke« ebenso wenig auszublenden wie überlappende Interessen zwischen ihnen (vgl.

3. Das historische Erbe der gegenwärtigen Kontroversen

Loimeier 2006: 209; ders. 2001: 381-383). Nach Roman Loimeier (2013: 244-245) lassen sich sowohl die reformistischen Bewegungen als auch die Sufi-Orden am ehesten als »konkurrierende Netzwerke« verstehen, die sich mit jeweils unterschiedlichen Strategien auf eine für sie möglichst vorteilhafte Weise mit dem Staat zu arrangieren versuchten. Staatstreue reformistische Bewegungen konnten sich bereits seit den 1950er-Jahren in einem gewissen Maß in das zwischen den Sufi-Bruderschaften und dem Staat etablierte System des »Austausches von Leistungen« (Coulon 1981: 174) integrieren (vgl. Loimeier 1995: 205). Bruderschaften wie reformistische Gruppierungen teilten manche Interessen und Positionen mit dem Staat, andere hingegen untereinander und waren daher zu flexiblen Allianzen bereit. Gemeinsam war den ansonsten in Programm und Auftreten ganz unterschiedlichen reformistischen Zusammenschlüssen neben formellen Organisationsprinzipien ihre Kritik am säkularen Staat (ohne aber – mit wenigen Ausnahmen – tatsächlich dessen Islamisierung anzustreben) und an einer zunehmenden Verwestlichung der senegalesischen Gesellschaft (vgl. Loimeier 2001: 257, 261, ders. 2013: 248). Sie konnten sich unter der liberaleren Politik Dioufs zunehmend ausdifferenzieren und standen vor allem seit Ende der 1980er Jahre, als sich mit religiösen Themen allein nicht mehr ausreichend Anhänger gewinnen ließen, mehr und mehr in Konkurrenz zu den Oppositionsparteien. Auch in den Bruderschaften konkurrierte eine wachsende Anzahl von marabouts um Einfluss und Anhänger. In den 1980er und 1990er Jahren begehrten die politisierten und von reformistischen Ideen inspirierten marabouts-petits fils gegen ihre konservative Vätergeneration auf, und Streitigkeiten um die Führungsnachfolge verursachten vor allem in der Tiğānīya Spaltungen (vgl. Villalón 1999: 141-143). Ambivalente Interessen und Loyalitäten religiöser und staatlicher Akteure zeigen sich bis heute in der senegalesischen Politik. Ein jüngeres Beispiel stellte 2014 die Reaktion des Khalifa Général der Mouriden auf den Gesetzesentwurf zum Statut der daaras dar. Diesen nahm er gegenüber Regierungsvertretern zunächst wohlwollend zur Kenntnis, schlug sich wenig später jedoch auf die Seite der protestierenden Koranlehrer (s. Kapitel 8). Und als in den Kontroversen um den Gesetzesentwurf einige marabouts verlauten ließen, die daara moderne mit ihrem gleichberechtigten säkularen Lehrinhalt sei keine daara mehr, sondern nichts als eine école franco-arabe (vgl. Ciss, Le Quotidien, 10.02.2015), rief dies die Erinnerung an die frühe Konkurrenz zwischen Reformisten und Sufi-Bruderschaften um die Vormachtstellung im islamischen Bildungswesen wach. In der Bevölkerung wiederum büßte die enge Verflechtung des staatlichen und religiösen Systems vor dem Hintergrund einer anhaltend schlechten ökonomischen Lage des Landes seit den 1980er Jahren zunehmend an Legitimität ein. Leonardo A. Villalón (1999: 144) sieht dadurch nicht die bedeutsame gesellschaftliche Stellung der Sufi-Bruderschaften in Senegal allgemein gefährdet, nimmt aber eine nostalgische Rückbesinnung der Bevölkerung auf deren Gründerväter wahr.

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Eine solche teils ambivalente Haltung gegenüber den marabouts lässt sich auch in den gegenwärtigen Diskursen um das Betteln der Talibé erkennen, in denen »falsche« marabouts verdächtigt werden, aus der ehrenhaften Tradition der »wahren« Religionsgelehrten Profit zu schlagen (s. Kapitel 4). Wie Roman Loimeier (2002: 133) feststellte, ähneln diese neuen Diskurse um die Koranschulen den kolonialzeitlichen mitunter frappierend. Dennoch hat sich die politische Relevanz der Thematik zum Teil gewandelt. Ebenso wie die Kolonialregierung zunächst die Verbreitung eines für ihre Zwecke nutzlosen, eventuell sogar gefährlichen, Wissens durch die Koranschulen befürchtete, ist der moderne Staat weit mehr an der Vermittlung »vermarktbarer Fähigkeiten« (Loimeier 2002: 135 nach Launay 1992) zugunsten einer aufstrebenden wirtschaftlichen Entwicklung des Landes interessiert als an einer rein religiösen Sozialisation der Kinder. Wie früher werden die bettelnden Talibé immer noch häufig als ein »Sicherheitsproblem« oder als Bedrohung für die gesellschaftliche Ordnung betrachtet. Das wichtige Anliegen der Kolonialregierung wiederum, einen zu großen Einfluss oder Zusammenschluss der marabouts zu verhindern, hat für die stabile Demokratie Senegals, die durch die inzwischen weit ausdifferenzierten maraboutischen Familien und andere starke Interessensgruppen kaum eine reale (religiöse) Gegenmacht fürchten muss, an Bedeutung verloren. Stattdessen ist der staatliche Umgang mit den Koranschulen stärker von internationalen Verpflichtungen geprägt. Vor dem Hintergrund der von Senegal unterzeichneten Konventionen, allen voran die UN-Kinderrechtskonvention (1989) und das sogenannte Palermo-Protokoll gegen Menschenhandel (UN 2000), wurde die Situation der Talibé in erster Linie zu einem Kinderrechtsproblem. Neue Aspekte wie zum Beispiel das »Recht« auf »körperliche Unversehrtheit«, auf »Bildung« oder auf »Familie« fanden zunehmend Einzug in die Diskurse um die Koranschulen. Somit sind diese heutzutage vor allem in ein kulturpolitisches Spannungsfeld eingebettet, stellen aber keine potenzielle Gefahr für den säkularen Staat in seinen Grundfesten mehr dar. Während das vorangehende Kapitel zeigte, dass die historischen Begebenheiten eine wesentliche Rolle für die gegenwärtige Situation der Talibé spielen, wird im nachfolgenden Kapitel ersichtlich, dass sich unterschiedliche Akteure den historischen Kontext entsprechend ihren Zielen auf verschiedene Weise aneignen. Über historische Narrative kann zum Beispiel eine »originäre« sinnstiftende Form der Koranerziehung von heutigen »pervertierten« Ausprägungen abgegrenzt oder das Betteln der Talibé in Kontinuität zu einer Tradition gesetzt und dadurch entkriminalisiert werden. Die meisten Senegalesen heißen zwar das gefahrenvolle Betteln der Talibé auf Dakars Straßen nicht gut, messen der Koranerziehung aber vor dem Hintergrund ihrer muslimischen Religionszugehörigkeit und der kolonialen Vergangenheit eine hohe identitäre Bedeutung bei. Daher kombinieren auch transnational geprägte senegalesische Kinderrechtsakteure je nach Kommunikationszusammenhang unterschiedliche Deutungsmuster, um konkurrierende Interpreta-

3. Das historische Erbe der gegenwärtigen Kontroversen

tionslogiken miteinander zu vereinbaren. Diese komplexen Problematisierungen des Bettelns der Talibé bringen die zum Teil ganz verschiedenen Perspektiven, Interessen und Loyalitäten der beteiligten Akteure zum Vorschein.

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4. Andere Zeiten? Aktuelle Kontroversen um das Betteln der Koranschüler

Die meisten Senegalesen, unabhängig von ihrem beruflichen oder sozioökonomischen Hintergrund, beschreiben die ländliche daara früherer Zeiten als einen Ort, an dem Kinder armer und reicher Herkunft unter den gleichen Bedingungen lernten, um vollwertige Muslime und Gesellschaftsmitglieder zu werden (z.B. Cissé, Dakar, 26.07.2013; Cissé Ndiaye, Touba, 24.06.2013; Ly, Dakar, 25.08.2012). In dieser retrospektiven Vorstellung gehörte die Arbeit auf den Feldern des maître, die sowohl eine Entlohnung für seinen Unterricht darstellte als auch den Kindern eine landwirtschaftliche Ausbildung gewährleistete, ebenso wie das Bitten um Almosen in Form von Nahrungsmitteln in der Dorfgemeinschaft zum Tagesablauf der Talibé. Diese Praktik nahm demnach eine untergeordnete und zeitlich streng begrenzte Rolle ein und stellte einen sinnstiftenden integralen Bestandteil einer holistischen Ausbildung dar. Im Zuge dieser wurden neben dem Koran als religiösem und intellektuellem und der Landarbeit als praktischem Wissen soziale Werte wie Disziplin, Solidarität und Demut inkorporiert (z.B. Boyle 2006: 489; Gandolfi 2003: 265). So sicherte die Almosenpraxis den Unterhalt der daara, förderte ein bestimmtes Persönlichkeitsideal und den Zusammenhalt der Dorfgemeinschaft, die zudem ihre religiöse Pflicht der zakāt erfüllen konnte (z.B. Benthall 1999: 29-30; Loimeier 2001: 106). Die Koranschulen im gegenwärtigen urbanen Kontext hingegen nehmen viele Senegalesen, insbesondere Kinderrechtsakteure, in einem scharfen Kontrast hierzu wahr, indem sie die extrem prekären Lebensbedingungen der Talibé und deren vermeintlich rein ökonomisch motiviertes Betteln als Ausdruck eines Verfalls dieses ehemals integren Wertgefüges betrachten. Für meinen Analysefokus spielen die tatsächlichen historischen Gegebenheiten eine untergeordnete Rolle. In der Literatur sind Schilderungen zu finden, die kontrastierende Narrative zwischen früheren und heutigen Formen der Koranerziehung stützen (z.B. Sanankoua 1985: 359-364; Chehami 2006: 161-163), aber auch andere Auslegungen. So schlussfolgert Donna Perry (2004: 74) auf Grundlage ihrer Forschung bei Wolof-Bauern, dass die vermeintliche Diskrepanz zwischen vergangener und aktueller Koranschulpraxis vor allem vor dem Hintergrund anderer Kindheitskonzepte als eine solche erscheint, ihre Informanten selbst jedoch eine

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Kontinuität der Erziehungsprinzipien der Abhärtung und Entbehrung erkannten. Auch Rudolph T. Ware (2004: 537) ist der Ansicht, dass »westliche idyllische Visionen von Kindheit« unkritisch in die gegenwärtige Diskussion um die Koranschulen »importiert« würden. Die erste literarische Auseinandersetzung mit der Thematik war Amar Sambs (1973) autobiografischer Roman »Matraqué par le destin ou la vie d’un Talibé« (»Hart getroffen [wörtl.: »niedergeknüppelt«] vom Schicksal oder das Leben eines Talibé«), der in drastischer Weise die ländlichen daaras als Orte der Gewalt und des Hungers anklagt und radikal gegen deren Idealisierung anschreibt. In meiner eigenen Feldforschung überwog ein sozialromantischer retrospektiver Blick der unterschiedlichsten senegalesischen Akteure auf die »originären« daaras. Skeptische Stimmen gegenüber solchen Darstellungen gab es nur wenige. Zum Beispiel berichtete mir der Leiter der AEMO (Action Éducative en Milieu Ouvert) – eine staatliche Institution, die in etwa dieselben Aufgaben übernimmt wie hierzulande das Jugendamt – im südsenegalesischen Ziguinchor, er habe in seiner Kindheit derart Angst vor den Bestrafungen seines maître gehabt, dass er sogar von seinen eigenen Eltern Reis gestohlen habe, um ihm die täglich geforderte Menge abzuliefern (Dramé, Ziguinchor, 06.05.2013). Meine Quellen stützen die Annahme, dass die daaras früher ebenso wenig wie heute weder in ihren Praktiken uniform waren noch darin, wie diese von den einzelnen Talibé erlebt und erinnert wurden. Unbestreitbar ist jedoch, dass die fortschreitende Urbanisierung und transnationale Vernetzung vor allem der Metropole Dakar in den letzten Jahrzehnten nicht nur zur Anonymisierung der Koranschulen beigetragen, sondern auch neue Dimensionen des finanziellen Gewinns durch das Betteln ermöglicht haben. In den gegenwärtigen Kontroversen um die urbanen Koranschulen, die sich insbesondere auf die Praktik der mendicité fokussieren, spielt das Narrativ1 einer »authentischen« Koranausbildung, die im Zuge sozialstruktureller Veränderungen »pervertiert« wurde, eine zentrale Rolle. Daneben kommen zahlreiche weitere diskursive Register und Einbettungen unterschiedlicher Akteure zum Tragen, die dieses Kapitel in den Blick nimmt. Im Fokus stehen senegalesische, staatliche wie zivilgesellschaftliche Kinderrechtsakteure, die einen Großteil meiner Informanten ausmachten. Diese zeigten in Interviews und informellen Gesprächen trotz ihrer institutionellen Einbindung in den offiziellen, trans- und international geprägten Kinderrechtsdiskurs oft eine komplexe und teils ambivalente Perspektive auf die mendicité der Talibé. Sie können als »Vermittler« im Sinne Sally Engle Merrys

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Unter »Narrativen« verstehe ich kollektiv geteilte, auf der Vergangenheit basierende (performative) Erzählungen, in die einzelne Akteure ihre eigenen Deutungsmuster integrieren, um relevante vergangene und gegenwärtige Begebenheiten sinnstiftend zu interpretieren. Über Narrative können Spannungen zwischen persönlichen und geteilten Erfahrungen sowie moralische Positionierungen ausgehandelt werden (vgl. Zigon 2012: 206; Mattingly 1998: 285-286).

4. Andere Zeiten?

(2006b: 39-40) verstanden werden, die sowohl von konservativen, lokalen als auch von transnationalen Denk- und Handlungslogiken beeinflusst werden, denen sie situationsspezifisch gerecht zu werden versuchen.

Das Dorf, die Dürre und die Stadt:   Das Narrativ des Verfalls der Koranschulen Viele Senegalesen bringen den vermeintlichen Verfall der Koranschulpraxis kausal mit einer Kette sozialstruktureller Veränderungen in Zusammenhang, in deren Zentrum die Abwanderung der daaras aus ihren ländlichen Herkunftsgebieten in die Städte steht (z.B. Sow, Guédiawaye, 16.07.2012; PARRER (Workshop), Dakar, 18./19.04.2012; Mbow, Dakar, 23.07.2013). Diese Landflucht führen sie auf die Dürre der Sahelzone in den Jahren zwischen 1968 und 1985 zurück, deren geografische Reichweite, Intensität und Dauer alle vorhergehenden Trockenperioden des 20. Jahrhunderts in der Region übertraf. Senegal war von der Trockenheit am schwersten in den Jahren 1972, 1977 und 1983 betroffen, als die durchschnittlichen Niederschläge um bis zu 60 % sanken (vgl. Roquet 2008: 38-39). Diejenigen ländlichen Gebiete, die am stärksten unter der Niederschlagsarmut litten, verzeichneten vor allem in den Jahren von 1983 bis 1988 einen deutlichen Bevölkerungsschwund, während die urbanen Zentren, allen voran Dakar, einen beträchtlichen migrationsbedingten Zuwachs aufwiesen (vgl. Pison et al. 1997 in Roquet 2008: 44). Jedoch waren nicht nur die schweren Dürreperioden für die Abwanderung aus den ländlichen Regionen verantwortlich, sondern auch die durch die Privatisierungspolitik der 1980er Jahre wegfallenden landwirtschaftlichen Subventionen. Diese strukturellen Anpassungsmaßnahmen waren auf makroökonomische Ziele ausgerichtet, verschlechterten aber unter anderem durch steigende Grundnahrungsmittelpreise die Lebenssituation vieler Bevölkerungsteile (z.B. Diop 1998: 460-462; Sarrasin 1997: 522). Die außergewöhnlich starke Trockenheit mit ihren für viele Senegalesen existenzbedrohenden Folgen hat sich fest in das nationale kollektive Gedächtnis eingeprägt. Dadurch nimmt sie eine große narrative Präsenz ein und wird als Ausgangspunkt oder zumindest verstärkendes Moment für multiple gesellschaftliche Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte interpretiert (z.B. Diallo, Mbao, 13.09.2012; Ba, Kolda, 14.05.2013; Mbaye, Thiès, 30.08.2012). Obwohl die Dürre und die Liberalisierungspolitik unbestreitbar die Abwanderung in die Städte beschleunigten, bestätigt eine komplexe historische Kontextualisierung eine Deutung dieser Entwicklung als sozialstrukturellen »Bruch« nicht. Interne saisonale Migrationsbewegungen haben in Senegal schon lange eine wichtige sozioökonomische Bedeutung. Zunächst waren es hauptsächlich junge Männer, die sogenannten Navétanes, aus landwirtschaftlich wenig ertragreichen Gegenden, die während der Anbauzeit im

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»Erdnussbecken« des Landesinneren Arbeit fanden. Mit fortschreitender Urbanisierung seit Mitte des 20. Jahrhunderts führten neue Formen saisonaler Migration zunehmend in die Städte und mündeten zum Teil in einen dauerhaften Aufenthalt. Zum Beispiel verdienten immer mehr junge Mädchen nach Ende der landwirtschaftlichen Arbeitsperiode in den Haushalten wohlhabender Familien ihren Lebensunterhalt als bonnes (Haushaltshilfen) (vgl. Roquet 2008: 44-45). In ähnlicher Weise nutzte eine wachsende Anzahl von Koranlehrern die ökonomische Strategie, ihre Talibé außerhalb der Anbau- und Erntezeit in den Städten den Unterhalt für die daara durch das Bitten um Almosen oder andere Arbeiten erwirtschaften zu lassen und siedelten zum Teil ganz in die urbanen Zentren um. Die große Anziehungskraft, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Erdnussbecken auf die Koranschulen als agrarische Produktionsgemeinschaften ausgeübt und zu ihrer raschen Vermehrung beigetragen hatte, verlagerte sich so seit den 1970er Jahren zunehmend auf die städtischen Ballungsgebiete. Laut der »Kartographie der Koranschulen«, die 2014 von der Staatlichen Koordinierungsstelle gegen Menschenhandel (CNLTP) herausgegeben wurde, ließen sich 84 % der heute in der Region Dakar ansässigen Koranschulen in der Zeit zwischen 1960 und 2000 dort nieder. 33 % der maîtres nannten als Ursache hierfür die verschlechterten Umweltbedingungen auf dem Land und 18 % ökonomische Gründe (vgl. CNLTP 2014: 35-43). Manche der in die Städte migrierten daaras halten bis heute an den saisonalen Wanderbewegungen fest, indem ein Teil der Talibé zur Anbauzeit in die Dörfer zurückkehrt, um die Felder ihres maître zu bewirtschaften (z.B. Koranlehrer n. n., Grand Mbao, 27.09.2012). Somit zeigt sich in Senegal eine seit langem verankerte komplementäre sozioökonomische Nutzung verschiedener geografischer Räume durch unterschiedliche Bevölkerungsteile, darunter auch die Koranschulen. Vor diesem Hintergrund ist die auffallend große narrative Bedeutung der »Dürre« für einen vermeintlichen Verfall der Koranschulen aus diskursanalytischer Perspektive vor allem mit Blick auf die Sensibilität der Thematik aussagekräftig. Da sich sowohl die »Dürre« als Naturgewalt als auch die »Wirtschaftskrise« als makropolitisches Ereignis der Einflussnahme einzelner Individuen entzieht, kann die Landflucht der daaras auf diese Weise in strukturelle Kausalzusammenhänge eingebettet werden. So dargestellt, erklärt sich die Abwanderung nicht durch eine selbstsüchtige ökonomische Berechnung der Koranlehrer, sondern durch existenzielle Zwänge. Dadurch kann ein weitgehend neutralisiertes und soziopolitisch entschärftes Bild der Entstehung der modernen mendicité gezeichnet werden. Gemäß diesem Narrativ ging mit der Niederlassung der Koranschulen in den urbanen Zentren eine graduelle »Perversion« ihrer Praktiken einher. Die Verantwortung für den »Verfall« kann auf diese Weise sogar in doppelter Hinsicht umverteilt werden, indem sie zum einen zugunsten der maîtres depersonalisiert und stattdessen strukturellen Veränderungen zugeschrieben wird und zum anderen die semantische Konnotation der »Stadt« eine zusätzliche soziokulturelle Externalisierung

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ermöglicht. Während nämlich das »Dorf« gemeinhin mit originär senegalesischen Praktiken und Sozialformen assoziiert wird, steht die »Stadt« für »westliche« Einflüsse. Die räumliche Abwanderung aus den Dörfern wird so imaginär mit einer soziomoralischen »Abwanderung« gleichgesetzt, die in eine umfassende »Wertekrise« mündete. Über diese »Wertekrise« herrscht in der senegalesischen Öffentlichkeit ein breiter Konsens (z.B. Mbow, Dakar, 23.07.2013; Touré, Dakar, 30.04.2013; Sow, Guédiawaye, 16.07.2012; Dione, Rufisque, 09.04.2012). Die »pervertierte« Koranerziehung stellt dann ein Pars pro Toto dieser »Wertekrise« dar, als deren maßgebliche Kennzeichen die Individualisierung und Monetarisierung sozialer Beziehungen gelten.2 Da die in den vergangenen Jahrzehnten erlebten wirtschaftlichen Krisen Solidaritätsnetzwerke ebenso verstärkt erforderlich machten wie sie diese Netzwerke vermeintlich zunehmend auflösten, wird eine solche gesellschaftliche Entwicklung mit besonderer Beunruhigung wahrgenommen (vgl. Marie 2008: 8). Somit wird deutlich, dass idealisierte Darstellungen »originärer« Formen der Koranerziehung, die durch ungünstige soziostrukturelle Entwicklungen »pervertiert« wurden, eine wichtige identitäre Bedeutung einnehmen und einem Gründungsmythos3 ähneln. Sie zeigen zudem Parallelen zu den »strategisch strukturalistischen« Repräsentationen sozialer Problematiken durch trans- und internationale Menschenrechtsorganisationen nach Donna Perry (2004: 53-54). Als solche beschreibt Perry Kommunikationsstrategien, die sich implizit und im Kern gegen kulturelle Praktiken richten, aber explizit lediglich strukturelle Ursachen wie »Armut« oder »Bevölkerungswachstum« thematisieren, um dem Vorwurf des Kulturchauvinismus zu entgehen. Viele der senegalesischen Kinderrechtsakteure, auf die ich mich beziehe, waren hingegen institutionell gerade in den Diskurs um »Kinderhandel« eingebunden und nutzten strukturalistische Argumente als hintergründige Kontextualisierungen, um dieses radikale und kriminalisierende Paradigma zu relativieren oder sogar zu subvertieren (z.B. PARRER (Workshops), Dakar, 18./19.04.2012, 18./19.09.2012; Ndour, Dakar, 24.05.2012). Sie brachten dadurch eine »doppelte Distanzierung« (Schiffauer 1998: 435), sowohl gegenüber den transnationalen Diskursen als auch gegenüber manchen Praktiken der Koranerziehung, zum Ausdruck. Gerade für solche Akteure kann es heikel sein, scharfe Kritik am Koranschulwesen zu üben, indem sie dadurch bestimmte Loyalitäts- und Identitätserwartungen verletzen und als von den toubabs »korrumpiert« gelten. Mittels 2

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Das Narrativ der »Wertekrise« steht damit in Einklang mit Georg Simmel (1989 [1900]: 394), der gesellschaftliche Individualisierungs- und Rationalisierungsprozesse für eine Konsequenz einer zunehmenden Geldwirtschaft hält. Zur Individualisierung und Rekomposition kommunitärer Solidarität in gegenwärtigen afrikanischen Gesellschaften siehe ferner Alain Marie et al. (2008: 407-436). Zur identitätsbildenden Bedeutung von (Gründungs-)Mythen für Gemeinschaften siehe z.B. Anja Ernst (2010: 15) und Jan Assmann (2000: 16-17).

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des Narrativs eines starken Kontrasts zwischen »früher« und »heute« können sie veränderte, transnational beeinflusste Kindheits- und Bildungskonzepte vertreten, diese aber sinnstiftend mit »senegalesischen« Werten und Normen vereinbaren oder zumindest vermeiden, letztere implizit oder explizit pauschal zu diffamieren. Lokale Erziehungstraditionen müssen sich so nicht an universellen »Kinderrechten« messen, sondern gelten vielmehr als durch schädliche externe kulturelle und strukturelle Einflüsse pervertiert. Über einen, wenn auch diffusen, temporalen Differenzmarker ist es auf diese Weise möglich, gleichzeitig »für« und »gegen« die mendicité zu sein. Dennoch ist den dichotomen Dorf-Stadt-Assoziationen ein ambivalenter Charakter inhärent, da das »Dorf« zwar für originäre und positive kulturelle Praktiken und Werte steht, von der urbanen Elite aber gleichzeitig als »rückständig« wahrgenommen wird (vgl. Charlier 2004: 9). Manche meiner Interviewpartner betonten, dass die »authentischen« Formen der Koranausbildung auch gegenwärtig noch auf dem Land existieren (z.B. Ly, Dakar, 25.08.2012). Fode Sow, für die NGO Enda Intermondes verantwortlich für den Programmbereich der Bekämpfung der mendicité, machte mich wiederum auf den grundlegenden Wandel aufmerksam, dass »früher« die exzellenten daaras im dörflichen Hinterland angesiedelt waren und wohlhabende Städter ihre Söhne dorthin schickten, heute hingegen die Kinder armer ländlicher Familien die städtischen Koranschulen bevölkerten (Sow, Guédiawaye, 16.07.2012). Damit bestätigte er aber nicht nur den vermeintlichen Kontrast zwischen vergangenen und heutigen sowie städtischen und ländlichen Formen der Koranausbildung, sondern auch die schon lange bestehenden komplementären Verbindungen zwischen städtischem und ländlichem Raum. Die Gegensatzpaare »früher« und »heute« beziehungsweise »Dorf« und »Stadt« dienen somit der Konstruktion multipler Narrative, wobei räumliche und zeitliche Distanzen mitunter gleichgesetzt werden und imaginär verschwimmen. Vor allem die enorme Spannbreite von Lebensstilen und -standards in Dakar als transnational vernetztes politisches, wirtschaftliches und kulturelles Zentrum führt die große potenzielle Diskrepanz zwischen ländlichen und städtischen Gebieten in Senegal besonders deutlich vor Augen und erweitert die Interpretationsmöglichkeiten für soziale Praktiken wie das Betteln der Talibé.

Business und Aberglaube: Die Almosenpraxis als Spannungsfeld Die Anonymität der Stadt und die fehlende Einbettung der Koranschulen in die Dorfgemeinschaft gelten für viele Senegalesen als eine der wesentlichen Ursachen für eine exzessiv praktizierte mendicité (z.B. Mbow, Dakar, 23.07.2013; DPDE (Gruppendiskussion), Dakar, 12.06.2013; Sow, Guédiawaye, 16.07.2012). Die sogenannten mobilen daaras widersprechen dem Konzept der Koranschule als integralen Be-

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standteil einer Dorfgemeinschaft besonders drastisch und stehen im Visier der Kritiken. Im Gegensatz zu den seit langem in einem bestimmten Wohnviertel ansässigen daaras sind diese neu in die Städte migriert und wählen und wechseln ihren Standort je nach Gelegenheit, lassen sich zum Beispiel in einer unbewohnten Bauruine nieder (z.B. Diallo, Mbao, 13.09.2012; Sow, Guédiawaye, 16.07.2012). Jedoch entziehen sich nicht nur solche mobilen, sondern auch viele andere daaras, die in den ärmlichen, oft weit entfernten Vororten Dakars liegen, einer beständigen sozialen Kontrolle, da sich ihre Talibé tagtäglich in die innerstädtischen Zentren aufmachen, um dort die geforderten Summen zu erbetteln (z.B. Ndour, Dakar, 24.05.2012). Die mendicité findet also in vielen Fällen sozialräumlich von der Koranschule und deren unmittelbarem Umfeld getrennt statt und die Talibé sind den Almosengebern gleichermaßen unbekannt wie umgekehrt. Da vor allem in Dakar eine nahezu unbeschränkte Anzahl solventer potenzieller Geber verfügbar ist, ermöglicht eine solche soziale Entkoppelung die Forderung eines beliebig hohen versement. Diese feste Abgabe, die viele maîtres ihren Talibé täglich auferlegen und deren Verfehlen häufig drakonisch bestraft wird, stand im Zentrum der Empörung ausländischer wie senegalesischer Kinderrechtsakteure. Sie sahen in ihr eine »Professionalisierung« und »Optimierung« des Bettelns der Talibé, das nun als »Business« Marktlogiken folge und zu einem Selbstzweck verkommen sei, anstatt wie vormals edukativen und existenziellen Zielen zu dienen (z.B. Wane, Dakar, 18.09.2012; Gomis, Dakar, 01.06.2012; Ly, Dakar, 25.08.2012). Um diesen Gegensatz herauszustreichen, grenzten sie das Bitten um Almosen von »früher« gegenüber dem Betteln (mendicité) von »heute« häufig auch terminologisch ab und stellten den Zusammenhang zwischen der gegenwärtigen mendicité und dem religiös und gesellschaftlich legitimierten Almosengesuch in Frage (vgl. CNLTP 2014: 23). Vor allem manche Koranlehrer hingegen, welche die Kontinuität der unterschiedlichen, monetären und non-monetären Formen der mendicité herausstreichen wollten, sprachen in Bezug auf die aktuellen Praktiken genauso von einer »Bitte um Almosen« und ordneten sie somit nicht in einen ökonomischen, sondern in einen religiösmoralischen Kontext ein (z.B. Koranlehrer n. n., Dakar-Medina, 23.07.2013; vgl. Ndiaye 1985: 160). Die intransparenten und unkontrollierbaren versements in Dakar nähren Gerüchte über maîtres, die sich durch horrende Einnahmen einen ausschweifenden Lebensstil leisten und in mafiösen Strukturen mit weit verzahnten Profitketten organisiert sind (z.B. Diallo, Mbao, 13.09.2012; Thioye, Dakar, 18.09.2012). Aber selbst moderate Hochrechnungen der versements ergeben bei durchschnittlichen Beträgen und Schülerzahlen einen Monatslohn, der deutlich über dem senegalesischen Mittelwert liegt.4 Die mendicité in ihrer gegenwärtigen Ausprägung führt daher zur 4

Mehrere Studien (z.B. CNLTP 2014: 42; HRW 2010: 35-36) belegen eine übliche tägliche Abgabe von 100-500 FCFA (0,15-0,80 EUR; 1.000 FCFA entsprechen etwa 1,50 EUR) bei einer

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Wahrnehmung einer zunehmenden sozioökonomischen Desintegration der Koranschulen hinsichtlich mehrerer Beziehungsgefüge. Während viele maîtres finanziell weitaus besser gestellt zu sein scheinen als die meisten anderen Senegalesen, gelten hingegen die bettelnden Talibé als stark benachteiligt gegenüber anderen Kindern in Senegal und in anderen Ländern. »Senegal ist das einzige Land der Welt, in dem Kinder für ihre Bildung betteln müssen«, entrüstete sich Mamadou Wane, Sprecher der Dachorganisation PPDH, im Rahmen einer Sitzung zur Vorbereitung der »Anklage« gegen den Staat Senegal (s. Kapitel 5; Wane, Dakar, 10.10.2012). Während die mendicité früher, zumindest dem gängigen Narrativ zufolge, von allen Kindern ungeachtet ihrer Herkunft praktiziert wurde und eine sozialintegrative Bedeutung innehatte, stellt sie heute in Senegal eine der sichtbarsten Formen sozialer Ungleichheit dar. Zwar bevorzugen selbst solvente senegalesische Eltern bisweilen eine religiöse Ausbildung für ihre Kinder, wählen dann aber meist kostenpflichtige Internate, die auf die mendicité verzichten. Auch die eklatante Diskrepanz zwischen dem Lebensstandard der maîtres und dem ihrer Talibé betrachten manche als Zeichen des Verfalls einer ehemals dialektisch-komplementären Beziehung. Früher habe die gesamte daara-Gemeinschaft die erbettelten Mahlzeiten gemeinsam eingenommen, während heute in den separaten und höchst ungleich ausgestatteten Unterkünften von maître und Talibé deren emotionale und ökonomische Distanz zum Ausdruck komme (z.B. Kouyate, St. Louis, 03.08.3012). Hohe tägliche Abgaben stehen nur an einem Ende des Kontinuums unterschiedlicher Formen der mendicité, die in den Koranschulen praktiziert werden. Abgesehen von zahlungspflichtigen Internaten oder sogenannten daaras de quartier, örtliche daaras, in denen die Kinder nur tagsüber Unterricht erhalten und bei ihren Familien nächtigen, erbetteln auch in manchen anderen Koranschulen die Talibé nur ihre eigenen Mahlzeiten. Diese erhalten sie oft bei einer festen »Patin« (»ndieye daara«) und sind ihrem maître zu keinen weiteren Abgaben verpflichtet. Der Koranlehrer verfügt in solchen Fällen meist über alternative Einkommensquellen, zum Beispiel durch Tätigkeiten als Imam, marabout oder Landwirt. In wieder anderen Koranschulen erbetteln die Talibé für ihren maître ohne eine bestimmte Vorgabe Nahrungsmittel, meist Reis und Zucker, sowie Geldbeträge. Auch besteht trotz des »schlechten Rufs« des versement die Möglichkeit, dass kein festgesetzter Betrag den Druck auf die Talibé sogar erhöhen kann, indem Konkurrenz untereinander ausgelöst wird oder sie der Willkür ihrer maîtres stärker ausgesetzt sein können als bei einer moderaten fixen Summe.

durchschnittlichen Anzahl von 32 Talibé pro maître für die Region Dakar (vgl. CNLTP 2014: 31). Bei 500 FCFA und 32 Talibé ergäbe dies einen monatlichen Betrag von 480.000 FCFA (ca.730 EUR). Weitaus höhere Schülerzahlen und versements sind jedoch keine Seltenheit. Das durchschnittliche monatliche Bruttogehalt in Senegal beträgt 87 USD (ca. 78 EUR) (Weltbank 2012 in JDN Le Journal du Net [html]).

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Mehrere der Koranlehrer, mit denen ich sprach, schrieben der mendicité zwar durchaus potenziell edukative Werte zu, betrachteten sie aber trotzdem nicht als konstitutiven Bestandteil der Koranausbildung und legitimierten sie vor allem durch die fehlende finanzielle Unterstützung durch den Staat oder die Eltern der Talibé (z.B. Fall, Pikine, 01.09.2012; Seck, Dakar, 11.10.2012; Bousso, Touba, 24.06.2013). Insofern kritisierten manche maîtres das Betteln stellvertretend für die staatliche Politik, die sie dafür verantwortlich machten. Auch die Tatsache, dass die für die mendicité aufgebrachte Zeit zu Lasten des Koranstudiums geht, wurde von ihnen zum Teil eingeräumt (z.B. Koranlehrer n. n., Daara K8, Kaolack, 22.08.2013). Die maîtres leugneten zwar gemeinhin die Einforderung einer festen Abgabe, rechtfertigten die monetäre mendicité jedoch damit, dass sie schließlich für die Unterbringung der Talibé, Miete, Strom und Medikamente aufkommen und zudem selbst eine Familie ernähren müssten (z.B. Koranlehrer n. n., Daara K8, Kaolack, 22.08.2013; Fall, Pikine, 01.09.2012). Auf diese Weise machten sie die modernen urbanen Lebensbedingungen für die monetäre Form des Bettelns verantwortlich und stellten diese lediglich als eine reaktive Maßnahme ihrerseits dar. Somit hielten die Koranlehrer, auf die ich mich beziehe, die mendicité zwar für notwendig, um die Ausbildung in der daara zu ermöglichen, verteidigten oder kritisierten sie aber nicht pauschal, sondern bewerteten sie hinsichtlich komplexer und unterschiedlich priorisierter Gesichtspunkte. Ein junger maître zum Beispiel, der in der Stadt Kaolack die daara seines kürzlich verstorbenen Vaters übernommen hatte, sah sich vielmehr selbst als Leidtragender seines Engagements als Koranlehrer, indem er mir erklärte, dass er zum Unterhalt seiner Großfamilie eigentlich 25.000 FCFA pro Tag benötige, die Talibé ihm jedoch oft nur insgesamt 7.000 FCFA ablieferten (Koranlehrer n. n., Daara K8, Kaolack, 22.08.2013). Er, aber auch manche anderen Gesprächspartner, waren überzeugt, dass die Talibé längst nicht alle ihre Einnahmen der daara zur Verfügung stellten, sondern durch die vielen Verlockungen in den Städten dazu verleitet seien, ihr erbetteltes Geld eher für persönliche Vergnügungen auszugeben. Zum Beispiel würden die Talibé häufig in Spielhallen gesichtet (zufälliges Gespräch, Darou Mousty, 25.06.2013). Ein anderer Bezugspunkt für die Bewertung des versement stellte das Koranstudium als »Gegenwert« dar. Adama Silla, ein ehemaliger Talibé, verneinte meine Frage, ob er sich »ausgebeutet« gefühlt habe durch die – in seinem Fall tatsächlich sehr moderate – tägliche Abgabe an seinen Koranlehrer. Schließlich habe ihm dieser den Koran gelehrt, was »viel mehr wert« sei (Silla, Kolda, 12.05.2013). Solche unterschiedlichen Perspektiven zeigen, dass dichotome Täter-Opfer-Bilder durchaus subvertiert werden und das versement in der senegalesischen Bevölkerung einen ambivalenten Status innehat. Vor allem die Höhe des festgesetzten Betrags und die Bestrafung bei dessen Nichterfüllen sind ausschlaggebend dafür, ob eine feste Abgabe als Ausdruck einer »Perversion« des vormals existenziell und edukativ motivierten Bettelns oder aber als eine notwendige Anpassung an die

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modernen urbanen Lebensbedingungen und an den vermeintlichen ökonomischen Opportunismus der Talibé und derer Eltern wahrgenommen wird. Während die soziale Akzeptanz der mendicité einerseits von ihren unterschiedlichen Ausprägungen abhängt, erachteten andererseits manche senegalesische Kinderrechtsakteure die Praktik aufgrund der veränderten gesellschaftlichen Bedingungen als nicht länger »zeitgemäß«, um sozial erwünschte Werte wie Demut, Ausdauer, Egalität und Solidarität zu verinnerlichen. Momar Djim Cisse, ehemaliger Inspekteur der staatlichen Schulbehörde und hoch geachteter Experte im Bildungsbereich, überlegte zum Beispiel in unserem Gespräch, ob heutzutage nicht Schuluniformen anstatt des gemeinsamen Bettelns dazu dienen könnten, die Talibé nicht nach ihrem Wohlstand zu unterscheiden und ihnen so ein egalitäres Gesellschaftsbild zu vermitteln (Cissé, Dakar, 26.07.2013). Dabei nahm er freilich Bezug auf seine Vision einer staatlich subventionierten daara moderne, die auf den ökonomischen Faktor der mendicité nicht länger angewiesen wäre. Zum Teil werden die der klassischen Koranausbildung zugeschriebenen Erziehungswerte vor dem Hintergrund eines veränderten, transnational beeinflussten Kindheitskonzepts selbst in Frage gestellt. Sie gelten entweder als an die spezifischen Bedürfnisse einer bestimmten Zeit angepasst, die nicht mehr den heutigen entsprechen (vgl. Last 2000: 382), oder als Ausdruck überholter und unaufgeklärter Sozialisationsziele. Aus einer solchen entwicklungslogischen Perspektive sollen die Praktiken und Prinzipien der (Koran-)Erziehung prozessual mit universellen Kinderrechten in Einklang gebracht werden (z.B. Gaye, Dakar, 31.07.2013; Gbedemah, Dakar, 24.07.2012; Touré, Dakar, 30.04.2013). Eine Publikation unter federführender Mitwirkung des Kinderrechtsdachverbandes PPDH zitierte zum Beispiel einen Talibé mit den Worten »Ich will nur lernen, nicht betteln… das ist sehr demütigend« (Anti-Slavery 2011: 3) und zeigte damit, dass der einst positiv konnotierte Wert der Demut im Kontext eines auf individuelle Rechte fokussierten transnationalen Kindheitskonzepts zunehmend negativ reinterpretiert wird. Diese Tendenz spiegelte sich auf ähnliche Weise in den Kommentaren vieler Kinderrechtsakteure wider, die, zum Beispiel in Konferenzbeiträgen, die schädlichen »psychosozialen Folgen« der mendicité auf die Kinder thematisierten (z.B. Mbaye, Dakar, 04.04.2012; Daffe, Dakar, 06.04.2012). Hinsichtlich der eng mit der mendicité in Verbindung stehenden Körperstrafen (vgl. CNLTP 2014: 40) wurde ich mehrmals darauf hingewiesen, dass solche schließlich früher auch »in Frankreich« üblich gewesen seien, anstatt sie in ein grundlegend anderes, auf inkorporierter Disziplin basierendes Erziehungskonzept einzubetten (z.B. Gaye, Dakar, 31.07.2013; Dramé, Ziguinchor, 06.05.2013). Dass Schläge in vielen Koranschulen die gängigste Art der Bestrafung darstellen, erklärte Cheikhou Touré, Leiter des Bereichs »Bildung« der NGO Enda Graf, damit, dass die maîtres über keinerlei pädagogische Ausbildung verfügten, aber die alleinige Verantwortung über teils Hunderte von Kindern trügen und daher schlicht diejenigen Praktiken reproduzierten, die sie selbst in ihrer Erziehung erlebt hätten

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(Touré, Dakar, 30.04.2013). Eine solche Argumentation offenbart eine neue Sichtweise auf Lehrqualitäten und Autoritätsmerkmale des Koranlehrers, die nicht mehr allein aus religiösem Wissen und einer besonderen Segenskraft (baraka) herrühren, sondern aktuellen pädagogischen Standards entsprechen sollen. Eine Abkehr von einem edukativen Leitmotiv der »Abhärtung« kommt ferner in der negativen Bewertung von Aspekten wie wenig Schlaf oder mangelnde Hygiene zum Ausdruck, die den Alltag in den meisten Koranschulen prägen und nun überwiegend als dem Lernerfolg und der Gesundheit abträglich beurteilt werden. Viele Senegalesen befürchten zudem, dass die Talibé Diebstähle begehen, um ihr versement zu erfüllen, und dass sie mangels beruflicher Alternativen unausweichlich in eine kriminelle Laufbahn abgleiten würden (z.B. PPDH (Sitzung), Dakar, 23.08.2012; zufällige Gespräche, Dakar, 25.07.2013, Ziguinchor, 10.05.2013). Die Perspektive auf die mendicité hat sich also grundlegend gewandelt, indem sie kaum noch als eine Praktik interpretiert wird, die moralische Tugenden, jedoch sozial oder psychisch schädigendes Verhalten vermittelt. Manche Koranlehrer aber hielten daran fest, dass die Talibé durch die mendicité die Fähigkeit erwürben, sich auch unter schwierigsten Bedingungen »durchzuschlagen«. Sie verliehen damit den dem Betteln schon früher zugeschriebenen edukativen Werten eine modernisierte Rahmung (z.B. Bousso, Touba, 24.06.2013; Koranlehrer n. n., Grand Mbao, 27.09.2012). Der Begriff »sich durchschlagen«, »se débrouiller« auf Französisch, ist in Senegal geläufig für die Lebensform derer, die meist weder über ein festes Einkommen noch über eine formale Ausbildung verfügen, und ambivalent in seiner soziokulturellen Bedeutung. Auch in der Literatur wird dieser Lebensstil entweder in die Nähe der Kleinkriminalität gerückt (z.B. Bayart 1999: 38-39) oder aber die kreative Anpassungsfähigkeit (z.B. Waage 2006: 81-85) und Zukunftsorientierung (z.B. Vigh 2009: 422-424; ders. 2010: 150) derjenigen fokussiert, die sich »durchschlagen«. Abdou Lahad Bousso, Koranlehrer in Touba, nahm sogar Bezug zu den sogenannten Modou-Modou, den senegalesischen Emigranten, die im Ausland über die unterschiedlichsten Kleinhandelsaktivitäten und oft mithilfe transnationaler mourdischer Netzwerke zum Teil ein beträchtliches Vermögen erwirtschaften (vgl. Riccio 2001: 584-585). Bousso behauptete, dass diese allesamt den daaras entstammten. In seinen eigenen daaras konnte er zwar als Mitglied der Gründerfamilie Mbacké der Murīdīya dank Beteiligungen der Eltern und eigener Mittel auf das Betteln verzichten, beklagte aber selbst, dass der Unterhalt der Koranschulen ganz und gar nicht einfach sei (Bousso, Touba, 24.06.2013). In ähnlicher Weise war ein von mir interviewter Koranlehrer in Kaolack, der in seiner daara die mendicité praktizieren ließ, der Annahme, dass Talibé, die betteln müssen, »intelligenter« würden als andere Kinder (Koranlehrer n. n., Daara K8, Kaolack, 22.08.2013). Tatsächlich würdigte auch Adama Silla, ehemals Talibé in Dakar, mir gegenüber die lebenspraktischen Fähigkeiten, die er in der daara erlangt habe und erklärte, dass er durch die mendicité nun Dakar besser kenne »als

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jeder Taxifahrer«. Er erinnerte sich dennoch mit gemischten Gefühlen an seine Zeit in der daara, die er mit einer »Armee« verglich und als harte »Lebensschule« bezeichnete, und bedauerte, keine säkulare Schulausbildung genossen zu haben (Silla, Kolda, 12.05.2013). Elimane Diagne, Leiter einer daara de quartier und Mitglied der PPDH, berichtete mir von seiner Kindheit und Jugend in einer Koranschule, an die ihn noch heute zahlreiche Narben von den Schlägen seines maître erinnerten, er aber als gläubiger Muslim es niemals bereuen könnte, dass ihm der Koran gelehrt wurde (Diagne, Pikine, 11.07.2012). Obwohl sich die Koranlehrer zum Teil offenkundig diskursiver Register bedienten, um die mendicité zu rechtfertigen, zeigte sich so, dass der Lebensstil »sich durchzuschlagen« vor allem aus einer elitären, von transnationalen Kindheits- und Erziehungsidealen beeinflussten Perspektive rein negativ wahrgenommen wird. Bei einer sozioökonomisch weniger begünstigten Ausgangssituation kann dieser Lebensstil Chancen auf einen Aufstieg eröffnen und vor dem Hintergrund eines Erziehungskonzepts der »Abhärtung« mit einer sinnstiftenden Bedeutung konnotiert werden. Es stellt so ein Spannungsfeld dar, dass eine informelle, »harte« Ausbildung die Talibé zwar manchmal besser auf ein Leben gemäß ihrem »Erwartungshorizont« (Koselleck 1995 [1979]: 354359) vorbereitet, sie aber damit auf gesellschaftlich wenig anerkannte und unregelmäßige berufliche Tätigkeiten festschreibt und dadurch ein Konflikt mit dem in der UN-Kinderrechtskonvention (1989, Art. 2) verbrieften Grundsatz der NichtDiskriminierung von Kindern entsteht. Meine Interviewpartner bewerteten nicht nur die gegenwärtigen Praktiken des Bettelns ambivalent, sondern auch die des Gebens als Teil eines interdependenten Verhältnisses (z.B. Sow, Guédiawaye, 16.07.2012; Diallo, Mbao, 13.09.2012; Tall, Dakar, 17.04.2013). Manche brachten die florierende Almosengabe und die damit einhergehende Verbreitung der mendicité mit der sprichwörtlichen senegalesischen Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit gegenüber Fremden, der teranga, in Verbindung, die ein identitätsstiftendes nationales Ethos darstellt. Indem sie insbesondere ausländischen Koranlehrern unterstellten, von diesem senegalesischen Wesenszug gezielt zu profitieren, nutzten sie die essentialisierte Selbstzuschreibung der teranga, um die Verantwortung für das Betteln der Talibé auszulagern (z.B. Mbodji, Dakar, 24.04.2013; Fode, Kolda, 10.05.2013). Sie repräsentierten die Almosengabe so als einen altruistischen »Habitus« (Bourdieu 1982: 171-210) mit unintendierten Folgen und verliehen dadurch dem »senegalesischen Problem« der mendicité implizit eine positive Konnotation. Da bei der Almosengabe nicht in eine reziproke Beziehung mit dem Empfänger nach Mauss’schem Konzept (2002 [1923/24]: 90-95), aber mit Gott als virtueller »dritter Partei« investiert wird, ist sie dennoch auf eigennützige Weise uneigennützig und die Empfänger sind für die Geber nicht weniger wichtig als umgekehrt (vgl. Bondaz & Bonhomme 2014: 491). Gemeinhin verorten die mehrheitlich muslimischen Senegalesen ihre Almosen an die Talibé in ein religiöses Regelwerk, das

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sowohl verpflichtende als auch zusätzliche freiwillige Abgaben vorsieht.5 Zudem ist es in Senegal weit verbreitet, sich für persönliche Anliegen aller Art an einen spirituellen Führer, einen marabout, zu wenden. Diese Praktik wird nur selten offen eingestanden, da sie nach orthodoxer Auslegung des Islam abgelehnt und als etwas wahrgenommen wird, das im Verborgenen stattfinden muss (vgl. Tall 2003: 74; Sow 2013: 33-34). Die marabouts versprechen, mit mystischen Fähigkeiten und gegen finanzielle und materielle Entschädigungen das Schicksal des Ratsuchenden zu beeinflussen. Dafür »verschreiben« sie häufig eine bestimmte Almosengabe, welche die Charakteristika des Empfängers ebenso festlegt wie die Gabe selbst. Gretchen Pfeil (2012: 37) unterscheidet daher für den senegalesischen Kontext zwischen der Almosengabe als habituelles Praxishandeln und der zielgerichteten Gabe solcher verordneten, oft wertvolleren Objekte, die anschließend als anonymisierte und verdinglichte »Probleme« in der Stadt zirkulieren. Die Unkenntnis über die Hintergründe und Motive der Geber schürt Spekulationen über illegitim angehäufte Reichtümer mancher Bevölkerungsteile und über die politisch-ökonomischen Kräfte, die hinter besonders großzügigen Spenden stehen (vgl. Pfeil 2012: 34). Zum Beispiel berichtet eine Anekdote über einen Minister, der kurz vor einer anstehenden Kabinettserneuerung dabei gesichtet wurde, wie er säckeweise Kekse an bettelnde Kinder verteilte. Angesichts seiner Position als Repräsentant der offiziellen Politik gegen das Betteln der Kinder wurde dies von der Öffentlichkeit als besonders paradox wahrgenommen und löste allerhand Spekulationen über seine zugrunde liegenden Interessen aus (vgl. Tall 2003: 77).6 Mit Julien Bondaz und Julien Bonhomme (2014: 503) lässt sich dieses Misstrauen in den Kontext einer »Krise der Gabe« mit untrennbaren ökonomischen, politischen, moralischen und religiösen Dimensionen einordnen, die auf eine allgemeinere Krise gesellschaftlicher Redistributionsmechanismen verweist. Das Thema der ambivalenten Gabe, welche die »Sünden« des Gebenden verkörpert und Gefahren birgt (z.B. Parry 1986: 459461) oder eine ökonomisch und moralisch schädigende Wirkung (z.B. Mauss (1969 5

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Der Islam kennt mit zakāt (wolof: asaka) als prozentual vom eigenen Profit abhängige, verpflichtende Abgabe und ṣadaqa (wolof: sarax) als freiwillige zusätzliche Abgabe zwei Formen der Almosengabe. Während für die zakāt acht bestimmte Personenkategorien als mögliche Empfänger festgelegt sind, die jedoch wiederum unterschiedlich definiert werden können (z.B. Benthall 1999: 30-31; Aghnides 1916 in van Hoven 1996: 703-704), gelten diese Einschränkungen für die ṣadaqa nicht. Manche islamischen Auslegungen hingegen nehmen keine Unterscheidungen zwischen zakāt und ṣadaqa vor (vgl. Aghnides 1916: 204 in van Hoven 1996: 704) bzw. betonen deren engen Zusammenhang (vgl. Benthall 1999: 30) und auch in der (senegalesischen) Praxis verschwimmt die Trennung zwischen »verpflichtenden« und »freiwilligen« Almosen (vgl. Tall 2003: 73). So wird auf die Almosengabe an die Talibé sowohl als sarax (z.B. Ware 2014: 238) als auch als asaka (z.B. Perry 2004: 57) Bezug genommen. Um die Thematik der maraboutage im politischen Milieu geht es zentral in Aminata Sow Falls bekanntem karikierenden Roman La grève des battu (1979), der im Jahr 1980 den Grand Prix littéraire de l’Afrique noire erhielt.

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[1924]: 46-51) entfalten kann, fand in der Literatur bereits in anderen Kontexten Beachtung.7 Viele senegalesische Kinderrechtsakteure verurteilten mir gegenüber daher nicht nur die von den marabouts auferlegten Almosen als »unislamisch« und »eigennützig«, sondern auch die gegenwärtige Praxis der alltäglichen Almosengabe. An dieser kritisierten sie, dass sie nicht den koranischen Vorgaben entspreche, stattdessen aber von abergläubischen Überzeugungen und einer Gleichgültigkeit gegenüber den Talibé geprägt sei. Einige postulierten daher, dass die Allgemeinbevölkerung den Talibé keine monetären Almosen mehr zuteilwerden lassen solle, um nicht zu Komplizen ihrer Ausbeutung zu werden (PARRER (Workshop) 18./19.04.2012; Diagne, Pikine, 11.07.2012; Diallo, Mbao, 13.09.2012; vgl. Tall, Seneweb, 06.10.2014). Indem sie die gesamte Bevölkerung für die elende Situation der Talibé zur Verantwortung zogen, setzten sie gleichzeitig einen Kontrapunkt zu den permanenten Appellen an den »Staat« zu einer rigorosen Gesetzesanwendung gegen die mendicité. Das Betteln der Talibé sollte so als gesellschaftlich tief verankertes Problem ins Bewusstsein gerückt werden, dessen Lösung an einen grundlegenden Wandel bestimmter Denk- und Handlungsweisen gebunden ist. Eine von UNICEF und der dem Ministerium für Frauen, Familie und Kinder unterstellten DDPEGV in Auftrag gegebene Studie aus dem Jahr 2013 illustrierte die Paradoxität der Almosengabe, indem von 1.000 befragten Personen 52 % angaben, ein staatliches Verbot des Bettelns der Kinder zu befürworten, 98 % aber ebenso eingestanden, diesen regelmäßig Almosen zu geben (vgl. Gomis, Sud Quotidien, 04.12.2013). Die Kinderrechtsakteure, die sich gegen die direkte Almosengabe an die Talibé aussprachen, waren überzeugt davon, dass die mendicité gemäß dem Prinzip von Angebot und Nachfrage funktioniere. Sie sahen die Almosengeber in einer machtvollen »Kundenrolle« und in der Pflicht, ihr Verhalten an die ökonomisch professionalisierte Almosenpraxis der maîtres anzupassen. Es war nicht ihre Absicht, zur gänzlichen Aufgabe der Almosen aufzurufen, sondern dazu, sie zu bündeln und über eine gemeinschaftlich anerkannte Person oder Institution an rechtmäßige Empfänger verteilen zu lassen (z.B. Daffe, Dakar, 06.04.2012; PARRER (Pressekonferenz), Dakar, 19.09.2012). Auch wenn eine solche rationalisierte Form der Almosengabe langfristig erfolgreicher soziale Ungleichheit bekämpfen mag als eine ungesteuerte Almosengabe, büßt sie an zwischenmenschlicher Affektivität und Spon-

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Jonathan Parry (1986: 459-461) bezieht sich in seiner Analyse auf das hinduistische dān als »reine«, nicht reziproke Gabe, welche die Sünden des Gebers »transportiert« und sowohl für den Geber als auch für den Empfänger bei einer regelwidrigen Handhabung Gefahren birgt. Für Marcel Mauss (1969 [1924]: 46-51) hingegen besteht die ambivalente und potenziell schädigende Wirkung von Gaben darin, dass sie den Empfänger durch die Reziprozitätserwartung in eine moralisch-ökonomische Zwangslage versetzen.

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tanität und damit einen Teil ihrer sozialen Bedeutung ein (vgl. Bornstein 2009: 642-643). Eine Regulierung und Politisierung der Almosengabe impliziert in Senegal zudem eine tiefgreifende Rekontextualisierung und Reinterpretation einer weitgehend sozial inkorporierten und der privaten Sphäre8 zugeordneten Alltagspraktik. Manche meiner Interviewpartner betonten vor dem Hintergrund einer zunehmenden Skepsis gegenüber dem Betteln der Talibé, diesen niemals Geld, nur etwas zu essen zu geben und fügten zum Teil beinahe triumphierend hinzu, ihnen sogar lediglich eine bereits geschälte Frucht, zum Beispiel eine Banane oder eine Orange, zu schenken (z.B. Marceau, Keur Massar, 13.12.2011; Fall, Dakar, 16.05.2012). Damit wollten sie verhindern, dass dem Talibé selbst die Gabe gar nicht zugutekommt, sondern er sie weiterkauft, um das von seinem maître auferlegte versement erfüllen zu können. Tatsächlich haben sich in Dakar einschlägige Orte etabliert, zum Beispiel am Rande des Markts im Stadtbezirk Grand-Yoff, an denen die Talibé ihre erbettelten Waren zu stark verbilligten Preisen zum Kauf anbieten. Diese Möglichkeit nehmen vor allem ökonomisch benachteiligte Bevölkerungsteile in Anspruch, die so von den Almosen profitieren, ohne selbst um sie bitten zu müssen. In einem zufälligen Gespräch in der Nähe einer solchen Weiterverkaufsstelle äußerte sich eine Passantin positiv über die Praktik, da sie die Talibé davon abhalte, Diebstähle zu begehen, um ihr versement zu komplettieren (Dakar-Grand Yoff, 25.07.2013). Sie band den Verkauf der Almosen also sinnstiftend in eine gemeinnützige Sicherheitslogik ein, anstatt den individuellen Gewinn der Käufer und Verkäufer in den Vordergrund zu rücken und die Praktik als wertentbunden darzustellen. Die meist in einen Kontext gesellschaftlicher Entsolidarisierungs- und Desintegrationsprozesse eingeordnete Kommodifizierung der Almosen kreiert somit neue soziale Beziehungsgeflechte und moralische Bedeutungsgebungen (vgl. Keane 2008: 29) und führt, wenn wohl in kleinem Rahmen, zu einer ökonomischen Redistribution zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsschichten. Auch ein Blick auf die Lebensrealitäten der Talibé legt nahe, dass monetäre Almosen nicht pauschal als Ausdruck eines Verfalls sozialer Beziehungen interpretiert werden, sondern die am besten angepasste Form der Solidarität darstellen können, während hingegen geschälte Früchte anstelle von Geld den Alltag der Talibé nur zu erschweren scheinen. Einzig ein – aus soziokulturellen Gründen unrealistischer – totaler Verzicht der gesamten Bevölkerung auf die Almosengabe an die Talibé könnte tatsächlich deren Betteln unmittelbar stoppen. Hören nur manche auf, ihnen Geld oder zum Weiterverkauf geeignete Lebensmittel zu geben, führt

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Während die für Muslime verpflichtende Almosenform der zakāt der öffentlichen Sphäre zugeordnet wird, gilt die freiwillige Gabe der ṣadaqa als privat. Diese Unterscheidung wird in der Praxis jedoch oftmals aufgelöst (vgl. Ogunkan 2011: 130).

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dies zumindest kurz- und mittelfristig dazu, dass die Talibé noch mehr Zeit täglich für das Betteln aufbringen, auf mühsame und riskante Gelegenheitsarbeiten oder sogar auf Diebstähle ausweichen müssen, um ihr versement zu erfüllen. Die Gabe einer bereits geschälten Frucht erhöht zwar die agency des Spenders, indem er weitgehend sichergehen kann, dass weder deren tatsächlicher Empfänger wechselt noch die Gabe selbst eine monetäre (und anschließend re-kommodifizierte) Transformation durch einen Weiterverkauf erfährt. Die agency der Talibé jedoch wird auf diese Weise symbolisch wie praktisch minimiert. Während sie überschüssige Bettelerträge für ihren selbstbestimmten eigenen Bedarf ausgeben oder sparen können, bleibt ihnen ein solcher Handlungsspielraum beim Erhalt geschälter Früchte verwehrt. Die Talibé werden zur ikonischen Opferfigur des »hungrigen Kindes« stilisiert und auf ihr »bloßes Leben« (Agamben 1998: 1-13) reduziert, was das ohnehin ungleiche Machtverhältnis zwischen Geber und Talibé verstärkt. Der Almosengeber aber macht bestimmte (bio-)politische und ethische Deutungsmuster geltend und kann zudem das Dilemma lösen, entweder die Bitten der Talibé zu ignorieren oder Geld in die Taschen unlauterer maîtres coraniques zu spülen. Davon war ich selbst während meiner Feldforschung nicht ausgenommen: Als ich einmal vor einer boutique – einem der kleinen Allzweckläden, die sich in Dakar an jeder Straßenecke finden lassen – auf zwei Talibé traf, die dort um Almosen baten, erwiderten sie auf mein Angebot, ihnen etwas zu kaufen, vielleicht ein Erfrischungsgetränk oder ein Baguette, zu meiner Überraschung, dass ihnen Geld eigentlich am liebsten wäre (Dakar, 29.04.2013). Mein Unbehagen gegenüber ihrer Reaktion erklärte ich mir im Nachhinein sowohl durch meinen Wunsch, unmittelbar ein Bedürfnis der Talibé zu erfüllen, das ich auf ihre Situation projizierte, anstatt nur zur Komplettierung des für den Koranlehrer bestimmten versement beizutragen, als auch durch deren aktive, »anspruchsvoll« anmutende Einflussnahme. Meine Erfahrung bestätigte Alvin Gouldners Feststellung, dass nicht-reziprokes Empfangen Machtlosigkeit und die Aufgabe der eigenen Autonomie voraussetzt. »Der Preis für die bedingungslose Hilfe ist Hilflosigkeit und bedingungslose Abhängigkeit des Empfängers vom Gebenden«, so Gouldner (1984: 131). Gegenvorschläge des Empfängers »stören« den Gebenden also in doppelter Hinsicht, indem sie nicht nur dessen Ansatz zur Lösung eines bestimmten Problems und somit im weiteren Sinn dessen Menschenund Weltbild widersprechen, sondern auch gegen die implizite Rollenverteilung eines solchen nicht-reziproken Geber-Nehmer-Verhältnisses aufbegehren. Neben einer größtmöglichen Machtverschiebung zugunsten des Gebers interpretiere ich die Gabe verzehrfertiger Lebensmittel als Versuch der Retraditionalisierung, indem die non-monetäre Almosengabe von einst auf den modernen urbanen Kontext übertragen werden soll. Die Gabe wird dadurch entökonomisiert und ihre originäre soziale und ideelle Bedeutung vermeintlich wiederhergestellt. Schließlich hätten die Talibé früher auch lediglich um bereits gekochten Reis gebeten, hob eine Angestellte der Behörde für Gemeindeentwicklung (DDC) in unserem

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Gespräch hervor (Seynabou, Dakar, 02.08.2013). Wird jedoch der »gekochte Reis« von »früher« auf den städtischen Straßen in eine »geschälte Banane« übersetzt, wird den veränderten sozioökonomischen Praktiken der Koranschulen und den urbanen Lebensbedingungen nicht Rechnung getragen. Die Gabe stellt so kaum eine reelle Form der »Hilfe« dar, sondern besitzt fast nur noch eine symbolische Dimension. Da aber ein allgemeines Unbehagen gegenüber der zunehmenden Monetarisierung sozialer Beziehungen und insbesondere gegenüber der monetären mendicité der Talibé herrscht, und Essen zu teilen in Senegal eine selbstverständliche soziale Praxis darstellt, stößt ein solches Geberverhalten im öffentlichen Diskurs bislang auf wenig Kritik.

Das »terminologische Amalgam«: Von »richtigen« und »falschen« marabouts Die Problematik der mendicité wirft für viele die grundlegende Frage auf, wer überhaupt als Talibé, maître coranique oder marabout gelten kann. Sowohl senegalesische als auch ausländische Akteure meines Feldes beanstandeten ein »terminologisches Amalgam«, indem diese religiös aufgeladenen Begriffe zu undifferenziert und im Kontext »ausbeuterischer« oder »unislamischer« Praktiken verwendet würden (z.B. Dia, Dakar, 11.04.2013; Tall, Dakar, 17.04.2013; Numer, Dakar, 04.05.2012). In ungerechtfertigten Verallgemeinerungen und Verunglimpfungen religiöser Akteure und Traditionen sahen viele eine Hauptursache dafür, dass ein einvernehmlicher Umgang mit der mendicité so schwer zu erreichen sei. Insbesondere solche Interviewpartner, die sich selbst im Besitz eines fundierten Wissens über das Koranschulwesen glaubten, versuchten der Vielfalt der daaras und der gefühlten Konfusion entgegenzuhalten, indem sie sie gemäß Ausstattung, Unterrichtsstil und Motivation des maître in drei bis fünf verschiedene »Typen« unterteilten (z.B. Dia, Dakar, 11.04.2013; Bousso, Touba, 24.06.2013; Sow, Guédiawaye, 16.07.2012). Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass solche Kategorien viele Uneindeutigkeiten bergen und nur vordergründig Konsens schaffen können. Auch eine etymologische Argumentation wurde von manchen meiner Gesprächspartner, zum Beispiel von Vertretern der ministeriellen Abteilung für Kinderschutz (DPDE), herangezogen, um die Verbindung zwischen den Konzepten »Kinderhandel« bzw. »Ausbeutung« und »Talibé« zu verunmöglichen: Da sich »Talibé« vom arabischen ṭālib, »Schüler«, herleite, könnten Kinder, die mehr Zeit mit Betteln als mit Lernen verbringen und somit ausgebeutet würden, konsequenterweise nicht als »Talibé« bezeichnet werden (z.B. DPDE (Gruppendiskussion), Dakar, 12.06.2013; Gaye, Dakar, 31.07.2012). Gegenwärtig, so eine häufige Klage, würden die »Talibé« weniger mit Koranunterricht als mit Betteln assoziiert. Diese Feststellung bestätigte sich nicht nur in der Darstellung inbesondere ausländischer

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Hilfsorganisationen, sondern auch in Alltagssituationen. Als ich mich von einem Jungen zu einer daara führen ließ, die ich besuchen wollte, und ihn nebenbei fragte, ob er auch ein »Talibé« sei, antwortete er mir beinahe entrüstet: »Moi, un mendiant?! Non, je suis un élève!«9 (Dakar, 23.07.2013). Und eine, wenngleich eher periphere, Kinderschutzkampagne warb im Jahr 2012 mit dem Slogan »Votez contre les Talibé«, »Stimmt gegen die Talibé«, insbesondere in den sozialen Medien für ein stärkeres gesellschaftliches Engagement gegen die mendicité (Talibé Sunshine 2012 [html]). Dem Appell haftete eine unintendiert zynische Konnotation bei, indem er missverständlich suggerierte, sich nicht nur pauschal gegen eine religiöse Institution, sondern sich sogar gegen die Kinder selbst zu wenden. Da einer Kritik an einer »Koranausbildung«, in der das eigentliche Koranstudium nur eine marginale Rolle einnimmt, schwerlich etwas entgegengesetzt werden kann, stellen fehlende Korankenntnisse der Talibé unter senegalesischen Kinderrechtsakteuren ein sehr machtvolles Argument dar. Es richtet sich zwar gegen die verantwortlichen Koranlehrer, folgt jedoch einer konservativen, emischen Denklogik, indem lediglich die Konsequenz einer übermäßigen mendicité, nicht aber die Praktik selbst grundsätzlich als »Kinderrechtsverletzung« missbilligt wird. Beispielhaft für diese Perspektive war ein Vorfall im Jahr 2012, als der damalige Innenminister Mbaye Ndiaye eine Gruppe Talibé festnehmen ließ, die während des muslimischen Freitagsgebets vor einer Moschee im Zentrum Dakars, in der auch er sein Gebet verrichtete, die Gläubigen um Almosen baten. »Ich habe sie [die Talibé] festgenommen und könnte sie ins Jugendgefängnis bringen. Aber vor allem werde ich ihre marabouts vorladen. Ein Talibé ist vor allem ein Muslim, nicht nur, dass sie nicht beten, sondern sie stören die Andacht derjenigen, die beten«, wurde der Minister in diversen Medien zitiert (z.B. APS, 10.08.2012, meine Übersetzung). Sein konsequentes Vorgehen erntete auch unter zivilgesellschaftlichen Kinderrechtsakteuren mehrheitlich großen Zuspruch, die sich darüber entrüsteten, dass Koranschüler nicht einmal die wichtigsten Gebetszeiten respektierten (z.B. PPDH (Sitzung), 23.08.2012). Vielsagend am Vorgehen des Ministers war, dass erst eine Verletzung religiöser Gebote ihn zu einer Vorladung der maîtres veranlasste und nicht das allgegenwärtige Betteln der Talibé als gesetzeswidrige Handlung oder deren oft augenscheinlich miserabler Gesundheitszustand. Zudem beschuldigte er zwar in erster Linie die marabouts der betreffenden Talibé, aber auch diese selbst. Damit ließ er eine eigenwillige Interpretation der senegalesischen Gesetzgebung erkennen und einen Problemfokus, der sich deutlich von dem des transnationalen Kinderrechtsdiskurses unterschied. Eine als illegitim wahrgenommene Verwendung des Begriffs »Talibé« umfasst so ein Kontinuum zwischen »Talibé« aus daaras, in denen vermeintlich konstitu9

»Ich, ein Bettler?! Nein, ich bin Schüler! [in einer säkularen Schule nach französischem Modell]«

4. Andere Zeiten?

tive Aspekte der Koranerziehung verletzt werden, und »Straßenkindern«, die sich selbst strategisch als »Talibé« ausgeben. Viele religiös-konservative Akteure – zum Beispiel Koranlehrer oder Personen, die sich bestimmten maraboutischen Familien eng verbunden fühlten – waren der Meinung, die Mehrheit der bettelnden Kinder seien »Straßenkinder«, keine »Talibé«. In ihren Augen wurde die Problematik der »bettelnden Talibé« von transnationalen Kinderrechtsakteuren vor dem Hintergrund bestimmter politischer Agenden übermäßig thematisiert (z.B. Seck, Dakar, 11.10.2012; Bousso, Touba, 24.06.2013; Dia, Dakar, 11.04.2013). Eine solche Wahrnehmung umfasst nicht nur eine quantitative Umverteilung, sondern verändert wesentliche diskursive Rollen: Wenn es mehrheitlich »Straßenkinder« sind, die versuchen, unter dem Deckmantel religiöser Traditionen höhere Bettelerträge zu erzielen, können Akteure beschuldigt werden, die gerade nicht dem Koranschulkontext entstammen, diesen aber zu ihren Gunsten missbrauchen. Auch der Begriff des marabout 10 wird für verschiedene, nicht klar abgrenzbare (para-)religiöse Akteure verwendet (z.B. Sow 2013: 32; Bondaz & Bonhomme 2014: 492) und trägt somit maßgeblich zu besagtem »terminologischen Amalgam« bei. Der Begriff bezeichnet im Alltagsgebrauch Sufi-Gelehrte mit einer besonderen Segenskraft (baraka) – insbesondere die Gründerväter der Bruderschaften und deren Nachfolger oder enge Anhänger – ebenso wie jegliche Koranlehrer oder diejenigen Mystiker, die der »Scharlatanerie« bezichtigt werden. Senegalesische und informierte ausländische Akteure plädierten daher für einen differenzierteren Gebrauch dieses ehrenvollen Titels, der ausschließlich islamischen Autoritäten vorbehalten werden sollte. Ein solcher könne, müsse jedoch nicht den Koran unterrichten, während jeder, der den Koran beherrsche und unterrichte, ein maître coranique, hingegen nicht zwingend ein marabout sei (z.B. Seck, Dakar, 11.10.2012; CNLTP (Sitzung), Dakar, 23.10.2012). Einem »tatsächlichen« marabout werden durch seine besondere spirituelle Kraft allerdings auch mystische Fähigkeiten zuerkannt, die nicht trennscharf von denen zu unterscheiden sind, die als betrügerische und »unislamische« Praktiken gelten (vgl. Sow 2013: 32; Brenner 2007: 7-15). Die Bezeichnung »maître coranique«, »Koranlehrer«, ist zwar sozioreligiös weniger aufgeladen, wird aber oft als nicht weniger illegitim erachtet. Viele der von mir interviewten Kinderrechtsakteure unterstellten einem Gros der maîtres, nicht einmal selbst den Koran zu beherrschen, geschweige denn ihn zu unterrichten, sondern lediglich eine gesetzliche Grauzone als bequeme Einkommensquelle zu missbrauchen (z.B. Diagne, Pikine, 11.07.2012; CNLTP (Sitzung), Dakar, 23.10.2012; Diallo, Mbao, 13.09.2012)

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Der Begriff marabout ist die europäisierte Version des arabischen murābiṭ und bedeutet etymologisch »Mann, der in einem ribāṭ lebt«. Damit wird im übertragenen Sinn jemand bezeichnet, der den Islam an seinen Grenzen verteidigt. Der Gebrauch dieser Bezeichnung weitete sich mit Verbreitung des mystischen Islam in Nordafrika für die von ihren Anhängern verehrten muslimischen Gelehrten aus (vgl. Ware 2014: 79; Gibb & Kramers 1974: 325-326).

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Manche Kinderrechtsakteure forderten daher, dass die sogenannten großen marabouts11 , die Oberhäupter der verschiedenen Bruderschaften, stärker ihre Rolle als gesellschaftliche Meinungsführer wahrnehmen und sich in die Bekämpfung der mendicité einbringen sollten, um zu einer klaren Differenzierung zwischen religiös legitimierten und »ausbeuterischen« Praktiken beizutragen (z.B. Diaw, Dakar, 29.03.2012; CNLTP (Sitzung), Dakar, 23.10.2012). Diese Nachkommen der Gründerväter der daaras führen heute selbst aufgrund ihrer privilegierten ökonomischen Lage, wenn überhaupt, meist gut ausgestattete Koranschulen, die nicht auf die mendicité angewiesen sind. In Anbetracht der großen sozialen, moralischen und ökonomischen Distanz zwischen den »großen marabouts« und den »ausbeuterischen maîtres« interpretierten meine Informanten deren Verhältnis kontrovers. Während manche gerade keinerlei Verbindung zwischen ihnen sahen und damit auch keine Verpflichtung der führenden marabouts, sich in die Debatte einzubringen (z.B. Isseu Mbacké, Touba, 25.06.2013), mutmaßten andere über ökonomische »Redistributionsketten« innerhalb der Bruderschaften, an deren unterem Ende die bettelnden Talibé stünden (z.B. Sow, Guédiawaye, 16.07.2012). Wieder andere betonten deren ambivalentes Verhältnis zur mendicité, da auch sie – mit oder ohne mendicité – eigene daaras unterhielten und alle daaras das gemeinsame Ziel des Koranstudiums verfolgten (z.B. Gaye, Pikine, 05.09.2012; Ka, Dakar, 05.06.2013). Tatsächlich ist die Konstellation allein dadurch komplex, dass die Bruderschaften jeweils nicht mit einer Stimme sprechen, sondern sich in weitläufige, teils konkurrierende Familienzweige ausdifferenziert haben und unterschiedlich einflussreiche marabouts divergierende Einstellungen bezüglich der mendicité vertreten, sofern sie sich überhaupt dazu äußern. Diese reichen von einer expliziten und engagierten Missbilligung der mendicité, eingeschränkten Kritiken an extremen Formen, gepaart mit Solidaritätsgefühlen gegenüber den maîtres coraniques als Akteure des islamischen Bildungssystems und mit Forderungen nach einem staatlichen Engagement für die daaras, hin zu ablehnenden, aber desinteressiert-distanzierten Haltungen (z.B. Bousso, Touba, 24.06.2013; Isseu Mbacké, Touba, 25.06.2013; Ka, Dakar, 05.06.2013). Außergewöhnlich deutlich forderte der Khalifa Général der Bruderschaft der Layenīya, Baye Seydina Issa Lahi, 2013 die Abschaffung der mendicité der Talibé. »Der Islam hat niemals akzeptiert, Kinder zu Banditen zu erziehen«, wurde er in mehreren Medien, nebst einem Appell an die religiösen Familien zu einem größeren Engagement gegen das Betteln, zitiert (z.B. Senenews, 11.06.2013, meine Übersetzung).

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Auf diese religiösen Führer wird mit unterschiedlichen Begriffen Bezug genommen, um sie gegenüber sogenannten peripheren oder »unberechtigt« als solche bezeichneten marabouts abzugrenzen: z.B. »grands marabouts« (»große marabouts«), »chefs réligieux«, »guides réligieux« (»religiöse Führer«).

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Im Bewusstsein um die potenziell boomerangartigen Auswirkungen solcher terminologischer Uneindeutigkeiten waren sich die am Kinderrechtsdiskurs gegen die mendicité beteiligten – ausländischen wie senegalesischen – Akteure einig darin, religiös aufgeladene Begriffe wie »Talibé«, »marabout« oder »daara« nicht inflationär zu gebrauchen oder mit missverständlichen Botschaften pauschal zu verunglimpfen. So erklärte die einflussreiche transnationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch im Report »Exploitation Sous Prétexte d’Éducation« (»Ausbeutung unter dem Vorwand der Ausbildung«) 2014 erstmalig, die Begriffe »Koranschule« oder »maître coranique« »manchmal« in Anführungszeichen zu setzen, um zu verdeutlichen, dass in den dargestellten Fällen deren eigentlicher Wortsinn verletzt werde (vgl. HRW 2014: 10). Die Programmleiterin der staatlichen spanischen Entwicklungsorganisation AECID in Senegal, Inés Diego, forderte 2013 in einer an die wichtigsten Kinderrechtsakteure gerichteten Email vehement dazu auf, »diese Kinderausbeuter« nicht länger »marabouts« zu nennen und erinnerte daran, dass die Kinder nicht in »daaras«, sondern in »Stätten der Ausbeutung und der Misshandlung« seien. Solange eine solche Unterscheidung nicht erfolge, könnten sich die »Ausbeuter« weiterhin mit einem »Deckmantel des Islam« schützen, obwohl es vielmehr diese selbst seien, die den Islam »beleidigten« (Diego [unveröffentlichte Email], 24.06.2013). Während transnationale Kinderrechtsorganisationen durch einen sensiblen Umgang mit religiös aufgeladenen Begriffen dem Vorwurf antiislamischer Absichten entgehen wollen, spielt für senegalesische Akteure verstärkt eine Rolle, dass sie sich auf diese Weise gegen bestimmte Formen der Koranausbildung wenden können, ohne die Institution und ihre Akteure per se verunglimpfen zu müssen. Unter den involvierten Kinderrechtsakteuren hatte sich so verstärkt die Bezeichnung »falsche marabouts« (»faux marabouts«) durchgesetzt (z.B. Seck, Dakar, 11.10.2012; Diallo, Mbao, 27.09.2012; Ba, Kolda, 14.05.2013). Diese erweiterte das diskursive Repertoire um eine Figur, über die vermieden werden konnte, einen religiösen Titel pauschal zu stigmatisieren und Kooperationen mit dem konservativreligiösen Milieu vorschnell zu verschließen. Zugleich stärkte und legitimierte eine Ingroup der Kinderrechtsakteure durch den gemeinsamen Feind oder Außenseiter des »falschen marabout« ihre Gruppenidentität (vgl. Tajfel & Turner 2004 [1986]: 283-284). Vor allem Konferenzen und andere Zusammenkünfte, an denen ausgewählte Koranlehrer teilnahmen, stellten Gelegenheiten für diese Akteursgemeinschaft dar, sich gegen »falsche marabouts« zu verbünden und die anwesenden Koranlehrer damit implizit als »richtige marabouts« zu bestätigen (z.B. CNLTP (Sitzung), Dakar, 23.10.2012; PARRER (Workshop), Dakar, 19.09.2012). Durch seine negative Konstruktion hält der Begriff jedoch einen inhärenten Bezug zu den »richtigen marabouts« aufrecht und suggeriert, das religiöse Milieu sei von devianten Akteuren unterwandert. Dabei existiert die phantomartige Figur des »falschen marabout« freilich nur als Fremd-, nicht als Selbstzuschreibung. Verschiedene maîtres,

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mit denen ich sprach und in deren daaras genau die Probleme ersichtlich wurden, die gemeinhin Anlass zur Entrüstung gaben, leugneten nicht, dass manche andere maîtres ihre Talibé »ausbeuteten« (z.B. Kebe, Pikine, 23.10.2012; Koranlehrer n. n., Dakar-Medina, 23.07.2013; Koranlehrer n. n., Daara K8, Kaolack, 22.08.2013). Auch Koranlehrer selbst sprachen mitunter von »falschen« marabouts oder maîtres coraniques, um diese gegenüber den ihresgleichen zu befremden, malten dann aber dramatisierte Szenarien von marabouts aus, die Kinder zum Betteln »mieteten« oder mit deren Eltern einen »Pakt« schlössen, um sie an den Bettelerträgen zu beteiligen (z.B. Bousso, Touba, 24.06.2013; Fall, Pikine, 01.09.2012). Somit schafft die Kategorie des »falschen marabout« nur oberflächlich eine gemeinsame Feindfigur, da sie in Wirklichkeit unterschiedlich imaginiert und definiert wird. Während radikale Kinderrechtsakteure alle Koranlehrer, deren Talibé mehr als die eigenen Mahlzeiten erbetteln müssen, als solche betrachten, erfordert diese Bezeichnung für die meisten Koranlehrer weitaus drastischere Bedingungen. Indem der Begriff des »falschen marabout« einen eindeutigen islamischen Erziehungskodex suggeriert, wird vernachlässigt, dass die tatsächlichen Absichten der marabouts ebenso vielschichtig sein können wie die Interpretationen von Konzepten wie »Ausbeutung« oder »Misshandlung«. Jedoch kann die Problematik auf diese Weise durch eine vage definierte dämonisierte Gruppe von Koranlehrern personifiziert, in ihrer Komplexität reduziert und aus der legitimen Tradition der Koranlehre und senegalesischen Gesellschaft ausgeschlossen werden. Die Kategorie des »falschen marabout« spiegelt so die Logik personeller, von strukturellen oder soziokulturellen Verflechtungen entkoppelter Täternarrative wider, die auch dem Diskurs um Menschenhandel zugrunde liegt. Solche Narrative verengen die Gruppe der Schuldtragenden vordergründig, ermöglichen aber genau dadurch, an eine große Bandbreite konfligierender Auslegungen und Agenden anschlussfähig zu sein (vgl. Anderson 2007[o. S.]).

»Ich will nur seine Knochen zurück…«: Die Eltern der Talibé  im Fadenkreuz der Kritik Die Eltern der Talibé betrachten die meisten als diejenigen Personen, die ihnen emotional am nächsten stehen und ihnen gegenüber die größte Fürsorgepflicht haben. Außerdem stellt die confiage an einen Koranlehrer den Beginn der »Biografie des Bettelns« (Wane, Dakar, 26.09.2012) dar. Vor diesem Hintergrund schrieben viele Kinderrechtsakteure den Eltern sogar die Hauptverantwortung für die mendicité und die elenden Lebensbedingungen ihrer Kinder in den urbanen Zentren zu (z.B. Seck, Dakar, 11.10.2012; PARRER (Workshop), Dakar, 18./19.04.2012; Sow, Guédiawaye, 16.07.2012; Ly, Dakar, 25.08.2012). Die verschärfte Armut im ländlichen Milieu, kombiniert mit dem Narrativ der gesellschaftlichen »Wertekrise«,

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setzte die Eltern dem Verdacht aus, aus ökonomischen Motiven leichtfertig ihre Kinder fortzugeben oder gar selbst von deren Bettelerträgen zu profitieren (z.B. Mbow, Dakar, 23.07.2013; PARRER (Workshop), Dakar, 18/19.04.2012). Dieser »umgedrehte Generationenvertrag« zeuge von einer Mutation grundlegender sozialer Prinzipien (Sow, Guédiawaye, 16.07.2012). Die Wahrnehmung »pervertierter« Eltern-Kind-Beziehungen scheint in weiten Teilen vor allem daher zu rühren, dass bestimmte soziokulturelle Erziehungspraktiken zunehmend vor dem Hintergrund eines transnationalen Kindheitskonzepts bewertet werden. So war es in Westafrika auch schon vor der Ausbreitung des Islam weit verbreitet, ein Kind dauerhaft oder temporär in den Haushalt eines biologisch oder sozial Verwandten zu geben. Die Praktik basiert auf der gesellschaftlichen Überzeugung, dass ein Kind nicht nur seinen biologischen Eltern »gehöre« und mit diesen eine Einheit bilde, sondern dass die ganze dörfliche und familiäre Gemeinschaft Rechte an einem Kind beanspruchen könne. Diese unterschiedlichen Erziehungseinflüsse gelten demnach als positiv für die Entwicklung des Kindes (vgl. Alber 2014: 91, 222). Bei einer confiage werden eine oder mehrere der pluralen Zugehörigkeiten eines Kindes einer dritten Person übertragen, nicht hingegen wie bei einer Adoption nach internationalem Rechtsverständnis alle Rollen der sozialen und legalen Elternschaft (vgl. Goody 2013: 57; Goody in Alber 2014: 61; Fonseca 2004: 8-10, 24-25). Diese Zugehörigkeiten sind zwar immer vorgestellt, haben aber reale, körperlich erfahrbare Folgen und sind sowohl für die aufnehmende Person als auch für das Kind mit bestimmten Aufgaben verbunden (vgl. Alber 2014: 91-92). Eine confiage als das Recht und die Pflicht, ein Kind temporär aufzuziehen, ist so in ein komplexes Spannungsfeld zwischen Privileg und Bürde eingebettet. Dennoch zeugt die Praktik der confiage nicht von einem geringen soziokulturellen Stellenwert biologischer Elternschaft, sondern vielmehr von der Annahme einer unerschütterlichen Bindung aufgrund der direkten Blutsverwandtschaft, die sich selbst durch jahrelange physische Abwesenheit nicht schwächen lässt (vgl. Fonseca 2004: 9). Auch wenn ihr eine Vielzahl von Motiven zu Grunde liegen kann, sind sich die zu dieser Thematik vorhandenen ethnologischen Forschungen einig darin, dass eine confiage meist eine proaktive, zweckgerichtete Handlung darstellt und nicht nur als Reaktion auf Krisen wie zum Beispiel Armut oder familiärer Zerfall arrangiert wird.12 12

Suzanne Lallemand (2013: 61-77) verfolgt in ihrer Analyse der confiage einen strukturalistischen Ansatz, indem sie die Allianzenbildung zwischen Familien als ihr unterliegendes Prinzip hervorhebt. Ester Goody (2013: 23-59), die herausarbeitet, wie verschiedene Rollen der Elternschaft auf unterschiedliche Personen verteilt werden und wie eine confiage häufig zum Ausgleich eines Wohlstandsgefälles zwischen zwei Haushalten beiträgt, nimmt eine strukturfunktionalistische Perspektive ein. Erdmute Alber (2013: 79-107) kombiniert den strukturalistischen und den strukturfunktionalistischen Ansatz mit einer stärker akteurszentrierten, praxisorientierten Ausrichtung und untersucht die confiage als Übertragung vorgestellter Zugehörigkeiten.

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Etymologisch ist dem Konzeptbegriff der confiage, der sich aus dem französischen Verb »confier«, »anvertrauen«, herleitet, zudem »Vertrauen« als konstitutives Prinzip inhärent.13 Indem die Wortherkunft zum Ausdruck bringt, dass ein Kind einer Person »anvertraut« wird, steht die agency der biologischen Eltern und die Beziehung zwischen der abgebenden und der aufnehmenden Person, weniger hingegen das Kind selbst im Fokus. Da jedoch sinnhaft nur »anvertraut« werden kann, was von großer persönlicher Bedeutung ist, impliziert dieses Konzept auch aus etymologischer Perspektive eine Wertschätzung des Kindes und nicht etwa dessen gleichgültige Weggabe. Wird die confiage eines Kindes zum Zweck seiner Ausbildung arrangiert, erhält sie in manchen Augen eine zusätzliche religiöse Legitimation, da eine Vielzahl von Koransuren und Hadithe das Reisen »auf der Suche nach Wissen« ausdrücklich befürworte und der Prophet Mohammed sogar gefordert habe, »bis nach China zu gehen«, um neue Kenntnisse zu erwerben (z.B. Fall, Dakar, 16.05.2012; vgl. Adebisi 1993: 208). Auch David V. Ogunkan (2011: 129) weist darauf hin, dass Koranschüler in Nigeria »Almajiri« genannt werden und sich der Begriff aus dem arabischen Wort »al-Muhājirūn«, »die Auswanderer«, herleite. Im Koran bezieht sich der Begriff vor allem auf die frühen Muslime Mekkas, die zu Mohammeds Lebzeiten nach Medina zogen. Der zentrale Stellenwert, den der Islam Wissen sowie körperlicher und mentaler Disziplin zuschreibt (vgl. Boyle 2006: 489), spiegelt sich in einem konservativen senegalesischen Erziehungsverständnis weitläufig wider. Leiden wird als notwendige Bedingung für den Erwerb von Wissen wahrgenommen (vgl. Einarsdóttir & Boiro 2016: 865-866) und Körperstrafen sind nicht nur toleriert, sondern gelten als essentieller Bestandteil der Erziehung (z.B. Perry 2009: 49-51; Last 2000: 374; Bledsoe 1990: 75-78). Schläge und ähnliche Formen körperlicher Züchtigung bestätigen und reproduzieren ein bestimmtes Machtverhältnis zwischen zwei Personen (vgl. Last 2000: 374-375), sollen der männlichen Initiation und der Abhärtung für kommende schwierige Lebenslagen dienen (vgl. Adebisi 1993: 2010). Manche Koranlehrer verglichen mir gegenüber Kinder metaphorisch mit einem »Stück Leder«, welches erst »hart bearbeitet« werden müsse, um zu einem »nützlichen Schuh« zu werden oder Schläge mit »Medizin«, die der Gesundheit zuträglich sei, solange sie nicht im Übermaß eingenommen werde (Kebe, Pikine, 05.09.2013; Niasse, Pikine, 25.06.2012). Ein bekanntes und viel zitiertes Sprichwort in Senegal lautet ferner »Ein Kind kann Gott [noch] nicht verstehen, aber es kann den Stock verstehen!«, und das Wort »yar« bedeutet auf Wolof sowohl »Rute« als auch »Erziehung« (vgl. Ware 2004: 533).

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Der Begriff »confiage« entspricht wörtlich dem begrifflichen Pendant auf Wolof (»dekane«). Im anglophonen Afrika wird die Praktik hingegen als »fostering« bezeichnet (to foster= pflegen, fördern), womit etymologisch die auf das Kind gerichtete Handlung im Fokus steht.

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Die Überzeugung, Kinder würden in der Fremde effektiver und konzentrierter lernen und arbeiten als unter den nachgiebigen Blicken der leiblichen Eltern, bringt deutlich das Spannungsverhältnis zwischen einem auf Disziplin basierenden Erziehungsideal und der engen emotionalen Beziehung zum Ausdruck, die zwischen biologischen Eltern und Kindern für selbstverständlich gehalten wird. Aus dieser Perspektive lässt sich die confiage eines Kindes sogar als Folge »zu viel« elterlicher Liebe interpretieren anstatt von »zu wenig«, wie gegenwärtig in den Kontroversen um das Betteln der Talibé oft behauptet. Viele meiner im Kinderschutzbereich tätigen Gesprächspartner unterstellten den Eltern der Talibé, sich eines Kindes zu »entledigen«, um ihre Haushaltskosten zu senken (z.B. Sow, Guédiawaye, 16.07.2012; Mbaye, Thiès, 30.08.2012; Mbodj, Dakar, 21.08.2013). Damit reduzierten sie nicht nur die möglicherweise komplexe und informierte Entscheidung der Eltern für eine confiage an einen Koranlehrer auf rein ökonomische Beweggründe, sondern sprachen ihnen auf Grundlage transnationaler normativer Vorstellungen ihre legitime Elternrolle ab. Da die Familien der Talibé meist aus entlegenen ländlichen Gebieten oder den ärmeren Nachbarländern stammen, meine Kontaktpersonen hingegen vor allem in Dakar lebten und transnational vernetzt waren, reflektierte diese Rhetorik die große soziale Distanz zwischen der urbanen Elite und der Landbevölkerung. Um die vermeintliche »Verantwortungsflucht« der Eltern zu untermauern, wiesen senegalesische Kinderrechtsakteure mehrmals entrüstet auf die rituelle Formel »Ich will nur seine Knochen zurück«14 hin, welche viele Eltern zu Beginn einer confiage, insbesondere im Fall einer confiage an einen Koranlehrer, äußern würden, und die in ihren Augen deren emotionale Gleichgültigkeit gegenüber den Kindern belegte (z.B. Carvalho, Dakar, 14.05.2012; Diagne, Pikine, 11.07.2012; Sagna, Dakar, 19.06.2013). Eine solche Interpretation zeugt von einer eindimensionalen und soziohistorisch wenig kontextualisierten Sichtweise.15 Es spricht nämlich vieles dafür, die Formel als einen performativen oralen »Vertrag« über die confiage zu verstehen, der durch die rituelle Rhetorik nicht explizit und eventuell konfliktreich ausgehandelt werden muss. Die Festlegung der Rechte und Pflichten gegenüber dem Kind bestimmt beziehungsweise bestätigt dabei auch das Macht- und Rollenverhältnis zwischen den beteiligten Erwachsenen auf einer allgemeineren sozialen Ebene (vgl. Bledsoe 1990: 84). Die Eltern übertragen dem Koranlehrer in diesem Prozess des binding (Diop [ohne Datum] in Ware 2004: 515) zwar die volle Verfügungsgewalt über die Zeit und die Arbeitskraft des Kindes 14

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Während mir in meiner Feldforschung stets die Formel »Ich will nur seine Knochen zurück« (franz. »Je ne demande que ses os«, wolof: »Yax xam yi rëk la laye laag«) genannt wurde, zitiert R. Ware Ravane Mbaye mit der rituellen Formel »I ask of you only a Qur’ân or a cadaver«, welche bei den Wolof die confiage an einen Koranlehrer begleite (Mbaye 1976: 260 in Ware 2004: 524). Für seine wichtigen Hinweise zu einem alternativen Verständnis jener Formel danke ich Souleymane Faye, Professor für angewandte Sprachwissenschaft an der Universität Cheikh Anta Diop, Dakar.

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(vgl. Ware 2004: 515), beanspruchen aber als nächste biologische Verwandte das Recht am Leichnam des Kindes in dessen Todesfall. Damit bringt die Formel zum Ausdruck, dass die confiage gerade nicht von einem monetären Interesse der Eltern geleitet ist, die bekräftigen, nichts als den toten Körper ihres Kindes, also keine weiteren Gegenleistungen, für dessen Arbeitskraft zu erwarten. Vor allem jedoch verdeutlicht die Formel die Pflicht eines Muslims, den Koran zu erlernen, um überhaupt als vollständige Person zu gelten (vgl. Last 2000: 376; Ware 2014: 70; Loimeier 2001: 98), die rhetorisch sogar dem Leben übergeordnet wird. Zugleich wird das Vertrauen, das dem Konzept einer confiage inhärent ist, performativ bestätigt (vgl. Ware 2004: 524). Das Vertrauen gilt sowohl Gott als Entscheider über Leben und Tod als auch dem Koranlehrer und impliziert eine rhetorisch invertierte Erwartung der Eltern, gerade nicht nur die »Knochen« ihres Kindes, sondern in einigen Jahren ein islamisch ausgebildetes Kind zurückzuerhalten. Wie jede kulturelle Regel wird diese Formel aber in der Praxis keineswegs mechanisch umgesetzt (vgl. Bledsoe 1990: 84). Ein Sozialarbeiter des Centre Ginddi, den ich um seine Einschätzung dieser Formel bat, zeigte sich wie auch ein anderer, in der PPDH engagierter Kinderrechtsakteur überzeugt davon, dass selbst die explizite Äußerung wenig Bedeutung dahingehend habe, wie die Eltern tatsächlich im Fall einer Misshandlung durch den Koranlehrer reagierten. Viele würden dann durchaus ihre Kinder aus der daara zurückholen (Pierre, Dakar, 29.08.2013; Lo, Pikine, 25.05.2012). Andere Sozialarbeiter waren wiederum der Meinung, Eltern würden besonders »eigensinnige« Kinder zur »Bestrafung« in die Koranschule schicken (z.B. Soko, Dakar, 25.04.2012; Coly, Dakar, 04.07.2012). Dadurch negierten sie zwar nicht deren informierte Entscheidung, belegten jedoch implizit die Koranausbildung und die Talibé selbst mit negativen Assoziationen. Indem sie die Wahl einer sehr harten Ausbildung für ein Kind nicht als mögliche proaktive Investition in dessen Zukunft und einzig als Sanktionsmaßnahme interpretierten, brachten auch sie eine Orientierung an einem veränderten Erziehungskonzept zum Ausdruck. Die für die Studie »Child trafficking in Guinea-Bissau« (Einarsdóttir et al. 2010: 33) befragten Eltern von Talibé hingegen hatten angegeben, dass sie diejenigen ihrer Kinder, die sie für besonders widerstandsfähig oder intelligent hielten, für die Koranausbildung auswählten, also ihre Kinder weniger »bestraften« als deren jeweilige spezifische Charakteristika bei der Entscheidung berücksichtigten. In Anbetracht der beschränkten edukativen und ökonomischen Perspektiven im senegalesischen Hinterland und in den Nachbarländern betrachten viele Eltern die Mobilität ihrer Kinder als Chance für deren Zukunft (z.B. Einarsdóttir et al. 2010: 32-34; Höchner 2015: 10-13). Die prekären Lebensbedingungen, welche die Talibé in der Stadt erleben, müssen daher ebenso wie die Motive der Eltern für die confiage mit deren Herkunftskontext in Bezug gesetzt werden. Die Eltern schicken ihre Kinder nicht weg, um sich ihrer zu »entledigen«, wandte der Leiter des Jugendamts (AEMO) in Ziguinchor mir gegenüber ein, sondern um sie »nicht sterben zu lassen« (Dramé,

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Ziguinchor, 06.05.2013). Die beschwerliche Ausbildung in der Koranschule kann daher vor dem Hintergrund unvorteilhafter ökonomischer und sozialer Voraussetzungen in doppelter Hinsicht sogar einen Schutz und nicht nur, wie oft behauptet, eine Gefahr für die Kinder bedeuten (vgl. Goldstein 1998: 394-395). Zum einen bieten ihnen die Lebensumstände in der Stadt bisweilen eine reelle (sofortige oder zukünftige) Verbesserung, zum anderen kann eine »harte« Erziehung die beste Vorbereitung auf eine ebenso »harte« zu erwartende Realität im Erwachsenenalter sein. Der inkorporierte Koran stellt aber auch einen »Besitz« in Form eines »kulturellen Kapitals« dar (vgl. Eickelman 1978: 495 nach Bourdieu 1973), das sich alle Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen zu eigen machen können. Mit der Beherrschung des Korans ist in Senegal ein großes soziales Prestige verbunden, während die an den säkularen Schulen erworbenen Diplome den ländlichen Bevölkerungsschichten häufig nur oberflächlich Zugang zu elitären, transnationalen Wissensformen bieten, kaum jedoch eine berufliche Zukunft garantieren (vgl. Saul 1984: 83). Manche senegalesische Kinderrechtsakteure und auch Koranlehrer hingegen betrachteten die klassische Koranausbildung und die säkularen Schulen nicht als in einem dichotomen Verhältnis stehend, sondern sahen in einem vorausgehenden Koranstudium einen »Vorteil« für den Erwerb jeder weiterer Wissensformen (z.B. Bousso, Touba, 24.06.2013; Fode, Kolda, 10.05.2013). Auf diese Weise konnten sie konservative, islamisch geprägte Vorstellungen von Sozialisation mit modernen Ansprüchen an eine berufsorientierte Bildung verbinden. Ndiayedaara, mein Gatekeeper, betonte zum Beispiel im Einklang mit dem Assistenten einer Koranschule in Pikine, die wir zusammen besuchten, dass das Memorisieren des Korans als hochkomplexer Text die Gehirnstrukturen derart vernetze, dass danach »nichts Anderes mehr schwierig« sei. Der Stoff der säkularen Schulen könne daher anschließend von den ehemaligen Talibé mühelos aufgeholt werden (Ndiayedaara, Pikine, 08.05.2012; vgl. Seck, Dakar, 11.10.2012). Die verschiedenen Sichtweisen deuten darauf hin, dass hinter der confiage eines Kindes an einen Koranlehrer oft ein breiteres Motivspektrum steht als weitläufig angenommen (vgl. Boyle 2006: 495; Höchner 2015: 11-12). Eltern können diese Entscheidung vor dem Hintergrund religiöser, säkular-utilitaristischer Überlegungen treffen oder sie als existenziell alternativlos wahrnehmen (vgl. Einarsdóttir et al. 2010: 32). Die Zuschreibungen gegenüber den Eltern der Talibé bringen zum Ausdruck, wie soziokulturelle Praktiken wie die confiage durch den Einfluss transnationaler Kindheits- und Familienkonzepte (negativ) reinterpretiert werden. Im Diskursfeld um die mendicité dienen somit nicht nur »falsche marabouts« und »falsche Talibé« als Feindbilder, um die Problematik zu erklären, ohne identitär bedeutsame Institutionen zu diffamieren, sondern auch »falsche Eltern«. Durch eine primäre Belastung der Eltern als periphere und gesellschaftlich wenig machtvolle Akteure werden die Koranlehrer und der Staat wiederum implizit oder explizit von ihrer Verantwortung entlastet. Der Diskurs wird dadurch politisch und religiös ent-

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schärft. Nichtsdestotrotz betonten andere Kinderrechtsakteure vielmehr das »Unwissen« der Eltern, die über die Lebensbedingungen ihrer Kinder in den daaras nicht im Bilde seien. Sie forderten stattdessen von den Koranlehrern, die confiage eines Talibé abzulehnen, wenn sie nicht für dessen Unterhalt aufkommen könnten (z.B. Gomis, Dakar, 01.06.2012; Diaw, Dakar, 12.04.2013). Beide Argumentationen, sowohl die vermeintliche Unwissenheit als auch die vermeintliche Gleichgültigkeit und Berechnung, haben gemeinsam, dass die confiage politisiert und damit, ähnlich dem Appell gegen die spontane Almosengabe, inkorporiertes soziales Wissen grundlegend reinterpretiert wird.

Die Stadt als Nährboden für neue Gerüchte und Gefahren Gegner der mendicité kritisierten nicht nur deren vermeintlich »pervertierte« Form, sondern sahen die Talibé auf den Straßen Dakars und anderer großer Städte noch weiteren »modernen« Gefahren wie dem Straßenverkehr ausgesetzt (z.B. Laison, Dakar, 30.04.2012; Diatta, Kolda, 13.05.2013; Diouf, Pikine, 14.07.2012). Dabei liegt nahe, dass sich vielmehr die Ansicht, welches Maß an Sicherheit einem Kind gewährt beziehungsweise was unter »Sicherheit« verstanden werden soll, geändert hat als die tatsächliche Gefahrenlage, da auch der ländliche Kontext nie frei von umweltlichen Risiken war. Aus diskursanalytischer Perspektive ist relevant, dass eine Ablehnung der mendicité aufgrund des Straßenverkehrs eine entwicklungslogische Denkweise widerspiegelt, welche die Problematik neutralisiert und entpersonalisiert. Ähnlich wie die diskursive Figur der »Dürre« kann die des »Straßenverkehrs« gezielt oder unbewusst eingesetzt werden, um das Betteln der Talibé als originär sinnhafte Praktik nicht pauschal zu diffamieren. Dennoch wurde das Gefahrenbild des Straßenverkehrs in meinem Feld nicht nur für eine politische Entschärfung der mendicité instrumentalisiert, sondern oftmals mit anderen Kritikpunkten kombiniert, um die gegenwärtige Situation maximal und auf multidimensionale Art zu dramatisieren (vgl. Saka & Goudiaby 2013: 15). Neben dem Straßenverkehr nahmen (mögliche) pädophile Übergriffe auf die Talibé einen bedeutenden diskursiven Stellenwert ein (z.B. Diallo, Mbao, 13.09.2012; Wane, Dakar, 23.08.2012; Diatta, Kolda, 13.05.2013). Die Gefahr für die Talibé, pädophilen Angriffen zum Opfer zu fallen, ist durch deren gleichzeitige Exponiertheit und Anonymität im urbanen Raum und durch ihre ökonomische Notlage äußerst plausibel kommunizierbar. Pädophilie gilt in der senegalesischen Gesellschaft als besonders verabscheuungswürdiger Ausdruck »moderner« Dekadenz und wird häufig mit Homosexualität gleichgesetzt. Auf einem Protestmarsch gegen die mendicité anlässlich des »Tages der Talibé« unter Mitwirkung staatlicher und zivilgesellschaftlicher Kinderrechtsakteure in der Stadt Pikine vor den Toren Dakars trugen die Teilnehmenden im Jahr 2012 sogar ein Banner mit

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der Aufschrift »Non à l’homosexualité et à la pédophilie« durch die Straßen (Pikine, 21.04.2012). Über eine entsprechend konstruierte kausale Verknüpfung kann also mit dem Kinderrechtsdiskurs gegen die mendicité eine weitere soziopolitische Agenda, die Kriminalisierung der Homosexualität, gestärkt werden. Da zumindest das öffentliche Ausleben von Homosexualität gemeinhin als schädlicher »westlicher« Einfluss und als essentiell »unsenegalesisch« betrachtet wird (z.B. Touré, Dakar, 30.04.2013; Sow, Guédiawaye, 16.07.2013), können problematische Aspekte der mendicité auf diese Weise nicht nur einer besonders unbeliebten Personengruppe zugeschrieben, sondern auch indirekt aus der Gesellschaft selbst externalisiert werden. Ob die mendicité als »Ausbeutung« durch den maître oder durch den Pädophilen als dritte Figur stigmatisiert wird, bedeutet eine grundlegende Verantwortungsumverteilung. Im letzteren Fall wird nicht die mendicité per se, lediglich eine ihrer Folgen kriminalisiert. Aus dieser Perspektive wird das Betteln nicht selbst als »Kinderhandel«, aber als möglichen »Ausgangspunkt« für Formen des Kinderhandels wahrgenommen (z.B. Diatta, Kolda, 13.05.2013; Laison, Dakar, 30.04.2012). Manche Kinderrechtsakteure hingegen verorteten die Gefahr pädophiler Übergriffe in den Koranschulen selbst und untermauerten so ihre Forderung nach deren staatlicher Reglementierung, um maîtres mit unlauteren Absichten das Handwerk zu legen (z.B. Diallo, Pikine, 21.04.2012; Diallo, Mbao, 13.09.2012). Indem die originär hoch moralische Figur des Koranlehrers mit der maximal unmoralischen Figur des Pädophilen imaginär verschmolz, wurde das Narrativ eines gegenwärtig »pervertierten« Koranschulsystems gestützt. Vorwürfe pädophiler Vorkommnisse wurden jedoch auch im Zusammenhang mit Hilfsangeboten für geflohene Talibé beziehungsweise »Straßenkinder« laut, angeheizt durch den landesweit bekannten Fall eines französischen Priesters, der 2005 wegen sexuellen Missbrauchs an mehreren Kindern in einem Aufnahmeheim verurteilt worden war (z.B. Bangré, Afrik.com, 27.06.2005). Auch die Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit dieser Heime in Senegal über keine offizielle staatliche Akkreditierung verfügt, schürt das Misstrauen gegenüber ihnen (z.B. PPDH (Sitzung), Dakar, 23.08.2012). Die diskursive Figur der einstimmig verabscheuten Pädophilie dient so Akteuren mit konfligierenden politischen und ideologischen Interessen dazu, ihr Misstrauen gegenüber bestimmten Institutionen und Gesellschaftsmilieus auf besonders plastische Weise zum Ausdruck zu bringen und zu legitimieren. Sie ist in allen Kontextualisierungen äußerst wirkmächtig, da das Vorkommen pädophiler Übergriffe durch einige stark mediatisierte Fälle (z.B. Seneweb, 02.04.2014; Faye, Slateafrique, 13.03.2013) außer Zweifel steht. Es kann jedoch entweder von »Ausnahmen« oder einer »großen Dunkelziffer« gesprochen werden. Dabei zeigt die Gestalt des Pädophilen Parallelen zu der des ebenfalls dämonisierten »falschen marabout«, letztere lässt sich aber aufgrund ihrer uneindeutigen Kennzeichen diskursiv noch flexibler einsetzen.

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Der anonyme großstädtische Kontext bildete die Grundlage für weitere diskursive Register, um jeweils unterschiedliche Sprecherpositionen zu untermauern. Mittels divergierender quantitativer Zuschreibungen ließ sich der Problematik der bettelnden Talibé zum Beispiel eine hohe oder niedrige Relevanz beimessen. Zwar existieren diverse Studien (z.B. Weltbank et al. 2007; Human Rights Watch 2010; CNLTP 2014) zur mendicité der Talibé, diese sind jedoch weder allen Akteuren bekannt noch werden sie von allen als legitim und nicht als politisch motiviert erachtet. Die Studien sind zudem durch das Paradox gekennzeichnet, dass sich eine Problematik einerseits auf zählbare Fakten beziehen muss, um allgemeine Anerkennung zu finden, es andererseits äußert schwierig ist, etwas zu »zählen«, das noch nicht in gesellschaftlich einvernehmliche Begriffe übersetzt wurde (vgl. Merry & Wood 2015: 206-207). Tatsächlich weisen diese Studien nicht nur zum Teil eklatante quantitative Divergenzen auf, sondern definieren auch Schlüsselkategorien wie »Talibé« ungleich, ungenau oder gar nicht.16 Es war ferner auffallend, dass in unterschiedlichen Gesprächskontexten die Behauptung, es gebe keine oder unzureichende Untersuchungen zu den bettelnden Talibé ebenso aufgestellt wurde wie die, dass aussagekräftige Studien durchaus vorhanden seien (z.B. Seck, Dakar, 11.10.2012; Dia, Dakar, 11.04.2013; PARRER (Workshops) 18./19.04.2012, 26.09.2012). Während erstere Position zumeist von dem Koranschulwesen gegenüber positiv eingestellten Akteuren und Koranlehrern vertreten wurde, um die Existenz oder zumindest die Tragweite der Problematik in Frage zu stellen, diente der Verweis auf eine gut gesicherte Datenlage vor allem Kinderrechtsakteuren als Grundlage für ihre Forderung nach einem konsequenten und systematischen (staatlichen) Vorgehen gegen die mendicité (z.B. PARRER (Workshop), Dakar, 19.09.2012; Wane, Dakar, 23.10.2012). In den vergangenen Jahren zitierten transnational vernetzte Kinderrechtsakteure insbesondere die Studie »Understanding Children’s Work«, laut der 90 % aller bettelnden Kinder in Dakar Talibé sind (Weltbank et al. 2007: 2). Damit konnten sie trotz einer offiziellen Rahmung der Problematik als das »Betteln der Kinder« ihre Fokussierung auf die Talibé rechtfertigen. Koranlehrer hingegen sprachen eher lediglich von »Minderheiten« und »Ausnahmen« von maîtres, die ihre Talibé übermäßig oder überhaupt zum Betteln schickten (z.B. Bousso, Touba, 24.06.2013; Seck, Dakar, 11.10.2012). Neben einer Verteidigung der mendicité als existenziell notwendige oder edukative Praktik stellt eine solche quantitative Minimierung eine weitere Möglichkeit zur Relativierung 16

Während der Report der Weltbank et al. (2007: 2) von 6.540 bettelnden Talibé (90 % von insgesamt 7.600 bettelnden Kindern) in der Region Dakar ausgeht, berechnet die CNLTP (2014: 8) deren Anzahl auf 30.160. Human Rights Watch (2010: 2) behauptet, dass in ganz Senegal »mindestens 50.000« Talibé in »sklavenähnlichen Bedingungen« leben, wobei der Begriff »Talibé« nicht näher definiert wird. Die Studie der Weltbank et al. (2007: 2) bezieht sich wiederum mit diesem Begriff explizit auf Kinder, die angaben, die Nacht vor der Befragung in einer Koranschule verbracht zu haben und eine religiöse Ausbildung zu erhalten.

4. Andere Zeiten?

und Reinterpretation der Problematik dar. Auf diese Weise wird das gegenwärtige Koranschulsystem nicht grundlegend in Frage gestellt, sondern die geringe Anzahl devianter Koranlehrer entweder in die pragmatische Logik eingebettet, dass es in jedem Berufszweig Personen gebe, die ihre Arbeit »nicht gut« verrichteten, oder aber einzelnen, meist herkunftsdefinierten Subgruppen von maîtres zugeordnet (z.B. Seck, Dakar, 11.10.2012; Kebe, Pikine, 23.10.2012). Auch durch solche nationalen und ethnischen Zuschreibungen kann die Problematik aus der senegalesischen Mehrheitsgesellschaft externalisiert werden. Im Gegensatz zu dem ebenso verbreiteten Narrativ einer prozessual pervertierten mendicité wird dann suggeriert, dass maîtres mit schandhaften Motiven »von außen« eine integre senegalesische Koranschulpraxis unterwandern. Wiederholt verwiesen gerade Vertreter staatlicher Institutionen auf die mehrheitlich ausländische Herkunft der bettelnden Talibé und ihrer maîtres und betonten, dass es sich daher nicht um ein »senegalesisches« Problem handele (z.B. Amar, Kolda, 14.05.2013; Dramé, Ziguinchor, 06.05.2013; Diouf, Dakar, 28.05.2013).17 Möglicherweise hat freilich meine eigene europäische Herkunft und mein als problemorientiert wahrgenommener Fokus zu dieser Herausstellung beigetragen. So betonte der damalige Präfekt des Départements Kolda, Bouya Amar, mir gegenüber, dass Senegal als »entwickeltes Land« einen großen Zustrom von Koranlehrern aus Guinea-Bissau provoziere, wo es »nichts außer dem Busch« gebe. Er stellte somit Senegal nicht als unterentwickelt aufgrund der großen Anzahl bettelnder Kinder dar, sondern als zu entwickelt im Vergleich zu seinen Nachbarländern (Amar, Kolda, 14.05.2013). Auch ethnische Zuschreibungen wurden mithin bemüht, nahmen aber einen geringeren Stellenwert ein. Dies führe ich darauf zurück, dass das interethnische Verhältnis in Senegal aufgrund imaginärer18 und realer Verwandtschaftsbeziehungen kaum von Konflikten geprägt ist, was ebenso wie das friedvolle Zusammenleben von Christen und Muslimen ein bedeutsames nationales Ethos darstellt. Von einigen Gesprächspartnern wurde die Ethnien der Peulh und in geringerem Maße die der Wolof unter den bettelnden Talibé überproportional vermutet, was sich mit diversen Studien deckt (z.B. Dione, Rufisque, 09.04.2012; Diaw, Dakar, 29.03.2012).19 Da jedoch alle ethnischen Gruppen als integrale Teile der senegalesischen Gesellschaft betrachtet wurden und die meisten Akteure 17

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Laut der Studie UCW (Weltbank et al. 2007: 38) haben 42 % der bettelnden Kinder (davon 90 % Talibé) der Region Dakar eine ausländische Herkunft, laut CNLTP (2014: 34) hingegen nur 3 % der in die Region Dakar migrierten Koranschulen. In Senegal ist die soziale Praktik der parenté à plaisanterie (Scherzverwandtschaft) verbreitet, indem sich verschiedene ethnische Gruppen Verwandtschaftsverhältnisse zuschreiben und scherzhaft in Alltagskommunikationen einbinden (s. hierzu z.B. Étienne Smith 2004) Die Studie der Weltbank et al. (2007: 39) ermittelt, dass etwa 69 % der bettelnden Talibé der Ethnie der Peulh angehören, gefolgt von knapp 25 % Wolof. Die bettelnden Kinder, die keine Talibé sind, sind demnach nur zu 36 % Peulh.

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in komplexen interethnischen sozialen Gefügen vernetzt waren, kamen solche ethnisch begründeten Externalisierungsmuster nur situativ in kleinräumigen und volatilen Kontexten zum Einsatz.

Zusammenfassung Die in diesem Kapitel nachgezeichneten diskursiven Register machen deutlich, dass die mendicité der Talibé in ihrer gegenwärtigen Praxis zwar nahezu gesamtgesellschaftlich als Problematik wahrgenommen wird, sich die Kritik an ihr trotzdem auf einem breiten Kontinuum bewegt. Sie kann deren totale Ablehnung bedeuten, sich aber auch nur auf bestimmte Formen oder indirekte Folgen beziehen. Da das Betteln der Talibé in Senegal mit identitätsstiftenden sozioreligiösen Konzepten und mit der Verletzung internationaler »Kinderrechte« assoziiert wird, ergeben sich für zivilgesellschaftliche oder staatliche senegalesische Akteure, die eng transnational vernetzt sind, bisweilen diskursive Unlösbarkeiten20 . Vor dem Hintergrund ihrer komplexen sozialen und politischen Verflechtungen kombinieren sie daher Teile eines Repertoires an Verantwortungszuschreibungen und Kausalitätsketten flexibel und bisweilen ambivalent. Viele dieser diskursiven Register implizieren auf unterschiedliche Weise eine gesellschaftliche Externalisierung der Problematik. So können »westliche« Einflüsse oder ein Zustrom ausländischer »falscher« marabouts für den Verfall der Koranschulen verantwortlich gemacht, eine Kritik an der mendicité aber auch durch moderne strukturelle Gegebenheiten wie den urbanen Straßenverkehr begründet werden. Vor allem das Narrativ eines scharfen Bruchs zwischen früheren »legitimen« und heutigen »pervertierten« Praktiken erweist sich als grundlegend, um transnationale Kinderrechtsargumente zu bestätigen, ohne die religiöse Institution der Koranausbildung pauschal zu diffamieren. Hinsichtlich adäquater Übersetzungen des Bettelns und anderer Praktiken in den modernen städtischen Kontext zeigten sich in meinem Feld unterschiedliche Auffassungen. Auch die Essenz religiöser und familiärer Konzepte wurde kontrovers interpretiert. Während manche religiös-konservative Akteure eine Kontinuität zwischen früheren und heutigen Formen des Bettelns betonten und das Betteln als notwendige Überlebenspraktik im modernen städtischen Raum erachteten, standen vor allem die spontane, monetäre Almosengabe und die Erziehungspraktik der confiage zunehmend in der Kritik transnationaler Kinderrechtsakteure. Sie lehnten diese zwar nicht in ihrer »originären« Form ab, forderten aber eine Anpassung an

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Ich orientiere mich hier an Peter Redfields (2012: 360-361) Verwendung des Begriffs »double binds«. Er beschreibt damit einen Zustand, in dem ein Individuum versucht, einem Regelwerk aus inkompatiblen Maßgaben gerecht zu werden.

4. Andere Zeiten?

die gegenwärtige gesellschaftliche Situation und gaben dabei die starke Einflussnahme eines transnationalen Kindheitskonzepts zu erkennen. Es sind somit die Pluralität der Praktiken und derer Interpretationen im Kontext der Koranschulen, die zu einem hoch komplexen Diskursfeld mit oft diffusen und ambivalenten Verantwortungszuschreibungen führen. Die flexibel eingesetzten diskursiven Register verschiedener Akteursgefüge, die ich in diesem Kapitel analysiert habe, zeigten, dass die bettelnden Talibé auf vielschichtige Weise als Problematik konstruiert werden können. Nachfolgend sollen nun gezielte Kommunikationsstrategien transnational vernetzter Kinderrechtsorganisationen gegen das Betteln der Talibé im Fokus stehen. Mithilfe bestimmter rhetorischer und dramaturgischer Muster bemühen sich diese Akteure, das soziale Phänomen der bettelnden Talibé gegenüber ländlichen Bevölkerungsteilen in ein religiös-moralisches und gegenüber dem Staat in ein strafrechtliches Problem zu »verwandeln«. Die gesellschaftlich unkontrolliert diffundierenden Einstellungen zum Betteln der Talibé sollen durch solche Kommunikationsstrategien kanalisiert und so weit wie möglich miteinander in Einklang gebracht werden. Dabei geht es auch um die Inszenierung und Aushandlung von kultureller Deutungshoheit und politischer Einflussmacht, für die flexible, volatile Allianzen und Gegnerschaften eingegangen werden.

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5. Von »sozialer Realität« zum »gesellschaftlichen Problem« Strategische Kommunikation gegen das Betteln  der Talibé

Im März 2013 brannte in Medina, einem Stadtviertel im Zentrum Dakars, eine überfüllte Holzbaracke nieder, die als Koranschule diente. Das Unglück kostete acht Talibé das Leben und wurde seither in vielen Plädoyers und Reporten zur Problematik der mendicité der Talibé (z.B. Human Rights Watch 2014: 1) als Beleg für die Dramatik und Dringlichkeit der Situation herangezogen. Das große kommunikative Potenzial der Brandkatastrophe hatte mehrere Gründe. In der Kritik an der mangelhaften Gesundheit und Sicherheit der Talibé kam eine biopolitisch fundierte Kinderrechtsperspektive zum Ausdruck (vgl. Foucault 1997: 242-244), aber auch die Furcht der Bevölkerung vor einer eigenen Gefährdung. Anders als bei Verweisen auf die zukünftige kriminelle Laufbahn der Talibé führte die Brandkatastrophe eine gesellschaftliche Gefahrenkulisse vor Augen, ohne die Kinder selbst mit zur Verantwortung zu ziehen. Dadurch konnte eine humanitäre mit einer sicherheitslogischen Agenda verknüpft werden. Die zu Tode gekommenen Talibé verkörperten durch ihr junges Alter und die Tatsache, dass sie im Schlaf von den Flammen überrascht wurden (z.B. Diallo, Senenews, 12.04.2013), ein größtmögliches Maß an »Unschuld« und Passivität und erfüllten damit die Kriterien idealtypischer »Opfer« (vgl. Malkki 2010: 64-67; Merry 2007: 195). Während die Talibé bettelnd viele als Belästigung, wenn nicht gar als Bedrohung empfinden, konnte das Feuer nicht mit einem Fehlverhalten ihrer selbst in Verbindung gebracht werden, zumal sich der Brandherd im Nachbarhaus befand. Der Fall eines wegen seiner Fluchtversuche von seinem maître zu Tode geprügelten Talibé hingegen, der nur wenige Monate zuvor bekannt geworden war, erregte kein breites öffentliches Interesse. Der bloße Tod (in Anlehnung an Agamben 1998: 1-13) einer großen Anzahl von Kindern übte eine schockierendere Wirkung aus als diese mutwillige Gewaltanwendung, zu welcher der Talibé durch seine Flucht selbst beigetragen hatte. Da potenziell jeder von einem Brand betroffen sein kann, bot das Unglück der Bevölkerung darüber hinaus mehr Anknüpfpunkte für eine Identifizierung mit den Opfern.

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Das unumstritten geteilte Entsetzen bildete jedoch nur auf den ersten Blick beziehungsweise nur partiell eine Basis für einen gesellschaftlichen Konsens bezüglich der bettelnden Talibé, da sich verschiedene Akteure den Brand diskursiv auf unterschiedliche Weise aneigneten. Der Umgang mit dem Brand unterschied sich vor allem dahingehend, ob und inwiefern er für politische Interessen instrumentalisiert wurde. Regierungsvertreter kündigten zunächst umgehend Sanktionen gegen jegliche daaras ohne bestimmte Mindeststandards an (z.B. Dakar Aktu, 05.03.2013), betrachteten das Geschehnis also als Pars pro Toto für die gesamte Problematik der informellen Koranschulen. Andere Akteure – auch manche der Eltern der verstorbenen Talibé – zeigten sich solidarisch mit den maîtres und bedauerten, aber akzeptierten das Unglück in einer fatalistischen Sichtweise als »Willen Gottes« und betteten es nicht in einen breiteren Zusammenhang ein (z.B. Senenews, 06.03.2013). Aus einer politisierten religiös-konservativen Perspektive wiederum war der Brand der heruntergekommenen Holzbaracke paradigmatisch für die systematische staatliche Benachteiligung der daaras gegenüber den öffentlichen säkularen Schulen (z.B. Mbaye, Leral.net, 08.03.2013). Im Departement Bounkiling im Süden Senegals wurde, offenbar als Reaktion auf den daara-kritischen medialen Tenor nach dem Vorfall, sogar eine staatliche école angezündet (z.B. PressAfrik, 12.03.2013). Andere hatten weniger Interesse daran, den Diskurs um die mendicité beziehungsweise um die Lebensbedingungen der Talibé zuzuspitzen, nahmen das Ereignis aber zum Anlass, um allgemeine infrastrukturelle gesellschaftliche Missstände wie Mängel in der Bausicherheit und im Gesundheitswesen anzuprangern. Für die meisten zivilgesellschaftlichen Kinderrechtsakteure brachte der Brand und die anschließenden zögerlichen Reaktionen seitens des Staates in verdichteter Form die humanitäre und politische Dimension der Problematik zum Ausdruck. Durch seine große Symbolkraft dient das Unglück bis heute als Bezugspunkt für öffentlichkeitswirksame Aktionen, beispielsweise zum Jahrestag des Geschehens (z.B. Ba, le Soleil, 04.03.2014; Senxibar, 03.03.2016). Dadurch verankerte es sich im nationalen kollektiven Gedächtnis und hatte bereits sogar konkrete, wenn auch bislang nur kleinräumige politische Maßnahmen gegen das Betteln der Talibé zur Folge. So entschied sich Bamba Fall, der Bürgermeister des Stadtteils Medina, im Jahr 2016, das Betteln der Talibé in seinem Wirkungskreis zu unterbinden (z.B. Walfadjiri, 06.05.2016). Der Brand eignete sich zwar durch die große öffentliche Bestürzung zynischerweise äußerst gut dafür, die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für die Problematik der Talibé, zumindest temporär, zu erhöhen, wurde jedoch divergierend interpretiert und politisch instrumentalisiert. Da es sich nicht um ein strategisch konstruiertes und kommunikativ kanalisiertes Ereignis handelte, erfolgte eine interessensspezifische Aneignung a posteriori durch die verschiedenen Akteure selbst. Im Gegensatz zu diesem diskursiv unkontrolliert diffundierenden Vorfall analysiere ich nachfolgend gezielte Kommunikationsstrategien von Kinderrechtsakteuren gegen

5. Von »sozialer Realität« zum »gesellschaftlichen Problem«

das Betteln der Talibé, die als performative Aushandlungen soziokultureller und politischer Machtverhältnisse betrachtet werden können. Mit James Scott (1990: 2, 27) gesprochen, kommen in den unterschiedlichen Kommunikationskontexten »hidden« und »public transcripts« zum Tragen, indem die Akteure jeweils an das Publikum angepasste Rhetoriken und Argumente, die nur Teile des Problemzusammenhangs wiedergeben, einsetzen und flexible, teils widersprüchliche Allianzen eingehen. Die von der Organisation PARRER erarbeitete stratégie de communication de proximité, also »nahe« Kommunikationsstrategie für die Landbevölkerung, bildet die Grundlage für meine Analyse, wie transnational beeinflusste urbane Kinderrechtsakteure versuchen, die mendicité der Talibé auf lokal anschlussfähige Weise in eine gesellschaftliche Problematik zu »verwandeln«. PARRER (Partenariat pour le Retrait et la Réinsertion des Enfants de la Rue) war ein im Jahr 2007 gegründeter Zusammenschluss öffentlicher und privater, individueller wie kollektiver Akteure aus Staat, Zivilgesellschaft, Entwicklungszusammenarbeit und Privatsektor. Die Organisation verstand sich als gemeinnützig, »unpolitisch« und überkonfessionell (vgl. PARRER 2012a: 2). Sie wurde unter der Regierung Wades mit sämtlichen staatlichen Projekten zugunsten »Straßenkindern« und der bettelnden Talibé beauftragt. Nach dem Regierungswechsel und einer ausgelaufenen Projektfinanzierung des japanischen Staates über die Weltbank im Jahr 2012 ging das Tätigkeitsfeld von PARRER in der staatlichen Stabsstelle für Kinderschutz CAPE (Cellule d’appui à la Protection d´Enfance) auf. Im Rahmen meiner Feldforschung konnte ich den Ausarbeitungsprozess der Kommunikationsstrategie gegen die mendicité durch die Teilnahme an den einschlägigen Workshops begleiten (Dakar, 18./19.04.2012; 18./19.09.2012; 26.09.2012). Diese Kommunikationsformen der vorwiegend zivilgesellschaftlichen, urban geprägten Akteure gegenüber einem ökonomisch und edukativ benachteiligten Bevölkerungsmilieu setze ich anschließend in Bezug zu ihrem Vorgehen gegenüber dem »Staat« und zur Herangehensweise der Jugendarbeiterbewegung MAEJT an die Problematik. Deren Mitglieder stehen durch ihre eigene prekäre gesellschaftliche Position in nur geringer sozialer Distanz zu den Talibé. Multidimensionale trans- und internationale Vernetzungen, teilweise überlappende und konkurrierende Interessen sowie kontextuell unterschiedlich wirkmächtige Ressourcen der einzelnen Akteursgruppen zeigen aber, dass eindeutige hierarchische Kategorisierungen der jeweiligen Beziehungsverhältnisse der empirischen Realität nicht gerecht werden.

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Zwischen »Modernisierung« und »Retraditionalisierung«: Neue familiäre Leitbilder für die Landbevölkerung Die an die Landbevölkerung gerichtete Kommunikationsstrategie war Teil eines umfassenden Präventionsprogramms gegen das Betteln der Talibé, das PARRER durch eine Finanzierung des japanischen Staates über die Weltbank realisieren konnte. Zu geringeren Anteilen beteiligten sich auch UNICEF, die Cooperazione Italiana, die NGO Intermondes und weitere Partner an der Umsetzung (vgl. PARRER & COGED 2012: 6). Im Zuge dieses Programms hatte PARRER bereits im Jahr 2010 eine Kampagne zur Bekanntmachung des Gesetzes gegen die »Ausbeutung des Bettelns Anderer« als dem »Menschenhandel gleichgestellte Praktik« (loi 2005-6) initiiert, die Plakatierungen an Hauptverkehrsachsen, Radiospots und Bildannoncen in den großen Tageszeitungen beinhaltete. PARRER wertete die Kampagne zwar insgesamt als Erfolg (PARRER (Workshop), Dakar, 18.04.2012; PPDH (Sitzung), Dakar, 10.10.2012), räumte aber auch ein, dass in Parcelles Assainies, einem Stadtbezirk mit einer besonders hohen Koranschuldichte, einige der Plakate mutwillig zerstört worden waren (vgl. PARRER 2012b). Während die Aufklärung über das gesetzliche Verbot des Bettelns vorwiegend an die urbane Bevölkerung gerichtet war, sollte eine kultursensible und an lokale Lebensrealitäten angepasste Kommunikationsstrategie eine »Verhaltensänderung« der Eltern von (potenziellen) Talibé im ländlichen Raum hervorrufen. Damit war ein methodologischer Wandel von einem top-down- zu einem bottomup-Ansatz verbunden, der sich aber als rein formal erwies, da die rhetorische Anpassung der Botschaften deren auf transnationalen Konzepten basierenden Inhalt lediglich überdeckte (vgl. Merry 2006a: 177-178). Ausgehend von der Prämisse, dass nur eine Verhaltens- und Einstellungsänderung der Eltern der Talibé eine dauerhafte Prävention gewährleisten kann, während Hinweise auf das Gesetz lediglich symptomatisch und repressiv wirken, setzte diese Strategie zudem an einem früheren Moment der »Biographie des Bettelns« (Wane, Dakar, 26.09.2012) der Talibé an. Anstatt mit externen Sanktionen zu drohen, sollte die Unvereinbarkeit einer confiage eines Kindes an einen Koranlehrer mit den Rollen als »gute« Eltern und muslimische Gläubige kommuniziert und dadurch eine Dissonanzerfahrung (vgl. Festinger 1957: 1-18) erzeugt werden (PARRER (Workshop), Dakar, 18./19.04.2012; vgl. PARRER & COGED 2012: 37). Durch die Verlagerung der Verantwortung für die Problematik in die (politisierte) private Sphäre der Landbevölkerung wurde die des Staates implizit abgeschwächt. Dies erwies sich als inkonsistent gegenüber den Kommunikationsstrategien der zum Teil selben Akteure, die gerade darauf abzielten, das Betteln der Talibé verstärkt als strafrechtliche Angelegenheit darzustellen (s. Kapitel 5.4). Innerhalb der Hauptzielgruppe der Eltern der Talibé richtete sich die Kommunikationsstrategie an die Väter in ihrer Rolle als Hauptentscheidungsträger und

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an die Mütter als die vermeintlich emotional engsten Bezugspersonen der Kinder. In der Annahme, dass verschiedene soziale Akteure Einfluss auf die Eltern nehmen, wurden als sekundäre Zielgruppe die maîtres coraniques der lokalen, nicht abgewanderten daaras, religiöse Autoritäten, die sich für einen Koranunterricht ohne mendicité einsetzen, Eltern von Talibé der lokalen daaras und die vor Ort tätigen zivilgesellschaftlichen Organisationen einbezogen. Lediglich als tertiäre – da »schwierigste« – Zielgruppe sollten die in die urbanen Zentren migrierten maîtres coraniques und religiöse Autoritäten, die diese verteidigten, angesprochen werden (vgl. PARRER & COGEP 2012: 47-49). In der Überzeugung, dass das Verhalten der Eltern auch von – vor allem ökonomischen – »Umweltfaktoren« abhänge, sah das Projekt zusätzlich einkommensgenerierende Maßnahmen für »kooperative« Familien und maîtres coraniques vor (vgl. PARRER & COGEP 2012: 35-36). Das Leitziel der Kampagne war, Eltern davon abzuhalten, ihre Kinder mobilen maîtres anzuvertrauen (PARRER & COGEP 2012: 4). Damit waren maîtres gemeint, die daaras in den weit entfernten städtischen Zentren unterhalten oder sogar überhaupt keinen festen Standort haben, sondern sich je nach Gelegenheit mit ihren Talibé an einem Ort für eine gewisse Zeit niederlassen. Unter Rückgriff auf eine Studie der Weltbank, UNICEF und ILO (2007: 2), die belegt, dass beinahe alle der in Dakar bettelnden Kinder aus anderen Regionen stammen, betrachtete die Kampagne die sozialräumliche Mobilität als Ausgangspunkt für das Betteln und andere Leidensformen der Talibé. Die zentrale Botschaft, die sich in allen Aktivitäten des Projekts widerspiegelte und mittels diverser Medien, zum Beispiel Radioprogramme, Banner und Flyer, propagiert werden sollte, lautete daher »Ein Koranunterricht ohne Betteln ist möglich, lasst uns gegen das Umherziehen unserer Kinder kämpfen«1 (PARRER & COGEP 2012: 49). Der Ansatz, die Eltern von einer confiage eines Kindes an einen Koranlehrer »abhalten« zu wollen, implizierte eine repressive und paternalistische Konnotation. Es wurde zudem versucht, eine komplexe gesellschaftliche Problematik durch eine individuelle Verhaltensänderung zu bekämpfen, ohne deren soziopolitischen und soziokulturellen Kontext und die Perspektive der Zielgruppe ausreichend einzubeziehen (vgl. Pfeiffer 2004: 79). Auch die angenommene direkte und eindimensionale Kausalität zwischen der confiage und dem Betteln erwies sich bei genauerer Betrachtung als reduktionistisch, da sowohl andere Faktoren für das Betteln als auch Faktoren, die zu der confiage erst geführt hatten, ausgeklammert wurden. Daher schienen zusätzlich ideologisch gefärbte Familien- und Kindheitskonzepte, aber auch dichotome Imaginationen des ländlichen und urbanen Raums auf die Kampagne einzuwirken. So warben die ausgearbeiteten Slogans einerseits für den Erhalt mancher als originär erachteten Praktiken der Koranschulen – allen voran für deren lokale Niederlassung und einen 1

»Un enseignement religieux sans mendicité c’est possible, luttons contre l´itinérance de nos enfants« (PARRER & COGEP 2012: 49).

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Verzicht auf eine monetäre mendicité –, andererseits aber für eine Orientierung an einem westlich beeinflussten Familienideal mit emanzipierten Geschlechter- und Generationenbeziehungen. Die Kampagne verortete den Platz von Kindern in der nuklearen Familie und betonte die Bedeutung von »Selbstbewusstsein« als Anpassung an eine »wettbewerbsorientierte Welt« (PARRER et al. 2011: 55). Damit wurde vor allem die individuelle Subjektivität der Kinder ungeachtet tradierter relationaler religiöser oder sozialer Rollenzuweisungen in den Fokus gerückt. Der Ansatz, die familiäre Entscheidungsgewalt der Mütter als die vermeintlich ihren Kindern emotional am nächsten stehenden Bezugspersonen zu stärken, kombinierte Elemente eines konservativen mit einem emanzipierten Geschlechterbild. Während der Ausarbeitung der Kampagne, aber auch in zahlreichen anderen Kommunikationszusammenhängen, wiesen mehrere Teilnehmer ferner darauf hin, wie sehr die bettelnden Talibé dem Ansehen Senegals schadeten. Damit brachten sie eine Scham der urbanen Elite über die vermeintliche Rückständigkeit des Landes zum Ausdruck (z.B. PARRER (Workshop), Dakar, 19.04.2012; vgl. Perry 2004: 75). Abstrahiert kann das Kommunikationsziel daher auch so interpretiert werden, dass die in den ländlichen Gebieten herrschende Prekarität und vermeintlich reaktionären kulturellen Verhaltensweisen der Landbevölkerung nicht durch deren Migration in den urbanen Zentren sichtbar werden sollten. Dementsprechend lenkten die Slogans der Kommunikationskampagne von der benachteiligten ökonomischen Situation im ländlichen Raum ab, indem sie den moralischen und emotionalen Zugewinn einer vereinten Familie bei einer Nicht-Migration umso stärker herausstellten. Zudem sollte die ökonomische Entlastung, die eine unentgeltliche confiage eines Kindes an einen Koranlehrer mit sich bringt, durch einkommensgenerierende Mikroprojekte in die Herkunftsregionen rückverlagert werden (PARRER & CEGID 2012: 19-21). Während die urbane Elite also einerseits mit einem geradezu sozialromantischen Blick auf die ländliche Familie schaut, die in einem Umfeld gemeinschaftlicher Solidarität der modernen Wertekrise trotzt, unterstellt sie ihr andererseits gerade aufgrund ihrer fehlenden formalen Bildung eine Inkompetenz als Eltern und Gläubige. Daher setzt sie sich für eine modernisierte Traditionalität der Landbevölkerung ein, die in ihrer angestammten Umgebung als Kernfamilien mit einem transnationalisierten Norm- und Wertekodex vereint bleiben soll. Die Ausarbeitung der Slogans erwies sich als Gratwanderung zwischen einer aufrüttelnden, radikalen und einer empathischen, »kulturell resonanten« (Snow 2004: 401), aber dafür wenig revolutionären Rhetorik (vgl. Ferree 2003: 305). Während der Leitfaden des Projekts zwar vorgab, sich mit der Zielgruppe zu verbünden und sensibel und positiv formulierte Botschaften zu kommunizieren (vgl. PARRER & COGEP 2012: 37), zeigte sich in den Diskussionen, dass keine Einigkeit darüber herrschte, ob den Eltern nicht auch »weh getan« werden sollte, um ihnen die »Augen zu öffnen« (PARRER (Workshop), Dakar, 18./19.04.2012). Diese diskursive Ambivalenz verdeutlichte die teils unschlüssige intermediäre Position der zivilgesell-

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schaftlichen Akteure zwischen transnationalen und lokalen Loyalitäten (vgl. Merry 2006b: 42). Sie verwies aber auch auf die komplexen und kontroversen Verantwortungszuschreibungen im Kontext der Koranschulproblematik, die selbst innerhalb einer Organisation von einzelnen Mitgliedern oft unterschiedlich interpretiert werden (z.B. Lo, Pikine, 25.05.2012; PARRER (Workshop), Dakar, 18.-19.2012; PPDH & UNODC (Workshop), Thiès, 05.07.2013). Entsprechend dem Kampagnenziel fokussierten sich die zentralen Slogans darauf, den »Schutz« der Kinder durch die häusliche Familie hervorzuheben: »Der beste/einzige Schutz für das Kind ist in der Familie«, »Wenn wir unsere elterliche Verantwortung nicht wahrnehmen, setzen wir unsere Kinder allen Risiken aus«, »Ein Kind kann den Koran in der Nähe seiner Eltern [Verwandten] lernen, ohne zu betteln«.2 Das euphemistische Verständnis von Familie, das alle Botschaften widerspiegelten, versprach eine Brücke zu schlagen zwischen transnational geprägten und konservativen Einstellungen. Die beteiligten Akteure betonten zwar stets, »Familie« in einem »afrikanischen«, erweiterten Sinn zu verstehen, gaben aber trotzdem implizit zu erkennen, dass sie einen Verbleib bei den biologischen Eltern priorisierten. Diese Ambiguität wurde durch den französischen Begriff »parents« zusätzlich gestützt, der »Eltern« und, weiter gefasst, »Verwandte« bedeuten kann. Da die zunächst auf Französisch ausgearbeiteten Slogans anschließend in die verschiedenen Nationalsprachen übersetzt werden mussten, bezogen sich die Übersetzungen der zivilgesellschaftlichen Akteure somit nicht nur auf soziokulturelle, sondern auch auf sprachliche Inhalte. Aber gerade weil die »afrikanische Familie«3 als elementare gesellschaftliche Ressource von Senegalesen oft hervorgehoben wird, um sich moralisch gegenüber einem vermeintlich dekadenten »Westen« abzugrenzen, werden blinde Flecke in Kauf genommen, um dieses identitätsstiftende und sozialintegrative Ethos nicht zu destabilisieren. So gehört zum Beispiel der maître coranique, dem die Kinder anvertraut werden, in vielen Fällen selbst zur erweiterten Familie (z.B. Kebe, Pikine, 23.10.2012; Diedhiou, Ziguinchor, 05.07.2013). Wenn also Botschaften wie »Der beste Schutz gegen das Betteln ist die Familie«4 suggerieren, ein Verwandtschaftsverhältnis garantiere die fürsorgliche Behandlung von Kindern, können sie das eigentliche Ziel, Kinder vor einer confiage zu bewahren, sogar konterkarieren. Auch UNICEF-Recherchen bestätigen, dass Gewalt und sexuelle Übergriffe weltweit in den meisten Fällen von Familienmitgliedern oder Menschen aus dem näheren Umfeld ausgehen (vgl. UNICEF 2014: 165-167). Ebenso legt mein eigenes Feldmaterial eine misstrauische Haltung 2

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»La meilleure/seule protection pour l’enfant, c’est la famille«, »En assumant pas nos responsabilités parentales, nous exposons nos enfants à tous les risques«, »L´enfant peut apprendre le coran à côté de ses parents sans mendier« (PARRER & COGEP 2012: 50). Zur Resilienz der »afrikanischen Familie« siehe z.B. Bradley & Weisner (1997: xix-xxxii) und Perry (2009: 34-35). »La meilleure protection contre la mendicité, c’est la famille« (PARRER & COGEP 2012: 50).

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gegenüber einer zu engen Koppelung der Konzepte »Familie« und »Schutz« nahe. Ein Junge – er war allen nur unter seinem Decknamen »Double-moteur« bekannt –, der aus einer von seinen Brüdern geführten daara geflohen war und fortan auf der »Straße« lebte, berichtete zum Beispiel, sogar immer härter als alle anderen bestraft worden zu sein, um nicht den Anschein zu erwecken, er würde gegenüber den übrigen Talibé bevorzugt (Gruppendiskussion, Dakar, 25.04.2013). Vor allem vor dem Hintergrund, dass familiäre Konflikte in Senegal meist außergerichtlich geregelt werden und dass als »Familie« ein weit gefasster, emotional nicht zwingend tatsächlich nahestehender Personenkreis bezeichnet wird, stellen familiäre Bande nicht immer einen Schutz vor Gewalt dar, sondern können Gewalterfahrungen sogar verstärken oder verschleiern. Die ideologisch geprägte familienfokussierte Perspektive führte zusammen mit dem Bestreben, eine klare und drastische Sprache zu verwenden, zu teils bedeutungsschweren Konnotationen der Slogans. Ein Entwurf, der noch während des Ausarbeitungsprozesses der Kommunikationsstrategie verworfen wurde, lautete zum Beispiel »Keine Situation kann die Trennung eines Kindes von seinen Eltern rechtfertigen«5 . Slogans wie »Indem wir uns von unseren Kindern trennen, setzen wir sie allen Risiken aus« oder »Lasst uns gegen die Mobilität unserer Kinder kämpfen«,6 die in die Kampagne aufgenommen wurden, transportierten – wenn auch vorsichtiger ausgedrückt – ebenso einen prioritären Stellenwert des familiären Beisammenseins gegenüber allen anderen die Lebensqualität beeinflussenden Faktoren. In dieser Prämisse zeigt sich eine negative Analogie zu Giorgio Agambens (1998: 1-13) Konzept der Politik des »bloßen Lebens«, die Individuen gerade ohne jegliche kulturelle oder soziale Einbettung auf ihre biologischen Grundbedürfnisse reduziert. Da es in Westafrika eine weit verbreitete Praktik darstellt, Kinder aus sozialen, edukativen und ökonomischen Motiven temporär oder permanent in den Haushalt von Verwandten oder anderen Bezugspersonen zu geben (s. Kapitel 4), standen die Slogans der Kampagne zu dieser Erziehungstradition in einem Spannungsverhältnis. Indem die confiage der Kinder zum Zweck der Koranausbildung ganz verhindert werden sollte und nicht etwa nur anders gestaltet, gab sich ein radikaler und pauschaler Ansatz zu erkennen, der lediglich die Risiken und nicht die potenziellen Chancen einer Mobilität von Kindern in den Blick nahm. Einschränkende, wenn auch vage Formulierungen wie »Lasst uns gegen eine vorzeitige confiage der Kinder kämpfen«7 (meine Hervorhebung), die ebenso diskutiert wurden, sollten zwar einer zu allgemeinen Stigmatisierung der soziokulturellen

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»Aucune situation ne peut justifier l´éloignement de l´enfant de ses parents« »En nous éloignant de notre enfant, nous l´exposons à tous les risques«, »Luttons contre la mobilité de nos enfants« (PARRER & COGEP 2012: 50). »Luttons contre une confiage précoce de l´enfant«

5. Von »sozialer Realität« zum »gesellschaftlichen Problem«

Praktik der confiage entgegenwirken, reflektierten aber eine Orientierung an transnational normierten Alters- und Entwicklungsstufen. Dem damaligen Vorstand von PARRER und Sprecher der PPDH, Mamadou Wane, zufolge ist es in manchen ethnischen Gemeinschaften Senegals üblich und sozial akzeptiert, ein Kind bereits im Alter von vier Jahren aus dem elterlichen Haushalt fortzugeben (Wane, Dakar, 19.04.2012). Die Unschlüssigkeit der Kinderrechtsakteure darüber, unter welchen Bedingungen eine confiage positiv zu bewerten sei, zeugte davon, dass diese Praktik zunehmend als unvereinbar mit einem modernen urbanen Lebensstil wahrgenommen und stattdessen mit einer ländlichen kulturellen Vergangenheit assoziiert wird. Botschaften wie »Fern von den Eltern, fern vom schützenden Blick«8 brachten zum Ausdruck, dass einerseits die confiage gegenwärtig durch einen vermeintlichen Verfall traditioneller Solidaritätsnetzwerke und die angebliche Ökonomisierung von Sozialbeziehungen als riskanter als früher gilt und andererseits zunehmend ein nukleares Familienmodell mit veränderten Rollenbildern an Bedeutung gewinnt. Bezeichnenderweise wurde die confiage sogar in einem staatlichen Dokument anlässlich des »Tages des afrikanischen Kindes« im Jahr 2013 in einer Auflistung der »schädlichen sozialen und kulturellen Praktiken« aufgeführt (vgl. République du Sénégal 2013a: 2).

Zwischen Nähe und Distanz: Die Eltern der Talibé im Ziel der Kampagne Die Voraussetzung für die angestrebte »Verhaltensänderung« der Eltern war, ihnen Unwissenheit darüber zu unterstellen, unter welchen Bedingungen ihre Kinder als Talibé in den Städten lebten (vgl. PARRER & COGED 2012: 25). Obwohl sich aus der Literatur (z.B. Einarsdóttir et al. 2010: 32-34; Einarsdóttir & Boiro 2016: 9-10) und aus meinem eigenen Feldmaterial ein geteiltes Bild ergibt, wurde den Eltern auf diese Weise vorab eine informierte edukativ oder religiös motivierte Entscheidung für die confiage und damit ihre agency abgesprochen. Eine solche reduktionistische Perspektive vereinfachte das methodologische Vorgehen, da eine Aufklärung der Eltern über die Situation in den urbanen Koranschulen zu genügen versprach, um eine »Verhaltensänderung« bei ihnen zu bewirken. Im Gegensatz dazu wurde in anderen Kommunikationskontexten gerade das Wissen der Eltern um die Zustände in den daaras und damit ihre »Komplizenschaft« mit den »ausbeuterischen« maîtres oder ihre emotionale Skrupellosigkeit hervorgehoben (z.B. Diagne, Pikine, 11.07.2012; Sow, Guédiawaye, 16.07.2012; Gaye, Dakar, 31.07.2013). (Nicht-)Wissen erweist sich somit als strategisch wichtige diskursive Ressource im Kontext der Kontroversen um die bettelnden Talibé. Dabei sind sowohl der Annahme einer uninformierten als auch der einer informierten elterlichen Entscheidung 8

»Loin des parents, loin de l´oeil protecteur« (PARRER & COGEP 2012: 50).

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für die confiage an einen Koranlehrer diskriminierende Aspekte inhärent. Mit der Prämisse der Ignoranz der Eltern geht die Vorstellung einher, diese müssten über die Bedeutung von Konzepten wie »Familie«, »Liebe« und »Schutz« ebenso aufgeklärt werden wie über die »richtige« Ausübung ihrer islamischen Religion. Wenngleich explizite Schuldzuweisungen und Diffamierungen im Rahmen der Kommunikationsstrategie bewusst vermieden wurden, produzierten paradoxerweise gerade die entschärften generalisierten Formulierungen wie »Sein Kind zu lieben bedeutet (…)«9 durch ihren basalen Charakter neue Stigmatisierungen. Auch die Nicht-Thematisierung der Gesetzestexte zeugte von einer Wahrnehmung der ländlichen Bevölkerung als »unmoderne« und intellektuell unterlegene Bürger. Den beteiligten zivilgesellschaftlichen Akteuren war die problematische entwicklungslogische Konnotation durchaus bewusst, die einem Appell zur »Verhaltensänderung« durch sie als Vertreter transnational vernetzter Organisationen anhaftete. So wurde mehrfach angemerkt, dass ihr Auftreten gegenüber der Landbevölkerung kein »kolonialistisches« sein dürfe, das die Botschaft vermittle »Ihr seid die Wilden und wir wissen alles besser« (Wane, Dakar, 19.04.2012). Der Verweis auf »kolonialistische« Gebärden zeigt, dass Kampagnen zur »Verhaltensänderung« in Senegal mit historisch belasteten Assoziationen belegt sind. Vor diesem Hintergrund war wiederum die explizite Annahme der »Unwissenheit« der Eltern instrumentell, um das Kampagnenziel offiziell als gemeinsames, soziokulturell und religiös gestütztes Interesse und nicht als einseitige »Umerziehung« darzustellen. Einen weiteren wesentlichen Aspekt der Kommunikationsstrategie stellte der Anspruch einer physischen und psychischen »Nähe« zur Zielgruppe dar. Die bewusst konstruierte »Nähe« brachte aber, wie auch allgemein der Einsatz einer adaptierten Kommunikationsstrategie, gerade die zwischen den Kinderrechtsakteuren und der Landbevölkerung herrschende Distanz zum Ausdruck. So wurden viele der Slogans aus der Zielgruppenperspektive formuliert, zum Beispiel »Ich will, dass mein Kind den Koran lernt und im Dorf bleibt, ich beteilige mich an seinem Unterhalt«10 . Dies erleichterte zwar die Identifikation der Eltern mit der Botschaft, entzog ihnen jedoch gleichzeitig ihre Sprecherschaft. Während die urbane Elite weder den tatsächlichen Willen noch die subjektiven Beweggründe der Eltern kennen konnte, diente ein universalisiertes Familien- und Erziehungskonzept dazu, die komplexen soziokulturellen, ökonomischen, historischen und biografischen Dimensionen der confiage an einen Koranlehrer außer Acht zu lassen. Stattdessen wurde Elternschaft als eine Art »Diagnose« eingesetzt, gekoppelt an eine quasiautomatische Agenda bestimmter Verhaltensformen und Emotionen. In ähnlicher Weise analysierten bereits Didier Fassin und Richard Rechtman das Konzept des 9 10

»(…) Aimer son enfant, c’est (…)« (PARRER & COGEP 2012 : 50). »Je veux que mon enfant étudie le coran et reste au village, je participe à sa prise en charge« (PARRER & COGEP 2012).

5. Von »sozialer Realität« zum »gesellschaftlichen Problem«

»Traumas« als unangreifbare zeitgenössische moralische Kategorie, unter der die unterschiedlichsten Ereignisse und Umstände subsummiert werden. Als »traumatisiert« qualifizierte Personen können sich dann nur auf dieses Identitätsmerkmal berufen, um sich Legitimität und politisches Gehör zu verschaffen, auch wenn sie sich selbst mit anderen Rollen stärker identifizieren (vgl. Fassin & Rechtman 2009: 277-280). Die Kommunikationsstrategie sah zusätzlich Hausbesuche bei Eltern vor, die ihre Kinder in eine urbane Koranschule gegeben hatten (vgl. PARRER & COGED 2012: 60). Die vorgeblich privaten Interaktionssituationen versprachen eine besonders starke Verbindlichkeit und eine positive Resonanz durch die Familien, da Besuche in Senegal ebenso alltäglich sind wie als Ausdruck von Respekt und Wertschätzung gelten. Die Aneignung solcher basalen sozialen Praktiken sollte dazu führen, die Identifikation der Eltern mit den Kommunikationsinhalten und deren soziale Anschlussfähigkeit zu erhöhen. Obwohl in Senegal das eigene Haus nicht mit demselben Konzept von Privatheit verbunden ist wie im mittel- und nordeuropäischen Verständnis, griffen die Kinderrechtsakteure auf diese Weise nicht nur durch sprachliche Botschaften, sondern auch ganz praktisch in die Lebenswelten der ländlichen Haushalte ein und handelten so die Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Raum neu aus. Dabei lagerten sie einerseits manche Erziehungspraktiken aus der privaten Sphäre aus, stärkten jedoch andererseits das Konzept einer privaten, sozial geschlossenen (Nuklear-)Familie. Die Übernahme der Sprecherschaft der Eltern und der Deutungshoheit über identitäre Konzepte durch die zivilgesellschaftlichen Akteure bestätigten somit, dass sich Wissen und Macht wechselseitig konstituieren (vgl. Foucault, z.B. 1994 [1975]: 39). Aber auch wenn manche Akteure die gesellschaftliche Relevanz bestimmter Wissensformen wie formale Bildung und die Kenntnis um Gesetzestexte stärker prägen, mehr Zugang zu diesen haben und sie strategisch einsetzen können, beweist der bislang geringe Einfluss solcher Kommunikationsstrategien auf die Koranschulpraxis, dass vermeintlich subalterne Bevölkerungsteile machtvolle Diskurse zu unterminieren in der Lage sind (vgl. Scott 1990: 27). Da die Kommunikationsstrategie zentral durch das Bemühen gekennzeichnet war, auf explizite Stigmatisierungen oder Schuldzuweisungen zu verzichten (vgl. PARRER & COGEP 2012: 49), wurden insbesondere religiöse Konzepte wie »Talibé«, »daara« oder »maître coranique« paraphrasiert, um negative Konnotationen zu vermeiden und die Botschaften zu neutralisieren. Die generalisierten Formulierungen zeigten wiederum die Tendenz, kulturell akzeptierte Praktiken pauschal zu diffamieren beziehungsweise Problematiken undifferenziert darzustellen. Beispielhaft hierfür war der Begriff der »mendicité infantile« (»das Betteln der Kinder«) anstatt der – eigentlich fokussierten – »mendicité des Talibé« oder die Ablehnung jeglicher Formen sozialräumlicher Mobilität von Kindern und damit der tradierten Erziehungspraktik der confiage. Das Vorgehen wies Parallelen zu dem

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von Donna Perry (2004: 53-54) kritisierten »strategischen Strukturalismus« auf. Damit beschreibt sie die gängige Strategie transnationaler Menschenrechtsorganisationen, komplexe Problematiken auf ihre strukturellen Aspekte zu reduzieren, um Vorwürfen kulturimperialistischer Ansinnen zu entgehen. Perry sieht dabei vor allem die Gefahr, dass eine Auseinandersetzung mit den einem sozialen Phänomen tatsächlich zu Grunde liegenden Ursachen vermieden wird. Bei der Kommunikationskampagne kam hinzu, dass die Slogans möglichst eingänglich, kurz und leicht verständlich sein sollten, was eine Vereinfachung komplexer Inhalte unumgänglich machte. Obwohl in der Kampagne strukturelle Aspekte weitgehend außer Acht gelassen wurden, um stattdessen den Stellenwert des individuellen Verhaltens hervorzuheben, betonten mehrere Kinderrechtsakteure während des Ausarbeitungsprozesses der Kommunikationsstrategie, dass ihr Engagement weniger ein »Kampf gegen die mendicté« als ein »Kampf gegen die Armut« sei (PARRER (Workshops), Dakar, 18./19.04.2012, 18./19.09.2012). Zwar wird ein Aufruf zur »Armutsbekämpfung« den vielschichtigen Hintergründen des Bettelns der Talibé ebenso wenig gerecht wie eine leichtfertige Einforderung von »Verhaltensänderungen«, findet jedoch selbst über ansonsten konfligierende Positionen hinweg Zustimmung. Auch die Annahme, eine gesellschaftliche »Wertekrise« sei ursächlich für eine zunehmende »ökonomische Ausbeutung« von Kindern durch die mendicité (vgl. PARRER & COGEP 2012: 7), kann als »strategisch strukturalistisch« interpretiert werden, da die »Wertekrise« als moralische Begleiterscheinung umfassender Modernisierungsprozesse gilt. Dabei wird wohl eine Kritik an bestimmten Verhaltensweisen geübt, diese aber ohne konkrete Verantwortungszuschreibungen einer gesellschaftlichen Entwicklung untergeordnet. Strategisch strukturalistische Erklärungsmuster erweisen sich also als geeignet, um weder die Gültigkeit transnationaler noch »originär« lokaler Kindheits- und Erziehungskonzepte in Frage zu stellen. Perry (2004: 54) kritisiert allerdings an einem strategischen Strukturalismus, dass die kulturellen Aspekte, die absichtlich nicht explizit thematisiert werden, de facto gerade im Visier stehen. So machte der interne Abschlussbericht des Projekts (PARRER & COGEP 2012: 34) »Patriarchat, Polygamie, die religiösen Bruderschaften und die Unbildung der Eltern (…)« im südsenegalesischen Kolda, einem der wichtigsten Herkunftsgebiete der Talibé, für Schwierigkeiten im Verlauf der Kampagne verantwortlich. Hinter dieser Aussage verbarg sich die Prämisse, dass der seinen Kindern emotional weniger zugeneigte Vater aufgrund patriarchaler Strukturen über mehr Entscheidungsgewalt verfügt und eher geneigt ist, sie in eine daara fortzugeben. Zudem wurde angenommen, dass der durch die Polygamie bedingte Kinderreichtum zu ökonomischer Prekarität führt und die Bereitschaft erhöht, ein oder mehrere Kinder einem Koranlehrer anzuvertrauen. Die mehrheitliche Zugehörigkeit zu einer Sufi-Bruderschaft sollte belegen, dass die von den marabouts gegründeten und in der Kolonialzeit behaupteten daaras uneingeschränkt von der gesamten ländlichen Bevölkerung verteidigt werden (vgl. Perry 2004: 64-

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65). Der Subtext der internen Kontextualisierung erwies sich damit als essentiell kulturalistisch, indem sogar ein typisch strukturelles Erklärungsmuster wie Armut auf die Praktik der Polygamie zurückgeführt und der vordergründig demografische Faktor eines großen Kinderreichtums implizit als »dysfunktionale afrikanische Praktik« (Perry 2004: 73) diffamiert wurde. Zudem setzte diese Begründung indirekt voraus, dass die Eltern nicht nur während der confiage nicht zum Unterhalt ihrer Kinder beitragen, sondern die confiage der Kinder in eine Koranschule als Strategie zur Entlastung der Familienökonomie anwenden. Die den Eltern zugeschriebene »Unbildung« kann zwar in Bezug auf eine fehlende formale schulische Infrastruktur als strukturell bedingt gelten, transportiert jedoch klar eine Herabsetzung von sozial tradiertem oder religiösem Wissen gegenüber transnationalen Denklogiken und »vermarktbaren Fähigkeiten« (Loimeier 2002: 135 nach Launay 1992).

Die strategische Islamisierung der Botschaft Manche zivilgesellschaftliche Kinderrechtsakteure machten die fehlende Geburtenkontrolle in den ländlichen Gegenden mitverantwortlich für die confiage der Kinder in die daaras und umgingen auf diese Weise eine Kritik an der Praktik der Polygamie, die sich religiös legitimieren lässt und auch im urbanen Milieu verbreitet ist (z.B. Ndiayedaara, Dakar, 18.04.2012; Diaxate, Dakar, 30.05.2013; Wane, Dakar, 19.09.2012). Während strukturelle Ursachen meist in der Verantwortung staatlicher oder makroökonomischer Akteure liegen, fordert der Appell zur Geburtenkontrolle einen Prozess der biosozialen Automodernisierung und der »SelbstResponsibilisierung« (Rose 2000: 329) von der Landbevölkerung ein und geht mit einer weiteren Verschiebung der Grenzen zwischen privater und politischer sowie zwischen der vom Menschen und der von Gott kontrollierbaren Sphäre einher. Die transnationalen Kinderrechtsakteure versuchten die agency der Eltern durch die Möglichkeit der Familienplanung zwar zu vergrößern, beschnitten sie durch ihre eigene Einflussnahme allerdings gleichzeitig. Dieser Ansatz reflektierte einerseits eine gewisse diskursive »Ratlosigkeit« vor dem Hintergrund, dass bislang weder juristische oder politische Maßnahmen auf nationaler Ebene noch kulturell angepasste Aufklärungskampagnen auf lokaler Ebene der Problematik der mendicité zufriedenstellend entgegenwirken konnten, war aber andererseits Ausdruck weitreichenderer (biopolitischer) gesellschaftlicher Modernisierungsbestreben. In der Kommunikationskampagne ließ sich damit ein Kontinuum zwischen explizit ausgesprochenen und explizit verschwiegenen Aspekten erkennen, mittels derer die angestrebten sozialen Veränderungen mit ihrer soziokulturellen Anschlussfähigkeit ausgehandelt wurden. Da die Forderung nach einer Geburtenkontrolle eine radikale, teils sogar als nicht islamisch legitimiert wahrgenommene und

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nicht eindeutig mit der mendicité in Zusammenhang stehende Maßnahme darstellt, wurde sie in der Kampagne nicht offen kommuniziert, auch wenn manche Kinderrechtsakteure in ihr den Schlüssel zur Lösung der Problematik sahen (z.B. Ndiayedaara, Dakar, 19.04.2012). Es zeigte sich so das Spannungsfeld, dass einerseits die tatsächlich der mendicité zugrunde liegenden Ursachen bekämpft werden sollten, andererseits deren kausale Verbindung unstrittig und allgemein verständlich sein musste. Zudem wollte die Kampagne zwar einen langfristigen Wandel herbeiführen, war jedoch der Erwartung ausgesetzt, nach ihrem Abschluss Ergebnisse aufzuweisen, die einen möglichst unmittelbaren Rückgang der bettelnden Talibé in Aussicht stellten. Der Aspekt der Geburtenkontrolle im Kontext der Koranschulproblematik ist darüber hinaus insofern analytisch interessant, als dass er dem transnationalen Entwicklungsdiskurs entstammt und durch eine entsprechende Koranauslegung mit dem Islam vereinbar gemacht wurde, während das Betteln der Talibé aus seiner islamischen Kontextualisierung gerade gelöst werden sollte. Slogans wie »Ein Kind bettelt nicht« oder »Sein Kind zu lieben, bedeutet, es vor dem Betteln zu schützen«11 , die den Eltern eine negative Haltung gegenüber der mendicité der Talibé vermitteln sollten, wurden noch während des Ausarbeitungsprozesses von einigen Teilnehmern kritisch in Frage gestellt, da es in Senegal immer schon üblich gewesen sei, in Notfällen in der Nachbarschaft zu »betteln« (z.B. Thioye, Dakar, 19.04.2012). Das Ziel einer vollständigen Abschaffung der mendicité erwies sich als umstritten und manche Kinderrechtsakteure schlugen aus einer pragmatischen Perspektive vor, eher deren Reduzierung und Reglementierung ins Auge zu fassen (PARRER (Workshop), Dakar, 19.04.2012; PPDH & UNODC (Workshop), Thiès, 05.07.2013). Umso zweifelhafter schien daher, ob sich eine radikale Diffamierung und Dramatisierung der Praktik der mendicité sinnhaft in die Denkund Handlungsmuster der ländlichen Bevölkerung einordnen lassen. Die Ergebnisse des Pretests der Kampagne untermauerten diese Bedenken, da von der lokalen Bevölkerung Umformulierungen angeregt wurden, die zwar eine »Ausbeutung«, nicht aber das Betteln per se stigmatisierten (PARRER (Workshop), Dakar, 26.09.2012).12 Lediglich der im Rahmen der Pretests geäußerte Vorschlag »In einer daara zu sein darf aus uns keinen Bettler machen«13 thematisierte die mendicité explizit, bezog sich jedoch bezeichnenderweise auf den »Bettler« als eine Figur, die einzig über die Tätigkeit des Bettelns definiert ist. Daraus lässt sich folgern, dass

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»Un enfant ne mendie pas« (PARRER & COGEP 2012), »Aimer son enfant, c’est de le protéger contre la mendicité« (PARRER & COGEP 2012 : 50). »L’Islam interdit l´exploitation et la maltraitance des enfants« (»Der Islam verbietet die Ausbeutung und die Misshandlung von Kindern«), »Cessez de confier vos enfants aux Sëriñes daaras qui les exploitent« (»Gebt eure Kinder nicht mehr zu Koranlehrern, die sie ausbeuten«) (PARRER & COGEP 2012). »Etre dans un daara ne doit pas faire de nous un mendiant« (PARRER & COGEP 2012).

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zeitlich limitierte oder religiös und edukativ motivierte Formen der mendicité von weiten Teilen der Landbevölkerung nicht pauschal abgelehnt werden. Der soziokulturell verankerten Akzeptanz des Bettelns der Talibé sollte ein eigens entwickelter »Islamischer Leitfaden für den Kinderschutz« (PARRER et al. 2011) mit religiös begründeten Argumenten entgegenwirken, dem ein zentraler Platz in der Kommunikationsstrategie eingeräumt wurde. Die Kernaussage dieses Leitfadens war, dass die rein substanzielle und zeitlich streng reglementierte Bitte um Almosen (»quête des aumônes«) der Talibé im heutigen Kontext fälschlicherweise in eine Form des Bettelns übersetzt worden war, die der Koran weder fordere noch erlaube (PARRER et al. 2011: 44-47). Stattdessen belegten Zitate bestimmter Koransuren, dass der Islam dem Betteln grundsätzlich negativ gegenüberstehe und es nur spezifischen sozialen Gruppen unter genau festgelegten Umständen, jedoch keinesfalls Kindern, gestatte (PARRER et al. 2011: 49-55). Zudem wurden anhand von Koransuren islamische Normen zu verwandten Themen wie »Elternschaft« oder »Kindeserziehung« formuliert, die in Einklang mit einem transnationalen Kinderrechtsverständnis standen. Der Rückgriff auf den Koran als höchste Quelle moralischer Autorität verhalf den zivilgesellschaftlichen Akteuren dazu, in ihrer eigenen Expertenrolle glaubwürdig zu erscheinen und die Mobilisierung gegen die mendicité in einen religiösen anstatt in einen politischen oder juristischen Kontext einzuordnen. Interessanterweise begannen dieselben Akteure auch selbst ihre Workshops und Seminare häufig mit einem muslimischen Gebet, was auf multidimensionale Formen der religiös-kulturellen Aneignung des transnationalen Kinderrechtsdiskurses verweist (z.B. PARRER (Workshop), 19.04.2012; PPDH & UNODC (Workshop), Thiès, 05.07.2013). Strategische Desäkularisierungs- und Desakralisierungsprozesse stellen somit eine wichtige kommunikative Ressource für die Deutung des Phänomens dar. In der Kommunikationskampagne wurde die Thematik der Kinderrechte einerseits strategisch desäkularisiert und als essenzieller theologischer Bestandteil des Islam anstatt einer transnationalen Menschenrechtsbewegung dargestellt. Andererseits zeigte sich die gegenläufige Tendenz, Praktiken wie das Almosengesuch oder die Koranlehrer zu desakralisieren und eine an westlichen pädagogischen und familiären Idealen orientierte Auslegung des Islam zu verfolgen. Die gleichzeitige Stärkung und Schwächung der religiösen Sphäre lässt sich verstärkt seit den 1990er Jahren sowohl auf der makropolitischen Ebene Senegals hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Staat, Bruderschaften und reformistischen Gruppen als auch in der senegalesischen Gesellschaft allgemein beobachten (vgl. Loimeier 2013: 248; s. Kapitel 2). Die Entwicklung ist in einen Prozess der Pluralisierung islamischer Deutungen eingebettet, der sich mit der Zunahme beziehungsweise Ausdifferenzierung islamischer Reformbewegungen und Sufi-Orden seit den späten 1980er Jahren verstärkt hat. Die Kinderrechtsaktivisten meines Feldes griffen teilweise das Gedankengut reformistischer Bewegungen und deren Diskurs um einem »au-

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thentischen Islam« auf (vgl. Leichtman 2013: 111), wendeten sich aber nicht wie die Mehrheit dieser gegen eine »Verwestlichung« der senegalesischen Gesellschaft (vgl. Loimeier 2013: 242), sondern inkorporierten westliche Kindheitskonzepte in ihre Auslegung islamischer Vorschriften. Dabei bildeten die unangefochtenen identitären Merkmale der Elternliebe und des geteilten Glaubens den »kleinsten gemeinsamen Nenner« für eine einvernehmliche Problematisierung der mendicité der Talibé. Die Kampagne setzte somit auf ein universelles Menschenbild in einem kulturell resonanten Gewand. Sie stellte weniger die individuelle Subjektivität der Kinder in den Vordergrund als – wenngleich reinterpretiert – die Beziehung zwischen Eltern und Kindern beziehungsweise Gläubigen und Gott.

Weder »Freund« noch »Feind«: Die transnationale Zivilgesellschaft und der Staat Die zivilgesellschaftlichen Kinderrechtsakteure wollten nicht nur die Eltern der Talibé für die mendicité zur Verantwortung ziehen, sondern auch den »Staat«, dem sie vorwarfen, weder seiner Fürsorgepflicht gegenüber diesen Kindern nachzukommen noch seine bestehenden Gesetze anzuwenden (PPDH (Sitzung), Dakar, 10.10.2012; PPDH & UNODC (Workshop), Thiès, 05./06.07.2013). Während die Kinderrechtsakteure das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern aber als ein »natürliches« betrachteten und daher eine psychologisierte und emotionale Rhetorik einsetzten, ist das zwischen Staat und Talibé lediglich ein »vorgestelltes« (vgl. Anderson 1983: 4-7) und konstituiert sich durch bestimmte Gesetze und Konventionen. Indem sie den Staat zur Einhaltung seiner rechtsstaatlichen Prinzipien aufriefen, orientierten sich die zivilgesellschaftlichen Akteure auch in ihrer Kommunikation mit dem »Staat« an dessen identitären Merkmalen. Da der Staat über seine Institutionen zwar erfahrbar für die Bevölkerung wird, einzelnen staatlichen Vertretern jedoch nur eine Teilverantwortung zugeschrieben werden kann, ließ sich je nach Direktheit der Kommunikation und Personalisierung der Adressaten eine Kombination verschiedener Rhetoriken erkennen. In einer schriftlichen Audienzanfrage des Dachverbandes PPDH an die damalige senegalesische Premierministerin Aminata Touré im Februar 2014 demonstrierten die Kinderrechtsakteure durch Verweise auf Studien und Gesetze ihre eigene Expertise sowie die Rechtmäßigkeit ihrer Forderung, erzeugten aber gleichzeitig durch eine emotionalisierte und moralische Sprache eine verschärfte Dramatik. Auf diese Weise konnten mehrere identitäre Rollen der Adressatin angesprochen werden. So wandte sich die Formulierung » (…) Es ist heute wichtiger als je zuvor, diesen unschuldigen Wesen, denen

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die Kindheit gestohlen wurde, zu Hilfe zu kommen (…)«14 mehr an die Premierministerin als Mutter denn als Politikerin, während der Hinweis »diese Situation entehrt unser Land«15 an ihr patriotisches Bewusstsein appellierte (unveröffentlichte Briefvorlage). Wegen Nicht-Einhaltung der Kinderrechtskonvention (UN 1989) und des Gesetzes gegen »Menschenhandel und gleichgestellte Praktiken« (loi 2005-6) erhob die PPDH eine symbolische Anklage gegen den senegalesischen Staat. Diese wurde in Form einer Pressekonferenz anlässlich des »Internationalen Tags der Kinderrechte« am 20. November 2012 im Regionalbüro von Amnesty International inszeniert und stellte eine analytisch besonders interessante Aktion dar. Die Anklageschrift führte im Wesentlichen den Kontrast der Gesetzeslage zur gegenwärtigen De-facto-Realität vor, um anschließend die daraus resultierenden »Anklagepunkte« zu schlussfolgern. In der Pressekonferenz verwendeten die zivilgesellschaftlichen Repräsentanten eine äußerst aggressive Rhetorik mit dichotomen TäterOpfer-Konstruktionen und bezeichneten zum Beispiel die maîtres als »moderne Sklavenhalter« und »Folterknechte« und die Eltern der Talibé als deren »Komplizen«, die ihrer Verantwortung entfliehen. Im Gegensatz dazu stand die mehrfach wiederholte »extreme Vulnerabilität« der Kinder. Die »Anklage«, die zwar die bettelnden Talibé zentral in den Fokus rückte, aber prinzipiell jede Art staatlicher Vernachlässigung gegenüber Kindern anprangern wollte, thematisierte zudem die verwandte Problematik der »Straßenkinder«. Diese wurden als Opfer von »schweren Misshandlungen« und »Pädophilie« dargestellt (PPDH 2012[o. S.]). Da »Straßenkinder« in der öffentlichen Wahrnehmung ansonsten eher selbst als »Täter« denn als »Opfer« gelten (s. Kapitel 7), dienten solche Szenarien pädophiler Übergriffe, die stets höchstes gesellschaftliches Entsetzen hervorrufen, dazu, auch den »Straßenkindern« eine unstrittige Opferrolle zuzuschreiben. Die eindeutigen Kriminalisierungen und Viktimisierungen schmälerten wiederum den diskursiven Spielraum des Staates, die Nicht-Effektivität der entsprechenden Gesetze zu rechtfertigen. Die zivilgesellschaftlichen Akteure hoben durch diese Anklage die Immunität der senegalesischen Regierung stellvertretend für die De-facto-Immunität auf, die der Staat bislang den maîtres als religiöse Autoritätspersonen mit zum Teil einflussreichen Netzwerken gewährt. Durch die äußerst aggressive Rhetorik der Anklage wollte die PPDH den Staat angreifen, ihm aber in ihrer Radikalität und Entschlossenheit gleichzeitig ein Modell sein. Da die Kinderrechtsakteure der Annahme waren, derzeit manche »Pflichten« des Staates, wie den Schutz von Kindern, an dessen Stelle zu erfüllen, war es eine konsequente Folge, dass sie sich auch die 14 15

»(…) Aujourd’hui plus que jamais il importe de venir au secours de ces êtres innocents à l’enfance volée (…)« (unveröffentlichte Briefvorlage). »Cette situation qui déshonore notre pays (…)« (unveröffentlichte Briefvorlage).

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»Anklage« als normalerweise exklusiv staatliches Machtinstrument symbolisch aneigneten. Dadurch wird deutlich, dass nationale Gesetze, zum Beispiel das Gesetz gegen Menschenhandel, die aufgrund internationaler Verpflichtungen ratifiziert wurden, den Staat einerseits vorläufig durch die formal erfüllten Auflagen unangreifbar machen, andererseits jedoch vulnerabler für Ansprüche aus der eigenen Bevölkerung auf eine Effektivität dieser Gesetze. Die zivilgesellschaftliche »Anklage« zeigte, dass internationale Konventionen nicht einer unilinearen vertikalen Rechtshierarchie folgend in die nationale Gesetzgebung eingebettet und durch die staatliche Exekutive umgesetzt werden. Staaten müssen teils konkurrierende Referenzen für Recht und Gerechtigkeit mit kontextabhängig unterschiedlich machtvollen Autoritäten aushandeln. Bei der Bekämpfung des Menschenhandels ist Senegal sowohl international legitimierten Kontrollmechanismen wie dem UN-Menschenrechtsausschuss als auch »parallelen unilateralen Regimen« (Gallagher 2010: 485) wie dem politisch einflussreichen jährlichen Trafficking in Persons Report der US-Regierung ausgesetzt, dem Druck transnational vernetzter zivilgesellschaftlicher Akteure und nicht zuletzt dem religiöser Lobbygruppen, die eine Anwendung des Gesetzes verhindern wollen (s. Kapitel 8). Durch ihre beiderseits (De-facto-)Symbolhaftigkeit reflektierten die Anklage und das Gesetz gegen »Menschenhandel und gleichgestellte Praktiken« die limitierte Handlungsmacht staatlicher wie zivilgesellschaftlicher Akteure, aber auch, dass beide Seiten juristische Apparate strategisch unterminieren können. Die gegenwärtige Nicht-Anwendung des Gesetzes gegen Menschenhandel ist Ausdruck einer stark eingeschränkten Vormachtstellung des Staates, der sich den inoffiziellen sozioreligiösen Gesetzen und Normen seiner Wählerschaft beugen muss, aber gleichzeitig auch seiner agency, indem er die Gesetzgebung ohne schwerwiegende Konsequenzen zum Zweck seines eigenen Machterhalts missachten kann. Ihrerseits kündigten die Kinderrechtsakteure für den Fall einer anhaltenden Passivität der Regierung an, sich nicht länger mit einer symbolischen Anklage zu begnügen, sondern vor dem regionalen Gerichtshof der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (CEDEAO) gegen den Staat Senegal eine juristisch wirksame Anklage zu erheben (vgl. Fall, Le Quotidien, 12.11.2012). Diese Androhung verdeutlichte die erweiterten Möglichkeiten zur demokratischen Partizipation, über die zivilgesellschaftliche Akteure durch inter- und supranationale Rechtsordnungen verfügen, indem sie für ein juristisches Vorgehen nicht länger allein von nationalen Institutionen abhängig sind (vgl. Randeria 2006: 232; dies. 2007: 27). So wandte sich die PPDH im Rahmen der »Woche des afrikanischen Kindes« 2013 mit einem Plädoyer an den US-Präsidenten Barack Obama anlässlich dessen Staatsbesuchs in Senegal, um ihn auf die Situation der Talibé und die politischen Versäumnisse der senegalesischen Regierung hinzuweisen (PPDH 2013, unveröffentlichte Briefvorlage). Die Aktion war deshalb besonders brisant, da zu dieser Zeit das staatliche Engagement gegen Menschenhandel Teil der Kriterien für die

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Auszahlung immenser Summen an Entwicklungsgeldern im Rahmen des Millennium Challenge Account der USA war. Dieselben Akteure der PPDH, welche die staatliche Führung öffentlich denunzierten, kooperierten aber auch eng mit staatlichen Institutionen, zum Beispiel mit dem zivilgesellschaftlich-staatlichen Zusammenschluss PARRER und insbesondere mit der Nationalen Koordinierungsstelle gegen Menschenhandel (CNLTP), die ihre Aktivitäten explizit darauf ausrichtete, die Auflagen des Millennium Challenge Account zu erfüllen. Solche volatilen und performativen Allianzen und Gegnerschaften veranschaulichten, dass zivilgesellschaftliche Akteure weder »permanente Feinde« noch »permanente Freunde« haben, sondern nur »permanente Interessen« (Randeria 2007: 28). Paradoxerweise schwächen sie implizit die Souveränität des Staates mit denselben Maßnahmen, mit denen sie seine Verantwortlichkeit und Haftbarkeit gegenüber der Bevölkerung zu erweitern versuchen (vgl. Randeria 2007: 27-28; dies. 2006: 254). Die Anklage des Staates, die gesellschaftlichen Desintegrationsprozessen durch die systematische soziale Benachteiligung der Talibé gerade entgegenwirken sollte, verfügte selbst über desintegratives Potential, indem sie öffentlichkeitswirksam eine Desidentifikation mit dem Staat provozierte. Eine solche Desidentifikation kann wiederum die soziale Akzeptanz staatlicher Machtinstrumente, zum Beispiel von Gesetzen, verringern und so das eigentliche Kommunikationsziel einer Anwendung ebendieser Gesetze sogar konterkarieren. Es erweist sich daher als Spannungsfeld, dass zivilgesellschaftliche Akteure im Zuge eines postkolonialen Emanzipationsprozesses zwar einen starken, selbstbewussten Nationalstaat fordern, aber gleichzeitig auch dessen enge Orientierung an internationale, westlich geprägte Konventionen. Um das Spannungsfeld zu entschärfen, kombinierten die Kinderrechtsakteure transnationale mit lokalen Deutungsmustern. Sie erwarteten von einem »modernen« Staat, seine Gesetze einzuhalten und verwiesen gleichzeitig darauf, dass die Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern fundamentalen »senegalesischen« Werten entgegenstünden (z.B. Wane, Dakar, 19.09.2012; PPDH & UNODC (Workshop), Thiès, 05.07.2012). Trotz beziehungsweise aufgrund der divergierenden Ansätze lassen sich bei genauer analytischer Betrachtung zwischen der Anklage des Staates und der an die Eltern gerichteten Kampagne Parallelen erkennen. So wurde in beiden Fällen das von der Zielgruppe eingeforderte Verhalten im jeweils angewendeten Kommunikationsstil reflektiert und antizipiert. Die emotionale, psychologische Rhetorik gegenüber den Eltern einerseits und das juristische Vorgehen gegenüber dem Staat andererseits implizierten somit eine doppelte Übersetzungsleistung der Kinderrechtsakteure. Diese passten die Botschaften an die jeweiligen Wissensvorräte ihrer Zielgruppe an und übernahmen selbst deren Rolle und Sprecherschaft in einer performativen Weise. Sie assimilierten sich somit an ihre Zielgruppen, nahmen ihnen gegenüber aber gleichzeitig eine Vorbildrolle ein. Zudem verdeutlichte sowohl der Kommunikationsstil gegenüber den staatlichen Vertretern als auch ge-

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genüber den Eltern, wie Distanzen aufgrund unterschiedlicher struktureller oder sozioökonomischer Positionen durch verbindende quasi-natürliche und stark affektiv aufgeladene Kategorien wie Familie und Nationalbewusstsein überbrückt werden können. Solche identifikatorisch ausgerichteten Strategien bergen allerdings in mancher Hinsicht die Gefahr einer desintegrativen Wirkung, indem sie jeweils auf divergierende Wissensbestände zurückgreifen. Diskrepante Denkmuster innerhalb der Gesellschaft werden festgeschrieben und reproduziert. Die analysierten Kommunikationskampagnen verfügten zwar über das Potenzial, unter verschiedenen Bevölkerungsmilieus einen Konsens bezüglich ihrer Kernbotschaft, der Ablehnung der mendicité, zu erzielen, kombinierten jedoch unterschiedliche Kausalketten und Logiken (vgl. Ferree 2003: 308). Der erreichte Konsens ist dadurch nur oberflächlich und in Hinblick auf den spezifischen Sachverhalt haltbar, während die ungleichen Ansätze in anderen Kontexten miteinander konfligieren können.

Mehr »Brüder« denn »Opfer« : Das Engagement des Mouvement Africain des Enfants et Jeunes Travailleurs für die Talibé Die bisher analysierten Beispiele kommunikativer Strategien wurden von führenden Kinderrechtsverbänden ausgearbeitet, die nicht nur durch die Finanzierungen ihrer Projekte stark transnational beeinflusst waren, sondern auch dadurch, dass viele ihrer Mitglieder einer urbanen oder sogar kosmopolitischen Bildungselite angehörten. Oft zeigten aber gerade diese Akteure, die über transnational wirkmächtige Ressourcen wie hohe formale Bildungsabschlüsse, eine privilegierte ökonomische Situation und einflussreiche soziale Kontakte verfügten, vor dem Hintergrund eines postkolonialen Emanzipationsprozesses über ein ausgeprägtes nationalkulturelles Selbstbewusstsein (z.B. Wane, Dakar, 19.09.2012; Fall, Dakar, 16.05.2012). Mit dem Ziel, sowohl die als rückständig wahrgenommene Landbevölkerung als auch ihren Staat zu »modernisieren«, (re-)interpretierten und propagierten sie lokale kulturelle und religiöse Werte gemäß einem transnationalen Menschenrechtskodex. Damit einher ging eine Neuaushandlung der Grenzen zwischen privater, religiöser und politischer Sphäre. Eine pauschale hierarchische Kategorisierung der Kommunikationsverhältnisse zwischen (urbanen) Kinderrechtsakteuren und Landbevölkerung als »top-down« oder »bottom-up« erweist sich bei genauer analytischer Betrachtung jedoch als zu eindimensional und dichotom. Die zivilgesellschaftlichen Akteure verfügten zwar über mehr transnational bedeutsame Ressourcen als weite Teile der Landbevölkerung, hatten es aber nicht immer leicht, sich neben den chefs de coutume und anderen lokalen (religiösen) Autoritäten in den dörflichen Gegenden, die gesamtgesellschaftlich den größten Anteil stellen, Akzeptanz zu verschaffen (z.B. PARRER (Workshop), Dakar, 18.09.2012).

5. Von »sozialer Realität« zum »gesellschaftlichen Problem«

Mitarbeiter transnational vernetzter Organisationen in weniger begünstigten Positionen, zum Beispiel Sozialarbeiter, standen wiederum selbst in nur geringer sozialer, kultureller und ökonomischer Distanz zu ihren (ländlichen) Zielgruppen. Es ließ sich also vielmehr ein Kontinuum als ein Kontrast transnationaler und lokaler Loyalitäten, Denkmuster und Lebensstile erkennen. Auch das Verhältnis zu staatlichen Vertretern zeichnete sich durch volatile und überlappende Machtkonstellationen aus. Zivilgesellschaftliche Akteure bildeten supra- und transnationale Allianzen und Allianzen mit dem Staat oder bekleideten selbst gleichzeitig staatliche wie zivilgesellschaftliche Posten. Auch entstammten die führenden staatlichen wie zivilgesellschaftlichen Akteure häufig der gleichen gesellschaftlichen Elite mit ähnlichen Ressourcen und Zugangsmöglichkeiten. Für das Verständnis der Beziehung zwischen transnational vernetzten zivilgesellschaftlichen und nationalstaatlichen Akteuren ist daher Arjun Appadurais (2006: 21-30) Konzept vertebraler und zellulärer Strukturen hilfreich. Um die komplexen politischen Verflechtungen und Machtverhältnisse im globalisierten Zeitalter zu fassen, unterscheidet Appadurai zwischen Organisationsformen, die konservativen nationalstaatlichen Logiken gehorchen und solchen, die sich geografischen und ideologischen nationalen Grenzen entziehen. Zwar sind die transnational vernetzten zivilgesellschaftlichen Akteure nicht unabhängig von nationalstaatlichen – vertebralen – Strukturen und beziehen sich selbst explizit auf senegalesische Problematiken. Die gesellschaftliche Macht solcher zellulären Verbindungen kann jedoch nicht einfach anhand der Kategorien vertebraler Systeme gemessen werden. Einen Kontrapunkt zu den Interpretations- und Handlungsmustern der senegalesischen zivilgesellschaftlichen Elite setzte die Afrikanische Bewegung arbeitender Kinder und Jugendlicher (Mouvement Africain des Enfants et Jeunes Travailleurs [MAEJT]). Deren Mitglieder standen in einem statusähnlichen Verhältnis zu den Talibé. Die Bewegung ist Teil der transnational operierenden Organisation Enda Tiers Monde, die sich mit ihren zahlreichen Unterorganisationen in verschiedenen, teils widersprüchlichen Formen für die Talibé engagierte. Damit folgte Enda Tiers Monde nicht nur pragmatischen Logiken, sondern zeigte auch, dass das Ziel, die Lebensbedingungen der Talibé zu »verbessern«, divergierende Bedeutungen haben und mit ganz unterschiedlichen Ansätzen verfolgt werden kann. Zum Beispiel engagierte sich Enda in der PPDH mit ihrem Ziel, die mendicité ausnahmslos abzuschaffen, während sich das MAEJT an den allgemeinen Lebensbedingungen der Talibé, nicht aber primär an ihrem Betteln störte. In Senegal sind die Mitglieder des MAEJT fast ausschließlich Mädchen, die meist aus finanziellen Gründen ihre Schulausbildung frühzeitig abgebrochen haben und nun über das MAEJT unter anderem Schneider- und Französischkurse erhalten. Gleichzeitig verkaufen sie ihre eigenen Arbeiten, legen Geld für gemeinsame einkommensgenerierende Projek-

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te zusammen oder verdingen sich als Hausmädchen.16 Die Grundlage der westafrikanischen Jugendarbeiterbewegung MAEJT bilden zwölf selbst ausgearbeitete »Rechte«17 von Kindern und Jugendlichen, die sich an den internationalen Kinderrechten der Vereinten Nationen orientieren und dennoch einen deutlich anderen Fokus setzen. Anstatt des Rechts, »frei von ökonomischer Ausbeutung« zu sein (UN 1989, Art. 32) betont das MAEJT beispielsweise das Recht auf eine »sichere, leichte und zeitlich beschränkte Arbeit«. Wie auch die Afrikanische Charta der Rechte und des Wohlergehens des Kindes (AU 1990, Art. 31) geht das MAEJT zudem nicht nur auf die Rechte von Kindern ein, sondern auch auf deren Pflichten. Als solche gelten, die eigene Arbeit und sich selbst zu respektieren und zu lieben, auf die Älteren zu hören, fleißig und aufrichtig zu sein sowie sich nicht zu prostituieren (vgl. Bada et al. 1999 [o. S.]). Das MAEJT will sich zwar für ein emanzipiertes Kindheitsverständnis einsetzen, aber der Herkunft seiner Mitglieder Respekt zollen und Veränderungen erreichen, ohne lokale soziokulturelle Werte und Normen zu verletzen. Die EJT18 sehen sich als »legitime Initiatoren« eines »endogenen Wandels«, durch den sie ihre eigenkulturellen Traditionen und Werte an eine »moderne Welt« anpassen wollen (vgl. Enda 2008: 73). Dabei kombinierten die EJT meines Feldes konservative und emanzipatorische Ansätze. Zum Beispiel engagierten sie sich gegen eine frühzeitige Verheiratung von Mädchen, forderten jedoch von diesen wiederum, keine vorehelichen sexuellen Beziehungen einzugehen, da dies »nicht gut für ihre Familien« sei (Gespräch, Mbao, 05.05.2012). Indem die Mitglieder als Minderjährige ihre selbstdefinierten »Rechte« behaupten, widersetzen sie sich einer stark gerontokratischen Gesellschaftsordnung, die Kindern nur sehr eingeschränkt ein droit à la parole (Recht, das Wort zu ergreifen) zugesteht, aber auch radikalen transnationalen Kinderrechtspolitiken, die sich gegen jegliche ökonomische Betätigung von Kindern wenden. Da die EJT selbst genau dem Milieu entstammen, das sie 16

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Über die Vermittlung von Enda Tiers Monde kam ich mit einigen jugendlichen Mitgliedern der MAEJT Guédiawaye in Kontakt. Meine Hauptkontaktperson war Khady Diop, damals neben ihrer Zugehörigkeit zu einer sogenannten groupe de base zuständig für die öffentliche Kommunikation. Ich konnte an mehreren Veranstaltungen der MAEJT (z.B. »Tag der Talibé« [20.04.2012, 20.04.2013], »Tag der Arbeit« [01.05.2012]), internen Versammlungen (z.B. 12.04.2012, 05.04.2012) und informellen persönlichen Einladungen teilnehmen. Das Recht, lesen, schreiben und einen Beruf zu erlernen, das Recht im Dorf zu bleiben (nicht in die Stadt auswandern zu müssen), das Recht auf eine sichere, leichte und zeitlich beschränkte Arbeit sowie auf Krankenurlaub, das Recht, respektiert und angehört zu werden, sich zu amüsieren und zu spielen, seine Meinung zu äußern und sich zusammenzuschließen, das Recht auf medizinische Versorgung sowie das Recht auf Entschädigung und eine gerechte Justiz im Konfliktfall (vgl. Bada et al. 1999 [o. S.]). Die Mitglieder des MAEJT sprechen von sich selbst als »EJT«, die Abkürzung für »Enfants et Jeunes Travailleurs«, »Arbeitende Kinder und Jugendliche«. Ich übernehme diese Bezeichnung, wenn ich mich mehr auf die Mitglieder als einzelne Akteure als auf die Organisation als Kollektiv beziehe.

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verändern wollen, streben sie eine »soziale Harmonie« (Enda 2008: 72) an und respektieren konventionelle Hierarchien und Autoritäten, anstatt konfrontative und der sozialen Realität unangepasste Ziele und Maßnahmen zu verfolgen. Das MAEJT ist föderalistisch organisiert. Die elementaren Einheiten (groupes de base) sind aus Mitgliedern derselben Stadt- beziehungsweise Wohnviertel zusammengesetzt und stehen sowohl untereinander als auch mit den MAEJT-Sektionen auf departementaler, nationaler und regionaler Ebene in Austausch. Die Organisationsstruktur und der Handlungsansatz des MAEJT spiegeln somit wider, was Arjun Appadurai (2001) als »deep democracy« beschreibt. Zusammenschlüsse urbaner Aktivisten aus benachteiligten Bevölkerungsmilieus eignen sich Formen der demokratischen Teilhabe an, indem sie auf transnationaler und lokaler Ebene mit horizontalen, statusähnlichen, und mit vertikalen, also ökonomisch und politisch machtvolleren, Gruppen Allianzen bilden. Auf diese Weise betreiben sie eine Art »Globalisierung von unten« (Appadurai 2001: 23), die das Monopol nationalstaatlicher Regierungen über die Definition und Umsetzung demokratischer Prinzipien zunehmend in Frage stellt (vgl. Appadurai 2001: 42). Dabei verfolgen solche Zusammenschlüsse eine »Politik der Geduld« und setzen auf Langfristigkeit und multilaterale Aushandlungsprozesse anstatt auf Konfrontation und kurzfristige Projekte. Es geht ihnen darum, Probleme, die sie selbst betreffen, mit eigenem Wissen zu lösen (vgl. Appadurai 2001: 29-30). Im Sinne einer solchen »Politik der Geduld« verstehen die EJT ihre derzeitige schwache soziale Position als »(rituelle) Phase«, die sie mit »Willensstärke« und Ausdauer überwinden wollen (vgl. Enda 2008: 66). In ihrer Rolle als Vermittler zwischen lokalen sozialen Realitäten und dem »institutionellen System« (Enda 2008: 72) machten die EJT ambivalente Erfahrungen. So berichteten die Mitglieder, dass die Bevölkerung in den ländlichen Regionen sie bei Sensibilisierungsveranstaltungen für »Politiker« oder Abgesandte vermögender ausländischer NGOs hielt und materielle Erwartungen an sie richtete, sie in anderen Fällen wiederum durch ihren geringen Bildungsstand und ihr junges Alter gar nicht erst ernst genommen wurden. Potenzielle Kooperationspartner unterstellten ihnen hingegen durch den missverständlichen Organisationsnamen der »Bewegung arbeitender Kinder« bisweilen, sie würden sich für »Kinderarbeit« engagieren (vgl. Enda 2008: 64-65). Das Misstrauen mancher Eltern im ländlichen Raum bezog sich insbesondere auf das durch das MAEJT proklamierte »Recht, im Dorf zu bleiben«. Eine frühe Migration in urbane Zentren nämlich gilt in vielen afrikanischen Gesellschaften als ein notwendiges rite de passage, um symbolische und ökonomische Ressourcen zu erwerben, und die confiage, also das (temporäre) Aufwachsen in einem anderen Haushalt, stellt eine weithin anerkannte Erziehungspraktik dar (vgl. Thorsen 2007: 5-6). Das MAEJT bezog sich jedoch nicht wie die vorangehend analysierte Kommunikationsstrategie gegen das Betteln der Talibé mit familienideologischen Argumenten für einen Verbleib im Herkunftsdorf, sondern vor allem mit ökonomischen. Die Mitglieder warben für die Möglichkeiten

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einkommensgenerierender Projekte in den Herkunftsregionen und für die Vorteile einer engen gegenseitigen Zusammenarbeit der Heranwachsenden. Dadurch sollten sie Ersparnisse erwirtschaften, um ihre »Zukunft vorzubereiten«, ohne die mit einer Migration verbundenen Risiken wie etwa ausbeuterische Arbeitsverhältnisse eingehen zu müssen (vgl. Enda 2008: 19, 77-78). Seit Ende der 2000er Jahre zeigte sich aber auch das MAEJT zumindest in seinen offiziellen Positionen erkennbar von einer sich transnational durchsetzenden liberaleren Perspektive auf die Mobilität von Kindern beeinflusst (vgl. Enda 2008: 77; UNICEF et al. 2011: 10-11). Da das oberste Ziel des MAEJT darstellt, sich für alle Kinder in benachteiligten Situationen einzusetzen, lag es nahe, dass sich der Zusammenschluss in Senegal auch für die Talibé engagierte. Besonders interessant in Bezug auf die bereits analysierten Kommunikationsstrategien war das »sozial harmonische« (Enda 2008: 72) und »kulturell resonante« (Snow 2004: 401) Vorgehen, das nicht strategisch konstruiert war, sondern den tatsächlichen Überzeugungen und Grundsätzen der Mitglieder entsprach. Sie bezeichneten ihren Ansatz als »humble« (bescheiden/demütig), da sie die etablierten sozialen Hierarchien respektieren und ihren Zielgruppen in einer »offenen und flexiblen Haltung« begegnen wollten (vgl. Enda 2008: 71). Die EJT wendeten sich so gegen das negativ gezeichnete Bild der Koranlehrer der zurückliegenden Jahre, die als »Ausbeuter« oder gar »Menschenhändler« stigmatisiert wurden (vgl. Enda 2003: 80-82), und wollten die maîtres »vielmehr in ihrer Mission unterstützen, anstatt die Flagge der Kinderausbeutung zu hissen« (Enda 2003: 69). Sie kritisierten deshalb diejenigen humanitären Organisationen, die lauthals die mendicité der Talibé anprangerten, anstatt ihre »Versprechen einzuhalten« und den Koranschulen eine reelle Unterstützung zukommen zu lassen. Dadurch schwinde das Vertrauen der maîtres coraniques gegenüber jeglichen Hilfsorganisationen, worunter letztlich vor allem die Talibé selbst zu leiden hätten (vgl. Enda 2003: 42). Einem undifferenzierten und transnational übermäßig fokussierten Diskurs um »Kinderhandel« standen sie skeptisch gegenüber, da sie die Gefahr sahen, so Ablehnung und Abscheu gegenüber Afrika, einen »Afropessimismus«, hervorzurufen (vgl. Enda 2000: 14). Die EJT orientierten sich nicht nur konzeptionell an den Denk- und Handlungslogiken ihrer formal wenig gebildeten, meist eher konservativ eingestellten und ökonomisch prekär lebenden Zielgruppen, sondern setzen auch Kommunikationsmittel ein, die deren – und ihren eigenen – gewohnten Praktiken zum Austausch von Informationen und zur Unterhaltung entsprachen. Neben Sketchen und Liedern stellten Set Setal-Aktionen19 – kollektive, öffentlich in Szene gesetzte Reinigungen einer Straße oder eines Wohnviertels – für die EJT eine beliebte Aktivität zu unterschiedlichen Anlässen dar. Diese Reinigungen stehen auch in einem

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Set Setal (wolof) bedeutet »sei sauber und mache sauber«.

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moralischen Sinn für »Sauberkeit« und gehen auf die senegalesische Jugendbewegung Set Setal Ende der 1980er bis Anfang der 1990er Jahre zurück, die sich gegen die als nicht integer betrachtete herrschende politische Schicht wandte, aber die gewaltsamen, als destruktiv und elitär empfundenen Studentenproteste ebenso ablehnte. Die Anhänger der Set Setal-Bewegung wollten eine Redefinition der Beziehung zwischen Staat, Elite und Jugend und einen Gegenentwurf zu nationalen Programmen und hegemonialen Narrativen ermöglichen, indem sie die Qualität ihrer unmittelbaren Umgebung zu verbessern versuchten (vgl. Diouf 2005 [html]). Die Reinigungsaktionen waren ein Mittel, um konkrete Missstände sowohl zu kompensieren als auch, um auf sie aufmerksam zu machen (vgl. Diouf 1996: 58-60). Die Aktivisten konnten sich symbolisch und praktisch öffentlicher Räume bemächtigen (vgl. Benga 2001: 174-175) und an gesellschaftlicher Wertschätzung gewinnen. Die Metapher des Reinigens verdeutlicht gleichzeitig, dass keine radikalen Umwälzungen, sondern die Erneuerung und Reinterpretation bestimmter gesellschaftlicher Gegebenheiten angestrebt wurden. Indem Set Setal-Aktivitäten dafür stehen, gemeinsam die eigene Lebenswelt mit wenigen finanziellen, dafür aber personellen und moralischen Ressourcen zu verbessern und eine politische Botschaft ohne elitäre Diskurse zu vermitteln, ist es wenig erstaunlich, dass sich das MAEJT diese Ausdrucksform zu eigen machte. Die Jugendbewegung verfolgt schließlich zentral das Ziel, marginale Positionen gemeinschaftlich durch konkretes, langfristig ausgerichtetes und soziokulturell angepasstes Handeln zu überwinden. Eine solche Set Setal-Aktion veranstaltete eine MAEJT-Ortsgruppe in Guédiawaye anlässlich des »Tags der Talibé« im Jahr 2013. In einer der daaras, die bereits seit längerer Zeit mit ihrer Mutterorganisation Enda »zusammenarbeitete«, wuschen die Mädchen die gesamte Wäsche der Talibé und der Familie des maître. Zudem organisierten sie ein Fußballturnier für die Talibé. Anschließend fand am Nachmittag ein zeremonieller Festakt mit Reden und diversen Aufführungen auf dem Gelände der daara statt (Guédiawaye, 20.04.2013). Da diese Koranschule zwar nicht auf das Betteln verzichtete, aber der maître keine exzessiven Abgaben verlangte und nach Aussagen der MAEJT-Mitglieder die Talibé nicht körperlich misshandelte, galt sie bei den EJT trotz des üblich ärmlichen Zustandes als »Modell« einer Koranschule. Indem sie eine daara auswählten, in der es aus ihrer Sicht gar nichts zu beanstanden gab, bestätigten sie ihren Grundsatz, einen »positiven« Ansatz zu verfolgen und weniger anzuklagen als vorbildliche Akteure zu unterstützen. Damit ging jedoch einher, dass noch stärker bedürftigen Talibé in anderen daaras keine Aufmerksamkeit und Spenden zuteilwurden. Auch das Publikum der nachmittäglichen Zeremonie bestand überwiegend aus Personen, die sich bereits selbst auf die eine oder andere Weise für die Talibé einsetzten. Die Konstellation, die sich dadurch ergab, lässt sich mit einem tautologischen Kreislauf vergleichen. So diente die Zeremonie vor allem einer Selbstvergewisserung dieser als legitim und vorbildlich qualifizierten daara und nur indirekt der Vergegenwärtigung einer

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Problematik. Die Talibé hatten Sketche einstudiert, in denen sie komödiantisch die teils horrenden versements in anderen Koranschulen anprangerten, deren Talibé auch nach vielen Jahren kaum die wichtigsten Koransuren zu rezitieren in der Lage seien. »Wir sind sehr stolz auf euch, denn man wird immer zum Beispiel für Taufen, Hochzeiten und Begräbnisse Leute brauchen, die den Koran beherrschen!«, richtete sich Khady, eine der Wortführerinnen, in ihrer Ansprache an die Talibé. Sie würdigte anschließend das Engagement der anwesenden »Patinnen« (»ndeyou daara«) – Frauen, die in der Nähe einer daara wohnen und sich jeweils eines Talibé annehmen –, um als feierlichen Abschluss die Übergabe der Gaben – von den EJT gesammelte Hygieneartikel und Kleidungsstücke – einzuleiten. Während des Wäschewaschens in der daara kam es zu der für mich zunächst sehr irritierenden Situation, dass sich Khady bei einem der Talibé erkundigte, wie viel er bereits erbettelt habe, um ihn dann um einige Münzen für einen Kaffee und ein Sandwich zu bitten. »Das ist die teranga sénégalaise (senegalesische Gastfreundschaft)«, kommentierte sie den Vorgang, lachend und selbstbewusst, mir gegenüber. Diese Szene brachte zum Ausdruck, dass die EJT die Talibé als »Brüder« sehen, wie sie selbst betonten (z.B. Pikine, 12.04.2012), die weitgehend einem ähnlichen Gesellschaftsmilieu entstammen und – wie sie – im Kampf um eine bessere Zukunft eine schwierige Lebensphase durchstehen müssen. Bereits im Vorjahr war mir während des von den EJT in Guédiawaye organisierten »Tags der Talibé« aufgefallen, dass die Talibé zwar eingeladen wurden, die Mädchen aber kaum direkt mit ihnen interagierten, sondern sich relativ separat hauptsächlich mit sich selbst beschäftigten. Eines der Mädchen hielt sich demonstrativ die Nase zu und bemerkte, ungeniert laut, zu mir gewandt: »Die Talibé stinken!« (Guédiawaye, 20.04.2012). Die EJT viktimisierten die Talibé somit weniger als die meisten anderen Hilfsorganisationen, begegneten ihnen relativ ebenbürtig und veränderten ihnen gegenüber weder ihren Kommunikationsstil noch ihre Verhaltensweisen. Vor dem Hintergrund eines ähnlichen »Erfahrungsraums« und »Erwartungshorizontes« (Koselleck 1995 [1979]: 354-359) verstanden sie die Unterstützung, die sie den Talibé zukommen ließen, nicht als unilineares »humanitäres« Handeln, sondern als Investition in ein möglicherweise reziprokes soziales Verhältnis. Wenig verwunderlich ist dahingehend, dass die EJT sich für die Verbreitung einer Initiative (Initiative Combinée pour le Changement [I2C]) einsetzten, mittels der sie nicht nur selbst ein gemeinsames Bankkonto eröffnet hatten, sondern auch den Talibé ermöglichen wollten, ihre überschüssigen Bettelerträge zinstragend und sicher anzulegen (Diop, Guédiawaye, 20.04.2013). Dadurch sollten die Talibé am Ende ihrer Koranausbildung über ein kleines Kapital verfügen, um ein berufliches Projekt verfolgen zu können. Die Bedeutung, welche die EJT dem Sparen beimaßen, hatte neben einer ökonomischen auch eine ideelle Dimension, da Sparen als »moralische Disziplin« einer »Politik der Geduld« interpretiert werden kann (vgl. Appadurai 2001: 33). Die Reaktionen anderer Kinderrechtsakteure auf die Initiative

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der Bankkonten für die Talibé hingegen variierten zwischen blankem Entsetzen, Unbehagen oder spöttischen Bemerkungen: »Haben die Talibé dann auch eine Bankkarte, mit der sie Geld vom Automaten ziehen können…?« (Geschang, Mbour, 23.08.2012). Mit Blick darauf, dass die Organisation Enda, Hauptpartner des MAET, selbst Mitglied in der PPDH ist, die die mendicité der Talibé radikal ablehnte, zeigte sich, wie eng konfligierende Politiken im Kontext der Problematik um die Talibé mithin miteinander verstrickt sind. In seinen Aktivitäten kam deutlich zum Ausdruck, wie sich das MAEJT im Diskursfeld um die mendicité der Talibé positionierte. Die Arbeitenden Kinder und Jugendlichen wollten die Bevölkerung über die misslichen Zustände in den daaras zwar informieren, aber nicht, um die Koranschulen zu dämonisieren und gesellschaftlich noch mehr zu marginalisieren. Ihr Ziel war es, die Menschen dazu zu motivieren, sich gemäß ihren eigenen Mitteln und Möglichkeiten für eine Verbesserung der Lebensumstände der Talibé in ihrer Umgebung einzusetzen. Dabei appellierten sie an endogene »afrikanische« Werte und Praktiken wie zum Beispiel gegenseitige Solidarität (vgl. Enda 2008: 70). Sie störten sich weniger an den harten Lebensbedingungen der Talibé, die sie als rite de passage auffassten, als an der Tatsache, dass ihnen verwehrt bleibt, »ihre Zukunft vorzubereiten«, wenn sie aus der Koranausbildung ohne nennenswerte Kenntnisse oder finanzielles Kapital herausgehen. Wie auch das häufig von ihnen eingesetzte Kommunikationsmittel des Set Setal symbolisiert, versuchen die EJT, in kleinen Schritten einen Weg aus wenig vorteilhaften Startbedingungen zu finden, aber ein riskantes Verhalten, zum Beispiel eine unzureichend geplante Migration in die Stadt, und soziale Konflikte zu vermeiden. Im Gegensatz zu den Kinderrechtsverbänden PPDH und PARRER, die durch eine rigorose Gesetzesanwendung einerseits und durch einen Wandel des familiären Selbstverständnisses andererseits dem Betteln der Talibé ein kompromissloses Ende setzen wollten, ging es dem MAEJT vor allem darum, den Status quo der Koranschulen vor Ort gemeinschaftlich mit praktischen gegenwarts- und zukunftsorientierten Projekten zu verbessern. Während sich PARRER und PPDH fremde Milieus aneigneten, interagierten die EJT mit statusgleichen sozialen Gruppen, was ihnen den Vorteil einer »natürlichen« physischen und soziokulturellen Nähe verschaffte. Jedoch blieb ihre Einflussmöglichkeit aus genau diesem Grund auch beschränkt, indem ihnen dieselben ökonomischen und sozialen Ressourcen fehlten wie ihren Zielgruppen.

Zusammenfassung An der hohen Aufmerksamkeit, welche die Brandkatastrophe erregte, ließ sich erkennen, dass eine Kombination schockierender und identifikatorischer Elemente eine besonders große gesellschaftliche Mobilisierung gegen das Betteln der Talibé

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zu erreichen verspricht. Während die Brandkatastrophe von einer breiten Öffentlichkeit aus zum Teil konfligierenden Perspektiven diskursiv angeeignet wurde, versuchten transnational vernetzte Kinderrechtsakteure, diese schockierende und identifikatorische Wirkung in strategischen Kommunikationskampagnen zu rekonstruieren. Ihre Kernbotschaft der Ablehnung der mendicité der Talibé passten sie an die Wissensvorräte ihrer unterschiedlichen Zielgruppen an. Es stellte dabei eine Gratwanderung dar, die Slogans ausreichend radikal zu formulieren, um einen tatsächlichen Wandel anzustoßen, und gleichzeitig ausreichend »kulturell resonant« (Snow 2004: 401), um auf Akzeptanz zu stoßen (vgl. Ferree 2003: 305). Die Eltern der Talibé »schockierten« sie dadurch, dass sie ihnen mit starken, emotional besetzten Begriffen die Unvereinbarkeit ihres Verhaltens mit ihrer Rolle als Eltern und Gläubige vorführten. Eine Inszenierung dieser Rollen als gemeinsame Merkmale sowie sozial angepasste und politisch entschärfte Kommunikationsformen unterstützten wiederum eine Identifikation mit der Botschaft. Der Appell an die Eltern zu einer »korrekten« Ausübung ihrer Religion ging einher mit dem an den Staat zu einer konsequenten Säkularisierung. Auch die »Anklage« des Staates sollte als besonders konfrontatives Kommunikationsmittel schockieren, während über die Evokation geteilter Emotionen, den Verweis auf nationalkulturelle Werte, vor allem jedoch über die Plausibilität der Forderung, ein Rechtsstaat müsse seinen Gesetzen folgen, identifikatorische Momente erzeugt wurden. Die analysierten Kommunikationsstrategien der Organisationen PARRER und PPDH zeigten, dass über deren vordergründige Zielsetzung hinaus kulturelle Deutungshoheit und politische Machtverhältnisse ausgehandelt wurden und dass die zivilgesellschaftlichen Akteure die senegalesische Familie ebenso wie den senegalesischen Staat zu »modernisieren« versuchten. Sie nahmen dabei auf unterschiedliche Referenzgrößen Bezug und diskreditierten das Betteln sowohl mit islamischer als auch mit rechtsstaatlicher Argumentation. Manche gesellschaftlich zuvor akzeptierten Praktiken wurden implizit oder explizit aus dem soziokulturellen Repertoire verbannt, neue transnationale Ideen hingegen aufgenommen. Neben ihren methodischen Analogien stellten die an den Staat und die Eltern adressierten Kampagnen ein Spiegelbild der gesellschaftspolitischen Tendenzen Senegals der letzten Jahrzehnte dar. Die »Anklage« des Staates reflektierte den zunehmenden Wunsch nach einer konsequenten Entflechtung von Politik und Religion, war aber auch Ausdruck davon, dass sich der Staat nie ganz aus der Abhängigkeit der marabouts löste und auf allzu scharfe Eingriffe in deren Einflusssphäre bis heute verzichtet. Die an die Eltern gerichtete Argumentation gegen das Betteln wies wiederum Parallelen zu (redefinierten) reformistischen Diskursen um einen »authentischen« Islam und um erneuerte eigenkulturelle Werte auf, indem sie verschiedene Elemente (post)kolonialer Modernitäten in den Kontext der muslimischen Lebensrealitäten des ländlichen Senegal übersetzte (vgl. Loimeier 2013: 242). Wie einst die reformistischen Netzwerke formieren sich die zivilgesellschaftlichen

5. Von »sozialer Realität« zum »gesellschaftlichen Problem«

Kinderrechtsakteure als politische Akteure und bedienen sich dabei unterschiedlicher Register. Mit den internationalen Menschen- beziehungsweise Kinderrechten als Bezugsrahmen inkorporieren sie den Islam in ihre Agenda, während die reformistischen Gruppierungen unter dem Dach der Religion diverse politische, soziale und kulturelle Anliegen verfolgten. Das sozialintegrative Potenzial solcher Kommunikationsstrategien erweist sich als ambivalent, da für spezifische Ziele jeweils volatile Allianzen gebildet und zum Teil divergierende oder sogar konfligierende Denklogiken und Wissensbestände (re-)produziert werden. Anders begegnen die Mitglieder der lokal orientierten, wenn auch ebenso transnational vernetzten, Jugendarbeiterbewegung MAEJT der Problematik um die Talibé, die sie als ihre »Brüder« unterstützen wollen, ohne radikale Ansätze zu verfolgen. Indem sie konservative mit emanzipatorischen Elementen kombinieren und lieber verhandeln anstatt anzuklagen, verzichten sie in ihrer Kommunikation weitgehend auf eine schockierende Wirkung. Ihr stärkster Vorteil einer »natürlichen« Nähe zu ihren Zielgruppen birgt aber gleichzeitig den Nachteil, dass sie über kaum mehr ökonomische oder soziale Ressourcen verfügen als die Talibé selbst. Ihr kulturell ausgesprochen »resonantes« (Snow 2004: 401) Vorgehen kann zwar einen Geist der Selbsthilfe, Solidarität und Zivilcourage wecken, schwerlich jedoch umfassende gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen. Während die in diesem Kapitel analysierten Kommunikationsstrategien transnational vernetzter Akteure das Ziel verfolgten, dem Betteln der Talibé dauerhaft ein Ende zu setzen und einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel anzustoßen, richtet das nächste Kapitel den Blick auf unterschiedliche Formen der direkten »Hilfe« für die Talibé, die deren Lebensbedingungen unmittelbar verbessern sollen. Diese Ansätze rücken nicht die soziokulturelle oder kriminelle, sondern die humanitäre Dimension der Problematik in den Vordergrund. Eine solche Unterstützung hat den Vorteil, dass sie weniger als rein kommunikative Projekte dem Vorwurf ausgesetzt ist, eine kostspielige, aber ergebnislose Maßnahme darzustellen. Jedoch müssen humanitäre Akteure innerhalb eines prekären Handlungsraums agieren, um »Kooperationen« mit Koranlehrern aufrechtzuerhalten und gleichzeitig unintendierte Folgen zu vermeiden. Die verschiedenen Herangehensweisen lassen jeweils sowohl eine bestimmte Sichtweise auf die Koranschulproblematik als auch auf Kindheit erkennen und führen die Ambivalenz humanitärer Hilfe vor Augen, die in vielschichtige Macht- und Interessensverhältnisse eingebettet ist.

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6. Kontroverse Hilfe Humanitäres Engagement für die Talibé

Im Rahmen eines zweitägigen Forschungsbesuchs bei der NGO Sentinelles begleitete ich im August 2013 den zuständigen Sozialarbeiter, Ibrahima, zu einigen der daaras, mit denen die Organisation »zusammenarbeitete«. Die NGO hat ihren Hauptsitz in Lausanne und versucht in den beiden senegalesischen Städten Mbour und Kaolack die Lebensbedingungen der Talibé in den dortigen Koranschulen vor allem durch medizinische und hygienische Unterstützung zu verbessern. Vor einer der Koranschulen, genannt »K8«, in Kaolack warnte mich Ibrahima im Vorfeld und erklärte, es sei die »problematischste« von allen. Zwar hätte sich die Kooperation etwas verbessert, seitdem vor kurzem der maître coranique verstorben sei und nun sein Sohn das Regiment übernommen habe, aber noch immer ließen die Behandlung der Talibé und die Ausstattung der Koranschule zu wünschen übrig. Die Besonderheit der Koranschule zeigte sich vor allem darin, dass sie über eine Strafsektion für Talibé verfügte, die zumeist einen oder mehrere Fluchtversuche aus dieser oder auch aus anderen daaras unternommen hatten. Gleich neben dem Eingang des Geländes drängten sich etwa fünfzehn Jungen auf einem mit Wellblech überdachten Stück Steinboden, bewacht von zwei ainés (»Ältere«) – Talibé, die ihr grundständiges Koranstudium bereits abgeschlossen hatten und nun dem maître als Assistenten zur Hand gingen. Aufgrund ihrer Vergehen war es den Talibé den ganzen Tag über nicht gestattet, diesen Unterschlupf zu verlassen, außer um ihre Notdurft zu verrichten. Zum Unglück der Talibé befanden sich die Toiletten – die durch die Unterstützung von Sentinelles sogar gefliest waren – nur ein paar Meter entfernt direkt gegenüber ihrem Aufenthaltsort. Ibrahima berichtete mir, dass bis wenige Monate zuvor der Strafraum vollständig mit Wellblech umschlossen und es in seinem Inneren daher stets quälend heiß und stickig gewesen war. Nach langwierigen Aushandlungen konnte seine Organisation schließlich durchsetzen, dass der Raum offengelegt wurde und die Talibé seither wenigstens nicht mehr abgeschnitten von Licht und Luft vegetieren mussten. Die bestraften Talibé ernährten sich von den Resten des erbettelten Essens der anderen Talibé der daara und damit von den Resten der Resten der Mahlzeiten der Familien aus der Umgebung. Die Nächte verbrachten sie in einem verriegelten Schlafraum, um

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weitere Fluchtversuche zu unterbinden. Ibrahima wusste von Vorfällen, bei denen dieser erst spät am Vormittag von den ainés aufgeschlossen worden war. Von den Talibé ging ein süßlich-fauliger Geruch aus. Ihre Kleidung wurde nie gewaschen, da sie nur eine Garnitur besaßen und ja nicht nackt sein konnten, während ihre Wäsche trockne, wie der ainé erklärte. Der Umgang zwischen dem ainé und Ibrahima wirkte routiniert und – wenn auch nicht übermäßig – freundlich. Nach einer Weile beschwerte sich der ainé jedoch darüber, dass wir uns so lange vor der Strafsektion aufhielten und uns dabei in einer ihm nicht verständlichen Sprache unterhielten. Ibrahima wehrte sich halb ernst, halb scherzhaft, indem er ihm vorhielt, sein Vorgänger sei viel »kooperativer« gewesen und habe ihn immer ohne Weiteres die Rippen der bestraften Talibé überprüfen lassen, um zu sehen, ob sie ausreichend aßen. Mir erzählte er zudem, dass dieser ainé die Talibé schon mehrfach schlimm verprügelt habe. Das beinahe kumpelhaft wirkende Geplänkel der beiden im Zusammenhang mit derart schweren Kinderrechtsverletzungen wirkte in jenem Moment zwar etwas verstörend auf mich, machte aber deutlich, wie Kinderrechtsakteure kommunikativ manövrieren und Vorwürfe durch eine freundliche oder scherzhafte Rahmung entwaffnen müssen, um sich Kooperationen nicht zu verschließen. Sentinelles lehnte es zum Beispiel auch ab, aufgrund der fragwürdigen Behandlung der bestraften Talibé die Polizei oder andere staatliche Behörden einzuschalten. Ein solch konfrontativer Kurs hätte ihnen den Zugang zu dieser und vielleicht auch zu anderen daaras dauerhaft versperren können, wodurch die Talibé wiederum unkontrolliert ihren harten Bestrafungen ausgesetzt worden wären (Kaolack, 22.08.2013). Die Talibé der Strafsektion warfen Ibrahima und vor allem mir neugierige Blicke zu und einige begannen, miteinander herumzualbern, immer auf der Hut, nicht den Ärger ihrer Aufsichtspersonen auf sich zu ziehen. Unsere Gegenwart musste eine willkommene Abwechslung für sie darstellen, denn es war Donnerstag und somit wie in den meisten Koranschulen der studienfreie Tag der Talibé. Zwar waren auch die bestraften Talibé von ihrem Unterricht befreit, nichtsdestotrotz durften sie ihren eingegrenzten Platz nicht verlassen, was bedeutete, dass sie den ganzen Tag einfach nur dasaßen. Als wir am Eingang vor der Strafsektion verweilten, fühlte ich mich wie ein interessierter Zoobesucher vor einem Tiergehege, der aus sicherer Distanz über deren Lebensbedingungen aufgeklärt wird, um dann wieder zu verschwinden. Meine eigene gedankliche Analogie löste Unbehagen in mir aus, da sie die in meinen Augen unmenschliche Behandlung der Kinder sogar zugespitzt reflektierte. Später erinnerte mich ein Text von Liisa Malkki (2010: 67, vgl. Malkki 2015: 88) an die Szene, in dem sie eine parallele Wirkung von Kindern und Tieren im humanitären Diskurs herausarbeitet, die beide als irrationale und unwissende »expressive moralische Subjekte« besonders leicht als »unschuldige Opfer« wahrgenommen würden. Die Schilderung meiner Erlebnisse in dieser daara in der Vergangenheitsform suggeriert fälschlicherweise, dass die bestraften Talibé längst

6. Kontroverse Hilfe

entweder als ordinäre Koranschüler ihre Studien weiterverfolgen oder zu ihren Familien zurückgekehrt sind. Hingegen ist gut möglich, dass dieselben Talibé, denen ich vor mehreren Jahren dort begegnete, immer noch am selben Ort in derselben Kleidung ausharren. Der Aufenthalt in der Strafsektion ist nämlich nicht auf einige Wochen oder Monate beschränkt, sondern erstreckt sich prinzipiell über die gesamte verbleibende Ausbildungsdauer, wie mir Ibrahima auf mein fassungsloses Nachfragen mehrmals bestätigte. Diese Bestrafungsmethode zeigte auf zynische Weise, dass das Betteln zwar im Visier des transnationalen Kinderrechtsdiskurses steht, nicht betteln zu dürfen jedoch für die Talibé noch leidvoller sein kann, indem ihnen so jegliche Möglichkeit auf einen minimalen Lebensstandard, Bewegung, unbeobachtete Momente und soziale Kontakte versagt wird. Dennoch ist mir bewusst, dass ich die Praxis der Strafsektion nicht im Rahmen einer teilnehmenden Beobachtung verfolgen und mir so lediglich deren normatives Konzept erläutert werden konnte. Eventuelle Aushandlungsmomente zwischen den Talibé und den ainés oder tiefere Einblicke dahingehend, welche Formen der agency die Talibé in ihrer Situation entwickelten, blieben mir verborgen. Es waren in den meisten Fällen ihre eigenen Eltern, welche die Talibé in diese Koranschule mit ihrem besonders strengen Ruf geschickt hatten, wenn sie zuvor aus anderen daaras geflohen waren oder sich zu Hause als besonders têtu (stur, widerspenstig) erwiesen hatten. Manche Eltern bezahlten dem maître sogar einen monatlichen Beitrag dafür, dass er ihre Kinder korrigiere, berichteten sowohl Ibrahima als auch der ausgesprochen junge Leiter der daara. In unserem anschließenden Gespräch war dieser bemüht zu zeigen, dass ihm die Kinder ganz und gar nicht gleichgültig seien. Wenn eines der Kinder weglaufe, so würde er es überall suchen lassen, betonte er. Ich wollte mir nicht ausmalen, welche Bestrafungen dann auf es warteten. Auch war ihm bewusst, dass eine nahezu vollständige Bewegungslosigkeit der Gesundheit der Kinder nicht zuträglich sein konnte. Er rechtfertigte die Einrichtung der Strafsektion damit, dass er die Ausreißer und Widersacher eben gerade nicht mehr »schlagen und immer wieder schlagen« wollte und daher nach einer alternativen Sanktionsmöglichkeit gesucht habe. Im Hintergrund ertönte eine dünne, gebrochen wirkende Stimme, die singend Koransuren rezitierte. Der maître machte mich stolz darauf aufmerksam und berichtete, dass dieser Talibé noch bis vor einiger Zeit ein notorischer Ausreißer war, sich nun aber willig und fleißig seinen Koranstudien widme. Erneut verdrängte ich die Gedanken daran, was den Jungen zu seiner Umkehr bewegt haben mochte. Im Laufe unseres weiteren Gesprächs verteidigte der maître zwar die mendicité als »Gegenleistung« für eine unentgeltliche confiage, wandte sich jedoch deutlich gegen ein festgesetztes versement und betonte zudem, dass er die Kinder erst ab einem bestimmten Alter betteln schicken würde, um sie keinen Gefahren auszusetzen. Er äußerte sogar Verständnis dafür, dass die Talibé nicht immer ihre gesamten Bettelerträge ablieferten, da auch er solche »Tricks« aus seiner eigenen Jugend kenne. Zudem malte er sich

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aus, wie er seine daara mithilfe einer staatlichen Unterstützung »modernisieren« und etwa Informatikunterricht und weitere ergänzende Fächer einführen könnte. Damit brachte er eine Auffassung von Fürsorge und Erziehung von Kindern zum Ausdruck, die in Bezug auf divergierende pädagogische Konzepte und Ziele in sich durchaus kohärent wirkte. Manche Elemente seiner Argumentation entlehnte er dem transnationalen Kinderrechtsdiskurs, was dessen tatsächliche Unvereinbarkeit mit seinen Bestrafungspraktiken verschleierte. In umgekehrter Form erwies sich seine Rhetorik somit als analog zu den kommunikativen Strategien transnationaler Kinderrechtsakteure gegenüber der Landbevölkerung, die deren Denk- und Handlungskonzepte ebenso mit ganz anderen Bedeutungen aufluden (s. Kapitel 5). Der Besuch dieser daara gehörte zu den Momenten meiner Feldforschung, die sich am hartnäckigsten in mein Gedächtnis einbrannten und mich besonders intensiv nicht nur über den prekären und oft dilemmatischen Handlungsraum humanitärer Organisationen und deren Verhältnis zu ihren Zielgruppen, sondern auch über meine eigene Rolle reflektieren ließen.1 Malkki (2015: 53) bezeichnet Erfahrungen in ethnologischen Forschungen oder humanitären Einsätzen, die trotz eines Bemühens, den eigenen persönlichen und professionellen Standards gerecht zu werden, ein Gefühl der Ambivalenz und Ungenügsamkeit zurücklassen, als »unmögliche« oder »ausweglose Situationen«. Angesichts der maximalen Unfreiheit und in meinen Augen unzumutbaren Lebensbedingungen der bestraften Talibé wurde mir meine eigene »unerträgliche Leichtigkeit«2 umso deutlicher bewusst. Ich konnte nach spätestens einer Stunde die Koranschule und kurz danach die Stadt wieder verlassen, wobei mir bereits davor graute, die Etappe bis zur nächsten Koranschule zu Fuß in der Mittagshitze bewältigen zu müssen, ohne zuvor ein Erfrischungsgetränk zu mir nehmen zu können. Obwohl ich großes Mitgefühl mit den bestraften Talibé empfand – und damit nach Didier Fassin (2012: 3) eine »moralische Beziehung ohne mögliche Reziprozität« mit ihnen einging –, übersetzte ich die Gegebenheiten noch vor Ort gedanklich in Feldmaterial und verspürte eine gewisse Genugtuung darüber, durch diesen Vorfall analytisch wertvolle Beobachtungen für meine Dissertation mit nach Hause zu nehmen. Dadurch musste ich Parallelen zwischen meiner eigenen Rolle und der transnationaler NGOs eingestehen, denen mehrere meiner Informanten unterstellten, verfügbare Gelder zu wei1

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Zum Verhältnis zwischen Ethnologie und Humanitarismus arbeitet z.B. Harri Englund (2011: 76) heraus, dass Machtasymmetrien zwischen dem Forschenden und seinen Forschungssubjekten ebenso wie zwischen humanitären Helfern und ihren Zielgruppen durch GraswurzelAnsätze und durch den Anspruch gleichberechtiger Wissensproduktion häufig verschleiert würden. Für einen Überblick über die Entwicklung der ethnologischen Perspektiven auf Humanitarismus zwischen Affinität und Kritik siehe z.B. Miriam Ticktin (2014: 274-284). Diese Formulierung entlehne ich Peter Redfield (2012: 360 nach Kunderas 1984), der die – im humanitären Kontext dilemmatische – »unerträgliche Leichtigkeit der Ex-Pats« im Vergleich zu lokalen Mitarbeitern transnationaler Organisationen analysiert.

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ten Teilen in »Reporte« und »Konferenzen« zu investieren, die ihre eigenen Erfolge dokumentieren, weniger aber ihren eigentlichen Zielgruppen zugutekommen (z.B. Coly/Dieme, Dakar, 25.04.2013; Fall, Pikine, 01.09.2012). Da eine Forschung zudem ebenso wie humanitäres Handeln nie neutral sein kann, plädieren zum Beispiel Miriam Ticktin (2014: 283) und Didier Fassin (2008a: 338) dafür, dass Ethnologen die epistemische und politische Einflussnahme ihres eigenen, wenn auch nur impliziten, moralischen Standpunkts stärker in ihre Analyse einbeziehen. Dabei betrachte ich es nach wie vor als eine ethische Gratwanderung, durch meine Darstellung der Erlebnisse in dieser Koranschule weder ein Othering (z.B. Said 1978: 1-3; Spivak 1985: 252-557) der Koranlehrer noch eine für mich moralisch nicht vertretbare Sinngebung solcher Erziehungspraktiken zu fördern. Einen Tag später wurde ich erneut Zeuge eines »komplizierten Falls« derselben Organisation. Es handelte sich um eine von ihr betreute Koranschule in Mbour, in deren Gemäuer die Sozialarbeiter einen derart tiefen Riss entdeckt hatten, dass sie befürchteten, das Gebäude könnte in jedem Moment einstürzen und die Talibé unter sich begraben. Der maître coranique, so erzählten die Mitarbeiter der NGO, verwies auf fehlende finanzielle Mittel, um das Problem eigenständig zu beheben, aber auch auf Gott, in dessen Hände allein es läge, ein solches Unglück zu veranlassen oder zu verhindern. Er wehrte sich vehement dagegen, dass Sentinelles die Behörden informierte und hatte den Mitarbeitern, die er beschuldigte »gegen den Islam« zu sein, seither den Zutritt zu seinem Gelände verwehrt. Obwohl das Verhältnis mit dem betreffenden maître coranique stark zu leiden drohte, entschloss sich Sentinelles schließlich dazu, die zuständigen kommunalen Stellen zu benachrichtigen. Bei einem tödlichen Einsturz nämlich hätte der NGO vorgeworfen werden können, trotz ihres Wissens um die Situation nichts unternommen zu haben. Ein Mitarbeiter begründete mir gegenüber das Einschreiten mit den dann drohenden Konsequenzen für die Organisation und nicht etwa damit, dass das Leben der Kinder auf dem Spiel stand. Er brachte dadurch zum Ausdruck, dass für humanitäre Akteure Organisationslogiken oder andere Eigeninteressen ein größeres Gewicht als humanitäre Prinzipien3 haben können (anonymisiert, Mbour, 23.08.2023). Ein solches Spannungsfeld beschrieb in ähnlicher Weise Fassin (2007: 505-506) am Beispiel des Einsatzes von Médecins sans Frontières (MSF) im Irak-Krieg 2003, als die Organisation das Leben der eigenen entsandten Mitarbeiter gegenüber dem der lokalen Bevölkerung priorisierte und damit dem humanitären Grundprinzip der Gleichwertigkeit aller Leben nicht gerecht wurde.

3

Als wesentliche humanitäre Prinzipien, die auf die Gründung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz im Jahr 1863 zurückgehen, gelten gemeinhin Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Neutralität. Vor allem das Prinzip der Neutralität wurde jedoch im Zuge der Herausbildung eines »neuen Humanitarismus« zunehmend in Frage gestellt, während zum Beispiel das Prinzip des Bezeugens an Bedeutung gewann (vgl. Fox 2011: 275-278).

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Die Meldung der Einsturzgefahr hatte zu Folge, dass eine beachtliche Delegation städtischer Autoritäten, unter anderem bestehend aus Repräsentanten des Jugendamts (AEMO), Bürgermeisteramts und Städtebauamts, gemeinsam mit zwei Repräsentanten der NGO den Zustand der daara begutachteten. Dieser Termin fiel mit meinem Forschungsbesuch zusammen, sodass ich ebenfalls daran teilnehmen konnte. Das auffallend große, performative Engagement der städtischen Autoritäten stand dabei im Kontrast zu deren alltäglicher Gleichgültigkeit gegenüber den bettelnden Talibé in oft erkennbar schlechtem Gesundheitszustand. Die europäische Leitung und Herkunft der NGO spielten möglicherweise mit eine Rolle dafür, dass sich die senegalesischen Behörden keine Fahrlässigkeit oder Inkompetenz unterstellen lassen wollten. Gegenüber dem maître versuchten die Behördenvertreter wiederum ihr Einschreiten zu entschärfen, indem sie ihm erklärten, sein Fall sei eine mehrerer Baufälligkeiten, die jedes Jahr in der Regenperiode im Interesse der »öffentlichen Sicherheit« inspiziert würden. Die Gutachter kamen schließlich zu dem wenig überraschenden Ergebnis, dass der Riss als gefährlich einzuschätzen sei und forderten den maître zu einer Renovierung auf, deren Finanzierung er beim zuständigen Sozialamt beantragen könne, sollte er nicht über ausreichend eigene Mittel verfügen. Für den Projektverantwortlichen der NGO stand bereits fest, dass der maître daraus Profit schlagen würde, da es ein Leichtes sei, Handwerker um eine manipulierte Rechnung zu bitten (Geschang, Mbour, 23.08.2013). Der Mauerriss erwies sich als einfacher zu denunzieren als die Strafsektion der anderen daara, da keine Erziehungskonzepte in Frage gestellt werden mussten. Es handelte sich um ein weitgehend objektives, materielles sowie akut lebensbedrohliches Sicherheitsproblem, dessen Behebung zudem als Interesse des Gemeinwohls gerahmt und damit neutralisiert werden konnte. Ein todbringendes Ereignis wie ein Einsturz wird in Senegal häufig aus einer religiösen Perspektive als »Willen Gottes« schicksalsergeben akzeptiert, darüber hinaus jedoch kaum in weitere Sinngebungen eingebettet (s. Kapitel 5), während harte Erziehungspraktiken viele für angemessen und edukativ wertvoll halten (s. Kapitel 4). Mehrere Autoren (z.B. Fassin 2012: 15; Ticktin 2006: 37-39; Malkki 1996: 384-385) verwiesen bereits auf die Bedeutsamkeit körperlicher Beweise wie Verletzungen oder Krankheiten, um politische oder legale Ansprüche, zum Beispiel im Kontext des Asylrechts, geltend zu machen. Ähnlich wie der Aussage körperlicher Versehrtheit ein größerer Wahrheitsgehalt beigemessen wird als subjektiven narrativen Zeugnissen, diente der Mauerriss als materielles Zeichen einer existenziellen Bedrohung für die Kinder und machte damit die Notwendigkeit zu handeln wenig streitbar. Die Talibé der Strafsektion hingegen wiesen keine sichtbaren gravierenden körperlichen Verletzungen auf, wodurch ein humanitär begründetes Eingreifen schwerer zu legitimieren gewesen wäre. Der Umgang der Organisation mit den beiden Fällen veranschaulichte besonders deutlich die limitierte Handlungsfähigkeit humanitärer Akteure. Diese müssen ambivalente Kompromisse und Komplizenschaften eingehen, um ihrer Ziel-

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setzung zu »helfen« und gleichzeitig Organisationslogiken gerecht zu werden. In diesem Kapitel richte ich mein Augenmerk auf solche und weitere dilemmatische Konstellationen im Kontext des humanitären Engagements für die Talibé. Während ich im vorangegangenen Kapitel die präventiv ausgerichtete, für die Landbevölkerung konzipierte Kommunikationsstrategie gegen die mendicité der Talibé analysierte und im nächsten Kapitel die Praktiken der »nachträglichen« Unterstützung für geflohene Talibé betrachten werde, interessieren mich an dieser Stelle vor allem die Formen unmittelbarer »Hilfe« für die Talibé zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. Dass eine Gabe immer eine Form der Reziprozität4 impliziert (vgl. Mauss 1923/24: 2002 [1923/24]: 90-95; Adloff & Mau 2005: 9-10) und selbst eine »bedingungslose Hilfe« die »Hilflosigkeit« des Empfängers »zum Preis hat« (Gouldner 1984: 131) oder dass Akteure in ihrem Praxishandeln formalen Prinzipien niemals vollständig gerecht werden, gilt in den Sozialwissenschaften als Allgemeinplatz. Ein Blick auf die verschiedenen Konstellationen der humanitären Hilfe für die Talibé bringt aber zutage, inwiefern dabei die Machtbeziehung zwischen Geber und Empfänger und deren beider Interessen auf unterschiedliche Weise ausgehandelt werden. Divergierende Interpretationen der Bedürfnisse der Talibé und die unterschiedlichen Ansätze der Hilfsprojekte haben eine Aussagekraft über die jeweilige Wahrnehmung der Problematik, aber auch über die ihnen zugrunde liegenden Konzepte von Kindheit. Verstärkt im Fokus neuerer ethnologischer Forschungen stehen zudem unintendierte Folgen humanitären Handelns (z.B. Ticktin 2006: 33), die im Kontext der Unterstützung für die Talibé als reale oder antizipierte kollaterale Wirkungen, zum Beispiel durch illegitime Bereicherungen der Koranlehrer, eine bedeutende Rolle einnehmen. In einem letzten Unterkapitel setze ich einen Kontrapunkt zur gängigen separaten Kategorisierung der Hilfeleistenden und Hilfeempfänger (vgl. Fechter 2012a: 1489). Ich beleuchte sowohl deren soziale Verstrickungen als auch die vielschichtigen individuellen Eigeninteressen humanitärer Akteure, die mit ihrem Engagement verbunden sind und zu ambivalenten Zuschreibungen ihnen gegenüber führen. Humanitäres Handeln erweist sich aus einer solchen akteurs- und praxisorientierten Perspektive als eine multilaterale Koproduktion, die von einer Gemengelage aus weit verzweigten und teils konkurrierenden Interessen geprägt ist. Humanitäres Handeln ist in die Praxis sozialer Beziehungen und periodischer Politiken eingebettet und findet nicht in einem neutralen »humanitären Raum« statt. Das Konzept des »humanitären Raums« wurde durch das Hochkommissariat

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Zwar fordert z.B. Erica Bornstein (2009: 624-626) Mauss’ These am Beispiel des indischen dān als eine per definitionem unreziproke Gabe heraus, jedoch erhofft sich der Geber bei solchen oder anderen Formen spirituell oder religiös motivierter Almosen eine zeitversetzte Belohnung durch Gott als »dritte Partei« (Bondaz & Bonhomme 2014: 491). Die Empfänger sind somit trotzdem konstitutiver Teil einer reziproken Konstellation.

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der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) im Kontext der zentralamerikanischen Konflikte während des Kalten Krieges erstmals verwendet. Es bezeichnete einen Handlungsraum, innerhalb dem es inter- und transnationalen humanitären Akteuren gewährleistet sein sollte, ungehindert von Staat und Militär gemäß ihren Prinzipien der Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Neutralität lebensrettende und leidensmindernde Hilfe zu leisten (vgl. Collinson & Elhawary 2012: 1). Vor dem Hintergrund einer zunehmend langfristigen und politischeren Ausrichtung humanitärer Einsätze löste sich jedoch eine trennscharfe Grenzziehung zwischen Humanitarismus und Entwicklungszusammenarbeit oder Menschenrechtsaktivismus zunehmend auf (vgl. Fox 2001: 276). Auch in meinem Forschungskontext zeigten manche Handlungsprinzipien und -ansätze im übertragenen Sinn Parallelen zum Konzept eines »humanitären Raums«. Zum Beispiel wurde gemeinhin eine universelle Gültigkeit bestimmter (Kinderrechts-)Politiken suggeriert und deren politische, historische und kulturelle Gebundenheit verschleiert (vgl. Wedel 2005: 33). Kinderheime wollten den Talibé Schutz vor ihrer »schädigenden« Umgebung bieten und die Talibé wurden häufig mit »Straßenkindern« als religiös und politisch wenig aufgeladene »neutrale« Kategorie gleichgesetzt (vgl. Perry 2004: 68). Die Vorstellung eines unpolitischen, prinzipienbasierten »humanitären Raums« aber kritisierten Forscher und auch humanitäre Akteure selbst vielfach als Utopie. Seit den 1970er Jahren gewann stattdessen verstärkt das Bezeugen von Menschenrechtsverletzungen als humanitärer Auftrag an Bedeutung und »Neutralität« wurde zunehmend als Mangel an Engagement und Mut interpretiert (z.B. Fox 2001: 277). Peter Redfield (2010: 54) plädiert daher dafür, die »Neutralität« humanitärer Akteure weniger als einen abstrakten Grundsatz zu evaluieren denn als relative Praxis unter jeweils spezifischen Umständen. Er bezieht sich auf eine bis ins 19. Jahrhundert reichende historische Kontinuität der »Neutralität« als ein stets partielles, temporäres und aushandelbares Prinzip (vgl. Redfield 2010: 67). Dorothea Hilhorst und Bram J. Jansen (2010: 1120-1123) hingegen schlagen das alternative Konzept einer »humanitären Arena« vor. Dieses soll stärker zum Ausdruck bringen, dass die humanitäre Praxis hoch politisch ist, indem Hilfsorganisationen sowohl von Regierungen und lokalen Interessensgruppen instrumentalisiert werden als auch diese selbst instrumentalisieren und sie mit anderen Organisationen um Spendengelder und andere Ressourcen konkurrieren. David Mosse (2004: 651-653) wiederum zeigt für den Kontext von Entwicklungsprojekten, dass deren Praxis weniger von bestimmten politischen Maßgaben geprägt ist als von der Notwendigkeit, Beziehungen zu knüpfen und zu erhalten. Er will die politischen Rahmungen von Projekten nicht als »wirkungslos« oder »unwichtig« entlarven, streicht aber in erster Linie deren diskursive Rolle heraus, um eine Vielzahl von Akteuren mit zum Teil ganz unterschiedlichen Interessen und Denk- und Handlungslogiken in ein Projekt zu integrieren (vgl. Mosse 2004: 664). Für ihn sind Projekte somit nicht »erfolgreich«, weil sie bestimmte entwicklungspolitische Vorgaben in die Realität

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umsetzen, sondern weil sie als kohärent mit solchen interpretiert werden können (vgl. Mosse 2004: 657).

Die (Anti-)Politik medizinischer Hilfen Ihre prekären Lebensbedingungen machten die Talibé verstärkt seit den 1990er Jahren zu einer der Hauptzielgruppen des humanitären Engagements lokaler, transund internationaler, religiöser und säkularer Organisationen in Senegal (vgl. Wiegelmann & Naumann 1997: 285). Wenngleich diese das Ziel eint, »Gutes« für die Talibé tun zu wollen, unterscheiden sie sich aus ideologischen, politischen und pragmatischen Gründen sowohl hinsichtlich ihrer Definition der Bedürfnisse der Talibé als auch in ihren jeweiligen Vorgehensweisen. Als Kinder haben es die Talibé leicht, das humanitäre Interesse auf sich zu ziehen. Im transnationalen humanitären Diskurs ist das »leidende Kind« die Symbolfigur des unpolitischen und unschuldigen, aber besonders vulnerablen Opfers schlechthin (z.B. Slim 1994: 189; Shaw 2014: 308; Malkki 2010: 64-67; Merry 2007: 195). Obwohl eine solche Imagination des Kindes mittlerweile ein global geteiltes Denkmuster darstellt, ist sie kulturell westlich und in vieler Hinsicht christlich fundiert (vgl. Malkki 2010: 59). Ein »Kind« zu sein ist, wie Malkki (2010: 80) herausstreicht, ein relationaler Begriff, der nur als Gegensatz eines mitgedachten »Erwachsenen« bedeutungsvoll wird. Da die Talibé vermeintlich von einem übermächtigen, skrupellosen erwachsenen Koranlehrer ausgebeutet oder von ihren eigenen Eltern vernachlässigt werden, qualifizieren sie sich durch diese inhärente Relationalität umso mehr als wenig umstrittene »Opfer«. Ähnlich universell ist die Wahrnehmung von Kindern als Verkörperung der Zukunft (z.B. Shaw 2014: 308; Diouf 2003: 4), auch wenn diese Gleichsetzung mit der kosmologischen Ordnung mancher kulturellen Kontexte nicht vereinbar ist (vgl. Malkki 2010: 75). Indem die Talibé durch mangelnde Berufskompetenzen gemeinhin als mutmaßlich kriminelle zukünftige Erwachsene und damit als Gefahr für die Gesellschaft gelten, erweisen sich die zukunftsbezogenen Assoziationen zu Kindern hier als besonders relevant. In jüngster Zeit wurde zudem verstärkt die Befürchtung laut, die intransparenten Finanzierungen der Koranschulen könnten in Verbindung mit dem transnationalen islamistischen Terrorismus stehen (z.B. HRW & PPDH 2015[o. S.]), wodurch die potenzielle zukünftige Bedrohung durch die Talibé eine neue Dimension erreichte. Die Talibé stellen so einerseits durch ihr sichtbar prekäres Dasein und ihr oft sehr junges Alter ideale Opferfiguren dar, durch ihre nicht »vermarktbaren« (Loimeier 2002: 135 nach Launay 1992) und unkontrollierten Fähigkeiten andererseits eine antizipierte gesellschaftliche Gefahr. Ihr mit einem transnationalen Kindheitskonzept unvereinbarer Aufenthalt auf der Straße rückt sie in eine ambivalente Position. Sie werden dadurch für besonders schutzbedürftig gehalten, aber auch wegen ihrer Schmutzigkeit, Krankheiten und Diebstähle

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gefürchtet. Somit zeigen sich die teilweise enge Verflechtung humanitärer und sicherheitslogischer Anliegen und die dem humanitären Diskurs inhärente Dialektik, nicht nur Gefahren für Kinder zu bekämpfen, sondern diese selbst als Gefahr wahrzunehmen (z.B. Shaw 2014: 308; Ennew & Swart-Kruger 2003: 82-84). Die humanitären Organisationen, die in Senegal mit Koranschulen »zusammenarbeiteten«, waren bemüht, das »Kindeswohl« und insbesondere grundlegende Bedürfnisse der Kinder als gemeinsames Anliegen in den Fokus zu stellen, um eine solche Kooperation ohne weitere Anreize für die maîtres zu legitimieren (z.B. Sow, Guédiawaye, 16.07.2012; Kébé, Dakar, 12.09.2012). Sie verstanden das »Kindeswohl« als ideologiefreies und universell gültiges Prinzip, aber versuchten gleichzeitig, nicht wertend hinsichtlich all solcher Aspekte kultureller und vor allem religiöser Prägung aufzutreten, die keine schwerwiegenden Kinderrechtsverletzungen darstellten oder ihren jeweiligen Projektzielen nicht zuwiderliefen. Damit ließ sich eine Kontinuität zu dem lange verfolgten Neutralitätsanspruch humanitärer Akteure erkennen. Darüber hinaus ermöglichte das »Kindeswohl« als gemeinsame Handlungsgrundlage, andere, eigene Interessen der Kinderrechtsakteure und maîtres in den Hintergrund treten zu lassen. Während transnational orientierte humanitäre Akteure und Koranlehrer bezüglich Erziehungspraktiken oft divergierende Vorstellungen vertreten, hat eine direkte materielle Hilfe in Form von Medikamenten, Hygieneprodukten, Kleidung, Matten oder Moskitonetzen den Vorteil, dass sie aus konfligierenden Perspektiven befürwortet werden kann. Nur besonders radikale Gegner der mendicité wandten sich strikt gegen jegliche Handlungen, die den informellen Koranschulen ihr Fortbestehen ermöglichen und einen ihrer Meinung nach unhaltbaren Status quo verlängern, auch wenn damit eine kurzfristige Vergrößerung des Leidens der Talibé verbunden sein sollte (z.B. Diagne, Dakar, 06.12.2011). Kritiker der klassischen daaras begrüßten jedoch gemeinhin ebenso wie religiös-konservative Akteure und Koranlehrer unmittelbare Hilfen zumindest als provisorische Maßnahme. Materielle Spenden sind sowohl mit den internationalen Kinderrechten vereinbar, indem sie dazu beitragen, den Kindern ihr »Recht« auf eine »medizinische Versorgung« oder einen »angemessenen Lebensstandard« zu gewährleisten (vgl. UN 1989, Art. 24, 27), als auch mit den Forderungen vieler maîtres nach einer tatsächlichen Unterstützung ihrer vom Staat »vernachlässigten« Koranschulen (z.B. Gaye, Pikine, 05.09.2012; Fall, Pikine, 01.09.2012; Bousso, Touba, 24.06.2013). Ebenso wie substanzielle Defizite wie etwa der Mauerriss oder sichtbare körperliche Leiden am glaubwürdigsten eine Bedürftigkeit symbolisieren, stehen materielle Spenden für eine reale Form der Unterstützung. Viele der von mir interviewten maîtres sahen in umfassenden direkten Hilfen den Schlüssel zu einer Verbesserung der im öffentlichen Diskurs kritisierten Lebensbedingungen der Talibé und warfen Staat und NGOs gleichermaßen vor, zu viel zu »reden« und zum Beispiel kostspielige Konferenzen zu organisieren, anstatt die ihnen zu Verfügung stehenden Gelder in die daaras zu investieren (z.B. Seck, Dakar, 11.10.2012; Fall,

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Pikine, 01.09.2012; Bousso, Touba, 24.06.2013). Materielle Hilfen sind dabei in das Spannungsfeld eingebettet, dass sie die unpolitischste und unmittelbarste Form der Unterstützung darstellen, aber keinen langfristigen strukturellen Wandel und sogar unintendierte Folgen bewirken können. Eine medizinische Grundversorgung für die Talibé ist wenig kontrovers, der Bedarf sonstiger materieller Annehmlichkeiten oder zusätzlicher Unterrichtsfächer während der Koranausbildung hingegen weitaus umstrittener (s. Kapitel 8). Dies schließt Spannungen trotzdem nicht aus. So berichtete mir der Sozialarbeiter Ibrahima über die eingangs erwähnte Koranschule in Kaolack, dass der verstorbene maître die Spenden seiner Organisation abgelehnt habe, in der Meinung, seine Talibé benötigten weder Moskitonetze noch »moderne« Medizin (Ibrahima, Kaolack, 22.08.2013). Die Heilung von beziehungsweise Vorsorge gegen Krankheit stellt dennoch eine ideologisch neutralisierte und entpolitisierte Form der Unterstützung dar und zählt zu denjenigen Bedürfnissen, die Individuen universell am einvernehmlichsten zugestanden werden. Wie zum Beispiel Miriam Ticktin (2006: 37-39) in ihrer Forschung zeigt, eröffnet eine nachgewiesene lebensbedrohliche Krankheit in vielen Ländern Asylbewerbern eine der wenigen Möglichkeiten zu einem legalen Aufenthaltstitel. Wenngleich kulturell divergierende Konzepte von Gesundheit existieren und sich auch in Senegal der Umgang mit Krankheiten von dem hierzulande in mancher Hinsicht unterscheidet, habe ich eine weitgehende Übereinstimmung in der Wahrnehmung und Benennung geläufiger Krankheitssymptome festgestellt. Während fehlende Matratzen oder Kleidungsstücke nicht zwingend problematisiert werden, gilt ein kranker Körper selbst in ökonomisch prekären Kontexten als universell anerkanntes Zeugnis eines zu großen Mangels (z.B. Diop, Guédiawaye, 01.06.2013). Medizinische Direkthilfen erhalten das »bloße Leben« (Agamben 1998: 1-13) der Talibé und sind daher ebenso wenig streitbar wie der Einsatz der NGO Sentinelles in Mbour, der den drohenden Einsturz der Koranschule verhinderte. Eine Unterstützung, die sich auf eine medizinische Versorgung beschränkt, priorisiert jedoch die objektiven physischen Bedürfnisse pauschal gegenüber allen anderen subjektiven Bedürfnissen der Talibé. Die religiös-konservative Logik, Leiden als einen konstitutiven edukativen Bestandteil der Koranausbildung zu verstehen, erkennt die Talibé somit stärker als soziale Subjekte an als eine humanitäre Logik, die eine reine Wiederherstellung ihrer physischen Integrität verfolgt. Der Fokus auf die physische und psychische Gesundheit individueller Talibé reflektiert die gegenwärtige biopolitische Ausrichtung des Humanitarismus, die dazu führt, dass komplexe soziale Prozesse in eine klinische Sprache übersetzt und andere mögliche Repräsentationsformen von Problematiken, zum Beispiel als soziale Ungleichheiten, überlagert werden (vgl. Guilhot 2012: 90-91). Globale humanitäre Politiken und Gesundheitsschutzpolitiken erweisen sich so als »zwei Seiten der gleichen Medaille« (Lakoff 2010 in Ticktin 2014: 283). Den damit einhergehenden de-politisierenden und de-historisierenden Implikationen kommt im Kontext der

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bettelnden Talibé eine besondere Relevanz zu. Sie tragen dazu bei, die konstitutive Bedeutung des Zusammenspiels der edukativen Prinzipien der Askese und Abhärtung mit einer historisch begründeten systemischen Exklusion der Koranschulen aus staatlichen Unterstützungs- und Kontrollmechanismen für die gegenwärtige Situation zu verschleiern. Stattdessen geraten Koranlehrer und Eltern gleichermaßen in den Verdacht selbstsüchtiger Verhaltensweisen, die sich vermeintlich in den körperlichen und psychischen Defiziten der Talibé unmittelbar materialisieren. Somit glauben humanitäre Organisationen nicht nur stellvertretend manche Aufgaben des Staates zu erfüllen (vgl. Randeria 2003: 20-21), sondern auch die der direkten Bezugspersonen der Kinder. Die Talibé werden implizit zu De-facto-Waisen stilisiert. Das humanitäre Einschreiten wird dadurch verstärkt legitimiert, da die Figur des »Waisenkindes« eine besonders privilegierte Stellung im transnationalen humanitären Diskurs einnimmt (vgl. Bornstein 2011: 127-129; Fassin 2012: 174-179). Die Organisation Sentinelles fokussierte sich unter anderem auf die Ausnahmefälle kranker Talibé und setzte sich das Ziel, einzelne Kinder in auffallend schlechtem Zustand ganz aus der daara zu »befreien« (Kébé, Dakar, 12.09.2012). Die Ausrichtung auf solche extremen Ausnahmefälle hatte für die Organisation den Vorteil, dass sie ihr Budget und ihren Verantwortungsbereich limitieren, den Effekt jedoch, den sie auf das Leben solcher besonders leidenden Talibé ausübte, maximieren konnte. Nur sind, wie Boris Nieswand (2015: 24) feststellt, »Norm« und »Ausnahme« keine objektiv feststellbaren Sachverhalte, sondern »relationale Begrifflichkeiten, deren Anwendung selbst Gegenstand politischer Auseinandersetzungen ist«. So rechtfertigen Ausnahmefälle die Außer-Kraft-Setzung mancher normalgültigen Regeln des humanitären Handelns (vgl. Guilhot 2012: 96), hier zum Beispiel die einer transparenten, dialogischen Kooperation mit den maîtres. Die damalige Programmverantwortliche der NGO, Florie Kébé, berichtete mir von einem schwerkranken Talibé, dessen maître nicht seine Einwilligung geben wollte, ihn ins Krankenhaus einzuweisen. Unter dem Vorwand einer Anordnung durch das Personal des örtlichen poste de santé (»Gesundheitsposten«) gelang es der NGO schließlich, das Kind zu hospitalisieren (Kébé, Dakar, 12.09.2012). Das außerordentlich schlechte gesundheitliche Befinden des Talibé legitimierte die Überlistung des maître und damit eine Vorgehensweise, die zwar den regulären Organisationsprinzipien zuwiderlief, dem prioritären humanitären Auftrag der Lebensrettung und Leidensminderung hingegen umso mehr entsprach. Der Ausnahmefall entband die Mitarbeiter der NGO von einem »kooperativen«, wenn auch gleichermaßen strategischen, Verhalten und ermöglichte stattdessen die Zuschreibung eindeutiger »Opfer«-, »Täter«- und »Retter«-Rollen (vgl. Mutua 2001: 201-204; Karpman 1968: 40). Trotz seiner humanitären Berechtigung reflektiert, verfestigt und reproduziert ein solches auf extreme Situationen ausgerichtetes Engagement eine negative Perspektive auf die Koranlehrer und kann daher zu einer Verschärfung der Kontroversen oder sogar der Problematik selbst beitragen.

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Do ut des: Fragile Kooperationen mit den Koranlehrern Durch materielle Hilfen werden die daaras zwar infrastrukturell gestärkt, gleichzeitig jedoch problematisiert, womit eine Parallele zu der von Talcott Parson (1951: 437438) analysierten Patientenrolle, die ermächtigt und entmächtigt, erkennbar wird. Einer solchen Logik versuchten manche humanitäre Akteure im Zuge eines proaktiven Ansatzes entgegenzuwirken, indem Spenden explizit an Koranschulen verteilt wurden, deren Talibé nicht bettelten. Damit sollten vorbildliche daaras belohnt und gefördert, anstatt Mängel korrigiert und diejenigen maîtres, welche die grundlegenden Bedürfnisse ihrer Talibé am stärksten missachteten, nicht zusätzlich in ihrem Verhalten unterstützt werden (z.B. Ndiayedaara, Pikine, 08.05.2012). Viele der Organisationen, die ich während meiner Feldforschung kennenlernte, zum Beispiel die erwähnte NGO Sentinelles, aber auch Intermondes, Maison de la Gare oder das Centre JCLTIS, zeigten ein großes Bemühen, dass nur die Talibé und nicht etwa die maîtres selbst von ihren Investitionen profitierten. Die NGOs waren sich ihrer Rolle als »Türöffner zu Ressourcen« (Ticktin 2014: 279) bewusst und wollten die Empfänger gemäß ihren eigenen Prinzipien und Politiken selektieren. So sollte nicht nur verhindert werden, die zum Feindbild stilisierten maîtres zu bereichern, sondern auch, einen Anreizeffekt zu verursachen, der zu einem Zustrom neuer maîtres und Talibé und damit zu einer Vergrößerung der Problematik führen könnte (Kébé, Dakar, 12.09.2012; Lo, Pikine, 25.05.2012; Diallo, Mbao, 13.09.2012). Auch Koranlehrer, die selbst nicht betteln ließen, fühlten sich mitunter übervorteilt durch Spenden und einkommensgenerierende Maßnahmen als Alternative zum Betteln der Talibé, die sie als »Belohnung« für ein deviantes Verhalten empfanden. Elimane Diagne zum Beispiel, der eine daara de quartier leitete und selbst in die PPDH eingebunden war, berichtete mir von Organisationen, die manchen maîtres einen Führerschein und ein Auto finanziert hatten, um ihnen zu ermöglichen, sich als Chauffeur ein sicheres Einkommen zu erwirtschaften (Diagne, Pikine, 11.07.2012). Da ich für dieses auffallend lukrative Projekt keine zuverlässigen Quellen finden konnte, ist es denkbar, dass es sich um ein überspitztes Gerücht handelte. In jedem Fall bewies der Kommentar, dass nicht nur das Verhältnis zwischen den humanitären Organisationen und den maîtres von Misstrauen geprägt ist, sondern sich die maîtres mit ihren unterschiedlichen Koranschultypen selbst gegenseitig illegitimer Bereicherungen verdächtigen. Aus einer daara-freundlichen Perspektive hingegen stellt eine potenzielle Veruntreuung materieller Hilfen durch die maîtres ein seltenes, wenn auch unvermeidbares Phänomen dar. Schließlich gebe es in jedem Berufszweig Personen, die ihre Arbeit »nicht gut« verrichteten, bemerkte Aly Kebe, der eine Koranschule in prekären Verhältnissen in Pikine unterhielt (Kebe, Pikine, 23.10.2012; vgl. Seck, Dakar, 11.10.2012). Idrissa Cissé Ndiaye, Präsident der Wissenschaftlichen Bildungskommission in Touba, konservativ eingestellt und mit engen Beziehungen zum mouridischen Milieu, brachte mit der metaphorischen Frage »(…) Und

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wer bewacht den Wächter?« lapidar das Dilemma zu Ausdruck, dass eine integre Verwendung von Spenden letztlich niemals zweifelsfrei garantiert werden könne (Ndiaye, Touba, 24.06.2013). Während viele Koranlehrer selbst also die Missstände in den daaras allein auf einen ökonomischen Mangel zurückführten und die Problematik eines Missbrauchs des Bettelns oder materieller Hilfen weitgehend ausklammerten, hoben Akteure mit einer ablehnenden Haltung gegenüber den daaras diese Gefahr stark hervor. So erzählte mir die damalige Programmverantwortliche von Sentinelles, Florie Kébé, dass maîtres oft Anfragen wegen eines Zuschusses für Renovierungen oder den Ausbau ihrer daara an sie richteten. Aus Furcht, die maîtres würden ihre vergrößerte daara anschließend dazu nutzen, noch mehr Talibé aufzunehmen, sah die Organisation von einer derartigen Form der Unterstützung ab (Kébé, Dakar, 12.09.2012). Die Überfüllung vieler daaras wurde jedoch weithin als eines ihrer gravierendsten Probleme anerkannt und auch von manchen Talibé selbst als einen der leidvollsten Aspekte ihres Alltags beklagt (z.B. Silla, Kolda, 12.05.2013). Aus ähnlichen Gründen verzichtete die Organisation auf Nahrungsspenden. Obwohl von solchen Maßnahmen potenziell eine größere Anzahl von Talibé kontinuierlich profitieren könnte, überwog das Anliegen, die maîtres als unerwünschte Mitprofiteure zu umgehen oder unintendierte Folgen der Hilfe, wie die Aufnahme zusätzlicher Talibé, zu vermeiden. Diese Szenarien konnten durch die individuell angepasste medizinische Versorgung der Talibé umgangen werden, da Sentinelles ein Arrangement mit bestimmten Apotheken vereinbart hatte, die den namentlich gelisteten Talibé gegen die Vorlage eines Rezepts die benötigten Medikamente aushändigten. Den Koranlehrern stand so kaum Spielraum für einen Missbrauch offen (Ibrahima, Kaolack, 22.08.2013). Die Furcht vor einer Übervorteilung und vor unintendierten Folgen, die das eigene Interesse konterkarieren, war jedoch beidseitig. Cheikh Diallo, Programmkoordinator des Centre JCLTIS mit Unterstützungsangeboten für Talibé in der Kommune Mbao (Region Dakar), berichtete mir zum Beispiel, dass mehrere maîtres aus der Umgebung zunächst ihren Talibé gestattet hatten, an einem ergänzenden Alphabetisierungsprogramm in Französisch teilzunehmen. Sie zogen ihre Erlaubnis nach einiger Zeit aber wieder zurück, als die Talibé dem Französischunterricht mit weitaus größerem Eifer folgten als ihren Koranstudien (Diallo, Mbao, 13.09.2012). Mansour Fall, Leiter einer daara in Pikine, gab mir wiederum bei meinem Besuch deutlich zu verstehen, dass er mich überhaupt nur empfing, weil weder ich noch meine begleitende Kontaktperson einer NGO angehörten. Er habe schon zu oft die Erfahrung gemacht, dass deren Vertreter umfangreiche Informationen über seine Koranschule und seine Talibé einzuholen versuchten, um dann mit einer Vielzahl leerer Versprechungen wieder zu verschwinden (Fall, Pikine, 01.09.2012). Dass Koranlehrer »Informationen« preisgeben müssen, bevor sie sich einer angemessenen Gegenleistung seitens der jeweiligen Organisation sicher sein können – mit Frank Adloff und Steffen Sigmund (2005: 47) eine »Vorleistung unter Ungewiss-

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heit« erbringen – verstärkt die Machtasymmetrie zwischen den beteiligten Akteuren und das Misstrauen der Koranlehrer. Diese sollen ausreichend bedürftig und gleichzeitig ausreichend aufgeschlossen gegenüber Veränderungen erscheinen, um für ein Hilfsprojekt in Frage zu kommen. »Kooperationen« zwischen Koranlehrern und humanitären Organisationen sind daher fragile Arrangements, die nur so lange aufrechterhalten oder überhaupt eingegangen werden, wie beide Seiten sowohl ihren Beitrag »liefern« als auch ihre eigenen Interessen erfüllt sehen. So konnten die Mitarbeiter der NGO Sentinelles, die sich eigentlich auf die Gewährleistung der medizinischen Versorgung der Talibé beschränkte, die betreffenden Koranschulen nach ihrem Gutdünken besuchen und dabei gegebenenfalls noch andere Missstände oder Misshandlungsfälle aufdecken (Ibrahima, Kaolack, 22.08.2013). Dadurch erweiterten sie zwar auf »unauffällige« Weise ihren eigenen Handlungsspielraum, erhöhten jedoch auch die Gefahr, dass für die maîtres die wahrgenommenen Nachteile die Vorteile der Kooperation überstiegen. Der Sozialarbeiter Ibrahima berichtete mir, dass seiner Organisation mittlerweile in mehreren Koranschulen, deren maîtres nicht mit den Bedingungen einer Nachverfolgung der Fälle einverstanden waren, der Zutritt verwehrt würde (Ibrahima, Kaolack, 22.08.2013). Die ausschließlich auf die Kinder fokussierte Unterstützung, die mit kontrollierenden Besuchen und bisweilen finanziellen Eigenbeteiligungen der maîtres verbunden ist, führt dazu, dass »Kooperationen« vor allem mit solchen maîtres zustande kommen, die nicht dem dämonisierten Bild eines »Kinderhändlers« entsprechen, sondern selbst daran interessiert sind, die Lebensbedingungen ihrer Talibé zu verbessern. Dadurch bleiben die daaras, deren Talibé am dringendsten einer Hilfe und Überwachung bedürfen würden, jedoch oft außerhalb der Reichweite humanitärer Akteure. Solche Selektionsprozesse können zudem die allgemeine Wahrnehmung der Problematik durch die beteiligten Kinderrechtsakteure verzerren, die zum Teil überzeugt waren, dass das »Gesetz gegen das Betteln« nun ohne Weiteres angewendet werden könne, da sich mittlerweile »selbst die Koranlehrer« gegen die mendicité aussprächen (z.B. Ndiayedaara, Thiès, 05.07.2013). Dabei hatten sie freilich diejenigen maîtres im Blick, mit denen sie »zusammenarbeiteten« oder die an einschlägigen Konferenzen als Repräsentanten des religiösen Milieus teilnahmen und selbst aktiv in den transnationalen Kinderrechtsdiskurs eingebunden waren. Wenn nicht aus einer humanitären, so ist es aus einer operativen Perspektive durchaus vorteilhaft für die NGOs, »Kooperationen« mit maîtres einzugehen, deren grundlegende Einstellungen bereits im Vorfeld mit ihren eigenen übereinstimmen oder nur geringfügig von ihnen abweichen, da sie ihre Ziele dann mit geringerem Zeit- und Ressourcenaufwand erreichen können. Einzelne, besonders dramatische Ausnahmefälle erweisen sich daher in Kombination mit einer möglichst großen Anzahl »kooperativer« Koranschulen in operativer und repräsentativer Hinsicht als vorteilhaftes Handlungsfeld für humanitäre Organisationen.

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Auch die »Afrikanische Bewegung arbeitender Kinder und Jugendlicher« (MAEJT), die explizit keine konfrontative Perspektive auf die Koranlehrer einnahm, knüpfte Aufwendungen an die Koranschulen an eine konkrete Gegenleistung. So berichtete mir Moussa Harouna Sambo, Koordinator des MAEJT bei Enda Jeunesse Action, vom Beispiel einer Gruppe EJT, die sich um die Nahrung und Wäsche jeweils eines Talibé kümmerte unter der Bedingung, dass die Koranlehrer diese dann nicht länger betteln schickten (Sambo, Dakar, 23.04.2012). Während somit die Talibé allein ihre Bedürftigkeit für eine Unterstützung qualifiziert, hängt deren tatsächliche Gewährung in einem zweiten Schritt von der Kooperationsbereitschaft ihrer maîtres ab. Die humanitären Leistungen werden als »soziale Investition« (Adloff & Sigmund 2005: 230) verstanden, die sich »lohnen« (dies.) soll. Bei kooperativen maîtres kommt sowohl der »Einsatz« der Organisation – materielle Güter – als auch der der maîtres – zum Beispiel eine Reduzierung der mendicité – der Zielsetzung zugute, die Lebensbedingungen der Talibé an ein transnationales Kindheitskonzept anzupassen. Bei vertragsbrüchigen maîtres hingegen kann deren Verhalten zu einem doppelt konterkarierenden Effekt führen. Wenn etwa ein maître eine renovierte daara dazu nutzt, zusätzliche Talibé aufzunehmen, verbessert sich nicht nur die Unterbringung der zuvor anwesenden Talibé nicht, sondern es werden noch mehr Kinder denselben Bedingungen ausgesetzt (vgl. Kébé, Dakar, 12.09.2012). Solche vertragsähnlichen Abmachungen zeigen, dass sich die Hilfen selbst häufig zwar an den elementaren Grundbedürfnissen der Talibé orientieren, diese Politik des »bloßen Lebens« (Agamben 1998: 1-13) jedoch in komplexe marktförmige Austauschverhältnisse eingebettet ist. Die beteiligten Akteure wägen ihre »Einsätze« und »Gewinne«, die ökonomischer, sozialer und ideeller Art sein können, sorgfältig ab. Die humanitären Organisationen geben in ihrer Rolle als »Dienstleister« (Kolb 2014: 6) für die Umsetzung bestimmter »Kinderrechte« die Rechenschaftspflicht, die sie selbst übergeordneten Institutionen schuldig sind, an die maîtres weiter. Diese zum Teil weitreichenden Verkettungen zeigten sich besonders deutlich im Kontext des Millennium Challenge Account der Vereinigten Staaten, dessen Gelder unter anderem an ein nachweisliches staatliches Engagement gegen Menschenhandel gebunden waren. In der Folge beauftragten staatliche beziehungsweise staatlich geförderte Institutionen und UN-Organisationen wiederum lokale NGOs mit Projekten zur Bekämpfung des Bettelns der Talibé, die alle unter dem Zugzwang standen, ihren jeweiligen Kontrollinstanzen sicht- und messbare »Erfolge« zu präsentieren (z.B. Dia, Dakar, 03.10.2012). Vor diesem Hintergrund hatte die formale Einhaltung der Abmachungen mit den maîtres häufig eine größere Bedeutung als die tatsächliche Praxis. Birame Ndiaye, Programmkoordinator der Organisation Enda Jeunesse Action, die auf Grundlage bestimmter Voraussetzungen mit mehreren daaras zusammenarbeitete, gab mir gegenüber zu, dass es schwierig für sie sei, zuverlässig zu überprüfen, ob die maîtres das Betteln tatsächlich reduzierten oder auf manche

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Bestrafungsformen verzichteten (Ndiaye, Guédiawaye, 01.08.2012). Dennoch sind die Organisation auf diese Weise gegen den potenziellen Vorwurf gefeit, die mendicité durch eine bedingungslose materielle Unterstützung sogar zu befördern. Nach David Mosse (2004: 657) lassen sich solche Kooperation somit als »erfolgreich« bezeichnen, weil die Praxis als prinzipienkonform interpretiert werden kann, nicht weil bestimmte Prinzipien – an Bedingungen geknüpfte Sachleistungen für die daaras – in der Praxis zwangsläufig umgesetzt werden. Hinsichtlich der Kontrollmacht über materielle und informationelle Ressourcen in dem oft von Misstrauen geprägten Verhältnis zwischen transnationalen humanitären Akteuren und Koranlehrern sind auch die Tagesheime für Talibé, die von unterschiedlichen Organisationen unterhalten werden, analytisch interessant. Die Tagesheime richten sich nicht an aus der Koranschule oder ihren Familien geflohene Kinder und bieten daher keine Übernachtungsmöglichkeit, sondern sind als Orte der Zuflucht und der Erholung für die bettelnden Talibé gedacht. Eines solcher Heime, das Maison de la Gare, konnte ich während eines mehrtägigen Forschungsbesuchs in St. Louis, der ehemaligen Kolonialhauptstadt im Norden Senegals, im August 2012 vertieft kennenlernen. Das Maison de la Gare gestattete den Talibé täglich ab dem Nachmittag, sich auf einem schattigen Gelände auszuruhen, zu spielen und an Alphabetisierungskursen teilzunehmen. Sie erhielten auch kleinere medizinische Versorgungen, Zugang zu Wasser und ein goûter (Nachmittagssnack), zum Beispiel ein Nutellabrot und einen Becher Milch. Nicht zuletzt fanden sie dort ihnen freundlich gesinnte Ansprechpartner und Bezugspersonen vor. Materielle Hilfen wie Nahrungsmittel und Medikamente werden durch solche Anlaufstellen ausgelagert und vor einem potenziellen Missbrauch durch die Koranlehrer geschützt. Den Talibé würden sogar Kleiderspenden von ihren maîtres weggenommen, beklagte Issa Kouyate, der Leiter der Einrichtung (Kouyate, St. Louis, 04.08.2012). Nur Gaben, die direkt von den Talibé konsumiert werden oder immateriell sind, wie Zeit zum Ausruhen und persönliche Zuwendung, garantieren somit, dass die maîtres nicht in unerwünschter Weise von ihnen profitieren. Durch die Praktik der meist mit harten Bestrafungen verbundenen versements können jedoch auch solche Heime keine eindeutige und konsequente Trennung zwischen dem Profit der maîtres und dem der Talibé vornehmen. Zum Beispiel verfügte das Maison de la Gare über einen Gemüsegarten, den die Talibé selbst bewirtschafteten. Es stand ihnen frei, die Erträge zu verkaufen, um ihr versement zu erfüllen, wodurch das Heim nicht nur die Lebensbedingungen der Talibé, sondern indirekt auch die der maîtres »verbesserte«. Aus einer von dichotomen Täter- und Opferzuschreibungen geprägten Perspektive auf die Koranschulproblematik erweist es sich somit als spannungsvoll, dass die Talibé und ihre maîtres häufig als »Einheit« behandelt werden müssen, um den Talibé eine humanitäre Unterstützung zuteil werden zu lassen. Am deutlichsten kommt diese Wechselwirksamkeit in den täglichen versements zum Tragen, deren Erfüllung die Koranlehrer bereichert und gleich-

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zeitig die Talibé vor harten Strafen bewahrt. Unintendierter Schaden und unintendierter Nutzen durch humanitäres Engagement sind also bisweilen auf paradoxe Art miteinander verknüpft. Issa Kouyate erzählte außerdem, dass die maîtres ihre eigenen Söhne zur »Spionage« in seine Einrichtung schicken würden, bezeichnete jedoch selbst einen der älteren Talibé, mit dem er ein besonders enges Verhältnis pflegte, als seinen »Spitzel«, der ihn über problematische Vorfälle in der daara auf dem Laufenden halte (Kouyate, St. Louis, 04.06.2012). Dass Dritte als »Spitzel« zwischen den Koranlehren und den humanitären Akteuren agieren, deutet darauf hin, dass diese »Kooperationen« oft nur bedingt auf gemeinsamen Interessen basieren. Dies führt dazu, dass jegliche Zugeständnisse von beiden Seiten von strengen Prüf- und Selektionsprozessen begleitet werden. Der Einsatz von intermediären Personen verkörpert zwar das Misstrauen zwischen den Koranlehrern und den humanitären Akteuren, kann aber – wenn Verdachtsmomente entkräftet werden – Vertrauen gerade herstellen und dadurch zum Fortbestehen der »Kooperation« beitragen. Die diskutierten Beispiele zeigten, dass humanitäre Akteure ihren Handlungsspielraum konstant aushandeln müssen. Dieser ist durch bestimmte Möglichkeitsbedingungen limitiert, jedoch nicht klar begrenzt und wird auch durch nicht direkt planbare, zum Beispiel zwischenmenschliche Faktoren beeinflusst. Die NGOs dürfen weder »zu viel« noch »zu wenig« tun, um ihre Legitimation gegenüber konkurrierenden Akteuren nicht zu verlieren und unintendierte Folgen zu vermeiden. Von den Koranlehrern muss ihr Handeln als eine gleichberechtigte und respektvolle Kooperation mit gemeinsamen Interessen interpretiert werden können, geldgebende Partnerorganisationen und westliche Spender erwarten eine sicht- und messbare Verbesserung der Lebensbedingungen der Talibé gemäß transnationalen Kinderrechtsprinzipien. Dadurch entsteht ein Spannungsfeld, in dem humanitäre Akteure zwischen unterschiedlichen Bezugspunkten manövrieren, zum Beispiel dem Verhalten der maîtres, Geboten übergeordneter moralischer Instanzen wie des Korans oder pragmatischen und organisationspolitischen Vorgaben. So war Issa Kouyate der Meinung, dass er »hart« mit den maîtres sein müsse, weil auch diese »hart« mit den Talibé seien: »Sie kommen mit dem Stock und den sollen auch sie bekommen«. Er bezog sich dabei unter anderem auf sein Vorgehen, schwerere Körperverletzungen der Talibé beim örtlichen Jugendamt (AEMO) zu denunzieren, was zu seinem Leidwesen abgesehen von vereinzelten Vorladungen der maîtres stets folgenlos blieb. Zudem betonte er, Kritik gegenüber den Koranlehrern, etwa hinsichtlich der unhygienischen Bedingungen in ihren daaras, deutlich und ohne Umschweife zu äußern, da die Aussagen des Korans diesbezüglich ebenso »klar« seien (Kouyate, St. Louis, 05.08.2012). Die eingangs erwähnte NGO Sentinelles wiederum finanzierte einer daara nie alle, sondern nur einen Teil der Moskitonetze, um auch die maîtres selbst »zur Verantwortung zu ziehen« (Kébé, Dakar, 12.09.2012). Auf diese Weise konnte sowohl einer Übervorteilung vorgebeugt als auch an das gemein-

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same Interesse appelliert werden. Der zu Beginn des Kapitels geschilderte Fall der daara in Kaolack hingegen zeigte, dass die Sozialarbeiter zwar durchsetzen konnten, mit der Offenlegung der Strafsektion die Lebensbedingungen der Talibé zu verbessern, sie aber nicht versuchten, mithilfe externer Autoritäten eine komplette Aufgabe dieser Bestrafungsmaßnahme zu erreichen, da sonst mit einer nachfolgenden Einschränkung ihrer Handlungsmöglichkeiten zu rechnen gewesen wäre. So dient einerseits ein Aufweichen humanitärer Prinzipien oder menschenrechtsbasierter Ansprüche paradoxerweise mithin dazu, ihnen stärker gerecht werden zu können. Andererseits haben (materielle und personelle) Selektions- und Kontrollprozesse mit den gleichen Zielsetzungen bisweilen zur Folge, dass die Talibé derjenigen Koranschulen, in denen ihre »Kinderrechte« am schwersten verletzt werden, keine humanitäre Unterstützung erfahren. Transnationale Organisationen verfolgen häufig die Logik, die Talibé aus ihrer daara – und sei es nur für gewisse Zeit – zu isolieren. Dies zeigte sich im Fall von Sentinelles, die Kinder in besonders schlechtem Zustand dauerhaft aus ihrer Koranschule »befreite«, aber auch am Beispiel der Tagesheime, die einen komplementären Ort sowohl zu den Koranschulen mit ihrer unzureichenden Ausstattung und harschen Umgangsformen als auch zur »Straße« darstellen und die Lebensbedingungen der Talibé zumindest partiell und temporär an transnationale Kinderrechtsansprüche anpassen wollen. Die Tagesheime reflektieren zugleich den humanitären Ansatz, Ausnahmeräume in einer von Konflikten oder Leiden geprägten Umgebung zu schaffen (vgl. Ticktin 2014: 278). Als dauerhafte5 Einrichtungen tragen sie jedoch auch dazu bei, die Dringlichkeit einer politisch-strukturellen Lösung hinauszuzögern und stehen daher mitunter in der Kritik radikaler Kinderrechtsakteure (z.B. Diagne, 06.12.2011). Indem die Hilfsangebote aus den Koranschulen ausgelagert werden, kommt auch im Ansatz der Tagesheime – wenngleich im direkten Umgang meist verborgen – eine misstrauische Haltung gegenüber den maîtres coraniques zum Ausdruck. Andere Projekte hingegen binden die maîtres stärker als Ressource denn als »Hindernisse« ein. Beispielhaft hierfür waren die bereits im vorangegangenen Kapitel analysierten Aktivitäten der Kinder- und Jugendarbeiterbewegung MAEJT zugunsten der Talibé. Meine Hauptkontaktperson des MAEJT, Khady Diop, erzählte mir eines Tages, sie habe am Vorabend einen kranken Talibé getroffen, der trotz seines Zustandes aus Furcht vor den Bestrafungen seines maître bettelte. Sie begleitete ihn daraufhin in seine daara, um den maître zu »sensibilisieren«. Auf meine Frage, warum sie das Kind nicht eher zu einem der Aufnahmeheime gebracht habe, antwortete sie überzeugt, dass es doch »besser« sei, die Einstel-

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Hier zeigt sich eine Parallele zu Giorgio Agambens (2004:7-41) Analyse des Ausnahmezustandes als »Paradigma des Regierens« moderner westlicher Demokratien. Wenngleich in andere politische Prozesse eingebettet, halten auch die von mir beschriebenen »Ausnahmeräume« die konventionellen Mechanismen humanitärer Hilfe am Leben.

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lung des maître zu ändern als das Kind aus seiner daara herauszunehmen (Diop, Dakar, 01.06.2013). Ihre Argumentation zeigte, dass sie eine drohende räumliche Trennung des Talibé von seiner daara, etwa durch eine Flucht, gerade verhindern wollte. Ihr ging es darum, die individuellen Bedürfnisse des Kindes mit den institutionellen Gegebenheiten und der Beziehung zwischen dem Talibé und seinem maître in Einklang zu bringen, anstatt losgelöst davon zu betrachten. Unabhängig davon, ob ihr Vorgehen tatsächlich erfolgreich war, machte es deutlich, dass sie den Koranlehrer nicht pauschal als vertrauensunwürdigen, unzugänglichen »Gegner« wahrnahm. Von der potenziellen Verhaltensänderung des maître konnten zudem alle Talibé der daara und nicht nur der einzelne betroffene profitieren. Die Organisation Intermondes ermöglichte wiederum einzelnen Koranlehrern mit ihren daaras die Rückkehr in ihr Herkunftsdorf. Auf diese Weise wurden nicht die Talibé aus ihrer daara, sondern die gesamte daara aus ihrer Umgebung herausgelöst (Sow, Guédiawaye, 16.07.2012). Ein solcher Ansatz problematisiert anstatt der Institution der daara oder der Koranlehrer den urbanen Kontext beziehungsweise die vorausgehende Migration als Ursache einer beziehungs- und mittellosen Existenz in der Stadt. Er reflektiert eine retraditionalisierende Perspektive, welche die ländlichen daaras gegenüber ihren urbanen Pendants idealisiert, ist aber ebenso mit dem derzeit dominierenden transnationalen Kindheitskonzept vereinbar, das der sozialräumlichen Mobilität von Kindern tendenziell ablehnend gegenübersteht und deren Verbleib in der Nuklearfamilie befürwortet. Indem die Rückführungsprojekte die gesamte daara und auch die Dorfgemeinschaft am Herkunftsort einbezogen, schienen sie vor allem im Vergleich zur »Befreiung« einzelner Talibé besonders integrativ. Diese Integrativität beschränkte sich jedoch auf konservative gesellschaftliche Gefüge und schloss Talibé und maîtres von einer Teilhabe am urbanen Sozialraum aus. Im Zuge der organisierten Rückkehr wurde einem maître vorzugsweise eine landwirtschaftliche Grundausstattung zur Verfügung gestellt mit dem Ziel, nach einer dreijährigen begleiteten Phase auf die Praktik des Bettelns verzichten zu können. Das Material und das Grundstück gingen aber nicht in seinen Besitz über, sondern wurden der jeweiligen Dorfgemeinschaft überschrieben. Die Talibé und der Koranlehrer mit seiner Familie erhielten darüber hinaus eine Krankenversicherung. Jeder Rückführungsprozess setzte eine dreijährige vorbereitende Zusammenarbeit voraus. Die lange Planung implizierte auch, dass der Problematik eine geringere Dringlichkeit beigemessen wurde. Fodé Sow, Programmbeauftragter bei Intermondes für diesen Bereich, betonte, die maîtres nicht zu früh »zu verwöhnen«, um in ihnen keine Anspruchshaltung zu wecken. Er lasse sie wissen, dass er sie »nicht reich machen« wolle und nicht sie, sondern nur die Kinder ihn interessierten (Sow, Guédiawaye, 16.07.2012). Die maîtres mussten sich also für die Unterstützung qualifizieren, indem sie sich auf zeitintensive und nicht übermäßig lukrative Bedingungen einließen. Dadurch bestätigten sie sich als »echte« Koranlehrer mit

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legitimen Interessen und als »verdiente Empfänger« (vgl. Mindry 2001:1189; Redfield 2008: 204-206; Warren 2007: 249). Auch dieser Projektansatz reflektierte den prekären Handlungsraum, innerhalb dem humanitäre Akteure manövrieren, indem sie den maîtres möglichst wenig, aber ausreichend viele Anreize setzen und maître und Talibé in vieler Hinsicht als erzwungene »Einheit« behandeln müssen. Nur so können sie eine Kooperation aufrechterhalten, gleichzeitig aber unlautere Motive oder unintendierte Folgen vermeiden. Darüber hinaus sagte die Art und Weise, wie die Bedürfnisse der Talibé von den Akteuren interpretiert wurden, viel darüber aus, wie sie die Problematik wahrnahmen und was sie unter einer »guten« Kindheit verstanden. Meistens waren es die humanitären Organisationen, die als Geber in der Lage waren, Bedarfe zu definieren (vgl. Ostrander 2007: 357). Dies verstärkte die einem Geber-Nehmer-Verhältnis eingeschriebene Machtasymmetrie, aber auch die Gefahr, dass die Hilfen als von außen aufoktroyiert empfunden wurden – insbesondere dann, wenn die entsprechende Organisation erkennbar transnational geprägt war. Gaben lassen sich von ihren Gebern nicht abkoppeln, sie sind immer »Zeichensysteme und Träger von Identitäten« (Adloff & Sigmund 2005: 221). Indem humanitäre Akteure einen bestimmten Bedarf diagnostizieren oder verschiedene Bedürfnisse der Talibé gemäß ihren eigenen Maßstäben priorisieren, wird ein Menschen- und Gesellschaftsbild gestützt, das ihren Vorstellungen entspricht. Dennoch sind die maîtres als Empfänger der Spenden nicht machtlos, da sie die Unterstützung ablehnen, umdeuten oder Kontrollmechanismen der Organisationen subvertieren können (vgl. Ostrander 2007: 357). So zeigte sich, dass humanitäre Akteure eigene Bedürfnisse beziehungsweise Bedürfnisse, die sie selbst mit einer angemessenen Kindheit oder einem physischen und psychischen Wohlbefinden verbanden, auf die Talibé projizierten. Der damalige Projektleiter von Sentinelles, Mathieu Geschang, überlegte zum Beispiel bei einem Besuch einer daara in Mbour laut zu mir gewandt: »(…) Ich denke, das Schlimmste, wenn du in eine daara kommst, ist, dass du nichts mehr besitzt! Wenn du davor zum Beispiel irgendetwas von deiner Mutter bekommen hast, ein T-Shirt oder was auch immer (…) In der daara musst du es immer dagegen verteidigen, dass es dir nicht von irgendjemandem weggenommen wird (…)« (Geschang, Mbour, 23.08.2013, meine Übersetzung). Er passte seine Gedanken zwar an den lokalen Kontext an, indem er von Geschenken wie einem »T-Shirt« und nicht etwa von aufwändigem Spielzeug sprach, seine Annahme exklusiver privater Besitztümer und Beziehungen basierte jedoch erkennbar auf einem westlich geprägten Kindheitskonzept (vgl. Boyden 1997: 192) und seine Besorgnis deutete auf eine kritische, wenn nicht ablehnende Haltung gegenüber der Koranausbildung hin. Das moderne transnationale Kindheitsverständnis misst Spiel und Erholung einen hohen Stellenwert bei, der sogar in einem eige-

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nen Artikel der UN-Kinderrechtskonvention (UN 1989, Art. 31) verrechtlicht wurde. Wenngleich auch der Wochenrhythmus der klassischen Koranausbildung einen studienfreien Tag vorsieht, stimmen die Vorstellungen der Koranlehrer und die transnationaler Kinderrechtsakteure hinsichtlich der Gestaltung dieser »freien« Zeit nicht immer überein. Ein im Jahr 2012 geplanter Vergnügungstag unter dem Motto »4 Heures de bonheur« (»4 Stunden Glück«) der gleichnamigen Organisation für Talibé und andere benachteiligte Kinder mit Musikkonzerten und dem Besuch eines Freizeitparks stieß im Vorfeld bei manchen Koranlehrern auf harsche Kritik, da sie solche Aktivitäten für Talibé für nicht angemessen hielten (z.B. Niasse, Pikine, 08.09.2012). In ähnlicher Weise kritisierte Elimane Diagne, ein Koranlehrer, der »Kinderrechten« durchaus sehr aufgeschlossen gegenüberstand und sich in der PPDH engagierte, dass in den Heimen für geflohene Talibé häufig mehr »getanzt« würde als die Koranstudien weiterverfolgt (Diagne, Pikine, 11.07.2012). Und die damalige Programmbeauftragte von Sentinelles, Florie Kébé, berichtete mir, dass ein maître sich geweigert habe, seine Talibé an einem von ihnen organisierten Fußballturnier teilnehmen zu lassen, da diese »so etwas nicht bräuchten« (Kébé, Dakar, 12.09.2012). Obwohl Fußball zu spielen in der heiligen Stadt der Mouriden, Touba, als Symbol eines vermeintlich »unislamischen« Lebensstils ebenso verboten ist wie zum Beispiel Glücksspiel, Kino, Tabak, Alkohol und säkulare Schulen, stellt es im restlichen Senegal über Konfessionen, Bruderschaften und Ethnien hinweg eine der beliebtesten Freizeitbeschäftigungen von Jungen und jungen Männern dar.6 Als Angebot einer europäischen NGO unter französischer Projektleitung jedoch schien das Fußballspiel für den betreffenden maître verstärkt ebendiese »unislamischen« Konnotationen hervorzurufen, die ansonsten im senegalesischen Alltag keine Rolle spielen. Seine Ablehnung rührte möglicherweise auch von einem generellen Widerwillen gegenüber der Einmischung der NGO ohne einen materiellen Zugewinn für die daara her. Genau die Momenthaftigkeit solcher Aktivitäten liegt wiederum gerade in der Absicht mancher Organisationen, die sich zum einen darum sorgen, dass die Talibé ihrer Kindheit »beraubt« würden und sich zum anderen mithin frustriert darüber zeigen, dass stärker strukturell angelegte Ansätze bislang nur wenig Erfolg erzielten (vgl. Hagele, Le Quotidien, 17.04.2014). Ähnlich wie direkt konsumierte Nahrungsmittel stellt ein positives Erlebnis wie ein Fußballspiel eine Form der Unterstützung dar, die zwar nicht substanziell nachhaltig ist, jedoch von den humanitären Akteuren unmittelbar bezeugt und den Talibé nicht von ihren 6

Der Fußballbann in Touba wird unterschiedlich begründet. Mehreren Autoren zufolge wird das Fußballverbot von manchen Mouriden mit dem Gerücht gerechtfertigt, der Sport sei von »Juden« erfunden worden, die »mit dem Kopf eines Abkömmlings des Propheten« Fußball spielten (z.B. Cherruau, Le Monde, 13. 12. 2010). Für den nigerianischen Kontext analysiert Roman Loimeier (2000b: 106-107, 117-118) religiöse Kontroversen über Fußball, die für tiefer gehende politische und kulturelle Einflusskämpfe zwischen Sufi-Bruderschaften und islamischen Reformbewegungen stehen.

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maîtres »weggenommen« werden kann. Somit spiegelt sich das westlich geprägte Kindheitskonzept transnationaler humanitärer Organisationen zum einen darin wider, dass sie die »Zukunft« der Talibé in Gefahr sehen und deshalb beispielsweise einen zusätzlichen säkularen Unterricht in die Koranschulen einführen wollen, zum anderen aber auch solchen stark gegenwartsorientierten Aktivitäten eine große Bedeutung beimessen. Da »Kindheit« vor allem aus westlicher Perspektive eine an strikte Altersdefinitionen gebundene und eng begrenzte Lebensspanne darstellt, wird die Ausgestaltung dieser Zeit umso mehr zu einer wertvollen Ressource in den symbolischen Aushandlungskämpfen über Menschen- und Gesellschaftsbilder, die in den Kontroversen um die Talibé zum Ausdruck kommen. Indem transnational orientierte Programme häufig Spiel- und Lernangebote für die Talibé vorsehen, um ihnen »eine Kindheit zu ermöglichen«, ihre medizinische Versorgung übernehmen sowie Rückführungen in ihre Herkunftsfamilien veranlassen, wird deutlich, dass sie die Talibé in erster Linie als »Kinder« mit universellen Bedürfnissen wahrnehmen und ihrer Rolle als »Talibé« einen geringeren Stellenwert beimessen. Islamische beziehungsweise stärker lokal geprägte humanitäre Organisationen hingegen spenden den daaras mithin Koranexemplare oder übernehmen die Kosten für eine muslimische Beschneidung der Talibé, unterstützen sie also primär in ihrer Rolle als Koranschüler oder als muslimische Kinder. (z.B. Ly, Dakar, 32.08.2012; Bousso, Touba, 24.06.2013; Ndiayedaara [Email], 28.09.2017). Somit bestätigt sich Malkkis (2010: 64) Aussage, dass Kinder im transnationalen humanitären Diskurs als »generische menschliche Wesen« und nicht als kulturell und sozial gebundene Personen betrachtet werden, im Kontext des Engagements für die Talibé in vieler Hinsicht.

Die Performanz des Gebens und Nehmens Materielle Hilfen, die auf die Grundbedürfnisse der Talibé ausgerichtet sind, verfügen über ein hohes Konsenspotenzial, da sie aus vielen verschiedenen Perspektiven sinnstiftend befürwortet werden können und politisch oder ideologisch wenig aufgeladen sind. Darüber hinaus haben sie auch einen großen performativen Wert. An dem von der Jugendarbeiterbewegung MAEJT jährlich organisierten Journée des Talibé (»Tag der Talibé«) zum Beispiel nahm die Übergabe von Geschenken in Form von Hygieneartikeln und Kleiderspenden an die Talibé einen zentralen Platz ein (Guédiawaye, 20.04.2012, 20.04.2013). Feierlich inszeniert, konnte die Gabe so öffentlich bestätigt und das konstitutive Moment des Gebens zeitlupenartig und überfokussiert in Szene gesetzt und symbolisch verstärkt werden. Gleichzeitig wurde den außenstehenden, aber einbezogenen Betrachtern im Publikum ermöglicht, ihrem »Impuls zu geben« (Bornstein 2009: 622) stellvertretend nachzukommen und die damit verbundenen positiven intrinsischen und sozialen Wirkungen zu erfah-

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ren. Wenngleich die Aktivistinnen des MAEJT sich selbst als »Kinder in Schwierigkeiten« bezeichneten und von den Talibé als ihre »Brüder« sprachen (z.B. Pikine, 12.04.2012), erhöhten sie ihren eigenen Status durch die Spende implizit, indem sie die Talibé zu den noch bedürftigeren Empfängern ihrer »Hilfe« stilisierten. Die öffentliche Übergabe, im Zuge derer implizit zwei asymmetrische Gruppen der (stellvertretenden) Geber und der Empfänger gebildet wurden, barg so eine subtile Form des Othering (z.B. Said 1978: 1-3; Spivak 1985: 252-557). In der spezifischen Beziehungskonstellation zwischen den EJT und den Talibé zeigte sich daher besonders deutlich, dass Gaben gleichzeitig Ausdruck von Superiorität und von Solidarität sein können (vgl. Adloff & Sigmund 2005: 231). Das ungleiche Macht- und Statusverhältnis manifestierte sich zudem darin, dass die MAEJT-Repräsentantinnen die Gabenübergabe in beiden Jahren mit einer Rede einleiteten, den Talibé selbst hingegen keine Sprecherschaft zugestanden (Guédiawaye, 20.04.2012/20.04.2013). Als prototypische und passive Hilfeempfänger bildeten sie den Gegenpol zu den Aktivistinnen des MAEJT, die sowohl die Art der Gabe als auch die Dramaturgie der Übergabe bestimmten.7 Eine Gabenübergabe wurde bei unterschiedlichen Veranstaltungen, an denen ich während meiner Feldforschung teilnahm, stets durch ein Foto mit den drei wesentlichen Elementen des Gebers, der Gabe und des Empfängers dokumentiert. Einerseits sollten solche Fotografien als soziale Artefakte, die durch den Interaktionsprozess zwischen dem Fotografen, den dargestellten Subjekten und dem Betrachter konstruiert werden (vgl. Scherer 1992: 32), affektiv berühren, Empathie auslösen und zur Nachahmung des dargestellten Verhaltens anregen (vgl. Acosta 2015: 2). Andererseits dienten sie der Selbstvergewisserung und Selbstdarstellung der humanitären Akteure, die ihr »Helfen« so auf universell verständliche und quantifizierbare Weise sichtbar machen und dauerhaft festhalten konnten. Ebenso wie durch eine öffentliche Inszenierung verfestigte sich aber auch durch eine fotografische Dokumentation der Gabenübergabe das von einer Statusasymmetrie gekennzeichnete Beziehungsverhältnis zwischen Gebern und Empfängern. Die zentrale Bedeutung von Fotos im Kontext humanitären Engagements wurde mir besonders bewusst, als ich im Juli 2013 in Ziguinchor, Hauptstadt der Casamance im Süden Senegals, ein Heim der französischen Organisation Futur Au Présent (FAP) für geflohene Talibé und Kinder in familiären Schwierigkeiten besuchte. Unangemeldet kam an jenem Nachmittag eine kleine Delegation des örtlichen Rotary Clubs vorbei, um dem Heim einen Tragekorb voll kleiner abgepackter Butterpäckchen, wie sie etwa in Hotels üblich sind, zu spenden. Größer noch als der Korb war das aus Karton gefertigte Logo des Clubs, das als Requisite für das 7

Zur dichotomen Konstruktion des »bedürftigen, kranken, schmutzigen [Hilfe-]Empfänger[s]« und des »starken, gesunden, sauberen Geber[s]« im öffentlichen Diskurs siehe auch Malkki (2015: 7-8).

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Foto der Gabenübergabe dienen sollte. Nervöse Unruhe kam für einen Moment auf, als sich herausstellte, dass kein funktionsfähiger Fotoapparat zu Verfügung stand, bevor ich mit meinem Smartphone aushelfen konnte (Ziguinchor, 05.07.2013). Der tatsächliche Gebrauchswert der Gabe schien in diesem Fall mehr als fragwürdig, da das Heim große Plastikdosen mit Margarine verwendete, um die Mahlzeiten der Kinder zuzubereiten, deren Anschaffung das Budget nicht sonderlich belastete. Dass der Rotary Club sowohl über den Zeitpunkt als auch über den Gegenstand der Spende entschied, brachte seine überlegene Machtposition zum Ausdruck. Die Reziprozität der Gabe blieb in dieser Konstellation nicht aufgrund einer zeitlichen Versetzung zunächst verborgen, wie etwa von Marcel Mauss (1923/24: 90-95) beschrieben, sondern dadurch, dass ein sichtbarer materieller Einsatz – die Butter – durch eine vordergründig belanglose, immaterielle Handlung – das Fotografieren der Spendenübergabe – aufgewogen wurde. Eine solche implizite Reziprozität und die performativ inszenierte Einseitigkeit der Gabe stellten einen konstitutiven Bestandteil der Gegengabe dar, verschleierten und verzerrten jedoch den tatsächlichen Profit der Beteiligten. Die Butter als ein kurzfristig haltbares Konsumgut hatte nur wenig Nutzen für das Heim, während die Fotos der Übergabe über eine große Symbolkraft verfügten und beliebig oft zu repräsentativen Zwecken reproduziert werden konnten. Die Bedeutung der Gabe als Form der »Hilfe« wurde durch ihren besonders geringen Gebrauchswert nahezu gänzlich ausgehöhlt und die Gabe zur Requisite des performativen Akts des Gebens. Dadurch stand diese Spende in einem besonders starken Kontrast zum sozioreligiösen Ideal der Almosengabe, die, wie gemeinhin betont, diskret und großzügig erfolgen müsse (z.B. Dione, Rufisque, 09.04.2012; Fall, Pikine, 01.09.2012). Die staatliche US-amerikanische Hilfsorganisation USAID wiederum organisierte im Jahr 2013 eine groß angelegte Schuhspendenaktion zugunsten der Talibé, die eine beträchtliche Aufmerksamkeit in den senegalesischen Medien erhielt. Gemäß seinem Geschäftsprinzip, pro verkauftem Paar Schuhe ein weiteres zu spenden, hatte das weltweit philanthropisch tätige Unternehmen Toms Shoes aus Kalifornien 60.000 Paar Sandalen für Talibé aus mehr als 350 daaras im ganzen Land zur Verfügung gestellt. Allerdings wurden nur diejenigen daaras berücksichtigt, mit denen USAID bereits im Rahmen eines Programms kooperierte, das bestimmte materielle Leistungen an die Bedingung eines begleitenden Schulunterrichts für die Talibé koppelte. Dies führte dazu, dass wieder nur schon zuvor begünstigte Talibé von der Spende profitierten und viele Talibé vorab ausgenommen waren, deren Bedarf eventuell noch größer gewesen wäre. Einer der Übergabezeremonien wohnte der damalige amerikanische Botschafter Lewis Lukens bei, dessen Ansprache mit folgenden Worten zitiert wurde: »(…) Neben den gesundheitlichen Vorteilen kann die Tatsache, ein neues qualitativ hochwertiges Paar Schuhe an den Füßen zu tragen, dazu beitragen, das Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen dieser jungen Menschen zu stärken« (US Embassy Dakar 2013 [html], meine Übersetzung).

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Der Botschafter legitimierte die Schuhspende somit durch zusätzliche, dem transnationalen Kinderrechtsdiskurs entlehnte Argumente, welche die wirtschaftlichen Hintergründe der Aktion außer Blick geraten ließen. Seine Worte waren beispielhaft dafür, dass Spenden, die sich vorwiegend durch Eigeninteressen des Gebers erklären lassen, a posteriori sinnstiftende Interpretationen zugeschrieben werden, um jene zu verschleiern. Sie zeugten aber auch davon, dass sich Bedürfnisse aus unterschiedlichen Perspektiven verschieden deuten und hierarchisieren lassen. Die Aktion von Toms Shoes profitierte von dem überaus hohen Symbolwert der Tatsache, dass viele Talibé ohne Schuhe auf den städtischen Straßen unterwegs sind und sich im Fehlen eines solchen elementaren Kleidungsstückes in den Augen Vieler deren eklatante, übermäßige Not manifestiert (z.B. Secours Islamique France [html]; Diallo, Dakaraktu, 12.04.2013; Ndiaye 2015 [html, Abs. 4]). Die Aussagekraft eines barfüßigen Kindes erweist sich im humanitären Diskurs als nahezu ebenso stark und universell verständlich wie die einer sichtbaren körperlichen Versehrtheit. Im direkten Kontakt mit den Talibé zeigte sich mir, dass keine Schuhe zu tragen zum Teil, jedoch nicht immer, von ihnen selbst als dringender Mangel empfunden wurde. Mehrmals baten Talibé, die ich in der Nähe einer Boutique manchmal fragte, was sie denn gern hätten, tatsächlich um Schuhe, die in solchen Allzweckläden für umgerechnet weniger als einen Euro zu erwerben sind (z.B. Dakar, 15.08.2013). Seyni Diedhiou, ein Sozialarbeiter, der zunächst für die NGO Enda Jeunesse Action in Dakar und später für das Heim Futur au Présent in Ziguinchor arbeitete, war wiederum überzeugt, dass die Talibé oft Schuhe besäßen, sie aber zum Betteln nicht anzögen, um mehr Mitleid auf sich zu ziehen oder sie versteckten, um sie unterwegs nicht zu verlieren (Diedhiou, Ziguinchor, 05.05.2013). Der Besitz der als Luxusgegenstand bewerteten Schuhe oder die performativ einsetzbare emotionale Symbolkraft der Schuhlosigkeit kann demnach für die Talibé ebenso relevant sein wie der physische Schutz durch das Tragen von Schuhen oder die soziale Stigmatisation, die ein fehlendes Schuhwerk hervorruft. Die divergierenden Perspektiven unterschiedlicher Akteure auf Schuhe verweisen mit Arjun Appadurai (1988: 3-16) auf das »soziale Leben« von Objekten. Ihre Bedeutung und Wertigkeit sind ihnen nicht essentiell inhärent, sondern werden in spezifischen soziokulturellen oder situativen Kontexten erst generiert und sind entsprechend wandelbar. Ein bewusster Verzicht auf Schuhe, um Mitleid zu erregen, lässt sich mit Mats Utas’ (2005: 75) Konzept der »victimcy« analysieren. Damit beschreibt er die minimalste Form taktischer agency, über die eine Person verfügen kann, indem sie die eigene Handlungsfähigkeit hinter passiver Opferschaft verbirgt, um vom Mitgefühl Anderer zu profitieren. Sein Konzept weist Parallelen zu Talcott Parsons Analyse der »Patientenrolle« (1951: 437-438) auf. Deren Ambivalenz entsteht jedoch durch ein Zusammenspiel von Rechten und Pflichten, die auf normativen Erwartungen basieren. Utas hingegen betont stärker die individuelle und situative agency von Personen, die sich aktiv einer sozial anerkannten Opferrolle bemächtigen und

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diese strategisch und performativ zu ihrem Vorteil einsetzen. Nicht nur das Geben hat also eine performative Dimension, sondern auch das Empfangen. Eine solche bewusste Inszenierung der eigenen Notsituation bewegt sich aber auf einem schmalen Grat, da die zu offene Zurschaustellung von Leiden einen Verlust der eigenen Glaubwürdigkeit zu Folge haben und die Bereitschaft zur Hilfe ebenso ins Gegenteil verkehren kann wie jegliches Fehlen von Hinweisen auf eine Bedürftigkeit. Beide Extreme hängen stark von der Interpretation des Adressaten ab. Als ich einem senegalesischen Informanten, der unter anderem in einem sozialen Ausbildungsprojekt tätig war und mir bei meinem Besuch einer daara in Pikine mit Übersetzungen assistiert hatte, von einer Begegnung mit einem äußerst jungen Talibé berichtete, der unter Tränen aufgelöst auf der Straße stand und auf mein Nachfragen berichtete, sein maître habe ihn geschlagen, weil er den geforderten Betrag nicht abliefern konnte, erwiderte dieser nur lapidar: »(…) Und morgen weinen sie alle, die sind schlau, die Talibé!« (Gueye, Dakar, 01.09.2012). Ein anderes Mal kam ich mit zwei Talibé im Stadtzentrum Dakars an einer Straßenecke ins Gespräch und fragte sie nach der Höhe ihres versement. Einer von ihnen behauptete mit fester Stimme und in sicherem Französisch: »2.500 Francs!«, konnte sich allerdings auf meinen ungläubigen Blick ein verräterisches Grinsen nicht verbergen (Dakar, 14.08.2013). Obwohl einige Talibé durchaus dem Druck einer täglichen Abgabe von bis zu 1.000 FCFA (ca. 1,50 EUR) pro Tag ausgesetzt sind, ist eine Forderung von 2.500 FCFA nahezu utopisch. Indem er sein Bemühen übertrieb, mein Mitgefühl durch einen möglichst hohen Betrag zu erregen, machte sich der Talibé in diesem Fall zwar seine eigene Taktik selbst zunichte, bewies aber, dass er die Konstruktion seiner gesellschaftlichen Opferrolle durchschaute und ihn das wiederum zu vorteilhaften Handlungsoptionen ermächtigte. Das Verhältnis zwischen Hilfeleistenden und Hilfeempfängern wird somit wesentlich durch beidseitige, wechselwirksame performative Akte geprägt. Jedoch auch wenn letztere ihren eigenen Vorteil dadurch vergrößern, dass sie sich aktiv als besonders verdiente Empfänger darstellen, können sie sich nur auf die identitäre Kategorie des bedürftigen »Opfers« beziehen. Die dichotome und stereotype Rollenverteilung zwischen Helfer und Hilfeempfänger wird so sogar verstärkt reproduziert.

Egoist oder Held? Die ambivalente Figur des humanitären Helfers Im bisherigen Verlauf des Kapitels wurde humanitäres Handeln überwiegend als Ausdruck der jeweiligen ideologischen und politischen Prägung verschiedener Organisationen betrachtet. Es lohnt sich aber, zudem die Handlungslogiken individueller humanitärer Akteure in die Analyse einzubeziehen, die in Wechselwirkung mit Zuschreibungen, Erwartungen und offiziellen Politiken ausgehandelt werden müssen. Die Berücksichtigung der vielschichtigen, oft überlappenden und ambi-

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valenten sozialen Verstrickungen und Interessen der beteiligten Personen kann ein besseres Verständnis des Diskurs- und Praxisfeldes um die bettelnden Talibé unterstützen. Damit stimme ich mit Anne-Meike Fechter (2012a: 1476; 2012b: 1387-1388), aber auch mit Silke Roth (2015: 1-2) und Liisa Malkki (2015: 10-13) überein, die dafür plädieren, das Narrativ des altruistischen und sich selbst aufopfernden humanitären Helfers aufzubrechen und verstärkt dessen persönliche Beweg- und Hintergründe in Augenschein zu nehmen. Dies erlaubt, die komplexen Prozesse im Feld der »Entwicklungshilfe«8 und deren »Paradoxien, Ambivalenzen und Widersprüche« (Roth 2015: 14) umfassender zu begreifen (vgl. Fechter 2012b: 1387). Darin, dass in bisherigen Studien die Hilfeempfänger in den Fokus gestellt, die humanitären Akteure selbst jedoch »unsichtbar« gemacht oder nur als Kollektiv behandelt und Hilfeempfänger und humanitäre Akteure in zwei dichotomen separaten Kategorien gefasst wurden, erkennt Fechter (2012a: 1488) eine Logik des Othering. Sie lenkt in ihrer Forschung den Blick vor allem auf solche humanitäre Akteure, die, in Länder des globalen Südens entsandt, in ökonomisch prekären Kontexten einen weit überdurchschnittlichen Lebensstandard genießen (vgl. Fechter 2012a: 1482-1485). Indem sie die Biografien und Narrative dieser Akteure ins Zentrum ihrer Analyse rückt, zeigt sie, dass für ihren humanitären Einsatz meist ein Zusammenspiel von tendenziell altruistischen und tendenziell egoistischen Motiven ausschlaggebend ist. Zum Beispiel kann die Möglichkeit, die eigene berufliche Karriere voranzutreiben und ein verhältnismäßig lukratives Gehalt zu beziehen ebenso relevant sein wie der Wunsch nach einer »sinnvollen« Tätigkeit (vgl. auch Adloff & Sigmund 2005: 213). Peter Redfield (2012: 376-377) wiederum beschreibt die personalpolitischen Dilemmata von Médecins sans Frontières, deren Organisationsleitung befürchtete, eine weit über dem Landesdurchschnitt liegende Bezahlung lokaler Mitarbeiter unterminiere deren humanitäre zugunsten einer ökonomischen Motivation, während eine zu ungleiche Bezahlung entsandter und lokaler Mitarbeiter dem zentralen Grundsatz der »Grenzenlosigkeit« entgegenstünde. Dieses Dilemma reflektiert das von Fechter (2012a: 1481-1482) kritisierte gesellschaftliche Narrativ, das die moralische Legitimität eines humanitären Akteurs an dessen ausschließlich altruistische Motivation koppelt und so dazu führt, dass abweichende Beweggründe für ein humanitäres Engagement oder damit einhergehende persönliche Vorteile tabuisiert werden. In meinem Forschungsfeld waren sogenannte Transportgelder, die Teilnehmer auf größeren Konferenzen in Senegal von den Veranstaltern gemeinhin erhielten, ein Beispiel dafür, wie finanzielle Anreize für einen sozialen Einsatz nicht offen als solche benannt wurden (z.B. Diedhiou, Ziguinchor, 04.05.2013). Diese pauschalen Rückerstattungen der »Fahrtkosten« überstiegen in den meisten Fällen selbst 8

Für eine Diskussion des Begriffs der »Entwicklungshilfe« und seiner Weiterentwicklung in der Ethnologie siehe z.B. Thomas Bierschenk (2014: 1-27).

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den Preis für eine Anreise im Taxi um ein Vielfaches, sodass ein Konferenzbesuch auch angesichts der meist exquisiten Verpflegung eine äußerst lukrative und beliebte Aktivität für die Mitarbeiter einschlägiger Organisationen darstellte. Allerdings waren auf solchen Konferenzen von hoch bezahlten Ministerienmitarbeitern und entsandten Repräsentanten transnationaler NGOs bis hin zu unentgeltlich tätigen Praktikanten lokaler Verbände stets eine große Bandbreite unterschiedlichster Akteure präsent, denen dieses »Transportgeld« allen gleichermaßen zuteilwurde. Dass sich die Teilnehmer am Ende der Konferenz mithin ungeachtet ihrer beruflichen Funktion in eine Schlage einreihen mussten, um den Betrag zu erhalten, schaffte auf performativer Ebene ein zusätzliches egalisierendes Moment (UNODC & BIT (Workshop), Dakar, 09.08.2012). Die ökonomische Bedeutung des Betrags für die einzelnen Teilnehmer variierte jedoch stark. Für die einen ein unverzichtbarer und proportional hoher Anteil ihrer monatlichen Einkünfte, stellte er für die anderen hingegen ein kaum merkbares zusätzliches »Taschengeld« dar. Solche Situationen führten vor Augen, dass die Kinderrechtsakteure, die sich gerade bei Veranstaltungen als Vertreter einer gemeinsamen Sache – der Bekämpfung der mendicité – ins Szene setzten, nicht nur zum Teil divergierende Ansichten und Interpretationen vertraten, sondern auch hinsichtlich ihres sozioökonomischen Status große Diskrepanzen aufwiesen. Das Stillschweigen über die mit dem humanitären Engagement verbundenen Eigeninteressen schürte das Misstrauen insbesondere gegenüber transnational vernetzten humanitären Akteuren, denen aus dem religiös-konservativen Milieu häufig unterstellt wurde, ihre finanziellen, politischen und ideologischen Interessen unter einem Deckmantel des Altruismus zu verstecken (z.B. Fall, Pikine, 01.09.2012; Dia, Dakar, 11.04.2013). Im Bewusstsein um derartige Vorwürfe gründeten einige Kinderrechtsakteure in Dakar im Jahr 2014 den Verband »Stop Doyna« (wolof: Stop, es reicht) mit dem Ziel der Bekämpfung der mendicité der Talibé. Obwohl die Initiatoren über sehr gute Kontakte zu Regierungs- und UN-Vertretern verfügten, wollten sie prinzipiell und explizit auf jegliche externen (ausländischen) Gelder verzichten.9 Auf die Weise hofften sie, den potenziellen Verdacht illegitimer Bereicherung im Keim zu ersticken und die eigene Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit zu erhöhen. Die gegenseitigen Zuschreibungen der humanitären Akteure und der Koranlehrer zeigten so Parallelen. Erstere warfen den Koranlehrern eine finanzielle Motivation für ihre Tätigkeit vor, diese wiederum beschuldigten die

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Gorgui Diallo, Gründungsmitglied der Organisation und angestellt bei der staatlichen Sozialbehörde (DGAS), wird in einem Zeitungsartikel wie folgt zitiert: »(…) Wir finanzieren uns selbst, wir machen Dinge, die nicht viel kosten. Und all das, damit die Leute nicht denken, wir bemühen uns um ausländisches Kapital, angesichts der Tatsache, dass die Sache der bettelnden Kinder viele Finanzierungen anzieht, von denen nicht immer die Kinder selbst profitieren« (vgl. Gueye, Le Quotidien, 20.08.2014, meine Übersetzung).

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humanitären Akteure, aus Eigeninteresse die Situation der Talibé übermäßig zu problematisieren oder vorhandene Gelder zu weiten Teilen in ihre eigene Geschäftsführung anstatt tatsächlich in die Koranschulen zu investieren (z.B. Fall, Pikine, 01.09.2012; Seck, Dakar, 11.10.2012; Dia, Dakar, 11.04.2013). Solche Spekulationen gewannen dadurch an Brisanz, dass sowohl im religiösen als auch im humanitären Kontext finanzielle und andere persönliche Vorteile gleichermaßen als besonders illegitim und moralisch verwerflich wahrgenommen wurden. Eine separate Kategorisierung der Hilfeempfänger und der humanitären Helfer (vgl. Fechter 2012a: 1487-1488) erweist sich als umso artifizieller, je geringer die ökonomische und soziale Distanz zwischen beiden ist oder wenn sich die Rollen sogar überschneiden. Da die bei lokalen NGOs angestellten senegalesischen Mitarbeiter oft ein nur geringes und unregelmäßiges, an Projektgelder gebundenes Gehalt beziehen und zudem von einem Gehalt in Senegal in der Regel zahlreiche Familienmitglieder mitfinanziert werden, ist die ökonomische Besserstellung der humanitären Akteure gegenüber ihren Zielgruppen mitunter nicht allzu groß. »In Senegal ist jeder ein bisschen vulnerabel… wir auch!«, war der, wenn auch scherzhafte, Kommentar einer meiner engsten Kontaktpersonen am Rande einer Diskussion über den Schutz besonders »vulnerabler« Kinder (anonymisiert, Guédiawaye, 27.08.2012). Er selbst war Präsident einer eingetragenen NGO, die aber schon seit mehreren Jahren kein Projekt mehr einfahren konnte, und engagierte sich zusätzlich gegen gelegentliche Aufwandsentschädigungen im Dachverband der PPDH. Sein Fall und andere ähnliche Beispiele erlauben die Interpretation, dass eine eigene NGO zu gründen in Senegal nicht an idealistische oder altruistische Ziele gekoppelt sein muss, sondern manchmal ein proaktives und pragmatisches Vorgehen darstellt, um nicht selbst zum (potenziellen) Empfänger der Hilfeleistungen von NGOs zu werden. Da besagter Akteur für viele seiner Tätigkeiten für die PPDH als einen sehr namhaften und einflussreichen Verband nicht finanziell entlohnt wurde, zeigte sein Beispiel zudem, dass die Teilhabe am transnationalen Kinderrechtsdiskurs auch mit hohen symbolischen, moralischen und sozialen »Gewinnen« verbunden sein (vgl. Kolb 2014: 21-24) sowie eine Investition in einen möglichen zukünftigen ökonomischen Profit bedeuten kann. Auch für sein frühes überdurchschnittliches Engagement für meine Forschung mag, neben persönlicher Sympathie und der Aufwertung seines eigenen Expertenstatus, durchaus die Erwartung der ein oder anderen finanziellen Anerkennung meinerseits ein Mitgrund gewesen sein, die er auch bis heute von mir erhält. Obwohl es sich um relativ geringe und unregelmäßige Beträge handelt, können solche Arrangements in Senegal bei einem dichten sozialen Netzwerk eine ähnliche, vielleicht sogar noch verbindlichere ökonomische Absicherung darstellen als ein prekäres Angestelltenverhältnis. Ein anderer Vertreter einer Mitgliedsorganisation der PPDH – auch er gehörte zu meinen wichtigsten Kontaktpersonen – war einmal mit der Verteilung mehrerer Dutzend Geschenkpakete betraut, die von einer kanadischen Schule für bedürfti-

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ge Kinder geschickt worden waren und zum Beispiel kleine Spielzeuge oder Kleidungsstücke enthielten. Nachdem er eines der Pakete für seine eigenen Kinder einbehalten hatte, verteilte er die restlichen in seinem Wohnbezirk nicht nur nach dem Kriterium der Bedürftigkeit, sondern auch abhängig von Sympathie und persönlichen Reziprozitätsbeziehungen (anonymisiert, Pikine, 15.06.2012). Da er in Pikine lebte – einer Stadt vor den Toren Dakars, in der die wenigsten Menschen mehr als ihren alltäglichen Grundbedarf decken können – war sein Ermessensspielraum entsprechend groß. Indem er die Familien persönlich aufsuchte, um die Pakete zu überreichen und somit selbst die Rolle des Gebers annahm, vereinte er in persona sowohl die des Gebers als auch die des Empfängers. Unter anderem profitierte eine Koranschule von einigen der Pakete, die im Rahmen ihrer Jahresabschlussfeier den besten Schülern übergeben wurden. Der maître der betreffenden Schule verzichtete gänzlich auf das Betteln, da er sich ebenso wie meine Kontaktperson in der PPDH engagierte und die Mehrzahl seiner Talibé ohnehin aus dem Viertel stammte und bei ihren eigenen Eltern übernachtete. Seine Schule war gut ausgestattet und die Talibé materiell weitaus bessergestellt als das Gros Senegals Koranschüler (Pikine, 14.07.2012). Diese Beispiele zeigen, dass die Logik, die Kinder beziehungsweise ihre Familien persönlich kennen zu müssen, um deren Bedürftigkeit richtig einschätzen zu können, das Paradox birgt, dass der Auswahlprozess durch die soziale Nähe unvermeidbar von anderen Faktoren, vor allem Sympathie oder bereits bestehende Reziprozitätsverhältnisse, beeinflusst wird. Solche Selektionen sind in reale soziale Beziehungsgeflechte eingebettet und von einer großen Bandbreite von Motiven geprägt. Bei anonymen Spenden hingegen, die aus einer großen sozialen und geografischen Distanz erfolgen, basieren die Entscheidungskriterien meist auf ideologischen und psychologischen Mustern, weshalb Fotos kleiner Kinder mit großen Augen besonders häufig für humanitäre Werbezwecke eingesetzt werden (z.B. Kennedy 2009: 13-15). Eine auf den ersten Blick illegitim erscheinende Teilhabe mancher humanitären Akteure an Ressourcen, die eigentlich für ihre Zielgruppen bestimmt sind, ist aber nur sichtbarer und unmittelbarer als zum Beispiel die oft exorbitanten Löhne entsandter Mitarbeiter großer inter- und transnationaler Organisationen. »Ich würde mich schämen, mein Gehalt zu nennen«, gestand mir ein führender französischer UNICEF-Mitarbeiter in einem informellen Gespräch am Rande eines Empfangs der Deutschen Botschaft in Dakar anlässlich des Tags der Deutschen Einheit 2012. Ein je nach Kommunikationskontext diskreter oder koketter Umgang mit seinem Lohn schien seine Art zu sein, mit der Ambivalenz umzugehen, dass sein Einkommen ihm zwar ein angenehmes Leben ermöglichte, ihm aber die eklatante Diskrepanz zu lokalen Standards durchaus bewusst war. Auch sein deutscher Kollege, ein promovierter Ethnologe, war unverblümt bezüglich seiner Motivation für eine Tätigkeit bei UNICEF. »Gibt’s denn zur Zeit Stellen an der Uni?«, erkundigte er sich bei mir. »Zu meiner Zeit gab’s da gar nichts, darum hab’ ich mir gesagt, als ich

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[mit der Promotion] fertig war, ›du musst schnell zur UN!‹« (anonymisiert, Dakar, 03.10.2012). Die Höhe des mit dem humanitären Einsatz verbundenen ökonomischen Profits unterschied sich nicht nur zwischen entsandten ausländischen und senegalesischen Akteuren, sondern auch zwischen Senegalesen, die im sozialen Bereich, aber in unterschiedlichen Berufsfeldern tätig waren. Zum Beispiel beklagten mir gegenüber mehrere Sozialarbeiter ihr sehr geringes Gehalt, obwohl sie es seien, die tatsächlich etwas bewirkten, indem sie etwa die »Straßenkinder« persönlich betreuten. Diejenigen hingegen mit den höchsten Löhnen würden meist nur »Konferenzen besuchen« oder in klimatisierten Büros »Reporte verfassen« (z.B. Coly/Dieme, Dakar, 25.04.2013). Ihre Wahrnehmung, dass sie trotz schlechterer finanzieller Entlohnung bedürftigen Kindern stärker als andere Akteure zu Hilfe kommen, bestätigt Kenneth Kolbs (2014: 22) Analyse, dass »moralische Löhne« umso mehr an Bedeutung gewinnen, je geringer die nach herkömmlichen Maßstäben gemessenen »Löhne« ausfallen. Ähnlich wie materielle Hilfen aufgrund ihrer Gegenständlichkeit und Unmittelbarkeit eine reelle Unterstützung symbolisieren, bestätigte für die Sozialarbeiter ihr direkter persönlicher Kontakt mit den Zielgruppen ihr reelles – finanziell nicht ausreichend gewürdigtes – humanitäres Engagement. Meine Beobachtungen stützen Fechters Plädoyer für eine geschärfte Aufmerksamkeit gegenüber der Diversität und der Individualität nicht nur der Hilfeempfänger, sondern auch der Hilfeleistenden selbst. So können Entwicklungsprojekte als komplexe Koproduktionen von Akteuren mit vielschichtigen und divergierenden Motivationen verstanden werden. Humanitäres Handeln schließt multidimensionale, intendierte, unintendierte, explizite und implizite Formen der Vorteilsnahme ein und beschränkt sich nicht auf ein dichotomes Verhältnis zwischen Gebern und Empfängern. Die heroische Repräsentation humanitärer Akteure im öffentlichen Diskurs wird diesen selbst zum Verhängnis, indem sie die mit ihrem humanitären Engagement verbundenen Eigeninteressen – die leichter als bei anderen Berufsgruppen als dissonant wahrgenommen werden und zu Kritik und Misstrauen führen – umso stärker tabuisieren müssen. Die sozialen Verstrickungen zwischen Hilfeleistenden und Hilfeempfängern sind beispielhaft für die Überschneidungen von identitären Rollen und Loyalitäten vordergründig separater oder sogar konfligierender Akteursgruppen innerhalb des Diskursfeldes um die bettelnden Talibé, in dem neben divergierenden politischen und ideologischen auch individuelle Interessen der Beteiligten eine wichtige Rolle spielen.

Zusammenfassung Die Vignette zu Beginn des Kapitels diente als Ausgangspunkt für meine Analyse, wie humanitäre Akteure innerhalb eines prekären und teils dilemmatischen Handlungs- und Kommunikationsraums agieren, um die Lebensbedingungen der

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Talibé an ein transnationales Kindheitskonzept anzugleichen. Der unterschiedliche Umgang der Organisation Sentinelles mit den beiden eingangs dargestellten Fällen zeigte die Bedeutsamkeit objektiver und substanzieller Beweise für eine lebensgefährdende Bedrohung im gegenwärtigen humanitären Diskurs. Ähnlich wie sicht- oder messbare Defizite am glaubwürdigsten eine Bedürftigkeit symbolisieren, stehen materielle Gaben wiederum für eine reelle Form der Hilfe und können aus konfligierenden Perspektiven befürwortet werden. Da aber insbesondere die transnational geprägten humanitären Akteure meines Feldes den Koranlehrern gegenüber häufig ablehnend eingestellt waren, wandten sie unterschiedliche Strategien an, um eine Bereicherung der maîtres oder andere unintendierte Folgen zu vermeiden. Jedoch disqualifizierten sich so oft gerade diejenigen Koranlehrer für eine »Kooperation«, deren Talibé einer solchen kontrollierenden Unterstützung am dringendsten bedurft hätten. Eine medizinische Versorgung der Talibé stellte eine beliebte Maßnahme dar, um »Neutralität« zu suggerieren und gleichzeitig einen Profit der maîtres zu verhindern. Solche Leistungen reflektierten zudem die Tendenz des aktuellen humanitären Diskurses, komplexe soziale Problematiken in eine Sprache des individuellen physischen oder psychischen Leidens zu übersetzen. Die einem Geber-Empfänger-Verhältnis inhärente Machtasymmetrie wurde häufig durch bestimmte performative Praktiken, zum Beispiel das Fotografieren einer Gabenübergabe, verstärkt. Die Machtasymmetrie führte im Kontext der Koranschulproblematik insbesondere deshalb zu einem Spannungsfeld, da die Bedürfnisse der Talibé vor dem Hintergrund divergierender Erziehungskonzepte verschieden interpretiert wurden. Transnationale humanitäre Akteure nahmen meist eine Sicht auf Kinder als »generische menschliche Wesen« (Malkki 2010: 64) mit universellen Bedürfnissen ein und berücksichtigten weniger deren soziokulturelle Rolle als Talibé. Die humanitären Akteure standen zu ihren Zielgruppen in einer unterschiedlich großen sozialen und ökonomischen Distanz und erfuhren durch ihr Engagement finanzielle, soziale oder moralische »Gewinne«. Diese legten offen, wie im Diskursfeld um die bettelnden Talibé Akteure, die vordergründig konträre oder separate Rollen einnehmen, oftmals miteinander verbunden sind und nicht nur politische oder ideologische, sondern auch individuelle Interessen ausgehandelt werden. Die Figur des humanitären Akteurs zu entmystifizieren und tendenziell egoistische Motive für humanitäres Handeln weniger zu tabuisieren, kann dazu beitragen, diese komplexen und dynamischen Handlungs- und Beziehungsgefüge umfassender zu verstehen sowie das gesellschaftlich weit verbreitete Misstrauen gegenüber humanitären Organisationen abzubauen. Das Kapitel skizzierte ferner ethische Problemstellungen, die sich im Zusammenhang mit meiner eigenen Forscherrolle ergaben. Diese wies Parallelen zu der Rolle humanitärer Akteure auf. Als Europäerin wurde ich nicht nur von manchen Informanten, insbesondere von Koranlehrern, in einer ähnlichen

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Weise wahrgenommen, sondern unser Verhältnis war mitunter tatsächlich von vergleichbaren Macht- und Gewinnasymmetrien, flexiblen Komplizenschaften und ethischen Kompromissen geprägt. Um Kontakte mit Koranlehrern pflegen zu können sowie um meiner Aufgabe als Ethnologin gerecht zu werden, musste ich, wie viele humanitäre Akteure, meinen eigenen moralischen und politischen Standpunkt häufig zugunsten eines professionellen und strategischen Vorgehens in den Hintergrund stellen. Gleichzeitig profitierte ich durch mein Forschungsprojekt mehr selbst von der Situation der Talibé, als dass ich zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen beitrug. Wenn ich Koranschulen besuchte, brachte ich bei Gelegenheit einige Süßigkeiten für die Kinder mit und hinterließ, ebenso unregelmäßig und situationsbedingt, einen Geldschein für den Koranlehrer, um mich für seinen Zeitaufwand und sein Entgegenkommen zu bedanken. Ich jedoch kann das Feldmaterial, das ich als »Gegengabe« erhielt, seither im Gegensatz zu schnell konsumierten Nahrungsmitteln oder Geldbeträgen nach Belieben für wissenschaftliche oder andere Zwecke verwerten. Meine, wenn auch verhältnismäßig geringen, Zahlungen an die Koranlehrer ließen sogar Parallelen zu den unintendierten Folgen unterstützender Maßnahmen für »problematische« daaras erkennen, zumal ich vor allem den Kontakt zu denjenigen maîtres suchte, die das Betteln praktizierten. Da sich mein Forschungsinteresse zudem auf die Politik und Praxis der beteiligten Organisationen selbst richtete, zeigte sich, dass sich die »Gewinne« humanitären Handelns nicht auf Bereicherungen der maîtres oder der humanitären Akteure selbst beschränken, sondern weitläufig Dritte einbeziehen. Das folgende Kapitel analysiert die Praktiken der Übergangsheime für geflohene Talibé und damit eine Form der direkten humanitären Hilfe, die auf ein spezifisches zeitliches Intervall der Problematik ausgerichtet ist. Für die Kinder, die nach Möglichkeit in ihre Herkunftsfamilien »wiedereingegliedert« werden sollen, stellt der Aufenthalt in den Heimen eine Transitphase dar, die sie auf eine – jedoch »rückwärtsgerichtete« – Zukunft mit eingeschränkten Perspektiven vorbereitet. Obwohl den Kindern eine offizielle Klassifizierung als »Opfer von Menschenhandel« und die daran gekoppelten Maßnahmen erst nach einer eigenmächtigen Flucht aus der Koranschule zuerkannt werden, ist ihr tatsächlicher Opferstatus genau dadurch ambivalenter als der der bettelnden Talibé, an die sich die zuvor diskutierten Hilfeleistungen richteten. Ebenso wie bei diesen Hilfeleistungen müssen im Rahmen des Heimaufenthalts divergierende Vorstellungen über das »Kindeswohl« und pragmatische Zwänge miteinander ausgehandelt werden. In beiden Fällen werden bestimmte physische und emotionale Bedürfnisse von Kindern universalisiert, um einen – wenngleich nur vordergründigen – Konsens unter den beteiligten Akteuren und damit eine gemeinsame Handlungsgrundlage herzustellen. Kennzeichnend für die Übergangsheime ist ferner, dass sie ausreichend attraktiv für die Kinder sein müssen, um sie von einer vorzeitigen Rückkehr auf die Straße abzuhalten, sie aber zugleich keine zu großen Annehmlichkeiten bieten wollen, um die »Wiedereinglie-

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derung« in das meist ärmliche Herkunftsmilieu nicht zu erschweren. Dabei zeigt sich eine Parallele zum Umgang transnationaler NGOs mit den maîtres, die sowohl Anreize für eine »Zusammenarbeit« zu schaffen als auch unintendierte Bereicherungen zu vermeiden versuchen. Ähnlich wie die maîtres werden die geflohenen Kinder häufig in ein ambivalentes Licht gerückt.

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7. Von Talibé und Straßenkindern Das ambivalente Konzept der »Wiedereingliederung«

Auf seiner Homepage berichtete Village Pilote, eines der bekanntesten centres (Heime) für »Straßenkinder« in Dakar, vom Besuch eines Journalisten, der für eine Reportage in Begleitung der Streetworker »eingetaucht ist in die dunkle und unhaltbare Welt der Kinder […] auf den Straßen Dakars, die entweder einen Topf in der Hand halten (Talibé, die zu einem Koranlehrer gehören) oder sich selbst überlassen sind, zwischen Drogen, Diebstählen und Gelegenheitsjobs […]« (Village Pilote 2013 [html], meine Übersetzung). Ein »Topf in der Hand« mag nicht als verlässliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Talibé und »Straßenkindern«1 überzeugen, dennoch reflektiert diese Darstellung die vorherrschende Wahrnehmung derjenigen Kinder und Jugendlichen2 , deren prekäre Existenz in Dakars öffentlichen Räumen sichtbar wird und die sich durch solche Kategorisierungen benennen, differenzieren und diskursiv instrumentalisieren lassen (vgl. Diallo, SudQuotidien, 11.06.2011; Diédhiou, Pressafrik, 20.04.2009). Insbesondere ausländische NGOs, die sich an uninformierte Spender wenden, verwenden die Begriffe »Talibé« und »Straßenkinder« wiederum oft inkonsistent oder synonym (z.B. Perspective Senegal 2019 [html]; Samu Social Sénégal 2019 [html]). Während nämlich die Bezeichnung »Talibé« gemeinhin auf Unverständnis stößt oder seit den Geschehnissen des 11. Septembers 2001 gar alarmierende Assoziationen mit den Taliban weckt (z.B. Fall, Dakar, 16.05.2012), wirken »Straßenkinder« als Zielgruppe humanitärer Hilfsprogramme vertraut und plausibel. Auch große trans- und internationale Organisationen wie UNICEF oder Enda koppelten das Phänomen der bettelnden Talibé anfänglich weitgehend an das bereits etablierte Handlungsfeld der 1

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Der Begriff »Straßenkinder« wird seit längerem im akademischen Diskurs (z.B. Glauser 1990: 138-155; Lucchini 1996a: 251-253; Panter-Brick 2002: 148-153; Ennew & Swart-Kruger 2003: 8193) und zunehmend auch in der Praxis (berechtigt) kritisiert. Aus Mangel einer überzeugenden Alternative (vgl. Invernizzi 2001 in Panter-Brick 2002: 152) und da er in meinem Feld sehr präsent war, verwende ich ihn, wenngleich in Anführungsgzeichen, als Arbeitsbegriff. Der Begriff »Kind« bezeichnet in diesem Kapitel gemäß der internationalen Definition Minderjährige unter 18 Jahren, zu einer genaueren Differenzierung wird auf ältere »Kinder« auch als »Jugendliche« Bezug genommen.

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»Straßenkinder« (vgl. Perry 2004: 68; Wiegelmann & Naumann 1997: 289). Eine solche Gleichsetzung ist politisch betrachtet ambivalent: Zwar werden auf diese Weise anstatt der sozioreligiösen Spezifität der Problematik strukturelle Ursachen und sanitäre Mängel in den Fokus gerückt, gerade religiös-konservativ ausgerichtete Akteure wie Koranlehrer grenzen die bettelnden Talibé jedoch oft strikt von den »Straßenkindern« ab (z.B. Seck, Dakar, 11.10.2012; Bousso, Touba, 24.06.2013; Dia, Dakar, 11.04.2013). Die bisherige De-facto-Ineffektivität des Gesetzes gegen »Menschenhandel und gleichgestellte Praktiken« (loi 2005-06) führt dazu, dass die juristisch in vielen Fällen als »Opfer von Menschenhandel« klassifizierten bettelnden Talibé nicht aus dieser Lage »befreit« werden, sondern – wie im vorangehenden Kapitel dargestellt – bestenfalls materielle Zuwendungen erhalten, um ihre Lebensbedingungen, meist punktuell, zu verbessern. Daher wird ein sogenannter Wiedereingliederungsprozess erst dann in Gang gesetzt, wenn die Talibé selbst aus ihrer Koranschule fliehen. Diese werden in der Regel zunächst zu »Straßenkindern«, bevor sie in einem Übergangsheim auf die Rückkehr in ihre Familien vorbereitet werden. Vor diesem Hintergrund betrachtet das Kapitel in einem ersten Schritt das ambivalente diskursive Verhältnis der identitären Kategorien der »Talibé« und der »Straßenkinder«, die mit unterschiedlichen, aber auch mit gemeinsamen Semantiken und Praktiken verbunden sind. Darauf aufbauend analysiere ich das Konzept und die Praxis der réinsertion (Wiedereingliederung) der institutionalisierten Kinder als ein komplexes Spannungsfeld, in dem transnationale und lokale Interpretations- und Handlungsmuster neben Organisationslogiken miteinander ausgehandelt werden.

Die Macht des Begriffs: Von »Talibé« und »Straßenkindern« Das bisweilen paradoxe Verhältnis zwischen diskursiven Zuschreibungen und sozialer Realität wird in Hinblick auf die bettelnden Talibé und die geflohenen, ehemaligen Talibé als »Straßenkinder« besonders deutlich. Die bettelnden Talibé sind einerseits die sichtbarste Kategorie von Kindern auf der Straße, andererseits bilden geflohene Talibé einen großen Anteil der »Straßenkinder« (z.B. Soko, Dakar, 25.04.2012; Kebe, Dakar, 12.10.2012). Beide »Gruppen« sind im öffentlichen Raum nicht voneinander zu unterscheiden, da sie sich sowohl in ihrem ärmlichen Äußeren als auch in ihren Überlebenspraktiken gleichen. Während die Armut und das Betteln der Talibé aber von Unterstützern des klassischen Koranschulwesens sinnstiftend interpretiert werden, gelten die »Straßenkinder« unumstritten als Ausdruck einer pathologischen gesellschaftlichen Entwicklung. Dies führte in meinem Feld dazu, dass je nach Sprecherperspektive und -interesse das Verhältnis zwischen »Straßenkindern« und Talibé unterschiedlich imaginiert wurde. Akteure, welche die Institution der daara verteidigen wollten,

7. Von Talibé und Straßenkindern

allen voran Koranlehrer, hoben den Kontrast zwischen Talibé und »Straßenkindern« hervor (z.B. Seck, Dakar, 11.10.2012; Bousso, Touba, 24.06.2013; Dia, Dakar, 11.04.2013). Aus ihrer Sicht bildete das »moderne« Phänomen der »Straßenkinder«, deren von Drogenkonsum und anderen »unmoralischen« Praktiken geprägter Lebensstil teils mit exogenen »westlichen« Einflüssen in Zusammenhang gebracht wurde, einen radikalen Bruch mit der religiösen und kulturellen Tradition der Talibé. Die Vergangenheit und Zukunft der »Straßenkinder« wurden aus dieser Perspektive gleichermaßen als »gescheitert« wahrgenommen, die Biografie der Talibé hingegen als von einer besonders werteorientierten und gottgefälligen Erziehung geprägt. Indem der Aufenthalt der Talibé auf der Straße für die Fürsprecher der daaras weder als deren Hauptcharakteristikum galt noch sonderlich problematisiert wurde, die »Straßenkinder« hingegen schon terminologisch auf diesen Aspekt reduziert wurden, zeigte sich eine ambivalente Bewertung derselben sozialen Realität. Unter den geflohenen Talibé hingegen – nun »Straßenkinder« – stellt es eine weit verbreitete Praktik dar, sich weiterhin als Talibé auszugeben, um ihr Betteln zu legitimieren und höhere Erträge zu erzielen (vgl. Journet 1994: 178; Dia, Dakar, 11.04.2013). Während die Jungen selbst durch diese Strategie eine biografische Kontinuität zwischen ihren Rollen herstellen, bestätigte sich dadurch für religiös-konservative Akteure gerade der Kontrast zwischen den beiden Kategoriegruppen und sowohl die vermeintliche moralische Dekadenz der »Straßenkinder« als auch die geringere tatsächliche Anzahl der bettelnden Talibé. Da sich die »Straßenkinder« also kaum zuverlässig identifizieren lassen, über ihre Existenz aber ebenso wenig Zweifel besteht wie Gewissheit über ihre Identität oder ihre häufig wechselnden Aufenthaltsorte, nehmen sie beinahe eine phantomartige Gestalt an. Dies wiederum macht sie diskursiv besonders flexibel einsetzbar für unterschiedliche Interessen. Aber nicht nur wurden je nach Interessenslage den Talibé, den »Straßenkindern« oder beiden Gruppen ähnliche positiv oder negativ besetzte Attribute zugeschrieben, sondern ihre jeweiligen Verhaltensweisen auch umgedeutet, dramatisiert oder relativiert. Davon zeugte zum Beispiel die ambivalente Bewertung der Fähigkeit »sich durchzuschlagen« (»se débrouiller«), die sich entweder mit Kleinkriminalität und Perspektivlosigkeit assoziieren oder als Adaptionsvermögen an alle denkbaren Lebenslagen interpretieren lässt (vgl. Waage 2006: 81-85; Bayart 1999: 38-39; Vigh 2009: 422-424). Insbesondere Kinderrechtsakteure, die eine kritische Perspektive auf die bettelnden Talibé vertraten, setzten diese bezüglich der Gefahren, denen sie ausgesetzt sind und die sie selbst für die Gesellschaft darstellen, gemeinhin den »Straßenkindern« gleich (z.B. Diatta, Kolda, 13.05.2013; PPDH, (Sitzung), Dakar, 23.08.2012). Vor allem die fehlenden beruflichen Optionen und die Diebstähle, welche die Talibé mitunter begehen, um ihr versement zu erfüllen, betrachteten sie als Grundstein für eine sich verselbstständigende kriminelle Laufbahn. »(…) In den daaras werden die zukünftigen Verbrecher Senegals herangezüch-

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tet (…)«, echauffierte sich ein Vertreter von Amnesty International Senegal während einer Sitzung der PPDH (Dakar, 23.08.2012). Und die transnationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (2014: 1) begann ihren Report zur Problematik der mendicité der Talibé im Jahr 2014 mit dem Zitat eines »senegalesischen zivilgesellschaftlichen Aktivisten«, der »eine menschliche Bombe« prophezeite, gelänge es dem Staat nicht bald, das Problem der Talibé definitiv zu lösen. Vor dem Hintergrund dieser ambivalenten Verbindungen zwischen den Talibé und den »Straßenkindern« verdient die Figur des »Straßenkindes« einen genaueren analytischen Blick. Im transnationalen Kinderrechtsdiskurs gehören »Straßenkinder« zu den am meisten beachteten Phänomenen, da sie sowohl aus einer humanitären und sozialideologischen Perspektive als auch aus einer Sicherheitsperspektive problematisiert werden können. Dadurch wird die Kategorie politisch besonders machtvoll (vgl. Nieuwenhuys 2001: 551). »Straßenkinder« wurden auch in meinem Feld zur Projektionsfläche für alle möglichen Übel und Ängste der Gesellschaft. Ihnen wurde Delinquenz zugeschrieben, insbesondere Drogenkonsum und Diebstahl, unmoralische Sexualpraktiken, mangelnde Hygiene und Krankheiten (z.B. Diatta, Kolda, 13.05.2013; Diagne, Pikine, 11.07.2012). Sie galten daher nicht nur als gefährdete Kinder, sondern auch selbst als Gefahr für die Bevölkerung (vgl. Ennew & Swart-Kruger 2003: 82-84). Dafür beispielhaft war eine Begebenheit im Sommer 2012, als in Grand Yoff, einem einfachen Wohnviertel Dakars, auf offener Straße scheinbar grundlos ein Mann niedergestochen wurde (z.B. Senego, 20.08.2012). Dieser Vorfall hatte unmittelbar scharfe Razzien gegen »Straßenkinder« zur Folge, obwohl diese, wie sich ein befreundeter Sozialarbeiter empörte, weder körperlich zu einer solchen Tat in der Lage seien noch ein Interesse daran hätten, jemanden ohne finanziellen Gewinn einfach umzubringen (Coly, Dakar, 25.08.2012). Bei öffentlichen Anlässen hingegen wie dem »Tag des afrikanischen Kindes« im Centre Ginddi 2013 oder der von der PPDH organisierten Pressekonferenz am »Internationalen Tag der Kinderrechte« 2013 (s. Kapitel 5), äußerten sich zivilgesellschaftliche wie staatliche Vertreter empathisch und viktimisierend über die »Straßenkinder« (Centre Ginddi, Dakar, 20.06.2013; vgl. PPDH 2012[o. S.]). Nichtsdestotrotz zeugten mehrere informelle Gesprächssituationen von Ablehnung und Misstrauen, die den »Straßenkindern« durch alle Akteursgruppen hinweg entgegengebracht wurden (z.B. Centre Ginddi, 10.09.2013; Gaye, Dakar, 31.07.2013; Koranlehrer n. n., Touba, 24.06.2013, Ndiayedaara, Pikine, 08.05.2012). Die »Straßenkinder« wurden nicht nur tendenziell kriminalisiert oder viktimisiert, sondern mitunter sogar heroisiert und aufgrund ihrer Adaptionsfähigkeit an schwierigste Lebensbedingungen als Kinder mit einer unerschöpflichen Resilienz betrachtet (vgl. Kilbride et al. 2000: 7). So bemerkte ein Sozialarbeiter gegenüber den Kindern am Rande einer Aktivität während eines »Wiedereingliederungscamps« des Centre Nazareth im Juli 2013, »Ihr seid wie Familienväter, keine Kinder (…)« (Coly, Keur Moussa, 04.07.2012). Eine solche zwar wertschätzende Sicht auf

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die Kinder und ihre Überlebensstrategien bleibt dennoch der Denkweise verhaftet, die »Straßenkinder« verhielten sich »kinderuntypisch« (Aitken 2001: 123). Sie befremdet sie – wenn auch auf euphemistische Art – ebenso gegenüber Kindern, die der gesellschaftlichen Norm entsprechen. Außerdem birgt diese Perspektive die Gefahr, den Lebensstil der Kinder zu romantisieren oder ihnen durch ihre vermeintlich nahezu übernatürlichen Fähigkeiten ihre Bedürftigkeit abzusprechen (vgl. Dodge & Raundalen 1991: 47 in Kilbride et al. 2000: 7). Als anderes Extrem wiederum kann die Dissonanzerfahrung (vgl. Festinger 1957: 14), die »Straßenkinder« bei manchen auslösen, zu einem dehumanisierenden Blick auf sie führen. Eine meiner wichtigsten Kontaktpersonen verglich die »Straßenkinder« während eines Gesprächs sogar mit »Straßenhunden« (anonymisiert, Pikine, 08.05.2012). Die Ambivalenz der diskursiven Kategorie der »Straßenkinder« wird somit dadurch verstärkt, dass je nach Kommunikationskontext und Sprecherschaft wechselnde Perspektiven auf sie eingenommen werden und die Zuschreibungen auch abhängig vom Alter der Kinder, ihren Fluchtgründen und der Dauer ihres Aufenthalts auf der »Straße« variieren. Die Wahrnehmung der Straße als Kontrast zum familiären Haushalt impliziert im senegalesischen Kontext eine entscheidende Bedeutungswandlung dieser sozialen Orte, da das Bild der »gefährlichen Straße« ein nordeuropäisches Konzept darstellt (vgl. Lucchini 1996a: 257-258; Boyden 1997: 191). »Früher waren wir alle Straßenkinder«, waren die ironischen Worte von Alioune Mbodj, Bereichsleiter der staatlichen Hochschule für Sozialarbeit (ENTSS), um auszudrücken, dass die »Straße« in Senegal vormals als Ort der Begegnung und gegenseitigen Kontrolle galt (Mbodj, Dakar, 21.08.2013). In der gegenwärtigen Semantik hingegen ist die Straße nicht mehr Teil des Sozialisationsraumes, sondern eine mit negativen, »modernen« Einflüssen assoziierte urbane Gefahrenzone. Der vorgestellte Kontrast zwischen einem Zuhause als einem nach normativen Kriterien definierten lokalen und emotionalen Fixpunkt und einer bedrohlichen und beziehungslosen »Straße« hält aber einem komplexen Blick auf die sozialen Realitäten der Kinder nicht stand. Ein »Zuhause« stillt sowohl physische als auch psychische Bedürfnisse (vgl. Kibride et al. 2000: 7), kann jedoch temporär variierende lokale und personelle Konstellationen umfassen. Kinder aus konfliktreichen Familien finden ein emotionales »Zuhause« manchmal eher bei Gleichaltrigen auf der »Straße«, während ökonomisch sehr schwache Haushalte den physischen Bedeutungen eines Zuhauses, zum Beispiel eine ausreichende Versorgung mit Nahrung, nicht immer gerecht werden können. Dies gilt insbesondere für die geflohenen Talibé, die in ihren daaras als ihrem vorübergehenden »Zuhause« selten mehr Komfort erfahren als die »Straßenkinder« in ihren provisorischen selbstgebauten Verschlägen und der Gefahr von Gewalt genauso ausgesetzt sind. Somit stellt eine Flucht »auf die Straße« für sie mithin eine reelle Verbesserung ihrer Lebensbedingungen dar und bringt sie bisweilen sogar ihren Herkunftsfamilien durch eine eigenständige

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oder von einer NGO eingeleitete Rückkehr gerade wieder näher. Auch ermöglicht der öffentliche urbane Raum der Straße erst manche ökonomischen Tätigkeiten von Kindern, beispielsweise den Verkauf von Wassersäckchen, die vor allem in den Schulferien als Überlebensstrategie zur Lebensrealität vieler senegalesischer Familien gehören und damit eher zu deren Zusammenhalt als zu deren Verfall beitragen (z.B. zufälliges Gespräch, Pikine, 15.08.2013). Ebenso halten sich viele bettelnde Mütter zusammen mit ihren Kindern an strategischen Orten, zum Beispiel an bestimmten Straßenzügen im Stadtzentrum Dakars, zumindest tagsüber nahezu permanent auf der Straße auf, um möglichst hohe Erträge zu erzielen. Aber selbst diejenigen Kinder und Jugendlichen, die über eine mehr oder weniger lange Zeit aus den verschiedensten Gründen nicht bei ihren Familien, sondern »auf der Straße« leben, haben längst nicht immer dauerhaft alle Verbindungen zu ihr abgebrochen, noch seltener zu allen Familienmitgliedern oder in emotionaler Hinsicht. Sie negieren auch nicht zwingend die soziomoralische Bedeutung der »Familie« (vgl. Ennew & Swart-Kruger 2003: 86; Panter-Brick & Smith 2000: 22). Als ich im Juni 2012 einige Sozialarbeiter bei einer action rue (Streetwork-Aktivität) zu mehreren Sammelpunkten von »Straßenkindern« in Dakar begleitete, bat mich einer der Jugendlichen inständig, ihn doch mit nach »Europa« zu nehmen, damit er seiner »Mutter helfen« könne (Dakar, 26.06.2012). Auch wurde mir von einem Sozialarbeiter von zwei Fällen recht junger »Straßenkinder« berichtet, die sich unter der Bedingung, dass sich ihre geschiedenen Eltern wieder versöhnen sollten, bereit zeigten, in ihre Familien zurückzukehren (Coly, Dakar, 25.08.2012). Der Aufenthalt auf der Straße kann also sowohl in einem integrativen Bezug zur Familie stehen als auch Ausdruck eines – zumindest partiellen und temporären – Bruchs oder Konflikts mit dieser sein. Da im globalen Diskurs »Kindheit« untrennbar mit der Vorstellung eines geschützten, familiären Zuhauses assoziiert wird (vgl. Boyden et al. 1998: 191) und die Imagination der Straße dieser Geborgenheit dichotom gegenübersteht (vgl. Ennew & Swart-Kruger 2003: 83-84), ist dem Begriff des »Straßenkindes« ein semantisches Paradox3 inhärent. Der Begriff ist zwar in der Alltagssprache stark verankert (z.B. Panter-Brick 2002: 149-150), wurde im akademischen Diskurs jedoch schon seit längerem kritisch diskutiert (z.B. Glauser 1990: 138-155; Lucchini 1996a: 251-253; Panter-Brick 2002: 251-267; Ennew & Swart-Kruger 2003: 81-83) und zumindest formal auch aus dem Vokabular führender Kinderrechtsorganisationen entfernt. Ironischerweise führten einst solche die Bezeichnung »Straßenkinder« ein, um (noch) stigmatisierendere Ausdrücke wie zum Beispiel »Banditen« oder

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Julia O’Connell Davidson (2011: 463) analysiert in ähnlicher Weise einen solchen semantischen »Widerspruch in sich« für die Kategorie »child migrant«, der durch die des (passiven) »trafficked child« diskursiv aufgelöst wird.

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»Müllsammler« zu ersetzen (vgl. Marguerat & Poitou 1994: 151). Zur stärkeren Differenzierung der »Straßenkinder« gewann seit Mitte der 1980er Jahre die Unterscheidung zwischen Kindern, die permanent »auf der Straße« leben und solchen, die nur tagsüber einen überwiegenden Teil ihrer Zeit dort verbringen (»enfants de la rue« [»Straßenkinder«]/»enfants dans la rue« [»Kinder auf der Straße«]) an Beliebtheit (z.B. Ennew 2003: 81; Salmon 1997 [html]). Obwohl von einigen Autoren und Akteuren der Praxis nach wie vor verwendet (z.B. Kilbride et al. 2000: 1; Grandir Ailleurs 2019 [html]), erweist sich diese Unterscheidung bei genauerer Analyse der Lebensrealitäten der betreffenden Kinder als nicht weniger unbefriedigend. Zum Beispiel verbringen einerseits die Talibé aus den daaras der Vororte die Nächte vor den religiösen Feiertagen oft im innerstädtischen Dakar, um so maximale Bettelerträge zu erzielen, andererseits kehren viele der »Straßenkinder« zu Festtagen oder anderen Gelegenheiten temporär in ihre Familien zurück (z.B. Ndiaye, Dakar, 19.09.2013). Weder nächtigen also alle Talibé permanent in ihren Koranschulen noch alle »Straßenkinder« permanent »auf der Straße«. Außerdem erhält die Unterscheidung zwischen »Straßenkindern« und »Kindern auf der Straße« die Dichotomie zwischen einem »Zuhause« und der »Straße« aufrecht (z.B. Ennew & Swart-Kruger 2003: 83-85) und subsumiert unter dem Oberbegriff der »Straße« zu viele, auch nicht-lokale und mit unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladene Räume. Die Statik, welche die Begriffe der »Straße« und des »Zuhauses« terminologisch vermitteln, wird den sozialen und räumlichen Bewegungen der Kinder – deren »Karrieren« nach Riccardo Lucchini (1993: 21) – nicht gerecht und verfestigt ihre gesellschaftliche Marginalität. Lucchini (1996b: 239-241) schlägt stattdessen vor, von verschiedenen, für die Kinder relevanten »Bereichen« zu sprechen, die private und öffentliche Räume, geschlossene Orte wie Gefängnisse oder Kinderheime und institutionelle Beziehungen, zum Beispiel zur Polizei oder zu Sozialarbeitern, einschließen können. Manche der in diesem Feld tätigen humanitären Organisationen in Senegal, zum Beispiel Empire des Enfants, zogen den Ausdruck »enfants en situation de rue« vor, um durch die zeitliche Relativierung die Kinder nicht als »Straßenkinder« zu essentialisieren und gleichzeitig die diffuse Dichotomie zwischen »de la rue« und »dans la rue« aufzuheben (vgl. Kilbride et al. 2000: 8). Erweisen sich der Begriff »Straßenkinder« und die aus ihm abgeleiteten sprachlichen Konstruktionen vor dem Hintergrund ihres starren und klischeehaften Konzepts der Straße als fragwürdig, fokussiert der Begriff »enfants en rupture de famille« (»Kinder im Bruch mit der Familie«) nicht die räumliche, sondern die soziale Dimension der Problematik. Diesen benutzten vorzugsweise die Mitarbeiter des camp de réinsertion (Wiedereingliederungscamp) für »Straßenkinder«, an dem ich im Juli 2012 teilnahm. Damit konnten sie die anvisierte Familienrückführung schon programmatisch in die klassifikatorische Benennung ihrer Zielgruppe aufnehmen (Keur Moussa, 03.-07.07.2012). Jedoch wird die stereotype

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und essentialistische Perspektive auf diese Weise lediglich von der lokalen auf die soziale Bedeutung des Konzepts der »Familie« verlagert. Gerade für die familienzentrierte senegalesische Gesellschaft ist zweifelhaft, ob der Zuschreibung, mit der eigenen Familie »gebrochen« zu haben, eine weniger stigmatisierende Konnotation anhaftet als der, ein »Straßenkind« zu sein. Die Bezeichnung »enfants en situation difficile« (»Kinder in Schwierigkeiten«), die erstmals durch UNICEF bereits Mitte der 1980er Jahre eingeführt wurde (vgl. Ennew 2003: 7-8) und sich unter den Kinderrechtsorganisationen meines Feldes zunehmender Beliebtheit erfreute (z.B. Carvalho, Dakar, 14.05.2012; MAEJT (Sitzung), Pikine, 12.04.2012), vermeidet hingegen sowohl die voreilige Diagnose einer »zerrütteten« Familie als auch eine räumliche Festschreibung der Kinder auf die »Straße«. Zudem werden die »Straßenkinder« mit dieser Bezeichnung nicht von anderen benachteiligten Kindern unterschieden und so weder die einen gegenüber der Gesellschaft befremdet noch die anderen durch eine diskursive Vernachlässigung diskriminiert (vgl. Panter-Brick 2002: 148). Der Begriff setzt zwar das Kind selbst in den Fokus, hebt aber die Rolle äußerer Umstände und nicht die des Kindes für eine vorübergehend »schwierige Situation« hervor. Jedoch trägt eine solche Sprache dazu bei, eine konkrete, komplexe Auseinandersetzung mit der Problematik und dem spezifischen soziokulturellen und sozioökonomischen Kontext, der die »Straßenkinder« in Senegal produziert, zu verhindern. Die multiplen Bezeichnungen für die »Straßenkinder« bringen also jeweils verschiedene ideologisch und politisch geprägte Interpretationen des Phänomens zum Ausdruck und sind Teil divergierender diskursiver Register, der sich Akteure in unterschiedlichen Kommunikationszusammenhängen bedienen. Anhand der ambivalenten Zuschreibungen und Praktiken, mit denen die Kategorien der »Talibé« und der »Straßenkinder« verbunden sind, zeigt sich, welche reell erfahrbare Macht Benennungen auf bestimmte Personengruppen ausüben können. Sie bewirken, dass eines ihrer (vermeintlichen) Merkmale hervorgehoben und zum Differenzmarker gegenüber anderen Akteuren instrumentalisiert wird. Der Begriff der »Straßenkinder« ist diskursiv besonders wirkmächtig, da er einen Ausschnitt der Lebensrealität der betreffenden Kinder überfokussiert, der in scharfem Kontrast zur gesellschaftlichen Norm steht. Er reduziert die »Straßenkinder« auf wenige Aspekte ihres Alltags und verstärkt und reproduziert so ihre Stigmatisierung. Da sich die tatsächlichen Lebensrealitäten der Talibé und »Straßenkinder« in vieler Hinsicht ähneln, unterscheiden sie sich vor allem darin, mit der Institution der daara gebrochen zu haben oder nicht. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass nicht der Aufenthalt auf der Straße oder ihr prekäres Dasein die Gründe für die soziale Ächtung der »Straßenkinder« sind, sondern deren eigenständige Loslösung von einem institutionellen Rahmen, selbst wenn er im Fall vieler daaras, in denen der eigentliche Koranunterricht nur eine marginale Rolle einnimmt, völlig ausgehöhlt sein mag. Der Kern der Wahrnehmung der »Straßenkinder« als Problematik

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bildet ihr kinderuntypisches Verhalten, das anerkannte ideologische und strukturelle gesellschaftliche Grundlagen bedroht.

Opfer oder Ausreißer? Die ambivalente Rolle der geflohenen Talibé Der Prozess der »Wiedereingliederung« (»réinsertion«) setzt dann ein, wenn ein Kind keiner gesellschaftlich anerkannten Institution mehr zuzuordnen ist und über mehrere ineinandergreifende Etappen wieder in die Gesellschaft »reintegriert« werden soll. Das Konzept der réinsertion impliziert bereits in terminologischer Hinsicht stigmatisierende Aspekte, da eine Nichtzugehörigkeit als Ausgangslage vorausgesetzt wird, und steht in logischer Kontinuität zum sprachlichen Konstrukt des »Straßenkindes«. Der Begriff signalisiert nicht nur einen biografischen Bruch mit einer problematisierten Vergangenheit, sondern auch, dass ein Aufenthalt »auf der Straße« nicht Teil der persönlichen »Karriere« (Lucchini 1993: 21) sein kann und eine Zugehörigkeit zur Gesellschaft von einer Zugehörigkeit zu einer von dieser legitimierten Institution abhängt. Zudem weist er den Kindern eine passive Rolle zu, was sich jedoch allenfalls durch alternative, aber etwas umständlich anmutende Begriffe wie »[Lebens-]Rekonstruktion« (Hurtubise et al. 2000 in Diop 2010: 11) vermeiden ließe. Für das Konzept der réinsertion stellt der Aufenthalt in centres, die sich als Übergangsheime verstehen, eine zentrale Phase dar, die idealerweise in eine Rückkehr in die Herkunftsfamilie mündet. Das Konzept basiert auf der Annahme, dass das Aufwachsen in der Familie wesentlich für die Entwicklung eines Kindes ist, nimmt aber auf ein »afrikanisches« – also erweitertes – Familienverständnis Bezug (z.B. Soko, Dakar, 25.04.2012; Ndour, Dakar, 24.05.2012). Die Problematik, dass die Familie nicht immer die Bedürfnisse der Kinder erfüllt und daher manchmal alternative Lösungen dem Kindeswohl zuträglicher sein können, fand zur Zeit meiner Feldforschung aus ökonomischen wie ideologischen Gründen nur in Ansätzen Gehör (z.B. Carvalho, Dakar, 14.05.2012; Ndour, Dakar, 24.05.2012; Centre Ginddi, 26.08.-27.09.2013). Eine andere Form der Unterbringung kam nur dann in Betracht, wenn die Familie als eine »Gefahr« für das Kind eingestuft wurde oder das Kind ablehnte (vgl. RAO & SSI 2012). Die Übergangsheime, die das Konzept der réinsertion in die Praxis umsetzen, müssen dieses je nach Kontext stärker mit transnational legitimierten Kinderrechtsparadigmen oder mit lokalen Denk- und Handlungsmustern in Einklang bringen und gleichzeitig Organisationslogiken gerecht werden. Entsprechend den situativ wandelnden Perspektiven nehmen die institutionalisierten Kinder jeweils eine komplementäre Position ein. Die centres meines Feldes sahen sich zudem dem ambivalenten Auftrag verpflichtet, sowohl ein centre dʼaccueil (»Aufnahmeheim«) als auch ein centre de transit (»Übergangsheim«) darzustellen. Sie versuchten da-

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her einerseits, den Kindern genügend Anreize zu schaffen, um von diesen als Alternative zum Leben »auf der Straße« wahrgenommen zu werden und auch die Erwartungen der trans- und internationalen Kooperationspartner zu erfüllen. Andererseits wollten sie die Kinder nicht zu stark an sich binden, um eine möglichst zeitnahe und unproblematische Rückführung in die Familien anzubahnen (z.B. Diedhiou, Ziguinchor, 05.05.2013). Bisweilen nahmen die Kinder so eine kundenähnliche Rolle an, da sich eine hohe Frequentation für die Legitimierung der centres als vorteilhaft erwies. Stand ein Besuch geldgebender Partner an oder sollten genügend Teilnehmer für ein camp de réinsertion (Wiedereingliederungscamp) gefunden werden, wurden das centre und die »Wiedereingliederung« entsprechend strategisch als attraktive Angebote präsentiert (z.B. Diedhiou, Dakar, 19.06.2012). Bestand ein solcher Handlungsdruck nicht, standen die centres Neuaufnahmen manchmal sogar eher ablehnend gegenüber, um das finanzielle Budget und den personellen Arbeitsaufwand möglichst gering zu halten, so die selbstkritische Einschätzung mancher Sozialarbeiter (z.B. Coly, Dakar, 08.08.2013). Diese volatile »Kundenrolle« spiegelte sich mitunter in einer marktwirtschaftlichen Rhetorik wider. Die damalige Direktorin des staatlichen Centre Ginddi, Sarata Diallo, sprach von einem jedem Kind zustehenden »Servicepaket«, während ein Sozialarbeiter die mangelnde »Willkommenskultur« in den centres beklagte, welche die Kinder nicht selten zu einer vorzeitigen Flucht verleite (Diallo, Dakar, 20.09.2013; Diedhiou, Dakar, 19.06.2012). Auch einige »auf der Straße« lebenden Jugendlichen erzählten mir von ihren unerfreulichen Erlebnissen in einem centre unweit Dakars, in dem sie bei ihrer Ankunft weder aufgefordert wurden, sich zu waschen noch zu essen und sie deshalb am darauffolgenden Morgen, nach einem kurzen Frühstück, sogleich wieder ausrissen (Dakar, 19.06.2012). Die Praktiken des Centre Ginddi, in dem ich im August und September 2013 eine vierwöchige teilnehmende Beobachtung durchführte, wiesen in eine ähnliche Richtung. Kam ich morgens im centre an, waren neue Kinder da oder andere verschwunden, ohne dass dieser Tatsache eine besondere Beachtung beigemessen wurde. Selbst bei einer Rückführung eines Kindes fand, abgesehen vom direkt betreuenden Sozialarbeiter, keine Verabschiedung von anderen Bezugspersonen statt (Centre Ginddi, 27.-29.08.2013). Beschäftigungs- und Betreuungsangebote, die über die grundlegende Versorgung hinausgingen, waren ebenso nur marginal vorhanden. Das Konzept des Transits geht also in der Praxis mithin zu Lasten eines wertschätzenden Umgangs mit den Kindern. Es macht manche der centres zu einem rein instrumentalen Ort, an dem das Überleben gesichert und soziale Kontrolle ausgeübt wird, der aber keine tiefere soziale oder emotionale Bedeutung für die Kinder gewinnen soll. Während meiner Forschungszeit im Centre Ginddi irritierte mich zunächst die nahezu völlige Abwesenheit von Spiel- und Lernmaterialien oder sonstigen Beschäftigungsmöglichkeiten für die Kinder, die fehlende psychologische Betreuung und die häufigen, oft sehr heftigen Schläge durch einige der Mitarbeiter. Die Kin-

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der spielten Fußball, sofern ihnen ein funktionstüchtiger zur Verfügung stand, wurden bisweilen mit diversen Hilfsarbeiten beauftragt oder saßen, über Fußball und lutte (Ringkampf) diskutierend, zusammen. Jedoch auch wenn dieser Umgang mit ihnen – sogar aus der Perspektive mancher Sozialarbeiter von Ginddi selbst – in vielerlei Hinsicht nicht zufriedenstellend schien, wurden die Kinder so weitgehend der Normalität ihrer ökonomisch in der Regel prekär lebenden Familien mit konservativen Erziehungspraktiken und nicht den pädagogischen Konzepten der »westlichen Mittelklasse« entsprechend behandelt (vgl. Panter-Prick 2002: 160). Andere centres hingegen, zum Beispiel Village Pilote und Empire des Enfants, lockten mit Yoga-, Schwimm- oder Karatekursen. Zwar wurden solche Aktivitäten von den Kindern sehr wertgeschätzt, erforderten aber eine zusätzliche (Re-)Adaptionsleistung von ihnen. Manche Sozialarbeiter bestätigten, dass die Kinder durch den höheren Lebensstandard in den centres manchmal Mühe hätten, sich wieder an ihren familiären Herkunftskontext anzupassen, was im Umkehrschluss auf das integrative Potential einer rudimentären Versorgung verweist (Empire des Enfants, n. n., Dakar, 17.05.2012; Brama, Pikine, 30.05.2012). Nicht zuletzt stellt ein aufwändiges Programm eine positive Diskriminierung der durch die Institution betreuten Kinder dar, da besondere Freizeitvergnügungen einerseits das finanzielle Budget durchschnittlicher senegalesischer Familien übersteigen, andererseits auch keine Priorität im vorherrschenden Erziehungskonzept einnehmen. Indem die Rechtfertigungen der Sozialarbeiter für überproportional viel oder wenig Ausstattung zwischen »die Kinder haben viel hinter sich und müssen deshalb ein bisschen verwöhnt werden« und »das lohnt sich nicht anzuschaffen, die machen sowieso alles kaputt« variierten, reflektierten sie die ambivalente Rolle der Kinder zwischen bedauernswerten »Opfern« und suspekten »Ausreißern« (Brama, Pikine, 30.06.2012; Pierre, Dakar, 06.09.2013). Das Misstrauen und die Furcht vor einer Übervorteilung erwiesen sich jedoch als beidseitig. Während die Mitarbeiter der centres die Kinder bisweilen verdächtigten, ohne tatsächliche Rückkehrabsichten durch die unterschiedlichen centres zu »touren«, um dort jeweils von den besten Angeboten zu profitieren (Grimaud, Dakar, 26.04.2012; Mendy, Dakar, 23.04.2012; PPDH (Sitzung), Dakar, 23.08.2012), betonte ein gegenüber seiner eigenen Tätigkeit kritisch eingestellter Sozialarbeiter, die Kinder wüssten, dass sie von den centres »ausgebeutet« würden. Diese würben mithilfe ihrer Lebensgeschichten ausländische Gelder ein, von denen ihnen selbst aber nur ein Bruchteil zugutekomme (Coly, Dakar, 08.08.2013). In manchen centres wiederum müssen sich die Kinder durch verschieden geartete Selektionsprozesse für eine Unterbringung erst qualifizieren. Marion Grimaud, eine französische Mitarbeiterin des Langzeitheims Village Pilote, beschrieb einen besonders strengen Auswahlmechanismus: Nach einer ersten Interessensbekundung gegenüber den Streetworkern sollten sich die Aufnahmewilligen durch ein pünktliches Erscheinen zu weiteren Treffen unter Beweis stellen. Zudem muss-

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te eine zusätzliche »Prüfung« gemeistert werden, etwa sehr früh morgens zu einem Fußballturnier anzutreten. Die Anwärter sollten »ein freundliches Gesicht machen« – so die Worte meiner Gesprächspartnerin – und ein korrektes und höfliches Auftreten an den Tag legen, wodurch das Prozedere an ein berufliches Bewerbungsverfahren erinnerte (Grimaud, Dakar, 26.04.2012). Durch solche Auflagen ergibt sich dasselbe Paradox wie durch die Tatsache, dass ein »Wiedereingliederungsprozess« erst nach einer eigeninitiierten Flucht eingeleitet wird: In vielen Fällen werden so gerade die Kinder nicht erreicht, die einer Unterstützung am dringendsten bedürfen würden, aber zu einer Flucht oder einem überzeugenden Auftreten aus unterschiedlichen Gründen nicht in der Lage sind. Dagegen werden diejenigen Kinder »wiedereingegliedert«, deren Lebensumstände aufgrund normativer Kriterien verändert werden sollen oder die durch bestimmte Verhaltensweisen eine Eignung für die Programmatik der Institution erkennen lassen. Nicht nur die charakterlichen Dispositionen der Kinder, sondern auch formale Kriterien wie eine Altersbeschränkung von 18 Jahren stellen Selektionsmerkmale für eine Aufnahme in die centres dar. Das Hilfs- und Schutzbedürfnis der Heranwachsenden wird somit eng an die agency gekoppelt, die ihnen gemäß einem trans- und international normierten Kindheitskonzept zugeschrieben wird. Dieses versteht »Kinder« unter 18, wenngleich graduell abnehmend, als nicht handlungsund entscheidungsfähig. Auch die in der UN-Kinderrechtskonvention festgelegten »Rechte«, zum Beispiel das »Recht« auf familiäre Beziehungen (UN 1989, Art. 8-10), gelten für Minderjährige unter 18 Jahren. Im afrikanischen Kontext hingegen sind selten formale Altersgrenzen ausschlaggebend dafür, ob eine Person in ihrer Herkunftsfamilie lebt, sondern eher soziale Ereignisse wie eine confiage, eine Heirat oder Scheidung. Die Auffassung, dass achtzehnjährige Nicht-mehr-Kinder »Eigenverantwortung« für ihr Leben zu tragen haben, berücksichtigt zudem nicht den Umstand, dass dem »Straßenkind« gerade die vorhergehende institutionelle und emotionale »Vorbereitungszeit« für eine solche Mündigkeit fehlt, die die entwicklungspsychologische Grundlage dieser Alterskonzeption darstellt. Obwohl die Jugendlichen also biografisch auf keine normative Kindheit zurückblicken, müssen sie paradoxerweise den daraus abgeleiteten Standards entsprechen. Im Gegensatz zu den Langzeitheimen dürfen die centres d’urgence (Notfallheime) keine explizite Auswahl der Kinder vornehmen und greifen deshalb auf indirekte Selektionsstrategien zurück. So wurden unter den centres Bemühungen deutlich, sich unter dem Vorwand fehlender Aufnahmekapazitäten gegenseitig unliebsame Fälle zuzuschieben. Oulimata, eine Sozialarbeiterin des Centre Ginddi, beschwerte sich einmal bei mir, dass ein anderes centre ihnen ein Kind überwiesen habe, ohne zuvor dessen leichte geistige Behinderung zu erwähnen (Oulimata, Dakar, 13.09.2013). Und ein Informant mit guten Kontakten zum Centre Ginddi erklärte mir während der Regenperiode 2012: »(…) Die […] sind froh, wenn ich ihnen die Überschwemmungsopfer bringe (…) die wollen nicht die Straßenkinder, das sind

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die schweren Fälle!« (anonymisiert, Dakar, 15.09.2012). Für einen Platz in einem camp de réinsertion (Wiedereingliederungscamp) des Centre Nazareth war wiederum ausschlaggebend, dass die Kinder ein glaubwürdiges Interesse vermitteln konnten, in ihre Familien zurückkehren zu wollen und noch an keinem der vorherigen camps teilgenommen hatten (vgl. A.P.E.F. 2013: 9). Solche Selektionsmechanismen brachten zum Ausdruck, dass das Ziel einer standardisierten normativen réinsertion schon zu beziehungsweise vor Beginn des Prozesses als erreichbar zu erkennen und das betreffende Kind mehr für Methode und Intention des centre geeignet sein sollte als umgekehrt. Die Ressourcen der Organisationen konnten dadurch optimiert werden, indem ihre Mittel denjenigen Kindern vorbehalten wurden, deren erfolgreiche réinsertion mit geringstmöglichem Zeit- und Kostenaufwand zu gelingen versprach. Das Prinzip der Nichtdiskriminierung der UN-Kinderrechtskonvention (UN 1989, Art. 2), auf die sich die Einrichtungen bezogen, wurde durch ein solches Vorgehen aber verletzt. Die Bezeichnung der »Kinder in Schwierigkeiten« suggeriert, dass die entsprechenden Umstände und nicht die Kinder selbst problematisiert werden. Die centres meines Feldes arbeiteten jedoch, wenn auch zum Teil aus pragmatischen Gründen, deutlich mehr an einer Bewusstseins- und Verhaltensänderung der Kinder als mit deren Familien oder sozialem Umfeld. Vor allem wenn keine gesellschaftlich anerkannten Probleme wie extrem prekäre Familienverhältnisse oder körperliche Misshandlungen ersichtlich waren, äußerten die beteiligten Sozialarbeiter oft Unverständnis gegenüber den Kindern. »Es gibt kein wirkliches Problem«, wurde mir im Centre Ginddi einmal auf meine Frage bezüglich der Beweggründe eines Kindes für seine Flucht geantwortet (Oulimata, Dakar, 14.09.2013). Und im Protokoll einer Familienrückführung im Rahmen des »Wiedereingliederungscamps« des Centre Nazareth 2013 wurde die überraschte Reaktion des betreuenden Sozialarbeiters beschrieben, als er das offensichtlich wohlhabende Elternhaus des Jungen betrat: »Aber Abdallah, was fehlt dir denn?!« (A.P.E.F. 2013: 22). Im »Wiedereingliederungscamp« desselben centre, an dem ich im Jahr 2012 teilnehmen konnte, wurden die Kinder unter anderem zum Singen eines Liedes mit dem Refrain »(…) entschuldige Mama, entschuldige Papa, wenn ich etwas falsch gemacht habe (…)« angeleitet, das sie aus voller Kehle anstimmten (Keur Moussa, 03.07.2012). Was es bedeutet, in einer »schwierigen Situation« zu sein, wird somit anhand normativer, von Erwachsenen festgelegter Faktoren definiert. Waren diese Faktoren nicht augenscheinlich, neigten die Sozialarbeiter vor dem Hintergrund eines gerontokratisch geprägten Gesellschaftskonzepts dazu, eher das Kind selbst als dessen Umfeld zu problematisieren. So hielt eine der Sozialarbeiterinnen des Centre Ginddi den Jungen im Rahmen einer sogenannten Sensibilisierung – einer Art Diskutierrunde zu praktischen oder moralischen Themen – vor, es sei nicht »richtig« von ihnen gewesen, aus der Koranschule zu fliehen. Ihre Eltern hätten sie dorthin geschickt, weil sie »ihr Bestes« wollten, und manchmal müsse man

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auch lernen zu leiden und durchzuhalten (Mbaye, Dakar, 10.09.2013). Das Beispiel bestätigte, dass genau die agency, welche die Kinder aufbringen müssen, um eine Hilfestellung zu erhalten, sie häufig gleichzeitig als fugeurs (Ausreißer) in ein negatives Licht rückt. Die centres stehen zudem vor dem Paradox, dass sie in ihre Diskurse implizit stigmatisierende Aspekte integrieren müssen, um ihre eigene Legitimation zu untermauern. Marion Grimaud vom Langzeitheim Village Pilote betonte zum Beispiel, dass die Kinder in ihrer Einrichtung »das Leben in einer Gemeinschaft wiedererlernen« (Grimaud, Dakar, 26.04.2012). Eine solche Behauptung vernachlässigt die Tatsache, dass sich gerade die »Straßenkinder« in komplexen und unterschiedlich stabilen Gruppengefügen zusammenschließen und diese einem moralischen Kodex gehorchen, der sich in vielerlei Hinsicht mit den vorherrschenden gesellschaftlichen Normen und Werten deckt (vgl. Lucchini 1993: 95). Auch bei meinen Teilnahmen an den actions rue begegneten mir die Kinder und Jugendlichen meist mit viel Höflichkeit und versuchten zum Beispiel, mir eine saubere Sitzgelegenheit zu organisieren (z.B. Dakar, 25.04.2013; Dakar, 26.06.2012; Pikine, 30.06.2012). Einmal trafen wir sie dabei an, wie sie den typischen senegalesischen Tee zubereiteten – eine gesellige, aber nach relativ strengen impliziten Regeln ablaufende Alltagszeremonie. Sie versäumten es nicht, uns Besuchern die ersten Tassen anzubieten und bewiesen somit, dass nicht nur gesellschaftlich geächtete Praktiken wie das Klebstoffschnüffeln und Diebstähle zu ihrem »Habitus« (Bourdieu 1982: 171-210) gehörten, sondern auch grundlegende soziale Gepflogenheiten wie das Teetrinken und das Ethos der teranga, der sprichwörtlichen senegalesischen Gastfreundschaft gegenüber Fremden. Daher erweist es sich als ungerechtfertigt, diese Gemeinschaften pauschal als asoziale Zusammenschlüsse zu stigmatisieren, die nur dem Überleben dienen oder zwangsläufig schädigende Wirkungen auf die Kinder haben. Während einer Aktivität im Rahmen des camp de réinsertion (Wiedereingliederungscamp) des Centre Nazareth im Jahr 2012 wurden den Kindern anhand von Illustrationen zwei dichotome Familienmodelle präsentiert. Eine »vorbildliche« Familie mit zwei Kindern, die nahrhafte Mahlzeiten zu sich nahmen und die Schule besuchten, bildete den Kontrast zu einer Familie mit mehreren Kindern, in der Armut, Gewalt und Alkoholkonsum schließlich zum Konflikt mit der Polizei führten (Keur Moussa, 04.07.2012). Diese kausale und konsekutive Verknüpfung von Faktoren wie Armut, Kinderreichtum, Gewalt und einer fehlenden formalen Schulbildung stigmatisierte viele Familien pauschal. Da die Familien der meisten der anwesenden Kinder mehr Gemeinsamkeiten mit dem negativen Fallbeispiel aufwiesen, schien es zudem paradox, dass die Kinder gerade in diese Familien zurückkehren sollten. Abhängig von ihrem jeweiligen Handlungsfeld fokussierten die centres unterschiedliche Aspekte der Problematik und (re-)produzierten bestimmte Normen und Werte. Während die von mir besuchten Langzeitheime vor allem die

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Bedeutsamkeit sozialer Kompetenzen und formaler Schul- und Berufsabschlüsse betonten, wurden insbesondere in den »Wiedereingliederungscamps« die Einzigartigkeit familiärer Bindungen hervorgehoben. Beiden Perspektiven war gemeinsam, dass die Institutionen selbst umso mehr Legitimierung erfuhren, je stärker sie das Vorleben der Kinder problematisierten. Dies erwies sich vor dem Hintergrund ihres offiziellen Bestrebens nach einer Entstigmatisierung und gesellschaftlichen Integration der Kinder als dilemmatisch. Während im transnationalen humanitären Diskurs Kinder oft zu politisierten Protagonisten konjunktureller Problemkonstrukte wie »Menschenhandel«, »(sexueller) Missbrauch« oder »Kinderarbeit« werden, haben solche Kategorisierungen für die centres keinen Gebrauchswert. Sie dienen lediglich als strategisch einsetzbare abstrakte Hintergrundinformation ohne tatsächliche praktische Relevanz. In der Falldatenbank des Centre Ginddi wurden zum Beispiel in inkohärenter Weise nur einige aus dem Ausland stammende Kinder als »Opfer von Menschenhandel« bezeichnet und damit eine definitorisch nicht notwendige grenzüberschreitende Mobilität für diese Kategorisierung vorausgesetzt. In den Karteien mancher der als »Opfer von Menschenhandel« ausgewiesenen Kinder ließ sich der Vermerk finden, dass sie nach einigen Tagen auf eigenen Wunsch in ihre Koranschulen zurückkehrten, was zur UN-Definition des Menschenhandels, die Kindern eine Entscheidungsfähigkeit gerade abspricht, im Widerspruch stand (Dakar, 30.08.2013). Der inkonsistente und juristisch inkorrekte Umgang der centres mit dem transnationalen Rechtsbegriff des Menschenhandels reflektierte, dass dessen Artifizialität im Kontext vielschichtiger sozialer Konstellationen, die sich trennscharfen Kategorisierungen entziehen, umso stärker zum Tragen kommt. Für den Tagesablauf der centres ist zum Beispiel entweder eine Homogenisierung oder eine flexible situationsspezifische Differenzierung der Kinder vorteilhaft und zweckmäßig, für die Familienrückführungen wiederum eine individuelle Betrachtung der konkreten biografischen Umstände. Auf einer abstrakten Analyseebene stellt der Aufenthalt im centre eine »liminale Phase« (Turner 1967: 93-110) dar, in der die Nicht-Kategorisierung der Kinder deren temporäre Statuslosigkeit symbolisiert. Da die centres die Kinder dazu befähigen wollen, ihre negativen Erfahrungen zu überwinden und sie versuchen, ihnen eine zukunftsorientierte Haltung zu vermitteln, können auf der Vergangenheit basierende Kategorisierungen wie »Opfer von Menschenhandel« konterkarierende Wirkungen entfalten. Der Umgang der centres mit den betreuten Kindern orientiert sich so zunächst an den grundlegendsten Bedürfnissen und Pflichten, die Kindern nach einem senegalesischen Verständnis zukommen, bevor ihre individuelle Identität in einem »Wiedereingliederungsprozess« rekonstruiert wird. Indem sie zunächst als volatile Gruppe homogenisiert und allenfalls nach alters- und geschlechtsbedingten Merkmalen differenziert werden, zeigt sich, dass die momentane Gemeinsamkeit einer fehlenden familiären oder institutionellen Anbindung

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in diesem Kontext ein größeres Gewicht hat als die jeweils spezifischen Hintergründe, die zu diesem Zustand führten. Die vorübergehende Statuslosigkeit manifestierte sich im Centre Ginddi in teils ganz banalen Situationen, beispielsweise, wenn die Kinder täglich aus einem großen Kleiderberg beliebige Anziehsachen heraussuchten, die dann oft viel zu groß um ihre Körper schlotterten (Dakar, 26.08.27.09.2013). Da die Kinder zwar keine persönlichen Kleidungsstücke besaßen, dafür jedoch die Wahl hatten, für welche sie sich entschieden, kann die, wenn auch eingeschränkte, permanente Neuerfindung ihres äußeren Erscheinungsbildes als Teil eines identitätsrekonstruierenden Prozesses interpretiert werden, zu dem ebenso flexibel eingesetzte, manchmal widersprüchlich scheinende Verhaltensweisen und wechselnde Vornamen gehörten.

Die Bedeutung von Zeit und Raum für die »Wiedereingliederung« Die Analyse des Konzepts und der Praxis der réinsertion zeigt, dass die Dimensionen der Zeitlichkeit und der Räumlichkeit explizit wie implizit von großer Bedeutung sind. Dem Faktor Zeit kommt auf konzeptioneller, praktischer und symbolischer Ebene für die réinsertion eine wichtige Rolle zu. So strebt der Prozess der »Wiedereingliederung« eine innere Transformation der Kinder an, für die eine weder zu kurze noch zu lange temporäre Distanz zum früheren Leben »auf der Straße« als entscheidend betrachtet wird. Die Kinder sollen zwar »stabilisiert«, aber nicht an eine institutionelle anstatt familiäre Umgebung gewöhnt werden. Dies ist umso bedeutender, da durch die ständige Nähe zu anderen Kindern mit einer ähnlichen Vergangenheit in den centres kein radikaler Bruch mit der Straße erfolgt und in sozialer Hinsicht eine Kontinuität zu dieser bestehen bleibt. Die damalige Direktorin von Ginddi, Sarata Diallo, betonte, dass die Aufenthaltsdauer im centre nicht fest vordefiniert sein dürfe, sondern sich nach der individuellen Bereitwerdung der Kinder und Eltern richte. Ein anderer Mitarbeiter von Ginddi hingegen spezifizierte, dass die Kinder nicht länger als »drei Monate« im centre bleiben sollten, um der Idee des »Transits« zu entsprechen, und orientierte sich damit an einem physikalischen Zeitbegriff (Diallo, Dakar, 20.09.2013; Bamba, Dakar, 26.08.2013). In der Praxis allerdings erwies es sich als nicht minder ausschlaggebend, wann der Kontakt mit der Familie hergestellt und die oft weiten Reisen mit dem Zeit- und Kostenbudget der Organisation vereinbart werden konnten (Kebe, Dakar, 12.10.2012; Centre Ginddi, Dakar, 26.08.-27.09.2013). Die in den centres tätigen Sozialarbeiter machten die Erfolgsaussicht einer réinsertion wesentlich davon abhängig, wie viel Zeit das Kind zuvor »auf der Straße« verbracht hatte. Je kürzer diese Phase, desto vielversprechender wurde dessen »Wiedereingliederung« eingeschätzt (z.B. Coly, Dakar, 25.04.2013). Dabei ist eine gelungene réinsertion nicht ad hoc im Moment des Wiedereinzugs in die Fa-

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milie erkennbar, sondern erst nach einer variablen Zeitspanne ohne eine erneute Flucht des Kindes (z.B. Soeur Jeline, Dakar, 18.07.2012). Die kritischen Momente der réinsertion liegen also außerhalb der institutionell am intensivsten begleiteten Transitphase. Dies verweist auf eine de facto bestehende biografische Kontinuität und Interferenz der einzelnen Lebensabschnitte, die nicht zwingend mit den konzeptionellen Einteilungen der centres übereinstimmen. Auch der Alltag in den centres wird in verschiedener Hinsicht von temporären Aspekten geprägt. Gemeinsam ist den centres, dass der Tagesablauf durch feste Schlaf-, Essens- und Gebetszeiten strukturiert ist. Dafür sind organisatorische, aber auch programmatische Gründe verantwortlich, da ein normativer Umgang mit Zeit Teil der Vorbereitung auf einen gesellschaftlich akzeptierten Lebensstil darstellt. Jedoch ermöglicht die strikte Tagesplanung keinen graduellen Übergang in die familiäre Abhängigkeit und steht zu der nahezu unbegrenzten Unabhängigkeit »auf der Straße« in vielen Fällen sogar in einem schärferen Kontrast als das Leben in den Familien. Ein straffes Regelwerk ist aus institutionslogischer Perspektive nachvollziehbar, widerspricht aber der Idealvorstellung einer prozessualen réinsertion dahingehend, dass die Kinder abrupt aus einer überlebensnotwendigen extremen Aktivität und Flexibilität in eine extreme Passivität »katapultiert« werden. Dabei entscheidet das je nach centre sehr unterschiedliche Aktivitätenprogramm darüber, wie die Zeit zwischen den täglichen Fixpunkten für die Kinder gestaltet wird. Abwechslungsreiche und engmaschige Beschäftigungsangebote berücksichtigen neben ihrer Grundversorgung die sozialen, kreativen und intellektuellen Bedürfnisse der Kinder, üben jedoch auch verstärkt Kontrolle und direktiven Einfluss auf sie aus. Viel »unausgefüllte« Zeit4 hingegen ist Ausdruck des liminalen Zustandes der Kinder, die keinen durch spezielle Aufgaben definierten sozialen Status besitzen oder durch alters- und rollenspezifische Tätigkeiten gesellschaftlich partizipieren. Sie führt oft zu Langeweile und bisweilen zu vorzeitigen Fluchten, gestattet ihnen dafür in einem begrenzten Rahmen mehr Selbstbestimmung (Centre Ginddi, Dakar, 26.08.-27.09.2013). Der Prozess der réinsertion wird zudem durch räumliche Faktoren geprägt, die zum Teil mit den zeitlichen in Wechselwirkung stehen. Eine zentrale Rolle spielt hierfür das centre als physischer Ort. Das Centre Ginddi befand sich in einem innerstädtischen Quartier, aber relativ abgeschieden etwa dreihundert Meter von einer Hauptverkehrsstraße entfernt. Eine gezielte räumliche Isolation von der Gesellschaft stellt die physische Dimension der Liminalität des »Wiedereingliederungsprozesses« dar und zeigte sich noch deutlicher im Fall des camp de réinsertion (Wiedereingliederungscamp) des Centre Nazareth im Jahr 2012, das etwas über eine Autostunde von Dakar entfernt auf dem Klostergelände Koeur Moussa in der Region 4

Zur Frage, in welchem Verhältnis Akteure zu den zeitlichen Rahmenwerken, die ihr Leben strukturieren, stehen, wie sie sich auf sie beziehen und auf sie agency ausüben, siehe Moroşanu & Ringel (2016: 17-20).

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Thiès stattfand. Da diese etwa zehntägigen Camps zum Ziel haben, die Kinder am Ende direkt in ihre Familien zurückzubringen, muss der Prozess der réinsertion entsprechend verdichtet erfolgen. Ein anderes centre wiederum, Empire des Enfants, lag zentral in Medina, einem innerstädtischen, aber überwiegend ärmlichen Viertel Dakars. Die Ansätze, sich einerseits räumlich von der »Straße« abzugrenzen, andererseits leicht erreichbar für die Zielgruppe zu sein, wurden also unterschiedlich von den einzelnen Institutionen meines Feldes gewichtet, auch wenn pragmatische Gründe für ihren Standort ebenso eine Rolle spielten. In allen mir bekannten Fällen waren die centres jedoch entweder in abgelegenen oder in sozioökonomisch schwachen Umgebungen angesiedelt und damit in Distanz zu wohlhabenderen Bevölkerungsteilen. Die permanente Überwachung des Eingangsbereichs als Transitzone zwischen öffentlichem und institutionellem Raum suggerierte im Centre Ginddi wie auch in anderen Heimen eine zusätzliche Sicherheit gegenüber den »Gefahren« der Straße. Die Wachen kontrollierten aber nicht nur, dass kein Unbefugter das Gelände betrat, sondern auch, dass die betreuten Kinder es nicht unerlaubt verließen. Dies reflektierte die ambivalente Perspektive auf sie als »Opfer« und potenzielle »Ausreißer« (»fugeurs«). Dennoch gehörten Fluchten, wie ich vor allem im Centre Ginddi beobachten konnte, zur Tagesordnung und waren je nach Bau- und Bewachungsart des centre von den Kindern mehr oder weniger leicht zu bewerkstelligen. Diese parallel stattfindenden Vor- und Rückbewegungen zwischen Straße und Herkunftsfamilie untermauern meine Interpretation des centre als ungewissen Schwellenraum. Die Sozialarbeiter waren nach eigener Aussage gegenüber den Fluchten machtlos und wollten die Kinder nicht entgegen deren Willen festhalten, weshalb sie sie aufforderten, sich »offen« an sie zu wenden, sollten sie vorhaben, das centre zu verlassen (Pierre, Dakar, 29.08.2013). Dennoch ließ das Centre Ginddi während meiner Forschungszeit eine Mauer an einer Stelle errichten, von der aus die Kinder besonders häufig ausrissen. Dies deutete darauf hin, dass die Fluchten von den Sozialarbeitern als Kontrollverlust wahrgenommen wurden. Sie waren nur »verabredete« Fluchten bereit zu akzeptieren, die ihre hierarchisch übergeordnete Rolle innerhalb der Institution nicht verletzten. Zudem waren Fluchten dahingehend politisch, da sie prinzipiell dokumentiert werden mussten und bei Evaluationen ein entsprechend ungünstiges Licht auf das centre warfen, wobei sich die Statistiken jedoch relativ einfach manipulieren ließen. Während die permanente Überwachung nach außen damit in einem Kontrast zu der typischen Zugänglichkeit durchschnittlicher senegalesischer Haushalte stand, wurde im Inneren durch die Aufteilung der einzelnen Haushaltsbereiche eine Annäherung an normative familiäre Strukturen auch auf architektonischer und wohnräumlicher Ebene vermittelt. Die réinsertion mündet schließlich – idealerweise – in der Rückkehr in die Herkunftsfamilie. Dieses programmatische Ziel misst aber der Tatsache, dass die örtliche Rückkehr in die Familie keine zeitliche Rückkehr impliziert und dass die Familie

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von damals in der gleichen Form nicht mehr existiert, gemeinhin wenig Bedeutung bei. Nicht nur das Kind selbst hat oft extreme prägende Erfahrungen hinter sich, sondern die familiäre Konfiguration kann sich durch Todesfälle, Geburten und (Wieder-)Heiraten, neue innerfamiliäre Konflikte oder eine veränderte ökonomische Situation gravierend verändert haben. Den de facto bestehenden Entfremdungsmomenten versuchten die Sozialarbeiter entgegenzuwirken, indem sie den unauslöschlichen Wert der Blutsverwandtschaft und die emotionale Einzigartigkeit familiärer Bindungen übermäßig betonten (z.B. Soko, Dakar, 25.04.2012; Mbaye, Dakar, 10.09.2013). Auch die Wegstrecken, die für die Rückführung zurückgelegt werden müssen, divergieren stark, da die Kinder sowohl aus dem Großraum Dakar als auch aus den Nachbarländern Guinea-Bissau, Mali oder Gambia stammen. Bei kürzeren Distanzen und nach einer erfolgreichen sogenannten Mediation wurde vom Centre Ginddi begrüßt, dass die Familienangehörigen ihr Kind selbst abholten. So konnten die Ressourcen der Organisation geschont und ein Bemühen der Familie gegenüber dem Kind ersichtlich werden. Bei einer Abholung durch die Eltern wird die Familie nicht nur passiv rekonstruiert, sondern nimmt selbst eine aktive Rolle ein und schützt gleichzeitig ihre Privatsphäre vor einer zu engen institutionellen Intervention. Für die Kinder hingegen, die von einem Sozialarbeiter »zurückgebracht« werden, erweitert sich der Prozess der réinsertion um ein weiteres räumliches und zeitliches Transitmoment und ermöglicht eine graduelle Loslösung von der Institution. Indem eine Verbindung zum centre während des Transports schließlich nur noch über den begleitenden Sozialarbeiter besteht, wird ein Kreislauf geschlossen, da der Kontakt mit diesem auch zumeist den Beginn einer réinsertion darstellt.

Die Sozialarbeiter: Schlüsselakteure der »Wiedereingliederung« Bei der Übersetzung des Konzepts der réinsertion in die Praxis nehmen die Sozialarbeiter mit ihren unterschiedlichen Persönlichkeiten und Herangehensweisen eine wichtige intermediäre Position ein. Sie entscheiden über viele Abläufe und führen sie aus, bilden aber auch die Schnittstelle verschiedener Interpretationslogiken und Loyalitätsbeziehungen. In vielen Fällen ist der persönliche Kontakt mit einem Sozialarbeiter der erste Schritt hin zu einer »Wiedereingliederung«, da diese oft schon vor einer Aufnahme in ein centre an bestimmten points de chute (Sammelpunkten) eine Verbindung mit den »Straßenkindern« aufbauen. Die Beziehung zu einem Sozialarbeiter kann für die Kinder und Jugendlichen unabhängig sein von ihrer Einstellung gegenüber einem bestimmten centre oder ihrer allgemeinen Bereitschaft, das Leben »auf der Straße« aufzugeben. In der Regel nehmen sie die Besuche der Sozialarbeiter positiv auf. Diese können zu signifikanten Bezugspersonen werden, sofern sie die Kontaktaufnahme nicht als eine rein instrumentelle

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Anwerbung in ein centre verstehen (vgl. Shanahan 2003: 369). Das Verhältnis zwischen den Sozialarbeitern und den »Straßenkindern« oszilliert so von Anfang an zwischen einer personellen und einer institutionellen Beziehung. Den Streetworkern stehen dabei nur ihre persönlichen Qualitäten zur Sympathiegewinnung zur Verfügung, da die Mehrheit der centres es mittlerweile ablehnt, den Kindern eine materielle Versorgung, etwa Nahrung oder Kleidung, zukommen zu lassen, um ihnen durch eine derartige Unterstützung das Leben »auf der Straße« nicht aktiv zu ermöglichen und ihre »Wiedereingliederung« zu behindern (z.B. Diedhiou, Dakar, 19.06.2012). Bei den sogenannten actions rue waren es die Sozialarbeiter, die sich überwiegend an die Regeln der Kinder anpassten. Zum Beispiel verweilten sie nie zu lange an einem point de chute, um die Kinder nicht in ihren gewohnten Tätigkeiten zu beeinträchtigen (z.B. Coly, Dakar, 25.04.2013). Somit ist die Anfangsphase der reinsértion von invertierten Adaptionsleistungen und von einer graduellen Hierarchisierung der Rollen geprägt. Während die Sozialarbeiter bei den actions rue meist eher kameradschaftlich auftraten, verhielten sie sich in den centres verstärkt disziplinarisch gegenüber den Kindern (z.B. Centre Ginddi, Dakar, 19.09.2013). In den centres stellen die Sozialarbeiter zusammen mit dem übrigen Personal die einzigen erwachsenen Bezugspersonen für die Kinder dar. Sie wollen die Eltern jedoch nicht ersetzen, sondern eine familiäre Rollenverteilung lediglich andeuten. Das Ziel der Sozialarbeiter sei es, zu vermitteln, dass es im centre zwar »besser« als »auf der Straße« sei, aber dass sie »niemand so lieben« könne wie die eigenen Eltern, so Ousmane Soko von Empire des Enfants (Soko, Dakar, 25.04.2012). Bei Avenir des Enfants wurde mir erklärt, dass sie in den Kindern »Heimweh« zu wecken versuchen, indem diejenigen Kinder, die einer Rückkehr in ihre Familie noch skeptisch gegenüberstehen, die familiären Wiedervereinigungen der anderen miterleben (Dione, Rufisque, 09.04.2012). Im »Wiedereingliederungscamp« des Centre Nazarteh 2012 wurden solche performativen quasi-familiären Inszenierungen dem engen Zeitrahmen entsprechend in verdichteter Form programmatisch integriert und die Kinder zum Beispiel in Kleingruppen mit jeweils zwei Betreuern in »Familien« mit eigenem »Familiennamen« unterteilt (Koeur Moussa, 04.07.2012). Auffallend war ferner der überwiegende Anteil männlicher Betreuer in den centres. Dies erweist sich vor dem Hintergrund klar definierter familiärer Rollenbilder in Senegal als bedeutsam. Der Vater gilt als chef de famille, Entscheidungsträger und verantwortlich für Disziplin, die Mutter hingegen als emotionale Bezugsperson der Kinder. In einer Perspektive auf die geflohenen Kinder als »Ausreißer« oder »Aufmüpfige« ist der Einsatz männlicher Betreuer dann konsequent in der Annahme, sie könnten die Kinder besser maßregeln und ihnen ein Vorbild in ihrer Geschlechterrolle sein. Dahingehend ist wiederum vielsagend, dass das Bedürfnis nach mütterlicher Fürsorge der Talibé in den Koranschulen, die eher viktimisiert

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werden als die »ausgerissenen« Kinder in den centres, stärker betont wird, was zum Beispiel im Projekt der daara-Patinnen (»ndieyou daara«) zum Ausdruck kommt. Manche Konstellationen im Centre Ginddi unterminierten jedoch die formelle scharfe Trennung der Lebenswelten der »Straße«, des centre und des familiären »Zuhauses«. So verbrachten zwei der Sozialarbeiter, deren Familien etwas weiter entfernt lebten, nicht nur ihre Arbeitstage im centre, sondern übernachteten auch dort und nahmen sämtliche Mahlzeiten im Heim ein. Indem das centre für sie zu ihrem quasi-permanenten Lebensraum wurde, entsprachen sie paradoxerweise selbst dem institutionell propagierten Familienideal nicht. Einer der Sozialarbeiter hatte laut einem Kollegen sogar selbst einige Jahre seiner Kindheit und Jugend »auf der Straße« gelebt (Coly, Dakar, 18.09.2013). Obwohl er der einzige mir bekannte Fall war, scheint es allgemein in den Einrichtungen keine Seltenheit zu sein, ehemalige »Straßenkinder« zu beschäftigen (vgl. Lucchini 1996a: 294). Hinter einer solchen Praxis mag der Gedanke stehen, dass diese mit den »Straßenkindern« besonders gut umgehen können oder über Insiderwissen über deren Denk- und Handlungsweisen verfügen. Gerade der besagte Sozialarbeiter fiel jedoch durch ein besonders aggressives und gewalttätiges Verhalten gegenüber den Kindern auf, sodass er manche Praktiken der »Straße« trotz seiner Rolle als Vorbild eher zu reproduzieren als zu einer »Transformation« der Kinder beizutragen schien. Gleichzeitig verkörperte er aber durch seine gegenwärtige Position, dass ein »Straßenkind« zu sein nicht nur ein potenziell überwindbares »Lebensereignis« (Kilbride et al. 2000: 8) darstellt und keine dauerhafte gesellschaftliche Marginalität bedeuten muss, sondern sogar Chancen ermöglichen kann. Besonders kritische Momente der Beziehung zwischen den Sozialarbeitern und den Kindern bilden die sogenannten écoutes, die »Anhörungen« der Kinder. In den écoutes soll möglichst viel über das Kind erfahren werden, um mittels dieser Informationen die familiäre »Wiedereingliederung« anzubahnen. Einerseits ist es ein primäres Anliegen der centres, das Maximum an konkreten und wahrheitsgetreuen biografischen »Fakten« über das Kind herauszufinden, andererseits stellt das konzeptionelle Ideal der écoutes ein vertrauensvolles Gespräch dar, in dem das Kind seine eigene Sichtweise und Gefühlslage ausdrücken kann (vgl. Fondation Suisse du SSI et al. 2013). Damit manifestiert sich in einer écoute die ambivalente Rolle der Sozialarbeiter als Bezugspersonen der Kinder und »Interessensvertreter« des centre. Der Verlauf einer écoute ist sowohl Konsequenz als auch Grundlage eines gegenseitigen Vertrauens- oder Misstrauensverhältnisses. Die Sozialarbeiter beklagten oft, dass die Kinder Informationen vorenthalten oder manipulieren würden und sahen sich dadurch in ihrer Arbeit behindert (z.B. Ndiaye, Dakar, 26.08.2013). Nicht immer sind fehlende Informationen Ausdruck einer mutwilligen Verweigerung. Zumindest viele der geflohenen Talibé, die ihre Familien häufig in einem sehr jungen Alter verlassen haben, vergessen ihre biografischen Daten über die Jahre und erinnern sich bestenfalls an den Namen ihres Herkunftsdorfes (z.B. Wiederein-

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gliederungscamps, Koeur Moussa, 05.07.2012). Tatsächlich gehen die Kinder jedoch mit ihren persönlichen Details in der Regel sorgsam um und setzen sie nur kontrolliert und strategisch ein, da sie nicht immer sicher sein können, dass die Sozialarbeiter sie nach ihrem Willen verwenden (vgl. Lucchini 1996a: 16). So waren während meines Forschungspraktikums im Centre Ginddi eines Morgens zwei aus der Koranschule geflüchtete Jugendliche aus dem Heim verschwunden. »Die sind weg, weil sie ihren maître hier gesehen haben (…) den hatte ich zur Mediation hier (…), und die dachten wohl, er würde sie zurückholen«, war der lapidare Kommentar eines Sozialarbeiters dazu (Ndiaye, Dakar, 29.08.2013). Seyni Diedhiou, Sozialarbeiter bei Futur au Présent im südsengalesischen Ziguinchor, wiederum äußerte mir gegenüber die Vermutung, dass manche Kinder die Misshandlungen in den daaras, aus denen sie geflohen waren, drastisch in allen Einzelheiten ausmalten, um zu verhindern, dorthin zurückkehren zu müssen (Diedhiou, Ziguinchor, 04.05.2013). Sowohl ein »Zuviel« als auch ein »Zuwenig« an Informationen, aber auch gezielt falsche Angaben werden also von den Kindern eingesetzt und zeugen von ihrer agency, in ihren »Wiedereingliederungsprozess« aktiv, wenngleich oft nur subversiv, einzuwirken. Die strategische Zurückhaltung oder Preisgabe von Informationen prägt maßgeblich das Verhältnis zwischen dem betreuten Kind und den Sozialarbeitern. Informationen können so als »Währung« betrachtet werden, mit der sich das Kind materielle oder emotionale Zuwendung und Glaubwürdigkeit verdient. Während einer gemeinsamen action rue der Organisationen Avenir des Enfants, SPER und Enda im Juni 2012 bat mich beispielsweise einer der Jugendlichen, ihm einen Kaffee zu spendieren, worauf einer der begleitenden Sozialarbeiter dazwischenfuhr: »Dem gibst du nichts, der hat uns auch nicht seine Informationen gegeben!« (Ba, Dakar, 26.06.2012). Und im Centre Ginddi kam eines Tages Gamou, einer der Sozialarbeiter, halb ernst, halb scherzhaft mit einem Stock auf einen der Jungen zu mit den Worten »(…) Den muss ich jetzt bedrohen, damit er mir endlich die Telefonnummer seiner Eltern gibt!« (Ndiaye, Dakar, 26.08.2013). An der Bereitschaft des Kindes, möglichst konkrete und kohärente Auskünfte über sich zu geben, wird somit seine Kooperations- und Wiedereingliederungsfähigkeit gemessen. Dahinter stehen pragmatische Gründe, da viel persönliches Detailwissen tatsächlich die Anbahnung der familiären réinsertion erleichtert. Abstrakt betrachtet stellt die bürokratische Aneignung der Biografien der Kinder ein erster Schritt dar, um ihre nicht normativen Lebensläufe wieder in gesellschaftlich anerkannte Kategorien rückzuübersetzen.

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Kontroverses Kindeswohl: Die »Wiedereingliederung« als Aushandlungsfeld sozialer und kultureller Normen Die centres können als Exekutive internationaler Kinderschutzbestimmungen verstanden werden, denen sich Senegal durch die Ratifizierung diesbezüglicher Konventionen verpflichtet hat. Sie müssen dabei normative und abstrakte transnationale Konzepte unter Berücksichtigung bestimmter lokaler und interner Gegebenheiten in die Praxis übersetzen. Die adaptierten Praktiken werden von den centres wiederum in transnational etablierte Begriffe rückübersetzt, um sich für Kooperationen mit führenden, finanzstarken Organisationen zu qualifizieren. Wenn die Sozialarbeiter im Centre Ginddi den Kindern etwa Papier und Malstifte austeilten oder ein Fußballmatch zustande kam, dokumentierten sie diese Aktivitäten als Maßnahmen zur Förderung der »Kreativität, der Motorik und geistigen Anregung« oder der »Gruppensolidarität und des Wettbewerbssinns« (Centre Ginddi, Dakar, 28.08.2013). Auch war es dem centre wichtig zu betonen, einen »psychosozialen Ansatz« zu verfolgen (Diallo, Dakar, 20.09.2013). Dieser Ansatz gewann insgesamt unter den maßgeblichen Akteuren meines Feldes zu dieser Zeit zunehmend an Relevanz (z.B. IOM (Konferenz), Dakar, 31.05.2012), wurde jedoch von Anta Mbow, Direktorin des Heims Empire des Enfants, mir gegenüber abfällig mit den Worten kommentiert: »(…) Das ist nur für Konferenzen und so und nichts Anderes als das, was wir immer schon gemacht haben und was früher natürlich war (…), Solidarität, teilen, sich gegenseitig zuhören (…)« (Mbow, Dakar, 23.07.2013). Mit der Verbreitung der UN-Kinderrechtskonvention (1989) hat sich zudem die Anerkennung des »Rechts« auf »Partizipation« der Kinder in allen sie betreffenden Entscheidungsprozessen in den meisten Organisationen zumindest formal, wenngleich unterschiedlich explizit, durchgesetzt. Dieses Prinzip ist zwar in einer Gesellschaft, in der Altersstrukturen und Familienrollen hierarchisch relativ streng stratifiziert sind, nicht unproblematisch, ermöglicht jedoch einen breiten Auslegungsspielraum (vgl. Shanahan 2003: 363; Ennew 2000 [html]). Mitarbeiter der centres und anderer Kinderrechtsorganisationen interpretierten zum Beispiel oft die bloße Anwesenheit von Kindern oder deren Ausführung bestimmter Projekte als »Partizipation«. Eine solche Auslegung bewirkte, dass die von ihnen getroffenen Entscheidungen zusätzlich legitimiert und dadurch das Prinzip der »Partizipation« nicht nur ausgehöhlt, sondern sogar ins Gegenteil verkehrt wurde. Manche Akteure reduzierten die Bedeutung von »Partizipation« wiederum auf die pragmatische Dimension eines »gemeinsamen Handelns«, etwa auf eine »Teilnahme« an Aktivitäten zur Instandhaltung des centre. Auch die vorgeblich eigenständige Ausarbeitung eines internen Regelwerks durch die Kinder, die in manchen centres üblich war, zeugte von einer äußerst eingeschränkten Form der »Partizipation«, indem es sich um eine gelenkte Aktivität (vgl. Kolb 2014: 71-72), nicht um eine krea-

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tive, selbstbestimmte Eigenleistung handelte (vgl. Fondation Suisse du SSI et al. 2013, Lucchini 1996a: 269-270). Die centres übersetzen transnationale Konzepte und Paradigmen, vermitteln aber gleichzeitig jeweils einen eigenen Werte- und Normenkodex, der mit dem der anderen Akteure, welche die réinsertion koproduzieren (vgl. Jasanoff 2006: 23)5 , konfligieren kann. Vor allem die Heime, in denen die Kinder und Jugendlichen vor einer Familienrückführung zunächst eine berufliche oder schulische Ausbildung absolvieren, haben durch den langen Aufenthalt mehr Einflussmöglichkeiten. Eine besondere Brisanz nimmt diese Einflussnahme im Kontext mancher christlichen Einrichtungen ein, in denen zwar eine Konversion nicht explizit von den Kindern erwartet wird, aber Gebete, christliche Ferienlager und die Tatsache, dass alle erwachsenen Bezugspersonen praktizierende Christen sind, nicht selten hierzu führen. Soll zwar vordergründig eine Wiederannäherung der Kinder an ihre Familien erreicht werden, können solche Konversionen gerade tiefer gehende familiäre Konflikte kreieren. Mit dieser speziellen Problematik bin ich im Rahmen meiner Feldforschung jedoch nur bei einem eintägigen Besuch bei der Organisation Perspective Sénégal und über gelegentliche Gespräche mit Mitarbeitenden anderer Organisationen in Berührung gekommen, sodass ich nicht über Material für eine tiefer gehende Analyse verfüge (Keur Massar, 06.12.2011; Coly, Dakar, 13.08.2013). Marion Grimaud, leitende Angestellte des französischen Langzeitheims Village Pilote, betonte wiederum die Priorität von »Autonomie« und eines »respektvollen Umgangs« der Jugendlichen mit Frauen. Deshalb erlernten die Jungen bei Village Pilote von Französisch über Kochen bis hin zum Hüttenbau alle Fähigkeiten, die sie aus der Perspektive der Organisation für ein »eigenständiges Leben« benötigten. Bei einem erfolgreichen Abschluss wurde den jungen Erwachsenen schließlich ein Führerschein finanziert. »Damit kannst du in Senegal alles machen!«, versicherte mir Grimaud enthusiastisch (Grimaud, Dakar, 26.04.2012). Diese Leitwerte jedoch orientierten sich mehr an einem westlich geprägten individualistischen Gesellschaftsbild mit emanzipierten Geschlechterrollen als an lokalen Vorstellungen des sozialen und familiären Zusammenlebens. Sie offenbarten ein Spannungsfeld zwischen den pädagogischen Idealen der Institution und ihrem Ziel, die Jugendlichen wieder in ihr Herkunftsmilieu zu »integrieren«. Nicht erst die durch die centres vermittelten Werte und Normen führen im Herkunftskontext der Kinder mitunter zu Konflikten. Manche Eltern fühlen sich allein durch das Einschreiten einer Organisation, die ihnen ihr Kind »zurückbringt«, in

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Während Sheila Jasanoff (2006: 2-3) das Konzept der »Koproduktion« auf ein wechselseitiges Zusammenwirken von (Natur-)Wissenschaft und Gesellschaft bezieht, übertrage ich es in diesen Kontext darauf, wie von verschiedenen, relativ deutlich separierbaren Akteuren der Prozess der »Wiedereingliederung« der Kinder durch wechselwirksame, diskursive und außer-diskursive Praktiken gemeinsam hervorgebracht wird.

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ihrer Erziehungsautorität beschnitten und stigmatisiert (vgl. Einarsdóttir & Boiro 2016: 10-11). Die Rückführung impliziert nicht nur die Botschaft eines elterlichen Versagens, sondern die Eltern teilen nicht immer die Ansicht, für ihr Kind sei es besser oder angemessener, zurück im Herkunftsdorf und nicht mehr in Dakar beziehungsweise der Koranschule zu sein (vgl. Einarsdóttir et al. 2010: 40-41). Vor allem in konservativ-religiösen Milieus sind die centres oft dem Verdacht ausgesetzt, unter »westlicher« Einflussnahme die Kinder zur Flucht aus den Koranschulen anzustiften. Einer der mir bekannten Sozialarbeiter kleidete sich daher bei der Rückführung eines Kindes stets der religiösen Bruderschaft der Familie entsprechend – bei mouridischen Familien etwa mit dem bunt gestreiften Boubou6 der Baye Fall7 –, um so das Vertrauen der Eltern zu gewinnen und ihnen glaubwürdig zu vermitteln, keine »unislamischen« Absichten zu hegen (Coly, Koeur Moussa, 04.07.2012). Im Centre Ginddi wurde zudem besonderen Wert auf den regelmäßigen Koranunterricht der Kinder gelegt. Als staatliche Einrichtung muss Ginddi nicht nur vor den Maßstäben internationaler Kinderrechtsakteure bestehen, sondern will auch der lokalen Bevölkerung und insbesondere den religiösen Vertretern keinen Anlass zu derartigen Unterstellungen geben. Das Misstrauen der Eltern gegenüber den Sozialarbeitern beruht jedoch auf Gegenseitigkeit. So führen manche centres nach einer Rückführung als vermeintliche Geste besonderer Aufmerksamkeit gegenüber dem Kind unangemeldete Kontrollbesuche bei den Familien durch oder informieren die Eltern erst gar nicht über die Rückkehr ihres Kindes, um deren »wahre« und »ungeschminkte« Reaktion bei dessen Anblick zu erleben (Carvalho, Dakar, 14.05.2012; Ndiaye, Dakar, 01.08.2012). Als strategisches Vorgehen stellt dies nach meinen Erfahrungen zwar eine Ausnahme dar, aufgrund fehlender Kontaktdaten kann die Rückführung aber oft allein aus pragmatischen Gründen nicht im Voraus

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Ein Boubou (Wortherkunft: »mbubb« [wolof]) ist ein alltagssprachlich als »traditionell« bezeichnetes senegalesisches Kleidungsstück, das aus einer weiten, langen Tunika und einer Hose (Männer) bzw. einem langen Rock (Frauen) besteht. Beeinflusst von der Kleidungsweise der arabischen Händler trugen zunächst nur bereits islamisierte Bevölkerungsgruppen einen Boubou, aufgrund der klimatischen Gegebenheiten jedoch ähnelten ihm die typischen Gewänder in anderen Gegenden des heutigen Senegals. Als Ende des 19. Jahrhunderts die französische Kolonialverwaltung der westlich ausgebildeten Bevölkerungselite vorschrieb, sich europäisch zu kleiden, drückten vor allem konservative Muslime ihren Widerstand gegen die französische Kultur aus, indem sie den Boubou anstatt eines Anzugs trugen (vgl. Rabine 1997: 97). Cheikh Ibra Fall, ein treuer Anhänger Amadou Bambas, gründete innerhalb der Bruderschaft der Murīdīya den Weg der Baye Fall, der vor allem der Arbeit für den marabout einen besonders bedeutenden Stellenwert beimisst (z.B. Audrain 2004: 150). Die typische Kleidung der Baye Fall ist ein aus bunten Flicken zusammengenähter Boubou, ein sogenannter njaaxas, der – in Erinnerung an die frühen Sufis – Demut und Armut symbolisieren soll (vgl. Pezeril 2008: 802).

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angekündigt werden. Indem die Sozialarbeiter so die Möglichkeit zu einer performativen Vorbereitung haben, die Eltern hingegen zur »Authentizität« verpflichtet sind, wird das ungleiche Machtverhältnis zwischen Eltern und Sozialarbeitern verstärkt. Zudem forderten manche Organisationen, wie das Centre Nazareth, die Eltern in bestimmten Fällen, insbesondere bei einer wiederholten Flucht des Kindes, bisweilen auf, eine »Vereinbarung« bezüglich des zukünftigen Umgangs mit dem Kind zu unterschreiben (z.B. Koeur Moussa, 04.07.2012). Eine solche Vereinbarung bietet zwar keine Grundlage für ein rechtliches Vorgehen gegen die Eltern, entzieht ihnen jedoch symbolisch zumindest partiell die Erziehungshoheit und impliziert darüber hinaus eine normative Verhaltenserwartung an das Kind selbst. Dabei können nur objektiv überprüfbare Aspekte wie ein Schulbesuch und eine gewährleistete Grundversorgung, nicht aber das tatsächliche emotionale Wohlbefinden des Kindes erfasst werden. Nichtsdestotrotz verfügen auch die Eltern über Möglichkeiten, in den Prozess der réinsertion gemäß ihren eigenen Interessen einzuwirken, etwa indem sie zusätzliche finanzielle Zuwendungen für einen Schulbesuch des Kindes auszuhandeln versuchen oder bestimmte formale Abmachungen mit den Sozialarbeitern subvertieren (z.B. Soeur Jeline, Dakar, 18.07.2012). Nicht nur manche Eltern, auch manche, meist eher ältere Kinder empfinden die Rückführung durch eine Hilfsorganisation als stigmatisierend und beschämend. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass eine unabhängige, erfolgreiche Migration von Jugendlichen in vielen afrikanischen Kontexten mit positiven Zuschreibungen behaftet ist und einen Übergangsritus (van Gennep 2005 [1909]: 2122) darstellt, um den Status eines jungen Erwachsenen zu erlangen (z.B. Thorsen 2007: 23-25). Mehrere Sozialarbeiter berichteten von Jungen, die zu einer Rückkehr in ihre Familie bereit waren, »die letzten Meter« aber unbedingt alleine gehen wollten, um nicht in Begleitung eines Erziehers bei ihren Familien zu erscheinen (z.B. Coly, Dakar, 25.08.2012). Ein anderes Kind weigerte sich, ohne einen Gameboy in seine Familie zurückzukehren (Soeur Jeline, Koeur Moussa, 04.07.2012). Dieser Wunsch konnte ihm zwar nicht erfüllt werden, zeigte aber, dass die Jugendlichen nicht als »verlorene Söhne« nach Hause kommen wollen. Sie betrachten ihre bloße physische Präsenz nicht als ausreichende Basis für eine familiäre »Wiedereingliederung«, sondern wollen bestimmten Erwartungen gegenüber Remigranten entsprechen. Indem sie solche und ähnliche Bedingungen stellen, orientieren sich die Kinder selbst an Aspekten, die in ihrem Herkunftskontext sozial bedeutsam sind, während die centres formal eine soziale »Wiedereingliederung« anvisieren, diese jedoch zumeist auf eine physische Familienzusammenführung reduzieren. Anstatt als soziale Subjekte re-integrieren sie die Kinder als biologisch definierte »Familienmitglieder« beziehungsweise als »Kinder« nach einem transnationalen Verständnis, das Minderjährige von jeglicher ökonomischen Verantwortung freispricht. Solche Konflikte bringen die Mehrdeutigkeit des dem Prozess der réinsertion formal unterliegenden Prinzips des »übergeordneten Kindeswohls« (UN 1989,

7. Von Talibé und Straßenkindern

Art. 3.1) zum Ausdruck, das von den Institutionen, den Eltern und den Kindern selbst häufig unterschiedlich interpretiert wird.

Zusammenfassung Der Umstand, dass eine »Wiedereingliederung« der bettelnden Talibé ebenso wie ihr Status als »Opfer von Menschenhandel« bislang an eine eigeninitiierte Flucht aus ihrer Koranschule gekoppelt ist, verstärkt das ambivalente und kontroverse Verhältnis zwischen den diskursiven Kategorien der »Talibé« und der »Straßenkinder«. Das Phänomen der »Straßenkinder« kann als integraler Bestandteil der Koranschulproblematik gelten, auch wenn mit dem Wechsel der identitären Kategorien der »Talibé«, »institutionalisierten Kinder« und »Straßenkinder« multiple semantische und programmatische Verschiebungen einhergehen. Für das Verständnis des Diskursfeldes um die bettelnden Talibé erweist es sich als besonders aufschlussreich, wie je nach Sprecherinteresse bestimmte Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zwischen den »Straßenkindern« und den »bettelnden Talibé« konstruiert und in den Fokus gerückt werden. Dass sich dieselben oder ähnliche Lebensrealitäten ganz verschieden interpretieren und bewerten lassen, zeugt auch davon, dass sich die Akteure jeweils an unterschiedlichen Kindheits- und Erziehungskonzepte orientieren. Indem »Straßenkinder« in normkonforme Gesellschaftsmitglieder transformiert werden (sollen), wird ein spezifischer Ausschnitt ihrer Lebensweise mit einem hegemonialen Kindheitskonzept in Bezug gesetzt. Dies bildet den Ausgangspunkt für den Prozess, in dem das abstrakte Konzept der »Wiedereingliederung« durch die centres und vor allem durch die Sozialarbeiter als zentrale intermediäre Akteure in die Praxis übersetzt wird. Eine idealisierende Sicht auf »Familie« erweist sich dabei als verbindendes Element zwischen transnationalen, institutionellen und lokalen Logiken, die wechselseitig aneinander angepasst werden. Im Zuge der Übersetzungs- und Aushandlungsprozesse kommt es zu teils paradoxen Konstellationen und auch die rückwärtsgerichtete Perspektive des Ansatzes der réinsertion steht in einem Spannungsverhältnis zu dessen eigentlichem Anliegen, die Kinder auf ihre Zukunft vorzubereiten. Der Aufenthalt in den centres stellt eine Transitphase für die Kinder dar und reflektiert in multipler Hinsicht deren Zustand der Liminalität. Die temporäre Statuslosigkeit der Kinder kommt zum Beispiel dadurch zum Ausdruck, dass politischen Kategorisierungen und biografischen Hintergründen in der Alltagspraxis der centres keine Relevanz beigemessen wird. Je nachdem, ob die centres ein besonders vielseitiges Aktivitätenprogramm bieten oder die Versorgung der Kinder auf deren Grundbedürfnisse beschränken, verstärken sie entweder die Künstlichkeit des institutionellen Umfelds oder reduzieren die Kinder auf ihre basalen Bedürfnis-

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se, Rechte und Pflichten. Insbesondere zeitliche und räumliche Faktoren erweisen sich in expliziter und impliziter Form als bedeutsam für die »Wiedereingliederung«. Durch sie werden sowohl Grenzen als auch Verbindungen zur Allgemeinbevölkerung, zur »Straße« und zur Familie geschaffen sowie das Verhältnis zwischen agency und Kontrolle der Kinder bestimmt. Die centres werden so zu Knotenpunkten für eine Vielzahl volatiler sozialer Begegnungskonstellationen. Im Prozess der réinsertion kommen divergierende Kindheitskonzepte zum Tragen, aber auch die ambivalente Wahrnehmung der »ausgerissenen« Kinder und die provisorische Rolle, welche die Heime einnehmen (wollen). Dabei lässt sich das Paradox erkennen, dass sich die centres offiziell für eine gesellschaftliche Integration der »Straßenkinder« einsetzen, sie ihre eigene Legitimität jedoch durch stigmatisierende Diskurse untermauern müssen. Nach der Analyse unterschiedlicher humanitärer Ansätze in den vorangehenden beiden Kapiteln, die auf die Folgen, nicht auf die Lösung der Problematik um die Talibé ausgerichtet sind, wendet sich das letzte Kapitel wieder der politischen Ebene und dem neu belebten Diskurs um eine staatliche »Modernisierung« der Koranschulen zu. Es wurde im Verlauf des Textes bereits erkennbar, dass sich einerseits eine einseitige Kriminalisierung der Koranlehrer als gesellschaftlich äußerst umstritten erweist und andererseits die Überzeugung weit verbreitet ist, dass nur konsequente staatliche Maßnahmen zu einer dauerhaften Lösung der Problematik führen können. Die anhaltende Nicht-Anwendung des Gesetzes gegen die »Ausbeutung des Bettelns Anderer« und der zunehmende Fokus auf eine staatliche »Modernisierung« der Koranschulen sind zudem ein Beispiel dafür, dass der Diskurs um Menschenhandel und sein Dispositiv die Praxis nicht vollständig determinieren sowie Voraussetzungen für neue Diskurse schaffen (vgl. Keller 2011b: 59). Eine staatliche »Modernisierung« der daaras findet großen Anklang in Senegal, da sie ein Ende des Bettelns der Talibé, nicht aber des Koranschulwesens verspricht. Das Konzept ist jedoch mit ambivalenten Assoziationen belegt und stellt den historisch begründeten »Gesellschaftsvertrag« (Cruise O’Brien 1992: 9-10) zwischen staatlicher und religiöser Elite auf den Prüfstand, indem es tiefgreifende Veränderungen des senegalesischen Koranschulwesens impliziert.

8. Von »Menschenhandel« zu »Modernisierung«? Neue politische Wege im Umgang mit dem Betteln der Talibé

Im August 2010, inmitten des muslimischen Fastenmonats Ramadan, kündigte die senegalesische Regierung unter dem damaligen Präsidenten Abdoulaye Wade überraschend an, künftig das Betteln im öffentlichen Raum strikt zu unterbinden. Dem Beschluss folgten mehrere eilige Festnahmen und es kam erstmalig zur Verurteilung von sieben Koranlehrern nach dem Gesetz gegen »Menschenhandel und gleichgestellte Praktiken« (z.B. APS, 09.09.2010). Die Talibé verschwanden, ebenso wie die bettelnden Invaliden und Müttern mit Kleinkindern, plötzlich aus Dakars Straßenbild. Dieser Schritt Wades ließ sich vor allem damit in Zusammenhang bringen, dass Senegal bereits im zweiten Jahr in Folge im Ranking des amerikanischen Trafficking in Persons Report wegen einer unzureichenden Anwendung des Gesetzes gegen Menschenhandel auf die watch list gesetzt worden war und die Einstellung großer Summen Entwicklungsgelder im Rahmen des Millennium Challenge Account drohte (vgl. Dia, Dakar, 03.10.2012). Bereits nach weniger als zwei Monaten aber erklärte das Staatsoberhaupt angesichts der immensen Proteste aus dem religiösen Milieu eine Aufhebung des zuvor in Kraft getretenen Bettelverbots, da »Almosen« schließlich eine »von der Religion empfohlene Praktik« darstellten. Stattdessen forderte er seine Regierung auf, Strategien zur Bündelung der Almosen auszuarbeiten (z.B. Diene, Le Soleil, 08.10.2010). Diese Anekdote erwähnten mir gegenüber viele senegalesische Kinderrechtsakteure während meiner Feldforschung (z.B. Diallo, Mbao, 13.09.2012; Lo, Pikine, 25.05.2012; Ndour, Dakar, 24.05.2012). Sie wollten damit sowohl die »Schwäche« des Staates belegen, der dem Druck der religiösen Lobbygruppen nur allzu schnell nachgebe, als auch, dass es mit dem entsprechenden politischen Willen tatsächlich möglich sei, dem Betteln der Talibé Einhalt zu gebieten. Eine solche Affäre wiederholte sich in frappierender Ähnlichkeit im März 2013 nach dem Brand in einer Koranschule inmitten Dakars, der acht Talibé das Leben kostete (s. Kapitel 4). Im Sog des allgemeinen öffentlichen Entsetzens über das Unglück und der neu entfachten Empörung über die Lebensbedingungen der Talibé kündigte nun Präsi-

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dent Macky Sall mit entschlossenen Worten das sofortige Ende der »Ausbeutung« durch das Betteln an (z.B. APS, 06.03.2013). Es folgten einige Tage angespannter Ungewissheit, in denen die Medien darüber spekulierten, wie ernst Sall seine Worte nehmen würde und manche Koranlehrer zögerten, ihre Talibé auf die Straße zu schicken. Jedoch ließen abermals vehemente Proteste von Koranlehrern und marabouts den Präsidenten rasch einlenken. Nach einem eiligen Höflichkeitsbesuch des Premierministers in der renommierten, der Bruderschaft der Tiğānīya verbundenen Koranschule von Cheikhna Saïda Mariama Niasse in Dakar-Mermoz blieb nur eine vage Kritik an einer Form der mendicité, die »organisiert« werde, um »jemanden zu bereichern, der nicht einmal selbst ein Talibé ist« (z.B. Thiam, Le Soleil, 15.03.2013). Ebenso wie das mediale Interesse am Brand der daara verpuffte der ehrgeizige Aktionismus der Regierung bald im tagespolitischen Klein-Klein. In beiden Ereignissen kam jeweils in verdichteter Form das politische Spannungsfeld zum Ausdruck, das im Kontext der mendicité der Talibé durch unterschiedliche, konfligierende Interessen der senegalesischen Regierung entsteht. Senegal ist einerseits daran gelegen, sich vor der internationalen Gemeinschaft als moderner, demokratischer Rechtsstaat darzustellen und auch von den finanziellen Vorteilen zu profitieren, die mit dem Nachweis einer engagierten Bekämpfung des Menschenhandels als Zeichen einer »guten Regierungsführung« einhergehen. Andererseits kann die Regierung den gesellschaftlichen Einfluss des religiösen Milieus nicht ignorieren und ist im Zuge nationaler Emanzipationsbestreben bemüht, nicht als »Handlanger« westlicher Staaten zu erscheinen. Die Bemerkung, dass Senegal zwar stets »in vorderster Reihe« bei der Unterzeichnung internationaler Konventionen und Abkommen mit von der Partie sei, bei deren tatsächlichen Umsetzung hingegen weit hinterherhinke, hatte sich unter meinen zivilgesellschaftlichen Informanten als »das senegalesische Paradox« längst zu einem geflügelten Wort entwickelt (z.B. PPDH (Sitzung), Dakar, 10.10.2012; CNTLP (Konferenz), Dakar, 03.10.2012). Vor diesem Hintergrund analysiere ich nachfolgend den senegalesischen Umgang mit dem »unliebsamen« Gesetz gegen Menschenhandel und die Entwicklung eines Paradigmenwandels von einer Kriminalisierung der mendicité zu einer Modernisierung der daaras. Zwar stößt die Idee, die Koranschulen zu »modernisieren« in der senegalesischen Bevölkerung auf weitaus größere Akzeptanz als die, das Betteln pauschal zu verbieten, hinter der Zustimmung verbergen sich jedoch zum Teil weit auseinanderklaffende Interpretationen einer solchen »Modernisierung«. Daher erwies sich das 2014 initiierte Gesetzesprojekt, das die »Modernisierung« der daaras verrechtlichen wollte, als hoch kontrovers. Dieses stellte nicht nur in den Augen vieler religiös-konservativer Akteure eine Kriminalisierung der daaras im positiven Gewand dar, sondern implizierte zudem eine tiefgreifende Veränderung der Koranausbildung senegalesischer Tradition.

8. Von »Menschenhandel« zu »Modernisierung«?

Gesetz ohne Geltung? Die (Nicht-)Anwendung des Gesetzes  gegen Menschenhandel Das Gesetz gegen »Menschenhandel und gleichgestellte Praktiken« wurde vom senegalesischen Parlament im Jahr 2005 nach langem Zögern in einem eiligen Verfahren erlassen, um den drohenden außenpolitischen Konsequenzen zu entgehen. Amadou Tall, ein an der Ausarbeitung des Gesetzes beteiligter Rechtsbeamter, zeigte mir freimütig einen sehr deutlich und unnachgiebig formulierten Brief, in dem die Vereinigten Staaten die Streichung aller Entwicklungsgelder für nicht humanitäre Zwecke und weitere diplomatische Einschränkungen ankündigten, sollte Senegal nicht innerhalb einer Frist von 45 Tagen gemäß den Vorgaben des PalermoProtokolls ein nationales Gesetz gegen Menschenhandel verabschieden (Tall, Dakar, 17.04.2013). Die nationale Besonderheit Senegals schließlich verabschiedeter Anti-Menschenhandelsgesetzgebung liegt darin, dass sie aus zwei Teilen besteht, die zum einen auf den Tatbestand des »Menschenhandels« und zum anderen auf den der »Ausbeutung des Bettelns Anderer« als »dem Menschenhandel gleichgestellte Praktik« eingehen. Die Definition des »Menschenhandels« ist deckungsgleich mit der des Palermo-Protokolls (s. Kapitel 2), die »Ausbeutung des Bettelns Anderer« wird wie folgt definiert und geahndet: »Wer das Betteln eines Anderen organisiert mit dem Ziel, daraus Profit zu ziehen, eine Person dazu verleitet, sie anstellt oder entführt, um sie dem Betteln auszusetzen oder Druck auf sie ausübt, damit sie bettelt oder dies weiterhin tut, wird mit einer Gefängnisstrafe von 2 bis 5 Jahren und einer Geldstrafe von 500.000 bis 2.000.000 FCFA bestraft« (République du Sénégal, loi 2005-06, meine Übersetzung). Laut der von mir befragten und zum Teil am Gesetzesentwurf beteiligten Juristen sollte dem Zwangsbetteln durch dessen gesonderte Behandlung eine erhöhte Aufmerksamkeit zuteilwerden und eine Strafverfolgung auch dann ermöglichen, wenn nicht alle notwendigen Aspekte des Tatbestandes des Menschenhandels erfüllt sind (z.B. Tall, Dakar, 17.04.2013; Diouf, Dakar, 07.10.2013). Jedoch nimmt die »Ausbeutung des Bettelns Anderer« auf diese Weise eine ambivalente Sonderstellung ein, da sie in den Fokus gerückt, aber gleichzeitig vom Akt des Menschenhandels entkoppelt wird. Das Gesetz 2005-06 erlaubt so, die Ausbeutung des Bettelns zu bestrafen, ohne alle juristischen Bestandteile des Menschenhandels nachzuweisen und gleichermaßen, sie nie als solchen zu interpretieren. Dies ist symbolpolitisch, aber auch hinsichtlich des vorgesehenen Strafmaßes bedeutsam, da für Menschenhandel eine Gefängnisstrafe zwischen fünf bis zehn Jahren und eine Geldstrafe von fünf bis zwanzig Millionen FCFA1 vorgesehen ist, für die »Ausbeu1

etwa 7.500-30.500 EUR (1 EUR entspricht rund 650 FCFA).

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tung des Bettelns Anderer« hingegen lediglich eine Gefängnisstrafe von zwei bis fünf Jahren und eine Geldstrafe von 500.000 bis zwei Millionen FCFA. Bisher kam es auch nach dem Gesetzesartikel gegen die »Ausbeutung des Bettelns Anderer« nur sehr selten zu Verurteilungen von Koranlehrern. Die wenigen Schuldsprüche erfolgten zudem nicht allein aufgrund des Bettelns der Talibé, sondern aufgrund zusätzlicher schwerer Körperverletzungen und das Strafmaß lag weit unterhalb des gesetzlich vorgesehenen (z.B. Human Rights Watch [html] 20.04.2015). Die Tatsache, dass das Gesetz die »Ausbeutung des Bettelns Anderer« als eine dem Menschenhandel »gleichgestellte« Praktik einstuft, obwohl sie in vielen Fällen juristisch mühelos als »Menschenhandel« klassifiziert werden könnte, reflektiert nach meiner Interpretation die Ambivalenz, die in Senegal gegenüber der mendicité der Talibé auf allen gesellschaftlichen Ebenen herrscht. Einerseits stellt sie eines der gewichtigsten und sichtbarsten sozialen Probleme des Landes dar, andererseits zeigt sich eine hartnäckige Zögerlichkeit, das Betteln als kriminellen Tatbestand anzuerkennen. Da bisher Koranlehrer weder nach dem einen noch dem anderen Gesetzesartikel in nennenswerten Zahlen verurteilt wurden, hat diese Ambiguität derzeit zwar keine praktische Relevanz, bringt jedoch zum Ausdruck, wie die mendicité und der Menschenhandel sogar in der Gesetzgebung gleichzeitig sowohl miteinander verbunden als auch voneinander abgetrennt werden. Aufgrund der soziokulturellen Verankerung des Bettelns und des konstruierten Charakters der rechtsgültigen Definition des Menschenhandels steht die Koppelung der beiden Phänomene in doppelter Hinsicht in Diskrepanz zur allgemeinen gesellschaftlichen Wahrnehmung (s. Kapitel 2). Die juristische Uneindeutigkeit bezüglich des Bettelns der Talibé verstärkt sich durch ein bereits seit dem Jahr 1975 bestehendes Gesetz der Sektion »Kriminelle Vereinigungen, Vagabondage und Bettelei« des Strafgesetzbuchs (loi n° 75-77). Dieses entstammt der politischen Ära Léopold Senghors, der eine aufstrebende touristische und wirtschaftliche Entwicklung Senegals nicht durch die von seiner Regierung als »menschlichen Abschaum«2 bezeichneten Bevölkerungsteile aufhalten lassen wollte. Das Gesetz sieht für den Akt des Bettelns ebenso wie für die Anstiftung Minderjähriger zum Betteln eine Gefängnisstrafe von drei bis sechs Monaten vor, grenzt davon jedoch explizit das Bitten um Almosen »gemäß religiösen Traditionen« ab. Somit spiegelt sich die gesellschaftliche Kontroverse, ob die gegenwärtige mendicité der Talibé einem legitimen Almosengesuch oder einer menschenhandelsähnlichen Form der Ausbeutung gleichzusetzen sei, selbst auf

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Die Regierung Senghors kündigte im Jahr 1972 an, Dakar von seinem »menschlichen Abschaum« (»encombrements humains«), insbesondere seinen Bettlern, befreien zu wollen. Diese Formulierung wird nach wie vor im öffentlichen Diskurs aufgegriffen (z.B. Fall, Le Soleil, 21.07.2005).

8. Von »Menschenhandel« zu »Modernisierung«?

juristischer Ebene wider. Auch Präsident Wade konnte sich seinerzeit diesen Auslegungsspielraum zunutze machen, als er im Jahr 2010 das von seiner Regierung durchgesetzte Bettelverbot kurzerhand wieder aufhob. Über die missverständliche Überschneidung der Anti-Menschenhandelsgesetzgebung mit dem älteren Gesetz gegen das Betteln bestand ein breiter Konsens unter Senegals zivilgesellschaftlichen, staatlichen und juristischen Akteuren (z.B. Tall, Dakar, 17.04.2019; Diouf, Dakar, 07.10.2013; Cissé, Dakar, 06.06.2013; CNLTP (Sitzung), Dakar, 10.05.2012). Die bislang fehlende »Harmonisierung« beider Gesetze erwies sich insbesondere für manche staatlichen Vertreter als ein willkommener Umstand, um Vorwürfe eines mangelnden politischen Willens der Regierung abzuwenden, wie zum Beispiel in meinem Interview mit einer juristischen Beraterin des Familienministeriums, Astou Diouf, deutlich wurde (Dakar, 07.10.2013). Die gegenwärtige Ineffektivität des Gesetzes 2005-06 konnte durch eine solche Argumentation auf seine technischen Schwächen zurückgeführt und seine tatsächliche Anwendung zeitlich aufgeschoben werden. Das damals geäußerte Vorhaben, die bestehende Gesetzgebung weiterzuentwickeln (z.B. Ka, Dakar, 05.06.2013), wurde jedoch angesichts des Paradigmenwechsels im Umgang mit den Koranschulen nie konkretisiert. Zivilgesellschaftliche Akteure, insbesondere die Dachorganisation PPDH, forderten ungeachtet dieser juristischen Fallstricke permanent und mit teils aggressiven öffentlichkeitswirksamen Aktionen die »Anwendung des Gesetzes« vom Staat (s. Kapitel 5) und hielten eine solche für die einzige und effizienteste Lösung des Problems der mendicité. Dabei wurde mithin sowohl von zivilgesellschaftlichen als auch von staatlichen Akteuren auf Senegals Nachbarland Gambia verwiesen, wo das Betteln trotz eines ähnlichen sozioreligiösen Kontextes konsequent und wirksam unterbunden würde, um zu belegen, dass ein solches Verbot durchaus realisiert werden könne (z.B. Dramé, Ziguinchor, 06.05.2013; Basse, Dakar, 10.04.2013; Daffe, Dakar, 06.04.2012). Das Land, das damals noch von Präsident Yahya Jammeh seit einem Militärputsch im Jahr 1994 mit wenig Rücksicht auf rechtsstaatliche Prinzipien regiert wurde, diente ihnen somit paradoxerweise als Vorbild, um vom senegalesischen Staat Rechtsstaatlichkeit einzufordern. Der penetrante zivilgesellschaftliche Ruf nach einer Gesetzesanwendung lässt sich als Ausdruck eines »Gesetzes-Fetischismus« interpretieren, der sich nach Jean und John Comaroff (2006: 22) in modernen Nationalstaaten vor dem Hintergrund ihrer politischen, sozialen und ökonomischen Komplexität und Heterogenität herausgebildet hat und der Gesetzestreue zu einem der bedeutendsten gesellschaftlichen Maßstäbe werden ließ. Gleichzeitig unterstützte der Verweis auf die fehlende Gesetzeskonformität des Staates die zivilgesellschaftlichen Akteure darin, sich gegenüber ihm als komplementäre Gegenspieler abzugrenzen und ihren Auftrag zu erfüllen, den Staat zu entwickeln und zu reformieren (vgl. Geschiere et al. 2008: 1). Zudem schafften sie sich ein zusätzliches Handlungsfeld, indem sie nicht

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nur die Koranlehrer und die Bevölkerung bezüglich des Gesetzes gegen das Betteln »sensibilisierten«, sondern auch den Staat zu dessen Durchsetzung anhielten. Ausbleibende Erfolge eigener Ansätze gegen die mendicité konnten so verschleiert und gerechtfertigt werden. Die zivilgesellschaftlichen Akteure nahmen auf diese Weise die »bequeme« Rolle ein, die Lösung des Problems zwar zu kennen, zu deren Umsetzung jedoch nicht ermächtigt zu sein. Die pragmatische Forderung nach einer konsequenten Gesetzesanwendung spiegelte ferner die effizienzorientierte Handlungslogik wider, die auch die zivilgesellschaftlichen Organisationen verfolgen mussten, um mess- und sichtbare Ergebnisse im Rahmen relativ kurzfristiger Projekte präsentieren zu können (z.B. UNODC 2012). Kritiker, zum Beispiel einige Koranlehrer, unterstellten solchen zivilgesellschaftlichen Organisationen, selbst kein reales Interesse an einem Ende der mendicité zu haben, da ihr Engagement gegen sie mit lukrativen Projektgeldern verbunden sei (z.B. Fall, Pikine, 01.09.2012; Dia, Dakar, 11.04.2013; Seck, Dakar, 11.10.2012). Aus dieser Perspektive war die ebenso utopische wie aus dem eigenen Verantwortungsbereich ausgelagerte Forderung nach einer konsequenten Anwendung des Gesetzes 2005-6 Teil eines vermeintlichen Scheindiskurses staatlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure gegen das Betteln der Talibé. Da sich der Appell an den Staat »das Gesetz anzuwenden« zunehmend als rhetorische Formel etabliert hatte, wurde die Forderung zudem inhaltlich aufgeweicht und erwies sich zwar als wenig streitbar, aber auch als uneindeutig. Die ganz verschiedenen Akteure, die in den Aufruf mit einstimmten, hatten nämlich nicht nur unterschiedlich detaillierte Kenntnisse über den genauen Text des Gesetzes 2005-06 und befürworteten implizit oder explizit dessen relativierte oder an bestimmte Bedingungen geknüpfte Anwendung, sondern bezogen sich mitunter sogar auf gänzlich andere (vermeintliche) Gesetze. Zum Beispiel bestätigte mir gegenüber selbst Adama Seck, Generalsekretär der Nationalen Koranschulvereinigung (FNAECS), die Aussage, der Staat müsse das »Gesetz gegen das Betteln« anwenden, wollte damit jedoch offenkundig zum Ausdruck bringen, dass der Staat verpflichtet sei, die daaras ebenso wie andere Schulen zu unterstützen, um die mendicité überflüssig zu machen (Seck, Dakar, 11.10.2012). In der Forderung der zivilgesellschaftlichen Kinderrechtsakteure nach einer konsequenten Gesetzesanwendung vereinte sich zumeist eine tatsächliche strikte Ablehnung des Bettelns mit der Ansicht, ein moderner Rechtsstaat müsse aus Prinzip seinen verabschiedeten Gesetzen auch Geltung verschaffen (z.B. Wane, Dakar, 10.10.2012). Bei beidem handelte es sich um abstrakte Einstellungen, die hinsichtlich konkreter situativer Konstellationen und sozialer Kontexte oft relativiert wurden. Vor allem das Argument, »begleitende Maßnahmen« in Form staatlicher materieller und finanzieller Hilfen für die daaras stellten die Voraussetzung für ein legitimes Verbot des Bettelns dar, nahm eine besonders zentrale diskursive Rolle ein. Erst die Bereitstellung solcher Subventionen könnte die tatsächlich ausbeute-

8. Von »Menschenhandel« zu »Modernisierung«?

rischen Koranlehrer, die selbst dann noch an der mendicité festhalten, zu erkennen geben (z.B. Ndiayedaara, Touba, 24.06.2013; Cissé, Dakar, 26.07.2013; Gaye, Pikine, 05.09.2012). Diese häufig geforderte Kombination einer konsequenten Anwendung des Bettelverbotes mit einer staatlichen Unterstützung der daaras zeugte von der ambivalenten Haltung, die Senegalesen über alle Gesellschaftsmilieus hinweg der Koranausbildung in ihrer gegenwärtigen Form entgegenbringen. Gerade Akteure in Schnittstellenpositionen zwischen sozialen und formalen Denkund Handlungslogiken, zum Beispiel Jugendamtsmitarbeiter oder Polizisten, sind durch den persönlichen Kontakt mit den »Tätern« und »Opfern« damit konfrontiert, dass die offiziellen Gesetze ihrem gefühlten Rechtsempfinden mitunter entgegenstehen und mit diversen inoffiziellen »Gesetzen« kollidieren (z.B. Diatta, Kolda, 13.05.2013; Diena, Pikine, 03.06.2013). Die praktische Durchsetzung des Gesetzes 2005-06 stößt nicht nur aufgrund des sensiblen religiös-politischen Kontextes und der gesellschaftlichen Verankerung der Almosengabe auf Widerstand, sondern auch aufgrund weiterer sozialer Normen und Werte, zum Beispiel des in Senegal vorherrschenden gerontokratischen Prinzips. So gab Umar Diatta, Mitarbeiter der AEMO, einer weitgehend dem Jugendamt entsprechenden Behörde, im südsenegalesischen Kolda mir gegenüber zu bedenken, dass die maîtres doch meist »alte Männer« ohne Wissen über »Kinderrechte« seien, denen er nicht gleich mit einer Anklage drohen könne. Das behauptete er erst bei »Wiederholungstätern« zu tun (Diatta, Kolda, 13.05.2013). Moustapha Ka wiederum, damals stellvertretender Generalstaatsanwalt der Außerordentlichen Afrikanischen Kammern, berichtete, dass sich manche Polizisten geweigert hätten, einen »einfachen Bettler« auf der Straße festzunehmen, als im besagten August 2010 aus Regierungskreisen plötzlich die Anweisung kam, verstärkt dem Gesetz gegen die mendicité im öffentlichen Raum nachzukommen (Ka, Dakar, 05.06.2013). Und Moussa Coly, der in der Nachbarschaft einer Polizeistation wohnte und selbst als Sozialarbeiter mit geflohenen Talibé in täglichem Kontakt stand, beobachtete regelmäßig, wie die Talibé sogar die Polizisten um Almosen baten und diese auch erhielten (Coly, Dakar, 07.09.2013). Vor allem ein vertiefter persönlicher Kontakt zu Koranlehrern schien dazu zu führen, dass die unterschiedlichsten Akteure ihre prinzipiell kriminalisierende Perspektive auf die mendicité relativierten und sich mitunter paradox verhielten. Solche flexiblen, widersprüchlichen Haltungen zeigten Parallelen zum sozialpsychologischen Prozess des »Subtyping« nach Kristin L. Maurer et al. (1995: 812), der beschreibt, wie Vertreter einer bestimmten sozialen Gruppe, die deren stereotypen Repräsentationen nicht entsprechen, als »Ausnahmen von der Regel« dennoch sinnhaft in bestehende generalisierte Denk- und Handlungsmuster integriert werden. Mehrmals habe ich zum Beispiel beiläufig erfahren, wie ein Kinderrechtsakteur, Mitglied der PPDH, der bei jeder Gelegenheit die rigorose »Anwendung des Gesetzes« forderte, im Fall geflohener Talibé persönlich eine »Mediation« mit deren maîtres durchführte, sofern er sie kannte. Er versuchte auf

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diese Weise mit ihnen ein informelles Übereinkommen festzulegen, etwa über die Modalitäten einer Familienrückführung des Kindes. Mir gegenüber begründete er sein Verhalten ausweichend damit, dass ein solches Vorgehen notwendig sei, »solange« die Regierung das Gesetz nicht anwende und stellte es so als ein Provisorium dar, um sich mit einer ebenso provisorischen politischen Situation zu arrangieren (anonymisiert, Dakar, 05.05.2013). Auch wenn er sicherlich recht damit haben mochte, dass der Fall eines nicht auffällig misshandelten Talibé wenig Aussicht auf ein intensives polizeiliches Engagement gehabt hätte, leistete er auf diese Weise selbst einen aktiven Beitrag zur anhaltenden Nicht-Anwendung des Gesetzes. Das »soziale Leben« (Wilson 2006: 3) des Gesetzes 2005-06 zeugte ferner von einem spezifischen soziokulturellen Umgang mit Konflikten. Gamou Ndiaye, ein Sozialarbeiter des staatlichen Centre Ginddi, erwiderte zum Beispiel auf meine Frage, warum er den Koranlehrer eines in das Heim geflohenen und in seiner daara misshandelten Kindes zur »Mediation« vorlud, nicht aber die Polizei benachrichtigte mit entschiedenen Worten: »Wir sind in Afrika!«. Er erklärte, dass man hier Konflikte, umso mehr innerfamiliäre, stets ohne die Justiz zu schlichten versuche (Ndiaye, Dakar, 29.08.2013). Da die Koranlehrer in vielen Fällen tatsächlich unterschiedlich eng zur biologischen oder sozialen Familie ihrer Talibé gehören, ist diese gesellschaftliche Norm von großer Bedeutung. Auch die Erfahrung der bereits erwähnten NGO Sentinelles (s. Kapitel 6) zeigte, wie konfliktgeladen ein juristisches Vorgehen gegen Koranlehrer sein kann. Nachdem sie einmal ein in seiner Koranschule schwer misshandeltes Kind in seine Familie zurückgebracht hatten, überzeugten die verantwortlichen Projektmitarbeiter den Familienvater, Anzeige gegen den betreffenden maître zu erheben, da die Organisation selbst dazu nicht befugt war. Es kam zu einer Verurteilung, jedoch hatte der Vater daraufhin unter starken Repressalien seitens der Dorfgemeinschaft zu leiden, die ihm vorwarf, sich von den toubabs »kaufen lassen« zu haben, berichtete mir die damalige Projektkoordinatorin Florie Kébé (Kébé, Dakar, 12.09.2012). Während die NGO diesen Fall nach außen sowohl für sich selbst als auch für den senegalesischen Staat als Erfolgsgeschichte feierte, erwies sich die formale Anklage innerhalb der Dorfgemeinschaft als sozial nicht anerkannte Form der Konfliktlösung. Sie führte über eine invertierte Kriminalisierung des Vaters sogar zu einem sekundären Konflikt außerhalb der gesetzlichen Reichweite. Ein konsensorientierter Umgang mit Konflikten kam nicht nur in der politischen und gesellschaftlichen Praxis, sondern auch in der Rhetorik mancher (staatlichen) Akteure zum Ausdruck und kann so als Teil eines nationalkulturellen Ethos interpretiert werden. Ein Berater des Premierministers verglich zum Beispiel in einer ministeriell organisierten Paneldiskussion anlässlich der »Woche des afrikanischen Kindes« 2013 den Staat mit einem »Familienvater«, der erst mit anderen »Familienmitgliedern« einen Konsens über geplante

8. Von »Menschenhandel« zu »Modernisierung«?

Entscheidungen finden sollte, anstatt »mit Brachialgewalt seinen Willen durchzusetzen« (Dakar, 19.06.2013). Die soziale Unverträglichkeit des Gesetzes 2005-06 rührte also vor allem daher, dass es die desintegrative Logik verfolgt, die Koranlehrer als »Täter« zu stigmatisieren und gegebenenfalls sogar durch eine Gefängnisstrafe physisch von der Gesellschaft zu isolieren. Abgesehen von einem vordefinierten richterlichen Auslegungsspielraum hinsichtlich des Strafmaßes sieht das Gesetz keine Möglichkeit eines konsensorientierten Vorgehens oder einer Anpassung an spezifische lokale Kontexte vor (vgl. Merry 2006a: 130). »Sensibilisierungen« und »Mediationen«, die zivilgesellschaftliche und staatliche Akteure häufig bevorzugten, zielten hingegen darauf ab, bestimmte Verhaltensweisen der maîtres oder der Eltern, nicht aber deren soziale Rolle oder gesellschaftliche Position zu verändern. Sie waren Ausdruck alternativer, nicht (prioritär) menschenrechtsbasierter Visionen sozialer Gerechtigkeit (vgl. Merry 2006a: 133) und eines kompromisshaften Umgangs mit interferierenden Rechtskonzepten. Solche sozialen Aushandlungen strebten weniger an, die »Rechte« eines einzelnen, als »Opfer« identifizierten Individuums nach internationalen Standards vorbehaltlos durchzusetzen als eine Lösung zu finden, die dessen soziales Gefüge einbezog. Die meisten staatlichen Akteure in unterschiedlichen Positionen, mit denen ich sprach, rückten nicht von einem Primat der Gesetzgebung gegenüber alternativen Konfliktlösungsstrategien oder inoffiziellen sozialen »Gesetzen« ab, sondern schoben sich die Verantwortung für die Nicht-Anwendung des Gesetzes, ähnlich einem Ping-Pong-Spiel, gegenseitig zu. Zum Beispiel betonte Astou Diouf, juristische Beraterin des Familienministeriums, dass bislang jede Anklage, die einem Richter vorgelegt worden sei, zu einer Verurteilung geführt habe und sah somit das Versäumnis bei der staatlichen Exekutive und der Allgemeinbevölkerung, die entsprechende Fälle nicht zur Anzeige brächten (Diouf, Dakar, 07.10.2013). Ähnlich argumentierten Mame Gor Diouf, ein dem Justizministerium unterstellter Rechtsbeamter im Bereich »Menschenrechte«, und Amadou Tall, ein Staatsanwalt, der die Regierung juristisch im Rahmen des Millennium Challenge Account beriet (Diouf, Dakar, 28.05.2013; Tall, Dakar, 17.04.2013). Moustapha Ka, Generalstaatsanwalt der Außerordentlichen Afrikanischen Kammern, räumte hingegen in unserem Interview durchaus ein, dass politische Vorgaben, einem bestimmten Gesetz verstärkte oder eben keine Aufmerksamkeit zu schenken, eine entscheidende Rolle in der Justiz spielten (Ka, Dakar, 05.06.2013). An der Basis beteiligte Akteure wiederum wie Jugendamtsmitarbeiter, deren Gutachten den rechtsprechenden Organen vorgelegt werden, sahen das juristische Prozedere außerhalb ihres Verfügungsbereichs und verwiesen auf die Vormachtstellung von Staatsanwälten und Richtern (z.B. Diatta, Kolda, 13.05.2013; Dramé, Ziguinchor, 06.05.2013). Eine unzureichende materielle Infrastruktur wie eine viel zu geringe Anzahl staatlich anerkannter Kinderheime machte der damalige stellvertretende Leiter der Jugendpolizei, Ibrahima

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Diaxate, hauptverantwortlich für die ausbleibende Anwendung des Gesetzes 200506. Wenn plötzlich sämtliche Koranschulen mit ihren zum Teil mehreren Hundert Talibé geschlossen würden, wo sollten all diese Kinder auf einmal untergebracht werden? (Diaxate, Dakar, 30.05.2013). Er fühlte sich durch meine Fragen offensichtlich etwas in Bedrängnis gesetzt, da seine Zuständigkeit und Kompetenz, Fälle von Zwangsbetteln zur Anklage zu bringen, kaum zu dementieren waren. Als Jugendpolizist konnte er zwar eine Abhängigkeit von hierarchisch höheren oder politisch machtvolleren Stellen andeuten, dennoch nur schwer anderen Personengruppen das Versäumnis fehlender Anklagen zuschreiben, zumal er seine eigene Position nicht unterminieren wollte. Dies erklärte, dass er die durch strukturelle Gegebenheiten eingeschränkte Handlungsfähigkeit der exekutiven Akteure betonte. Die mangelhafte Ausstattung sozialer Einrichtungen ließ sich anderen Entscheidungsträgern zulasten legen und ermöglichte eine für ihn vorteilhafte Verantwortungsumverteilung. Sowohl manche der von mir interviewten Jugendamtsvertreter als auch der staatlich angestellten Juristen reinterpretierten wiederum die genaue Bedeutung einer »Gesetzesanwendung«, indem sie deren prozessualen Charakter betonten, anstatt allein die Anzahl tatsächlicher Verurteilungen oder zur Anklage gebrachter Fälle zum Maßstab zu nehmen. Sie definierten eine Gesetzesanwendung als einen Prozess mehrerer aufeinander aufbauender »Stufen«, zu denen unter anderem gehöre, die Bevölkerung und wesentliche Akteure, etwa Polizisten und Rechtsbeamte, zunächst über das Gesetz zu informieren und für dessen mögliche relevante Kontexte zu sensibilisieren, aber auch, durch unterstützende Begleitmaßnahmen eine Strafverfolgung des Bettelns erst zu legitimieren. Sie bestritten daher, dass das Gesetz gegenwärtig »nicht angewendet« werde, da der Staat in Kooperation mit diversen Entwicklungspartnern unter anderem verschiedene Fortbildungen zu Menschenhandel für unterschiedliche Zielgruppen initiiert habe und umfassende staatliche Förderungen der daaras in Vorbereitung seien (z.B. Diena, Pikine, 03.06.2013; Diouf, Dakar, 07.10.2013; Diouf, Dakar, 28.05.2013). Mit dieser Argumentation konnten die staatlichen Repräsentanten die unleugbare De-factoRealität einer ausbleibenden Strafverfolgung der mendicité der Talibé mit einer Darstellung Senegals als »modernen« Rechtsstaat vereinbaren. Zivilgesellschaftliche und staatliche Akteure brachten somit das formale Gesetz mithilfe diskursiver Manöver mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Einklang, indem sie entweder bestimmte Bedingungen an seine Anwendung stellten, Verantwortlichkeiten umverteilten oder die Semantik des Begriffs der Gesetzesanwendung neu deuteten. Neben dem politischen Einfluss der marabouts erwiesen sich ein deeskalierender und in komplexe soziale Regeln eingebetteter persönlicher Kontakt mit den maîtres und den Talibé, ein konsensorientierter Umgang mit Konflikten, die mendicité als religiös legitimierte Alltagspraxis und die fehlende staatliche Unterstützung der daaras als machtvolle Blockaden für ein rigides Vorgehen gegen das Betteln der Talibé.

8. Von »Menschenhandel« zu »Modernisierung«?

Der senegalesische Umgang mit dem Gesetz 2005-06 bestätigte John und Jean Comaroffs Beobachtung (2006: 35), dass postkoloniale Gesellschaften dazu neigen, nicht einer einzigen, vertikalen staatlichen Souveränitätsmacht zu gehorchen, sondern aus einem horizontal verwobenen »Teppich« partieller Souveränitäten bestehen. In ähnlicher Weise konstatieren Thomas B. Hansen und Finn Stepputat (2006: 295), dass eine alleinige effektive Souveränität des Gesetzes zwar immer und überall ein unerreichbares Ideal war und ist, dies aber für postkoloniale Gesellschaften, in denen die Aufteilung souveräner Macht auf verschiedene lokale Autoritäten historisch tief verwurzelt ist, in besonderem Maße gilt. Sie plädieren daher dafür, Souveränität weniger als ontologische und gesetzlich verbürgte Grundlage für Macht und Ordnung zu verstehen denn als stets provisorische und emergente Form von Autorität, die sich in der alltäglichen Praxis und in multidimensionalen Beziehungsverhältnissen äußert (vgl. Hansen & Stepputat 2006: 297). Da in Senegal die politische Macht nach der Unabhängigkeit in den Händen der kolonialen Eliten blieb, empfinden weite Bevölkerungsteile eine große Distanz zu ihrem Staat, dessen nach französischem Vorbild und trotz offiziell eingeläuteter Reformpolitiken nach wie vor stark zentralistisch ausgerichtete Verwaltung auch geografisch weit von der ländlichen Peripherie »entfernt« ist (vgl. Sané 2016, Abs. 43-44 [html]). Stattdessen üben vor allem die marabouts in vielen gesellschaftlichen Kontexten großen Einfluss aus. Dies zeugt von einem für postkoloniale Staaten typischen »fragmentierten Autoritätssystem«, in dem lokale Respektspersonen strategische Positionen zwischen staatlichen Institutionen und der Bevölkerung innehaben (vgl. Hansen & Stepputat 2006: 306). Ein solches »fragmentiertes Autoritätssystem« bringt nach Hansen & Stepputat (2006: 308) jedoch nicht zwingend eine »Schwäche« des Staates zum Ausdruck, sondern kann ihm ermöglichen, auch Zonen und Gesellschaftssegmente in die nationale Ordnung zu inkorporieren, in denen die staatliche Souveränität zuvor nie wirksam war. Zivilgesellschaftliche senegalesische Akteure wiederum alliieren sich mit transund supranationalen Organisationen, um den Staat zur Einhaltung seiner Gesetze anzuhalten (s. Kapitel 5). Shalini Randeria (2006: 232) bezeichnet solche Instanzen als Souveränitäten, die sich mit der Staatsmacht »überlappen« und mit ihr konkurrieren. Da sich die staatlichen und die transnationalen Souveränitäten überschneiden, anstatt ineinander verschachtelt zu sein, hat die Zivilgesellschaft Zugang zu trans- und internationalen Strukturen, ohne von der Vermittlung ihres Staates abzuhängen. Dadurch, so Randeria (2006: 254; 2007: 27-28), können sie paradoxerweise ihren demokratischen Staat, dessen Verantwortung sie gerade stärken wollen, zugunsten nicht demokratischer supranationaler Institutionen schwächen. Dennoch stehen nationale und internationale Organe ebenso wenig wie der Staat und lokale oder religiöse Autoritäten in Opposition zueinander, sondern konstituieren sich gegenseitig. Das supranationale Recht durchdringt zwar die nationalstaatliche Gesetzgebung, ist aber auch von nationalen Rechtspraktiken abhängig (vgl.

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Randeria 2006: 254). Randeria widerspricht so der These einer zunehmenden Bedeutungslosigkeit des Staates in einer globalisierten Welt, beobachtet jedoch eine Rechtsunsicherheit und Unvorhersehbarkeit der Rechtsanwendung, die mit der erweiterten Heterogenität normativer Ordnungen einhergehen (vgl. Randeria 2006: 231). Die eingangs beschriebenen politischen Spektakel um eine plötzliche (Dochnicht-)Anwendung des Gesetzes gegen die »Ausbeutung des Bettelns Anderer« sind Beispiele einer derartigen Entwicklung. Nach Randeria (2006: 229) sind solche Manöver kennzeichnend für »listige Staaten«, die ihr Auftreten und Handeln flexibel ihren jeweiligen außen- oder innenpolitischen Interessen anpassen und entsprechend diesen Interessen in der Lage sind, gegenüber unterschiedlichen Akteuren sowohl »Schwäche« als auch »Stärke« zu zeigen. Die in diesem Kapitel dargestellten Beispiele zeigen, dass für weite Teile der senegalesischen Bevölkerung und für staatliche Akteure die offizielle Gesetzgebung nur eine von multiplen und zum Teil interferierenden Referenzen für Recht, Ordnung und Gerechtigkeit darstellt. Sie wird häufig als außenpolitisch motiviert und entkoppelt von den lokalen Realitäten wahrgenommen und ist abweichenden soziokulturellen Normen oft nur formal übergeordnet. So wurde ein Berater des damaligen Premierministers Souleymane Ndéné Ndiaye im Kontext der Affäre um das kurzfristige Bettelverbot im Jahr 2010 mit der Aussage zitiert, dass einem staatlichen Gesetz nicht die alleinige Autorität gebühre, denn »[…] die Almosen sind in den Heiligen Texten definiert und man darf sich auf einer bestimmten Ebene nicht einmischen« (vgl. Diene, Walfadjiri, 13.10.2010, meine Übersetzung). Das gesetzliche Verbot der »Ausbeutung des Bettelns Anderer« konnte in Senegal daher nur im Wissen um den Spielraum erlassen werden, der dadurch entsteht, dass die Art seiner Wirksamkeit von vielen ineinandergreifenden Prozessen und Akteuren in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen abhängt. Ein Gesetz, so wurde an diesem Beispiel deutlich, ist kein von seiner Gesellschaft losgelöstes Instrument, das diese formt oder auf deren Probleme und Bedürfnisse »antwortet« (vgl. Moore 2005: 245), sondern von seiner Entstehung bis zu seiner Anwendung in innenund außenpolitische Spannungsfelder und die soziale Praxis eingebettet. Die »erfolgreiche« Nicht-Anwendung des Gesetzes 2005-06 zeigte, wie durch die politische Macht des religiösen Milieus und die fehlende staatliche Unterstützung der Koranschulen eine Gemengelage aus konfligierenden Interpretationen über Recht und Gerechtigkeit entstand, in der sich die Gesetzgebung nicht als alleinige Quelle der Souveränität behauptete. Das gesetzliche Verbot der »Ausbeutung des Bettelns Anderer« als »dem Menschenhandel gleichgestellte Praktik« hat so bislang vor allem eine diskursive Bedeutung. Es erweitert die Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten bezüglich des Bettelns der Talibé, schwächt jedoch nicht den Einfluss konkurrierender sozioreligiöser oder pragmatischer Logiken.

8. Von »Menschenhandel« zu »Modernisierung«?

Moderne daaras statt Bettelverbot? Der zögerliche Umgang mit dem Gesetz 2005-06 war Ausdruck davon, dass in Senegal ein Verbot des Bettelns der Talibé ohne eine gleichzeitige Unterstützung der Koranschulen keinen gesellschaftlichen Konsens erreichen kann. Strategische Versuche, über lokal angepasste Aufklärungskampagnen ein Unrechtsbewusstsein gegenüber der mendicité der Talibé zu schaffen, um für deren strafrechtliche Verfolgung einen breiten Rückhalt in der Bevölkerung zu erlangen (s. Kapitel 5), scheiterten bis dahin. Das ehrgeizige Ziel der Regierung aus dem Jahr 2013, das Betteln der Kinder bis zum Jahr 2015 »auszurotten« (République du Sénégal 2013b), ließ sich schon früh als Utopie erahnen. Mit dem Projekt einer staatlichen Reglementierung der daaras deutete sich ein Paradigmenwechsel an. Zwar hielt die Idee, die daaras zu modernisieren, bereits im Jahr 2002 unter Präsident Wade Einzug in den politischen Diskurs, konkretisierte sich jedoch als Gesetzesvorhaben erst im Jahr 2014 und verdrängte den Ansatz, das Betteln der Talibé über eine Kriminalisierung der Koranlehrer isoliert von seinem institutionellen und soziokulturellen Kontext als Form des »Menschenhandels« zu »bekämpfen«. Schon 2013 hatte der senegalesische Staat das von der Islamischen Entwicklungsbank finanzierte Projekt PAMOD (Projet d’appui à la modernisation des daaras) lanciert, im Rahmen dessen mit einem Budget über 20 Millionen USD 64 daaras modernes konstruiert werden sollten. Die Bauaufnahme war für 2014 geplant, begann aber erst Anfang 2017 (vgl. APS, 23.01.2017). Parallel dazu nahm auch der globale Kinderrechtsdiskurs zunehmend eine holistische, systemische Ausrichtung an und inter- und transnationale Organisationen zeigten ein abflauendes Interesse an Projekten gegen Menschenhandel (s. Kapitel 2). Der zivilgesellschaftliche Ruf nach einer »Anwendung des Gesetzes« gegen das Betteln verlagerte sich immer mehr auf den nach einer »Modernisierung der daaras«. Das staatliche Vorhaben, die daaras zu modernisieren, ist Teil eines umfassenderen und bereits länger andauernden Reformprozesses des senegalesischen Schulsystems.3 Der Bedarf einer solchen Bildungsreform ist gesellschaftlich wenig umstritten. Ähnlich wie die urbanen daaras einen denkbar schlechten Ruf genießen, ist auch der der öffentlichen Schulen stark in Mitleidenschaft gezogen (vgl. Gérard 1997/1998: 613; Charlier 2004: 42-44). Mehrere Bildungsakteure, zum Beispiel Momar Djim Cissé als ehemaliger Schulinspektor oder Cheikhou Touré, Lei-

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Der Reformprozess des Bildungssystems wurde zunächst durch das Programme Décennal de l’Education et de la Formation (PDEF) der Vereinten Nationen gefördert (2000-2010) und wird für den Zeitraum 2013-2025 durch das von der Weltbank und der staatlichen japanischen Entwicklungsorganisation JICA finanzierte Programme d’Amélioration de la Qualité, de l’Equité et de la Transparence du secteur de l’Education et de la Formation (PAQUET-EF) operationalisiert (vgl. République du Sénégal, ohne Datum).

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Kinderhandel oder Koranerziehung?

ter des Bereichs Bildung bei Enda Graf, beklagten mir gegenüber, dass es in Senegal bislang niemals eine »senegalesische Schule« gegeben habe, da das gegenwärtige staatliche Schulsystem in nahezu ungebrochener Kontinuität zur kolonialen Vergangenheit stehe. Die in den öffentlichen Schulen vermittelten Inhalte und Werte betrachteten sie als dem senegalesischen Kontext und den Bedürfnissen der Bevölkerung nicht angemessen (Cissé, Dakar, 26.07.2013; Touré, Dakar, 30.04.2013). Streikwellen der Lehrkräfte führten zudem mehrmals zu sogenannten années blanches, für ungültig erklärte Schuljahre, und dazu, dass selbst weniger wohlhabende senegalesische Familien häufig alles daran setzen, ihre Kinder in eine private anstatt in eine öffentliche Schule einzuschreiben. Der hohe Unterrichtsausfall und eine offenbar mangelhafte Unterrichtsqualität manifestieren sich in den oft katastrophalen Bestehensquoten der zentralen Abschlussprüfungen, die in vielen Regionen jährlich aufs Neue politisches und mediales Bestürzen hervorrufen (z.B. sudonline, 02.08.2012). Berichte über frühe Schwangerschaften, Drogenmissbrauch und Gewaltausschreitungen im Schulmilieu füllen ferner regelmäßig die senegalesische Tagespresse (z.B. l’AS, 30.08.2014). In Anbetracht dieser Zustände hielten viele Akteure meines Feldes das nationale Schulsystem für »krank« und forderten, in Einklang mit einem bis in die Ära Senghor zurückgehenden Diskurs, eine Rückbesinnung auf »senegalesische Werte« in der schulischen Ausbildung ebenso wie einen Unterricht, der die junge Generation ausreichend auf den modernen Arbeitsmarkt vorbereitet (z.B. Dia, Dakar, 11.04.2013; Touré, Dakar, 30.04.2013). Auftrag einer solchen reformierten Schule sollte sein, einen »neuen Typ des Senegalesen« (vgl. Cheikh 2002 in Charlier 2002: 105; Wade in Le Quotidien, 28.08.2014) hervorzubringen, einen »Staatsbürger«, der sich durch »Verwurzelung und Offenheit«4 gegenüber lokalkulturellen Werten und globalen Einflüsse auszeichnet. Die Schulreform ist nicht nur in einen nationalen Emanzipierungsdiskurs, sondern auch in den Kontext internationaler Abkommen, vor allem des UNESCOProgramms »Education Pour Tous« (»Bildung für Alle«), eingebettet. In der Konferenz von Jomtien (Thailand) im Jahr 1990 verpflichteten sich insgesamt 164 Regierungen dem »Millenniumsziel« einer grundständigen Schulbildung »für Alle«. Senegal verfolgte seither die Politik, neben einer effizienteren Ressourcenverwaltung das nationale Bildungsangebot zu diversifizieren und zu dezentralisieren, um den unterschiedlichen Bedürfnissen der Bevölkerung stärker gerecht zu werden und allen Kindern einen gleichberechtigten Zugang zu einer qualitativen Bildung

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Das Paradigma der »Verwurzelung und Offenheit« (»enracinement et ouverture«) der Bildungspolitik entstammt der Ära Léopold Senghors (1964), wurde aber in mehreren Diskussionen über die »neue« senegalesische Schule, denen ich während meiner Feldforschung beiwohnte, und in diversen Presseartikeln zu diesem Thema wieder aufgegriffen (z.B. Camara, Sud Quotidien, 05.08.2013).

8. Von »Menschenhandel« zu »Modernisierung«?

zu ermöglichen (vgl. République du Sénégal 2001: 10). Der damalige Präsident Abdoulaye Wade beschloss für das Schuljahr 2002/2003 erstmals einschneidende Reformen, um das staatliche Schulsystem durch eine Öffnung für religiöse Inhalte und Ausbildungswege an die Nachfrage der Bevölkerung anzupassen.5 Er kündigte die Einführung eines fakultativen Religionsunterrichts in den öffentlichen Schulen als »unwiderrufliche« Maßnahme an und zusätzlich die Gründung staatlicher écoles franco-arabes in denjenigen Regionen, in denen die säkulare Schule bis dahin auf besonders großen Widerstand gestoßen war (vgl. Villalón & Bodian 2012: 25). Die »spektakulärste« (Charlier 2002: 102) Neuerung war jedoch das Vorhaben, die daaras in das formelle Schulsystem zu integrieren. Dies rechtfertigte die Regierung unter anderem damit, dass die Koranschüler in der gesamten westafrikanischen Region in der nationalen Einschulungsrate erfasst seien (vgl. Charlier 2002: 103104). Unterstützt von UNICEF wurde in den Jahren 2002-2007 in 20 daaras das Koranstudium erstmals durch einen dreisprachigen Unterricht in der jeweiligen Nationalsprache, Französisch und Arabisch sowie durch eine berufliche Ausbildung ergänzt. Dieses Programm erreichte insgesamt 15.735 Talibé (vgl. Villalón & Bodian 2012: 25) und gilt bis heute als Referenz für die Modernisierung der daaras (vgl. Hugon 2014: 4). Die Maßnahme, die daaras schrittweise in das staatliche Schulsystem inkorporieren zu wollen, stellte aus der Sicht mehrerer Autoren vor allem ein »technisches Manöver« (Charlier 2002: 103) dar, um Senegal im Kontext des Abkommens von Jomtien zu einer schnell ansteigenden Einschulungsrate zu verhelfen (vgl. Villalón 2012: 194; Diawara 2002 in Charlier 2002: 102), sollte dem Staat aber auch ermöglichen, zunehmend Kontrolle auf die daaras auszuüben (vgl. Charlier 2002: 103). Senegal zählte daraufhin zu den wenigen Ländern mit einer reellen Chance, das Millenniumsziel einer universellen Elementarschulbildung bis zum Jahr 2010 zu erreichen (vgl. Mbow 2009: 6; Charlier 2002: 103) und konnte sich international als »Musterschüler« repräsentieren, innenpolitisch hingegen die zunehmend nationalkulturelle Ausrichtung des Schulsystems in den Vordergrund rücken. Angesichts dieser Reformen sprach Jean-Émile Charlier (2002: 96) – viel zitiert – von einer »Rückkehr Gottes« und einer Abkehr Senegals von einem französisch 5

Die Reform des Religionsunterrichts trat gesetzlich im Jahr 2004 (loi 2004-37) durch eine Modifikation des Bildungsrahmengesetzes (loi d’orientation de l’Education Nationale 1991, Art. 4, Abs. 2) in Kraft. Dieses reformierte Gesetz erlaubt nicht mehr nur privaten, sondern auch öffentlichen Bildungseinrichtungen, unter Respekt des laizistischen Staatsprinzips einen optionalen Religionsunterricht anzubieten. Die Einführung eines optionalen Religionsunterrichts in staatlichen Schulen stellte keineswegs ein neues Vorhaben in der senegalesischen politischen Debatte dar, sondern war erstmals bereits im Jahr 1986 angekündigt, aber bald wieder auf Eis gelegt worden. Der senegalesische Staat war zu dieser Zeit noch nicht bereit, seinen laizistischen Charakter einzuschränken oder umzudeuten (vgl. Villalón & Bodian 2012: 20) und auch strukturelle Anpassungspolitiken standen der Einführung eines Religionsunterrichts in öffentlichen Schulen im Weg (vgl. Charlier 2002: 106).

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geprägten Laizismus hin zu einer Orientierung an einen angelsächsischen Säkularismus. Auch Leonardo Villalón (2012: 195) betrachtete die bildungspolitischen Entwicklungen als eine gesellschaftlich bedeutsame Verschiebung der Machtverhältnisse zwischen den Anhängern des frankophonen säkularen Staates und den Vertretern einer stärker religiös ausgerichteten nationalen Vision. Indem das staatliche Bildungsangebot sowohl hinsichtlich lokaler Bedürfnisse ausdifferenziert als auch verstärkt an internationale Standards und Prinzipien angepasst wurde (vgl. Villalón & Bodian 2012: 24), ließen sich die Reformen jedoch als Ausdruck einer zunehmend endogenen oder einer zunehmend marktwirtschaftlichen Ausrichtung des Schulsystems interpretieren (vgl. Charlier 2002: 96; Mbow 2009: 5). Und obwohl der Staat durch die Einführung eines optionalen Religionsunterrichts die religiöse Bildung aufwertete, stärkte diese Maßnahme vor allem die staatlichen Schulen, die für religiös eingestellte Eltern an Attraktivität gewannen (vgl. Charlier 2002: 105). Die langjährigen Debatten über die Art und Weise einer staatlichen Modernisierung der daaras (z.B. Dia, Leral.net, 29.04.2013) mündeten im Jahr 2014 in einen Gesetzesentwurf zum »Statut der daaras«. Um die heftigen Kontroversen zu verstehen, die dessen Bekanntgabe unverzüglich auslöste, bedarf es zunächst eines Blickes auf das Konzept der daara moderne im senegalesischen Alltagsverständnis. Dabei muss dem Begriff selbst analytische Beachtung geschenkt werden, um nachvollziehen zu können, warum die Idee, die daaras zu »modernisieren«, eine starke Anziehungskraft auf viele Senegalesen ausübt, bei manchen konservativ eingestellten religiösen Akteuren hingegen auf Misstrauen und sogar Ablehnung stößt. Das Wort »modern« hat multiple Semantiken und Konnotationen. Es bedeutet, etymologisch betrachtet, lediglich »neu« oder »zeitgenössisch«, ist jedoch stark einer europäischen Prägung verhaftet, auch wenn die eurozentristische Vorstellung einer unilinearen »Modernisierung« nach westlichem Modell im akademischen Diskurs schon seit Ende der 1960er Jahre problematisiert wurde. Neuere Autoren dezentralisierten die historischen Entstehungsprozesse »moderner« Errungenschaften und stellten die quasi-automatische kausale Verknüpfung bestimmter politischer, ökonomischer und soziokultureller Kennzeichen von »Modernität« in Frage. Eine freie Marktwirtschaft, ein säkularer, demokratischer Nationalstaat, eine wachsende Individualisierung und ein Primat wissenschaftlicher Vernunft gegenüber religiösen Erklärungen galten nicht mehr als ebenso untrennbare wie alternativlose Entwicklungen (z.B. Gaonkar 2001: 1-3; Knauft 2002: 1-3; Geschiere et al. 2008: 2; Kane 2003: 2-6; Asad 2003: 13; Langenohl 2007: 9-10). Damit einhergehend setzte sich seit den 1990er Jahren zunehmend die Terminologie »multipler« oder »alternativer« Modernitäten durch (z.B. Gaonkar 2001: 1; Piot 1999: 1; Deutsch et al. 2002: 14). Obwohl auch diese begriffliche Pluralisierung Kritiker fand,6 vermittelt sie am 6

Wolfgang Knöbl (2002: 168) z.B. kritisiert an einem Modernitätsbegriff im Plural, dass ein solcher nicht mit einem Zugewinn an analytischer Schärfe verbunden sei, solange über seine

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besten eine Perspektive auf »Modernität« als eine bewusste subjektive Positionierung gegenüber gegenwärtigen Ereignissen und historischem Wandel (vgl. Glover 2009: 75 nach Foucault 1997 [1978/1979]) und nicht als Errungenschaft einer einzigen historischen Epoche mit einem Set feststehender gesellschaftlicher Merkmale. Abdourahmane Seck (2010: 225) zum Beispiel spricht von einer derzeitigen »neuen senegalesischen Moderne« jenseits westlicher oder orientalischer Modelle. Die »neue senegalesische Moderne« sieht er von einem »Islamo-Nationalismus« geprägt, im Zuge dessen vielfältige Formen islamischer Rhetorik und Symbolik im öffentlichen Diskurs an Aufwind gewinnen, ohne sich jedoch gegen republikanische Prinzipien zu wenden oder diese zu schwächen. Im Alltagsverständnis und im entwicklungspolitischen Kontext ist das Konzept der »Modernität« allerdings nach wie vor stark mit westlichen Konnotationen behaftet. Dazu trägt bei, dass eine Teilhabe an jenem materiellen Wohlstand, der den »Westen« auszeichnet und der auch das Ergebnis der historischen Prozesse der europäischen Moderne ist, fast überall auf der Welt angestrebt wird (vgl. Knauft 2002: 4). Die Möglichkeit einer besseren Zukunft (vgl. Knöbl 2002: 159) oder, nach Arjun Appadurai (2004: 67-69), die »capacity to aspire« – die Fähigkeit eines Individuums, aktiv nach einem »guten Leben« zu streben – kann daher als übergreifende positive Assoziation gelten, die neben den sonst divergierenden Interpretationen mit einer »Modernisierung« verbunden wird. Senegals Märkte bersten über vor billigen chinesischen Repliken der neuesten Smartphones oder Sportaccessoires von Weltmarken wie Adidas und Nike und in vielen Haushalten finden sich Fotografien von Personen in »traditioneller« Festkleidung vor dem Hintergrund mit Fotomontage eingefügter »moderner« Computer, Fernseher oder Küchengeräte. Dennoch verknüpfen die meisten Senegalesen ambivalente Bedeutungen mit »Modernität«. Sie verspricht materielle Annehmlichkeiten, wird jedoch für eine westlich beeinflusste »Wertekrise« verantwortlich gemacht, deren Ausdruck in einer Monetarisierung und Individualisierung der Sozialbeziehungen sowie in anderen moralischen Verfallserscheinungen gesehen wird (z.B. Mbow, Dakar, 23.07.2013). Das politische Vorhaben, die daaras zu »modernisieren«, wird von diesen ambivalenten Konnotationen der »Modernität« geprägt, erfährt aber prinzipiell eine große Zustimmung in der Bevölkerung. Die Kombination der beiden Begriffe scheint die gleichberechtigte Verbindung »traditioneller« und »moderner« Einflüsse zu vermitteln und die negativ bewerteten Aspekte der Modernität auszugleichen. Das Projekt der daara moderne verspricht, die senegalesische Tradition der

Bedeutung im Singular kein Konsens bestehe. Harri Englund & James Leach (2000: 226) weisen darauf hin, dass auch eine Pluralisierung dem »Metanarrativ der Modernität« verhaftet bleibe. In ähnlicher Weise sehen Peter Geschiere et al. (2008: 5) in einer solchen Terminologie die Gefahr einer Verfestigung und Reproduktion von Alterität sowie einer Verschleierung hegemonialer, westlich geprägter Modernitätsdiskurse.

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Koranausbildung in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext auf angemessene Weise zu übersetzen und materiell und edukativ weiterzuentwickeln, während die derzeit von Armut und Ausbeutung gezeichneten urbanen daaras als durch die Modernität »pervertiert« oder als Ergebnis einer »misslungenen oder falsch verstandenen Modernisierung« (Pelizzari 2014: 36) wahrgenommen werden. Dass die daara moderne als vielversprechende Antwort auf die »moderne« Degeneration der »traditionellen« daara gilt, verdeutlicht die ambivalente Semantik des Begriffs »modern« umso mehr. Anstelle repressiver Maßnahmen stellt das Projekt der daaras modernes staatliche Investitionen in die Koranschulen in Aussicht. Da viele Senegalesen dem Staat eine größere Verantwortung für die prekären Lebensumstände der Talibé zuschreiben als den Koranlehrern, findet der Appell an den Staat zu einer »Modernisierung« der daaras in der Bevölkerung milieuübergreifend mehr Zuspruch als der an die maîtres, ihre Talibé nicht länger betteln zu schicken. Die meisten Senegalesen, mit denen ich zu diesem Thema ins Gespräch kam, waren mit dem politischen Projekt, die daaras zu modernisieren, durch die Medien oberflächlich vertraut, kannten aber die genauen Modalitäten des staatlichen Konzepts nicht und projizierten ihre eigenen Vorstellungen auf dieses Vorhaben. Sie betrachteten es nicht nur als Verpflichtung des Staates, ohne Diskriminierung allen Kindern eine qualitative Ausbildung zu gewährleisten, sondern sahen die daaras auch als ein identitär bedeutsames religiöses und kulturelles Erbe (z.B. Gaye, Pikine, 05.09.2012; Diagne, Pikine, 11.07.2012; Gruppendiskussion, Guiro Yéro Bocar (Kolda), 09.05.2013; Kebe, Pikine, 05.09.2012). Die »Modernisierung« der marginalisierten daaras stellte aus dieser Perspektive eine vielversprechende – oder sogar die einzige – Möglichkeit dar, sie in die Gesellschaft zu re-integrieren. Die Forderung nach einer vom Staat modernisierten und damit einhergehend gesetzlich reglementierten Koranschule erlaubte zugleich sowohl zivilgesellschaftlichen als auch staatlichen Akteuren meines Feldes, religiöse mit staatsbürgerlichen Überzeugungen in Einklang zu bringen (z.B. Touré, Dakar, 30.04.2013; Basse, Dakar, 10.04.2013). Die Kategorien »traditionell« versus »modern«, die in den Kontroversen um die daaras eine wichtige Rolle spielen, erweisen sich bei genauerem Blick als uneindeutig und mitunter paradox. Beide bedingen sich wechselseitig und ihre Bedeutung wird diskursiv konstruiert. Eric Hobsbawn (1983: 9) sprach – viel zitiert – von einer »Erfindung der Tradition« und beschrieb damit einen Prozess, in dem bestimmte Praktiken mit einem expliziten Vergangenheitsbezug formalisiert und ritualisiert werden. Dies geschieht meist vor dem Hintergrund eines gesellschaftspolitischen Interesses, zum Beispiel um Gruppenzugehörigkeiten, Machtbeziehungen oder Institutionen zu stärken, und erfüllt darüber hinaus einen Sozialisationszweck, indem Individuen über »Traditionen« bestimmte Werte und Verhaltensnormen verinnerlichen. Auch Andreas Langenohl (2007: 16) betrachtet »Traditionen« nicht als unvereinbar mit »Modernität«, sondern sieht in ihnen einen »de-

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finierenden Bestandteil hochmoderner Gesellschaften«. Modernisierungsprozesse zeigen sich für ihn in einer durch »reflektiert artikulierte Problemstellungen« geäußerten Gesellschaftskritik. Da sich gerade Traditionen aufgrund ihres expliziten Charakters durch eine Kritikmöglichkeit auszeichnen (vgl. Langenohl 2007: 13), bilden sie sogar häufig die Grundlage für die »Modernisierung« einer Gesellschaft. Damit widerspricht Langenohl dem vorherrschenden Tenor des Globalisierungsdiskurses, der Traditionen entweder als »rückständig« oder als Reaktion auf Globalisierungsprozesse versteht (vgl. Langenohl 2007: 13). Nicht nur ist die – oft nostalgische – Zuschreibung der »Traditionalität« in dichotomer Abgrenzung zur »Modernität« ein »modernes« Produkt (vgl. Geschiere et al. 2008: 3), sondern die »traditionellen« Praktiken und Institutionen stellen sich aus genealogischer Perspektive nicht selten selbst als »modern« heraus (vgl. Geschiere et al. 2008: 4; Comaroff 1993: xxv). So erlebten zum Beispiel die daaras in Senegal ihre erste Blütezeit durch die Islamisierungsbewegungen im 18. und 19. und eine weitere im frühen 20. Jahrhundert, als sie ein ideologisches Gegengewicht zu der sich intensivierenden französischen Kontrolle darstellten, vor allem aber eine bedeutende wirtschaftliche Rolle im florierenden Erdnusshandel einnahmen. Damit entstanden viele der sogenannten traditionellen daaras in Senegal im Zuge derjenigen historischen Entwicklungen, die in konventioneller Lesart mit der »Modernisierung« dieser Region in Verbindung gebracht werden (vgl. Rathbone 2002: 20). Die Talibé der »traditionellen« daaras waren, zumindest dem vorherrschenden Narrativ zufolge, sozial und ökonomisch weitaus besser in ihr Umfeld eingebunden als im gegenwärtigen urbanen Kontext, sodass die daaras modernes hinsichtlich ihrer Zielsetzung einer gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabe der Talibé zu den »traditionellen« daaras in Kontinuität und nicht in einem Kontrast stehen. Indem die daaras modernes säkulare Lehrinhalte integrieren und staatlich kontrolliert werden sollen, weisen sie gleichzeitig Parallelen zu kolonialen Modernisierungsvorstellungen auf, da die französische Kolonialregierung zumindest bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts ähnliche Ansinnen zeigte. Als Teil einer umfassenden Schulreform, die säkulares und religiöses Wissen wieder stärker zusammenführen will (vgl. Kane 2010: 4), verfolgt das Projekt der Modernisierung der daaras hingegen eine antikoloniale Vision von Modernität und ist zudem in »moderne« globale politische Ziele wie das einer universellen Schulbildung eingebettet. Das Konzept der daara moderne lässt sich also sowohl auf verschiedene Formen der Modernität beziehen als auch mit dem Narrativ der »traditionellen« daaras in Einklang bringen. Somit wird deutlich, dass das »Moderne« und das »Traditionelle« konvergent und untrennbar relational sind. Es kann nicht festgelegt werden, wo das eine »aufhört« und das andere »beginnt« (vgl. Piot 1999: 173). Vielmehr ist ein bestimmtes Interesse oder die ideologische Prägung eines Sprechers ausschlaggebend dafür, ob eine empirische Veränderung als in Kontinuität mit einer »Tradition« stehend oder als »modern« interpretiert wird.

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Die ambivalenten Assoziationen, mit denen »Modernität« im Alltagsverständnis verbunden wird, entfalten ebenso wie deren Wahrnehmung als Gegensatz zur »Tradition« im Kontext der Koranausbildung eine besondere Relevanz. Einerseits gilt nämlich eine »traditionelle«, explizit nicht-westliche Werteerziehung als wesentliches Merkmal der daaras, andererseits sind deren extreme materielle Prekarität und fehlende Vermittlung »vermarktbarer Fähigkeiten« (Loimeier 2002: 135 nach Launay 1992) in den Augen vieler Senegalesen nicht länger hinnehmbar. Je nach Interpretation des »Modernen« der daara moderne beziehungsweise der Essenz einer daara erfährt das Konzept daher auch unter religiös-konservativen Akteuren entweder eine große Zustimmung oder löst misstrauische Bedenken aus. »Wenn ›modernisieren‹ bedeutet, die Koranausbildung nach Gottes Vorgaben zu respektieren, sind wir dafür, die Bedingungen für die Talibé gemäß unseren Empfehlungen zu verbessern. Wenn ›Modernisierung‹ sich jedoch als klassischer Tanz mit Djembe-Begleitung entpuppt, dann nicht (…)« (vgl. Sène, L’AS, 21.04.2013, meine Übersetzung), brachte Mouhamed Datte, Leiter einer daara in Dakar mit mehr als 300 Talibé, die aber durch den Einsatz eigener Ressourcen und dem der daara-Patinnen nicht zum Betteln verpflichtet sind, in einem Zeitungsartikel metaphorisch seine geteilte Meinung über eine »Modernisierung« zum Ausdruck. Er gab damit zu verstehen, dass den Korangelehrten selbst die Definitionshoheit über die Veränderungen überlassen werden sollte und dass »verbesserte Lebensbedingungen« für die Talibé nicht den asketischen Ausbildungsprinzipien der daara zuwiderlaufen dürften. Der Sensibilität der Frage nach adäquat verbesserten Lebensbedingungen in den daaras war sich auch der senegalesische Staat von Beginn der Modernisierungspläne an bewusst, weshalb er den führenden marabouts infrastrukturelle Verbesserungen ohne eine Angleichung an die öffentlichen Schulen nach französischem Vorbild vorschlug (z.B. Cissé, Dakar, 26.07.2013). Schulbänke symbolisieren zum Beispiel nicht nur die säkulare Schule – verdeutlicht durch die Wendung im senegalesischen Französisch »faire les bancs«, »die Schulbank drücken« –, sondern stehen auch der unmittelbar-körperlichen Form des Lernens und der persönlichen Beziehung zwischen maître und Talibé, die in der klassischen Koranschulpädagogik einen zentralen Stellenwert innehaben, wortwörtlich »im Weg« (z.B. Akkari 2004: 9-10). Serigne Kebe hingegen, ein Koranlehrer, dem ich gemeinsam mit meinem Gatekeeper Ndiayedaara in seiner daara, einer Holzbaracke in der ärmlichen vorstädtischen Gegend Pikine-Yeumbeul einen Besuch abstattete, wurde nicht müde zu betonen, dass er seinen Talibé sogar einen Ventilator und einen Fernseher zur Verfügung stelle (Kebe, Pikine, 23.10.2012). Diese überdurchschnittlich »moderne« Ausstattung bürgte in seinen Augen für den materiellen Standard seiner daara, aber mehr noch für seine eigene moralische Integrität, da er sich zu diesem Zeitpunkt

8. Von »Menschenhandel« zu »Modernisierung«?

dem Verdacht ausgesetzt sah, einer seiner Talibé sei aufgrund der miserablen Behandlung aus der daara geflohen. Ibrahima Lo wiederum, Vorstand der Organisation CAINT, mokierte sich mir gegenüber in unserem Interview über einen Koranlehrer, der sich strikt gegen eine »Modernisierung« der daaras ausgesprochen habe, selbst jedoch eine »moderne« Sonnenbrille zweifellos ausländischer Fabrikation trug (Lo, Pikine, 25.05.2012). Indem er dies für einen nicht zu vereinbarenden Widerspruch zwischen dem eigenen Lebensstil und der politischen Positionierung des besagten Koranlehrers hielt, bewies Lo selbst ein unilineares und eindimensionales Verständnis von »Modernität«. Die ambivalenten Haltungen gegenüber Modernisierungen im Koranschulkontext erklären sich somit nicht einfach durch erwünschte materielle Verbesserungen und unerwünschte moralische und epistemische Entwicklungen. Materielle und ideelle Produkte von »Modernität« werden als miteinander verflochten wahrgenommen und sind Gegenstand kontroverser Auslegungen. Ein Ende der mendicité, eine ausreichende Ernährung, Hygiene und weniger überfüllte und bautechnisch sichere Unterkünfte sind Aspekte, die allgemein wenig umstritten mit angemessenen »verbesserten Lebensbedingungen« für die Talibé verbunden werden. Manchen Kinderrechtsakteuren, aber auch Koranlehrern, schwebte deshalb die Einrichtung von »Kantinen« in den daaras vor, um die Verpflegung der Talibé zu gewährleisten (z.B. Seck, Dakar, 11.10.2012; CNLTP (Sitzung), Dakar, 23.10.2012). Als weniger kostspielige Alternative hat sich schon früh der Einsatz sogenannter daara-Patinnen (ndeyou daara) etabliert: Frauen, die in der Nähe einer daara wohnen, nehmen sich jeweils eines Talibé an, sorgen für seine Mahlzeiten und waschen seine Wäsche. Die Initiative kann als retraditionalisierende Maßnahme interpretiert werden, da sie den gemeinschaftlichen Charakter der frühen, in ihre soziale Umgebung eingebundenen daaras wiederherzustellen versucht, aber auch als »Modernisierung« der daaras »von unten« (Hugon 2014: 5). In ihrem Anspruch, jedem Kind eine bestimmte Grundversorgung zuzugestehen und in ihrer Annahme, jedes Kind bedürfe einer Mutterfigur, lässt sie sich ebenso mit den internationalen Kinderrechten und einem modernen westlichen Familienideal in Einklang bringen (vgl. Thiam 2008: 32). Ein nationales Programm der ndeyou daara wurde im Jahr 2012 sogar unter der Schirmherrschaft der damals neuen Première dame Marième Sall lanciert. Dieses Engagement war aus Regierungsperspektive durchaus nachvollziehbar, da der Einsatz der Patinnen die Lebensbedingungen der Talibé auf ein gesellschaftlich akzeptiertes Niveau zu bringen versprach, ohne die Koranlehrer kritisieren zu müssen, und so der Druck auf den Staat, schnelle politische Lösungen durchzusetzen, gemindert werden konnte. Auch die Integration säkularer Fächer wie Mathematik, Französisch und Informatik oder zumindest einer praktischen Ausbildung in das Studienpensum der daaras hielten milieuübergreifend viele Senegalesen für wichtig, um den Talibé eine berufliche Zukunft zu eröffnen (z.B. Mbodj, Dakar, 21.08.2013; Diallo, Mbao,

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13.09.2012). Damit wurde an eine »moderne« Koranausbildung der Anspruch geknüpft, sowohl gegenwärtigen materiellen und pädagogischen Standards zu entsprechen als auch den »Erwartungshorizont« (Koselleck 1995 [1979]: 354-359) der Talibé zu erweitern. Der Fokus auf eine mögliche soziale Mobilität zeugte von einem tendenziell liberalen Menschen- und Gesellschaftsbild, aber auch von der Furcht vor einer heranwachsenden Generation ohne legale Verdienstaussichten. Selbst Koranlehrer zeigten sich meist offen gegenüber der Aufnahme säkularer Unterrichtseinheiten in das Programm der daaras unter der Bedingung, dass das Koranstudium seine primäre Stellung nicht verliere (z.B. Koranlehrer n. n., Daara »K8«, Kaolack, 22.08.2013; Gaye, Pikine, 05.09.2012; Kebe, Pikine, 23.10.2012; Bousso, Touba, 24.06.2013; Seck, Dakar, 11.10.2012). Sie erhofften dadurch nicht zuletzt eine Aufwertung der gesellschaftlichen Stellung ihrer Absolventen, die durch zusätzliche Kenntnisse einen leichteren Zugang zu sozialen und materiellen Ressourcen gewinnen könnten. Vor allem der Einführung von Informatikunterricht wirkten manche Koranlehrer äußerst zugeneigt (z.B. Koranlehrer n. n., Daara »K8«, Kaolack, 22.08.2013; Savne, Kolda, 12.05.2013). Kebe Gaye, Vorstand der Vereinigung der Koranlehrer von Pikine, war im Rahmen eines von der Kinderrechtsorganisation Plan finanzierten Projekts sogar dabei, einen PC-Raum – ein »cyber« – für seine Talibé aufzubauen (Gaye, Pikine, 05.09.2012). Neben der beruflichen Relevanz mochte für die Affinität zu Informatik eine Rolle spielen, dass Informationstechnologien als Symbole der Modernität schlechthin gelten, im Gegensatz zu Französischunterricht jedoch nicht mit kolonialen Assoziationen behaftet sind. Auch die größte Koranschulvereinigung des Landes FNAECS begrüßte 2015 die Spende von sechzig Koran-Tablets eines Informationstechnologievertriebs als wertvollen Beitrag, um die daaras »mit der Modernität zu verbinden« (vgl. Seneweb, 02.10.2015). Dennoch wurden sowohl von Teilen der Bevölkerung, insbesondere in den Herkunftsregionen bedeutender marabouts, als auch von Koranlehrern mithin kritische, konservative Einstellungen bezüglich der Vermischung säkularer und religiöser Inhalte in den daaras vertreten. Manche Koranlehrer befürworteten einen ergänzenden säkularen Unterricht strikt erst nach der vollständigen Memorisierung des Koran. Thierno Fode zum Beispiel, Leiter einer großen Koranschule in der senegalesischen Provinz Kolda, war der Meinung, dass säkulare Bildung jeglicher Art darauf ausgerichtet sei, »nach Geld zu streben«. Sie könnte daher den Charakter eines Kindes verderben, wenn dieses nicht durch den zuvor verinnerlichten Koran über ein moralisches »Schutzschild« verfüge (Fode, Kolda, 10.05.2013). Manche anderen Koranlehrer, so berichteten mir die Mitarbeiter der NGO Sentinelles, begründeten ihre zögerliche Haltung gegenüber einem säkularen Zusatzunterricht in ihren daaras damit, dass sie das Vertrauen der Eltern der Talibé nicht missbrauchen wollten, die ihnen ihre Kinder für das Koranstudium und nicht zu anderen Zwecken überlassen hätten. Mit dieser Argumentation lagerten sie die Entscheidung aus ihrem eigenen Verantwortungsbereich aus (z.B. Ibrahima, Kaolack, 22.08.2013;

8. Von »Menschenhandel« zu »Modernisierung«?

vgl. Kébé, Dakar, 12.09.2012). Wie viele Koranlehrer bezog auch Thierno Fode aus Kolda eine wünschenswerte »Modernisierung« der daaras in erster Linie auf verbesserte materielle Lebensbedingungen für die Talibé und sich selbst durch eine finanzielle Unterstützung seitens des Staates, jedoch ohne dessen Einflussnahme auf Lehrprogramm oder -methoden. Andere Koranlehrer hingegen lehnten jegliche Formen der Einmischung des Staates in das Koranschulwesen ab und betonten, sie würden lieber auf »Gott« als auf den »Staat« vertrauen: »Niemand unterstützt uns und wir wollen nichts von niemandem«, wurde ein Koranlehrer aus Touba, der heiligen Stadt der Murīdīya, in einem Zeitungsartikel im Kontext der Kontroversen um das Gesetzesprojekt zitiert (vgl. Dia, Senenews, 30.12.2014, meine Übersetzung). Mehrere Koranlehrer äußerten auch mir gegenüber die Befürchtung, der Staat würde seine Unterstützung für die daaras »politisieren« und denjenigen maîtres mit großem Namen, aber ohne tatsächlichen Bedarf, zukommen lassen (Bousso, Touba, 23.06.2013; Gaye, Pikine, 05.09.2012; Fode, Kolda, 10.05.2013). Serigne Bousso aus Touba wies darauf hin, dass bisher bestenfalls die daaras renommierter marabouts von staatlichen Zuwendungen profitiert hätten, niemals aber Koranlehrer wie er mit »kleinen« daaras. Hinter einer Resignation aufgrund einer vermeintlich langen Kontinuität leerer Versprechungen oder daara-feindlicher Politiken kann sich freilich die Angst vor unvorteilhaften gesellschaftlichen Veränderungen oder das Interesse verbergen, an einem bequemen und ökonomisch lukrativen Status quo festhalten zu wollen. Koranlehrer und andere der Koranausbildung positiv gestimmten Akteure meines Feldes imaginierten die Absolventen einer »modernen« daara, die das Koranstudium mit säkularen Lehrinhalten kombiniert, als potenzielle neue Elite des Landes. Diese hätten den Schulabgängern der rein säkularen Schule »etwas voraus«, indem sie über ein moralisches Fundament, über zeitloses, unveränderliches Wissen und über besonders ausgebildete intellektuelle Fähigkeiten verfügten (z.B. Ndiayedaara, Pikine, 08.05.2012; Bousso, Touba, 24.06.2013). Anderen Befürwortern der daara moderne geht es schlichtweg um eine universale säkulare Grundbildung für alle Kinder. Auch Gegner der daara moderne finden sich sowohl im streng laizistischen Lager, das jegliche staatliche Investitionen in religiöse Bildungsformen ablehnt, als auch im konservativ-religiösen Milieu, das in diesem Konzept eine Aushöhlung essentieller Prinzipien der senegalesischen Koranausbildung fürchtet (vgl. Abdourahman, Leral.net, 03.01.2015). Das Vorhaben, die daaras zu modernisieren, wird somit vor dem Hintergrund unterschiedlicher Zielsetzungen und Interpretationen der »Modernisierung« unterstützt oder, in seltenen Fällen, abgelehnt. Einer »Modernisierung« der daaras ist die Ambivalenz inhärent, dass sie zwar einerseits mit einer Orientierung an westliche materielle und kulturelle Standards assoziiert wird, andererseits jedoch gerade einen Bruch mit der kolonialen Marginalisierung der daaras und eine gesellschaftliche Aufwertung der religiösen Bildung verspricht. Diese Ambivalenz entfaltete vor allem Anfang

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des Jahres 2015 eine große politische Wirkmächtigkeit, als ein Gesetzesentwurf zum »Statut der daaras« zu heftigen Konflikten zwischen Staat und Koranlehrern führte.

Modernisierung per Gesetz? Machtkämpfe zwischen Staat und Koranlehrern Im Jahr 2012 veröffentlichte das senegalesische Bildungsministerium erstmals ein offizielles Konzept der daara moderne. Diese wurde darin als »islamische Institution« definiert, die »Kinder im Alter von 5 bis 18 Jahren mit dem Ziel der Memorisierung des Koran, einer qualitativen religiösen Ausbildung und des Erwerbs der essentiellen Grundkenntnisse der regulären Pflichtschulzeit [cycle fondamental] unterrichtet« (République du Sénégal 2012: 4, meine Übersetzung). Als »funktionelle Einrichtung, die ergonomische Normen, didaktische Prinzipien sowie Gesundheitsund Hygieneanforderungen respektiert und sich gegenüber den gültigen Rechtsvorschriften konform verhält«, sollte die moderne daara einen »holistischen Ansatz« hinsichtlich »Ausbildung, Gesundheit und Ernährung« verfolgen (République du Sénégal 2012: 7-8, meine Übersetzung). Der Begriff des »holistischen Ansatzes«, mit dem gemeinhin auf die religiöse, soziale und lebenspraktische Erziehung der »traditionellen« daaras Bezug genommen wird, erfuhr damit eine Reinterpretation. Dieser reinterpretierte holistische Ansatz orientierte sich nunmehr anstatt an einem muslimischen Persönlichkeitsideal an universellen technischen und individuumsbezogenen Standards. Auch der Konzeptbegriff der daara moderne war nicht zufällig gewählt. So berichtete mir Momar Djim Cisse – ehemaliger Schulinspektor, Mitglied mehrerer Gremien im Bildungsbereich und an der Ausarbeitung des staatlichen Konzepts der daara moderne maßgeblich beteiligt –, dass sein Vorschlag, lieber von einer daara améliorée, also einer »verbesserten daara«, zu sprechen, mit Blick auf die beteiligten inter- und transnationalen Kooperationspartner abgelehnt worden war (Cissé, Dakar, 26.07.2013). Die Präferenz für den Begriff der daara moderne lässt sich damit in Verbindung bringen, dass eine »Modernisierung« zumindest außerhalb des akademischen Diskurses nach wie vor mit einer westlich geprägten gesellschaftlichen Entwicklung assoziiert wird. Eine daara moderne suggeriert somit eine größere Konformität mit transnationalen säkularen Schulmodellen als eine diffus »verbesserte« daara. Der Begriff der daara moderne birgt eine weitere Ambivalenz, indem er stark an den der école moderne als eine geläufige Bezeichnung für die (post-)koloniale säkulare Schule nach französischem Vorbild erinnert. Die Analogie lässt sich je nach Perspektive verschieden deuten. Sie kann nicht nur als Angleichung der daara an die école moderne, sondern auch als die Ablösung der école durch die daara oder zumindest als deren Gleichstellung interpretiert werden.

8. Von »Menschenhandel« zu »Modernisierung«?

Der Gesetzesentwurf der senegalesischen Regierung zum »Statut der daaras« (vgl. République du Sénégal 2014a, 2014b), der nach seiner Bekanntgabe Ende des Jahres 2014 heftige religionspolitische Kontroversen auslöste, baute zu weiten Teilen auf dem bereits erarbeiteten Konzept auf. Einleitend wurde die staatliche Reglementierung der daaras damit begründet, dass bisherige institutionelle Initiativen, zum Beispiel die Einrichtung einer Inspection des daaras, den »Herausforderungen« des Koranschulsektors nicht Herr werden konnten. Die Verstaatlichung der daaras sollte nun dazu beitragen, die nationale Einschulungsrate zu erhöhen, die pädagogische und infrastrukturelle Qualität der daaras zu verbessern, eine Transparenz und gleichberechtigte Verteilung der Finanzierungen der daaras zu gewährleisten sowie ein einheitliches, nicht diskriminatives Modell eines »Staatsbürgers« zu etablieren. Eingebettet in eine (inter-)nationale Logik wurden in dieser Argumentation Sicherheits-, Markt-, Menschenrechts- und Identitätspolitiken miteinander verknüpft. Das Kernstück des staatlichen Gesetzeskonzepts bildete ein verbindliches Lehrkurrikulum, das eine Ausbildungsdauer von insgesamt acht Jahren in drei Etappen gliederte. In den ersten drei Jahren sollte die Memorisierung des Koran einziger Inhalt sein, in zwei folgenden Jahren das Koranstudium mit dem Anfangsprogramm der regulären (Vor-)Schule kombiniert und in den drei letzten Jahren ausschließlich der restliche Lehrstoff der Elementarschule behandelt werden (vgl. République du Sénégal 2014a, Kap. 1, Art. 2). Die zeitlich gleichberechtigte Verteilung religiöser und säkularer Inhalte war darauf ausgerichtet, die Absolventen weder auf die eine noch die andere Laufbahn festzulegen. Zusätzlich zu einem verpflichtenden Lehrkurrikulum sah der Gesetzesentwurf ein aufwändiges bürokratisches Prozedere für die Eröffnung und Führung einer daara vor und verlangte unter anderem folgende Unterlagen: ein Schreiben mit der Darlegung des »edukativen und sozialen Ziels« der daara, eine Auflistung des gesamten Personals, die exakte Adresse der daara, einen Miet- oder Eigentumsnachweis des Unterrichtsgebäudes, genaue Angaben zur vorhandenen pädagogischen und sanitären Infrastruktur, eine Schulordnung und einen Stundenplan für jede »Niveaugruppe« (vgl. République du Sénégal 2014b, Kap. 1, Art. 2). Die Leitung einer modernen daara sollte eine zweijährige Unterrichtserfahrung, eine Eignungsbescheinigung zur Koranlehre und ein arabisches, franko-arabisches oder französisches baccalauréat oder einen äquivalenten Schulabschluss voraussetzen. Zudem erforderte der Gesetzesentwurf, ein polizeiliches Führungs- und ein amtliches Leumundszeugnis, ein Gesundheitszertifikat und einen Personalausweis vorzulegen und darüber hinaus die Bereitschaft zu Inspektionen und Jahresberichten zu erklären (vgl. République du Sénégal 2014, Kap. 1, Art. 2). Das Bekanntwerden des Gesetzesentwurfs führte unverzüglich zu massiven Protesten empörter Koranlehrervereinigungen, die drohten, sowohl alle ihnen zur Verfügung stehenden rechtlichen Mittel als auch ihre spirituelle Macht auszu-

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schöpfen, um die Verabschiedung des Gesetzes zu verhindern.7 Sie sahen in dem Gesetzesvorhaben eine Fortführung früher kolonialer Politiken zur Kontrolle und Eindämmung der daaras, die den Koranlehrern ebenso unter anderem auferlegt hatten, ein Erlaubnisgesuch zur Führung ihrer daara und eine Leumundserklärung vorzulegen, die Talibé in die französische Abendschule zu schicken und eine Mindestanzahl von Schülern nachzuweisen (vgl. Ndiaye 1985: 76-77; Loimeier 2001: 105). In ihren Protesten äußerten insbesondere die Koranlehrer in Touba den Verdacht, der Gesetzesentwurf sei eine staatliche Strategie, um die Koranschulen durch eine schleichende Laizisierung unter dem Deckmantel der Modernisierung und fadenscheiniger Besorgnisse dem Untergang preiszugeben (vgl. Senenews, 30.12.2014; Seneweb, 26.12.2014). Da der Staat durch den gesetzlichen Rahmen auch eine »Transparenz der Finanzierungen« der daaras erreichen wollte, beschuldigten ihn manche Koranlehrer zudem, im Gleichklang mit westlichen Regierungen in den Koranschulen Keimzellen des internationalen Terrorismus zu fürchten (vgl. Ndiaye, Dakaraktu, 02.01.2015). Vor allem die zeitlich gleichberechtigte Stellung des religiösen und des säkularen Programms sorgte für Unmut unter den Koranlehrern. Viele hielten drei Jahre für unzureichend für eine vollständige Memorisierung des Korans und sahen somit das Fundament der daaras ausgehöhlt, die stattdessen mehr und mehr in écoles franco-arabes transformiert würden (vgl. Ciss, Le Quotidien, 10.02.2015). Der Jurist Alioune B. Diatta gab in einem Zeitungsinterview zu bedenken, dass der Gesetzesentwurf sogar verfassungswidrige Elemente enthalte, indem durch den obligatorischen säkularen Lehrstoff das gesetzlich verbürgte Recht der Eltern auf eine freie Bildungswahl beschnitten würde (vgl. Mboup, Le Temoin quotidien, 28.01.2015). Allein schon die zeitliche Beschränkung der Ausbildungsdauer widersprach den klassischen Prinzipien der daaras, nach denen es einzig in der Entscheidungsmacht des maître lag, das Koranstudium seiner Talibé für beendet zu erklären (vgl. Akkari 2004: 11-12). Damit einhergehend erforderte der neue Lehrplan, die Kinder – die nicht mehr »Talibé«, sondern »Schüler« oder »Lernende« genannt wurden (z.B. Chap.1, Art. 2) – nach ihrem Niveau zu gruppieren und einen festen Stundenplan zu verfolgen. Die Fähigkeit, den Koran zu beherrschen, galt damit nicht länger als ein Ziel, für dessen Erreichen kein Preis zu hoch ist, sondern wurde zu einem von mehreren gleichwertigen Interessen innerhalb eines übergeordneten pädagogischen und bürokratischen Rahmens degradiert. Ein solches bürokratisches Regelwerk stellt nach Michel Foucault (1994 [1975]) ein für den modernen

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El Modou Gueye (26.12.2014) zitiert den Sprecher der Ligue des école coraniques du Sénégal, Sektion Touba: »Alle Mittel, über die wir verfügen, um die Abgeordneten davon abzuhalten, dieses Gesetzesprojekt zu verabschieden, werden angewendet werden. Der Staat soll wissen, dass wir nicht das Land in Brand setzen wollen, aber wir verfügen über eine fatale Waffe, und die ist der Koran, um Gebete zu verrichten (…)« (meine Übersetzung).

8. Von »Menschenhandel« zu »Modernisierung«?

Nationalstaat charakteristisches Instrument zur sozialen Disziplinierung und politischen Dominierung der Bevölkerung dar (vgl. Brenner 2001: 12-13). Die geplanten Veränderungen kündigten also eine Rationalisierung und Entpersonalisierung der dialektisch-komplementären Beziehung zwischen maître und Talibé (z.B. Hammoudi 1997: 141; Akkari 2004: 11-12) und eine zunehmende »Kommodifizierung« (Brenner 2001: 80) der Koranausbildung an. Die maîtres coraniques drohten sowohl dadurch an Einfluss zu verlieren, dass sie staatliche Vorschriften zu erfüllen verpflichtet sein würden, als auch dadurch, dass ihre Rolle als unabdingbare Vermittler eines streng restriktiven und hierarchisierten islamischen Wissens angefochten wäre (vgl. Brenner 2001: 7). Während sie vormals aufgrund ihrer baraka, ihrer spirituellen Segenskraft, verehrt wurden, sollten sie nun in »moderne Akteure« (Meyer & Jepperson 2000: 106-108) und »autorisierte Agenten« (dies. 2000: 101) bestimmter pädagogischer und rechtsstaatlicher Prinzipien transformiert werden. Die staatliche Modernisierung der daaras versprach daher das Ende deren »esoterischer Episteme« und nicht nur eine Veränderung der konkreten Lerninhalte, sondern auch der Weltsicht und der Subjekte, die in den daaras produziert werden (vgl. Brenner 2001: 7). Das neoliberale Paradigma der Transparenz, das in dem Gesetzesentwurf eine zentrale Stellung einnahm, unterliegt mit seinem konstitutiven Grundsatz »sehen bedeutet wissen« (Comaroff & Comaroff 2003: 288) selbst einer bestimmten ideologischen Prägung und unterschiedlichen Interpretationen (vgl. Sanders & West 2003: 11). Indem es vor allem politische oder ökonomische Machthaber sind, die »Transparenz« als Handlungsprinzip für sich und andere beanspruchen, und eine immer stärkere diskursive Präsenz von »Transparenz« mit einer wahrgenommenen Zunahme von Undurchsichtigkeiten zusammenfällt, haben es Verschwörungstheorien leicht, als alternative Erklärungsmodelle für bestehende Gesellschaftsverhältnisse an Aufwind zu gewinnen (vgl. Sanders & West 2003: 16). So führte das Argument des senegalesischen Staates, durch die Reglementierung der daaras eine größere »Transparenz« erreichen zu wollen, dazu, dass die Koranlehrer ihre »Version der Wahrheit« (Sanders & West 2003: 15) und eine alternative Form der »Transparenz« entwarfen, indem sie einen versteckten »Kampf gegen den Islam« hinter dem Gesetzeskonzept vermuteten. Während der Staat das Modernisierungsprojekt als Aufwertung der islamischen Bildung präsentierte, sahen manche konservativen religiösen Akteure in dieser staatlichen »Domestizierung« der Koranschulen eine raffinierte Strategie zu deren schleichenden Abschaffung. Mit solchen Unterstellungen illegitimer Interessen mimten sie die Machttechniken des Staates (vgl. Sanders & West 2003: 17), dessen Appell zu mehr Transparenz selbst auf einer impliziten Annahme krimineller Machenschaften der Koranlehrer basierte. Die Handlungsmaxime der »Transparenz« trägt wohl dazu bei, manche zuvor unbekannten Aspekte offenzulegen, verschleiert aber wiederum andere, da – mit Jean und John Comaroffs Worten (2003: 288) – neue »Erhellungen« stets neue

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»Schatten« werfen. »Was verdeckt Sichtbarkeit?«, fragt auch Marilyn Strathern (2000: 310) und kritisiert, dass vermeintliche Indikatoren der »Transparenz« die tatsächliche Praxis einer Organisation, deren soziale Beziehungsverhältnisse und kulturelle Werte sowie die Zeitgebundenheit der jeweiligen Faktoren unbeachtet lassen und so manche Teile der Realität ausklammern (vgl. Strathern 2000: 314, 318). Aus dieser Perspektive betrachtet hatte das geplante Gesetz zur Modernisierung der daaras das Potenzial, Missstände oder Formen des Leidens der Talibé und vielschichtige informelle und implizite Machtpraktiken eher zu verdecken anstatt zu vermeiden. Indem der Staat versuchte, durch die gesetzlichen Anforderungen an die Infrastruktur der daaras und die Ausbildungsstandards der Koranlehrer ausgewählte Merkmale der daaras nachweis- und überprüfbar zu machen, und bestimmte formale Dokumente den Koranschulen offiziell Legitimität bescheinigen sollten, drohte die Rolle der sozialen Praxis – zum Beispiel für den Erhalt der erforderlichen Unterlagen oder für die tatsächliche Unterrichtsform und Erziehungsmethoden – verschleiert zu werden.8 Ein gesetzlicher Rahmen kann also einer »Transparenz« des Koranschulwesens in doppelter Hinsicht im Weg stehen. Zum einen verbirgt er selbst Teile der Wirklichkeit, die in den legislativen Texten nicht berücksichtigt werden, zum anderen ermöglicht eine formale Gesetzeskonformität sowohl des Staates als auch der Koranlehrer, von missbräuchlichen Verhaltensweisen oder ausbleibenden politischen Maßnahmen abzulenken. Es ist analytisch unzureichend, das staatliche Modernisierungsprojekt der Koranschulen durch seinen Fokus auf Transparenz, Rechenschaftspflicht und marktwirtschaftliche Anforderungen allein als Ausdruck »neoliberaler« Tendenzen zu interpretieren, wenngleich es durch solche gestützt und legitimiert wird. Im akademischen Diskurs wird zunehmend kritisiert, dass die Bedeutung des »Neoliberalen« oft unscharf definiert sowie auf zu viele und zu verschiedene soziale, politische und ökonomische Entwicklungen in ganz unterschiedlichen Kontexten bezogen werde (z.B. Clarke 2008: 135-136; Smith 2008: 155; Little 2008: 148; Büscher 2008: 166; Ferguson 2009: 170-172). John Clarke (2008: 141) zum Beispiel erkennt als Gemeinsamkeit der als »neoliberal« bezeichneten Phänomene ihre Kombination der Merkmale der Marktlogik, eines individualistischen Persönlichkeitskonzepts, der Effizienzorientierung und multipler, miteinander verflochtener Autoritätsformen. Diese Kombination jedoch, so betont er, hat an unterschiedlichen Orten unterschiedliche Auswirkungen und wird aktiv auf jeweils andere Weise »übersetzt«, was gegen einen universellen neoliberalen »Kern« spreche (vgl. Clarke 2008: 138).

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Siehe hierzu auch Kregg Hetherington (2011: 8-9), der mit Blick auf gesellschaftliche Spannungen in Paparguay nach Ende des Kalten Krieges beschreibt, wie der eigentliche Inhalt von »Dokumenten« als zentrale Instrumente für »Transparenz« durch deren Interpretation in unterschiedlichen sozialen Kontexten erst generiert wird.

8. Von »Menschenhandel« zu »Modernisierung«?

James Ferguson (2009: 182-183) differenziert wiederum zwischen »Neoliberalismus« als einer spezifischen ideologischen Agenda und neoliberalen politischen Techniken, die für ganz verschiedene politische und soziale Ziele angewendet werden können. Auch Hansjörg Dilger (2013: 454) hebt die Verwobenheit lokaler und globaler Kräfte für bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen hervor, indem er im Kontext des Aufschwungs religiöser Schulen in Daressalam (Tansania) aufzeigt, dass international gesteuerte Privatisierungspolitiken dafür ebenso eine Rolle spielten wie vielschichtige historische Hintergründe der Bildungspolitik und der christlichmuslimischen Beziehungen in Tansania. Ein solches Zusammenspiel lokaler und globaler Einflüsse prägt gleichermaßen das Projekt der Modernisierung der daaras in Senegal. Dieses wird durch gesellschaftliche Voraussetzungen, die auf koloniale Politiken zurückgehen, durch staatliche Souveränitätsansprüche, nationalkulturelle Emanzipierungsbestreben und marktwirtschaftliche Interessen ebenso begründet wie durch internationale Politiken und die Eigenarten des lokalen Koranschulsystems, die sich nicht mit gegenwärtigen, transnational orientierten Konzepten von Kindheit und Familie vereinbaren lassen. Die stärkere Berücksichtigung der »Nachfrage« der Bevölkerung nach einer religiösen Bildung kann als neoliberaler Einfluss interpretiert werden, ein staatliches Koranschulmodell jedoch – mit Blick auf den Säkularismus als eine verhältnismäßig kurze Phase in der Geschichte Senegals – auch als endogene Entwicklung und nicht als Folge einer global übergreifenden neoliberalen Logik (vgl. Mbow 2009: 5). Über die staatliche Modernisierung der daaras wird neben der Deutungshoheit über die Religion und deren gesellschaftlichen Einfluss politische Macht ausgehandelt. Die Empörung der Koranlehrer schlug hohe Wellen, da das Konzept nicht ihr theologisches Verständnis eines Koranstudiums widerspiegelte und ihr eigener »Zugewinn« durch die neuen Anforderungen an Transparenz und Rechenschaftspflicht ungewiss oder wenig vielversprechend war. Der Entwurf des Statuts entsprach größtenteils der Satzung für den privaten Schulsektor, ohne zu berücksichtigen, dass die jeweiligen epistemischen und soziopolitischen Kontexte nicht dieselben sind (vgl. Abdourahman, Leral.net, 03.01.2015). Er konzentrierte sich im Wesentlichen auf die Bringschuld der Koranlehrer und blieb bezüglich der Verpflichtungen des Staates vage, wohlwissend, dass flächendeckende, umfassende Subventionen für die daaras den Bildungsetat überschreiten würden. Nur eine unverbindliche Formulierung sah vor, dass daaras, die den Vorgaben entsprechen, von einer staatlichen Unterstützung profitieren »können«, also kein prinzipielles Anrecht darauf haben. Das Betteln hingegen wurde vorbehaltlos verboten (vgl. République du Sénégal 2014a, Kap. VI, Art. 16). Abgesehen von ihrer inhaltlichen Unzufriedenheit mit der geplanten Reform protestierten die Koranlehrer auch gegen ihre vermeintlich unzureichende Einbindung in den Ausarbeitungsprozess des Gesetzes. Insbesondere die Verantwortlichen der Koranlehrervereinigung Ligue des écoles coraniques kritisierten scharf, dass

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ihre Expertise als Hauptbetroffene nicht berücksichtigt worden sei (vgl. Abdourahman, Leral.net, 03.01.2015). Aber auch die PPDH, welche die staatliche Reglementierung der daaras prinzipiell begrüßte, bemängelte die staatliche Kommunikation des Gesetzesvorhabens und eine fehlende Rückkoppelung mit allen beteiligten Akteuren (vgl. PPDH, 06.01.2015, unveröffentlichtes Sitzungsprotokoll). Der Ansatz der Regierung, sich auf die Zustimmung der wichtigsten religiösen Vertreter zu einem weitgehend fertig ausgearbeiteten Gesetzesentwurf zu fokussieren, erwies sich letztlich als nicht ausreichend. Als sich der Khalifa Général der Mouriden von den Regierungsvertretern zunächst für das Gesetz gewinnen ließ und für dessen Erfolg betete, sich aber nur wenig später auf die Seite der Koranlehrer schlug (vgl. Sall, l’Observateur, 30.12.2014), kamen einmal mehr die ambivalenten Loyalitäten und Interessen der religiösen Führer zum Ausdruck. Aufgrund der massiven Proteste zunächst einzelner Koranlehrervereinigungen, vor allem aus Touba, denen sich dann die Fédération Nationale des Associations d’Ecoles Coraniques du Sénégal (FNAECS) anzuschließen gezwungen sah, konnte das Gesetz letztendlich nicht wie geplant im Januar 2015 von der Nationalversammlung verabschiedet werden (vgl. Hugon 2016: 518-519). Das Gesetzesvorhaben sollte damit jedoch keinesfalls auf Eis gelegt werden, sondern der FNAECS lediglich Zeit gegeben, die Koranlehrer des Landes für das Projekt zu sensibilisieren und deren Vorschläge einzubringen, erklärte Bildungsminister Serigne Mbaye Thiam im Mai 2015 (vgl. Hugon 2016: 562). Dieser Zustand des »Wartens« war über mehrere Jahre hinweg der Status quo und das Projekt erfuhr kaum noch politische oder mediale Aufmerksamkeit. Im Juni 2018 wurde schließlich ein neuer Gesetzesentwurf, in den die Koranlehrervereinigungen, die religiösen Familien und Imamverbände eingewilligt hatten, vom Ministerrat beschlossen, ist aber noch immer nicht von der Nationalversammlung verabschiedet.9 Somit ist die endgültige Gestalt des »Modernen« der daara moderne – sowohl formal als auch in der Praxis – nach wie vor ungewiss. Der gesellschaftliche Umgang mit dem Vorhaben, die daaras zu »modernisieren«, erwies sich jedoch während des untersuchten Zeitraums als exemplarisch dafür, dass »Modernität« weder eine neutrale analytische Kategorie noch eine substanzielle, europäisch definierte Realität darstellt, sondern vielmehr ein interpretatives Mittel (vgl. Deutsch et al. 2002: 14). Die verlockende Vagheit des Konzepts der daara moderne, die einerseits seine breite Befürwortung erklärt, erschwert andererseits seine gesetzliche Konkretisierung. Gerade wegen seiner intrinsischen Ambivalenz und des Zusammen-

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Der Stand bezieht sich auf das Jahr 2019, in dem der Text final überarbeitet wurde. Der aktuelle Gesetzesentwurf wurde nicht mehr in die Analyse einbezogen. Die Organisationen RADDHO, Anti-Slavery und Tostan z.B. kritisieren aber in einer gemeinsamen Erklärung anlässlich der Universal Periodic Review (UPR) des UN-Menschenrechtsrates 2018 am neuen Entwurf, dass ein Verbot des Bettelns nicht mehr explizit aufgenommen wurde (dies. 2018: 2).

8. Von »Menschenhandel« zu »Modernisierung«?

spiels von Kontrolle und Förderung aber kann der senegalesische Staat mithilfe des Konzepts der daara moderne den Balanceakt meistern, sowohl als fähiges und glaubwürdiges Mitglied der internationalen Gemeinschaft zu erscheinen als auch nationales Selbst- und Traditionsbewusstsein zu beweisen und die verschiedenen Interessensgruppen innerhalb des Landes zu beschwichtigen. »Modernisierung« muss also keineswegs bedeuten, die religiöse Sphäre zu schwächen, sondern kann auf ihre gesellschaftliche Stärkung einzahlen. Indem die begriffliche Mehrdeutigkeit ermöglicht, hinter einem vordergründigen gesellschaftlichen Konsens kontroverse Definitionen zu verschleiern, zeigt die diskursive Rolle der daara moderne Parallelen zu der des »falschen marabout« (s. Kapitel 4). So bemühten sich Regierungsvertreter schon früh, mit einer entsprechenden Rhetorik die für manche Ohren zu westliche oder radikale Konnotation einer »Modernisierung« der daaras zu relativieren. Cheikh Mbow, damals Verantwortlicher des Bildungsministeriums für die Modernisierung der daaras, betonte im Jahr 2013, »die daaras zu modernisieren« bedeute keineswegs »den Koran zu modernisieren« (vgl. Kwami, 15.11.2013). Vorsichtiger noch klangen die Worte des derzeitigen Bildungsministers Serigne Mbaye Thiam, der im Jahr 2015 versicherte, das Projekt habe »keineswegs die Absicht, den Koranunterricht zu modernisieren«, sondern wolle »vielmehr dessen materielle Bedingungen verbessern« (vgl. Dakaractu, 03.09.2015, meine Übersetzung). Unabhängig vom Ausgang der politischen Entwicklung ist das Projekt der staatlichen daara moderne bereits zur Arena par excellence für den Aushandlungskampf über das islamische Selbstverständnis der senegalesischen Gesellschaft (vgl. Loimeier 2001: 373-374) und über den historisch gewachsenen »Gesellschaftsvertrag« (Cruise O’Brien 1992: 9-10) zwischen staatlicher und religiöser Elite geworden.

Zusammenfassung Das Gesetz gegen »Menschenhandel und gleichgestellte Praktiken« aus dem Jahr 2005 versetzte Senegal in eine dilemmatische Situation. Eine von ihrem soziopolitischen Kontext losgelöste Kriminalisierung der mendicité der Talibé führte zu Konflikten mit der starken religiösen Lobby des Landes und widersprach der Wahrnehmung weiter Teile der Allgemeinbevölkerung. Dennoch zwang unter anderem der jährliche Trafficking in Persons Report der Vereinigten Staaten, von dem große Summen an Entwicklungsgeldern abhingen, Senegal dazu, kontinuierliche Fortschritte bei der Bekämpfung des Menschenhandels vorzuweisen. Die ausbleibenden Verurteilungen nach dem Gesetz 2005-06 wurden zwar in unterschiedliche diskursive Register eingebettet, zeugten letztlich aber davon, dass in Senegal – wie in vielen postkolonialen Gesellschaften – die staatliche Gesetzgebung nur Teil eines komplexen Souveränitätsgefüges ist, das auch von inoffiziellen sozialen Autoritäten und Normen geprägt wird (vgl. Comaroff & Comaroff 2006: 35). Die vielfältigen

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ineinandergreifenden sozialen Prozesse, von denen die Anwendung dieses Gesetzes abhängt, sind so nicht nur als Ausdruck einer schwachen Rechtsstaatlichkeit auslegbar, sondern demokratisieren auch einen legislativen Rahmen, der andernfalls dem Rechtsempfinden vieler Senegalesen entgegenstehen würde. Während eine gesetzliche Kriminalisierung der mendicité der Talibé als eine »dem Menschenhandel gleichgestellte Praktik« ein sozial desintegrativer Ansatz darstellt, zielt das Paradigma einer »Modernisierung« der daaras darauf ab, die Koranschulen in die Gesellschaft zu re-integrieren.10 Das Vorhaben erreicht als Idee einen hohen gesellschaftlichen Konsens, da das Konzept der daara moderne multiple Interpretationen zulässt und die meisten Senegalesen es begrüßen, der mendicité der Talibé über ein staatliches Engagement für die daaras ein Ende zu setzen. Während jedoch viele die fundamentalen Prinzipien einer daara durch eine exzessiv praktizierte mendicité verletzt sehen, halten manche konservativen Akteure vielmehr die Modalitäten der geplanten staatlichen »Modernisierung« mit jenen für nicht vereinbar. Ein Ende des Jahres 2014 vorgelegter Gesetzesentwurf, der nicht nur die gesellschaftliche und religiöse Autorität der marabouts zu schmälern, sondern auch grundlegend andere muslimische Subjekte aus den Koranschulen hervorzubringen versprach (vgl. Brenner 2001: 7), offenbarte das Spannungsfeld zwischen einer (Wieder-)Aufwertung der Religion und einer »Entzauberung der Welt« (Weber 1988 [1920], vgl. Loimeier 2002: 135), in welchem die »Modernisierung« der daaras verortet ist. Dieses Spannungsfeld wird gegenwärtig auch in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens in Senegal sichtbar. Während neue religiöse Ausdrucksformen omnipräsent sind (vgl. Loimeier 2013: 239) und reformistische Organisationen ebenso wie Sufi-Bruderschaften regen Zulauf haben (vgl. Loimeier 2013: 242), gelingt es gleichzeitig manchen säkularen Positionen, zum Beispiel der Kritik am Betteln der Talibé, verstärkt im öffentlichen Diskurs Fuß zu fassen. Formal drohte der erste Gesetzesentwurf zur Modernisierung der daaras die maîtres stärker einzuschränken als das bestehende Gesetz gegen Menschenhandel, indem er eine Vielzahl personeller und qualifikatorischer Nachweise von den Koranlehrern verlangte sowie kompromisslos jegliche Form des Bettelns der Talibé unterband. Es war so in erster Linie die Rahmung des Verbots der mendicité, die sich durch den staatlichen Paradigmenwandel von »Menschenhandel« zu »Modernisierung« zu ändern ankündigte. Zwar kann ein Gesetz zur »Modernisierung« der daaras leichter in einen nationalen Emanzipierungsdiskurs eingebettet werden, nimmt aber in direkterer Weise Bezug auf die Koranschulen als das Gesetz gegen

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Zwar können die informellen daaras in Anbetracht der Einbettung der mendicité der Talibé in eine »Almosenökonomie« auch gegenwärtig als integralen Teil der Gesellschaft betrachtet werden (vgl. Ndiaye 2015, Abs. 27), jedoch beziehe ich mich an dieser Stelle nicht auf eine solche implizite, sondern auf eine politische Integration der daaras.

8. Von »Menschenhandel« zu »Modernisierung«?

die »Ausbeutung des Bettelns Anderer«. Auch wenn seine Verabschiedung wiederum nicht zwingend mit einer tatsächlichen konsequenten Anwendung einhergeht, muss sich der legislative Text gerade durch die westliche Konnotation des Begriffs der »Modernisierung« besonders deutlich von jeglichen kolonialen Anleihen und einem zu restriktiven Tenor distanzieren, um Akzeptanz im religiös-konservativen Milieu zu finden. Der politische Kampf um die gesetzliche Regulierung der daaras reiht sich somit in die Dialektik von Desäkularisierungs- und Desakralisierungsprozessen ein, die das Verhältnis zwischen staatlicher und religiöser Sphäre verstärkt seit den 1990er Jahren prägen (vgl. Loimeier 2013: 248; s. Kapitel 2). Der lautstarke Protest der marabouts war im Jahr 2014 Ausdruck davon, dass sich der Staat zu weit in ihre Einflusssphäre hineingewagt hatte und ein bewährtes System des Interessensausgleichs unterschiedlicher politischer und religiöser Akteure ins Wanken geriet. Obwohl der »Gesellschaftsvertrag« (Cruise O’Brien 1992: 9-10) zwischen religiöser und staatlicher Elite in Senegal mittlerweile weniger explizit und selbstverständlich geworden ist, führten die Kontroversen um den Gesetzesentwurf vor Augen, dass er in Angelegenheiten, die nicht eindeutig einer staatlichen oder religiösen Machtbefugnis zuzuordnen sind und in denen beidseitige Interessen auf dem Spiel stehen, nicht an Wirksamkeit eingebüßt hat und sich als inkompatibel mit einem allzu formalen politischen Vorgehen erweist.

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9. Schluss

Kritiken am Betteln der Talibé reichen bis in die Kolonialzeit des 19. Jahrhunderts zurück und haben in neuerer Zeit insbesondere mit Erstarken des inter- und transnationalen Kinderrechtsdiskurses seit Anfang der 1990er Jahre an Bedeutung gewonnen. Dennoch gehören die bettelnden Talibé in Senegals Städten unverändert zum Straßenbild. Die anhaltenden gesellschaftlichen Kontroversen um dieses Phänomen lassen sich als ein Diskurs- und Praxisfeld (vgl. Schiffauer 1998: 420, 423; 2000: 320) begreifen, in dem unterschiedliche Akteure um Einfluss kämpfen. Meine Analyse hat gezeigt, auf welche Interpretations- und Handlungsmuster sie zurückgreifen, wie sie sich aufeinander beziehen und welche tiefer reichenden Aushandlungen sich hinter der gegenständlichen Ebene ihrer Differenzen verbergen. Die Reibungen entstehen wesentlich dadurch, dass die bettelnden Talibé in Senegal einerseits als Kinderrechtsproblem wahrgenommen werden, andererseits die Koranausbildung einen großen religiösen und soziokulturellen Stellenwert innehat. Gleichzeitig ist die Bedeutungsgebung von »Kinderrechten« und religiösen Geboten oder Normen selbst vielfältig und kontrovers. Da die Diskurse, die mit den bettelnden Talibé in Zusammenhang stehen, und die Maßnahmen, mit denen sie verbunden sind, in verschiedene Gesellschaftsbereiche und soziale Beziehungsverhältnisse eingreifen, spielen Übersetzungs- und Aushandlungsprozesse transnationaler und lokaler Deutungs- und Handlungsmuster eine zentrale Rolle (vgl. Merry 2006b: 39-40). Sie ermöglichen es, die Situation der Talibé in unterschiedlichen sozialen und politischen Konstellationen zu problematisieren und dabei konfligierenden Perspektiven, pragmatischen Zwängen, aber auch individuellen überschneidenden Interpretationslogiken gerecht zu werden. Insbesondere staatliche, zivilgesellschaftliche und religiöse Akteure stehen in einem Spannungsverhältnis. Wie in vielen postkolonialen Gesellschaften übt der Staat in Senegal keine alleinige Souveränität aus, sondern teilt sie sich mit mehreren überlappenden Souveränitäten, die sich sowohl zum Teil gegenseitig konstituieren als auch miteinander konkurrieren (vgl. Randeria 2006: 254; 2007: 27-28; Hansen & Stepputat 2006: 295; Comaroff & Comaroff 2006: 35). Religiöse Akteure, vor allem die führenden marabouts der Sufi-Bruderschaften, deren Wort für weite Teile der Bevölkerung großes Gewicht hat und die seit der Kolonialzeit mit dem

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Staat beidseitig profitable Arrangements eingehen, üben nach wie vor einen starken gesellschaftlichen und politischen Einfluss aus. Aber auch supra- und internationale Rechtsordnungen gewinnen an Bedeutung. Senegal hat zahlreiche Konventionen unterzeichnet, die im Kontext der bettelnden Talibé relevant sind und außenpolitische Verpflichtungen mit sich bringen. Gleichzeitig vernetzen sich senegalesische zivilgesellschaftliche Kinderrechtsakteure zunehmend mit transnationalen Partnern, wodurch sie ihre Ressourcen und ihre gesellschaftliche Macht ausweiten können. Obwohl sich jeweils charakteristische Sichtweisen und Interessen zivilgesellschaftlicher, staatlicher und religiöser Akteure erkennen lassen, stellen diese keine homogenen und klar abgrenzbaren Gruppen dar. Sie identifizieren sich situationsbedingt mit mehreren identitären Kategorien und interpretieren diese unterschiedlich, teilen sich jedoch ebenso manche Interessen und bilden volatile strategische Allianzen. Akteure, die scheinbar konträre Positionen einnehmen, sind oft zumindest temporär und partiell auf die eine oder andere Art miteinander verbunden. Durch variierende Zusammenschlüsse und wechselnde diskursive Register können alle an diesem Diskursfeld beteiligten Akteure ihre Teilhabe an verschiedenen, teils konkurrierenden Diskursen vereinbaren. Sie beweisen damit, dass sie keine »permanenten Feinde« oder »Freunde« haben, sondern nur »permanente Interessen« (vgl. Randeria 2007: 28). Das Kindheits- und Erziehungskonzept, auf dem die Koranschulausbildung in Westafrika basiert und das neben dem Erwerb von religiösem Wissen Werten wie Disziplin und Demut einen zentralen Stellenwert beimisst (z.B. Eickelman 1978: 495-496; Ware 2014: 6; Boyle 2006: 489-490; Last 2000: 376), wurde in den untersuchten Diskursen und Praxen auf unterschiedliche Weise mit den internationalen Kinderrechten in Bezug gesetzt, die auf westlich-säkular geprägten Vorstellungen von Kindheit und Bildung basieren. Damit gingen auch neue Deutungen tradierter sozialer (Macht-)Beziehungen einher. So nahmen vor allem eng mit trans- und internationalen Organisationen zusammenarbeitende Akteure eine Perspektive auf Kinder als individuelle Subjekte und Träger universeller »Rechte« ein, betrachteten sie aber gleichzeitig als besonders vulnerabel und frei von jeglicher ökonomischen Verantwortung. Sie sahen den Platz der Talibé in geschützten Räumen wie der »Familie« und der »Schule« anstatt auf der »Straße« und betonten deren »Recht« auf einen Lebensstandard, der ihren physischen und psychischen Bedürfnissen gerecht wird, aber auch die Bedeutsamkeit berufspraktischer, säkular-utilitaristischer Wissensformen. Das Betteln betteten sie nicht länger in eine religiöse Logik ein, sondern verurteilten es als »Ausbeutung« oder »schlimmste Form der Kinderarbeit« und befürchteten durch die »demütigende« Tätigkeit negative Auswirkungen auf das »Selbstbewusstsein« und die »psychosoziale Entwicklung« der Talibé. Insbesondere die Erziehungspraktik der confiage rückten viele der Kinderrechtsakteure implizit oder explizit in ein negatives Licht und propagierten stattdessen ein Aufwachsen in der biologischen Kleinfamilie. Den Eltern der Talibé un-

9. Schluss

terstellten sie entweder Unwissenheit und Unaufgeklärtheit über die Lebensbedingungen ihrer Kinder in den städtischen Koranschulen oder aber eine mit einer gesellschaftlichen »Wertekrise« in Verbindung stehende »Verantwortungsflucht«. Edukative und familiäre Praxen wurden politisiert, die Grenzen zwischen privater und politischer Sphäre neu ausgehandelt und ein modernisiertes Leitbild der senegalesischen Familie entworfen. Dabei interpretierten die Kinderrechtsakteure die zunehmende Ausrichtung an transnationalen Kindheits- und Familienkonzepten stets so, dass sie »senegalesischen« Werten und sozialen Normen nicht widersprachen. Auf diese Weise konnten sie ihre Forderungen in sinnstiftende Erklärungsmuster einbetten, ohne soziokulturelle Erziehungstraditionen prinzipiell in Zweifel zu ziehen. Direkt an die Talibé adressierte Hilfsprojekte zielten darauf ab, ihnen durch Spiel- und Erholungsaktivitäten oder säkularen Zusatzunterricht sowohl eine »Kindheit« als auch eine »Zukunft« zu ermöglichen. Die Tagesheime zum Beispiel, in denen die Talibé emotionale Zuwendung und eine Grundversorgung erhalten, brachten den Versuch zum Ausdruck, den Lebensalltag der Koranschüler zumindest temporär und partiell an ein transnationales Kindheitskonzept anzupassen und ihnen einen geschützten, von der »Straße« ebenso wie von der daara isolierten Raum zu bieten. Auch andere Formen materieller und medizinischer Unterstützung schienen zwar vordergründig wenig kontrovers, gaben aber eine Wahrnehmung der Talibé als »generische menschliche Wesen« (Malkki 2010: 64) und nicht als »Koranschüler« mit einer soziokulturell definierten Rolle zu erkennen. Bestimmte Kontrollmechanismen sollten dabei einem unerwünschten Profit der Koranlehrer entgegenwirken und zeugten von einer ablehnenden Einstellung ihnen gegenüber. Manche der analysierten Programme zugunsten der bettelnden Talibé kombinierten transnationale und lokale Deutungs- und Handlungsmuster, maßen letzteren jedoch ein größeres Gewicht bei und hatten weniger grundlegende Veränderungen zum Ziel. Die Rückführung einzelner Koranschulen in ihr jeweiliges Herkunftsdorf oder die Initiative, den Talibé Patinnen zu vermitteln, lässt sich zum Beispiel mit einer retraditionalisierenden Perspektive und mit modernen Kinderrechtsansprüchen in Einklang bringen. Die Mitglieder der Afrikanischen Kinderund Jugendarbeiterbewegung (MAEJT) beriefen sich in ihrem Engagement zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Talibé zwar auf deren »Kinderrechte«, legten diese aber auf »kulturell resonante« (Snow 2004: 401) Weise aus. Sie nahmen keine konfrontative Haltung gegenüber den Koranlehrern ein, die sie nicht dämonisieren, sondern durch konkrete Hilfsangebote in ihrer Mission unterstützen wollten. Auch problematisierten die EJT weniger das Betteln per se oder die harten Lebensbedingungen der Talibé, sondern hauptsächlich deren fehlende Zukunftsaussichten. Die Heime, in denen die geflohenen Talibé auf die Rückkehr in ihre Familien vorbereitet werden, stellten wiederum als soziale Knotenpunkte lokaler

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und transnationaler Milieus und durch ihren institutionellen Charakter Orte dar, an denen die Aushandlung und (Re-)Produktion verschiedener Kindheitskonzepte in besonders verdichteter Form stattfand. Wenngleich sich eine idealisierende Sicht auf »Familie« als verbindendes Element erwies, zeigte sich im Kontext dieser »Wiedereingliederungsprozesse«, dass der Begriff des »Kindeswohls« (UN 1989, Art.3.1) ganz unterschiedliche Bedeutungen für die beteiligten Akteure besitzen kann. In dem staatlichen Centre Ginddi, in dem ich eine mehrwöchige teilnehmende Beobachtung durchführte, bezogen sich die Mitarbeiter zwar explizit auf transnationale Kinderrechtsansätze, orientierten sich in ihrer Praxis jedoch vor allem an tradierten Erziehungspraktiken. Prinzipien wie die transnational zunehmend im Fokus stehende »Partizipation« von Kindern, also deren Mitspracherecht in allen sie betreffenden Belangen, passten sie an lokale Vorstellungen von sozialen Hierarchien an, und auch gegenüber den Koranlehrern der Kinder, vor denen diese geflohen waren, bevorzugten sie zumeist ein vermittelndes anstatt eines konfrontativen Auftretens. Die Inbezugsetzung der stark kriminalisierenden und assoziativ aufgeladenen Verbrechenskategorie des Menschenhandels mit den bettelnden Talibé machte besonders deutlich, in welcher großen Diskrepanz transnationale und lokale Sinngebungen stehen können, aber auch, dass unterschiedliche Akteure divergierende Deutungsmuster je nach Kommunikationskontext miteinander auszuhandeln und zu übersetzen wissen. Der Diskurs um Menschenhandel hatte nach der Annahme des sogenannten Palermo-Protokolls zur »Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels« (UN 2000) weltweit an Aufwind gewonnen und prägte schwerpunktmäßig in den Jahren zwischen 2010-2013 das Engagement gegen das Betteln der Talibé. Jedoch passten die in diesen Diskurs eingebundenen Akteure die Semantik des Begriffs des Menschenhandels an ihre eigene Wahrnehmung an und machten sich selektiv dessen politische und ökonomische Macht zunutze. Gegenüber manchen Zielgruppen, zum Beispiel den Eltern der Talibé, vermieden die Kinderrechtsakteure aus strategischen Gründen das Interpretationsmuster des Menschenhandels und ähnliche radikale und konfrontative Rhetoriken. In stärker transnational geprägten Umgebungen und in ihrer Kommunikation mit dem »Staat« konnten sie hingegen die Dringlichkeit und Legitimität der Bekämpfung des Bettelns mit dem dramatischen und gleichzeitig international rechtsgültigen Begriff des Menschenhandels untermauern. Auch lukrative Projektfinanzierungen verleiteten viele Organisationen dazu, ihre Aktivitäten als »Bekämpfung des Menschenhandels« zu rahmen, ohne unbedingt von dieser Deutungslogik überzeugt zu sein oder ihr ein besonderes Gewicht beizumessen. Darüber hinaus zeigte sich gerade im Kontext des Diskurses um Menschenhandel, wie unterschiedliche gesellschaftliche Akteure ambivalente und flexible Allianzen schließen und wandelnde Positionen einnehmen. Während Staat und Zivilgesellschaft gemeinsam im Rahmen der »Nationalen Ko-

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ordinierungsstelle zur Bekämpfung des Menschenhandels« (CNLTP) das Betteln der Talibé als Form des Menschenhandels bekämpften, warfen zivilgesellschaftliche Akteure dem Staat gleichzeitig seine Nicht-Anwendung des Gesetzes gegen Menschenhandel (loi 2005-06) und damit eine »Komplizenschaft« mit den ausbeuterischen Koranlehrern vor. Selbst manche Koranlehrer und marabouts wiederum nahmen als Repräsentanten des religiösen Milieus an Konferenzen und Workshops zur Thematik des Menschenhandels teil, vertraten dabei aber keine kriminalisierende Sicht auf das Betteln, sondern forderten unterstützende staatliche Maßnahmen, um dem Bedarf danach ein Ende zu setzen. Außerdem zeigte sich, dass zivilgesellschaftliche wie staatliche Akteure je nach Kommunikationskontext teils konfligierende Interpretationsmuster ihres diskursiven Repertoires gemäß ihren jeweiligen spezifischen Interessen und persönlichen Einstellungen variabel modifizierten, kombinierten und priorisierten, auch wenn sie bedingt durch ihre berufliche Rolle offizielle, inter- und transnational anerkannte Kinderrechtspolitiken vertraten. Sie verstanden sich nicht nur als »Kinderrechtsakteure«, sondern auch als senegalesische Muslime und waren durch komplexe soziale und biografische Verflechtungen von abweichenden, lokalen Sinngebungen und Loyalitäten beeinflusst. Meine Kontaktpersonen kritisierten alle oder nur übermäßige, monetäre Formen des Bettelns, stellten entweder universelle Kinderrechte, religiöse oder soziostrukturelle Erklärungsmuster in den Fokus und schrieben dem Staat, den Eltern, den Koranlehrern und anderen Personengruppen jeweils unterschiedliche Verantwortlichkeiten zu. Während manche das Betteln der Talibé vor allem aus dem Grund ablehnten, dass es sie von ihrem Koranstudium abhalte, sahen andere vielmehr deren »Kinderrecht« auf eine kostenfreie Ausbildung verletzt oder betrachteten das Betteln aufgrund veränderter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und neuer urbaner Gefahren als nicht länger »zeitgemäß«. Einig waren sich die senegalesischen Akteure darin, legitime »originäre« und gegenwärtige missbräuchliche Formen der Koranausbildung strikt voneinander abzugrenzen. Damit ließ sich eine scharfe Kritik am Betteln der Talibé rechtfertigen, ohne eine identitär bedeutsame Institution pauschal zu diffamieren. Gleichzeitig wurde deutlich, dass kein Konsens unter ihnen herrschte, wie solche »originären« Praktiken in den modernen urbanen Kontext übersetzt werden können. Es existieren somit kontroverse Auslegungen darüber, welche gesellschaftlichen Hintergründe und Konsequenzen mit dem Betteln der Talibé in Zusammenhang stehen. Das Betteln wird als »schädliche« oder »pervertierte« kulturelle Praktik, als politisch-strukturell begründet oder als individuelles Verbrechen dargestellt und entsprechend mit anderen sozialen Problematiken und politischen und ideologischen Agenden in Verbindung gebracht beziehungsweise von ihnen abgegrenzt. Damit geht einher, dass Schlüsselakteuren wie den Koranlehrern, dem Staat, den Eltern der Talibé und den Talibé selbst jeweils unterschiedliche Rollen

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zugeschrieben werden. Während zum Beispiel die Kinderrechtsakteure von PARRER die Landbevölkerung von einer confiage ihrer Kinder an einen Koranlehrer abzuhalten versuchten, da sie die familiäre Trennung und sozialräumliche Mobilität als Ausgangspunkt für das Betteln betrachteten, hielten die meisten Koranlehrer die fehlende staatliche Unterstützung der Koranschulen und damit die laizistische Bildungspolitik für dessen Ursache. Andere waren der Meinung, dass es sich bei den »ausbeuterischen« Koranlehrern nahezu ausschließlich um »Ausländer« aus der sourégion handele, um die Problematik aus senegalesischen Zusammenhängen herauszuhalten und stattdessen strengere Grenzkontrollen zu fordern. Und der Befürchtung, die Talibé glitten aufgrund ihrer fehlenden berufspraktischen Fähigkeiten fast unweigerlich in eine kriminelle Laufbahn ab, stand die Ansicht vieler Koranlehrer entgegen, dass gerade die Talibé ein besonders ausgeprägtes moralisches Fundament besäßen und sich durch die entbehrungsreiche Ausbildung später an jegliche Lebenslagen anpassen könnten. Es herrschte zwar weitgehend Einigkeit darüber, dass »Straßenkinder« in ihre Familien – und damit in die Gesellschaft – »wiedereingegliedert« werden müssten, ihre Verbindung zu den bettelnden Talibé wiederum wurde kontrovers interpretiert. Damit zeigt sich, dass hinter dem gesellschaftlich verbindenden Leitmotiv der »Bekämpfung des Bettelns« ganz unterschiedliche Perspektiven und Ziele stehen und die »Kinderrechte« der Talibé, der gesellschaftliche Stellenwert der Religion, aber auch die »Sicherheit« oder wirtschaftliche Entwicklung des Landes in den Fokus gerückt werden können. Während die Forderung nach einer Strafverfolgung der Koranlehrer oder der Versuch, die Eltern von einer confiage ihrer Kinder abzuhalten, repressive Ansätze gegenüber den Koranschulen darstellten, ging die Kritik am Betteln der Talibé ebenso mit dem Ruf nach einer umfassenden staatlichen Unterstützung der Koranschulen einher. Sozial angepasste Übersetzungen und mehrdeutige diskursive Kategorien wie die der »Modernisierung« der Koranschulen, der »Anwendung« der Gesetze oder »falscher« marabouts stifteten nur einen vordergründigen Konsens zwischen verschiedenen Bevölkerungsmilieus. Sie verschleierten divergierende Sichtweisen und schafften keine tatsächliche Grundlage für gesellschaftlich breit geteilte, konkrete politische Maßnahmen. Vor allem machtvolle Kategorien wie die »senegalesische Kultur«, die islamische Religion, staatliche »Pflichten« sowie Kindheits- und Familienkonzepte dienten Akteuren mit konfligierenden Ansichten als Referenzen, um eine möglichst große Legitimation zu erreichen. Dadurch wurden diese Konzepte selbst zur diskursiven Disposition gestellt. Die Akteure meines Feldes boten somit mit ihren jeweiligen Ansätzen nicht nur einen »Lösungsvorschlag« für eine bestimmte Notlage der Talibé, sondern versuchten weiter reichende gesellschaftliche Visionen durchzusetzen und ihre Einflussund Deutungsmacht in Bereichen zu vergrößern, in denen sie ansonsten wenig Autorität besaßen. So bedienten sich Kinderrechtsakteure mitunter islamischer Ar-

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gumentationsmuster, um die von ihnen eingeforderten »Kinderrechte« in konservativen Milieus sozial anschlussfähig zu machen. Sie wollten den Eltern der Talibé vermitteln, dass der Islam weder das Betteln noch eine missbräuchliche Behandlung von Kindern gutheiße und nicht verlange, den Koran weitab entfernt vom Herkunftsdorf zu erlernen. Ebenso wandten sie sich gegen eine spontane, monetäre Form der Almosengabe und plädierten dafür, diese religiöse Praktik neu zu organisieren, um unlauteren Absichten der Koranlehrer entgegenzuwirken. Damit einhergehend redefinierten sie die Bedeutung einer »guten« Kindheit, aber auch die legitime Auslegung und Ausübung des Islam. Mit ihrem Ruf nach einer rigorosen Anwendung des Gesetzes gegen Menschenhandel (loi 2005-06), der Einhaltung der UN-Kinderrechtskonvention (1989) und nach einer staatlichen Reglementierung der Koranschulen wiederum forderten sie zugleich spezifische »Rechte« der Talibé und die Deutungshoheit über den »modernen« Staat ein. Als dessen Kennzeichen betrachteten sie Rechtsstaatlichkeit, Transparenz und umfassende, konstitutionell festgelegte Pflichten gegenüber seinen Bürgern, nicht jedoch die politische Einflussnahme religiöser Autoritäten. Paradoxerweise schwächten sie durch ihren Bezug auf supra- und transnationale Souveränitäten und ihre eigene politische Einmischung den Staat gleichzeitig, dessen Handlungsfähigkeit sie eigentlich stärken wollten (vgl. Randeria 2006: 254; 2007: 27-28). Der Staat selbst versucht vor allem durch sein Projekt der Modernisierung der Koranschulen, konfligierende Interessen miteinander zu vereinbaren. Ihm geht es um die Definitionsmacht über ein einheitliches nationales Modell eines Bürgers und die Kontrolle über Bereiche, die bislang unter religiöser Autorität stehen, aber auch um die Erfüllung internationaler Verpflichtungen. Die staatliche Modernisierung der Koranschulen ist in ein Spannungsfeld zwischen Förderung und Restriktion eingebettet. Dies ermöglicht dem Staat, mit dem Dilemma umzugehen, dass er insbesondere aus außenpolitischen Interessen das Betteln der Talibé nachweislich bekämpfen und eine möglichst hohe Einschulungsrate vorweisen muss, sich zu repressive Ansätze jedoch nicht mit der innenpolitischen Macht der religiösen Lobby vereinbaren lassen. Indem das Projekt staatliche Investitionen in die Koranschulen verspricht, erreicht es vordergründig einen hohen gesellschaftlichen Konsens. Tatsächlich befürworteten selbst viele Koranlehrer meines Feldes eine staatliche Modernisierung der Koranschulen, erhofften sich aber zumeist eine finanzielle und infrastrukturelle Besserstellung ohne eine weiter reichende staatliche Einmischung. Dadurch erwarteten sie eine gesellschaftliche Aufwertung der Koranausbildung und eine Erweiterung ihres eigenen Einflusses. Das 2014 im Rahmen eines Gesetzesentwurfes vorgeschlagene Modell der daara moderne nahm in den Augen der meisten religiöskonservativen Akteure zu große Anleihen an westlich-säkularen Bildungskonzepten und verfolgte einen zu restriktiven Ansatz gegenüber dem Koranschulwesen. Das veröffentlichte Lehrkurrikulum erinnerte tatsächlich stark an die durch die is-

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lamische Reformbewegung gegründeten écoles franco-arabes. Es räumte säkularen und religiösen Inhalten einen gleichberechtigten Stellenwert ein und machte die Befugnis zur Koranlehre nicht länger von der Reputation eines marabouts, seiner baraka – seiner göttlichen Segenskraft – und seinen Verbindungen zu namhaften religiösen Gelehrten, sondern von formalen Bildungsqualifikationen abhängig. Der Koran drohte seine Bedeutung als alleinige Quelle des Wissens einzubüßen und stattdessen im Rahmen eines rationalisierten und bürokratisierten Ausbildungsprogramms zu einem von vielen Lehrinhalten zu werden. Die Leitprinzipien der Transparenz und Standardisierung versprachen zudem einen zunehmend individuellen und autonomen Zugang zu den heiligen Texten zu eröffnen. Die klassische Koranausbildung, die auf der Vermittlung eines ausschließlich religiösen Wissens, der mnemonischen Beherrschung des Korans und einer komplementären persönlichen Beziehung zwischen maître und Talibé basiert, wäre durch diese neuen Maßgaben zumindest de jure grundlegend redefiniert worden. Die Modernisierung des Koranschulwesens, wie zunächst geplant, brachte zum Ausdruck, dass der Staat zunehmend bereit ist, den Koranlehrern und marabouts ihre Rolle als unabdingbare Vermittler des religiösen Wissens streitig zu machen und ein islamisches Bildungswesen zu etablieren, das andere muslimische Subjekte und ein anderes Selbstverständnis der islamischen Gesellschaft hervorbringt (vgl. Loimeier 2001: 373-374; Brenner 2001: 7). Wenn also das Betteln der Talibé für manche Koranlehrer durchaus ein ökonomisch lukratives Unternehmen darstellen mag, ist seine Verteidigung auch Ausdruck eines Machtkampfes um die Deutungshoheit über das islamische Bildungswesen und eines Konservatismus gegenüber einem tradierten Konzept von Religion und Sozialisation, auf dem ihr gesellschaftlicher Einfluss basiert. Als die Regierung 2015 von ihrem Gesetzesentwurf zur Modernisierung der daaras aufgrund der Proteste der Koranlehrer und deren Rückhalt von führenden marabouts abrückte, wurde deutlich, dass der »Gesellschaftsvertrag« (Cruise O’Brien 1992: 9-10) zwischen religiöser und staatlicher Elite noch nicht an Gültigkeit verloren hat. Das Betteln der Talibé materalisiert somit nicht nur ein akutes substanzielles Bedürfnis der Kinder, sondern ein ganzes Gefüge von Vorstellungen über soziale Beziehungen, Subjektpositionen und Werte, Senegals historisch entwickeltes komplementäres Verhältnis zwischen staatlicher und religiöser Sphäre und die wachsende Kluft zwischen den urbanen und ländlichen Gegenden des Landes. Die Talibé stehen für ein konservatives, religiös gestütztes Kindheits- und Erziehungskonzept, das die religiöse Pflicht, den Koran zu erlernen und die Souveränität der marabouts höher gewichtet als staatliche Gesetze und Bildungsziele. Ebenso verkörpern sie Senegals kolonial begründete laizistische Politik, die den marabouts das Monopol über das Koranschulwesen überlässt und dieses trotz der gesellschaftlichen Nachfrage nach religiösen Ausbildungswegen nicht vom staatlichen Bildungsetat profitieren lässt.

9. Schluss

Die nicht abnehmende Zahl der Talibé zeugt aber auch von der Macht etablierter sozialer und politischer Praxis. Für viele Senegalesen ist die Almosengabe, von der sie sich oft eine heilbringende Wirkung erhoffen, fester Bestandteil ihres Alltags. Der bis in die Kolonialzeit zurückreichende »Gesellschaftsvertrag« (Cruise O’Brien 1992: 9-10) zwischen staatlicher und religiöser Elite ermöglicht, dass die Talibé in erkennbar schlechtem Gesundheitszustand bis heute trotz des offensichtlichen Gesetzesbruchs ungehindert auf Senegals Straßen betteln. Vor dem Hintergrund dieser komplexen gesellschaftlichen Einbettung wird deutlich, dass transnationale Akteure, die das Betteln allein als »Kinderrechtsverletzung« kritisieren, wesentliche Dimensionen der Problematik außer Acht lassen. Sie vernachlässigen nicht nur, dass Prinzipien wie das »Kindeswohl« unterschiedlich definiert werden können (z.B. Einarsdóttir & Boiro 2016: 9-11), sondern lösen das Phänomen auch aus seinen vielschichtigen Zusammenhängen und beziehen die Perspektiven und Interessen vieler Beteiligten nicht mit ein. Die bettelnden Kinder auf Senegals Straßen stellen also nur auf den ersten Blick ein bloßes Armutsproblem eines Entwicklungslandes dar. Eine umfassende Kontextualisierung bringt ans Licht, dass weitreichende politische, religiöse und soziokulturelle Prozesse an die Praktik geknüpft sind. Neben den Lebensbedingungen der Talibé steht ein ganzes Menschen-, Gesellschafts- und Weltbild zur Disposition. Es wird ausgehandelt, welche Formen von Sozialisation gesellschaftlich legitimiert werden, welchen Stellenwert säkulare und religiöse Wissensformen einnehmen und welche Bereiche staatlicher, religiöser oder internationaler Souveränität unterstehen sollen. Die Art des Umgangs mit den bettelnden Talibé spiegelt daher stets das Machtverhältnis der in Senegal wirksamen Souveränitäten zu einem gewissen Zeitpunkt wider, ist aber auch Ausdruck wandelnder politischer Schwerpunkte und der paradigmatischen Entwicklungen des inter- und transnationalen Kinderrechtsdiskurses. Diese thematischen Einbettungen, an die jeweils komplementäre Maßnahmen gekoppelt sind, verändern sich wechselseitig mit den konkurrierenden Diskursen, die mit ihnen einhergehen. Dass die Problematik der bettelnden Talibé somit keine fixe Gestalt hat und zeit- und milieugebundene Interpretationen erfährt, trägt mit dazu bei, dass sich deren »Bekämpfung« als derart kontrovers und komplex erweist. Die bettelnden Talibé in Senegal führen besonders deutlich vor Augen, wie einem bestimmten Ausschnitt der sozialen Realität aus unterschiedlichen politischen und ideologischen Perspektiven auf ganz verschiedene Weise Sinn verliehen werden kann. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass es zu kurz greift, die Verteidigung des Bettelns der Talibé allein als ökonomische Berechnung skrupelloser »Menschenhändler« zu verurteilen.1 Die Praktik

1

Diese Interpretation ist inspiriert durch eine Analyse Roman Loimeiers (2000b: 106-107, 117118) zu religiösen Kontroversen um Fußball in Nigeria, in der er herausarbeitet, dass sich

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lässt sich nicht mit unilateralen und eindimensionalen Ansätzen bekämpfen, sondern nur beenden, indem alle mit ihr verbundenen Interessenskonflikte aufgedeckt und möglichst umfangreich berücksichtigt werden.

hinter der – vordergründig absurd scheinenden – Ablehnung des Fußballspiels durch SufiGelehrte ein tiefer gehender Kampf um politischen und kulturellen Einfluss verbirgt.

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10. Literatur

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10. Literatur

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11. Empirische Quellen

Die nachfolgende Liste enthält alle Akteure und Veranstaltungen, auf die im Text explizit Bezug genommen wird. Nicht berücksichtigt sind teilnehmende Beobachtungen, Interviews und informelle Gespräche mit denselben und anderen Personen, die als Hintergrundwissen in die Analyse mit eingeflossen sind.

Informanten Ordnungsprinzip: Name, Vorname – Tätigkeit, Institution – Ort, Datum (alle Angaben soweit bekannt) Amar, Bouya – Präfekt du Département de Kolda – Kolda, 14.05.2013 (Interview) Ba, n. n. – Angestellter, DAS Kolda – Kolda, 14.05.2013 (Interview) Balde, n. n. – Koranlehrer – Kolda, 11.05.2013 (Interview) Bamba, Amadou – Praktikant, Centre Ginddi – Dakar, 26.08.2013 (Gespräch) Basse, Mamadou – Leiter, Inspection des Daaras – Dakar, 10.04.2013 (Interview) Bousso, Abdou Lahad – Koranlehrer Daara Mboussobe – Touba, 24.06.2013 (Gespräch) Carvalho, Augustin – Leiter Sektion »Réinsertion«, Solidarité pour les Enfants de la Rue (SPER) – Dakar, 14.05.2012 (Interview) Cissé, Awa – Juristin, Association des Juristes Senegalaises – Dakar, 06.06.2013 (Interview) Cissé, Momar Djim – PPDH/ehem. Schulinspektor/Vorsitzender Fédération Nationale des Associations de Parents d’Eléves du Sénégal – Dakar, 26.07.2013 (Interview) Cissé Ndiaye, Idrissa – Vorsitzender, Bildungskommission Touba – Touba, 24.06.2013 (Gespräch) Coly, Moussa – Sozialarbeiter, Solidarité pour les Enfants de la Rue (SPER) – Dakar, 25.08.2012, 25.04.2013, 08.08.2013, 18.09.2013; Keur Moussa, 04.07.2012 (Gespräche, teilnehmende Beobachtung) Daffe, Lamine – Projektkoordinator »Menschenhandel«, IOM – Dakar, 06.04.2012 (Interview)

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Kinderhandel oder Koranerziehung?

Dia, Ibrahima – Programmkoordinator Millennium Challenge Account (MCA) Senegal – Dakar, 03.10.2012 (Konferenzbeitrag) Dia, Mansour – Soziologe – Dakar, 11.04.2013 (Interview) Diagne, Elimane – Koranlehrer/Koordinator Collectif pour la modernisation des Daara (COMOD)/Association des Daaras du Département de Pikine/CAINT – Pikine,11.07.2012 (Interview) Diagne, Malick – ehem. Tostan, CAINT/Mitbegründer PPDH – Dakar, 06.12.2011 (Interview) Diallo, Cheikh – Programmkoordinator, Jeunesse Culture Loisirs Technique Interventions Sociales (JCLTIS) – Grand Mbao, 13.09.2012 (Interview) Diallo, Gorgui – Action pour l’Enfance/PPDH/Direction générale de l’Action sociale (DGAS) – Pikine, 21.04.2012 (Gespräch) Diallo, Ndiaye Fatou Sarr – Programmkoordinatorin, Cellule d’appui à la Protection d’Enfance (CAPE) – Dakar, 06.09.2012 (Interview) Diallo, Sarata – Direktorin, Centre Ginddi – Dakar, 20.09.2013 (Gespräch) Diao, n. n. – Koranlehrer/Sprecher Avenir des Enfants (ADE) Ziguinchor – Ziguinchor, 05.05.2013 (Interview) Diatta, Umar – Koordinator, AEMO Kolda – Kolda, 13.05.2013 (Interview) Diaw, Bamba – Direktor, PARRER – Dakar, 29.03.2012 (Interview), 19.06.2013 (Konferenzbeitrag) Diaxate, Ibrahima – stellv. Leiter, Brigade des mineurs (Jugendpolizei) – Dakar, 30.05.2013 (Interview) Diedhiou, Seyni – Sozialarbeiter, Centre Futur au Present (ehem. Enda Jeunesse Action) – Ziguinchor, 04.05.2013; Dakar, 19.06.2012 (Gespräche) Dieme, Atabou – Sozialarbeiter, Centre Nazareth – Dakar, 25.04.2013 (Gespräch, Gruppendiskussion mit »Straßenkindern«) Dione, Mor – Koordinator/stellv. Leiter, Avenir des Enfants – Rufisque, 09.04.2012 (Interview) Diena, Mamadou – Direktor, AEMO Pikine – Pikine, 03.06.2013 (Interview) Diop, Khady – Mitglied, MAEJT – Guédiawaye, 20.04.2013, 01.06.2013 (Gespräche) Diop, Khudia – Nationale Vorsitzende, MAEJT – Guédiawaye, 05.04.2012 (Gespräch) Diop, Pape Sidy – Direktor, AEMO Guediawaye – 14.05.2012 (Interview) Diouf, Astou – jusristische Beraterin, Familienministerium – Dakar, 07.10.2013 (Interview) Diouf, Cheikh Madiké, stellv. Bürgermeister Pikine-Nord – Pikine, 14.07.2012 (Gespräch) Diouf, Ibrahima – Berater, Save the Children Sweden – Dakar, 30.03.2012 (Interview) Diouf, Mame Gor – Jurist, Jusizministerium, Bereich Menschenrechte – Dakar, 28.05.2013 (Interview)

11. Empirische Quellen

Dramé, Bafodé – Sozialarbeiter, Village Pilote – Pikine, 30.05.2012 (Gespräch) Dramé, Moussa – Direktor, AEMO Ziguinchor – Ziguinchor, 06.05.2013 (Interview) Fall, Djibril – Programmkoordinator, Terres des Hommes – Dakar, 16.05.2012 (Interview) Fode, n. n. – Koranlehrer – Kolda, 10.05.2013 (Interview) Ndiaye, Gamou – Sozialarbeiter, Centre Ginddi – Dakar, 26.08.2013, 29.08.2013, 19.09.2013 (Gespräche, teilnehmende Beobachtung) Gaye, Kebe – Koranlehrer/Vorsitzender Association des Maîtres Coraniques de Pikine – Pikine, 05.09.2012 (Interview) Gaye, Mansour – Ausbilder Kinderrechte, Direction de la Protection de la Petite Enfance (DDPE) – Dakar, 31.07.2013 (Interview) Gbedemah, Enyo – Programmmanager, Save the Children Sweden – Dakar, 24.07.2012 (Interview) Geschang, Mathieu – Projektkoordinator, Sentinelles Senegal – Mbour, 23.08.2013 (Gespräche, teilnehmende Beobachtung) Gomis, Antoine – Sozialarbeiter, SamuSocial – Dakar, 01.06.2012 (Interview) Grimaud, Marion – Leiterin Kooperationen/Praktika, Village Pilote – Dakar, 26.04.2012 (Interview) Gueye, Diasse – Beauftragter Mobilisation/Soziales, Association des jeunes leaders – Pikine, 01.09.2012 (Gespräch) Fall, Mansour – Koranlehrer – Pikine, 08.05.2012, 01.09.2012 (Interviews) Hueges, Danielle – Mitgründerin, La maison rose – Guédiawaye, 11.04.2012 (Interview) Isseu Mbacké, Sokhna Mame – Gründerin, Association Isseu Mbacké Ahlou Café – Touba, 25.06.2013 (Gespräch) Ka, Moustapha – Jurist/Generalstaatsanwalt der Außerordentlichen Afrikanischen Kammern – Dakar, 05.06.2013 (Interview) Kassoka, Yves Olivier – Kinderschutzbeautragter, UNICEF – Dakar, 19.06.2013 (Konferenzbeitrag) Kebe, Aly – Koranlehrer – Pikine-Djeumbeul, 23.10.2012 (Interview) Kébé, Florie – Projektkoordinatorin, Sentinelles – Dakar, 12.09.2012 (Interview) Kebe, Mamoudou – Sozialarbeiter, Centre Ginddi – Dakar, 12.10.2012 (Interview) Kouyate, Issa – Direktor, Maison de la Gare – St. Louis, 02.-05.08.2012 (Gespräche, teilnehmende Beobachtung) Laison, Justine – Programmmitarbeiterin, Coalition Nationale des Associations et ONG en faveur de l’Enfant (CONAFE) – Dakar, 30.04.2012 (Interview) Lo, Ibrahima – Vorstand, Cadre d’Appui à l’Initiative Nationale en faveur des Talibés (CAINT) – Pikine, 25.05.2012 (Interview) Ly, Mamadou – Direktor, Action Solidarité Islamique (ASI) – Dakar, 25.08.2012 (Interview)

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Kinderhandel oder Koranerziehung?

Marceau, Beatrice – Projektleiterin, Perspective Sénégal – Keur Massar, 13.12.2011 (Gespräch, teilnehmende Beobachtung) Mbaye, Khady – Vorsitzende, Association des marraines de Daaras de Thiès (»And Defar Cees«) – Thies, 30.08.2012 (Interview) Mbaye, Mor – Direktor, Centre de Guidance Infantile et Familiale de Dakar (CEGID) – Dakar, 04.04.2012 (Interview) Mbaye, Rougi – Sozialarbeiterin, Centre Ginddi – Dakar, 10.09.2013 (Gespräche, teilnehmende Beobachtung) Mbodj, Alioune – Bereichsleiter, École Nationale des Travailleurs Sociaux Spécialisés (ETSS) – Dakar, 21.08.2013 (Interview) Mbodji, n. n. – Leiterin, ALIM école franco-arabe – Guédiawaye, 24.04.2013 (Interview) Mbow, Anta – Leiterin, Empire des Enfants – Dakar, 23.07.2013 (Interview) Mendy, Ernest Clément – Programmkoordinator, African Network for the Prevention and Protection against Child Abuse and Neglect (ANPPCAN) – Dakar, 23.04.2012 (Interview) n. n. – Koranlehrer, Daara »K8« – Kaolack, 22.08.2013 (Interview) n. n. – Koranlehrer, Daara Dakar-Medina – Dakar, 23.07.2013 (Gespräch) n. n. – Koranlehrer, Daara Guiro Yoro Alpha – Kolda, 09.05.2013 (Gespräch) n. n. – Koranlehrer, Daara Grand Mbao – Grand Mbao, 27.09.2012 (Interview) n. n., Brama – Sozialarbeiter, Village Pilote – Pikine, 30.05.2012 (Gespräch) n. n., Ibrahima – Sozialarbeiter, Sentinelles – Kaolack, 22.08.2013 (Gespräche, teilnehmende Beobachtung) n. n., Pierre – Sozialarbeiter, Centre Ginddi – Dakar, 29.08.2013, 06.09.2013 (Gespräche, teilnehmende Beobachtung) n. n., Seynabou – Sekretärin, Direction du Développement Communautaire (DDC) – Dakar, 02.08.2013 (Gespräch) Ndiaye, Birame – Programmkoordinator, Enda Jeunesse Action – Guédiawaye, 05.04.2012, 01.08.2012 (Interviews) Ndiaye, Mamadou – Direktor, Intermondes – Guédiawaye, 27.04.2012 (Interview) Ndiayedaara (Ndiaye, Mamadou) – Steuergruppe PPDH/Vorsitzender Suer pour Servir – Pikine, 18.04.2012, 19.04.2012, 08.05.2012, 15.06.2012, 24.06.2013, 05.07.2013, 19.09.2013 (Gespräche, Konferenzbeiträge) Ndiaye, n. n./Wele, n. n./Thiam, n. n./Geye, n. n. – Mitarbeiter, Direction de la Protection de la Petite Enfance (DPPE) – Dakar, 12.06.2013 (Gruppendiskussion) Ndour, Awa – Ständiges Sekretariat, CNLTP – Dakar, 24.05.2012 (Interview) Niasse, Mohamed – Koranlehrer – Pikine, 25.06.2012, 08.09.2012 (Interviews) Numer, Emilia – Programmkoordinatorin, Plan – Dakar, 04.05.2012 (Interview) Sagna, Mbaye Thierno – Psychotherapeut, Centre Keur Xaléyi, Guédiawaye – Dakar, 19.06.2013 (Konferenzbeitrag)

11. Empirische Quellen

Sambo, Moussa Harouna – Koordinator MAEJT, Enda Jeunesse Action – Dakar, 23.04.2012 (Interview) Savne, Bemba – Koranlehrer – Kolda, 12.05.2013 (Interview) Seck, Adama – Imam/Koranlehrer/Generalsekretär FNAECS – Dakar, 11.10.2012 (Interview) Seck, Ibrahima – Historiker, West African Research Center (WARC)/Université Cheikh Anta Diop (UCAD) Dakar – Dakar, 07.08.2012 (Interview) Seck, Lamine – Koranlehrer – Guédiawaye, 23.04.2013 (Interview) Silla, Adama – ehem. Talibé – Kolda, 12.05.2013 (Interview) Soeur Jeline – Koordinatorin, Centre Nazareth – Koeur Moussa, 04.07.2012; Dakar, 18.07.2012 (Gespräche) Soko, Ousmane – Sozialarbeiter, Empire des Enfants – Dakar, 25.04.2012 (Interview) Sow, Fodé – Programmkoordinator, Intermondes – Guédiawaye, 16.07.2012 (Interview) Sow, Malick – Präsident, CNLTP – Dakar, 10.05.2012 (Interview) Tall, Amadou – Staatsanwalt/juristischer Berater MCA – Dakar, 17.04.2013 (Interview) Theiss, Joachim – Projektkoordinator, Regionalbüro UNICEF – Dakar, 09.10.2012 (Interview) Thioub, Ibrahima – Professor für Geschichtswissenschaften, Université Cheikh Anta Diop (UCAD) – Dakar, 17.08.2012 (Interview) Thioye, Mame Couna – Programmkoordinatorin, Coalition Nationale des Associations et ONG en faveur de l’Enfant (CONAFE) – Dakar, 18.09.2012 (Konferenzbeitrag) Touré, Cheikhou – Programmleiter Bildung, Enda Graf – Dakar, 30.04.2013 (Interview) Wane, Mamadou – Sprecher PPDH/Vorstand PARRER – Dakar, 19.04.2012, 23.08.2012, 18./19.09.2012, 26.09.2012, 10.10. 2012, 23.10.2012 (Konferenz-/Sitzungsbeiträge)

Veranstaltungen African Child Policy Forum, Terre des Hommes, Plan International, REPSSI, RIATT-ESA, Save the Children, World Vision International, UNICEF. Conference on Child Protection Systems Strengthening in Sub-Saharan Africa: Promising Practices Lessons Learned and the Way Forward. 07.-09. Mai 2012, Dakar. CNLTP. Workshop zur Sensibilisierung des Privatsektors für Menschenhandel. 03. Oktober 2012, Dakar.

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Kinderhandel oder Koranerziehung?

CNLTP. Sitzung zu den Vorschlägen der Koranlehrervereinigungen zur Bekämpfung des Bettelns. 23. Oktober 2012, Dakar. CNLTP. Sitzung zur Verabschiedung des Aktionsplans und Ausarbeitung des Kommunikationsplans zur Bekämpfuung des Menschenhandels. 10. Mai 2012, Dakar. DDPEGV. Sitzung zur Vorbereitung der Veranstaltung anlässlich der »Woche des afrikanischen Kindes«. 31. Mai 2013, Dakar. DDPEVG. Panel zum Thema »Schädliche soziale und kulturelle Praktiken gegenüber Kindern abschaffen: Unsere gemeinsame Verantwortung«. 19. Juni 2013, Dakar. Département de Guédiawaye. Sitzung des Technischen Komitees zur Verfolgung des Kinderschutzes. 27. August 2012, Guédiawaye. OIM. Nationaler Workshop zur Fortbildung über Migration und Entwicklung. 29.-31 Mai 2012, Dakar. PARRER. Workshop zur Ausarbeitung der Kommunikationsstrategie zur Verhaltensänderung. 18./19. April 2012, Dakar. PARRER. Workshop zum Austausch über die Ergebnisse der NGOs in den Regionen Thiès, Kaolack, Ziguinchor und Kolda. 18./19. September 2012, Dakar. PPDH. Sitzung der Steuergruppe. 23. August 2012, Dakar. PPDH. Sitzung zur Vorbereitung der Pressekonferenz »Anklage gegen den senegalesischen Staat«. 10. Oktober 2012, Dakar. PPDH/UNODC. Workshop zur Ausarbeitung des Aktionsplans der PPDH zur Ausrottung des Bettelns der Kinder in Senegal. 05./06. Juli 2013, Thiès. UNODC/BIT. Workshop zur Stärkung der Kapazitäten der Mitglieder der CNLTP. 08.-10. August 2012, Dakar.

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