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German Pages 244 [248] Year 2005
Nikolai F. Klimmek Kants System der transzendentalen Ideen
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Kants tudien Ergänzungshefte im Auftrage der Kant-Gesellschaft herausgegeben von Gerhard Funke, Manfred Baum, Bernd Dörflinger und Thomas M. Seebohm
147
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Nikolai F. Klimmek
Kants System der transzendentalen Ideen
Walter de Gruyter · Berlin · New York
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 3-11-018349-8 Bibliografische Information Der Deutschen
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für meine Eltern
Inhaltsverzeichnis
1 1.1 1.2 1.3
Einleitung Zum Thema dieser Arbeit Der systematische Ort der kantischen Ideenlehre: die „transzendentale Dialektik" Begriff und Aufgabe der „subjektiven" Deduktion der transzendentalen Ideen
I. Teil: 1 1.1 1.2
2 2.1 2.2
3
2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4
4 7
Logischer und realer Vernunftgebrauch
Der logische Vernunftgebrauch als Leitfaden für die Entdeckung des realen Vernunftgebrauchs Die Vernunft im logischen Gebrauch: das Vermögen des mittelbaren Schließens Die Vernunft im realen Gebrauch: das „oberste Prinzip der reinen Vernunft"
17 18 31
Die Klassifikation der transzendentalen Ideen Die Relation zwischen Bedingtem und Bedingung als Klassifikationsprinzip Der mögliche Bezug von Vorstellungen in Urteilen als Klassifikationsprinzip
42
Zwischenergebnis
51
II. Teil: 1 1.1 1.1.1 1.2
1 1
40 40
Die subjektive Deduktion der transzendentalen Ideen
Einführung zweier Interpretationshypothesen Eine Hypothese zum Verhältnis von Kategorien- und Ideentafel Der Vorschlag von M. L. Miles Eine Hypothese zur Struktur der subjektiven Deduktion der transzendentalen Ideen
57 57 70
Das System der kosmologischen Ideen Die subjektive Deduktion der kosmologischen Ideen Die erste kosmologische Idee Die zweite kosmologische Idee Die dritte kosmologische Idee Die vierte kosmologische Idee
75 75 79 87 91 94
73
VIII
Inhaltsverzeichnis
2.2 Die kosmologischen Ideen als ins Unbedingte erweiterte Kategorien 2.2.1 Zeit- und Raumganzes als Varianten ins Unbedingte erweiterter Vielheit 2.2.2 Vollendete Teilung als ins Unbedingte erweiterte Negation 2.2.3 Vollständigkeit der Entstehung einer Erscheinung als ins Unbedingte erweiterte „Kausalität-Dependenz" 2.2.4 Vollständige Abhängigkeit unter den Weltveränderungen als ins Unbedingte erweitertes „Dasein-Nichtsein" 2.3 Das sophisma figurae dictionis und der dialektische Schluss der rationalen Kosmologie
3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4
4 4.1 4.2
Das System der psychologischen Ideen Vorbereitungen Der systematische Ort der „logischen Paralogismen" Die „Topik der reinen Seelenlehre" als Tafel psychologischer Ideen Das Bedingte der rationalen Psychologie Formale und reale, subjektive und objektive Bedingungen des Denkens Der Gegenstand, der psychologischen Ideen Zwischenergebnis und Deduktionsskizze Die subjektive Deduktion der psychologischen Ideen Die erste psychologische Idee Die zweite psychologische Idee Die dritte psychologische Idee Die vierte psychologische Idee Die psychologischen Ideen als ins Unbedingte erweiterte Kategorien .... Die Seele als ins Unbedingte erweiterte Substanz Simplizität der Seele als ins Unbedingte erweiterte Realität Numerische Identität des Denkers als ins Unbedingte erweiterte Einheit Idealität äußerer Gegenstände und unbezweifelbare Existenz der Seele als ins Unbedingte erweiterte „Möglichkeit-Unmöglichkeit"
Das transzendentale Ideal Vorbemerkungen Der gültige Schluss vom Grundsatz der durchgängigen Bestimmung auf die Idee von einem All der Realität 4.3 Eine Rekonstruktion des fehlenden „Systems der theologischen Ideen" 4.3.1 Das Analogon zur „Topik der rationalen Seelenlehre" 4.3.2 System und subjektive Deduktion der theologischen Ideen gemäß unserer Interpretationshypothesen 4.3.2.1 Die Idee der omnitudo realitatis als vierfach ins Unbedingte erweiterte Kategorie 4.3.2.2 Die subjektive Deduktion der theologischen Ideen
103 104 107 111 112 113
117 117 118 121 123 129 132 133 138 139 141 143 148 151 153 154 157 158 163 163 165 180 182 185 187 195
Inhaltsverzeichnis
4.4
4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4 4.4.5
IX
M o t i v e für und V o l l z u g der dialektischen V e r w a n d l u n g der Idee der onmituclo realitatis - Der transzendentale Schein in der rationalen T h e o l o g i e und seine kritische A u f h e b u n g 200 Der dialektische S c h l u s s der rationalen T h e o l o g i e 200 Der dialektischen M e t a m o r p h o s e erster Teil: von der Idee der omnitudo realitatis z u m Begriff des ens realissimum .. 2 0 4 D e r dialektischen M e t a m o r p h o s e zweiter Teil: v o m Begriff des ens realissimum z u m B e g r i f f des personalen Gottes .... 2 1 4 D e r „hintertreibliche" Schein der G o t t e s b e w e i s e 217 E i n e H y p o t h e s e z u m Verhältnis v o n B e g r i f f s g e n e s e und Gottesbeweiskritik 220
Zusammenfassung
225
Anlagen Literaturverzeichnis Personenregister
229 231 237
1
1.1
Einleitung
Zum Thema dieser
Arbeit
Die kritische Auseinandersetzung mit der dogmatischen Metaphysik ist bekanntermaßen nicht Kants einziges Anliegen in der „transzendentalen Dialektik" (TD) der „Kritik der reinen Vernunft" ( K d r V ) . Obwohl Kant diese „zweite Abteilung der transzendentalen Logik" ausdrücklich als eine „Kritik des dialektischen Scheins" verstanden wissen will, in welcher die Irrtümer und anmaßenden Behauptungen transzendenter Metaphysik entlarvt werden sollen, enthält die transzendentale Dialektik einen konstruktiven Kern: die Lehre von den so genannten „transzendentalen Ideen". Die transzendentalen Ideen bzw. „Vernunftbegriffe" sind nach den Kategorien und Grundsätzen die letzten ursprünglichen Elemente des reinen Verstandes i.w.S., die es im Rahmen der ,,Elementarlehre" einer Kritik des reinen Verstandes aufzufinden gilt. Kant trägt insofern dem Faktum der über zweitausendjährigen Geschichte vorkritischer Metaphysik Rechnung, indem er zu zeigen versucht, dass die dogmatische Metaphysik bei ihren Versuchen, das Unbedingte zu erkennen, „einer natürlichen und unvermeidlichen Illusion" (A298/B354) aufsitzt, die er zu seiner eigenen Lehre von den Vernunftbegriffen, deren Ursprung er wiederum auf die Ausübung ganz bestimmter invarianter Vernunftfunktionen zurückführt, in Beziehung setzt. Denn: „Das heißt nicht philosophieren, wenn man lediglich darzutun sucht, daß etwas ein Wahn, eine Täuschung des Verstandes sei, sondern man muß einsehen lernen, wie eine solche Täuschung möglich war."1 Die Möglichkeit der Täuschung, den Fehler der natürlichen metaphysica specialis, die Kant in Anlehnung an Wolff und Baumgarten in psychologia, cosmologia und theologia rationalis gliedert, erklärt er folgendermaßen: Während es sich Kant zufolge bei den transzendentalen Ideen um notwendige, nicht zufällig erdichtete Vorstellungen handelt, die als Richtung gebende und Einheit stiftende Prinzipien wissenschaftlicher Erkenntnis fungieren, hält die unkritische spezielle Metaphysik diese regulativen Prinzipien für konstitutiv und postuliert den Ideen korrespondierende Gegenstände, die sie zudem für erkennbar hält. Kants kritisches Vorhaben,
1
Refl. 3706, AA XVII, S. 242.
2
Einleitung
die Illusionen transzendenter M e t a p h y s i k in ihrer Vollständigkeit zu rekonstruieren - nicht etwa exemplarisch wird bestimmten Spekulationen über die Seele, die W e l t und die Existenz Gottes der B o d e n entzogen, sondern aller möglichen „natürlichen" M e t a p h y s i k ! -, mündet daher in seinen eigenen Anspruch, ein vollständiges S y s t e m transzendentaler Ideen entdeckt zu haben. D i e Frage, o b es Kant gelungen ist, sowohl die Unvermeidlichkeit der Illusionen als auch ihre Vollständigkeit zu erweisen, verdient nicht nur auf Grund der ungeheuren Originalität seiner Thesen größte A u f m e r k s a m k e i t . Eine Rekonstruktion von K a n t s Genesis natürlicher M e t a p h y s i k m u s s auch nicht allein in den Dienst eines rechten Kant-Verständnisses gestellt werden. V o m Erfolg oder Misserfolg des einzigartigen Versuchs Kants hängt möglicherweise auch ab, o b historisierenden Ansätzen etwas Plausibles entgegengehalten werden kann, die davon ausgehen, es habe sich bei der transzendenten M e t a p h y s i k (bloß) um eine E p o c h e des D e n k e n s gehandelt, die beispielsweise durch ein besonderes Verhältnis des M e n s c h e n zur Natur charakterisiert gewesen ist. D a s s Kant die Missverständnisse der natürlichen M e t a p h y s i k nicht als P r o d u k t e der Gesellschaftsgeschichte, sondern ahistorisch als P r o d u k t e der Natur der menschlichen Vernunft interpretiert, lässt sich d e m Text entnehmen, wenn wir lesen, es handele sich um „Sophistikationen, nicht der M e n s c h e n , sondern der reinen V e r n u n f t selbst" (A339/B397), und unter P r o d u k t e n „der M e n s c h e n " im Gegensatz zu Produkten „der reinen V e r n u n f t selbst" solche verstehen, welche die M e n s c h e n a u f g r u n d bestimmter kultureller, sozialer, politischer oder ökonomischer Verhältnisse hervorgebracht haben. Z u m Stand der Forschung: Es liegen einige detaillierte Analysen dieses Lehrstücks oder zumindest von Teilen dieses Lehrstücks der „Kritik der reinen Vern u n f t " vor. Diese sind meist jüngeren D a t u m s 2 , da sich die detaillierten K o m m e n tare einerseits lange Zeit fast ausschließlich auf die „transzendentale Ästhetik" und vor allem die „transzendentale Analytik" b e z o g e n und andererseits, wenn sie sich mit der transzendentalen Dialektik beschäftigten, weniger Interesse an den systematischen Ü b e r l e g u n g e n Kants zeigten als an seiner Kritik der einzelnen Paralogismen, A n t i n o m i e n und Gottesbeweise. Dies w i e d e r u m ist insofern erstaunlich, als bereits der erste Satz der Vorrede zur A - A u f l a g e der KdrV die gesamte kantische Kritik des Erkenntnisvermögens mit den W o r t e n motiviert: „Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft." (A VII)
2
Malzkorn 1999, Bazil 1995, Schmucker 1990, Reisinger 1988, Piche 1984, Miles 1978.
Zum Thema dieser Arbeit
3
Während die einschlägigen Antwortversuche der metaphysischen Tradition auf diese Fragen im Einzelnen ebenso diskutiert wurden und werden wie die kantische Kritik derselben, ist bisher vergleichsweise wenig Energie darauf verwandt worden, die der Vernunft natürlichen und unabweisbaren Fragen selbst im systematischen Zusammenhang zu rekonstruieren. Dabei liegt in Gestalt dieser Antworten ein illegitimer „konstitutiver Gebrauch" (vgl. A644/B672) genau derjenigen transzendentalen Ideen vor, deren „System" das Thema dieser Arbeit ist. Insbesondere über die Struktur dieses Systems besteht noch einige Unklarheit, und dies nicht zuletzt deshalb, weil sich die gesetzten Prioritäten der Kommentatorenschaft von Generation zu Generation zu vererben schienen. Uns ist in der Kant-Literatur keine Studie begegnet, die den kantischen Ansprüchen an Notwendigkeit und Vollständigkeit der transzendentalen Ideen sowohl mit ausreichender Schärfe begegnet als auch zu einer Bewertung gelangt, nach der Kant seine Beweisziele erreicht. Die Mehrheit der Kommentatoren wirft Kant vor, es handele sich bei seinem System der transzendentalen Ideen um einen nicht nur künstlichen, sondern vor allem missglückten Versuch, klassische Probleme der metaphysial specialis in seine Systematik der Erkenntnisvermögen einzubetten. 3 Dieser Auffassung möchten wir erstens eine Rekonstruktion der „subjektiven Deduktion" der transzendentalen Ideen entgegenhalten, die Kants Behauptung von der notwendigen Hervorbringung der Ideen - wenigstens im Rahmen seiner eigenen Grundannahmen - zu rechtfertigen sucht, und zweitens eine auf der Textgrundlage der „transzendentalen Dialektik" gebildete Interpretationshypothese bezüglich der Systematik der psychologischen, kosmologischen und theologischen Ideen zur Bestätigung bringen, nach der sich das Ideensystem harmonisch auf das der Kategorien beziehen lässt. Ohne die Augen vor den Problemen, die der Text aufwirft, zu verschließen, gehört es zum Selbstverständnis dieser Arbeit, dem Prinzip der hermeneutischen Billigkeit folgend nicht davon auszugehen, dass Kant dem Leser mehr Systematik vorgaukelt als er begründen kann und gewissermaßen selbst ein einziges Blendwerk errichtet. Mit seinen eigenen Worten gesprochen wollen wir also ,,[d]en Autor zu seinem Vorteil auslegen, weil er selbst nicht sprechen kann." 4
3
4
Über A. Riehl sowie Ν. K. Smith, P. F. Strawson, J. Bennett, J. Schmucker und zuletzt W. Malzkorn reicht die Einigkeit in dieser Frage. Exemplarisch zitieren wir Strawson [1981]: „Die logische Systematik [der transzendentalen Dialektik] ist wenig mehr als eine philosophische Kuriosität" (S. 27). Refl. 3476, AA XVI, S. 861.
4
Einleitung
1.2 Der systematische Ort der kantischen Ideenlehre: die „transzendentale Dialektik" Die „transzendentale Logik" der KdrV lässt sich analog zur Einteilung des „oberen Erkenntnisvermögens" 3 bzw. des Verstandes im weiteren Sinne in Verstand (im engeren Sinn), Urteilskraft und Vernunft gliedern. 6 In der transzendentalen Dialektik wird die Vernunft auf ihre eigentümlichen Leistungen bezüglich der Erkenntnis von Gegenständen hin untersucht, nachdem es die „Analytik der Begriffe" mit dem Verstand i.e.S. und die „Analytik der Grundsätze" mit der Urteilskraft zu tun hatte. Und gerade über die Leistungsfähigkeit der bloßen Vernunft herrscht Streit, wenn es um die Erweiterung nicht nur formaler, sondern materialer, auf Gegenstände bezogener Erkenntnis geht. Zum negativ-kritischen Aspekt der TD gehört bekanntermaßen die Zurückweisung bestimmter Erkenntnisansprüche, die Kant insbesondere in den rationalistischen Systemen seiner Zeit vorfindet und als überzogen zurückweist. So könne weder die Existenz Gottes, noch die eines freien Willens, noch die Unsterblichkeit der Seele erwiesen werden. Der Trost der auf den ersten Blick vernichtenden Kritik Kants an der traditionellen Spekulation besteht im Nachweis, dass auch die gegenteiligen Behauptungen nicht bewiesen werden können. Doch betätigt sich die Vernunft nicht nur als spekulativ-überschwängliche Vernunft, sondern auch als Erfahrungseinheit mit ermöglichende. Der Kern dieser positiv-konstruktiven Analyse des Vernunftvermögens liegt in Gestalt der Lehre von den „transzendentalen", „regulativen" Ideen vor. Weil sich einerseits im Text der TD geradezu fortwährend ihre positive und negative Intention überlagern und andererseits die negativ-kritische Konzeption der TD als „Logik des transzendentalen Scheins" (vgl. A293/B349 ff.) insbesondere in der programmatischen Einleitung zur TD überragt, ist es mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, die konstruktive subjektive Deduktion der Ideen, das Rekonstruktionsziel dieser Arbeit, freizulegen. Zur negativ-kritischen Dimension der TD sei das Folgende gesagt. Entsprechend Kants Unterscheidung von formaler und transzendentaler Logik ist die TD ausdrücklich nicht als eine formale Dialektik konzipiert. Deren Aufgabe bestünde darin, Schlüsse als ungültig zu entlarven, die dies aufgrund ihrer logischen Form sind, jedoch unter dem Eindruck sophistischer Fertigkeiten bzw. „Künste" nur allzu leicht für gültig gehalten werden können, weil die logische Struktur der beteiligten Sätze nicht hinreichend analysiert ist. Eine derartige „Kritik des logischen Scheins" liegt etwa bereits in Gestalt der „sophistischen Widerlegungen" (Orga3
6
Das rezeptive Vermögen der Sinnlichkeit gilt Kant bekanntermaßen als „unteres Erkenntnisvermögen". Vgl. A130f./B169.
Der systematische Ort der Ideenlehre: die „transzendentale Dialektik"
5
non VT) des Aristoteles vor, der logische Fehlschlüsse untersucht und u.a. solche Irrtümer spezifiziert, die mit sprachlichen Phänomenen wie Äquivozität (homonymia),
Ambiguität (amphibolia), Verbindung (synthesis), Trennung (dihairesis),
B e t o n u n g (prosodia)
u n d S p r a c h f o r m ( s c h e m a tes lexeos)
zu tun haben.
Kant will seine TD im Unterschied zu derartigen Untersuchungen ausdrücklich als eine „Kritik des dialektischen Scheins" (A62/B86) oder auch als eine „Logik des transzendentalen Scheins" (A293/B349) verstanden wissen. Und dieser „dialektische" bzw. „transzendentale Schein" droht nun nicht unabhängig vom Gegenstand der Erkenntnis zu blenden, sondern genau dann, wenn Behauptungen über ganz bestimmte Gegenstände gewagt werden: die Gegenstände der klassischen Metaphysik - „Seele", „Welt" und „Gott". Eine Übersicht über Kants Einteilung der Logiken 7 ist hilfreich, um die transzendentale Dialektik systematisch einzuordnen:
Logik
allgemeine
reine
unreine, angewandte
allen D e n k e n s . | 1 Analytik
besondere
empirisch 1
Dialektik
reine
unreine
der M e t a p h y s i k . | 1 1
Analytik
anderer Fachwissenschaften (z.B. Mathematik)
Dialektik („transzendentale")
W i e die formale Analytik und Dialektik sich als Propädeutik der Wissenschaften im Allgemeinen verstehen, so versteht Kant bekanntermaßen die transzendentale Logik als Propädeutik der wissenschaftlichen Metaphysik. 8 W i e am Beispiel der Entwicklung der mathematischen Logik im 19. Jh. illustriert werden kann, wird der Blick auf die Fachlogik der jeweiligen besonderen Wissenschaft erst 1
8
Wir beziehen uns hier auf Michael Wolff [1995, S. 204 ff.], der diese Einteilung des Gebietes der Logik unter Bezugnahme auf A50-55, A57-62, A62-64 rekonstruiert. In der Vorrede zur zweiten Auflage der KdrV wird ausdrücklich von „der künftigen Ausführung des Systems dieser Propädeutik" (B XLIII) gesprochen, während aus dem Textzusammenhang eindeutig hervorgeht, dass Kant beansprucht, die angesprochene Propädeutik wissenschaftlicher Metaphysik mit der KdrV vorgelegt zu haben.
6
Einleitung
dann frei, wenn die jeweilige Wissenschaft hoch entwickelt ist und systematisch der Frage nachgegangen werden kann, wie, d.h. nach welchen Prinzipien in ihr überhaupt geschlossen wird. 9 Genau dieser hohe Entwicklungsstand der metaphysial specialis liegt in Gestalt der rationalistischen Systeme „Leibniz-Wölfischer Philosophie" (A44/B61) vor - nur, dass diese vorliegenden Systeme Kant zu einer Dialektik und nicht zu einer Analytik veranlassen, da er in ihnen ein einziges „Blendwerke" (A64/B88) erblickt. Als Werkzeug der materialen Erkenntnis der Gegenstände spezieller Metaphysik wäre transzendentale Logik „das Organon eines allgemeinen und unbeschränkten Gebrauchs" (A63/B88) des Verstandes i.w.S. Und als eben dieses Werkzeug taugt Kant zufolge die besondere reine Logik nicht. Daher gilt es, die transzendentale Dialektik als „eine Selbsterkenntnis der reinen Vernunft in ihrem transscendenten (überschwenglichen) Gebrauch" zu konzipieren, denn nur so ist sie „das einzige Verwahrungsmittel gegen die Verirrungen" (Prol. § 40) transzendenter Metaphysik. In dieser negativ-kritischen Bedeutung bestimmt Kant bereits in der Einleitung zur transzendentalen Logik die Aufgabe der TD als eine „Kritik des V e r s t a n d e s und der V e r n u n f t in A n s e h u n g ihres h y p e r p h y s i s c h e n G e b r a u c h s , u m den f a l s c h e n S c h e i n ihrer grundlosen A n m a ß u n g e n a u f z u d e c k e n , und die A n s p r ü c h e auf E r f i n d u n g u n d Erweiterung, die sie b l o ß durch transzendentale G r u n d s ä t z e zu e r r e i c h e n vermeinet, zur b l o ß e n B e u r t e i l u n g u n d V e r w a h r u n g des reinen V e r s t a n d e s vor sophistischem B l e n d w e r k e h e r a b z u s e t z e n . " ( A 6 3 f . / B 8 8 )
Wichtige Charakterzüge der kantischen Kritik werden hier vorweggenommen: wenn die notwendigen Bedingungen der Erkenntnis erweiternden synthetischen Urteile missachtet werden, dann droht die Vernunft ihre Funktionen des reinen Gebrauchs als Funktionen eines legitimen „hyperphysischen" bzw. „transzendenten" Gebrauchs misszuverstehen. Diese Arbeit widmet sich in erster Linie der positiv-konstruktiven Dimension der TD. Als zweite Abteilung der „transzendentalen Logik" ist die TD, die vor allem durch ihre zersetzende Wirkung Berühmtheit erlangte, doch noch Teil der „Elementarlehre" der KdrV, deren Aufgabe es ist, die apriorischen Elemente des oberen und unteren Erkenntnisvermögens (des Verstandes i.w.S. und der Sinnlichkeit) auszumachen. Und zu den Aufgaben des konstruktiven Teils der TD
9
Es mag verwundem, dass die mathematische Logik hier als eine „besondere" und zudem „unreine" Logik erscheint. Zur Erläuterung sei das Folgende gesagt: Erstens muss hier „rein" nicht mit „empirisch" kontrastiert werden, sondern als „unabhängig von Beiträgen der (reinen(!) oder empirischen) Anschauung" verstanden werden, und zweitens weisen wir daraufhin, dass Kants allgemeine reine Logik „von allem Inhalt der Erkenntnis abstrahiert" (A58/B83). Sie ist „unangesehen der Verschiedenheit der Gegenstände" (A52/B76) auf beliebige Gegenstände beziehbar, während die Mathematik von besonderen Gegenständen (z.B. Zahlen) handelt. Zur Debatte um die „Unreinheit" der mathematischen Logik vgl. Wolff [1995] und die anschließend in der Zeitschrift für Philosophische Forschung [3/1998] geführte Kontroverse.
7
Begriff und Aufgabe der „subjektiven Deduktion"
gehört insbesondere die Aufgabe, im Rahmen einer „subjektiven" Deduktion der Ideen - analog zur „metaphysischen Erörterung" der Begriffe von Raum und Zeit und der „metaphysischen Deduktion" der Kategorien - den subjektiven Ursprung der Ideen der metaphysica specialis zu erweisen sowie gleichsam überhaupt erst einmal die Frage zu beantworten: Welches sind die ursprünglichen, notwendig hervorgebrachten („transzendentalen") Ideen der theoretischen Vernunft? Das Problem der Angabe und das der subjektiven Gültigkeit der Ideen sind untrennbar miteinander verbunden und Aufgabe der „subjektiven Deduktion" der Ideen.
1.3 Begriff und Aufgabe der ,,subjektiven Deduktion" transzendentalen Ideen
der
Obwohl Kant an keiner Stelle der KdrV ausdrücklich von einer „metaphysischen Deduktion" der reinen Vernunftbegriffe bzw. transzendentalen Ideen spricht, scheint es einhellige Kommentatorenmeinung zu sein, dass der Text eine solche enthalten muss. 10 Gewöhnlich wird diese Deduktion im „System der transzendentalen Ideen" (A333/B390 ff.) lokalisiert und in Analogie zur metaphysischen Deduktion der Kategorien aus den Urteilsfunktionen darin erkannt, dass Kant die Begriffe der Seele, der Welt und Gottes aus den drei Genera des mittelbaren Schließens ableitet." Hat sich die Ansicht zu Recht etabliert, dass das System der KdrV in Analogie zur metaphysischen Erörterung der Begriffe von Raum und Zeit sowie zur metaphysischen Deduktion der Kategorien auch eine metaphysische Deduktion der Ideen enthalten müsse? Kants Bestimmung der „metaphysischen Erörterung" der Begriffe von Raum und Zeit kann uns bei der Beantwortung dieser Frage helfen. In der transzendentalen Ästhetik definiert Kant: „ [...] m e t a p h y s i s c h a b e r ist die Erörterung, w e n n sie d a s j e n i g e enthält, was den Begriff, als a priori g e g e b e n darstellt." ( A 2 3 / B 3 8 )
Zwar ist eine Erörterung keine Deduktion, doch hat der metaphysische Aspekt der Deduktion eines Begriffs nach dieser Erklärung etwas mit der Sicherung des Status dieses Begriffs als einer apriorischen Vorstellung zu tun. Als „metaphysische" Erörterung war die Erörterung der Begriffe von Raum und Zeit nur möglich, 10
11
Der jüngste uns bekannte Rekonstruktionsversuch einer „metaphysischen Deduktion" der Weltidee sowie der speziellen kosmologischen Ideen stammt von Wolfgang Malzkorn [1999]. Unter Hinweis auf A334/B391 f. ist bereits hier hervorzuheben, dass die Begriffe der Seele bzw. des „denkenden Subjekts", der Welt bzw. des „Inbegriffs aller Erscheinungen" und des „Wesens aller Wesen" (Gottes) im Gegensatz zu dieser Standardmeinung nicht etwa „transzendentale Ideen" sondern die „drei Titel aller transzendentalen Ideen" (ebd.) sind, die selbst so wenig transzendentale Ideen sind, wie der Kategorientitel der „Relation" ein reiner Verstandesbegriff im technischen Sinn ist, wozu später mehr.
8
Einleitung
weil es sich um Begriffe handelt, die apriorischen Ursprungs und nicht etwa aus der Erfahrung geschöpft sind. Wenn Rolf-Peter Horstmann bezüglich der Aufgabe der metaphysischen Deduktion der Kategorien meint: „die Begriffe, um die es geht, wenn nach der Möglichkeit einer transzendentalen und einer metaphysischen Deduktion gefragt wird, sind schon als apriorische Begriffe vorausgesetzt. Es kann also gar nicht darum gehen, in diesem Zusammenhang [der metaphysischen Deduktion] den Nachweis der Apriorität eines Begriffs als Teil des Deduktionsprogramms zu betrachten (...)"12, dann können wir dem so nicht zustimmen, weil die Apriorität der Begriffe solange hypothetischen Charakter besitzt, wie die metaphysische Deduktion nicht gelungen ist. Die Aufgabe einer metaphysischen Deduktion der transzendentalen Ideen bestünde darin, uns allererst mit diesen Ideen bekannt zu machen und gleichsam die Apriorität der Begriffe zu erweisen, die sich schlicht aus der Apriorität der in die Deduktion investierten Prinzipien ergibt, sofern sie erfolgreich ist. Doch kann es eine metaphysische Deduktion von transzendentalen Ideen überhaupt geben? Dass ihm eine „subjektive Ableitung" (A336/B393) der transzendentalen Ideen gelungen sei, behauptet Kant ausdrücklich. Weil transzendentale Ideen als Vernunftbegriffe bestimmt sind, kann es sich dabei nur um eine „subjektive Ableitung aus der Natur unserer Vernunft" (ebd.) handeln. Zwar dürfte jede „metaphysische" Deduktion auch insofern eine „subjektive" sein, als der Verstand i.w.S. bei dieser Aufgabe ausschließlich auf die Reflexion seiner selbst, seine Funktionsweisen und Leistungen verwiesen ist. 13 Weil also die Natur des Problems apriorischer Begriffe den Verstand nötigt, die Reflexion auf sich selbst zu beschränken, ist eine metaphysische Deduktion gewisser Elemente stets „subjektiv". 1 4 Doch gilt auch das Umgekehrte? Ist jede „subjektive" Ableitung auch eine „metaphysische"? Noch einmal A23/B38: Nicht nur eine „Erörterung", sondern auch eine „Deduktion" eines Begriffs sollte nur dann eine „metaphysische" sein, „wenn sie dasjenige enthält, was den Begriff, als a priori gegeben darstellt". Metaphysische Deduktionen kann es daher nur von a priori gegebenen Begriffen geben. Wenn es also apri-
p
13
14
Rolf Peter Horstmann: Die metaphysische Deduktion in Kants „Kritik der reinen Vernunft" in: Tuschling (Hrsg.) 1984, S. 15-33. Kant bringt diesen Sachverhalt bereits in der Vorrede zur A-Auflage der KdrV zum Ausdruck, wenn wir lesen, die subjektive Deduktion der Elemente des reinen Verstandes i.w.S. gehe „darauf aus, den reinen Verstand selbst, nach seiner Möglichkeit und den Erkenntniskräften, auf denen er beruht, mithin in subjektiver Beziehung zu betrachten" (A XVII). Dabei handelt es sich offensichtlich nicht um den Sinn, in dem sich das Programm der transzendentalen Deduktion der Kategorien in die „subjektive" und „objektive Deduktion" differenziert. Nicht nur für Beatrice Longuenesse [1998] hat bereits diese subjektive Deduktion der Kategorien etwas mit der Erklärung („explain") ihrer objektiven Gültigkeit zu tun: „[...] the objective deduction, whose sole concern is to make the objective validity of a priori concepts understandable. The subjective deduction, which attempts to explain this validity by laying out the activity of the understanding in relation to the other cognitive faculties [...]" (ebd. S. 56).
Begriff und Aufgabe der „subjektiven Deduktion"
9
orische Begriffe geben sollte, die keine gegebenen sind, dann muss nicht jede subjektive Deduktion eines apriorischen Begriffs auch eine metaphysische sein. Wir haben also zu klären, ob es sich für Kant bei den Vernunftbegriffen um gegebene oder gemachte Begriffe handelt, denn: „Alle Begriffe sind entweder gegeben oder gemacht" 1 5 . Ausdrücklich bezeichnet Kant die reinen Vernunftbegriffe als „geschlossene Begriffe": „ W a s es a u c h mit der M ö g l i c h k e i t der B e g r i f f e aus reiner V e r n u n f t f ü r eine Bew a n d t n i s h a b e n m a g : so sind sie doch nicht b l o ß reflektierte [Verstandesbegriffe], sondern geschlossene Begriffe." (A319/B366)
Offensichtlich soll die Rede vom geschlossenen Begriff eine mögliche Antwort auf die Frage nach dem Ursprung eines Begriffs geben. Im ersten Abschnitt der „allgemeinen Elementarlehre" der Logik, „Von den Begriffen" (§§ 1-16), erfährt der Leser nichts über die Existenz von geschlossenen Begriffen, was seinen Grund darin findet, dass die „allgemeine Logik nicht die Quelle der Begriffe zu untersuchen" 16 hat. Wir können uns allerdings dem logischen Ort der geschlossenen Begriffe nähern, indem wir Kants logische Dekompositionen möglicher Begriffe zur Kenntnis nehmen. Sofern diese Einteilungen den Anspruch an Vollständigkeit mit sich führen, sollten auch die geschlossenen Begriffe ihren Platz in diesen finden. In der Reflexion 2852 teilt Kant die Gesamtheit möglicher Begriffe anhand ihres Ursprungs folgendermaßen ein: „Alle B e g r i f f e sind e n t w e d e r gegeben oder g e m a c h t , gedichtet (construiert). Die g e g e b e n e n sind e n t w e d e r a priori gegeben (reine V e r s t a n d e s b e g r i f f e ) oder a posteriori ( e m p i r i s c h e ) . " 1 7
Unsere Frage, ob die geschlossenen Vernunftbegriffe gemachte oder gegebene Begriffe sind, vermag diese Notiz noch nicht zu entscheiden. Die Apriorität der reinen Vernunftbegriffe legt ihren Charakter als „gegeben" nahe, die Eigenschaft, geschlossen zu sein, suggeriert ihren Charakter als „gemacht". Die Reflexion gibt keinen Aufschluss darüber, ob es apriorische gemachte Begriffe gibt, weil hier allein die gegebenen Begriffe weiter spezifiziert werden. Claude Piche 18 verdanken wir den Fund der Reflexion 2853 aus der Mitte der 1770er Jahre, in der Kant 15 16 17
18
Refl. 2582, AA XVI, S. 547. Logik % 5, Anm. 1. AA XVI, S. 547. Dieselbe Einteilung der Begriffe findet sich im § 4 der Logik, während dort zusätzlich hervorgehoben wird, dass hier Begriffe „der Materie nach" eingeteilt werden: „Alle Begriffe sind der Materie nach entweder gegebene (conceptus dati) oder gemachte Begriffe (conceptus factitii). - Die ersteren sind entweder a priori oder a posteriori gegeben". Auch hier bleibt unentschieden, ob es Kant zufolge a priori gemachte Begriffe gibt. Piche 1984, S. 26.
Einleitung
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die Begriffe bezüglich der Handlungen des Verstandes i.w.S. einteilt, die sie ausmachen •. „Begriffe sind entweder gegeben oder gemacht; jene vel α posteriori vel α priori. Diese entweder [willkürlich oder natürlich] durch Vernunft geschlossene Begriffe: ideen. oder willkürlich gedichtete."20 Damit ergibt sich das folgende Schaubild: Begriffe I I gemacht
gegeben
(gedichtet)
I a priori
a posteriori
(„Kategorien")
willkürlich gemacht
natürlich gemacht geschlossene Begriffe („transzendentale Ideen")
Die Unterscheidung von a priori und a posteriori gemachten Begriffen scheint quer anstatt parallel zur Einteilung in willkürlich und natürlich gemachte zu verlaufen: demnach gäbe es natürlich gemachte Begriffe a priori, wie die Vernunftbegriffe, willkürlich gemachte Begriffe a priori, wie mathematische Definitionen 2 1 , und willkürlich gemachte Begriffe a posteriori, wie z.B. den Begriff des Einhorns, bei dem die Dichtung einer Tätigkeit der Einbildungskraft entspricht, die gewisse a posteriori gegebene Begriffe verknüpft. Allein a posteriori natürlich gemachte Begriffe scheint es nicht zu geben. Wir halten fest: Transzendentale Ideen sind für Kant natürlich geschlossene Begriffe, deren Existenz auf die besondere Naturanlage der Vernunft zurückgeführt wird: natürlich (a priori) gemachte Vernunftbegriffe. Das „Dichtungsvermö-
19 20
21
Vgl.: Logik § 5, sowie gleichlautend: Refl. 2856, AA XVI, S. 548. Refl 2853, AA XVI, S. 547. Die Worte „willkürlich oder natürlich" wurden von Kant durchgestrichen und durch den Zusatz ersetzt. Zur ,,willkürliche[n] Synthesis" (A729/B757) bei den mathematischen Definitionen vgl. den Abschnitt „Die Disziplin der reinen Vernunft im dogmatischen Gebrauche", insb. A728/B756 ff.
Begriff und Aufgabe der „subjektiven Deduktion"
11
gen" 2 2 konkretisiert sich im Falle der „geschlossenen" Vernunftbegriffe als Schließen. Unsere terminologische Ausgangsfrage nach der Möglichkeit einer „metaphysischen Deduktion" der transzendentalen Ideen muss negativ beantwortet werden: Weil es Kant zufolge in Gestalt der „Ideen" apriorische Begriffe gibt, die gemachte Begriffe sind, und es metaphysische Deduktionen nur von a priori gegebenen Begriffen geben kann, sollten wir gegen die herrschende Kommentatorenmeinung den Schluss zu ziehen bereit sein, dass Kant keine „metaphysische Deduktion der transzendentalen Ideen" geleistet hat und dass es eine solche auch gar nicht geben kann. Allerdings kann dem Begriff einer „subjektiven Deduktion der transzendentalen Ideen" ein Sinn gesichert werden. Und dies sogar ausdrucklich unter Ausnutzung funktionaler Analogien zur metaphysischen Deduktion der Kategorien, weil diese ja auch eine subjektive im oben beschriebenen Sinn ist. Bezüglich des Begriffs einer „Deduktion" ist festzustellen, dass dieser Begriff mindestens zweideutig ist. In allgemeinster Bedeutung ist unter einer Deduktion eine Ableitung besonderer Erkenntnis aus allgemeinen Prinzipien zu verstehen. In einem von Kant im Zusammenhang der „Deduktion der reinen Verstandesbegriffe" (A84/ Β116 ff.) eingeführten engen Sinn hat die Deduktion eines Begriffs seine „objektive Realität" bzw. seinen rechtmäßigen Gebrauch (quid juris) zu erweisen. In dieser zweiten Bedeutung hat eine Deduktion entweder, sofern es sich um einen empirischen Begriff handelt, den Nachweis der Art der Erwerbung oder, sofern es sich um einen apriorischen Begriff handelt, den Nachweis der Rechtmäßigkeit des Gebrauchs zum Zwecke der Erkenntnis von Gegenständen zu erbringen. Nur in der ersten, allgemeinen Bedeutung der „Deduktion" als Ableitung von Besonderem aus Allgemeinem wird es sich auch bei der zu rekonstruierenden subjektiven Ableitung der Ideen um eine „subjektive Deduktion der reinen Vernunftbegriffe" handeln. Diese hat nicht die objektive Gültigkeit dieser Begriffe zu erklären. Der Nachweis der objektiven Realität apriorischer Begriffe ist die Aufgabe einer „transzendentalen" bzw. „objektiven Deduktion", welche auch einer metaphysischen Deduktion logisch nachgeordnet ist. 23 So beantwortete auch die metaphysi11
23
„Das Dichtungsvermögen ist allgemeiner als man das Wort Dichter zutrauen würdet;I in der Mathematik und Philosophie alle willkürlichen Definitionen sind aus diesem intellektuellen Dichtungsvermögen." (Vorlesung über Metaphysik, AA XXVIII, S. 860, zitiert nach: Piche 1984, S. 29.) Weil es nicht die Aufgabe dieser Arbeit ist, die Aufgabe einer transzendentalen bzw. objektiven Deduktion der reinen Vernunftbegriffe zu bestimmen und diese zu rekonstruieren, seien nur einige wenige Bemerkungen dazu gemacht. Da bereits „Ideen" von Kant als Begriffe definiert werden, denen kein Gegenstand möglicher Erfahrung korrespondiert (vgl. die „Stufenleiter" der Vorstellungen in A320/B376f.), kann kein Nachweis objektiver Gültigkeit erbracht werden, wenn unter objektiver Gültigkeit von Begriffen das verstanden wird, was Kant auch einen Gegenstand haben nennt. Kant wird die Rechtmäßigkeit der transzendentalen Ideen zum Zwecke der Erkenntnis von Gegenständen dann auch schwächer dadurch erklären, dass sie den Verstandesgebrauch auf eine projektierte Einheit hin regulieren. Die transzendentale Deduktion der Ideen besteht im Nachweis, dass sie einen Leitfaden für die systematische Ordnung unter den Verstandeserkenntnissen stellen und auf diese
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Einleitung
sehe Deduktion der Kategorien aus den Urteilsfunktionen zuallererst die Frage, welches die Kategorien sind, und ermöglichte dadurch das im Rahmen einer objektiven Deduktion zu lösende Problem ihrer Geltung. 2 4 U m eine Metapher Kants aus dem Zusammenhang der Kategoriendeduktion zu borgen: die subjektive Deduktion der Vernunftbegriffe hat die Aufgabe, den „Geburtsbrief' (B119) dieser Ideen auszustellen. In Anlehnung an die metaphysische Erörterung der Begriffe von R a u m und Zeit können wir sagen, die subjektive Deduktion der transzendentalen Ideen sollte dasjenige enthalten, was diese Begriffe als a priori gemacht darstellt, d.h., sofern es sich um Vernunftbegriffe handelt, als notwendig erschlossen ausweist. Analog zum Stand unmittelbar vor der metaphysischen Deduktion der Kategorien lauten unsere Fragen also: „Welches sind die transzendentalen Ideen?", „Welche Begriffe lassen sich einerseits als apriorische Ideen, was die Notwendigkeit ihres Besitzes anzeigt, und zweitens als irreduzible, elementare erweisen?" und „Wie verschafft sich die Vernunft Klarheit über ihren ursprünglichen Besitz dieser Ideen?" Diese Fragen lassen sich im Rahmen der subjektiven Deduktion nicht getrennt beantworten, sondern werden vielmehr allesamt im Zuge derselben simultan beantwortet. Mit der Aufgabe, für die reinen Vernunft begriffe „eine subjektive Ableitung aus der Natur unserer Vernunft" (A336/B393) leisten zu sollen, stellt sich sogleich die Frage, inwiefern diese „Natur" der Vernunft überhaupt bekannt ist. Die erst noch aufzufindenden Ideen sind j a ihrerseits noch unbekannt, während sie doch sicherlich die „Natur" der Vernunft zu einem bedeutenden Teil konstituieren sollen. Die Frage nach der Natur der Vernunft führt uns
Art unsere Erkenntnis von Gegenständen mit ermöglichen. Die objektive Gültigkeit transzendentaler Ideen geht in ihrer regulativen Funktion im Erfahrungs- resp. Erkenntnisprozess auf. Nur scheinbar hält Kant an einer Stelle eine objektive Deduktion der transzendentalen Ideen für unmöglich: „Von diesen transzendentalen Ideen ist eigentlich keine o b j e k t i v e D e d u k t i o n möglich, so wie wir sie von den Kategorien liefern konnten" (A336/B393). Es muss kein unmögliches Unterfangen sein, sich auf die Suche nach einer objektiven Deduktion der Ideen im Text der KdrV zu machen, nur weil diese bloß nicht genauso (s.o.: „so") wie die objektive Kategoriendeduktion geführt werden kann: „Die Ideen der reinen Vernunft verstatten zwar keine [objektive] Deduktion von der Art, als die Kategorien; sollen sie aber im mindesten einige, wenn auch nur unbestimmte, objektive Gültigkeit haben, und nicht bloß leere Gedankendinge (entia rationis ratiocinantis) vorstellen, so muß durchaus eine Deduktion derselben möglich sein, gesetzt, daß sie auch von derjenigen weit abwiche, die man mit den Kategorien vornehmen kann" (A670/B698). Diese „Vollendung des kritischen Geschäfts" nimmt Kant sich denn auch im „Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft" betitelten Abschnitt des Anhangs zur TD vor. Zur Problematik einer transzendentalen bzw. objektiven Deduktion der transzendentalen Ideen vgl. die Aufsätze von Caimi [1995] und Zocher [1958]. 24
Otfried Höffe 11996] bestimmt kurz und treffend die Aufgabe der metaphysischen Deduktion der Kategorien. Sie habe zu zeigen, „wie man die reinen Verstandesbegriffe findet und worin diese liegen" (S. 88). Rolf-Peter Horstmann [1984, S. 25] sieht das Programm des Nachweises des rechtmäßigen Gebrauchs der Kategorien in eine metaphysische und eine transzendentale Deduktion differenziert. Die metaphysische Deduktion der apriorischen Kategorien habe zu zeigen, dass sie sich auf Gegenstände beziehen können, während die transzendentale Deduktion derselben zu zeigen habe, wie sie sich auf Gegenstände beziehen. Seine Aufgabenbestimmung einer metaphysischen Deduktion der Ideen weicht also insofern von unserer ab, als sie mehr von einer solchen Deduktion fordert.
Begriff und Aufgabe der „subjektiven Deduktion"
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auf die von Kant bereits in seiner Dissertationsschrift vorgenommene Unterscheidung zwischen einem formalen und einem realen Gebrauch des Verstandes (i.w.S.)· Per defmitionem ist der reale Gebrauch des Verstandes Kant zufolge dadurch bestimmt, dass uns durch ihn bestimmte „Begriffe selbst gegeben" werden (vgl. Diss. § 6). In der KdrV heißt es ferner, der Verstand im realen Gebrauch sei das Vermögen, welches Begriffe, die „weder empirischen noch ästhetischen Ursprungs sind" (A57/B81), „selbst erzeugt" (A299/B355). Wenn wir also zwecks einer subjektiven Deduktion der noch unbekannten reinen Vernunftbegriffe auf die „Natur" der Vernunft rekurrieren sollen, dann kann dies nur als Bezugnahme auf die bekannten logischen Funktionen der Vernunft geschehen. So, wie es Kant in seiner Kategoriendeduktion gelungen sein soll, die noch unbekannten Kategorien aus den als bekannt vorausgesetzten elementaren Urteilsfunktionen hergeleitet zu haben, so sollen also die transzendentalen Ideen aus den irreduziblen logischen Funktionen der Vernunft ableitbar sein. Und genau dies wird auch Kants Strategie der subjektiven Deduktion der Ideen sein.
I. Teil Logischer und realer Vernunftgebrauch
1 Der logische Vernunftgebrauch als Leitfaden für die Entdeckung des realen Vernunftgebrauchs
A u f g r u n d der nach Kants eigener E i n s c h ä t z u n g erfolgreichen „metaphysischen D e d u k t i o n " (B159) der Kategorien aus den Urteilsfunktionen ist es verständlich, w e n n er zur B e a n t w o r t u n g der Frage nach der Wirklichkeit eines realen Gebrauchs der V e r n u n f t : „Kann m a n die V e r n u n f t isolieren, und ist sie alsdann noch ein eigener Quell von B e g r i f f e n und Urteilen, die lediglich aus ihr entspringen [...]?" ( A 3 0 5 / B 3 6 2 ) zunächst eine Funktionsanalyse der V e r n u n f t im logischen G e b r a u c h e vornimmt. Dass der logische V e r n u n f t g e b r a u c h den methodischen Leitfaden („Anleitung", s.u.) für die B e s t i m m u n g des realen Vernunftgebrauchs darstellen wird, stellt Kant an zwei Stellen der KdrV ausdrücklich fest. I m Anschluss an die Frage, „ob V e r n u n f t an sich d. i. die reine V e r n u n f t a priori synthetische Grundsätze und Regeln enthalte und worin diese Regeln bestehen m ö g e n " , schließt Kant zuversichtlich an: „Das formale und logische Verfahren derselben [der Vernunft] in Vernunftschlüssen gibt uns hierüber schon hinreichende Anleitung, auf welchem Grunde das transzendentale Principium derselben in der synthetischen Erkenntnis durch reine Vernunft beruhen werde." (A306/B363) An anderer Stelle veranlasst die nach Kants e i g e n e m Urteil erfolgreiche metaphysische Deduktion der Kategorien aus den logischen Funktionen in Urteilen ihn zur entsprechenden „ E r w a r t u n g " im Hinblick auf , 3 e g r i f f e " der reinen Vernunft: „Die transzendentale Analytik gab uns ein Beispiel, wie die bloß logische Form unserer Erkenntnis den Ursprung von reinen Begriffen a priori enthalten könne. [...] Ebenso können wir erwarten, daß die Form der Vernunftschlüsse [...] den Ursprung besonderer Begriffe a priori enthalten werde, welche wir reine Vernunftbegriffe, oder t r a n s z e n d e n t a l e I d e e n nennen können [...]" (A321/B377f.) Die Frage, o b es überhaupt einen realen Gebrauch der Vernunft gibt, ist erst dann positiv beantwortet, w e n n ein Existenzbeweis von ursprünglichen Produkten der V e r n u n f t („Vernunftbegriffe", „transzendentale Ideen") erbracht ist. In der Einleitung zur TD hat der reale Gebrauch der V e r n u n f t noch hypothetischen Charakter. D i e einschlägigen B e h a u p t u n g e n Kants über die V e r n u n f t im logischen Gebrauch als V e r m ö g e n des mittelbaren Schließens finden sich im Abschnitt „ V o m logischen Gebrauch der V e r n u n f t " der Einleitung zur TD sowie - in teils wiederholen-
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Der Leitfaden für die Entdeckung des realen Vernunftgebrauchs
der Manier - in den Absätzen 2 und 3 des Abschnitts „Von den transzendentalen Ideen" im 1. Buch der TD („Von den Begriffen der reinen Vernunft").
1.1 Die Vernunft im logischen
Gebrauch: Schließens
das Vermögen des
mittelbaren
Aus der Charakterisierung der Vernunft im logischen Gebrauch als Vermögen des mittelbaren Schießens (vgl. A330/B386 f.) geht bereits hervor, dass Kant nicht das Schließen schlechthin der Vernunft zuordnet. Vielmehr kennt Kant „unmittelbare Schlüsse" des Verstandes sowie „Schlüsse der Urteilskraft". Zu letzteren gehören Kant zufolge die Schlüsse mittels Analogie und Induktion. 2 5 Die materielle Gleichheit von Prämissen und Konklusion, d.h. der Sachverhalt, dass in den Prämissen und der Konklusion dieselben Begriffe auftreten, macht einen Schluss zu einem unmittelbaren „Verstandesschluß": „Liegt das geschlossene Urteil s c h o n so in d e m ersten, d a ß es ohne V e r m i t t l u n g einer dritten Vorstellung [d.h. eines dritten B e g r i f f s ] daraus abgeleitet w e r d e n k a n n , so heißt der S c h l u ß u n m i t t e l b a r ( c o n s e q u e n t i a i m m e d i a t a ) ; ich m ö c h t e ihn lieber den Verstandesschluß nennen." (A303/B360)
Zu den unmittelbaren Schlüssen zählt Kant die Subalternations-, Konversions- und Kontrapositionsschlüsse der aristotelischen Syllogistik. Das geht eindeutig aus den § § 4 4 ff. der Logik sowie aus dem folgenden Zitat der Einleitung zur TD hervor, welches der Erläuterung der unmittelbaren Verstandesschlüsse dient: „In d e m Satze: alle M e n s c h e n sind sterblich, liegen schon die Sätze: einige M e n schen sind sterblich, einige Sterbliche sind M e n s c h e n , nichts, was unsterblich ist, ist ein M e n s c h [...]" ( A 3 0 3 / B 3 6 0 )
Selbst wenn es schwer fallen sollte, nicht-triviale Schlüsse zu finden, die aus mehreren Prämissen und einer Konklusion bestehen und sich zudem dadurch auszeichnen, dass die in der Konklusion gebrauchten Begriffe in jeder Prämisse auftreten, würde eine Interpretation der unmittelbaren Schlüsse als , Schlüsse aus einer Prämisse' zu kurz greifen. Die Quasi-Definition des „Vernunftschlusses" an gleicher Stelle: „Ist aber, außer der zum Grunde gelegten Erkenntnis, noch ein anderes Urteil nötig, um die Folge zu bewirken, so heißt der Schluß ein Vernunftschluß" ist insofern etwas irreführend, als nicht allein die Anzahl der Prämissen den Unterschied zwischen Verstandes- und Vernunftschluss definiert, sondern
25
Vgl. Logik § 81 ff. sowie Refl. 3200, AA XVI, 709.
Das Vermögen des mittelbaren Schließens
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die materielle Verschiedenheit von Prämissen und Konklusion. Über die „Eigentümliche Natur der Verstandesschlüsse" heißt es in § 44 der Logik'. „ D e r wesentliche C h a r a k t e r aller u n m i t t e l b a r e n Schlüsse u n d das P r i n z i p ihrer M ö g l i c h k e i t besteht lediglich in einer V e r ä n d e r u n g der b l o ß e n F o r m der Urteile, w ä h r e n d die Materie der Urteile, das S u b j e k t u n d Prädikat, u n v e r ä n d e r t d i e s e l b e bleibt."
Genauer sollte Kant hier von den an den Urteilen beteiligten Begriffen sprechen. Schließlich wechseln im obigen Beispiel eines Konversionsschlusses die Rollen des grammatikalischen Subjekts und des grammatikalischen Prädikats (zwischen Menschen und Sterblichen und vice versa). U m aus einem Urteil mit zwei beteiligten Begriffen ein Urteil zu erschließen, in dem ein Begriff auftritt, der im ersteren nicht vorkommt, ist ein vermittelndes Urteil nötig, in dem ein vermittelnder Begriff gebraucht wird. So kann aus dem Satz „Alle Menschen sind sterblich" der Satz „Alle Gelehrten sind sterblich" nur mit Hilfe des „Zwischenurteils" (A304/ B360) „Alle Gelehrten sind Menschen" gefolgert werden. Die in jedem Vernunftschluss ausgeführte Handlung charakterisiert Kant auf folgende Weise: „In j e d e m V e r n u n f t s c h l u s s e d e n k e ich zuerst eine Regel ( m a j o r ) d u r c h den V e r s t a n d . Z w e i t e n s s u b s u m i e r e ich ein E r k e n n t n i s unter die B e d i n g u n g der Regel ( m i n o r ) vermittelst der Urteilskraft. E n d l i c h b e s t i m m e ich mein Erkenntnis d u r c h das Prädikat der Regel (conclusio), m i t h i n a priori durch die V e r n u n f t . " (ebd.)
Mit Hilfe des obigen auch von Kant gegebenen Beispiels lassen sich die hier auftretenden Ausdrücke „ E r k e n n t n i s " , „Bedingung der Regel" und „Prädikat der Regel" erläutern. Die „Bedingung der Regel" ist oben der Begriff des Menschen als Subjektbegriff der Major. Unter der Bedingung des Menschseins wird der Begriff des Sterblichseins, das „Prädikat der Regel", gedacht. Das Prädikat der Regel wird in der Regel von der Bedingung der Regel ausgesagt: „Alle Menschen sind sterblich." Der „Erkenntnis" entspricht der unter den Begriff des Menschen subsumierte Begriff des Gelehrten. 26 In der conclusio schließlich wird das Prädikat der Regel („sterblich") von der Erkenntnis („Gelehrter") allgemein ausgesagt, d. h. der Begriff des Gelehrten wird durch den Begriff des Sterblichseins „bestimmt". Die Vernunft schließt nicht nur im hier exemplarisch fungierenden kategorischen Schluss nach dem Prinzip: wenn die Bedingung der Regel stattfindet, dann findet auch das durch die Regel Bedingte statt: „ D i e Regel n ä m l i c h sagt e t w a s a l l g e m e i n u n t e r einer gewissen B e d i n g u n g . N u n f i n d e t in e i n e m v o r k o m m e n d e n Falle d i e R e g e l statt. A l s o wird das, w a s u n t e r j e n e r
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Die Redeweise von Begriffen als Erkenntnissen entspricht Kants Erklärung aus der „Stufenleiter" der Vorstellungen (vgl. A320/B376), wo es über die „objektive Perzeption" bzw. „Erkenntnis (cognitio)" heißt: „Diese ist entweder Anschauung oder Begriff'.
20
Der Leitfaden für die Entdeckung des realen Vernunftgebrauchs
Bedingung allgemein galt, auch in dem vorkommenden Falle (der diese Bedingung bei sich führt) als gültig angesehen." (A330/B387) In § 57 der Logik wird das „Allgemeine Prinzip aller Vernunftschlüsse" auch auf die bündige Formel gebracht: „Was unter der Bedingung einer Regel steht, das steht auch unter der Regel selbst". Mit diesem allgemeinen Prinzip sind jedoch verschiedene logische Vernunftfunktionen noch nicht spezifiziert. Als Grund der Einteilung der Vernunftschlüsse dient Kant die in der Major bzw. Regel gedachte Relationskategorie. In seiner Logikvorlesung gibt er eine auf einem Ausschlussverfahren basierende Begründung für dieses Einteilungsprinzip (vgl. Logik, § 60, Anm. 1): Nach der Quantität können die Schlüsse nicht eingeteilt werden, weil jede Major eine allgemeine Regel ist. Kant trägt hier der aus der traditionellen Syllogistik bekannten Meta-Regel Rechnung, dass aus zwei partikulären Prämissen nichts folgt. Die Qualität (Bejahung oder Verneinung) der am Schluss beteiligten Urteile taugt nicht als Einteilungsgrund, „denn es ist gleichgeltend, ob die Konklusion bejahend oder verneinend ist". Die Modalität der beteiligten Urteile kann im Rahmen assertorischer Logik nicht berücksichtigt werden, und schließlich ist die Konklusion eines deduktiv zwingenden Schlusses „immer mit dem Bewußtsein der Notwendigkeit begleitet", was natürlich stets nie mehr bedeuten kann als 'relativ notwendig aufgrund der als wahr vorausgesetzten Prämissen'. „Also bleibt allein nur die Relation als einzig möglicher Einteilungsgrund der Vernunftschlüsse übrig" (ebd.). Die möglichen Relationen in Urteilen beansprucht Kant in der Urteilstafel - diese ist vielmehr eine Funktionentafel 2 7 , wenn der Name sich auf dasjenige beziehen soll, was in der Tafel verzeichnet ist - vollständig aufgezählt zu haben: „Alle Verhältnisse des Denkens in Urteilen sind die a) des Prädikats zum Subjekt, b) des Grundes zur Folge, c) der eingeteilten Erkenntnis und der gesammelten Glieder der Einteilung untereinander." (A73/B98) Über das zitierte Ausschlussverfahren hat Kant mit dieser Trichotomie seine Einteilung der Vernunftschlüsse gefunden: „Sie [die Vernunftschlüsse] sind also gerade dreifach, so wie alle Urteile überhaupt, so fem sie sich in der Art unterscheiden, wie sie das Verhältnis des Erkenntnisses im Verstände ausdrücken, nämlich: kategorische oder hypothetische oder disjunktive Vernunftschlüsse." (A304/B361) Dadurch, dass Kant hier die drei syllogistischen Genera jeweils durch das Wörtchen „oder" verbindet und nicht etwa die ersten beiden durch ein K o m m a trennt, weist er nachdrücklich darauf hin, dass es sich bei der Einteilung der Relation in 11
Vgl. Wolff 1995, Kap. 1.
Das Vermögen des mittelbaren Schließens
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ihre drei Modi um eine „logische Einteilung" (vgl. Logik, § 110 f.) handeln soll. Dies bedeutet, dass die drei Glieder sich wechselseitig ausschließen und „alle zusammengenommen die Sphäre des eingeteilten Begriffs [hier: der Relation von Vorstellungen in Urteilen] ausmachen oder derselben gleich seien" (ebd.). Ein Begriff wird also „logisch" in Teilbegriffe eingeteilt, wenn die Objektbereiche der Teilbegriffe disjunkt sind und die Vereinigungsmenge der Extensionen der Teilbegriffe gleich der Extension des Oberbegriffs ist. Wir schenken Kant an dieser Stelle diesen „logischen" Charakter der Einteilung der Urteile ihrer Relation nach in kategorische, hypothetische und disjunktive und halten als wichtiges Zwischenresultat fest, dass die denkbaren Verhältnisse zwischen Bedingung und Bedingtem für Kant den drei Relationskategorien entsprechend auf genau drei Grundtypen reduzierbar sind. 2 8 Bisher schienen die Funktionen der Vernunft im logischen Gebrauche allein dadurch charakterisiert, dass sie beim Schluss von vorliegenden Prämissen auf eine Konklusion zur Ausübung kommen. Dies ist jedoch eine Situation, vor die der Verstand i.w.S. äußerst selten gestellt ist. „Wie lässt sich ρ deduktiv begründen?" wird mindestens so oft gefragt wie „Was folgt aus q?". 2 9 Eigentümliches Interesse der Vernunft ist es, Verstandesurteile, die auch unabhängig vom Bewusstsein allgemeinerer Regeln erkannt oder vielmehr verstanden werden können, vollständig zu begreifen7,0. So wird in Kants eigenem Beispiel des sterblichen Caius die Erkenntnis „Caius ist sterblich" zu einer Vernunfterkenntnis dadurch, dass sie aus den gefundenen allgemeinen Regel „Alle Menschen sind sterblich" und „Caius ist ein M e n s c h " geschlossen wird. 31 Es entspricht der allgemeinen Tendenz der Vernunft, „den mannigfaltigen Erkenntnissen" des Verstandes (A302/B359) insofern Einheit zu geben, als sie versucht, diese zu systematisieren und allgemeineren Prinzipien unterzuordnen:
~8 Michael Wolff [1995| führt die Trichotomie der Relationskategorien auf eine subtile logische Dekomposition des „Begriffs des der Relation nach bestimmten Verstandesurteils" zurück (S. 172 f.), deren Wiedergabe hier zunächst die Erläuterung einiger von Wolff bei Kant ausgemachter Unterscheidungen erfordern würde. Die These Kants, dass es hinsichtlich der Relation von Urteilen genau jene drei irreduziblen Verstandeshandlungen gibt, erfährt seit der Entwicklung der mathematischen Logik durch Frege Kritik. Eine Auseinandersetzung mit dieser Kritik würde eine eigene Abhandlung erfordern (vgl. dazu ebenfalls Wolff [1995] sowie die anschließende Diskussion in: Z. f . Phil. Forsch. 3/1998). 29 Es handelt sich um die klassische Unterscheidung zwischen dem regressiven und progressiven Interesse der Vernunft, der demonstratio propter quid und demonstratio qiua bzw. der apödeixis toü diöti und apödeixis toü höti. 30 Vgl. A311/B367. Im Abschnitt Uber das „System der kosmologischen Ideen" wird die „regressive Synthesis" im Unterschied zur „progressiven Synthesis" in den Zusammenhang des Vernunftbedürfnisses gestellt, vollständig begreifen und nicht nur verstehen zu wollen. „Zur vollständigen Begreiflichkeit dessen, was in der Erscheinung gegeben ist, [bedürfen wir] wohl der Gründe, nicht aber der Folgen" (A411/B438). 31 Vgl. A322/B378.
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Der Leitfaden
f ü r die E n t d e c k u n g des realen V e r n u n f t g e b r a u c h s
„Wenn, wie mehrenteils geschieht, die Konklusion als ein Urteil aufgegeben worden, um zu sehen, ob es nicht aus schon gegebenen Urteilen, durch die nämlich ein ganz anderer Gegenstand gedacht wird, fließe: so suche ich im Verstände die Assertion des Schlußsatzes auf, ob sie sich nicht in demselben [d.h. im Verstand i.w.S.] unter gewissen Bedingungen nach einer allgemeinen Regel vorfinde. Finde ich nun eine solche Bedingung und läßt sich das Objekt des Schlußsatzes unter der gegebenen [vielmehr: ,,gefundenen"(!)] Bedingung subsumieren, so ist dieser aus der Regel, die auch für andere Gegenstände der Erkenntnis gilt, gefolgert. Man sieht daraus: daß die Vernunft im Schließen die große Mannigfaltigkeit der Erkenntnis des Verstandes auf die kleinste Zahl der Prinzipien (allgemeiner Bedingungen) zu bringen und dadurch die höchste Einheit derselben zu bewirken suche." (A304f./B361) Da ein Suchen kein Schließen ist, stellt sich die Frage, inwiefern Kant dieses Aufsuchen von allgemeineren Bedingungen, aus denen ein gegebenes Urteil folgt, dem logischen Gebrauch der Vernunft zuordnen kann, nachdem er die Vernunft als Vermögen des mittelbaren Schließens charakterisierte. Er erhebt diese Suche, „zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden, womit die Einheit desselben vollendet wird" (A307/B364), explizit zum „eigentümlichen Grundsatz der Vernunft überhaupt (im logischen Gebrauche)" und nennt sie eine ,,logische Maxime" (ebd.). Die „vollendete" Einheit der Verstandeserkenntnis, von der hier die Rede ist, bezieht sich nicht etwa auf die im kategorischen Urteil zur Einheit gebrachte Verknüpfung von Subjekt und Prädikat, sondern auf diejenige Einheit, die durch Reduktion von bedingter Erkenntnis auf ihre Bedingungen hervorgebracht wird. Wir wollen sie mit Kant „Vernunfteinheit" (A302/B359) nennen. Dass mit der systematisierenden Tendenz der Vernunft noch immer der logische Gebrauch der Vernunft charakterisiert ist, geht eindeutig aus dem Abschnitt „Von dem reinen Gebrauche der Vernunft" der Einleitung zur TD hervor, in dem Kant gegenüberstellt: „Kann man die Vernunft isolieren, und ist sie alsdenn noch ein eigener Quell von Begriffen und Urteilen, die lediglich aus ihr entspringen, und dadurch sie sich auf Gegenstände bezieht, oder ist sie ein bloß subalternes Vermögen, gegebenen Erkenntnissen eine gewisse Form zu geben, welche logisch heißt [...] ? [...] In der Tat ist Mannigfaltigkeit der Regeln und Einheit der Prinzipien eine Forderung der Vernunft, um den Verstand mit sich selbst in durchgängigen Zusammenhang zu bringen, so wie der Verstand das Mannigfaltige der Anschauung unter Begriffe und dadurch jene in Verknüpfung bringt. Aber ein solcher Grundsatz schreibt den Objekten kein Gesetz vor, und enthält nicht den Grund der Möglichkeit, sie als solche überhaupt zu erkennen und zu bestimmen, sondern ist bloß ein subjektives Gesetz der Haushaltung mit dem Vorrate unseres Verstandes, durch Vergleichung seiner Begriffe, den allgemeinen Gebrauch derselben auf die kleinstmögliche Zahl derselben zu bringen, ohne daß man deswegen von den Gegenständen selbst eine solche Einhelligkeit, die der Gemächlichkeit und Ausbreitung unseres Verstandes Vorschub tue, zu fordern, und jener Maxime zugleich objektive Gültigkeit zu geben, berechtigt wäre." (A305/B362 f.)
Das Vermögen des mittelbaren Schließens
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Während der Verstand i.e.S. für begriffliche Einheit unter dem Mannigfaltigen der Anschauung sorgt, stiftet die Vernunft im logischen Gebrauche Einheit unter den mannigfaltigen Urteilen des Verstandes. Sie bezieht sich nie direkt auf Gegenstände, sondern auf Urteile. Wir haben bereits gesehen, dass die Relation zwischen einem Bedingten und seiner Bedingung für Kant gerade dreifach möglich ist: kategorisch, hypothetisch oder disjunktiv. Die damit eingeführten Relationen zwischen Urteilen: „p bedingt q kategorisch", „p bedingt q hypothetisch" und „p bedingt q disjunktiv", wollen wir erläutern, indem wir drei Beispiele geben. Dass Caius ein Mensch ist, bedingt seine Sterblichkeit kategorisch. Der Sonnenschein bedingt die Erwärmung des Steins hypothetisch. Dass Caius als junger Mensch ein Junge oder ein Mädchen ist, bedingt disjunktiv, dass er ein Junge ist. Unabhängig von der Materie einer vorliegenden Verstandeserkenntnis, d.h. dem Inhalt bzw. der Bedeutung der im Urteil verknüpften Vorstellungen, spezifiziert sich die allgemeine logische Forderung (M) Suche zum bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte! (vgl. A307/B364) der Trichotomie möglicher Relationen gemäß in die folgenden drei Maximen: ( M l ) Suche zum Subjektbegriff S eines gegebenen Urteils „S ist P " denjenigen Begriff B, der Oberbegriff von S ist und von dem Ρ universell ausgesagt wird! (M2) Suche zu einem in einem Urteil „p" ausgedrückten Sachverhalt denjenigen Sachverhalt q, der ρ kausal bedingt! (M3) Suche zu dem im Urteil „S ist P " gegebenen Begriff Ρ die vollständige Disjunktion eines Oberbegriffs Q von P, zu welcher Ρ als Glied gehört! Das Aufsuchen von Bedingungen einer als bedingt betrachteten Erkenntnis kann dementsprechend in dreifacher Variation in einen Prosyllogismus münden, der die ursprünglich als bedingt betrachtete Erkenntnis als Konklusion enthält. Wenn die gefundene „Regel" des Prosyllogismus entlang derselben Relation erneut auf ihre Bedingungen hin befragt wird, weil die Vernunft auch dieses Urteil der Bedingtheit unterwirft, so entsteht dadurch schon eine zweigliedrige „Kette, oder Reihe der Prosyllogismen", die „in unbestimmte Weiten fortgesetzt werden kann" (A331/B388):
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Der Leitfaden für die Entdeckung des realen Vernunftgebrauchs
„ D a nun diese Regel e b e n d e m s e l b e n V e r s u c h e der V e r n u n f t ausgesetzt ist, u n d dad u r c h die B e d i n g u n g der B e d i n g u n g (vermittelst eines P r o s y l l o g i s m u s ) gesucht w e r d e n m u ß , so lange es angeht, so siehet m a n wohl, [dass] der e i g e n t ü m l i c h e G r u n d s a t z der V e r n u n f t ü b e r h a u p t ( i m logischen G e b r a u c h e ) sei: zu d e m b e d i n g t e n Erkenntnisse des V e r s t a n d e s d a s U n b e d i n g t e zu finden, w o m i t die E i n h e i t desselben vollendet w i r d . " ( A 3 0 7 / B 3 6 4 )
Wenn für alle Paare zweier aufeinander folgender Glieder dieser Reihen gilt, dass sie sich hinsichtlich derselben Relation bedingen, ist der „Exponent" des Kettenschlusses eindeutig. Kant interessiert sich gerade für diese Kettenschlüsse, da nur für sie gesichert ist, dass die spezifische Bedingungsrelation in ihnen auch transitiv ist. Man würde von seiner Ausgangsfrage, z.B.: Was bedingt den im Urteil „Caius ist sterblich" ausgedrückten Sachverhalt kategorisch?, abkommen, wenn die gebrauchte Relationskategorie von Glied zu Glied innerhalb der Schlusskette wechselte. Selbst wenn noch von der materiellen Bestimmung des Bedingten abstrahiert wird, bieten doch die drei prosyllogistischen Genera Kant die Möglichkeit zu einer formalen Klassifikation der transzendentalen Ideen als Begriffe vom Unbedingten: „So viel Arten des V e r h ä l t n i s s e s es n u n gibt, die der V e r s t a n d vermittelst der Kategorien sich vorstellt, so vielerlei reine V e r n u n f t b e g r i f f e wird es auch g e b e n , und es wird also erstlich ein U n b e d i n g t e s der kategorischen Synthesis in e i n e m S u b j e k t , z w e i t e n s der h y p o t h e t i s c h e n S y n t h e s i s der Glieder einer Reihe, d r i t t e n s der disj u n k t i v e n Synthesis der Teile in e i n e m S y s t e m zu suchen sein.' 2 Es gibt n ä m l i c h e b e n so viele Arten v o n V e r n u n f t s c h l ü s s e n , deren j e d e d u r c h Prosyllogismen z u m U n b e d i n g t e n fortschreitet, die eine z u m S u b j e k t , w e l c h e s selbst nicht m e h r Prädikat ist, die a n d r e zur V o r a u s s e t z u n g , die nichts weiter voraussetzt, u n d die dritte zu e i n e m A g g r e g a t der Glieder der Einteilung, zu w e l c h e m nichts weiter erforderlich ist, u m die Einteilung eines B e g r i f f s zu vollenden." (A323/B379f.)
Wir heben hervor, dass hier nicht etwa drei Vernunftbegriffe, sondern drei Arten bzw. Klassen von Vernunftbegriffen unterschieden werden. Kant schreibt nämlich nicht, es werde so viele reine Vernunftbegriffe wie Relationskategorien resp. „Arten von Vernunftschlüssen" geben, sondern gerade „so vielerlei". Was es also auch für spezielle transzendentale Ideen geben mag - aufgrund der Tatsache, dass die möglichen Relationen zwischen Bedingtem und Bedingung Kant zufolge auf die drei Kategorien der Relation reduzierbar sind, gilt für jeden Begriff vom Unbedingten, dass es sich bei ihm entweder um den Begriff eines „Unbedingten der kategorischen Synthesis" oder um den eines „Unbedingten der hypothetischen Synthesis" oder um den eines „Unbedingten der disjunktiven Synthesis" handelt. 32
Der aufmerksame Leser erkennt hier („...wird...zu suchen sein.") die dreifache Spezifikation der oben benannten logischen Maxime „Suche zu der als bedingt betrachteten Verstandeserkenntnis das Unbedingte!" wieder.
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Während Kant das Unbedingte der kategorischen Synthesis sogleich identifiziert mit dem „Subjekt, welches selbst nicht mehr Prädikat ist", wollen wir zunächst einmal einsehen, wie das kategorisch-prosyllogistische Verfahren konzipiert sein muss, damit es tatsächlich zum Begriff eines solchen absoluten Subjekts „fortschreitet". Wir halten uns dazu an ein Beispiel 33 Kants: „Caius (C) ist sterblich (S)". 34 Das Folgen der logischen Maxime ( M l ) führt uns zunächst auf den Begriff des Menschen (M) als Oberbegriff des Caius. Vom Begriff des Menschen wird das Prädikat „sterblich" universell ausgesagt („Alle Menschen sind sterblich"), so dass sich das ursprünglich zugrunde gelegte Urteil als erschließbar gemäß der Schlussform des modus barbara herausstellt. Nun urteilt Kant über den Fortgang des kategorisch-prosyllogistischen Verfahrens, dass die jeweils gefundene „Regel wiederum eben demselben Versuche der Vernunft ausgesetzt ist" (A307/B364; Hervorhebung von N.K.). Demnach haben wir nun also seinerseits den Obersatz „Alle Menschen sind sterblich" als kategorisch bedingt zu betrachten. Ein erneutes Folgen von ( M l ) lässt uns den Begriff des Lebewesens (L) finden, der vom Begriff des Menschen universell ausgesagt wird und von dem seinerseits das Prädikat „sterblich" universell ausgesagt wird, womit wir auch bereits die Regel des zweiten Prosyllogismus gefunden haben: Alle Lebewesen sind sterblich. Schematisch:
Bedingtes:
CistS.
1. Prosyllogismus:
Alle Μ sind S. C ist ein M . C ist S.
2. Prosyllogisnnis:
Alle L sind S. Alle Μ sind L. Alle Μ sind S.
Im Urteil „Alle Lebewesen sind sterblich" ist das Prädikat „sterblich" in seiner „vollendete^] Größe des Umfangs" (A323/B379) gedacht. Und gerade weil wir im Begriff des Lebewesens den allgemeinsten Begriff gefunden haben, von dem 33
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Vgl. A322/B378. Kants weitere Beispiele gleicher Funktion sind „Alle Gelehrten sind sterblich" (A304/B360) und „Alle Körper sind veränderlich" (A330/B387). In traditioneller Notation würde auch dieses singulare Urteil als universelles formalisiert: SaC. Der allgemeine Begriff C bezeichnete dabei die Eigenschaft, mit dem Caius identisch zu sein. Wenn Kant schreibt: „Die einzelnen Urteile sind der logischen Form nach im Gebrauche den allgemeinen gleich zu schätzen; denn bei beiden gilt das Prädikat vom Subjekt ohne Ausnahme" (Logik §21, Anm. 1), so heißt dies natürlich nicht, dass sich singulare und universelle Urteil ihrer logischen Form nach nicht unterscheiden. Gemeint ist vielmehr, dass Singulare Urteile, was ihren „Gebrauch" in der Theorie des syllogistischen Schließens angeht, so behandelt werden dürfen, als seien sie universelle Urteile. Ein Syllogismus behält seine formale Gültigkeit, wenn die in ihm auftretenden universellen Urteile durch singulare Urteile mit gleichen generellen Termini ersetzt werden. (vgl. Wolff 1995, S. 143 f.)
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das Prädikat „sterblich" universell ausgesagt werden kann, bricht das Verfahren hier ab. Bei der gefundenen obersten Regel „Alle Lebewesen sind sterblich" dürfte es sich wohl sogar um ein analytisches Urteil handeln. 3 3 Letztlich wäre demnach Caius' Sterblichkeit dadurch kategorisch bedingt, dass er ein Lebewesen ist. Nicht nur für dieses Beispiel, sondern allgemein für das kategorischprosyllogistische Verfahren dürfte gelten, dass es, falls die jeweils aufgefundene Regel erneut der Bedingtheit unterworfen wird, auf gewisse allgemeinste Gattungsbegriffe führt. Diese Gattungsbegriffe sind insofern abhängig von dem Prädikat, welches im ursprünglich zugrunde gelegten Urteil von Gegenständen (der Erfahrung) kategorisch ausgesagt wird, als sie die allgemeinsten Begriffe sind, von dieses Prädikat ausgesagt werden kann. Für empirische Gattungsbegriffe (wie ζ. B. „Lebewesen") gilt jedoch gerade nicht, dass sie die mögliche Erfahrung in Richtung auf den Begriff eines Subjekts, „welches selbst nicht mehr Prädikat ist", übersteigen. Wir sehen vielmehr, dass die Allgemeinheit des jeweils neu aufgefundenen Mittelbegriffs, der ja in der Major prädikativ gebraucht wird, vom 1. Glied der Kette („Mensch") zum 2. Glied („Lebewesen") wächst. 3 6 Weil die Allgemeinheit eines Begriffs zusammen mit der Möglichkeit seines prädikativen Gebrauchs in wahren universell-bejahenden Urteilen wächst, erhalten wir nur dann die gesuchte Kette kategorischer Prosyllogismen, die sich dadurch auszeichnen soll, dass die jeweils neu aufgefundenen Mittelbegriffe von jeweils geringerer Allgemeinheit sind und somit zu einem Begriff „fortschreiten", der „selbst nicht mehr Prädikat" ist, wenn wir im Unterschied zu Kants Maßgabe nicht die gefundene „Regel", d.h. die Major37 (vgl. A307/B364), sondern die Minor erneut der Bedingtheit unterwerfen. 3 8 Für unser Beispiel bedeutet dies, dass das
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Dies zumindest dann, wenn „sterblich" dispositional und nicht im Sinne der sicheren Vorhersage verstanden wird. In R 5553, wo es heißt: „[...] durch prosyllogismen wird immer ein höheres Subjekt gefunden, bis endlich kein anderes mehr gefunden werden kann, wovon das vorige praedikat wäre [...]" (AA XVI11, S. 222), beschreibt Kant exakt dieses Verfahren, welches in allgemeinsten Termini gipfelt: Lebewesen zu sein ist Prädikat eines jeden Menschen und nicht umgekehrt. Es handelt sich offensichtlich um zwei gegenläufige Verfahren, a) „höhere" Subjektbegriffe zu suchen, von denen „der vorige" jeweils nicht Prädikat ist, während diese Subjektbegriffe freilich selbst als Prädikate fungieren können („Lebewesen"), oder b) einen Subjektbegriff zu suchen, „der selbst nicht mehr Prädikat ist". In der Logik-Busholt identifiziert Kant den Verstand bzw. das Vermögen zu Urteilen mit der „Quelle der Regeln, weil jedes Urtheil eine Regel, jede Regel ein Urtheil ist" (AA XXIV, S. 663), doch bezeichnet Kant gewöhnlicher Weise die Obersätze möglicher Vernunftschlüsse als „Regeln". J. H. Lambert erklärt in seinem Neuen Organon (1764), welches Kant vertraut gewesen sein dürfte, das prosyllogistische Verfahren als „analytische Art zu beweisen" dadurch, dass „man bey dem Schlußsatz anfängt, und ihn durch eine Schlußrede in zween Vordersätze, jeden(!) von diesen wiederum in zween andre auflöst, und damit so weit fortfährt, bis die Vordersätze keiner weiteren Auflösung mehr bedürfen" (Lambert 1965, S. 208). Das Begründungsproblem überträgt sich klarerweise nicht nur auf den jeweils gefundenen Obersatz eines Prosyllogismus, sondern auf beide Prämissen. Lambert veranschaulicht den Begründungsregress, der sich jeweils auf beide Prämissen des Syllogismus Uberträgt, in Gestalt eines pyramidenförmigen Schemas (vgl. ebd. § 300), welches auch Mellin (1968, Eintrag: Prosyllogismus, S. 723) zum Zwecke des Verständnisses der Ausfüh-
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gefundene „Zwischenurteil" (A304/B360) „Caius ist ein Glied der Kette kategorischer Prosyllogismen erschließbar den wir vielleicht als nächste allgemeine Regel, dass alle sind, und erschließen aus dieser mit dem Urteil „Caius ist ist ein Mensch". Schematisch: Bedingtes:
C ist S.
1. Prosyllogismus:
Mensch" im zweiten sein soll. Sodann finJungen (J) Menschen ein Junge" auf „Caius
Alle Μ sind S.
C ist ein M. CistS. 2. Prosyllogismus
Alle J sind M. C ist ein J . C ist ein M.
Für die Darstellung Minor zu
als „aufsteigender"
Kettenschluss
sind Major
und
vertauschen: C ist ein J. Alle J sind M. C ist ein M. Alle Μ s i n d S . CistS.
Für die Mittelbegriffe (M, J, ...) dieser fortsetzbaren Schlusskette gilt, dass ihr Umfang von Glied zu Glied eingeschränkt wird, womit zugleich die Möglichkeit ihres prädikativen Gebrauchs in wahren universell-bejahenden Urteilen eingeschränkt wird. Ihr Umfang nähert sich sukzessive dem Umfang des Subjektbegriffs des ursprünglich zugrunde gelegten Urteils (C) an. Wenn auch sowohl für unser Beispiel als auch für jeden anderen konkreten Fall dieses kategorisch-prosyllogistischen Verfahrens zwar nicht gilt, dass die Schlusskette in dem Sinne „zum Subjekt, welches selbst nicht mehr Prädikat ist, fortschreitet", dass ein solcher Subjektbegriff tatsächlich in einem obersten, letzten Urteil der Schlusskette gebraucht würde, so schreiten die Mittelbegriffe der Schlusskette doch zumindest in derselben Richtung fort, in der ein solcher Begriff zu suchen wäre. Die Sachverhalt, dass keine Schlusskette, die von einem Erfahrungen Kants wiedergibt. Malzkorn |1999] hält Kants allgemeinen Hinweis aus A323/B379 f. im Falle kategorischer Prosyllogismen insgesamt für „misslich und irreführend", egal, ob man nun die Major oder die Minor erneut der Bedingtheit unterwirft: „Denn im Falle kategorischer Urteile und Vernunftschlüsse entspricht ein einem Aufsteigen in der Reihe der Bedingungen zu einer gegebenen „bedingten" Erkenntnis ein Absteigen durch Episyllogismen in einem Kettenschluß" (S. 64). Aufgrund seiner Konzentration auf die Kosmologie-Problematik unternimmt es Malzkorn allerdings nicht, diese aufsteigenden Episyllogismen zu rekonstruieren.
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rungsurteil ausgeht, tatsächlich in einem Urteil zu gipfeln vermag, in dem ein solcher Begriff gebraucht wird, beweist indirekt, dass der Begriff eines „Subjekts, welches selbst nicht mehr Prädikat ist" bloß die Idee eines „Unbedingten der kategorischen Synthesis" ist. Nun gilt es, das hypothetisch-prosyllogistische Verfahren zu exemplifizieren. Ausgehend von einer als hypothetisch bedingt betrachteten Erkenntnis ρ wird die allgemeine Regel „Wenn q, dann p " gefunden. Die Bedingung q für das Vorliegen von ρ fungiert als Untersatz des ersten Schlusses der aufsteigenden Kette und wird darauf selbst als bedingt betrachtet. 3 9 Ist „Wenn r, dann q " als zweite allgemeine Regel gefunden, dann ist wiederum q selbst, unter der Annahme des Vorliegens von r, in einem zweiten Schluss erschließbar usw. Schematisch: Bedingtes:
ρ
Für die Darstellung Minor zu
1. Schluss: 2. Schluss:
q —> ρ , q => ρ r —> q , r => q
als „aufsteigender"
Kettenschluss
sind wiederum
Major
und
vertauschen:
r r —» q q q-^p Ρ Auch das hypothetisch-prosyllogistische Verfahren „schreitet" nur dann tatsächlich „zur Voraussetzung, die nichts weiter voraussetzt", „fort" (vgl. A323/B379), wenn bereits prima facie klar zu sein scheint, dass der aufgegebene Regress endlich ist und eine oberste hypothetische Regel existiert, deren Antezedens die unbedingte Voraussetzung zum Ausdruck bringt. Bei der „Voraussetzung, die nichts weiter voraussetzt" handelt es sich um die Idee eines „Unbedingten der hypothetischen Synthesis". Schließlich geben wir für das disjunktiv-prosyllogistische Verfahren ein Beispiel aus der Mathematik. Das Urteil „Fünf ist eine Primzahl" wird als disjunktiv bedingt betrachtet. Das Folgen der logischen Maxime (M3) lässt uns als Oberbegriff des Begriffs „Primzahl" (P) den Begriff „natürliche Z a h l " (N) und somit die Regel
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In Rejl. 5553 heißt es bezüglich der Frage, ob jeweils die hypothetische „Regel" (maior) oder aber der kategorische Untersatz (minor) erneut der Bedingtheit unterworfen und dem Beweisversuch ausgesetzt werden solle, eindeutig: „[...] bey bedingten [d.h. hypothetischen] Schlüssen [...] beweiset der prosyllogism die minorem" (AA XVIII, S. 222).
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„Jede Primzahl ist eine natürliche Zahl" sowie die disjunktive Regel „Jede natürliche Zahl ist entweder eine Primzahl oder keine Primzahl" finden. Das Urteil „Fünf ist eine Primzahl" ist aus dieser allgemeinen Regel und der Zusatzprämisse, dass Fünf nicht keine Primzahl ist, in einem disjunktiven Schluss erschließbar, der der „logischen Bestimmung" von Begriffen dient: „Die logische Bestimmung eines Begriffs durch die Vernunft beruht auf einem disjunktiven Vemunftschlusse, in welchem der Obersatz eine logische Einteilung (die Teilung der Sphäre eines allgemeinen Begriffs) enthält, der Untersatz diese Spähre bis auf einen Teil einschränkt und der Schlußsatz den Begriff durch diesen bestimmt." (A576/B604 f.) Die E i n s c h r ä n k u n g " der „Sphäre", von der hier die Rede ist, kann auf zwei Weisen vorgenommen werden: „In den disjunktiven Schlüssen ist der Major ein disjunktiver Satz und muß daher, als solcher, Glieder der Einteilung oder Disjunktion haben. Es wird hier entweder 1) von der Wahrheit Eines Gliedes der Disjunktion auf die Falschheit der übrigen geschlossen; oder 2) von der Falschheit aller Glieder, außer Einem, auf die Wahrheit dieses Einen." 40 In unserem Beispiel liegt der zweite Fall der Einschränkung vor: Weil Fünf eine natürliche Zahl und nicht keine Primzahl ist, weil sie keinen von der Zahl Eins und sich selbst verschiedenen natürlichen Teiler besitzt, ist Fünf eine Primzahl. Wird nun das Urteil „Fünf ist eine natürliche Zahl" erneut der disjunktiven Bedingtheit unterworfen, so finden wir den Begriff der ganzen Zahl (G) als Oberbegriff der natürlichen Zahl sowie die disjunktive Regel, dass jede ganze Zahl, also insbesondere die Zahl Fünf, entweder natürlich ist oder nicht. Letzteres hieße, dass sie negativ ist. W e n n ausgeschlossen ist, dass es sich bei der Zahl Fünf um eine negative Zahl handelt, kann in einem zweiten Prosyllogismus das Urteil „Fünf ist eine natürliche Z a h l " aus den gefundenen Prämissen erschlossen werden. In einem dritten Schritt finden wir, dass jede rationale Zahl (Q) entweder ganz oder nicht ganz ist, und in einem vierten, dass jede reelle Zahl (R) entweder rational oder irrational ist. Mit dem Begriff der reellen Zahl schließlich ist der allgemeinste Begriff gefunden, der von der Zahl Fünf ausgesagt werden kann. 41 Bilanzierend haben wir den Begriff der Zahl Fünf „logisch bestimmt" als Begriff einer reellen, rationalen, ganzen, natürlichen Primzahl. Schematisch:
40 41
Logik AHDie Menge der komplexen Zahlen, deren echte Teilmenge der reellen Zahlen diejenige ist, für deren Elemente gilt, dass ihr Imaginärteil gleich Null ist, verschweigen wir hier, weil uns die allgemeine Verständlichkeit im Rahmen eines Beispiels wichtiger erscheint als die Gewissenhaftigkeit bezüglich der Vollständigkeit der Zahlbereiche.
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Der Leitfaden für die Entdeckung des realen Vernunftgebrauchs
R , Q f G
Ν non-Q
\ non-G \
(
Ν
f Ρ
A
non-N
^ non-
Für dieses Verfahren 4 2 gilt, dass es mit jedem Schritt „zu einem Aggregat der Glieder der Einteilung [eines Begriffs fortschreitet], zu welchem nichts weiter erforderlich ist, um die Einteilung eines Begriffs zu vollenden" (A323/B379f.). Wenn Kant schreibt, es werde gemäß dem disjunktiv-prosyllogistischen Verfahren „drittens" ein „Unbedingtes der disjunktiven Synthesis der Teile in einem System zu suchen sein" (A323/B379), so ist das Wörtchen „in" nicht nur auf die Relation zwischen den „Teilen" des Systems und dem System selbst beziehbar, sondern auch auf den Ort, an dem das Unbedingte der disjunktiven Synthesis zu finden ist: das logisch „Unbedingte der disjunktiven Synthesis" ist das System selbst. Und zwar dasjenige Begriffssystem, welches nicht wie in unserem Beispiel allein Zahlbegriffen ihren systematischen Ort zuweist, sondern allen möglichen Begriffen. Sowohl das „Subjekt, welches nicht mehr Prädikat ist", als auch die „Voraussetzung, die nichts weiter voraussetzt", als auch das allumfassende begriffliche System bzw. das „Aggregat der Glieder der Einteilung [eines Begriffs], zu welchem nichts weiter erforderlich ist, um die Einteilung des Begriffs zu vollenden" (A323/B379f.), sind als richtungweisende Ideen Brennpunkte (foci imaginarii, vgl. A644/B672) der Vernunft im logischen Gebrauche, die sich den Begründungsregress zur Aufgabe macht.
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Nicht nur schematisch erinnert dieses Verfahren an die Systematisierung von Art- und Gattungsbegriffen, die uns von Petrus Hispanus in Gestalt jenes porphyrischen Baums überliefert ist, in dem der Begriff des Menschen als Begriff einer vernünftigen, beseelten, lebendigen, körperlichen Substanz bestimmt wird.
Das oberste Prinzip der reinen Vernunft
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1.2 Die Vernunft im realen Gebrauch - das „oberste Prinzip der reinen Vernunft" Ein realer Gebrauch der Vernunft liegt dann vor, wenn der Forderung der Vernunft im logischen Gebrauche, für „Einheit der Prinzipien" zu sorgen, dadurch „objektive Gültigkeit" verschafft werden soll, dass dasjenige, was die Vernunft im logischen Gebrauch auf Seiten der Urteile herstellt, auf der Seite der „Gegenstände selbst" angenommen wird: Vernunfteinheit nach Prinzipien. Die „projektierte Einheit" 43 ist dann nicht mehr eine Einheit von Regeln, Gesetzen, Erkenntnissen in Form eines allumfassenden „Systems" der Erkenntnis von Gegenständen, sondern eine der Gegenstände selbst. Für so illegitim 44 Kant diese Projektion hält, für so unvermeidlich hält er sie. Der Vernunft selbst schreibt Kant die Disposition zur Objektivierung des „subjektiven Gesetzes der Haushaltung" (A306/B362) der von uns für wahr gehaltenen Urteile zu. Im ersten Abschnitt der Einleitung („Vom transzendentalen Schein") bestimmt Kant den Sachverhalt, „ d a ß in u n s e r e r V e r n u n f t (subjektiv als ein m e n s c h l i c h e s E r k e n n t n i s v e r m ö g e n betrachtet) G r u n d r e g e l n u n d M a x i m e n ihres G e b r a u c h s liegen, w e l c h e gänzlich das A n s e h e n o b j e k t i v e r G r u n d s ä t z e h a b e n , und w o d u r c h es geschieht, d a ß die subjektive N o t w e n d i g k e i t einer g e w i s s e n V e r k n ü p f u n g u n s e r e r Begriffe, zu G u n s t e n des V e r s t a n d e s , f ü r eine objektive N o t w e n d i g k e i t , der B e s t i m m u n g der Dinge an sich selbst, gehalten w i r d " ( A 2 9 7 / B 3 5 3 ) ,
zugleich als die Ursache für allen „transzendentalen Schein". Diejenige subjektive Grundregeln bzw. Maxime, die Kant zufolge nur allzu leicht für einen objektiven Grundsatz gehalten werden kann und als solcher für die Illusionen der transzendenten Metaphysik verantwortlich ist, lautet: (M) Suche zu der als bedingt betrachteten Verstandeserkenntnis das Unbedingte! Die von der Vernunft geforderte Vereinheitlichung der Erkenntnis lässt uns verstehen, weshalb Kant bereits im Abschnitt „Von der Vernunft überhaupt" die Vernunft auch als das „Vermögen der Prinzipien" (A299/B356) bestimmt. Jegliche Einheit setzt so etwas wie Prinzipien, Regeln, Begriffe voraus. Ist die Vernunft erst einmal als diejenige Instanz bestimmt resp. erkannt, die für die höchste Einheit des Denkens sorgt, dann muss sie selbst, da sie keine Instanz mehr über sich hat, Einheit stiftende Prinzipien hervorbringen, sofern diese existieren. Obwohl in der KdrV die theoretische Vernunft der Kritik unterzogen wird, ist die
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A647/B675. „Die Vernunfteinheit ist die Einheit des Systems, und diese systematische Einheit dient der Vernunft nicht objektiv zu einem Grundsatze, um sie über die Gegenstände, sondern subjektiv als Maxime, um sie Uber alles mögliche empirische Erkenntnis der Gegenstände zu verbreiten." (A680/B708; Hervorhebungen von N.K.)
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Der Leitfaden für die Entdeckung des realen Vernunftgebrauchs
Definition der Vernunft als Vermögen der Prinzipien im Sinne ihrer Hervorbringung nicht auf die theoretische Vernunft beschränkt. So heißt es in Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: „Sie [d.h. hier: die praktische Vernunft] muß sich selbst als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen." 45 U m sich den gesuchten Elementen der reinen theoretischen Vernunft diskursiv weiter zu nähern, unterscheidet Kant zwei Bedeutungen des Begriffs „Prinzip": „ S y n t h e t i s c h e E r k e n n t n i s aus B e g r i f f e n k a n n der V e r s t a n d also gar nicht v e r s c h a f fen, u n d diese sind es eigentlich, w e l c h e ich schlechthin Prinzipien nenne; indessen, d a ß alle a l l g e m e i n e Sätze ü b e r h a u p t komparative Prinzipien heißen k ö n nen." (A301/B357f.)
Allgemeine Sätze, die als Obersätze in Schlüssen dienen können und nur von ganz bestimmten Gegenständen handeln, sind bloß „komparative Prinzipien": „Die m a t h e m a t i s c h e n A x i o m e n (z.B. z w i s c h e n zwei P u n k t e n kann nur eine gerade Linie sein) sind sogar allgemeine E r k e n n t n i s s e a priori und w e r d e n d a h e r mit Recht, relativisch auf die Fälle, die unter ihnen s u b s u m i e r t w e r d e n k ö n n e n , Prinzipien genannt. A b e r ich kann d a r u m d o c h nicht sagen, d a ß ich diese E i g e n s c h a f t der geraden Linien, überhaupt und an sich, aus Prinzipien e r k e n n e , sondern nur in der reinen A n s c h a u u n g . " ( A 3 0 0 / B 3 5 6 f . )
Nicht die deduktive Funktion, die ein Urteil innehaben kann, sondern sein epistemologischer Status, d.h. die Antwort auf die Frage, ob wir unabhängig von anderen Urteilen dazu kommen, es für wahr zu halten, entscheidet darüber, ob es sich um ein Prinzip „an sich selbst und seinem eigenen Ursprünge nach" (A300/B356) handelt. Allgemeine Urteile über bestimmte, z.B. empirische Gegenstände, die zwar als Obersätze in Schlüssen dienen können, jedoch bloß komparative Prinzipien im Sinne Kants sind, würde unser Autor wahrscheinlich eher der Urteilskraft als der Vernunft zuordnen, da universelle Urteile wie z.B. „Alle Raben sind schwarz" induktiv erschlossen werden und das Vermögen des induktiven Schließens von Kant der Urteilskraft zugeordnet wird. Die der Vernunft zugeordneten Prinzipien „überhaupt und an sich" sollen Prinzipien „aus Begriffen" sein. Das Attribut „aus [bloßen] Begriffen" muss hier im Sinne einer Antwort auf die Frage nach der subjektiven Erkenntnis quelle im Kontext der Urteilsbegründung mit „aufgrund von bzw. aus (reiner) Anschauung" kontrastiert werden. 46 Die Frage nach den Prinzipien „schlechthin" scheint
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Vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 448. Die Grundbedeutung des Attributs einer Erkenntnis „aus bloßen Begriffen" ist in der KdrV keine logisch-semantische, sondern eine epistemologische. „Aus bloßen Begriffen" bedeutet nicht etwa dasselbe wie „analytisch", sondern soviel wie „nicht-intuitiv", „rein begrifflich". Insbesondere die theoretische Metaphysik besteht Kant zufolge aus synthetische^!) Vernunfterkenntnis „aus bloßen Begriffen". Vgl. dazu insb. A733/B761, A841/B869, A850/B878 sowie A288 f.
Das oberste Prinzip der reinen Vernunft
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also gleichbedeutend mit der Frage nach der Möglichkeit Erkenntnis erweiternden, reinen Denkens zu sein, welche von der dogmatischen Metaphysik zweifelsfrei beansprucht wurde und wird. Da Kant diese Prinzipien - falls sie überhaupt existieren - der Vernunft zuschreibt, ist die Frage nach ihrer Möglichkeit gleichbedeutend mit der Frage nach der Möglichkeit eines realen Gebrauchs der Vernunft: „Mit e i n e m W o r t e , die F r a g e ist: ob V e r n u n f t an sich d.i. die reine V e r n u n f t a priori s y n t h e t i s c h e G r u n d s ä t z e und Regeln enthalte, u n d w o r i n diese Prinzipien bestehen mögen?" (A306/B363)
Als „oberstes Prinzip der reinen Vernunft" (A308/B365) stellt Kant dem Leser nach der Beschreibung des logischen Vernunftgebrauchs den folgenden hypothetischen Satz vor, ohne sich zunächst Uber seinen Wahrheitswert zu äußern: „ D i e s e logische M a x i m e [(M), s.o.] k a n n aber nicht anders ein P r i n c i p i u m der rein e n V e r n u n f t w e r d e n , als d a d u r c h , d a ß m a n a n n i m m t : w e n n das B e d i n g t e g e g e b e n ist, so sei a u c h die ganze R e i h e e i n a n d e r u n t e r g e o r d n e t e r B e d i n g u n g e n , die mithin selbst u n b e d i n g t ist, gegeben, (d.i. in d e m G e g e n s t a n d e u n d seiner V e r k n ü p f u n g enthalten)." (A307f./B364)
Hier ist natürlich zu fragen, was es bedeuten soll, dass eine logische Maxime zu einem Prinzip wird, und zweitens, inwiefern diese Verwandlung berechtigt oder gar notwendig ist. Wir schlagen vor, Kant hier so zu verstehen, dass die Gültigkeit dieses ,,Principiums der reinen Vernunft" unter Ausnutzung des Verhältnisses, welches zwischen realem und logischem Vernunftgebrauch besteht, eingefordert wird. Ziehen wir dazu die Analogie zur metaphysischen Deduktion der Kategorien aus den Urteilsfunktionen heran: Die Kategorien wurden als die das Verstandeserkennen ermöglichende Elemente ausgehend von den Urteilsfunktionen erschlossen. Allein die auf den elementaren Urteilsfunktionen beruhenden logischen Formen der Urteile sind für uns als Urteilende ständig präsent, doch sind sie das der Natur nach Spätere 41 In analoger Weise schließt Kant hier aus der konstatierten Tendenz der Vernunft im logischen Gebrauche auf die im „obersten Prinzip der reinen Vernunft" manifeste notwendige Annahme der Vernunft; m.a.W.: würden wir nicht annehmen, dass zu jedem Sachverhalt, der in einer als bedingt betrachteten Verstandeserkenntnis ausgedrückt wird, die Gesamtheit übergeordneter Bedingungen existiert, so könnten wir das Folgen der logischen Maxime (M) nicht für sinnvoll halten. Dass die Vernunft genötigt ist, jene „Totalität in der Reihe der 47
Das Verhältnis zwischen realem und logischem Verstandesgebrauch kehrt sich um, wenn nicht deren Natur, sondern die Erkenntnis bzw. Entdeckung derselben thematisiert wird. Wir folgen hier Rudolf Malters Sprachgebrauch, der deutlich macht, „dass das der Natur nach Frühere, also das Zugrundeliegend-Ermöglichende, dasjenige ist, was für die Erkenntnis das Spätere ist - dass also bei der Thematisierung der ermöglichenden Prinzipien nicht begonnen werden kann mit der unmittelbar-direkten Erfassung dieser Prinzipien selber" (Kopper / Marx (Hrsg.) 1981, S. 182).
Der Leitfaden für die Entdeckung des realen Vernunftgebrauchs
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P r ä m i s s e n " ( A 3 3 1 / B 3 8 8 ) voraussetzen,
s c h ä r f t K a n t d e m Leser m e h r f a c h aus-
drücklich ein 4 8 : „Denn da [...] das Erkenntnis (conclusio) nur als bedingt gegeben ist: so kann man zu demselben vermittelst der Vernunft nicht anders gelangen, als wenigstens unter der Voraussetzung, dass alle Glieder der Reihe auf der Seite der Bedingungen gegeben sind, (Totalität in der Reihe der Prämissen,) weil nur unter deren Voraussetzung das vorliegende Urteil a priori möglich ist." (A331/B388) „Wenn ein Erkenntnis als bedingt angesehen wird, so ist die Vernunft genötigt, die Reihe der Bedingungen in aufsteigender Linie als vollendet und ihrer Totalität nach gegeben anzusehen." (A332/B388) „Die absolute Totalität wird von der Vernunft [...] so fern gefo[r]dert, als sie die aufsteigende Reihe der Bedingungen zu einem gegeben Bedingten angeht [...] Denn Bedingungen sind in Ansehung des Bedingten schon vorausgesetzt und mit diesem auch als gegeben anzusehen [...]" (A409f./B436) „In der Tat ist auch nicht abzusehen, wie ein logisches Prinzip der Vernunfteinheit der Regeln [d.h. hier: der Urteile] stattfinden könne, wenn nicht ein transzendentales vorausgesetzt würde, durch welches eine solche systematische Einheit, als den Objekten selbst anhängend, a priori als notwendig angenommen wird." (B678/B706; Alle Hervorhebungen von N.K.)
„ G e n ö t i g t " zur T r a n s f o r m a t i o n einer logischen M a x i m e in ein o n t o l o g i s c h e s Prinzip wird d i e V e r n u n f t o f f e n b a r allein durch sich selbst. Sie m u s s die u n b e d i n g t e Vollständigkeit auf Seiten der B e d i n g u n g e n a n n e h m e n , u m sich das V o r l i e g e n des als b e d i n g t B e t r a c h t e t e n als ü b e r h a u p t „ m ö g l i c h " (vgl. A 4 0 9 / B 4 3 6 , A 4 9 8 / B 5 2 6 ) erklären zu k ö n n e n . E s ist ein e b e n s o e i n f a c h e r wie unwiderstehlicher G e d a n k e , dass die E i n h e i t und K o h ä r e n z unserer W e l t e r f a h r u n g d u r c h die Organisation der W e l t selbst g e d e c k t ist. Selbst w e n n wir e i n g e s t e h e n , dass der abstrakte G e d a n k e an die Totalität d e r B e d i n g u n g e n ein n o t w e n d i g e r ist, ist d a d u r c h keinesfalls die Gegebenheit und d a m i t die E r k e n n b a r k e i t k o r r e s p o n d i e r e n d e r G e g e n s t ä n d e gesichert. F ü r K a n t besteht i m n a i v e n Ü b e r g a n g v o n der subjektiven und logischen M a x i m e z u m o b j e k t i v e n und ontologischen „ o b e r s t e n Prinzip der reinen Vern u n f t " der K a r d i n a l i r r t u m aller t r a n s z e n d e n t e n M e t a p h y s i k und er korrigiert das unkritische Prinzip: ( P ) W e n n das B e d i n g t e g e g e b e n ist, d a n n ist a u c h die vollständige und selbst u n b e d i n g t e G e s a m t h e i t ü b e r g e o r d n e t e r B e d i n g u n g e n gegeben 4 9 , 48
49
An anderer Stelle bedient sich Kant der Formulierung, die unbeschränkte Vollständigkeit der Reihe von Bedingungen werde „postuliert" (A309/B366). Wir wählen an dieser Stelle diejenige Formulierung des Prinzips, in der von der Gesamtheit bzw. Totalität anstatt von der vollständigen Reihe der Bedingungen die Rede ist, weil Kant selbst den Reihencharakter, d.h. insbesondere die Transitivität der Bedingtheitsrelation für eine Besonderheit
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zum ebenfalls hypothetischen Satz: ( P ' ) „Wenn das Bedingte gegeben ist, [ist] uns eben dadurch ein Regressus in der Reihe aller Bedingungen zu demselben aufgegeben" (A497f./B526) Kants Kritik bezieht sich also auf dasjenige, was die Gegebenheit eines Bedingten tatsächlich impliziert: Ein aufgegebener Regress von Bedingungen ist keine gegebene Totalität von Bedingungen. Während (P') der „Petition" (A309/B366), d.h. der Bitte bzw. Aufgabe entspricht, fortwährend nach höheren Bedingungen eines Bedingten zu suchen, enthält (P) das „Postulat" (ebd.) die Annahme, eine Totalität von Bedingungen zum Bedingten existiere als gebbare unabhängig vom regressiv synthetisierenden Verstand. Kant selbst hält sich hinsichtlich der „objektiven Richtigkeit" des Prinzips (P) unmittelbar nach der Vorstellung desselben noch bedeckt (vgl. A308/B364 f.), gerade so, als müssten wir ihm unter der Annahme von (P) erst in die „Antinomie der reinen Vernunft" folgen, damit wir es rückwirkend als falsch zurückweisen können. Dies ist insofern verwunderlich, als wir uns an seine Behauptung erinnern, beim Übergang von subjektiven Maximen zu scheinbar „unverdächtigen" (A VIII) objektiven Grundsätzen sei man dem transzendentalen Schein und damit den Illusionen transzendenter Metaphysik bereits erlegen (vgl. A297/B353, A306/B363). Ein solch illegitimer Ubergang findet sich nämlich gerade dort, wo aus der subjektiv-logischen Maxime: „Suche zum bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte!", der objektiv-ontologische Grundsatz (P) wird (vgl. A307/B364). Ohne Kant unter der Annahme der Gültigkeit von (P) in die Antinomie folgen zu müssen, können wir bereits an dieser Stelle das Prinzip unter Hinweis auf den Begriff der „Gegebenheit" als überzogen und falsch zurückweisen. „Gegebenheit" schließt in der KdrV stets die phänomenale Präsenz eines entsprechenden Gegenstandes ein. In den ersten Sätzen der Einleitung zur transzendentalen Logik, wo Kant seine „Zwei-Stämme"-Lehre :>0 menschlichen Erkennens entfaltet, heißt es: „Unsre Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts, deren erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Rezeptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe); durch die erstere wird uns ein Gegenstand gegeben, durch die zweite wird dieser im Verhältnis auf jene Vorstellung (als bloße Bestimmung des Gemüts) gedacht. [...] Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden." (A50/B74 f.; Hervorhebungen von N.K.)
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des hypothetischen Regress hält. Daher beziehen wir uns zum Zwecke der Ableitung aller transzendentalen Ideen besser auf Kants Formulierung: „Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Summe der Bedingungen, mithin das schlechthin Unbedingte gegeben [...]" (A409/B436). Vgl. A15/B29.
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Dieser an die Sinnlichkeit gekoppelten B e d e u t u n g der Gegebenheit von G e g e n ständen bedient sich Kant auch bei seiner E r k l ä r u n g der „Idee": „Ich verstehe unter der Idee einen notwendigen Vernunftbegriff, dem kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann." (A327/B383; Hervorhebung von N.K.)
Der überzogene Anspruch von (P) kann a m Beispiel der Idee des vollständigen R a u m s illustriert werden. N e h m e ich einen beliebigen Gegenstand im R a u m wahr, so ist mir dieser gegeben. Nicht gegeben - in eben dieser Bedeutung - ist mir dadurch der R a u m als vollständiger, den ich doch im Sinne der causa formalis als B e d i n g u n g f ü r die Räumlichkeit resp. R a u m e r f ü l l u n g des w a h r g e n o m m e n e n Gegenstandes begreifen kann. Ich habe trotz der notwendigen Einbettung des wahrg e n o m m e n e n Gegenstandes in den allumfassenden R a u m keine anschauliche Vorstellung von diesem als einem b e s t i m m b a r e n Gegenstand. Der Begriff des allumfassenden R a u m s bedeutet eine A u f g a b e f ü r die Vernunft. K e i n e s w e g s ist der allumfassende R a u m mit beliebigen räumlich ausgedehnten G e g e n s t ä n d e n gleichsam mitgegeben, oder, wie Kant oben in K l a m m e r n ergänzt, ,,in d e m [angeschauten] Gegenstande enthalten" ( A 3 0 8 / B 3 6 4 ) . Widerspricht dies nicht Kants B e h a u p t u n g aus der „transzendentalen Ästhetik", wo es heißt, der R a u m werde „als eine unendliche gegebene G r ö ß e vorgestellt" ( A 2 5 / B 3 9 ) ? Dieser scheinbare Widerspruch kann auf zwei verschiedene W e i s e n aufgelöst werden. Erstens, indem man annimmt, dass „ g e g e b e n " hier in verschiedener B e d e u t u n g gebraucht wird. „ G e g e b e n " könnte im Z u s a m m e n h a n g der transzendentalen Ästhetik und der in ihr dargelegten Lehre von der Subjektivität der „reinen Anschauu n g s f o r m e n " R a u m und Zeit im Sinne anthropologischer Konstitution zu verstehen sein und nicht im Sinne der vollständigen intuitiven Präsenz von Gegenständen. D i e Gegebenheit des R a u m s wäre d e m n a c h zu kontrastieren mit der A n n a h me, dass wir uns das Ordnungsinstrument des R a u m e s erst erarbeiten, ersinnen o.a. müssen. Zweitens könnte man annehmen, dass Kant in der transzendentalen Ästhetik bloß eine f ü r die „ G e o m e t e r " nützliche A n n a h m e referiert. Die passive V e r b f o r m („wird...vorgestellt") lässt o f f e n , von wem der R a u m in genannter W e i s e vorgestellt wird. Weil das Zitat d e m vierten so genannten Raumargument entnommen ist, d.h. an einem Punkt der Argumentation, an d e m die L e h r e v o m R a u m als Ans c h a u u n g s f o r m noch nicht etabliert ist, entscheiden wir uns für diese zweite Variante der Auflösung, so dass „ g e g e b e n " in beiden Zitaten in gleicher B e d e u t u n g aufgefasst werden kann. von
W a s f ü r die Idee des allumfassenden R a u m s gilt, gilt allgemein: Totalitäten B e d i n g u n g e n bestimmter Verstandeserkenntnisse sind keine „gegebe-
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n e n " G e g e n s t ä n d e der A n s c h a u u n g , sondern nur „gedachte" Gegenstände. (P) ist falsch 5 1 . Kant stellt die Gültigkeit des Prinzips (P) in die Abhängigkeit von der natürlichen metaphysischen Position des transzendentalen Realismus: „[...] wenn das Bedingte sowohl, als seine Bedingung, Dinge an sich selbst sind, so ist, wenn das Erstere gegeben worden, nicht bloß der Regressus zu dem zweiten aufgegeben, sondern dieses ist dadurch wirklich schon mit gegeben [...]", während andererseits gilt: „wenn ich es mit Erscheinungen zu tun habe [...], so kann ich nicht in eben der Bedeutung [von: „gegeben"] sagen: wenn das Bedingte gegeben ist, so sind auch alle Bedingungen (als Erscheinungen) zu demselben gegeben [...] Denn die Erscheinungen sind, in der Apprehension, selber nichts anderes, als eine empirische Synthesis (im Raum und der Zeit) und sind also nur in dieser gegeben. Nun folgt es gar nicht, daß, wenn das Bedingte (in der Erscheinung) gegeben ist, auch die Synthesis, die seine empirische Bedingung ausmacht, dadurch mitgegeben [...] sei, sondern diese findet allererst im Regressus, und niemals ohne denselben, statt." (A498/ B526 f.) Für den transzendentalen Idealisten Kant ist (P) also nur dann falsch, wenn wir das B e d i n g t e und seine Bedingungen als Erscheinungen und deren „ G e g e b e n h e i t " als p h ä n o m e n a l e Präsenz auffassen. O b w o h l f ü r Kant spätestens seit E n t d e c k u n g der A n t i n o m i e der reinen V e r n u n f t feststeht, dass uns sowieso niemals die D i n g e als Dinge an sich (selbst betrachtet) gegeben sind, müsse dies j e d o c h nicht bedeuten, dass (P) in der transzendental-realistischen Interpretation - d.h., wenn B e d i n g u n g und Bedingtes als D i n g e an sich aufgefasst werden - falsch wird, da bereits das Antezedens: „uns ist ein Bedingtes als D i n g an sich g e g e b e n " falsch ist. Vielmehr könne durchaus wahr sein, dass wenn ein Bedingtes als Ding an sich gegeben ist, dann auch die Totalität seiner B e d i n g u n g e n als D i n g e an sich gegeben ist. Das W o r t „ g e g e b e n " bedeutet dann freilich etwas anderes als innerhalb der transzendental-idealistischen Interpretation, worauf Kant im Zitat selbst hinweist. Dass die Totalität der Bedingungen als D i n g e an sich gegeben ist, ist dann gleichbedeutend damit, dass sie - v o m erkennenden Subjekt möglicherweise noch unerkannt - existiert. D a s s wir Kant zufolge ausschließlich E r s c h e i n u n g e n (phaenomena) erkennen, hat in aller kritizistischen Härte allerdings zur K o n s e q u e n z , dass die Relation zwischen einem gegebenen Bedingten und seiner B e d i n g u n g unabhängig von der Synthesis, die ein erkennendes Subjekt zwischen B e d i n g u n g und B e d i n g t e m her31
Dass man bereits mit der Akzeptanz des Prinzips (P) in die Falle transzendenter Metaphysik tappt, da dasjenige, was als gegeben angenommen wird, auch als erkennbar angenommen werden muss, wird z.B. von Josef Schmucker [1990] nicht gesehen. Er hält dieses Prinzip vielmehr für „begrifflich evident": „Das [Prinzip (P)] ist ein Grundsatz der reinen Vernunft, nämlich ein synthetischer Grundsatz von begrifflicher Notwendigkeit, der seine Gültigkeit nicht aus der Funktion als Bedingung einer möglichen Erfahrung schöpft (wie das Kausalprinzip), sondern aus der Vernunft, und der aus ihr eine unmittelbare begriffliche Evidenz hat" (ebd. S. 26).
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Der Leitfaden für die Entdeckung des realen Vernunftgebrauchs
stellt, gar nicht existiert, s o n d e r n erst d u r c h den subjektiven E r k e n n t n i s p r o z e s s gestiftet wird: „die S y n t h e s i s (...) f i n d e t allererst im R e g r e s s u s , und n i e m a l s o h n e d e n s e l b e n , statt"(s.o). D i e B e d i n g u n g e n z u m B e d i n g t e n sind mit d i e s e m nicht mitgegeben, s o n d e r n w e r d e n gedacht. D i e illegitimen E r k e n n t n i s a n s p r ü c h e d e r t r a n s z e n d e n t e n M e t a p h y s i k b e r u h e n K a n t z u f o l g e auf der V e r w e c h s l u n g v o n ideellen G e g e n s t ä n d e n mit, w e n n nicht ,,direkt"(s.u.) g e g e b e n e n , so d o c h b e s t i m m b a r e n G e g e n s t ä n d e n : „Es ist ein großer Unterschied, ob etwas meiner Vernunft als ein Gegenstand schlechthin, oder nur als ein Gegenstand in der Idee gegeben wird. In dem ersteren Falle gehen meine Begriffe dahin, den Gegenstand zu bestimmen; im zweiten ist es wirklich nur ein Schema, dem direkt kein Gegenstand, auch nicht einmal hypothetisch zugegeben wird, sondern welches nur dazu dient, um andere Gegenstände, vermittelst der Beziehung auf diese Idee, nach ihrer systematischen Einheit, mithin indirekt uns vorzustellen." (A670/B698) W ä h r e n d K a n t die I d e e als Begriff definiert, d e m kein G e g e n s t a n d in den S i n n e n k o n g r u e n t gegeben w e r d e n kann, schließt d i e transzendente M e t a p h y s i k g e m ä ß (P) nicht nur auf die ideelle, sondern auf die reale G e g e b e n h e i t von B e d i n g u n g s t o t a l i täten. D a s kritisch g e w e n d e t e „oberste P r i n z i p i u m der reinen V e r n u n f t " k a n n d e m Zitat g e m ä ß auch f o l g e n d e r m a ß e n f o r m u l i e r t werden: ( P " ) W e n n ein B e d i n g t e s g e g e b e n ist, d a n n ist auch die Totalität seiner B e d i n g u n g e n als Gegenstand
in der Idee gegeben.
W i r halten fest, dass es sich b e i m unkritischen P r i n z i p (P) u m einen synthetischen G r u n d s a t z a priori handelt. S y n t h e t i s c h ist er, weil der Begriff einer u n b e d i n g t e n Totalität von B e d i n g u n g e n b z w . der Begriff einer u n b e d i n g t e n B e d i n g u n g nicht i m B e g r i f f eines B e d i n g t e n liegt. A n a l y t i s c h scheint allein d a s Urteil „ Z u j e d e m B e d i n g t e n gibt es eine B e d i n g u n g " zu sein. U m einen apriorischen G r u n d satz h a n d e l t es sich ferner, weil B e d i n g u n g s t o t a l i t ä t e n keine G e g e n s t ä n d e m ö g l i cher E r f a h r u n g sind. D a es nicht die A n s c h a u u n g ist, die uns über d i e vermeintlic h e W a h r h e i t des Prinzips informiert, h a n d e l t es sich nach den o b e n zitierten Kriterien u m ein Prinzip schlechthin. (P) ist eine „synthetische E r k e n n t n i s aus B e g r i f f e n " , m i n d e s t e n s aber ein „ s y n t h e t i s c h e s Urteil aus B e g r i f f e n " , w e n n es zu einer E r k e n n t n i s g e h ö r e n soll, dass sie eine W a h r h e i t expliziert. Als synthetischer G r u n d s a t z a priori aus B e g r i f f e n ist (P) ein genuin m e t a p h y s i s c h e r Satz. M i t i h m ist nicht nur der e i g e n t ü m l i c h e G r u n d s a t z der unkritischen V e r n u n f t i m r e a l e n G e b r a u c h , s o n d e r n a u c h „das U n b e d i n g t e " b z w . die „Totalität der B e d i n g u n g e n " als „ g e m e i n s c h a f t l i c h e r Titel aller V e r n u n f t b e g r i f f e " ( A 3 2 4 / B 3 8 0 ) g e f u n d e n . D e r B e g r i f f der „ u n b e d i n g t e n B e d i n g u n g " ist als Resultat des Interesses vollständ i g e n Begreifens - R u d o l f M a l t e r spricht hier von der „ m e t a p h y s i s c h e n Intenti-
Das oberste Prinzip der reinen Vernunft
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on" der reinen Vernunft 52 - nicht irgendein Produkt der Vernunft, sondern das eigentümliche Produkt der auf Letztbegründung zielenden Vernunft im realen Gebrauch. Die Illusionen der speziellen Metaphysik beruhen gerade auf dem Anspruch, „das Unbedingte", welches Kant zufolge der Vernunft als Problem resp. als Idee jederzeit nur aufgegeben ist, als gebbar und damit als bestimmbar zu denken.
Vgl. Rudolf Malter, Der Ursprung der Metaphysik in der reinen Vernunft. Systematische gungen zu Kants Ideenlehre, in: Kopper / Marx (Hrsg.) 1981.
Überle-
2
Die Klassifikation der transzendentalen Ideen
2.1 Die Relation zwischen Bedingtem und Bedingung als Klassifikationsprinzip Entsprechend dem Übergang von der allgemeinen logischen Maxime (M), welche fordert, zur bedingten Erkenntnis des Verstandes das Unbedingte zu suchen, zum ontologischen Prinzip (P), findet ein ebenso naiver Übergang von den drei Spezifikationen dieser Maxime ((Ml), (M2) und (M3) (vgl. 1.1)) zu drei korrespondierenden hypothetischen Prinzipien statt: (PI) Wenn eine als kategorisch bedingt betrachtete Verstandeserkenntnis ,,S ist P" gegeben ist, dann ist auch die Totalität ihrer kategorischen Bedingungen gegeben, d.h. insbesondere derjenige Subjektbegriff S*, von dem Ρ ausgesagt wird, der aber selbst nicht prädikativ gebraucht werden kann. (P2) Wenn eine als hypothetisch bedingt betrachtete Verstandeserkenntnis gegeben ist, dann ist auch die Totalität ihrer jeweils hinreichenden hypothetischen Bedingungen gegeben, d.h. die vollständige, endliche oder unendliche Ursachenreihe, die entweder selbst oder deren oberstes Glied hypothetisch unbedingt ist. (P3) Wenn eine als disjunktiv bedingt betrachtete Verstandeserkenntnis gegeben ist, dann ist auch die Totalität ihrer disjunktiven Bedingungen, d.h. ein vollständiges Begriffs,vj'.view, gegeben, welches selbst disjunktiv unbedingt ist. Naiv statt kritisch ist der Übergang, weil die Konsequenzen dieser hypothetischen Sätze nicht mehr Aufgaben für die Vernunft benennen, sondern Gegebenheiten behaupten. Diverse Kommentatoren erblicken in den Forderungen nach einem unbedingten Subjekt, welches nicht mehr Prädikat ist, einem unbedingten Grund und einem unbedingten System diejenigen Ideen deduziert, welche die klassische Metaphysik zu ihren Gegenständen Seele, Welt und Gott hypostasiert. Allerdings bleibt bei diesen Kommentatoren der besondere Übergang vom Subjektbegriff in Urteilen hin zum urteilenden Subjekt, d.h. zum Denker, so mysteriös wie der Zusammenhang zwischen Kants abstrakten Begriffen und den Gegenständen klassi-
Die Relation zwischen Bedingtem und Bedingung
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scher Metaphysik im Allgemeinen. 53 Anders als diese Kommentatoren sind wir nicht der Ansicht, dass die abstrakten Begriffe eines Unbedingten der kategorischen, hypothetischen und disjunktiven Synthesis gewissermaßen in die drei Grundbegriffe der metaphysica specialis verhext werden. Die drei formalen Varianten „unbedingter Synthesis" ergeben sich vielmehr aus der „natürlichen Beziehung" zwischen logischem und realem Vernunftgebrauch: „Wir haben der natürlichen Beziehung, die der transzendentale [d.h. reale] Gebrauch unserer Erkenntnis, sowohl in Schlüssen als Urteilen, auf den logischen haben muß, abgenommen: daß es nur drei Arten von dialektischen Schlüssen geben werde, die sich auf die dreierlei Schlußarten beziehen, durch welche Vernunft aus Prinzipien zu Erkenntnissen gelangen kann, und daß in allen54 ihr Geschäfte sei, von der bedingten Synthesis, an die der Verstand [i.e.S.] jederzeit gebunden bleibt, zur unbedingten aufzusteigen, die er niemals erreichen kann." (A333/B390) Kants Rede von den ,jlrei Arten von dialektischen Schlüssen" ist dahin gehend zu interpretieren, dass sie anhand der in der jeweiligen (kategorischen, hypothetischen, disjunktiven) Spezifikation des unkritischen Prinzips (P) ausgedrückten Bedingtheitsrelation unterschieden werden. Jeder besondere „dialektische Schluss" ist von der hypothetischen Form des modus ponendo ponens, weil sein Obersatz, der wiederum eine Spezifikation von (PI), (P2) oder (P3) darstellt, hypothetisch ist. Dadurch wird jedoch nicht die „natürliche Beziehung" zwischen den hier unterschiedenen drei Klassen von transzendentalen Ideen und den drei Relationskategorien untergraben. Die drei „Schluß«rte/?" liefern in ihren Konklusionen Arten der abstrakten Ideen eines Unbedingten der kategorischen, hypotheti3J
Vgl. etwa: Reisinger 1988, S. 117 ff. Es handelt sich um eine in der Sekundärliteratur fast einhellig geteilte Annahme, dass Kant „die drei Ideen" der Seele, der Welt und Gottes aus der Trichotomie des mittelbaren Schließens „ableitet". Beispielhaft für die gangigen Annahmen, dass Kant a) die „Idee der Seele" deduziert und b) dies „aus" dem kategorischen Vemunftschluss tut, sei hier etwa M. Koßler [1999] zitiert, der feststellt, noch „bei der Ableitung der transzendentalen Ideen aus den Arten der Vernunftschlüsse" bezeichne „das „Subjekt" noch nicht das Ich oder Selbstbewusstsein, sondern das logische Subjekt im Urteil [...], welches etwas später infolge der Ableitung der Ideen zum „denkenden Subjekt" wird, dessen unbedingte Einheit die Idee der Seele hervorbringt" (S. 6), ohne dass klar wird, was es Uberhaupt bedeuten kann, dass „infolge der Ableitung der Ideen" aus dem logischen Subjekt in Urteilen das denkende urteilende Subjekt wird. Ganz ähnlich gibt auch Heinz Heimsoeth [1966], der feststellt: „Was voher, so ganz allgemein, als das Unbedingte der kategorischen Synthesis in einem „Subjekt" bezeichnet worden war, heißt jetzt eindeutig „absolute (unbedingte) Einheit des denkenden Subjekts" (I, S. 65), weder Auskunft darüber, „was" dasjenige ist, worauf sich beide Ausrücke beziehen, noch wie es dazu kommt, dass der eine Ausdruck den anderen ablöst. Während der Gedanke durchaus Plausibilität besitzt, dass das kategorische Urteilen als solches - und damit auch der kategorische Vemunftschluss - als „Unbedingtes der kategorischen Synthesis" die Vorstellung von einem Träger von Eigenschaften voraussetzt, welches in der Tradition als Idee vom hypokeimenon bzw. „Substantiate" (vgl. A414/B441) überliefert ist, verführt zum Gedanken, dass ein solches im denkenden Subjekt selbst angetroffen wird, erst der transzendentalpsychologische Schein - wozu später (II, 2) mehr.
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Wir folgen hier Benno Erdmann, der das Wörtchen „allem" zu „allen" korrigiert, womit es sich auf die Pluralität der dialektischen Schlüsse bezieht.
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Klassifikation der transzendentalen Ideen
sehen und disjunktiven Synthesis. Unsere Interpretation der dialektischen Schlüsse trägt der obigen Behauptung Kants Rechnung, es sei „in allen dialektischen Schlüssen" das „Geschäft der Vernunft", von der bedingten Synthesis zur unbedingten überzugehen. Eben dies geschieht bereits in der Annahme des „obersten Prinzips" (P). „Dialektisch" schließt die Vernunft hier, weil sie vom transzendentalen Schein zum Schließen verleitet wird, d.h. weil sie nicht nur innerhalb eines aufgegeben indefiniten Regresses von Bedingungen „aufsteigt", sondern weil sie, bezogen aufs prosyllogistische Verfahren, die Vollständigkeit in der Reihe der Prämissen annimmt, was realiter das Erschließen einer gegebenen und damit prinzipiell erkennbaren Totalität von Bedingungen bedeutet. Weil für jeden Begriff vom Unbedingten gilt, dass es sich bei ihm entweder um den Begriff eines „Unbedingten der kategorischen Synthesis" oder um den eines „Unbedingten der hypothetischen Synthesis" oder um den eines „Unbedingten der disjunktiven Synthesis" handelt, liegt eben damit eine mögliche, und zwar formale Klassifikation der transzendentalen Ideen vor, die ja als „Begriffe vom Unbedingten" (A322/B379) bestimmt sind. Die Gegebenheit irgendwie material bestimmter Bedingungen, d.h. die Existenz von Gegenständen und Sachverhalten, die unter einen dieser Begriffe fallen, wird auf der Grundlage einer der Spezifikationen von (P) nur dann erschlossen, wenn bereits die als bedingt betrachtete „Verstandeserkenntnis" von ganz bestimmten Gegenständen handelt.
2.2 Der mögliche Bezug von Vorstellungen Klassifikationsprinzip
in Urteilen als
Wie kommt nun Kant zu seiner Behauptung, es gebe als Begriffe unbedingter Bedingungen genau „dreierlei transzendentale Ideen (psychologische, kosmologische und theologische)" (A671/B699)? Im Unterscheid zum Großteil der KantLiteratur sind wir bezüglich dieser Frage nicht der Meinung, dass die auf der Trias der Relationskategorien beruhende Klassifikation der Forderung nach dem Unbedingten Kant dazu dient, diejenige Dekomposition des Begriffs der transzendentalen Idee vorzunehmen, die sich auf die Unterscheidung der Gegenstandsbereiche der drei Disziplinen der metaphysica specialis abbilden lässt. Eben dies gelingt ihm jedoch auf andere Art und Weise. Die verschiedenen Gegenstandsbereiche der speziellen Metaphysik betreten die Bühne von Kants Ideen-Deduktion im „System der transzendentalen Ideen", dem dritten Abschnitt des 1. Buchs der TD in Gestalt verschiedener Arten der „Beziehung, die unsere Vorstellungen haben können" (A333/B390). Im zweiten Absatz dieses Textes ergänzt Kant seine bis dahin angestellten Überlegungen um diese Unterscheidung, welche erstmals die
Der mögliche Bezug von Vorstellungen in Urteilen
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„Materie" der zugrunde liegenden Verstandeserkenntnis bzw. den Bezug der im Urteil verknüpften Vorstellungen betrifft: „ N u n ist das A l l g e m e i n e aller B e z i e h u n g , die unsere Vorstellungen h a b e n k ö n n e n , 1) die B e z i e h u n g aufs S u b j e k t , 2) die B e z i e h u n g auf O b j e k t e , und z w a r e n t w e d e r als E r s c h e i n u n g e n , o d e r als G e g e n s t ä n d e des D e n k e n s Uberhaupt. W e n n m a n diese Untereinteilung mit der o b e r e n verbindet, so ist alles Verhältnis der V o r s t e l l u n g e n , d a v o n wir uns einen Begriff, o d e r Idee m a c h e n k ö n n e n , dreifach: 1. das V e r h ä l t n i s z u m Subjekt, 2. z u m M a n n i g f a l t i g e n des O b j e k t s in der E r s c h e i n u n g , 3. zu allen D i n g e n ü b e r h a u p t . " ( A 3 3 3 / B 3 9 0 f.)
Kant „verbindet" hier zwei Dichotomien zu einer Trichotomie, indem das zweite Glied der ersten Dichotomie ein weiteres Mal dichotomisch eingeteilt wird. 53 Wir erhalten das folgende Schaubild:
B e z u g von V o r s t e l l u n g e n in Urteilen
aufs S u b j e k t
auf O b j e k t e
als E r s c h e i n u n g e n
als G e g e n s t ä n d e des D e n k e n s überhaupt
Man kann davon ausgehen, dass es sich für Kant bei dieser Einteilung des Bezugs der Vorstellungen in Urteilen um eine „logische Einteilung" (s.o.) des Begriffs des „Allgemeinen aller Beziehung, die unsere Vorstellungen haben können", handelt. Alles andere wäre sicherlich auch nicht systematisch genug, um Kants Anspruch zu genügen, alle mögliche natürliche Metaphysik vollständig zu rekonstruieren. U m sicher zu gehen, dass die vollständige „Sphäre" des Begriffs (der Beziehung, die unsere Vorstellungen haben können,) abgedeckt wird, müssen wir verstehen, inwiefern die Glieder der beiden Dichotomien „durch kontradiktorische Entgegensetzung, nicht durch ein bloßes Widerspiel (contrarium) voneinander getrennt" 5 6
33
Wie J. Schmucker [1990, S. 511 zur Behauptung kommt, Kant nehme im letzten Satz des zugrunde liegenden Zitats auf die Verbindung der Einteilung der Syllogismusformen mit der Einteilung der möglichen Bezüge von Vorstellungen Bezug, bleibt rätselhaft. Erstens spricht Kant ausdrücklich von einer „Untereinteilung" der „oberen", so dass es sich nicht schon um die Verbindung jener zwei von einander unabhängigen Einteilungen handeln kann, und zweitens bliebe doch das Resultat der Verbindung der ersten Dichotomie der Vorstellungsbezüge mit der Trichotomie der Schlussarten peinlich gering.
56
Logik § 111, Anm.
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Klassifikation der transzendentalen Ideen
sind. Für diesen Zweck ist insbesondere zu klären, was „Gegenstände des Denkens überhaupt" im Gegensatz zu „Objekten als Erscheinungen" sind. Josef Schmucker meint in der Untereinteilung der Objekte die kritische Unterscheidung zwischen Erscheinungen (phaenomena) und Dingen an sich (noumena) zu erkennen und kreiert auf diese Weise das Dilemma, wie diese transzendentalidealistische Unterscheidung als „Schlüssel" zur „Auflösung der kosmologischen Dialektik" (A490/B518 ff.) dienen soll, wenn sie doch bereits einen Beitrag zur Konstitution der Antinomien leistet. Für Schmucker heben sich mit der Abhängigkeit des „Systems der transzendentalen Ideen" vom Kritizismus die Antinomien als Antinomien auf. 37 Nun ist von Dingen an sich bzw. noumena im Abschnitt Uber das „System der transzendentalen Ideen" explizit nicht die Rede. Weil Kant zufolge „die Kategorien die einzigen Begriffe sind, die sich auf Gegenstände [des Denkens] überhaupt beziehen" (A290/B346), während für noumena gelten soll, dass wir „keine von unseren Verstandesbegriffen darauf anwenden können" (A288/B345), sollten „Gegenstände des Denkens überhaupt" keine noumena sein. Doch selbst gesetzt den Fall, dass Schmuckers Interpretation dieser Gegenstände als Dinge an sich in transzendental-philosophischer Bedeutung (noumena), zutreffen sollte, ist nicht zu sehen, inwiefern es sich tatsächlich um ein unüberwindbares Problem handelt, wenn in die Konstitution der Ideenlehre Prinzipien des Kritizismus eingehen. Trägt nicht vielmehr auch der kritische Kant einer metaphysial specialis als „Naturanlage" nur dann wirklich Rechnung, wenn die Vernunft auch im Rahmen der Grundannahmen seiner metaphysischen Propädeutik, samt seinem Modell des Verstandes i.w.S. und seiner Funktionen, in die Ideen getrieben wird; m.a.W.: würden nur auf der Grundlage unkantischer Positionen man denke hier insbesondere an die des „transzendentalen Realismus" - die Ideen hervorgebracht, dann wäre die Ideenlehre Kants kein Teil einer „Elementarlehre" des reinen Verstandes i.w.S., der es darum zu tun ist, die ursprünglichen Produkte desselben (Kategorien, Grundsätze, Ideen) aufzufinden. 5 8 Kant ist nicht nur Diagnostiker verfehlter Metaphysik, sondern auch Konstrukteur alternativer Metaphysik auf eigener Basis. Die Ideen müssen sich vielmehr als transzendentale Ideen auch auf kantischer Basis deduzieren lassen. Ein Beitrag des Kritizismus zur Ideenlehre widerspricht keineswegs - wie Schmucker behauptet - der Möglichkeit
37
58
J. Schmucker [1990] hält den Übergang „vom Ableitungsprinzip der Syllogismusformen und Relationskategorien zum plausibleren der drei Gegenstandsbereiche" inakzeptabel, weil dadurch „die Antinomienproblematik als solche verschwinden würde" (S. 65). Wenn P. F. Strawson [1981J feststellt, „die Lehre des transzendentalen Idealismus soll nicht sozusagen Ideen in den Kopf der Vernunft bringen. Die Ideen sollen vielmehr auf natürliche Weise aufkommen, ohne Unterstützung durch die kritische Philosophie" (S. 190), dann ist ihm insofern zuzustimmen, als die Ideen weder allein auf der Grundlage des transzendentalen Idealismus, noch allein auf der des transzendentalen Realismus hervorgebracht werden. Der transzendentale Idealismus ist keine notwendige Bedingung für die Hervorbringung der Ideen, doch mUssen diese auch in seinem Rahmen deduzierbar sein.
Der mögliche Bezug von Vorstellungen in Urteilen
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der Auflösung der Antinomie durch die Annahme des transzendentalen Idealismus. Problematisch wäre allein ein Beitrag zur Konstitution der Antinomie selbst, d.h. dem nur auf transzendental-realistischer Grundlage aufgespannten und zugleich unauflöslichen Widerstreit zwischen Finitismus und Infinitismus in der Frage kosmologischer Bedingungsregresse. 3 9 Die bloße Idee von der Totalität der Bedingungen ist nicht zu verwechseln mit der Annahme ihrer Gegebenheit und nur letztere führt in die Antinomie. Kant kann die Ideenlehre im Rahmen des transzendentalen Idealismus entwickeln und in der Kosmologie, die es ihm zufolge mit phaenomena zu tun hat, gerade als Konsequenz aus der Einsicht in die subjektive Konstruktion der Bedingtheitsrelationen einen Indefinitismus in der Frage des Bedingungsregresses vertreten. Schmuckers Problem stellt sich als Scheinproblem heraus. Was jedoch sind Objekte als „Gegenstände des Denkens überhaupt" im Unterschied zu Objekten als Erscheinungen? Handelt es sich tatsächlich um die Unterscheidung zwischen noumena und phaenomena? Zwar hat es der Kosmologe Kant zufolge allein mit phaenomena zu tun, doch können die Gegenstände des Denkens im gegenwärtigen Zusammenhang - gewissermaßen noch metaphysisch neutral schlicht mit Gegenständen der Anschauung kontrastiert werden. Dies geht nicht zuletzt daraus hervor, dass sich die Einteilung des Vorstellungsbezugs im „System" mit einem Teil der berühmten „Stufenleiter" (A320/B376) von Vorstellungen sachlich zur Deckung bringen lässt. Bei Vorstellung dieser Stufenleiter 60 , die im Übrigen auch nicht die kritische Unterscheidung von phaenomena und noumena enthält, lesen wir: „Die G a t t u n g ist V o r s t e l l u n g ü b e r h a u p t (repraesentatio). Unter Ihr steht die Vorstell u n g mit B e w u ß t s e i n (perceptio). E i n e Perzeption, die sich lediglich auf das Subjekt, als die M o d i f i k a t i o n seines Z u s t a n d e s bezieht, ist E m p f i n d u n g (sensatio), eine obj e k t i v e Perzeption ist E r k e n n t n i s (cognitio). Diese ist e n t w e d e r A n s c h a u u n g oder Begriff (intuitus vel c o n c e p t u s ) . J e n e bezieht sich unmittelbar auf den G e g e n s t a n d
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60
Unauflöslich ist die Antinomie der reinen Vernunft nur dann, wenn kosmologische Reihen von Bedingungen (R) für vollständig und an sich gegeben (G) gehalten werden. Denn nur dann gilt, dass die Reihen als gegebene endlich (E) oder unendlich (U) sind, was je durch den indirekten Beweis der komplementären Behauptung ausgeschlossen wird: Vx (Rx —» (Gx —» (Ex ν Ux)). Nun zeigt Kant im Antinomiekapitel, dass diese Reihen weder endlich noch unendlich sein können: Vx (Rx —> (-.Ex Λ .Ux)), d.h. auch: Vx (Rx —> -.(Ex Ν Ux)). Also gilt nach Kontraposition, dass die Reihen nicht als an sich gegebene existieren: Vx (Rx —> -.Gx). Vgl. diese Argumentationsstruktur Kants zur Auflösung der vier Antinomien in A504/B533 ff. Heinz Heimsoeth weist auf das Wolffsche Erbe Kants hin, wenn dieser die Vorstellung zum Undefinierten Grundbegriff seiner Kritik macht: „Es muß immer gegenwärtig bleiben, daß das Wort „Vorstellung" bei Kant ganz unspezifisch gebraucht wird, ohne jeden Anklang etwa an Anschauliches, wie er uns heute, von der Sprache der Psychologie her, naheliegt. „Empfindungen" sind für Kant ebenso Vorstellungen wie „Ideen", Wahrnehmungen oder Phantasiegebilde ebenso wie abstrakte Fiktionen. In der Wolffschule hieß die einheitliche Grundkraft der Seele: Vorstellungskraft." (Heimsoeth 1966, Band I, S. 83 Anm.).
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Klassifikation der transzendentalen Ideen
und ist einzeln; diese mittelbar vermittelst eines M e r k m a l s , w a s m e h r e r e n D i n g e n g e m e i n sein k a n n . "
Der Bezugnahme auf vom Subjekt verschiedene Gegenstände mittels Anschauung entspricht der unmittelbare Bezug auf Gegenstände „als Erscheinungen". Der Bezugnahme auf Gegenstände mittels Begriffen entspricht der mittelbare Bezug auf „Gegenstände des Denkens Uberhaupt". Die (Un-)Mittelbarkeit des Bezugs auf Gegenstände bzw. die (fehlende) Intuitivität der Erkenntnis von Gegenständen ist das scheidende Merkmal zwischen Anschauungen und Begriffen, womit die geforderte „kontradiktorische Entgegensetzung" der Glieder der Dichotomie: Objekte der Anschauung - Objekte des (reinen) Denkens, sichtbar wird. Die Korrektheit unserer Interpretation der Trichotomie möglicher Vorstellungsbezüge wird dadurch bestätigt, dass Kant im letzten Abschnitt des Paralogismen-Kapitels der A-Auflage eine Unterscheidung trifft, die sich mit ersterer in eben unserer Interpretation zur Deckung bringen lässt. In diesem Textabschnitt, der sowohl „eine deutliche und allgemeine Erörterung des transzendentalen und doch natürlichen Scheins in den Paralogismen der reinen Vernunft" (A396) enthält als auch die Kritik der rationalen Psychologie in den systematischen Rahmen der transzendentalen Dialektik einbettet, heißt es: „Da n u n der dialektische S c h e i n der reinen V e r n u n f t kein e m p i r i s c h e r S c h e i n sein kann, der sich b e i m b e s t i m m t e n e m p i r i s c h e n Erkenntnisse vorfindet: so wird er das A l l g e m e i n e der B e d i n g u n g e n des D e n k e n s b e t r e f f e n , u n d es wird nur drei Fälle des dialektischen G e b r a u c h s d e r reinen V e r n u n f t geben, 1. Die Synthesis d e r B e d i n g u n g e n eines G e d a n k e n s ü b e r h a u p t , 2. Die Synthesis d e r B e d i n g u n g e n des e m p i r i s c h e n D e n k e n s , 3. Die Synthesis d e r B e d i n g u n g e n des reinen D e n k e n s . " ( A 3 9 6 f.)
,,Empirisches Denken" liegt genau dann vor, wenn man sich mittels Anschauung auf Gegenstände bezieht, „reines Denken" genau dann, wenn eben diese Intuitivität der Erkenntnis nicht gegeben ist. Während die transzendental-philosophische Unterscheidung von phaenomena und noumena auf die vollständige Abstraktion vom menschlichen Erkenntnisvermögen zielt, sind Gegenstände des Denkens solche, die unter Abstraktion der anschaulichen Gegebenheit vorgestellt werden. Michael Wolff argumentiert weitergehend dafür, dass die Einteilung der Vorstellungsbezüge in A333/B390 f. „sowohl in formaler als auch in materialer Hinsicht" 61 identisch mit der folgenden Einteilung des Gebrauchs von Begriffen in Urteilen ist, welche in dieser expliziten Form nicht von Kant präsentiert wird, die Wolff jedoch zur Rekonstruktion des Beweises für die Vollständigkeit der Urteilstafel dem ersten Leitfadenabschnitt (A67-70/B92-94) entnimmt:
61
Wolff 1995, S. 107.
Der mögliche Bezug von Vorstellungen in Urteilen
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Gebrauch von Begriffen in Urteilen
prädikativ
nicht-prädikativ
unmittelbar gegenstandsbezogen
mittelbar gegenstandsbezogen
Die Übereinstimmung der beiden Einteilungen beruht Wolff 6 2 zufolge auf Kants These vom propositionalen Begriffsgebrauch, d.h. der Lehre, dass es keinerlei Denken, d.h. insbesondere kein Beziehen von Vorstellungen auf etwas, unabhängig von der Handlung des Urteilens gibt: „Von [...] Begriffen kann [...] der Verstand keinen andern Gebrauch machen, als daß er dadurch urtheilt." (A68/B93) Kant wendet sich damit gegen die Möglichkeit der simplex apprehensio der Tradition, nach der ein Gegenstand unmittelbar durch einen singulären Begriff vorgestellt bzw. aufgefasst werden kann. Auch bei dieser zweiten Einteilung handelt es sich offensichtlich um eine, bei der zweimal nach dem Prinzip des tertium non datur dichotomisch eingeteilt wird. Aus ihrer Übereinstimmung mit der der Vorstellungsbezüge folgt, dass auch diese eine „logische Einteilung" ist, womit die Vollständigkeit der „Sphäre" des eingeteilten Begriffs gesichert ist. Darauf soll es uns hier ankommen. Wozu dient nun Kant diese Einteilung der Bezüge möglicher Vorstellungen im Zusammenhang des „Systems der transzendentalen Ideen"? Zu Beginn des dritten Absatzes des „Systems" wiederholt er noch einmal, dass transzendentale Ideen Begriffe von totalen Bedingungssynthesen sind: „Nun haben es alle reinefn] Begriffe überhaupt mit der synthetischen Einheit der Vorstellungen, Begriffe der reinen Vernunft (transzendentale Ideen) aber mit der unbedingten synthetischen Einheit aller Bedingungen überhaupt zu tun" (A334/B391), bevor er im unmittelbar folgenden Satz die drei möglichen Grundbeziehungen, die unsere Vorstellungen haben können, auf diese Erklärung des allgemeinen Begriffs der „transzendentalen Idee" bereits angewandt hat. Weil „alle Bedingungen überhaupt" des Zitats entweder Bedingungen subjektiver Zustände („eines Gedankens überhaupt") oder erscheinender Gegenstände („des empirischen Denkens") oder bloß gedachter Gegenstände („des reinen Denkens"; vgl. A397) sind, kann Kant schließen: 67
Zur detailierten Rechtfertigung der Übereinstimmung beider Einteilungen verweise ich auf Wolff (ebd.).
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Klassifikation der transzendentalen Ideen
„Folglich werden alle transzendentalen Ideen sich unter drei Klassen bringen lassen, davon die erste die absolute (unbedingte) Einheit des denkenden Subjekts, die zweite die absolute Einheit der Reihe der Bedingungen der Erscheinung, die dritte die absolute Einheit der Bedingung aller Gegenstände des Denkens überhaupt enthält." (ebd.; kursiv von N.K.) Wir sehen also, dass auch die Einteilung des möglichen Bezugs von Vorstellungen in Urteilen Kant als Klassifikationsprinzip aller transzendentalen Ideen dient. Anstatt des Abschlusses einer „metaphysischen Deduktion" der Begriffe „Seele", „Welt" und „Gott", den die Kantliteratur an dieser Stelle des Textes doch immer wieder zu erkennen versucht, liegt hier allerdings der Abschluss einer Klassenbildung vor. Im Unterschied zum zweiten Abschnitt des ersten Buches „Von den transzendentalen Ideen" (s.o.) ist hier erstmals vom „denkenden Subjekt" die Rede und nicht bloß vom logisch absoluten Subjektbegriff, welcher nicht mehr prädikativ gebraucht werden kann; ebenso nicht mehr nur von einem Unbedingten der hypothetischen und disjunktiven Synthesis, sondern von der „absoluten Einheit der Reihe der Bedingungen der Erscheinung" und der „absoluten Einheit der Bedingung aller Gegenstände der Denkens überhaupt". Kant scheint jeweils ein Element zu nennen, welches eine der drei Klassen „enthält". 6 3 Den Gegenständen rationaler Psychologie, Kosmologie und Theologie hat sich Kant nicht mittels der formalen Unterscheidung der Funktionen des mittelbaren Schließens genähert, sondern mittels der materiellen Unterscheidung des Bezugs, den unsere Vorstellungen haben können. Kants Folgerung („Folglich (...); s.o.) stellte viele Kommentatoren vor große Schwierigkeiten. Unter der von uns nicht geteilten Annahme, dass Kant im „System der transzendentalen Ideen" eine subjektive Deduktion der drei Ideen „Seele", „Welt" und „Gott" vornimmt, scheint die Strategie, diese Ideen über die relationale Unterscheidung der Prosyllogismen zu gewinnen, zugunsten der Strategie, sie mittels der Unterscheidung der Beziehung möglicher Vorstellungen zu deduzieren, verlassen zu werden. 6 4 W e r unter der gleichen Grundannahme diese Konsequenz 63
64
Es ist nicht ganz klar, ob Kant hier wirklich jeweils eine spezielle (z.B. kosmologische) Idee angibt oder nicht vielmehr jeweils ein allgemeines Merkmal aller in einer Klasse enthaltenen Ideen. Die „absolute Einheit der Reihe der Bedingungen der Erscheinung" etwa ist höchst interpretationsbedürftig. Weil es den Kategorien-Titeln gemäß grundverschiedene Bedingungen der „Gegenstände der Sinne" geben wird (vgl. A497/B525), die auf vier kosmologische Reihen führen werden, irritiert der Singular „der Reihe der Bedingungen" - ganz so, als ließen sich auch ungleichartige Bedingungen derart aufreihen, dass sich aufeinander folgende Glieder dieser Reihe bedingen. Zudem irritiert, dass hier die „Erscheinung" im Singular der Bedingtheit unterworfen ist, und nicht etwa singulare, beliebige „Erscheinungen". Gemessen an dem, was Kant tatsächlich im „System der kosmologischen Ideen" präsentiert, sollten wir hier lesen: die Klasse der kosmologischen Ideen „enthält" vier Begriffe. Jeder dieser vier Begriffe ist einer von „der absoluten Einheit" einer „Reihe von Bedingungen der Erscheinung[en]". Schmucker [1990] empfindet Kants Einschub der Einteilung der Vorstellungsarten als „coup de force" (S. 63), welcher den Versuch Kants, die Ideen aus den drei Relationskategorien bzw. Schlussformen zu gewinnen, „Uberflüssig" mache. Auch Bazil [1995] erkennt im System der trans-
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nicht zu ziehen bereit ist, sucht sachlich zwingende Zusammenhänge zwischen kategorischer Synthesis und „aufs Subjekt" bezogenen Vorstellungen, hypothetischer Synthesis und auf Objekte der Erscheinung bezogenen Vorstellungen sowie zwischen disjunktiver Synthesis und auf „Gegenstände des Denkens überhaupt" bezogenen Vorstellungen. Max Wundt 63 , dem Marion Reisinger 66 hier folgt, scheint von solch innigen Verbindungen schlicht auszugehen. Bei ihm kann jedoch exemplarisch studiert werden, wie die wesenhafte Kongruenz beider Einteilungen zwar postuliert, jedoch nicht aufgeklärt wird, und somit die Frage unbeantwortet bleibt, wie die Einteilung der Vorstellungsarten mit der der Schlussarten „verbunden" werden müsse, so dass sich aus dieser „Verbindung" die drei Klassen aller transzendentalen Ideen „ergeben". 67 Es scheint uns vier Möglichkeiten zu geben, die Dreiheit der „Klassen" zu interpretieren: entweder sie ist allein durch die Dreiheit der Syllogismusformen induziert (d.h. Kant bezieht sich auf den ersten Absatz des „Systems") oder sie bezieht sich allein auf die Dreiteilung des Bezugs möglicher Vorstellungen (zweiter Absatz) oder sie bezieht sich aufgrund noch unbekannter Gründe sowohl auf die Dreiheit der Syllogismusformen als auch auf die davon gerade nicht unabhängige Dreiteilung des Vorstellungsbezugs - auf die Annahme der Abhängigkeit derselben scheint Max Wundt festgelegt zu sein - oder aber nur drei bestimmte Kombinationen der Kopplung beider unabhängiger Ableitungsprinzipien transzendieren die mögliche Erfahrung und führen auf die drei Titel transzendentaler Ideen. 68
zendentalen Ideen zwei alternative Deduktionsstrategien: a) „aus den drei Formen der Vernunftschlüsse" und b) „mit der Inanspruchnahme des Allgemeinen aller Beziehung" von Vorstellungen und kommt zum Schluss, dass allein die zweite das Deduktionsziel „durchaus erreicht" (ebd. S. 86 ff.). Sowohl Reisinger [1988], Renaut (in: Mohr u. Willaschek (Hrsg.) 1998] als auch Malzkorn [1999] Ubergehen den zweiten Absatz im „System der transzendentalen Ideen" und versuchen, die drei Titel - Malzkorn beschränkt sich aufgrund seiner Problemstellung auf den Zusammenhang zwischen „Vernunft und Welt" (ebd. S. 62 ff.) - aus der „exhaustiven Anwendung einer Relationskategorie" (ebd. S. 53) zu gewinnen bzw. beschränken sich auf das Deduktionsprinzip der Syllogismusformen. Aufgrund der Detailliertheit der Analyse Malzkorns ist nicht anzunehmen, dass er den zweiten Absatz des „Systems" schlicht überlesen hat, sondern vielmehr, dass er mit Schmucker der Meinung ist, Kant nehme verschiedene, miteinander unvereinbare Strategien der Deduktion auf, was ihn dazu veranlasst, sich gegen die scheinbar alternative Strategie zu entscheiden, die Titel aus der Einteilung der Vorstellungsbezüge herzuleiten. 65 66 67 68
Wundt 1922. Reisinger 1988. Vgl. Wundt 1922, S. 222. Diese Behauptung zum Verhältnis zwischen Transzendenz des Vernunftgebrauchs und Form und Inhalt der Synthesen verdanken wir Murray Lewis Miles [1978], der sie in einer Fußnote als These vorträgt, ohne sie jedoch selbst im einzelnen zu bestätigen: „Der kategorischen Schlußform korrespondiert ein transzendenter Vernunftgebrauch nur als Tendenz auf Vollendung jener kategorialen Verstandessynthesen, welche die Einheit der Erscheinungen im Subjekt enthalten. Imgleichen erfüllen nur die Verstandessynthesen der Erscheinungen im Raum die Bedingung eines transzendenten Vernunftgebrauchs gemäß der hypothetischen Schlußart. Die disjunktive Schlußart erfordert hinge-
50
Klassifikation der transzendentalen Ideen
Mit Rudolf Malter 6 9 und Walter Bröcker 7 0 sind wir zwar der Meinung, dass sich die Dreiheit der „Klassen" im letzten Absatz des „Systems der transzendentalen Ideen" allein der Trichotomie des möglichen Bezugs von Vorstellungen verdankt, sehen dort jedoch keinen Abschluss einer „metaphysischen Deduktion" der Begriffe der Seele, der Welt und Gottes, sondern den Abschluss derjenigen Klassifizierung aller transzendentalen Ideen, die im Unterschied zu der ebenfalls erschöpfenden anhand der Syllogismusformen dazu taugt, die transzendentalen Ideen innerhalb der „transzendentalen Dialektik" in einer Ordnung auftreten zu lassen, die der Dreierordnung der traditionellen metaphysica specialis folgt.
69 70
gen eine Verstandessynthesis der Gegenstände des Denkens Uberhaupt, soll ihr ein Stoff zum Schließen im transzendenten Gebrauch gegeben sein." (ebd. S. 293, Fn). Malter 1981, S. 186. Bröcker 1970, S. 95.
3 Zwischenergebnis
Es ist jetzt möglich und nötig, als Zwischenergebnis unserer Überlegungen eine weit reichende terminologische Konvention zu treffen. „Transzendentale Ideen" sind als „Vernunftbegriffe" Vorstellungen, die „die Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten" und damit das Unbedingte „enthalten" (vgl. A322/B379), weil neben der Totalität der Bedingungen keine weiteren Bedingungen existieren. Weil Kant „das Unbedingte" auch den „gemeinschaftlichen Titel aller Vernunftbegriffe" (A324/B380) nennt, wird das Unbedingte vermittelst einer transzendentalen Idee jeweils in einer ganz bestimmten Spezifikation vorgestellt werden. Im Gegensatz zu weiten Teilen der Kantliteratur, in der die Grundbegriffe der drei Disziplinen der traditionellen metaphysica specialis „Seele", „Welt" und „Gott" als die drei transzendentalen lcleen angesprochen werden 7 1 , zeigt Kants Verwendungsweise des Begriffs der transzendentalen Idee 72 , dass die Begriffe der Seele, der Welt und Gottes selbst keine transzendentalen Ideen im technischen und irreduziblen, elementaren Sinn sind. Bei ihnen handelt es sich vielmehr um die Titel ,,drei[er] Klassen" (A334/B391) von transzendentalen Ideen. Wenn Kant nämlich im fünften Absatz des „Systems der transzendentalen Ideen" von „diesen drei Titeln aller transzendentalen Ideen" (A335/B392) spricht, so bezieht sich diese Rede zurück auf die Begriffe von den Gegenständen der drei Disziplinen spezieller Metaphysik, wie sie im vierten Absatz des „Systems" erklärt werden: „Das denkende Subjekt [„Seele"] ist der Gegenstand der Psychologie, der Inbegriff aller Erscheinungen (die Welt) der Gegenstand der Kosmologie, und das Ding, welches die oberste Bedingung der Möglichkeit von allem, was gedacht werden kann, enthält, (das Wesen aller Wesen [„Gott"]) der Gegenstand der Theologie." (A334/ B392)
71 72
Vgl. etwa Höffe 1996, S. 136, sowie Renaut in: Mohr/Willaschek (Hrsg.) 1998, S. 356. Explizit werden von Kant als transzendentale Ideen genannt: „das Unbedingte, als die eigentümliche transzendentale Idee" (A417/B445 a) „die transzendentale Idee der absoluten Totalität der Synthesis in der Reihe der Bedingungen" (A413/B440), „das schlechthin Einfache" (A437/B465) und „die transzendentale Idee der Freiheit" (A448/B476). Dem Titel des fünften Abschnitts des AntinomieHauptstücks sowie A528/B556 f. zufolge scheinen bereits die vier kosmologischen Ideen „alle vier transzendentale Ideen" zu sein. Allein die Fußnote in A337/B395 sowie der Rückbezug in A336/B393 scheinen die Begriffe der Seele, der Welt und Gottes als transzendentale Ideen anzusprechen. In A489/B517 ist von der „Weltidee" die Rede, ohne dass sie jedoch zugleich „transzendental" genannt würde.
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Klassifikation der transzendentalen Ideen
„Seele", „Welt" und „Gott" fungieren also als die drei Titel aller transzendentalen Ideen, unter denen als „modi" (A335/B392) jeweils psychologische, kosmologische oder theologische Ideen stehen. Die Rede von „Titeln" von „Klassen" und „Modi" findet sich auch sowohl bei Kants Systematik der Urteilsfunktionen als auch der der Kategorien 7 3 : Quantität, Qualität, Relation und Modalität sind für Kant keine Kategorien, d.h. „reine Verstandesbegriffe" im technischen Sinn, sondern die Titel der vier Klassen von Kategorien. Und entsprechend bezeichnet auch die „Qualität der Urteile" keine bestimmte elementare „Funktion des Denkens" sondern einen Titel einer der vier Klassen der insgesamt zwölf Urteilsfunktionen (vgl. A70/B95). Ein Modus des qualitativ bestimmten Urteils ist z.B. das verneinende Urteil. Unsere terminologische Konvention erfährt eine Rechtfertigung durch den Text, da Kant von in ihrer Zahl noch unbestimmten transzendentalen Ideen spricht, die „sich unter drei Klassen bringen lassen" (A334/B391). „Die absolute (unbedingte) Einheit des denkenden Subjekts" (ebd.) ist im Unterschied zum unbestimmteren Begriff des denkenden Subjekts („Seele") eine transzendentale Idee. Die erste der drei Klassen von transzendentalen Ideen, die Klasse der psychologischen Ideen, „enthält" (ebd.) Kant zufolge diese Idee. Diese Konvention hat Konsequenzen. Die Aufgabe der Rekonstruktion einer subjektiven Deduktion der Weltidee 7 4 etwa entfällt, weil es sich bei der Idee der 73
74
Unmittelbar vor der Vorstellung der in der Literatur so genannten Urteilstafel heißt es ..Wenn wir von allem Inhalte eines Urteils Uberhaupt abstrahieren, und nur auf die bloße Verstandesform darin Acht geben, so finden wir, daß die Funktion des Denkens in dem selben unter vier Titel gebracht werden könne, deren jeder drei Momente unter sich enthält" (A70/B95). Ausdrücklich führt Kant nur gewisse „modi der Sinnlichkeit" auf: „quando, ubi, situs, prius, simul" (vgl. A81/B107), die unter den beiden Titeln der reinen Sinnlichkeit, d.h. Raum und Zeit, versammelt sein dürften. In den Prolegomena ist mit Bezug auf die elementaren Funktionen zu urteilen bzw. Kategorien durchweg von „Momenten" statt von „modi" die Rede (vgl. insb. Prol. § 21 f. und § 28). In der ersten Anmerkung zur Kategorientafel der B-Auflage heißt es, dass diese Tafel „vier Klassen von Verstandesbegriffen enthält" (B110), in der dritten Anmerkung, dass die Kategorie der „Gemeinschaft" „unter dem dritten Titel [der Relation] befindlich ist" ( B i l l ) . Der letzte uns bekannte Rekonstruktionsversuch einer metaphysischen Deduktion der Weltidee stammt von Wolfgang Malzkorn [1999]. Er sieht die Weltidee allein aus der „exhaustiven Anwendung" (ebd. S. 53) der Kausalitätskategorie hervorgehen und identifiziert sie mit dem Begriff eines allein „£ai«a/-determinierten Hypersystems" (ebd. S. 72), ganz so, als ließe sich „die Welt" denken, ohne sie auch quantitativ, d.h. räumlich und zeitlich bestimmt zu denken. Als „Ausgangspunkt" seiner Rekonstruktion der subjektiven Deduktion der Weltidee dient Malzkorn „die Vorstellung der Gesamtheit aller Gegenstände (im engeren Sinn) in Raum und Zeit" (S. 71). Diesen Ausgangspunkt muss Malzkorn Kant unterstellen, weil er die „Welt" als Idee eines allein fazioai-determinierten Hypersystems rekonstruieren will. Doch dürfte die Vernunft zur Vorstellung einer Momentaufnahme des Universums als „Ausgangspunkt" ihrerseits nicht unabhängig von der ersten kosmologischen Idee von der Weltgröße gelangen. Während bei Kant „Welt" ausdrücklich das „mathematische Ganze aller Erscheinungen" heißt, welches, so fern es „als ein dynamisches Ganzes betrachtet", „Natur" heißt (A418/B446 f.), wird durch Malzkorns Beschränkung auf die Dynamik der Erscheinungen, d.h. den Naturbegriff, der Sinn von Kants „Inbegriff der Erscheinungen" (A334/B391), der sowohl den Welt- als auch den Naturbegriff enthält, verkürzt. Malzkorn selbst gibt zu, dass die von ihm rekonstruierte Idee „eher eine Idee der ,Natur'" (S. 76) ist.
Zwischenergebnis
53
Welt nicht um eine der elementaren transzendentalen Ideen handelt, die allein im Rahmen einer „Elementarlehre" des reinen Verstandes i.w.S. subjektiv wie objektiv zu deduzieren sind. Die Feststellung, dass es so etwas wie „die Welt" als dem erkennenden Subjekt äußerliche gibt, ist vielmehr implizit bereits mit der Trichotomie des möglichen Bezugs von Vorstellungen getroffen. Anders als etwa die erste kosmologische Idee von der Weltgröße bzw. der „absoluten Vollständigkeit der Zusammensetzung des gegebenen Ganzen aller Erscheinungen" (A415/B443), ist der unabhängig von den einzelnen kosmologischen Ideen ja auch ganz unbestimmte Weltbegriff keine transzendentale Idee im technischen Sinn, d.h. kein Begriff von der Totalität von Bedingungen zu einem ganz bestimmten(l) Bedingten ist. Was sollte auch dasjenige sein, was durch „die Welt" bedingt ist? Über das Verhältnis von Ideen-Titeln (Welt) und transzendentalen (kosmologischen) Ideen gibt die Sekundärliteratur wenig Aufschluss. Wolfgang Malzkorn sieht zwei Erwartungen enttäuscht: Weder nehme Kants Bildung der kosmologischen Ideen („Weltbegriffe") auf die Bildung der Weltidee Bezug, noch handle es sich bei den kosmologischen Ideen um „Unterbegriffe desjenigen Vernunftbegriffs [...], dessen vermeintliches Objekt die Welt ist". 75 Beide Erwartungen resultieren unseres Erachtens aus der verfehlten Deutung, bei der „Weltidee" handle es sich um einen elementar en{\) Vernunftbegriff. Bezüglich der Frage nach der begrifflichen Priorität muss das Verhältnis zwischen „Welt" und „Weltbegriffen" bzw. zwischen Kosmos und kosmologischen Ideen gerade dahingehend umgedeutet werden, dass der begriffliche Inhalt der „Weltidee" ein aus den begrifflichen Inhalten der einzelnen kosmologischen Ideen abgeleiteter ist; m.a.W.: unabhängig von kosmologischen Ideen ist keine Idee des Kosmos angebbar. Weil sich unsere möglichen Vorstellungen entweder „aufs Subjekt" bzw. auf Zustände innerer Erfahrung oder auf Objekte äußerer Erfahrung oder auf Objekte des reinen Denkens beziehen (vgl. A333/B390 f.), gibt es „dreierlei transzendentale Ideen (psychologische, kosmologische und theologische)" (A671/B699). Das System der transzendentalen Ideen zerfällt daher in drei Klassen bzw. enthält drei Sub-Systeme. Zumindest zwei dieser drei Subsysteme sind in der KdrV in Gestalt des „Systems der kosmologischen Ideen" (A415/B443) sowie der „Topik der reinen Seelenlehre" (A344/B402) bzw. der Tafel psychologischer Ideen von A404 explizit verzeichnet. Schematisch:
75
Malzkorn 1999, S. 78.
54
Klassifikation der transzendentalen Ideen
„gemeinschaftlicher Titel aller Vernunftbegriffe" 7 6 :
„Das Unbedingte"
die „drei Titel aller transz. Ideen" 77 :
transzendentale Ideen:
76 77
A324/B380. A335/B392.
Seele"
psychologische Ideen
„Welt"
kosmologische Ideen
„Gott"
theologische Ideen
II. Teil Die subjektive Deduktion der transzendentalen Ideen
1 Einführung zweier Interpretationshypothesen
Zum Selbstverständnis dieser Arbeit gehört es, der zu rekonstruierenden subjektiven Deduktion aller transzendentalen Ideen ein möglichst hohes M a ß an Systematik zu unterstellen. Unsere Rekonstruktion der subjektiven Deduktion der psychologischen, kosmologischen und theologischen Ideen soll dem Test zweier Interpretationshypothesen entsprechen, um diesem Selbstverständnis nachzukommen.
1.1
Eine Hypothese
zum Verhältnis von Kategorien-
und
Ideentafel
Wie wir im ersten Teil dieser Arbeit gesehen haben, gewinnt Kant im „System der transzendentalen Ideen" die drei „Titel" aller transzendentalen Ideen („Seele", „Welt", „Gott") mittels der Unterscheidung des möglichen Bezugs, den unsere Vorstellungen überhaupt haben können, sodass gilt: (1)
Es gibt genau drei Klassen bzw. genau „dreierlei transzendentale Ideen (psychologische, kosmologische und theologische)" (A671/B699).
Es sind bekanntermaßen nicht nur die Titel der Klassen von Ideen, die Kant beansprucht vollständig zu klassifizieren, zu spezifizieren und aufzuzählen7S, sondern mindestens auch die speziellen psychologischen und kosmologischen Ideen. In entsprechenden Ideen-Tafeln stellt Kant diese jeweils in einer Korrespondenz zur Kategorientafel dar. In der einschlägigen Reflexion 5553 des MetaphysikNachlasses notiert Kant:
18
§ 43 der Prolegomena zufolge müssen diese Kriterien bei der Erarbeitung eines vollständigen Systems apriorischer Elemente des Verstandes i.w.S. erfüllt sein: „Es ist jederzeit in der Kritik |d.r.V.| mein größtes Augenmerk gewesen, wie ich nicht allein die Erkenntnisarten sorgfältig unterscheiden, sondern auch alle zu jeder derselben gehörigen Begriffe aus ihrem gemeinschaftlichen Quell ableiten könnte, damit ich nicht allein dadurch, dass ich unterrichtet wäre, woher sie abstammen, ihren Gebrauch mit Sicherheit bestimmen könnte, sondern auch den unschätzbaren Vorteil hätte, die Vollständigkeit in der Aufzählung, Klassifizierung und Spezifizierung der Begriffe α priori, mithin nach Prinzipien zu erkennen. Ohne dieses ist in der Metaphysik alles lauter Rhapsodie [...]" (Hervorhebung von N.K.)
58
Einfuhrung zweier Interpretationshypothesen
„System der transzendentalen Ideen. 1. Der Titel sind 3 nach den drei Arten der Vernunftschlüsse; der dialektischen Schlüsse sind 4 nach den 4 Kategorien [...]".79 Er stellt hier (noch) diejenige Ordnung der transzendentalen Ideen vor, nach der diese unter die drei (alternativen) Ideen-„Titel" eines Unbedingten der kategorischen, hypothetischen und disjuktiven Systhesis subsumiert werden und die sich „den drei Arten der Vernunftschlüsse", also letztlich den drei Relationskategorien verdankt. Diese formale Ordnung der transzendentalen Ideen wird in der KdrV, genauer: im „System der transzendentalen Ideen" nicht nur ergänzt um, sondern sogar abgelöst durch diejenige, nach der die Ideen unter Investition der Trichotomie des materiellen Bezugs von Vorstellungen klassifiziert werden, weil eben die Unterscheidung (unbedingter) kategorischer, hypothetischer und disjunktiver Synthesis nicht die Gegenstandsbereiche der Disziplinen spezieller Metaphysik eröffnet. Doch legt auch bereits diese Notiz den Gedanken nahe, dass unter jedem „Titel" transzendentaler Ideen stehen jeweils vier spezielle (psychologische, kosmologische und theologische) Ideen. In jeweils vier „dialektischen Schlüssen" wird die Erkenntnis von Gegenständen erschlossen, die diesen Ideen korrespondieren. Wir halten fest: (2)
Jede Klasse (psychologischer, kosmologischer und theologischer) transzendentaler Ideen enthält genau vier Elemente.
Es kann davon ausgegangen werden, dass der Entwurf von R 5553 in der KdrV, ergänzt um die Neukonzeption der Ideen-Titel, zur Ausführung gekommen ist. Eine fast gleich lautende Textstelle findet sich nämlich im „System der transzendentalen Ideen", wo Kant die drei „Titel" der transzendentalen Ideen bereits aus der Trichotomie des möglichen Bezugs unserer Vorstellungen gewonnen hat und ferner den Ausblick gibt: „Was unter diesen drei Titeln aller transzendentalen Ideen für modi der reinen Vernunftbegriffe stehen, wird in dem folgenden Hauptstücke80 vollständig dargelegt werden. Sie laufen am Faden der Kategorien fort." (A335/B392) Als Resultate dieser gleich lautenden Überlegungen („nach den 4 Kategorien"; „am Faden der Kategorien") bezüglich des Plans einer subjektiven Deduktion der transzendentalen Ideen sind in der KdrV zumindest zwei von drei Tafeln spezieller Ideen verzeichnet: die „Topik der reinen Seelenlehre" (A344/B402; A404) und
79
80
AA XVIII, S. 223. Hier sollte Kant besser von vier Kategorienf/te/n als von „den 4 Kategorien" sprechen, da es ihm zufolge zwölf Kategorien gibt. Hier muss es offensichtlich „in den folgenden Hauptstücken" heißen, da Kant die psychologischen Ideen im „1. Hauptstück. Von den Paralogismen der reinen Vernunft", die kosmologischen Ideen im „2. Hauptstück. Die Antinomie der reinen Vernunft" vorstellt.
Eine Hypothese zum Verhältnis von Kategorien- und Ideentafel
59
das „System der kosmologischen Ideen" (A415/B443). Allein ein „System der theologischen Ideen" ist in der KdrV - zumindest explizit - nicht zur Entfaltung gekommen. Es ist somit nicht selbstverständlich, als Konsequenz aus (1) und (2) unsere erste Hypothese über die Anzahl der transzendentalen Ideen zu formulieren: ( H l ) Es gibt genau 12 transzendentale Ideen, genauer: jeweils genau vier psychologische, vier kosmologische und vier theologische. Ferner kann beobachtet werden - und dies ist von Bedeutung für die Konstitution unserer Interpretationshypothese -, dass Kant für die Psychologie- und Kosmologieproblematik je über ein Aussonderungskriterium zu verfügen scheint, welches jeweils diejenige Kategorie aus jeder Gruppe aussondert, die Kant zufolge in der rationalen Psychologie bzw. Kosmologie eine ausgezeichnete Rolle spielt. Die Aussonderungskriterien sind die folgenden: für die Konstitution der psychologischen Ideen ist jeweils diejenige Kategorie aus jeder Gruppe auszusondern, die „den übrigen [der Gruppe] zum Grunde der Einheit einer möglichen Wahrnehmung" (A403) liegt; für die kosmologischen Ideen jeweils diejenige eines jeden Tripels, die bei wiederholter Anwendung auf eine ,,Reihe" führt (vgl. A409/B436), zu deren charakteristischer Eigenschaft es gehören soll, einen „Exponenten" zu besitzen derart, dass die Bedingungsrelation zwischen den Gliedern der Reihe transitiv ist. Wir wollen und können an dieser Stelle noch nicht erklären, wie die Verbindung zwischen Kategorie und transzendentaler Idee im Einzelfall zu denken ist. Kant selbst hat die „Topik der reinen Seelenlehre" in der A-Auflage der KclrV seiner Kritik der vier „Paralogismen" nachgereicht, weil er die „Gefahr der Dunkelheit" (vgl.A396) witterte. Wir tun also gut daran, die Beziehungen zwischen transzendentaler Idee und Kategorie erst dann in den Einzelfällen zu verstehen zu suchen, wenn die transzendentalen Ideen subjektiv deduziert und überhaupt bekannt sind. In der Tatsache, dass Kant die Relationskategorien substantia et accidens und „Kausalität und Dependenz" (A80/B106) für die Konstitution einer ganz bestimmten psychologischen bzw. kosmologischen Idee auswählt, erkennen wir rückwirkend ein Argument für unsere Auffassung, dass Kant die Ideen-Titel „Seele", „Welt" und „Gott" nicht etwa vermittelt über die drei Formen mittelbarer Schlüsse aus den drei Relationskategorien herleitet. Ansonsten stünden wir vor dem Problem, erklären zu müssen, wie die Kategorie substantia et accidens in ihrer ersten Indienstnahme auf den Grundbegriff der rationaler Psychologie, den ersten Titel aller transzendentalen Ideen, die „Seele" führt, während die zweite Indienstnahme auf die speziellere Idee der Substantialität der Seele führen soll. Entsprechend hätten wir zu erklären, wie die Kausalitätskategorie, der Kant die hypothetische Schlussform zuordnet, sowohl für den Ursprung des kosmologischen Grundbeg-
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Einführung zweier Interpretationshypothesen
riffs „Welt" als auch für den Ursprung der speziellen kosmologische Ideen von der „absoluten Vollständigkeit der Entstehung einer Erscheinung überhaupt" (A415/B443) die entscheidende Rolle spielen soll. Unter der Annahme, dass Kant so etwas wie eine subjektive Deduktion der Ideen-Titel aus den Relationskategorien leistet, müssten sich beide Varianten der Beanspruchung - sowohl die für die Deduktion des Ideen-Titels als auch diejenige der speziellen transzendentalen Idee - als unterschiedenen) herausarbeiten lassen. Schließlich unterscheiden sich auch Ideentitel und spezielle transzendentale Idee. Dieses Problem löst sich durch unsere Annahme auf, dass von den Grundbegriffen „Seele" und „Welt" als Ideen-Titeln keine subjektive Deduktion nötig ist. Für die Präzisierung unserer Interpretationshypothese ist an dieser Stelle weniger ein vollkommenes Verständnis der oben genannten Aussonderungskriterien von Bedeutung als vielmehr dies: Kants Verfahren legt die Vermutung nahe, zwischen den zwölf unter den drei Titeln versammelten transzendentalen Ideen und den Kategorien bestehe eine eindeutige Zuordnung. Doch damit noch nicht genug. Die Hypothese einer sogar ein-eindeutigen Korrespondenz zwischen transzendentalen Ideen und den Kategorien verdankt sich der Tatsache, dass Kant in der „Topik der reinen Seelenlehre" gewisse Kategorien mit den psychologischen Ideen assoziiert, während er im „System der kosmologischen Ideen" gewisse andere mit den kosmologischen Ideen in Verbindung bringt, wie die Hervorhebungen in diesen Tafeln zeigen, die dem Leser nachdrücklich eine innige Verbindung zwischen jeweils einer Idee und einer Kategorie eines jeden Tripels suggerieren sollen. (H2) Die 12 transzendentalen Ideen lassen sich ein-eindeutig auf die 12 Kategorien beziehen. Über die Tatsache hinaus, dass die Mengen der Kategorien disjunkt sind, die einerseits der psychologischen und andererseits der kosmologischen Ideentafel korrespondieren, können wir auf der Grundlage von Kants eigenen Hervorhebungen in den Ideentafeln sogar beobachten, dass es jeweils die erste Kategorie eines jeden Kategorientripels zu sein scheint, die mit einer psychologischen Idee assoziiert wird, wohingegen es jeweils die zweite jeder Gruppe zu sein scheint, die mit einer der kosmologischen Ideen in Verbindung gebracht wird. So sind in der psychologischen Topik die Worte „Substanz", „einfach" (—»„Realität"), „Einheit" und „möglich" hervorgehoben (vgl. A344/B402), während in der kosmologischen Ideentafel die Begriffe „Zusammensetzung" (—»„Vielheit"), „Teilung" (—»„Negation"), „Entstehung" (—>„Kausalität-Dependenz") sowie die Kategorie des „Daseins" hervorgehoben sind. 81 Dieser Sachverhalt veranlasst eine weitere Verschärfung der Interpretationshypothese:
81
Vgl. die Anlagen I-III im Anhang dieser Arbeit.
Eine H y p o t h e s e z u m Verhältnis von Kategorien- und Ideentafel
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(H3) Die jeweils vier speziellen transzendentalen Ideen des n-ten Hauptstücks der transzendentalen Dialektik lassen sich ein-eindeutig auf die jeweils vier /i-ten Kategorien jeder Gruppe beziehen. (1 < ;; < 3) Es handelt sich um einen durchaus bemerkenswerten Umstand, dass den kantischen Hervorhebungen in den Ideentafeln, die Bezüge zu jeweils ganz bestimmten Kategorien herstellen, innerhalb der über 200-jährigen Rezeptionsgeschichte der KclrV nicht in der Weise Beachtung geschenkt worden ist, dass dieser Befund zur hier als (H3) vorgestellten Hypothese ausgebaut worden wäre, das Naheliegende also nicht geschah. Wir halten weder Kants Hervorhebungen noch die dadurch zum Ausdruck gebrachten Bezüge zwischen Idee und Kategorie für zufällig. Um den in (H3) angesprochenen „Bezug" in erster Näherung zu präzisieren, soll des Weiteren in unsere Interpretationshypothese die von Kant im „System der kosmologischen Ideen" ausgesprochene Behauptung aufgenommen werden, die transzendentalen Ideen seien „eigentlich nichts, als bis zum Unbedingten erweiterte Kategorien" (A409/B436). Während die dort von Kant vertretene Meinung in der Kantliteratur aufgrund des Fundorts meist so gedeutet wird, als beziehe sie sich allein auf die vier zu kosmologischen Ideen erweiterbaren Kategorien 8 2 , gehört zum Interpretationsansatz dieser Arbeit die Annahme, dass sich Kants These von den transzendentalen Ideen als ins Unbedingte erweiterbaren Kategorien sinnvoller Weise auf alle Kategorien und somit auch auf alle speziellen transzendentalen Ideen beziehen lässt. Die konkurrierende Interpretation, nach der es sich allein bei den kosmologischen Ideen um „ins Unbedingte erweiterte Kategorien" handelt, scheint dadurch gestützt zu werden, dass Kant die Kategorien in der „transzendentalen Analytik" als welterfahrungstheoretische Begriffe konzipiert. Salopp gesprochen: Rationale Kosmologie als verlängerter Ann der Welterfahrung mit den entsprechend frisierten begrifflichen Werkzeugen eben dieser, nämlich mit den zu Ideen erweiterten Kategorien - das scheinen wir zu verstehen. Wie es hingegen um die Zusammenhänge zwischen bestimmten Kategorien und den psychologischen und theologischen Ideen steht, ist in der Tat weitaus weniger offensichtlich. Doch bevor diese Zusammenhänge im einzelnen thematisiert werden, wollen wir für die Plausibilität der für unsere Interpretation zentralen Annahme werben, dass Kant zufolge alle transzendentalen Ideen „eigentlich nichts als bis zum Unbedingten erweiterte Kategorien" sind. Ziehen wir dazu den einschlägigen Text heran: Mittels Fettdruck hebt Kant im ersten Absatz des Abschnitts über das „System der kosmologischen Ideen" (A408/B435 ff.) zwei für die subjektive Deduktion der
82
So etwa gleichlautend C. Nink 11930. S. 2 1 4 | : „Nicht alle Kategorien aber lassen sich ins Unbedingte erweitern [...]", und Ν. K. Smith 11923. S. 479]: ..Yet not all categories yield a concept of the unconditioned."
62
Einführung zweier Interpretationshypothesen
kosmologischen Ideen bedeutsame „Bemerkungen" von einander ab. Unter „Erstlich" trägt Kant die These vor, dass die transzendentalen Ideen „eigentlich nichts, als bis zum Unbedingten erweiterte Kategorien" sind, und unter „Zweitens" behauptet Kant, dass zur Konstitution der kosmologischen Ideen „nicht alle Kategorien [...] taugen, sondern nur diejenige[n], in welchen die Synthesis eine Reihe ausmacht, und zwar [eine Synthesis] der einander untergeordneten (nicht beigeordneten) Bedingungen zu einem Bedingten." Dass das Aussonderungskriterium der „Reihe" eine notwendige Bedingung dafür darstellt, dass eine Kategorie Uberhaupt ins Unbedingte erweitert werden kann, geht aus dem Text gerade nicht hervor. Ein Blick auf die Struktur dieses Textteils zeigt, dass von der Unmöglichkeit der Erweiterung aller Kategorien ins Unbedingte nicht die Rede sein kann und das Prinzip der „Reihe" hier allein der Aussonderung der für die Kosmologieproblematik relevanten Kategorien dient, denn: „Um nun diese [kosmologischen] Ideen nach einem Prinzip mit systematischer Präzision aufzählen zu können, müssen wir erstlich bemerken, daß [...] Zweitens aber werden doch auch nicht alle Kategorien dazu taugen [...]". Dass unter „diesen Ideen" des ersten Satzes des „Systems" die kosmologischen Ideen zu verstehen sind, geht daraus hervor, dass in direkter Weise an die Überschrift „System der kosmologischen Ideen" angeknüpft wird. Zwar sind beide Kriterien zusammen demnach hinreichend für die Konstitution kosmologischer Ideen, was jedoch nicht bedeutet, dass beide Kriterien ausschließlich auf kosmologische Ideen zu beziehen sind. Erst die zweite Bemerkung spezifiziert die für die Kosmologieproblematik relevanten Kategorien. Wenn Kant dort schreibt, es würden „nicht alle Kategorien dazu taugen", so bezieht sich das Wörtchen „dazu" auf die Deduktion der kosmologischen Ideen unter Investition des Aussonderungsprinzips der „Reihe". Hier ist nicht gemeint, dass sich nur die dort und nach diesem Prinzip ausgesonderten Kategorien ins Unbedingte erweitern lassen. Angesichts der kantischen Rede, „daß die Vernunft eigentlich gar keinen Begriff erzeuge, sondern allenfalls nur den Verstandesbegriff, von den unvermeidlichen Einschränkungen einer möglichen Erfahrung, frei mache" (A409/B435), wäre es geradezu irreführend, dies derart generalisierend („den Verstandesbegriff') zu formulieren, wenn sich diese Rede tatsächlich ausschließlich auf kosmologische Ideen bezöge. Nicht nur um Kant hier vom möglichen Vorwurf der Fahrlässigkeit freizusprechen, gehen wir besser davon aus, dass sich diese Rede auf alle reinen Verstandesbegriffe bezieht, wollen diese These aber weiter erhärten. Während Kants Rede von einer Erweiterung" ins Unbedingte noch einen sukzessiven Prozess suggeriert, der gemäß der konkurrierenden Interpretation in der Rede von der „Synthesis, die eine Reihe ausmacht" seine Entsprechung zu finden scheint, legt Kants Rede von einer schlichten Befreiung („frei mache"; s.o.) der Kategorien von gewissen Einschränkungen diesen Gedanken an eine notwendigerweise reihenförmige Sukzession nicht nahe. Da wir davon ausgehen dürfen,
Eine Hypothese zum Verhältnis von Kategorien- und Ideentafel
63
dass die beiden Formulierungen vom Erweitern und Befreien der Kategorien der Sache nach äquivalent sind, ist nicht zu sehen, weshalb nicht alle Kategorien ins Unbedingte erweiterbar sein sollten. 83 Das bloße Denken einer unbedingten Kausalität, unbedingter bzw. unteilbarer Einheit, unbedingter bzw. absoluter Substanz u.ä. ist freilich nicht mit der Erkenntnis von unter diese Begriffe fallenden Gegenständen zu verwechseln. Allerdings ist es nicht der Fall, dass die kosmologisch „tauglichen" Kategorien gegenüber den übrigen derart ausgezeichnet wären, dass allein sie zur Befreiung von den Einschränkungen möglicher Erfahrung einladen würden, was die Vertreter der alternativen Deutung freilich annehmen müssen. Wenn Kant unter impliziter Bezugnahme auf das Kriterium für kosinologischerweiterbare Kategorien schreibt: „[...] so schickt sich die Kategorie der Substanz mit ihren Akzidenzen nicht zu einer transzendentalen Idee" (A414/B441), dann muss hier „nicht zu einer kosmologischen Idee" gelesen werden, wie aus Kants Begründung: „Denn Akzidenzen sind f...] einander koordiniert, und machen keine Reihe aus" (ebd.) hervorgeht. 84 Er beruft sich hier ausdrücklich auf das Aussonderungskriterium für die Kategorien des Kosmologie-Hauptstücks. Doch kann auch die Kategorie der Substanz unbedingt gebraucht bzw. ins Unbedingte erweitert werden: die Erweiterung der Substanzkategorie ins Unbedingte führt auf einen bzw. denjenigen Subjektbegriff, der nicht mehr prädikativ gebraucht werden kann. Auf Seiten der Gegenstände bedeutet dies die Suche nach einem „absoluten Subjekt", welches die vom transzendentalen Schein geblendete Vernunft in der material gänzlich leeren Apperzeption („Ich denke") anzutreffen meint. Kant begründet lediglich, warum der Begriff vom „Substantiale", d.h. „den Begriff vom Gegenstande überhaupt, welcher subsistiert, sofern man an ihm bloß das transzendentale Subjekt ohne alle Prädikate denkt" (A414/B441), nicht in der Kosmologie zu thematisieren ist, und zwar dadurch, dass „hier [d. h. in der rationalen Kosmologie !] [...] nur die Rede vom Unbedingten in der Reihe der [äußeren] Erscheinungen ist" (ebd.). Auch jenseits des Textes des „Systems der kosmologischen Ideen" finden wir ein Argument für unsere These, dass alle Kategorien ins Unbedingte erweiterbar sind. Bereits in seiner berühmten Stufenleiter von Vorstellungen bestimmt Kant
83
84
Wir werden bei der Rekonstruktion der subjektiven Deduktion der speziellen Ideen der drei Hauptstücke der transzendentalen Dialektik die Frage im Auge behalten müssen, was es Uberhaupt bedeutet, eine Kategorie ins Unbedingte zu erweitern, und ob sich hinter dieser Redeweise überhaupt eine einheitliche Bedeutung, ein generelles, auf alle Kategorien in gleicher Weise beziehbares Verfahren verbirgt. Dass Kant hier zu behaupten scheint, die Kategorie der Substanz könne nicht zu einer transzendentalen Idee erweitert werden, wird von Smith als ein Argument dafür gewertet, dass Kant ursprünglich nur kosmologische transzendentale Ideen kannte, und dass das „System der kosmologischen Ideen" älter als die allgemeine Ideenlehre der Einleitung und des ersten Buchs der TD sei (vgl. Smith 1923, S. 478 f.).
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Einführung zweier Interpretationshypothesen
die „Idee, oder den Vernunftbegriff' als einen „Begriff aus Notionen", und das bedeutet, als einen Begriff aus reinen Verstandesbegriffen, „der die Erfahrung übersteigt" (A320/B377). Liegt es nicht mehr als nahe, die Behauptung, Ideen seien nichts als ins Unbedingte erweiterte Kategorien, als eine erste Präzisierung der Rede aufzufassen, „Ideen" seien nichts als Begriffe aus reinen Verstandesbegriffen? Nachdem wir hoffentlich gute Gründe dafür hervorgebracht haben, dass sich die These von den ins Unbedingte erweiterten Kategorien auf alle Kategorien resp. alle speziellen transzendentalen Ideen beziehen lässt, formulieren wir als letzte Verschärfung unserer Interpretationshypothese: (H4)
Die jeweils vier speziellen transzendentalen Ideen des /i-ten Hauptstücks der transzendentalen Dialektik lassen sich als bis ins Unbedingte erweiterte Kategorien ein-eindeutig auf die jeweils vier 77-ten Kategorien jeder Kategoriengruppe beziehen (1 < η < 3).
Für das Paralogismen- und das Antinomie-Hauptstück scheint die Bestätigung unserer Hypothese prima facie leichter zu fallen als im Falle der überhaupt noch unbekannten theologischen Ideen des Ideal-Hauptstücks. Der Grund dafür besteht schlicht darin, dass Kant im Ideal-Hauptstück dem Leser explizit weder ein Analogon zur „Topik der reinen Seelenlehre" noch eines zum „System der kosmologischen Ideen" präsentiert. Für das Ideal-Hauptstück stellt unsere Hypothese uns also insbesondere vor die Aufgabe einer ergänzenden Rekonstruktion. 83 Die in unserer Hypothese enthaltene Vermutung von der Ein-eindeutigkeit der Beziehung zwischen den zwölf Kategorien und den transzendentalen Ideen mag kühn erscheinen. M. L. Miles warnt ausdrücklich davor, die These von den ins Unbedingte erweiterten Kategorien in dieser Weise auszulegen:
83
Eine unserer Arbeit ganz ähnliche Aufgabe bestünde in dem Versuch einer Rekonstruktion des Systems der „Grundsätze des reinen Verstandes". Eine ergänzende Rekonstruktion ist insbesondere zur Explikation der „Axiome der Anschauung" und der „Antizipationen der Wahrnehmung" nötig, von denen Kant bekanntermaßen jeweils nur das „Prinzip derselben" (A162/B202; A166/B207) präsentiert. Aus systematischen Gründen dürfte es ebenfalls zwölf Grundsätze des reinen Verstandes geben, die ein-eindeutig auf die Kategorien beziehbar sind, da die Grundsätze „nichts anderes, als Regeln des objektiven Gebrauchs der ersteren sind" (A161/B200). Kant selbst formuliert zwar nur die drei „Analogien der Erfahrung" und die drei „Postulate des empirischen Denkens", doch zeigt nicht nur die Gruppierung der Grundsätze, dass die Axiome der Anschauung dem Kategorientitel der Quantität, die Antizipationen der Wahrnehmung der Qualität usw. zugeordnet sind (vgl. die Tafel von A161/B200), sondern dass es in Analogie zu den Analogien der Erfahrung und den Postulaten des empirischen Denkens, die sich jeweils eindeutig auf die drei Relations- bzw. Modalitätskategorien beziehen, auch drei Axiome der Anschauung sowie drei Antizipationen der Wahrnehmungen geben muss, die den drei Quantitäts- bzw. Qualitätskategorien entsprechen. Ein derartiger Rekonstruktionsversuch mag einer anderen Arbeit vorbehalten bleiben.
Eine Hypothese zum Verhältnis von Kategorien- und Ideentafel
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„Wollte m a n aus d i e s e m W e s e n s b e z u g [transzendentale Ideen als ins U n b e d i n g t e erweiterte K a t e g o r i e n ] ein Identitätsverhältnis h e r a u s p r e s s e n , w o z u die F o r m u l i e r u n g Kants verleiten k ö n n t e , so hieße das, die deutlich angezeigte V e r s c h i e d e n h e i t der F u n k t i o n e n v e r m i s c h e n , d i e b e i d e n z u g r u n d e liegen, und die vielfach e i n g e schärfte D i f f e r e n z z w i s c h e n V e r s t a n d e s - und V e r n u n f t e i n h e i t nivellieren." 8 6
Das Problem, welches Miles hier benennt, stellte sich bereits für Smith 8 7 , und zuletzt auch für Schmucker und Malzkorn: die „Eigenständigkeit" 8 8 der Vernunft gegenüber dem Verstand i.e.S. scheint diesen Kommentatoren zufolge untergraben zu sein, wenn Vernunfibegriffe bzw. transzendentale Ideen „nichts als" ins Unbedingte erweiterte Verstandesbegriffe sind. Schließlich gehe es Kant insbesondere darum, die „transzendentalen Begriffe der Vernunft, die sich sonst gewöhnlich in der Theorie der Philosophen unter andere mischen, ohne daß diese sie einmal von Verstandesbegriffen gehörig unterscheiden, aus dieser zweideutigen L a g e " (A338/B396) zu befreien. Malzkorn diagnostiziert daher in aller Härte einen „Widerspruch" 8 9 zwischen Kants Konzeption des oberen Erkenntnisvermögens, die insbesondere die These von der Eigenständigkeit der Vernunft gegenüber dem Verstand i.e.S. enthalte, und der Rede davon, dass die Ideen nichts als ins Unbedingte erweiterten Kategorien seien. Bereits Smith veranlasste dieselbe beobachtete scheinbare Unvereinbarkeit beider Konzeptionen zur entwicklungsgeschichtlichen These, das „System der kosmologischen Ideen" sei offenbar älteren Ursprungs als die in der Einleitung und im ersten Buch der TD entwickelte Theorie der Vernunftbegriffe. 9 0 Als hätte Kant die Diagnose des scheinbaren Widerspruchs innerhalb seiner Ideenkonzeption antizipiert, heißt es in Refl. 5553 über die transzendentalen Ideen: „Als (reine) B e g r i f f e aber m ü s s e n sie d o c h aus den Kategorien h e r g e n o m m e n sein; als V e r n u n f t b e g r i f f e m ü s s e n sie aber b l o ß g e s c h l o s s e n sein; als n o t w e n d i g e V e r n u n f t b e g r i f f e m ü s s e n sie die n o t w e n d i g e n B e d i n g u n g e n des g a n z e n V e r s t a n d e s g e b r a u c h s enthalten, d. i. des G e b r a u c h s in seiner Totalität, und als t r a n s z e n d e n t e B e g r i f f e m u ß diese Totalität so weit gehen, dass sie alle sinnliche A n s c h a u u n g übersteigt; d e n n sonst w ä r e n sie i m m a n e n t . " 9 1
Weil man davon ausgehen sollte, dass es Kant gelang, diese Merkmale der transzendentalen Idee widerspruchsfrei zusammen zu denken, besteht die Aufgabe des Interpreten darin, eben dies zu leisten.
86 87 88 89 90 91
Miles 1978, S. 288. Smith 1923, S. 478 f. Malzkorn 1999, S. 79. ebd. Smith 1923, S. 478. AA XVIII, S. 228.
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Einführung zweier Interpretationshypothesen
Stellvertretend für jene Kommentatoren, für die gerade dies jedoch unmöglich scheint, wollen wir hier Malzkorn antworten, dass wir nicht die Einschätzung teilen können, der kantische Text rechtfertige in dieser Frage die starke Rede von „Widersprüchen". Die ,,in der Einleitung und im ersten Buch entwickelte Theorie der Vernunft und ihrer Begriffe" 9 2 , auf die Malzkorn sich zwecks Konstruktion des vermeintlichen Widerspruchs bezieht, enthält die Behauptung Kants: „Sie [die Vernunft] geht also niemals zunächst auf Erfahrung, oder auf irgendeinen Gegenstand, sondern auf den Verstand" (A302/B359). Die Rede, dass die Vernunft auf den Verstand „geht", bezieht sich allerdings nicht allein auf die Tendenz zur Systematisierung und Vereinheitlichung der Verstandesurteile durch die Vernunft im logischen Gebrauch. Dadurch nämlich, dass sich die Vernunft auf die Urteile des Verstandes bezieht, bezieht sie sich zugleich auf die reinen Begriffe des Verstandes, ohne die Kant zufolge kein Urteilen möglich ist. Und dieser Bezug besteht aufgrund der Vernunftforderung nach unbedingten Bedingungen von jeweils ganz bestimmten Verstandeserkenntnissen in dem unbedingten Gebrauch jeweils ganz bestimmter Kategorien. Daher verweist die kantische Rede, die Vernunft gehe „auf den Verstand" nicht nur auf den logischen Gebrauch, sondern auch den realen Gebrauch der Vernunft, als dessen Produkte die transzendentalen Ideen hervorgebracht werden. So heißt es auch bereits im „System der transzendentalen Ideen" des 1. Buchs der TD, welches Malzkorn zufolge eine mit der ,Erweiterungsthese' unvereinbare Theorie der Vernunft enthalten soll, „die reine Vernunft bezieht sich niemals geradezu auf Gegenstände, sondern auf die Verstandesbegriffe von denselben" (A335/B392). Während Malzkorn u.a. die Eigenständigkeit der Vernunft vom Verstand preisgegeben sehen, sofern Vernunftbegriffe als ins Unbedingte erweiterte Kategorien konzipiert werden, sind wir der Ansicht, dass ein notwendiger Beitrag der Vernunft zur Genese der transzendentalen Ideen ausreichen sollte, um die Bezeichnung „Vem«/?/ibegriffe" zu rechtfertigen: ohne vom Drang nach Erkenntnis des Unbedingten getrieben zu sein, hat der Verstand i.w.S. kein Motiv, die Kategorien unbedingt zu gebrauchen. Die Ideen beruhen als „ins Unbedingte erweiterte Kategorien" auf diesen und sind lediglich als Ideen nicht „vom Verstände entlehnt" (A299/B355). Sie sind gewissermaßen abgeleitete resp. erweiterte Elemente des reinen Verstandes (i.w.S.). Sofern es sich um von den Kategorien verschiedene Begriffe handelt, müssen sie aus diesen eigentlichen Stammbegriffen des reinen Verstandes abgeleitet sein. Sofern sie „ins Unbedingte erweiterte Kategorien sind", sind sie erweiterte Elemente des reinen Verstandes. Sofern sie schließlich irreduzible, ursprüngliche Ideen der theoretischen Vernunft sind - so beispielsweise die Substantialität der Seele anders als die Unsterblichkeit derselben -, handelt es sich bei ihnen selbst um Elemente, wenn auch in einem schwächeren
92
Malzkorn 1999, S. 79.
Eine Hypothese zum Verhältnis von Kategorien- und Ideentafel
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Sinne als bei den Kategorien: die elementaren transzendentalen Ideen sind lediglich relativ elementar, verglichen mit allen übrigen Vernunftbegriffen. Bei dem von Malzkorn u.a. Kommentatoren ausgemachten Widerspruch innerhalb der Ideenkonzeption als erschlossene Vernunft begriffe einerseits und ins Unbedingte erweiterte reine Verstände.sbegriffe andererseits handelt es sich um einen bloß vermeintlichen Widerspruch. Vielmehr legen beide Charakterisierungen auf verschiedene Aspekte der Idee ihren Schwerpunkt: um überhaupt etwas denken zu können - auch ideelle Gegenstände sind „Gegenstände überhaupt"! muss sich der Verstand der Kategorien bedienen. Das gilt auch für erschlossene Begriffe von selbst unbedingten Bedingungstotalitäten, deren Denken einen unbedingten Gebrauch der Kategorien erfordert. Wie jedoch soll prima facie überhaupt plausibel erscheinen, dass die zwölf bis ins Unbedingte erweiterten Kategorien jeweils gerade auf eine Idee führen, die in jeweils genau einer der Disziplinen der metaphysica specialis ihren systematischen Ort hat? Warum sollte es z.B. „unbedingte Einheit" nicht sowohl psychologisch als auch kosmologisch und theologisch spezifiziert geben: etwa als Einfachheit der Seele, Einheit der Welt (der Erscheinungen) und als Einheit „aller Dinge überhaupt"? Das scheinbar Einzige, was die jeweiligen Kategorien an die jeweiligen Disziplinen der speziellen Metaphysik bindet, sind die oben aufgeführten und von Kant selbst jeweils ad hoc eingeführten Aussonderungskriterien für die Kategorien. Da diese Kriterien jedoch selbst alles andere als evident sind, lässt sich ein hartnäckiges Problem in der Frage zusammenfassen: Wie rechtfertigt Kant die Aussonderungskriterien für die Kategorien der Psychologie- und Kosmologieproblematik, die zumindest indirekt Auskunft darüber geben, welche ins Unbedingte erweiterte Kategorie in welche Disziplin der speziellen Metaphysik führt bzw. für diese „taugt" (vgl. A409/B436)? Kant schweigt zu dieser Frage, und auch in der Sekundärliteratur ist uns keine Studie begegnet, die sich um eine Rechtfertigung der Aussonderungskriterien bemüht. Der zugegebenermaßen unklare Status jener Kriterien verlagert daher die folgende Frage ins Zentrum des Interesses: Welche deduktive Funktion besitzen diese Aussonderungskriterien als Prinzipien innerhalb der subjektiven Deduktion der transzendentalen Ideen überhaupt? Bezüglich dieser Frage scheint es insbesondere zwei Möglichkeiten zu geben. Nach der ersten Möglichkeit verdanken sich die Aussonderungsprinzipien der Bedeutung der drei Titel transzendentaler Ideen, deren subjektive Deduktion Kant bereits im „System der transzendentalen Ideen" geleistet zu haben beansprucht. Die Aussonderungskriterien könnten sich also quasi-analytisch aus den drei Titeln der transzendentalen Ideen ergeben. Zu dieser Einschätzung könnte man gelangen, da das Aussonderungsprinzip der „Reihe" (für kosmologische Ideen) nur auf Grundlage des zweiten Ideen-Titels, der „vollständigen Reihe der Erscheinun-
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Einführung zweier Interpretationshypothesen
gen" 9 3 {Welt) verständlich scheint bzw. aus diesem vererbt zu sein scheint. 94 Die Tatsache, dass diese Verbindung zwischen Ideen-Titel und Kategorie bereits im Falle der Weltidee wenn nicht lose, so doch zutiefst dunkel ist und über eine Assoziation nicht hinauszukommen scheint, zeigt, dass das Zutreffen dieser ersten Möglichkeit nur schwerlich zu untermauern sein dürfte. Die zweite und, wenn wir richtig sehen, bisher überhaupt nicht in Betracht gezogene Möglichkeit ist die, dass j e d e ins Unbedingte erweiterte Kategorie geradezu zwangsläufig, d.h. ohne eine vorab getroffene Festlegung auf einen Gegenstandsbereich, in genau eine der drei Disziplinen der speziellen Metaphysik führt, weil ein unbedingter Gebrauch jeder Kategorie seinerseits jeweils an einen ganz bestimmten Gegenstandsbereich gebunden ist. Dass ein gewöhnlicher oder sagen wir bedingter Gebrauch aller Kategorien als die gewöhnliche Welterfahrung ermöglichender Elemente im Bereich äußerer Gegenstände stattfindet, muss nicht bedeuten, dass ein unbedingter Gebrauch derselben nicht an jeweils durchaus verschiedene Gegenstandsbereiche gebunden ist. Falls sich die Sache so verhalten sollte, dann werden die Aussonderungskriterien gewissermaßen von Kant nachgereicht und erläutern die in den Disziplinen der speziellen Metaphysik wirksamen Ideen eher, als dass sie für die Genesis der Ideen tatsächlich notwendig sind. Im Rahmen einer subjektiven Deduktion der Ideen würden die Aussonderungsprinzipien nach dieser Möglichkeit offensichtlich keine deduktive Funktion innehaben. Ein Einwand gegen diese Möglichkeit könnte im Hinweis darauf bestehen, dass Kant dann eine unnötig komplizierte Darstellung der Sache gewählt hätte, indem er gewisse Prinzipien der Ableitung als notwendig suggeriert, die dies nicht sind. Antworten auf die Fragen „Welche Kategorien taugen für psycho-, kosmobzw. theologische Ideen?" würden nach dieser Möglichkeit ohne Bezugnahme auf die Bedeutung der drei Titel transzendentaler Ideen auskommen und wären gewissermaßen nach der Erweiterung ins Unbedingte zu fällen. Richtig ist allerdings, dass sich die Dreiheit der Klassen transzendentaler Ideen unter Bezugnahme auf die Trichotomie möglicher Vorstellungsbezüge (1. „aufs Subjekt", 2. „auf Objekte als Erscheinungen", 3. „auf Objekte als Gegenstände des Denkens überhaupt") entfaltet und daher in den Bedeutungen der drei Titel die Bindungen an bestimmte Gegenstandsbereiche in gewisser Weise bereits enthalten sind, was wiederum für die erste Möglichkeit sprechen dürfte. Aufgrund der folgenden Überlegung könnte es sich allerdings um bloß scheinbar alternative Deduktionsstrategien handeln. Denn: egal, ob die Klassenbildung bzw. Einordnung
93 94
Vgl. A334/B391. Für Heinz Heimsoeth scheint sich das Aussonderungsprinzip der Reihe aus der Bedeutung der Weltidee selbst zu ergeben: „Im Kosmologiethema spielt der Begriff der .Reihe' [...] eine zentrale Rolle." Den Zusammenhang zur Weltidee stellt er in der dazugehörigen Anmerkung her: „Ganz alter Terminus: series mundi, in der Schulphilosophie immer wieder auftretend" (Heimsoeth 1966, Band II, S. 205).
Eine Hypothese zum Verhältnis von Kategorien- und Ideentafel
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der ins Unbedingte erweiterten Kategorien in die Disziplinen der speziellen Metaphysik gemäß der Trichotomie möglicher Vorstellungsbezüge bzw. Gegenstandsbereiche geschieht, nachdem die Kategorien erweitert wurden, oder ob man sich vorab vergewissert, in welche mögliche Klasse der Objektbereiche eine erweiterte Kategorie nur fallen kann - der eigentliche Kern der subjektiven Deduktion gleichermaßen aller speziellen transzendentalen Ideen könnte die Erweiterung kategorialer Synthesis ins Unbedingte sein. Es handelte sich demnach bei den beiden vorgestellten Möglichkeiten bloß um zwei Varianten der Darstellung eines Sachverhalts, nicht um zwei verschiedene Sachverhalte. Die zweite Darstellung auf die erste zurückführend könnte man sogar sagen: Gerade weil erstens die Unterscheidung der drei Ideentitel auf der der möglichen Vorstellungsbezüge resp. Gegenstandsbereiche beruht, und zweitens die Bedeutung der Ideentitel für die Aussonderungsprinzipien der jeweiligen Kategorien von Bedeutung zu sein scheint, ist anzunehmen, dass ein unbedingter Gebrauch jeder einzelnen Kategorie an einen ganz bestimmten Gegenstandsbereich gebunden ist bzw. nur in diesem stattfinden kann. Nach unserer Interpretationshypothese würden Unbedingte Substanz-Akzidenz, Realität, Einheit und Möglichkeit-Unmöglichkeit in der „rationalen Psychologie" thematisiert, unbedingte Vielheit, Negation, Kausalität-Dependenz und unbedingtes Dasein-Nichtsein in der „rationalen Kosmologie", und unbedingte Allheit, Limitation, Gemeinschaft und Notwendigkeit-Zufälligkeit in der „transzendentalen Theologie". Am Beispiel der Quantitätskategorien möchten wir bereits hier kurz für die Plausibilität dieser Überlegungen werben: Einheit ist nur dann unbedingte bzw. absolute Einheit, wenn es sich um eine Einheit handelt, die nicht als Vielheit, Menge oder Mannigfaltigkeit aufgefasst werden kann. Von dieser Einheit scheint nun gerade die leere, einfache Vorstellung des „Ich denke" zu sein, die bloßer Ausdruck des Selbstbewusstseins, der „transzendentalen Apperzeption", ist und nichts Mannigfaltiges enthält. Während Objekte der äußeren Erscheinung stets teilbar sind (vgl. 2. Widerstreit der rationalen Kosmologie) und daher auch als Vielheit aufgefasst werden können, scheint von absoluter Einheit nur der „Gegenstand" der rationalen Psychologie zu sein. Jedes Vorstellen einer Vielheit setzt für Kant die subjektive Anschauungsform der Zeit voraus, die zugleich formale Eigenschaft aller inneren wie äußeren Erscheinung ist. Auch die Apprehension räumlicher Objekte ist für Kant nur sukzessiv möglich 95 , findet also in der Zeit statt. Eine ins Unbedingte erweiterte Synthesis gemäß der Kategorie der Vielheit kann nur im. Medium der beiden Dimensio-
93
„Die Apprehension des Mannigfaltigen der Erscheinung ist jederzeit sukzessiv" (A189/B234). Selbst wenn es in Kants bekanntem Beispiel der Linie und des Kreises um imaginierte Gegenstände der reinen Anschauung geht, mag es der Illustration der jederzeit sukzessiven Apprehension dienen: „Wir können uns keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen, keinen Zirkel denken, ohne ihn zu beschreiben [...]" (B154).
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Einführung zweier Interpretationshypothesen
nen des Gesamtzusammenhangs räumlich wie zeitlich bestimmter Objekte stattfinden. Werden die Anschauungsformen, welche die quantitativen Bestimmungen der Dinge bedingen, nun ihrerseits als quantitativ bestimmbar gedacht, so geht dieses Denken mit dem Versuch einher, zwei Varianten unbedingter Vielheit zu denken. Diese wiederum scheinen identisch mit der „Weltgröße" in räumlicher und zeitlicher Hinsicht zu sein, wie sie in der ersten Antinomie rationaler Kosmologie thematisiert werden. Allheit ist nur dann unbedingte bzw. absolute Allheit, wenn sie sich nicht nur auf alle „Gegenstände" der inneren Erscheinung resp. Zustände des Subjekts oder aber auf alle Gegenstände der äußeren Erscheinung bezieht, sondern wenn sie sich, diese beiden Gegenstandsbereiche umgreifend und enthaltend, auf „alle Dinge überhaupt" (A334/B391) bezieht. Unbedingte Allheit ist offensichtlich auf alle Dinge Uberhaupt, den Gegenstandsbereich einer „transzendentalen Theologie" bezogen.
1.1.1 Der Vorschlag von M. L. Miles Bevor der Versuch unternommen werden soll, unsere erste Interpretationshypothese am Text der transzendentalen Dialektik zu bestätigen, soll der einzige uns bekannte Vorschlag referiert und beurteilt werden, dem zufolge dem kantischen Text überhaupt so etwas wie eine einheitliche Struktur der Ableitung aller transzendentalen Ideen zugrunde liegt. Die mit dem Vorschlag von Murray Lewis Miles 9 6 verbundenen Probleme werden eine zweite Hypothese veranlassen, die sich auf die Prinzipien einer subjektiven Deduktion der speziellen transzendentalen Ideen bezieht. Sehen wir, worin sein Vorschlag besteht: „Während die Vernunftfunktionen im transzendentalen wie im logischen Gebrauch drei an der Zahl sind, kommen die Vernunftschlüsse oder erschlossenen Grundsätze, die diesen drei Schlußarten bzw. Vernunftfunktionen gemäß vollzogen werden, numerisch mit den Verstandessynthesen überein, auf die sie sich beziehen. Mit anderen Worten, jede Art der Verstandessynthesis mittels Kategorien, die der Quantität, Qualität und Modalität sowohl als der Relation, kann bis zur absolut unbedingten Einheit gesteigert werden, und zwar jeweils in dreifacher Schlußart. Daraus ergibt sich umgekehrt, daß jede der drei transzendentalen Funktionen der Vernunft bis zu vier Arten von Verstandessynthesis zum Unbedingten erweitern kann, woraus evtl. vier Grundsätze oder, falls eine Verstandessynthesis mehr als einen oder gar sich widerstreitende Grundsätze ergibt, noch mehr als vier Grundsätze fließen können."97
96 97
Vgl. Miles 1978. ebd., S. 292.
Eine Hypothese zum Verhältnis von Kategorien- und Ideentafel
71
Miles' Vorschlag besteht demnach darin, die transzendentalen Ideen als Resultate der „Steigerung" der vier Arten von Verstandessynthesen ins Unbedingte zu interpretieren, während diese Steigerung bzw. Erweiterung gemäß jeder der drei Formen mittelbarer Schlüsse möglich sein soll. Er bezieht sich mit seiner These offensichtlich ebenfalls einerseits auf das „System der kosmologischen Ideen", in welchem Kant die These von der Erweiterung bzw. „Steigerung" der Kategorien ins Unbedingte vorträgt, andererseits möglicherweise auch auf die bereits zum Teil zitierte Refl. 5553, in der Kant die drei Ideentitel auf die „drey Arten der Vernunftschlüsse" zurückführt und von vier dialektischen Schlüssen „nach den 4 Kategorien" 98 spricht. Die von Miles vorgeschlagene verzweigte Struktur der Ableitung lässt sich folgendermaßen graphisch darstellen:
„zur absolut u n b e d i n g t e n Einheit gesteigerte"
I Quantität gemäß
Qualität gemäß
Ί kat. hypo. disj. Schlussart
Γ
Relation gemäß
Ί
kat. hypo. disj. Schlussart
Γ
Modalität gemäß
Ί
Γ
kat. hypo. disj. kat. hypo. disj. Schlussarl Schlussart
Die zwölf Äste dieses Schaubilds dürften nach Miles' Vorschlag auf „Grundsätze" führen, unter denen wiederum Urteile zu verstehen sein dürften, die mit behauptender Kraft spezielle transzendentale Ideen formulieren." Miles ist der einzige uns bekannte Interpret, der den wenn auch unausgearbeiteten Versuch macht, das kantische Programm der unbedingten Verstandessyrithes&n mit dem der drei Arten dialektischer Vernunfischlüsse innerhalb einer Ableitungsstrategie zu versöhnen, denn mit Miles gilt: „Funktionen der Vernunft erweitern Arten der Verstandessynthesis zum Unbedingten". Zugleich liegt damit der scheinbar einzige Vorschlag für einen einheitlichen Grundriss der Ableitung aller speziellen transzendentalen Ideen vor. Miles selbst macht sich leider weder die Mühe, in aller Allgemeinheit zu erläutern, was es bedeuten soll, dass „eine Funktion der Vernunft eine Art der Verstandessynthesis bis zur absoluten unbedingten Einheit steigert", noch die Mühe, seinen eigenen Vorschlag in den einzelnen Fällen psychologischer, kosmologischer und theologischer Ideen am Text zur Bestätigung zu 98 99
A4 XVIII, S. 223. So handelt es sich z.B. beim Satz „Die Seele ist Substanz" um eine Behauptung, in der die Idee von der Substantiality der Seele zum Ausdruck gebracht wird.
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Einführung zweier Interpretationshypothesen
bringen. Dass dies bei Miles unausgearbeitet bleibt, mag seinen Grund in seiner Fragestellung sowie zudem darin finden, dass er bereits der Möglichkeit einer derartigen Ideenableitung äußerst skeptisch gegenüber steht, da auch er die Eigenständigkeit der Vernunft gegenüber dem Verstand im Rahmen einer solchen Konzeption untergraben sieht. Bezüglich der Frage, ob Miles' Vorschlag Uberhaupt ein mögliches Unternehmen beschreibt, möchten wir gegen diesen zwei Einwände zu bedenken geben ganz unabhängig von der Frage, ob und wie Vernunftfunktionen Verstandessynthesen steigern können. 1) Während Kant ausdrücklich die drei von uns so genannten alternativen ldeen/i7e/ auf die Trias der mittelbaren Vernunftschlüsse zurückführt (vgl. Refl. 5553 sowie A323/B379), schlägt Miles eine Ableitung der speziellen transzendentalen Ideen vor, die vom formalen Prinzip der Klassifikation der Ideen Gebrauch macht. 2) Was kann es überhaupt bedeuten, dass es „vier Arten von Verstandessynthesis" (quantitative, qualitative, relationale und modale Verstandessynthesis) sind, die ,,bis zur absoluten unbedingten Einheit gesteigert werden" bzw. zur transzendentalen Idee erweitert werden? Quantität, Qualität, Relation und Modalität sind schließlich Titel der Kategorienklassen, hinter denen sich nicht eine bestimmte Art der Verstandessynthesis verbirgt, sondern jeweils drei. Sollten nicht allenfalls besondere Verstandessynthesen ins Unbedingte steigerbar sein, und sollte nicht zwar so etwas wie unbedingte Kausalität, nicht jedoch so etwas wie unbedingte Relation als sinnvoll erscheinen? Zweitens bliebe in diesem Fall rätselhaft, wieso Kant in den beiden Tafeln psychologischer und kosmologischer Ideen durchaus ganz bestimmte Kategorien (z.B.: „Vielheit", „Dasein" (A404)) hervorhebt und nicht etwa Titel von Kategoriengruppen („Quantität", „Qualität",...). Wenn sich die Sache nach Miles' Vorschlag andererseits aber so verhalten sollte, dass mit „jeder Art der Verstandessynthesis" alle 12 Kategorien angesprochen werden und jede so verstandene Art der Verstandessynthesis „in dreifacher Schlußart" ins Unbedingte gesteigert werden, dann ergeben sich nach seiner Ableitungsskizze 36 transzendentale Ideen - im Falle der Existenz paarweise antinomischer Grundsätze sogar noch mehr. Und selbst wenn es der Fall sein sollte, dass die nach dieser Strategie gewonnenen Ideen teilweise identisch sind, so dass sich ihre tatsächliche Anzahl auf 12 bzw. 16 (wenn es vier psychologische, vier theologische und acht kosmologische „Grundsätze" resp. Ideen geben sollte) reduziert, dann scheint es doch äußerst unwahrscheinlich zu sein, dass Miles diese Möglichkeit überhaupt vor Augen hat. Ob es also Miles zufolge entweder vier oder aber zwölf „Arten der Verstandessynthesis" gibt - sein Vorschlag wirft entweder ernst zu nehmende sachliche oder aber bereits kombinatorische Schwierigkeiten auf.
73
Eine Hypothese zur Struktur der subjektiven Deduktion
1.2
Eine Hypothese
zur Struktur der subjektiven transzendentalen Ideen
Deduktion
der
Nicht zuletzt aufgrund der genannten Schwierigkeiten des Vorschlags von Miles gehen wir im Folgenden davon aus, dass es nicht die Trias der Vernunftfunktionen - kategorischer, hypothetischer und disjunktiver Vernunftschluss - ist, die bei der Entfaltung der Topologie des Systems der transzendentalen Ideen eine ausgezeichnete Rolle spielt, sondern vielmehr die Trichotomie der Gegenstandsbereiche möglicher Vorstellungen. Unsere zweite Interpretationshypothese besteht in der folgenden Deduktionsskizze: Ausgangspunkt der Ableitung aller transzendentalen Ideen soll das oberste Prinzip der reinen Vernunft sein, welches zum Bedingten das Gegebensein der Totalität der Ubergeordneten Bedingungen fordert. Die Grundstruktur der Ableitung aller Ideen wird der Schlussform des modus ponendo ponens folgen, was seinen Grund schlicht darin hat, dass bereits das von Kant so genannte „oberste Principium" der reinen Vernunft: „Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Summe der Bedingungen, mithin das schlechthin Unbedingte gegeben" (A409/B436) von hypothetischer Form ist. 100 Der Einteilung der Vorstellungsbezüge im „System der transzendentalen Ideen" (vgl. A334/B391) resp. der Einteilung des „Allgemeinen der Bedingungen des Denkens" (A396 f.) folgend werden a) Zustände des denkenden und empfindenden Subjekts, d.h. „Gedanken überhaupt" b) Gegenstände „als (äußerer) Erscheinungen", d.h. Gegenstände des „empirischen Denkens" und c) Gegenstände als „Gegenstände des Denkens überhaupt", d.h. des „reinen Denkens" als bedingt betrachtet. Des Weiteren sollen die jeweils beliebigen(!) Gegenstände dieser Klassen samt ihrer quantitativen, qualitativen, relationalen und modalen Bestimmungen der totalen Bedingtheit unterworfen werden. Die transzendentalen Ideen stellen sich nach dieser Überlegung also als Begriffe von selbst unbedingten Bedingungstotalitäten von quantitativ/ qualitativ/ relational/ modal bestimmten Gegenständen der drei Klassen a), b) und c) heraus. Wie bereits denjenigen von Miles wollen wir auch unseren Vorschlag in Gestalt einer logische Dekomposition des Begriffs der Totalität der Bedingungen eines bedingt Gegebenen schematisch darstellen:
100
Bei dieser Hypothese handelt es sich um die Extrapolation der Deduktionsskizze für kosmologische Ideen, die Kant im 7. Abschnitt des Antinomiehauptstücks „Kritische Entscheidung des kosmologischen Streits der Vernunft mit sich selbst" (A497/B525 ff.) gibt.
74
Einführung zw eier Interpretationshypothesen
Totalität der Bedingungen
objektiven Gegenstandes
subjektiven Zustandes (Gedankens
überhaupt)
als äußerer Erscheinung (des empirischen quant. quak
des Denkens überhaupt
Denkens)
(des reinen
Denkens)
rel. mod. als
als
bestimmtem
I
I
Γ
quant. qual.
rel. mod.
bestimmtem
Γ
quant. quak
rel. mod.
bestimmtem
Es sei an dieser Stelle hervorgehoben, dass die jeweils „ins Unbedingte erweiterte" Kategorie nicht in jedem Einzelfall bereits im Zuge der Ableitung der jeweiligen Idee - weder von Kant noch von uns - explizit gemacht wird. Daher wollen wir jeweils im Anschluss an die geleistete Deduktion der Ideen zeigen, wie diese sich gemäß der oben vorgestellten Hypothese (H4) ein-eindeutig auf die Kategorien beziehen lassen, d.h. wie sich jede „ins Unbedingte erweiterte Kategorie" als genau eine psychologische, kosmologische oder theologische Idee vermeintlich konkretisiert. Die Vollständigkeit des Systems der transzendentalen Ideen beruht auf der obigen vollständigen logischen Dekomposition des Begriffs der „Totalität von Bedingungen eines gegebenen Bedingten" und ist damit klar genug dargelegt, um gegen eine bloß immanente Kritik immun zu sein. Wenn sich darüber hinaus zeigen lassen sollte, dass die transzendentalen Ideen „eigentlich nichts, als bis zum Unbedingten erweiterte Kategorien" (A409/B436) sind, dann ist der Prüfer der Vollständigkeit des Systems der Ideen zurück verwiesen auf das Kategoriensystem und damit schließlich auf die kantische Urteilstafel. Einen Vollständigkeitsbeweis für letztere hat Michael Wolff 1 0 1 rekonstruiert, gegen den wohl allenfalls Einwände von außen erhoben werden können.
101
Wolff 1995
2 Das System der kosmologischen Ideen
2.1
Die subjektive
Deduktion
der kosmologischen
Ideen
Nicht nur weil es sich bei unseren beiden Interpretationshypothesen um Extrapolationen von Behauptungen handelt, die Kant im „System der kosmologischen Ideen" bzw. im 7. Abschnitt des Antinomie-Hauptstücks formuliert, arbeiten wir die drei Hauptstücke der TD in veränderter Reihenfolge ab und beginnen mit der Kosmologieproblematik. Zudem wird sich zeigen, dass die Rekonstruktion des Kosmologie-Hauptstücks bereits lückenlos durch die Oberfläche des Textes abgedeckt wird, während sie beim Paralogismen-Hauptstück teilweise zunächst unabhängig vom Gang des kantischen Textes durchgeführt werden muss. Letzteres wird dann ebenso und in höherem M a ß e für das „Ideal der reinen Vernunft" gelten. Bereits der letzte Absatz vor dem „System der kosmologischen Ideen" enthält eine Einleitung in diesen Textabschnitt sowie eine allgemeine Erklärung der kosmologischen Ideen bzw. „Weltbegriffe": „Ich n e n n e alle t r a n s z e n d e n t a l e Ideen, sofern sie die absolute Totalität in der Synthesis der E r s c h e i n u n g e n b e t r e f f e n , Weltbegriffe, teils w e g e n e b e n dieser u n b e d i n g ten Totalität, w o r a u f auch der Begriff des W e l t g a n z e n beruht, der selbst n u r eine Idee ist, teils weil sie lediglich auf die Synthesis der E r s c h e i n u n g e n , mithin die empirische, gehen [...]." ( A 4 0 7 f . / B 4 3 4 )
Kant benennt hier zwei Eigenschaften aller „Weltbegriffe", nicht etwa wird eine Eigenschaft einiger Weltbegriffe einer Eigenschaft einiger anderer Weltbegriffe gegenübergestellt. 1 0 2 Diese beiden Eigenschaften sind die folgenden: Als transzendentale Ideen sind die kosmologischen Ideen Begriffe von Bedingungstotalitäten. Als spezifisch kosmologische Ideen sind sie Begriffe von Bedingungstotalitäten, welche die Vernunft hervorbringt, wenn sie Gegenstände bzw. Ereignisse der äußeren Erfahrungswirklichkeit („weil sie [d.h. die Ideen] lediglich auf die Synthesis der Erscheinungen, mithin die empirische [Synthesis] gehen") ihrer genuinen Forderung nach Vollständigkeit der Bedingungen unterwirft.
102
Es handelt sich hier um eine Erklärung der Weltbegriffe im weiteren Sinn, nicht etwa um die Weltbegriffe i.e.S. im Unterschied zu den „Naturbegriffen". Ursprüngliche Weltbegriffe i.e.S. sind die ersten beiden kosmologischen Ideen als Begriffe des „Mathematischunbedingten ", elementare „Naturbegriffe" sind die letzen beiden kosmologischen Ideen als Begriffe des „Dynamischunbedingten" (vgl. A420/B448).
Das System der kosmologischen Ideen
76
Von entscheidender Bedeutung für den Fortgang unserer Rekonstruktion der subjektiven Deduktion kosmologischer Ideen ist der durch den Plural „Erscheinungen" angedeutete Sachverhalt, dass die Vernunft die Weltbegriffe ausgehend von beliebigen, singulären Erscheinungen, d.h. Gegenständen und Ereignissen der äußeren phänomenalen Wirklichkeit erschließt. Die im Folgenden deduzierten Weltbegriffe werden also in erster Instanz nicht Begriffe von Eigenschaften der Welt sein - selbst wenn sie auf teils künstliche Weise als solche formulierbar sind 103 - , sondern Begriffe unbedingter Bedingungen von Dingen, Ereignissen, Zuständen der Welt. Die Grundstruktur einer Ableitung der kosmologischen Ideen gibt Kant dem Leser geradezu nebenbei im 7. Abschnitt der „Antinomie der reinen Vernunft" an die Hand, welcher „Kritische Entscheidung des kosmologischen Streits der Vernunft mit sich selbst" (A497/B525 ff.) betitelt ist. Im ersten Absatz dieses Textabschnitts knüpft Kant unmittelbar an die Deduktionsstrategie der Einleitung zur TD an und suggeriert eine Ableitungsstruktur gemäß der Schlussform des modus pon endo
ponens: „Die ganze Antinomie der reinen Vernunft beruht auf dem dialektischen Argumente: Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Reihe aller Bedingungen desselben gegeben: Nun sind uns Gegenstände der Sinne als bedingt gegeben, folglich etc. Durch diesen Vernunftschluß, dessen Obersatz so natürlich und einleuchtend scheint, werden nun, nach Verschiedenheit der Bedingungen (in der Synthesis der Erscheinungen), so fern sie eine Reihe ausmachen, eben so viel kosmologische Ideen eingeführt, welche die absolute Totalität dieser Reihen postulieren und eben dadurch die Vernunft unvermeidlich in Widersprüche mit sich selbst versetzen." (A497/B525; Hervorhebungen von N.K.)
Der Leser fragt sich, warum Kant dies erst im 7. Abschnitt der Antinomie zur „Entscheidung des Streits" nachträgt, während der systematische Ort dieser Gedanken doch bereits das „System der kosmologischen Ideen" sein dürfte, welches sich um die systematische Konstitution sowohl der kosmologischen Ideen als auch der kosmologischen Widerstreite bemüht. Als Konklusion des zitierten „dialektischen Arguments" können wir zunächst ergänzen: „Folglich ist die ganze Reihe von [einander übergeordneten] Bedingungen der Gegenstände der Sinne gegeben", bevor wir den Kommentar dieses einschlägigen Textabschnitts für unser Ziel einer Rekonstruktion der Ableitung aller kosmologischen Ideen dienstbar machen wollen.
103
Wir denken hier insbesondere an die zweite kosmologische Idee der „absoluten Vollständigkeit der Teilung eines gegebenen Ganzen in der Erscheinung" (A415/B443), die nur artifiziell als Idee vom „Weltinhalt" (so z.B. Kuno Fischer 1889, S. 513) aufgefasst werden kann. Was Josef Schmucker 11990, S. 92) Uber den Begriffsinhalt der kosmologischen Ideen mitteilen will, bleibt unklar, wenn er schreibt, „daß sie das Weltganze bezeichnen".
Die subjektive Deduktion der kosmologischen Ideen
77
Unter den Gegenständen „der Sinne" sind hier Gegenstände der äußeren Erscheinung resp. der Welterfahrung zu verstehen. Erstens zeigt dies der Plural „Sinne" an, wodurch Gegenstände ausgeschlossen werden, die allein Gegenstände des singulär konzipierten inneren Sinns 104 sind. Dass wir mit Kant im Rahmen der Kosmologieproblematik ausschließlich nach unbedingten Bedingungen von von mir verschiedenen Gegenständen fragen, ist weiterhin aufgrund der im „System der transzendentalen Ideen" vollzogenen systematischen Konstruktion ersichtlich, nach der wir uns im Kosmologie-Hauptstück innerhalb des ersten Asts der Untereinteilung möglicher Vorstellungsbezüge (1. „aufs Subjekt", 2. „auf Objekte als Erscheinungen oder als Gegenstände des Denkens überhaupt"; vgl. A333/B390 f.) bewegen. Wenn Kant schreibt, die ganze Antinomie der reinen Vernunft beruhe auf obigem Argument, so bezieht sich diese Rede sowohl auf die Faktizität des „Zustandfs] der Vernunft" (A340/B398), mit sich selbst im Widerstreit zu sein, der für Kant ein „Phänomen der menschlichen Vernunft" (A407/B433) darstellt, als auch auf den tatsächlichen Gehalt der sich widerstreitenden Behauptungen. Da in den Thesen und Antithesen der „Antinomie" nichts anderes ausgesprochen wird als jeweils widerstreitende Konkretisierungen der vier kosmologischen Ideen, wie sie in der Tafel vorgestellt werden, liegt es also mehr als nahe, im „dialektischen Argumente" des Zitats die Grundstruktur einer subjektiven Deduktion der kosmologischen Ideen zu erkennen. Kant zufolge ergeben sich gewisse Spezifikationen des Obersatzes, des Untersatzes, wie auch der Konklusion, wenn die Bedingungsrelation auf verschiedene Weise („nach Verschiedenheit der Bedingungen") gedacht wird. Was soll es allerdings bedeuten, die Bedingungsrelation - Uber den rein logischen Unterschied zwischen hinreichenden und notwendigen Bedingungen hinaus - als verschieden zu denken? Wir haben nicht nur keine gute Antwort auf diese Frage, sondern glauben, dass sie bereits falsch gestellt ist. Unser Vorschlag besteht darin, nicht
1CU
Unter den Gegenständen des inneren Sinns sind je nach Interpretation entweder Empfindungen sowie Gedanken als Zustände des denkenden Subjekts zu verstehen oder, wenn es nur einen einzigen „Gegenstand des inneren Sinns" gibt, die Seele als bereits substantialisierter Träger der Gedanken. Die erste Interpretation muss freilich von einem sehr weit gefassten Gegenstandsbegriff ausgehen: ein Gegenstand wäre demnach alles, worauf sich das Bewusstsein zu richten vermag, also auch Schmerzen, Wünsche etc. Letztere Interpretation wird gestützt durch eine Textstelle aus dem Paralogismenkapitel, wo Kant den „Körpern" als Gegenständen der äußeren Sinne die „Seele" als Gegenstand des inneren Sinns gegenüberstellt: „ I c h , als denkend, bin ein Gegenstand des innern Sinnes, und heiße Seele. Dasjenige, was ein Gegenstand äußerer Sinne ist, heißt Körper" (A342/B400). Wenn Kant dort unter Gegenständen der äußeren Sinne ausschließlich „Körper" versteht, so widerspricht dies nur scheinbar unserer Interpretation, nach der unter Gegenständen sowohl die materiellen Gegenstände der Erfahrung als auch Ereignisse der Erfahrung bzw. Zustände der „Welt" zu verstehen sind. Es liegen hier einmal mehr verschiedene Gegenstandsbegriffe vor: erstere (materielle Körper) können wir Gegenstände der Erfahrung i.e.S. nennen, letztere als Gegenstände der Erfahrung i.w.S. auffassen.
78
Das System der kosmologisehen Ideen
den Versuch zu machen, die Relation „x bedingt y" in verschiedenen Bedeutungen aufzufassen, was auch überhaupt nicht nötig ist, sondern verschiedene Bestimmungen des unter gewissen Bedingungen stehenden „Bedingten" als bedingt aufzufassen. Wird „das Bedingte" als quantitativ, qualitativ, relational und modal bestimmt gedacht, so sind eben diese kategorialen Bestimmungen gleichsam Bedingungen unterworfen. Anstatt die Bedeutung der Bedingungsrelation als solcher zu variieren, betrachten wir also besser verschiedene Sachverhalte als bedingt. Und eben diese Sachverhalte handeln von den elementaren Eigenschaften der „Gegenstände der Sinne", die mittels des kategorialen Instrumentariums bestimmt werden. Die Spezifikation der Bedingungsrelation hat nach Kants Anleitung in vierfach variierter Weise zu geschehen, weil es ihm zufolge gerade jene vier Dimensionen von Bestimmungen gibt, die den vier Gruppen von Urteilsfunktionen korrespondieren. Diese vierfache Spezifikation ist also nicht „künstlich" dem uns vorliegenden Ziel der subjektiven Deduktion, d.h. der Tafel der kosmologischen Ideen von A415/B443 angepasst, sondern ergibt sich aus Kants Konzeption des reinen Verstandes mit systemimmanenter Notwendigkeit. Bei den sich nach dieser Anleitung ergebenden vier hypothetischen Obersätzen wird es sich um einige der ,,verschiedene[n] synthetische[n] Sätze" handeln, „wovon der reine Verstand [i.e.S.] nichts weiß" (A308/B364 f.), welche Kant zufolge aus dem obersten Prinzip der reinen Vernunft „entspringen" sollen. 105 Und es sind auch diese Obersätze hypothetischer Struktur - und nicht etwa die Existenzbehauptungen der Thesen sowie deren Negationen in den Antithesen - , die Kant als „die transzendentalen Grundsätze einer vermeinten reinen (rationalen) Kosmologie" in der programmatischen Einleitung zum Antinomie-Hauptstück anspricht: „[...] so wird die A n t i n o m i e der reinen V e r n u n f t die t r a n s z e n d e n t a l e n G r u n d s ä t z e einer v e r m e i n t e n reinen (rationalen) K o s m o l o g i e vor A u g e n stellen, nicht, u m sie gültig zu f i n d e n u n d sich z u z u e i g n e n , sondern, wie es auch s c h o n die B e n e n n u n g v o n e i n e m W i d e r s t r e i t d e r V e r n u n f t anzeigt, u m sie als eine Idee, die sich mit Ers c h e i n u n g e n nicht vereinbaren läßt, i h r e m b l e n d e n d e n S c h e i n e darzustellen." ( A 4 0 8 / B 4 3 5 )
Die fehlende Bereitschaft Kants, jene Grundsätze „gültig zu finden", ist die natürliche Konsequenz aus seiner Ablehnung des allgemeinen „obersten Prinzips der reinen Vernunft", da es sich bei jenen Grundsätzen ja gerade um Spezifikationen desselben handelt. Es mag verwundern, dass in die folgende Rekonstruktion der Ableitung der kosmologischen Ideen das anmaßende und für die metaphysischen Illusionen verantwortliche oberste Prinzip der reinen Vernunft als schwergewich103
Dass diese Spezifikationen des synthetischen Grundsatzes bereits in der Einleitung zur transzendentalen Dialektik antizipiert sind, kann zum Argument gegen die These von Smith [1923, S. 478] ausgebaut werden, das „System der kosmologischen Ideen" sei älteren Ursprungs als die Einleitung zur transzendentalen Dialektik.
Die subjektive Deduktion der kosmologischen Ideen
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tige Prämisse eingehen wird, da Kant immer wieder auf dem Unterschied zwischen dem Charakter der Ideen als Ideen und der Annahme vom Gegebensein und der Erkennbarkeit korrespondierender Gegenstände insistiert. Wir sind uns also bewusst, dass wir aus kantischer Perspektive zuviel erschließen werden. Die korrekte, gewissermaßen scheinfreie Version des obersten Prinzips rationaler Kosmologie, die Kant zufolge nur als regulative Ideenlehre möglich ist, lautet: Wenn das Bedingte gegeben ist, dann ist der Vernunft die ganze Reihe seiner übergeordneten Bedingungen (als ein Problem) aufgegeben. Der kritischen Vernunft, die die Vollständigkeit der Bedingungsreihen als ihre Aufgabe erkennt, genügt die Annahme dieses schwächeren Konditionals. Sie erschließt die ihr als Brennpunkte der Erkenntnis ( , f o c i iniaginarii", vgl. A644/B672) dienenden regulativen Ideen lediglich als solche hausgemachten Aufgaben bzw. Probleme. Da die Ableitungs.s?ni/cfi/r durch die zugegebenermaßen sachlich entscheidende Korrektur des obersten Prinzips unverändert bleibt und sich nur unter der Annahme des fehlerhaften Prinzips zusätzlich (nämlich unter Investition der Dichotomie von Endlich- bzw. Unendlichkeit der Reihe von Bedingungen, doch dazu Genaueres weiter unten) die Thesen und Antithesen der vier kosmologischen Widerstreite ableiten lassen, womit die systematische Entfaltung elementarer, rationalkosmologischer Ideenlehre abgeschlossen wird, entscheiden wir uns für die Rekonstruktion auf der Grundlage jenes unkritischen Prinzips. Die sinnvolle Explikation der Spezifikationen des obersten Prinzips erfordert ein Verständnis dessen, was es bedeutet, bestimmte fundamentale Eigenschaften der „Gegenstände der Sinne" als bedingt zu betrachten. In der Hoffnung, dass uns dies im Folgenden gelingt, zeichnen wir den Weg der Deduktion der vier in der „Tafel" von A415/B443 verzeichneten kosmologischen Ideen schließlich, bis hin zu den vier Paaren widerstreitender Behauptungen, nach.
2.1.1 Die erste kosmologische Idee Die kosmologische Spezifikation des allgemeinen Vernunftprinzips, welches das Gegebensein der „Summe" bzw. „Totalität" von Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten fordert, lautet dem als ,Jieihe der Erscheinungen" gefassten Weltbegriff entsprechend:
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(PK) Wenn das Bedingte gegeben ist, dann ist auch die ganze Reihe einander übergeordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gegeben. 1 0 6 Der kosmologischen Perspektive folgend wird nicht die ganze „Sinnenwelt" als bedingt betrachtet, sondern die besonderen Gegenstände derselben. Es scheint uns gerade der oder zumindest ein Witz der kantischen Kritik der rationalen Kosmologie zu sein, dass Kosmologie dann aufhört, Kosmologie zu sein, wenn sie die Betrachtung weltimmanenter Relationen zugunsten der Objektivierung der Welt selbst aufgibt. U m dies in aller Deutlichkeit zu sagen: Es soll vollkommen gleichgültig sein, was für einen Gegenstand der äußeren Erscheinung wir mit Kant in verschiedenen Hinsichten als bedingt betrachten. Der metaphysischen Intention der reinen Vernunft folgend, die ihren Ausdruck im „obersten Prinzip" derselben findet, bringen wir die kosmologischen Ideen zwangsläufig hervor, wenn wir ausgehend von einem beliebigen Gegenstand die Vollständigkeit seiner Bedingungen fordern. Das scheint eindeutig aus dem Text hervorzugehen, wenn Kant schreibt, dass die Vernunft „zu einem gegebenen Bedingten auf der Seite der Bedingungen [...] absolute Totalität fordert [...]." (A409/B436, Hervorhebung von N.K.); oder an anderer Stelle: „Es werden hier also Erscheinungen [Plural!] als gegeben betrachtet [...]" (A416/B443). Als erste, sozusagen quantitative Spezifikation von (PK) formulieren wir: (PK1)
Wenn ein quantitativ bestimmter Gegenstand der äußeren Erscheinung gegeben ist, dann ist auch die ganze Reihe der einander übergeordneten Bedingungen seiner quantitativen Bestimmungen gegeben.
Ein Gegenstand i.w.S. der äußeren Erscheinung ist nur insofern quantitativ bestimmbar, als er zeitlich oder sogar räumlich und zeitlich verfasst ist. So ist etwa ein wahrgenommener Ton, der zwar einer äußeren Schallquelle zugeordnet werden mag, jedoch selbst kein räumliches Phänomen ist, ein in seiner Zeitdauer bestimmbares Ereignis und somit ein quantitativ bestimmbarer Gegenstand im weiteren Sinn. Die materiellen Körper der äußeren Wahrnehmung hingegen sind Gegenstände sowohl des Raums als auch der Zeit. Die beiden Dimensionen quantitativer Bestimmung von äußeren Gegenständen also sind Zeit und Raum. Und deshalb sondert Kant, wenn es um den Bezug resp. die „Gegenstände" der ersten kosmologischen Idee geht, auch nicht eine der Quantitätskategorien aus, sondern „die zwei ursprünglichen quanta aller unserer Anschauung, Zeit und R a u m " (A411/B438).
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Um die Ableitung der kosmologischen Ideen möglichst transparent zu machen, werden wir den im Relativsatz von (PK) ausgesprochenen Sachverhalt, dass eine Totalität von Bedingungen jederzeit als unbedingt zu betrachten ist, in die Spezifikationen von (PK) nicht Ubernehmen.
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Josef Schmucker erkennt eine Schwäche und Pseudo-Systematik verratende Schieflage darin, „dass die grundlegenden mathematisch kosmologischen Ideen entscheidend durch die Dimensionen von Raum und Zeit bestimmt werden und nicht durch die Kategorien der Quantität und Qualität als solche."' 0 7 Hier muss Schmucker geantwortet werden, dass durch reine Kategorien („als solche") material überhaupt nichts vorgestellt wird. Quantität in der äußeren Erscheinung gibt es nur als raum-zeitlich strukturierte Quantität. Schmucker scheint bemängeln zu wollen, dass durch die Bezugnahme auf Raum und Zeit eine Bezugnahme auf bestimmte Kategorien - Kants Aussonderungskriterium der Reihe (vgl. A409/ B436) war schließlich als eines für Kategorien gedacht - überflüssig gemacht werde. Will Schmucker etwa behaupten, dass sich Raumganzes oder Zeitreihe denken lassen, ohne von Quantitätskategorien Gebrauch zu machen? Schmucker scheint hier die Anschauungsform des Raums und dem „Begriff des Raumes" (A23/B38) zu verwechseln. Entgegen seiner Ansicht ist es doch gerade nicht der Fall, dass „die Formprinzipien der sinnlichen Anschauung Raum und Zeit, als diese quanta continua" (d.h. als solche) bereits „eine Reihe implizieren". Erst der Verstand denkt die quanta continua als Größen und im Rahmen sukzessiver Vorstellungsakte insbesondere als „Reihen". 1 0 8 Dass Kant nicht explizit eine Quantitätskategorie aussondert, bedeutet also keineswegs, dass das Denken von Raumund Zeitganzem nicht den Gebrauch von bestimmten Kategorien einschließt. Daher sind wir auch nicht genötigt, die unserer Interpretationshypothese zugrunde liegende Rede von den transzendentalen Ideen als ins Unbedingte erweiterten Kategorien bereits an dieser Stelle für die erste kosmologische Idee aufzugeben. Nicht die Gegenstände der Ideen, sondern die angestrengten Verstandeshandlungen beim Denken dieser Gegenstände stellen den Bezug zu den Kategorien her. Während Raum- und Zeitganzes die Gegenstände der ersten kosmologischen Idee sein werden, soll weiter unten gezeigt werden, inwiefern die sukzessiv angestrengte Synthesis gemäß der Kategorie der „Vielheit" auf die erste kosmologische Idee resp. deren Spezifikationen führt. Da erstens die Zeit „an sich selbst eine Reihe" (A411/B438) ist und zweitens der vollständige Regressus der Bedingungen von der Vernunft gefordert wird, kann die Zeitreihe in rückwärtiger Richtung als Reihe von Bedingungen dafür aufgefasst werden, dass ein wahrgenommener Gegenstand als zeitlich - genauer: in der Gegenwart - wahrgenommen wird. Die zweite Dimension quantitativer
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Schmucker 1990, S. 98 f. Schmuckers Fazit: „Die .transzendentalen Fragen' resultieren vielmehr aus dem spezifischen Charakter von Raum und Zeit und nicht daraus, dass sie als quanta continua unter die Kategorie der Quantität subsumiert werden können" (S. 100) kann unabhängig davon, dass „Quantität" für Kant keine besondere Kategorie, sondern der Titel einer Kategoriengruppe ist, also nicht zugestimmt werden. Was soll der „spezifische Charakter von Raum und Zeit" überhaupt sein, unabhängig von einem Denken desselben durch die Kategorien?
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B e s t i m m u n g , der R a u m , scheint sich einer S u b s u m p t i o n unter den Begriff einer „Reihe von B e d i n g u n g e n zu e i n e m gegebenen B e d i n g t e n " zu entziehen: „Was aber den Raum betrifft, so ist in ihm selbst kein Unterschied des Progressus vom Regressus, weil er ein A g g r e g a t , aber k e i n e R e i h e ausmacht, indem seine Teile insgesamt zugleich sind." (A412/B439) Dass Kant z u f o l g e die Zeit „die formale B e d i n g u n g aller R e i h e n " ( A 4 1 1 / B 4 3 8 ) ist, scheint zu implizieren, dass eine Mannigfaltigkeit resp. eine M e n g e nur dann als „ R e i h e " a u f g e f a s s t werden kann, wenn die Glieder der R e i h e nicht „zugleich" sind. Danach macht erst das sukzessive A u f f a s s e n b z w . Apprehendieren der E l e m e n t e einer M e n g e j e n e E l e m e n t e auch zu den Gliedern einer Reihe. 1 0 9 U m bezüglich des „ A g g r e g a t s " des R a u m e s also doch von einer R e i h e sprechen zu können, m u s s Kant daher v o m Raum selbst auf die Apprehension des R a u m s ü b e r g e h e n : " 0 „Allein die Synthesis der mannigfaltigen Teile des Raumes, wodurch wir ihn apprehendieren, ist doch sukzessiv, geschieht also in der Zeit und enthält eine Reihe." (A412/B439) Obwohl Kant seinem Aussonderungskriterium („Reihe") f ü r kosmologische Ideen meint n a c h k o m m e n zu müssen und daher die sukzessive Apprehension des R a u m s und nicht den R a u m selbst zu thematisieren scheint, ist es letztlich doch der R a u m in e i g e n e m Recht, um welchen es im Folgenden geht. Ein R a u m , welcher einen beliebigen räumlich begrenzten Gegenstand umschließt, wird als B e d i n g u n g für die räumliche A u s d e h n u n g resp. Begrenztheit j e n e s G e g e n s t a n d e s aufgefasst: „Und da in dieser Reihe der aggregierten Räume [...] von einem gegebenen an, die weiter hinzugedachten immer die B e d i n g u n g v o n d e r G r e n z e der vorigen sind, so ist das M e s s e n eines Raumes auch als eine Synthesis einer Reihe der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten anzusehen, nur daß die Seite der Bedingungen, von der Seite, nach welcher das Bedingte hinliegt, an sich selbst nicht unterschieden ist, folglich regressus und progressus im Räume einerlei zu sein scheint. Weil indessen ein Teil des Raums nicht durch den andern gegeben, sondern nur begrenzt wird, so müssen wir jeden begrenzten Raum in so fern auch als be-
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Es handelt sich um eine bemerkenswerte Konsequenz aus der kantischen Lehre von der Subjektivität der Zeit („Anschauungsform"), dass es keine Subjekt-unabhängigen Reihen gibt, sondern jede Reihe eine vom erkennenden Subjekt konstruierte Reihung ist. 110 Die Tatsache, dass es zwar „die Zeit selbst" ist, während es nicht etwa der Raum selbst, sondern die sukzessive Apprehension desselben ist, die als Reihe zu betrachten ist, ist in der Sekundärliteratur vielfach bemerkt und als Inkonsequenz ausgelegt worden. Wenn man bedenkt, dass es das Reihenprinzip ist, welches Kant zu diesem Wechsel von objektivistischer Rede (Zeit selbst) hin zur subjektivistischen „Apprehension" veranlasst, dann stellt sich die Frage, ob es nicht glücklicher gewesen wäre, wenn Kant auch in der Kosmologie bei der Rede von einer gewissermaßen zeitlosen „Summe von Bedingungen" geblieben wäre.
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dingt ansehen, der einen andern Raum als die Bedingung seiner Grenze und so fortan."
83 voraussetzt,
( A 4 1 2 / B 4 3 9 f.; Hervorhebung von N.K)
Weil Grenzen im R a u m gezogen werden, setzt ein begrenzter R a u m einen anderen, jenseitigen voraus. Z u j e d e m als bedingt betrachteten, begrenzten, z u s a m m e n h ä n genden Raumteil ist also ein größerer, umschließender R a u m a n z u n e h m e n , der jenen Teil in seiner Begrenztheit bedingt. W ä h r e n d es zunächst so schien, als seien Raumteile einander nicht untergeordnet, sondern beigeordnet und somit „ein Teil nicht die B e d i n g u n g der Möglichkeit des a n d e r n " ( A 4 1 2 / B 4 3 9 ) , scheint nun doch eben dies zu gelten. D e r scheinbare Widerspruch lässt sich durch den Hinweis auflösen, dass die „Teile" des R a u m e s hier in verschiedenen Bedeutungen auftreten. E i n m a l ist an eine disjunkte Zerlegung in „Teile" des bereits als vollständig gegeben vorgestellten R a u m s gedacht. N u r so vorgestellt sind die Teile des R a u m s „beigeordnet", und auch nur so vorgestellt ist der R a u m „Aggregat". Das andere Mal nähert m a n sich der Vorstellung eines als Objekt fassbaren R a u m g a n z e n sukzessiv resp. konstruktiv. Ausgehend von j e d e m Teilraum, der von einem beliebigen G e g e n s t a n d der äußeren Erscheinung ausgefüllt wird, führt die Reihe einander umschließender R ä u m e zu der Vorstellung des R a u m g a n z e n . Die „Teile" des R a u m s haben in zweiter B e d e u t u n g gewissermaßen den Status eines vorläufigen R a u m g a n z e n . Sie stehen - anders als die Teile eines Aggregats - zueinander im Inklusionsverhältnis und sind in eben diesem Sinne „einander untergeordnet". Und in eben letzter B e d e u t u n g der Raumteile gilt auch für Kant: Begrenzte Teile des R a u m s setzen größere, j e n e umschließende R ä u m e als B e d i n g u n g e n v o r a u s 1 " , weil Grenzen im Raum gezogen werden. Das „Principium der reinen V e r n u n f t " fordert nun nicht bloß jeweils die potentiell infinit fortsetzbare R e i h u n g von Bedingungen, sondern jeweils das Gegebensein der vollständigen R e i h e von Bedingungen. Also fordert es in der ersten Spezifikation (PK1) zu e i n e m beliebigen räumlich begrenzten Gegenstand der äußeren Erscheinung, der auch ein Gegenstand in der Zeit ist 112 , das Gegebensein der vollständigen Zeitreihe in rückwärtiger Richtung als B e d i n g u n g seiner zeitlichen so-
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Kant besteht hier nicht darauf, dass das Apprehendieren von begrenzten Räumen die mögliche Apprehension von umschließenden Räumen voraussetzt, selbst wenn dies ebenfalls wahr zu sein scheint. Heimsoeth schwankt zwischen der Bedingtheit von Räumen in eigenem Recht und der Bedingtheit vom Gegebensein resp. der Apprehension derselben: „Wo ich auch ansetze mit der räumlichen Weltbetrachtung: der Teilabschnitt, von welchem ich ausgehe, kann nicht bestehen in seiner Anschauungsgegebenheit ohne das zunächst Angrenzende oder Umschließende." (Heimsoeth 1966 II, S. 206). Nach unserer Lesart behauptet Kant soviel wie „Teilräume setzen umschließende Räume voraus", nach einer alternativen soviel wie „Die Apprehension von Teilräumen setzt die Apprehension von umschließenden Räumen voraus". Heimsoeth scheint doch zu lesen: „Die Apprehension von Teilräumen setzt Räume voraus, die jene umschließen". 112 Das Umgekehrte, dass nämlich Gegenstände der Zeit stets auch räumliche Gegenstände sind, gilt nicht (man denke z.B. an Töne), was die Priorität der Zeitform für das Bewusstsein bzw. die Universalität der Zeit als Form des inneren wie äußeren Sinns demonstriert.
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wie das Gegebensein des Raumganzen als Bedingung seiner räumlichen Konstitution: (1) Wenn uns Gegenstände in Zeit und Raum gegeben sind, dann ist uns auch a) die vollständige Zeitreihe in rückwärtiger Richtung und b) der ganze Raum gegeben. Wenn wir die Prämisse „Nun sind uns Gegenstände der Sinne als bedingt gegeben" (A497/B525) entsprechend spezifizieren als: (2) Nun sind uns quantitativ bestimmte Gegenstände der äußeren ErscheiNung, d.h. Gegenstände in Zeit und Raum gegeben, dann folgt nach der Schlussregel des modus ponendo ponens: (3) Also ist uns a) die vollständige Zeitreihe in rückwärtiger Richtung und b) der vollständige Raum gegeben. Auf diese Weise sind die Ideen von der vollständig „verflossenen" (A418/B446) Zeitreihe und des vollständigen Raums aus dem „obersten Prinzip der reinen Vernunft" deduziert. Als Begriffe von Bedingungstotalitäten der quantitativen Verfassung von Gegenständen der äußeren Erscheinung sind diese Ideen selbst Variationen der Idee des Unbedingten. Kant fährt fort: „ D i e s e s U n b e d i n g t e kann m a n sich n u n g e d e n k e n , e n t w e d e r als b l o ß in der g a n z e n R e i h e b e s t e h e n d , in der also alle G l i e d e r o h n e A u s n a h m e bedingt und nur das G a n ze derselben schlechthin unbedingt wäre, u n d d e n n heißt der R e g r e s s u s unendlich; o d e r das absolut U n b e d i n g t e ist nur ein Teil der Reihe, d e m die übrigen Glieder d e r s e l b e n untergeordnet sind, der selbst aber u n t e r keiner anderen B e d i n g u n g steht. In d e m ersteren Falle ist die Reihe a parte priori o h n e G r e n z e n (ohne A n f a n g ) , d.i. u n e n d l i c h , und gleichwohl ganz gegeben, d e r R e g r e s s u s in ihr aber ist niemals vollendet, u n d k a n n nur potentialiter u n e n d l i c h g e n a n n t w e r d e n . Im zweiten Falle gibt es ein Erstes der Reihe, w e l c h e s in A n s e h u n g der v e r f l o s s e n e n Zeit der Wellanfang, in A n s e h u n g des R a u m e s die Weltgrenze [...] heißt." ( A 4 1 7 / B 4 4 5 f.) 11 ' 1
Die Dichotomie („entweder...oder"): Reihe endlich - Reihe unendlich spezifiziert das Unbedingte ein letztes Mal, und die beiden in der ersten Antinomie bzw. im „ersten Widerstreit" der „Antinomie der reinen Vernunft" 1 1 4 einander gegenüber
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Wenn Kant hier das Gegebensein der vollständigen unendlichen Reihe zu affirmieren scheint („gleichwohl ganz gegeben"), dann muss diese Rede auf die bloß probeweise eingenommene Perspektive kritikwürdiger rationaler Kosmologie zurückzuführen sein, oder aber Kant hat das Gegebensein als Idee im Sinn. Für letztere Möglichkeit scheint zu sprechen, dass Kant das Gegebensein der unendlichen Reihe vom vollendeten Regressus unterschieden wissen will. 114 Die Rede von den „vier Antinomien", verstanden als die vier kosmologischen Widerstreite, hat sich in der Sekundärliteratur längst etabliert, während einige Kommentatoren immer noch darauf bestehen, dass Kant keinen Plural der „Antinomie", verstanden als „Zustand der Vernunft" (vgl. A340/B398), kennt. Dass Kant neben der Antinomie auch Antinomien kennt, zeigt seine Anmerkung auf A425/B453: „Die Antinomien folgen einander nach der Ordnung der oben angeführten transzendentalen Ideen."
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gestellten Behauptungen sind auf die allgemeine Vernunftforderung nach dem Unbedingten zurückgeführt: „Thesis Die Welt hat einen Anfang in der Zeit, und ist dem Raum nach auch in Grenzen eingeschlossen." (A426/B454) „Antithesis Die Welt hat keinen Anfang, und keine Grenzen im Räume, sondern ist, sowohl in Ansehung der Zeit als des Raums unendlich." (A427/B455) In der Tatsache, dass allein die Unbedingtheit einer „Reihe", von der j a allein in der kosmologischen Spezifikation des „obersten Principiums der reinen Vernunft" die Rede ist, auf die beiden oben genannten Weisen gedacht werden kann, erkennen wir den Grund dafür, dass weder die Kritik der rationalen Psychologie, noch die Kritik der rationalen Theologie „antinomisch" darstellbar ist. Es zeichnet nämlich gerade den Charakter einer Reihe aus, dass sie eine innere Ordnung besitzt, so dass von einander unter- bzw. übergeordneten Gliedern und damit auch von einem möglichen „obersten Glied" überhaupt die Rede sein kann. Weil wir es in der Psychologie und Theologie mit Totalitäten bzw. Summen von „beigeordneten" statt „einander übergeordneten" Bedingungen zu tun haben, ist in diesen Disziplinen die Möglichkeit der dichotomischen Variation des Unbedingten, die in der Kosmologie auf die Thesen und Antithesen führt, verschlossen. Wie auch bei den anderen drei Widerstreiten scheinen die Behauptungen der Thesis und Antithesis zueinander im logischen Verhältnis der Kontradiktion zu stehen. Die Thesis enthält jeweils eine Existenzbehauptung („Im zweiten Falle [d.h. hier: im Fall der Thesis] gibt es ein erstes der Reihe"), die Antithesis jeweils die Negation derselben." 3 Die Unbedingtheit der unendlichen Reihe sei an dieser Stelle, auch stellvertretend für die drei übrigen „Antithesen", kurz problematisiert. Ist nicht denkbar, dass sich die Kontingenz der einzelnen Reihenglieder, für die jeweils übergeordnete Bedingungen aufzufinden sind, auf die Reihe als Ganze überträgt, womit diese selbst nicht unbedingt wäre? Diesem möglichen Gedanken hält Kant entgegen: „Das absolute Ganze der Reihe von Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten ist jederzeit unbedingt; weil außer ihr keine Bedingungen mehr sind, in Ansehung deren es bedingt sein könnte" (A418a). 1 1 6 Unbedingtheit wird von Kant 113
Inwiefern es sich bei den Widerstreiten der transzendental-realistischen Kosmologie um bloß scheinbare Widersprüche bzw. „dialektische Oppositionen" und nicht um „analytische Oppostionen" (vgl. A504/B532) handelt, kann in Michael Wolffs Studie zum Begriff des Widerspruchs [Wolff 1981] nachgelesen werden. 116 Der Auffassung, dass ein „absolutes Ganzes von Bedingungen" unbedingt sein könne, ohne ein einziges unbedingtes Element zu enthalten, scheint Kant selbst zu widersprechen, wenn er schreibt: „Das Dasein einer Menge [sei diese endlich oder unendlich!] kann nicht notwendig sein, wenn kein einziger Teil derselben ein an sich notwendiges Dasein besitzt." (A453/B481). Er scheint sich selbst
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wörtlich g e n o m m e n und über die A b w e s e n h e i t von B e d i n g u n g e n erklärt. Diese negative Erklärung hat nun keinesfalls zur Folge, dass wir beispielsweise im Besitz eines „verständlichen" 1 1 7 Begriffs des U n b e d i n g t e n wären. Als Idee bleibt der G e d a n k e an eine Totalität von B e d i n g u n g e n zu einem gegebenen Bedingten „ein problematischer Begriff, dessen Möglichkeit untersucht werden m u ß " (A418a). „Das absolute G a n z e der R e i h e von B e d i n g u n g e n " im Allgemeinen, wie z.B. „absolute N a t u r n o t w e n d i g k e i t " im Besonderen, sind niemals wirkliche, „verständliche" B e g r i f f e , sondern problematische, o h n e dass dieser Status eine C h a n c e hätte, ü b e r w u n d e n zu werden. Z w a r gilt: W e n n die unendliche R e i h e von B e d i n g u n g e n gegeben ist, dann ist die R e i h e selbst als unbedingt zu betrachten - nur ist eine unendliche R e i h e niemals gegeben, „der Regressus in ihr [...] niemals vollendet, und kann nur potentialiter unendlich genannt w e r d e n " (A418/B445). W ä h r e n d sich die Thesis und Antithesis des ersten Widerstreits unter Bezugn a h m e auf A 4 9 7 / B 5 2 5 vergleichsweise leicht aus d e m synthetischen Grundsatz (P) gewinnen lassen, wenn a) das Bedingte als „quantitativ bestimmter Gegenstand der S i n n e " gedacht wird, b) Totalität in der R e i h e der Bedingungen der quantitativen B e s t i m m u n g gefordert wird und c) die D i c h o t o m i e Reihe endlich / Reihe unendlich investiert wird, ist nicht offensichtlich, was als möglicher „Gegenst a n d " der ersten kosmologischen Idee gelten mag, die in der Tafel als „Die absolute Vollständigkeit der Zusammensetzung des gegebenen Ganzen aller Erscheinungen" (A415/B443) verzeichnet ist. Der etwas unscharfe, von Kant selbst h e r v o r g e h o b e n e Begriff der „Zusamm e n s e t z u n g " lädt den Leser dazu ein, unter dieser Idee einen Begriff des W e l t g a n zen bzw. die Weltgröße zu verstehen. D a s wirft die Frage auf, welche Fragen ihrerseits die W e l t g r ö ß e betreffen. D i e B e h a u p t u n g e n der Thesis und Antithesis betreffen ausschließlich die absolute Vollständigkeit der formalen, quantitativen Z u s a m m e n s e t z u n g des G a n z e n aller Erscheinungen. Dass im Sinne reiner Quantität allein die Formen R a u m und Zeit zu thematisieren sind und nicht etwa nach der Quantität der Weltmaterie gefragt wird, scheint Kant f ü r so selbstverständlich zu halten, dass er dies in der Tafel nicht meint explizit m a c h e n zu müssen. K ö n n t e sich hinter der Formulierung der Idee in der Tafel allerdings nicht ebenso gut der Widerstreit verbergen, der sich u m die Frage dreht, ob die W e l t ein E n d e in der Zeit haben oder ewig existieren wird? W ä h r e n d die Ideen der Thesis und Antithesis als einander ausschließende Disjunktionsglieder der in der Tafel
(A418a) allerdings bloß zu widersprechen, weil er hier nicht seine eigene Prämisse vorträgt, sondern die Verfechter der „Antithesis" des vierten kosmologischen Widerstreits sprechen lässt. 117 Zur ,,bedingte[n], mithin verständliche[n] Notwendigkeit" vgl. A228/B280.
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verzeichneten Idee aufzufassen sein sollten, scheint die in der Tafel verzeichnete Idee allgemeiner zu sein als der den Ideen der Thesis („Weltanfang") und Antithesis zugrunde liegende Oberbegriff. Hier gilt es, sich Kants Vollständigkeitsanspruch bezüglich der Ideen spezieller Metaphysik zu erinnern. Wie also schließt Kant die Frage nach einem zeitlichen Ende der Welt aus dem Katalog ursprünglicher kosmologischer Probleme aus? Das entscheidende Argument für den Ausschluss dieser Frage aus dem Problemkatalog elementarer118 Kosmologie ist das ausschließlich regressive Interesse der Vernunft. Die kosmologischen Ideen „beschäftigen sich mit der Totalität der regressiven Synthesis, und gehen in antecedentia, nicht in consequentia." (A411/B438) Die reine Vernunft fordert Kant zufolge jeweils nur die Vollständigkeit der regressiven Synthesis von Bedingungen zu einem Bedingten, da nur diese einem völligen Begreifen^9 des jeweils Faktischen dient. Dass die in der Tafel verzeichnete Idee auch auf die progressive Synthesis beziehbar ist, mag der Grund dafür sein, dass viele Kommentatoren diese als Idee von der „Weltgröße" - die Frage nach dieser hätte in zeitlicher Hinsicht offensichtlich zwei Richtungen - auffassen. 1 2 0
2.1.2 Die zweite kosmologische Idee Entsprechend unseren oben angestellten Überlegungen enthält das allgemeine kosmologische Prinzip: (PK)
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Wenn das Bedingte gegeben ist, dann ist auch die ganze Reihe einander übergeordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gegeben,
In dem Sinn, in dem die kosmologischen Ideen „Elemente" des Verstandes i.w.S. sind und die Ideenlehre letzter Teil der „Elementarlehre" der KdrV ist, sind die vier antinomischen Widerstreite solche einer „elementaren" Kosmologie. 119 „Vernunftbegriffe dienen zum B e g r e i f e n , wie Verstandesbegriffe zum V e r s t e h e n (der Wahrnehmungen)." (A311/B367) 120 So z.B. Kuno Fischer 1889, S. 512 f. Entgegen der Auffassung, dass die Frage nach einem zeitlichen Ende der „Welt" für Kant eine sinnvolle Frage ist, deren Antwort allerdings im Rahmen einer elementaren rationalen Kosmologie nicht eingefordert wird, ist man sogar versucht, dafür zu argumentieren, dass diese Frage für Kant nicht einmal eine sinnvolle ist. Ist mit Hinweis auf den Weltbegriff Kants, der ihn unter der Welt so etwas wie die ganze „Reihe" aller Erscheinungen verstehen lässt, unter dem Weltganzen in zeitlicher Hinsicht stets nicht nur die jeweils abgelaufene Reihe der Erscheinungen zu verstehen, und nicht etwa die ganze abgelaufene wie noch abzulaufende Reihe? Die Frage wäre hier also, ob gemäß Kants Weltbegriff Zukünftiges überhaupt zur Welt gehört oder ob vielmehr gilt: So wie Gegebenes erst zur Erscheinung gebracht werden muss, um als Erscheinung zu erscheinen, so gehört Zukünftiges nicht zum jemals „gegebenen Ganzen aller Erscheinungen", wie es in der Ideentafel heißt. Unabhängig vom ausschließlich regressiven Interesse der Vernunft würde sich dann aufgrund des zugrunde liegenden phänomenalistischen Weltbegriffs die Bedeutung der in der Tafel verzeichneten ersten Idee in der Dichotomie des ersten Widerstreits erschöpfen.
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als gewissermaßen qualitative satz": (PK2)
Spezifikation den ebenfalls „synthetischen Grund-
Wenn ein qualitativ bestimmter Gegenstand der äußeren Erscheinung gegeben ist, dann ist auch die ganze Reihe der einander übergeordneten Bedingungen seiner qualitativen Bestimmungen gegeben.
Zwei Zusatzprämissen benötigen wir, um den Übergang zur zweiten Idee des „Systems der kosmologischen Ideen" herzustellen bzw. einzusehen. Erstens müssen wir verstehen, was unter den qualitativen Determinationen der Gegenstände äußerer Sinne zu verstehen ist, und zweitens erklären, was es bedeuten kann, die Qualitäten eines Gegenstands der äußeren Erscheinung als bedingt zu betrachten. Die qualitativen Bestimmungen eines Gegenstandes machen seine „Realität" bzw. Sachhaltigkeit aus. Sofern es sich um Gegenstände handelt, die vom erkennenden Subjekt verschieden sind und als solche eine von ihm verschiedene Position im Raum einnehmen müssen 1 2 1 , beziehen sich die qualitativen Bestimmungen dieser Gegenstände auf ihre „Materie". 1 2 2 Weil es im Rahmen der Kosmologie-Problematik ausschließlich um unbedingte Bedingungen von Gegenständen der äußeren Erscheinung geht - die unbedingte Bedingung der Zustände des inneren Sinns („Seele") wird im Paralogismen-Kapitel behandelt - , ist es somit nur allzu natürlich, dass Kant im „System der kosmologischen Ideen" sofort zur „Realität im Räume, d.i. die Materie" (A413/B440) übergeht, wenn er die qualitativen Bestimmungen von „Gegenständen der Sinne" thematisiert. 1 2 3 Während „Realität" i.a. der „Materie" der Erscheinungen korrespondiert, ist, da es sich hier um äußere Erscheinungen handelt, der hier vorliegende Begriff der „Materie" der
121
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Das scheint uns ein Punkt des ersten (in der Sekundärliteratur so genannten) Raumarguments der „metaphysischen Erörterung" des Begriffs vom Räume zu sein. Wenn Kant schreibt: „Denn damit gewisse Empfindungen auf etwas außer mir bezogen werden, (d. i. auf etwas in einem andern Orte des Raumes, als darinnen ich mich befinde,) [...]" (A23/B38), dann zeigt die erläuternde Klammer, dass Kant zufolge etwas „außer mir", worunter zunächst nicht mehr als „verschieden von mir" (praeter me) zu verstehen ist, nicht anders als „außerhalb von mir", also als räumlich verschieden gedacht werden kann.
H. J. Paton [1951, S. 150) meint zwar, „the doctrine that physical substances are the causes of our sensations" sei irrelevant für den Beweis des „Prinzips der Antizipationen der Wahrnehmung", doch bietet gerade diese Lehre in unserem Zusammenhang die Erklärung dafür, wieso Kant bei der Bedingtheit der (intensiven) Qualitäten der Wahrnehmungen äußerer Gegenstände bei der „Materie" ansetzt. 123 W. Malzkorn [1999, S. 83] fragt, weshalb die „Realität in der Zeit" hier „unangesprochen" bleibt. In der Tat ist nicht ohne weiteres klar, weshalb nicht analog zur Problematisierung der einfachen Teile der Materie die Problematisierung der Zeitpunkte bzw. das Problem der absoluten Vollständigkeit der Teilung eines gegebenen Zeitintervalls o.a. auf den Plan tritt. Eine Diskussion dieses Widerstreits könnte schließlich mit einem kantischen Vorschlag zur Auflösung der Bewegungsparadoxien des Zenon einhergehen, die nur dann existieren, wenn man annimmt, dass ein Zeitintervall aus nicht weiter teilbaren Zeitpunkten besteht.
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Konjunktion von „Ausdehnung und Undurchdringlichkeit" (A618/B646) äquivalent. 124 Wir halten fest: Den qualitativen Bestimmungen von Gegenständen der äußeren Erscheinung korrespondiert die „Materie" der äußeren Erscheinung. Was ist unter den Bedingungen der qualitativen Bestimmungen zu verstehen und inwiefern ist uns mit gegebener Materie eine regressive Synthesis von Bedingungen zum gegebenen Bedingten aufgegeben? Lassen wir dazu unseren Autor sprechen: „Zweitens, so ist die Realität im Räume, d.i. die Materie, ein Bedingtes, dessen innere Bedingungen seine Teile [sind], und die Teile der Teile die entfernteren Bedingungen sind, so daß hier eine regressive Synthesis stattfindet, deren absolute Totalität die Vernunft fo[r]dert, welche nicht anders als durch eine vollendete Teilung [...] stattfinden kann. Folglich ist hier auch eine Reihe von Bedingungen und ein Fortschritt zum Unbedingten." (A413/B440) Wenn wir nach den Bedingungen eines materiellen Gegenstands in qualitativer Hinsicht fragen, so fragen wir Kant zufolge nach seinen „inneren Bedingungen". Die „inneren Bedingungen" bzw. Bedingungen in qualitativer Hinsicht eines materiellen Gegenstandes sind seine Teile. 1 2 ' Eine regressive Synthesis von Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten findet hier also im Gedanken an eine wiederholte Teilung von Gegenständen statt. Die Relation „x ist Teil von y" ist transitiv, so dass auch Teile von Teilen des Ganzen das Ganze bedingen, ebenso wie Teile der Teile der Teile usf. Es kann also im strengen Sinne von „einander untergeordneten Bedingungen" 1 2 6 gesprochen werden. Die Resultate der sukzessiven Teilung eines „Gegenstandes der (äußeren) Sinne", d.h. die immer kleineren Teile, sind mit den Gliedern der Reihe der qualitativen Bedingungen identisch. Wenn wir also bedenken, dass sich die qualitativen Bestimmungen von „Gegenständen der Sinne" in ihrer Materie manifestieren und die Bedingungen der qualitativen Bestimmung von Gegenständen der Sinne wie geschehen erklären, dann erhalten wir analog zum Schlussmodell aus A497/B525:
124
Der Materie-Begriff des § 1 der transzendentalen Ästhetik, demgemäß „das [in der Erscheinung], was der Empfindung korrespondiert, die M a t e r i e " (A20/B34) ausmacht, ist insofern ein allgemeinerer, als darunter auch dasjenige zu begreifen ist, was in der inneren Erscheinung der Empfindung korrespondiert (z.B. Schmerz). Im Rahmen der Kosmologie-Problematik werden hingegen ausschließlich unbedingte Bedingungen von von mir verschiedenen Gegenständen, d.h. Gegenständen des äußeren Sinns thematisiert. Und auch nur für deren Materie gilt, dass „Ausdehnung und Undurchdringlichkeit zusammen den Begriff von Materie ausmachen" (A618/B646). Das Merkmal der handfesten „Undurchdringlichkeit" schließt Halluzinationen von durchaus materialem Gehalt offensichtlich aus. 123 Der Vorstellung, dass die Teile das Ganze bedingen, werden wir auch im Ideal-Hauptstück wieder begegnen, wenn aufgrund dieser Vorstellung der Idealbegriff „als Aggregat", dessen Teile das Ganze bedingen, zugunsten der Konzeption „als Grund" aufgegeben wird, weil der Gegenstand des Ideals als unbedingt gedacht werden soll. 126 Vgl. A307/B364.
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( P I ) W e n n materielle G e g e n s t ä n d e der äußeren Erscheinung gegeben sind, dann sind auch alle ihre Teile gegeben. (P2) N u n sind materielle G e g e n s t ä n d e der äußeren Erscheinung gegeben. (K) Also sind alle Teile der materiellen Gegenstände gegeben. D i e Deduktion der zweiten, in der Tafel kosmologischer Ideen als „Die a b s o l u t e V o l l s t ä n d i g k e i t der Teilung eines gegebenen Ganzen in der Erscheinung" (A415/B443) verzeichnete Idee dürfte damit rekonstruiert sein. 1 2 7 D i e in den Thesis- und Antithesis-Beweisen behaupteten Ideen ergeben sich klarerweise, wenn die vollständige R e i h e der Teilung von materiellen Gegenständen im einen Fall als endlich, im anderen als unendlich vorgestellt wird: ( K l ) Also sind unteilbare („einfache") Teile der Materie gegeben. (K2) Also ist die unendliche Teilung der Materie gegeben, was insbesondere heißt, dass keine einfachen Teile derselben gegeben sind. W i e auch schon beim ersten kosmologischen Widerstreit enthält die Thesis eine Existenzbehauptung, die Antithesis deren Negation: „Thesis Eine jede zusammengesetzte Substanz in der Welt besteht aus einfachen Teilen, und es existiert überall nichts als das Einfache, oder das, was aus diesem zusammengesetzt ist." (A434/B462) „Antithesis Kein zusammengesetztes Ding in der Welt besteht aus einfachen Teilen, und es existiert überall nichts Einfaches in derselben." (A435/B463; Hervorhebungen von N.K.) Bei Thesis und Antithesis ohne j e w e i l i g e n Zusatz handelt es sich um konträre B e h a u p t u n g e n : Jede z u s a m m e n g e s e t z t e Substanz besteht aus einfachen Teilen (EczS) - Keine zusammengesetzte Substanz besteht aus einfachen Teilen (EoS). B e i d e können falsch sein: Erstens, falls es sowohl einige Substanzen gibt, die aus e i n f a c h e n Teilen z u s a m m e n g e s e t z t sind, als auch einige, die dies nicht sind. Zweitens, und dies ist der kantische Angriff, wenn es sich b e i m Begriff der aus Teilen zusammengesetzten Substanz u m einen widersprüchlichen Begriff handelt. W e n n S aus Teilen besteht, dann entweder aus endlich vielen oder aus unendlich vielen. Im ersten Fall gibt es einfache Teile, im zweiten nicht. Weil, wie die indirekten
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Um sich ein weiteres Mal Kants Vollständigkeitsanspruch zu erinnern, der sich an das „System der transzendentalen Ideen" heftet, ist zu fragen, wie Kant die Frage nach der (un)endlichen Quantität der Weltmaterie aus dem Katalog der Probleme elementarer Kosmologie ausschließt. Wenn der ganze Raum unbedingte Bedingung für die Räumlichkeit der Einzeldinge ist, warum sollte dann nicht auch die Gesamtheit der Materie unbedingte Bedingung für die quantitativ beschränkte Materialität der Einzeldinge sein?
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Beweise für die Thesis und Antithesis zeigen, beide Fälle nicht zutreffen können, ist die Annahme zurückzuweisen, dass S aus Teilen besteht. Der Annahme, dass S aus Teilen besteht, korrespondiert die allgemeine Annahme, dass mit einem Bedingten die Vollständigkeit seiner Bedingungen nicht nur unabhängig vom erkennenden Subjekt existiert, sondern auch gebbar ist. Kant zufolge gilt jedoch auch hier, was ganz allgemein gilt: die Synthesis von Bedingung und Bedingtem „findet allererst im Regressus, und niemals ohne denselben, statt" (A499/B527). Die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis der Teile die Bedingungen der Möglichkeit der Teile selbst sind.
2.1.3 Die dritte kosmologische Idee Bevor wir uns den letzten beiden kosmologischen Ideen zuwenden, muss noch einmal auf die Mehrdeutigkeit des Terminus „Erscheinung" hingewiesen werden. In Verbindung mit dem bestimmten Artikel bezeichnet Kant damit die ganze sinnliche, phänomenale Wirklichkeit: die „Sinnenwelt". Meist ist in dieser Bedeutung sogar ausschließlich die „äußere Erscheinung" angesprochen, wie z.B. auch bei der zweiten Idee der Tafel kosmologischer Ideen, wo von einem „gegebenen Ganzen in der Erscheinung" die Rede ist. In Verbindung mit dem unbestimmten Artikel bedeutet eine „Erscheinung" einen Gegenstand oder auch ein Ereignis der Sinnenwelt, verstanden als Außenwelt. In unserem gegenwärtigen Zusammenhang bezeichnen „Erscheinungen" also nicht etwa auch die introspektiv zugänglichen Gegenstände des „inneren Sinns" (Gefühle, Wünsche, etc.), sondern ausschließlich Ereignisse und Gegenstände der äußeren phänomenalen Wirklichkeit. Wir denken, dass es den kantischen Intentionen entspricht, wenn wir im Rahmen der Deduktion der dritten kosmologischen Idee, welche sich aus der Vernunftforderung nach Vollständigkeit hinsichtlich der Reihe der „Entstehung" von Erscheinungen ergibt, unter einer „Erscheinung" ein Ereignis der Sinnenwelt und nicht etwa einen Gegenstand im engeren Sinn 128 derselben verstehen. Ein Gegenstand der Sinnenwelt, die ihrerseits als Gesamtheit äußerer Erscheinungen aufgefasst wird, ist eine Substanz im empirischen Verstände: „Substanz, die im Raum erscheint" (A265/B321). Mit der ersten Analogie der Erfahrung, dem „Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz" (vgl. A182/B224 ff.), steht für Kant fest, „dass das Entstehen oder Vergehen der Substanz selbst nicht stattfinde[t]" (B233). Substanzen rufen einander nicht ins Leben. Kausalität im Sinne der causa efficiens ist offensichtlich eine 128
Unter Gegenständen i.e.S. der Sinnenwelt verstehen wir die der zweiten kosmologischen Idee zugrunde liegenden materiellen Gegenstände der Außenwelt. Die oben vorgeschlagene Interpretation, nach der unter den Gegenständen i.w.S. der Sinne sowohl Körper als auch Ereignisse der äußeren ErfahrungsWirklichkeit zu verstehen sind, soll sich nun auszahlen.
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Relation zwischen Ereignissen, nicht zwischen Gegenständen i.e.S. resp. zwischen Substanzen. 129 Nach diesen Vorüberlegungen sollte verständlich sein, weshalb wir zum Zwecke einer Rekonstruktion der subjektiven Deduktion der dritten kosmologischen Idee unter „Erscheinungen" im Folgenden Ereignisse, Geschehnisse, „Begebenheiten" 130 der Welt bzw. „Zustände der Dinge zu einer Zeit" (vgl. B233) verstehen. Das allgemeine kosmologische Prinzip: (PK) Wenn das Bedingte gegeben ist, dann ist auch die ganze Reihe einander übergeordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gegeben wird in dritter Spezifikation zum hypothetischen Satz: (PK3) Wenn ein relational bestimmtes Ereignis der äußeren Erscheinung gegeben ist, dann ist auch die ganze Reihe der einander übergeordneten Bedingungen seiner relationalen Bestimmung gegeben. Dies wollen wir kommentieren und als adäquate Deduktionsgrundlage der dritten kosmologischen Idee ausweisen. Ein Ereignis „relational zu bestimmen" heißt, eine Begründung dieses Ereignisses innerhalb des Gesamtzusammenhangs der Ereignisse der „Sinnenwelt" vorzunehmen, m.a.W. die relationale Bestimmung eines Ereignisses bezieht sich auf seine „Entstehung" (A415/B443). Wenn Kant in seinen Anmerkungen zur Kategorientafel der B-Auflage über die „dynamischen Kategorien" der Relation und Modalität sagt, sie seien anders als die „mathematischen Kategorien" der Quantität und Qualität auf „die Existenz der Gegenstände (entweder in Beziehung auf einander oder auf den Verstand) gerichtet" (B110), dann ist hier insbesondere gemeint, dass die Relationskategorien „auf die Existenz der Gegenstände in Beziehung auf einander gerichtet" sind, während die Modalitätskategorien „auf die Existenz der Gegenstände in Beziehung auf den Verstand gerichtet" sind. 131 Dies bedeutet nichts anderes, als dass gemäß der Relationskategorie der Kausalität innerhalb der Sinnenwelt nach einer kausalen Erklärung der Ereignisse der Sinnenwelt gesucht wird. Unter einem „relational bestimm-
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Dass die in der dritten Antinomie zugrunde liegende Kausalität im Sinne der causa efficiens auch für Kant eine Relation zwischen verschiedenen Ereignissen, „Geschehen" resp. Zuständen der Dinge und nicht etwa zwischen Dingen ist, zeigt sich u.a. auch im „Beweis" der Thesis des dritten Widerstreits (vgl. A444/B472 ff.). Im Beweis der Antithesis ist entsprechend von „Weltbegebenheiten" (A447/B475) die Rede. 130 Die dritte kosmologische Idee wird in ihrer „Auflösung" (vgl. A532/B560 ff.) ausdrücklich als Begriff „von der Totalität der Ableitung der Weltbegebenheiten aus ihren Ursachen" vorgestellt. Entsprechend wird dort auch das Gegebensein der ganzen „Reihe von Begebenheiten" (A534/B562) von der dialektischen Vernunft gefordert. 131 Der Begriff der „Relation" ist hier ganz und gar dynamisch zu deuten und nicht etwa in dem statischen Sinne, in dem in der Geometrie räumliche Relationen studiert werden.
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ten" Ereignis wiederum ist ein von einer bekannten Ursache bewirktes Ereignis zu verstehen. Wenn es gelungen ist, zu einem Ereignis χ ein Ereignis y zu finden, so dass χ und y gemäß der Kausalitätskategorie schematisiert werden können, dann kann χ in diesem Sinn ein relational bestimmtes Ereignis genannt werden. Die „einander übergeordneten Bedingungen", von denen im allgemeinen Prinzip die Rede ist, sind hier nach dem Schema „x folgt in der Zeit auf y als Wirkung von y" (vgl. B234) zu denken. Wenn die Ursachen als zureichende Gründe gedacht werden, dann ist die Bedingungsrelation zwischen den Ereignissen der Erfahrung transitiv und es kann in diesem strengen Sinn von einer „Reihe einander übergeordneter Bedingungen" gesprochen werden. 132 (PI) Wenn uns ein Ereignis der äußeren Erscheinung gegeben ist, dann ist uns auch die ganze Reihe seiner (bewegenden) Ursachen gegeben. (P2) Nun sind uns Ereignisse der äußeren Erscheinung gegeben. (K ) Also ist uns jeweils die ganze Reihe von (bewegenden) Ursachen eines Ereignisses äußerer Erscheinung, d.h. „die absolute Vollständigkeit der Entstehung" (A415/B443) desselben gegeben. Unter Investition der Dichotomie von der Endlich- bzw. Unendlichkeit der Reihe als Zusatzprämisse wird weiter entweder auf das Gegebensein eines ersten, selbst unbedingten Gliedes der Ursachenreihe oder auf das Fehlen desselben geschlossen, d.h. auf die regressive Unendlichkeit der Ursachenreihe. Beide Ideen sind offensichtlich verschiedene Antworten auf die Frage, wie „die absolute Vollständigkeit der Entstehung einer Erscheinung überhaupt" (A415/B443) zu denken sei, womit der Bezug zur dritten kosmologischen Idee der Tafel hergestellt ist. Ein erstes, unbedingtes Glied der Reihe ist nach diesen Überlegungen allerdings nur insofern „unbedingt", als es selbst kein Ereignis aus „Kausalität nach Gesetzen der Natur" ist. Bezüglich der „Entstehung" dieses Ereignisses müsste noch eine „Kausalität durch Freiheit" 133 angenommen werden. Für die Relation ,,x bedingt y nach den Gesetzen der Natur" gilt, dass χ und y Ereignisse der Natur bzw. der äußeren Erscheinung sein müssen, also insbesondere χ nicht dem natürlichen Kausalzusammenhang enthoben sein darf. Wenn Kant bezüglich der causa efficiens schreibt:
132
Bei diesen linearen Kausalreihen, nach denen genau eine Ursache zu einer Wirkung führt, handelt es sich freilich um eine Abstraktion. In Wahrheit dürfte es sich meist um ein ganzes Geflecht ursächlicher Faktoren für ein bestimmtes Ereignis handeln, so dass das Bild eines (ebenfalls zeitlich geordneten) kausalen Netzes adäquater als das der Reihe erscheint. 133 „Kausalität" heißt bei Kant häufig nicht Relation zwischen Ursache und Wirkung, sondern soviel wie „Ursache", „das Bewirkende", „das Verursachende". Schließlich ist auch bereits in der Kategorientafel die Kategorie „Kausalität-Dependenz" (A80/B106) verzeichnet. In diesem Sinne spricht Kant auch von „Kausalität aus Freiheit".
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„Man kann sich nur zweierlei Kausalität in Ansehung dessen, was geschieht, denken, entweder nach der N a t u r , oder aus F r e i h e i t " (A532/B560), so kann man diese D i c h o t o m i e als negative Definition einer „Kausalität aus Freiheit" auffassen. Kant bestätigt diesen Gedanken, wenn er die Definition kosmologisch verstandener Freiheit erläutert: „Dagegen verstehe ich unter Freiheit, im kosmologischen Verstände, das Vermögen, einen Zustand v o n s e l b s t anzufangen, deren Kausalität also nicht nach dem Naturgesetze wiederum unter einer anderen Ursache steht, welche sie der Zeit nach bestimmte." (A533/B561; Hervorhebung von N.K.) Kausalität aus Freiheit ist o f f e n b a r gesetze" definiert. D a h e r sind die dritten Widerstreits der A n t i n o m i e die Endlichkeit bzw. Unendlichkeit benen Ereignissen der Welt:
als „Kausalität, j e d o c h nicht nach d e m NaturBehauptungen der Thesis und Antithesis des geradezu per definitionem B e h a u p t u n g e n über der R e i h e der b e w e g e n d e n Ursachen zu gege-
( K l ) Also gibt es in der Welt Kausalität durch Freiheit, d.h. es gibt „Spontaneität". (K2) Also gibt es keine Freiheit in der Welt, d.h. die Welt ist kausal geschlossen nach „Gesetzen der Natur". W i r heben hervor, dass es sich auch bei der Thesis bzw. Antithesis der dritten Antinomie um eine E x i s t e n z b e h a u p t u n g bzw. deren Negation handelt, die scheinbar im Verhältnis der „analytischen Opposition", d.h. im Verhältnis des kontradiktorischen Gegensatzes stehen. E t w a s großzügiger formuliert, der Sache nach jedoch äquivalent, stellt Kant die beiden Konklusionen ( K l ) und (K2) im dritten Widerstreit der Antinomie der reinen V e r n u n f t einander gegenüber: „Thesis Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität durch Freiheit zu Erklärung derselben anzunehmen notwendig. [...] Antithesis Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur." (A444/B472 f.; Hervorhebungen von N.K.)
2.1.4
D i e vierte kosmologische Idee
In der vierten und letzten Spezifikation des Grundprinzips rationaler Kosmologie: (PK) W e n n das Bedingte gegeben ist, dann ist auch die ganze R e i h e einander übergeordneter B e d i n g u n g e n , die mithin selbst unbedingt ist, gegeben,
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wird das „Bedingte" als modal bestimmt gedacht und als solches übergeordneten Bedingungen unterworfen. Da die Modalkategorien ebenso wie die Relationskategorien von Kant als „dynamische Kategorien" konzipiert sind, werden auch in diesem vierten Fall nicht Gegenstände i.e.S., sondern Ereignisse - man denke an Übergänge der Gegenstände i.e.S. von einem Zustand in einen anderen - der Bedingtheit ausgesetzt. Daher lautet die vierte Spezifikation des Prinzips: (PK4) Wenn ein modal bestimmtes Ereignis der äußeren Erscheinung gegeben ist, dann ist auch die ganze Reihe der einander übergeordneten Bedingungen seiner modalen Bestimmimg gegeben. Dass ein jedes Ereignis der als Erfahrungswirklichkeit aufgefassten „Welt" wirklich ist, gilt zwar gänzlich unabhängig von der Frage, ob wir unter der „Welt" genau das verstehen, was Kant darunter versteht, ist allerdings nicht die einzige Erkenntnis, welche die Reflexion über die Modalität der Ereignisse und Zustände der Welt hervorbringt. Kant zufolge müssen wir die Wirklichkeit der besonderen Ereignisse und Zustände der Welt nämlich als abhängig von etwas anderem auffassen: „[...] so fern das Zufällige im Dasein jederzeit als bedingt angesehen werden muß", verweist es „nach der Regel des Verstandes auf eine Bedingung, darunter es notwendig ist" (A415/B443). Verständigen wir uns zunächst darüber, was hier unter dem „Zufälligen im Dasein" zu verstehen ist. Neben der logisch notwendigen Verknüpfung von Begriffen in analytischen Urteilen und logisch notwendiger Folge in gültigen Schlüssen scheint es innerhalb der Welt auch so etwas wie materielle Notwendigkeit zu geben. 134 Dass von Kant hier das „Zufällige" als notwendig betrachtet wird, ist nun keinesfalls paradox, da er unter einem ,,Zufall" hier kein schicksalhaftes Zusammentreffen von zwei Ereignissen (im Sinne des fatum) versteht, sondern im schwächeren und vielleicht sogar wörtlicheren Sinn: etwas sich Zutragendes, etwas der Fall Seiendes. Und als sich Zutragendes steht es unter Bedingungen, unter denen es zwar nicht „absolut notwendig", jedoch „hypothetisch notwendig" ist. „Das Zufällige im Dasein", welches im System der kosmologischen Ideen thematisiert wird, bedeutet zweierlei: Im Sinne modaler Bestimmung ist es kontingent, d.h. sowohl das Dasein des Zufälligen als auch sein Nichtsein lässt sich ohne Widerspruch denken. Im Sinne relationaler Bestimmung bedeutet es etwas Bewirktes bzw. „etwas, das nur als Folge von einem anderen existieren kann". 135
134
Kant selbst unterscheidet „formale und logische [Notwendigkeit] in Verknüpfung der Begriffe" von ,,materiale[r] Notwendigkeit im Dasein" (A226/B279). 133 Die modale Bedeutungsdimension des Zufälligen scheint für Kant die entscheidende zu sein, wenn er schreibt: „Zufällig, im reinen Sinne der Kategorie, ist das, dessen kontradiktorisches Gegenteil möglich ist" (A458/B486). Vgl. dazu auch in Eislers Kant-Lexikon den Artikel „Zufall" (ebd. S. 620).
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Dabei handelt es sich um zwei Bedeutungsdimensionen ein- und desselben Begriffs des Zufalls, nicht um zwei verschiedene Begriffe des Zufalls resp. der Zufälligkeit. In einer Reflexion zur Metaphysik erläutert Kant die hypothetische Notwendigkeit des Zufälligen, welche etwas Zufälliges in den Zusammenhang interdependenter Ereignisse stellt, geradezu mittels seiner Kontingenz. 1 3 6 Das „Zufällige im Dasein" ist also weder etwas, das ohne Grund geschieht - für Kant steht mit der „zweiten Analogie der Erfahrung" fest: „Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung von Ursache und Wirkung" (A189/B232)" noch ist unter dem Zufälligen im Dasein etwas Besonderes im Allgemeinen zu verstehen. Vielmehr ist alles Erscheinende kontingent und in der Reihe der Erscheinungen jedes Glied zufällig und durch andere Ereignisse bedingt. Dass der Bereich empirisch zufälliger Veränderungen mit dem der empirisch notwendigen Veränderungen identisch 1 3 7 ist, zeigt folgende Äquivalenz: Eine Veränderung ist genau dann empirisch zufällig, wenn es eine Ursache gibt, die diese Veränderung bewirkt und die ohne j e n e Ursache nicht stattfinden würde; und eine Veränderung hat genau dann eine bewirkende Ursache, wenn die Veränderung auf jene Ursache empirisch notwendig folgt. Wenn wir mit Kant nun fragen, welches die Bedingungen sind, unter denen ein beliebiges Ereignis als „zufällig" im erläuterten Sinn aufzufassen sei, dann verweist diese Frage auf vorausgehende Ereignisse, von denen jenes abhängt. Die dialektische Vernunft schließt nun gemäß ihrem für wahr gehaltenen obersten Prinzip auf das Gegebensein der vollständigen Reihe von Abhängigkeiten unter dem „Veränderlichen in der Erscheinung". Der dialektische Schluss auf die letzte der vier kosmologischen Ideen lässt sich in Analogie zur Struktur, die Kant im 7. Abschnitt der Antinomie nahe legt, wie folgt rekonstruieren: ( P I ) Wenn uns etwas „Zufälliges im Dasein" (ein wirkliches, kontingentes, hypothetisch notwendiges Ereignis der äußeren Erscheinung) gegeben ist, dann ist auch die ganze Reihe übergeordneter Bedingungen der Wirklichkeit des „Zufälligen im Dasein" gegeben. (P2) Nun ist uns etwas „Zufälliges im Dasein" (ein wirkliches, kontingentes, hypothetisch notwendiges Ereignis der äußeren Erscheinung ) gegeben. (K) Also ist uns auch die ganze Reihe übergeordneter Bedingungen der Wirklichkeit des „Zufälligen im Dasein" (...) gegeben.
136
„Zufällig ist, was nur bedingterweise (hypothetisch) möglich ist (dessen Nichtsein also an sich selbst möglich ist)." (Refl. 6408, A4 XVIII, S. 707) Dass die Kontingenz hier die hypothetische Notwendigkeit des Zufälligen lediglich erläutert, zeigt das Wörtchen „also" in der Klammer an. 137 Die These der Coextensionalität der Begriffe empirischer Zufälligkeit und empirischer Notwendigkeit vertritt auch Konrad Cramer in: Tuschling (Hrsg.) 1984, S. 147.
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W e d e r das ursprünglich als bedingt betrachtete Ereignis noch die nach der „Regel des V e r s t a n d e s " g e f u n d e n e B e d i n g u n g , unter der j e n e s als relativ notwendig erscheint, ist selbst unbedingt. W e n n Gleiches f ü r die a u f z u f i n d e n d e Bedingung der g e f u n d e n e n B e d i n g u n g gilt usf., gilt dies offensichtlich f ü r j e d e s Glied des von der V e r n u n f t aufgetragenen Regressus der B e d i n g u n g e n . D a n n aber gilt: Kein Ereignis der Welt, kein Zustand der D i n g e der Welt bzw. kein Zustand „des Veränderlichen in der E r s c h e i n u n g " ( A 4 1 5 / B 4 4 3 ) ist unbedingt resp. absolut notwendig. U n d in der Tat ist es v o l l k o m m e n unverständlich, was es für ein Ereignis der empirischen Wirklichkeit bedeuten soll, es sei absolut notwendig. D a s weiß auch der kritische Kant, der den Begriff absoluter Notwendigkeit aus der empirischen Wirklichkeit verbannt: „Alles, was geschieht, ist hypothetisch notwendig [...] Keine Notwendigkeit in der Natur ist blinde, sondern bedingte, mithin verständliche Notwendigkeit (non datur fatum)." (A228/B280) W e n n materiale N o t w e n d i g k e i t nur als bedingte Notwendigkeit verständlich ist, dann ist unbedingte, materiale Notwendigkeit unverständliche Notwendigkeit. 1 3 8 Obwohl es im vierten Widerstreit u m das P r o b l e m absolut notwendiger Existenz gehen wird, wird Kant sich nicht einfach f ü r die L e u g n u n g derselben entscheiden. In der Tafel von A 4 1 5 / B 4 4 3 ist die erschlossene Idee der vollständigen Reihe von einander bedingenden W e l t v e r ä n d e r u n g e n verzeichnet als „Die a b s o l u t e V o l l s t ä n d i g k e i t der Abhängigkeit des Daseins des Veränderlichen in der Erscheinung". Mit „dem Veränderlichen in der E r s c h e i n u n g " ist alles Veränderliche, d.h. die Substanz der erfahrbaren Wirklichkeit angesprochen, die verschiedenste Zustände bzw. Formationen a n n e h m e n kann, in ihrer Quantität der „ersten Analogie der E r f a h r u n g " z u f o l g e aber unverändert bleibt. 1 3 9 Allerdings geht es im vierten W i derstreit der Antinomie unmittelbar gerade nicht u m die Frage nach Existenzbedingungen der Weltsubstanz. Die Problematisierung der „Abhängigkeit des Da-
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Aristoteles unterscheidet hypothetische und absolute Notwendigkeit sowie quer dazu reale und ideale Notwendigkeit. Wenn wir davon ausgehen dürfen, dass die kantische Unterscheidung zwischen materialer und logischer Notwendigkeit der zwischen realer und idealer entspricht, so bleibt für den kritischen Kant mindestens ein Fach des aristotelischen Kastens' leer: das der absoluten realen Notwendigkeit 139 „Erste Analogie. Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz: Bei allem Wechsel der Erscheinungen beharret die Substanz, und das Quantum derselben wird in der Natur weder vermehrt noch vermindert." (A182/B224) „Substanz" wird dabei empirisch als dasjenige aufgefasst, dem wir in gewöhnlicher Welterfahrung Eigenschaften zusprechen, und nicht etwa als „absolutes Subjekt" oder „transzendentales Substrat".
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seins des Veränderlichen" bezieht sich zunächst weder auf die Frage nach Kontingenz bzw. Notwendigkeit der Existenz der Weltsubstanz noch auf die Frage nach der notwendigen Existenz eines wesenhaften Urgrundes der Welt, sondern vielmehr auf die Frage nach Kontingenz bzw. Notwendigkeit der jeweiligen Zustände (des jeweiligen So-Seins) der Weltsubstanz. Insofern ist unter der „absoluten Vollständigkeit der Abhängigkeit des Daseins des Veränderlichen in der Erscheinung" die vollständige Reihe einander bedingender Weltzustände zu verstehen. U m es in aller Deutlichkeit zu sagen: nicht die Existenz des Veränderlichen, sondern die Veränderungen des Veränderlichen werden als zufällig betrachtet. 140 Trotz der Unverständlichkeit absoluter materialer Notwendigkeit soll nun die dialektisch schließende Vernunft nicht anders können, als sich unter der Voraussetzung gebbarer Totalität der Bedingungen entweder ein erstes Glied der Reihe sofern die Reihe endlich gedacht wird - oder die ganze Reihe - sofern sie als unendlich vorgestellt wird - als absolutnotwendig und unbedingt zu denken. W i e auch schon bei den übrigen Antinomien behaupten bzw. leugnen die Thesis bzw. Antithesis die Existenz eines ersten, den Regress abschließenden Gliedes der Reihe. Da die hier interessante Reihe eine Reihe von sich bedingenden Weltzuständen bzw. Weltveränderungen ist, müsste die Thesis einen absolut notwendigen Weltzustand bzw. eine absolut notwendige Weltveränderung behaupten, die Antithesis diese hingegen leugnen. Obwohl Kant im Beweis der Thesis für eine solche notwendige Weltveränderung argumentieren lässt, wenn er schreibt, „ohne diese [Veränderung] würde selbst die Vorstellung der Zeitreihe, als einer Bedingung der Möglichkeit der Sinnenwelt, uns nicht gegeben sein' ' (A452/B480) 1 4 1 , behaupten bzw. leugnen die Thesis bzw. Antithesis nicht die Existenz einer notwendigen Weliveränclerung, sondern die Existenz eines „schlechthin notwendigen" Wesens:
140
W. Malzkorn [1999, S.84] spezifiziert das „oberste Prinzipium" so: „Wenn das in seinem Dasein Abhängige (Veränderliche) gegeben ist, dann sind alle Dinge, von denen sein Dasein abhängt, ebenfalls gegeben." Während Malzkorn also von einer „Reihe von sich notwendigerweise bedingenden, zufälligen Dingen" spricht, scheint es uns wichtig zu betonen, dass es nicht die Substanz der Dinge ist, die in ihrer Existenz als abhängig von etwas anderem aufgefasst wird, sondern dass es die Zustände der Weltsubstanz sind, welche eine Reihe sich bedingender Glieder bilden. Unsere Interpretation wird mittelbar durch den Beweis der Thesis der vierten Antinomie gestützt, wo es heißt: „Die Sinnenwelt, als das Ganze aller Erscheinungen, enthält zugleich eine Reihe von Veränderungen" (A452/B480). Die Glieder der Reihe, um die es bei der vierten Antinomie geht, sind Zustände des Veränderlichen bzw. Veränderungen des Veränderlichen: „Eine jede Veränderung aber steht unter ihrer Bedingung" (A452/B480). Die vierte Spezifikation des synthetischen Grundsatzes kann daher auch kurz und bündig formuliert werden als: Wenn eine Weltveränderung gegeben ist, dann ist auch die ganze Reihe ihrer übergeordneten Bedingungen gegeben. Die Glieder der Reihe von Bedingungen, die zur vierten kosmologischen Idee führt, sind Weltzustände und nicht etwa Gegenstände oder auch „Wesen" der Welt, die andere Gegenstände bedingen.
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Selbst bei Gültigkeit des Arguments wird hier nur die hypothetische Notwendigkeit von Veränderung erschlossen, da die Vorstellung der Zeitreihe danach nur dann gegeben sein könnte, wenn Veränderung stattfindet. Veränderung scheint relativ notwendig, um die Vorstellung der Zeitreihe zu ermöglichen, nicht jedoch „absolutnotwendig".
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„Thesis Zu der Welt gehört etwas, das, entweder als ihr Teil, oder ihre Ursache, ein schlechthin notwendiges Wesen ist. [...] Antithesis Es existiert überall kein schlechthinnotwendiges Wesen, weder in der Welt, noch außer der Welt, als ihre Ursache." (A452/B480 f.) Unabhängig von diesen Problemen können wir beobachten, dass die Thesis und Antithesis als Existenzbehauptung und deren Negation im logischen Verhältnis der Kontradiktion zu stehen scheinen. Die Äquivalenz der Aussagen „Etwas existiert als Teil der Welt" und ,,Etwas existiert in der Welt" können wir voraussetzen, da beide den Fall, dass die Welt selbst das „notwendige Wesen" sei, einschließen. In Analogie zur Mengenlehre - hier gilt bekanntermaßen A c A , nicht jedoch A c A - können wir sagen: wenn auch kein echter Teil, so ist die Welt doch Teil der Welt. Dass eine Ursache der Welt als außerweltlich zu denken ist, geht aus der Antithesis hervor, wo das Prädikativum „als Ursache" die adverbiale Bestimmung „außer der Welt" offenbar erläutert. Die Thesis analysieren wir als: „Es existiert etwas, für das gilt: es existiert absolut notwendig und es ist entweder echter Teil der Welt oder die Welt selbst oder außerweltliche Ursache der Welt", die Antithesis als: „Es ist nicht der Fall, dass etwas existiert, für das gilt: es existiert absolut notwendig und es ist entweder echter Teil der Welt oder die Welt selbst oder außerweltliche Ursache der Welt", was äquivalent ist mit dem Satz: „Weder existiert etwas, das als Teil der Welt absolut notwendig existiert, noch existiert die Welt absolut notwendig, noch existiert eine außerweltliche Ursache der Welt absolut notwendig." Um die logische Struktur der Behauptungen der Thesis und Antithesis aus ihrer Genese heraus zu verstehen, erscheint es uns wichtig, darauf hinzuweisen, dass die dem Wortlaut der „Thesis" entnommene Disjunktion „entweder als Teil oder als Ursache der Welt" nicht als Ableitungsprinzip in die systematische Entfaltung der Behauptungen des vierten Widerstreits eingeht. Während die Struktur der Thesis diese Vermutung nahe legen könnte, ist die entfaltete Systematik tatsächlich (wie auch bei allen anderen Widerstreiten) der Dichotomie der von Endlich- bzw. Unendlichkeit der Reihe zu verdanken: entweder ist die Reihe der sich bedingenden Weltzustände in rückwärtiger Richtung endlich oder unendlich. Ist sie unendlich, so ist die ganze Reihe, d.h. die Welt selbst das „notwendige Wesen". 142 Ist sie 142
Dies gilt wiederum nur, wenn Unbedingtheit wörtlich genommen wird und über die Abwesenheit von (weiteren) Bedingungen definiert wird. Es scheint jedoch unwahrscheinlich zu sein, dass Kant den Verfechtern der Thesis mit einer Behauptung über die Notwendigkeit der Welt nicht mehr zu-
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Das System der kosmologischen Ideen
endlich, dann ist das selbst unbedingte erste Glied dieser Reihe das notwendige Wesen. 1 4 3 Im Falle der Existenz eines ersten Gliedes wiederum kann dieses entweder weltimmanent als „Teil der Welt" oder als außerweltliche Ursache der Welt angenommen werden. Wir wollen auf ein Problem hinweisen, welches sich auf eine beobachtbare Kluft zwischen den bereitgestellten Prämissen der Ableitung kosmologischer Ideen und den vermeintlichen Folgerungen im vorliegenden vierten Fall bezieht. Es drängt sich nämlich der Eindruck auf, dass hier Argumentationslücken bestehen. Unser Problem kann in die Frage gefasst werden, wie man überhaupt ausgehend von der Reihe einander bedingender weltimmanenter Weltveränderungen auf den Gedanken einer Weltursache oder gar zur Annahme oder Leugnung der Existenz eines absolut notwendigen, «ii/ierweltlichen Wesens (vgl. Antithesis) kommt. Dieses Problem hat Kant selbst erkannt und nimmt es in die Argumentation für die Antithesis auf: „ W e n n m a n a b e r einmal den Beweis k o s m o l o g i s c h a n f ä n g t , i n d e m m a n die Reihe von E r s c h e i n u n g e n , und den Regressus in derselben n a c h e m p i r i s c h e n Gesetzen der Kausalität, z u m G r u n d e legt: so kann m a n n a c h h e r d a v o n nicht abspringen und auf e t w a s Ubergehen, was gar nicht in die R e i h e als ein G l i e d g e h ö r t . " ( A 4 5 6 / B 4 8 4 )
Hier ist also ein „Absprung (metabasis eis alio genos)" (A458/B486) nötig, der im Verlassen des Bezugsrahmens sich bedingender Weltveränderungen besteht. Der Schluss von der Reihe sich einander hypothetisch notwendig bedingender Weltzustände auf ein notwendiges Wesen mag der metaphysischen Tradition als konsequentes Fortdenken des Vernunftanspruchs erschienen sein. In Wahrheit liegt hier weniger Konsequenz als vielmehr ein plötzliches Transzendieren der kosmologischen Perspektive vor. Dieses von Kant erkannte Problem schlägt insofern auf ihn selbst zurück, als er auf die Behauptung festgelegt zu sein scheint, dass sich die in den Thesen und Antithesen vorgestellten „dialektischen Lehrsätze" (A421/B449) zwangsweise aus der Annahme des allgemeinen Prinzips der reinen Vernunft ergeben. Die von uns im Text ausgemachte allgemeine Ableitungsstrategie der kosmologischen Ideen, einschließlich der Thesen und Antithesen der Widerstreite, gestattet, angewandt auf den vierten Fall, allerdings gerade nicht den Übergang von einer Reihe von Zuständen hin zu einem notwendig existierenden Wesen. Weil es Kant selbst ist, der jenen Absprung für ebenso illegitim hält wie das sich
schreibt als die Überzeugung, dass es außerhalb der als „ganze Reihe" verstandenen Welt keine weiteren Bedingungen gibt. 143 Der Schluss auf die absolute Notwendigkeit des ersten Gliedes der Reihe ist nur dann zwingend, wenn „absolute Notwendigkeit" als absolute Unbedingtheit gewissermaßen wörtlich genommen und Uber die Abwesenheit von Bedingungen definiert wird. H. Heimsoeth [1966 11, S. 252] bezieht den Fall, dass die „ganze Weltreihe selbst" als absolut notwendig zu betrachten sei, fälschlicherweise auf den Fall der Endlichkeit!) der Reihe, „darin eben das „oberste Glied" miteinbezogen ist."
Die subjektive Deduktion der kosmologischen Ideen
101
Verschaffen einer „bloß intelligibele[n] Reihe" (A458/B486), scheint eine Ableitung der Idee eines absolut notwendigerweise existierenden Wesens aus den von Kant dargereichten Prinzipien der Ableitung kosmologischer Ideen verschlos144
sen. Wie Kant sich den Vollzug dieses illegitimen „Absprungs" von der kosmologischen Perspektive denkt, soll deutlich werden, wenn er mit Bezug auf die Reihe hypothetisch notwendiger Weltzustände bzw. Weltveränderungen schreibt: „Da man hierin [in der Reihe empirischer Abhängigkeiten] keinen ersten Anfang und kein oberstes Glied finden konnte, so ging man plötzlich vom empirischen Begriff der Zufälligkeit ab und nahm die reine Kategorie, welche alsdenn eine bloß intelligible Reihe veranlaßte, deren Vollständigkeit auf dem Dasein einer schlechthinnotwendigen Ursache beruhete, die nunmehr, da sie an keine sinnliche Bedingungen gebunden war, auch von der Zeitbedingung, ihre Kausalität selbst anzufangen, befreiet wurde." (A458/B486 f.) Wir erfahren, dass die Idee einer „schlechthinnotwendigen Ursache" (der Welt) nicht über die regressive Reihe empirischer Abhängigkeiten gewonnen werden kann, deren Exponent die Kategorie der Notwendigkeit im empirischen Gebrauche (vgl. den „empirischen Begriff der Zufälligkeit") ist. Der Grund dafür ist, dass zwei Ereignisse nur dann gemäß der Kausalitätskategorie schematisiert werden können, wenn nicht nur die Wirkung sondern auch die Ursache der „Zeitbedingung" unterliegen. Die Idee einer absolut notwendigen Weltursache zu verstehen, soll nun dann möglich sein, wenn der Exponent empirischer, hypothetischer Notwendigkeit gewissermaßen gegen „die reine Kategorie" eingetauscht wird. Hat man sich erst einmal jene alternative, „bloß intelligible Reihe" verschafft, bei der die Verknüpfung der Glieder von den Einschränkungen möglicher Erfahrung und insbesondere der Zeit befreit sind, so soll ein Abschluss dieser Reihe in der Idee eines absolut notwendigerweise existierenden Wesens bestehen. Kant hält den zitierten „Absprang" von den Bedingungen möglicher Erfahrung konsequenterweise für illegitim, da er beansprucht, bereits in der transzendentalen Analytik in aller Allgemeinheit gezeigt zu haben, dass „die Kategorie [...] keinen andern Gebrauch zum Erkenntnisse der Dinge [hat], als ihre Anwendung auf Gegenstände der Erfahrung" (B146). Abseits dieses Anwendungsbereichs findet keine „Erkenntnis der D i n g e " statt - also auch nicht die Erkenntnis eines notwendigerweise existenten Wesens. Wenn Kant definiert: „Zufällig, im Sinne der reinen Kategorie, ist das, dessen kontradiktorisches Gegenteil möglich ist" (A458/B486), so ergänzen wir: Notwendig, im Sinne der reinen Kategorie, ist das, dessen kontradiktorisches Gegenteil 144
Die „Ungleichartigkeit" der Reihenglieder bezieht sich nämlich auch nicht etwa per definitionem quer zur Unterscheidung dieser Klassen von Entitäten auf die Unterscheidung zwischen „Erscheinungen" und „intelligiblen Gegenständen".
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Das System der kosmologischen Ideen
unmöglich ist. Sofern es um notwendige Existenz geht, bedeutet dies doch: Dasjenige existiert absolut notwendigerweise, dessen Nichtexistenz unmöglich ist. Und eben ein solches kann es für den kritischen Kant, der für möglich hält, dass nichts sei, nicht geben. 1 4 ' Obwohl ein erstes Glied der Reihe aufgrund des Fehlens weiterer Bedingungen als unbedingt angenommen werden muss, ist es deshalb noch kein ens necessarium, weil die Existenz des zur Letztbegründung der Reihe angenommenen ersten Gliedes ebenso kontingent sein kann wie die ganze Reihe selbst. Zwischen den ersten und den letzten beiden kosmologischen Widerstreiten scheint darüber hinaus insofern eine Asymmetrie vorzuliegen, als beispielsweise beim zweiten Widerstreit die behauptete oder geleugnete Existenz von einfachen Teilen der Materie keinerlei Behauptung über irgendetwas „außer der Welt" enthält. Gleiches gilt für die Frage nach raum-zeitlichen Grenzen der Welt oder die Frage nach der kausalen Geschlossenheit der Welt nach „Gesetzen der Natur". Die disjunktive Struktur der Thesis des vierten Widerstreits hingegen überschreitet explizit die Frage nach weltimmanenten Bedingungen. Die Idee eines notwendigen, „außer der Welt" anzunehmenden Wesens - was freilich nicht räumlich als „außerhalb der Welt" verstanden werden darf, sondern bloß als „verschieden von der Welt" - lässt die Grenzen möglicher Erfahrung in radikalerer Weise hinter sich als die Ideen der übrigen Thesen. 1 4 6 Unter der Annahme einer strukturellen Identität der vier kosmologischen Widerstreite sollte der vierte Widerstreit vielmehr problematisieren, ob es in der Welt so etwas wie absolut notwendige Veränderung gibt - schließlich gehörten einfache Teile der Materie im Falle ihrer Existenz als Teile der Gegenstände der Welt auch selbst zur Welt. Und würde diese Frage nicht auch in direkter Weise an die Idee der Tafel anschließen, wo von der „Abhängigkeit des Daseins des Veränderlichen in der Erscheinung" die Rede ist? Dies wäre doch zumindest dann der Fall, wenn sich die Angabe „in der Erscheinung" nicht nur auf den Ort des „Daseins des Veränderlichen" bezieht, sondern ebenfalls auf das Wort „Abhängigkeit" und dadurch auf beide Relata der Bedingtheitsrelation bezogen werden muss, wodurch auch außerweltliche Bedingungen ausgeschlossen würden. Der Hinweis darauf, dass die Reihe von Bedingungen, die in die vierte Antinomie führt, „ungleichartige" Bedingungen als Glieder besitzt, scheint uns keine gute Erklärung der konstatierten eigenen Qualität der Transzendenz zu sein, da die „Ungleichartigkeit" der Glieder der vierten Reihe zunächst nur das Folgende besagt: Glieder erster Art sind Glieder, für die gilt: Sie sind sowohl Bedingungen anderer Reihenglieder, als auch zugleich durch andere Glieder der Reihe bedingte
143
„Aber daß alle Realität sei, ist möglich, daß keine sei, ist auch möglich." (Refl. 4661, AA XVII, S. 629) 146 Während G. W. Leibniz nach dem Satz vom zureichenden Grund auch einen Grund für die Welt als ganze fordert (vgl. Liske 2000, S. 196 ff.), beschränkt Kant den Geltungsbereich des Satzes vom zureichenden Grund im Sinne der Naturkausalität auf Ereignisse resp. Existenzen innerhalb der Welt.
Die kosmologischen Ideen als ins Unbedingte erweiterte Kategorien
103
Reihenglieder. Glieder zweiter Art hingegen sind Glieder, für die gilt: Sie sind zwar Bedingungen anderer Reihenglieder, nicht aber selbst durch andere Reihenglieder bedingt (etwa: eine Ursache, die selbst keine Wirkung ist). Die Möglichkeit, Bedingtes und Bedingung ungleicher Art in unserem Zusammenhang der vierten Antinomie als inner- bzw. außerweltlich anzunehmen, geschweige denn von Ereignissen zu einem Wesen überzugehen und somit auch die Klasse von Entitäten zu wechseln, ist durch die abstrakte Erklärung einer möglichen Reihe, die „ungleichartige" Glieder besitzt, nicht gedeckt.
2.2
Die kosmologischen
Ideen als ins Unbedingte
erweiterte
Kategorien
Das „System der kosmologischen Ideen" ist der Text, in welchem Kant die These vorträgt, die transzendentalen Ideen seien „eigentlich nichts, als bis zum Unbedingten erweiterte Kategorien" (A409/B436). Schon deshalb sollte sich jene Beziehung zwischen Kategorie und Idee für die kosmologischen Ideen vergleichsweise leicht nachweisen lassen - unabhängig von der Frage, ob Kants These von den ins Unbedingte erweiterten Kategorien gemäß unserer Interpretationshypothese tatsächlich für alle transzendentalen Ideen gilt oder nicht. Auch lässt die Tatsache, dass es Reihen147 von Bedingungen sind, die auf die kosmologischen Ideen führen, die fragliche Beziehung zwischen Kategorie und Idee in den nun zu behandelnden vier Fällen prima facie insofern plausibler erscheinen, als die Rede von einer „Erweiterung" einer Kategorie ins Unbedingte den Gedanken an einen reihenförmig zu denkenden, aufgegebenen Regressus von Bedingungen nahe legt. Schließlich sind es doch die sukzessiv angestrengten Verstandeshandlungen mittels der Kategorien, die die Glieder der jeweiligen Reihe als Reihenglieder konstituieren. Da sowohl in der Rede von einer „Erweiterung" als auch in der Rede vom „Regressus" die Vorstellung von einer Sukzession anklingt, scheint gerade mittels dieser Plausibilitätsüberlegung insbesondere der Weg verschlossen, eine der Qualitätskategorien ins Unbedingte zu erweitern, da der Exponent jeder der vier Reihen in einer Spezifikation der Relation „x bedingt y " bestehen soll. Während „y folgt als Wirkung von χ zeitlich auf x" als Explikation kausaler Bedingtheit aufgefasst werden dürfte, ist überhaupt nicht klar, wie die entsprechende Relation etwa für die Kategorie der Negation zu denken ist. Während also bestenfalls dunkel ist, was etwa unter einer sukzessiven Synthesis gemäß der Negationskategorie zu verstehen sein soll, lädt das kosmologische Prinzip der Reihe natürlicherweise dazu ein,
141
Der gesamten Kosmologieproblematik soll bereits der Weltbegriff der ,,absolute[n] Einheit der Reihe der Bedingungen der Erscheinung" (A334/B391) zugrunde liegen.
104
Das System der kosmologischen Ideen
„dynamisch" - d.h. als Kausalreihe oder als Reihe kontingenter Ereignisse bzw. Existenzen - gedacht zu werden. Wir wollen bereits hier ankündigen, dass unsere Interpretationshypothese, nach der die kosmologischen Ideen sich als die ins Unbedingte erweiterten Kategorien der „Vielheit", „Negation", „Kausalität und Dependenz" und „Dasein-Nicht-sein" (vgl. A80/B106) auffassen lassen, sich für die beiden so genannten „mathematischen" Kategorien - insbesondere für die Kategorie der Negation - schwieriger zur Bestätigung bringen lässt als im Falle der beiden „dynamischen" Kategorien. Im Folgenden soll dennoch deutlich werden, welche ausgezeichneten Rollen diese vier Kategorien bei den vier kosmologischen Varianten spielen, der Vernunftforderung nach der Aktualität des Unbedingten nachzukommen.
2.2.1 Zeit- und Raumganzes als Varianten ins Unbedingte Vielheit
erweiterter
Wir erinnern uns, dass sich die erste kosmologische Idee von der „absoluten Vollständigkeit der Zusammensetzung des gegebenen Ganzen aller Erscheinungen" (A415/ B443) als Idee von der Weltgroße in formaler, d.h. in zeitlicher und räumlicher Hinsicht interpretieren ließ. 148 Das Weltganze soll als extensive Größe (als quantum) aufgefasst werden, deren Größe (quantitas) bestimmbar ist. 149 Jede Apprehension extensiver Größen - dazu gehören neben den räumlichen Objekten der äußeren Erscheinung auch reine quanta wie Raum- und Zeitintervalle - ist für Kant nur sukzessiv möglich 150 , findet also in der Zeit statt. Andererseits sind nur extensive Größen sukzessiv apprehendierbar, so dass gilt: Genau die extensiven Größen sind sukzessiv apprehendierbar. In der Regel haben wir es im Rahmen äußerer Erfahrung darüber hinaus mit kontinuierlichen Größen zu tun, da die Diskretion von Größen bereits das Resultat einer Verstandeshandlung ist, die über das bloße Apprehendieren eines als Einheit aufgefassten Gegenstandes hinausgeht.
148
Dass der Gegenstand der ersten kosmologischen Idee diese Weltgröße ist, wird von Kant im 7. Abschnitt der Antinomie bestätigt, wo er Thesis und Antithesis der ersten Antinomie auf die kurzen Formeln bringt „[...] die Welt ist der Größe nach unendlich, die Welt ist ihrer Größe nach endlich [...]" (A504/B532). In der „Auflösung" der ersten kosmologischen Idee spricht Kant auch von der „unbedingten Größe des Weltganzen" (A518/B546). 149 Zu den beiden hier vorliegenden Bedeutungen der „Größe" vgl. etwa den Abschnitt über die „Axiomen der Anschauung", wo Kant die quanta, worunter er offensichtlich die ausgedehnten Kontinua selbst zu verstehen scheint, mit der abstrakten quantitas kontrastiert, welche „die Antwort auf die Frage: wie groß etwas sei? betrifft" (A163/B202 f.). 150 „Die Apprehension des Mannigfaltigen der Erscheinung ist jederzeit sukzessiv" (A189/B234). Selbst wenn es in Kants bekanntem Beispiel der Linie und des Kreises um imaginierte Gegenstände der reinen Anschauung geht, mag es der Illustration der jederzeit sukzessiven Apprehension dienen: „Wir können uns keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen, keinen Zirkel denken, ohne ihn zu beschreiben" (B154).
Die kosmologischen Ideen als ins Unbedingte erweiterte Kategorien
105
Inwiefern wird nun diejenige Verstandeshandlung bei einem Vorstellen der kontiniuerlichen extensiven Größen der Erfahrung ausgeübt, die dem Gebrauch der Kategorie der Vielheit entspricht? Es ist der Begriff der Größe (als quantitas) selbst, der Kant zufolge in einem besonderen Verhältnis zur Kategorie der Vielheit steht. In der Kategorientafel der Prolegomena ergänzt Kant die Bezeichnungen „Einheit", „Vielheit" und „Allheit" jeweils in Klammern durch die Ausdrücke „Maß", Größe" und „Ganzes". Dies zeigt für Michael Frede und Lorenz Krüger, dass Kant „ausdrücklich den Anspruch erhoben hat, die Quantitätsbegriffe, die die Urteilsquantität bestimmen, seien auch genau die Begriffe, die als Maß, Größe, Ganzes auf das kontinuierliche Mannigfaltige angewendet werden." 1 3 ' W a s Kant durch sein Hinzusetzen der „Größe" zur Kategorie der Vielheit anzeigen möchte, ist Fredes und Krügers Überlegungen zufolge dies: Beim Denken eines jeden Kontinuums als Größe wird die Kategorie der Vielheit insofern gebraucht, als die Bestimmung der Größe durch einen Prozess des Messens bzw. ein Zählen von Einheiten vermittelt ist. Ein Messen setzt ein Maß, ein Zählen setzt eine Einheit voraus. Die gemessene Größe eines Gegenstandes muss als Vielheit von Einheiten aufgefasst werden, ja, die Größe (als quantitas) existiert überhaupt nur als Vielheit einer jeweiligen Einheit. Insofern ist Größe Vielheit und insofern findet ein Gebrauch der Kategorie der Vielheit bei der Größenbestimmung jeder kontinuierlichen extensiven Größe statt. Macht man nun den Versuch, nicht nur die Größe von begrenzten raumzeitlichen Objekten, sondern die Größe des selbst unbedingten Raum- bzw. Zeitganzen, der beiden ursprünglichen quanta continua (vgl. A169/B211), zu bestimmen, so geht dieser Versuch mit einem uneingeschränkten Gebrauch der Kategorie der Vielheit einher; m.a.W.: eine Erweiterung der Kategorie der Vielheit ins Unbedingte wird beim Versuch, die Größe der beiden Dimensionen des Gesamtzusammenhangs raum-zeitlich strukturierter Erfahrung zu bestimmen, insofern angestrengt, als das Denken der Gegenstände der ersten kosmologischen Idee, Raum- und Zeitganzes, eine unendliche und gleichsam vollendete sukzessive Synthesis gemäß der Kategorie der Vielheit erfordert. Wieso ist es nicht die Kategorie der Allheit, die beim Versuch, die „Größe des Weltganzen" (A518/B546) zu denken, uneingeschränkt gebraucht wird? Legt
131
Vgl. Frede u. Krüger 1970, S. 45 f. Auch für Mellin liegt bereits offensichtlich jeweils ein Identitätsverhältnis zwischen den Quantitätskategorien und den Ausdrücken „Maß", „Größe" und „Ganzes" vor: „Da die Einheit das ist, wodurch die Vielheit und Allheit gemessen wird: so kann man sie auch das Maß nennen; da die Vielheit eigentlich das ist, was da macht, daß ich mehreres Gleichartiges unterscheiden kann, welche Vorstellung auch die Quantität oder Größe heißt: so kann man die Vielheit auch die Größe nennen, und von ihr hat diese Klasse der Kategorien den Namen, weil sie der Hauptbegriff ist. Und da die Allheit eigentlich das ist, was da macht, daß mir nichts an dem ganzen Umfange oder der Sphäre fehlt, welches die Vorstellung des Ganzen ist, so kann die Allheit auch das Ganze heißen. Und so sehen wir, daß die Begriffe: Maß, Größe, Ganzes dieselben Kategorien sind." (Mellin 1968, s. „Kategorie", S. 526)
106
Das System der kosmologischen Ideen
Kants suggerierte Synonymie der Ausdrücke „Allheit" und „Ganzes" in der Kategorientafel der Prolegomena diesen Gedanken nicht ebenfalls nahe? Bezüglich dieser Fragen ist Kants Erläuterung der Allheitskategorie im Anschluß an die Kategorientafel in der KdrV aufschlussreich. Er bestimmt dort die Kategorie der Allheit seiner Überlegung entsprechend, dass die jeweils dritte Kategorie jeder Gruppe „aus der Verbindung der zweiten mit der ersten ihrer Klasse entspringt", auch als „die Vielheit als Einheit betrachtet" ( B i l l ) . Jene Einheit der Vielheit findet beim Zählen unendlicher Mengen ebenso wenig statt wie beim Durchmessen unendlicher Kontinua. Während jene Prozesse niemals vollendet sind, der unendliche Regress jeweils nur „aufgegeben" ist, besitzen nur endliche Zusammenfassungen synthetische Einheit im Sinne der Bezugnahme auf eine (auch anschaulich) „gegebene" Einheit. Die Möglichkeit der vollständigen Gegebenheit extensiver Größen muss Kant zufolge wohl als Voraussetzung dafür aufgefasst werden, deren Größe mittels Zahlbegriffen zu denken. Der „Begriff einer Zahl" seinerseits steht Kant zufolge in einer innigen Beziehung zur Kategorie der Allheit: „So ist der Begriff einer Zahl (die zur Kategorie der Allheit gehört) nicht immer möglich, wo die Begriffe der Menge und der Einheit sind (z.B. in der Vorstellung des Unendlichen) [...]" ( B i l l )
Wir lesen hier u.a. dies: „In der Vorstellung des Unendlichen ist der Begriff einer Zahl nicht möglich." Mit genau dieser Unmöglichkeit sehen wir uns Kant zufolge bei der Größenbestimmung von R a u m und Zeit konfrontiert: Wir verfügen zwar jeweils über ein M a ß bzw. „Begriffe der Einheit", und sowohl der Raum als auch die Zeit lassen sich jeweils als eine Menge von Einheiten auffassen, doch da diese Mengen Kant zufolge als potentiell unendliche gedacht werden müssen, lassen sie sich nicht bestimmten resp. angebbaren Zahlen zuordnen. Bereits Mellin bezieht sich offensichtlich auf B i l l , wenn er schreibt: „Das Unendliche läßt sich nicht unter den Verstandesbegriff der Allheit subsumieren, es [das Unendliche] ist ein Vernunftbegriff (eine Idee) [...] es ist uns nicht möglich, das Unendliche als den Verstandesbegriff der Allheit, oder als Zahl, einer Grenze von anzugebenden Einheiten zu denken." 152 Für Mellin wie für Kant, die noch keine transfiniten Kardinalzahlen kennen und diese als Mächtigkeitsbegriffe für verschiedene „Größen" des Unendlichen möglicherweise auch abgelehnt hätten, fällt der Begriff der Zahl mit dem „einer Grenze von anzugebenden Einheiten" zusammen. W e n n Zahlen stets endliche Anzahlen sind, dann ist die Subsumption von sukzessiv apprehendierten Raum- bzw. Zeit-
152
Mellin 1968, s. „Kategorie", S. 538.
Die kosmologischen Ideen als ins U n b e d i n g t e erweiterte Kategorien
107
teilen unter Maßzahlbegriffe nur dann möglich, wenn es sich um Raum- bzw. Zeitteile endlicher Größe handelt. Weil aber Kant zufolge Raumganzes und Zeitganzes als potentiell unendliche Größen gedacht werden müssen, ist es - ohne über transfinite Kardinalzahlen zu verfügen - nicht möglich, der Raum- bzw. Zeitgröße eine Zahl zuzuordnen. Da Raum und Zeit nie als Ganze gegeben sind, gelingen die quantitativen Bestimmungen der Weltgröße als Zusammenfassungen von Einheiten im Begriff einer an-gebbaren Zahl („die zur Kategorie der Allheit gehört") nicht. Für Kant ist ein „unendliches Ganzes" „größer als alle Zahl" (vgl. A432/B460).
2.2.2
Vollendete Teilung als ins Unbedingte
erweiterte
Negation
Die zweite kosmologische Idee scheint den Plan der Bestätigung unserer Interpretationshypothese, nach der die transzendentalen Ideen des «-ten Hauptstücks der TD ein-eindeutig auf die jeweils /i-ten Kategorien jeder Gruppe beziehbar sind, zu vereiteln. Wenn Kant im Rahmen der Aussonderung der für die Kosmologie relevanten bzw. überhaupt tauglichen (vgl. A409) Kategorien unmittelbar an der „Realität im Räume, d.i. die Materie" 133 ansetzt, so suggeriert dies die Beziehbarkeit der zweiten kosmologischen Idee auf die Kategorie der Realität. Und in der Tat lassen sich als Gegenstände unbedingter Realität in bestimmter Weise diejenigen Gegenstände auffassen, die keine Teile haben, welche jene bedingen könnten, sofern die inneren Bedingungen der Gegenstände in Betracht gezogen werden. Das Unteilbare ist das Einfache, und da es im zweiten Widerstreit der Antinomie um dessen mögliche Existenz geht, scheint dort unbedingte Realität thematisiert. Auch wollen wir Kants vorgreifenden Hinweis aus dem Paralogismenkapitel nicht verschweigen, der die Zuordnung der zweiten kosmologischen Idee zur Kategorie der Negation chancenlos erscheinen lässt. Kant gibt zum zweiten Eintrag der „Topik der reinen Seelenlehre" die folgende Anmerkung: „Wie das Einfache hier [d.h. bei der zweiten psychologischen Idee von der Einfachheit der Seele] der Kategorie der Realität entspreche [...] wird im folgenden Hauptstücke [d.h. im Antinomie-Hauptstück], bei Gelegenheit eines andern Vernunftgebrauchs, eben desselben Begriffs, gewiesen werden." (A404 a) Ist die zweite kosmologische Idee dennoch auf die Kategorie der Negation beziehbar, ohne dem Text Gewalt antun zu müssen? Wenn Wolfgang Malzkorn feststellt:
153
A 4 1 3 / B 4 4 0 ; H e r v o r h e b u n g von N.K.
108
Das System der kosmologischen Ideen
„ A u s der G r u p p e der Qualitätskategorien thematisiert Kant nur die Kategorie der Realität; Negation und Limitiation w e r d e n w e d e r auf ihre Tauglichkeit hin überp r ü f t n o c h e r w ä h n t . Kant setzt sogleich bei der „Realität im R ä u m e , d.i. die M a t e rie" an [...l" 1 5 4 .
so ist die letzte der drei Beobachtungen zweifellos unstrittig. Dass Kant bei der „Realität im R ä u m e " ansetzt, muss allerdings nicht bedeuten, dass die nicht explizit „erwähnte" Kategorie der Negation nicht implizit „thematisiert" wird, wenn die regressive Synthesis innerer Bedingungen in Gestalt der sukzessiven Teilung von materiellen Körpern auf den Plan tritt. Heinz Heimsoeth schlägt eine Deutung vor, nach der die Negationskategorie in Gestalt der zweiten kosmologischen Idee ins Unbedingte erweitert wird, nach der „vollendete Teilung räumlich-materieller Realität [...], bei konsequentem Ausdenken des Vernunftanspruchs, zur unbedingten Negation, „in Nichts" führen" 1 3 1 könne. Heimsoeth scheint diese Zuordnung der Negationskategorie zum zweiten kosmologischen Widerstreit auch im Zusammenhang seiner Kommentierung der „Betrachtung über die Summe der reinen Seelenlehre" der A-Ausgabe der KdrV vorzuschlagen: „Bei der V o r e i n t e i l u n g der A n t i n o m i e n heißt es für die Z w e i t e : die „Realität" (Sachheit) im R ä u m e und deren „innere B e d i n g u n g e n " stehen hier zur Frage, w o b e i die u n e n t w e g t e T e i l u n g s m ö g l i c h k e i t alles Z u s a m m e n g e s e t z t e n e n t w e d e r auf das E i n f a c h e f ü h r e o d e r „in N i c h t s " - w a s j a w i e d e r u m als Erhebung der zweiten Qualitätskategorie („Negation") ins Unbedingte zu d e n k e n ist!" 1 3 6
Nach Heimsoeths Deutung besteht der Zusammenhang zwischen der zweiten kosmologischen Idee und der Kategorie der Negation demnach im Scheinproblem 157 , ob mit der vollendeten Teilung der Materie die Materie selbst aufgehoben wird. Diese Aufhebung ist Kant zufolge zweifach denkbar: Entweder „verschwindet die Realität der Materie in Nichts oder doch in das, was nicht mehr Materie ist, nämlich das Einfache." (vgl. A413/B440) Der Begriff des ,»Nichts", auf welches vollendete Teilung materieller Realität führen könnte, ist in der kantischen Tafel des „Nichts" (vgl. A292/B348) dem
154
Malzkorn 1999, S. 82. Heimsoeth II, S. 208 (Hervorhebung von N.K). 156 Heimsoeth I, S. 163 (Hervorhebung von N.K). 137 Aus Kants Perspektive handelt es sich dabei deshalb bloß um ein Scheinproblem, weil der Prozess wiederholt auszuführender Teilung „nur potentialiter unendlich genannt werden" (A418/B445) kann, d.h. als unendlicher jederzeit nur aufgegeben, niemals jedoch - sofern er abgeschlossen gedacht wird - gegeben ist. Wer die Frage stellt, ob denn nach unendlich oft ausgeführter Teilung das Einfache oder aber nichts übrig bleibe, bleibt einem Denken verhaftet, welches ausschließlich endliche Prozesse gewohnt ist. Kant folgend können wir wohl sagen: „Die Materie ist in Teile, Teile der Teile usf. zerlegbar", sollten jedoch nicht sagen: „Die Materie ist aus Teilen zusammengesetzt", da diese Redeweise bereits die Existenz von letzten, selbst unteilbaren Teilen suggeriert. 155
Die kosmologischen Ideen als ins Unbedingte erweiterte Kategorien
109
zweiten Kategorientitel der Qualität entsprechend als der Begriff des nihil privativuni („Leerer Gegenstand eines Begriffs") verzeichnet: ein qualitatives, reales Nichts. Der Begriff vollendeter Teilung hat nicht nur etwa deshalb „Nichts" zum Gegenstand, weil es keinen Gegenstand gibt, der unter ihn fällt (wie beim ens rationis) oder weil es sich um einen in sich widersprüchlichen Begriff handelt (wie beim nihil negativum), sondern weil bereits das Denken des Begriffsinhalts dazu auffordert, reales Nichts resp. qualitatives Nichts zu denken. Anders als etwa bei den Begriffen „Einhorn" oder „viereckiger Kreis" ist beim Begriff des „Teillosen", „Unteilbaren" bereits alle mögliche Realität des Begriffs, die dem Begriffsinhalt entspricht, verneint. Solange es sich nämlich um etwas (empirisch Reales) handelt, ist dies als teilbar zu denken. Auf diesen Umstand verweist auch Kants Terminus „Leerer Gegenstand eines Begriffs". Nicht etwa ist allein der Begriffsumfang leer - dies gilt klarerweise für jeden Begriff des „Nichts" - sondern ein „leerer Gegenstand" soll gedacht werden, d.h. qualitativ „Nichts". Dies unterscheidet den Begriff des Einfachen insbesondere vom Begriff des Einhorns oder den Begriffen anderer Gedankendinge (A292/B348), mittels derer noch etwas vorgestellt wird. Obwohl Heimsoeth selbst den zitierten Bezug zwischen der Kategorie der Negation und der zweiten kosmologischen Idee herstellt, ordnet er an anderer Stelle die zweite kosmologische Idee der Kategorie der „Realität" zu: „Realität ordnet Kant das kosmologische Problemthema vom Zusammengesetzt-Teilbaren und seinen Bedingungen ,nach innen' zu." 138 Von welcher Art diese „Zuordnung" selbst ist, bleibt bei Heimsoeth, der über kein allgemeines Prinzip der Zuordnung zwischen Kategorie und Idee zu verfügen scheint, allerdings nahezu unkommentiert. Die Zuordnung zwischen der zweiten kosmologischen Idee und der Kategorie der R e a l i t ä t " kann sicherlich nicht in der Weise gedacht werden, als sei der Begriff „unbedingter Realität" identisch mit der Idee „absolutefr] Vollständigkeit der Teilung eines gegebenen Ganzen in der Erscheinung" (A415/B443), wie es Kants Diktum fordert, die transzendentalen Ideen seien eigentlich nichts als ins Unbedingte erweiterte Kategorien. Und es ist keineswegs die Kategorie der Realität dadurch gekennzeichnet, dass die nach ihrem Schema wiederholt vollzogenen Synthesen bereits „eine Reihe ausmachen" (vgl. A409/B436), wie dies etwa bei der Kategorie der Kausalität der Fall ist. Weder gelingt es uns, gemäß Kants Aussonderungsprinzip (für die zu kosmologischen Ideen erweiterbaren Kategorien) die Kategorie der Realität auszusondern, noch stellt uns Kant überhaupt vor diese Aufgabe, da er gar nicht behauptet, die wiederholte Synthesis qua Realitätskategorie mache eine Reihe von Bedingungen aus. Diejenige Operation, die sukzessiv ausgeführt auf eine Reihe von („inneren") Bedingungen führt, ist die Teilung von Körpern. Die Reihe „ ... ,b ist Teil von a, c
158
Heimsoeth 1966 II, S. 207.
110
Das System der kosmologischen Ideen
ist Teil von b, d ist Teil von c ..." ist angesprochen, wenn Kant im System der kosmologischen Ideen schreibt: ,,Folglich ist hier auch eine Reihe von Bedingungen und ein Fortschritt zum Unbedingten" (A413/B441). Und hier ist es gerade die Kategorie der Negation, die in besonderer Weise den Begriff der Teilung konstituiert, sofern nämlich durch das Teilen eines materiellen Körpers die Existenz dieses Körpers negiert wird, indem nämlich die Existenzweise dieses Körpers als Einheit aufgehoben wird.' 1 9 So ist z.B. ein Tisch kein Tisch mehr, nachdem er in eine Platte und vier Beine zerlegt wurde. Weder also sind die Begriffe „absoluter Vollständigkeit der Teilung eines gegebenen Ganzen in der Erscheinung" (A415/B443) und „unbedingter Realität" gleichbedeutend, was der Fall sein sollte, wenn die zweite kosmologische Idee eigentlich nichts als der Begriff unbedingter Realität wäre 160 , noch wird die Negantionskategorie dadurch ins Unbedingte erweitert, dass im Sinne „gänzliche[rj Negation" (A168/B210) nach vollendeter Teilung Nichts von der körperlichen Realität in der Erscheinung übrig bliebe (Heimsoeth), da sich dieses Scheinproblem nur im Fall der Thesis stellt. Unsere Deutung der Thematik diese: Die Kategorie der Negation ins Unbedingte zu erweitern bedeutet im Zusammenhang der zweiten kosmologischen Idee, sie fortwährend zu teilen, ja, sich schließlich die Zusammensetzung aus Teilen als aufgehoben vorzustellen. Dabei wird die Negationskategorie nicht etwa auf einen als unbedingt vorgestellten Gegenstand (etwa: „das Einfache") angewandt, sondern konstituiert die Relation zwischen jeweils aufeinander folgenden Reihengliedern. Kants Ansetzen an der Realität im R ä u m e " im System der kosmologischen Ideen ist schlicht die Konsequenz daraus, dass wir es beim zweiten kosmologischen Widerstreit mit einem Problem zu tun haben, welches die Reflexion über die Qualität in der äußeren Erscheinung bereithält, und darf nicht als Aussonderung der Relationskategorie gemäß des kosmologischen Prinzips der „Reihe" missverstanden werden.
139
Die „Negation" bzw. Aufhebung ist selbst als die bestimmte Negation der „Position" bzw. Setzung bestimmt. Obwohl auch Malzkorn [1998] in seinem Aufsatz Kant über die Teilbarkeit der Materie feststellt, dass „durch Teilung des Ganzen das Ganze als solches aufgelöst wird" (S. 406), sieht er eben darin kein Indiz dafür, dass im zweiten kosmologischen Widerstreit die Kategorie der Negation „thematisiert" wird, wie aus seiner Studie zur Kosmologie-Kritik Kants hervorgeht [Malzkom 1999, S.82], 160 Um einen besonderen Begriff unbedingter Realität scheint es sich vielmehr bei der Vorstellung einfacher Teile der Materie zu handeln (vgl. A404).
Die kosmologischen Ideen als ins Unbedingte erweiterte Kategorien
2.2.3 Vollständigkeit der Entstehung einer Erscheinung als ins erweiterte „ Kausalität-Dependenz "
111 Unbedingte
Die Kategorie der Kausalität ist nicht nur Prototyp für eine Kategorie, die als ,JExponent" einer Reihe einander übergeordneter Bedingungen dient, sondern wohl auch diejenige Kategorie, anhand derer man sich die Vernunftforderung nach Totalität der Bedingungen jederzeit erläutern kann. Es scheint natürlich zu sein, „Bedingungen" als Gründe resp. Ursachen gemäß der Kategorie der Kausalität zu denken, die sich der zeitgenössische Verstand wiederum insbesondere als Kausalität im Sinne der causa movens denkt. Und nirgendwo sonst scheint das Interesse der Vernunft nach vollständigem Begreifen der Wirklichkeit seinerseits so greifbar zu sein wie in den wiederholt stellbaren Fragen nach der „Entstehung" (A415/B443) von Ereignissen. Die Bestätigung unserer Interpretationshypothese wird in diesem Fall daher auch eher einem Kommentar bereits vollzogener Erkenntnis gleichen. Die ins Unbedingte erweiterte regressive Synthesis gemäß der Kausalitätskategorie führte Kant, ausgehend von einem beliebigen Ereignis der Erscheinung, zur Frage des dritten Widerstreits der Antinomie, ob es kausal unbedingte Ereignisse bzw. „in Ansehung der Ursachen absolute S e l b s t t ä t i g k e i t (Freiheit)" (A418/B446) gibt oder nicht. Da Kant ausdrücklich „Freiheit" als „unbedingte Kausalität der Ursache in der Erscheinung" (A419/B447) definiert, stellt er im Falle der dritten kosmologischen Idee den behaupteten Zusammenhang zwischen Kategorie und transzendentaler Idee explizit her. „Kausalität durch Freiheit", wie es in der Thesis heißt, bzw. eine Ursache, die selbst nicht „nach Gesetzen der Natur" als eine Folge eines natürlichen Geschehens aufzufassen ist 161 , ist freilich nur die eine Variante ins Unbedingte erweiterter Kausalität. Der Dichotomie von Endlich- bzw. Unendlichkeit der Reihe entsprechend ist die endlos - oder sagen wir besser: ohne Anfang - gedachte Reihe aufeinander folgender naturgesetzlicher Kausalitäten bzw. Ereignisse der alternative und in diesem Fall selbst unbedingte Gegenstand der dritten kosmologischen Idee. Die Vorstellung von der Gegebenheit der „absoluten Vollständigkeit der Entstehung einer Erscheinung überhaupt" (A415/B443) ist der allgemeine Begriff ins Unbedingte erweiterter „KausalitätDepenzenz", der die in der Thesis bzw. Antithesis behaupteten Möglichkeiten als Spezifikationen unter sich befasst.
161
Die Einteilung des Begriffs der Kausalität in naturgesetzliche Kausalität und Kausalität aus Freiheit ist Kant zufolge vollständig: „Man kann sich nur zweierlei Kausalität in Ansehung dessen, was geschieht, denken, entweder nach der N a t u r , oder aus F r e i h e i t , , ( A 5 3 2 / B 5 6 0 ) . Dass Kant hier ausschließlich über den Begriff der Kausalität i m Sinne der causa movens urteilt, ist daraus ersichtlich, dass er Uber die „Kausalität in Ansehung dessen, was geschieht" urteilt.
Das System der kosmologischen Ideen
2.2.4
Vollständige Abhängigkeit unter den Weltveränderungen als ins Unbedingte erweitertes „Dasein-Nichtsein"
Die vierte kosmologische Idee von der absoluten Vollständigkeit der Abhängigkeit des Daseins des Veränderlichen in der Erscheinung" (A415/B443) ist, wie wir oben sahen, das Resultat der Vernunftforderung nach Vollständigkeit der Reihe von sich bedingenden Weltzuständen. Die Glieder dieser Reihe werden, dem Doppelcharakter des kontingent und empirisch Daseienden entsprechend, sowohl als hypothetisch notwendig als auch als zufällig betrachtet. Ihre Verknüpfung untereinander wird gemäß dem Schema der Kategorie der „NotwendigkeitZufälligkeit" (A80/B106) gedacht. Es liegt daher nahe, die Kategorie der Notwendigkeit-Zufälligkeit als die in der rationalen Kosmologie ins Unbedingte erweiterte anzunehmen. Ein Problem dieser Auffassung besteht darin, dass im Falle der Endlichkeit der Reihe ein erstes, „oberstes Glied" nicht selbst als absolut notwendig anzunehmen ist. Vielmehr scheint doch, wenn die Reihe kontingenter, hypothetischnotwendiger Existenzen endlich ist, Uber die Zufälligkeit bzw. Notwendigkeit eines ersten Gliedes überhaupt nicht geurteilt zu werden. Die Notwendigkeit innerhalb der Reihe (als E x p o n e n t " zweier aufeinander folgender Glieder) bezieht sich nämlich stets auf die notwendige Folge, m.a.W.: in der mit Α beginnenden Reihe A, B, C,... sind B, C,... hypothetisch notwendig, weil gilt: „B folgt notwendig auf A", ,,C folgt notwendig auf B " usf., während die Modalität von Α gänzlich unberührt bleibt. 162 Somit verstehen wir auch, weshalb Kant bereits im „System der kosmologischen Ideen" behaupten kann, die Vernunft treffe die unbedingte Notwendigkeit nur in der Totalität dieser Reihe an (vgl. A415/B442), und nicht etwa, so können wir ergänzen, im möglicherweise existierenden ersten Glied selbst, welches, sofern es überhaupt existiert, ebenfalls von bloß kontingenter Existenz sein könnte. Sollte es die Kategorie der „Notwendigkeit-Zufälligkeit" sein, die zur vierten kosmologischen Idee erweitert wird, wäre ferner unsere Interpretationshypothese durchkreuzt, nach der in der rationalen Kosmologie die jeweils zweite Kategorie jeder Gruppe von den Einschränkungen einer möglichen Erfahrung frei gemacht und zur transzendentalen Idee erweitert wird. Wir behaupten, dass in der vierten kosmologischen Idee von der totalen Bedingtheit bzw. „Abhängigkeit" des Daseins des kontingent Empirischen die Kategorie des „Daseins-Nichtseins" ins Unbedingte erweitert wird. Für das kontingent Existierende, für welches Totalität der Existenzbedingungen gefordert wird, gilt 162
Daher ist es nicht korrekt, wenn Heinz Heimsoeth dem kantischen Text folgend behauptet, mit dem Gedanken an die absolute Vollständigkeit der Abhängigkeit des Daseins des Veränderlichen werde „die Setzung eines schlechthin-notwendig Existierenden [...] unausweichlich" (Heimsoeth 1966 II, S. 251).
Das sophisma figurae dictionis der rationalen Kosmologie
113
nämlich: Sein Dasein ist ebenso widerspruchsfrei möglich, wie sein Nichtsein. Weder ist die Welt, als vollständige unendliche Reihe der Erscheinungen, unbedingt notwendig bzw. absolutnotwendig, sondern unbedingt da, noch enthält die endliche rückwärtige Reihe kontingenter Existenzen resp. Weltzustände ein absolut notwendiges erstes Glied - sofern kein illegitimer „Absprung" von der kosmologischen Perspektive stattfindet. Selbst wenn nämlich als erstes Glied ein erster Welt zustand angenommen wird, so bleibt dieser bezüglich seines Existenzmodus gänzlich unbestimmt. Absolut notwendig ist etwas genau dann, wenn sein Gegenteil absolut unmöglich ist. Ein erster Weltzustand taugt nicht, um den Begriff der absoluten Notwendigkeit zu erfüllen. Gleiches gilt für die Existenz eines extramundanen Wesens, welches als Ursache der ganzen Reihe weltlicher Zustände angenommen wird: Die Existenz eines Wesens ist nur dann notwendig, wenn seine Nichtexistenz unmöglich ist und aus seiner Existenzmöglichkeit bereits seine Wirklichkeit folgt. 163 Von dieser Art ist weder die ganze Reihe noch eine außerweltliche Ursache der Reihe. Die Existenz eines wie auch immer, in jedem Fall aber ausschließlich zur Letztbegründung der ganzen Reihe, angenommenes erstes Glied bleibt ebenso kontingent wie die Existenz der Reihe selbst. Daher ist es nicht die zwar dem Exponenten der vierten kosmologischen Reihe entsprechende Kategorie der „Notwendigkeit-Zufälligkeit", die zur vierten kosmologischen Idee erweitert wird, sondern die des „Daseins", wie Kant auch bereits mittels Fettdruck hervorhebt: Die möglichen Gegenstände der Idee von der „absoluten Vollständigkeit der Abhängigkeit des Daseins des Veränderlichen in der Erscheinung" - erster Weltzustand bzw. Welt selbst - sind nicht absolut notwendig, sondern Gegenstände von unbedingtem Dasein, welches schlicht über die Abwesenheit von Bedingungen definiert ist (vgl. A418/B445a).
2.3 Das sophisma figurae dictionis und der dialektische rationalen Kosmologie
Schluss der
Im siebten Abschnitt des Antinomie-Hauptstücks versucht Kant, die rationale Kosmologie seiner Vorgänger auf einen formal ungültigen Schluss zurückzuführen. Das ist insofern neu, als wir bisher davon ausgehen durften, dass die rationalen Kosmologen auf der Grundlage des von Kant für fehlerhaft erklärten obersten Prinzips der reinen Vernunft zwar formal korrekt, jedoch Falsches, weil zuviel 163
In der Unmöglichkeit, aus kosraologischer Perspektive den Begriff eines absolut notwendig existierenden Wesens verständlich zu machen, erkennen wir auch den Grund dafür, dass der kosmologische Gottesbeweisversuch auf den ontologischen zurückgreifen muss. Das ontologische Argument besteht gerade in der Behauptung, dass der Begriff von Gott die Eigentümlichkeit aufweise, dass mit der allein im Begriff von Gott liegenden Möglichkeit bereits Gottes Existenz gegeben ist, die damit eine notwendige Existenz ist, weil seine Nichtexistenz ausgeschlossen sein muss, damit ein solcher Schluss von der Möglichkeit auf die Wirklichkeit gelingt.
114
Das System der kosmologischen Ideen
erschließen. Über das Verhältnis von W a h r - bzw. Falschheit der Prämissen sowie formaler Gültig- bzw. Ungültigkeit des Schlusses in verschiedenen Interpretationen ihrer Prämissen wollen wir uns im F o l g e n d e n Klarheit verschaffen. Diese Analyse wird zur K o n s e q u e n z haben, dass nur v o m metaphysischen Standpunkt des transzendentalen Idealismus aus der „dialektische" Schluss der rationalen K o s m o l o g i e als Sophisma begriffen werden kann. D a der transzendentale Realist als möglicher Adressat der formallogischen Diagnose Kants nicht in Frage k o m m t , ist daher zu fragen, inwiefern es sich überhaupt um einen dialektischen Schluss derjenigen „rationalen K o s m o l o g i e " handelt, die Kant der Kritik unterzieht. Sehen wir uns Kants D i a g n o s e an. D i e Gültigkeit des obersten Prinzips der reinen V e r n u n f t wird von Kant in die Abhängigkeit v o m transzendentalen Realism u s - der A n n a h m e , die erkennbaren D i n g e unserer Erfahrungswirklichkeit seien Dinge an sich - gestellt: „Ferner: wenn das Bedingte so wohl, als seine Bedingungen, Dinge an sich selbst sind, so ist, wenn das Erstere gegeben worden, nicht bloß der Regressus zu dem Zweiten aufgegeben, sondern dieses ist dadurch wirklich schon mit gegeben, und weil dieses von allen Gliedern der Reihe gilt, so ist die vollständige Reihe der Bedingungen, mithin auch das Unbedingte dadurch zugleich gegeben [...]. Dagegen wenn ich es mit Erscheinungen zu tun habe, [...] so kann ich nicht in eben der Bedeutung sagen: wenn das Bedingte gegeben ist, so sind auch alle Bedingungen (als Erscheinungen) zu demselben gegeben, und kann mithin auf die absolute Totalität der Reihe keineswegs schließen." (A498/B526 f.) Kant macht offensichtlich die mittels der Unterscheidung von Erscheinungen und Dingen an sich geschaffene H o m o n y m i e der Termini „ B e d i n g u n g " und „Bedingt e s " f ü r die formallogische Ungültigkeit der Schlüsse der rationalen K o s m o l o g i e verantwortlich: „Hieraus erhellet, daß der Obersatz des kosmologischen Vernunftschlusses das Bedingte in transzendentaler Bedeutung einer reinen Kategorie, der Untersatz aber in empirischer Bedeutung eines auf bloße Erscheinungen angewandten Verstandesbegriffs nehmen, folglich derjenige dialektische Betrug darin angetroffen werde, den man Sophisma figurae dictionis nennt." (ebd.) Kant hat als Prämissen des ungültigen Schlusses o f f e n b a r die folgenden im Sinn: (1) W e n n ein Bedingtes als D i n g an sich gegeben ist, dann ist auch die ganze R e i h e seiner B e d i n g u n g e n als D i n g e an sich gegeben. (2) N u n ist ein Bedingtes als E r s c h e i n u n g gegeben. Z w a r hält Kant die Prämissen (1) und (2) f ü r wahr, doch folgt aus (1) und (2) a u f g r u n d der H o m o n y m i e des Mittelbegriffs klarerweise überhaupt nichts - weder
Das sophisma
figurae
dictionis
der rationalen Kosmologie
115
das Gegebensein der vollständigen Reihe von Bedingungen als Erscheinungen noch als Dingen an sich. 164 Es können also mit (1) und (2) offenkundig nur dann die Prämissen eines Fehlschlusses bereitgestellt sein, und das ist unser Punkt, wenn man Uberhaupt über die kantische Unterscheidung von Erscheinungen und Dingen an sich verfügt. Um in Kants Begriffen zu bleiben, hat der transzendentale Realist nur die begrifflichen Möglichkeiten zu folgendem Schluss: (1) Wenn ein Bedingtes als Ding an sich gegeben ist, dann ist auch die ganze Reihe seiner Bedingungen als Dinge an sich gegeben. (3) Nun ist ein Bedingtes als Ding an sich gegeben. (4) Also ist die ganze Reihe von Bedingungen des Bedingten als Dinge an sich gegeben. Für den transzendentalen Realisten handelt es sich hierbei um ein gültiges Argument: da (4) aus (1) und (3) deduktiv zwingend folgt, ist der Schluss formal gültig, und weil dem transzendentalen Realisten, der überhaupt nicht über die kritische Unterscheidung von Erscheinungen und Dingen an sich verfügt, sondern natürlicherweise die Gegenstände der Erfahrung für Dinge an sich hält, (1) und (3) zudem als wahr gelten, hält er das Argument sogar für beweiskräftig. 163 Weil nur der transzendentale Idealist zwischen der Auffassung des Bedingten wie seiner Bedingung „als Erscheinung" bzw. „als Ding an sich" schwanken und diesen Schluss als Sophisma vortragen kann, ist es irreführend, wenn Wolfgang Malzkorn meint, „unter der natürlichen Voraussetzung des transzendentalen Realismus ergeben sich vier dialektische Vernunftschlüsse", während auch Malzkorn den „dialektischen Betrug" dieser Schlüsse auf die Homonymie der Begriffe „Bedingung" und „Bedingtes" zurückzuführen sucht. 166 Es gilt vielmehr das Folgende: Entweder ergeben sich unter der natürlichen Voraussetzung des transzendentalen Realismus vier formal gültige Schlüsse, deren jeweils zweite Prämisse (s.o.: (3)) Kant jedoch zurückweist und deren Konsequenzen in die Antinomien führen; oder unter der Voraussetzung des transzendentalen Idealismus ergeben sich vier „dialektische" Schlüsse, und das auch nur dann,
164
163
Da uns Kant zufolge jederzeit nur Erscheinungen „gegeben" sind, ist (2) für ihn wahr. Es soll hier unentschieden bleiben, ob Kant (1) für wahr hält, weil er bereits das Antezedens von (1) für falsch hält (schließlich sind uns laut Kant nie Dinge an sich „gegeben"). Diese Begründung würde offensichtlich eine wahrheitsfunktionale Auffassung des „Wenn ..„dann ..." implizieren. Uns geht es hier jedoch weniger um Kants Begründungen für die Wahr- bzw. Falschheit der Prämissen als vielmehr um die Frage, welcher metaphysische Standpunkt Kants formallogische Diagnose überhaupt ermöglicht.
Als ebenfalls formal gültig, jedoch nicht beweiskräftig aufgrund der Falschheit der ersten Prämisse müsste Kant den folgenden Schluss beurteilen: (5) Wenn ein Bedingtes als Erscheinung gegeben ist, dann ist auch die ganze Reihe seiner Bedingungen als Erscheinungen gegeben. (2) Nun ist ein Bedingtes als Erscheinung gegeben. (6) Also ist die ganze Reihe von Bedingungen des Bedingten als Erscheinungen gegeben. 166 Malzkorn 1999, S. 108 ff.
116
Das System der kosmologischen Ideen
wenn - wie oben (vgl. (1), (2)) - zwar der Obersatz und der Untersatz als wahr beurteilt werden, darin jedoch die Bedeutung des „Bedingten" wechselt. Wird transzendental-idealistisch „das Bedingte" (und damit auch seine „Bedingungen") durchgehend als „Erscheinung" aufgefasst, so liegt ein formal gültiger Schluss vor, dessen erste Prämisse Kant für falsch hält. Weil nur der transzendentale Idealismus die Möglichkeit bereithält, „dialektisch", nämlich aus den beiden für wahr gehaltenen Prämissen (1) und (2) zu schließen, kann Kants formallogische Diagnose nicht an den transzendentalen Realisten adressiert sein, der nicht einmal über die begrifflichen Möglichkeiten für einen „dialektischen Betrug" (A499/B528) verfügt. Kant kann mittels seiner Fehlerdiagnose nicht den transzendentalen Realisten davon überzeugen, einem formal ungültigen Sophisma aufzusitzen, sondern nur den transzendentalen Idealisten, der bei anerkannter Wahrheit der Prämissen (1) und (2) meint, aus diesen etwas schließen zu können. In dem auf der Homonymie der Ausdrücke „Bedingtes" und „Bedingung" beruhenden Schluss liegt nicht der genuin kosmologisch-dialektische Schluss vor. Die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich (selbst betrachtet) scheint auch dann möglich, wenn Vorstellungen „aufs Subjekt" oder auf „Gegenstände des Denkens überhaupt" bezogen werden. In der rationalen Kosmologie schließt die unkritische Vernunft insbesondere jeweils dann fehl, wenn sie daraus, dass die Annahme der Gegebenheit einer jeweiligen Reihe von Bedingungen als ganzer zum Widerspruch führt, auf ihr antinomisches, scheinbar kontradiktorisches Gegenteil schließt: „Die zweite Klasse der vernünftelnden Schlüsse ist auf den transzendentalen Begriff der absoluten Totalität, der Reihe der Bedingungen zu einer gegebenen Erscheinung überhaupt, angelegt, und ich schließe daraus, dass ich von der unbedingten synthetischen Einheit der Reihe auf einer Seite, jederzeit einen sich selbst widersprechenden Begriff habe, auf die Richtigkeit der entgegenstehenden Einheit, wovon ich gleichwohl auch keinen Begriff habe" (A340/B398). Kants Diagnose besteht darin, darauf hinzuweisen, dass diese Reihen von Bedingungen nie als ganze gegeben sind - weder als endliche noch als unendliche, was hieße: als aktual unendliche. Die Behauptungen der Thesis und Antithesis stehen tatsächlich jeweils bloß im Verhältnis der „dialektischen Opposition" (A504/B532) zueinander. Sie können auch beide falsch sein.
3
Das System der psychologischen Ideen
3.1
Vorbereitungen
Kants erstes „Hauptstück" der transzendentalen Dialektik der KdrV mit dem Titel „Von den Paralogismen der reinen Vernunft" wendet sich grundsätzlich gegen eine „rationale Psychologie", die beansprucht, eine Wissenschaft von dem zu sein, was a priori von der Seele gewusst werden kann. Innerhalb des systematischen Rahmens der kantischen Darstellung dieser Disziplin der metaphysica specialis fungieren als „psychologische Ideen" vier den Kategorientiteln zugeordnete Sätze, welche diese Ideen als elementare Behauptungen formulieren. Dies stellt insofern einen ersten Unterschied zur kosmologischen Ideenlehre dar, als die kosmologische Ideentafel Begriffe enthält. 167 Während die Pseudowissenschaft der rationalen Psychologie die in der „Topik der reinen Seelenlehre" (A344/B402) verzeichneten Behauptungen als Lehrsätze von objektiver Gültigkeit über die Seelensubstanz beansprucht, hält Kant zwei davon verschiedene Interpretationen dieser Sätze bereit. Für Kant wird es sich bei diesen Aussagen in der einen Interpretation um formale Analysen des Selbstbewusstseins beim Denken handeln, in einer zweiten Interpretation aber eben um „Ideen", und das bedeutet im technischen Sinn: um notwendig hervorgebrachte Begriffe, denen keine Gegenstände gegeben werden können, obwohl sie Begriffe von Gegenständen sind. Wir gehen davon aus, dass die psychologischen Ideen Kants und die Vorstellungen der durch ihn der Kritik unterzogenen rationalen Psychologie soviel gemein haben, dass es sich bei den Ideen um Begriffe handelt, die aufgrund eines „transzendentalen Scheins" (vgl. A396 ff.) nur allzu leicht als Begriffe von Eigenschaften eines erkennbaren Objekts fehlinterpretiert werden. Es ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass Kant den substantialistischen Begriff der Seele nicht einfach zugunsten eines formalen Begriffs des Selbstbewusstseins aufgibt, sondern dass beide Begriffe - insbesondere in der A-Auflage nachweisbar sind. 168 Der kritische Kern des Paralogismen-Hauptstücks, der tatsächlich in der B-Auflage prägnanter herausgearbeitet zu sein scheint, besteht darin, den rationalen Psychologen Cartesischer Provenienz erstens die Unerkennbarkeit des „transzendentalen Subjekt[s] der Gedanken" (A346/B404), welches die Vernunft als ein allem Denken zugrunde Liegendes fordert, aufzuzeigen, und
167 168
Vgl. die Anlagen II-IV dieser Arbeit. Vgl. etwa Kalter 1975, S. 111 ff.
118
Das System der psychologischen Ideen
ihnen zweitens die Verwechslung des subjektiven Ich (vgl. A354) mit diesem objektiven Ich nachzuweisen. Kants Kritik der rationalen Psychologie sollte jedoch als konstruktiven Kern den Nachweis enthalten, dass die psychologischen Ideen, denen Kant als „Elemente" des reinen Verstandes i.w.S. eine regulative Funktion im Erkenntnisprozess zuschreibt, notwendig bzw. unvermeidlich hervorgebracht werden. Diesen konstruktiven Kern, die „subjektive Deduktion" der psychologischen Ideen, gilt es frei zu legen. Und zwar werden wir - unserer Interpretationshypothese folgend versuchen zu verstehen, ob und wie sich die psychologischen Ideen als besondere Artikulationen der allgemeinen metaphysischen Intention der reinen Vernunft begreifen lassen, die sich ihrerseits im Prinzip (P) „Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Summe der Bedingungen, mithin das schlechthin Unbedingte gegeben" (A409/B436) 1 6 9 allgemein Ausdruck verschafft.
3.1.1
Der systematische Ort der „logischen Paralogismen"
Wir wollen bereits an dieser Stelle hervorheben, dass eine subjektive Deduktion der psychologischen Ideen nicht etwa in Gestalt der vier von Kant rekonstruierten kategorischen Schlüsse vorliegt, die er als p a r a l o g i s m e n der reinen Vernunft" in der A-Auflage der Kritik unterzieht. Es sei hier das Folgende zur Klärung des kantischen Begriffs vom „Paralogismus" gesagt: Der „transzendentale Paralogismus" besteht im Schluss „von dem transzendentalen Begriffe des Subjekts, der nichts Mannigfaltiges enthält, auf die absolute Einheit dieses Subjekts selber" (A340/B398), während die vier einzelnen Paralogismen kategorische Syllogismen sind, die aus zwei Prämissen und einer Konklusion bestehen. Diese vier Paralogismen sind als Schlüsse, die eine quaternio terminorum enthalten, „logische Paralogismen" und bestehen „in der Falschheit eines Vernunftschlusses der Form nach" (A341/B399). 1 7 0 Ihre Möglichkeit beruht auf dem Schein des „trans-
169
Wir wählen diese aus dem Kosmologie-Hauptstück entnommene Formulierung des obersten Prinzips, da hier ausdrücklich nicht von einer Reihe von Bedingungen die Rede ist, sondern allgemeiner von einer durchaus ungeordneten Totalität. Wir halten in dieser Version das Principium trotz seines Fundorts für das allgemeinste, „oberste". Reihen von Bedingungen gibt es ausschließlich dort, wo raum-zeitliche Gegenstände der äußeren Sinne als bedingt betrachtet werden. 170 Während A. Kalter [1975, S. 141] der Meinung ist, mit jedem der vier Paralogismen liege jeweils „kein formal, sondern ein material falscher Schluss vor, dessen Minor falsch ist", scheint sich M. Koßler [1999, S. 13] zur Frage der formal-logischen Gültigkeit der Paralogismen gänzlich zu enthalten, während er beide Prämissen für falsch hält. Beiden Kommentatoren halten wir unsere Interpretation in diesen Fragen am Beispiel des ersten Paralogismus entgegen: entweder ist der Substanzbegriff in beiden Prämissen derselbe (realer Gebrauch), dann ist er in der zweiten Prämisse „bloß von transzendentalem, d. i. von gar keinem Gebrauch" (A403), und der ersten Prämisse wird als Definition zwar ihre Wahrheit zugestanden, die zweite ist jedoch falsch, und es gilt: der Schluss ist
Vorbereitungen
119
zendentalen Paralogismus", sofern sie diesen Schein zu nutzen wissen. So wenig wie die Antinomie als „Zustand der Vernunft" bei den kosmologisch-dialektischen Schlüssen mit der logischen Schlussform der reductio ad absurdum identisch ist, von der bei den Thesis- und Antithesisbeweisen durchweg Gebrauch gemacht wird, so wenig ist der transzendentale ein logischer Paralogismus. 171 Für unsere Aufgabe ist bedeutsam, dass bei unterstellter Symmetrie zwischen Kosmologie- und Psychologie-Hauptstück die einzelnen logischen Paralogismen samt der in ihnen formulierten Argumente nicht für eine Rekonstruktion der metaphysischen Deduktion der psychologischen Ideen fruchtbar gemacht werden dürfen. Für diese Auffassung bringen wir die folgenden Gründe hervor: Wie die Thesis- und Antithesis-Beweise der kosmologischen Antinomien nicht dazu beitragen, die Systematik kosmologischer Ideen zur Entfaltung zu bringen, so dürfen auch die einzelnen Pseudobeweise der rationalen Psychologie nicht als Kants konstruktive „subjektive Deduktion" der psychologischen Ideen verstanden werden. Als primäre Aufgabe einer subjektiven Deduktion der transzendentalen Ideen gilt uns die Information darüber, wie die Vernunft überhaupt in den Besitz dieser Begriffe kommt (vgl. 1.3 der Einleitung dieser Arbeit). Aufgabe der Thesis- und Antithesisbeweise der rationalen Kosmologie und der „logischen Paralogismen" ist es, Behauptungen über vermeintliche Gegenstände der Ideen zu formal gültig, jedoch mit falscher Konklusion; oder beide Prämissen sind wahr, (vgl. A402: „sofern sie [die Paralogismen] gleichwohl richtige Prämissen haben [...]"), wobei jedoch ein unterschiedlicher Gebrauch der Substanzkategorie in den Prämissen vorliegt (realer Gebrauch in der ersten, logischer Gebrauch in der zweiten Prämisse), so dass überhaupt nichts folgt, der Schluss also tatsächlich ein formaler Fehlschluss aufgrund unterstellter Bedeutungsgleichheit der beteiligten Begriffe ist: oder aber drittens ist der Substanzbegriff sowohl in beiden Prämissen als auch der Konklusion von logischem Gebrauch und das Beweisziel der rationalen Psychologie bleibt gänzlich verfehlt. Kalter scheint ausschließlich die erste Interpretation der Schlüsse vor Augen zu haben, wenn dies seine Rede vom „material falschem Schluss" auch verdunkelt, da es wahre und falsche Sätze, hingegen gültige und ungültige Schlüsse gibt. Ein „logischer Paralogismus" liegt aufgrund einer Äquivokation nur im zweiten Fall vor. W. Malzkorn [1998] schließt sich der Deutung von R. Stuhlmann-Laeisz an und weist für die vier Paralogismen (in jeweils einer Bedeutung des Mittelbegriffs!) nach, dass die Prämissen zwar wahr, die Konklusion jedoch jeweils falsch ist und die Paralogismen daher logisch ungültige Schlüsse sind. 171
Kants Ausführungen zur Bestimmung und insbesondere Unterscheidung beider Paralogismusbegriffe, sind etwas irreführend, da es den Anschein hat, als sei sowohl der logische als auch der transzendentale Paralogismus lediglich „der Form nach" fehlerhaft: „Der logische Paralogismus besteht in der Falschheit eines Vernunftschlusses der Form nach, sein Inhalt mag übrigens sein, welcher er wolle. Ein transzendentaler Paralogismus aber hat einen transzendentalen Grund: der Form nach falsch zu schließen" (A341/B399). Entgegen unserer Interpretation erscheint hier der formalungültige Schluss als „Grund" für den transzendentalen Paralogismus, das Verhältnis von logischem und transzendentalem Paralogismus somit gerade umgekehrt. Nach unserer Interpretation ist das „Blendwerk" bzw. die Verführung des logischen Paralogismus nur aufgrund des transzendentalen möglich. W. Malzkom [1998, S. 98] folgt R. Stuhlmann-Laeisz [1990] darin, im „logischen Paralogismus" das genus proximum der „transzendentalen" zu erkennen, dem wir hier nicht folgen können, da wir der Meinung sind, dass es sich bei der im transzendentalen Paralogismus bestehenden „Verwechselung" und dem im Übergang von zwei Prämissen auf eine Konklusion bestehenden logischen Paralogismus um zwei durchaus verschiedene Arten des Schließens handelt.
120
Das System der psychologischen Ideen
erweisen, und nicht etwa die, Ideen hervorzubringen. Diese Aufgaben Verteilung in Symmetrie zum Kosmologie-Hauptstück verdeutlicht auch A340/B398, wo Kant den eigentümlich kosmologisch-dialektischen Schluss als den Schluss von der Unmöglichkeit einer Behauptung auf die Faktizität ihres vermeintlichen Gegenteils diagnostiziert. 172 Von der Form des Widerspruchsbeweises wird bekanntermaßen in den Thesis- und Antithesis-Beweisen des Antinomie-Hauptstücks Gebrauch gemacht - nicht jedoch im Rahmen einer metaphysischen Deduktion der kosmologischen Ideen. Das genuin psychologische Pendant dieses dialektischen Schlusses besteht im „transzendentalen Paralogismus", d.h. nach Kants Worten im Schluss „von dem transzendentalen Begriffe des Subjekts, der nichts Mannigfaltiges enthält, auf die absolute Einheit des Subjekts selber" (A340/B398). Dieser „Schluss" ist von anderer Art als jeder einzelne „logische Paralogismus", bei dem jeweils von zwei Prämissen auf eine Konklusion geschlossen wird. Die Ideengenesis und der versuchte Nachweis der objektiven Gültigkeit der Begriffe sind also - wie bereits im Kosmologie-Hauptstück der KdrV — säuberlich voneinander zu unterscheiden. Die Paralogismen als in bündige Form gebrachte subjektive Deduktion der psychologischen Ideen aufzufassen verbietet sich zudem unter unserer programmatischen Annahme, dass die Deduktion aller transzendentaler Ideen sich letztlich dem hypothetischen Prinzip (P) verdankt, während es sich bei den „Paralogismen" um kategorische Syllogismen handelt. Der systematische Ort der logischen Paralogismen ist daher nicht die zu rekonstruierende, durchaus konstruktive Ideendeduktion Kants („Von den Begriffen der reinen Vernunft"), sondern die aufklärerisch-destruktive Kritik an der rationalen Psychologie von Kants Vorgängern („Von den dialektischen Schlüssen der reinen Vernunft"). Zwar „beziehen" (A345/B403) sich die Paralogismen insofern auf die psychologische Ideen-Tafel, als sie Beweisversuche für die Urteile der Tafel bereithalten, sie sind jedoch für die Konstitution der Tafel nicht notwendig. Wir wollen und können uns im Rahmen dieser Arbeit nicht in Diskussionen Uber die Unterschiede des Paralogismen-Kapitels in der A- bzw. B-Auflage der KdrV verlieren. W e n n wir im Zuge unserer Rekonstruktion der subjektiven Deduktion psychologischer Ideen sowohl auf Zitate der A- als auch der B-Auflage beziehen, so wollen wir dabei freilich vermeiden, sachliche Differenzen zwischen den beiden Auflagen zu ignorieren. Diese Gefahr erscheint uns allerdings schon
172
„Die zweite Klasse der vernünftelnden Schlüsse ist auf den transzendentalen Begriff der absoluten Totalität, der Reihe der Bedingungen zu einer gegebenen Erscheinung Uberhaupt, angelegt, und ich schließe daraus, daß ich von der unbedingten synthetischen Einheit der Reihe auf einer Seite, jederzeit einen sich selbst widersprechenden Begriff habe, auf die Richtigkeit der entgegenstehenden Einheit, wovon ich gleichwohl auch keinen Begriff habe." (A340/B398)
Vorbereitungen
121
deshalb gering, da Kant das Paralogismen-Kapitel ausschließlich zum Zwecke der Unmissverständlichkeit, Konzentration und Kürzung neu gefasst hat. 173
3.1.2
Die „Topik der reinen Seelenlehre" als Tafel psychologischer Ideen
Von systematischem Interesse ist insbesondere der letzte Abschnitt der „Betrachtung über die Summe der reinen Seelenlehre" (A381 ff.) der A-Auflage der KdrV, welcher den W e g in die B-Auflage nicht gefunden hat. Kant reicht ihn in der AAuflage explizit aus d e m Grunde nach, da er selbst die den beiden Auflagen gemeinsamen Ausführungen unmittelbar vor der „Topik" von A344/B402 nicht für hinreichend hält, um die „systematische und der Tafel der Kategorien parallel laufende Anordnung" der Paralogismen bzw. der psychologischen Ideen zu erklären. Kant eröffnet diesen letzten und deutlich abgesetzten Abschnitt der „Betrachtung über die Summe der reinen Seelenlehre" mit den Worten: „Wir sind n o c h eine deutliche und allgemeine E r ö r t e r u n g des transzendentalen und doch natürlichen S c h e i n s in den P a r a l o g i s m e n der reinen V e r n u n f t , imgleichen die R e c h t f e r t i g u n g d e r s y s t e m a t i s c h e n und der T a f e l der Kategorien parallel laufenden A n o r d n u n g e n d e r s e l b e n , b i s h e r schuldig geblieben. W i r hätten sie a m A n f a n g e dieses A b s c h n i t t s [d.h.: des P a r a l o g i s m e n - H a u p t s t i i c k s ] nicht Ubernehmen k ö n n e n , ohne in G e f a h r d e r D u n k e l h e i t zu geraten, o d e r uns in unschicklicher W e i s e vorzugreifen. Jetzt w o l l e n wir diese Obliegenheit zu e r f ü l l e n s u c h e n . " ( A 3 9 6 )
Dass Kant die auf diese Ankündigung folgenden Ausführungen nicht in die BAuflage übernommen hat, wollen wir nicht vorschnell als Indiz dafür auffassen, Kant selbst sei der Meinung gewesen, es sei ihm schlicht nicht gelungen, die (vorgebliche) Systematik der psychologischen Ideen bzw. Paralogismen zu rechtfertigen. Insbesondere zum Zwecke der Bestätigung unserer zweiten Interpretationshypothese, nach der es sich auch bei den psychologischen Ideen um jeweils eindeutig identifizierbare, ins Unbedingte erweiterte Kategorien handelt, werden wir diesen letzten Abschnitt des Paralogismenkapitels der A-Auflage heranziehen müssen, der mit der Vorstellung der psychologischen Ideentafel von A404 abschließt. Diese Tafel stellt bereits im Wortlaut ihrer Einträge deutlicher als die
173
Rolf-Peter Horstmann [1993] hat gezeigt, dass in der B-Auflage im Unterschied zur A-Auflage das „Ich denke" noch deutlicher als „Actus" (B423a) der Spontaneität herausgearbeitet ist, während in der A-Auflage zumindest Reste einer missverständlichen substantialistischen Interpretation desselben nachweisbar sind. Wir gehen davon aus, dass die kantische Kritik im Kern unverändert geblieben und in der B-Auflage nur unmissverständlicher dargestellt ist. So spricht auch Kant in der Vorrede zur B-Auflage der KdrV lediglich von „Verbesserungen" resp. „Abänderungen der Darstellungsart" (Β XXXVIII f.). Wir wollen also darauf achten, aus der A-Auflage nur Zitate heranzuziehen, die sich ebenfalls unmissverständlich gegen eine substantialistische Interpretation des „Ich denke" wenden.
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Das System der psychologischen Ideen
„Topik" von A344/B402 die Beziehung zur Suche nach unbedingten Bedingungen her und gibt bestimmte Winke, welche „ins Unbedingte erweiterte Kategorien" in der rationalen Psychologie jeweils ihre vermeintliche Konkretion finden. Der Meinung, dass die B-Auflage der KdrV überhaupt keine Tafel psychologischer Ideen enthält, weil dieser Abschnitt nicht in die B-Auflage übernommen wurde, wollen wir vorbeugen und die folgenden Gründe für die Annahme hervorbringen, dass die „Topik der reinen Seelenlehre" als gewissermaßen populäre Fassung der Ideentafel von A404 und nicht allein als kritikwürdiges Fachwerk transzendenter Psychologie gedeutet werden sollte. a) Kants positiver Begriff der Topik Im Unterschied zur „Topik" der reinen Seelenlehre ist in der KdrV sowohl von der „Tafel" der Kategorien als auch von der „Tafel" kosmologischer Ideen als auch sogar von der „Tafel" der Begriffe vom „Nichts" die Rede. Weil diese drei „Tafeln" im Gegensatz zur „Topik" der reinen Seelenlehre absolut unverdächtig sind, wenn es um die Frage geht, ob es sich bei ihnen um Teile des kantischen Systems und nicht etwa von Kant zitierte Pseudo-Systematiken handelt, könnte man meinen, er habe sich des Ausdrucks „Topik" gerade in Abgrenzung zu seinen eigenen „Tafeln" bedient. Doch für diese Einschätzung kann allein A61/B86 geltend gemacht werden, wo Kant den Missbrauch der Topik als Organon einer „Logik des Scheins" anprangert, wo sie dort allein zur „Beschönigung" „vorsätzlicher Blendwerke" diene. Viel häufiger ist ein positiver Begriff der „Topik" in der KdrV am Werk: Unmittelbar nach Vorstellung der Kategorientafel bezeichnet Kant auch dieses Herzstück seiner theoretischen Philosophie als „eine systematische Topik" (A83/B109). In der „Anmerkung zur Amphibolie der Reflexionsbegriffe" ist mit Bezug auf die unmittelbar zuvor erläuterten vier Begriffspaare auch von einer „transzendentalen Topik" (A268/B324 f.) die Rede, ohne dass Kant allerdings die Reflexionsbegriffe in einer schematisch an der Kategorientafel orientierten Tafel präsentiert. Ein von kritischen Untertönen freier Begriff der Topik findet sich auch außerhalb der KdrV. So heißt es etwa im Anhang zu den metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre: „Die Topik der Prinzipien muß der Form des Systems halber vollständig sein". 1 7 4 Und in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht bestimmt Kant die Topik, wenn auch eher pragmatisch, so doch positiv, als „ein Fachwerk für allgemeine Begriffe [...], welches durch Classentheilung [...] die Erinnerung erleichtert". 175
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A4 VI, S. 357. ΑΛ VII, S. 184.
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β) Die sachliche Übereinstimmung der beiden Tafeln Die Topik der reinen Seelenlehre enthält vier numerierte Behauptungen der Form ,,Die Seele ist ...", deren Konjunktion auch als ein Satz gelesen werden kann. Weil diese Topik Behauptungen, mithin ganze Sätze und nicht (wie die Tafel kosmologischer Ideen von A415/B443) Begriffe enthält, könnte man meinen, dass es sich bei der Topik schon aus diesem Grund nicht um eine Ideentafel handeln könne. Doch können die verzeichneten Behauptungen (z.B. ,,Die Seele ist 1. Substanz") auch, gewissermaßen ohne behauptende Kraft, als Begriffe (z.B. „Substantialität der Seele") formuliert werden. Wenigstens für die jeweils ersten drei Einträge der Tafeln von A404 und A344/B402 ist leicht zu sehen, dass sie nicht nur numerisch sondern auch sachlich übereinstimmen (vgl. die Anlagen III u. IV). γ) Die Topik enthält „Elemente" Unmittelbar nach der Vorstellung der „Topik" von A344/B402 schließt Kant an: „Aus diesen Elementen entspringen alle [weiteren, nicht elementaren] Begriffe der reinen Seelenlehre, lediglich durch Zusammensetzung [der Elemente]." Der technische und auch hier vorliegende Sinn des Ausdrucks ,JElement" ist eben derjenige, in dem auch die Anschauungsformen Raum und Zeit 176 , die reinen Verstandesbegriffe (Kategorien) 1 7 7 und die Grundsätze des reinen Verstandes „Elemente" aller Erfahrungserkenntnis sind. In eben diesem Sinn ist auch die transzendentale Dialektik auch noch Teil der „Elementarlehre" der KclrV, deren Aufgabe insbesondere darin besteht, das „Inventarium aller unser Besitze durch reine Vernunft" (AXX) bloß zu legen, d.h. eine „vollständige Herzählung aller Stammbegriffe" (A13/B26) zu leisten. Weil Kant sich also auf die Einträge der Topik als E l e m e n t e " bezieht, sollten wir davon ausgehen, dass es sich dabei auch um solche, genauer: um psychologische transzendentale Ideen handelt.
3.1.3 Das Bedingte der rationalen Psychologie U m in direkter Weise an die Strategie der Deduktion transzendentaler Ideen anzuknüpfen, die Kant in der Einleitung und im ersten Buch der TD verfolgt, müssen wir zunächst verstehen, was eigentlich dasjenige ist, welches die Vernunft hier der vollständigen Bedingtheit unterwirft. W a s also ist das Bedingte, das Gegebene, welches, einmal zugrunde gelegt, die psychologische Ideenlehre in Gang bringt? Entsprechend der Dekomposition der möglichen Bezüge von Vorstellungen, die Kant im „System der transzendentalen Ideen" vornimmt, werden hier bewusste, „aufs Subjekt" (A333/B390 f.) bezogene Vorstellungen als bedingt betrachtet. Bei
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Vgl. A41/B38. Vgl. A62/B87 ff.
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diesen Vorstellungen handelt es sich um die introspektiv zugänglichen Zustände des Subjekts. Die Beziehung „aufs Subjekt" ist also genauer aufzufassen als eine Beziehung auf das denkende Subjekt bzw. auf das „Ich, als denkend Wesen" (A344/B402). Zwei mögliche Missverständnisse bezüglich der Zustände des denkenden Subjekts wollen wir sofort ausräumen: Erstens handelt es sich dabei nicht etwa um Zustände des materiellen Körpers des Denkers, der als Gegenstand der äußeren Sinne denselben Bedingungen unterworfen ist wie beliebige andere „äußere" Gegenstände, deren vollständig angenommene Bedingtheit in die Antinomien führt. Zweitens wollen wir die Gedanken des denkenden Subjekts im Unterschied zu den Gegenständen der äußeren Sinne nicht „Gegenstände des inneren Sinns" nennen, da Kant erstens nur einen Gegenstand des inneren Sinns kennt: die Seele 178 selbst, und zweitens eine Kernthese der kantischen Theorie des Subjekts besagt, dass das denkende Subjekt seine Gedanken von sich selbst nicht derart abtrennen kann, dass zweierlei „Gegenstände" - etwa: Ich und mein Gedanke - als Erkenntnisobjekte resultieren, sondern dass es seine Gedanken eben nur als „Zustände" seiner selbst erlebt. 179 Bei der Unterscheidung zwischen dem denkenden Subjekt und seinen Gedanken handelt es sich lediglich um die „mögliche Abstraktion" (B427) allen empirischen Inhalts vom Gedanken, nicht jedoch um die Trennung zweier jeweils für sich und nebeneinander existierender Entitäten. 180 Diese „mögliche Abstraktion" indes für eine Absonderung des denkenden Selbst von seinen Gedanken zu halten, ist für alle scheinbare Ms.se/2schaftlichkeit („erkennen", s.u.) der rationalen Psychologie verantwortlich, wie Kant im „Beschluß der Auflösung des psychologischen Paralogisms" (B426 ff.) bilanzierend feststellt: „Der dialektische Schein in der rationalen Psychologie beruht auf der Verwechslung einer Idee der Vernunft (einer reinen Intelligenz) mit dem in allen Stücken unbestimmten B e g r i f f e eines denkenden Wesens überhaupt. Ich denke mich selbst zum Behuf einer möglichen Erfahrung, indem ich noch von aller wirklichen Erfahrung abstrahiere, und schließe daraus, daß ich mich meiner Existenz auch außer der Erfahrung und den empirischen Bedingungen derselben bewußt werden könne. Folglich verwechsele ich die mögliche A b s t r a k t i o n von meiner empirisch bestimmten Existenz mit dem vermeinten Bewußtsein einer a b g e s o n d e r t
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Vgl B427, A683/B711. Während es in A342/B400 noch unbestimmt heißt: "I c h, als denkend, bin ein Gegenstand des innern Sinns und heiße Seele", heißt es in A846/B874 ganz bestimmt: „Der Gegenstand des inneren Sinns, die Seele [...]". 179 Vgl. § 2 der transzendentalen Ästhetik: „Der innere Sinn, vermittelst dessen das Gemüt sich selbst, oder seinen inneren Zustand anschauet, gibt zwar keine Anschauung von der Seele selbst, als einem Objekt; allein es ist doch eine bestimmte Form, unter der die Anschauung ihres inneren Zustands allein möglich ist, so, daß alles, was zu den innern Bestimmungen gehört, in Verhältnissen der Zeit vorgestellt wird." (A22 f./B37) 180 Um eine eingehende Kommentierung des Unterschieds zwischen „Absonderung" und (möglicher) „Abstraktion" bemüht sich etwa Claude Piche 11984, S. 64 ff.].
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möglichen Existenz meines denkenden Selbst, und glaube das Substantiale in mir als das transzendentale Subjekt zu e r k e n n e n , indem [obwohl(!), N.K.] ich bloß die Einheit des Bewußtseins, welche allem Bestimmen, als der bloßen Form der Erkenntnis, zum Grunde liegt, in Gedanken habe." (B426 f.) Kants „ B e s c h l u ß " der B - A u f l a g e findet seine E n t s p r e c h u n g in der „Betrachtung Uber die S u m m e der reinen Seelenlehre" der A - A u f l a g e , wo er darüber hinaus Antwort auf unsere Frage gibt, was der rationalen Psychologie als bedingt gilt: „Man kann allen Schein darin setzen: daß die subjektive Bedingung des Denkens vor die Erkenntnis des Objekts gehalten wird. Ferner haben wir in der Einleitung in die transzendentale Dialektik gezeigt: daß reine Vernunft sich lediglich mit der Totalität der Synthesis der Bedingungen, zu einem gegebenen Bedingten, beschäftige. Da nun der dialektische Schein der reinen Vernunft kein empirischer Schein sein kann, der sich beim bestimmten empirischen Erkenntnisse vorfindet: so wird er das Allgemeine der Bedingungen des Denkens betreffen, und es wird nur drei Fälle des dialektischen Gebrauchs der reinen Vernunft geben, 1. Die Synthesis der Bedingungen eines Gedankens überhaupt, 2. Die Synthesis der Bedingungen des empirischen Denkens, 3. D i e S y n t h e s i s d e r B e d i n g u n g e n d e s r e i n e n D e n k e n s . " 1 8 1 ( A 3 9 6 / 9 7 ; Hervorhebung von N.K.)
Bedingt ist hier ein „ G e d a n k e überhaupt", was soviel bedeutet wie „ein beliebiger G e d a n k e " . D i e im System der transzendentalen Ideen noch allgemein „aufs Subj e k t " b e z o g e n e n Vorstellungen sind hier bereits auf „ G e d a n k e n " beschränkt, Gefühle u.a. scheinen hingegen ausgeschlossen zu sein. W i r werden j e d o c h den kantischen Intentionen gerecht, wenn wir im F o l g e n d e n unter einem „ G e d a n k e n " eine beliebige E p i s o d e bewussten mentalen L e b e n s verstehen, ganz so wie auch D e s cartes in seinen Meditationen, gegen die sich K a n t s Kritik der „rationalen P s y c h o logie" insbesondere wendet, von diesem weit gefassten Begriff der cogitation.es Gebrauch macht, der W ü n s c h e , G e f ü h l e usf. enthält. Das D e n k e n beliebiger Inhal-
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Diese Trichotomie von Bedingungen lässt sich sowohl auf diejenige der Reflexion 5553 (AA XVIII, S. 226) als auch auf die Trichotomie der Vorstellungsbezüge aus dem „System der transzendentalen Ideen" beziehen, wie bereits im ersten Teil dieser Arbeit gezeigt wurde. Der „unbedingten subjektiven Bedingung des Denkens" (R 5553) entspricht die „Totalität der Synthesis der Bedingungen eines Gedankens überhaupt" (A397) bzw. der Bedingungen von „aufs Subjekt" (A333) bezogenen Vorstellungen. Der „unbedingten (objektiven) Bedingung der Erscheinungen" (R 5553) entspricht die „Totalität der Synthesis der Bedingungen des empirischen Denkens" (A397), da „Erscheinungen" als Erscheinungen für Kant jeweils das bereits konzeptualisierte Mannigfaltige der Anschauung sind, m.a.W.: „empirisches Denken", welches sich dadurch auszeichnet, dass sich unsere Vorstellungen auf „Objekte als Erscheinungen" (A333 f.) beziehen. Der „unbedingten objektiven Bedingung aller Gegenstände Uberhaupt" (R 5553) schließlich entspricht die Totalität der Synthesis der Bedingungen des reinen Denkens" (A397). Die Trichotomie von A397 bestätigt unsere Interpretation der „Gegenstände des Denkens überhaupt" bzw. „aller Dinge Uberhaupt" (A333 f.) als Gegenstände, auf die sich, weil sie keine Gegenstände der Anschauung sind, allein der denkende Verstand mittels Begriffen bezieht: Gegenstände des reinen Denkens.
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te wird als gegebene Basis der Deduktion psychologischer Ideen dienen 182 , was bedeutet, dass das aktive Element des Erfahrungsprozesses, das Denken des Vorgestellten unter Kategorien, das Denken einer empirischen Empfindung unter einem Begriff, der Akt des Denkens selbst, kurz: die „Spontaneität" als das bedingt betrachtete Phänomen gilt und nicht etwa das passive Element des Denkens von Erfahrungen, d.h. die Affektionen der Sinnlichkeit des Subjekts durch die Materie des Denkens. Kant interessiert sich im gegenwärtigen Zusammenhang nicht für die jeweiligen objektiven, d.h. vom Subjekt unabhängigen Bedingungen des Gehalts bestimmter Gedanken, sondern für dasjenige subjektive Element, welches allen Gedanken gemeinsam sein muss, damit sie zu Recht als etwas vom denkenden Subjekt Gedachtes, d.h. als ein Gedanke gelten können. 1 8 3 Die Grammatik des „Gedankens", d.h. der resultative Aspekt des Perfekts lässt uns schließen, dass ein möglicher, zunächst nur denkbarer Gehalt gedacht worden sein muss, um als Gedanke gelten zu können (vgl. auch im Englischen: „thought"). Weder scheint es für uns Gedanken ohne selbstbewussten Denker 1 8 4 zu geben noch scheint die Rede vom Gedanken als etwas Gedachtem ohne die Annahme eines wirklichen Denkers irgendeinen Sinn zu machen. Der Ausdruck „Gedanke überhaupt" bezeichnet das Resultat derjenigen Abstraktion, die von allen bestimmten, objektiven Bezügen des mentalen Lebens absieht. Als Abstraktionsresultat ist der „Gedanke überhaupt" von jedem einzelnen beliebigen Gedanken zu unterscheiden, da jeder beliebige Gedanke für sich ein durchaus inhaltlich bestimmter ist - sonst wäre er nichts. Nun bleibt Kant zufolge, wenn wir „von aller Beziehung auf irgendein Objekt (es sei der Sinne oder des reinen Verstandes)" (A397) absehen, d.h. jeglichen Bezug und Gehalt der Gedanken abstrahieren, nicht mehr als die Tatsache des bloßen Selbstbewusstseins übrig, die im Urteil „Ich denke" ihren Ausdruck findet. Dieses „Ich denke" ist insbesondere von funktionaler Bedeutung, sofern es dazu dient, „alles Denken, als zum Bewußtsein gehörig, aufzuführen" (A341/B399). Kant nennt es daher be-
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Wenn Kant erklärt „Ich, als denkend, bin ein Gegenstand des inneren Sinns, und heiße Seele" (A342/B400), so suggeriert dies, dass es der „Gegenstand" der Seele ist, welcher als bedingt zu betrachten sei. Die im Substantiv der „Seele" bereits vollzogene Substantialisierung der rationalistischen Tradition unterzieht Kant nun allerdings der Kritik. Der ,Witz' der kantischen Kritik an der „rationalen Psychologie" seiner rationalistischen Vorgänger besteht gerade im Nachweis, dass sich das denkende Subjekt nicht als Objekt erkennt. 183 „Das mindeste Objekt der Wahrnehmung (z.B. nur Lust oder Unlust), welche zu der allgemeinen Vorstellung des Selbstbewußtseins hinzukäme, würde die rationale Psychologie sogleich in eine empirische verwandeln" (A343/B401). 184 So will auch Kant die unbewussten Vorstellungen von den mit Bewusstsein verbundenen unterscheiden und ausschließlich letztere „Gedanken" nennen, wenn er schreibt, „das Bewußtsein [ sei j das einzige, was alle Vorstellungen zu Gedanken macht" (A350).
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kanntermaßen auch das „Vehikel aller Begriffe überhaupt" (A341/B399) und Urteile. 185 Dass das Selbstbewusstsein etwas ist, was allen Gedanken gemein ist und diese untrennbar mit Selbstbewusstsein verbunden sind, ist nun keine überraschende Einsicht. Kants Punkt ist der, dass das bloße Selbstbewusstsein auch bereits alles ist, was allen Gedanken eines Denkers gemein ist. Weil die Wirklichkeit unseres Denkens untrennbar mit Sclbstbewusst.sc//i verbunden ist, kann Kant das Cartesische cogito, ergo sum auch für einen „tautologischen" (vgl. A355) Satz halten: Wenn ich es bin, der sich als denkend erkennt, weil mein Denken untrennbar mit Selbstbewusstsein verbunden ist, dann habe ich gleichsam erkannt, dass ich existiere, was immer Ich auch sei: „Ich denke [...] hält den Satz, Ich existiere, in sich" (B423a). Kant wendet sich insbesondere gegen die Auffassung, dass es sich Uberhaupt um einen Schluss186 vom selbstbewussten Denken auf die eigene Existenz handelt: „Ich kann aber nicht sagen: alles, w a s d e n k t , existiert; d e n n da würde die E i g e n schaft des D e n k e n s alle W e s e n , die sie besitzen, zu n o t w e n d i g e n W e s e n m a c h e n . D a h e r kann m e i n e Existenz auch nicht aus d e m Satze, Ich denke, als gefolgert ang e s e h e n w e r d e n , wie Cartesius d a f ü r hielt, (weil sonst der Obersatz: alles, w a s denkt, existiert, v o r a u s g e h e n miißte,) s o n d e r n ist mit i h m identisch. Er [der Satz: Ich denke.] drückt eine u n b e s t i m m t e e m p i r i s c h e A n s c h a u u n g , d.i. W a h r n e h m u n g , aus, [...] geht aber vor der E r f a h r u n g vorher, die das O b j e k t der W a h r n e h m u n g d u r c h die Kategorie in A n s e h u n g der Zeit b e s t i m m e n soll, und die Existenz ist hier n o c h keine Kategorie, als welche nicht auf ein u n b e s t i m m t g e g e b e n e s O b j e k t [Bez i e h u n g hat], sondern nur [auf] ein solches, d a v o n m a n einen Begriff hat, u n d wov o n m a n wissen will, ob es auch a u ß e r d i e s e m B e g r i f f e gesetzt sei, oder nicht [...] Beziehung hat." (B423a)
Dem tautologischen Cartesischen cogito, ergo sum gesteht Kant seine Wahrheit zu' 8 7 , er bestreitet jedoch die Fähigkeit zur Erkenntnis des cogitans, weil „Ich denke" eine gänzlich unbestimmte Wahrnehmung zum Ausdruck bringt. Auf der Suche nach der „Synthesis der Bedingungen eines Gedankens überhaupt" (A397) in der rationalen Psychologie mag es fast etwas künstlich erscheinen, zwischen dem „Gedanken überhaupt" und dem „Ich denke" derart zu unter-
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Heinz Heimsoeth [1966, Band I, S. 82] bemüht sich in seinem hervorragenden Kommentar eingehend um eine Erläuterung bzw. Deutung der „Vehikel"-Metapher für das Selbstbewusstsein. 186 „Cartesius sagt doch unrecht, wenn er sagt: cogito ergo sum, gerade als wenn es ein Schluß wäre" (Metaphysik-Vorl. n. Pölitz S. 95, AA XXVIII, S. 590). 187 Wenn Bertrand Russell [1999, S. 576] der Meinung ist, das „Ich" bedeute eine „grammatikalische Vereinfachung" und Descartes sollte statt des „Ich denke" lieber das Urteil „Es gibt Gedanken" zum Ausgangspunkt machen, so scheint Russell hier die Tatsache zu vernachlässigen, dass wir unsere Gedanken haben, d.h. uns insbesondere selbst als des Denkens mächtig erleben. Kurz: er verschweigt, dass Denken für uns untrennbar mit Selbstbewusstsein verbunden ist: „Es gibt selbstbewusstes Denken."
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scheiden, als bedinge das „Ich denke" den „Gedanken überhaupt" 1 8 8 und als seien wir im Besitz der Kenntnis von wenigstens zwei „Gliedern" 1 8 9 einer aufsteigenden Kette bzw. Reihe von Bedingungen. Erstens haben wir es nämlich Kant zufolge nicht bei der „Synthesis der Bedingungen eines Gedankens überhaupt" mit einer geordneten Reihe von Bedingungen zu tun, sondern nur bei der „Synthesis der Bedingungen des empirischen Denkens" (A397), und zweitens stellt sich nach vollzogener Abstraktion gerade heraus, dass das Selbstbewusstsein in actu bzw. die Selbstbewusstheit das einzige gemeinsame Merkmal aller Gedanken, mithin einziges Merkmal des „Gedankens überhaupt" ist. Diese nicht-triviale Bedeutungsgleichheit vom Begriff des „Gedankens überhaupt" und dem Urteil „Ich denke" gilt es zu beachten, will man sich nicht darüber verwirren, was das ursprünglich Bedingte der rationalen Psychologie ist. W e n n etwa Matthias Koßler der Meinung ist: „Der Ausgangspunkt ist das Bedingte, der Gedanke, nicht das Ich denke, auf das geschlossen wird" 1 9 0 , so können wir dem zweiten Teil seiner Behauptung nicht zustimmen, weil „Ich denke" das Resultat einer (möglichen) Abstraktion und nicht dasjenige eines Schlusses ist, wie Koßler behauptet. Wenn wir mit Koßler das rein funktionale „Ich denke" für die „einzige Bedingung allen Denkens" 1 9 1 halten, so ist ferner fraglich, woher die rationalpsychologischen Illusionen ihre mögliche Überzeugungskraft nehmen sollen, ja, wie wir überhaupt in den Besitz der Idee von einer Seelensubstanz gelangen. Der ,Witz' scheint uns gerade der zu sein, dass die Scheinwissenschaft der rationalen Psychologie erst dann richtig in Gang kommt, wenn nach den objektiven bzw. realen Bedingungen selbstbewussten Denkens gefragt und der Versuch gemacht wird, von Eigenschaften des Denkens auf Eigenschaften des Denkers zu schließen. Und in diesem Fall wird offensichtlich das „Ich denke" als bedingt und gerade nicht als „die einzige Bedingung allen Denkens" betrachtet. Das „Ich denke" dient, sofern es wiederum als bedingt vorgestellt wird, selbst als „Ausgangspunkt" für scheinbar ohne weiteres zu ziehende Schlüsse auf eine in allen Eigenschaften erkennbare denkende Substanz. Und erst in diesen Schlüssen vom Phänomen des selbstbewussten Denkens auf die Natur des Denkers finden die genuin psychologischen „dialektischen" Schlüsse statt. 188
Vgl dazu etwa M. Koßler [1999]: „Das Bedingte ist bei der Seelenlehre „ein Gedanke Uberhaupt". Da die einzige Bedingung eines jeden Gedankens das begleitende Ich denke ist, so schließt die Vernunft notwendig auf die Unbedingtheit und damit Allgemeinheit dieser Bedingung" (ebd. S. 5). 189 Koßler [1999] kritisiert die seiner Meinung nach falsche Interpretation von Gäbe [ 1954, S.92], der „aus dem Umstand, dass die Synthesis der Bedingungen mit dem Bedingten nur zwei Glieder hat, schließt, sie sei als solche zugleich unbedingt" (ebd. S. 5, Fn), weil Gäbe nach Koßlers Ansicht dem aufzudeckenden „Schein" aufsitze, nicht jedoch, weil die Synthesis von Reihengliedern ausschließlich in der Kosmologie stattfindet. 190 Koßler 1999, S. 5. 191 Koßler weiter: „Ich denke ist die einzige Bedingung allen Denkens", was er für wahr zu halten scheint, selbst wenn er diesen Satz als zweite Prämisse des „Paralogismus in seiner Grundform" auftreten lässt (ebd. S. 6).
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Auf diesen Sachverhalt weist Kant hin, wenn er Uber das „Unternehmen" der rationalen Psychologie schreibt: „Ich denke, ist also der alleinige Text der rationalen Psychologie, aus welchem sie ihre ganze Weisheit auswickeln soll" (A343/ B401), wobei hier eine Prise ironischer Spott nicht zu übersehen ist. Als „der alleinige Text" gilt der rationalen Psychologie der Ausspruch des selbstbewussten Denkens „Ich denke" als gegebenes und selbst bedingtes Faktum - nicht als erst noch zu erschließende „einzige Bedingung", wie beispielsweise Koßler meint. Mit der gleichen Intention behauptet Kant ausdrücklich, dass der rationalen Psychologie das alle Gedanken begleitende Selbstbewusstsein als „gegeben" und nicht etwa als erschlossen gilt: „[...] da hier zuerst ein Ding, Ich, als denkend, gegeben worden [...]" (A344/B402). Das Gegebene ist als bedingt betrachtete Basis stets der Ausgangspunkt der Ideenbildungen spezieller Metaphysik. 192 Mit dem „Ich denke" als alleinigem Text der rationalen Psychologie knüpft Kant unmittelbar und gleichsam korrigierend an Descartes' Überlegungen und Ansprüche an, der sich in den Meditationen ebenfalls diese bescheidene Deduktionsgrundlage verordnet.
3.1.4 Formale und reale, subjektive und objektive Bedingungen des Denkens Wer nach der objektiven Natur des denkenden Subjekts fragt, das denkende Subjekt also zum Objekt des Denkens macht, der verstrickt sich geradezu notwendigerweise in Schwierigkeiten eben des Gebrauchs der Ausdruckspaare „SubjektObjekt" bzw. „subjektiv-objektiv". Wir sagten bereits oben, dass im gegenwärtigen Zusammenhang die „objektiven" Bedingungen des Denkens nicht im objektiven Gehalt der Gedanken bestehen, den wir seinerseits auf eine Affektion des Subjekts durch etwas von ihm Verschiedenes zurückführen. Nicht nach den objektiven Bezügen des Denkens, sondern nach dem Denkenden, dem cogitans, fragt die Vernunft. Wenn wir also dennoch im Folgenden von subjektiven und objektiven Bedingungen des Denkens sprechen, so beziehen sich beide „aufs Subjekt": einmal, vom Standpunkt formal-funktional istischer Erwägungen, auf das Denken des Subjekts; ein andermal, von einem scheinbar ohne weiteres einnehmbaren ontologischen Standpunkt, auf das von den Gedanken abtrennbar gedachte Subjekt selbst, kurz: einmal auf die Leistungen und ein andermal auf das diese Leistungen ermöglichende Wesen des denkenden Subjekts. Es ist ein Irrtum zu meinen, dass Kant nur subjektive Bedingungen im engen, d.h. formalen Sinn kennt. Wenn wir lesen, „Ich denke" sei „die einzige Bedingung,
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Dass diese Funktion für die rationale Psychologie dem Urteil „Ich denke", dem Ausdruck der „bloßen Apperzeption" (A343/B401), zukommt, legt schließlich eine weitere Formulierung Kants der ersten Seiten des Paralogismen-Hauptstücks zumindest nahe: „Wir haben also schon eine angebliche Wissenschaft vor uns, welche auf dem einzigen Satze: I c h d e n k e , erbaut worden [...]" (A342/B400; Hervorhebung von N.K.).
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die alles Denken begleitet" (A398), so bedeutet dies, dass „Ich denke" die einzige begleitende Bedingung allen Denkens ist, und nicht etwa - wie beispielsweise Lüder Gäbe 193 diese Stelle zu verstehen scheint -, dass sie die schlechthin einzige Bedingung allen Denkens ist, die zudem eine begleitende ist. Kant charakterisiert das „Ich denke" ausdrücklich einschränkend als „nur die formale Bedingung" (A398) des Denkens. 194 Diese formale Bedingung ist insofern eine subjektive, als sie nicht mehr zum Ausdruck bringt, als dass das Denken für uns untrennbar mit Selbstbewusstsein verbunden ist. Prima facie scheint ein Begleiter etwas anderes als eine Bedingung zu sein. Um dennoch die Rede davon, dass das Selbstbewusstsein eine Bedingung des Denkens überhaupt sei, plausibel erscheinen zu lassen, ließe sich davon sprechen, dass etwas etwas anderes dann bedingt, wenn es dieses zu dem macht, was es nun einmal gerade ist. Und in eben diesem Sinne bedingt das begleitende Selbstbewusstsein jeden einzelnen unserer Gedanken, da ein unbewusster Gedanke für uns nichts ist. Ohne im Gegensatz zu subjektiven, formalen Bedingungen ausdrücklich von objektiven, realen Bedingungen des Denkens resp. der Spontaneität zu sprechen, nimmt Kant diese ins Visier, wenn er die Frage aufwirft, „von welcher Beschaffenheit ist ein Ding, welches denkt?" (A398), oder wenn er fragt, „worauf dieses Denken seiner Möglichkeit nach beruht." (ebd.). Dasjenige, was das Denken für uns entscheidend charakterisiert und worüber wir uns im Rahmen einer „Analysis des Satzes, ich denke" (B408) Klarheit verschaffen können - etwa, dass ich mich stets als das Subjekt meiner Gedanken erlebe - ist offensichtlich so verschieden von demjenigen, „worauf es [das Denken] seiner Möglichkeit nach beruht", wie formale von realen subjektiven Bedingungen des Denkens überhaupt. 1 9 3 Wenn Kant in den einleitenden Sätzen des Antinomie-Hauptstücks im Rückblick auf das Psychologie-Hauptstück schreibt: „Die erste Art dieser vernünftelnden Schlüsse ging auf die unbedingte Einheit der subjektiven Bedingungen aller Vorstellungen überhaupt (des Subjekts oder der Seele)" (A406/B432), dann erschöpfen sich diese „subjektiven Bedingungen" nach unseren Überlegungen also gerade nicht in der formalen Bedingung des Selbstbewusstseins. Vielmehr scheint es neben den subjektiv-formalen Bedingungen auch subjektiv-reale bzw. subjektiv-objektive Bedingungen des Denkens zu geben. Zumindest fordert diese die reine Vernunft, wenn sie Totalität der Bedingungen fordert. Die formalen und realen Bedingungen des Denkens stehen des Weiteren in einem besonderen Verhältnis zueinander: Erstens gilt, dass ein beliebiger Gedanke
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Vgl. L. Gäbe 1955, S . 9 1 f. ,J>/ur die formale Bedingung" macht nur dann Sinn, wenn es weitere Bedingungen gibt bzw. weitere angenommen werden. 193 „Formal" wird hier ausdrücklich nicht im Sinne des noch bei Descartes nachweisbaren scholastischen Gebrauchs verwendet, nach dem „formal" gerade soviel bedeutet wie „bewusstseinsunabhängig". Vgl. dazu Mackie 1985, S. 56. 19,4
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sowohl durch die ihn begleitende subjektive Bedingung der reinen Apperzeption als auch die objektive Bedingung des Wesens, welches denkt, bedingt ist; zweitens aber wird das Selbstbewusstsein als bedingt durch die Natur des denkenden Wesens vorgestellt. Subjektive und objektive, formale und reale Bedingung eines Gedankens sind also nicht gewissermaßen gleichberechtigt „beigeordnet", sondern die objektiven-realen sind den subjektiv-formalen übergeordnet. Dass das Apperzeptionsbewusstsein nicht nur als Bedingung des Denkens fungiert, sondern selbst als bedingt durch die Natur denkender Wesen vorgestellt wird, bringt auch Kant etwa dadurch zum Ausdruck, dass es gerade dieses „reine Selbstbewußtsein" sei, „welches doch hat erklärt werden sollen" (B422). Das denkende Wesen ist als reale Bedingung die oberste Bedingung allen Denkens. 1 9 6 Die formalen Bedingungen werden allein vermöge der realen Bedingung realisiert. Für die Entfaltung der psychologischen Ideenlehre ist von entscheidender Bedeutung, dass die Vernunft neben der in der Tat „gegebenen" formalen Bedingung des Selbstbewusstseins auch die Erkenntnis von den faktisch unerkennbaren objektiv-realen, die Natur des denkenden Subjekts betreffenden Bedingungen des Denkens beansprucht. Entgegen der Unmöglichkeit, das Subjekt als Objekt nicht nur zu denken, sondern auch anzuschauen und somit zu erkennen, wird die Annahme der Gegebenheit und damit Erkennbarkeit aller Bedingungen durch den verführerischen Schein, „die subjektive Bedingung des Denkens für die Erkenntnis des [denkenden] Objekts" zu halten, als berechtigt vorgetäuscht. Der Schein verleitet dazu, von einer Phänomenologie bzw. Analyse des als bedingt betrachteten Selbstbewusstseins auf Bestimmungen des Objekts der Seele zu schließen. Der „dialektische" Schluss „von dem transzendentalen Begriffe des Subjekts, der nichts Mannigfaltiges enthält [„Ich denke"], auf die absolute Einheit des Subjekts selber" (B398) ist es nämlich, den Kant auch an diversen Stellen des Textes als „Verwechslung" 1 9 7 anspricht.
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Diese reale und doch subjektive Bedingung ist es auch, die Kant in der einschlägigen Reflexion 5553 des Metaphysik-Nachlasses neben „der unbedingten (objektiven) Bedingung der Erscheinungen" und „der unbedingten objektiven Bedingung aller Gegenstände überhaupt" als ersten Ideentitel namens „die unbedingte subjektive Bedingung des Denkens" aufführt (Vgl. AA XVIII, 226). 197 So zum Beispiel dann, wenn Kant ausdrücklich davon spricht, dass der „transzendentale Schein" in der rationalen Psychologie seinen Grund in der Verwechslung hat, die „subjektive Bedingung des Denkens (Ich denke) für die Erkenntnis des Objekts" (den Denker) zu halten. Gewöhnlicher Weise verwechseln wir zwei Dinge nur dann, wenn sie uns beide bekannt und zudem einander sehr ähnlich sind. Da das denkende Subjekt sich selbst gerade nicht als Objekt anschauen kann, ihm daher gemäß Kants Zwei-Stämme-Lehre der Erkenntnis keinerlei Erkenntnis von sich selbst als Objekt möglich ist, bleibt die objektive Natur dem Selbst verschlossen. Wir sind mit ihr schlicht nicht bekannt. Daher muss die Verwechslung, von der Kant spricht, genau genommen sogar als unzulässiger, „dialektischer" Schluss von Merkmalen des Denkens auf die Natur des Denkers interpretiert werden.
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Das System der psychologischen Ideen
3.1.5 Der Gegenstand
der psychologischen Ideen
Was uns die „transzendentale Dialektik" im Allgemeinen beschert, nämlich die Eigenschaft des Verstandes i.w.S., dass sein Erkenntnisdrang die eigene Leistungsfähigkeit übersteigt, gilt im Besonderen auch für die „rationale Psychologie". Während Kant uns allenfalls die Fähigkeit zur Analyse der subjektiv-formalen Bedingung des Selbstbewusstseins attestiert, zwingt die Forderung nach Vollständigkeit der Bedingungen des Denkens den kategorial verfassten Verstand darüber hinaus zur Frage nach objektiv-realen Gründen der Möglichkeit. Wenn wir weiter gemäß dem „obersten Prinzip der reinen Vernunft" die vollständige Gegebenheit dieser Bedingungen voraussetzen, dann beanspruchen wir eben dadurch auch schon die Erkennbarkeit der Beschaffenheit von diesem „Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denket" (A346). Und genau von Vorstellungen über dieses „Ding" handeln die psychologischen Ideen. Eine Erkenntnis von der Natur des denkenden Wesens, der obersten Bedingung allen Denkens, ist uns Kants Zwei-Stämme-Lehre der Erkenntnis zufolge prinzipiell unmöglich, weil uns die Möglichkeit verschlossen ist, das denkende Selbst als Objekt anzuschauen. Für diese Unmöglichkeit ist der „beständige Zirkel" verantwortlich, dass wir uns des denkenden Selbst „jederzeit schon bedienen müssen, um irgend etwas von ihm zu urteilen" (A346/B404). Die materiale Leere bzw. die bloße Formalität der Vorstellung vom „Ich" im Satz „Ich denke" beruht ihrerseits auf der „Unbequemlichkeit" (A346/B404) dieses Zirkels, m.a.W., die Leere der Vorstellung vom denkenden Selbst ist eine Folge aus der Unhintergehbarkeit der Subjektivität resp. des Selbstbewusstseins. Jonathan Bennett stellt treffend fest: „Ich, als denkend", bin kein Objekt meiner Welt, sondern gerade ihr Rahmen. 1 9 8 Daher können die Vorstellungen, die sich das denkende Subjekt von sich selbst als Objekt macht bloß Ideen sein. Es erscheint uns wichtig, ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass auch eine kantische psychologische Ideenlehre sich nicht in einer Analyse des Selbstbewusstseins bzw. einer „Analysis des Bewußtseins meiner selbst im Denken überhaupt" (B409) erschöpft. Auch für Kant sind psychologische Ideen Vorstellungen von der Natur des denkenden Selbst. Erst die systematische Spekulation über die Beschaffenheit dieses Dings, welches denkt, verdient die Bezeichnung „Ideenlehre", da Ideen per definitionem „transzendente" Begriffe von Gegenständen sind, d.h. Begriffe, denen kein Gegenstand gegeben werden kann, obwohl sie Begriffe von Gegenständen im weiteren Sinn sind (man denke z.B. an „Weltgrenze", „Weltanfang" u.a.). Beim Selbstbewusstsein hingegen handelt es sich nicht einmal um einen Begriff von einem Objekt i.w.S., sondern um einen Begriff von der Form des Denkens, und zudem ist die Tatsache, dass das Selbstbewusstsein alle
198
Bennett 1974, S. 69.
Vorbereitungen
133
meine G e d a n k e n begleitet, keine „Idee", sondern stets erlebbares F a k t u m . Gleiches gilt f ü r spezifischere W a h r h e i t e n über das formale Selbstbewusstsein, welche sich aus der Analyse des Satzes „Ich d e n k e " ergeben. Unsere A u f f a s s u n g davon, wovon (auch) eine kantische psychologische Ideenlehre handelt, wird spätestens im Abschnitt über die „Endabsicht der natürlichen Dialektik" ( A 6 6 9 / B 6 9 7 ff.) bestätigt, wo Kant die aus der rationalistischen Tradition vererbten Ideen der Substantialität, Simplizität und Personalität der Seele als regulative Ideen in eine Philosophie des Als-ob zu überführen sucht: „Wir wollen den genannten Ideen als Prinzipien zu Folge e r s t l i c h (in der Psychologie) alle Erscheinungen, Handlungen und Empfänglichkeit unseres Gemüts an dem Leitfaden der inneren Erfahrung so verknüpfen, a 1 s ο b dasselbe [d.h.: das Gemüt] eine einfache Substanz wäre, die mit persönlicher Identität, beharrlich (wenigstens im Leben) existiert [...]" (A672/B700)
3.1.6
Zwischenergebnis und Deduktionsskizze
Im Text des Paralogismenkapitels der KdrV existieren Überlagerungen von a) konstruktiver Ideendeduktion, b) kantischer Theorie des Selbstbewusstseins bzw. der Analyse des Urteils „Ich denke", und c) der A u f d e c k u n g des Scheins, d e m die „rationale P s y c h o l o g i e " erliegt, sowie der damit verbundenen Z u r ü c k w e i s u n g der Erkenntnisansprüche hinsichtlich der Natur denkender Wesen. Diese Uberlagerungen erschweren das Verständnis dessen, was Kant seinen Vorgängern als seine eigene „rationale P s y c h o l o g i e " entgegen zu halten gedenkt - Theorie des Selbstbewusstseins oder regulative Seelenmetaphysik? - und welche B e g r i f f e die kantischen „psychologischen I d e e n " sind. D e n n o c h scheint kein Zweifel daran zu bestehen, dass auch die kantischen psychologischen Ideen Begriffe von E i g e n s c h a f ten des „Dinges, welches d e n k t " (A346) sind. I m kritischen Geiste Kants sind wir uns dabei bewusst, dass wir durch die A n n a h m e eines d e n k e n d e n Wesens das G e f a n g e n s e i n in unserem kategorialen B e g r i f f s s y s t e m insofern bestätigen, als wir die Möglichkeit des D e n k e n s auf ein (wenn auch gänzlich unerkennbares) R e f e renzobjekt des Funktors „Ich" z u r ü c k f ü h r e n : ein denkendes Wesen, ein „Ding, welches denkt", „ein transzendentales Subjekt der G e d a n k e n = χ " (A346). 1 9 9
199
H. Heimsoeth [1966, Band 1, S. 94] bestätigt diese Gefangenheit im kategorialen Begriffssystem, wenn er, sich der notwendigen Substantialisierung beim Sprechen über die objektive Bedingung des Denkens bewusst, schreibt: „Was es auch immer sei, das der Erkenntnis fähig und das Subjekt der Erkenntnis ist [...]". M. Koßler [1999] ist vollständig Recht zu geben, wenn er darauf hinweist, der epistemologische Zirkel, der dafür verantwortlich ist, dass das Objekt des Subjekts unerkennbar bleiben muss, trete „nur unter der Voraussetzung auf, daß er bereits geschlossen wurde, indem das Ich [...] im vorhinein als denkendes Wesen, d.h. als Objektives konzipiert ist" (ebd. S. 12). Das Schicksal des Verstandes i.w.S. ist es jedoch, erstens aufgefordert zu sein, das Ich des Satzes „Ich denke" zu denken, und dies zweitens nur mittels der Kategorien zu können.
134
Das System der psychologischen Ideen
Das fehlerhafte Grundmodell des Schlusses rationaler Psychologie können wir folgendermaßen auf die durch das „oberste Prinzip der reinen Vernunft" vorgegebene Struktur des modus ponendo ponens bringen: (PI) Wenn ein „Gedanke überhaupt" gegeben ist, dann ist auch die Totalität seiner Bedingungen gegeben. (P2) Nun ist ein „Gedanke überhaupt" gegeben. (Kl) Also ist die Totalität der Bedingungen des „Gedankens Uberhaupt" gegeben. (P3) Die Totalität der Bedingungen eines „Gedankens Uberhaupt" enthält neben der formalen, subjektiven Bedingung des Selbstbewusstseins („Ich denke") als reale, objektive und zugleich oberste Bedingung die Natur des denkenden Wesens. (K2) Also ist die Natur des denkenden Wesens gegeben. Diesem unkritischen Schlussmodell würde Kant dasjenige entgegen halten, welches sich der entscheidenden Korrektur verdankt, dass der reinen Vernunft eine Totalität der Bedingungen jederzeit nur „aufgegeben" anstatt „gegeben" ist. Seine Konklusion lautete demnach: (K2*) Also ist die Natur des denkenden Wesens als Idee aufgegeben. Dem unkritischen Schlussmodell gemäß wird vierfach von elementaren Eigenschaften des Denkens auf Eigenschaften des Denkers geschlossen, und es scheinen die Fragen beantwortet zu werden, wie beschaffen ein Ding sein müsse, welches 1. Gedanken als Zustände besitzt {Relation), 2. ein unteilbares Bewusstsein von Gedanken hat (Qualität), 3. sich über die Zeit und den Wechsel der Gedanken hinweg seiner selbst als numerisch-identisch bewusst ist (Quantität) und 4. seine eigene Existenz als unterschieden von der Existenz der wahrgenommenen äußeren Gegenstände denkt (Modalität). Aus der Gegebenheit von relationalen, qualitativen, quantitativen und modalen Bestimmungen des selbstbewussten Denkens meint die rationale Psychologie also auf Bestimmungen des Denkers schließen zu können. Letztere sind identisch mit den subjektiv-objektiven Bedingungen eines Gedankens, unter denen wir nicht etwa diejenigen Subjekt-unabhängigen Bedingungen verstehen, die das Subjekt affizieren und als Grund für den jeweils objektiven Gehalt der Gedanken und Wahrnehmungen ausgemacht werden, sondern diejenigen Bedingungen, welche die Vernunft fordert, um sich die Aktivität des Denkens selbst („Spontaneität"), erklären zu können. Diese Bedingungen bestehen in bestimmten Vorstellungen darüber, von welcher Art ein Ding ist, welches denkt. Weil diese subjektiv-objektiven Bedingungen dem denkenden Subjekt aufgrund des in A346/B404 konstatierten epistemologischen Zirkels gänzlich verschlossen sind, kann in der rationalen Psychologie anders als in der rationalen
Vorbereitungen
135
Kosmologie auch keine Extrapolation einer Reihe von objektiven Bedingungen stattfinden. Wir sind allein im Besitz der Kenntnis der einzigen, begleitenden und rein subjektiven Bedingung des Selbstbewusstseins („Ich denke"), nicht hingegen im Besitz der Kenntnis auch nur einer einzigen objektiven Bedingung des Denkens, vor der aus - wie in der Kosmologie - eine Totalität der Bedingungen prinzipiell erschließbar schiene. Für die Ideengenesis der rationalen Psychologie ist daher nicht zu sehen, wie sich die zunächst völlig unbestimmten, abstrakten Begriffe von „Totalitäten von Bedingungen des Denkens überhaupt" auf scheinfreie Weise als bestimmte^) Begriffe von einem denkenden Wesen (Substantialität, Simplizität, etc.) herausstellen können. Die Konkretionen der Ideen scheinen anders als in der rationalen Kosmologie - gewissermaßen nicht straight forward aus dem „obersten Prinzip der reinen Vernunft" herleitbar zu sein, indem quantitative, qualitative, relationale und modale Bestimmungen des Denkens spezifiziert werden und deren vollständige Bedingtheit gefordert wird. Dies hat seinen Grund eben darin, dass Bedingtes (Gedanke) und Bedingung (denkendes Wesen) hier in einem besonderen Verhältnis der Ungleichartigkeit zueinander stehen. Bei der Kosmologieproblematik sind die reihenförmig aufsteigenden Bedingungen - insbesondere bei den ersten beiden Reihen, die auf die „mathematischen" Ideen führen - insofern jeweils gleichartig, als etwa ein Gegenstand äußerer Anschauung (Bedingtes), der in bestimmter Hinsicht durch jeweils größere Raumteile bedingt wird, selbst räumlich ist. 200 Zudem dürfen die „logischen Paralogismen" in einer metaphysischen Deduktion der psychologischen Ideen keine deduktive Rolle spielen. Ihr systematischer Ort ist nicht die konstruktive Ideengenesis, sondern die Kritik an der rationalen Psychologie von Kants Vorgängern, wie wir oben in Analogie zum KosmologieHauptstück herausstellten. Dieser Sachverhalt hat für uns insofern Konsequenzen, als die Aufgabe des Rekonstrukteurs einer metaphysischen Deduktion der psychologischen Ideen nunmehr der Quadratur des Kreises zu gleichen scheint: Einerseits sind wir aufgefordert, eine Ableitung der in der „Topik" verzeichneten Ideen bzw. Lehrsätze zu leisten, die bekanntermaßen weit über die Begriffe von abstrakten Bedingungstotalitäten hinaus gehen. Andererseits sollen wir eben dies unter Verzicht auf die Berücksichtigung der fehlerhaften Argumente der einzelnen „Paralogismen" leisten, die j a ihrerseits dazu dienen, Lehrsätze zu beweisen, welche die Ideen der „Topik" als Behauptungen formulieren. Wie kommt es also unabhängig von den scheinbar beweiskräftigen Argumenten der einzelnen Paralogismen zur ausgefüllten „Topik der reinen Seelenlehre"? Wir wollen eine Antwort wagen, die von dem folgenden Dreischritt ausgeht. 200
Beim Übergang von Bedingtem (Denken) zur subjektiv-objektiven Bedingung (denkendes Wesen) haben wir es wohl - in Anlehnung an Kants Rede aus dem Zusammenhang der vierten Antinomie unmittelbar mit einer metabasis eis alio genos (vgl. A458/B486) zu tun. Es kann hier nicht einmal auf eine zweigliedrige Reihe von gleichartigen Bedingungen zurückgeschaut werden.
136
Das System der psychologischen Ideen
In einem ersten Schritt schließt die unkritische Vernunft gemäß ihrem fehlerhaften Grundprinzip auf das Gegebensein der Vollständigkeit von Bedingungen zu einem gegebenen „Gedanken überhaupt". Dies kann sie, ausgehend von elementaren relationalen, qualitativen, quantitativen und modalen Bestimmungen des Denkens, auf vierfache Weise tun, sodass sie in diesem ersten Schritt die vier folgenden Ideen erschließt: Die Totalität der subjektiv-objektiven Bedingungen der a) relationalen b) qualitativen c) quantitativen und d) modalen Bestimmung eines „Gedankens überhaupt". Diese vier abstrakten Ideen dürften es auch sein, die gemäß der kantischen Korrektur als „aufgegebene" Ideen zu den Elementen des reinen Verstandes i.w.S. gehören. In einem zweiten und von der metaphysischen Deduktion der psychologischen Ideen scheinbar unabhängigen Schritt des Paralogismen-Hauptstücks breitet Kant seine Theorie bzw. Analyse des Selbstbewusstseins aus. Diese lässt sich in weiten Teilen als eine Korrektur der überzogenen Ansprüche rationalistischer Seelenmetaphysik lesen. Kant greift die auch dem Selbstverständnis der „rationalen Psychologie" nach einzige Grundlage auf und führt dem Leser zunächst vor Augen, wie mager die Analyse des Satzes „Ich denke" tatsächlich ausfällt. Das Resultat der Analyse dieses material vollkommen leeren Satzes besteht in den folgenden vier Sätzen (vgl. B407-B409): 1. Das „Ich" der reinen Apperzeption ist stets logisches Subjekt, nie Prädikat seiner Urteile. 2. Das „Ich" der reinen Apperzeption ist stets ein Singulär, mithin logisch einfaches Subjekt seiner Urteile. 3. Das „Ich" der reinen Apperzeption ist sich selbst beim steten Wechsel seiner Vorstellungen seiner numerischen Identität bewusst. 4. Das „Ich" der reinen Apperzeption denkt seine Existenz als unterschieden und unabhängig von der Existenz der wahrgenommenen Dinge. Kant bezeichnet diese vier Sätze ausdrücklich als „identische" (B 407) bzw. „analytische" (B408) Sätze. Das durch sie Behauptete findet sich als jeweils zweite Prämisse in den als „Paralogismen" präsentierten Schlüssen der A-Auflage ebenso wieder wie in der dem „analytischen Verfahren" (B418) zugeordneten „Tafel" der B-Auflage 2 0 1 . Kant raubt der rationalen Psychologie seiner Vorgänger dadurch ihre Beweisgründe, dass er zeigt, dass „durch die Analysis des Bewußtseins meiner selbst im Denken überhaupt in Ansehung der Erkenntnis meiner selbst als Objekt nicht das mindeste gewonnen" (B409) ist. Die scheinbaren Be201
Die Reihenfolge, in der die Apperzeption die Kategorientitel in dieser dem „analytischen Verfahren" zugeordneten Tafel durchläuft, ist verschieden von der („synthetischen"?) der Ideentafeln von A404 und A344/B402: „1. Ich denke IModalität], 2. als Subjekt [Relation|, 3. als einfaches Subjekt [Qualität], 4. als identisches Subjekt, in jedem Zustande meines Denkens |Quantität|„ (B419).
Vorbereitungen
137
weisgründe der rationalen Psychologie stellen sich als Trivialitäten heraus. Die „Analysis des B e w u ß t s e i n s " ist nicht etwa ein Produkt der metaphysischen Intention der reinen V e r n u n f t . Sie beruht nicht auf d e m „obersten Prinzip der reinen V e r n u n f t " - auch nicht in seiner korrigierten Version ( „ a u f g e g e b e n " ) - und es sollte auch nicht der Versuch gemacht werden, sie in die durch dieses Prinzip vorgegebene S c h l u s s f o r m des modus ponendo ponens zu gießen bzw. zu z w ä n g e n , da auch Kant eine Begriffs- resp. Urteilsanalyse v o m synthetischen(l) Schließen unterschieden wissen will. Da die unkritische V e r n u n f t trotz des analytischen Charakters dieser Sätze auf eine synthetische Erkenntnis des Subjekts als eines Objekts drängt, meint sie in einem dritten Schritt nun die Verlegenheit der Unbestimmtheit der im ersten Schritt g e w o n n e n e n abstrakten B e g r i f f e von Bedingungstotalitäten dadurch überwinden zu können, dass sie d e m von Kant erstmals a u f g e d e c k t e n „transzendentalen S c h e i n " erliegt und die vier Grundtatsachen über das selbstbewusste D e n k e n als Urteile Uber das Subjekt, als Objekt g e n o m m e n , missversteht. Allein der verführerische Schein, „die subjektive B e d i n g u n g des D e n k e n s f ü r die Erkenntnis des [hier: denkenden] O b j e k t s " (A396) zu halten, „die Subreption des hypostasierten B e w u ß t s e i n s (apperceptionis substantiatae)" (A402), ist demnach für die Konkretionen der Topik verantwortlich. W i r behaupten: es gibt keine scheinfreie Ableitung der konkreten Ideen von der Natur des Denkers, wie diese in der „ T o p i k " verzeichnet sind, allein aus den Eigenschaften des D e n k e n s gemäß d e m „obersten Prinzip" - und zwar auch nicht als „ a u f g e g e b e n e " Ideen, wie dies in der K o s m o l o g i e p r o b l e m a t i k wenigstens noch der Fall gewesen ist. Als Stütze dieser T h e s e kann möglicherweise die B e o b a c h t u n g dienen, dass Kant im eigens abgesetzten Nachtrag zur „Betrachtung über die S u m m e der reinen Seelenlehre" (A396 ff.) die Erklärung des transzendentalen Scheins als untrennbar verknüpft („imgleichen", s.u.) mit der Rechtfertigung der Systematik darstellt: „Wir sind noch eine deutliche und allgemeine Erörterung des transzendentalen und doch natürlichen Scheins in den Paralogismen der reinen Vernunft, imgleichen die Rechtfertigung der systematischen und der Tafel der Kategorien parallel laufenden Anordnungen derselben, bisher schuldig geblieben." (A396) Dass die psychologischen Ideen nicht scheinfrei deduzierbar sind, muss dennoch nicht bedeuten, dass die vier Paralogismen der A - A u f l a g e , die aufgrund einer Äquivokation des Mittelbegriffs formal ungültige Syllogismen darstellen, in einer Rekonstruktion der metaphysischen Deduktion der psychologischen Ideen berücksichtigt werden müssen b z w . dürfen. Die Möglichkeit des sophistischen Tricks,
138
Das System der psychologischen Ideen
der Schein der logischen Gültigkeit, muss nämlich vom Grund seiner Möglichkeit, dem transzendentalen Schein, unterschieden werden.
3.2
Die subjektive Deduktion der psychologischen
Ideen
Den oben skizzierten Dreischritt der metaphysischen Deduktion der psychologischen Ideen wollen wir im Folgenden für die einzelnen Ideen minutiös darstellen. Um die Darstellung allerdings ein wenig zu straffen, schicken wir eine allgemeine Version der Deduktion voraus, die gewisse kategoriale Bestimmungen noch unspezifiziert lässt. (1) Wenn ein „Gedanke überhaupt" gegeben ist, dann ist auch die Totalität seiner Bedingungen gegeben. (2) Nun ist ein „Gedanke überhaupt" gegeben. (K) Also ist die Totalität der Bedingungen eines „Gedankens überhaupt" gegeben. (3) Die Totalität der Bedingungen eines „Gedankens überhaupt" enthält neben der formalen, subjektiven Bedingung des Selbstbewusstseins („Ich denke") als reale, objektive und zugleich oberste Bedingung die Natur des denkenden Wesens. Nun gilt: (4) Eine „Analysis des Bewußtseins meiner selbst im Denken überhaupt [„Ich denke"]" (B409) ist möglich. Aufgrund des transzendentalen Scheins wird die mögliche Analysis des Selbstbewusstseins, der formalen Bedingung des Denkens, mit der Bestimmung des denkenden Wesens, der realen Bedingung des Denkens, verwechselt. In Kants Worten: „Das bestimmende Selbst (das Denken)" wird mit „dem bestimmbaren Selbst (dem denkenden Subjekt" (A402; vgl. auch B407) verwechselt; oder alternativ: „Die logische Erörterung des Denkens überhaupt wird fälschlich für eine metaphysische Bestimmung des Objekts [des denkenden Wesens] gehalten" (B409). Und bei dieser Verwechslung handelt es sich Kant zufolge nicht etwa um eine besondere Perfidie oder schlichte Fahrlässigkeit der „rationalen Psychologie" seiner Vorgänger, sondern um eine „unvermeidliche, obzwar nicht unauflösliche, Illusion" (A341/B399), die die menschliche Vernunft natürlicherweise täuscht. Die Täuschung hat ihre „Ursache" darin, „dass wir den Dingen [hier: denkenden Wesen] a priori alle Eigenschaften notwendig beilegen müssen, die die
Die subjektive Deduktion der psychologischen Ideen
139
Bedingungen ausmachen, unter welchen wir sie allein denken" (A346/B405). 202 Zwar scheint diese für allen Schein verantwortliche Disposition selbst keiner weiteren Begründung fähig zu sein, doch ist die sich selbst erkennende Vernunft in der Lage, den auf dem Schein beruhenden Irrtümern zu entgehen. Wir formulieren als weitere Prämisse der subjektiven Deduktion psychologischer Ideen: (5) Die Bestimmungen des Ich der Apperzeption werden mit den Bestimmungen des denkenden Wesens verwechselt. Wegen (4) und (5) gilt zunächst ganz allgemein: (6) Eine Erkenntnis der Bestimmungen des denkenden Wesens scheint
möglich.
Wir werden bei der Deduktion der psychologischen Ideen den allgemeinen Teil bis einschließlich (K) nicht ständig wiederholen, sondern jeweils mit der Spezifikation von (4) einsetzen.
3.2.1 Die erste psychologische Idee Zur relationalen Bestimmung des selbstbewussten Denkens gehört es, dass das denkende Subjekt sich stets als Träger seiner Gedanken denkt, wie dies auch bereits die grammatikalische Struktur des Urteils „Ich habe einen Gedanken" dokumentiert. Das denkende Subjekt erlebt seine Gedanken als Zustände, ohne darum doch seiner selbst als abtrennbar von seinen Zuständen - und das hieße insbesondere: „objektiv" - gewahr zu werden. Das Urteil „Ich denke" repräsentiert also kein reales, sondern vielmehr ein transzendental-logisches Verhältnis, weil dadurch nicht ein bestimmtet!) Gegenstand erkannt wird, der die Eigenschaft hat zu denken („Ich, als denkend Wesen"), sondern damit lediglich gesagt wird, dass das Denken untrennbar mit Selbstbewusstsein verknüpft ist. Ich bin stets das transzendental-logische Subjekt meiner Gedanken, stets das urteilende Subjekt meiner Urteile. In einem weiteren Sinn bin Ich das „Subjekt" meiner Urteile, nämlich dann, wenn die Vorstellung Ich beim Urteilen zur synthetisierten Materie gemacht wird. In einem Urteil, welches wir Kant folgend als logisches Verhältnis von Subjekt-
202
Die natürliche Annahme des transzendentalen Realismus kann nicht als Quelle des Scheins ausgemacht werden, weil selbst der transzendentale Realist sich von Kant überzeugen lassen kann, dass die Seele kein gegebener und bestimmbarer Gegenstand (der Erscheinung) ist, ohne zum transzendentalen Idealisten zu konvertieren. Die kantische Kritik der rationalen Psychologie ist in diesem Sinne - anders als die der rationalen Kosmologie - metaphysisch neutral.
140
Das System der psychologischen Ideen
und Prädikatbegriff auffassen, kann das Abstraktum „Ich, als denkend", welches eigentlich „gar kein B e g r i f f ' 2 0 3 ist, nicht prädikativ gebraucht werden: Es sind keine kategorischen Urteile der Form „A ist ein B " bzw. „A hat die Eigenschaft, ein Β zu sein" möglich, in denen „Ich" die Prädikatsstelle Β besetzt. Nicht nur ist das Ich also im Sinne der reinen Apperzeption stets das transzendental-logische urteilende Subjekt, sondern auch in seinen eigenen Urteilen kann es, im Zuge der Selbstzuschreibung, nur das beurteilte logische Subjekt sein - wenn auch nur als empirisch unbestimmtes. Wir halten fest: Das Urteil „Ich denke" ist bezüglich der Relation analysierbar: (4a) Ich bin das absolute (transzendental-)logische Subjekt meiner Gedanken, (vgl. 2. Prämisse des ersten Paralogismus, A348) Sowohl das transzendental-logische Verhältnis von Apperzeptionsbewusstsein und einem bestimmten Gedanken als auch das Verhältnis von Subjekt- und Prädikatbegriff in Urteilen muss nun vom realen Verhältnis zwischen denkendem Wesen und Gedanke unterschieden werden. Zur Vernachlässigung genau dieser Unterscheidung verführt der transzendentale Schein nicht nur die rationalen Psychologen. Unsere erste Spezifikation von (5) lautet demnach: (5a) Die relationale Bestimmung des Ich der Apperzeption, des ,,logische[n] Subj e k t s ] des Denkens" (A350), wird mit der relationalen Bestimmung „des realen Subjekts der Inhärenz" (A359), des denkenden Wesens, verwechselt. Mit (4a), (5a) gilt: Die relationale Bestimmung des denkenden Wesens scheint möglich: (6a) Ich, als denkendes Wesen, bin das absolute „Subjekt der Inhärenz" meiner Gedanken, was soviel bedeutet wie: (6a*) Ich, als denkendes Wesen, bin Substanz. (vgl. Konklusion des ersten Paralogismus, A348) (Def.) „Ich, als denkend Wesen, [...] heiße Seele." (A342/B400) (6a**) Die Seele ist Substanz.
203
Vgl. Prol. § 46.
Die subjektive Deduktion der psychologischen Ideen
3.2.2
141
Die zweite psychologische Idee
Es mag auf den ersten Blick paradox wirken, dass das formale Apperzeptionsbewusstsein bezüglich der Qualität analysierbar sein soll, da doch formale Eigenschaften etwas anderes sind als reale und der Kategorientitel der Qualität eine besondere Affinität zur Qualitätskategorie der „Realität" zeigt, da Gegenständen durch diejenige Urteilsfunktion, die der Kategorie der Realität entspricht (Bejahung), Qualitäten zugesprochen werden. 204 Realität oder Sachheit liegt insbesondere dann vor, wenn etwas „Mannigfaltiges" vorliegt. Nun urteilt Kant allerdings über das Ich der Apperzeption: „Der Satz: Ich bin einfach, muß als ein unmittelbarer Ausdruck der Apperzeption angesehen werden, [...] bedeutet aber nicht mehr, als daß diese Vorstellung: Ich, nicht die mindeste Mannigfaltigkeit in sich fasse, und daß sie absolute (obzwar bloß logische) Einheit sei." (A355) Hier können wir ergänzen, dass die Vorstellung „Ich" gerade deswegen von „absolute^] (obzwar bloß logische[r]) Einheit" ist, weil sie „nicht die mindeste Mannigfaltigkeit in sich" befasst. Denn alles, was „eine Mannigfaltigkeit in sich fasst", kann, sofern es sich um eine extensive Mannigfaltigkeit handelt, in Teile geteilt werden, oder, sofern es sich um eine intensive Mannigfaltigkeit handelt, in Eigenschaften aufgelöst werden. Hingegen gilt, dass „das subjektive Ich [der Apperzeption] nicht geteilt und verteilt werden" (A354) kann. Die bloß mögliche Abstraktion meiner selbst als denkend vom Gedanken lässt, da mit dem Ich der Apperzeption überhaupt kein Objekt vom Gedanken abgetrennt wird, insbesondere kein irgendwie „Zusammengesetztes" (vgl. A351) zurück. Auf den Unterschied zwischen der „möglichen Abstraktion" von allem Empirischen beim Denken und der „Absonderung" eines Objekts im eigenen Recht ist oben bereits hingewiesen worden. Wenn Kant also trotz der Charakterisierung des Ich als „für sich selbst an Inhalt gänzlich leer" (A345/B404) an anderer Stelle schreibt: „Die Apperzeption ist etwas Reales" (B419), so kann dies nur bedeuten, dass sie eine intensive Größe ist, also insbesondere nicht als eine Pluralität von Eigenschaften aufgefasst werden kann. Die Sachheit des formalen Selbstbewusstseins lässt sich also nicht einmal in eine Pluralität von Eigenschaften auflösen. Und doch ist die wenn auch „unbestimmte empirische Anschauung" (B423) der Apperzeption als „etwas Rea-
204
Die Kategorie der Realität scheint nicht nur eine der drei Qualitätskategorien zu sein, sondern diejenige, die gegenüber den anderen Priorität genießt, wie auch Kants Diktum, sie liege „den übrigen [Negation, Limitation] zum Grunde" (A403) behauptet. Es werden nämlich sowohl im verneinenden („Es ist nicht der Fall, dass S Ρ ist") als auch im limitierenden Urteil („S ist nicht-P") in der Regel Gegenständen Eigenschaften, Sachheiten bzw. Realitäten abgesprochen.
142
Das System der psychologischen Ideen
les" nach d e m Prinzip der Antizipationen der W a h r n e h m u n g 2 0 5 ein Gegenstand der E m p f i n d u n g von intensiver Größe, d.h. von e i n e m „ G r a d " . Und in der Tat machen wir die E r f a h r u n g , dass unser mentales L e b e n von einer Selbstvergewisserung unterschiedlichen Grads bzw. variabler Intensität begleitet ist. „Daß das Ich der Apperzeption, folglich in jedem Denken, ein Singular sei, der nicht in eine Vielheit der Subjekte aufgelöst werden kann, mithin ein logisch einfaches Subjekt bezeichne, liegt schon im Begriff des Denkens, ist folglich ein analytischer Satz" (B407 f.). Einfachheit ist als absolute Einheit definiert, was auch im zweiten kosmologischen Widerstreit deutlich wird, wenn Kant dort die Idee von unteilbaren Teilen der Materie mit der Idee v o m E i n f a c h e n in der äußeren Erscheinung identifiziert. W ä h r e n d Teilbares von stets nur vorläufiger Einheit ist, ist das Einfache, das Unteilbare, von absoluter Einheit. Hier haben wir es z u d e m aufgrund der „für sich selbst an Inhalt gänzlich leeren" ( A 3 4 5 / B 4 0 4 ) Vorstellung v o m Ich der Apperzeption nicht mit der Idee absoluter realer Einheit zu tun, sondern mit ,,absolute[r], aber logische[r] Einheit": „So viel ist gewiß: daß ich mir durch das Ich [der Apperzeption] jederzeit eine absolute, aber logische Einheit des Subjekts (Einfachheit) gedenke" (A356). Als zweite Spezifikation von (4) gilt nach diesen Ü b e r l e g u n g e n für die Bestimmung des Ich der Apperzeption:
qualitative
(4b) „Ich" ist eine Vorstellung von absoluter logischer Einheit; m.a.W: Ich bin das logisch einfache Subjekt meiner G e d a n k e n . Unsere zweite Spezifikation von (5) lautet: (5b) D i e qualitative B e s t i m m u n g des Ich der Apperzeption wird mit der qualitativen B e s t i m m u n g des denkenden W e s e n s verwechselt. Mit (4b), (5b) gilt: (6b) D i e qualitative B e s t i m m u n g des d e n k e n d e n W e s e n s scheint möglich: Ich, als d e n k e n d e s W e s e n , bin „einfach", (vgl. die zweite Idee der Tafel von A 3 4 4 sowie die Konklusion des „zweiten Paralogismus", A348)
203
„In allen Erscheinungen hat das Reale, was ein Gegenstand der Empfindung ist, einen Grad" (A166/B207 ff.). 206 So lesen wir auch im Text der KdrV·. „Das Bewußtsein hat jederzeit einen Grad" (B414) und „Es gibt unendlich viele Grade des Bewußtseins bis zum Verschwinden" (B415a).
Die subjektive Deduktion der psychologischen Ideen
143
Zusammen mit der bereits erschlossenen, oder sagen wir besser: erschlichenen (vgl. A311/B368) Substantialität der Seele (6a**) scheint daher zu gelten: (6b*) Ich, als denkendes Wesen, bin eine „einfache Substanz"; m.a.W.: Die Seele ist eine einfache Substanz. Diese Vorstellung von der Seele soll im Argument des „zweiten Paralogism der Simplizität" (vgl. A351ff.) erhärtet werden. Der nervus probandi dieses Arguments besteht in der Behauptung, dass die Einheit eines Gedankens absolute Einheit des denkenden Subjekts fordert (vgl. A352). Wenn wir uns also einen Gedanken als die „Handlung" der denkenden Seelensubstanz vorstellen, so haben wir uns diesem Argument zufolge die Handlung eben dieses cogitans nicht als eine „Konkurrenz" (A352) vieler handelnder resp. denkender Substanzen vorzustellen, sondern als die Handlung einer einfachen Substanz. Der „Nerv" des Arguments scheint nicht über die bloße Behauptung hinauszukommen 2 0 7 , dass das Denken „nicht Kon-kurrenz-Wirkung" 2 0 8 sein könne. Warum nämlich sollten nicht viele, in „Konkurrenz" handelnde, also in Koalition handelnde bzw. zusammenspielende „Substanzen" für die wahrgenommene Einheit sowohl des Selbstbewusstseins als auch eines Gedankens verantwortlich sein? Dass wir keine komplexe Repräsentation vom Objekt der Seele haben, darf uns nicht zum Schluss veranlassen, wir hätten eine einfache Repräsentation von ihr. 209 Wir haben überhaupt keine gehaltvolle von ihr. Es ist einmal mehr der blendende Schein, der die Verwechslung von Apperzeptionsbewusstsein und denkendem Wesen erwirkt und die Schwäche des Arguments überdecken und kompensieren soll.
3.2.3 Die dritte psychologische Idee Nun gilt es, das Ich der Apperzeption quantitativ zu bestimmen. Von einer „Einheit der Apperzeption" lesen wir in mindestens zwei Bedeutungen. Wir können a)
207
Kant argumentiert sehr bündig für die Falschheit dieses Satzes etwa folgendermaßen (vgl. A353): er ist mitnichten „analytisch", sondern „synthetisch". Synthetisch und a posteriori wahr kann er nicht sein, da wir die absolute Einheit des denkenden Subjekts nicht in der Erfahrung antreffen. Außerdem soll es sich j a auch um rationale Psychologie ohne die Beimischung des mindesten Empirischen handeln (vgl. A342/B400). Ihn schließlich für synthetisch und a priori wahr zu halten sollte sich niemand „zu verantworten getrauen", der durch Kants .Schule' der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori gegangen ist: „die absolute Einheit des denkenden Subjekts" im substantialistischen Sinne ist keine Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung. Karl Ameriks [vgl. Ameriks 1982, S. 49] behauptet, dass Kant das „Unity Argument" lediglich für ungültig erklärt, ohne jedoch zu sagen warum. Das ist nicht richtig. Kant findet die Erkenntnismöglichkeit des nervus probandi in keinem seiner drei .Kästen' möglicher Urteile garantiert.
208
Heimsoeth 1966, I, S. 108. Vgl. Powell 1990, S. 102.
209
144
Das System der psychologischen Ideen
die qualitative und b) die quantitative Einheit der Apperzeption unterscheiden, wollen diese jeweils erläutern und zeigen, dass die „Personalität" der dritten psychologischen Idee die quantitative Einheit der Apperzeption bzw. Seele behauptet. Wie wir sahen, weist Kant schon unter dem Titel der Qualität darauf hin, „daß das Ich der Apperzeption [...] ein Singular" ist, „der nicht in eine Vielheit der Subjekte aufgelöset werden kann" (B407). Bei dieser qualitativen Einheit des Ich könnte es sich also um eine bloß kollektive Einheit handeln, wenn die Vorstellung vom Ich die Synthesis einer Mannigfaltigkeit als Leistung voraussetzt, die Vorstellung vom Ich also selbst erst zur Einheit gebracht werden muss. Dies gilt für die quanta continua der äußeren Anschauung, die wahlweise als (kollektive) Einheiten oder aber als Vielheiten (von Einheiten) gedacht werden können, j e nachdem, was als „Einheit (das Maß)" 2 1 0 zugrunde gelegt wird. So kann beispielsweise das Buch auf meinem Schreibtisch entweder als Einheit oder aber als Vielheit, nämlich als Vielheit von Seiten gedacht werden. Dies gilt jedoch nicht für das den Versuch, mich selbst, als denkend, mittels der Kategorien zu denken. Weil das „Ich" der Apperzeption auf ein Einzelnes Bezug nimmt, welches nicht auch als Vielheit, das hieße als ein „Aggregat" oder eine „Koalition" 211 gedacht werden kann, ist die qualitative Einheit absolut. Während es unter dem Titel der Qualität um interne Eigenschaften geht, kann unabhängig davon, ob das Ich der Apperzeption eine einfache Vorstellung ist oder nicht, gefragt werden, ob das alle Gedanken begleitende Selbstbewusstsein invariant ist oder ob dieses Ich sich unter dem Wechsel der Gedanken mitverändert. Sollte das „Ich denke" der Apperzeption derart dem Wandel unterworfen sein, dass wir es in unserer Geschichte bewussten mentalen Lebens mit bis zu so vielen verschiedenen Bezugnahmen des Funktors „Ich" zu tun haben, wie wir verschiedene Gedanken haben? 212 Auf die Frage, wie es um die personale Identität des Denkers bestellt ist, scheint Kant eine eindeutige Antwort bereit zu halten:
210
Kant setzt in der Kategorientafel in § 21 der Pmlemomena die Kategorie der „Einheit" bekanntermaßen mit dem „Maß" gleich. 211 Wenn eine kontingent verbundene Vielheit von extensiven Größen vorliegt, spricht Kant von einem „Aggregat", wenn es sich um eine kontigent verbundene Vielheit von intensiven Größen handelt, von einer „Koalition": „Alle Verbindung (conjunctio) ist entweder Zusammensetzung (compositio) oder Verknüpfung (nexus). Die erstere ist die Synthesis des Mannigfaltigen, was nicht notwendig zu einander gehört, wie z.B. die zwei Triangel, darin ein Quadrat durch die Diagonale geteilt wird, für sich nicht notwendig zueinander gehören, und dergleichen ist die Synthesis des Gleichartigen in allem, was mathematisch erwogen werden kann, (welche Synthesis wiederum in die der Aggregation und Koalition eingeteilt werden kann, davon die erstere auf extensive, die andere auf intensive Größen gerichtet ist). Die zweite Verbindung (nexus) ist die Synthesis des Mannigfaltigen, so fern es notwendig zu einander gehört, wie z.B. das Akzidens zu irgend einer Substanz, oder die Wirkung zu der Ursache [...]" (A162/B201a). 212
Der Plan, „das Urteil: Ich denke" (A341/B399) bezüglich der Quantität zu analysieren, ist mit besonderen systematischen Schwierigkeiten verbunden. Die Unterscheidung zwischen einzelnen, besonderen und allgemeinen Urteilen verdankt sich der Unterscheidung zwischen allgemeinem, besonderem und einzelnem Gebrauch von Begriffen in Urteilen und nicht etwa der Unterscheidung
Die subjektive Deduktion der psychologischen Ideen
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„Der Satz der Identität m e i n e r selbst bei allem M a n n i g f a l t i g e n , dessen ich m i r bew u ß t bin, ist ein [ . . . ] in den B e g r i f f e n selbst liegender, mithin analytischer Satz." (B408)
Es finden sich im Text beider Auflagen der KdrV Sätze, die wir wohl zu Recht als Explikationen dieses „Satzes des Identität meiner selbst beim Denken" auffassen können. In der A-Auflage lesen wir als Satz von der „Persönlichkeit der Seele" sinngemäß: „Ich bin mir in der g a n z e n Zeit, darin ich mir m e i n e r b e w u ß t bin, als zur Einheit m e i n e s Selbst g e h ö r i g b e w u ß t " , sowie: „Die Identität d e r P e r s o n ist in m e i n e m e i g e n e n B e w u ß t s e i n unausbleiblich anzut r e f f e n " , oder: „Ich begleite alle [bewussten] V o r s t e l l u n g e n zu aller Zeit in m e i n e m B e w u ß t s e i n , u n d z w a r mit völliger Identität" (vgl. A 3 6 2 / 6 3 ) .
In der dem „analytischen Verfahren" zugeordneten Tafel der B-Auflage lautet der vierte Eintrag: „Ich d e n k e , als identisches Subjekt, in j e d e m Z u s t a n d e meines D e n k e n s . " ( B 4 1 9 )
Bei dem hier wirksamen Begriff der Identität handelt es sich um den Begriff numerischer Identität und nicht etwa um den qualitativer Identität. 213 Von numerischer Identität ist auch ausdrücklich bereits in der Ideen-Tafel von A344/B402 die
von allgemeinen, besonderen und einzelnen Begriffen, weil für Kant Begriffe stets Allgemeinbegriffe (repraesentatio communis) sind. Singulare Vorstellungen sind für Kant per definitionem „Anschauungen". Obwohl „dieses Buch" also als singulare Vorstellung eine Anschauung ist, ist im Urteil: „Dieses Buch ist schwer" der Begriff des Buches singular gebraucht und daher liegt ein singuläres bzw. „einzelnes" Urteil vor. „In einem Urtheil drückt der singulaire satz die einheit [...] aus." (Reft. 4700, AA XVII, S. 679). Obwohl das Ich „gar kein Begriff (Prol. § 46) ist und in Urteilen Kant zufolge stets Begriffe aufeinander bezogen werden, handelt es sich beim „Ich denke" auch für Kant um ein Urteil. Wie jedoch ist, wenn „Ich" Uberhaupt kein Begriff ist, der verschieden gebraucht werden könnte, nach obiger Erklärung der Quantitäten von Urteilen die Quantität des Urteils „Ich denke" bestimmbar? Die Erklärung der Quantität der Urteile muss wohl derart erweitert werden, dass es sich auch für den Fall, dass Anschauungen die Subjektstelle besetzen, um „einzelne", singulare Urteile handelt. Dann stellt auch der Satz „Ich denke", dessen Subjektstelle „die einzelne Vorstellung, ich bin" (A405) bzw. eine wenn auch „unbestimmte empirische [stets singulärel Anschauung" (B423a) besetzt, bezüglich der Quantität ein singuläres Urteil dar. 213
Bezüglich des Unterschieds zwischen „qualitativer" und „numerischer Identität" ist das instruktive Kapitel „Identität" in Tugendhat/Wolf [1993] lesenswert. Weil die Vorstellung vom Ich der Apperzeption qualitativ „einfach" ist, ist die Möglichkeit des qualitativen Vergleichs verschiedener Bezugnahmen des Funktors „Ich" verschlossen. Möglicherweise kann daher der Zusammenhang zwischen qualitativer und quantitativer Bestimmung des Ich der Apperzeption dahingehend zugespitzt werden, dass die quantitative, d.h. numerische Identität des Ich eine Konsequenz aus seiner absoluten qualitativen Einheit („Einfachheit") ist. Der Anhänger der Leibnizschen Theorie der Monaden freilich dürfte numerisch verschiedene und doch „einfache" Entitäten annehmen und somit die Unabhängigkeit der quantitativen von der absoluten qualitativen Einheit bewahren.
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Das System der psychologischen Ideen
Rede, welcher folgend wir als quantitative Bestimmung des Ich der Apperzeption formulieren: (4c) Ich bin „den verschiedenen Zeiten nach [...] numerisch-identisch, d. i. [quantitative] Einheit (nicht Vielheit)." Die in der Tafel auch von Kant mittels Sperrdruck hervorgehobene quantitative Einheit ist sowohl von der spezifisch-qualitativen absoluten Einheit bzw. „Einfachheit" der zweiten Idee zu unterscheiden als auch von derjenigen „unbedingten Einheit" der Synthesis in Urteilen, die von Bestimmungen der unbedingten Bedingung der Seele handeln. Diese von Kant in der Ideen-Tafel der A-Auflage (A404) jeweils mittels Sperrdruck hervorgehobene „unbedingte Einheit" ist ebenfalls „qualitative Einheit", die er in § 12 des Leitfadenabschnitts bestimmt: „In j e d e m Erkenntnisse eines O b j e k t e s ist n ä m l i c h E i n h e i t des B e g r i f f e s , w e l c h e m a n q u a l i t a t i v e E i n h e i t n e n n e n k a n n , s o f e m darunter nur die Z u s a m m e n f a s s u n g des M a n n i g f a l t i g e n der E r k e n n t n i s s e gedacht wird, wie e t w a die E i n heit des T h e m a in e i n e m Schauspiel, einer R e d e , einer F a b e l . " (Β 114)
In der Ideentafel ist in eben dieser Bedeutung der zur Einheit gebrachten Synthesis auch von ,,unbedingte[r] Einheit des Verhältnisses [d.h. der Relation]", „unbedingt e ^ ] Einheit der Qualität" und von ,,unbedingte[r] Einheit des Daseins im Räume" die Rede. Bei der dritten psychologischen Idee der Tafel von A404, die als „Die unbedingte Einheit [der Seele] bei der Vielheit [ihrer Gedanken] in der Zeit" verzeichnet ist, ist die „Einheit" daher doppeldeutig, wenn „die unbedingte Einheit" auch beim dritten Eintrag der Topik die Form der qualitativen Einheit meint. 214 Dass der „Satz der [numerischen] Identität" zwar für das Ich der Apperzeption bzw. für das „logische Subjekt des Denkens" (A350) gilt, wir aber deshalb noch nichts über die Identität des „realen Subjekts der Inhärenz" (A350) wissen, will Kant auch durch die Rede von der „logischen Identität des Ich" (A363) ausdrücken, was soviel bedeutet wie „Identität des transzendental-logischen Ich" bzw. „numerische Identität des Ich der Apperzeption". Der Satz der Identität meiner selbst beim Wechsel der Vorstellungen kann „nicht die Identität der Person bedeuten", sofern darunter „das Bewußtsein der Identität seiner eigenen Substanz, als denkenden Wesens" (B408) verstanden wird, weil es dafür als Objekt gegeben sein müsste. Der Begriff der „Person" ist im Satz von der „Persönlichkeit der
214
Die „Einheit" ist hier also auch als numerische Identität der Kategorie der „Vielheit" entgegengesetzt. Das zeigt sich sowohl in der Tafel von A344/B402 als auch auf A403, wo ausdrücklich von „Einheit (nicht Vielheit)" die Rede ist (vgl. dazu auch die Anlagen III u. IV im Anhang dieser Arbeit). Was M. Koßler [1999] meint, wenn er schreibt, es handele sich um eine Einheit, die „nicht im Gegensatz zur Vielheit" stehe, sondern um „eine Einheit, die auf die Weise der Vielheit stattfindet und darin dennoch numerisch-identisch bleibt" (ebd. S. 15), bleibt dunkel.
Die subjektive Deduktion der psychologischen Ideen
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Seele" (A362) wie „der Begriff der Substanz im Paralogismus der Substantialität ein reiner intellektueller Begriff, der ohne Bedingungen der sinnlichen Anschauung bloß von transzendentalen, d. i. von gar keinem Gebrauch ist." (A403) (4c*) Ich bin mir als das numerisch-identische logische Subjekt meiner Gedanken und Urteile bewusst. Unsere dritte Spezifikation von (5) lautet: (5c) Die quantitative Bestimmung des Ichs der Apperzeption (logischen Subjekts) wird mit der quantitativen Bestimmung des denkenden Wesens (realen Subjekts) verwechselt. 2 ' 3 Auch diese Verwechslung beruht auf dem Irrtum, die bloß „mögliche Abstraktion" der Gedanken vom Denker für eine Trennung zweier Entitäten zu halten. Es gibt für uns nicht die auflösbare Verbindung vom gegenständlichen Ich und seinen Gedanken, sondern die personale Identität des Denkers gibt es für uns nur als die erfahrene Einheit der Biographie des Denkens. Wegen (4c*) und (5c) gilt wiederum: (6c) Die quantitative Bestimmung des denkenden Wesens scheint möglich: Ich, als denkendes Wesen, bin mir als das numerisch-identische reale Subjekt meiner Gedanken bewusst. (Def.) „Was sich der numerischen Identität seiner selbst in verschiedenen Zeiten bewusst ist, ist so fern eine Person." (A361) 2 ' 6 (6c*) Ich, als denkendes Wesen, bin eine Person. Unter Investition der Definition „Ich, als denkend Wesen [...] heiße Seele" (A342/B400) sowie der bereits erschlichenen Substantialität der Seele scheint also zu gelten: (6c**) Die Seele ist eine personale Substanz.
21:1
P. F. Strawson [1981, S 140 ff.] zufolge resultiert der täuschende Gebrauch von „Ich" daraus, dass seine Verknüpfung mit dem empirischen Begriff des Subjekts ignoriert wird. Wenn wir allerdings den empirischen Gebrauch von „Ich" abstrahieren, die Verknüpfung mit gewöhnlichen, d.h. empirischen Kriterien für persönliche Identität also abschneiden, so berauben wir das „Ich" jeder Bezug nehmenden Kraft. 216 W. Malzkom weist auf das Lockesche Erbe Kants bei dieser von ihm nicht in Frage gestellten Definition der Person hin. Locke bestimmt im Essay Concerning Human Understanding eine Person als „a thinking, intelligent being that has reason and reflection, and can consider itself as itself, the same thinking being, in different times and places" (zitiert nach: Malzkorn 1998, S. 103).
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Das System der psychologischen Ideen
3.2.4 Die vierte psychologische Idee Bevor wir die Deduktion der vierten und letzten psychologischen Idee in Analogie zu den übrigen drei Ideen vornehmen, soll hier wenigstens zur Sprache kommen, dass dieses analoge Vorgehen schon deshalb nicht selbstverständlich ist, weil durchaus verschiedene Meinungen darüber existieren, welcher Begriff eigentlich die ausgewiesene vierte psychologische Idee ist. 217 Wenn wir davon ausgehen, dass jeweils die Konklusion der vier Paralogismen eine psychologische Idee enthält, dann ist die vierte Idee die Vorstellung vom ,,zweifelhafte[n] Dasein aller Gegenstände äußerer Sinne" (vgl. A367). Die Ungewissheit darüber, ob äußere Gegenstände (Eigen-)Existenz besitzen, heißt die „Idealität äußerer Erscheinungen" und die Lehre von dieser auf Ungewissheit beruhenden Idealität heißt „Idealismus" (vgl. A366 f.). Die Idealität der äußeren Gegenstände ist nun unmittelbar keine Eigenschaft der Seele. Wenn psychologische Ideen Begriffe von Eigenschaften der Seele sind, dann enthält die Konklusion des vierten Paralogismus eine solche also allenfalls implizit, weil die bezweifelbare Existenz der äußeren Gegenstände freilich in einem besonderen Verhältnis zur Modalität der Existenz der Seele selbst steht. Auch die „Topik" von A344/B402, die die vier Ideen als Eigenschaften der Seele („Die Seele ist ...") enthält, führt uns auf eine Idee von der Modalität der Existenz der Seele. Der vierte Eintrag dieser Tafel lautet vollständig: „Die Seele ist im Verhältnisse zu m ö g l i c h e n
G e g e n s t ä n d e n im R ä u m e . "
Kant stellt die Beziehung dieser Idee zum Kategorientitel der Modalität über die gesperrt gedruckten „möglichen" Gegenstände her. Dass einerseits das „Verhältnis" von Seele und äußeren Gegenständen, welches der Idealismus als Verhältnis von Vorstellungen und Träger dieser Vorstellungen denkt, in der kantischen Ideen-Tafel unbestimmt bleibt, und zweitens die (Existenz-)„Möglichkeit" der äußeren Gegenstände hervorgehoben ist, zeigt, dass nicht der Idealismus, als bestimmte Vorstellung der Relation, die vierte Idee ist. Die vierte Idee zerfällt in zwei Teilbegriffe: a) die Existenz („ist") der Seele und b) die bloß mögliche Existenz (im eigenen Recht) der Gegenstände im Raum. Während an der Eigenexistenz der äußeren Gegenstände gezweifelt werden mag, existiert dieser Idee zufolge die Seele unzweifelhaft. Unsere Interpretation der vierten psychologischen Idee als Vorstellung von der unbezweifelbaren Existenz der Seele soll nun durch unsere Rekonstruktion ihrer subjektiven Deduktion rückwirkend gerechtfertigt werden.
217
P. F. Strawson [1981] etwa scheint die „Existenz |der Seele] in völliger Unabhängigkeit von einem Körper oder von der Materie" für die vierte psychologische Idee zu halten (ebd. S. 140).
Die subjektive Deduktion der psychologischen Ideen
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Dazu wollen wir wiederum zunächst das Ich der Apperzeption bezüglich der Modalität bestimmen. Kant weist darauf hin, dass das Urteil Ich denke „dazu dient" (vgl. A342/B400), „zweierlei Gegenstände", nämlich das denkende Selbst als Gegenstand des inneren Sinns und die Gegenstände äußerer Sinne bzw. „Körper" zu unterscheiden. Hier liegt der Schwerpunkt von Kants Worten noch ganz auf der Unterscheidung des möglichen Bezugs bzw. der möglichen Richtung bzw. Gerichtetheit des Denkens. Im Psychologiekapitel wird freilich die „Innenrichtung" 218 vermöge des inneren Sinns thematisiert und hinsichtlich der Modalität des denkenden Selbst geht Kant an anderer Stelle nun etwas weiter, wenn er den Satz: „Ich unterscheide meine eigene Existenz, als eines denkenden Wesens, von anderen Dingen außer mir (wozu auch mein Körper gehört)" ausdrücklich als „analytisch" ausweist (vgl. B409). Sollte dieser Satz die Behauptung enthalten, dass das Ich, als denkendes Wesen, existiert, und Kant auch diesen Teil des Satzes analytisch nennen, so erinnern wir daran, dass „ein jeder Existenzialsatz" im strengen Sinne für Kant per se „synthetisch" (A598/B626) ist, da die Existenz von Objekten nicht aus den bloßen Begriffen von Objekten erschlossen werden kann, was Kant bekanntlich zur Kritik des ontologischen Gottesbeweises geltend macht. Der Satz „Ich, als denkend Wesen, existiere" ist allerdings tatsächlich „analytisch", weil er soviel sagt wie: „Ich, sofern ich denke, existiere" und daher der logischen Form nach hypothetisch ist: „Wenn ich denke, dann existiere ich" - cogito, ergo sum. Man verstrickt sich in hartnäckige logische Probleme, wenn man zwar die Wahrheit des Urteils „Ich denke" einräumen sollte, während man die Wahrheit des Urteils „Ich existiere" bestreiten wollte, da in affirmativen Urteilen auf etwas Existierendes Bezug genommen werden muss, sofern sie wahr sein sollen. 219 „Ich denke" ist als affirmatives Urteil nur dann wahr, wenn „Ich" auch existiert, was immer „Ich" auch sein mag. Daran ändert auch der Sachverhalt nichts, dass der innere Sinn sich mittels „Ich" auf eine gänzlich unbestimmte Wahrnehmung bezieht, weil das Ich der Apperzeption nichts vom jeweiligen Gedanken Abtrennbares ist. Die Apperzeption bedeutet „hier nur etwas Reales, das gegeben worden, und zwar nur zum Denken überhaupt, also nicht als Erscheinung, auch nicht als Sache an sich selbst, (Noumenon) sondern als Etwas, was in der Tat existiert, und in dem Satze Ich denke, als ein solches bezeichnet wird." (B423a)
218 219
Heimsoeth 1966,1, S. 84. Niemand, der gerade diese Arbeit liest, dürfte bezweifeln, dass sein Ausspruch „Ich denke" wahr ist. Dass die Vorstellungen, die in einem Urteil verknüpft sind, Bedeutung haben, ist eine notwendige Bedingung dafür, dass das Urteil wahr oder falsch sein kann. Eine Begriff bzw. ein Name hat nur dann Bedeutung und nicht nur Sinn, wenn es (mindestens) einen Gegenstand gibt, der unter ihn fällt. Daher ist das Urteil „Ich denke" ist nur dann wahr, wenn dasjenige, worauf sich „Ich" bezieht, auch existiert.
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Das System der psychologischen Ideen
Mit der Rede von dem „Etwas, was in der Tat existiert" hebt Kant die Unbestimmtheit der Existenz des denkenden Wesens hervor. Weder erscheint uns etwas Mannigfaltiges in der Erscheinung jeweils als „Ich", noch denken wir ein Noumenon, wenn wir uns unserer Selbstbewusstheit vergewissern, und doch behaupten wir mit der Annahme des Urteils „Ich denke" die Existenz eines „Gegenstandes überhaupt": (4d) „Ich denke [ist] ein Satz, der schon ein Dasein in sich schließt." (B418) Das Ich der Apperzeption als „daseiend" bzw. „wirklich" zu erkennen, enthält bereits ein Urteil Uber seine Modalität. Doch damit nicht genug. Handelt es sich etwa um bloß mögliches Dasein? Entgegen der Möglichkeit, die Eigenexistenz von „äußeren Gegenständen" zu bezweifeln, können wir nicht daran zweifeln, dass wir zu zweifeln vermögen, d.h. insbesondere: denken. In dem Punkt, dass es inkonsistent sei, die Wirklichkeit des Denkens zu bezweifeln, weil der Zweifel eine besondere cogitatio ist, folgt Kant Descartes. Er korrigiert dessen res cogitans sum allerdings zum bloßen cogitans sum der reinen Apperzeption. (4d*) Ich, als logisches Subjekt meiner Urteile, bin von unbezweifelbarer Existenz. (5d) Die modale Bestimmung des Ichs der Apperzeption wird mit der modalen Bestimmung des denkenden Wesens verwechselt. Der Verwechslung von Bestimmungen des Denkens mit denen des Denkers entspricht der Übergang von der auf einer unbestimmten Existenz gründenden Wirklichkeit der Grundfunktion des Geistes zur bestimmten Existenz eines besonderen Gegenstandes, des denkenden Wesens. Mit (4d*), (5d) gilt nun wiederum: (6d) Die modale Bestimmung des denkenden Wesens scheint möglich: Ich, als denkendes Wesen, bin von unbezweifelbarer Existenz. Nach diesen Überlegungen liest sich die vierte Idee der Tafel von A344/B402 zugespitzt so: Die Seele existiert unzweifelhaft, im Unterschied zu den bloß möglicherweise existierenden Gegenständen im Räume, an deren Existenz gezweifelt werden darf. An der Eigenexistenz letzterer kann ich zweifeln, ohne220 an meinem
220
Da die Existenz der Seele unabhängig von den wechselnden wahrgenommenen äußeren Gegenständen zu sein scheint, existiert die Seele von diesen scheinbar ablösbar, d.h. ab-solut (vgl. Strawson 1981). Der Aristotelischen Terminologie folgend bedeutete dies für den vermeintlichen Gegenstand der Seele, dass er „der Natur und dem Wesen nach früher" als die durch ihn wahrgenommenen äußeren Gegenstände ist, da er, abgetrennt und unabhängig von der körperlichen, materiellen Wirk-
Die psychologischen Ideen als ins Unbedingte erweiterte Kategorien
151
Dasein als denkendem Wesen zweifeln zu müssen. Unter Berücksichtigung der Definition der „Seele" erhalten wir schließlich: (6d*) Die Seele existiert unbezweifelbar. Zusammen mit den bereits bewiesenen Bestimmungen der Substantialität, Einfachheit und Personalität ergibt sich somit als vollständige rationalpsychologische Idee die unbezweifelbare Existenz der einfachen, personalen Seelensubstanz-221
3.3
Die psychologischeη
Ideen als ins Unbedingte erweiterte
Kategorien
Welche Kategorien in der rationalen Psychologie dadurch eine ausgezeichnete Rolle spielen, dass die Apperzeption durch diese „durchgeführt werde", teilt Kant im letzten Abschnitt der „Betrachtung über die Summe der reinen Seelenlehre" (A396 ff.) mit: „ U m e n d l i c h d e n s y s t e m a t i s c h e n Z u s a m m e n h a n g aller dieser d i a l e k t i s c h e n B e h a u p t u n g e n , in einer v e r n ü n f t e l n d e n S e e l e n l e h r e , in e i n e m Z u s a m m e n h a n g e der r e i n e n V e r n u n f t , m i t h i n die V o l l s t ä n d i g k e i t d e r s e l b e n zu zeigen, so m e r k e m a n : d a s s die A p p e r z e p t i o n d u r c h alle K l a s s e n d e r K a t e g o r i e n , aber n u r d i e j e n i g e V e r s t a n d e s b e g r i f f e d u r c h g e f ü h r t w e r d e , w e l c h e in j e d e r d e r s e l b e n d e n ü b r i g e n z u m G r u n d e d e r E i n h e i t in einer m ö g l i c h e n W a h r n e h m u n g liegen, f o l g l i c h : Subsistenz, Realität, Einheit (nicht V i e l h e i t ) u n d Existenz, n u r d a ß die V e r n u n f t sie hier alle als B e d i n g u n g e n der M ö g l i c h k e i t e i n e s d e n k e n d e n W e s e n s , die selbst unbedingt sind, vorstellt." ( A 4 0 3 ; Hervorhebung von N.K.). 2 2 2
Für uns gilt es zu verstehen, wie diese „Durchführung" dazu taugt, dass auch für die psychologischen Ideen der kantischen Rede der Sinn verliehen werden kann, die transzendentalen Ideen seien „eigentlich nichts als ins Unbedingte erweiterte Kategorien". Einerseits sind die Kategorien dem Zitat zufolge selbst unbedingt, sofern sie als unbedingte Bedingungen denkender Wesen vorgestellt werden, m.a.W.: Wären wir nicht im Besitz der Kategorien, so wären wir keine denkenden Wesen. Andererseits werden diese Kategorien unbedingt gebraucht, wenn sie als
lichkeit existierend, dasjenige ist, was „ohne anderes [hier: die wahrgenommenen Gegenstände] sein kann, während dies|e| nicht ohne jenes" {Met. V 11, 1019 a 3/4). 221 In Kants Nachtrag zur Ideentafel von A344/B402 ist die Existenz der Seele bereits in die erste Idee aufgenommen, da dort der Eintrag „Die Seele existiert als Substanz" verzeichnet ist. 222 Das von Kant hier formulierte Aussonderungskriterium für diejenigen Kategorien, die in der rationalen Psychologie zu Ideen erweitert werden („nur diejenigen, die in jeder (Kategoriengruppe) den anderen (beiden) zum Grunde der Einheit in einer möglichen Wahrnehmung liegen"), wollen wir hier unkommentiert lassen, da wir der Meinung sind, dass Kants Aussonderungskriterien keine deduktive Funktion besitzen. L. Gäbes Versuch, dieses Kriterium als gerechtfertigt und zwingend erscheinen zu lassen, kann nicht Uberzeugen (vgl. Gäbe 1954, S. 96).
152
Das System der psychologischen Ideen
B e s t i m m u n g e n des scheinbar gegenständlichen, tatsächlich aber rein f o r m a l e n Apperzeptionsbewusstseins funktionieren und unabhängig von den „Einschränkungen einer möglichen E r f a h r u n g " ( A 4 0 9 / B 4 3 5 ) gebraucht werden. D i e unserer zweiten Interpretationshypothese z u g r u n d e liegende R e d e von den ins Unbedingte erweiterten Kategorien ist bekanntlich im Sinne des unbedingten G e b r a u c h s zu verstehen, und nicht etwa in d e m Sinne, sie seien selbst unbedingte Funktionen. Kategorien werden insbesondere dann ins Unbedingte erweitert, wenn sie auf Unbedingtes angewandt werden. D a das U n b e d i n g t e nie Objekt der E r f a h r u n g ist, bedeutet die A n w e n d u n g der Kategorie auf es keinen objektiv realen Gebrauch der Kategorie. Es kann allerdings auch b e i m Versuch der kategorialen B e s t i m m u n g der Apperzeption nur ein „bloß logischer" Gebrauch der Kategorien stattfinden, da sie sich nicht auf etwas beziehen, was v e r m ö g e der Sinnlichkeit gegeben ist: „Alle modi des Selbstbewußtseins im Denken, an sich, sind daher noch keine Verstandesbegriffe von Objekten, (Kategorien) sondern bloße logische Funktionen, die dem Denken gar keinen Gegenstand, mithin mich selbst auch nicht als Gegenstand, zu erkennen geben." (B406 f.) M a n könne also „von d e m d e n k e n d e n Ich [...] sagen, dass es nicht [...] sich selbst durch die Kategorien, sondern die Kategorien [...] durch sich selbst erkennt" (A402). Das an die Kategorien g e b u n d e n e Denken erkennt sich selbst nicht „als G e g e n s t a n d " (s.o.) v e r m ö g e der Kategorien, sondern es erlebt sich selbst eben bloß als das Anstrengen reiner Funktionen. D i e Apperzeption ist als „höchster P u n k t " (B134a) der kantischen Transzendentalphilosophie durch nichts E r k e n n b a r e s bedingt, doch treibt uns die auf Letztb e g r ü n d u n g drängende V e r n u n f t dazu, auch die Apperzeption derart zu denken, als sei auch sie durch einen d e n k e n d e n Gegenstand bedingt. Der kritische Kant entschärft insofern den Z w a n g , die Apperzeption objektiv bedingt denken zu müssen, als er zu bedenken gibt, dass sie schon deshalb nicht ohne weiteres g e m ä ß ihren Kategorien als bedingt vorgestellt werden sollte, weil der über sich selbst aufgeklärte Verstand weiß, dass die Apperzeption gerade „der Grund der M ö g lichkeit der Kategorien" (A401) ist. D e n Grund der Möglichkeit der Kategorien mittels der Kategorien als bedingt erkennen zu wollen, stellt einen epistemologischen Zirkel dar. Die K o n s e q u e n z dieses Zirkels ist die Korrektur der Erkenntnisansprüche, d.h. die B e s c h r ä n k u n g auf die bloße Faktizität der Apperzeption. Das „transzendentale Subjekt", als B e d i n g u n g der Möglichkeit von Selbstbewusstsein, existiert hingegen nur möglicherweise - die Existenz der von der V e r n u n f t geforderten Seelensubstanz ist „problematisch". „ I c h " drückt die Einheit der Kategorien aus, doch gibt es von diesen keinen objektiv realen Gebrauch auf jenes.
Die psychologischen Ideen als ins Unbedingte erweiterte Kategorien
3.3.1
Die Seele als ins Unbedingte
erweiterte
153
Substanz
Im „System der kosmologischen Ideen" schließt Kant die Kategorie der Substanz gemäß seinem Aussonderungskriterium für kosmologische Ideen als untauglich zum Zwecke einer Erweiterung zu einer kosmologischen(l) Idee aus, gibt aber dennoch einen Ausblick auf eine Idee absoluter Substanz: „Drittens, was die Kategorien des realen Verhältnisses unter den Erscheinungen anlangt, so schickt sich die Kategorie der Substanz mit ihren Akzidenzen nicht zu einer transzendentalen [kosmologischen(!), N.K.] Idee. [...] Denn Akzidenzen sind (so fern sie in einer einigen Substanz inhärieren) einander koordiniert, und machen keine Reihe aus. [...] Was hierbei noch scheinen könnte eine Idee der transzendentalen Vernunft zu sein, wäre der Begriff von S u b s t a n t i a l e. Allein, da dieses nichts Anderes bedeutet, als den Begriff vom Gegenstande überhaupt, welcher subsistiert, so fern man an ihm bloß das transzendentale Subjekt ohne alle Prädikate denkt, hier [in der rat. Kosmologie, N.K.] aber nur die Rede vom Unbedingten in der Reihe der Erscheinungen ist, so ist klar, daß das Substantiale kein Glied in derselben ausmachen könne." (A414/B441) Der Begriff eines letzten Subjekts, welches als bloßer Träger von Eigenschaften zurückbleibt, nachdem diese von ihm gedanklich abgesondert wurden, begegnet uns bereits in der Metaphysik des Aristoteles als liypokeimenon, d.h. als Zugrundeliegendes bzw. „das letzte Subjekt, was nicht weiter von einem anderen ausgesagt wird" 223 . Diese Idee des Substantiale, die wir als ins Unbedingte erweiterte Kategorie der Substanz auffassen können, scheint der menschlichen Vernunft tatsächlich als Problem aufgegeben zu sein, und nicht etwa zufällig fragt Kant ausgerechnet im Paralogismenkapitel, ob „der Begriff eines Dinges, was für sich selbst als Subjekt, nicht aber als bloßes Prädikat 2 2 4 existieren kann" (B412), objektive Realität besitzt. In den Prolegomena ist es explizit der transzendentale Schein in seiner psychologischen Variante, der die Kluft zwischen dem abstrakten Begriff vom Substantiale und dem denkenden Ich überbrückt: „Man hat schon längst angemerkt, daß uns an allen Substanzen das eigentliche Subjekt, nämlich das, was übrig bleibt, nachdem alle Akzidenzen (als Prädikate) abgesondert worden, mithin das Substantiale selbst, unbekannt sei, und Uber diese Schranken unserer Einsicht vielfältig Klagen geführt. [...] Nun scheint es, als ob wir in dem Bewußtsein unserer selbst (dem denkenden Subjekt) dieses Substantiale haben, und zwar in einer unmittelbaren Anschauung; denn alle Prädikate des inneren Sinnes beziehen sich auf das Ich als Subjekt, und dieses kann nicht weiter als Prädikat irgendeines anderen Subjekts gedacht werden. Also scheint hier die Vollständigkeit in der Beziehung der gegebenen Begriffe als Prädikat auf ein Subjekt nicht 223 224
Vgl. Aristoteles, Met. V, 1017 b 24-25. Der moderne Leser sollte hier „Eigenschaft" statt „Prädikat" lesen, um Missverständnissen zu entgehen.
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Das System der psychologischen Ideen
bloß Idee, sondern der Gegenstand, nämlich das absolute Subjekt selbst in der Erfahrung gegeben zu sein." (Prol. § 46) Im „Bewusstsein unserer selbst" scheinen wir das Substantiale anzutreffen. Doch damit ein objektiv realer Gebrauch des Begriffs absoluter Subsistenz stattfinden kann, müssen zwei notwendige, zusammen hinreichende Bedingungen erfüllt sein. Erstens muss es sich um den erfüllten Begriff von einem Subjekt, welches nicht „als Prädikat" gedacht werden kann, handeln, und zweitens muss, sofern ein realer Gebrauch der Substanzkategorie möglich sein soll, etwas Beharrliches in der Anschauung gegeben sein, welches als der Träger von gewissen Eigenschaften identifiziert wird. Die erste Bedingung ist wenigstens scheinbar dadurch erfüllt, dass „Ich" nicht prädikativ gebraucht werden kann. Sie ist nur scheinbar erfüllt, weil Ich eigentlich „gar kein Begriff' 2 2 5 ist. Selbst in Urteilen, in denen „Ich" die Subjektstelle besetzt, also in Urteilen der Selbstzuschreibung wie z.B. „Ich denke", findet ein bloß logischer Gebrauch der Substanzkategorie statt, weil „Ich" nicht die Synthesis einer anschaulichen Mannigfaltigkeit repräsentiert. In allen Urteilen ist das Ich das transzendental-logische Subjekt seiner Urteile, mithin absolutes transzendentallogisches Subjekt. Nie jedoch ist das denkende Ich gemäß der Substanzkategorie beurteiltes, reales Subjekt, da diese Vorstellung beim steten Wechsel der Vorstellungen nichts Beharrliches enthält (vgl. A403). Beim realen Gebrauch der Substanzkategorie in der Erfahrung würde das gegebene Mannigfaltige der Anschauung so zur Einheit gebracht, dass „ich das Substratum (Ding selbst) von demjenigen, was ihm bloß anhängt, unterscheide" (A399 f.). Genau diese Unterscheidung ist beim denkenden Subjekt und seinen als „Zuständen" begriffenen Gedanken nicht möglich. Das „absolute Subjekt selbst" ist entgegen dem Schein gerade nicht „in der Erfahrung gegeben". Die zweite Bedingung bleibt unerfüllt. Ein objektiv realer Gebrauch des Begriffs absoluter Subsistenz findet nicht statt. Die rationale Psychologie verfällt dem Schein, das transzendental-logische Verhältnis zwischen dem „absoluten logischen Subjekt" und seinen Urteilen für ein reales zu halten. Das Subjekt als Träger von Vorstellungen wird mit dem logischgrammatikalischen Subjekt, von dem in Urteilen Prädikate ausgesagt werden, verwechselt.
3.3.2 Simplizität der Seele als ins Unbedingte erweiterte
Realität
Die zweite psychologische Idee von der Einfachheit bzw. „unbedingten Einheit der Qualität" der Seele tritt dem Leser in der psychologischen Ideentafel der AAuflage, die grammatikalisch gesehen nur Akkusativobjekte enthält, als Bestand225
Vgl. Prol. § 46.
Die psychologischen Ideen als ins Unbedingte erweiterte Kategorien
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teil des Urteils: „Die Seele erkennt an sich selbst 2. D i e unbedingte Einheit der Qualität, d.i. nicht als reales Ganze, sondern einfach" (A403/4), entgegen. Hier muss gelesen werden: D i e Seele erkennt an sich selbst die unbedingte Einheit der Qualität, d. h. sie erkennt sich selbst nicht als reales Ganzes, sondern als einfach. 2 2 6 Kant gibt in der dazugehörigen Fußnote, die wir vollständig wiedergeben wollen, einen für unsere Z w e c k e einerseits dienlichen, andererseits vertröstenden Hinweis, indem er diese Idee explizit auf die Kategorie der Realität bezieht: „Wie das Einfache hier wiederum der Kategorie der Realität entspreche, kann ich jetzt noch nicht zeigen, sondern wird im folgenden [d.h.: im kosmologischen] Hauptstücke, bei Gelegenheit eines andern Vernunftgebrauchs, eben desselben Begriffs gewiesen werden." Bedeutet dies das Aus f ü r die « « - e i n d e u t i g e Z u o r d n u n g zwischen den transzendentalen Ideen und den Kategorien g e m ä ß unserer Interpretationshypothese? E s ist nicht offensichtlich, o b sich hier „eben desselben B e g r i f f s " auf den Begriff des Einfachen oder den Begriff der Realität bezieht. Da das E i n f a c h e mit d e m unteilbar und daher unbedingt R e a l e n identisch ist, ist es letztlich in beiden Fällen der Begriff der Realität, der sowohl im Psychologie- als auch im KosmologieHauptstück thematisiert wird. Doch haben wir bereits oben gezeigt, wie sich die zweite kosmologische Idee der vollendeten Teilung von materiellen K ö r p e r n als ins Unbedingte erweiterte Kategorie der „ N e g a t i o n " verstehen lässt. U n d wenn es der Fall ist, dass das E i n f a c h e der Kategorie der Realität entspricht, dann kann bereits die B e o b a c h t u n g , dass in der psychologischen Ideentafel das Prädikat „einf a c h " hervorgehoben ist, von d e m in der kosmologischen Ideentafel gar keine R e d e ist - dort ist vielmehr die „Teilung" hervorgehoben, die wir auf die Kategorie der „Negation" b e z o g e n - , als A r g u m e n t für unsere Z u o r d n u n g gewertet werden. Z w a r sind auch die einfachen Teile der Materie der Thesis der zweiten Antinomie ideelle G e g e n s t ä n d e von absoluter, weil unteilbarer Realität, doch ist die zweite kosmologische Idee als der allgemeinere Begriff von der „absoluten Vollständigkeit der Teilung eines gegebenen Ganzen in der E r s c h e i n u n g " ( A 4 1 5 / B 4 4 3 ) verzeichnet. Das Wörtchen „ w i e d e r u m " bezieht sich oben nicht auf den wiederholten Bezug der Idee zur Kategorie der Realität im Sinne unserer H y p o t h e s e - schließlich folgt das K o s m o l o g i e - H a u p t s t ü c k erst noch auf das Psychologie-Hauptstück - , sondern verweist auf eine mögliche weitere Erläuterung („d. i."); nun allerdings
226
Wenn Kant hier die Ideen als Akkusativobjekte der Urteile „Die Seele erkennt an sich selbst ..." präsentiert, so bedeutet dies nicht etwa, dass Kant sich in der A-Auflage gegenüber der Substantialisierung des Denkens noch unkritisch verhielte und seine Kritik sich ausschließlich auf die überzogenen Erkenntnisansprüche bezüglich des Gegenstandes „Seele" erstreckt. Wie in der Tafel von A344/B402 („Die Seele ist ...") bleibt auch hier absichtlich offen, ob es de facto den denkenden Gegenstand der Seele überhaupt gibt.
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Das System der psychologischen Ideen
nicht auf die Erläuterung des Begriffs von der „unbedingten Einheit der Qualität", sondern auf die Erklärung des Begriffs vom Einfachen selbst. Und dieser Erklärung des Einfachen als dem unbedingt Realen räumt Kant in der Tat im zweiten kosmologischen Widerstreit mehr Platz ein als im gegenwärtigen Zusammenhang. Insbesondere wird dort, wie wir bereits sahen, explizit gemacht, dass etwas Reales nur dann als qualitativ bedingt gelten kann, wenn es ein irgendwie Teilbares ist und als durch seine (möglichen) Teile bedingt betrachtet werden kann. Das unteilbare Reale ist hingegen das qualitativ Unbedingte. Unsere Interpretationshypothese für die zweite psychologische Idee kann entlang dem Text der KdrV bestätigt werden: „Die Apperzeption ist etwas Reales." (B419) Kant bestimmt die Kategorie der „Realität" als „diejenige, die nur durch ein bejahendes Urteil gedacht werden kann" (A246). Die Kategorie der Realität entspricht also der Urteilsfunktion der Bejahung. Das bejahende Urteil vollstreckt eine logische „Position", d.h. Setzung. Wenn wir Kant ferner darin folgen, dass die ,,reine[n] Kategorien [...] nichts anders als Vorstellungen der Dinge Uberhaupt" (A245) sind, so verstehen wir auch, inwiefern die Kategorie der Realität im Urteil „Ich denke" als reine Kategorie gebraucht wird: durch das „Ich" wird zwar kein beharrlicher Gegenstand der Anschauung, sondern ein Gegenstand des bloßen Denkens - dies bedeutet hier „Gegenstand überhaupt" - vorgestellt, und doch handelt es sich beim „Ich denke" offenbar um ein affirmatives Urteil, in dem etwas, nämlich: Ich, als denkend, gesetzt wird. Das Urteil „Ich denke" stellt insofern einen reinen Gebrauch der Kategorie der Realität dar. „Realität" ist die „spezifische Empfindungskategorie" 2 2 7 des kantischen Systems. Nun sagt Kant über den Satz „Ich denke", er drücke „eine unbestimmte empirische Anschauung, d.i. Wahrnehmung, aus, (mithin beweiset er doch, dass schon Empfindung [...] diesem Existentialsatz zum Grunde liege)" (B423). Als material gänzlich unbestimmte Anschauung gilt für das einfache „subjektive Ich [der Apperzeption]", dass es „nicht geteilt und verteilt werden" (A354) kann, also etwas unbedingt Reales ist, weil es nicht in eine Pluralität von extensiven oder intensiven Größen aufgelöst werden kann. 228 Die reine Apperzeption lässt sich Kant zufolge, obwohl sie als „etwas Reales" 229 vorgestellt wird, nicht als „reales Ganzefs]" denken, da dies gerade einschließen würde, dass man sie auch als Kompositum denken könnte, weil die Rede vom Ganzen nur unter Annahme seiner Teile Sinn macht. Das Einfache entspricht (s.o.: „entspreche") in der zweiten psychologischen Idee dadurch der Kategorie der Realität, dass sich die Idee der
227
Maier 1930, S. 53. In der kantischen Terminologie kann das Selbstbewusstsein allenfalls als eine „intensive Größe" aufgefasst werden. So, wie z.B. auch die Aufmerksamkeit, Konzentration o.a. besitzt die Selbstbewusstheit im Allgemeinen einen „Grad" (vgl. B414 ff.). Es gibt Kant zufolge „unendlich viele Grade des Bewußtseins bis zum Verschwinden" (B415a). 229 „Die Apperzeption ist etwas Reales." (B419) 228
Die psychologischen Ideen als ins Unbedingte erweiterte Kategorien
Seele als substantia herausstellt.
simplex
als Vorstellung ins Unbedingte
erweiterter
3.3.3 Numerische Identität des Denkers als ins Unbedingte
ei-weiterte
157 Realität
Einheit
Wenn die quantitative Einheit des Ichs der Apperzeption bedeutet, dass „Ich" auf jeweils ein und dasselbe Einzelne Bezug nimmt, dann steht eine Erklärung dessen aus, was es für das Ich der Apperzeption bedeuten soll, es sei im Sinne numerischer Identität von unbedingter Einheit. Wir wollen dieser Erklärung nachkommen, indem wir darlegen, was bedingte Einheit, ebenfalls im Sinne numerischer Identität, sei. Wir schreiben auch den einzelnen, beharrlichen Gegenständen in Raum und Zeit das Prädikat zu, numerisch-identisch zu sein. Wenn auch z.B. mein Fahrrad aufgrund eines gewissen Verschleißes nicht mehr in allen Eigenschaften mit dem Fahrrad übereinstimmt, welches ich einst erstand, so kann entgegen dem Leibnizschen Prinzip von der Identität des Nicht-Unterscheidbaren zuversichtlich von ein und demselben Gegenstand gesprochen werden, sofern der Begriff der numerischen Identität ein empirisch brauchbarer Begriff und selbst nicht bloß „Idee" sein soll. Die quantitative Einheit bzw. Einzelheit meines Fahrrades, wie auch die aller anderen „äußeren" Gegenstände, können wir insofern als bedingte begreifen, als zur Erkenntnis, dass es sich beim Fahrrad, auf welches ich mich gestern setzte, und bei dem, auf dem ich heute saß, um ein und dasselbe Ding handelt, empirische Kriterien für eben diese Identifikation nötig sind. Die Identifikation des Fahrrades entlang einem Merkmalskatalog bedingt die Erkenntnis seiner numerischen Identität. Das „Ich", und zwar nicht „mein Körper", sondern „Ich, als denkend", scheint nun, und damit sind wir bei der Erklärung unbedingter Einheit, ohne empirische Kriterien der numerischen Identität auf ein Subjekt Bezug zu nehmen. 230 Die Einheit der Apperzeption ist in dem Sinne unbedingt, in dem sie „ursprünglich" ist: Ich muss mich nicht eigens entlang einem Katalog empirischer Kriterien vergewissern, dass ich als derjenige, der eben jenes dachte und jetzt dieses denkt, ein und derselbe bin. Und ich kann dies auch gar nicht durch die Bezugnahme auf einen denkenden Gegenstand. Die numerische Identität des Denkers gibt es nur als Einheit der Chronologie des Denkens. Der Akt des selbstbewussten Denkens selbst ist unhintergehbar. Ein realer Gebrauch der Einheitskategorie als Bezugnahme auf einen beharrlichen Gegenstand („Ich, als denkend") findet nicht statt, und doch scheint sich die Seele als einen numerisch-identischen Gegenstand von 230
Dass „die Seele [...] als das Einzeln-Eine bei aller Vielheit ihrer Zustände" (Heimsoeth 1966, Band I, S.8B) zu denken ist, reicht zur Erklärung der in der Ideentafel von A404 behaupteten „unbedingten Einheit" nicht aus. Auch mein Fahrrad ist „das Einzeln-Eine" - bei aller Vielheit meiner Radtouren.
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Das System der psychologischen Ideen
einzigartiger Reinheit zu erkennen. Doch sofern der Ausdruck „Ich" auf das „transzendentale Subjekt" referiert, bezieht er sich nicht auf einen einzelnen Gegenstand, da er sich überhaupt nicht auf einen Gegenstand, sondern vielmehr bloß auf die Idee von einem Gegenstand bezieht.
3.3.4 Idealität äußerer Gegenstände und unbezweifelbare Existenz der Seele als ins Unbedingte erweiterte „Möglichkeit-Unmöglichkeit" Auch das Phänomen des selbstbewussten Denkens ist dem Versuch der modalen Bestimmung durch den denkenden Verstand ausgesetzt. Wie wir sahen, gibt es keinen realen Gebrauch der Kategorie des „Dasein-Nichtsein" (A80/B106) bzw. der „Wirklichkeit" im Urteil „Ich denke", da der Vorstellung von mir, als bloß denkend, nichts anschaulich Beharrliches korrespondiert. Kant räumt zwar ein, dass der Satz „Ich denke [...] schon ein Dasein in sich schließt" (B418) bzw. dass dadurch zwar „mein Dasein [...] als gegeben betrachtet" wird, er bestreitet jedoch, dass dadurch ein denkendes Wesen erkannt wird, weil eben „mein Dasein" nur als mein Denken erkannt wird. Die unbezweifelbare Faktizität des Akts (des Denkens) gibt noch keine Erkenntnis von der Existenz eines Objekts (des Denkers). Je nachdem also durch „Ich" entweder das bloße Apperzeptionsbewusstsein oder aber „ein transzendentales Subjekt der Gedanken = x" (vgl. A346/B404) bezeichnet wird, ergeben sich unterschiedliche Analysen des Urteils „Ich denke" bezüglich der Modalität. Die Spontaneität ist insofern unbezweifelbar „wirklich", als selbst der Zweifel an ihrer Wirklichkeit ein Akt derselben wäre. 231 Der Zweifel an der Wirklichkeit des Denkens ist unmöglich. Sofern „Ich" im Urteil „Ich denke" hingegen auf einen denkenden Gegenstand referiert, kann diesem Gegenstand, der als respektiv-notwendige Bedingung der Möglichkeit des Denkens überhaupt
231
H. Heimsoeth [1966, Band I] bezieht die Kategorie der Möglichkeit auf das Apperzeptionsbewusstsein und nicht nur auf die wahrgenommenen, bloß „möglichen Gegenstände" bzw. auf den möglichen Zweifel an ihrer Eigenexistenz: „Der Satz (Ich denke) bedeutet, streng transzendental genommen, immer nur den jederzeit möglichen Rückbezug in jedem Vorstellen oder „Denken" irgendwelcher Gegenstände; der Modalität nach gehört er in den Zusammenhang „problematischer Urteile, so sehr er das „begleiten können" transzendental als „muß" fixiert." (ebd. S. 96) Uns stellt sich hier die Frage, inwiefern ein „können müssen" noch der Modalität der Möglichkeit entspricht. „Problematisch genommen" wird nach unserer Interpretation beim Satz „Ich denke" allein die Existenz des „Ich", sofern dadurch eben nicht das bloße Selbstbewusstsein bezeichnet wird, sondern die zugrunde liegende Seelensubstanz. Die im Urteil „Ich denke" angestrengte Urteilsfunktion der Modalität ist die der Assertion. Heimsoeths Zuordnung erscheint insbesondere vor dem Hintergrund der kantischen Äußerung problematisch, dass „Ich denke" ein Satz sei, „der schon ein Dasein in sich schließt" (B418). Die Modalität des Urteils wird nicht durch seine möglichen Funktionen („muß begleiten können"), sondern durch „den Wert der Copula in Beziehung auf das Denken überhaupt" (A74/B100) bestimmt. „Ich denke" wird der Erklärung assertorischer Urteile gemäß „als wahr (wirklich) betrachtet" (ebd.). Nicht nur gilt: „Es gibt möglicherweise selbstbewusstes Denken", sondern: „Es gibt selbstbewusstes Denken" bzw. „Ich denke wirklich".
Die psychologischen Ideen als ins Unbedingte erweiterte Kategorien
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gefordert wird, nur eine reale Existenz Möglichkeit zugesprochen werden, da wir seiner faktischen Existenz nicht gewahr werden können. Kant bringt dies mehrfach dadurch zum Ausdruck, dass er sagt, der Satz „Ich denke" werde „nur problematisch genommen" (z.B. A347/B405 f.). Für Kant bleibt selbst „die Art, wie ich [, als denkendes Wesen,] existiere, ob als Substanz, oder als Akzidens" (B420) auf der Grundlage des einfachen Selbstbewusstseins gänzlich unausgemacht - und nur als Substanz würde die Seele zu den eigentlichen existentia gehören. Ist es dennoch die „Kategorie der Existenz", die hier ins Unbedingte erweitert wird, weil das Unbedingte der „Synthesis der Bedingungen eines Gedankens überhaupt" (A397), die Seele, als existent angenommen werden muss? Dies würde eine Korrektur unserer Interpretationshypothese erzwingen, nach der die jeweils erste Kategorie jeder Gruppe ins Unbedingte zu einer psychologischen Idee erweitert wird. Gleich vier Textstellen jedoch scheinen eindeutig die Kategorie D a sein-Nichtsein" (A80/B106) auf die vierte psychologische Idee zu beziehen. Drei dieser Textstellen entstammen alle dem eigens abgesetzten Nachtrag zur „Betrachtung über die Summe der reinen Seelenlehre" der A-Ausgabe der KdrV: 1. Bereits vor der Präsentation der Ideen-Tafel von A404 listet Kant die vier psychologischen Ideen folgendermaßen auf, um deren Erkenntnis sogleich zurückzuweisen: „ M a n kann daher v o n d e m d e n k e n d e n ich, (Seele) das sich an sich selbst als S u b stanz, einfach, n u m e r i s c h identisch in aller Zeit, und das Correlatwn alles Daseins, aus w e l c h e m alles andere D a s e i n geschlossen werden muß, denkt, sagen: dass es nicht sowohl sich selbst d u r c h die Kategorien, sondern die Kategorien [...] durch sich selbst e r k e n n t . " ( A 4 0 2 )
2. Unmittelbar vor der Tafel scheint Kant diejenigen Kategorien auszusondern, von denen in der rationalen Psychologie ein unbedingter Gebrauch gemacht wird: „[...] so m e r k e m a n : dass die A p p e r z e p t i o n durch alle Klassen der K a t e g o r i e n , aber nur d i e j e n i g e V e r s t a n d e s b e g r i f f e d u r c h g e f ü h r t werde, w e l c h e in j e d e r d e r s e l b e n d e n übrigen z u m G r u n d e der E i n h e i t in einer m ö g l i c h e n W a h r n e h m u n g liegen, folglich: Subsistenz, Realität, Einheit (nicht Vielheit) und Existenz [...]" ( A 4 0 3 )
3. Schließlich ist es die Kategorie des Daseins, die Kant in der Tafel selbst hervorhebt. Die vierte psychologische Idee ist dort verzeichnet als: „[Die Seele erkennt an sich selbst] die u n b e d i n g t e Einheit des Daseins i m R ä u m e , d.i. nicht als das B e w u ß t s e i n m e h r e r e r D i n g e außer ihr, sondern nur des Daseins ihrer selbst, anderer D i n g e aber, b l o ß als ihrer Vorstellungen" (A404).
Der vierte Fundort ist Kants Anmerkung zur psychologischen Topik, die beiden Auflagen der Kritik gemein ist:
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Das System der psychologischen Ideen
„Der Leser, der aus diesen Ausdrücken, in ihrer transzendentalen Abgezogenheit, nicht so leicht den psychologischen Sinn derselben, und warum das letzte Attribut der Seele [„im Verhältnisse zu möglichen Gegenständen im Räume" zu sein] zur Kategorie der Existenz gehöre, erraten wird, wird sie in dem Folgenden hinreichend erklärt und gerechtfertigt finden." (A344/B402 a) W ä h r e n d wir die B e f u n d e der A - A u f l a g e in ihrer B e d e u t u n g noch herunterspielen können, weil sie möglicherweise gerade aufgrund einer erfolgten systematischen Korrektur den W e g in die B - A u f l a g e nicht g e f u n d e n haben, haben wir zu erklären, w a r u m in der Tafel von A 3 4 4 / B 4 0 2 die möglichen Gegenstände hervorgehoben sind, während doch das Attribut der vierten Idee „zur Kategorie der Existenz gehöre". 2 3 2 W i r wollen im F o l g e n d e n zeigen, wie sich die bezweifelbare Eigenexistenz äußerer Gegenstände (im Unterschied zu ihrer Existenz „als Vorstellung e n " (A404)) bzw. die unbezweifelbare Existenz der Seele selbst als Ideen ins Unbedingte eiiveiterter Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit verstehen lassen, und behaupten somit, dass das Attribut der vierten Idee nur insofern „zur Kategorie der Existenz gehöre", als der Z w e i f e l an der Existenz äußerer G e g e n s t ä n d e möglich ist, während der Zweifel an der eigenen Existenz als einem d e n k e n d e n W e s e n u n m ö g lich ist. Im Z u g e seiner R e f l e x i o n e n bezüglich des Ausdrucks „absolut" unterscheidet Kant zwei Arten „absoluter M ö g l i c h k e i t " (A324/B381 f.): Die „innerliche" bzw. „interne Möglichkeit (an sich selbst)" sei „das wenigste, was man von einem Gegenstand sagen kann", und scheint Kants A u s f ü h r u n g e n zufolge nicht über die Widerspruchsfreiheit der B e g r i f f e von Gegenständen hinauszugehen. Dass etwas „absolut möglich" sei, meint in dieser B e d e u t u n g nicht mehr als dass es denkbar sei. „Dagegen wird es [das Wort „absolut"] auch bisweilen gebraucht, um anzuzeigen, dass etwas in aller Beziehung (uneingeschränkt) gültig ist, (z.B. die absolute Herrschaft,) und absolutmöglich würde in dieser Bedeutung dasjenige bedeuten, was in aller Absicht, in aller Beziehung möglich ist, welches wiederum das meiste ist, was ich über die Möglichkeit eines Dinges sagen kann" (A324 f./B381). Dieser starke Begriff absoluter Möglichkeit enthält den schwachen: Alles, was in aller B e z i e h u n g möglich ist, ist auch innerlich möglich, so dass zwar gilt: W a s
232
M. Koßler [1999] zufolge scheint die modale Bestimmung der Apperzeption in .notwendiger Existenz' aufzugehen: „Die Existenz steht hier nicht der Notwendigkeit gegenüber, sondern ist insofern selbst notwendig, als die Möglichkeit von Gegenständen im Raum als Vorstellungen von ihr abhängt" (S. 15). Wie Koßler selbst deutlich macht („insofern"), ist das Denken nicht absolutnotwendig, sondern respektiv-notwendig, um auch äußere Gegenstände denken zu können. Unklar bleibt bei Koßlers Analyse, welche Kategorie in Gestalt der vierten psychologischen Idee ins Unbedingte erweitert ist. Ebenso unklar ist, auf welche „Entsprechung" er Bezug nimmt, wenn er feststellt, dass sich in der „Topik" von A344/B402 „die Formulierung nicht an der Existenzkategorie, sondern entsprechend der Ordnung der Kategorien (vgl. A80) an der Möglichkeit orientiert" (S. 15).
Die psychologischen Ideen als ins Unbedingte erweiterte Kategorien
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innerlich unmöglich ist, ist auch in aller Beziehung unmöglich; aber nicht: Was innerlich möglich ist, ist auch in aller Beziehung möglich. Diese Überlegungen lassen sich auf die Möglichkeit des Zweifels und damit auf die vierte psychologische Idee beziehen. Beim problematischen Idealismus 2 3 3 , demzufolge die Eigenexistenz äußerer Gegenstände so zweifelhaft wie der Schluss auf ihre Existenz unsicher ist, handelt es sich um eine im Sinne der Widerspruchsfreiheit mögliche metaphysische Position. Die „möglichen Gegenstände" der psychologischen Ideen-Tafel sind nur deshalb bloß mögliche, weil es umgekehrt möglich ist, an ihrer Eigenexistenz zu zweifeln. Doch ist es unmöglich, die Aufnahme des Urteils „Ich denke" in den Verstandeshaushalt der für wahr gehaltenen Urteile zu verweigern, weil der Zweifel am Denken selbst eine cogitatio ist. 234 Zwar ist der Zweifel am eigenen Denkakt eine „in aller Beziehung" unmögliche Position, doch beweist diese Unmöglichkeit des Zweifels am Denken nicht die absolute Möglichkeit des Denkens. Dass nämlich das Denken „in aller Beziehung" möglich wäre, würde insbesondere einschließen, dass es auch unabhängig von allen äußeren Gegenständen möglich ist. Genau dies jedoch bestreitet Kant in seiner „Widerlegung des Idealismus", wo er die Frage: „Ist Bewusstsein meiner selbst ohne Dinge außer mir möglich?" (B409) mit guten Gründen verneint. Kant zufolge gilt vielmehr, dass auch der Zweifel als Zweifel an etwas nur möglich ist, weil es äußere Gegenstände gibt. 2 3 3 Die idealistische Vorstellung von der absolut-möglichen Existenz der Seele, die sich auch ohne die Existenz von äußeren Gegenständen auf sich selbst und dennoch nicht auf nichts beziehen kann, scheint auf dem Fehlschluss von der Unmöglichkeit des Zweifels am Denken auf die Möglichkeit des Denkens „in aller Beziehung" zu beruhen. Sofern also die absolute Unmöglichkeit des Zweifels am Denken mit der absoluten Möglichkeit des Denkens verwechselt wird und die Seele als ein unbedingter denkender Gegenstand vorgestellt wird, finden wir in Gestalt dieser beiden Teil233
Der „problematische" bzw. „skeptische Idealist" (Descartes) leugnet nicht das Dasein äußerer Gegenstände, sondern räumt nur nicht ein, dass es durch unmittelbare Wahrnehmung erkannt wird, und ist daher auf einen mit Unsicherheiten behafteten Schluss von den gegebenen Wahrnehmungen auf die als deren Ursache verstandenen Körper angewiesen (vgl. A367 ff.). Allein der „dogmatische Idealist" (Berkeley) leugnet das Dasein äußerer Gegenstände kategorisch (vgl. A377; B274). 234 Kants subjektivistischer Theorie der Modalbegriffe zufolge tragen die Operatoren .möglich', ,wirklich' und .notwendig' „nichts zum Inhalte des Urteils" bei, sondern beziehen sich auf den Grad der „Einverleibung" der Urteile in den denkenden Verstand (vgl. A74/B100 ff.). 235 Kant ist der Meinung, dass die Disposition des (selbst nicht „spontanen"!) Verstandes zu denken erst über die Affektion durch „äußere Gegenstände" realisiert wird. Nicht erst in seiner „Widerlegung des Idealismus", sondern bereits im ersten Satz der Einleitung (B) heißt es: „Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel; denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren [...]". Die Äußerlichkeit der Gegenstände ist dabei einmal mehr im Sinne des praeter me zu verstehen, da der Raum bekanntermaßen Kant zufolge „in uns" ist, und daher allein unsere Wahrnehmungen von den von uns verschiedenen, „äußeren" Gegenständen räumlich sind.
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Das System der psychologischen Ideen
Vorstellungen der vierten psychologischen Idee die Kategorie der „MöglichkeitUnmöglichkeit" ins Unbedingte erweitert, wie es Kants Diktum aus dem „System der kosmologischen Ideen" fordert. Wir wollen wesentliche Resultate bilanzieren: Weil auch die kantischen psychologischen Ideen Begriffe von der Natur des denkenden Wesens sind und sich nicht etwa in den Analysen des reinen Selbstbewusstseins erschöpfen, gibt es, wenn auch keine scheinfreie, so doch wenigstens überhaupt eine Ableitung aus dem „obersten Principium der reinen Vernunft". Damit gilt entgegen Strawsons 2 3 6 und Kalters 237 Kritik an der bloß scheinbaren systematischen Einheit der kantischen Ideenlehre, dass die subjektive Deduktion der psychologischen Ideen auf die allgemeine Vernunftforderung nach dem Unbedingten zurückgeführt ist. Unsere Rekonstruktion der psychologischen Ideenlehre darf also bezüglich des Streits zwischen harmonisierenden (Paton, Heimsoeth) und ,Patchwork'-Interpretationen der KdrV (Smith, Kalter) als Beitrag zugunsten der These der systematischen Einheit der KdrV verstanden werden. Die kantische These, die transzendentalen Ideen seien eigentlich nichts als ins Unbedingte erweiterte Kategorien, lässt sich sinnvollerweise auch auf die psychologischen Ideen beziehen. Ein gewisser Kompromiss unseres Verfahrens liegt darin: Zwar sind die Ideen nicht scheinfrei zu deduzieren, doch muss vom formalen ,Trick' der von Kant so genannten „logischen" Paralogismen (quaternio terminorum) nicht Gebrauch gemacht werden, um die Genesis der Ideen nachzuzeichnen. Obwohl die psychologischen Ideen als Begriffe von Eigenschaften der Seelensubstanz nicht deduzierbar sind, ohne dem Schein des „transzendentalen" Paralogismus zu verfallen, müssen die logischen Paralogismen, die diesen Schein in Gestalt der Äquivokation des Mittelbegriffs zu nutzen wissen, nicht als ein Teil der metaphysischen Deduktion der psychologischen Ideen angesehen werden.
236
„Kant glaubte, dass der Ausdruck „die Forderung der Vernunft nach dem Unbedingten" eine sowohl präzise als auch allgemeine Beschreibung der Ursprünge aller metaphysischen Ideen enthielt, die in der Dialektik diskutiert werden. Vielleicht war er aus diesem Grund dazu ermutigt, jene vier Züge zu verallgemeinern und der Auffassung zu sein, dass sie gemeinsam auch die Ideen der spekulativen Theologie und der rationalen Psychologie charakterisieren, genauso wie die der Kosmologie. Im Fall der spekulativen Theologie geht die Parallele tatsächlich ein kleines Stück weit. Im Fall der rationalen Psychologie kommt sie kaum in Gang." (Strawson 1981, S. 138) 237 Alfons Kalter 11975J geht so weit zu behaupten: „Zwischen der Einleitung der transzendentalen Dialektik und dem [Paralogismen-] Kapitel besteht kein Zusammenhang" und kommt im Zuge seiner entwicklungsgeschichtlichen Untersuchung zum kühnen Fazit: „Das Paralogismenkapitel wurde unabhängig von der Einleitung der Dialektik geschrieben" (ebd. S. 125).
4 Das transzendentale Ideal
4.1
Vorbemerkungen
„Das Ideal der reinen Vernunft" heißt das letzte „Hauptstück" der transzendentalen Dialektik, welches Kants Kritik der rationalen Theologie, der dritten Abteilung der metaphysica specialis, enthält. Sein Vorgehen lässt sich auch hier in zwei systematisch zu unterscheidende Teile gliedern: Erstens geht Kant in diesem Hauptstück der Frage nach, wie die theoretische Vernunft überhaupt in den Besitz der Idee von einem höchsten Wesen gelangt; zweitens versucht er die Gottesbeweise aus theoretischer Vernunft in ihrer Vollständigkeit zu widerlegen, die ihrerseits erweisen sollen, dass der theologische Grundbegriff erfüllt ist. Da sich diese Arbeit um eine Rekonstruktion des ersten Teils, der „metaphysischen" bzw. „subjektiven Deduktion" aller transzendentalen Ideen, bemüht, lauten unsere Fragen: Welcher Begriff ist neben der „Seele" und der „Welt" der dritte „Titel" transzendentaler Ideen? Für welche(n) „theologische(n)" Begriff(e) lassen sich charakteristische Eigenschaften der „transzendentalen Idee" nachweisen? Wie viele irreduzible „elementare" theologische Ideen gibt es? Und schließlich: Gibt es in Analogie zur „Topik der reinen Seelenlehre" bzw. zum „System der kosmologischen Ideen" ein, wenn auch von Kant nicht explizit präsentiertes, „System der theologischen Ideen"? Im zweiten Teil dieses Kapitels werden wir ein „System der theologischen Ideen" vorschlagen, welches der kantischen Kritik an gewissen tradierten Gottesbegriffen gerecht zu werden sucht. Kant kritisiert nämlich nicht nur mögliche Beweise für das Dasein eines allerrealsten Wesens, eines unbewegten Bewegers oder eines Weltschöpfers, sondern zeigt auch, wie sich bereits in die Konstitution des Begriffs vom ens realissimum, der den übrigen rationalistischen Gottesbegriffen zugrunde liegt, Fehler einschleichen. Kant hat bekanntlich dennoch versucht, die aus der Rationaltheologie seiner Vorgänger vererbten Begriffe in eine Theologie des „Als-ob" zu überführen. Da allerdings erstens die erkenntnistheoretisch bestimmte regulative Funktion der rationaltheologisch überlieferten Ideen alles andere als offensichtlich ist und sich zweitens jene tradierten Begriffe als erschlichen und nicht etwa als erschlossen herausstellen werden, scheint uns ein alternativer, kritischer „theologischer" Grundbegriff eine angemessenere Konsequenz der kantischen Kritik zu sein als eine alternative Interpretation der tradierten Begriffe.
164
Das transzendentale Ideal
Erstens wollen wir die subjektive Deduktion eines kritischen fehlerfreien Ideals freilegen und zweitens versuchen zu verstehen, wie Kant die dialektische Verwandlung dieses Begriffs rekonstruiert und die Begriffsbildung rationalistischer Theologie schließlich in den Begriff eines personalen Gottes münden lässt. Obwohl die Gottesbeweiskritik Kants hier nicht im Mittelpunkt des Interesses stehen soll, müssen auch die rationaltheologischen Argumente für die Existenz eines allerrealsten Wesens thematisiert werden, sofern wir versuchen, den „transzendentalen Schein" und die „dialektischen Schlüsse" in der rationalen Theologie zu bestimmen. Der Schein der rationalen Theologie artikuliert sich über das scheinbar wahre „oberste Principium" der reinen Vernunft: „Wenn das Bedingte gegeben ist, dann ist auch die Totalität seiner Bedingungen gegeben", hinaus nämlich erst vollständig in den Gottesbeweisen aus spekulativer Vernunft. Wir werden sehen, dass entgegen Kants eigener Einschätzung in der Einleitung zur TD der „transzendentale Schein" in der rationalen Theologie nicht „unhintertreiblich" ist. Kants Kritik hintertreibt den Schein. Die Trennung der Frage nach der Entstehung der Idee Gottes von der nach der Existenz Gottes ist zum Zwecke eines angemessenen Verständnisses des IdealHauptstücks so nötig wie schwer zu vollziehen. Insbesondere im Ideal-Hauptstück sind Entscheidungen darüber nicht leicht zu treffen, in welchen Textpassagen Kant konstruktiv spekuliert und in welchen er Gedankengänge der rationalistischen Tradition zum Zwecke einer kritischen Rekonstruktion derselben zitiert, ohne dass er sich diese eben dadurch zu eigen machen würde. Der Sachverhalt, dass die Grundintention des Ideal-Hauptstücks nicht immer offensichtlich ist, womit nicht nur die Möglichkeit, sondern vielmehr die Notwendigkeit interpretatorischer Eingriffe eröffnet ist, schlägt sich in der Kantliteratur in mehr oder weniger radikalen Antworten auf die Frage nieder, mit welcher Konsequenz Kant mit der rationaltheologischen Tradition letztlich bricht. 238 Zum Verhältnis von Begriffsgenese in den Abschnitten 1 und 2 des Ideal-Hauptstücks und Gottesbeweiskritik in den Abschnitten 3-6 werden wir im letzten Teil dieses Kapitels eine These vorschlagen. 239
238
Auch bei Kant können wir durchaus zwischen exoterischem Bewusstsein der Oberfläche und esoterischem Bewusstsein des wesentlichen Zusammenhangs unterscheiden. Dieses aus jenem zu rekonstruieren ist die Aufgabe philosophiehistorischer Rekonstruktion. 239 Es ist ein bekanntes Problem bezüglich der systematischen Struktur des gesamten IdealHauptstückes, wie der Zusammenhang zwischen Begriffsgenese und Beweiskritik zu denken ist bzw. inwiefern ein Übergang zwischen diesen scheinbar voneinander unabhängigen Textteilen systematisch hergestellt wird. Vgl. dazu etwa Henrich 1967, S. 140.
165
Der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung
4.2 Der gültige Schluss vom Grundsatz der durchgängigen Idee von einem All der Realität
Bestimmung
auf die
Das von Kant im ersten Buch der TD beschriebene prosyllogistische Verfahren führte uns in seiner dritten, disjunktiven Variation auf die Idee eines vollendeten, klassifizierenden bzw. spezifizierenden Begriffssystems. Diese bloß vorläufige Strategie bezüglich der Deduktion eines theologischen Grundbegriffs beruhte insbesondere darauf, die Erkenntnis systematisierenden Tendenzen der Vernunft für diese Deduktion fruchtbar zu machen. Bei zugrunde gelegten Erkenntnissen, in denen Vorstellungen auf „Objekte des Denkens überhaupt" bezogen werden, findet ein disjunktiv-prosyllogistisches Verfahren seinen Abschluss nicht etwa im Begriff eines transzendenten Gegenstandes (,,Gott"), sondern in der Idee eines vollständigen Systems begrifflicher Disjunktionen. In der systematisierenden Funktion transzendentaler Ideen, in der zugleich deren „regulative" Funktion aufgeht, besteht jedoch nur die halbe Charakteristik der transzendentalen Ideen. Als Ausdruck der metaphysischen Intention der Vernunft sind die transzendentalen Ideen nicht nur Begriffe von der Form der Erkenntnis von Gegenständen, sondern Begriffe von unbedingten Bedingungen der Gegenstände selbst. Es überlagern sich im Text der TD eine metaphysische und eine erfahrungstheoretische Dimension der transzendentalen Ideen. Erstere zielt auf das Erkennen von Variationen des Absoluten, letztere auf die systematische Vereinheitlichung von Verstandeserkenntnissen. Die sich in der Suche nach einer absoluten Bedingung „aller Dinge überhaupt" artikulierende allgemeine Vernunftforderung nach dem Unbedingten greift Kant im 3. Hauptstück der TD mit dem Titel „Das Ideal der reinen Vernunft" wieder auf. Im 2. Abschnitt des 3. „Hauptstücks" der TD mit dem Titel „Von dem Transzendentalen Ideal (prototypon transcendentale)" (A571/B599 ff.) stellt Kant dem logischen „Grundsatze der Bestimmbarkeit [von Begriffen]" den transzendentalen „Grundsatze der durchgängigen Bestimmung [von Dingen]" gegenüber. Der Begriff der Bestimmung ist doppeldeutig. Wir können darunter entweder die Verstandesoperation der ,,logische[n] Bestimmung eines Begriffs durch die Vernunft" (A576/B605 f.) verstehen oder aber die Bestimmtheit der Gegenstände selbst. Da Kant die Bestimmung der Bestimmbarkeit ausdrücklich gegenüberstellt, ist davon auszugehen, dass unter der durchgängigen Bestimmung von Dingen die vollständige Bestimmtheit zu verstehen ist, d.h. die Tatsache, dass für alle Dinge gilt, dass sie bestimmte Eigenschaften haben und andere nicht, und nicht die Möglichkeit der Erkenntnis derselben. Der „Grundsatz der Bestimmbarkeit von Begriffen" besagt nach Kants eigenen Worten, „daß nur eines, von jeden zween einander kontradiktorisch-entgegengesetzten Prädikaten ihm zukommen könne" (A571/B599). Er weist ihn als Satz der formalen Logik aus, sofern er „auf
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Das transzendentale Ideal
d e m Satze des W i d e r s p r u c h s beruht, und daher ein bloß logisches Prinzip ist, das von allem Inhalte der Erkenntnis abstrahiert, und nichts, als die logische F o r m derselben vor A u g e n hat." W a r u m Kants Grundsatz von der Bestimmbarkeit von Begriffen (im Folgenden kurz: G B B ) lediglich auf d e m Satz v o m ausgeschlossenen Widerspruch (SvaW) „beruht" - dieser lautet bei Kant: „ K e i n e m D i n g e k o m m t ein Prädikat zu, welches ihm widerspricht" ( A 1 5 1 / B 1 9 0 ) - und nicht sogar mit ihm äquivalent ist, ist nicht unbedingt klar. Eine mögliche E r k l ä r u n g dafür, dass der G B B stärker ist als der S v a W , könnte sein, dass im G B B v o m Bivalenzprinzip explizit („zween") Gebrauch gemacht wird, während der S v a W die Anzahl der kontradiktorisch aufeinander b e z o g e n e n Relata o f f e n lässt. Das tertium non dcitur ist der Obersatz elementaren disjunktiven Schließens: S ist entweder Ρ oder non-P; S ist nicht nonP; Also ist S P. D a s disjunktive Schließen bringt Kant bereits im „System der transzendentalen I d e e n " mit der metaphysischen Deduktion des theologischen Grundbegriffs in Verbindung. 2 4 0 Dadurch, dass Kant mittels Sperrdruck hervorhebt, es seien „Begriffe", die unter d e m G B B stehen, während es „ D i n g e " seien, die unter d e m Grundsatz der durchgängigen B e s t i m m u n g (im Folgenden kurz: G d B ) stehen, trägt er der Unterscheidung von formaler bzw. „allgemeiner reiner L o g i k " (vgl. A 5 4 / B 7 8 ) und transzendentaler L o g i k R e c h n u n g . Es müssen letztlich nicht existierende „Ding e " sein, die, vermittelt über Begriffe, unter d e m Satz v o m ausgeschlossenen Dritten stehen, da die Regeln der formalen Logik, so wie Kant diese konzipiert, universell für Begriffsverhältnisse gelten, was auch die Geltung für Verhältnisse unerfüllter B e g r i f f e einschließt. In der vordergründig allein destruktiven transzendentalen Dialektik der KdrV wird mit d e m Grundsatz der durchgängigen Bestimm u n g offensichtlich ein Grundsatz der transzendentalen Logik formuliert. W ä h r e n d der G B B Kant zufolge also lediglich besagt, dass j e d e r Begriff nur eines von zwei einander kontradiktorisch entgegengesetzten Prädikaten als Teil des begrifflichen Inhalts zukommen kann, soll für G e g e n s t ä n d e sogar gelten: „Ein jedes Ding aber, seiner Möglichkeit nach, steht noch unter dem Grundsatze der durchgängigen Bestimmung, nach welchem ihm von a l l e n m ö g l i c h e n Prädikaten der Dinge, so fern sie mit ihren Gegenteilen verglichen werden, eines zukommen muß." (A572/B600; kursiv von N.K.) Unter den „Dingen", von denen Kant hier ausgeht, sind im gegenwärtigen Kontext nicht (nur) die G e g e n s t ä n d e der Erscheinung b z w . die O b j e k t e als Erscheinungen zu verstehen, sondern, der Trichotomie des B e z u g s möglicher Vorstellungen ent240
Dort heißt es bereits, es werde sich „erst auch nur in der völligen Ausführung deutlich machen lassen, wie [...] die bloße Form des disjunktiven Vernunftschlusses den höchsten Vernunftbegriff von einem Wesen aller Wesen notwendiger Weise nach sich ziehen müsse; ein Gedanke, der beim ersten Anblick äußerst paradox zu sein scheint" (A335/B393 f.).
Der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung
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sprechend, „Gegenstände des Denkens überhaupt" bzw. „alle Dinge überhaupt" (vgl. A333/B390 f.). Als erste Formulierung des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung alles Seienden halten wir fest: ( G d B l ) Einem Ding muss von allen möglichen Prädikaten (der Dinge), sofern sie mit ihren Gegenteilen verglichen werden, eines zukommen. Für jedes denkbare Ding gilt demnach: Es ist „durchgängig bestimmt", was soviel bedeutet wie: Für jede mögliche Eigenschaft der Dinge und jedes Ding gilt, dass dieses Ding diese Eigenschaft entweder hat oder nicht hat. Während der moderne Leser wahrscheinlich dazu neigt, den GBB und den GdB auf dieselbe Weise zu formalisieren als: VP Vx: P(x) ν —iP(x) (und dieser Ausdruck gilt gemeinhin als Formalisierung des tertium non datur), belegen die kursiven Hervorhebungen (zukommen kann; zukommen muss) die Verschiedenheit der beiden Sätze. Der GdB setzt in obiger Fassung implizit die Existenz von einer Menge aller möglichen Prädikate voraus und ist als - wenn auch implizite - Existenzannahme wie „ein jeder Existenzialsatz synthetisch" (A598/B626). Der GBB setzt die Existenz dieser Menge nicht voraus, weil es sich Kant zufolge um ein logisches Prinzip handelt, welches „bloß auf dem Satz vom Widerspruch" (A572/B600) beruht. 241 Wenn Kant hier von allen „möglichen Prädikaten der Dinge" spricht, so sind gemäß dem hier involvierten Begriff realer Möglichkeit all diejenigen Eigenschaften der Dinge „mögliche", die mit den Bedingungen möglicher Erfahrung vereinbar sind. Entscheidend ist hier, dass für Kant allein der GdB die Existenz dieser Gesamtmenge aller möglichen Prädikate voraussetzt, an der die real existierenden Dinge einen gewissen „Anteil" haben, sofern ihnen jeweils einige von diesen möglichen Prädikaten zu-, einige andere hingegen abgesprochen werden: [...] denn es [das Prinzip der durchgängigen Bestimmung] betrachtet, außer dem Verhältnis zweier einander widerstreitenden Prädikate, jedes Ding noch im Verhältnis auf die g e s a m t e M ö g l i c h k e i t , als den Inbegriff aller Prädikate der Dinge überhaupt, und, indem es solche als Bedingung a priori voraussetzt, so stellt es ein jedes Ding so vor, wie es von dem Anteil, den es an jener gesamten Möglichkeit hat, seine eigene Möglichkeit ableite." (A572/B600) Den Bedeutungsunterschied zwischen dem GBB und dem GdB bringt Kant auch in der erläuternden Fußnote zum Ausdruck, indem er den GBB mit der formalen „Allgemeinheit (universalitas)", den GdB hingegen mit der realen „Allheit (universitas)" (A572/B600) assoziiert bzw. jene Sätze diesen Begriffen „unterordnet". 241
Inwiefern sich wiederum Kants Version des formallogischen Satzes vom ausgeschlossenen Dritten von der modernen Version des tertium non datur unterscheidet, da in letzterer durch der Ausdruck „VP" ebenfalls auf eine Gesamtmenge aller Prädikate Bezug genommen zu werden scheint, was bei Kant gerade durch die Annahme des GdB geschieht, kann hier nicht erschöpfend diskutiert werden.
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Das transzendentale Ideal
Der G B B ist insofern allgemein, als für jedes beliebige Paar einander kontradiktorisch entgegen gesetzter Prädikate entschieden werden kann, welches der beiden einem bestimmten Gegenstand zukommt und welches nicht. Die Annahme einer „Allheit" von möglichen Prädikaten fordert der GBB im Unterschied zum GdB nicht. In einer zweiten Formulierung von A573/B601 „will" Kants GdB „so viel sagen, als": (GdB2) „Um ein Ding vollständig zu erkennen, muß man alles Mögliche erkennen." Als Paraphrase dieses Satzes gilt uns der hypothetische Satz: Wenn man ein Ding vollständig erkennen will, d.h. durchgängig bestimmen will, dann muss man alles Mögliche erkennen, d.h. für jedes kontradiktorisch entgegen gesetzte Paar von Prädikaten entscheiden, welches der beiden Prädikate diesem Ding jeweils zukommt. Also: (GdB3) Wenn man ein Ding durchgängig bestimmen will, dann muss man für jedes kontradiktorisch entgegen gesetzte Paar von Prädikaten entscheiden, welches der beiden Prädikate diesem Ding jeweils zukommt. Dieser Satz ist gewissermaßen die subjektiv gewendete Version des ( G d B l ) , da hier nicht eine Bedingung dafür formuliert wird, dass Dinge im Sinne des Besitzes bzw. Nichtbesitzes von Eigenschaften „durchgängig bestimmt" sind, sondern eine Bedingung für die vollständige Erkenntnis dieser Eigenschaften. Doch auch in dieser Form des Grundsatzes setzt die Möglichkeit der vollständigen Erkenntnis von Gegenständen die Idee „alles [real] Möglichen" voraus. Daran, dass die Idee von einem All der Möglichkeiten als Idee legitimer Weise von der Vernunft der durchgängigen Bestimmung von Gegenständen zugrunde gelegt wird, lässt Kant keinen Zweifel. Sofern „wir dadurch nichts weiter als einen Inbegriff aller möglichen Prädikate überhaupt denken", gilt allerdings, dass „diese Idee [...] selbst noch unbestimmt" (A573/B601) ist. Wir sagten bereits, dass, wenn im ( G d B l ) von ,Prädikaten der Dinge" die Rede ist, dies soviel bedeutet wie „Eigenschaften", die ganz auf die Seite der Gegenstände gehören, im Unterschied zu unseren Prädikatsnamen resp. Begriffen, die Eigenschaften benennen und auf die Seite unseres Sprechens über bzw. unseres Denkens von Gegenständen gehören. Insofern werden hier Prädikate, wie Kant sich ausdrückt, „nicht bloß logisch, sondern transzendental erwägt" (A574/B602). Von der Unterscheidung zwischen „realen" und „bloß logischen" Prädikaten macht Kant zeit seines Lebens Gebrauch. Das Zusprechen eines logischen Prädikats bedeutet eine Bejahung, das Zusprechen eines realen Prädikats hingegen eine
Der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung
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Bestimmung, d.h. eine „Bejahung im metaphysischen Verstände". Selbst wenn die logische Form eines Urteils die der Bejahung bzw. die der einfachen Zuschreibung eines Prädikats ist, kann es sich um eine transzendentale Verneinung handeln (z.B.: „x ist farblos"). Der Idee von einem All der möglichen Prädikate enthält sowohl alle möglichen realen Prädikate, denen jeweils eine Sachhaltigkeit entspricht, als auch die möglichen Negationen derselben, die einem bloßen Mangel entsprechen. Letztere, die transzendentalen Negationen, können nun Begriffe von Gegenständen nicht konstituieren, obwohl sie uns in gewisser Weise über die Dinge informieren können. Die Konjunktion der „unendlichen" Urteile" „x ist non-P, non-Q und nonR " (mit realen Prädikaten P, Q, R) lässt die Frage offen, was χ ist. Nur das Zusprechen von realen Eigenschaften schafft positiv Bedeutung als Entwurf einer Realität. Die Idee einer Gesamtheit aller möglichen Prädikate wird in einem weiteren Schritt nun auf die Menge aller möglichen realen Prädikate eingeschränkt. Es genügt, diese Allmenge der Sachhaltigkeiten der Idee der durchgängigen Bestimmung zugrunde zu legen, da aus dem Vergleich (vgl. A572/B600) eines beliebigen Dings mit dem jeweiligen positiven, realen Prädikat der Vergleich mit dem kontradiktorischen Gegenteil analytisch folgt. 2 4 2 Die so verbleibende Menge muss wohl so gedacht werden, dass sie sowohl diejenigen realen Prädikate enthält, die irgendwo in der empirischen Wirklichkeit instantiiert sind, als auch solche, die bloß mögliche, mit den Bedingungen möglicher Erfahrung vereinbare Realitäten zum Ausdruck bringen. Wenn Kant schreibt, „Die durchgängige Bestimmung [...] gründet sich also auf einer Idee" (A573/B601), so ist damit, wie aus dem unmittelbar folgenden Satz des Textes hervor geht, nicht mehr die Allmenge möglicher Prädikate, sondern bereits diese Idee von der Menge aller möglichen realen Prädikate, die „Idee von einem All der Realität (omnitudo realitatis)" (A575/B603) gemeint. Kant benennt das logische Voraussetzungsverhältnis zwischen GdB und der Idee von einem All der Realität, wenn wir lesen, „der durchgängigen Bestimmung [werde] in unserer Vernunft ein transzendentales Substratum zum Grunde gelegt" (A575/B603; Hervorhebung von N.K.). Dieses Substrat sei „nichts anderes, als die Idee von einem All der Realität (omnitudo realitatis)" (A575/B603). Der Gegenstand dieser Idee, ihr reales Pendant, wird in der rationalistischen Tradition als ens realissimum gedacht, aus dessen Beschränkung die gewöhnlichen Dinge hervorgehen. Der Erkennbarkeit eines solchen gegenständlichen Substrats aller Realität, an dem ein beliebiges Einzelding teilhat („Anteil, [...] an jener gesamten Möglichkeit"; A572/B600) und die über die Existenz der abstrakten Idee von einer All-
242
Vgl. Longuenesse 1995, S. 526.
170
Das transzendentale Ideal
menge realer Prädikate freilich hinaus geht, gilt Kants Kritik. Beide, Idee und vermeintlicher Gegenstand derselben, haben soviel gemein, dass sie „den ganzen Vorrat des Stoffes" (A576/B604) des Denkens, d.h. die materialen Bedingungen des Denkens, „enthalten". Einmal jedoch ist diese Teilhabe eine abstrakte begriffliche, einmal erscheinen die Einzeldinge als Dinge, deren reale Möglichkeit aus dem All der Realität abgeleitet ist. 243 „Alle w a h r e V e r n e i n u n g e n sind a l s d e n n nichts als S c h r a η k e n, w e l c h e s sie nicht g e n a n n t w e r d e n k ö n n t e n , w e n n nicht das U n b e s c h r ä n k t e (das All) z u m G r u n de l ä g e . " ( A 5 7 6 / B 6 0 4 )
Die zwei Lesarten bezüglich des „Alls" decken sich mit der kritischen bzw. unkritischen Interpretation der Idee der omnitudo realitatis. Nach der kantischen Interpretation hat man dadurch, dass man einem Ding eine bestimmte Realität abspricht, dieses Ding also als etwas nicht-Seiendes, Mangelhaftes bzw. Beschränktes denkt, implizit die Gesamtheit der möglichen Realitäten als die Bedingung der Möglichkeit der Beschränktheit vorausgesetzt. In rationalistischer Tradition wird das „All" nicht als dieses abstrakte Aggregat von Eigenschaften, sondern als ens realissimum gedacht, in dem die möglichen Realitäten vereint sind und durch dessen Beschränkungen die beschränkten Einzeldinge hervorgehen. Während Kant zeigt, wie die Gesamtheit der realen Möglichkeiten eine zum Zwecke der vollständigen Erkenntnis von Gegenständen notwendigerweise vorausgesetzte Idee ist, gibt es jedoch keinen Grund, wegen der erkannten Beschränktheit der Einzeldinge, den Begriff eines Alls möglicher Realität als den Begriff von einem vollkommenen, allerrealsten Wesen anzunehmen, wie Rene Descartes in seiner dritten Meditation behauptet: „ W i e k ö n n t e ich denn wissen, d a ß ich z w e i f l e , d a ß ich begehre, d.h. d a ß mir etwas fehlt u n d d a ß ich u n v o l l k o m m e n bin, w e n n in m i r nicht die V o r s t e l l u n g eines vollk o m m e n e n S e i e n d e n w ä r e ? D e n n ich b e m e r k e m e i n e M ä n g e l , i n d e m ich m i c h mit ihm vergleiche."244
243
Im Rahmen des transzendentalen Idealismus Kants muss dasjenige transzendentale Substrat, welches „den ganzen Vorrat des Stoffes" enthält, wohl als das uns affizierende Ding an sich gedacht werden, welches für die mannigfaltige phänomenale Realität verantwortlich gemacht wird und von der kritischen Vernunft als noumenaler Inbegriff aller materialen Möglichkeitsbedingungen der Dinge für uns gefordert wird. Der Uber sich selbst aufgeklärte Verstand weiß Kant zufolge nämlich, dass er nicht spontan ist, sondern auf etwas („Mannigfaltiges der Anschauung") angewiesen ist, was ihm zum Denken gegeben sein muss. Vom Gegenstand des Ideals werden wir weiter unten zu handeln haben. 244 Descartes 1986, III, § 24. Descartes' Behauptung, wir besäßen sogar eine besonders klare und deutliche Vorstellung eines unendlichen, vollkommenen Gottes, darf bezweifelt werden, weil wir tatsächlich allenfalls einen negativen Begriff der Vollkommenheit besitzen dürften.
Der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung
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Aus der Tatsache, dass jede transzendentale Negation („S ist non-P") die Möglichkeit der entsprechenden Bejahung voraussetzt, die ihrerseits einer Anteilnahme am All der Realität entspricht, folgt nicht, dass jede transzendentale Negation den Begriff eines Wesens voraussetzt, in dem alle Realitäten vereint sind. Der empfundene Mangel an Humor setzt den Besitz eines Begriffs von Humor voraus, der erkannte Mangel an Intelligenz einen Begriff von Intelligenz und schließlich setzt - um direkt auf Descartes zu antworten - die Erkenntnis, dass man zweifelt, einen Begriff des Wissens, nicht jedoch den der Allwissenheit voraus. Kein erkannter Mangel setzt den Begriff von einem Wesen voraus, dem alle Realitäten zukommen. Die Cartesische Argumentation für die Notwendigkeit der Vorstellung von einem perfekten Wesen geht fehl. 243 Selbst wenn wir mit Kant also akzeptieren, dass die Idee durchgängiger Bestimmung von Gegenständen einen Inbegriff aller Realität voraussetzt, so ist Peter Rohs recht zu geben, wenn er feststellt: „Zur Idee durchgängiger Erkenntnis gehört die Idee einer vollständigen Menge möglicher Prädikate, aber nicht die eines ens realissimum." 246 Die Idee eines ens realissimum „gehört" allenfalls insofern zur Idee durchgängiger Bestimmung der Dinge, als für jedes beliebiges Ding gilt, dass ihm die Eigenschaft, ein ens realissimum zu sein, entweder zukommt oder nicht. Nicht jedoch gehört sie in dem von Rohs intendierten, besonderen Sinn zur durchgängigen Bestimmung von Gegenständen, dass die Idee durchgängiger Bestimmung die Idee eines allerealsten Wesens notwendig voraussetzt. Wir halten erstens fest, dass für jedes Ding und jede Eigenschaft anzunehmen ist, dass dem Ding die Eigenschaft entweder zukommt oder nicht, und zweitens gilt: Wenn ein Ding „durchgängig bestimmt" bzw. vollständig erkannt werden soll, dann muss in der Tat vollständig erkannt werden, welche aller möglichen realen Prädikate ihm zukommen und welche nicht. Dieser hypothetische Satz gilt uns als kantische Version des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung. Die sich selbst erkennende Vernunft zielt auf vollständige Erkenntnis von Gegenständen, und dieses Ziel zwingt sie zur Annahme der Gesamtmenge von möglichen Realitäten, von der bereits im GdB die Rede ist („alle mögliche Prädikate der Dinge"; „alles Mögliche").
24:1
Der rationalistischen Tradition entstammt auch die Vorstellung, jedes Ding besäße einen Grad der Realität, der Uber den Vergleich mit dem allerrealsten Wesen bestimmt werde. Das perfekte Wesen gilt allen Geraden gewissermaßen als Maß des Vergleichs. Doch lässt sich Zweifel anmelden, ob sinnvoll über das Seiende in seins-komparativen Begriffen gesprochen werden kann. Die Dinge sind doch nur in jeweils bestimmter Hinsicht gegenüber anderen mangelhaft oder ausgezeichnet. Das kantische „Prinzip der Antizipationen der Wahrnehmung", nach dem „in allen Erscheinungen das Reale [...] intensive Größe, d.i. einen Grad [hat]" (A166/B207), kann hier legitimerweise gegen die rationalistische Tradition gewendet werden zum Satz: Nur die formalen Eigenschaften der Dinge (wie etwa ihre extensive Größe) und ihre materialen Eigenschaften (wie etwa ihre Dichte) sind in komparativen Begriffen beschreibbar - nicht ihre Realität. 246 P. Rohs 1978, S. 174.
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Das transzendentale Ideal
Von der Wahrheit des hypothetischen GdB ist die Frage unberührt, ob die durchgängige Bestimmung selbst ein zwar subjektiv notwendiges, jedoch niemals erreichbares Erkenntnisideal ist. Auf diese Frage gibt Kant eine eindeutige Antwort, die verrät, dass er der operationalistischen Interpretation der „Bestimm u n g " folgt: „Die durchgängige Bestimmung ist [...] ein Begriff, den wir niemals in concreto seiner Totalität nach darstellen können" (A573/B601). Und zwar deshalb, weil die „Bestimmung" von Kant in der Logik der begrifflichen Operation der „Abstraktion" entgegengesetzt wird (vgl. § 15). Bestimmung bedeutet dort also soviel wie Spezifikation, und diese kann beliebig verfeinert werden. Der Verstand selbst ist es, der Begriffe generiert, und nur relativ zu dem durch ihn selbst geschaffenen, begrifflichen Netz existiert eine stets nur vorläufige Allmenge möglicher Prädikate überhaupt. Eine „durchgängige Bestimmung", die meint, auf eine unabhängig vom Begriffe generierenden Verstand existierende Allmenge möglicher Realitäten Bezug nehmen zu können - den Rationalisten zufolge existiert diese als aktual gegebene Menge aller vollständigen Begriffe (notiones completae) im göttlichen Verstände -, ist wie eine absolute, nicht jeweils bloß vorläufige Allmenge möglicher Prädikate bloß eine Idee, deren definitorisches Merkmal es ist, ein Begriff zu sein, „der die Möglichkeit der Erfahrung übersteigt" (A320/B377). Die einzelnen Disziplinen der metaphysica specialis umgreifend hat aller transzendentale Schein seinen Ursprung für Kant in der Verwechslung von subjektiven Maximen mit objektiven Grundsätzen (vgl. A297/B353). Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten kann als Regel bzw. Maxime formuliert werden als: E n t s c h e i d e für jedes angebbare Prädikat und jedes Ding, ob das Prädikat ihm zukommt oder nicht !" Diese subjektive logische Maxime findet ihr objektives Pendant im Grundsatz:
ontologischen
„Alles Existierende ist durchgängig bestimmt." (A573/B601) Dieser Satz redet nicht bloß einer stets voranzutreibenden Bestimmung von Gegenständen das Wort, sondern macht ein subjektives Ideal zur Eigenschaft alles Existierenden. Es kann sich schon deshalb nicht um einen dem GdB äquivalenten Satz handeln, weil es sich um einen kategorischen Satz handelt, während der GdB von hypothetischer Struktur ist. 247 247
P. Rohs scheint im fraglichen kategorischen Satz eine weitere Umformulierung des GdB zu erkennen. Anders ist seine Behauptung „Der Grundsatz muss gelten, wenn es möglich sein soll, etwas vollständig zu erkennen" (S. 172) nicht zu verstehen. Richtig ist doch vielmehr, dass man „alles
Der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung
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Der oder wenigstens ein transzendental-theologischer Schein „sitzt" im zitierten Individuationskriterium der Wolff-Baumgartenschen Schulphilosophie. Nach diesem Kriterium individuiert die einzigartige Kombination der zu- bzw. abgesprochenen Prädikate einen Gegenstand und unterscheidet ihn von allen anderen. Ein unterbestimmter Begriff von einem Individuum bleibt ein allgemeiner Begriff, kann also prinzipiell mehreren Dingen zukommen und somit kein Begriff von einem Individuum (conceptus singularis) sein. 248 Der Gedanke der durchgängigen Bestimmung eines Dings geht offenbar auf Leibniz zurück, der vom „vollständigen B e g r i f f eines Individuums spricht, welcher alles enthält, was auf das Individuum zutraf, zutrifft und zutreffen wird. 249 Leibniz' Lehre folgend müsse man nur den vollständigen Begriff eines Dinges kennen und jedes Urteil über den Gegenstand stellt sich - mit Kant gesprochen - als ein analytisches Urteil heraus. Kant bricht mit der Leibnizschen Idee des conceptus singularis. Singulare Vorstellungen sind als solche für Kant „Anschauungen" und allein anschaulich gegebene Gegenstände sind für ihn durchgängig bestimmbar, und dies wiederum relativ zum begrifflichen Netz, über welches der jeweils urteilende Verstand verfügt. Kant bricht auch mit der Ontologie der vollständigen Begriffe im göttlichen Verstände, indem er die durchgängige Bestimmung nicht mehr als ontologisches Faktum und Existenzbedingung der Gegenstände, sondern epistemologisch als Erkenntnisideal interpretiert. Diese epistemologische Interpretation der durchgängigen Bestimmung hat freilich ihre Konsequenzen. Sie setzt ein durchgängig bestimmendes Subjekt voraus. Die erkannte Existenz eines Gegenstandes setzt weniger, nämlich ein Subjekt Mögliche erkennen" (A573/B601) muss, „wenn es möglich sein soll, etwas vollständig zu erkennen". Rohs scheint hier den hypothetischen Grundsatz „Wenn ein Ding vollständig erkannt werden soll, dann muss man alles Mögliche erkennen" mit seinem Konsequens zu verwechseln. Während Rohs einerseits meint, Kant suche diesen hypothetischen Satz zu „beweisen", hält er es andererseits für ausgemacht, „dass Kant den Grundsatz als gültig annimmt" (S. 175), wobei Rohs unter diesem gerade den Satz „Alles Existierende ist durchgängig bestimmt" zu verstehen scheint und Kant unter Hinweis auf das Opus postumum (1, 603) sogar zuschreibt, die Umkehrung desselben: „Alles durchgängig Bestimmte existiert", für wahr zu halten (ebd. S. 177). Rohs Ubersieht unserer Meinung nach, dass Kant an der fraglichen Stelle des Opus postumum lediglich einen Teil der Lehre Christian Wolffs wiedergibt: „Existentis est omnimoda determinatio sagt Christian Wolf, und so [sagt Wolff (!)] auch umgekehrt omnimoda determinatio est existentia als ein Verhältnis gleichgeltender Begriffe". Kants Angriff bezieht sich gerade auf die vermeintliche Äquivalenz von durchgängiger Bestimmung und Existenz: „Die Existenz ist [...] nicht der Begriff der durchgängigen Bestimmung; denn diese kann ich nicht erkennen, und es gehört dazu die Allwissenheit." (Pölitz-Vorl., S. 40, AA XXVIII, S. 554) 248
Kant kritisiert die Annahme von singulären Begriffen und unterteilt stattdessen den möglichen Gebrauch der Begriffe, die für ihn als Begriffe stets Allgemeinbegriffe sind, in den allgemeinen, partikulären und singulären. Vgl. dazu: Stuhlmann-Laeisz 1976, S.77 f. 249 „Der vollständige oder vollkommene Begriff einer Einzelsubstanz schließt all ihre vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Bestimmungen ein" (zitiert nach: Linske 2000, S. 67). Zu den Leibnizschen notiones perfectae bzw. notiones completae vgl. auch G.W. Leibniz, Philosophische Schriften, Band 7, S. 311. Eine unumgehbare Konsequenz aus der „durchgängigen Determination" der Individualbegriffe scheint ein handfester Determinismus zu sein.
174
Das transzendentale Ideal
voraus, welches einen Gegenstand als etwas erkannt hat. Wer annimmt, dass nur durchgängig Bestimmtes auch existieren kann, ignoriert offenbar die Unabhängigkeit zwischen dem subjektiven und im kantischen Sinne vernünftigen Interesse der Bestimmung durch Begriffe und der objektiv gebbaren Realität bzw. den existentia. Wenn der Begriff der durchgängigen Bestimmung „selbst transzendent" (A571/B599) ist bzw. „nicht gegeben werden" kann, dann kann ihm in der Erfahrung nichts entsprechen. Da wir in der Erfahrung jedoch stets Existentes antreffen, muss Kant den Wölfischen Grundsatz „Alles Existierende ist durchgängig bestimmt" in der epistemologischen Interpretation der durchgängigen Bestimmung ablehnen. 250 Kant vertritt ihn in A573/B601 nicht etwa selbst, sondern zitiert ihn als Meinung. Nicht ist alles, was existiert, durchgängig bestimmt, sondern der durchgängigen Bestimmung, relativ zu unserem begrifflichen Repertoire, ausgesetzt. Das Problem scheint doch zu sein, dass wir unabhängig von unseren Begriffen der Eigenschaften der Dinge gar nicht verstehen, was es bedeutet, dass ein Ding durchgängig bestimmt sei. Dies scheint die transzendental-theologische „Dialektik" zu sein: Der Verstand ist festgelegt auf die Annahme, dass für jedes Ding und jedes „reale Prädikat" gilt, dass dem Ding dieses Prädikat entweder zukommt oder nicht, doch wird eben dadurch die Annahme einer nicht bloß vorläufigen Allmenge möglicher Realitäten und entsprechender Prädikate gemacht, über die der stets weiter spezifizierende Verstand doch nie verfügt. Selbst wenn Kant den Wolffschen Grundsatz annähme, dann folgte eben daraus, dass die Idee der durchgängigen Bestimmung als Begriff empirisch untauglich bzw. irreal wäre. Aus der im Grundsatz behaupteten totalen Allgemeinheit dürfte für Kant seine Irrealität als Begriff folgen, weil Begriffe sich Kant zufolge nicht nur auf bestimmte Merkmale zu beziehen haben, die gewissen Dingen gemein sind, sondern auch auf bestimmte Merkmale, die gewisse Dinge von anderen unterscheiden. Wenn hingegen alles Existierende durchgängig bestimmt ist, dann dient dieser Begriff gerade nicht dazu, die Sphäre der existierenden Dinge zu teilen. Unabhängig von der Annahme des Wolffschen Grundsatzes gilt für Kant
230
Im opus postumum macht Kant explizit, dass er sich hier auf Christian Wolff bezieht: „Existentia est omnimoda determinatio sagt Christian Wolf [...]", Opus postumum, I 603. Die Ablehnung des Wolffschen Grundsatzes durch Kant muss nicht mit seinen missverständlichen Bemerkungen aus A576/B604: „Also ist es ein transzendentales Ideal, welches der durchgängigen Bestimmung, die notwendig bei allem, was existiert, angetroffen wird, zum Grunde liegt [...]" und A678, wo von „der notwendigen durchgängigen Bestimmung" die Rede ist, kollidieren, wenn wir annehmen, dass wir hier einen Kant vor uns haben, der sich zum Zwecke der Rekonstruktion des dialektischen Scheins in der Theologie gewissermaßen in die Gedankenwelt der Rationaltheologen versetzt und mit ihren Annahmen experimentiert. Wir sind also nicht der Meinung, dass wir es gemäß der patchworkTheorie der KdrV jeweils mit älteren, vorkritischen, aber dennoch implantierten Textstücken zu tun haben.
Der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung
175
also: Die durchgängige Bestimmung eines Gegenstandes ist Idee statt empirisch tauglicher Allgemeinbegriff. 2 3 1 Die auf der Grundlage des (GdB) vorgenommene Deduktion der Idee von einem All der Realität wollen wir auf die Grundstruktur der Ableitung aller transzendentalen Ideen bringen, wie Kant diese in der Einleitung und im ersten Buch der TD entwickelt. Erinnern wir uns an das „oberste Prinzip der reinen Vernunft", welches Kant dem Leser vorstellte als: ( 1 ) Wenn das Bedingte gegeben ist, dann ist auch die vollständige und selbst Unbedingte Totalität seiner Bedingungen (als Idee) gegeben. Die zunächst behauptete Korrespondenz zwischen disjunktivem Vernunftschluss und Kants transzendentaler Theologie zeigt sich, wenn wir kategorische Urteile der Struktur ,,S ist P " der disjunktiven Bedingtheit unterwerfen und zur dritten logischen Modifikation des „obersten Prinzips der reinen Vernunft" übergehen. ( 2 ) Wenn ein disjunktiv bedingtes Urteil „S ist P " gegeben ist, dann ist auch die Unbedingte Totalität seiner disjunktiven Bedingungen (als Idee) gegeben. Der „Totalität der Bedingungen" entspricht dann dasjenige, worauf das wiederholte Folgen der Maxime, zu dem Begriff, der im zugrunde gelegten Urteil einem Subjekt zugesprochen wird, eine vollständige Disjunktion eines Oberbegriffs zu suchen, führt: ein komplexes Begriffssystem, verstanden als die Idee vollendeter, klassifizierender Wissenschaft. Der Begriff der disjunktiven Bedingtheit ist dabei folgendermaßen erklärt: Wenn hier jeweils nicht Gegenstände als bedingt aufgefasst werden, sondern vielmehr das Zusprechen von Begriffen „das Bedingte" ist, dann kann eine Disjunktion, welche Möglichkeiten der Bestimmung von Gegenständen bereithält, selbst als eine Bedingung dafür aufgefasst werden, dass einem Ding ein Glied dieser Disjunktion zugesprochen werden kann. So kann z.B. als disjunktive Bedingung dafür, dass Sokrates ein Mann ist, die Disjunktion aufgefasst werden, dass Sokrates entweder ein Mann oder eine Frau, d.h. ein Mensch ist; m.a.W.: Wenn wir überhaupt nicht die Unterscheidung zwischen weiblichen und männlichen Menschen machten, dann könnten wir Sokrates auch nicht attestieren, ein Mann zu sein. Die konsequente Extrapolation dieses Gedankens führt uns auf 231
Damit ist nicht gesagt, dass die Disjunktion von Begriffen in empirisch anwendbare Allgemeinbegriffe von objektiver Realität und Ideen vollständig ist. Ein weiteres Beispiel für einen Begriff, der auf alle Gegenstände zutrifft und nicht zuletzt deshalb einen besonderen Status innehat, ist der Begriff der Identität bzw. ein Begriff von der Eigenschaft, mit sich selbst identisch zu sein. Auch dieser Begriff ist kein gewöhnlicher Allgemeinbegriff, der das Reich der Gegenstände in zwei Sphären teilt, von denen die eine alle Dinge enthält, auf die er zutrifft, während die andere alle übrigen Dinge enthält. Kant zählt die Identität („Einerleiheit") zu den irreduziblen „Reflexionsbegriffen" (vgl. A260/B316 ff.), die jedem Urteilen zugrunde liegen.
176
Das transzendentale Ideal
den Gedanken, dass ein Universum der realen Möglichkeiten als Totalität von disjunktiven Bedingungen bei jedem(!) disjunktiven Vernunftschluss als notwendige Annahme im Hintergrund steht. Bezüglich der erkannten Eigendynamik der reinen Vernunft stellten wir bereits ganz allgemein fest, dass die reine Vernunft das Folgen der logischen Maxime: „Suche zu dem Bedingten das Unbedingte!" nur für sinnvoll halten kann, wenn das Unbedingte als gebbar oder sogar gegeben angenommen wird. Dieser allgemeinen Überlegung entsprechend behauptet Kant nicht weniger, als dass der disjunktive Vernunftschluss als solcher nur unter der Annahme einer vollständigen Einteilung des Alls der Möglichkeiten sinnvoll erscheint. Damit ist ein sachlicher Zusammenhang zwischen disjunktiver Synthesis und der von der Vernunft geforderten Totalität der Bedingungen der „Gegenstände des Denkens überhaupt" (vgl. A334/B391) etabliert, welcher im „System der transzendentalen Ideen" so noch nicht erkennbar ist und aufgrund der Gedanken, die Kant dem Leser dort bereitstellt, wohl auch nur schwer erkennbar, oder, um mit Kants Worten zu sprechen, „beim ersten Anblick äußerst paradox" (A336/B393) sein dürfte. Wenn Kant mittels Sperrdruck hervorhebt, der „transzendentale Obersatz" bzw. die Idee der omnitudo realitatis enthalte die mannigfaltigen Eigenschaften der Dinge nicht „unter sich", sondern „in sich" (A577/B605), so ist diese Idee nicht mehr die Idee von einer begrifflichen Einteilung möglicher Realität, sondern die Idee von einer individuellen, unbeschränkten Realität selbst. Die Idee des begrifflichen Aggregats ist zur „Vorstellung von einem Individuum" (A576/B604) geworden, welches die endlichen Dinge als seine eigenen Einschränkungen enthält. Dieses Verhältnis zwischen dem Gegenstand der omnitudo realitatis und den gewöhnlichen Dingen nennt Kant auch „metaphysisches Verhältnis". Während zwar in einer Veranschaulichung des Sachverhalts, die sich an extensional geordneten Begriffspyramiden orientiert, z.B. der Begriff „sterblich" den Begriff „Mensch" unter sich enthält, enthält jeder Mensch die Eigenschaft der Sterblichkeit in sich. Ersteres ist ein Verhältnis zwischen Begriffen und wird von Kant daher auch „logisches Verhältnis" 2 3 2 genannt. Das „metaphysische Verhältnis" hingegen besteht für Kant in der Regel zwischen Dingen und Eigenschaften (,substantia et accidens; A80/B106), nicht zwischen unseren Begriffen von diesen. Wenn in Analogie zu unserem Beispiel die omnitudo realitatis alle möglichen Realitäten, d.h. „alle [möglichen realen] Prädikate ihrem transzendentalen Inhalte nach in sich" (A577/B605) enthält, dann schließt dies ein, dass die omnitudo realitatis selbst als Ding gedacht wird. Das metaphysische Verhältnis ist als Verhältnis von bedingtem und bedingendem Ding das reale Gegenstück zum logischen Verhältnis der disjunktiven Bedingtheit:
^ Zum Relationspaar „x enthält y in sich" / „x enthält y unter sich" sowie zum Begriffspaar „metaphysisches Verhältnis" / „logisches Verhältnis" vgl. Logik Philippi § 363, AA XXIV, 473.
Der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung
177
(PI) Wenn ein bedingtes und in seinen Realitäten beschränktes Ding gegeben ist, dann ist auch die Totalität seiner Bedingungen gegeben. (P2) Die unbeschränkte omnitudo realitatis ist Bedingung der beschränkten Dinge. ( Κ ) Wenn ein beschränktes Ding gegeben ist, dann ist auch die omnitudo realitatis gegeben. Da also die Vernunft jedes einzelne zu bestimmende Ding samt seiner Eigenschaften als E i n s c h r ä n k u n g " des „Alls der Realität" zu begreifen sucht, „indem Einiges [...] dem Dinge beigelegt, das übrige aber ausgeschlossen wird" (A577/ B605) und ein disjunktiver Schluß „analogisch" nur dann zustande kommt, wenn die im Obersatz formulierte Menge von möglichen Gliedern einer Disjunktion durch den Untersatz in bestimmter Weise eingeschränkt wird, behauptet Kant: ..Demnach ist der G e b r a u c h der V e r n u n f t , durch den sie das t r a n s z e n d e n t a l e Ideal z u m G r u n d e ihrer B e s t i m m u n g aller m ö g l i c h e n D i n g e legt, d e m j e n i g e n analogisch, n a c h w e l c h e m sie in d i s j u n k t i v e n V e r n u n f t s c h l ü s s e n v e r f ä h r t " ( A 5 7 7 / B 6 0 5 ) .
Hier ist zu fragen, ob diese Analogie nicht nur dann besteht, wenn die Idee der omnitudo realitatis gerade nicht als „ I n b e g r i f f aller Realität, sondern als abstraktes Universum realer Möglichkeiten gedacht wird, weil ein Inbegriff aller Realität doch suggeriert, dass in ihm alle Realitäten als Konjunktion vereint sind und durch die Bildung dieses Inbegriffs also die Analogie zur disjunktiven Urteilsfunktion aufgehoben wird. Wir sind der Meinung, dass Kant keinen guten Grund kennt, um den Übergang vom disjunktiven Universum der möglichen Realitäten hin zum „ I n b e g r i f f derselben zu vollziehen, der seinen Gegenstand im ens realissimum findet. Die kantische Fassung des „transzendentalen Obersatzes", der alle möglichen Realitäten enthält, ist weder identisch mit der Konjunktion aller einfachen Realitäten bzw. aller „realen Prädikate" noch mit der Disjunktion aller einfachen Realitäten, sondern identisch mit der Disjunktion aller möglichen, komplexen Realitäten. Zur Veranschaulichung dieser Version von der Idee der omnitudo realitatis nehmen wir an, es gäbe nur zwei reale Prädikate Ρ und Q, und von einer möglichen „Realität" wollten wir nur sprechen, wenn mindestens eines der beiden realisiert ist. In dieser möglichen Welt wäre die Idee der omnitudo realitatis, bevor sie als „ I n b e g r i f f von synthetischer Einheit gedacht wird, identisch mit der folgenden Trichotomie einer möglichen Realität (x) überhaupt: Für jede mögliche Realität (x) gilt: (Px A Q X ) V ( P X A - I Q X ) Ν ( - , Ρ Χ Λ Q X ) . Zwar bedingt die Gesamtheit aller einfachen Realitäten die Disjunktion aller komplexen, doch ist nur dann, wenn die Idee der omnitudo realitatis analog als die Disjunktion aller komplexen Realitäten konzipiert wird, auch gesichert, dass sie eine vollständige und zwar „logische" Einteilung aller Realität enthält, die da-
178
Das transzendentale Ideal
durch gekennzeichnet ist, dass ihre Glieder „durch kontradiktorische Entgegensetzung, nicht durch ein bloßes Widerspiel (contrarium) voneinander getrennt" 2 ' 13 sind. Als Grundbegriff einer transzendentalen Theologie ist die Idee der omnitudo realitatis gefunden. Die Idee eines „Inbegriffs" aller Realität wird bereits im „System der transzendentalen Ideen" als „die absolute Einheit der Bedingung aller Gegenstände des Denkens überhaupt" (A334/B391) antizipiert, allerdings erst im Ideal-Hauptstück explizit, weil in seiner Genese aus dem GdB verständlich. Obwohl selbst nur Idee, ist der Gedanke der omnitudo realitatis jedoch nicht insofern illusionär, als er etwa das Resultat einer „dialektischen" Überstrapazierung des Grundsatzes: , f ü r uns ist nichts ein Gegenstand, wenn es nicht den Inbegriff aller empirischen Realität als Bedingung seiner Möglichkeit voraussetzt" (vgl. A582/B610; Hervorhebung von N.K.) wäre. Für Robert Theis 2 3 4 stellt sich das Problem „in aller Härte", dass Kant einerseits an einem „fehlerfreien Ideal" festhalten möchte, während sich bereits in die Konstitution der Idee des Alls der Realität als Idee eine Illusion einschleicht. 2 3 3 Theis kann entgegnet werden, dass Ideen als Ideen für Kant überhaupt nicht fehlerhaft sein können, d.h. wenn sie notwendig hervorgebracht sind und damit ein charakteristisches Merkmal der transzendentalen Ideen erfüllen. Die subjektive Notwendigkeit der Ideen gilt Kant sogar als indirekter Beweis ihrer Zweckmäßigkeit, da er davon ausgeht, dass die Vernunft als Haupt des menschlichen Erkenntnisvermögens ihre genuinen Produkte zweckmäßig hervorbringt: „Die Ideen der reinen Vernunft können nimmermehr an sich selbst dialektisch sein, sondern ihr bloßer Mißbrauch muß es allein machen, daß uns von ihnen ein trüglicher Schein entspringt; denn sie sind uns durch die Natur unserer Vernunft aufgegeben, und dieser oberste Gerichtshof aller Rechte und Ansprüche unserer Spekulation kann unmöglich selbst ursprüngliche Täuschungen und Blendwerke enthalten. Vermutlich werden sie also ihre gute zweckmäßige Bestimmung in der Naturanlage unserer Vernunft haben." (A669/B697)
2
" Vgl. Logik § 111 Anm. R. Theis, „Kants Theologie der bloßen Vernunft in der Kritik der reinen Vernunft" in: Philosophisches Jahrbuch 104 (1997). 2:0 R. Theis (ebd., S. 39) zitiert zur Stützung seiner These, bereits der Gedanke der omnitudo realitatis sei illusionär, die einschlägige Reflexion 5553 des Metaphysik-Nachlasses: „Der dritte [Schein]: da die Allgemeinheit des Denkens durch die Vernunft vor [für] einen Gedanken von einem All der Möglichkeiten der Dinge genommen wird" (AA XVIII, S. 224), und kommentiert dies auf folgende Weise: „Der Schein besteht demnach in der Tatsache, dass der Inbegriff der realen Möglichkeiten in ein ens realissimum als ein Ding verwandelt wird." Da Theis also selbst die Transformation der Idee der omnitudo realitatis zur Idee des ens realissimum in der Reflexion angesprochen sieht, verwundert seine Behauptung, bereits die Idee der omnitudo realitatis sei illusionär, um so mehr. Denn selbst gemäß seiner eigenen Interpretation der Reflexion ist gerade nicht bereits die Idee der omnitudo realitatis illusionär, sondern erst der Gedanke an ein wesenhaftes ens realissimum. 234
Der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung
179
Hinsichtlich der „ursprünglichen Konstitution" der Idee des Inbegriffs ist Theis zu antworten, dass jene sich dem allgemeinen Prinzip (P) (s.o.) verdankt. Diesem wird jede illusionäre und „dialektische" Note genommen, wenn es im kantischen Sinne korrekt verstanden wird als: „Wenn ein Bedingtes gegeben ist, dann ist die Totalität der Bedingungen aufgegeben bzw. als Idee gegeben." Die Idee der omnitudo realitatis ist im Sinne der in der Einleitung und im ersten Buch der TD beschriebenen Vernunftforderung sogar subjektiv notwendig. Die Idee eines Inbegriffs aller Realität bedeutet für die Vernunft eine Aufgabe bzw. ein Problem. Ein „Mißbrauch" der Idee liegt erst in der Annahme vor, der Idee entspreche ein gebbarer, erkennbarer Gegenstand. Das oberste Prinzip der reinen Vernunft in seiner kritischen Variante generiert auch die Idee der omnitudo realitatis als eine Aufgabe der Vernunft. Theis' Kritik lässt sich zurückweisen, indem gezeigt wird, dass sich bestimmte Probleme des kantischen Textes auflösen, wenn mit Kants Anspruch Ernst gemacht wird, die „transzendentale Dialektik" aus allgemeinen Prinzipien heraus zu entwickeln, was für jeden Rekonstrukteur derselben bedeutet, die allgemeinen Behauptungen der Einleitung und des ersten Buchs der TD auch auf das dritte Hauptstück zu beziehen. Die Ableitung der abstrakten Idee eines Alls der Realität aus dem Grundsatz der durchgängigen Bestimmung hält Kant für legitim. Der Schluss von der Idee der durchgängigen Bestimmung von Gegenständen auf die Idee eines Alls der realen Möglichkeiten kann sogar als konstruktiver Kern seiner Kritik an der Rationaltheologie aufgefasst werden. Da diese Ableitung der Idee der omnitudo realitatis aus dem GdB nicht auf Prämissen des transzendentalen Idealismus angewiesen ist, ist sie zudem gewissermaßen metaphysisch neutral. Während es sich bisher von selbst zu verstehen schien, als könne das transzendentale Ideal nur die Idee eines Inbegriffs aller „Realitäten" möglicher Erfahrung sein, stellt sich gerade unter Voraussetzung der Unterscheidung zwischen phänomenaler und noumenaler Realität die Frage, wie der Gegenstand der Idee der omnitudo realitatis gedacht werden kann bzw. muss. Die auf Letztbegrüngung zielende reine Vernunft gibt auch im Zustand des Besitzes der Idee von einem All der phänomenalen Realität keine Ruhe und dürfte den kritischen Kant fragen lassen, was der an sich seiende Grund für das System phänomenaler Realitäten ist, da doch das Ding an sich für Kant gegenüber der Erscheinung insofern ontologische Priorität genießt, als es als der uns „affizierende" Grund der Erscheinungen konzipiert ist. Je nach Betrachtungsart der „Realität" handelt es sich also beim Gegenstand des Ideals um: a) das Aggregat aller phänomenalen Realitäten, Bestimmungen bzw. Sachhaltigkeiten, welches im Zuge „allbefassender Erfahrung" bloß idealiter sukzessiv realisiert werden kann. Dieses All phänomenaler Realität ist es, welches die Rationaltheologen zum ens realissimum hypostasieren;
180 b)
4.3
Das transzendentale Ideal
die ganz und gar unbestimmte und unbestimmbare Totalität des Noumenalen als dasjenige, was gedacht wird, wenn von der subjektiven Betrachtungsart der Gegenstände „allbefassender Erfahrung" abstrahiert wird. Das Ding an sich236 muss als vollkommen unbekanntes „transzendentales Substrat" bzw. metaphysisches Korrelat der phänomenalen Realitäten die „Materie zur Möglichkeit aller Gegenstände der Sinne" (A582/B610) bereithalten. 237 Und das ist auch schon das Einzige, was wir über dieses Vernunftpostulat positiv urteilen sollten. Darin, dass dieser Gegenstand gänzlich unbestimmt bleiben muss, unterscheidet er sich fundamental vom durchgängig bestimmten ens realissimum der rationaltheologischen Tradition.
Eine Rekonstruktion
des fehlenden
„Systems der theologischen
Ideen"
Eine Asymmetrie fällt dem Leser von Kants „transzendentaler Dialektik" sofort auf: das Fehlen eines rationaltheologischen Analogons zur Tafel der psychologischen Ideen resp. zum „System der kosmologischen Ideen", d.h. eine systematische Vorstellung der theologischen Ideen in Anlehnung an die Ordnung der Kategorien. Wir wollen der Frage nachgehen, ob sich diese Lücke beheben lässt, ohne über den kantischen Text hinausgehen oder ihm Gewalt antun zu müssen. Gibt es also eine Gruppe „theologischer" transzendentaler Ideen, die als , E l e m e n t e " des reinen Verstandes i.w.S. (Kategorien, Grundsätze, Ideen) im Rahmen einer „Elementarlehre" der KdrV vollständig aufzufinden sind? Die Tatsache, dass der § 55 der Prolegomena den Titel „Die theologische Idee" trägt, während die §§ 53/54 ausdrücklich über eine Pluralität psychologischer und kosmologischer Ideen in
236
Die Rede im Plural von „Dingen an sich" setzt die Vorstellung der Zahl voraus, welche ihrerseits für Kant insbesondere die Zeit voraussetzt, und ist daher genau genommen unkantisch, wenn „Dinge an sich" in transzendental-philosophischer Bedeutung als die Dinge aufgefasst werden, wie sie unabhängig von unseren subjektiven Erkenntnisbedingungen vorgestellt werden, wozu Kant zufolge bekanntermaßen auch die Zeit als subjektive Anschauungsform gehört. 237 Explizit führt Kant die Annahme des Ding an sich nicht auf diese Tendenz der reinen Vernunft zurück. Es scheint jedoch gute Gründe dafür zu geben, dass die unbestimmte Totalität des Noumenalen, das Ding an sich, als Grund für alle phänomenale Realität ebenfalls nach ihrem Prinzip gefordert wird. Wenn wir unter dem Gegenstand des Ideals den noumenalen Grund bzw. das transzendentale Substrat aller phänomenalen Realität verstehen, dann enthält auch die kantische Rede von einer „Theologia transscendentalis" (A335/B392) im Unterschied zur psychologia und cosmologia rationalis eine besondere Pointe. Systematisch besteht die transzendentale Theologie aus Onto- und Kosmotheologie und bildet zusammen mit der Physikotheologie (theologia naturalis) und der theologia moralis das System der theologia rationalis (vgl. A631/B659 f.).
Rekonstruktion des Systems der theologischen Ideen
181
formieren, wie bereits jeweils ihr Titel ankündigt, soll uns nicht davon abhalten, ein System theologischer Ideen im Text der KdrV zu suchen. Das Fehlen einer explizit von Kant vorgestellten Tafel theologischer Ideen wirft sofort die Frage auf, was für Begriffe in einer solchen Uberhaupt verzeichnet sein könnten. Wir erinnern uns, dass unter den kosmologischen Ideen keine Begriffe von Eigenschaften der Welt verzeichnet sind, sondern Begriffe von unbedingten Bedingungen der Gegenstände der Erscheinung. Während Kant dem Leser unter psychologischen Ideen Begriffe von Eigenschaften der Seele vorstellte, behaupteten ausschließlich die Thesen der kosmologischen Widerstreite die Existenz ideeller Gegenstände (z.B. „einfache Teile der Materie") bzw. ideeller Ereignisse (z.B. „Weltanfang"). 2 3 8 Werden im gesuchten „System der theologischen Ideen" also Begriffe von Eigenschaften eines ideellen Gegenstandes verzeichnet sein, wie etwa in der rationalen Psychologie Eigenschaften der „Seele" verzeichnet sind, oder werden dort Begriffe von ideellen Gegenständen i.w.S. verzeichnet sein, wie jeweils in den kosmologischen „Thesen"? Was hier ebenfalls im Vergleich zur systematischen Auffindung der psychologischen und kosmologischen Ideen zumindest explizit fehlt, ist ein Aussonderungsprinzip, welches dazu dient, aus jeder Kategoriengruppe jeweils diejenige auszusondern, die - „ins Unbedingte erweitert" - zur Konstitution einer theologischen Idee taugt.239 Ein letzter auffälliger struktureller Unterschied zwischen dem dritten und den ersten beiden Hauptstücken der TD besteht darin, dass sich dem Abschnitt über das transzendentale Ideal die Kritik der drei (möglichen) Arten von Gottesbeweisen aus theoretischer Vernunft anzuschließen scheint, ohne dass die trichotomische Einteilung der drei Arten, auf das Dasein Gottes zu schließen, offensichtlich aus dem Abschnitt „Von dem Transzendentalen Ideal" vererbt wäre. Das System der vier kosmologischen Ideen hingegen ist unentbehrlich zum Zwecke der systematischen Konstitution der vier Antinomien, und auch der systematische Nachtrag Kants bezüglich der Paralogismen in der A-Auflage könnte ebenso gut vor der Behandlung der einzelnen Paralogismen platziert sein und somit die Funktion eines „Systems der psychologischen Ideen" Ubernehmen. Kant entschied sich für das Nachtragen der psychologischen Topik, da er andernfalls „die Gefahr der Dunkelheit" (A396) witterte.
238
Auf etwas artifizielle Art können auch die kosmologischen Ideen als Eigenschaften der Welt aufgefasst werden, so z.B.: Die Welt hat die Eigenschaft, dass ihre Materie (nicht) aus einfachen Teilen besteht. Der Unterschied zu den einfachen rationalpsychologischen Prädikationen „Die Seele ist Substanz, einfach,..." bleibt augenfällig. 239 Für die Kosmologieproblematik bestand dieses Prinzip darin, aus jeder Gruppe jeweils diejenige Kategorie auszusondern, deren „Synthesis eine Reihe ausmacht" (vgl. A409/B436), und für die Rationalpsychologie darin, jeweils diejenige Kategorie aus jeder Gruppe auszusondern, „welche den übrigen [der jeweiligen Gruppe] zum Grunde der Einheit in einer möglichen Wahrnehmung liegCt]" (vgl. A403).
182
Das transzendentale Ideal
4.3.1
Das Analogon zur „Topik der reinen Seelenlehre"
Trotz der beobachteten Asymmetrien wollen wir zeigen, dass der Text mehr als nur verschwommene Hinweise auf eine wenn auch unausgearbeitete „Topik der rationalen Theologie" enthält. Den einschlägigen Textabschnitt, der auf diese Topik hinzudeuten scheint, erkennen wir im 14. Absatz des Abschnitts „Von dem transzendentalen Ideale", den wir zum gegenwärtigen Zwecke vollständig wiedergeben: „Wenn wir nun dieser unserer Idee [vom höchsten Wesen], indem wir sie hypostasieren, so ferner nachgehen, so werden wir das Urwesen durch den bloßen Begriff der höchsten Realität als einiges, einfaches, allgenugsames, ewiges etc. mit einem Worte, es in seiner unbedingten Vollständigkeit durch alle Prädikamente bestimmen können. Der Begriff eines solchen Wesens ist der von G ο 11, in transzendentalem Verstände gedacht, und so ist das Ideal der reinen Vernunft der Gegenstand einer transzendentalen T h e o l o g i e , so wie ich es auch oben angeführt habe." (A580/B608: Hinzufügung von N.K.)
Mit diesem Absatz schließt Kant die „Läuterung" des Idealbegriffs ab, bevor er sich zum Ende des Abschnitts noch einmal den „Quellen" (A581/B609) des dialektischen Scheins in der rationalen Theologie widmet. Die vorläufig abschließende Funktion des Textabschnitts, vor allem aber die Tatsache, dass Kant hier vier Eigenschaften des „Urwesens" in einer Reihenfolge vorstellt, die auf eine Korrespondenz zur Kategorientafel hindeutet, veranlasst uns zur Idee, hier eine Topik der transzendentalen Theologie - zu dieser gehören die Abteilungen der Onto- und Kosmotheologie - antizipiert zu sehen. Kant listet hier Eigenschaften des Urwesens auf, wie sie in der rationaltheologischen Tradition gedacht werden, die er der Hypostase (s.o.: „indem wir die Idee hypostasieren") bezichtigt. Es wird sich also um eine kritikwürdige Topik handeln. Das erste „so" des ersten Satzes des obigen Zitats bezieht sich insbesondere auf die unmittelbar vorausgehende Neuinterpretation der höchsten Realität als Grund bzw. auf die Revision der vorläufigen Vorstellung des Ideals als eines Aggregats, die Kant in Analogie zum Begriff des Raumes erläutert. U m die Eigenschaften der Einigkeit bzw. Einheit, Einfachheit, Allgenugsamkeit und Ewigkeit als Folgerungen aus bereitgestellten Prämissen zu erkennen, müssen wir mindestens auf die folgenden Gedanken zurückgreifen: (a)
Zur Definition des Ideals gehört es, Idee in individuo zu sein. Für den Gegenstand der Idee bedeutet dies, dass er „ein einzelnes, durch die Idee allein bestimmbares, oder gar bestimmtes D i n g " (A568/B596) zu sein hat.
Rekonstruktion des Systems der theologischen Ideen
(b) (c) (d)
183
Die Vorstellung des Ideals enthält (als ens realissimum) die Vorstellung der Vollkommenheit. Der Gegenstand des Ideals soll der Urgrund „aller Dinge überhaupt", einschließlich unserer „Sinnlichkeit", sein (vgl. A579/B607). Das Ideal ist die Vorstellung von etwas Unbedingtem.
Die im obigen Zitat aufgelisteten Eigenschaften des rationaltheologischen Urwesens lassen folgende Bezüge zu den vier Kategoriengruppen der Quantität, Qualität, Relation und Modalität erkennen: 1. Quantität (Einheit): Die Transformation des abstrakten Alls der Realität zum wesenhaften „Grund" der realen Möglichkeit aller Dinge ist der Kern der Hypostasierung des Ideals. Insbesondere wird das Ideal in diesem Schritt individuiert. Erst die durch die unzulässige Verwandlung von „distributiver" in „kollektive Einheit" (A582/B610) hervorgebrachte Idee des Urwesens erfüllt die quasidefinitorische Vorgabe (a), „Idee in individuo" zu sein. Einheit zu sein, bedeutet hier nicht nur Individuum einer allgemeineren Gattung zu sein, sondern pointierter soviel wie Einzigkeit. 2. Qualität (Einfachheit)·. Zur Vollkommenheit des ens realissimum (b) gehört die Teillosigkeit, d.h. Einfachheit. Da auch für Kant die Teile das zusammengesetzte Ganze bedingen (vgl. die Deduktion der zweiten kosmologischen Idee), gilt: Wäre das ens realissimum nicht einfach, sondern bestünde es aus Teilen, dann wäre es selbst weder unbedingt noch vollkommen, was dem Begriff vom ens realissimum widerspräche. 3. Relation (Allgenugsamkeit): Der Urgrund aller Dinge überhaupt (c) steht nicht in Wechselwirkung mit anderen Dingen und ist insofern „allgenugsame", höchste Kausalität. 4. Modalität (Ewigkeit): Als unbedingter Urgrund aller Dinge (c) ist das Urwesen auch der Grund „unserer ganzen Sinnlichkeit" (A579/B607). Da die Zeit für Kant gerade eine bloß subjektive Anschauungsform ist, muss das Urwesen sogar zeitlos gedacht werden. Unter Ewigkeit ist hier insofern Zeitlosigkeit zu verstehen, als das Urwesen der Bedingung der Zeit überhaupt nicht unterworfen ist. Es existiert weder unvergänglich in der Zeit, noch ist es nicht aus irgendetwas entstanden, vielmehr ist es zeitlos. 260 Während es innerhalb der zeitlich konstituierten Wirklichkeit der Erscheinungen bloß relativ notwendige Ereignisse im Sinne der notwendigen Folge gibt, wird das absolut notwendige Urwesen als zeitlos gedacht. Das Urwesen ist selbst unbedingt (d), nicht bloß relativ notwendig, sondern absolut notwendiges ens neccessarium: dem Zusammenhang kontingenter
260
In eben dieser Bedeutung spricht Kant bei der Erläuterung des „fehlerfreien Ideals" einer transzendentalen Theologie explizit von „Ewigkeit, ohne Bedingungen der Zeit" und ganz analog dazu von „Allgegenwart, ohne Bedingungen des Raumes" (A641/B669).
184
Das transzendentale Ideal
Ereignisse der erfahrbaren Wirklichkeit enthoben, ihn j e d o c h gleichsam bedingend und f ü r uns ermöglichend. In der Reflexion 6017 des Metaphysik-Nachlasses 2 6 1 stellt Kant ebenfalls so etwas wie ein System rationaltheologischer Ideen vor, welches sich mit den in A580/ B 6 0 8 aufgelisteten Eigenschaften des aus der Hypostasierung des Idealbegriffs hervorgegangenen U r w e s e n s zur D e c k u n g bringen lässt und zudem eine Zuordnung der vier traditionellen Bezeichnungen des U r w e s e n s (ens summum, ens realissimum, ens originarium, ens necessarium) zur Kategorientafel ermöglicht. Jener R e f l e x i o n zufolge wird der Begriff des U r w e s e n s vorgestellt als 1. nur eines, als „Wesen aller W e s e n (Quantitaet)", 2. als „höchstes der Realität", 3. als „höchstes der Kausalität" und 4. als „absolute Necessität". D i e Korrespondenz zwischen Eigenschaften des U r w e s e n s , E i g e n n a m e n des U r w e s e n s und nun auch bestimmten Kategorien kann in Analogie zur „Topik der reinen Seelenlehre" in folgender Tafel z u s a m m e n g e f a s s t werden: Der Gegenstand des Ideals, das Urwesen. wird vorgestellt als 1. „einiges" Wesen aller Wesen, d.h. als absolute Einheit / 262,) (ens summum 2.
3.
„einfaches" Wesen, d.h. als „höchste Realität" (ens realissimum)
„allgenugsames" Wesen, d.h. nicht in Wechselwirkung mit anderen Dingen stehend, sondern als „höchste Kausalität" (ens originarium) 4.
„ewiges" Wesen, d.h. als absolute Notwendigkeit (ens
necessarium)
Diese T a f e l enthält die kategorialen B e s t i m m u n g e n des erschlichenen Pseudogegenstandes der Onto- bzw. Kosmotheologie. D e r ,,vielfältige[n] Art, den Begriff 261 262
Vgl. AA XVIII, S. 424. Wir beziehen den Eigennamen „ens summum" auf die quantitative Bestimmung des Urwesens, da der Gedanke von einer „absoluten Einheit" im Sinne des Inbegriffs aller Realität mit dem Gedanken identisch scheint, alle Realität summarisch in einem Wesen zu vereinigen. Man denke auch an Kants skeptischen Angriff auf diese gedankliche Vereinigung: „die Summe aller existierenden Realität" könne „dem Zero=0 gleich" sein. Das ens entium der Reflexion 6017 scheint uns eher, wie das ens necessarium, auf absolute Unbedingtheit bzw. Notwendigkeit zu verweisen. Diese Zuordnung wird gestützt durch A579/B607, wo das Urwesen als ens entium vorgestellt wird, sofern alles als bedingt unter ihm steht.
Rekonstruktion des Systems der theologischen Ideen
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der höchsten Realität [...] einzuschränken" (A578/B606), korrespondieren vielfältige Bezeichnungen des Urwesens: Je nachdem, ob wir die gewöhnlichen Dinge für quantitativ, qualitativ oder relational beschränkt halten, erscheint das Urwesen als ens summum, ens realissimum oder als ens originarium. Das ens realissimum scheint zudem aus folgendem Grund ein ens neccessarium zu sein: Kant behauptet in der zweiten Anmerkung zur Kategorientafel, dass „Notwendigkeit nichts anderes als die Existenz [sei], die durch die Möglichkeit selbst gegeben ist" ( B i l l ) . Dies bedeutet, dass etwas dann absolut- und nicht bloß respektivnotwendigerweise existiert, wenn aus seiner Möglichkeit bereits seine Existenz folgt. Der ontologische Beweisversuch zeigt, dass von dieser Art gerade das rationaltheologische ens realissimum zu sein scheint: Die Existenz des ens realissimum scheint allein „durch die Möglichkeit" des Begriffs „gegeben" zu sein, weil „Existenz" ein reales Prädikat zu sein scheint und im Begriff des ens realissimum alle Realitäten vereint sind. Daher scheint das ens realissimum ein ens neccessarium zu sein. Für eine von „aller Beimischung empirischer Einschränkungen" (A640/B668) gereinigte transzendentale Theologie, die uns Kant zufolge allein vor Spielarten des theologischen „Anthropomorphism" (ebd.) bewahrt, sind die in der Tafel aufgeführten Eigenschaften lauter transzendentale Prädikate bzw. bloß problematische, leere Begriffe, die mehr auf die Grenzen menschlicher Erkenntnis verweisen als dass sie positiv einen erkennbaren Gegenstand bestimmen. 2 6 3 Das im 7. Abschnitt des Ideal-Hauptstücks mit dem Titel „Kritik aller Theologie aus spekulativen Prinzipien der Vernunft" (A631/B659) entworfene fehlerfreie Ideal ergibt sich gerade aus dieser alternativen, nämlich problematisch-leeren Interpretation der oben rekonstruierten Topik. Aufgrund ihrer Interpretationsfähigkeit bzw. Ambivalenz kann diese Topik als das rationaltheologische Analogon zu Kants „Topik der reinen Seelenlehre" gelten.
4.3.2
System und subjektive Deduktion der theologischen Ideen gemäß unserer Interpretationshypothesen
Mindestens drei Probleme hindern uns, die soeben nachgereichte „Topik der rationalen Theologie" als eine Tafel zu akzeptieren, in der „transzendentale Ideen" verzeichnet sind. 263
In der Reflexion 5524 heißt es „Die transzendentale Theologie enthält lauter praedicata logica entis realissimi; die determinationes als praedicata realia synthetica gehören zum Theismus" (AA XVIII, S. 207), d.h. zur „natürlichen " Theologie, die durch den Glauben an einen lebendigen Gott gekennzeichnet wird (vgl. A633/B661). Die praedicata logica des Urwesens dürften den als „reine intellektuelle Begriffe" gebrauchten Kategorien entsprechen, vermöge derer in der rationalen Psychologie die Seele gedacht wird. Außerhalb des Feldes möglicher Erfahrung jedoch sind die Kategorien „bloß von transzendentalem, d.i. von gar keinem Gebrauch" (A403).
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Das transzendentale Ideal
Während es nämlich erstens definitorische Eigenschaft transzendentaler Ideen sein soll, notwendigerweise gebildet zu werden, konnte eben diese Eigenschaft für den rationaltheologischen Grundbegriff des Urwesens nicht nachgewiesen werden. Die Analyse des Theologie-Hauptstücks zeigt, dass die Illusionen der rationalen Theologie dann entstehen, wenn dem aus der Kosmologie vererbten Bedürfnis nach einem durchgängig bestimmten Absolutnotwendigen nachgekommen wird und der Gegenstand des Ideals als „Grund" und nicht als „Aggregat" aller realen Möglichkeiten aufgefasst wird (vgl. 4.4). An diesem Punkt der Hypostasierung des Ideals in ein „einiges" Wesen bzw. Ding lokalisieren wir den entscheidenden Bruch Kants mit der rationaltheologischen Tradition. Noch ist die abstrakte Idee von einem All der realen Möglichkeiten notwendigerweise vorausgesetzt und erfüllt damit ein definitorisches Merkmal „transzendentaler" Ideen, nicht jedoch ist dies die vermeintlich konkretere Idee eines ens realissimum. Die theoretische Vernunft, und das ist vielleicht eine der radikalsten und zugleich am häufigsten übersehenen Konsequenzen Kants, hat kein legitimes Motiv, „Gott" als bestimmbares Individuum zu denken. 2 6 4 Zweitens sind wir mit der Idee der omnitudo realitatis im Besitz einer theologischen Idee, die, anders als die Idee des ens realissimum, unabhängig^) von einem dialektischen Schluss 2 6 3 hervorgebracht wird. Für diese Idee gilt, was allgemein für transzendentale Ideen gelten soll: Sie „können nimmermehr an sich selbst dialektisch sein" (A669/B697). Aus diesen Gründen werden wir zeigen, dass der Abschnitt über das transzendentale Ideal eine gewissermaßen ursprüngliche Schicht enthält, in der es Kant weniger um die Rekonstruktion der rationalistischen Vorgaben geht, die dann in bestimmter Weise neu (im Sinne des „Als-ob") gedeutet werden, sondern um eine originelle „transzendentale Theologie" samt eines „fehlerfreien" Grundbegriffs. Wir bemühen uns also um die Rekonstruktion eines „Systems der theologischen Ideen" auf der Grundlage der ersten Absätze des Abschnitts über das transzendentale Ideal, in denen Kant den Begriff eines alternativen, „fehlerfreien Ideals" vorstellt. Dabei wollen wir unseren beiden übergeordneten Interpretationshypothesen nachkommen und erstens zeigen, dass die theologischen Ideen Kants „eigentlich nichts, als" die „bis zum Unbedingten erweiterten Kategorien" (A409/B436) der 264
Die kantische Kritik der rationalen Theologie einschließlich der Ersetzung des rationaltheologischen ens realissimum durch die abstrakte Idee der omnitudo realitatis exemplifiziert auf vielleicht deutlichste Weise die Tendenz Kants, eine transzendente Ontologie durch eine transzendentale Logik zu ersetzen. Allerdings wird durch die Annahme des Ding an sich, welches wir als totale noumenale Realität zum Gegenstand des Ideals erklärten, die ontologische Frage im transzendentalen Idealismus Kants nicht vollständig aufgelöst, sondern lediglich verschoben. 263 Der genuin psychologisch-dialektische Schluss besteht im „transzendentalen Paralogismus", der genuin kosmologische im Schluss von der Falschheit einer Annahme auf das bloß scheinbar kontradiktorische Gegenteil, und diese Schlüsse werden erst im systematischen Teil der scheinbar beweiskräftigen „Paralogismen" und „Antinomien" wirksam, nicht jedoch im davon systematisch zu unterscheidenden Teil der Ideengenesis.
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Rekonstruktion des Systems der theologischen Ideen
„Allheit", „Limitation", „Gemeinschaft" und „Notwendigkeit-Zufälligkeit" (vgl. A80/B106) sind 266 , sowie zweitens eine subjektive Deduktion der theologischen Idee(n) in struktureller Analogie zur Deduktion der kosmologischen Ideen nachreichen. Aufgrund des Fehlens eines explizit gemachten „Systems der theologischen Ideen", welches den kantischen Intentionen entspricht, ist es sinnvoll, die zu theologischen Ideen erweiterten Kategorien im Text aufzuspüren, bevor die subjektive Deduktion dieser Ideen rekonstruiert wird.
4.3.2.1
Die Idee der omnitudo realitatis als vierfach ins Unbedingte erweiterte Kategorie
Die Sorge, dass das Fehlen eines Aussonderungskriteriums für Kategorien, die zur Erweiterung zu theologischen Ideen „taugen", einen derartigen Rekonstruktionsversuch vereiteln könnte, wollen wir durch den Hinweis ausräumen, dass gemäß unserer Interpretation jene Aussonderungskriterien sowieso keine deduktive Funktion innerhalb einer „subjektiven Deduktion" der Ideen besitzen. Durchkämmen wir den Text unter Berücksichtigung unserer Fragestellung, so finden wir, dass Kant mittels Sperr- und Fettdruck in den ersten sieben Absätzen des Abschnitts über das transzendentale Ideal hervorhebt, mit welchen Kategorien er die Idee der omnitudo realitatis in Verbindung bringt, oder, um diese Verbindung gemäß unserer Hypothese zu präzisieren, die Erweiterung welcher ins Unbedingte erweiterbaren Kategorien auf diese Idee führt. a) Das transzendentale
Ideal als ins Unbedingte
erweiterte
„Allheit"
In der Fußnote zu A572/B600 identifiziert Kant ausdrücklich die ,Allheit (Universitas)" mit dem „Inbegriffe aller möglichen Prädikate", wobei die Verknüpfung dieser beiden Ausdrücke durch das Wörtchen oder Kants intendierte Synonymie anzeigt. Auf folgende Weise lässt sich die Idee der omnitudo realitatis als Resultat der bis ins Unbedingte erweiterten Kategorie der Allheit begreifen: Es ist die Form des universellen Urteils, welche der Kategorie der Allheit korrespondiert. In jedem universellen Urteil mit bestimmten beteiligten, allgemeinen Begriffen wird die Allheitskategorie bedingt gebraucht. So ist sie z.B. im Urteil „Alle Menschen sind 266
Die Hervorhebungen in der von uns oben nachgereichten „Topik" zeigen, dass unsere zweite Interpretationshypothese, nach der die eine ein-eindeutige Zuordnung zwischen den Kategorien und den als ins Unbedingte erweiterte Kategorien aufgefassten transzendentalen Ideen besteht, keine Chance auf Bestätigung hätte, falls dort tatsächlich die vier theologischen Ideen Kants verzeichnet sein sollten. „Einheit" und „Realität" wurden nämlich bereits in der rationalen Psychologie unbedingt gebraucht, „Kausalität" in der rationalen Kosmologie. Doch wäre es sicherlich mehr als nur kühn, dies als Argument dafür werten zu wollen, dass diese Topik den kantischen Intentionen nicht gerecht wird. Schließlich muss unsere Hypothese erst zur Bestätigung gebracht werden.
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Das transzendentale Ideal
sterblich" an die Bedingung des Subjektterminus, Mensch zu sein, geknüpft. 2 6 7 Ein unbedingter Gebrauch der Allheitskategorie löst sie von j e d e m bestimmten und eben dadurch einschränkenden Subjektterminus und ist daher identisch mit der Aufgabe, die Idee der omnitudo realitatis bzw. „alles Mögliche" zu denken. ß) Das transzendentale
Ideal als ins Unbedingte
erweiterte
„Limitation "
Der Kategorie der Limitation entspricht innerhalb der kantischen Systematik der Urteilstyp des „unendlichen Urteils, d.h. der Typ der transzendentalen Negation („S ist non-P", mit realem Prädikat P). 268 Die „unendlichen" Urteile Kants verdanken ihren Namen ihrer logischen Extension. Jedes „unendliche Urteilen" setzt etwas voraus, das mittels eines unendlichen Urteils eingeschränkt wird. Dieses Etwas ist das Universum der realen Möglichkeiten, welches zum Zwecke der durchgängigen Bestimmung von Gegenständen angenommen werden muss. 2 6 9 Mittels Sperrdruck hebt Kant den Zusammenhang zwischen der Idee der omnitudo realitatis und der dem unendlichen Urteil korrespondierenden Kategorie der Limitation hervor: „Alle w a h r e f n t r a n s z e n d e n t a l e n ] V e r n e i n u n g e n sind a l s d e n n nichts als Schranken. w e l c h e s sie n i c h t g e n a n n t w e r d e n k ö n n t e n , w e n n nicht d a s U n b e s c h r ä n k t e ( d a s All) zum Grunde läge." (A576/B604)
Beschränkend wirken die unendlichen Urteile in zweifacher Hinsicht. Erstens in Bezug auf „die unendliche Sphäre alles Möglichen" (A72/B97). Das unendliche Urteil „S ist non-P" positioniert S irgendwo außerhalb der Sphäre von P, so dass das Aggregat der realen Möglichkeiten, die noch für S bereitstehen, unter der
261
Nach traditioneller Urteilslehre, innerhalb welcher Kant sich bewegt, handelt es sich beim Urteil „Alle Menschen sind sterblich" um eine Aussage über alle Menschen und nicht, wie in der modernen formalen („mathematischen") Logik, u m eine Aussage Uber alle Gegenstände des jeweils im Hintergrund stehenden universe of discourse. 268 Über die Frage, ob Kant der Funktion des „unendlichen" Urteilens zurecht einen eigenen Platz in der transzendental-logischen Tafel der Urteilsfunktionen einräumt, während die „allgemeine Logik" die unendlichen Urteile von den bejahenden nicht unterscheidet (vgl. A71 f./B97), ist viel geschrieben worden. Weil in der transzendentalen Logik Kant zufolge das Absprechen vom Zusprechen einer „Realität" systematisch unterschieden werden muss, kann er die unendlichen Urteile nicht den bejahenden unterordnen. Den veraeinenden Urteilen kann er sie nicht unterordnen, weil nach traditioneller Urteilslehre der Subjektbegriff S erfüllt sein muss, so dass „S ist non-P" wahr sein kann, was für den Satz „Es ist falsch, dass S Ρ ist" nicht gilt, da dieser Satz auch dann wahr ist, wenn es keine S gibt. Michael Wolff [1995] macht geltend, dass der limitative Charakter des unendlichen Urteils deshalb zur logischen Form des Urteils gerechnet werden könne, weil dieser Charkter vom Inhalt der im Urteil verknüpften Begriffe ganz unberührt bleibt (ebd. S. 158). 269 Kant nennt die unendlichen Urteile in der von Adickes in frühestens die zweite Hälfte der 1770er Jahre datierten Refl. 3063 auch „Urteile der durchgängigen Bestimmung" (A4 XVI, S. 638). Sie sind diejenigen Urteile, die eine durchgängige Bestimmung als vollständige Konjunktion von transzendentalen Bejahungen und Verneinungen wenigstens idealiter ermöglichen.
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bestimmten Bedingung „non-P zu sein" eingeschränkt wird. Zweitens wird die Sphäre des Prädikats Ρ selbst durch das Urteil „S ist non-P" eingeschränkt, sofern es mit S etwas gibt, was außerhalb von ihr liegt. Das unendliche Urteil wirkt also auch insofern beschränkend, als es „die Sphäre des Prädikats als beschränkt" 270 behauptet. Beschränkt ist nicht nur ein Ding, welches in einem wahren unendlichen Urteil beurteilt wird, sondern auch der Erkenntniswert des unendlichen Urteils: „S ist non-P" lässt offen, was S ist. Die Kategorie der Limitation kann in einem unendlichen Urteil nur beschränkend, unter der Bedingung der jeweils a/iszuschließenden Sphäre, gebraucht werden. 271 Die Limitationskategorie unbedingt zu gebrauchen bedeutet soviel, wie das „All ohne Schranken" (A587/B615) zu denken. Dies ist paradoxerweise genau dann der Fall, wenn überhaupt nicht „unendlich" geurteilt wird, während sich der Verstand auf die durch gerade diesen Urteilstyp eingeforderte Idee von einem All der Realität richtet. Offensichtlich sind sowohl das „All ohne Schranken" als auch „das Unbeschränkte (das All)" synonyme Ausdrücke für die Idee der omnitudo realitatis. y) Das transzendentale
Ideal als ins Unbedingte
erweiterte „
Gemeinschaft"
Wir sagten oben, dass bereits der disjunktive „Vernunftschluß" als solcher die Idee von einem Universum der realen Möglichkeiten implizit voraussetzt, da ohne dieses vorausgesetzte Universum, in welchem jede disjunktive Einteilung stattfindet, das Folgen der logischen Maxime (M3) 272 nicht sinnvoll erscheinen kann. Der „transzendentale Obersatz", der nicht nur Kants, sondern jeder Idee systematischer, „allbefassender Erfahrung" zugrunde liegen muss, ist identisch mit der bzw. ist „nichts anderes, als die Vorstellung des Inbegriffs aller Realität" (A577/B605). Und zwar wird dieser Inbegriff hier, d.h. vor der rationaltheologischen Hypostasierung, noch als abstraktes „Aggregat" und nicht als individueller, wesenhafter „Grund" aller möglichen Realitäten verstanden. Für Kant wird im Gedanken an ein wie immer geartetes „Aggregat" jederzeit von der Kategorie der „Gemeinschaft" (A80/B106) Gebrauch gemacht. Die der Kategorie der Gemeinschaft entsprechende Urteilsfunktion offenbart sich in der Form des disjunktiven Urteils. Beim disjunktiven Urteil bestimmt ein Glied der Disjunktion eines bestimmten Begriffs „jedes andere nur, sofern sie insgesamt als Teile einer ganzen Sphäre von Erkenntnis, außer der sich in gewis-
270
Refl. 3065, AA XVI, S. 639. Vgl. dazu auch § 22, Anm. 1 der Logik (Jäsche). Anneliese Maier [1930], die der Meinung ist, „Die Beziehungen zwischen der Funktion des unendlichen Urteils und der Kategorie der Limitation sind nun allerdings sehr lose" (ebd. S. 42), können wir hier nicht folgen. 272 „Suche zu einem gegebenen Begriff Ρ die vollständige Disjunktion eines Oberbegriffs S von P, zu welcher Ρ als Glied gehört." (vgl. Kap. 1 im I. Teil dieser Arbeit) 271
190
Das transzendentale Ideal
ser Beziehung nichts denken lässt, in Gemeinschaft stehen." 273 In Gemeinschaft stehen also insbesondere die Glieder der Disjunktion untereinander und nicht etwa Ober- und Unterbegriff, was eine Reflexion aus der zweiten Hälfte der 1770er Jahre dadurch nahe zu legen scheint, dass dort der dritte Typ der Relation in Urteilen als ,,Ganze[s] - Teil" gefasst wird. 274 Die Kategorie der Gemeinschaft ins Unbedingte zu erweitern bedeutet daher nichts anderes, als jede Bindung an eine „gewisse Beziehung", welche die Disjunktionsglieder an einen bestimmten gemeinsamen Oberbegriff knüpft, aufzuheben. Das führt zum Gedanken an eine Sphäre, außer der sich in jeder Beziehung nichts denken lässt, d.h. zum All der realen Möglichkeiten. δ) Durchgängig bestimmtes Dasein als Außiebung aller Modalität im Sinne Der Identität von vollständiger Möglichkeit, Wirklichkeit und absoluter Notwendigkeit Unserer Interpretationshypothese gemäß sollte es die Kategorie der „Notwendigkeit-Zufälligkeit" (A80/B106) sein, die zur vierten theologischen Idee erweitert wird. Nun liegt es scheinbar nahe, diese Idee im rationaltheologischen ens necessarium zu erblicken. Wir haben bereits oben gezeigt, dass es sich weder bei Kants vierter kosmologischer Reihe noch bei deren erstem Glied um absolut notwendige Existenzen handelt. Der Begriff eines gegenüber allen anderen (kontingenten) Existenzen ausgezeichneten und diese bedingenden, absolut notwendigen „Träger[s] aller Dinge" ist Kant zufolge der „wahre Abgrund für die menschliche Vernunft" (A613/B641). Ein „Abgrund" dürfte schwerlich als Regulativ für den Verstandesgebrauch fungieren, was schließlich die Funktion der transzendentalen Ideen sein soll. Wir sind der Meinung, dass es sich beim derart exklusiven ens necessarium nicht um einen Gegenstand der kantischen transzendentalen Theologie handelt und wollen vielmehr zeigen, wie auch der Rede, die Kategorie der Notwendigkeit werde ins Unbedingte erweitert, ein Sinn verliehen werden kann, ohne die Vernunft in jenen Abgrund zu stürzen. Die dynamischen Kategorien der Relation und der Modalität beziehen sich nicht auf solche Eigenschaften der Gegenstände, die wir im Anschluss an Gottlob Frege mittels Prädikaten erster Stufe bestimmen, sondern auf die „Existenz dieser Gegenstände" (vgl. Β110). Ein jedes Ding steht für Kant nur deshalb „seiner Möglichkeit nach" unter dem GdB (vgl. A571/B599), weil die Möglichkeit seiner Existenz vollständig begriffen werden will. Daher gelte es, jedes Ding gemäß „im
:7j
274
Logik § 28, Anm. (Hervorhebung von N.K.). Vgl. dazu auch Kants 3. Anmerkung zur Kategorientafel in B i l l f., wo er sich „dieser Übereinstimmung" der Kategorie der Gemeinschaft mit der Form des disjunktiven Urteils eigens „versichert". Refl. 3060: „Das Verhältnis der Begriffe. (Exponent): Das Subjekt zu Prädikat, Der Grund - Folge, Ganze - Teil (Form der Urteile); kategorisch, hypothetisch, disjunktiv", AA XVI, S. 636.
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Verhältnis auf die gesamte Möglichkeit" (A572/B600) zu betrachten. Die durchgängige Bestimmung von Gegenständen erfordert die vollständige Kenntnis aller Bedingungen der realen Möglichkeit der Dinge, m.a.W.: sie fordert das Begreifen der „vollständigen Möglichkeit" (A284/B287 Anm.) der Einzeldinge. 273 Mit der Reflexion über die Modalität der Einzeldinge werden unter den „Bestimmungen" der Einzeldinge nicht mehr allein ihre inneren Qualitäten bzw. „Realitäten" thematisiert, die die Dinge zu dem machen, was sie sind, wie dies in der oben rekonstruierten Ableitung der Idee des Inbegriffs aller Realität aus dem GdB der Fall gewesen ist, den die rationaltheologische Tradition zum ens realissimum hypostasiert. Es müssen vielmehr auch und insbesondere die Relationen innerhalb der Gesamtheit der Gegenstände als ihre Bestimmungen aufgefasst werden, die Möglichkeitsbedingungen dafür sind, dass die Dinge existieren, so, wie auch bereits die vierte kosmologische Idee die vollständige Kenntnis der Abhängigkeiten unter den existierenden Dingen äußerer Erfahrung forderte. Freilich gilt auch für eine so verstandene vollständige Möglichkeit der Dinge, dass sie für den menschlichen Verstand ein nie erreichbarer Grenzbegriff realer Möglichkeit ist: „Die vollständige Möglichkeit können wir niemals einsehen, weil wir einen Begriff nicht durchgängig und in concreto ausführlich bestimmen können". 276 Die Kenntnis aller Möglichkeitsbedingungen von Gegenständen ist uns unmöglich. Vielmehr ist „der Begriff der durchgängigen Bestimmung ein Verhältnis zur Allwissenheit" 277 . Umgekehrt ist nur der menschliche Verstand i.w.S. als reflektierender im Besitz der Modalkategorien, gerade weil er kein anschauender Verstand (intellectus archetypus) ist, der eventuell mit der Wirklichkeit der Dinge gleichsam ihre vollständige Möglichkeit zu begreifen vermag. Kant spekuliert in der Tat darüber, dass ein anschauender Verstand „zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit [...] keinen Unterschied findet". 278 Von diesem Gottesstandpunkt aus erscheinen die wirklichen Dinge nicht mehr als zufällig und notwendig im relationalen Sinn, sondern als absolut möglich und gleichsam als absolutnotwendig. Kant behauptet, „dass bei der Gottheit der Unterschied zwischen möglich, wirklich und notwendig wegfällt" 279 , was freilich im kritischen Geiste Kants nicht so gelesen werden darf, als behaupte er die Existenz eines anschauenden göttlichen
273
Es scheint natürlich zu sein, zwischen den vollständigen Existenzbedingungen einer Sache und den vollständigen Erkenntnisbedingungen einer Sache zu unterscheiden. Es ist allerdings fraglich, ob diese Unterscheidung mit der Annahme des „obersten Principiums aller synthetischen Urteile" aufrechterhalten werden kann, welches besagt: „Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung" (vgl. A158/B197). 276 Refl. 6298, A4 XVIII, S. 565. 277 Refl. 5723, AA XVIII, S. 335. 278 Refl. 6020, A4 XVIII, S. 426. 279 Zitiert nach Schneeberger [1952, S. 111], der diese Stelle seinerseits nach der Ausgabe von Cassirer IV 525 zitiert.
192
Das transzendentale Ideal
Verstandes. 2 8 0 Der Schwerpunkt dieses in § 76 der KdU ausführlich entwickelten Gedankenexperiments liegt einmal mehr ganz auf der möglichen Abstraktion von den Besonderheiten und Grenzen menschlichen Erkennens. 2 8 1 Zwar ist uns die Einsicht in die vollständige Möglichkeit der Dinge genauso verschlossen wie die Erkenntnis der vollständigen Reihe respektiv-notwendiger Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten, doch scheint zu gelten: wer die Totalität der Möglichkeitsbedingungen eines gegebenen Bedingten kennt, der ist in die Lage versetzt, dieses nicht mehr als bloß respektiv-notwendig, sondern als absolutnotwendig zu begreifen. Das vollständig bzw. absolut Mögliche ist gleichsam das absolut Notwendige. Wenn Kant schreibt: „In der Welt gibt es keine absolute Notwendigkeit" 2 8 2 , so ist unter der „Welt" die uns vertraute und durch den menschlichen Verstand konzeptualisierte phänomenale Wirklichkeit zu verstehen. Dass das Absolutnotwendige „außerhalb der Welt" (A617/B645) angenommen werden muss, wird gemeinhin so gedeutet, dass ein ens neccessarium außerweltlich zu denken sei - für uns unzugänglich, unerkennbar, aber irgendwie doch so existent wie die uns erscheinenden Dinge. Auf der Grundlage der angestellten Überlegungen kann diese kantische Rede jedoch auch weniger als eine ontologische, denn vielmehr als eine epistemologische Behauptung gelesen werden: wenn unter der „Welt" die phänomenale Wirklichkeit zu verstehen ist, dann gibt es in der Welt keine absolute Notwendigkeit, weil es für uns keinen verständlichen Begriff absoluter Notwendigkeit, sondern nur „bedingte, mithin verständliche Notwendigkeit" (A228/B280) gibt. Zwar bedürfte ein allwissender, anschauender Verstand der Kategorien der Modalität überhaupt nicht, doch würde der Unterschied zwischen zufälligem und notwendigem Dasein hinfällig. Dass das Absolutnotwendige nur „außerhalb der Welt" existieren könne, kann also - gewissermaßen in aller kritizistischen Härte als eine bloße Konsequenz des sich selbst erkennenden und die „Welt" als phänomenale Welt mit ermöglichenden Erkenntnisvermögens verstanden werden und 280
Wir sagten oben, dass „Gott", verstanden als der transzendental gewendete Gegenstand des Ideals, noumenal gedacht werden müsse. Die Rede davon, dass „bei der Gottheit" der Unterschied der Modalitäten wegfalle, ist insofern missverständlich, als der transzendentale „Gott" - das Ding an sich kein betrachtendes Subjekt ist, sondern das unabhängig von unserem Erkenntnisapparat gedachte objektive Korrelat aller phänomenalen Realität. Wir sollten nicht zu weit spekulieren und davon ausgehen, dass Kant die Möglichkeit im Auge hat, dieses befinde sich wiederum im Zustande reflexiver Kontemplation. 281 Im § 76 der KdU lesen wir: „Es ist dem menschlichen Verstände unumgänglich notwendig, Möglichkeit und Wirklichkeit zu unterscheiden. Der Grund davon liegt im Subjekte und der Natur seiner Erkenntnisvermögen. [...] Wäre nämlich unser Verstand anschauend, so hätte er keine Gegenstände als das Wirkliche. [...] Für einen Verstand, bei dem dieser Unterschied [der Modalitäten] nicht einträte, würde es heißen: alle Objekte, die ich erkenne, s i n d (existieren); und die Möglichkeit einiger, die doch nicht existierten, d. i. Zufälligkeit derselben wenn sie existieren, also auch die davon zu unterscheidende Notwendigkeit, würde in der Vorstellung eines solchen Wesens gar nicht kommen können." 282 Refl. 5373, AA XVIII, S. 165.
Rekonstruktion des Systems der theologischen Ideen
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meint dann nicht mehr als: Wir können dem Begriff der absolutnotwendigen Existenz in unserer Welt keine Bedeutung verschaffen. Der Begriff der absoluten Notwendigkeit taugt nicht für ein gegenüber allen anderen zufälligen bzw. respektiv-notwendigen Dingen ausgezeichnetes Ding unserer Welt, nur weil dieses nicht wiederum auf angebbare Weise bedingt ist 283 - und sei dieses Ding die Welt selbst. In einer Welt schließlich, die nicht die unsere ist, deren Sachverhalte also insbesondere nicht mittels Modalbegriffen verstanden werden wollen, verliert er vollends einen angebbaren Sinn - „Dieser Grenzbegriff [der absoluten Notwendigkeit] ist selbst problematisch". 284 Die Ideen der durchgängigen Bestimmung von Gegenständen und der omnitudo realitatis zeigen also das folgende Verhältnis zu den Begriffen absoluter realer („vollständiger") Möglichkeit und absoluter Notwendigkeit: Als „vollständig möglich" erscheinen die Dinge allenfalls aus der Perspektive eines allwissenden, anschauenden und nicht reflektierenden Verstandes, der die Dinge nicht nur - wie wir - als durchgängig bestimmt annehmen muss, sondern für den sich alle Bestimmungen der Dinge einschließlich aller Relationen zu anderen Gegenständen auch präsentieren. Angesichts der Kenntnis der vollständigen Möglichkeitsbedingungen löst sich der Unterschied zwischen zufälligem und notwendigem Dasein auf, weil dieser Unterschied nur im Rahmen irgendwie beschränkter Information sinnvoll ist. In Kants „transzendentaler Theologie" wird die Kategorie der „Notwendigkeit-Zufälligkeit" nicht insofern ins Unbedingte erweitert, als etwa die Reihe der Abhängigkeiten unter den Dingen in einem notwendigerweise existierenden Gegenstand (ens necessarium) ihren Abschluss findet. Die Kategorie der Notwendigkeit-Zufälligkeit wird vielmehr dadurch ins Unbedingte, Absolute erweitert, dass die für uns stets nur respektiv denkbare Modalität der Einzeldinge samt ihrer Zustände als absolute in einen allwissenden, anschauenden und durchgängig bestimmenden Verstand projiziert wird, wo die Notwendigkeit gleichsam im bloßen Dasein aufgehoben wird: „Wäre nämlich unser Verstand anschauend, so hätte er keine Gegenstände als das Wirkliche" (KdU § 76). Und ein allwissender, anschauender Verstand würde nicht ein ganz besonderes Ding als ens necessarium erkennen, sondern vielmehr erschiene ihm alles als wirklich = absolut möglich = absolut notwendig, wobei bereits diese Redeweise eine unzulässige Übertragung der Modalitäten auf den intellectus archetypus bedeutet, der Uber die verschiedenen Modalbegriffe gar nicht verfügt bzw. ihrer überhaupt nicht bedarf. Nur der menschliche Verstand ist Kant zufolge einerseits im Besitz der Modalbegriffe (vgl. KdU §76) und hat andererseits die Neigung, seine Kategorien ins
283
Weil nämlich dem menschlichen Verstand allein respektive Notwendigkeit des Bedingten wie der Bedingung verständlich ist, gilt selbst für ein solches oberstes Glied abhängiger Existenzen: „Das, was ohne reale Bedingung notwendig ist, kann doch als Bedingung notwendig sein, welches gleichwohl keine absolute, sondern restriktive Notwendigkeit ist" (Refl. 5567, AA XVIII, S. 235).
284
Refl. 4033, AA XVII, S. 392.
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Das transzendentale Ideal
Unbedingte zu erweitern. Einen objektiv realen Gebrauch der Modalbegriffe gibt es für den menschlichen Verstand nur als relationalen und einen regulativen Gebrauch der Idee absoluter Notwendigkeit gibt es nur in dem hier dargestellten Sinn eines focus imaginarius für die Vernunft (vgl. A644/B672), nicht jedoch im Sinn des rationaltheologischen ens neccessarium. *
*
*
Der gewöhnliche Gebrauch der Kategorien bindet die Kategorien an bestimmte Bedingungen. Dieser Gebrauch ist auf Urteilsebene gewissermaßen jederzeit sichtbar. Für die Kategorien der Allheit, Limitation und Gemeinschaft sind die Bedingungen des eingeschränkten Gebrauchs der Kategorien identisch mit bestimmten Allgemeinbegriffen. Ein uneingeschränkter bzw. unbedingter Gebrauch der Kategorien der Allheit, Limitation, und Gemeinschaft führt in allen Fällen auf ein- und dieselbe Idee der omnitudo realitatis als Begriff vom schrankenlosen (.Limitation) Aggregat (Gemeinschaft) aller (Allheit) realen Möglichkeiten. In dieser Interpretation verstehen wir auch Kants Bemerkung der Reflexion 5553: „System der transzendentalen Ideen [...]. Im Ideal der reinen Vernunft, weil da alle Categorien in einer Idee beisammen sind, haben wir nicht nötig sie zu unterscheiden [...]" 28;> (Hervorhebung von N.K.)
Wir haben es nicht nötig, die vier Ideen der transzendentalen Theologie Kants zu unterscheiden, da sie alle mit der Idee der omnitudo realitatis identisch sind. Weil die vier theologischen Ideen als identische eigentlich eine sind, es sich also gar nicht um verschiedene Begriffe, sondern um verschiedene „Aufgaben" handelt, diesen einen Begriff zu denken, hat sich Kant möglicherweise die Vorstellung der theologischen Ideen in einer analog zur Kategorientafel angeordneten Tafel gespart. Und aus diesem Grund ist im Titel des § 55 der Prolegomena auch nur von der theologischen Idee die Rede - im Unterschied zur Rede von psychologischen und kosmologischen Ideen in den §§ 53/54. Anders als in der Psychologie- und Kosmologieproblematik fällt hier auch der Bedeutungsunterschied zwischen Ideen-„Titel" und den elementaren transzendentalen Ideen selbst. Während die „Welt" als „Inbegriff aller Erscheinungen" (A334/B391) keineswegs mit dem Gegenstand einer der vier kosmologischen Ideen identisch ist, stehen unter dem Titel der omnitudo realitatis die nur sinnverschiedenen ins Unbedingte erweiterten Kategorien der Allheit, Limitation, Gemeinschaft, die im Gegenstand des Ideals ihre identische Bedeutung haben. Unter dem Gegenstand des kantischen Ideals der omnitudo realitatis ist entsprechend der transzendental-idealistischen Unterscheidung von Erscheinung und 283
A4 XVIII, S. 223.
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Ding an sich entweder das Universum der Realitäten möglicher Erfahrung oder aber die Totalität noumenaler Realität zu verstehen. Aufgrund der von Kant konstatierten Unmöglichkeit der Bestimmung der Totalität des Noumenalen ist es zumindest erstaunlich, wenn nicht gar inkonsequent, dass Kant den Begriff vom „einigen, einfachen, allgenugsamen und ewigen" Gegenstand der rationaltheologischen Topik (s.o.) nicht schlicht verwirft, sondern eben diesen Begriff in einen „fehlerfreien" problematisch-leeren Ideal-Begriff zu überfuhren sucht. Unsere systematischen Gründe für das Erstaunen, die zugleich Gründe für die Akzeptanz unseres Vorschlags für ein „System der theologischen Ideen" sein sollen, seien hier noch einmal genannt: Kant verfügt in Gestalt der Idee der omnitudo realitatis über ein „fehlerfreies", kritisches Ideal, welches nicht wie die Idee des ens realissimum erst alternativ interpretiert werden muss, um fehlerfrei zu erscheinen. Die Bildung des Begriffs vom ens realissimum konnte nicht auf die in der Einleitung und im ersten Buch der TD beschriebene Vernunftforderung nach einem „Unbedingten der disjunktiven Synthesis" zurückgeführt werden. Für die Idee von einem All der Realität (omnitudo realitatis) hingegen konnte die subjektive Notwendigkeit gemäß dem „obersten Prinzip" der reinen Vernunft gezeigt werden. Der Begriff eines Alls der realen Möglichkeiten ist im Unterschied zum Begriff eines allerrealsten Wesens „transzendentale Idee". Mit dem Begriff des ens realissimum hat Kants Grundbegriff einer „transzendentalen Theologie" nicht mehr gemein als die Motivation durch die Idee der durchgängigen Bestimmung von Gegenständen. Mit dem Nachweis, dass die genannten Kategorien auf die Idee der omnitudo realitatis führen, wenn sie uneingeschränkt gebraucht werden, lässt sich nicht nur Kants These auf die „theologischen" Ideen beziehen, die Vernunft befreie die reinen Verstandesbegriffe von den Einschränkungen einer möglichen Erfahrung und mache sie jeweils „zur transzendentalen Idee (vgl. A409/B436 f.), sondern dadurch ist auch so etwas wie die systematische Unabhängigkeit der theologischen von den kosmologischen Ideen gesichert, welche sich ihrerseits gemäß unserer übergeordneten Interpretationshypothese des exhaustiven Gebrauchs bestimmter anderer Kategorien jeder Gruppe verdanken.
4.3.2.2
Die subjektive Deduktion der theologischen Ideen
Nachdem gezeigt ist, inwiefern die Annahme von vier theologischen Ideen überhaupt durch den Text gedeckt ist, soll abschließend die subjektive Deduktion derselben nachgereicht werden. Unserer übergeordneten Interpretationshypothese entsprechend sollte es die Forderung nach vollständiger Bedingtheit der a) quantitativ, b) qualitativ, c) relational und d) modal bestimmten „Gegenstände des Den-
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Das transzendentale Ideal
kens überhaupt" (A334; im Folgenden kurz: GdDü) 2 8 6 sein, die jeweils zur Idee führt. Erinnern wir uns noch einmal daran, was unter den GdDü zu verstehen ist. Sie sind nicht etwa die „Dinge an sich (selbst betrachtet)", sondern vielmehr diejenigen „Gegenstände", auf die sich das Subjekt nicht unmittelbar bezieht - dies würde bedeuten, dass sich das Subjekt vermittels der Sinnlichkeit auf sie bezieht - , sondern auf die sich allein der denkende Verstand des Subjekts bezieht. Der Dichotomie von „Sinnlichkeit" und „Verstand" korrespondiert in der KdrV bekanntermaßen die Unterscheidung zwischen „Anschauungen" und „Begriffen" als genuinen Vorstellungsarten beider Vermögen. Auf GdDü nimmt der Verstand mittelbaren Bezug mittels Begriffen. Und auch nur als solche sind sie auch Gegenstände des Denkens. Selbstverständlich kann der Verstand sich mittels Begriffen auch auf Gegenstände der Anschauung beziehen. Dass die Gegenstände der Anschauung zu Objekten der gedanklichen Reflexion gemacht werden können, bedeutet allerdings nicht, dass sich die GdDü in diesen erschöpfen. „Gegenstand der Theologie" ist „die oberste Bedingung der Möglichkeit von allem, was gedacht werden kann" (A334/B391). Entsprechend sind unter den GdDü all die Dinge zu verstehen, die überhaupt gedacht werden können.
a) Die omnituclo realitatis als unbedingte Bedingung Bestimmung von Gegenständen des Denkens
der quantitativen überhaupt
(1) Wenn uns quantitativ bestimmte GdDü gegeben sind, dann ist auch die selbst unbedingte Totalität der Bedingungen ihrer quantitativen Bestimmungen als Idee aufgegeben. Wir haben zu erklären, was unter quantitativ bestimmten GdDü sowie der unbedingten Bedingung dieser Bestimmungen zu verstehen ist. Während wir in der Regel genau dann singulär urteilen, wenn wir auf einen Gegenstand der unmittelbaren Wahrnehmung Bezug nehmen („Dieses S ist P"), beziehen wir uns auf GdDü insbesondere dann, wenn wir partikulär oder universell urteilen, so dass die Prämisse: (2) Uns sind quantitativ bestimmte GdDü gegeben, ersetzt werden kann durch: (2*) Uns sind partikuläre und universelle Urteile gegeben. Nun beziehen wir uns nur dann auf alle Gegenstände, von denen in Urteilen der Form „Einige / Alle S sind P " etwas ausgesagt wird, wenn wir uns auf „alle Dinge 286
Die drei Disziplinen der speziellen Metaphysik verdanken sich Kants Überlegungen im „System der transzendentalen Ideen" (A333/334) zufolge den möglichen Bezügen von Vorstellungen: 1.) „aufs Subjekt" —> Psychologie, 2.) auf „Objekte als Erscheinungen" —> Kosmologie, und 3.) auf „Objekte als Gegenstände des Denkens überhaupt" —> Theologie.
Rekonstruktion des Systems der theologischen Ideen
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überhaupt" beziehen, denn wir wissen prima facie nicht, welche Gegenstände der Gesamtheit von Gegenständen die Eigenschaft Ρ erfüllen und welche nicht. Nicht ohne Grund wird in der modernen Logik die logische Struktur des universellen Urteils „Alle S sind P", dessen grammatikalische Struktur nahe legt, dass „alle S" auch logisches Subjekt des Urteils ist, analysiert als: „Für alle Gegenstände χ (des zugrunde liegenden universe of discourse) gilt: ..." Beurteilte logische Subjekte in „Einige / Alle S sind P " sind nicht „einige S" bzw. „alle S", sondern „alle Dinge überhaupt" 287 . Das zugrunde liegende Universum möglicher Dinge bedingt also dadurch die quantitative Bestimmung von Gegenständen des Denkens (z.B.: Dinge, welche P, Q, non-R etc. sind), dass die quantitative Bestimmung der GdDü innerhalb dieser Sphäre stattfindet. (3) Das Universum der GdDü bedingt die quantitative Bestimmung derselben. Wir sagten bereits oben, dass das All der GdDü als Universum aller komplexen Realitäten wiederum selbst bedingt ist durch die Gesamtheit der einfachen Realitäten, sofern die über ihr errichtete Disjunktion gerade identisch mit dem Universum der GdDü zu sein scheint. Wir verstehen unter der ursprünglichen Idee der omnitudo realitatis gerade diese selbst unbedingte Gesamtheit der einfachen Realitäten, so dass gilt: (4) Die Idee der omnitudo realitatis ist die unbedingte Bedingung der quantitativen Bestimmung von GdDü. Wegen (1), (2*), (3) und (4) gilt: (5) Wenn uns quantitativ bestimmte GdDü gegeben sind, dann ist auch die omnitudo realitatis als Idee aufgegeben.
ß) Die omnitudo realitatis als unbedingte Bedingung der qualitativen Bestimmung von Gegenständen des Denkens überhaupt (1) Wenn uns qualitativ bestimmte GdDü gegeben sind, dann ist auch die unbedingte Bedingung ihrer qualitativen Bestimmungen als Idee aufgegeben. Die qualitativen Bestimmungen der GdDü können auf die jeweilig zugesprochenen „Realitäten" bzw. Sachhaltigkeiten beschränkt werden, auf die wir uns mittels „realer Prädikate" beziehen, weil die entsprechenden Negationen analytisch folgen. Diese positiven Prädizierungen nennt Kant auch „Bejahungen im metaphysischen Verstände". Sofern die Vernunft genötigt ist, die Gegenstände als durchgängig bestimmt zu betrachten, ist die unbedingte Bedingung der qualitativen Bestimmungen von GdDü das Universum der realen Möglichkeiten selbst, da der
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Vgl. zur modernen Auffassung der Struktur partikulärer und universeller Sätze beispielsweise Tugendhat/Wolf [1983, Kap. 6].
198
Das transzendentale Ideal
Verstand i.w.S. beim Gedanken an etwas durchgängig Bestimmtes jederzeit mit der Aufgabe konfrontiert ist, dieses Etwas mit dem All möglicher Sachheit zu vergleichen: (2) Unbedingte Bedingung der qualitativen Bestimmung von GdDü ist das Universum der realen Möglichkeiten, die omnitudo realitatis, so dass mit (1) und (2) offensichtlich gilt: (3) Wenn uns qualitativ bestimmte GdDü gegeben sind, ist auch die omnitudo realitatis als Idee aufgegeben. Diese Herleitung der Idee der omnitudo realitatis ist im Kern identisch mit derjenigen aus dem GdB, nur dass sie hier explizit auf die durch das „oberste Prinzip" der reinen Vernunft vorgegebene Struktur gebracht ist.
y) Die omnitudo realitatis als unbedingte Bedingung Bestimmung von Gegenständen des Denkens
der relationalen überhaupt
(1) Wenn uns relational bestimmte GdDü gegeben sind, dann ist auch die Totalität der Bedingungen ihrer relationalen Bestimmungen als Idee aufgegeben. Wenn die „relationalen Bestimmungen von GdDü" thematisiert werden, dann sind damit die Relationen der Gegenstände untereinander gemeint und nicht etwa die Verhältnisse von Gegenständen des Denkens zum denkenden Verstand. Wir wissen, dass es Kant zufolge genau drei Grundtypen bzw. Kategorien der Relation gibt. Als das Verhältnis von Substanz und Akzidenz kann die Relation unter den GdDü nun nicht gedacht werden, weil die Substanzkategorie allein auf die beharrlichen Objekte der Anschauung reale Anwendung findet und weil zweitens nicht verschiedene Gegenstände im Verhältnis von Substanz und Akzidenz stehen, sondern Gegenstände und deren Eigenschaften. Hoffnungslos ungeeignet zum Zwecke der adäquaten Beschreibung der Relation unter den GdDü ist die Kausalitätskategorie. Das Verhältnis der GdDü untereinander denkt der Verstand als Verhältnis der „Gemeinschaft". Das gemeinschaftliche Verhältnis unter den GdDü kann der Verstand allein als Verhältnis unter den Begriffen derselben in Gestalt von disjunktiv verzweigten Begriffssystemen repräsentieren. Als unbedingte Bedingung dafür, den bestimmten Begriff eines GdDü bezüglich seiner Bedeutung und möglichen Extension mit anderen Begriffen überhaupt vergleichen zu können, ist das Universum möglicher Bedeutung aufzufassen. Diese unbedingte Bedingung ist der „transzendentale Obersatz" (A577/B605) eines ideellen, disjunktiven Hypersystems, den wir oben mit der Disjunktion aller möglichen komplexen Realitäten identifizierten. Diese vollständige Disjunktion setzt wiederum die Gesamtheit einfacher Realitäten (omnitudo realitatis) voraus, so dass auch gilt:
Rekonstruktion des Systems der theologischen Ideen
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(2) Wenn uns relational bestimmte GdDü gegeben sind, dann ist die Idee der omnitudo realitatis aufgegeben. Die Kategorie der Gemeinschaft bzw. der „Wechselwirkung zwischen dem Handelnden und Leidenden" (A80/B106) konstituiert Kant zufolge als dynamischphysikalische unsere Erfahrung. Diese reale Wechselwirkung findet ihr logisches Pendant in der wechselseitigen logischen Bestimmung von Begriffen durch andere Begriffe. Wird das Ideal selbst als derjenige „transzendentale Obersatz" gedeutet, der eine logische Dekomposition des Begriffs einer ,Realität überhaupt" enthält, so besitzt der Idealbegriff diejenige Eigenschaft, die als das logische Korrelat zur möglichen Realität der „Allgenugsamkeit" (vgl. A580/B608) gelten kann. Während das rationaltheologische Urwesen nicht in Wechselwirkung mit anderen Dingen stehen soll, gilt für den Idealbegriff, dass er im Unterschied zu allen anderen Allgemeinbegriffen „durch sich selbst durchgängig bestimmt" (A576/B604) ist. Weil es natürlich zu sein scheint, die Bedingungen unserer Erkenntnis von Gegenständen von den Bedingungen der Gegenstände selbst nicht nur zu unterscheiden, sondern auch zu unterstellen, dass die Einheit unserer Erkenntnis von Gegenständen sich der Einheit der Gesamtheit erkennbarer Dinge verdankt bzw. letztere umgekehrt erstere bedingt, ergibt sich als Gegenstand der theologia transzendentalis die Projektion der Einheit des disjunktiven Erkenntnissystems in den Bereich der Dinge selbst: ein durchgängig zusammenstimmendes System aller Dinge überhaupt als Bedingung der Einheit unserer systematischen Erkenntnis von gedachten Gegenständen: „die absolute Einheit der Bedingung aller Gegenstände des Denkens überhaupt" (A334/391).
δ) Die omnitudo
realitatis als unbedingte Bedingung der modalen von Gegenständen des Denkens überhaupt
Bestimmung
(1) Wenn uns modal bestimmte GdDü gegeben sind, dann ist auch die Totalität der Bedingungen ihrer modalen Bestimmungen als Idee aufgegeben. Die GdDü sind Gegenstände, auf die sich allein der denkende Verstand mittels Begriffen bezieht. Auch die Existenzweise der GdDü ist der modalen Bestimmung ausgesetzt: (2) Ein GdDü ist ein denkbarer Gegenstand und als solcher wird ihm die Modalität der Möglichkeit bzw. seine bloß mögliche Existenz zugeschrieben. (3) Uns sind mögliche GdDü gegeben.
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Das transzendentale Ideal
Weil alle „Gegenstände Etwas (Dinge) sind" (A574/B602), existieren auch GdDü nur als qualitativ bestimmte Gegenstände. Sie sind nur dadurch möglich bzw. denkbar, dass das Universum der Realitäten den Stoff zum Denken bereithält: (4) Unbedingte Bedingung der Möglichkeit der GdDü ist die Gesamtheit der denkbaren einfachen Realitäten (omnitudo realitatis), so dass mit (l)-(4) gilt: (5) Wenn ein möglicher GdDü gegeben ist, dann ist auch die omnitudo realitatis als Idee aufgegeben.
4.4
Motive und Vollzug der dialektischen Metamorphose der Idee der omnitudo realitatis - Der transzendentale Schein in der rationalen Theologie und seine kritische Aufliebung 4.4.1
Der dialektische Schluss der rationalen Theologie
Welches ist der dialektische resp. Fehlschluss der rationalen Theologie, der aufgrund eines wirkmächtigen „transzendentalen Scheins" auf so natürliche Weise zustande kommt, dass auch Kant ihn für „unvermeidlich" hält? Lassen sich Kants allgemeine Charakterisierungen des transzendentalen bzw. dialektischen Scheins in der metaphysica specialis auf den speziellen Schein der rationalen Theologie beziehen und die Erklärungen der verschiedenen Illusionen harmonisieren? Vergegenwärtigen wir uns die verschiedenen allgemeinen Erklärungen, die Kant vom transzendentalen Schein gibt: Erstens soll aller Schein auf der Verwechslung von subjektiven Maximen, die der Ausbreitung, Vereinheitlichung und Systematisierung von Verstandeserkenntnissen dienen, mit objektiven Grundsätzen beruhen (vgl. A297/B353). Zweitens soll der Schein von der „natürlichen" metaphysischen Position des transzendentalen Realismus ausgehen, wonach wir unmittelbar mit den Gegenständen „als Dingen an sich" (vgl. z.B. A498/B526, A535/B563) konfrontiert sind. Aufgrund dieser Verwechslung wird Kant zufolge von den Kategorien und Grundsätzen des Verstandes nicht nur ein erfahrungsimmanenter, sondern illegitimerweise ein transzendenter Gebrauch gemacht. Drittens beruhe aller transzendentaler Schein auf einer Verwechslung von fiktiven Gegenständen „in der Idee", von denen wir bloß „einen problematischen Begriff haben können" (A339/B397), mit erkennbaren Gegenständen. Zunächst stellen wir fest, dass sich der dialektische Schein der theologia rationalis gemäß der dritten Charakterisierung auf prägnanteste Weise in der Modifikation des naiven obersten Prinzips der reinen Vernunft „Wenn ein (in seinen Eigenschaften beschränktes) Ding gegeben ist, dann ist auch die omnitudo realitatis gegeben" manifestiert. Dass man mit der Akzeptanz dieses hypothetischen Satzes
Die dialektische Metamorphose der Idee der onmitudo
realitatis
201
einer Verwechslung von ideellen mit erkennbaren Gegenständen aufsitzt, ist aufgrund einer Äquivokation des Wörtchens „gegeben" vergleichsweise leicht nachzuweisen. Doch muss das Wort „gegeben" im missverstandenen Antezedens schon soviel wie „als Ding gegeben" meinen, sofern ein singuläres ens realissimum erschlossen werden soll. Um den dialektischen Schluss der Rationaltheologen zu rekonstruieren, als dessen Resultat uns die Annahme eines ens realissimum gilt, reicht also die starke Lesart des obersten Prinzips nicht aus, da auch bereits das Gegebensein eines abstrakten Aggregats aller Realitäten über dessen bloßes Aufgegebensein als Idee hinausgeht. Wie verhält es sich mit den ersten beiden Diagnosen des dialektischen Scheins, nach denen dieser auf einer Verwechselung von subjektiven Maximen mit objektiven Grundsätzen bzw. auf einer Verwechselung von Erscheinungen mit Dingen an sich beruht? Zunächst stellen wir fest, dass diese beiden Erklärungen harmonisierbar sind, ja, dass die erste auf die zweite zurückführbar ist. Wenn nämlich die kategorial bestimmten Erscheinungen für Dinge an sich gehalten werden, dann müssen gewisse „subjektive Maximen" für „objektive Grundsätze" im strengen Sinn, d.h. für Sätze über Dinge an sich gehalten werden. Die Subjektivität der Maximen verdankt sich einerseits dem subjektiven kategorialen Instrumentarium, in welchem sie allein formulierbar sind, und andererseits dem Bezug derselben: Es handelt sich auch insofern um „subjektive" Maximen, als sie für subjektive Einheit unter den Verstandeserkenntnissen sorgen, die wiederum jederzeit nur von Gegenständen der phänomenalen Wirklichkeit (,.Erscheinung") handeln können. Die allgemeine subjektive Maxime, die Suche nach Bedingungen niemals abzubrechen, wird in der starken Lesart vom obersten Prinzip der reinen Vernunft, welches eine Totalität von Bedingungen als „gegeben" voraussetzt, zum objektiven Grundsatz. Wir sagten bereits oben, dass auch der Satz vom ausgeschlossenen Dritten als Regel bzw. Maxime formuliert werden kann: „Entscheide für jedes angebbare logische Prädikat und jedes Ding, ob das Prädikat ihm zukommt oder nicht!" Diese subjektive logische Maxime fand ihr objektives Pendant im Grundsatz: „Alles Existierende ist durchgängig bestimmt." (A573/B601) Damit wird das subjektive Ideal der durchgängigen Bestimmung zur Eigenschaft alles Existierenden gemacht. W e n n wir es unterlassen, uns mit Kant kritisch zu vergewissern, dass uns nicht Dinge an sich, sondern Erscheinungen gegeben sind, dann wird gemäß dem „obersten Prinzip" der reinen Vernunft die Totalität der objektiven Bedingungen für gegebene Dinge an sich erschlossen. Zwar ist für Kant der Inbegriff aller Möglichkeit keine objektive Bedingung der Dinge an sich, sondern als Idee eine subjektive, notwendige Bedingung der Gegenstände des Denkens, doch ist nicht zu sehen, wieso der transzendentale Realist auf die Annahme eines ens realissimum festgelegt sein soll, nur weil er der Meinung ist, ihm seien Dinge an sich gegeben.
202
Das transzendentale Ideal
Für alle drei allgemeinen Charakterisierungen des dialektischen Scheins gilt also, dass er keine hinreichende Erklärung für die Notwendigkeit der theologischen Annahme eines ens realissimum gibt. Eine weitere Charakterisierung des dialektischen Schlusses der rationalen Theologie gibt Kant in der kompakten Einleitung des zweiten Buchs der TD „Von den dialektischen Schlüssen der reinen Vernunft", die wir zum gegenwärtigen Zweck vollständig zitieren: „ E n d l i c h schließe ich, nach der dritten Art v e r n ü n f t e l n d e r Schlüsse, von der Totalität der B e d i n g u n g e n , sofern sie mir g e g e b e n w e r d e n k ö n n e n , zu d e n k e n , auf die absolute synthetische Einheit aller B e d i n g u n g e n der M ö g l i c h k e i t der D i n g e überhaupt, d.i. von D i n g e n , die ich nach i h r e m b l o ß e n t r a n s z e n d e n t a l e n Begriff nicht k e n n e , auf ein W e s e n aller W e s e n , w e l c h e s ich d u r c h einen transzendenten Begriff n o c h w e n i g e r kenne, und von dessen u n b e d i n g t e r N o t w e n d i g k e i t ich mir keinen Begriff m a c h e n kann. Diesen dialektischen V e r n u n f t s c h l u ß w e r d e ich das I d e a l der reinen V e r n u n f t n e n n e n . " ( A 3 4 0 / B 3 9 8 )
Hier ist einiges erläuterungsbedürftig. 2 8 8 Unter der „Totalität der Bedingungen, sofern sie mir gegeben werden können, zu denken" sollten wir die Totalität der objektiven, materialen Bedingungen des Denkens verstehen. Kant zufolge weiß der über sich selbst aufgeklärte Verstand, dass er nicht „spontan", sondern auf das Gegebensein eines Materials des Denkens angewiesen ist. Es geht hier nicht nur um Möglichkeitsbedingungen für Dinge, „sofern sie mir gegeben werden können" - das hieße: für Erscheinungen -, sondern um „Bedingungen der Möglichkeit der Dinge überhaupt", und das meint hier: Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände des Denkens überhaupt bzw. alles Denkbaren. Nicht geht es hier also um die (reale) Möglichkeit des Ding an sich. Der Begriff des Ding an sich ist in der Kantschen Terminologie ein „problematischer B e g r i f f . Die Möglichkeit des Ding an sich ist nicht real - es ist stets das erschlossene resp. postulierte transzendentale Substrat. Kant kann es nicht einmal für sinnvoll halten, nach der „realen Möglichkeit" des Ding an sich auch nur zu fragen. 2 8 9 288
Dass Kant „das Ideal der reinen Vernunft" einen „dialektischen Vernunftschluß" nennt, ist derart befremdlich, dass wir darin nur eine fehlerhafte Formulierung Kants sehen können. Beim „Ideal" selbst handelt es sich nicht um die Form eines besonderen Sophisma - vergleichbar etwa mit einem „Paralogismus" - sondern, je nach Perspektive, entweder um eine Idee der Vernunft, die als Resultat eines Schlusses aufgefasst werden kann, oder aber um den (Pseudo-)Gegenstand dieser Idee. Mit der Unterscheidung von „Idee" und „Gegenstand der Idee" haben wir bei der Lektüre des Ideal-Hauptstücks genug zu tun. Ein Schluss ist das Ideal nicht. 289 Dieter Henrich bezieht die zu kommentierende Textstelle sinnvoller Weise auf den von Kant selbst 1763 gegebenen Beweisversuch im EmBg, wo von der Funktion der Idee der omnitudo realitatis im Erkenntnisprozess auf die „Existenz eines Wesens, das dem Ideale gemäß ist", d.h. „Gott", geschlossen wird. Das Argument des EmBg fasst Henrich so zusammen: Denken ist möglich. Wenn gar nichts wirklich wäre, könnte auch keine Möglichkeit mehr gedacht werden. Daher ist es unmöglich, dass gar nichts ist. Wenn es unmöglich ist, dass gar nichts wirklich sei, dann muss etwas notwendig existieren. Kants kritische Theorie gesteht zwar noch zu, dass, wenn Denken möglich sein
Die dialektische Metamorphose der Idee der
omnitudo realitatis
203
Für irreführend muss Kants Rede von einem Schluss von der Totalität der Bedingungen der Gegenstände des Denkens auf ein „Wesen aller Wesen" gehalten werden, da doch entweder in kritischem Geiste auf die Idee der omnitudo realitatis geschlossen wird oder aber eben unkritisch auf ein „Wesen aller Wesen" geschlossen werden soll. Weder im kritischen noch im unkritischen Bewusstsein jedoch findet ein Schluss von der Idee der omnitudo realitatis auf ein „Wesen aller Wesen" statt. 290 Schließlich gibt Kant zum Abschluss des Abschnitts „Von dem transzendentalen Ideal" eine Erklärung des transzendentalen Scheins in der Rationaltheologie, die deutlich machen soll, dass auch hier der „transzendentale Realismus" die Quelle der Illusion ist. Dort beruht für Kant der Fehler der Rationaltheologen darin, dass die Gültigkeit des Grundsatzes: „Für uns ist nichts ein Gegenstand, wenn es nicht den Inbegriff aller empirischen Realität als Bedingung seiner Möglichkeit voraussetzt" (vgl. A582/B610) über den Bereich der Dinge „für uns" hinaus illegitimerweise auf „alle Dinge überhaupt" ausgeweitet wird. Freilich kann nur innerhalb des kantischen Vokabulars von E r s c h e i n u n g e n " bzw. „Gegenständen unserer Sinne" (A582/B610) und „Dingen an sich" - diese sind hier mit den „Dingen überhaupt" gemeint - die Gültigkeit von gewissen Grundsätzen illegitimerweise ausgeweitet werden. Hier findet kein „dialektischer Schluss" des transzendentalen Realisten von der Gültigkeit des Grundsatzes in einem Gültigkeitsbereich auf die Gültigkeit in einem anderen Gültigkeitsbereich statt. Innerhalb des auf einer „natürlichen Illusion" beruhenden transzendentalen Realismus ist bekanntlich überhaupt kein Raum für die Unterscheidung von Dingen für uns (Erscheinungen") und Dingen an sich selbst betrachtet. Doch zwingt der Grundsatz, sofern er „von allen Dingen überhaupt" gilt, zum Schluss auf eine unbedingte Bedingung der für Dinge an sich gehaltenen Gegenstände. Es bleibt ein Schluss innerhalb der Annahmen des transzendentalen Realismus - kein Schluss, der „durch Weglassung" irgendeiner E i n s c h r ä n k u n g " (vgl. A582/B610) zustande kommt. Zur Erklärung der Notwendigkeit, diese unbedingte Bedingung sogleich
soll, irgendetwas dem Denken vorgegeben sein muss. Der kritische Kant kennt jedoch keinen Grund, aus dem folgt, dass Denken notwendig sei. Der vermeintlich einzig mögliche Beweis für das Dasein eines höchsten und notwendigen Wesens wird auf diese Weise zurückgewiesen. Wir sehen hier, dass sich bereits in den zweiten Abschnitt des Ideal-Hauptstücks, in dem die Frage nach der Genese der Gottesidee aus theoretischer Vernunft im Zentrum des Interesses Kants steht, kritische Töne bezüglich möglicher Beweise vom Dasein Gottes mischen - in diesem Fall bezüglich seines eigenen Versuchs von 1763. Vgl. Henrich 1967, S. 137 ff.. 290 Kant behauptet gerade, dass der Schluss auf ein real-existierendes „Wesen aller Wesen" nur aufgrund der scheinmächtigen Annahme zu Stande kommt, die Gegenstände unserer Erfahrung seien Dinge an sich. Nur: innerhalb der Annahme des transzendentalen Realismus ist der Schluss von gegebenen Dingen an sich auf deren an sich existierende Möglichkeitsbedingung durchaus folgerichtig und nicht bloß „vernünftelnd". Vgl. dazu auch Kants analoge Überlegungen im 7. Abschnitt des Antinomie-Hauptstücks: „Kritische Entscheidung des kosmologischen Streits der Vernunft mit sich selbst", insb. A498/B525 f., die wir oben im Abschnitt 1.4 kommentierten.
204
Das transzendentale Ideal
als ens realissimum zu denken, reicht, wie wir bereits oben feststellten, der Hinweis auf die A n n a h m e des transzendentalen R e a l i s m u s nicht aus. Der dialektische Schluss der rationalen Theologie lässt sich lokalisieren. Er besteht in der Verwandlung der „distributiven Einheit des E r f a h r u n g s g e b r a u c h s des Verstandes in die kollektive Einheit eines E r f a h r u n g s g a n z e n " , welches sich die Rationaltheologen sogleich als „ein einzelnes Ding denken, was alle empirische Realität in sich enthält": ,,Daß wir aber hernach diese Idee vom Inbegriffe aller Realität hypostasieren kommt daher: weil wir die distributive Einheit des Erfahrungsgebrauchs des Verstandes in die kollektive Einheit eines Erfahrungsganzen dialektisch verwandeln, und an diesem Ganzen der Erscheinung uns ein einzelnes Ding denken, was alle empirische Realität in sich enthält [...]." (A582/B610) 291 W a s hier als Grund angegeben wird („weil"), ist allerdings selbst erklärungsbedürftig. Die Notwendigkeit dieser V e r w a n d l u n g auf die A n n a h m e des transzendentalen Realismus zurückzuführen, der doch eigentlich die Quelle aller Illusionen der metaphysica specialis sein soll, ist nicht gelungen. W a s also treibt die Rationaltheologen zur V e r w a n d l u n g der distributiven in kollektive Einheit?
4.4.2
Der dialektischen M e t a m o r p h o s e erster Teil: von der Idee der realitatis zum Begriff des ens realissimum
omnitudo
Versuchen wir abschließend nachzuzeichnen, wie und insbesondere wieso die rationale Theologie tatsächlich die Idee des Alls der Realität auf den theologischen Begriff eines allerrealsten W e s e n s und schließlich den Begriff eines personalen Gottes zuspitzt. W i r erinnern uns an Kants allgemeine Thesen der „Unvermeidlichkeit" und „Unhintertreiblichkeit" der Illusionen der natürlichen M e t a p h y sik. Bildet die Vernunft tatsächlich geradezu z w a n g s w e i s e die theologischen Ideen eines „einigen, einfachen, allgenugsamen, ewigen W e s e n s " (vgl. A 5 8 0 / B 6 0 8 ) , welches „an der Spitze der Möglichkeit aller D i n g e steht, zu deren durchgängiger B e s t i m m u n g es die realen B e d i n g u n g e n hergibt(A583/B611)? Kant beschreibt im Ideal-Hauptstück weniger einen natürlichen psychologischen Prozess, an dessen E n d e die Idee Gottes steht, sondern rekonstruiert, wie die Idee des personalen Gottes aus bestimmten Vorgaben der rationalistischen Tradition erwächst. Unser
2
" C. C. E. Schmid [1980] bringt in seinem „Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der kantischen Schriften" den Unterschied zwischen beiden Arten der „Einheit" (ebd.) auf den Punkt: „Die collective [Einheit] verbindet ein Mannigfaltiges in ein Ganzes z.B. viele Vorstellungen in einem Gedanken, oder viele Erscheinungen zu einem Weltganzen; distributiv ist diejenige [Einheit], wo das Mannigfaltige nur in der Vorstellung zusammengefaßt, aber in verschiedenen Objekten angetroffen wird." (Hervorhebungen von N.K.)
Die dialektische Metamorphose der Idee der omnitudo
realitatis
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Leitfaden für dieses Theoriestück soll die F u ß n o t e Kants zum Abschluss des Abschnitts „Von d e m transzendentalen I d e a l e " sein, wo er drei Stufen der theologischen Dialektik unterscheidet und bilanziert: „Dieses Ideal des allerealsten Wesens wird also, ob es zwar eine bloße Vorstellung ist, zuerst realisiert, d.i. zum Objekt gemacht, darauf hypostasiert, endlich, durch einen natürlichen Fortschritt der Vernunft zur Vollendung der Einheit, so gar personifiziert, wie wir bald anfuhren werden." (A583/B61l) 292 W a s bedeuten Realisierung und H y p o s t a s i e r u n g des Ideals, und wie unterscheiden sie sich voneinander? Einen H i n w e i s gibt Kant selbst in etwas versteckter Weise: ..Denn die Vernunft legte sie nur, als den Begriff von aller Realität, der durchgängigen Bestimmung der Dinge überhaupt zum Grunde, ohne zu verlangen, daß alle diese Realität objektiv gegeben sei und selbst ein Ding ausmache." (A580/B608) D i e Konjunktion der Eigenschaften „objektiv real" und „selbst ein D i n g ausmac h e n " gibt Aufschluss Uber den Unterschied zwischen Realisierung und H y p o s t a sierung, wenn sie entsprechend interpretiert wird: d.h. nicht so, als w ü r d e das zweite Konjunktionsglied das erste lediglich erläutern, sondern dass im Sinne einer fortschreitenden dialektischen V e r w a n d l u n g des Begriffs eine K o n j u n k t i o n von aufeinander f u ß e n d e n E i g e n s c h a f t e n vorliegt. Die Realisierung der Idee der o m n i t u d o realitatis bezieht sich nach dieser Ü b e r l e g u n g wie etwa bei der Realisierung der Kategorien durch die „Schemate der Sinnlichkeit" (A146/B185) auf die Instantiierung des Begriffs in der (empirischen) Realität. Realisierung der Idee meint das Verschaffen von objektiver Realität, ohne dass diese in F o r m eines einzelnen Gegenstandes stattfinden muss. So erlangt auch der reine Verstandesbegriff der Kausalität objektive Realität bzw. wird realisiert, indem zwei aufeinander f o l g e n d e Ereignisse der empirischen R e a lität g e m ä ß d e m S c h e m a von U r s a c h e und W i r k u n g interpretiert werden, o h n e dass der Begriff der Kausalität sich dadurch auf einen einzelnen Gegenstand bezieht. U n d genau dies ist Kant z u f o l g e auch unmöglich: Der Begriff der o m n i t u d o realitatis kann allenfalls sukzessive im R a h m e n ,,allbefassende[r] E r f a h r u n g " ( A 5 8 2 / B 6 1 0 ) realisiert werden, nicht j e d o c h als Ding. Hypostasierung einer bloßen Vorstellung bedeutet für Kant in der „Betrachtung über die S u m m e der reinen S e e l e n l e h r e " soviel wie: „das, was bloß in Ged a n k e n existiert, [...] als einen wirklichen Gegenstand außerhalb d e m d e n k e n d e n S u b j e k t e " a n n e h m e n (vgl. A384). D i e R e d e von „ e i n e m wirklichen G e g e n s t a n d " weist darauf hin, dass die H y p o s t a s i e r u n g der Idee des Alls der Realität die 292
Um genau zu sein, ist es nicht die Idee des allerrealsten Wesens, welche realisiert und hypostasiert wird, sondern die Idee von einem All der Realität, da in der Rede vom „Wesen" die Hypostase bereits vollzogen ist.
206
Das transzendentale Ideal
Vorstellung impliziert, ihr entspreche ein „einiges" (A580/B608) Wesen oder Ding. Die Unterscheidung von Realisierung und Hypostasierung des Ideals gibt noch keinen Aufschluss darüber, inwiefern die dialektisch werdende Vernunft insbesondere die zweite Stufe „durch einen natürlichen Fortschritt" erklimmt, wie es in der Fußnote heißt. Worin besteht der positive, wirkmächtige „Schein", der zur Hypostasierung der Idee der omnitudo realitatis Anlass gibt? Zwar wird der Unterschied zwischen möglicher Realisierung und Hypostasierung in der Unterscheidung von „distributiver Einheit des Erfahrungsgebrauchs" und „kollektiver Einheit eines Erfahrungsganzen" (vgl. A582/B610) auf den Punkt gebracht, doch bleibt auch hier offen, wie natürlich und notwendig sich diese „dialektische Verwandlung" vollzieht. Worin also besteht der blendende Schein, der uns zur Verwandlung treiben soll? In § 55 der Prolegomena hält Kant den Schein in der rationalen Theologie nicht für ausgesprochen unwiderstehlich, weil „die Vernunft hier nicht, wie bei der psychologischen und kosmologischen Idee [d.h. „Seele" und „Welt"] von der Erfahrung anhebt." Die Hypostasierung des transzendentalen Ideals geschieht gewissermaßen nicht aus eigener Kraft, weil die Vernunft die Idee der omnitudo realitatis nicht in ein „Wesen" verwandelte, wenn sie nicht von Gründen, die nicht in der begrifflichen Struktur des Ideals selbst liegen, dazu getrieben würde. Eben diesen Sog übt das bereits in der Thesis der vierten Antinomie (scheinbar) erschlossene ens necessarium aus, wie aus dem 3. Abschnitt des Theologie,,Hauptstücks" hervorgeht: ,.Ungeachtet dieser dringenden Bedürfnis der Vernunft, etwas vorauszusetzen, was dem Verstände zu der durchgängigen Bestimmung seiner Begriffe vollständig zum Grunde liegen könne, so bemerkt sie [die Vernunft] doch das Idealische und bloß gedichtete einer solchen Voraussetzung viel zu leicht, als daß sie dadurch allein überredet werden sollte, ein bloßes Selbstgeschöpf ihres Denkens sofort für ein wirkliches Wesen anzunehmen, wenn sie nicht wodurch anders gedrungen würde, irgendwo ihren Ruhestand, in dem Regressus vom Bedingten, das gegeben ist, zum Unbedingten, zu suchen [...]. Dieser Boden [des Gegebenen] aber sinkt, wenn er nicht auf dem unbeweglichen Felsen des Absolutnotwendigen ruhet." (A583/B611 f.) Dies bedeutet nicht weniger, als dass unabhängig von der Neigung der Vernunft, dem Satz: „Wenn etwas, was es auch sei, existiert, so muß auch eingeräumt werden, daß etwas notwendigerweise existiere" (A584/B612) hohe Überzeugungskraft zuzugestehen 2 9 3 , kein Anlass dafür besteht, die abstrakte Idee der omnitudo 293
Zwar geht auch für Kant vom Schluss von irgendeiner auf eine absolut notwendige Existenz positiver Schein aus: „es findet sich, [...] daß der Schluß von einem gegebenen Dasein überhaupt auf irgendein schlechthin notwendiges Dasein, dringend und richtig zu sein scheint" (A592/B620; Hervorhebung von N.K.) - für gültig hält er diesen Schluss nicht. Der Schein trügt.
Die dialektische Metamorphose der Idee der omnitudo
realitatis
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realitatis zu hypostasieren und somit überhaupt theologisch zuzuspitzen; m.a.W.: ohne rationale Kosmologie keine rationale Theologie. 294 Für die hier „Überredung" ausübende und als „Stütze" dienende Thesis der vierten Antinomie gilt, wie für die gesamte Kosmologieproblematik, dass sie „von der gemeinen Erfahrung anfängt" (vgl. A584/B612), was sich positiv auf ihre Plausibilität bzw. Natürlichkeit auswirkt. Doch wie steht es um die Existenz eines „Absolutnotwendigen"? Die modalen Begriffe Notwendigkeit, Dasein und Möglichkeit beziehen sich Kant zufolge nicht auf Eigenschaften der Dinge, sondern auf das Verhältnis zwischen Urteilen und einem urteilenden Verstand. 293 Gegen die absolut notwendige Existenz eines ens necessarium konzipiert Kant Notwendigkeit als reinen Verstandesbegriff, dessen Anwendung außerhalb des Bereichs der Erscheinung, in welchem die Ereignisse nach dem Schema der respektivnotwendisen Verknüpfung „buchstabiert" 296 werden, keinen angebbaren Sinn macht. 297 ^ Es ist sogar zweifelhaft, ob die Idee eines ens necessarium im Rahmen des transzendentalen Idealismus Kants wenigstens die subjektive Realität einer notwendig hervorgebrachten Idee besitzt: Im Rahmen unseres kategorialen Alphabets können wir die sich aufdrängende Frage nach der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt zwar nicht anders beantworten, als eine völlig unbekannte Affektionsquelle namens Ding an sich zu postulieren, doch ist dieses Postulat keine Idee von einem Absolutnotwendigen, wenn wir es ausdrücklich zum Zwecke der Erklärung der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt annehmen, sondern selbst respektivnotwendig, um die materialen Bedingungen des Denkens zu erklären. Wenn man mit Kant der Meinung ist, dass alle Realität zwar möglich, jedoch nicht notwendig
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Der Ankündigung Kants aus der Anmerkung des Abschnitts Uber das „System der transzendentalen Ideen", in der es heißt, es sei der „analytischen Bearbeitung" gemäß, von „der S e e l e n l e h r e , zur W e 1 t 1 e h r e , und von da bis zur Erkenntnis G o t t e s fort[zu]gehen" (A337/B395), wird bezüglich des Fortschritts von der Welt- zur Gotteslehre nachgekommen, während wir zugleich sichergehen dürfen, dass wir in der transzendentalen Dialektik einer „analytischen" Darstellung Kants folgen. Die Relation „p nicht ohne dass q" ist diejenige, die einerseits zwischen der Konklusion und den Prämissen eines Schlusses, andererseits zwischen der Hervorbringung der Ideen „Gott", „Welt" und „Seele" bestehen soll. 293 In der Erläuterung der modalen (No.4) Urteilsfunktionen im Anschluss an die systematische Vorstellung der ,,Funktion[en] des Denkens" (A70/B95), die als Urteilstafel überliefert ist, heißt es: „Die Modalität der Urteile ist eine ganz besondere Funktion derselben, die das Unterscheidende an sich hat, daß sie nichts zum Inhalte des Urteils beiträgt, (denn außer Größe, Qualität und Verhältnis ist nichts mehr, was den Inhalt eines Urteils ausmachte,) sondern nur den Wert der Copula in Beziehung auf das Denken überhaupt angeht." (A74/B99 f.) 296 Dies entspricht Kants Redeweise aus A314/B370 f., wo es heißt: „Plato bemerkte sehr wohl, daß unsere Erkenntniskraft ein weit höheres Bedürfnis fühle, als bloß Erscheinungen nach synthetischer Einheit [zu] buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können [...]". 297 Was für die Anwendung der Kategorien gilt, gilt auch fur kategoriale Grundsätze. Auch die objektive Realität der kosmologischen Idee einer transzendenten prima causa wird mit A636/B664 zurückgewiesen: „der Grundsatz der Kausalität" ist „nur innerhalb dem Felde der Erfahrung" gültig „und außer demselben ohne Gebrauch, ja selbst ohne Bedeutung".
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Das transzendentale Ideal
ist, da ebenso möglich ist, dass nichts sei 298 , dann ist auch nicht zu sehen, wie das Ding an sich ein ens necessarium sein kann. Der Begriff der absoluten Notwendigkeit droht vielmehr vollkommen unverständlich zu werden. Einerseits also ist die Hypostase der omnitudo realitatis im Hinblick auf die aus der Kosmologieproblematik vererbten Bedürfnisse nach einem bestimmten Absolutnotwendigen zu begreifen. Auf letztere Vorgaben zielt Kants Neubestimmung der omnitudo realitatis „als Urbegriff (A573/B601). Dieter Henrich 299 macht deutlich, dass der Begriff des ens necessarium der eigentlich wirkende Grundbegriff des Ideal-Hauptstücks ist, und dass die Begriffe der omnitudo realitatis bzw. eines ens realissimum von den Rationaltheologen lediglich als Chance begriffen werden, den völlig unbestimmten, ja unverständlichen Begriff absolut notwendiger Existenz zu bestimmen. Die Idee der omnitudo realitatis muss also zum Begriff des ens realissimum geläutert werden, und zwar so, dass sie mit der kosmologisch vererbten Idee des ens necessarium schließlich identifiziert werden kann. Ist erst einmal der Begriff des ens necessarium mit dem des ens realissimum identifiziert, so scheint die Existenz eines entsprechenden Gegenstandes aus dem sich selbst durchgängig bestimmenden Begriff des ens realissimum zu folgen. Dass die Suche nach Konkretisierung des Absolutnotwendigen auf den Begriff des allerrealsten Wesens führt, lässt sich nachvollziehen: Notwendigkeit des Daseins ist Unmöglichkeit des Nichtseins. Das Nichtsein eines Dings ist aber nur dann unmöglich, wenn bereits sein Begriff die Existenz als Merkmal enthält. 300 In der Annahme, dass von dieser Art gerade der Begriff des ens realissimum zu sein scheint, besteht das ontologische Argument. Andererseits gibt die Wolff-Baumgartensche Philosophie den Zusammenhang zwischen ontologisch interpretierter durchgängiger Bestimmung, Existenz und Individuation vor. Die von Kant entschieden zurückgewiesene Umkehrung des oben zitierten Wolffschen Lehrsatzes „Alles, was existiert, ist durchgängig bestimmt" lautet: „Alles durchgängig Bestimmte existiert". 301 Diese Umkehrung 298
„Aber daß alle Realität sei, ist möglich, daß keine sei, ist auch möglich.", Refl. 4661, A4 XVII, S. 629. 299 Vgl. Henrich 1967, S. 152. 300 Dass von dieser Art kein Begriff sein kann, besagt Kants Lehre, „Existenz" bzw. „Sein" sei „kein reales Prädikat", d.h. kein Prädikat, welches eine besondere Sachhaltigkeit zum Ausdruck bringt. Fälschlicherweise wird Kant von einigen Kommentatoren hartnäckig mit der These zitiert, „Sein" im Sinne von „Existenz" sei kein Prädikat - so z.B. Mackie 11985, S. 78 u. S. 133], Höffe [1996] zufolge auch Körner [1955, S. 120], Ohne die Frege'sche Unterscheidung von Prädikaten erster und zweiter Ordnung zu machen, kann jedoch der Sache nach berechtigterweise davon gesprochen werden, dass Kant als erster erkannte, dass „Existenz" kein Prädikat erster Ordnung ist (Vgl. Höffe 1996, S. 157). 301 In § 118 von Baumgartens Metaphysica findet sich die Äquivalenz von Existenz bzw. Wirklichkeit, durchgängiger Bestimmtheit und Singularität. Kant wendet sich explizit gegen die Äquivalenz von durchgängiger Bestimmung und Existenz: „Ich kann zwar sagen: alles Wirkliche ist durchgängig determiniert, aber nicht: alles durchgängig determinierte ist wirklich." (Pölitz-Vorl. S. 25, zitiert nach: Pape 1966, S. 228) - „Alles was existirt, ist zwar durchgängig bestimmt [...] Die Existenz ist
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könnte offensichtlich folgendermaßen für Beweise vom Dasein Gottes, verstanden als ens realissimum, fruchtbar gemacht werden. Der Satz „Alles durchgängig Bestimmte existiert" verwischt den Unterschied zwischen durchgängig bestimmten Begriffen und durchgängig bestimmten Gegenständen und scheint den Übergang zwischen beiden gleichsam zu ermöglichen: ( P I ) Jeder durchgängig bestimmte Begriff ist erfüllt. („Alles durchgängig Bestimmte existiert.") (P2) Der Begriff des ens realissimum ist ein durch sich selbst durchgängig Bestimmter Begriff von einem Individuum. (K) Also existiert das ens realissimum. Die hier als erste Prämisse fungierende Umkehrung des Wolffschen Lehrsatzes hält Kant kaum für diskussionswürdig. Für ihn steht fest, dass Existenz nicht allein durch begriffliche Bestimmungen zu fassen ist. Die durchgängige Bestimmtheit einer bloß gedachten Sache trägt nichts zu ihrer Verwirklichung bei. Und „Wirklichkeit" meint bei Kant insbesondere nicht die Aktualität innerhalb des göttlichen Verstandes der Rationalisten. Die Existenz eines Gegenstandes ist auch keine seiner Realitäten, d.h. Sachhaltigkeiten unter anderen, sondern bedeutet die Position302 des Gegenstands in der Wirklichkeit. Doch sogar der vermeintliche Lehrsatz „Alles, was existiert, ist durchgängig bestimmt" wird falsch, wenn wir mit Kant die durchgängige Bestimmung epistemologisch interpretieren. Zwar muss wohl dasjenige, was durchgängig bestimmbar sein soll, ein Individuum sein, jedoch ist auch dasjenige, was als existentes Individuum erkannt wird, nur idealiter durchgängig bestimmbar. Zur Erkenntnis der Existenz eines Dinges müssen wir nicht die Totalität seiner Bestimmungen erkennen. Nach den Motiven für die Hypostase wollen wir den Vollzug derselben nachzeichnen. Kant gibt die folgende Beschreibung vom Prozess der Läuterung der abstrakten und „noch unbestimmten" Idee der omnitudo realitatis hin zu einem bestimmten Begriff von einem „einzelnen Gegenstande": „Ob nun zwar diese Idee von dem I n b e g r i f f e a l l e r M ö g l i c h k e i t , so fem er als Bedingung der durchgängigen Bestimmung eines jeden Dinges zum Grunde liegt, in Ansehung der Prädikate, die denselben ausmachen mögen, selbst noch unbestimmt ist, und wir dadurch nichts weiter als einen Inbegriff aller möglichen Prädikate überhaupt denken, so finden wir doch bei näherer Untersuchung, daß diese Idee, als Urbegriff, eine Menge von Prädikaten ausstoße, die als abgeleitet durch andere schon gegeben sind, oder nebeneinander nicht stehen können, und daß sie sich bis zu einem durchgängig a priori bestimmten Begriff läutere, und da-
aber nicht der Begriff der durchgängigen Bestimmung; denn diese kann ich nicht erkennen, und es gehört dazu die Allwissenheit. Die Existenz muß also nicht vom Begriff der durchgängigen Bestimmung abhängen, sondern umgekehrt." (Pölitz-Vorl., S. 40, AA XXVIII, S. 554) 302 Vgl. A598/B626.
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durch der Begriff von einem einzelnen Gegenstande werde, der durch die bloße Idee durchgängig bestimmt ist, mithin ein I d e a l der reinen Vernunft genannt werden muß." (A573/B601 f.) Zunächst ist hier die involvierte Selbstbezüglichkeit interessant: Erst wurde der Inbegriff aller Möglichkeit von der Vernunft vorausgesetzt, um durchgängige Bestimmung von Gegenständen überhaupt denkbar erscheinen zu lassen, und nun soll diese Idee, „als U r b e g r i f f ' verstanden, zu einem Begriff von einem einzelnen Gegenstand werden, „der durch die bloße Idee durchgängig bestimmt" wird. Gewöhnlich bestimmen wir Begriffe von Individuen dadurch, dass wir allgemeine Begriffe bemühen. So ist z.B. die Zahl Zwei u.a. als „die kleinste Primzahl" eindeutig bestimmt. Sie ist dies unter anderem, weil die Zahl Zwei weitere Eigenschaften (z.B.: „Nachfolger der Eins") besitzt, von denen hier keine Rede ist. Es handelt sich hier also nicht um eine „durchgängige" Bestimmung der Zahl Zwei. Hingegen gilt: Das Ideal der reinen Vernunft ist durch sich selbst durchgängig bestimmt Der Mangel der begrifflichen Unscharfe soll durch den Läuterungsprozess hin zu einem durch sich selbst durchgängig bestimmten „Begriff von einem einzelnen Gegenstande" (A574/B602) Uberwunden werden. Dass dazu die gedankliche Vereinigung in ein einzelnes ens realissimum nötig ist, ist jedoch aus kantischer Perspektive gerade nicht einzusehen, da Kant im Zusammenhang seiner Kritik am physikotheologischen Gottesbeweis explizit macht: „Nur das All (omnitudo) der Realität ist im Begriffe durchgängig bestimmt" (A628/B656). Weil diese Idee gerade nicht identisch mit der des ens realissimum ist und nur die Idee der omnitudo realitatis „im Begriffe durchgängig bestimmt" ist, kann eben dies nicht auch der Begriff des ens realissimum sein. Da die Idee der omnitudo realitatis alle Möglichkeiten begrifflich in sich enthält, kann sie nicht durch von ihr selbst verschiedene, allgemeine Begriffe bestimmt werden, wie dies etwa beim Begriff der Zahl Zwei der Fall ist („kleinste Primzahl"). Und weil die Idee der omnitudo realitatis die Bedingung der durchgängigen Bestimmtheit durch sich selbst Kant zufolge bereits erfüllt, ist die Notwendigkeit der Läuterung zum Begriff von einem einzelnen Wesen aus der Struktur der Idee der omnitudo realitatis nicht einzusehen. Wir finden also bestätigt, dass der „transzendentale Schein" als Grund für die Hypostase des Ideals nicht in der begrifflichen Struktur dieser Idee selbst liegt. „Läuterung" und Hypostasierung des Inbegriffs aller Realität sind innerhalb der kantischen Rekonstruktion der rationaltheologischen Illusionen insofern aufs engste miteinander verbunden, als erst der geläuterte Begriff ein Begriff von ei-
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Dies bestätigt auch A576/B604, wo es heißt: „Es ist aber auch das einzige eigentliche Ideal, dessen die menschliche Vernunft fähig ist; weil nur in diesem Falle ein an sich allgemeiner Begriff von einem Dinge durch sich selbst durchgängig bestimmt, und als die Vorstellung von einem Individuum erkannt wird."
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nem einzelnen Wesen sein wird. Der Läuterungsprozess ist nur mit Blick auf die Ziele der Rationaltheologen und nicht mehr allein aus einer sich notwendigerweise vollziehenden Vernunftdynamik zu verstehen. Zwei Aussonderungskriterien hält Kant nach obigem Zitat bereit, um aus der Menge aller möglichen Prädikate jene auszusondern, die nicht auf den Gegenstand des Ideals zutreffen sollen: Erstens soll es sich nicht um „abgeleitete" Prädikate handeln, und zweitens soll die verbliebene Menge keine Prädikate enthalten, die „neben einander nicht stehen können". Nach dem ersten Aussonderungskriterium für die „Läuterung" des Idealbegriffs sollen alle Prädikate im negativen Sinne ausgesondert, d.h. aus der Menge aller möglichen Prädikate „ausgestoßen" werden, „die abgeleitet durch andere schon gegeben sind". Kant bezieht sich damit auf die Beschränkung auf „reale" Prädikate, die „ein Sein ausdrücken" (vgl. A574/B602) und nicht bloß einen Mangel. Prädikate, die einen bestimmten Mangel ausdrücken, erhalten ihre Bedeutung für Kant allein dadurch, dass mit ihnen eine bestimmte Realität verneint wird. 304 In diesem Sinne sind sie aus den korrespondierenden realen Prädikaten „abgeleitet". Das zweite Aussonderungskriterium, nach welchem diejenigen Prädikate ausgestoßen werden sollen, die nicht nebeneinander stehen können, geht über die (logische) Forderung nach Widerspruchsfreiheit der Prädikatsmenge hinaus und bezieht sich auf zu vermeidenden „realen Widerstreit" (A273/B329). Der Anhang zur transzendentalen Logik, die „Amphibolie der Reflexionsbegriffe", wendet sich insbesondere gegen die Leibnizsche Gleichsetzung von logischer und realer Möglichkeit, und dort finden sich Kants einschlägige Ausführungen über den „realen Widerstreit". „Der Grundsatz: daß Realitäten (als bloße Bejahungen) einander niemals logisch widerstreiten" wird dort der Leibnizschen Tradition mit dem Hinweis darauf zugestanden, dass man deshalb noch nicht sagen könne, „daß darum alle Realität unter einander in Einstimmung sei, weil unter ihren Begriffen kein Widerstreit angetroffen wird" (A282/B338). Alle Realität ist zumindest nicht in der Weise in ,J3instimmung", als dass sie „ohne irgend einen besorglichen Widerstreit in einem Wesen zu vereinigen" (A273/B329) wäre. Kant gibt das Beispiel von in der Natur wirkenden, sich einander aufhebenden Kräften (vgl. A265/B321). Egal, ob nun zwei sich widersprechende Prädikate in einem Subjekt vereint gedacht werden oder zwei sich widerstreitende Realitäten - das Resultat ist in beiden Fällen ein Nichts: im ersten Falle ein sich selbst widersprechender Begriff (nihil negativum), im zweiten Fall ein Begriff von einem faktischen, realen Nichts (nihil privativum).305 Kant weist also auf die Möglichkeit hin, dass die 304
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Vgl. dazu A575/B603: „Nun kann sich niemand eine Verneinung bestimmt denken, ohne dass er die entgegen gesetzte Bejahung zum Grunde liegen habe." (Hervorhebung von N.K.) Eine Tafel des Begriffs vom Nichts stellt Kant in der „Amphibolie der Reflexionsbegriffe", dem Anhang zur transzendentalen Analytik, vor. Dieser sind die Termini nihil negativum und nihil priva-
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gedankliche Vereinigung aller realen Prädikate nicht zwangsläufig in den Begriff eines allerrealsten Wesens mündet, sondern ebenso ein qualitatives Nichts zum Resultat haben könne. Neben der Tatsache, dass Kant keinen Anlass dafür sieht, dass die Vernunft notwendigerweise den Begriff eines Wesens hervorbringt, in dem alle Realität vereint ist, ist dieser Angriff auf den Begriff eines Wesens, in dem alle realen Möglichkeiten, d.h. insbesondere auch einander widerstreitende, vereinigt sind, bezüglich des Resultats dieser Vereinigung also skeptisch. Wenn „das Reale in der Erscheinung (realitas phaenomenon) untereinander [...] im Widerstreit sein" (ebd.) kann, lässt sich die Frage stellen, welche Prädikate noch in der ursprünglich angesetzten Menge aller realen Prädikate verbleiben, wenn das zweite Aussonderungskriterium zur Anwendung kommt. Nach dieser Forderung sind nämlich all diejenigen Prädikate auszuschließen, für die gilt, dass es innerhalb der Menge aller realen Prädikate ein ihnen real-widerstreitendes Prädikat gibt. Während wir davon ausgehen, dass Kant das gesamte rationaltheologische Programm der Vereinigung aller phänomenalen Realität im Begriff eines einzelnen Wesens verwirft, zieht Heinz Heimsoeth aus den realen Widerstreiten der phänomenalen Welt die Konsequenz, ,,Gott" müsse im Geiste des transzendentalen Idealismus Kants noumenal gedacht werden. 3 0 6 Die dem ersten Kriterium gemäße Forderung nach realen, ,,nicht abgeleiteten" Prädikaten, die den Begriff des Ideals konstituieren sollen, findet ihr Pendant in der Vorstellung vom Gegenstand des Ideals, dass dieser nicht „aus viel abgeleiteten Wesen bestehe" (A579/B607). Wir wollen betonen, dass Kant sich hier lediglich zum Zwecke der gedanklichen Rekonstruktion innerhalb der Leibnizschen Tradition bewegt, nach der die logische Ordnung unter den Begriffen mit der kausalen Ordnung unter den Dingen verbunden ist: Nichts geschieht einem Ding danach ohne zureichenden Grund, und dieser Grund liegt letztlich in einem Begriff, aus dem der Begriff jenes Dings abgeleitet werden kann. Der zunächst als Inbegriff aller Realität entwickelte Idealbegriff genügt nicht den Ansprüchen nach Vollkommenheit (des ens realissimum) und Ursprünglichkeit. Das Verhältnis zwischen dem Gegenstand des Ideals und den existenten Dingen wurde in erster
tivum als Varianten des modalen Nichts und des qualitativen Nichts entlehnt. Bereits in der vorkritischen Schrift „Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen" erwägt Kant explizit die Möglichkeit, dass „die Summe aller existierenden Realität, in so fern sie in der Welt gegründet ist, für sich selbst betrachtet dem Zero = 0 gleich" sein könnte (AA II, S. 197). Wolfgang Cramer [1967] gibt eine für seine Verhältnisse ungewohnt saloppe, jedoch treffliche Paraphrase: „Sind unter den Realitäten der omnitudo realitatis konträre Gegensätze, dann löst sich das ens realissimum in Dunst auf." (ebd. S. 148). 30