Karrieren der Gewalt: nationalsozialistische Täterbiographien [3 ed.] 3534262824, 9783534262823

Wer waren die Täter des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges? Waren sie Bestien oder Befehlsempfänger, desinteres

114 90 9MB

German Pages 282 [291] Year 2013

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Front Cover
Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Editorial
Sozialisation, Milieu und Gewalt. Fortschritte und Probleme der neueren Täterforschung
Gustav Freiherr von Mauchenheim, genannt Bechtolsheim – ein Wehrmachtsgeneral als Organisator des Holocaust
Heinrich Bergmann – eine deutsche Kriminalistenkarriere
Adolf von Bomhard – ‚Generalstabschef‘ der Ordnungspolizei
Dr. Oskar Dirlewanger – Protagonist der Terrorkriegsführung
Erich Ehrlinger – ein Vertreter „kämpfender Verwaltung“
Hans Gaier – ein Polizeihauptmann im Generalgouvernement
Curt von Gottberg – Siedlungsfunktionär und Massenmörder
Heinrich Hamann – Leiter des Grenzpolizeikommissariats Neu-Sandez
Georg Heuser – Routinier des sicherheitspolizeilichen Osteinsatzes
Ilse Koch – ‚normale‘ SS-Ehefrau oder ‚Kommandeuse von
Buchenwald‘?
Hans Krüger – der „König von Stanislau“
Gustav Lombard – ein engagierter Judenmörder aus der Waffen-SS
Georg Michalsen – Handlungsreisender der „Endlösung“
Walter Nord – Polizeisoldat und Weltanschauungskrieger
Rudolf Pallmann – Führer der Feldgendarmerieabteilung 683
Walter Reder – ein politischer Soldat im „Bandenkampf“
Heinz Seetzen – Chef des Sonderkommandos 10a
Gertrud Slottke – Angestellte im niederländischen Judenreferat der Sicherheitspolizei
Ernst Szymanowski alias Biberstein – ein Theologe auf Abwegen
Willi Tessmann – Kommandant des Polizeigefängnisses Hamburg- Fuhlsbüttel
Christian Wirth – der Inspekteur der Vernichtungslager
Paul Zapp – Vordenker und Vollstrecker der Judenvernichtung
Egon Zill – ein typischer Vertreter der Konzentrationslager-SS
Abkürzungsverzeichnis
Die Autoren
Back Cover
Recommend Papers

Karrieren der Gewalt: nationalsozialistische Täterbiographien [3 ed.]
 3534262824, 9783534262823

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart, Bd. 2 Herausgegeben von Klaus-Michael Mallmann

Klaus-Michael Mallmann / Gerhard Paul (Hrsg.)

Karrieren der Gewalt Nationalsozialistische Täterbiographien

3. Auflage

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; fi detaillierte bibliografische fi Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfi fi lmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. 3., unveränderte Aufl flage 2013 (unveränderter Nachdruck der durchgesehenen Sonderausgabe 2011) © 2011 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt 1. Aufl flage 2004 Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Covergestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Coverabbildung: Heinrich Himmler verlässt am 15. August 1941 um 15:00 Uhr das ehemalige Leninhaus in Minsk – jetzt Sitz des Höheren SS- und Polizeiführers Russland-Mitte –, um das örtliche Ghetto zu inspizieren. Rechts neben ihm Regierungsrat und SS-Sturmbannführer Dr. Otto Bradfi fi sch, dessen Einsatzkommando 8 vormittags eine Demonstrationsexekution für den Reichsführer-SS durchgeführt hatte. Der salutierende Uniformierte ist Angehöriger des Polizeibatallions 322. Bisher unveröffentlicht. Staatsarchiv Freiburg / Br., F 176 / 13, 1420, Pack 159, Bild 17. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-26282-3 Die Buchhandelsausgabe erscheint beim Primus Verlag. Covergestaltung: Christian Hahn, Frankfurt a. M. Coverabbildung: Adolf Hitler bei einer Parade der Wehrmacht, Nürnberg 15. 9. 1936, © akg-images www.primusverlag.de

ISBN 978-3-86312-364-2 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-86312-602-5 (Buchhandel) eBook (epub): 978-3-8613-603-2 (Buchhandel)

Inhaltsverzeichnis Editorial.....................................................................................................

IX

GERHARD PAUL/KLAUS-MICHAEL MALLMANN: Sozialisation, Milieu und Gewalt. Fortschritte und Probleme der neueren Täterforschung............................

1

HANNES HEER: Gustav Freiherr von Mauchenheim, genannt Bechtolsheim – ein Wehrmachtsgeneral als Organisator des Holocaust...........................................

33

RUTH BETTINA BIRN: Heinrich Bergmann – eine deutsche Kriminalistenkarriere......................

47

FLORIAN DIERL: Adolf von Bomhard – ‚Generalstabschef‘ der Ordnungspolizei.............

56

KNUT STANG: Dr. Oskar Dirlewanger – Protagonist der Terrorkriegsführung................

66

MICHAEL WILDT: Erich Ehrlinger – ein Vertreter „kämpfender Verwaltung“......................

76

JACEK ANDRZEJ MŁYNARCZYK: Hans Gaier – ein Polizeihauptmann im Generalgouvernement................

86

PETER KLEIN: Curt von Gottberg – Siedlungsfunktionär und Massenmörder.................

95

KLAUS-MICHAEL MALLMANN: Heinrich Hamann – Leiter des Grenzpolizeikommissariats Neu-Sandez 104 JÜRGEN MATTHÄUS: Georg Heuser – Routinier des sicherheitspolizeilichen Osteinsatzes ....... 115

VI

INHALTSVERZEICHNIS

ALEXANDRA PRZYREMBEL: Ilse Koch – ‚normale‘ SS-Ehefrau oder ‚Kommandeuse von Buchenwald‘?..................................................................................... 126 DIETER POHL: Hans Krüger – der „König von Stanislau“................................................ 134 MARTIN CÜPPERS: Gustav Lombard – ein engagierter Judenmörder aus der Waffen-SS ...... 145 ANDREJ ANGRICK: Georg Michalsen – Handlungsreisender der „Endlösung“ ....................... 156 MARTIN HÖLZL: Walter Nord – Polizeisoldat und Weltanschauungskrieger ...................... 166 GERHARD PAUL: Rudolf Pallmann – Führer der Feldgendarmerieabteilung 683 ................ 176 CARLO GENTILE: Walter Reder – ein politischer Soldat im „Bandenkampf“ ...................... 188 LAWRENCE D. STOKES: Heinz Seetzen – Chef des Sonderkommandos 10a................................... 196 ELISABETH KOHLHAAS: Gertrud Slottke – Angestellte im niederländischen Judenreferat der Sicherheitspolizei ...................................................................................... 207 STEPHAN LINCK: Ernst Szymanowski alias Biberstein – ein Theologe auf Abwegen ......... 219 CHRISTL WICKERT: Willi Tessmann – Kommandant des Polizeigefängnisses HamburgFuhlsbüttel................................................................................................. 231 VOLKER RIEß: Christian Wirth – der Inspekteur der Vernichtungslager.......................... 239 KONRAD KWIET: Paul Zapp – Vordenker und Vollstrecker der Judenvernichtung.............. 252

INHALTSVERZEICHNIS

VII

KARIN ORTH: Egon Zill – ein typischer Vertreter der Konzentrationslager-SS .............. 264 Abkürzungsverzeichnis............................................................................. 274 Die Autoren............................................................................................... 278

Editorial Die Beiträge des vorliegenden Bandes wurden nach den Regeln der alten Rechtschreibung verfaßt und redigiert. Die Schreibweise in Zitaten wurde – soweit notwendig – stillschweigend dementsprechend korrigiert. Grammatikalische Veränderungen oder Ergänzungen wurden dabei durch eckige Klammern gekennzeichnet. Benutzt wird der unter deutscher Herrschaft gebräuchliche Ortsname, um dieses Supremat zu verdeutlichen. Die Reihenfolge der Beiträge bestimmt sich alphabetisch nach den Tätern. Unser Dank gilt zunächst den Autorinnen und Autoren, die sich im Interesse einer Vergleichbarkeit der Aufsätze mancherlei Eingriffe in ihre Texte gefallen lassen mußten und dies in aller Regel auch bereitwillig akzeptierten. Sehr zu danken haben wir auch dem Engagement von Heidrun Baur, der Sekretärin der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart, die nicht nur die Texte am Bildschirm bearbeitete, sondern dort auch den fertigen Satz dieses Buches erstellte. Nicht zuletzt aber gilt unser Dank Verena Artz, der bisherigen Lektorin der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft für Geschichte, Politik und Soziologie, die parallel zur Fertigstellung dieses Manuskripts den Verlag verließ. Nach all den Jahren prächtiger Zusammenarbeit werden wir sie sehr vermissen.

Ludwigsburg, Juni 2003

Klaus-Michael Mallmann/Gerhard Paul

GERHARD PAUL/KLAUS-MICHAEL MALLMANN

Sozialisation, Milieu und Gewalt Fortschritte und Probleme der neueren Täterforschung Seit den 1990er Jahren hat sich in Deutschland, nicht zuletzt inspiriert durch die sogenannte Goldhagen-Debatte und die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ sowie finanziell maßgeblich unterstützt von der VolkswagenStiftung, eine neue Disziplin innerhalb der NS-Forschung etabliert, der wir zahlreiche innovative Erkenntnisse über die Täter und Täterinnen des Nationalsozialismus zu verdanken haben.1 Mit der Einrichtung einer Forschungsstelle an der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg und der Publikation des ersten Bandes der „Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart“ 2 hat die Täterforschung in Deutschland nun erstmals auch institutionellen Ausdruck gefunden, scheint das jahrzehntelange Schweigen der deutschen Gesellschaft im allgemeinen und der Geschichtswissenschaft im besonderen bezüglich der Erforschung der Täter des NS-Regimes durchbrochen zu sein. Von verschiedener Seite sind die Leistungen dieser neuen Forschungsrichtung in der Zwischenzeit gewürdigt worden. Zu den „wichtigsten Entwicklungen in der NS-Forschung der letzten Jahre“ gehört nach Thomas Roth „der Aufstieg der ‚neueren Täterforschung‘“. Sie wende sich „von einer lange Zeit üblichen pathologisierenden oder dämonisierenden Perspektive ab, greift aber auch über eine rein sozialstrukturelle Ortsbestimmung von Tätergruppen hinaus, berücksichtigt generationelle Prägung, Karriereverlauf, Weltbilder und Motivstrukturen und untersucht deren Aktualisierung in der Praxis“.3 „Unter dem Rubrum Täterforschung“, so auch Wolfgang Benz, „etablierte sich eine Nebendisziplin der Holocaustforschung, deren Augenmerk den Strukturen des Verfolgungsapparates, der Bürokratie der Vernichtung (verkörpert durch das Reichssicherheitshauptamt, das Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt der SS, die Höheren SS- und Polizeiführer usw.), den Karrieren des Personals der Verfolgung und den Triebkräften des Völkermords jenseits der Ideologie gilt.“4 Für Jost Dülffer hat sich die Täterforschung „als eigenständiges Teilgebiet [der Erforschung des Dritten Reiches] mit Aufstrahlung auf die Gesamtvorgänge hervorragend etabliert“. „Bemerkenswerterweise“ sei es nicht so sehr das neue Quellenmaterial, „sondern die sorgfältige Auswertung der seit langem verfügbaren Bestände“, welche diese „unbezweifelbaren Fortschritte“ ermöglicht habe.5 Nach Bernd Hüppauf zeichnet sich die Täterforschung der letzten Jahre im Vergleich zu älteren Universalthesen über das

2

GERHARD PAUL/KLAUS-MICHAEL MALLMANN

kollektive Subjekt, etwa die sozialpsychologische Erklärung aus dem „autoritären Charakter“, durch „eine Wendung zum Konkreten“ aus. Es sei erstaunlich, wie wenig bislang über die Täter bekannt geworden sei, was über globale Spekulationen oder die rein juristischen Tatbestände hinausreichte. Wer sich von den Pauschalantworten löse und Rassismus, ideologische Verblendung, autoritären Charakter oder Verrohung nicht mehr als endgültige Antworten gelten lasse, wolle mehr wissen. Die neue Täterforschung habe zudem „die Chance, die Verbindung zur eigenen Gegenwart nicht zu verlieren. Die ordinary men sind uns nicht so fern wie etwa die Vertreter des Bösen, wie die Dämonen in schwarzer Uniform und Lederkoppel, wie die Charaktermasken, die 1945 in kürzester Zeit abgestreift wurden.“6 Deutlich zurückhaltender urteilt der Nestor der deutschen NS-Forschung. Für Hans Mommsen hat die in den letzten Jahren vollzogene Hinwendung zu den Direkttätern gleichwohl „unbestreitbar das Verdienst, das extreme Ausmaß der Kriminalisierung der NS-Gesellschaft“ aufgedeckt und die biographischen Hintergründe der Shoah wie der Verbrechen des Regimes aufgeschlüsselt zu haben. Dabei zeichnet sich nach Mommsen ab, „daß es keinen einheitlichen Tätertypus gab und vielmehr eine Fülle sehr unterschiedlicher Motive und Dispositionen die Einzelnen dazu bewog, sich den kriminellen Zumutungen des Regimes zu fügen, ja sie schließlich aktiv umzusetzen“. 7 Ins Zentrum der neueren Forschungsbemühungen rückt gegenwärtig die Frage nach dem Verhältnis von Intention, Disposition, sozialer Praxis und situativer Dynamik von Gewalt. „Nicht die Annahme eines dominanten Tätertypus wird den Weg der künftigen Forschung weisen“, so Michael Wildt, „als vielmehr die Analyse des Zusammenhangs verschiedener Akteure und Institutionen, von intentionalem Vernichtungswillen und strukturellen Bedingungen, von Ideologie und Funktion, von individuellem Vorsatz und situativer Gewaltdynamik.“8 „Mit gruppenbiographischen, statistischen und handlungsoder motivationstheoretischen Ansätzen“, so zuletzt Habbo Knoch, habe man begonnen, „das Verhältnis von Dispositionen, Handlungsräumen und Täterschaft insbesondere für solche unmittelbar beteiligten Gruppen genauer zu sondieren“. 9 Perspektivisch gehe es darum, „das Zusammenwirken unterschiedlicher Profile von Täterinnen und Tätern in gruppenbiographischen Längsschnitten zu untersuchen und gerade nicht von nur einer Erklärungsfolie auszugehen“. Darüber hinaus bedürfe es methodischer Erweiterungen, „um über exemplarische Biographien der Elite der Täterinnen und Täter hinaus die Gewaltdynamik ‚von unten‘ näher ausleuchten zu können“.10 Anders als die Debatte über die provozierenden Thesen Daniel Jonah Goldhagens kommt der aktuelle Diskurs über die Täter weniger spektakulär und öffentlichkeitswirksam, dafür aber wissenschaftlich um so ertragreicher

SOZIALISATION, MILIEU UND GEWALT

3

daher. Dies gilt etwa für die im Juni 2001 anläßlich des 60. Jahrestages des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion im Haus der Wannsee-Konferenz durchgeführte Konferenz, deren Beiträge unter dem Titel „Täter im Vernichtungskrieg“ publiziert wurden,11 das zweite Dachauer Symposium zur Zeitgeschichte zum Thema „Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche?“ vom Oktober 2001,12 die ebenfalls in diesem Monat durchgeführte Tagung des Hamburger Instituts für Sozialforschung zum Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS 13 sowie die gemeinsam vom Deutschen Historischen Institut in Warschau und dem Institut des Nationalen Gedenkens im November 2002 organisierte „International Conference on the 60th Anniversary of the Extermination of the Jews in the General Government“ in Lublin.14 Dies gilt auch für die Publikation des gewichtigen Werkes von Michael Wildt über das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes,15 für den Sammelband „Entgrenzte Gewalt“16 mit gruppenbiographischen Studien zur frühen SA und zum KL-Personal, für die grundlegende Aufsatzsammlung zur weltanschaulichen Schulung von SS und Polizei17 ebenso wie für die Biographien zum Führungspersonal der SS. 18 Erfreulicherweise hat auch die Erforschung des Verhältnisses von Wehrmacht und Vernichtungskrieg deutliche Fortschritte gemacht und sich konkreten Tätern und Tatorten zugewandt.19 Gleichsam als ‚Ableger‘ der neueren Täterforschung wird auch die Untersuchung des gesellschaftlichen und juristischen Umgangs der deutschen Nachkriegsgesellschaft mit den NS-Tätern sowie die Konstruktion der Täter-Bilder im öffentlichen Diskurs derzeit verstärkt zum Gegenstand von Tagungen20, Forschungsprojekten21 und Publikationen22. Ob sich indessen mit Rekursen auf Sigmund Freud und Alexander Mitscherlich, auf Theodor W. Adorno und Jan Philipp Reemtsma – so geschehen auf einer Tagung von Psychologen und Politikwissenschaftlern 2001 in Hannover – die Fragen der neueren Täterforschung klären lassen, erscheint eher fraglich. 23 Das sozialpsychologische Schwadronieren über die Täter, über Regressionen, zerfallendes Über-Ich und die Metaphorik des Todestriebes sowie die völlige Ignoranz gegenüber der bisherigen Täterforschung24 markieren die unvermeidbaren Abwege und Sackgassen der neueren Diskussion. Mit Sätzen wie „Die Tötungsmaschinerie von Auschwitz erscheint als die kollektive Entfesselung eines Todestriebes“25 fallen die Autoren hinter das Niveau der 1960er Jahre zurück. Daß aber auch die Vertreter der älteren Täterforschung mit den neuen Ansätzen ihre Schwierigkeiten haben, wird exemplarisch an Hans Mommsen deutlich. Ihm zufolge lasse der gegenwärtig gebräuchliche Begriff des Täters zu sehr die weltanschaulichen Eliten in den Hintergrund treten, „obwohl erst sie die politischen und mentalen Bedingungen schufen, unter denen die Täter

4

GERHARD PAUL/KLAUS-MICHAEL MALLMANN

ihr Mordhandwerk verrichteten“. 26 In dieser Kritik Mommsens schwingen zwei traditionelle Deutungsmuster der älteren NS-Forschung mit: zum einen das überholte Exkulpationsbild, mit dem die Direkttäter als letztlich willenlose Objekte einer bei Hitler beginnenden Befehlskette ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen versuchten; zum anderen die Vorstellung, der Völkermord an den Juden lasse sich ausschließlich als Reflex der ‚oben‘ gefaßten Beschlüsse verstehen. Karrieren des Terrors Demgegenüber geht es der neueren Täterforschung eben nicht darum, die Täter kurzschlüssig als verlängerten Arm ihrer Vorgesetzten, sondern als eigenständige Akteure des Vernichtungsprozesses zu deuten, mit dem dieser erst seinen Schwung und seine Dynamik erhielt. Zum Gegenstand der Forschung werden daher die allzu lang übersehenen Täter jenseits der Führungsetage, die von Wolfgang Benz angemahnten „Täterbiographien der zweiten und dritten Handlungsebene“27 in Wehrmacht, Polizei und ausländischen Kollaborationsgruppen. „Das ist das Beunruhigende: Handlungsmöglichkeiten öffnen sich in jede Richtung“, urteilte Alf Lüdtke über jene dort sichtbar werdende Palette von Hinnehmen, Mitmachen und kreativem Selberhandeln. „Jeder einzelne machte sich die Befehle zu eigen, nutzte dabei alltagsweltliche Orientierungen, vermengt mit ideologisch geprägten Vorurteilen wie mit NS-Stereotypen: Gewalt- und Mordimaginationen hatten dabei jede Chance. Die Mischungen bestimmten, was ‚man‘ tat – und wie man es tat. Unerläßlich sind biographische Erkundungen. Sie lassen ihrerseits nicht nur Einzeloder gar Sonderfälle erkennen, markieren vielmehr das Spektrum des Möglichen.“28 In diese Richtung zielen die Beiträge dieses Bandes. Ihre Objekte sind die ‚kleinen‘ Schwungräder des Genozids und deren eigenständiger Beitrag zur Initiierung und Realisierung von Massenmord und Judenvernichtung. Dabei wird die noch bei Herbert Jäger29 durchgeführte Beschränkung auf strafrechtlich verfolgte Täter ebenso vermieden wie die ausschließliche Begrenzung auf männliche Täter, ohne daß die dabei entstehenden, z.T. gravierenden Quellenprobleme von den Autoren und Autorinnen dieses Bandes verschwiegen werden. Denn Biographien bieten zwar die größtmögliche Annäherung an die Akteure des Genozids, stoßen jedoch vielfach an die Grenzen der Rekonstruierbarkeit und lösen darum längst nicht alle Fragen. Es bleiben – auch in diesem Band – Leerstellen, die sich mit den verfügbaren Daten nicht füllen lassen. Und es bleibt selbst dort, wo derartige weiße Flecken durch die Fülle der Quellen vermieden werden können, die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit des individuellen Exempels.

SOZIALISATION, MILIEU UND GEWALT

5

Karrieren im Sinne eines beruflichen und/oder politischen Aufstiegs erfolgen nicht voraussetzungslos und ohne identifizierbare Muster. Sie erweisen sich vielmehr abhängig von gesellschaftlich offerierten Aufstiegsmöglichkeiten und -modalitäten, von persönlichen Fähigkeiten und Begabungen sowie vom Engagement des Einzelnen für eine Sache oder ein Ziel, für die dieser immer mehr zu geben und zu leisten bereit ist als andere. Nur wem es dabei gelingt, sich in den Augen seiner Vorgesetzten als engagiert, kompetent und unersetzlich darzustellen, darf mit der Honorierung in Gestalt des Erklimmens einer weiteren Stufe der Karriereleiter rechnen. Karrieren sind dabei immer auch eine Funktion von gesellschaftlich bzw. gruppenspezifisch sanktionierten Formen der Anerkennung. Politisch tun sich neue Karrierechancen vor allem beim Wechsel von Regierungen, beim Aufbau neuer Zweige der staatlichen Verwaltung sowie im Falle der Expansion eines Gemeinwesens auf. In diesem Sinne offerierte auch das NS-Regime mit der Übernahme der Macht nach 1933 sowie mit der beginnenden militärischen Expansion nach 1938/39 eine Vielzahl von neuen Möglichkeiten und Formen der beruflichen und/oder politischen Karriere. Eine spezifische Variante dieser Karrieren war eine innerhalb des nationalsozialistischen Gewalt- und Terrorapparates. Die Spezialisierung auf verschiedene Formen der Gewaltausübung sowie die Konzeptualisierung und Durchsetzung neuer Gewaltformen etwa im Rahmen der „Befriedung“ besetzter Territorien, der Euthanasie und des Judenmords begründeten qualitativ völlig neue Karrieren der Gewalt sowie die Herausbildung eines besonderen, mobil einsetzbaren Expertentums der „Endlösung“. Die größte Aussicht, derartige Karrierewege einzuschlagen, hatten jene NS-Aktivisten, die bereits über Gewalterfahrungen verfügten oder sich als besonders engagiert erwiesen. Das Spektrum der dabei praktizierten Gewalt und deren Motivationen waren breit gefächert. Es reichte von der bürokratisch-mittelbaren Tätigkeit am Schreibtisch bis hin zur physisch-unmittelbaren Exzeßtat, von der extrinsischen bis zur intrinsischen Gewaltmotivation. Typisch indes war die Melange aus eigenständiger individueller wie staatlich verordneter Gewalt – Formen der Gewalt, die oft nur schwer zu separieren waren, sich gegenseitig bedingten und erst dadurch ihre spezifische Kraft und Dynamik entfalteten. Während der Begriff der Karriere in unserer Gesellschaft überwiegend positiv im Sinne von beruflichem Aufstieg konnotiert ist, verwenden wir ihn hier im negativen Sinne als Aufstieg innerhalb eines kriminellen Milieus der Gewalt. Dabei begreifen wir Gewalt nicht individualpsychologisch als aus psychologischen Dispositionen und Motiven ableitbare Kraft, sondern als eigenständigen situativen Sozialisationsfaktor, als Kraft, die fasziniert, anzieht und die Beteiligten partiell und zeitweise verändert.30

6

GERHARD PAUL/KLAUS-MICHAEL MALLMANN

Die in diesem Band vorgestellten 23 Täterbiographien umspannen ein breites Spektrum nationalsozialistischer Gewaltkarrieren mit mehr oder minder deutlich ausgeprägten Korrelationen zwischen der individualpsychologischen und der gesellschaftlichen Entwicklung. Unter ihnen sind fünf Angehörige der Geheimen Staatspolizei, je drei der Ordnungspolizei und der Konzentrationslager-SS, je zwei des Sicherheitsdienstes, der Wehrmacht, der Kriminalpolizei, der „Aktion Reinhard“, der Allgemeinen SS und der Waffen-SS. Die Geschlechterverteilung ist eindeutig maskulin dominiert; es handelt sich um 21 Männer und zwei Frauen. Breiter gefächert sind dagegen die Tatorte ihrer Verbrechen; mit 13 Schauplätzen der Gewalt liegt die Sowjetunion an der Spitze, gefolgt von fünf in Polen, drei im Deutschen Reich und je einem in den Niederlanden und in Italien. Täterprofile Generationell umfaßt unser Sample die Mitglieder von drei Jahrgangskohorten: die vor der Jahrhundertwende Geborenen, die noch am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatten; die zwischen 1901 und 1912 Geborenen, die beim Machtantritt Hitlers mindestens 21 Jahre alt und damit volljährig waren sowie die nach 1912 Geborenen, die erst als eben Erwachsene den Weg zum Nationalsozialismus fanden. Die Mehrzahl der Täter entstammt der nach der Jahrhundertwende geborenen sogenannten Kriegsjugendgeneration 31 (Bergmann, Gaier, Slottke: 1902; Nord, Pallmann, Zapp: 1904; Michalsen, Seetzen, Zill, Koch: 1906; Hamann, Tessmann: 1908; Krüger: 1909; Ehrlinger: 1910). Diese hatten den Ersten Weltkrieg allenfalls aus der Perspektive als Jugendliche oder Kinder erlebt. Der Zweitjüngste unseres Samples war der erst 1913 geborene spätere Gestapo-Chef von Minsk, Georg Heuser, der bei Hitlers Machtantritt noch keine 20 Jahre alt war. Der Jüngste, der spätere SSSturmbannführer Walter Reder, kam gar erst 1915 zur Welt. Mit ihrer in den Jahren der Republik erworbenen Radikalität und Unbedingtheit haben die Männer gerade der Kriegsjugendgeneration in den letzten Jahren unser Bild der NS-Täter wesentlich geprägt. Wie einige Beiträge dieses Bandes jedoch belegen, greift dieses Deutungsmuster und die Annahme der ‚jugendlichen‘ Täterschaft zu kurz, hatten etliche Täter zu Kriegsbeginn 1939 das 40. und sogar das 50. Lebensjahr bereits überschritten und eine politische Sozialisation wesentlich noch im Kaiserreich erfahren (Bechtolsheim: 1889; von Bomhard: 1891; Lombard, Dirlewanger: 1895; von Gottberg: 1896; Szymanowski: 1899). Der Inspekteur der Vernichtungslager – Christian Wirth, Jahrgang 1885 – befand sich sogar bereits im sechsten Lebensjahrzehnt. Und auch an Radikalität konnten es die Älteren mit den Jüngeren durchaus aufnehmen, wie Knut Stang am Beispiel von Oskar Dirlewan-

SOZIALISATION, MILIEU UND GEWALT

7

ger, einem der Protagonisten der blutigen Niederschlagung des Warschauer Aufstandes, überzeugend darlegen kann. Weder regional noch sozial bilden die hier vorgestellten Täter einen repräsentativen Querschnitt der deutschen Gesellschaft. Ähnlich wie in dem Sample von Michael Mann, in dem Täter aus den vom Grenzkampf geprägten Regionen des Reiches bzw. aus den durch den Versailler Vertrag abgetrennten Gebieten überdurchschnittlich repräsentiert waren, 32 hatten immerhin sechs der hier vorgestellten Täter ihre Kindheit oder Jugend in solchen grenzpolitisch aufgeladenen Regionen verlebt (Michalsen in Oberschlesien; Slottke in Danzig; Krüger in Posen; von Gottberg in Ostpreußen; Szymanowski und Hamann in Schleswig-Holstein). Krüger hatte noch als Kind in Posen die Anfänge des deutsch-polnischen „Volkstumskampfes“ miterlebt, als sein Vater verhaftet und zusammen mit der Familie ausgewiesen wurde. Sozial entsprachen diese Personen eher der typischen NSDAP-Klientel, die Jürgen Falter schon vor Jahren als „Volkspartei mit ausgeprägtem Mittelstandsbauch“ charakterisiert hat,33 weniger dem Typus des „ordinary German“. Während mit dem Dachauer Schutzhaftlagerführer Egon Zill nur ein einziger Täter aus der Arbeiterschaft kam und Adolf von Bomhard, Curt von Gottberg und Gustav Freiherr von Mauchenheim, genannt Bechtolsheim, adeligen Familien entstammten, rekrutierte sich die Mehrzahl der Täter aus dem unteren teils selbständigen, teils abhängig beschäftigten ‚älteren‘ Mittelstand. Bei den Vätern von Oskar Dirlewanger, Heinrich Hamann, Georg Heuser und Heinz Seetzen handelte es sich um Kleingewerbetreibende und Kaufleute. Rudolf Pallmann kam aus einer Landwirtsfamilie. Die Väter von Christian Wirth und Gertrud Slottke waren Küfermeister bzw. Mühlenwerkführer gewesen. Hans Krüger, Walter Nord, Georg Michalsen und Ernst Szymanowski entstammten Familien aus der unteren Beamtenschaft. Bei Erich Ehrlinger handelte es sich um den Sohn eines Stadtpflegers und späteren Bürgermeisters. Lediglich Walter Reders Vater gehörte als Fabrikant zum Besitzbürgertum. Ein Einfluß der Eltern auf die politische Sozialisation ist im Falle von Michalsen, dessen Elternhaus betont deutsch-national orientiert war, sowie bei Szymanowski nachweisbar, dessen Eltern explizit nationalsozialistisch eingestellt waren und bereits früh der NSDAP beitraten. Mindestens drei der vorgestellten Täter wuchsen vaterlos auf. Die Väter von Nord und Lombard waren frühzeitig verstorben, der Vater von Hamann hatte sich selbst getötet. Dies entspricht den Beobachtungen von Michael Mann, wonach 17 Prozent seines immerhin 1581 Personen umfassenden Tätersamples elternlos bzw. in unvollständigen Familien aufwuchsen.34

8

GERHARD PAUL/KLAUS-MICHAEL MALLMANN

Korrelationen zwischen erworbener schulischer bzw. universitärer Bildung und NS-Täterschaft sind nicht erkennbar. Die vorgestellten Täter weisen sowohl eine einfache Volksschulbildung (Bergmann, Koch, Michalsen, Pallmann, Tessmann, Wirth, Zill), eine mittlere Schulbildung (Hamann, Reder, Slottke) sowie eine gehobene humanistische Gymnasialbildung (von Bomhard, Dirlewanger, Ehrlinger, Heuser, Lombard, Nord, Seetzen, Szymanowski, Zapp) mehrheitlich mit anschließendem Hochschulstudium auf. Lombard, Nord und Zapp allerdings hatten ihr Studium aus finanziellen Gründen abbrechen müssen. Um Vollakademiker handelte es sich bei Szymanowski, der ein Studium der evangelischen Theologie absolviert hatte, bei Heuser, Ehrlinger und Seetzen, die Rechtswissenschaften studiert hatten, sowie bei Oskar Dirlewanger, der promovierter Diplom-Volkswirt war. Eine Korrelation zwischen Schule/Universität und NS-Täterschaft läßt sich allerdings insofern vermuten, als weder humanistische Gymnasialbildung noch Universitätsstudium lebensgeschichtlich irgendwelche Resistenzen gegenüber der barbarischen Versuchung verankert, sondern vermutlich im Gegenteil völkisch-nationalistische Einstellungen und Dispositionen befördert hatten.35 Denn seit 1921/22 hatten völkische Aktivisten die Mehrheit der Mandate bei Wahlen zu den Allgemeinen Studentenausschüssen erhalten und die Universitäten zu Bollwerken des Antisemitismus gemacht.36 Von ihren erlernten Berufen her zählen die Täter dieses Bandes mehrheitlich zum unteren Mittelstand. Die Mehrzahl von ihnen hatte einen handwerklichen bzw. landwirtschaftlichen Beruf (von Gottberg, Krüger, Tessmann, Zill), einen kaufmännischen Beruf (Hamann, Lombard, Zapp) bzw. einen Büroberuf (Koch, Michalsen, Slottke) erlernt. Kaum jemand jedoch hatte längere Zeit in seinem Ausbildungsberuf gearbeitet, weil dieser entweder keine berufliche Sicherheit oder wenig Arbeitszufriedenheit versprach. Typisch hierfür ist Dirlewanger, der bis 1933 keine seiner Ausbildung entsprechende Beschäftigung gefunden bzw. Arbeitsstellen mehrfach wegen Fehlverhaltens verloren hatte. Vor 1933 fallen lediglich von Gottberg und Szymanowski aus dem Rahmen, die es zum selbständigen Siedlungsunternehmer bzw. zum Pastor gebracht hatten. Arbeitslosigkeit bildete, sieht man von Krüger ab, keine zentrale Erfahrung unseres Samples,37 so wie Arbeitslosigkeit auch auf der Ebene der Wähler nach Jürgen Falter kein verläßliches Kriterium für die Erklärung des Aufstiegs der NSDAP ist. Allenfalls kurzfristig und dann mitunter selbstverschuldet, waren einige spätere Täter in der Endphase der Republik erwerbslos gewesen. Ausgesprochene Deklassierungserfahrungen sind nur für Zapp überliefert. Wie bei Michael Mann fällt eine Überrepräsentation von Angehörigen des öffentlichen Dienstes in den Bereichen Militär und Polizei auf. 38 Den mit

SOZIALISATION, MILIEU UND GEWALT

9

ihren erlernten Berufen unzufriedenen Männern bot vor allem der Quereinstieg in den Polizeidienst Existenzsicherheit und Karrierechance. Damit verbunden war eine z.T. langjährige Ausbildung und politische Sozialisation innerhalb der polizeilichen Institutionen der gehegten, d. h. der reglementierten Gewalt und des für diese charakteristischen antirepublikanischen Ressentiments,39 die sich für die spätere Täterkarriere als förderlich erwiesen haben könnten. Als Angehörige der Weimarer Polizei verfügten sie aber auch als Opfer wie als Akteure über massive Gewalterfahrungen und hatten sich nicht selten an Grausamkeiten und willkürlichen Tötungen beteiligt; exemplarisch läßt sich dies am Verhalten der Schutzpolizei beim Märzaufstand 1921 40 , beim Berliner „Blutmai“ 1929 41 oder beim Altonaer „Blutsonntag“ 1932 42 zeigen. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg war der gelernte Sägereiarbeiter Wirth über die Schutzpolizei zur Kriminalpolizei gekommen. Bergmann hatte eigentlich Soldat werden wollen, sich 1923 dann aber zum Eintritt in den Polizeidienst entschlossen. Auch der aktive Soldat von Bomhard war wie zahlreiche seiner Kameraden zu Beginn der 1920er Jahre zur Polizei gewechselt. Pallmann hatte maximal drei Jahre als Schreiner in seinem erlernten Beruf gearbeitet, bevor auch er sich 1924 bei der Polizei bewarb. Für Nord bot die preußische Schutzpolizei 1925 nach einem abgebrochenen Studium eine neue berufliche Orientierungsmöglichkeit. Der Machtantritt der Nationalsozialisten und der damit verbundene Ausbau des Polizeiapparates eröffnete weitere Karrierechancen. Seetzen avancierte 1934 nur kurz nach dem zweiten juristischen Staatsexamen zum Leiter einer kleinen Stapo-Stelle. Der gelernte Gärtner Tessmann wechselte durch Vermittlung eines Bekannten 1934 in den Wachdienst des Konzentrationslagers Hamburg-Fuhlsbüttel. Heuser kam 1938 als ausgebildeter Jurist zur Kriminalpolizei. Gewaltmilieus Es wäre verkürzt, die Biographien der Täter auf solche individualisierenden Merkmale zu reduzieren und sie aus dem Kontext ihrer Taten zu isolieren, wie dies in der strafrechtlichen Behandlung der NS-Täter jahrzehntelang der Fall war. Neben der Würdigung biographischer Muster gilt es daher immer auch die kollektiven sozialen und kulturellen Handlungszusammenhänge zu berücksichtigen, denen ein eigenständiger Sozialisationseffekt zugeschrieben werden kann. Es ist darum angebracht, den klassischen biographischen Ansatz in handlungstheoretischer Perspektive zu erweitern. Denn Hans Mommsen hat völlig recht, wenn er bezweifelt, daß es ausschließlich im Wege der biographischen Rekonstruktion gelingen kann, das Mordgeschehen wirklich transparent zu machen, zumal Täterschaft schließlich kein individuelles Phä-

10

GERHARD PAUL/KLAUS-MICHAEL MALLMANN

nomen, sondern ein arbeitsteiliger sozialer Akt war. Während im traditionellen individualbiographischen Ansatz den Faktoren Jahrgang und Generation, soziale Herkunft und Bildung, Ausbildung und Beruf ein großer Erklärungswert beigemessen wird, hebt jener Ansatz eher auf konkrete Handlungsfelder und auf die in ihnen gemachten Erfahrungen ab. In den Beiträgen dieses Bandes erweisen sich mindestens drei Handlungsmilieus für die Karrieren der Gewalt als relevant, über die allesamt noch immer viel zu wenig bekannt ist: die gewalttätigen und gewaltbereiten völkischnationalistischen Milieus der 1920er Jahre, das nationalsozialistische Binnenmilieu der Zeit nach 1933 sowie das besondere terroristische Milieu im Generalgouvernement und in den Reichskommissariaten im deutschen Osten. Für die Zeit vor Beginn des Zweiten Weltkrieges lassen sich so mindestens drei politische Sozialisationskontexte einer „radicalizing career“ benennen, deren Prägekraft so bedeutend war, daß sie tendenziell Faktoren der generationellen Zugehörigkeit, der sozialen Herkunft und der Bildung paralysierten: eine Gewaltsozialisation der Älteren in den Grabenkämpfen und Stoßtrupps des Ersten Weltkrieges, die vielfach ihre Fortsetzung in den Freikorps der Nachkriegswirren fand; die Einbeziehung der Jüngeren in die Haß- und Gewaltkultur der radikalen völkisch-nationalistischen bzw. bereits nationalsozialistischen Organisationen der Weimarer Republik sowie schließlich eine bis zur aktiven Täterschaft reichende frühzeitige aktive Einbindung in die Organisationen des NS-Regimes. Das Erlebnis aktiver soldatischer Gewalt und der Überschreitung bürgerlicher Gewaltgrenzen zwischen 1914 und 1918 hatten in unserem Sample Bechtolsheim, von Bomhard, von Gottberg, Szymanowski und Wirth gemacht. Dirlewanger war Führer eines MG-Stoßtrupps gewesen. Das Erleben der Stoßtruppeinsätze und das erstmalige Ausleben exzessiver Gewalt bestimmten maßgeblich sein weiteres Leben. Im „heroischen Realismus“ von Literatur und Publizistik, von Photographie und Kino erfuhr die Gewaltsozialisation des Fronterlebnisses in den Jahren der Republik, wie wir etwa aus den Analysen von Klaus Theweleit wissen, 43 eine retrospektive Verherrlichung und verlängerte sich damit in die Kriegsjugendgeneration hinein. Damit entstand ein über Jahrzehnte hinaus wirksamer Deutungsfundus, der politisch-kulturell – also im Sinne einer Deutung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – umfassend ausgeschöpft wurde. Eine deutliche Korrelation zeigt sich darüber hinaus hinsichtlich der späteren NS-Täterschaft und der Zugehörigkeit zu einer der zahlreichen republikfeindlichen, rechtsextremen und „nationalen“ Kameradschaftsbünde und Freikorpsgruppen und damit einer politischen Sozialisation im Klima entgrenzter Gewalt gegen Kommunisten, Bürgerliche und Juden, wie sie etwa Ernst von

SOZIALISATION, MILIEU UND GEWALT

11

Salomon in seinem Roman „Die Geächteten“ und Emil Julius Gumbel in seiner Darstellung „Verräter verfallen der Feme“ eindrucksvoll geschildert haben. 44 Mehr als die Hälfte aller hier vorgestellten Täter war bereits seit jungen Jahren in die Netzwerke rechtsextrem-völkischer Gewalt involviert.45 Von Bomhard etwa war bereits während des Weltkrieges Ordonnanz und später Adjutant des Regimentskommandeurs Ritter von Epp gewesen. Nach dem ‚Zusammenbruch‘ gehörte er dem gleichnamigen Freikorps an. Auch Bechtolsheim nahm mit diesem Verband an der blutigen Niederschlagung der Münchner Räterepublik teil. Von Gottberg hatte nach dem Ausscheiden aus der Reichswehr bis 1924 der Marinebrigade Ehrhardt angehört, die 1920 in Berlin einmarschiert war und den Kapp-Putsch ausgelöst hatte. Dirlewanger, seit 1919 Mitglied des Deutsch-Völkischen Schutz- und Trutzbundes, kämpfte bei verschiedenen Freikorps-Einheiten. Zill hatte seine ersten politischen Erfahrungen im Grenzschutz Plauen erworben. Zapp war Redner und Publizist im rechtsradikalen Milieu gewesen. Michalsen, bereits früh durch den Konflikt um Oberschlesien geprägt, gehörte seit 1924 dem Wehrwolf, einer regionalen völkischen Organisation, an. Krüger war bereits als 16jähriger im rechtsextremen Milieu aktiv. Seetzen hatte sich bereits als Schüler dem Jungstahlhelm angeschlossen. Und Tessmann war von 1925 bis 1930 Mitglied des Jungdeutschen Ordens. Auch dies korreliert mit den Befunden von Michael Mann, wonach zwar nur 3,5 Prozent aller Weltkriegsveteranen in einem der zahlreichen Freikorps gedient hatten, aber 30 Prozent der vor der Jahrhundertwende geborenen späteren NS-Täter und noch 9 Prozent der Angehörigen der Kriegsjugendgeneration Freikorpsverbänden angehört hatten, von denen sich wiederum mehr als zwei Drittel später der NS-Bewegung anschlossen. „Thus many of the older perpetrators had engaged in political killings long before they became Nazis.“ 46 Neben der Mitgliedschaft in den Gruppierungen rechtsextrem-völkischer Gewalt fallen einige regionale Netzwerke auf. Hat Michael Wildt in seiner „Generation des Unbedingten“ die Bedeutung solcher Vernetzungen am Beispiel der Universitäten in Tübingen und Leipzig herausgearbeitet,47 so verweisen einige Darstellungen dieses Bandes auf ein frühes völkischnationalsozialistisches Präge- und Rekrutierungsmilieu in Kiel. Ehrlinger, Szymanowski und Seetzen hatten während der 1920er Jahre an der dortigen Universität studiert und den Kontakt – wie übrigens auch Hamann – zum frühen SD um Reinhard Heydrich gefunden. Aus diesem Milieu rekrutierte SDChef Heydrich 1934 etliche Angehörige der Münchner SD-Führung sowie seine frühen Juden-Referenten.48 Die Mehrzahl der späteren Täter dieses Bandes konnte eine bereits in den 1920er Jahren begonnene NS-Sozialisation nachweisen. Dirlewanger, Wirth

12

GERHARD PAUL/KLAUS-MICHAEL MALLMANN

und Zill hatten der NSDAP noch vor deren Verbot im Jahr 1923 angehört. Zur Gruppe der ‚alten Kämpfer‘, die zwischen 1926 und 1932 Mitglied der Partei geworden waren, zählten darüber hinaus Szymanowski (1926), Michalsen (1928), Hamann (1931), von Gottberg, Koch und Tessmann (1932). Der frühen SS hatten Zill (Eintrittsjahr 1926), Hamann (1931), Michalsen, von Gottberg, Reder und Tessmann (alle 1932) angehört. Seetzen, Lombard und Slottke hatten 1933 eine Mitgliedschaft in der NSDAP beantragt. Daß eine frühe NS-Mitgliedschaft allerdings kein hartes Faktum zur Erklärung von Täterbereitschaften ist, machen Bergmann, von Bomhard und Nord deutlich, die erst 1937 bzw. 1940 den Weg zur Partei Hitlers fanden. Bechtolsheim und Pallmann schließlich haben nie einer NS-Organisation angehört. Die meisten der späteren Täter waren beim Eintritt in die NS-Bewegung zwischen 20 und 30 Jahre alt (Michalsen 21, Hamann 23, Tessmann 24, Bergmann 25, Szymanowski, Dirlewanger, Seetzen und Wirth 27). Aus diesem Bild fallen Zill bzw. von Bomhard heraus, die bereits mit 17 bzw. erst mit 46 Jahren der NSDAP beitraten. Michael Mann hat diese jungen Männer daher als „prewar extremists“ bezeichnet. Die frühe Einbindung der späteren Täter in die jeweiligen NS-Organisationen begründete eine politische Sozialisation im Klima des Hasses, des rassistischen Vorurteils, der vitalistischen Gewaltverherrlichung und der hemmungslosen Gewaltausübung, hinter der individualpsychologische Motive und Dispositionen verblassen.49 Am Beispiel von Ehrlinger, der seit 1931 einer sich selbst als „Mördersturm“ bezeichnenden Charlottenburger SAFormation angehörte, hat Michael Wildt auf die Bedeutung des Gemeinschaft stiftenden Kampferlebnisses und die sozialisierende Macht des Gewaltkollektivs hingewiesen. Bürgerkrieg war dort zur Gewohnheit geworden. Die praktizierte Gewalt synthetisierte deren Mitglieder zur verschworenen Kampfgemeinschaft.50 „Durch die gemeinsam verübte Gewalttat war jeder mitverantwortlich, zumindest hörte man in Bar und Sturmlokal von den Blutnächten und war somit zum Mitwisser in einem durch Gewalt bestimmten Organisationsleben geworden. Wichtig war, daß die Männer der Kampfbünde gemeinsam, quasi arbeitsteilig, ihre Gewalttaten verübten. Die kollektive Aktion duldete keine ‚Unschuldigen‘. Jeder Kampfbündler, der in einer Kleingruppe bei einem Zusammenstoß beteiligt war, nahm auch aktiv an der Schlägerei, Messerstecherei oder Schießerei teil. Insofern stellten die gemeinsam betriebenen Gewalttaten eine eminent einigende Kraft dar. Gewaltsozialisation und kriminelle Komplizität verschmolzen in den Kampfbundgruppen. Ein Gewalt favorisierender Ehrenkodex und die Gewöhnung an die Gewalt bildeten zwei Seiten derselben Medaille. Durch die Permanenz der Gewaltausübung wurde die Gewalt routinisiert und zu einem Wert an sich.“51 Diese von Sven Reich-

SOZIALISATION, MILIEU UND GEWALT

13

ardt formulierte Erkenntnis über die integrative Funktion rechter Gewalt, die sowohl für die ‚Kampfzeit‘ wie für die Kriegszeit gültig ist, war bereits Goebbels vollkommen bewußt. „Blut kittet aneinander“, lautete dessen Version.52 Neue Karrierechancen in Partei- und Staatsapparat nach 1933, definiert durch schnellen Aufstieg und gesichertes Einkommen, scheinen diese Einbindungen noch intensiviert zu haben. Aus etlichen „prewar extremists“ wurden nun „full-time Nazis“. Etwa die Hälfte der hier vorgestellten Männer ist dieser von Michael Mann klassifizierten Tätergruppe zuzurechnen, deren beruflicher und politischer Lebensmittelpunkt nach 1933 die NS-Bewegung wurde. SS, SD, Gestapo, Kripo, Schutzpolizei, Gendarmerie und das frühe System der Konzentrationslager vermittelten diesen Männern oftmals unmittelbar nach Hitlers Machtantritt eine sinnstiftende und materiell abgesicherte beruflich-politische Lebensperspektive, für die Männer wie Ehrlinger und Zapp sogar ihre bürgerliche Existenz aufgaben. Ehrlinger wurde 1934 Stabsführer der Zentralabteilung I 3 im SD-Hauptamt; Zapp avancierte 1938 zum hauptamtlichen Mitarbeiter des SD-Hauptamtes, nachdem er bereits seit 1934 dort nebenamtlich tätig gewesen war. Hamann, 1933 über die Hilfspolizei hauptamtlich zur SS gekommen, stieg bis zum Adjutanten Heydrichs auf, bevor er in der Sicherheitspolizei Karriere machte. Krüger hatte nach Jahren der Arbeitslosigkeit zunächst in der SA eine berufliche Festanstellung gefunden, bevor er 1938 nach einem Zwischenspiel als stellvertretender Leiter eines Arbeitsamtes zur Sicherheitspolizei wechselte. Seetzen bot Himmlers Gestapo unmittelbar nach Abschluß seines zweiten juristischen Staatsexamens eine beruflich-politische Karriere. Er leitete zunächst ein Konzentrationslager, bevor er 1934 eine neueingerichtete Stapo-Stelle übernahm. Ähnlich wie in dem Sample von Michael Mann, in dem knapp 10 Prozent aller späteren Täter 1933/34 eine hauptberufliche Gewaltkarriere im KL-Wesen begonnen hatten, wurde das Lagerwesen auch für Tessmann und Zill Beruf und politische Heimat. Tessmann wurde im September 1934 als Wachmann ins KL Fuhlsbüttel abgeordnet. Zill tat zunächst in den frühen KL Hohenstein, Sachsenburg und Lichtenburg Dienst, bevor er im Herbst 1936 von der Wachtruppe in den Kommandanturstab und 1939 zum ersten Schutzhaftlagerführer des KL Dachau aufstieg.53 Karin Orth hat die als „Dachauer Schule“ bezeichneten spezifischen Muster der internen SS-Sozialisation im Lager beschrieben: „Das ‚Interesse des Vaterlandes‘ und die vermeintliche Gefährlichkeit der Häftlinge waren die Bezugsgrößen, mit denen man Brutalität zu legitimieren suchte. Zudem erschien die Gewalttätigkeit als Inbegriff von Männlichkeit. Um ihres Selbstbildes willen, aus Angst vor dem Spott der ‚Kameraden‘ und vor den Sanktionen

14

GERHARD PAUL/KLAUS-MICHAEL MALLMANN

der Vorgesetzten schlugen die SS-Männer zu; nichts fürchteten sie mehr als das Verdikt der ‚Weichheit‘.“54 Im Kern seien die Männer der Konzentrationslager-SS durch die gemeinsam verübten Verbrechen zusammengehalten worden, „durch die gemeinsame dienstliche Sozialisation und Dienstausübung, die Formen der kollektiven Gewalt hervorbrachte“. Zugleich wurde der Gebrauch des Terrors durch die rechtlichen und organisatorischen Prozesse der Entgrenzung von Herrschaft forciert, die von den Akteuren als zunehmende Enthegung von Gewalt erfahren wurde und wiederum neue Gewaltpotentiale freisetzte. Emotional verstärkend kam hinzu, daß sich diese Täter vielfach in identischen SS-geprägten Lebenszusammenhängen bewegten, in denen sie sich auch sozial aufgehoben und bestätigt fühlen konnten. Hamann und Heuser haben ihre Ehefrauen in der SD-Adjutantur bzw. unter den Angehörigen der deutschen Besatzungsmacht kennengelernt. Zill lebte zusammen mit seiner Familie in der Dachauer SS-Siedlung.55 Koch bewohnte mit ihrem Mann und ihren Kindern das „Haus Buchenwald“ auf dem Gelände des gleichnamigen Konzentrationslagers. Während einige „full-time Nazis“ wie Dirlewanger eine ununterbrochene Gewaltbiographie aufweisen konnten, die vom Stoßtrupp des Ersten Weltkrieges über das Freikorps, die frühe NSDAP-Mitgliedschaft, die SA und den Legionär im Spanischen Bürgerkrieg bis hin zum Liquidator des Warschauer Aufstandes reichte, setzte bei anderen Tätern wie Pallmann der Einstieg in eine offene kriminelle Karriere erst mit Beginn des Krieges ein. Neben die Gewaltsozialisation in den NS- und SS-Organisationen tritt somit als weiterer Erklärungsfaktor die Gewaltpraxis des nationalsozialistischen Krieges mit seinen neuen Entgrenzungen und Radikalisierungsschüben.56 Der Krieg fungierte dort als eigenständige Sozialisationsagentur, wie dies Omar Bartov schon vor Jahren für die Soldaten der Wehrmacht betont,57 Gerhard Paul für die Beamten der Kieler Gestapo nachgewiesen58 und Christopher Browning für die Angehörigen der an Mordaktionen beteiligten Polizeibataillone belegt hat, von denen die meisten eben nicht nach 1933 in NS-Organisationen sozialisiert worden waren59. Vor allem im Osten schuf der Krieg entgrenzte gewaltpraktische Handlungsspielräume für die Realisierung rassistischer Utopien, die im Sinne bestehender Umgestaltungsmentalitäten genutzt wurden.60 Hitlers Kriegsgerichtsbarkeitserlaß etwa hob die bis dato gültigen Konventionen der Kriegsmoral auf und begründete ein System der kollektiven Verantwortungslosigkeit. Das diffus-totalisierende Feindbild des „Partisanen“ und des „jüdischen Bolschewismus“ verwischte die Grenze zu anderen Verfolgtengruppen und involvierte vor allem die jüdische Bevölkerung in den Sog des Vernichtungskrieges. Die Delegation der Entscheidung über die Gewaltausübung nach ‚unten‘ öffnete dem Terror die letzten Schleusen.

SOZIALISATION, MILIEU UND GEWALT

15

In den spezifischen Gewaltmilieus des Generalgouvernements und der Reichskommissariate des deutschen Ostens fanden diese Entgrenzungsprozesse des Krieges ihren manifesten Ausdruck, steigerte sich die Gewalt zum alltäglichen Terror, der immer mehr nach dem Prinzip ‚tabula rasa‘ ausgeübt wurde.61 Für etliche Täter bildete die Milieusozialisation im Osten die dritte Stufe ihrer „radicalizing career“, die sie endgültig zu Massenmördern machte und den Einstieg in eine offene kriminelle Karriere begründete. In den Beiträgen über Dirlewanger, Ehrlinger, Gaier, Hamann, Heuser und Krüger wird die Bedeutung dieses durch eigene Normen gegenüber der Selbst- wie der Fremdgruppe, durch neue unbürgerliche Verhaltensweisen sowie durch eigene Institutionen strukturierten Milieus deutlich. Im ‚Feindesland‘ fühlte man die mitgebrachten rassistischen Vorurteile über die in Ghettos und Lagern zusammengepferchten Juden und Kriegsgefangenen bestätigt, verspürte man das Gefühl unbegrenzter Macht als „Herr über Leben und Tod“ (Pallmann) oder „König von Stanislau“ (Krüger), überschritt man auf der Basis dieser corporate identity gemeinsam mit ‚Kameraden‘ die bisherigen Grenzen des bürgerlichen Normenhorizontes. Zu den spezifischen Milieuinstitutionen und -riten des deutschen Ostens, die gleichermaßen Geborgenheit wie rauschartigen Gewaltexzeß offerierten, zählten Unterkünfte und Kasernen, „Deutsche Häuser“ und Offizierskasinos, die voyeuristische Teilnahme an öffentlich stattfindenden Exekutionen und das ungebremste Ausleben sexueller Wunschphantasien in individuellen wie kollektiven Vergewaltigungen. Gewaltexzesse, das Sich-Austoben in willkürlichen Razzien und Nacht- und Nebelaktionen in jüdischen Vierteln waren dabei nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Schwarze Kassen und aufgehäufte Lager mit geraubten Wertgegenständen waren allerorten an der Tagesordnung.62 Anschaulich hat Jürgen Matthäus dieses Milieu für Minsk beschrieben: „Dienstliches und Privatleben gingen ineinander über. In Minsk boten eine ganze Reihe von Veranstaltungen – Konzerte, Gedichtvorträge, Filmvorführungen, Theateraufführungen, Fußballspiele (‚VfL Minsk gegen SS- und Polizeisportgemeinschaft‘) und andere Sportveranstaltungen – sowie ‚Kameradschaftsabende‘ in Heimen, Kasernen und Unterkünften Gelegenheit zur Zerstreuung.“ Die in der Nähe von Minsk gelegene Vernichtungsstätte Maly Trostinez habe Mitarbeitern des Kommandeurs der Sicherheitspolizei und des SD darüber hinaus als Ausflugsort und Bezugsquelle für Wertsachen aus der Hinterlassenschaft der Opfer gedient. Für Kielce im Generalgouvernement spricht Jacek Andrzej Młynarczyk in diesem Zusammenhang von der Herausbildung einer regelrechten „örtlichen Exzeßtäterszene“. Dieter Pohl berichtet für Stanislau von einem spezifischen „Besatzermilieu“, in das die ver-

16

GERHARD PAUL/KLAUS-MICHAEL MALLMANN

schiedenen Dienststellen eingebunden waren und das zugleich auch den Rahmen für private Kontakte absteckte. Die Gewaltsozialisation innerhalb der NS-Bewegung sowie der nationalsozialistische Krieg können daher als situative Settings der Entgrenzung, als eigenständige Sozialisationsagenturen neben und gegen die biographischen Vorprägungen verstanden werden, die unterschiedliche generationelle und soziale Faktoren der Herkunft sowie differierende moralische Niveaus nivellierten und Verantwortlichkeiten für gewalttätiges Handeln zumindest zeitweise suspendierten bzw. paralysierten. Erst durch die entgrenzte Tat wurden die aus heterogenen Kontexten stammenden Männer zur homogenen Gruppe, die sich durch Kommunikation und beispielgebendes Handeln auf gemeinsames ‚Dichthalten‘ verständigt hatte. Allerdings begann dieser Prozeß vielfach eben nicht erst 1939, sondern hatte bereits Vorläufer in den 1920er und frühen 1930er Jahren. Die Spitzen der Gewalt, die Deportationen und der Massenmord, auf die die ältere Holocaustforschung isolierend fokussierte, erweisen sich in etlichen Biographien dieses Bandes somit nur als das Finale einer endlosen Welle alltäglicher Gewalt, die z.T. bereits mit dem Ersten Weltkrieg und der Nachkriegskrise ihren Lauf nahm. Typen, Trends, Tendenzen Sichtbar wird ein breites Spektrum der Einbindung in den Vernichtungskrieg, angefangen von der Sachbearbeiterin im Judenreferat, dem Mitarbeiter der Konzentrationslager-SS, dem Führer einer Feldgendarmerieabteilung, dem Kommandoführer eines Polizeibataillons und dem Befehlshaber der Ordnungspolizei, dem Inspekteur der Vernichtungslager, dem Gestapo-Chef in Minsk, dem Kommandeur eines SS-Kavallerie-Regimentes, dem Führer eines Kommandos zur Partisanenbekämpfung bis hin zu den Chefs der Sonderund Einsatzkommandos, dem Kommandeur der Sicherheitspolizei und dem Höheren SS- und Polizeiführer. Bei etlichen von ihnen handelte es sich um mobil agierende Multifunktionäre der Vernichtung an den verschiedensten Einsatzorten. Die Qualifizierung und Bewährung beim (Juden-)Mord wiederum eröffneten neue Einsatzmöglichkeiten und oftmals einen weiteren Karrieresprung. Zu den Männern dieser Gruppe zählte etwa Zapp, der es vom Führer des Sonderkommandos 11a schließlich zum Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD in Dresden brachte. Dazu gehörte auch Ehrlinger, der bereits 1939 als SD-Führer im Stab der Einsatzgruppe IV an zahlreichen Massenmorden in Polen, 1941 dann als Leiter des Sonderkommandos 1b an Massenmorden in Litauen beteiligt war, bevor er anschließend zum Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD für den Generalbezirk Kiew, zum Chef der Einsatzgruppe B, zum Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD Ruß-

SOZIALISATION, MILIEU UND GEWALT

17

land-Mitte/Weißruthenien und schließlich gar zum Amtschef I im Reichssicherheitshauptamt aufstieg. Deutlich wird in den Lebensbildern dieses Bandes zugleich ein differenzierteres Täterprofil. Männer wie Gaier, Hamann, Krüger oder Pallmann erscheinen nicht länger als gehorsame und willenlose Exekutoren einer Weltanschauung, als gefühlslose Befehlsautomaten, sondern als engagierte Profiteure der Tat, als Männer, die vergewaltigten, ihren Spaß hatten, sich bereicherten, sich Sonderzuteilungen erwirtschafteten usw. Wie Augenzeugen später aussagten, sei ein Mann wie Walter Nord „mit ‚Freude‘ und ‚Eifer‘ bei der Sache“ gewesen. Erst hierdurch erhielt der rassistische Terror seinen Schwung und seine ungebremste Dynamik, verzahnten sich die ‚großen‘ utopisch-weltanschaulichen mit den ‚kleinen‘, ganz banalen privaten Zielen, wurde Eigennutz zur Antriebsfeder bei der Realisierung der rassistischen Utopie. Aber auch bei den Täter(innen) an den Schreibtischen ging das Engagement vielfach über bloßen Diensteifer und Pflichtbewußtsein hinaus, wie Elisabeth Kohlhaas für Slottke nachweisen kann. Der von Daniel Jonah Goldhagen den Deutschen pauschalisierend als Antriebsmotiv unterstellte eliminatorische Antisemitismus ist dagegen nur bei Hamann, Zapp, Bechtolsheim, Krüger, Szymanowski, Dirlewanger, Wirth und Koch zweifelsfrei nachweisbar. Allerdings bleiben gerade hier eindeutige Grauzonen. Denn das Bekenntnis zu „Rassenhaß“ in Vernehmungen – und dies sind nun einmal die ausgiebigsten Quellen zu einer Person – bedeutete strafrechtlich auch die Positionierung als Täter mit eigenem Willen, mit der man zugleich die juristische Attestierung „niedriger Motive“ riskierte und wurde darum – spätestens nach Intervention des Verteidigers – vermieden. Gleichwohl fällt es schwer, sich etwa einen Ehrlinger ohne diese weltanschauliche Komponente vorzustellen. Typologisiert man die hier vorgestellten Täter nach Verhalten bzw. Motiven, so werden mindestens fünf Tätertypen deutlich. (1) Bei einem Mann wie Adolf von Bomhard etwa handelte es sich weniger um einen radikalen Nationalsozialisten als vielmehr um einen willigen politischen Konformisten, um einen „band wagon Nazi“ (Michael Mann), der im Sinne des Wortes „Opportunitas“ nach 1933 die gute Gelegenheit ergriff, Karriere zu machen. Allerdings waren auch solche Opportunisten keineswegs frei von rassistischen Überzeugungen und Ressentiments, wie sie später vielfach Glauben machen wollten. (2) Demgegenüber repräsentierten Täter wie Erich Ehrlinger und Paul Zapp den Typus des Weltanschauungstäters, der genau wußte und tat, was er wollte. Im Zentrum ihres Tuns stand das nationalsozialistische Projekt der rassischen Neuordnung Europas. Dafür war man auch bereit, bürgerliche Karriere

18

GERHARD PAUL/KLAUS-MICHAEL MALLMANN

und erlernten Beruf zu opfern. Daß Weltanschauungstäter zugleich auch Exzeßtäter sein konnten, zeigt das Beispiel von Hans Krüger. (3) Männer wie Oskar Dirlewanger, Hans Gaier und Heinrich Hamann waren typische Exzeßtäter, Hardcore-Nazis, die keine Befehle brauchten. In Hamann, so Klaus-Michael Mallmann, „begegneten sich der Ideologe und der Profiteur, der Türöffner und der Trittbrettfahrer der ‚Endlösung‘, kreuzten sich Überzeugung und Eigennutz, der Vollzug einer Weltanschauung und der Rausch grenzenloser Macht“. In Dirlewanger, einem sadistischen, amoralischen Alkoholiker, hatte nach Knut Stang „das ohnehin verbrecherische NSRegime seinen vielleicht extremsten Henker“ gefunden. (4) Den reinen Schreibtischtäter („bureaucratic killer“) repräsentiert in unserem Sample Gertrud Slottke, die Sachbearbeiterin im Amsterdamer Judenreferat. Elisabeth Kohlhaas hat deren Tatbeitrag als „Selektion durch Bürokratie“ gekennzeichnet und aufgezeigt, daß auch dieser Tätertypus keineswegs von antisemitischen und rassistischen Ressentiments frei war und keineswegs nur auf Befehl handelte, sondern den Prozeß der Vernichtung mit Engagement und eigenen Vorschlägen vorantrieb. Dasselbe traf auch auf Bechtolsheim zu, der zwar nicht selbst Hand anlegte, wohl aber eindeutig ideologisch motivierte Befehle dazu erteilte. (5) Sehr viel häufiger anzutreffen war eine Mischung aus Schreibtisch- und Direkttätern, aus Vordenkern und Vollstreckern, wie Jürgen Matthäus für Georg Heuser und Konrad Kwiet für Paul Zapp exemplarisch zeigen können. Führer, so Michael Wildt mit Blick auf Erich Ehrlinger, „entwarfen nicht nur politische Konzepte, sie formulierten nicht allein Erlasse, sondern sie erteilten die Befehle auch vor Ort und sorgten dafür, daß die Praxis der ‚Idee‘ entsprach“. Wie so oft erweisen sich auch hier Mischformen und das Prozeßhafte als charakteristischer als die reinen Idealtypen. Beispielhaft zeigt dies Rudolf Pallmann, der sich vom Befehlstäter über den Inititativtäter, der durch selbständige Taten den Vernichtungsvorgang in Betrieb hielt, schließlich zum Exzeßtäter entwickelte, der in reiner Willkür und aus niederen Motiven Menschen zu Tode brachte. Alle Beiträge dieses Bandes thematisieren zugleich die Karrieren der Täter und Täterinnen in der deutschen Gesellschaft nach 1945. Abhängig von den Zeitläuften lassen sich auch hier verschiedene Muster erkennen, die allerdings auf keinen gemeinsamen Nenner zu bringen sind und nur zeigen, wie komplex und widersprüchlich, wie mühsam, aber letztlich erfolgreich sich die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit gestaltete. (1) Entgegen der landläufigen Annahme erwies sich die sogenannte Festung Nord um den letzten Regierungssitz des NS-Regimes in FlensburgMürwik auch für unsere Klientel als bedeutsames Rückzugsrevier. 63 Wie

SOZIALISATION, MILIEU UND GEWALT

19

Heinrich Himmler, Rudolf Höß, die Führung der Oranienburger Inspektion der Konzentrationslager und ganze Abteilungen des Reichssicherheitshauptamtes suchte auch von Gottberg in den ersten Maitagen 1945 dort Zuflucht. Zusammen mit anderen Teilen der RSHA-Führung hatte sich auch Ehrlinger nach Schleswig-Holstein abgesetzt, dort wie weitere 2000 ehemalige SSOffiziere und Gestapobeamte seine SS-Uniform mit der eines Wehrmachtsunteroffiziers getauscht und sich einen falschen Namen zugelegt. Schließlich schlugen sich auch Szymanowski und Hamann dorthin durch. Während Hamann abtauchte, wurde Szymanowski in Neumünster von britischer Feldpolizei festgenommen. Seetzen befand sich auf dem Weg nach Eutin, als er auf dem Bahnhof Hamburg-Altona erkannt wurde. (2) Das gewalttätige Ende der Täter blieb die Ausnahme. Wirth war bereits im Mai 1944 von Partisanen erschossen worden. Dirlewanger starb im Juli 1945 an den Folgen eines Übergriffs von polnischen Wachsoldaten in der französischen Besatzungszone. Von Gottberg beging wie etliche seiner SSKameraden in Flensburg Selbstmord. Seetzen wählte ebenfalls den Freitod, nachdem man ihn in Hamburg festgenommen hatte. Maximal dürften sich etwa 5 Prozent des höheren SS- und Gestapo-Personals einer Strafverfolgung durch Selbstmord entzogen haben.64 Koch erhängte sich 1967 in der Strafvollzugsanstalt. Gegen einige wenige NS-Täter sprachen alliierte Gerichte Todesurteile aus, von denen allerdings nur ein Bruchteil zur Vollstreckung kam. In unserem Sample wurde allein an Tessmann das von einem britischen Militärtribunal gefällte Todesurteil 1948 vollstreckt. (3) Eine Gruppe von höherrangigen Tätern tat es ihrem obersten Vorgesetzten Himmler gleich und nahm bei Kriegsende eine neue Identität an.65 Hamann schlug sich bis 1951 unter dem Namen ‚Hoßfeld‘ durch; als er nach Inkrafttreten des Grundgesetzes nicht mehr an Polen ausgeliefert werden konnte, zeigte er sich wegen falscher Namensführung selbst an, ohne jedoch bestraft zu werden. Ehrlinger tauchte bis 1952 unter falschem Namen zunächst in Schleswig-Holstein, dann in Baden-Württemberg unter. Zapp lebte gar 22 Jahre lang unter falschem Namen ganz in der Nähe seines Geburtsortes im hessischen Bebra, wo man ihn vermutlich kannte, aber unbehelligt ließ.66 (4) Der größte Teil der hier vorgestellten Täter und Täterinnen schlug nach 1945 eine normale bürgerliche Karriere ein. Etliche von ihnen mußten sich niemals strafrechtlich verantworten.67 Zu ihnen zählte von Bomhard, der lange Zeit als Erster Bürgermeister in Prien am Chiemsee agierte und über das Image eines voll in die Gesellschaft der Bundesrepublik integrierten Ehrenmannes verfügte. Bechtolsheim gelang es gar, seine Schuld auf ehedem Untergebene abzuwälzen. Nachdem Ehrlinger 1952 aus der Illegalität aufgetaucht war und seinen bürgerlichen Namen wieder angenommen hatte, war er

20

GERHARD PAUL/KLAUS-MICHAEL MALLMANN

als Leiter einer VW-Vertretung tätig. Eine 1961 ausgesprochene zwölfjährige Zuchthausstrafe mußte er wegen Vollzugsunfähigkeit nicht angetreten. Lombard, 1955 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft entlassen, brachte es zum Versicherungskaufmann. Ein Ermittlungsverfahren gegen ihn wurde 1970 eingestellt. Wenn es richtig ist, daß die beschriebenen Gewaltmilieus die Wirkung situativer Sozialisationsagenturen entfalteten, wird auch verständlich, daß mit dem Zerfall und der Zerschlagung dieser Milieus die Beteiligten – gewiß mit Verzögerungen und Schwierigkeiten – wieder an ihre begonnenen bürgerlichen Karrieren anknüpfen konnten und fähig waren, sich in der Mehrzahl durchaus erfolgreich in den Alltag der bundesdeutschen Demokratie einzufädeln. (5) Vor allem der Polizeidienst der 1950er und 1960er Jahre erwies sich als Hort und Reintegrationsinstanz der ‚alten Kämpfer‘ und NS-Täter. 68 Pallmann war bis zu seiner Suspendierung 1963 im Polizeidienst des Landes Nordrhein-Westfalen tätig. Dort wurde auch Nord 1956 wieder in die Polizei eingestellt. Bevor die Staatsanwaltschaft rechtliche Schritte gegen ihn einleiten konnte, verstarb der ehemalige Chef der 1. Kompanie des Polizeibataillons 316. Bergmann fand 1955 eine Anstellung beim Bundeskriminalamt. Heuser, 1954 aufgrund Artikel 131 des Grundgesetzes als Kriminaloberkommissar in den Staatsdienst von Rheinland-Pfalz übernommen, avancierte 1958 gar zum Leiter des dortigen Landeskriminalpolizeiamtes.69 (6) Ein Teil dieser Männer war aktiv in die Versuche der politischen und gesellschaftlichen Rehabilitierung ihrer ehemaligen Kameraden in die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft involviert. Hamann etwa hielt Kontakt zu alten SD-Kollegen sowie zu Dr. Werner Best, der im Zentrum dieser Bemühungen agierte.70 Von Bomhard wirkte über etliche Jahre als Experte der „Fachvertretung der 131er Polizeiberufsbeamten“ vor Gericht sowie als Gutachter tatkräftig an der Legendenbildung von der ‚sauberen‘ Ordnungspolizei mit. Daß man sich gegenseitig ‚Persilscheine‘ ausstellte, versteht sich schon fast von selbst. Als Chef des LKA Rheinland-Pfalz oblag Heuser u.a. die Fahndung nach NS-Verbrechern, zu denen er selbst zählte. Die Unterstützernetze reichten bis weit in die Verwaltungen der Nachkriegszeit hinein. Der Oberkreisdirektor des Kreises Mettmann etwa engagierte sich wiederholt für den verurteilten Massenmörder Pallmann. Einige Männer tummelten sich weiterhin am rechten Rand wie etwa Krüger, der sich politisch für die Deutsche Partei und den Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten engagierte, oder Lombard, der weiterhin zu seinen ehemaligen SS-Kameraden Kontakt hielt und sich hochbetagt von Hunderten von Angehörigen der WaffenSS feiern ließ.

SOZIALISATION, MILIEU UND GEWALT

21

(7) Mehr als die Hälfte der den Krieg und die Nachkriegszeit überlebenden NS-Täter und Täterinnen unseres Samples wurde von alliierten und deutschen Gerichten zu langen Freiheitsstrafen verurteilt, die allerdings nur in einigen Fällen bis zum Ende verbüßt wurden. Ein sowjetisches Militärgericht hatte Lombard bereits 1947 zu einer 25jährigen Lagerhaft verurteilt; er wurde 1955 dann aber begnadigt und in die Bundesrepublik entlassen. Szymanowski war 1948 im Nürnberger Einsatzgruppenprozeß zum Tode verurteilt worden, ohne daß die Strafe allerdings vollstreckt wurde; 1958 wurde er aus dem Landsberger Kriegsverbrechergefängnis entlassen. Zill, Hamann, Krüger und Zapp wurden zwischen 1955 und 1970 zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Doch weder Zill noch Hamann mußten ihre Strafen voll verbüßen. Das Urteil gegen Zill wurde 1961 aufgehoben und in eine 15jährige Zuchthausstrafe umgewandelt, auf die die gesamte Untersuchungs- und Strafhaft angerechnet wurde; bereits zwei Jahre später wurde er entlassen und kehrte zu seiner Familie nach Dachau zurück. Koch, ebenfalls zu lebenslanger Haft verurteilt, verbrachte mehr als 20 Jahre in verschiedenen Haftanstalten, bevor sie sich 1967 das Leben nahm. Eine der höchsten Strafen vor einem bundesdeutschen Gericht erhielt 1969 Pallmann. Das Düsseldorfer Landgericht verurteilte den Massenmörder von der Krim wegen gemeinschaftlichen Mordes zu sechsmal lebenslangem Zuchthaus. Gegen Heuser sprach das Landgericht Koblenz 1963 unter Anrechnung der Untersuchungshaft eine 15jährige Zuchthausstrafe aus; bereits 1969 stimmte dasselbe Gericht der Haftentlassung des ehemals obersten Kriminalpolizeibeamten von Rheinland-Pfalz zu. Slottke schließlich, 1967 zu fünf Jahren Haft verurteilt, saß krankheitsbedingt nur einen Teil ihrer Strafe ab. Reder hingegen verbüßte seine Strafe in voller Länge und saß von 1948 bis 1985 in italienischen Gefängnissen ein. Perspektiven der Forschung Die in diesem Band repräsentierten Biographien stellen keinen repräsentativen Querschnitt der NS-Täterschaft dar. Gleichwohl weisen sie auf einige interessante Tendenzen, bemerkenswerte Übereinstimmungen und identische Karrieremuster hin. Soviel dürfte deutlich geworden sein: die hier vorgestellten Täter lassen sich nicht einfach unter die Kategorie „ordinary men“ oder „ordinary Germans“ subsumieren. Sie stellen vielmehr eine z.T. frühzeitig radikalisierte Auswahl der NS-Klientel dar. Mehrheitlich handelte es sich bei ihnen, wie es Michael Mann formulierte, um „real Nazis“, ohne die Massenmord und Genozid vermutlich nicht ihre terroristische Dynamik entfaltet hätten. Die große, möglicherweise die größte Gruppe der erst während des Krieges nach 1939 radikalisierten Täter und Täterinnen („wartime Nazis“) rückt dagegen nur im Fall des Führers einer Feldgendarmerieabteilung in den

22

GERHARD PAUL/KLAUS-MICHAEL MALLMANN

Mittelpunkt. Ganz aus dem Blick geblieben sind die ausländischen Kollaborateure.71 Vor allem bei diesen beiden Gruppen ist weiterer Forschungsbedarf angemeldet. Dasselbe gilt aber auch für weibliche Täterinnen, die hier in lediglich zwei Fallbeispielen porträtiert werden können.72 Die neuere Täterforschung hat unzweifelhaft Fortschritte gemacht. Gleichwohl sollte sie sich nicht voreilig selbstzufrieden auf die Schulter klopfen und wohlgeordnete Zustände preisen. Denn das Terrain gesicherten Wissens ist immer noch erheblich kleiner als die Grauzonen minimaler Kenntnisse und die Freiflächen fehlender Recherche. Völlig untererforscht etwa ist nach wie vor die Verbrechensgeschichte der Waffen-SS. Außerhalb des Untersuchungsinteresses blieb bislang die Kategorie der SS- und Polizeiführer, obwohl dort solche Massenmörder wie Globocnik, Katzmann und Stroop zu finden sind. Dasselbe gilt für die Befehlshaber und Kommandeure der Sicherheitspolizei und des SD bzw. der Ordnungspolizei. Ganze Territorien im deutschen Osten wie etwa Estland und die Krim, Westgalizien und Südostpreußen harren noch ihrer wirklichen Entdeckung. Wo bleiben die Arbeiten über die militärischen Oberbefehlshaber im Osten, über Gestalten wie Reichenau und Hoth, Manstein und Busch? Wo sind die Studien über die Befehlshaber der rückwärtigen Heeresgebiete und die Kommandanten der rückwärtigen Armeegebiete? Warum gibt es keine vergleichenden Analysen zu den einzelnen Armeen, den Sicherungs-Divisionen, den Orts- und Feldkommandanturen, der Feldgendarmerie und der Geheimen Feldpolizei? Dieser Katalog, der sich im Detail mühelos noch seitenlang erweitern ließe, demonstriert, wie groß und grundlegend die Lücken noch sind und markiert zugleich die Marschrichtung, um diese Desiderata Schritt für Schritt aufzuarbeiten. Dabei werden die genannten Korrelationen individualbiographisch und gruppenstrukturell überprüft und erweitert werden müssen, wird das Verhältnis von Vorprägung, Aktualisierung und Habitualisierung von Gewalt ebenso zu hinterfragen sein wie das von Weltanschauung und Situation, von Befehl und Eigeninitiative, von Handlungs- und Regelungsspielräumen. Zum Verständnis der Aneignung von Herrschaft wird vor allem jenes vergemeinschaftende Milieu des deutschen Ostens genauer auszuleuchten sein, jene Gruppenzusammenhänge vor Ort, die das kollektive Selbstverständnis der Täter konservierten, ja gelegentlich erst generierten, daß ihnen als Männern der Tat keinerlei Grenzen gesetzt seien, daß in ihrem Kampf für eine neue Ordnung der Ungleichheit alles erlaubt sei. Methodisch verlangt das neue Paradigma von der Wiederkehr der Subjekte dabei allerdings eine schwierige Gratwanderung. Denn eine akteurszentrierte Gesellschaftsgeschichte des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges muß einerseits Erklärungen suchen,

SOZIALISATION, MILIEU UND GEWALT

23

ohne Verständnis zu wecken, andererseits Dämonisierungen vermeiden und gewissermaßen den Menschen hinter dem Monster sichtbar machen. Die Konsequenzen dieser Forschungen werden – dies läßt sich schon heute sagen – weitreichend sein. Denn die Täter genauer zu betrachten heißt auch, die Taten präziser in den Blick zu nehmen. Es wird nichts übrigbleiben von jener klinischen, gewaltminimierenden Perspektive, die jahrzehntelang als Passepartout des Vernichtungsprozesses diente, ihn als bürokratisch, industriell und anonym erscheinen lassen wollte. Neben der Derealisierung der Tat wird auch die Depersonalisierung der Täter beendet werden, wird insbesondere ihr folgenreich nachwirkendes Selbstbild zerbrechen. Hinter der Selbstinszenierung des leidenschaftslosen Befehlsempfängers und unideologischen Schreibtischtäters, der die Verbrechen lediglich administrierte, nicht aber ausführte – einer Stilisierung, die vor allem von Eichmann und Höß virtuos abgeliefert wurde –, wird jene Hybris, Passion und Kälte sichtbar werden, die längst nicht nur diese beiden Megatäter auszeichnete.73 Parallel dazu wird sich die Einschätzung des gesamten Vernichtungsvorgangs verändern, wird er noch weit stärker als offener Prozeß wahrgenommen werden, als von der Peripherie her sich radikalisierendes Projekt, als Summe situativ begründeter Einzelgeschehen und als Resultat völlig verschiedener Tätergruppen, als ungeheurer Vorgang, der nicht aufgeht in Führerbefehlen, sich nicht strukturalistisch auflösen läßt in einer Vernichtungsmaschinerie, in eigendynamischen Herrschaftsstrukturen. Angesichts der Fülle dezentraler, lokaler und regionaler Initiativen werden der behauptete Befehlsnotstand und Gehorsamsdruck den letzten Rest an Plausibilität verlieren. Die breite Streuung der Verantwortung, nicht die einlinige Befehlskette von ‚oben‘ nach ‚unten‘ wird darum zum Signum des Vernichtungsprozesses werden.74 All das – auch dies läßt sich heute schon sagen – wird Auswirkungen auf unser Bild des 20. Jahrhunderts haben, das als Zeitalter der Diktaturen, Ideologien und Genozide in die Geschichte eingegangen ist. Anmerkungen 1

Vgl. Gerhard Paul: Von Psychopathen, Technokraten des Terrors und „ganz gewöhnlichen“ Deutschen. Die Täter der Shoah im Spiegel der Forschung, in: ders. (Hrsg.): Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? Göttingen 2002, S. 13–90; Ulrich Herbert: Vernichtungspolitik. Neue Antworten und Fragen zur Geschichte des „Holocaust“, in: ders. (Hrsg.): Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939–1945. Neue Forschungen und Kontroversen, Frankfurt/M. 1998, S. 9–66; Thomas Sandkühler: Die Täter des Holocaust. Neuere Überlegungen und Kontroversen, in: Karl Heinrich Pohl (Hrsg.): Wehrmacht und Vernichtungspolitik. Militär im nationalsozialistischen System, Göttingen 1999, S. 39–65; Thomas Blass: Psychological Perspectives on the Perpetrators of the Holocaust: The Role of

24

GERHARD PAUL/KLAUS-MICHAEL MALLMANN

Situational Pressures, Personal Dispositions, and Their Interactions, in: HGS 7(1993), S. 30–50; James E. Waller: Perpetrators of the Holocaust: Divided and Unitary Self Conceptions of Evildoing, in: HGS 10(1996), S. 11–33; Christopher R. Browning: Die Vollstrecker des Judenmords. Verhalten und Motivation im Lichte neuer Erkenntnisse, in: ders.: Judenmord. NS-Politik, Zwangsarbeit und das Verhalten der Täter, Frankfurt/M. 2001, S. 219–257; Harvey Asher: Ganz normale Täter. Variablen sozialpsychologischer Analysen, in: Zeitschrift für Genozidforschung 1–2 (2001), S. 81–115. 2 Klaus-Michael Mallmann/Volker Rieß/Wolfram Pyta (Hrsg.): Deutscher Osten 1939–1945. Der Weltanschauungskrieg in Photos und Texten, Darmstadt 2003. 3 Thomas Roth in seiner Rezension v. 3.2.2003 über Ronald Rathert: Verbrechen und Verschwörung, in: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=2244. 4 Wolfgang Benz: Holocaustforschung, in: ders./Angelika Königseder (Hrsg.): Judenfeindschaft als Paradigma. Studien zur Vorurteilsforschung, Berlin 2002, S. 120. 5 Jost Dülffer in seiner Rezension von Gerhard Paul/Klaus-Michael Mallmann (Hrsg.): Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg, in: Zeitschrift für OstmitteleuropaForschung 51(2002), S. 266. 6 Bernd Hüppauf: Was treibt den Täter? Täterforschung: Ein neues Wort und das Erkenntnisinteresse, das es ausspricht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.7.2001. 7 Hans Mommsen: Die Grenzen der Biografie. Prozesse und Entscheidungen: Ein Sammelband über die „Täter der Shoah“ wirft die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Struktur im Nationalsozialismus auf, in: Frankfurter Rundschau v. 26.11.2002. 8 Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, S. 23. 9 Habbo Knoch: Editorial, in: Entgrenzte Gewalt. Täterinnen und Täter im Nationalsozialismus, Bremen 2003, S. 9; umgesetzt wird dies von Thomas Roth: Die Kölner Kriminalpolizei: Organisation, Personal und „Verbrechensbekämpfung“ eines lokalen Kripo-Apparates 1933–1945, in: Harald Buhlan/Werner Jung (Hrsg.): Wessen Freund und wessen Helfer? Die Kölner Polizei im Nationalsozialismus, Köln 2000, S. 299–369; Michael Stolle: Die Geheime Staatspolizei in Baden. Personal, Organisation, Wirkung und Nachwirken einer regionalen Verfolgungsbehörde im Dritten Reich, Konstanz 2001; Holger Berschel: Bürokratie und Terror. Das Judenreferat der Gestapo Düsseldorf 1935–1945, Essen 2001; Wolfgang Diercker: Himmlers Glaubenskrieger. Der Sicherheitsdienst und seine Religionspolitik 1933–1941, Paderborn u.a. 2002; Klaus-Michael Mallmann: Der Einstieg in den Genozid. Das Lübecker Polizeibataillon 307 und das Massaker in Brest-Litowsk Anfang Juli 1941, in: Archiv für Polizeigeschichte 10(1999), S. 82–88; ders.: Die unübersichtliche Konfrontation. Geheime Staatspolizei, Sicherheitsdienst und christliche Kirchen 1934–1939/40, in: Gerhard Besier (Hrsg.): Zwischen „nationaler Revoluton“ und militärischer Aggression. Transformationen in Kirche und Gesellschaft während der konsolidierten NSGewaltherrschaft (1934–1939), München 2001, S. 121–136; Bogdan Musial: Deutsche Zivilverwaltung und Judenverfolgung im Generalgouvernement. Eine Fallstudie zum Distrikt Lublin 1939–1944, Wiesbaden 1999; Sybille Steinbacher: „Musterstadt“ Auschwitz. Germanisierungspolitik und Judenmord in Ostoberschlesien, München 2000; Ahlrich Meyer: Die deutsche Besatzung in Frankreich 1940–1944. Wider-

SOZIALISATION, MILIEU UND GEWALT

25

standsbekämpfung und Judenverfolgung, Darmstadt 2000; Jan Erik Schulte: Zwangsarbeit und Vernichtung: Das Wirtschaftsimperium der SS. Oswald Pohl und das SS– Wirtschafts-Verwaltungshauptamt 1933–1945, Paderborn u. a. 2001; Jens Christian Wagner: Produktion des Todes. Das KZ Mittelbau-Dora, Göttingen 2001; Christian Gerlach/Götz Aly: Das letzte Kapitel. Realpolitik, Ideologie und der Mord an den ungarischen Juden 1944/1945, Stuttgart-München 2002; Eric Haberer: The German police and genocide in Belorussia, 1941–1944, in: Journal of Genocide Research 3(2001), S. 13–29, 207–218, 391–403; Thomas Geldmacher: „Wir als Wiener waren ja bei der Bevölkerung beliebt“. Österreichische Schutzpolizisten und die Judenvernichtung in Ostgalizien 1941–1944, Wien 2002; Jürgen Pohl: Polizisten vor Gericht. Der Einsatz des Recklinghäuser Polizeibataillons 316 in Weißrussland 1941, in: Vestische Zeitschrift 99(2002), S. 363–402; Wendy Lower: „Anticipatory Obedience“ and the Nazi Implementation of the Holocaust in the Ukraine: A Case Study of Central and Peripheral Forces in the Generalbezirk Zhytomyr, 1941–1944, in: HGS 16(2002), S. 1–22; Isabel Heinemann: „Rasse, Siedlung, deutsches Blut“. Das Rasseund Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas, Göttingen 2003; Andrej Angrick: Besatzungspolitik und Massenmord. Die Einsatzgruppe D in der südlichen Sowjetunion 1941–1943, Hamburg 2003. 10 Knoch (Anm. 9), S. 11. 11 Wolf Kaiser (Hrsg.): Täter im Vernichtungskrieg. Der Überfall auf die Sowjetunion und der Völkermord an den Juden, Berlin-München 2002; vgl. Dieter Pohl: Schauplatz Ukraine: Der Massenmord an den Juden im Militärverwaltungsgebiet und im Reichskommissariat 1941–1943, in: Norbert Frei/Sybille Steinbacher/Bernd C. Wagner (Hrsg.): Ausbeutung, Vernichtung, Öffentlichkeit. Neue Studien zur nationalsozialistischen Lagerpolitik, München 2000, S. 135–173. 12 Paul: Täter (Anm. 1). 13 Michael Wildt (Hrsg.): Nachrichtendienst, politische Elite und Mordeinheit. Der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS, Hamburg 2003. 14 Siehe den Bericht von Jochen Böhler v. 3.2.2003 in: http://hsozkult.geschichte. hu-berlin.de/tagungsberichte/id=162; deutsch-, polnisch- und englischsprachige Versionen der Beiträge sind in Vorbereitung. 15 Wildt (Anm. 8). 16 Entgrenzte Gewalt (Anm. 9); vgl. Christian Gerlach (Hrsg.): Durchschnittstäter. Handeln und Motivation, Berlin 2000; Wolf Gruner/Armin Nolzen (Hrsg.): Bürokratien. Initiative und Effizienz, Berlin 2001. 17 Jürgen Matthäus/Konrad Kwiet/Jürgen Förster/Richard Breitman: Ausbildungsziel Judenmord? „Weltanschauliche Erziehung“ von SS, Polizei und Waffen-SS im Kontext der „Endlösung“, Frankfurt/M. 2003; vgl. Jay Hatheway: In Perfect Formation. SS Ideology and the SS-Junkerschule Tölz, Atglen 1999; Thomas Köhler: Anstiftung zu Versklavung und Völkermord – „Weltanschauliche Schulung“ durch Literatur. Lesestoff für Polizeibeamte während des „Dritten Reichs“, in: Alfons Kenkmann/Christoph Spieker (Hrsg.): Im Auftrag. Polizei, Verwaltung und Verantwortung, Essen 2001, S. 130–157. 18 Ronald Smelser/Enrico Syring (Hrsg.): Die SS: Elite unter dem Totenkopf. 30 Lebensläufe, Paderborn u.a. 2000; vgl. French L. MacLean: The Field Men. The SS Officers Who Led the Einsatzkommandos – the Nazi Mobile Killing Units, Atglen 1999; Matthias Schröder: Deutschbaltische SS-Führer und Andrej Vlasov 1942–1945.

26

GERHARD PAUL/KLAUS-MICHAEL MALLMANN

„Rußland kann nur von Russen besiegt werden.“: Erhard Kroeger, Friedrich Buchardt und die „Russische Befreiungsarmee“, Paderborn u.a. 2001; Heribert Schwan: Der SS-Mann. Josef Blösche – Leben und Sterben eines Mörders, München 2003; Ronald Rathert: Verbrechen und Verschwörung: Arthur Nebe. Der Kripochef des Dritten Reiches, Münster 2001. 19 So etwa Bogdan Musial: „Konterrevolutionäre Elemente sind zu erschießen“. Die Brutalisierung des deutsch-sowjetischen Krieges im Sommer 1941, Berlin-München 2000; Wolfram Wette/Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2001; Wolfram Wette (Hrsg.): Retter in Uniform. Handlungsspielräume im Vernichtungskrieg der Wehrmacht, Frankfurt/M. 2002; Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.): Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944, Hamburg 2002; Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Orte des Grauens. Verbrechen im Zweiten Weltkrieg, Darmstadt 2003; Johannes Hürter: Ein deutscher General an der Ostfront. Die Briefe und Tagebücher des Gotthard Heinrici 1941/42, Erfurt 2001; ders.: Die Wehrmacht vor Leningrad. Krieg und Besatzungspolitik der 18. Armee im Herbst und Winter 1941/42, in: VfZ 49(2001), S. 377–440; Christian Hartmann: Massensterben oder Massenvernichtung? Sowjetische Kriegsgefangene im „Unternehmen Barbarossa“. Aus dem Tagebuch eines deutschen Lagerkommandanten, in: ebd., S. 97–158; Peter Lieb: Täter aus Überzeugung? Oberst Carl von Andrian und die Judenmorde der 707. Infanteriedivision 1941/42, in: VfZ 50(2002), S. 523–557; Truman O. Anderson: Incident at Baranivka: German Reprisals and the Soviet Partisan Movement in Ukraine, October–December 1941, in: Journal of Modern History 71(1999), S. 585–623; ders.: Germans, Ukrainians and Jews: Ethnic Politics in Heeresgebiet Süd, June–December 1941, in: War in History 7(2000), S. 325–351; Klaus-Michael Mallmann: Der qualitative Sprung im Vernichtungsprozeß. Das Massaker von Kamenez-Podolsk Ende August 1941, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 10(2001), S. 239–264; Hannes Heer: Einübung in den Holocaust: Lemberg Juni/Juli 1941, in: ZfG 49(2001), S. 409–427; Bernd Boll: „Aktionen nach Kriegsbrauch“. Wehrmacht und 1. SS-Infanteriebrigade 1941, in: ZfG 48(2000), S. 775–788; ders.: Zloczow, Juli 1941: Die Wehrmacht und der Beginn des Holocaust in Galizien, in: ZfG 50(2002), S. 899–917; Andrej Angrick: Zur Rolle der Militärverwaltung bei der Ermordung der sowjetischen Juden, in: Babette Quinkert (Hrsg.): „Wir sind die Herren dieses Landes“. Ursachen, Verlauf und Folgen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, Hamburg 2002, S. 104–123; Peter Klein: Zwischen den Fronten. Die Zivilbevölkerung Weißrußlands und der Krieg der Wehrmacht gegen die Partisanen, in: ebd., S. 82–103; Ruth Bettina Birn: „Zaunkönig“ an „Uhrmacher“. Große Partisanenaktionen 1942/43 am Beispiel des „Unternehmens Winterzauber“, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 60(2001), S. 99–118; Alexander Hill: The Partisan War in North-West Russia 1941–44: A Re-Examination, in: The Journal of Strategic Studies 25(2002), S. 37–55; Ulrich Herbert: Vergeltung, Zeitdruck, Sachzwang. Die deutsche Wehrmacht in Frankreich und in der Ukraine, in: Mittelweg 36, 11(2002), H. 6, S. 25–42; Ben Shepherd: Hawks, Doves and Tote Zonen: A Wehrmacht Security Division in Central Russia, 1943, in: Journal of Contemporary History 37(2002), S. 349–369; ders.: The Continuum of Brutality: Wehrmacht Security Divisions in Central Russia, 1942, in: German History 21(2003), S. 49–81; Joachim Staron: Fosse Ardeatine und Marzabotto: Deutsche Kriegsverbrechen und Resistenza, Paderborn u.a. 2002; Klaus Schmider: Partisanenkrieg in Jugoslawien 1941–1944,

SOZIALISATION, MILIEU UND GEWALT

27

Hamburg 2002; Christoph Rass: „Menschenmaterial“: Deutsche Soldaten an der Ostfront. Innenansichten einer Infanteriedivision 1939–1945, Paderborn u.a. 2003; Alexander B. Rossino: Hitler strikes Poland. Blitzkrieg, Ideology, and Atrocity, Kansas City 2003. 20 Ulrike Weckel/Edgar Wolfrum (Hrsg.): „Bestien“ und „Befehlsempfänger“. Frauen und Männer in NS-Prozessen nach 1945, Göttingen 2003. 21 So das von der VolkswagenStiftung finanzierte Forschungsprojekt „Die Konstruktion der Holocaust-Täter in der deutschen Nachkriegsjustiz“ an der Universität Flensburg. 22 So etwa Georg M. Hafner/Esther Schapira: Die Akte Alois Brunner. Warum einer der größten Naziverbrecher noch immer auf freiem Fuß ist, Frankfurt/M.– New York 2000; Norbert Frei/Sybille Steinbacher (Hrsg.): Beschweigen und Bekennen. Die deutsche Nachkriegsgesellschaft und der Holocaust, Göttingen 2001; Kerstin Freudiger: Die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen, Tübingen 2002; Nicolas Berg: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003; ders.: Lesarten des Judenmords, in: Urich Herbert (Hrsg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002, S. 91–139; Patrick Wagner: Die Resozialisierung der NS-Kriminalisten, in: ebd., S. 179–213; Bernhard Brunner: Lebenswege der deutschen SipoChefs in Frankreich nach 1945, in: ebd., S. 214–242. 23 Joachim Perels/Rolf Pohl (Hrsg.): NS-Täter in der deutschen Gesellschaft, Hannover 2002. 24 So etwa bei Rolf Pohl: Gewalt und Grausamkeit. Sozialpsychologische Anmerkungen zur NS-Täterforschung, in: ebd., S. 69–117. 25 Ebd., S. 115. 26 Mommsen (Anm. 7). 27 Benz (Anm. 4), S. 121. 28 Alf Lüdtke: „Fehlgreifen in der Wahl der Mittel“. Optionen im Alltag militärischen Handelns, in: Mittelweg 36, 12(2003), S. 75. 29 Herbert Jäger: Verbrechen unter totalitärer Herrschaft. Studien zur nationalsozialistischen Gewaltkriminalität, Frankfurt/M. 1982. 30 Siehe die Einleitung „Physische Gewalt – eine Kontinuität der Moderne“ bei Thomas Lindenberger/Alf Lüdtke (Hrsg.): Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt/M. 1995, S. 7–38; Dirk Schumann: Gewalt als Grenzüberschreitung. Überlegungen zur Sozialgeschichte der Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert, in: AfS 37(1997), S. 366–386; ders.: Politische Gewalt in der Weimarer Republik 1918–1933. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001; Trutz von Trotha: Zur Soziologie der Gewalt, in: ders. (Hrsg.): Soziologie der Gewalt, Opladen 1997, S. 9–56; Roland Eckert: Gesellschaft und Gewalt – ein Aufriß, in: Soziale Welt 44(1993), S. 358–374. 31 Zur Charakterisierung der Kriegsjugendgeneration Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989. Bonn 1996, S. 42 ff. 32 Michael Mann: Were the Perpetrators of Genocide „Ordinary Men“ or „Real Nazis“? Results from Fifteen Hundred Biographies, in: HGS 14(2000), S. 343 ff. 33 Jürgen Falter: Die Wähler der NSDAP 1928–1933: Sozialstruktur und parteipolitische Herkunft, in: Wolfgang Michalka (Hrsg.): Die nationalsozialistische Macht-

28

GERHARD PAUL/KLAUS-MICHAEL MALLMANN

ergreifung, Paderborn u.a. 1984, S. 55; ausführlich ders.: Hitlers Wähler, München 1984; ähnlich auch Peter Manstein: Die Mitglieder und Wähler der NSDAP 1919–1933. Untersuchungen zu ihrer schichtmäßigen Zusammensetzung, Frankfurt/M. 21989. 34 Mann (Anm. 32), S. 341. 35 Dieser Befund deckt sich mit den Befunden für die Führungsschicht der Gestapo bei Gerhard Paul: Ganz normale Akademiker. Eine Fallstudie zur regionalen staatspolizeilichen Funktionselite, in: ders./Klaus-Michael Mallmann (Hrsg.): Die Gestapo. Mythos und Realität, Darmstadt 1995, S. 236–254; Jens Banach: Heydrichs Elite. Das Führungskorps der Sicherheitspolizei und des SD 1936–1945, Paderborn u.a. 1998; Wildt (Anm. 8). 36 Vgl. Michael Kater: Studentenschaft und Rechtsradikalismus in Deutschland, 1918–1933. Eine sozialgeschichtliche Studie zur Bildungskrise in der Weimarer Republik, Hamburg 1969; Michael Steinberg: Sabers and Brown Shirts. The German’s Students Path to National Socialism 1918–1945, Chicago 1977; Ulrich Herbert: „Generation der Sachlichkeit”. Die völkische Studentenbewegung der frühen zwanziger Jahre in Deutschland, in: Frank Bajohr/Werner Johe/Uwe Lohalm (Hrsg.): Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne. Detlev Peukert zum Gedenken, Hamburg 1991, S. 115–144; zum antisemitischen Diskurs Stefan Breuer: Ordnungen der Ungleichheit – die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945, Darmstadt 2001; Klaus Holz: Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001; Wolfram Meyer zu Uptrup: Kampf gegen die „jüdische Weltverschwörung“. Propaganda und Antisemitismus der Nationalsozialisten 1919–1945, Berlin 2003; zum Alltagsantisemitismus Helmut Gold/Georg Heuberger (Hrsg.): Abgestempelt. Judenfeindliche Postkarten, Heidelberg 1999; Michael Wildt: „Der muß hinaus! Der muß hinaus!“ Antisemitismus in deutschen Nord- und Ostseebädern 1920–1935, in: Mittelweg 36, 10(2001), H. 4, S. 2–25; Frank Bajohr: „Unser Hotel ist judenfrei“. Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2003; zur Kontinuität antisemitischer Gewalt Dirk Walter: Antisemitische Kriminalität und Gewalt. Judenfeindschaft in der Weimarer Republik, Bonn 1999; Christhard Hoffmann/Werner Bergmann/Helmut Walser Smith (Hrsg.): Exclusionary Violence. Antisemitic Riots in Modern German History, Ann Arbor 2002; Helmut Walser Smith: Die Geschichte des Schlachters. Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt, Göttingen 2002; Christoph Nonn: Eine Stadt sucht einen Mörder. Gerücht, Gewalt und Antisemitismus im Kaiserreich, Göttingen 2002. 37 Auch dies entspricht den Befunden von Mann (Anm. 32), S. 341. 38 Ebd., S. 350 ff. 39 Siehe Peter Leßmann: Die preußische Schutzpolizei in der Weimarer Republik. Streifendienst und Straßenkampf, Düsseldorf 1989, S. 175 ff. 40 Vgl. Christian Knatz: Ein Sieg über Aufrührer und Reformer. Der Mitteldeutsche Aufstand von 1921 als verpaßte Chance der preußischen Schutzpolizei, in: ZfG 46(1998), S. 28–39; ders.: „Ein Heer im grünen Rock“? Der Mitteldeutsche Aufstand 1921, die preußische Schutzpolizei und die Frage der inneren Sicherheit in der Weimarer Republik, Berlin 2000; Schumann: Politische Gewalt (Anm. 30), S. 132 ff. 41 Vgl. Thomas Kurz: „Blutmai“. Sozialdemokraten und Kommunisten im Brennpunkt der Berliner Ereignisse von 1929, Berlin-Bonn 1988; Léon Schirmann: Blutmai Berlin 1929. Dichtungen und Wahrheit, Berlin 1991.

SOZIALISATION, MILIEU UND GEWALT 42

29

Vgl. ders.: Altonaer Blutsonntag 17. Juli 1932. Dichtungen und Wahrheit, Hamburg 1994. 43 Klaus Theweleit: Männerphantasien, 2 Bde., Frankfurt/M. 1978; vgl. Bernd Ulrich/Benjamin Ziemann (Hrsg.): Krieg im Frieden. Die umkämpfte Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, Frankfurt/M. 1997; Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Dieter Langewiesche/Hans-Peter Ullmann (Hrsg.): Kriegserfahrungen. Studien zur Sozialund Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs, Essen 1997; Bernd Weisbrod: Gewalt in der Politik. Zur politischen Kultur in Deutschland zwischen den beiden Weltkriegen, in: GWU 43(1992), S. 391–404; Christian Ingrao: Deutsche Studenten, Erinnerung an den Krieg und nationalsozialistische Militanz. Eine Fallstudie, in: Wildt (Anm. 13), S. 144–159. 44 Ernst von Salomon: Die Geächteten, Hamburg 1980; Emil Julius Gumbel: „Verräter verfallen der Feme“. Opfer, Mörder, Richter 1919–1929, Berlin 1929; ders.: Verschwörer. Zur Geschichte und Soziologie der deutschen nationalistischen Geheimbünde 1918–1924, Frankfurt/M. 1984; vgl. Robert G. L. Waite: Vanguard of Nazism. The Free Corps Movement in Postwar Germany, Cambridge/Mass. 1952; Dominique Venner: Söldner ohne Sold. Die deutschen Freikorps 1918–1923, Bergisch Gladbach 1978; Hagen Schulze: Freikorps und Republik 1918–1920, Boppard 1969; Nigel H. Jones: Hitler’s Heralds. The Story of the Freikorps 1918–1923, New York 1987; Hans-Joachim Bieber: Bürgertum in der Revolution. Bürgerräte und Bürgerstreiks in Deutschland 1918–1920, Hamburg 1992; Martin Sabrow: Der Rathenau-Mord. Rekonstruktion einer Verschwörung gegen die Republik von Weimar, München 1995; ders.: Die verdrängte Verschwörung. Der Rathenau-Mord und die deutsche Gegenrevolution, Frankfurt/M. 1999; Schumann: Politische Gewalt (Anm. 30), S. 45 ff.; am lokalen Beispiel Gerd Krüger: „Treudeutsch allewege!“ Gruppen, Vereine und Verbände der Rechten in Münster (1887–1929/30), Münster 1992; Helge Matthiesen: Zwei Radikalisierungen – Bürgertum und Arbeiterschaft in Gotha 1918–1923, in: Geschichte und Gesellschaft 21(1995), S. 32–62. 45 Zur Bedeutung dieser gewaltbereiten Gruppen für die NS-Sozialisation vgl. Theodore Abel: Why Hitler Came to Power. An Answer Based on the Original Life Stories of Six Hundred of His Followers, New York 1938; ders.: The Nazi Movement. Why Hitler came to power, New York 1965; Peter Merkl: The Nazis of the Abel Collection: Why They Joined the NSDAP, in: Stein U. Larsen/Bernt Hagtvet/Jan P. Myklebust (Hrsg.): Who were the Fascists, Bergen-Oslo-Tromsø 1980, S. 268–282; Richard Bessel: Militarismus im innenpolitischen Leben der Weimarer Republik. Von den Freicorps zur SA, in: Klaus-Jürgen Müller/Eckhardt Opitz (Hrsg.): Militär und Militarismus in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1978, S. 193–222. 46 Mann (Anm. 32), S. 353. 47 Wildt (Anm. 8), S. 89 ff., 104 ff. 48 Gerhard Paul: Meinungsschnüffler und Männer fürs Grobe. Der Sicherheitsdienst (SD) der SS in Schleswig-Holstein, in: ders.: Landunter. Schleswig-Holstein und das Hakenkreuz, Münster 2001, S. 180–199; ders.: „Von Judenangelegenheiten hatte er bis dahin keine Ahnung“. Der Judenreferent des SD aus Neumünster, in: ebd., S. 202–215. 49 Zum Sozialprofil der NS-Gewaltakteure Schumann: Politische Gewalt (Anm. 30), S. 329 ff.; Mathilde Jamin: Zwischen den Klassen. Zur Sozialstruktur der SAFührerschaft, Wuppertal 1984; Peter Longerich: Die braunen Bataillone. Geschichte

30

GERHARD PAUL/KLAUS-MICHAEL MALLMANN

der SA, München 1989, S. 81 ff.; zur Bedeutung der politischen Gewalt in der NSBewegung Peter Merkl: Political Violence under the Swastika. 581 Early Nazis, Princeton-London 1975; Thomas Balistier: Gewalt und Ordnung. Kalkül und Faszination der SA, Münster 1989; Richard Bessel: Political Violence and the Rise of Nazism. The Storm Troopers in Eastern Germany 1925–1934, New Haven-London 1984; ders.: The Potemka Murder, in: Central European History 10(1977), S. 241–254. 50 Vgl. Sven Reichardt: Vergemeinschaftung durch Gewalt. Das Beispiel des SA„Mördersturmes 33“ in Berlin-Charlottenburg zwischen 1928 und 1933, in: Entgrenzte Gewalt (Anm.9), S. 20–36. 51 Ders.: Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln-Weimar-Wien 2002, S. 137 f. 52 Joseph Goebbels: Das erwachende Berlin, München 1934, S. 126. 53 Ausführlich zu dieser Tätergruppe Karin Orth: Die Konzentrationslager-SS. Sozialstrukturelle Analysen und biographische Studien, Göttingen 2000; dies.: Experten des Terrors. Die Konzentrationslager-SS und die Shoah, in: Paul (Anm. 1), S. 93–108. 54 Habbo Knoch: „Kampf im Moore“. Kameradschaftspraxis und Selbstverständnis der Wachmannschaften in den emsländischen Strafgefangenenlagern zwischen 1934 und 1942, in: Entgrenzte Gewalt (Anm. 9), S. 50–65. 55 Zur Bedeutung dieser Lebenszusammenhänge Gudrun Schwarz: Eine Frau an seiner Seite. Ehefrauen in der „SS-Sippengemeinschaft“, Hamburg 1997. 56 Vgl. Klaus-Michael Mallmann/Gerhard Paul: Die Gestapo. Weltanschauungsexekutive mit gesellschaftlichem Rückhalt, in: dies. (Hrsg.): Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. ‚Heimatfront‘ und besetztes Europa, Darmstadt 2000, S. 638 ff.; KlausMichael Mallmann: Menschenjagd und Massenmord. Das neue Instrument der Einsatzgruppen und -kommandos 1938–1945, in: ebd., S. 291–316; ders.: Die Türöffner der „Endlösung“. Zur Genesis des Genozids, in: ebd., S. 437–463; ders.: „Aufgeräumt und abgebrannt“. Sicherheitspolizei und ‚Bandenkampf ‘ in der besetzten Sowjetunion, in: ebd., S. 503–520; Alexander B. Rossino: Nazi Anti-Jewish Policy During the Polish Campain: The Case of the Einsatzgruppe von Woyrsch, in: German Studies Review 24(2001), S. 35–53; Robert Gellately: Hingeschaut und weggesehen. Hitler und sein Volk, Stuttgart-München 2002, S. 103 ff.; Hans Mommsen: Auschwitz, 17. Juli 1942. Der Weg zur europäischen „Endlösung der Judenfrage“, München 2002, S. 111 ff.; als unverzichtbare Forschungsüberblicke Thomas Kühne: Der nationalsozialistische Vernichtungskrieg und die „ganz normalen“ Deutschen. Forschungsprobleme und Forschungstendenzen der Gesellschaftsgeschichte des Zweiten Weltkrieges. Erster Teil, in: AfS 39(1999), S. 580–662; ders.: Der nationalsozialistische Vernichtungskrieg im kulturellen Kontinuum des Zwanzigsten Jahrhunderts. Forschungsprobleme und Forschungstendenzen der Gesellschaftsgeschichte des Zweiten Weltkrieges. Zweiter Teil, in: AfS 40(2000), S. 440–486; Rolf-Dieter Müller/Gerd R. Ueberschär: Hitlers Krieg im Osten 1941–1945. Ein Forschungsbericht, Darmstadt 2000. 57 Omer Bartov: Hitlers Wehrmacht. Soldaten, Fanatismus und die Brutalisierung des Krieges, Reinbek 1995. 58 Gerhard Paul: Staatlicher Terror und gesellschaftliche Verrohung. Die Gestapo in Schleswig-Holstein, Hamburg 1996, S. 104 ff. 59 Christopher R. Browning: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Reinbek 1993.

SOZIALISATION, MILIEU UND GEWALT 60

31

Exemplarisch ders.: Deutsche Mörder – Befehle von oben, Initiativen von unten und der Ermessensspielraum der örtlichen Instanzen. Das Beispiel Brest-Litowsk, in: ders. (Anm. 1), S. 179–217; Klaus-Michael Mallmann: „Mensch, ich feiere heut’ den tausendsten Genickschuß“. Die Sicherheitspolizei und die Shoah in Westgalizien, in: Paul (Anm. 1), S. 109–136. 61 Erstmals jetzt ausführlich dokumentiert bei Mallmann/Rieß/Pyta (Anm. 2). 62 Vgl. Rainer Weinert: „Die Sauberkeit der Verwaltung im Kriege“. Der Rechnungshof des Deutschen Reiches 1938–1946, Opladen 1993; Franz O. Gilles: Hauptsache sparsam und ordnungsgemäß. Finanz-und Verwaltungskontrolle in den während des Zweiten Weltkrieges von Deutschland besetzten Gebieten, Opladen 1994; Martin C. Dean: Jewish Property Seized in the Occupied Soviet Union in 1941 and 1942: The Records of the Reichshauptkasse Beutestelle, in: HGS 14(2000), S. 83–101; Frank Bajohr: Nationalsozialismus und Korruption, in: Mittelweg 36, 7(1998), H. 1, S. 57–77; ders.: Parvenüs und Profiteure. Korruption in der NS-Zeit, Frankfurt/M. 2001. 63 Zur Bedeutung der „Festung Nord“ für SS, Sicherheits- und Ordnungspolizei Stephan Linck: Der Ordnung verpflichtet: Deutsche Polizei 1933–1949. Der Fall Flensburg, Paderborn u.a. 2000, S. 147 ff.; ders.: „Festung Nord“ und „Alpenfestung“. Das Ende des NS-Sicherheitsapparates, in: Paul/Mallmann (Anm. 56), S. 569–595. 64 Gerhard Paul: Zwischen Selbstmord, Illegalität und neuer Karriere. Ehemalige Gestapo-Bedienstete im Nachkriegsdeutschland, in: ders./Mallmann (Anm. 35), S. 534. 65 Vgl. Norbert Frei: Identitätswechsel. Die „Illegalen“ in der Nachkriegszeit, in: Helmut König/Wolfgang Kuhlmann/Klaus Schwabe (Hrsg.): Vertuschte Vergangenheit. Der Fall Schwerte und die NS-Vergangenheit der deutschen Hochschulen, München 1997, S. 207–222. 66 Zum Umgang mit den NS-Tätern im regionalen Umfeld Gerhard Paul.: „... zwinkerte man mit den Augen und schwieg“. Schweigekartell und Weißwäschersyndikat im hohen Norden, oder: Wie aus NS-Tätern und ihren Gehilfen Nachbarn und Kollegen wurden, in: ders. (Anm. 48), S. 346–389; vgl. Wilfried Loth/Bernd-A. Rusinek (Hrsg.): Verwandlungspolitik. NS-Eliten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, Frankfurt/M.-New York 1998. 67 Vgl. Ulrich Herbert: Rückkehr in die Bürgerlichkeit? NS-Eliten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, in: Bernd Weisbrod (Hrsg.): Rechtsradikalismus in der politischen Kultur der Nachkriegszeit. Die verzögerte Normalisierung in Niedersachsen, Hannover 1995, S. 157–173. 68 Vgl. Dieter Schenk: Auf dem rechten Auge blind. Die braunen Wurzeln des BKA, Köln 2001; Gerhard Fürmetz/Herbert Reinke/Klaus Weinhauer (Hrsg.): Nachkriegspolizei. Sicherheit und Ordnung in Ost- und Westdeutschland 1945–1969, Hamburg 2001; Stefan Noethen: Alte Kameraden und neue Kollegen. Polizei in Nordrhein-Westfalen 1945–1953, Essen 2003; Klaus Weinhauer: Schutzpolizei in der Bundesrepublik. Zwischen Bürgerkrieg und innerer Sicherheit: Die turbulenten sechziger Jahre, Paderborn u.a. 2003. 69 Dies deckt sich mit den Befunden für Schleswig-Holstein bei Paul (Anm. 58), S. 254 ff. 70 Ausführlich hierzu Herbert (Anm. 31), S. 491 ff. 71 Vgl. Martin C. Dean: The German Gendarmerie, the Ukrainian Schutzmannschaft and the ‚Second Wave‘ of Jewish Killings in Occupied Ukraine: German Policing at the Local Level in the Zhitomir Region, 1941–1944, in: German History

32

GERHARD PAUL/KLAUS-MICHAEL MALLMANN

14(1996), S. 168–192; ders.: Collaboration in the Holocaust. Crimes of the Local Police in Belorussia and Ukraine, 1941–44, Basingstoke-London 2000; ders.: Polen in der einheimischen Hilfspolizei. Ein Aspekt der Besatzungsrealität in den deutsch besetzten ostpolnischen Gebieten, in: Bernhard Chiari (Hrsg.): Die polnische Heimatarmee. Geschichte und Mythos der Armia Krajowa seit dem Zweiten Weltkrieg, München 2003, S. 355–368; Dieter Pohl: Ukrainische Hilfskräfte beim Mord an den Juden, in: Paul (Anm. 1), S. 205–234; Ruth Bettina Birn: Collaboration with Nazi Germany in Eastern Europe: the Case of the Estonian Security Police, in: Contemporary European History 10(2001), S. 181–198; dies.: Kollaboration und Mittäterschaft. Die Inkorporierung von einheimischem Personal in die Sicherheitspolizei in den besetzten Ostgebieten, in: Wildt (Anm. 13), S. 303–323; Klaus-Michael Mallmann: Der Krieg im Dunkeln. Das Unternehmen „Zeppelin“ 1942–1945, in: ebd., S. 324–346. 72 Vgl. Adelheid von Saldern: Opfer oder (Mit-)Täterinnen? Kontroversen über die Rolle der Frauen im NS-Staat, in: Sozialwissenschaftliche Informationen 20(1991), S. 97–103; Gudrun Schwarz: Verdrängte Täterinnen. Frauen im Apparat der SS (1939–1945), in: Theresa Wobbe (Hrsg.): Nach Osten. Verdeckte Spuren nationalsozialistischer Verbrechen, Frankfurt/M. 1992, S. 197–227; dies.: SS-Aufseherinnen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern (1933–1945), in: Dachauer Hefte 10, 1994, S. 32–49; Ursula Nienhaus: Himmlers willige Komplizinnen – Weibliche Polizei im Nationalsozialismus 1937 bis 1945, in: Michael Grüttner/Rüdiger Hachtmann/Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.): Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup, Frankfurt/M.–New York 1999, S. 517–539; Angelika Ebbinghaus (Hrsg.): Opfer und Täterinnen. Frauenbiographien des Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1996; Kirsten Heinsohn/Barbara Vogel/Ulrike Weckel (Hrsg.): Zwischen Karriere und Verfolgung. Handlungsspielräume von Frauen im nationalsozialistischen Deutschland, Frankfurt/M.-New York 1997; Elisabeth Harvey: Erinnern und Verdrängen. Deutsche Frauen und der „Volkstumskampf“ im besetzten Polen, in: Karen Hagemann/Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.): Heimat-Front. Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege, Frankfurt/M.-New York 2002, S. 291–310. 73 Vgl. Hans Safrian: Die Eichmann-Männer, Wien 1993; Karin Orth: Rudolf Höß und die „Endlösung der Judenfrage“. Drei Argumente gegen deren Datierung auf den Sommer 1941, in: WerkstattGeschichte 18,1997, S. 45–57; Yaacov Lozowick: Hitlers Bürokraten. Eichmann, seine willigen Vollstrecker und die Banalität des Bösen, Zürich-München 2000; Irmtrud Wojak: Eichmanns Memoiren. Ein kritischer Essay, Frankfurt/M.-New York 2001; Christian Gerlach: The Eichmann Interrogations in Holocaust Historiography, in: HGS 15(2001), S. 428–452; Dirk Rupnow: Das unsichtbare Verbrechen. Beobachtungen zur Darstellung des NS-Massenmordes, in: Zeitgeschichte 29(2002), S. 87–97. 74 Mit deutlichen Parallelen Wolf Gruner: Öffentliche Wohlfahrt und Judenverfolgung. Wechselwirkungen lokaler und zentraler Politik im NS-Staat (1933–1942), München 2002.

HANNES HEER

Gustav Freiherr von Mauchenheim, genannt Bechtolsheim – ein Wehrmachtsgeneral als Organisator des Holocaust Seine Einheit, das Reserve-Polizeibataillon (RPB) 11, sei Ende Oktober 1941 vom litauischen Kowno nach Minsk beordert und dort einer SicherungsDivision der Wehrmacht unterstellt worden, sagte dessen ehemaliger Kommandeur Franz Lechthaler 1961 aus. „Es gäbe nicht eher Ruhe, bis die Juden sämtlich beseitigt wären“, sei die Direktive gewesen, die er bei seiner Ankunft vom Stab der erwähnten Wehrmachtseinheit, der 707. InfanterieDivision (ID), erhalten habe.1 Über deren Befehlshaber, den Generalmajor Bechtolsheim, dem er damals dienstlich öfter begegnet war, fällte Lechthaler ein harsches Urteil; es handle sich bei ihm „um einen Mörder […]. Bechtolsheim habe mehrfach derartige Befehle erteilt.“2 Der so Beschuldigte wies bei seiner Vernehmung die Vorwürfe empört zurück; seine Division habe weder ihr zeitweilig zugeteilten Polizeibataillonen Befehle zur Erschießung von Juden erteilt, noch habe sie sich selbst daran beteiligt.3 Gestützt auf diese Zeugenaussage verwarf der Untersuchungsrichter die Darstellung des Angeschuldigten mit der Begründung, „daß nach allgemeiner Erfahrung die Wehrmacht mit solchen Judenaktionen nicht befaßt worden ist“.4 Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft schloß sich dem fast wortgleich an.5 Lechthaler wurde 1963 wegen Beihilfe zum Totschlag zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.6 Gegen seinen Auftraggeber Bechtolsheim reichte es gerade zu einem Ermittlungsverfahren, das jedoch schon 1962 eingestellt wurde.7 Er starb am 25. Dezember 1965, ohne je belangt worden zu sein. Judenmord auf freiem Feld Die Ernennung Rosenbergs zum Reichsminister für die besetzten Ostgebiete am 17. Juli 1941 bedeutete auch den Beginn des Aufbaus einer Zivilverwaltung in den westlichen Gebieten der besetzten Sowjetunion. Zeitgleich mit der Einsetzung der beiden zivilen Reichskommissare wurden auch die obersten Inhaber der militärischen Gewalt in diesen Gebieten, die Wehrmachtsbefehlshaber Ostland und Ukraine, ernannt. Sie sollten vor allem die Nachschublinien und den Nachschub sicherstellen und in ihrem Befehlsbereich „die militärische Sicherung im Innern und gegenüber überraschender Bedrohung von außen“ gewährleisten.8 Zur Erfüllung dieser Aufgaben wurden drei Divisionen zur Verfügung gestellt: eine für die Ukraine, eine für das Baltikum und eine für Weißrußland, in der NS-Diktion Weißruthenien genannt.

34

HANNES HEER

Zum Vertreter des Wehrmachtsbefehlshabers Ostland im Generalkommissariat Weißruthenien wurde Bechtolsheim ernannt, der sein Amt am 1. September 1941 antrat.9 Die erste dienstliche Verlautbarung des bisher durch antisemitische Äußerungen nicht aufgefallenen Generalmajors überraschte. In einem Bericht zur Lage vom 10. September informierte er die Truppe über die von den Juden ausgehende Gefahr: „Die jüdische Schicht, die in den Städten den größten Teil der Bevölkerung stellt, ist die treibende Kraft der sich mancherorts anbahnenden Widerstandsbewegung. […] Die jüdische Bevölkerung ist bolschewistisch und zu jeder deutschfeindlichen Haltung fähig. Zu ihrer Behandlung bedarf es keiner Richtlinien.“ Mit Hinweis darauf, daß „Weißruthenien […] keineswegs als befriedet zu betrachten“ sei, forderte er Verstärkung, um dieser Gefahr begegnen zu können.10 Das zeigte Wirkung. Am 4. Oktober erhielten zwei Kompanien des in Kowno stationierten RPB 11, verstärkt durch drei litauische Kompanien, den Marschbefehl nach Minsk.11 Dort wurden sie Bechtolsheim direkt unterstellt.12 Die Polizeieinheiten begannen sofort mit ihrem Einsatz. Bei Rudensk wurden 800, in Smilowicze 1338 und in Koidanowo 1000 Juden erschossen.13 Während bei diesen Aktionen noch versucht wurde, den Anschein von Partisanenbekämpfung zu wahren – die Opfer wurden als „Partisanen, Kommunisten, Juden und sonstiges verdächtige[s] Gesindel“ bezeichnet –, unterließ man diese Camouflage in der Folge. In Molodezcno trieben die Polizisten am 26. Oktober, unterstützt von örtlicher Feldgendarmerie, die dort lebenden 500 bis 1000 Juden zusammen und transportierten sie zur Exekution außerhalb der Stadt, die danach „vollkommen frei“ von Juden war.14 In Sluzk, der nächsten Station des Bataillons, ließ man immerhin mehr als die Hälfte der 7000 Juden am Leben.15 Der dortige Leiter der Zivilverwaltung hatte erreicht, daß ein Teil nach Arbeitsfähigkeit selektiert wurde.16 Der Rest – 3200 Menschen – wurde erschossen, wobei Einheiten der 707. ID die Absperrung übernahmen.17 Eine ähnlich große Zahl von Juden fiel dem Einsatz des RPB 11 in Kleck zum Opfer. Nachdem der Ortskommandant 1500 Facharbeiter mit ihren Angehörigen ausgewählt hatte, wurden die übrigen 3000 bis 3500 Menschen in einer Sandgrube erschossen.18 Im benachbarten Lachowicze fand der letzte Einsatz statt. Dort wurde am 2. November die Mehrheit der ortsansässigen Juden getötet – etwa 1000 Menschen.19 Am folgenden Tag wurde die Unterstellung des Polizeibataillons unter die 707. ID beendet. Das deutsche Kontingent kehrte nach Kowno zurück; die litauischen Kompanien verblieben in Minsk.20 Lapidar vermerkte Bechtolsheim in seinem Abschlußbericht: „Bei einer Säuberungsaktion im Raum Sluzk-Kleck wurden durch das Res.Pol.Batl.11: 5900 Juden erschossen.“21 Insgesamt fielen dem RPB 11 während des zweiwöchigen Einsatzes mehr als 11000 Menschen zum Opfer.

GUSTAV FREIHERR VON MAUCHENHEIM, GENANNT BECHTOLSHEIM

35

Bereits vor Erscheinen des Polizeibataillons hatten Einheiten der Division aber auch eigenständig gehandelt. Mit unterschiedlichen Begründungen – wegen „nicht zufriedenstellender Arbeitsleistungen der jüdischen Bevölkerung“, zur Vergeltung für einen „jüdischen Sabotageakt“, wegen Beunruhigung der Bevölkerung „durch Gerüchte“ – mußten immer wieder Gruppen von Juden mit dem Leben bezahlen.22 Bei zwei sogenannten Partisanenaktionen wurden einmal 80 und dann 145 Juden erschossen.23 Diese antijüdischen Maßnahmen hörten mit dem Auftreten des RPB 11 nicht auf, sie änderten nur ihre Form. Unter dem Begriff „Judenjagd“ fanden jetzt Erschießungen auch ohne speziellen Anlaß „laufend“24 statt, an denen sich zahlreiche Einheiten der 707. ID beteiligten,25 und sie folgten alle einer zentralen Anweisung. Den Erinnerungen ehemaliger Divisionsangehöriger zufolge, wurde vor den Einsätzen Mitte Oktober ein Befehl verlesen, „daß die Juden im Raum OstpolenMinsk liquidiert werden müßten, weil sie die Partisanen unterstützen sollten“.26 Diese Erinnerungen geben exakt die damalige Befehlslage wieder. Bechtolsheim hatte am 28. September einen – bisher nicht aufgefundenen – grundsätzlichen Befehl zur Behandlung von Juden und Zigeunern erlassen,27 den er am 16. Oktober wiederholte und mit einer Anweisung zum permanenten Streifendienst verschärfte. „Anläßlich dieser Streifen ist dafür zu sorgen“, so schwor er die Truppe ein, „daß die Juden restlos aus den Dörfern entfernt werden. Es bestätigt sich immer wieder, daß diese die einzigen Stützen sind, die die Partisanen finden, um sich jetzt noch und über den Winter halten zu können. Ihre Vernichtung ist daher rücksichtslos durchzuführen.“28 Drei Tage danach griff Bechtolsheim das Thema noch einmal auf: „Die Juden als die geistigen Führer und Träger des Bolschewismus und der kommunistischen Idee sind unsere Todfeinde. Sie sind zu vernichten. Immer und überall, wo Meldungen über Sabotageakte, Aufhetzung der Bevölkerung, Widerstand usw. zu Aktionen zwangen, wurden Juden als die Urheber und Hintermänner festgestellt, zum größten Teil auch als die Täter selbst. […] Um die politische Lage im Raume Weißruthenien zu klären und die Befriedung in diesem Lande durchführen zu können, muß sich jeder Soldat und jeder Führer über diese Tatsachen im klaren sein.“ Dann, den Ton noch einmal verschärfend: „Hier gibt es kein[en] Kompromiß, hier gibt es nur eine klare und eindeutige Lösung, und die heißt hier im Osten restlose Vernichtung unserer Feinde. Diese Feinde aber sind keine Menschen mehr in europäische[m] Kultursinn, sondern von Jugend auf zum Verbrecher erzogene und als Verbrecher geschulte Bestien. Bestien aber müssen vernichtet werden.“29 Der Befehl vom 19. Oktober war der wohlkalkulierte Aufruf zum Holocaust „auf freiem Feld“.30 Er hatte die Ausweitung der Aktionen des RPB 11 zur Folge und führte dazu, daß Bechtolsheims eigene Einheiten nicht mehr nur auf „Judenjagd“ gingen – mit ein oder zwei LKWs und 100 bis 200 er-

36

HANNES HEER

mordeten Menschen –, sondern Ende Oktober/Anfang November Großaktionen durchführten, bei denen jüdische Gemeinden gänzlich oder doch zu großen Teilen ausgelöscht wurden. Am 21. Oktober wurden in Goroditsche mehr als 1000 Juden ermordet.31 Alle in Szirowice lebenden 1000 bis 1500 Juden32 und möglicherweise eine ähnlich große Zahl der Juden von Byten wurde erschossen.33 Am 30. Oktober wurde Neswish (Nieświeź) zum Tatort eines ungleich größeren Massakers. Der dortige Ortskommandant, Oberfeldwebel Specht, leitete die Aktion, gestützt auf eigene Kräfte und verstärkt durch Teile des Polizeibataillons.34 Nachdem er etwa 500 Handwerker mit ihren Familien ausgesucht hatte, wurden die übrigen mehr als 3000 Juden erschossen – von Deutschen, Litauern und Weißrussen.35 Ungeklärt in den Details ist das, was die Kommandos der Ortskommandantur Stolpce am 5. November in den Ortschaften Swierzna, Jeremice und Turec anrichteten.36 Nur die Ergebnisse sind bekannt. In Swierzna wurden 400 Frauen, Kinder und Alte ermordet; die übrigen „arbeitsfähigen Juden“ kamen in ein Arbeitslager. In Jeremice wurden 100 Menschen getötet, und in Turec wurden nach der Aussonderung von 100 Arbeitskräften 450 bis 500 Juden mit MGs erschossen.37 In der Kleinstadt Mir, in der etwa 2000 Juden lebten, führten Einheiten derselben Kommandantur, verstärkt durch die von ihr aufgebaute weißrussische Hilfspolizei, am 9. November überfallartig die Ermordung von 800 Juden durch.38 Diejenigen, die sich retten konnten, ließ man zunächst in Ruhe und sperrte sie später ins Schloß, das bis zu ihrer endgültigen Vernichtung als Ghetto diente.39 Alle diese Ereignisse spielten sich im Befehlsbereich des Infanterie-Regiments (IR) 727 ab. Aber es gab sie auch in den Gebieten, in denen die beiden anderen Verbände der Division, das IR 747 und das Landesschützen-Regiment 75, stationiert waren. In Szarkowzczyzna soll es Ende Oktober zur Tötung von 200 Juden gekommen sein.40 In Woloshin fand, nach einer Selektion der 3000 dort lebenden Juden, die Erschießung von etwa 300 „überwiegend der jüdischen Intelligenz“ zuzurechnenden Personen statt.41 Im November wurden alle in Jody lebenden 400 bis 500 Juden liquidiert.42 Zur selben Zeit wurde in einer unbekannten Ortschaft, die an der Straße von Baranowicze nach Sluzk lag und etwa 1000 jüdische Einwohner zählte, eine unbekannte Anzahl Juden erschossen. Das Kommando „in grauen Wehrmachtsuniformen“, das aus Sluzk gekommen war und dorthin wieder zurückfuhr, gab an, es müßte „die alten Juden umlegen“.43 Die Tatsache, daß – verglichen mit den Einsätzen des IR 727 – für die beiden oben erwähnten Regimenter so wenige Aktionen gegen Juden dokumentiert sind, läßt nicht den Schluß zu, daß der Anteil dieser Einheiten am Judenmord der 707. ID „relativ gering“ gewesen ist.44 Die Differenz ist weniger eine des tatsächlichen Geschehens als vielmehr der erfolgten Aufklärung durch Ermittlungsverfahren in der Nachkriegszeit.45 Daß es keine unter-

GUSTAV FREIHERR VON MAUCHENHEIM, GENANNT BECHTOLSHEIM

37

schiedliche Praxis in der Ausrottung der Juden in seinem Befehlsbereich gab, bestätigte auch Bechtolsheim, als er Mitte November resümierte, daß „die hierzu bisher durchgeführten Aktionen […] im Osten des Bereichs statt[fanden] im alten sowjetrussischen Grenzgebiet und an der Bahnstrecke Minsk-Brest-Litowsk“. Als Ergebnis dieser Aktionen im Zeitraum eines Monats nannte Bechtolsheim die Zahl von 10431 Erschossenen.46 Auch die Zivilverwaltung in Minsk bestätigte den flächendeckenden Charakter dieser Ausrottungspraxis. Für den Bereich des Gebietskommissariats Sluzk vermerkte ein Visitationsbericht vom 20. November: „Einige Rayons sind bereits judenfrei.“47 Ähnlich hieß es für Minsk-Land am 26. November: „Die Rayons sind judenfrei bis auf einige Rayons, die noch 3–5 Juden beherbergen.“48 Die beiden Kommissariate deckten sich mit dem Befehlsbereich des IR 747. Beihilfe zum Ghettomord Der Reichskommissar Ostland, Hinrich Lohse, hatte als Etappenschritt auf dem Weg zur „endgültigen Lösung der Judenfrage“ in seinem Gebiet am 18. August 1941 „Vorläufige Richtlinien für die Behandlung der Juden“ erlassen. Diese „Mindestmaßnahmen“ ordneten an, „das flache Land […] von den Juden zu säubern“ und diese „tunlichst in Städten oder in Stadtteilen größerer Städte zu konzentrieren, die bereits eine jüdische Bevölkerung besitzen. Dort sind Ghettos zu errichten.“49 Diese Richtlinien blieben wegen des stockenden Aufbaus der Zivilverwaltung zunächst Papier. Erst Ende Oktober/Anfang November waren die Gebietskommissariate administrativ und personell imstande, mit der Umsetzung zu beginnen. Jetzt erst verfügten sie über eigene Polizeikräfte und eine rudimentäre Verwaltung. Eine der ersten Maßnahmen der neuen Besatzungsbehörden war es, die zumeist schon von der Wehrmacht eingerichteten jüdischen Wohnbezirke in feste, d.h. umzäunte und bewachte Ghettos zu verwandeln. Dieser Prozeß war in aller Regel zu Jahresende abgeschlossen. Bechtolsheim mußte auf diese Situation reagieren. Er war jetzt nicht mehr der einzige Befehlshaber vor Ort, der entschied, wie mit den Juden zu verfahren sei. Die Macht mußte von jetzt an mit einer zivilen Verwaltung geteilt werden, die zu exekutiven Maßnahmen fähig war. Sein Lagebericht vom 3. November schien dem Rechnung zu tragen. Bezogen auf die 1,5 Millionen in Weißrußland lebenden Juden stellte er fest, daß „eine Aussiedlung in großem Maßstab, die allein Abhilfe schaffen könnte, […] z. Zt. nicht möglich“ sei. Um den Partisanen ihren Rückhalt zu nehmen, sei es aber unerläßlich, daß „das Judentum […] aus den Landbezirken entfernt, in Ghettos zusammengefaßt und von den aktiv bolschewistisch tätigen, mit den Banden weiterhin in Verbindung stehenden Elementen gesäubert“ werde.50 Es wird bei genauer Lektüre deutlich, daß jedoch von einem Einschwenken auf die Linie

38

HANNES HEER

der Zivilverwaltung keine Rede sein kann. Obwohl er den Vorgang der Ghettoisierung akzeptierte, wird sichtbar, daß er ihn anders interpretierte – als Funktion der Partisanenabwehr – und sich gleichzeitig – wegen der damit verbundenen Gefahr bolschewistischer Zellenbildung in den Ghettos – alle Optionen für ein eigenständiges Vorgehen offenhielt. Der Lagebericht vom 10. November läßt daran keinen Zweifel. Unter dem Stichwort „Juden“ heißt es dort: „Da sie nach wie vor mit den Kommunisten und Partisanen gemeinsame Sache machen, wird die restlose Ausmerzung dieses volksfremden Elementes durchgeführt.“51 Das liest sich wie eine nachträgliche Würdigung der Aktionen von Neswish, Swierzna, Turec, Jeremice, die am Vortag in Mir ihren Abschluß gefunden hatten. Umso mehr mußte ein Befehl überraschen, der zwei Wochen später erschien und solche Massenerschießungen ausdrücklich verbot. „Die Durchführung größerer Judenaktionen ist nicht Aufgabe der Einheiten der Division. Sie werden durch die zivile- oder Polizeibehörde durchgeführt, gegebenenfalls durch den Kommandanten in Weißruthenien angeordnet, wenn ihm dazu besondere Einheiten zur Verfügung stehen oder aber aus Sicherheitsgründen und bei Kollektivmaßnahmen. Wo kleinere oder größere Judengruppen auf dem Lande angetroffen werden, können sie entweder selbst erledigt oder aber in Ghettos an einzelnen größeren Orten, die hierzu bestimmt werden, zusammengebracht werden, wo sie dann der Zivilverwaltung bezw. dem S.-D. zu übergeben sind. Bei größeren Aktionen dieser Art ist vorher die zivile Verwaltung in Kenntnis zu setzen.“52 Was waren die Gründe für diesen plötzlichen Schwenk, der den Spielraum der Truppe beträchtlich einschränkte, weil er die Initiative für Großaktionen anderen Formationen überließ, erstmals die Übergabe zusammengetriebener Juden in Ghettos regelte und bei eigenen größeren Einsätzen eine strikte Informationspflicht gegenüber der Zivilverwaltung vorschrieb? Den Auslöser für diesen überraschenden Befehl lieferte eine veränderte Lage. Sie war ablesbar an zwei Ereignissen. In Slonim waren am 14. November auf Befehl des Gebietskommissars Erren und unter Leitung eines Kommandos der Sicherheitspolizei aus Baranowicze 9500 jüdische Menschen aus dem Ghetto getrieben, mit LKWs zu den vorher ausgehobenen Gräben transportiert und dort von sich abwechselnden Exekutionskommandos erschossen worden.53 Die Mordaktion war sorgfältig geplant und unter den beteiligten Formationen – Sicherheitspolizei, Gebietskommissariat, Gendarmerie Slonim, RPB 69 (Todt), Ortskommandantur – vorher minutiös abgesprochen worden.54 Die am Ort stationierte 6. Kompanie des IR 727 war eingesetzt, in allen Phasen und in allen Funktionen: beim Ausheben der Gräben, beim Zusammentreiben der Juden, als Absperr- und Begleitkommando an der Exekutionsstelle, zum Einsammeln von Kleidern und Wertsachen und als Schützen.55 An einem Tag wurde mehr als die Hälfte der in Slonim leben-

GUSTAV FREIHERR VON MAUCHENHEIM, GENANNT BECHTOLSHEIM

39

den Juden vernichtet. Der Tatort des zweiten Ereignisses war Minsk. Das mit 30000 Insassen größte Ghetto Weißrußlands sollte nach dem Willen Heydrichs ab November vorübergehend auch zum Vernichtungslager für Zehntausende westeuropäischer Juden werden. Die offizielle Mitteilung über diesen Beschluß und die Ankündigung der ersten Deportationszüge für den 11. November sorgten im Reichskommissariat Ostland für große Aufregung und lösten einen regen Briefwechsel mit Reichsminister Rosenberg aus .56 Aber die Sicherheitspolizei hatte schon eine Antwort darauf erteilt: Ein Sonderkommando, unterstützt von litauischer und weißrussischer Hilfspolizei, erschoß in Minsk zwischen dem 7. und 11. November 6624 und am 20. November noch einmal etwa 5000 Juden.57 Bechtolsheims Befehl vom 24. November reagierte auf diese Entwicklung der Lage. Der Befehlshaber der 707. ID hatte wesentlich zu ihr beigetragen, indem er das exekutive Vakuum gefüllt hatte, das zwischen dem Abzug der Fronttruppen und der Etablierung von Zivilverwaltung und Sicherheitspolizei entstanden war. Dabei war er mehr als ein Lückenbüßer gewesen. Die von ihm betriebene Politik der Ausmerzung der Juden hatte eine Tatbereitschaft und ein Tötungsklima produziert, das nicht nur auf seine Division, sondern auch auf andere Institutionen der Besatzungsmacht Einfluß gehabt haben dürfte und die in der Folgezeit festzustellende Eskalation der Gewalt in Weißrußland verständlicher macht. Die Wehrmacht konnte sich nun von einer Tätigkeit zurückziehen, die sie vorübergehend und stellvertretend wahrgenommen hatte, die jetzt aber diejenigen Formationen weiterführen würden, zu deren Auftrag sie genuin gehörte. Die Heeresverbände konnten sich nunmehr wieder auf ihre originären militärischen Aufgaben besinnen. Insofern handelte es sich bei Bechtolsheims Schritt vom 24. November weniger um einen „Kurswechsel“,58 eher um eine Bestätigung seiner Linie. Der Rückzug erfolgte aber auch aus zusätzlichen Gründen. Für die jetzt angeordnete Zuführung der Juden in die Ghettos fehlten die Transportmittel und wohl auch das Personal, denn die dramatische Lage an der Front hatte mittlerweile auch die Etappe erreicht. Einheiten, die bisher der 707. ID zur Verfügung gestanden hatten, wurden plötzlich von der kämpfenden Truppe angefordert,59 und die verbliebenen Kräfte widmeten sich dem verstärkten Aufbau weißrussischer Hilfsverbände und Lehrgängen über die Bekämpfung der Partisanen. Am 17. März 1942 wurden Bechtolsheim und seine 707. ID durch die 202. Sicherungsbrigade abgelöst und ins rückwärtige Heeresgebiet Mitte verlegt.60 Dort führten sie in der Zeit vom 24. März bis 7. April einen Großeinsatz gegen Partisanen südlich von Bobruisk durch. Das Ergebnis des unter dem Codenamen „Bamberg“ laufenden Unternehmens waren 3423 erschossene „Partisanen und Helfer“. Dem standen eigene Verluste von 7 Toten und 8 Verwundeten gegenüber.61 Schon dieses Mißverhältnis läßt ahnen, was die

40

HANNES HEER

Verlaufsberichte im einzelnen bestätigen: Die meisten der Opfer wurden außerhalb von Kampftätigkeit bei „Befriedungsaktionen“ erschossen, waren also unbewaffnete Zivilisten.62 Unter den gegnerischen Kräften, so wurde vor und während der Aktion immer wieder gemeldet, befänden sich zahlreiche Juden.63 Nach Abschluß des Unternehmens „Bamberg“ wurde die Divison aus Weißrußland abgezogen und in die Gegend von Brjansk verlegt.64 Dort ging es um andere Aufgaben – um die ausschließliche Bekämpfung von wirklichen Partisanen.65 Im Kampf mit ihnen hatte sich Bechtolsheim, wie eine Beurteilung seines Vorgesetzten belegt, offensichtlich gut geschlagen: „Vor dem Feind bewährt. Im Kampf gegen die Banden gute Erfolge gehabt.“66 Als er aber mit seiner Einheit direkt an die Front verlegt wurde, zeigten sich seine Grenzen als Truppenführer. Er wurde in die Führerreserve versetzt und tat ab 1. April 1943 als Wehrersatzinspekteur in Heidelberg, später in Regensburg Dienst.67 Alle Versuche, als Leiter einer Kommandantur erneut im besetzten Gebiet Verwendung zu finden, um auf diese Weise doch noch seine Beförderung zum Generalleutnant zu erhalten, wurden wegen mangelnder Eignung abgelehnt.68 Extremfall oder Normalität? Bechtolsheim und seine 707. ID genießen in der Forschung mittlerweile einen traurigen Ruhm.69 Christian Gerlach nennt die Division – mit Blick auf ähnliche Erscheinungen im besetzten Serbien – zwar „keinen Ausnahme – aber einen Extremfall“,70 und Peter Lieb hat unlängst festgestellt, daß die antijüdischen Befehle Bechtolsheims „innerhalb der Wehrmachtsgeneralität einzigartig in ihrer Häufigkeit und Radikalität“ sind.71 Dem ist angesichts der Zahl von mehr als 20000 ermordeten Juden nicht zu widersprechen.72 Es bleibt die Frage, wie das möglich war. Da Bechtolsheim keine persönlichen Zeugnisse hinterlassen hat, ist man – was seine Handlungsmotive oder gar sein Weltbild betrifft – auf die Deutung seiner Befehle und der Dynamik der Ereignisse angewiesen. Stellt man beides in den Zusammenhang seiner generationsspezifischen Erfahrungen und der personellen wie politischen Situation seines Einsatzes, dann ergeben sich drei Faktoren, die eine vorsichtige Antwort auf die oben formulierte Frage erlauben. (1) Bechtolsheim, am 16. Juni 1889 als Sohn eines Generalmajors geboren, trat 1907 in die bayrische Armee ein, nahm am Ersten Weltkrieg als Truppenoffizier – zuletzt im Range eines Hauptmanns – teil und wurde nach Dienst im Freikorps Epp von der Reichswehr übernommen. Seit 1936 als Ausbildungsleiter tätig, kam er mit seinem Regiment 1940 kurz in Frankreich zum Einsatz und versah dort Anfang 1941 für einige Monate Dienst als Besatzungsoffizier.73 Da die Beurteilungen seiner Vorgesetzten aus dieser Zeit nichtssagend sind, liegt es nahe, davon auszugehen, daß Bechtolsheim die politischen Erfahrungen seiner Altersgruppe mit Krieg und Nachkriegszeit

GUSTAV FREIHERR VON MAUCHENHEIM, GENANNT BECHTOLSHEIM

41

und die Erwartungen seines Berufsstandes an den Nationalsozialismus teilte. Diese „Teilidentität von Erfahrung und Erinnerung“ (Kroener) bzw. diese „Teilidentität der Ziele“ (Messerschmidt) implizierten einen aus der traumatisch erlebten Niederlage von 1918 resultierenden Antisemitismus und Antibolschewismus sowie eine Identifizierung mit dem nationalsozialistischen Führerstaat und der von ihm betriebenen Revision der Versailler Nachkriegsordung.74 Sein Einsatz in Weißrußland reaktivierte vor allem das antisemitisch-antibolschewistische Stereotyp. Für Bechtolsheim, einen Fanatiker der Sicherheit, der in seinen Lageberichten jede abgebrannte Scheune erwähnte, avancierten die Juden zum Sicherheitsrisiko Nr.1. Offenbar wirkten hier auch ältere Muster nach. Denn Bechtolsheims Personalakte verzeichnet für die Zeit vom 1. Mai bis 15. Juni 1919 „Kämpfe gegen die Aufständischen in München“.75 Der Eintrag rekurriert auf die Münchener Räterepublik, an deren Niederschlagung er als Angehöriger des Freikorps Epp beteiligt war. Möglicherweise kehrte die Erinnerung an diese Erfahrung in den Weiten des Ostens und angesichts eines unsichtbaren Feindes zurück. Der Jude/Partisan hatte jetzt die Rolle des Spartakisten übernommen, in all ihren heimtückischen Metamorphosen. (2) Zur Stabilisierung dieser Haltung trugen zwei Umstände bei. Einmal scheint seine unmittelbare Umgebung in Minsk, was ihre politische Einstellung angeht, sehr homogen gewesen zu sein. Das gilt für den Chef der Abwehrstelle ebenso wie für den des Rüstungskommandos. Auch mit dem Feldkommandanten von Minsk, Oberstleutnant Karl Schlegelhofer, dürfte es, wie dessen eifrig betriebene antijüdische Maßnahme nahelegen,76 keine Differenzen gegeben haben. Wichtiger war indessen, daß die für seinen Dienst wichtigsten Personen – sein Vorgesetzter und sein Stabschef – praktizierende Nationalsozialisten waren. Walter Braemer, sein Chef, hatte als Karrieresoldat 1932 die Reichwehr verlassen, um als hauptamtlicher SS-Führer Dienst zu tun. 1938 war er mit dem Dienstgrad eines SS-Brigadeführers wieder in die Wehrmacht eingetreten.77 Seine erste Verwendung fand er in Polen, wo er als Kommandant des rückwärtigen Armeegebietes 580 und als Befehlshaber in Bromberg mit den drakonischen Strafaktionen aus Anlaß des „Bromberger Blutsonntags“ unmittelbar befaßt war.78 Fritz-Wedig von der Osten diente bei Bechtolsheim als Ia-Offizier, war also sein engster Mitarbeiter. Vor dem Krieg hatte er als NSDAP-Kreisleiter in Traunstein hauptamtliche Parteifunktionen wahrgenommen.79 Von der Osten dürfte eine wichtige Rolle bei der Abfassung der Lageberichte mit ihrer haßerfüllten antisemitischen Diktion gespielt haben. Der einzige von ihm überlieferte Satz – „daß man es in Rußland mit geschulten Verbrechern schlimmster Sorte zu tun hat und daß als Dienstanweisung nur Karl May oder Edgar Wallace in Frage kämen“ – stützt eine solche Vermutung.80 Aber auch in den unteren Diensträngen besetzten Nationalsozialisten wichtige Posten: mehrere Kompaniechefs, die zugleich

HANNES HEER

42

als Ortskommandanten fungierten, sowie deren Stellvertreter gehörten der NSDAP an und fielen wegen ihrer aktiven Rolle bei den Mordaktionen auf. Sie sorgten dafür, daß die Befehle vor Ort durchgeführt wurden und ergriffen – notfalls mit Kommandos von Freiwilligen – die Initiative. (3) Ein wichtiger Faktor für die Dynamik der Ereignisse dürfte die Tatsache gewesen sein, daß die 707. ID für einen Zeitraum von zweieinhalb Monaten die einzige stationäre Exekutive darstellte. Ihre Feld- und Ortskommandanturen erfaßten und kontrollierten das ganze Gebiet – die lokalen Verwaltungen wie die von der Wehrmacht aufgebaute einheimische Hilfspolizei, einen Großteil der Industriebetriebe und die landwirtschaftliche Produktion. Es gab bis zum Erscheinen der Zivilverwaltung keine Institution, mit der man sich in Konkurrenz befand oder deren Interessen den Radius der eigenen Politik begrenzt hätten. Das hatte Auswirkungen auf das Tempo der Aktionen. Man wollte Fakten schaffen, bevor man darüber zu verhandeln gezwungen war. Andererseits fehlte nach dem Abzug der Kommandos der Einsatzgruppe B die für die Ermordung der Juden zuständige Instanz. Die verbleibenden Rest- und Teilkommandos waren personell bestenfalls zu gezielten Einzelaktionen, nicht aber zum flächendeckenden Einsatz disponiert. So mußte die 707. ID diesen Part übernehmen. Angesichts dieses Befundes ist die These vom ‚Extremfall‘ 707. ID und von der ‚Einzigartigkeit‘ der Befehle Bechtolsheims zu relativieren. Denn unter ähnlichen Bedingungen hätte ähnliches stattfinden können. Mindestens zwei der oben genannten Bedingungen galten ebenfalls für die SicherungsDivisionen in den rückwärtigen Armee- und Heeresgebieten. Auch dort gab es keine konkurrierende Exekutive, und die meisten ihrer Generäle waren, wie Bechtolsheim, keine Nationalsozialisten, wohl aber Weltkriegsveteranen mit ähnlichem Deutungsfundus. Was ein erster Blick schon verrät,81 dürften intensivere Untersuchungen bestätigen: die Grenzen waren fließend und Holocaust-Täter im Militärrock häufiger. Anmerkungen 1

Vern. Franz Lechthaler v. 4.7.1960, StAMA, 274 Kassel Nr. Acc. 1996/57, Nr. 65. Verfügung Staw Kassel v. 3.6.1960, ebd. 3 Vern. Bechtolsheim v. 6.7.1960, ebd. 4 Verfügung Untersuchungsrichter LG Kassel v. 7.11.1960, ebd. 5 Anklage Staw Kassel v. 3.1.1961, BAL, SA 119. 6 Urteil LG Kassel v. 9.1.1963, ebd. 7 Das von der Staw Augsburg aufgrund einer Anzeige gegen Bechtolsheim 1961 eingeleitete Verfahren, „wegen Verdacht nationalsozialistischer Gewalttaten“ wurde später von der Staw München I übernommen und eingestellt, Verfügung Staw München I v. 28.3.1962, Staw München I 22 Js 376/61. 2

GUSTAV FREIHERR VON MAUCHENHEIM, GENANNT BECHTOLSHEIM 8

43

OKH: Errichtung von Reichskommissariaten in den besetzten Ostgebieten v. 17.7.1941 mit Anlage: Allgemeine Dienstanweisung für Wehrmachtsbefehlshaber, SHAL, 70-5-22. 9 Kdt. i. W./Ia: Übernahme der militärischen Hoheitsrechte und Befugnisse im westlichen Weißruthenien v. 1.9.1941, BA-MA, RH 26-221/13. 10 Dto.: Lagebericht 1.–10.9. v. 10.9.1941, BSA, 651-1-1. 11 BdO Ostland an RKO v. 17.10.1941, ebd. 12 Kdt. i. W./Ia v. 27.10.1941, dto. v. 3.11.1941, dto.: Befehl Nr. 27 v. 10.11.1941, alle BSA, 378-1-698; GenK Weißruthenien an RKO v. 1.11.1941, IfZ, Nbg. Dok. PS1104. 13 Kdt. i. W./Ia: Lagebericht 1.–15.10.1941, BSA, 651-1-1; RPB 11: Lagebericht über den Sondereinsatz in Minsk 14.–21.10. v. 21.10.1941, ebd. 14 Vern. Heinrich K. v. 21.4.1961, Ernst W. v. 9.2.1959, Rudolf G. v. 29.3.1962, Anton S. v. 22.4.1961, Staw Bochum 7 Ks 45 Js /61; Vern. Walter P. v. 30.6.1960, StAMA, 274 Kassel Nr. Acc. 1996/57, Nr. 65; Bericht über die Inspektionsreise nach Wilejka am 13.11. v. 17.11.1941, BSA, 370-1-8. 15 Inspektionsreise Sluzk am 19.11. v. 20.11.1941, BSA, 370-1-52. 16 GebK Sluzk an GenK Weißruthenien v. 30.10.1941, IfZ, Nbg. Dok. PS-1104; Vern. Rochelle P. v. 10.12.1962, StAMA, 274 Kassel Nr. Acc.1996/57, Nr. 65. 17 Vern. Ladislaus K. v. 1.11.1960, Friedrich G. v. 13.4.1961, Kazis U. v. 24.9.1947, ebd.; Verfügung Staw München I v. 28.3.1962, Staw München I 22 Js 376/61. 18 Aussage Gedaliahu F. v. 11.6.1968, Bela A. v. 17.6.1968, BAL, 202 AR-Z 171/67, Bd. 2, Bl. 246 ff., 257 ff. 19 Abschlußbericht ZSL v. 19.7.1967, BAL, 202 AR-Z 16/67, Bd. 5, Bl. 880 ff.; Vern. Karl-Heinz G. v. 20.9.1962, Staw München I 113 Ks 1/65a-b. 20 Kdt. i. W./Ia v. 3.11.1941, dto. v. 6.11.1941, dto. v. 10.11.1941, BSA, 378-1-698. 21 Kdt. i. W./Ic: Anlage 4 zum Monatsbericht 1.10.–10.11. v. 10.11.1941, BA-MA, RH 26-707/2. 22 Vern. Leon L. v. 21.9.1966, Reuven M. v. 20.9.1966, Staw München I 117 Js 2/72; Kdt. i. W./Ia v. 8.10.1941, BSA, 378-1-698; dto.: Lagebericht 1.–15.10.1941, BSA, 651-1-1. 23 Abwehrstelle Ostland: Tätigkeitsbericht für 5.7.–30.9. v. 18.10.1941, SHAL, 705-37; Kdt. i. W./Ia v. 2.10.1941, BSA, 378-1-698; NL Carl von Andrian, Einträge 20.–26.9.1941, HStAM, Kriegsarchiv, 4/1. 24 Vern. Georg Qu. v. 16.11.1961, Staw Hamburg 147 Js 29/67. 25 Vern. Fritz F. v. 20.5.1970, Johann K. v. 12.5.1970, Johann W. v. 21.7.1972, Johann K. v. 15.5.1970, Sebastian M. v. 12.5.1970, Staw München I 117 Js 2/72; Vern. Georg L. v. 9.12.1964, Alois H. v. 12.2.1965, Willibald S. v. 8.12.1964, Staw Mainz 3 Ks 1/67; NL Carl von Andrian, Eintrag v. 16.10.1941, HStAM, Kriegsarchiv, 4/1; Abt. II-Le. an GenK Weißruthenien v. 3.11.1941, BSA, 393-1-16. 26 Vern. Robert R. v. 1.12.1959, Staw Hamburg 147 Js 29/67; ähnlich Michael M. v. 9.8.1960, ebd. 27 Kdt. i. W./Ia: Befehl Nr. 24 v. 24.11.1941, BSA, 378-1-698. 28 Dto. v. 16.10.1941, ebd. 29 Kdt. i. W./Ia: Lagebericht 1.–15.10.1941, BSA, 651-1-1.

HANNES HEER

44 30

Habbo Knoch: Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001, S. 28. 31 Nechama Tec: Bewaffneter Widerstand. Jüdische Partisanen im Zweiten Weltkrieg, Gerlingen 1996, S. 52; Aussage Judel S. v. 2.11.1960, Staw Hamburg 147 Js 29/67. 32 Dto. Shabtai M. v. 15.11.1973, Abraham D. v. 17.5.1961, ebd. 33 Vern. Ivo M. v. 30.5.1960, Fritz T. v. 13.9.1961, ebd. 34 Dto. Rudolf K. v. 19.6.1970, Johann E. v. 2.8.1972, Johann K. v. 15.5.1970, Staw München I 117 Js 2/72; Wladimir S. v. 22.11.1966, Martin M. v. 16.4.1962, Staw Osnabrück 17 Js 685/65. 35 Aussagen Gerszon G. und Genis G. (undat.), ebd. 36 Vern. Alois G. v. 28.4.1948, M. v. 28.8.1972, Johann W. v. 21.7.1972, Staw München I 117 Js 2/72. 37 Zu Jeremice Abschlußbericht ZSL v. 19.7.1967, 202 AR-Z 16/67, Bl. 9 ff.; zu Turec ebd., Vern. Johann W. v. 21.7.1972, Joel M. v. 8.2.1967, Untersuchungsbericht der Gebietskommission der Stadt Mir v. 25.4.1945, Staw München I 117 Js 2/72; zu Swierzna Josef Reich: Wald in Flammen, Buenos Aires 1954, S.63 ff. 38 Vern. Karl K. v. 8.5.1970, Leonhard B. v. 8.9.1972, Staw München I 117 Js 2/72. 39 Aussage Dow R. v. 7.2.1967, ebd. 40 Vern. J. v. 8.3.1945, BAL, Dok.Slg. UdSSR 426. 41 Aussage Gandi P. v. 28.8.1967, Mendel W. v. 27.6.1967, Jakow K. v. 24.7.1967, Staw Bochum 7 Ks 45 Js/61. 42 Vern. Boris W. v. 8.12.1964, Staw Hannover 2 Js 388/65. 43 Dto. Lorenz O. v. 2.7.1962, Staw Hamburg 147 Js 29/67. 44 Peter Lieb: Täter aus Überzeugung? Oberst Carl von Andrian und die Judenmorde der 707. Infanteriedivision 1941/42, in: VfZ 50(2002), S. 542. 45 Während Ermittlungen gegen das Personal der GebK in Slonim (Erren), Lida (Windisch) und Novogrodek (Reuter) zu Verfahren gegen ehemalige Angehörige des IR 727 führten, wurde im Abschnitt Minsk, Wilejka und Glubokoje nur gegen Führer der Sicherheitspolizei (Heuser, Hellmann, Schaupeter) recherchiert, deren Tätigkeit erst begann, als die 707. ID abgelöst wurde. 46 Kdt. i. W./Ia: Monatsbericht 10.10.–10.11. v. 10.11.1941, BA-MA, RH 26-707/2. 47 Inspektionsreise Sluzk am 19.11. v. 20.11.1941, BSA, 370-1-52. 48 Inspektion im Gebiet Minsk-Land am 26.11.1941, BSA, 370-1-490. 49 RKO: Vorläufige Richtlinien für die Behandlung der Juden im Gebiet des RKO v. 18.8.1941, BAB, R 90/145. 50 Kdt. i. W./Ia: Lagebericht für 16.–31.10.1941, SHAL, 70-5-37. 51 Dto.: Monatsbericht 11.10.–10.11. v. 10.11.1941, BA-MA, RH 26-707/2. 52 Dto.: Befehl Nr. 24 v. 24.11.1941, BSA, 378-1-698. 53 Anklage Staw Hamburg v. 27.12.1971, BAL, SA 477. 54 Vern. Lothar S. v. 18.6.1964, Staw Hamburg 147 Js 29/67. 55 Dto. Georg S. v. 24.3.1960, Friedrich P. v. 18.3.1960, Johann F. v. 16.8.1961, Franz L. v. 1.2.1960, Johann F. v. 23.3.1960, Anton N. v. 7.2.1961, Wilhelm R. v. 15.8.1960, ebd.; Karl M. v. 23.5.1962, Johann F. v. 22.3. 1960, Ernst A. v. 16.3.1960, Staw München I 113 Ks 1/65 a-b; Hubert R. v. 28.6.1960, Johann T. v. 15.11.1960, ebd. 1a Js 545/60.

GUSTAV FREIHERR VON MAUCHENHEIM, GENANNT BECHTOLSHEIM 56

45

Vgl. Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 2, Frankfurt/M. 1991, S. 369 ff. 57 Urteil LG Koblenz v. 12.6.1961, BAL, SA 102; Vern. Franz Hess v. 16.2.1945; Niederschrift dess. v. 19.7.1945, beides Archiv des Autors; Niederschrift Georg Heuser v. 19.8.1963, Staw Koblenz 9 Js 716/59-9Ks 2/62. 58 Christian Gerlach: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg 1999, S. 618. 59 Kdt. i. W./Ia: Befehl Nr. 27 v. 4.12.1941, dto.: Nr. 30 v. 18.12.1941, BSA, 378-1-698. 60 KTB 707. ID/Ia v. 17.3.1942, BA-MA, RH-26-707/4. 61 707. ID/Ia: Abschlußbericht Unternehmen „Bamberg“ v. 7.4.1942, ebd., RH 26707/5. 62 Dto., Anlage C, ebd.; Wehrmachtsbefehlshaber Ukraine: Bericht Nr. 7 v. 21.4.1942, ebd., RW 41/1. 63 707. ID/Ic: Monatsbericht für 1.–21.3. v. 14.5.1942, ebd., RH 26-707/15; 707. ID/Ia: Divisionsbefehl Nr. 37 v. 25.3.1942, dto. Nr. 40 v. 27.3.1942, Meldung IR 727 v. 31.3.1942, alle ebd., RH 26-707/5. 64 KTB dto. 7.–15.4.1942, ebd., RH 26-707/4. 65 707. ID/Ic: Lagebericht für Mai und Juni v. 5.8.1942, ebd., RH 26-707/15. 66 Beurteilungsnotizen Generalkommando XXXXVII. Panzerkorps v. 26.2.1943, ebd., Pers 6/1616. 67 Ebd., Msg 109/10843. 68 Bechtolsheim an Heerespersonalamt v. 18.4. und 12.5.1944, Antwort v. 29.4.1944, ebd., Pers. 6/1616. 69 Bis 1994, als der Autor ihr Wirken in Weißrußland erstmals untersuchte, war sie völlig unbekannt; vgl. Hannes Heer: Killing fields. Die Wehrmacht und der Holocaust, in: Mittelweg 36, 3(1994), H.3, S.7–29. 70 Gerlach (Anm. 58), S. 620. 71 Lieb (Anm. 44), S. 536. 72 Der damalige Leiter IV des KdS Minsk, Kurt Burkhardt, sprach von 19000 „Partisanen und Verbrechern“, die von der 707. ID bis Dezember 1941 erschossen worden seien, sog. Burkhardt-Bericht (undat.; Januar/Februar 1942), IfZ, Fb 104/2; Bechtolsheim rühmte sich Ende 1941, er habe „einige Zehntausende von Partisanen beseitigt“, zit. bei Gerlach (Anm. 58), S. 619. 73 BA-MA, Msg 109/10843; ebd., RH 26-246/12. 74 Bernhard B. Kroener: Strukturelle Veränderungen in der militärischen Gesellschaft des Dritten Reiches, in: Michael Prinz/Rainer Zitelmann (Hrsg.): Nationalsozialismus und Modernisierung, Darmstadt 1991, S. 273 ff.; Manfred Messerschmidt: Die Wehrmacht im NS-Staat. Zeit der Indoktrination, Hamburg 1969; vgl. Johannes Hürter: Ein deutscher General an der Ostfront. Die Briefe und Tagebücher des Gotthard Heinrici 1941/42, Erfurt 2001, S.16 ff. 75 Eintrag 1919, BA-MA, Pers. 6/1616. 76 Gerlach (Anm. 58), S. 523 f. 77 Ebd., S. 612. 78 KTB Korück 580/Ia 6.–12.9.1939, BA-MA, RH 23/167. 79 BAB, BDC, PK Fritz-Wedig von der Osten; ebd., NSDAP-Zentralkartei, Karteikarte dto.

HANNES HEER

46 80

Abgedruckt in: Wolfgang Benz/Konrad Kwiet/Jürgen Matthäus (Hrsg.): Einsatz im „Reichskommissariat Ostland“. Dokumente zum Völkermord im Baltikum und in Weißrußland 1941–1944, Berlin 1998, S. 78. 81 Beispielsweise die Hinweise zum Einsatz der 221. Sicherungs-Division in Bialystok bei Gerlach (Anm. 58), S. 542 ff.; ausführlich dazu Hannes Heer: Wehrmacht und Holocaust (erscheint 2004).

RUTH BETTINA BIRN

Heinrich Bergmann – eine deutsche Kriminalistenkarriere In jüngerer Zeit ist die Mitwirkung der Kriminalpolizei an den nationalsozialistischen Verbrechen ins Blickfeld gerückt. Dabei wird immer wieder auf die Kontinuitäten in der kriminalpolizeilichen Arbeit vom Kaiserreich zur NSZeit hingewiesen; ebenso auf Kontinuitäten in personeller Hinsicht. Heinrich Bergmann ist ein Beispiel dafür. Er wurde am 21. November 1902 in Kassel geboren und versuchte zunächst zwischen 1918 und 1922 im Militär Fuß zu fassen, ehe er 1923 in die Polizei eintrat. Zunächst bei der Schutzpolizei eingestellt, bewarb er sich bei der Kriminalpolizei, wurde 1938 für die Kriminalkommissarlaufbahn vorgeschlagen und absolvierte den entsprechenden Lehrgang an der Führerschule der Sicherheitspolizei in Berlin Charlottenburg.1 Politisch war er offensichtlich zu dieser Zeit noch nicht festgelegt; denn er nahm erst an Freikorpsaktivitäten,2 dann an der Niederschlagung des Kapp-Putsches teil3 und trat der NSDAP erst 1937 und der SS 1939 bei. Nach SS-Maßstäben war „seine Geisteshaltung […] noch nicht einwandfrei und geschlossen“.4 Am 17. November 1941 wurde er von der Kripo-Leitstelle Stuttgart zum Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD (KdS) in Reval5 (Tallinn) abgeordnet und traf gegen Ende November dort ein. Vom KdS Reval zum BKA Bergmann wurde Leiter der Abteilung AV (Kriminalpolizei),6 war aber während seiner dreijährigen Dienstzeit in Estland – bis zum deutschen Rückzug im September 1944 – auch in verschiedenen anderen Funktionen eingesetzt, nämlich als Außenstellenleiter in Pleskau und Krasnoje-Selo, als Teilkommandoführer in Luga zur Partisanenbekämpfung und vertretungsweise als Leiter der Abteilungen A IV und A II sowie des Referats A I B (Schulung und Erziehung).7 Nach der Wegversetzung des Abteilungsleiters A IV (Gestapo) im März 1944 schließlich übernahm Bergmann dessen Abteilung.8 Der rasche Wechsel und die Übernahme zahlreicher Funktionen wurde durch die Struktur ermöglicht, die der KdS, Dr. Martin Sandberger, seiner Dienststelle gegeben hatte. Eine zahlenmäßig kleine Gruppe deutscher Sicherheitspolizisten übernahm dort die Überwachungs- und Anleitungsfunktionen; die Sacharbeit wurde jedoch von einer sehr viel größeren Anzahl estnischer Beamter geleistet. Zudem reflektiert der beständige Wechsel Sandbergers Bestreben, seine Untergebenen dem Härtetest des Einsatzes in Rußland-Nord auszusetzen und eine Bewährung im Kampfeinsatz zu ermöglichen.9 Schließlich entsprach eine schnell bewegliche, überall einsetzbare Aufsichtsverwaltung auch den ideologischen Prämissen der SS. Es ist nicht verwunderlich, daß Sand-

48

RUTH BETTINA BIRN

berger – von seinen Untergebenen als hochintelligent, ehrgeizig und als „Idealtyp eines SS-Führers“ bezeichnet10 – die von seinem Reichsführer gepredigten Ideale umsetzte. Aber auch Bergmann, der einen verhältnismäßig niederen SS-Rang hatte11 und von Untergebenen und Kollegen als gewissenhafter, „korrekter, keineswegs fanatischer und brutaler“ Beamter12 beschrieben wurde, konnte in diesem System reüssieren. Nach dem Rückzug aus Estland im Amt VI des Reichssicherheitshauptamts (RSHA) eingesetzt, wurde Bergmann mit seiner Dienststelle von Berlin in die Nähe von Innsbruck verlegt und erlebte dort den ‚Zusammenbruch‘. Bereits im August 1945 kehrte er nach Hause zurück und lebte und arbeitete unbehelligt unter seinem richtigen Namen.13 1955 wurde Bergmann in das 1951 errichtete Bundeskriminalamt (BKA) eingestellt, 1956 zum Kriminalkommissar ernannt und verbeamtet und im Jahr 1962 pensioniert.14 Aus Geschäftsverteilungsplänen scheint hervorzugehen, daß er im Referat Ausbildung und Eignungsprüfungen tätig war.15 Weder Sachakten zu seiner Tätigkeit noch seine Personalakte stehen der Forschung zur Verfügung; eine sehr fragmentarische Korrespondenz zwischen dem Präsidenten des BKA und dem Bundesinnenministerium deutet aber darauf hin, daß 1958 Anschuldigungen gegen Bergmann erhoben wurden.16 Generell vermitteln die Akten den Eindruck, daß die folgenden Faktoren die Einstellung von NS-Tätern trotz gegenteiliger Absicht ermöglichten: die Bevorzugung erfahrener Kriminalisten, eine Überbewertung der ideologischen Motivation bei NS-Verbrechen, was eine manichäische Spaltung zwischen Gestapo und Kripo beförderte, eine Flut apologetisch gefärbter Gutachten und ‚Persilscheine‘ sowie schlichte Ignoranz.17 SS-Ränge von Kriminalpolizisten wurden als zwangsweise Angleichungsdienstgrade angesehen, wenn der SS- oder NSDAPBeitritt nicht sehr früh erfolgt war.18 Der Lebenslauf eines Heinrich Bergmann paßte völlig ins Bild. Die Errichtung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg 1958 brachte staatsanwaltschaftliche Ermittlungen zu Estland in Gang. 1960 vernahm man Bergmann zum ersten Mal und ermittelte anschließend gegen ihn wegen Verbrechen im Bereich des KdS Reval.19 1967 wurde er in U-Haft genommen. Wegen gesundheitlicher Probleme erklärte man ihn jedoch 1970 für verhandlungsunfähig und stellte das Verfahren ein. Kriminalkommissar in Estland Auf Grund seines Einsatzes in den Abteilungen IV und V war Bergmann an allen Aspekten der deutschen Repressionspolitik zumindest beteiligt, also an der Verfolgung von Kommunisten und Juden (A IV), ‚Zigeunern‘ und Asozialen (A V). Hauptaktivität der Sicherheitspolizei in Estland war die Unterdrückung tatsächlicher oder vermuteter Kommunisten; die ‚heiße‘ Phase fand allerdings vor dem Eintreffen von Bergmann statt.20 Die Aufträge des RSHA

HEINRICH BERGMANN

49

stimmten in diesem Punkt mit den Interessen derjenigen Teile der estnischen Bevölkerung überein, die in der Zeit der sowjetischen Besetzung verfolgt worden waren; die Sicherheitspolizei konnte sich darum auf eine umfangreiche Gruppe von Helfern, den estnischen Selbstschutz, stützen.21 Die ungezügelten Verhaftungen und Erschießungen des Jahres 1941 machten im folgenden Jahr geregelteren Verfahren Platz, bei denen Ermittlungsergebnisse der estnischen Polizei in Berichten zusammengefaßt und einer aus estnischen Angehörigen der Politischen und der Kriminalpolizei zusammengesetzten Dreierkommission vorgelegt wurden. Die Vorschläge der Kommission wurden dann dem KdS in Reval unterbreitet, der bestätigen, zurückverweisen oder eigene Straffestsetzungen vornehmen konnte. In den Perioden, in denen er den Abteilungsleiter A IV vertrat,22 war Bergmann in diese Zirkulation von Akten eingebunden, und er zeigte sich dabei als korrekter Ermittlungsbeamter, der durch lange Fragenkataloge die tatsächlichen Hintergründe der jeweiligen Fälle aufzuklären bestrebt war, gegebenenfalls aber auch die Exekution anordnete.23 Auch der Mord an den estnischen Juden war in der Hauptsache abgeschlossen, als Bergmann eintraf. Im Januar 1942 meldete man, daß Estland „judenfrei“ sei. Dies wurde aber bereits im September und Oktober 1942 wieder revidiert mit der Ankunft zweier Deportationszüge aus Theresienstadt und Deutschland. Man kann über den Grund für diese Deportationen nach Estland nur Mutmaßungen anstellen. Der Höhere SS- und Polizeiführer (HSSPF) Friedrich Jeckeln plante 1942 die Errichtung eines großen Konzentrationslagers bei Reval;24 möglicherweise waren die Deportierten als Arbeitskräfte für den Aufbau dieses Lagers gedacht.25 Überlebende der Deportation beschuldigten Bergmann, sowohl bei der Selektion nach Ankunft des Zuges als auch im Lager Jägala und auf der nächsten Station ihres Leidensweges, dem Zentralgefängnis in Reval, anwesend gewesen zu sein und eine Befehlsfunktion innegehabt zu haben.26 Ein Geschäftsstellenbeamter bezeugte, daß Bergmann als Vertreter des Abteilungsleiters A IV Angehörige der Abteilung zur Erschießung eingeteilt und insgesamt die Maßnahmen bei Ankunft des Zuges organisiert habe.27 Verschiedene Angehörige des KdS besuchten nachgewiesenermaßen Jägala, die Wertsachen der ermordeten Juden wurden in der KdS-Dienststelle verkauft.28 Das geplante Konzentrationslager wurde jedoch nicht gebaut, Jägala Mitte 1943 wieder abgerissen und der Großteil der überlebenden Deportierten in das im September 1943 errichtete KL Vaivara im estnischen Ölschiefergebiet gebracht, das vom SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt betrieben wurde und nicht der Sicherheitspolizei unterstand.29 In seinem eigentlichen Tätigkeitsfeld zeigte sich Bergmanns Engagement. In einem Vortrag zählte er auf, was die Hauptaufgaben der deutschen und der estnischen Kriminalpolizei waren: Bekämpfung der Homosexualität, der ‚Zigeuner‘, der Prostitution, der Spekulation und der Arbeitsverweigerung.30

50

RUTH BETTINA BIRN

Homosexualität war in Estland nicht strafbar; es war jedoch beabsichtigt, Homosexuelle in Vorbeugehaft zu nehmen.31 ‚Zigeuner‘ standen unter dem Generalverdacht, asoziale Elemente zu sein. Wie mit ihnen verfahren werden sollte, blieb geraume Zeit ungeklärt. Schon im September 1941 gab es Anordnungen der Wehrmacht, ‚Zigeuner‘ festzunehmen.32 Zum Teil wurden sie bei Razzien gegen andere Gruppen einfach mitverhaftet.33 Aus Bergmanns Vortrag geht hervor, daß in Estland – wie im Reichskommissariat Ostland allgemein – zunächst zwischen „seßhaften“ und ‚Zigeunern‘ „ohne festen Wohnsitz“ unterschieden wurde; nur letztere wurden als Asoziale angesehen.34 Nach einer großen Verhaftungsaktion am 19. Februar 194235 wurde dann das ‚Zigeunerproblem‘ als gelöst betrachtet, weil alle nomadisierenden ‚Zigeuner‘ im „geschlossenen Arbeitseinsatz“ stünden.36 Es folgte die Ermordung der Inhaftierten. Die Erschießung von 243 ‚Zigeunern‘ am 27. Oktober 1942 im Arbeitserziehungslager (AEL) Harku wurde Bergmann gemeldet;37 am 7. Dezember 1942 ordnete er die „Sonderbehandlung“ einer Einzelperson an.38 Am 22. Januar 1943 befahl A V, alle ‚Zigeuner‘, inklusive die mit festen Wohn- und Arbeitsverhältnissen, zum Transport in Lager bereitzuhalten; diese Anordnung wurde in allen Teilen Estlands im Februar 1943 ausgeführt.39 Es ist nicht ganz klar, wann und ob ein endgültiger Tötungsbefehl gegeben wurde;40 im Sommer 1943 befanden sich noch ‚Zigeuner‘ in den AEL.41 Laut Bergmann war „der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung […] besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden“.42 Ausgehend von Erkenntnissen der Erbbiologie wurde kriminelles Verhalten als ein vererbbarer Charakterdefekt angesehen. Deshalb sollten – „von allen Hemmungen theoretischen Bedenkens“ befreit – „Gewohnheits- und Triebverbrecher“ sowie „asoziale Elemente“ überwacht und gegebenenfalls in Vorbeugehaft genommen werden.43 „Bei besonders asozialen Personen mit entsprechenden Vorstrafen kann ein Antrag auf Exekution gestellt werden,“ führte Bergmann aus.44 In Estland wurde eine breit angelegte Aktion gegen „Asoziale“ veranstaltet. Zuständig waren die deutsche und estnische Kriminalpolizei. Die Esten arbeiteten die Vorstrafenregister von Straffälligen durch und gaben eine Einschätzung ab, ob die Betreffenden noch ‚nützliche Glieder der Volksgemeinschaft’ werden könnten oder ob sie exekutiert werden sollten. Das bezog sich nicht nur auf Gewaltverbrecher, sondern schloß Taschendiebe und Prostituierte mit ein.45 35 Prozent der „erfaßten Berufs- und Gewohnheitsverbrecher“ wurden exekutiert.46 Wie erwähnt, kann über Bergmanns Tätigkeit im BKA auf Grund der schlechten Quellenlage nicht viel gesagt werden. Es ist aber deutlich, daß Bergmanns Vorstellungen zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung sich nicht von den im BKA zirkulierenden unterschieden. Es sollte nur nicht ‚von allen Hemmungen befreit‘ vorgegangen werden, sondern „ein ordentliches

HEINRICH BERGMANN

51

gerichtliches Verfahren“ stattfinden. Die Vorstellung, daß die Polizei nicht reaktiv, sondern aktiv und vorbeugend tätig sein müsse, und daß „asoziales Verhalten eine Gefahr für die Allgemeinheit“ darstelle, hatte sich in der Nachkriegszeit erhalten und dies nicht nur in Deutschland.47 Innenansichten und Mythenbildungen In den sich über ein Jahrzehnt erstreckenden Vernehmungen Bergmanns werden zwei Strategien sichtbar: der Versuch, die ‚unpolitische‘ Kriminalpolizei von der ‚verbrecherischen‘ Gestapo abzugrenzen, und der Versuch, das Positive im eigenen Verhalten herauszustreichen. So gab Bergmann seine Tätigkeit in der Abteilung A IV nicht an; er behauptete auch, von Sandberger abgelehnt worden zu sein, weil er nur Volksschulbildung hatte.48 Die Korrespondenz zwischen ihm und Sandberger nach dessen Wegversetzung ist allerdings in sehr herzlichem Ton gehalten.49 Bei den Versuchen, über seine guten Taten zu berichten, ging Bergmann nicht sehr geschickt vor. So weisen Geschichten, im Gefängnis Reval für Ordnung gesorgt zu haben und beim Rückzug die Exekution versehrter russischer Kriegsgefangener verhindert zu haben,50 auf Zuständigkeiten außerhalb des Tätigkeitsfeldes eines Leiters A V hin. Auch reflektieren Bergmanns Aussagen die alten Begriffsmuster, nach denen in „Dirnen“ und „ehrbare Frauen“ unterteilt wurde,51 und Exekutionen durch Anordnung von ‚oben‘ gerechtfertigt waren,52 während das Verhalten eines KdS-Angehörigen, der Unzucht mit Gefängnisinsassen beging, als äußerst verwerflich angesehen wurde.53 Bergmann zeigte keinerlei kritische Selbstreflexion, sondern faßte seine Tätigkeit mit den Worten zusammen: „Ich habe überhaupt während meiner gesamten Dienstzeit in Estland und während des Krieges, überhaupt überall, wo ich konnte, nur Gutes getan, habe niemanden erschossen, keine Erschießungsbefehle erteilt, sondern das Los der Häftlinge im Gefängnis erleichtert, wo ich nur konnte.“54 Gleich nach dem Ende der NS-Zeit begann die Bildung von historischen Mythen, in der Hauptsache verursacht durch Selbstentlastungsversuche von Tätern. Sandberger hat dazu wesentlich beigetragen. So versuchte er, seine Verantwortlichkeit für die Ermordung der estnischen Juden wegzuerklären, indem er die Schuld zum Teil einem Untergebenen, zum Teil dem HSSPF Friedrich Jeckeln zuschob, der die angeblichen Versuche Sandbergers, die Juden in Pleskau in Sicherheit zu bringen, unterlaufen und deren Erschießung befohlen habe.55 Dies wird zwar durch Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Hamburg widerlegt,56 ist aber der Grundstock für eine Reihe ähnlicher Legenden geworden, in denen Jeckeln, der sicherlich einer der einflußreichsten NS-Täter gewesen ist, zu einem Popanz aufgebaut wird, der durch seine brutale Vorgehensweise seine Untergebenen zur Teilnahme an Verbrechen gezwungen habe.57 Bergmann, der nach dem Kriege in Kontakt mit Sandberger stand, bediente sich derselben Konfiguration und versuchte mit dem

52

RUTH BETTINA BIRN

Hinweis auf Befehle von Jeckeln und den Befehlsnotstand, die Schuld an der Exekution der 243 ‚Zigeuner‘ in Harku von sich abzuwälzen.58 Mythenbildung beschränkt sich allerdings nicht auf die Verteidigungsstrategien von NS-Tätern, sie befindet sich in steter Weiterentwicklung. Ein jüngeres Beispiel ist die Annahme, daß Nationalsozialisten wie Bergmann die Aufnahme in das BKA auf Grund von ungebrochenen ideologischen Kontinuitäten und Manipulationen alter Kameraden gelungen sei.59 Diese These läßt einmal den Kenntnisstand der Zeit außer Acht. So hatte selbst die 5. USArmee 1945 eine Ermittlung gegen den Leiter der Abteilung IV beim KdS Bozen dem ehemaligen Leiter der Abteilung V übertragen – offenbar in der Annahme, in diesem einen unpolitischen Kriminalisten vor sich zu haben.60 Zudem verstellt diese Art von Verschwörungstheorie eher den Blick auf die wesentliche Frage, warum es entgegen den Absichten zumindest der alliierten Behörden zur Wiederbeschäftigung von Leuten wie Bergmann gekommen ist. Zur Mythenbildung wurde auch von den Gegnern und Opfern der Nationalsozialisten beigetragen. Wie erwähnt, erhoben einige der Überlebenden der Deportationen von 1942 schwerste Vorwürfe gegen Bergmann. Die Zeuginnen beschuldigten ihn, die Selektion bei der Ankunft ihres Zuges geleitet und sehr häufig im Lager Jägala, im Gefängnis Reval und an ihrem Arbeitsort, der Schiffswerft, inspiziert zu haben. Schließlich sei er auch in den Arbeitslagern des KL Vaivara aufgetaucht und habe dort wieder selektiert.61 Einige Teile dieser Aussagen sind mit dem Verhalten eines übereifrigen Sicherheitspolizisten vereinbar, aber spätestens die zu Vaivara zeigen, daß es sich um ein Phantasiekonstrukt handeln muß.62 Nach Aussage eines ehemaligen Vorarbeiters auf der Werft in Reval wurde von den Häftlingen zwar schon damals von einer Autoritätsfigur namens Bergmann gesprochen;63 zum wirklichen Verständnis aber muß man den Vorgang in Beziehung zu dem 1961 in Tallinn abgehaltenen Schauprozeß gegen den ehemaligen Leiter der estnischen Sicherheitspolizei, Ain Mere, und andere setzen. Konkret betraf der Prozeß hauptsächlich Ralf Gerrets, einen der Verantwortlichen für den Massenmord an den Deportierten des Jahres 1942. Darüber hinaus bestand die Absicht, die estnische Emigration und den westlichen Imperialismus zu denunzieren und die Sowjetunion zu legitimieren.64 Eine symbolische Hauptfigur neben Mere war Bergmann. Es ist anzunehmen, daß die schon zur Kriegszeit zirkulierenden vagen Informationen über Bergmann infolge des Mere-Prozesses konkretisiert und emotional aufgeladen wurden. Die Aussagen gehen im Kern auf tschechische Überlebende zurück, die als Zeugen in diesem Prozeß gehört wurden und ihre Erfahrungen später in Israel lebenden früheren Mithäftlingen mitteilten.65 Einige der Komponenten des Konstrukts ‚Bergmann‘ können zugeordnet werden,66 aber dieses ist mit der real existierenden Person Heinrich Bergmann nicht deckungsgleich.

HEINRICH BERGMANN

53

Anmerkungen 1

BAB, BDC, SSO Heinrich Bergmann; Vern. dess. v. 1.6.1960, BAL, 207 AR-Z 246/59, Bd. 2, Bl. 457 ff. 2 Lebenslauf dess. (undat.), BAB, BDC, SS0 Heinrich Bergmann. 3 Vern. Bergmann v. 1.6.1960, BAL, 207 AR-Z 246/59, Bd. 2, Bl. 457 ff. 4 Beurteilungsbogen v. 1940, BAB, BDC, SS0 Heinrich Bergmann. 5 Die Ortsnamen werden jeweils zeitgenössisch geschrieben. 6 In Estland wurden die deutschen Abteilungen der Sicherheitspolizei mit A gekennzeichnet, die estnischen mit B. 7 Beförderungsvorschlag Kripo-Leitstelle Stuttgart an RSHA v. 24.5.1943, BAB, BDC, SS0 Heinrich Bergmann; Rundschreiben KdS Reval v. 18.5.1943, ERA, R 819/1/11. 8 Geschäftsverteilungsplan KdS Reval v. 18.3.1944, ERA, R 819/2/2. 9 Vgl. Ruth Bettina Birn: Collaboration with Nazi Germany in Eastern Europe: the Case of the Estonian Security Police, in: Contemporary European History 10 (2001), S. 181–198. 10 Vern. Wilhelm K. v. 3.12.1968, BAL, 207 AR-Z 246/59, Bd. 7, Bl. 1508 ff. 11 Er wurde 1943 vom Obersturm- zum Hauptsturmführer befördert; die anderen Abteilungsleiter waren meist Sturmbannführer. 12 Vern. Karl Tschierschky v. 22.11.1966, BAL, 207 AR-Z 246/59, Bd. 6, Bl. 1103 ff. 13 BAB, BDC, SSO Heinrich Bergmann; Vern. dess. v. 1.6. 1960, BAL, 207 AR-Z 246/59, Bd. 2, Bl. 457 ff. 14 BKA, Personalveränderungen (undat.); Dullien/BKA an BMI v. 3.4.1956; BKA an BMI v. 4. 4.1956, alle BAK, B 106/11396; BKA an BMI v. 28.12.1961, BAK, B 106/11398. 15 Geschäftsverteilungsplan v. 1.1.1958, BAK, B 131/223; ein Vorname wird nicht angegeben. 16 BKA an BMI v. 23.12.1958; BMI an BKA v. 26.11.1958; Nachweis der Karteikarten (undat.); BKA an BMI v. 5.1.1959, alle BAK, B 106/11398. 17 Dazu BAK, B 106/11396, 11398,15631, 15661, 17281, 21192, 21196; zwei ehemalige Kollegen Bergmanns beim KdS Reval waren ebenfalls beim BKA angestellt: Dr. Georg Fischer und Heinrich Erlen. 18 Dr. Hagemann/BMI an A.F. Pabsch/US-Liaison, Anlage Ausarbeitungen Georg Schräpel und Josef Kössl v. 3.2.1951, BAK, B 106/15661. 19 Das Verfahren gegen Sandberger wurde wegen dessen Verurteilung in Nürnberg und dem Überleitungsvertrag nicht wiederaufgenommen. 20 Wie Anm. 9. 21 Der Selbstschutz (Omakaitse) basierte auf einer milizartigen Organisation der estnischen Republik, Kaitseliit genannt; im Sommer 1941 flohen zahlreiche Esten in die Wälder; von diesen „Waldbrüdern“ ging dann der Aufbau von Widerstandsgruppen aus. 22 Vermutlich von Juli bis August 1942, am Jahresende 1942 und von Frühjahr bis Frühsommer 1943. 23 Eine besonders auf Bergmann zugeschnittene Dokumentensammlung befindet sich im BAL, Dok.Slg. Verschiedenes 78, Bl. 67–208.

RUTH BETTINA BIRN

54 24

Zur Planung KdS Reval an BdS Ostland v. 21.9.1942; dto. v. 3.12.1942, beide ERA, R 819/2/3. 25 Das würde erklären, warum der Transport als „Handwerkertransport“ geführt wurde, nicht zur Arbeit geeignete Menschen sofort nach Ankunft des Zuges erschossen, die anderen in das Lager Jägala gebracht wurden, BAL, 408 AR-Z 233/59. 26 Das Zentralgefängnis hieß zu dieser Zeit AEL Reval; Sandberger hatte am 23.7.1942 die von der Sicherheitspolizei betriebenen und bisher als KL bezeichneten Lager in AEL umbenannt, um sie in seiner alleinigen Zuständigkeit zu halten, Erlaß KdS Reval v. 23.7.1942, ERA, R 819/2/3. 27 Vern. Wilhelm S. v. 4.12.1968, BAL, 207 AR-Z 246/59, Bd. 7, Bl. 1520 ff.; zumindest die Ankunft des Zuges aus Theresienstadt muß im Juli/August organisiert worden sein. 28 Vern. Axel A. v. 12.7.1968; Josef S. v. 3.7.1968; Karl-Hugo Traut v. 9.4. und 4.7.1968; Wilhelm S. v. 4.12.1968; Hans K. v. 8.5.1968, alle BAL, 207 AR-Z 246/59, Bd. 7. 29 Vgl. BAL, 408 AR-Z 233/59. 30 Vortrag Bergmann v. 27.5.1942, ERA, R 819/2/11; vgl. dto. „Gefahrenabwehr beim Einsatz ausländischer Arbeiter und Behandlung von Arbeitsverweigerern“ (undat.), ebd. 31 „Die Vorgänge sind als ‚Geheim‘ zu behandeln“, dto. v. 27.5.1942, ebd. 32 Prefektuur Viljandi an unterstellte Polizei v. 7.9.1941, ERA, R 62/1/1. 33 Politische Polizei Narwa an EK v. 3.12.1941, ERA, R 59/1/40. 34 Vortrag Bergmann v. 27.5.1942, ERA, R 819/2/11; vgl. Michael Zimmermann: Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“, Hamburg 1996. 35 Prefektuur Dorpat/Politische Polizei an Sicherheitspolizei v. 1.3.1942, ERA, R 60/1/29; Vorschlag Kommission Petschur B IV v. 4.6.1943, ERA, R 63/1/97. 36 Anhang zum Vortrag Bergmann v. 27.5.1942, ERA, R 819/2/11. 37 Viks/ B IV an deutsche Sicherheitspolizei v. 30.10.1942, ERA, R 64/1/101. 38 Anordnung Bergmann v. 7.12.1942, ERA, R 59/2/7; aus der Akte geht hervor, daß Ende 1942 eine interne Diskussion über die Verfahrensweise gegen ‚Zigeuner‘ stattfand. 39 KdS Reval A V v. 22.1.1943, ERA, R 59/1/70; Berichte zur Ausführung in ERA, R 59/1/69 und 70 sowie R 63/1/8. 40 Vgl. Korrespondenz zwischen Außenstelle Narwa und KdS Reval A V Dezember 1942 und Januar 1943, ERA, R 59/2/7. 41 Lagerstatistiken, ERA, R 64/1/69; Vorschlag Kommission Petschur v. 4.6.1943, ERA, 63/1/97. 42 Vortrag Bergmann v. 27.5.1942, ERA, R 819/2/11. 43 Dto. „Die Aufgaben der Kriminalpolizei“ (undat.), ERA, R 819/1/11. 44 Dto. v. 27.5.1942, ERA, R 819/2/11. 45 Fallbeispiele ERA, R 64/1, R 64/4, R 819/2. 46 Jahresbericht KdS Reval v. 1.7.1942, ERA, R 819/1/12. 47 Voss, Leiter des Kriminalpolizeiamtes für die Britische Zone: „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“, Ausarbeitung v. 20.6.1947, BAK, NL 1265/31; das Kriminalpolizeiamt stellte den Stamm der Bediensteten des späteren BKA. 48 Vern. Bergmann v. 25.1.1966, BAL, 207 AR-Z 246/59, Bd. 5, Bl. 1057 ff.

HEINRICH BERGMANN

55

49

Dr. Sandberger an Bergmann v. 16.5.1944, ERA, R 819/1/1. Vern. Bergmann v. 13.9.1966, BAL, 207 AR-Z 246/59, Bd. 5, Bl. 1009 ff. 51 Dto. v. 1.6.1960, ebd., Bd. 2, Bl. 457 ff.; dto. v. 25.1.1966, ebd., Bd. 5, Bl. 1057

50

ff.

52 Dto. v. 30.1.1968, Staw Oldenburg 2 Js 110/66, SB Material aus 85 Js 37/71, Bd. II. 53 Bergmann an Staw Kassel v. 10.11.1967, StAL, EL 317 III, Bd. 778. 54 Vern. dess. v. 13.9.1966, BAL, 207 AR-Z 246/59, Bd. 5, Bl. 1009 ff. 55 Vern. Dr. Martin Sandberger v. 18.2.1960, ebd., Bd. 2, Bl. 209 ff. 56 Staw Hamburg 141 Js 220/61; die Geschichte hat aber Eingang in die Literatur gefunden: Helmut Krausnick/Hans-Heinrich Wilhelm: Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938–1942, Stuttgart 1981, S. 536; M. Dworzecki: Jewish Camps in Estonia 1942–1944, Jerusalem 1970, englische Zusammenfassung S. V. 57 Weitere Beispiele BAL, 207 AR-Z 246/59; vgl. Herbert Jäger: Verbrechen unter totalitärer Herrschaft. Studien zur nationalsozialistischen Gewaltkriminalität, Frankfurt/M. 1982, S. 145 f. 58 Vern. Bergmann v. 30.8.1961, BAL, 207 AR-Z 246/59, Bd. 3, Bl. 841 f.; dto. v. 30.1.1968, Staw Oldenburg 2 Js 110/66, SB Material aus 85 Js 37/71, Bd. II. 59 Dieter Schenk: Auf dem rechten Auge blind. Die braunen Wurzeln des BKA, Köln 2001. 60 NARA, RG 492, Entry 41240, Box 2058, File II. 61 Eine Detaildiskussion muß aus Platzgründen hier unterbleiben; vgl. Vern. der tschechischen u. israelischen Zeuginnen in BAL, 207 AR-Z 246/59, Bd. 8; Vern. Eva M. v. 11.11.1968, StAL, EL 317 III, Bd. 781; auffallend ist zudem, daß die Zeugin nen Bergmann alle an Hand des ein- u. desselben Gruppenbilds erkannt zu haben scheinen. 62 Aus den zahlreichen Zeugenaussagen zum KL Vaivara geht eindeutig hervor, daß Selektionen vom SS-Lagerarzt Dr. Bodmann durchgeführt wurden, BAL, 408 AR-Z 233/59. 63 Vern. Fritz H. v. 26.1.1967, BAL, 207 AR-Z 246/59, Bd. 6, Bl. 1134 ff. 64 Verfahren gegen Mere u. a., ERA, KGB-Archiv, Fond 129, Nr. 28653; Propagandaschrift dazu: Raul Kruus: People, be watchful! Tallinn 1962; daß es hier primär nicht um die rechtliche Ahndung von Verbrechen ging, zeigt der Umstand, daß der in diesem Prozeß ‚demaskierte‘ Ralf Gerrets dem KGB schon 1945 als Zeuge zur Verfügung gestanden hatte, vgl. Urteil gegen Priit Toone v. 15.3.1945, ERA, KGBArchiv, Fall 23972. 65 Wie Anm. 61. 66 So beziehen sich die Aussagen über einen SS-Führer, der Zellen im Hinblick auf hübsche Häftlingsfrauen inspizierte, vermutlich auf den oben erwähnten Abteilungsleiter A IV, der wegen Unzucht mit Abhängigen verurteilt wurde; zwischen Bergmann und dem Lagerarzt von Vaivara, Dr. Bodmann, besteht eine Namensähnlichkeit.

FLORIAN DIERL

Adolf von Bomhard – ‚Generalstabschef‘ der Ordnungspolizei Adolf Theodor Ernst von Bomhard wurde am 6. Januar 1891 in Augsburg geboren.1 Als Nachkomme einer in Franken und Schwaben beheimateten evangelischen Adelsfamilie schlug Bomhard wie zuvor sein Vater und seine beiden Großväter die Militärlaufbahn ein.2 Zunächst im Dienst der königlichbayerischen Armee stehend, trat er nach dem Ersten Weltkrieg zur bayerischen Landespolizei über und erreichte schließlich im Dritten Reich als einer der maßgeblichen Führer der neugeschaffenen Reichsorganisation der Ordnungspolizei den Rang eines Generalleutnants. Bomhard zählte zum kleinen Kreis älterer Polizeioffiziere, die aufgrund ihrer Dienststellung mit einem hohen Rang in die SS aufgenommen wurden, ohne jedoch bis in die engere Führungsspitze um Heinrich Himmler aufzurücken. In verantwortlicher Position – als Amtschef im Hauptamt Ordnungspolizei, als regionaler Befehlshaber in der Ukraine und als Generalinspekteur der Polizeischulen – war Bomhard an der militärischen Reorganisation ebenso wie am späteren Kriegseinsatz der Ordnungspolizei beteiligt und verhielt sich loyal zum NS-Regime bis zu seinem erzwungenen Abschied Anfang 1945. Die Karriere Bomhards war eng verknüpft mit den Chancen und Risiken, die sich aus der machtpolitischen Expansion des Dritten Reiches und den stark personalisierten Beziehungen innerhalb des polykratischen Institutionengefüges des NS-Staates ergaben. Für ihn wie für etliche Kollegen aus seiner Generation bot der Aufbau einer auf nationaler Ebene agierenden Polizei nach militärischem Muster zum ersten Mal für einen Polizeioffizier die Chance, die Generals-Spiegel zu erlangen, und Bomhard nutzte sie. Sein rascher Aufstieg wie auch sein berufliches Scheitern im Herbst 1943 deuteten jedoch die Nemesis einer Funktionselite traditioneller Prägung an, die ihre Nähe zur politischen Macht mit dem Verlust der persönlichen Integrität erkauft hatte, um später doch von der Generation der Weltanschauungskrieger aus den eigenen Reihen verdrängt zu werden. Sozialisation und Karriereverlauf Adolf von Bomhard gehörte jener Gruppe von Polizeioffizieren an, die ihren beruflichen Werdegang nicht im Rahmen einer regulären Polizeiausbildung, sondern als aktive Soldaten in der Armee begonnen hatten und in den späten 1930er Jahren oder der ersten Hälfte des Zweiten Weltkriegs in die Spitzenpositionen ihrer Laufbahn gelangten. Kennzeichnend für diese Alterskohorte

ADOLF VON BOMHARD

57

der Geburtsjahrgänge zwischen 1885 und 1900 waren ihre überwiegend bürgerliche Herkunft, die Sozialisation in der autoritären politischen Kultur des Kaiserreiches und die hieraus resultierende national-konservative politische Einstellung, die aktive Teilnahme am Ersten Weltkrieg, die Zugehörigkeit zu einem der zahlreichen Freikorps in der Revolutionszeit und das mit der Verkleinerung der Armee verbundene endgültige Ausscheiden aus dem Militärdienst in den Jahren zwischen 1918 und 1921. Der Aufbau kasernierter Polizeieinheiten durch die deutschen Länder in den ersten Jahren der Weimarer Republik ermöglichte einem beachtlichen Teil aus dieser Generation der Weltkriegsteilnehmer die beinahe übergangslose Fortsetzung ihrer Karriere als Berufssoldat unter nur leicht veränderten Arbeitsbedingungen, ohne jemals mit den Verhältnissen einer zivilen Berufsstellung konfrontiert worden zu sein.3 Zugleich bildete die strukturelle und mentale Überformung der bisherigen Länderpolizeien durch die Aufnahme zahlreicher ehemaliger Weltkriegsoffiziere den Grundstein für jene paramilitärische Ausrichtung der deutschen Polizeiorganisation, an welche die nationalsozialistischen Organisationsreformen in den 1930er Jahren problemlos anschließen konnten. Auch Bomhards Lebensweg orientierte sich an jenen beruflichen Optionen, die sich im Rahmen der obrigkeitsstaatlich verfaßten und militärzentrierten Gesellschaftsstrukturen des Kaiserreiches anboten, wenngleich mit leicht veränderten Akzentsetzungen und ohne daß seine spätere Existenz im Dritten Reich hierdurch determiniert wurde. Im Gegensatz zu vielen seiner in den Militärakademien ausschließlich für das Soldatenleben vorbereiteten Kameraden hatte Bomhard eine humanistische Bildung am Münchner Theresien-Gymnasium erhalten und dort 1910 das Abitur abgelegt.4 Mit seiner Entscheidung im gleichen Jahr, als Fahnenjunker in das königlich-bayerische Leib-Infanterieregiment einzutreten, folgte der Kunst und Musik zugeneigte junge Mann wohl in erster Linie der Tradition seiner Familie, deren männliche Mitglieder seit Generationen in hohen Ämtern des bayerischen Staatsdienstes vertreten waren.5 Gleichwohl entwickelte sich die militärische Laufbahn in der Garde des bayerischen Monarchen zunächst vielversprechend: 1912 zum Leutnant patentiert, war Bomhard mit seinem Regiment an verschiedenen Fronten des Ersten Weltkrieges eingesetzt; er wurde dreimal verwundet und erhielt zahlreiche Auszeichnungen.6 In Verwendungen als Ordonnanz und später als Adjutant des Regimentskommandeurs Ritter von Epp konnte sich Bomhard frühzeitig mit Stabstätigkeiten vertraut machen. Im ersten Nachkriegsjahr war Bomhard – nunmehr als Hauptmann – bei der Abwicklung seines Regiments eingesetzt und wurde ab September 1919 als Wehramtmann, später als Verbindungsoffizier der bayerischen Landespolizei, bei der Regierung von Oberbayern beschäftigt. In dieser amtlichen Funktion und zudem ab 1920 als Angehöriger des Freikorps Epp war er für

58

FLORIAN DIERL

die offizielle Verbindung der bayerischen Regierungsstellen zu den Einwohnerwehren und den verschiedenen halbprivaten Kampfverbänden verantwortlich.7 Aufgrund dieser guten Kontakte zum rechtsradikalen Milieu verfügte Bomhard über genügend Informationen, um bereits am Vorabend des Hitlerputsches 1923 die Standorte der Landespolizei zu alarmieren und – so seine spätere Behauptung – die Festnahme Hitlers in dessen Versteck am Staffelsee zu veranlassen.8 Auch die weiteren Berufsstationen absolvierte Bomhard im Kontext rein militärischer Funktionen: Von 1924 bis 1926 nahm er an einem Führergehilfen-Lehrgang am Wehrkreiskommando VII (München) teil und wurde so im Rahmen der geheimen Aufrüstungsaktionen der Reichswehr zum Generalstabsoffizier ausgebildet.9 Nach dreijähriger Tätigkeit als Führer einer MGHundertschaft übernahm Bomhard 1929 die Stelle eines Ausbildungsreferenten an der Landespolizei-Inspektion in München und wurde schließlich im Frühjahr 1933 zeitgleich mit seiner Beförderung zum Major in den Führerstab der Landespolizei-Inspektion als Stabschef versetzt.10 In dieser Position war Bomhard in den folgenden Jahren – u. a. auch als Stabschef der Landespolizei-Inspektionen Berlin-Brandenburg und Düsseldorf – vorrangig mit der Neuformierung der Landespolizei-Verbände als Heeresreserve und ihrer Überführung in die Wehrmacht beschäftigt. Seine Organisationskenntnisse veranlaßten den Befehlshaber der Landespolizei, General Daluege, ihn im Frühjahr 1936 als seinen persönlichen Stabschef nach Berlin zu holen und im Sommer mit dem Aufbau einer zentralen Führungsbehörde für die gesamte uniformierte Polizei zu betrauen. Mit der Ernennung Heinrich Himmlers zum Chef der Deutschen Polizei am 17. Juni 1936 erhielt die Polizei der deutschen Länder eine einheitliche Leitung auf Reichsebene und wurde zugleich aufgeteilt in die Sparten der Sicherheitspolizei unter dem Befehl Reinhard Heydrichs und der Ordnungspolizei unter Kurt Daluege.11 Das Hauptamt Ordnungspolizei ging aus den Referaten der Polizeiabteilung des Reichsministeriums des Inneren hervor und bildete „etwa nach Art eines Kriegsministeriums“12 die Steuerungsinstanz für ein Konglomerat so unterschiedlicher Einzelorganisationen wie Schutzpolizei, Gendarmerie, Gemeindepolizei, Feuerwehren, Technische Nothilfe und Zivilluftschutz („Sicherheits- und Hilfsdienst“). Bomhard selbst wurde im August 1936 als Chef des Kommando-Amtes zuständig für jenen Bereich innerhalb des Hauptamtes Ordnungspolizei, welcher alle Fragen der Führung, Organisation, Ausbildung und des Personalwesens bearbeitete, soweit sie die uniformierte Polizei oder die jeweiligen Sonderorganisationen im Grundsätzlichen oder im Rahmen von reichsweiten Einsätzen betrafen. De facto fungierte das Kommando-Amt als eine Art Generalstab der Ordnungspolizei, welcher sowohl mit der Organisation der Reichsverteidigung und des Zivilluftschutzes wie auch des Einsatzes von Polizeitruppen – von der Parade

ADOLF VON BOMHARD

59

an den Reichsparteitagen bis zum Einmarsch in die annektierten und eroberten Gebiete Europas – befaßt war und hier vor allem logistische Funktionen wahrnahm: Aufbau und Aufrechterhaltung der Nachrichtenverbindungen, Regelung des Nachschubs, der Ausrüstung und der medizinischen Versorgung bis hin zur weltanschaulichen Schulung waren jene Aufgaben, die zugleich mit der Aufstellung und Einsatzplanung für die verschiedenen Kampfund Unterstützungsformationen wahrzunehmen waren und im Krieg den Schwerpunkt der Amtstätigkeit ausmachten.13 Als Amtschef trug Bomhard die Verantwortung für den Dienstbetrieb aller ihm unterstellten Sachgebiete. In dieser Eigenschaft waren ihm Schriftstücke von wesentlicher Bedeutung sowie der Schriftverkehr mit anderen Polizeibehörden zuzuleiten. Neben der Kontrolle und Führung des ihm direkt unterstehenden Apparates hatte er als Leiter des militärischen Stabes den Chef der Ordnungspolizei mit allen Informationen zu versorgen bzw. dessen Aufträge durchzuführen, soweit sie die „Verwendung“ der Polizei im engeren Sinne berührten. Als Stellvertreter des Chefs der Ordnungspolizei unterzeichnete er häufig dienstliche Anordnungen, u. a. zum auswärtigen Einsatz der Polizei, soweit sich Daluege die Zeichnung nicht selbst vorbehalten hatte. Daneben hatte Bomhard als ranghöchster Berufspolizist im Hauptamt und Vertreter Dalueges vielfach auch repräsentative Pflichten zu erfüllen, z. B. im Verkehr mit Vertretern anderer Institutionen wie etwa der Wehrmacht oder Abgesandten ausländischer Polizeien. Sein Einfluß beruhte auf der breiten Informationsbasis, die ihm aufgrund seiner Mittlerposition zwischen den Beamten im Hauptamt und den regionalen Verwaltungen einerseits und der politischen Führungsspitze des Chefs der Ordnungspolizei andererseits zuteil wurde und auf der besonderen Vertrauensstellung, die er als Polizei- und Verwaltungsfachmann bei dem in Sachfragen unerfahrenen Daluege einnahm. Bomhard füllte diese Rolle offenbar mit einiger Gewandtheit aus, da er bei vereinzelter Kritik von Daluege energisch in Schutz genommen wurde und auch noch nach seiner Amtszeit bei den Kollegen hoch angesehen war.14 Seine sichere Amtsführung brachte ihm mehrere Beförderungen in rascher Folge: Im Sommer 1936 zum Oberst ernannt, wurde er bereits im nächsten Frühjahr Generalmajor; nach dem erfolgreichen Auftreten der Polizei bei der Annexion Österreichs wurde Bomhard im April 1938 als Oberführer in die SS aufgenommen; im Herbst 1940 erhielt er schließlich den Rang eines SSGruppenführers und Generalleutnants der Polizei. Im Herbst 1942 stand Bomhard im Zenit seiner Karriere und konnte sich Hoffnungen machen, alsbald in die Stellung eines Höheren SS- und Polizeiführers (HSSPF) befördert und damit in den Kreis der ranghöchsten SSOffiziere aufgenommen zu werden. Auf Geheiß Himmlers, der Bomhards bisheriger Erfolgsbilanz als versierter Bürokrat anscheinend mißtraute, sollte er sich jedoch zuvor noch praktische Erfahrungen ‚im Felde‘ als Befehlsha-

60

FLORIAN DIERL

ber der Ordnungspolizei (BdO) in der Ukraine aneignen und sich insbesondere für Führungsaufgaben in der Partisanenbekämpfung qualifizieren.15 Bomhard trat das Kommando als BdO in Kiew im November 1942 an und zeigte sich in den ersten Wochen durchaus zuversichtlich über seinen neuen Einsatzbereich. Gegenüber seinem Dienstherren und beruflichen Förderer Daluege brachte er seine Freude darüber zum Ausdruck, nach 26 Jahren Weihnachten wieder „an der Front“ verbringen zu können und betonte dabei nicht zuletzt das gute Verhältnis zu seinem unmittelbarem Vorgesetzten, dem HSSPF Rußland-Süd und Ukraine, SS-Obergruppenführer Hans-Adolf Prützmann. Mit der Bemerkung „Die Führung im Bandenkampf macht mir den meisten Spaß“16 versuchte Bomhard, sich als durchsetzungsfreudiger und militärisch erfolgreicher Weltanschauungskrieger zu präsentieren und damit den Erwartungen an den künftigen Inhaber einer Spitzenposition innerhalb der SS-Hierarchie gerecht zu werden. Er wurde jedoch bald schon von dem bereits seit längerem schwelenden Generationen- und Machtkonflikt zwischen den altgedienten Polizeioffizieren und der jungen SS-Elite eingeholt. Schon im folgenden Jahr kam es auch zwischen ihm und der regionalen NSFührung zu Unstimmigkeiten, die im Herbst 1943 mit seiner jähen Abberufung enden sollten.17 Abgeschoben auf den relativ unbedeutenden Posten eines Generalinspekteurs der Schulen, konzentrierte sich Bomhard im nächsten Jahr auf Rundreisen in seinem Inspektionsbereich in Polen, Österreich und Italien und verbrachte ansonsten seine berufliche Existenz in vergeblicher Hoffnung auf nochmalige Beförderung an seinem Dienstsitz im mährischen Brünn an der Peripherie des deutschen Machtbereichs.18 Bomhards Entscheidung Ende Januar 1945, seine Familie angesichts des Vormarsches der Roten Armee in Sicherheit zu bringen und Brünn ohne Rücksprache mit den örtlichen Behörden zu verlassen, besiegelte das berufliche Ende des in Ungnade gefallenen Karriere-Offiziers.19 In einem formlosen Fernschreiben wurde Bomhard im Februar 1945 endgültig in den Ruhestand versetzt.20 Politische Einstellung und Aspekte der Mittäterschaft Adolf von Bomhard hatte als Berufspolizist seine Karriere nicht in erster Linie seinen politischen Verbindungen zu verdanken, profitierte aber von seiner unter der Maske des überparteilichen Technokraten ohne Scheu gepflegten Nähe zu den neuen Machthabern im NS-Staat – vor allem in der Ära Daluege, als er rasch die berufliche Erfolgsleiter nach oben bestieg. Obwohl sich Bomhard zunächst politisch nicht exponierte – er trat 1933 lediglich der NSV und dem Luftschutzbund bei –, betrieb er seine Aufnahme in die NSDAP nach dem Wechsel ins Reichsinnenministerium 1936 mit Nachdruck21 und suchte seine Sympathie für den Nationalsozialismus mit dem Verweis auf berufliche Hinderungsgründe für einen früheren Parteieintritt

ADOLF VON BOMHARD

61

(„Parteiverbot“ für Staatsbeamte) und sein Engagement als förderndes Mitglied der SS seit Juni 1933 glaubhaft zu demonstrieren.22 Dem im Vergleich zu zahlreichen anderen Berufskollegen relativ späten Eintrittsdatum in die NSDAP zum 1. Mai 1937 mögen daher sowohl bürokratische Behinderungen wie auch taktische Motive zugrunde gelegen haben. Bemerkenswert bleibt jedenfalls Bomhards Bereitschaft, etwaige Karrierehemmnisse, wie z. B. auch bei seinem Kirchenaustritt 1942, schnell zu beseitigen und sich dabei – wenn vielleicht auch nur zu taktischen Zwecken – typischer Argumentationsformen und Topoi der NS-Sprache zu bedienen. Besonders augenfällig wurde diese ‚taktische Geschmeidigkeit‘ anläßlich einer Kontroverse über die Zukunft des Traditionsvereins des Leib-Infanterieregiments 1938, als sich Bomhard in einem Schreiben an alle Mitglieder mit scharfen Worten gegen die beschlossene Selbstauflösung und für eine Überführung des Vereins in den NS-Reichskriegerbund verwandte und dabei vor einem „reaktionären oder bayerisch-monarchistischen Hintergrund“ und der angeblich zu zögerlichen Haltung in der „Judenfrage“ warnte.23 Der Eindruck des konsequenten politischen Opportunismus drängt sich auch bei der Betrachtung von Bomhards dienstlichem Verhalten auf. Bomhard war als Chef des Kommando-Amtes offiziell mit den Verbrechen der SS- und Polizeitruppen in Polen in den ersten Kriegswochen24 befaßt und im Rahmen seiner Dienstaufgaben auch mittelbar in die „Endlösung“ eingebunden25, ohne daß von ihm Kritik am Vorgehen der Ordnungspolizei geäußert oder gar persönliche Konsequenzen gezogen worden wären. Bei seiner Einweisungstour für das Amt des HSSPF im Herbst 1942, die u. a. auch in die Konzentrationslager Ravensbrück und Dachau führte,26 wie auch bei seinen Reisen als Generalinspekteur der Schulen, bei denen er u. a. das Ghetto von Litzmannstadt (Łódź) besuchte, konnte er sich persönlich ein Bild von den furchtbaren Folgen der deutschen Gewaltherrschaft machen, blieb aber in seinen Stellungnahmen stets unverbindlich. Bomhard berichtete z. B. von seinem Besuch in Litzmannstadt mit den Worten: „Das Ghetto ist heute zwar eine ‚tote Stadt‘, und die 180000 Juden sind in rückwärtigen Gebieten (meist Auschwitz) dem Arbeitsprozeß zugeführt, jedoch wird noch eine starke Wach-Abt. zur Absperrung [...] benötigt, da im Inneren des Ghettos z. Zt. die Räumung der Betriebe durchgeführt wird, sowie Stoßtrupps die Häuser, Keller und sonstige[n] Schlupfwinkel nach versprengten Juden durchkämmen. Erst in der letzten Zeit wurden mehrere solcher Juden aufgegriffen. Von den Aufgaben und dem Stand der Arbeiten konnte ich mich bei einer Fahrt durch das Ghetto überzeugen.“27 Eine aktive Beteiligung an den deutschen Verbrechen im Besatzungsgebiet der Ukraine während seines Einsatzes als BdO war Bomhard trotz seiner Mitwirkung in der Partisanenbekämpfung nicht nachzuweisen. Im Dezember 1942 hatte er zeitweilig das Kommando im Einsatz von Wehrmacht und

62

FLORIAN DIERL

Polizei gegen die Partisanengruppe unter Sidor Kolpak in den nordwestukrainischen Rokitno-Sümpfen übernommen und hierbei stolz die Führungsrolle der Polizei bei dem brutalen und vielfach völkerrechtswidrigen Vorgehen der deutschen Truppen herausgestellt: „Man wird hier nahezu zum Jäger! Pirschen muß man gegen die Partisanen nicht nur im Kleinen, sondern auch im Großen. Die Wehrmacht sieht allmählich ein, daß der Krieg gegen die Banden eben doch etwas anderes ist als der militärische Kampf nach der A.V.I.!“ 28 Allerdings konnte sich Bomhard über die mörderische Dimension dieses Vernichtungskrieges, der sich vor allem gegen die in den betroffenen Gebieten ansässige Zivilbevölkerung und die Juden richtete,29 keine Illusionen machen. Denn als einer der Hauptmitarbeiter und Stellvertreter des HSSPF Ukraine war er sicherlich über dessen Lagebericht im Spätherbst 1942 informiert, welcher gegenüber 1337 im Gefecht getöteten Partisanen die ungeheuren Vernichtungszahlen von 14257 exekutierten „Bandenverdächtigen“ – also am Kampfgeschehen nicht beteiligten Zivilisten – und 363211 getöteten Juden meldete.30 Sei es, daß Bomhard sich in seinem taktischen Kalkül scheute, die Verantwortung für diese Form der Partisanenkriegsführung zu übernehmen, sei es, daß er als Offizier alter Schule letztlich doch nicht die nötige ‚Härte‘ für dieses blutige Handwerk aufbrachte. Jedenfalls beschränkte er sich in den folgenden Monaten offenbar hauptsächlich auf seine Verwaltungs- und Aufsichtsaufgaben als BdO, da er von seinen Vorgesetzten später gerügt wurde, „nicht ins Bandengebiet gefahren zu sein und [sich] zu wenig um den Bandenkampf gekümmert zu haben“.31 Angesichts seiner bevorstehenden, demütigenden Ablösung als BdO reihte sich Bomhard dennoch am 4. Oktober 1943 widerspruchslos in die Reihe jener 92 SS-Generäle ein, die an der berüchtigten SS-Gruppenführertagung in Posen teilnahmen und wurde so Zeuge von Himmlers Glorifizierung der „Ausrottung des jüdischen Volkes“ als „niemals geschriebenes und niemals zu beschreibendes Ruhmesblatt“ in der Geschichte der SS.32 Aber auch jetzt – an der Peripetie seines beruflichen wie persönlichen Lebensweges – beschränkte sich seine Auseinandersetzung mit dem Regime, welches ihn zum Komplizen beispielloser Verbrechen gemacht hatte, lediglich darauf, wie er sein ‚unverdientes‘ Schicksal noch einmal wenden und seine Karriere in der Bezeugung des weiteren Gehorsams zum Reichsführer-SS retten konnte: „Ich bat Prützmann, daß RFSS mir doch sagen wolle, was ihm an mir nicht recht sei. Ich habe reines Gewissen, müßte es aber doch wissen, um den Mangel abstellen zu können. [...] Prützmann sagt zu, mit General Wünnenberg zu sprechen, um mit ihm zusammen zum RFSS zu gehen, denn, ‚das mir zugedachte Schicksal habe ich nicht verdient‘!“33 Insgesamt erwies sich Adolf von Bomhard somit zwar nicht als radikaler Nationalsozialist, aber doch als williger Konformist, der zudem auch nach Kriegsende keine Verantwortung für seine bedingungslose Unterstützung des

ADOLF VON BOMHARD

63

NS-Regimes übernahm und auch nicht bereit war, über seinen damaligen Kenntnisstand offen Rechenschaft abzulegen.34 Statt dessen wirkte Bomhard bis zu seinem Tode am 19. Juli 1976 über viele Jahre als Experte der „Fachvertretung der 131er Polizeiberufsbeamten“ vor Gericht wie in verschiedenen Gutachten tatkräftig an der Legendenbildung von der ‚sauberen’ Ordnungspolizei mit und pflegte als Erster Bürgermeister in Prien am Chiemsee das Image des angesehenen und voll in die Gesellschaft der Bundesrepublik integrierten Ehrenmannes.35 Die dauerhafte, unrühmliche Verbindung seines Familiennamens mit der NS-Geschichte war jedoch der Preis, den Bomhard für diese ‚Erfolgsbiographie‘ zu zahlen hatte. Anmerkungen 1

Zur Bedeutung Bomhards als NS-Täter Jakob Knab: Bewußtes Vergessen. Adolf von Bomhard – 1942 am Massenmord beteiligt, 1971 zum Ehrenbürger von Prien ernannt, in: Geschichte quer. Zeitschrift der bayerischen Geschichtswerkstätten 8(2000), S. 29–32; Martin Hölzl: Grüner Rock und weiße Weste: Adolf von Bomhard und die Legende von der sauberen Ordnungspolizei, in: ZfG 50(2002), S. 22–43; zu Bomhards Rolle bei der ‚Spurenverwischung‘ in der Nachkriegszeit Klaus-Michael Mallmann: Vom Fußvolk der „Endlösung“. Ordnungspolizei, Ostkrieg und Judenmord, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 26(1997), S. 355–391, bes. S. 356 f.; Informationen zu Bomhards Biographie finden sich im BAB, BDC, SSO Adolf von Bomhard, BA-ZA, ZB 933/3, Staw Hamburg 2100 Js 5/79, HStAM, MSO 1018. 2 Bomhards Vater Karl führte in der Königlich-Bayerischen Armee den Rang eines Generalmajors, sein Großvater Theodor erreichte die Rangstufe eines Generals der Artillerie; Bomhards Großvater mütterlicherseits, General der Infanterie Adolf von Heinleth, war Staatsrat und bayerischer Kriegsminister; vgl. SS-Ahnentafel (Eingangsstempel RuSHA v.7.6.1938), BAB, BDC, RuSHA Adolf von Bomhard. 3 Vgl. Peter Leßmann: Die preußische Schutzpolizei in der Weimarer Republik. Streifendienst und Straßenkampf, Düsseldorf 1989, S. 171 ff. 4 Angaben zu biographischen Grunddaten und Karrierestationen sind der Stammkarte des SS-PersonalHA, BAB, BDC, SSO Adolf von Bomhard sowie den Lebensläufen v. 12.6.1938 und 25.6.1938 entnommen, ebd., RuSHA Adolf von Bomhard. 5 Bomhard selbst erwähnte in späteren Jahren seine musischen Interessen, z. B. im Hinweis auf mehrfache Italienreisen oder in der von ihm erhofften Einsetzung als HSSPF in Wien, vgl. Personalangaben zur SS-Stammkarte v. 23.3.1938, Brief an Rudolf Querner v. 2.2.1943, BAB, BDC, SSO Adolf von Bomhard. 6 U. a. EK I und II; Bomhard verwies zudem auf einen Patentvorteil, der ihm 1918 wegen hervorragender Tapferkeit vor dem Feinde verliehen worden war und ihm bereits 1919 die Ernennung zum Hauptmann gebracht hatte, BAB, BDC, RuSHA Adolf von Bomhard. 7 Vgl. Bescheinigung Ritter von Kahr über die Dienstzeit Bomhards bei der Regierung von Oberbayern v. 22.4.1927, Staw Hamburg 2100 Js 5/79; Bomhard führte in

64

FLORIAN DIERL

den Personalangaben ausdrücklich seine guten Verbindungen zu den Freikorps ins Feld, um damit das ‚Manko‘ seiner fehlenden Parteizugehörigkeit in der ‚Kampfzeit‘ der 1920er Jahre zu entkräften, BAB, BDC, RuSHA Adolf von Bomhard. 8 Urteilsbegründung der Spruchkammer Rosenheim v. 28.9.1948; Bomhard versuchte sich mit diesen Angaben vom Vorwurf der aktiven Unterstützung des NSRegimes zu entlasten, HStAM, MSO 1018. 9 Eintrag im Personalbogen, BA-ZA, ZB 933/3. 10 Ebd.; ab 1929 war Bomhard zeitweilig auch als Taktik-Lehrer an der bayerischen Offiziersschule tätig. 11 Vgl. Hans-Joachim Neufeldt: Entstehung und Organisation des Hauptamtes Ordnungspolizei, in: ders./Jürgen Huck/Georg Tessin: Zur Geschichte der Ordnungspolizei 1936–1945, Teil I, Koblenz 1957, S. 11 ff. 12 Ebd., S. 30. 13 Vgl. ebd., S. 50 ff. 14 CdO an Bomhard, Meinecke und Pohlmann v. 15.9.1939, NARA, Roll 219, Ordner 57; Daluege verbat sich hier jegliches „politische Werturteil über einen meiner ersten Mitarbeiter“. 15 RFSS an CdO v. 4.11.1942, BA-ZA, ZB 933/3. 16 Bomhard an CdO v. 17.12.1942, BAB, R 19/319. 17 Vgl. Hölzl (Anm. 1), S. 29 f., der Bomhards vorzeitige Ablösung als „Bauernopfer“ für möglich hält, mit dem Prützmann und von dem Bach-Zelewski die eigene Konzeptionslosigkeit in der Partisanenbekämpfung zu verschleiern suchten; Bomhard selbst hielt die Vorwürfe gegen ihn in schriftlich fest: Notizen über meine Ablösung als BdO Ukraine und Einteilung als Gen.Insp.d.Sch., September–Oktober 1943, Staw Hamburg 2100 Js 5/79, BO 14. 18 Bomhard an Abesser v. 20.9.1944, ebd. 19 Staatsministerium Prag an CdO v. 31.1.1945, BA-ZA, ZB 933/3. 20 Vgl. Urteilsbegründung der Spruchkammer Rosenheim v. 28.9.1948, HStAM, MSO 1018. 21 Bomhard an Reichsschatzmeister Schwarz und das Mitglieder-Amt der NSDAP v. 27.4.1936 und 11.3.1937, BAB, BDC, PK Adolf von Bomhard. 22 Lebenslauf Bomhard v. 12.6.1938, ebd., RuSHA Adolf von Bomhard. 23 Urteil Berufungskammer München v. 2.2.1950, HStAM, MSO 1018; Bomhard gab durchaus zu, „politische kräftige Worte, die nazistischem Gedankengut gleichen“, gebraucht zu haben, suchte dies aber herunterzuspielen: „Das Ganze war aber nicht Ausdruck meiner persönlichen politischen Haltung, sondern bewußte Scharfmacherei, um die Angeschriebenen für die Wichtigkeit des Falles zu interessieren“, Bomhard an Fritz Priller v. 3.11.1949, Staw Hamburg 2100 Js 5/79. 24 Auf einem auch dem HA Ordnungspolizei zugeleiteten Exemplar des Berichts des Oberbefehlshabers Ost, Generaloberst Blaskowitz, über deutsche Greueltaten in Polen befindet sich Bomhards Marginalie v. 25.4.1940: „Herrn General der Polizei Daluege wieder vorgelegt. Das Erforderliche wird veranlaßt“, vgl. Helmut Krausnick/ Hans-Heinrich Wilhelm: Hitlers Einsatzgruppen. Die Truppe des Weltanschauungskrieges 1938–1942, Stuttgart 1981, S. 103. 25 Vgl. CdO an Bomhard v. 12.6.1942 mit Anweisung zur „Stellung eines zweiten Polizeibataillons nach Frankreich“: „Die Hauptaufgabe ist die schärfere Überholung der in Frankreich sich noch befindenden Juden“, BAB, BDC, SSO Adolf von Bomhard.

ADOLF VON BOMHARD 26

65

Vgl. Bomhard an Chef des SS-PersonalHA v. 30.10.1942, ebd.; ein vorgesehener Besuch in Auschwitz war wegen einer dort ausgebrochenen Typhus-Epidemie ausgefallen. 27 Bericht Bomhards über Dienstreise 7.–10.12. nach Posen und Litzmannstadt v. 13.12.1944, Staw Hamburg 2100 Js 5/79, BO 14. 28 Bomhard an CdO v. 26.12.1942, BAB, R 19/319. 29 Vgl. Christian Gerlach: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg 1999, S. 899 ff.; Dieter Pohl: Schauplatz Ukraine: Der Massenmord an den Juden im Militärverwaltungsgebiet und Reichskommissariat 1941–1943, in: Norbert Frei/ Sybille Steinbacher/ Bernd C. Wagner (Hrsg.): Ausbeutung, Vernichtung, Öffentlichkeit. Neue Studien zur nationalsozialistischen Lagerpolitik, München 2000, S. 135–173. 30 HSSPF Rußland-Süd, Ukraine und Nordost an RFSS v. 26.12.1942: Meldung über Bandenbekämpfungserfolge v. 1.9.–1.12.1942, BAB, NS 19/2566. 31 So die Beschuldigungen Prützmanns und Bach-Zelewskis gegenüber Himmler, Notizen, Eintrag v. 2.10.1943 (Anm. 17). 32 Tisch-Ordnung am 4.10.1943, BAB, NS 19/1794. 33 Notizen, Eintrag v. 4.10.1943 (Anm.17). 34 Vgl. Hölzl (Anm. 1), S. 27 ff. 35 Ebd., S.33 ff.

KNUT STANG

Dr. Oskar Dirlewanger – Protagonist der Terrorkriegsführung Die deutsche Wehrmacht und selbst die SS entwickelten nie eine einheitliche Haltung zur Terrorfrage. Auch in der SS gab es Stimmen, die im Laufe des Krieges eine Abkehr von der Terrorkriegsführung propagierten. Hingegen stand Dirlewanger auch innerhalb der SS für eine Ausweitung des Terrorkrieges in seiner brutalsten Form. Das, nicht die unhistorische Bezeichnung Dirlewangers als Landsknechtsführer, macht seine Besonderheit in der an Besonderheiten reichen Geschichte von Wehrmacht und SS im Zweiten Weltkrieg aus.1 Dirlewanger war ein sadistischer, amoralischer Alkoholiker, in dem das ohnehin verbrecherische NS-Regime seinen vielleicht extremsten Henker fand. Doch läßt sich genauer sagen, wie ein solcher Mensch werden konnte und auf welche Weise das Dritte Reich schließlich seinen Dirlewanger fand, da es offensichtlich eines Dirlewanger bedurfte. Krieg und Nachkrieg Weder die Terrorbereitschaft der deutschen Kriegsführung im Zweiten Weltkrieg noch Dirlewangers Naturell waren aus der Not geborene Produkte dieses Krieges. Er entwickelte seine militärischen Überzeugungen im Ersten Weltkrieg und baute sie in der Weimarer Republik und im Spanischen Bürgerkrieg aus. Schlüsselfunktion hatte der Erste Weltkrieg, an dem der am 26. September 1895 in Würzburg als Kaufmannssohn geborene Oskar Dirlewanger zunächst in der Maschinengewehr-Kompanie des GrenadierRegiments 123 teilnahm. Militärhistorisch markieren die MG-Truppen den Ansatz zu einer neuen Infanterie. Schon in den ersten Kriegsmonaten ließ sich erkennen, daß Maschinengewehrnester selbst große Angriffswellen zerschlagen konnten. Es stellte sich mithin die Frage, wie eine angreifende Infanterie – wenn nicht unter großen Verlusten – ein Angriffsfeld überwinden und die Positionen des Feindes, soweit sie die Artillerievorbereitung des Angriffs überstanden hatten, ausschalten konnte. Noch während des Krieges entwickelte sich im deutschen Heer der Stoßtrupp zur Überwindung solcher Hindernisse. Neu war hier, daß der unmittelbare Angriff durch leichtbewaffnete, schnell vorstürmende Einheiten geführt wurde; die langsamen, aber feuerstarken Truppwaffen wie MG, Flammenwerfer usw. stellten ihr Feuer ganz in den Dienst dieses Vorstoßes. Dirlewanger hatte im ersten Kriegsjahr die Verteidigung einer Stellung durch MG-Feuer erlebt. Zweimal verwundet und zum Leutnant befördert, war er ab November 1916 kurzzeitig als Ausbilder für den MG-Einsatz tätig.

DR. OSKAR DIRLEWANGER

67

Als Deutschland jedoch ab Ende 1916 Stoßeinheiten bildete, meldete Dirlewanger sich wieder an die Front und erhielt eine Spezialausbildung zum Führer eines MG-Stoßtrupps.2 Das Erlebnis dieser Einsätze bestimmte Dirlewangers weiteres Leben. Hier durfte er – erstmals in seinem Leben – exzessive Gewalt leben, die nur durch eins inakzeptabel wurde: durch eine Niederlage. Dieses ‚Der Sieg rechtfertigt alles‘ prägte Dirlewanger zeitlebens. Im Urteil von Zeitgenossen wie der Nachwelt wurden Dirlewanger und die ihm unterstellten Männer immer wieder als „Draufgänger“ bezeichnet. Die damit anklingende Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst, gegen die eigenen Soldaten, aber vor allem gegen den Feind in allen seinen Formen, zeichnete Dirlewanger weiterhin aus. Dabei muß offen bleiben, wieviel davon lediglich kompensierte Todesangst oder vice versa kaum verhohlener Todeswunsch war. Bei Kriegsende war Dirlewanger ein psychisch instabiler Gewaltfanatiker und Alkoholiker, der unter Drogeneinfluß zu eruptiven Gewaltexzessen neigte.3 Diese Tendenzen verstärkten sich durch das Kriegsende, das Dirlewanger mit seinem Verband an der Ostfront erlebte, im Grenzland zwischen Rußland und Rumänien. Ihm gelang es mit den ihm unterstellten Soldaten der Internierung zu entgehen, indem sie sich nach dem Waffenstillstand gegen alle Widerstände den Weg zurück nach Deutschland freikämpften. Diese – noch kurze – Episode sah Dirlewanger also bereits als Führer einer marodierenden, sich allen kriegsrechtlichen Regelungen verweigernden Soldateska. Einmal in Deutschland angekommen, wollte Dirlewanger das Libertinäre seiner Erfahrungen fortschreiben. Gewalt- und waffenverliebt, mit schwachen Bindungen an gesellschaftliche oder auch nur innermilitärische Normen, mußte Dirlewanger wegen Waffenunterschlagung erstmals für einige Tage ins Gefängnis. Seit 1919 Student der Wirtschaftswissenschaften in Mannheim, kämpfte Dirlewanger in verschiedenen Freikorps-Einheiten, denen er auch zahlreiche Angehörige jenes Verbands zuführte, mit dem er sich aus Rumänien nach Deutschland durchgeschlagen hatte; Verstärkung holte er sich unter den Studenten in Mannheim. In diversen Kämpfen, darunter auch um Pelkum,4 fand Dirlewanger dabei offensichtlich mehr noch als im Ersten Weltkrieg seine Ansicht bestätigt, daß Krieg mit brutaler Rücksichtslosigkeit – also auch ohne Rücksicht auf moralische, religiöse oder rechtliche Werte und Normen – und mit dem Ziel der physischen Vernichtung des Gegners geführt werden müsse. Vorbote späterer Kampfesweisen war z. B. das Vorgehen seiner Einheit in Sangershausen im Mansfelder Land, wo er nach kurzem Gefecht mit einer kommunistischen Gruppe eine brutale Kommunistenjagd durchführen ließ, bei der Hunderte von zum Teil Unbeteiligten festgenommen und oft massiv gefoltert wurden. Kurz danach mußte Dirlewanger – wieder wegen Unterschlagung von Waffen – erneut ins Gefängnis. 1921 bestand er gleichwohl die Prüfung zum Diplomvolkswirt in Mannheim und promovierte nur

68

KNUT STANG

ein Jahr später in Frankfurt am Main zum Dr. rer. pol. mit einer Dissertation zur Idee der Planwirtschaft. Ob Dirlewanger erst nach dem Ende des Ersten Weltkrieges auch die zweifellos vorhandenen judenfeindlichen Ressentiments seiner Erziehung zu radikalem Antisemitismus steigerte, ist unklar. Jedenfalls trat er 1919 dem Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund bei, der zu Beginn der 1920er Jahre im antisemitischen, deutschtümelnden Spektrum noch erheblich mehr Zulauf hatte als die NSDAP. In Mannheim wurde ihm wegen „erwiesener antisemitischer Hetze“ ein Verweis angedroht, sein Freikorpstrupp führte als erste paramilitärische Formation die Hakenkreuzfahne.5 Als der Bund wegen der Ermordung Rathenaus 1922 verboten wurde, trat Dirlewanger am 1. Oktober desselben Jahres in die NSDAP ein, verzichtete also auf Mitgliedschaft in der Deutschvölkischen Freiheitspartei, welche die Nachfolge des Bundes angetreten hatte. Nach NSDAP-Verbot und Neuzulassung trat Dirlewanger der Partei wieder bei; zuvor war er wegen erneuter Straffälligkeit – wiederum ein Verstoß gegen das Waffengesetz – aus der Nationalsozialistischen Freiheitspartei ausgeschlossen worden.6 Berufsleben und Parteikarriere Ein am rechten Rand profilierter, zudem promovierter Wirtschaftswissenschaftler mit einem erheblichen Maß an Ehrgeiz wie auch Willenskraft hatte eigentlich passable Aussichten. Dennoch war Dirlewangers Zivilkarriere ein Debakel. Offenkundig ging er auch weiterhin davon aus, daß Regeln für ihn keine Gültigkeit hätten. Mehrere Stellen verlor er wegen Unterschlagungen, auch wenn es nicht zu Anzeigen kam, zuletzt bei der Erfurter Wollwarenfabrik Kornicker. Daß diese Firma jüdische Inhaber hatte, störte ihn offensichtlich trotz seines weiterhin radikalen Antisemitismus nicht. Wegen seines jüdischen Arbeitgebers trat Dirlewanger 1928 sogar kurzzeitig aus der NSDAP aus.7 Ohnehin hatte er dort immer wieder Probleme, auch wenn die Partei über die Kriminalität ihrer Mitglieder meist hinwegsah, wenn sie in ihr Ausdruck einer Verfolgung durch Juden, Kommunisten oder schlicht durch ‚das System‘ erblicken konnte. So erging es auch Dirlewanger, inzwischen Führer eines SA-Sturmbanns, als dieser im Dezember 1932 wegen eines Überfalls auf das Esslinger Gewerkschaftshaus erneut vor Gericht stand. Als profilierter ‚alter Kämpfer‘ avancierte er 1933 zum Abteilungsleiter, dann zum stellvertretenden Direktor des Heilbronner Arbeitsamtes. Doch seine libertinäre Grundhaltung brachte ihn erneut in Schwierigkeiten. Nicht seine sexuellen Eskapaden oder seine Alkoholorgien, beides spätestens seit Kriegsende fester Bestandteil seines Lebens, sondern verächtliche Bemerkungen über die Bestechlichkeit und geringe Qualifikation der nach dem 30. Januar 1933 auf ihre Posten gelangten ‚alten Kämpfer‘ führten zu einem Disziplinarverfahren der SA. Des SA-Schutzes beraubt, wurden jetzt auch

DR. OSKAR DIRLEWANGER

69

diverse bisher unterdrückte Strafanzeigen anhängig, darunter „Unzucht“ mit einem dreizehnjährigen Mädchen. Dirlewanger wurde zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt und verlor damit auch seine Stellung, seinen Doktortitel und alle militärischen Ehren.8 Er bezeichnete sich öffentlich als Opfer einer Verschwörung der württembergischen Parteiführung, was nach seiner Haftentlassung zur Verbringung ins Schutzhaftlager Welzheim führte. Nach vier Wochen wurde er im März 1937 auf Betreiben Gottlob Bergers, des späteren Chefs des SS-Hauptamtes, entlassen. Berger war mit Dirlewanger schon seit dem Ersten Weltkrieg bekannt. Sie hatten demselben Regiment angehört und danach gemeinsam die geheime Bewaffnung der NSDAP in Südwestdeutschland betrieben.9 Vor allem aber war Berger mit dem württembergischen Gauleiter Murr verfeindet, in dem Berger und Dirlewanger die treibende Kraft hinter der Verurteilung sahen. Berger überredete Dirlewanger, in die spanische Fremdenlegion einzutreten, um dort auf der Seite der Faschisten im Bürgerkrieg zu kämpfen. Dort angekommen, trat Dirlewanger aber rasch zur Legion Condor über, nachdem sich sein ehemaliger Bataillonskommandeur aus dem Ersten Weltkrieg, jetzt ebenfalls in der Legion, für ihn eingesetzt hatte. Dirlewanger diente dort bis zum Mai 1939. Zurückgekehrt erreichte er eine Wiederaufnahme seines Verfahrens. Das Stuttgarter Gericht hob das bisherige Urteil auf, obgleich weiterhin „nicht unerhebliche Verdachtsgründe“ bestünden. Das Verfahren war derart grotesk, daß sich die Frankfurter Universität nur auf ausdrückliche Weisung des Reichswissenschaftsministers Rust bereit fand, Dirlewanger die Doktorwürde erneut zuzuerkennen.10 Dieser drängte jetzt darauf, wieder als wehrwürdig anerkannt zu werden und möglichst bald in den Frontverbänden der Waffen-SS zum Einsatz zu kommen. Am 17. Mai 1940 wurde diesem Wunsch durch die Reichskanzlei entsprochen. Kommandeur der SS-Sonderformation Dirlewanger Vorwiegend durch Bergers Protektion wurde Dirlewanger Führer des ab März 1940 aufgestellten Wilddiebkommandos, für das er vielleicht selbst die erste Anregung gegeben hatte.11 Rekrutiert werden sollte, wer mit der Schußwaffe gewildert hatte und nicht als Gewohnheitsverbrecher galt. Schließlich kamen 88 Strafgefangene, selten ausschließlich wegen Wilderei inhaftiert, nach Sachsenhausen, insgesamt eine Schar mehr oder weniger gewaltbereiter Kleinkrimineller, aus denen Berger schließlich 60 auswählte. Wegen interner Bedenken gegen die Übernahme von Delinquenten in den ‚Orden‘ der Waffen-SS entschied Himmler, daß nur die der Waffen-SS entstammenden Führer und Unterführer der Einheit weiterhin der Waffen-SS angehören sollten. Das Kommando erhielt den Status eines „Sonderkommandos“, das lediglich im Dienst der Waffen-SS, aber nicht Teil von ihr war. Daher wurden auch von den SS-Uniformen, welche das Kommando erhielt, die Runen abge-

70

KNUT STANG

trennt. Versorgungsrechtlich Wehrmachtsangehörigen gleichgestellt, wurde die Einheit verfahrensrechtlich nach und nach den Freiwilligenverbänden der „germanischen Staaten“ innerhalb der Waffen-SS gleichgestellt. Die Kommandoangehörigen waren also faktisch Teil der Waffen-SS, ohne jedoch ‚ordensfähig‘ zu sein.12 Die Liste der Einsätze des Dirlewanger-Kommandos ist lang und voll von entsetzlichsten Übergriffen. Für die Einheit galt eindeutig die Parole, daß alles erlaubt sei, solange es dem Sieg diene oder jedenfalls nicht am Siegen hindere. Auf fast ein Jahr kaum in Kampfhandlungen verwickelt, war die Disziplin des Kommandos katastrophal, obgleich Dirlewanger volle Disziplinargewalt besaß, auch hinsichtlich der Rücksendung nach Sachsenhausen oder der Exekution.13 Er selbst erging sich in sadistischen Gewaltinszenierungen, Vergewaltigungen und Morden. Sein Stellvertreter Kurt Weiße, bereits wegen Belästigung von Kindern gerichtsnotorisch, stand ihm nicht nach.14 Nachdem die Einheit zunächst in den Distrikt Lublin verlegt worden war, häuften sich seitens der deutschen Behörden Vorwürfe wegen diverser Vergehen. Ermittlungen des zuständigen SS- und Polizeirichters beim Höheren SS- und Polizeiführer (HSSPF) Krakau wurden aber mit Hilfe Bergers, der von Dirlewangers Plünderungen profitiert hatte, niedergeschlagen.15 Berger ließ in einem Schreiben an Dirlewanger keinen Zweifel, daß er sich über dessen sexuelle Neigungen sowie über dessen schwieriges Verhältnis zum Alkohol durchaus im Klaren sei.16 Er sah aber das Hauptproblem in Dirlewangers Neigung zur Angeberei, was ihn immer wieder veranlasse, seine Kompetenzen zu überschreiten. Berger unterstrich, daß Dirlewangers Einheit ausschließlich einen Kampfauftrag und keine sicherheitspolizeiliche Funktion habe. Zu einem Ende der Spannungen kam es trotz dieses Eingreifens nicht. Erst nach weiteren Protesten des HSSPF Krakau, SS-Obergruppenführer Friedrich Wilhelm Krüger, wurde das Kommando zur Partisanenbekämpfung ins Generalkommissariat Weißruthenien verlegt, wo die schwierigeren Bedingungen des Einsatzes, vor allem aber die sehr viel stärkere Partisanenbewegung Dirlewangers Kommando eine höhere Relevanz und damit auch mehr Spielraum gaben. Jetzt konnte Dirlewanger endlich seinen – im Ersten Weltkieg und in der Freikorpszeit entstandenen, vielleicht noch durch den Spanischen Bürgerkrieg genährten – Glauben an Terrortaktik umsetzen. Diverse Stellen der Polizei wie auch der Wehrmacht lobten bald das Kommando als die effektivste Einheit in der Partisanenbekämpfung.17 Hierzu gehörten neben Search & Destroy-Missionen vor allem Vernichtungen „partisanenverdächtiger“ Dörfer, bei denen die Opfer meist erschossen oder mit ihren Ortschaften verbrannt wurden; allein in Borki etwa wurden sämtliche 2027 Einwohner liquidiert.18 Zudem unterstützte Dirlewangers Kommando die rücksichtslose Beschaffung von Zwangsarbeitern, sowohl zum Einsatz vor Ort als auch zur

DR. OSKAR DIRLEWANGER

71

Verbringung in das Reichsgebiet. Dirlewanger nutzte dies auch immer wieder, um Sonderrationen herauszuschlagen. So ließ er im März 1944 50 männliche und 10 weibliche Zwangsarbeiter für das SS-Hauptamt einfangen und sich diese Beschaffung von Berger mit zwei Flaschen Schnaps für jede Russin entgelten.19 Dirlewanger frönte dabei weiter seinen Leidenschaften: Alkohol, Sadismus, Kampfrausch. Minenfelder überwand er dadurch, daß er zwei Reihen Einheimische, um Schulterbreite versetzt, über minenverdächtige Straßen treiben ließ.20 Immer wieder kam es zu Massenvergewaltigungen und anderen Exzessen, bei denen in der Regel minderjährige Frauen und Kinder die Opfer waren.21 Von Zeit zu Zeit nahm hieran auch Gottlob Berger teil, der für derlei Orgien aus Berlin anreiste.22 Dieser war es auch, der Dirlewanger weiterhin vor aller Kritik schützte.23 Die Einheit wuchs rasch angesichts der mit der Partisanenbewegung wachsenden Bedarfslage und der Umstellung der Taktik auf Jagdkommandos. Rekrutiert wurden jetzt alle Arten von Strafgefangenen einschließlich zu lebenslänglicher Haft begnadigte Mörder.24 Die meisten brachte Dirlewanger durch rücksichtslose Verwicklung in die Mordtaten des Kommandos auf Linie. Ansonsten griff er zu drakonischen, jedes Militärstrafrecht ignorierenden, oft ganz willkürlichen Disziplinarmaßnahmen, die in der Regel aus Prügeln, mitunter auch aus Ermordung des Betreffenden bestanden. Hinzu traten drei Russenkompanien und ein Ukrainerzug, die bei den Massenmorden vor allem für Absperraufgaben eingesetzt wurden.25 Diese schlechter bewaffneten und ausgebildeten Einheiten trugen zudem vorerst die Hauptlast der Kampfeinsätze; daher hatte das Kommando selbst bis Ende 1943 nur 19 Mann eigene Verluste bei einer Stärke von zu diesem Zeitpunkt 236 Mann.26 Nach dem Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte im Sommer 1944 manifestierte sich bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstands noch einmal, wofür Dirlewanger stand: brutales Vorgehen im Kampf und exzessive Gewaltausübung. Beides wurde seitens der NS-Führung instrumentalisiert, um in Warschau zu tun, was das SS-Sonderkommando bisher in den weißrussischen Dörfern getan hatte: ausrotten und zerstören.27 Insbesondere an den umfangreichen Massakern, Plünderungen und Vergewaltigungen im Arbeiterviertel Woła waren Dirlewangers Männer beteiligt; dort verwendeten sie erstmals auch lebende Schutzschilde aus Frauen und Kindern, wenn sie feindliche Positionen angriffen.28 Als der Aufstand Anfang Oktober 1944 zusammenbrach, hatte die Einheit erhebliche Verluste zu verzeichnen und Hunderte von Männern verloren. Trotz Auffrischung mit insgesamt 2500 Mann während des Aufstands hatte der Verband im Oktober nur noch eine Stärke von 648 Mann, gegenüber 860 Mann im Juli, wurde dann aber auf 6000 Mann aufgestockt.29 Dirlewanger selbst erhielt – auch wegen seiner

72

KNUT STANG

persönlichen Beteiligung an diversen Nahkampfhandlungen – das Ritterkreuz. Die weitere Auffüllung des SS-Sonder-Regiments, so jetzt die offizielle Bezeichnung, erfolgte als Bewährungseinheit für SS-, dann auch für Wehrmachtsangehörige, ohne daß diese dadurch in die SS übernommen wurden. Verstärkt wurde Dirlewangers Einheit nunmehr auch durch fast 2000 „politische“ Häftlinge diverser Konzentrationslager. Im Lager hätten die ihm jetzt Überstellten, so glaubte Dirlewanger, nur durch Fanatismus ihre Überzeugungen bewahren können. Diesen Fanatismus gelte es zu nutzen. Dirlewanger hielt diesen also für eine inhaltsleere Haltung, die man nach Belieben mit Grundsätzen füllen konnte. Dies beschreibt freilich in erster Linie ihn selbst, nicht diese letzte große Gruppe von Rekrutierten.30 Aber Fanatismus wurde auch von der NS-Propaganda in diesen Tagen propagiert, um durch Haltung die unübersehbare Überlegenheit der Gegner in allen anderen Bereichen wettzumachen. Zur Führung der Einheit – nunmehr zwei Regimenter mit je drei Bataillonen à vier Kompanien, Aufklärungskompanie, zwei Artilleriebatterien – war Dirlewanger in keiner Weise qualifiziert, vor allem aber auch viel zu sehr daran interessiert, selbst Kommandotrupps im Kampf zu führen.31 Bei der Bekämpfung des Aufstands in der Slowakei ab Mitte Oktober 1944 hatte die Brigade daher erneut unverhältnismäßig hohe Verluste, vor allem wegen des übertriebenen Setzens auf Sturmangriffe. Der militärisch sinnlose Terminus „Sturmbrigade“, der für Dirlewangers Verband geschaffen wurde, demonstrierte gleichwohl, wo die Wurzel von Dirlewangers militärischem Denken lag, nämlich in den Stoßtrupps, zu denen er im Ersten Weltkrieg gehört hatte. Nach dem Durchbruch der Roten Armee an der Weichsel im Januar 1945 an die Oderfront verlegt, wuchs der Verband auf Divisionsstärke, indem vorhandene Einheiten Dirlewanger unterstellt wurden; Hitler hoffte, Dirlewangers Fanatismus werde befruchtend auf diese Einheiten wirken.32 Jetzt endlich erreichte Dirlewanger auch, daß seine Einheit offiziell als 36. WaffenGrenadier-Division in die Waffen-SS aufgenommen wurde.33 Weiterhin wurde der Verband auch aus den Lagern verstärkt, jetzt auch mit Sinti und Roma, die Dirlewanger bislang noch zurückgewiesen hatte.34 Das Ende kam dann im Raum Cottbus, wo die inzwischen versprengte Division von der Roten Armee gefangengenommen wurde. Aber da war Dirlewanger schon fast zwei Monate nicht mehr ihr Kommandeur. Mit der Reorganisation wurde Dirlewanger in der Führung des Verbands, der allerdings weiter seinen Namen tragen sollte, abgelöst, da er an den Folgen eines Brustschusses litt.35 Dirlewanger ging zurück nach Württemberg, wo er versuchte, Beutegut, das er bei seinen Eltern gelagert hatte, zu verstecken und ein Abtauchen für das unmittelbar zu erwartende Kriegsende vorzubereiten.36 In Altshausen, das nach der Kapitulation unter französische

DR. OSKAR DIRLEWANGER

73

Verwaltung gestellt wurde, nahm man Dirlewanger fest. Im provisorischen Gefängnis wurde er von dort eingesetzten polnischen Wachsoldaten mehrfach gefoltert und schließlich mit Gewehrkolben und Stiefeltritten so malträtiert, daß dies zu seinem Tod am folgenden Tag, dem 7. Juni 1945, führte. Gerüchten, er sei nicht tot, vielmehr in der Fremdenlegion oder auch bei Skorzeny in Ägypten37, wurde durch die Exhumierung der Leiche 1960 weitgehend ein Ende gesetzt.38 Vier Faktoren bestimmten Dirlewangers Werdegang. Bei ihm verbanden sich eine amoralische Persönlichkeit, zusätzlich zerrüttet durch Alkoholismus und eine sadistische sexuelle Veranlagung, das Fronterlebnis des Ersten Weltkrieges, rauschhafte Gewalt und Barbarisierung, die insgesamt erfolglosen und frustrierenden Friedensjahre und eine politische Führung, die skrupellose Terrorkriegsführung nicht nur tolerierte, sondern zur Methode machte. Wenig läßt sich dabei über Dirlewangers Kindheit und Jugend sagen. Auffällig geworden ist er damals nicht, aber eine soziopathologische Frühveranlagung dürfte im Kaiserreich nur selten registriert worden sein. Ein ‚ganz normaler Mann‘ war Dirlewanger nicht, waren auch die divers inkriminierten Angehörigen seiner Einheit nicht; insofern markiert er einen eher exotischen Sonderfall in der Mordmaschinerie des NS-Staats. Bemerkenswert ist um so mehr, daß Dirlewanger trotz Vorstrafen und sonstiger Auffälligkeiten erst von Berger richtig erkannt und instrumentalisiert wurde. Als Dirlewanger promovierte, als er immer wieder straffällig wurde, gab es keinen Berger, auch keinen Himmler oder Hitler, die ihn schützten und seinen Lebenswandel außerhalb der Einsätze zu ignorieren bereit waren. Hitler und Himmler sahen – zu Recht – in Dirlewanger den radikalsten Vertreter dessen, was NS-Kriegsführung auszeichnete gegenüber der auch nicht eben menschenfreundlichen Kriegsführung der deutschen Militärtradition. Was das über ein Regime aussagt, das sich in einer brutalen Verbrecherbande symbolisiert findet, muß wohl kaum ausgeführt werden. Anmerkungen 1

Hans Peter Klausch: Antifaschisten in Uniform. Schicksal und Widerstand der deutschen politischen KZ-Häftlinge, Zuchthaus- und Wehrmachtsstrafgefangenen in der SS-Sonderformation Dirlewanger, Bremen 1993, S. 35, spricht ohne weitere Erklärung von einem „Landsknecht der Konterrevolution“; French L. MacLean: The Cruel Hunters. SS-Sonder-Kommando Dirlewanger, Hitler’s Most Notorious AntiPartisan Unit, Atglen 1998, S. 263, nennt Dirlewangers Einheit „medival in their outlook on war“. 2 SA-Führer-Fragebogen v. 20.3.1934, BAL, Dok.Slg. 489. 3 Vern. Adolf K. v. 7.4.1962, ebd. 491. 4 Klausch (Anm. 1), S. 36.

74

KNUT STANG 5

Heilbronner Stimme v. 31.5.1934. Politische Beurteilung durch SD-Oberabschnitt Süd-West v. 14.5.1938, BAB, NS 19/1207. 7 Vern. Paul Dirlewanger v. 17.5.1947, StAN, KV, Anklage, Befragung D-45; Urteil LG Stuttgart v. 30.4.1940, BAL, Dok.Slg. 489. 8 Urteil LG Heilbronn v. 21.9.1934, BAL, Dok.Slg. 489. 9 Berger an Persönlicher Stab RFSS v. 28.7.1939, BAB, NS 19/1207. 10 Aufhebung der Aberkennung v. 2.4.1941, BAL, Dok.Slg. 489. 11 Berger hat am 21.5.1948 behauptet, die Idee sei von Hitler selbst ausgegangen, StAN, KV, Fall 11, S. 6134 f.; vgl. Hellmuth Auerbach: Die Einheit Dirlewanger, in: VfZ 10(1962), S. 250–263. 12 Persönlicher Stab RFSS an SS-FührungsHA v. 29.1.1942, BAB, NS 19/1; insofern irrt Höhne nicht völlig, wenn er das Kommando insgesamt zur Waffen-SS rechnet, Heinz Höhne: Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS, München 1967, S. 431. 13 Erlaß RFSS v. 20.2.1944, BAB, NS 19/1. 14 Dirlewanger rühmte sich z. T. sogar damit, so Vern. Adolf K. v. 7.4.1962, BAL, Dok.Slg. 491. 15 Berger an SSPF Lublin v. 26.8.1941 und 22.1.1942, BAL, Dok.Slg. Verschiedenes 301 Cf (O.165); eidesstattliche Erklärung Konrad Morgen v. 19.12.1947, IfZ, Nbg.Dok. NO-5742. 16 Berger an Dirlewanger v. 22.1.1942, BAL, Dok.Slg. Verschiedenes 301 Cf (O.165). 17 Etwa HSSPF Rußland-Mitte an RFSS v. 23.3.1942, BAB, NS 19/1. 18 SS-Sonderkommando an HSSPF Rußland-Mitte v. 16.6.1942, BAB, R 70 Sowjetunion/38; vgl. die Liste der Unternehmen bei MacLean (Anm. 1), S. 280 f.; Bernd Boll: Chatyn 1943, in: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Orte des Grauens. Verbrechen im Zweiten Weltkrieg, Darmstadt 2003, S. 19–29. 19 Dirlewanger an Bergers Adjutanten Blessau v. 11.3.1944, BA-MA, RS 3-36/19. 20 Vern. Albin V. v. 19.3.1948. IfZ, ZS 1560. 21 Noch in Lublin war Dirlewanger der Rassenschande bezichtigt worden; Berger ließ die Ermittlungen unterdrücken, vgl. Zwischenbericht KdS Lublin v. 25.10.1941, BAL, Dok.Slg. Verschiedenes 301 Cf (O.165). 22 Eidesstattliche Erklärung Wilhelm B. v. 22.9.1946, IfZ, Nbg.Dok. NO-867; Vern. Albin V. v. 19.3.1948. IfZ, ZS 1560; Jerzy S. v. 3.7.1962, BAL, Dok.Slg. 492. 23 RKO an RMO v. 18.6.1943, mit Anlagen, in: IMG, Bd. 38, Nürnberg 1949, S. 371–375. 24 Wochenmeldung v. 6.11.1942, BAB, R 22/1009; Überstellungslisten mehrerer Lager aus dem Sommer 1943, BAB, NS 31/257. 25 Dirlewanger an Berger v. 27.7.1942, BAB, NS 19/1; dto. v. 8.6.1943, BA-MA, RS 3-36/10. 26 Aussage Joanna-Ewa K. v. 14.3.1947, BAL, Dok.Slg. 492. 27 Dies geschah auf Weisung Himmlers; Vern. Ernst Rode v. 28.1.1946, BAL, Dok.Slg. 493; dies wurde auch den Angehörigen der Einheit bekanntgegeben, Vern. Alfons G. v. 31.1.1962 und 7.4.1962, Walter H. v. 23.1.1963, beides ebd. 28 Vern. Adolf K. v. 7.4.1962, ebd. 491; vgl. BAL, 211 AR 1507/61; Włodzimierz Borodziej: Der Warschauer Aufstand 1944, Frankfurt/M. 2001. 6

DR. OSKAR DIRLEWANGER 29

75

Fernschreiben AOK 9 v. 9.10.1944, BAL, Dok.Slg. 491. Dirlewanger an RFSS v. 7.10.1944, BAB, NS 3/401; ausführlich dazu Klausch (Anm. 1), S. 140 ff.; vgl. Hellmuth Auerbach: Konzentrationslagerhäftlinge im Fronteinsatz, in: Wolfgang Benz (Hrsg.): Miscellanea. Festschrift für Helmut Krausnick zum 75. Geburtstag, Stuttgart 1980, S. 63–83. 31 Vgl. Kurt Mehner: Die Geheimen Tagesberichte der Deutschen Wehrmachtsführung im Zweiten Weltkrieg 1939–1945, Bd. 11, Osnabrück 1988, S. 280 ff. 32 Das war der Hauptgrund für diese Aufstellung; der von Klausch (Anm. 1), S. 300, angeführte Grund, Hitler habe dem Feind Divisionen vorgaukeln wollen, wo nur noch Regimenter bestanden, spielte dagegen nur eine sekundäre Rolle. 33 Erlaß RFSS v. 19.2.1945, BAB, NS 19/1. 34 Vermerk Dirlewanger v. 21.8.1943, BA-MA, RS 3-36/10. 35 Vern. Gottlob Berger v. 2.6.1948, StAN, KV, Fall 11, S. 7192 f. 36 Dto. Maria Dirlewanger (undat.), ebd., Anklage, Befragung D-45. 37 So noch Glenn B. Infield: Skorzeny. Hitler’s Commando, New York 1981, S. 207. 38 Zweifel bleiben: Prof. Dr. Günther Weyrich, der die Leiche identifizierte, war selbst Mitglied der SS seit dem 1.3.1938, zuletzt im Rang eines Obersturmführers; die angeblichen Überreste Dirlewangers sind nach der Untersuchung in Freiburg verschwunden, MacLean (Anm.1), S. 254, 263; trotzdem scheint es am wahrscheinlichsten, daß Dirlewanger in französischer Haft erschlagen worden ist, die französische Seite aber alles tat, um dies zu verschleiern; wohl auch deshalb nur meldete der französische Ortskommandant den Tod erst zehn Tage nach Dirlewangers Ableben zur Eintragung ins Sterberegister, wo eine natürliche Todesursache verzeichnet wurde, Schreiben Kriminalkommissariat Ravensburg v. 11.4.1969, BAL, Dok.Slg. 489. 30

MICHAEL WILDT

Erich Ehrlinger – ein Vertreter „kämpfender Verwaltung“ Erich Ehrlinger zählte zu jenen Führungskadern des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), die, obzwar akademisch gebildet, vor allem durch ihre Rücksichtslosigkeit, Gewaltbereitschaft und Einsatzerfahrung Karriere machten. Himmler selbst setzte sich 1944 dafür ein, Ehrlinger aufgrund seiner Kompetenzen, die er im Sinne der SS in den besetzten sowjetischen Gebieten unter Beweis gestellt hatte, zum Amtschef im RSHA zu ernennen. Ehrlinger wurde am 14. Oktober 1910 als Sohn des Stadtpflegers und späteren Bürgermeisters Christian Ehrlinger in Giengen an der Brenz, rund dreißig Kilometer nordöstlich von Ulm gelegen, geboren.1 Nach dem Abitur im Jahr 1928 begann er, erst in Tübingen, später in Kiel und Berlin Rechtswissenschaft zu studieren. In Berlin schloß er sich im Mai 1931 der SA an und gehörte bis September desselben Jahres zum Charlottenburger Sturm 30. Führer, nicht Bürger Seitdem Joseph Goebbels Ende 1926 Gauleiter von Berlin geworden war, setzte er auf Aggressivität und Gewalttätigkeit als politische Instrumente für die Nationalsozialisten. Brutale Schlägereien der SA mit den politischen Gegnern, Märsche durch die proletarischen Viertel Berlins, haßerfüllte antisemitische Attacken sollten die linke Hegemonie in der Reichshauptstadt brechen und zugleich den eigenen Machtanspruch behaupten. Aktivismus, Kampf und Gewalt als ‚Gemeinschaftserlebnis‘ bildeten einen festen Bestandteil des SA-Alltages Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre.2 Zwei Morde an Arbeitern, die Anfang 1931 vom Charlottenburger SA-Sturm 33 begangen wurden, brachten ihm den Namen „Mördersturm“ ein und sorgten im Laufe des Jahres für eine weithin beachtete Gerichtsverhandlung. Obwohl die Berichterstattung der Presse kritisch war, trug die öffentliche Aufmerksamkeit zur gewalttätigen Selbststilisierung der Charlottenburger SA-Stürme bei, auf deren Märschen nun der Slogan erklang: „Wir sind die Nazi-Leute vom Mördersturm Charlottenburg.“3 Ebenfalls richtete sich die Gewalt gegen Juden. Für die Berliner SA war es üblich, am Sonntag in die Innenstadt zu fahren, um dort angeblich jüdisch aussehende Spaziergänger zu belästigen oder zu verprügeln.4 So marschierten am Abend des jüdischen Neujahrstages im September 1931 etwa tausend SA-Männer in einer Großaktion am Kurfürstendamm auf, brüllten Parolen wie „Deutschland erwache, Juda verrecke“ oder „Schlagt die Juden tot“ und attackierten brutal Passanten.5

ERICH EHRLINGER

77

Physische Gewalt als Terror ebenso wie als Gemeinschaft stiftendes ‚Kampferlebnis‘ waren Erich Ehrlinger bereits als Erfahrung vertraut, als er im Oktober 1931 nach Tübingen zurückkehrte, um dort sein Studium zu beenden. Auch die Tübinger Universität blieb von der sich an allen Hochschulen ausbreitenden nationalsozialistischen Hegemonie innerhalb der Studentenschaft keineswegs ausgeschlossen.6 Im Juli 1932 erhielt der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund dort die Hälfte aller Sitze im AStA. Militante Gewaltdrohungen gegen liberale und jüdische Hochschullehrer waren auch in Tübingen keine Seltenheit.7 Erich Ehrlinger gehörte zu den nationalsozialistischen Aktivisten in der Tübinger Studentenschaft. Als in der Machtergreifungsphase Anfang März 1933 NS-Studenten überall verlangten, die Fahne der NSDAP auf dem Campus aufzuziehen, schufen Ehrlinger und sein Kommilitone Martin Sandberger vollendete Tatsachen, während die Universitätsleitung noch vergeblich auf Weisungen vom Stuttgarter Kultusministerium wartete. Sie hißten am 8. März die Hakenkreuzfahne über der Tübinger Universität.8 Aktivistische Studenten wie Sandberger und Ehrlinger nutzten die Schwäche und Unsicherheit der Universitätsleitung, um die Machtkonstellation zugunsten der nationalsozialistischen Studenten zu verschieben und Forderungen nach Vertreibung politisch mißliebiger und jüdischer Hochschullehrer, Mitbestimmung und Veränderung der Lehrpläne durchzusetzen. Daß der nationalsozialistische Staat nach der Machtergreifungsphase wieder der Zentralgewalt von ‚oben‘ Geltung verschaffte und die revolutionäre Phase an den Universitäten beendete, mindert nicht deren Bedeutung. Denn sie macht deutlich, wie wenig das politische Engagement von Studenten wie Sandberger oder Ehrlinger sich im bloßen politischen Machtwechsel ‚oben‘ erschöpfte, wie stark ihr Umgestaltungswille ebenso wie ihre Bereitschaft war, die alten Institutionen zu zerstören und eine ‚neue Wirklichkeit‘ zu schaffen. Nicht Bürger wollten diese jungen akademischen Aktivisten sein, sondern Führer, nicht gewählte, sondern erwählte, natürliche Elite. Was sie in ihrem Führerverständnis anlegten, war die Selbstbegründung durch den Erfolg, die Rechtfertigung der Überlegenheit durch das erfolgreiche Handeln des Stärkeren. In der Tat, nicht allein in der Idee, bewies sich der Führer. Deshalb waren diese Männer ihrem Selbstverständnis nach keine Schreibtischtäter; ihr Anspruch auf Führerschaft begründete sich nicht durch einen Federstrich. Ihre spätere Tätigkeit im RSHA, der Wechsel von der Zentrale in Berlin zur Führung eines Einsatzkommandos in den besetzten Gebieten, von dort auf den Posten eines regionalen Gestapochefs im Reich und wieder zurück nach Berlin, entsprach exakt dieser weltanschaulichen Grundlage. Führer entwarfen nicht nur politische Konzepte, sie formulierten nicht allein Erlasse, sondern sie erteilten die Befehle auch vor Ort und sorgten dafür, daß die Praxis der ‚Idee‘ entsprach.

78

MICHAEL WILDT

Aufstieg im SD Ehrlinger bestand im Mai 1933 sein erstes juristisches Staatsexamen und tat anschließend Dienst als Gerichtsreferendar am Amtsgericht Tübingen. Zugleich engagierte er sich weiter in der SA. Das Zeugnis über ihn fiel eindeutig aus: „Ehrlinger war einer der wenigen Tübinger Verbindungsstudenten, die sich schon in den Jahren vor der Machtergreifung bedingungslos der SA zur Verfügung gestellt haben. [...] Obersturmführer Ehrlinger ist der Typ des unbeirrbaren, überzeugten, kompromißlosen und vorwärtsdrängenden nationalsozialistischen Kämpfers und fähigen Führers von Fronteinheiten.“9 Anfang 1934 wurde er auf die Führerschule des SA-Hochschulamtes in Zossen geschickt, was eine entscheidende Zäsur in seiner Biographie nach sich zog: Ehrlinger entschloß sich, seine juristische Berufslaufbahn aufzugeben und von nun an die Politik zu seinem Beruf zu machen.10 Mitte 1934 stieg er zum Leiter der SA-Sportschule Burg Rieneck bei Würzburg auf. Im Oktober wurde er nach Auflösung des SA-Hochschulamtes auf Reichsebene mit der Abwicklung des SA-Hochschulamtes Frankfurt am Main beauftragt, womit er zwar auf der Karriereleiter eine weitere Stufe erklomm, zugleich aber seine eigene Funktion überflüssig machte.11 Ehrlinger mußte sich nach einer neuen Tätigkeit umsehen und fand sie im Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS (SD).12 Im September 1934 kam er nach Berlin in das SD-Hauptamt, wo er als Stabsführer der von Franz Alfred Six geführten Zentralabteilung I 3 (Presse und Museum) zugeteilt wurde.13 Ehrlinger bewährte sich als agiler, engagierter SD-Mann, nicht nur in der Zentrale in Berlin, sondern vor allem im „ auswärtigen Einsatz“. Im Frühjahr 1938 war er beim ‚Anschluß‘ Österreichs dabei und organisierte den Aufbau des SD in Wien, ein Jahr später gehörte er zu den Einsatzkommandos, die in Prag einrückten. Seine Fähigkeiten blieben nicht unbemerkt. Six merkte bei den Planungen für das künftige RSHA im Frühjahr/Sommer 1939 Ehrlinger als Abteilungsleiter für weltanschauliche Gegner im Ausland vor. Heydrich selbst notierte Ehrlinger sogar als einen möglichen Kandidaten für die Leitung des gesamten SD-Inland, die dann aber Otto Ohlendorf zufiel.14 Die Gründungsphase des RSHA wurde erst einmal durch den Krieg gegen Polen unterbrochen. In den Vorbereitungsplanungen war er als Leiter der SDEinsatzkommandos vorgesehen und übernahm schließlich in der Einsatzgruppe (EG) IV die Aufgabe des SD-Führers im Gruppenstab. In Polen lernten etliche SS-Führer, die später im RSHA für die „Endlösung“ verantwortlich waren, in ‚großen Räumen‘ zu denken und zivilisatorische Schranken zu überschreiten. Die Praxis der Einsatzgruppen, deren Führungspersonal zum Großteil kurze Zeit später zur RSHA-Führung gehörte, überstieg bei weitem den Terror, den diese Männer zuvor praktiziert hatten. Der Umfang wie die Art und Weise der Exekutionen im Herbst 1939 erinnern bereits an die späteren Massenerschießungen in den besetzten sowjetischen Gebieten.15 So tötete

ERICH EHRLINGER

79

die EG IV Anfang September in Bromberg (Bydgoszcz) eigenmächtig Hunderte von Menschen, bevor ein Wehrmachtsoffizier die exekutive Gewalt in der Stadt am 8. September übernahm. Aber auch danach mordete sie weiter. Während einer groß angelegten Razzia auf der Schwedenhöhe, dem angeblich gefährlichsten Stadtviertel Brombergs, am 9. September, wurden 120 Menschen sofort an Ort und Stelle erschossen, annähernd 900 festgenommen. In der anschließenden Lagebesprechung, an der auch Erich Ehrlinger teilnahm, befahl Lothar Beutel, der Chef der EG, die gefangenen Polen zu töten, da sie eine ständige Gefahr für die Sicherheit darstellten und ihr potentieller Widerstand verhindert werden müsse. Am 12. September erschossen zwei Einsatzkommandos die gefangenen Polen in einem nahe gelegenen Wald.16 Nach Auflösung der Einsatzgruppen im Oktober 1939 wurde Ehrlinger zum Leiter des SD beim Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD (KdS) Warschau, Josef Meisinger, ernannt und fungierte als dessen rechte Hand bei der Unterdrückung der Polen. Vom April bis August 1940 war Ehrlinger für wenige Monate zur Waffen-SS eingezogen und nahm als SSKriegsberichterstatter am Krieg gegen Frankreich teil. Anschließend befand er sich in Norwegen, um mit einem besonderen Auftrag Himmlers eine norwegische Waffen-SS aufzubauen. Dort arbeitete er bereits mit seinem späteren Vorgesetzten Dr. Franz Walter Stahlecker zusammen. Im Februar 1941 kehrte Ehrlinger für wenige Wochen ins RSHA zurück, um dann im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion das Sonderkommando (SK) 1b in der EG A unter Stahlecker zu übernehmen.17 Einsatz in der Sowjetunion Das SK 1b, etwa 70 bis 80 Mann stark und voll motorisiert, erreichte, nachdem es bei Kriegsbeginn ausgerückt war, am 28. Juni das litauische Kowno (Kaunas), das vier Tage zuvor von deutschen Truppen erobert worden war und noch an einigen Stellen brannte. Noch in der Nacht vom 25. auf den 26. Juni wurden Hunderte Juden von Litauern umgebracht, die Synagogen zerstört und ein ganzes jüdisches Wohnviertel niedergebrannt. Weitere Menschen wurden in den folgenden Nächten ermordet, zum Teil auf bestialische Weise mit Knüppeln und Eisenstangen zu Tode geprügelt, wie ein Wehrmachtsoffizier bezeugte.18 Als Ehrlingers Einheit in Kowno eintraf, war der Höhepunkt des Pogroms zwar überschritten, das Morden aber keineswegs beendet. Obwohl das Einsatzkommando bereits wenige Tage später, am 5. Juli, in Richtung des lettischen Dünaburg (Daugavpils) weitermarschierte, fielen ihm wenigstens 185 jüdische Menschen zum Opfer, darunter alte Männer und Frauen. Ehrlinger war entweder selbst bei den Erschießungen dabei oder hatte den Befehl für die Morde gegeben. Laut Urteil des Karlsruher Landgerichts tat er sich bei mindestens einer Exekution durch lautes Zurufen hervor.

80

MICHAEL WILDT

Auch in Dünaburg tötete das Einsatzkommando weiter. Auf Befehl Ehrlingers durchsuchten Kommandoangehörige mit Hilfe ortskundiger Letten jüdische Wohnviertel, nahmen die männlichen Juden fest und brachten sie zu Sammelplätzen. Die Opfer wurden dann zu einem Park am Stadtrand geführt, gruppenweise zu vorher ausgehobenen Gruben gebracht und mit Pistolen durch Genickschuß ermordet. Ehrlinger war wiederum zugegen. „Mit umhängter Maschinenpistole“, so die Feststellung des Gerichts, „die Arme in die Hüften gestützt, stand er breitbeinig an der Grube und beobachtete den Erschießungsvorgang“.19 Insgesamt, so meldete das Einsatzkommando dem RSHA, seien in Dünaburg 1150 Juden erschossen worden.20 Zwischen Oktober und Dezember 1941 wurde das SK 1b stückweise nach Weißrußland verlegt; aus ihm sowie aus Teilgruppen anderer Einsatzkommandos bildete sich die neue Dienststelle des KdS Minsk.21 Teile des Kommandos nahmen damit an der Ermordung tausender dortiger Juden teil, die erschossen wurden, um „Platz zu schaffen“ für die deutschen, österreichischen und tschechischen Juden, die nach Minsk deportiert werden sollten. Nach eigenen Angaben tötete das SK 1b in dieser Zeit gemeinsam mit anderen Einheiten der Sicherheits- und Hilfspolizei 6624 Menschen.22 Allerdings ist Ehrlingers Anwesenheit hier nicht nachzuweisen.23 Erich Ehrlinger, im Sommer 1941 dreißig Jahre alt, stellt einen offenkundig hartgesottenen SS-Täter dar, der sich vom Schreibtisch selbst an die Erschießungsgrube begab und die Täter anfeuerte. Karl Tschierschky, SS-Sturmbannführer und 1941/42 Leiter des SD im Stab der EG A, beschrieb ihn als „einen impulsiven Mann mit großer eigener Initiative“.24 Ebenso schilderte ihn ein Gestapoangehöriger während seiner Zeit in Kiew als einen cholerischen und impulsiven Mann. Ehrlinger sei spontan in seinen Entschlüssen gewesen und habe dann außerordentlich hart und ungerecht gewirkt.25 Nachdem die Letten in Dünaburg die Juden zwar interniert, aber nicht getötet hatten, entschloß sich Ehrlinger vor Ort „kurzerhand“, wie es in der „Ereignismeldung UdSSR“ heißt, die gefangenen Juden zu erschießen. Die beschriebene Pose, die er am Erschießungsgraben einnahm, weist ihn als jemanden aus, der sich seiner Sache sicher war und den Fortgang der ‚Arbeit‘ wie ein Gutsherr kontrollierte.26 Hier erfüllte jemand seine Aufgabe, unbedingt und entschieden. Diese ‚Qualitäten‘ Ehrlingers blieben seinen Vorgesetzten nicht verborgen. Am 9. Dezember 1941 ernannte ihn Heydrich mit sofortiger Wirkung zum KdS für den Generalbezirk Kiew im Reichskommissariat Ukraine.27 Zu diesem Zeitpunkt lag die erste große Welle der Judenmorde bereits zurück. Gleichwohl gab es in der Stadt noch zahlreiche versteckte Juden, die teils entdeckt, teils denunziert den Deutschen zum Opfer fielen. Ging eine solche Anzeige ein, entschieden als erste die jeweiligen Abteilungsleiter der KdSDienststelle, ob der Häftling getötet oder, falls er sich als noch nützliche

ERICH EHRLINGER

81

Arbeitskraft ausbeuten ließ, im Arbeitserziehungslager, das unweit Kiew auf dem Gut Michalowka errichtet worden war, interniert werden sollte. Die endgültige Entscheidung über Leben und Tod lag bei Ehrlinger, der wiederum persönlich bei den Exekutionen anwesend war.28 Ehrlinger habe, so ein damaliger Angehöriger der Gestapo in Kiew, größten Wert darauf gelegt, daß sämtliche Angehörigen der Dienststelle des KdS regelmäßig an den Hinrichtungen teilnahmen.29 Einmal griff er selbst zur Waffe, wütend darüber, daß die Erschießung seiner Auffassung nach zu langsam vonstatten ging, und schoß auf die Opfer, bevor sie sich hingelegt hatten.30 Wie sehr ihn die Tötungsgewalt mitriß, zeigt ein Vorfall aus dem Sommer 1943. Aus dem Lager auf Gut Michalowka hatten an einem Tag etwa fünf bis sechs Häftlinge von einer Außenarbeitsstelle fliehen können. Noch am selben Abend ließ Ehrlinger die Häftlinge – zu diesem Zeitpunkt befanden sich etwa 500 Frauen und Männer im Lager – in Marschformation antreten und befahl, von einem Dolmetscher übersetzt, daß Häftlinge nach einem bestimmten Abzählmodus heraustreten sollten, die anschließend wegen der Fluchten erschossen werden sollten. Nach dem Bericht eines Zeugen entstand unter den wehrlosen und stark bewachten Häftlingen ein Raunen, woraufhin Ehrlinger, ohne sonderlich erregt zu sein, geschweige denn bedroht oder angegriffen, seine Pistole zog und unvermittelt das ganze Magazin Munition ungezielt in die Menge der Häftlinge schoß.31 Im September 1942 erhielt Ehrlinger den Auftrag, seinen Vorgesetzten, den Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD (BdS), Dr. Max Thomas, zu vertreten. Im August des folgenden Jahres wurde er von Kaltenbrunner ermächtigt, die Geschäfte des BdS Kiew wahrzunehmen, da Thomas verwundet worden war. Wenig später ernannte ihn Kaltenbrunner mit Wirkung vom 6. September 1943 zu seinem Beauftragten beim Befehlshaber der Heeresgruppe Mitte und Chef der EG B und anschließend auch zum BdS RußlandMitte/Weißruthenien.32 Ehrlinger traf in Minsk gerade zur Zeit der letzten Phase der Judenvernichtung in den besetzten sowjetischen Gebieten ein. Unter seinem Befehl wurden Ende Oktober die letzten noch verbliebenen Angehörigen des Ghettos in Minsk erschossen oder im Gas erstickt.33 Im Frühjahr 1944 kehrte Ehrlinger nach Berlin zurück. Kaltenbrunner hatte ihn mit Wirkung vom 1. April als Nachfolger von Erwin Schulz zum Chef des RSHA-Amtes I, zuständig für alle Personalangelegenheiten, ernannt. Himmler selbst, so sagte Kaltenbrunner nach dem Krieg aus, soll auf einem Mann für diesen Posten bestanden haben, der sich an der Front ausgezeichnet habe.34 Daß mit Ehrlinger zum ersten Mal die Position eines Amtschefs mit einem Mann besetzt wurde, der sich in den vorangegangenen Jahren ausschließlich im Einsatz im Osten hervorgetan hatte, zeigt, wie gegen Ende des Krieges auch innerhalb des RSHA das Profil der Führungsgruppe noch einmal radikalisiert wurde.35

82

MICHAEL WILDT

Kaltenbrunner beschrieb in einem Brief an Himmler vom 2. November 1944 diesen genuinen Typus einer „kämpfenden Verwaltung“, wie sie Heydrich skizziert hatte:36 „Ich habe versehentlich unterlassen, meinen Amtschef I, SS-Standartenführer Ehrlinger, rechtzeitig zur Beförderung vorzuschlagen, möchte dies aber unbedingt nachholen, weil ich Ehrlinger in jeder Hinsicht für würdig halte, zum nächsthöheren Dienstgrad befördert zu werden. Obwohl er bei der Übernahme des hies[igen] Amtes ein sehr schwieriges und unklares Erbe angetreten hat, ist es ihm schon binnen kurzem gelungen, sich vorbildlich in seine Aufgaben einzuarbeiten. Er hat sie mit der gleichen soldatischen Härte in Angriff genommen, die er, wie Sie, Reichsführer, selbst wissen, in seiner früheren Dienststellung als BdS in Minsk gezeigt hat. Besonders lobend möchte ich dabei hervorheben, daß er auch sein jetziges Aufgabengebiet nicht ausschließlich vom Schreibtisch aus zu lösen versucht, sondern stets bemüht ist, lebendige Verbindung mit den einzelnen Dienststellen draußen zu halten. So hat er wiederholt Dienstreisen zu verschiedenen Einsatzgruppen unternommen und mir dadurch Erfahrungen vermittelt, die mir meine Entscheidungen über den jeweils zweckmäßigsten Einsatz der sicherheitspolizeilichen Kräfte wesentlich erleichtert haben.“37 Nachkrieg Ehrlinger geriet Ende der 1950er Jahre ins Visier der Staatsanwälte. Er hatte sich 1945 mit anderen Teilen der RSHA-Führung nach Schleswig-Holstein abgesetzt, dort seine SS-Uniform mit der eines Wehrmachtsunteroffiziers vertauscht und sich den Namen ‚Erich Fröscher‘ zugelegt. Daraufhin kam er nur für wenige Wochen in englische Internierungshaft, blieb nach seiner Entlassung für kurze Zeit noch in Norddeutschland als Landarbeiter und ging dann im Oktober 1945 nach Roth bei Nürnberg. Dort arbeitete er als Lagerbuchführer auf einem amerikanischen Flugplatz, zog 1950 mit seiner Familie nach Konstanz um, wo der ehemalige Amtschef des Reichssicherheitshauptamtes als Empfangschef des Spielkasinos angestellt wurde. 1952 entschloß er sich, seine falsche Identität zu offenbaren und stellte sich sowohl den französischen wie den deutschen Behörden, ohne daß er damit zu diesem Zeitpunkt größeres Interesse an seiner Person weckte. 1954 fand er eine bessere Stellung als Autovertreter und brachte es innerhalb kurzer Zeit zum Leiter der Volkswagenvertretung in Karlsruhe.38 Unbemerkt blieb Ehrlinger jedoch nicht. Im Juni 1954 wurde er zum ersten Mal vernommen und am 9. Dezember 1958 abends gegen elf Uhr festgenommen. Am 20. Dezember 1961 verurteilte das Landgericht Karlsruhe Erich Ehrlinger wegen Beihilfe zum Mord in 1045 Fällen zu insgesamt zwölf Jahren Zuchthaus.39 Allerdings wurde dieses Urteil nicht rechtskräftig, da der Bundesgerichtshof einem Revisionsantrag der Staatsanwaltschaft stattgab und den Fall erneut an das Landgericht Karlsruhe verwies. Währenddessen

ERICH EHRLINGER

83

erkrankte Ehrlinger in der Haft schwer und mußte sich mehreren Operationen unterziehen. Zu einem neuen Urteil kam es nicht mehr. Wegen dauernder Verhandlungsunfähigkeit wurde das Verfahren am 3. Dezember 1969 endgültig eingestellt, nachdem der Haftbefehl bereits im Oktober 1965 außer Vollzug gesetzt worden war und Ehrlinger das Gefängnis hatte verlassen können.40 Er starb Anfang der neunziger Jahre in Karlsruhe. Anmerkungen 1

Zu seiner Person BAB, BDC, SSO Erich Ehrlinger; BAB, R 58/Anhang, 14; BAB, Film SS Versch. Prov. 1633, Bl. 729892 ff.; BA-ZA, ZR 555/14; Urteil LG Karlsruhe v. 20.12.1961, BAL, SA 130, abgedruckt in: JNS, Bd. 18, Amsterdam 1978, lfd. Nr. 526; GStaw beim Kammergericht Berlin, RSHA-Ermittlungsunterlagen, Personalheft Pe 8; vgl. Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002. 2 Vgl. Sven Reichardt: Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln-Weimar-Wien 2002. 3 Ders.: Gewalt im SA-Milieu. Sozialhistorische Untersuchungen zum Berliner SA-Sturm Charlottenburg, 1926–1932, Magisterarbeit FU Berlin 1994, S. 85. 4 Peter Longerich: Die braunen Bataillone. Geschichte der SA, München 1989, S. 121. 5 Vgl. Dirk Walter: Antisemitische Kriminalität und Gewalt. Judenfeindschaft in der Weimarer Republik, Bonn 1999, S. 211–221. 6 Vgl. Anselm Faust: Der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund in der Weimarer Republik, 2 Bde., Düsseldorf 1973. 7 Vgl. Wildt (Anm. 1), S. 89–104. 8 Ebd., S. 100 f.; zu Martin Sandberger, der ebenfalls später zum Führungskorps des RSHA gehörte und KdS Estland wurde, ebd., S. 98 f., 170–174, 578–591, 785–790. 9 SA-Dienstleistungs-Zeugnis v. 17.4.1935, BAB, R 58/ Anhang, 14. 10 Ein Detail beleuchtet diese biographische Wende Ehrlingers: Am 19.6.1934 trat er aus der evangelischen Kirche aus, Lebenslauf Erich Ehrlinger v. 11.9.1934, BA-ZA, ZR 555/14. 11 Zur Auflösung der SA-Hochschulämter im Oktober 1934 Michael Grüttner: Studenten im Dritten Reich, Paderborn u. a. 1995, S. 254–260. 12 Zum SD George C. Browder: Foundations of the Nazi Police State. The Formation of Sipo and SD, Lexington 1990; ders.: Hitler’s Enforcers. The Gestapo and the SS Security Service in the Nazi Revolution, New York-Oxford 1996; Michael Wildt (Hrsg.): Nachrichtendienst, politische Elite und Mordeinheit. Der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS, Hamburg 2003. 13 Neben dieser Funktion wurde Ehrlinger im SD-Hauptamt auch Hauptabteilungsleiter II 11 (Weltanschauungen), Beförderungsvorschlag zum SS-Sturmbannführer v. 1.3.1938, BAB, BDC, SSO Erich Ehrlinger; zu Six Lutz Hachmeister: Der Gegnerforscher. Die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six, München 1998. 14 Six an CdS v. 23.6.1939, BAB, R 58/ F. 441; Vermerk Schellenberg über eine Unterredung mit CdS v. 4.4.1939, BAB, R 58/826.

MICHAEL WILDT

84 15

Vgl. Michael Wildt: Radikalisierung und Selbstradikalisierung 1939. Die Geburt des Reichssicherheitshauptamtes aus dem Geist des völkischen Massenmords, in: Gerhard Paul/Klaus-Michael Mallmann (Hrsg.): Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. ‚Heimatfront‘ und besetztes Europa, Darmstadt 2000, S. 11–41. 16 Vgl. Helmut Krausnick/Hans-Heinrich Wilhelm: Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938–1942, Stuttgart 1981, S. 55–62; Wildt (Anm. 1), S. 432–447; zu den Verbrechen der Wehrmacht im Krieg gegen Polen im September 1939 demnächst die Diss. von Alexander B. Rossino: Crucial Weeks. Nazi Germany’s War Against Poland in 1939. 17 Eigentlich, so Ehrlinger, sei der Leiter der Stapo-Stelle Weimar, Gustav vom Felde, für die Führung des SK 1b vorgesehen gewesen; vom Felde sei jedoch kurzfristig wieder zurückversetzt worden, und Stahlecker habe ihn mit der Leitung des SK 1 b beauftragt, Vern. Ehrlinger v. 9.3.1966, RSHA-Ermittlungsunterlagen (Anm. 1); zur EG A Hans-Heinrich Wilhelm: Die Einsatzgruppe A der Sicherheitspolizei und des SD 1938–1942, Frankfurt/M. u. a. 1996; Wolfgang Scheffler: Die Einsatzgruppe A 1941/42, in: Peter Klein (Hrsg.): Die Einsatzgruppen in der besetzten Sowjetunion 1941/42. Die Tätigkeits- und Lageberichte des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, Berlin 1997, S. 29–51. 18 Vgl. Leni Yahil: Die Shoah. Überlebenskampf und Vernichtung der europäischen Juden, München 1998, S. 392–396; Ernst Klee/Willi Dreßen/Volker Rieß: „Schöne Zeiten“. Der Judenmord aus der Sicht der Täter und Gaffer, Frankfurt/M. 1988, S. 35– 44; Christoph Dieckmann: Deutsche Besatzungspolitik und Massenverbrechen in Litauen 1941–1944. Täter, Zuschauer, Opfer, Diss. Freiburg/B. 2002, bes. S. 455– 471. 19 Urteil LG Karlsruhe v. 20.12.1961, BAL, SA 130. 20 EM Nr. 24 v. 16.7.1941, BAB, R 58/214. 21 Christian Gerlach: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg 1999, S. 187. 22 Ebd., S. 624 f. 23 Paul Kohl schreibt zwar – allerdings ohne Quellenangabe –, daß Ehrlinger als erster Leiter der Dienststelle KdS Minsk im November 1941 eine zentrale Exekutionsstätte gesucht und dafür ein Gelände in der Nähe des späteren Vernichtungslagers Maly Trostinez ausgewählt habe, Paul Kohl: „Ich wundere mich, daß ich noch lebe“. Sowjetische Augenzeugen berichten, Gütersloh 1990, S. 93; aber nach Gerlach ist nicht geklärt, ob Ehrlinger Ende 1941 überhaupt in Minsk amtiert hat; nur zwei kurze Besuche sind nachgewiesen, Gerlach (Anm. 21), S. 187, 768. 24 Vern. Karl Tschierschky v. 20.8.1959, BAL, 207 AR-Z 246/59, Bd. 3, Bl. 608 f. 25 Dto. Erich W. v. 18.12.1959, BAL, 204 AR-Z 38/60, Bd. 1, Bl. 4. 26 Zum Ansatz, die Vernichtungstätigkeit als ‚Arbeit‘ zu interpretieren, Alf Lüdtke: The Appeal of Exterminating „Others“: German Workers and the Limits of Resistance, in: Journal of Modern History 64(1992), suppl. S. 46–67. 27 CdS an Ehrlinger v. 9.12.1941, Staw Hamburg 147 Js 31/67, Bd. 22, Bl. 4133; in der SSO-Akte Ehrlingers befindet sich eine Abschrift dieses Briefes, der allerdings von Streckenbach gezeichnet worden ist, BAB, BDC, SSO Erich Ehrlinger; HansHeinrich Wilhelm nimmt aufgrund verschiedener Dokumente an, daß Ehrlinger das SK 1b noch bis Januar 1942 von Minsk aus geleitet hat, Wilhelm (Anm. 17), S. 256;

ERICH EHRLINGER

85

laut Urteil nahm Ehrlinger seine Tätigkeit als KdS Kiew im Februar 1942 auf, Urteil LG Karlsruhe v. 20.12.1961, BAL, SA 130. 28 Während Ehrlingers Zeit als KdS Kiew vom Februar 1942 bis August 1943 hielt das LG Karlsruhe eine Zahl von mindestens 365 ermordeten Juden – Männer, Frauen, Kinder – für erwiesen, ebd. 29 Vern. Erich W. v. 18.12.1959 (Anm. 25); so beteiligte er sich an einer Exekution persönlich, nachdem er gehört hatte, die Täter an der Grube hätten ihren Unmut darüber geäußert, daß er nicht selbst teilnehme, Urteil LG Karlsruhe v. 20.12.1961, BAL, SA 130. 30 Ebd.; weitere Dokumente zu Ehrlingers Tätigkeit als KdS Kiew BAB, BDC, HO 2472. 31 Urteil LG Karlsruhe v. 20.12.1961, BAL, SA 130. 32 CdS an SS-PersonalHA v. 28.8.1943, BAB, BDC, SSO Erich Ehrlinger; die Ernennung zum BdS beim HSSPF Rußland-Mitte und Weißruthenien mit Sitz in Minsk bei gleichzeitiger Beibehaltung der Führung der EG B erfolgte am 18.10.1943, CdS an Ehrlinger v. 18.10.1943, IfZ, Fa 74. 33 Zur Vernichtung des Minsker Ghettos Gerlach (Anm. 21), S. 740 ff. 34 Headquarters 12th Army Group, Interrogation Center, Apo 655, Kaltenbrunner, Comments on Amt I v. 28.6.1945, NARA, RG 319, Box 102A, File XE000440 Ernst Kaltenbrunner. 35 Vgl. Gerhard Paul: „Diese Erschießungen haben mich innerlich gar nicht mehr berührt.“ Die Kriegsendphasenverbrechen der Gestapo 1944/45, in: Paul/Mallmann (Anm. 15), S. 543–568. 36 Rede Heydrichs an die leitenden Mitarbeiter der deutschen Besatzungsverwaltung in Prag v. 2.10.1941, abgedruckt in: Miroslav Kárný/Jaroslava Milotová/Margita Kárná (Hrsg.): Deutsche Politik im „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren“ unter Reinhard Heydrich 1941–1942. Eine Dokumentation, Berlin 1997, S. 108. 37 CdS an RFSS v. 2.11.1944, BAB, BDC, SSO Erich Ehrlinger. 38 Vgl. Wildt (Anm. 1), S. 820–823; die unzutreffende Information von Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 3, Frankfurt/M. 1990, S. 1168, daß Ehrlinger Direktor des Landesamtes für Verfassungsschutz im Saarland gewesen sein soll, stammt wahrscheinlich aus dem DDR-Braunbuch: Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik und in Westberlin, hrsg. vom Nationalrat der Nationalen Front des demokratischen Deutschland und Dokumentationszentrum der staatlichen Archivverwaltung der DDR, Berlin (DDR) 31968, S. 371. 39 Urteil LG Karlsruhe v. 20.12.1961, BAL, SA 130. 40 Beschluß dto. v. 3.12.1969, ebd.

JACEK ANDRZEJ MŁYNARCZYK

Hans Gaier – ein Polizeihauptmann im Generalgouvernement Am 7. Dezember 1943 wurde vor dem SS- und Polizeigericht VI in Krakau gegen den Hauptmann der Schutzpolizei Hans Gaier ein Verfahren wegen Mißhandlung eines Untergebenen auf persönliche Anordnung Himmlers eingestellt. „Der Reichsführer-SS hat ferner angeordnet, daß der zuständige Höhere SS- und Polizeiführer dem Hauptmann Gaier die Anerkennung des Reichsführers-SS für sein Vorgehen gegen die polnischen Plünderer und gegen den Sonderdienstmann zum Ausdruck bringt“, hieß es in der entsprechenden Verfügung.1 Was war der Anlaß dafür, daß Gaier, der Leiter der Schutzpolizei in Kielce im Distrikt Radom des Generalgouvernements, zuerst vor das SS- und Polizeigericht gezerrt, dann aber von Himmler persönlich belobigt wurde? Im August 1942 hatte die mörderische Welle der Ghettoauflösungen im Generalgouvernement, bekannt als „Aktion Reinhard“, auch den Distrikt Radom erreicht. Ende des Monats räumte man das jüdische Wohnviertel in Kielce.2 Die Deportation sowie die anschließende Erfassung des jüdischen Vermögens wurden mit aktiver Hilfe der örtlichen Schutzpolizei durchgeführt, die auch den Abtransport von Mobiliar beaufsichtigte. Als am 25. August 1942 die jüdischen Möbel und Wäschestücke auf Wagen zur Kreishauptmannschaft transportiert wurden, sah der die Aktion leitende Gaier, „wie eine große Anzahl halbwüchsiger polnischer Burschen im Alter von 16–18 Jahren sich an die Wagen heranmachte. […] Er verjagte das Gesindel und rief dabei den vor dem Gebäude der Kreishauptmannschaft stehenden Sonderdienstmann F. an, damit er ihm bei dem Vertreiben der Polen behilflich sei. F. lehnte eine Hilfe mit dem Hinweis ab, daß er seinen Posten vor der Tür […] nicht verlassen dürfe. […] [Gaier] war über das Verhalten des Sonderdienstmannes sehr empört, ging auf ihn zu, drückte ihn in das Gebäude der Kreishauptmannschaft hinein und ohrfeigte den F. hinter geschlossener Tür.“ Die Haltung des Sonderdienstangehörigen hatte Gaier anscheinend in solche Rage versetzt, daß er den ‚Schuldigen‘ nicht nur mit Schlägen ins Gesicht, sondern auch mit Fußtritten in den Unterleib traktierte. Der Angeklagte rechtfertigte seinen Wutausbruch damit, daß er sich damals „in tagelanger mühsamer Arbeit ohne Nachtruhe“ befunden habe, und daß er durch die anwesenden Reichsdeutschen provoziert worden sei, die „grinsend zusahen, als polnisches Gesindel dabei war, seine mühsame Arbeit durch Diebstahl zunichte zu machen“.3 Hier traten all jene Charaktereigenschaften zutage, die bestimmend für Gaiers Verhalten in Kielce sein sollten: ein an Fana-

HANS GAIER

87

tismus grenzendes Pflichtbewußtsein, gepaart mit einer brutalen Kompromißlosigkeit in der Verfolgung seiner Ziele. Polizeichef in Kielce Gaier kam am 4. Juli 1940 zusammen mit dem ersten Schutzpolizeikommando, das vor Ort die neue Dienststelle bilden sollte, nach Kielce. Nur einige Monate zuvor, im November 1939, war er zum Hauptmann der Schutzpolizei befördert worden,4 was aufgrund seines fortgeschrittenen Lebensalters – damals war er bereits 37 Jahre alt – keine Selbstverständlichkeit mehr war. Sein Weg in den aktiven Polizeidienst war sehr verzwickt: Der am 10. Februar 1902 in Mannheim-Sandhofen geborene Gaier hatte sich 1933 bis 1935 als kommissarischer Bürgermeister im südhessischen Hofheim und als Führer der örtlichen SA-Standarte 221 große Verdienste um die NS-Bewegung erworben, verlor aber seinen Posten in der Verwaltung wegen verschiedener Unregelmäßigkeiten im Amt. Erst danach wechselte Gaier als bereits 34jähriger zur Polizei.5 Er wurde am 16. März 1936, damals bereits SAObersturmbannführer, als Hauptwachtmeister der Schutzpolizei auf Probe in den hessischen Landesdienst eingestellt.6 Sein erstes Gesuch auf Zulassung zur Offizierslaufbahn wurde im Januar 1937 abgelehnt, weil „Gaier hinsichtlich der Vorbildung und des Lebensalters die Voraussetzungen hierzu nicht erfüllt“.7 Erst weiteren Bemühungen wurde im März 1937 entsprochen, woraufhin er den Offiziersanwärter-Lehrgang 1937/38 absolvieren konnte.8 Nach der Beförderung zum Hauptmann stellte sich der Einsatz im Generalgouvernement für ihn von Anfang an als große Bewährungsprobe dar, die er mit größtem persönlichem Engagement und Eifer zu bewältigen suchte. Innerhalb kürzester Zeit baute er das aus 40 Mann bestehende Kommando der Schutzpolizei in der Stadt auf, dem auch die polnische „blaue Polizei“ untergeordnet wurde9 und verwandelte es schnell in ein wirksames Terrorinstrument der nationalsozialistischen Herrschaft vor Ort. Zu den Aufgaben der Schutzpolizei gehörten unter anderem die Bekämpfung des Schleichhandels, die Unterdrückung jeglicher Form von Widerstand sowie die Überwachung der Juden, besonders seit der Ghettogründung in der Stadt am 5. April 1941. Notwendigerweise setzte dies einen ständigen und unmittelbaren Kontakt mit der unterworfenen Bevölkerung voraus. Gaier sollte von Anfang an dank seiner exponierten Stellung innerhalb der lokalen NS-Hierarchie maßgeblich die Gestaltung dieses Zusammenlebens beeinflussen. In seiner Funktion als Chef der Schutzpolizei in Kielce bildete er zusammen mit dem Leiter der dortigen Sicherheitspolizei, SS-Hauptsturmführer Ernst Thomas, mit dem er eng befreundet war,10 die Spitze der nationalsozialistischen Exekutive vor Ort. Als leitender Offizier war er für die gesamte Atmosphäre in seinem Verantwortungsbereich verantwortlich. Er bestimmte die Einhaltung der Polizeivorschriften und der Verhaltensnormen

88

JACEK ANDRZEJ MŁYNARCZYK

beim Kontakt mit der unterworfenen Bevölkerung, und er kümmerte sich um die politische und weltanschauliche Gesinnung seiner Männer. Er sorgte sich um die Disziplin der ihm untergebenen Leute und entschied über die Lehrinhalte der politischen Schulung. Gleichzeitig setzte er mit eigenem Beispiel die deutlichsten Orientierungsmaßstäbe für seine Untergebenen, indem er vorlebte, wie die geschriebenen und ungeschriebenen Verhaltensregeln der Polizei im Alltag anzuwenden seien. Das alles war Gaier von Anfang an bewußt. Bald nach seiner Ankunft in der Stadt fügte er sich nahtlos in die örtliche Exzeßtäterszene ein, zu der außer ihm noch der erwähnte Thomas, der Leiter der örtlichen Gendarmerie, Gerulf Meyer, sowie Angehörige seiner eigenen Dienststelle, z. B. sein Stellvertreter Erich Wollschläger, sowie der notorische Vergewaltiger Wirz gehörten. Begleitet von seinen Kumpanen durchquerte er die Stadt, und überall, wo er erschien, verbreitete er Schrecken. Wie zahlreiche Augenzeugen in den Nachkriegsverfahren aussagten, richteten sich seine Untaten gleichermaßen gegen die christlichen wie jüdischen Bewohner der Stadt. „Gaier ist ein äußerst rabiater gewalttätiger Mensch, der sehr oft mit der Reitpeitsche in den Straßen Kielces zu sehen war“, berichtete einer; „es geschah sehr häufig, daß er, ohne daß ein Grund ersichtlich war, auf Juden mit der Reitpeitsche einschlug, aber dasselbe tat er auch Polen gegenüber.“11 Die Palette seiner Übergriffe reichte von Mißhandlungen bis zum gewöhnlichen Mord. „Wenn z. B. Gaier in das Ghetto kam und dort einen Juden sah mit einem langen Bart (meist waren es ältere Leute), dann riß er diesem den Bart mit der Haut und dem Fleisch heraus“, erinnerte sich ein jüdischer Augenzeuge; „dies hat er sehr oft und sehr gerne getan. Ich persönlich habe dies öfter gesehen.“12 Ein anderer erzählte: „Eines Tages kam [Gaier] in die Mykwa und trieb alle nackten Juden auf die Straße hinaus. Trotz des Frostes und des Schnees standen sie unter seinen Schlägen mit dem Stock, da er ihnen nicht erlaubte, nach Hause zu laufen.“13 Auch jegliche Amtshandlungen, wie etwa Durchsuchungen, waren stets von Mißhandlungen und Demütigungen begleitet. Ein jüdischer Zeuge schilderte eine von Gaier vorgenommene Durchsuchungsaktion: „Die weiblichen Mitglieder der Familie mußten sich in einem Zimmer und die Männer in einem anderen Zimmer versammeln und sich splitternackt ausziehen. […] Mein Vater kam gar nicht zu Worte und wurde erbarmungslos von Gaier geschlagen. G[aier] hatte einen großen Schäferhund bei sich, den er auf meinen Vater gehetzt hat. Er schlug solange ein, bis mein Vater besinnungslos zusammenbrach. Dann wurde mein ältester Bruder hereingeholt, und [es] geschah mit diesem das gleiche. Als nächster wurde ich vorgeführt und erhielt dieselbe Behandlung. Nachdem wir Männer, es folgten noch 2 Brüder nach mir, auf diese Art besinnungslos geschlagen wurden, wurden auch die Frauen mißhandelt.“14

HANS GAIER

89

Auf der Flucht zu erschießen Ein weiteres Kapitel im Genozid an der jüdischen Bevölkerung bildeten Morde am Zaun des Ghettos. Am 9. Juni 1941 wurde Hans Gaier mit der kommissarischen Leitung der Polizeidirektion in Kielce betraut.15 In dieser Funktion beaufsichtigte er unter anderem auch das neugebildete jüdische Wohnviertel in der Stadt und stellte die Passierscheine für die außerhalb des Ghettos arbeitenden Juden aus.16 Aufgrund der hygienischen Paranoia innerhalb der deutschen Zivilverwaltung, die sich vor allem in der Vorstellung manifestierte, die gesamte jüdische Bevölkerung sei ein Krankheitsüberträger, wurde das Terrain des Ghettos unmittelbar nach seiner Entstehung zum Seuchensperrgebiet erklärt.17 Die Sorge um die wirksame Abriegelung seiner Grenzen avancierte damit zum größten Problem der örtlichen Schutzpolizei, besonders angesichts der Tatsache, daß die abgeschottete Bevölkerung nur in minimalem Maße versorgt wurde und hungerte, was natürlich, neben der Belebung des Schwarzmarktes in Kielce, etliche Ausbruchsversuche zur Folge hatte. Um in der angespannten Situation Herr der Lage zu werden, griff Gaier bereits im Sommer 1941 – also mehrere Monate vor der 3. Verordnung über Aufenthaltbeschränkungen im Generalgouvernement vom 15. Oktober 1941, die die Todesstrafe für das unerlaubte Verlassen des jüdischen Wohnbezirkes verhängte18 – zum radikalsten Mittel und stiftete seine Untergebenen dazu an, die ertappten Flüchtlinge unmittelbar an der Ghettogrenze zu erschießen. In der weltanschaulichen Schulung für die Schutzpolizisten wurde offiziell verkündet, daß „ein Jude, der ohne Passierschein außerhalb des Ghettos angetroffen wird, mit dem Tode bestraft würde. Auf Gegenfragen, daß man die [Juden] nicht einfach umlegen könne, wurde gesagt, sie seien fortzujagen und dann quasi auf der Flucht zu erschießen.“19 Gaier beließ es nicht beim Erlaß dieser Richtlinie. Während seiner routinemäßigen Ghettobesuche erschoß er eigenhändig mehrere Personen, die er beim ‚illegalen‘ Übersteigen des Zauns erwischt hatte. Damit setzte er ein unmißverständliches Zeichen für seine Untergebenen, wie mit jüdischen Flüchtlingen zu verfahren sei. Einer der ehemaligen jüdischen Polizisten erinnerte sich an einen Mord an einem dreizehnjährigen Kind: „Der Jude stand am Zaun und wollte einen Sack Kartoffeln über den Zaun heben, den ihm ein Pole auf der anderen Seite des Zauns gebracht hatte. Gaier kam hinzu und hat von der polnischen Seite aus durch den Zaun hindurch den Juden […] erschossen. Der Pole konnte flüchten.“20 Mit der Zeit entwickelten sich solche Ad-hoc-Exekutionen im Ghetto zu solcher Routine für die SchupoFührung, daß einer der Beamten eigens zu ihrer Durchführung abgeordnet wurde. Diese Funktion übernahm ein Österreicher aus Graz, Mathias Rumpel, dem man schon bald den Namen „Schießer“ oder „Zieler“ gab. Seine alleinige Aufgabe bestand darin, die auf frischer Tat ertappten christlichen oder jüdischen ‚Verbrecher‘ auf Befehl von Gaier auf der Stelle mit einem

90

JACEK ANDRZEJ MŁYNARCZYK

gezielten Genickschuß zu ‚erledigen‘. Dies bezeugen nicht nur Aussagen der polnischen und jüdischen Überlebenden. Auch seine Kameraden von der Dienststelle wußten bestens darüber Bescheid: „Auf die Einzelaktionen [war] Mathias Rump[e]l spezialisiert. […] Er handelte im Auftrage des Hauptmann Gayer [Gaier]. Ich weiß dies deshalb, weil er mir beim Munitionsfassen berichtete. Seine Spezialität waren Genickschüsse.“21 Außer dienstlichen Besuchen im jüdischen Wohnviertel duldete Gaier auch Ghettobesuche nur zur ‚Unterhaltung‘, an denen oft auch Angehörige aus anderen Polizeiformationen teilnahmen. Während dieser Eskapaden wurden Menschen aus purer Lust an der Gewalt mißhandelt und getötet. Außer offensichtlich materiellen Gründen lagen diesen ‚Erlebnistouren‘ vielfach eindeutig sexuelle Motive zugrunde. Um sie auszuleben, setzte man sich nicht nur über menschliche Moralvorstellungen, sondern auch über nationalsozialistische Verhaltensnormen wie das Verbot der „Rassenschande“ hinweg.22 Auch ein überzeugter Nationalsozialist wie Gaier machte da keine Ausnahme: Zusammen mit seinem ‚Saufkumpel‘ Gerulf Meyer ermordete er zwei Jüdinnen, die es wagten, Widerstand zu leisten, als die beiden während einer Zechtour versuchten, sie zum Zwecke des sexuellen Mißbrauchs zu entführen.23 Der Gipfel der Perversion wurde aber erreicht, als zwei 10 und 14 Jahre alte jüdische Mädchen, die im Zug ohne Passierschein erwischt worden waren, auf der Dienststelle der Schutzpolizei zur ‚Belustigung‘ von Gaier und anderen Polizisten zum Geschlechtsverkehr mit den Polizeihunden gezwungen und anschließend von Rumpel exekutiert wurden.24 Die Tatsache, daß diese Tat in Anwesenheit von mehreren Männern stattfand, von denen manche Familienväter sein mußten, und daß keiner von ihnen protestierte oder eine Anzeige erstattete, sprechen eine deutliche Sprache. Ständige physische Übergriffe und Morde gehörten so selbstverständlich zum Alltagsleben der deutschen Besatzer, daß Gaier sich während seiner Ghettobesuche oder bei den antijüdischen Aktionen völlig vorbehaltlos von seiner Freundin Eva V. begleiten ließ. Sie selbst konnte daran weder damals, noch in den 1960er Jahren etwas Anstößiges finden: „Ganz allgemein kann ich sagen, daß in Kielce seitens der deutschen Besatzungsdienststellen alles ganz ordentlich zugegangen ist. Unangenehm waren lediglich die polnischen Überfälle durch die Partisanen.“25 Was Frau V. unter „ordentlich zugegangen“ verstand, erfahren wir von einem jüdischen Überlebenden: „Eines Sonntags im März 1943 kam [der] Hauptmann mit seiner polnischen Freundin zu uns ins Arbeitslager (‚kleines Ghetto‘). In einem dort befindlichen Stall befand sich ein ihm gehörendes Pferd. In der Nähe des Pferdestalles bückte sich ein 16- oder 17jähriges Mädchen, um vermutlich Beeren von einem Strauch zu pflücken. Offenbar um sich vor seiner Freundin aufzuspielen, erschoß Gaier das Mädchen.“26 Die Ermordete hatte gegen kein Gesetz verstoßen. Ihre bloße Anwesenheit gab Gaier die Möglichkeit, seine Herrschaft über

HANS GAIER

91

Leben und Tod der Juden zu demonstrieren, und er nahm die ‚Gelegenheit‘ einfach wahr. Ebenso bezeichnend ist die Tatsache, daß dieses Klima der völligen Entrechtung durch viele Frauen mitkonstituiert wurde, indem sie das vor ihren Augen passierende Verbrechen als ‚normal‘ ansahen und sich damit einverstanden zeigten, was die männlichen Täter noch zusätzlich in ihren Untaten bestärkte. Wie Eva V. selbst bestätigte, waren ihre Besuche im Ghetto keine Seltenheit: „Ich war, wie die anderen Deutschen auch, in dem Handwerkerhaus am Rande des Ghettos und nach meiner Bekanntschaft mit Herrn Gaier auch verschiedene Male im Ghettoinneren.“27 Ihren eigenen Angaben zufolge beobachtete sie auch die Selektion während der Liquidierung des jüdischen Wohnviertels im August 1942 und war bei der Auflösung des „kleinen Ghettos“ im Mai 1943 anwesend, als alle jüdische Kinder als „arbeitsunfähig“ von den Eltern auf brutalste Art und Weise getrennt wurden, um anschließend auf den jüdischen Friedhof gebracht und ermordet zu werden.28 Dabei spielten sich dermaßen brutale Szenen ab, daß ihre Anwesenheit sogar manche involvierte Polizisten befremdete. „Es war für jeden einzelnen Schutzpolizisten deprimierend, mitwirken zu müssen“, sagte einer von ihnen aus, „so war es für mich unverständlich, daß eine Frau, die zu einer solchen Aktion zu kommen sicherlich keinen Befehl hatte, freiwillig mittat.“29 Nach der Liquidierung des „kleinen Ghettos“ wurde der Rest der jüdischen Bevölkerung von Kielce auf die Zwangsarbeitslager verteilt und damit der Macht der Schutzpolizei entzogen.30 Danach fand sich die überwiegend christliche Bevölkerung im Visier von Hauptmann Gaier. Er führte öffentliche Exekutionen durch und beteiligte sich weiterhin an individuellen Mordtaten.31 Im Herbst 1944 übernahm er die Führung eines Polizeibataillons und kam zum Fronteinsatz. Gleichzeitig bewies er die Festigkeit seiner nationalsozialistischen Überzeugungen, indem er – anscheinend ermutigt von der eingangs geschilderten Belobigung durch Himmler – den Antrag zur Aufnahme in die Schutzstaffel stellte.32 Bei Kriegsende galt Gaier als vermißt und wurde durch einen Beschluß des Amtsgerichts Mannheim vom 16. Dezember 1954 für tot erklärt.33 „… weiß die Bevölkerung richtig anzufassen“ Hans Gaier stellte den Typus eines überzeugten Nationalsozialisten dar, der seine verfestigte Weltsicht im unterworfenen Polen zu eigenen Zwecken zu instrumentalisieren wußte. Er scheint alle Grundsätze der rassistischen Ideologie aufs genaueste verinnerlicht zu haben und war stets bestrebt, sie in die Tat umzusetzen. Polen und vor allem Juden waren für ihn keine vollwertigen Menschen, sondern „Untermenschen“ ohne Persönlichkeit und Würde, die man nach Bedarf jederzeit demütigen, schikanieren, mißhandeln und sogar umbringen konnte. Er bezeichnete sie als „Hunde“, die man nach Belieben

92

JACEK ANDRZEJ MŁYNARCZYK

„abknallen“ dürfe.34 Seine Weltanschauung bildete jedoch keineswegs die alleinige Motivation für sein grausames Handeln. Daneben offenbarte sich bei ihm – ähnlich wie bei anderen überzeugten NS-Tätern auch35 – ein ganzes Bündel unterschiedlichster Beweggründe, die erst gemeinsam den eigentlichen Antrieb zu Mißhandlungen und Morden konstituierten. Dabei spielte sein Fanatismus eine genauso große Rolle wie übersteigerter Ehrgeiz. In seiner Vorgehensweise mischte sich funktionale Gewalt so gründlich mit reinen Exzeßtaten, daß Außenstehende kaum die Unterschiede wahrnehmen konnten. Er mordete, um die unterworfene Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen, oder um den ihm untergeordneten Polizisten eine Lektion in Sachen Terror zu erteilen. Manchmal tötete er Menschen nur aus purer Laune heraus, ein anderes Mal, um die eigene Freundin zu beeindrucken. Als Leiter der Schutzpolizei in Kielce duldete Gaier auf seiner Dienststelle nicht nur eine Atmosphäre der Korruption und der völligen Menschenverachtung gegenüber der christlichen und jüdischen Bevölkerung, er konstituierte sie sogar maßgeblich durch sein eigenes Beispiel. Dank seiner exponierten Funktion bekamen alle von ihm unternommenen Gewalt- und Exzeßtaten eine ganz andere Bedeutung als die, die von anderen Schutzpolizisten begangen wurden. Sie erhoben automatisch Gewalt gegen Polen und Juden zur geltenden Norm. Die gemeinsam verübten Untaten wurden dabei zum eigentlichen Bindemittel der Kameraderie. Mit dieser Vorgehensweise entsprach er voll den Erwartungen der nationalsozialistischen Führung, die darin die linientreue Realisierung der offiziellen Politik im besetzten Polen sah. Gaiers unmittelbarer Vorgesetzter, der Kommandeur der Ordnungspolizei im Distrikt Radom, Oberst Baehren, wußte dies zu würdigen und bescheinigte ihm, daß er „ein zuverlässiger und gewissenhafter Offizier mit guten soldatischen Tugenden“ sei, der alle „ihm übertragenen Arbeiten […] mit viel Geschick [löst]“. Er „versteht es, sich in seiner Stellung Achtung zu verschaffen“ und „weiß die Bevölkerung richtig anzufassen“, lobte Baehren.36 Anmerkungen 1

Verfügung RFSS v. 9.11.1943, BAB, BDC,Akte HA SS-Gericht zu Hans Gaier. Zur Auflösung des Ghettos in Kielce vgl. Krzysztof Urbański: Zagłada ludności żydowskiej Kielc 1939–1945 [Die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in Kielce 1939–1945], Kielce 1994, S. 117–134; ders.: Kieleccy Żydzi [Kielcer Juden], KielceKraków o. J. (1993), S. 165–169; Jacek Andrzej Młynarczyk: Bestialstwo z urzędu. Organizacja hitlerowskich akcji deportacyjnych w ramach „Operacji Reinhard“ na przykładzie likwidacji kieleckiego getta, [Die Bestialität vom Amt. Die Organisation der nationalsozialistischen Deportationen im Rahmen der „Aktion Reinhard“ am Beispiel der Auflösung des Ghettos in Kielce], in: Kwartalnik Historii Żydów Nr. 3, 2002, S. 354–379. 2

HANS GAIER 3

93

Einstellungsverfügung SS- und Polizeigericht VI Krakau v. 7.12.1943, BAB, BDC, Akte HA SS-Gericht zu Hans Gaier. 4 Ernennungsurkunde v. 13.11.1939, BAL, Dok.Slg. Verschiedenes VIII. 5 Hessisches Kreisamt Bensheim an Reichsstatthalter in Hessen v. 13.11.1935, ebd. 6 Ernennungsurkunde v. 18.3.1936, ebd. 7 CdO an Gaier v. 18.1.1937, ebd. 8 Zeugnis über Gaiers Teilnahme am 7. Offiziersanwärter-Lehrgang v. 1.8.1938, ebd. 9 Zum Aufbau und zur Zusammensetzung des Kommandos der Schutzpolizei in Kielce vgl. HSSPF-Organisationsbefehl v. 2.7.1940, in: Stanisław Biernacki/ Blandyna Meissner/ Jan Mikulski: Policja porządkowa w Generalnej Guberni. Wybór dokumentów [Die Ordnungspolizei im Generalgouvernement. Dokumentenauswahl], in: Biuletyn Głównej Komisji Badania Zbrodni Hitlerowskich w Polsce 31(1982), S. 178–181. 10 Vern. Herbert B. v. 18.2.1966, BAL, 206 AR-Z 157/60, Bl. 1562. 11 Aussage Elias K. v. 29.12.1950, ebd., Bl. 2929 f. 12 Dto. Marek W. v. 28.2.1950, ebd., Bl. 2912. 13 Augenzeugenbericht Mojsze Meir Bahm v. 25.2.1945, Archiwum Żydowskiego Instytutu Historycznego Warszawa, 301/66. 14 Aussage Max Z. v. 11.1.1951, BAL, 206 AR-Z 157/60, Bl. 2933. 15 Ernennungsurkunde, BAL, Dok.Slg. Verschiedenes VIII. 16 Vern. Anna O. v. 12.4.1960, BAL, 206 AR-Z 157/60, Bl. 14. 17 Verordnung über die Bildung eines Seuchensperrgebietes in der Stadt Kielce, in: Anordnungsblatt für die Stadt- und Kreishauptmannschaft Kielce Nr. 7/1941, Archiwum Państwowe w Kielcach, Akta miasta Kielc, Sign. 2642. 18 Die dort verhängten Aufenthaltsbeschränkungen für Juden traten im Distrikt Radom erst mit dem 1.1.1942 in Kraft, vgl. Anordnungsblatt für die Stadt- und Kreishauptmannschaft Kielce Nr. 1/1942, ebd., Sign. 2640. 19 Vern. Hermann O. v. 30.6.1965, BAL, 206 AR-Z 157/60, Bl. 625; vgl. Vern. Herbert B. v. 18.2.1966, ebd., Bl. 1560. 20 Eidesstattliche Erklärung Leib R. v. 5.5.1966, ebd., Bl. 1943; vgl. Vern. Erwin K. v. 27.2.1966, ebd., Bl. 1614; Manuel F. v. 16.3.1966, ebd., Bl. 1667; Matys F. v. 20.5.1966, ebd., Bl. 1885; Irving S. v. 13.5.1966, ebd., Bl. 1914; Erklärung Henry L. v. 28.3.1966, ebd., Bl. 2062. 21 Vern. Johann P. v. 21.1.1964, ebd., Bl. 243 f. 22 Es sind vielfach sexuelle Übergriffe auf Jüdinnen seitens anderer Polizisten in Kielce überliefert; vgl. Aussage Simon C. (undat.), ebd., Bl. 40, über Thomas; Aussage Gerda B.-R. v. 20.6.1966, ebd., Bl. 1968 f., über Wollschläger; eidesstattliche Erklärungen Helena B. v. 30.3.1966, ebd., Bl. 1644, und Adolf S. v. 10.5.1966, ebd., Bl. 1957, über Wirz. 23 Aussage Aleksander S. v. 14.4.1969, IPN Kielce, Ds. 21/68, Bd. III, Bl. 79 f. 24 Dto. v. 3.3.1969, ebd., Bd. II, Bl. 98; diese Aussage wurde abgedruckt in: Eugeniusz Fąfara: Gehenna ludności żydowskiej, Warszawa 1983, S. 88. 25 Vern. Eva V. v. 24.1.1966, BAL, 206 AR-Z 157/60, Bl. 1469. 26 Eidesstattliche Erklärung Abraham P. v. 19.4.1968, BAL, 206 AR-Z 23/64, Bl. 1342; Eva V. stammte zwar aus Schlesien, war aber eine Deutsche und keine Polin.

94

JACEK ANDRZEJ MŁYNARCZYK 27

Vern. Eva V. v. 24.1.1966, BAL, 206 AR-Z 157/60, Bl. 1465. Ebd., Bl. 1465 ff. 29 Vern. Franz P. v. 21.1.1964, ebd., Bl. 246 f. 30 Vgl. Urbański: Zagłada (Anm. 2), S. 144–150; ders.: Kieleccy Żydzi (Anm. 2), S. 171–174. 31 Abschlußbericht v. 28.12.1978, IPN Kielce, Ds. 21/68, Bd. III, Bl. 242–257. 32 Bescheid PP Mannheim v. 10.1.1945, BAL, Dok.Slg. Verschiedenes VIII. 33 Einstellungsvermerk Staw Darmstadt v. 20.10.1983, BAL, 206 AR-Z 44/81, Bl. 200. 34 Vgl. eidesstattliche Erklärung Sara L. v. 7.2.1966, BAL, 206 AR-Z 157/60, Bl. 1552. 35 Vgl. die Befunde über die Handlungsmotivation im Distrikt Krakau bei KlausMichael Mallmann: „Mensch, ich feiere heut’ den tausendsten Genickschuß“. Die Sicherheitspolizei und die Shoah in Westgalizien, in: Gerhard Paul (Hrsg.): Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? Göttingen 2002, S. 109–136, hier S. 126 ff. 36 Beurteilung KdO Radom v. 3.4.1943, BAL, Dok.Slg. Verschiedenes VIII. 28

PETER KLEIN

Curt von Gottberg – Siedlungsfunktionär und Massenmörder „Landwirt und Soldat“ schrieb Curt von Gottberg stets in die Fragebögen, wenn er nach dem Januar 1933 von Partei- oder SS-Dienststellen nach seinen früheren Berufen gefragt wurde. Der am 11. Februar 1896 in PreußischWilten geborene von Gottberg erlebte seit seinem 16. Lebensjahr eine Ausbildung in der Landwirtschaft, ehe er am 2. August 1914 in den Krieg zog. Im Kürassierregiment Nr. 3 sowie im Ersten Garderegiment zu Fuß machte von Gottberg nahezu den gesamten Ersten Weltkrieg mit, bevor er 1917 wegen seiner zahlreichen Schuß- und Splitterverletzungen für kriegsbeschädigt erklärt wurde. Mit den EK I und II sowie dem Verwundetenabzeichen in Schwarz gehörte er als Oberleutnant noch bis zum 20. April 1920 zur Reichswehr. Nach seiner Mitgliedschaft in der Brigade Ehrhardt bis 1924 entschloß er sich jedoch, zurück nach Ostpreußen zu gehen, vollendete dort seine landwirtschaftliche Ausbildung und war gegen Ende der 1920er Jahre in Königsberg als selbständiger Siedlungsunternehmer bekannt. 1931 trat er der SA und ein Jahr darauf der NSDAP bei. Kurze Zeit später wechselte der 37jährige jedoch zur SS, und im Laufe des Jahres 1933 avancierte der ostpreußische SS-Mann Curt von Gottberg zum SS-Sturmbannführer und Leiter der Polizeibereitschaft in der württembergischen Kleinstadt Ellwangen. Damit war aus dem einfachen Mitglied der Allgemeinen SS ziemlich schnell ein hauptamtlicher und fest besoldeter SS-Führer geworden, dessen nächste Funktion eigentlich die Übernahme der 49. SS-Standarte im SS-Oberabschnitt Nordwest (Braunschweig) sein sollte. Chef des Siedlungsamtes der SS Doch am frühen Morgen des 5. Januar 1936 verursachte Curt von Gottberg einen schweren Autounfall auf einer Landstraße zwischen Braunschweig und Goslar, der seinen geplanten Lebensweg als quasi militärischer Führer abrupt beenden sollte. Nach einem Lokalbesuch mit dem Braunschweiger Oberstaatsanwalt war er, wie sein neuer Vorgesetzter Friedrich Jeckeln meinte, wohl unter Alkoholeinfluß und wegen Übermüdung von der Straße abgekommen und frontal an einen Obstbaum gefahren. Von Gottberg selbst beteuerte später, er sei nüchtern einem schwankenden Radfahrer ausgewichen, der jedoch nie ermittelt werden konnte. Dennoch nahm Himmler ihm das ehrenwörtliche Versprechen ab, drei Jahre lang abstinent zu bleiben.

96

PETER KLEIN

Von Gottbergs Genesung dauerte mehrere Monate; er hatte sein linkes Bein unterhalb des Knies verloren. Zusätzlich erwarteten ihn Prozeßkosten wegen des schrottreifen Autos, das ihm nicht gehört hatte. Hier griff nun zum ersten Mal Heinrich Himmler zugunsten von Gottbergs ein, indem er die Entschuldung sowie wenig später die professionelle medizinische Nachbetreuung des Prothesenträgers in Hohenlychen von seinem Persönlichen Stab finanzieren ließ. Curt von Gottbergs Berufserfahrung als Landwirt und Siedlungsunternehmer sowie die Tatsache, daß er Vater von sieben Kindern war, veranlaßten Himmler dazu, den Schwerbeschädigten in die höhere Verwaltung innerhalb der SS-Hauptämter einzugliedern. Mit Wirkung vom 1. Juli 1937 wurde er zum Chef des Siedlungsamtes im Rasse- und Siedlungshauptamt der SS (RuSHA) ernannt.1 Mit diesem Karrieresprung in die SS-Verwaltung war Curt von Gottberg allerdings völlig überfordert, da seine landwirtschaftlichen Verwaltungskompetenzen nicht dazu ausreichten, eine Funktion zu erfüllen, in der juristische Fachkenntnis und diplomatisches Geschick gefordert war. Mit diesem Amt verbunden waren mehrere Aufsichtsratsvorsitze in Siedlungs- und Wohnungsbaugesellschaften, die im eigentlichen Sinne die Durchführungsorgane des Amtschefs waren. Von Gottberg wurde in schneller Folge Aufsichtsratsvorsitzender der Ersten Gemeinnützigen Baugesellschaft für Kleinwohnungen in Wien, der Allod Eigenheim und Kleinsiedlung GmbH Berlin sowie der Vorsitzende des Deutschen Reichsvereins für Volkspflege und Siedlerhilfe in Potsdam. In seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Deutschen Reichsvereins hintertrieb Curt von Gottberg im Sommer 1939 die drohende Übernahme der Deutschen Ansiedlungsgesellschaft (DAG) durch das in Siedlungsfragen konkurrierende Reichsernährungsministerium mittels Aktienankauf. Es war ihm bis Mitte September gelungen, die Aktienmehrheit von der Dresdner Bank Berlin für über 800000 RM zu kaufen – ein Coup, gegen den Richard Walter Darré vergeblich protestierte und der von Gottberg in vielerlei Hinsicht massive dienstliche und persönliche Probleme verschaffen sollte.2 Doch im Herbst 1939 sollte nicht nur dieser neue Aufsichtsratsposten in der DAG auf von Gottberg zukommen. Mit dem deutschen Einmarsch in den tschechischen Rumpfstaat im März 1939 geriet auch die ehemalige Sektion IX des tschechoslowakischen Landwirtschaftsministeriums in die Hände des Siedlungsamtes der SS. In jener Abteilung war die tschechische Bodenreform durchgeführt worden, die in der Zwischenkriegszeit von vielen ehemaligen deutsch-österreichischen Grundbesitzern als staatliche Enteignungsinstitution wahrgenommen worden war.3 Diese Sektion IX, damals kurz „Prager Bodenamt“ genannt, bekam im Sommer 1939 einen deutschen kommissarischen Leiter: Curt von Gottberg. Der Multifunktionär der SS in Siedlungsfragen konnte sich nur wenige Wochen halten. Es war von Gottberg stets gleichgültig gewesen, bei seinen

CURT VON GOTTBERG

97

vielfältigen Aktionen auf finanztechnische Akkuratesse oder satzungsgemäßes Verhalten zu achten. So kümmerte es ihn nicht, als Vorsitzender eines immerhin gemeinnützigen Vereins 822800 RM satzungswidrig ohne Information des Aufsichtsrates in bar bei der Dresdner Bank auf den Tisch zu legen, um sofort den Ankauf der DAG-Aktien zu finanzieren. Den Betrag hatte er in seiner Eigenschaft als kommissarischer Leiter des Bodenamtes einem von ihm eingerichteten „Konto separato“ bei der Böhmischen Escompte Bank entnommen, das mit über 30 Millionen Kronen aufgefüllt war; doch dafür herrschte ein Debet in derselben Höhe auf dem offiziellen Konto des Bodenamtes. Diese Transaktion und weitere Spenden an das RuSHA und die SS-Mannschaftshäuser, Darlehen an Privatpersonen oder Institutionen wie die Kreditanstalt der Deutschen oder die Gemeinnützige Siedlungsgenossenschaft Prag flogen bereits anläßlich einer internen Revision im Oktober 1939 auf.4 Neben diesen und anderen bodenamtsfremden Geschäften drohten weitere handfeste Skandale, wie die mangelnde Aufsichtspflicht gegenüber eingesetzten Geschäftsführern. So hatte der SS-Obersturmführer Jochen Tostmann als Geschäftsführer der Ersten Gemeinnützigen Baugesellschaft für Kleinwohnungen in Wien und als Treuhänder von vier Baugenossenschaften im Protektorat massive geschäftliche Fehlschläge zu verantworten, die er zunächst auf von Gottberg abzuwälzen versuchte.5 Darüber hinaus fand ein geradezu vernichtendes schriftliches Urteil des SD-Leitabschnitts Prag über 29 deutsche Bedienstete des Bodenamts seinen Weg auf den Schreibtisch von Karl Hermann Frank, dem Staatssekretär des Reichsprotektors.6 Mitte November 1939 schien Curt von Gottbergs Karriere beendet und zwar auch deswegen, weil sein Chef im RuSHA, Günther Pancke, für einen vollständigen Rücktritt sorgte. Am 13. November 1939 eröffnete Pancke ihm, er habe sich wegen einer schweren Herzattacke krank zu melden, danach sämtliche Vorstandsposten bei Gesellschaften und Vereinen niederzulegen, keinerlei dienstlichen Verkehr mit staatlichen, parteiamtlichen oder privatwirtschaftlichen Organisationen zu unterhalten und letztlich „keinem Menschen gegenüber irgendeine andere Schilderung über die Notwendigkeit Ihres Rücktritts von diesen Geschäften als Ihre schwere Herzerkrankung zu geben“.7 Panckes Anweisung gipfelte in der Drohung, er würde von Gottberg bei Nichtbeachtung ins Konzentrationslager bringen lassen – eine Drohung, die den Rückschluß zuläßt, der Hauptamtschef wäre damals gar nicht in der Lage gewesen, von Gottberg mit anderen Mitteln zumindest für die Zeit der Revisionen und der SS-Disziplinaruntersuchungen zum Schweigen zu bringen. Von Gottbergs Charakterbild, wie es sich aus seinen Personalakten und Korrespondenzen erschließen läßt, zeigt tatsächlich einen Mann, der mit großer Entschlossenheit private oder berufliche Ziele verfolgte, jedoch sich in der Wahl seiner Mittel nie kritisieren ließ. Diese Art engstirniger Rechthaberei, die jede Einsicht in Varianten oder Kompromisse ausschloß, dokumen-

98

PETER KLEIN

tiert sich in Beleidigungsverfahren, wüsten Beschimpfungen gegenüber Mitarbeitern oder in der konsequenten Verkennung seiner tatsächlichen Lage im Dezember 1939.8 Von Gottberg meinte noch immer, er würde durch seinen Rücktritt vom Amt des Siedlungschefs und seine künftige Konzentration auf die Aufsichtsratsposten sowie die Leitung des Bodenamtes in kurzer Zeit aus der beruflichen Krise kommen. Die Familie verkaufte ihr Haus in BerlinWannsee kurz vor Weihnachten 1939 und zog in ein Landhaus in Trebotov bei Prag, das offiziell als Mannschaftsunterkunft für deutsche BodenamtsAngehörige firmierte. Doch Pancke und Himmler ließen keinen Zweifel daran, daß der Gescheiterte sowohl aus dem Protektorat wie auch aus allen Funktionen ferngehalten bleiben sollte.9 Nachdem jedoch von Gottbergs Bemühungen um einen treuhänderischen Gutsverwalterposten in Böhmen und Mähren oder im Reichgau Wartheland am Veto des dafür zuständigen Reichsernährungsministers gescheitert waren, ernannte Himmler ihn gleichwohl zum 1. Oktober 1940 zum Chef des Erfassungsamtes im SS-Hauptamt. SS- und Polizeiführer in Weißruthenien Eineinhalb Jahre später sollte sich von Gottbergs berufliches Schicksal noch einmal entscheidend wenden: Himmler teilte ihm am 6. April 1942 mit, das gegen ihn laufende Disziplinarverfahren am Hauptamt SS-Gericht habe „einwandfrei ergeben, daß Ihnen in keinem Fall der Vorwurf unehrenhaften oder schuldhaft das Ansehen der SS schädigenden Verhaltens zu machen ist. Sie sind durch dieses Ergebnis der Untersuchung rehabilitiert.“ Zwar ist in dieser Verfügung auch zu lesen, dem Siedlungsfunktionär seien gelegentlich sachliche Fehler und unzweckmäßige Dispositionen unterlaufen, jedoch sei dieser Umstand „ohne Bedeutung gegenüber der einwandfrei erwiesenen Tatsache, daß Sie sich aller Ihnen übertragenen Aufgaben mit großem Idealismus, einer bemerkenswerten Schwungkraft, stets einsatzbereiter Verantwortungsfreudigkeit und persönlicher Hingabe an die Verwirklichung der richtigen Ziele gemacht haben, ohne auf persönliche Vorteile Wert zu legen“. Von Gottberg muß jubiliert haben, als er aus Himmlers Schreiben ebenso erfuhr, daß Panckes Auftreten ihm gegenüber am 13. November 1939 jeder stichhaltigen Grundlage entbehrt hatte, und es entsprach seinem Charakter, daraufhin seine Adjutanten zu Pancke zu schicken, um diesen eine vorbereitete Ehrenerklärung unterschreiben zu lassen unter Androhung eines SSDisziplinarverfahrens.10 Auch rein protokollarisch erfuhr der Rehabilitierte sofortige Kompensationen. Offensichtlich in Absprache mit Hitler wurde Curt von Gottberg wenig später zum SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei sowie zum ehrenamtlichen Mitglied des Volksgerichtshofes ernannt.11 Nachdem Himmler bereits im September 1941 verfügt hatte, von Gottberg solle eine vier Wochen dauernde Einweisung als SS- und Polizeiführer

CURT VON GOTTBERG

99

(SSPF) in den Hauptämtern Ordnungspolizei und Sicherheitspolizei absolvieren, wurde er ein Jahr später zum Höheren SS- und Polizeiführer (HSSPF) Rußland-Mitte nach Mogilew im besetzten Weißrußland abgestellt.12 Im Herbst 1942 befand sich der kommende SSPF in Minsk damit in einem Gebiet, das wie kein zweites zum Brennpunkt des Partisanenkrieges geworden war.13 Von Gottberg wußte genau, daß in dieser von Himmler zugewiesenen Aufgabe die Chance nicht nur der äußerlichen, protokollarischen Rehabilitierung lag, sondern daß er seine SS-Führerfähigkeiten mit Hilfe seiner einst erworbenen militärischen Kompetenz als Offizier zu beweisen hatte. Es fällt auf, daß der früher immer wieder wegen seiner gesundheitlichen Anfälligkeit zur Kur Geschickte sich zwischen November 1942 und Oktober 1944 offensichtlich nie krank meldete. Und nicht nur das: er errang in kurzer Zeit die höchsten militärischen Auszeichnungen, wurde zuletzt HSSPF RußlandMitte und Weißruthenien sowie Generalkommissar in Minsk und erreichte den Rang eines SS-Obergruppenführers und Generals der Polizei.14 Nur wenige Wochen nach seiner Abkommandierung nach Weißrußland schrieb von Gottbergs Gattin hocherfreut an den früheren Kollegen und Freund der Familie, Richard Hildebrandt, ihr Mann wisse nun, daß er auch mit einem Bein noch zu etwas nutze sei: „Er war doch hier in seinem Papierkrieg in Berlin so unglücklich und manchmal so deprimiert, daß ich kaum noch wußte, wie ich ihn aufrichten sollte. ‚Einen Krüppel kann man eben im Krieg nicht gebrauchen‘, war seine ständige Redensart.“15 „Bandenkampf“ wurde so für ihn geradezu zum Männlichkeitsbeweis. Von Gottberg war zuständig für die Bekämpfung von Partisanenverbänden mit Hilfe einer nach ihm benannten Kampfgruppe, wobei bis auf wenige Stabsangehörige die Masse der dort eingesetzten deutschen Polizei-, Wehrmachts- und einheimischen Schutzmannschaftseinheiten wechselte und ihm taktisch sowie versorgungsmäßig nur solange unterstellt war, wie ein konkreter Einsatz gegen Partisanen dauerte.16 Derartige „Bandenkampfunternehmen“ liefen stets unter einem bestimmten Codewort und begannen regelmäßig mit Erkundungsaktionen von Trupps der Dienststelle des Kommandeurs der Sicherheitspolizei und des SD (KdS) in Minsk oder der betroffenen Außenstellen. Auf dieser Grundlage und auf der Basis weiterer Meldungen wurden im Stab der Kampfgruppe von Gottberg die Regionen, Einsatzziele und Einheiten festgelegt und in Form von schriftlichen Einsatzbefehlen weitergegeben.17 Bereits während der Planung dieser Aktionen wurden Befehle formuliert, die das verbrecherische Ausmaß solcher Mord- und Raubzüge erahnen lassen. Immer wieder wurden Juden und ‚Zigeuner‘ neben den Partisanen als zu vernichtende Feinde angegeben, selbst Jugendliche, Frauen und Kinder waren vor den Mordaktionen nicht geschützt. Diese Befehle gipfelten in einer Anweisung von Gottbergs während des Großunternehmens „Hermann“, sämtliche Bewohner einer bestimmten Region an einem Stichtag zu ver-

100

PETER KLEIN

schleppen und daraufhin die Dörfer und alle sonstigen Bauten sowie die Wälder durch Brandlegung zu vernichten. „In dem evakuierten Raum“, so von Gottberg in seinem Befehl, „sind Menschen in Zukunft Freiwild.“18 Gottbergs erstes derartiges Unternehmen mit dem Codewort „Nürnberg“ forderte von der eingesetzten 1. SS-Infanterie-Brigade: „Als Feind ist anzusehen jeder Bandit, Jude, Zigeuner und Bandenverdächtige.“19 Darüber hinaus wurden vorbereitend schon diejenigen Dörfer listenmäßig erfaßt, die als „bandenhörig“ galten oder sich bei der Zwangsablieferung landwirtschaftlicher Erzeugnisse im Rückstand befanden.20 Sie wurden zerstört, ihre Einwohner zum großen Teil ermordet. Teil solcher Unternehmen war es ebenfalls, die noch im Generalkommissariat Weißruthenien bestehenden Ghettos in den kleineren Ortschaften zu liquidieren. Für die Ghettoräumung in Sluzk am 8. Februar 1943 zu Beginn der Aktion „Hornung“ ist von Gottbergs Anwesenheit bewiesen; im Falle der Ghettoauflösung in Glebokie am 20. August 1943 während des Unternehmens „Hermann“ hatte er die Mordaktion befohlen.21 Dabei war der neue SSPF vollkommen von der Richtigkeit der von ihm befohlenen Morde an der wehrlosen Zivilbevölkerung überzeugt. In zwei privatdienstlichen Schreiben an Hildebrandt und den SS-PersonalHauptamtschef Maximilian von Herff berichtete von Gottberg ebenso offen wie stolz über die Erfolge anläßlich seines ersten Unternehmens: „Der erste Erfolg war nicht schlecht. Feindtote: 798 Banditen, über 300 Bandenverdächtige und über 1800 Juden. Ich habe zum ersten Mal kämpfend und schießend Juden erlebt. Eigenverluste: 2 Tote und 10 Verwundete. Glück muß man haben.“22 Auch Kritik an der ihm bei fast allen Unternehmungen zur Verfügung stehenden Einsatzgruppe Dirlewanger ließ Gottberg trotz der permanenten Grausamkeiten dieser Truppe nicht gelten. Durch ein persönliches Glückwunschtelegramm Himmlers zum Unternehmen „Cottbus“ rückversichert, wies von Gottberg dem beschwerdeführenden Generalkommissar Kube gegenüber alle Beschuldigungen gegen Dirlewanger zurück.23 Nachdem von Gottberg im September 1943 zusätzlich die Geschäfte des zwischenzeitlich ermordeten Kube übernommen hatte, modifizierte er allerdings sein rücksichtsloses Vorgehen gegen die weißrussische Zivilbevölkerung.24 Mit Hilfe des „weißruthenischen Jugendwerks“ sowie des „weißruthenischen Zentralrates“, weiterer ‚fremdvölkischer’ Einheiten und der Wehrmacht gedachte der neue Generalkommissar sein Gebiet mit Wehrdörfern und Siedlungsstützpunkten zu sichern.25 Ursprünglich nicht von ihm erdacht, konnte sich von Gottberg dennoch mit diesem schon aufgrund der militärischen Situation zum Scheitern verurteilten Projekt identifizieren; zum ersten und einzigen Mal meinte er als „Landwirt“ und „Soldat“ zugleich tätig zu sein. Curt von Gottberg war kein Täter aus der Riege jener jungen Akademiker, wie sie an der Spitze der Gestapo- und KdS-Dienststellen zu finden waren.26

CURT VON GOTTBERG

101

Davon trennten ihn schon das Alter und die einschneidende Erfahrung des Ersten Weltkrieges. Der hochdekorierte Frontoffizier gehörte vielmehr zu jener älteren Generation von SS-Führern, die spätestens in den Krisenjahren der Weimarer Republik zur NS-Ideologie gefunden hatten und im Laufe der 1930er Jahre zu Hauptamtschefs der SS oder zu HSSPF avancierten. Aus dieser Gruppe Ende 1939 eine ungerechte Behandlung zu erfahren, ja geradezu ausgestoßen zu werden, war für von Gottberg psychisch und physisch kaum zu verkraften. Die ihm von Himmler angebotene zweite Chance zur Rückkehr in die Führergemeinschaft der SS-Funktionäre nahm er ehrgeizig wahr – auch um den Preis, „Juden als Partisanen auszurotten“.27 Curt von Gottberg beging am 31. Mai 1945 kurz nach seiner Festnahme in Flensburg Selbstmord. Anmerkungen 1 Die biographischen Grunddaten sowie Beförderungen und Auszeichnungen entstammen BAB, BDC, SSO Curt von Gottberg. 2 Darré an Pancke v. 20.9.1939 sowie dessen von Gottberg entworfene Antwort an RFSS v. 17.10.1939, BAB, NS 2/55. 3 Zur Übernahme des Bodenamtes Pancke an RFSS über sein Treffen mit Staatssekretär Stuckart am 25.4.1939, ebd. 4 Bericht der Gruppe VIII (Revision) des Bodenamtes Prag v. 18.10.1939, AMV, 114-5-16, Bl. 67 ff. 5 Verfügung RFSS gegen Jochen Tostmann v. 15.11.1941, BAB, NS 19/1960. 6 SD-Leitabschnitt Prag an Frank v. 6.12.1939, AMV, 114-5-16, Bl. 39–46. 7 Aktenvermerk Panckes und Otto Hofmanns v. 13.11.1939, BAB, BDC, SSO Curt v. Gottberg. 8 Beleidigungsverfahren gegen SS-Scharführer Fastabend mit von Gottberg als Nebenkläger 1937, BAB, BDC, SSO Curt von Gottberg; Kündigungsschreiben des DAG-Geschäftsführers Rücker-Embden v. 23.7.1939, BAB, NS 19/516. 9 Himmler ließ von Gottberg am 13.2.1940 zu Karl Wolff, dem Chef seines Persönlichen Stabes, einbestellen und ihn vier vorbereitete Rücktrittserklärungen unterzeichnen; vorher ließ Himmler über Pancke mitteilen, er mißbillige das Auftauchen von Gottbergs in Prag, Korrespondenzen hierzu BAB, BDC, SSO Curt von Gottberg. 10 Rehabilitierungsschreiben RFSS in zwei Fassungen sowie RFSS an Pancke, beide v. 6.4.1942, ebd.; Panckes Beschwerdebrief v. 24.6.1942 wegen des Auftretens der Adjutanten BAB, NS 19/3142. 11 Vortrag RFSS bei Hitler am 16.4.1942, vgl. Peter Witte/Michael Wildt/Martina Voigt/Dieter Pohl/Peter Klein/Christian Gerlach/Christoph Dieckmann/Andrej Angrick (Bearb.): Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42, Hamburg 1999, S. 398. 12 Nach einer kurzen Diskussion, ob er zu Jeckeln (HSSPF Ostland) oder zu Erich von dem Bach-Zelewski geschickt werden solle, meldete sich von Gottberg Ende Oktober/Anfang November 1942 in Mogilew, BAB, BDC, SSO Curt von Gottberg.

102 13

PETER KLEIN

Vgl. Witalij Wilenchik: Die Partisanenbewegung in Weißrußland 1941–1944, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Bd. 34, Berlin 1984, S. 129–297; Peter Klein: Zwischen den Fronten. Die Zivilbevölkerung Weißrußlands und der Krieg der Wehrmacht gegen die Partisanen, in: Babette Quinkert (Hrsg.): „Wir sind die Herren dieses Landes“. Ursachen, Verlauf und Folgen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, Hamburg 2002, S. 82–103. 14 Am 24.4.1944 schrieb SS-HA-Chef Gottlob Berger an Himmler, Gottbergs Gesundheitszustand sei ihm von dessen Adjutanten als besorgniserregend gemeldet worden und schlug einen Urlaub vor; doch erst im Oktober wurde dieser vom leitenden Arzt des XII. SS-A.K. untersucht und zunächst nach Hohenlychen und im Januar 1945 nach Karlsbad zur Kur geschickt; Auszeichnungen: Spangen zum EK II und I im Januar 1943, Deutsches Kreuz in Gold im August 1943, Kriegsverdienstkreuz 1. Klasse mit Schwertern im April 1944, Ritterkreuz zum EK im Juni 1944, BAB, BDC, SSO Curt von Gottberg. 15 Charlotte von Gottberg an Richard Hildebrandt, den Mitbegründer des Reichsvereins für Volkspflege und Siedlerhilfe, v. 15.1.1943, BAB, R 70 Polen/93. 16 BAL, 202 AR 509/70; Moritz Felix Lück: Partisanenbekämpfung durch SS und Polizei in Weißruthenien 1943: Die Kampfgruppe von Gottberg, in: Alfons Kenkmann/Christoph Spieker (Hrsg.): Im Auftrag. Polizei, Verwaltung und Verantwortung, Essen 2001, S. 225–248. 17 Die Originale der Einsatzbefehle zu den Unternehmen „Nürnberg“, „Tannenbaum“, „Hamburg“, „Altona“, „Erntefest I und II“, „Hornung“, „Cottbus“, „Hermann“ und „Heinrich“ liegen im RGVA, 500-1-769. 18 Kampfgruppe von Gottberg: Befehl zur Evakuierung des Raumes Jeremicze v. 1.8.1943, ebd., Bl. 225 ff. 19 Darüber hinaus legte der Befehl fest: „Jeder Berittene ist zu erschießen, desgleichen als Kundschafter oder Posten anzusehende Halbwüchsige oder andere Bevölkerung“, 1. SS-Inf.Brig.: Angriffsbefehl Nr. 1 Unternehmen „Nürnberg“ v. 20.11.1942, ebd., Bl. 47 ff. 20 Kampfgruppe von Gottberg: Sonderbefehl v. 19.11.1942, ebd., Bl. 16. 21 Zum Unternehmen „Hornung“ ebd., Bl. 100, 565; Klaus-Michael Mallmann: „Aufgeräumt und abgebrannt“. Sicherheitspolizei und ‚Bandenkampf ‘ in der besetzten Sowjetunion, in: Gerhard Paul/ders.(Hrsg.): Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. ‚Heimatfront‘ und besetztes Europa, Darmstadt 2000, S. 518 f.; zum Unternehmen „Hermann“ eidesstattliche Erklärung Dr. Erich Isselhorst v. 30.10.1945, BAL, Dok.Slg. Verschiedenes 283; Christian Gerlach: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg 1999, S. 733–743. 22 Von Gottberg an HSSPF Danzig-Westpreußen v. 5.12.1942, BAB, R 70 Polen/ 93; von Gottberg an von Herff v. 27.11.1942, dem er eine erste Ergebnismeldung beilegte, „aus der Du den Erfolg erfahren kannst“, BAB, BDC, SSO Curt von Gottberg. 23 Vgl. Dankschreiben von Gottberg an RFSS v. 2.7.1943, BAB, BDC, SSO, Curt von Gottberg; Gottbergs Zurückweisung der Kritik Kubes v. 15.7.1943, BAB, NS 19/1770. 24 Dafür war es längst zu spät; Gottbergs Bemühungen wurden sofort von den Partisanen propagandistisch verwertet, vgl. Flugblatt „Tod den deutschen Okkupanten.

CURT VON GOTTBERG

103

Über die Versammlung der Verräter und darüber, was Gottberg gelogen hat“ vom Lachowiczer KP-Rayonkomitee mit Datum 4.1.1944, YIVO, Occ. E 3a. 25 Gerlach (Anm. 21), S. 1036–1052. 26 Empirisch fundiert Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002; als Einzelskizze Peter Klein: Dr. Rudolf Lange als Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Lettland, in: Wolf Kaiser (Hrsg.): Täter im Vernichtungskrieg. Der Überfall auf die Sowjetunion und der Völkermord an den Juden, Berlin-München 2002, S. 125–136. 27 Peter Klein: Die Erlaubnis zum grenzenlosen Massenmord – Das Schicksal der Berliner Juden und die Rolle der Einsatzgruppen bei dem Versuch, Juden als Partisanen „auszurotten“, in: Rolf-Dieter Müller/Hans-Erich Volkmann (Hrsg.): Die Wehrmacht. Mythos und Realität, München 1999, S. 923–947.

KLAUS-MICHAEL MALLMANN

Heinrich Hamann – Leiter des Grenzpolizeikommissariats Neu-Sandez Am Abend des 28. April 1942 ging es im Kasino der Sicherheitspolizei in Neu-Sandez (Nowy Sącz) hoch her. An diesem Tag hatten Angehörige des örtlichen Grenzpolizeikommissariats (GPK) und der Gendarmerie etwa 300 Juden als angebliche Kommunisten auf dem jüdischen Friedhof erschossen und verscharrt. Als sich die Erde über den noch frischen Gräbern gehoben hatte, weil manche Opfer lediglich angeschossen worden waren, hatte ein Kriminalangestellter darauf herumgetrampelt und geschrieen: „Das Dreck muß doch hinein!“1 Nun aber war ein Bierabend angesagt, um diesen Sieg über den „jüdischen Bolschewismus“ zu feiern. Kriminalkommissar und SSObersturmführer Heinrich Hamann, der Leiter des GPK Neu-Sandez, hatte dazu Angehörige seiner Dienststelle, der lokalen Gendarmerie und der Zivilverwaltung eingeladen, und man amüsierte sich anscheinend prächtig. Mit steigendem Promillegehalt jedenfalls stellte man Schnapsgläser auf die Theke und schoß auf sie. „Das war ein Sport, den sie öfters machten“, erinnerte sich ein damaliger Kriminalassistentenanwärter.2 „Wir machen noch ein bißchen Remidemi“ Anschließend fand Hamanns Vorschlag, den jüdischen Wohnbezirk aufzusuchen und dort „noch ein bißchen Remidemi“ zu machen, allgemeine Zustimmung. Zu vorgerückter Stunde zog man gemeinsam ins unbeleuchtete Ghetto, brach Häuser und Wohnungen auf und veranstaltete eine Orgie der Gewalt. Mindestens 20 Leichen, darunter Frauen und Kinder in ihren Betten, wurden am nächsten Morgen gefunden; etliche jüdische Zeugen berichteten sogar von 100 Erschossenen.3 All dies hätte sich zwar in den traumatisierten Erinnerungen von Überlebenden niedergeschlagen, kaum aber in den offiziellen Berichten der deutschen Besatzer, denn Gewalt gegen Juden gehörte seit September 1939 in Polen gewissermaßen zum Alltag;4 seit Sommer 1941 – so ein jüdischer Augenzeuge über Neu-Sandez – „wurden täglich Juden erschossen“.5 Daß die geschilderte Nacht- und Nebelaktion diesmal jedoch eine amtliche Untersuchung nach sich zog, die ein höchst bezeichnendes Licht auf den deutschen Antisemitismus werfen sollte, war einem Zufall zu verdanken: „Als Hamann in den ersten Stock kam, bemerkte er im Licht der Taschenlampe einen in der Ecke kauernden Juden und sah fast zur gleichen Zeit eine Zivilperson durch eine rechts gelegene Tür verschwinden“, teilte das Reichssicherheitshauptamt

HEINRICH HAMANN

105

einen Monat später mit; „Hamann rief nun diese Person mit den Worten an: ‚Du Lump willst auch noch flitzen!‘ und schoß sofort auf sie. Ohne sich weiter um die Wirkung dieses Schusses zu kümmern, erschoß er nunmehr noch den in der Ecke kauernden Juden. Bei der Ableuchtung der zweiten Leiche wurde festgestellt, daß es sich hierbei um den Krim[inal-]Sekr[etär] Köster handelte, der einen Kopfschuß erhalten hatte.“6 Daß Hamann einen wehrlosen Juden ermordet hatte, war fortan nicht mehr der Rede wert. Daß er jedoch gleichzeitig auch seinen Stellvertreter, den Kriminalsekretär August Köster, erlegt hatte, einen Karrierepolizisten, der noch ein halbes Jahr zuvor mit einem persönlichen Anerkennungsschreiben Himmlers ausgezeichnet worden war,7 brachte ihm ein SS- und polizeigerichtliches Ermittlungsverfahren wegen fahrlässiger Tötung ein. Doch obwohl Hamann eingestandenermaßen den tödlichen Schuß abgefeuert hatte, wurde er lediglich eine Woche suspendiert und mit keinerlei Sanktionen belegt. Sein Verteidigungsargument, er habe Köster für einen flüchtenden Juden gehalten, machte ihn gemäß herrschender Rechtsprechung der SS- und Polizeigerichte unangreifbar. Wer einen Juden ermordete, ging demnach straffrei aus, sofern nicht niedrige Motive – wie etwa Sadismus oder Raubgier – als eigentliche Beweggründe der Tat erschienen.8 Nicht einmal aus seiner Trunkenheit zum Zeitpunkt des Schusses versuchte man Hamann einen Strick zu drehen. Genau ein Jahr später teilte das Reichssicherheitshauptamt mit, „daß der Untersuchungsführer beim Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD Krakau von hier angewiesen wurde, nunmehr die Einstellung des Verfahrens beschleunigt zu betreiben“.9 Im Sommer 1943 war dieses Ziel erreicht: „Das Verfahren wurde durch Verfügung des Gerichtsherrn des SS- und Polizeigerichts VI Krakau vom 3.6.43 eingestellt, da nach dem Ergebnis der Ermittlungen eine strafbare Handlung des Hamann nicht vorlag.“10 Auf die Rehabilitierung folgte bald schon die Beförderung: Von August bis Oktober 1943 wurde Hamann mit der Führung des GPK Jaslo (Jasło) betraut. Im November rückte er in die Chefetage der Dienststelle des Kommandeurs der Sicherheitspolizei und des SD (KdS) Krakau (Kraków) auf und leitete seitdem dort das Referat IV A, das für die Unterdrückung der polnischen Widerstandsbewegung und der Sabotage im Distrikt Krakau zuständig war. Noch im selben Monat wurde er vom KdS zur Ernennung zum SS-Hauptsturmführer vorgeschlagen: „Hamann hat stets zur vollsten Zufriedenheit gearbeitet“, hieß es in der Beurteilung; „seine Führereigenschaften hat er durch einwandfreie Führung der ihm unterstellten Männer unter Beweis gestellt. Die dienstliche und außerdienstliche Führung ist einwandfrei. […] Weltanschaulich ist H. ausgerichtet. […] Kirchliche Bindungen bestehen bei ihm nicht.“11 Genau fünf Monate später hielt er die Beförderungsurkunde in Händen.12

106

KLAUS-MICHAEL MALLMANN

Aufstieg im Schatten Heydrichs Daß Heinrich Hamann ein Massenmörder werden sollte, war ihm natürlich nicht in die Wiege gelegt, doch die weltanschaulichen Weichen dafür stellte er bemerkenswert früh. Am 1. September 1908 wurde er im schleswig-holsteinischen Bordesholm geboren und wuchs weitgehend ohne Vater auf, da dieser – ein Weltkriegssoldat – sich 1919 erhängte. Weil die Mutter den elterlichen Gemischtwarenladen weiterführte, konnte er die Oberrealschule bis zur Obersekundareife besuchen. Danach absolvierte er ab 1924 eine kaufmännische Lehre und arbeitete anschließend als Angestellter in diesem Gewerbe. Als „deutschbewußter Junge“, wie er sich selbst bezeichnete, sympathisierte Hamann zunächst mit Hugenbergs DNVP, wandte sich ab 1929 jedoch zunehmend der NSDAP zu und trat dieser sowie der SS 1931 bei. „Ich war mit Eifer bei der Sache, trug mit einigem Stolz meine Uniform in dem Bewußtsein, einer guten und hehren Sache zu dienen“, schrieb er später.13 Im Oktober 1933 vollzog er einen radikalen Berufswechsel: Hamann, der früher bereits der Hilfspolizei angehört hatte und Besucher des Nürnberger Parteitags gewesen war, stellte sich nunmehr ganz in den Dienst der Bewegung, heuerte beim SS-Oberabschnitt Nord in Hamburg an und wurde dort zunächst als Wachmann, dann als stellvertretender Verwaltungsführer eingesetzt. Im April 1934 erreichte er durch einen Freund die Kommandierung zum Sicherheitshauptamt der SS in München, also zur Zentrale des SD. Hamann, der bald schon zum Leiter der Geheimregistratur avancierte, siedelte mit dem Hauptamt nach Berlin über und wurde im Februar 1936 zur Adjutantur des SD-Chefs Heydrich versetzt. Dort lernte er seine spätere Ehefrau kennen, die als Stenotypistin gleichfalls in der Adjutantur arbeitete; 1938 heirateten sie. Parallel dazu erklomm Hamann Stufe um Stufe in der SSHierarchie. Jährlich wurde er befördert; im Januar 1937 erreichte er als SSUntersturmführer den Offiziersrang, im März 1938 rückte er bereits zum Obersturmführer auf.14 Heydrich scheint mit seinem Adjutanten zufrieden gewesen zu sein. Dennoch fiel damals ein plötzlicher Schatten auf Hamanns rasanten Aufstieg, der ihn erheblich verschreckt haben dürfte: Als er sein Verlobungs- und Heiratsgesuch beim Rasse- und Siedlungshauptamt der SS einreichte, wäre er um ein Haar über den Selbstmord seines Vaters gestolpert. Da August Hamann als Landsturmmann während des Krieges nicht an der Front gewesen sei, hielt es der Chef des Sippenamtes für „durchaus wahrscheinlich“, daß eine „endogene Depression“ die Ursache des Freitodes gewesen war und forderte eine fachärztliche Stellungnahme dazu an.15 Zwar konnte dieser Verdacht abgewendet werden, für die Psyche eines NS-Aufsteigers wie Heinrich Hamann indes dürfte ein derartiger Zweifel an seiner rassischen Substanz jedoch folgenreich gewesen sein. Denn mit diesem Verdacht, der aktenkundig und somit jederzeit reaktivierbar war, besaß er nunmehr einen

HEINRICH HAMANN

107

Schmutzfleck auf der rassenreinen Weste, der ihn die Mitgliedschaft in der SS – den Schlüssel seines Aufstiegs – kosten konnte. Hamann, plötzlich konfrontiert mit diesem potentiellen Makel, dürfte dadurch bestärkt worden sein, SS-mäßiges Auftreten mit äußerster Konsequenz an den Tag zu legen, insbesondere die geforderte Härte als Imperativ zu verinnerlichen. Dieser Entschluß korrespondierte mit einem erneuten Berufswechsel. Denn nach über drei Jahren im SD drängte es ihn nunmehr in die Exekutive. Heydrich persönlich ermöglichte ihm die Übernahme in die Sicherheitspolizei, denn ein im SD sozialisierter SS-Führer entsprach voll und ganz dessen Personalvorstellungen für die Vollzugsbeamten von Gestapo und Kripo.16 Am 1. Januar 1938 jedenfalls begann Hamann seine Ausbildung als Kommissaranwärter bei der Stapo-Leitstelle Berlin.17 Seit März 1938 gehörte er dem Sonderkommando Meisinger an, das in Österreich „unliebsame Elemente“ festnahm.18 Dort erlebte er auch die „Reichskristallnacht“ mit ihren Ausschreitungen gegen die Wiener Juden und stellte dabei Listen der Festgenommenen zusammen.19 1939 absolvierte Hamann einen Kommissarlehrgang an der Führerschule der Sicherheitspolizei in Charlottenburg, der jedoch bei Kriegsbeginn ohne Prüfung abgebrochen wurde. Anfang September versetzte man ihn als Hilfskriminalkommissar zu einer Außendienststelle im oberschlesischen Teschen. Von dort aus kam er am 21. September 1939 als stellvertretender Leiter zum neuen GPK Neu-Sandez im Distrikt Krakau. Nachdem er im Januar 1940 die Kommissarprüfung in Berlin bestanden hatte, übernahm er bald schon dessen Leitung.20 Nach genau zwei Jahren war Hamann damit der Sprung an die Spitze einer regionalen staatspolizeilichen Exekutive geglückt. Für den gesetzlosen deutschen Osten reichte seine dürftige Ausbildung aus; wichtiger als diese war allemal seine erprobte politische Zuverlässigkeit. Zugleich verfestigten sich damals seine ohnehin vorhandenen antisemitischen Obsessionen: „Bis zu diesem Zeitpunkt und auch noch später hatte ich zwar eine starke Abneigung gegen die Juden, jedoch konnte von einem ausgesprochenen Haß nicht die Rede sein. Dieser bildete sich bei mir erst nach Beginn des Krieges, der nach damaliger Version und Propagierung das Werk des internationalen Judentums war. Dieses stellte man als den eigentlichen Schuldigen am Kriege hin. Er sollte bezwecken, das aufblühende nationalsozialistische Deutschland zu zerschlagen. Ich glaubte diesen Behauptungen, d.h. ich glaubte fest, daß die Anzettlung des Krieges ein systematisch vorbereitetes Werk des internationalen Judentums sei.“21 „Exzesse waren aber die Regel“ Die westgalizische Stadt Neu-Sandez, etwa 80 Kilometer südostwärts von Krakau gelegen und Sitz einer der zwölf Kreishauptmannschaften des Distrikts, zählte bei Kriegsbeginn rund 38000 Einwohner. Unter ihnen befanden

108

KLAUS-MICHAEL MALLMANN

sich etwa 10000 Juden; deren Zahl wuchs jedoch durch die Konzentration der jüdischen Bevölkerung bis August 1942 auf wenigstens 16000 an. Ihnen galt die hauptsächliche Aufmerksamkeit Hamanns. „Als ich nach Galizien kam, fand ich die nationalsozialistische Behauptung bestätigt, daß Galizien eines der Reservoirs des Weltjudentums war“, sagte er später aus; „nach Krakau und dann nach Neu-Sandez gekommen, waren für mich als SS-Führer die Leitgedanken des Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler eine Selbstverständlichkeit geworden“.22 Noch ehe die „Endlösung“ Gestalt angenommen hatte, vollzog Hamann bereits den Schritt hin zum eliminatorischen Antisemitismus. „Hamann war der Herrscher auf Leben und Tod“,23 beschrieb ein jüdischer Überlebender dessen Verhalten, und ein anderer urteilte: „Er hat sich in NeuSandez wie ein Gott aufgeführt.“24 „Ich bin viele Jahre im Konzentrationslager gewesen“, verglich ein dritter, „die Erlebnisse im Konzentrationslager sind nichts gegen das, was ich und was die Juden in Neu-Sandez mit Hamann erlebt haben.“25 „Die Juden waren vogelfrei und wurden von den Angehörigen der Gestapo als vogelfrei betrachtet“, gestand auch ein damaliger GPKAngehöriger,26 während ein anderer für das Geschehen die bizarre Formel fand: „Exzesse waren aber die Regel, die Juden waren Freiwild.“27 Obwohl Hamann Dienststellenleiter war, gehörte er stets zu den Direkttätern, ging gewissermaßen mit schlechtem Beispiel voran und prägte so nachhaltig das Klima innerhalb des GPK. Nicht Rollen und Regeln, sondern die Kameraderie gleich gestimmter Individuen bestimmte bald schon das Milieu. Gemeinsame Gewalt wirkte wie ein Medium der sozialen Integration. „Die Mitglieder des Grenzpolizeikommissariats waren bis auf wenige Ausnahmen gerne bereit, bei Erschießungen von Juden mitzumachen. Das war für sie ein Fest“, sagte einer von Hamanns Männern aus; „der Haß gegen die Juden war groß, es war Rache, und man wollte Geld und Gold. Wir wollen uns doch nichts vormachen, bei den Judenaktionen gab es etwas zu holen.“28 Lediglich drei oder vier der etwa 30 Dienststellenangehörigen beteiligten sich nicht an den Erschießungen.29 Um ein Zeichen für die neuen Zeiten zu setzen, ließ Hamann bald schon die Bürgersteine der Zugangsstraße zum GPK-Gebäude mit Grabsteinen des jüdischen Friedhofs pflastern.30 „Auch das Anzünden der Bärte alter Juden war für Hamann ein Nervenprickel“, erinnerte sich einer seiner damaligen Untergebenen, „es war so ein richtiges Vergnügen für ihn. Hamann mußte sich von Zeit zu Zeit austoben. Dann ging er ins Ghetto. Dann kam es zu Ausschreitungen.“31 Neben den offiziell befohlenen Aktionen gegen die Juden gab es darum eine Fülle von – wie es hinter vorgehaltener Hand hieß – „besoffenen Aktionen“, „die sozusagen von der Theke aus stattfanden“.32 „Es gab in der Zeit, in der die Ghettos bestanden, in Neu-Sandez sehr selten ruhi-

HEINRICH HAMANN

109

ge Nächte. Nächtliche Schießereien in den Ghettos dürften oft vorgekommen sein“, erinnerte sich ein volksdeutscher Zeuge.33 Natürlich nutzte Hamann die Situation auch zur persönlichen Bereicherung. Er plünderte Wohnungen und erpreßte Gelder vom Judenrat. „Es sind Juden zur Dienststelle zitiert worden, und man hat ihnen unverblümt gesagt, man brauche in der und der Zeit so und so viel Geld“, sagte ein Fahrer des GPK aus.34 Ein Teil davon wanderte in die schwarze Kasse der Dienststelle,35 ein Teil in die eigene Tasche. „Hamann und sein engerer Kreis um ihn hatte immer größere Summen Geld zur Verfügung. Hamann hatte sehr oft seine Sauftage, er spielte Nächte hindurch Karten mit sehr hohen Einsätzen“, gab der damalige Registrator zu Protokoll, „im Keller der Dienststelle war ein Textilwarenlager, auf das manch´ Textilhandlung heute stolz sein könnte. […] Das Warenlager stammte aus beschlagnahmten Sachen aus jüdischen Geschäften.“36 Selbstverständlich fand Hamann auch Gefallen an jüdischer Zwangsarbeit. „Hamann hatte Anzüge in einer Zahl, wie sie vielleicht heute ein Kinostar besitzt“, erinnerte sich einer seiner jüdischen Schneider, „für Hamann haben mehrere Schneider arbeiten müssen, und er verfügte über etwa 30–40 Anzüge.“37 Als der Rückzug anstand, ließ er vier große Kisten mit Wertsachen und einen Eisenbahnwaggon mit Möbeln aus jüdischem Besitz ins heimische Bordesholm schaffen.38 Lediglich Sexualität mit Jüdinnen scheint Hamann nicht erzwungen zu haben, obwohl im Ghetto etliche Vergewaltigungen durch GPK-Angehörige vorkamen.39 Allerdings bedeutete dies nicht, daß hierin sein Wille zum SS-konformen Lebenswandel zum Ausdruck kam. Denn Himmlers Verbot des Geschlechtsverkehrs mit Polinnen40 mißachtete er souverän, indem er eine Polin zu seiner Geliebten machte. Als er damit in Krakau aneckte, deklarierte er sie flugs zur V-Frau zur Ausspähung des polnischen Widerstandes, um weiterhin ungestört mit ihr im GPK verkehren zu können.41 Bei Vernehmungen in der Dienststelle und im Gefängnis war Folter an der Tagesordnung. „Wir haben damals natürlich kräftig zugeschlagen. Es wurde in allen Zimmern gedroschen“, gestand ein damaliger Kraftfahrer.42 Üblich waren Ochsenziemer und Hundepeitsche. Bei den Mißhandlungen, an denen sich Hamann oft persönlich beteiligte, kamen etliche Juden und Polen zu Tode.43 Ebenso freizügig wie er derartige „verschärfte Vernehmungen“ genehmigte, ging er auch mit der Verhängung der Todesstrafe um. „In der Zeit Hamanns wurden Juden und Polen ohne gerichtliche Entscheidungen erschossen. Es gab noch nicht einmal so etwas wie ein Standgericht, auch nicht etwas, was der äußeren Form nach einem solchen Standgericht entsprochen hätte“, sagte ein einstiger Dolmetscher aus. Während man in diesen Fällen bei Polen immerhin Akten anlegte, wurde bei Juden „kurzer Prozeß gemacht,

110

KLAUS-MICHAEL MALLMANN

in der Regel fand die Liquidierung des Juden aktenmäßig keinen Niederschlag“.44 Die Deportation aus der Kreishauptmannschaft Neu-Sandez Ende August 1942 bildete lediglich das Finale einer schier endlosen Welle der Gewalt. Die Juden aus den Landstädten Alt-Sandez, Limanowa und Grybow wurden ins Ghetto Neu-Sandez getrieben, nachdem die marschunfähigen Kranken und Alten bereits dort erschossen worden waren. In Mazana-Dolna, das 60 Kilometer entfernt lag, ersparte man sich die Mühen eines Marsches und liquidierte die gesamte gut 800 Personen zählende jüdische Bevölkerung gleich vor Ort; abends veranstaltete der volksdeutsche Bürgermeister ein Fest für die Schützen.45 Am 23. August selektierte Hamann mit der Reitpeitsche etwa 500 arbeitswichtige Juden in Neu-Sandez; die übrigen – fast 16000 Menschen – wurden in den nächsten Tagen mit Viehwaggons ins Gas von Belzec transportiert. „Der Zweck der Aussiedlungsaktion, also die Vernichtung der Juden am Zielort, war allgemein bekannt“, gab der damalige Adjutant des SS- und Polizeiführers in Krakau zu; „natürlich wußten dies nicht nur die Personen der Sicherheitspolizei wie Fellenz und Hamann, sondern auch Angehörige ziviler Dienststellen.“46 Die Juden kämen alle „zu Petrus“, verkündete Hamann damals ganz offen.47 Abgetaucht und aufgespürt Am 18. Januar 1945 wurde Krakau geräumt. Hamann – mittlerweile zum Kriminalrat vorgeschlagen – zog sich mit dem KdS-Personal nach Brünn zurück und wurde dort als Einsatzgruppenleiter zum KdS Reichenberg abkommandiert. Mit falschen Papieren auf den Namen ‚Hoßfeld‘ schlug er sich im Mai zu seiner Familie in Bordesholm durch, lebte dort versteckt und tauchte im Herbst des Jahres zunächst in Bielefeld, dann in Bochum unter. Dort liierte er sich mit seiner Zimmerwirtin, einer Kriegerwitwe, und arbeitete bis 1950 auf der Zeche Constantin 6/7. Als er nach Inkrafttreten des Grundgesetzes nicht mehr an Polen ausgeliefert werden konnte, zeigte er sich selbst wegen falscher Namensführung an, wurde jedoch amnestiert. Unter seinem wirklichen Namen verdingte er sich seitdem als Fußbodenleger in Bottrop.48 Wie beschlagnahmte Briefe zeigen, glaubte Hamann damals, alles hinter sich zu haben und träumte von einer Fortsetzung seiner Polizeikarriere, möglichst als Kriminalrat. „Um bezüglich § 131 und bezüglich Wiedereinstellung Erfolg zu haben, sind natürlich noch viele beweiskräftige Unterlagen beizubringen, da das alles vernichtet wurde. Ein Kronzeuge ist Dr. Best“, schrieb er 1954 seiner Mutter.49 Zugleich hielt er engen Kontakt zu Kameraden aus dem SD. „Wir sind nun einmal die Ausgebooteten und sollten uns darum zur Selbsthilfe und gegenseitigen, kameradschaftlichen Unterstützung zusammenfinden“, schrieb ihm einer von ihnen 1956, „mancher schwimmt wieder

HEINRICH HAMANN

111

oben und hätte vielleicht Möglichkeiten, dem einen oder anderen ein Sprungbrett unter die Füße zu schieben. Politik scheidet dabei aus. Soviel ich in Hamburg feststellen konnte, sind fast alle alten Kameraden davon abgerückt und haben die Nase voll.“50 Am 2. Mai 1960 wurde Hamann überraschend festgenommen und verbrachte die folgenden sechs Jahre in Untersuchungshaft. Anfangs versuchte er noch, sich als widerwilliger Befehlsempfänger aufzuspielen: „Ich muß aber doch hier betonen, daß ich keine Möglichkeit hatte, mich den mir erteilten Befehlen zu entziehen.“51 Doch die erdrückende Beweislast der Vorhalte und Gegenüberstellungen machte ihm bald schon klar, daß er damit chancenlos sein würde. Am 20. November 1960 mißlang ein erster Selbstmordversuch durch Erhängen. Am 18. April 1961 sprang er erneut in suizidaler Absicht in den Luftschacht der Strafanstalt Hohenasperg bei Ludwigsburg.52 Seitdem vermauerte er sich bekenntnishaft hinter seinen Überzeugungen und behauptete beispielsweise, daß die Vernichtung der europäischen Juden durch den alliierten Bombenkrieg „in den Schatten gestellt“ worden sei.53 Am 20. und 22. Juli 1966 sprach des Landgericht Bochum sein Urteil gegen 14 Angeklagte im Neu-Sandez-Prozeß; Hamann, der auch vor den Richtern als bekennender Antisemit auftrat, wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.54 Zwei Jahre später verwarf der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs die Revision der Angeklagten als unbegründet; damit war das Bochumer Urteil rechtskräftig.55 Gleichwohl hieß auch damals lebenslänglich nicht unbedingt Haft bis zum Tode. 1985 lebte Hamann bereits in einem Altenheim in Bad Neuenahr. Am 16. April 1993 starb er dort im Alter von 84 Jahren.56 Heinrich Hamann war weder ein „ordinary man“57 noch ein „ordinary German“58. Er war ein Hardcore-Nationalsozialist, der im Grunde keine Befehle brauchte.59 „Ich meine, für Hamann waren die Juden schon Freiwild, als noch keine Anzeichen dafür vorlagen, daß von oben her die Vernichtung der Juden befohlen worden war“, stellte einer seiner einstigen Untergebenen zutreffend fest.60 Er war kein Rädchen im Getriebe, sondern ein Schwungrad, das den Rhythmus vorgab, Tempo machte. Er schuf jenen regionalen Apparat, der die Vernichtung routinemäßig vollzog, er lebte exemplarisch deren Praktiken vor, verdeutlichte die ihr innewohnenden Chancen und sanktionierte so Verhaltensmodelle völliger Willkür. Sein Beispiel, vermittelt im Medium männerbündischer Kameraderie, wirkte mitreißend und brach in der Dienststelle all jene zivilisatorischen Schranken, die (noch) vorhanden waren. Dennoch wäre es zu kurz gegriffen, Hamann als reinen Weltanschauungstäter zu begreifen. Dafür lebte er seine Obsessionen viel zu exzessiv und lustvoll aus und nahm dabei auch auf den SS-Kodex wenig Rücksicht. In Hamann – so scheint es – begegneten sich der Ideologe und der Profiteur, der Türöffner und der Trittbrettfahrer der „Endlösung“,61 kreuzten sich Überzeugung und Eigennutz, der Vollzug einer Weltanschauung und der Rausch grenzenloser

112

KLAUS-MICHAEL MALLMANN

Macht. Genozidale Gewalt – so lehrt sein Beispiel – kann aus einem Amalgam unterschiedlicher Motivlagen entspringen, die sich wechselseitig stützen und steuern, die ein selbstreferentielles Legitimationssystem ausbilden, in dem sich das Notwendige und das Nützliche aufeinander beziehen, Wahn und Gewinn, Weltbild und Wunschwelt sich paaren. Anmerkungen 1

Eidesstattliche Erklärung Salomon S. v. 6.3.1960, BAL, 206 AR-Z 31/60, Bd. 1, Bl. 119. 2 Vern. Egbert Brock v. 23.11.1961, ebd., Bd. 4, Bl. 891. 3 Vgl. eidesstattliche Erklärung Baruch A. v. 14.6.1960, ebd., Bd. 1, Bl. 132; Vern. Ernst M. v. 30.9.1960, ebd., Bl. 186 ff.; Aussage Ephraim G. v. 22.11.1960, ebd., Bl. 260 ff.; Vern. Paul Denk v. 20.9.1961, ebd., Bd. 4, Bl. 753 ff.; Karl Greese v. 8.1.1962, ebd., Bl. 932 ff.; Günter Labitzke v. 6.6.1962, ebd., Bd. 7, Bl. 1475 ff.; Heinz W. v. 28.10.1963, ebd., Bd. 10, Bl. 2587 ff. 4 Vgl. Klaus-Michael Mallmann: „Mensch, ich feiere heut’ den tausendsten Genickschuß“. Die Sicherheitspolizei und die Shoah in Westgalizien, in: Gerhard Paul (Hrsg.): Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? Göttingen 2002, S. 109–136; ders./Volker Rieß/Wolfram Pyta (Hrsg.): Deutscher Osten 1939–1945. Der Weltanschauungskrieg in Photos und Texten, Darmstadt 2003, S. 13 ff. 5 Eidesstattliche Versicherung Bernard H. v. 1.7.1960, BAL, 206 AR-Z 31/60, Bd. 1, Bl. 128. 6 RSHA I D 2 an SS-PersonalHA v. 30.5.1942, BAB, BDC, SSO Heinrich Hamann. 7 Befehlsblatt CdS Nr. 37 v. 27.9.1941, BAB, RD 19/2. 8 Vgl. HA SS-Gericht an SS-Richter beim RFSS v. 26.9.1942, BAB, NS 7/247; Feld-Urteil Oberstes SS- und Polizeigericht v. 24.5.1943, BAB, NS 7/1017. 9 RSHA I D 2 an SS-PersonalHA v. 28.4.1943, BAB, BDC, SSO Heinrich Hamann. 10 Dto. v. 23.6.1943, ebd. 11 Beförderungsvorschlag und Beurteilung durch KdS Krakau v. November 1943, ebd. 12 Ernennungsurkunde SS-PersonalHA v. 13.4.1944, ebd. 13 Ausarbeitung Hamann: So erlebte ich, so wurde ich geformt und so war ich (undat./1963), BAL, 206 AR-Z 31/60, Bd. 8, Bl. 1918 ff. 14 Lebenslauf dess. v. 25.2.1937, BAB, BDC, SSO Heinrich Hamann; Vern. dess. v. 4.5.1960, BAL, 206 AR-Z 31/60, Bd. 1, Bl. 63 ff. 15 Der Chef des Sippenamtes im RuSHA an Prof. Arno Kipp (undat.), BAB, BDC, RuSHA Heinrich Hamann. 16 Vern. Lina Heydrich v. 20.7.1962, BAL, 206 AR-Z 31/60, Bd. 7, Bl. 1636 f.; vgl. Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989, Bonn 1996, S. 191 ff.; Jens Banach: Heydrichs Elite. Das Führerkorps der Sicherheitspolizei und des SD 1936–1945, Paderborn u.a. 1998,

HEINRICH HAMANN

113

S. 291 ff.; Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, S. 259 ff. 17 Lebenslauf Hamann v. 28.1.1938, BAB, BDC, RuSHA Heinrich Hamann. 18 Erklärung dess. v. 3.6.1962, BAL, 206 AR-Z 31/60, Bd. 7, Bl. 1600 ff. 19 Ausarbeitung dess.: So erlebte ich, so wurde ich geformt und so war ich (undat./1963), ebd., Bd. 8, Bl. 1918 ff. 20 Vern. dess. v. 4.5.1960, ebd., Bd. 1, Bl. 63 ff. 21 Erklärung dess. v. 12.2.1962, ebd., Bd. 6, Bl. 1210 ff. 22 Vern. dess. v. 9.2.1962, ebd., Bd. 5, Bl. 1084 ff. 23 Aussage Salomon S. v. 10.2.1961, ebd., Bd. 2, Bl. 320 ff. 24 Dto. Igo R. v. 4.7.1960, ebd., Bd. 1, Bl. 175 ff. 25 Dto. Naftali L. v. 21.2.1961, ebd., Bd. 3, Bl. 522 ff. 26 Vern. Johann Bornholt v. 16.6.1961, ebd., Bl. 630 ff. 27 Dto. Walter Reinhardt v. 27.9.1963, ebd., Bd. 10, Bl. 2535 ff. 28 Dto. Johann Bornholt v. 10.9.1963, ebd., Bl. 2386 ff. 29 Dto. Günter Labitzke v. 17.11.1961, ebd., Bd. 4, Bl. 881 ff. 30 Dto. Johann Bornholt v. 3.7.1961, ebd., Bd. 3, Bl. 647 ff. 31 Dto. Egbert Brock v. 10.10.1961, ebd., Bd. 4, Bl. 777 f. 32 Dto. v. 23.11.1961, ebd., Bl. 890 ff; Josef Rouenhoff v. 8.11.1961, ebd., Bl. 845 ff. 33 Dto. Hugo S. v. 16.10.1961, ebd., Bl. 762 ff. 34 Dto. Günter Labitzke v. 3.1.1962, ebd., Bd. 5, Bl. 999 ff. 35 Dto. Hamann v. 16.6.1962, ebd., Bd. 7, Bl. 1611. 36 Dto. Walter Reinhardt v. 27.9.1963, ebd., Bd. 10, Bl. 2535 ff. 37 Aussage Leib B. v. 28.3.1962, ebd., Bd. 6, Bl. 1280 ff. 38 Vern. Johann Bornholt v. 1.3.1962, ebd., Bd. 5, Bl. 1168 ff. 39 Dto. v. 3.3.1961, ebd., Bd. 3, Bl. 520 f.; Aussage Mary D. v. 1.12.1960, ebd., Bd. 2, Bl. 444 f.; Adam K. v. 1.12.1961, ebd., Bd. 4, Bl. 903. 40 RFSS an HSSPF Ost v. 30.6.1942, BAB, NS 19/1913. 41 Hamann an LG Bochum v. 29.8.1962, BAL, 206 AR-Z 31/60, Bd. 7, Bl. 1781 ff.; Vern. Egbert Brock v. 23.11.1961, ebd., Bd. 4, Bl. 890 ff.; Walter Reinhardt v. 28.9.1963, ebd., Bd. 10, Bl. 2548 ff. 42 Dto. Paul Denk v. 6.3.1963, ebd., Bd. 9, Bl. 2034 ff. 43 Dto. Egbert Brock v. 13.10.1961, ebd., Bd. 4, Bl. 798 ff.; Hermann H. v. 10.3.1962, ebd., Bd. 5, Bl. 1189 ff. 44 Dto. Max Domanski v. 14.10.1963, ebd., Bd. 10, Bl. 2562 ff. 45 Dto. Günter Labitzke v. 7.3.1961, ebd., Bd. 2, Bl. 376 ff. 46 Dto. Hans Wilhelm Bartsch v. 10.4.1963, ebd., Bd. 10, Bl. 2431. 47 Urteil LG Bochum v. 14.2.1967, BAL, SA 191. 48 Nervenfachärztliches Gutachten v. 8.8.1963, BAL, 206 AR-Z 31/60, Bd. 10, Bl. 2359 ff. 49 Zit. in Untersuchungsrichter LG Bochum an ZSL v. 10.11.1961, ebd., Bd. 4, Bl. 868. 50 Herbert V. an Piek (= Hamann) v. 15.9.1956, ebd., Bd. 5, Bl. 1120. 51 Vern. Hamann v. 12.5.1960, ebd., Bd. 1, Bl. 55 ff. 52 Untersuchungsrichter LG Bochum an Landgerichtsarzt Dr. G. v. 28.6.1961, ebd., Bd. 3, Bl. 604.

114 53

KLAUS-MICHAEL MALLMANN

Ausarbeitung Hamann v. 1.12.1962, ebd., Bd. 9, Bl. 2162 ff. Urteil LG Bochum v. 20./22.7.1966, BAL, SA 238. 55 Beschluß BGH v. 9.7.1968, ebd. 56 BAL, Zentralkartei, Karteikarte Heinrich Hamann. 57 Vgl. Christopher R. Browning: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Reinbek 1993. 58 Vgl. Daniel J. Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996. 59 Vgl. Michael Mann: Were the Perpetrators of Genocide „Ordinary Men“ or „Real Nazis“? Results from Fifteen Hundred Biographies, in: HGS 14(2000), S. 331–366. 60 Vern. Walter Reinhardt v. 27.9.1963, BAL, 206 AR-Z 31/60, Bd. 10, Bl. 2535 ff. 61 Vgl. Klaus-Michael Mallmann: Die Türöffner der „Endlösung“. Zur Genesis des Genozids, in: Gerhard Paul/ders. (Hrsg.): Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. ‚Heimatfront‘ und besetztes Europa, Darmstadt 2000, S. 437–463. 54

JÜRGEN MATTHÄUS

Georg Heuser – Routinier des sicherheitspolizeilichen Osteinsatzes* Als Adolf Hitler das Amt des Reichskanzlers übertragen bekam, war der am 27. Februar 1913 geborene Georg Heuser noch keine 20 Jahre alt und Student der Rechtswissenschaften in seiner Geburtsstadt Berlin. Kleinbürgerliche Herkunft – sein Vater war Kaufmann, Anfang der 1930er Jahre arbeitslos und später Reichsangestellter – und die Zugehörigkeit zur Nachkriegsgeneration dürften das Karrierestreben des jungen Mannes gefördert haben. Nachdem er vor dem Kammergericht Berlin im Juli 1936 das erste Staatsexamen abgelegt hatte, begann er seinen juristischen Vorbereitungsdienst und nahm an Lehrgängen der Luftwaffe teil. 1938 entschied er sich, in die Kriminalpolizei einzutreten, wo er im Rahmen der üblichen Ausbildung auch mit der Arbeit von Gestapo und SD vertraut gemacht wurde. Der SS will er erst bei Kriegsbeginn beigetreten sein. Im Februar 1941 schloß er den Qualifizierungskurs zum Kriminalkommissar an der Führerschule der Sicherheitspolizei in Charlottenburg als Lehrgangsbester ab und rückte als Untersturmführer in das SSOffizierskorps auf. Als Heuser ein halbes Jahr später zum Beamten auf Lebenszeit ernannt wurde, befand er sich bereits im Osteinsatz, der ihn in einer Mischfunktion als Schreibtisch- und Direkttäter zum Mitverantwortlichen für den Völkermord an den europäischen Juden werden ließ.1 Gestapo-Chef in Minsk Im September 1941, kurz zuvor zum SS-Obersturmführer befördert, folgte Georg Heuser der Einsatzgruppe A nach Riga und gelangte mit deren Sonderkommando 1b unter Erich Ehrlinger Ende November/Anfang Dezember 1941 nach Minsk. Nach dem Übergang zur Zivilverwaltung im Reichskommissariat Ostland, dem Teile Weißrußlands als Generalkommissariat Weißruthenien eingegliedert wurden, bildeten Untereinheiten der Einsatzgruppe dort die stationäre Dienststelle des Kommandeurs der Sicherheitspolizei und des SD (KdS), zunächst mit Ehrlinger, von März 1942 bis Juli 1943 mit Eduard Strauch als Leiter. Mit der Herausbildung festerer Organisationsstrukturen übernahm Heuser Anfang 1942 die KdS-Abteilung IV (Gestapo), bei der die Fäden der Partisanenbekämpfung und Judenvernichtung zusammenliefen. Untergebracht war die Dienststelle im Universitätsgebäude, einem der wenigen noch intakten Großbauten der Stadt. Sie verwaltete in Maly Trostinez 12 Kilometer südöstlich von Minsk ein Gut, das gleichzeitig als Massenexekutionsstätte und Lager für den beweglichen Besitz der Ermordeten diente. Abordnungen aus dem Reich (die Zahl der deutschen Angehörigen von Sicher-

116

JÜRGEN MATTHÄUS

heitspolizei und SD stieg zwischen Ende 1941 und Anfang 1944 von etwa 150 auf rund 1000; zugeteilt waren ihnen ein Zug Waffen-SS und weibliche Bürokräfte), der Ausbau eines Netzes von Außenstellen und die Rekrutierung einheimischer Hilfskräfte machten den KdS Minsk zu einer der Schaltzentralen deutscher Besatzungsherrschaft in Weißrußland, der insgesamt fast 1,7 Millionen Einwohner und Zehntausende von aus dem Westen deportierten Juden zum Opfer fielen.2 Als Heuser in Weißrußland eintraf, war die angestrebte „Säuberung von Juden“ bereits im Gang. Mitte Juli 1941 hatte der Wehrmachts-Feldkommandant in Minsk die Ghettoisierung der mehr als 50000 Juden der Stadt befohlen. Allein im Oktober und November ermordeten Einheiten der Wehrmacht, SS und Polizei 60000 Juden; etwa 145000 blieben einstweilen am Leben.3 Im Frühjahr, nach dem Ende der Frostperiode und dem Abschluß der organisatorischen Vorarbeiten, sollte wieder „mit starken Exekutionen begonnen“ werden.4 Ende 1941 wurden rund 13000 Minsker Ghettobewohner umgebracht, um Platz zu schaffen für knapp 7000 aus dem Reich deportierte Juden. Offensichtlich hatte der Berliner Kriminalkommissar wenig Schwierigkeiten, sich in seiner neuen Funktion zurechtzufinden. Erich Ehrlinger, der erste KdS, beschrieb Heuser nach dem Krieg als „sehr hart veranlagt“ und „ausgesprochene[n] Routinier“;5 andere KdS-Angehörige charakterisierten ihn als „Fürst“ und „maßgebenden Mann auf der Dienststelle“.6 Als Schreibtisch- und Direkttäter konstruierte und bediente Heuser den Mechanismus arbeitsteiliger Massenvernichtung in seinem Tätigkeitsbereich. Die Liste der Verbrechen, an denen er nach den Erkenntnissen westdeutscher Nachkriegsermittler teilnahm, umfaßte das ganze Spektrum deutscher Vernichtungspolitik. Im Büro entschied Heuser darüber, wer von den Gefängnisinsassen zu liquidieren war.7 Bei „verschärften Vernehmungen“ legte er auch selbst Hand an; Tatverdächtige wurden von ihm auf der Stelle erschossen.8 Seit Frühjahr 1942 waren beim KdS eine Reihe von Gaswagen im Einsatz, mit denen jeweils pro Tag bis zu 400 Menschen ermordet werden konnten: Partisanenverdächtige, Gefängnis- und Anstaltsinsassen, ab Sommer 1942 aus dem Reich deportierte und in Minsk ansässige Juden. Nach Ermittlungen der Koblenzer Staatsanwaltschaft überlebten nicht mehr als 30 von mindestens 24000 nach Minsk deportierten Juden; die Mehrheit wurde unmittelbar nach Ankunft der Züge, deren ‚Abwicklung‘ Heuser mit der zuständigen Reichsbahndirektion koordinierte, nahe des Gutes Maly Trostinez erschossen.9 Zeugenaussagen zufolge hat Heuser die aus dem Reich verschleppten Juden „im Namen des Großdeutschen Reiches“ in Minsk begrüßt und seiner Unterstützung versichert, bevor sie zu den Erschießungsgruben gebracht und dort ermordet wurden.10 Bei Judenaktionen teilte Heuser die Verlade- und Erschießungskommandos ein und war häufig auch außerhalb von Minsk selbst als leitender Offizier am Tatort aktiv; im Frühjahr 1942 soll er an

GEORG HEUSER

117

einem Tag mindestens 60 Juden eigenhändig ermordet haben.11 Nach dem Anschlag auf Generalkommissar Kube Ende September 1943 veranlaßte Heuser, mindestens drei Verdächtige, unter ihnen eine Frau, auf einem Scheiterhaufen beim Gut Maly Trostinez lebendig zu verbrennen.12 Kurz zuvor soll Heuser einem anderen KdS-Angehörigen befriedigt mitgeteilt haben: „So, jetzt haben wir in der Vollzugsmeldung 70000 erschossene Juden erreicht.“13 Mit Selbstermächtigung läßt sich die Bandbreite individueller Täterschaft, wie sie im Osten sichtbar wird, nicht voll erfassen, da der Begriff primär auf die Befehlslage und nur am Rande auf das Milieu abhebt, in dem Männer wie Heuser agierten. Jedes Mitglied der KdS-Dienststelle nahm im Laufe seiner Zeit in Minsk an mindestens einer Erschießung teil. Wie anderswo gab es auch hier „Dauerschützen“, die die „Dreckarbeit“ bei Bedarf gern übernahmen und auf die sich die leitenden Offiziere verlassen konnten.14 Während der Massenmord in den Büros verwaltet und ‚draußen‘ verübt wurde, rekreierte man nach Dienst Normalität und deutsche Gemütlichkeit. Dies war kein Widerspruch, sondern notwendig für die Aufrechterhaltung von Selbstbild und Funktionsfähigkeit. Einem Schlüsselbefehl Himmlers vom Dezember 1941 folgend, ließen es sich SS- und Polizeioffiziere besonders angelegen sein, ihre Männer, nachdem sie tagsüber „ohne Rücksicht jeden Herd des Widerstandes beseitig[t] und in schärfster Form Feinde des deutschen Volkes der gerechten Todesstrafe zu[ge]führ[t]“ hatten, am Abend „durch kameradschaftliches Beisammensein“ mit Speisen und Getränken, Musik und Vorträgen davor zu bewahren, zu „verrohen“ oder „an Gemüt und Charakter Schaden“ zu erleiden.15 Nachkriegsangaben von anderen KdS-Angehörigen zufolge nahm Heuser seine „fürsorgerischen Obliegenheiten“ ernst, indem er sich um das Wohl seiner Männer kümmerte.16 Dienstliches und Privatleben gingen ineinander über. In Minsk boten eine ganze Reihe von Veranstaltungen – Konzerte, Gedichtvorträge, Filmvorführungen, Theateraufführungen, Fußballspiele („VfL Minsk gegen SS- und Polizeisportgemeinschaft“) und andere Sportveranstaltungen – sowie „Kameradschaftsabende“ in Heimen, Kasernen und Unterkünften Gelegenheit zur Zerstreuung.17 Georg Heuser lernte seine spätere Ehefrau in Minsk kennen, und der Fahrer eines Gaswagens brachte seinen 14jährigen Sohn mit in die Stadt, wo er eine Bürolehre absolvierte.18 Die Tatsache, daß der von Himmler beklagte Alkoholmißbrauch und andere Ausschweifungen in Minsk besonders ausgeprägt waren, hing mit der außerordentlichen Rücksichtslosigkeit deutscher Besatzungsherrschaft zusammen. Selbst im Reich hörte man „von den Saufexzessen und den Weibergeschichten“, die dort unter den Deutschen üblich seien.19 Ehemalige KdS-Angehörige beschrieben die Minsker Verhältnisse als „Sauhaufen“. Auch dienstlich wurde getrunken: Ein KdS-Angehöriger verwaltete nach eigenen Angaben Zehntausende Wodkaflaschen, die für die Teilnehmer an Massenerschießun-

118

JÜRGEN MATTHÄUS

gen bestimmt waren.20 Die zentrale Vernichtungsstätte Maly Trostinez, wo bis zum deutschen Rückzug mehr als 40000 zumeist jüdische Menschen ermordet wurden, diente KdS-Mitarbeitern als Ausflugsort und Bezugsquelle für Pelzmäntel und andere Wertsachen aus der Hinterlassenschaft der Opfer.21 Nach dem Rückzug aus Minsk war Heuser ab Mitte Juli 1944 für einige Wochen als Lehrer in Westpreußen tätig, wo die in Berlin-Charlottenburg ausgebombte Führerschule der Sicherheitspolizei untergekommen war und trug so zusammen mit anderen zuvor im Osteinsatz verwendeten SS- und Polizeioffizieren zum Erfahrungstransfer in Himmlers Apparat bei. Im August 1944 wurde Heuser zum SS-Hauptsturmführer befördert und als Führer des Einsatzkommandos 14 der Einsatzgruppe H zugeteilt, die den Aufstand in der Slowakei mitbekämpfte. Wie schon in Weißrußland ging Partisanenbekämpfung mit Judenmord und Greueln an der Zivilbevölkerung einher.22 Bei Kriegsende gelang es Heuser, der sowjetischen Kriegsgefangenschaft zu entgehen und sich in Richtung Westen abzusetzen. Während er den Titel eines Doktors der Rechtswissenschaft, den er seit 1941 geführt hatte, ohne je ordnungsgemäß promoviert worden zu sein, beibehielt und sich als Rechtsanwalt ausgab, verleugnete er seine Tätigkeit als Offizier der Sicherheitspolizei und SS-Angehöriger. Nach Übersiedlung ins Rheinland arbeitete Heuser als Angestellter, ehe er im Frühjahr 1954 aufgrund Artikel 131 des Grundgesetzes als Kriminaloberkommissar in den Staatsdienst von Rheinland-Pfalz übernommen wurde. Bei der Beschaffung der nötigen ‚Persilscheine‘ waren andere ‚Ehemalige‘ behilflich, die sich in den Reihen der bundesdeutschen Kriminalpolizei bereits Respektabilität erworben hatten.23 Nachdem er rasch die Karriereleiter emporgeklettert und Mitte 1956 zum ständigen Stellvertreter des Leiters des Landeskriminalamts von Rheinland-Pfalz, Anfang 1958 gar zu dessen Leiter ernannt worden war, oblag ihm in maßgeblicher Position die Fahndung nach NS-Verbrechern, zu denen er selbst gehörte. Ein Doktortitel wird abgelegt Die in den späten 1950er Jahren wachsende Aktivität westdeutscher Strafverfolgungsbehörden in NS-Verfahren, die sich am deutlichsten in der Schaffung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg manifestierte, setzte Heusers Beamtenkarriere ein Ende. Im Zuge der Ermittlungen gegen Erich Ehrlinger fiel immer wieder der Name Georg Heuser als eines der Hauptverantwortlichen für die Verbrechen in Minsk. Der KripoChef war über die Arbeit seiner Kollegen informiert; einem anderen ehemaligen KdS-Angehörigen sagte er im Frühjahr 1959, jetzt gehe alles schief.24 Am 15. Juli 1959, einen Tag, nachdem die Staatsanwaltschaft Karlsruhe Haftbefehl beantragt hatte, wurde Heuser während seines Kuraufenthalts in Bad Orb festgenommen. Hauptgrund für den raschen Zugriff der Ermitt-

GEORG HEUSER

119

lungsbehörden war neben den Tatvorwürfen – Teilnahme am Mord von Juden und anderen NS-Gegnern einschließlich von Frauen und Kindern – die Befürchtung, Heuser könne seine Dienststellung als oberster Kriminalpolizist von Rheinland-Pfalz dazu verwenden, Zeugen zu beeinflussen.25 Wie berechtigt die Sorge um das Fortwirken der ‚Kameradenhilfe‘ war, zeigte sich im weiteren Verlauf der Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft an Heusers Wohnsitz Koblenz. Sein erster Anwalt hatte als SS-Offizier selbst einige Zeit beim KdS Minsk gearbeitet. Heusers ehemalige Sekretärin vermied mit dem Hinweis, „doch keine Denunziantin“ zu sein, konkrete Angaben und räumte erst nach mehrfachem Befragen ein, daß in Heusers schriftlichen Exekutionsbefehlen auch das Wort „Jude“ vorkam.26 Die Polizisten der eigens geschaffenen Kriminalpolizeilichen Sonderkommission P stießen bei der Suche nach ehemaligen Dienststellenangehörigen auf durchweg wenig kooperationsbereite, bisweilen offen feindselige Zeugen. Viele von ihnen waren selbst Polizisten, die sich bereits abgesprochen hatten und sich im Grad ihrer vorgetäuschten Unwissenheit gegenseitig überboten. Weit mehr als in anderen NS-Ermittlungen liefern die zahlreichen Aktenvermerke der Sonderkommission in den Unterlagen der Staatsanwaltschaft Koblenz Einblicke in die Reaktionen von Zeugen und Tatbeschuldigten, die sich aus den geglätteten Aussageprotokollen nicht entnehmen lassen.27 Dazu gehört der fehlende Gesinnungswandel vieler ‚Ehemaliger‘. Mehrere KdS-Angehörige bekannten sich gegenüber Vernehmungsbeamten weiter zum Nationalsozialismus und zum SS-Grundsatz „Unsere Ehre heißt Treue“. Ein späterer Mitangeklagter zeigte sich stolz auf seine damalige SS-Zugehörigkeit und lachte bei der Schilderung einer Erschießung.28 Heusers Verhaftung machte Schlagzeilen.29 Je mehr sich politisch Verantwortliche bemühten, neben der persönlichen Beteiligung Heusers auch den gesamten Tatkomplex zu leugnen – so versicherte der Innenminister von Rheinland-Pfalz vor der Presse, zum Zeitpunkt der Abordnung Heusers nach Minsk habe es dort keine Exekutionen gegeben –, um so mehr waren die wenigen jüdischen Überlebenden der Minsker Verbrechen bereit, sich der grauenhaften Erinnerung zu stellen und auszusagen.30 Dagegen scheint bei Deutschen, die als Angehörige des Besatzungsapparats nach Minsk abgeordnet worden waren, wenig Sachdienliches im Gedächtnis haften geblieben zu sein.31 Zu Heuser gaben sie zumeist Positives zu Protokoll: Man habe ihn „nur in guter Erinnerung“ als „sehr konziliant“, „freundlich und nett“; „stillen und zurückhaltenden Beamten“, von dem man sich – so ein ehemaliger Staatsanwalt der Zivilverwaltung – nicht vorstellen könne, „daß er sich an Judenaktionen oder gar [sic] an Exzessen beteiligt“ habe.32 Nur vereinzelt konstatierten ehemalige Dienststellenangehörige bei Heuser eine „zunehmende Verrohung“ oder beschrieben ihn als erbarmungslos und brutal.33 Man habe nie so recht gewußt, „wo man mit ihm dran war“.34 Der Gestapochef

120

JÜRGEN MATTHÄUS

habe sich als „große[r] Schießer“ hervorgetan. „Den Heuser“, so ein ehemaliger KdS-Mitarbeiter, „müßten Sie mal an der Grube sehen“.35 In seinen Aussagen folgte Heuser der von Otto Ohlendorf in Nürnberg vorgegebenen Linie, die eigene Verantwortlichkeit unter Hinweis auf Befehle von ‚oben‘ und militärische Zwänge des ‚Bandenkampfs‘ zu vernebeln. So schob er die Verbrennung von Partisanenverdächtigen im Herbst 1943 dem damaligen KdS Ehrlinger in die Schuhe, obwohl er selbst als ranghöchster Offizier die Aktion geleitet hatte.36 Heusers Taktik ging insofern nicht auf, als er unter den elf Angeklagten der Dienstälteste war, und diese wiederum ihn als Verantwortlichen benannten, dessen Befehlen man sich nicht habe widersetzen können.37 Nachdem Anfang Mai 1961 die gerichtliche Voruntersuchung gegen Heuser und zehn weitere ehemalige KdS-Angehörige eröffnet worden war, dauerte es noch mehr als ein Jahr, bis der Beschluß zum Hauptverfahren erging.38 Der Prozeß vor dem Schwurgericht beim Landgericht Koblenz brachte neues Beweismaterial ans Licht, als sowjetische Behörden eine Kopiensammlung von Archivdokumenten zum Komplex Minsk übergaben.39 Zur Verzögerung des Verfahrens trug nicht unwesentlich die Verteidigungsstrategie des Hauptangeklagten bei. Während Heuser bei Prozeßbeginn einräumte, „zum Teil schuldig“ zu sein und den bis dahin reklamierten Doktortitel unrechtmäßig geführt zu haben,40 übte sich sein Rechtsanwalt in Diversion. Am dritten Verhandlungstag beantragte er die Ablehnung des Vorsitzenden, der gesagt hatte, in den Zellen des Minsker Gefängnisses sei es „doch schlimm“ gewesen, wegen Befangenheit. Später folgten ebenso kalkulierte wie abwegige Beweisanträge zur Beibringung sowjetischer Zeugen, zur Feststellung, was die Bediensteten anderer Minsker Instanzen über den Judenmord gewußt hätten sowie zur Klärung der Frage, wie lange der Todeskampf eines lebendig verbrannten Menschen dauert; Heusers Verteidiger wollte nachweisen, daß „nach Sekunden bereits Besinnungslosigkeit“ eintrete.41 In seinem Plädoyer forderte Rechtsanwalt G. für seinen Mandanten Freispruch und deutete die Ermordung deportierter Juden als „Beihilfehandlung zum Verbrechen bei Völkermorden“. Heuser selbst bat in seinem Schlußwort um Gerechtigkeit.42 „Kein Krimineller im üblichen Sinne“ Nach 62 Verhandlungstagen verkündete das Landgericht Koblenz am 21. Mai 1963 sein Urteil. Heuser wurde wegen neun Verbrechen der gemeinschaftlichen Beihilfe zum Mord sowie wegen Beihilfe zum Totschlag, denen mindestens 11103 Menschen zum Opfer fielen, unter Anrechnung der Untersuchungshaft zu einer Gesamtstrafe von 15 Jahren Zuchthaus und Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte für die Dauer von fünf Jahren verurteilt; die anderen Angeklagten erhielten Zuchthausstrafen zwischen dreieinhalb

GEORG HEUSER

121

und zehn Jahren. Der damaligen deutschen Rechtsprechung folgend sah das Gericht keinen der Angeklagten als „Haupttäter“ an – dieser Begriff war für Hitler und die führenden Männer seiner Umgebung reserviert. Heuser wurde zudem zugute gehalten, er zeige „echte Reue“.43 Der Minsker Gestapo-Chef erkannte als einziger das Urteil an – ein Hinweis darauf, daß er und sein Anwalt meinten, glimpflich davongekommen zu sein – und verlegte sich in der Folgezeit darauf, seine vorzeitige Entlassung zu betreiben. Bediente er sich dazu zunächst wie schon im Untersuchungsgefängnis gesundheitlicher Gründe, so forderte er bei Ablauf von zwei Dritteln der Haftzeit im Sommer 1969 ein Erlassen der Reststrafe mit dem Argument, „daß in meinem Fall mit dieser Strafzeit dem Vergeltungsgedanken ausreichend Rechnung getragen“ und eine andauernde Haft als „soziale Härte“ zu werten sei.44 Auch der Vorstand der Strafanstalt Freiendiez befürwortete Heusers frühzeitige Entlassung, denn er sei „kein Krimineller im üblichen Sinne“.45 Das Koblenzer Urteil war zu früh ergangen, als daß Heuser von der kalten Amnestie hätte profitieren können, die der Bundestag Ende Mai 1968 in Gestalt der rückwirkenden Verjährung der Verbrechen von „Mordgehilfen“ beschloß und zahlreichen NS-Tätern Straffreiheit bescherte.46 Bei seinem Bemühen um bedingte Entlassung Ende der 1960er Jahre kam ihm jedoch eine ähnlich unverfänglich erscheinende Strafrechtsnovelle entgegen: Hatte das Landgericht Koblenz mit Hinweis auf „günstige Zukunftserwartungen“ bezüglich der Resozialisierung Heusers seinen Entlassungsantrag zunächst positiv beschieden, so gab das Oberlandesgericht der Beschwerde der Oberstaatsanwaltschaft wegen der Schwere der Tat statt.47 Dieser Beschluß ließ sich jedoch nicht halten, nachdem der Bundestag im Zuge der Strafrechtsreform die Aussetzung des Strafrests von Verurteilten neu geregelt hatte. Grundlegend war die Entscheidung eines parlamentarischen Sonderausschusses zur Novellierung des § 26 StGB, wonach „der Gedanke des Schuldausgleichs und auch der Generalprävention die bedingte Entlassung bei günstiger Prognose auch dann nicht hindern dürfe, wenn es sich um schwere Taten wie etwa Gewalttaten in der nationalsozialistischen Zeit handle und zwei Drittel der Strafe verbüßt seien“; die bis dahin gültige „Kann“-Bestimmung wurde in eine „Muß“-Vorschrift verändert, aufgrund derer die verbleibende Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen war.48 Heuser, gut informiert über Stand und Wortlaut der Novellierungsbeschlüsse, reklamierte umgehend ein öffentliches Interesse, „mich wieder in die Gesellschaft zu integrieren“ und dürfte einer der ersten NS-Täter gewesen sein, dem die Neuregelung zugute kam. Am 12. Dezember 1969 stimmte das Landgericht Koblenz seiner Haftentlassung zu.49 Der Fall beschäftigte die Strafverfolgungsbehörden weiter, obwohl Heuser 1971 ein Schreiben der Staatsanwaltschaft Koblenz mit der Forderung beantwortete, „endlich mal zur Ruhe zu kommen“.50 Dies war ihm insofern

122

JÜRGEN MATTHÄUS

vergönnt, als die Ermittlungen zur Tätigkeit des von Heuser geführten Einsatzkommandos 14 in der Slowakei trotz des von tschechoslowakischen Behörden vorgelegten Beweismaterials nicht vorankamen.51 Zwischen Juni 1979 und Januar 1980 wurde Heuser von der Staatsanwaltschaft Koblenz mehrfach als Beschuldigter vernommen. Die alte Verteidigungslinie verfocht er nun noch entschiedener als zuvor: Seine Aufgabe sei es gewesen, Partisanen zu bekämpfen, Juden habe es im Einsatzgebiet nicht mehr gegeben, und die überlieferten Berichte der Einsatzgruppe H hätten die Tendenz, „Sachen überzubewerten und aufzubauschen“.52 Die Koblenzer Staatsanwälte meinten, Heusers Einlassungen nicht widerlegen zu können; im Februar 1980 wurde das Ermittlungsverfahren eingestellt.53 Als Ende der 1980er Jahre der slowakische Tatkomplex neu aufgerollt werden sollte, war es zu spät; am 30. Januar 1989 starb Georg Heuser in Koblenz.54 Anmerkungen *Die hier vorgetragenen Ansichten sind die des Verfassers und reflektieren nicht notwendigerweise die Meinung des United States Holocaust Memorial Museum Washington D.C. 1 Biographische Angaben finden sich im Urteil LG Koblenz v. 21.5.1963, abgedruckt in: JNS, Bd. 19, Amsterdam 1978, lfd. Nr. 552, in der Datenbank BAL (für diesbezügliche Informationen danke ich PD Dr. Klaus-Michael Mallmann) sowie in den Verfahrensakten Staw Koblenz 9 Ks 2/62 mit ihren knapp 100 Bänden. 2 Christian Gerlach: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg 1999; Paul Kohl: „Ich wundere mich, daß ich noch lebe“. Sowjetische Augenzeugen berichten, Gütersloh 1990. 3 Gerlach (Anm. 2), S. 516–533, 609; zur strittigen Zahl der Ghettobewohner ebd., S. 625 f. 4 Jürgen Matthäus: „Reibungslos und planmäßig“. Die zweite Welle der Judenvernichtung im Generalkommissariat Weißruthenien (1942–1944), in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 4(1995), S. 254–274, hier S. 261. 5 Vern. Erich Ehrlinger v. 8.5.1959, Staw Koblenz 9 Ks 2/62, Bd. 1. 6 Vern. Ernst H. v. 20.9.1961, ebd., Bd. 61, Bl. 9108 ff.; Meta P. v. 9.2.1961, ebd., Bd. 44, Bl. 6546 ff.; JNS (Anm. 1), S. 292. 7 Vern. Adolf Rübe v. 1.9.1959, Staw Koblenz 9 Ks 2/62, Bd. 1. 8 Vern. Julie S. v. 20.3.1962, ebd., Bd. 71, Bl. 10521 ff.; Anklage v. 15.1.1962, ebd., Bd. 68, Bl. 10169 ff. 9 Zur Zahl der ermordeten Deportierten aus dem Reichs- und Protektoratsgebiet Gerlach (Anm. 2), S. 760. 10 Vern. Eva-Maria S. v. 9.11.1961, Staw Koblenz 9 Ks 2/62, Bd. 63, Bl. 9488 f. 11 Anklage Staw Koblenz v. 15.1.1962, ebd., Bd. 68, Bl. 10148 ff.; Vern. Josef S. v. 23.2.1961, ebd., Bd. 46, Bl. 6877; Theodor F. v. 28.6.1961, ebd., Bd. 55, Bl. 8207 ff. 12 Anklage Staw Koblenz v. 15.1.1962, ebd., Bd. 68, Bl. 10163 ff.; Vern. Otto D. v. 11.4.1961, ebd., Bd. 49, Bl. 7297 ff.

GEORG HEUSER 13

123

Dto. Artur Wilke v. 10.8.1961, ebd., Bd. 58, Bl. 8646. Dto. Walter M. v. 7.11.1961, ebd., Bd. 63, Bl. 9767; zum tatrelevanten Milieu im Osten Klaus-Michael Mallmann: „Mensch, ich feiere heut’ den tausendsten Genickschuß“. Die Sicherheitspolizei und die Shoah in Westgalizien, in: Gerhard Paul (Hrsg.): Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? Göttingen 2002, S. 109–136. 15 Befehl RFSS v. 12.12.1941, abgedruckt in: Wolfgang Benz/ Konrad Kwiet/ Jürgen Matthäus (Hrsg.): Einsatz im „Reichskommissariat Ostland“. Dokumente zum Völkermord im Baltikum und in Weißrußland 1941–1944, Berlin 1998, S. 28 f.; vgl. Jürgen Matthäus/ Konrad Kwiet/ Jürgen Förster/ Richard Breitman: Ausbildungsziel Judenmord? „Weltanschauliche Erziehung“ von SS, Polizei und Waffen-SS im Rahmen der „Endlösung“, Frankfurt/M. 2003. 16 Vern. Otto M. v. 25.8.1959, Staw Koblenz 9 Ks 2/62, Bd. 1; Sabine D. v. 27.4.1960, ebd., Bd. 19, Bl. 2848 f. 17 Zu den Lebensbedingungen der Deutschen in und um Minsk Bernhard Chiari: Alltag hinter der Front. Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weißrußland 1941–1944, Düsseldorf 1998. 18 Vern. Karola K. v. 15.3.1960, Staw Koblenz 9 Ks 2/62, Bd. 17, Bl. 2503; Julius G. v. 6.1.1962, ebd., Bd. 65, Bl. 9810 ff.; Karl G. v. 2.4.1966, ebd., Bd. 71, Bl. 10590 ff.; ders. an Staw Koblenz (undat./April 1962), ebd., Bd. 73, Bl. 10845 f. 19 Bericht Nr. 4 des Beauftragten des Reichsleiters Bormann im OKW/Stab z.b.V. v. 26.5.1942, USHMM Archive, NL Robert Kempner, Karton Nuremberg Nr. 4. 20 Vern. Ulrich F. v. 8./9.8.1960, Staw Koblenz 9 Ks 2/62, Bd. 29, Bl. 4318 ff.; Edith Sch. v. 10.1.1961, ebd., Bd. 42, Bl. 6372 ff.; Ruth Z. v. 16.3.1961, ebd., Bd. 47, Bl. 7058 ff.; Karl Graf v.d.G. v. 10.4.1961, ebd., Bd. 49, Bl. 7350 ff. 21 Vern. Irma S. v. 29.3.1961, ebd., Bd. 48, Bl. 7126 ff.; zu den Opferzahlen in Maly Trostinez Gerlach (Anm. 2), S. 770. 22 Vgl. Konrad Kwiet: Der Mord an Juden, Zigeunern und Partisanen. Zum Einsatz des Einsatzkommandos 14 der Sicherheitspolizei und des SD in der Slowakei 1944/1945, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 7(1998), S. 71–81. 23 Zur Kontinuität in der deutschen Kriminalpolizei Dieter Schenk: Auf dem rechten Auge blind. Die braunen Wurzeln des BKA, Köln 2001; Johannes H., Angehöriger des von Heuser geleiteten EK 14 in der Slowakei und 1954 bereits wieder Kriminalrat, empfahl seinen ehemaligen Vorgesetzten gegenüber dem rheinland-pfälzischen Innenministerium als „eine der wenigen Persönlichkeiten, die in Theorie und Praxis gleichermaßen begabt sind“, Schreiben H. v. 21.3.1954, Staw Koblenz 9 Ks 2/62, Bd. 3. 24 Vern. Paul R. v. 28.12.1960, ebd., Bd. 42, Bl. 6235 ff. 25 Antrag Staw Karlsruhe v. 14.7.1959, ebd., Bd. 3. 26 Vern. Sabine D. v. 27.–29.4.1960, ebd., Bd. 18, Bl. 2844 ff.; Aktenvermerke v. 27.4. und 30.5.1960, ebd., Bl. 2873 ff.; Vern. Sabine D. v. 3.10.1960 und 13.7.1961, ebd., Bd. 33, Bl. 4998 ff., Bd. 57, Bl. 8587 ff.; Heusers Verteidiger war bis Oktober 1959 Dr. Eberhard St., ab Dezember 1959 Dr. Erich Sch.-L. und ab November 1961 Egon G., ebd., Bd. 3; Bd. 9, Bl. 1349; Bd. 12, Bl. 1786 ff.; Bd. 16, Bl. 2421 ff.; Bd. 63, Bl. 9451 ff. 27 Vgl. die Vern. von ehemaligen und noch aktiven Polizeibeamten in Essen, ebd., Bd. 8, Bl. 1153 ff.; Bd. 28, Bl. 4244a; Bd. 35, Bl. 5316 ff. 14

124 28

JÜRGEN MATTHÄUS

Aktenvermerke zur Vern. Theodor O. v. 23.5.1960, Franz Stark v. 27.7.1960, Jakob Oswald v. 1.7.1960, Adam B. v. 20.11.1961, ebd., Bd. 21, Bl. 3196; Bd. 27, Bl. 4114; Bd. 26, Bl. 3973a–b; Bd. 64, Bl. 9536 ff. 29 Hamburger Abendblatt v. 25./26.7.1959: „Nach dem Baden verhaftet. Schwerer Verdacht gegen Kriminalchef von Rheinland“. 30 Vern. Walter M. v. 8.12.1959, Staw Koblenz 9 Ks 2/62, Bd. 10, Bl. 1416; Karl L. v. 21.9.1959, ebd., Bd. 6, Bl. 916 ff. 31 Einige Aktenvermerke enthalten Hinweise auf offensichtliche Falschaussagen: ebd., Bd. 8, Bl. 1163 ff.; Bd. 10, Bl. 1438 ff.; Bd. 11, Bl. 1573, 1649; Bd. 13, Bl. 1844 ff., 1955; Bd. 16, Bl. 2296; Bd. 20, Bl. 3000 ff.; Bd. 24, Bl. 3728 ff.; Bd. 26, Bl. 3902 ff., 3911 ff. 32 Vern. Georg B. v. 17.11.1959, ebd., Bd. 8, Bl. 1153 ff.; Ludwig S. v. 3.12.1959, ebd., Bd. 9, Bl. 1315 ff.; Wilhelm S. v. 19.11.1959, ebd., Bd. 8, Bl. 1177 ff.; Emilie J. v. 19.11.1959, ebd., Bl. 1195 ff. 33 Aufzeichung Adolf Rübe (undat.), ebd., Bd. 7, Bl. 1003; Vern. Franz Stark v. 25./26.7.1960, ebd., Bd. 27, Bl. 4088; Irma S. v. 29.3.1961, ebd., Bd. 48, Bl. 7126 ff. 34 Dto. Jakob Oswald v. 1.7.1960, ebd., Bd. 26, Bl. 3940 ff.; Fritz Mischke v. 2.6.1961, ebd., Bd. 52, Bl. 7799 ff. 35 Dto. Fritz M. v. 2.6.1961, ebd., Bd. 52, Bl. 7799 ff.; Wilhelm Kaul v. 13.6.1960, ebd., Bd. 23, Bl. 3475. 36 Adolf Rübe an ZSL v. 20.8.1960, ebd., Bd. 29, Bl. 4422. 37 Vern. Wilhelm Kaul v. 9.6.1961, ebd., Bd. 51., Bl. 7662; Franz Stark v. 15.6.1961, ebd., Bd. 52, Bl. 7835 ff. 38 Verfügung LG Koblenz v. 3.5.1961, ebd., Bd. 50, Bl. 7508. 39 Bundesjustizministerium an OStaw Koblenz v. 13.2.1963, ebd., Bd. 82, Bl. 12651; der Dokumentenband war Ende Januar 1963 vom sowjetischen Außenministerium übergeben worden und ging in die Dok.Slg. UdSSR der ZSL ein; darin enthalten waren bis dahin im Westen nicht bekannte Einsatzbefehle. 40 Staw Koblenz 9 Ks 2/62, Bd. 77, Bl. 11471, 15.10.1962 (1. Verhandlungstag). 41 Ebd., Bl. 11488 f., 17.10.1962 (3. Verhandlungstag; der Befangenheitsantrag wurde abgelehnt, ebd., Bl. 11499); Bd. 80, Bl. 12154, 12.12.1962 (26. Verhandlungstag); Bl. 12283, 12287a, 7.1.1963 (31. Verhandlungstag); Bd. 83, Bl. 12697 ff. (43. Verhandlungstag mit sieben Beweisanträgen von Heusers Verteidiger); Bd. 84, Bl. 12978 (53. Verhandlungstag). 42 Ebd., Bd. 84, Bl. 13017 f., 6.5.1963 (58. Verhandlungstag); Bl. 13049, 10.5.1963 (62. Verhandlungstag). 43 JNS (Anm. 1), S. 159 ff. 44 Heuser an OStaw Koblenz v. 27.6.1969, Staw Koblenz 9 Ks 2/62, Vollstreckungsheft, Bl. 44 f.; unter Anrechnung der Untersuchungshaft hatte Heuser am 27.7. 1969 seine Strafe zu zwei Dritteln abgesessen. 45 Vorstand der Strafanstalt Freiendiez an OStaw Koblenz v. 1.7.1969, ebd., Bl. 52 f 46 Am 24.5.1968 verabschiedete der Bundestag im Vorfeld einer umfassenden Strafrechtsnovellierung ohne Debatte das „Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeiten-Gesetz“, das in einer „juristischen Kettenreaktion“ die Verjährungsfrist für Beihilfe zum Mord, sofern keine „niederen Beweggründe“ nachweisbar waren, zum 8.5.1964 enden ließ; vgl. Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989, Bonn 1996, S. 508 f.; Helmut

GEORG HEUSER

125

Kramer: Kriegsverbrechen, deutsche Justiz und das Verjährungsproblem – Amnestie durch die legislative Hintertür, in: Wolfram Wette/Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2001, S. 493–506. 47 Beschluß LG Koblenz v. 11.7.1969; dto. OLG Koblenz v. 14.8.1969, Staw Koblenz 9 Ks 2/62, Vollstreckungsheft, Bl. 60 ff., 66. 48 Deutscher Bundestag, 5. Wahlperiode, Drucksache V/4094: Erster schriftlicher Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, S. 13 f. 49 Heuser an LG Koblenz v. 13.11.1969, Stellungnahmen Gefängnisleitung und OStaw Koblenz v. 20. und 26.11.1969, Beschluß LG Koblenz v. 12.12.1969, alle Staw Koblenz 9 Ks 2/62, Vollstreckungsheft, Bl. 68 ff.; der Zusammenhang zwischen der Novellierung des § 26 StGB und NS-Verbrechen, sowohl was die Motive von Gesetzgebern und Ministerialbürokratie wie die Auswirkungen auf verurteilte Täter angeht, ist bisher von der Forschung nicht untersucht worden; ich danke Dr. Hans Kramer und Dr. Bernd Volckart für Hinweise auf den juristischen Kontext der Novelle. 50 Heuser an OStaw Koblenz v. 14.9.1971, Staw Koblenz 9 Ks 2/62, Vollstreckungsheft, Bl. 89. 51 BAL, 505 AR-Z 32/73; Staw Koblenz 9 Js 48/73; Abschlußbericht ZSL v. 4.10.1977, ebd. 101 Js 2244/77, Bd. 36, Bl. 6461 ff. (von den insgesamt 47 Bänden des Verfahrens enthalten mehr als 30 Material tschechoslowakischer Provenienz). 52 Vern. Heuser v. 21.6., 13.7.1979 und 24.1.1980, ebd. 101 Js 2244/77, Bd. 44, Bl. 7499 ff., 7508 ff., 7578 f. 53 Einstellungsverfügung Staw Koblenz v. 29.2.1980, ebd., Bd. 46. 54 BAL, 103 AR 5008/87; Staw München I 320 Js 15759/89; Standesamt Koblenz, Sterbe-Register Nr. 188/89.

ALEXANDRA PRZYREMBEL

Ilse Koch – ‚normale‘ SS-Ehefrau oder ‚Kommandeuse von Buchenwald‘? Biographien über Täter und Täterinnen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft haben derzeit Konjunktur. Studien zu Einzelpersonen, 1 männerbündischen Kollektiven 2 oder auch willkürlich zusammengestellten Personengruppen weisen darauf hin, daß sich die historische Forschung von der Strukturgeschichte ab- und der Personengeschichte zugewandt hat. Dies ist zum einen dem Generationswechsel innerhalb der Geschichtswissenschaft sowie einem pragmatischeren Umgang mit der eigenen Biographie, 3 zum anderen der Rezeption neuerer methodischer Ansätze wie der Alltags- und Mikrogeschichte geschuldet. Die Untersuchung generationsspezifischer Erfahrungen und Mentalitäten steht dabei genauso im Vordergrund wie die Frage nach der konkreten Einordnung der Tat und deren Selbstdeutung nach 1945. Doch hat die biographische Methode trotz der genannten Vorzüge auch einige Schattenseiten: Insbesondere „die Frauen der Nazis“4 – Eva Braun, Magda Goebbels – dienen als Folie für die Betonung der menschlichen Seite des Monströsen und ermöglichen so die Trivialisierung der NS-Geschichte. Die Biographie Ilse Kochs, SS-Ehefrau und vermeintliche Kommandeuse von Buchenwald, eignet sich nicht zu dieser positiven Legendenbildung. Im Gegenteil – sie war im Nachkriegsdeutschland das „Symbol der KZ-Mörderin“ schlechthin.5 Sie galt vor allem deshalb als Personifizierung des Monströsen, da man sie für die Urheberin der Registrierung tätowierter Häftlinge im Konzentrationslager (KL) Buchenwald hielt, in deren Folge tätowierte Menschenhäute präpariert wurden. Mosaiksteine einer Biographie Die Biographie von Ilse Koch, geborene Köhler, bis zu ihrer Inhaftierung im Sommer 1945 läßt sich nur mühsam rekonstruieren. Sie wurde am 22. September 1906 geboren, entstammte einer kleinbürgerlichen, protestantischen Familie, genoß eine einfache Schulbildung und war einige Jahre als Sekretärin tätig. 1935 traf sie in ihrer Geburtsstadt Dresden ihren späteren Ehemann Karl Otto Koch.6 Im Mai 1937 heiratete sie den SS-Standartenführer, der nach einer steilen Karriere mittlerweile die Kommandantur des KL Sachsenhausen übernommen hatte. Die Leitung der KL Sachsenhausen, Buchenwald und Majdanek markierte die Eckpunkte der Laufbahn Karl Kochs, ehe er von der SS-Gerichtsbarkeit wegen Korruption zum Tode verurteilt und noch im April 1945 erschossen wurde. Ilse Koch lebte von 1937 bis 1943 mit ihren Kindern in der SS-Führersiedlung von Buchenwald, bis sie selbst im August 1943 im

ILSE KOCH

127

Rahmen der Ermittlungen gegen ihren Mann verhaftet und fast anderthalb Jahre später – am 19. Dezember 1944 – freigesprochen wurde. Der Vorwurf der „gewohnheitsmäßigen Hehlerei“, wonach sie „Gelder in Höhe von über RM 25000 und Sachen im Werte von über RM 46000, von denen sie den Umständen nach annehmen mußte, daß sie mittels strafbarer Handlungen erlangt waren“, unterschlagen haben soll, konnte nicht bewiesen werden.7 Der Staatsanwaltschaft Augsburg ist es zu verdanken, daß die Selbststilisierung der Angeklagten Koch im Rahmen des deutschen Prozesses durchkreuzt wurde. Sie war seit Mai 1932 Mitglied der NSDAP gewesen. Auch wenn die frühe Mitgliedschaft in der Partei keine direkten Rückschlüsse auf die Motivation für ihr späteres Handeln erlaubt, so markiert sie doch eine erstaunlich frühe Affinität zum Nationalsozialismus. Denn in den Jahren 1925 bis 1932 waren nicht einmal acht Prozent der NSDAP-Mitglieder Frauen.8 Über ein Engagement Ilse Kochs in der NSDAP oder im Sippenverband der SS, dem sie seit der Heirat mit Karl Koch9 angehörte, sind keine Dokumente überliefert. Ob ihre „nationale Gesinnung“, die sie sich selbst noch während ihrer ersten Vernehmung im Sommer 1945 bescheinigte, Auswirkungen auf ihr alltägliches Verhalten und ihre Gewalttaten hatte, muß ungewiß bleiben. Unmittelbar nach ihrer Verhaftung im Sommer 1945 wurde Koch nach Dachau gebracht, wo sie im April 1947 von dem amerikanischen Kriegsverbrechertribunal wegen des „common design“ – also des gemeinsamen Plans an der Umsetzung des KL Buchenwald – zu lebenslanger Haft verurteilt wurde.10 Ein Überprüfungsausschuß der amerikanischen Armee korrigierte ein Jahr später diese Entscheidung und wandelte die lebenslange Haft- in eine Freiheitsstrafe von vier Jahren um. Der internationale Protest gegen diese Entscheidung führte zu einem in der deutschen Nachkriegsgeschichte einmaligen Vorgang: Koch wurde erneut vor Gericht gestellt und im Jahr 1951 vom Landgericht Augsburg wegen ihrer Verbrechen an Deutschen zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Ilse Koch verbrachte bis zu ihrem Selbstmord am 1. September 1967 mehr als zwanzig Jahre in deutschen Gefängnissen, Zuchthäusern und Nervenheilanstalten. Sie verweigerte während ihrer Prozesse meist jede Stellungnahme und wertete belastende Zeugenaussagen als Ausdruck einer gegen sie gerichteten „Häftlingsverschwörung“. 11 Koch kämpfte auch nach ihrer Verurteilung für eine Revision der Entscheidung, war sie doch von ihrer Unschuld überzeugt: „Man hält mich noch immer gefangen / Der Gerechtigkeit tut’s widersteh’n.“12 Ihrer Selbstwahrnehmung nach hatte sie im KL Buchenwald ein ‚normales‘ bürgerliches Familienleben geführt; sie sei eine „vollkommen normale und sittenreine Frau und Mutter gewesen“. 13 Ihren Kindern Gisela und Artwin gegenüber, die auf dem Gelände von Buchenwald aufwuchsen, hielt Koch an dieser Lebenslüge fest. Selbststilisierung, Larmoyanz und Antisemitismus zeichneten ihre zahlreichen Briefe, Gnadengesuche und Gedichte aus.

128

ALEXANDRA PRZYREMBEL

Konstruktion des Monströsen Ob sich Koch in der Zeit, die sie an der Seite ihres Ehemannes in der Führersiedlung des KL Buchenwald verbrachte, „national“, antisemitisch oder aber ‚latent‘ gewalttätig verhielt, läßt sich angesichts des vorliegenden Quellenmaterials nur schlecht einschätzen. Auch die Frage, ob ihr Handeln einer ‚inneren‘ Logik folgte und unterschiedliche Phasen der Radikalisierung durchlief, muß offenbleiben. Koch gehört zu einem noch weitgehend unerforschten Typus potentieller NS-Täterinnen. Denn Funktionen und Aufgaben der knapp 95000 SS-Ehefrauen14 innerhalb des SS-Sippenverbandes sind nach wie vor weitgehend ebenso unbekannt wie die disziplinierend-fürsorgerischen Weiblichkeits- und Mutterkonzeptionen der SS.15 Als SS-Ehefrau und Gattin des Kommandanten stand Ilse Koch jedoch außerhalb der Lagerhierarchie; unmittelbaren Einfluß hatte sie lediglich auf das gesellschaftliche Leben der Kochs innerhalb des Mikrokosmos der SS-Führersiedlung. Die folgenden Ausführungen basieren auf Hunderten von Aussagen ehemaliger Häftlinge des KL Buchenwald, die der Staatsanwalt Johann Ilkow im Rahmen seiner Ermittlungen zusammentrug. Die Zeugen befanden sich angesichts des öffentlichen Aufsehens, das der Prozeß im In- und Ausland erregt hatte, unter einer ungeheuren emotionalen Anspannung. Außerdem verhinderten die deutsch-deutschen Animositäten, daß Zeugen aus der SBZ bzw. DDR nach Augsburg reisen konnten. Zeitgleich geriet das BuchenwaldKomitee selbst in den Verdacht, sich an Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt zu haben.16 Diese Beispiele werfen nur einige Schlaglichter auf die politischen Dimensionen des Prozesses gegen Koch. Für eine Bewertung der Zeugenaussagen ehemaliger Häftlinge kommt erschwerend hinzu, daß sich verschiedene Ebenen der Erinnerung an sie herausgebildet hatten. Ilse Koch war bereits in den Jahren 1937 bis 1941, als Hermann Pister zum neuen Kommandanten von Buchenwald berufen wurde und Karl Koch ablöste,17 zu einer mythischen Figur geworden. Viele Überlebende des KL Buchenwald verwiesen vor Gericht auf die ‚allgemeine Lagerkenntnis‘, wonach die Häftlinge einander vor einer Begegnung mit ihr warnten. Hinzu kommen die unterschiedlichen Gedächtnistexte ehemaliger Häftlinge, die unmittelbar nach der Befreiung des KL Buchenwald mündlich zu Protokoll gegeben oder schriftlich fixiert worden waren. 18 Wiederum einer eigenen Logik folgen literarisch ambitionierte Autobiographien der ehemals Verfolgten. Bei den Vernehmungsprotokollen hingegen handelt es sich um von der Gerichtssituation normierte Gedächtnistexte, die innerhalb des Prozesses selbst eine bestimmte Funktion – nämlich den Nachweis einer Tat im Sinne des Strafrechts – hatten. Angesichts der bereits erwähnten politischen Vorgaben des Prozesses, an dessen Ende die endgültige Verurteilung der ‚Kommandeuse‘ von Buchenwald zu lebenslanger Haft stehen sollte, konzentrierte sich der

ILSE KOCH

129

Staatsanwalt auf jene Handlungen Ilse Kochs, die tödlich waren bzw. den Tod der gequälten Häftlinge zur Folge hatten. Drei unterschiedliche Handlungsweisen Kochs standen vor dem Landgericht Augsburg explizit oder implizit zur Diskussion. Zum einen verfolgte die Anklage sowohl im Dachauer als auch im Augsburger Prozeß die Frage, inwieweit sie von der Präparierung menschlicher Häute mit Tätowierungen gewußt und diese für Nutzgegenstände – wie einen Lampenschirm oder Photoalben – verwendet habe. Der Titel eines Zeitungsartikels – „Lampenschirm-Ilse“19 – signalisiert, daß die Öffentlichkeit gerade hierin die besondere Unmenschlichkeit Kochs erblickte. Jener Lampenschirm aus menschlicher Haut, dessen Existenz bis heute nicht geklärt werden konnte, entwickelte sich zum Symbol der nationalsozialistischen Verbrechen. Die im Jahr 1940 fertiggestellte Dissertation „Ein Beitrag zur Tätowierungsfrage“ des SS-Arztes Erich Wagner verweist die Registrierung der tätowierten Häftlinge in einen übergeordneten Zusammenhang der Sozial- und Rassenhygiene.20 Die Häutung dieser Häftlinge ließ sich also offenbar nicht allein auf den verbrecherischen – „perversen“ – Willen einer einzelnen Täterin zurückführen. Noch am 17. April 1944 bestellte der SS-Standartenführer Lolling, Chef des Amtes III (Sanitätswesen und Hygiene) im Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt der SS, aus Buchenwald „142 Stück Tätowierungen“ und erhielt diese umgehend.21 Auch der ‚Devotionalienhandel‘ mit menschlichen Körperteilen florierte noch zu einem Zeitpunkt, als die Ära Koch in Buchenwald bereits der Vergangenheit angehörte. 22 Das Augsburger Urteil vom 15. Januar 1951 stellte fest, daß „tätowierte Hautstücke den toten Häftlingen abgezogen, gegerbt und zu Gegenständen der verschiedensten Art verarbeitet wurden“.23 Eine konkrete Beteiligung Ilse Kochs an der Umsetzung dieser Praxis konnte jedoch nicht – wie Staatsanwalt Ilkow gehofft hatte – nachgewiesen werden. Die zweite Serie von Beschuldigungen führte schließlich zu einer Verurteilung Kochs. Ihr lagen Handlungsweisen zugrunde, die sich in ähnlicher Form offenbar wiederholt hatten. Da Ilse Koch als SS-Ehefrau der Zugang zum Schutzhaftlager – also dem inneren Bezirk des KL, in dem die Häftlinge untergebracht waren – versperrt war, kam sie mit Häftlingen lediglich dann in Berührung, wenn diese auf dem Weg zur Arbeit in eines der zahlreichen Außenkommandos waren. Nach Aussagen der Buchenwald-Überlebenden geschah es des öfteren, daß Koch die Nummern von Häftlingen notierte, die angeblich faul waren oder die SS-Ehefrau ansahen. Sie wurden während des Abendappells öffentlich bestraft. Auch in anderer Weise offenbarte Koch sich „als Anstifterin von Gewalttaten“.24 Karl H., der als politischer Häftling sechs Jahre in Buchenwald einsaß, berichtete folgende Episode, die sich 1940/41 in der Nähe des Lagertores zugetragen hatte. Sie sei im folgenden etwas ausführlicher berichtet, da sie einerseits die Systematik der Taten Kochs erkennen läßt und andererseits die Grenzen von Zeugenaussagen im Rahmen eines

130

ALEXANDRA PRZYREMBEL

Strafprozesses dokumentiert: „An diesem Tag marschierten wir am Abend in das Lager ein. Vor uns marschierten die Angehörigen des Steinbruchkommandos. An ihrem Schluß trugen sie einen verletzten Häftling in einer hölzernen Trage. Dieser Mann saß in der Trage, war also nicht tot. Dahinter marschierte das Steinmetzkommando in einer Stärke von etwa 25 Mann, ich war in der zweiten Reihe. Kurz vor dem Lagertor sah ich Ilse Koch. […] Sie rief nun laut: ‚Rum mit dem Kerl‘. Daraufhin warfen die Häftlinge die Trage mit dem verletzten Häftling um. Dieser stürzte zu Boden. Auf ihn stürzten sich die links und rechts des Weges stehenden SS-Scharführer und traten auf ihm mit ihren Stiefeln herum. […] Ob Ilse Koch noch einen ausdrücklichen Befehl gegeben hatte, den Häftling zu erschlagen, kann ich nicht sagen. Nach meiner Ansicht aber konnte das Herauswerfen aus der Trage keine andere Bedeutung haben, als daß der Mann erschlagen werden sollte.“25 Ein für die retrospektive Annäherung an den ‚Fall Koch‘ besonders sensibler Bereich sind die Aussagen von Häftlingen, die dokumentieren, daß sich Ilse Koch von ihnen gerade als Frau besonders beobachtet fühlte. So berichtete beispielsweise der Kommunist Emil Carlebach im Oktober 1949, daß Koch „das Wort von der Belästigung einer deutschen Frau“ als Vorwand genommen habe, um – insbesondere auch jüdische – Häftlinge anzuzeigen.26 Daß es somit als existentielle Notwendigkeit galt, aus dem „Blickfeld“ der Kommandantengattin zu „verschwinden“, da dies als „Frechheit” galt, wurde auch an anderer prominenter Stelle – wie etwa von dem Kommunisten Ernst Busse – betont. Der ehemalige Lagerälteste, der zur sogenannten Häftlingsaristokratie gehörte, grenzte allerdings den Handlungsradius Ilse Kochs wesentlich ein. Sie sei nicht befugt gewesen, selbst „Meldungen“ zu erstatten; deshalb habe sie sich eines SS-Unterführers bedient.27 Diese Zeugenaussagen bestätigen die Gratwanderung, die der Augsburger Staatsanwalt im Rahmen der Ermittlungen überwinden mußte. Einerseits konnten viele Häftlinge den ‚diffus‘ bleibenden Einfluß der SS-Ehefrau beschreiben – wie z. B. die geschilderte Radikalisierung der Gewaltanwendung durch die SS –, andererseits war genau jene Ausprägung des „absoluten Terrors“28 in den KL nicht Gegenstand des Strafprozesses. Im Gegenteil: deren Thematisierung hätte Koch im strafrechtlichen Sinn entlastet. Die dritte Kette von Vorwürfen folgerte aus dem Status der Beschuldigten und tangierte die Frage des Sehens und Wissens sowie der konkreten Nutznießung, die durch die privilegierte Stellung von SS-Ehefrauen entstanden war. Die Präsenz der SS-Ehefrauen auf dem Lagergelände suggerierte Normalität und Alltag. Die Sphären zwischen Kommandantur des KL einerseits und ehelichen Pflichten andererseits waren miteinander verschränkt. Da Koch nicht unmittelbar in die Hierarchie der Konzentrationslager-SS eingebunden gewesen war – sie also keine Befehlsgewalt besessen hatte –, mußte sich das Augsburger Gericht mit der Frage auseinandersetzen, inwieweit sich ihr

ILSE KOCH

131

Einfluß auf das Lagergeschehen von dem der anderen SS-Ehefrauen unterschieden habe. Der Urteilstext konstruierte einen Gegensatz zwischen den guten SS-Ehefrauen, die „im wesentlichen auf ihren häuslichen Wirkungskreis“ beschränkt gewesen seien und im Lager „Gutes“ getan hätten, soweit dies „in ihren schwachen Kräften stand“, und Ilse Koch, die nicht entsprechend der „guten, fraulichen Regungen“ gehandelt habe. Offenbarte sich das „Gute“ der „anderen“ SS-Ehefrauen also einerseits in der Reproduktion bürgerlicher Familien- und Moralvorstellungen, so hatten sie ihre moralische Integrität andererseits in kleineren Hilfeleistungen gegenüber den Häftlingen bewiesen oder zumindest darin, daß sie von den Geschehnissen im Lager keine Notiz genommen hatten: „Kam [...] die Frau eines anderen SS-Führers des Weges, dann war Zurückhaltung am Platze, weil diese eben der Einstellung dieser Frau entsprach. Bemerkte man in dem einen oder anderen Fall das Kommen der Häftlinge nicht, dann lag es im Wesen der Frauen, sich so zu verhalten, wie die Tochter der Rödl. [...] Sie erklärte, sie habe den Blick abgewendet, wenn sie merkte, daß Häftlinge überanstrengt oder mißhandelt wurden.“29 Die Bewertung von Kochs Handlungen im strafrechtlichen Sinn kommt einer Gratwanderung gleich. Sehen, Wissen, Anstiften und vielleicht auch Genießen prägten den Herrschaftshabitus der SS-Ehefrau. Ilse Koch wurde von der deutschen Nachkriegsgesellschaft hingegen auch als Frau beurteilt, die einen bestimmten Täterinnen-Typus bestätigte: Sie verkörperte das wirklich Monströse des Nationalsozialismus.30 Anmerkungen 1 Vgl. Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903–1989, Bonn 1996. 2 Vgl. Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002. 3 Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschuggnall: „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt/M. 2002, kommen zu dem gegenteiligen Schluß und sprechen von einer „kumulativen Heroisierung“ über die Generationswechsel hinweg. 4 Vgl. Anna Maria Sigmund: Die Frauen der Nazis, München 2000. 5 So Die Zeit Nr. 36/1967; vgl. Alexandra Przyrembel: Transfixed by an image: Ilse Koch, the Kommandeuse von Buchenwald‘, in: German History 19(2001), S. 369–399; dies.: Der Bann eines Bildes: Ilse Koch, die ‚Kommandeuse von Buchenwald‘, in: Insa Eschebach/Sigrid Jacobeit/Silke Wenk (Hrsg.): Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Genozids, Frankfurt/M. 2001, S. 245–268; Pierre Durand: Die Bestie von Buchenwald, Berlin 1985; Arthur L. Smith: Die Hexe von Buchenwald. Der Fall Ilse Koch, Köln 21994.

132 6

ALEXANDRA PRZYREMBEL

Klaus Drobisch/Günther Wieland: System der Konzentrationslager 1933–1939, Berlin 1993, S. 258; Johannes Tuchel: Konzentrationslager. Organisationsgeschichte und Funktion der „Inspektion der Konzentrationslager“ 1934–1938, Boppard 1991, S. 379 f.; vgl. Tom Segev: Die Soldaten des Bösen. Zur Geschichte der KZ-Kommandanten, Reinbek 1982; Karin Orth: Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Eine politische Organisationsgeschichte, Hamburg 1999; dies.: Die Konzentrationslager-SS. Sozialstrukturelle Analysen und biographische Studien, Göttingen 2000, S. 189 ff. 7 Anklage SS- und Polizeigericht z.b.V. beim HA SS-Gericht v. 17.8.1944, BAB, NS 7/1020; ich danke Dr. Gerhard Hetzer und Dr. Marianne Haggemüller für Ihre Unterstützung; auch Sabine Stein (Archiv der Gedenkstätte Buchenwald) habe ich zahlreiche Hinweise zu verdanken. 8 Michael Kater: The Nazi Party, Cambridge/Mass. 1983, S. 148 ff., 254. 9 Zum Ehegenehmigungsverfahren BAB, BDC, RuSHA Karl Koch. 10 Der Begriff des ‚common design‘ hebt auf die Verantwortung der Beschuldigten für die Geschehnisse im KL Buchenwald insgesamt ab, nicht aber auf konkret ausgewiesene Verbrechen; die Akten des Dachauer Prozesses in NARA, RG 153, Records of the JAG. 11 Protokoll der Strafvollzugsanstalt Aichach v. 3.7.1950, StAA, Staw Augsburg Ks 22/50, Handakte 9, Bl. 160. 12 Schreiben Ilse Koch (undat.), ebd., ohne Paginierung und Bandzählung. 13 VVN-Protokoll des ersten Verhandlungstages, Hauptstaatsarchiv Weimar, Bu 31, Bl. 227 f. 14 Gudrun Schwarz: Eine Frau an seiner Seite. Ehefrauen in der SS-Sippengemeinschaft’, Hamburg 1997, S. 41. 15 Vgl. Alf Lüdtke: Die Fiktion der Institution. Herrschaftspraxis und Vernichtung der europäischen Juden im 20. Jahrhundert, in: Reinhard Blänkner/Bernhard Jüsen (Hrsg.): Institutionen und Ereignis. Über Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens, Göttingen 1998, S. 357–379. 16 Vgl. Lutz Niethammer (Hrsg.): Der gesäuberte Antifaschismus. Die SED und die roten Kapos von Buchenwald. Dokumente, Berlin 1994. 17 Orth: Konzentrationslager-SS (Anm. 6), S. 191 ff. 18 Vgl. Eugen Kogon: Der SS-Staat, München 1946; David A. Hackett (Hrsg.): Der Buchenwald-Report. Bericht über das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar, München 1996. 19 Die mediale Konstruktion der Täterin Ilse Koch nach 1945 wäre eine eigene Untersuchung wert; vgl. 8 Uhr Blatt v. 18.10.1950: „200 Zeugen gegen LampenschirmIlse. Mammut-Prozeß gegen Ilse Koch kann beginnen“. 20 Die von Erich Wagner vorgelegte Dissertation: Ein Beitrag zur Tätowierungsfrage, Jena o.J., versucht, den kausalen Zusammenhang von Kriminalität und Tätowierungswunsch nachzuweisen; mit den Vorarbeiten dazu war die Registrierung der tätowierten Häftlinge verbunden; wie der Anhang dokumentiert, in dem Ganzkörperaufnahmen sowie Photographien einzelner Körperteile – wie des Kopfes – die „Vielfalt“ der Tätowierungen veranschaulichen sollen, wurden auch einzelne Hautstücke präpariert; bestimmte Motive – wie der „Indianerkopf “ –, die in den Berichten der Häftlinge immer wieder auftauchen, sind dort abgedruckt; übergeordneter Kontext dieser Untersuchungen sind die sozial- und rassenhygienischen Diskurse, die seit dem

ILSE KOCH

133

Kaiserreich das gesellschaftliche Bild vom Verbrecher prägten; in dieser Hinsicht aufschlußreich sind die Anmerkungen über den „tätowierten Juden bzw. Zigeuner“. 21 Archiv der Gedenkstätte Buchenwald, 50-3-22. 22 Etwa SS-Standortarzt Weimar an Pathologie des KL Buchenwald v. 7.5.1942; in dem Schreiben ordnete er an, „die Anfertigung sogenannter Geschenkartikel (Schrumpfköpfe usw.)“ sei umgehend einzustellen, zit. nach Durand (Anm. 5), S. 91 f. 23 Urteile LG Augsburg v.15.1.1951 und 22.4.1952, in: JNS, Bd. 8, Amsterdam 1972, lfd. Nr. 262. 24 Staw Dr. Johann Ilkow an Bayerisches Justizministerium v. 15.5.1950, StAA, Staw Augsburg Ks 22/50, ohne Paginierung und Bandzählung. 25 Vern. Karl H. (undat.), ebd., Gerichtliche Voruntersuchungen 2, Bl. 119 ff. 26 Diverse Aussagen dazu ebd.; auch Alfred F. folgte im Sommer 1949 dem Aufruf der deutschsprachigen amerikanischen Zeitung „Der Aufbau“, mit dem Überlebende zur Zeugenaussage im Rahmen des Augsburger Prozesses aufgefordert worden waren und schilderte seine Begegnung mit Ilse Koch, die ihn – einen sogenannten Rassenschänder – mit der Peitsche gezüchtigt hatte, vgl. Schreiben v. 27.8.1949, ebd., Handakte 5. 27 Vern. Ernst Busse v. 28.3.1950, ebd., Protokolle aus dem Osten. 28 Wolfgang Sofsky: Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager, Frankfurt/M. 1993. 29 Urteil LG Augsburg v. 15.1.1951 (Anm. 23). 30 Przyrembel: Image (Anm. 5).

DIETER POHL

Hans Krüger – der „König von Stanislau“* Die Mordaktionen des Grenzpolizeikommissariats (GPK) Stanislau (Stanislawów/heute: Ivano-Frankivs’k) unter SS-Hauptsturmführer Hans Krüger im Süden Ostgaliziens 1941/42 waren lange Zeit wenig bekannt. Diese kleine Dienststelle von zeitweise nur 25 Mann hat in 16 Monaten die Erschießung von 70000 und die Deportation von 12000 Juden ins Vernichtungslager organisiert und größtenteils auch selbst durchgeführt.1 Am 20. Juli 1941, fast einen Monat nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion, war in der Stadt Stanislau, mehr als 100 Kilometer südlich von Lemberg am Fuße der Karpaten, ein Vorkommando der Gestapo eingetroffen.2 Bei den Polizisten handelte es sich um Angehörige des sogenannten Einsatzkommandos z.b.V., das unmittelbar nach der Einsatzgruppe C am 2. Juli in Lemberg einmarschiert war und deren Aufgaben fortführen sollte. Zu einer Gruppe von etwa sechs Mann stieß nach einer Woche Hans Krüger. Dieser sollte in Stanislau eine Außenstelle des Kommandeurs der Sicherheitspolizei und des SD (KdS) einrichten. Ein Leben im Rechtsextremismus Aus der Sicht seiner Vorgesetzten war Krüger dafür zweifellos der geeignete Mann: Er konnte auf ein Leben im Rechtsextremismus zurückblicken und galt zugleich als ‚Polen-Experte‘. Am 1. Juli 1909 in Posen geboren, hatte er in seiner Heimatstadt als Kind die Anfänge des deutsch-polnischen ‚Volkstumskampfes‘ miterlebt, als sein Vater, ein Handelsschullehrer, verhaftet und die Familie am Ende des Ersten Weltkrieges ausgewiesen wurde. Nach dem Abbruch des Gymnasialbesuches 1925 absolvierte Krüger eine Ausbildung als Landwirtschaftsinspektor, arbeitete auf verschiedenen Gütern und half im elterlichen Geschäft. Im gleichen Jahr schloß er sich, erst 16jährig, rechtsextremen Verbänden an. Vier Jahre später trat er der SA bei, in der er schnell die Rangleiter nach oben bestieg. Seit 1930 konnte Krüger kaum noch Arbeit finden. Dies änderte sich erst nach der Machtergreifung; nun war er aktiv in der „Gegnerbekämpfung“ tätig, zunächst als Leiter eines SA-Sturms, dann als Hilfspolizist und als Angehöriger der Politischen Abteilung im KZ Oranienburg. Zwar wurde er 1934 hauptamtlich in die SA übernommen, mußte jedoch bald auf eine Stelle als Abteilungsleiter in einem Arbeitsamt wechseln. Da es ihm dort nicht gefiel, bewarb er sich 1938 bei der Sicherheitspolizei; gleichzeitig trat er aus der evangelischen Kirche aus. Nunmehr wechselte Krüger zur SS über. 1939 kehrte er wieder in den Unterdrückungsapparat zurück, zuerst bei der Gestapo in seiner alten Heimat Posen, dann in Krakau.

HANS KRÜGER

135

In Zakopane leitete er zeitweise eine Schule für ukrainisches Personal der Sicherheitspolizei. Auch dort machten sein fanatischer Nationalsozialismus und seine brutale Rücksichtslosigkeit bald Eindruck. Man schickte ihn auf den Führerlehrgang der Sicherheitspolizei in Berlin, den er als Kriminalkommissar verließ. Im Juni 1941 kehrte er nach Krakau zurück. Krügers große Stunde aber kam mit dem Angriff auf die Sowjetunion. Am 2. Juli traf die erste Wagenkolonne des Einsatzkommandos z.b.V. an ihrem Bestimmungsort Lemberg ein. Dort machten sich er und seine Untergebenen daran, anhand mitgebrachter Listen die polnische Intelligenz ausfindig zu machen und zu verhaften. Das erste Opfer wurde noch am 2. Juli Kazimierz Bartel, der ehemalige polnische Ministerpräsident. In der Nacht vom 3. auf den 4. Juli folgten ihm 23 Professoren der beiden Lemberger Universitäten. Mit einer Ausnahme wurden sie in einem Park mitten in der Stadt erschossen. Eine unmittelbare Teilnahme Krügers an der Erschießung ist nicht nachweisbar, allerdings dürfte er mit der Organisation des Lemberger ProfessorenMordes befaßt gewesen sein.3 Währenddessen nahm das Kommando in Lemberg Massenverhaftungen von Juden vor, die tagelang auf einem Sportplatz festgehalten und am 5. Juli in einem Wald am Stadtrand ermordet wurden. Als Hans Krüger nach Stanislau kam, hatte er also bereits zahlreiche Verbrechen hinter sich. Doch nun stellte ihm sein Vorgesetzter, der Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD (BdS) im Generalgouvernement, Dr. Eberhard Schöngarth, noch weit größere Aufgaben. Wie diese Befehle im einzelnen aussahen, läßt sich nur noch annäherungsweise rekonstruieren. Krügers Nachkriegsvernehmungen sind voller Lügen und Halbwahrheiten. Es ist anzunehmen, daß Krüger von Schöngarth die Weisung erhielt, auch in Stanislau die sogenannte Intelligenz, vor allem deren polnische und jüdische Angehörige, zu ermorden. Darüber hinaus verlangte der BdS sicher ein ‚scharfes‘ Vorgehen gegen alle Juden. Von einer ausnahmslosen Ermordung der Juden, also auch der Frauen und Kinder, war aber vor Ende August 1941 mit ziemlicher Sicherheit noch nicht die Rede.4 Also setzte Krüger nach seiner Ankunft in Stanislau zunächst das fort, was er schon in Lemberg getan hatte. So organisierte er dort eine Massenerschießung unter dem Deckmantel einer Registrierung der Oberschicht am 2. August 1941. 800 Polen und Juden meldeten sich bei der Polizei. Von diesen schickte man 200 Facharbeiter wieder heim. Die übrigen wurden am folgenden Tag in den Wald bei Pawelce gefahren und dort von der Sicherheitspolizei erschossen.5 „Endlösung“ in Ostgalizien Im September 1941 begannen die Vorbereitungen für die „Endlösung der Judenfrage“ im Distrikt Galizien. Laut Krügers Aussagen stammten die entsprechenden Weisungen noch von Schöngarth, der Lemberg im August 1941

136

DIETER POHL

verlassen hatte. Seit dem 1. September 1941 bestand in der Distrikthauptstadt die Behörde des KdS, die aus dem Einsatzkommando z.b.V. hervorgegangen war. Sie wurde von SS-Sturmbannführer Dr. Helmut Tanzmann geleitet. Dessen Vorgesetzter in Lemberg war der SS- und Polizeiführer (SSPF) im Distrikt Galizien, Friedrich Katzmann. Bis heute ist nicht geklärt, wer die genauen Weisungen zu den Massenmorden, die ab Oktober 1941 in Ostgalizien durchgeführt wurden, gegeben hat: Schöngarth, Tanzmann oder Katzmann. Entscheidungen zur „Endlösung“ in ganz Europa fielen zu dieser Zeit in Berlin. Es bleibt aber die Frage bestehen, warum man im Distrikt Galizien sofort mit dem Massenmord an jüdischen Frauen, Kindern und Männern begann, während in den anderen Distrikten bis zur Fertigstellung der Vernichtungslager gewartet wurde. Allem Anschein nach trafen sich hier die Wünsche der NS-Führung mit den Initiativen aus Krakau und Lemberg. In jenem September 1941 fanden in Lemberg beim SSPF Katzmann und beim KdS Tanzmann ausführliche Besprechungen über die „Judenfrage“ statt.6 Dabei wurde entschieden, daß die Leiter der Außenstellen im Süden des Distrikts, in Stanislau, Drohobycz und Kolomea, mit der Vernichtung aller Juden beginnen sollten. Für die Auswahl dieser Bezirke waren mehrere Gründe ausschlaggebend: 1. Sie lagen an der Grenze zur von Ungarn annektierten Karpato-Ukraine. Von dort schoben die Ungarn seit Juli tausende nichtansässiger Juden nach Ostgalizien ab. 2. In Stanislau sollte ein Ghetto errichtet werden, dessen Größe man möglichst gering halten wollte. Dieses Motiv zum Massenmord wird übereinstimmend von mehreren Zeugen genannt, so auch von Krüger.7 Wie sollte Hans Krüger diesen Befehl mit seinen nur 25 Mann Personal durchführen? Die Außenstelle des KdS war für die Kreise Stanislau, Kalusz und bis Frühjahr 1942 für die Region um Rohatyn zuständig, zunächst 9300, dann 8800 Quadratkilometer mit über 700000 Einwohnern.8 Zwar bestand auch in der Dienststelle offiziell die Einteilung in Verwaltung, Gestapo, Kriminalpolizei und Sicherheitsdienst; ein geregelter Dienstbetrieb kam jedoch nur zustande, wenn gerade keine „Großaktionen“ abliefen. Und diese waren von Oktober 1941 bis Ende 1942 an der Tagesordnung. So beschäftigte sich die Außenstelle im Kern nur mit zwei Aufgaben: bis Herbst 1942 mit der Ermordung der Juden, danach mit der Bekämpfung des polnischen und auch des ukrainischen Widerstands. Obwohl der kommunistische Untergrund im Raum Stanislau bedeutungslos war, ließ Krüger zahllose Menschen unter dem Verdacht früherer kommunistischer Tätigkeit ermorden.9 Eine besondere Aufgabe des GPK, wie die Außenstelle Stanislau bald hieß, war die Sicherung der Grenze zu der von Ungarn annektierten Karpato-Ukraine. Dazu unterstanden Krüger die Grenzpolizei-Posten in Tatarow und am WyszkowPaß. Dort arbeiteten jeweils nur ein bis zwei Deutsche mit einigen polnischen oder ukrainischen Kripo-Beamten. Auch sie wurden bei den Judenmorden in

HANS KRÜGER

137

ihren Gebieten aktiv. Rudolf Müller am Wyszkow-Paß und Ernst Varchmin in Tatarow standen ihrem Chef Krüger an radikalem Antisemitismus kaum nach.10 In Stanislau selbst hatte Krüger eine relativ bunt zusammengewürfelte Truppe. Für die ganze Besatzungszeit können etwa 50 deutsche Sicherheitspolizisten und SD-Männer ermittelt werden; gleichzeitig waren immer etwa 25 tätig. Nur die zentralen Funktionen waren mit Gestapo-Männern besetzt, die schon in der „Gegnerbekämpfung“ aktiv gewesen waren: so Krüger selbst sowie die Gestapo-Chefs Oskar Brandt und Erwin Linauer. Aus der Schule der Sicherheitspolizei in Zakopane hatte Krüger den Judenreferenten Heinrich Schott und zwei Auslandsdeutsche mitgebracht.11 Die meisten anderen kamen von der Sicherheitspolizei im Distrikt Krakau.12 Bis auf die GestapoLeiter hatten sie alle nur subalterne Scharführer-Ränge, wurden in Ostgalizien aber Herren über Leben und Tod von Zehntausenden. Zur personellen Verstärkung baute Krüger noch im Sommer 1941 eine Einheit von Rumänien- und Ungarndeutschen auf.13 Diese Sipo-Hilfskräfte waren regelmäßig an den Massenerschießungen beteiligt. Doch auch ihr Personal reichte nicht aus, um „Judenaktionen“ großen Stils durchzuführen, wie es ab September 1941 geplant war. Dazu mußten auch alle anderen Dienststellen im Raum Stanislau einbezogen werden. Offiziell war die wichtigste Institution im Kreis die Kreishauptmannschaft. In Stanislau wurde sie seit September 1941 von Heinz Albrecht geleitet, einem Beamten der Innenverwaltung, der begeisterter Nationalsozialist und überzeugter Antisemit war.14 Für die Ausführung der Tat besonders bedeutsam war die Ordnungspolizei, weil nur sie über das ausreichende Personal verfügte. Schon im August war eine Schutzpolizei-Dienstabteilung aus Wien in Stanislau eingetroffen, bald folgten Gendarmeriekommandos für die Landgebiete. Die Schutzpolizisten kontrollierten im sogenannten Einzeldienst den Stadtbereich Stanislau und kommandierten die ukrainische Hilfspolizei, die noch im Juli von Krüger aufgestellt worden war.15 Personell noch stärker als der Einzeldienst war das Reserve-Polizeibataillon (RPB) 133, dessen 1. und 2. Kompanie in Stanislau lagen. Um seine Sicherheitspolizisten darauf einzustimmen, was von ihnen gefordert wurde, organisierte er am 6. Oktober 1941 einen Massenmord in der nahegelegenen Kleinstadt Nadworna als eine Art ‚Generalprobe‘. Auf dem Marktplatz der Stadt mußten sich alle Juden versammeln; das Personal des Judenrats und deren Familien wurden aussortiert. Alle anderen transportierte die Polizei in einen nahegelegenen Wald und erschoß sie dort.16 Dieses Massaker an 2000 Menschen war der eigentliche Beginn der „Endlösung der Judenfrage“ an Männern, Frauen und Kindern im Generalgouvernement. Unmittelbar danach begann Krüger mit den Vorbereitungen des sogenannten Blutsonntags in Stanislau. Krüger selbst wandte sich an Stadtkommissar Emil Beau, der die neuen – verkleinerten – Ghettogrenzen festlegte.17 Erst am

138

DIETER POHL

Morgen des 12. Oktober wurden alle beteiligten Dienststellen zusammengerufen, auch der neue Chef der Schutzpolizei Walter Streege. Krüger war es auch gelungen, ein Kommando der Bahnpolizei für das Massaker zu rekrutieren.18 Zunächst begannen kleine Kommandos der Schutzpolizei, die Juden in einem Viertel Stanislaus aus ihren Wohnungen zu treiben und in großen Kolonnen zum jüdischen Friedhof zu eskortieren, der am Stadtrand lag. Auf dem großen Friedhofsgelände, das von einer hohen Mauer umgeben war, drängten sich an die 20000 Menschen. Dort waren zwei große Gruben ausgehoben worden, zu denen man die Opfer in kleinen Gruppen trieb. Sie mußten auf einen Querbalken über die Grube steigen und wurden dann erschossen. Als Schützen fungierten Sicherheitspolizisten, darunter Krüger selbst, aber auch Ordnungs- und Bahnpolizisten. Unter den versammelten Juden entstand Panik, sie drängten zum Ausgang des Friedhofs. Sie saßen jedoch in der Falle. Nur wenige Personen wurden vor der Erschießung von den Tätern ‚aussortiert‘. Als es dunkel wurde, brach Krüger den Massenmord ab. 10000– 12000 Menschen hatte er erbarmungslos hinschlachten lassen. Das Friedhofstor wurde wieder geöffnet, und die Überlebenden drängten zurück in die Stadt.19 Mit diesen entsetzlichen Bluttaten begann die vollständige Ermordung der Juden im Raum Stanislau erst. Der KdS hatte dazu neue Weisungen erteilt; die jüdischen Gemeinden in den Tälern der Karpaten sollten ausgelöscht werden. Seit dem 16. Oktober begann der Grenzpolizei-Posten Tatarow zusammen mit der 3. Kompanie des Reserve-Polizeibataillons 133 mit diesen Morden in Delatyn und Jaremcze, den südlichsten Gemeinden der Region. Schließlich erschoß eine Einheit der Sicherheitspolizei aus Stanislau am 29./30. Oktober mehrere hundert Juden in Bolechow. Nicht geklärt werden konnten die genauen Umstände und Daten von Massenerschießungen in Rohatyn, Kalusz, und Dolina, die um diese Zeit vom GPK Stanislau verübt worden sein sollen. Im Dezember 1941 ordnete Tanzmann die einstweilige Einstellung der Erschießungen an.20 Seit Anfang März 1942 waren Deportationen in das Vernichtungslager Belzec in Planung. Genau in dieser Zeit wurde das Gebiet um Rohatyn, das nördlich des Dnestr lag, aus dem Zuständigkeitsbereich des GPK Stanislau herausgenommen. Deshalb schickte Krüger am 20. März noch ein Kommando nach Rohatyn, um bei eisigen Temperaturen 2300 Juden ermorden zu lassen.21 Danach setzte er in Stanislau die Liquidierung der Juden im dortigen Ghetto fort. Dazu hatte das Arbeitsamt eine Einteilung der jüdischen Bevölkerung vorgenommen, und zwar in die Kategorien kriegswichtig, arbeitsfähig, arbeitsunfähig. Am 31. März, dem Vorabend des Pesach-Festes, wurden mehrere tausend Juden im Ghetto von der Schutzpolizei, Teilen des RPB 133 und ukrainischer Hilfspolizei festgenommen. Wieder handelte es sich um angeblich ‚unbrauchbare‘ Juden, Alte, Kranke oder Bettler. Ihre Behausun-

HANS KRÜGER

139

gen wurden anschließend in Brand gesteckt, um Versteckte hervorzuzwingen. Die Opfer wurden zum Bahnhof getrieben und dann am 1. April nach Belzec gefahren. Es war mit mehreren tausend Menschen der bis dahin größte Transport in das Vernichtungslager.22 Nach dieser Deportation nahm das Arbeitsamt in Stanislau eine erneute Registrierung vor. Bereits unmittelbar im Anschluß daran ermordeten Krüger und seine Helfer wieder tausende Juden.23 Dann wurde systematisch mit der Konzentrierung kleiner jüdischer Gemeinden begonnen. Diese Vertreibungsmaßnahmen organisierte die Zivilverwaltung. Innerhalb kürzester Frist mußten die betroffenen Juden in langen Kolonnen in die Kreisstadt ziehen und ihr Hab und Gut zurücklassen. Gleich nach der „Judenaktion“ in Stanislau am 31. März wurden Juden aus den am nächsten gelegenen Kleinstädten in das Ghetto eingewiesen, so am 5./6. April aus Tlumacz, dann auch aus Tysmienica und Wojnilow.24 In den beiden letztgenannten Städten lebten nun keine Juden mehr. Die meisten der Vertriebenen kamen in Stanislau in eine Art Ghetto im Ghetto. Am Rande des „jüdischen Wohnbezirks“ befand sich ein dreistöckiger unvollendeter Neubau einer Getreidemühle, die sogenannte Rudolfsmühle. Dort wurden vor allem Alte und Kranke zusammen mit Juden aus der Karpato-Ukraine isoliert festgehalten. Wegen der Enge und der Unterversorgung herrschten katastrophale hygienische Bedingungen. Mit der Einrichtung der Rudolfsmühle hatte Krüger einen brutalen Mechanismus in Gang gesetzt: Wegen des schlechten Allgemeinzustands der Opfer und durch die Überbelegung mußte zwangsläufig ein Teil der Insassen krank werden. Krüger wiederum hatte befohlen, dort alle kranken Juden zu ermorden. Der Judenreferent des GPK Stanislau, Schott, übte in der Rudolfsmühle ein Schreckensregiment aus und erschoß fast täglich eigenhändig zahllose Menschen.25 Im Sommer 1942 schickte Krüger seine Männer in die Stadt Dolina im Kreis Kalusz. In diesem Kreis hatte es bisher nur wenige Massenmorde gegeben. Am 3. August wurden alle 3500 Juden aus ihren Häusern geholt und auf den Marktplatz getrieben. Die Polizisten mißhandelten viele von ihnen dort und ermordeten zahlreiche Kinder. Nach einer Selektion trieb die Polizei fast 2000 Menschen zum jüdischen Friedhof und erschoß sie.26 Die verschiedenen Dienststellen arbeiteten nicht nur mit Krüger zusammen, ihre Angehörigen bildeten auch das spezifische ‚Besatzermilieu‘ im Osten. Auch mit den anderen deutschen Stellen bestand reger Austausch, sei es Post, Bahn, Wehrmacht oder deutsche Firmen. So entwickelte sich ein regelmäßiger Kontakt, manchmal bis ins Persönliche. In diesen Kreisen galten die Ukrainer als etwas entwickelter, die Polen aber als „minderwertig“, und bezüglich der Juden bestand Konsens, daß sie auf die eine oder andere Art „weg müßten“. Die Besatzer verband auch die hemmungslose Bereicherung, offiziell durch ein bequemes Beamtenleben, illegal jedoch durch die

140

DIETER POHL

Plünderung der Einheimischen, durch Bestechung und Korruption. In dieser Gesellschaft nahm Krüger eine Spitzenposition ein. Rangmäßig stand formal nur der Kreishauptmann über dem SS-Hauptsturmführer; die leitenden Offiziere der Ordnungspolizei hatten denselben Dienstgrad wie er. Freilich erwarb sich Krüger bald einen zweifelhaften Ruf als brutalster deutscher Besatzungsbeamter, der sich den meisten anderen übergeordnet fühlte, als ungekrönter „König von Stanislau“. Etwa im August/September 1942 ging Krügers Ära in Stanislau abrupt zu Ende. Den Anlaß für seine Versetzung und Degradierung gab Krüger selbst, als er gegenüber einer verhafteten polnischen Adligen mit seinen Mordtaten, vor allem an den Lemberger Professoren, prahlte. Da die Gräfin jedoch aufgrund von Interventionen wieder freikam und Krügers Berichte international bekannt machte, wurde gegen ihn ein Verfahren wegen Geheimnisverrats eingeleitet, in dessen Folge er aus seinem ‚Königreich‘ Stanislau zunächst einmal in SS-Haft gelangte, später dann nach Frankreich versetzt wurde.27 Außerdem geriet ihm zum Verhängnis, daß der Reichsrechnungshof die Dienststelle in Stanislau überprüfte und Berge von Eigentum vorfand, das man den Juden vor ihrer Ermordung geraubt, aber nicht buchhalterisch vermerkt und somit in die eigenen Taschen gesteckt hatte. Der zuständige Polizeisekretär beging nach der Prüfung sogar Selbstmord.28 Ein bekennender Antisemit vor Gericht Krüger wurde bei Kriegsende in seinem letzten Tätigkeitsfeld, den Niederlanden, von kanadischen Einheiten verhaftet und befand sich bis November 1948 in niederländischem Gewahrsam. Da seine Tätigkeit in Polen dort nicht bekannt war, entließ man ihn in die Westzonen. Er arbeitete zunächst als Handelsvertreter und baute dann ein eigenes Baugeschäft auf. In den 1950er Jahren fühlte er sich bereits so sicher, daß er eine Wiedereinstellung in den Staatsdienst beantragte. Dies wurde jedoch ebenso abgelehnt wie eine Bewerbung beim nordrhein-westfälischen Verfassungsschutz. So bemühte sich Krüger, der inzwischen als Vertreter arbeitete, um eine parteipolitische Laufbahn. Er brachte es zum Bezirksgeschäftsführer der Freiheitlichen Volkspartei in Münster und wechselte dann zur Deutschen Partei. 1949–1956 fungierte er als Landesvorsitzender der Landsmannschaft Berlin-Mark Brandenburg, 1952 war er der zweite Sprecher der Landsmannschaft. Eine Landtagskandidatur für den Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten 1954 scheiterte. 1959, nach bald zehn Jahren öffentlicher Tätigkeit, holte ihn seine Vergangenheit ein; gegen Krüger wurde ermittelt, im Januar 1962 kam er in Untersuchungshaft. In dieser Zeit scheiterte auch seine mittlerweile dritte Ehe. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Dortmund erstreckten sich über sechs Jahre, bis im Oktober 1965 Anklage erhoben werden konnte. In seinem zwei Jahre andauernden Prozeß trat Krüger mit größtem Selbstbewußtsein und

HANS KRÜGER

141

zahlreichen antisemitischen Ausfällen auf. Am 6. Mai 1968 schließlich verurteilte ihn das Landgericht Münster zu einer lebenslangen Haftstrafe. Erst 1986 entließ man ihn. Er zog nach München und starb am 8. Februar 1988 in einem Krankenhaus in Landshut.29 Wo liegt nun der spezifische Beitrag Krügers zum Verlauf der „Endlösung“ in seinem Gebiet? Aufgrund der fragmentarischen Quellenlage wird man diese Frage wohl nur teilweise beantworten können. Krüger war der erste, der noch unter ungarischer Besatzung Massenmorde organisierte. Im Herbst 1941 ging er früher als die anderen Gestapo-Führer dazu über, bestimmte Gruppen von Juden erschießen zu lassen, obwohl dazu keine Befehle vorlagen, so etwa sogenannte Halbjuden oder Personen, die ohne die obligatorische Armbinde angetroffen wurden. Andernorts wurde dieses ‚Vergehen‘ im Herbst 1941 noch mit Geldstrafe belegt.30 Nicht eindeutig zu klären ist Krügers Rolle im Vorfeld des „Blutsonntags“. Zweifelsohne hat es bis dahin fast nirgends unter deutscher Zivilherrschaft ein solches Massaker gegeben. Ob Krüger aber der Initiator dieses Verbrechens ist, muß noch weiter untersucht werden. Sicher ist er für die grausame Durchführung und die hohe Zahl der Opfer verantwortlich. Im Jahre 1942 fällt vor allem die frühzeitige vollständige Ermordung der Juden im Raum Stanislau auf. Allerdings war das angrenzende GPK Kolomea hierin noch radikaler. Wichtiger als die Persönlichkeiten der Chefs der Sicherheitspolizei war sicher der Umstand, daß es im Süden des Distrikts Galizien kaum größere Zwangsarbeitsprojekte für Juden gab, die in anderen Gebieten zeitweise zur Rettung einer Minderheit der Opfer beitrugen. Seit dem Frühjahr 1942 folgten die Aktionen gegen die Juden in Wellen, die im ganzen Distrikt wirksam wurden. Entscheidend war Krügers Anteil an der radikalen Durchführung der Massenmorde vor Ort. Verglichen mit dem übrigen Generalgouvernement, wurden allein im Raum Stanislau über 85 Prozent der Juden erschossen anstatt deportiert. Dies organisierte und exekutierte Krüger, oft mit der Waffe in der Hand, zusammen mit seinen Leuten. Das hieß in der Realität, daß einzelne seiner Untergebenen eigenhändig tausende Männer, Frauen und Kinder an den Gruben liquidierten. Widerstände waren bei seinen Kollegen kaum zu spüren.31 Also ist für den Fall Stanislau eine spezifische Mischung der Faktoren Person und äußere Umstände – vor allem geographische Lage – festzustellen. Obwohl das GPK Stanislau und sein Leiter Hans Krüger als Extrembeispiele einzustufen sind, zeigen sie doch auch typische Merkmale des Personals und der Tätigkeit der KdS-Außenstellen in den besetzten Gebieten Polens und der Sowjetunion. Wenn auch die meisten Massenmorde einer KdSAußenstelle im Generalgouvernement auf Krügers Konto gehen, so gibt es doch zahlreiche Dienststellenleiter – Peter Leideritz in Kolomea oder Hermann Müller in Tarnopol etwa –, die Krüger an Radikalität um nichts nachstanden. Über andere radikale ‚Weltanschauungstäter‘ wissen wir noch weni-

142

DIETER POHL

ger, weil sie den Krieg nicht überlebt haben und somit nicht Gegenstand eines Ermittlungsverfahrens wurden. Gleichartige Vorgänge spielten sich auch in den anderen vier Distrikten des Generalgouvernements ab.32 In allen anderen Kreisen stellten die KdS-Außenstellen die eigentlichen Exekutoren des Massenmordes, in den Distrikthauptstädten die KdS-Dienststellen selbst. Die Unterschiede zu den Stapo-Stellen im Reich treten klar zutage: je weiter man nach Osten blickt, desto schwächer war die personelle Besetzung der Außenstellen. Das führende Personal dort war meist mit Laufbahnpolizisten aus der Gestapo besetzt, während im Reich und bei den KdS in der Regel ausgebildete Juristen in diesen Positionen tätig waren. Viele der KdS stammten aus dem SD, der weltanschaulichen Elite innerhalb der SS. Bei den Judenmorden übten die KdS vor allem organisatorische und inspektorische Aufgaben aus. Anwesend waren sie meist nur bei den großen Deportationen und Massenerschießungen an ihrem Dienstsitz. Die Außenstellen-Leiter, deren Gestapochefs und Judenreferenten organisierten die Judenmorde vor Ort. Sie verhandelten mit den anderen Institutionen wie Ordnungspolizei und Zivilverwaltung. Ebenso führten sie die Morde selbst durch, in zahllosen Fällen mit der eigenen Waffe. Hier haben wir es mit jenem Teil des „Endlösungs“-Personals zu tun, das eine Schlüsselstellung bei der Durchführung des Genozids einnahm. Anmerkungen * Hier handelt es sich um eine überarbeitete Version meines Aufsatzes: Hans Krüger and the Murder of Jews in the Region of Stanislawów (Galicia), in: Yad Vashem Studies 26(1998), S. 239–264; mit freundlicher Genehmigung von Yad Vashem (Jerusalem). 1 Tatiana Berenstein: Eksterminacja ludnosci zydowskiej w dystrykcie Galicja, in: Biuletyn Zydowskiego Instytutu Historycznego H. 61, 1967, S. 3–58; Elisabeth Freundlich: Die Ermordung einer Stadt namens Stanislau. NS-Vernichtungspolitik in Polen, Wien 1986, bes. S. 137–186. 2 Urteil LG Münster v. 3./6.5.1968, BAL, SA 187. 3 Zygmunt Albert: The Extermination of the Lwów Professors in July 1941, in: ders. (Hrsg.): Kazn profesorów lwowskich, lipiec 1941. Studia oraz relacje i dokumenty, Wroclaw 1989, S.69–99; Abschlußvermerk Staw Hamburg v. 2.5.1966, BAL, 208 AR-Z 81/60, Bd. 4, Bl. 901 ff.; Einstellungsvermerk dto. v. 16.5.1983, BAL, 208 AR-Z 223/73, Bd. 2, Bl. 299 ff. 4 Vern. Krüger v. 8.1.1962, IfZ, Gm 08.08. 5 Urteil LG Münster v. 3./6.5.1968, BAL, SA 187; Freundlich (Anm. 1), S. 139– 147. 6 Vern. Krüger, Sitzungsprotokoll LG Münster v. 20.5.1966, IfZ, Gm 08.08. 7 Dto. v. 26.6.1962, GStaw Berlin P (K) Js 7/68. 8 Karte der KdS-Außenstellen 1943, DALO, R-16/1/11, Bl. 25.

HANS KRÜGER 9

143

Exekutionsverfügungen Krügers für Einwohner des Dorfes Zelenoe, Kreis Nadworna v. 13.10.–7.11.1941, DAIFO, R-432/1/1. 10 Müller konnte nach dem Kriege nicht ermittelt werden; zu Varchmin BAL, SA 187. 11 Vgl. Simon Wiesenthal: Doch die Mörder leben, Zürich 1967. 12 Vgl. Personalkarten des KdS Krakau, IPN-GK Warschau, CA 375. 13 Vgl. BAB, BDC, SSO Johannes Wagner; Liste von Wachmännern, DALO, R-36/3/1, Bl. 21. 14 Vern. Heinz Albrecht v. 6.–9.11.1962, IfZ, Gm 08.08. 15 Vgl. Thomas Geldmacher: „Wir als Wiener waren ja bei der Bevölkerung beliebt“. Österreichische Schutzpolizisten und die Judenvernichtung in Ostgalizien 1941–1944, Wien 2002; History Teaches a Lesson, Kiev 1986, S. 219. 16 Ausführlich Freundlich (Anm. 1), S. 148–154. 17 Vern. Emil Beau v. 2.8.1962, IfZ, Gm 08.08. 18 Dto. Wilhelm B. v. 17.5.1966, BAL, 208 AR-Z 277/60, Bd. 17, Bl. 6871 f. 19 Ausführlich Freundlich (Anm. 1), S. 154–164. 20 Vern. Ernst Varchmin, Sitzungsprotokoll LG Münster v. 6.6.1966, IfZ, Gm 08.08; Otto F. v. 14.10.1964, Staw Nürnberg-Fürth 1 a Js 1851/63, Bl. 890 ff.; Arno Z. v. 16.10.1964, IfZ, Gm 08.08; Vermerk Bayerisches LKA v. 5.10.1977, Staw München I 115 Js 5640/76; vgl. Berenstein (Anm. 1), Tabelle 9; Schlußbericht Staw Dortmund v. 27.2.1964, IfZ, Gm 08.08; Vern. Hermann Müller v. 23.5.1962, StAL, EL 317 III, Bü 1408. 21 Untergrundbericht des Ringelblum-Archivs, Juni 1942, in: Ruta Sakowska: Die zweite Etappe ist der Tod. NS-Ausrottungspolitik gegen die polnischen Juden, gesehen mit den Augen der Opfer. Ein historischer Essay und ausgewählte Dokumente aus dem Ringelblum-Archiv 1941–1943, Berlin 1993, S. 220 ff.; BAL, SA 187. 22 Im einzelnen Urteil LG Münster v. 3./6.5.1968, BAL, SA 187; das Gericht ging nicht von einer Deportation, sondern von einer Massenerschießung aus; dies widerspricht jedoch der überwiegenden Zahl der Zeugenaussagen und deren Behauptung, die „Aktion“ hätte abends begonnen. 23 Vermutlich wurden die Opfer erschossen und nicht deportiert, Akt Stadtkommission Stanislau v. 25.1.1945, DAIFO, R-98/1/2, Bl.10. 24 Berenstein (Anm. 1), Tabelle 9. 25 Urteil LG Münster v. 3./6.5.1968, BAL, SA 187; vgl. Freundlich (Anm. 1), S. 182 ff. 26 Arbeitsbericht Kreishauptmannschaft Kalusch v. 25.7.1942, DALO, R-35/12/11, Bl. 4; Akt Rajonkommission Dolina, DAIFO, R-98/1/13; Tatortverzeichnis Staw München I 115 Js 5640/76. 27 HA SS-Gericht an Krüger v.10.12.1943, BAB, BDC, SSO Hans Krüger; Erinnerungen von Karolina Lanckoronska, in: Albert (Anm. 3), S. 234–251, bes. S. 241 f.; dies.: Wspomnienia wojenne, 22 IX 1939–5 IV 1945, Kraków 2001. 28 Rainer Weinert: „Die Sauberkeit der Verwaltung im Kriege“. Der Rechnungshof des Deutschen Reiches 1938–1946, Opladen 1993, S. 153. 29 Für Hinweise danke ich Mike Joseph. 30 Kopie in IPN-GK Warschau, W 249/73, Band V, Bl. 2. 31 Kolportiert wurde, daß Gestapochef Linauer nicht selbst schießen wollte; ziemlich sicher ist hingegen, daß einer der volksdeutschen Wachmänner die Teilnahme an

144

DIETER POHL

der Erschießung verweigerte, Vern. Alois M. v. 5.12.1947, Stefan S. v. 27.10.1961, IfZ, Gm 08.08. 32 Vgl. die Beiträge von Klaus-Michael Mallmann und Jacek Andrzej Młynarczyk in diesem Band.

MARTIN CÜPPERS

Gustav Lombard – ein engagierter Judenmörder aus der Waffen-SS Zwischen dem 24. und 26. September 1941 tagte in Mogilew, im Stabsquartier Max von Schenckendorffs, des Befehlshabers des rückwärtigen Heeresgebietes (Berück) Mitte, ein illustrer Kreis von Angehörigen des deutschen Besatzungsapparates in Weißrußland. Anläßlich eines vom Berück initiierten „Partisanen-Lehrgangs“ erschienen Hauptmann Förster vom Oberkommando des Heeres, Major Günther von Gericke, der Versorgungsoffizier der Heeresgruppe Mitte, sowie Kommandeure und Stabsoffiziere diverser Sicherungsdivisionen und Feldkommandanturen. Geladen waren außerdem etliche Vertreter der SS, wie Erich von dem Bach-Zelewski, der Höhere SS- und Polizeiführer Rußland-Mitte, oder Arthur Nebe, Chef der Einsatzgruppe B, sowie Hermann Fegelein, Kommandeur der gerade im rückwärtigem Heeresgebiet Mitte eingesetzten SS-Kavallerie-Brigade.1 Am zweiten Tag des Lehrgangs hielt Bach-Zelewski ein Referat zum Thema „Erfassen von Kommissaren und Partisanen,“ und Nebe referierte über „Die Judenfrage mit besonderer Berücksichtigung der Partisanenbewegung“. Am gleichen Tag hatte Gustav Lombard, der Kommandeur eines der beiden, von Fegelein befehligten SS-Kavallerie-Regimenter, die Ehre, vor den versammelten Wehrmachts- und SS-Offizieren zu sprechen.2 Einleitend plädierte er für eine intensive Zusammenarbeit zwischen den Verbänden von SS und Wehrmacht. Als allgemeine Devise gab er die Parole aus, daß „Terror gegen Terror“ stehen müsse. Seine Haltung gegenüber der jüdischen Bevölkerung formulierte er folgendermaßen: „Über die Juden auch nur ein weiteres Wort zu verlieren, ist wohl überflüssig. Man kann vielleicht über die Maßnahmen verhandeln, wie der Jude am zweckmäßigsten aus den uns anvertrauten Gebieten verschwinden soll, aber daß er beseitigt werden muß, steht fest, denn der Jude ist der Partisane!“3 Die Grundlage für die von den Wehrmachtsoffizieren offenbar unwidersprochen akzeptierten Parolen Lombards bildeten die Aktionen der SSKavallerie-Brigade während des Vormonats August, die in ihrer Zielsetzung von Beginn an gemäß dem zitierten Motto „Der Jude ist der Partisane“ angelegt waren. Gerade die vier Schwadronen der Reitenden Abteilung des 1. SSKavallerie-Regiments verfuhren dabei unter Lombards Führung so ,erfolgreich‘, daß er einerseits von Himmler umgehend zum Regimentskommandeur ernannt wurde, während von Schenckendorff andererseits seinen Sicherungs-

146

MARTIN CÜPPERS

divisionen unverblümt das Vorgehen der SS-Kavallerie als Vorbild empfahl und Lombard persönlich mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse dekorierte.4 „… lebendigen Aufschluß über die Judenfrage“ Bis dahin hatte der aufstrebende SS-Offizier bereits ein durchaus abwechslungsreiches Leben geführt. Auf dem Gut seines Vaters in Klein-Spiegelberg bei Prenzlau wurde Gustav Lombard am 10. April 1895 geboren. Die Schule besuchte er bis zur mittleren Reife in Dresden und im nahen Niesky. Auf Wunsch seines 1906 verstorbenen Vaters reiste Lombard im Jahre 1913 in die USA, um dortige Verwandte kennenzulernen. In den Vereinigten Staaten besuchte er die High School, die er mit der Hochschulreife abschloß. Als nicht unbedingt typischer Vertreter der jungen deutschen Kriegsgeneration eilte Lombard bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges keineswegs in seinem Geburtsland zu den Waffen. Statt dessen studierte er an der University of Missouri in Columbia moderne Sprachen. 1916 mußte der junge Lombard aus Geldmangel das Studium abbrechen, arbeitete anschließend auf einer Farm und begann Anfang 1919 schließlich eine Lehre als Bankkaufmann. Im Herbst 1919 kehrte Lombard nach Deutschland zurück, blieb dem in seinem Geburtsland längst nicht nur innerhalb der völkischen Rechten verhaßten Hort des „Plutokratismus“ und der „Degeneration“ beruflich aber weiter verbunden.5 Anfangs arbeitete er als Leiter der Frachtenabteilung für American Express, 1923 wurde Lombard kaufmännischer Betriebsleiter bei Chrysler in deren Montagewerk in Berlin-Johannisthal. Erst als Chrysler 1931 seinen Standort in Deutschland schloß, machte er sich selbständig und erwarb eine der größten Autogaragen Berlins.6 Seit März 1922 war Lombard mit der Opernsängerin Marianne Alfermann verheiratet; noch im selben Jahr wurde das einzige Kind Klaus geboren.7 Für die politischen Affinitäten des erfolgreichen Geschäftsmannes zum Nationalsozialismus lassen sich in seiner Biographie bis Anfang 1933 keine Belege finden. Sobald die Nationalsozialisten in Deutschland aber an der Macht waren, änderte sich dies schlagartig. Gerade zehn Tage nach der Machtübertragung an Adolf Hitler trat Lombard am 10. Februar 1933 in die NSDAP ein; im Mai wurde er außerdem als Anwärter in die SS aufgenommen.8 In den folgenden Jahren seines beginnenden Aufstiegs innerhalb der SS hatte Gustav Lombard offenbar Mühe, seine Biographie hinsichtlich der Anforderungen an die Vita eines tüchtigen SS-Mannes zu schönen. In einem 1935 für die SS verfaßten Lebenslauf konnte er als einzigen Beleg für seine nationale Gesinnung nur eine angeblich seit 1927 bestehende Mitgliedschaft im „Nationalen Klub 1919“ anführen. Einen Grund für seine im selben Lebenslauf formulierte Quasi-Entschuldigung „Politisch habe ich mich aktiv früher nicht betätigen können“ führte er nicht an. Zudem muß Lombards Behauptung, daß er während des Ersten Weltkrieges in den USA wegen sei-

GUSTAV LOMBARD

147

ner „propagandistischen Tätigkeit in deutsch-amerikanischen Vereinen“ als „lästiger Ausländer interniert“ worden sei, aufgrund seiner späteren, anders lautenden Aussagen als reine Erfindung bewertet werden.9 Offenbar sollten solche Manipulationen dazu dienen, sich nach 1933 zumindest in den kaum nachprüfbaren biographischen Eckdaten ein möglichst NS-kompatibles Image als ‚alter Kämpfer’ zu geben. Innerhalb der SS stieg Lombard nach 1933 stetig auf. In Berlin schloß er sich dem 1. Reitersturm der 7. SS-Reiterstandarte an, den er ab Oktober 1935 befehligte.10 Nach dem deutschen Angriff auf Polen vorübergehend zur Wehrmacht eingezogen, wurde Lombard im Dezember 1939 im Rang eines SS-Obersturmführers offenbar auf persönlichen Befehl Himmlers zur SSTotenkopf-Reiterstandarte versetzt, wo er als Schwadronskommandeur vorgesehen war.11 Nominell ging dieser berittene SS-Verband aus den Wachmannschaften der Konzentrationslager hervor, die ab 1938 unter Theodor Eickes Ägide kontinuierlich militarisiert und personell stark ausgeweitet wurden. Die ursprünglich vier berittenen SS-Schwadronen wurden ab Ende September 1939 in Polen als Polizeiverstärkung eingesetzt und bis Februar 1941 auf zwei SS-Kavallerie-Regimenter erweitert.12 Gegenüber den Männern in der ihm zugewiesenen 3. Schwadron legte Lombard eine Mischung aus kleinkarierter Pedanterie und bemühter Kameraderie an den Tag. So empfahl er nach einer harschen Kritik Fegeleins am Erscheinungsbild der Schwadron „seinen Unterführer-Kameraden“ ein maßvolles Verhalten gegenüber den Mannschaften und schloß mit der Aufforderung: „Von den Unterführern erwarte ich, daß sie sich sofort nach Empfang dieser Mitteilung in die Kantine begeben und in ruhiger Kameradschaft ein Glas Bier trinken.“13 Derartiges, von den SS-Männern offenbar als positiv empfundenes Verhalten brachte ihm seitens seiner Untergebenen den Kosenamen „Papa Lombard“ ein.14 Als Schwadronskommandeur leitete er auch die ideologische Munitionierung seiner Männer mittels der regelmäßig stattfindenden weltanschaulichen Schulung. Mit besonderem Engagement kümmerte sich Lombard dabei um die Vermittlung antisemitischer Unterrichtsinhalte. Als im November 1940 Veit Harlans berüchtigter NS-Propagandafilm „Jud Süß“ in den Warschauer Kinos gezeigt wurde, hob Lombard hervor, daß „dieser Film sowohl künstlerisch wie inhaltlich besonders wertvoll ist und unter Zugrundelegung geschichtlicher Ereignisse lebendigen Aufschluß über die Judenfrage gibt“. Er regte daher an, „eine Sondervorstellung zu erwirken und den Besuch derselben als Dienst anzusetzen“.15 Seit Einsatzbeginn waren die SS-Reiter im besetzten Polen für umfangreiche Massenmorde an Juden und polnischen Zivilisten verantwortlich.16 Gerade Lombards Schwadron wurde im Raum Warschau „in stärkstem Maße zu Exekutionen herangezogen“.17 Ein ehemaliger Angehöriger der SS-Kavallerie erinnerte sich bei seiner Vernehmung recht detailliert an eine im Februar oder März 1941 von

148

MARTIN CÜPPERS

Lombard befehligte Erschießungsaktion, bei der etwa 70 Männer und Frauen ermordet wurden.18 „Entjudung“ am Pripjet Daß die SS-Kavallerie bald mit ihrem im Generalgouvernement ab 1939 gesammelten mörderischen Know-how eine spezielle Rolle im Rahmen der deutschen Kriegsplanungen gegen die Sowjetunion spielen würde, erscheint nur konsequent. So waren die beiden SS-Kavallerie-Regimenter seit dem Frühjahr 1941 im Rahmen des von Himmler eigens aufgestellten Kommandostabes Reichsführer-SS zur „politischen Befriedung“ der von Deutschland besetzten sowjetischen Gebiete vorgesehen.19 Am 19. Juli 1941, einen Monat nach Beginn des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion, wurden beide, faktisch zu einer Brigade unter dem Befehl Fegeleins zusammengelegten SSRegimenter zu einem Einsatz in das weißrussische Pripjet-Gebiet kommandiert.20 Die entsprechenden Einsatzbefehle deuteten bereits an, daß die SSReiter erneut Massenverbrechen zu begehen hätten. Ließ ein von Himmler gezeichneter Befehl, der die SS-Reiter anwies, „alle, die der Unterstützung der Partisanen verdächtig sind, zu erschießen“, noch Spekulationen über die anvisierte Zielgruppe zu, fielen die Instruktionen Fegeleins an seine Männer erheblich klarer aus: „Juden sind zum großen Teil als Plünderer zu behandeln. Ausnahmen bilden nur ausgesprochene Facharbeiter, wie Bäcker usw. und vor allem Ärzte. Weiber und Kinder sind mit dem Vieh aus verfallenen Dörfern wegzutreiben.“21 Die Reitende Abteilung des 1. SS-Kavallerie-Regiments erreichte unter dem Befehl Lombards am 29. Juli 1941 den befohlenen Einsatzraum.22 Der SS-Sturmbannführer erließ am 1. August seinerseits einen eindeutigen Tötungsbefehl für den weiteren Einsatz: „Es bleibt kein männl. Jude leben, keine Restfamilie i.d. Ortschaften.“23 Zur Umschreibung der unmittelbar darauf einsetzenden Mordpraxis seiner SS-Reiterschwadronen wählte Lombard den Titel „Entjudung“, einen Begriff, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ.24 Seit 1933, das wird dem Geschäftsmann Lombard sicherlich bekannt gewesen sein, verstand man in Deutschland unter „Entjudung“ den Ausschluß der Juden vom gesamten Wirtschaftsleben.25 Lombard war wohl der erste, der den Begriff nun im Sinne einer physischen Vernichtung der Juden verwendete. In einem nachträglich verfaßten Einsatzbericht nannte er einige Schwerpunkte des Massenmordes: „Die Entjudung des der Abt. zugewiesenen Raumes erstreckt sich insbesondere auf die Orte Chomsk, Motol, Telechany, Swieta Wolka und Hancewicze.“26 In Wirklichkeit müssen weit mehr als die erwähnten Schtetl von der Vernichtungsaktion der Reiter des 1. SS-Kavallerie-Regiments betroffen gewesen sein. Da aber als einziger Beweis für etliche weitere Massaker nur die von der SS täglich gemeldeten Exekutionszahlen existieren, ist nicht einmal bekannt, in welchen Orten die

GUSTAV LOMBARD

149

Mordaktionen stattfanden. Dagegen lassen sich aus den Einsatzberichten der reitenden Abteilung, aus Aussagen ehemaliger Einheitsangehöriger und aus den Berichten der wenigen jüdischen Überlebenden die Erschießungsaktionen in den vorgenannten Städten zumindest datieren, in manchen Fällen auch in ihrem Ablauf rekonstruieren. Zum Auftakt vernichteten SS-Reiter die jüdische Gemeinde von Chomsk. Abteilungsstab und 2. Schwadron hatten die Kleinstadt am 1. August 1941 besetzt. Lombard berichtete, Chomsk sei „wegen der renitent auftretenden jüdischen Bevölkerung von allen in Frage stehenden Elementen gesäubert worden“.27 Ein ehemaliger Angehöriger der Reitenden Abteilung erzählte bei seiner Vernehmung, wie die Juden der Stadt zusammengetrieben wurden: „Ich erinnere mich noch daran, daß es zuerst hieß, sie sollen in die Sümpfe getrieben werden. Später kam dann der Befehl, sie seien zu erschießen. Es wurden insgesamt ca. 2000 Juden beiderlei Geschlechts und jeden Alters in dieser kleinen Stadt gesammelt und in der Kirche untergebracht. Dort wurden sie über Nacht bewacht und in den frühen Morgenstunden des darauffolgenden Tages von Kommandos unserer Schwadron erschossen.“ Einige der von nichtjüdischen Dorfbewohnern im Anschluß mit Kalk überstreuten Opfer waren nach dem Massaker nicht sofort tot, „denn man habe noch Stöhnen und Wimmern gehört“.28 Nach der Vernichtung der jüdischen Gemeinde von Chomsk erschien der Abteilungsstab am 2. August in dem kaum 30 Kilometer entfernten Motol. Gleich nach der Besetzung des Ortes wurden alle jüdischen Männer ab einem Alter von etwa 16 Jahren gesammelt. Später wurden auch die jüdischen Frauen und Kinder in einer Schule zusammengetrieben. Zwei jüdische Bewohner des Ortes, die sich mißtrauisch in den umliegenden Feldern versteckt hatten, erlebten die nun folgende Vernichtungsaktion aus der Ferne mit: „Um 16–17 Uhr hörten wir Schüsse aus Maschinenpistolen, und es wurde uns klar, daß die Juden getötet werden. Im Kartoffelacker lagen wir bis zum nächsten Tag, und am frühen Morgen hörten wir wieder Schüsse aus automatischen Waffen. Nachdem die Schüsse aufgehört hatten, verließ ich mein Versteck und lief in Richtung der Gebäude. Leute, die ich unterwegs getroffen habe, warnten mich, daß alle Juden getötet werden. Schließlich erreichte ich einen Bauernhof, und der Bauer versteckte mich in einer Scheune im Heu. Am Abend dieses Tages erfuhr ich vom Bauer und seiner Frau, daß in Motol alle Juden ermordet wurden.“29 Am Nachmittag des 2. August waren zuerst die etwa 800 jüdischen Männer Motols außerhalb des Ortes an bereits ausgehobenen Gruben erschossen worden. Am nächsten Morgen – einem Sonntag – trieben die SS-Reiter ungefähr 2200 Frauen und Kinder aus der Stadt und metzelten sie an einer anderen Stelle mit Maschinengewehren nieder.30 Für den 5. August beauftragte Lombard die 1. Schwadron mit einer Mordaktion in Telechany. Dazu formulierte er eindeutig: „In Telechany, großer

150

MARTIN CÜPPERS

Judenstadt, wird mit der Befriedung sofort begonnen.“31 Unter den etwa 2000 Juden Telechanys kursierten bereits Gerüchte über die in der Nähe mordenden SS-Kavalleristen, weshalb sich viele Juden tagsüber versteckten. Die SSReiter besetzten die Kleinstadt jedoch am frühen Morgen, während die meisten Juden noch in ihren Häusern schliefen. So wurde auch die jüdische Gemeinde Telechanys ausgelöscht. Männer, Frauen und Kinder wurden am 5. und 6. August außerhalb der Stadt von der SS ermordet.32 Anschließend wurde die 1. Schwadron nach Swataja Wolja befohlen, die dortige jüdische Bevölkerung am 6. und 7. August vernichtet. In den nächsten Tagen verübten die SS-Einheiten weitere Massaker in Orten, deren Namen bis heute nicht bekannt sind.33 Kurz vor Erreichen der befohlenen Auffanglinie betonte Lombard, daß die „rücksichtslose Befriedung und Entjudung“ auch weiterhin der „Hauptauftrag“ bleibe. An diesem Tag, dem 11. August, vernichtete die 1. Schwadron, ergänzt durch Züge der 4. Schwadron, die jüdische Gemeinde von Hancewicze.34 Über das Massaker sagten ehemalige SS-Angehörige aus, daß jüdische Frauen und Kinder außerhalb der Stadt bei einem Sägewerk erschossen worden wären. Getrennt davon seien die jüdischen Männer getötet worden. Insgesamt hätten die berittenen SS-Einheiten in Hancewicze etwa 2500 Personen ermordet.35 Mit dieser Mordaktion war der erste Einsatz der Reitenden Abteilung des 1. SS-Kavallerie-Regiments beendet. Die Gesamtzahl der ermordeten Juden bezifferte Lombard abschließend auf 6504 Personen.36 In Wirklichkeit weisen die genauen Berichte jüdischer Überlebender sowie die Aussagen ehemaliger Brigadeangehöriger auf eine weit höhere Opferzahl von mindestens 9000 ermordeten jüdischen Männern, Frauen und Kindern hin. Zum ersten Mal war von den SS-Schwadronen unter Lombards Kommando das gesamte jüdische Leben in einem größeren Gebiet ausgelöscht worden. Dazu hatte Lombard die bestehenden Befehle auf radikalste Weise interpretiert und mit großer Bereitwilligkeit umgesetzt. Sein Kollege Franz Magill, Kommandeur der gleichzeitig weiter südlich eingesetzten Reitenden Abteilung des 2. SS-Kavallerie-Regiments, hatte in seinem Einsatzgebiet fast ausschließlich männliche Juden vom Kinder- bis zum Greisenalter ermorden lassen.37 Diese differierenden Interpretationsansätze vager Befehle steuerte die SS-Führung im Hinblick auf das sich andeutende Ergebnis der Vernichtung der sowjetischen Juden über ein einfaches System von Anerkennung und Ablehnung. Während Lombard sich für seine Umsetzung der Befehlslage mittels der prompt folgenden Beförderung und Auszeichnung bestätigt und neu angespornt fühlen konnte, wurde Magill seines Postens enthoben und an eine andere Stelle versetzt.38 Männer wie Lombard, nicht zwingend ‚alte Kämpfer‘ in der ‚Systemzeit‘, aber radikal antisemitisch disponiert und von ihrer Rolle im Nationalsozialismus überzeugt, bewiesen mit ihrem persönlichen Einsatz, daß konkretes Denken, welches auf die physische Vernichtung

GUSTAV LOMBARD

151

der Juden abzielte, nach seinen propagandistischen Vorformulierungen in Deutschland auch tatsächlich in die Tat umgesetzt werden konnte. Der frisch gebackene Regimentskommandeur setzte Mitte August 1941 seinen Vernichtungszug im östlichen Pripjetgebiet fort. Lombards SS-Reitern fielen erneut Tausende jüdischer Männer, Frauen und Kinder zum Opfer.39 Seine weitere Karriere in der Waffen-SS verlief vielversprechend. Kontinuierlich befördert, mit weiteren militärischen Orden dekoriert und immer wieder in Massenmorde involviert, führte er das 1. SS-Kavallerie-Regiment bis Dezember 1943.40 Anschließend wurde er jeweils für einige Monate zum Kommandostab Reichsführer-SS und zur Stoßgruppe von dem Bach an die Ostfront bei Kowel kommandiert. Zwischen Mai und August 1944 absolvierte er einen Divisionsführer-Lehrgang.41 Ab September 1944 befehligte Lombard die 31. SS-Grenadier-Division.42 Gerade noch zum SS-Brigadeführer befördert, geriet er in den letzten Kriegstagen mit den Resten dieses Verbandes im Raum Königsgrätz in tschechische Kriegsgefangenschaft und wurde wenig später an die Sowjetunion ausgeliefert.43 Ein ruhiger Lebensabend Ein sowjetisches Militärgericht verurteilte Gustav Lombard im Herbst 1947 zu 25 Jahren Lagerhaft. Da seine Verurteilung sich auf den Tatvorwurf der Erschießung von Partisanen und der Vergewaltigung und Ermordung eines russischen Mädchens durch Angehörige seines Regiments stützte, scheinen den sowjetischen Richtern Beweise für die zentralen Verbrechen Lombards in der Sowjetunion gar nicht vorgelegen zu haben. Nach 10 Jahren Gefangenschaft wurde Lombard begnadigt und konnte im Oktober 1955 nach Westdeutschland zurückkehren. In München wohnhaft, nahm er zügig Kontakt zu „alten Kameraden“ auf, von denen einer mittlerweile in leitender Stellung bei der Allianz-Versicherung tätig war. Diesem Umstand verdankte Lombard nach eigener Aussage 1957 ein üppiges Weihnachtsgeschenk. Die Allianz übertrug ihm eine Wohnung in München, ein halbes Jahr später wurde er im Unternehmen als Versicherungskaufmann angestellt. Finanziell dürfte Lombard damit ein recht sorgenfreies Leben geführt haben. Über die lukrative Verbindung zur Allianz hinaus bezog er eine hohe Kriegsbeschädigtenrente.44 Jäh gestört wurde das Leben des Massenmörders im Nachkriegsdeutschland ab Anfang 1962, als gegen ihn und andere ehemalige Angehörige des 1. SS-Kavallerie-Regiments sowie des Stabes der SS-Kavallerie-Brigade staatsanwaltschaftliche Ermittlungen wegen der Massenerschießungen im Pripjet-Gebiet eingeleitet wurden.45 Bei seinen wiederholten Vernehmungen sprach sich Lombard von jeglicher Schuld frei und argumentierte im wesentlichen, daß das entscheidende Beweisstück gegen ihn, der von ihm gezeichnete Abschlußbericht des Pripjet-Einsatzes, gar nicht von ihm stammte, son-

152

MARTIN CÜPPERS

dern von seinem Vorgesetzten Fegelein gefälscht worden sei. Fegelein habe so, unter starker Anhebung der tatsächlichen Opferzahlen, die Bilanz des eigenen Regiments schönen wollen. Somit habe er, Lombard, weder die völlig übertriebenen Mordraten noch den Begriff „Entjudung“ zu verantworten.46 Trotz zahlreicher belastender Originaldokumente und detaillierter Aussagen wurde das Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft München I in einem Gesamtumfang von zuletzt 50 Aktenbänden nach neun Jahren und der Vernehmung von mehr als 230 Zeugen eingestellt. Als Begründung vermerkte die staatsanwaltschaftliche Einstellungsverfügung vom 22. Dezember 1970, daß „die öffentliche Klage nicht mit Aussicht auf Erfolg erhoben werden kann“.47 Im Fall Gustav Lombards wollte der ermittelnde Staatsanwalt nicht ausschließen, daß die Zahl von 6504 ermordeten Juden gefälscht sei und Lombards Einheit tatsächlich „weniger Menschen getötet“ habe. Vor allem könne dem Beschuldigten, so die erstaunliche staatsanwaltschaftliche Begründung, „nicht nachgewiesen werden, die Ausführung der gegebenen Vernichtungsbefehle mit Nachdruck und einverständlichem Eifer durchgesetzt und sich damit eines Verbrechens des Mordes […] in einer Vielzahl von Fällen schuldig gemacht zu haben“.48 Besonders befremdlich mutet in diesem Zusammenhang an, daß sämtliche von Lombard persönlich unterschriebenen Abteilungsbefehle von August 1941, die seinen „Nachdruck und einverständlichen Eifer“ beim Judenmord so eindrücklich dokumentieren, von der Staatsanwaltschaft nicht zur Kenntnis genommen wurden.49 Nach der Verfahrenseinstellung konnte sich Gustav Lombard, wie viele seiner ‚Kameraden‘, ungestört an der Ausformulierung des Mythos von der ‚sauberen‘ Waffen-SS beteiligen.50 Öffentliches Aufsehen erregte Lombard nochmals 1976, als er – 31 Jahre nach der deutschen Kapitulation – die Ehrenrede bei der Verleihung des Ritterkreuzes zum Eisernen Kreuz für einen seiner ehemaligen SS-Reiter hielt.51 Zu seinem 80. und 90. Geburtstag erschien „Papa Lombard“ 1975 und 1985 jeweils quietschfidel, feierte mit Hunderten ehemaliger Waffen-SS’ler und nahm groteske Lobhudeleien seiner ‚Kameraden‘ entgegen.52 Ohne jemals für die von ihm begangenen Massenmorde zur Verantwortung gezogen worden zu sein, starb Gustav Lombard am 18. September 1992 mit 97 Jahren. Anmerkungen 1 Vgl. Teilnehmer-Verzeichnis des Partisanen-Lehrgangs, BA-MA, RS 4/420; zu Erich von dem Bach-Zelewski, Arthur Nebe und Hermann Fegelein vgl. die biographischen Aufsätze in: Ronald Smelser/ Enrico Syring (Hrsg.): Die SS. Elite unter dem Totenkopf. 30 Lebensläufe, Paderborn u.a. 2000. 2 Berück Mitte/ Ia v. 23.9.1941: Tagesordnung des Partisanen-Lehrgangs v. 24.–26.9.1941, BA-MA, RH 22/225.

GUSTAV LOMBARD 3

153

Manuskript des von Lombard auf dem Lehrgang gehaltenen Vortrags, BA-MA, RS 4/420. 4 Zur Ernennung Lombards zum Regimentskommandeur KdoS: Personalbefehl Nr. 4 v. 14.8.1941, MHA, KdoS, K.16, A.116; zum Lob des Vorgehens der SS-Kav.Brig. Berück Mitte/ Ia; Korpsbefehl Nr. 52 v. 14.9.1941, BA-MA, RH 22/225; der Vermerk über die Verleihung des EK 1 durch Schenckendorff in Berück Mitte: Korpstagesbefehl Nr. 28 v. 16.9.1941, ebd. 5 Zur Entwicklung vielfältiger antiamerikanischer Stereotype in Deutschland vgl. Dan Diner: Feindbild Amerika. Über die Beständigkeit eines Ressentiments, München 2002, bes. S. 66–89. 6 R.u.S.-Fragebogen v. 10.3.1938, BAB, BDC, RuSHA Gustav Lombard; Lebenslauf v. 26.6.1935, BAB, BDC, SSO Gustav Lombard; Vern. Lombard v. 10.3.1964, BAL, 202 AR-Z 42/62, Bd. 2, Bl. e57 f. 7 R.u.S.-Fragebogen Marianne Lombard, geb. Alfermann, BAB, BDC, RuSHA Gustav Lombard. 8 SS-Stammrollen-Auszug v. 1.7.1938, BAB, BDC, SSO Gustav Lombard. 9 Lebenslauf v. 26.6.1935, ebd.; die Behauptungen wiederholte er weder 1938 im Lebenslauf seines R.u.S.-Fragebogens (Anm. 6), noch bei seinen späteren Vern. am 10.3.1964 (Anm. 6) oder am 24.6.1965, BAL, 202 AR-Z 42/62, Bd. 8, Bl. 1201 ff. 10 SS-Stammrollen-Auszug v. 1.7.1938 (Anm. 8). 11 Vgl. Schreiben SS-PersonalHA v. 11.12.1939, BAB, BDC, SSO Gustav Lombard. 12 Bernd Wegner: Hitlers Politische Soldaten: Die Waffen-SS 1933–1945, Paderborn 61999, S. 125 f.; zur SS-Kavallerie vgl. Klaus-Michael Mallmann/Volker Rieß/Wolfram Pyta (Hrsg.): Deutscher Osten 1939–1945. Der Weltanschauungskrieg in Photos und Texten, Darmstadt 2003, S. 143 ff., und den von Fegelein verfaßten Einsatzbericht (undat./ wohl Juni 1940), BA-MA, RS 4/60; zur Gliederung beider SS-Kav.Rgt. Befehl des SS-FührungsHA v. 26.2.1941, BAB, NS 19/3489. 13 Schreiben Lombards „An alle Unterführer!“ v. 31.7.1940, BA-MA, RS 4/232. 14 Vgl. „Der Freiwillige“ Nr. 4 (1985), S. 23. 15 Von Lombard unterschriebener Monatsbericht der 1. Schwadron v. 19.11.1940, BA-MA, RS 4/215. 16 Vgl. Volker Rieß: Hermann Fegelein. Parvenu ohne Skrupel, in: Smelser/Syring (Anm. 1), S. 163 f.; Karla Müller-Tupath: Reichsführers gehorsamster Becher. Eine deutsche Karriere, Berlin 1999, S. 21–36. 17 Vgl. Fegeleins Einsatzbericht (Anm. 12); mit der Aufstellung einer zweiten SSTotenkopf-Reiterstandarte firmierte Lombards Einheit mittlerweile unter der Bezeichnung 1. Schwadron der 1. SS-Totenkopf-Reiterstandarte, Gliederungsübersicht beider SS-Reiterstandarten (undat.), BA-MA, RS 4/874. 18 Vern. Karl D. v. 5.10.1972, BAL, 203 AR-Z 33/69, Bd. 2, Bl. 390. 19 Vgl. Yehoshua Büchler: Kommandostab Reichsführer-SS: Himmler’s Personal Murder Brigades in 1941, in: HGS 1(1986), S. 11–25; Unsere Ehre heißt Treue. Kriegstagebuch des Kommandostabes Reichsführer-SS, Tätigkeitsberichte der 1. und 2. SS-Inf.-Brigade, der 1. SS-Kav.-Brigade und von Sonderkommandos der SS, WienFrankfurt/M.-Zürich 1965. 20 KdoS: Kommandobefehl Nr. 19 v. 19.7.1941, MHA, KdoS, K.1, A.2.

154 21

MARTIN CÜPPERS

Kommandosonderbefehl RFSS v. 28.7.1941, ebd., K.14, A.107; Fegeleins Regimentsbefehl Nr. 42 v. 27.7.1941, BAL, Dok.Slg. Verschiedenes 17. 22 Abteilungsbefehl Nr. 24 der Reit.Abt. v. 29.7.1941, BA-MA, RS 4/441. 23 Dto. Nr. 28 v. 1.8.1941, ebd. 24 Dto. Nr. 36 und 37 v. 9. und 11.8.1941, ebd. 25 Zum Begriff „Entjudung“ vgl. Eberhard Jäckel/Peter Longerich/Julius H. Schoeps (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, Bd. 1, München-Zürich 1995, S. 412 f. 26 Vgl. Abschlußbericht Lombard v. 11.8.1941, BA-MA, RS 4/441; um Verwechslungen vorzubeugen wird dieser Bericht im folgenden als „Abschlußbericht I“ zitiert; ein zweiter, von Lombard am selben Tag verfaßter Bericht, der wegen der Betonung auf die (in Wirklichkeit kaum vorgekommenen) Kämpfe wohl für die Wehrmacht bestimmt war, wird als „Abschlußbericht II“ ausgewiesen. 27 Abschlußbericht II, BA-MA, RS 4/441; außerdem Abteilungsbefehl Nr. 27 v. 31.7.1941, ebd. 28 Vern. Otto K. v. 14.3.1963, BAL, 202 AR-Z 42/62, Bd. 3, Bl. g43 ff.; der Zeuge gehörte zur 2. Schwadron, die den Abteilungsstab bei den Erschießungen in Chomsk unterstützt hatte, Abschlußbericht II (Anm. 27); obwohl sich der Zeuge nicht mehr an den Namen der Stadt erinnern konnte, müssen sich seine Schilderungen auf Chomsk bezogen haben, da die 2. Schwadron danach nicht mehr bei einer ähnlich großen Mordaktion eingesetzt wurde; zu dem Massaker vgl. die Schilderung des jüdischen Überlebenden Boris T. v. 5.9.1962, ebd., Bd. 4, Bl. u123 ff.; das Erinnerungsbuch des nahegelegenen Pruzhany erwähnt, daß eine SS-Einheit in der fraglichen Zeit in Chomsk fast alle dort lebenden Juden ermordete, Joseph Friedlaender: Memorial book of Pruzhany and its vicinity, Tel Aviv 1983, S. 141 f. 29 Schilderung des jüdischen Überlebenden Boris T. (Anm. 28). 30 Mit den genannten Opferzahlen Boris T., ebd.; vgl. A. L. Polick/Dov Yarden: The Destruction of Motele, Jerusalem 1956; übereinstimmend außerdem Shalom Cholawsky: The Jews of Bielorussia During World War II, Amsterdam 1998, S. 150 f.; die im Abteilungsbefehl Nr. 29 und Nr. 30 v. 2. und 3.8.1941, BA-MA, RS 4/441, genannten ‚Erfolgszahlen‘ Lombards zum Massaker in Motol sind offenbar viel zu niedrig. 31 Abteilungsbefehl Nr. 31 v. 4.8.1941, BA-MA, RS 4/441. 32 Aussage Israel C. v. 3.9.1968, BAL, 202 AR-Z 42/62, Bd. 10, Bl. 1725 f. 33 Über die Entsendung der 1. Schwadron nach Swataja Wolja Abteilungsbefehl Nr. 32 v. 5.8.1941, BA-MA, RS 4/441; weißrussische Quellen geben für das genannte Massaker 436 Opfern an, vgl. Christian Gerlach: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941–1944, Hamburg 1999, S. 872; als Ergebnis des 9. und 10.8. meldete die 1. Schwadron am 11.8. 40 getötete Juden, die 2. Schwadron hatte in der Zeit 418 und die 3. Schwadron 369 Juden erschossen, Abteilungsbefehl Nr. 37 v. 11.8.1941, BA-MA, RS 4/441. 34 Abteilungsbefehl Nr. 37 v. 11.8.1941, ebd. 35 Vern. Werner B. v. 18.5.1965 und Adam K. v. 26.5.1965, BAL, 202 AR-Z 42/62, Bd. 4, Bl. m336 f. und m350 f. 36 Vgl. Abschlußberichte I und II (Anm. 26 und 27). 37 Urteil LG Braunschweig v. 20.4.1964, abgedruckt in: JNS, Bd. 20, Amsterdam 1979, S. 24–105.

GUSTAV LOMBARD 38

155

Zu Magills Versetzung vgl. dessen Dienstlaufbahn, BAB, BDC, SSO Franz Ma-

gill.

39

Gerlach (Anm. 33), S. 607 ff. Zu Lombards militärischer Laufbahn vgl. die diversen Beförderungs- und Ordensverleihungsurkunden, BAB, BDC, SSO Gustav Lombard; im Sommer 1943 war Lombards SS-Regiment an Massenmorden an der sowjetischen Zivilbevölkerung im Rahmen des Unternehmens „Seydlitz“ beteiligt, Gerlach (Anm. 33), S. 990 f. 41 SS-Stammrolle mit den genannten Dienststellungen sowie entsprechende Personalverfügungen, BAB, BDC, SSO Gustav Lombard. 42 Schreiben Lombard v. 29.9.1944, ebd. 43 Vern. Lombard v. 10.3.1964 (Anm. 6), Bl. e67 f. 44 Ebd.; Lombard dürfte bei der Allianz durch Dr. Schleich protegiert worden sein, der 1975 zu Lombards 80. Geburtstag eine Laudatio hielt, vgl. dazu einen Artikel v. 11.4.1975, BA-MA, N 756/152. 45 Verfügung ZSL v. 8.1.1962, BAL, 202 AR-Z 42/62, Bd. 5, Bl. 1. 46 Vern. Lombard v. 10.3.1964 (Anm. 6), Bl. e73–e82 und 24.6.1965 (Anm. 9), Bl. 1202 ff.; vgl. Lombards Abschlußbericht I, BAL, Dok.Slg. Verschiedenes 17, Bl. 6 f; diese Version des Berichts trägt tatsächlich nur die mit Schreibmaschine aufgenommene Unterschrift „gez. Lombard“; die Freiburger Version (Anm. 26) trägt dagegen die Originalunterschrift Lombards. 47 Einstellungsverfügung Staw München I v. 22.12.1970, BAL, 202 AR-Z 42/62, Bd. 10, Bl. 1747. 48 Vgl. ebd., Bl. 1835 ff. 49 Die Dokumente waren von den USA bereits im Oktober 1967 an das Militärgeschichtliche Forschungsamt in Freiburg übergeben worden; vgl. Vermerk über die Rückgabe der unter der Signatur BA-MA, RS 4/441 archivierten Akte im betreffenden Findbuch; der Zeitpunkt der Rückgabe im Oktober 1967 wurde dem Verfasser schriftlich vom BA-MA bestätigt. 50 Vgl. Lombard an „Kamerad Harzer“ v. 18.2.1965, in dem Lombard für ein Buch der HIAG (Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Soldaten der ehemaligen Waffen-SS) zahlreiche Korrekturen formuliert und weitere Hilfe anbietet, BA-MA, N 756/152. 51 Zur Verleihung des Ritterkreuzes vgl. Der Spiegel Nr. 22 v. 24.5.1976. 52 Vgl. Beschreibungen der Feierlichkeiten in einem Artikel v. 11.4.1975 (Anm. 44) sowie in „Der Freiwillige“ Nr. 4 (1985), S. 23. 40

ANDREJ ANGRICK

Georg Michalsen – Handlungsreisender der „Endlösung“ Als Georg Michalsen am 24. Januar 1961 von Beamten des Hamburger Landeskriminalamtes an seinem Arbeitsplatz festgenommen wurde, leistete er keine Gegenwehr. Dies unterließen zwar auch andere in NS-Verfahren verhaftete Täter; im Unterschied zu Michalsen erklärten sie jedoch in den folgenden Vernehmungen, daß sie im strafrechtlichen Sinne unschuldig seien. Deshalb beantragten ihre Verteidiger möglichst schnell die Entlassung aus der Untersuchungshaft, da der Haftbefehl jeder Grundlage entbehre. In den anschließenden Vernehmungen versuchten sie, ihre Verbrechen abzustreiten oder – wenn dies nicht möglich war – zumindest zu bagatellisieren. Sie leugneten eigene Zuständigkeiten und schoben diese verstorbenen oder untergetauchten Kollegen in die Schuhe. Die Gebildeteren unter ihnen versuchten sich als treue Staatsdiener darzustellen, die entweder auf Befehl gehandelt oder Schlimmeres verhindert hätten. Häufig führten Beschuldigte zu ihrer Entlastung an, daß sie jüdische Freunde gehabt und heimlich Häftlinge mit Nahrung oder Kleidung versorgt, ja im Extremfall sogar diesen die Freiheit geschenkt hätten. Die Täter solidarisierten sich perfiderweise mit den Opfern und versuchten sich selbst – insbesondere, wenn sie Jahre in sowjetischer Kriegsgefangenschaft verbracht hatten – als solche darzustellen. Wenn all diese ‚Argumente’ nichts nützten, weil der Verbrechensnachweis eindeutig zu ihren Lasten ausfiel, zogen sich die Beschuldigten häufig auf den Trick des Befehls- oder, so die juristisch Vorgebildeten unter ihnen, des Putativnotstands zurück und malten in grellen Farben aus, was das Unrechtsregime ihnen oder ihren Familien angetan hätte, wenn sie den mörderischen Befehlen vorgesetzter Instanzen nicht nachgekommen wären. Kurz, sie zogen alle Register, um nicht verurteilt zu werden und räumten nur das ein, was der Vernehmende schon – und zumeist besser – wußte.1 Bei dem kaufmännischen Angestellten Georg Michalsen verlief die Konfrontation mit der Staatsmacht anders. Wenngleich er sicherlich auch gerne der Haft entgangen wäre, entschloß sich Michalsen zu einem anderen Vorgehen. Im Zuge seines Prozesses brachte ihm dies einen gewissen Respekt seitens der Staatsanwaltschaft ein, weil er voll zur Sache aussagte.2 Michalsen hatte immer mit seiner Verhaftung gerechnet und sich nur gewundert, warum sie so spät erfolgte; immerhin lebte er seit 1950 als ‚unbescholtener Bürger‘ in Hamburg. Fast schien es so, als hätte sich niemand mehr für das Leben und die Kriegseinsätze des unauffälligen Buchhalters beim Bauverein der Elbgemeinden interessiert.

GEORG MICHALSEN

157

Politische Sozialisation und früher Karriereverlauf Geboren wurde Michalsen am 19. September 1906 im oberschlesischen Wendrin. Sein Vater war dort Volksschullehrer, was für diesen gleichbedeutend mit der Erziehung zum Deutschtum war. Diese streng nationale Ausrichtung der Jugend erfuhren vor allem die eigenen Kinder, die so bereits vom Elternhaus geprägt wurden. Wenn der Nationalsozialismus die Reduktion auf sich selbst und der Ausschluß des ‚Anderen‘ ist, verwundert es nicht, daß Georg Michalsen den ursprünglichen Familiennamen Michalczyk als polnisch klingenden Makel empfand.3 Erst im Jahr seiner Heirat – man stelle sich den Spott vor, den die Braut eines Angehörigen der Elite 1940 angesichts eines solchen Nachnamens hinter vorgehaltener Hand über sich ergehen lassen mußte – gelang ihm die Umwandlung in Michalsen. Damit war seine Zugehörigkeit zur deutschen Volksgemeinschaft wie zur SS sprachlich manifestiert, waren mögliche ‚dunkle Punkte‘ in der Familiengeschichte ausgemerzt. Seine Schulzeit absolvierte Michalsen von 1912 bis 1920 in Oppeln (Opole), wo er anschließend eine Lehre als Bürogehilfe in einer Anwaltskanzlei absolvierte. Danach war er dort beim Verband Oberschlesischer Genossenschaften und seit 1926 als Buchhalter bei der Landwirtschaftlichen Ein- und Verkaufsgenossenschaft in Oberglogau tätig. Trotz aller wirtschaftlichen Krisen der Weimarer Republik und den damit verbundenen Unsicherheiten in der eigenen Lebensplanung sollte Michalsen im Gegensatz zu seinen drei Brüdern nie arbeitslos werden. Er arbeitete seit 1927 ununterbrochen als Buchhalter bzw. Sachbearbeiter im Bereich der Baustoff- und Wohnungswirtschaft. Im Umkehrschluß ist daraus zu entnehmen, daß er sich der politischen Rechten nicht zuwandte, weil er sich materielle Vorteile, eine Anstellung oder gar eine Beamtenlaufbahn von dieser Option versprach. Weltanschaulich war Michalsen bereits früh durch den Konflikt um Oberschlesien festgelegt. Er gehörte seit 1924 dem Wehrwolf, einer regionalen völkischen Organisation, an, wurde aber am 1. November 1928 Mitglied der NSDAP. Dort nahm er kurzfristig die Funktion eines Schriftleiters und Kassenwarts wahr, hatte jedoch bereits 1930 das Amt des Ortsgruppenleiters von Oppeln inne. Der SS trat Michalsen, der zunächst der SA-Reserve angehört hatte, am 10. Januar 1932, mithin relativ früh, bei. Dieser zeitige Wechsel zum elitären Teil der Bewegung ist ein weiteres Indiz dafür, daß Michalsen nicht – wie so viele andere, die der SA erst nach der ‚Niederschlagung‘ des sogenannten Röhm-Putsches den Rücken kehrten – reagierte, sondern bewußt die Gruppierung wählte, die stärkere persönliche Anforderungen an ihre Mitglieder stellte. Dies galt neben der weltanschaulichen Ausrichtung auch für die körperliche Tüchtigkeit bei der militärischen Grundausbildung in der Wehrmacht und Kursen, die er bei verschiedenen Sportschulen absolvierte. Mi-

158

ANDREJ ANGRICK

chalsen verlangte sich selbst viel ab und konnte gleichsam als Vorbild erscheinen, so daß er zum Sportreferenten der 45. SS-Standarte avancierte. Diese Mischung aus Engagement und gelebter politischer Überzeugung ließen ihn schnell in der SS-Hierarchie aufsteigen, wo er 1937 den Rang eines Obersturmführers innehatte. Mit Beginn des Krieges erwartete Michalsen eigentlich seine Einberufung zum Wehrdienst; statt dessen wurde er aber einem SS-Kommando in Oppeln zugeteilt, das in Tschenstochau einrückte. Er selbst führte ein etwa 70 Mann starkes Teilkommando in Petrikau, das Wachaufgaben übernahm und den dortigen Selbstschutz der Volksdeutschen schulte. In der Folgezeit wechselte Michalsen häufig den Einsatzort, wurde innerhalb weniger Monate als Selbstschutzausbilder in den Kreisen Opoczno und Rawa eingesetzt und 1940 kurzfristig zur Dienststelle des SS- und Polizeiführers (SSPF) Radom versetzt. Bis zu diesem Zeitpunkt war Michalsen – soweit aus den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen bekannt – nicht als Täter an Verbrechen beteiligt gewesen und trotz aller ideologischen Ausrichtung ein Durchschnittsmensch geblieben, der im Rahmen seiner Möglichkeiten Karriere gemacht hatte. Aus dem Gros der Masse von Kriegsgewinnlern und Aufsteigern sollte er erst herausfallen, als er Ende August 1940 nach Lublin gelangte. Im Stab des SSPF Lublin Michalsen wurde in den Stab des ehemaligen Wiener Gauleiters Odilo Globocnik eingereiht, eines radikalen Antisemiten, der in dieser Funktion selbst vor Mord nicht zurückgeschreckt war, aber wegen verschiedener anderer Vergehen sein Amt hatte räumen müssen. Mit der Installierung der Dienststelle des SSPF Lublin war ein neuer Posten für Globocnik gefunden worden. Michalsens erste Aufgabe bestand im Einsatz am Fluß Bug, wo jüdische Zwangsarbeiter beim Bau von Grenzbefestigungen entlang der Demarkationslinie eingesetzt wurden. Globocnik wollte in einer Variante früherer Überlegungen4 dort einen Abwehrwall gegen die Sowjetunion, den Buggraben, aufbauen. Es sollte das größte Zwangsarbeiterprojekt im Distrikt Lublin werden, wofür man in erster Linie Juden einsetzte, die auf brutalste Weise ‚rekrutiert‘ wurden und unter unsäglichen Bedingungen in Lagern untergebracht waren. Als Michalsen die Aufsicht über den südwestlich von Belzec gelegenen Bauabschnitt übernahm, kontrollierte er zunächst nur ein Zwangsarbeitslager bei Plazow mit etwa 200 bis 300 Häftlingen. Einige Tage nach seiner Ankunft im Lager brach dort eine Ruhrepidemie aus. Michalsen erkrankte und konnte erst im April 1941 seine Tätigkeit im Stab wiederaufnehmen. Er wurde nach seiner Rückkehr nicht wieder am Buggraben verwendet, da das Projekt mittlerweile nach den Vorgaben der Wehrmacht für das „Unternehmen Barbarossa“ modifiziert worden war.5

GEORG MICHALSEN

159

Der Überfall auf die Sowjetunion brachte eine Neuausrichtung des SSPF Lublin mit sich, denn der Distrikt lag nun nicht mehr am Rand des Reiches, sondern war Frontgebiet und Sprungbrett nach Osten. Globocnik hatte neben seinen sonstigen Dienstobliegenheiten einen Sonderauftrag von Himmler zugeteilt bekommen. Er sollte als Beauftragter des Reichsführers-SS die Errichtung von SS- und Polizeistützpunkten im neuen Ostraum, also die Planung und den Ausbau dieser Unterkünfte nach strategischen wie wehrwirtschaftlichen Gesichtspunkten in Angriff nehmen. Michalsen, in den Augen der Hamburger Staatsanwaltschaft immer bemüht, bei seinen Vorgesetzten als „zuverlässiger und pflichtbewußter SS-Mann dazustehen, der jede ihm übertragene Aufgabe zu meistern verstand“,6 wurde zum Leiter der Außendienststelle Riga ernannt und so zuständig für den Abschnitt der Heeresgruppe Nord und das Reichskommissariat Ostland. Im Jahr 1941 baute jedoch die Lubliner Abordnung keinen einzigen Stützpunkt auf. Das gesamte Vorhaben geriet für Globocnik – faktisch hauptsächlich wegen Mangels an geeigneten Fertigungsstellen – zum Desaster, was seinen Rückzug auf den Distrikt Lublin und das Ende der Expansionspolitik seiner Dienststelle bedeutete.7 In Riga, wo Michalsen die Dinge vorantreiben sollte, mag dabei die Präsenz anderer, bei Himmler wohlgelittener Dienststellen und Autoritäten eine Rolle gespielt haben, die in den Lublinern eine Konkurrenz oder einen Fremdkörper sahen. Vor allem durch die Ernennung Friedrich Jeckelns als Höherer SS- und Polizeiführer (HSSPF) Ostland war in Riga ein Weltanschauungskrieger zum Zug gekommen, der auf wirtschaftliche Belange und Zwangsarbeit – auch wenn diese der SS zugute kamen – keine Rücksicht nahm und eine unerbittliche Vernichtungspolitik betrieb, die selbst Himmler zu eigenwillig erschien. Eine der grausigsten Aktionen Jeckelns war die Räumung des Rigaer Ghettos, bei der etwa 27800 Menschen am 30. November und am 8. Dezember 1941 ermordet wurden. Michalsen wohnte der ersten Aktion bei, der zwischen 12000 und 15000 Menschen, darunter ein Transport Berliner Juden, zum Opfer fielen. Aber obwohl jeder verfügbare SS-Mann, Polizist und Hilfswillige für die Durchführung einer solchen Massenhinrichtung benötigt wurde, griff man auf ihn wohl wegen seines Status als Lubliner bei den Exekutionen im Wald von Rumbula nicht zurück. Michalsen war zwar vor Ort, betrachtete das Massaker aber als Zuschauer, als Voyeur, dem ein Schauspiel dargeboten wurde. Er erlebte in Rumbula, wie herangeführte Kolonnen jüdischer Opfer nur mit Unterwäsche bekleidet durch Schüsse aus Maschinenpistolen niedergestreckt wurden. Nach der späteren Analyse von Michalsen war dabei die „Bewachung völlig unzulänglich“. Trotzdem leistete keines der Opfer Gegenwehr, nur zwei Mädchen riefen laut vor ihrer Erschießung: „Es lebe Juda“. Michalsen will dem Verbrechen nur einige Minuten beigewohnt haben. Trotzdem hatte er begriffen, wie leicht Tausende von Menschen zur eigenen Ermordung geführt wer-

160

ANDREJ ANGRICK

den konnten, ohne daß sie Widerstand leisteten. Gleichwohl hatte er sich damit strafrechtlich gesehen noch nicht schuldig gemacht.8 Dies sollte erst geschehen, als er im Frühsommer 1942 zum SSPF Lublin – Abteilung „Einsatzstab Reinhard“ – zurückversetzt wurde, eine Bezeichnung, die sich nach Michalsens Erinnerung am Vornamen Heydrichs orientierte.9 Zu diesem Zeitpunkt waren die drei Vernichtungslager Belzec an der Südgrenze des Distrikts Lublin, Sobibor im Kreis Cholm und Treblinka beim Dorf Malkinia unweit der Bahnstrecke Warschau-Bialystok fertiggestellt worden. Die Aufgabe des Einsatzstabes Reinhard, geführt von SS-Sturmbannführer Hermann Höfle, war zunächst, die Räumungen der jüdischen Wohnviertel im Distrikt Lublin zu organisieren. Die Vernichtung des Lubliner Ghettos erfolgte durch den Einsatz von Angehörigen des Kommandeurs der Sicherheitspolizei und des SD (KdS) als ortskundige Führer, während die Menschen von zwei Kompanien Trawnikis, einer Sondereinheit des SSPF, aus den Häusern getrieben und zum Umschlagplatz verbracht wurden. Auf den Straßen wurden die Opfer geprügelt, getreten und verhöhnt. Wer sich nicht fügte oder zu gebrechlich war, den ermordete man unmittelbar während der Räumung. Die Aufgabe des Lubliner SSPF-Kommandos lag in der Koordination der Aktion, umfaßte also die Organisation und Sicherung der Deportationen in Lublin bis zum Ankunftsort im Vernichtungslager Belzec, die Aussonderung der noch benötigten ‚nützlichen Juden‘ und die Werteerfassung. Mit den Details der eigentlichen Räumung des Ghettos von etwa 35000 Menschen10 wollte es sich nicht befassen; diese niedere Arbeit war dem KdS Lublin übertragen worden. In der ersten Phase der Ghettoliquidierung bis Ende März 1942 wurden in Belzec etwa 18000 Lubliner Juden vergast. Nach einer Unterbrechung – die Täter verfügten noch nicht über die entsprechenden Erfahrungen, die Vernichtung einer jüdischen Gemeinde zu steuern – wurden mindestens weitere 8000 Menschen nach Belzec verschleppt und ermordet. Ghettoräumungen in Warschau und Bialystok Nachdem man die Aussiedlung einer kompletten Gemeinde – mit Ausnahme derjenigen, die ins Restghetto von Majdan-Tatarski verlegt wurden – erprobt hatte, erhielt das Lubliner Kommando den Auftrag, über die Distriktsgrenzen nach Warschau zu gehen. Michalsen war mittlerweile aus Riga zurückgekehrt und zum Stab gestoßen. Auf die Frage des Richters beim Landgericht Wiesbaden, was er damals darüber gedacht habe, daß die Juden in die Vernichtungslager deportiert wurden, antwortete Michalsen: „Bei der ganzen Sache mit den Juden hat man sich gar nichts dabei gedacht. Man tat ganz einfach seine Aufgabe und dachte nicht weiter darüber nach.“11 Im Sommer 1942 eröffnete Globocnik im Gebäude des KdS Höfle, Michalsen, Claasen, Lerch und anderen Mitgliedern seiner „Abteilung Reinhard“

GEORG MICHALSEN

161

sowie dem Judenreferenten des KdS Lublin, Hermann Worthoff, daß sie aufgrund ihrer Erfahrung die „Aussiedlung“ des Warschauer Ghettos zu organisieren hätten. Mit mehreren Fahrzeugen trat das Lubliner Kommando seine Fahrt an, wobei sie zur Durchführung ihrer Aufgabe abermals drei Kompanien Trawnikis zugeteilt bekamen. Am 21. Juli erreichten sie Warschau und wurden zur Besprechung mit dem SSPF Warschau, Dr. Ferdinand von Sammern-Frankenegg, geladen. Dieser hatte zwar nominell die Leitung der „Aussiedlungsaktion“ inne, überließ die konkrete Durchführung aber den ‚kompetenteren‘ und mit einer Sondergenehmigung versehenen Lublinern sowie der Dienststelle des KdS Warschau unter SS-Obersturmbannführer Dr. Ludwig Hahn. Bei diesem Treffen wurde als Taktik vereinbart, den Judenrat und die Ghettopolizei für die Bereitstellung entsprechender Kontingente von zu Deportierenden verantwortlich zu machen. Nach dieser Besprechung bezog das Kommando seine Befehlsstelle mitten im Ghetto, um vor Ort zu sein. Entsprechend der Planung konfrontierten Höfle und Michalsen den Vorsitzenden des Warschauer Judenrates, Adam Czerniaków, mit ihren ultimativen Forderungen, wonach täglich bis 16.00 Uhr 6000 Ghettoinsassen für den Abtransport beim Verladeplatz an der Transferstelle bereitstehen müßten. Analog zu den Lubliner Deportationen wurden von dieser Anordnung nur Personen ausgenommen, die bei deutschen Behörden oder reichsdeutschen Firmen beschäftigt waren, Angehörige und Angestellte des Judenrates sowie des Ordnungsdienstes, Personal der jüdischen Krankenhäuser, arbeitsfähige Juden, die man noch in den Arbeitsprozeß einreihen konnte sowie Ehepartner und Kinder all dieser Gruppen. Die erste Woche der Deportationen vollzog sich entsprechend der Vorgabe. Jeden Tag kam die geforderte Quote zusammen, weil die Menschen dem Versprechen glaubten, nach Osten umgesiedelt zu werden und sich mehr oder minder ‚freiwillig‘ meldeten, ohne daß sie den eigentlichen Bestimmungsort der Züge, das Vernichtungslager Treblinka, erahnten. Während dieser Zeit besuchte auch Eichmann Warschau und besprach sich mit Michalsen über den Stand der Aktion. Die Tarnung einer Umsiedlung ließ sich Ende Juli nicht mehr aufrechterhalten. Gerüchte über die Ermordung der bereits Deportierten hatten die Warschauer Gemeinde erreicht. Adam Czerniaków zog seine verzweifelte Konsequenz und vergiftete sich am 27. Juli 1942, kurz nachdem ihm von den Lublinern die Zusammenstellung eines Kindertransportes befohlen worden war. Das Kommando mußte jetzt notgedrungen seine Taktik ändern und ging direkt vor, indem es auf brutale Weise das Ghetto nach Straßenzügen von Nord nach Süd räumen ließ. Jeder Räumungstrupp wurde entweder von einem Angehörigen des Lubliner Kommandos oder des KdS Warschau geführt und bediente sich der Trawnikis, deutscher Ordnungspolizisten und des jüdischen Ordnungsdienstes. Wer sich in einem abgesperrten Gebiet auf Zuruf nicht stellte und kontrollieren ließ, wurde erschossen. Neben der eigentlichen

162

ANDREJ ANGRICK

Ghettoräumung verfolgte das Kommando mit dieser Vorgehensweise das Ziel, alle Juden aufzuspüren, die heimlich im Ghetto untergetaucht waren, über keine gültigen Arbeitsausweise verfügten oder in den Augen der Täter als ‚entbehrlich‘ angesehen wurden. Diese systematische Durchforstung des Ghettos dauerte bis Anfang September 1942 an. In der letzten Phase wurde der sogenannte Kessel an der Mila gebildet, wo sich nach Aufruf des Judenrates auch die arbeitsfähigen Juden einfinden mußten. Dort wurde ein gewisses Kontingent für den Arbeitsprozeß zurückgestellt, und Betriebsleiter durften sich eine Anzahl ‚ihrer‘ Juden abholen. Von den 80000 bis 150000 Menschen, die sich etwa eine Woche im Kessel befanden, selektierten das Lubliner Kommando und die örtlichen Polizeiorgane die Mehrzahl der Menschen und ordneten deren Transport nach Treblinka an; etwa 30000 Zwangsarbeiter wurden verschont und für die Produktion zurückgestellt. Die Zahl der insgesamt im Sommer 1942 aus Warschau deportierten und in Treblinka ermordeten Menschen schätzte die Staatsanwaltschaft Hamburg auf ca. 300000 Opfer. Michalsen wirkte als stellvertretender Leiter des Lubliner Kommandos direkt an der Räumung und dem Einsatz der Trawnikis mit. Er war am Bahnhof eingesetzt, wo jeweils 100 Menschen in einen Waggon steigen mußten, ließ zur besseren Selektion neue Arbeitsausweise erstellen und war für die Berichterstattung verantwortlich. Zu körperlicher Gewalt oder gar Exzeßtaten ließ er sich – im Gegensatz zu vielen anderen im Warschauer Ghetto Eingesetzten – kaum hinreißen; es ist ‚nur‘ ein Fall bezeugt, wo er auf einen alten Mann schoß. Trotzdem war Michalsen mit „Leib und Seele bei der Sache“. Beim Abtransport der Familienangehörigen des jüdischen Ordnungsdienstes zeigte er sich besonders hart und unnachgiebig, schwang die Peitsche und schoß, „um die Juden einzuschüchtern und gefügig zu machen“, in die Luft. Als die Räumungen endgültig beendet waren, setzten die beteiligten Einheiten noch eine abschließende Besprechung an, die einerseits der Fehleranalyse diente, andererseits auch eine Aussprache über das Konzept des Gesamtvernichtungsplans gewesen sein dürfte. Nach diesem verwaltungsmäßigen Abschluß des Verbrechens kehrte das Sonderkommando an seinen Dienstsitz in Lublin zurück, wo der Besitz aller im Zuge der „Aktion Reinhard“ ermordeten Juden bei der Werteerfassung gesammelt wurde.12 Michalsen stieg mit seinem Einsatz in Warschau zum ‚Räumungsexperten‘ auf und war an weiteren Ghettoliquidationen in den Distrikten Warschau – Räumungen unter Leitung des Lubliner Kommandos sind für Otwock, Falencia, Rembartow und Wolomin belegt – und Lublin – u.a. in Piaski, in Miedzyrzec sowie Wlodawa – federführend beteiligt. Im Frühjahr 1943 kehrte Michalsen zur endgültigen Liquidierung des Ghettos nach Warschau zurück. Hierbei war aber nicht sein ‚Expertenwissen‘ als Räumungsspezialist gefragt, da der neue SSPF Jürgen Stroop anders als sein Vorgänger ein deutliches

GEORG MICHALSEN

163

Maß an Eigeninitiative mitbrachte und angeforderte Hilfskräfte selbstständig einzusetzen vermochte. Während der sogenannten Stroop-Aktion war es vielmehr Michalsens Aufgabe, für Globocnik die Verlegung der Betriebe von Többens und Schultz mitsamt ihrer jüdischen Arbeitskräfte nach Lublin durchzuführen. Nach dem Ausbruch des Ghettoaufstandes war Stroop in dieser Hinsicht nicht mehr entgegenkommend, und Globocnik selbst mußte die Verhandlungen über die Verlegung der Betriebe aufnehmen. Michalsen wurde deshalb aus Warschau abgeordert.13 Die letzte große Räumung, an der er beteiligt war, sollte im August 1943 zur Liquidierung des Bialystoker Ghettos führen. Obwohl Globocnik hier wieder einmal keine Weisungsbefugnis gegenüber dem dortigen KdS, SSSturmbannführer Dr. Herbert Zimmermann, besaß, war der Stab des SSPF Lublin mit der Auflösung des Ghettos und Michalsen mit der Leitung des ihm extra dafür zugeteilten Kommandos beauftragt worden; wohl nicht zuletzt deshalb, weil hier die Verlegung von Wirtschaftsbetrieben einschließlich der Maschinen – analog der Überführung von Többens und Schultz aus Warschau – in die mit jüdischen Kräften betriebenen Zwangsarbeitslager des SSPF Lublin bzw. der Ostindustrie GmbH letztlich doch Globocniks Zuständigkeit betrafen.14 Am 16. August 1943 begann die Vernichtungsaktion, an der neben Angehörigen des KdS vor allem zwei Bataillone des Polizeiregiments 26 mitwirkten, die die Menschen zum Bahnhof trieben. Wer sich wehrte, wurde auf der Stelle erschossen. Während Alte, Schwache und Kinder in die Eisenbahnwagen steigen mußten, wurden für die selektierten Arbeitsfähigen Waggons an die Todeszüge angekoppelt. Diese wurden in den Bahnhöfen Malkinia und Treblinka von den Todeszügen abgetrennt und nach Lublin umgeleitet. Mit dem 23. August 1943 galt Bialystok als „judenrein“; mindestens 30000 Menschen waren zur Ermordung in die Vernichtungslager – die Mehrzahl nach Treblinka und zwei Züge nach Auschwitz – deportiert worden.15 Einsatz in Italien und Rückkehr nach Deutschland Noch im August 1943 wurde Michalsen nach Triest versetzt, weil der zum HSSPF Adriatisches Küstenland ernannte und aus Lublin weggelobte Globocnik eine gewisse Anzahl ihm vertrauter Mitarbeiter um sich wissen wollte. Michalsen übernahm jetzt die Posten des Quartiermeisters und des Personalsachbearbeiters. Dabei soll er laut einem Schreiben Globocniks aus Deutschen und Hilfswilligen bestehende Kampfverbände geführt haben und für seine Bekämpfung der Partisanen in Istrien mit dem Eisernen Kreuz II ausgezeichnet worden sein. Trotzdem sollte Michalsen nach dem Willen des Chefs des SS-Personalhauptamtes, SS-Obergruppenführer Maximilian von Herff, in der Hierarchie nicht weiter aufsteigen, was den Vorgesetzten Michalsens, den Massenmörder Odilo Globocnik, „sehr traurig“ stimmte. Globocnik verband

164

ANDREJ ANGRICK

neben einer persönlichen Bindung an Michalsen die „sachliche Leistung“ des treuen Kameraden beim „Einsatz R[einhard]“ in Warschau und bei der „Säuberung“ von Bialystok. Deshalb erbat Globocnik im Februar 1945, als das Dritte Reich sich bereits in der Agonie befand, von Herff, der Beförderung Michalsens angesichts seiner ausgesprochenen Qualitäten zum SS-Sturmbannführer der Waffen-SS zu entsprechen.16 Auch umgekehrt empfand Michalsen gegenüber Globocnik, zu dem er ein gutes Verhältnis hatte, wenigstens Respekt, wenn nicht so etwas wie Freundschaft. Globocnik trank zwar Michalsens Meinung nach zuviel, konnte dann aber unermüdlich ganze Nächte durcharbeiten. Daß Globocnik viel von seinen Leuten verlangte, sagte Michalsen offensichtlich zu. Er blieb jedenfalls bis zur Gefangennahme im Mai 1945 mit Globocnik zusammen und war auch Zeuge des Selbstmordes seines Chefs, der sich mit Zyankali vergiftete. Michalsen selbst blieb bis 1948 in britischer Gefangenschaft. Nach seiner Entlassung nahm er Kontakt mit seiner Familie auf, wechselte aus privaten Gründen mehrfach den Wohnsitz, bis er 1950 eine Anstellung in Hamburg fand und dort bis zu seiner Verhaftung lebte.17 Nachdem Höfle in der Haft Selbstmord begangen hatte, wurde Michalsen in der Hansestadt als Hauptbeschuldigter für die Verbrechen in Bialystok und Warschau der Prozeß gemacht, in dem er zu zwölf Jahren Haft verurteilt wurde. Das vergleichsweise milde Urteil lag wohl teilweise in der Offenheit seiner Aussagen – im eigenen wie in Verfahren, wo er als Zeuge geladen war – begründet sowie in der Tatsache, daß er sich charakterlich von so manchen Exzeßtätern unterschied. So blieb das Bild eines Deutschnationalen, der früh zur ‚Bewegung‘ gefunden hatte und dessen ganzer Ehrgeiz sich temperamentlos, dafür zielstrebig und nüchtern bei der Durchführung der „Endlösung“ in der Hoffnung entlud, ein anerkannter Teil der deutschen Volksgemeinschaft zu sein. Die Vernichtung der europäischen Juden erwies sich nach dem Ende des Krieges für die Weltöffentlichkeit nicht als Gerücht, sondern als nicht zu leugnende und nicht wiedergutzumachende Tatsache. Doch auch die deutsche Gesellschaft war – wohl zu Michalsens Bedauern – nicht mehr dieselbe, sondern vertrat jetzt grundlegend andere moralische Positionen, obwohl sie das Erbe des Dritten Reiches nie abzulegen vermochte.

Anmerkungen 1

Herbert Jäger: Verbrechen unter totalitärer Herrschaft. Studien zur nationalsozialistischen Gewaltkriminalität, Frankfurt/M. 1982, S. 252–289; Adalbert Rückerl: NS-Verbrechen vor Gericht. Versuch einer Vergangenheitsbewältigung, Heidelberg 1984, S. 248–258, 281–286.

GEORG MICHALSEN 2

165

Dem Verfasser, der seit gut zehn Jahren regelmäßig Akten bei der Staw Hamburg auswertet, ist dort wiederholt versichert worden, daß es sich bei Michalsen um einen besonderen Täter gehandelt habe, weil er eben die oben beschriebenen Verteidigungsstrategien nicht für sich in Anspruch nahm. 3 BAB, BDC, RuSHA Georg Michalsen. 4 Anfang 1940 gab es Überlegungen Himmlers und Globocniks, einen „Ostwall“ mit jüdischen Arbeitskräften zu bauen, ein Judenreservat im Distrikt Lublin einzurichten und unter Ausnutzung der jüdischen Arbeitskraft möglicherweise auch den Kern einer SS-eigenen Wirtschaft zu legen, was am Widerstand des Generalgouverneurs Frank und des Militärs scheiterte. 5 Dieter Pohl: Von der „Judenpolitik“ zum Judenmord. Der Distrikt Lublin des Generalgouvernements 1939–1944, Frankfurt/M. u.a., S. 81–85. 6 So die rechtliche Würdigung seiner Person hinsichtlich der Motivlage, Anklage Staw Hamburg v. 16.10.1972, Staw Hamburg 147 Js 24/72 (147 Ks 3/72). 7 Jan Erik Schulte: Zwangsarbeit und Vernichtung: Das Wirtschaftsimperium der SS. Oswald Pohl und das SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt 1933–1945, Paderborn u.a. 2001, S. 276 ff. 8 Zu den Verbrechen in Riga Anklage Staw Hamburg v. 21.12.1971, BAL, SA 438; Vern. Michalsen v. 29.6.1961, Staw Hamburg 141 Js 534/60, Bd. 24, Bl. 3796 f. 9 Dto. v. 25.1.1961, Staw Wiesbaden 8 Ks 1/70, Bd.14, Bl. 2183. 10 Nach den Feststellungen des LG Wiesbaden, das zugunsten der Angeklagten von Mindestzahlen der Opfer ausging, waren in der ersten Ghettoaktion ca. 18000 Menschen, in der zweiten ca. 8000 Menschen nach Belzec verschleppt worden; 3300 wurden als Fachkräfte nach Majdan-Tatarski verbracht, etwa 5000 konnten sich zunächst verstecken und dann heimlich dort einquartieren; alle anderen wurden während der Ghettoräumung in Lublin erschossen, Urteil LG Wiesbaden v. 15.12.1975, BAL, SA 525. 11 Vern. Michalsen, Staw Wiesbaden 8 Ks 1/70, Protokollbd. 3 der Hauptverhandlung, Bl. 220. 12 Anklage Staw Hamburg v. 16.10.1972 (Anm. 6); die Zitate, die Michalsens Persönlichkeit beschreiben, sind das Resümee der Ermittlungen der Hamburger Staw, die mit diesen Worten die charakterliche Einschätzung Michalsens durch seine ehemalige Kollegen und Untergebenen zusammenfaßte; vgl. Im Warschauer Ghetto. Das Tagebuch des Adam Czerniaków 1939–1942, München 1986, S. 284 f. 13 Zur Verlegung der Firmen Többens und Schultz Helge Grabitz/Wolfgang Scheffler: Letzte Spuren. Ghetto Warschau – SS-Arbeitslager Trawniki – Aktion Erntefest, Berlin 1988; Vern. Michalsen v. 14.2.1961, Staw Wiesbaden 8 Ks 1/70, Bd. 12, Bl. 1940. 14 Pohl (Anm. 5), S. 162–165. 15 Anklage Staw Hamburg v. 16.10.1972 (Anm. 6); Vern. Michalsen v. 15.8.1968, Zentralstelle Dortmund 45 Js 1/61, Bd. 12, Bl. 1 ff.; Anklage Zentralstelle Dortmund v. 15.12.1964, BAL, SA 194; in der Anklage gegen Zimmermann ging man noch von Sobibor und Majdanek als Zielorten aus; späteren Verfahren lagen dagegen bereits Wagenzettel, Bahndiensttelegramme und Fahrplananordnungen der betreffenden Züge vor. 16 HSSPF Adriatisches Küstenland an SS-PersonalHA v. 11.2.1945, BAB, BDC, SSO Georg Michalsen. 17 Vern. Michalsen v. 24.1.1961, Staw Wiesbaden 8 Ks 1/70, Bd.14, Bl. 2140 f.; dto., ebd., Protokollbd. 3 der Hauptverhandlung, Bl. 219, 221.

MARTIN HÖLZL

Walter Nord – Polizeisoldat und Weltanschauungskrieger∗ Der Name Walter Nord findet sich weder in Handbüchern noch in biographischen Speziallexika zum Nationalsozialismus. Als Kommandeur von Polizeieinheiten war Nord einer von Hunderten Offizieren der Ordnungspolizei, die während des Zweiten Weltkrieges die Schnittstelle zwischen den Führungseliten und dem „Fußvolk der Endlösung“ bildeten.1 Offizier in Republik und Diktatur Walter Nord wurde am 5. März 1904 als Sohn eines Eisenbahn-Oberinspektors in Elberfeld geboren. Nach Erreichen der Obersekundareife studierte er an der Universität Bonn vier praktische Vorsemester Chemie und Physik mit dem Ziel, Diplom-Ingenieur zu werden. Als sein Vater arbeitslos wurde, mußte er aus finanziellen Gründen sein Studium abbrechen. Walter Nord trat daraufhin 1925 in die preußische Schutzpolizei ein. Im Rückblick begründete er die Entscheidung damit, „diesen Beruf aus innerer Überzeugung erstrebenswert gefunden“ zu haben.2 An der Polizeischule Münster wartete auf den 21jährigen Polizeianwärter eine harte Grundausbildung, die kaum von der des Militärs zu unterscheiden war.3 Den Ausbildern – überwiegend Weltkriegsoffiziere, für die in der verkleinerten Reichswehr keine Verwendungsmöglichkeiten mehr bestanden – dienten ihre eigenen Erfahrungen im kaiserlichen Heer und in den Freikorps als pädagogische Richtschnur. Für die Polizeischule Münster hieß das: „Teils ähnelte die Polizei-Ausbildung der des Infanteristen, teils der des Kavalleristen.“4 Als ein Erziehungsideal forderte die Hausordnung der Schule das „Hartmachen“.5 Das Ausbildungsprogramm orientierte sich weniger am Einzeldienst auf den Revieren, sondern vielmehr am Einsatz geschlossener Verbände, den kasernierten Hundertschaften, bei der Niederschlagung von Unruhen.6 Zwischen 1926 und 1929 wurde Nord in Remscheid, Barmen und Aachen sowohl im Revierdienst als auch in Hundertschaften der Schutzpolizei eingesetzt, zuletzt als Zugführer. Der Besuch der Höheren Polizeischule in Eiche bei Potsdam 1929/30 ebnete ihm den Aufstieg in die Offizierslaufbahn. Es folgten fünf Jahre „als Zugführer, Ausbilder und Fachlehrer für Strafrecht und Polizeirecht“ sowie als „Führer von Einsatzkommandos“ in der Berliner Schutzpolizei.7 Der Zuständigkeitsbereich seiner Hundertschaft erstreckte sich unter anderem auf den als KPD-Hochburg bekannten Arbeiterbezirk Friedrichshain.8 Die Zusammenstöße mit Nationalsozialisten und Kommunisten bestimmten besonders in der Reichshauptstadt den polizeilichen Alltag in der Endphase der Weimarer Republik. Im konservativen Offizierskorps

WALTER NORD

167

verstärkten solche Unruhen und Straßenkämpfe die schon traditionelle antikommunistische Grundhaltung, nicht zuletzt deswegen, weil Polizeibeamte Opfer kommunistischer Mordanschläge wurden.9 Das Vorgehen gegen SA und Rotfrontkämpfer-Bund überforderte sowohl die Kräfte als auch die eingeübten Verhaltensmuster der Schutzpolizei. Allein bei den Wahlkampagnen Anfang 1932 war die Berliner Polizei bei Tausenden politischen Versammlungen eingesetzt.10 Es ist anzunehmen, daß Erfahrungen dieser Art, die nicht nur in der Polizei das beherrschende Thema jener Jahre waren, auch Walter Nord geprägt haben. Der Übergang zur NS-Diktatur führte zu Änderungen in Ausrüstung und Organisationsstruktur der Schutzpolizei, die gerade von den Offizieren begrüßt wurden. Besonders die Aufwertung alles Militärischen fand im standesbewußten Offizierskorps Zustimmung und erhöhte die Akzeptanz der nationalsozialistischen Führung.11 Ob Nord schon zu diesem Zeitpunkt wie viele andere Polizisten mit den Nationalsozialisten sympathisierte, muß offenbleiben. Aus der evangelischen Kirche trat er 1936 aus, Mitglied der NSDAP wurde er aber erst im Oktober 1940.12 Gemeinsam mit seiner Ehefrau – er hatte 1932 geheiratet – zog Nord 1935 von Berlin nach Dortmund, wo er als Oberleutnant zunächst die Führung zweier Polizeireviere übernahm, um ein Jahr später als Adjutant und Luftschutzoffizier eines Polizeiabschnittes eingesetzt zu werden.13 Infolge großer Personalabgaben von der Schutzpolizei an die Wehrmacht mußten die kasernierten Einheiten neu gebildet werden.14 Nach seiner Ernennung zum Hauptmann im Jahr 1937 erhielt Nord die Führung einer solchen Polizeiausbildungs-Hundertschaft in Dortmund zugewiesen. Daneben unterrichtete er als Fachlehrer für Strafrecht, Polizeirecht und Polizeiverwendung. Auf den ersten Blick entsprach der Fächerkanon jenem, den Nord schon zur Zeit der Republik in Berlin gelehrt hatte. Die Inhalte hatten sich in den vier Jahren seit Beginn der NS-Diktatur jedoch in Richtung eines völkisch definierten Polizeibegriffs verschoben.15 Kontrollinstanzen waren abgeschafft, die polizeilichen Zugriffsmöglichkeiten wesentlich erweitert worden. Jeder Polizeioffizier sollte „vor allem auch Aktivist der nationalsozialistischen Weltanschauung sein“.16 Organisatorisch waren Schutzpolizei und Gendarmerie reichseinheitlich zur Ordnungspolizei zusammengefaßt und einer Berliner Zentralbehörde unterstellt worden.17 Einsatz in Polen Als Kompaniechef von Polizeitruppen nahm Nord 1938/39 an der Besetzung Österreichs und der Zerschlagung der Tschechoslowakei teil, wobei die Einsätze schon ein Testfall für den bevorstehenden Kriegseinsatz der Ordnungspolizei waren.18 Der ständige Wechsel zwischen dem Polizeidienst im Reich und in den besetzten Gebieten bestimmte für die kommenden Jahre Nords

168

MARTIN HÖLZL

weitere Verwendung. Kurz nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen rückte er Anfang September 1939 mit dem Dortmunder Reservepolizeibataillon 61 als Chef der 1. Kompanie in Posen ein. Nord fungierte als Beisitzer, in Abwesenheit des Bataillonskommandeurs auch als Vorsitzender eines Polizeistandgerichtes, das Todesurteile gegen Polen verhängte, die gegen das Waffenbesitzverbot verstoßen hatten.19 Die Verfahren gingen häufig auf Anzeigen von sogenannten Volksdeutschen zurück, die ihre neue Machtposition rigoros zur Begleichung ‚alter Rechnungen‘ mit ihren polnischen Nachbarn ausnutzten. In Szcroda erschossen Angehörige des Bataillons auf Wehrmachtsbefehl an einem Tag gleich Dutzende Polen, denen Greuel an Volksdeutschen vorgeworfen wurden. Die Urteile wurden in der Regel direkt im Anschluß an die kurzen Verhandlungen durch ein Erschießungskommando des Bataillons vollstreckt.20 Ein zweites Aufgabenfeld des Reservepolizeibataillons 61 war die Durchsetzung der „volkstumspolitischen“ Neuordnungspläne, die gewaltige Bevölkerungsverschiebungen mittels Deportationen und Umsiedlungen vorsahen. Hierzu wurden im Winter 1939/40 unter Mithilfe der Dortmunder Ordnungspolizisten Zehntausende nichtjüdische und jüdische Polen aus ihren Häusern vertrieben und in das Generalgouvernement abgeschoben. Die Polizisten riegelten Straßen ab, umstellten ganze Häuserblocks und zwangen die Bewohner, mit wenigem Handgepäck binnen kürzester Zeit ihre Wohnungen zu verlassen, die dann im Zuge der Germanisierungspolitik von Balten- und Wolhyniendeutschen übernommen wurden.21 Hinweise auf Nords Auftreten während des Poleneinsatzes finden sich in einem Verleihungsvorschlag für das Kriegsverdienstkreuz mit Schwertern II. Stufe, den sein Bataillonskommandeur wie folgt begründete: „Im Kampf gegen polnische Banden und Heckenschützen hat er in jeder Weise seine Kompanie zum Erfolg geführt. Dieser Erfolg ist allein seiner vorbildlichen Haltung und seinem persönlichen Einsatz zuzuschreiben. Er ist ein Vorbild seiner Kompanie. Seinen Schneid und seinen Einsatz hat sich die Kompanie zu eigen gemacht. Durch den immer wohlüberlegten, einwandfreien Einsatz der Kompanie und durch sein Draufgängertum blieben der Kompanie Verluste erspart.“22 Abgesehen von aller Auszeichnungslyrik, in der solche Vorschläge üblicherweise verfaßt waren, wurden Nord Eigenschaften attestiert, die ihm – häufig ins Negative gewendet – auch von Untergebenen nachgesagt wurden.23 Während des Einsatzes in Posen erhielt Nords Dortmunder Heimatdienststelle die Anweisung, ein neues Polizeiausbildungsbataillon aufzustellen, um den wachsenden Personalbedarf der Polizei im Krieg zu decken. Es mangelte nicht an Rekruten, es fehlte aber an erfahrenen Offizieren.24 Der zuständige Inspekteur der Ordnungspolizei in Münster wandte sich im November 1939 an seinen Posener Kollegen Oskar Knofe und bat darum, Nord gegen einen

WALTER NORD

169

anderen Offizier auszutauschen: „Hauptmann der Schutzpolizei Nord hat in Dortmund mehrere Jahre eine S.-Hundertschaft geführt und besitzt auf dem Gebiete der Ausbildung besondere Erfahrungen. Er wird für die Führung der aufzustellenden Ausbildungskompanie hier dringend gebraucht.“25 Doch auch Knofe wußte Nord zu schätzen und entgegnete, „daß er diesem Antrag leider nicht zustimmen könne. Der ständige Einsatz des Batl. unter sehr schwierigen Verhältnissen (Razzien, Evakuierungen, Standgerichte usw.) und auch die Durchführung der Ausbildung der 4000 Mann Hilfspolizei erfordere ältere erfahrene Offiziere.“26 Walter Nord blieb noch einige Monate in Posen, ehe er im März 1940 nach Dortmund zurückkehrte.27 Die Ordnungspolizei warb zu dieser Zeit um Freiwillige, die zur Aufstellung zusätzlicher Polizeibataillone gebraucht wurden.28 In Recklinghausen entstand auf diesem Wege das Polizeibataillon 316, dem Nord im Februar 1941 wiederum als Ausbilder und Chef der 1. Kompanie zugeteilt wurde. Eine Spur der Vernichtung Anfang Juli 1941, nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion, marschierte das Bataillon im Verband des Polizeiregiments Mitte in die Stadt Bialystok ein.29 Das Polizeibataillon 316 unterstand dem Höheren SS- und Polizeiführer (HSSPF) Erich von dem Bach-Zelewski, der seine Einheiten im Weltanschauungskrieg besonders gegen den jüdischen Bevölkerungsteil einsetzte. Eigenständig operierend, häufig jedoch in Kooperation mit dem Einsatzkommando 8 der Einsatzgruppe B, hinterließ das Polizeibataillon 316 entlang seiner Marschroute durch Weißrußland eine Spur der Vernichtung. Den Auftakt bildete eine Massenerschießung am 12. und 13. Juli 1941 in Bialystok, die in Ablauf und Vorgehen das Muster für die nachfolgenden Erschießungen abgeben sollte. Frühmorgens umstellten Polizisten zusammen mit einem weiteren Polizeibataillon ein überwiegend von Juden bewohntes Viertel, holten die Menschen aus ihren Wohnungen, konzentrierten sie vorübergehend auf einem Platz, um sie dann nach und nach zur Erschießung in ein außerhalb der Stadt gelegenes Waldgelände zu transportieren. Dort erschossen bataillonseigene Exekutionskommandos an vorbereiteten Gräben die Opfer mit Karabinersalven.30 Über die Weitergabe von Befehlen und die Leitung der Einsätze seiner Kompanie hinausgehend fiel Nord schon in Bialystok durch ein Verhalten auf, das ehemalige Beteiligte in Nachkriegsvernehmungen zu der Feststellung veranlaßte, „daß er geradezu mit ‚Freude‘ und ‚Eifer‘ bei der Sache gewesen sei“.31 Außerdem war er als starker Trinker bekannt, der „vor einem größeren Einsatz oder [einer] Aktion [...] mit Vorliebe erst einmal im Offz.-Kasino stark zechte“.32 Parallel zu solchen Einsätzen, die sich in Tagesaktionen gezielt gegen eine bestimmte jüdische Gemeinde richteten, wurden von kleineren Kommandos Streifenfahrten in das Umland unternommen, die dem Aufspüren verspreng-

170

MARTIN HÖLZL

ter Soldaten der Roten Armee galten. Im Rahmen einer großangelegten Durchkämmungsaktion geriet Nord am 6. August 1941 nahe der Ortschaft Jazyl mit zwei Zügen seiner Kompanie in ein Feuergefecht mit russischen Soldaten. Sieben Wachtmeister, die bei dem sofortigen Rückzug aus dem Ort erschossen worden waren, wurden später geborgen, einige waren verstümmelt worden. Auf Befehl des HSSPF leitete Nord eine Strafaktion gegen die Bewohner von Jazyl, obwohl deren Mitschuld an dem russischen Hinterhalt selbst von den beteiligten Polizisten bezweifelt wurde. Alle anwesenden Bewohner – es soll sich nur noch um „Kinder, Frauen und Greise“ gehandelt haben, nachdem die Männer in der Zwischenzeit in die Wälder geflüchtet waren – wurden einfach „reihenweise ‚zusammengeschossen‘“. Danach warfen Polizisten Handgranaten in die Häuser und brannten die Ortschaft nieder. Im Anschluß an die Ereignisse von Jazyl gab Nord an seine Kompanie offensichtlich die Weisung aus, grundsätzlich jeden zu erschießen, der entlang der zu überwachenden Rollbahn aufgegriffen wurde. Unter den daraufhin Erschossenen sollen auch russische Soldaten gewesen sein, die sich aufgrund deutscher Flugblätter ergeben hatten.33 Es spricht für sich, daß Hauptmann Nord das Polizeibataillon 316 bei einem „Kursus zur Bekämpfung von Partisanen“ vertrat, zu dem der Befehlshaber des rückwärtigen Heeresgebietes Mitte vom 24. bis zum 26. September 1941 geladen hatte. Laut Tagesordnung hatte Nord zusammen mit anderen Kompanieführern in Mogilew kurz über Erfahrungen im Umgang mit Partisanen zu referieren. Die Veranstaltung wies mit dem HSSPF, dem Chef der Einsatzgruppe B Arthur Nebe und dem Chef des Einsatzkommandos 8 einige der Hauptorganisatoren des Völkermords in Weißrußland auf. Nebe trug zum Thema „Die Judenfrage mit besonderer Berücksichtigung der Partisanenbewegung“ vor.34 Der Lehrgang endete mit einer Übung, der die Teilnehmer als Zuschauer beiwohnten. Vor ihren Augen wurde ein Dorf von Polizisten umstellt und „13 Juden und 19 Jüdinnen in Zusammenarbeit mit dem SD exekutiert“.35 Einen Monat bevor das Polizeibataillon 316 von seinem ersten Osteinsatz an den Heimatstandort zurückkehrte, wurde Nord im April 1942 zu zwei Fortbildungslehrgängen in Berlin abgeordnet, nach denen im Herbst seine Ernennung zum Major erfolgte. 36 Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits das Eiserne Kreuz I. und II. Klasse „für besondere Tapferkeit vor dem Feinde“ erhalten.37 Als Kommandeur eines Polizeibataillons kam er ab Dezember 1942 an der „Stalingradfront“ und in der „2. Winterschlacht um Don und Donez und Charkow“ zum Einsatz, wo seine Einheit hohe Verluste erlitt.38 Sein nächstes Wirkungsfeld war die Ausbildung eines Polizeibataillons im Elsaß, von dem er Mitte Juli 1943 – mittlerweile in Himmlers Schutzstaffel aufgenommen – als Lehrer für Taktik an die Polizeischule Mariaschein abkommandiert wurde.39 Der Kommandeur der Schule hatte sich ausdrücklich

WALTER NORD

171

für die Berufung Nords eingesetzt, weil dieser „sich im auswärtigen Einsatz wiederholt besonders hervorgetan und als Batls.-Führer bewährt“ habe.40 Nach über einem Jahr Lehrtätigkeit wechselte Nord wieder von der Theorie in die Praxis und übernahm erneut ein Polizeiausbildungsbataillon, diesmal im mährischen Holleschau. Bei Kriegsende geriet er als Kommandeur einer Polizeieinheit in den Niederlanden in britische Gefangenschaft, aus der er bereits im August 1945 wieder entlassen wurde.41 „… stärksten Belastungen durch die SS ausgesetzt“ Fast ein Jahr lang verdingte sich Nord als Geschäftsführer eines Theaterunternehmens in Heidenheim, ehe ihn seine Vergangenheit einholte. Im Juni 1946 wurde er als einstiger SS-Sturmbannführer verhaftet und bis April 1948 im Lager Neuengamme interniert.42 Der Entnazifizierungs-Hauptausschuß der Stadt Dortmund stufte ihn im Mai 1948 zunächst in die Kategorie IV („Mitläufer“) ein. Nord beantragte eine Wiederaufnahme des Verfahrens und erreichte nach Beibringung zahlreicher ‚Persilscheine‘ eine Neueinstufung in Kategorie V („Entlasteter“).43 Seit seiner Entlassung aus dem Internierungslager bewarb sich Nord vergeblich um Wiedereinstellung in den Polizeidienst. Er sah sich mit dem „Zusammenbruch“ seiner „ehrlich erworbenen Laufbahn“ konfrontiert und appellierte an den Dortmunder Polizeichef: „Es ist meine innere Überzeugung, daß alle Dinge, die ich in meiner 22jährigen Tätigkeit für das Volk verrichtet habe, nur dem Wohle des Volkes und des deutschen Staates dienten, ebenso, wie ich nicht verstehen kann, daß man wertvoll geschultes Material auf die Straße verweist, nur, weil diesen Leuten nicht die Gelegenheit gegeben wird, sich als Männer zu rechtfertigen. Was diesen Punkt anbetrifft, so bin ich jederzeit bereit, mich Ihnen persönlich gegenüber, als auch vor jedem ordentlichen Gerichtshof zu verantworten.“ Bezüglich seiner politischen Einstellung verwies er darauf, als „Severings-Polizist“, d.h. als Befürworter des sozialdemokratischen Innenministers in Preußen, „stärksten Belastungen durch die SS ausgesetzt“ gewesen zu sein.44 Der Chef der Dortmunder Polizei lehnte eine Wiedereinstellung weiterhin ab und intervenierte sogar beim nordrhein-westfälischen Innenministerium gegen Nords Einberufung zu einem Auswahllehrgang für Kommandeure der Bereitschaftspolizei in Hiltrup bei Münster. Zur Begründung führte der Dortmunder Polizeichef allerdings in erster Linie die ungünstige Einschätzung der Persönlichkeit Nords an, um erst in zweiter Linie auf dessen Zugehörigkeit zum Reservepolizeibataillon 61 hinzuweisen.45 Walter Nord, der als Bataillonskommandeur mehrere hundert Männer befehligt hatte und wegen seiner Fähigkeiten von Vorgesetzten geschätzt worden war, mußte sich nun als Vertreter einer Signalbaufirma durchschlagen. Auf den Polizeirevieren

172

MARTIN HÖLZL

suchte er seine ehemaligen Kollegen und Untergebenen auf, um ihnen Verkehrsampeln anzudienen.46 Letztlich hatte Nord mit seinen Bemühungen um Wiedereinstellung aber doch noch Erfolg. Im April 1956 wurde er als Polizeikommissar bei der Polizeidirektion Bielefeld eingestellt, wechselte dann nach einem Jahr zur Kreispolizeibehörde Paderborn, ehe er schließlich zu seiner alten Heimatdienststelle nach Dortmund kam.47 Als Nord im Mai 1960 wegen seiner Zugehörigkeit zu den Polizeibataillonen 61 und 316 erstmalig vernommen wurde, befand er sich schon im Ruhestand, vermutlich wegen eines Herzleidens. Allein die Staatsanwaltschaft Bochum, deren Ermittlungen sich auf Nords Einsatz mit dem Polizeibataillon 316 konzentrierten, warf ihm 13 Tatbestände vor. Vernehmungsaussagen ehemaliger Bataillonspolizisten hatten ihn, von Ausnahmen abgesehen, schwer belastet. Wegen seines sehr schlechten Gesundheitszustandes wurde Nord nur kurz zu den Geschehnissen befragt, die er in den wesentlichen Punkten abstritt oder anders darzustellen versuchte. Noch bevor weitere rechtliche Schritte gegen ihn eingeleitet wurden, verstarb Walter Nord am 13. Oktober 1961 im Alter von 57 Jahren in Dortmund.48 Weit mehr als alle Lehrgangstheorie und „Mitteilungsblätter zur weltanschaulichen Schulung“ es vermochten,49 konnten Offiziere wie Nord durch ihre Haltung und ihr Auftreten den sprichwörtlichen Geist der Truppe prägen, als Ausbilder ebenso wie als Kommandeure. Bei den Exekutionen in Weißrußland beschränkte Nord sich nicht allein auf die Befehlsgebung, er schoß selbst mit, wollte seinen Männern anscheinend auch hierin ein Vorbild sein. Insgesamt legt sein Verhalten den Schluß nahe, daß bei ihm wie bei vielen seiner Offizierskollegen antisemitische und antikommunistische Feindbilder auf einen beruflichen Ehrgeiz trafen, dem in der radikalen Dynamik des Ostkrieges fast keine Grenzen mehr gesetzt waren.50 Seine Entwicklung vom ‚Polizeisoldaten‘ in den Hundertschaften zum ‚Weltanschauungskrieger‘ an der Ostfront fand in der Ausbildung der Polizeirekruten eine verhängnisvolle Wiederholung und Fortsetzung. Anmerkungen ∗

Mein Dank gilt der Ernst-Strassmann-Stiftung in der Friedrich-Ebert-Stiftung, die meine Forschungen durch ein Promotionsstipendium unterstützt; danken möchte ich auch Julia Volmer für Anregungen und Kritik. 1 Zum Forschungsstand Klaus-Michael Mallmann: Vom Fußvolk der „Endlösung“. Ordnungspolizei, Ostkrieg und Judenmord, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 26(1997), S. 355–391; Christopher R. Browning: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Reinbek 1993; Alfons Kenkmann/Christoph Spieker (Hrsg.): Im Auftrag. Polizei, Verwaltung und Verantwortung. Begleitband zur gleichnamigen Dauerausstellung – Geschichtsort

WALTER NORD

173

Villa ten Hompel, Essen 2001; Harald Buhlan/Werner Jung (Hrsg.): Wessen Freund und wessen Helfer? Die Kölner Polizei im Nationalsozialismus, Köln 2000. 2 Lebenslauf Nord (undat./1948), HStAD, NW 1097/17401; vgl. dto. v. 18.3.1941, BAB, BDC, RuSHA Walter Nord; dto. v. 27.6.1953, StAMS, Slg. Primavesi 269. 3 Peter Leßmann: Die preußische Schutzpolizei in der Weimarer Republik. Streifendienst und Straßenkampf, Düsseldorf 1989, S. 231 ff.; Franz-Josef Menker: Polizeigrundausbildung in der demokratischen Frühphase der preußischen Polizei. Drill kontra Bildung – dargestellt am Beispiel der Polizeischulen in Münster, in: Archiv für Polizeigeschichte 3(1992), S. 70–76. 4 Landespolizeischule Carl Severing: Die Geschichte der Polizeischule Münster 1920–1960, Ahlen 1961, S. 47. 5 Menker (Anm. 3), S. 76. 6 Leßmann (Anm. 3), S. 231 ff. 7 Lebenslauf 1948 (Anm. 2). 8 Lebenslauf 1953 (Anm. 2); Hsi-Huey Liang: Die Berliner Polizei in der Weimarer Republik, Berlin – New York 1977, S. 61 und Karten im Anhang. 9 Leßmann (Anm. 3), S. 262 ff.; Liang (Anm. 8), S. 120 ff. 10 Vgl. Albert Grzesinski: Die Leistung der Berliner Polizei im Wahlkampf, in: Die Polizei 29(1932), S. 221 f. 11 Leßmann (Anm. 3), S. 401. 12 Personalkarte Nord, BAB, BDC, SSO-Film Walter Nord. 13 Lebenslauf 1941 (Anm. 2); Lebenslauf 1948 (Anm. 2); Lebenslauf 1953 (Anm. 2). 14 Leßmann (Anm. 3), S. 401 ff.; Georg Tessin: Die Stäbe und Truppeneinheiten der Ordnungspolizei, in: Hans-Joachim Neufeldt/Jürgen Huck/ders.: Zur Geschichte der Ordnungspolizei 1936–1945, Teil II, Koblenz 1957, S.8. 15 Vgl. z.B. Ansprache CdO auf der Berchtesgadener Tagung der Verwaltungsbeamten v. 7.12.1938, BAB, R 19/381. 16 Dto. in der Polizei-Offiziersschule in Berlin-Köpenick v. 14.1.1937, BAB, R 19/380. 17 Zusammenfassend Friedrich Wilhelm: Die Polizei im NS-Staat. Die Geschichte ihrer Organisation im Überblick, Paderborn u. a. 1997, S. 37 ff.; Jürgen Matthäus: Die Beteiligung der Ordnungspolizei am Holocaust, in: Wolf Kaiser (Hrsg.): Täter im Vernichtungskrieg. Der Überfall auf die Sowjetunion und der Völkermord an den Juden, Berlin - München 2002, S. 166–185. 18 Vorschlagsliste für die Verleihung der Medaille zur Erinnerung an den 13. März 1938 v. 10.3.1939, BA-ZA, ZM 1527/9; Lebenslauf 1948 (Anm. 2); Personalblatt Nord v. 16.7.1943, BAB, BDC, PK Walter Nord. 19 Einstellungsverfügung Staw Münster v. 5.3.1961, StAMS, Staw Münster 246, 1, Bd. 1, Bl. 227–270, hier Bl. 229 ff.; vgl. Stefan Klemp: Freispruch für das „MordBataillon“. Die NS-Ordnungspolizei und die Nachkriegsjustiz, Münster 1998, S. 31 ff. 20 Mehrere gut dokumentierte Einzelfälle von Exekutionen in StAMS, Staw Münster 246, 2, Bd. 1. 21 Einstellungsverfügung Staw Münster v. 5.3.1961, ebd., 246, 1, Bd. 1, Bl. 227– 270, hier Bl. 256 ff.; Klemp (Anm. 19), S. 39 ff.; zum Gesamtkomplex vgl. HansJürgen Bömelburg/Bogdan Musiał: Die deutsche Besatzungspolitik in Polen 1939– 1945, in: Włodzimierz Borodziej/Klaus Ziemer (Hrsg.): Deutsch-polnische Beziehungen 1939–1945–1949. Eine Einführung, Osnabrück 2000, S. 43–111, hier S. 61 ff.

174 22

MARTIN HÖLZL

RPB 61: Vorschlagsliste für Auszeichnung v. 10.1.1940, BA-ZA, ZM 1456/2. Vgl. Ermittlungsbericht Staw Bochum gegen Angehörige des PB 316 v. 1.9.1961, StAMS, Staw Bochum 9274, Bl. 7909–8161, hier Bl. 8014 ff. 24 RFSS an RP Arnsberg v. 31.10.1939, StAMS, Regierung Arnsberg 15207, Bl. 1–12; RP Arnsberg an PP Bochum und Dortmund v. 7.12.1939, ebd., Bl. 49. 25 Kommando der Schutzpolizei Dortmund an IdO Münster v. 15.11.1939, ebd., Bl. 33. 26 IdO Münster an RP Arnsberg v. 22.12.1939, ebd., Bl. 57. 27 Personalblatt Nord v. 16.7.1943, BAB, BDC, PK Walter Nord; Lebenslauf 1948 (Anm. 2). 28 Tessin (Anm. 14), S. 14 f. 29 Lebenslauf 1941 (Anm. 2); Lebenslauf 1948 (Anm. 2); Ermittlungsbericht PB 316 (Anm. 23), Bl. 7926 f. 30 Ebd., Bl. 7937 ff.; Urteil LG Bochum v. 5.6.1968, StAMS, Staw Bochum 9375, 2; zur Datierung vgl. Dienstausweise, ebd., 9258, Bl. 207 ff.; vgl. Andrej Angrick/Martina Voigt/Silke Ammerschubert/Peter Klein: „Da hätte man schon ein Tagebuch führen müssen“. Das Polizeibataillon 322 und die Judenmorde im Bereich der Heeresgruppe Mitte während des Sommers und Herbstes 1941, in: Helge Grabitz/Klaus Bästlein/Johannes Tuchel (Hrsg.): Die Normalität des Verbrechens. Bilanz und Perspektiven der historischen Forschung zu den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Festschrift für Wolfgang Scheffler zum 65. Geburtstag, Berlin 1994, S. 325–385. 31 Ermittlungsbericht PB 316 (Anm. 23), Bl. 8015. 32 Vern. Konrad H. v. 28.1.1960, StAMS, Staw Bochum 9268, Bl. 4045–4059, hier Bl. 4051. 33 Ermittlungsbericht PB 316 (Anm. 23), Bl. 7962 f. 34 Tagesordnung und Teilnehmerverzeichnis für Kursus zur Bekämpfung von Partisanen, BA-MA, RH 22/225. 35 Angrick u.a. (Anm. 30), S. 345 f. 36 Personalblatt Nord v. 16.7.1943, BAB, BDC, PK Walter Nord. 37 Vermerk Kommandoamt im HA Ordnungspolizei v. September 1942, BA-ZA, ZM 474/12. 38 Lebenslauf 1948 (Anm. 2). 39 Personalblatt Nord v. 16.7.1943, BAB, BDC, PK Walter Nord; Personalkarte Nord, ebd., SSO-Film Walter Nord. 40 Vermerk Kommandoamt im HA Ordnungspolizei v. 6.7.1943, BA-ZA, ZM 474/12. 41 Personalblatt Nord v. 16.7.1943, BAB, BDC, PK Walter Nord; Lebenslauf 1948 (Anm. 2). 42 Ebd. 43 Entnazifizierungsakte Nord, HStAD, NW 1097/17401. 44 Nord an Chef der Dortmunder Polizei v. 4.7.1950, StAMS, Slg. Primavesi 269. 45 Chef der Dortmunder Polizei an den Innenminister von Nordrhein-Westfalen v. 10.5.1951, ebd.; Erklärung Nord v. 28.10.1953, ebd.; Personalkarte Nord, Polizeipräsidium Bielefeld. 46 Bericht Polizei-Revier 2 Dortmund v. 29.5.1953, StAMS, Slg. Primavesi 269; Johann de H. an Bayerisches LKA v. 10.12.1958, ebd., Staw Bochum 9526, Unterakte Johann de H. 23

WALTER NORD 47

175

Personalkarte Nord, Polizeipräsidium Bielefeld; Auskunft Polizeipräsidium Bielefeld an den Verfasser v. 13.12.2002. 48 Vern. Nord v. 16.5.1960, StAMS, Staw Bochum 9534, 2, Unterakte Walter Nord; Ermittlungsbericht PB 316 (Anm. 23), Bl. 8014 ff. 49 Vgl. Jürgen Matthäus: Ausbildungsziel Judenmord? Zum Stellenwert der „weltanschaulichen Erziehung“ von SS und Polizei im Rahmen der „Endlösung“, in: ZfG 47(1999), S. 677–699. 50 Vgl. Mallmann (Anm. 1), S. 379 ff.

GERHARD PAUL

Rudolf Pallmann – Führer der Feldgendarmerieabteilung 683 Rudolf Pallmann war nicht der Typus des frühzeitig radikalisierten Nationalsozialisten und kein Repräsentant der von Eugen Kogon beschriebenen sozial deklassierten Männer der Weltwirtschaftskrise. Er war kein Angehöriger jener „Generation des Unbedingten“ und auch kein einfacher Exekutor der NS-Weltanschauung. Weder vor 1939 noch nach 1945 fiel er in irgendeiner Weise negativ auf. In diesem Sinne steht er für all jene Wehrmachtsangehörigen, die der Krieg zu Tätern werden ließ. Pallmann zählt nicht wie Dr. Werner Best zu den ‚Glücksfällen‘ des Historikers, die bereits zu Lebzeiten ihre Biographie für die Nachwelt zurechtzimmerten. Seine Taten und Motive spiegeln sich so lediglich in den Akten der Staatsanwaltschaften und Gerichte der Nachkriegszeit wider, in den interessengeleiteten Einlassungen der Beteiligten sowie in einigen zeitgenössischen Lageberichten. Diese spärliche Überlieferung gibt zwar Hinweise auf Befehlssituation und situativen Tatkontext, erlaubt somit die Rekonstruktion der Taten, nicht aber die der subjektiven Motive, Befindlichkeiten oder gar Dispositionen. Ein Wehrmachtspolizeitrupp auf der Krim Karl Rudolf Pallmann1 wurde am 22. Januar 1904 in Röderau bei Riesa als Sohn eines Landwirts geboren und evangelisch getauft. Den Ersten Weltkrieg kannte er nur vom Hörensagen. Nach dem Besuch der Volksschule erlernte er das Schreinerhandwerk, das er 1921 mit der Gesellenprüfung abschloß. Im März 1924 trat er in den Dienst der sächsischen Polizei ein. Zunächst besuchte er die Polizeischule, anschließend schickte man ihn zur Bereitschaftspolizei. Aus der 1929 geschlossenen Ehe gingen zwei Kinder hervor. Während der Weimarer Republik will Pallmann nach eigenen Angaben mit der SPD sympathisiert haben.2 1937 trat er der NSDAP bei. Seit 1938 gehörte er der Gendarmerie in Oschatz an – eine durchaus gewöhnliche Polizeikarriere. Mit Kriegsbeginn wurde Pallmann zur Wehrmacht eingezogen und einem Gendarmerietrupp zugeteilt. Seit 1940 gehörte er der Feldgendarmerieabteilung (FGA) 683 an, die der von Oberstleutnant Coler geführten Feldkommandantur (FK) 810 zugeteilt war.3 Zunächst nahm Pallmann am FrankreichFeldzug teil, anschließend war er im griechischen Larissa stationiert. Über Rumänien zog seine Abteilung in die südliche Sowjetunion. Seit Ende November 1941 befand sie sich in Feodosia auf der Krim.4 Nach der Landung sowjetischer Truppen am 5. Februar 1942 mußte sich die FK unter schweren

RUDOLF PALLMANN

177

Verlusten nach Simferopol zurückziehen. Seit Februar 1942 hatten Pallmann und seine Männer ihr Quartier in Eupatoria. Noch bevor die FGA 683 auf der Krim angekommen war, hatte sie eine Blutspur hinterlassen, an mehreren Kämpfen und Tötungsaktionen wie etwa an der Erschießung der Insassen des Gefängnisses von Umanskaja teilgenommen5 und selbst auch etliche Männer verloren. Die Sollstärke der zunächst von Leutnant Kroloff geführten, motorisierten FGA 683, die mit Beginn des „Unternehmens Barbarossa“ dem Kommandanten des rückwärtigen Armeegebietes (Korück) 553 der 11. Armee unterstellt wurde, umfaßte einen Offizier und 16 Feldgendarmen. Pallmann fungierte zunächst als Vertreter Kroloffs im Range eines Stabsfeldwebels. Nachdem jener bei den Kämpfen um Feodosia gefallen war, übernahm Pallmann – nunmehr zum Leutnant befördert – dessen Funktion. Sein Verhältnis zum Leiter der FK blieb gespannt, da Pallmann sich schikaniert fühlte. Coler sei „herrisch“ gewesen und habe streng darauf bestanden, daß seine Befehle „rücksichtslos durchgeführt“ würden. Bei jeder Gelegenheit habe er mit dem Kriegsgericht gedroht, so Pallmann später.6 Während für die Zeit vor 1939 keine Charakterisierungen der Persönlichkeit Pallmanns überliefert sind, wurde er von ehemaligen Untergebenen später als autoritärer Vorgesetzter geschildert. In seinem eigenen Verhalten gegenüber Vorgesetzten galt er als eifrig und dienstbeflissen.7 Einige bezeichneten ihn als „Schläger“, der u.a. durch sexuelle Übergriffe auf Frauen aufgefallen sei.8 Nach Ansicht eines ehemaligen Schreibers der FK 810 sei Pallmann „geistig nicht der Stellung eines Offiziers gewachsen“ gewesen, habe vielmehr als „Marionette des Obersten“ gehandelt und ein „übersteigertes Selbstbewußtsein“ an den Tag gelegt. In der Sowjetunion habe man das Gefühl gehabt, „daß die Vorgänge nicht bis in sein Inneres eindrangen“.9 Auch für das Düsseldorfer Landgericht war Pallmann „ein ziemlich primitiver und den Aufgaben eines Offiziers in intellektueller Hinsicht nicht gewachsener Mann“. Er sei weder von seinem Feldkommandanten noch von den anderen Offizieren anerkannt worden und habe deswegen ständig unter Minderwertigkeitskomplexen gelitten: „Er stand völlig im Schatten des Feldkommandanten und verkörperte im Verhältnis zu ihm den Typ des ausgesprochenen ‚Befehlsempfängers‘. Von seinen Untergebenen verlangte er strenge Disziplin; im übrigen behandelte er sie teils rauh, grob und ‚kommißmäßig‘, teils auch ganz anständig.“10 Anders als die Einsatzgruppen und deren Kommandos waren die chronisch unterbesetzten Feldkommandanturen und -gendarmerieabteilungen keine reinen Exekutivorgane der NS-Weltanschauung im rückwärtigen Armeegebiet. Ihre eigentliche Aufgabe bestand in Sicherungsaufgaben, im Aufspüren und in der Festnahme ehemaliger Rotarmisten und fahnenflüchtiger Wehrmachtsangehöriger sowie in der Partisanenbekämpfung, bei der militärische

178

GERHARD PAUL

Handlungen immer wieder in Mordaktionen an der Zivilbevölkerung umschlugen.11 Mit Billigung und auf Befehl des Feldkommandanten wurden die Feldgendarmen auch bei der Tötung von potentiellen Gegnern und Juden eingesetzt, die den Massenliquidierungen der Einsatzgruppen entgangen waren.12 Ihr entgrenztes Feindbild umfaßte somit gleichermaßen militärische, politische wie rassische Gegner. Die mit weitestgehenden Exekutivbefugnissen ausgestatteten Feldgendarmen agierten wie kleine Könige im Rücken der Front. In mehrtägigen Streifenfahrten patrouillierten Gruppen von drei bis vier Mann, begleitet von einem Dolmetscher, im rückwärtigen Armeegebiet, wobei sie sich der Hilfe von Denunzianten und der einheimischen Bürgermeister, der Starosten, zu versichern wußten. Ihre Praxis war vielfältig. In einem Tätigkeitsbericht listete Pallmann etwa auf: Streifendienst per Pedes und Kraftfahrzeug, Durchkämmung von Dörfern nach Partisanen, Feststellung und Festnahme ehemaliger Rotarmisten und deren Überstellung in Durchgangslager, Erteilung von Anweisungen an die Bürgermeister, Festnahme von Juden und Übergabe an das Sonderkommando (SK) 11b „zur weiteren Verwendung“.13 Die Teilnahme an der Judenvernichtung stellte somit nur eine von mehreren Aufgaben der FGA dar, bei der man eng mit den Einsatzgruppen kooperierte, in diesem Fall mit den in Feodosia bzw. Eupatoria stationierten SK 10b und 11b der für das rückwärtige Gebiet der 11. Armee zuständigen Einsatzgruppe D unter Otto Ohlendorf.14 Bereits unter seinem Vorgänger Kroloff hatten Pallmann und seine Kameraden in Berislaw an Massenerschießungen von Juden teilgenommen.15 Bei der ihnen u. a. zur Last gelegten Beteiligung an den vom SK 10b durchgeführten Mordaktionen gegen Juden beschränkte sich die Tätigkeit keineswegs nur auf bloße Unterstützungsleistungen. Vielmehr waren die Feldgendarmen auch selbständig und aktiv am Aufspüren untergetauchter Juden beteiligt. Auf Anordnung des Streifenführers wurden die Festgenommenen entweder dem SK zugeführt oder an Ort und Stelle erschossen. Insgesamt summierte sich nach Theo J. Schulte der im wesentlichen von den Feldkommandanturen praktizierte Judenmord im Bereich des Korück 553 zwischen August 1941 und Sommer 1942 auf mehr als 20000 Personen.16 Der Kommandant des rückwärtigen Armeegebietes und dessen Untergliederungen spielten also eine durchaus beachtliche Rolle im Holocaust. Herr über Leben und Tod Die konkreten Mordhandlungen von Männern wie Pallmann sind aus einer analytisch kaum zu trennenden Gemengelage von Fremd- und Selbstermächtigung im Rahmen der rassisch-politischen Generalprävention und eines gleichsam als Kompaß im Dickicht des Besatzungsalltags fungierenden antisemitischen Feindbildes zu erklären. Ein Befehl des Armeeoberkommandos

RUDOLF PALLMANN

179

(AOK) 11 vom 20. November 1941 hatte den militärischen Kampf unzweideutig mit dem weltanschaulichen Kampf verknüpft. Danach bildete das Judentum militärisch nicht nur „den Mittelsmann zwischen dem Feind im Rücken und den noch kämpfenden Resten der Roten Wehrmacht und der Roten Führung“, sondern fungierte auch weltanschaulich als der „geistige Träger des bolschewistischen Terrors“. Hieraus wurde die Forderung abgeleitet, das „jüdisch-bolschewistische System“ „ein für allemal“ auszurotten: „Nie wieder darf es in unseren europäischen Lebensraum eingreifen. Der deutsche Soldat hat daher nicht allein die Aufgabe, die militärischen Machtmittel dieses Systems zu zerschlagen. Er tritt auch als Träger einer völkischen Idee und Rächer für alle Grausamkeiten, die ihm und dem deutschen Volk zugefügt wurden, auf.“ Der seit dem 22. Juni geführte „Kampf auf Leben und Tod“ werde „nicht in hergebrachter Form gegen die sowjetische Wehrmacht allein und nach europäischen Kriegsregeln geführt. Auch hinter der Front wird weiter gekämpft.“17 Der Chef der FK 810 konkretisierte, die jüdische Bevölkerung sei „rabiat und mit größtem Mißtrauen zu behandeln“.18 Als Generalermächtigung zur Tötung durch untere Offiziersränge konnte darüber hinaus Hitlers Kriegsgerichtsbarkeitserlaß für das Operationsgebiet „Barbarossa“ vom 13. Mai 1941 aufgefaßt werden. Dort heißt es: „3. Auch alle anderen Angriffe feindlicher Zivilpersonen gegen die Wehrmacht, ihre Angehörigen und das Gefolge sind von der Truppe auf der Stelle mit den äußersten Mitteln bis zur Vernichtung des Angreifers niederzukämpfen. 4. Wo Maßnahmen dieser Art versäumt wurden oder zunächst nicht möglich waren, werden tatverdächtige Elemente sogleich einem Offizier vorgeführt. Dieser entscheidet, ob sie zu erschießen sind.“19 Vorhandene institutionelle Tötungsschwellen waren damit beseitigt. Zwar enthielten weder Hitlers Kriegsgerichtsbarkeitserlaß noch die Anweisung des AOK 11 zwangsläufig einen Tötungsbefehl; im sprachlich-propagandistischen Kontext von „Rache“ und „Terror“, von „Ausrottung“ und „Vernichtung“ sowie angesichts der militärischen Situation aber konnten diese als Tötungsaufforderung interpretiert werden. Die Entscheidungskompetenzen waren damit zu den Einsatzführern nach ‚unten‘ delegiert worden. Letztlich kam es darauf an, wie diese die Befehle und die Lage vor Ort deuteten. De facto waren sie zu Entscheidungen über Leben und Tod ermächtigt worden. Selbständig konnten sie darüber befinden, ob Festgenommene freigelassen, an die Einsatzkommandos überstellt oder unmittelbar exekutiert werden konnten. Pallmann war sich dieser Kompetenz sowie des damit verbundenen Spielraumes wohl bewußt. „Ich habe auf Streifenfahrten die Entscheidung über Leben und Tod alleine zu treffen gehabt“, bekannte er später. „Es genügte, wenn jemand als deutschfeindlich verdächtig war, ihn erschießen zu lassen.“ Ein wirklicher Schuldnachweis für seine Entscheidung sei nicht nötig gewesen; ein „hinreichender Tatverdacht“

180

GERHARD PAUL

habe ihm genügt. Als „verdächtig“ galt ihm, „wer ortsfremd oder heimlich in ein Dorf eingeschleust worden war, oder wer von einem Starosten der Zusammenarbeit mit den Partisanen bezichtigt wurde“.20 Eine Überprüfung des Verdachts sei nicht zwingend vorgeschrieben gewesen; sie habe daher nicht stattgefunden. Wiederholt kam es so vor, daß Pallmann aufgrund von unbewiesenen Verdächtigungen Menschen erschießen bzw. erhängen ließ oder selbst zur Waffe griff. Am 6. Februar 1942 ordnete er in Otar-Majnak die Erschießung von zwei Frauen an, die als „äußerst verdächtig bezeichnet“ worden waren.21 Der von Pallmann unterschriebene Bericht für die Zeit vom 19. bis 27. April 1942 belegt, daß hierfür der bloße Verdacht oder eine Denunziation genügten. „Wegen Verdacht der Partisanentätigkeit und wegen unberechtigter Führung der Waffe“ habe man einen Mann aus dem Dorfe Tischi „bestimmungsgemäß behandelt“. Weil er ortsfremd war und als verdächtig galt, sei auch ein Krimtschake erschossen worden. Ebenso sei es dem Vorsteher der Sowchose Kirowa gegangen, der unter Verdacht der Sabotage und der Verbreitung von Feindmeldungen stand. Schließlich habe man einen Mann wegen des Verdachts deutschfeindlichen Verhaltens liquidiert.22 Im Kontext des Vernichtungskampfes gegen das „jüdisch-bolschewistische System“ gerieten vor allem jene Personen ins Visier Pallmanns, die als Kommunisten verdächtigt wurden. In Bolek Atschi ordnete er so die Erschießung von drei Tataren an, die als aktive Bolschewisten bezeichnet worden waren und ihre deutschfeindliche Gesinnung öffentlich zum Ausdruck gebracht haben sollen. Im Juli 1942 tötete Pallmann, ohne weitere Untersuchungen durchgeführt zu haben, eigenhändig eine von Einwohnern des Dorfes Donuslaw als Kommunistin beschuldigte Frau und ihr Kind.23 Vor dem Hintergrund des diffusen Feindbildes vom „jüdischen Bolschewismus“ galten vor allem Juden als „verdächtig“. Derartige Projektionen fungierten gleichsam als Kompaß, um sich im Feindesland zurechtzufinden und die Bedrohung zu orten.24 Immer wieder waren Pallmann und seine Männer daher auch im Bereich der Judenvernichtung aktiv. Bereits im Juli 1941 hatten sie in Belzy wegen „unerträglicher hygienischer Verhältnisse“ Juden aus einem Konzentrationslager abtransportiert und liquidiert. Am 5. Dezember 1941 nahmen sie in Feodosia an einer „Judenaktion“ teil, bei der mehrere hundert Menschen in Gaswagen getötet wurden. Der Ortskommandant war davon überzeugt gewesen, daß sich unter den örtlichen Juden Mitarbeiter der KPdSU und des NKWD befanden.25 In Ikor ordnete Pallmann die Erschießung einer vom Starosten als deutschfeindlich denunzierten jüdischen Frau und ihrer beiden Kinder – eines Neugeborenen und eines Dreijährigen – an.26 Zwischen dem 27. Februar und dem 13. März 1942 liquidierte Pallmanns Feldgendarmerietrupp nach eigenen Angaben neben vier ehemaligen

RUDOLF PALLMANN

181

Rotarmisten auch sechs Juden; weitere 17 Juden führte man dem SK zu. 98 Juden wurden in der Kolchose Schaumian „in Zusammenarbeit mit dem SD bestimmungsgemäß behandelt“.27 Unter den Getöteten befanden sich größtenteils Frauen, Kinder und alte Männer, die gruppenweise in einer Mulde außerhalb der Kolchose erschossen wurden. In der Nähe von Eupatoria ermordeten Angehörige der FGA 683 weitere 50 jüdische Personen. Anschließend ließ man den Tag mit einem Hühneressen ausklingen.28 Mit Aktionen wie diesen bewegten sich Pallmann und seine Männer subjektiv nicht nur in einem legalisierten Handlungsfeld, sie agierten auch gruppenkonform. Nach den Erinnerungen eines Beteiligten habe es keinen FGA-Angehörigen gegeben, der sich Erschießungen verweigert habe.29 Die Auflistung der begangenen Verbrechen zeigt zugleich, daß der Judenmord nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern eingebettet war in einen mörderischen Alltag, in dem – zumindest gilt dies für die Angehörigen der Wehrmacht – Juden eine Opfergruppe unter anderen bildeten. Ließen sich die aufgeführten Tötungshandlungen noch unter die von der Armeeführung erlassenen Befehle zur Partisanen- und Judenbekämpfung subsumieren und als durch die Weisung des AOK 11 und Hitlers Kriegsgerichtsbarkeitserlaß legitimiert betrachten, so muß man andere als Ausdruck reiner Selbstermächtigung und einer allgemeinen Verrohung Pallmanns deuten, mit denen dieser sadistische und sexuelle Bedürfnisse auslebte bzw. gruppeninterne Rivalitätskonflikte löste. Hierzu zählten sexuelle Übergriffe auf festgenommene Frauen und Mädchen, die Mißhandlung und anschließende Tötung eines der Plünderung bezichtigten 14jährigen Jungen sowie die Erhängung einer russischen Frau, die sexuelle Beziehungen zu einem anderen Angehörigen der FK unterhalten hatte. Vor allem aber mit der Erschießung von Kleinkindern überschritt Pallmann eigenmächtig den vorgeschriebenen Handlungsrahmen. Nach der Erinnerung eines Mitangeklagten habe Pallmann seine Männer darüber belehrt, Kinder gleich „mitzuerschießen, damit uns keine Rächer erwüchsen“.30 Der Entscheidungsspielraum wurde extensiv genutzt. In späteren Vernehmungen stellte Pallmann sein Handeln ausschließlich als polizeilich-militärische Tätigkeit dar. Da seine Vorgesetzten der Meinung gewesen seien, daß sich im Rücken der Wehrmacht eine feindliche Armee formiere, habe er sich ermächtigt gefühlt, Fremde und Partisanen – einschließlich verdächtiger Frauen und Kinder – sofort zu erschießen. Durch die Äußerung seines Vorgesetzten „Machen Sie reinen Tisch!“ habe er die Tötungen als militärisch notwendig betrachtet. Vor allem der Hinweis auf die rege Partisanentätigkeit – „Partisanen waren überall“31 – mußte immer wieder herhalten, um die Mordaktionen für sich selbst und andere zu legitimieren. Unter den Begriff des Partisanen ließen sich zudem die unterschiedlichsten Gegnergruppen subsumieren. Nach Aussage eines Dolmetschers der FGA sei

182

GERHARD PAUL

‚Partisan‘ für alle Beteiligten damals „ein sehr weiter Begriff“ gewesen: „Jeder, der dagegen war, war mehr oder weniger Partisan.“32 Zu Recht konnte sich Pallmann später an keinen Befehl erinnern, in dem die Erschießung von Juden wegen deren ‚Rassenzugehörigkeit‘ explizit befohlen worden sei, wohl aber im Rahmen der Bekämpfung als potentielle Partisanen.33 So habe er gar nicht gewußt, daß es sich bei den 98 in Schaumian Erschossenen um Juden gehandelt habe. Vielmehr habe man diese Menschen liquidiert, weil sie Partisanen gewesen seien, bzw. weil diese mit Partisanen in Verbindung gestanden hätten.34 Nur schemenhaft schimmerten in späteren Einlassungen Pallmanns rassistische, mit ‚Säuberungs‘-Ideen verbundene Ressentiments durch. Auf Befragen gab er zu, die Verdächtigen nicht verhört zu haben, da man „erfahrungsgemäß“ aus Partisanen doch nichts herausbekommen habe. Seine Opfer bezeichnete er einmal als einen „ganz eigenartigen Menschenschlag. Von Statur waren die Leute klein, total verschmutzt und dreckig, von Wanzen und Läusen zerfressen. Es können Zigeuner gewesen sein.“35 Nachkriegsbiographie, Prozeß und Urteil Mit der Auflösung der FK 810 wurde Pallmann einer Ortskommandantur im nördlichen Rußland zugeteilt. Das Kriegsende erlebte er in Frankreich, wo er in amerikanische Gefangenschaft geriet. Nach seiner Entlassung im Mai 1946 arbeitete er zunächst als Lagerpolizist in Munsterlager, später als Angehöriger der britischen Berufsfeuerwehr in Celle. 1952 wurde er – inzwischen ein zweites Mal verheiratet – mit dem Dienstgrad eines Polizeiwachtmeisters in den Polizeidienst des Landes Nordrhein-Westfalen übernommen. Seit 1953 lebte er in Angermund bei Düsseldorf, wo er den dortigen Polizeiposten, zuletzt im Rang eines Polizeiobermeisters, führte. 1962 leitete der Generalstaatsanwalt beim Oberlandesgericht in Hamm ein Ermittlungsverfahren gegen Pallmann ein, in dessen Folge er im April 1963 vom Dienst suspendiert wurde und man ihm die Dienstbezüge um 30 Prozent kürzte. Im Dezember 1963 setzte die Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl durch. Per Beschluß vom 14. Juni 1966 wurde Pallmann aus der Untersuchungshaft entlassen, nachdem sein Vorgesetzter, der Oberkreisdirektor von DüsseldorfMettmann, eine persönliche Bürgschaft übernommen und eine namhafte Großbank eine stattliche Kaution für ihn hinterlegt hatte. Die Anklageschrift des Leitenden Oberstaatsanwaltes beim Landgericht Düsseldorf warf ihm 1968 vor, „durch 8 selbständige Handlungen vorsätzlich und mit Überlegung, aus niedrigen Beweggründen und teils grausam 141 Menschen getötet zu haben“. Der Angeklagte habe mit „Täterwillen“ gehandelt und „selbständig von sich aus die Tötung von Juden und politischen Gegnern angeordnet. […] Hier lag die Entscheidung über Leben und Tod der denunzierten Personen letztlich allein bei ihm.“ Aufgrund des gezeigten großen Eifers und eigenmächtigen Verhaltens könne er sich daher nicht darauf

RUDOLF PALLMANN

183

berufen, nur „Tatgehilfe“ gewesen zu sein.36 In dem am 10. Juni 1969 beginnenden Prozeß wurden 29 Zeugen befragt; außerdem hatte das Gericht zwei zeitgeschichtliche Gutachten eingeholt.37 Entsprechend der Strategie der Verteidigung und damit im Gegensatz zu seinen ersten Vernehmungen stellte sich Pallmann als reiner Befehlsempfänger dar, der gleich zu Beginn des Rußlandfeldzuges den Befehl erhalten habe, Juden zu töten. Beim Einmarsch in Bessarabien habe er erfahren, daß politische Kommissare zu erschießen seien. Allerdings habe er nur auf Weisung geschossen. An die relevanten Punkte der Anklage, an größere Mordaktionen vermochte oder wollte sich Pallmann nicht erinnern. Er zeigte weder Reue und Schuldbewußtsein. Da zu Beginn des Verfahrens die Verjährungsfrist noch nicht verlängert war, konnte das Gericht ihn allenfalls wegen Beihilfe zum Mord verurteilten. Die Staatsanwaltschaft bemühte sich daher, Pallmann „niedrige Beweggründe“ nachzuweisen. In seiner Täterkonstruktion folgte das Gericht der Staatsanwaltschaft und isolierte ihn als verrohte Persönlichkeit und Einzeltäter, der eigenmächtig gehandelt habe. Das Verhalten der Wehrmacht stand somit nicht auf dem juristischen Prüfstand, das Problem war personalisiert worden. Am 21. August 1969 verurteilte das Gericht Pallmann wegen gemeinschaftlichen Mordes in sechs Fällen an insgesamt 109 Menschen zu sechsmal lebenslangem Zuchthaus. Besonders die Erschießung von Kindern lastete das Gericht Pallmann an. Gerade in diesen Aktionen habe sich dieser „in nichts von dem unbändigen Haß der nationalsozialistischen Machthaber gegenüber dem Judentum, dem Kommunismus und allen sonstigen Gegnern des Nationalsozialismus“ unterschieden. Wiederholt nahmen die Richter Zuflucht zur Täterkonstruktion des fanatischen Antisemiten: „Wer, wie der Angeklagte, aus eigenem Entschluß als ‚Herr über Leben und Tod‘, als der sich der Angeklagte selbst bezeichnet hat, so kleine und gänzlich unschuldige Kinder wie die der Jüdin in Ikor erschießen läßt, der muß mit einem geradezu fanatischen Eifer bestrebt gewesen sein, zur Vernichtung des Judentums beizutragen; anders läßt sich eine solche Handlungsweise nicht erklären.“ Pallmann habe sich an den Ausrottungsaktionen „bereitwillig und mitleidlos beteiligt“. Das Gericht unterstellte ihm, daß er bereits vor Beginn des Ostfeldzuges ein fanatischer Antisemit gewesen sei. Die „grauenerregende und jeder Menschlichkeit Hohn spottende Art“, in der unter seiner verantwortlichen Führung z.B. die Erschießungen in Schaumian stattgefunden hätten, lasse keine andere Deutung zu. Die auch von Zeugen vorgebrachte Behauptung, Pallmann sei kein Anhänger des Nationalsozialismus gewesen, sei „nicht glaubhaft“. Auch der Auffassung der Verteidigung, daß Pallmann „nur ein bloßes Werkzeug des Feldkommandanten“ gewesen sei und „ohne eigenes inneres Einverständnis“ lediglich dessen Willen umgesetzt habe, wollte das Gericht nicht folgen. Rechtfertigungsgründe für sein Handeln könne der Angeklagte nicht beanspruchen. Weder die „Richtlinien

184

GERHARD PAUL

des Oberkommandos der Wehrmacht für das Verhalten der Truppe in Rußland“ noch der Manstein-Befehl vom 20. November 1941 hätten einen konkreten Tötungsbefehl enthalten. Damit war das Gericht bei dem Konstrukt des vorsätzlich schuldhaften Handelns angekommen. Pallmann habe die Taten gewollt und aus „niedrigen Beweggründen“ gehandelt.38 Die Berichterstattung in der Düsseldorfer Lokalpresse über das Verfahren gegen Pallmann und seine Mitangeklagten war verhalten. Hatte es in den ersten Tagen zunächst noch größere Berichte über „brave Großväter“ gegeben, die „schicksalhaft verknüpft“ in einer Abteilung der Feldgendarmerie am Judenmord teilgenommen hätten,39 wurden die Meldungen in den Tagen der Zerschlagung des „Prager Frühlings“ und der Verjährungsdebatte eingestellt. Das Urteil des Schwurgerichts war den Düsseldorfer Zeitungen nur mehr einen Einspalter wert.40 Der Revisionsantrag der Verteidigung verwies auf einen zentralen Widerspruch in der Urteilsbegründung. Einerseits sei Pallmann als ausgesprochener Typ des Befehlsempfängers und als „Kommißkopf“ dargestellt worden, der unterwürfig im Schatten seines Feldkommandanten agiert habe. Andererseits habe man ihm unterstellt, daß er Entscheidungen aus eigener Initiative getroffen habe, er die Taten als seine eigenen auch gewollt habe. Tatsächlich, so die Verteidigung, sei Pallmann aber „ein typischer Befehlsempfänger, mehr aber nicht“, der „gehorsame Befehlsempfänger, der ohne eigenes inneres Einverständnis lediglich den Willen seines Chefs in die Tat umgesetzt hat, wobei er bedenkenlos davon ausging, daß die ihm erteilten Befehle rechtlich in Ordnung waren“. Die ihm zur Last gelegten Handlungen seien für diesen militärisch begründet gewesen und in Ausführung militärischer Befehle erfolgt. Sie hätten nicht das geringste mit der NS-Rassenideologie zu tun gehabt.41 Nachdem der Bundesgerichtshof den Revisionsantrag Pallmanns verworfen hatte, wurde das Urteil am 9. Juni 1971 rechtskräftig. Nach Ansicht des Anstaltsleiters der Justizvollzugsanstalt Münster hatte Pallmann auch 1973 noch „keine richtige Einstellung zu seinen grausamen Taten gefunden“. Er glaube vielmehr noch immer, zu Unrecht verurteilt worden zu sein.42 1977 erlitt Pallmann einen Schlaganfall. Er wurde in das Krankenrevier verlegt und für den normalen Vollzug als haftunfähig erklärt, nachdem der Oberkreisdirektor von Düsseldorf-Mettmann wiederholt eine Strafunterbrechung bzw. eine Umwandlung in eine zeitlich begrenzte Freiheitsstrafe gefordert hatte. Am 3. Februar 1978 gewährte Ministerpräsident Heinz Kühn im Gnadenwege die Verlängerung der Strafunterbrechung um ein weiteres Jahr. Pallmann starb am 24. August 1979 in Düsseldorf im Alter von 75 Jahren. Rudolf Pallmann war ein durchschnittlicher Angehöriger jener autoritär geprägten, bereits vom Weimarer Antikommunismus und Antisemitismus infizierten Männergeneration. Während er nach ‚oben‘ gehorchte, verbreitete er nach ‚unten‘ Angst und Schrecken. In diesem Sinne verkörperte er zu-

RUDOLF PALLMANN

185

nächst den Befehlstäter, der aus einer Gemengelage so unterschiedlicher Motive wie Autoritätsgehorsam, Opportunismus, Gruppenanpassung und Überzeugung Tötungsbefehlen nachkam. Während seine zeittypischen Ressentiments und Aggressionen innerhalb der Polizeiinstitutionen der Republik und des frühen NS-Regimes gebändigt geblieben waren, scheinen sie mit den Entgrenzungen des Weltkrieges zum Vorschein getreten zu sein. Ein Menschenleben zählte ihm wenig. Ein Gefühl von Verantwortlichkeit für Entrechtete und Verfolgte, gar von Solidarität mit diesen war ihm fremd. Der Krieg und speziell die Erlasse der Wehrmacht zur Partisanenbekämpfung scheinen ihm erstmals das Gefühl von Bedeutung vermittelt zu haben. Sie statteten ihn mit einer vorher nie gekannten Macht über Leben und Tod anderer Menschen aus, die er exzessiv auslebte. Der Befehlstäter entwickelte sich über den Inititativtäter, der durch selbständige Taten den Vernichtungsvorgang in Betrieb hielt, schließlich zum Exzeßtäter, der in reiner Willkür Menschen zu Tode brachte.43 Das antisemitische Feindbild scheint dabei sowohl als Hintergrundfolie als auch als Kompaß im unwägbaren Feindesland fungiert zu haben. In seinem Handeln wähnte sich Pallmann von ‚oben‘ legitimiert und aus dem Kreis seiner Kameraden bestätigt. Er fühlte sich als ‚Rächer‘ für die angeblich an Deutschen im allgemeinen und an seinen Kameraden im besonderen begangenen Taten. In seinem Verantwortungsbereich trieb er die Erlasse zur Partisanen- und Judenbekämpfung aus eigener Initiative auf die Spitze. Daß seine Handlungen verbrecherischen Charakter hatten, scheint ihm weder vor noch nach 1945 in den Sinn gekommen zu sein. Anmerkungen 1 Knappe Hinweise auf ihn in Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.): Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944, Hamburg 2002, S. 611 f.; Norbert Kunz: Die Feld- und Ortskommandanturen auf der Krim und der Judenmord 1941/42, in: Wolf Kaiser (Hrsg.): Täter im Vernichtungskrieg. Der Überfall auf die Sowjetunion und der Völkermord an den Juden, Berlin-München 2002, S. 68 ff. 2 Sitzungsprotokoll LG Düsseldorf v. 10.6.1969, HStAD, Ger. Rep. 388/689. 3 Zum Beitrag der Feld- und Ortskommandanturen am Judenmord auf der Krim Kunz (Anm. 1), S. 66 ff. 4 Vgl. M. Luther: Die Krim unter deutscher Besetzung im Zweiten Weltkrieg, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 3 (1956), S. 28–98. 5 Vern. Ludwig T. v. 9.1.1964, HStAD, Ger. Rep. 388/711. 6 Pallmann zit. nach Sitzungsprotokoll LG Düsseldorf v. 12.6.1969, ebd. 388/689. 7 Vern. Helmut F. v. 7.7.1964, ebd. 388/712. 8 Dto. Josef K. v. 24.11.1965, ebd. 388/716. 9 Dto. Paul K. v. 16.6.1964, ebd. 388/712. 10 Urteil LG Düsseldorf v. 21.8.1969, ebd. 388/220.

186 11

GERHARD PAUL

Zur Partisanenbekämpfung durch die Wehrmacht Hannes Heer: Die Logik des Vernichtungskrieges. Wehrmacht und Partisanenkampf, in: ders./Klaus Naumann (Hrsg.): Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944, Hamburg 1995, S. 104–138; Timm C. Richter: Die Wehrmacht und der Partisanenkrieg in den besetzten Gebieten der Sowjetunion, in: Rolf-Dieter Müller/Hans-Erich Volkmann (Hrsg): Die Wehrmacht. Mythos und Realität, München 1999, S. 837–857; Lutz Klinkhammer: Der Partisanenkrieg der Wehrmacht 1941–1944, ebd., S. 815–836. 12 Anklage Ltd. OStaw Düsseldorf v. 17.1.1968, HStAD, Ger. Rep. 388/687. 13 Tätigkeitsbericht FGA 683 an FK 810 v. 26.2.1942, BA-MA, RH 23/79. 14 Urteil LG Düsseldorf v. 21.8.1969, HStAD, ebd. 388/220; zur Einsatzgruppe D Andrej Angrick: Die Einsatzgruppe D. Struktur und Tätigkeiten einer mobilen Einheit der Sicherheitspolizei und des SD in der deutsch besetzten Sowjeunion, Diss. TU Berlin 1999; ders.: Im Windschatten der 11. Armee. Die Einsatzgruppe D, in: Gerhard Paul/Klaus-Michael Mallmann (Hrsg.): Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. ‚Heimatfront‘ und besetztes Europa, Darmstadt 2000, S. 481–502; speziell zur Ermordung der jüdischen Bevölkerung auf der Krim Warren Green: The Fate of the Crimean Jewish Communities. Ashkenasim, Krimchaks and Karaites, in: Jewish Social Studies 46 (1984), S. 169–176; Alexander Kruglow (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust, Kiew 2000. 15 Vern. Ludwig T. v. 9.1.1964, HStAD, Ger. Rep. 388/711. 16 Theo J. Schulte: Korück 582, in: Heer/Naumann (Anm. 11), S. 331. 17 Befehl AOK 11/1c/AO v. 20.11.1941, in: IMG, Bd. 34, Nürnberg 1949, S. 129– 132. 18 Lagebericht FK 810 an Korück 553 v. 27.7.1941 (Kopie), HStAD, Ger. Rep. 388/735. 19 Führererlaß über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet „Barbarossa“ und über besondere Maßnahmen der Truppe v. 13.5.1941, in: IMG, Bd. 34, Nürnberg 1949, S. 252–255. 20 Urteil LG Düsseldorf v. 21.8.1969, HStAD, Ger. Rep. 388/220. 21 FGA 683 an FK 810 v. 6.2.1942 (Kopie), ebd. 388/727. 22 Dto. für 19.–27.4. v. 28.4.1942, BA-MA, RH 23/100. 23 Dto. für 14.–29.7. v. 29.7.1942, ebd., RH 23/90. 24 Zur Bedeutung des antisemitischen Feindbildes als Kompaß in der Partisanenbekämpfung Klaus-Michael Mallmann: Die Türöffner der „Endlösung“. Zur Genesis des Genozids, in: Paul/Mallmann (Anm. 14), S. 445 f. 25 Tätigkeitsbericht FGA 683 v. 19.12.1941, BA-MA, RH 23/90; FK 810 an Korück 553 v.20.12.1941, ebd. 26 Tätigkeitsbericht FGA 683 an FK 810 v. 15.2.1942, ebd., RH 23/79. 27 Dto. v. 13.3.1942, ebd. 28 Vern. Ludwig T. v. 9.1.1964, HStAD, Ger. Rep. 388/711. 29 Dto. Joseph K. v. 7.10.1963, ebd. 388/710. 30 Dto. v. 24.11.1965, ebd. 388/716. 31 Dto. Pallmann v. 22.7.1964, ebd. 388/713. 32 Vern. Rudolf von M. v. 22.8.1962, ebd. 388/708; vgl. Walter Manoschek: „Wo der Partisan ist, ist der Jude, und wo der Jude ist, ist der Partisan“. Die Wehrmacht und die Shoah, in: Gerhard Paul (Hrsg.): Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? Göttingen 2002, S. 167–185.

RUDOLF PALLMANN 33

187

Vern. Pallmann v. 22.7.1964, HStAD, Ger. Rep. 388/713. Urteil LG Düsseldorf v. 21.8.1969, ebd. 388/220. 35 Vern. Pallmann v. 23.9.1964, ebd. 388/713. 36 Alle Zitate Anklage Ltd. OStaw Düsseldorf v. 17.1.1968, ebd. 388/687. 37 Gutachten Andreas Hillgruber, ebd. 388/688. 38 Urteil LG Düsseldorf v. 21.8.1969, ebd. 388/220. 39 Rheinische Post v. 11.6.1969: „Vor dem Schwurgericht: 28 Jahre ‚danach‘. Prozeß wegen Kriegsverbrechen auf der Krim“; ebd. v. 13.6.1969: „Betretenes Schweigen beim Krim-Prozeß: ‚Man betrachtet mich als Mörder‘“. 40 Ebd. v. 22.8.1969: „Lebenslang Zuchthaus für hundertfachen Mord“; Düsseldorfer Nachrichten v. 22.8.1969: „Höchststrafe wegen Judenmord“. 41 Revisionsantrag v. 23.11.1970, HStAD, Ger. Rep. 388/691. 42 Stellungnahme Justizvollzugsanstalt Münster 1973, ebd. 388/685. 43 Zur Typologie der NS-Täter noch immer unverzichtbar Herbert Jäger: Verbrechen unter totalitärer Herrschaft. Studien zur nationalsozialistischen Gewaltkriminalität, Frankfurt/M. 1982. 34

CARLO GENTILE

Walter Reder – ein politischer Soldat im „Bandenkampf“ Walter Reders Name ist eng mit den furchtbarsten Exzessen gegen die Zivilbevölkerung in Italien während der deutschen Besatzungszeit verbunden. Er wurde am 4. Februar 1915 in der nordmährischen Stadt Freiwaldau geboren.1 Nach dem Ersten Weltkrieg zog die Familie nach Steyr, wo der Vater Besitzer einer Fabrik war. Reder wuchs in einem katholisch-konservativen Elternhaus auf und wurde „im streng nationalen Sinne erzogen“.2 1928, am Vorabend der Weltwirtschaftskrise, ging der väterliche Betrieb in Konkurs. Reder wurde nach Wien zu einer Tante geschickt und beendete 1931 das Realgymnasium mit der mittleren Reife. Anschließend besuchte er in Linz die Handelsakademie. Ein SS-Aktivist aus Österreich Reder erlebte seine Jugend in einer Zeit, in der die politische Lage Österreichs, ähnlich wie die der Weimarer Republik, durch Instabilität und schwelende Bürgerkriegsgefahr gekennzeichnet war. Er war zwölf Jahre alt, als im Juli 1927 demonstrierende Arbeiter den Wiener Justizpalast in Brand setzten, und die brutale Repression der Revolte einen entscheidenden Schritt zur politischen Radikalisierung Österreichs einleitete. Eine verhängnisvolle Entwicklung begann, die zur Ausschaltung der parlamentarischen Demokratie und zur Errichtung eines klerikal-autoritären Ständestaates führte. Die kommunistische Partei und auch die NSDAP, die 1932 erhebliche Erfolge bei Landtagswahlen verbuchen konnte, wurden verboten, Tausende ihrer Mitglieder festgenommen und in sogenannten Anhaltelagern interniert. 1934 wurde das Land von einer Welle nationalsozialistischer Terroranschläge überzogen. Mit dem linksgerichteten Februaraufstand, der in Linz seinen Ausgang nahm, kam es im Frühjahr 1934 zum offenen Bürgerkrieg. Linz war auch die Stadt, in die Walter Reder 1932 als 17jähriger gezogen war. Dort bekannte sich der junge Nationalist offen zur radikalen völkischen Rechten und zur NSDAP. Im September schloß er sich zunächst der Hitlerjugend an, und fünfzehn Monate später, im Dezember 1933, wurde er in die mittlerweile illegale SS aufgenommen. Seine Militanz zeigte er offen, was ihm schon bald politische Vorstrafen einbrachte. Die Gründe formulierte Reder folgendermaßen: „Wegen Zettelkleben, Böllerwerfen und Zugehörigkeit zur NSDAP“.3 1934 wurde er aus allen Schulen Österreichs ausgeschlossen und sollte in ein Anhaltelager eingewiesen werden. Dem entging er am 25. Juni 1934 durch seine Flucht nach Deutschland, genau einen Monat vor

WALTER REDER

189

dem Putschversuch der österreichischen Nationalsozialisten und der Ermordung des Bundeskanzlers Dollfuß in Wien. Im nationalsozialistischen Deutschland angekommen, wurde Reder zunächst in den SS-Sturmbann „Österreichische Legion“ eingereiht, einen paramilitärischen Verband, der für den Einmarsch in Österreich militärisch ausgebildet wurde. Diese Station war aber nur von kurzer Dauer. Bald wurde er für die SS-Führerlaufbahn vorgeschlagen und zum ersten Lehrgang in der Junkerschule Braunschweig gemeldet. Zu diesem Zeitpunkt trat er aus der Kirche aus – er bezeichnete sich fortan als „gottgläubig“ – und wurde in die deutsche NSDAP übernommen. 1936 versetzte man ihn zur SS-Totenkopfstandarte „Oberbayern“ nach Dachau in die Wachmannschaft des Konzentrationslagers.4 Dort begann seine langjährige Verbindung zu Max Simon, unter dessen Kommando er bis Ende 1944 in verschiedenen Stellungen diente. Theodor Eickes Totenkopfverbände und die 1940 daraus entstandene 3. SS-Division „Totenkopf“ wurden zur soldatischen Heimat Reders. In ihren Reihen nahm er am Einmarsch in Österreich und in die Tschechoslowakei teil und avancierte 1939 zum Verbindungsführer der Division beim Reichsführer-SS. Im Frühjahr 1940 wurde er 2. Adjutant beim Stab des „Totenkopf“-Infanterie-Regiments 2 und nahm am Westfeldzug teil. Als Kompaniechef in Max Simons „Totenkopf“-Infanterie-Regiment 1 und später auch als Bataillonsführer zog Reder 1941 in die Sowjetunion. Bereits bei den ersten Kampfeinsätzen 1939 in Polen und 1940 in Frankreich fielen die Totenkopfverbände wegen ihrer Gewaltexzesse auf.5 Auch in der Sowjetunion zeigte sich der Geist, der die Division beseelte, in ihrer „rücksichtslosen, nicht selten kriminellen Kampfführung“, zugleich in „grenzenloser Selbstaufopferungsbereitschaft“ etwa bei den besonders verlustreichen Kämpfen im Kessel von Demjansk.6 An der Ostfront zeichnete sich Reder als draufgängerischer und rücksichtsloser Soldat aus. Er wurde mehrfach verwundet und für seine Tapferkeit mit dem Deutschen Kreuz in Gold und dem Ritterkreuz hoch dekoriert.7 Im März 1943 wurde er bei der Rückeroberung von Charkow erheblich verwundet. Der rechte Arm war von dieser Zeit an gelähmt, der linke Unterarm mußte amputiert werden.8 Nach seiner Genesung im Spätherbst 1943 meldete sich der nun schwer versehrte SS-Sturmbannführer Walter Reder bei Max Simon, der inzwischen die Führung der im Raum Laibach (Ljubljana) neuaufgestellten 16. SSPanzer-Grenadier-Division „Reichsführer-SS“ übernommen hatte und bat um ein Frontkommando.9 Simon übertrug ihm den Befehl über die PanzerAufklärungs-Abteilung der Division, einen äußerst mobilen Spezialverband, stark motorisiert und gut bewaffnet, mit meist erfahrenen und besonders ausgebildeten Führern und Unterführern sowie sehr jungen, meist 17 bis 18 Jahre alten SS-Rekruten als Mannschaften. Die Abteilung erreichte Italien Ende Mai 1944, und seit dem 26. Juni wurde sie in sehr harte Kämpfe ver-

190

CARLO GENTILE

wickelt. An der toskanischen Küste entlang zog sie sich kämpfend zurück und erreichte am 18. Juli die Gegend südlich von Livorno. In diesem Zeitabschnitt waren ihre Verluste beträchtlich. Sie verlor in drei Wochen etwa 400 Mann, darunter zwölf Kompanie- und Zugführer.10 Als dann wenig später die Kämpfe abflauten und die Front sich stabilisierte, wurde sie herausgelöst und als Reserve ins rückwärtige Gebiet verlegt, wo sie ab Mitte August verstärkt zur „Bandenbekämpfung“ herangezogen wurde. „Bandenbekämpfung“ in Italien Reders erster Einsatz fand in den Bergen nordwestlich von Carrara am 19. August statt. Hier hatten zwei Tage davor Partisanen bei einem Überfall 16 SS-Männer erschossen. Während SS-Feldgendarmen 53 gefangene Zivilisten am Tatort hinrichteten, durchstreiften Reders Soldaten das umliegende Gebirge; sie fanden über 100 Frauen, Kinder und alte Menschen in Valla versammelt und töteten sie mit Maschinengewehrsalven. Am 24. und 25. August waren sie an einer großangelegten Partisanenbekämpfungsaktion im Zusammenwirken mit Wehrmachtstruppen im Gebiet von Vinca beteiligt. In deren Verlauf wurden fast 200 Zivilisten ermordet, viele allerdings durch die Hand italienischer Hilfstrupps der faschistischen Schwarzen Brigade. Reders berüchtigtster Einsatz fand Ende September im Raum südwestlich von Bologna statt. Am 29. September startete seine Abteilung ein Unternehmen gegen die Partisanengruppe „Stella Rossa“ im Gebirge östlich von Vergato-Marzabotto. Sie trat in westlicher Richtung an. Weitere Truppen der SSDivision, ein Ost-Bataillon des Heeres und Flaksoldaten der Luftwaffe flankierten Reders Hauptstoß und riegelten das Einsatzgebiet ab. Die Partisanen schossen hin und wieder auf die angreifenden Truppen und fügten ihnen einige Verluste zu. Dann zogen sie sich auf die Berggipfel zurück, lösten ihre Einheiten im Laufe der Nacht auf und flüchteten. Allein die Tatsache, daß die Partisanen mit wenigen Verlusten und von den Soldaten weitgehend unbehelligt das Gebiet räumen konnten, dürfte Beweis genug sein, daß es bei dieser Aktion gar nicht um die Bekämpfung des bewaffneten Widerstandes ging, sondern einzig um die vollständige Vernichtung des „Bandengebiets“ und der darin lebenden Menschen. Statt Partisanen wurden Alte, Frauen, Kinder und Säuglinge getötet, die meisten im Einsatzgebiet der Aufklärungs-Abteilung.11 Am Abend des 29. September lagen 550 Menschen erschossen in den brennenden Weilern und Gehöften des Gebirgsmassivs. Weitere Tötungen fanden auch in den folgenden Tagen in diesem Gebiet statt. Bei insgesamt über 700 toten „Banditen“ und „Bandenhelfern“ gab es auf deutscher Seite gerade einmal 7 Gefallene und 29 Verwundete.12 Die Massaker der 16. SS-Panzer-Grenadier-Division waren kein einzigartiges Ereignis. Sie waren vielmehr in den allgemeinen Kontext von Besatzungsherrschaft und rücksichtsloser „Bandenbekämpfung“ in Italien einge-

WALTER REDER

191

bettet. Der Einsatz der Division erfolgte im Rahmen von Befehlen und Anweisungen, die von der Wehrmacht kamen. Und wenn auch die militärische Spitzenführung Exzesse dieser Art nicht guthieß, wurden sie doch stets toleriert und gedeckt. Viele in Italien eingesetzte Einheiten der Wehrmacht, der SS und der Polizei haben furchtbare Kriegsverbrechen gegen unbeteiligte Zivilisten verübt, doch kaum eine von ihnen konnte eine Radikalität aufweisen, die mit den Aktionen der 16. SS-Panzer-Grenadier-Division „Reichsführer-SS“ vergleichbar gewesen wäre; ein Fünftel der Gesamtverluste der italienischen Zivilbevölkerung bei Gewalttaten der Besatzungstruppen entstand durch ihre Einsätze. Die Anhäufung von Kriegsverbrechen im Zuständigkeitsbereich der Division ging mit einer rasanten Radikalisierung einher, die auch für die im westeuropäischen Vergleich besonderen Verhältnisse des besetzten Italien durchaus untypisch war. Sie läßt sich kaum mit situativen Elementen allein begründen. Eine passendere Erklärung dafür mag eher in der ausgeprägten Ideologisierung seines Führungspersonals zu finden sein. In der Division dienten nämlich zahlreiche ‚alte Kämpfer‘ aus den Totenkopfverbänden und der Konzentrationslager-SS sowie Angehörige von Einsatzkommandos oder von Einheiten der Waffen-SS und der Polizei, die auf den osteuropäischen ‚killing grounds‘ 1941 bis 1944 gewirkt hatten, extrem brutalisierende Erfahrungen gemacht und dabei die nationalsozialistischen Vernichtungspraktiken in allen ihren Ausprägungen kennengelernt hatten.13 Es handelte sich um eine relativ homogene Kerngruppe von jüngeren SS-Führern in den mittleren Positionen der Abteilungsleiter und Bataillonskommandeure, die für die Durchführung der Vernichtungsaktionen verantwortlich waren. Sie wurden alle zwischen 1910 und 1916 geboren und erlebten den Ersten Weltkrieg und die Wirren der Nachkriegszeit als Kinder.14 Nicht alle der 16. SS-Panzer-Grenadier-Division zugeschriebenen Blutbäder können indes Walter Reder und seinen Männern zugeordnet werden. Ihre Verantwortung ist lediglich im Falle von Valla, Vinca und Marzabotto eindeutig nachgewiesen; in anderen Fällen liegen – nach allem, was wir wissen – nur Indizien vor. Auch bei diesen Aktionen wurden nicht alle Verbrechen von seinen Soldaten begangen – obwohl es zutrifft, daß sie für die Mehrzahl verantwortlich waren. Dieser Feststellung entsprach im großen und ganzen auch das Urteil des Militärgerichts von Bologna im Jahr 1951, das Reder in einigen gegen ihn vorgebrachten Anklagepunkten freisprach. Dem in der italienischen Literatur und Publizistik weitverbreiteten ‚negativen Mythos‘ eines bei den Massakern des Sommers 1944 allgegenwärtigen Reder ist daher genauso eine Absage zu erteilen, wie auch manchen grotesken Überzeichnungen seiner Person und seines Tuns.15 Vieles ist nach wie vor kaum geklärt. Eine größere Rolle als bisher angenommen könnten zwei weitere Personen bei dem Zustandekommen der Massaker gespielt haben: der auch in-

192

CARLO GENTILE

nerhalb der Division als brutal verschrieene Kommandeur, SS-Gruppenführer Max Simon,16 und SS-Sturmbannführer Helmut Looß, Leiter der Ic-Abteilung und „Sicherungskommandant“, zweifellos eine der Schlüsselfiguren bei den Verbrechen. Zum Verständnis seiner Rolle ist von erheblicher Bedeutung, daß es sich dabei um einen SD-Führer handelte, der von 1943 bis Sommer 1944 als Leiter des Sonderkommandos 7a der Einsatzgruppe B fungiert hatte und in besonderer Weise als ein ‚Fachmann‘ für die „Bandenbekämpfung“ nach östlicher Prägung angesehen werden muß.17 Strafrechtliche Verfolgung Zu einer strafrechtlichen Verfolgung von Angehörigen der Division kam es in der Nachkriegszeit einzig im Falle von Max Simon und Walter Reder. Simon wurde 1947 von einem britischen Militärgericht in Padua zum Tode verurteilt, 1954 aber schließlich entlassen. Walter Reder, der 1945 in einem österreichischen Kriegslazarett in Gefangenschaft geraten und anschließend im Lager Wolfsberg interniert worden war, wurde 1948 von Großbritannien an Italien übergeben. Dort stellte man ihn im September und Oktober 1951 in Bologna vor ein Militärgericht und verurteilte ihn zu lebenslanger Haft. Die italienische Justiz unternahm allerdings nichts gegen die mindestens so stark belasteten Kompanieführer, von denen drei – Saalfrank, Segebrecht und Szillat – den Krieg überlebt hatten. Das Militärgericht nahm auch an, daß der besonders stark belastete Ic-Offizier der Division, Helmut Looß, verschollen sei und unternahm demzufolge keinen Versuch, ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Im Laufe der 1950er Jahre erlosch in Italien das Interesse, weitere Verfahren gegen Kriegsverbrecher anzustreben. Zum einen waren es politische Opportunitätserwägungen im Zusammenhang mit der militärischen Integration der Bundesrepublik in die NATO, die die italienische Regierung zur faktischen Aufgabe der Verfolgung von NS-Verbrechen bewegten, die sich gegen die eigene Bevölkerung gerichtet hatten.18 Auf der anderen Seite verfolgte Italien aber auch handfeste nationale Interessen, etwa den Schutz einiger hundert Offiziere und Soldaten des eigenen Landes, denen ebenfalls schwerwiegende Kriegsverbrechen vorgeworfen wurden.19 Walter Reder verbüßte seine Strafe in voller Länge und war bis Januar 1985 im italienischen Militärgefängnis Gaeta inhaftiert. Für die italienische Öffentlichkeit war er eine Symbolfigur der deutschen Besatzungszeit und ihrer Verbrechen. Eine betont andere Sichtweise war in der Bundesrepublik und in Österreich verbreitet. Dort formierte sich bald nach seiner Verurteilung eine starke und engagierte Interessengruppe, die sich vehement für seine Freilassung einsetzte. Zunächst waren es vor allem die Soldatenverbände, die zugunsten Reders auftraten. Vor allem im Laufe der 1960er und der 1970er Jahren entstand eine umfangreiche publizistische Produktion im rechtsnationalen Lager, deren Hauptziel es war, das wahre Geschehen von Marzabotto

WALTER REDER

193

in Abrede zu stellen und es statt dessen zur normalen Kampfhandlung umzuinterpretieren.20 Nach langwierigen Verhandlungen, an denen die österreichische Regierung und die katholische Kirche beteiligt waren, wurde Walter Reder schließlich am 24. Januar 1985 nach Österreich entlassen. Am 26. April 1991 verstarb er in einem Wiener Krankenhaus.21 Zur strafrechtlichen Verfolgung weiterer Täter aus Reders AufklärungsAbteilung kam es in der Nachkriegszeit weder in Österreich noch in Deutschland, wo zahlreiche ehemalige Angehörige lebten und zunächst in loser Form, dann durch einen Kameradschaftsverband miteinander in Kontakt blieben.22 Mitte der 1960er Jahre leitete die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg Ermittlungen ein, die die Ereignisse von Marzabotto betrafen, und vernahm zahlreiche Zeugen, darunter die drei ehemaligen Kompaniechefs und Helmut Looß. Im Mittelpunkt des Interesses der Juristen stand allerdings nur die Frage nach der angeblichen Erschießung eines Soldaten der Abteilung, der sich bei Marzabotto geweigert haben soll, Zivilisten zu töten. Dabei bemühten sich die Ludwigsburger Ermittler um die Klärung eines Falls von sogenanntem Befehlsnotstand und nicht um die Klärung der eigentlichen Kriegsverbrechen.23 Lediglich die Staatsanwaltschaft Stuttgart ermittelte 1969 gegen einen ehemaligen Bataillonskommandeur, der in der Nachkriegszeit zum Oberpolizeidirektor in Göppingen avanciert war. Das Verfahren wurde jedoch 1970 eingestellt.24 Unbehelligt von der Justiz setzten alle anderen Mittäter ihr bürgerliches Leben fort. Looß wurde Lehrer und starb 1986. Reders Kompanieführer waren Beamte oder Angestellte und starben in den 1990er Jahren. Zur Zeit sind ein Dutzend die Division betreffende Verfahren beim Militärgericht in La Spezia anhängig. Anmerkungen 1 Zu Walter Reder ist lediglich eine sehr knapp gehaltene und mittlerweile vom Forschungsstand überholte Veröffentlichung vorhanden: Christian Ortner: Am Beispiel Walter Reder. Die SS-Verbrechen in Marzabotto und ihre „Bewältigung“, Wien 1985; meine Rekonstruktion der Biographie stützt sich auf die im BAB und bei der DD (WASt) aufbewahrten Personalunterlagen sowie auf seine Aussagen im Verfahren des italienischen Militärgerichts (Tribunale Militare della Repubblica, La Spezia, Procedimento penale contro Walter Reder, Bologna 1951), teilweise auch BAK, All.Proz. 21. 2 Lebenslauf Reder v. 24.6.1936, BAB, BDC, SSO Walter Reder. 3 Dto. v. 9. 2.1935, ebd. 4 Dienstlaufbahn Reder, ebd.; zur „Dachauer Schule“ Karin Orth: Die Konzentrationslager-SS. Sozialstrukturelle Analysen und biographische Studien, Göttingen 2000. 5 Das bekannteste Kriegsverbrechen ist die Ermordung von gefangenen britischen Soldaten in Le Paradis durch Teile des 2. Regiments, vgl. Charles W. Sydnor: Sol-

194

CARLO GENTILE

diers of Destruction. The SS Death’s Head Division 1933–1945, Princeton 1977, S. 106 ff. 6 Vgl. Bernd Wegner: Die Garde des „Führers“ und die „Feuerwehr“ der Ostfront. Zur neueren Literatur über die Waffen-SS, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 23(1978), S. 210–236. 7 Vorschlagsliste für die Verleihung des Ritterkreuzes v. 17.3.1943, BAB, BDC, SSO Walter Reder. 8 Mitteilung der DD (WASt). 9 Personalantrag v. 28.12.1943; Beurteilung v. 30.6.1944, BAB, BDC, SSO Walter Reder. 10 SS-Pz.Aufkl.Abt. 16 „Reichsführer-SS“: Namentliche Verlustmeldungen Februar–November 1944, DD (WASt), Ws 438. 11 Zu den einzelnen Massakern vgl. Gerhard Schreiber: Deutsche Kriegsverbrechen in Italien. Täter, Opfer, Strafverfolgung, München 1996; zu Marzabotto Carlo Gentile: Marzabotto, in: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Orte des Grauens. Verbrechen im Zweiten Weltkrieg, Darmstadt 2003, S. 136–146. 12 AOK 14/ Ia: Tagesmeldung v. 3.10.1944, BA-MA, RH 20-14/46. 13 Noch mehr als bei der Vernichtung von Dörfern und deren Einwohnern ließe sich der Nachweis von spezifisch nationalsozialistischen Elementen an den Verbrechen der Division bei der Betrachtung der systematischen und fortgesetzten Ermordung von nichtarbeitsfähigen Zivilisten erbringen – ein Vorgang, der durchaus als singulär zu betrachten ist und sonst nirgendwo im besetzten Italien in dieser Form belegt ist, vgl. Carlo Gentile: Politische Soldaten. Die 16. SS-Panzer-Grenadier-Division „Reichsführer-SS“ in Italien 1944, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 81(2001), S. 529–561; insofern bedürfen die von Wegner geäußerten – und grundsätzlich berechtigten – Zweifel in der Frage, ob man von spezifisch nationalsozialistischen Verbrechen im Zusammenhang mit von Waffen-SS-Einheiten begangenen Massakern sprechen kann, einer gründlicheren Prüfung, Wegner (Anm. 6), S. 229. 14 Auffallend ist die Jugendlichkeit der Führungsgruppe der Division; nur eine kleine Gruppe von SS-Führern gehörte der Generation der Frontkämpfer an, wie Max Simon und einige Reserveführer v.a. im Stab; die Kriegsjugendgeneration war v.a. durch einige Regimentskommandeure vertreten; Kompaniechefs waren in der Regel zwischen 1911 und 1922 geboren, Zugführer zwischen 1916 und 1924, wobei zu beachten ist, daß es unter ihnen auch eine größere Zahl von älteren Reserveführern gab, Gentile (Anm. 13), S. 551–555; Rangliste 16. SS-Pz.Gren.Div. „ReichsführerSS“, DD (WASt); Ordre de Bataille dto., ebd. 15 Vgl. Joachim Staron: Fosse Ardeatine und Marzabotto: Deutsche Kriegsverbrechen in Italien, Paderborn 2002. 16 1899 geboren, Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg, Freikorpskämpfer und Berufsunteroffizier der Reichswehr, seit Mitte der 1930er Jahre enger Vertrauter Theodor Eickes und in den Totenkopfverbänden rasch aufgestiegen, im November 1934 SS-Untersturmführer und bereits im September 1935 SS-Sturmbannführer, 1935 Kommandant der Wachmannschaft im KZ Sachsenburg, 1937–1939 Kommandant der Dachauer Wachmannschaft (SS-Totenkopfstandarte „Oberbayern“) und einer der wichtigsten Führer der Division „Totenkopf “ bis 1943; Simon war einer der wenigen Generale der Waffen-SS aus der Arbeiterschaft, BAB, BDC, SSO Max Simon.

WALTER REDER 17

195

Er wurde 1910 in Eisenach geboren, studierte in Königsberg, Berlin und Göttingen Jura und Philosophie; politisch engagierte er sich im Studium vor der „Machtergreifung“ im Hochschulring Deutscher Art und später im Nationalsozialistischen Studentenbund; SS-Mitglied 1933, Anhänger der Deutschen Glaubensbewegung 1935; begann 1936 hauptamtlich für den SD zu arbeiten und wurde Referent für Politische Kirchen im RSHA; 1943 ging er als Führer des SK 7a in die Sowjetunion, BAB, BDC, SSO und RuSHA Helmut Looß; vgl. Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, S. 405, 549. 18 Paolo Pezzino: Sui mancati processi in Italia ai criminali di guerra tedeschi, in: Storia e Memoria 10(2001), S. 9–72. 19 Filippo Focardi: La questione della punizione dei criminali di guerra in Italia dopo la fine del secondo conflitto mondiale, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 80(2000), S. 543–624. 20 Etwa Lothar Greil: Die Lüge von Marzabotto, München 1959; Rudolf Aschenauer: Der Fall Reder, Berg am See 1978. 21 Staron (Anm. 15), S. 313–320. 22 Eine aus den 1980er Jahren stammende „Anschriftenliste der Truppenkameradschaft 16. Pz.Gren.Div. RFSS“, Privatarchiv des Verfassers, listet über 670 ehemalige Divisionsangehörige auf; die meisten leben in der Bundesrepublik und in Österreich; Veranstaltungen des Divisionsverbandes haben in den 1980er Jahren vereinzelt stattgefunden; in den letzten Jahren finden die offiziellen Treffen in Österreich im Rahmen der Großveranstaltungen von Kriegsveteranen am Ulrichsberg und in Krumpendorf statt; der Kameradschaftsverband hat vor wenigen Jahren eine weitgehend apologetische Darstellung des Einsatzes der Division in Italien veröffentlicht, die auch auf die Ereignisse von Marzabotto eingeht, Truppenkameradschaft (Hrsg.): „Im gleichen Schritt und Tritt“. Dokumentation der 16. SS-Panzer-Grenadier-Division „Reichsführer-SS“, München 1998. 23 BAL, 401 AR 1714/67. 24 Staw Stuttgart 16 Js 186/69.

LAWRENCE D. STOKES

Heinz Seetzen – Chef des Sonderkommandos 10a Am 25. Juni 1941 schrieb SS-Obersturmbannführer und Oberregierungsrat Heinz Seetzen, Chef der Stapo-Leitstelle Hamburg und designierter Führer des Sonderkommandos (SK) 10a der Einsatzgruppe D aus Bad Düben, dem Bereitstellungsraum der Einheit, an den Höheren SS- und Polizeiführer Nordsee, Rudolf Querner, daß er „auf baldigen Befehl zum Abrücken“ hoffe und sich außerdem „auf den bevorstehenden Einsatz [...] sehr“ freue: „Ich [...] danke Ihnen auch für Ihre Wünsche zum guten Gelingen.“1 Hiermit werden zwei grundsätzliche Fragen über die Massentötungen durch die Einsatzgruppen in der deutsch besetzten Sowjetunion angeschnitten: Was wußten die beteiligten Führer im voraus über die künftigen Mordaktionen ihrer Formation? Und mit welchen Motiven und Gefühlen gingen sie an die von ihnen in die Tat umgesetzten Genozidpläne der NS-Diktatur? Von Eutin nach Minsk Heinrich Otto Seetzen wurde am 22. Juni 1906 in Rüstringen-Wilhelmshaven als einziges Kind eines Feinkostgeschäftsinhabers geboren. Die Eltern wollten „aus ihm mehr machen [...], als sie selber waren“.2 Deshalb durfte dieser Sohn von ‚kleinen Leuten‘ 1925 das Abitur machen und danach an den Universitäten von Marburg und Kiel Jura studieren, wo er 1929 sein Referendarexamen bestand. Bereits als Schüler trat Seetzen dem Jungstahlhelm, in Marburg dann der ebenso nationalistischen wie antisemitischen Turnerschaft „Philippina“ als Waffenbruder bei. Mit dem Nationalsozialismus kam er erstmals während seiner Vorbereitungszeit am Kieler Amtsgericht in Berührung. Denn dessen Leiter Dr. Anton Franzen war 1930 Spitzenkandidat der NSDAP im Reichstagswahlkreis Schleswig-Holstein und 1931 für einige Monate Staatsminister in der Regierung von Braunschweig. Der junge Jurist, der eine Laufbahn im preußischen Justizdienst anstrebte, bekam aber von Franzen den Ratschlag, sich der Partei wohl aus beruflichen Überlegungen nicht formell anzuschließen. Trotzdem soll Seetzen „alle“ ihre Veranstaltungen regelmäßig besucht und sogar „unter [s]einen Berufskameraden eine nationalsozialistische Gruppe gebildet“ haben. In Kiel machte er offenbar auch die Bekanntschaft des ehemaligen Marineoffiziers Reinhard Heydrich, ohne jedoch in den von diesem gerade aufgebauten Sicherheitsdienst der SS (SD) einzutreten. Als das Dritte Reich anbrach, durfte der nunmehr zum Assessor avancierte Seetzen – er erhielt die Note „ausreichend“ bei der Großen juristischen Staatsprüfung – lediglich verschiedene nationalsozialistische Rechtsanwälte

HEINZ SEETZEN

197

in ihren Praxen vertreten, während diese die regionale Machtübernahme Hitlers in Schleswig-Holstein tatkräftig unterstützten. Zuvor war er am 1. Mai 1933 der NSDAP und gleichzeitig der SA beigetreten. Der beschäftigungslose, aber eingeschworene Nationalsozialist,3 der „gesinnungsmäßig schon sehr lange zu uns“ gehörte,4 bewarb sich zuerst – ohne Erfolg – um die freigewordene Bürgermeisterstelle der Kleinstadt Eutin, des Verwaltungszentrums der Exklave Landesteil Lübeck des Freistaats Oldenburg. Statt dessen wurde er von dem Eutiner Regierungspräsidenten und SA-Brigadeführer Johann Heinrich Böhmcker als Aushilfskraft in seiner Behörde eingestellt. Dort war er u.a. für „Schutzhaftsachen“ verantwortlich, also mit der polizeilichen Leitung des unter Böhmckers Regie aufgezogenen Konzentrationslagers beauftragt. Damit begann Seetzen, sich von seiner rechtsstaatlichen Erziehung allmählich zu verabschieden. Obwohl niemand im Ostholsteiner KZ ums Leben kam, wohnte er mehreren schweren Verprügelungen von Häftlingen bei, ohne dagegen einzuschreiten.5 Ansonsten unterstützte er – wenn auch gelegentlich widerwillig – jegliche Maßnahme Böhmckers gegen wirkliche oder nur vermeintliche Gegner des Regimes. Seetzen wurde dafür im März 1934 zum ersten Leiter der Staatspolizeistelle Eutin ernannt.6 Mit der Vereinheitlichung des KZ-Wesens durch die SS wurde auch das Böhmckersche Lager geschlossen, und Seetzen stand wiederum ohne Arbeit da. Nunmehr entschied er sich, um Aufnahme in die preußische Gestapo zu ersuchen und dafür auch zur Schutzstaffel Heinrich Himmlers überzuwechseln. Beides gelang: Seetzen wurde 1935 als SS-Untersturmführer zum vorerst kommissarischen Leiter der Stapo-Stelle für den Regierungsbezirk Aachen bestellt. Es folgten weitere Stationen in Stettin 1939 und Hamburg 1940 mit einem vorübergehenden Aufenthalt in Wien nach dem Anschluß Österreichs 1938. Über die präzise Betätigung Seetzens an all diesen Orten sind nur sehr wenige Quellen überliefert.7 Sicher ist dennoch, daß jede dieser Stationen ihm einen noch wichtigeren Verantwortungsbereich einbrachte. Allein aus Aachen sind eine Reihe seiner Lageberichte erhalten geblieben. Darin ließ er sich über die Verfolgung des katholischen Klerus, der Juden sowie vor allem der Kommunisten („diese Elemente können nur dadurch bekämpft werden, daß sie unerbittlich ausgerottet werden“) aus.8 Seetzen wurde vom Führer des SD-Oberabschnitts West bescheinigt, er habe sich „nach anfänglichen Hemmungen“ in Aachen „seit seiner Zugehörigkeit zur SS ehrlich Mühe gegeben [...], nicht nur ein reibungsloses Zusammenarbeiten mit dem SD zu schaffen, sondern aus innerer Überzeugung dieses Zusammenarbeiten SS-mäßig zu vertiefen“.9 Wegen der Grenzlage Aachens verurteilte Seetzen unautorisierte Ausschreitungen von einzelnen Parteimitgliedern gegen die jüdische Bevölkerung als disziplinlos und dem Ansehen des Reiches abträglich; dagegen plädierte er für einen „rationalen“ und gesetzlichen Antisemitismus. Er war

198

LAWRENCE D. STOKES

jedoch bereit, eine Radikallösung der „Judenfrage“ in Deutschland mitzutragen, als am 22. April 1942 ein Befehl von Adolf Eichmann bei seiner Heimatdienststelle in Hamburg eintraf, um die Evakuierung der Juden nach Osten reibungsloser zu bewerkstelligen.10 Zwar befand sich Seetzen bereits zu dieser Zeit mit dem SK 10a in der Sowjetunion, kam aber gelegentlich auf Urlaub nach Hause; entweder er persönlich oder sein Stellvertreter war in seinem Namen somit für die Deportation der Hamburger Juden zuständig.11 Nach seiner Ablösung bei der Einsatzgruppe D bekleidete Seetzen als Inspekteur bzw. Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD entsprechende Stellen in Kassel 1942, Breslau 1943 und – gleichzeitig mit der Leitung der Einsatzgruppe B – in Minsk 1944. In Breslau besaß er die Befugnis, Festgenommene direkt nach Auschwitz einzuweisen und auch ihre Tötung anzuordnen. Deshalb besuchte er das Lager mehrmals und war vermutlich für den Mord an einer Anzahl von Häftlingen mitverantwortlich. Dies wiederholte sich im Sommer 1944, als die Einsatzgruppe B den Rückzug aus Weißrußland antrat.12 Kommandoführer bei der Einsatzgruppe D Zwischen Juni 1941 und Juli 1942 hat Seetzen als Leiter des SK 10a die Ermordung von zumindest 15000 Menschen – meistens waren es Juden, aber auch sowjetische Kriegsgefangene, Zivilgeiseln, Partisanen, ‚Zigeuner‘ usw. – persönlich befohlen oder mitausgeführt.13 Wie das eingangs zitierte Schreiben an SS-Gruppenführer Querner andeutet, begrüßte er diesen Auftrag. Offen bleibt die Frage nach Seetzens genauen Kenntnissen über das Ausmaß seiner kommenden Verbrechen – also: ob damit ein Genozid an jüdischen Männern, Frauen und Kindern ohne Ausnahme beabsichtigt war. Es gab Zeugenaussagen im Verlauf der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegen das SK 10a, die solches bestätigten, andere jedoch, die es eher verneinten.14 Da Seetzen selbst nie dazu vernommen werden konnte, ist es schwierig, gerade in bezug auf ihn in dieser Kontroverse zu einer definitiven Antwort zu gelangen. Im Gegensatz zu seinem Verhalten als Stapo-Stellenleiter im Altreich sind Seetzens kriminelle Taten in der Sowjetunion durch zahlreiche Quellen bewiesen. Zunächst war des SK 10a Anfang Juli 1941 im bessarabischen Belzy aktiv. Dort wurden 45 Juden „wegen Nichtbefolgung sicherheitspolizeilicher Auflagen und als Vergeltung für Angriffe auf deutsches Militär entsprechend behandelt“.15 Laut Erinnerung von mehreren Mitgliedern der Einheit wurde diese Aktion von Seetzen persönlich geleitet, da sie dem Kommando als Demonstration des künftigen modus operandi dienen sollte. Sämtliche nicht an der Erschießung direkt beteiligten Deutschen mußten am Tatort – einige Splittergräben am Rande von Belzy – dem Ereignis zuschauen.16 In Kodyma führte ein Teilkommando unter Seetzens Stellvertreter in Zusammenarbeit

HEINZ SEETZEN

199

mit der Wehrmacht die ‚Säuberung‘ durch. Von 400 zumeist jüdischen Männern wurde rund ein Viertel als Kommunisten bezeichnet und außerhalb der Stadt erschossen. Die übrigen wurden entweder als Geiseln, die „bei geringsten Anlässen exekutiert“ werden konnten, weiterhin festgehalten oder, wenn sie Greise und Jugendliche waren, freigelassen. Seetzen hat die Teilnahme seiner Leute an dieser Exekution erst nach einem eingehenden Gespräch mit dem kommandierenden General des XXX. Armeekorps, Hans von Salmuth, befohlen.17 Gegen Ende August erreichte die Truppe die von Volksdeutschen bewohnte Gegend um Speyer. Erschießungen größeren Ausmaßes in Ortschaften zwischen Speyer und Nikolajew fanden auf einer Kolchose bei Bereskowa statt, wo zum ersten Mal neben Männern auch Frauen und Kinder – zusammen rund 200 Personen – vom SK 10a unter Seetzens Leitung umgebracht wurden.18 Ebenso wurden in der Nähe von Bereslaw, Snigerewka und Kachowka insgesamt mindestens 1000 Juden beiderlei Geschlechts und aller Altersgruppen getötet. Der eine oder andere Teilnehmer erinnerte sich später, daß an letzterem Ort die Synagoge niedergebrannt wurde – wahrscheinlich voll von Menschen –, daß woanders 15 oder 20 Insassen eines Siechenheims ermordet wurden, und daß Seetzen in der Regel anwesend war und häufig an den Erschießungen mit der Waffe in der Hand teilnahm.19 Die im Steppengebiet nördlich von Odessa verübten Verbrechen, die mit am prägnantesten im Gedächtnis der Täter haften geblieben sind, fanden an einer Reihe von ausgetrockneten Brunnen statt, die offensichtlich ausgewählt wurden, weil sie bereitstehende und entlegene Möglichkeiten zur Leichenbeseitigung boten. Diese Tötungen waren nicht nur auffallend grausam; eine von ihnen machte außerdem Seetzens Namen bei den Westalliierten erstmals bekannt. Denn im Oktober 1943 lief der österreichische Polizeibeamte Robert Barth, ehemals Angehöriger der Einsatzgruppe D, zu den Briten in Italien über und machte eine umfassende Aussage über seine damalige Tätigkeit. Darin sagte Barth über Seetzen: „Als besonders brutal wurde der Kommandoführer [...] Zeezen [sic] [...] bezeichnet. Er soll sich gebrüstet haben, daß sein Kommando die meisten Juden erschossen hätte. Auch wurde erzählt, daß bei seinem Kommando, als einmal die Munition bei Erschießungen von Juden ausging, die Juden lebendig in einen Brunnen von etwa 30 m Tiefe geworfen worden seien.“20 Obwohl manche früheren Mitglieder des SK 10a sich nach zwei Jahrzehnten und mehr nicht mehr genau an diesen Fall erinnern konnten, waren die von ihnen anschaulich dargestellten Szenen dennoch schrecklich genug; demnach habe Seetzen persönlich mitgeschossen.21 Die Zahl der Ermordeten stieg mit jedem Tatort, als das Kommando im Oktober 1941 in die Städte östlich des Dnjepr einrückte. In Berdjansk, wo Seetzen einen Judenrat bilden ließ, um die Registrierung der Gemeinde durchzuführen, wurden 1000 von ihnen danach erschossen. In Melitopol wandte er dieselbe Methode an, um 2000 der mit dem Versprechen der „Um-

200

LAWRENCE D. STOKES

siedlung“ Getäuschten in einem Panzergraben außerhalb der Stadt zu ermorden. Und in Mariupol kamen bis zu viermal so viele Juden durch das SK 10a ums Leben.22 Seine Untergebenen beschrieben öfter, daß Seetzen mit einer Trainingshose bekleidet und einer Zigarre im Mund wie ein Feldherr auf einem Erdhügel stehend mit seiner Maschinenpistole auf die nackten, übereinanderliegenden Menschen in einer Grube schoß. Hinterher konnte er sich ruhig zu einem guten Abendessen niederlassen.23 Ende November mußte das SK 10a mit der sich zurückziehenden Wehrmacht Rostow am Don so abrupt räumen, daß es damals dort zu keiner Exekution kam. Statt dessen verbrachte die Einheit die Wintermonate 1941/42 in Taganrog am Asowschen Meer. Dort erhielt sie erstmalig einen Gaswagen, um die Mordoperationen an kommunistischen Parteimitgliedern und -funktionären, Patienten von psychiatrischen Anstalten und vor allem an Juden – insgesamt zwischen 1000 bis 2000 Personen – effizienter und mit weniger psychischer Belastung für die Täter zu bewerkstelligen. Ein Fahrer des Kommandos berichtete später, einmal, nachdem der Kastenwagen mit jüdischen Familien beladen und die Türen geschlossen waren, „kam Seetzen aus der Unterkunft. Der Motor des Wagens lief und die Auspuffgase wurden durch die Umschalter in das Wageninnere geleitet. Das Klopfen und Schreien der Opfer war hörbar. Seetzen grinste dabei hämisch, hatte seine Zigarre im Mund, die Hand in der Tasche und gab nach ca. 5 Minuten dem Fahrer das Zeichen zur Abfahrt.“ Ein paar Kilometer hinter Taganrog waren alle Insassen tot. Bevor Seetzen seinen Weihnachtsurlaub im Dezember 1941 antrat, konnte die Einsatzgruppe D nach Berlin melden, daß die Stadt nunmehr „judenfrei“ sei.24 Fraglich bleibt allerdings Seetzens Verantwortlichkeit für das Vorgehen in Rostow. Als die Stadt im Juli 1942 von deutschen Truppen wieder in Besitz genommen wurde, kehrte das SK 10a ebenfalls dorthin zurück. Die rund 2000 Rostower Juden, die noch geblieben waren, wurden innerhalb kürzester Zeit durch Gas oder Erschießung fast alle umgebracht. Ungewiß bleibt nur, inwieweit Seetzen auch für diese Mordtat voll verantwortlich war oder ob sein Nachfolger, Dr. Kurt Christmann, schon in Rostow die Leitung des SK 10a übernommen hatte.25 Fest steht, daß Seetzen am 13. Juli 1942 die Nachricht von seiner Abberufung erhielt, jedoch erst auf der nächsten Station des Kommandos in Krasnodar endgültig seinen Abschied nahm; seine Versetzung nach Kassel wurde am 18. August „mit sofortiger Wirkung“ von Himmler verfügt.26 Versuch einer Typisierung Als ehemaliger Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD in Breslau stand Seetzen auf jener britischen Liste von Gestapobeamten, die wegen der Ermordung von 50 aus dem Kriegsgefangenenlager Sagan in Schlesien ausge-

HEINZ SEETZEN

201

brochenen Fliegeroffizieren im März 1944 vernommen werden sollten. Er nahm sich jedoch am 28. September 1945 das Leben, als er von der Militärpolizei in Blankenese, wo er bei Freunden untergetaucht war, festgenommen wurde.27 Trotzdem erlauben die vorhandenen biographischen Angaben sowie die Aussagen von Menschen, die ihn gekannt haben, gewisse Schlüsse hinsichtlich seiner Person. Generationell und sozial entstammte Seetzen der sogenannten Kriegsjugendgeneration und dem gewerbetreibenden Mittelstand, aus denen die Hitlerregierung die große Mehrheit ihrer politischen Polizeioffiziere rekrutierte.28 Dasselbe gilt für den evangelisch-lutherischen Konfessionshintergrund Seetzens, obwohl er sich schließlich als „gottgläubig“ – also kirchlich ungebunden – bezeichnete, wie über 80 Prozent des Führungskorps der Sicherheitspolizei und des SD.29 Diese Gruppe bevorzugte eine juristische Ausbildung, und auf den Universitäten sowie in den rechtsgerichteten Wehrorganisationen der Weimarer Republik erhielten Seetzen und viele andere junge Bürgerliche ihr aus Nationalismus, Antisemitismus und Antimarxismus bestehendes Politikverständnis.30 Außerdem drohte ihm eine persönliche Krise in der Gestalt von Beschäftigungslosigkeit gerade zu dem Zeitpunkt, als er in den Arbeitsprozeß einzutreten beabsichtigte.31 Daß er sich dann dafür entschied, in die NSDAP einzutreten, ist sicherlich kein Zufall in seiner Biographie. Seine Behauptung nach 1933, er sei schon lange Zeit Anhänger der Bewegung gewesen, ihr aber damals nicht beigetreten, um seine Berufschancen nicht zu gefährden, demonstriert Opportunismus hinsichtlich seiner frühesten Einstellung zum Nationalsozialismus. Wie er sich von einem überzeugten, aber zurückhaltenden Parteigänger Hitlers, der sich in Eutin und vielleicht auch noch in Aachen an rechtsstaatliche Prinzipien gebunden fühlte, zu einem hemmungslosen Mordgehilfen als Einsatzkommandoführer entwickelte, ist angesichts der Lücken in der Überlieferung zu Seetzens Gestapokarriere kaum zu ergründen. Unbekannt ist beispielsweise, wann und mit welchem Ergebnis er die weltanschauliche Schulung absolvierte, und ob er an Ereignissen wie der Reichspogromnacht am 9./10. November 1938 aktiv beteiligt war.32 Über Seetzens Familienverhältnisse wissen wir mehr, und diese entsprachen weitgehend dem Täterbild eines „ganz normalen Akademikers“.33 Er heiratete 1937 die Tochter eines wohlhabenden Geschäftsmannes und NSBlockleiters und gewann dank seiner geschliffenen Umgangsformen und seines imponierenden Äußeren – 1,86 Meter groß, blond, immer gepflegt – auch deren Mutter für sich, die das Paar mit einer ansehnlichen Mitgift ausstattete. Aus der Ehe stammten ein Junge und ein Mädchen, was zwar den Durchschnitt von 1,3 Kindern für verheiratete SS-Führer zahlenmäßig übertraf, dennoch hinter dem Ideal Himmlers von vier Nachkommen zurückblieb.34 Weder das Zeugungsdefizit noch die angebliche Weigerung seiner

202

LAWRENCE D. STOKES

Gattin, irgendeiner NS-Frauenorganisation beizutreten, wie es seitens der Partei vom Ehepartner eines hohen SS- und Polizeioffiziers erwartet wurde, hemmten aber Seetzens unaufhaltsamen Aufstieg in beiden Institutionen. Auch der materielle Zustand der Kleinfamilie verbesserte sich ständig. In Hamburg bezog sie eine Wohnung im vornehmen Stadtteil Uhlenhorst nahe der Außenalster. Im Juli 1943, als die Hansestadt im alliierten Bombenhagel unterging, erlitt sie einen Verlust an Haushaltsgegenständen – einschließlich einer Kreidezeichnung von Hitler und einer Briefmarkensammlung – im Wiederbeschaffungswert von über 50000 Reichsmark.35 Gemessen an seiner Ausgangslage 1933 – als einer von 2000 arbeitssuchenden Stellenanwärtern im preußischen Justizdienst – war das erste Jahrzehnt des „Tausendjährigen Reiches“ für ihn und die Seinen eine sehr angenehme Periode.36 Was die Motivation und Persönlichkeit Seetzens als Vollstrecker der NSUnterdrückungs- und Ausrottungspolitik anbetrifft, befand die einzige Untersuchung seiner Psyche, daß sie „geordnet“ sei; auch bei seiner Charakterentwicklung sei „nichts Auffälliges“ festzustellen.37 Die Beobachtungen von Männern, die ihm in Rußland oder zuvor begegnet waren, auch von zwei Frauen, die ihm näherstanden, fallen differenzierter und zumeist negativer aus. Seine Ehefrau und eine lebenslange Bekannte stimmen überein, daß seine wichtigste Eigenschaft ein übertriebener Ehrgeiz war. Letztere bezeichnete ihn zudem als einen vorzüglichen Schüler, „aber nicht besonders intelligent, [...] geistig etwas unbeweglich, etwas langsam. Dieses Manko glich er jedoch durch ein konsequentes Verhalten in sämtlichen auf ihn zukommenden und ihm übertragenden Aufgaben aus. Da war er unerbittlich [...]. Eine ihm gestellte Aufgabe löste er unter allen Umständen. Das ließ sein Ehrgeiz nicht anders zu. Darauf war es dann wohl auch zurückzuführen, daß er nach Abschluß seines Studiums ziemlich rasch vorwärtskam.“38 Seetzens Mitarbeiter in Aachen, Stettin und Hamburg erlebten das Strebertum eines „arroganten“, „brutalen“ Stapo-Leiters: „Bei Gott, das war ein eiskalter Mann, wer in dessen Klauen kam, war verloren.“ Er war „einer von den sogen[annten] 150prozentigen, die [...] in den erhaltenen Befehlen, von oben gekommenen Anordnungen usw., das ‚Evangelium‘ sahen“, ein Mann, „der ohne Nachsicht gegenüber Empfindungen seiner Beamten Durchführung von Maßnahmen forderte“.39 Da diese typischerweise von willkürlichen Festnahmen und körperlichen Mißhandlungen von Gefangenen bis zu ihrer Ermordung reichten, muß man angesichts von Seetzens stetigen Beförderungen – schon mit 33 Jahren übernahm er die Führung der Gestapo in Deutschlands zweitgrößter Stadt – zu dem Schluß kommen, sein Verhalten habe den Ansprüchen dieser Stellung voll und ganz entsprochen.40 Im Sommer 1941 war Seetzen bereit, sich am Mord in bisher unvorstellbarem Ausmaß zu beteiligen. Seine praktische Erfahrung in der Anwendung von außerrechtlichen Zwangsmitteln gegen Feinde des Regimes, auch seine

HEINZ SEETZEN

203

Gewöhnung an Brutalität und Inhumanität führten bei ihm offenbar zu einer Mentalitätstransformation. Damit hatte er die nötige Qualität für die aktive Teilnahme am Projekt des Genozids erlangt. Ideologisch sowie psychologisch zeigte Seetzen in der UdSSR, daß er im nationalsozialistischen Sinne jene Zuverlässigkeit und Härte besaß, die für die Leiter der Einsatzkommandos bezeichnend war.41 Dort erreichte er den Höhepunkt seiner Täterkarriere. Er brauchte keinesfalls gezwungen zu werden, um Juden und andere Opfer selbst zu ermorden bzw. töten zu lassen; im Gegenteil, er tat es aus Überzeugung und unter Umständen mit Sadismus. Seetzen hat sich nicht in nennenswertem Umfang im Osten bereichert, aber seine künftigen Positionen in Kassel, Breslau und Minsk deuten darauf hin, daß er wußte, seine Tätigkeit in der Sowjetunion würde sich beruflich – und daher materiell – auszahlen. Seine Motive waren deshalb gemischt, sowohl weltanschaulicher als auch utilitaristischer Art. Zweifellos gehörte Seetzen jedoch in seiner Rolle bei der Ausführung der Rassen- und Vernichtungspolitik eher zu der Kategorie der „wahrhaftigen Nationalsozialisten“ als zu der der „gewöhnlichen Deutschen“.42 Erst nach der totalen Niederlage Deutschlands und seiner eigenen Ideenwelt hat Heinz Seetzen die Ungeheuerlichkeit seines Handelns begriffen. „In dieser Zeit“, erinnerte sich eine Bekannte, „war er moralisch vollkommen fertig.“ Er erzählte, „daß er schwere Schuld auf sich geladen habe, daß er ein Verbrecher sei und sein Leben verwirkt habe. Er sagte mir auch offen, daß er Cyankalium bei sich führe, um im gegebenen Augenblick, wenn man ihn erwische, Selbstmord begehen zu können. Er [...] wolle keinen Schauprozeß.“43 Nach dem Selbstmord wurde er nicht identifiziert und unter seinem falschen Namen ‚Michael Gollwitzer‘ bestattet. „Für den Fall, daß der Betroffene noch am Leben“ ist, befaßte sich die Entnazifizierungskammer darum 1949 mit Seetzen und stufte ihn in die Gruppe 3 der „Minderbelasteten“ ein. Falls er seinem Leben also nicht selbst ein Ende gesetzt hätte, wäre die Chance, einer gerechten Strafe zu entgehen, nicht gering gewesen.44 Anmerkungen 1

Wenn nicht anders vermerkt, stammen alle Personenangaben aus BAB, BDC, SSO Heinz Seetzen; sein Lebenslauf v. 19.2.1937, nachgedruckt in Lawrence D. Stokes: Kleinstadt und Nationalsozialismus. Ausgewählte Dokumente zur Geschichte von Eutin 1918–1945, Neumünster 1984, S. 504 ff. 2 Vern. Gertrud Stark und Ellen Seetzen v. 26. und 27.10.1962, BAL, 213 AR 1898/66, Bd. 8, Bl. 1716, 1721. 3 Zeugnis für Seetzen von dem Kieler Rechtsanwalt Claussen v. 12.9.1933, LAS, Abt. 260, Nr. 18964. 4 NS-Gaufachberater für Kommunalpolitik in Schleswig-Holstein an RP v. 28.6.1933, ebd.

204 5

LAWRENCE D. STOKES

Lawrence D. Stokes: Das Eutiner Schutzhaftlager 1933/34. Zur Geschichte eines „wilden“ Konzentrationslagers, in: VfZ 27(1979), S. 596 f. 6 Anzeiger für das Fürstentum Lübeck (Eutin) v. 9.3.1934; Seetzens Warnung an die entlassenen Gefangenen, daß „auch in Zukunft gegen marxistische Wühlereien mit gleicher Schärfe wie bisher eingeschritten werde“, beweist, daß er Schutzhaft und Konzentrationslager als permanente Einrichtungen der Diktatur guthieß, dto. v. 15.5.1934. 7 Vgl. zu Stettin RGVA, 500-237, 501-65, 503-25, 248, 391, 659; zu Wien Erlaß IdS Wien v. 22.3.1938, BAB, R 58/621. 8 Lagebericht Stapo-Stelle Aachen für Oktober v. 7.11.1935, HStAD, Regierung Aachen, Präsidialbüro 1033; vgl. Georg Vollmer: Volksopposition im Polizeistaat. Gestapo- und Regierungsberichte 1934 bis 1936, Stuttgart 1957. 9 Beförderungsvorschlag v. 7.7.1936, BAB, BDC, SSO Heinz Seetzen; Gestapa an Seetzen v. 4.9.1935, Geheimes Staatsarchiv Berlin-Dahlem, Rep. 90, Abt. P, Nr. 3. 10 Nachgedruckt bei Robert M. W. Kempner: SS im Kreuzverhör, München 1964, S. 159 f. 11 Lawrence D. Stokes: From Law Student to Einsatzgruppe Commander. The Career of a Gestapo Officer, in: Canadian Journal of History 37(2002), S. 58 f. 12 Martin Broszat (Hrsg.): Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen des Rudolf Höss, Stuttgart 1963, S. 91; Christian Gerlach: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg 1999, S. 1101. 13 Aufstellung Staw München I v. Dezember 1964, BAL, 213 AR 1898/66, Bd. 11, Bl. 2441 f.; Anklage dto. v. 27.10.1969, BAL, SA 460; diese Gesamtzahl der Getöteten ist eine Schätzung, und womöglich lag sie um einiges höher; vgl. Andrej Angrick: Im Windschatten der 11. Armee. Die Einsatzgruppe D, in: Gerhard Paul/KlausMichael Mallmann (Hrsg.): Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. ‚Heimatfront‘ und besetztes Europa, Darmstadt 2000, S. 496; ders.: Die Einsatzgruppe D, in: Peter Klein (Hrsg.): Die Einsatzgruppen in der besetzten Sowjetunion 1941/42. Die Tätigkeitsund Lageberichte des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, Berlin 1997, S. 93, 100. 14 Vern. Erich B., Wilhelm S., Willy S., Otto-Ernst P. v. 17.4., 7.5. und 26.7.1962, 16. und 17.3., 7.4.1965, BAL, 213 AR 1898/66, Bd. 5, Bl. 1141 ff., Bd. 6, Bl. 1301, 1312, Bd. 12, Bl. 2781, Bd. 13, Bl. 2831, 2978 f.; vgl. Ralf Ogorreck: Die Einsatzgruppen und die „Genesis der Endlösung“, Berlin 1996, S. 86 ff., 151 ff., 204 f. 15 Meldung SK 10a v. 10.7.1941, IfZ, Nbg.Dok. NO-2073; EM Nr. 37 v. 29.7.1941, BAB, R 58/215. 16 Vern. Friedrich S., Erich B., Wilhelm S., Bernward S., Friedrich N. v. 20.3., 17.4., 7.5. und 14.6.1962, 17. und 30.3., 2.9.1965, BAL, 213 AR 1898/66, Bd. 4, Bl. 929, Bd. 5, Bl. 1144 ff., Bd. 6, Bl. 1301 f., Bd. 7, Bl. 1428 f., Bd. 12, Bl. 2780 f., Bd. 13, Bl. 2968 f., Bd. 15, Bl. 3329. 17 XXX. A.K. an AOK 11 v. 2.8.1941, IfZ, Nbg.Dok. NOKW-3453; EM Nr. 45 v. 7.8.1941, BAB, R 58/215; Vern. Otto-Ernst P. v. 24.4.1962 und 16.3.1965, BAL, 213 AR 1898/66, Bd. 6, Bl. 1216 ff., Bd. 13, Bl. 2806 f. 18 Vern. Erich B. und Rudolf S. v. 17.3.1965 und 21.12.1970, ebd., Bd. 12, Bl. 2783, Bd. 26, Bl. 5476.

HEINZ SEETZEN 19

205

Dto. Alfred M., Erich B., Karl O., Friedrich N. und Max S. v. 11.12.1961, 17.4.1962, 8.2., 2.9. und 18.10.1965, ebd., Bd. 4, Bl. 876 f., Bd. 5, Bl. 1152 ff., Bd. 12, Bl. 2554, Bd. 15, Bl. 3332, Bd. 16, Bl. 3459. 20 Bericht Robert Barth v. 8.10.1943, IfZ, Nbg.Dok. NO-3663; eidesstattliche Erklärung dess. v. 12.9.1947, ebd., NO-4992. 21 Vern. Willi R., Eduard K., Erdmann M., Max S., Karl P., Richard T., Paul B., Friedrich N., Walter W. und Ewald S. v. 6. und 7.12.1961, 21. und 22. 3.1962, 26. und 28.1., 13.8., 2.9., 18.10. und 26.11.1965, 28.6.1966, BAL, 213 AR 1898/66, Bd. 4, Bl. 839 ff., 852 f., 955 f., 961 f., Bd. 11, Bl. 2498 ff., 2522 f., Bd. 15, Bl. 3254, 3336, Bd. 16, Bl. 3455 f., 3592 f., Bd. 17, Bl. 3745. 22 Dto. Wilhelm S., Erich B., Otto-Ernst P., Josef Z., Walter Z., Willi H., Karl P., Karl O., Friedrich N., Arthur A. und Max S. v. 17.10.1961, 17. und 24.4., 24.9.1962, 2.6. und 5.11.1964, 26.1., 8.2., 16.3., 2. und 21.9., 18.10.1965, ebd., Bd. 3, Bl. 784 ff., Bd. 5, Bl. 1165 f., Bd. 6, Bl. 1231 f., Bd. 8, Bl. 1671 ff., Bd. 10, Bl. 2081, Bd. 11, Bl. 2315 ff., 2501 ff., Bd 12, Bl. 2556, Bd. 13, Bl. 2813 ff., Bd. 15, Bl. 3336 ff., 3408 f., Bd. 16, Bl. 3459 ff; Lagebericht OK Melitopol v. 13.10.1941, IfZ, Nbg.Dok. NOKW-1632. 23 Vern. Eduard K., Otto-Ernst P., Hans D., Erich Karl W., Friedrich N. und Walter W. v. 7.12.1961, 24.4. und 14.6.1962, 14.7.1964, 2.9. und 26.11.1965, BAL, 213 AR 1898/66, Bd. 4, Bl. 851, Bd. 6, Bl. 1216, Bd. 7, Bl. 1429 f., Bd. 10, Bl. 2102, Bd. 15, Bl. 2341, Bd. 16, Bl. 3593 ff. 24 EM Nr. 136 v. 21.11.1941, BAB, R 58/219; Vern. Rupert H., Leo M., Kurt T., August B. und Kurt W. v. 11.10.1961, 1.9.1966, 24. und 25.10.1968, 11.2.1969, 26.11.1970, BAL, 213 AR 1898/66, Bd. 3, Bl. 761, Bd. 17, Bl. 3797 f., Bd. 18, Bl. 4066 ff., Bd. 20, Bl. 4335 f., Bd. 25, Bl. 5377 f. 25 Dr. Kurt Christmann an Staw München I v. 21.5.1962, ebd., Bd. 7, Bl. 1362 f.; Vern. dess., Alfons N., Kurt N., Lothar H., Willy O., Kurt S., Heinrich G., Friedrich N., Arthur A., Leo M., Georg V., Josef Z., Alfred I. und Kurt W. v. 14.5. und 18.9.1962, 12.1. und 2.7.1963, 8.12.1964, 29.1., 4.3., 2. und 21.9., 9. und 23.11.1965, 1.9.1966, 6., 7. und 13.11., 9.12.1968 und 26.11.1970, ebd., Bd. 6, Bl. 1180 f., Bd. 8, Bl. 1656, Bd. 9, Bl. 1830, 1961 f., Bd. 11, Bl. 2394, 2538, Bd. 12, Bl. 2683, Bd. 14, Bl. 3354, Bd. 15, Bl. 3410 f., Bd. 16, Bl. 3491, 3571, Bd. 17, Bl. 3801 ff., Bd. 19, Bl. 4131, 4151 ff., 4216, Bd. 25, Bl. 5372; Anklage Staw München 1 v. 29.9.1971, BAL, SA 569. 26 RFSS an SS-PersonalHA v. 13.7.1942, BAB, BDC, SSO Heinz Seetzen; dto. an Seetzen v. 18.8.1942, RGVA, 720-184. 27 „List A: German Personalities Who may have Information and Assistance in the Post-war Investigation of the Shooting“ von Offizieren des Stalag Luft III v. 26.8.1944, PRO, War Office 208/3441; Sterbebuch Standesamt Hamburg-Altona v. 27.11.1947, Obduktionbefund Institut für gerichtliche Medizin und Kriminalistik der Universität Hamburg v. 1.10.1945, beide BAL, 213 AR 1898/66, Bd. 3, Bl. 672, Bd. 8, Bl. 1699 ff. 28 Vgl. Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989, Bonn 1996, S. 194; ders.: Vernichtungspolitik. Neue Antworten und Fragen zur Geschichte des „Holocaust“, in: ders. (Hrsg.): Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939–1945. Neue Forschungen und Kontroversen, Frankfurt/M. 1998, S. 43; Michael Mann: Were the Perpetrators of Genocide „Ordinary Men“ or „Real Nazis“? Results from Fifteen Hundred Biographies, in: HGS 14(2000), S. 355.

206 29

LAWRENCE D. STOKES

Jens Banach: Heydrichs Elite. Das Führerkorps der Sicherheitspolizei und des SD 1936–1945, Paderborn u. a. 1998, S. 142 f. 30 Vgl. Herbert: Best (Anm. 28), S. 194; ders.: Vernichtungspolitik (Anm. 28), S. 35, 41 ff. 31 Vgl. Mann (Anm. 28), S. 341 f.; Peter Loewenberg: The Psychohistorical Origins of the Nazi Youth Cohort, in: American Historical Review 76(1971), S. 1457–1502. 32 Vgl. Jürgen Matthäus: „Warum wird über das Judentum geschult?“. Die ideologische Vorbereitung der deutschen Polizei auf den Holocaust, in: Paul/Mallmann (Anm. 13), S. 100–124; Stokes (Anm. 11), S. 56 f. 33 Vgl. Gerhard Paul: Ganz normale Akademiker. Eine Fallstudie zur regionalen staatspolizeilichen Funktionselite, in: ders./Klaus-Michael Mallmann (Hrsg.): Die Gestapo. Mythos und Realität, Darmstadt 1995, S. 236–254. 34 Vgl. Herbert F. Ziegler: Fight against the Empty Cradle. Nazi Pronatal Policies and the SS-Führerkorps, in: Historical Social Research 38(1986), S. 27 ff.; Gudrun Schwarz: Eine Frau an seiner Seite. Ehefrauen in der „SS-Sippengemeinschaft“, Hamburg 1997, S. 60, 99 f. 35 Bericht Gerichtsvollzieher Gerlach v. 29./30.3.1943, NL Seetzen (im Familienbesitz). 36 Vgl. Paul (Anm. 33), S. 243 f.; Claudia Steur: Theodor Dannecker. Ein Funktionär der Endlösung, Essen 1997, S. 98 f. 37 Ärztlicher Untersuchungsbogen v. 19.9.1937, BAB, BDC, RuSHA Heinz Seetzen. 38 Vern. Gertrud Stark und Ellen Seetzen v. 26. und 27.10.1962, BAL, 213 AR 1898/66, Bd. 8, Bl. 1717, 1721. 39 Vern. Otto-Ernst P., Erwin S., Gerhard K. und Rudolf S. v. 25.7. und 28.9.1962, 21.12.1970, ebd., Bd. 7, Bl. 1496, 1500, Bd. 8, Bl. 1725 f., Bd. 26, Bl. 5475; dagegen Gerhard W. v. 23.11.1970, ebd., Bd. 25, Bl. 5350: „Seetzen […] stammte wie ich von der Gestapo Stettin. Ich kann über ihn nicht klagen. Mir gegenüber war er nie hart. Ich habe nie gehört, daß ihm gegenüber je ein Kamerad einen Befehl verweigert hätte oder ein Kamerad von ihm wegen Dienstverweigerung bestraft worden wäre.“ 40 Vgl. Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, S. 484; Hans-Joachim Heuer: Geheime Staatspolizei. Über das Töten und die Tendenzen der Entzivilisierung, Berlin-New York 1995, S. 125 ff.; Klaus-Michael Mallmann/Gerhard Paul: Herrschaft und Alltag. Ein Industrierevier im Dritten Reich, Bonn 1991, S. 264 ff. 41 Vgl. Herbert: Vernichtungspolitik (Anm. 28), S. 44 f.; Mann (Anm. 28), S. 337, 351. 42 Vgl. Gerhard Paul: Von Psychopathen, Technokraten des Terrors und „ganz gewöhnlichen“ Deutschen. Die Täter der Shoah im Spiegel der Forschung, in: ders. (Hrsg.): Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? Göttingen 2002, S. 61 ff. 43 Vern. Gertrud Stark v. 26.10.1962, BAL, 213 AR 1898/66, Bd. 8, Bl. 1717 f. 44 Beschluß des Entnazifizierungshauptausschusses für den Bezirk Lübeck v. 13.12.1949, NL Seetzen (im Familienbesitz); erst 1951 hat die Witwe ihn anhand von Kleidungsstücken und Photos amtlich identifiziert, vgl. Gerhard Paul: Zwischen Selbstmord, Illegalität und neuer Karriere. Ehemalige Gestapo-Bedienstete in Nachkriegsdeutschland, in: ders./Mallmann (Anm. 33), S. 529–547.

ELISABETH KOHLHAAS

Gertrud Slottke – Angestellte im niederländischen Judenreferat der Sicherheitspolizei Der Werdegang von Gertrud Slottke als Mit-Täterin an den NS-Verbrechen, genauer: an der Deportation der niederländischen Juden, ist in zweierlei Hinsicht ungewöhnlich. Slottke hatte keinen anderen Status als den einer einfachen Angestellten im Judenreferat des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des SD (BdS) in den Niederlanden, wo sie als Sachbearbeiterin fungierte. Dort aber gelang es ihr erstens, sich eine Position zu erarbeiten, die mit eigenständigen Entscheidungskompetenzen und mit Einfluß ausgestattet war und für eine weibliche Beschäftigte bei der Sicherheitspolizei eine Ausnahme darstellte. Zweitens wurde Slottke zusammen mit dem BdS Niederlande und dem Leiter des dortigen Judenreferats für ihre Mitwirkung an den Deportationen von einem bundesdeutschen Gericht zur Rechenschaft gezogen und 1967 zu einer fünfjährigen Zuchthausstrafe verurteilt – ungewöhnlich auch das, weil sich kaum eine andere Frau, die bei der Gestapo in Deutschland oder bei der Sicherheitspolizei im besetzten Europa beschäftigt gewesen war, nach dem Krieg für ihre Tätigkeit in diesen Kerninstitutionen des NS-Terrors zu verantworten hatte, geschweige denn tatsächlich bestraft wurde. Der Versuch, anhand der Biographie, der Tätigkeiten und möglicher Motive ein Bild dieser Frau zu zeichnen, steht vor einem typischen Quellenproblem, wenn es um nachgeordnete NS-Akteure geht, zu denen Frauen in aller Regel gehörten. Aus der NS-Zeit selbst sind keinerlei personenbezogene Dokumente überliefert, sondern nur Sachakten aus dem niederländischen Judenreferat, die – bei allen Schwierigkeiten, den realen Aufgaben- und Einflußbereich anhand dieser standardisierten schriftlichen Quellen einschätzen zu wollen – ein Stück weit über Slottkes Arbeitsfeld und Befugnisse Aufschluß geben können. Biographische Angaben und Selbstdarstellungen Slottkes liegen dagegen nur aus justitiellen Kontexten aus der Nachkriegszeit vor: aus einem unspektakulären Entnazifizierungsverfahren, das Slottke zu durchlaufen hatte und aus dem genannten Gerichtsverfahren.1 Diese Quellen sind stets kritisch zu lesen, egal ob sie von Slottke selbst stammen oder von ihren in dem Prozeß mitangeklagten Vorgesetzten, die die eigene Verantwortung herunterzuspielen versuchten, indem sie Slottkes Rolle tendenziell aufwerteten. Aber auch das Münchner Gericht sah Slottke durch eine eigene Brille und kreierte ein eigenes Bild von ihr, das stark von der gängigen Vorstellung jener Zeit über NS-Täter beeinflußt war. Dieses Bild ist ebenfalls stets als eigenständige Konstruktion mitzudenken und in Frage zu stellen.

208

ELISABETH KOHLHAAS

Die Biographie Slottke nahm ihre Arbeit bei der Sicherheitspolizei in den Niederlanden im Frühsommer 1941 auf. Geboren am 6. Oktober 1902 im ostpreußischen Bezirk Sensburg, war sie zu diesem Zeitpunkt eine erfahrene, knapp 40jährige Sekretärin, die als unverheiratete Frau bei ihren Eltern in Danzig lebte. Sie entstammte einer bäuerlich-handwerklichen Familie – ihr Vater war ein Mühlenwerkführer – und hatte ihre frühen Lebensjahre mit drei jüngeren Geschwistern in verschiedenen Mühlen auf dem westpreußischen Land verbracht, bis die Familie 1913 nach Danzig zog und der Vater Betriebsleiter in einer Mehlfabrik wurde. Nach dem Volksschulabschluß und einer einjährigen Ausbildung auf der Handelsschule arbeitete sie dort lange Jahre bei verschiedenen Reedereien und internationalen Speditionen, schließlich in den 1930er Jahren bei der Staatsbank Danzig. Ob bei dieser ersten Anstellung in einer öffentlichen Institution des Freistaates eine Rolle spielte, daß Slottke schon 1933 – wahrscheinlich kurz vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Reich im Januar mit Wirkung zum 1. Mai 1933 – Mitglied der Danziger NSDAP geworden war, kann nur vermutet werden. Angesichts der Nazifizierungspolitik in der Verwaltung des Freistaates durch die bereits ab September 1933 alleinregierende NSDAP ist ein solcher Zusammenhang sicher nicht von der Hand zu weisen.2 Als die Stadt mit dem Kriegsbeginn 1939 dem Deutschen Reich wieder einverleibt wurde, wechselte Slottke in die neugebildete Reichsstatthalterei unter Forster und wurde Sekretärin in der Abteilung Arbeit und Wirtschaft. Dabei dürfte ihre Parteizugehörigkeit neben den beruflichen Fähigkeiten und der mittlerweile etwa zwanzigjährigen Berufserfahrung ein wichtiges Kriterium für die Übernahme gewesen sein. Aus dem kruden Eintrittsdatum ist die NS-Einstellung Slottkes nicht wirklich herauszulesen; zumindest aber dokumentiert es die frühzeitige Anpassung an die neuen Verhältnisse im Reich, wenn Slottke auch keine ‚alte Kämpferin‘ war. Sie konnte jedoch mindestens als ‚politisch zuverlässig‘ gelten. In den Nachkriegsvernehmungen gab sie an, einem sozialdemokratisch orientierten Elternhaus zu entstammen; ihr Vater habe den Nationalsozialisten fern gestanden. Sie selbst, so griff sie zu einem verbreiteten Entlastungsargument, sei der Partei wegen der „günstigen Berichte aus dem Reich“ besonders in wirtschaftlicher Hinsicht beigetreten, obwohl sie Anhängerin des Freistaatsmodells gewesen sei. Vielleicht hatte eine kurze Phase von Arbeitslosigkeit im Jahr 1932 sie tatsächlich dazu bewogen, der NSDAP auch aus Gründen der Existenzsicherung beizutreten. Offenbar war das aber nicht allein ausschlaggebend, denn, so Slottke selbst, ein weiterer Grund sei ihre Bekanntschaft mit deutschen SA-Männern gewesen.3

GERTRUD SLOTTKE

209

Ihren Weg in die Niederlande trat Slottke an, nachdem sie – mit ihren Worten – „Interesse an einer Auslandstätigkeit“ gezeigt hatte. Dieser Darstellung, die sie bei ihren Nachkriegsvernehmungen zunächst geäußert hatte und die auf eigenes Engagement schließen ließ, versuchte sie später mit dem üblichen Hinweis zu begegnen, sie sei bei einer Auskämmaktion „dienstverpflichtet“ worden und einem unumgehbaren Zwang nachgekommen.4 Ihr Beispiel zeigt aber, daß beides – das eigene Interesse wie die Dienstverpflichtung – eng miteinander verknüpft sein konnte. Ihre vage Formulierung konnte ohne weiteres bedeuten, daß sie sich – beispielsweise direkt beim Reichssicherheitshauptamt (RSHA) – für einen Auslandseinsatz beworben hatte, wie es viele, meist junge Frauen in den Kriegsjahren taten. Die Dienstverpflichtung war anschließend die reguläre bürokratische Maßnahme zur Herauslösung aus dem bestehenden Arbeitsverhältnis. Wie in vielen anderen Fällen gingen damit persönliche Motive der Frauen und Kriegsnotwendigkeiten Hand in Hand: Während der NS-Angriffskrieg Slottke die Möglichkeit gab, ihrem Interesse an der Welt nachzugehen und – vielleicht auch das ein Beweggrund – sich für eine Zeitlang aus dem Elternhaus zu entfernen, half sie ihrerseits dem ungeheuer großen Bedarf der NS-Besatzungsinstitutionen und gerade auch der Sicherheitspolizei an qualifiziertem weiblichem Personal ab.5 Slottke steht beispielhaft für eine Vielzahl deutscher Frauen, die sich aus freien Stücken für einen „auswärtigen Einsatz“ bei der Sicherheitspolizei oder anderen NS-Institutionen im besetzten Europa meldeten. Fast immer ledig und zum allergrößten Teil (sehr) jung, waren diese Frauen aus den verschiedensten Motiven für den nationalsozialistischen Krieg zu mobilisieren. Eine wichtige Rolle für ihre Begeisterung spielte die gezielte Aufwertung einer Lebensphase durch das NS-Regime zu öffentlich anerkannter Aktivität, propagiert als „Dienst an der Volksgemeinschaft“, demgegenüber die Frauen bislang, auf die Möglichkeit einer Verehelichung hoffend, ein unattraktives Dasein gefristet hatten.6 Slottke gehörte dem Judenreferat des BdS Niederlande bis zum Schluß an und machte die Rückverlegung der Dienststelle nach der alliierten Invasion im Juni 1944 in die Nähe der deutschen Grenze und schließlich in das Konzentrationslager Ravensbrück mit. Von dort aus kehrte sie öfter nach Den Haag zurück, wo sie bei Kriegsende für kurze Zeit in kanadische Kriegsgefangenschaft kam. Nach ihrer Entlassung aus der Internierung in Hilversum gelangte sie bereits im Juni 1945 zu ihrer Schwester in das württembergische Waiblingen. Ihr Entnazifizierungsverfahren vor der dortigen Spruchkammer wurde im Januar 1948 aufgrund einer Weihnachtsamnestie eingestellt, nachdem sie in die Gruppe der Mitläufer eingereiht werden sollte.7 Die Jahre bis zum Beginn der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen 1959, der Münchner Hauptverhandlung Anfang 1967 und dem Antritt ihrer fünfjährigen Zuchthausstrafe 1968 waren davon geprägt, daß Slottke ihrem Beruf als

210

ELISABETH KOHLHAAS

Sekretärin weiter nachging. Vor allen Dingen aber betätigte sie sich ehrenamtlich intensiv auf jenem Feld, das sie als das für sie wichtigste ansah: in Organisationen von Vertriebenen, speziell ehemaligen Danzigern. So war sie neben zahlreichen anderen Engagements Landesleiterin des Danziger Frauenwerks in Baden-Württemberg und Mitglied im baden-württembergischen Landesvorstand des Bundes der Danziger. Sie organisierte den Versand von Hilfspaketen in die DDR und an Deutsche in Polen und unterstützte Vertriebene in Baden-Württemberg bei ihren Behördengängen. Beruflich wurde sie nach kurzen Aushilfstätigkeiten noch im Jahr 1945 Geschäftsführerin im Verband der Ostvertriebenen. Nach vier Jahren wechselte sie als Angestellte zum Raiffeisenverband und 1953 schließlich als Sekretärin zum Südwestdeutschen Pflanzenzüchterverband der Landwirtschaftlichen Hochschule in Stuttgart-Hohenheim, wo sie gegen ein geringes Entgelt nebenbei weiterarbeitete, nachdem sie 1965 in den vorzeitigen Ruhestand gegangen war. Im Juli 1968 trat Slottke ihre Zuchthausstrafe in der Frauenstrafanstalt Gotteszell in Schwäbisch Gmünd an. Nach Ablehnung mehrerer Anträge auf vorzeitige Haftentlassung setzte das Bayerische Justizministerium angesichts ihres schlechten Gesundheitszustands im Mai 1971 die restliche Haftzeit zu einer Bewährungsstrafe aus. Zu diesem Zeitpunkt befand sich Slottke seit einem dreiviertel Jahr in einem Stuttgarter Krankenhaus, wo sie am 17. Dezember 1971 im Alter von 69 Jahren an einer neurologischen Krankheit starb. Beim BdS Niederlande Im etwa 35köpfigen Referat IV B 4 unter dem Judenreferenten Wilhelm Zoepf, das Anfang 1942 gebildet wurde und dem BdS Dr. Wilhelm Harster direkt unterstand, wurde Slottke schnell zu einer unentbehrlichen Kraft.8 Sie fungierte als eine der beiden Sachbearbeiterinnen, die sich nicht zuletzt durch eine höhere Gehaltsgruppe von den anderen weiblichen Schreibkräften, etwa sechs weiteren Frauen, unterschieden. Während ihre Kollegin sich mit Auswanderungsangelegenheiten beschäftigte, war Slottke – ab Sommer 1943 unter ihrem eigenen Kürzel IV B 4e (später evtl. 3e) – für das komplexe System der „Rückstellungen“ zuständig, das einen in den Augen der NSBesatzer sinnvoll geordneten Ablauf der Säuberung der Niederlande von jüdischen Menschen garantieren sollte. Für diejenigen niederländischen Juden, die unter eine der vielen, von den Deutschen definierten Voraussetzungen fielen, bedeutete dieses System einen kurzzeitigen Aufschub ihrer Deportation. Die Klassifizierung, wer vorübergehend freigestellt wurde, erfolgte etwa aus kriegswirtschaftlichen, diplomatischen oder NS-juristischen Erwägungen und Notwendigkeiten. Sie unterschied mehr als ein Dutzend „Rückstellungsgruppen“ (z.B. für einen möglichen Austausch zurückgehaltene Juden mit der Staatsangehörigkeit einer feindlichen oder neutralen Nation; Juden mit noch ungeklärter Abstammung; Mitglieder des Judenrates und im

GERTRUD SLOTTKE

211

Lager Westerbork als Personal eingesetzte Juden; in „Mischehen“ lebende Juden; Diamantschleifer und andere „Rüstungsjuden“). Im Herbst 1942 erreichten die „Rückstellungen“ mit etwa 46000 ihren zahlenmäßigen Höhepunkt. Im Laufe der folgenden Monate wurden die verschiedenen Gruppen weitgehend aufgelöst, nach NS-Diktion „abgebaut“, und nur ca. 15500 der ehemals Verschonten fielen den Deportationen bis zuletzt nicht zum Opfer. Von den 140000 jüdischen Menschen in den Niederlanden wurden etwa 107000 deportiert, die mit 94000 allergrößte Anzahl in die Vernichtungslager Auschwitz und Sobibor.9 Slottkes Ressort war ein bürokratisch ausgefeiltes und umfangreiches Arbeitsgebiet. Mit seiner Bearbeitung und mit ihren weiteren Tätigkeiten gingen „ihre Aufgaben [...] über die gewöhnlichen Aufgaben einer Polizeiangestellten weit hinaus“, konstatierte das Münchner Gericht später.10 Ihr oblag nicht nur die zentrale Verwaltung aller „Rückstellungen“ in den Niederlanden, indem sie die entsprechenden Karteien und Übersichtslisten führte. Innerhalb des Referats fungierte sie als ‚rechte Hand‘ des Leiters Zoepf.11 Sie erstellte Zusammenfassungen für seine Besprechungen mit dem BdS oder seine Berichte an den Reichskommissar und setzte ihm Entwürfe und unterschriftsreife Vorlagen auf. Sie führte Gespräche mit dem RSHA und beantwortete diplomatische Anfragen über den Verbleib von deportierten Menschen. Sie verfügte über einen ausgedehnten Bewegungsradius und nahm an zentralen Besprechungen in Amsterdam teil, wo es beispielsweise um das Schicksal der in „Mischehen“ lebenden oder der sterilisierten jüdischen Menschen ging. Auch in das Konzentrationslager Bergen-Belsen, in dessen „Sternlager“ die niederländischen „Austauschjuden“ gebracht worden waren, reiste sie mehrfach; dort sprach sie mit Vertretern des RSHA oder des Auswärtigen Amtes. Zur Abwicklung der Transporte fuhr sie regelmäßig in das zentrale niederländische Durchgangslager Westerbork, das der Dienststelle seit Mitte 1942 unterstand und Ausgangspunkt der meisten Deportationszüge war. Das Arbeitsgebiet war so umfassend, daß Slottke zeitweilig eigene Mitarbeiter hatte. Neben zwei holländischen Frauen als Schreibkräfte handelte es sich dabei auch um zwei deutsche Männer, die in einer Gruppe von Versehrten der Waffen-SS dem Judenreferat zugeteilt worden waren.12 Vor dem Hintergrund der auch bei der Sicherheitspolizei praktizierten Hierarchie, in der in aller Regel die Männer die Vorgesetzten waren und Frauen ihnen zuarbeiteten, war dies eine bemerkenswerte Konstellation. Slottke war in ihrer Tätigkeit mit Ermessensspielräumen und mit Entscheidungsmöglichkeiten ausgestattet, auch wenn sie innerhalb vorgegebener Bestimmungen zu agieren hatte. Während sie selbst – wie nicht anders zu erwarten – nach dem Krieg glauben zu machen versuchte, daß sie keinerlei Eigenverantwortlichkeit gehabt und ihre Arbeit in einer Art mechanischem Vollzug bestanden habe, geht aus einer Vielzahl von Dokumenten hervor, daß sie tatsächlich

212

ELISABETH KOHLHAAS

Entscheidungen traf. Auch dort, wo sie Entscheidungen nur vorbereitete und sie ihrem Vorgesetzten Zoepf vorlegte, formulierte sie nicht selten Empfehlungen, an die Zoepf sich hielt. So war sie diejenige, die die Anträge der jüdischen Menschen auf Eingruppierung in eine „Rückstellungsgruppe“, beispielsweise als „Austauschjude“ oder als unentbehrlicher Arbeiter in einem Betrieb, samt der vorgelegten Dokumente überprüfte und ihnen stattgab oder sie ablehnte. Bei Razzien in Amsterdam war sie anwesend und entschied direkt vor Ort über einzelne Fälle. Und besonders in Westerbork spielte sie eine wichtige Rolle und verfügte – nicht selten nach Befragung der Betroffenen – über die Vielzahl der bestehenden Warte- und Transportlisten. Sie bestimmte regelmäßig, wer mit dem nächsten Transport wohin abzufahren hatte.13 Eine Ahnung von ihren Entscheidungsmöglichkeiten vermittelt noch eine ihrer Nachkriegsvernehmungen. Sie sagte aus, daß sie „Verdienstjuden“ des Ersten Weltkrieges „überprüft und qualifiziert“ habe – ein deutlicher faux pas in ihrer Verteidigungsstrategie, sich als kleine Angestellte ohne jeglichen eigenen Spielraum darzustellen, die nur Vorlagen für die Entscheidungen des Vorgesetzten erarbeitet habe.14 Zoepf dagegen machte deutlich, daß Slottke selbständig und mit großer Kompetenz gearbeitet hatte. „Slottke legte mir Vorgänge aus ihrem Arbeitsbereich nur in Zweifelsfällen zur Entscheidung bzw. zur Unterschrift ihres Vorschlags vor; im übrigen entschied sie selbst, im Rahmen der bestehenden Richtlinien“, sagte er aus; „Fräulein Slottke kannte, wie ich wußte, ihre Richtlinien und brauchte niemals gedrängt zu werden. Stilistisch bedurfte sie keiner Überprüfung. Aus diesem Grund habe ich bei Fräulein Slottke großzügiger unterschrieben als bei anderen Sachbearbeitern.“15 Slottkes Tätigkeit und ihre Entscheidungen bedeuteten für die Betroffenen Leben oder Tod: Wurden sie mit Überlebenschancen nach Theresienstadt oder Bergen-Belsen geschickt, oder gelangten sie in die Vernichtungslager von Auschwitz oder Sobibor und wurden sofort ermordet? Slottkes Arbeit war zwar der Verwaltung verhaftet; im Mittelpunkt ihres Handelns standen nicht ausdrücklich exekutive sicherheitspolizeiliche Aufgaben, sondern die bürokratische Entscheidung zwischen Deportation und zeitweiser Befreiung von ihr. Dennoch gingen die direkten Folgen ihres Tuns, das in dem Vollzug von Bestimmungen und in eigenen Entscheidungen im Rahmen der damit verbundenen Ermessensspielräume lag, weit über eine begrenzte Verwaltungstätigkeit hinaus. „Das Schwergewicht ihrer Tätigkeit verschob sich immer mehr von reiner Verwaltungsarbeit zu sicherheitspolizeilicher Tätigkeit“, formulierte es das Münchner Gericht in seiner Urteilsbegründung 1967.16 Slottkes Handeln kann als Selektion durch Bürokratie bezeichnet werden.

GERTRUD SLOTTKE

213

Die Tätigkeit Gertrud Slottkes war in einem Maße von Selbständigkeit und Entscheidungsbefugnis gekennzeichnet, wie es bisher von keiner anderen weiblichen Angestellten der Sicherheitspolizei bekannt ist. Fragt man nach den Gründen, erscheinen mehrere Faktoren wichtig, die eine charakteristische Konstellation ergaben. Die Institution des Judenreferats in den Niederlanden stellte selbst eine wichtige Voraussetzung zur Verfügung, indem ein umfangreiches Arbeitsgebiet zu betreuen war, für das eine kompetente und zuverlässige Mitarbeiterin gebraucht wurde. Darüber hinaus war der Leiter des Judenreferats, Wilhelm Zoepf, häufig abwesend.17 Er hinterließ als Vorgesetzter ein Vakuum, das gefüllt werden konnte. Slottke ihrerseits brachte eine persönliche Ausstattung mit, die es ihr nahelegte, diese Chance zu ergreifen. Sechs bzw. zwei Jahre älter als ihre Vorgesetzten Zoepf und Harster war sie nach Alter und Berufserfahrung eine Kraft, der verantwortungsvolles Arbeiten zuzutrauen war. Vor allen Dingen aber war ihr eine Arbeitshaltung zu eigen, die sie ihre gesamte Energie auf die Tätigkeit im Judenreferat ausrichten ließ. „Die Erweiterung ihres Arbeitskreises wird darauf zurückzuführen sein“, charakterisierte Harster sie bei den Nachkriegsvernehmungen, „daß sie in Ermangelung jeglicher außerdienstlicher Interessen besonders diensteifrig war und auch nach Lebens- und Dienstalter für qualifiziertere Aufgaben eingesetzt werden konnte. Dies führte dazu, daß sie auch mit Aufgaben betraut wurde, die normalerweise einer Polizeiangestellten nicht übertragen werden.“ Andere Beschreibungen bekräftigten dieses Bild der unermüdlichen und uneingeschränkten Einsatzbereitschaft. Auch laut Zoepf hatte sie „keine anderen Interessen“ und „konzentrierte ihre ganze Energie auf die dienstlichen Belange“. Bei ehemaligen Kollegen galt sie als „sehr rührig und fleißig“, war „stets bemüht, die Anordnungen oder Wünsche von Herrn Zoepf bestmöglich zu erfüllen“ und hatte es „immer eilig“.18 Slottkes intensiver Einsatz für das Judenreferat, der 1943 auch offiziell mit der Verleihung des Kriegsverdienstkreuzes belohnt wurde,19 war von ihrem rigorosen Vorgehen gegen jüdische Menschen geprägt. Nach der Beschreibung Zoepfs verhielt sie sich bei ihren Entscheidungen konsequent und radikal: Sie habe „nie versucht, im Rahmen gegebener Richtlinien so großherzig wie möglich zugunsten der Juden zu entscheiden. Vielmehr trat sie bei einzelnen Rückstellungsgruppen für die schärfere Gangart des RSHA drängend ein“, brachte er ihre Haltung auf den Punkt.20 Das führte dazu – um nur einige wenige Beispiele zu nennen –, daß sie im März 1943 darauf drängte, diejenigen Juden zu überprüfen, deren Fälle unklarer Abstammung der deutsche Jurist Calmeyer im Generalkommissariat für Verwaltung und Justiz bearbeitete, wobei er versuchte, möglichst viele von ihnen zu retten. „Diese Calmeyerjuden“, formulierte sie nach einer Razzia in Amsterdam im Mai 1943, stellten „einen derartig hervorstechenden galizischen Typ dar, daß der Verdacht bestätigt wurde, daß diese Juden die Abstammungserklärung nur laufen ha-

214

ELISABETH KOHLHAAS

ben, um noch eine gewisse Zeit vom Arbeitseinsatz freigestellt zu sein“.21 Sie war auch bei der Inspektion des Lagers Barneveld durch die Sicherheitspolizei dabei, wo einige hundert jüdische Menschen den Deportationen aufgrund der Protektion durch zwei holländische Staatssekretäre entgingen. In ihrem Bericht tat sie wiederum kund, daß ein großer Teil der dort Internierten einer strengen sicherheitspolizeilichen Überprüfung nicht standhalten werde. Und ihr Vorgesetzter Zoepf schilderte später den Fall, daß er ein von ihr aufgesetztes Schreiben abmilderte. Slottke hatte darin 1944 formuliert, daß die in „Mischehe“ lebenden Juden „sofort“ und „schnellstens“ zu überprüfen seien, um sie ebenfalls deportieren zu können. Zoepf war das „zu scharf und zu eilig“ erschienen; er strich die beiden Worte weg.22 „Nicht die Spur von Reue“ Für das Münchner Gericht entstand aus den zitierten Charakterisierungen ein Bild von Gertrud Slottke, das sie als eine äußerst zuverlässige, tüchtige, pflichtbewußte und ehrgeizige Mitarbeiterin des NS-Verfolgungsapparates in den Niederlanden zeichnete. In den Augen der Richter waren es vor allen Dingen ihr „Fleiß“ und ihre „Sachkunde in allen Judenfragen“, die sie zu einer unentbehrlichen Kraft werden ließen. Als wichtigsten Ansporn für ihr Handeln legte sich das Gericht in seiner Urteilsbegründung 1967 auf einen „Diensteifer“ fest, der auf eine „reibungslose Durchführung des Abtransports aller Juden aus Holland“ ausgerichtet gewesen sei: „Für den Eifer, für das gelegentliche Tätigwerden über das [...] Gebotene hinaus erscheint für alle drei Angeklagte als Motiv das Bemühen um ‚gute‘ Leistung und das Streben um dienstliche Anerkennung wahrscheinlicher als die innere Überzeugung von der Rassepolitik Hitlers.“23 Damit war eine klare Wertung ausgesprochen, die nichtideologische, vom Nationalsozialismus losgelöste Handlungsantriebe in den Vordergrund stellte und solchen Motiven eine geringere Bedeutung einräumte, die der NSIdeologie und dem Antisemitismus verhaftet gewesen sein könnten. Das Münchner Gericht folgte hier dem Bild eines NS-Täters, wie es seit dem Prozeß gegen Eichmann 1961 und dessen Beschreibung durch Hannah Arendt existierte, die Eichmann als den Typus eines Bürokraten gekennzeichnet hatte, der nicht aus fanatischem Antisemitismus heraus gehandelt habe, sondern als Verwaltungsmassenmörder die „Banalität des Bösen“ verkörpere. Erst kürzlich wurde diese Annahme durch die Studie von Irmtrud Wojak deutlich relativiert, die die antisemitische Haltung Eichmanns herausarbeitet.24 Das Münchner Gericht schloß sich jedoch dieser zeittypischen Interpretation an und sah in Slottke eine beflissene, ehrgeizige Schreibtischtäterin, eine Art weiblichen Eichmann in den Niederlanden. Obwohl die Richter annahmen, daß sie ab März 1943 von dem Schicksal der deportierten Juden gewußt habe, gingen sie in der Frage des Rassenhasses als Handlungsantrieb

GERTRUD SLOTTKE

215

von mildernden Umständen aus, die sie u. a. in den Gegebenheiten der Zeit und in den tiefen Auswirkungen der antisemitischen Propaganda des NSRegimes sahen.25 Slottke selbst schlug verständlicherweise in dieselbe Kerbe und stellte sich als eine Frau dar, die auf gar keinen Fall antisemitisch eingestellt, dagegen in hohem Maße von preußischen Sekundärtugenden geprägt gewesen sei: „Aufgewachsen bin ich in der Auffassung unbedingter Pflichterfüllung.“26 Es scheint, daß mit dieser Beschreibung wie auch mit der Einschätzung des Gerichts tatsächlich ein wichtiges Bündel an Haltungen und Einstellungen Slottkes erfaßt ist. Alles, was sie tat, war offenbar von radikalem Pflichtbewußtsein und höchster Gewissenhaftigkeit gekennzeichnet, egal, ob es sich um die Organisation der Deportation von Juden aus den Niederlanden, um ihre Tätigkeit als Sekretärin nach dem Krieg oder um ihr ehrenamtliches Engagement für vertriebene Ostflüchtlinge handelte, das sie genauso fleißig, selbständig und unter Hintanstellung des Privatlebens ausführte. Es liest sich frappierend in den Quellen, daß ihr Vorgesetzter in den 1960er Jahren ihr zu ihrer Entlastung wiederum bescheinigte, mit einem „stark ausgeprägten Pflichtbewußtsein“, „unermüdlichem Fleiß“ und „absoluter Zuverlässigkeit“ zu arbeiten. Noch als Insassin der Justizvollzugsanstalt galt sie als „fleißig“ und „tüchtig“.27 Gertrud Slottke kann vor diesem Hintergrund zuallererst wohl als eine berufliche ‚Profiteurin‘ des NS-Regimes angesehen werden, die sich heraufgearbeitet und sich mit ihrer Tätigkeit in den Niederlanden ein hohes Maß an beruflicher Anerkennung und Aufwertung verschafft hatte. In dem Zusammenspiel von institutionellen Strukturen und persönlichen Fähigkeiten hatte sie erkannt, daß sie sich eine durchaus mit Einfluß versehene Position erarbeiten konnte, die ihren bisherigen Berufsweg als Sekretärin überbot, und sie hatte die Chance ergriffen. Inwieweit neben diesem persönlichen Zugewinn auch Antisemitismus, gar der Wille, die Juden ausgelöscht zu sehen, ihr rigoroses Handeln bestimmte, kann letztlich nicht mehr präzise ausgelotet werden. In ihren Nachkriegsäußerungen gab Slottke an, sich über die inhumane Behandlung der deportierten Juden jeden Alters und jeden Gesundheitszustands im klaren gewesen zu sein, ohne von ihrer systematischen Ermordung zu wissen. Ihre Arbeitshaltung und ihr emotionaler Haushalt ließen es jedoch zumindest zu, diese Grausamkeit in ihre tagtägliche Tätigkeit zu integrieren. Verortet man Gertrud Slottke innerhalb des nationalsozialistischen Verfolgungsapparates, kann sie als ein Typus beispielhaft für die vielen Akteure auf den unteren Ebenen der Hierarchie stehen, die zu einer Dynamik der Radikalisierung von ‚unten‘ beitrugen, indem sie im bürokratischen Alltag immer wieder den schärferen Weg einschlugen. NS-Beiträger wie sie waren keine ‚Rädchen im Getriebe‘, wie sie sich selbst gerne darstellten. Sie waren mit Eigeninitiative ausgestattet, drängten auf Beschleunigung und Verschärfung,

216

ELISABETH KOHLHAAS

vermieden Verzögerungen und formulierten Ideen bei der Umsetzung einer immer noch dichteren Organisation der Verfolgung. Slottke selbst sah sich nach dem Krieg wie viele andere Deutsche in erster Linie als Opfer. Nicht nur war sie – in ihren Augen – vom NS-Regime hintergangen worden, indem sie sich ihm aus „Idealismus“ angeschlossen und ein „bitteres Lehrgeld“ dafür bezahlt hatte, wie sie in ihrem Spruchkammerverfahren anführte. Als Vertriebene hatte sie auch ihre Heimat und durch die Rote Armee, den „Russeneinbruch“ mit ihren Worten, wie durch antideutsche Gewalt von Polen den größten Teil ihrer Familie verloren.28 Die Uneinsichtigkeit, die sie während des Münchner Prozesses demonstrierte, ihr Beharren darauf, nur die Pflicht getan und Richtlinien ausgeführt zu haben, rührten vielleicht aus diesen Umständen, die ihre Kategorien von Opfern und Tätern zu ihren eigenen Gunsten verschoben hatten. Vielleicht drückte sich darin aber auch ein weiteres Mal die kalte, ungerührte Sachlichkeit aus, mit der Slottke ihren Dienst der effizienten Organisation der Judendeportationen in den Niederlanden versehen hatte. Während Harster und Zoepf im Prozeß wortreich ihre Reue ausdrückten und die Richter mit ihren Bekenntnissen beeindruckten, kam ähnliches nicht über Slottkes Lippen. Die kleine schmale, überaus nervöse Person in schwarzem Kostüm und weißer Bluse, wie Heiner Lichtenstein als Prozeßbeobachter sie beschrieb, zeigte während der Verhandlung „nicht die Spur von Reue, nicht einmal Scham oder Mitgefühl“.29 Wenige Tage nach dem Ende des Prozesses bezeichnete Slottke ihre Verurteilung als einen „Justizirrtum“.30 Anmerkungen 1

Spruchkammer Waiblingen 49/1/8373, StAL, EL 902/24; StAM, Staw 34879; Urteil LG München II v. 24.2.1967, BAL, SA 192; abgedruckt in: JNS, Bd. 25, Amsterdam 2002, lfd. Nr. 645. 2 Vgl. Martin Broszat: Die Anfänge der nationalsozialistischen Herrschaft in Danzig (1933–1936), in: Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte, Bd. 1, München 1958, S. 392–394; Dieter Schenk: Hitlers Mann in Danzig. Gauleiter Forster und die NSVerbrechen in Danzig-Westpreußen, Bonn 2000, S. 125–143; die biographischen Angaben entstammen den Prozeßakten, außerdem der Presseberichterstattung über den Münchner Prozeß in der Akte Wilhelm Harster, 16.2. – Ende 1967, Niederländisches Institut für Kriegsdokumentation Amsterdam, KB I, Nr. 3027. 3 Vgl. Vern. Slottke v. 20., 21., 26.10.1960 und 19.1.1966, StAM, Staw 34879, Bd. 4, Bl. 631 ff., Bd. 6, Bl. 1188 ff. 4 Ebd. und dto. v. 14.4.1960, ebd., Bd. 2, Bl. 287 ff. 5 Vgl. als Beispiel für zentrale Rekrutierungsinitiativen Fernschreiben RSHA über die sofortige Einstellung weiblichen Personals für die auswärtigen Gebiete v. 13.6.1942, BAB, R 58/259.

GERTRUD SLOTTKE 6

217

Elizabeth D. Heineman: What Difference Does a Husband Make? Women and Marital Status in Nazi and Postwar Germany, Berkeley u.a. 1999. 7 Einstellungsbeschluß Spruchkammer Waiblingen v. 5.1.1948, Spruchkammerakte (Anm. 1), Bl. 18. 8 Vgl. Jacob Presser: Ashes in the Wind. The Destruction of the Dutch Jewry, Detroit 1988; Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 2, Frankfurt/M. 1990, S. 598–629; Gerhard Hirschfeld: Fremdherrschaft und Kollaboration. Die Niederlande unter deutscher Besatzung 1940–1945, Stuttgart 1984; ders.: Niederlande, in: Wolfgang Benz (Hrsg.): Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, München 1996, S. 137–165; Johannes Houwink ten Cate: Der Befehlshaber der Sipo und des SD in den besetzten niederländischen Gebieten und die Deportation der Juden 1942–1943, in: Wolfgang Benz/ders./Gerhard Otto (Hrsg.): Die Bürokratie der Okkupation. Strukturen der Herrschaft und Verwaltung im besetzten Europa, Berlin 1998, S. 197–222; Guus Meershoek: Machtentfaltung und Scheitern. Sicherheitspolizei und SD in den Niederlanden, in: Gerhard Paul/ Klaus-Michael Mallmann (Hrsg.): Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. ‚Heimatfront‘ und besetztes Europa, Darmstadt 2000, S. 383–402. 9 Vgl. Eberhard Jäckel/Peter Longerich/Julius H. Schoeps (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust, Bd. 2, München-Zürich 1995, S. 999–1010, hier 1008. 10 Beschluß OLG München v. 29.4.1966, StAM, Staw 34879, Bd. 6, Bl. 1387 ff. 11 Vern. Dr. Wilhelm Harster v. 30.10.1959, ebd., Bd. 1, Bl. 43 ff. 12 Dto. Anton K. v. 15.5.1963, ebd., Bd. 4, Bl. 885 ff. 13 Vgl. die Schilderungen ihres Auftretens in Westerbork durch den 1944 in Auschwitz ermordeten niederländischen Journalisten Philip Mechanicus: Im Depot. Tagebuch aus Westerbork, Berlin 1993. 14 Vern. Slottke v. 16./17.2.1966, StAM, Staw 34879, Bd. 6, Bl. 1266 ff. 15 Dto. Wilhelm Zoepf v. 31.1. und 23.2.1966, ebd., Bl. 1223 ff., 1297 ff. 16 Urteil LG München II v. 24.2.1967, BAL, SA 192. 17 Zoepf verbrachte immer wieder längere Zeit in der Heilanstalt Hohenlychen, seiner alten Wirkungsstätte als Sportlehrer; als musisch ambitionierter Mensch hatte er aber auch bei Anwesenheit in Den Haag unregelmäßige Dienstzeiten, spielte im Büro Cello oder komponierte Filmmusik. 18 Vern. Dr. Wilhelm Harster v. 8.2.1966, StAM, Staw 34879, Bd. 6. Bl. 1234 ff.; Wilhelm Zoepf v. 8.8.1960 und 31.1.1966, ebd., Bd. 3, Bl. 562 ff., Bd. 6, Bl. 1223 ff.; Georg N. v. 31.3.1964, ebd., Bd. 5, Bl. 1016 ff.; Gerta W. (undat./Ende 1962), ebd., Bd. 4, Bl. 822 ff. 19 Frauen konnten für ihren Einsatz als Bürokraft eine Kriegsauszeichnung erhalten, wenn sie – wie Hitler es im Mai 1943 formulierte – „über die normale Friedensbürotätigkeit hinaus mit kriegswichtigen Aufgaben betraut waren und hierbei Verdienste aufwiesen, für die auch ein Mann bei gleicher Leistung die betreffende Auszeichnung erhalten würde“, Präsidialkanzlei an RFSS v. 15.5. und 26.6.1943, BAB, NS 19/2883. 20 Vern. Wilhelm Zoepf v. 23.2.1966, StAM, Staw 34879, Bd. 6, Bl. 1297 ff. 21 Urteil LG München II v. 24.2.1967, BAL, SA 192. 22 Aussage Zoepfs in der Hauptverhandlung am 8.2.1967, StAM, Staw 34879, Bd. 8, Bl. 1796. 23 Ebd., Bl. 572.

218 24

ELISABETH KOHLHAAS

Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 91985; Irmtrud Wojak: Eichmanns Memoiren. Ein kritischer Essay, Frankfurt/M. 2002; vgl. Gerhard Paul: Von Psychopathen, Technokraten des Terrors und „ganz gewöhnlichen“ Deutschen. Die Täter der Shoah im Spiegel der Forschung, in: ders. (Hrsg.): Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? Göttingen 2002, S. 13–90. 25 Urteil LG München II v. 24.2.1967, BAL, SA 192. 26 Erklärung Slottkes in der Hauptverhandlung am 27.1.1967, StAM, Staw 34879, Bd. 8, Bl. 1739. 27 Brief eines Pfarrers über Slottkes ehrenamtliches Engagement an Staw München v. 20.4.1960, ebd., Bd. 2, Bl. 301 f.; Gnadengesuch ihres Vorgesetzten im Pflanzenzüchterverband v. 16.5.1969, ebd., Bd. 25, Bl. 10. 28 Anlage zum Meldebogen Slottkes v. 28.4.1946, Spruchkammerakte (Anm. 1), Bl. 2; Fragebogen Spruchkammer Waiblingen v. 19.2.1947, ebd., Bl. 7. 29 Heiner Lichtenstein: Im Namen des Volkes? Eine persönliche Bilanz der NSProzesse, Köln 1984, S. 171. 30 So die niederländische Illustrierte „Kwik“ v. 23.2.1967: „Mijn veroordeling is een rechterlijke dwaling“.

STEPHAN LINCK

Ernst Szymanowski alias Biberstein – ein Theologe auf Abwegen „Zeuge: Ich bin in einer preußischen Beamtenfamilie erzogen worden. Hier habe ich alle die Tugenden kennen- und schätzengelernt, die einmal den preußischen Staat zu einem der bestgeordneten Staaten gemacht hatten. Ich fasse diese drei Tugenden zusammen in den Punkten: Ehrfurcht vor Gott, Gehorsam und Treue gegenüber der Staatsführung, Sauberkeit, Ehrlichkeit und Gewissenhaftigkeit in der Berufs- und Lebensführung. Vorsitzender: Wollen Sie sagen, Herr Zeuge, daß Preußen einer der besten Staaten in Deutschland war? Zeuge: Bestgeordneter Staaten habe ich gesagt, Herr Präsident. Vorsitzender: Oh. Zeuge: Ich lege Wert auf die Ordnung im Staats- und Volksleben.“1 Ein Geistlicher vor dem Nürnberger Militärgerichtshof Dieser Protokollauszug aus dem Nürnberger Einsatzgruppenprozeß zeigt die Verteidigungs- und Selbstrechtfertigungsstrategie, die sich der Angeklagte Biberstein zurechtgelegt hatte: ein Beamter, der getreu den Anweisungen seines Dienstherrn gefolgt war. Doch diese Selbstdarstellung als Opfer seiner Loyalität gegenüber Vorgesetzten wirkte angesichts seines einzigartigen beruflichen Werdegangs vor Gericht eher peinlich. Immerhin war Biberstein, damals noch Szymanowski, erst mit 36 Jahren Beamter geworden und das gleich im Rang eines Oberregierungsrates. Ohne die entsprechende Ausbildung war er erst im Reichskirchenministerium (RKM) und später bei der Geheimen Staatspolizei tätig gewesen. In letzter Funktion schließlich war er Chef eines Einsatzkommandos (EK) in der besetzten Sowjetunion geworden und das, obwohl sein erlernter Beruf ihn zur Verkündigung des Evangeliums verpflichtete. Die Theologie war ihm jedoch erst zu Prozeßbeginn wieder eingefallen, und er verteidigte sich darum nicht nur als pflichtbewußter Beamter, sondern auch als Pastor, der niemals zu töten imstande sei. Vor diesem Hintergrund fielen seine Äußerungen umso zynischer auf. Unter anderem verteidigte er die Ermordung mittels Gaswagen. Er meinte, diese Tötungsmethode sei „aus einem humanitären Bestreben heraus entstanden“ und „menschlich angenehmer“.2 Da er sich als Theologe darstellte, wurde er im Prozeß gefragt, ob er den Opfern geistlichen Beistand vor ihrer Ermordung gegeben habe. Bibersteins Antwort: „Es waren Bolschewisten, und der Bolschewismus predigt und unterstützt die Gottlosenbewegung. Ich bin auch als Pfarrer nicht verpflichtet,

220

STEPHAN LINCK

Menschen zu bekehren. Es ist nicht meine Art, mich aufzudrängen. Außerdem muß ich hier ein Wort anführen, das vielleicht nicht ganz der Würde des Gerichts entspricht: ‚Man soll nicht Perlen vor die Säue werfen.‘“3 Solche Äußerungen führten zu vernichtenden Pressekommentaren: „Selbst die übrigen Angeklagten in diesem Prozeß hatten nur ein sarkastisches Lächeln für ihren Mitangeklagten Szymanowski-Biberstein, dem es vorbehalten blieb, eines der erbärmlichsten Kapitel in der daran gewiß nicht armen Geschichte der Nürnberger Prozesse gegen das unmenschliche Treiben der SS-Einsatzgruppen zu kennzeichnen.“4 Doch der armselige Eindruck, den Biberstein erzeugte, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß nicht seine unglaubwürdige Verteidigungsstrategie alleine das Interesse weckte, sondern der leugnende SS-Scherge, der sich darauf berief, Theologe zu sein. Das Gericht, das ihn schließlich zum Tode verurteilte, ging in seinem Urteil ausführlich darauf ein: „Die Religion, die durch alle Zeiten die Schwachen gestärkt hat, den Armen geholfen, die Einsamen und Bedrückten getröstet, ist jedes Menschen eigene Bestimmung; daß aber ein Diener des Evangeliums auf dem Umweg über das Nazitum an Massenhinrichtungen teilnahm, ist eine Tatsache, die man nicht unbemerkt vorübergehen lassen kann.“ 5 Die Kirche selbst und auch die Kirchengeschichtsforschung unterschlugen diese Tatsache jahrzehntelang. Mehr noch: die schleswig-holsteinische Landeskirche unterstützte in den 1950er Jahren ihren einstigen Seelsorger bei seinen Bemühungen, wieder in Freiheit zu gelangen. Auf seinen Fall hinzuweisen, blieb kirchlichen Außenseitern vorbehalten.6 Erst in den jüngsten Forschungen werden die Schnittlinien zwischen SS und Kirche thematisiert.7 Auch wenn diese zeigen, daß Biberstein nicht der einzige war, der Talar und SS-Uniform vertauschte, so ist er doch der extremste Fall. Und es stellt sich im Fall Biberstein vorrangig die Frage, wie sich der Weg vollziehen konnte von der Kanzel zur Erschießungsgrube. „SA-Pastor“ in Schleswig-Holstein Ernst Szymanowski wurde am 15. Februar 1899 in Hilchenbach, Kreis Siegen, geboren. Seit 1906 lebte die Familie in Neumünster, wo der Sohn das Humanistische Gymnasium besuchte. Der Vater war bei der Reichsbahn als Beamter tätig. Sofort nach dem Abitur 1917 schrieb sich Szymanowski an der Kieler Universität als Student der Theologie ein. Doch weit gedieh das Studium nicht: Noch im Sommer wurde er eingezogen und erlebte das letzte Kriegsjahr des Ersten Weltkrieges als einfacher Soldat an der Westfront. Daß Szymanowski mitten im Krieg seiner Ausbildung den Vorrang gab, steht im Gegensatz zu seiner Generation – zur Theologenschaft und vor allem zur späteren SS-Elite.8 Dennoch oder gerade deshalb dürfte der Weltkrieg für ihn eine existentielle und prägende Erfahrung gewesen sein.9 Das 1919 wiederaufgenommene Studium zog er zügig und ohne Wechsel des Studienortes bis

ERNST SZYMANOWSKI ALIAS BIBERSTEIN

221

1922 durch und wurde nach der Vikariatszeit 1924 Pastor in Kating auf Eiderstedt. Der festen Anstellung folgten die Heirat mit einer gleichaltrigen Neumünsteranerin und neun Monate später das erste von drei Kindern.10 Nach Szymanowskis Darstellung war es die Mutter – Abonnentin des „Völkischen Beobachters“ –, die ihn und den Vater nach deren Neugründung zur NSDAP führte. Als er 1926 in die Partei eintrat,11 gab es zwar seit sieben Monaten in Neumünster eine Ortsgruppe; in der ganzen Provinz waren es aber gerade mal 15 Ortsgruppen,12 und auf der Halbinsel Eiderstedt wurde erst zwei Jahre später die erste Ortsgruppe gegründet. Szymanowski war also vorerst nur Einzelmitglied. Zwar war er mit seinem Eintritt einer der ersten Pastoren, die sich offen zur Partei bekannten; einen Affront gegenüber der Landeskirche stellte dieser Schritt jedoch nicht dar, denn diese zeichnete sich durch eine starke Affinität zur völkischen Bewegung aus. Die überwiegend weit rechts stehende Theologenschaft sah keinen Widerspruch zwischen rassistischem Antisemitismus und dem evangelischen Bekenntnis.13 Immerhin erkannte die erste Landessynode einstimmig die „Berechtigung und den Wert aller Bestrebungen an, die darauf hinzielen, das eigene Volkstum zu stärken und vor zersetzendem jüdischem Einfluß zu bewahren“. 14 Der größte Teil der Pastorenschaft stand DVP und DNVP nahe,15 wobei sich bereits Anfang der 1920er Jahre in den verschiedensten radikal-völkischen Gruppierungen des Landes Pastoren fanden. Allein der Jungdeutsche Orden soll 1925 18 Pastoren und 5 Pröpste der Landeskirche zu seiner Mitgliedschaft gezählt haben,16 und zahlreiche Pastoren kannten den schleswig-holsteinischen NSDAP-Gauleiter Hinrich Lohse bereits seit 1920/21, als dieser Geschäftsführer der von ihnen unterstützten völkischen Schleswig-Holsteinischen Landespartei gewesen war.17 Dennoch ist festzustellen, daß der offene kirchliche Zuspruch für die NSDAP erst einsetzte, nachdem sie infolge der Landvolkbewegung in Schleswig-Holstein zur Massenpartei geworden war. 1927 verließ Szymanowski die abgelegene Eiderstädter Halbinsel und wurde Pastor in Kaltenkirchen im Kirchenkreis Neumünster. Politisch gehört Kaltenkirchen zum Kreis Segeberg. Und dort hatte die NSDAP zu dieser Zeit nur eine einzige Ortsgruppe – in Kaltenkirchen.18 Szymanowski führte als „SA-Pastor“19 – wie er sich selbst bezeichnete – Feldgottesdienste und Fahnenweihen durch und beteiligte sich so am Aufbau der NSDAP in Ort und Kreis.20 Die Anzahl der lokalen NSDAP-Wähler stieg von 7 bei der Reichstagswahl 1928 auf 387 (51,3 Prozent) 1930. Auch wenn SchleswigHolstein zu den frühen Hochburgen der NSDAP zählte, war dieser Stimmenzuwachs eklatant.21 Als die schleswig-holsteinische Landeskirche 1933 im Sinne der Partei neu geordnet wurde, spielte Szymanowski jedoch keine große Rolle. Immerhin wurde er nach der „Braunen Synode“ von Rendsburg am 12. September

222

STEPHAN LINCK

kommissarischer Propst seines Kirchenkreises Neumünster.22 Als im Herbst 1933 die Propsteien neu mit Parteigängern besetzt wurden, gelangte er allerdings nicht auf seine ‚Wunschstelle‘ in Neumünster. Seine Verankerung in der Partei sicherte Szymanowski aber immerhin die Segeberger Propstei, die er ab November 1933 führte.23 Binnen kürzester Zeit begann er dort scharfe Auseinandersetzungen mit der Pastorenschaft.24 Hierbei bediente er sich der Unterstützung der örtlichen Parteiorganisation. Im Vorgehen gegen einen Pastor, der Mitglied des Pfarrernotbundes war, ließ Szymanowski ganze SAAbteilungen in zivil antreten, um den Gottesdienst zu stören.25 Daß er auch nationalsozialistische Pastoren verprellte26, überrascht nicht weiter. Bereits damals schätzte die Bekennende Kirche den Segeberger Konflikt so ein, daß die eigentliche Front gar nicht gegenüber den Deutschen Christen bestände, sondern „vielmehr gegen das Eindringen des Neuheidentums in die Kirche selbst“.27 Diese Darstellung wirkt stimmig; immerhin stand Szymanowski dem einstigen Flensburger Hauptpastor Andersen nahe und gehörte dessen völkisch-antisemitischem Bund für Deutsche Kirche an. Im Gegensatz zur evangelischen Kirchenmehrheit hatte Andersen schon früh den grundsätzlichen Widerspruch zwischen evangelischem Bekenntnis und völkischem Denken erkannt und in der Konsequenz ein ‚arteigenes‘, deutsches Christentum erfunden.28 Die Theologie der sogenannten Deutschkirche stimmte zumindest mit ihrer Ablehnung des Alten Testamentes und vor allem mit ihren Ansätzen, Jesus Christus zum ‚Deutschen Heiland‘ zu ‚arisieren‘, mit dem Neuheidentum überein. Vielleicht war es gerade die Mitgliedschaft in der Deutschkirche, die Szymanowski bereits im April 1934 zum Favoriten für das neu geschaffene Bischofsamt der Lübeckischen Landeskirche machte. Der Lebenslauf, den er zur Bewerbung vorlegte, zeigt anschaulich sein Selbstbild. Immerhin begann er dessen Hauptteil mit der Rechtfertigung seines ‚slawischen‘ Familiennamens: „Meine Familie ist durch und durch deutsch. Bei der Germanisierung des Ostens kam sie ursprünglich unter dem Namen von Biberstein um das Jahr 1000 nach Polen und wurde im Laufe der Zeit zum polnischen Uradel unter polnischem Namen gezählt, bis sie um 1700 ihres evangelischen Glaubens wegen aus Polen vertrieben wurde und wieder ins deutsche Vaterland zurückkehrte.“29 Die Behauptung, die Familie derer von Biberstein sei bei der Ostkolonisation dem Deutschen Orden fast ein Vierteljahrtausend zuvorgekommen, löste keine weiteren Irritationen aus. Szymanowski gab auch freimütig im Lebenslauf an, Segeberger Propst auf Drängen seiner „NS-Kampfgenossen“ geworden zu sein. Weder er noch die Adressaten nahmen wahr, daß diese Angabe den Umkehrschluß zuließ, daß die Landeskirche ihn nicht aus freien Stücken zum Propst gemacht hatte. Doch seine Bewerbung scheiterte wohl am Veto des Gauleiters Lohse, und Szymanowski blieb vorerst Propst in Segeberg.30 Erinnerungen zufolge blieb

ERNST SZYMANOWSKI ALIAS BIBERSTEIN

223

er seiner ‚Kampfzeit‘ treu, trug SA-Uniform unter dem Talar und machte die von der vollzähligen Segeberger SA besuchten Gottesdienste zu NSDAPKundgebungen.31 Da eine weitere kirchliche Karriere für ihn nicht mehr zu erwarten war, avancierte der Nationalsozialismus nunmehr für ihn zum alleinigen Bezugspunkt. In den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen der Landeskirche tauchte Szymanowski 1934 nicht auf.32 Das sollte sich erst 1935 ändern, als die Deutschkirche in Schleswig-Holstein offensiv den Ausgleich zwischen den Deutschen Christen und der Bekennenden Kirche torpedierte. Die auf Reichsebene unbedeutende Gruppierung besaß im Land eine starke Basis. Ihre eigentliche Verankerung hatte sie allerdings nicht innerhalb der Kirche; die Theologenschaft lehnte sie weitgehend ab. Dagegen fand sie vorrangig Unterstützung bei jenen Volksschullehrern, die Religionsunterricht erteilten.33 Nachdem im April 1935 ein deutschkirchlicher Lehrplan verabschiedet worden war, nahm Szymanowski eine Woche später die erste deutschkirchliche Konfirmation in Itzehoe vor.34 Diese Amtshandlung, die sich im Ablauf an neuheidnische Initiationsriten anlehnte, führte zu scharfen innerkirchlichen Protesten der Bekennenden Kirche. Die Auseinandersetzungen, die Szymanowski durch seine Amtshandlung provoziert hatte, konterkarierten sämtliche Befriedungsbemühungen, die die gemäßigten Nationalsozialisten in der Landeskirche begonnen hatten. Ob er darüber zum ‚Bauernopfer‘ zu werden drohte, oder ob ihm in dem Konflikt endgültig deutlich wurde, daß er in der Provinz keine Chance mehr auf einen beruflichen Aufstieg hatte, ist offen.35 Nach eigener Aussage führte er ein Gespräch mit Gauleiter Lohse, in dem dieser ihn unterstützte, sich um eine Anstellung im RKM zu bemühen, das just neu ins Leben gerufen worden war.36 Um diesem eine innerkirchliche Akzeptanz zu verschaffen, suchte man dort nach evangelischen Theologen und stellte Szymanowski als Oberregierungsrat ein. Im Reichskirchenministerium und bei der Gestapo Seit August 1935 fungierte er als Verbindungsmann des Ministeriums zum Geheimen Staatspolizeiamt. Doch schon bald fiel er dort durch Unfähigkeit auf und zugleich wurde sichtbar, daß Szymanowski für den Befriedungskurs des Ministers Kerrl denkbar ungeeignet war. Im Mai 1937 entzog man ihm seine Zuständigkeiten. Der Hauptgrund war denkbar trivial; eine Revision im November 1936 ergab bei Szymanowski eine ausgesprochen nachlässige Bearbeitung von Vorgängen und „Schlampigkeit in der Aktenführung“.37 Ein enger Mitarbeiter charakterisierte ihn als „bieder, aber dumm“,38 und es ist anzunehmen, daß er von seinen Aufgaben überfordert war; immerhin hatte er keine Verwaltungsausbildung. Ein weiterer Grund war der Verdacht des Ministers, daß Szymanowski für den SD spitzele. Seit Mai 1936 hatte sich Szymanowski – anfänglich unterstützt von Kerrl – um eine Aufnahme in die

224

STEPHAN LINCK

SS bemüht, die im September 1936 schließlich stattfand. Seitdem lieferte er regelmäßig Berichte aus dem RKM an den SD. Dort war man zufrieden mit ihm. Die Personalberichte loben „klare weltanschauliche Haltung“ und benennen ihn konkret als „Mitarbeiter bei II und regelmäßige[n] Überbringer von Nachrichten aus dem Reichskirchenministerium“. Direkt nach seiner Aufnahme in die SS erfolgte seine Ernennung zum Untersturmführer. Bis 1939 wurde er jedes Jahr befördert. In seiner dienstlichen Beurteilung 1938 begründete man seine Beförderung: „Da er im RKM bei Beförderungen bisher übergangen wurde, wird seine Beförderung zum SS-Sturmbannführer von hier aus für notwendig gehalten.“39 Mit dieser Beförderung, die 1939 vorgenommen wurde, bekleidete Szymanowski aber immer noch einen SSDienstgrad, der unter seinem Beamtenrang lag; dies entsprach einer Regelung für „Ehrenführer“. An seiner Loyalität war dennoch nicht zu zweifeln. Szymanowski lieferte mit großem Engagement zuweilen fast täglich Berichte ab, genauer: er berichtete persönlich im SD-Hauptamt, das in so kurzer Entfernung vom RKM lag, daß er bequem während der Mittagspause dorthin gehen konnte.40 Immerhin war die Außenseiterrolle, die er im Ministerium einnahm, in eine „Subkultur ehemaliger Pfarrer und Priester“41 eingebettet, die gemeinsam die Verbindungen zur Kirche beendet hatten und die Identifizierung mit der SS praktizierten. Szymanowski selbst war im Dezember 1938 endlich aus der Kirche ausgetreten.42 Zu einer Zäsur in seinem Leben führte die Einberufung im März 1940, da er nicht unabkömmlich gestellt worden war. Mit 41 Jahren nahm er als einfacher Schütze in einem Landesschützen-Bataillon am Westfeldzug teil und wurde nach dem Sieg für Verwaltungstätigkeiten in der Wehrmacht eingesetzt.43 Am 22. Oktober 1940 erfolgte die u.k.-Stellung Szymanowskis durch das Reichssicherheitshauptamt (RSHA). Über diesen Vorgang liegen lediglich seine Selbstzeugnisse vor, in denen er sich als unbeteiligt und unwissend hierüber ausgab.44 Glaubhaft erscheint, daß sich der Leiter des Kirchenreferates im RSHA, Albert Hartl, für ihn eingesetzt und seine Verwendung dort beantragt hat. Immerhin war dieser kurz zuvor von Heydrich beauftragt worden, den Bereich „Politische Kirchen“ aus dem bisherigen Amt II (SD) in das Amt IV (Gestapo) zu überführen, während im RSHA eine ausgesprochene Personalknappheit durch zusätzliche Einberufungen entstanden war.45 Ob Hartl sich gegenüber Szymanowski wegen dessen Zuträgerschaft beim SD verpflichtet fühlte, ob er in der Not auf ihn zurückgriff, oder ob er auf dessen besondere Loyalität hoffte, läßt sich nicht beantworten. Es dürfte aber Hartls Ziel gewesen sein, Szymanowski in die nun von ihm geführte Kirchenabteilung der Gestapo zu bekommen. Szymanowski war etwa ein halbes Jahr im RSHA und hospitierte nach eigener Darstellung bei SD, Kriminalpolizei und Gestapo. Nach diesem Durchlauf wurde er mit Wirkung vom 1. Juni 1941 zum Chef der Stapo-

ERNST SZYMANOWSKI ALIAS BIBERSTEIN

225

Stelle Oppeln ernannt. Auch wenn sich Szymanowski/Biberstein schon lange die Fama des ‚wahren‘ Familiennamens angeeignet hatte, so ist doch auffällig, daß er die endgültige Initiative zum Namenswechsel während seiner Zeit im RSHA ergriff. Fast zeitgleich mit dem Antritt seines Amtes als GestapoChef von Oppeln wurde im Juni 1941 die Namensumbenennung rechtswirksam.46 Über Bibersteins Tätigkeit in Oppeln liegen wenig Informationen vor. In seine Verantwortung fiel die Deportation der ortsansässigen Juden in Vernichtungslager.47 Die vorliegenden Monatsberichte der Stapo-Stelle, die er unterzeichnete, weisen eine größere Zahl Geistlicher auf, gegen die Strafanzeigen erstattet wurden sowie zwei KZ-Einweisungen von Priestern.48 Außerdem stellte er Gestapoangehörige dazu ab, „um in Kriegsgefangenenlagern nach bolschewistischen Triebkräften zu suchen. Diese Leute, die von diesem Kommando aussortiert worden waren, wurden in das Konzentrationslager Auschwitz gebracht“, gab er später zu.49 Ansonsten aber – so Biberstein – habe die Stapo-Stelle Oppeln funktioniert, ohne daß er imstande gewesen sei, die Geschäftsabläufe auch nur annähernd zu verstehen.50 Nach Ablauf eines Jahres wurde er erneut versetzt, um am 14. Juli 1942 die Leitung des EK 6 zu übernehmen, das seinen Sitz damals im südrussischen Rostow hatte und Außenkommandos in Taganrog, Nowotscherkask und Schachty besaß.51 „Meiner Erinnerung nach wurden, während ich die Führung des EK 6 innehatte, ungefähr 2000 bis 3000 Personen vom Kommando teils durch Vergasen, teils durch Erschießen hingerichtet“, erklärte er später in Nürnberg. Angeblich handelte es sich dabei lediglich um „Bolschewisten“; „Juden habe ich keine mehr in Rostow angetroffen.“52 Laut eigener Aussage agierte er dabei in vollem Einverständnis mit der Wehrmacht: „In Rostow besuchte ich zunächst den Ic, Hauptmann Palmbach, beim Befehlshaber des rückwärtigen Heeresgebietes Don, General Graf Rothkirch […]. Der General erklärte mir, daß er mit der Arbeit des Kommandos sehr zufrieden sei, und er wünsche, daß es dort auch weiterhin so sein werde.“53 Differenzen ergaben sich erst, als Biberstein kurz vor seiner anstehenden Abberufung im Juni 1943 eine Abkommandierung des EK 6 zur Partisanenbekämpfung verzögerte. Dies führte zu einem SS-Verfahren wegen passiven militärischen Ungehorsams und zur Bestrafung mit 13 Tagen Stubenarrest.54 Am Ende stand – vermutlich nach einer Übergangszeit in Oppeln – seine Abberufung zum Reichsstatthalter in Klagenfurt, wo er bis Kriegsende in der Wirtschaftsabteilung des Obersten Kommissars von Triest tätig war. 55 Ende April 1945 floh er nach Neumünster und wurde dort von den Briten verhaftet. Zurück in den Schoß der Kirche Die Frage, inwieweit Bibersteins Selbstdeutung eines passiv agierenden SSMannes stimmig ist, läßt sich kaum noch wirklich beantworten. Sollten bei ihm aber moralische Skrupel vorhanden gewesen sein, so hatten sie keine

226

STEPHAN LINCK

Konsequenzen für sein Handeln. Hilberg konstatierte hierzu: „Für Biberstein war es mit der moralischen Grenze wie mit dem zurückweichenden Horizont. Er ging auf sie zu, erreichte sie aber nie.“56 Doch ist hier grundsätzlich zu fragen, inwieweit bei Biberstein überhaupt moralische Maximen belegbar sind. Fakt ist, daß sich seine Deutschkirche im Kampf gegen das Judentum jeglicher Skrupel entledigt hatte. Die „Ausmerzung des Judentums“ – so lehrte sie schon ihre Konfirmanden – sei „die beste Form der Nächstenliebe“.57 Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, daß Biberstein auch nach seiner Freilassung versuchte, sich der evangelischen Kirche anzunähern, ohne sich daran zu erinnern, daß das Konzept christlicher Vergebung ein Eingeständnis der Schuld und darauf aufbauend die tätige Reue vor jede Vergebung gesetzt hat. Biberstein war einer der letzten Gefangenen, die 1958 in Landsberg begnadigt wurden.58 Die schleswig-holsteinische Landeskirche tat sich schwer mit ihrem Mitglied, das sie 1953 wieder aufgenommen hatte.59 Mit Sicherheit genossen alle anderen NS-Verbrecher wesentlich mehr kirchliche Unterstützung als Biberstein.60 Daß die Landeskirche die Bedingungen für seine Freilassung auf „Parole“61 – Stellung eines Bürgen und befristete Anstellung in der Neumünsteraner Kirchenverwaltung – erfüllte, ist dennoch bemerkenswert.62 Immerhin belog er auch nach seiner Freilassung die Kirche selbst in jenen Teilen seiner Vita, über die die Kirchenleitung bestens Bescheid wußte.63 Daß man ihm auf dieser Grundlage gleichwohl eine „Läuterung“ attestierte, wirft ein verheerendes Licht auf den kirchlichen Zeitgeist der Nachkriegsjahre. So reagierte Propst Richard Steffen auf einen kritischen Bericht des schweizerischen jüdischen Gemeindebundes, der im „Deutschen Pfarrerblatt“ abgedruckt worden war,64 selbstentlarvend: „Wir sollten doch auch sehr vorsichtig sein in der Verwertung der Nürnberger Prozeßakten. Nach meiner Überzeugung ist B. kein Verbrecher. Was übrig bleibt an Schuld vor Menschen und Gott, ist menschlich gestraft genug und geistlich in Gottes Vergebung gestellt. Sollten wir nicht auch vergeben können?“65 Wohl verstärkt durch die beginnenden Skandale um NS-Verbrecher in SchleswigHolstein, enthielt sich die Kirche einer Weiterbeschäftigung, nachdem die auf ein halbes Jahr befristete Stelle ausgelaufen war. Biberstein starb am 8. Dezember 1986 in Neumünster. Anmerkungen 1

Vern. Biberstein v. 20.11.1947, StAN, KV, Protokoll des Einsatzgruppenprozesses (Fall 9), S. 2736 f. 2 Ebd., S. 2832. 3 Der Spiegel v. 13.12.1947: „Der unaufdringliche Pfarrer – Vergasung angenehmer“.

ERNST SZYMANOWSKI ALIAS BIBERSTEIN 4

227

Telegraf v. 9.3.1948: „Unfaßbare Aussagen in Nürnberg. Der Zynismus eines Geistlichen – Die ‚humanitären’ Hinrichtungen“. 5 Zit. nach Kazimierz Leszczynski (Hrsg.): Fall 9. Das Urteil im SS-Einsatzgruppenprozess, gefällt am 10. April 1948 in Nürnberg vom Militärgerichtshof II der Vereinigten Staaten von Amerika, Berlin (DDR) 1963, S. 139. 6 Vgl. Gerhard Hoch: Zwölf wiedergefundene Jahre. Kaltenkirchen unter dem Hakenkreuz, Bad Bramstedt 1980; Ernst Klee: Persilscheine und falsche Pässe. Wie die Kirchen den Nazis halfen, Frankfurt/M. 1991, S. 142 ff.; dies änderte sich erst durch seine Thematisierung in der Wanderausstellung „Kirche, Christen, Juden in Nordelbien 1933–1945“, die im September 2001 eröffnet wurde; vgl. Annette Göhres/ Stephan Linck/Joachim Liß-Walther (Hrsg.): Als Jesus „arisch“ wurde. Kirche, Christen, Juden in Nordelbien 1933–1945. Die Ausstellung in Kiel, Bremen 2003. 7 Heike Kreutzer: Das Reichskirchenministerium im Gefüge der nationalsozialistischen Herrschaft, Düsseldorf 2000; Wolfgang Dierker: Himmlers Glaubenskrieger. Der Sicherheitsdienst der SS und seine Religionspolitik 1933–1941, Paderborn u.a. 2002. 8 Vgl. Volker Jacob: Die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Schleswig-Holstein in der Weimarer Republik. Sozialer Wandel und politische Kontinuität, Münster 1993, S. 155 ff.; Manfred Gailus: Protestantismus und Nationalsozialismus. Studien zur nationalsozialistischen Durchdringung des protestantischen Sozialmilieus in Berlin, Köln u.a. 2001, S. 403 f.; Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, S. 41 ff. 9 Protokoll (Anm. 1), S. 2738 f.; vgl. Jens Banach: Heydrichs Elite. Das Führerkorps der Sicherheitspolizei und des SD 1936–1945, Paderborn u.a. 1998, S. 62. 10 StAN, KV, Anklage, Befragung B 75. 11 Der Eintritt erfolgte am 19.7.1926; ein Jahr zuvor war der Vater der Partei beigetreten, BAB, BDC, NSDAP-Zentralkartei, Karteikarte Ernst Szymanowski; Protokoll (Anm. 1), S. 2741. 12 Rudolf Rietzler: ‚Kampf in der Nordmark‘. Das Aufkommen des Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein (1919–1928), Neumünster 1982, S. 353 f.; Kay Dohnke: Nationalsozialismus in Norddeutschland. Ein Atlas, Hamburg-Wien 2001, S. 12. 13 Rudolf Rietzler: Von der „politischen Neutralität“ zur „Braunen Synode“. Evangelische Kirche und Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein (1930-1933), in: Zeitschrift für Schleswig-Holsteinische Geschichte 107 (1982), S. 139–153; Stephan Linck: „ ...vor zersetzendem jüdischen Einfluß bewahren“. Antisemitismus in der schleswig-holsteinischen Landeskirche, in: Göhres u.a. (Anm. 6), S. 132–146. 14 Verhandlungen der 1. Ordentlichen Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Schleswig-Holsteins 1924/25, Kiel 1925, A. Nr. 78. 15 Rietzler (Anm. 12), S. 285 ff. 16 Jacob (Anm.8), S. 155. 17 Rietzler (Anm.12), S. 203 f.; Jacob (Anm. 8), S. 154. 18 Dohnke (Anm.12), S. 12 ff. 19 Lebenslauf Szymanowski v. 31.3.1934, Stadtarchiv Lübeck, Neues Senatsarchiv IX 1. 20 Protokoll (Anm. 1), S. 2755. 21 Hoch (Anm. 6), S. 14.

228 22

STEPHAN LINCK

Vgl. Gerhard Hoch: Die braune Synode. Ein Dokument kirchlicher Untreue, Bad Bramstedt 1982. 23 NEKA, 98.12, Nr. 33; Schreiben der Segeberger Pastoren v. 9.11.1933, Stadtarchiv Reinfeld, NL Claasen. 24 Klauspeter Reumann: Der Kirchenkampf in Schleswig-Holstein 1933 bis 1945, in: Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte, Bd. 6.1: Kirche zwischen Selbstbehauptung und Fremdbestimmung, Neumünster 1998, S. 160. 25 NEKA, 98.12, Nr. 69. 26 Ebd., 98.12, Nr. 2. 27 Wie Anm. 24. 28 Hauke Wattenberg: Anticlericus. Friedrich Andersens völkische Theologie im Umbruch der Moderne, wissenschaftliche Hausarbeit zur ersten theologischen Prüfung, Kiel 1993. 29 Lebenslauf Szymanowski v. 31.3.1934 (Anm. 19). 30 Im Protokoll des lübeckischen Kirchenausschusses v. 25. Mai 1934 hieß es: „Der Vorsitzende teilte mit, daß die Bemühungen zur Berufung des Propstes Szymanowski eingestellt seien, weil dieser von der nationalsozialistischen Bewegung für andere Zwecke in Anspruch genommen werde“, NEKA, 42.07, Nr. 23; vgl. WolfDieter Hauschild: Kirche in Lübeck zwischen Anpassung und Widerstand, in: Klauspeter Reumann (Hrsg.): Kirche und Nationalsozialismus. Beiträge zur Geschichte des Kirchenkampfes in den evangelischen Landeskirchen SchleswigHolsteins, Neumünster 1988, S. 165 f.; Karl Friedrich Reimers: Lübeck im Kirchenkampf des Dritten Reiches, Göttingen 1965, S. 111. 31 Torsten Mußdorf: Die Verdrängung jüdischen Lebens in Bad Segeberg im Zuge der Gleichschaltung 1933–1939, Frankfurt/M. 1992, S. 94. 32 Der (unbestätigten) Darstellung des damaligen Landesbischofs Paulsen zufolge trat Szymanowski 1934 in Veranstaltungen für den neuheidnischen „Deutschglauben“ Rosenbergs ein; daraufhin wurde ein Verfahren eingeleitet, um ihn von seiner Propstei zu entfernen, Adalbert Paulsen an den holsteinischen Bischof Halfmann v. 19.11.1958, NEKA, 12.03, Nr. 1215, Bl. 18. 33 Nach einem Gestapobericht vom Januar 1936 gehörten 10000 der 12000 Religionsvolksschullehrer der Provinz der Deutschkirche an, Gerhard Paul: Staatlicher Terror und gesellschaftliche Verrohung. Die Gestapo in Schleswig-Holstein, Hamburg 1996, S. 384. 34 Vgl. Reumann (Anm. 24), S. 214 ff. 35 In Berlin soll Szymanowski „Lehrschwierigkeiten“ als Grund für seine berufliche Veränderung angegeben haben, vgl. Kreutzer (Anm.7), S. 187. 36 Protokoll (Anm. 1), S. 2767 f. 37 Kreutzer (Anm. 7), S. 188. 38 Zit. nach ebd., S. 190. 39 Alle Zitate nach Personalbericht v. 30.1.1938 und Stellungnahme der vorgesetzten Dienststelle (undat.), BAB, BDC, SSO Ernst Szymanowski/Biberstein. 40 Kreutzer (Anm.7), S. 200 ff. 41 Gerhard Besier: Die Kirchen und das Dritte Reich. Spaltungen und Abwehrkämpfe 1934–1937, München 2001, S. 299; vgl. Klaus-Michael Mallmann: Die unübersichtliche Konfrontation. Geheime Staatspolizei, Sicherheitsdienst und christliche Kirchen 1934–1939/40, in: Gerhard Besier (Hrsg.): Zwischen „nationaler Revolution“

ERNST SZYMANOWSKI ALIAS BIBERSTEIN

229

und militärischer Aggression. Transformationen in Kirche und Gesellschaft während der konsolidierten NS-Gewaltherrschaft (1934–1939), München 2001, S. 121–136. 42 Archiv der Kirchengemeinde Neumünster, Kirchenaustritte. 43 Ernst Biberstein: Bericht über meinen Lebensweg, Ms. 1958, LAS, Abt. 352, Nr. 949. 44 Ebd.; Protokoll (Anm. 1), S. 2793 f. 45 Wildt (Anm. 8), S. 373; zu Hartl Dierker (Anm. 7), S. 96–118. 46 BAB, BDC, SSO Ernst Szymanowski/Biberstein; Befehlsblatt CdS Nr. 27 v. 19.7.1941, BAB, RD 19/2; NEKA, 12.03, Nr. 1215. 47 Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 2, Frankfurt/M. 1990, S. 302. 48 Monatsberichte Stapo-Stelle Oppeln v. 2.8.1941, 5.2., 3.3. und 2.4.1942, BA-ZA, ZB 1549. 49 Eidestattliche Erklärung Biberstein v. 2.7.1947, StAN, KV, NO-4314. 50 Protokoll (Anm. 1), S. 2804. 51 Vermerk GStaw Berlin v. 24.11.1964, BAL, 415 AR 1310/63-P; vgl. Urteile LG Wuppertal v. 30.12.1965 und 13.12.1967, BAL, SA 270; für Informationen zum EK 6 danke ich PD Dr. Klaus-Michael Mallmann (Ludwigsburg). 52 Eidesstattliche Erklärung Biberstein v. 25.6.1947, BAL, Dok.Slg. Versch. 110. 53 Vern. dess. v. 1.6.1960, BAL, 204 AR-Z 15/60, Bd. 1, Bl. 279 ff. 54 Dto. v. 29.6.1947, StAN, KV, NO-4997. 55 Nach eigener Aussage war Biberstein vom Juni 1943 bis Februar 1944 unbeschäftigt; eidesstattliche Erklärung v. 2.7.1947, StAN, KV, NO-4314; dagegen spricht RSHA an Stapo-Stelle Oppeln v. 16.2.1944, wonach er in das „Operationsgebiet Adriatisches Küstenland“ kommandiert wird, ebd. 56 Hilberg (Anm. 47), Bd. 3, S. 1098. 57 Friedrich Andersen: Kurze Glaubenslehre zur Prüfung für Jedermann. Zugleich ein Konfirmations-Unterricht nach deutsch-kirchlichen Grundsätzen. Hrsg. vom Bund für Deutsche Kirche, Berlin 1935, S. 12. 58 Vgl. Thomas Alan Schwartz: Die Begnadigung deutscher Kriegsverbrecher. John J. McCloy und die Häftlinge von Landsberg, in: VfZ 38(1990), S. 375–414. 59 Biberstein wurde am 1.11.1953 von der Kirchengemeinde Neumünster wiederaufgenommen, Archiv der Kirchengemeinde Neumünster, Wiedereintritte. 60 Vgl. Klee (Anm. 6). 61 Die Freilassung auf „Parole“ meinte eine dauerhafte Beaufsichtigung und Betreuung durch ehrenamtliche Bewährungshelfer; vgl. Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1999, S. 295. 62 Die Bürgschaft übernahm der Neumünsteraner Propst Steffen in Rücksprache mit dem Präsidenten des schleswig-holsteinischen Landeskirchenamtes Dr. Epha und der schleswig-holsteinischen Kirchenleitung; aufgrund dieser Absprachen wurde Biberstein befristet beim Kirchengemeindeverband Neumünster angestellt, Sitzungen der Kirchenleitungen, NEKA, 20.01, Nr. 130; Sitzungsprotokolle des Landeskirchenamtes, ebd., Nr. 192; Personalakte Szymanowski, ebd., 12.03, Nr. 1215. 63 Bezeichnenderweise ist Bibersteins „Bericht über meinen Lebensweg seit meinem Ausscheiden aus dem Kirchendienst im Jahre 1935“ v. 22.8.1958 in den Unterla-

230

STEPHAN LINCK

gen der schleswig-holsteinischen Landeskirche nicht auffindbar, obwohl er an die „hohe Kirchenregierung“ gerichtet ist, LAS, Abt. 352, Nr. 949. 64 Pressedienst des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes v. 16.6.1958: „Das war einst ein ‚Pfarrer!‘ “, abgedruckt in Deutsches Pfarrerblatt Nr. 16, 1958, S. 372 f. 65 Deutsches Pfarrerblatt Nr. 18, 1958, S. 420: „Die Dinge liegen ganz anders“.

CHRISTL WICKERT

Willi Tessmann – Kommandant des Polizeigefängnisses Hamburg-Fuhlsbüttel 1934 trat der gelernte Gärtner Willi Tessmann im Konzentrationslager (KL) Fuhlsbüttel seinen Dienst als Wachmann an. Unter dem Namen „Kolafu“ war es von 1933 bis 1936 innerhalb des schon vorhandenen Gefängniskomplexes untergebracht und von politischen Gegnern und rassisch Verfolgten gefürchtet.1 Von 1943 bis Kriegsende war Tessmann dann Leiter des Polizeigefängnisses Fuhlsbüttel, auf dessen Terrain 1944/45 auch ein Nebenlager des KL Neuengamme existierte. Am 27. September 1947 wurde er vom Britischen Militärtribunal zum Tode verurteilt und am 29. Januar 1948 in Hameln hingerichtet. Dank der in der Familie erhaltenen Unterlagen können wir die Stationen seines Lebensweges – verglichen mit den Selbstzeugnissen in den Heiratsunterlagen für das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS – nachzeichnen. Vorgeschichte und Berufskarriere Willhelm Bernhard Tessmann wurde am 15. Januar 1908 in HamburgBürgerweide als Sohn eines Kutschers geboren.2 Die Familie war streng evangelisch-lutherisch, der Sohn in Hamburg-Hamm in der Kirchenjugend aktiv.3 Im Alter von 16 Jahren begann er eine Ausbildung als Gärtner, die er 1925 abschloß. Da er sich laut Zeugnis vom 29. April 1925 „durch Fleiß, Lust und Liebe zum Beruf und gute Führung […] die volle Zufriedenheit erworben“ hatte, wurde er weiter beschäftigt, wechselte jedoch bald die Anstellung. Er arbeitete in den folgenden Jahren in unterschiedlichen Betrieben, bis er am 30. September 1933 aus wirtschaftlichen Gründen entlassen wurde. Tessmann wurde in seinem Arbeitszeugnis als „äußerst pflichtbewußter und ehrlicher Mensch“ bezeichnet, der „jederzeit und allerorts nur bestens empfohlen“ werden kann. Zu diesem Zeitpunkt gehörte er seit 17 Monaten – genau: seit dem 1. Mai 1932 – der NSDAP und der SS an. Von 1925 bis 1930 war er bereits Mitglied des Jungdeutschen Ordens in Hamburg gewesen. Dieser war 1919 als militärische Organisation, die die Wiederherstellung der Monarchie anstrebte, gegründet worden. Aufgrund des Gesetzes zum Schutz der Republik wurde der Jungdeutsche Orden mit allen Gefolgschaften 1930 in Preußen verboten.4 „Als der Kurs des Ordens ins marxistische Lager hinüberging, trat ich im Jahre 1930 aus,“ schrieb Tessmann dagegen – geradezu verfälschend – in seinem Lebenslauf 1935. Auf Vermittlung seines späteren Schwiegervaters, der seit 1904 bei der Hamburger Schutzpolizei und seit 1921 als Wachmann

232

CHRISTL WICKERT

in Fuhlsbüttel beschäftigt war, erhielt er im Februar 1934 ebenfalls eine Stelle bei der Schutzpolizei. Nach einem vierwöchigen Kurs für Unterführer der Schutzpolizei wurde er im September 1934 zum SS-Sturmscharführer ernannt und von der Gestapo als Wachmann ins KL Fuhlsbüttel abgeordnet. Seine bisherige Berufsarbeit war nach dem erfolgreichen Abschluß der Gesellenprüfung eher durch Unstetigkeit geprägt gewesen und hatte letztlich in die Arbeitslosigkeit geführt. Diese hatte Tessmann jedoch ermöglicht, sich mehr in der SS zu engagieren, was ihm wiederum bei der Aufnahme in die Schutzpolizei zugute kam. Ende März 1933 war der Hamburger Staatspolizei, die erst im Oktober dieses Jahres per Verfügung des Regierenden Bürgermeisters als Politische Polizei zu einer Sonderbehörde verselbständigt wurde, ein leerstehender Komplex der Strafanstalten in Fuhlsbüttel für die Unterbringung von Schutzhäftlingen zur Verfügung gestellt worden. Im August 1933 wurde dann im ehemaligen Frauengefängnis Fuhlsbüttel ein Lager für Schutzhäftlinge eingerichtet, der Hamburger Landesjustizverwaltung unterstellt und am 4. September 1933 der SA-Brigadeführer Paul Ellerhusen zum Kommandanten des nunmehr offiziell als KL Fuhlsbüttel bezeichneten Komplexes ernannt, während in anderen Gebäuden Strafgefangene separiert blieben.5 Mit ihm begann ein Regime des Terrors, die „Hölle von Fuhlsbüttel“, die bis 1945 andauern sollte. Schikanen, Mißhandlungen und Morde bestimmten den Alltag der Häftlinge. Im Juli 1934 übernahm Johannes Rode, Kriminalsekretär der Hamburger Politischen Polizei, den Posten des Lagerkommandanten. Das Lager blieb Teil der Hamburger Justizverwaltung, obwohl Himmler und Heydrich es lieber als Domäne der SS gesehen hätten.6 Der Plan der 1934 gegründeten Inspektion der KL in Oranienburg, das Lager zu integrieren, ging jedoch nicht auf. Daraufhin ordnete der Reichsführer-SS nach seiner am 17. Juni 1936 erfolgten Ernennung zum Chef der deutschen Polizei an, Fuhlsbüttel künftig als „Polizeigefängnis“ zu bezeichnen.7 Als Willi Tessmann zusammen mit seiner schwangeren Verlobten Lieselotte Cohrs am 10. August 1935 einen Antrag auf Heiratsgenehmigung stellte, war er seit einem Jahr Mitarbeiter der Hamburger Schutzpolizei. Er war Bereitschaftsführer in der Wachmannschaft Fuhlsbüttel und vertrat in Ausnahmefällen den Kommandanten. Seit 1925, seinem Beitritt zum Jungdeutschen Orden, bezeichnete er sich als der völkischen Bewegung zugehörig. Am 5. Oktober 1935 fand die kirchliche Trauung in der Lukas-Kirche in Hamburg-Fuhlsbüttel statt; der Bräutigam trug dabei SS-Uniform. Willi und Lieselotte Tessmann bekamen nach dem Anfang 1936 geborenen ältesten Sohn sechs weitere Kinder und erfüllten so die gewünschte Norm einer „vorbildlichen SS-Familie“. Etwa 1937 bezog die Familie in Hamburg-LangenhornNord ein Reihenhaus mit Garten. Erhaltene Photos zeigen eine Idylle; blonde Kleinkinder und ihre Eltern ließen sich für das Familienalbum ablichten.

WILLI TESSMANN

233

Gleichwohl war es in der Nachbarschaft ein offenes Geheimnis, daß der Familienvater Tessmann jahrelang ein Verhältnis zu einer der Aufseherinnen pflegte und aus diesem Grunde außerhalb seines Dienstes abends oft nicht nach Hause kam. In die Anfang der 1930er Jahre errichtete Siedlung zogen zwar nach und nach Familien von Funktionsträgern des Nationalsozialismus, aber einige Bewohner der ersten Generation blieben und schauten dem Leben ihrer neuen Nachbarn distanziert zu. Ab 1937 war Tessmann drei Jahre lang als Fernschreiber für die Hamburger Gestapo tätig. 1938 absolvierte er eine mehrmonatige Ausbildung im Geheimen Staatspolizeiamt in Berlin. 1940 forderte ihn der Kommandant von Fuhlsbüttel wieder an.8 Im April 1943 wurde er Stellvertreter und im November dann Nachfolger von Rode als Kommandant. Photos aus jener Zeit zeigen die Wachmannschaft an der Mauer von Fuhlsbüttel mit ihrem Chef Tessmann, der als stolzer Uniformträger posiert. Die Gesichter wirken entschlossen, auch wenn sie uns heute eher einfältig erscheinen mögen. Mehrmals stehen Karabiner im Vordergrund aufgebaut. Tessmann zeichnete sich als willfähriger Gehilfe des Systems aus. Wenn Gefangene bei Verhören nicht die von der Gestapo gewünschten Geständnisse machten, wurden sie gefoltert, und der fürsorgliche Familienvater Tessmann ordnete wochenlange Einzelhaft an; nicht wenige wurden so in den Tod getrieben. Er war, wie die oben beschriebenen stilisierten Photos zeigen, vom Pathos und Selbstverständnis der SS überzeugt. Seine überaus angenehmen Erinnerungen an die NS-Zeit formulierte er auch 1945 in einem Brief zum 10. Hochzeitstag an seine Frau: „Wie glücklich und zufrieden waren wir […]. Wir haben immer so gelebt, daß wir jedermann gerade in die Augen sehen konnten und werden das auch in Zukunft tun.“ Morde in Fuhlsbüttel Tessmann hatte die Evakuierung der Häftlinge von Fuhlsbüttel ins Arbeitserziehungslager Nordmark in Kiel-Hassee vor den heranrückenden alliierten Truppen vorbereitet, die am 14. April 1945 begann: ein Todesmarsch für die durch die lange Haft und schlechte Behandlung äußerst geschwächten Häftlinge. Er gab an die Wachmänner den Befehl, diejenigen Gefangenen zu erschießen, die aufgeben wollten oder zu fliehen versuchten.9 Als am 3. Mai die britischen Truppen in Hamburg einmarschierten, setzte sich Tessmann nach Ipstedt, nördlich von Schleswig, ab, wo er sich einem Bataillon anschloß, das jedoch am 8. Mai aufgelöst wurde. Als angeblicher Wehrmachtsangehöriger arbeitete er anschließend bis Juli in einem Dorf nördlich von Heide in der Landwirtschaft. Erfolgreich durchlief er verschiedene Entlassungs- und Kontrollstellen, da es nicht auffiel, welch wichtige Funktion der SS-Sturmscharführer Tessmann bei Kriegsende innegehabt hatte. Er kehrte

234

CHRISTL WICKERT

darum bereits am 27. Juli 1945 nach Hamburg-Langenhorn zurück. Doch eine Nachbarin zeigte der Polizei an, daß er zu Hause anzutreffen sei. Nach der Befreiung machte sich die Britische Militärbehörde daran, in Hamburg begangene Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom 20. Dezember 1945 und der Kontrollratsdirektive Nr. 38 vom 1. Oktober 1946 zu verfolgen und zu verurteilen. Hierbei handelte es sich um Verbrechen an alliierten Staatsangehörigen; die Strafverfolgung von Tötungsdelikten an Deutschen ging schon bald in die Hoheit deutscher Gerichte über. Drei Fuhlsbüttel-Prozesse wurden vor dem britischen Militärtribunal im Curio-Haus am Hamburger Rothenbaum 1947 geführt. Im ersten und zweiten Verfahren war Tessmann einer der Angeklagten. Mit welchen Verbrechen wurde er von den Briten konfrontiert? Weibliche Kriegsgefangene, die Zwangsarbeit bei der Metallfirma Noleiko in Hamburg leisten mußten, waren im Herbst 1943 wegen Arbeitsverweigerung nach Fuhlsbüttel gebracht worden. Sie hatten schlecht gewordene Suppe zurückgewiesen und daraufhin die Arbeit niedergelegt. Tessmann erhielt den Befehl, für fünf von ihnen den Transport zur Exekution vorzubereiten und diesen zu begleiten. Zusammen mit Hans Stange war er verantwortlich für die Hinrichtung, der 50 weitere sowjetische Zwangsarbeiterinnen zur Abschreckung zusehen mußten. Am 6. August 1947 wurde Tessmann im 1. FuhlsbüttelProzeß deshalb zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. Sein Stellvertreter Stange erhielt als Schuldiger am Mord an fünf Ostarbeiterinnen im November 1943 eine Strafe von fünf Jahren.10 Die „Hölle von Fuhlsbüttel“, Mißhandlungen mit Tritten, Schläge mit Fäusten oder Gewehrkolben, Dunkelund Einzelhaft und Nahrungsentzug zwischen April 1943 und April 1945 sowie Erschießungen von elf Polen in Hamburg-Eidelstedt und auf dem Todesmarsch nach Kiel-Hassee waren Anklagepunkte im 2. Fuhlsbüttel-Prozeß vom 1. bis 24. September 1947 gegen Tessmann, Stange und acht Wachleute aus Fuhlsbüttel, unter ihnen drei Frauen. Zum Tode verurteilt wurden gemäß dem Plädoyer des Anklagevertreters Tessmann sowie zwei weitere Angehörige des Wachpersonals. Die anderen Mitangeklagten erhielten Haftstrafen zwischen fünf und fünfzehn Jahren. Internierung und Verurteilung aus der Perspektive des Briefwechsels mit der Ehefrau Am 29. Juli 1945 kam die britische Militärpolizei zusammen mit zwei Zeugen, Überlebenden der Haftanstalt Fuhlsbüttel, in das Haus der Tessmanns, um ihn zu verhaften. Im Gefängnis Holstenglacis wurde er im August einige Tage von der Kripo verhört und kam dann von dort in das Lager III des britischen Internierungslagers – Civil Internment Center 6 – auf dem Gelände des ehemaligen KL Neuengamme. Sehr schnell traf Tessmann dort alte Bekannte wieder, Seilschaften bildeten sich erneut, man organisierte über geheime

WILLI TESSMANN

235

Kassiber Kontakte nach außen.11 Ab Ende September 1945 ist ein wöchentlicher Briefwechsel zwischen dem Ehepaar Tessmann überliefert, der über einen Mittelsmann weitergeleitet wurde. In diesen Briefen wurde offen über die politische Situation nach Kriegsende räsoniert und der Lageralltag beschrieben. Tessmann gab seiner Frau Ratschläge zum Verhalten und zur Erziehung der Söhne. Lieselotte Tessmann schickte regelmäßig Nahrungsmittelpakete, versorgte ihren Mann mit Kleidung, ließ ihm Familienphotos zukommen und hielt ihre beiden älteren Söhne an, dem Vater zu Weihnachten und zum Geburtstag Bilder zu malen und Briefe zu schreiben. „Universalessen ist hier […] ‚N.S.K.K.‘, das heißt Nudeln, Salz, Kartoffel, Kohl. Statt der Kartoffeln neuerdings Rüben und andere Nährmittel. Oder auch ‚SS‘, das heißt süße Suppe, Haferflocken oder Grütze!“, so faßte Tessmann am 2. November 1945 die Ernährungslage zusammen. Mit den illegal übermittelten Paketen seiner Frau, deren Inhalt sie sich aufgrund der Lebensmittelrationierung mühsam zusammengeklaubt hatte, kam Tessmann vergleichsweise gut durch den ersten Nachkriegswinter, in dem die Versorgungslage im Neuengammer Internierungslager extrem schlecht war. Seit Februar 1946 durften die Internierten offiziell Postkarten mit 25 Worten von Angehörigen empfangen, doch Tessmann antwortete seiner Frau weiterhin über illegale Wege. Lieselotte, so betonte er immer wieder, sei seine Hauptstütze. „Ich gehe hier ohne Dich (und Deine Briefe) sonst ein“, schrieb er am 13. März 1946. Eine trivial gestaltete Glückwunschkarte von Mitgefangenen zum 39. Geburtstag dokumentiert den Zusammenhalt, den Tessmann mit ehemaligen SS-Mitgliedern pflegte. Der Briefwechsel mit der Ehefrau zeigt auffällig, wie er ein Selbstbild konstruierte, das ihn nicht nur als liebenden Familienvater darstellte. Er habe immer korrekt gehandelt und entschieden und könne vor jedem Gericht bestehen. Seine Reflexionen umkreisten die schwierige Lage der Familie seit seiner Verhaftung und klagten das NS-System an, das Unglück gebracht habe. Damit versuchte er ein Bild zu zeichnen, das seine Söhne von ihm behalten sollten.12 Auch als Ende 1946 ein regelmäßiger Briefkontakt erlaubt wurde, schrieben sich Tessmanns zum Teil noch über geheime Kassiber. Im Oktober 1945 mußte Lieselotte Tessmann mit ihren Söhnen das Haus nach einer Entscheidung des Ausschusses für die Erfassung des Wohnraumes der früheren Nationalsozialisten räumen. Denn ihr Mann habe „sich, wie bewiesen ist, sehr übel aufgeführt, insbesondere auch politische Gefangene geschlagen“. Tessmanns wurden in die nahe gelegene Messap-Siedlung eingewiesen. Dort waren bis zur Befreiung Zwangsarbeiterinnen untergebracht gewesen, für die diese Siedlung eigens errichtet worden war. Bereits im November 1945 berichtete Lieselotte Tessmann ihrem Mann, daß sie die ganze Familie wieder kirchlich angemeldet habe, um den jüngsten Sohn an Weihnachten taufen zu lassen. Tessmann selbst wurde vermutlich von einem der

236

CHRISTL WICKERT

evangelischen Lagergeistlichen, der auch die heimlichen Kontakte zur Familie herstellte, zum Wiedereintritt in die Kirche bewegt. Vom 7. März 1947 datiert der erste Brief aus Munsterlager, vom 25. Mai 1947 der aus dem War Criminals Holding Center Neugraben in Rahlstedt. Die Häftlingsnummer 601772, die Tessmann in Neuengamme erhalten hatte, begleitete ihn weiterhin. In Rahlstedt wurden diejenigen inhaftiert und verhört, die im Curio-Haus angeklagt werden sollten. Lieselotte Tessmann wohnte den beiden Prozessen gegen ihren Mann als Zuschauerin bei. Der Angeklagte Tessmann berief sich öffentlich wiederholt darauf, lediglich Befehle ausgeführt zu haben. Nach dem Urteil im 1. Prozeß war er zwar verwundert, aber – wie den Briefen an die Ehefrau zu entnehmen ist – zugleich auch erleichtert. Von dem sechs Wochen später angesetzten 2. Prozeß hatte er, seiner Einschätzung nach, nichts mehr zu befürchten, zumal er vorübergehend nach Neuengamme zurückverlegt wurde. Am 24. September 1947 veranlaßte der Gouverneur des Internierungslagers, daß Tessmann, da ihm das Todesurteil bevorstand, auch von einem deutschen Wachmann zum Curio-Haus begleitet wurde. Der Angeklagte nahm das Urteil nach außen regungslos hin. Nach der zweiten Verurteilung kam Tessmann nach Fuhlsbüttel, wo er sogar Besuche empfangen durfte und seinen 1945 geborenen Sohn Klaus ein einziges Mal sehen konnte. Dort wurde er am 15. Januar 1948 40 Jahre alt. Am Vorabend seiner Hinrichtung schrieb Tessmann am 18. Januar 1948 aus dem Hamelner Zuchthaus an seine Schwiegereltern, außerdem zwei Briefe an Lieselotte und einen Brief an seine sechs Söhne. An seine Frau formulierte er den Wunsch, sobald dies möglich sei, neben der früh verstorbenen Tochter Antje beerdigt zu werden. An die Söhne schrieb er: „Ich bin nun vom Herrgott abberufen und dahin gegangen, wo unsere liebe, kleine Antje vor mir ging. […] Wenn Ihr größer seid, werdet Ihr mich wohl verstehen lernen. […] Ich kann Euch nun nicht mehr lehren, wie Ihr gerade und anständige Männer werdet. […] Seid immer treu und wahr, werdet nie lumpig, sondern steht für Eure Handlungen ein. Meidet auch schlechten Umgang und gemeine Vergnügen.“ Dieser Brief, so wünschte er, möge künftig am Geburtstag eines jeden Sohnes von der Mutter vorgelesen werden. Willi Tessmann ist als Vertreter der Kriegsjugendgeneration anzusehen, deren Ablehnung des Versailler Friedensvertrages und der Republik sich bar jeder eigenen Erfahrung durch Prägungen des Umfeldes manifestierte. Als junger Mann rezipierte er die Kapitulation des Deutschen Reiches im November 1918 als Niederlage, die durch die Feinde im Innern ausgelöst worden sei.13 Bereits seit Mitte der 1920er Jahre aktiv in der völkischen Bewegung und schon lange vor der Machtübernahme Hitlers SS- und Parteimitglied, wurde er 1934 eher zufällig Wachmann. Sein Aufstieg zum Kommandanten des Polizeigefängnisses Fuhlsbüttel 1943 war wiederum ein Zufall,

WILLI TESSMANN

237

der sich vermutlich aus jenen Seilschaften im KL ergab, denen er seit 1934 angehört hatte. Daß Tessmann bereits 1942/43 Häftlingen jeden Respekt verweigerte, ihren Tod mitverantwortete, ohne sich – wie die Briefe von 1947 belegen – einer Mitverantwortung bewußt zu sein, zeigt, daß er die normalen Maßstäbe einer nicht-totalitären Welt verloren hatte.14 Tessmann verhielt sich gemäß den Regeln des NS-Systems. Er „wußte, was er tat“, wie Yaacov Lozowick die Männer um Eichmann charakterisierte.15 Dafür, daß er den Häftlingen ihre Anerkennung als Menschen, ihr Menschsein nicht zugestand, wurde er wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt und hingerichtet. Anmerkungen 1

Vgl. Herbert Diercks: Fuhlsbüttel – das Konzentrationslager in der Verantwortung der Hamburger Justiz, in: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hrsg.): Terror ohne System. Die ersten Konzentrationslager im Nationalsozialismus 1933–1935, Berlin 2000, S. 261–308; Henning Timpke: Das KL Fuhlsbüttel, in: Hans Rothfels/Theodor Eschenburg (Hrsg.): Studien zur Geschichte der Konzentrationslager, Stuttgart 1970, S. 11–28. 2 Die persönlichen Daten stammen aus dem Konvolut Willi Tessmann, das der Enkel Heiko aus dem Nachlaß seiner Großmutter übergeben bekam und vorübergehend der KZ-Gedenkstätte Neuengamme zur Auswertung übergeben hat; darin enthalten sind Geburts-, Tauf-, Heiratsurkunden, zahlreiche Familienphotos und Photos von Tessmann in Fühlsbüttel; darüber hinaus enthält das Konvolut die Briefe der Großeltern von der Verhaftung bis zur Hinrichtung; die Daten der Parteikarriere sind BAB, BDC, RuSHA Willi Tessmann, entnommen; ich danke meinen Kolleginnen und Kollegen in der Gedenkstätte Neuengamme für die Übermittlung bisher wenig bekannter Details. 3 Brief an die Ehefrau v. 28.12.1945 (Anm. 2). 4 Emil Julius Gumbel: Verschwörer. Zur Geschichte und Ideologie der deutschen nationalistischen Geheimbünde 1918–1924, Frankfurt/M. 1984, S. 98 f.; bis zu 100000 Mitglieder zählten sich dem Orden zugehörig, der über geheime Waffenlager verfügte und sich damit für einen Bürgerkrieg bereithielt, um sich als „Tempel deutscher Sitte, deutschen Glaubens und deutscher Treue“ zu beweisen. 5 Vgl. Urteil LG Hamburg v. 16.10.1962, Staw Hamburg (50) 7/62-141 Ks 1/61; Diercks (Anm. 1), S. 266, 273. 6 Timpke (Anm. 1), S. 20. 7 CdS an RFSS v. 3.5.1940, Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg, VW/KL Fuhlsbüttel; vgl. Timpke (Anm. 1), S. 24. 8 Vern. Tessmann v. 2.4.1947, PRO, JAG 266. 9 2. Fuhlsbüttel-Prozeß, PRO, JAG 279. 10 PRO, JAG 266; vgl. Ermittlungen der VVN in der Britischen Zone, BAB, SAPMO, BY 5/279/67. 11 Vgl. Heiner Wember: Umerziehung im Lager. Internierung und Bestrafung von Nationalsozialisten in der britischen Besatzungszone Deutschlands, Essen 1991, S. 171 f., 193.

238 12

CHRISTL WICKERT

Vgl. Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschuggnall: „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt/ M. 2002. 13 Ulrich Herbert: „Generation der Sachlichkeit“. Die völkische Studentenbewegung der frühen zwanziger Jahre in Deutschland, in: Frank Bajohr/Werner Johe/Uwe Lohalm (Hrsg.): Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne. Detlev Peukert zum Gedenken, Hamburg 1991, S. 115–144. 14 Vgl. Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1964, S. 15 f. 15 Yaacov Lozowick: Hitlers Bürokraten. Eichmann, seine willigen Vollstrecker und die Banalität des Bösen, Zürich 2000, S. 37.

VOLKER RIEß

Christian Wirth – der Inspekteur der Vernichtungslager1 Am 1. November 1949 stellte die Zentralspruchkammer VII Nord in Ludwigsburg das Verfahren gegen Christian Wirth letztinstanzlich ein. Zur Begründung führte man an, die Feststellung im 1. Spruch, Wirth sei in den Nürnberger Prozessen genannt worden, beruhe „offenbar auf einem haltlosen Gerücht“; er wäre „in die Gruppe der Minderbelasteten einzureihen […], wenn er noch lebte“.2 1960 gab Konrad Morgen, vor 1945 als SS-Richter im Reichskriminalpolizeiamt mit der Untersuchung von Korruptionsverbrechen im NS-Lagersystem befaßt, bei Ermittlungen zur Euthanasie an, „auch Untersuchungen gegen den damaligen Kriminalkommissar Wirth in Lublin geführt“ zu haben, der „sich mit Judenausrottungen durch Vergasungen“ beschäftigt habe. Schon am 7./8. August 1946 hatte er dazu im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß berichtet.3 Dörfliche Armut, bescheidener Aufstieg und Fronterlebnis Christian Wirth wurde am 24. November 1885 im württembergischen OberBalzheim, 1886 ein Dorf mit 410 Einwohnern, als 14. Kind von insgesamt 17 Nachkommen des evangelischen Küfermeisters David Wirth geboren. Bei seiner Geburt waren bereits neun seiner Brüder und Schwestern, sämtlich noch im Kindesalter, verstorben. Auch von den drei Christian Wirth nachfolgenden Geschwistern verschieden zwei noch im Kleinkindalter. Tod und Verlust waren also von früh an sein Begleiter. Gleiches gilt vermutlich auch für Mangel und Kinderarbeit. Die vorherrschende Agrarstruktur bei gleichzeitigem Bevölkerungsanstieg – Ursache für mehrere Auswanderungswellen aus dem fast rein evangelischen Dorf – ließen kaum anderes erwarten. Wirth besuchte vom 7. bis 14. Lebensjahr die Volksschule und dann zwei Jahre die Fortbildungsschule, einen Vorläufer der Berufsschule. Angesichts eines vorgeborenen Bruders, der zuerst den Beruf des Vaters und später das Elternhaus übernahm, war für ihn ein Leben außerhalb des väterlichen Betriebes vorgezeichnet. Wirth erlernte das Sägerhandwerk und arbeitete danach in diesem Beruf in verschiedenen Firmen in Württemberg und Oberbayern. 1905 bis 1907 war er zum Württembergischen Grenadier-Regiment 123 eingezogen. Anschließend arbeitete er wieder als Säger. Offenbar als Freiwilliger trat er Anfang April 1908 wieder in sein altes Regiment ein. Nach zwei Jahren ging er als Unteroffizier der Reserve ab, um Schutzmann beim Stadtpolizeiamt Heilbronn zu werden. Im Juli 1910 wechselte er nach Stuttgart. Im November heiratete er, und Ende Mai 1911 wurde sein erster Sohn geboren. Sommer 1913 war er

240

VOLKER RIEß

bereits Fahnder der Kriminalpolizei bei der Polizeidirektion in Stuttgart. Mit Beginn des Ersten Weltkrieges, am 7. August 1914, wurde Wirth auf eigenen Wunsch zum Kriegsdienst entlassen – immerhin bereits knapp 30 Jahre alt und Vater eines Kleinkindes.4 Er wurde am 10. September eingezogen und kam zum Württembergischen Reserve-Infanterie-Regiment 246 an die Westfront. Dort blieb er nur zwei Wochen, ehe ihn eine Verwundung zum Lazarettaufenthalt zwang. Danach kehrte er für drei Jahre zu seiner alten Einheit zurück und nahm am Massenschlachten in Flandern bzw. Nordostfrankreich teil. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, so im Oktober 1916, inzwischen zum Vizefeldwebel avanciert, mit dem Eisernen Kreuz I. Klasse. Auch die hochrangige „Goldene Württembergische Verdienstmedaille“ erhielt er. Ende Juli 1917 übernahm Wirth den Regimentspionierpark und den Materialtransport dorthin unter der Oberaufsicht des Bauoffiziers. Wirth muß seinen Vorgesetzten positiv aufgefallen sein. Seine berufliche Vorbildung im Holz- und Baugewerbe dürfte von Vorteil gewesen sein, wurden doch beim Stellungskrieg Unmengen von Holz in den Feldbefestigungen verbaut. Wahrscheinlich in diesem Kontext wurde er auch zum Offiziersstellvertreter, seinem letzten militärischen Dienstgrad, befördert. Wirth hatte freiwillig länger gedient, sich freiwillig in den Krieg begeben, sich dort im Kampf und organisatorisch bewährt, ja engagiert, und dabei einen beachtlichen Karrieresprung erlebt. Das militärische Milieu lag ihm offenbar. Kriegsende, Revolution und Republik Von Anfang Dezember 1917 bis Ende Mai 1919 war Wirth als Beamter der Schutzpolizei dem Ersatzbataillon des Infanterie-Regiments 119 in Stuttgart zum Militärpolizeidienst in der Garnison zugeteilt.5 Er erwarb sich dabei große Verdienste „um den Schutz von Heeresgut vor Verschleuderung“, sprich: er bekämpfte erfolgreich die Korruption. Diese wuchs durch die rasche Rückführung der Truppen aus Frankreich stark an, und Wirth befand sich bei seinen Bemühungen im Einklang mit dem Stuttgarter Soldatenrat.6 Obschon im Juni 1919 wieder zurück zur Kriminalpolizei, zum Dienststellenleiter im Außendienst und im Juli zum Kriminalwachtmeister befördert, also nicht wie manch andere seiner Generation arbeits- und wurzellos, dürfte sich Wirth bereits damals dem rechtsradikalen Spektrum zugewandt haben. Seit 1922 hat sich Wirth im „nationalen Sinne“ betätigt und bis zur Auflösung 1923 der NSDAP angehört. Danach war er Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei. Mit deren Kurs war er aber dann nicht mehr einverstanden, weshalb er 1930 erfolgreich den Wiedereintritt in die NSDAP betrieb.7 Erst im Juni 1933 trat er der SA bei. Wirth engagierte sich auch berufspolitisch. Über seine Mitarbeit in der Arbeitsgemeinschaft Nationalsozialistischer Beamter während der ‚Kampfzeit‘

CHRISTIAN WIRTH

241

fehlen jedoch weitere Informationen.8 1919 bis 1921 war Wirth Mitglied des Reichsverbandes der Kriminalbeamten Deutschlands und von 1921 bis 1933 des Landesverbandes der Polizeibeamten Württembergs.9 Der Verband verstand sich als überparteiliche Polizeigewerkschaft, war national und verfassungstreu zugleich und handelte dementsprechend.10 1932 rief er per Rundschreiben an die Mitglieder dazu auf, Hindenburg zum Reichspräsidenten zu wählen und nicht dessen Gegenkandidaten Hitler und Thälmann zu unterstützen. Der Stuttgarter „NS-Kurier“ kritisierte dies. Darauf erfolgte am 1. April durch das Verbandsorgan „Die Staatspolizei“ ein zweiter, öffentlicher Aufruf für Hindenburg und eine Erwiderung gegen den „NS-Kurier“, in der konkret die Versuche des Braunschweigischen NSDAP-Innenministers zur Gleichschaltung der Polizei kritisiert wurden. Wirth, längst Verbandsfunktionär und wieder in der NSDAP, muß in der Auseinandersetzung zumindest intern klar Farbe bekannt haben; seine Grundeinstellung war seinen Kollegen ohnehin bekannt. Auf dem Verbandstag Anfang Mai 1932 sollte er jedenfalls durch die ‚marxistische‘ Leitung bloßgestellt werden, was aber offenbar nicht gelang.11 Ein Mann für alle Fälle Am 14. März 1933 wandte sich der neue Kommissar für das Polizeiwesen in Württemberg, Dietrich von Jagow, brieflich an den Landesverband der Polizeibeamten Württembergs. Er verbat sich etwaige Besuche des Vorstandes bzw. einzelner Mitglieder, soweit sie nicht hinter der nationalen Regierung stünden. Noch am selben Tag begann die Gleichschaltung durch Wirth als Mitglied des geschäftsführenden Ausschusses. Auf sein Betreiben kam es zu einer Sitzung, in der er den Rücktritt aller Vorstandsmitglieder beantragte. Dies wurde mit Mehrheit angenommen. Wirth wurde zunächst mit der Geschäftsführung und Bildung eines provisorischen Vorstands beauftragt, dann mit dem Amt eines kommissarischen 2. Vorsitzenden. Anfang April bestätigte man ihn im Umlaufverfahren und Anfang Mai durch eine außerordentliche Vertreterversammlung. Die Gleichschaltung fand zunächst in der Umbenennung des Verbandes in „Kameradschaftsbund der Polizeibeamten Württembergs e.V.“ Ausdruck und ihren logischen Abschluß durch Selbstauflösung im September 1933. Die Landeskameradschaft Württemberg im Bund deutscher Polizeibeamter stand bereit, nicht nur um die Büromöbel zu übernehmen.12 Landeswart dieses NS-Berufsverbandes und zugleich Ortsgruppenwart in Stuttgart wurde Wirth. Außerdem war er Vertrauensmann für die NSDAP-Kreisleitung Stuttgart, stellvertretender Gausachbearbeiter des Amtes für Beamte der Fachschaft Polizei und Hauptvertrauensmann des Amtes für Beamte, Kreis Stuttgart. Damit nicht genug, wurde Wirth am 7. Dezember 1937 ehrenamtlicher Mitarbeiter der SD-Hauptaußenstelle Stuttgart.13 Auf Antrag des SD wurde er im April 1939 von der SA, wo er zuletzt Sturm-

242

VOLKER RIEß

führer im Stab der 119. Standarte gewesen war, zur Verwendung als Führer in die SS überführt und am 1. Oktober zum SS-Obersturmführer befördert.14 Wirth war auch ein energischer und unbestechlicher Polizist. Während der Weimarer Zeit war er fünfmal befördert worden, zuletzt 1932 zum Kriminalinspektor.15 Nach Aussage Morgens soll er dabei auch „skrupellose Untersuchungsmethoden“ angewandt haben, was zu einer Erörterung im Württembergischen Landtag geführt habe.16 Nach der Machtergreifung ermittelte er erfolgreich gegen SA- bzw. SS-Führer, die sich an Ausschreitungen gegen politische Gegner beteiligt hatten, und ging gegen das korruptive Schuldenund Zechemachen bei seinen Polizeikollegen vor.17 Ende Februar 1939 wurde er zum Beisitzer der Dienststrafkammer in Stuttgart bestellt. Wirth hatte weder einen „besonderen und systematischen“ Polizeiunterricht genossen, noch eine spezielle Prüfung abgelegt. Er galt als „charakterlich unbedingt einwandfrei“ sowie „geistig sehr gewandt und beweglich, sehr energisch, sehr ausdauernd“, und man sprach ihm „gute Kombinationsfähigkeit, gute Allgemeinbildung und gutes Fachwissen“ zu.18 Er wurde auch außerhalb des Geschäftsbereichs seines Kommissariats „immer dort eingesetzt“, wo es galt, „durch besonders geschicktes und energisches Vorgehen einen wichtigen und heiklen Fall zu klären“. Seit 1. Januar 1938 leitete Wirth ein Kommissariat in Stuttgart, ohne allerdings Kriminalkommissar zu sein. Formal erfüllte er die Voraussetzungen für eine entsprechende Beförderung nicht. Dennoch beantragten seine Stuttgarter Vorgesetzten im März 1939, ihn wegen seiner ganzen Persönlichkeit, seiner langerprobten außerordentlichen beruflichen Tüchtigkeit, „seiner langjährigen Verdienste in der Partei“ und unter Erlassung eines Kommissarlehrgangs zum Kriminalkommissar zu befördern.19 Von Frühjahr bis Mitte Juli 1939 war dann Wirth nach der Zerschlagung der „Resttschechei“ zum Aufbau der deutschen Kripo im neu errichteten Protektorat Böhmen-Mähren abgeordnet.20 Manager der Euthanasie-Aktion Noch vor Kriegsbeginn fiel die Entscheidung zur Erwachseneneuthanasie.21 Unter Einschaltung des Württembergischen Innenministeriums wurde im Oktober 1939 mit dem Aufbau der Tötungsanstalt Grafeneck begonnen. Spätestens seit Januar 1940 war sie betriebsbereit. Ob Wirth daran beteiligt war, ist nicht belegt.22 Am 10. Januar 1940 wurde er von dem Reichskriminalpolizeiamt „zur besonderen Verwendung nach der Landespflegeanstalt Brandenburg“ bei Berlin beordert.23 Dort fand im Januar eine Demonstrationsvergasung von Kranken statt. Anwesend waren der Begleitarzt Hitlers, Funktionäre der Kanzlei des Führers (KdF), Chemiker des Reichskriminalpolizeiamtes, künftige Tötungsärzte und Wirth.24 Er half die sogenannte Büroabteilung in Brandenburg und Grafeneck aufzubauen, war deshalb zeitweise für den nichtärztlichen Bereich direkt leitend und überwachend zuständig: für die

CHRISTIAN WIRTH

243

Sicherheit, das Sonderstandesamt zur amtlichen Fälschung von Todesurkunden, das Personal und dessen Tätigkeit sowie für den Mordvorgang selbst. Kaum war der Vernichtungsbetrieb in Brandenburg und Grafeneck angelaufen,25 wurde Wirth im Frühjahr 1940 zur dritten Vergasungsanstalt Hartheim bei Linz „als Hauptmann der Schutzpolizei zu einer besonderen Dienstleistung abkommandiert“.26 Er stieg damit zum „Oberaufseher“ und „Krisenmanager“ der Euthanasie-Aktion auf.27 In Hartheim überwachte er auch den Bau der Gaskammer.28 Seine Uniformierung war aus Autoritätsgründen erfolgt. Noch vor Anlaufen des Mordbetriebs hielt „Hauptmann“ Wirth den zusammengerufenen Mitarbeitern zur Einstimmung eine Rede, worin er behauptete, nur was „nicht zu retten“ sei, „kommt ins Krematorium und wird verbrannt“. Dann kam er unverbrämt auf die eigentliche Motivation zu sprechen: „Die Geisteskranken sind eine Last für Deutschland, und wir wollen nur gesunde Menschen. Die Geisteskranken sind ja nur eine Last für den Staat.“ Außerdem vergatterte er die Anwesenden zum Stillschweigen und drohte im Fall der Zuwiderhandlung mit KZ und mit Erschießung.29 Hatte Wirth in Brandenburg noch gerichtlich untergebrachte Psychiatriepatienten arglistig in die Gaskammer gelockt, erschoß er in Hartheim kurzerhand vier typhusverdächtige Patientinnen, damit sich die Krankheit nicht während der üblichen Vergasungsprozedur auf das Personal ausbreitete.30 Nicht nur in Hartheim ging er gegen Korruption – wie Bereicherung an den Hinterlassenschaften der Opfer – und Verstöße gegen die Geheimhaltung und „Manneszucht“ – Exzesse in- und außerhalb der Anstalt – vor, sondern auch in der Tötungsanstalt Hadamar, die an die Stelle des Ende 1940 geschlossenen Grafeneck getreten war.31 Im Juli 1941 war Wirth in der Tötungsanstalt Bernburg/Saale, um das dortige Sonderstandesamt zu kontrollieren.32 Nicht ohne Grund wurde er also Ende August 1941 von Viktor Brack von der KdF, der die NS-Euthanasieorganisation leitete, zur Beförderung zum SS-Hauptsturmführer vorgeschlagen. Bis Hochsommer 1943 – die „Aktion Reinhard“ war fast vorbei – blieb er jedoch offiziell weiter Obersturmführer der Allgemeinen SS. Obwohl von Philipp Bouhler, dem Chef der KdF, gewünscht und von Himmler anläßlich seiner Inspektion des Vernichtungslagers Sobibor am 12. Februar 1943 angeordnet, sperrte sich die SS-Bürokratie unter Hinweis auf die gültigen Bestimmungen. Die Adjutantur Himmlers mußte im August 1943 nachhaken, um die Beförderung quasi unter Auslassung des Hauptsturmführers zum Sturmbannführer durchzusetzen.33 Die Polizeibürokratie hatte Wirth bereits am 15. Januar 1943 zum Kriminalrat ernannt, mit dem Zusatz, daß er sich „des besonderen Schutzes des Führers sicher sein“ dürfe.34 Aber auch hier war nicht alles glatt gelaufen. Obwohl schon vor dem Krieg vorgeschlagen und längst ‚erfolgreich‘ bei der Euthanasie-Aktion tätig, hatte Wirth jedoch zuerst die Kriminalkommissar-Prüfung an der Führerschule der Sicherheitspolizei in Berlin zu bestehen, um im Juli

244

VOLKER RIEß

1940 zum Kriminalkommissar auf Probe und endlich im März 1941 zum Kriminalkommissar befördert zu werden. Die Ernennung erfolgte durch Heydrich persönlich, ebenfalls mit dem Zusatz über den besonderen Schutz des Führers.35 „Aktion Reinhard“ Am 24. August 1941 wurde die Vergasung der erwachsenen Psychiatriepatienten auf Weisung Hitlers gestoppt. Allerdings war die geplante Tötungsrate ohnehin fast erreicht. Auch wurde bald dezentral in ausgewählten Anstalten durch Medikamentenüberdosierung und Hunger weiter gemordet. Die KdF ging zunächst von einer nur vorübergehenden Unterbrechung aus, behielt einen Großteil des Personals und beließ zunächst die noch existierenden Tötungsstationen Hadamar, Bernburg, Sonnenstein und Hartheim intakt.36 Nach dem Euthanasie-Stop habe Wirth wiederholt bei Werner Blankenburg vorgesprochen, der zusammen mit Brack für die Organisierung der NSEuthanasie verantwortlich zeichnete, sagte Dietrich Allers aus, der Geschäftsführer der Gemeinnützigen Stiftung für Anstaltspflege – einer Tarnorganisation der KdF für die NS-Euthanasie – und damit zumindest als Personalbetreuer für die nach und nach in die Vernichtungslager abgestellten ehemaligen Euthanasiemitarbeiter in die spätere „Aktion Reinhard“ involviert.37 Einem Tötungsarzt aus Hadamar erzählte Wirth bereits im Spätsommer 1941, daß „er von der Stiftung aus an eine Euthanasie-Anstalt im Raum Lublin versetzt sei“.38 Angeblich im September dieses Jahres besuchten Bouhler und Brack den SS-und Polizeiführer Lublin, Odilo Globocnik, um den Bau von Arbeitslagern zu besichtigen.39 Wahrscheinlich am 13. Oktober 1941 erhielt Globocnik von Himmler den Auftrag, ein Judenvernichtungslager zu errichten.40 Der Baubeginn von Belzec erfolgte Anfang November. Im selben Monat wurde der SS-Mann Josef Oberhauser, zuletzt in Bernburg tätig, nach Lublin abgestellt. Bei einem Baumaterialtransport bzw. der Überstellung von ukrainischen Wachmannschaften nach Belzec zeigte ihm der Bauleiter „den Plan für die Vergasungsanlagen im Lager“. Noch 1941 war das Vernichtungskombinat weitgehend fertig. Der letzte Zweifel, so Oberhauser, sei bei ihm geschwunden, als „etwa an Weihnachten 1941 Wirth erschien“. Dieser wurde erster Kommandant und Oberhauser ihm „zugeteilt“.41 Der von Wirth ausgesuchten ersten Gruppe von ehemaligen Euthanasiemitarbeitern, die um die gleiche Zeit angekommen war, eröffnete dieser, „daß in Belzec ‚alle Juden umgelegt werden sollten‘“.42 Von März bis Sommer 1942 lief eine Art Probebetrieb mit bereits mindestens 90000 Opfern. Zunächst diente wie während der Euthanasieaktion noch reines Kohlenoxydgas aus Flaschen zur Tötung. Später wurden Motorenabgase verwendet. Danach ließ Wirth neue, größere Gaskammern bauen.43 Zuvor, im Mai 1942, war er bei der Probevergasung in Sobibor, dem

CHRISTIAN WIRTH

245

zweiten Vernichtungslager Globocniks, anwesend und ernannte einige Tage später Franz Stangl zum Lagerleiter.44 Nach der Inbetriebnahme von Treblinka, dem dritten Vernichtungslager der „Aktion Reinhard“, kam es unter dem erstem Kommandanten Dr. Irmfried Eberl, zuvor Leiter der Euthanasieanstalt Bernburg, letztlich durch zu viele Transporte aus dem Ghetto Warschau Ende August 1942 zum Zusammenbruch des Lagerbetriebs. Als Globocnik, Wirth und Oberhauser in Treblinka erschienen, fanden sie schießende ukrainische Wachmannschaften, nicht beseitigte Leichen und am Bahnhof nicht abgefertigte Vernichtungstransporte vor. Eberl und dessen Stellvertreter wurden abgesetzt. Wirth blieb für drei Wochen, um den Vernichtungsvorgang zu optimieren. Später kam er immer wieder zur Inspektion. Insbesondere ließ er auch hier neue, größere Gaskammern bauen und machte Stangl, bis dahin Kommandant von Sobibor, zum neuen Lagerleiter. Das Resultat war, daß „die ganze Vernichtungsmaschinerie wie am Schnürchen“ lief.45 Wirth wurde Inspekteur der Lager des „Einsatzes Reinhard“. Unklar sind der Zeitpunkt und sein genauer Titel. Der in der Literatur genannte Termin 1. August 1942 beruht wohl auf einer Aussage Oberhausers. Erst für Frühjahr 1943 ist Wirth als „verantwortlicher Inspektor“ und „nächsthöherer Vorgesetzter“ der drei Lagerleiter bei der „Aktion ‚Reinhard‘“ sowie der Briefkopf „Der SS-Polizeiführer im Distrikt Lublin – Abteilung Reinhard – Der Inspekteur der SS-Sonderkommandos“ dokumentiert.46 Wirth dachte an alles. So verfügte er aus Geheimhaltungsgründen, daß im Falle von fiebrigen Erkrankungen seine Leute im Lazarett von einem Kameraden betreut werden mußten, damit sie im Fieberwahn nichts ausplauderten.47 Nachdem Ende 1942/Anfang 1943 die Tötungen der „Aktion Reinhard“ reibungslos liefen, wurde Wirth zusätzlich von Globocnik mit der Zweigstelle des Bekleidungswerkes der Waffen-SS, Außenstelle Lublin, im sogenannten Flughafenlager betraut. Dort wurde der wirtschaftliche Teil der „Aktion Reinhard“ – die Verwertung der Hinterlassenschaften und Wertsachen der Opfer durch „Arbeitsjuden“ – abgewickelt. Da „Wirth als Organisator bekannt war“, sei dies das „nächstliegende gewesen“.48 Im Herbst 1943 wurde die „Aktion Reinhard“ offiziell beendet. Wirth und seine Leute, einschließlich der Trawniki-Männer der Lagerbewachung, kamen in mehreren Schüben nach Nordostitalien zu Globocnik. Dieser war dort Ende August 1943, nach dem Badoglio-Putsch, zum Höheren SS-und Polizeiführer Adriatisches Küstenland mit Sitz in Triest ernannt worden. Er wickelte von dort aus die „Aktion Reinhard“ ab, einschließlich der Schließung und Unkenntlichmachung der Vernichtungslager. Wirth blieb als Leiter der „Abteilung R“, sprich Reinhard, seinen Leuten vorgesetzt. Deren Aufgabe bildete die Beschlagnahme von jüdischem Vermögen und die Mithilfe bei der Deportation von Juden aus Triest nach Auschwitz. Auch kam es wohl in

246

VOLKER RIEß

kleinem Ausmaß zu Tötungen inklusive Verbrennung der Opfer in dem der „Abteilung R“ unterstehenden Lager La Risiera di San Saba, einer ehemaligen Reisfabrik im Triester Vorort San Saba. Immer mehr aber wurde die Truppe zur Sicherung gegen Partisanen in Istrien eingesetzt.49 Am 26. Mai 1944 fand Wirth bei der Fahrt von Triest nach Fiume den Tod bei einem Partisanenüberfall. Die Todesmeldung erreichte das Reichssicherheitshauptamt über die Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten, ebenfalls eine von der KdF errichtete Tarnorganisation für die Euthanasie.50 Bei der feierlichen Beisetzung Wirths auf dem Soldatenfriedhof Opicina erschienen nicht nur Globocnik, sondern auch Brack und Blankenburg von der KdF. 1959 wurden Wirths Überreste auf die zentrale Kriegsgräberstätte von Costermano umgebettet. Dies führte Anfang der 1990er Jahre zu einer öffentlichen Kontroverse, ob der „Erfinder der KZ-Gaskammern“ als Kriegsopfer zu betrachten sei.51 Persönlichkeits- und Verhaltensstrukturen „Heute sagen sie alle, was für ein Erzschurke er war, wie schrecklich er war“, befand Wirths Vorgesetzter Allers. Er zeigte einiges Verständnis für einen ‚robusten‘ typischen Württemberger, die grob reden und handeln würden. Er setzte sich damit nicht nur in Widerspruch zur eigenen Ehefrau, die unter Wirth kurze Zeit als Sekretärin in Hartheim gearbeitet hatte und Wirth als „schrecklich“ apostrophierte.52 Auch andere Mitarbeiter Wirths neigten aus verständlichen selbstsalvatorischen bzw. prozeßtaktischen Gründen meist zu Dämonisierungen.53 Sein Adjutant Oberhauser tendierte ebenfalls in diese Richtung. Wirth habe in Belzec mit „äußerster Härte“ die erste Probevergasung vorbereitet. Ukrainer, die sich zu „lau“ bei Befehlsausführungen erwiesen hätten, habe er mit der Peitsche geschlagen oder mit dem ihnen entrissenen Gewehr bedroht. Mehrfach habe er auch SS-Angehörigen mit den – schwäbisch gefärbten – Worten gedroht „Männle, ich bring Dich um“ oder „Sie Düppel, ich mach Sie kaput[t]“. Als ein Untergebener bei der Erschießung von gehunfähigen Juden sich nicht genügend „forsch“ zeigte, habe er dies später gegenüber Oberhauser so kommentiert: „Am liebsten hätte ich ihn gern selbst in die Grube hineingeschossen.“54 Derartige Drohungen waren aber nicht, wie Oberhauser insinuierte, buchstäblich zu nehmen. In keinem Fall konnten durch Vernichtungslagerangehörige kolportierte Liquidierungen von Deutschen wegen Befehlsverweigerung, die Wirth durchgeführt haben soll, verifiziert werden.55 Seine Verhaltensweisen entsprachen vielmehr dem Repertoire eines gelernten Unteroffiziers, waren letztlich Kasernenhofstil. 1938 wurde Wirth seitens des SD unter dem Rubrum Willenskraft und persönliche Härte ein überdurchschnittliches Maß sowie soldatisches Auftreten bescheinigt. Er wurde als „nationalsozialistisch, weltanschaulich und politisch klar“ mit temperamentvollem, hartem und klarem Charakter einge-

CHRISTIAN WIRTH

247

stuft.56 Oberhauser beurteilte ein Vierteljahrhundert später Wirth durchaus ähnlich: „Seine hervorstechendsten Merkmale waren eiserne Härte, bedingungsloser Gehorsam, Führerglaube, absolute Gefühllosigkeit und Rücksichtslosigkeit. Diese Wesenszüge kennzeichneten ihn schon bei der Euthanasie, bei der ich ihn kennenlernte; so ganz richtig in seinem Element war er aber, als es an die Judenvernichtung ging.“57 Der letzte Satz deutet, neben seinem unzweifelhaften Engagement durch die Tat selbst, auf einen virulenten Antisemitismus hin. Gegenüber Karl Streibel, dem Chef des SS-Ausbildungslagers Trawniki, das die ukrainischen Wachmannschaften des „Einsatzes Reinhard“ stellte, zeigte sich Wirth bei einer von ihm geführten Besichtigung des Vernichtungslagers Sobibor als „sehr stolz“ darauf und so „sehr redselig“, daß Streibel „gar nicht zu Wort kam“.58 Bei dem unverdächtigsten Zeitzeugen, Konrad Morgen, der wiederholt eingehend mit Wirth gesprochen hatte, wird das Bild noch deutlicher. Nicht nur, daß Wirth auch ihm gegenüber stolz auf seine Leistungen und Erfindungen war und Rudolf Höß gar als seinen ungelehrigen Schüler bezeichnete. Es zeugt von einem klaren antisemitischen Weltbild, daß er Morgen erklärte, daß man die Juden mit ihren eigenen Mitteln schlagen müsse, indem man sie „bescheißen“ – nach Morgen Original-Ton Wirth – müsse. Tatsächlich gehörte die Täuschung der Opfer wesentlich zum Tötungsvorgang. Wirth hielt sehr überzeugende Ansprachen bei deren Ankunft, um sie über ihr Schicksal zu täuschen. Entsprechend wurde in allen drei Vernichtungslagern verfahren. Im SS-Bekleidungswerk Lublin wiederum schaltete er von schlechter Behandlung auf relativ gute um, einschließlich der Feier einer Judenhochzeit mit Beteiligung von SS-Leuten und unter der Versprechung einer finanziellen Beteiligung und des Überlebens; einziges Ziel dabei war die Steigerung der Arbeitsproduktivität.59 Wirth war sich letztlich durchaus bewußt, an welchem ungeheuerlichen Verbrechen er mitgewirkt hatte. Er fürchtete am Ende selbst, Opfer einer Täuschung zu werden und als lästiger Mitwisser beseitigt zu werden. Nach der Versetzung nach Italien waren Gerüchte aufgekommen, daß Wirths Abteilung nach dem ‚Endsieg‘ auf eine ‚Vergnügungsreise‘ mit einem Schiff der Organisation „Kraft durch Freude“ geschickt werden würde. Dieses würde dann torpediert werden, um sich so der Mitwisser der Judenvernichtung zu entledigen. Bei einem Besuch Blankenburgs bei Globocnik in Triest hielt Wirth diesem das Gerücht offenbar im Stil einer Vernehmung „ohne weitere Umschweife“ vor, woraufhin Blankenburg wie ein ertappter Sünder reagiert habe.60 Dieses Vorgehen war typisch für Wirth, ebenso wie sein Sinn für Details und formale Korrektheit. Schon im Generalgouvernement hatte Wirth „sehr großen Wert darauf gelegt“, daß „nicht unrechtmäßig erworbenes Gut verschoben werden konnte“. Als seine „Abteilung R“ in Triest eingesetzt war, um ‚Judengut‘ sicherzustellen, verfaßte er hierzu eine ausführliche Wei-

248

VOLKER RIEß

sung, die mit Hinweis auf die Strafbarkeit der Unterschlagung im Amt begann.61 Dies erscheint grotesk angesichts dieses überzeugten, engagierten und äußerst effektiven Massenmörders, der sich offenbar als auf seine Leistung stolzer Selfmademan der Vernichtung verstand, der es Ranghöheren wie Höß, Günstlingen der KdF und den Akademikern zeigen wollte.62 Anmerkungen 1

Ausführlich Henry Friedlander: Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997; grundlegend Adalbert Rückerl (Hrsg.): NS-Vernichtungslager im Spiegel deutscher Strafprozesse. Belzec. Sobibor. Treblinka. Chelmno, München 1977; ergänzend Dick de Mildt: In the Name of the People: Perpetrators of Genocide in Reflection of their Post-War Prosecution in West Germany. The ‚Euthanasia‘ and ‚Action Reinhard‘ Trial Cases, Den Haag 1996; mit detailreichen Interviews Gitta Sereny: Am Abgrund. Eine Gewissenserforschung, Frankfurt/M.-BerlinWien 1979; materialreich Yizhak Arad: Die „Aktion Reinhard“: Gaskammern in Ostpolen, in: Eugen Kogon u.a. (Hrsg): Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas. Eine Dokumentation, Frankfurt/M. 1983, S. 146–193; ders.: Belzec, Sobibor, Treblinka. The Operation Reinhard Death Camps, Bloomington-Indianapolis 1987; zuweilen unkritisch Michael Tregenza: Bełżec Death camp, in: The Wiener Library Bulletin 30(1977), S. 8–25; ders.: Bełżec – Das vergessene Lager des Holocaust, in: Irmtrud Wojak/Peter Hayes (Hrsg.): „Arisierung“ im Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 2000, S. 241–267; fehlerhafte Skizzen bei Robert Wistrich: Wer war wer im Dritten Reich? Ein biographisches Lexikon, Frankfurt/M. 1987, S. 379 f.; Matthias Beer: Christian Wirth, in: Marlene Hiller (Hrsg.): Stuttgart im Zweiten Weltkrieg, Gerlingen 1989, S.187 f.; Thomas Stöckle: Grafeneck. Die Euthanasie-Verbrechen in Südwestdeutschland, Tübingen 2002, S. 56 ff. 2 Entnazifizierungsakte, StAL, EL 902/20, Az. 37/40167. 3 Vern. Konrad Morgen v. 22.1.1960, BAL, LO zu 13 AR 179/65; IMG, Bd.20, Nürnberg 1948, S. 537–541, 548 f., 553 ff., 561 ff. 4 Familien- und Konfirmationsregister, Evangelisches Pfarramt Balzheim; Hofund Staatshandbuch des Königreichs Württemberg 1886/7, Stuttgart 1887, S. 558; Harald Kächler: Balzheim, Balzheim 1986; ders.: Balzheimer Haus- und Flurnamen, Balzheim 1989, S. 82 f.; mündliche Auskunft Harald Kächler v. 13.12.2002; Personalakte Wirth, HStAS, E 151/21, Bü 1684; Besoldungspersonalakte Wirth, StAL, EL 51/1I, Bü 3714; Vermerk RSHA I A 5 a v. 19.5.1943, BAL, Dok.Slg. USA 27; BAB, BDC, SSO Christian Wirth; vgl. Henry Friedlander/Sybil Milton (Hrsg.): Berlin Document Center, Bd. 1, New York-London 1992, Faksimiles Nr. 419–441. 5 Personal- u. Besoldungspersonalakte, Vermerk, SSO (alle wie Anm. 4); Regimentstagesbefehle v. 16.10.1916 und 24.7.1917, HStAS, M 111, Bü 28; Deutsche Verlustliste, Ausgabe 254 v. 5.12.1914, nach Auszug Landesamt für Versorgung und Soziales-Versorgungsamt-Krankenbuchlager v. 13.1.2003. 6 PP Stuttgart an WüIM v. 22.3.1939, HStAS, E 151/21, Bü 1684, Bl. 50; Günter Cordes: Krieg – Revolution – Republik. Die Jahre 1918 bis 1920 in Baden und Württemberg. Eine Dokumentation, Ulm 1978, S. 44.

CHRISTIAN WIRTH 7

249

Personalbogen (undat./etwa 1938/39), HStAS, E 151/21, Bü 1684, Bl. 1; Vermerk (Anm. 4); laut Personalbogen trat er 1921 in die NSDAP ein; nach deren Verbot ging er kurz in die DNVP und bei Wiederzulassung der NSDAP 1924 wurde er dort erneut Mitglied; laut Mitgliedskarteikarte der NSDAP erfolgte der offizielle Eintritt am 1.1.1931, BAB, BDC, NSDAP-Zentralkartei, Karteikarte Christian Wirth. 8 Vermerk (Anm. 4). 9 Personalbogen (Anm. 7). 10 Der Württembergische Polizeiverband entstand 1921 aus dem 1920 gegründeten Polizeiwehrverband; vgl. Satzungen v. 23.3.1920, 9.5.1921 und 26.5.1923, StAL, F 303 III, Bü 482; 1920 wurde der Schutz der Verfassung des Freisstaates Württemberg „mit allen Mitteln, selbst unter Einsetzung des eigenen Lebens“ als Mitgliedspflicht festgelegt und 1921 bestätigt; politische und religiöse Tätigkeit war untersagt. 11 Die Staatspolizei 12(1932), Nr. 7 und 8; Erklärung Georg Ziegler v. 4.11.1948, StAL, EL 902/20, Az. 37/40167, Bl. 30; Äußerung Gottlieb Hering v. 16.9.1933, HStAS, E 151, Hering (201). 12 Dokumentiert in StAL, F 303 III, Bü 482; besonders Wirth an Amtsgericht Stuttgart I v. 7.4.1933, ebd., Bl. 55. 13 Personalangaben v. 7.10.1938, BAB, BDC, SSO Christian Wirth; vgl. Ziegler (Anm. 11). 14 SA-Überweisungsschein v. 8.4.1939; CdS an SS-PersonalHA (undat./1939), beide BAB, BDC, SSO Christian Wirth. 15 Personalbogen (Anm. 7). 16 IMG, Bd. 20, Nürnberg 1948, S. 548; in den Personenregistern der Verhandlungen des Württembergischen Landtags 1924–32 taucht Wirth allerdings nicht auf. 17 Ziegler (Anm. 11) und Aussage dess. v. 1.11.1949 StAL, EL 902/20, Az. 37/40167; Erklärungen Hedwig Roller v. 3.11.1945 und Hermann Schaaf v. 2.11.1948, ebd., Bl. 28 f. 18 RMI an Wirth v. 28.2.1939, HStAS, E 151/21, Bü 1684, Bl. 52; Beurteilung v. 30.5.1938, ebd., Anl. zu Bl. 1. 19 PP Stuttgart an WüIM v. 22.3.1939, ebd., Bl. 50. 20 RFSS an BdS Böhmen-Mähren v. 15.7.1939, ebd., Bl. 53. 21 Friedlander (Anm.1), S. 120. 22 Stöckle (Anm. 1), S. 57, spricht ohne Beleg von einer Versetzung Wirths nach Grafeneck Ende 1939; dagegen zum Aufbau ohne Erwähnung Wirths Anklage GStaw Frankfurt/M. v. 22.5.1962, BAL, ASA 50. 23 PP Stuttgart an WüIM v. 13.1.1941, HStAS, E 151/21, Bü 1684, Bl. 55. 24 Ernst Klee: „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Frankfurt/M. 1983, S. 109–112. 25 Friedlander (Anm. 1), S. 329 f.; in Brandenburg war Wirth „Führer“ des „Sonderkommandos“ und „Bürovorsteher“, Vern. Erich Sporleder v. 31.5.1947, GStaw Frankfurt/M. Ks 1/69, Bd. 20. 26 Vern. Hans G. v. 18.7.1961, BAL, 208 AR-Z 252/59, Bd. 7, Bl. 1351 ff.; Wirth an PP Stuttgart v. 24.5.1940, StAL, EL 51/1 I, Bü 3714. 27 Friedlander (Anm. 1), S. 173. 28 Vern. Erwin Lambert v. 15.9.1965, BAL, 518 AR-Z 65/65, Bd. 1, Bl. 68 ff. 29 Dto.Vinzenz Nohel v. 4.9.1945, BAL, Aussagenslg. Euthanasie. 30 Friedlander (Anm. 1), S. 168.

250 31

VOLKER RIEß

Franz Suchomel: Christian Wirth (undat./nach seiner Verurteilung im 1. Düsseldorfer Treblinka-Prozeß), BAL, Dok.Slg.Verschiedenes 241. 32 Anklage GStaw Frankfurt/M. v. 22.5.1962, BAL, ASA 50. 33 Adjutantur RFSS an SS-PersonalHA v. 19.8.1943, BAB, BDC, SSO Christian Wirth. 34 RMI an WüIM v. 15.1.1943, StAL, EL 51/1 I, Bü 3714. 35 PP Stuttgart an WüIM v. 22.3.1939, HStAS, E 151/21, Bü 1684, Bl. 50; Verfügung WüIM v. 13.4.1939, ebd., Bl. 51 f.; CdS an WüIM v. 8.7.1940, ebd., Bl. 54; PP Stuttgart an WüIM v. 13.1.1941, ebd., Bl.55; RMI an dto. v. 21.3.1941, ebd., Bl. 56. 36 Vgl. Klee (Anm. 24), Teile VIII–X ; Friedlander (Anm. 1), Kapitel 6. 37 Vern. Dietrich Allers v. 25.11.1962, BAL, 208 AR-Z 252/59, Bd. 8, Bl. 1643 ff. 38 Erklärung Hans Bodo Gorgaß v. 23.2.1947, BAL, 518 AR-Z 235/60, Bd. 1, Bl. 70. 39 Friedlander (Anm. 1), S. 469. 40 Peter Witte/Michael Wildt/Martina Voigt/Dieter Pohl/Peter Klein/Christian Gerlach/Christoph Dieckmann/ Andrej Angrick (Hrsg.): Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42, Hamburg 1999, S. 233 f. 41 Vern. Josef Oberhauser v. 12.12.1962, BAL, 208 AR-Z 252/59, Bd. 9, Bl. 1678 ff. 42 Dto. Erich Fuchs v. 8.4.1963, BAL, 208 AR-Z 251/59, Bd. 9, Bl. 1778 ff. 43 Vgl. Rückerl (Anm. 1), S. 133–137. 44 Urteil LG Düsseldorf v. 22.12.1970, BAL, SA 430. 45 BAL, 208 AR-Z 230/59; Suchomel (Anm. 31). 46 SSPF Lublin an SS-PersonalHA v. 13.4.1943; dto. v. 22.5.1943, beide BAB, BDC, SSO Christian Wirth; dto. v. 19.5.1943, BAL, 518 AR-Z 235/60, Bd. 1, Bl. 50. 47 Vern. Josef Oberhauser v. 24.1.1963, BAL, 208 AR-Z 252/59, Bd. 9, Bl. 1711 ff. 48 Guter Überblick in Sachstandsvermerk Staw Hamburg v. 30.4.1970, BAL, 208 AR-Z 74/60, Bd. 54; Vern. Georg Wippern v. 27.10.1962, BAL, 208 AR-Z 252/59, Bd. 8, Bl. 1631 ff. 49 BAL, 518 AR-Z 65/65; Vern. Karl Schiffner v. 22.10.1965; Heinrich Barbel v. 10.12.1965, BAL, Aussagenslg. Euthanasie; Werner Dubois v. 11.4.1962, BAL, 208 AR-Z 251/59, Bd. 7, Bl. 1239 ff.; vgl. Rückerl (Anm. 1), S. 75, 131 f.; Arad: Aktion (Anm. 1), S.191 f.; Ernst Klee: Was sie taten – Was sie wurden. Ärzte, Juristen und andere Beteiligte am Kranken- und Judenmord, Frankfurt/M. 1986, S. 56 ff. 50 RSHA I A 3 an Amt V v. 13.6.1944, StAL, EL 51/1I, Bü 3714, Bl. 13; RSHA an SS-PersonalHA v. 16.10.1941, BAB, BDC, SSO Christian Wirth. 51 Vern. Robert J. v. 5.3.1962, BAL, 518 AR-Z 235/60, Bd. 2, Bl. 296 ff.; Auskunft DD (WASt) v. 13.1.2003; Hansjakob Stehle: Die Mörder bleiben in Ehren, in: Die Zeit v. 13.11.1992. 52 Sereny (Anm. 1), S. 84. 53 Etwa Vern. Heinrich G. v. 7.1.1963, BAL, 208 AR-Z 252/59, Bd. 9, S.1697 ff. 54 Dto. Josef Oberhauser v. 13.12.1962, ebd., S.1689 ff. 55 Urteil LG Hagen v. 20.12.1966, BAL, SA 209; Erschießungen von Angehörigen der ukrainischen Wachmannschaft wegen Schleichhandel oder Desertion auf Befehl Wirths wollte das Gericht allerdings nicht ausschließen. 56 SD-Personalbericht (undat./1938), BAB, BDC, SSO Christian Wirth. 57 Vern. Josef Oberhauser v. 13.12.1962, BAL, 208 AR-Z 252/59, Bd. 9, S. 1689 ff.

CHRISTIAN WIRTH 58

251

Dto. Karl Streibel v. 23.1.1963, BAL, 208 AR-Z 251/59, Bd. 9, Bl. 1742 ff. IMG, Bd. 20, Nürnberg 1948, S. 537–541; Erklärung Konrad Morgen v. 19.7.1946, in: IMG, Bd. 42, Nürnberg 1949, S. 563 ff.; vgl. Sachstandsvermerk (Anm. 48). 60 Vern. Josef Oberhauser v. 24.1.1963, BAL, 208 AR-Z 252/59, Bd. 9, Bl. 1711 ff. 61 Dto. Erich F. v. 20.1.1962, BAL, 439 AR 1261/68, SB 52, Unterakte 13; Wirth an Lager R I, II u. III v. 18.12.1943, GStaw Frankfurt/M. Js 17/59, Dok.Slg. Euthanasie; für den Hinweis danke ich Ernst Klee (Frankfurt/M.). 62 Vgl. Suchomel (Anm. 31). 59

KONRAD KWIET

Paul Zapp –Vordenker und Vollstrecker der Judenvernichtung Paul Zapp wurde am 18. April 1904 im hessischen Hersfeld geboren. Das Geburtsjahr bestimmt seine Zugehörigkeit zur sogenannten Kriegsjugendgeneration, die die Jahrgänge von 1901 bis 1910 repräsentiert. Sie hatten keine Fronterfahrung, wurden aber vom ‚Frontkämpferideal‘ und den Auswirkungen des Krieges geprägt. Was die Bürgersöhne weiter verband, waren die vorherrschenden Merkmale ihres generationellen Lebensstils: „Kühle, Härte und ‚Sachlichkeit‘.“1 Zapp reklamierte diese Merkmale nicht nur, als er die „Lösung der Judenfrage“ propagierte, sondern auch noch viele Jahre später, als er sich im Ermittlungs- und Strafverfahren an Vorbereitung und Vollzug der Judenvernichtung erinnerte. Zapp war, folgt man Gerhard Pauls TäterTypologie, ein „Weltanschauungstäter, der genau wußte und wollte, was er tat“, der „Tätertyp, der sich primär als Exekutor der rassistischen NSWeltanschauung verstand und verhielt“.2 Der Weg in den SD Der Judenmörder hatte eine behütete Kindheit. Zapp wuchs in einer mittelständischen Familie auf, in der man großen Wert auf protestantische Tugenden, Bildung und Hausmusik legte.3 Er durchlief das Gymnasium und bestand das Abitur. Die Hoffnung, ein Hochschulstudium zu absolvieren, erfüllte sich. Nach zwei Semestern brach er das Studium jedoch ab. Der gescheiterte Student entschied sich, einen kaufmännischen Beruf zu erlernen, der ihm nur ein bescheidenes Einkommen bescherte. Die krisengefährdete Existenz verstärkte die Angst vor dem sozialen Abstieg. Der Nationalsozialismus offerierte ihm – wie so vielen – neue Erwerbsmöglichkeiten und Arbeitsbereiche, in denen man sich bewähren und aufsteigen konnte. Die politische Sozialisation, die sich im rechtsradikalen Milieu der Weimarer Republik vollzog, ebnete den Weg. Angezogen von völkisch-nationalistischen und antisemitisch-rassistischen Ideen, knüpfte Zapp Kontakte zu den einschlägigen Kreisen, in denen er sich als Redner und Publizist zu profilieren suchte. In dieser Lehrzeit lernte er seine Gegner kennen und hassen: Juden und Kommunisten, Sozialdemokraten und Liberale, die ‚Staatsfeinde‘, die im Dritten Reich zu ‚erkunden‘, zu ‚bekämpfen‘ und zu ‚erledigen‘ waren. Diese frühe Verortung – und darin unterschied sich Zapp von den meisten politisch gleichgesinnten Repräsentanten der Kriegsjugendgeneration – führte jedoch nicht zu einer schnellen Bindung an den Nationalsozialismus.4 Erst nach der

PAUL ZAPP

253

‚Machtergreifung‘ schloß er sich der nationalsozialistischen Massenbewegung an und zwar – bezeichnend für ihn – erst der SS, dann der NSDAP. Zapp trat 1934 Himmlers Eliteorden bei,5 der den Anspruch erhob, „ideologische Vorhut“ des Nationalsozialismus und zuständig für die „Lösung der Judenfrage“ zu sein. Zapp bekannte sich jedoch weiter als „gottgläubig“, ein Bekenntnis, das der Reichsführer-SS seinen Männern empfahl und von vielen angenommen wurde. Mit ihrem Glauben an einen Gott verliehen sie der „Endlösung“ noch eine religiöse Dimension. Sie spiegelte sich in der Vorstellung wider, daß nur die „Befreiung“ von den Juden zur „Erlösung“ der NichtJuden führen könne. Zapps Judenhaß basierte auf einem „Erlösungsantisemitismus“, den Saul Friedländer als die entscheidende ideologische Triebkraft für die Judenvernichtung bezeichnet hat.6 Als „Gottgläubiger“ schloß sich Zapp der Deutschen Glaubensbewegung an, die sich im Juni 1933 formiert und der Illusion hingeben hatte, mit ihren völkisch-rassistischen Propagandakampagnen die religiöse Führung im neuen Deutschland übernehmen zu können. Die Mitgliedschaft verschaffte ihm Kenntnisse und Kontakte, die ihn zum Kampf gegen die „politischen Kirchen“ und „juden-christlichen Sekten“ qualifizierten. Innerhalb des Himmlerschen Macht- und Terrorapparats bot sich Heydrichs Sicherheitsdienst (SD) als Sprungbrett für die Karriere an. 1934 wurde Zapp als nebenamtlicher Mitarbeiter aufgenommen. Die Anstellung verdankte er der Bekanntschaft mit Dr. Werner Best, der ebenfalls aus dem völkischen Lager gekommen und schnell zu einem der führenden Ideologen und Organisatoren der SS aufgestiegen war. Zapp etablierte sich als Fachmann in den SD-spezifischen Aufgabengebieten der „Gegnerkunde“ und „Gegnerbekämpfung“ und durchlief schnell die unteren SS-Dienstränge. Er gründete eine Familie und zeigte – den SS-Vorschriften folgend – die Geburt von vier Kindern an. 1937 – kurz vor dem nächsten Karrieresprung – bewarb er sich um die Mitgliedschaft in der NSDAP und leistete noch einen kurzen, zweimonatigen Wehrdienst als Schütze ab. Anfang 1938 – im Rang eines SSUntersturmführers – wurde er als hauptamtlicher Mitarbeiter und SD-Führer eingestellt. Damit rückte er in das exklusive Führerkorps der Sicherheitspolizei und des SD ein, „Heydrichs Elite“,7 die mit der Vorbereitung und dem Vollzug der „Endlösung“ beauftragt wurde. Im Zuge des NS-Rotationsprinzips wurde er in verschiedenen SD-Leitabschnitten eingesetzt. Er diente in Breslau und Kassel. Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde er zum Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD (BdS) in Krakau versetzt, wo er Erfahrungen bei der territorialen „Lösung der Judenfrage“ – manifestiert in Erschießungen, Ghettoisierungen und Vertreibungen – sammelte. Auf all diesen Durchgangsstationen zeichnete er sich durch Diensteifer und Fachwissen, Linientreue und Flexibilität, Durchsetzungsvermögen und Führungsqualitäten aus. Das wurde belohnt. In rasanter Folge vollzogen sich die Beförde-

254

KONRAD KWIET

rungen. Im August 1940 hatte er den Rang eines SS-Sturmbannführers erreicht und sich den Ruf erworben, einer der „Judenexperten“ des SD zu sein. Im Oktober 1940 wurde er auf Weisung des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) als Instrukteur an die SD-Schule Bernau berufen und mit der Aufgabe betraut, Anwärter und Angehörige des leitenden Dienstes der Sicherheitspolizei und des SD zu schulen. Schulungsexperte in Bernau Die Abkommandierung nach Bernau erfolgte zu einem Zeitpunkt, als die Entscheidung über das Unternehmen „Barbarossa“ gefallen und die Vorbereitungen für den Eroberungs- und Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjetunion angelaufen waren. Im Schulungs- und Ausbildungsapparat der SS und Polizei wurde der Behandlung der „Judenfrage“ ein besonderer Stellenwert eingeräumt.8 Das galt vor allem für die SS-Führerschulen, auf denen Heydrichs Elite auf die Aufgaben im anvisierten „Großgermanischen Reich“ vorbereitet und in Erwartung auf die kommende „Endlösung“ zum Mord erzogen wurde.9 Viele Judenmörder haben diese Kaderstätten vor ihren Einsätzen durchlaufen – als Lehrer oder Schüler. Was sie in den Klassenräumen dozierten oder hörten, setzten sie an den Mordstätten in die Realität um. Großen Wert legte man in den Schulungs- und Unterrichtsprogrammen auf die enge Verbindung von Theorie und Praxis sowie auf die Verknüpfung von Weltanschauung und Fachwissen. Ziel der Ausbildung war es, „ein charakterlich wertvolles, politisch klar ausgerichtetes, weltanschaulich kompromißloses und hochwertiges Führerkorps der Sicherheitspolizei (SD) zu schaffen […], das die großen, der Sicherheitspolizei und dem SD gestellten Aufgaben bewältigen“ sollte.10 Die Zerschlagung der Feinde „im Inneren“ wie „im Äußeren“ fiel in die Zuständigkeit des RSHA. Innerhalb der Lehrgebiete „Gegnerkunde“ und „Gegnerbekämpfung“ wurde ein Programm über „Das Judentum“ angeboten. Zapps Unterrichtsunterlagen sind in einem kleinen Konvolut von handschriftlichen Notizen und zwei maschinenschriftlichen Manuskripten erhalten geblieben.11 Das Unterrichtsexposé wurde offenbar von der Führerschule in Bernau als besonders wichtig angesehen und im Januar 1941 an das Büro des Reichsführers-SS geschickt. Die Vermutung liegt nahe, daß es Himmler vorlegt wurde, der es mit Zustimmung aufnahm. Als dieser wenige Wochen später den neuen Lehrplan für die „wissenschaftliche Ausbildung“ des Führerkorps studiert hatte, dankte er Heydrich für die „unerhört schöpferische Arbeit, die Sie im Rahmen des SD, der doch sonst so viele negative Dinge zu bearbeiten hat, leisten“.12 Zapps Unterrichtsexposés trugen die Titel „Das Judentum“ und „Das Judentum als tragendes Element der weltanschaulichen Gegnerfront“.

PAUL ZAPP

255

Die propagierten Feindbilder stammten aus der langen Tradition des Antijudaismus und aus dem Reservoir des modernen Rassismus und Antisemitismus. Sie kulminierten in der bekannten Wahnvorstellung von der „jüdischen Weltherrschaft“. Die Juden, so Zapp, verfolgten einzig und allein das Ziel, alle anderen Völker zu unterwerfen. Gefälschte Zitate aus dem Alten Testament, Zerrbilder jüdischer Bräuche und Festtage sowie ein Sammelsurium an Propagandalügen wurden als Belege herangezogen, um „Weltmachtsanspruch“ und „Weltmachtswille“ zu belegen. Die Schlußfolgerung war klar: Die „jüdische Weltherrschaft“ konnte nur durch die Zerschlagung des „Weltjudentums“ gebrochen werden. Zapp dozierte dann über Emanzipation und Assimilation der Juden, wobei er der Auflistung und Charakterisierung jüdischer Organisationen einen breiten Raum einräumte. Auch dieser Rekurs basierte auf einem Geflecht von Generalisierungen, Geschichtsfälschungen und antisemitischen Stereotypen. Zapp hob den Erfolg der NS-Rassenpolitik hervor, die der „Verjudung Deutschland“ ein Ende gesetzt habe. Er fügte hinzu: „Die völlige Lösung der Judenfrage wird jedoch erst dann gelungen sein, wenn die Frage des Weltjudentums gelöst ist.“ Noch eine zweite Leitlinie wurde herausgestellt. Sie lag in der Verpflichtung, nicht nur die Juden, sondern auch den „jüdischen Geist“ zu zerschlagen. Zapp verstand das Judentum als das „verbindende Element für die Querfront aller Gegner des Nationalsozialismus“. „Jüdische Ideen“, so die Argumentation, würden weiter die Einstellungen der Kommunisten, Sozialdemokraten und Liberalen wie der „politischen Kirchen“, der „juden-christlichen Sekten“ und der „Freimaurerei“ prägen. Zapp sprach von einer „Störungsgefahr“ für den „Aufbau des Deutschen Reiches“, die es zu beseitigen galt. Für die praktische Arbeit der „Gegnerbekämpfung“ schlug er vor, zwischen „Staatsfeinden“ und „Staatsgegnern“ zu unterscheiden. Als Staatsfeinde galten alle politischen Opponenten. Sie waren „einzeln zu überführen […] und politisch zu erledigen“. Staatsgegner waren alle, die sich dem Nationalsozialismus entzogen. Sie waren „nicht faßbar“ und sollten „von innen her – mit Hilfe aller“ überwunden und im Krieg „mit Waffen“ erledigt werden. In diesen Vorschlägen spiegelte sich die zentrale Vision des Nationalsozialismus wider, eine neue, revolutionäre Gesellschafts- und Herrschaftsordnung zu errichten, in der es keinen Platz mehr für Menschen gab, die als politische, soziale und rassische Feinde klassifiziert wurden. Den krönenden Abschluß im Unterrichtsprogramm stellte der Hinweis auf das Stufenprogramm der „Endlösung“ dar. Er signalisierte die Radikalisierung und destruktive Dynamik der Judenverfolgung, die schließlich zum Genozid an den europäischen Juden führen sollte. Zapp gab seinen Schülern eine Ankündigung mit auf den Weg, die sich an den Reden Hitlers und anderer NS-Rassefanatiker orientierte. Die Schlußsätze im Unterrichtsexposé über „Das Judentum“ lauten: „An die restlose Bereinigung der Judenfrage kann erst gedacht werden, wenn es ge-

256

KONRAD KWIET

lingt, das Weltjudentum entscheidend zu treffen. Die politische und diplomatische Führung Adolf Hitlers hat die Grundlage für die europäische Lösung der Judenfrage geschaffen. Von hier aus wird der Hebel für die Lösung der Weltjudenfrage angesetzt werden müssen.“ In den Unterrichtsunterlagen finden sich keine Hinweise auf das Erschießen und Vergasen von Juden. Sie vermitteln jedoch ein klares Bild davon, wie Zapp im Jahre 1940 die „Judenfrage“ interpretierte und wie weit seine Lösungsvorschläge gingen. Selbst wenn sich die Erfolge der „weltanschaulichen Erziehung“ und der antisemitischen Indoktrination nur schwer abschätzen lassen, so liegt doch die Vermutung nahe, daß sie Hemmschwellen für das Töten von Juden reduzierten und die Bereitschaft erleichterten, sich an den staatlich verordneten Massenmorden zu beteiligen. Sie spiegelten zudem die allgemeine Zuversicht wider, im Zuge der militärischen Expansion das Programm der „Endlösung“ schrittweise in der Praxis umsetzen zu können. Der Vordenker Zapp mußte nicht lange warten, ehe er zum Vollstrecker der „Endlösung“ wurde. Führer des Sonderkommandos 11a Im Mai 1941 wurde Zapp zum „auswärtigen Einsatz“ abkommandiert und in den Bereitstellungsraum im sächsischen Pretzsch zitiert, wo man die Führungskader und Mannschaften der mobilen Einsatzgruppen zusammenzog. Hier wurde er über die „Sonderaufgaben“ unterrichtet, die im Ostkrieg zu erfüllen waren.13 Gastreferenten des RSHA, des Auswärtigen Amtes und anderer Dienststellen hielten Vorträge über die Verhältnisse ‚im Osten‘. Im weltanschaulichen Schulungsunterricht zentrierten sich die Haßtiraden auf den „jüdisch-bolschewistischen Weltfeind“, den es zu vernichten galt. Zapp nahm die Richtlinien zur Kenntnis, die Operationsgebiete, Befehlswege und Kompetenzen zwischen Wehrmacht und Sicherheitspolizei regelten. Ihm wurden die Exekutionsbefehle übermittelt, die vorschrieben, welche Feindgruppen nach dem Einmarsch in die Sowjetunion als erste zu liquidieren waren: Juden in leitenden Staats- und Parteistellungen, bolschewistische Funktionäre, Politkommissare der Roten Armee und „feindliche Elemente“, zu denen auch die Juden im wehrpflichtigen Alter gehörten. Zapp wußte auch, daß sich die Exekutionskommandos aus Angehörigen der unteren Dienstgrade rekrutierten und die Hinrichtungen mit Gewehren „in strenger militärischer Form“ durchzuführen waren. Ebenso selbstverständlich war, daß Offiziere die Tötungsbefehle erteilten. In der Regel behielten sie sich das Recht vor, in den Erschießungsgruben verletzte Juden durch gezielte „Nachschüsse“ oder „Fangschüsse“ zu töten. Zapp hat sich an derartigen Mordhandlungen im Vollzug der Judenvernichtung beteiligt. Er übernahm die Führung eines Kommandos, das innerhalb der Ohlendorfschen Einsatzgruppe (EG) D operierte. Anfang Juli 1941 trat er mit seinem

PAUL ZAPP

257

knapp 100 Mann starken Sonderkommando (SK) 11a die weite Reise in den Osten an. Der Vormarsch führte über Wien, Budapest und – nach Überschreiten der rumänischen Grenze und im „Windschatten der 11. deutschen Armee“14 – nach Kishinew, der Hauptstadt Bessarabiens. Von dort ging es weiter in das ukrainische Cherson und Nikolajew. Anfang November 1941 traf Zapps Truppe in Simferopol ein und verteilte sich über die Halbinsel Krim. Zapp konnte zufrieden sein: Tausende von Juden, Kommunisten und anderen Feinden waren auf dem Vormarsch im Zuge der ersten „Säuberungs-“ oder „Befriedigungsaktionen“, „Straf-“ oder „Sühneaktionen“ umgebracht worden, oft in Zusammenarbeit mit anderen Formationen der SS und Polizei oder mit Einheiten der Wehrmacht und einheimischer Kollaborateure. Die meisten Opfer waren erschossen worden. Einige starben am Galgen, andere erlagen den Mißhandlungen oder Folterungen. Seit Ende 1941 stand dem SK 11a ein Gaswagen zur Verfügung.15 Juden, die von der ersten Tötungswelle verschont blieben, waren registriert und ausgeplündert, mit Erkennungszeichen stigmatisiert und in Ghettos zusammengepfercht, der Aufsicht von Judenräten unterworfen und zur Zwangsarbeit verpflichtet worden. Zapps Vorgehensweise orientierte sich am Modell der allgemeinen Vernichtungsstrategie, die schon vor dem Überfall auf die Sowjetunion entworfen und während des Vormarsches mit den anderen Mordkommandos der SS, Polizei und WaffenSS abgestimmt und verschärft worden war. Die Erschießung von jüdischen Männern und Kommunisten leitete die erste Tötungswelle ein. Am 17. Juli 1941, einen Tag nach dem Einmarsch in Kishinew, erteilte Zapp den Befehl, 68 „kommunistische Juden“ zu erschießen. Wenige Tage später ließ er 551 Juden exekutieren. Unter den Opfern befanden sich erstmals auch Frauen. Kurz darauf wurden die ersten Kinder umgebracht. An dieser Folge in der Ermordung der Opfer läßt sich die klare Strategie des Genozids erkennen. Das Verfahren zielte nicht nur darauf ab, den Juden die Aussicht auf ein Überleben und auf Widerstand zu nehmen, sondern auch darauf, die Exekutoren der „Endlösung“ mit der Praxis der Liquidierung vertraut zu machen. Als dieses Ziel erreicht und das Töten zur Routine geworden war, hatten die Täter einen Prozeß der Abstumpfung und der Brutalisierung durchlaufen, der alle moralischen und menschlichen Werte eliminierte. Anders formuliert: Nach der ideologischen Indoktrination und der institutionellen Einbindung in den Herrschaftsapparat verstärkten Formen und Erfahrungen des Eroberungs- und Vernichtungskrieges die Bereitschaft, Fähigkeit und – in vielen Fällen – die Lust ‚ganz normaler‘ Deutscher, Juden und andere Feinde zu ermorden. Mitte September 1941 gab Zapp in Nikolajew den Befehl, alle Ghettobewohner zu erschießen: 5000 Männer, Frauen und Kinder.16 Wenige Tage später wurde die Existenz der jüdischen Gemeinde in Cherson ausgelöscht; abermals fielen 5000 Menschen dem Mordgemetzel zum Opfer. Am 4. Okto-

258

KONRAD KWIET

ber traf Himmler in Nikolajew ein17 und ließ sich von Zapp über den erfolgreichen Vollzug der beiden ersten großen „Judenaktionen“ sowie über die Versorgungs- und Stimmungslage unterrichten. Wie auf all seinen Inspektionsreisen zu den Schauplätzen des organisierten Massenmords hielt der Reichsführer-SS eine martialische Rede, an die sich Zapp noch Jahre später erinnern konnte: „Bei dieser Ansprache ging Himmler auf Fragen der Gewinnung von Raum im Osten und auf die Schaffung eines Wehrbauerntums“ ein. Er habe verkündet, daß der Krieg der „Zerschlagung des Bolschewismus“ diene und „zur Erreichung des gesteckten Zieles“ die Juden zu vernichten seien. Himmler sei sich der „Schwere dieser Aufgabe“ bewußt gewesen.18 Zapp beeilte sich, die von seinem Reichsführer oft reklamierte „schwere Aufgabe“ des Judenmords zu erfüllen. Im Dezember 1941 vernichteten Kommandos der EG D die jüdische Gemeinde von Simferopol: Mehr als 12000 Menschen wurden umgebracht. Mitte April 1942 zog die EG D Bilanz. Voller Eifer rapportierte sie, daß die Krim von Juden „freigemacht“ worden sei.19 Für Zapp zahlte sich der Einsatz aus. Nach der Gewährung eines längeren Heimat- und Genesungsurlaubs wurde er mit Wirkung vom 14. Juli 1942 zum Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD (KdS) für den Generalbezirk Taurien im Reichskommissariat Ukraine ernannt, mit Dienstsitz in Simferopol. Im November 1942 erfolgte die Beförderung zum SSObersturmbannführer. Auch als KdS zeichnete sich Zapp bei der Jagd nach geflohenen Juden und deren Liquidierung ebenso aus wie in den Vernichtungsfeldzügen gegen „Partisanen“ und „Banditen“, „Zigeuner“ und andere Feinde. Mit dem Rückzug von der Krim war der Osteinsatz beendet. ‚Kampfbewährt’ und hochdekoriert fand er 1944 in der Heimat einen neuen Führungsposten, der wieder in die Aufgabenbereiche der „Gegnerkunde“ und „Gegnerbekämpfung“ fiel. Zapp schloß seine Karriere als letzter Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD in Dresden ab, wo er die Bombardierung der sächsischen Metropole und den Untergang seines geliebten Deutschen Reiches erlebte. Urteil: Lebenslänglich Nach dem verlorenen Krieg versuchten die Judenmörder, sich der Strafverfolgung zu entziehen. Auf drei Wegen vollzog sich die Flucht vor der ‚alliierten Siegerjustiz‘. Der erste mündete im Suizid. Die zweite Fluchtroute führte über die Landesgrenzen ins sichere Nazi-Exil. Zapp entschied sich für den dritten Fluchtweg, den in den deutschen Untergrund. Ausgestattet mit falschen Papieren, die leicht zu erhalten waren, nahm er einen neuen Namen an: Friedrich Brehm.20 Solidarische Familien- und Bekanntenkreise sowie alte ‚Seilschaften‘ und verläßliche ‚Schweigekartelle‘21 sicherten Identitätswechsel und illegale Existenz ab. Zapp war sich der Schwere seiner Verbrechen

PAUL ZAPP

259

bewußt. Weder die frühen Amnestien noch die späteren Strafverfolgungsverjährungen ermunterten ihn, sich den Behörden zu stellen. Es vergingen mehr als zwei Jahrzehnte, ehe er im November 1967 im hessischen Bebra aufgespürt, in Untersuchungshaft genommen und in München angeklagt wurde – wegen der Ermordung von 13499 Menschen. Wie alle Judenmörder präsentierte Zapp zu seiner Verteidigung ein Geflecht von Lügen und Legenden.22 Ein erfahrender Strafverteidiger – Dr. Alfred Seidl – und ‚alte Kameraden‘ halfen ihm dabei. Zu ihnen zählte vermutlich auch Dr. Werner Best, sein alter Mentor, der als kundiger Jurist viele angeklagte Angehörige von Sicherheitspolizei und SD in Rechts- und Prozeßfragen beriet. Es verstand sich von selbst, daß Zapp die große Nachkriegslegende auftischte, die Otto Ohlendorf – sein einstiger Vorgesetzter – im Nürnberger Einsatzgruppen-Prozeß 1947/48 in die Welt gesetzt hatte.23 Zapp berief sich auf den „Führerbefehl“, um seine Verbrechen zu legitimieren. Als „Befehlsempfänger“ reklamierte er „Befehlsnotstand“, der Straffreiheit in Aussicht stellte, und versicherte, daß er den generellen „Judenvernichtungsbefehl“ für „rechtmäßig“ gehalten habe: „Den Führerbefehl, der die Liquidierung aller Juden aus rassischen Gründen anordnete, habe ich im Sinne der damals geltenden Gesetze nicht als rechtswidrig erkannt. Ich war der Auffassung, daß der Führerbefehl einem Gesetz im formellen Sinne gleichzusetzen sei. Diese Meinung wurde auch dadurch bestärkt, daß bereits Gesetze gegen Juden erlassen wurden und daß anläßlich des Röhm-Putsches in der Presse davon gesprochen wurde, daß der Führerbefehl rechtens sei.“24 Mit der Berufung auf „Führerbefehl“ und „Befehlsnotstand“ verband sich die zweite große Nachkriegslegende der NS-Täter in der Gestalt des Märchens von den drakonischen Strafen, die den „Befehlsempfängern“ im Fall einer Befehlsverweigerung gedroht hätten. Zapp stritt in den Vernehmungen ab, seinen Untergebenen „im Falle einer Befehlsverweigerung oder sonstiger Widersetzlichkeit“ mit „Schutzhaft“ – der Einweisung in das Konzentrationslager – oder mit „Sippenhaft“ – der Bestrafung der ganzen Familie – gedroht zu haben: „Ich habe sie aber dahin eingehend belehrt, daß sie möglicherweise mit einem Kriegsgerichtsverfahren oder einem Verfahren vor dem SS- und Polizeigericht zu rechnen“ hätten.25 Zapp, der als sehr strenger Vorgesetzter galt26 und auf der kompromißlosen Ausführung seiner Befehle bestand, brüstete sich damit, daß unter seinem Kommando keiner „einen Befehl verweigert oder um Ablösung nachgesucht“ hätte. Solche Fälle hatte es zwar im SK 11a gegeben, in seinen selektiven Erinnerungsbildern tauchten sie jedoch nicht mehr auf. Zapp konnte sich nur noch daran erinnern, „daß das Küchenpersonal generell von Exekutionen“ freigestellt war.27 Zur Verteidigungsstrategie gehörte es auch, sich von Mordlust und Heimtücke, Grausamkeiten und Judenhaß zu distanzieren, um nicht den massiv strafverschärfenden Vorwurf der „niedrigen Beweggründe“ heraufzube-

260

KONRAD KWIET

schwören. Zapp beteuerte daher auch, daß er „nie ein kämpferischer Judengegner“ gewesen sei, sondern nur die Auffassung vertreten habe, daß der „starke Einfluß des Judentums, der nicht im Verhältnis zu einer Minderheit in unserem Volke stand, einer Korrektur bedurfte“. Unter „Korrektur“ habe er natürlich nicht die „Vernichtung der Angehörigen der jüdischen Rasse“, sondern nur das Ende der jüdischen Assimilation verstanden. Die verlogenen Verteidigungsargumente erreichten ihren Höhepunkt, als sich der „Judenexperte“ auf Martin Buber berief und erklärte, daß der berühmte jüdische Religionsphilosoph schließlich auch die Meinung vertreten habe, „daß eine Assimilation des Judentums nicht wünschenswert sei“. Zapp gab zu, daß die Massenerschießungen grausam waren, schränkte aber sofort ein, „eine andere Möglichkeit zur Durchführung der Exekutionen“ habe es „aufgrund der jeweils örtlich gegebenen Verhältnisse“, „bei der Menge der zu erschießenden Menschen“ und „hinsichtlich der zeitlichen Abwicklung“ nicht gegeben. Das Versprechen an die Opfer, „umgesiedelt“ zu werden, habe man nur gegeben, um ihnen „eine längere Leidenszeit zu ersparen“.28 In einer Vernehmung fiel ihm ein, wie „friedlich“ die Gesichter der Juden – Männer und Frauen – gewesen seien, die in einem Gaswagen umgebracht wurden.29 Er beteuerte, bei der Liquidierung des Ghettos in Cherson „Rücksicht“ auf die Opfer genommen zu haben. Als die 5000 Menschen zu töten waren, habe er angeordnet, keine Gewehre, sondern Pistolen zu verwenden: „Für die Opfer war diese Art der Exekution erträglicher, weil die Erschießung aus nächster Nähe mit einer Pistole eine größere Sicherheit des sofortigen Todes gewährleistet, und auch die Salven der Exekutionskommandos für die noch wartenden Opfer nicht so stark zu hören waren. Die Schützen schossen aus einer Entfernung, die etwa einer Armlänge entspricht.“ Mit der Verteilung der Pistolen, so erklärte er weiter, habe er auch „Rücksicht“ auf seine Männer genommen. Das begründete er so: „Bei der Durchführung der Exekutionen mit Karabinern haben sich größere seelische Belastungen ergeben, weil bei Gewehrschüssen größere Wunden und größerer Blutverlust entstanden.“30 Die stundenlangen, oft mehrtägigen Massenerschießungen stellten hohe Anforderungen an die Schützen. Die Belastungen waren immer dann besonders groß, wenn Kinder und Frauen erschossen, wenn Schüsse die Köpfe der Opfer zerrissen und Hirn- und Knochenteile vermischt mit Blut auf Gesicht, Hand oder Uniform zurückspritzten, oder wenn sich die Gruben mit Blut füllten und noch lebende Opfer aus nächster Entfernung mit „Nach“- oder „Fangschüssen“ erledigt wurden. Solche „Blutorgien“ spielten sich an allen Mordstätten ab. Gelegentlich riefen sie Übelkeit, Erbrechen oder andere psychosomatische Syndrome hervor. Begehrt war während der Mordgemetzel die Verteilung von Zigaretten und Schnaps. Überall wurden nach den „Judenaktionen“ im Zuge der von Himmler verordneten „seelischen Betreu-

PAUL ZAPP

261

ung“ vielfältige Unterhaltungsprogramme angeboten. Besonderer Beliebtheit erfreuten sich die „Kameradschaftsabende“, „Siegesfeiern“ oder „Festessen“, die in der Regel in ‚Saufabende’ ausarteten. Die Grenze des Zumutbaren war für Zapp überschritten, als während des Massakers in Nikolajew „Blutwurst aus Dosen“ zum Mittagessen verabreicht wurde. Ein Angehöriger des SK 11a mokierte sich über die „Schweinerei“.31 Zapp gab zu Protokoll: „Ich habe mich darüber sehr aufgeregt und habe dieses Essen auch sofort zurückgewiesen. Nach meiner Erinnerung bekamen wir an diesem Tag mittags außer Knäckebrot nichts zu essen.“32 Angeklagte und Zeugen nahmen in Vernehmungen auffallend häufig Bezug auf das Umfeld der Verbrechen. Wenn von ihnen gefordert wurde, die Schauplätze der Morde zu beschreiben, schilderten sie, oft mit Akribie, die landschaftlichen Besonderheiten der Vernichtungsstätten. Die Landschaftsbilder, die Zapp in seinen Aussagen zeichnete, wiesen bisweilen bemerkenswerte Detailtreue auf. Er beschrieb die Gräben und Mulden, Schluchten und Hügel, die an den Peripherien von Nikolajew, Cherson und anderen Einsatzorten lagen. Und er erinnerte sich auch an eine ganz bestimmte Ortsbezeichnung, die sich wie ein topographischer Leitfaden durch die Aussagen zieht und die offensichtlich schon bei der Vorbereitung und beim Vollzug der „Endlösung“ benutzt worden ist. Zapp sprach vom „Kuschelgelände“,33 dem idealen und bevorzugten Tatort, weil es den Tätern das Erschießen und Begraben der Opfer erleichterte. Zapp zeigte im Ermittlungs- und Strafverfahren gegen seine Person keine Anzeichen von Reue, geschweige denn ein Mitgefühl für die Opfer. Wie viele Täter stellte er sich sogar noch als ‚Beschützer‘ der Juden vor. So behauptete er, daß er – „schockiert über den Führerbefehl“ – gehofft habe, daß mit der schnellen Besetzung des Kaukasus der Krieg „fast zu Ende sein und es daher für unser Kommando nicht mehr viel zu tun geben würde“. Zum anderen habe er darauf vertraut, daß sich die Juden rechtzeitig in Sicherheit bringen würden. Als sich diese Vorstellung in Kishinew als trügerisch erwies, habe er den „Führerbefehl“ zu umgehen versucht, indem er „durch die Exekution einer kleineren Zahl der im Ghetto zusammengefaßten Juden […] wenigstens den größten Teil der Juden vor ihrem Schicksal bewahren“ wollte. Zapp verwies auf die „schwere Aufgabe“, die er zu erfüllen hatte, und von der er sich ablösen lassen wollte. „Überlegungen“ zu Rücktritt und Befehlsverweigerung habe er schließlich verworfen: „Ein offener Widerstand war sinnlos. Abgesehen davon, daß ein solcher Widerstand sofort unnachsichtig gebrochen worden wäre, war ein solcher Gedanke auch mit der Geisteshaltung eines Führerdienstgrades nicht vereinbar.“ Zapps Unterrichtsunterlagen aus dem Jahre 1940 zum „Judentum“ und zur „Lösung der Judenfrage“ lagen im Ermittlungs- und Strafverfahren nicht vor. Auf die Frage, ob er Hitlers berühmte Reichstagsrede vom Januar 1939 über

262

KONRAD KWIET

die „Vernichtung der jüdischen Rasse“ gekannt habe, antwortete er, daß er sich nicht erinnern könne. Er fügte hinzu: „Wenn sie aber bekannt gewesen sein sollte, so habe ich in diesen Äußerungen nichts anderes gesehen als eine Propagandarede und zwar in dem Sinn, daß im Falle eines erneuten Weltkrieges nicht nur die Gefahr bestand, daß die nationalen Völker Europas vernichtet werden, sondern damit auch die jüdische Rasse.“34 All diese Verteidigungsargumente halfen Zapp wenig. Das Landgericht in München verhängte 1970 eine lebenslange Zuchthausstrafe.35 Die Verteidigung legte Revision ein, die jedoch ein Jahr später vom Bundesgerichtshof zurückgewiesen wurde. Eine Erleichterung wurde dem Judenmörder gewährt: die Umwandlung der Zuchthausstrafe in eine Gefängnisstrafe.

Anmerkungen 1

Zur Charakterisierung der Kriegsjugendgeneration Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989, Bonn 1996, S. 42–45, hier S. 44. 2 Gerhard Paul: Von Psychopathen, Technokraten des Terrors und „ganz gewöhnlichen“ Deutschen. Die Täter der Shoah im Spiegel der Forschung, in: ders. (Hrsg.): Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? Göttingen 2002, S. 13–90 , hier S. 61. 3 Diese Information verdanke ich Dr. Ruth Bettina Birn (Ottawa). 4 Karin Orth: Experten des Terrors. Die Konzentrationslager-SS und die Shoah, in: Paul (Anm. 2), S. 94. 5 BAB, BDC, SSO Paul Zapp. 6 Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 1: Die Jahre der Verfolgung 1933–1939, München 1998, S. 87–128. 7 Jens Banach: Heydrichs Elite. Das Führerkorps der Sicherheitspolizei und des SD 1936–1945, Paderborn u.a. 1998. 8 Jürgen Matthäus/Konrad Kwiet/Jürgen Förster/Richard Breitman: Ausbildungsziel Judenmord? „Weltanschauliche Erziehung“ von SS, Polizei und Waffen-SS im Rahmen der „Endlösung“, Frankfurt/M. 2003. 9 Konrad Kwiet: Erziehung zum Mord – Zwei Beispiele zur Kontinuität der deutschen „Endlösung der Judenfrage“, in: Michael Grüttner/Rüdiger Hachtmann/HeinzGerhard Haupt (Hrsg.): Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup, Frankfurt/M.-New York 1999, S. 435–457, hier S. 455. 10 Erlaß CdS v. 8.2.1941 mit Dienstanweisung für den Kommandeur der Führerschule der Sicherheitspolizei (SD), abgedruckt in: Matthäus u.a. (Anm. 8), S. 190– 196. 11 Das Konvolut wurde in den Aktenbeständen des (ehemaligen) Staatlichen Sonderarchivs in Moskau entdeckt, RGVA, 501-1-27, Bl. 4-29 (Kopien USHMM, RG11.001 M, Rolle 18; NARA, T-175, Rolle 15, Bl. 2518530 ff.); Auszüge aus den Schulungsexposés sind abgedruckt bei Matthäus u.a. (Anm. 8), S.188–190.

PAUL ZAPP 12

263

Kwiet (Anm.9), S. 446. Ralf Ogorreck: Die Einsatzgruppen und die „Genesis der Endlösung“, Berlin 1996, S. 86 ff. 14 Andrej Angrick: Im Windschatten der 11. Armee. Die Einsatzgruppe D, in: Gerhard Paul/Klaus-Michael Mallmann (Hrsg.): Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. ‚Heimatfront‘ und besetztes Europa, Darmstadt 2000, S. 481–502. 15 Eugen Kogon u.a. (Hrsg.): Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas. Eine Dokumentation, Frankfurt/M. 1983, S. 98. 16 Angrick (Anm.14), S. 459. 17 Peter Witte u.a. (Bearb.): Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/1942, Hamburg 1999, S. 225. 18 Vern. Zapp v. 9.1.1968, BAL, 213 AR-Z 43/67, Bl. 169. 19 Norbert Kunz: Die Feld- und Ortskommandanturen auf der Krim und der Judenmord 1941/1942, in: Wolf Kaiser (Hrsg.): Täter im Vernichtungskrieg. Der Überfall auf die Sowjetunion und der Völkermord an den Juden, Berlin-München 2002, S. 60. 20 BAL, Zentralkartei, Karteikarte Paul Zapp. 21 Gerhard Paul: „... zwinkerte man mit den Augen und schwieg“. Schweigekartell und Weißwäschersyndikat im hohen Norden oder: Wie aus NS-Tätern und ihren Gehilfen Nachbarn und Kollegen wurden, in: ders.: Landunter. Schleswig-Holstein und das Hakenkreuz, Münster 2001, S. 346–389. 22 Konrad Kwiet: Von Tätern zu Befehlsempfängern. Legendenbildung und Strafverfolgung nach 1945, in: Matthäus u.a. (Anm. 8), S. 114–138. 23 Jürgen Matthäus: A Case of Myth-Making: The ‚Führer-Order‘ during the Einsatzgruppen Trial, 1947–1948, in: Colin Tatz u.a. (Hrsg.): Genocide Perspectives II. Essays on Holocaust and Genocide, Sydney 2003, S. 32–47. 24 Vern. Zapp v. 11.1.1968, BAL, 213 AR-Z 43/67, Bl. 198. 25 Dto. v. 3.1.1968, ebd., Bl. 139. 26 Banach (Anm. 7), S. 309. 27 Vern. Zapp v. 3.1.1968, BAL, 213 AR-Z 43/67, Bl. 140. 28 Dto. v. 11.1.1968, ebd., Bl. 198 f. 29 Dto. v. 9.1.1968, ebd., Bl. 179. 30 Ebd., Bl. 173. 31 Angrick (Anm. 14), S. 495. 32 Vern. Zapp v. 9.1.1968, BAL, 213 AR-Z 43/67, Bl. 170. 33 Dto. v. 4.1.1968, ebd., Bl.148. 34 Dto. v. 11.1.1968, ebd., Bl. 199 f. 35 Urteil LG München I v. 26.2.1970, BAL, SA 361. 13

KARIN ORTH

Egon Zill – ein typischer Vertreter der Konzentrationslager-SS Mitte der 1990er Jahre setzte eine intensive Diskussion über die nationalsozialistischen Täter und Mitläufer ein. Im Mittelpunkt stand die Frage, was dem mörderischen Handeln dieser Männer und Frauen zugrunde lag: Sadismus? Antisemitische Weltanschauung? Oder handelten sie aus Opportunismus und Karrierismus? In der Forschung sind inzwischen deutlich unterscheidbare Erklärungsmodelle herausgearbeitet worden, darunter fundierte empirische Studien,1 komplexe soziologische Analysen2 sowie plakative Pauschalisierungen3. Gleichwohl ist die Frage, was diese Menschen, die den nationalsozialistischen Terror ausübten, zu ihren Taten veranlaßte, längst noch nicht hinlänglich beantwortet. Eine wesentliche Voraussetzung, um die Motivation der Täter zu benennen und ihr Handeln durch ein nicht nur in sich plausibles, sondern empirisch gesättigtes Modell zu erklären, ist das Vorhandensein aussagekräftiger subjektiver Quellen der historischen Akteure – etwa Briefe, Tagebücher oder andere persönliche Aufzeichnungen. Derartige Ego-Dokumente sind jedoch häufig gar nicht oder nur spärlich überliefert. Zwei Gründe sind dafür in erster Linie zu nennen: Zum einen sind diese Schriftstücke nach Ende des Zweiten Weltkrieges vernichtet worden – sei es zufällig oder aber sehr bewußt, sofern es sich um belastendes Material handelte, in dem eben genau die begangenen Verbrechen thematisiert wurden. Zum zweiten sind solche Quellen, die Auskunft über den Antrieb der Taten geben könnten, gar nicht erst angefertigt worden. Denn viele NS-Täter stammten nicht aus (bildungs)bürgerlichen Schichten, zu deren Prämissen es gehört(e), den eigenen Werdegang zu reflektieren, der eigenen Motivation nachzuspüren und nicht zuletzt, dies schriftlich festzuhalten. Der folgende Aufsatz stellt eine solche Person in den Mittelpunkt der Betrachtung – Egon Zill, ein langjähriges Mitglied der Konzentrationslager-SS4 – und unternimmt vor dem Hintergrund des beschriebenen Dilemmas gleichwohl den Versuch, etwas über seine Motive herauszufinden. SS-Mitglied Nr. 535 Egon Zill wurde am 28. März 1906 als Sohn eines Brauereiarbeiters im vogtländischen Plauen geboren. In seiner Heimatstadt ging er acht Jahre lang zur Schule, erlernte das Bäckerhandwerk und legte 1923 die Gesellenprüfung ab. In den folgenden vier Jahren verdingte sich Zill als Gehilfe bei verschiedenen

EGON ZILL

265

Firmen, war kurzfristig arbeitslos und fand schließlich 1927 eine Anstellung als Pförtner in einer Tüll- und Gardinenfabrik. Hier lernte er Elfriede S. kennen, mit der er sich 1929 verlobte und im Oktober 1934 verheiratete. 1934 verließen beide die Fabrik. Elfriede Zill kümmerte sich fortan um ihre drei Kinder; Egon Zill gab seine Anstellung auf, da er als Truppführer zum SSSonderkommando Sachsen – so seine Worte – „einberufen“ wurde. Der hauptberufliche Wechsel zur SS kam jedoch nicht zufällig zustande. Er erscheint vor dem Hintergrund der bis tief in die 1920er Jahre zurückreichenden Verwurzelung Zills im rechtsradikalen Milieu vielmehr als konsequent. Beide, sowohl Egon Zill als auch seine spätere Frau, waren bereits seit Mitte der 1920er Jahre in nationalsozialistischen Organisationen engagiert: Elfriede S. war schon früh Mitglied der NSDAP – sie erhielt später das „Gauehrenzeichen Sachsen 1925“ – und seit 1924 des BdM. Egon Zill war zunächst im Grenzschutz Plauen aktiv, trat 1923 der SA sowie der NSDAP bei, nach dem Parteiverbot erneut am 25. Oktober 1925. Als knapp ein Jahr später in Sachsen die erste SS-Einheit aufgestellt wurde, schloß er sich sofort an. Seine Mitgliedsnummer – 535 – offenbart, daß er zu den ganz frühen Aktivisten dieser Formation gehörte. Und nicht nur das: Zill selbst imaginierte sich im Rückblick auf die frühen 1930er Jahre in die Rolle des aktiven Kämpfers für die ‚Bewegung‘. Er habe, so schrieb er in einem Lebenslauf, während der „nationalen Erhebung“ die beiden Plauener SS-Stürme geführt und sei bei der Reichstagswahl 1930 bei einer Saalschlacht schwer verletzt worden – durch einen „Bierglaswurf“.5 Nicht eine desolate berufliche Situation bedingte also Zills beruflichen Wechsel zur SS 1934, arbeitete er doch zu jenem Zeitpunkt bereits sieben Jahre bei der Plauener Tüll- und Gardinenfabrik. Nichts deutet darauf hin, daß ihm eine Kündigung drohte. Vielmehr sah Zill im Wechsel zur SS die Möglichkeit, sein Engagement für die ‚Bewegung‘, für die er sich seit seinem 17. Lebensjahr einsetzte, zu professionalisieren und mit dem Nimbus des Soldatischen zu versehen. Von 1934 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges sollte Zill in der SS mehr als nur eine berufliche Heimat finden. Zills Werdegang kann als typisch für die Laufbahnen der Mitglieder der Konzentrationslager-SS angesehen werden: Zunächst tat er als Wachmann in den frühen Konzentrationslagern Hohenstein, Sachsenburg und Lichtenburg Dienst, im Herbst 1936 wechselte er von der Wachtruppe in den Kommandanturstab. Drei Jahre lang durchlief Zill hier eine Art ‚Ausbildung‘: Er tat in den KZ Lichtenburg, Dachau und Buchenwald in verschiedenen Abteilungen6 der Kommandantur Dienst und lernte auf diese Weise die Mechanismen der Lagerbeherrschung kennen. Am 1. Dezember 1939 avancierte er dann erstmals zum Leiter einer Abteilung: Die übergeordnete Dienststelle, die Inspektion der Konzentrationslager (IKL), ernannte ihn zum 1. Schutzhaftlagerführer des KZ Dachau. Doch worin bestand die ‚Ausbildung‘, die Zill ebenso

266

KARIN ORTH

wie die anderen Mitglieder der Konzentrationslager-SS absolvierten? Welche Feindbilder versuchte die IKL den SS-Männern zu vermitteln? Zur Aufgabe der Lager-SS gehörte es in erster Linie, die KZ-Häftlinge zu bewachen. In der am 1. Oktober 1933 erlassenen „Disziplinar- und Strafordnung für das Gefangenenlager“ von Dachau hieß es einleitend: „Toleranz bedeutet Schwäche. Aus dieser Erkenntnis heraus wird dort rücksichtslos zugegriffen werden, wo es im Interesse des Vaterlandes notwendig erscheint.“7 Die SS-Führer versuchten ihre Untergebenen, insbesondere die SS-Rekruten, gegen die KZ-Insassen aufzubringen: „Dort hinter dem Draht lauert der Feind und beobachtet all Euer Tun, um Eure Schwäche für sich zu nutzen. Gebt Euch keine Blößen, zeigt diesen Staatsfeinden die Zähne. Jeder, der auch nur die geringste Spur von Mitleid mit diesen Staatsfeinden erkennen läßt, muß aus unseren Reihen verschwinden. Ich kann nur harte, zu allem entschlossene SS-Männer gebrauchen, Weichlinge haben bei uns keinen Platz!“8 Das „Interesse des Vaterlandes“ und die vermeintliche Gefährlichkeit der Häftlinge waren die Bezugsgrößen, mit denen man Brutalität zu legitimieren suchte. Zudem erschien die Gewalttätigkeit als Inbegriff von Männlichkeit. Um ihres Selbstbildes willen, aus Angst vor dem Spott der ‚Kameraden‘ und vor den Sanktionen der Vorgesetzten schlugen die SSMänner zu; nichts fürchteten sie mehr als das Verdikt der ‚Weichheit‘. Die „Dachauer Schule“ Die SS-Männer, vor allem die SS-Rekruten, wurden gezielt daran gewöhnt, Gewalt auszuüben. Man ließ sie zum Vollzug der Prügelstrafe antreten; sie lernten, mit eigenen Händen zu foltern und zu töten. Zahlreiche KZÜberlebende berichteten, wie dies vonstatten ging: „Täglich erschien ein SSUnterführer zur ‚Blockkontrolle‘ [im Block der jüdischen Häftlinge], das ging selten ohne Brutalitäten ab. Besonders schlimm aber war es, wenn ein ‚Neuer‘ zum ‚Anlernen‘ dabei war. [...] Nun legte der ältere der beiden SSMänner los: ‚Was – das soll Ordnung sein?! Ein Sauhaufen ist das! Hinlegen! Auf! Hinlegen! Auf!’ [...]. So ging das eine Zeitlang. Und dann zu dem anderen SS-Mann, auf einen Gefangenen zeigend: ‚Tret‘ dem Kerl in den Bauch!’ In neun von zehn Fällen schreckte der Jüngere vor diesem Befehl zurück. Und dann ging es weiter: ‚Was, Du hast Schiß vor dem Saujuden? Du willst ein Soldat des Führers sein? Ein Feigling bist du!‘ So ging es von Block zu Block [...]. Oft waren dann die Hemmungen des Jüngeren schon gebrochen, er trat und schlug, um ‚Härte‘ zu beweisen.“9 Alle Angehörigen der Konzentrationslager-SS durchliefen eine Art Schulung, die „Dachauer Schule“. In der Praxis erwarben sie ihr handlungsleitendes Wissen über die Behandlung der KZ-Häftlinge und nicht durch die selten anberaumten weltanschaulichen Schulungen. Gleichwohl kam der NS-Ideologie eine wichtige Funktion zu. Die SS-Männer agierten das aus, was bis zur

EGON ZILL

267

‚Machtergreifung‘ vorwiegend in Schriften und Worten präsent gewesen war. Sie prügelten und schikanierten die von ihren Vorgesetzten als „Staatsfeinde“ bezeichneten politischen Häftlinge, die als „asozial“ geltenden homosexuellen Gefangenen und in besonderem Maße die Juden. Es waren die jüdischen Gefangenen, die zu einem überproportional hohen Prozentsatz Opfer ihrer tödlichen Gewalt wurden. Schon das verweist auf die Bedeutung der ideologischen Aufladung der SS-Männer. Im Grunde erwies sich die ‚Ausbildung‘, die Zill und viele andere SS-Leute durchliefen, als Initiationsritus, der die SS-Männer unempfindlich gegen ihre eigene Gefühle – und die Qualen der Gefolterten – machen, vor allem jedoch in die Gemeinschaft der Täter integrieren sollte. Die gemeinsam begangenen Verbrechen schweißten die Mitglieder der Konzentrationslager-SS zu einer Gruppe zusammen. Im folgenden soll an zwei Beispielen konkret gezeigt werden, wie Zill in seiner Eigenschaft als 1. Schutzhaftlagerführer des KZ Dachau die Foltertechniken, die er während seiner ‚Ausbildung‘ erlernt hatte, anwandte. Das erste Ereignis, in den 1950er Jahren von der Staatsanwaltschaft rekonstruiert,10 fand um die Jahreswende 1940/41 statt. Die politischen Häftlinge des KZ Dachau, in dem sich zu diesem Zeitpunkt etwa 10000 männliche Gefangene befanden, versuchten zu Weihnachten des Jahres 1940, für die kurz zuvor nach Dachau verschleppten sogenannten Rotspanier – also Gefangene, die im Spanischen Bürgerkrieg für die Republik gekämpft hatten – eine Geldsammlung zu organisieren. In einigen Baracken gelang dies tatsächlich. Ein Spitzel denunzierte jedoch den Stubenältesten, Gustav Seitz, bei der Lagerführung. Seitz wurde zu Zill gerufen, der ihn zunächst fragte, ob er wisse, warum er gerufen worden sei. Als Seitz verneinte, wies Zill einige SSUnterführer an, Seitz in das Häftlingsbad zu bringen. Zill ließ ihn dort hinterrücks an den Armen aufbinden. Er forcierte die Folter, indem er Seitz’ Körper in Schwingungen versetzte und zuschlug. Immer wieder fragte er, ob Seitz wisse, weshalb er gerufen worden sei. Das Verhör wurde nur durch Zills ‚Brotzeit‘ unterbrochen. Nach über einer Stunde ließ er Seitz in den „Bunker“, das Lagergefängnis, schleppen. Zill richtete noch am selben Tag eine offizielle Strafmeldung an die IKL, die Seitz daraufhin mit 25 Doppelschlägen auf dem Prügelbock bestrafte. Ende Januar 1941 überwachte Zill, „wie es seine Art war, breitbeinig stehend und mit in die Hüften gestützten Händen“, den Vollzug der Prügelstrafe.11 Er wies einen SS-Sanitätsdienstgrad an, die offenen Wunden mit Jod einzureiben und befahl dem Gefolterten, 100 Kniebeugen zu machen. Nach wenigen Minuten brach Seitz zusammen.12 Solche Szenen gab es häufiger. Zahlreiche KZ-Überlebende beschrieben die Tortur der Prügelstrafe, zahlreiche das berüchtigte „Pfahlbinden“ oder „Baumhängen“: „Unter dem Balken waren Stricke heruntergelassen. Ich mußte einen Schemel besteigen und mir am Rücken an den Händen Fesseln anlegen lassen. Der Strick wurde angezogen, der Schemel weggestoßen und

268

KARIN ORTH

ruckartig hing ich etwa einen Meter über dem Boden in der Schwebe. Nur meinen Schmerzen überlassen, die Zähne zusammengebissen und dumpf stöhnend meinem Peiniger, dem Oberscharführer, vor Augen. [...] Qualvolle 1 ½ Stunden mochten vergangen sein, als ich vom Lagerältesten von den Fesseln befreit wurde [...]. Meine Arme waren schlaff und hingen kraftlos an mir herunter, als gehörten sie mir nicht. Jegliches Gefühl war darin erstorben. Nur die Augen sagten mir, daß ich noch Arme hatte. Der Lagerälteste schwenkte sie hin und her, ohne daß ich ihre Bewegung verspürte. Tagelang noch hielt dieser Zustand an, und es dauerte Wochen, bevor ich die Arme wieder gebrauchen konnte. Anderen Kameraden waren die Arme ausgekugelt worden.“13 Es handelte sich um unmittelbar ausgeübte Gewalt, um eine brutale Form der Folter. Perfider noch war der Terror, den die SS-Männer nicht eigenhändig ausübten, sondern an die Funktionshäftlinge delegierten. Ende November 1940 beispielsweise überwachte Zill wie jeden Morgen den Ausmarsch der Arbeitskommandos.14 Als das Kommando „Garagenbau“ an ihm vorbeizog, hielt Zill den Kapo an, deutete auf zwei Häftlinge polnischer Nationalität und befahl: „Diese beiden Lumpen will ich heute Abend nicht mehr sehen.“ Als das Kommando ins Lager zurückkehrte, brachte es zwei Tote mit. Der Kapo erstattete Zill Meldung über die Stärke seines Kommandos und die am Tage Verstorbenen. Zill quittierte dies mit den Worten: „Das nenne ich mir eine prompte Befehlsausführung.“ Der Kapo hatte die beiden Häftlinge getötet, weil er glaubte, daß Zill genau das von ihm verlangt habe. Obgleich der Tathergang gerade in diesem Fall keineswegs so eindeutig sein dürfte, wie hier geschildert,15 so gehörten solche Szenen doch zu den oft beschriebenen Geschehnissen des Lageralltags. Die Funktionshäftlinge setzten die Mordbefehle der SS-Männer in die Tat um, ohne daß der verantwortliche Täter selbst Hand anlegte. Meist mußten die Befehle nicht einmal ausgesprochen werden; eine Andeutung reichte aus, um sich zu verständigen. Nur selten wurden die Spielregeln dieser Kommunikation gegenüber Dritten aufgedeckt. Ein Beispiel sei angeführt: Kurz nach der Ermordung der – von Zill so bezeichneten – „beiden Lumpen“ veranstaltete Eleonore Baur, eine Vertraute Himmlers, die Zugang zum KZ Dachau hatte und dort als „Schwester Pia“ bekannt war,16 für eine Gruppe von rund 40 deutschen Funktionshäftlingen eine Weihnachtsfeier. Zu den Teilnehmern gehörten auch Mitglieder des Kommandanturstabes, darunter Zill. Eleonore Baur habe, so berichteten nach Kriegsende einige der beteiligten Gefangenen, Päckchen verteilt und sich mit den Häftlingen unterhalten. In diesen Gesprächen habe der Kapo der jüdischen Häftlinge, Knoll, zu Eleonore Baur gesagt: „‚Schwester, jetzt brauche ich noch zwei, dann habe ich 100 und bekomme vom Hauptsturmführer eine Brotzeit‘ und deutete auf Zill. Zill, der neben Pia stand, war offenbar peinlich berührt und ging weg. Pia hatte nicht verstanden,

EGON ZILL

269

was gemeint war, wir aber wußten es. Knoll wollte sagen, er müsse noch zwei Häftlinge erschlagen, dann habe er hundert umgebracht. Er handelte offenbar im Auftrag von Zill, der ihm für die Erledigung eine Brotzeit versprochen hatte.“17 In den KZ entwickelte sich im Laufe der Zeit eine Art sprachlicher ‚Code‘, die Lagersprache. Bestimmte Formulierungen verdichteten sich zu Chiffren, die die SS-Männer ebenso wie die Funktionshäftlinge mühelos entschlüsseln und verstehen konnten, nicht aber diejenigen, die neu im Lager waren oder außerhalb des Lagerkosmos lebten. Selbst Mord und Folter bedurften nun keiner strikten Anweisung mehr; eine Andeutung, ein bestimmtes Codewort reichte aus, um das Verbrechen in Gang zu setzen. Offenbar agierte Zill zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten.18 Seit Ende 1941 setzte die IKL ihn als Kommandant in den Konzentrationslagern Hinzert, Natzweiler und Flossenbürg ein. Allerdings blieb er nicht, wie die meisten Mitglieder der Konzentrationslager-SS, bis Kriegsende innerhalb des KZ-Systems stationiert. Am 1. August 1943 wurde er vielmehr zum Nachschubtrupp der SS-Freiwilligen-Gebirgsdivision „Prinz Eugen“ versetzt, tat dann bei der Gebirgsdivision „SS Kama“ Dienst und schließlich beim Lettischen SS-Feld-Ersatz-Depot Danzig. Dort erlebte Zill das Kriegsende. Über die Gründe für seine Versetzung zu den kämpfenden Einheiten der WaffenSS geben die überlieferten Quellen keine Auskunft.19 Unabhängig von den Hintergründen ist jedoch im hier diskutierten Zusammenhang hervorzuheben, daß Zill auch nach seiner Versetzung im Netz der Konzentrationslager-SS verfangen blieb. So führten seine bisherige Sozialisation und langjährige Tätigkeit etwa dazu, daß er sich in seinem neuen dienstlichen Umfeld nicht im Sinne seiner Vorgesetzten ‚bewähren‘ konnte. Diese monierten, daß Zill noch niemals mit „dem Feind“ in Berührung gekommen sei, zudem mangele es ihm an militärischen und taktischen Fähigkeiten.20 Zill könne, so hieß es beispielsweise im September 1944, trotz bestem Willen seine Stelle als Bataillonskommandeur nicht ausfüllen, denn er sei ein SS-Führer, „dem es infolge seiner bisherigen Verwendung beim Konzentrationslager Dachau an militärischer Grundausbildung fehlt“.21 Auch für ihn selbst blieb das KZ-System eine wichtige Bezugsgröße seines Lebens und Denkens. Zum einen ist anzuführen, daß seine Familie bis Kriegsende in der SS-Siedlung des KZ Dachau lebte und er selbst während der Urlaubszeiten dorthin zurückkehrte.22 Zum zweiten entwickelte er eine innerhalb der Logik der SS durchaus ‚innovative‘ Strategie, um den sich 1944 abzeichnenden Zusammenbruch der deutschen Frontlinien abzuwenden und die immensen Verluste der Waffen-SS auszugleichen. Denn Zill ist als Urheber des Gedankens anzusehen, reichsdeutsche KZ-Häftlinge in den Dienst der Waffen-SS zu stellen und sie der sogenannten SS-Sonderformation Dirlewanger einzugliedern. Zunächst hatte diese aus vorbestraften Wilddieben bestanden, ab Herbst 1944 wurden dann auch KZ-Häftlinge,

270

KARIN ORTH

Zuchthaus- und Wehrmachtsstrafgefangene in die Einheit überstellt und bewaffnet an die Front geschickt.23 Aufgrund der überlieferten Quellen läßt sich nachweisen, daß diese Initiative auf Zill zurückging. Er hatte Dr. Oskar Dirlewanger, dem Führer der SS-Sonderformation, Anfang Oktober 1944 den Vorschlag unterbreitet.24 Aufgrund seiner langjährigen Tätigkeit in der Konzentrationslager-SS sowie seiner nach wie vor bestehenden Verbundenheit mit dem Lagerkosmos erschien es Zill offenbar naheliegend, den drastischen Personalmangel bei der Waffen-SS durch eine derartige Rekrutierung auszugleichen. Tatsächlich griff Dirlewanger Zills Initiative auf, als er Himmler am 7. Oktober 1944 die Aufstellung einer solchen Fronteinheit vorschlug. Er wandte sich darüber hinaus an die IKL25 und besuchte schließlich höchstpersönlich einige Konzentrationslager. Er führte Gespräche mit den Lagerkommandanten und ermunterte sie, bis zu 250 „ehemalige politische Gegner der Bewegung aus[zusuchen], die nach eigener, fester Überzeugung der Lagerkommandanten sich innerlich gewandelt und den Wunsch haben, dies durch Teilnahme am Kampf des Großdeutschen Reiches unter Beweis zu stellen“.26 Bereits am 15. Oktober 1944 billigte Himmler sowohl die Rekrutierung reichsdeutscher KZ-Häftlinge durch die Lagerkommandanten als auch die Überstellung zur SS-Sonderformation Dirlewanger.27 Die erste Rekrutierungswelle fand in zahlreichen Konzentrationslagern bereits Ende Oktober 1944 statt28, eine zweite im März und April 194529. „Keine Einsicht oder Sühnewillen“ Nach dem Zusammenbruch seiner Welt versuchte Zill, sich – zumindest äußerlich – neu einzurichten. Er zog nach Hamburg, fand eine neue Lebensgefährtin und eine Anstellung als Platzwart des Sportplatzes der dortigen Universität und kehrte in die evangelische Kirche zurück.30 Der Versuch mißlang. Am 17. November 1948 überreichte der „Landesausschuß der politisch Verfolgten in Bayern“ der Staatsanwaltschaft München einen Brief, in dem zahlreiche Verbrechen beschrieben wurden, die im KZ Dachau begangen worden waren. Unter den vielen SS-Männer, die man dort nannte, befand sich auch der Namen von Egon Zill.31 Die nun einsetzenden Ermittlungen konzentrierten sich schnell auf Zill. Am 26. August 1952 erging Haftbefehl, acht Monate später wurde er in Hamburg festgenommen. Man verlegte ihn nach München, da er dort noch immer polizeilich gemeldet war und setzte die Voruntersuchungen fort.32 Zahlreiche Überlebende berichteten detailliert von Mordaktionen, Verelendung und Mißhandlungen, die mittelbar oder unmittelbar auf Zill zurückgingen. Dieser hingegen leugnete beharrlich, jemals an einem Verbrechen beteiligt gewesen zu sein. Die Beweislast war jedoch erdrückend, und Zill wurde folgerichtig am 10. Januar 1955 in erster Instanz zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt.33 Doch er blieb nicht lange in

EGON ZILL

271

Haft. Es gelang ihm 1961, die Wiederaufnahme des Verfahrens zu erreichen. Am 14. Dezember 1961 wurde das Urteil aufgehoben und Zill zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt, auf die jedoch die gesamte Untersuchungs- und Strafhaft angerechnet wurde. Im April 1963 wurde er entlassen, kehrte zu seiner Familie zurück und lebte bis zu seinem Tode am 23. Oktober 1974 an dem Ort, der ihm eine Heimat geworden war – in Dachau.34 Über die Haltung, die Zill nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zum Nationalsozialismus einnahm, gibt ein Bericht der Strafanstalt Straubing Auskunft, der anläßlich seiner Entlassung angefertigt wurde. Dort heißt es, Zill sei während seiner Haft wegen Handgreiflichkeiten und Beleidigungen gegen Mitgefangene aufgefallen, während er sich den Beamten gegenüber immer anständig und bescheiden verhalten habe: „Er ist ein geistig schwerfälliger Mensch von einfachem Format, gemütsmäßig ärmlich ausgestattet. Sein Wirkungsstreben ist auf äußerliches Auftreten gerichtet, er hat auch in der Anstalt sein militärisches Gebaren aufrechterhalten, so zum Beispiel durch das Zusammenschlagen der Haken beim Ansprechen. Das stramme Gebaren und die zur Schau gestellte harte Entschlossenheit ist nur Fassade; in Krisenzeiten kann er sehr wehleidig sein, z.B. beim Arzt. Er ist innerlich verspannt und wird schnell heftig, zeigt keine Einsicht oder Sühnewillen. Zudem verfällt er sofort in Selbstverteidigung und versucht noch heute, die Verhältnisse im KL zu bagatellisieren oder gar zu rechtfertigen. Er erweckt dabei den Eindruck, als ob noch heute nazistische Ideen in ihm fest verankert seien.“35 Egon Zill gehörte der sogenannten Kriegsjugendgeneration an, die den Ersten Weltkrieg nicht selbst erlebt hatte, wohl aber mit seinem Mythos aufgewachsen war. Er stammte aus relativ einfachen Verhältnissen und fand, ebenso wie seine spätere Frau, bereits als Jugendlicher Zugang zu rechtsradikalen Kreisen. Angesichts dieser Verankerung war es kein Zufall, daß er nach der ‚Machtergreifung‘ die Chance ergriff, hauptamtlich zur SS zu wechseln. Schon als Jugendlicher an Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung gewöhnt, fiel es ihm vermutlich nicht schwer, sich in die Reihen der Konzentrationslager-SS zu integrieren und die dort üblichen Initiationsriten, die Einübung in Foltertechniken, zu durchlaufen. Das Netz der Konzentrationslager-SS, in dem er bis zum Kommandanten aufstieg, wurde Zill zu einer Art Heimat. Integrale Bestandteile des auf vielfältige Weise verwobenen sozialen Netzes waren persönliche Freundschaften – auch Querelen –, ein am Ideologem der „SS-Sippengemeinschaft“ orientierter gesellschaftlicher Kontext sowie ein eigener sprachlicher ‚Code‘. Im Kern jedoch wurde das Geflecht durch die gemeinsam verübten Verbrechen zusammengehalten: durch die gemeinsame dienstliche Sozialisation und Dienstausübung, die Formen der kollektiven Gewalt hervorbrachte. Auch als Zill 1943 zu den kämpfenden Einheiten der Waffen-SS versetzt wurde, bildeten die Konzentrationslager nach wie vor eine wichtige Bezugsgröße seines Denkens und Handelns. Er

272

KARIN ORTH

blieb sogar über die Zäsur des Kriegsendes hinaus – zumindest mental – der Welt des Lagerkosmos verhaftet, die seinen Aufstieg in eine ungeheure Machtposition ermöglicht hatte, eine Position, in der er über Leben oder Tod entscheiden konnte. Bis 1945 war sein Metier die Gewalt. Dies spiegelt sich auch in den Aussagen der KZ-Überlebenden, die unter ihm zu leiden hatten. Für sie war Zill „die Drecksau“.36 Anmerkungen 1

Etwa Christopher Browning: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Reinbek 1993; Raul Hilberg: Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933–1945, Frankfurt/M. 1992; Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989, Bonn 1996. 2 Etwa Wolfgang Sofsky: Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager, Frankfurt/M. 1993. 3 Etwa Daniel Jonah Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996. 4 Vgl. Karin Orth: Die Konzentrationslager-SS. Sozialstrukturelle Analysen und biographische Studien, Göttingen 2000. 5 Alle Zitate Lebenslauf Zill v. 21.8.1934, BAB, BDC, RuSHA Egon Zill. 6 Dazu, zur Struktur der Lager-SS und des Kommandanturstabes Orth (Anm. 4), S. 38–49. 7 Konzentrationslager Dachau/Kommandantur: Disziplinar- und Strafordnung für das Gefangenenlager v. 1.10.1933, in: IMG, Bd. 26, Nürnberg 1947, S. 292. 8 So berichtete der spätere Kommandant des KZ Auschwitz, Rudolf Höß, über seine ‚Ausbildung‘ in Dachau, Archiwum Państwowe Muzeum Oświęcim, Höß-Prozeß, H 21 b, Bl. 231. 9 Bericht eines deutschen politischen Häftlings des KZ Buchenwald, in: Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald-Dora (Hrsg.): Buchenwald. Ein Konzentrationslager. Bericht der ehemaligen KZ-Häftlinge Emil Carlebach u.a., Frankfurt/M. 1984, S. 109 f. 10 Die Darstellung folgt den staatsanwaltlichen Erkenntnissen, StAM, Staw München II 12 Ks 13/54. 11 Anklage Staw München II v. 10.8.1954, ebd., Bd. 7. 12 Gegen Zill wurde in 48 Fällen wegen Mißhandlung Anklage erhoben. 13 Bericht Walter Heiser, zit. nach: Ulrich Bauche u.a. (Hrsg.): Arbeit und Vernichtung. Das Konzentrationslager Neuengamme 1938–1945, Hamburg 21991, S. 151. 14 Die Beschreibung folgt dem Urteil LG München II v. 10.1.1955, in: JNS, Bd. 18, Amsterdam 1978, S. 38. 15 Der hier nur verkürzt dargestellte Tathergang ist niemals aufgeklärt worden; es gelang der Staw München II nicht zu rekonstruieren, wer die beiden Menschen tötete, ob der Kapo, Karl Kapp, die Worte Zills als Aufforderung zum Mord verstand, ob Zill diese Formulierung überhaupt benutzte und schließlich, ob die beiden Häftlinge überhaupt ermordet wurden oder ob sie nicht aus anderen Gründen starben; die Darstel-

EGON ZILL

273

lungen fanden ihren Niederschlag in zwei einander widersprechenden Urteilen, vgl. Anklage Staw München II v. 10.8.1954, StAM, Staw München II 12 Ks 13/54, Bd. 7; Urteil LG München II v. 10.1.1955, ebd.; hingegen dto. v. 14.12.1961, in: JNS, Bd. 18, Amsterdam 1978, S. 31 ff., 38 ff.; dto. v. 14.10.1960, StAM, Staw München II 12 Ks 13/54, Bd. 8. 16 Vgl. Hans Holzhaider: „Schwester Pia“. Nutznießerin zwischen Opfern und Tätern, in: Dachauer Hefte 10 (1994), S. 101–114. 17 Vern. Karl F. v. 12.2.1969, StAM, Staw München II 1 Js 51/65, Sammelheft 3 a, Bl. 117 f.; vgl. dto. Emmerich H. v. 12.12.1968, ebd., Bl. 240. 18 1939 allerdings war Zill mit einem „förmlichen Verweis“ bestraft worden; aufgrund seiner Fahrlässigkeit, so warf man ihm vor, habe ein Häftling aus dem KZ Lichtenburg fliehen können, Verfügung v. 31.7.1939, BAB, BDC, SSO Egon Zill. 19 Möglicherweise wurde Zill, der gelernte Bäcker, den Anforderungen nicht gerecht, die, einhergehend mit dem Funktionswandel des KZ-Systems, in der zweiten Kriegshälfte an die Konzentrationslager-SS herangetragen wurden, vgl. Orth (Anm. 4), S. 205–213. 20 Beurteilung v. 17.12.1943, BAB, BDC, SSO Egon Zill; vgl. dto. v. 4.6.1944, ebd. 21 Dto. v. 30.9.1944, ebd. 22 Dies geht aus der polizeilichen Meldekarte der Familie Zill hervor, StAM, Staw München II 12 Ks 13/54, Bd. 3, Bl. 66. 23 Vgl. Hans-Peter Klausch: Antifaschisten in Uniform. Schicksal und Widerstand der deutschen politischen KZ-Häftlinge, Zuchthaus- und Wehrmachtsstrafgefangenen in der SS-Sonderformation Dirlewanger, Bremen 1993. 24 Dies geht aus einem Brief Dirlewangers an Himmler v. 7.10.1944 hervor, in dem als Betreff ein „Vorschlag des SS-Stubaf. Zill“ genannt wird, BA-ZA, ZM 1493/20. 25 Die IKL war im Frühjahr 1942 als Amtsgruppe D dem neu gegründeten SSWirtschafts-VerwaltungsHA zugewiesen worden. 26 Auch die Art der Rekrutierung war von Zill vorgeschlagen worden. 27 Adjutantur RFSS an SS-HA v. 15.10.1944, BAB, NS 3/401. 28 Vgl. Klausch (Anm. 23), S. 144–178. 29 Ebd., S. 316–326. 30 Wie Anm. 22. 31 Landesausschuß der politisch Verfolgten in Bayern an Staw München II v. 17.11.1948, StAM, Staw München II 12 Ks 13/54, Bd. 1, Bl. 1. 32 Die gerichtliche Voruntersuchung dehnte sich schnell aus; Zill wurde bald auch verdächtigt, sich an der Ermordung der sowjetischen Kriegsgefangenen im KZ Dachau beteiligt zu haben, Verfügung v. 22.9.1953, ebd., Bd. 4, Bl. 76. 33 Urteil LG München II v. 10.1.1955, ebd., Bd. 7. 34 Bis zu seinem Tode wurde gegen Zill ermittelt, ohne daß jedoch nochmals ein Verfahren in Gang gekommen wäre, StAM, Staw München II 12 Js 73/59; 10a Js 61/61; Da 12 Js 48/55; 13 Js 13/68; 12 Js 5/70; 12 Js 17/70; 13 Js 17 ab/69; 24 Js 11/ 72 (Z); 1 Js 51/65. 35 Bericht Strafanstalt Straubing v. 22.3.1963, ebd. 12 Ks 13/54, Vollstreckungsheft, Bl. 52 f. 36 So die von Überlebenden am häufigsten genannte Charakterisierung, ebd., Bd. 2.

Abkürzungsverzeichnis AEL AfS A.K. AMV Anm. AOK AstA BAB BAK BAL BA-MA Batl. BA-ZA BDC BdM BdO BdS Berück BGH BKA BMI BO BSA CdO CdS DAG DAIFO DALO DD(WASt) Ders. Dok.Slg. Dto. EG EK EM ERA FGA FK GebK GenK Gestapa Gestapo

Arbeitserziehungslager Archiv für Sozialgeschichte Armeekorps Archiv Ministerstva Vnitra Prag Anmerkung Armeeoberkommando Allgemeiner Studentenausschuß Bundesarchiv Berlin Bundesarchiv Koblenz Bundesarchiv-Außenstelle Ludwigsburg Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg/B. Bataillon Bundesarchiv-Zwischenarchiv Dahlwitz-Hoppegarten Berlin Document Center Bund deutscher Mädel Befehlshaber der Ordnungspolizei Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD Befehlshaber des rückwärtigen Heeresgebietes Bundesgerichtshof Bundeskriminalamt Bundesministerium des Innern Beiordner Belorussisches Staatsarchiv Minsk Chef der Ordnungspolizei Chef der Sicherheitspolizei und des SD Deutsche Ansiedlungsgesellschaft Staatliches Oblast-Archiv Ivano-Frankivs’k Staatliches Oblast-Archiv Lemberg Deutsche Dienststelle (Wehrmachtsauskunftsstelle) Berlin Derselbe Dokumentensammlung Derselbe/Dieselbe/Dasselbe Einsatzgruppe Einsatzkommando Ereignismeldung UdSSR Eesti Riigiarhiiv Tallinn Feldgendarmerieabteilung Feldkommandantur Gebietskommissar(iat) Generalkommissar(iat) Geheimes Staatspolizeiamt Geheime Staatspolizei

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

GK GPK GStaw GWU HA HGS HSSPF HStAD HStAM HStAS Ia Ic ID IdO IfZ IMG

Inf.Brig. IPN IR JAG JNS Kav.Brig. Kav.Rgt. KdF KdO KdoS KdS Kdt.i.W. KL Korück KTB KV LAS LG LKA LO Ltd. MG MHA Ms. Nbg.Dok. NARA NEKA

275

Glówna Komisja Badania przeciwko Narodowi Polskiemu Grenzpolizeikommissariat Generalstaatsanwalt Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Hauptamt Holocaust and Genocide Studies Höherer SS- und Polizeiführer Hauptstaatsarchiv Düsseldorf Hauptstaatsarchiv München Hauptstaatsarchiv Stuttgart Erster Generalstabsoffizier (Taktische Führungsabteilung) Dritter Generalstabsoffizier (Feindlage/Abwehr) Infanterie-Division Inspekteur der Ordnungspolizei Institut für Zeitgeschichte München Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg 14. November 1945– 1. Oktober 1946 Infanterie-Brigade Instytut Pamięci Narodowej Infanterie-Regiment Judge Advocate General Justiz- und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1966 Kavallerie-Brigade Kavallerie-Regiment Kanzlei des Führers Kommandeur der Ordnungspolizei Kommandostab Reichsführer-SS Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD Der Kommandant in Weißruthenien Konzentrationslager Kommandant des rückwärtigen Armeegebietes Kriegstagebuch Kriegsverbrecherprozesse Landesarchiv Schleswig Landgericht Landeskriminalamt Leitz-Ordner Leitender Maschinengewehr Militärhistorisches Archiv Prag Manuskript Nürnberger (Anklage-)Dokumente National Archives and Records Administration College Park/MD Nordelbisches Kirchenarchiv Kiel

276

NKWD NL Offz. OKH OKW OLG OStaw PB PK PP PRO Pz.Aufkl.Abt. Pz.Gren.Div. Reit.Abt. RFSS RG RGVA RKM RKO RM RMI RMO RP RPB RSHA R.u.S. RuSHA SAPMO SB SD SHAL SK Slg. SSO SSPF StAA StAL StAM StAMA StAMS StAN Staw StGB u.k. USHMM Vern.

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

Narodny Komissariat Wnutrennich Del Nachlaß Offizier Oberkommando des Heeres Oberkommando der Wehrmacht Oberlandesgericht Oberstaatsanwalt Polizeibataillon Parteikorrespondenz Polizeipräsident Public Record Office Kew Panzer-Aufklärungs-Abteilung Panzer-Grenadier-Division Reitende Abteilung Reichsführer-SS Record Group Rossiiskii Gosudarstvennyi Voennyi Arkhiv Moskau Reichskirchenministerium Reichskommissar(iat) Ostland Reichsmark Reichsministerium des Inneren Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete Regierungspräsident Reserve-Polizeibataillon Reichssicherheitshauptamt Rasse- und Siedlungs Rasse- und Siedlungshauptamt Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR Sonderband Sicherheitsdienst Reichsführer-SS Staatliches Historisches Archiv Riga Sonderkommando Sammlung SS-Offiziersakte SS- und Polizeiführer Staatsarchiv Augsburg Staatsarchiv Ludwigsburg Staatsarchiv München Staatsarchiv Marburg Staatsarchiv Münster Staatsarchiv Nürnberg Staatsanwalt(schaft) Strafgesetzbuch unabkömmlich United States Holocaust Memorial Museum Washington D.C. Vernehmung

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

VfZ VVN WüIM YIVO z.b.V. ZfG ZSL

Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes Württembergisches Innenministerium Institute for Jewish Research New York Zur besonderen Verwendung Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen Ludwigsburg

277

Die Autoren Angaben beziehen sich auf 2004 ANDREJ ANGRICK, Dr.phil.; geb. 1962; Studium der Geschichte, Germanistik, Philosophie und Pädagogik an der Technischen Universität Berlin; Promotion 2000; Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur; Veröffentlichungen u.a.: Zur Rolle der Militärverwaltung bei der Ermordung der sowjetischen Juden, in: Babette Quinkert (Hrsg.): „Wir sind die Herren dieses Landes“. Ursachen, Verlauf und Folgen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, Hamburg 2002, S. 104–123; Besatzungspolitik und Massenmord. Die Einsatzgruppe D in der südlichen Sowjetunion 1941–1943, Hamburg 2003; lebt in Berlin. RUTH BETTINA BIRN, Dr.phil.; geb. 1952; Studium der Geschichte, Orientalistik und Ethnologie in München, Tübingen und Stuttgart; Promotion 1985; Chefhistorikerin der War Crimes Section des kanadischen Justizministeriums; Veröffentlichungen u.a.: Die Höheren SS- und Polizeiführer. Himmlers Vertreter im Reich und in den besetzten Gebieten, Düsseldorf 1986; Collaboration with Nazi Germany in Eastern Europe: The case of the Estonian Security Police, in: Contemporary European History 10(2001), S. 181–198; The Holocaust goes to Court. A View from the Canadian Courtroom, in: John K. Roth u.a. (Hrsg.): Remembering for the Future, Oxford 2001; lebt in Ottawa. MARTIN CÜPPERS, M.A.; geb. 1966; Studium der Geschichte und Romanistik in Trier und an der Humboldt-Universität Berlin; Doktorand an der Universität Stuttgart; arbeitet derzeit an einer Dissertation über den Kommandostab Reichsführer-SS und die unterstellten Verbände der Waffen-SS; lebt in Berlin. FLORIAN DIERL, M.A.; geb. 1969; Studium der Geschichte und Politikwissenschaft in Frankfurt/M. und Bamberg; Doktorand am Royal Holloway College, University of London; arbeitet derzeit an einer Dissertation mit dem Thema: Die „innere Wehrmacht“ des „Dritten Reiches“: Deutsche Ordnungspolizei und die Transformation der Staatsgewalt 1936–1945; Veröffentlichung: Das Hauptamt Ordnungspolizei 1936 bis 1945 – Führungsspitze und die Befehlshaber in den Wehrkreisen, in: Alfons Kenkmann/Christoph Spieker (Hrsg.): Im Auftrag. Polizei, Verwaltung und Verantwortung, Essen 2001, S. 159–175; lebt in Berlin. CARLO GENTILE, M.A.; geb. 1960; Studium der Geschichte, Judaistik und Historischen Hilfswissenschaften in Köln; freischaffender Historiker und Sachverständiger für italienische und deutsche Justizbehörden in Verfahren wegen Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg; Veröffentlichungen u.a.: Gegen die Verbündeten von einst. Die Gestapo in Italien, in: Gerhard Paul/Klaus-Michael Mallmann (Hrsg.): Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. ‚Heimatfront‘ und besetztes Europa, Darmstadt 2000, S. 521–

KARRIEREN DER GEWALT

279

540 (zus. mit Lutz Klinkhammer); Politische Soldaten. Die 16. SS-Panzer-GrenadierDivision „Reichsführer-SS“ in Italien 1944, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 81(2001), S. 529–561; mehrere Beiträge in Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Orte des Grauens. Verbrechen im Zweiten Weltkrieg, Darmstadt 2003; lebt in Köln. HANNES HEER, geb. 1941; Studium der Literaturwissenschaft, Geschichte und Philosophie in Bonn und Freiburg/B.; Publizist und Filmregisseur; schreibt derzeit ein Buch über Wehrmacht und Holocaust; Veröffentlichungen u.a.: Tote Zonen. Die deutsche Wehrmacht an der Ostfront, Hamburg 1999; Einübung in den Holocaust: Lemberg Juni/Juli 1941, in: ZfG 49(2001), S. 409–427; Vom Verschwinden der Täter. Die Auseinandersetzungen um die Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“, ebd. 50(2002), S. 869–898; lebt in Hamburg. MARTIN HÖLZL, M.A.; geb. 1971; Studium der Geschichte und Sozialwissenschaften in Münster; Mitarbeiter im Geschichtsort Villa ten Hompel und Doktorand an der Universität Münster; arbeitet derzeit an einer Dissertation über das Polizeibataillon 316; Veröffentlichung: Grüner Rock und weiße Weste: Adolf von Bomhard und die Legende von der sauberen Ordnungspolizei, in: ZfG 50(2002), S. 22–43; lebt in Münster. PETER KLEIN, M.A.; geb. 1962; Studium der Geschichte, Politologie sowie der Buchund Bibliothekswissenschaften in Erlangen und Berlin; Doktorand an der Technischen Universität Berlin und derzeitiger Sprecher der Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944“; arbeitet derzeit an einer Dissertation mit dem Thema: Judenpolitik im Reichsgau Wartheland. Das Ghetto Lodz; Veröffentlichungen u.a.: Strategy or Improvisation? The Ghetto of Riga as the Destination of Deportations from Western Europe, in: The Issues of the Holocaust Research in Latvia, Riga 2001, S. 74–83; Zwischen den Fronten. Die Zivilbevölkerung Weißrußlands und der Krieg der Wehrmacht gegen die Partisanen, in: Babette Quinkert (Hrsg.): „Wir sind die Herren dieses Landes“. Ursachen, Verlauf und Folgen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, Hamburg 2002, S. 82–103; lebt in Berlin. ELISABETH KOHLHAAS, Dipl.pol.; geb. 1962; Studium der Germanistik und Politikwissenschaft in Berlin und Urbino; Doktorandin an der Universität Flensburg; arbeitet derzeit an einer Dissertation über das weibliche Personal der Gestapo und an einem Forschungsprojekt über Wehrmacht und Wehrmachtsjustiz in Aschaffenburg am Kriegsende 1945; Veröffentlichungen: Die Mitarbeiter der regionalen Staatspolizeistellen. Quantitative und qualitative Befunde zur Personalausstattung der Gestapo, in: Gerhard Paul/Klaus-Michael Mallmann (Hrsg.): Die Gestapo. Mythos und Realität, Darmstadt 1995, S. 219–235; Female Complicity in the Crimes of the National Socialists and how Germans remember it, in: DasArts Amsterdam (Hrsg.): Annual Report 2002; lebt in Leipzig. KONRAD KWIET, Dr.phil.habil.; geb. 1941; Studium der Geschichte und Politikwissenschaft in Berlin und Amsterdam; Promotion 1967; Habilitation 1973; Professor für





K+A) FGJ+ 1FJ1F3G)F GJ@ @F$K@F3.3JAGFGJ+ 1F1F @F1+L @A+GOF3$FO* 1 OBF AG7@3$ AAJ@ 1F J1F  ..3MA)+7AF +1F  1F +  @.1 1F 1'.1F F J1F  JGA).1BF  @5$$ 1G.+)J1' 1F J::F  .AG )J7GJ1'F J1F + @AG1:F  JGA)

J 1F+0F 07$FJ0FN+AG 1PFJ1F 1A) 1MK@ F62HH"62&%F0J@'F62!&F8PJA:F 0+GF .0JGFA)M ' 9BFF J1F  A GPG AF J@37F @0AGGF IQQQF 8@A':F PJA00 1F 0+GF  @)@ J.9BF JGA) @FAG 1F62H2"62&%:F @F .G1A)JJ1'A-@+ 'F+1F)3G3AFJ1F NG 1F @0AGGF IQQHF 8@A':F PJA00 1F 0+GF 3.- @F + (F J:F 3.$@0F OG9BF . GF +1F J* M+'AJ@':   @:7)+.:BF' :F62%2BFGJ+J0F @F A)+)G FJ1F)+.3A37)+ F+1F 3)J0BF@303G+31F622IBF+AG3@+- @F0F1+G FGG AF3.3JAGF 03@+.F JA J0 A)+1'G31F::BFAG7@3$ AAJ@ 1F+1F JGA).1FJAG@.+ 1FJ1F 1FBF @5$* $ 1G.+)J1' 1F J::F G+31A+.J1'F +1F JAG@.+ 1F L31F  1F 1$1' 1F M +( @F  A+ * .J1'F +AF PJ0F @AG 1F  .G-@+ 'F 86C!!"626&9F @1-$J@GE :F J::F 622HBF +1AGPF +0F