Kann die Einübung in Normanerkennung die Strafrechtsdogmatik leiten?: Eine Kritik des strafrechtlichen Funktionalismus [1 ed.] 9783428514946, 9783428114948

Die Strafrechtswissenschaft hat unterhalb der dogmatischen Einzelfragen eine Tiefenschicht, in der sie sich an die in ei

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German Pages 381 Year 2004

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Kann die Einübung in Normanerkennung die Strafrechtsdogmatik leiten?: Eine Kritik des strafrechtlichen Funktionalismus [1 ed.]
 9783428514946, 9783428114948

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Schriften zum Strafrecht Heft 162

Kann die Einübung in Normanerkennung die Strafrechtsdogmatik leiten? Eine Kritik des strafrechtlichen Funktionalismus

Von

Hendrik Schneider

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

HENDRIK SCHNEIDER

Kann die Einübung in Normanerkennung die Strafrechtsdogmatik leiten?

Schriften zum Strafrecht Heft 162

Kann die Einübung in Normanerkennung die Strafrechtsdogmatik leiten? Eine Kritik des strafrechtlichen Funktionalismus

Von

Hendrik Schneider

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz hat diese Arbeit im Jahre 2003 als Habilitationsschrift angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 3-428-11494-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2003 vom Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften als Habilitationsschrift angenommen. Sie zeigt den Einfluss von drei Mainzer Strafrechtslehrern, die meine Arbeit aus unterschiedlichen Blickwinkeln angeregt haben. Prof. Dr. Justus Krümpelmann wies mich zunächst auf den Schlagabtausch zwischen Roxin [ZStW 74 (1962), 515 ff.] und Welzel [Vom Bleibenden, in: ders. (Hrsg.): Abhandlungen 1975, S. 345 ff.] hin und weckte damit mein Interesse für die Diskussion um den „Funktionalismus“ in der Strafrechtswissenschaft. Der Kenner der Materie wird den rechtssoziologischen Grundansatz der Arbeit in einem Aufsatz meines akademischen Lehrers Prof. Dr. Dr. Michael Bock [ZStW 103 (1991), 636 ff.] vorgezeichnet sehen. Die Ausarbeitung der Arbeit im Einzelnen wurde während der gesamten Schaffensphase zudem von Prof. Dr. Michael Hettinger begleitet. Seine Strafrechtsdogmatik hat nicht nur die Habilitationsschrift, sondern auch mein heutiges Verständnis des Strafrechts wesentlich geprägt. Wissenschaftliches Arbeiten ist aber nur dann möglich, wenn auch die Begleitumstände hierzu förderlich sind. Denn die besten Einfälle kommen nicht während des Nachdenkens und Suchens am Schreitisch, sondern, wie Max Weber sich ausdrückt, „auf dem Kanapee“ bzw. bei einem „Spaziergang auf langsam steigender Straße“ oder, in meinem Fall, bei einer Radfahrt durch das Wispertal oder einem Lauf zu Rheinkilometer 512 und dem anschließenden Gespräch. Neben meinen Kollegen am Lehrstuhl Professor Bock, meinen Eltern und Freunden gilt insoweit mein besonderer Dank meiner Ehefrau Constanze Schneider. Wer das Entstehen der Habilitationsschrift biographisch rekonstruiert, wird feststellen, dass ich erst nachdem ich sie kennen gelernt hatte, die Kraft gefunden habe, meine Überlegungen zu Papier zu bringen und die Arbeit schließlich auch zu vollenden. Schließlich danke ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft für den gewährten Druckkostenzuschuss und Herrn Dennis Herzog, der das Manuskript während meiner Leipziger Vertretungszeit nach den anspruchsvollen Verlagsrichtlinien formatiert hat. Rauenthal, im Juni 2004

Hendrik Schneider

Inhaltsverzeichnis Einführung

13

Aufgabenstellungen, Zielsetzungen und Grenzen der vorliegenden Arbeit . . . .

13

II. Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16

I.

Kapitel 1 Strafrechtsgeschichtliche Einordnung des Funktionalismus

18

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

II. Gemeinsame Zielsetzung und Frontstellung des Funktionalismus . . . . . . . . . . . .

20

I.

III. Strafrechtsgeschichtlicher Bezugsrahmen für eine erste Einordnung des Funktionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Strafrechtssystematik zwischen Naturalismus und Neukantianismus . . . . . . 2. Neuorientierung des Strafrechts in den 50er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vergessener gemeinsamer kulturwissenschaftlicher Ausgangspunkt von Neukantianismus und Finalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Anknüpfungspunkte des Funktionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Tragfähigkeit bisheriger Klassifikationsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22 22 25 26 33 34

Kapitel 2 Rechtssoziologische Einordnung des Funktionalismus

40

Die funktionale Methode der Rechtssoziologie und -anthropologie . . . . . . . . . . 1. Funktionalismus bei Emile Durkheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Funktionalismus in der Rechtsethnologie und -anthropologie . . . . . . . . . . . . 3. Funktionalismus in der Rechtssoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Funktionalismus bei Talcott Parsons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Funktionalismus bei Niklas Luhmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40 40 42 44 45 47

II. Helmut Schelskys Begriff der Systemfunktionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

III. Konsequenzen für die Einordnung des Funktionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Systemfunktionale oder personfunktionale Strafrechtsdogmatik . . . . . . . . . . 2. Die Hörfallenproblematik als strafprozessrechtliches Beispiel für die hier getroffene Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55 55

I.

60

8

Inhaltsverzeichnis a) Die Position der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Argumentation der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ausblick auf weitere Problemstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61 63 67

Kapitel 3 Funktionalismus bei Günther Jakobs

70

Straftheoretische Grundannahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Bedeutung von strafrechtlichen Normen und die Aufgabe des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Funktion der Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur Kontinuität im straftheoretischen Denken Jakobs’ . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70 70 73 79

II. Kritik aus personfunktionaler Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

84

III. Strafrechtsdogmatische Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Handlungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Strafrechtsgeschichtlicher Bezugsrahmen für den von Jakobs vertretenen Handlungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Auflösung des Handlungsbegriffs zu einem allgemeinen Begriff des tatbestandsmäßigen Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Weitergehende Abstraktion zu einem allgemeinen Verbrechensbegriff . d) Kritik aus personfunktionaler Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorsatz und Fahrlässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Differenzierung der subjektiven Deliktsseite nach dem Angriff auf die Normgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Zerreißprobe: Jakobs’ Abgrenzung von dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kritik aus personfunktionaler Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundlagen des von Jakobs vertretenen Schuldbegriffs . . . . . . . . . . . . . . b) Schuld als Zuschreibung von Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die systemfunktionale Theorie zur Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums 4. Rücktritt vom Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Versuchsinterne Begründung der Rücktrittsregelungen . . . . . . . . . . . . . . . b) Konsequenzen für den Rücktritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Abgrenzung zwischen unbeendetem und beendetem Versuch bb) Rücktritt vom beendeten Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Rücktritt vom unbeendeten Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kritik aus personfunktionaler Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93 93

I.

93 99 101 107 108 108 111 118 121 121 122 123 128 128 132 132 134 136 139

IV. Zusammenfassung und Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

Inhaltsverzeichnis

9

Kapitel 4 Funktionalismus bei Wolfgang Frisch und Georg Freund

147

Straf- und normtheoretische Grundannahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Normtheoretische Unterscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Problem der Genese der Verhaltensnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Abgrenzung der Verhaltensnormen von den Sanktionsnormen . . . . . 2. Straftheoretische Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Funktion der Verhaltensnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Funktion der Sanktionsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Funktion des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kritik aus personfunktionaler Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

147 148 150 157 161 161 164 169 171

II. Strafrechtsdogmatische Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Vorsatzbegriff Frischs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Ratio der Vorsatzbestrafung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Konsequenzen für den Vorsatzbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Fallgruppenspezifische Abgrenzung von Vorsatz und (bewusster) Fahrlässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Zur Vorsatzproblematik in den Aids-Fällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die von der Mitbewusstseinslehre erfassten Problemsachverhalte d) Kritik aus personfunktionaler Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs . . . . . . . . . . . . . a) Kritik an der Ausweitung der Lehre von der objektiven Erfolgszurechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Frischs eigener Lösungsansatz: systemfunktionale Differenzierung zwischen Handlungs- und Erfolgsunwert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Eigentliche und uneigentliche Probleme der Erfolgszurechnung – Beispielhafte Verdeutlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Fallgruppe der bewussten Selbstschädigung des Opfers . . . . . . bb) Die Fallgruppe abweichender Kausalverläufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Kritik aus personfunktionaler Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Versuchsunrecht und Rücktritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der argumentative Ausgangspunkt der Frisch-Schule . . . . . . . . . . . . . . . . b) Konsequenzen für den Rücktritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Abgrenzung zwischen unbeendetem und beendetem Versuch bb) Rücktritt vom beendeten Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Rücktritt vom unbeendeten Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kritik aus personfunktionaler Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

176 177 177 180

I.

185 185 188 194 195 196 200 203 204 207 211 214 217 217 220 220 222 225 226

III. Zusammenfassung und Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227

10

Inhaltsverzeichnis Kapitel 5 Funktionalismus der „Münchener Schule“ um Claus Roxin

229

Grundlagen des zweckrationalen (funktionalen) Strafrechtssystems . . . . . . . . . . 1. Kriminalpolitische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Aufgabe des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Strafrecht als Rechtsgüterschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Strafrecht als ultima-ratio der Kriminalpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Zweck der Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kritik am Vergeltungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) General- und Spezialprävention als Legitimationsgrundlagen der Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die limitierende Funktion der Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Abgrenzung von der Schuldlehre Jakobs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Methodologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einzelne Elemente des teleologisch-kriminalpolitischen Systems . . . . . . . . . 4. Kritik aus personfunktionaler Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

229 230 230 233 235 236 236

II. Strafrechtsdogmatische Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Handlungsbegriff und Zurechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Handlungsbegriff als das Produkt kulturwissenschaftlicher Begriffsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kritik aus personfunktionaler Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Objektive Zurechnung und Risikoerhöhung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Entwicklung der Lehre von der objektiven Zurechung . . . . . . . bb) Systemfunktionale Interpretation der Lehre von der objektiven Zurechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zur Notwendigkeit eines zusätzlichen Zurechnungskorrektivs . . . . . 2. Vorsatz und Abgrenzung zur Fahrlässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Ratio der Vorsatzstrafe und der Begriff des Vorsatzes . . . . . . . . . . . . aa) Die Position von Claus Roxin und Hans-Joachim Rudolphi . . . . . . . bb) Der neuere typologische Vorsatzbegriff Bernd Schünemanns . . . . . b) Einzelne Anwendungsbeispiele der Vorsatzdogmatik der Münchener Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der nicht Stellung nehmende (gleichgültige) Täter . . . . . . . . . . . . . . bb) Zur Vorsatzproblematik in den AIDS-Fällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kritik aus personfunktionaler Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Differenzierung zwischen Schuld und Verantwortlichkeit . . . . . . . . . b) Die Voraussetzungen der Schuldfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Kategorie der Verantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Versuchsunrecht und Rücktritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Ratio der Rücktrittsregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

261 261

I.

237 240 248 251 255 258

261 268 270 270 274 278 283 283 283 287 289 289 291 292 294 294 296 297 302 302

Inhaltsverzeichnis b) Konsequenzen für den Rücktritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Abgrenzung zwischen fehlgeschlagenem, unbeendetem und beendetem Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Rücktritt vom beendeten Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Rücktritt vom unbeendeten Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 304 304 307 308

III. Zusammenfassung und Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 Kapitel 6 Die rechtssoziologische Plausibilität des systemfunktionalen Ansatzes I.

312

Präzisierung der verbleibenden Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312

II. Die Weiterentwicklung der funktionalen Analyse durch Robert King Merton 315 1. Die Beschränkung der bisherigen Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 2. Das von Merton entwickelte Paradigma einer funktionalen Analyse . . . . . . 320 III. Konsequenzen für die Funktionsbestimmung der Strafrechtsdogmatik – Erörterung der Ausgangshypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 1. Die manifeste Funktion der Strafrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 2. Die latente Funktion der Strafrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 IV. Konsequenzen der Umwandlung latenter in manifeste Funktionen . . . . . . . . . . . 335 1. Die Gefahr unbemerkter Sinnverschiebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 2. Die Differenzierung Niklas Luhmanns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379

Einführung I. Aufgabenstellungen, Zielsetzungen und Grenzen der vorliegenden Arbeit Der Begriff „Funktionalismus“ hat seit den 70er Jahren in der deutschen Strafrechtswissenschaft eine beachtliche Verbreitung gefunden. Der Sprachgebrauch ist dabei alles andere als einheitlich. Für die als „funktional“ bezeichneten Ansätze existieren zahlreiche Synonyme. So ist etwa von einer „normativierenden Strafrechtsdogmatik“, von einer „zweckrationalen“ oder „teleologischen“ Vorgehensweise die Rede. Außerdem wird das Adjektiv „funktional“ zur Kennzeichnung unterschiedlichster Problembereiche bzw. Substantive verwendet. Als „funktional“ werden zunächst einzelne Rechtsbegriffe charakterisiert. Im materiellen Strafrecht wird zum Beispiel ein „funktionaler Schuldbegriff“, im Strafprozessrecht ein „funktionaler Vernehmungsbegriff“ diskutiert. „Funktional“ bezeichnet weiterhin eine bestimmte Auslegungsmethode (zum Beispiel die funktionale Auslegung des Vorsatzbegriffes). Andererseits bezieht sich der Begriff umfassend auf eine neue und als progressiv eingestufte Epoche des strafrechtlichen Systemdenkens. Die mit der Mehrdeutigkeit des Begriffs „funktional“ verbundenen Unsicherheiten spiegeln sich in inhaltlichen Unklarheiten wider. Schon bei einer kursorischen Lektüre der Schriften einzelner Autoren, die sich zum Funktionalismus bekennen, wird deutlich, dass „der Funktionalismus“ als einheitliches Konzept einer bestimmten Schule oder Lehrmeinung in der Strafrechtswissenschaft nicht vorkommt. Aus diesem Befund ergibt sich eine erste Aufgabe, die in der vorliegenden Schrift bearbeitet werden soll. Es geht darum, die unter dem Oberbegriff des „Funktionalismus“ in der Strafrechtswissenschaft auftretenden Ansätze zu systematisieren und die Spezifika der funktionalen Argumentation sichtbar zu machen. Das begriffliche Instrumentarium, mit dem diese Zielsetzung verwirklicht werden soll, ist der Rechtssoziologie Helmut Schelskys entnommen (siehe dazu im Einzelnen Kapitel 2, II.). In Anlehnung an Schelskys Differenzierung zwischen einem systemfunktionalen, einem anthropologischen und einem personfunktionalen Ansatz der Rechtssoziologie werden in dieser Arbeit nur diejenigen strafrechtsdogmatischen Ansätze als „funktional“ bezeichnet, die eine systemfunktionale Inhaltsbestimmung bestimmter Rechtsbegriffe vornehmen. Mit dem Begriff „systemfunktional“ kennzeichnet Schelsky die Leistungen, die das Recht für die Stabilisierung des gesellschaftlichen Systems als Ganzes erbringen kann. Demnach bedeutet eine strafrechtsdogmatisch funktio-

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Einführung

nale Inhaltsbestimmung und Auslegung einzelner Rechtsbegriffe oder Systemkategorien, diese vorrangig an bestimmten Bedürfnissen des Systems, das heißt der Gesellschaft zu orientieren. Das idealtypische Gegenstück zu der systemfunktionalen Begriffsbildung besteht in einer personfunktionalen Auslegung und Zweckbestimmung der Rechtsbegriffe und Systemkategorien. Unter dem spezifischen Blickwinkel des Strafrechts und unter Berücksichtigung der von Schelsky entwickelten Kriterien gilt als das Leitmotiv dieser Vorgehensweise die Orientierung der strafrechtlichen Begriffsbildung an der Person und dem Ausmaß ihrer Verantwortlichkeit für die begangene Tat. Hierdurch und durch die Berücksichtigung bestimmter grundrechtsschützender Prinzipien aus der rechtsstaatlichen Tradition, wie zum Beispiel dem „Bestimmtheitsgrundsatz“ oder dem „Subsidiaritätsprinzip“, verwirklicht der personfunktionale Ansatz insbesondere auch den von Schelsky für das personfunktionale Paradigma hervorgehobenen Schutz der Autonomie der Person vor dem Zugriff des Staates in Gestalt der Kriminalstrafe. Diese Dichotomie der Funktionalismen verweist bereits auf die grundsätzliche Gefahr, dass sich die Bevorzugung des einen oder anderen funktionalen Ansatzes zulasten des jeweils anderen auswirkt. Eine systemfunktionale Strafrechtsdogmatik kann nämlich den Preis der weitgehenden Schutzlosigkeit des Individuums vor dem staatlichen Zugriff haben und sich zum Nachteil des unter Tatverdacht geratenen Bürgers auswirken. Denn die Bedürfnisse des Systems erfordern unter Umständen auch dann eine strafrechtliche Haftung des einzelnen, wenn dieser sich vor sich selbst überhaupt nicht im Unrecht weiß oder etwa den Eintritt eines strafrechtlich relevanten Erfolges möglicherweise gar nicht vermeiden konnte. Sofern sich unter den als funktional firmierenden Lehren tatsächlich systemfunktionale Argumentationsansätze identifizieren lassen, wird damit gleichzeitig deutlich, dass der (System-)Funktionalismus nicht – wie teilweise behauptet wird – eine typische „Überfeinerung der Strafrechtsdogmatik“ im Sinne einer abstrakten l’art pour l’ art darstellt, sondern dass sich vielmehr handfeste Konsequenzen in der Auslegung grundlegender Rechtsbegriffe ergeben, die im Sinne einer weitgehenden Umgestaltung der Strafrechtswissenschaft erhebliche praktische Auswirkungen nach sich ziehen können. Diese aufzuzeigen und damit die aktuelle Brisanz des systemfunktionalen Ansatzes zu verdeutlichen, ist die zweite Aufgabe, die in dieser Arbeit gelöst werden soll. Die dritte und letzte Aufgabe setzt bei der Zielvorstellung des strafrechtlichen Systemfunktionalismus an. Wenn die Auslegung der Rechtsbegriffe mit Blick auf eine Stabilisierung des gesellschaftlichen Systems erfolgen soll, so ist hiermit eine bestimmte Aussage über die soziale Wirklichkeit verbunden, die empirisch oder zumindest im Hinblick auf die theoretische Kongruenz mit den Annahmen der eigenen Bezugswissenschaft überprüft werden kann. Die Fragestellung, auf welche Weise das Recht in der Lage ist, das gesellschaftliche System zu festigen und welche Aufgabe dem Recht abgesehen von der Entschei-

I. Aufgabenstellungen, Zielsetzungen und Grenzen

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dung konkreter Streitfälle in der modernen arbeitsteiligen Gesellschaft zukommt, ist Gegenstand der systemtheoretischen Rechtssoziologie. Die vorliegende Arbeit hat daher das Ziel, im Wege einer summarischen Rekonstruktion dieser sozialwissenschaftlichen Grundlagen des Funktionalismus festzustellen, ob die beschriebenen gesellschaftsstabilisierenden Wirkungen überhaupt eine systemfunktionale Auslegung der Rechtsbegriffe voraussetzen oder ob nicht eine solche Auslegung sogar kontraproduktive Effekte haben kann. Bei dieser Analyse steht insbesondere eine Differenzierung des Funktionsbegriffes nach manifesten und latenten Funktionen im Vordergrund (siehe dazu im Einzelnen Kapitel 6, III.). Die systemfunktionalen Ansätze in der Rechtswissenschaft werden mit der Hypothese konfrontiert, dass die gesellschaftsstabilisierende Wirkung des Strafrechts im Sinne einer latenten Funktion dann besonders ausgeprägt ist, wenn die manifeste Funktion des Strafrechts und der Tätigkeit der Organe der Strafrechtspflege gerade nicht auf die Gesellschaft, sondern auf den einzelnen Straftäter, seine Tat und sein Unrechtsbewusstsein bezogen ist. Auf der Grundlage dieser Hypothese, der in der vorliegenden Arbeit im Einzelnen nachgegangen werden wird, kehren sich die Vorzeichen der Auseinandersetzung zwischen systemfunktionalen und personfunktionalen Ansätzen in der Strafrechtswissenschaft geradezu um: Die Befriedigung der Bedürfnisse „der Gesellschaft“, zu der das Strafrecht einen Beitrag leisten kann, setzt unter Umständen voraus, dass den Gesellschaftsmitgliedern (das heißt den straffälligen und den nicht straffälligen Bürgern) diese Bedürfnisse und die Mechanismen ihrer Befriedigung gerade verborgen bleiben. Wenn sich diese Hypothese als zutreffend erweist, ist eine systemfunktionale Auslegung der grundlegenden Rechtsbegriffe des Strafrechts nicht nur überflüssig, sondern schädlich und würde dem Anliegen des Funktionalismus zuwider laufen. Diesem wäre dann buchstäblich das eigene theoretische Fundament entzogen, sofern er sich als strafrechtsdogmatische Lehre und nicht lediglich als sozialwissenschaftliche „Theorie“ versteht. Diese Zielsetzung und Schwerpunktsetzung zeigt zugleich auch die Grenzen der vorliegenden Arbeit auf. Die als systemfunktional bezeichneten Ansätze der Strafrechtswissenschaft werden vornehmlich „wissenschaftsintern“ im Hinblick auf die Übereinstimmung mit den eigenen sozialwissenschaftlichen Grundlagen analysiert und es wird der Versuch unternommen, den Systemfunktionalismus bereits auf dieser Ebene zu widerlegen. Unabhängig von den hier thematisierten sozialwissenschaftlichen Grundlagenproblemen bestehen weiterhin erhebliche Zweifel, ob die systemfunktionale Strafrechtsdogmatik überhaupt mit dem Grundgesetz und seiner Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht zu vereinbaren ist. So erscheint es zum Beispiel als fraglich, ob der „systemfunktionale Schuldbegriff“ mit dem Menschenbild des Grundgesetzes übereinstimmt und den vom Bundesverfassungsgericht aus dem Rechtsstaatsprinzip sowie aus Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG abgeleiteten Grundlagen des Schuldprinzips, der

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Einführung

„Idee der Gerechtigkeit“ (BVerfGE 50, 205, 214) und der Verantwortlichkeit der Person (BVerfGE 20, 323, 331) entspricht. Es drängt sich vielmehr der Verdacht auf, dass das systemfunktionale Verständnis der Schuld, insbesondere in Gestalt des Ansatzes von Jakobs (vgl. dazu im Einzelnen Kapitel 3, III. 3.), den Täter zu einem bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung degradiert, womit dem Schuldbegriff eine Bedeutung beigemessen würde, die das Bundesverfassungsgericht explizit als verfassungswidrig einstuft (vgl. BVerfGE 50, 205, 215). Diese hier nur beispielhaft angeführten verfassungsrechtlichen Grundlagen des Strafrechts binden nicht nur den Gesetzgeber. Vielmehr sind sie vor allem auch für die Auslegung des geltenden Rechts verbindlich. Ob der systemfunktionale Ansatz diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben entspricht, wird in der vorliegenden Monographie lediglich am Rande im Rahmen einer „Kritik des Systemfunktionalismus aus personfunktionaler Sicht“ [vgl. z. B. Kapitel 3, III. 1. d), 2. c), 4. c); Kapitel 4, I. 2. c); II. 1. d), 2. d), 4. c); Kapitel 5, I. 4., II. 1. b), 2. b) cc)] angesprochen. Eine differenziertere Analyse der verfassungsrechtlichen Problematik würde den Rahmen der Arbeit sprengen und bedarf daher einer gesonderten Ausarbeitung.

II. Gliederung Aus den geschilderten Aufgabenstellungen und Zielsetzungen ergibt sich folgende Gliederung: Im ersten Teil (Kapitel 1 und 2) wird zunächst geklärt, welche Autoren der deutschen Strafrechtswissenschaft nach dem eigenen Selbstverständnis einen funktionalen Ansatz vertreten. Überblicksartig werden erste Gemeinsamkeiten dieser Ansätze sowie ihre rechtshistorische Entwicklung herausgearbeitet. Diese Analysen bilden die Grundlage für die Überprüfung der Tragfähigkeit der bisher in der strafrechtswissenschaftlichen Literatur erarbeiteten Klassifikationsversuche des Funktionalismus, die sich im Ergebnis als inhaltlich wenig aussagekräftig erweisen werden (Kapitel 1). In Kapitel 2 wird der in dieser Arbeit zugrundegelegte Definitionsansatz des Funktionalismus eingeführt, der die von Schelsky übernommene Differenzierung zwischen personfunktionaler und systemfunktionaler Strafrechtsdogmatik zum Gegenstand hat. Ausgangspunkt ist eine rechtssoziologische und rechtsanthropologische Rekonstruktion des Funktionsbegriffes, anhand derer sich die Spezifika des systemfunktionalen Ansatzes und die Gemeinsamkeiten zwischen rechtssoziologischer und rechtsdogmatischer Betrachtung herausstellen lassen, die auch das Etikett „systemfunktional“ rechtfertigen. Im 2. Teil (Kapitel 3, 4 und 5), der gleichzeitig den Hauptteil der Arbeit bildet, werden die einzelnen dem (System-)Funktionalismus zuzuordnenden Ansätze in der Strafrechtswissenschaft dargestellt und analysiert. Die Auswahl der Autoren und Autorengruppen ist an deren eigener Schwerpunktsetzung orien-

II. Gliederung

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tiert. Im Vordergrund des Interesses stehen Strafrechtslehrer, die sich selbst als Wegbereiter des Funktionalismus verstehen, entsprechende Schulen gebildet und Dissertationen bzw. Habilitationen betreut haben, in denen Detailaspekte funktionaler Strafrechtsdogmatik bearbeitet werden. Um die einzelnen Schulen und Meinungen miteinander vergleichen zu können, ist die Darstellung – soweit dies aufgrund der unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen der Autoren möglich ist – auf Symmetrie bedacht. Bei allen untersuchten Lehrmeinungen werden daher die maßgeblichen straftheoretischen Grundlagen analysiert. Danach wird der Blick auf die strafrechtsdogmatischen Problemstellungen von Handlung, Vorsatz mit Abgrenzung zur Fahrlässigkeit sowie auf die Systemkategorie Schuld und den Rücktritt vom Versuch gerichtet, die jeweils getrennt bei jeder Autorengruppe diskutiert werden. Diese Analysen sind erforderlich, um zu kennzeichnen, inwieweit die Autoren tatsächlich einen systemfunktionalen Ansatz vertreten und welche Konsequenzen sich aus den einzelnen Meinungen für die personfunktionale Schutzfunktion des Strafrechts ergeben. Die genannten dogmatischen Problemfelder sind für das hier verfolgte Anliegen deshalb besonders geeignet, weil der Gesetzgeber die Konkretisierung der Inhalte dieser Grundlagenbegriffe des Allgemeinen Teils im Wesentlichen der Wissenschaft und der Judikatur überlassen hat und diese insofern Einbruchstellen für eine systemfunktionale Argumentation bilden. Im dritten und letzten Teil der Arbeit (Kapitel 6) erfolgt die Rekonstruktion der dem Systemfunktionalismus zugrunde liegenden rechtssoziologischen Annahmen. Dabei geht es nicht um eine vollständige Analyse der systemtheoretischen Rechtssoziologie, die ebenfalls in heterogene Schulen zerfallen ist und höchst unterschiedliche Schwerpunkte setzt. Die Darstellung konzentriert sich vielmehr allein auf den Aspekt der Stabilisierung der Gesellschaft durch das (Straf)Recht, der für den systemfunktionalen Ansatz und die systemfunktionale Strafrechtsdogmatik leitend ist. Die Arbeit schließt mit der schon oben angedeuteten Konfrontation des Funktionalismus mit der systemtheoretischen Gegenhypothese, dass die vom Funktionalismus in den Vordergrund gerückten Aufgaben des Strafrechts gerade nicht mit einer systemfunktionalen, sondern ausschließlich mit einer personfunktionalen Strafrechtsdogmatik bewältigt werden können.

Kapitel 1

Strafrechtsgeschichtliche Einordnung des Funktionalismus I. Einleitung In den letzten drei Jahrzehnten sind in der Strafrechtswissenschaft die Fragen der strafrechtlichen Methodenlehre und des Systemdenkens erneut in das Problembewusstsein gerückt.1 Im Zentrum der Diskussion stehen dabei vor allem die Grundkategorien und -begriffe des Allgemeinen Teils, d. h. insbesondere die Begriffe Handlung, Unterlassung, Zurechnung, Täterschaft, Teilnahme, Vorsatz, Fahrlässigkeit sowie die Systemkategorien Rechtswidrigkeit und Schuld. Nach einer im Vordringen begriffenen Auffassung, die ihre methodologische Position bzw. die hieraus resultierende Strafrechtsdogmatik als Funktionalismus bezeichnet, sollen diese Begriffe „funktional“ ausgelegt werden. Obwohl dieses Etikett, das die im Einzelnen heterogenen Ansätze eint, alles andere als eindeutig ist, hat es in der heutigen Strafrechtswissenschaft eine beachtliche Verbreitung gefunden und wird von den Autoren als Leitbegriff teilweise als Streitschriften verstandener Aufsätze, Vorträge, Abhandlungen und Lehrbuchkonzeptionen verwendet. Besonders deutlich wird diese Neuorientierung des Strafrechts unter dem Leitbegriff „Funktionalismus“ bei dem Bonner Strafrechtslehrer Günther Jakobs, der den intendierten Perspektivenwechsel bereits im Vorwort seines Lehrbuchs „Strafrecht Allgemeiner Teil“ andeutet: „Die ontologisierende Strafrechtsdogmatik zerbricht, und zwar gründlicher, als sie überhaupt je bewusst etabliert worden ist. Nicht nur die Begriffe Schuld und Handlung (und viele weitere auf geringerem Abstraktionsniveau), denen die Strafrechtsdogmatik immerhin ausdrücklich ein Wesen oder – verwaschener – eine (sachlogische, vorrechtliche) Struktur zuerkannt hat, werden zu Begriffen, von denen sich ohne Blick auf die Aufgabe des Strafrechts schlechthin nichts sagen lässt, sondern selbst der Begriff des Subjekts, dem zugerechnet wird, erweist sich als ein funktionaler Begriff.“2, 3

1 Zu den früheren Epochen und historischen Entwicklungsstufen der Verbrechenssystematik, vgl. Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 150 (§ 7, Rn. 12–23); Schünemann, B. in: ders. (Hrsg.): Grundfragen 1984, S. 1 ff. 2 Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, S. VII. 3 Die Zitate sind zur Vereinfachung durchgängig an die neue Rechtschreibung angepasst.

I. Einleitung

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Neben Jakobs, der die Grundlinien seiner funktionalen Schuldlehre im Jahre 1976 entwickelt4 und den funktionalen Ansatz seitdem in Aufsätzen und Monographien auf weitere Bereiche der Dogmatik des Allgemeinen Teils, z. B. auf die Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit, von Begehungs- und Unterlassungsdelikten sowie auf den Täterbegriff ausgeweitet hat,5 zählen zu den Protagonisten des funktionalen Ansatzes Roxin und seine Schule, die in Anlehnung an Roxins „Kriminalpolitik und Strafrechtssystem“ aus dem Jahre 19706 ein „zweckrationales (funktionales)“ Strafrechtssystem vertreten. Detailaspekte des Roxinschen Systementwurfes haben seine Schüler Wolter,7 Rudolphi8 und Schünemann9 entwickelt, und aus dem Jahre 1995 resultiert der Versuch, den funktionalen Ansatz auch in der Diskussion um ein Europäisches Strafrecht zu etablieren. Funktionalistische Ansätze auf der Linie Roxins vertreten ferner seine portugiesischen und spanischen Anhänger.10 Ihre Beiträge sind in einem Tagungsband unter dem Titel „Coimbra Symposion“ veröffentlicht. Unabhängig von den Schulen Jakobs’ und Roxins befürwortet für die Strafrechtsdogmatik des Allgemeinen Teils auch der Freiburger Strafrechtslehrer Wolfgang Frisch einen funktionalen Ansatz. In seiner Monographie „Vorsatz und Risiko“ aus dem Jahre 1983 entwickelt er die Grundlinien einer funktionalen Vorsatzlehre. In einer breit angelegten Arbeit aus dem Jahre 1988 folgt die Darstellung einer funktionalen Zurechnungslehre. Das Thema Funktionalismus ist ferner aus teilweise zustimmender, teilweise auch kritischer Sicht Gegenstand von Dissertationen11 und Habilitationsschriften12 und wird allgemein in der strafrechtlichen Literatur vergleichsweise breit reflektiert.13 Insgesamt ergibt die Literatur ein fein strukturiertes, kaum noch überschaubares Mosaikbild im 4

Jakobs, G.: Schuld und Prävention 1976. Jakobs, G.: ZStW 101 (1989), S. 516 ff.; ders.: Handlungsbegriff 1992; ders.: Schuldprinzip 1993; ders.: Tun und Unterlassen 1996; ders.: ZStW 107 (1995), 843 ff. 6 Roxin, C.: Kriminalpolitik und Strafrechtssystem 1970 (hier und im Folgenden zitiert nach der 2., um ein Nachwort ergänzten Aufl. 1973). 7 Wolter, J.: Zurechnung 1981; ders. in: Schünemann, B. (Hrsg.): Grundfragen 1984, S. 103 ff. 8 Rudolphi, H.-J. in: Schünemann, B. (Hrsg.): Grundfragen 1984, S. 69 ff. 9 Schünemann, B. in: ders. (Hrsg.): Grundfragen 1984, S. 153 ff. 10 Cortes Rosa, M. in: Schünemann, B./De Figueiredo Dias, J. (Hrsg.): CoimbraSymposium 1995, S. 183 ff.; De Figueiredo Dias, J. in: Schünemann, B./De Figueiredo Dias, J. (Hrsg.): Coimbra-Symposium 1995, S. 357 ff.; Mir Puig, S. in: Schünemann, B./De Figueiredo Dias, J. (Hrsg.): Coimbra-Symposion 1995, S. 35 ff.; De Sousa e Brito, J. in: Schünemann, B./De Figueiredo Dias, J. (Hrsg.): Coimbra-Symposion 1995, S. 71 ff. 11 Z. B.: Altpeter, F.: Strafwürdigkeit 1990; Linde, H. v. d.: Rechtfertigung und Entschuldigung 1988. 12 Z. B.: Lesch, H. H.: Verbrechensbegriff 1999; Küpper, G.: Grenzen 1990. 13 So stand z. B. die Strafrechtslehrertagung 1995 in Rostock unter dem Generalthema: „Das Strafrecht zwischen Funktionalismus und alteuropäischem Prinzipiendenken“; vgl. hierzu den Tagungsbericht von Zieschang, F.: ZStW 107 (1995), 907 ff. 5

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Kap. 1: Strafrechtsgeschichtliche Einordnung des Funktionalismus

Einzelnen höchst unterschiedlicher Auffassungen, so dass es auch innerhalb des aufgezeigten Spektrums zu bisweilen heftigen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen kommt. Da die Autoren den Begriff Funktionalismus und die funktionale Methode nicht definieren, muss eine Arbeit über den Funktionalismus, seine praktischen Auswirkungen, Vorzüge und Nachteile bei einer Standortbestimmung dieser Richtung in der Strafrechtswissenschaft ansetzen. Schon bei einer ersten Lektüre der dem Funktionalismus zuzuordnenden Schriften zeigt sich aber bei allen Unterschieden im Einzelnen eine gemeinsame Zielsetzung und Frontstellung dieses Ansatzes, deren Rekonstruktion eine genaue Einordnung in einen strafrechtsgeschichtlichen Bezugsrahmen ermöglicht. Von hier aus können bisherige Klassifikationsversuche des Funktionalismus überprüft und auf ihre Tragfähigkeit untersucht werden. Die in dieser Schrift vertretene Einordnung des Funktionalismus ergibt sich aus einer rechtssoziologischen Analyse des Funktionsbegriffes und ermöglicht eine erste Charakterisierung des Ansatzes, vor deren Hintergrund sich „echte“ und „unechte“ Vertreter des Funktionalismus sowie „eigentliche“ und „uneigentliche“ funktionalistisch-methodologische Argumente und Begriffe unterscheiden lassen.

II. Gemeinsame Zielsetzung und Frontstellung des Funktionalismus Wie dies besonders deutlich in den Entwürfen Jakobs’ und Roxins zum Ausdruck kommt, ist mit dem Funktionalismus eine weitreichende Zielsetzung verbunden. Die Autoren beabsichtigen nicht nur eine funktionale Auslegung einzelner Rechtsbegriffe, sondern sie verstehen sich als Wegbereiter für eine neue Epoche des strafrechtlichen Systemdenkens. Damit vereint die unterschiedlichen unter dem Etikett „funktional“ oder verwandten Begriffen14 firmierenden Ansätze zunächst ein gemeinsamer Gegner in Gestalt der gegenwärtig vorherrschenden, vom Finalismus herkommenden Verbrechenslehre. Auslöser der Kritik ist dabei weniger der aus dieser Verbrechenslehre resultierende Aufbau15 als vielmehr das methodologische Konzept des Finalismus, die Grundbegriffe des Strafrechts an vorrechtlichen, sachlogischen Strukturen der empirischen Wirklichkeit auszurichten. Die Autoren begründen die Notwendigkeit einer Revision des etablierten, finalistisch geprägten Strafrechtssystems dabei teilweise anhand einer Analyse von Schwachstellen einzelner dogmatischer Lösungen des Fina14 Etwa: Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 154 ff.: „zweckrational-funktionales Strafrechtssystem“ oder Küpper, G.: Grenzen 1990: „normativierende Strafrechtsdogmatik“. 15 Veränderungen im Aufbau ergeben sich aber teilweise als Konsequenz des funktionalen Denkens, vgl. etwa das Aufbauschema Georg Freunds in: JuS 1997, 235 ff.; 331 ff.

II. Zielsetzung und Frontstellung des Funktionalismus

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lismus,16 etwa der (kriminalpolitisch unerwünschten) Konsequenzen der Schuldtheorie beim Erlaubnistatumstandsirrtum, oder sie argumentieren grundlagentheoretisch mit einer generellen Kritik der Vorgehensweise, aus vermeintlich gesicherten vorrechtlichen Strukturen auf strafrechtliche Begriffe zu schließen und deren Inhalte näher zu bestimmen. Bei Roxin ist diese Kritik an und Abgrenzung von der finalistischen Begriffsbildungsmethodologie beispielsweise kennzeichnend für seine frühen dogmatischen Arbeiten, und sie wird zum Wegbereiter für den eigenen funktionalistischen Systementwurf im Jahr 1970. Bereits acht Jahre vor dieser Veröffentlichung schreibt er in einer breit angelegten „Kritik der finalen Handlungslehre“: „Es gibt wohl ein Kausalgesetz, dem kein Gesetzgeber dieser Welt etwas hinzufügen oder abnehmen kann, aber es gibt keine vorgegebene Finalstruktur. Was final ist, hängt allein von den Zwecksetzungen der Rechtsordnung ab. Wenn das richtig ist . . . kann es natürlich auch kein vorgegebenes Wesen der Handlung, des Vorsatzes, der Teilnahme geben, und die daraus abgeleiteten Konsequenzen verlieren ihren seinsgesetzlichen Rang.“17 . . . „Ich resümiere: wenn man einen ontologischen Handlungsbegriff so fasst, dass er nur die Steuerung eines materiellen, wertfreien Geschehensablaufs umgreift, dann leistet er nichts. Er ist mit dem Vorsatz nicht identisch, gibt für die Irrtumslehre nichts her, und auch sonst kann man aus ihm nichts ableiten. . . . Man kann dann die Lehren von Vorsatz und Teilnahme ebenso gut – wohl sogar besser – unter völliger Lösung vom Handlungsbegriff aus den ihnen eigenen Sinngehalten entwickeln.“18

Wenn es nach dieser Auffassung Roxins nicht in Betracht kommt, die strafrechtlichen Begriffsbildungen in vorrechtlichen Strukturen zu fundieren, so bleibt fraglich, welche anderen Gesichtspunkte bei der inhaltlichen Präzisierung der strafrechtlichen Grundbegriffe maßgeblich sein sollen. Roxin deutet den von ihm favorisierten, in „Kriminalpolitik und Strafrechtssystem“ differenzierter entfalteten Ausweg bereits an dieser Stelle (am Beispiel des Vorsatzbegriffes) an: „Das ganze ist eine Sinn- und Wertungsfrage und kann allein durch teleologische Erwägungen, die an der Art des jeweiligen Regelungsstoffes orientiert sind, gelöst werden, nicht aber durch Folgerungen aus dem ontologischen Wesen oder Begriff von irgendetwas.“19

Die vom Funktionalismus beabsichtigte Wende ist daher eine Wende vor allem im Hinblick auf die Bezugsparameter, von denen aus die strafrechtlichen Begriffe ihre konkrete Ausdeutung erfahren. An die Stelle der „sachlogischen Strukturen“ treten „kriminalpolitische Zwecksetzungen“, das heißt die gegenwärtig dem Strafrecht zugrunde gelegten Strafzwecke oder, so die Konzeption Jakobs’, ein dominierender Strafzweck (positive Generalprävention). Maßstab 16 17 18 19

Schünemann, B. in: ders. (Hrsg.): Grundfragen 1984, S. 40. Roxin, C.: ZStW 74 (1962), 515 ff., 524, 525. Roxin, C.: ZStW 74 (1962), 515 ff., 527. Roxin, C.: ZStW 74 (1962), 515 ff., 562.

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Kap. 1: Strafrechtsgeschichtliche Einordnung des Funktionalismus

für die strafrechtliche Begriffsbildung ist damit nicht mehr die Übereinstimmung dieser Begriffe mit empirisch feststellbaren Sachverhalten der Wirklichkeit, das heißt zum Beispiel die Übereinstimmung des strafrechtlichen Schuldbegriffes mit einer empirisch feststellbaren Fähigkeit des anders-Handeln-Könnens, sondern die Ausdeutung erfolgt aus der Perspektive kriminalpolitischer Wertentscheidungen.

III. Strafrechtsgeschichtlicher Bezugsrahmen für eine erste Einordnung des Funktionalismus 1. Strafrechtssystematik zwischen Naturalismus und Neukantianismus Unter strafrechtsgeschichtlichem Blickwinkel ergeben sich für eine Einordnung des Funktionalismus verschiedene Anknüpfungspunkte. Stellt man auf die mit dem Funktionalismus intendierte Abgrenzung zum Finalismus ab, so lassen sich Parallelen zu der im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts geführten Auseinandersetzung zwischen Naturalismus und Neukantianismus aufzeigen.20 Ebenso wie in der heutigen Diskussion standen sich damals im Grunde zwei unterschiedliche Vorgehensweisen bezüglich der Bildung (straf)-rechtlicher Begriffe gegenüber. Das Referenzsystem des Naturalismus war die Welt der Naturwissenschaften bzw. das Abbild der positivistischen Sozialwissenschaften, die auch in Bezug auf das soziale Handeln der Menschen das Sichtbare und Meßbare als das Wesentliche ansahen und kognitive Verarbeitungsprozesse von Reizen oder Umwelteinflüssen ebenso wie allgemein den Sinn einer Handlung als wissenschaftlich nicht valide erfahrbar ausgrenzten.21 In den zentralen Kategorien des bekannten Beling-Lisztschen Systems bildete sich diese naturalistische Betrachtungsweise der sozialen Wirklichkeit ab. Sie zeigte sich deutlich etwa an dem damals vorherrschenden „sinnentleerten“ bzw. „blutleeren“22 naturalistischen Handlungsbegriff,23 nach dem Handlungen als willkürliche Verursachung einer Veränderung in der Außenwelt angesehen wurden, und an dem mit diesem Handlungsbegriff korrespondierenden zentralen Stellenwert der Kausalität in Gestalt der Äquivalenztheorie,24 die von der Gleichwertigkeit aller Bedingungen für einen strafrechtlichen Erfolgseintritt ausging. Das strafrechtliche System des Naturalismus war das Produkt formallogischer Abstraktionen und zeichnete sich durch eine strikte Trennung objektiver und subjektiver Bestandteile aus.

20 Ausführlich: Welzel, H.: Naturalismus und Wertphilosophie, in: ders. (Hrsg.): Abhandlungen 1975, S. 29 ff. 21 Jescheck/Weigend: Strafrecht AT 1996, S. 203 ff. 22 Beling, E.: Lehre vom Verbrechen 1906, S. 17. 23 Buri, M. v.: Causalität 1873; Liszt, F. v.: Lehrbuch, 19. Aufl. 1912, S. 126. 24 Begründet von Buri, M. v.: Causalität 1873.

III. Bezugsrahmen für eine erste Einordnung des Funktionalismus

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Durch die hierdurch gewährleistete Übersichtlichkeit sollte maximale Gesetzesbindung und damit Sicherheit und Berechenbarkeit in der Anwendung des Strafrechts erreicht werden.25 Der vornehmlich an Beispielen aus dem Zivilrecht veranschaulichten Kritik der Interessenjurisprudenz an der Begriffsjurisprudenz, sich durch immer abstraktionshöhere Begriffe zu weit von den dogmatischen Ausgangsfragen zu entfernen, entsprach der rechtsphilosophisch fundierte und in der Sache durchaus pragmatische Vorwurf des Neukantianismus gegenüber der naturalistischen Strafrechtsdogmatik, sie sei um die realen sozialen Lebensverhältnisse unbekümmert.26 Als Ausweg propagierte der Neukantianismus, die Begriffe „wertbeziehend“, das heißt unter Bezug auf konkrete für das Strafrecht relevante Werte, zu bilden. Auf rechtsphilosophischen Arbeiten Emil Lasks (1905)27 und Gustav Radbruchs (1914)28 aufbauend, war es vor allem Erich Schwinge, der in seiner Bonner Habilitationsschrift über „teleologische Begriffsbildung im Strafrecht“ im Jahre 193029 die wertbeziehende Methode der südwestdeutschen Wertphilosophie (die spätere strafrechtliche Arbeiten einschließend heute zumeist als Neukantianismus bezeichnet wird) für konkrete strafrechtsdogmatische Fragestellungen nutzbar machte. Anhand von Auslegungsproblemen aus dem Besonderen Teil exemplifizierte er die Auslegung nach dem geschützten Rechtsgut, die für ihn „das leitende Prinzip“30 bei der Bildung strafrechtlicher Begriffe darstellte und legte dar, dass das von ihm propagierte teleologische Verfahren bei „Wissenschaft und Praxis seit langem in Übung ist“. Der Anspruch des Naturalismus, die strafrechtlichen Begriffe zu einem System zusammenzuführen, wurde mit diesem methodischen Anliegen des Neukantianismus allerdings nicht aufgegeben. Wie die einzelnen Begriffe des Besonderen Teils sollte auch die zu entwickelnde Systematik des Strafrechts nicht „wertblind“ sein, und sich nicht in formal-logischen Bezügen der einzelnen Begriffe zueinander erschöpfen. Aufgabe der Strafrechtswisssenschaft war es nach der Vorstellung des Neukantianismus vielmehr, „die im Gesetz vorgeformten Begriffe als Glieder eines wertbezogenen Systems zu erkennen.“31 Damit rückte die Frage in den Vordergrund, welche konkreten Wertvorstellungen bei der strafrechtlichen Begriffsbildung den Ausschlag geben sollten. Resümiert man 25 Eingehend: Welzel, H.: Naturalismus und Wertphilosophie, in: ders. (Hrsg.): Abhandlungen 1975, S. 29 ff.; Jescheck/Weigend: Strafrecht AT 1996, S. 203 ff. 26 Lask, E.: Philosophie 1905, S. 33; zur Querverbindung zu der im Zivilrecht geführten Debatte, vgl.: Baratta, A. in: Wieacker, F./Wollschläger, C. (Hrsg.): Jherings Erbe 1970, S. 17; Grünhut, M.: Begriffsbildung 1926. 27 Lask, E.: Philosophie 1905. 28 Radbruch, G.: Rechtsphilosophie 1956. 29 Schwinge, E.: Begriffsbildung 1930. 30 Schwinge, E.: Begriffsbildung 1930, S. 33. 31 Schwinge, E.: Begriffsbildung 1930, S. 23.

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Kap. 1: Strafrechtsgeschichtliche Einordnung des Funktionalismus

das Schrifttum,32 so zeigt sich, dass der Schwerpunkt der Bemühungen und die besondere Leistung des Neukantianismus im Bereich der erkenntnistheoretischen und rechtsphilosophischen Grundlagen dieses Ansatzes liegen, die praktisch umsetzbaren Resultate, etwa eine wertbezogene Auslegung strafrechtlicher Grundbegriffe und deren Systematisierung hingegen weniger deutlich entwickelt waren. Mittasch, der den Entwicklungsstand des Neukantianismus nach seiner Blütezeit in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in einer Monographie aus dem Jahr 1939 zusammenfasst, bezieht sich insoweit im Wesentlichen auf die einzelnen strafrechtlich geschützten Rechtsgüter, die als sekundäres System von „Schutzwerten“33 einem primären Wert, der „Idee des modernen Staates“ verpflichtet seien. Darüber hinaus benennt er „abstrakt-allgemeine Zweckideen“ des Strafrechts wie „Rechtssicherheit, Rechtsgleichheit, Billigkeit, Praktikabilität, Verständlichkeit“ und „Kontinuität“,34 und er erkennt, dass bei der strafrechtlichen Begriffs- und Systembildung „Hauptinteresse“ und „Gegeninteressen“35 miteinander kollidieren können. Im Ergebnis nimmt er damit die moderne Erkenntnis eines Zielkonfliktes zwischen einzelnen Strafzwecken bei strafrechtlichen Problemstellungen vorweg: „So gibt es sicher kaum eine ,ratio‘ des Gesetzes, der nicht eine ,Gegenratio‘, d. h. eine andersartige Wertung einschränkend gegenübertritt.“36 Auf der Grundlage einer (Rang-)Ordnung von Rechtsgütern deutet er im Folgenden zwar eine Systematisierung des Besonderen Teils an; die für eine strafrechtliche Systembildung entscheidende Frage nach den Schlussfolgerungen der wertbeziehenden Methode für die Grundbegriffe des Allgemeinen Teils, insbesondere für den Verbrechensbegriff, ist aber sowohl bei Mittasch als auch bei den anderen, dem neukantianistischen Ansatz verpflichteten Autoren nur rudimentär entwickelt. Mittasch lässt im Wesentlichen die (aus seiner Perspektive) jüngeren strafrechtsdogmatischen Entwicklungstendenzen, z. B. die Entdeckung subjektiver Rechtfertigungselemente und die durch Frank37 ab 1907 ausgelöste Wende vom psychologischen zum normativen Schuldbegriff Revue passieren; diese waren aber weitgehend unabhängig von der neukantianistischen Methodologie herausgearbeitet worden. Jedenfalls ergibt sich aus den Quellen, auf die 32 Lask, E.: Philosophie 1905; Schwinge, E.: Begriffsbildung 1930; Mittasch, H.: Auswirkungen 1939. 33 Mittasch, H.: Auswirkungen 1939, S. 86, unter Bezug auf Klee: DStr 1936, 2 ff. 34 Mittasch, H.: Auswirkungen 1939, S. 31. 35 Mittasch, H.: Auswirkungen 1939, S. 32 bezieht sich beispielhaft auf den Rechtsgüterschutz, der eine „weite“ Auslegung einzelner Tatbestandsvoraussetzungen erfordern könne, während Gesichtspunkte der Rechtssicherheit eher eine „enge“, am Wortlaut orientierte Auslegung nahe legen würden. 36 Mittasch, H.: Auswirkungen 1939, S. 32. 37 Frank, R.: Schuldbegriff 1907.

III. Bezugsrahmen für eine erste Einordnung des Funktionalismus

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sich Mittasch38 insoweit bezieht, kein eindeutiges Bekenntnis zum Neukantianismus und auch der von Mittasch39 angeführte Versuch Heglers,40 den normativen Schuldbegriff auf die neukantianistische Methode zurückzuführen, muss an der eindeutigen Stellungnahme Franks gemessen werden, er habe seinen Schuldbegriff auf „synthetischem Wege“ ermittelt.41 2. Neuorientierung des Strafrechts in den 50er Jahren Wie insgesamt die Diskussion um eine spezifisch kulturwissenschaftliche Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie ist auch die strafrechtliche Debatte um den Neukantianismus und insbesondere eine Übertragung seiner theoretischen und methodologischen Erkenntnisse auf konkrete dogmatische Fragestellungen durch die Machtergreifung des Nationalsozialismus und den damit verbundenen Perspektivenwechsel zu einer „Ganzheitsbetrachtung“42 abgeschnitten worden. Die Neuorientierung der Dogmatik nach dem zweiten Weltkrieg in Gestalt des Finalismus knüpft nur mittelbar an die wertbeziehende Methode des Neukantianismus an und sucht den Bezugsrahmen für die Bildung strafrechtlicher Begriffe – ebenso wie der Naturalismus – im Vorrechtlichen. Das empirische Bezugskriterium, die ontologischen Strukturen der Wirklichkeit, denen die strafrechtlichen Begriffe nach der Konzeption des Finalismus zu entsprechen haben, folgt aber im Gegensatz zum strafrechtlichen Naturalismus nicht den soziologisch-positivistischen, das heißt naturwissenschaftlichen Erkenntnisvorstellungen, sondern es hat seine Wurzeln in demselben kulturwissenschaftlichen Wissenschaftsverständnis, dem auch der Neukantianismus, soweit er für das Strafrecht relevant geworden ist, entspricht. Die beiden hier angesprochenen Bezugspunkte des Finalismus, mittelbare Anknüpfung an den Neukantianismus einerseits und an den Naturalismus andererseits, stehen nur scheinbar in Widerspruch zu Welzels eigener Auffassung, mit der er sich von beiden Positionen abgrenzt und die er beide kritisiert. Nach Welzel sind sowohl der Neukantianismus als auch der Naturalismus – trotz der ursprünglich entgegengesetzten Zielsetzung – strafrechtliche „Komplementärtheorien“ des (sozialwissenschaftlichen) Positivismus.43 Diese Auffassung ist vom Standpunkt Welzels aus deshalb zutreffend, weil er beide Positionen vornehmlich von den strafrechtlichen Resultaten her beleuchtet. Naturalismus und Neukantianismus haben danach mit dem 38

Mittasch, H.: Auswirkungen 1939, S. 129, 146. Mittasch, H.: Auswirkungen 1939, S. 146. 40 Hegler, A.: ZStW 36 (1915), 19 ff. 41 Frank, R.: Schuldbegriff 1907, S. 12. 42 Schaffstein, F.: ZStW 53 (1934), 603 ff.; ders.: ZStW 57 (1938), 295 ff.; Dahm, G.: ZStW 57 (1938), 225 ff.; vgl. zu dieser Epoche: Jescheck/Weigend: Strafrecht AT 1996, S. 203 ff. 43 Welzel, H.: Naturalismus und Wertphilosophie, in: ders. (Hrsg.): Abhandlungen 1975, S. 88. 39

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sozialwissenschaftlichen Positivismus in Gestalt der Lehren Comtes und Saint Simons, auf die Welzel Bezug nimmt, eine „Entfernung vom realen Lebenssubstrat“ gemeinsam, die allerdings auf jeweils anderen Gründen beruht. Der hier als für die Einordnung des Funktionalismus wesentlich hervorgehobene gemeinsame kulturwissenschaftliche Ausgangspunkt von Neukantianismus und Finalismus ergibt sich aus den hinter diesen Auffassungen stehenden wissenschaftstheoretischen Grundpositionen. Der oben angesprochene Bezug des Finalismus zum Naturalismus erschöpft sich demgegenüber in der Überlegung, dass beide Lehren an die, inhaltlich allerdings ganz unterschiedlich begriffene, empirische Wirklichkeit anknüpfen. Worin dieser zentrale Unterschied besteht, kann ebenfalls nur auf der Grundlage einer Rekonstruktion des kulturwissenschaftlichen Ausgangspunkts der Lehre Welzels herausgearbeitet werden.

3. Vergessener gemeinsamer kulturwissenschaftlicher Ausgangspunkt von Neukantianismus und Finalismus Der gemeinsame Nenner ist die Kritik am positivistisch-sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsverständnis und Menschenbild. (1) Die dem Neukantianismus zuzuordnenden Ansätze grenzen sich vom Positivismus im Wesentlichen über die Begründung einer eigenständigen kulturwissenschaftlichen Methode der Erkenntnisgewinnung und Begriffsbestimmung ab. Insbesondere Windelband und sein Schüler Rickert hatten in frühen methodologischen Arbeiten, an die etwa Schwinge und Mittasch anknüpfen, gezeigt, dass die wissenschaftlich relevanten Begriffe niemals das bloße Abbild der Wirklichkeit44 sein könnten. Mit dieser Stellungnahme zu der großen erkenntnistheoretischen Debatte über die Eigenständigkeit der Kuturwissenschaften, die vor allem im deutschsprachigen Kulturraum um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert geführt wurde,45 greift der Neukantianismus weit über die Grenzen des (Straf-)Rechts hinaus, und die Abgrenzung zwischen Neukantianismus und Naturalismus wird zu einem von mehreren Schauplätzen der grundsätzlichen Auseinandersetzung zwischen Natur- und Kulturwissenschaften oder – um einen anderen gebräuchlichen Begriff zu verwenden – zwischen nomothetischen und idiographischen Wissenschaften.46 Denn die Problematik von Fragestellung, Erkenntnisinteresse und methodischem Zugang zu den Bereichen, die unter dem Oberbegriff Kultur zusammengefasst wurden, betraf vor allem die Geschichtswissenschaft,47 die 44 Mittasch, H.: Auswirkungen 1939, S. 2; Schwinge, E.: Begriffsbildung 1930, S. 8; Windelband, W.: Geschichte und Naturwissenschaft 1915, S. 30; Rickert, H.: Grenzen 1913, S. 78. 45 Vgl. hierzu: Ringer, F.: Die Gelehrten 1987; Tenbruck, F. H.: Sozialwissenschaften 1984; Bock, M.: Soziologie 1980. 46 Vgl. zu diesen und verwandten Begriffen: Homann, H.: Gesetz und Wirklichkeit in den Sozialwissenschaften 1989, S. 2 ff., 226 ff.

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Nationalökonomie48 und die im Werden begriffene Soziologie49 und erst später auch den Bereich des Rechts. Teilweise in unmittelbarer Auseinandersetzung mit dem Positivismus (vgl. insoweit vor allem Max Webers Schriften zur Wissenschaftslehre), teilweise auf der Grundlage einer kantischen Kritik der Abbildtheorie50 versuchten die Autoren, die Autonomie der Geistes- oder Kulturwissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften zu begründen. Im Zentrum steht dabei die Frage nach dem Unterschied zwischen beiden Disziplinen und den daraus resultierenden methodischen Implikationen. Schwinge fasst die unterschiedlichen „Arbeitsweisen“ beider Disziplinen wie folgt zusammen: „Die Arbeitsweise der Naturwissenschaften besteht in der Betrachtung der Wirklichkeit mit Rücksicht auf das Allgemeine; das für sie Wesentliche (= Wissenswerte) an den Erscheinungen fällt mit dem zusammen, was an ihnen gattungsmäßig ist. Daraus folgt, dass sie bei der Zusammenstellung ihrer Begriffe von alledem als unwesentlich absehen werden, was an ihnen einmalig, besonders, individuell ist. Das ist jedoch gerade das, was den Historiker interessiert, was für ihn wesentlich (= wissenswert) ist. Das, worin die Geschichte ihre Aufgabe sieht, – die Darstellung des Einmaligen, Besonderen, Individuellen – vermag das den Naturwissenschaften eigentümliche Verfahren nicht zu leisten, denn es hat ausgesprochen die Tendenz, von der Individualität wegzuführen.“51

Aus diesem spezifisch kulturwissenschaftlichen Erkenntnisinteresse lassen sich zwei nähere Fragestellungen ableiten, die beide auch von der Strafrechtsdogmatik aufgegriffen wurden: Wenn sich Wirklichkeit nicht in Begriffen einfangen (abbilden) lässt, vielmehr sowohl aus dem Blickwinkel des Wissenschaftlers als auch aus der Perspektive des zur Welt Stellung nehmenden Menschen eine prinzipielle „unendlichen Mannigfaltigkeit des Seins“ darstellt, so muss zunächst geklärt werden, wie eine begriffliche Ordnung dieses Chaos überhaupt möglich ist und auf welche Weise demnach bestimmte kulturwissenschaftliche Fragestellungen formuliert werden können. Die Antwort auf diese Frage ist für das Recht in Anlehnung an Rickerts Ausführungen zur Geschichtswissenschaft von der neukantianistischen Lehre herausgearbeitet worden: Eine begriffliche Ordnung des Geschehens wird dann möglich, wenn man die empirische Wirklichkeit zu Kulturwerten in Beziehung setzt. Erst dieser Blickwinkel erlaubt eine Differenzierung zwischen den für die jeweilige wissenschaftliche, hier strafrechtliche Fragestellung relevanten und den unbedeutsamen Ereignissen. Als Resultat dieser abschichtenden und gewichtenden Tätigkeit eines „er47

Homann, H.: Gesetz und Wirklichkeit in den Sozialwissenschaften 1989, S. 31 ff. Häuser, K. in: Nörr, K. W. u. a. (Hrsg.): Geisteswissenschaften zwischen Kaiserreich und Republik 1994, S. 47 ff. 49 Bock, M. in: Nörr, K. W. u. a. (Hrsg.): Geisteswissenschaften zwischen Kaiserreich und Republik 1994, S. 159 ff., 168 ff. 50 Rickert, H.: Grenzen 1913; Windelband, W.: Geschichte und Naturwissenschaft 1915. 51 Schwinge, E.: Begriffsbildung 1930, S. 6 (Hervorhebung im Original). 48

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kennenden Subjekts“ (eines Strafrechtswissenschaftlers) ergibt sich ein für das Strafrecht relevanter Begriff (etwa ein strafrechtlicher Handlungsbegriff) nicht als ein Abbild der empirischen Wirklichkeit, sondern als gedankliches Konstrukt: als „Produkt unseres wissenschaftlichen Denkens“.52 Schwinge veranschaulicht diese Aufgabenstellung in aller Deutlichkeit an einem geschichtswissenschaftlichen Beispiel: „Aus dem Leben einer großen Persönlichkeit wird der Historiker also nur das in seine Darstellung aufnehmen, was eine solche Beziehung zu allgemeinen Kulturwerten hat (zu Recht, Religion, Wissenschaft, Kunst usw.). Deshalb gehört z. B. nicht in eine historische Darstellung Stresemanns Telefonnummer oder Bismarcks Kragenweite oder Goethes Hausnummer hinein, wohl aber ihre politische, dichterische, künstlerische Betätigung.“53

In der „Welt der Naturwissenschaften“ und im strafrechtlichen Naturalismus taucht diese Frage der Auswahl des Erkenntnisgegenstands schon deshalb nicht auf, weil das zugrunde liegende positivistische Weltbild den Erkenntnisgegenstand ohne weiteres vorformt und das Erkenntnisinteresse „wertblind“ von vornherein nur auf das Gesetzmäßige ausgerichtet ist. (2) Die zweite aus dem kulturwissenschaftlichen Erkenntnisinteresse abzuleitende Fragestellung bezieht sich auf das konkrete Erkenntnisziel. Während durch die Vorgänge der (oben dargestellten) theoretischen Wertbeziehung das Erkenntnisinteresse zunächst auf einen bestimmten kulturwissenschaftlichen Ausschnitt der Wirklichkeit gelenkt wird, ist daher nunmehr problematisch, welche weitergehende Zielsetzung die Analyse verfolgen soll, etwa um das Beispiel Schwinges aufzugreifen, welche Aspekte politischer Entscheidungen Bismarcks hinterfragt werden sollen. Mit einiger Vereinfachung kann man sagen: Sofern das Erkenntnisinteresse auf menschliche Handlungen gerichtet ist, geht es um die Deutung menschlicher Verhaltensweisen, um eine Interpretation des subjektiv mit einer Handlung gemeinten Sinns. Es ist der Verdienst Max Webers, über Windelband und Rickert hinausgehend dieses spezifische Erkenntnisinteresse herausgestellt zu haben. Ebenso wie diese Autoren ist allerdings auch Weber der Auffassung, dass sich Handlungen in ihrer Bedeutung nur dann erschließen, wenn man sie mit Kulturwerten in Beziehung setzt.54 Hinsichtlich des konkreten Ziels kulturwissenschaftlicher Erkenntnis fährt Weber aber fort: „Wir verlangen die Interpretation auf den ,Sinn‘ des Handelns hin. Wo dieser ,Sinn‘ . . . im Einzelfall unmittelbar evident feststellbar ist, da bleibt es uns gleichgültig, ob sich eine ,Regel‘ des Geschehens formulieren lässt, die den konkreten Einzelfall umfasst. Und andererseits kann die Formulierung einer solchen Regel, selbst wenn sie den Charakter strenger Gesetzmäßigkeit an sich tragen würde, niemals dahin

52 53 54

Rickert, H.: Grenzen 1913, S. 75. Schwinge, E.: Begriffsbildung 1930, S. 7. Weber, M. in: ders. (Hrsg.): Wissenschaftslehre 1985, S. 1 ff., 91.

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führen, dass die Aufgabe ,sinnvoller‘ Deutung durch die einfache Bezugnahme auf sie ersetzt werden könnte.“55

Was mit dieser Interpretation „auf den Sinn hin“ konkret gemeint ist, erläutert auch Weber an einem geschichtswissenschaftlichen Beispiel, dem Verhalten Friedrichs II. im Jahr 1756 (Konvention von Westminster): Ziel der Analyse ist es, die Entscheidung des Königs als „adäquat verursacht“, „als, bei Voraussetzung bestimmter Absichten und (richtiger oder fälschlicher) Einsichten . . . zureichend motiviert“56 zu finden. Mit dem Begriff der „adäquaten Verursachung“ greift Weber ganz bewusst einen terminus technicus der strafrechtlichen Literatur seiner Zeit auf. Insbesondere unter Bezug auf Radbruchs Schrift „Die Lehre von der adäquaten Verursachung“ (1902)57 analysiert er Parallelen und Unterschiede zwischen der „historischen Kausalitätsfrage“58 und der Zurechnungsproblematik eines „eventuell strafrechtlich zu sühnenden Erfolges“. Durch die Lehre von der adäquaten Zurechnung, die sich im Bereich der Strafrechtsdogmatik – anders als im Zivilrecht59 – allerdings nie fest etablieren konnte, war es möglich, zumindest für die erfolgsqualifizierten Delikte damaliger Fassung,60 bereits auf der Ebene des objektiven Geschehens ein Element der Zuordnung des Erfolges, die „Verantwortlichkeit“61 des Täters für die eingetretenen Folgen in die strafrechtliche Prüfung einzubeziehen. Für den Bereich der Geschichtswissenschaft ebenso wie für die Rechtswissenschaft entwickelte sich daher in dieser Zeit aus der Frage der (rein kausalen) Verursachung von Lebenssachverhalten allmählich die Problematik der kausalen Bedeutung menschlicher Handlungen,62 die damit bereits dem prinzipiellen Unterschied zwischen den Vorgängen in der Natur und menschlichen Handlungen Rechnung trug.63 55 Weber, M. in: ders. (Hrsg.): Wissenschaftslehre 1985, S. 1 ff., 69, 70 (Hervorhebung im Original). 56 Weber, M. in: ders. (Hrsg.): Wissenschaftslehre 1985, S. 1 ff., 69. 57 Radbruch, G.: Adäquate Verursachung 1902. 58 Weber, M. in: ders. (Hrsg.): Wissenschaftslehre 1985, S. 215 ff., 270 ff. 59 Vgl. z. B. Münzberg, W.: Verhalten 1966. 60 Bis 1953 fehlte ein dem heutigen § 18 StGB vergleichbare Bestimmung und die Erfolgsqualifizierung hing alleine von der Frage ab, ob der Erfolg im Sinne der Äquivalenztheorie verursacht war. Vgl. hierzu: Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, S. 196. 61 Radbruch, G.: Adäquate Verursachung 1902, S. 66 (zur Problematik der erfolgsqualifizierten Delikte alter Fassung). 62 Zur Parallele zwischen dem geschichtswissenschaftlichen Kausalitätsbegriff Webers und der Lehre von der adäquaten Verursachung, vgl. Bock, M.: Kriminologie als Wirklichkeitswissenschaft 1984, S. 93 ff. 63 Neben den vom Neukantianismus hervorgehobenen erkenntnistheoretischen Problemstellungen sind die geistigen Grundlagen für diese Entwicklung im Menschenbild der philosophischen Anthropologie [zu den wichtigsten Autoren dieser Schule gehören Theodor Litt, Max Scheler, Helmuth Plessner, Erich Rothacker und Arnold Gehlen, vgl.: Rehberg, K.-S. in: Lepsius, R. M. (Hrsg.): Soziologie in Deutschland und Öster-

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Kap. 1: Strafrechtsgeschichtliche Einordnung des Funktionalismus

Von diesem kulturwissenschaftlichen Ausgangspunkt her und in Abgrenzung von dem positivistischen Wissenschaftsverständnis entwickelte Welzel seit Anfang der 30er Jahre64 die finale Handlungslehre. Im Gegensatz zu den Lehren des Neukantianismus ist es allerdings weniger die „Wertblindheit“ des positivistischen und naturalistischen Wissenschaftsverständnisses als vielmehr die „Sinnentleertheit“ des positivistischen Weltbildes und der naturalistischen Strafrechtsdogmatik, die den Ausgangspunkt seiner Kritik bildet. So führt er etwa in einer Auseinandersetzung mit der kausalen Handlungslehre Belings und von Liszts aus: „Wie wir schon oben gesehen haben, beruht der spezifische Charakter der Kausaldetermination, der uns berechtigt, sie nach ihrem wichtigsten Anwendungsgebiet als ,mechanisch‘ zu bezeichnen, auf der Blindheit ihres Vorwärtsstoßens. Die Wirkung ist die blinde Resultante gleichgültiger Komponenten, und auch deren Konstellation ist nur blinde Resultante früherer gleichgültiger Komponenten usf. Hier ist es gerade die einzigartige Stellung des Willens im Gesamtgefüge der Welt, das ,blinde‘ Geschehen innerhalb bestimmter Grenzen in ein ,sehendes‘ umzuwandeln, d. h. den kausalen Nexus final zu überdeterminieren. Vermöge seiner Fähigkeit zu Sinn und Einsicht ist er imstande, die möglichen Wirkungen seines kausalen Eingreifens in dem Umfange seiner Einsicht gedanklich zu antizipieren und danach sein Eingreifen in die Welt sinn- und zweckvoll zu regulieren.“65

Mit der intendierten „ontologischen Betrachtungsweise“ will Welzel daher das „wirkliche Sein“ der menschlichen Handlung herausarbeiten und zum zentralen Begriff seiner Verbrechenslehre machen. Nach Welzel sind menschliche Handlungen als „Ausübung von Zwecktätigkeit“ zu verstehen. Durch sein „Kausalwissen“ vermag der Mensch Geschehensabläufe in gewissen Grenzen zu beherrschen. Er ist in der Lage, Handlungsziele geistig vorwegzunehmen, die erforderlichen Handlungsmittel auszuwählen und das Geschehen auf das antizipierte Ziel hin planvoll zu lenken. Diese ontologische Struktur menschlicher Handlungen, die Welzel angeregt durch die Philosophie von Richard Hönigswald und die deutschsprachige Psychologie dieser Zeit66 sowie durch die aufreich 1981, S. 160 ff.] zu finden, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Geisteswissenschaften breit rezipiert und „enthusiastisch begrüßt“ (Bock, M. in: Nörr, K. W. u. a. (Hrsg.): Erkenntnisgewinne und Erkenntnisverluste Bd. 1 1994, S. 159 ff., 163] wurde. Nach den Annahmen der „philosophisch-anthropologischen Schule“ ist der Mensch von seiner leiblich-biologischen Verfassung her ein Wesen, das auf „Geist“, „Intellekt“ und „Kultur“ angelegt und insofern in der Lage ist, sein Leben und Verhalten mit „Sinn“ auszustatten. Die Anthropologie kann daher nicht in Anlehnung an die Lehre Darwins als Unterabteilung der Zoologie betrieben werden (vgl. dazu Rehberg, K.-S. in: Lepsius, R. M. (Hrsg.): Soziologie in Deutschland und Österreich 1981, S. 160 ff., S. 164), sondern bedarf einer philosophischen Grundorientierung, durch die die Spezifika des Menschen und die ihn aus der Natur heraushebenden Prinzipien sichtbar werden. 64 Zuerst: Welzel, H.: ZStW 51 (1931), 703 ff. 65 Welzel, H.: Naturalismus und Wertphilosophie, in: ders. (Hrsg.): Abhandlungen 1975, S. 29 ff., 94 (Hervorhebung im Original).

III. Bezugsrahmen für eine erste Einordnung des Funktionalismus

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strebende Phänomenologie herausstellt, muss sich auch im strafrechtlichen Handlungsbegriff widerspiegeln. Schon aus den vorangegangenen Ausführungen wird die unmittelbare Nähe der Lehre Welzels zu dem kulturwissenschaftlichen Standpunkt Webers erkennbar. Beide Autoren verweisen auf den grundsätzlichen Unterschied zwischen den Vorgängen in der Natur und der Struktur menschlicher Handlungen; und beide sind der Auffassung, dass dieser grundsätzliche Unterschied bei den Wissenschaften, die menschliche Handlungen zum Gegenstand haben, die Geschichtswissenschaft, Nationalökonomie und Soziologie einerseits sowie die Strafrechtswissenschaft andererseits, Berücksichtigung finden müssen. Auf diese wenig beachtete Verwandtschaft zwischen dem Standpunkt Welzels und der methodologischen Position Webers weist auch der Soziologe und Kriminologe Fritz Sack hin, der hier ein „Podium“ sieht, „auf dem sich eine Begegnung zwischen den Annahmen der finalen Handlungslehre und den Konzepten der Sozialwissenschaften inszenieren lässt.“67 Er propagiert daher eine Vorgehensweise, bei der die finale Handlungslehre handlungstheoretischen Konzepten und Entwürfen aus den Sozialwissenschaften gegenübergestellt werden könnte und bezieht sich insoweit auf das Modell des sozialen Handelns von Max Weber und dessen idealtypische Handlungskonstruktionen des zweckrationalen, wertrationalen, traditionalen und affektuellen Handelns. Von diesem methodologischen Standpunkt aus, der um die auf Weber aufbauenden Arbeiten von Alfred Schütz68 ergänzt werden könnte, ließe sich etablierten Missverständnissen der Lehre Welzels, etwa der Problematik von Antriebssteuerung und Handlungssteuerung begegnen. Bedauerlicherweise ist diese Diskussion aber nie entstanden, und eine angemessene theoretische Rekonstruktion des ontologischen Standpunkts Welzels ist ebenso im Versuch stecken geblieben wie allgemein die Diskussion um einen kulturwissenschaftlichen Handlungsbegriff.

Trotz dieses gemeinsamen Gegners in Gestalt des Naturalismus bzw. der positivistischen Philosophie, der Neukantianismus und Finalismus eint, gehen deren Auffassungen über die Methode der Bildung strafrechtlicher Begriffe jedoch weit auseinander. Nach der Position des Neukantianismus rückt durch die wertbeziehende Methode nicht nur ein spezifischer Ausschnitt der empirischen Wirklichkeit in das nähere Erkenntnisinteresse des (Strafrechts)-Wissenschaftlers (etwa bestimmte Aspekte aus dem komplexen Geschehen einer Straftat für die Frage, ob eine vorsätzliche Tatbegehung vorliegt), sondern dieses Verfahren soll sich unmittelbar auf die Begriffsbildung (z. B. auf den Vorsatzbegriff) auswirken. Bei Welzel hingegen funktioniert die Begriffsbildung zunächst unbeschadet der strafrechtlichen bzw. kriminalpolitischen Wertentscheidungen, und 66 Welzel selbst [in: ders. (Hrsg.): Das neue Bild 1961, Vorwort zur 4. Aufl., S. IX] beruft sich auf die Psychologen Karl Bühler, Theodor Erismann, Erich Jaensch und Wilhelm Peters. 67 Sack, F. in: Lüderssen, K./Sack, F. (Hrsg.): Vom Nutzen und Nachteil Bd. 1 1980, S. 35 ff., S. 56. 68 Vgl.: Schneider, H.: Kriminalprognose 1996, S. 144 ff.

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Kap. 1: Strafrechtsgeschichtliche Einordnung des Funktionalismus

die Begriffe stellen – insoweit als sie den ontologischen Strukturen der Wirklichkeit entsprechen müssen – „etwas Konstantes“ dar, an dem sich auch durch eine Rückbeziehung auf dem Strafrecht vorgegebene Werte nichts ändert. Welzel unterscheidet auf der theoretischen Ebene scharf zwischen der strafrechtlichen Wertung und dem Objekt dieser Wertung.69 Ein ontologisch bestimmbarer Gegenstand (Kunstwerk) oder ein ontologisch bestimmbarer Geschehensablauf (Tötung eines Menschen) ist das Objekt der Wertung. Wird dieser Gegenstand bzw. Geschehensablauf als werthaft charakterisiert, so kommt zu den ontologischen Merkmalen ein nicht-ontologisches Moment hinzu. In dem strafrechtlichen Begriff des Mordes sind etwa die ontologischen Kriterien, die vorsätzliche Tötung eines Menschen enthalten. Zu diesen ontologischen Momenten tritt die Wertung „rechtswidrig“ und „vorwerfbar“. Man darf also unter keinen Umständen „das ontologische Substrat mit dem Wert in irgendeiner Weise identifizieren. Der ontologisch bestimmte Gegenstand ist nur der ,Träger‘ des Wertes, aber nicht der Wert selbst.“70 Dennoch ist Welzel der Auffassung, dass die Werte selbst „tief im Ontischen wurzeln“. Eine bestimmte Handlung in ihrem spezifischen Vollzug oder ein Gegenstand in seiner spezifischen Eigenart sind danach bereits „wertig“ bzw. „unwertig“; die Begriffe „schön“, „gut“ sind „Wertbegriffe“, d. h. begriffliche Abstraktionen, die als solche wiederum an Handlungen oder Gegenstände in ihrem spezifischen „ontischen Sosein“ anknüpfen.71 Zu den Werten selbst und zu der Erkenntnis der „Wertigkeit“ oder „Unwertigkeit“ von Handlungen oder Gegenständen kann man nach Welzel daher nur über eine differenzierte Erfassung der ontologischen (seinsmäßigen) Beschaffenheit des Gegenstandes kommen. Mit dieser Auffassung grenzt sich Welzel – vor allem in der Abhandlung „Naturalismus und Wertphilosophie im Strafrecht – Untersuchungen über die ideologischen Grundlagen der Strafrechtswissenschaften“ aus dem Jahre 1935 – von der neukantianistischen Begriffsbildungsmethodologie ab. An dieser kritisiert er, ebenso wie an der naturalistisch-positivistischen Wissenschaftsauffassung, die Wirklichkeitsferne und Lebensfremdheit, die letztlich aus der am Schreibtisch des Forschers erfolgenden begrifflichen Umformung der Lebenswirklichkeit resultiere. Nach Welzels eng an der Lehre Rickerts orientierten Betrachtung sieht der Neukantianismus die Werte eben nicht im Ontischen verwurzelt, sondern ordnet sie einer „irrealen Sphäre“ zu. Werde durch die neukantianistische Begriffsbildungsmethodologie die Welt der Tatsachen durch den Rückbezug auf abstrakte Wertvorstellungen begrifflich geordnet, so werde damit der Wirklichkeitsbezug preisgegeben. Dies zeige sich vor allem dann, wenn 69

Welzel, H.: Wertungen, in: ders. (Hrsg.): Abhandlungen 1975, S. 23 ff. Welzel, H.: Wertungen, in: ders. (Hrsg.): Abhandlungen 1975, S. 23 ff., 25. 71 Welzel, H.: Naturalismus und Wertphilosophie, in: ders. (Hrsg.): Abhandlungen 1975, S. 29 ff., 85. 70

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der neukantianistische Standpunkt auf das Strafrecht übertragen werde. Hier entstünden rein normative, d. h. wesensmäßig rechtliche Begriffe, denen eine „tiefbegründete Lebensfeindschaft“72 innewohne. Um diesem Dilemma zu entgehen, propagiert Welzel für die Begriffsbildungsmethodologie des Strafrechts, man müsse in die „ontologische Sphäre hinabsteigen, um den Gehalt der begrifflichen Fixierungen zu verstehen und um . . . auch die rechtlichen Wertungen richtig zu erfassen.“73 In einem pathetisch gehaltenen Appell fasst er diese Forderung daher noch einmal zusammen: „Nach zwei Richtungen hin, zum Sein und zum Wert in seiner konkreten Gestalt, muss darum der Durchbruch durch das szientistische Begriffsgefängnis vollzogen werden.“74 4. Anknüpfungspunkte des Funktionalismus Ebenso wie die strafrechtlichen Vertreter des Neukantianismus greift auch der Funktionalismus diese von Welzel aufgezeigte Differenz zwischen dem Objekt der Wertung und dem Vorgang der Wertung nicht auf. Vielmehr sollen sich die Wertentscheidungen unmittelbar in den dogmatischen Einzelfragen – auch zum Allgemeinen Teil – niederschlagen. Der Angriff des Funktionalismus gegen die ontologisierende Strafrechtsdogmatik liest sich daher wie das Programm einer Nutzanwendung der theoretischen und rechtsphilosophischen Erkenntnisse des Neukantianismus. An die Stelle der abstrakten Begriffe „Wert“ und „Wertentscheidungen“ bzw. Wertvorstellungen treten allerdings konkrete kriminalpolitische Zwecksetzungen, auf die die strafrechtlichen Grundbegriffe und Systemkategorien rückzubeziehen sind. Ganz offensichtlich ist diese Anknüpfung des Funktionalismus an die Methodologie des Neukantianismus bei Roxin und seinen Schülern. So führt zum Beispiel Roxin in seiner Schrift „Kriminalpolitik und Strafrechtssystem“ aus dem Jahre 1970 aus: „Die wertbeziehende Methodologie des Neukantianismus, die in den Zwanzigerjahren zur Vorherrschaft kam, hätte von der normativen Seite her zu einem ganz neuen ,Bild des Strafrechtssystems‘ führen können, wenn man als Kriterium, auf das alle dogmatischen Erscheinungen zu beziehen gewesen wären, kriminalpolitische Leitentscheidungen gewählt hätte.“75

Roxin geht es darum, die Kluft zwischen Kriminalpolitik und Strafrechtssystematik zu überwinden und den kriminalpolitischen Entschließungen bei dog72 Welzel, H.: Naturalismus und Wertphilosophie, in: ders. (Hrsg.): Abhandlungen 1975, S. 29 ff., 99. 73 Welzel, H.: Wertungen, in: ders. (Hrsg.): Abhandlungen 1975, S. 23 ff., 28. 74 Welzel, H.: Naturalismus und Wertphilosophie, in: ders. (Hrsg.): Abhandlungen 1975, S. 29 ff., 103. 75 Roxin, C.: Kriminalpolitik 1973, S. 12.

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Kap. 1: Strafrechtsgeschichtliche Einordnung des Funktionalismus

matischen Entscheidungen unmittelbar zur Geltung zu verhelfen. Nach dieser Auffassung hat der Finalismus die kriminalpolitischen Wertentscheidungen systematisch ausgeblendet, um seine axiomatisch-deduktive Methode – vergleichbar dem strafrechtlichen Naturalismus – unbekümmert um die kriminalpolitischen Konsequenzen durchzuhalten. Schünemann veranschaulicht diese Kritik Roxins anhand eines prominenten (und zugleich einzigen) Beispiels76 in Gestalt der von Welzel auf der Grundlage der finalen Handlungslehre befürworteten Lösung zum Erlaubnistatumstandsirrtum, nicht den Tatbestandsvorsatz, sondern lediglich das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit und damit die Schuld77 entfallen zu lassen.

IV. Die Tragfähigkeit bisheriger Klassifikationsversuche In der strafrechtlichen Diskussion um den Funktionalismus ist der Versuch unternommen worden, die skizzierte Umorientierung der Strafrechtsdogmatik durch den Funktionalismus begrifflich zu kennzeichnen. Diese Kennzeichnung erfolgt weniger durch eine Definition des Begriffs „funktional“ als durch die Formulierung gegensätzlicher Begriffspaare wie „funktional“ versus „ontologisch“,78 „auf das Individuum bezogene“79 bzw. „ontologische“80 versus „normative“ Richtungen oder – so das Generalthema der Strafrechtslehrertagung aus dem Jahr 1995 in Rostock: Funktionalismus versus „alteuropäisches Prinzipiendenken“.81 Doch sind auch diese Klassifikationsversuche nicht unproblematisch und bleiben ebenso mehrdeutig und unbestimmt wie das Etikett „funktional“ selbst. Vor dem Hintergrund des historischen Bezugsrahmens ergibt sich nämlich, dass der als Gegensatz gewählte Begriff immer auch inhaltliche Komponenten des Bezugsbegriffes enthält. (1) So ist der Funktionalismus im Hinblick auf seine Verwandtschaft mit der neukantianistischen Strafrechtsmethodologie und das dem Funktionalismus zugrunde liegende Zweckdenken durchaus alteuropäisch. (2) Auch bei einer auf das Individuum bezogenen oder ontologisierenden Strafrechtsdogmatik besteht Raum für normative Erwägungen. (3) Schließlich ist auch die ontologisierende Strafrechtsdogmatik – wenn man bei einem allgemeinen Sinnverständnis des Begriffs der Funktion ansetzt – nicht funktionslos.

76 Angeführt von Schünemann, B. in: ders. (Hrsg.): Grundfragen 1984, S. 1 ff., 44 ff. 77 Welzel, H.: Das neue Bild 1961, S. 70 f. 78 Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991 (Vorwort zur ersten Auflage, S. VII). 79 Schünemann, B.: GA 1995, 201 ff., 202. 80 Küpper, G.: Grenzen 1990. 81 Jakobs, G.: ZStW 107 (1995), 843 ff.; Lüderssen, K.: ZStW 107 (1995), 877 ff.

IV. Die Tragfähigkeit bisheriger Klassifikationsversuche

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Ad 1: Schon hinsichtlich der Verwandtschaft mit der neukantianistischen Methodologie wird eine Verwurzelung des Funktionalismus im kulturwissenschaftlichen Wissenschaftsverständnis deutlich, die zumindest eine große Entwicklungslinie des alteuropäischen Denkens aufgreift. Setzt man die Akzente (mit Roxin und Schünemann) auf diesen wissenschaftsgeschichtlichen Anknüpfungspunkt des Funktionalismus, so impliziert dies eine Stellungnahme zu der großen, in Europa geführten wissenschaftstheoretischen Diskussion über den Unterschied zwischen Natur- und Kulturwissenschaften, positivistischem und idiographischem Wissenschaftsverständnis oder – auf noch abstrakterer Ebene – zwischen Kultur einerseits und Zivilisation andererseits.82 Wenn demgegenüber – wie etwa von Jakobs – die Anknüpfungspunkte des Funktionalismus, wie unten differenziert zu zeigen sein wird, in der sozialwissenschaftlichen Systemtheorie gesucht werden, die ihre eigenen Wurzeln paradoxer Weise in der den Kulturwissenschaften entgegengesetzten Position hat, so ist auch hier der alteuropäische Bezug der Diskussion nicht sehr weit hergeholt. Denn auch nach Jakobs und anderen Autoren zielt der Funktionalismus auf die strafrechtsdogmatische Verwirklichung kriminalpolitischer Zwecksetzungen und hat seine Wurzeln daher im Zweck- und Nützlichkeitsdenken der europäischen Aufklärung. Naturrechtsdenken und Aufklärung sind die geistige Grundlage für den Wandel der Epochen von einem religiös fundierten Strafrecht des Mittelalters zu dem Strafrecht des aufgeklärten Absolutismus mit seiner präventiven, der Durchsetzung vernünftiger Zwecke verschriebenen Ausrichtung.83 Unter diesem Blickwinkel84 verdunkelt also die Entgegensetzung von „alteuropäisch“ und Funktionalismus mehr als sie erhellt und kann allenfalls als heuristisches Hilfsmittel bei der Einordnung des Funktionalismus Bestand haben. Ad 2: Mit der von Schünemann85 vorgeschlagenen Gegenüberstellung von „auf das Individuum bezogen“ und „normativ“ wird zunächst ein ganz anderer, hier noch nicht angesprochener Themenkreis berührt. Schünemann assoziiert mit „auf das Individuum bezogen“ nicht primär die ontologisierende Strafrechtsdogmatik, sondern den „monistischen Individualismus der Frankfurter Schule“ in Gestalt der Lehren W. Hassemers und seiner Schüler Herzog und Hohmann sowie der Frankfurter Strafrechtslehrer K. Lüderssen und P.-A. Albrecht. Gemeinsame Tendenz dieser Schule ist nach Schünemann die Berufung auf ein „klassisches Kernstrafrecht“, das auf einer individualistischen „personalen“ Rechtsgutslehre aufbaut. Als vom Strafrecht zu schützendes Rechtsgut wird folglich im Wesentlichen nur ein strafrechtlich schutzbedürftiges menschliches 82

Elias, N.: Der Prozeß der Zivilisation 1936. Bock, M.: JuS 1994, 89 ff.; Lüderssen, K.: ZStW 107 (1995), 877 ff.; Schünemann, B.: GA 1995, 201 ff., jeweils m. w. N. 84 Weitere Aspekte bei Lüderssen, K.: ZStW 107 (1995), 877 ff. 85 Schünemann, B.: GA 1995, 201 ff. 83

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Kap. 1: Strafrechtsgeschichtliche Einordnung des Funktionalismus

Interesse anerkannt. Die im gegenwärtigen Strafrecht (z. B. im Bereich des Umweltstrafrechts) zu beobachtende Verlagerung von einem Schutz von Individualrechtsgütern auf Universalrechtsgüter wird demgegenüber abgelehnt. Mit „auf das Individuum bezogen“ identifiziert Schünemann daher eher die von den oben genannten Frankfurter Strafrechtslehrern auf der Grundlage der personalen Rechtsgutslehre geübte Kritik an der modernen Gesetzgebung als eine sich in begrifflichen Umformungen niederschlagende Strafrechtsdogmatik. Der von der „Frankfurter Schule“ in den Vordergrund gestellte Schutz der Person vor einer Ausweitung strafrechtlicher Kontrolle wird sich nach Schünemann aber typischerweise in Begriffen widerspiegeln, die „einen der natürlichen Wortbedeutung weithin entsprechenden und sozusagen realitätsgesättigten Bedeutungskern haben.“86 Mit dieser Annahme bezieht er sich allerdings nicht mehr auf die kriminalpolitischen Forderungen der „Frankfurter Schule“, sondern – zumindest der Sache nach – auf die ontologisierende Strafrechtsdogmatik Welzels, der er schließlich die normative Richtung (in Gestalt des „normativistischen Funktionalismus“ Jakobs’) entgegensetzt.87 Weder der Begriff „normativ“ noch die mit diesem assoziierte Methode ist dabei eine Schöpfung des Funktionalismus, seiner Anhänger oder Kritiker. Denn auch insoweit liegen die Wurzeln in der neukantianistischen Begriffsbildungsmethodologie, die von Welzel als solche – ungeachtet der gemeinsamen erkenntnistheoretischen Ausgangsposition – vor allem in der schon oben zitierten Abhandlung Naturalismus und Wertphilosophie im Strafrecht (1935) – eingehend kritisiert wurde. Als „normativ“ verstehen die Neukantianer Grünhut und Wolf, auf die Welzel in dieser Abhandlung Bezug nimmt, eine Begriffsbildungsmethodologie, die den Inhalt strafrechtlicher Begriffe durch eine Ermittlung ihres rein rechtlichen Bedeutungsgehaltes bestimmt. Terminologisch und inhaltlich rekurrierten die Autoren damit auf die damals gerade entdeckte Differenzierung zwischen normativen und deskriptiven Tatbestandsmerkmalen und erkannten an, dass neben den normativen Begriffen auch faktische Begriffe im Recht vorkommen, deren Bedeutungsgehalt gerade nicht durch spezifische rechtliche Wertentscheidungen, sondern einen Bezug auf tatsächliche, empirisch erfahrbare Geschehensabläufe ermittelt werden kann. Schon innerhalb des neukantianistischen Schrifttums gehen die Auffassungen über die Reichweite der normativen Methode allerdings weit auseinander. Während etwa Wolf selbst bei Begriffen, die einen eindeutigen Bezug zur empirischen Wirklichkeit aufweisen, wie etwa „Krankheit“ oder 86

Schünemann, B.: GA 1995, 201 ff., 218. Vgl. Schünemann, B.: GA 1995, 201 ff., 218: „Betrachtet man die Frankfurter Schule aus dieser Perspektive, fällt es allerdings überhaupt nicht schwer, ihren Gegenpol zu identifizieren, nämlich in Gestalt des normativistischen Funktionalismus von Günther Jakobs.“ 87

IV. Die Tragfähigkeit bisheriger Klassifikationsversuche

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„Hund“ annimmt, diese würden unter dem Blickwinkel des Rechts ihre spezifische medizinische oder zoologische Bedeutung zugunsten eines rein juristischen Bedeutungsgehalts verlieren, ist Grünhut zurückhaltender. Vergleichbar etwa der Argumentation Schwinges (s. o.) rekonstruiert er anhand höchstrichterlicher Entscheidungen zu Auslegungsproblemen des materiellen Rechts und des Prozessrechts (z. B. am Begriff der prozessualen Tat) spezifisch normative Erwägungen. Allerdings erkennt er insoweit „Strukturverschlingungen“ faktischer und normativer Argumente. Er kommt zu dem Schluss, dass die meisten im Strafrecht geläufigen Grundbegriffe und Lehren, z. B. die Lehre von der adäquaten Verursachung auf normativen und faktischen und eben nicht alleine auf normativen Erwägungen beruhen. Welzels Kritik bezieht sich vornehmlich auf die radikale Variante der normativen Begriffsbildungsmethodologie in Gestalt der Lehre Wolfs, nach der sogar „Willensbetätigung und Erfolg nicht notwendig etwas Tatsächliches (Natürliches), sondern etwas wesensmäßig Rechtliches (Normatives)“ sind.88 Ohne den Begriff als solchen zu verwenden, erkennt allerdings auch Welzel bei bestimmten Rechtsbegriffen „Strukturverschlingungen“ ontologischer und normativer Elemente an, so dass im Ergebnis auch in seiner Dogmatik normative Erwägungen vorkommen. Dabei haben die normativen Elemente im Wesentlichen die Funktion von Auswahl- bzw. Eingrenzungskriterien, um aus einem für die Problematik des Strafrechts zu weiten ontologischen Begriffsverständnis die für die strafrechtliche Fragestellung wesentlichen Aspekte hervorzuheben.89 So ist für ihn etwa der Kausalbegriff eine „Seinskategorie“, ein ontologischer Begriff,90 von dem auch das Recht ausgehen muss. Allerdings sind nicht alle Kausalverläufe auch rechtlich relevant und müssen unter Rückgriff auch auf normative Erwägungen einer rechtlichen Bewertung unterzogen werden. Auch der Begriff des Vorsatzes ist nach Welzel zwar eine ontologische Kategorie. „Was aber den Umfang des Vorsatzes anbelangt, der für eine bestimmte Tatbestandhandlung vorausgesetzt ist, so hängt er von eben diesem Tatbestand“,91 das heißt von spezifisch normativen Erwägungen ab. Der Begriff der normativen Methode ist daher nur dann ein Gegenbegriff zu der ontologisierenden, an den Strukturen der empirischen Wirklichkeit orientierten Strafrechtsdogmatik, wenn als normativ nur diejenigen Ansätze bezeichnet werden, die auf eine ontologische, bzw. empirische Basis rechtlicher Begriffe überhaupt verzichten. Einige dem Funktionalismus zuzuordnende Ansätze, vgl. 88 Wolf, E.: Typen 1931, S. 51; ders.: Schuldlehre 1928; dagegen Grünhut, M.: ZStW 52 (1932), 326 ff., 333. 89 Welzel, H.: Vom Bleibenden, in: ders. (Hrsg.): Abhandlungen 1975, S. 345 ff., 350 ff. 90 Welzel, H.: Strafrecht 1969, S. 43. 91 Welzel, H.: Vom Bleibenden, in: ders. (Hrsg.): Abhandlungen 1975, S. 345 ff., 349 (Hervorhebung im Original).

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Kap. 1: Strafrechtsgeschichtliche Einordnung des Funktionalismus

etwa Jakobs oder Roxin, lassen Rückschlüsse in diese Richtung zu. Aber gerade dann, wenn die Aufgabe des Strafrechts, von der aus die strafrechtlichen Begriffe zumindest nach der Auffassung Jakobs’ zu bestimmen sind, in der positiven Generalprävention liegt, ist damit keineswegs ein Verzicht auf eine empirische Fundierung der Begriffe verbunden. Insbesondere die Problematik, wieviel Strafrecht nötig ist, um Rechtstreue einzuüben, ist eine – wenn auch schwer zu überprüfende – empirische Frage, deren Lösung sich ein ganzer Zweig der empirisch kriminologischen Forschung verschrieben hat. Damit bleibt auch die Entgegensetzung von „auf das Individuum bezogen“ und „normativ“ insgesamt inhaltlich wenig aussagekräftig. Ad 3: Die Gegenüberstellung von „funktional“ versus „ontologisch“ hat den Vorzug, mit dem selbstgewählten Etikett der Funktionalisten zu operieren und die für den Funktionalismus charakteristische Abgrenzung zu der ontologischen Strafrechtsdogmatik aufzugreifen. Nach ihrem eigenen Selbstverständnis ist allerdings auch die ontologisierende Strafrechtsdogmatik nicht funktionslos. Denn bei unbefangener Betrachtung bedeutet „funktionale Begriffsbildung“ zunächst nicht mehr und nicht weniger, als dass die strafrechtlichen Grundbegriffe im Hinblick auf eine bestimmte Funktion, die sie im Strafrecht wahrzunehmen haben, auszulegen sind. Nach Welzel, der auch hier als Begründer und Kronzeuge des ontologisierenden Ansatzes herangezogen werden kann, hat die ontologisierende Begriffsbildungsmethodologie die Funktion, die Grenzen des Strafrechts und der Kriminalpolitik zu bestimmen. Sofern die Begriffe des Strafrechts an empirisch Vorfindbares, etwa an ein Gesetz der Kausalität oder an die „Finalstruktur der Handlung“ anknüpfen, sind damit die Endpunkte für die schöpferische Tätigkeit des Gesetzgebers und die Begriffsbildung der Strafrechtswissenschaft markiert. Dem Gesetzgeber steht es frei, ob er etwa die Rechtsfolge Strafe an die schuldhafte Verwirklichung eines gesetzlichen Tatbestands knüpfen will oder welche Handlungsmuster aus der Fülle möglicher Handlungsvollzüge er für strafbar erklären will. Wählt er allerdings die Konzeption des Schuldstrafrechts, so ist er an einen seinsmäßig vorgegebenen Schuldbegriff bzw. an einen ontologisch bestimmbaren Handlungsbegriff gebunden. Diese bleibenden Strukturen bilden gegenüber den vergänglichen Entscheidungen des Gesetzgebers einen bindenden Maßstab. Sie lassen die Beurteilung zu, ob bei einer bestimmten Grundsatzentscheidung des Gesetzgebers, zum Beispiel der Entscheidung für ein Schuldstrafrecht, diese Konzeption in Einzelentscheidungen des Gesetzgebers oder der Strafrechtsdogmatik auch konsequent durchgehalten wurde, oder ob diese Einzelentscheidungen von der Grundkonzeption abweichen. In einer Replik auf die Streitschrift Roxins aus dem Jahr 1962 führt Welzel in einer seiner letzten großen Veröffentlichungen in der Festgabe für den Neukantianer Max Grünhut92 insofern aus: 92

Welzel, H.: Vom Bleibenden, in: ders. (Hrsg.): Abhandlungen 1975, S. 345 ff.

IV. Die Tragfähigkeit bisheriger Klassifikationsversuche

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„In Wahrheit ist die Funktion des Rechts eine weitaus bescheidenere. Weder erzeugt es die Handlung noch ihre finale Struktur noch die mit ihr eröffnete Sinndimension, sondern es wählt aus: Es verbietet solche Handlungen, die mit einer von ihr gewünschten sozialen Ordnung unverträglich sind, und gebietet solche, die diese Ordnung fördern. In dieser Funktion allerdings ist das Recht „frei“ und „schöpferisch“, jedenfalls im Verhältnis zur Finalstruktur der Handlung . . .“.93 „Wie das Recht zu dieser Finalstruktur der Handlung nichts hinzufügen und von ihr nichts wegnehmen, sondern sie nur normieren und bewerten kann, so geht die primäre Aufgabe der Strafrechtswissenschaft dahin, die Handlungsstruktur sachgemäß zu begreifen und die auf sie bezüglichen Rechtsbegriffe nach ihr auszudeuten. . . . darum muss die Rechtswissenschaft in ihren Begriffsbildungen – also in dem Begriff des Vorsatzes – diese finale Funktion des Handlungswillens als des gestaltenden Handlungsfaktors sachgemäß nachvollziehen.“94

Wenn danach beide Positionen mit der strafrechtlichen Begriffsbildung eine bestimmte Funktion verbinden und damit zumindest im weiteren Sinne als „funktional“ bezeichnet werden können, so muss die von Jakobs beabsichtigte Blickwendung der Strafrechtsdogmatik, die ihre Begriffe als funktionale Begriffe verstanden haben will, mit einem anderen Verständnis des Begriffs der „Funktion“ verbunden sein.

93 Welzel, H.: Vom Bleibenden, in: ders. (Hrsg.): Abhandlungen 1975, S. 345 ff., 348 (Hervorhebung im Original). 94 Welzel, H.: Vom Bleibenden, in: ders. (Hrsg.): Abhandlungen 1975, S. 345 ff., 349 (Hervorhebung im Original).

Kapitel 2

Rechtssoziologische Einordnung des Funktionalismus I. Die funktionale Methode der Rechtssoziologie und -anthropologie Der Begriff der Funktion bzw. der „funktionalen“ Methode ist kein genuin rechtswissenschaftlicher Begriff. Je nach Fachdisziplin lässt sich vielmehr ein anderes Begriffsverständnis ausmachen. Soweit der Begriff „Funktion“ im Zusammenhang mit einer Analyse des Rechts verwendet wird, hat dieser seinen Ursprung in den frühen (rechts-)soziologischen Arbeiten Emile Durkheims und kommt als „funktionale Methode“ ferner in der Rechtsanthropologie sowie in der (Rechts-)Soziologie vor. 1. Funktionalismus bei Emile Durkheim Nach Durkheims universalgeschichtlichen Analysen besteht das Verbrechen im Wesentlichen in einer Verletzung des „moralischen Bewusstseins der Nation“.1 Indem Durkheim ein „moralisches Bewusstsein der Nation“ anerkennt, differenziert er zwischen den individuellen Moral- und Wertvorstellungen der einzelnen Personen einerseits und gemeinsamen Überzeugungen und Gefühlen im Durchschnitt der Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft im Sinne eines umgrenzten Systems2 andererseits. Die zuletzt genannten gemeinsamen Überzeugungen sind dabei das Band, das die Gesellschaft zusammenhält und vor dem Zustand der Normlosigkeit (Anomie) schützt. Die auf das Verbrechen folgende Strafe, nach Durkheim eine „leidenschaftliche Reaktion abgestufter Strenge“,3 hat die Funktion, die verletzten Kollektivgefühle zu erhalten und zu stärken und damit im Ergebnis die Gesellschaft vor dem Abgleiten in den Zustand absoluter Normlosigkeit zu schützen: „Sie (die Strafe, H. S.) dient nicht oder nur sehr zweitrangig dazu, den Schuldigen zu korrigieren oder mögliche Nachahmer einzuschüchtern. In beiderlei Hinsicht ist ihre Wirksamkeit zu Recht zweifelhaft und auf alle Fälle mäßig. Ihre wirkliche Funktion ist es, den sozialen Zusammenhalt aufrechtzuerhalten, indem sie dem ge1 2 3

Durkheim, E.: Arbeitsteilung 1977, S. 118. Durkheim, E.: Arbeitsteilung 1977, S. 128. Durkheim, E.: Arbeitsteilung 1977, S. 140.

I. Methode der Rechtssoziologie und -anthropologie

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meinsamen Bewusstsein seine volle Lebensfähigkeit erhält.“4 Der Schmerz, der dem Kollektivbewusstsein zugefügt wird, „ist das Zeichen dafür, dass die Kollektivgefühle noch immer kollektiv sind, dass der Einklang der Geister im selben Glauben gänzlich unangetastet geblieben ist, und dass er damit das Übel wieder gutmacht, das das Verbrechen der Gesellschaft zugefügt hat. . . . Man kann also ohne Paradoxie behaupten, dass die Strafe in erster Linie dafür bestimmt ist, auf die ehrenwerten Leute zu wirken.“5

Schon aus diesen Ausführungen Durkheims wird eine Differenzierung des Funktionsbegriffs deutlich. Durkheim unterscheidet zwischen der Funktion der Strafe für das einzelne Individuum („den Schuldigen zu korrigieren“) und der Funktion für das gesellschaftliche Ganze. Darüber hinaus trennt er primäre („wirkliche Funktion“ bzw. „in erster Linie dafür bestimmt ist . . .“) von sekundären Funktionen der Strafe („. . . nur sehr zweitrangig“). Der Begriff der Funktion ist dabei bewusst der Sprache der Naturwissenschaften (der Mathematik und der Biologie) entnommen. Zentrale Annahme für die Soziologie Durkheims ist die Analogie zwischen dem sozialen und dem organischen Leben. Ebenso wie jede Lebensform hat danach auch der Organismus „Gesellschaft“ eine abgrenzbare Struktur mit elementaren Vitalbedürfnissen, die durch soziale Institutionen und Regeln befriedigt werden. Entsprechend ist Durkheim der Auffassung, dass auch der Organismus Gesellschaft erkranken kann, wenn das komplizierte Wechselspiel aus sozialen Bedürfnissen und deren Erfüllung – wie etwa im Fall der sich rasch entwickelnden Arbeitsteilung – aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Aus dieser Makroperspektive der Soziologie Durkheims hat das Individuum keine Bedeutung. Der Einzelne ist lediglich eine Quelle kollektiv verstandener Bedürfnisse oder Träger einer sozialen Funktion und insofern ebenso ersetzbar wie die einzelne Zelle in einem biologischen Organismus. Funktionalismus oder „funktionale Methode“ bedeutet daher nach Durkheim die Analyse des inneren Zusammenhangs der „faits sociaux“ bzw. der Bedeutung eines sozialen Brauchs, einer Institution oder einer sozialen Regel für den Organismus Gesellschaft6 bzw. für das gesellschaftliche Ganze. Dieses Verständnis von Gesellschaft und der Stellenwert der funktionalen Methode erklären sich aus dem positivistischen Welt- und Menschenbild, das den Theorien Durkheims und seiner soziologischen Methode zugrunde liegt. Durkheim nimmt, insoweit den Positivisten A. Comte und Saint Simon folgend,7 an, dass auch der neu in den Brennpunkt des wissenschaftlichen Interesses gerückte Gegenstand „Gesellschaft“ mit den Methoden der Naturwissenschaften zu erfassen und in naturwissenschaftlich verstandenen Gesetzmäßigkeiten begrifflich darzustellen ist. Auf der Grundlage der Einsicht in diese Gesetzmäßigkeiten erhofft 4 5 6 7

Durkheim, E.: Arbeitsteilung 1977, S. 158, 159. Durkheim, E.: Arbeitsteilung 1977, S. 159. Vgl. hierzu insgesamt: Tenbruck, F. H.: ZfS 1981, 333 ff. Tenbruck, F. H.: ZfS 1981, 333 ff.; Bock, M.: Soziologie 1980.

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Kap. 2: Rechtssoziologische Einordnung des Funktionalismus

er sich – in Übereinstimmung mit dem positivistischen Credo Comtes „savoir pour prévoir pour pouvoir“ – entsprechend dem Vorbild der Technik, eine planvolle Reorganisation und Stabilisierung der Gesellschaft ohne Armut, Selbstmorde und mit einem für die Gesellschaft „gesunden“ Maß an Kriminalität. 2. Funktionalismus in der Rechtsethnologie und -anthropologie Diese Blickrichtung Durkheims ist etwa seit den 20er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts von der Soziologie und der Rechtsanthropologie aufgegriffen worden. In der Anthropologie ist es vor allem die von England ausgehende Schule der „social anthropology“ um R. A. Radcliffe-Brown (in Deutschland vor allem vertreten von Vierkant, Thurnwald und Mühlmann),8 die von Durkheim sowohl das positivistische Wissenschaftsverständnis als auch den Funktionsbegriff und die funktionale Methode übernimmt. Die „social anthropology“ versteht sich dabei als eine „vergleichende Soziologie primitiver Völker“,9 die auf der Grundlage eigener oder sekundäranalytisch erfasster ethnographischer Erkenntnisse unterschiedliche Formen und Prozesse der Gesellung und Vergesellschaftung zu analysieren versucht. Im Vordergrund des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses stehen dabei die sozialen Beziehungen der Individuen und Gruppen zueinander, die als soziale Gesetzmäßigkeiten, als Naturgesetze der sozialen Ordnung begriffen werden. Einer derartigen funktionalen Analyse wird seitens der social anthropology insbesondere die Religion unterzogen. So dient etwa der Totemismus der australischen Aborigines nach Radcliffe-Brown10 einerseits dazu, die Einheit der einzelnen lokalen Gruppen und andererseits auch den Verbund dieser lokalen Gruppen untereinander zu stärken. Die Einheit der einzelnen Gruppe wird über das sacra gewährleistet, einem Totem Zentrum, das nach dem Glauben der Aborigines im Zusammenhang mit mystischen Wesen steht, die in einer Welt vor ihrer Zeit (der sog. „world dawn“) gelebt haben und auf deren Wirken die Entstehung des Kosmos mit seiner natürlichen und bezogen auf die Erde auch sozialen Ordnung zurückzuführen ist. Jede einzelne Gruppe der Aborigines ist einem sacra zuzuordnen, das überwiegend für die Stelle gehalten wird, an dem eines der „dawn beings“ die Welt verlassen und in den „Boden gegangen“ ist. Jedes sacra bzw. jedes „dawn being“ ist dabei mit einem anderen Aspekt der natürlichen und sozialen Ordnung verbunden, der durch totemistische Rituale an dem jeweiligen Ort reproduziert wird. Auf diese Weise bringt ein Ritual an einem Regen Totem Zentrum zur richtigen Zeit Regen. Rituale an einem Känguru Totem Zentrum sichern die Versorgung mit Kängurus usw. Die Verbindung der Gruppen untereinander wird über den gemeinschaftlichen Glauben 8 Zusammenfassend: Schott, R. in: Trimborn, H. (Hrsg.): Völkerkunde 1971, S. 1 ff., 12 ff.; grundlegend zur funktionalen Methode der „social anthropolgy“: RadcliffeBrown, A. R.: American Anthropologist Vol. 37 (1935), 394 ff., 396. 9 Schott, R. in: Trimborn, H. (Hrsg.): Völkerkunde 1971, S. 1 ff., 26. 10 Radcliffe-Brown, A. R. in: Evans-Pritchard, E. E./Eggan, F. (Hrsg.): Primitive Society 1959, S. 117 ff., 153 ff., 166.

I. Methode der Rechtssoziologie und -anthropologie

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an die „Dawn Beings“ insgesamt hergestellt, die jeweils lediglich einen Aspekt der natürlichen Ordnung (Regen oder Kängurus) ausmachen und daher nur im Wechselspiel die natürliche und soziale Ordnung insgesamt garantieren. Auch hier dienen Rituale der Festigung des Gruppenverbunds. Bei periodisch stattfindenden rituellen Tänzen personifizieren Angehörige verschiedener Gruppen die jeweiligen „Dawn Beings“, so dass es notwendig zu Zusammenkünften unterschiedlicher Gruppen kommt, die auch zum Anlass anderer bedeutsamer Rituale wie etwa Initiationsriten genommen werden.11

In Übereinstimmung mit dem von Durkheim übernommenen Funktionsverständnis interessiert die Vertreter der social anthropology an den Religionen der beobachteten Naturvölker nicht etwa die hier vorherrschende religiöse Grundvorstellung und die Auswirkungen der Religion auf das Leben der einzelnen Gruppenangehörigen, sondern lediglich der Aspekt der Herstellung sozialer Ordnung („how the religious rites reaffirm and strengthen the sentiments on which social order depends“).12 In bewusster Anknüpfung an Durkheim wird der Stamm dabei als ein sozialer Organismus gesehen. Besonders deutlich wird diese Anknüpfung wiederum bei A. R. Radcliffe-Brown: „. . . if we examine such a community as an African or Australian tribe we can recognize the existence of a social structure. Individual human beings, the essential unite in this instance, are connected by a definite set of social relations into an integrated whole. The continuity of the social structure, like that of an organic structure, is not destroyed by changes in the units. Individuals may leave society, by death or otherwise; others may enter it. The continuity of structure is maintained by the process of social life which consists of the activities and interactions of the individual human beings and of the organized groups into which they are united. The social life of the community is here defined as the functioning of the social structure. The function of any recurrent activity, such as the punishment of a crime, or a funeral ceremony, is the part it plays in the social life as a whole and therefore the contribution it makes to the maintenance of the structure continuity.“13

Sofern das Recht der Naturvölker Gegenstand der Analyse ist, wird das an der Religion exemplifizierte Verständnis von Funktionalismus oder funktionaler Methode der social anthropology auch von Autoren vertreten, die dieser Schule nicht oder nur im weiteren Sinne zuzuordnen sind. Die Fragestellung, mit der sich die Rechtsanthropologie bzw. die ethnologische Rechtsforschung dem Recht zuwendet, bezieht sich vornehmlich auf den Beitrag, den die jeweilige Rechtsordnung zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung insgesamt leistet und wie mit rechtlichen Regelungen auf bestimmte Entwicklungen in anderen kulturellen Bereichen reagiert wird. Im Mittelpunkt der Darstellung stehen 11 Radcliffe-Brown, A. R. in: Evans-Pritchard, E. E./Eggan, F. (Hrsg.): Primitive Society 1959, S. 153 ff., 166. 12 Radcliffe-Brown, A. R. in: Evans-Pritchard, E. E./Eggan, F. (Hrsg.): Primitive Society 1959, S. 153 ff., 168. 13 Radcliffe-Brown, A. R.: American Anthropologist Vol. 37 (1935), 394 ff., 396 (Hervorhebung im Original).

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Kap. 2: Rechtssoziologische Einordnung des Funktionalismus

daher die Ordnungsfunktion und die Kontrollfunktion des Rechts,14 die als primäre Funktionen sekundären Funktionen wie therapeutischen oder erzieherischen Effekten gegenübergestellt werden.15 Die Abgrenzung zum Funktionalismus der social anthropology erfolgt bei diesen Autoren über eine Erweiterung der Bezugspunkte, die mit dem Recht oder einem sozialen Brauch in Beziehung gesetzt werden. Während die kulturellen Erscheinungen eines Volkes in den Studien der social anthropology im Wesentlichen nur als Funktion der Sozialstruktur der jeweiligen Gruppe analysiert wurden, wird Recht in der ethnologischen Rechtsforschung außerhalb der social anthropology auch als eine Funktion anderer, z. B. religiöser Grundvorstellungen gesehen.16 Durch diese Ausweitung der Perspektive können nun auch kulturelle Überbleibsel (survivals) vergangener Entwicklungsstadien erklärt werden, denen bei der derzeitigen Entwicklungsstufe eines Volkes keine Funktion mehr zuzukommen scheint.17 Dennoch ist die makrosoziologische Fragestellung, die mit der funktionalen Methode verfolgt wird, gegenüber der social anthropolgy unverändert. Es geht um die Funktion des Rechts in der Gesellschaft und nicht um die Bedeutung der einzelnen Institute und Regeln für das Leben des Einzelnen.

Aus dieser Perspektive werden funktionale Interdependenzen zwischen Recht und wirtschaftlichen Verhältnissen festgestellt und analysiert, die sich etwa im Verständnis von „Eigentum“ oder im „Strafrecht“ niederschlagen können. Im Vordergrund der Darstellung steht dabei nicht etwa Eigentum als Individualrechtsgut oder Strafrecht als Mittel der Sanktionierung individuell verwirklichten Unrechts, sondern allgemein die Funktion des Rechts im Hinblick auf die sich wandelnden wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, die an vielen instruktiven Beispielen belegt wird. 3. Funktionalismus in der Rechtssoziologie Das der Rechtsanthropologie zugrunde liegende Verständnis von Funktionalismus dominiert auch in der Rechtssoziologie und ist gleichfalls kein auf den deutschen Sprachraum begrenztes Phänomen. Besonders deutlich ist die funk14 Zusammenfassend: Hoebel, E. A.: Recht der Naturvölker 1968, S. 347 ff.; Ertle, D. in: Trimborn, H. (Hrsg.): Völkerkunde 1971, S. 296 ff. 15 Schott, R. in: Lautmann, R./Maihofer, W./Schelsky, H. (Hrsg.): Jahrbuch für Rechtssoziologie Bd. 1 1970, S. 107 ff., 156. 16 Vgl. hierzu Schott, R. in: Lautmann, R./Maihofer, W./Schelsky, H. (Hrsg.): Jahrbuch für Rechtssoziologie Bd. 1 1970, S. 107 ff., 117: Besonders sei zu unterstreichen, „dass das Recht stets als variable Größe mehrerer anderer Variablen aufzufassen ist, d. h. es besteht niemals eine eindeutige Funktion zwischen dem Recht und einem anderen Lebensbereich. Damit soll ein einseitiger soziologischer Funktionalismus abgewehrt werden: aus der Sozialstruktur allein lässt sich das rechtliche Denken und Handeln in einer primitiven Gesellschaft niemals erschließen.“ 17 So können zum Beispiel Rinder oder andere Tiere bei einem Volk auch dann noch eine hohe Bedeutung haben wenn die Viehzucht zugunsten von Ackerbau aufgegeben wurde, vgl. Ertle, D. in: Trimborn, H. (Hrsg.): Völkerkunde 1971, S. 296 ff., 309.

I. Methode der Rechtssoziologie und -anthropologie

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tionale Bestimmung des Rechts, in der Recht im Hinblick auf seinen Beitrag zur Aufrechterhaltung sozialer Ordnung analysiert wird, bei den der sozialwissenschaftlichen Systemtheorie verpflichteten Autoren und lässt sich insbesondere auch bei den prominentesten Vertretern dieses Ansatzes, namentlich bei dem amerikanischen Soziologen Talcott Parsons (1902–1979) sowie bei Niklas Luhmann (1927–1998) gut nachweisen. a) Funktionalismus bei Talcott Parsons Ebenso wie Durkheim konzipiert auch der US-amerikanische Soziologe Talcott Parsons seine strukturell-funktionale Systemtheorie in einer Analogie zu den Naturwissenschaften, deren Arbeitsweise er wie folgt kennzeichnet: Soweit die Naturwissenschaften Vorgänge durch Theorien ordnen und beschreiben, legen sie zunächst ein allgemeines Begriffsschema zugrunde, das die Funktion hat, den Rahmen für wissenschaftlich sinnvolle Aussagen abzustecken. In der „klassischen Mechanik“ ist es z. B. der dreidimensionale Raum mit den Elementen „Zeit“, „Masse“, „Stellung“ und „Bewegung“, der diese Aufgabe eines „Bezugsrahmens“ wissenschaftlichen Arbeitens erfüllt.18 Innerhalb dieses Begriffsschemas können die Beziehungen einzelner Erscheinungen in der Form mathematischer Gleichungssysteme dargestellt und theoretisch erfasst werden. Durch diese methodischen Schritte ist den Naturwissenschaften nach Auffassung Parsons schließlich eine dynamische Analyse möglich, die das eigentliche Ziel wissenschaftlicher Forschung darstellt und auf deren Grundlage allgemeine Gesetze formuliert, einzelne Erscheinungen kausal mit einander verknüpft, sowie künftige Ereignisse prognostiziert werden können. Am Beispiel der Psychologie und der Nationalökonomie veranschaulicht Parsons sodann das jeweilige „logische Äquivalent“19 dieser Schrittfolge für die Theoriebildung in den Sozialwissenschaften. Deren besondere Problematik sieht er vor allem darin, dass die Grundbegriffe und die einzelnen Variablen nicht – wie etwa in der „klassischen Mechanik“ – eindeutig quantifizierbar sind. Folglich kommen im Bereich sozialwissenschaftlicher Theoriebildung keine mathematischen Gleichungsverfahren in Betracht, so dass auch insoweit nach Alternativen gesucht werden muss. An die Stelle des Bezugsrahmens der „klassischen Mechanik“ oder, wie etwa in der Biologie des Schemas Organismus – Umwelt, tritt nach Parsons in einem allgemeinen System der Sozialwissenschaften der „action frame of reference“ Handelnder – Situation, dessen Grundeinheit das Individuum als Handelnder bildet. Um die komplexere Problematik der Interaktion einer Vielzahl handelnder Individuen zu erfassen, konstruiert Parsons weiterhin drei auf den „action frame of reference“ bezogene Subsysteme des Handelns, das „soziale System“ 18 19

Parsons, T. in: Rüschemeyer, D. (Hrsg.): Beiträge 1968, S. 31 ff., 33. Parsons, T. in: Rüschemeyer, D. (Hrsg.): Beiträge 1968, S. 31 ff., 38.

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Kap. 2: Rechtssoziologische Einordnung des Funktionalismus

(soziale Interaktion in wechselseitig aufeinander bezogenen sozialen Rollen), das „Persönlichkeitssystem“ (Ziele und Bedürfnisse des Einzelnen) und das „kulturelle System“ (Bildungs- und Wertvorstellungen, vermittelt durch kulturelle Symbole),20 zu denen in späteren Arbeiten Parsons noch ein Verhaltenssystem hinzutritt. Eine theoretische Verknüpfung dieser einzelnen Subsysteme des Handelns erreicht Parsons durch die funktionale Analyse, die nach seiner Auffassung das Gegenstück zu der „Simultangleichung in einem voll entwickelten System der analytischen Theorie darstellt“.21 Ziel des wissenschaftlichen Arbeitens, dessen Hilfsmittel in einer Theorie der Sozialwissenschaften die funktionale Analyse sein soll, ist es – vergleichbar der oben angeführten Zielsetzung der Naturwissenschaften –, Einsicht in die jeweiligen Entwicklungsprozesse zu gewinnen, die die Funktionsweise des Systems beeinflussen. Die entscheidende Rolle des Funktionsbegriffes besteht nach Parsons folglich darin, „Kriteria für das Gewicht dynamischer Faktoren und Prozesse innerhalb des Systems zu liefern. Sie sind wichtig, insofern sie funktionale Bedeutung für das System haben . . . Funktionale Bedeutung in diesem Zusammenhang ist in sich teleologisch. Ein Prozess oder Satz von Bedingungen trägt bei zur Erhaltung (oder Entwicklung) des Systems oder ist dysfunktional, indem er der Integration oder Effektivität des Systems entgegenwirkt“.22 Soziale Ordnung im allgemeinen und erfolgreiches Handeln im besonderen resultiert aus einem Wechselspiel der vier Subsysteme, in dem jedes Subsystem eine bestimmte, durch die funktionale Analyse zu erhellende Funktion wahrnimmt. In späteren Arbeiten abstrahiert Parsons vier Grundfunktionen, die er den vier Subsystemen des Handelns zuordnet (AGIL-Schema). Danach hat das Verhaltenssystem die Funktion der Anpassung an die sich wandelnde Umwelt (Adaption); das Persönlichkeitssystem hat die Aufgabe der Zielsetzung und Zielverwirklichung (Goal Attainment); das soziale System übernimmt die Funktion der Integration (Integration) und das kulturelle System dient der Aufrechterhaltung latenter Strukturen (Latent pattern maintenance).23 In den wenigen Beiträgen, in denen sich Parsons speziell dem Recht zugewandt hat,24 ordnet er das Rechtssystem (hierunter versteht er Gesetze und Verordnungen, sowie allgemein das Gerichtswesen) im Wesentlichen der Integrationsfunktion zu und reduziert Recht damit im Ergebnis auf einen allgemeinen Mechanismus sozialer Kontrolle nahezu beliebigen Inhalts, der ihn nur unter dem Gesichtspunkt seines Beitrags zur Erhaltung des Systems als Ganzem inte20

Zusammenfassend: Parsons, T.: The social system 1951, S. 5–40. Parsons, T. in: Rüschemeyer, D. (Hrsg.): Beiträge 1968, S. 31 ff., 38. 22 Parsons, T., Übersetzung von Dahrendorf, R.: KZfSS 1955, 491 ff., 504. 23 Grundlegend: Parsons, T./Bales, R. F./Shils, E. A.: Theory of Action 1953. 24 Parsons, T. in: Evan, W. M. (Hrsg.): Law and Sociology 1962, S. 56 ff.; ders.: The social system 1951, S. 279–321. 21

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ressiert. In der Abhandlung „The law and social control“25 aus dem Jahre 1956 lässt Parsons etwa kurz die einzelnen durch Recht regulierten Lebensbereiche, wie zum Beispiel Verfassungsrecht, Zivilrecht, insbesondere Wirtschaftsrecht, Arbeitsrecht und Familienrecht Revue passieren26 und kommt so zu der Schlussfolgerung, dass jede soziale Beziehung durch Recht geregelt werden kann. Hierauf aufbauend entwickelt er den Standpunkt: „. . . that in the larger social perspective the primary function of legal system is integrative. It serves to mitigate potential elements of conflict and to oil the machinery of social intercourse. It is, indeed, only by adherence to a system of rules that systems of social interaction can function without breaking down into overt or chronic covert conflict“.27

In den folgenden Ausführungen analysiert er vier grundlegende Voraussetzungen, die gewährleistet sein müssen, damit Recht seinen Beitrag zur Systemerhaltung leisten kann. Auch in diesen Analysen, die insbesondere von Parsons’ Schüler Bredemeier vertieft worden sind,28 bleibt die systemtheoretische Perspektive, die Parsons auch gegenüber dem Recht einnimmt, unverändert. Das Individuum kommt allenfalls als Umwelt des Subsystems „Recht“ in Betracht, es ist der Auslöser für institutionelle Prozesse, die alleine im Hinblick auf ihre gesamtgesellschaftliche Integrationsfunktion interessieren. („law as an integrative factor“). Bredemeier treibt diese Sichtweise terminologisch dadurch auf die Spitze, dass er den individuellen Streitfall als „input“ des sozialen Subsystems „Recht“ („the law“) auffasst: „law is braught into operation“.29 Der „output“ ist nur sekundär die individuelle Streitentscheidung des erkennenden Gerichts, sondern primär der Beitrag zur internen Stabilisierung des Systems. b) Funktionalismus bei Niklas Luhmann Bei dem deutschen Systemtheoretiker Niklas Luhmann fällt die Rekonstruktion des Begriffsverständnisses von Funktionalismus oder „funktionaler Methode“ insofern leicht, als er sich dieser sozialwissenschaftlichen Methode in einem eigenständigen Beitrag zuwendet. In dem Aufsatz „Funktion und Kausalität“30 erörtert er den Unterschied zwischen der funktionalen Methode und der Kausalanalyse und verteidigt erstere gegen die auf der Grundlage des kritischen Rationalismus erhobenen Einwände der Soziologen E. Nagel und C. Hempel.31 25

Parsons, T. in: Evan, W. M. (Hrsg.): Law and Sociology 1962, S. 56 ff. Parsons, T. in: Evan, W. M. (Hrsg.): Law and Sociology 1962, S. 56 ff., 56–58. 27 Parsons, T. in: Evan, W. M. (Hrsg.): Law and Sociology 1962, S. 56 ff., 58. 28 Bredemeier, H. C. in: Evan, W. M. (Hrsg.): Law and Sociology 1962, S. 73 ff. 29 Bredemeier, H. C. in: Evan, W. M. (Hrsg.): Law and Sociology 1962, S. 73 ff., 76. 30 Luhmann, N.: KZfSS 1962, 617 ff. 31 Hempel, C. in: Groß, L. (Hrsg.): Sociological Theory 1959, S. 271 ff.; Nagel, E. in: Ratner, S. (Hrsg.): Vision and action 1953, S. 192 ff. 26

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Kap. 2: Rechtssoziologische Einordnung des Funktionalismus

Der von diesen Autoren zugrunde gelegte Maßstab der „strengen kausalwissenschaftlichen Methodologie“, dem der Funktionalismus nach dem insoweit zutreffenden Votum Nagels und Hempels nicht genüge, sei nur dann angemessen, wenn sich der Funktionalismus darin erschöpfte, Funktionen als eine besondere Art von Wirkung zu charakterisieren.32 Damit ist aber nach Luhmann das spezifische Anliegen der funktionalen Methode nicht erfasst. Das Ziel und damit die methodologische Überlegenheit der funktionalen Analyse gegenüber der Kausalanalyse besteht nach seiner Auffassung vielmehr darin, bestimmte soziale Tatbestände miteinander vergleichbar zu machen. Eine Funktion ist daher keine Ursache im kausalwissenschaftlichen Sinn, sondern ein „regulatives Sinnschema, das einen Vergleichsbereich äquivalenter Leistungen organisiert“.33 So wirft z. B. die Analyse der Funktion von Ritus und Magie als eine sozial richtige Reaktion eines Stammes auf emotional schwierige Situationen wie Missernte und Hunger34 für Luhmann vor allem die weitergehende Frage nach funktional äquivalenten Lösungsmöglichkeiten dieses Problems auf und lenkt den Blick damit etwa auf ideologische Erklärungssysteme oder private Reaktionen wie „Jammer, Ärger, Humor, Nägelkauen oder Rückzug in imaginäre Fluchtwelten“.35 Bei diesem Verständnis von funktionaler Methode ist für Luhmann in den Sozialwissenschaften vor allem die Definition der Bezugseinheit problematisch. Denn im Gegensatz etwa zur Biologie, der als Bezugspunkt einer funktionalen Analyse der lebende Organismus vorgegeben ist, fehlt es in den Sozialwissenschaften an einem klar abgrenzbaren empirischen Referenzsystem. Die bisher in der Methodologie des Funktionalismus gewählten Ausgangspunkte der funktionalen Analyse, „Fortbestand des Systems“ allgemein oder „Fortbestand einzelner seiner Elemente“, hält Luhmann schon deshalb für wenig geeignet, weil der Begriff des „Fortbestands“ auf der Ebene sozialer Tatsachen keine klaren Konturen ergibt. Gesellschaften können maßgebliche kulturelle Änderungen erfahren, ohne dass genau festgestellt werden kann, ab welchem Zeitpunkt ein neues System vorliegt. Denn im Gegensatz zur Biologie fehlt in den Sozialwissenschaften ein dem Tod des Organismus vergleichbares empirisches Kriterium, das die zeitlichen Grenzen für den Fortbestand des Systems eindeutig absteckt. Obwohl Luhmann im Folgenden ausdrücklich darauf abstellt, dass jede soziale Regelung auch funktional im Hinblick auf die Persönlichkeit und die Entwicklung des einzelnen interpretiert werden kann, sucht er den Ausweg aus dem Problem der Definition eines Bezugspunktes für die funktionale Analyse nicht über das Individuum, sondern orientiert sich weiterhin grundsätzlich an 32 33 34 35

Luhmann, N.: KZfSS 1962, 617 ff., 618. Luhmann, N.: KZfSS 1962, 617 ff., 622. Vgl. Malinowski, B.: Sitte und Verbrechen 1940, S. 43 ff. Luhmann, N.: KZfSS 1962, 617 ff., 623.

I. Methode der Rechtssoziologie und -anthropologie

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der systemtheoretischen Perspektive, die auch dem Funktionalismus der Rechtsanthropologie und dem strukturell-funktionalen Theorieansatz Talcott Parsons zugrunde liegt. Das Problem der mangelnden Trennschärfe des Kriteriums „Fortbestand des Systems“ überwindet er über eine Abstraktion grundlegender, das heißt von jeder Sozialordnung zu erbringender Leistungen und formuliert im Ergebnis allgemeine Problemstellungen wie „Stabilisierung von Verhaltenserwartungen“ oder „Reduktion von Komplexität“, die nach seiner Auffassung mögliche Ausgangspunkte einer funktionalen Analyse darstellen können. Luhmanns eigene funktionale Analysen des „Rechts der Gesellschaft“36 folgen diesen Bezugskriterien. Die grundlegende systemtheoretische Perspektive wird dabei in aller Deutlichkeit und Radikalität vor allem anhand seiner Interpretation der subjektiven Rechte und anhand seines Grundrechtsverständnisses sichtbar. Die von der Rechtsdogmatik entwickelte Definition der subjektiven Rechte als „Mittel zur Befriedigung menschlicher Interessen“37 liegt nach Luhmann38 zwar „verführerisch nahe“, erweist sich aber für die soziologische Betrachtung als unbrauchbar. Die Figur des subjektiven Rechts ist nach seiner Auffassung unter soziologischen Gesichtspunkten vielmehr vor dem Hintergrund einer allgemeinen Theorie gesellschaftlicher Entwicklung zu deuten und kennzeichnet einen Entwicklungsstand der zunehmenden Ausdifferenzierung und funktionalen Spezifikation von Teilbereichen der Gesellschaft. Subjektive Rechte werden den Anforderungen funktional differenzierter Gesellschaften besser gerecht als Rechtsinstitute, die am Leitgedanken konkreter Reziprozität orientiert sind. Im Gegensatz zu Reziprozitätsverhältnissen mit engem Zusammenhang zwischen Leistung und Gegenleistung wird bei den durch subjektive Rechte geregelten sozialen Beziehungen zunächst auf einen „lokalen“ Leistungsaustausch verzichtet. So können etwa das Eigentum betreffende Steuern erhöht werden, „ohne dass der Staat sein Gesamtverhältnis zu den Betroffenen durch Gewährung entsprechender Vorteile wie Privilegien oder Freiheiten neu aushandelt“.39 Die soziale Funktion der subjektiven Rechte resultiert daher aus ihrer Offenheit für ein höheres Potenzial an Komplexität, das erst die weitgehende Ausdifferenzie-

36 Z. B.: Luhmann, N.: Recht der Gesellschaft 1993; ders.: Rechtssoziologie 1987; ders.: Grundrechte 1965; ders. in: Lautmann, R./Maihofer, W./Schelsky, H. (Hrsg.): Jahrbuch für Rechtssoziologie Bd. 1 1970, S. 321 ff. 37 Vgl. insoweit die beinahe klassische Definition von Eneccerus (zitiert nach Engisch, K.: Einführung 1997, S. 22): „Das subjektive Recht ist begrifflich eine Rechtsmacht, die dem einzelnen durch die Rechtsordnung verliehen ist, seinem Zweck nach ein Mittel zur Befriedigung menschlicher Interessen“. Grundlegend zur Figur des subjektiven Rechts weiterhin: Engisch, K.: Einführung 1997, S. 22 ff.; für das subjektive öffentliche Recht, Maurer, H.: Verwaltungsrecht 1995, S. 148 ff. 38 Luhmann, N. in: Lautmann, R./Maihofer, W./Schelsky, H. (Hrsg.): Jahrbuch für Rechtssoziologie Bd. 1 1970, S. 321 ff. 39 Luhmann, N. in: Lautmann, R./Maihofer, W./Schelsky, H. (Hrsg.): Jahrbuch für Rechtssoziologie Bd. 1 1970, S. 321 ff., 328.

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Kap. 2: Rechtssoziologische Einordnung des Funktionalismus

rung der Gesellschaft in Funktionsbereiche wie Politik, Verwaltung, Religion, Wirtschaft, Wissenschaft, Erziehung, Unterhaltung usw. ermöglicht. Gleiches gilt nach Luhmann für die soziale Funktion der Grundrechte.40 Auch hier lehnt er eine subjektivistische Deutung der Grundrechte als Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat wie allgemein eine naturrechtliche oder geisteswissenschaftlich fundierte Grundrechtstheorie ab und bestimmt die Funktion der Grundrechte ausschließlich durch eine Einordnung in eine Theorie der sozialen Differenzierung: Grundrechte „hemmen die strukturell bedingten Expansionstendenzen des politischen Systems im Interesse der Erhaltung einer differenzierten Kommunikationsordnung, die in ihren einzelnen Sphären auf spezifische funktionale Probleme der Gesellschaft bezogen ist. Sie finden ihre Daseinsberechtigung also im Dilemma von Struktur und Funktion, im Problem der funktionsgerechten Strukturierung der Sozialordnung, also in einem Problem, das erst in differenzierten Sozialordnungen auftauchen kann“.41

Nach Luhmann produziert die Sozialordnung zahllose Probleme, die durch den modernen Staat und seine Organisationen gelöst werden. Die Staatsorganisation ist dabei durch eine funktionale Differenzierung in einzelne abgegrenzte Kommunikationssphären gekennzeichnet, die ihrerseits auf spezifische Problementscheidungsaufgaben des politischen Systems spezialisiert sind. Problemlösungen auf der Ebene der Staatsorganisation setzen daher eine funktionierende Kommunikation der verschiedenen Subsysteme voraus, die durch eine bestimmte von Luhmann näher analysierte Struktur und Organisation des Kommunikationswesens gewährleistet wird: Das Kommunikationswesen operiert danach mit verschiedenen „Generalisierungsmechanismen“, z. B. „Mitgliedschaft in Gruppen“, die eine bestimmte „Einstellungserwartung“ bei den Kommunikationspartnern auslösen. In diesem Zusammenhang sieht Luhmann die Bedeutung der Grundrechte der Glaubens-, Versammlungs-, Meinungs-, und Vereinigungsfreiheit, die Erwartungsstrukturen koordinieren und den Bestand autonomer Teilsysteme der Gesellschaft sichern. Sofern durch die staatlichen Organe bestimmte Probleme des sozialen Systems gelöst werden, besteht nach Luhmann grundsätzlich die Gefahr, dass das politische System unerwartet aus dem gesellschaftlichen Rahmen ausbricht und bestimmte Subsysteme absorbiert oder zumindest in deren Funktionsbereiche eingreift. Ebenso wie das Prinzip der Gewaltenteilung oder allgemein das Prinzip der Trennung von Politik und Verwaltung haben die einzelnen Grundrechtsgarantien die grundsätzliche Aufgabe, sich an „einzelne Gefahrenpunkte zu heften“, „in denen das politische System dazu tendiert, über seine spezielle Funktion der Herstellung verbindlicher Entscheidungen hinauszugreifen“.42 Zur 40 41

Luhmann, N.: Grundrechte 1965. Luhmann, N.: Grundrechte 1965, S. 197.

II. Helmut Schelskys Begriff der Systemfunktionalität

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näheren Veranschaulichung dieser systemtheoretischen Grundrechtstheorie Luhmanns kann insbesondere auf seine Interpretation der Eigentumsgarantie in Art. 14 GG Bezug genommen werden: „Nur in seiner spezifischen Rolle als Teilnehmer an der Geldwirtschaft wird der Eigentümer geschützt, und das nicht um seiner Persönlichkeit willen (die ja keinerlei Kriterium für den Umfang des Schutzes abgibt), sondern um der Funktionsfähigkeit des Wirtschaftssystems willen. Dieses erfordert einen absoluten Schutz der auf Geld beruhenden individuellen Kommunikationschancen gegenüber dem Staat; denn ohne einen solchen Schutz wäre kein Verlass auf die Abstraktionen, die das Wirtschaftssystem tragen, . . . kurz: die Ausdifferenzierung der Wirtschaft als Untersystem der Gesellschaft wäre gefährdet.“43

II. Helmut Schelskys Begriff der Systemfunktionalität Der Soziologe Helmut Schelsky (1912–1984) fasst die unter dem geschilderten Verständnis von Funktion und funktionaler Analyse operierenden Konzepte der Rechtssoziologie und -anthropologie als systemfunktionale Ansätze zusammen. In dem Aufsatz „Systemfunktionaler, anthropologischer und personfunktionaler Ansatz der Rechtssoziologie“ kennzeichnet Schelsky die Charakteristika dieses Ansatzes wie folgt: „Die systemfunktionale Analyse des Rechts führt zu der Untersuchung, welche Leistungen das Recht für das Funktionieren des sozialen Systems als Ganzen erbringt. Das Individuum erscheint in diesen Analysen in zweierlei Gestalt: Als Normadressat und als Konfliktträger. Dies bedeutet, dass es einerseits die vom Recht produzierten und vertretenen Normsysteme (Legitimationen, Interpretationen, Entscheidungen, Sanktionen usw.) passiv als Motive seines Handelns aufnimmt, sein soziales Handeln als systemgeführt erscheint und so das Individuum sozusagen nur die Marionette der ihm auferlegten Normsysteme ist; andererseits kommt es aber – aus der Natur der Individuen und ihren Interessen, worauf nicht näher eingegangen wird – gerade durch das Handeln der Individuen zu Konflikten, die in diesem Falle nur als Auslöser für die institutionellen Prozesse des Rechts, d. h. zu normativen Systementscheidungen, führen, die wiederum als Handlungsmotive dem Individuum auferlegt werden.“44

Nach Auffassung Schelskys ist die systemfunktionale Analyse des Rechts im Wesentlichen auf den Siegeszug des universalistischen Erklärungsansatzes in der Soziologie zurückzuführen, dem er den individualistischen Theorieansatz gegenüber stellt. Der Sache nach nimmt Schelsky damit auf die schon in Kapitel 1 angeführte erkenntnistheoretische Auseinandersetzung zwischen Kultur- und Naturwissenschaften bzw. zwischen Idealismus und Positivismus Bezug: Die Sys42

Luhmann, N.: Grundrechte 1965, S. 97. Luhmann, N.: Grundrechte 1965, S. 123. 44 Schelsky, H.: Ansatz, in: ders. (Hrsg.): Die Soziologen und das Recht 1980, S. 95 ff., 112, 113. 43

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Kap. 2: Rechtssoziologische Einordnung des Funktionalismus

temtheorie sieht er als das Erbe des positivistischen Welt- und Menschenbilds an, in dem sich auf der Grundlage des naturwissenschaftlichen Wissenschaftsverständnisses der universale Erklärungsansatz des Positivismus fortsetzt. Diese wissenschaftsgeschichtlichen Hintergründe der Systemtheorie werden von Schelsky nicht im Einzelnen ausgeführt, sondern vorausgesetzt.45 Die von Schelsky vorgenommene Zweiteilung des sozialwissenschaftlichen Theorienansatzes beruht auf der Annahme einer Kontinuität des Erklärungsansatzes und der wissenschaftstheoretischen Grundposition zwischen den frühen soziologischen Arbeiten Comtes und Durkheims bis hin zu der (relativ) modernen Systemtheorie in Gestalt der Lehren Parsons und Luhmanns. Die Systemtheorie übernimmt dabei von ihren Vorläufern das leitende Erkenntnisziel der Entdeckung einer allgemeinen Theorie, in der sich alle sozial bedeutsamen Tatsachen wie in einem mathematischen Gleichungssystem unterbringen lassen. Dahinter steht die Überzeugung, dass der zu bearbeitende Gegenstand „Gesellschaft“ die vorausgesetzte Analogie zu den Naturwissenschaften überhaupt aufweist und daher den naturwissenschaftlichen Methoden zumindest prinzipiell zugänglich ist. Nach der Bestandsaufnahme Schelskys sind die letzten individualistischen Theorieansätze (Schelsky bezieht sich insoweit auf Max Weber und Alfred Schütz), die versuchen, soziale, politische oder rechtliche Verhältnisse vom Individuum aus zu erklären, von universalistischen Theorieansätzen, namentlich der Sytemtheorie verdrängt worden. So wendet z. B. Luhmann, den Schelsky in diesem Zusammenhang zitiert, gegen den individualistischen Theorieansatz ein: Es „kann nicht länger sinnvoll erscheinen, Rechts- und Gesellschaftswissenschaften vom Grundbegriff des Handelns aus zu konstruieren und sie damit auf dieses geringe Potential für Komplexität festzulegen. Vielmehr muss ein theoretischer Bezugsrahmen gesucht werden, der es ermöglicht, die Grenzen des Erlebnishorizontes des Handelnden zu sprengen und mehr Komplexität zu erfassen. Manches deutet darauf hin, dass die systemtheoretische Konzeption der modernen Soziologie sich auf diesem Weg befindet“.46

Schelsky begegnet dieser Kritik mit dem Argument, dass auch der individualistische Theorieansatz nicht auf die Verallgemeinerung seiner Aussagen verzichtet und damit ebenfalls für die Erfassung komplexer sozialer Tatbestände offen ist. An die Stelle der abstrakten Kategorie „System“ tritt in einem individualistischen Theorieansatz der generalisierende Begriff „der Mensch“, der es ermöglicht, denselben empirischen Lebenssachverhalt aus anderen Blickwinkeln zu beleuchten, so dass im Ergebnis andere Ableitungszusammenhänge, Analysen und Schwerpunktsetzungen in den Vordergrund treten. Aus der Perspektive des „generalisierten Individuums“ „der Mensch“ erhält das Recht daher auch 45 Vgl. hierzu: Bock, M.: Soziologie 1980; Tenbruck, F. H.: Sozialwissenschaften 1984; Ringer, F.: Die Gelehrten 1987. 46 Luhmann, N.: ARSP 53 (1967), 531 ff., 533.

II. Helmut Schelskys Begriff der Systemfunktionalität

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eine grundsätzlich andere Funktionsbestimmung als vor dem Hintergrund der Kategorie „System“. Schelsky bezieht sich für die danach maßgebliche „personfunktionale Analyse des Rechts“47 auf die Verwirklichung „politisch programmatischer Endzielentscheidungen“, die sich letztlich auf menschliche Sinngebung zurückführen lassen und an denen „der Mensch“ oder die staatliche Gemeinschaft Handlungen ausrichten. Drei in ihrer Entstehung unterschiedlichen rechtsgeschichtlichen Epochen zuzuordnende personale Leitideen des Rechts, die die politisch programmatischen Endzielentscheidungen konkretisieren, sind für ihn dabei wesentlich: (1) Das Handlungsprinzip der „Gegenseitigkeit auf Dauer“ bildet nach Schelsky zunächst die Grundlage früher personaler Rechtsbeziehungen und ist kennzeichnend für die Rechtssysteme segmentärer Gesellschaften.48 Unter Bezug auf Malinowski sieht er das Prinzip der Gegenseitigkeit oder Reziprozität in diesen Gesellschaften als eine Möglichkeit der Erzwingung, Durchsetzung und damit letztlich Befriedigung von individuellen Rechten und Bedürfnissen an. Denn durch die Gegenseitigkeitsbeziehung zweier Individuen oder Gruppen (Familien, Stämme) kann ein Partner der Beziehung bei Ausbleiben der Leistung den anderen durch eigene Leistungsverweigerung insbesondere dann in dieselbe Lage bringen, wenn die Beziehung von einer gewissen Dauerhaftigkeit 47 Mit der nachstehend geschilderten personfunktionalen Analyse des Rechts greift Schelsky einen in der Rechtssoziologie bisher vernachlässigten Gesichtspunkt auf. Nach seiner Bestandsaufnahme der bisherigen Leistungen der Rechtssoziologie aus dem Jahr 1978 [vgl. Schelsky, H.: Die Soziologen und das Recht, in: ders. (Hrsg.): Die Soziologen und das Recht 1980, S. 77 ff.] dominiert bislang die systemfunktionale Perspektive, in der das Recht auf seine integrative oder steuernde Funktion für das gesellschaftliche Ganze reduziert wird. Die Forderung nach einer personfunktionalen Analyse des Rechts ist auch heute noch aktuell und rechtfertigt es, zur Gegenüberstellung der systemfunktionalen und personfunktionalen Strafrechtsdogmatik (vgl. in diesem Kapitel III.) auf den Ansatz Schelskys Bezug zu nehmen. Zur Bedeutung und Aktualität der Position Schelskys vgl. z. B.: Raiser, T.: Das lebende Recht 1995, S. 183: „Die Stoßkraft von Schelskys ,personfunktionalem‘ Theorieansatz richtet sich gegen den Absolutheitsanspruch aller universalistischen Gesellschaftstheorien und gegen deren Tendenz, die personale Seite des Individuums und die ideelle Seite des Rechts zu eliminieren, nicht zuletzt auch gegen die Systemtheorie in der Gestalt, wie sie Niklas Luhmann vertritt. Darin liegt seine Aktualität, die es notwendig macht, Schelsky in einer Darstellung der gegenwärtigen Rechtssoziologie zu Wort kommen zu lassen, zumal sich die Schulsoziologie zur Zeit weithin der Auseinandersetzung mit seinen drängenden und berechtigten Fragen entzieht.“ 48 Mit dem Begriff der „segmentären Gesellschaft“ greift Schelsky einen zuerst von Durkheim (Arbeitsteilung 1977, S. 215–230) in die Diskussion eingeführten Terminus auf. Segmentäre Gesellschaften sind nach Durkheim durch geringe Arbeitsteilung gekennzeichnet. Sie bestehen aus einer Vielzahl gleicher, von einander unabhängiger Segmente, die „analog den Ringen eines Ringelwurmes“ (S. 230) alle dieselbe Funktion wahrnehmen und deshalb durch ein Band „mechanischer Solidarität“ verbunden sind. Der Begriff der segmentären Gesellschaft wurde später von der Social Anthropology (vgl. in diesem Kapitel I. 2.) übernommen und inhaltlich modifiziert, vgl. im Einzelnen Wesel, U.: Frühformen des Rechts 1985, S. 211–214.

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Kap. 2: Rechtssoziologische Einordnung des Funktionalismus

ist und die Interaktionspartner daher spezifisch aufeinander angewiesen sind. Vergleichbare, dem Prinzip „Gegenseitigkeit auf Dauer“ unterstellte Beziehungen erkennt Schelsky auch außerhalb der segmentären Gesellschaften, etwa im Bereich des Völkerrechts oder grundlegend in den ökonomischen Beziehungen der Person. (2) Das personale Leitprinzip „Gleichheit bei Verschiedenheit“ ist nach Auffassung Schelskys unmittelbar mit der Entstehung des modernen Staates verbunden und zielt darauf ab, die politischen und sozialen Differenzen von Herrschenden und Beherrschten auszugleichen. In diesem Zusammenhang versteht Schelsky, dem Standpunkt Luhmanns diametral entgegengesetzt, die Funktion der Grundrechte und der subjektiven (öffentlichen) Rechte im Wesentlichen als Abwehransprüche der Person gegenüber dem Herrschaftsanspruch des Staates: Subjektive Rechte gewährleisten „Gleichheit bei Verschiedenheit“, denn sie versehen eine Person auch dann mit einer Machtquelle, wenn diese ohne das subjektive Recht gänzlich machtlos wäre. Subjektive Rechte verteilen unter bestimmten Voraussetzungen Macht auf Individuen, sie sichern die „Einwirkung der Individuen auf die – etwa widerstrebenden oder störenden – Willenseinwirkungen und Handlungen anderer“.49 Anhand dieser gegensätzlichen Interpretation der subjektiven Rechte durch Luhmann einerseits und Schelsky andererseits zeigt sich auch die „Komplementarität der Perspektiven“, mit der sich der systemfunktionale und der personfunktionale Ansatz ein und derselben empirischen Lebenswirklichkeit, hier dem „Recht der Gesellschaft“ zuwenden: Schelsky führt in diesem Zusammenhang aus: Jeder Ansatz entwickelt eine „eigene, zum anderen sich gegensätzlich, ja oft sich ausschließend verhaltende Perspektive in der Problematisierung der betreffenden Erscheinungen der sozialen Wirklichkeit. Diese Gegensätzlichkeit der Gesichtspunkte führt bei denkkonsequenter Verfolgung des Theorieansatzes zu antagonistischen Problem- und Kategoriensystemen, wobei die universalistischen Sozialtheorien zur Aufstellung von Ordnungs-, Integrations- und Institutionsproblematiken neigen . . .“.50

(3) Als gegenwärtige aktuelle personale Leitidee des Rechts in westlichen Gesellschaften bezieht er sich auf „Integrität und Autonomie der Person gegenüber Organisation“. In den modernen westlichen Gesellschaften ist die Freiheit des Individuums nach Schelsky nicht allein durch staatliche Herrschaft bedroht, sondern auch durch soziale Organisationen, die Meinungen und Handlungen steuern und beeinflussen, so dass hier ein weitergehender Schutz erforderlich ist, als er etwa durch die Grundrechte gewährleistet wird. Schelsky führt die personfunktionale Deutung des Rechts anhand der aufgezeigten Bezugspunkte bis auf einige illustrierende Beispiele nicht selbst durch, 49 Schelsky, H.: Ansatz, in: ders. (Hrsg.): Die Soziologen und das Recht 1980, S. 95 ff., 135. 50 Schelsky, H.: Ansatz, in: ders. (Hrsg.): Die Soziologen und das Recht 1980, S. 95 ff., 98 (Hervorhebung im Original).

III. Konsequenzen für die Einordnung des Funktionalismus

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sondern er erklärt diese zu einer bislang ungelösten Aufgabe künftiger Rechtssoziologie, von der er sich vor allem größere Bedeutung für die Rechtspraxis erhofft. Denn im Hinblick auf den systemfunktionalen Ansatz fällt sein Urteil im Ergebnis vernichtend aus: „Dies wirft die Frage auf, für wen die soziologische Theorie Luhmanns von praktischem Wert sein kann. Ganz sicher nicht für den praktizierenden Juristen: Ein Richter entscheidet nicht über die Funktion des sozialen Systems, sondern er löst einen Fall. Der Gesichtspunkt der Eigenständigkeit subjektiver Rechte ist für ihn niemals aufgebbar, sondern für sein Handeln und Entscheiden konstitutiv.“51

III. Konsequenzen für die Einordnung des Funktionalismus 1. Systemfunktionale oder personfunktionale Strafrechtsdogmatik Bei dieser im Jahr 1978 erstmals veröffentlichten Einschätzung des praktischen Nutzens der Systemtheorie für die Jurisprudenz war es Schelsky offensichtlich entgangen, dass bereits zwei Jahre zuvor im Rahmen einer Antrittsvorlesung an der Universität Kiel von dem Strafrechtslehrer Günther Jakobs der Versuch unternommen worden war, durch einen Rückgriff auf die Systemtheorie Luhmanns unmittelbar Strafrechtsdogmatik zu betreiben und diese damit praktisch zu nutzen. In diesem später unter dem Etikett „Funktionalismus“ firmierenden Ansatz entwirft Jakobs, der nach der vorläufigen Einordnung des Funktionalismus in Kapitel 1 als einer der Protagonisten und Begründer dieser Richtung in der Strafrechtsdogmatik angesehen werden kann, eine systemtheoretische Legitimierung und Auslegung des Schuldbegriffs, in der er sich von der tradierten Deutung dieser strafrechtlichen Systemkategorie bewusst distanziert. Wie im folgenden Kapitel 3 noch genauer zu zeigen sein wird, sieht Jakobs die Funktion der Kategorie „Schuld“ im Wesentlichen darin, festzustellen, ob in einem konkreten Einzelfall und unter den spezifischen Bedingungen der Verwirklichung eines gesetzlichen Straftatbestandes das Bedürfnis besteht, „zur Bestätigung der Verbindlichkeit der Ordnung gegenüber dem rechtstreuen Bürger in bestimmtem Maß zu strafen“.52 Schuld wird nach Jakobs folglich nicht durch bestimmte personale Kriterien wie „Vorwerfbarkeit“, „Unrechtsbewusstsein“ und „Schuldfähigkeit“ begründet, sondern unmittelbar durch einen Rückbezug auf die Bedürfnisse des „Systems“ bestimmt: Schuld ist nach Jakobs identisch mit den Erfordernissen positiver Generalprävention und nach dieser Prävention im Einzelfall zu bemessen.53

51 Schelsky, H.: Ansatz, in: ders. (Hrsg.): Die Soziologen und das Recht 1980, S. 77 ff., 93 (Hervorhebung im Original). 52 Jakobs, G.: Schuld und Prävention 1976, S. 9. 53 Jakobs, G.: Schuld und Prävention 1976, S. 9.

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Kap. 2: Rechtssoziologische Einordnung des Funktionalismus

Das Beispiel Jakobs’ und die bei ihm besonders deutliche Nähe zur Systemtheorie legen es nahe, die unter dem Etikett des Funktionalismus im Strafrecht firmierenden Ansätze unter Rückgriff auf die Typologie Schelskys inhaltlich präziser als systemfunktionale Ansätze zu bezeichnen und alternativen personfunktionalen Deutungen des Strafrechts gegenüberzustellen. Bei dieser Klassifikation kommt es weniger darauf an, ob die Autoren ausdrücklich auf rechtssoziologisch-systemtheoretische Ansätze Bezug nehmen als vielmehr auf die Argumentation. Systemfunktional ist die Inhaltsbestimmung der strafrechtlichen Begriffe dann, wenn bei ihrer Auslegung unmittelbar auf den Beitrag zur Erhaltung des Systems abgestellt wird. Die Theorie der positiven Generalprävention als Leitkriterium für die Auslegung des Schuldbegriffes ist auf diese Bestandsfunktion bezogen. Denn nach dieser Theorie besteht die Bedeutung der Strafe (wie bereits oben am Beispiel der Theorie Emile Durkheims ausgeführt) im Wesentlichen darin, den Geltungsanspruch der verletzten Norm zu verdeutlichen und damit das durch Normen maßgeblich organisierte soziale System insgesamt zu stabilisieren. Personfunktional ist demgegenüber eine Auslegung strafrechtlicher Grundbegriffe, die an auf die Person des Straftäters bezogenen Leitkriterien orientiert ist. Die dem personfunktionalen Ansatz zugrunde liegende Vorstellung vom Wesen des Menschen ist die eines frei handelnden und sich frei entfaltenden Individuums und entspricht damit dem Menschenbild des Grundgesetzes in seiner Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht.54 Dieser potentiellen Entfaltungsfreiheit des Menschen korrespondiert die persönliche Verantwortlichkeit des handelnden Individuums für seine Tat, die das übergeordnete personale Leitkriterium und den zentralen Beurteilungsmaßstab des personfunktionalen Ansatzes darstellt.55 Die personfunktionale Strafrechtsdogmatik zielt somit darauf ab, bei den einzelnen Voraussetzungen der Strafbarkeit jeweils die Bedingungen zu ermitteln, unter denen diese personale Zurechnung möglich ist. Da der Beurteilungsgegenstand jeweils ein bestimmtes menschliches Verhalten 54 BVerfGE 45, 187 ff., 227: „Der Staatsgewalt ist in allen ihren Erscheinungsformen die Verpflichtung auferlegt, die Würde des Menschen zu achten und sie zu schützen. Dem liegt die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und zu entfalten“. Nach einer vergleichbaren Formulierung des BVerfG (BVerfGE 32, 98 ff., 107, 108) liegt dem Grundgesetz ein Bild „vom Menschen als eigenverantwortliche Persönlichkeit, die sich innerhalb der Gemeinschaft frei entfaltet“, zugrunde. Vgl. zu den Konsequenzen dieses Menschenbildes für die Legitimation der Strafe und das Schuldprinzip: Hettinger, M. in: ders. (Hrsg.): Reform des Sanktionenrechts Bd. 1 2001, S. 189 ff., 279; Jescheck, H.-H.: Das Menschenbild unserer Zeit 1957. 55 Die persönliche Verantwortlichkeit des handelnden Individuums wird von Vertretern des personfunktionalen Ansatzes immer wieder hervorgehoben; vgl. z. B. BGHSt 2, 194, 200; Welzel, H.: Strafrecht 1969, S. 138; Kaufmann, Arth.: Schuldprinzip 1976, S. 280 ff.; Jescheck/Weigend: Strafrecht AT 1996, S. 216; Jescheck, H.-H.: JBl 1998, 609 ff., 612 (m. w. N.).

III. Konsequenzen für die Einordnung des Funktionalismus

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darstellt, bezieht der personfunktionale Ansatz die strafrechtlichen Begriffe wie Handlung, Vorsatz oder Schuld auf eine ontologische Grundsubstanz, die niemals vollständig durch kriminalpolitische Wertung ersetzt werden kann.56 Die begriffliche Umschreibung dieser ontologischen Grundsubstanz baut in einem personfunktionalen Strafrecht auf den Vorstellungen auf, die den Menschen aus dem Leben im Alltag geläufig sind und die von ihnen selbst nachvollzogen werden können.57 Nur wenn die Auffassungen von dem, was zum Beispiel Handlung, Vorsatz oder Schuld im Strafrecht bedeuten, auf den Sinn dieser Begriffe in der Sprache der handelnden Individuen bezogen sind, können die Menschen ihr eigenes Verhalten an den strafrechtlichen Geboten und Verboten ausrichten. Nicht zuletzt deshalb ist die Definitionsmacht der Strafrechtswissenschaft bei der Auslegung des geltenden Rechts aus einer personfunktionalen Perspektive begrenzt: Durch Auslegung darf den Grundbegriffen des Strafrechts insbesondere keine Bedeutung beigemessen werden, die dem alltagsweltlichen Begriffsverständnis entgegengesetzt ist oder sich vollständig von ihm löst.58 Das personfunktionale Kriterium der persönlichen Verantwortlichkeit des handelnden Menschen ist gleichzeitig die alleinige Legitimationsgrundlage für den staatlichen Eingriff in Gestalt der Kriminalstrafe, ohne dass es dabei zunächst auf den Nutzen der strafrechtlichen Zurechnung für die Allgemeinheit ankommt. Durch die Orientierung der strafrechtlichen Begriffsbildungen an personalen Leitprinzipien werden die Bedingungen, unter denen sich ein Verhalten als strafbar darstellt, für die handelnden Individuen berechenbar und voraussehbar und der staatliche Eingriff in die Grundrechte der Bürger wird entscheidend begrenzt. Er ist nur dann möglich, wenn die persönliche Verantwortlichkeit des 56 Der Zusammenhang zwischen personfunktionaler Dogmatik und ontologischer Fundierung zentraler Begriffe des Strafrechts wird z. B. deutlich bei Hirsch, H. J. in: Regensburg-FS 1993, S. 35 ff., 48, 49; ders. in: Köln-FS 1988, S. 399 ff., 404 ff.; Küpper, G.: Grenzen 1990, S. 83 ff.; Jescheck/Weigend: Strafrecht AT 1996, S. 215 ff. 57 Dieser Gesichtspunkt wird insbesondere auch von Schünemann hervorgehoben, vgl. Schünemann, B.: GA 1995, 201 ff., 218. 58 Daher hebt zum Beispiel Hruschka in seinem Lehrbuch zum Strafrecht hervor, dass die strafrechtswissenschaftliche Erörterung der Probleme des Allgemeinen Teils damit beginnt, das Gesetz „beim Wort“ zu nehmen (Hruschka, J.: Strafrecht 1988, S. XVI), und er warnt davor, die Kategorien des Strafrechts „vom Ergebnis her‘ . . . zu verbiegen und zu verfälschen“. Um diese Forderung zu unterstreichen, veranschaulicht er das „Verbiegen“ des Gesetzeswortlauts an einem anschaulichen Beispiel aus der Literatur, dem Gespräch zwischen „Goggelmoggel“ und „Alice“ in Lewis Carroll’s Erzählung „Alice hinter den Spiegeln“ (Hruschka, J.: Strafrecht 1988, S. XVIII, Hervorhebung im Original): «„Ich verstehe nicht, was Sie mit ,Glocke‘ meinen“, sagte Alice. Goggelmoggel lächelte verächtlich. „Wie solltest du auch – ich muss es dir doch zuerst sagen. Ich meinte: ,Wenn das kein einmalig schlagender Beweis ist!‘“ „Aber ,Glocke‘ heißt doch gar nicht ein ,einmalig schlagender Beweis‘“, wandte Alice ein. „Wenn ich ein Wort gebrauche“, sagte Goggelmoggel in recht hochmütigem Ton, „dann heißt es genau, was ich für richtig halte – nicht mehr und nicht weniger.“ „Es fragt sich nur“, sagte Alice, „ob man Wörter einfach etwas anderes heißen lassen kann.“ „Es fragt sich nur“, sagte Goggelmoggel, „wer der stärkere ist, weiter nichts“».

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Kap. 2: Rechtssoziologische Einordnung des Funktionalismus

Täters begründet werden kann. Kann ein solcher Vorwurf nicht erhoben werden, wäre „Strafe eine mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbare Vergeltung für einen Vorgang, den der Betroffene nicht zu verantworten hat“.59 Mit dieser Grundausrichtung verwirklicht der personfunktionale Ansatz das von Schelsky hervorgehobene Leitprinzip der „Gleichheit bei Verschiedenheit“. Er schützt die Grundrechte der Person auch dann vor dem staatlichen Zugriff in Form der Strafe, wenn die strafrechtliche Zurechnung im Hinblick auf die Interessen des Systems funktional und nützlich wäre. Bei der Gegenüberstellung des systemfunktionalen und des personfunktionalen Ansatzes geht es daher nicht um eine autoritäre oder eine liberale Interpretation des Strafrechts, sondern um eine unterschiedliche Beurteilungsperspektive, aus der sich für den Umfang des strafrechtlichen Zurechnungsurteils dann allerdings verschiedene Konsequenzen ergeben können. Den Maßstab des systemfunktionalen Ansatzes bilden die von den Autoren konkret festgestellten oder postulierten Bedürfnisse des Systems, während für den personfunktionalen Ansatz der Umfang der persönlichen Verantwortlichkeit leitend ist. Die Auslegung der Systemkategorie Schuld am Prinzip der Vorwerfbarkeit60 stellt ein anschauliches Beispiel für die Orientierung der strafrechtlichen Zurechnung an einem personfunktionalen Leitkriterium dar. Auch wenn die Prüfung des einzelnen Falles hier rechtstechnisch so ausgestaltet ist, dass nicht positiv nach der im Einzelfall bestehenden Schuld, sondern negativ nach Schuldausschließungs- oder Entschuldigungsgründen (Schuldfähigkeit, Irrtum, Notstand usw.) gefragt wird, sind es doch höchstpersönliche Umstände in der Person des Täters und nicht bestimmte Interessen des „Systems“, die die Grundlage für die rechtliche Bewertung des Geschehens als schuldhaft abgeben,61 und den Eingriff des Staates in die Grundrechte der Betroffenen legitimieren. Diese Grundorientierung der personfunktionalen Strafrechtsdogmatik kommt deutlich etwa in der Stellungnahme Jeschecks62 zum Ausdruck, der sich im Rahmen seiner Darstellung zur Schuld in einer für den Autor ungewöhnlichen Schärfe63 dezidiert gegen die Schuldlehre Jakobs’ abgrenzt: „Die Ersetzung der Schuld durch die Generalprävention ist indessen unbedingt abzulehnen, weil damit die Orientierung des Strafrechts an der persönlichen Verantwortlichkeit des Täters für seine Tat zum Schaden für die individuelle Gerechtigkeit preisgegeben würde. . . . Bei der Schuld handelt es sich um die Frage, ob und in 59

BVerfGE 20, 323 ff., 331. H. M., vgl.: BGHSt 2, 194 ff., 200; BVerfGE 20, 323 ff., 331; Lackner/Kühl: vor § 13 StGB 2001, Rn. 23; Schönke-Schröder-Lenckner, vor § 13, Rn. 108, 110. 61 Lüderssen, K.: Genesis und Geltung 1996; Günther, K. in: Lüderssen, K. (Hrsg.): Aufgeklärte Kriminalpolitik 1998, S. 319 ff. 62 Ebenso in der Schuldlehre Arthur Kaufmanns, vgl. dazu im Einzelnen Kapitel 3 II. 63 Vgl. Hettinger, M. in seiner Rezension der 5. Aufl. des Lehrbuchs von Jescheck/ Weigend, GA 1997, 430 ff., 431. 60

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welchem Grade die Tat dem Täter persönlich vorgeworfen werden kann, bei der Generalprävention geht es darum, ob und in welchem Grade wegen der schuldhaften Tat eine Sanktion gegen den Täter erforderlich ist, um die Rechtstreue der Allgemeinheit aufrechtzuerhalten, was aber allein durch eine ,verdiente‘ Strafe erreicht werden kann.“64, 65

Über diese Fundierung der personfunktionalen Strafrechtsdogmatik in den Kategorien der Verantwortlichkeit und Vorwerfbarkeit hinaus verwirklicht das personfunktionale Strafrecht den Schutz der Person vor dem staatlichen Zugriff in Form der Kriminalstrafe durch bestimmte grundrechtsschützende Prinzipien, die unmittelbar aus der Verfassung und insbesondere aus dem Rechtsstaatsprinzip und aus Art. 103 Abs. 2 GG abgeleitet werden können.66 Diese Prinzipien binden nicht nur den Gesetzgeber, sondern die gesamte Staatsgewalt (Art. 28 Abs. 1 GG) und sind daher auch bei der Auslegung der Strafgesetze zu berücksichtigen. So sollen die Grenzen der Strafbarkeit durch eine möglichst genaue Bezeichnung der Voraussetzungen des Eingriffs in den gesetzlichen Straftatbeständen festgelegt werden (Bestimmtheitsgrundsatz). Zur Gewährleistung der allgemeinen Handlungsfreiheit hat sich das Strafrecht ferner auf Eingriffe zu beschränken, die für das Zusammenleben in der Gemeinschaft unerlässlich sind.67 Die genannten Prinzipien und ihre Ableitung aus der Verfassung zeigen, dass die oben skizzierte personale Unrechtslehre nicht zwingend auf diese aus der rechtsstaatlichen Tradition entwickelten Grundsätze angewiesen ist. Es handelt sich insoweit nämlich um Kriterien, die unabhängig von der Orientierung der strafrechtlichen Zurechnung an der Person und dem Umfang ihrer Verantwortlichkeit für die Tat sind. Unter dem übergeordneten Gesichtspunkt des personfunktionalen Ansatzes nach dem Verständnis von Schelsky sind diese Verfassungsprinzipien vielmehr insofern konstitutiv für die personfunktionale Grundausrichtung des Strafrechts, als sie „Gleichheit bei Verschiedenheit“ gewährleisten und staatliche Machtbefugnisse im Interesse der Freiheit der Person beschränken.

64 Jescheck/Weigend: Strafrecht AT 1996, S. 216; vgl. auch Jescheck, H. H.: JBl 1998, 609 ff., 616. 65 Die hier im Grundansatz dargestellte Argumentation des personfunktionalen Ansatzes wird in den folgenden Kapiteln 3–5 im Rahmen der Konfrontation des systemfunktionalen Ansatzes mit den Lösungsansätzen der personfunktionalen Strafrechtsdogmatik (jeweils unter der Abschnittsüberschrift „Kritik aus personfunktionaler Sicht“) näher veranschaulicht, vgl. z. B. Kapitel 3 III. 1. d), 2. c), 4. c); Kapitel 4 I. 2. c), II. 1. d), 2. d), 4. c); Kapitel 5 I. 4., II. 1. b), 2. b) cc). 66 Vgl. dazu im Einzelnen: Appel, I.: Verfassung und Strafe 1998, S. 108 ff. 67 Vgl. z. B. die Formulierung des BVerfG in BVerfGE 39, 1 ff., 46: „Aufgabe des Strafrechts war es seit jeher, die elementarsten Werte des Gemeinschaftslebens zu schützen“.

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Die Gegenüberstellung der für die nachfolgende Darstellung zentralen Paradigmen des systemfunktionalen und des personfunktionalen Strafrechts verweist bereits darauf, dass es innerhalb des Spektrums der in der Bundesrepublik Deutschland vertretenen strafrechtswissenschaftlichen Lehrmeinungen Positionen gibt, die den einen oder anderen Ansatz in einer mehr oder weniger „reinen“ Form verwirklichen, während andere sich der personfunktionalen oder der systemfunktionalen Dogmatik nur annähern oder Mischformen personfunktionaler und systemfunktionaler Begründungsansätze vertreten. Daher erscheint es als sachgerecht, die Begriffe der systemfunktionalen und personfunktionalen Strafrechtsdogmatik als eine besondere Art von Idealtypen im Sinne Max Webers68 aufzufassen und sich damit bewusst zu sein, dass diese in der Strafrechtswissenschaft lediglich als Grenzfall69 vorkommen. Die Begriffe systemfunktional und personfunktional sind daher in der vorliegenden Abhandlung vor allem ein Erkenntnismittel, um strafrechtliche Positionen näher zu systematisieren und in dem Spektrum zwischen personfunktional einerseits und systemfunktional andererseits differenzierend einzuordnen. Sie dienen folglich dazu, herausarbeiten, ob und inwieweit sich ein Autor oder eine „Schule“ dem einen oder anderen Ansatz in einer mehr oder weniger ausgeprägten Form annähert. 2. Die Hörfallenproblematik als strafprozessrechtliches Beispiel für die hier getroffene Differenzierung Die alternativen funktionalen Deutungen und Inhaltsbestimmungen des Rechts können ohne Vorgriff auf die folgende, auf das materielle Strafrecht beschränkte Untersuchung zunächst anhand eines Beispiels aus dem Strafprozessrecht veranschaulicht werden: Das geltende Strafprozessrecht weist eine Reihe von relativ abstrakten personfunktionalen Prinzipien auf, die unmittelbar auf die von Schelsky entwickelten Kategorien rückbezogen werden können. So sichert z. B. das „fair trial-Prinzip“,70 das durch weitere Grundsätze von niedrigerer Abstraktionshöhe, wie etwa den „Vertrauensschutz“ oder die „Waffengleichheit“ konkretisiert wird, „Gleichheit bei Verschiedenheit“ im Sinne Schelskys. Denn dieses Prinzip und seine nähere Umschreibung dienen insbesondere dazu, dem Beschuldigten die Chance zu sichern, sich gegenüber der ihm an Mitteln überlegenen Anklagebehörde bestmöglich zu verteidigen.71 Werden bei der Auslegung einer Bestim68 Vgl. bereits Bock, M.: Recht ohne Maß 1988, S. 128, der die Leitideen des personfunktionalen Ansatzes Schelskys als Idealtypen bezeichnet. 69 Vgl. Weber, M.: Wissenschaftslehre 1985, S. 427 ff., 438. 70 Roxin, C.: Strafverfahrensrecht 1998, S. 76 (mit Nachweisen zur Rechtsprechung des BVerfG); Kleinknecht/Meyer-Goßner: Einl. Rn. 19; Beulke, W.: NStZ 1996, 257 ff., 259. Das „fair-trial-Prinzip“ wird aus dem Grundgesetz, insbesondere aus Art. 1 GG sowie dem Rechts- und Sozialstaatsprinzip (Art. 20, 28 GG) abgeleitet.

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mung der StPO unter Bezug auf das „fair trial-Prinzip“ z. B. die Grenzen zulässiger Beweisgewinnung im Ermittlungsverfahren gezogen, so geschieht dies durch Rückgriff auf ein personfunktionales Abgrenzungskriterium. Gleiches gilt für den „nemo-tenetur-Grundsatz“,72 nach dem niemand verpflichtet ist, sich selbst anzuzeigen, gegen sich selbst Zeugnis abzulegen oder sich zu belasten. Auch hier steht der Schutz der Freiheit des Beschuldigten vor der staatlichen Autorität im Vordergrund. Die genannten Prinzipien können Grundrechtseingriffe durch Strafverfolgungstätigkeit beschränken und stehen folglich in einem latenten Konflikt zu den Interessen des Staates bzw. der Gesellschaft (des „Systems“) an einer möglichst effektiven Strafverfolgung. Der Streit um die Reichweite der personfunktionalen Kriterien bei der Lösung von Auslegungsproblemen einzelner Normen des Strafprozessrechts erweist sich daher der Sache nach häufig als Auseinandersetzung in Bezug auf das Überwiegen systemfunktionaler oder personfunktionaler Argumente und Kriterien. Ein instruktives Beispiel für diese Problematik bildet die aktuelle Diskussion über die Zulässigkeit der zielgerichteten Ausforschung des Beschuldigten durch eine Privatperson und der Verwertbarkeit der so erlangten Erkenntnisse im Hauptverfahren. a) Die Position der Rechtsprechung In den Untersuchungshaftfällen geht es dabei um die Problematik, ob eine Aussage verwertbar ist, die der Beschuldigte in der Untersuchungshaft gegenüber einer von den Ermittlungsbehörden zum Zweck des Aushorchens in die Zelle des Betroffenen verlegten Privatperson abgegeben hat. Der 5. Strafsenat des BGH hatte im Jahr 198773 in einer solchen Fallkonstellation einen Verstoß gegen die §§ 136a, 163a Abs. 4 S. 2 StPO angenommen, die nach seiner Auffassung auf diese Form der Beweisgewinnung analog anzuwenden sind. Eine unmittelbare Anwendung des § 136a StPO (über § 163a Abs. 4 S. 2 StPO) kam deshalb nicht in Betracht, weil nach Auffassung des Senats eine Vernehmung im Sinne dieser Bestimmung nur dann vorliegt, wenn der Vernehmende dem Beschuldigten in amtlicher Funktion gegenübertritt und auch in dieser Funktion von ihm Auskunft verlangt.74 Die analoge Anwendung des § 136a StPO begründete der Senat mit einem aus dem nemo-tenetur-Grundsatz abgelei71

Roxin, C.: Strafverfahrensrecht 1998, S. 76; BGHSt 24, 24 ff. Roxin, C.: NStZ 1995, 465 ff.; Verrel, T.: NStZ 1997, 361 ff.; Kleinknecht/MeyerGoßner: Einl. Rn. 29a. 73 BGHSt 34, 362 ff. 74 BGHSt 34, 362 ff., 363, a. A. in der Rechtsprechung aber noch LG Stuttgart, NStZ 1985, 568 ff. (unter Bezug auf LR-Hanack, § 136 StPO, Rn. 7): „Jede amtliche Befragung in einem Ermittlungsverfahren, d. h. die Aussage, die ein Ermittlungsorgan herbeiführt, ist eine Vernehmung“ (Hervorhebung H.S.) und später LG Darmstadt, StV 1990, 104 ff. 72

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teten und in § 136 Abs. 1 S. 2 StPO verankerten „Schweigerecht“ des Beschuldigten, das durch die Vorgehensweise der Ermittlungsbehörden unterlaufen worden war. Denn die besonderen Bedingungen der Untersuchungshaft, die von den Strafverfolgungsbehörden gezielt ausgenutzt worden seien, stellten eine Zwangseinwirkung dar, „die vom Strafverfahrensrecht nicht mehr abgedeckt und deshalb unzulässig“75 sei. In einer ähnlich gelagerten Entscheidung aus dem Jahre 1998 hat der 5. Senat diese Rechtsprechung bestätigt76 und sich in der Begründung seiner Entscheidung ergänzend auf den „fair-trial-Grundsatz“ bezogen. Dieser Grundsatz sei jedenfalls dann verletzt, wenn die Freiheit des Beschuldigten, sich über seine Tat zu äußern, maßgeblich eingeschränkt sei und die Privatperson auf den Beschuldigten förmlich „angesetzt“ werde. Eine solche Lage sieht der Senat wiederum unter den situativen Bedingungen der Untersuchungshaft als gegeben an. Hier werde der Beschuldigte in so engen Kontakt mit dem „Polizeispitzel“ gebracht, dass er in der Möglichkeit, sich dieser Einflussnahme zu entziehen, maßgeblich beschränkt sei.77 Eine vergleichbare Position hatte der 5. Senat bereits im Jahre 1995 in einer Fallkonstellation eingenommen, in der der Beschuldigte durch eine Privatperson in einem durch die Ermittlungsbehörden veranlassten Telefonat ausgehorcht worden war (sog. Hörfalle).78 Der Senat sah in diesem Verhalten der Strafverfolgungsorgane mangels einer Täuschung keinen Verstoß gegen § 136a StPO analog, da es an einer der Untersuchungshaft vergleichbaren Zwangslage fehle, sondern begründete ein Verwertungsverbot nunmehr über eine analoge Anwendung des § 136 Abs. 1 StPO. Zur Rechtfertigung der Analogie bezog sich der 5. Senat im Wesentlichen auf den Grundsatz des fairen Verfahrens und damit im Ergebnis auf ein personfunktionales Kriterium: „Wird in solchen Fällen die bei einer förmlichen Vernehmung gesetzlich gebotene Belehrung über das Schweigerecht des Beschuldigten (§ 136 I 2 StPO), die ein faires Verfahren sichert (BGHSt 38, 214, 221), umgangen, steht dies der unterbliebenen Belehrung im Rahmen einer förmlichen Vernehmung (s. dazu BGHSt 38, 214) gleich, soll das Schweigerecht des Beschuldigten, das Verfassungsrang hat (BVerfGE 36, 105, 113; 56, 37, 43; BGHSt 38, 214, 220), nicht ausgehöhlt werden.“79

Da diese Auffassung der Rechtsprechung anderer Strafsenate des Bundesgerichtshofs80 widersprach, hatte der 5. Senat die Sache gemäß § 132 Abs. 4 GVG dem Großen Senat vorgelegt, der im Ergebnis keinen Verstoß gegen 75

BGHSt 34, 362 ff., 364. BGHSt 44, 129 ff. mit Anm. Hanack, E.-W.: JR 1999, 348; Roxin, C.: NStZ 1999, 149 ff. 77 BGHSt 44, 129 ff., 134. 78 BGH NStZ 1995, 410 ff. (Anfragebeschluss) und BGH NStZ 1996, 200 ff. (Vorlagebeschluss). 79 BGH NStZ 1995, 410 ff., 411 (Anfragebeschluss). 76

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§ 136 Abs. 1 StPO analog und folglich kein Verwertungsverbot annahm. § 136 Abs. 1 StPO schütze nicht die Freiheit von Irrtum und sei im Fall des zielgerichteten Aushorchens allenfalls in Fallkonstellationen verletzt, bei denen der Beschuldigte durch Zwang zur Aussage oder zur Mitwirkung am Strafverfahren gezwungen werde. Nach der Rechtsansicht des Großen Senats verstößt die durch die Revision beanstandete Ermittlungspraxis jedenfalls auch dann nicht gegen „übergeordnete rechtsstaatliche Grundsätze“, wenn es „um die Aufklärung einer Straftat von erheblicher Bedeutung geht und die Erforschung des Sachverhalts unter Einsatz anderer Ermittlungsmethoden erheblich weniger erfolgversprechend oder wesentlich erschwert gewesen wäre“.81 Mit der nachfolgenden differenzierten Erörterung des „nemo-tenetur-Grundsatzes“ versucht der Große Senat, die Grenzen der Berücksichtigung personfunktionaler Kriterien zu bestimmen und befürwortet damit im Ergebnis – wie bereits in dem obigen Zitat angedeutet – eine am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientierte einzelfallbezogene Gesamtabwägung: Auf der einen Seite stehen die personfunktionalen Prinzipien des fairen Verfahrens und der „nemo-teneturGrundsatz“, aus denen sich dann „Bedenken ergeben, wenn die Ermittlungsbehörden den Beschuldigten in der zur Prüfung gestellten Weise verdeckt zu Äußerungen veranlassen“.82 Auf der anderen Seite müssen aber der vorschnellen Annahme eines Verwertungsverbots Grenzen gezogen werden. Dies soll dann der Fall sein, wenn die den Gegenstand der Verfolgung bildenden Taten Straftaten von erheblicher Bedeutung darstellen und der Einsatz anderer Ermittlungsmethoden „für deren Auswahl untereinander wiederum der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gilt, erheblich weniger erfolgversprechend oder wesentlich erschwert wäre“.83 b) Die Argumentation der Literatur In der Literatur ist diese vermittelnde Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs breit rezipiert worden. Für die Veranschaulichung systemfunktionaler und personfunktionaler Dogmatik sind dabei aus dem Meinungsspektrum vor allem zwei Ansätze bedeutsam, die zwar beide unter dem Etikett „funktional“ firmieren, tatsächlich aber diametral entgegengesetzte Standpunkte einnehmen. (1) Nach dem zuerst von Seebode so genannten „funktionalen Vernehmungsbegriff“,84 der sich inhaltlich auch mit der Auslegung des Begriffs Vernehmung in §§ 136, 136a StPO durch die ältere Judikatur85 und eines Teils des Schrift80 Vgl. die Rechtsprechung des 2. Senats, BGHSt 39, 335 ff.; des 1. Senats, BGHSt 40, 211 ff.; sowie des 3. Senats, BGHSt 41, 42 ff. 81 BGHSt (Großer Senat) 42, 139 ff., 145. 82 BGHSt (Großer Senat) 42, 139 ff., 157. 83 BGHSt (Großer Senat) 42, 139 ff., 157.

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tums deckt, das zur Charakterisierung der eigenen Auffassung den Begriff „funktional“ allerdings nicht verwendet,86 ist unter einer Vernehmung des Beschuldigten im Sinne der genannten Bestimmungen jede Aussagesituation zu verstehen, die von Verfolgungsbehörden zur Erfüllung der Aufgaben amtlicher Sachverhaltsaufklärung geschaffen wird. Damit fallen auch solche Äußerungen unter den Schutz der §§ 136, 136a StPO, die von den Strafverfolgungsorganen indirekt (z. B. in den Untersuchungshaft- oder Hörfallen-Fallkonstellationen) oder durch verdeckte Ermittlungen erlangt worden sind. Diese regelmäßig ohne die erforderliche Belehrung über die Aussagefreiheit und das Recht, einen Verteidiger zu konsultieren (§ 136 Abs. 1 S. 2 StPO), erlangten Aussagen sind unmittelbar an §§ 136, 136a StPO zu messen und unterliegen daher in der Regel einem Verwertungsverbot. Seebode und die ihm folgende Literatur will mit dem „funktionalen Vernehmungsbegriff“ in erster Linie ein auch terminologisches Gegengewicht zu dem „formellen Vernehmungsbegriff“ der neueren Judikatur87 setzen. Eine Vernehmung liegt nach dieser Auffassung, die in der Literatur teilweise auf Zustimmung gestoßen ist,88 nur dann vor, wenn dem Beschuldigten der amtliche Charakter der Befragung bewusst ist. Der Sache nach – dies zeigen die Argumente, mit denen er den formellen Vernehmungsbegriff kritisiert – liegt Seebodes eigener funktionaler Auslegung ein personfunktionales Verständnis des Vernehmungsbegriffs zugrunde. Im Vordergrund steht daher das fair-trial-Prinzip, durch das der Schutz des einzelnen unter Tatverdacht geratenen Bürgers gewährleistet werden soll. Das staatliche Interesse an der Aufklärung von Straftaten tritt demgegenüber in den Hintergrund und legitimiert jedenfalls nicht solche Ermittlungsstrategien, die das Prinzip des fairen Verfahrens verletzen. Zusammenfassend führt Seebode insofern aus: Die „staatliche Manipulation der Willensfreiheit“ des Beschuldigten widerspricht „dem Ziel eines fairen Strafverfahrens“. Insbesondere die „perfide Täuschung“ über die Tatsache einer Vernehmung und darüber, „dass es sich um eine durch staatliche Organe herbeigeführte und gelenkte Anhörung handelt“,89 muss unmittelbar untersagt werden.90 84 Seebode, M.: JR 1988, 427 ff., der Begriff wird aufgegriffen von Schlüchter, E./ Radbruch, J.: NStZ 1995, 354 ff.; Schäfer, G.: Praxis des Strafverfahrens 2000, S. 119 (Rn. 316). 85 BGHSt 17, 19 ff.; BGH NJW 1983, 1570 ff.; LG Darmstadt StV 1990, 104; LG Stuttgart NStZ 1985, 568. 86 Dencker, F.: StV 1994, 667 ff., 674; Kühl, K.: StV 1986, 187 ff., 188; Lüderssen, K. in: Peters-FS 1974, S. 349 ff., 361; Weiler, E.: GA 1996, 101 ff., 107; Lagodny, O.: StV 1996, 167 ff., 168. 87 BGHSt 34, 363 ff.; 40, 211 ff., 213 (Fall Sedlmayr); BGHSt 34, 346; BGH NStZ 1995, 410 f.; 557 f.; BGH NStZ 1996, 200; BGHSt (Großer Senat) 42, 139 = NStZ 1996, 502 ff.; BGHSt 44, 129 ff. 88 Meyer, J.: NStZ 1983, 167 f.; Fincke, M.: ZStW 95 (1983), 918 ff.; Roxin, C.: NStZ 1995, 465 ff. (m. w. N.).

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(2) Die geradezu idealtypische Gegenposition zum funktionalen Vernehmungsbegriff Seebodes wird neuerdings von Heiko Lesch, einem Schüler Günther Jakobs’ vertreten. In seinem Studienskript „Strafprozessrecht“ überträgt Lesch den (system)funktionalen Ansatz seines Lehrers Jakobs „durchgängig auch auf das Prozessrecht“.91 Welche Konsequenz diese Auffassung für die hier diskutierten Hörfallen- und Untersuchungshaftentscheidungen hat, zeigt insbesondere eine Rezension dieser Entscheidungen durch Lesch im Jahre 2000,92 in deren Vordergrund eine Analyse des Urteils des 5. Senats aus dem Jahre 199893 steht. Lesch schließt sich zunächst ohne weitere Begründung dem formellen Vernehmungsbegriff an und diskutiert im Folgenden eine analoge Anwendung der §§ 136, 136a StPO, der er im Ergebnis mit einer systemfunktionalen Reduktion des nemo-tenetur-Grundsatzes entgegentritt: Ein Recht auf Selbstbezichtigungsfreiheit, das der BGH unter bestimmten Voraussetzungen zulasse (siehe dazu oben), ergebe sich weder aus § 136 StPO noch aus dem nemo-tenetur-Grundsatz. Niemand habe das Recht, sich von einer begangenen Straftat durch Leugnen zu distanzieren, wolle er als „Person“ ernst genommen werden. Denn eine „Person“ sei vor allem durch die Übernahme von Folgenverantwortung charakterisiert, die eine Kehrseite ihrer Organisationsfreiheit darstelle. Die Verschonung vor Selbstbezichtigung reduziere demgegenüber die Person auf eine „biologisch-zoologische“ Einheit und sei daher generell abzulehnen. Folglich sei der nemo-tenetur-Grundsatz auf die Aussagefreiheit des Beschuldigten bei förmlichen Vernehmungen im Strafprozess beschränkt und habe nicht die Funktion eines Rechtsanspruchs auf Verheimlichung einer Straftat.94

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Seebode, M.: JR 1988, 427 ff., 428. Mit dogmatisch anderem Begründungsansatz, aber ebenfalls mit personfunktionalen Argumenten wird die Unverwertbarkeit heimlicher „verdeckter“ Vernehmungen auch von anderen Autoren begründet: Dencker, F.: StV 1994, 667 ff., 674 ff. bezieht sich auf den Grundsatz der „Offenheit“ der Beweisgewinnung beim Personalbeweis. Eine Vernehmung sei ein kommunikativer Vorgang im Prozess, in welchem eine Person von einem rollenmäßig dazu befugten Prozessorgan zur Äußerung von Wissen veranlasst werde. Da dieser Vorgang unter Offenbarung seines Charakters zu erfolgen habe – Dencker beruft sich insoweit auf § 133 StPO (Ladung) und § 136 StPO (Belehrung), – sei jede Aussagesituation, die diese Merkmale aufweise und verdeckt sei, von vornherein unzulässig und verboten. Fezer, G.: NStZ 1996, 289 f., 290 stellt den nemotenetur-Grundsatz in den Vordergrund: Veranlassen die Ermittlungsbehörden den Beschuldigten durch verdecktes Vorgehen gezielt zu Äußerungen, sei der verfahrensbezogene Grundrechtseingriff so erheblich, dass der Beschuldigte seine Stellung als „Prozesssubjekt“ verliere und zum unwissenden Objekt der staatlicher Aushorchung gemacht werde. „Darin liegt ein ganz spezifischer Verstoß gegen den nemo-tenetur-Grundsatz“. 91 Lesch, H. H.: Strafprozeßrecht 1999, Vorwort (zur 1. Aufl. 1999) S. V: ich habe mich bemüht „eigene Ansätze einzubringen, die freilich nicht von der heute verbreiteten Abwägungsrhetorik, sondern von einer durchgehend funktionalen Betrachtungsweise bestimmt werden“. 92 Lesch, H. H.: GA 2000, 355 ff. 93 BGHSt 44, 129 ff. 90

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Zu diesem Verständnis von „Person“ kommt Lesch über einen systemtheoretischen Ableitungszusammenhang. Unter Bezug auf Luhmann führt Lesch insofern aus: „Es handelt sich (bei dem Begriff Person, H. S.) – mit anderen Worten und der Begriffsbestimmung Luhmanns folgend – um die ,soziale Adresse‘, um den ,Garant(en) seiner eigenen Identität im sozialen Verhalten‘.95 Eine Person kann deshalb immer nur derjenige sein, der auf die Einheit seiner Lebensgeschichte festgelegt und dem es daher nicht gestattet wird, vor seiner Vergangenheit – d.h. im hiesigen Kontext: vor der von ihm begangenen Straftat – davonzulaufen.“96

In seiner Kritik der Hörfallenentscheidungen ergänzt Lesch diese systemtheoretische Reduktion des nemo-tenetur-Grundsatzes um eine systemfunktionale Auslegung des § 136a StPO, durch die der Anwendungsbereich der Bestimmung jedenfalls in den Hörfallen- und Untersuchungshaftfällen weitgehend ausgeschlossen wird. Die Funktion des § 136a StPO bestehe nicht im Schutz der Person vor den in § 136a StPO genannten Einwirkungen, sondern darin, die Beweiserhebung gegen Fehlerquellen zu immunisieren. Aussagen, die unter Verstoß gegen § 136a StPO zustande gekommen seien, würden wegen ihrer prinzipiellen Fehlerträchtigkeit durch diese Bestimmung von vornherein von der freien Beweiswürdigung ausgeschlossen. Diese Fehlerträchtigkeit bestehe zwar grundsätzlich auch dann, wenn die Befragung von einer Privatperson durchgeführt werde. Die Beweismethodenverbote der §§ 136a Abs. 1 und 2 StPO seien aber nur auf amtliche Vernehmungen zugeschnitten, so dass im Ergebnis keine analoge Anwendung der Bestimmung in den Hörfallen-Fallkonstellationen in Betracht komme.97

94 Vgl. dazu Lesch, H. H.: GA 2000, 355 ff., 363: „Die mit der heute geläufigen Interpretation des Nemo-tenetur-Grundsatzes verbundene Statuierung eines ,Rechtsanspruchs auf die Verheimlichung einer Straftat‘ würde also wegen der damit einhergehenden Eskamotierung des Verantwortungsprinzips und seiner Ersetzung durch eine schier subjektivistische Gesinnungsethik die Qualität des Beschuldigten als Person zerstören und ihn statt dessen auf die Stufe einer tiergleich-kreatürlichen Existenz herabsetzen . . . Weil aber die Garantie des prozessualen status activus des Beschuldigten im Vorverfahren primär auf seine förmliche Vernehmung kanalisiert wird, . . . ist der Grundsatz ,nemo tenetur se ipsum accusare‘ jedenfalls auf die Aussagefreiheit des Beschuldigten bei förmlichen Vernehmungen im Strafprozess beschränkt.“ (Hervorhebungen im Original). 95 Luhmann, N.: Gesellschaftsstruktur und Semantik 1998, S. 251 ff. 96 Lesch, H. H.: GA 2000, 355 ff., 363 f. (Hervorhebung im Original). 97 Eine Ausnahme von diesem Grundsatz macht Lesch, H. H. (GA 2000, 355 ff., 371) nur dann, wenn eine Privatperson die Willensentschließungs- und Willensbetätigungsfreiheit der Auskunftsperson durch die Verletzung einer strafrechtlich sanktionierten Verhaltensnorm beeinträchtigt.

III. Konsequenzen für die Einordnung des Funktionalismus

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3. Ausblick auf weitere Problemstellungen Unabhängig von der Tragfähigkeit des systemtheoretischen Ableitungszusammenhangs zeigt die Argumentation Leschs anschaulich die möglichen Folgen der Anwendung des systemtheoretischen Ansatzes auf die Rechtsdogmatik und die Unterschiede zu einer durchgängig personfunktionalen Interpretation der Rechtsbegriffe. Während die personfunktionale Straf(prozess)-rechtsdogmatik den Schutz der Autonomie der Person gegenüber der staatlichen Machtbefugnis in den Vordergrund stellt, kehren sich die Vorzeichen unter der von Lesch eingenommenen systemfunktionalen Perspektive geradezu um. Die Auslegung der Grundprinzipien des Strafprozessrechts sowie einzelner grundlegender Eingriffsvoraussetzungen zielt im Ergebnis auf die Maximierung und Effizienzsteigerung staatlicher Ermittlungstätigkeit. Dabei gibt die Gesellschaft durch das Prozessrecht in der Konzeption Leschs dem, der den Verdacht einer Straftat auf sich gezogen hat, vor, wie er sich zu verhalten hat, wenn er seinen Status als „Person“ nicht verlieren und sich nicht auf einen Atavismus, eine „tiergleich-kreatürliche Existenz“ reduzieren will. Ohne auf einzelne dogmatische Fragen des Prozessrechts einzugehen, hat diese Perspektive kürzlich Jakobs in einem Diskussionsbeitrag weiter ausgebaut.98 Nach Jakobs spricht die Gesellschaft durch das Strafprozessrecht und die Strafverfolgungsbehörden mit bestimmten Gesellschaftsmitgliedern (die etwa im Verdacht stehen, eine terroristische Vereinigung gebildet zu haben, §§ 129, 129a, 129b StGB oder bandenmäßig den Anbau von Betäubungsmitteln zu betreiben, §§ 30 Abs. 1 Nr. 1, 31 Abs. 1 Nr. 1 BtMG) nicht mehr mit ihren Bürgern, sondern mit ihren Feinden, denen nur mehr eine „potentielle Personalität“ zugestanden wird: „Wer als Person behandelt werden will, muss seinerseits eine gewisse kognitive Garantie dafür geben, dass er sich als Person verhalten wird. Bleibt diese Garantie aus oder wird sie sogar ausdrücklich verweigert, wandelt sich das Strafrecht von einer Reaktion der Gesellschaft auf die Tat eines ihrer Mitglieder zu einer Reaktion gegen einen Feind. Das muss nicht heißen, nunmehr sei alles erlaubt, auch eine maßlose Aktion; vielmehr mag dem Feind potentielle Personalität zugestanden werden, so dass bei seiner Bekämpfung über das Erforderliche nicht hinausgegangen werden darf. Das erlaubt freilich immer noch viel, mehr als bei der Notwehr, bei der die erforderliche Abwehr immer nur Reaktion auf einen aktuellen Angriff sein kann, während es beim Feindstrafrecht . . . auch um die Abwehr künftiger Angriffe geht.“99

Diese Konzeption eines Feindstrafrechts markiert im Strafprozessrecht den vorläufigen Endpunkt der vom materiellen Strafrecht ausgehenden Entwicklung des systemfunktionalen Ansatzes und soll für die hier vorliegende Untersuchung 98 Jakobs, G. in: Eser, A. u. a. (Hrsg.): Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende 2000, S. 47 ff., 51 ff.; vgl. dazu kritisch: Schneider, H.: ZStW 113 (2001), 499 ff.; Prittwitz, C. in: Lüderssen-FS 2002, S. 499 ff., 512 ff. 99 Jakobs, G. in: Eser, A. u. a. (Hrsg.): Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende 2000, S. 47 ff., 51 ff. (Hervorhebung im Original).

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Kap. 2: Rechtssoziologische Einordnung des Funktionalismus

– wie oben dargelegt – zunächst nur als ein Anschauungsbeispiel für die Unterschiede zwischen personfunktionalem und systemfunktionalem Denken in der Strafrechtsdogmatik dienen. Diese Unterscheidung erlaubt im Folgenden eine inhaltliche Differenzierung und Auseinandersetzung mit den unter dem Begriff Funktionalismus im materiellen Strafrecht vertretenen Ansätzen, wobei nur diejenigen als funktional bezeichnet werden sollen, die den systemfunktionalen Argumentationszusammenhang konsequent verfolgen und sich insoweit an den Idealtypus der systemfunktionalen Strafrechtsdogmatik annähern oder ihn bereits markieren. Um die Folgen des systemfunktionalen Ansatzes für das personfunktionale Verständnis des Strafrechts aufzuzeigen und damit die Tragweite des Systemfunktionalismus sichtbar zu machen, werden am Schluss jeder Analyse einzelner Problembereiche des systemfunktionalen Strafrechts mit dem Lösungsansatz personfunktionaler Dogmatik konfrontiert. Die Trennung und Abschichtung des funktionalen Ansatzes erlaubt schließlich auch eine Stellungnahme zu argumentativen Mischformen zwischen systemfunktionalen und personfunktionalen Argumenten und zu solchen systemfunktionalen Ansätzen, die sich auf eine Deutung des geltenden Rechts beschränken. Bei der anschließenden Bewertung des „reinen“ systemfunktionalen Ansatzes im Strafrecht, der mit im Einzelnen fließenden Grenzen, wie zu zeigen sein wird, nur als idealtypischer Grenzfall in der Literatur vertreten wird, ist zu berücksichtigen, dass die Systemtheorie in den vorstehend skizzierten soziologischen Ansätzen nicht etwa zur Auslegung geltender rechtlicher Bestimmungen verwendet wird, sondern lediglich als Bezugskriterium für die Deutung des von den Juristen in einer bestimmten Weise ausgelegten Rechts dient. Luhmann sieht diese grundsätzliche Differenzierung und stellt seinen Ausführungen zu den subjektiven Rechten ausdrücklich voran, dass er sich auf die rechtssoziologische Deutung des bestehenden Rechts beschränken will. Er resümiert zunächst verschiedene Versuche einer rechtsdogmatischen Interpretation der subjektiven Rechte, die er nur für eine soziologische Betrachtung des Rechts als wenig geeignet ansieht. Eine Binnenkritik der Rechtsdogmatik ist damit ausdrücklich nicht verbunden. Zur Rechtfertigung der eigenen Vorgehensweise argumentiert er: „Für die Soziologie ist ein solches Unterlaufen offizieller Benennungen und Begründungen nichts Ungewöhnliches, sondern tägliches Geschäft – soweit sie funktionalistisch denkt, sogar Bestandteil ihrer Methode. Die Frage nach der Funktion der subjektiven Rechte soll aus dieser distanzierten soziologischen Perspektive heraus gestellt werden.“100

Die systemtheoretische Strafrechtsdogmatik geht über diesen Ansatz hinaus und versucht – wie etwa in der Neubestimmung des Schuldbegriffs durch Ja100 Luhmann, N. in: Lautmann, R./Maihofer, W./Schelsky, H. (Hrsg.): Jahrbuch für Rechtssoziologie Bd. 1 1970, S. 321 ff., 323.

III. Konsequenzen für die Einordnung des Funktionalismus

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kobs –, bereits den Inhalt der strafrechtlichen Grundbegriffe systemtheoretisch zu bestimmen. Diese Vorgehensweise wirft aber die für den systemtheoretischen Ansatz in der Strafrechtsdogmatik entscheidende und von den Vertretern dieses Ansatzes noch nicht berücksichtigte Frage nach den rechtssoziolgischen Konsequenzen eines derartigen Richtungswechsels auf.

Kapitel 3

Funktionalismus bei Günther Jakobs I. Straftheoretische Grundannahmen Bei Günther Jakobs und seinen Schülern1 wird die systemfunktionale Auslegung zentraler Grundbegriffe des Allgemeinen Teils maßgeblich von straftheoretischen Grundannahmen bestimmt, die allerdings bei einzelnen Abhandlungen zu strafrechtsdogmatischen Detailfragen nicht immer dargestellt werden. Wie zu zeigen sein wird, geht die Straftheorie Jakobs’ von einem eng an der Soziologie Luhmanns orientierten systemtheoretischen Grundverständnis aus. Wenn Jakobs in neueren Abhandlungen auf eine Rekonstruktion und Übertragung der Soziologie Luhmanns auf die Probleme des Strafrechts weitgehend verzichtet, so ist dies nicht Ausdruck einer prinzipiellen Abkehr des Autors von der systemfunktionalen Dogmatik, sondern lediglich darauf zurückzuführen, dass Jakobs die Kenntnis dieses Gesamtkonzepts beim Leser voraussetzt. 1. Die Bedeutung von strafrechtlichen Normen und die Aufgabe des Strafrechts Das straftheoretische Konzept Jakobs’2 beruht auf einem weitgehend von Luhmann übernommenen3 und auf die Strafgesetze angewandten systemtheoretischen Verständnis der Funktion von Normen in modernen, das heißt arbeitsteiligen Industriegesellschaften, das Jakobs dem aus der liberal-staatlichen Strafrechtstheorie stammenden Konzept gegenüberstellt, nach dem die Aufgabe des Strafrechts vor allem im Rechtsgüterschutz besteht. Jakobs will den Begriff des Rechtsguts trotz terminologischer und inhaltlicher Bedenken zwar nicht grundsätzlich verwerfen. Denn der Verweis auf die generelle Wichtigkeit eines durch 1 Insbesondere bei H. H. Lesch, vgl. unten Fn. 2; ähnliche Konzeptionen bei Müssig; Pawlik; von Heintschel-Heinegg und Eule-Wechsler, vgl. zu diesen im Einzelnen nachfolgend im Text. 2 Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, S. 1 ff. Das straftheoretische Konzept Jakobs wird im Wesentlichen auch von seinem Schüler H. H. Lesch übernommen, vgl.: Lesch, H. H.: JA 1994, 590 ff. 3 Der Bezug zu Luhmann wird von Jakobs auch heute noch explizit hergestellt, vgl. etwa ders.: Schuld und Prävention 1976, S. 9 (Anm. 19), S. 17 (Anm. 48); Schuldprinzip 1993, S. 29 ff. (Anm. 39); sowie aus neuerer Zeit ARSP Beiheft 74 (2000), S. 57 ff., 64 (Anm. 11).

I. Straftheoretische Grundannahmen

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Strafgesetze geschützten Guts vereinfacht nach seiner Auffassung die Frage nach der konkreten Sozialschädlichkeit eines Verhaltens: „Kraß: Bei einer Tötung soll die Frage nach dem sozialen Wert des Getöteten nicht aufgeworfen werden“.4 Entgegen der herrschenden Meinung in der Strafrechtswissenschaft5 erschöpft sich bei Jakobs aber die Relevanz des Rechtsgutsbegriffes in dieser eher pragmatischen Funktion und hat insbesondere nicht die Bedeutung einer materiellen Legitimation oder Aufgabe des Strafrechts.6 Jakobs stellt dem Begriff „Rechtsgut“ daher den Begriff „Strafrechtsgut“ gegenüber, mit dem er die materielle Berechtigung für die Existenz von Strafrecht begründet. Als Strafrechtsgut definiert er die Herstellung der „Enttäuschungsfestigkeit der wesentlichen normativen Erwartungen“ durch „praktizierte Normgeltung“.7 Hinter diesem noch etwas undeutlich formulierten Konzept von der Aufgabe des Strafrechts und der Strafrechtsnormen steht im Wesentlichen das schon in Kapitel 2 erläuterte systemtheoretische Verständnis der Funktion von Normen in der modernen „komplexen“8 Gesellschaft. (Straf-)Rechtliche Normen haben danach die Funktion eines Orientierungsmusters für soziale Kontakte. Sie verhindern, dass soziale Kontakte zu einem unkalkulierbaren Risiko werden, denn die Interaktionspartner einer sozialen Beziehung dürfen wechselseitig damit rechnen, dass informelle soziale Regeln ebenso wie (strafrechtliche) Normen eingehalten und sie so vor einem völlig unbestimmten Ausgang des Kontakts geschützt werden. Obwohl Jakobs insoweit die Relevanz der Normen für die einzelnen Akteure einer sozialen Beziehung thematisiert, geht es ihm nicht um die Verwirklichung individueller Rechte oder auch nur um den Schutz von Individualität, sondern lediglich um die normative Konstruktion von Gesellschaft. Insbesondere seine neuere Abhandlung „Norm, Person, Gesellschaft“ zeigt, dass Jakobs dabei noch über den dargestellten systemfunktionalen Ansatz in der Rechtssoziologie hinaus geht. Während dort die systemfunktionale Deutung des Rechts der Gesellschaft ausdrücklich als eine von mehreren möglichen Interpretationen angesehen wird,9 ist diese Perspektive bei Jakobs nunmehr verabsolutiert. Norm, Person und Gesellschaft 4

Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, S. 46 (Rn. 24). Vgl. etwa Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 11 (§ 2, Rn. 1): „Aufgabe des Strafrechts ist subsidiärer Rechtsgüterschutz.“; Jescheck/Weigend: Strafrecht AT 1996, S. 7: „Das Strafrecht hat die Aufgabe, Rechtsgüter zu schützen“. 6 Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, S. 82, 83 (Rn. 33, 34) bezieht sich insoweit im Wesentlichen auf zwei Argumente: Erstens könne die Rechtsgutslehre nicht begründen, warum das zu schützende Gut gerade auf strafrechtlichen Schutz angewiesen sei. Zweitens gebe das Rechtsgut selbst keinen Maßstab dafür ab, unter welchen Voraussetzungen Schutz gewährt werde, denn: „Güter gehen allenthalben massenhaft dahin, das ist strafrechtlich zumeist ohne Interesse“; Jakobs, G.: ZStW 104 (1992), 82 ff., 83. 7 Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, S. 35 (Rn. 2). 8 Luhmann, N.: Routine 1971, S. 113 ff. 9 Vgl. etwa Luhmanns Grundrechtstheorie, dargestellt im vorausgehenden Kapitel 2. 5

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Kap. 3: Funktionalismus bei Günther Jakobs

bedingen sich nach seiner Auffassung gegenseitig. Es gibt keine Personen ohne Gesellschaft und für die Entstehung von Gesellschaft sind Normen eine notwendige Voraussetzung. Ausgangspunkt dieser Überlegungen Jakobs’ ist die bekannte10 anthropologische Grundannahme von der grenzenlosen Bedürfnisstruktur des Menschen, dessen einziges Streben in der Maximierung von Lust und der Minimierung von Unlust besteht. Dieser „Naturzustand“ wird nach Jakobs nur überwunden, wenn das Individuum durch Normen „gruppentauglich“ gemacht wird.11 Am Anfang dieses unversalgeschichtlichen Prozesses der Entwicklung des Menschen vom Individuum zum Mitglied einer Gruppe steht – insoweit will sich Jakobs von Thomas Hobbes’ Vertragstheorie abgrenzen – „nicht ein Konsens, sondern die Gewissheit des Heiligen“,12 an dessen Stelle schließlich die Machtunterworfenheit gegenüber dem „Gewalthaber“ tritt, der, definiert als Vertreter des Gruppeninteresses, die Individuen so zu ordnen versucht, „dass eine Förderung der Gruppe herausspringt“.13 Das wesentliche Ordnungsmittel stellen dabei Normen dar, die Gruppeninteressen definieren und Pflichten festlegen.14 Die prinzipielle, durch Normen gewährleistete „Gruppentauglichkeit“,15 die dem Individuum im Zweifel durch den Gewalthaber aufoktroyiert wird, ist für Jakobs außerdem Voraussetzung dafür, dass Personalität entsteht, das heißt, dass sich ein Individuum zu einer Person bzw. zu einem Subjekt wandelt, dem alleine Jakobs Organisationsfreiheit und Folgenverantwortung zuspricht.16 Ohne Normen als Deutungsmuster für Kommunikation und Verhalten gibt es nur Individuen, die ihren eigenen, auf Lustgewinn bezogenen Ordnungsschemata folgen, aber weder Per10 Durkheim, E.: Arbeitsteilung 1977; Freud, S. in: ders. (Hrsg.): Psychoanalyse 1997, S. 90 ff.; Hobbes, T.: Leviathan 1996. 11 Jakobs, G.: Norm, Person, Gesellschaft 1997, S. 32 ff. 12 Jakobs, G.: Norm, Person, Gesellschaft 1997, S. 40. 13 Jakobs, G.: Norm, Person, Gesellschaft 1997, S. 32. 14 Jakobs, G.: Norm, Person, Gesellschaft 1997, S. 38. 15 Jakobs, G.: Norm, Person, Gesellschaft 1997, S. 32. 16 Hoerster, N. (ZRP 1999, 215 ff.) konzediert Jakobs durch die oben beschriebenen Mechanismen zwar eindrucksvoll die Wirkungszusammenhänge solcher Gruppen und Gesellschaften beschrieben zu haben, deren Zusammenhalt auf einer totalitären Religion, Weltanschauung oder Ideologie beruhe: „Es dürfte kaum ein besseres Beispiel für diese Form einer ihre Identität und innere Geschlossenheit über alles stellenden Gesellschaft geben als das Dritte Reich, hätte es sich in der historischen Realität nur auf die innenpolitische Selbstreinigung von den nicht „gruppentauglichen“ Individuen beschränkt und auf die Expansionsversuche einer selbstzerstörerischen Außenpolitik verzichtet.“ Dies sei aber nicht das einzig mögliche Verständnis von Sozialität, Personalität und Normativität. Als Gegenbeispiel, das mit den von Jakobs beschriebenen Wirkungszusammenhängen nicht adäquat zu erfassen sei, bezieht sich Hoerster auf Gesellschaften, in denen „gewisse individuelle Grundrechte im Zentrum der sozialen Normenordnung“ stehen und die Anerkennung nicht über Unterwerfung, sondern durch Konsens erfolge. Zur Kritik an Jakobs’ „rechtsphilosophischen Vorüberlegungen“ vgl. auch Kargl, W.: GA 1999, 53 ff. sowie Loos, F.: ZStW 114 (2002), 657 ff., 664 ff.

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sonen noch Gesellschaft. Gesellschaft ist für Jakobs daher (ebenso wie der Begriff Person oder Subjekt) ein normatives Konstrukt und gleichzusetzen mit „personaler Kommunikation“.17 Diese findet nur statt, wenn Normen den für die Kommunikation leitenden Verhaltensmaßstab abgeben, an dem kontrafaktisch auch dann festgehalten wird, wenn Abweichungen vorkommen: „Gesellschaft ist personale Kommunikation. Beispielhaft gesprochen: Wenn eine Verständigung lautet, die Wahrscheinlichkeit, dass man selbst erschlagen werde, sei vernachlässigenswert gering, und ein anderes Individuum zu erschlagen, sei wegen der höchstwahrscheinlich zu erwartenden Reaktionen unvorteilhaft, so hat das mit einer Orientierung an Normen nichts zu tun, sondern ist kognitive Orientierung an einer mehr oder weniger günstig gestalteten Umwelt. Wenn aber die Verständigung lautet, es sei nicht in Rechnung zu stellen, dass man selbst erschlagen werde, da solches verboten sei, und deshalb sei auch das Erschlagen einer anderen Person keine diskutable Verhaltensalternative, so wird in dieser Verständigung Normgeltung produziert: Es geht um Gesellschaft.“18

2. Die Funktion der Strafe Im Lichte dieser Funktion von Normen interpretiert Jakobs im Folgenden die Bedeutung der Strafe. Wenn durch den Normbruch zumindest kurzfristig die Norm als Orientierungsmuster in Frage gestellt wird, so dient die Strafe dazu, den Geltungsanspruch der Norm zu bekräftigen: „. . . die Strafe bedeutet, dass die Bedeutung des normbrechenden Verhaltens unmaßgeblich und die Norm nach wie vor maßgeblich ist. Es wird demonstriert, dass der Täter nicht richtig organisiert hat: Man nimmt ihm Organisationsmittel weg. Dieser auf Kosten des Täters vollzogene Widerspruch gegen den Normbruch ist die Strafe.“19 Wie schon bei Durkheim ist daher der Adressat der Einwirkung primär die Allgemeinheit und nicht der Täter, dem nur zu Demonstrationszwecken die „Organisationsmittel weggenommen“ werden. Der Gesellschaft wird veranschaulicht, dass an der Norm kontrafaktisch festgehalten wird und ihre Bestandskraft trotz des Normbruches nicht in Frage steht: „Inhalt einer so verstandenen Strafe ist nicht, der Täter werde künftig nicht mehr delinquieren und erst recht nicht, niemand werde künftig delinquieren, sondern einzig, es sei richtig, auf die Geltung der Norm zu vertrauen. Zudem belastet die Strafe das normbrechende Verhalten mit Kostenfolgen und erhöht deshalb die Chance, dass dieses Verhalten allgemein als nicht diskutable Verhaltensalternative gelernt wird. Insoweit erfolgt die Strafe zur Einübung in Rechtstreue. Zumindest aber wird durch die Strafe der Konnex von Verhalten und Kostentragungspflicht gelernt, mag auch die Norm trotz des Gelernten übertreten werden; insoweit geht es um Einübung in die Akzeptanz des Gelernten.“20 17 18 19

Jakobs, G.: Norm, Person, Gesellschaft 1997, S. 52, 53. Jakobs, G.: Norm, Person, Gesellschaft 1997, S. 53. Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, S. 9 (Rn. 10).

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Kap. 3: Funktionalismus bei Günther Jakobs

Jakobs wiederholt hier im Ergebnis pointiert und inhaltlich und terminologisch um Elemente der Rechtssoziologie Luhmanns bereichert, das geläufige und beinahe klassische Konzept der positiven Generalprävention. Seine Akzente liegen dabei weniger auf den sozialpsychologischen Mechanismen der Beeinflussung der Einstellung der (rechtstreuen) Individuen21 als vielmehr auf dem systemtheoretischen Gesichtspunkt der Bestätigung gesellschaftlicher Identität, der allerdings ebenfalls die Existenz sozialpsychologischer Wirkungszusammenhänge voraussetzt (Einübung von Normakzeptanz).22 Neu und der herrschenden Meinung in Literatur und Rechtsprechung widersprechend sind einerseits die radikale Ablehnung anderer Strafzwecke als der positiven Generalprävention und andererseits die an diesen Strafzweck geknüpften dogmatischen Konsequenzen (vgl. dazu unten II.). Jakobs grenzt sich von der mit unterschiedlichen Akzenten vertretenen Vereinigungstheorie,23 nach der die Strafzwecke der General- und Spezialprävention und der Schuldausgleich24 jeweils auf verschiedenen Stufen strafrechtlicher Wirksamkeit eingreifen sollen,25 ebenso ab, wie von Ansätzen, die nur auf einzelne Strafzwecke abstellen. Gegen die Kombination verschiedener Strafzwecke, wie sie in den Vereinigungstheorien vertreten wird, wendet sich Jakobs im Wesentlichen mit zwei Argumenten. (1) Nach seiner Auffassung werden die Defizite einer Strafzwecklehre nicht durch eine Kombination mehrerer Strafzwecke kompensiert. Sofern ein Strafzweck als für die Legitimation der Strafrechts untauglich ausscheidet, darf dieser auch in einer Vereinigungstheorie keine Berücksichtigung finden. 20

Jakobs, G.: ZStW 101 (1989), 516 ff., 517. So etwa Müller-Dietz, H. in: Jescheck-FS 1985, S. 813 ff. 22 Zu diesen unterschiedlichen Akzentuierungen der Theorie positiver Generalprävention vgl. Hörnle, T./Hirsch, A. von: GA 1995, 261 ff.; Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 48 ff. (§ 3, Rn. 19 ff.). 23 Vgl. aus dem Schrifttum jeweils m. w. N.: Roxin, C.: JuS 1966, 377 ff., 387; Jescheck/Weigend: Strafrecht AT 1996, S. 75 ff.; Schönke-Schröder-Stree, vor § 38, Rn. 11. Die Rechtsprechung folgt ebenfalls einer Vereinigungstheorie, vgl.: BGHSt 7, 214 ff., 216; 19, 201 ff., 206; 20, 264 ff., 267; auch das BVerfG hat ausgehend vom Schuldprinzip Vereinigungstheorien in ständiger Rechtsprechung für verfassungsgemäß erklärt, vgl.: BVerfGE 39, 1 ff., 57; 28, 268 ff., 291; 64, 261 ff., 271. 24 Dabei ist streitig, ob der Schuld lediglich eine das Strafmaß limitierende Funktion zukommt (präventive Vereinigungstheorie: vgl. z. B.: Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 54 ff. (§ 3, Rn. 34 ff.); Koriath, H.: JURA 1995, 625 ff., 635; Stratenwerth, G.: Strafzwecke 1995, S. 9; Lüderssen, K.: Abschaffen des Strafens? 1995, jeweils m. w. N.) oder ob sie als Schuld-Sühne-Prinzip einen eigenständigen Strafzweck begründet (vergeltende Vereinigungstheorie: BVerfG und BGH, Nachweise wie Fn. 23). 25 So die auf Roxin zurückzuführende dialektische Vereinigungstheorie, die sich von einer additiven Berücksichtigung der Strafzwecke abgrenzt. Nach dieser Auffassung dient die in den gesetzlichen Straftatbeständen enthaltene Strafdrohung vorrangig der Berücksichtigung positiver und negativer Generalprävention. Die Verhängung einer konkreten Strafe ist maßgeblich von spezial- und generalpräventiven Gründen getragen. Im Bereich des Strafvollzuges und der Strafvollstreckung steht schließlich der Strafzweck der positiven Spezialprävention im Vordergrund. 21

I. Straftheoretische Grundannahmen

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(2) Durch den in der Vereinigungstheorie liegenden Kompromiss wird ferner der Blick auf die zentrale Aufgabe des Strafrechts verstellt, „eine Theorie für eine praktizierbare Strafe“26 zu entwerfen. Diese einzige Theorie der Strafe sieht Jakobs – seiner radikalen systemtheoretischen Normtheorie folgend – in der positiven Generalprävention, die aber nach seiner Auffassung nicht in allen Bereichen des Bestrafungsvorgangs ihre Wirksamkeit entfaltet. Insoweit bezieht er sich hauptsächlich auf den Strafvollzug, der möglichst spezialpräventiv effektiv auszugestalten sei sowie auf bestimmte Institute aus dem Bereich der Strafvollstreckung, wie Strafaussetzung zur Bewährung, Bewährungshilfe usw. Dieses Bekenntnis zur nachrangigen Berücksichtigung der Spezialprävention bedeutet aber nicht, dass auch Jakobs faktisch doch eine um das Schuld-Sühne Prinzip und die negative Generalprävention beschnittene Vereinigungstheorie vertritt. Denn die positive Spezialprävention bleibt für ihn zur theoretischen Legitimation der Strafe ebenso ohne Bedeutung wie für dogmatische Einzelfragen. Der theoretische Ableitungszusammenhang von seiner Straftheorie zu den Grundproblemen des Allgemeinen Teils nimmt seinen Ausgangspunkt nur bei der positiven Generalprävention und nicht auch bei anderen Strafzwecken. Bei der Kritik anderer präventiver Strafzwecke als alleinige Rechtfertigung der Strafe wiederholt Jakobs im Grunde die Argumente, die von den Vertretern der Vereinigungstheorie zur Begründung der Notwendigkeit einer kumulativen Berücksichtigung mehrerer Strafzwecke herangezogen werden. Isoliert betrachtet können die einzelnen Strafzwecke danach die Strafe nicht legitimieren. Denn die Spezialprävention bzw. ein allein auf spezialpräventiven Überlegungen basierendes Maßnahmerecht liefert keine inhaltliche Begrenzung der Strafgewalt und verletzt daher das Tatprinzip. Dieser Einwand trifft auch die negative Generalprävention. Sofern durch die Strafe dem Täter lediglich die Vorteile der Tat genommen werden, ist dies zur Abschreckung anderer tatgeneigter Gesellschaftsmitglieder potentiell weniger effektiv als eine darüber hinausgehende Strafe.27 Die negative Generalprävention bedarf also ebenfalls einer Begrenzung, die diesem Ansatz nicht zu entnehmen ist.28 Die Lösung des Problems durch die herrschende Meinung, die Begrenzung der präventiven Bedürfnisse durch eine ihrerseits von präventiven Gesichtspunkten unberührte Kategorie der Schuld zu erreichen, wird von Jakobs grundsätzlich verworfen. Jakobs Kritik an dieser Auffassung bezieht sich dabei sowohl auf die Strafbegründungs- als auch auf die Strafzumessungsschuld und 26

Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, S. 28 (Rn. 50). Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, S. 21 (Rn. 29): Daher werden in totalitären Staaten oder während des Krieges selbst geringfügige Delikte oft mit härtesten Strafen belegt, vgl. Roxin, C.: JuS 1966, 377 ff., 380. 28 Vgl. Roxin, C.: JuS 1966, 377 ff., 380, der hervorhebt, dass dieser Einwand auch auf die positive Generalprävention zutrifft. Dieser Gesichtspunkt bleibt bei Jakobs unberücksichtigt. 27

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Kap. 3: Funktionalismus bei Günther Jakobs

korrespondiert mit einem eigenen Schuldverständnis, das von dem der herrschenden Meinung grundlegend verschieden ist. Jakobs’ Ausführungen zum Schuldprinzip finden sich zuerst in der aus seiner Antrittsvorlesung an der Universität Bonn hervorgegangenen Arbeit „Schuld und Prävention“ aus dem Jahre 1976 und sind insbesondere in seiner Abhandlung über das Schuldprinzip (1993) vertieft worden. Der Ansatz Jakobs’ basiert auf Vorarbeiten Nolls,29 der in einer Untersuchung zum Verhältnis zwischen Schuldbegriff und Generalprävention (1966) bereits die Abhängigkeit der Schwere der Schuld von präventiven und insbesondere von generalpräventiven Bedürfnissen hervorgehoben hatte. Jakobs’ Schuldlehre, die über den Ansatz Nolls, der sich im Übrigen zum Rechtsgüterschutz und zur limitierenden Funktion des Schuldprinzips bekennt, wesentlich hinausgeht, ist in der strafrechtlichen Literatur auf große, überwiegend kritische Resonanz gestoßen.30 Für den vorliegend herauszuarbeitenden Ableitungszusammenhang zwischen der straftheoretischen Grundposition Jakobs’ und den dogmatischen Einzelentscheidungen (vgl. dazu im Einzelnen in diesem Kapitel unter II.) ist vor allem maßgeblich, welche Schlussfolgerungen sich aus der Schuldlehre für das Problem der Limitierung und insgesamt für den personfunktionalen Ansatz ergeben. Auf die Sekundärliteratur wird daher nur insoweit Bezug genommen, als es für diese Problemstellung relevant ist.

In seiner Abhandlung aus dem Jahre 1976 referiert Jakobs zunächst die einzelnen an der Person orientierten Versuche der Inhaltsbestimmung des Schuldbegriffs, die Schuld als „persönliche Vorwerfbarkeit“ im Sinne eines „Fehlgebrauch des Könnens, sich an der Norm auszurichten“,31 als „rechtlich fehlerhafte Gesinnung“32 oder „Nichterfüllung eines vom Recht gesetzten Maßes“33 definieren. Nach Jakobs verfehlen diese Ansätze zwar den wahren Inhalt des Schuldbegriffs. Dies ist aber in seinen Auswirkungen für die Strafrechtspflege im Wesentlichen unschädlich, denn trotz „schwerer Mängel“ wird der Zweck des Strafrechts, die Stabilisierung der bestehenden Ordnung, „zur Zeit noch insgesamt erreicht“.34 Ebenso wie in der späteren Abhandlung über das „Schuldprinzip“ zielt Jakobs darauf ab, diesen Befund rechtssoziologisch zu erklären. Beide Schriften sind daher im Ergebnis Versuche der „Entzauberung“35 des 29 Noll, P. in: H. Mayer-FS 1965, S. 219 ff. Auf diese Arbeit greift auch Roxin zurück, vgl. dazu Kapitel 5 I. 1. b) cc). 30 Kim, H.-T.: Grenzen 1995; Stübinger, S.: KritJ 26 (1993), 33 ff., 47, 48; Hirsch, H. J. in: Köln-FS 1988, S. 399 ff., 418; Müller-Dietz, H.: Grundfragen 1979, S. 26. 31 Welzel, H.: Strafrecht 1969, S. 113. 32 Jescheck, H.: Strafrecht AT 1972, S. 315. 33 Nowakowski, F. in: Rittler-FS 1957, S. 55 ff., 70. 34 Jakobs, G.: Schuld und Prävention 1976, S. 3. 35 Jakobs, G.: Das Schuldprinzip 1993, S. 10 ff. führt den von Max Weber stammenden Begriff der „Entzauberung“ selbst in die Diskussion ein. Entzauberung bedeutet nach Weber, M. in: ders. (Hrsg.): Wissenschaftslehre 1985, S. 582 ff., 594 (Hervorhebung im Original), dass man die Lebensbedingungen „unter denen man steht, . . . wenn man nur wollte, jederzeit erfahren könnte, dass es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, dass man vielmehr alle

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Schuldbegriffs im Wege einer systemtheoretisch fundierten Rekonstruktion seiner in der strafrechtlichen Dogmatik bislang verborgen gebliebenen gesellschaftlichen Funktion, die mit der Person des Täters und der Ahndung des verwirklichten Unrechts nach der Auffassung Jakobs’ allenfalls mittelbar im Zusammenhang steht. Schuld bedeutet zwar auch nach Jakobs die Zurechnung eines strafrechtlich relevanten Erfolges: „Schuld ist Zuständigkeit . . . Diese Zuständigkeit ist gegeben, wenn es an der Bereitschaft fehlt, sich nach der betroffenen Norm zu motivieren.“36 Der Sinn und Zweck der Zurechnung liegt aber nicht darin, dem Täter einen persönlichen Schuldvorwurf zu machen, auf den mit Strafe reagiert wird, sondern es geht auch hier allein um die gesamtgesellschaftliche Perspektive. Die Zurechnung eines Erfolges hat danach für Jakobs die schon oben in seiner Straftheorie beschriebene Funktion einer kognitiven „Enttäuschungsverarbeitung“, die bei der Verletzung „schwacher“ Normen erforderlich wird und darauf abzielt, die in den strafrechtlichen Tatbeständen kodifizierten Verhaltenserwartungen kontrafaktisch zu stabilisieren. Verhält sich ein Mensch im Widerspruch zu den Naturgesetzen („starke Normen“), ist diese Form der Enttäuschungsverarbeitung durch Zurechnung entbehrlich. Denn hier ist – sofern nur den anderen Gesellschaftsmitgliedern das Naturgesetz bekannt ist – von vornherein offensichtlich, dass der zugrunde liegende Entwurf der Wirklichkeit fehlerhaft und unmaßgeblich war. Das Naturgesetz bedarf daher keiner über die bloße Kenntnis hinausgehenden Stabilisierung. Bei der Verletzung von Strafgesetzen ist dieser Befund weniger deutlich. Hier muss auf andere Weise sichtbar gemacht werden, dass die Norm trotz ihrer Übertretung durch den Täter nach wie vor maßgeblich und das Verhalten des Täters für die übrige Gesellschaft

Dinge – im Prinzip durch Berechnen beherrschen könne“. Auch der von der Systemtheorie unternommene Versuch, die Welt der sozialen Erscheinungen durch eine einzige logisch-rationale Theorie zu erschließen und zu ordnen, stellt einen schlagwortartig mit dem Begriff der „Entzauberung“ zu kennzeichnende Anspruch dar, die Sozialwissenschaften von allen irrationalen Faktoren zu befreien und auf diese Weise wissenschaftlichen Fortschritt zu erreichen, vgl. dazu umfassend Bock, M.: Soziologie 1980. Die Bezugnahme Jakobs’ auf diesen Ansatz deutet bereits die weitergehende wissenschaftliche Absicht seiner systemfunktionalen Strafrechtsdogmatik und das zugrunde liegende Weltbild an. Es geht ihm darum, das Strafrecht von den letzten metaphysischen Schlacken zu befreien und endgültig auf eine tragfähige wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Das Schuldprinzip mit seiner problematischen Anbindung an die Determinismus/Indeterminismus-Debatte, die auch heute nicht verstummt ist (vgl. dazu den Sammelband „Voluntary-action“, im Druck 2003 in dem auch neuere neurologische Forschungsergebnisse dokumentiert sind) sowie die philosophische und teilweise auch theologische Fundierung des Schuldprinzips (zu letzterer vgl.: Stratenwerth, G.: Evangelische Theologie 1958, S. 337 ff., 337, der hinsichtlich des Inhalts des Schuldprinzips auf die „goldene Regel“ in Luk. 6, 31 Bezug nimmt) bieten sich als Ausgangspunkt für die von Jakobs propagierte systemtheoretische Aufklärungsarbeit geradezu an. 36 Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, S. 482 (Rn. 20).

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Kap. 3: Funktionalismus bei Günther Jakobs

unmaßgeblich ist. Die Zurechnung des deliktischen Erfolges als Werk des Täters hat daher die Funktion einer „Affirmation“37 der Fehlerhaftigkeit des Verhaltens. Es wird klargestellt, dass das Verhalten des Täters auf einer allgemein nicht diskutablen Auslegung der Welt beruht und für die Gesellschaft nicht tragbar ist. Durch an Zurechnung anknüpfende Strafe erhöht sich die Chance, „dass dieses Verhalten allgemein als nicht diskutable Verhaltensalternative gelernt“38 wird. Schuld ist daher in ihrer Funktion identisch mit den Bedürfnissen der positiven Generalprävention. Unter diesen Voraussetzungen begründet die Schuld nur dann Strafe, wenn die Zurechnung als Enttäuschungsverarbeitung gesellschaftlich erforderlich ist. So bedürfen etwa „Wissensfehler“ (Tatbestandsirrtümer) schon deshalb keiner Zurechnung und keiner Strafe, weil hier der Täter die Wirkungen seines Handelns in der Außenwelt nicht kennt. Das Verhalten gibt im Ergebnis kein taugliches Interpretationsmuster der Welt ab und beeinträchtigt daher auch nicht die Normgeltung. Gleiches gilt für den „Geisteskranken“, dessen Verhalten ebenfalls keine kommunikative Relevanz zukommt. Anders verhält es sich demgegenüber grundsätzlich mit „Willensfehlern“,39 sofern diese ein Defizit an rechtlicher Motivation darstellen. Hier bedarf es der Zurechnung und der Bestätigung der Normgeltung durch Strafe. Mit der vollständigen Identifikation der Schuld mit den Bedürfnissen positiver Generalprävention entfällt auch die limitierende Funktion einer zweckfrei ermittelten Schuld, die nach den obenstehenden Analysen Jakobs’ nicht mehr als eine „Schimäre“,40 ein von den metaphysischen Überresten der Strafrechtsdogmatik gespeistes Hirngespinst darstellt. Dies spricht für ihn gleichzeitig auch gegen neuere, nicht auf dem Talionsprinzip beruhende Vergeltungstheorien. Denn eine schuldangemessene Strafe ist nicht absolut, das heißt nicht ohne Bezug auf präventive Gesichtspunkte messbar: „. . . seit dem endgültigen Übergang von Kant zu Hegel (kann) nicht mehr behauptet werden, das Gewicht einer Strafe lasse sich ohne Blick auf die konkrete gesellschaftliche Werterfahrung bestimmen, sei also vom Entwicklungsstand der Gesellschaft unabhängig. Woher die Werterfahrung kommen soll, wenn nicht aus Annahmen über die Gefährlichkeit der Handlung für die Gesellschaft (Hegel), ist unerfindlich . . .“.41 Die Grenze, die einer durch generalpräventive Zwecke bestimmten Schuld gesetzt wird, verläuft nach Jakobs daher dort, „wo sie laufen muss, um Normvertrauen zu erhalten“.42 Nach welchen Kriterien die Strafe unter diesen Gesichts37 38 39 40 41 42

Jakobs, G.: Schuld und Prävention 1976, S. 10. Jakobs, G.: Schuld und Prävention 1976, S. 10. Details dazu in diesem Kapitel III. 2. Jakobs, G.: ZStW 101 (1989), 516 ff., 536. Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, S. 18 (Rn. 23). Jakobs, G.: Schuld und Prävention 1976, S. 31.

I. Straftheoretische Grundannahmen

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punkten konkret bemessen werden soll, teilt Jakobs nicht im Einzelnen mit, sondern er gibt lediglich einzelne allgemeine Hinweise. Die Strafe soll danach nicht über das Willkürverbot hinausgehen und insofern an „einem Standard vergleichbarer Fälle“ orientiert sein. Für diesen sei aber die Auffassung des „guten Bürgers“43 prinzipiell ebenso unmaßgeblich wie die Gesichtspunkte „allgemeiner Abschreckung“ oder der „Spezialprävention“.44 Im Ergebnis – und hier schließt sich der Kreis zu seiner Ausgangsthese – dürfte der Unterschied zu der herrschenden Spielraumtheorie45 gering sein. Denn Jakobs konzediert jedenfalls im Jahre 1976 dem derzeit in der Rechtsprechung praktizierten Verfahren, dass der Zweck des Strafrechts „zur Zeit noch insgesamt erreicht wird“ und somit auch die am herkömmlich verstandenen Schuldgrundsatz orientierte Strafrechtspflege dazu geeignet ist, die von ihm analysierten modi der Enttäuschungsverarbeitung zu leisten.46 3. Zur Kontinuität im straftheoretischen Denken Jakobs’ Indem Jakobs die von ihm vertretene Strafrechtsdogmatik am Strafzweck der positiven Generalprävention ausrichtet, bezieht er sich auf einen Sachverhalt der empirischen Wirklichkeit. Er sieht einen Zusammenhang zwischen der im Einzelfall verhängten Strafe, den in den Straftatbeständen enthaltenen Strafrahmen und den Variablen „Einüben in Normanerkennung“, „Einübung in Rechtstreue“, „Einübung in die Akzeptanz des Gelernten“ oder allgemein „Stabilisierung der normativen Verhaltenserwartungen“ und stellt die Hypothese auf, dass Strafe insoweit tatsächlich zweckdienlich ist und die genannten Funktionen bewirken kann. Damit ist die Straftheorie Jakobs’ ebenso wie allgemein die Systemtheorie zumindest grundsätzlich nicht gegen eine empirische Falsifizierung abgesichert. Unterstellt, es gelänge der empirische Nachweis, dass Strafe mit den von Jakobs angenommenen Wirkungen nicht das geringste zu tun hätte oder Strafe zur Stabilisierung von Verhaltenserwartungen sogar kontraindiziert wäre, würde dies den zugrunde gelegten Ableitungszusammenhang zwischen Straftheorie und Strafrechtsdogmatik maßgeblich beeinträchtigen. Der auf der Generalprävention aufbauenden systemfunktionalen Strafrechtsdogmatik wäre buchstäblich der Boden unter den Füßen weggezogen. Die mit dem Begriff der positiven Generalprävention beschriebenen Effekte sind, vergleichbar anderen systemtheoretischen Grundaussagen, allerdings noch weniger empirisch überprüfbar als die von der negativen Generalprävention er43

Jakobs, G.: Schuld und Prävention 1976, S. 33. Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, S. 488 (Rn. 29). 45 BGHSt 7, 28 ff., 32; 20, 264 ff., 266; 24, 132 ff., 133, 134; weitere Nachweise bei Streng, F.: Strafrechtliche Sanktionen 2002, S. 252 (Rn. 480). 46 Zur Kritik dieser Auffassung aus personfunktionaler Sicht, vgl. unten II. 44

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fasste Abschreckungswirkung der Strafe. Der Vergleichsfall einer Gesellschaft ohne Strafrechtspflege, die aber ansonsten im Wesentlichen die gleichen Strukturelemente aufweist und insbesondere aufgrund ihrer Komplexität ebenfalls einer normativen Stabilisierung von Verhaltenserwartungen bedarf, kommt in der Wirklichkeit nicht vor und lässt sich auch im erfahrungswissenschaftlichen Experiment kaum simulieren. Zudem beziehen sich die von der positiven Generalprävention unterstellten Hypothesen auf langfristige und auch regional weitgehend invariante Effekte, die den Methoden der kriminologisch-empirischen Sozialforschung überwiegend unzugänglich sind. Nach dem derzeitigen kriminologisch-empirischen Forschungstand gilt die Theorie der positiven Generalprävention daher weder als belegt, noch als falsifiziert.47 Diese Pattsituation mit der Konsequenz einer weitgehenden Enttäuschungsfestigkeit der Hypothesen positiver Generalprävention mag zwar – nach den ernüchternden Forschungsergebnissen zur positiven Spezialprävention – ein Grund für deren derzeitige Konjunktur sein. Gegenüber Jakobs, dessen Ansatz wie dargelegt ausschließlich auf der positiven Generalprävention beruht, wird die empirische Unangreifbarkeit aber zum Ausgangspunkt der Kritik:48 So argumentiert etwa Stratenwerth, bei Jakobs werde dem Strafzweck der positiven Generalprävention im Ergebnis mehr zugemutet, als dieser überhaupt leisten könne: „Sobald die relativen Straftheorien . . . dazu dienen sollen, über die Grundstrukturen der strafrechtlichen Zurechnung oder auch nur über Art und Maß der strafrechtlichen Sanktion im einzelnen zu entscheiden, werden sie, soweit es nicht um bloße Randkorrekturen geht, hoffnungslos überfordert. Was als funktionale Deutung auftritt, erweist sich deshalb auf weite Strecken als bloße straftheoretische Behauptung von großer Beliebigkeit, die bestenfalls plausibel sein mag, zumeist aber nicht einmal den Anspruch erhebt, rational – und das heißt empirisch – überprüfbar zu sein. Damit ist niemandem gedient.“49

Seit Mitte der 90er Jahre hat Jakobs daher versucht, sich von diesem problematischen empirischen Bezug seiner Theorie zu distanzieren. In einem Vortrag auf der Rostocker Strafrechtslehrertagung im Mai 1995 nahm er insoweit erstmals ausdrücklich Stellung und argumentierte, die mit der Theorie der positiven Generalprävention assoziierten sozialpsychologischen Aspekte beträfen mehr „das Umfeld“, nicht aber den „Kern“ der Theorie: „Empirische Untersuchungen zur positiven Generalprävention müssen daher stets ein wenig deplaziert wirken . . . Strafrecht stellt auf der kommunikativen Ebene die gestörte Normgeltung schlechthin immer wieder her, wenn überhaupt ernsthaft ein Verfahren wegen einer Normverletzung betrieben wird, und das heißt zugleich, damit 47 Bock, M.: JuS 1994, 89 ff.; ders.: ZStW 103 (1991), 636 ff.; Stratenwerth, G.: Strafzwecke 1995; Dölling, D.: ZStW 102 (1990), 1 ff.; alle m. w. N. 48 Bock, M.: ZStW 103 (1991), 636 ff. 49 Stratenwerth, G.: Strafzwecke 1995, S. 7.

I. Straftheoretische Grundannahmen

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werde die unveränderte Identität der Gesellschaft dargestellt. Empirisch fassbar sind an diesem Vorgang einzig die Straftat, das Verfahren und der Zusammenhang beider; nicht empirisch fassbar ist insbesondere die Bestätigung der Identität; denn sie ist nicht Folge des Verfahrens, sondern seine Bedeutung.“50

Noch deutlicher wird der Versuch einer Abwendung von dem empirischen Bezug der Theorie positiver Generalprävention bei Heiko Lesch. Nach Lesch, der ebenso wie Jakobs andere präventive Strafzwecke als Legitimationsgrundlage der Strafe ausschließt und Strafe systemfunktional als „Stabilisierung von Verhaltenserwartungen“ und „Einübung in Normvertrauen“ interpretiert, sind diese Mechanismen nicht „in einem empirisch nachweisbaren real-psychologischen Sinne“51 zu verstehen. Es gehe vielmehr lediglich darum, zu zeigen, dass man sich auch weiterhin „an der Norm orientieren darf, dass man im Recht ist, wenn man auf deren Geltung vertraut“.52 Vergleichbar spricht wiederum Jakobs von der symbolischen Wirkung der Strafe im Zusammenhang mit der Einübung von Normvertrauen.53 Bei beiden Autoren (zu Jakobs vgl. neuere Abhandlungen)54 geht die Distanzierung von der Empirie mit einer theoretischen Grundlegung des eigenen Ansatzes in der Philosophie und Straftheorie Hegels einher. Jakobs entfernt sich seit Mitte der 90er Jahre zumindest vordergründig von der Identifikation seines Ansatzes mit den systemtheoretischen Annahmen Luhmanns55 und betont nunmehr, dass die Differenz der Theorie Hegels zu dem von ihm vertretenen Konzept der Generalprävention „gering ist“.56 Lesch, der in seiner Habilitationsschrift den Bezug der funktionalen Strafrechtsdogmatik zu der Position Hegels in den Vordergrund stellt,57 geht – insoweit in bewusster

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Jakobs, G.: ZStW 107 (1995), 843 ff., 844 f. Lesch, H. H.: JA 1994, 590 ff., 596. 52 Lesch, H. H.: JA 1994, 590 ff., 596. 53 Jakobs selbst lässt offen, was mit dem Begriff der nur symbolischen Wirkung der Generalprävention konkret gemeint ist. Aber auch dann, wenn man hierunter lediglich die Erzeugung einer bestimmten Stimmung des Glaubens an Ordnung und Institutionen oder eine Illusion der Sicherheit versteht (vgl. hierzu Baratta, A. in: Arth. Kaufmann-FS 1993, S. 393 ff.), wird diese Aussage nicht von ihrem grundsätzlichen empirischen Bezug gelöst. Denn auch diese Variablen sind – ähnlichen wie die in der Kriminologie untersuchten Aspekte der „Verbrechensfurcht“ – Aussagen über die soziale Wirklichkeit, die etwa über bestimmte Indikatoren durchaus auch zum empirischen Forschungsgegenstand gemacht werden können. 54 Jakobs, G.: ZStW 107 (1995), 843 ff., 844; ders.: Norm, Person, Gesellschaft 1997, S. 80 ff., 98 ff. 55 Vgl. Jakobs, G.: ZStW 107 (1995), 843 ff., 843: „Selbst der flüchtige Kenner dieser Theorie (der Systemtheorie Luhmanns, H. S.) wird jedoch schnell merken, dass die hiesigen Ausführungen ihr keineswegs konsequent, ja nicht einmal in allen Hauptsachen folgen“. 56 Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, S. 17 (Rn. 21); die Nähe zu Hegel hebt Jakobs noch an weiteren Stellen nach, vgl. ders.: Handlungsbegriff 1992, S. 12 ff.; ders.: ZStW 107 (1995), 843 ff. 57 Lesch, H. H.: Verbrechensbegriff 1999. 51

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Kap. 3: Funktionalismus bei Günther Jakobs

Abgrenzung von Jakobs – noch einen Schritt weiter und nennt den eigenen straftheoretischen Ansatz „funktionale Vergeltungstheorie“. In der Literatur, teilweise in unmittelbarer Reaktion auf den Diskussionsbeitrag von Jakobs auf der Rostocker Strafrechtslehrertagung, ist Jakobs daher vorgehalten worden, er nähere sich zunehmend „einer absoluten Theorie im Sinne Hegels an“.58 Denn wenn sich die Strafe einer empirischen Überprüfung entziehe, trage sie ihre Rechtfertigung in sich. An die Stelle der Gerechtigkeit, die bei der absoluten Straftheorie (Kant) im Vordergrund stehe, trete bei Jakobs lediglich die Idee der normativen Identität der Gesellschaft. Insoweit gehe es Jakobs zwar immer noch um Zweckdenken. Da sein Rechtsbegriff aber nicht auf Vernunft und Freiheit beruhe, nehme dieser die Gestalt einer formalen Teleologie an und sei im Ergebnis mit „schlechte(r) Metaphysik“59 gleichzusetzen. Diese Kritik an Jakobs verdeutlicht einen Bruch in seinem straftheoretischen Denken und relativiert die hier zunächst zugrunde gelegte Annahme, Jakobs sei auch heute noch als Hauptvertreter des systemfunktionalen Ansatzes in der Strafrechtsdogmatik anzusehen. Auch wenn Jakobs in neueren Arbeiten verstärkt auf die Straftheorie Hegels abhebt, bedeutet dies aber nicht zugleich den von den oben genannten Kritikern Jakobs angenommenen Wechsel im straftheoretischen Denken. Jakobs sieht in der absoluten Straftheorie und in seiner Theorie positiver Generalprävention nämlich keine unverbrüchlichen Gegensätze, sondern bringt beide Ansätze miteinander in Zusammenhang. Diese Überlegung ist in der Strafrechtswissenschaft weder neu,60 noch auf Jakobs alleine zurück zu führen. Es lassen sich zwei wesentliche Argumentationslinien aufzeigen: (1) Der erste Ansatz verfolgt eine Integration absoluter Strafbegründung in die Theorie positiver Generalprävention.61 Diese Auffassung geht davon aus, dass die generalpräventive Effizienz der Strafe dann am größten ist, wenn diese von der Bevölkerung als angemessen angesehen wird. Die Schuldstrafe im Sinne des § 46 Abs. 1 StGB ist daher ein Element der (positiven) Generalprävention. Denn nur eine als gerecht empfundene Strafe macht diese in den Augen der Rechtsgemeinschaft konsensfähig, sichert die Autorität der Rechtsordnung und stärkt das Rechtsbewusstsein. (2) Der zweite Argumentationsansatz62 setzt bei einer Neu58 Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 52 (§ 3, Rn. 31); vgl. auch Puppe, I. und Schünemann, B. im Diskussionsbericht von Zieschang, F.: ZStW 107 (1995), 907 ff., 925; Schünemann, B. ferner in: Roxin-FS 2001, S. 1 ff., 12–20. 59 Köhler im Diskussionsbericht von Zieschang, F.: ZStW 107 (1995), 907 ff., 925. 60 Eingehend: Hoffmann, P.: Vergeltung und Generalprävention 1992. 61 Hassemer, W.: Einführung 1990, S. 298; ähnliche Ansätze auch bei Herzog, F.: Prävention 1987; Müller-Dietz, H.: in Jescheck-FS 1985, S. 813 ff.; Roxin, C. in: Bockelmann-FS 1979, S. 279 ff. 62 Frommel, M.: Präventionsmodelle 1987; ähnlicher Ansatz auch bei Lesch, H. H.: JA 1994, 590 ff.; Prittwitz, C.: Strafrecht und Risiko 1993 und Koriath, H.: JURA

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interpretation der Straftheorien Kants und Hegels an, die nicht als absolute sondern als verdeckt relative Theorien interpretiert werden. Insbesondere bei Hegel werden von den Vertretern dieses Argumentationsansatzes Elemente der positiven Generalprävention erkannt. Wenn Hegel von der Manifestation des Rechts durch die Existenz und Durchsetzung des Strafensystems spreche, so sei dies durchaus vereinbar mit dem modernen Konzept der „Internalisierung der Normen und kulturellen Werte“ durch Strafe.63 Gleiches gelte für das systemtheoretische Argument der kontrafaktischen Stabilisierung der wesentlichen normativen Verhaltenserwartungen, die inhaltsgleich mit der Hegelschen Überlegung sei, Strafe sei die „in die Existenz tretende Vernichtung jener Verletzung“.64 Innerhalb dieser beiden Hauptwege der Verbindung relativer und absoluter Straftheorien ist Jakobs (und auch insoweit folgend, Lesch)65 dem zweiten Argumentationsansatz zuzuordnen. Auch Jakobs sieht wesentliche Parallelen zwischen seiner Theorie der positiven Generalprävention und der Theorie Hegels, die nach seiner Auffassung zwar „dem Begriff nach absolut, aber in ihrer konkreten Ausgestaltung relativ zum jeweiligen Stand der Gesellschaft“66 ist. Damit – und dies ist für den vorliegenden Rezeptionsansatz der Strafrechtsdogmatik Jakobs entscheidend – distanziert er sich jedoch weder inhaltlich von den oben dargestellten systemtheoretischen Grundannahmen noch von der damit einhergehenden systemfunktionalen Perspektive. Nach wie vor stellt Jakobs auf die systemfunktionalen Konsequenzen der Strafe ab, die er auch in den Schriften Hegels erwähnt findet. Demzufolge betont Jakobs auch in seinem Vortrag auf der Rostocker Strafrechtslehrertagung, dass die wesentliche Funktion der Strafe darin besteht, den Geltungsanspruch der Norm zu garantieren67 und nicht etwa individuell durch die Tat verwirklichtes Unrecht zu vergelten. Der Bezug zu der Straftheorie Hegels und die hier im Einzelnen nicht zu hinterfragende Interpretation dieser Theorie dient Jakobs im Ergebnis dazu, seine Straftheorie auf ein weiteres Fundament zu stellen. Der eigene straftheoretische Ansatz ist damit nicht allein durch die gesamte sozialwissenschaftliche Systemtheorie legi-

1995, 625 ff. Im Einzelnen weisen diese Interpretationen der Theorien Kants und Hegels allerdings erhebliche Unterschiede auf. Koriath (JURA 1995, 625 ff.) sieht bereits in Kant einen Vertreter der Vereinigungstheorie und findet bei Kant präventive Gesichtspunkte zumindest als „Reflex“ der Vergeltungstheorie erwähnt. Die meisten Vertreter dieses Ansatzes setzen allerdings erst bei Hegel an. 63 Hoffmann, P.: Vergeltung und Generalprävention 1992, S. 191. 64 Hegel, G. W. F.: Philosophie des Rechts 1955, S. 185. 65 Lesch, H. H.: JA 1994, 590 ff., 597. 66 Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, S. 18 (Rn. 21), vergleichbar argumentiert Lesch, H. H.: JA 1994, 590 ff., 597, man dürfe aus Hegels Vergeltungstheorie nicht die „diesseitig-soziale Ausrichtung“ „eskamotieren“. Bei Hegel gehe es schon um ein „diesseitig-soziales Phänomen, nämlich um den Staat, um die rechtliche Ordnung, d. h. um diejenige Ordnung, die überhaupt die Grundlage sozialer Koexistenz darstellt.“ 67 Jakobs, G.: ZStW 107 (1995), 843 ff., 848.

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Kap. 3: Funktionalismus bei Günther Jakobs

timiert, die Jakobs auf die Probleme des Strafrechts überträgt, sondern wird zusätzlich philosophisch durch die Dialektik Hegels abgesichert. Die vor allem von Lesch ausgearbeitete Interpretation Hegels, der als Vertreter einer „dialektische(n) und gleichermaßen funktionale(n) Theorie tatschuldausgleichender Vergeltung“68 angesehen wird, ist daher vor allem Teil einer Immunisierungsstrategie Jakobs’ gegen die Argumente seiner Kritiker, die auf die mangelnde empirische Überprüfbarkeit des Konzepts positiver Generalprävention verweisen. In der Sache vermag sich Jakobs aber auch durch den Rekurs auf Hegel nicht von dem empirischen Bezug der Theorie positiver Generalprävention zu lösen. Die von ihm beschriebenen Funktionen der Strafe sind – auch wenn Jakobs diese nunmehr als Symbolik verstanden wissen will – Aussagen über die empirische Wirklichkeit. Die Aussage, dass Strafe die Geltung der Norm garantiert,69 ist eine Hypothese über einen Wirkungszusammenhang zwischen den Variablen „empirische Geltung der Norm“ und „Strafe“ und impliziert, dass gerade die Strafe (und nicht etwa andere Mechanismen, wie informelle Kontrolle, Medien usw.) hierzu erforderlich ist. Dass diese Zusammenhänge gegen eine empirische Falsifizierung geradezu „immun“70 bzw., um die Terminologie Jakobs aufzugreifen, nicht „empirisch fassbar“71 sind, ändert nichts an diesem grundsätzlichen Wirklichkeitsbezug der Theorie positiver Generalprävention.

II. Kritik aus personfunktionaler Sicht Mit dieser systemfunktionalen Bestimmung der Strafe ist zumindest implizit eine Abkehr von den wesentlichen, in der Rechtsgutslehre und den Vereinigungstheorien enthaltenden personfunktionalen Schranken des Strafrechts verbunden. Im Einzelnen: (1) Da Jakobs in der Gewährleistung von Rechtsgüterschutz nicht mehr die Aufgabe des Strafrechts sieht, gibt er gleichzeitig auch die mit dieser Legitimationsfunktion der Rechtsgüter korrespondierende Kontroll- und Limitierungsfunktion preis.72 Diese beiden Funktionen kennzeichnen die Leistungen des Rechtsgutsbegriffs73 und der Rechtsgutslehren für den Schutz der Person vor 68

Lesch, H. H.: Verbrechensbegriff 1999, S. 98. Jakobs, G.: ZStW 107 (1995), 843 ff., 848. 70 Bock, M.: ZStW 103 (1991), 636 ff. 71 Jakobs, G.: ZStW 107 (1995), 843 ff., 847. 72 Überblick bei: Müller-Dietz, H. in: R. Schmitt-FS 1992, S. 95 ff.; Kaufmann, Arth. in: Henkel-FS 1974, S. 89 ff.; AK-StGB-Hassemer, vor § 1, Rn. 183 ff.; Hassemer, W. in: Arth. Kaufmann-FS 1989, S. 85 ff.; ders.: Einführung 1990, S. 23; ders.: NStZ 1989, S. 553 ff.; Marx, M.: Rechtsgut 1972; Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 34 ff. (Rn. 54 ff.); Jescheck/ Weigend: Strafrecht AT 1996, S. 7 ff. 73 Die Definition des Begriffs Rechtsgut ist in der strafrechtswissenschaftlichen Literatur freilich umstritten. Überblick zu den verschiedenen Ansätzen bei Appel, I.: Verfassung und Strafe 1998, S. 346. Appel (S. 344 ff.) äußert selbst erhebliche Zwei69

II. Kritik aus personfunktionaler Sicht

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dem Strafrecht. Die Berufung auf einen bestimmten Kanon vom Strafrecht zu schützender Rechtsgüter oder ein bestimmtes bei der Gewinnung von Rechtsgütern zu beachtendes Prinzip ist nicht nur Kriterium für eine gerechte Strafwürdigkeitsbestimmung, sondern insbesondere auch Grenze für die zulässige Kriminalpolitik. Kriminalpolitische Entschließungen des Gesetzgebers müssen sich nach diesen Maßprinzipien der Rechtsgutslehren beurteilen lassen.74 Dabei hängt der Umfang des Schutzes der Person vor Neukriminalisierungen durch den Strafgesetzgeber entscheidend von der im Rahmen des Spektrums der Rechtsgutslehren vertretenen Position ab. Die personfunktionale Komponente der Lehren vom Rechtsgüterschutz steht vor allem bei den Vertreten der personalen Rechtsgutslehre75 im Vordergrund. Rechtsgüter sind nach dieser Position schutzbedürftige menschliche Interessen. Der Schutz von Institutionen oder Kollektivrechtsgütern durch das Strafrecht ist demgegenüber nur dann legitim, wenn die entsprechenden Straftatbestände auch die Interessen der Individuen fördern. Vor dem Hintergrund dieser Auffassung können gegenwärtige Entwicklungen der Kriminalpolitik wie etwa die Tendenz einer Verlagerung des Rechtsgüterschutzes von den klassischen Individualrechtsgütern zu überindividuellen, kollektiven oder staatlichen Rechtsgütern, etwa im Bereich des Umwelt- Wirtschafts- und Betäubungsmittelstrafrechts kritisch gewürdigt werden.76 Aber auch außerhalb der personalen Rechtsgutslehre hat die Rechtsgutstheorie Prinzipien entwickelt, die dem strafbegründenden Element der Rechtsgutslehre begrenzend gegenüber stehen.77 Dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers werden hiernach insbesondere durch die Prinzipien der Subsidiarität und der Sozialschädlichkeit Schranken gesetzt. Das Prinzip der Subsidiarität garantiert den Charakter des Strafrechts als ultima ratio der Sozialkontrolle78 und des Rechtsgüterschutzes. Strafrechtlicher Schutz eines Rechtsguts ist nur dann legitim, wenn andere, weniger eingriffsintensive Mittel nicht ausreichen. Das Prinzip der Sozialschädlichkeit verlangt die Äußerlichkeit der Rechtsgutsverletzung und die gesellschaftliche Manifestation der Folgen dieser Verletzung. Das Prinfel an der Leistungsfähigkeit des Rechtsgutsbegriffs als Grenze des Strafrechts. Nach seiner Auffassung werde durch die Rechtsgutslehren lediglich „eine allgemein anerkannte materiale Wertethik . . . oder jedenfalls ein allgemein anerkannter Konsens über die Schutzwürdigkeit bestimmter Interessen und Gegebenheiten“ (S. 348) suggeriert. Ein entsprechender Maßstab sei aber in Wahrheit nicht verfügbar. 74 Sofern das Konzept der strafrechtlichen Rechtsgutlehre als Grenzelement des Strafrechts nicht von vornherein für untauglich erklärt wird, vgl. dazu oben (Fn. 73). 75 Marx, M.: Rechtsgut 1972; AK-StGB-Hassemer, vor § 1, Rn. 183 ff.; Hassemer, W. in: Arth. Kaufmann-FS 1993, S. 1 ff.; ders.: Einführung 1990, S. 14 ff. 76 Entsprechende Versuche bei Prittwitz, C.: Strafrecht und Risiko 1993; Baratta, A. in: Arth. Kaufmann-FS 1993, S. 393 ff. 77 Zusammenfassend: AK-StGB-Hassemer, vor § 1, Rn. 183 ff. 78 Zusammenfassend: Albrecht, P.-A. u. a. (Hrsg.): Strafrecht – ultima ratio 1992.

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Kap. 3: Funktionalismus bei Günther Jakobs

zip ermöglicht daher insbesondere eine kritische Würdigung der gegenwärtigen Tendenz zur „Vorfeldkriminalisierung“, das heißt zur Vorverlagerung der Strafbarkeit auf Verhaltensweisen, die unmittelbar noch keine konkret fassbaren Rechtsgüter berühren.79 Diese Problematik war auch Gegenstand eines Referats von Jakobs auf der Strafrechtslehrertagung in Frankfurt a. M. im Mai 1985.80 Jakobs leitet zunächst – seinen Standpunkt konsequent weiterverfolgend – her, dass das Prinzip des Rechtsgüterschutzes nach seiner Auffassung keine taugliche Grundlage für eine Begrenzung des Strafrechts und insbesondere auch nicht für die im Allgemeinen wie im Besonderen Teil des Strafrechts zu beobachtende Tendenz der Vorverlagerung der Strafbarkeit sein kann. Denn um möglichst effektiven Rechtsgüterschutz zu gewährleisten, ist es angezeigt, auch fernliegende Gefahrenquellen strafrechtlich zu erfassen. Der Gedanke des Rechtsgüterschutzes führt daher nach seiner Meinung zu einer auf verschiedenen Ebenen konkretisierbaren Ausweitung des Strafrechts, die prinzipiell nicht einmal vor der Kriminalisierung rechtsgutsfeindlicher Gedanken halt machen muss. Diese Kritik mündet bei Jakobs in einen eigenständigen Versuch der Strafrechtsbegrenzung,81 der sich von den obengenannten, aus der Rechtsgutslehre entwickelten personfunktionalen Limitierungsprinzipien, mit denen sich Jakobs allerdings nicht näher auseinandersetzt, zumindest von seinem argumentativen Ausgangspunkt her grundlegend unterscheidet. Im Ergebnis nimmt Jakobs auch hier auf den Gedanken der positiven Generalprävention Bezug. Der Zugriff des Strafrechts und der Kriminalpolitik auf Verhaltensweisen im Vorfeld konkreter Rechtsgutsverletzungen sowie die Ausweitung des strafrechtlichen Schutzes auf Universalrechtsgüter ist nur dann legitim, wenn durch das Verhalten die kognitive Basis der Normgeltung in Frage gestellt wird. Jakobs differenziert insofern zwischen Grund- und sogenannten Partialnormen. Grundnormen schützen konkrete Rechtsgüter. Demgegenüber betreffen Partialnormen, die die von ihm kritisierten Vorfeldverlagerungen enthalten, ein bestimmtes „Klima“,82 auf dessen Grundlage sich Verletzungen von Grundnormen ergeben können. Partialnormen sind etwa die Vorschriften über die „öffentliche Aufforderung zu Straftaten, § 111; Aufstachelung zum Angriffskrieg, § 80a; Volksverhetzung, § 130; Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten, § 126; Bedrohung, § 241 usw. Diese „Klimaschutztatbestände“ 83 sind als Vorfeldverlagerungen nach Jakobs nur dann legitim, wenn ohne die Norm die kognitive Grund79 In diesen Fällen bedient sich der seln, vgl. dazu: Müller-Dietz, H. in: R. 80 Jakobs, G.: ZStW 97 (1985), 751 81 Jakobs, G.: ZStW 97 (1985), 751 82 Jakobs, G.: ZStW 97 (1985), 751 83 Jakobs, G.: ZStW 97 (1985), 751

Gesetzgeber häufig sogenannter EignungsklauSchmitt-FS 1992, S. 95 ff., 100. ff. ff., 773 ff. ff., 774. ff., 779.

II. Kritik aus personfunktionaler Sicht

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lage für die Geltung der Grundnorm nachhaltig beeinträchtigt wird. Die hiernach erforderliche Intensität der Beeinträchtigung der Grundnorm setzt nach Jakobs voraus, dass der Täter es sich anmaßt, einen fremden Rechtskreis zu organisieren und er insoweit über die bloße Äußerung eines Gefühls oder einer Meinung hinausgeht.84 Im Fall der Androhung oder des öffentlichen Aufrufs zur Begehung von Straftaten (§§ 241, 126) wird so etwa die durch strafrechtliche Normen geschützte Garantie der Bevölkerung, nicht Opfer der angedrohten oder öffentlich proklamierten Taten zu werden, die anderenfalls maßgeblich beeinträchtigt wäre, wirksam geschützt. Daher ist hier die Vorverlagerung der Strafbarkeit legitim. Anders verhält es sich hingegen bei Straftatbeständen, wie „Belohnung und Billigung von Straftaten (§ 140) oder der Volksverhetzung (§ 130), die sich in der Kriminalisierung der Äußerung einer Meinung, eines Gefühls oder allgemein einer Kritik an der Rechtsordnung erschöpfen. Bei diesen Tatbeständen wird mangels einer Organisationsanmaßung des Täters das Vertrauen in die Geltung der Grundnorm nicht erschüttert. Daher sind diese Tatbestände nach Auffassung von Jakobs nicht mit dem Modell eines bürgerlichen Strafrechts vereinbar. Für die hier thematisierte Argumentationsstruktur des systemfunktionalen Ansatzes ist an dem oben rekonstruierten Lösungsvorschlag Jakobs’ bedeutsam, dass die Begrenzung des Strafrechts wiederum nicht mit Blick auf die Interessen der Person erfolgt, sondern auch hier die Funktionsfähigkeit des „Systems“ in Gestalt einer kognitiven Basis der Normgeltung im Mittelpunkt steht. Das zentrale Abgrenzungskriterium Jakobs’ für die Rechtmäßigkeit der Vorfeldverlagerung, die Anmaßung von Organisationsbefugnissen durch den Täter, fällt bei diesem konsequent systemfunktionalen Ableitungszusammenhang allerdings etwas aus dem Rahmen. Jakobs gesteht in seinem Beitrag denn auch selbst zu, dass prinzipiell jede der genannten Partialnormen das Vertrauen in die Geltung der Grundnorm schützen kann.85 Für den Geltungsanspruch der Grundnorm kann es nach dem Konzept von Jakobs nicht gleichgültig sein, ob öffentlich zu Straftaten oder zum Rassenhass aufgerufen wird. Indem Jakobs die Rechtmäßigkeit der Kriminalisierung von Vorfeldverletzungen an einer bestimmten Intensität der Beeinträchtigung der Grundnorm festmacht, nimmt er daher in Wahrheit auf ein Kriterium außerhalb des systemtheoretischen Ableitungszusammenhangs Bezug. Dass er diesen Ansatz in seinem Referat selbst als altliberal bezeichnet, legt nahe, hier im Ergebnis doch eine Anknüpfung an personfunktionale Argumente im Hinblick auf die Intensität der Rechtsgutsverletzung oder Gefährdung und das Prinzip der „Sozialschädlichkeit“ zu erblicken. Ob hierzu jedoch der „Umweg“ über den systemfunktionalen Ansatz erforderlich gewesen wäre, erscheint fraglich. Die Lösung Jakobs’ ist daher kein Äquivalent für die person84 85

Jakobs, G.: ZStW 97 (1985), 751 ff., 775. Jakobs, G.: ZStW 97 (1985), 751 ff., 779.

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Kap. 3: Funktionalismus bei Günther Jakobs

funktionalen Leistungen der Rechtsgutslehre. Da Jakobs der Rechtsgutslehre, wie dargelegt, zwar die Legitimations- und damit auch die Begrenzungsfunktion abspricht, aus pragmatischen Gründen aber dennoch am Begriff „Rechtsgut“ festhält, erschöpft sich die Funktion der Rechtsgutslehre in der insbesondere von den Neukantianern (vgl. dazu oben Kapitel 1) hervorgehobenen systemimmanenten Aufgabe:86 Die Ordnung und Gliederung des Besonderen Teils des Strafrechts und die Auslegung des Strafgesetzes nach dem geschützten Rechtsgut. Wie relativ die Geltung dieser auf die Person bezogenen Limitierungskriterien in dem systemfunktionalen Grundansatz Jakobs ist, zeigt sich insbesondere an dem von ihm in seinem Beitrag von 1985 erstmals in die Diskussion eingeführten Begriff des Feindstrafrechts.87 In seinem Referat anlässlich der Frankfurter Strafrechtslehrertagung verwendet Jakobs diesen Begriff kritisch, um damit die derzeitigen Entwicklungstendenzen einer „Kriminalisierung im Vorfeld der Rechtsgutsverletzung zu kennzeichnen“. Er setzt das Konzept des Feindstrafrechts dem von ihm damals eindeutig favorisierten Prinzip des liberalen Bürgerstrafrechts entgegen, in dem der Täter nicht nur als Gefahrenquelle und prinzipieller Feind des Rechtsguts, sondern als „Bürger“ angesehen wird, dem eine von staatlicher Kontrolle freie Sphäre zuzuerkennen ist. In den Schlussbemerkungen dieses Vortrags will Jakobs es allerdings nicht ausschließen, dass „vielleicht sogar zur Zeit gegebene“ Situationen möglich sind, „in denen Normen, die für einen freiheitlichen Staat unverzichtbar sind, ihre Geltungskraft verlieren, wenn man mit der Repression wartet, bis der Täter aus seiner Privatheit heraustritt“.88 Während Jakobs an dieser Stelle nur andeutet, dass die Konzeption eines Feindstrafrechts unter bestimmten Voraussetzungen möglich und rechtmäßig sein kann, stellt er im Jahr 2000 diesen Standpunkt in dem schon oben angesprochenen Diskussionsbeitrag explizit der Position Hassemers gegenüber, der zuvor in seinem Tagungsreferat für einen weitgehenden Schutz der Person vor dem Zugriff der Instanzen der formellen Sozialkontrolle eingetreten war.89 Um ihrer Bedeutung willen soll die Konzeption Jakobs’ hier in voller Länge wiedergegeben werden: 86

Vgl. hierzu Baratta, A. in: Arth. Kaufmann-FS 1993, S. 393 ff. Jakobs, G.: ZStW 97 (1985), 751 ff. 88 Jakobs, G.: ZStW 97 (1985), 751 ff., 784. 89 Hassemer, W. in: Eser, A./Hassemer, W./Burkhardt, B. (Hrsg.): Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende 2000, S. 21 ff., 43: „Das Proprium der Strafrechtswissenschaft, das, was sie unverwechselbar charakterisiert und was in Gesellschaft, Staat und Recht von ihr geleistet werden kann, ist die systematische Ausarbeitung einer Formalisierung sozialer Kontrolle schwerer Abweichungen: der strengen Bindung der Strafrechtspflege an Prinzipien letztlich zum Schutz derjenigen Personen, die an kriminellen Konflikten und deren Verarbeitung beteiligt sind. Diese Prinzipien einer rechtsstaatlichen Strafrechtspflege sind traditionell vor allem von der Strafrechtswissenschaft ausgeformt worden und werden erst in jüngster Zeit ins Licht unserer Verfassung gestellt: Schuldprinzip, Bestimmtheitsgrundsatz, Recht auf Verteidigung, 87

II. Kritik aus personfunktionaler Sicht

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„Wenn nicht alles täuscht, wird die Zahl der Feinde nicht sobald abnehmen, vielmehr eher noch zunehmen. Eine Gesellschaft, der die Stützungen einer staatskonformen Religion ebenso abhanden gekommen sind wie diejenige der Familie und in welcher die Nationalität als eine eher zufällige Eigenschaft verstanden wird, lässt den einzelnen zahlreiche Möglichkeiten, am Recht vorbei eine Identität aufzubauen, jedenfalls mehr, als es eine stärker bindende Gesellschaft bieten könnte. Hinzu kommt die Sprengkraft sogenannter Multikulturalität – eine schieres Unding: Entweder sind die unterschiedlichen Kulturen bloße Beigaben zu einer rechtlichen Basisgemeinsamkeit; dann handelt es sich um Multifolklorismen einer Kultur. Oder aber – und das ist die gefährliche Variante – die Unterschiede prägen die Identitäten der Zugehörigen; dann aber wird die gemeinsame rechtliche Basis zum bloßen Instrument des Nebeneinanderlebens degradiert, und, wie jedes Instrument, preisgegeben, wenn man es nicht mehr braucht. . . . Die Gesellschaft wird also weiterhin Feinde haben, die – offen oder im Schafspelz – in ihr umherziehen. Eine risikobewusste Gesellschaft kann diese Problematik mangelnder kognitiver Sicherheit nicht einfach beiseite schieben; sie kann die Problematik auch nicht nur mit polizeilichen Mitteln lösen. Deshalb besteht zu einem Feindstrafrecht keine heute ersichtliche Alternative.“90

(2) Das idealtypisch personfunktionale Gegenstück zur Schuldlehre von Jakobs kann vor allem in der Position Arthur Kaufmanns gesehen werden,91 von der sich auch Jakobs in seinen Arbeiten aus den Jahren 1976 und 1993 explizit absetzt. Im Gegensatz zu Jakobs ist Kaufmann der Auffassung, dass der Inhalt der Schuld bereits aus dem Schuldbegriff und nicht erst durch eine Bezugnahme auf Strafzwecke abgeleitet werden kann. Schuld ist danach die „bewusste Willensentscheidung gegen das Veto, das sich in der Vorstellung von der sicheren oder der möglichen Herbeiführung eines unerlaubten Erfolgs (im weitesten Sinne) ankündigt“,92 kurz: die „verantwortliche Entscheidung für das Unrecht“.93 Für Kaufmann ist Schuld demnach unmittelbar auf die Person (und nicht wie bei Jakobs auf die Gesellschaft) bezogen und beinhaltet als strafrechtliches Schuldurteil einen individuellen Schuldvorwurf gegen den Verurteilten. Die Person, auf die sich dieser Vorwurf bezieht, ist bei Kaufmann in scharfem Kontrast zu Jakobs keinesfalls ein gesellschaftliches und damit normatives Konstrukt, sondern ein Mensch, der sich von allen anderen Lebewesen (ganz unabhängig von Gesellschaft und Normen) durch seine „Geistnatur“ unterscheidet und zum ne bis in idem, individuelle Zurechnung, Rückwirkungs- und Analogieverbot und so weiter.“ 90 Jakobs, G. in: Eser, A. u. a. (Hrsg.): Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende 2000, S. 47 ff., 52, 53 (Hervorhebung im Original). 91 Kaufmann, Arth.: Schuldprinzip 1976; ders.: JZ 1967, 553 ff.; ders. in: Lange-FS 1976, S. 27 ff.; zur Abgrenzung zur Schuldtheorie Jakobs, ders. in: Wassermann-FS 1985, S. 889 ff.; ders. in: JURA 1986, 225 ff. 92 Kaufmann, Arth.: Schuldprinzip 1976, S. 153. 93 Kaufmann, Arth. in: Wassermann-FS 1985, 889 ff., 895.

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Kap. 3: Funktionalismus bei Günther Jakobs

„geistigen Selbstbewusstsein und zur entsprechenden Selbstverfügung befähigt ist:94 Der Mensch ist „nicht wie die Dinge, die Pflanzen, die Tiere den Einwirkungen von außen blind unterworfen, sondern er weiß um sein Sein und hat sich gleichsam selbst in Händen, er lenkt sich selbst unter eigener Regie und ist daher für sich selbst in dem Sinne, dass nichts gegen seinen Willen in das Heiligtum seiner Freiheit und seines Selbstbesitzes eindringt, und dass er in der Abwehr unpersönlicher Kausalität bis zum Opfer der Bereiche gehen kann, die ihn dieser gegen seinen Willen aussetzen, bis zum Erleben des Todes“.95

Mit dieser Konzeption der Verantwortlichkeit und Freiheit des Menschen, die Kaufmann unter Bezugnahme auf die Philosophie und Ethik Nicolai Hartmanns entwickelt, korrespondiert die „Verantwortlichkeit“ und damit der Schuldvorwurf. Folgerichtig ist Schuld für ihn ein allgemeines sittliches Phänomen, das auf die ganzheitliche Struktur der menschlichen Existenz verweist und kein juristisches Konstrukt. Eine spezifisch strafrechtliche Schuld gibt es daher nur insoweit, als die strafrechtlichen Gebote oder Verbote („fast durchweg“) nur die allgemeinsten sittlichen Grundforderungen, das „ethische Minimum“ für das Zusammenleben der Menschen kennzeichnen.96 Eine weitergehende Unterscheidung zwischen politischer, religiöser oder juristischer Schuld ist unmöglich.97 Der so verstandenen Schuld kommt nach Kaufmann eine „rechtsstaatlich äußerst wichtige Limitierungsfunktion“98 zu, die sich im Wesentlichen auf zwei verschiedenen Ebenen äußert. Die Schuld ist zunächst eine zentrale strafrechtliche Systemkategorie und als solche ein strafbegründendes und zugleich strafbegrenzendes materielles Verbrechensmerkmal. Die Strafe kann daher nur an ein Verhalten anknüpfen, das nach der von Kaufmann zugrunde gelegten Definition schuldhaft war, und dies ist nur dann der Fall, wenn sich der Täter vor sich selbst im Unrecht weiß. Vor dem Hintergrund dieser Ausgangslage unternimmt

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Kaufmann, Arth.: Schuldprinzip 1976, S. 115. Kaufmann, Arth.: Schuldprinzip 1976, S. 117. 96 Kaufmann, Arth.: Schuldprinzip 1976, S. 198. 97 Diese von Roxin, C. (in: Arth. Kaufmann-FS 1993, S. 519 ff., 524) als „extrem idealistisch“ bezeichnete Konzeption einer Fundierung der Schuld in der Ethik steht im Vordergrund der frühen Arbeiten Kaufmanns. Ohne sich von diesem Ansatz zu distanzieren, argumentiert Kaufmann in neueren Arbeiten vornehmlich mit dem Resozialisierungsprinzip, aus dem er Rückschlüsse für die von ihm vertretene Schuldlehre zieht: „Das Schuldprinzip verweist auf das Verantwortungsprinzip. Auf das Verantwortungsprinzip wiederum gründet sich die Idee der Resozialisierung. Menschen, die nicht verantwortlich sind, kann man verwahren, vielleicht heilen oder auch dressieren, aber resozialisieren kann man sie nicht“, vgl. Kaufmann, Arth.: JURA 1986, 225 ff., 231. Zu dieser Akzentverschiebung in der Position Kaufmanns: Roxin, C. in: Arth. Kaufmann-FS 1993, S. 519 ff., 522. 98 Kaufmann, Arth. in: Lange-FS 1976, S. 27 ff., 28; Kaufmann sieht in der Konkretisierung der limitierenden Funktion der Schuld eines der Hauptanliegen seiner grundlegenden Monographie über das Schuldprinzip (S. 28, Fn. 7). 95

II. Kritik aus personfunktionaler Sicht

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Kaufmann einigen argumentativen Aufwand, um etwa den Schuldcharakter der Fahrlässigkeit heraus zu arbeiten. Bei der bewussten Fahrlässigkeit kommt er zu dem Ergebnis, dass diese „echte sittliche Schuld (Willensschuld) ist und ihre Bestrafung daher nicht gegen das Schuldprinzip verstößt“.99 Anders sind demgegenüber die Fälle der unbewussten Fahrlässigkeit zu beurteilen, bei der alle Möglichkeiten, eine Willensschuld nachzuweisen, nach der Auffassung Kaufmanns scheitern müssen. Die von Kaufmann in den Vordergrund gestellte Limitierungsfunktion der Schuld entfaltet darüber hinaus auch auf der Ebene der Strafzumessung ihre Wirkung. Das Schuldprinzip bedeutet hier, dass „die Strafe schuldangemessen sein muss, dass sie jedenfalls nach oben durch die Schuld begrenzt wird“.100 Kaufmann stimmt auf dieser Ebene zwar insoweit mit Jakobs überein, als auch er der Auffassung ist, dass die Schuld allein nicht das Art und Maß der Sanktion bestimmen kann und die Schuld zu einem Strafzweck in Beziehung gesetzt werden muss. Mit seinem Verständnis von Schuld harmoniert aber im Gegensatz zu Jakobs vor allem die positive Spezialprävention in Gestalt der „Idee der Resozialisierung“, die er im Lichte des Schuldprinzips interpretiert. Resozialisierung ist für ihn nicht allein identisch mit der Behebung von Sozialisationsdefiziten, die dem Täter ein Leben ohne weitere Straffälligkeit ermöglicht, sondern sie setzt eine „eigenverantwortliche Übernahme der Schuld voraus.“ Denn nur diese führt zu einer Entlastung des Gewissens und stellt den inneren Frieden wieder her, durch die sich der „Schuldige von seiner Schuld lösen“ und in den Vollbesitz seiner personalen Würde“ gelangen kann.101 Es geht an dieser Stelle nicht darum, den vor dem Hintergrund des heutigen Zeitgeistes etwas idealistisch anmutenden Standpunkt Kaufmanns im Einzelnen nachzuzeichnen und etwa seine Auffassung zur unbewussten Fahrlässigkeit, die, wie er selbst bemerkt, auf eine Umgestaltung des Strafrechts hinausläuft, im Einzelnen zu würdigen. Maßgeblich ist hier vor allem die im scharfen Gegensatz zu Jakobs stehende durchgängig personfunktionale Argumentation Kaufmanns. Sein mit der Ethik (oder in späteren Arbeiten auch mit dem Resozialisierungsprinzip) legitimierter Schuldgrundsatz ist ein Maßprinzip für den staatlichen Eingriff, das auf der Ebene der Strafbarkeitsfeststellung ebenso seine Wirkung entfaltet wie auf der Ebene der Strafzumessung. Der systemfunktionale Ansatz von Jakobs gibt diese Maß- und Limitierungsprinzipien zugunsten des Konzepts der Bestätigung der normativen Identität der Gesellschaft preis. Dementsprechend kann Jakobs auch dann „handfeste staatsutilitaristische“ 102 Gründe aufzeigen, warum in bestimmten Fällen der Gleichgültigkeit gegenüber 99

Kaufmann, Arth.: Schuldprinzip 1976, S. 155. Kaufmann, Arth. in: Wassermann-FS 1985, S. 889 ff., 890. 101 Kaufmann, Arth.: Schuldprinzip 1976, S. 201. 102 Jakobs, G.: ZStW 101 (1989), 516 ff., 521. 100

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Kap. 3: Funktionalismus bei Günther Jakobs

der Norm oder der „ungerichteten“ Fahrlässigkeit gestraft werden muss, wenn bei Kaufmann Bedenken und Skrupel überwiegen. Dieser Gesichtspunkt wird auch von Kaufmann, der sich in einem Festschriftbeitrag eingehend mit Jakobs auseinandersetzt, ausdrücklich hervorgehoben. Zusammenfassend hält er Jakobs entgegen: „Wenn man den Schuldbegriff als rein formal bezeichnet und ihm einen Inhalt allein von der Idee der Generalprävention gibt, kann man bei der Bemessung der Strafe beliebig über das hinausgehen, was vom Täter her gesehen als richtig erscheint. Ich möchte deshalb eindringlich davor warnen, die Idee des materialen Schuldstrafrechts preiszugeben. Denn was mit dem Schuldgedanken geopfert wird, ist nichts geringeres als die Freiheitlichkeit des Strafrechts . . .103 Mein Plädoyer für Schuldstrafrecht und Resozialisierungsidee war immer ein Plädoyer für Menschlichkeit und Freiheitlichkeit des Strafrechts. Die neueren Bestrebungen in der Strafrechtsdogmatik, die mehr auf die Gesellschaft, statt auf den Täter und mehr auf die Generalprävention statt auf die Spezialprävention setzen, haben mich von der Richtigkeit meines Ansatzes zutiefst überzeugt. In unserer vermaßten Gesellschaft hat das Strafrecht, so will mir scheinen, keine wichtigere Aufgabe, als das Individuum – Opfer wie Täter – und seine Rechte zu schützen und zu verteidigen.“104

Kaufmann sieht sich selbst als Vertreter einer älteren Generation von Strafrechtslehrern und erkennt in dem Streit um den Schuldbegriff „viel tiefere Ursachen, . . . als die gegen ihn vorgebrachten ,wissenschaftlichen’ Argumente den Anschein gegeben“.105 Seine eigene Position, die er bereits im Jahr 1986 als „unzeitgemäß“ bezeichnet, interpretiert er als zeitgeschichtliche Antwort auf die Funktionalisierung des Strafrechts während der NS-Diktatur, die durch ein „krebsartig wucherndes reines Zweckstrafen“ gekennzeichnet war. In den ersten Nachkriegsjahren habe die Strafrechtslehre erkannt, dass das Recht nur durch die Erkenntnis des Ontologischen, das heißt der unverfügbaren Strukturen der Wirklichkeit zumindest teilweise der Willkür des Gesetzgebers entzogen werden könne. Den jüngeren Strafrechtslehrern sei diese Erkenntnis ebenso wie der Sinn für Schuld abhanden gekommen. Ihnen sagten die „ungezählten frivolen Verstöße gegen den Schuldgrundsatz“ während des Nationalsozialismus nichts mehr und sie hätten über dem Streben nach mehr Wissenschaftlichkeit des Strafrechts vollends den Sinn für das „Gerechtsein der Strafe“ verloren.106 Während diese Kritik Kaufmanns mehr die Grundlagen der funktionalen Strafrechtsdogmatik betrifft, soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, ob sich die mit dem Ansatz von Jakobs verbundene Abkehr von den personfunktionalen Limitierungsprinzipien des Strafrechts auch in den einzelnen dogmatischen Entscheidungen widerspiegelt. In den obenstehenden Analysen zeigte 103 104 105 106

Kaufmann, Kaufmann, Kaufmann, Kaufmann,

Arth. in: Wassermann-FS 1985, 889 ff., 895. Arth. in: Wassermann-FS 1985, 889 ff., 897. Arth.: JURA 1986, 225 ff., 225. Arth.: JURA 1986, 225 ff., 225.

III. Strafrechtsdogmatische Schlussfolgerungen

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sich Jakobs vor allem als wissenschaftlicher Aufklärer, der das Strafrecht zwar systemfunktional umdeutet und revolutioniert, mit den Ergebnissen der personfunktionalen Dogmatik aber im Wesentlichen zufrieden ist. Diesen Rückzug auf eine theoretische Reflexions- und Deutungsebene stellt er in seinen früheren Arbeiten auch ausdrücklich heraus. So führt er etwa in der Abhandlung „Schuld und Prävention“ aus, sein Schuldkonzept sei kein „Entwurf für die Zukunft“, sondern der „Versuch einer Deutung der gegenwärtigen Lage“.107 Die nachstehende Analyse von Arbeiten Jakobs’ zu einzelnen dogmatischen Grundproblemen zeigt auf, dass Jakobs diese Selbstbeschränkung nicht konsequent durchgehalten hat, sondern nunmehr auch zu Fragen von vorrangiger praktischer Bedeutung eine systemfunktionale Umgestaltung des Strafrechts befürwortet.

III. Strafrechtsdogmatische Schlussfolgerungen 1. Der Handlungsbegriff a) Strafrechtsgeschichtlicher Bezugsrahmen für den von Jakobs vertretenen Handlungsbegriff Da die in den verschiedenen Epochen des strafrechtlichen Systemdenkens vertretenen Handlungslehren deutlich das jeweilige weltanschauliche und wissenschaftstheoretische Referenzsystem widerspiegeln,108 gerät der Handlungsbegriff auch in der Strafrechtsdogmatik Jakobs’ zum Prüfstein seines systemfunktionalen Ansatzes. Jakobs entwickelt seinen Handlungsbegriff bzw. seine Handlungslehre vor allem in seinem Lehrbuch aus dem Jahre 1991 und in der „Kleinen Studie“ „Der strafrechtliche Handlungsbegriff“ (1992). Im Ergebnis formuliert Jakobs in mehreren, aufeinander folgenden Arbeitsschritten einen Handlungsbegriff im Sinne eines allgemeinen Verbrechensbegriffs und führt damit die strafrechtsdogmatische Diskussion um den Handlungsbegriff zumindest terminologisch weitgehend auf den Stand in der Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Setzt man an diesem Ausgangspunkt an, so gerät zunächst der Handlungsbegriff der Hegelianer (Julius Friedrich Heinrich Abegg, 1796–1868; Christian Reinhold Köstlin, 1813–1856 und Albert Friedrich Berner, 1818–1907) in das Blickfeld.109 Grundstein dieser Strafrechtsdogmatik ist die idealistische Philosophie110 und das hiermit korrespondierende Menschenbild sowie das von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) in den „Grundlinien der Philosophie des 107

Jakobs, G.: Schuld und Prävention 1976, S. 32. Vgl. Otter, K.: Funktionen des Handlungsbegriffs 1973, S. 30–47; Jescheck, H.-H. in: Eb. Schmidt-FS 1961, S. 139 ff.; Überblick ferner bei Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 185–200 (Rn. 7 ff.). 109 Zusammenfassend: Radbruch, G.: Handlungsbegriff 1967; Bubnoff, E. v.: Handlungsbegriff 1966; Otter, K.: Funktionen des Handlungsbegriffs 1973, S. 30–34. 108

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Kap. 3: Funktionalismus bei Günther Jakobs

Rechts“ (1. Aufl. 1821) selbst entwickelte Verständnis von Handlung. Nach Hegel nimmt der Mensch gegenüber den sonstigen Erscheinungen in der Natur eine Sonderstellung ein. Seine Handlungen folgen nicht lediglich Naturgesetzmäßigkeiten oder sind das Produkt von den Sinnesorganen vermittelter Umweltreize, sondern sie sind das Resultat der besonderen menschlichen Fähigkeit, zur Welt Stellung zu nehmen. Kraft dieser Fähigkeit ist der Mensch zumindest grundsätzlich darauf angelegt, ein „geistiges Wesen“, eine „sittliche Persönlichkeit“ zu sein, und er besitzt die Freiheit, den „Naturzustand“ zu überwinden und sich frei verantwortlich ideellen Zielsetzungen und Werten zu verpflichten. Dieser Entfaltungsfreiheit des Menschen korrespondiert seine Verantwortlichkeit für die Folgen des in die Tat umgesetzten Willens.111 Das allgemeine Gebot, an dem Menschen ihre Verhaltensweisen somit auszurichten haben, lautet auf dieser Ebene: „Sei eine Person und respektiere die anderen als Personen.“112 Die der „allgemeinen Vernunft“ entspringenden Prinzipien der „objektiven Sittlichkeit“ und des Rechts konkretisieren diese allgemeine Pflicht und bilden als Handlungsanweisungen den Rahmen, innerhalb dessen die von Hegel im Folgenden113 behandelten Fragen nach Unrecht, Handlung, Zurechnung und Schuld Bedeutung gewinnen. Für Hegel ist Unrecht die willkürliche Negation des Rechts und damit nicht lediglich ein anhand rechtlicher Regeln beurteiltes körperliches bzw. physikalisches Geschehen, sondern eine Willensverwirklichung, die diesen Regeln widerspricht und daher das Recht negiert. Folgerichtig bezeichnet Hegel Handlung als die „Äußerung des Willens als subjektiven oder moralischen“114 und es werden dem Einzelnen nur diejenigen Folgen des Handelns zugerechnet, die „in Beziehung auf seine Freiheit“ stehen.115 Zugerechnet wird demnach bei Hegel nur die vorsätzliche Handlung. Außerhalb des Willensentschlusses stehende, das heißt fahrlässig herbeigeführte Folgen werden von diesem Handlungsbegriff noch nicht erfasst.116 Die Zurechnung von Handlungsfolgen, die eine Tat als willkürliche Negation des Rechts erscheinen lässt, setzt nach Hegel weiterhin voraus, dass die „Fähigkeit zu freiem Wollen“ bestanden hat.117 Hegel spricht demnach nur dann 110 Otter (Funktionen des Handlungsbegriffs 1973, S. 30) spricht daher auch von einem „idealistischen Handlungsbegriff“. 111 Bubnoff, E. v.: Handlungsbegriff 1966, S. 37 ff. 112 Hegel, G. F. W.: Philosophie des Rechts 1955, S. 52 (§ 36). 113 Hegel, G. F. W.: Philosophie des Rechts 1955, S. 88 ff. (§§ 84 ff.). 114 Hegel, G. F. W.: Philosophie des Rechts 1955, S. 105 (§ 113). 115 Hegel, G. F. W.: Philosophie des Rechts 1955, S. 106 (§ 115 ff.). 116 Bei den Hegelianern Abegg, Köstlin und Berner wird die Fahrlässigkeit später aber in den Handlungsbegriff einbezogen, vgl. Bubnoff, E. v.: Handlungsbegriff 1966, S. 56 f. (zu Abegg); S. 63 ff. (zu Köstlin); S. 75 ff. (zu Berner). 117 Hegel, G. F. W.: Philosophie des Rechts 1955, S. 109 (§ 120).

III. Strafrechtsdogmatische Schlussfolgerungen

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von einer Handlung, wenn der Handelnde auch zurechnungsfähig war. Denn nur sofern Zurechnungsfähigkeit besteht, kann von einem freien Entschluss, von einer frei gewählten Stellungnahme des Menschen gegen die Gebote der Sittlichkeit und des Rechts gesprochen werden. Die von Hegel folglich zugrunde gelegte Vereinigung von Handlung, Zurechnung und Schuld in einem einzigen Begriff der Handlung wird auch von den Hegelianern, die diesen Ansatz in konkrete Strafrechtsdogmatik umsetzen, aufrechterhalten und terminologisch zugespitzt. Der Begriff der Handlung erfasst nach dieser Auffassung nur die rechtswidrige und schuldhafte Handlung und ist damit ein Synonym für den Begriff des Verbrechens. So setzt sich die „Unrechtshandlung“ etwa nach Abegg, der Hegel zeitlich am nächsten steht und der sich bereits in seinem Vorwort seines „System(s) der Criminalrechtswissenschaft“ (1826) zu der philosophischen Fundierung der Strafrechtswissenschaft in der Tradition Hegels bekennt, unmittelbar aus den Merkmalen Subjekt, Wille, Tat, Widerrechtlichkeit (d. h. „verschuldetes Entgegentreten gegen das bestehende Recht“)118 und Strafbarkeit zusammen. Diese Einzelkomponenten sind nicht etwa Attribute, die zum Zweck strafrechtlicher Zurechnung an den Begriff der Handlung heran getragen werden, sondern sie konstituieren unmittelbar den Handlungsbegriff. Liegt eines der Merkmale nicht vor, kann nach Abegg auch nicht von einer Handlung gesprochen werden. Hierauf aufbauend definiert Köstlin in seiner „Neue(n) Revision der Grundbegriffe des Kriminalrechts“ (1845) einen Handlungsbegriff, nach dem Handlung im Strafrecht der „verwirklichte (freie) Wille eines (zurechnungsfähigen) Subjekts“ ist. Das „bewegende Prinzip der Handlung“ sieht er folglich im Willen, „der sich ebendeshalb das Recht zuschreibt, Veränderungen in der Außenwelt als seine Erzeugnisse nur insoweit gelten zu lassen, als sie von ihm gesetzt sind“.119 Auch nach dieser Konzeption des Handlungsbegriffs, die in den hier wesentlichen Grundzügen auch von Berner vertreten wird, decken120 sich Handlung und Zurechnung: „So weit der Begriff der Handlung reicht, so weit reicht auch der Begriff der Zurechnung, und wo der Begriff der Handlung aufhört, da hört auch der Begriff der Zurechnung auf.“121 Bis in die 80er Jahre des 19. Jahrhunderts operiert die von Hegel beeinflusste Strafrechtsdogmatik daher mit einem Handlungsbegriff, für den das Verbrechen den Prototyp darstellt. Entsprechend resümiert Radbruch in seiner Habilitationsschrift aus dem Jahre 1903 den Handlungsbegriff dieser Epoche: „Das Verbrechen ist für den Kriminalisten die Handlung schlechthin, und was außerhalb des Rechts Handlung heißt, ist für dessen Bereich völlig gleichgültig.“122 118 119 120 121

Abegg, J. F. H.: System 1826, S. 36. Köstlin, R.: System 1855, S. 156 (§ 56). Köstlin, R.: System 1855, S. 157 (§ 56). Berner, A. F.: Strafrecht 1861, S. 138, 139.

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Kap. 3: Funktionalismus bei Günther Jakobs

Die nachfolgende strafrechtliche Diskussion des Handlungsbegriffes greift nicht nur das zugrundeliegende philosophische System, sondern vor allem auch die praktischen Konsequenzen des Handlungsbegriffes der Hegelianer an. Die Verschmelzung der Problembereiche von Handlung, Zurechnung und Schuld entsprach nicht mehr den Bedürfnissen nach dogmatischer Ausdifferenzierung und Abstufung, die erforderlich waren, um die vielschichtigen Probleme des Strafrechts angemessen zu lokalisieren und begrifflich zu bearbeiten. Die späteren Systementwürfe bemühen sich deshalb darum, einen Handlungsbegriff zu formulieren, dem die weiteren Merkmale der Straftat im Sinne einer Zergliederung und Systematisierung eines allgemeinen Verbrechensbegriffs zugeordnet werden können. Diese von der Strafrechtsdogmatik zu leistende Aufgabe kommt bereits deutlich bei Franz von Liszt zum Ausdruck, der die Systematik seines Lehrbuches in einem Literaturbericht für die ZStW wie folgt selbst kennzeichnet: „Der Berichterstatter hat es mit Rücksicht auf den Lehrzweck des Buches für unerlässlich erachtet, besonderes Gewicht auf die Systematik zu legen“. Zu den Begriffsmerkmalen des Verbrechens gelangt er, „indem er das Verbrechen als besonders geartete Handlung auffasst und von dem Handlungsbegriff zum Verbrechensbegriff aufsteigt. Daraus ergeben sich folgende Abschnitte: 1. Das Verbrechen als Handlung (Handlungsbegriff, Ort und Zeitpunkt der Begehung, Kausalzusammenhang, Unterlassungen); 2. das Verbrechen als rechtswidrige Handlung (insbes. Notwehr und Notstand als Ausschließungsgründe der Rechtswidrigkeit); 3. das Verbrechen als schuldhafte rechtswidrige Handlung . . .“123

Den Begriff der Handlung definiert von Liszt als „willkürliche Verursachung oder Nichtverhinderung einer Veränderung in der Außenwelt, also das vom Erfolg begleitete willkürliche Verhalten“.124 Beide Komponenten dieses Handlungsbegriffes, das willkürliche Verhalten und der Erfolg sind durch das Band der Kausalität im Sinne der Äquivalenztheorie miteinander verknüpft und beziehen sich – trotz der insoweit missverständlichen Verwendung des Begriffs „willentlich“ – lediglich auf rein äußerliche, objektive Gesichtspunkte. Obwohl von Liszt mit diesem Handlungsbegriff alle subjektiven Aspekte des Handlungsgeschehens der Kategorie der Schuld zuordnet, erhält der Handlungsbegriff schon 122

Radbruch, G: Handlungsbegriff 1967, S. 89. Liszt, F. v.: ZStW 1 (1881), 156 ff. (Hervorhebungen im Original); vergleichbare Systematik später bei Beling, E.: Lehre vom Verbrechen 1906 : „I. Das Verbrechen als Handlung (S. 8 ff.), II. Das Verbrechen als tatbestandsmäßige Handlung (S. 20 ff.), III. Das Verbrechen als rechtswidrige Handlung (S. 31 ff.), IV. Das Verbrechen als schuldhafte Handlung (S. 42 ff.)“. 124 Liszt, F. v.: Lehrbuch, 19. Aufl. 1912, S. 125; vergleichbar bestimmt Beling [Lehre vom Verbrechen 1906, S. 14 (Hervorhebung im Original)], der neben Franz von Liszt als Begründer des „natürlichen Handlungsbegriffs“ gilt: Eine Handlung liegt vor, wenn jemand „irgend eine Körperbewegung oder Nichtbewegung vorgenommen“ hat und in „dieser Körperregung oder Nichtregung ein Wille lebte“. Zu Belings Handlungsbegriff vgl.: Schweikert, H.: Wandlungen der Tatbestandslehre 1957, S. 15 ff. 123

III. Strafrechtsdogmatische Schlussfolgerungen

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hier seine zentrale personfunktionale Abgrenzungsfunktion, die er bis heute beibehalten hat. Von Liszt, der zunächst die didaktischen Vorteile der über den Handlungsbegriff zu leistenden Differenzierung in den Vordergrund stellt, betont in späteren Auflagen (21./22. Aufl. 1919) seines Lehrbuches vor allem diese mit der rechtsstaatlichen Bedeutung des Systems verbundene, auf den Schutz der Person vor staatlicher Willkür bezogene Funktion auch des Handlungsbegriffs:125 „. . . nur die Ordnung der Kenntnisse im System verbürgt jene sichere, immer bereite Herrschaft über alle Einzelheiten, ohne welche die Rechtsanwendung stets Dilettantismus bleibt, jedem Zufall, jeder Willkür preisgegeben.“126

Innerhalb des „klassischen“, von Franz von Liszt und Ernst Beling entwickelten Systementwurfs kommt dem Handlungsbegriff die Aufgabe zu, gegen Verhaltensweisen eines Menschen abzugrenzen, die auf mechanischen oder physiologischen Zwangseinwirkungen beruhen. Es liegt daher keine Handlung vor, „wenn jemand in einem Krampfanfall fremde Sachen beschädigt, durch Ohnmacht an der Erfüllung einer Pflicht gehindert, durch unwiderstehliche Gewalt zu seinem Verhalten genötigt wird“.127

Diese wichtige Abgrenzungsfunktion kann zwar grundsätzlich auch von dem Handlungsbegriff der Hegelianer erbracht werden. Denn auch er weist bereits die wesentlichen Abgrenzungskriterien auf. Als allgemeiner Verbrechensbegriff enthält aber der Handlungsbegriff der von der Philosophie Hegels beeinflussten Strafrechtswissenschaft das gesamte Programm der Problematik strafrechtlicher Zurechnung und muss daher – um diese spezifische Abgrenzungsfunktion wahrnehmen zu können – erst wieder in seine Einzelkomponenten zerlegt werden. Das spätere System des Finalismus führt mit seinem grundlegend veränderten Handlungsbegriff zwar – mit erheblichen einzeldogmatischen Unterschieden – zu einer wesentlichen Umschichtung des Verbrechensaufbaus. Die Aufgabe des Handlungsbegriffs besteht aber auch hier unverändert darin, die Elemente des Verbrechensbegriffs abzuschichten und die verschiedenen Begehungsformen sachgerecht von einander zu scheiden. Entsprechend will Welzel, der insoweit die Nähe seiner Auffassung zu der Position der Hegelianer hervorhebt,128 mit 125 Vgl. zu dieser Interpretation v. Liszts auch Jescheck, H.-H.: ZStW 93 (1981), 3 ff., 7, Fn. 9a. 126 Liszt, F. v.: Lehrbuch, 21./22. Auf. 1919, S. 2. 127 Liszt, F. v.: Lehrbuch, 19. Auf. 1912, S. 126; die Funktion des Handlungsbegriffs als Grenzelement wird auch von Beling (Lehre vom Verbrechen 1906, S. 17) hervorgehoben: „Die Bedeutung des Handlungsbegriffs liegt kurz gesagt in der Negative: in der Ausschaltung aller Vorkommnisse, die nicht Handlung sind, als für das Strafrecht von vornherein nicht in Betracht kommend, in der Überflüssigmachung jeder weiteren strafrechtlichen Betrachtung“ (Hervorhebung im Original). 128 Welzel, H.: Strafrecht 1969, S. 38–43; vgl. auch Köhler, M. in: Hirsch-FS 1999, S. 65 ff., 70.

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Kap. 3: Funktionalismus bei Günther Jakobs

seiner Identifikation der „menschlichen Handlung“ als „Ausübung von Zwecktätigkeit“, auch „lediglich“ den steuernden Handlungswillen in den Handlungsbegriff reintegrieren, nicht aber die zwischenzeitlich erreichte Trennung von Handlung, Rechtswidrigkeit und Schuld aufgeben: „Nur ein Handlungsbegriff, bei dem der die Folgen antizipierende Willens,inhalt‘ Steuerungsfaktor des äußeren Geschehens ist, kann die Handlung als sinnbeseelten Vorgang verständlich machen und darum auch die Existenz der subjektiv-seelischen Elemente in der Rechtswidrigkeit erklären. Der Unterschied zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld liegt nicht im Gegensatz von ,Außen und Innen‘ und dem ,DafürKönnen‘ des Täters für seine Handlung. Endlich kann nur ein Handlungsbegriff, bei dem die Art und Weise des Handlungsvollzuges entscheidend ist, dem Unrechtsgehalt der fahrlässigen Handlung gerecht werden . . . Diese Aufgaben erfüllt ein an der menschlichen Zwecktätigkeit orientierter, finaler Handlungsbegriff, der die vornaturalistische Tradition der strafrechtlichen und philosophischen Handlungslehre fortführt und die inzwischen vollzogene Trennung von Rechtswidrigkeit und Schuld in sie einbaut.“129

Auch im System des Finalismus, dessen zentraler personaler Unrechtsbegriff strukturidentisch mit dem Begriff der finalen Handlung ist,130 bleibt die Abgrenzungsfunktion des Handlungsbegriffs erhalten und erlangt über das hier im Mittelpunkt stehende Kriterium des Sinns bzw. der „Zwecktätigkeit“ noch eine weitergehende Bedeutung. Über den finalistischen Handlungsbegriff lassen sich nicht nur Verhaltensweisen als strafrechtlich irrelevant ausscheiden, denen – wie dem Krampfanfall des Epileptikers – jegliche Steuerung durch den Willen fehlt, sondern es ist darüber hinaus auch eine Abgrenzung zu Geschehensabläufen möglich, die außerhalb der von dem Handelnden zugrunde gelegten subjektiven Sinnzusammenhänge stehen. Diese Geschehensabläufe können zwar auf Handlungen beruhen. Das Abgrenzungskriterium des subjektiv mit der Handlung gemeinten Sinnes bildet aber vor allem die Grundlage für eine differenzierte Trennung von Vorsatz und Fahrlässigkeit und eine Abschichtung von Vorsatz und Unrechtsbewusstsein, die über den kausalen Handlungsbegriff nicht oder zumindest nur weniger plausibel begründet werden konnte.

129

Welzel, H.: Strafrecht 1969, S. 41 (Hervorhebungen im Original). Zwar ist verschiedentlich der Versuch unternommen worden, die personale Unrechtslehre von der finalen Handlungslehre abzukoppeln. Jedenfalls nach der Konzeption Welzels war aber die personale Unrechtslehre unmittelbare Konsequenz des finalen Handlungsbegriffs, dessen Strukturmerkmale seinen Unrechtsbegriff unmittelbar konstituieren. Ob es theoretisch möglich ist, den personalen Unrechtsbegriff auch ohne die finale Handlungslehre zu konstituieren, ist für die vorliegende Betrachtung schon deshalb nicht von Belang, weil diese Versuche nur zu dem Zweck vorgenommen wurden, bestimmte kriminalpolitisch erwünschte Konsequenzen der finalen Handlungslehre beizubehalten, ohne dieser Lehre auch hinsichtlich ihres Begründungsansatzes zu folgen; vgl. zu dieser Problematik Hirsch, H. J.: ZStW 93 (1981), 831 ff.; 94 (1982), 239 ff. 130

III. Strafrechtsdogmatische Schlussfolgerungen

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b) Die Auflösung des Handlungsbegriffs zu einem allgemeinen Begriff des tatbestandsmäßigen Verhaltens Auch bei Jakobs ist der Handlungsbegriff zunächst (vgl. hierzu seine Darstellung im Lehrbuch Strafrecht Allgemeiner Teil 1991, S. 163 ff.) unmittelbar strukturidentisch mit einem allgemeinen Begriff des strafrechtlichen Unrechts. Nur ein Jahr später131 wird der im Lehrbuch entwickelte Handlungsbegriff aber nurmehr als vorläufige Arbeitsdefinition verwendet und durch weitergehende Abstraktion schließlich vollständig zu einem allgemeinen Verbrechensbegriff aufgelöst, der terminologisch weitgehend mit dem der Hegelianer übereinstimmt. Im Einzelnen: Jakobs grenzt sich bereits im Lehrbuch durch seine einführende Stellungnahme zum Handlungsbegriff eindeutig von den kausalen und finalen Handlungslehren ab. Die Handlungslehre ist Teil der strafrechtlichen Zurechnungslehre und die Zurechnungslehre ergibt sich aus der Aufgabe von Strafe und legt fest, „welche Person zur Stabilisierung von Normgeltung zu bestrafen ist“.132 Der Handlungsbegriff ist entgegen den Positionen der kausalen und finalen Handlungslehren daher nicht im Vorrechtlichen zu suchen, sondern ergibt sich unmittelbar aus der gesellschaftlichen Funktion des Strafrechts. Je nach dem „Stand der Gesellschaft“ kann sich daher ein unterschiedlicher Handlungsbegriff ergeben oder das Strafrecht kann ganz auf einen Handlungsbegriff verzichten. Exemplarisch plausibilisiert Jakobs diese Überlegung anhand verschiedener gedachter, historisch oder rechtsethnologisch möglicher Gesellschaften und korrespondierender Zurechnungsalternativen,133 insbesondere in Gestalt von Modellen der Zustands-, Erfolgs- und Sippenhaftung. In den heutigen modernen Industriegesellschaften wird nach Jakobs demgegenüber ein Erfolg dem Individuum nur dann zugerechnet, wenn dieses seinen eigenen Organisationskreis zu Lasten eines anderen derart ausweitet, dass der Geltungsanspruch der verhaltenssteuernden Norm verletzt wird, kurz ein Fall der „Organisationsanmaßung“ vorliegt. Diese Zurechnung ist eine Konsequenz der grundsätzlich gegebenen Organisationsfreiheit, einen bestimmten gesellschaftlichen Wirkungskreis frei zu gestalten.134 Da es bei der Ausweitung des 131

Jakobs, G.: Handlungsbegriff 1992. Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, S. 125 (Rn. 1). 133 Jakobs, G.: Handlungsbegriff 1992, S. 14 ff. legt insoweit dar, dass die heute geläufige Anknüpfung der Zurechnung an Handlungen oder Unterlassungen nur eine „zeitbedingte“ (S. 14) Alternative möglicher Zurechnung ist. Verantwortlichkeit kann auch daran anknüpfen, „wie der Verantwortliche gesellschaftlich da ist, eben als Störer oder als Unglücksbringer“ (S. 15). Schließlich kann die Verantwortlichkeit vor allem dann daraus abgeleitet werden, dass der Einzelne zur Sippe, zum Stamm oder Volk des Täters gehört, wenn in einer Gesellschaft Täter und Opfer nicht als selbständige Individuen sondern nur als Angehörige einer Sippe, eines Stammes oder Volkes wahrgenommen werden (S. 16). 132

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Organisationskreises zunächst nicht darauf ankommt, ob diese durch Tun oder Unterlassen, Vorsatz oder Fahrlässigkeit erfolgt,135 definiert Jakobs Handlung als einen „Oberbegriff des Verhaltens“ in dessen Mittelpunkt das aus der Fahrlässigkeitslehre entnommenen Kriterium der „Vermeidbarkeit“ steht: Handlung ist die „vermeidbare Erfolgsverursachung“.136 Damit fallen zunächst die vor allem von der finalen Handlungslehre (freilich in umstrittener Weise) gezogenen Grenzen von Vorsatz und Fahrlässigkeit, und der Begriff der Handlung gerät zu einer allgemeinen Charakterisierung des tatbestandsmäßigen Verhaltens. Mit dieser Begriffsbestimmung steht Jakobs zunächst in der Nähe der „negativen Handlungslehre“, nach der – mit unterschiedlichen Nuancierungen im Einzelnen – Handlung als „vermeidbares Nichtvermeiden“ (im Fall des vollendeten Erfolgsdeliktes) des tatbestandsmäßigen Erfolges aufgefasst wird.137 Ebenso wie Jakobs formuliert auch die negative Handlungslehre ihren Handlungsbegriff von vornherein mit Blick auf die Fragestellung des Strafrechts, unter welchen Voraussetzungen ein Verhalten zugerechnet werden kann und sucht über den Begriff der Vermeidbarkeit ein zentrales Verbindungselement zwischen Begehungs- und Unterlassungstäterschaft zu finden: Beiden sei gemeinsam, dass sie „etwas“ (den tatbestandsmäßigen Erfolg im Sinne der Erfolgsdelikte) nicht vermeiden. Der zentrale Unterschied zwischen Jakobs und den Vertretern der negativen Handlungslehre besteht aber vor allem im Verständnis von strafrechtlicher Zurechnung. Nur bei Jakobs geht es insoweit – dies ergibt sich aus seinen Ausführungen im „Handlungsbegriff“ (vgl. dazu im Einzelnen unten) – um den Aspekt der Verantwortlichkeit des Individuums für einen Normgeltungsschaden, während bei den Vertretern des negativen Handlungsbegriffs alleine der von den gesetzlichen Straftatbeständen beschriebene deliktische Erfolg gemeint ist.

Mit dem im Vordergrund stehenden Kriterium der „Vermeidbarkeit“ (die nachfolgend dargestellte Problemlage betrifft auch die negative Handlungslehre) kann der Handlungsbegriff Jakobs’ die von der kausalen und finalen Handlungslehre entwickelte Abgrenzungsfunktion kaum erfüllen. Denn die Vermeidbarkeit betrifft prinzipiell alle Stufen des Deliktsaufbaus und ist nicht lediglich ein Spezifikum der Kategorie der Handlung. So liegt eine unvermeidbare Erfolgsherbeiführung etwa auch dann vor, wenn (z. B. wegen übermäßigen Alkoholgenusses oder einer Erkrankung) die Schuld fehlt, ein unvermeidbarer Verbotsirrtum vorliegt oder ein Kausalverlauf unvermeidbar verkannt wurde. Auch 134 Jakobs, G.: Handlungsbegriff 1992, S. 32 veranschaulicht den von ihm eingeführten Begriff der „Organisationsfreiheit“ anhand eines Beispiels aus dem Straßenverkehr: „Ob jemand angesichts der Gefahr eines die Straße überquerenden Fußgängers sein glücklicherweise ausrollendes Auto doch noch sehenden Auges mit schlimmer Folge handelnd beschleunigt (Gas gibt, kuppelt, schaltet) oder ob er sein schwungvoll rollendes Fahrzeug gleichfalls sehenden Auges mit schlimmer Folge nicht abbremst (schlicht beobachtend unterlässt), das sind zwei Möglichkeiten von ein und derselben Bedeutung.“ 135 Vgl. das in Fn. 134 genannte Beispiel. 136 Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, S. 136 (Rn. 19); ders.: Handlungsbegriff 1992, S. 30 ff. 137 Herzberg, R. D.: Unterlassung 1972; ders.: JZ 1988, 573 ff.; Behrendt, H.-J.: Unterlassung 1979.

III. Strafrechtsdogmatische Schlussfolgerungen

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vermag Jakobs über den Begriff der Vermeidbarkeit nicht sachgerecht zu bloßen Gedankengängen („Auch Kopfrechnen, Nachdenken etc. sind Handlungen“)138 oder Planungen im Vorfeld der Tatausführung abzugrenzen. Denn die vermeidbar unterlassene Gegensteuerung beginnt bereits in der Sphäre des Gedanklichen und kann daher eine Handlung im Sinne der Definition von Jakobs sein. Wenn er in seinem Lehrbuch trotz der insoweit gegebenen Unschärfe des Begriffes der „Vermeidbarkeit“ bei den „klassischen“ Abgrenzungsfragen139 zu im Wesentlichen mit der herrschenden Meinung übereinstimmenden Ergebnissen kommt, liegt dies darin begründet, dass grundsätzlich auch die auf mechanischer oder physiologischer Zwangseinwirkung beruhenden Verhaltensweisen im Regelfall nicht vermieden werden können und daher auch kein Normgeltungsschaden zu befürchten ist. Nach dem Begriffsverständnis von Jakobs ist die Vermeidbarkeit nämlich nur dann anzunehmen, wenn sich der Einzelne durch die strafrechtlichen Normen als Maßstab richtigen Verhaltens dazu hätte motivieren lassen können, den strafrechtlich relevanten Erfolg zu verhindern.140 Entsteht die Körperbewegung z. B. unmittelbar aufgrund eines sensorischen Reizes, liegt ein Reflex und keine Handlung vor, denn die (strafrechtliche) Norm kann hier ihre motivatorische Wirkung nicht entfalten. Anders verhält es sich bei Automatismen, sofern diese motivatorisch aufhebbar sind. Hier würde die Körperreaktion bei dominanter Motivation nicht stattfinden. Jakobs’ Beispiel: „Bei Glatteis muss der Autofahrer besonders sanft beschleunigen oder bremsen etc., um nicht ins Schleudern zu geraten; er darf deshalb beim Aufleuchten der Bremslichter eines Vorfahrenden nicht – wie sonst – kräftig auf die Bremse treten, sondern muss den Impuls dazu aufheben und die Steuerungsmaßnahmen – ähnlich wie ein Anfänger – wieder wachbewusst übernehmen“.141 c) Weitergehende Abstraktion zu einem allgemeinen Verbrechensbegriff In seiner Studie „Der strafrechtliche Handlungsbegriff“142 übernimmt Jakobs zunächst seine Lehrbuchdefinition von Handlung als vermeidbare Erfolgsverursachung, die er allerdings schrittweise weiter abstrahiert. Die Komponenten des in dieser Untersuchung im Ergebnis neu entwickelten Handlungsbegriffes wer138

Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, S. 145 (Rn. 34). Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, S. 144 ff. (Rn. 33 ff.): zum Problem der Automatismen, S. 145–147 (Rn. 35 ff.); zum Problem der mit vis absoluta erzwungenen Körperbewegungen, S. 147 (Rn. 40); zu Reaktionen von Subjekten im Tiefschlaf und in völliger Bewusstlosigkeit, S. 147 (Rn. 41); zu schweren Graden der Trunkenheit, S. 147, 148 (Rn. 41). 140 Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, S. 145 (Rn. 35 ff.). 141 Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, S. 146 (Rn. 38). 142 Mit kritischen Rezensionen von Stübinger, S.: KritJ 27 (1994), 119 ff.; Schild, W.: GA 1995, 101 ff. 139

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den von Jakobs auch hier konsequent mit Blick auf die Aufgabe des Strafrechts ermittelt, die er unverändert darin sieht, den Geltungsanspruch der strafrechtlichen Normen zu schützen.143 Der für diesen systemfunktionalen Zusammenhang wesentliche Aspekt einer Handlung als vermeidbare Erfolgsverursachung besteht für Jakobs in dem hiermit verbundenen Sinnausdruck, die in Rede stehende Norm sei nicht die leitende Maxime des Handelns gewesen. Wird dieser Sinnausdruck durch die vermeidbare Erfolgsverursachung objektiviert und damit für andere sichtbar gemacht, beeinträchtigt dies die Normgeltung und es bedarf der nach den oben beschriebenen Mechanismen im Hinblick auf die gesellschaftliche Einübung von Normanerkennung kompensatorisch wirkenden strafrechtlichen Zurechnung. Jakobs gibt daher Welzel grundsätzlich darin Recht, die Kategorie Sinn in den Handlungsbegriff aufgenommen zu haben.144 Allerdings ist für ihn die vom Finalismus in den Vordergrund gerückte subjektive Erfolgsvorstellung des Täters nur dann strafrechtlich maßgeblich, wenn sie auf einem „kommunikativ relevanten Deutungsschema“145 beruht. Gesellschaftlich unmaßgebliche Wunschvorstellungen, die die Verhaltensweisen des Täters kognitiv begleiten (etwa im Erbonkel-Gewitterfall oder sofern der Täter mit überirdischen Kräften kalkuliert) müssen daher von vornherein ausgeschieden werden. Ein kommunikativ relevanter Sinnausdruck liegt folglich nur dann vor, wenn der subjektiv gemeinte Sinn des Handelnden von Dritten als eine plausible Auslegung der Welt nachvollzogen werden kann, weil die Deutungsschemata des Ausdrückenden mit denen der Dritten inhaltlich übereinstimmen.146 Da für Jakobs folglich der Sinnausdruck und nicht das schlichte Faktum einer Körperbewegung im Vordergrund steht, ist es nicht nur gleichgültig, ob der Täter handelt oder eine Erfolgsabwendung unterlässt, sondern eine strafrechtlich relevante Handlung liegt auch im Fall des Versuchs vor.147 Da beim Versuch des Erfolgsdelikts der tatbestandliche Erfolg fehlt und die bis zum Abbruch des Geschehens vollzogenen Handlungsabschnitte nach der Terminologie des positiven Rechts als unmittelbares Ansetzen klassifiziert werden (§ 22 StGB), muss Jakobs, um diese Aussage aufrechterhalten zu können, von einem von der herkömmlichen strafrechtlichen Begrifflichkeit abweichenden Verständnis des Begriffs „Erfolg“ ausgehen. Erfolg – und bereits hier geht Jakobs über seine im Lehrbuch vertretene Auffassung hinaus – ist für ihn daher nicht identisch mit tatbestandlichem Erfolg im Sinne der Erfolgsdelikte, sondern vielmehr gleichbedeutend mit dem vom Täter hervorgerufenen Schaden an der Normgeltung: 143

Jakobs, G.: Handlungsbegriff 1992, S. 33 ff. Jakobs, G.: Handlungsbegriff 1992, S. 24 ff. 145 Jakobs, G.: Handlungsbegriff 1992, S. 28. 146 Jakobs, G.: Handlungsbegriff 1992, S. 27–30. 147 Jakobs, G.: ZStW 104 (1992), 82 ff.; vgl. dazu im Einzelnen in diesem Kapitel unter 4. (Rücktritt vom Versuch). 144

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„Der strafrechtlich relevante Sinnausdruck einer Unrechtshandlung liegt nicht schon in der Kundgabe des Täters, wie er sich die Gestaltung der Welt denkt, sondern in der davon untrennbaren Stellungnahme zur Normgeltung: Er sieht keine Norm, die ihn daran hindert, sei es, dass er die einschlägige Norm nicht kennt, sei es, dass er sie kennt, aber zu brechen vor hat . . . Diese Stellungnahme zur Normgeltung ist der interessierende Sinn, auf den es strafrechtlich ankommt, also ist es das in der Handlung ausgedrückte ,ich darf‘, wofür das dort auch ausgedrückte ,ich tue es‘ nur die Basis bildet: ,Ich tue es, also darf ich nach meiner Wertung auch.‘ . . . Dieses Nichtanerkennen der Normgeltung ist dasjenige, worauf Strafrecht, Schuld vorausgesetzt, reagiert. Es ist deshalb der spezifisch strafrechtliche Erfolg, wobei an dieser Stelle noch dahingestellt bleibt, welche Rolle die Schuld dabei spielt.“148

Nach dieser Konzeption Jakobs’ wird der Umfang des Schadens an der Normgeltung wesentlich vom Ausmaß der Objektivierung der mit dem Sinnausdruck verbundenen ablehnenden Haltung zur Norm bestimmt. Zwar ist das „Nichtanerkennen der Normgeltung“149 schon dann „perfekt“, wenn der Täter lediglich unmittelbar angesetzt hat. Der Schaden an der Normgeltung lässt sich aber mit dem Umfang der Objektivierung noch quantitativ steigern: „Gehört also ein Erfolg (im herkömmlichen Sinne, H. S.) zur Handlung? Immer die Objektivierung des Nichtanerkennens der Normgeltung. Und darüber hinaus ein äußerer Erfolg? Als irgendeine Objektivierung zwingend ja. Das Hochreißen einer Waffe ist selbst schon das Bewirken eines Erfolgs, längst vor dem Tod des Opfers. Und die weiteren Erfolge, die sich vermeidbar aus der Körperbewegung ergeben? Sie steigern die Objektivierung quantitativ.“150

Aus der im Lehrbuch entfalteten Definition von Handlung als vermeidbare Erfolgsverursachung, bei der Jakobs das Merkmal „Erfolg“ noch der herkömmlichen Terminologie folgend als tatbestandlichen Erfolg verstanden haben wollte, entwickelt er daher im „Handlungsbegriff“ das Zwischenergebnis: „Handlung ist die Objektivierung der Nichtanerkennung der Normgeltung, also ein Sinnausdruck des Inhalts, die in Rede stehende Norm sei nicht leitende Maxime.“151 Dieses Zwischenergebnis wirft für Jakobs vor allem die weitergehende Frage auf, ob von einem insoweit maßgeblichen Sinnsausdruck auch dann ausgegangen werden kann, wenn dem Täter bei der „Objektivierung“ die Schuld gefehlt hat. Besteht also die Möglichkeit einer schuldlosen Handlung? Die Antwort auf diese Frage fällt bei Jakobs im Ergebnis eindeutig aus: Ohne Schuld (in seinem Verständnis) kann kein Normgeltungsschaden (und damit kein Erfolg im Sinne seiner Definition) entstehen. Die Desavouierung einer Norm ist nur dann bedeutsam, wenn alle vorgegebenen Merkmale des Verbrechens erfüllt sind und auch die hinter jeder Verhaltensnorm lauernde Norm „Habe keine Schuld!“152 verletzt ist: 148 149 150 151

Jakobs, Jakobs, Jakobs, Jakobs,

G.: G.: G.: G.:

Handlungsbegriff Handlungsbegriff Handlungsbegriff Handlungsbegriff

1992, 1992, 1992, 1992,

S. S. S. S.

34. 34. 35. 36.

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Kap. 3: Funktionalismus bei Günther Jakobs

„Nur wer die Verhaltensnorm als Verantwortlicher, also als Schuldiger bricht, verstößt gegen diese Norm, und in diesem Normbruch kristallisiert der Strafzweck; denn dieser Normbruch ist die Beschädigung der Normgeltung. Jedenfalls bleibt auf halbem Weg stehen, wer sich auf die Verhaltensnormwidrigkeit beschränkt. Unrecht löst eben keine Strafe aus, vielmehr ist der Unrechtsbegriff strafrechtlich ein bloßer Hilfsbegriff.“153

Wenn folglich bei strafrechtlichem Unrecht ohne Schuld nicht „Sinn ausgedrückt“, sondern nur „Natur ausgebreitet“ wird, ist es nur folgerichtig, dass Jakobs auf einen Handlungsbegriff schließt, der – wie der Ansatz der Hegelianer – als ein allgemeiner Verbrechensbegriff das gesamte Programm der strafrechtlichen Zurechnung in sich aufnimmt: „Handlung als Sich-schuldhaft-zuständigMachen für einen Normgeltungsschaden ist Handlung in einem Schuldstrafrecht“.154 Obwohl Jakobs die Wahlverwandtschaft mit den Hegelianern an verschiedenen Stellen besonders hervorhebt,155 erschöpfen sich die Parallelen zu dieser Epoche der Strafrechtsdogmatik weitgehend in dem geschilderten Ansatz eines die Schuld vereinnahmenden Handlungsbegriffs. (1) Schon in dem zugrundeliegenden Verständnis von Schuld weichen beide Ansätze aber erheblich voneinander ab. Jakobs vertritt im Gegensatz zu den Hegelianern, die ihre Schuldlehre auf der Grundlage des idealistischen Persönlichkeitsbildes entwickeln, auch in der Studie „Der strafrechtliche Handlungsbegriff“ ein rein normatives Konzept strafrechtlicher Schuld, bei der Schuld alleine das Produkt gesellschaftlicher Zuschreibung darstellt. Zu dieser Auffassung kommt Jakobs durch eine Verabsolutierung des „gesellschaftlichen Deutungsschemas“, das nach seiner Auffassung auch bei der Frage der Rekonstruktion von Schuld alleine tragfähig ist. Denn für ihn kommt es bei der Bewertung eines Verhaltens als schuldhafte Handlung nicht auf „Natur, Physis oder Psyche“, sondern nur auf „Sinn“ an.156 Dieser liegt nach seinem Verständnis aber nur dann vor, wenn er sich als Sinnausdruck in einem gesellschaftlich relevanten Deutungsschema wiederfindet. Folgerichtig kann es keine originäre, sondern nur zugeschriebene Schuld geben: „Schuldzuschreibung heißt nicht, eine vor der Zuschreibung schon irgendwo vorhandene Schuld werde verteilt (eine solche Annahme wäre ein ontologisierendes Missverständnis . . .), sondern dass durch die Zuschreibung die Schuld zur Entstehung gebracht wird. Zuschreibung ist allerdings nicht der äußerliche Vorgang des richterlichen Schuldspruchs, sondern die ideale Bezogenheit des Gesetzes auf den Einzelfall.“157

152 153 154 155 156

Jakobs, Jakobs, Jakobs, Jakobs, Jakobs,

G.: G.: G.: G.: G.:

Handlungsbegriff Handlungsbegriff Handlungsbegriff Handlungsbegriff Handlungsbegriff

1992, 1992, 1992, 1992, 1992,

S. S. S. S. S.

43. 44. 44. 12 ff., 41 ff. 41.

III. Strafrechtsdogmatische Schlussfolgerungen

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Jakobs, der hier mit Begriffen des symbolischen Interaktionismus158 arbeitet, unterliegt dabei allerdings selbst einem entscheidenden „objektivierenden“ Missverständnis. Anders als Jakobs unterscheidet der symbolische Interaktionismus, insbesondere in der Tradition von Alfred Schütz,159 nämlich scharf zwischen dem subjektiven Sinn, den der Einzelne mit seinen Handlungen verbindet160 und der Möglichkeit der Rekonstruktion bzw. des „Verstehens“ dieses Sinnes durch andere.161 Jede Handlung ist nach dieser Auffassung zunächst subjektiv sinnhaft, so dass zumindest die grundsätzliche Möglichkeit einer geplanten (intentionalen, bei Alfred Schütz identisch mit der Frage nach den sogenannten um-zu-Motiven) und auch schuldhaften (in der Terminologie Schütz ist dies eine Frage der weil-Motive) Handlung besteht. Hiervon zu unterscheiden ist die Frage, ob dieser subjektiv gemeinte Sinn einer fremden Handlung durch Dritte nachvollzogen werden kann. Diese Möglichkeit besteht nur dann, wenn die fremden „Ausdruckshandlungen“ in den Sinnzusammenhang der eigenen Erfahrungen (des Deutenden) eingeordnet werden können, der insoweit als „Deutungsschema“ der fremden um-zu- und weil-Motive fungiert. Kann der fremde Sinn (d. h. der subjektiv gemeinte Sinn des Handelnden) nicht rekonstruiert werden, z. B. weil sich die Ausdrucks- und Deutungsschemata nicht decken oder der Erfahrungsvorrat des Deutenden lückenhaft ist, oder wird der fremde Sinn der Handlung, etwa aufgrund der unterschiedlichen Definitionsmacht der beteiligten Akteure, unbewusst oder bewusst fehlerhaft interpretiert, ändert dies nichts an der grundsätzlichen Möglichkeit, dass der Handelnde selbst mit der Handlung einen – dem Beobachter in diesem Fall nur unzugänglichen – Sinn verbunden hat. Die schuldhafte Handlung des Täters ist demzufolge nicht lediglich ein „physikalisch beschreibbares Geschehen“,162 das seinen spezifischen Sinn und damit auch seine Schuldhaftigkeit erst später aufgrund einer „sozialen 157 Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, S. 483 (Fn. 46). Nach Stübinger [KritJ 26 (1993), 33 ff., 47] führt dieser Ansatz von Jakobs jedoch „zwangsläufig zu dem Schluss, dass der Richter erst dann weiß, ob der Täter ,schuldig‘ ist, wenn er seinen eigenen Schuldspruch gehört hat.“ Von dieser Konklusion könne sich Jakobs auch nicht dadurch distanzieren, dass er erkläre, die Zuschreibung sei nicht mit dem richterlichen Schuldspruch identisch, sondern sie ergebe sich aus der „idealen Bezogenheit des Gesetzes auf den Einzelfall“. Denn nach Stübinger [KritJ 26 (1993), 33 ff., S. 48] bleibt es „offen, was hier unter ,ideal‘ zu verstehen und wie die ,Bezogenheit‘ eines generell abstrakten Gesetzes auf einen Einzelfall zu denken sein soll, ohne dass die Norm vorher vom Richter konkretisiert worden ist.“ 158 Blumer, H.: Symbolischer Interaktionismus 1981, S. 80 ff.; Schütz, A.: Aufbau 1991; Cicourel, A.: Methode 1974. 159 Schütz, A.: Aufbau 1991; hierzu: Schneider, H.: Kriminalprognose 1996, S. 154– 185. 160 Schütz, A.: Aufbau 1991, S. 71 ff. 161 Schütz, A.: Aufbau 1991, S. 137 ff. 162 So auf der Grundlage einer vergleichbaren Fehlinterpretation des symbolischen Interaktionismus: Sack, F.: KrimJ 1972, 3 ff., 18; hierzu kritisch Schneider, H.: MschrKrim 1999, 202 ff.

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Kap. 3: Funktionalismus bei Günther Jakobs

Konstruktion der Wirklichkeit“ oder, wie Jakobs sich ausdrückt, „durch Zuschreibung“ erhält, sondern originär schuldhafte Handlung. Auf dieser Fehlinterpretation der Bedeutung von Zuschreibung durch Jakobs beruht es auch, dass er selbst den rein askriptiven Ansatz nicht bis in die letzte Konsequenz durchführen kann, ohne sich dabei in Widersprüche zu verwickeln. Denn auf der Grundlage eines „reinen“ Zuschreibungsmodells kann es eigentlich ein „Sich-schuldig-Machen“ nicht geben und auch der von Jakobs hinter jeder Norm vermutete Appell: „Habe keine Schuld“163 geht ins Leere, wenn es originär keine Schuld gibt. (2) Völlig unabhängig von der rechtsphilosophisch fundierten Strafrechtsdogmatik der Hegelianer ist ferner der systemtheoretische Ableitungszusammenhang, der auch für den Handlungsbegriff Jakobs maßgeblich ist. Während das Individuum in der Strafrechtsdogmatik der Hegelianer in Übereinstimmung mit dem Persönlichkeitsmodell der idealistischen Philosophie eine Schlüsselposition einnimmt,164 erlangt es bei Jakobs nur die Stellung eines Objektes, das über gesellschaftliche Zuschreibungsprozesse dafür zuständig erklärt wird, einen Schaden an der Normgeltung verursacht zu haben. Diese Zuschreibung von Verantwortung, an die schließlich die Strafe anknüpft, hat die alleinige Funktion, den Geltungsanspruch der Norm zu bestätigen und Normanerkennung einzuüben. Die besondere Auslegung des Handlungsbegriffes, dem Jakobs seine Monographie widmet, läuft daher auf das alleinige Ziel hinaus, die Bedeutung des Handlungsbegriffs in einem systemfunktional verstandenen Strafrecht herauszustellen und seinen Inhalt entsprechend zu bestimmen. Es kommt ihm nicht darauf an, ob die Verhaltensweise, an die Strafe anknüpft, für den Handelnden in einem empirisch feststellbaren Sinn Handlung war, sondern nur auf das gesellschaftlich relevante Ergebnis eines Normgeltungsschadens, auf dessen empirisches Vorliegen Jakobs allerdings mit keinem Wort eingeht. Vor dem Hintergrund dieser systemfunktionalen Fragestellung ist ein vorrechtlicher Handlungsbegriff nicht nur überflüssig, sondern auch schädlich. Denn er verstellt den Blick dafür, welche Gesichtspunkte eines Gebrauchmachens der individuellen Organisationsfreiheit einem reibungsfreien Funktionieren der Gesellschaft gefährlich werden können. Deshalb ist es für Jakobs auch im Prinzip gleichgültig, ob der Normgeltungsschaden durch Tun oder Unterlassen, Vorsatz oder Fahrlässigkeit oder durch einen Versuch165 herbeigeführt wurde. So abstrakt wie seine allgemeine Fragestellung nach dem Vorliegen eines Normgeltungsschadens, so abstrakt fällt im Ergebnis auch der Handlungsbegriff Jakobs aus, der mit der umgangssprachlichen Bedeutung kaum mehr etwas gemeinsam hat und deshalb vor allem für den Systemtheoretiker und weniger für die Strafrechtsdogmatik brauchbar ist.166 163

Jakobs, G.: Handlungsbegriff 1992, S. 43. Siehe dazu in diesem Kapitel III. 1. a), strafrechtsgeschichtlicher Bezugsrahmen. 165 Vgl. Jakobs, G.: ZStW 104 (1992), 82 ff., 82: Auch der Versuch ist ein „perfekter Normbruch“. 164

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d) Kritik aus personfunktionaler Sicht Schon aufgrund ihrer Abstraktionshöhe kann die in den Kategorien des systemtheoretischen Ansatzes durchaus stimmige Interpretation des Handlungsbegriffs ihre systeminterne, auf den Schutz der Person bezogene Abgrenzungsfunktion noch weniger erfüllen, als die von Jakobs in seinem Lehrbuch zugrunde gelegte Definition. Wenn der Begriff der Handlung nunmehr wiederum das gesamte Programm der strafrechtlichen Zurechnung enthält, muss die Strafrechtsdogmatik, um zu einzelnen Abgrenzungsfragen Stellung nehmen zu können, den Handlungsbegriff erneut in die einzelnen Ebenen der Zurechnung zerlegen. Auf diese Konkretisierung will schließlich auch Jakobs selbst nicht verzichten, der, obgleich diese Begehungsformen in seinem Handlungsbegriff aufgehen, etwa den Problemen der Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit oder den Unterlassungsdelikten eigenständige Beiträge widmet. Trotz dieser Möglichkeit der Herauslösung und Abschichtung einzelner Elemente wird durch die systemtheoretische Inhaltsbestimmung des Handlungsbegriffes die spezifische, vom Handlungsbegriff zu leistende Abgrenzungsfunktion preisgegeben, die insbesondere bei einem vorrechtlichen Handlungsbegriff, auf den Jakobs bewusst verzichtet, im Vordergrund steht. Denn es fehlen insoweit die auf den Einzelnen und nicht nur auf das „System“ bezogenen empirischen Bezugsparameter, an denen sich der vorrechtliche Handlungsbegriff stets orientieren kann. Jeder vorrechtlichen Handlungslehre liegt der Anspruch zugrunde, die Strukturen der Wirklichkeit, die als Bedingungen der Handlung angegeben werden, empirisch zutreffend zu erfassen.167 Daher können nur Geschehensabläufe, die alle entsprechenden Komponenten (etwa eine finale Steuerung der Abläufe durch den Handelnden) aufweisen, als Handlungen auch im strafrechtlichen Sinne gewertet werden und der Einzelne wird – wenn eine dieser Komponenten fehlt – vor der staatlichen Strafgewalt zumindest dann geschützt, wenn das Strafrecht die strafrechtliche Zurechnung an Handlungen (und nicht an Sippen- oder Zustandshaftung) anknüpft.

166 Zu einem vergleichbaren Ergebnis kommt auch Schild, W.: GA 1995, 101 ff., 119 in seinem Rezensionsaufsatz zu Jakobs Studie „Der strafrechtliche Handlungsbegriff“: „. . . ein systemtheoretischer Ansatz kann nur rechtstheoretische Fragestellungen untersuchen und darstellen, aber niemals eine inhaltliche Strafrechtsdogmatik begründen. Was daher Handlung/Verhalten/Unterlassen innerhalb dieses Systems sind und wie von daher die unterschiedlichen Typen der Strafbarkeit begründet werden, kann Jakobs von seinem Ansatz her nicht erarbeiten. Möglich ist ihm nur die theoretische Erklärung: das normative System reagiert auf bestimmte Objektivierungen der subjektiven Nichtberücksichtigung der Norm als Maxime.“ (Hervorhebungen im Original); siehe auch SK-Puppe, vor § 13, Rn. 57. 167 Dabei ist es eine andere Frage, ob der jeweilige Handlungsbegriff die relevanten Strukturen auch tatsächlich zutreffend erfasst. Zur Kritik des finalen Handlungsbegriffes aus dieser Sicht vgl. Jescheck/Weigend: Strafrecht AT 1996, S. 221.

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Dieser Schutz versagt bei dem Handlungsbegriff Jakobs. Da es hier nur auf den realen oder möglichen Normgeltungsschaden ankommt, bedarf es unter Umständen keiner „Handlung“ im Sinne der umgangssprachlichen oder auch vorrechtlichen Wortbedeutung, denn die Normgeltung kann – je nach Sachlage – selbst durch nicht kundgegebene, von Dritten interpretierte Gedanken in Frage gestellt werden. Im Gegensatz zu seinen Darstellungen im Lehrbuch unterlässt es Jakobs daher auch, die in „Der strafrechtliche Handlungsbegriff“ entwickelte Definition auf klassische Abgrenzungsfragen (wie etwa Reflexe, Automatismen, Taten im hochgradigen Affekt usw.) anzuwenden. Auf diese personfunktionale Abgrenzungsfunktion kommt es ihm wohl auch deshalb nicht an, weil der Schutz der Interessen der Person vor dem staatlichen Zugriff in seinem systemtheoretischen Modell der Funktionsweise von Gesellschaft und der gesellschaftlichen Bedeutung von Strafrecht keine oder jedenfalls nur eine untergeordnete Rolle spielt. 2. Vorsatz und Fahrlässigkeit a) Differenzierung der subjektiven Deliktsseite nach dem Angriff auf die Normgeltung In den Beiträgen, die Jakobs dem Problembereich der Fahrlässigkeitsdelikte und insbesondere der Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit gewidmet hat,168 tritt der systemfunktionale Ableitungszusammenhang, in den er auch den subjektiven Tatbestand und die Fahrlässigkeit einordnet, am deutlichsten in einem Aufsatz aus dem Jahre 1989 „Über die Behandlung von Wollensfehlern und von Wissensfehlern“ hervor. Der systemfunktionale Ansatz wird hier als These formuliert, die in dem Beitrag eingehend begründet werden soll: „Die subjektive Tatseite hat die Aufgabe, der Verwirklichung des Strafzwecks zu dienen, wobei Strafzweck die Erhaltung von Normgeltung und in diesem Sinn positive Generalprävention ist. Die These bezieht sich auf das gegenwärtig praktizierte Strafrecht im großen und ganzen, nicht etwa auf ein mehr oder weniger utopisches Modell de lege ferenda. Sie umfasst die ganze subjektive Tatseite, auch Vorsatz und Fahrlässigkeit sowie deren Unterscheidung; gerade darauf richtet sich die Aufmerksamkeit bei der folgenden Abhandlung.“169

Um seine These (die in späteren Abhandlungen und anderen Beispielen weiter spezifiziert wird) argumentativ zu untermauern, differenziert Jakobs nach Fall168 Die erste umfangreiche Bearbeitung erfolgt in seiner von Hans Welzel betreuten Habilitationsschrift „Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt“, 1972; ferner: „Das Fahrlässigkeitsdelikt“, Teheran Beiheft der ZStW 1974, S. 6 ff.; „Die subjektive Tatseite von Erfolgsdelikten bei Risikogewöhnung“, Bruns-FS 1978, S. 31 ff.; „Über die Behandlung von Wollensfehlern und Wissensfehlern“, ZStW 101 (1989), S. 516 ff. 169 Jakobs, G.: ZStW 101 (1989), 516 ff., 516, 517.

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gruppen, die sich in ihrer Intensität des Angriffs auf die Normgeltung unterscheiden. Nur wenn der Täter durch die Deliktsbegehung eine Stellungnahme gegen die Norm abgegeben hat und damit seine grundsätzlich gegebene Organisationsfreiheit zu Lasten anderer missbraucht, steht die Normgeltung in Frage und bedarf es der Strafe, um den Geltungsanspruch der Strafgesetze aufrecht zu erhalten. Eine Stellungnahme gegen die Norm liegt in dem von Jakobs an dieser Stelle untersuchten Bereich der subjektiven Deliktsseite170 vor allem dann nicht vor, wenn (1) der Täter „nicht kompetent ist, die Regeln des Zusammenlebens zu interpretieren“ oder (2) das Delikt auf einen einmaligen Konflikt zurückzuführen ist, bei dem es dem Täter unzumutbar war, die Norm einzuhalten oder (3) der Täter „offenbar Unmaßgebliches, Falsches sagt“.171 Während die ersten beiden Fallgruppen Problembereiche der Kategorie Schuld betreffen und Jakobs daher hier nicht weiter interessieren, bezieht sich die an dritter Stelle genannte, sehr abstrakt formulierte Konstellation auf den subjektiven Tatbestand und die Fahrlässigkeit. Denn eine offenbar unmaßgebliche und falsche Auslegung der Wirklichkeit ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der Täter den Sachverhalt, auf den sich seine Handlung bezieht, empirisch unzutreffend erfasst („intellektuelle Leistung“) oder es ihm an der Bereitschaft fehlt, sich in Übereinstimmung mit einer sozialen oder Rechtsnorm zu verhalten („voluntative Leistung).172 Jakobs unterscheidet also zwischen „Wissensfehlern“ und „Wollensfehlern“173 und stellt fest, dass nach geltendem Recht regelmäßig nur „Wissensfehler“ (§ 16 StGB) nicht aber „Wollensfehler“ entlasten. Diese gesetzliche Differenzierung hält er für zutreffend, denn bei fehlerhaftem Wollen bringt der Täter zum Ausdruck, dass die Norm für ihn keinen Maßstab der Orientierung seines Verhaltens abgibt. Die mit fehlerhaftem Wollen verbundene Auslegung der sozialen Wirklichkeit stellt die Norm als Anweisung gesellschaftlich richtigen Verhaltens in Frage und beeinträchtigt daher ihren Geltungsanspruch. Der zutreffend informierte Täter (der den Sachverhalt und die Norm kennt) hat folglich die Befolgung der Norm zu wollen, anderenfalls erfolgt Strafe, um die Legitimität und die Durchsetzungsbedingungen des verletzten Strafgesetzes klarzustellen. Anders verhält es sich dagegen bei der Gruppe der Wissensfehler, wobei Jakobs zwischen nicht vermeidbar falschem und vermeidbar falschem Wissen (Fahrlässigkeit) unterscheidet. Hat der Täter trotz größter Sorgfalt den Lebenssachverhalt unzutreffend (nicht vermeidbar falsches Wissen) erkannt, so dass ihn auch kein Vorwurf der Fahrlässigkeit trifft, kann auf eine gesellschaftliche Reaktion in Form der Strafe ganz verzichtet werden. Hier liegt kein Fall der 170

Jakobs, G.: ZStW 101 (1989), 516 ff., 520. Jakobs, G.: ZStW 101 (1989), 516 ff., 522. 172 Jakobs, G.: ZStW 101 (1989), 516 ff., 523 definiert „voluntative Leistung“ an dieser Stelle als „die dominante Motivation zur Normbefolgung“. 173 Jakobs, G.: ZStW 101 (1989), 516 ff.; vergleichbare Argumentation in seinem Lehrbuch Strafrecht AT 1991, S. 8 (Rn. 7a) und S. 258 ff. (Rn. 5 ff.). 171

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Organisationsanmaßung vor, bei der sich der Täter über eine Norm hinwegsetzt, sondern ein Unfall, ein Naturgeschehen, das die Geltung der Strafgesetze nicht in Frage stellt. Im Fall vermeidbar falschen Wissens, das heißt bei unbewusster („ungerichteter“)174 Fahrlässigkeit ist demgegenüber zwar Strafe erforderlich, diese hat aber milder auszufallen als bei vorsätzlicher Deliktsbegehung (kein Wissensfehler). Eine geringfügigere Reaktion als bei Vorsatz ist nach Jakobs Auffassung hier deshalb geboten, weil neben der staatlichen Strafe meistens eine „poena naturalis“175 eintritt und der Täter darüber hinaus den Vorwürfen und Stigmatisierungen der übrigen Gesellschaftsmitglieder ausgesetzt ist, die ihm vorhalten, den eigenen Bereich defizitär organisiert zu haben. So wird etwa bei Unfällen im Straßenverkehr häufig auch der Täter nicht unerheblich selbst geschädigt und der durch das Fehlverhalten dokumentierte mangelnde Überblick führt im sozialen Leben zumindest dann zu Statusverlust, wenn das Verhalten in einen deliktischen Erfolg umschlägt. Dennoch vermögen diese mittelbaren Folgen des Fehlverhaltens den staatlichen Strafanspruch nicht ganz entfallen zu lassen. Bei den von Jakobs insoweit angeführten Gesichtspunkten ist Adressat der Einwirkung wiederum die Allgemeinheit: Im Bereich ungerichteter Fahrlässigkeit dient Strafe zunächst dazu, der „Notwendigkeit des Verlangens nach allgemeiner Disziplin“176 gerecht zur werden. Denn im Fall der „Untermauerung“ der Disziplinlosigkeit (etwa zu schnell oder mit zu geringem Sicherheitsabstand gefahren zu sein) durch den Erfolg erwartet die Gesellschaft „mehr als ein(en) schlichte(n) Ordnungsruf“.177 Nur eine an den deliktischen Erfolg anknüpfende Strafe vermag in der Gesellschaft ein Mindestwissen von der Gefährlichkeit bestimmter Verhaltensweisen zu etablieren und dokumentiert darüber hinaus, dass die Höhe der etwa im Straßenverkehr einzugehenden Risiken nicht in das Belieben des Einzelnen gestellt ist. Wie die meisten systemtheoretisch ausgerichteten Arbeiten Jakobs’ hat auch die oben dargestellte systemfunktionale Begründung der subjektiven Deliktsseite (vor allem, aber nicht nur aus dem personfunktional orientierten Lager) erhebliche Kritik erfahren.178 Roxin,179 der in einer Fußnote zwar hervorhebt, dass ihm die Schuldkonzeption Jakobs „in einigen Punkten sogar nahe steht“, sieht in der vorstehend geschilderten Interpretation der subjektiven Tatseite eine „völlige 174 Jakobs, G.: ZStW 101 (1989), 516 ff., 529: „ungerichtete Fahrlässigkeit“ definiert er als Fahrlässigkeit, die „nicht Folge eines der Reflexion standhaltenden Desinteresses am Schutz bestimmter Güter ist“. 175 Jakobs, G.: ZStW 101 (1989), 516 ff., 532. 176 Jakobs, G.: Bruns-FS 1978, S. 31 ff., 38. 177 Jakobs, G.: Bruns-FS 1978, S. 31 ff., 39. 178 Schünemann, B. in: ders. (Hrsg.): Grundfragen 1984, S. 153 ff.; Schöneborn, C.: ZStW 92 (1980), 682 ff.; vgl. ferner die in Fn. 30 genannten Autoren. 179 Roxin, C.: SchwZStrR 104 (1987), 356 ff., 365.

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Funktionalisierung der Person des Delinquenten“, der lediglich „das Mittel zur Einübung der Bürger in Rechtstreue“ und damit ein gesellschaftspolitisches Werkzeug darstelle. Dies sei eine gegen die Menschenwürde verstoßende „totale Instrumentalisierung des Individuums“, die folglich auch verfassungsrechtlich bedenklich sei. Jakobs begegnet dieser Kritik mit dem schon oben angeführten Argument, er beabsichtige keine funktionale Umgestaltung des geltenden Rechts oder der bestehenden Dogmatik, sondern er lege – abgesehen von Randkorrekturen – nur eine funktionale Deutung180 vor: „Nun geht es ja überhaupt nicht um eine Ersetzung des vorhandenen Strafrechts durch etwas Neues, sondern um eine neue Deutung des Strafrechts, wie es vorhanden ist. . . . Bei dieser Lage ist eine kriminalpolitisch orientierte oder gar moralisierende Behandlung des Ergebnisses der Deutung unangebracht: Ist nämlich die Deutung falsch, so wäre darzutun, dass sie die Sache verfehlt; der Sachbezug hängt nicht von kriminalpolitischen oder moralischen Vorgaben ab. Ist aber die Deutung richtig, so wäre, wenn sie missfällt, die gedeutete Sache zu beklagen, also das geltende Strafrecht, nicht aber die Deutung selbst – es sei denn, man wolle den Ärger über eine missliebige Botschaft dadurch bereinigen, dass man deren Überbringer schilt.“181

Die noch in seinem Aufsatz „Über die Behandlung von Wissensfehlern und Wollensfehlern“ gewählte Beschränkung auf eine systemfunktionale Deutung des bestehenden Rechts auch im Bereich des subjektiven Deliktstatbestandes hat Jakobs allerdings nicht konsequent durchgehalten. Dies zeigt sich insbesondere an der Achillesferse jeder Vorsatzdogmatik, an der besonders praxisrelevanten Abgrenzung zwischen dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit, bei der auch der Ansatz Jakobs’ vor seine Zerreißprobe gestellt wird. b) Die Zerreißprobe: Jakobs’ Abgrenzung von dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit Jakobs vertritt bereits in seiner Habilitationsschrift aus dem Jahr 1972 zur Definition des dolus eventualis die Auffassung, dass ein voluntatives Element entbehrlich und die Grenze zur bewussten Fahrlässigkeit jedenfalls nicht über die unterschiedliche Einstellung des Täters zum Eintritt des deliktischen Erfolges zu ziehen ist. Seine Ausführungen zur Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit münden dabei in folgende Formel: „Nicht, ob der Täter die Möglichkeit des Erfolgseintritts ernst oder leicht nimmt, entscheidet, und nicht, wer ,die Kälte aufbringt, dass er ernstlich den Gedanken an das Erfolgsrisiko besteht, der handelt mit dolus eventualis‘, sondern derjenige han180 Die – vermeintliche – Beschränkung auf eine systemfunktionale Deutung des bestehenden Rechts ist eine durchgehende Immunisierungsstrategie Jakobs’, vgl. z. B.: dens.: Schuldprinzip 1993, S. 30; GA 1996, 253 ff., 260. 181 Jakobs, G.: ZStW 101 (1989), 516 ff., 536.

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delt vorsätzlich, dessen Urteil über das Erfolgsrisiko gilt und ernstlich ist; das Urteil muss für den Täter Erkenntniswert haben; andere Stellungnahmen sind unbeachtlich. Vorsatz und Fahrlässigkeit grenzen sich nach dem Wissen des Täters von seiner Macht ab, nicht nach dem, was ihm sein angestrebter Erfolg wert ist oder wie er sich zu dem Erfolg verhält.“182

Für die (bewusste) Fahrlässigkeit bleibt nach dieser Abgrenzung nur dann Raum, wenn der Täter kein „Urteil“ über den Geschehensablauf abgibt, sondern „unabgesichert“ an den Erfolgseintritt denkt: „Diesen Bereich des nicht-urteilenden An-den-Erfolg-Denkens mag man bewusste Fahrlässigkeit nennen (soweit mit dem Motiv zur Erfolgsvermeidung ein Urteil, der Erfolgseintritt sei nicht unwahrscheinlich, möglich ist); da jedoch hier, wie bei der unbewussten Fahrlässigkeit die aktuelle Kenntnis der Vermeidbarkeit fehlt, genießt diese Fahrlässigkeit unter Steuerungsgesichtspunkten keine Sonderstellung.“183

Die auch in seinen späteren Arbeiten beibehaltene Beschränkung des dolus eventualis auf das intellektuelle Element begründet Jakobs in seinen „Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt“ noch ohne systemtheoretische Argumente: Da das Strafrecht darauf abzielt, bestimmte Erfolge zu vermeiden, kommt es nur darauf an, ob der Täter von einem Risiko für das geschützte Rechtsgut weiß, nicht hingegen darauf, welche Einstellung er gegenüber dem Rechtsgut einnimmt. Ist bei Kenntnis des Risikos eine hohe Einwirkungsmöglichkeit des Täters auf den Geschehensablauf anzunehmen, hat dieser die Vermeidung zu wollen. Hohe „Steuerungsintensität“ korrespondiert folglich mit einem erhöhten Sanktionsbedürfnis, dem durch die Annahme vorsätzlicher und nicht lediglich fahrlässiger Deliktsbegehung Rechnung getragen werden kann. Das bei gegebener Steuerungsmöglichkeit vorhandene Sanktionsbedürfnis legitimiert Jakobs noch in den „Studien“ mit Schuldgesichtspunkten, die er unter Rückgriff auf die personfunktionale Schuldauffassung als „persönlichen Vorwurf“ im herkömmlichen Sinne begreift.184 In späteren Arbeiten stellt Jakobs demgegenüber, wie die bereits oben dargestellte Begründung der Strafbarkeit fahrlässiger Deliktsbegehung zu erkennen gibt, auch für die Abgrenzung von dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit ausschließlich auf den systemfunktionalen Ansatz ab.185 Auf ein voluntatives Element kann es schon deshalb nicht ankommen, weil der Täter bei erkannter Gefahr für ein Rechtsgut und Kenntnis von der Verhaltensnorm die Gefahr abzuwenden und die Verhaltensnorm zu befolgen hat. Kommt der Täter diesem Appell nicht nach, ist die Normgeltung gefährdet und es bedarf der Strafe, um den Geltungsanspruch des verletzten Gesetzes wiederherzustellen. Diese von 182

Jakobs, G.: Studien 1972, S. 119 (Hervorhebung im Original). Jakobs, G.: Studien 1972, S. 117. 184 Jakobs, G.: Studien 1972, S. 146; ähnlicher Ansatz noch bei dems.: Teheran Beiheft zur ZStW 1974, S. 6 ff., 7. 185 Jakobs, G.: Bruns-FS 1978, S. 31 ff.; ders.: ZStW 101 (1989), 516 ff. 183

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den Darlegungen in der Habilitationsschrift abweichende Position, bei der Jakobs auf den Gesichtspunkt der persönlichen Vorwerfbarkeit mit keinem Wort eingeht, erschöpft sich jedoch nicht in einem neuen Begründungsansatz, sondern hat vor allem auch Auswirkungen auf das Verständnis der Termini „Tatsachenkenntnis“ und „Steuerbarkeit“ des Geschehens, auf die es für die Begründung von dolus eventualis entscheidend ankommt. Während Jakobs noch in den „Studien“ insoweit nur auf den individuellen Kenntnisstand des Täters und dessen persönliche Fähigkeiten abstellt,186 gerät der Begriff der Steuerbarkeit in seinen späteren Darstellungen187 zu einem systemfunktionalen Konstrukt der sozialen Wirklichkeit: Ausgangspunkt dieser Auffassung sind Beobachtungen von Jakobs zu der Behandlung des dolus eventualis und der Fahrlässigkeitshaftung in den Fällen der Risikogewöhnung, bei denen nach seinen Analysen auch die herrschende Lehre und Rechtsprechung nicht ohne eine normative Konstruktion der Voraussicht oder der Voraussehbarkeit des Geschehens auskommt. Dies gilt für erlaubte, aber auch für minimal unerlaubte Risiken, die täglich etwa bei der Teilnahme am Straßenverkehr vorkommen, wie z. B. geringfügiges Überschreiten der Höchstgeschwindigkeit, Fahrt mit zu geringem Sicherheitsabstand, etc. Würden die Verkehrsteilnehmer hier stets alle in ihrer Realisierung unwahrscheinlichen, aber – sofern sie dennoch eintreten – oft sogar tödliche Risiken bedenken, könnte der Verkehr kaum mehr reibungsfrei ablaufen, denn der Gedanke an den in diesem Moment vorausgesehenen eigenen Tod lenkt zwangsläufig derart ab, dass es unmöglich ist, die Fahrt mit der gebotenen Aufmerksamkeit fortzusetzen. Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert es daher, diese Risiken zu verdrängen, und dies wird dadurch begünstigt, dass entsprechende Situationen täglich als folgenlos erlebt werden. Hier verliert die Erfolgsprognose ihre „subjektive Ernsthaftigkeit für die Praxis“ und die Bewältigung der Situation wird auch dann zur „routinehaften Alltagsbeschäftigung“,188 wenn es sich um ein „aufgezwungenes Risiko“ handelt und die Gefahr auf dem (geringfügigen) Fehlverhalten des anderen Verkehrsteilnehmers beruht. Der beschriebene Verdrängungsmechanismus funktioniert erst dann nicht mehr, wenn bei dem selbst eingegangenen oder dem aufgezwungenen Risiko ein bestimmter Schwellenwert überschritten wird. In diesen Fällen (z. B. Verwechslung der Autobahnausfahrt mit der Einfahrt, Überholen vor einer Bergkuppe) bleibt der Folgenbezug subjektiv spürbar, bis hin zu körperlichen Angstreaktionen. Realisiert sich in einer der geschilderten Situationen ein Unfall, dürfte nach Jakobs wegen bedingt vorsätzlicher oder fahrlässiger Verwirklichung eines Erfolgsdelikts bei konsequenter Beachtung des intellektuellen Vorsatzelements 186 187 188

Jakobs, G.: Studien 1972, S. 39 ff., 150 ff. Jakobs, G.: Bruns-FS 1978, S. 31 ff. und ders.: ZStW 101 (1989), 516 ff. Jakobs, G.: Bruns-FS 1978, S. 31 ff., 33.

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oder des Kriteriums der Voraussehbarkeit nur in den zuletzt genannten Fällen der Überschreitung einer bestimmter Schwelle riskanten Verhaltens bestraft werden. Denn der Täter erkennt die Möglichkeit des Erfolgseintritts nur dann, wenn er bei der Tatbegehung aktuell die Folgen seines Handelns reflektiert, nicht aber dann, wenn er sie nach den oben beschriebenen Mechanismen erfolgreich verdrängt hat. Auch die für eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Deliktsbegehung erforderliche Voraussehbarkeit des deliktischen Erfolges ist bei erlaubten oder minimal unerlaubten Risiken in der Regel nicht gegeben. Bei einer Haftung für fahrlässige Verwirklichung eines Erfolgsdeliktes muss dem Täter nicht nur das Risiko erkennbar sein, sondern dieses muss auch eine bestimmte entscheidungserhebliche Dichte erreicht haben. Entscheidungserheblich ist das Risiko für Jakobs aber nur dann, wenn – wie bei der zuletzt genannten Fallgruppe – eine bestimmte Schwelle überschritten wird, nicht aber bei den Situationen, die „ubiquitär als aufgedrängte unerlaubte Risiken hingenommen werden müssen, wenn bestimmte Lebensbereiche nicht überhaupt vermieden werden sollen“: „Gegenstand der Erkennbarkeit bei Fahrlässigkeit muss dasjenige sein, was beim Vorsatz erkannt ist . . . So wenig eine geringfügige, aber folgenreiche Überschreitung der zugelassenen Höchstgeschwindigkeit im Straßenverkehr bei Kenntnis des sich dann auch verwirklichenden Risikos eine vorsätzliche Verwirklichungshandlung ist, so wenig bei Erkennbarkeit eine fahrlässige.“189

Sofern die Gerichte in diesen Fallkonstellationen dennoch zumindest wegen fahrlässiger Deliktsverwirklichung bestrafen, knüpfen sie folglich in Wahrheit nicht mehr an einen real existierenden psychischen Befund an, sondern sie konstruieren die Merkmale der Kenntnis und der Voraussehbarkeit vor dem Hintergrund nach Auffassung Jakobs’ durchaus gerechtfertigter und systemtheoretisch zutreffender normativer Erwägungen. Denn auch hier muss mehr als „ein bloßer Ordnungsruf“ erfolgen, um ein Wissen um die Gefährlichkeit bestimmter Verhaltensweisen in der Gesellschaft zu etablieren und so zur allgemeinen Sicherheit des Straßenverkehrs beizutragen. Auf diesen Überlegungen aufbauend, zielt Jakobs darauf ab, die Grenze zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit nicht nur in den genannten Fällen verdeckt, sondern allgemein normativ zu bestimmen. Nach seiner Definition, die zwar vordergründig von den Ansätzen anderer Autoren, die auf ein voluntatives Element verzichten, nicht weit entfernt ist,190 liegt bedingter Vorsatz vor, „wenn der Täter zum Handlungszeitpunkt urteilt, die Tatbestandsverwirklichung sei als Folge der Handlung nicht unwahrscheinlich“.191 Im Unterschied zu den Ansätzen der ihm insoweit terminologisch nahestehenden Möglichkeits- oder Wahr189

Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, S. 324 (Rn. 15). Jakobs greift Elemente der Wahrscheinlichkeits- und der Ernstnahmetheorie auf, vgl. Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 388 (§ 12, Rn. 56). 191 Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, S. 271 (Rn. 23). 190

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scheinlichkeitstheorie192 ist dieses Urteil des Täters – entsprechend dem systemfunktionalen Ansatz von Jakobs – nicht in erster Linie ein auf die Psyche des Täters bezogener individueller Befund, sondern ein „funktional zu bestimmendes“ normatives Konstrukt, dessen entscheidendes axiologisches Kriterium darin besteht, festzustellen, in welchem Umfang der Geltungsanspruch der Norm tangiert wird. Vor dem Hintergrund dieses systemtheoretischen Maßstabs differenziert Jakobs im Ergebnis nach Fallgruppen vorsätzlicher oder fahrlässiger Deliktsbegehung, die sich nach den Kategorien „betroffenes Rechtsgut“ und „eingegangenes Risiko“ im Umfang des Angriffs auf die Normgeltung unterscheiden.193 Der Grad an Wahrscheinlichkeit (Kenntnis des Täters, dass bei Ausübung einer bestimmten Tätigkeit mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit der deliktische Erfolg eintritt), der nach dieser Auffassung Jakobs’ für dolus eventualis erforderlich ist, wird grundsätzlich dann überschritten, wenn der Täter ein unerlaubtes Risiko eingegangen ist. Gleiches gilt in den Fällen der Risikogewöhnung, sofern die habitualisierte Verhaltensweise des Täters das Maß übersteigt, „das noch allgemein als aufgedrängtes unerlaubtes Risiko hingenommen werden muss“.194 Das vom Täter und auch anderen Personen „massenhaft“ eingegangene minimal unerlaubte Risiko (z. B. eine geringfügige Verkehrsordnungswidrigkeit) führt bei Verwirklichung des Risikos demgegenüber allenfalls zu einer Fahrlässigkeitshaftung.195 192 Überblick bei Lackner/Kühl: § 15 StGB 2001, Rn. 26, 27; Wessels/Beulke: Strafrecht AT 2001, S. 74 (§ 7, Rn. 217, 218). 193 Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, S. 276 (Rn. 30, 31) mit kritischen Anmerkungen Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 388 (§ 12, Rn. 56); kritisch zum Vorsatzbegriff von Jakobs ferner Küpper, G.: ZStW 100 (1988), 758 ff., 762 f. 194 Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, S. 277 (Rn. 31): „Niemand kann sich darauf berufen, er habe sich ein besonders gefährliches Leben angewöhnt und mute Sondergefahren nunmehr auch anderen Personen zu.“ 195 Dass der Paradigmenwechsel von einem faktisch-psychologischen zu einem normativen Vorsatzbegriff allerdings nicht notwendig auch systemfunktional begründet werden muss, zeigt der Jakobs im Ergebnis nahestehende Ansatz Puppes. Puppe, I.: ZStW 103 (1991), 1 ff. vertritt ebenso wie Jakobs einen normativen Vorsatzbegriff, bei dem es nur darauf ankommt, welchen Ausdruckswert das Verhalten des Täters „unter Vernünftigen“ hat. Einen Vorsatzbegriff, der auf die „faktisch-psychologische Befindlichkeit“ des Täters abstellt, lehnt Puppe – anders als Jakobs der hier systemfunktional argumentiert – insbesondere deshalb ab, weil diese Sachverhalte ihrer Auffassung nach der Beweiserhebung im Strafverfahren (außer über ein Geständnis) weitgehend unzugänglich sind. Entsprechend ist für Puppe auch die Abgrenzung über ein voluntatives Element aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten inakzeptabel. Denn auch die voluntative Seite ist wesentlich subjektiv und als solche im Prozess kaum je valide feststellbar. Diese dem Rechtsstaatsprinzip entspringenden Bedenken gegenüber dem voluntativen Vorsatzelement greifen für Puppe insbesondere auch dann durch, wenn „Billigen“ wie in der Rechtsprechung des BGH als „Billigen im Rechtssinne“ aufgefasst wird. Da der BGH nach ihrer Analyse der Urteile nicht ausführt, unter welchen Voraussetzungen ein „Billigen im Rechtssinne“ anzunehmen ist, kann der Begriff als Chiffre verwendet werden, die es den Revisionsgerichten erlaubt, jedes kriminalpolitisch unerwünschte Urteil aufzuheben.

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Die strafrechtliche Behandlung der Fallgruppe der minimal unerlaubten Risiken ist in einer von Jakobs betreuten Dissertation „Vorsatz und Fahrlässigkeit bei minimal unerlaubten Risiken“ von C. Eule-Wechsler weiter spezifiziert worden. Ebenso wie Jakobs legt auch Eule-Wechsler einen systemfunktionalen Vorsatzbegriff zugrunde, bei dem „der Nachweis individueller Motivation“ zumindest bei den Verletzungsdelikten durch „normative Fiktion“ ersetzt wird.196 Minimal unerlaubt, mit der Konsequenz einer Strafbarkeit nur wegen fahrlässiger Deliktsbegehung, ist ein Risiko für die Autorin nur dann, wenn sich die individuelle Risikoeinschätzung noch als vernünftige Entscheidung für ein Risiko darstellen lässt.197 Auf Strafe kann aber auch hier nicht ganz verzichtet werden, denn die Freiheit zu (bei gutem Ausgang ex post gesellschaftlich gebilligtem) unerlaubtem Risikohandeln ist „nur auf der Basis zu gewähren, dass ihre Nutznießer auch ihre Kosten tragen“,198 wenn sich das Risiko tatsächlich verwirklicht.

In seinen jüngsten Beiträgen199 lässt Jakobs erkennen, dass er es de lege ferenda für wünschenswert hält, die Bindung der Vorsatzstrafe an die Kenntnis der Tatumstände zugunsten einer „elastischeren“ Regelung überhaupt abzuschaffen. Zur Begründung verweist er auf die von ihm schon in früheren Darstellungen200 herangezogene Fallgruppe der „Tatsachenblindheit“.201 „Tatsachenblindheit“ ist dann gegeben, wenn der Täter die Gefahr für ein Rechtsgut nur deshalb nicht kennt (Wissensmangel), weil ihn der Gegenstandsbereich nicht interessiert.202 So liegt es nach einem von Jakobs gebildeten Beispiel etwa im (allerdings wenig praxisrelevanten) Fall eines Terroristen, der die Gefahr für das Leben eines die Straße sperrenden Polizisten, auf den er mit seinem Fahrzeug ungebremst zufährt, nur deshalb nicht sieht, weil ihm das Leben des Polizisten nicht bedenkenswert ist.203 Jakobs kritisiert, dass die Bedenkenlosig196

Eule-Wechsler, C.: Vorsatz 1996, S. 76. Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Deliktsbegehung also, wenn die Mutter ihr Kind einen Moment unbeaufsichtigt auf dem Wickeltisch liegen lässt, sofern das Kind ungewöhnlich schreit und strampelt; Fahrlässigkeit dann, wenn das Kind sich ruhig verhält und dennoch vom Tisch fällt; Beispiel: Eule-Wechsler, C.: Vorsatz 1996, S. 92 f. 198 Eule-Wechsler, C.: Vorsatz 1996, S. 96. 199 Jakobs, G.: GA 1997, 553 ff., 557; ders.: ARSP Beiheft 74 (2000), S. 57 ff., 62. 200 Das Problem Tatsachenblindheit hat Jakobs immer wieder aufgegriffen [vgl. z. B.: Strafrecht AT 1991, S. 259, 260 (Rn. 5a); Teheran Beiheft zur ZStW 1974, S. 6 ff., 8; Bruns-FS 1978, S. 31 ff., 37] und dient ihm auch nach der zutreffenden, dieser Meinung aber beitretenden Interpretation durch Lesch, H. H.: JA 1997, 802 ff., 802, Fn. 2 zum „Angriff auf einen psychologisierend bestimmten Vorsatzbegriff“. 201 In früheren Darstellungen (z. B.: Studien 1972, S. 105) bezog sich Jakobs auf das Beispiel eines „KZ-Wärters“, dem das Leben der Inhaftierten nicht bedenkenswert ist und der daher an eine Gefährdung des Lebens der in einen Brunnen gefallenen Zwangsarbeiter nicht denkt, sondern sich nur des Verlustes der ebenfalls verschütteten Werkzeuge bewusst ist. 202 Jakobs, G.: ZStW 101 (1989), 516 ff., 528 definiert diese Situationen als „Tatbestandsunkenntnis aus Gleichgültigkeit oder feindschaftlicher“ Einstellung. Vgl. zu diesem Problembereich auch Lesch, H. H.: JA 1997, 802 ff., 802 m. w. N. 203 Jakobs, G.: ZStW 101 (1989), 516 ff., 528. 197

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keit des Täters bei konsequenter Anwendung der „starren“ Regelung des § 16 Abs. 1 StGB zu einer axiologisch nicht gerechtfertigten Privilegierung führt. Während er noch in früheren Darstellungen in den Vordergrund stellt, dass die Regelung des § 16 trotz dieses von ihm angenommenen Wertungswiderspruchs zumindest aus Gründen der Rechtssicherheit und dem Interesse des Gesetzgebers an einer möglichst klaren Grenzziehung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit hinzunehmen ist, hält er heute die „vom geltenden Recht festgelegte Grenze zwischen Tatbestandskenntnis einerseits und Tatbestandsunkenntnis andererseits überhaupt“ für „verfehlt“:204 „Es gibt keinen Grund, die mangelnde Tatbestandskenntnis eines Gleichgültigen per se mit milderer Strafe zu honorieren; denn per se ist ein Kenntnismangel ein psychisches Defizit und sonst nichts, und die Grenze zwischen schwerem und leichtem Schuldvorwurf lässt sich nicht an Psychologismen ausrichten, sondern nur an Zweckzusammenhängen.“205

Mit dem Begriff des Zweckzusammenhangs stellt Jakobs wiederum auf systemfunktionale Gesichtspunkte ab. Dem tatsachenblinden Täter sind nur die Rechtsgüter Dritter nicht weiter bedenkenswert. Daher droht hier – im Gegensatz zu anderen Fällen der Fahrlässigkeit – weder eine „poena naturalis“ noch das gesellschaftliche Stigma, die eigenen Angelegenheiten nicht ordnungsgemäß organisiert zu haben. Wie im Fall vorsätzlicher Deliktsbegehung liegt dem Verhalten des Täters vielmehr eine Auslegung der sozialen Wirklichkeit zugrunde, in der die Geltung der Verhaltensnorm gefährdet wird: „Nimmt man aber den Kenntnismangel nach seiner sozialen Bedeutung, so mag er nicht nur als Indiz für eine nachsichtig zu behandelnde psychische Konstitution gelten, sondern ebenso als Indiz für eine unverzeihliche Pflichtverletzung. Wenn also das geltende Recht die Vorsatzstrafe an Tatbestandskenntnis bindet, so führt dies im Grenzfall, eben beim ohne akzeptablen Grund Gleichgültigen, zu einem nicht zu rechtfertigenden Benefiz. Nochmals beispielhaft: Wer mit Teer hantiert und dabei aus verständlicher Aufregung nicht bedenkt, dass er fremde Sachen verschmutzen könnte, mag ebenso übersehen haben, dass sich auch eigene Sachen in Gefahr befinden; – wenn eine poena naturalis auch nicht eintritt, so droht sie doch. Nutzenmaxi204 Jakobs, G.: ARSP Beiheft 74 (2000), S. 57 ff., 62 (Anm. 7); deutlich auch ders. in: GA 1997, 553 ff., 557: „Vorzugswürdig, weil am System der rechtlichen Wertung orientiert, wäre die Lösung, jede voll oder partiell entlastende Unkenntnis als zumindest partiellen Irrtum zu behandeln. Nicht entlastende Unkenntnis, etwa solche aus schierer Gleichgültigkeit, schiede damit aus dem Begriff des Irrtums aus. So lässt sich de lege lata auch bei Unrechtsunkenntnis verfahren: Nach § 17 Satz 2 StGB entlastet nicht schon das Faktum der Unkenntnis, vielmehr kommt es auf die Gründe dafür an. Also erkennt das Gesetz an, dass eine auf Gleichgültigkeit (oder sonst belastenden Haltung) beruhende Unkenntnis die Haftung nicht berühren muss. Anders bei der Tatbestandsunkenntnis! Hier beharrt das Gesetz auf einer psychologisierenden Abgrenzung, was heißt, dass Tatbestandsunkenntnis, auch wenn sie auf Gleichgültigkeit oder entsprechend belastenden Haltungen beruht, schon allein deshalb zumeist entlastet, weil es um Unkenntnis geht (§ 16 Abs. 1, S. 1).“ 205 Jakobs, G.: ARSP Beiheft 74 (2000), S. 57 ff., 62 (Anm. 7).

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mierung ist auf solche Weise nicht planmäßig möglich. Aber wer die Folgen nicht bedenkt, weil er die eigenen Sachen in Sicherheit weiß und weil ihm sonst nichts bedenkenswert ist, maximiert seinen Nutzen, optiert also für eine mögliche Welt und verdient deshalb die Strafe eines Vorsatztäters.“206

Resümiert man die Ausführungen Jakobs zum Problembereich der Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit nach der Chronologie seiner Veröffentlichungen, so lässt sich eine kontinuierlich fortschreitende Tendenz zur Eliminierung der Täterperspektive erkennen. Er stellt dabei zunehmend nicht mehr auf den psychischen bzw. intellektuellen Befund fehlender Tatbestandskenntnis, sondern auf eine allgemeine „elastische“ Wertungsentscheidung ab, die es ihm ermöglicht, bei der Entscheidung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit den Grund der Unkenntnis zu berücksichtigen. c) Kritik aus personfunktionaler Sicht Aus einer personfunktionalen Perspektive können die von Jakobs für die Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit entwickelten normativen Kriterien, die die Grundlage für die Zuschreibung von Kenntnis darstellen, aber allenfalls Indizien sein, von denen aus auf die in der Hauptverhandlung zu ermittelnde konkrete Vorstellung des Täters geschlossen werden kann. Diese Rekonstruktion der individuellen Erkenntnis des Täters kann – sofern die auf den Schutz der Person vor dem staatlichen Strafanspruch bezogenen Abgrenzungsfunktion des subjektiven Tatbestands beibehalten werden soll – insbesondere nicht durch die von Jakobs propagierte vollständig normative Konstruktion der subjektiven Tatseite ersetzt werden. Denn die Bezugsparameter für die Frage, ob etwa ein Risiko minimal oder erheblich unerlaubt ist, beruhen auf empirisch weitgehend ungeklärten Sachverhalten, über die auch gesamtgesellschaftlich kaum eine Übereinstimmung zu erzielen ist. So werden z. B. die Ansichten über das Maß des aufgedrängten Risikos, das im Straßenverkehr durch andere Verkehrsteilnehmer hingenommen werden muss, in der Gesellschaft erheblich voneinander abweichen und es droht insoweit eine Bestrafung wegen vorsätzlicher Deliktsverwirklichung in Fallkonstellationen, bei denen der Täter sich selbst nicht bewusst war, das verletzte Rechtsgut in eine Gefahr gebracht zu haben. Aus personfunktionaler Perspektive kommt es auf dieses Bewusstsein des Täters und auch auf seine Einstellung zum Erfolg entscheidend an, so dass von diesem Standpunkt aus nicht nur die Rekonstruktion des tatsächlichen inneren Tatbestands, sondern auch ein voluntatives Vorsatzelement unverzichtbar ist.207 Denn nur in diesen beiden Komponenten des Vorsatzbegriffes (dem voluntati206

Jakobs, G.: ARSP Beiheft 74 (2000), S. 57 ff., 62 (Anm. 7). Zur Abgrenzungsfunktion des voluntativen Elements vgl. auch Schünemann, B. in: Hirsch-FS 1999, S. 363 ff., 365. 207

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ven und dem intellektuellen Element) lassen sich die unterschiedlichen Stufen des vom Täter verwirklichten Unrechts abbilden, auf die nach dieser Auffassung die Begriffe Vorsatz, bewusste und unbewusste Fahrlässigkeit inhaltlich bezogen sind. Eine real vorliegende Kenntnis des Täters der von seinem Verhalten ausgehenden Gefahr für ein Rechtsgut ist Grundvoraussetzung für die Steuerbarkeit des Geschehens und diese begründet zumindest dann den Vorwurf vorsätzlicher Deliktsverwirklichung, wenn sie mit einem „Billigen“ des Erfolges einhergeht und deshalb in dem Verhalten des Täters eine „verwerfliche Geringschätzung des geschützten Rechtsguts“ zum Ausdruck kommt.208 Die den staatlichen Zugriff in Form der Vorsatzstrafe begrenzende Kraft des voluntativen Elements lässt sich etwa anhand des „Kurvenfalls“ Schmidhäusers verdeutlichen. In dem von ihm herangezogenen und vom Sachverhalt her erweiterten Lehrbuchfall eines tödlichen Verkehrsunfalls wohnt der Fahrer in der Großstadt und ist zu einer abendlichen Geburtstagsfeier eines Freundes in einem 30 km entfernten Dorf eingeladen. Er hat sich erheblich verspätet und möchte den Anfang der Feier nur ungern versäumen: „So drängt es ihn, kaum ist er aus der Stadt auf die Landstraße hinausgekommen, zu rascher Fahrt; aber er sieht: die Stecke ist kurvenreich, Seitenstraßen münden ein, die abendliche Dunkelheit nimmt zu. Sehr schnell darf man hier wohl nicht fahren, denkt er. Doch wieder sieht er mit Bedauern die entstehende Verspätung. Nun denkt er: der Berufsverkehr ist schon vorüber, jetzt werden alle Leute zu Hause sein und zu Abend essen, ich habe gute Scheinwerfer und kann mit meinem schweren Wagen auch in den Kurven die rechte Seite schön einhalten, ich passe auf, es wird nichts passieren. Und schon gibt er noch mehr Gas und rast dahin, kommt in der übernächsten Rechtskurve leicht nach links und stößt mit einem entgegenkommenden, ordnungsgemäß fahrenden Auto zusammen; dessen Fahrer wird tödlich verletzt.“209

Obwohl der Fahrer einen Unfall wegen des riskanten Fahrstiles als möglich einschätzt, zeigen seine Überlegungen hinsichtlich seines Fahrzeuges und des Fahrverhaltens, dass er darauf vertraut hat, die Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit werde folgenlos bleiben. Dass diese Reflexion über den Verlauf der Fahrt begrifflich dem Bereich des Wollens zuzuordnen ist, zeigt der Vergleich einer Abwandlung des Falles. Liegt der Überschreitung der Ge208

Jescheck/Weigend: Strafrecht AT 1996, S. 100. Schmidhäuser, E.: JuS 1980, 241 ff., 244. Da Schmidhäuser selbst auf das voluntative Element verzichtet, muss er um das von ihm erwünschte Ergebnis einer unbewussten Fahrlässigkeit zu erreichen, mit einem erweiterten Verständnis des kognitiven Elements arbeiten. Nach seiner Auffassung war sich der Fahrer der konkreten Möglichkeit, dass durch seine Fahrweise ein Mensch ums Leben kommen könnte, nicht bewusst. Durch diese Argumentation werden die Probleme, die sich auf der Grundlage des zweigliedrigen Vorsatzbegriffes über das voluntative Element relativ eindeutig erfassen und lösen lassen, über die wiederum erläuterungsbedürftigen Begriffe des „Bewusstseins einer konkreten Gefahr“ bearbeitet. Hierbei bleibt allerdings fraglich, wie auf der Grundlage dieser Begrifflichkeit der nachstehend geschilderte abgewandelte Fall zu lösen wäre. 209

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schwindigkeit etwa die Annahme zugrunde, der riskante Fahrstil könnte zu einem Unfall führen, wegen der besonderen Sicherheitsausstattung des eigenen Fahrzeuges sei eine Selbstgefährdung allerdings weitgehend auszuschließen, liegt dem die grundsätzliche Billigung der Schädigung anderer zugrunde. Diese unterschiedliche emotionale Haltung zum tatbestandsmäßigen Erfolg der Tötungsdelikte bringt demnach ein Gefälle im Unrechtsgehalt der Tat zum Ausdruck, das sich zwanglos unter der Rubrik des voluntativen Vorsatzelements einordnen lässt. Auf der Grundlage der Vorsatztheorie von Jakobs können diese Unterschiede im Bereich des Wollens demgegenüber keine Berücksichtigung finden. Die Abgrenzung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit ist nur von der Frage abhängig, ob die Überschreitung der Geschwindigkeit nach den jeweiligen gesellschaftlichen Maßstäben und Konventionen als minimale oder relevante Überschreitung einer Risikogrenze anzusehen wäre. Stellt man im Gegensatz zu Jakobs aber auf den unterschiedlichen Unrechtsgehalt ab, der sich in einer vorsätzlichen bzw. bedingt vorsätzlichen oder bewusst bzw. unbewusst fahrlässigen Deliktsbegehung ausdrückt, so ergibt sich bereits bei bedingt vorsätzlicher Deliktsverwirklichung ein geringerer Vorwurf als bei Absicht oder direktem Vorsatz, denn bei ersterer wird der deliktische Erfolg weder angestrebt noch als sicher erkannt, sondern der Täter überlässt das Geschehen lediglich im Bewusstsein und mit Billigung der Gefährdung des Rechtsguts dem Lauf der Dinge. Im Fall der bewussten Fahrlässigkeit kann dem Täter ein noch geringerer Unrechtsvorwurf gemacht werden, weil er hier auf das Ausbleiben des Erfolges vertraut und damit im Ergebnis nur seine Verletzungseinsicht und nicht unmittelbar das geschützte Rechtsgut negiert. Aus dieser personfunktionalen Perspektive ist die durch den Vorsatzbegriff Jakobs mögliche Ausweitung der Vorsatzstrafe nicht einmal in dem von ihm immer wieder bemühten Kardinalbeispiel für den „axiologischen Widerspruch der psychologisierenden Auffassung“, dem Fall der „Tatsachenblindheit“, gerechtfertigt. Der völlig gleichgültig handelnde Täter mag zwar eine gesellschaftlich nicht zu billigende Einstellung entwickelt haben. Bei einer personfunktionalen Betrachtungsweise betrifft diese das Strafrecht unter dem Gesichtspunkt vorsätzlicher Deliktsverwirklichung aber nur dann, wenn die Einstellung dazu führt, dass der Täter eine Rechtsgutsverletzung steuerbar herbeiführt (s. o.). Verkennt der Täter – wie in den Fällen der Tatsachenblindheit – aus Gleichgültigkeit die Möglichkeit eines Schadens an dem Rechtsgut, so geschieht die Rechtsgutsverletzung aus der maßgeblichen Perspektive des Täters nur zufällig und führt, wie auch in anderen Fällen fehlender Tatherrschaft zu einer verminderten Vorwerfbarkeit und damit auch zu einer verminderten Haftung.210 210 Vergleichbar argumentiert Schünemann, B. in: Roxin-FS 2001, S. 1 ff., 20, der in den Fällen der Tatsachenblindheit eine nur verminderte Gefährlichkeit des Täters

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Unter personfunktionalen Gesichtspunkten potenzieren sich durch Jakobs’ Vorsatzbegriff daher die Risiken des Täters für eine staatliche Reaktion in Form der Vorsatzstrafe. Schon der Verzicht auf das voluntative Element führt dazu, dass in den (psychologisch häufig gegebenen) Situationen, bei denen der Täter die zutreffend erkannte Gefahr für das Rechtsgut beiseite schiebt und auf einen guten Ausgang vertraut, eine Vorsatzstrafe droht, weil eine bewusste Fahrlässigkeit nach den Auffassungen, die ohne voluntatives Element auskommen wollen, schon begrifflich nicht mehr denkbar ist. Dies gilt für den Ansatz von Jakobs umso mehr, als hier schon die intellektuelle Komponente des Vorsatzbegriffes von der gesellschaftlichen Definition und Zuschreibung abhängig ist. Wenn Jakobs vor allem bei Unfällen im Straßenverkehr auch in der täglichen Gerichtspraxis Fälle von Zuschreibung plausibilisieren kann,211 so ist dies ein grundlegender Unterschied zu dem von ihm propagierten Verfahren, die Zuschreibung von Kenntnis zum gängigen Prinzip der Vorsatzbestimmung zu machen. Denn zumindest dem Begriff nach zielt die tatrichterliche Feststellung von Kenntnis auf die Rekonstruktion des realen psychischen Sachverhalts ab, und das Urteil wäre fehlerhaft, wenn sich nachher herausstellte, dass die Feststellungen mit dem realen Kenntnisstand des Täters nicht übereingestimmt haben. Diese prinzipielle Falsifizierbarkeit fehlt bei dem konstruktivistischen Vorsatzbegriff Jakobs, der alleine auf einer wertenden Zuschreibung aufbaut und nicht einmal den Versuch erfordert, den realen psychischen Gehalt der Tat zu ermitteln. 3. Schuld a) Grundlagen des von Jakobs vertretenen Schuldbegriffs Zu den Grundlagen von Jakobs’ Schuldverständnis ist wesentliches schon oben im Rahmen der Darstellung der von diesem Autor vertretenen Straftheorie und seines Handlungsbegriffes gesagt worden. Jakobs wendet sich gegen die personfunktionale Auffassung von Schuld als „Fehlgebrauch des Könnens, sich an der Norm auszurichten“, bzw. als „Dafür-Können“ der Person für ihre rechtswidrige Willensbildung212 und identifiziert Schuld, seinem systemfunktionalen Ausgangspunkt folgend, ausschließlich mit den Bedürfnissen der Generalprävention. Schuldhaft ist für Jakobs daher nur die kommunikativ relevante Infragestelfür das geschützte Rechtsgut erkennt und deshalb eine Strafbarkeit nur wegen fahrlässiger Deliktsverwirklichung für ausreichend erachtet. 211 Seine Ausführungen stellen insoweit nicht mehr als eine – schwer empirisch überprüfbare – Hypothese dar, die eine qualitativ verstandene Sozialforschung kritisch als das Produkt von „armchair-reflection“ kennzeichnen würde. 212 Jakobs, G.: Schuld und Prävention 1976, S. 12 (unter Bezug auf Welzel, H.: Strafrecht 1969, S. 138).

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lung der Normgeltung durch den Täter. Denn nur diese kann die Allgemeinheit verunsichern und den Strafgesetzen Schaden in ihrem Geltungsanspruch zufügen. Ob ein Verhalten des Täters in diesem Sinne kommunikativ relevant ist, bemisst sich im Wesentlichen danach, ob er von den übrigen Gesellschaftsmitgliedern als Gleicher definiert wird. Nur ein „Gleicher“ ist in der Lage, die Normgeltung zu desavouieren, anderenfalls liegt nur ein „Störfaktor“213 vor, der ähnlich wie eine Naturkatastrophe behandelt werden soll: „Man heilt oder verwahrt oder – sofern keine Wiederholung zu befürchten ist – man begnügt sich mit der Erklärung durch Krankheit, d. h. der Umdefinition des Verbrechens in natürliches Unglück, also in den Bereich, in dem Enttäuschungen normativer Erwartungen nicht möglich sind“. Gegenüber dem „Gleichen“, dessen Angriff auf die Normgeltung dazu geeignet ist, die Erwartungen der Rechtsgemeinschaft zu stören, wird der Konflikt hingegen durch Zurechnung und Strafe erledigt und klargestellt, dass das Verhalten des Täters auf einer nicht diskutablen Auslegung und Haltung gegenüber den gesellschaftlichen Verhaltensanforderungen beruht. b) Schuld als Zuschreibung von Gleichheit Diesem Ansatz entsprechend differenziert Jakobs nach Fallgruppen fehlender Gleichheit, wobei er zunächst zwischen Gleichheit in der psychischen Entwicklung und Gleichheit in Verhaltenssituationen (Fälle des entschuldigenden Notstands) unterscheidet. An der Gleichheit in der psychischen Entwicklung fehlt es z. B. bei Kindern (§ 19 StGB), diesen gleichstehenden Jugendlichen (§ 3 JGG) oder bei „Geisteskranken“ (§§ 20, 21), die von vornherein nicht als „vollwertige Partner des sozialen Bereichs, den das Recht regelt“, in Frage kommen.214 Vor allem bei der Analyse der Schuldunfähigkeit und der verminderten Schuldfähigkeit belässt es Jakobs allerdings nicht bei einer in dieser Selbstbeschränkung durchaus plausiblen systemtheoretischen Deutung der Exkulpationsregeln, sondern er legt den Begriffen, die den Gesetzesbestimmungen fehlender Verantwortlichkeit zugrunde liegen – wie bereits bezüglich seiner die Schuld einschließenden Handlungstheorie ausgeführt –, ein gegenüber ihrer herkömmlichen Auslegung verändertes Verständnis bei. Seine Argumentation entspricht dabei dem oben aufgezeigten Begründungszusammenhang bei der Interpretation der „Kenntnis“ von Tatumständen gemäß § 16 StGB und der Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit, die für ihn alleine aufgrund normativer Zuschreibung erfolgen kann. Denn auch bei der für die Exkulpation nach den §§ 20 und 21 StGB maßgeblichen Einsichts- und Steuerungsfähigkeit kommt es für Jakobs 213

Jakobs, G.: Schuld und Prävention 1976, S. 17. Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, S. 496 (Rn. 48, 49); ders.: Schuld und Prävention 1976, S. 17 ff.; ders.: Schuldprinzip 1993, S. 31. 214

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nicht auf das tatsächliche empirische Vorliegen dieser Kriterien an, sondern diese sind lediglich ein Produkt der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit: Bei der Fähigkeit, „ bei Begehung der Tat‘ ,das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln‘ “, geht es „nicht um Messung, sondern um Bewertung. Das Maß der autonomen Zuständigkeit des Subsystems215 richtet sich nicht nach seiner konkreten Ausgestaltung, sondern nach dem, was von ihm erwartet werden muss; die Autonomie wird als Fähigkeit zugeschrieben, falls dies zweckvoll ist, und darf nur fehlen, wenn die Möglichkeit anderweitiger Konfliktverarbeitung besteht.“216 „Welche Normübertretungen . . . durch Zurechnung erledigt werden und welche durch Umgestaltung der Verhältnisse, richtet sich vorweg danach, was an Umgestaltung überhaupt geleistet werden kann. So konnte etwa die Exkulpation von Triebtätern erst diskutabel werden, nachdem es der Medizin gelungen war, Rezepte zu deren Behandlung vorzulegen, und die viel diskutierte Differenzierung der Rechtsprechung nach der Stärke des Triebs oder seiner persönlichkeitszerrüttenden Wirkung einerseits und nach Charaktermängeln, insbesondere Willensschwäche, andererseits, ist nur als juristische Konstruktion zu dem Zweck zu begreifen, die Exkulpation auf den im Prinzip behandelbaren Typ zu begrenzen.“217

c) Die systemfunktionale Theorie zur Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums Einen seiner Theorie der Exkulpationsregeln methodisch und inhaltlich vergleichbaren Standpunkt vertritt Jakobs auch zu der Problematik der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums nach § 17 StGB.218 Seine Position fügt sich bruchlos in den systemfunktionalen Argumentationszusammenhang ein, der speziell zum Verbotsirrtum auch von seinen Schülern Lesch219 und Timpe220 aufgegriffen und weiter zugespitzt wird. Die Regelung des § 17 StGB kommt Jakobs dabei insofern entgegen, als es hier, im Unterschied zu § 16 StGB, nicht alleine darauf ankommt, was zum Zeitpunkt der Tatbegehung vom Bewusstsein des Täters reflektiert wird. Nur das Fehlen des Unrechtsbewusstseins beinhaltet die Feststellung eines psychischen Befundes. Das sich hieran anschließende Urteil über die Vermeidbarkeit des Irrtums begründet demgegenüber eine Entscheidung, die weniger auf der Rekonstruktion psychischer Sachverhalte als vielmehr auf normativen Wertun215

D. h. die Frage, ob dem Täter eine Tat als schuldhaft zugerechnet wird. Jakobs, G.: Schuld und Prävention 1976, S. 17. 217 Jakobs, G.: Schuld und Prävention 1976, S. 11. Ausführliche Darstellung dieses Konzepts ferner in der von Jakobs betreuten Dissertation von Gonzales-Rivero, P.: Strafrechtliche Zurechnung 2001, S. 134 ff., der ausdrücklich von der Zurechnungsfähigkeit als „strafrechtlichem Konstrukt“ spricht. 218 Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, S. 545 ff. (Rn. 6 ff.). 219 Lesch, H. H.: JA 1996, 346 ff.; 504 ff.; 607 ff. 220 Timpe, G.: GA 1984, S. 51 ff. 216

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gen beruht. § 17 StGB ist daher grundsätzlich offen für die Anwendung normativer Kriterien und wird deshalb von Jakobs auch ausdrücklich als progressive gesetzliche Regelung begrüßt.221 Gleichwohl erkennen Literatur222 und Rechtsprechung223 mit erheblichen Unterschieden im Detail auch bei der Bestimmung der Vermeidbarkeit täterbezogene innerpsychische Bezugspunkte an. Fehlt dem Täter bei der Begehung der Tat das Unrechtsbewusstsein, so setzt die Vermeidbarkeit des Irrtums zunächst voraus, dass der Täter überhaupt einen Grund hatte, sich um die zutreffende Kenntnis des Rechts zu bemühen. Während die Rechtsprechung dem Bürger allgemein die Pflicht auferlegt, sich über die Rechtmäßigkeit prinzipiell aller Verhaltensweisen zu vergewissern,224 fordert die Literatur einen konkreten Anlass für die vom Täter zu entfaltenden Bemühungen, Erkenntnisse über die rechtliche Qualität des Verhaltens einzuholen. Dabei lässt ein Teil der Literatur bei der Prüfung des Anlasses zwar die bloße Erkennbarkeit des Unrechts genügen,225 berücksichtigt die Fähigkeiten des Täters aber insoweit, als sie auf die individuellen Möglichkeiten des Täters abstellt.226 Ein anderer Teil des Schrifttums,227 bei dem die personfunktionalen Schutzinteressen des Strafrechts im Vordergrund steht, stellt demgegenüber auf die Wahrnehmung des Anlasses durch den Täter ab: Danach setzt die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums voraus, dass dem Täter bezüglich der Rechtmäßigkeit seines Verhaltens zumindest „leise Zweifel“228 gekommen sind und er einen Verstoß gegen rechtliche Bestimmungen zumindest als möglich angesehen hat. Sofern nach diesen Kriterien im Einzelfall ein Anlass bejaht werden kann, hat der Täter den erkennbaren oder erkannten Bedenken nachzugehen und entweder eigene Überlegungen anzustellen oder sich von anderen rechtskundigen Personen unterrichten zu lassen. Da auch insoweit nicht das Sollen, sondern das Können229 beurteilt wird, ist auch das Ausmaß der Bemühungen aus der Perspektive des Täters zu bestimmen und hängt wesentlich von seinen Erkenntnisfähigkeiten ab. Danach können sich Differenzierungen nach juristischer Vorbildung und nach der – vom Täter erkannten – Vertrauenswürdigkeit des konsultierten Beraters ergeben. 221

Jakobs, G.: GA 1997, 553 ff., 557. LK-Schroeder, § 17, Rn. 28, 29; SK-Rudolphi, § 17, Rn. 31. 223 BGHSt 2, 194, 201 ff. 224 Grundlegend BGHSt 2, 194, 201 ff., 201: Der Mensch hat „bei allem, was er zu tun im Begriffe steht, sich bewusst zu machen, ob es mit den Sätzen des rechtlichen Sollens in Einklang steht“. 225 LK-Schroeder, § 17, Rn. 28, 29; SK-Rudolphi, § 17, Rn. 31; Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 816 (§ 21, Rn. 55). 226 LK-Schroeder, § 17, Rn. 28, 29. 227 Horn, E.: Verbotsirrtum 1969, S. 105; Krümpelmann, J.: Budapest-Beiheft zur ZStW 1978, S. 6 ff., 34 (Anm.: 101); Zaczyk, R.: JuS 1990, 889 ff., 893. 228 Zaczyk, R.: JuS 1990, 889 ff.; Horn, E.: Verbotsirrtum 1969, S. 89 ff. 229 Krümpelmann, J.: Budapest-Beiheft zur ZStW 1978, S. 6 ff., 35. 222

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Nach Jakobs230 und ihm folgend Lesch231 und Timpe232 kommt es bei der Bestimmung der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums auf diese „psychologisierende“ und individualisierende Betrachtung der Fähigkeiten des Täters im Tatzeitpunkt nicht an. Die Abgrenzung zwischen vermeidbaren und unvermeidbaren Verbotsirrtümern soll vielmehr ausschließlich auf der Grundlage systemfunktionaler Interessen erfolgen, für die diese Gesichtspunkte unbeachtlich sind. Ausgangspunkt dieser Theorie der Vermeidbarkeit ist eine Unterscheidung zwischen Verbotsirrtümern über Normen, die zum Kernbereich des Normenbestandes einer Gesellschaft gehören („Grundlagenirrtum“) und Irrtümern in Randbereichen des Strafrechts („Irrtum im verfügbaren Bereich“).233 Im Fall des Grundlagenirrtums ist ein vermeidbarer Verbotsirrtum praktisch ausgeschlossen. Jede zurechnungsfähige Person hat die zentralen Normen des Staates, in dem sie lebt, zu kennen und zu respektieren. Eine Möglichkeit der Entlastung ergibt sich für Jakobs allenfalls bei Personen, die eine „exotische Sozialisation“234 aufweisen, beispielsweise in einem anderen Kulturkreis aufgewachsen sind. Denn ein solcher Täter stellt durch sein Verhalten die Normgeltung nicht ernsthaft in Frage; er gilt den übrigen Gesellschaftsmitgliedern insofern nicht als „Gleicher“, dessen Handlungen eine prinzipiell mögliche Auslegung der sozialen Wirklichkeit erkennen lassen und der deshalb für den Geltungsanspruch der entsprechenden Strafgesetze gefährlich wäre. Während Jakobs (und ihm folgend Lesch und Timpe) noch bei den Grundlagenirrtümern – wenn auch mit einem anderen Begründungsansatz – zu im Wesentlichen mit der personfunktionalen Auffassung übereinstimmenden Resultaten kommen, ergeben sich bei den Irrtümern im „verfügbaren Bereich“ grundlegende Unterschiede, die auf den von den Autoren zugrundegelegten systemfunktionalen Ableitungszusammenhang zurückzuführen sind. Zugespitzt formuliert ist aus systemfunktionalen Gesichtspunkten die Kenntnis des genauen Norminhalts im verfügbaren Bereich nicht nur nicht erforderlich, sondern sogar kontraproduktiv und schädlich. Denn die konkreten Inhalte dieser Normen sind hier im Gegensatz zu Normen des Kernbereichs nicht bereits durch die Grundprinzipien der sozialen Ordnung festgelegt, sondern sie können in einem evolutionären (nicht: revolutionären) Prozess der Reform durch Gesetzgebung geändert werden. Um eine rasche Umgestaltung der sozialen Verhältnisse durch Rechtssetzung und Gesetzesänderungen überhaupt zu gewährleisten, darf sich der Inhalt der Normen daher nicht fest im Kollektivbewusstsein festsetzen. Normgeltung praktizieren bedeutet für Jakobs,235 Timpe236 und Lesch237 daher, im verfügba230 231 232 233 234 235

Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, Lesch, H. H.: JA 1996, 607 ff. Timpe, G.: GA 1984, 51 ff. Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991,

S. 545 ff. (Rn. 6 ff.).

S. 546 (Rn. 11). S. 545 (Rn. 7). S. 546 ff. (Rn. 11 ff.).

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ren Bereich das Recht aufgrund seiner Positivität, das heißt ohne Rücksicht auf seinen konkreten Inhalt zu akzeptieren und zu befolgen. Besonders pointiert kommt dieser Ansatz in einem Aufsatz von Timpe zum Ausdruck: Bei einem Verbotsirrtum im verfügbaren Bereich „stört die Ordnung nicht schon, dass die einzelne Norm durch Unkenntnis in Frage gestellt wird, sondern erst – und das meint auch Jakobs – der Mangel der Bereitschaft, Recht beliebigen Inhalts, das von zuständiger Stelle in ordnungsgemäßem Verfahren gesetzt wurde, auch zu befolgen. Die Norminhalte jedenfalls sind gegenüber dem Faktum der Regelung überhaupt nebensächlich. Beispielhaft: Ob vorgeschrieben ist, rechts zu fahren, oder ob vorgeschrieben ist, links zu fahren, ist gleich; was zählt ist nur das Einheitliche der Regelung. Wo die Norminhalte aber kontingent sind, stellt die Unkenntnis wohl die nicht erkannte Norm in Frage; das allein stört aber die Ordnung solange nicht, wie der Irrende in seinem Verhalten im Umgang mit dem Recht nicht zugleich expressiv macht, dass er die Bereitschaft aufkündigt, Normen beliebigen Inhalts zu befolgen. Der Angriff auf den Geltungsgrund positivierten Rechts ist also das Problem, das durch Zurechnung bei einem Irrtum über änderbares Recht zu lösen ist, und nicht die Garantie der jeweiligen Norminhalte“.238

Die Tragweite dieser systemfunktionalen Auslegung der Regelung des § 17 StGB für eine entsprechende Theorie der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums im „verfügbaren Bereich“ wird von Jakobs einerseits sowie von Timpe und Lesch andererseits unterschiedlich beurteilt. Obwohl Jakobs immer wieder darauf hinweist, dass das Problem der Vermeidbarkeit eine rein normativ zu beantwortende Frage darstellt, vermag er die täterbezogene Perspektive nicht vollständig zu eliminieren. Nach dem Konzept Jakobs kommt ein Ausschluss der Schuld nach § 17 S. 1 StGB trotz eines realiter vorhandenen Defizits „bei den psychischen Bedingungen der Normbefolgung“239 dann nicht in Betracht, wenn „das Strafrecht garantieren soll, dass man mit einem Defizit der vorliegenden Art nicht rechnen muss“.240 Bei diesem systemfunktional begründeten generellen Ausschluss der Vermeidbarkeit bei bestimmten (allerdings nicht näher konkretisierten) Normen macht Jakobs aber insofern eine bedeutsame Ausnahme, als er für die Vermeidbarkeit zusätzlich ein „latentes, aktualisierbares und konkretisierbares Restnormwissen“241 fordert. Mit dieser gewichtigen Korrektur einer rein normativen systemfunktionalen Theorie der Vermeidbarkeit rückt Jakobs zumindest terminologisch in die Nähe der herrschenden Meinung, die einen Anlass für die Vergewisserungsbemühungen des Täters fordert. Dem zeitlich früheren Ansatz von Timpe242 folgend wirft Lesch243 seinem Lehrer in einer neueren Darstellung daher vor, die elastische Regelung des § 17 236 237 238 239 240 241

Timpe, G.: GA 1984, 51 ff. Lesch, H. H.: JA 1996, 346 ff.; 504 ff.; 607 ff. Timpe, G.: GA 1984, 51 ff., 55 (Hervorhebung im Original). Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, S. 558 (Rn. 36). Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, S. 558 (Rn. 36). Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, S. 559 (Rn. 36).

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StGB nicht hinreichend ausgereizt zu haben und selbst noch allzu psychologisierend zu argumentieren. Um die systemfunktionale Deutung des § 17 StGB und seiner Vermeidbarkeitsregel auch bei der Auslegung seiner Voraussetzungen vollständig umzusetzen, fordert er, auf „psychologisierende Elemente“ wie das von Jakobs angenommenen Element des „latenten Restnormwissens“ ganz zu verzichten und die Abgrenzung zwischen vermeidbaren und unvermeidbaren Verbotsirrtümern nur auf der Grundlage normativer Wertungsentscheidungen zu treffen. Irrtümer im verfügbaren Bereich sind danach grundsätzlich dann unvermeidbar, wenn sich die Tat nicht als Angriff auf die Positivität des Rechts als solche versteht. Hierfür kommt es darauf an, ob sich der Irrtum des Täters auf ein anderes Subsystem der Gesellschaft verlagern lässt. In diesem Fall bedarf es der Zuordnung zum Subsystem Täter nicht, um das System selbst (die Identität der Gesellschaft durch Normen) zu stärken, denn die Entstehungsursachen für den Konflikt lassen sich in diesem Fall auf andere Störquellen, sei es des Systems selbst (z. B. Unklarheiten des geltenden Rechts) oder einen anderen Menschen (zum Beispiel eines Rechtsanwalts, der fehlerhaft beraten hat) zurückführen. Die Prüfung der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums baut daher im konkret zu entscheidenden Fall nicht auf der Feststellung von Unrechtszweifeln oder der Erkennbarkeit des Unrechts auf, sondern ist unmittelbar ein normatives Problem des „Zuschneidens von Verantwortungsbereichen“.244 Hierbei kommt es auch nicht darauf an, zu ermitteln, ob dem Täter deshalb keine tadelnswerte Rechtsgesinnung vorgeworfen werden kann, weil er subjektiv in gutem Glauben war und es auch nicht versäumt hat, sich angemessen zu unterrichten, sondern im Vordergrund steht lediglich, in welchem Umfang es sich das System leisten kann, den Konflikt auf andere Personen und Institutionen zu übertragen. Wenn sich z. B. in den Fällen vorheriger Konsultation von Rechtsanwälten245 im Ergebnis Überschneidungen des systemfunktionalen Ansatzes mit der herkömmlichen Auslegung des Vermeidbarkeitskriteriums ergeben, so sind diese rein zufällig. Dies beginnt bereits bei der entscheidenden Weichenstellung zwischen Irrtümern im Grundlagenbereich und Irrtümern im verfügbaren Bereich, die ähnlich wie die Differenzierung des BGH zwischen „echten Kriminalgesetzen“ und „Nebenstrafrecht“246 zwar aus pragmatischen Gründen plausibel, in der von Jakobs und seinen Schülern vertretenen Apodiktik aber problematisch ist. Die Grenze zwischen Straftatbeständen, die dem Kern- oder dem verfügbaren Bereich zugeordnet werden können, sind abgesehen von den Normen, die die Kri-

242

Timpe, G.: GA 1984, 51 ff. Lesch, H. H.: JA 1996, 607 ff., 611. 244 Lesch, H. H.: JA 1996, 607 ff., 611 ff. 245 Vgl. etwa den von Timpe (GA 1984, 51 ff.) analysierten Fall: OLG Hamburg, NJW 1977, 1821 ff. 246 BGHSt 2, 194 ff., 203. 243

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minologie zum so genannten „natürlichen Verbrechensbegriff“247 zählt, fließend und unterliegen darüber hinaus auch historischen Schwankungen. Überdies sind viele Detailfragen, die sich aufgrund der individualisierenden Betrachtung der Vermeidbarkeit aus den Besonderheiten des Einzelfalls ergeben, in dem systemfunktionalen Modell der Vermeidbarkeit ungeklärt. So müssen etwa defizitäre Rechtsauskünfte von Rechtsanwälten oder Rechtskundigen den Täter nach der systemfunktionalen Auffassung prinzipiell entlasten. Auf der Grundlage des individualisierenden Ansatzes ist demgegenüber eine nach dem Horizont des Täters und seinen persönlichen Fähigkeiten und Kenntnissen differenzierende Betrachtung möglich, die alleine auch dem herkömmlich verstandenen Schuldprinzip gerecht wird. 4. Rücktritt vom Versuch a) Versuchsinterne Begründung der Rücktrittsregelungen Ein weiteres Beispiel für den systemfunktionalen Ansatz Jakobs’ ergibt sich aus seinen Ausführungen zur Problematik des Rücktritts vom Versuch.248 Jakobs entwickelt seine Lösung bestimmter Abgrenzungs- (z. B. die Trennung von unbeendetem und beendetem Versuch) und Auslegungsfragen unmittelbar durch einen Rekurs auf den Strafgrund des Versuchs und grenzt sich insoweit von den bisher in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Auffassungen ab, die den Grundgedanken der Regelung des § 24 StGB überwiegend aus dem Gesichtspunkt des Rechtsgüterschutzes ableiten.249 Entsprechende Lehrmeinungen, bei denen die Rücktrittsbestimmungen mit dem Gedanken des Rechtsgüterschutzes legitimiert werden, sind etwa die kriminalpolitische Theorie der goldenen Brücke,250 nach der die Rücktrittsmöglichkeiten des § 24 StGB dazu dienen, durch eine „goldene Brücke zum Rückzug“251 der Vollendung von Straftaten und damit der Verletzung von Rechtsgütern entgegenzuwirken, oder die von der 247 Bock, M.: Kriminologie 2000, S. 13 (Rn. 38); Schwind, H. D.: Kriminologie 2002, S. 4 (§ 1, Rn. 7): insoweit besteht eine gewisse Übereinstimmung mit den bereits von Garofalo als „delicta mala per se“ bezeichneten Handlungen, die zu allen Zeiten und von allen Kulturen als verwerflich eingestuft werden, wie z. B.: Mord, Raub, Vergewaltigung und Diebstahl. 248 Vgl. zur Problematik des Rücktritts vom Versuch Jakobs’ Ausführungen in: JuS 1980, 714 ff.; Strafrecht AT 1991, S. 739–774 (Rn. 1–8); ZStW 104 (1992), 82 ff.; zustimmend und exemplifizierend: Heintschel-Heinegg, B. v.: ZStW 109 (1997), 29 ff., näher zu diesem vgl. Fn. 278. 249 Zu dieser Interpretation der zu den Grundgedanken des Rücktritts vertretenen Theorien Berz, U.: Rechtsgüterschutz 1986, S. 46–52; Wessels/Beulke: Strafrecht AT 2001, S. 204 (§ 14, Rn. 626). 250 Vgl. Puppe, I.: NStZ 1984, 488 ff.; RGSt 73, 53 ff., 60; BGHSt 6, 85 ff., 87. Überblick zu den Vertretern dieser bis in die 50er Jahre herrschenden Theorie bei Ulsenheimer, K.: Grundfragen des Rücktritts 1976, S. 38 ff.

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Rechtsprechung vertretene Ansicht, § 24 StGB honoriere die geringere Gefährlichkeit des Täters und dessen weniger ausgeprägten verbrecherischen Willen.252 Auch die derzeit wohl vorherrschenden Strafzwecktheorien,253 zumindest soweit diese sich auf mehrere Strafzwecke beziehen, lassen sich als Ausprägungen des Rechtsgüterschutzgedankens verstehen. In diesem Sinne hebt etwa Lang-Hinrichsen,254 ein Vertreter dieser Ansicht, ausdrücklich hervor, Grundlage der Straffreiheit des § 24 StGB sei der Wandel von einem zunächst rechtsgutsfeindlichen in einen dann „auf die Verhinderung der Rechtsgutsverletzung“ gerichteten Willen. Für Jakobs sind diese Überlegungen als ein theoretisches Fundament der Rücktrittsregelungen schon deshalb ungeeignet, weil sie durch die Bezugnahme auf den Gedanken des Rechtsgüterschutzes einen an Gütermaximierung und damit an „Polizei“ ausgerichteten „strafrechtsexternen“ Begründungsansatz zugrundelegen255 und damit nicht mit der spezifischen Aufgabe des Strafrechts und dem Unrecht speziell des versuchten Delikts korrespondieren.256 Ausgangspunkt für die eigene „versuchsinterne“257 Lösung von Jakobs, den Rücktritt als eine Subinstitution des Versuchs zu begreifen und die einzelnen Regelungen des § 24 StGB mit dem Strafgrund des Versuchs zu harmonisieren, bildet seine grundsätzliche Ablehnung der Aufgabe des Strafrechts als Rechtsgüterschutz (siehe dazu im Einzelnen oben) sowie seine Auslegung des Handlungsbegriffs und das hierbei entwickelte Verständnis des deliktischen „Erfolges“. Da Jakobs unter „Erfolg“ – wie bereits oben zum Handlungsbegriff dargelegt – jedenfalls nicht durchgängig den Eintritt eines deliktischen Außenwelterfolges im Sinne der Erfolgsdelikte, sondern die Herbeiführung eines Normgeltungsschadens versteht, kann er zwischen Versuch und Vollendung lediglich einen graduellen, nicht aber einen grundsätzlichen Unterschied erkennen.258 251 Übersicht über die theoretischen Grundlagen des Rücktrittsprivilegs unter Dokumentation der wesentlichen Ansätze und ihrer Vertreter bei Ulsenheimer, K.: Grundfragen des Rücktritts 1976, S. 33 ff. 252 In diese Richtung bereits BGHSt 6, 85 ff., 87 (hier finden sich allerdings noch Elemente der „Theorie der goldenen Brücke“); BGHSt 9, 48 ff., 52. 253 Schönke-Schröder-Eser, § 24, Rn. 2 ff.; Jescheck/Weigend: Strafrecht AT 1996, S. 539. 254 Lang-Hinrichsen, D. in: Engisch-FS 1969, S. 353 ff., 371. 255 Jakobs, G.: ZStW 104 (1992), 82 ff., 84. 256 Jakobs, G.: ZStW 104 (1992), 82 ff., 83, 84. 257 Jakobs, G.: ZStW 104 (1992), 82 ff., 83. 258 Ausführlich hierzu Sancinetti, M. A.: Subjektive Unrechtsbegründung 1995, S. 20 ff. Sancinetti, Professor an der Universität Buenos Aires, verbrachte Anfang der 90er Jahre einen Forschungsaufenthalt an dem von Jakobs geleiteten Rechtsphilosophischen Seminar der Universität Bonn. Seine eigene strafrechtstheoretische Grundposition ist die finale Handlungslehre in Gestalt des orthodoxen Finalismus Armin Kaufmanns und seiner Schüler. Von diesem Ausgangspunkt aus untersucht und kritisiert Sancinetti in seiner Monographie „Subjektive Unrechtsbegründung und Rücktritt vom

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Denn ebenso wie das vollendete Delikt führt auch der Versuch im Sinne einer expressiv gemachten Missachtung der Normgeltung zumindest potentiell zu einem Normgeltungsschaden, auf den nach den beschriebenen Mechanismen der positiven Generalprävention mit Strafe reagiert werden muss.259 Bei der Vollendung des Erfolgsdelikts ist der Normbruch lediglich stärker objektiviert und durch das corpus delicti besser sichtbar als beim Versuch. Dennoch ist bereits der Versuch ein „perfekter Normbruch“260 und das Unrecht des versuchten wie des vollendeten Delikts sind identisch. Diese Auffassung, aus der Jakobs für den Rücktritt weitreichende Konsequenzen zieht, kommt bereits deutlich in seinem Lehrbuch zum Ausdruck: „Wie aber das Verbrechen nicht primär Bewirken von Verletzungen an Gütern ist, sondern Verletzung der Normgeltung, so ist der Verbrechensversuch auch nicht primär über eine Gütergefährdung zu erfassen, sondern über die verletzte Normgeltung. Der Strafgrund des Versuchs ist exakt derjenige der Vollendung . . .“261 Versuch“ ausführlich die Rücktrittslehre Jakobs’ und vertritt selbst ein (mit der Auffassung von Jakobs teilweise vereinbares) subjektiv-monistisches Unrechtsverständnis, nach dem die Strafbarkeit auf einer subjektiven Handlungsentscheidung des Täters beruht, die dieser aus seinem Herrschaftsbereich entlassen hat (klarstellend S. 135 ff.) und sich der Eintritt des tatbestandlichen Erfolges lediglich als „Zufall“ darstellt. Zu Sancinetti vgl. die Rezension von Küpper, G.: GA 1998, 307 ff. 259 Die an diese Grundposition anknüpfende Frage nach dem Versuchsbeginn und der Abgrenzung zwischen Vorbereitung und unmittelbarem Ansetzen ist in einer von Jakobs betreuten Dissertation seines Schülers K.-H. Vehling (Vorbereitung und Versuch 1991) näher untersucht worden. In konsequenter Fortsetzung des systemfunktionalen Ansatzes seines Lehrers ist Vehling der Auffassung, dass Unrecht in der Enttäuschung normativer Erwartungen besteht und sich als solches schon vor der Tatbestandsverwirklichung konstruieren (S. 112) lässt. Ob bereits normative Erwartungen enttäuscht sind und daher ein unmittelbares Ansetzen gegeben ist, beurteilt sich danach, „ob das zu bewertende Verhalten das erlaubte Risiko überschritten hat“ (S. 114). Für die Bestimmung des Risikos ist im Wesentlichen die soziale Rolle des Täters maßgeblich. Das erlaubte Risiko ist überschritten, wenn der Täter hinter den Erwartungen, die an seine soziale Rolle geknüpft werden, zurückgeblieben ist und sein Verhalten insgesamt nicht mehr den normativ im gesellschaftlichen Diskurs festgelegten Standards entspricht. Entsprechend dem Konzept von der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit kommt es Vehling (S. 135 ff.) dabei aber nicht auf den subjektiven Sinn des Verhaltens an (d. h. darauf, ob der Täter selbst eine Risikoüberschreitung beabsichtigt oder in Kauf nimmt), sondern es geht ihm um die (allerdings „berechtigte“, S. 137) Interpretation des Verhaltens durch die Normadressaten (Dritte) und deren Eindruck. Bei Vehling mündet diese Betrachtung schließlich in eine Abgrenzungsformel, nach der unmittelbares Ansetzen dann vorliegt, wenn der „Täter durch sein rolleninadäquates Verhalten ein rechtlich missbilligtes Risiko gesetzt hat“ und das Risiko „die intendierte Tatbestandsverwirklichung indiziert“ (S. 141). 260 Jakobs, G.: ZStW 104 (1992), 82 ff., 83; zustimmend aus systemfunktionaler Sicht: Vehling, K.-H.: Vorbereitung und Versuch 1991, S. 123; Heintschel-Heinegg, B. v.: ZStW 109 (1997), 29 ff., 39 (Fn. 44). Noch in den „Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt“ (1972) formuliert Jakobs wesentlich zurückhaltender (S. 120): „Im Versuchsfalle gibt es keinen Erfolg, der nicht auch ohne Normbefolgung vermieden würde“. 261 Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, S. 710 (Rn. 15).

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Besonders pointiert formuliert Jakobs diesen Standpunkt ferner in dem 1992 erschienenen Aufsatz „Rücktritt als Tatänderung versus allgemeines Nachtatverhalten“: „Nach dem hier zugrunde gelegten Konzept lässt sich bei der Vollendung das Unrecht nicht als Gutsverletzung definieren; Unrecht ist der Normbruch, der Sinn des unerlaubt riskanten Verhaltens. Güter gehen allenthalben massenweise dahin – das ist strafrechtlich zumeist ohne Interesse. Das unerlaubt riskante Verhalten ist es, an welches Strafrecht anknüpft, weil die Normen solches Verhalten untersagen. Unerlaubt riskant ist aber auch der Versuch. Und deshalb liegt homogen, bei der Vollendung wie beim Versuch, das spezifisch Strafrechtswidrige in dem jeweils perfekten Normbruch.“262

Durch die systemfunktionale Verfremdung des Erfolgskriteriums und die hierauf aufbauende Egalisierung des Unrechtsgehalts des vollendeten und des versuchten Delikts verwirft Jakobs nicht nur alle bisher von der Strafrechtswissenschaft erarbeiteten Versuche der Bestimmung des Versuchsunrechts,263 sondern es bleibt zumindest auf den ersten Blick auch kein mehr Raum für einen strafbefreienden Rücktritt vom Versuch. Denn „wie soll man, was perfekt in der Welt ist, wieder annullieren können“?264 Jakobs, der im Ergebnis für eine weitgehende Einschränkung der Rücktrittsmöglichkeiten eintritt, sucht die Lösung in einer Abgrenzung von noch „abänderbaren Taten“ und bloßem „Nachtatverhalten“ und sieht eine Möglichkeit für den Rücktritt ausschließlich in den erstgenannten Fällen noch abänderbarer Tathandlungen.265 Eine abänderbare Tat liegt nach seiner Auffassung nur dann vor, wenn der Täter von seinem Verhalten noch nicht „getrennt“ ist. Dies ist aber schon dann der Fall, wenn der Täter bereits eine Möglichkeit verloren hat, die von ihm gestaltete Welt zu beeinflussen. Der Einflussverlust auf das in der Vergangenheit liegende Geschehen bedeutet nach Jakobs einen vollendeten Sinnausdruck des Täters, der zu erkennen gibt, dass die Norm für ihn in der fraglichen Situation nicht leitende Maxime des Handelns gewesen ist. Die Norm ist irreversibel verletzt und ein nachträgliches Verhalten führt allenfalls zu einem insgesamt zweideutigen Sinnausdruck, so dass im Gesamtverhalten des Täters „eine gerade Linie“ „nicht mehr zu erkennen“ ist. Ebenso wie anderes Nachtatverhalten

262

Jakobs, G.: ZStW 104 (1992), 82 ff., 83. Überblick zu den zum Unrecht des versuchten Delikts vertretenen Lehrmeinungen bei Zaczyk, R.: Das Unrecht der versuchten Tat 1989, S. 20–125 sowie bei Vehling, K.-H.: Vorbereitung und Versuch 1991, S. 52–75, der den Gegensatz der „normativen Versuchslehre“ Jakobs zu den anderen in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Positionen ebenfalls hervorhebt und selbst die Auffassung vertritt, Jakobs habe die Versuchslehre „vom Kopf auf die Füße“ (S. 81) gestellt. 264 Jakobs, G.: ZStW 104 (1992), 82 ff., 83. 265 Jakobs, G.: ZStW 104 (1992), 82 ff., 85 ff. (Hervorhebung im Original); zustimmend Heintschel-Heinegg, B. v.: ZStW 109 (1997), 29 ff., 47 ff. 263

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können diese Versuche der Restitution aber nicht die Vergangenheit umgestalten und den Täter wirksam von seinem früheren Verhalten distanzieren: „Nur die Gegenwart lässt sich verändern; die Vergangenheit lässt sich nicht zurückrufen. Nur wo die Gestalt eines einzigen Verhaltens, das in der Vergangenheit begann, in der Gegenwart noch korrigiert werden kann, ist vorbehaltlos strafbefreiender Rücktritt möglich. . . . Der Gegensatz, um den es geht, lautet also: Tatänderung versus allgemeines Nachtatverhalten.“266

b) Konsequenzen für den Rücktritt aa) Die Abgrenzung zwischen unbeendetem und beendetem Versuch Wesentliche Schlussfolgerungen aus seiner versuchsinternen Begründung der Rücktrittsregelungen zieht Jakobs zunächst im Rahmen der Abgrenzung zwischen beendetem und unbeendetem Versuch. Innerhalb des insoweit in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Meinungsspektrums zu dieser nach wie vor streitigen Problematik, das durch die Pole einer rücktrittsfeindlichen Einzelaktstheorie267 einerseits und der rücktrittsfreundlichen Lehre von der Gesamtbetrachtung268 andererseits markiert wird, führt Jakobs’ Grundauffassung nahezu zwangsläufig zu der zuerst genannten Auffassung, der er sich auch ausdrücklich anschließt. Die Einzelaktstheorie, die in eine radikale269 und eine elastischere270 Variante zerfällt, bewertet zunächst einheitlich jeden aus Sicht des Täters er266

Jakobs, G.: ZStW 104 (1992), 82 ff., 88. Ulsenheimer, K.: Grundfragen des Rücktritts 1976, S. 215 (mit Nachweisen zum älteren Schrifttum); Herzberg, R. D. in: Blau-FS 1985, S. 97 ff.; Freund, G.: Strafrecht AT 1998, S. 292 ff. (dazu ausführlich unten Kapitel 4); Schönke-Schröder-Eser, § 24 Rn. 21; Bergmann, M.: ZStW 100 (1988), 329 ff.; Burkhardt, B.: Der Rücktritt 1975, S. 91 ff. 268 So die Rechtsprechung des BGH. Aufschlussreich sind vor allem die nach der Rechtsprechungsänderung (seit BGHSt 31, 170 ff.) von der „Tatplanperspektive“ zum „Rücktrittshorizont“ veröffentlichten Entscheidungen. Vgl. etwa die Fallgestaltung in BGHSt 34, 53 ff.: Der Angeklagte hatte seinen „Nebenbuhler“ in Tötungsabsicht mit dem Kraftfahrzeug überfahren wollen, ihn aber lediglich gestreift. Sodann stürzte er sich auf ihn, begann ihn zu würgen, bis dem Opfer schwarz vor Augen wurde. Schließlich ließ der Täter dann aber von seinem Opfer ab. Der BGH (4. Senat) hob die Verurteilung des Täters wegen versuchten Totschlags auf, weil im Falle eines noch festzustellenden freiwilligen Verzichts auf eine Fortsetzung des Tötungsversuchs (etwa durch weiteres Würgen) ein Rücktritt vom Versuch gegeben sein kann. Dieser Rücktritt erfasst nach Auffassung des BGH auch die vorausgegangenen Handlungsabschnitte und befreit folglich selbst von der Haftung für den Versuch, das Opfer zu überfahren (S. 58). Weitere Fallgestaltungen bei Heintschel-Heinegg, B. v.: ZStW 109 (1997), 29 ff., der in Anlehnung an Jakobs selbst die Einzelaktstheorie vertritt. Aus dem Schrifttum vgl.: Roxin, C.: JR 1986, 424 ff., 425; Puppe, I.: NStZ 1986, 14 ff.; Rengier, R.: JZ 1986, 964 ff.; Wessels/Beulke: Strafrecht AT 2001, S. 206 (§ 14, Rn. 629); Jescheck/Weigend: Strafrecht AT 1996, S. 542; Lackner/Kühl, § 24 StGB 2001, Rn. 6. 269 Die radikale Variante der Einzelaktstheorie wird außer von Jakobs [ZStW 104 (1992), 82 ff.] und seinem Schüler von Heintschel-Heinegg [ZStW 109 (1997), 29 ff.] 267

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folgsgeeigneten Einzelakt eines insgesamt mehraktigen Geschehensablaufs als einen selbstständigen Teilakt und damit als einen beendeten Versuch, von dem ein Rücktritt entweder überhaupt ausgeschlossen (radikale Variante der Einzelaktstheorie) oder aber (elastische Variante der Einzelaktstheorie) nur durch Vollendungsverhinderung bzw. hierauf gerichtete ernsthafte und freiwillige Bemühungen möglich sein soll (§ 24 Abs. 1 S. 1 2. Alt.; S. 2 StGB). Hat der Täter, wie etwa im von Jakobs271 rezensierten Bierkrugfall des BGH,272 seinem Opfer zunächst mit bedingtem Tötungsvorsatz „mit aller Kraft, derer er fähig war“, gegen den Kopf geschlagen, ihm dann, nachdem das Opfer „weggetaumelt“ war, mit dem Krug gegen den Nacken geschlagen und ihm schließlich den Krug (unter Hervorrufung von insgesamt schwersten Kopfverletzungen) gegen die Stirn geworfen, so liegt nach der Einzelaktstheorie bereits nach dem ersten Schlag auf die Stirn ein beendeter Versuch vor, von dem allenfalls (elastische Einzelaktstheorie) durch Vollendungsverhinderung oder hierauf gerichtete ernsthafte und freiwillige Bemühungen zurückgetreten werden kann.273 Nach Jakobs274 harmoniert alleine diese Bewertung des Geschehens mit der versuchsinternen Begründung der Rücktrittsbestimmungen. Denn bereits mit dem ersten Schlag verwirklicht der Täter ein nicht mehr revertierbares Risiko der Tatbestandsverwirklichung und indem er insoweit auf einen weiteren Einfluss auf das Geschehen verzichtet, verbindet er mit dem ersten Teilakt zugleich den mit einem strafbefreienden Rücktritt nicht mehr vereinbaren Sinnausdruck einer vollständigen Missachtung der Norm. Das spätere Verhalten des Täters (dieser hatte nach Abschluss der letzten Tathandlung zunächst den Tatort verlassen, war dann aber nach ca. 30 Minuten zurückgekehrt und ergab sich schließlich der schon am Tatort ermittelnden Polizei) stellt sich demgegenüber grundsätzlich, das heißt unabhängig von der Art der entfalteten Bemühungen des Täters um das Opfer, als ein Nachtatverhalten dar, das nach den obenstehenden Ausführungen nicht geeignet ist, den vollendeten Sinnausdruck der Missachtung der Normgeltung zu relativieren und einen Rücktritt zu begründen. Nach dieser Auffassung bleibt Raum für die Annahme eines unbeendeten Versuchs lediglich in den Fallkonstellationen, bei denen die Schwelle des un-

beispielsweise vertreten von Burkhardt, B.: Rücktritt 1975, S. 90 ff.; Freund, G.: Strafrecht AT 1998, S. 307; Bergmann, M.: ZStW 100 (1988), 329 ff., 345. 270 Diese Variante der Einzelaktstheorie, vertreten von Herzberg, R. D. in: Blau-FS 1985, S. 97 ff.; ders.: NJW 1986, 2466 ff.; Schönke-Schröder-Eser, § 24, Rn. 18 ff., wird im Schrifttum auch „modifizierte Einzelaktstheorie“ (Roxin, C.: JR 1986, 424 ff., 425) oder „Gesamtbetrachtung in der Einzelaktstheorie“ (Herzberg, R. D.: NJW 1986, 2466 ff., 2469) genannt. 271 Jakobs, G.: JuS 1980, 714 ff. 272 BGH NJW 1980, 195 ff. 273 Vgl. die in Fn. 269 und 270 genannten Autoren. 274 Jakobs, G.: JuS 1980, 714 ff., 716.

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mittelbaren Ansetzens kaum überschritten ist. Es handelt sich um Sachverhalte, in denen der Täter durch sein Verhalten im Hinblick auf den Sinnausdruck der Missachtung der Normgeltung nur eine vorläufige Stellungnahme abgegeben hat. Die Frage, ob er die Norm missachten wird, kann daher noch nicht vollständig beurteilt werden und hängt von dem Fortgang des Geschehens ab: „Beim unbeendeten Versuch ist per definitionem nicht alles an der Gestalt des Verhaltens abgeschlossen; immer verweist etwas auf die Fortsetzung des vorhandenen Rudiments in der Zukunft. Beispielhaft gesprochen: Wer eine fremde Sache in die Hand nimmt und beginnt, sie einzustecken oder auf den Boden zu schleudern, hat allein durch das Ergreifen nur etwas offenbar Vorläufiges bewerkstelligt, das zukünftig durch vollendetes Einstecken oder vollendetes Zerstören zu Ende gebracht werden muss, und wenn diese Fortsetzung ausbleibt, obgleich sich der Kontext für den Täter nicht geändert hat, wird das Verhalten in sich sinnlos, jedenfalls verliert es die Ausrichtung auf die Verletzung fremden Eigentums.“275

bb) Rücktritt vom beendeten Versuch Das Bekenntnis Jakobs’ zur Einzelaktstheorie führt zunächst dazu, dass vor allem in den praxisrelevanten Fällen des mehraktigen Geschehens grundsätzlich ein Rücktritt durch bloßes Aufgeben der weiteren Tatbegehung ausgeschlossen ist. Während allerdings die elastische Variante der Einzelaktstheorie in den insoweit relevanten Fallgestaltungen (vgl. etwa den Bierkrugfall) zumindest dann einen strafbefreienden Rücktritt annimmt, wenn der Täter sein Opfer rettet oder sich im Fall des § 24 Abs. 1 S. 2 StGB zumindest freiwillig und ernsthaft um eine Rettung des Opfers bemüht, verneint Jakobs276 hier in Übereinstimmung mit den Vertretern der radikalen Spielart dieser Lehrmeinung grundsätzlich jede Rücktrittsmöglichkeit. Zur Begründung277 verweist er auf die Figur des fehlgeschlagenen Versuchs und auf Wertungswidersprüche, die sich auf der Grundlage der von ihm abgelehnten Abgrenzungslehren ergeben und die sich nach seiner Auffassung nur durch eine restriktive Handhabung der Rücktrittsbestimmungen vermeiden lassen: Jeder Teilakt, der nicht zum Eintritt des tatbestandlichen Erfolges geführt hat, stellt sich nach Jakobs als ein abgeschlossener fehlgeschlagener Versuch dar, der einen insgesamt nicht revertierbaren Sinnausdruck der Missachtung der Normgeltung ausdrückt. Rettungsversuche führen – ebenso wie tätige Reue nach vollendetem Delikt – daher nur zu dem oben beschriebenen zweideutigen Sinnausdruck, der die Vergangenheit des vollendeten Normbruchs aber nicht mehr auszulöschen vermag.278

275 276 277

Jakobs, G.: ZStW 104 (1992), 82 ff., 98. Jakobs, G.: ZStW 104 (1992), 82 ff., 98. Jakobs, G.: ZStW 104 (1992), 82 ff., 89, 97 ff.

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Die Wertungswidersprüche, in die sich die rücktrittsfreundlicheren Lehren nach Auffassung von Jakobs verstricken,279 resultieren aus der von diesen Lehrmeinungen implizit angenommenen, strafrechtlich allerdings nicht zu rechtfertigenden Maxime „Ende gut, alles gut“.280 Der Nichteintritt des tatbestandlichen Erfolges (gutes Ende), der auf der Grundlage der genannten Theorien durch die Einräumung von Rücktrittsmöglichkeiten prämiert wird, beruht jedenfalls dann auf Zufall, wenn der Täter bereits durch einen Teilakt (vgl. den Bierkrugfall) das Geschehen aus der Hand gegeben hat. Schon insoweit ist nicht ersichtlich, warum ein Nachtatverhalten im Fall des Erfolgseintritts (außer auf der Strafzumessungsebene) bedeutungslos, im Fall des zufälligen Ausbleibens hingegen unmittelbar relevant (Ende gut alles gut) sein soll. Im übrigen sieht Jakobs Wertungsdifferenzen der Gesamtbetrachtungslehre auch im Vergleich zur strafrechtlichen Haftung wegen Unterlassens,281 denn soweit der Täter bereits (wie im Bierkrugfall) eine Verletzung herbeigeführt hat, haftet er aus Ingerenz für die Abwendung des Erfolges und muss, um diese Haftung abzuwenden, mehr leisten, als nur eine weitere Gefährdung des Opfers unterlassen – so Jakobs. Wenn danach in wesentlichen Fallkonstellationen trotz einer Verhinderung des Erfolgseintritts durch den Täter kein Rücktritt in Betracht kommt, beschränkt sich der Anwendungsbereich des § 24 StGB im Fall des beendeten Versuchs auf Sachverhalte, in denen der Täter einerseits bereits einen Teilakt zur Erfolgsverwirklichung vollzogen hat (nur dann liegt ein beendeter Versuch vor), er den Verlauf zur Tatbestandsverwirklichung andererseits aber noch sicher und planmäßig umkehren kann: 278 In dem sich der Auffassung Jakobs anschließenden Beitrag seines Schülers von Heintschel-Heinegg wird diese Konsequenz der radikalen Einzelaktstheorie in aller Deutlichkeit ausgesprochen und mit einem an Jakobs orientierten systemfunktionalen Verständnis der Rücktrittsvorschriften begründet: „Das Sicherstellen der lebensrettenden Operation stellt sich als Nachtatverhalten dar, dem im Rahmen der Strafzumessung erhebliches Gewicht zukommt, das aber nicht zur Strafbefreiung vom Tötungsversuch führt.“ Bei von Heintschel-Heinegg mündet diese Schlussfolgerung in einer Kritik an der starren Rechtsfolge des § 24 StGB, die zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen zu der empfohlenen restriktiven Handhabung nötigt: „Selbstverständlich ist die lebensrettende Maßnahme des Täters in hohem Maße verdienstvoll, und es besteht auch ein kriminalpolitisches Interesse daran. Aber diese Gesichtspunkte alleine können die Strafbefreiung vom Tötungsversuch nicht begründen, weil anderenfalls nicht erklärt werden kann, wieso der Täter bei einem Tötungsversuch mit Verletzungsfolgen (qualifizierter Versuch) dennoch für die vollendete gefährliche Körperverletzung haftet. Wen das Ergebnis gleichwohl nicht befriedigt, sollte, bevor Zweifel an der Rücktrittsdogmatik angemeldet werden, zunächst einmal das Alles-oder Nichts-Prinzip des § 24 StGB auf den Prüfstand stellen“. 279 Jakobs, G.: ZStW 104 (1992), 82 ff., 97 ff. 280 Jakobs, G.: ZStW 104 (1992), 82 ff., 95; aufgegriffen und veranschaulicht von Heintschel-Heinegg, B. v.: ZStW 109 (1997), 29 ff., 44; Sancinetti, M. A.: Subjektive Unrechtsbegründung 1995, S. 87 ff.; kritisch zu dem „Alles-oder-Nichts-Prinzip“ auch Puppe, I.: NStZ 1984, 488 ff., 489. 281 Jakobs, G.: ZStW 104 (1992), 82 ff., 96 f.

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„Er tritt zurück, wenn er diese Reversionsmöglichkeit voll gebraucht oder dazu ansetzt. Mit anderen Worten heißt das: Zurücktreten kann der Täter nur in denjenigen Fällen des beendeten Versuchs, in denen der Verlauf von der Gefahrschaffung hin zur Gefahrrealisierung noch gewiss von seinem Verhalten abhängig ist.“282

Infolge der geringen Schnittmenge des (in der weiten Auslegung von Jakobs) zwar beendeten, aber dennoch umkehrbaren Versuchs kommt es zu einer drastischen Reduktion des Anwendungsbereichs des § 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 und S. 2 StGB, der kaum Raum für den strafbefreienden Rücktritt durch Vollendungsverhinderung lässt. Jakobs’ Schüler von Heintschel-Heinegg,283 der seinen Lehrer gegen den Einwand Sancinettis284 verteidigt, Jakobs’ Lösung führe im Fall des beendeten Versuchs zu einem vollständigen Ausschluss der Rücktrittsmöglichkeiten, bezieht sich insoweit auf den Lehrbuchfall eines „im Magenauspumpen versierten Arztes“, der dem Opfer in seiner Praxis in einem Getränk Gift verabreicht, dessen tödliche Wirkung aber durch alsbaldiges Magenauspumpen wieder zu beseitigen vermag.285 cc) Rücktritt vom unbeendeten Versuch Bezüglich der Fallgruppe des unbeendeten Versuchs, dessen Anwendungsbereich durch die radikale Einzelaktstheorie bereits wesentlich reduziert wird, legt Jakobs ebenfalls die grundsätzliche Differenzierung zwischen Nachtatverhalten und Tatänderung zugrunde.286 Ein Nachtatverhalten, das einen strafbefreienden Rücktritt ausschließt, ist zunächst dann anzunehmen, wenn ein fehlgeschlagener unbeendeter Versuch vorliegt. Hierbei handelt es sich um Fallgruppen des unbeendeten Versuchs, bei denen eine Rücktrittsmöglichkeit auch nach anderen in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Ansichten, sei es mangels Freiwilligkeit des Rücktritts,287 sei es unter Bezug auf die Figur des fehlgeschlagenen 282

Jakobs, G.: ZStW 104 (1992), 82 ff., 93. Heintschel-Heinegg, B. v.: ZStW 109 (1997), 29 ff., 50. 284 Sancinetti, M. A.: Subjektive Unrechtsbegründung 1995, S. IX, 69. 285 Heintschel-Heinegg, B. v.: ZStW 109 (1997), 29 ff., 50. 286 Jakobs, G.: ZStW 104 (1992), 82 ff., 98 ff. 287 Vgl. etwa die Entscheidung des BGH NStZ 1994, 428 f. [Zusammenfassung des Sachverhaltes nach Jäger, C.: ZStW 112 (2000), 783 ff., 792]: Der Angeklagte war im Begriff, in Tötungsabsicht auf seine Frau einzustechen, als plötzlich seine beiden Söhne, die von dem vorausgegangenen Kampfgeschehen wach geworden waren, das Zimmer betraten. Der Angeklagte ließ daraufhin, da er seine Tat vor den Augen seiner Kinder nicht mehr fortsetzen wollte und dies auch weder emotional noch psychisch konnte, von seiner Ehefrau ab und warf eine Decke über das blutend am Boden liegende Opfer, damit die Kinder seine schlimme Tat an der Mutter nicht erkennen sollten. Sodann drängte er seine Kinder, die in panische Angst gerieten und nach ihrer Mutter schrieen, in den Flur. Kurz darauf erschien der Bruder des Angeklagten, so dass auch im weiteren Verlauf eine Fortsetzung der Tat nicht mehr möglich war. Nach der (auch vom BGH zugrunde gelegten, in der zitierten Entscheidung aber nicht näher 283

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Versuchs288 ausgeschlossen ist, weil das Handlungsziel für den Täter unerreichbar geworden ist. Eine solche Konstellation ist etwa dann anzunehmen, wenn der Täter den Tatbestand (z. B. durch Verlust oder Untauglichkeit des Tatmittels)289 überhaupt nicht mehr erfüllen kann oder das anvisierte Tatobjekt nicht mehr zur Verfügung steht. Eine erhebliche Ausweitung erfährt die Figur des fehlgeschlagenen unbeendeten Versuchs bei Jakobs aber weiterhin dadurch, dass er im Unterschied zu den oben genannten Ansichten die Grundposition der radikalen Einzelaktstheorie auch auf diese Fallgestaltungen überträgt und auch dann, wenn dem Täter eine Fortsetzung des Versuchs mit anderen präsenten Mitteln möglich ist, einen Rücktritt durch bloße Aufgabe der weiteren Tatausführung ausschließt.290 Jakobs differenziert in diesen Fallgruppen zwischen rücktrittsfähigen reparablen und rücktrittsausschließenden irreparablen Fehlschlägen. Ein irreparabler Fehlschlag liegt – parallel zu seiner Lösung beim beendeten Versuch – dann vor, wenn sich bereits ein einzelnes Risiko der Tatbestandsverwirklichung erledigt hat. Jakobs erläutert diese Fallgruppe anhand des Beispiels eines Täters, der beabsichtigt, seinem Opfer ein Gefäß mit Säure entgegenzuschleudern, wobei er das Opfer sowohl durch die Säure als auch durch das Gefäß selbst verletzen will.291 Verschüttet er beim Ausholen die Säure und nimmt sodann von dem Wurf Abstand, kann er hinsichtlich des Verletzungsversuchs mit der Säure nicht zurücktreten: „Es mag sein, dass der Wurf immer noch mit einer reduzierten Wahrscheinlichkeit eine Verletzung des insgesamt erwarteten Ausmaßes hätte bringen können – aber auch wenn der Täter auf eine Tat mit einem solchen Risiko verzichtet, besagt dies nichts über einen Verzicht auf das Risiko, das speziell die Säure bot; denn über dieses Risiko kann der Täter nicht mehr disponieren, weil es erledigt ist. Es handelt sich also um eine Tataufgabe, was die Verletzung mittels des Gefäßes angeht, und um einen Fehlschlag des Versuchs der Verletzung mittels Säure.“292

Ein reparabler Fehlschlag, der nach Auffassung von Jakobs alleine eine Rücktrittsmöglichkeit eröffnet, liegt dann vor, wenn sich die vom Täter „verexplizierten) Gesamtbetrachtungslehre liegt ein unbeendeter Versuch vor, von dem der Täter nach Auffassung des BGH mangels Freiwilligkeit nicht mehr zurücktreten konnte (kritisch zu dem psychologisierenden Freiwilligkeitsbegriff des BGH aber Jäger, C.: ZStW 112 (2000), 783 ff., 793 ff.). Nach der auch bei einem unbeendeten Versuch mit der Figur des Fehlschlags operierenden Meinung (vgl. dazu die Nachweise unten Fn. 288) liegt ein fehlgeschlagener Versuch vor, auf die Problematik der Freiwilligkeit kommt es nicht an. 288 Jescheck/Weigend: Strafrecht AT 1996, S. 544 m. w. N. 289 So zum Beispiel des Bierkrugfalles, sofern der Täter mit dem Krug zum Schlag ausholt, er ihm dabei allerdings aus der Hand gleitet dadurch eine Fortsetzung der Tat unmöglich wird. 290 Jakobs, G.: ZStW 104 (1992), 82 ff., 98 ff. 291 Jakobs, G.: ZStW 104 (1992), 82 ff., 99 (Hervorhebung im Original). 292 Jakobs, G.: ZStW 104 (1992), 82 ff., 99.

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Kap. 3: Funktionalismus bei Günther Jakobs

walteten“ Risiken durch einen Teilfehlschlag nicht signifikant verringert haben, sondern es lediglich zu einer Verlagerung der Risiken gekommen ist. „Risikoverlagerung: Um einen Fehlschlag handelt es sich freilich nur, wenn der Täter nach der Risikoerledigung weniger Risiken verwaltet als zuvor. Die Gesamtmenge bleibt . . . immer dann unverändert, wenn der Täter (1) Äquivalente für das erledigte Risiko in der Hand hat oder (2) gerade durch die Erledigung in die Hand bekommt. Beispiele: (1) Der Dieb könnte gewiss durch ein Fenster klettern; aus Bequemlichkeit rüttelt er zunächst an der Tür, die sich als verschlossen erweist. – kein Fehlschlag; (2) Zwei Mittäter erwarten Rücken an Rücken, das Opfer in einem schmalen, langen Gang; das Opfer kommt ins Visier des ersten der beiden – kein Fehlschlag . . . In solchen Fällen ist nichts gescheitert: Der Täter behält seine volle Definitionsmacht.“293, 294

Damit verengen sich die Fälle des möglichen Rücktritts vom unbeendeten Versuch auf Fallgestaltungen, bei denen der Täter entweder kaum über die Schwelle des unmittelbaren Ansetzen hinaus gelangt ist, noch kein auch nur partieller Fehlschlag vorliegt und er dennoch von der Tatbegehung Abstand nimmt, oder in der Fallgruppe der Risikoverlagerung, wenn er ohne Einflussverlust auf das weitere Geschehen von Tat absieht. Im Ergebnis der hier nur skizzenhaft und zur Veranschaulichung des systemfunktionalen Ansatzes ohne Problematisierung weiterer Einzelfragen wiedergegebenen, von Heintschel-Heinegg so genannten „Tatänderungstheorie“295 kommt Jakobs zu einer drastischen Reduktion der Rücktrittsmöglichkeiten, die der Autor im Wesentlichen mit einer systemfunktionalen Begründung des Versuchsunrechts legitimiert. Da auch der Versuch einen Normgeltungsschaden herbeiführt und insoweit einen perfekten Normbruch darstellt, kann der Täter nur dann in den Genuss der Privilegien des § 24 StGB kommen, wenn er auch diese Folgen seines Handelns annullieren kann. In Übereinstimmung mit diesem systemfunktionalen Begründungsansatz, in dessen Mittelpunkt das Anliegen der Vermeidung von Wertungswidersprüchen zu seiner Ausgangsprämisse vom Wesen des Versuchsunrechts steht, entwickelt Jakobs seine Lösungsvorschläge zu einzelnen Problemstellungen nicht anhand des Gesetzes, sondern er überprüft lediglich im Nachhinein, ob die Lösung mit dem Gesetzeswortlaut verträglich ist. Ähnlich wie anhand seiner Vorsatzdogmatik demonstriert, plädiert Jakobs’ de lege ferenda daher auch für eine Umgestaltung der Rücktrittsvorschriften und tritt bei einer grundsätzlichen Kritik der starren „Alles oder Nichts Regel“ des § 24 StGB

293

Jakobs, G.: ZStW 104 (1992), 82 ff., 101. Heintschel-Heinegg, B. v. [ZStW 109 (1997), 29 ff., 55 ff.] veranschaulicht die Fallgruppe des reparablen Fehlschlags bei Risikoverlagerung anhand des Beispiels eines „Tresorknackers“ der mit einem Schweißbrenner ausgestattet zunächst vergeblich prüft, ob der Tresor nicht vielleicht unverschlossen ist und der, nachdem er feststellt, dass dies nicht der Fall ist, davon doch absieht den Schweißbrenner einzusetzen. 295 Heintschel-Heinegg, B. v.: ZStW 109 (1997), 29 ff., 57. 294

III. Strafrechtsdogmatische Schlussfolgerungen

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insofern (ebenso wie im Rahmen seiner Kritik des § 16 StGB) für eine flexiblere Lösung der Rücktrittsproblematik durch den Gesetzgeber ein.296 c) Kritik aus personfunktionaler Sicht Versucht man die Konsequenzen der Auffassung von Jakobs durch einen Vergleich mit einem personfunktionalen Gegenstandpunkt zum Versuchsunrecht zu ermitteln, so werden zwei Besonderheiten augenfällig, die Jakobs Lösung zum Rücktritt von den (in diesem Kapitel) unter III., 1.–3. analysierten Problemstellungen unterscheiden. (1) Anders als bei den bisher besprochenen dogmatischen Einzelfragen ist Jakobs’ systemfunktionale Bestimmung des Versuchsunrechts nur graduell, aber nicht grundsätzlich von dem derzeit vorherrschenden Standpunkt entfernt. Nach der Eindruckstheorie, die von Roxin297 bereits im Jahre 1979 als „ganz herrschende“ Meinung bezeichnet wurde, erklärt sich die Strafbarkeit des Versuchs „aus dem rechtserschütternden Eindruck, den die Betätigung des verbrecherischen Willens in der Allgemeinheit hinterlässt“.298 Dieser Vermittlungsversuch zwischen objektiver und subjektiver Versuchstheorie299 argumentiert im Kern ebenfalls systemfunktional unter Bezug auf die Theorie der positiven Generalprävention. Denn mit dem für diesen Ansatz maßgeblichen Kriterium des „Eindrucks“ wird das Unrecht der versuchten Tat nicht mehr zentral auf die Person des Täters und das von ihm konkret verwirklichte Delikt bezogen.300 Anknüpfungspunkt ist vielmehr lediglich eine vom Täter hervorgerufene allgemeine Störung des „Systems“, dessen „Rechtsfrieden“ beeinträchtigt wurde und durch die Strafe wieder hergestellt werden soll.301

296 Entsprechende Vorschläge de lege ferenda werden allerdings z. B. auch von Burkhardt, B.: Rücktritt 1975, S. 195 ff. sowie von Bergmann, M.: ZStW 100 (1988), 329 ff., 353 geäußert. 297 Roxin, C.: JuS 1979, 1 ff., 1. 298 Schönke-Schröder-Eser, vor § 22, Rn. 17. 299 Roxin, C.: JuS 1979, 1 ff., 1. 300 So auch die Kritik von Zaczyk, R.: Das Unrecht der versuchten Tat 1989, S. 23. 301 Vgl.: Zaczyk, R.: Das Unrecht der versuchten Tat 1989, S. 28 ff. Nach Zaczyk ist der Siegeszug der Eindruckstheorie (S. 28 ff.) darauf zurückzuführen, dass sich die an der Systemtheorie Luhmanns orientierte Strafrechtsdogmatik bei der Lösung strafrechtlicher Grundlagenfragen zu einer „zunehmend bestimmenden Sicht“ (S. 28) entwickelt hat. Insoweit rekurriert auch er auf Jakobs (S. 32 ff.), den er als einen der Protagonisten des systemtheoretischen Ansatzes in der Strafrechtswissenschaft ansieht. Zaczyk steht diesem Konzept selbst kritisch gegenüber: „Dem Konzept liegt . . . die Einschätzung zugrunde, dass durch die Einhaltung von Normen das soziale Leben gleichsam ,glatter‘ verläuft. Diese inhaltsleere Beschreibung könnte in einem totalitären Staat ideal erfüllt sein. Die Subjektivität des Einzelnen ist als Richtpunkt der Norm aufgegeben; der Täter wird der Gesellschaft untergeordnet und für ihm gegenüber heteronome Zwecke verwendet“ (S. 33, 34).

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Kap. 3: Funktionalismus bei Günther Jakobs

In der Eindruckstheorie und der hierdurch fundierten Rücktrittslehre kann daher kein der Auffassung Jakobs’ entgegengesetzter personfunktionaler Gegenstandpunkt erblickt werden. (2) Im Unterschied zu den bisher untersuchten einzelnen dogmatischen Problemstellungen, bei denen sich die Auswirkungen des systemfunktionalen Ansatzes Jakobs bis in die Lösung von Einzelproblemen nachweisen und klar mit einer personfunktional argumentierenden Lehre kontrastieren ließen, ergibt der Vergleich mit der Jakobs entgegengesetzten Position zum Unrecht des Versuchs vor allem hinsichtlich der Grundannahme Jakobs’ vom Versuch als einem perfekten Normbruch im Ergebnis eine wesentliche Übereinstimmung der in ihrer Argumentation völlig von einander verschiedenen Ansätze. Innerhalb des Spektrums der insoweit vertretenen Auffassungen ist es vor allem die subjektive Versuchstheorie,302 die den Gegenstandpunkt zu der Lehre von Jakobs verkörpert und die bei der Bestimmung des Unrechts des Versuchs in Abweichung von Jakobs (und der Eindruckstheorie) nicht auf die Interessen des Systems abstellt, sondern ausschließlich auf die Person des Straftäters und seine Willensentschließung Bezug nimmt. Folglich sieht die subjektive Theorie den Strafgrund des Versuchs im betätigten rechtsfeindlichen Willen, und der beendete Versuch stellt geradezu den Prototyp vollständig verwirklichten Unrechts dar.303 Eine extreme Subjektivierung des Unrechtsbegriffs, auf deren Grundlage sich die Annahme, auch der Versuch sei ein perfekter Normbruch, ebenso leicht begründen lässt wie anhand des systemfunktionalen Argumentationsansatzes, findet sich nicht nur in den Forderungen des mit dem geltenden StGB unvereinbaren nationalsozialistischen Willensstrafrechts,304 sondern auch in der radikalen Spielart der personalen Unrechtslehre des Finalismus Armin Kaufmanns,305 die wie bereits eingangs dieser Arbeit dargestellt, als einer der Hauptgegner des Funktionalismus bezeichnet werden kann. Armin Kaufmann leitet aus dem personalen Unrechtsbegriff ab, dass sich das Unrecht lediglich bis zum beendeten Versuch erstreckt und der Erfolg damit nicht Teil des Unrechts ist, sondern eine objektive Bedingung der Strafbarkeit verkörpert. Es bestehe kein Unterschied „zwischen dem Fall, dass das Geschoss trifft, und dem, dass es vorbeipfeift“.306 Daher müssen nach Auffassung Kaufmanns zumindest der beendete Versuch und die Vollendung gleichgestellt werden. Auch auf der Grundlage dieser extrem subjektiven, nur auf die Person des Straftäters und dessen Willensentschluss be302 Die allerdings auch mit unterschiedlichen Akzentuierungen vertreten wird, vgl. Lackner/Kühl: § 22 StGB 2001, Rn. 11; zusammenfassend: Zaczyk, R.: Das Unrecht der versuchten Tat 1989, S. 75–119. 303 Kaufmann, Arm. in: Welzel-FS 1974, 393 ff., 402 ff. 304 Vgl. etwa Nagler, J. I.: Der Gerichtssaal 115, S. 24 ff., 31 (Anm. 8). 305 Kaufmann, Arm. in: Welzel-FS 1974, 393 ff., 403. Versuch der Wiederbelebung dieser Lehre bei Struensee, E. in: Arm. Kaufmann-GS 1989, S. 523 ff. 306 Kaufmann, Arm.: ZStW 80 (1968), 34 ff., 51.

III. Strafrechtsdogmatische Schlussfolgerungen

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zogenen Lehre zum Unrecht des Versuchs lässt sich daher, sofern man wie Jakobs eine „versuchsinterne“ Lösung der Rücktrittsproblematik befürwortet, eine restriktive Auslegung der Bestimmungen des § 24 StGB begründen.307 Ein personfunktionaler Gegenstandpunkt zu der Lehre Jakobs’, der sich auch gegen die extrem subjektive Versuchstheorie wenden lässt, ergibt sich aber dann, wenn man konträr zu der Position von Jakobs bei dem Gedanken des Rechtsgüterschutzes ansetzt. Sofern die Aufgabe des Strafrechts im Wesentlichen darin besteht, elementare Rechtsgüter zu schützen und nicht der Einübung in Normanerkennung zu dienen, besteht ein grundlegender Unterschied zwischen einem versuchten Delikt und seiner Vollendung, die sich auch auf die Auslegung der Bestimmungen des § 24 StGB auswirkt. Mit dem tatbestandsmäßigen Erfolg fehlt unter diesem Blickwinkel gleichzeitig auch der Erfolgsunwert, der nur gemeinsam mit dem Handlungsunwert das vollendete strafrechtliche Unrecht begründen kann. Da aber das Unrecht die Grundlage des persönlichen Schuldvorwurfs darstellt, bedeutet das Ausbleiben des Erfolges im Vergleich zum vollendeten Delikt regelmäßig auch eine Minderung der Schuld.308 Diese Ansicht entspricht auch der gemäßigten Variante der personalen Unrechtslehre in Gestalt des Finalismus, wie sie derzeit etwa von H. J. Hirsch309 und G. Küpper310 in Abgrenzung zu der Position Armin Kaufmanns vertreten wird. So führt Hirsch in diesem Zusammenhang aus, ein „voller“ Handlungsunwert liege nur bei Verwirklichung des Erfolges vor: „Die Grade des Handlungsunwerts spiegeln sich in den allgemein geläufigen strafrechtlichen Abstufungen wider. Er beginnt mit dem unmittelbaren Ansetzen zur Entschlussverwirklichung und endet mit dem Eintritt des gewollten Erfolges. Solange dieser Erfolg nicht eingetreten ist, geht es nur um den Handlungsunwert einer versuchten Verletzungshandlung.“311

Allein diese Inhaltsbestimmung des Versuchsunrechts eröffnet auch die Möglichkeit einer am Rechtsgüterschutzgedanken orientierten personfunktionalen Auslegung der Bestimmungen des § 24 StGB. Die in § 24 StGB vorgesehene Straffreiheit trägt dem Umstand Rechnung, dass die persönliche Vorwerfbarkeit 307 Daher sind die Ergebnisse der „Alten Bonner Schule“ (Armin Kaufmann) und der „Neuen Bonner Schule“ (Günther Jakobs) bezüglich des Rücktritts – wie Sancinetti (Subjektive Unrechtsbegründung 1995) ausführlich nachgewiesen hat – inhaltlich weitgehend identisch (zusammenfassend: S. 281 ff.). Obwohl er Jakobs im Ansatz scharf kritisiert, erkennt auch er eine Rücktrittsmöglichkeit im Wesentlichen nur im Fall des unbeendeten, nicht fehlgeschlagenen Versuchs an: „Somit gibt es beim unbeendeten Versuch entweder Rücktritt oder Fehlschlag, beim beendeten Versuch entweder Fehlschlag oder Vollendung“ (S. 282). 308 So auch die herrschende Meinung, vgl. z. B.: Wessels/Beulke: Strafrecht AT 2001, S. 204 (§ 14, Rn. 626); Stratenwerth, G.: Strafrecht AT 2000, S. 281 (Rn. 70); Schönke-Schröder-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 53 ff. 309 Hirsch, H. J.: ZStW 94 (1982), 239 ff., 240. 310 Küpper, G.: Grenzen 1990, S. 179 ff. 311 Hirsch, H. J.: ZStW 94 (1982), 239 ff., 251.

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Kap. 3: Funktionalismus bei Günther Jakobs

des Täters zumindest dann geringer ist, wenn dieser durch seine Rücktrittsbemühungen das Ende seiner rechtsfeindlichen Einstellung und den Übergang zu rechtmäßigem Verhalten dokumentiert. Daher knüpfen alle Einzelbestimmungen des § 24 StGB die Straffreiheit auch nicht ausschließlich an die Verhinderung des Erfolges oder eine hierauf gerichtete Bemühung des Täters, sondern sie verlangen ein freiwilliges Ablassen von seinen Zielsetzungen. Während dem Kriterium der Freiwilligkeit unter einem personfunktionalen Blickwinkel somit eine entscheidende Bedeutung zukommt, fristet es in dem systemfunktionalen Begründungsansatz Jakobs ein Schattendasein und Jakobs kann sich in seinem ansonsten sehr ausführlichen Beitrag zum Rücktritt vom Versuch mit einer bloßen „Skizze zur Freiwilligkeit“312 begnügen. Da Gesichtspunkten der Verminderung persönlicher Schuld in seinem Ansatz keine Bedeutung zukommt, genügt es Jakobs für die Annahme von Freiwilligkeit, wenn sich der Täter „schlicht von der Tat abwende(t)“ und es genügt, dass „er die weitere Ausführung vergisst oder, salopp formuliert, die Lust dazu verliert“.313 Dieser in der freiwilligen Umkehrleistung zu erblickenden Rückkehr in die Legalität, die auch das Ausmaß der persönlichen Vorwerfbarkeit reduziert, kann Jakobs’ Ansatz in wesentlichen Fallgestaltungen keine Rechnung tragen. Durch die von ihm befürwortete radikale Einzelaktstheorie wird der Anwendungsbereich des § 24 StGB in dem oben skizzierten Umfang und im Ergebnis so weitgehend reduziert, dass sein Standpunkt weniger als eine Rücktrittsdogmatik als vielmehr als ein Plädoyer für eine vollständige Beseitigung der Rücktrittsmöglichkeiten zu verstehen ist, das keinen Raum für eine Berücksichtigung der verminderten persönlichen Schuld lässt. Aus den mit dem personfunktionalen Ansatz verfolgten Interessen des Schutzes des Einzelnen vor dem Zugriff des Staates in Form des Strafrechts ist eine der Auffassung von Jakobs widersprechende weitere, rücktrittsfreundlichere Auslegung der Bestimmungen des § 24 StGB allerdings weder unbedingt erforderlich, noch lässt sie sich zwingend aus der oben anhand der Lehre vom Rechtsgüterschutzes entwickelten Funktion des Rücktritts ableiten.314 Da es bei den Fragen des Rücktritts nicht um die Begründung, sondern um den Ausschluss strafrechtlicher Haftung geht, ist diese prinzipielle Variabilität in den Ableitungszusammenhängen für die Schutzinteressen des Einzelnen (trotz der einschneidend unterschiedlichen Resultate) aber eher tolerabel als bei den oben 312

Jakobs, G.: ZStW 104 (1992), 82 ff., 104. Jakobs, G.: ZStW 104 (1992), 82 ff., 104. 314 Dies zeigt etwa die Lehre Ulsenheimers (Rücktritt vom Versuch 1976), der einerseits davon ausgeht, dass der Rücktritt vom Versuch sich wesentlich schuldmindernd auswirkt [Ulsenheimer, K. (zusammenfassend), S. 103, sieht den Rücktritt dogmatisch daher als einen Entschuldigungsgrund an], andererseits selbst aber auf der Grundlage der Einzelaktstheorie eine weitgehend restriktive Auslegung der Rücktrittsalternativen vornimmt. 313

IV. Zusammenfassung und Tendenzen

143

diskutierten Problemstellungen, die sich ausnahmslos auf die Begründung strafrechtlicher Zurechnung beziehen. Hinsichtlich der Rücktrittslehre Jakobs bleibt festzuhalten, dass sie seinen beim Handlungsbegriff (bzw. nach der Chronologie seiner Veröffentlichungen beim Schuldbegriff) begonnenen systemfunktionalen Begründungsansatz konsequent fortsetzt und daher ungeachtet der weniger eindrucksvollen Konsequenzen seiner Rücktrittslehre einen wesentlichen Beitrag zu Komplettierung seines an systemtheoretischen Prämissen orientierten Strafrechtssystems darstellt.

IV. Zusammenfassung und Tendenzen Jakobs zeigt sich in den vorstehenden Analysen als ein Vertreter eines reinen systemfunktionalen Ansatzes, der die Institute des geltenden Strafrechts nicht nur allein aus der systemfunktionalen Perspektive interpretiert, sondern auch seine Grundbegriffe von diesem Standpunkt aus bildet. Die Position Jakobs’ markiert daher geradezu den Idealtypus der systemfunktionalen Strafrechtsdogmatik und bildet den entscheidenden Gegenpol zu dem personfunktionalen Ansatz in der Strafrechtswissenschaft. Die hier ausgewählten Beispiele aus den Kernbereichen des Allgemeinen Teils ließen sich fortsetzen. Detailaspekte, etwa die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme, werden in jüngeren Darstellungen vor allem auch von seinen Schülern aufgegriffen und in Dissertationen315 und Aufsätzen316 unter konsequenter Beibehaltung und teilweise auch Radikalisierung des systemfunktionalen Ansatzes dargestellt. Dabei sind alle Prüfungsebenen letztlich der Funktion untergeordnet, festzustellen, ob dem Täter ein Schaden an der Normgeltung zugerechnet werden kann und es folglich der Strafe bedarf, um zu demonstrieren, dass die Norm als Orientierungsmuster sozialer Beziehungen nach wie vor maßgeblich ist. Um diesen Ansatz konsequent durchzuhalten, will Jakobs alle subjektiven, der Psyche des Täters zuzuordnenden Geschehensabläufe konsequent eliminieren. Zugespitzt formuliert interessiert ihn nicht, ob der Täter selbst Kenntnis von den maßgeblichen Tatumständen hat, ob er sich vor sich selbst im Unrecht weiß oder auf der Grundlage welches Tatplanes er agiert hat. Relevant ist nur die kommunikativ sichtbare Seite des Geschehens, das heißt der Ausdruckswert, den die Ereignisse vor dem Hintergrund eines „gesellschaftlichen Deutungsschemas“ erlangen. Bei der Anwendung dieses „gesellschaftlichen Deutungsschemas“ geht es aber nicht mehr um die Möglichkeit der Ermittlung des subjektiv (vom Täter) gemeinten Sinnes, dies wäre in den Worten Jakobs’ ein 315 316

Vgl. z. B.: Gonzales-Rivero, P.: Strafrechtliche Zurechnung 2001. Z. B.: Lesch, H. H.: ZStW 105 (1993), 271 ff.

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Kap. 3: Funktionalismus bei Günther Jakobs

„ontologisierendes“ Missverständnis oder eine „naturalistische psychologisierende“ Fehldeutung, die nichts zu der von ihm zugrunde gelegten Aufgabe des Strafrechts beiträgt, sondern um die Konstruktion des objektiven Sinns anhand formalisierter normativer Kriterien. Die Probleme der subjektiven Zurechnung eines strafrechtlich relevanten Erfolges, die nach der herkömmlichen Auslegung teils auf einen wirklichen subjektiven Sinnzusammenhang (so z. B. beim Begriff des Vorsatzes), teils auf die subjektive Möglichkeit zur Einsicht verweisen (so z. B. bei der Fahrlässigkeit oder bei der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums), werden damit in Probleme objektiver Zurechnung umformuliert: Aus dem Problem des Wissens von Tatumständen wird das Problem der Feststellung eines erlaubten/unerlaubten Risikos; aus der Frage persönlicher Schuld die Frage, ob das Verhalten des Täters für die Gesellschaft kommunikativ relevant ist, aus der Frage der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums die Frage, ob der Konflikt auf andere Subsysteme verlagert werden kann usw. Folgerichtig wird der Begriff der subjektiven Zurechnung aus der strafrechtlichen Terminologie überhaupt verbannt und durch die Kategorien objektive Zurechnung, Zuständigkeit (für einen Normgeltungsschaden) und Zuschreibung (von Verantwortlichkeit) ersetzt. Die genannten Beispiele zeigen darüber hinaus, dass sich Jakobs mit seiner strafrechtlichen Begriffsbildung zunehmend von dem alltagsweltlichen Begriffsverständnis entfernt und den zentralen Kategorien des Strafrechts eine Bedeutung beimisst, die lediglich von den mit seiner Lehre vertrauten Kreisen innerhalb des strafrechtswissenschaftlichen Diskurses, nicht aber von der Mehrzahl der im Alltag handelnden Individuen nachvollzogen werden kann.317 Für den Einzelnen bleibt es damit weithin unberechenbar, ob sein Verhalten eine Handlung im strafrechtlichen Sinne darstellt, ob er vorsätzlich gehandelt oder sich schuldig gemacht hat. Insbesondere soweit Jakobs die Rekonstruktion des subjektiv vom Täter gemeinten Sinnes durch eine Zuschreibung (von Kenntnis und Schuld) ersetzt, wird damit ferner der alte etikettierungstheoretische Einwand einer sozialen Konstruktion von Wirklichkeit durch die mit Definitionsmacht ausgestatteten Organe der formellen Sozialkontrolle zum grundlegenden Prinzip strafrechtlicher Begriffsbildung und Einzelfallbeurteilung erhoben. Schuld ist für Jakobs Zuschreibung von Verantwortlichkeit, die einzig nach den Kriterien erfolgt, ob dies für die Gesellschaft opportun ist oder nicht. Damit ist für ihn die Tat zunächst nicht mehr als ein „physikalisch beschreibbares Geschehen“,318 das seinen spezifischen Sinn erst später durch eine Rekonstruktion des Geschehens 317 Jakobs interpretiert das Strafrecht damit konträr zu der Warnung Hruschkas (Hruschka, J.: Strafrecht 1988, S. XVI), „das Gesetz beim Wort zu nehmen“ und „verbiegt“ den Gesetzeswortlaut – ebenso wie „Goggelmoggel“ in „Alice hinter den Spiegeln“ – „vom Ergebnis her“, vgl. Kapitel 2, Fn. 58. 318 Sack, F.: KrimJ 1972, 3 ff., 18; hierzu kritisch Schneider, H.: MschrKrim 1999, 202 ff.

IV. Zusammenfassung und Tendenzen

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durch Staatsanwaltschaften und Gerichte erhält. Dieser Sinn ist aber stets nur objektiver Sinn, das heißt Sinn in einem „kommunikativ relevanten Deutungsschema“, denn nur diese Perspektive und nicht der subjektiv vom Täter gemeinte Sinn einer Handlung ist für das Strafrecht in der Konzeption Jakobs maßgeblich. Der hierdurch dokumentierte Umgang Jakobs’ mit der Theorie des symbolischen Interaktionismus, die Jakobs nur in einzelnen Begriffen und theoretischen Versatzstücken rezipiert und für seine Zwecke nutzbar macht, ist ein weiteres allgemeines Charakteristikum seiner Argumentation. Ähnlich seiner Rezeption der Philosophie Hegels, die Jakobs nur bezüglich bestimmter Prämissen, nicht aber im Hinblick auf das zugrundeliegende Persönlichkeitsmodell übernimmt, zeigt sich auch anhand seiner Interpretation des symbolischen Interaktionismus eine Verfremdung der Begriffe, mit der sich Jakobs im Ergebnis gegen jegliche Kritik hermetisch abschließt. Grundbegriffe des symbolischen Interaktionismus wie Zuschreibung, subjektiver oder objektiver Sinn einer Handlung werden von Jakobs so umgedeutet, dass sie ihre durch die theoretische Fundierung in einem Referenzsystem präzisierte Aussagekraft für den wissenschaftlichen Diskurs verlieren und innerhalb der somit gegebenen Kunstsprache von Jakobs eine neue – nicht notwendig konsensfähige – Bedeutung erlangen. Durch die dennoch eindeutige, an den einzelnen Problembereichen des Allgemeinen Teils nachweisbare, Verabsolutierung des systemtheoretischen Ansatzes übersieht Jakobs, dass dieser Blickwinkel selbst bei einer Beschränkung auf eine Deutung des geltenden Rechts nicht die einzig mögliche Perspektive darstellt. Entgegen seiner diesbezüglichen Stellungnahmen geht es bei der funktionalen Interpretation des Strafrechts daher auch nicht um richtig oder falsch. Seine systemfunktionale Interpretation bestimmter Institute des Allgemeinen Teils ist durchaus bereichernd und trägt dazu bei, bestimmte Zurechnungsregeln, z. B. die Entschuldigungsgründe, besser zu erklären als dies auf der Grundlage des traditionellen Schuldbegriffes möglich ist. Wie bereits oben (in Kapitel 2) ausgeführt, kann das Strafrecht – wie andere soziale Erscheinungen – auch aus einem personfunktionalen Blickwinkel gedeutet werden. Anders als aus einer rechtssoziologischen Perspektive, bei der die systemfunktionale Analyse des Rechts dominiert, ist die personfunktionale Deutung des Rechts innerhalb der Strafrechtswissenschaft relativ häufig Gegenstand von Abhandlungen und Beiträgen und korreliert regelmäßig mit einer gleichermaßen personfunktionalen Auslegung des geltenden Strafrechts. Diese Komplementarität der Perspektiven kommt deutlich in einem Beitrag von Köhler319 in der kürzlich erschienenen Festschrift für Hirsch zum Ausdruck, in dem sich der Autor, der ebenfalls mit der Philosophie Hegels argumentiert, deutlich von einem im gleichen Sammelwerk erschienen Aufsatz von Jakobs320 abhebt: 319

Köhler, M. in: Hirsch-FS 1999, S. 65 ff.

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Kap. 3: Funktionalismus bei Günther Jakobs

„Das Strafrecht hat nicht die Funktion, eine objektiv-teleologisch behauptete Normgeltung gegenüber dem abweichenden Subjekt und im Hinblick auf die Rechtstreue anderer mit Strafe zu demonstrieren. Es bezieht sich auf diejenige fundamental-allgemeine Geltungsnegation, die in der bewussten Gegenentscheidung des normreflektierenden Subjekts als Mitgrundes des Rechtsverhältnisses wurzelt . . . Subjektive Zurechnung, ein daraus begriffenes Schuldprinzip und die Strafrechtsbegründung sind also substantiell miteinander verknüpft. Das ist in der Systematik, namentlich in den Begriffen des Vorsatzes und des Unrechtswillens, in Kritik an der ,Strafbarkeit‘ unbewusster Fahrlässigkeit und auch an der behaupteten Strafbarkeit von Subjekten ohne jede subjektive Zurechnung (Stichwort: Verbandsstrafe), kompromisslos durchzusetzen.“321

Jakobs und seine Schüler haben die Diskussion um eine durchgehend systemfunktionale Deutung bereichert. Ob aus den von ihnen selbst angeführten systemtheoretischen Gründen auch die kompromisslos durchgesetzte systemfunktionale Auslegung der strafrechtlichen Grundbegriffe gerechtfertigt bzw. erforderlich oder gar überflüssig und schädlich ist, bleibt im sechsten Kapitel dieser Arbeit abzuhandeln.

320 321

Jakobs, G. in: Hirsch-FS 1999, S. 45 ff. Köhler, M. in: Hirsch-FS 1999, S. 65 ff., 81.

Kapitel 4

Funktionalismus bei Wolfgang Frisch und Georg Freund I. Straf- und normtheoretische Grundannahmen Dem Spektrum der funktionalen Strafrechtsdogmatik wird neben Günther Jakobs vor allem auch der Freiburger Strafrechtslehrer Wolfgang Frisch zugeordnet.1 Frisch hat zwar entgegen seiner Ankündigung2 bislang noch keinen Gesamtentwurf eines funktionalen Straftatsystems vorgelegt. Einzelaspekte, die Frisch selbst als Bausteine eines funktionalen Systems versteht,3 sind von diesem Autor aber in zwei breit angelegten Monographien „Vorsatz und Risiko“ (1983) und „Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs“ (1988)4 entfaltet worden. Ein weiterer Detailaspekt, die Problematik der unechten Unterlassungsdelikte, ist Gegenstand der Habilitationsschrift seines Schülers Georg Freund,5 bei dem der Bezug zum Funktionalismus allerdings schon deshalb problematisch ist, weil sich Freund selbst, obgleich auf Frisch aufbauend, als Vertreter einer „personalen Straftatlehre“ sieht.6 Inwieweit die Autoren der in dieser Arbeit thematisierten systemfunktionalen Richtung zugeordnet werden können, soll – ebenso wie bei der Darstellung der Position Jakobs’ – zunächst durch Rückgriff auf die ihren Ausführungen zu einzelnen dogmatischen Problemen zugrunde liegenden straf- bzw. normtheoretischen Ausgangspositionen ermittelt werden.

1 Vgl. z. B. Wolter, J. in: ders. (Hrsg.): 140 Jahre GA, S. 269 ff., 269; ders.: GA 1991, 531 ff., 552; Schünemann, B. in: ders. (Hrsg.): Grundfragen 1984, S. 1 ff., 61; Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 157 (§ 7, Rn. 30). 2 Frisch, W.: Vorsatz 1983, S. 505, mit ausführlicher Besprechung Küper, W.: GA 1987, 479 ff.; Kurzrezensionen von Bottke, W.: NJW 1984, 2452; Köhler, M.: JZ 1985, 672; Diskussion der Vorsatzlehre Frischs ferner bei Ziegert, U.: Vorsatz 1987, S. 114 ff.; SK-Rudolphi, § 16, Rn. 45. 3 Frisch, W.: Vorsatz 1983, S. 502–506; ders.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 518 ff.; ders.: JuS 1983, 915 ff., 923. 4 Mit ausführlicher Besprechung Wolter, J.: GA 1991, 531 ff.; Kurzrezension Hettinger, M.: JZ 1990, 231 f.; Meurer, D.: NJW 1990, 106. 5 Freund, G.: Erfolgsdelikt 1992. 6 Vgl. den Untertitel seines Lehrbuchs zum Strafrecht Allgemeiner Teil 1998. Freund greift damit einen von Welzel in die Diskussion eingeführten Begriff auf; vgl. dens.: Das neue Bild 1961, S. 29 f.

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Kap. 4: Funktionalismus bei Wolfgang Frisch und Georg Freund

1. Normtheoretische Unterscheidung Sowohl bei Frisch7 als auch bei Freund8 korrespondieren die straftheoretischen Grundannahmen mit einer normtheoretischen Differenzierung, die den Bezugspunkt für die Legitimation der von den Autoren angenommenen Strafzwecke darstellt. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist die vor allem von Zippelius9 und Münzberg10 in den 50er und 60er Jahren im Wesentlichen anhand von Beispielen aus dem Zivilrecht entwickelte Unterscheidung von Verhaltensnormen und Sanktionsnormen, die von den Autoren für das Strafrecht übernommen wird.11 Verhaltensnormen sind nach diesem Konzept den zivilrechtlichen Haftungstatbeständen bzw. den gesetzlichen Straftatbeständen vorgelagerte Gebote und Verbote, die sich auf menschliches Verhalten beziehen. Verhaltensnormen verpflichten die Rechtsunterworfenen zu einem bestimmten Verhalten (Tun oder 7 Frisch, W.: Vorsatz 1983, S. 59 ff.; ders.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 71 ff.; ders. in: Wolter, J./Freund, G. (Hrsg.): Straftat 1996, S. 135 ff., 175 ff.; ders. in: Roxin-FS 2001, S. 213 ff., 232 ff. 8 Freund, G.: Erfolgsdelikt 1992, S. 51 ff.; ders.: Strafrecht AT 1998, S. 3–11; ders.: GA 1995, 4 ff., 6 ff.; ders.: JuS 1997, 235 ff.; 331 ff. 9 Zippelius, R.: Aufbau 1953; ders.: AcP 157 (1958/59), 390 ff.; ders.: Methodenlehre 1971 (1. Aufl.), S. 36 ff. In seinem Buch zur Methodenlehre finden sich nähere Ausführungen zur Differenzierung zwischen Verhaltens- und Sanktionsnormen lediglich bis zur 3. Aufl. Seit der 4. Aufl. (1985), mit der sich Zippelius nicht mehr vorrangig „an den interessierten Laien“ wendet, sondern seine Methodenlehre dem „juristischen Studiengebrauch“ (Vorwort zur 4. Aufl. 1985) erschließen will, ist der entsprechende Abschnitt ersatzlos gestrichen worden. Eine inhaltliche Distanzierung von der normtheoretischen Unterscheidung zwischen Verhaltens- und Sanktionsnormen ist damit wohl nicht verbunden. Zippelius unterteilt die Strafvorschrift nach wie vor in zwei verschiedene Komponenten und unterscheidet zwischen einer „primäre(n)‘ Norm, die das zwischenmenschliche Verhalten regelt“ und einer „sekundäre(n)‘ Sanktionsnorm, die ein Rechtsschutzorgan, nämlich den Richter, anweist, auf die Verletzung der primären Norm mit einer Sanktion, nämlich mit einer Strafe, zu reagieren“ [Zippelius, R.: Methodenlehre (4. Aufl.) 1985, S. 3]. 10 Münzberg, W.: Verhalten 1966. 11 Die Ursprünge dieser normtheoretischen Differenzierung lassen sich bis zu Bindings Normentheorie (ders.: Normen und Strafgesetze 1872) zurück verfolgen. Binding unterscheidet zwischen Normen und Strafgesetzen. Normen gehen den Strafgesetzen begrifflich voraus und enthalten an die „Rechtsuntertanen“ gerichtete Befehle. Es handelt sich um selbständige Rechtssätze, die teilweise positiv-rechtlich formuliert sind, teilweise aber auch aus den Strafgesetzen entwickelt werden müssen. (Binding, K.: Normen und Strafgesetze 1872, S. 4 ff.). Die Strafgesetze, die der Täter als solche nicht verletzen kann, haben demgegenüber lediglich die Funktion festzulegen, welche Normverletzungen strafbar sind und wie die Strafe zu bemessen ist (Binding, K.: Normen und Strafgesetze 1872, S. 188 ff.). Diese Grundthese der Normentheorie Bindings, an die der Sache nach auch Frisch und Freund anknüpfen, konnte sich in der Strafrechtswissenschaft nie vollends durchsetzen (vgl. zusammenfassend Kaufmann, Arm.: Lebendiges und Totes 1954, S. 39 ff.). In neuerer Zeit kommt es zu einer Wiederbelebung dieses normtheoretischen Ansatzes, an der neben Frisch und Freund vor allem auch J. Wolter (ders.: Zurechnung 1981, S. 46 ff.) beteiligt ist.

I. Straf- und normtheoretische Grundannahmen

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Unterlassen), sie haben die Aufgabe, rechtmäßiges Verhalten zu fördern12 und unrechtmäßiges einzuschränken. Beispiele für Verhaltensnormen sind aus dem Zivilrecht etwa die §§ 305 (a. F.)13 und 433 BGB,14 die allgemein den Schuldner zu einer Leistung bzw. den Käufer im Fall des Vertragsschlusses zur Zahlung des Kaufpreises verpflichten. Da die Inhalte der Verhaltenspflichten, um als Orientierungsmuster rechtmäßigen Verhaltens zu fungieren, schon vor dem Vollzug des Verhaltens (Tuns oder Unterlassens) feststehen müssen, gehören weder der Erfolg (im Sinne der strafrechtlichen Erfolgsdelikte) bzw. die Rechtsgutsverletzung oder der Schaden bei § 823 BGB noch die Kausalität zum Inhalt der Verhaltensnorm.15 Diese Prüfungspunkte sind vielmehr für die Frage der zivilrechtlichen Haftung oder der Strafbarkeit erforderlich und daher systematisch der Sanktionsnorm und nicht der Verhaltensnorm zuzuordnen. Folgerichtig ergibt sich die Feststellung eines Verstoßes gegen die Verhaltensnorm aus einer Perspektive ex ante, während die Frage des Vorliegens eines Verstoßes gegen die Sanktionsnorm immer erst nach dem Vollzug des Verhaltens (ex post) und gegebenenfalls (bei vollendeten Erfolgsdelikten) nach Eintritt des tatbestandlichen Erfolges festgestellt werden kann.16 Die Trennung von Verhaltens- und Sanktionsnormen präzisiert daher den Bezugspunkt des Rechtswidrigkeitsurteils. Widerrechtlich ist nicht die Herbeiführung eines strafrechtlich relevanten Erfolges schlechthin, sondern nur, sofern diese auf einem Verstoß gegen eine Verhaltensnorm beruht. Erfolg und Kausalität sind nach diesem Verständnis von der Widerrechtlichkeit des Verhaltens zu trennen. Ein Verhalten ist nicht erst dann verboten, wenn der Handelnde/Unterlassende einen Außenwelterfolg kausal herbeiführt, sondern bereits dann, wenn er gegen ein Gebot verstößt. Umgekehrt sagt auch die bloße Verursachung des Erfolges nichts über die Rechtmäßigkeit des Verhaltens aus. Denn zivilrechtlich oder strafrechtlich relevante Erfolge können auch das Resultat verkehrsgerechten und damit rechtmäßigen Verhaltens sein.17 Diese normtheoretische Differenzierung wird zuerst von Frisch18 und später auch von Freund19 übernommen und auf die Problemlage des Strafrechts übertragen. Als Verhaltensnormen bezeichnen die Autoren daher jene Normen, 12

Münzberg, W.: Verhalten 1966, S. 51 f. Nach der Schuldrechtsreform: § 311 Abs. 1 BGB. 14 Zippelius, R.: Methodenlehre 1971, S. 36 f. 15 Zippelius, R.: AcP 157 (1958/59), 390 ff., 395; Münzberg, W.: Verhalten 1966, S. 67 ff., 110 ff. 16 Zippelius, R.: AcP 157 (1958/59), 390 ff., 395; Münzberg, W.: Verhalten 1966, S. 109 ff. 17 Diese Problematik ist der Ausgangspunkt der Erörterungen von Zippelius (Methodenlehre 1971, S. 36 ff.) und Münzberg (Verhalten 1966, S. 1–3), die sich insoweit auf die damals aktuelle Rechtsprechung des BGH in Zivilsachen (BGHZ 24, 21) berufen. 13

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„die nach ihrem Inhalt bestimmte Verhaltensweisen als richtig oder falsch ausweisen und nach ihrem Ziel auf eine bestimmte Steuerung menschlichen Verhaltens gerichtet sind. Das vereinfachte Beispiel ist der Befehl, etwa – noch vergröbert –: ,Töte keinen anderen Menschen‘ oder: ,Beschädige nicht fremdes Eigentum‘.“

Sanktionsnormen geben dagegen darüber Auskunft, „unter welchen Voraussetzungen eine bestimmte Sanktion eintreten soll. Sie legen die Voraussetzungen der Sanktion fest. Typische Sanktionsnormen in diesem Sinne sind die durch die Ergänzungsnormen des Allgemeinen Teils vervollständigten Strafvorschriften des Besonderen Teils des StGB; aber auch die Schadensersatzregelungen des Bürgerlichen Rechts oder die Vorschriften über öffentlich-rechtliche Sanktionen gehören in diese Rubrik.“20

Durch diese Differenzierung wird der Verstoß gegen die Verhaltensnorm zur Grundvoraussetzung des Eingreifens von Strafrecht überhaupt21 und es rückt die Frage in den Vordergrund, nach welchen Kriterien Verhaltensnormen gebildet und wie diese inhaltlich konkret gegen die Sanktionsnormen abzugrenzen sind. a) Das Problem der Genese der Verhaltensnormen Hinsichtlich der Genese der Verhaltensnormen vertreten die Autoren die Auffassung, dass diese Fragestellung „nicht dem eigentlichen Strafrecht“,22 sondern der Verfassungs- und Verwaltungsrechtsdogmatik zuzuordnen ist.23 Verhaltens18

Frisch, W.: Vorsatz 1983, S. 60; ders.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988. Freund, G.: Erfolgsdelikt 1992, S. 51 ff.; ders.: Strafrecht AT 1998, S. 1–60. 20 Frisch, W.: Vorsatz 1983, S. 59; ähnliche Formulierungen bei Freund, G.: Strafrecht AT 1998, S. 27 ff. 21 Vgl. Frisch, W.: Vorsatz 1983, S. 60: „Sanktionsnormen bauen in der Regel auf Verstößen gegen Verhaltensnormen auf, setzen solche Verstöße als Sanktionserfordernis voraus. So liegt es auch im Strafrecht: Die Sanktion Strafe als Ausdruck eines sozialethischen Tadels an ein erlaubtes Verhalten zu knüpfen – das wäre nicht nur sachlogisch ein Unding; es wäre auch eine handgreifliche Ungerechtigkeit.“ 22 Freund, G. in: Wolter, J./Freund, G. (Hrsg.): Straftat 1996, S. 43 ff., 46; Frisch, W.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 70 ff. 23 Weder Frisch noch Freund führen diesen Gedanken explizit aus. Eindeutig ist den Ausführungen der Autoren aber zu entnehmen, dass Genese und Prüfung von Verhaltensnormen keine genuin strafrechtliche Materie darstellen, vgl. Freund, G. in: Wolter, J./Freund, G. (Hrsg.): Straftat 1996, S. 43 ff., 46: „Strafrecht setzt als Mittel ein ,Zur-Verantwortung-Ziehen‘ wegen einer begangenen Tat ein. Dieses Mittel ist immer auch Verhaltensmissbilligung. Rechtsgüterschutz als Verfolgung eines legitimierenden Zwecks kommt für das Strafrecht deshalb nur in Betracht, wenn eine Grundvoraussetzung gegeben ist: Ein Verstoß gegen eine rechtlich legitimierte Verhaltensnorm. Rechtsgüterschutz durch Sanktionsnormen ist ohne vorausgesetzten Verhaltensnormverstoß undenkbar. Die Frage des Verhaltensnormverstoßes aber gehört nicht dem eigentlichen Strafrecht an“. Obwohl Freund in den folgenden Ausführungen nicht konkret ausführt, welcher Materie die Frage des Verhaltensnormverstoßes wenn nicht dem Strafrecht zuzuordnen sein soll, zeigt seine eng am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientierte Argumentation, dass er sich in Kategorien des Verfassungs- bzw. Verwal19

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normen schränken die potentielle Entfaltungs- und Handlungsfreiheit der Menschen ein und sind daher nur dann verfassungsgemäß, wenn sie einen legitimen öffentlich-rechtlichen Zweck verfolgen.24 Hinsichtlich dieses Zwecks bekennen sich Frisch und Freund zum tragenden Prinzip des Rechtsgüterschutzes, der durch die in den Verhaltensnormen niedergelegten Ge- und Verbote erreicht werden soll. Frisch, der diesen Ansatz zuerst in seiner Arbeit „Vorsatz und Risiko“25 aufgreift und fünf Jahre später in der Abhandlung „Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs“26 vertieft,27 will das Spannungsverhältnis zwischen Güterschutz und Handlungsfreiheit durch eine eng am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientierte Abwägung dieser potentiell widerstreitenden Interessen auflösen. Insoweit ist nach dem Gewicht der potentiell betroffenen Güter (Leben, Gesundheit, Vermögen und sonstige schützwürdige Interessen) sowie nach dem Umfang der Eingriffe in die Handlungsfreiheit und den damit gegebenenfalls verbundenen Kosten für die Minimierung von Risiken zu unterscheiden. So sind z. B. mögliche Beeinträchtigungen des Vermögens der geschützten Teilnehmer des Rechtsverkehrs durch fehlerhafte Produkte dann hinzunehmen, wenn die Senkung der Zahl minderwertiger „Ausreißer“ mit unverhältnismäßig hohen Kosten auf der Produzentenseite verbunden wäre.28 Anders läge es, wenn durch die fehlerhaften Produkte auch Gesundheitsschäden entstehen würden. Verhältnismäßig sind die Verhaltensnormen weiterhin aber nur dann, wenn sie in ihrer konkreten inhaltlichen Ausgestaltung auch zum Schutz der Rechtsgüter geeignet sind.29 Sowohl Frisch als auch Freund heben daher im Anschluss an tungsrechts bewegt: „Das insoweit dem Strafrecht vorausliegende System des Rechtsgüterschutzes durch Verhaltensnormen ist seinerseits ausschließlich durch den Gedanken legitimierbarer Zweckverfolgung vorgezeichnet: Das Mittel der rechtlichen Verhaltensnorm muss zur Zweckerfüllung (dem Schutz von Rechtsgütern wie Leib, Leben, Freiheit etc.) geeignet, erforderlich und – im Hinblick auf konkurrierende Interessen – auch angemessen sein“, Freund, G. in: Wolter, J./Freund, G. (Hrsg.): Straftat 1996, S. 43 ff., 46, 47 (Hervorhebung im Original). Ähnliche Argumentation auch bei dems.: Erfolgsdelikt 1992, S. 51 ff.; GA 1991, 387 ff., 390; ZLR 1994, 261 ff., 265 ff. sowie bei Frisch, W. in: Stree/Wessels-FS 1993, S. 69 ff., 90 ff. 24 Frisch, W.: Vorsatz 1983, S. 74 ff.; ders.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 70 ff. 25 Frisch, W.: Vorsatz 1983, S. 46 ff., 74 f., 204 f. 26 Frisch, W.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 140 ff. 27 Entsprechende Überlegungen finden sich auch bei Freund, G.: Erfolgsdelikt 1992, S. 52 ff., 80 f.; ders.: Strafrecht AT 1998, S. 7 ff. 28 Freund, G.: ZLR 1994, 261 ff., 265 ff. 29 Frisch, W.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 71–78. Mit dem Kriterium der Geeignetheit knüpft Frisch der Sache nach an die Rechtsprechung des BVerfG an, nach der ein (Straf-)Gesetz dann geeignet ist, wenn „mit seiner Hilfe der erstrebte Erfolg gefördert werden kann“ [BVerfGE 90, 145 ff., 172 („Cannabis-Beschluss“), m. w. N.]. Das BVerfG stellt an das Erfordernis der Eignung allerdings insgesamt nur geringe inhaltliche Anforderungen und geht erst dann von der Verfassungswidrigkeit eines Strafgesetzes aus, wenn sich dieses aufgrund empirischer Erkenntnisse als evident wirkungslos erweisen würde. Zur Rechtsprechung des BVerfG unter diesem Ge-

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Zippelius und Münzberg an verschiedenen Stellen ausdrücklich hervor, dass die Verhaltensnormen auf die Situation „ex ante“30 (vor der Verwirklichung des Risikos durch den Handelnden oder Unterlassenden) zugeschnitten sind. Auf den tatsächlichen Eintritt der Gefahr oder die Verwirklichung des Risikos kommt es dabei schon deshalb nicht an, weil dieser Gesichtspunkt keinen Einfluss auf die mit den Verhaltensnormen assoziierte motivatorische Wirkung hat und das Verhalten daher nicht mehr verändern kann. Diese verfassungsrechtlichen Überlegungen münden bei Frisch in eine erste allgemeine Charakterisierung der Verhaltensnormen: Verhaltensnormen kennzeichnen eine „rechtlich missbilligte Risikoschaffung“.31 Sie verbieten diejenigen Verhaltensweisen, denen ein prinzipiell nicht zu rechtfertigendes Gefährdungspotential zukommt und gebieten Handlungen, die sich aus der Sicht des Normadressaten als zur Rettung gefährdeter Rechtsgüter geeignet erweisen. Frisch hält diese Ebene der verfassungsrechtlichen Legitimation von Verhaltensnormen aber für nicht ausreichend, da bei konsequenter Durchsetzung der genannten Prinzipien zumindest dann, wenn es sich um entsprechend hochrangige Rechtsgüter handelt, jegliche gefährliche Verhaltensweisen zum Gegenstand von Verhaltensnormen gemacht werden können. Ein solches generelles Verbot gefährlicher Verhaltensweisen verstößt seines Erachtens jedenfalls dann gegen das verfassungsrechtliche Übermaßverbot, wenn der Verstoß gegen die Verhaltensanforderungen immer auch eine strafrechtliche Sanktionierung nach sich zieht.32 In einer didaktisch orientierten Entscheidungsrezension33 exemplifiziert Frisch diese Vorgehensweise anhand des Merkmals „vereiteln“ im Rahmen des § 258 StGB. Für die Qualifikation eines Verhaltens als „vereiteln“ im Sinne des § 258 ist maßgeblich, ob der Täter ein auf den tatbestandlichen Erfolg bezogenes Risiko geschaffen hat. Dieser Bezug des Verhaltens auf den Strafvereitelungserfolg erschöpft sich nach der Ansicht von Frisch allerdings nicht in der bloßen kausalgesetzlichen Eignung des Verhaltens, sondern bedarf einer weiteren Einschränkung. Denn ohne eine weitergehende Einschränkung besteht die Gefahr, dass legitime Gegeninteressen des Verhaltensnormadressaten wie etwa die Berufsfreiheit in den Fällen des Benzin verkaufenden Tankwarts oder des Rechtsauskunft erteilenden Anwalts unverhältnismäßig eingeschränkt würden.34 sichtspunkt, vgl. Appel, I.: Verfassung und Strafe 1998, S. 190; Vogel, J.: StV 1996, 110 ff., zur Verhältnismäßigkeit von Strafgesetzen insbesondere S. 113 f. 30 Frisch, W.: Vorsatz 1983, S. 76, 124 f., 126 f., 149 f.; ders.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 41, 71 ff.; Freund, G.: Erfolgsdelikt 1992, S. 56; ders.: GA 1991, 387 ff.; ebenso z. B.: Rudolphi, H.-J. in: Schünemann, B. (Hrsg.): Grundfragen, S. 69 ff., 78. 31 Frisch, W.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 77 ff. 32 Frisch, W.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 80 ff. 33 Frisch, W.: JuS 1983, 915 ff. 34 Frisch, W.: JuS 1983, 915 ff., 920 ff.; mit diesem Zwischenergebnis bewegt sich Frisch zunächst ganz auf der Ebene der h. M., vgl.: Wessels/Hettinger: Strafrecht BT 1

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In einem zweiten Schritt will Frisch daher die möglichen Verhaltensweisen missbilligter Risikoschaffung auf strafrechtlich relevante Fälle reduzieren. Als entscheidendes Kriterium bezieht er sich insoweit auf die Frage, ob es zur Aufrechterhaltung der Geltungskraft der Verhaltensnorm erforderlich und angemessen erscheint, auf die missbilligte Gefahrschaffung mit Strafe zu reagieren.35 Um diesen Aspekt näher zu spezifizieren, differenziert Frisch wiederum zwischen drei „phänomenologischen Grundtypen“,36 anhand derer die Notwendigkeit und Angemessenheit des strafrechtlichen Schutzes durch Verhaltensnormen beurteilt werden soll. Diese von Frisch auf mehr als 400 Seiten37 entfaltete Phänomenologie differenziert zwischen Verhaltensweisen, die unmittelbar zu Güterbeeinträchtigungen zu führen drohen (z. B. Würgen, Anfahren von Personen im Straßenverkehr),38 Verhaltensweisen, welche die Güter beeinträchtigende Wirkung nur über das vermittelnde Handeln des Opfers selbst zu entfalten vermögen (Spätfolge-Fälle; Verweigerung einer rettenden Operation),39 und schließlich Verhaltensweisen, die ein Gefährdungspotential nur insofern in sich bergen, als Dritte an solche Handlungen anknüpfend ihrerseits ein Rechtsgüter bedrohendes Verhalten an den Tag legen (z. B. Kunstfehlerfälle).40 Die drei von Frisch identifizierten Grundtypen kennzeichnen folglich unterschiedliche Grade der Entfernung des Täterverhaltens von dem Eintritt der Rechtsgutsverletzung, angefangenen bei einer unmittelbar durch das Täterverhalten drohenden Rechtsgutsverletzung (1. Typus) bis hin zu einer lediglich mittelbaren, nur durch das Eingreifen Dritter in den deliktischen Erfolg umschlagenden Rechtsgutsgefährdung im 3. Typus. Diese Differenzierung hat Auswirkungen vor allem auf die im Rahmen der Generierung von Verhaltensnormen relevante Frage der Auflösung des Spannungsverhältnisses von Güterschutz und Handlungsfreiheit: Je weiter das Verhalten des Normunterworfenen von der Gefährdung der Rechtsgüter entfernt ist, desto größere Anforderungen sind an die Beschränkung der Handlungsfreiheit zu stellen.41 Bei allen phänomenologischen Grundtypen ist zu beachten, dass der konkrete Inhalt der Verhaltensnormen bereits durch den Gesetzgeber vorgegeben sein kann. Verhaltensnormen oder zumindest „(vor)rechtliche Risikolimitierungen“42 2001, S. 181 (Rn. 724); Otto, H. in: Lenckner-FS 1998, S. 193 ff., 215; BGH NJW 1984, 135. 35 Frisch, W.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 77 ff. 36 Frisch, W.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 86 ff. 37 Frisch, W.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 86–506; zusammenfassend: Wolter, J.: GA 1991, 531 ff., 537. 38 Frisch, W.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 90 ff. 39 Frisch, W.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 148 ff. 40 Frisch, W.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 230 ff. 41 Frisch, W.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 89. 42 Frisch, W.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 101 ff.

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finden sich unter anderem im geschriebenen Verwaltungsrecht, z. B. im Arzneimittelrecht, im Lebensmittel- und im Straßenverkehrsrecht. Hierzu gehören etwa das Verbot, Arzneimittel auf den Markt zu bringen, bevor bestimmte Testverfahren durchgeführt worden sind, oder die lebensmittelrechtlichen Verbote zum Schutz der Gesundheit (§ 8 LMBG).43 Ähnliche Bestimmungen, die auf Erfahrungswissen im Hinblick auf typische Gefahrenzusammenhänge Bezug nehmen, ergeben sich aus den einschlägigen DIN-Normen, Richtlinien und Empfehlungen staatlicher oder entsprechender zur Normsetzung ermächtigter Instanzen.44 Nach Frisch45 bedeutet ein Verstoß gegen derartige Bestimmungen regelmäßig allerdings noch nicht die Verletzung einer auch strafrechtlich relevanten Verhaltensnorm. Denn diese Feststellung beinhaltet mehr als eine (möglicherweise als Ordnungswidrigkeit zu ahndende) Regelwidrigkeit. Damit nach den oben aufgeführten verfassungsrechtlichen Erwägungen die strafrechtlichen Konsequenzen der Verletzung einer Verhaltensnorm legitim sind, muss über den bloßen Regelverstoß hinaus zum Ausdruck kommen, dass der Täter „eine aufweisbare Gefahr des Eintritts des tatbestandsmäßigen Erfolgs“,46 das heißt „eine Situation der Ungewissheit“ geschaffen hat, die deutlich über das hinaus geht, was „als Ungewissheit im Sinne eines allgemeinen diffusen Grundrisikos ständig vorhanden ist und hingenommen werden muss“.47 Sofern hiernach außerstrafrechtliche Bestimmungen zur Konkretisierung der Verhaltensnormen herangezogen werden, ist weiterhin zu beachten, dass sich auch diese Verbote an der Verfassung messen lassen müssen. Eine Beschränkung der Handlungsfreiheit des Verhaltensnormadressaten ist folglich nur dann legitim, wenn durch die Verhaltensnorm die Dispositionsfreiheit der betroffenen Verkehrsteilnehmer angemessen geschützt wird. Insoweit ist wiederum nach dem Gewicht der potentiell betroffenen Güter (Leben, Gesundheit, Vermögen und sonstige schützwürdige Interessen) sowie nach dem Umfang des Eingriffs in die Handlungsfreiheit, insbesondere durch das einschneidende Mittel Strafrecht zu unterscheiden. Selbst wenn der Täter die außerstrafrechtlichen Verhaltensanforderungen beachtet hat, ist die Verletzung der spezifisch strafrechtlich relevanten Verhaltensnorm allerdings nicht von vornherein ausgeschlossen. Denn die außerstrafrechtlichen Vorschriften und Bestimmungen beinhalten keinen vollständigen Katalog gefahrsteuernder Reaktionen, die notwendig alle denkbaren Gefahrensituationen im Gefolge von Handlungen erfassen.48 In solchen Fällen ist der Rechtsanwender gehalten, die Verhaltensnorm durch eine freie verfassungsrechtliche Abwä43

Freund, G.: ZLR 1994, 261 ff. Frisch, W.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 101 ff. 45 Frisch, W.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 101 ff.; weniger deutlich dagegen Freund, G.: ZLR 1994, 261 ff. 46 Frisch, W.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 91. 47 Frisch, W.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 91. 48 Frisch, W.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 104 f. 44

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gung der konfligierenden Interessen zu formulieren. Freund exemplifiziert diese Vorgehensweise bei der Bildung von Verhaltensnormen anhand der Problematik des äußerlich verkehrsgerechten Verhaltens im Straßenverkehr. Ausgangspunkt ist der Fall49 eines Kraftfahrers (A), der einen Auffahrunfall mit einem nachfolgenden Fahrzeug provozieren will, um dadurch unberechtigt Versicherungsleistungen in Anspruch nehmen zu können. In sieben Fällen bremste A sein Fahrzeug bei der Annäherung an eine Kreuzung, nachdem er den Blinker gesetzt hatte, bereits an der Einfahrt zu einer vor der Kreuzung auf der linken Seite gelegenen Tankstelle ab. Dabei fuhren die nachfolgenden Verkehrsteilnehmer, wie von A vorhergesehen und beabsichtigt, auf das jeweils von ihm gefahrene Fahrzeug auf, weil sie annahmen, er würde erst an der Kreuzung abbiegen.50 Für die Begründung eines Verstoßes gegen eine Verhaltensnorm kommt es nach Freund entscheidend darauf an, ob der Täter die im Verzicht auf das formal verkehrsgerechte Verhalten liegende Freiheitsbeschränkung aus seiner Perspektive hinnehmen musste, um eine Gefährdung anderer auszuschließen: „Wenn der Betreffende nicht nur die ganz generelle Möglichkeit vor Augen hat, dass andere Fehler machen, sondern bestimmte Anhaltspunkte dafür bestehen, kann ein sonst erlaubtes Verhalten zu einem rechtlich missbilligtem werden. Ob das zutrifft, hängt – wie sonst auch bei der Legitimation von Verhaltensnormen – davon ab, ob die Legitimationsgründe der entsprechenden Verhaltensnorm . . . gewichtig genug sind, um die Freiheitsbeschränkung zur rechtfertigen. Im vorliegenden Fall geht es um die Bewahrung fremden Eigentums vor möglicher Schädigung. Dieser Aspekt legitimiert bereits für sich genommen die relativ geringe Freiheitsbeschränkung, die darin liegt, dass A nicht so abbiegen durfte, wie er es getan hat.“51

Sofern entsprechende spezialgesetzliche Bestimmungen überhaupt nicht vorhanden sind, sollen die Verhaltensnormen unmittelbar durch die Abwägung widerstreitender Interessen gebildet werden. Dabei ergeben sich relevante Unterschiede der Konkretisierung von Verhaltensnormen nach Art der jeweils in Betracht kommenden Sanktionsnorm. Vor allem im Bereich der vorsätzlichen Erfolgsdelikte (zweite Konkretisierungsebene) sind die Verhaltensanforderungen 49 Freund bezieht sich auf BGH NJW 1993, 3132; weitere Nachweise zur Rechtsprechung des BGH zu der von Freund analysierten Problemkonstellation bei Rath, J.: Gesinnungsstrafrecht 2002, S. 3 ff. 50 Die Problematik des (äußerlich) neutralen Alltagsverhaltens als Straftat erlangt abgesehen von der von Freund analysierten Konstellation besondere praktische Bedeutung im Rahmen der Frage, ob die Unterstützung eines Haupttäters durch derartige „neutrale Handlungen“ als Beihilfe strafbar sein kann. Die einschlägigen Fallgruppen können dabei vor allem der Wirtschaft und insbesondere dem Bankwesen entnommen werden und betreffen berufstypisch geschäftsmäßige Verhaltensweisen, wie etwa die Anlage, Überweisung bzw. den Vermögenstransfer „suspekter“ Gelder durch einen Bankmitarbeiter oder den Verkauf von Wertpapieren im Rahmen so genannter „Tafelgeschäfte“. Vgl. zu diesem Themenkomplex aus der aktuellen Diskussion: Hassemer, W.: wistra 1995, 41 ff.; 81 ff.; Behr, V.: wistra 1999, 245 ff.; Beckemper, K.: JURA 2001, 163 ff.; Otto, H.: JZ 2001, 436 ff. 51 Freund, G.: JuS 2000, 754 ff., 758.

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zumindest „holzschnittartig“52 durch den Gesetzgeber der Sanktionsnormen umrissen, der festlegt, dass der vorsätzliche Eingriff in fremde Rechtsgüter (Leben, körperliche Unversehrtheit, Eigentum usw.) prinzipiell zu missbilligen ist. Da diese Festlegung aber als Maßstab rechtlich richtigen Verhaltens ebenso wie für die Beurteilung der Strafbarkeit eines Beteiligten zu unbestimmt ist,53 obliegt es im Wesentlichen54 den „rechtskonkretisierenden Instanzen“,55 auch im Bereich vorsätzlicher Erfolgsdelikte konkrete Verkehrspflichten zu erarbeiten, die den Bereich des rechtlichen Sollens und Dürfens differenziert abstecken. Für die Genese der Verkehrspflichten ist wiederum eine Interessenabwägung erforderlich, die aus der Perspektive des potentiellen Normunterworfenen vorzunehmen ist.56 Ein Beispiel für diese Aufgabe der Konkretisierung durch strafgesetzliche Sanktionsnormen holzschnittartig vorgegebener Verhaltensnormen ergibt sich aus Frischs weiteren Ausführungen zum tatbestandsmäßigen Verhalten bei der Strafvereitelung.57 Ein im Hinblick auf die von § 258 StGB geschützten Rechtsgüter nicht mehr toleriertes Risiko, das die Verletzung einer strafrechtlich relevanten Verhaltensnorm darstellt, verwirklicht der Täter dann, wenn die von ihm vorgenommenen Handlungen schon durch andere strafrechtliche Tatbestände (wie zum Beispiel Aussagedelikte oder Urkundsdelikte) verboten sind. Ist dies nicht der Fall, beginnt „die Zone des tatbestandsmäßigen Verhaltens“ dort, „wo das mit dem unmittelbaren Risiko der Strafvereitelung behaftete Verhalten gegenüber dem Straftäter nicht mehr nur dem entspricht, was in entsprechenden Situationen auch dem Nichtstraftäter gewährt würde“: „Sie umfasst mit anderen Worten die Fälle einer Risikoschaffung gerade im Blick auf die Straftätereigenschaft, also die Fälle einer mit dem Risiko der Strafvereitelung behafteten Sonderbehandlung des Täters. Davon kann nicht schon dann die

52

Frisch, W. in: Stree/Wessels-FS 1993, S. 69 ff., 83. So ist zum Beispiel das allgemeine Verbot, (durch vorsätzliches Verhalten) nicht ursächlich für eine Gesundheitsschädigung zu werden (§ 223 StGB) als Verhaltensnorm deshalb nicht akzeptabel, weil es einerseits im Hinblick auf das Kausalitätsurteil „zu weit“ und andererseits mangels einer Berücksichtigung der Unterlassungsproblematik „zu eng“ ist; vgl. hierzu im Einzelnen anhand lebensmittelrechtlicher Fragestellungen, Freund, G.: ZLR 1994, 261 ff., 267 f.; allgemein: ders.: Strafrecht AT 1998, S. 6. 54 Teilweise werden auch durch den Gesetzgeber selbst tendenzielle Eingrenzungen vorgenommen. Frisch, W. in: Stree/Wessels-FS 1993, S. 69 ff., 84 bezieht sich zum Beispiel auf § 240 StGB: „Das Verbot der vorsätzlichen Veranlassung eines anderen zu einem bestimmten Handeln durch Drohung mit einem empfindlichen Übel würde viel zu viel erfassen; hier sieht sich dementsprechend schon der Gesetzgeber selbst zu einer weiteren Eingrenzung aufgerufen – ob sie ihm mit § 240 Abs. 2 StGB geglückt ist, mag dahinstehen“. 55 Frisch, W. in: Stree/Wessels-FS 1993, S. 69 ff., 83. 56 Freund, G.: Strafrecht AT 1998, S. 6 ff.; ders.: JuS 2000, 754 ff., 758. 57 Frisch, W.: JuS 1983, 915 ff., siehe dazu schon oben, S. 152. 53

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Rede sein, wenn sich jemand gegenüber einem Straftäter nur überhaupt in einer Weise verhält, die er dem Nichtstraftäter gegenüber unterließe – man denke etwa an den, der zwar keinen Anlass sieht, fremde Nichtstraftäter in seine Wohnung aufzunehmen, gegenüber Straftätern aber aus sozialen Gründen anders verfährt. Eine Sonderbehandlung im hier gemeinten funktionalen Sinn liegt vielmehr erst vor, wenn das Sonderverhalten gerade mit Rücksicht auf die spezifischen Gefährdungen erfolgt, denen der Straftäter seitens der Strafrechtspflege ausgesetzt ist. Typische Beispiele sind etwa die Zuweisung von Aufenthaltsorten, in die einen Nichtstraftäter zu stecken, niemand ernsthaft in den Sinn käme . . .“58

Sofern der Gesetzgeber, wie dies insbesondere bei den Unterlassungs- und Fahrlässigkeitsdelikten der Fall ist, auf eine Konkretisierung der Verhaltensnormen ganz verzichtet hat, liegt „die gesamte Last der Eingrenzung des Strafbaren“ bei den „rechtskonkretisierenden Instanzen – und dem Bürger“.59 Die Genese der Verhaltensnormen, die auch hier den Maßstab für die rechtliche Missbilligung des Verhaltens darstellen und die Grundlage für die Prüfung der Strafbarkeit abgeben, erfolgt nach den oben aufgezeigten Prinzipien der Interessenabwägung unter Berücksichtigung der Perspektive des potentiell Normunterworfenen. b) Die Abgrenzung der Verhaltensnormen von den Sanktionsnormen Neben der Problematik der Genese von Verhaltensnormen stellt sich bei dem von Freund und Frisch befürworteten normtheoretischen Modell die Frage, wie die Inhalte der Verhaltensnormen und die hierbei zu prüfenden Kriterien von den Sanktionsnormen sinnvoll abgegrenzt werden können. Da sich diese Fragestellung wesentlich auch auf einzelne dogmatische Problemstellungen auswirkt und von den Autoren dort näher präzisiert wird, können an dieser Stelle der vorliegenden Arbeit zunächst nur die Grundlinien dieser Differenzierung herausgearbeitet werden. Vereinfachend lässt sich die Position der Autoren dahingehend zusammenfassen, dass die Kategorie der Verhaltensnorm praktisch alle Ebenen der Zurechnung strafrechtlich relevanten Verhaltens absorbiert. Denn von einer rechtlich missbilligten Gefahrschaffung gehen sowohl Frisch60 als auch Freund nur dann aus, wenn „eine bestimmt zu qualifizierende personale Fehlleistung in Gestalt eines individuellen Verstoßes gegen eine Verhaltensnorm“61 vorliegt. Im Sinne eines umfassenden übergeordneten Prüfungspunktes erschöpft sich die Feststellung des „Verhaltensnormverstoßes“ folglich nicht in der Beurteilung des Vor58

Frisch, W.: JuS 1983, 915 ff., 923 (Hervorhebungen im Original). Frisch, W. in: Stree/Wessels-FS 1993, S. 69 ff., 83. 60 Frisch, W. in: Arm. Kaufmann-GS 1989, S. 311 ff., 334 ff.; ders.: Vorsatz 1983, S. 51 ff. 61 Freund, G.: JuS 1997, 235 ff., 238. 59

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liegens bzw. Nichtvorliegens nach dem Ansatz der Autoren insbesondere teleologisch auszulegender objektiver Tatbestandsvoraussetzungen, sondern er erfasst auch subjektive Deliktsmerkmale wie Vorsatz und Schuld sowie die Kategorie der Rechtswidrigkeit. Diese nach dem herkömmlichen finalistisch geprägten Deliktsaufbau62 konsequent auseinander gehaltenen Ebenen strafrechtlicher Verantwortlichkeit können nach Freund zwar grundsätzlich „gedanklich“63 unterschieden werden. Sachlich – und dies ist für Freund der wesentliche Gesichtspunkt – sind sie aber auf eine einzige gemeinsame Fragestellung bezogen: Die Beurteilung der Unwertigkeit „des für eine Bestrafung in concreto notwendigen (spezifischen) Verhaltensnormverstoßes“.64 Ähnlich wie der Handlungsbegriff bei Jakobs, auf den Freund insoweit auch ausdrücklich Bezug nimmt,65 wird der Verstoß gegen die Verhaltensnorm damit zu einer strafrechtlichen Superkategorie, die nahezu alle dogmatischen Einzelprobleme66 in sich aufnimmt und in der allgemeinen Frage rechtlicher Missbilligung personalen Fehlverhaltens zusammenfasst. Wie bereits oben angedeutet, wird selbst die Kategorie der Schuld auf diese Weise ihrer Eigenständigkeit beraubt: „Das Verhalten des Schuldunfähigen ist schon grundsätzlich kein rechtlich zu missbilligendes personales Fehlverhalten, auf das mit Strafe reagiert werden könnte. Es wird also bereits bei der Bestimmung des tatbestandsmäßig zu missbilligenden Verhaltens ausgefiltert und bedarf weder der Rechtfertigung, noch muss es als ,schuldlos‘ aus dem Strafbarkeitsbereich ausgeschieden werden. . . . So gesehen bedarf es keines eigenständigen allgemeinen Prinzips des Schuldausschlusses. Die einschlägigen Fälle sind entweder bereits im Tatbestandsbereich auszufiltern oder aber . . . nach dem allgemeinen Prinzip der Rechtfertigung zu lösen: Kann mit Blick auf die Wahrung in concreto überwiegender eigener oder fremder Interessen ein Missbilligungsurteil über ein Verhalten nicht gefällt werden, fehlt es am Verhaltensnormverstoß als der Grundvoraussetzung des Strafeinsatzes überhaupt.“67 62 Vgl. etwa die Gliederung des Lehrbuchs von Jescheck/Weigend: Strafrecht AT 1996 sowie die Übungsskizze zum Aufbau eines vorsätzlichen Begehungsdelikts bei Wessels/Beulke: Strafrecht AT 2001, S. 322 ff. (Rn. 893 ff.). 63 Freund, G.: JuS 1997, 235 ff. 64 Freund, G.: JuS 1997, 235 ff., 237, 238: „. . . um es einmal krass auszudrücken: Die durch Notwehr gerechtfertigte Tötung eines Menschen und die Tötung einer Fliege sind strafrechtlich gesehen gleichwertig – denn das eine kann ebenso wenig bestraft werden wie das andere.“ Freund wendet sich mit diesem Beispiel implizit gegen Welzel, der den Vergleich der Tötung eines Menschen mit der eines Insekts in seinem Lehrbuch zur Kritik der „Lehre von den negativen Tatumständen“ heranzieht, vgl.: Welzel, H.: Strafrecht 1969, S. 81: „Die Lehre von den negativen Tatumständen verkennt die selbständige Bedeutung der Erlaubnissätze . . . Das Vorliegen von Notwehr hat nach ihr dieselbe Bedeutung wie der Mangel eines Tatbestandsmerkmals: Die Tötung eines Menschen in Notwehr sei rechtlich nichts anderes als die Tötung einer Mücke! Um diese Konsequenz kommt die Lehre von den negativen Tatumständen nicht herum; an ihr führt sie sich ad absurdum.“ 65 Freund, G.: Strafrecht AT 1998, S. 112, Fn. 17. 66 Die nicht unter diese Kategorie fallenden Prüfungspunkte ergeben sich aus dem nachfolgend wiedergegebenen Aufbauschema Freunds unter II.

I. Straf- und normtheoretische Grundannahmen

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Neben der Rubrik der Verhaltensnorm erhält die Kategorie der Sanktionsnorm ihre eigenständige Berechtigung nur über den Wechsel der Beurteilungsperspektive zwischen Verhaltens- und Sanktionsnormverstoß. Da der Verstoß gegen die Verhaltensnorm (wie oben dargelegt) aus der Perspektive ex ante, d. h. vor Eintritt der konkreten Rechtsgutsverletzung zu beurteilen ist, gehören der nur ex post, d. h. nach dem Vollzug der Handlung feststellbare deliktische Erfolg sowie bestimmte Fragen der objektiven Zurechnung zu der Rubrik der Sanktionsnorm.68 Von diesem Standpunkt aus erhält auch der Vorsatz eine Doppelfunktion und ist sowohl in der Verhaltensnorm als auch in der Sanktionsnorm zu berücksichtigen.69 Auf der Ebene der Verhaltensnorm bezieht er sich zunächst auf die vorsätzliche Herbeiführung einer missbilligten Gefahr. Auf der Ebene der Sanktionsnorm kennzeichnet er demgegenüber die Herbeiführung oder Nichtabwendung der tatbestandsmäßigen Verhaltensfolgen und wird damit zu dem deliktischen Erfolg in Beziehung gesetzt. In die Kategorie der Sanktionsnormen fallen auch weitere, sachlich von der Verhaltensnorm zu unterscheidende Bewertungskriterien des Verhaltensnormverstoßes, wie objektive Bedingungen der Strafbarkeit, Rücktritt vom Versuch sowie die Prüfung des Vorliegens einer teilnahmefähigen Haupttat bei Anstiftung und Beihilfe. Freund formuliert auf der Grundlage dieser Unterscheidung für das fahrlässige Begehungsdelikt, für das fahrlässige begehungsgleiche Unterlassungsdelikt, für das vorsätzliche Begehungsdelikt und für das vorsätzliche begehungsgleiche Unterlassungsdelikt (jeweils als vollendetes Erfolgsdelikt) folgendes Gliederungsschema:70 I. Personales Verhaltensunrecht 1. Tatbestandsmäßiges Verhalten Tatbestandsspezifisch missbilligte Schaffung oder Nichtabwendung von Möglichkeiten eines schadensträchtigen Verlaufs; zu beurteilen auf der Basis der für den Handelnden oder Unterlassenden verfügbaren Fakten („Perspektivenbetrachtung“) unter Berücksichtigung der individuellen Momente von Verhaltensanforderungen sowie der Sonderverantwortlichkeit. 2. Fehlen von Rechtfertigungsgründen 3. Fehlen von Schuldausschließungs- oder Entschuldigungsgründen Beim Vorsatzdelikt: 4. Vorsätzlichkeit des Verhaltensunrechts a) Vorsätzlichkeit des tatbestandsmäßigen Verhaltens. Erfassung der spezifischen tatbestandlichen Unwertdimension des Verhaltens b) Fehlende Nichterfassung des Unrechtsgehalts des Verhaltens mit Blick auf die irrige Annahme von rechtfertigenden Umständen 67 68 69 70

Freund, G.: Strafrecht AT 1998, S. 112, 113. Frisch, W.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 507 ff. Freund, G.: JuS 2000, 754 ff.; ders.: JuS 1997, 331 ff. Freund, G.: Strafrecht AT 1998, S. 404 f. (Hervorhebungen im Original).

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II. Weitere Sanktionserfordernisse 1. Tatbestandsmäßige Verhaltensfolge(n) Ein schadensträchtiger Verlauf hat sich ereignet, der hätte vermieden werden können und sollen Beim Vorsatzdelikt: Vorsätzliche Herbeiführung oder Nichtabwendung der tatbestandsmäßigen Verhaltensfolge(n) Realisierung der spezifischen Gefährlichkeit des Vorsatzdelikts 2. Sonstige Sanktionserfordernisse – sog. objektive Strafbarkeitsbedingungen – Strafantrag (bzw. besonderes öffentliches Interesse) – fehlende Verjährung Beim Versuch: fehlender Rücktritt

Dieses Aufbauschema und allgemein die ihrer Auffassung nach ersichtliche Überlegenheit der Differenzierung zwischen Verhaltens- und Sanktionsnorm wird von Frisch und Freund immer wieder71 an dem klassischen, auch von Jakobs72 bemühten Erbonkelfall73 veranschaulicht. Nach Auffassung der Autoren scheidet die Strafbarkeit des Neffen schon wegen fehlender tatbestandlicher Verhaltensmissbilligung und damit wegen Fehlens eines strafrechtlich relevanten Verstoßes gegen die Verhaltensnorm aus. Unter Zugrundelegung der herkömmlichen Differenzierung zwischen Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld fällt die richtige Rubrizierung ebenso wie die dogmatische Lösung der Problematik demgegenüber uneinheitlich aus. So fehlt es nach den Vertretern der Lehre von der objektiven Zurechnung an der objektiven Zurechenbarkeit des deliktischen Erfolges.74 Nach anderer Auffassung, die eine Differenzierung zwischen Verhaltens- und Sanktionsnormen ebenso wie die Lehre von der objektiven Zurechnung nicht aufgreift, scheidet die Strafbarkeit des Neffen wegen des Vorliegens einer straflosen „Anstiftung zur Selbstgefährdung“75 bzw. wegen „fehlender Tatherrschaft“76 aus.

71 Frisch, W.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 13 ff., 94 ff.; ders. in: RoxinFS 2001, S. 213 ff., 232; Freund, G.: Strafrecht AT 1998, S. 32; ders.: JuS 2000, 754 ff.; JuS 1997, 331 ff., 333 und häufiger. 72 Jakobs, G. in: Hirsch-FS 1999, S. 45 ff., 46. 73 Im Erbonkelfall möchte der habgierige Neffe N. in den Genuß des Erbes seines Onkels O. kommen. N. überredet O. deshalb zu einer Flug- bzw. Seereise, bei der O., wie von N. gewünscht, durch den Absturz der Maschine bzw. den Untergang des Schiffes ums Leben kommt. 74 Wessels/Beulke: Strafrecht AT 2001, S. 60 (Rn. 184) m. w. N.; zur Sonderstellung Frischs, vgl. in diesem Kapitel II. 2. 75 Hirsch, H. J.: ZStW 74 (1962), 78 ff., 100 (Fn. 88): unter der Prämisse, dass derjenige der zu dem ihn gefährdenden Tun veranlasst worden ist (Erbonkel) die Gefahr oder deren Ausmaß selbst erkannt hat. 76 Hirsch, H. J.: ZStW 74 (1962), 78 ff., 101: Sofern sich der Veranlasste (Erbonkel) über die Gefahren nicht oder nicht genügend im Klaren war.

I. Straf- und normtheoretische Grundannahmen

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Während sich die vorstehend skizzierte Differenzierung zwischen Verhaltensund Sanktionsnormen auf das materielle Strafrecht beschränkt, will Freund77 darüber hinaus die Leitgedanken der Sanktionsnormen auch auf bestimmte Fragestellungen des Strafprozessrechts anwenden.78 Auf das Problem des Sanktionserfordernisses bezogen sind nach diesem Ansatz etwa die Vorschriften über die Einstellung des Verfahrens aus Opportunitätsgründen (§§ 153 ff. StPO), aber auch wesentliche Grundrechtseingriffe im Ermittlungsverfahren wie Blutprobe, Untersuchungshaft sowie allgemein die Kategorie des Anfangsverdachts.79 Freund knüpft insoweit nicht an den Aufklärungs- oder Verfahrenssicherungszweck80 strafprozessualer Eingriffsermächtigungen an, sondern sieht die auf der Grundlage der Strafprozessordnung ergehenden Maßnahmen bereits als „angemessene Reaktion auf einen (möglichen) Normbruch“,81 als ein „Zur-Rede-Stellen“82 eines möglichen Straftäters an. Was damit genau gemeint ist und auf welche Aspekte Freund das Kriterium der Angemessenheit insoweit zu beziehen beabsichtigt, ergibt sich aus den straftheoretischen Grundannahmen, die mit der von Freund und Frisch angenommen Trennung von Verhaltens- und Sanktionsnormen korrespondieren. 2. Straftheoretische Schlussfolgerungen a) Die Funktion der Verhaltensnormen Die im vorstehenden Abschnitt geschilderte normtheoretische Differenzierung wird von Freund und Frisch auch in ihren straftheoretischen Schlussfolgerungen beibehalten. Die Autoren gehen daher nicht von einer einheitlichen, auf das materielle Strafrecht insgesamt bezogenen theoretischen Begründung des Strafrechts aus, sondern differenzieren strikt zwischen Funktion und Zweck der Verhaltensnorm bzw. Funktion und Zweck der Sanktionsnorm. Da dogmatische Einzelfragen von ihnen unmittelbar auf diese (unterschiedlichen) Funktionen bezogen werden, erlangt diese normtheoretische Unterscheidung sowie die Rubrizierung von Einzelproblemen eine erhebliche praktische Bedeutung. Über das Konzept der Verhaltensnormen können die Autoren, wie bereits oben anhand der Legitimationsgründe dargelegt, obwohl auch bei ihnen die Theorie der positiven Generalprävention im Vordergrund steht,83 im Unter-

77

Freund, G. in: Wolter, J./Freund, G. (Hrsg.): Straftat 1996, S. 43 ff., 55 ff. Kritisch hierzu aber Frisch, W. in: Wolter, J./Freund, G. (Hrsg.): Straftat 1996, S. 135 ff., 207 ff. 79 Näher zu dieser Einordnung und den strafprozessualen Konsequenzen unten unter 3. 80 Vgl. insoweit z. B. Roxin, C.: Strafverfahrensrecht 1998, S. 235 ff. 81 Freund, G. in: Wolter, J./Freund, G. (Hrsg.): Straftat 1996, S. 43 ff., 55 ff. 82 Freund, G. in: Wolter, J./Freund, G. (Hrsg.): Straftat 1996, S. 43 ff., 59. 78

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schied zu der Grundposition von Jakobs das Prinzip des Strafrechts als Rechtsgüterschutz beibehalten. Verhaltensnormen dienen danach unmittelbar dem Schutz konkreter Rechtsgüter, der vor allem durch die prospektive Ausrichtung dieser Bestimmungen erzielt wird.84 Nur durch Ge- und Verbote, die ihre motivatorische Wirksamkeit vor der Tatbegehung – ex ante – entfalten, kann wirksam Rechtsgüterschutz bewirkt und Verhalten beeinflusst werden. Demgegenüber können die retrospektiv ausgerichteten Sanktionsnormen nicht mehr durch das Prinzip des Rechtsgüterschutzes legitimiert werden. Denn „wenn Strafe verhängt wird, ist das Kind bereits in den Brunnen gefallen: Die Bestrafung des Mörders macht das Opfer nicht wieder lebendig. Durch die Bestrafung des Täters einer Sachbeschädigung wird die zerstörte Vase nicht wieder heil. Für das konkret betroffenen Rechtsgut (in den Beispielen Leben und Eigentum des Opfers) kommt die Strafe immer zu spät.“85

Damit die intendierte verhaltenssteuernde Wirkung der Verhaltensnormen erzielt werden kann, legen die Autoren diese Kategorie als ein spezifisch personales Verhaltensunrecht aus. Das insbesondere bei Freund im Mittelpunkt stehende Konzept der „personalen Straftatlehre“86 ist daher auf die Person des potentiellen Straftäters bezogen, der von vornherein als „mündiger Bürger“ begriffen wird und „selbst in die Pflicht genommen ist, auf die rechtliche Richtigkeit seines (Entscheidungs-)Verhaltens zu achten“.87 Die Beurteilung des Verhaltensnormverstoßes erfolgt vor diesem Hintergrund notwendig aus der subjektiven Perspektive des Handelnden/Unterlassenden und trägt den individuellen Möglichkeiten und dem individuellen Kenntnisstand des Straftäters Rechnung.88 Schon im Vorwort seines Lehrbuchs stellt Freund daher heraus, dass nach dem von ihm vertretenen Konzept die „Voraussetzungen einer Straftat . . . im Hinblick auf die infrage stehenden Rechtsfolgen – der Schuldigsprechung und der Bestrafung einer Person – funktional“ zu bestimmen sind. „Dabei finden nicht zuletzt die verfassungsrechtlichen Anforderungen, die an solche staatlichen Rechtseingriffe zu stellen sind, die gebührende Beachtung. Grundlegendes Erfordernis einer jeden Straftat ist ein tatbestandsspezifisches personales Fehlverhalten. Diesem tatbestandsspezifischen Fehlverhalten des handelnden oder unterlassenden Subjekts trägt die hier unterbreitete personale Straftatlehre durch die Einrichtung und Ausdifferenzierung einer primären Straftatkategorie Rech-

83 Freund, G.: Strafrecht AT 1998, S. 4 ff.; Frisch, W. in: Schünemann, B. u. a. (Hrsg.): Generalprävention 1998, S. 125 ff.; ders.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 510–518. 84 Freund, G.: Strafrecht AT 1998, S. 31; ders.: Erfolgsdelikt 1992, S. 36; ders. in: Wolter, J./Freund, G. (Hrsg.): Straftat 1996, S. 43 ff.; Frisch, W.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 70 ff., 281. 85 Freund, G.: Strafrecht AT 1998, S. 3. 86 Vgl. den Untertitel seines Lehrbuchs Strafrecht AT 1998. 87 Freund, G.: GA 1991, 387 ff., 400. 88 Freund, G.: GA 1991, 387 ff., 398 ff.

I. Straf- und normtheoretische Grundannahmen

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nung, die genau dieses personale Verhaltensunrecht (unter Einschluss der bisherigen Rechtfertigungs- und Schuldaspekte) erfasst.“89

Auf der Ebene der Verhaltensnorm ist der Begriff „funktional“, der sowohl von Freund90 als auch von Frisch91 zur Charakterisierung des eigenen Ansatzes verwendet wird, daher im personfunktionalen Sinn zu verstehen. Folgerichtig entfaltet z. B. die Systemkategorie der Schuld, die bereits in der Rubrik der Verhaltensnorm zu prüfen ist, ihre zentrale personfunktionale Abgrenzungsfunktion: Von einem schuldhaften Verstoß gegen die Verhaltensnorm kann nur dann gesprochen werden, wenn die betroffene Person in der konkreten Entscheidungssituation92 hinter den Anforderungen zurückgeblieben ist, die von ihr als Individuum erwartet werden konnten.93 Hieran fehlt es etwa bei einem güterbedrohenden Verhalten eines „schuldunfähig Geisteskranken“,94 im Fall mangelnder Strafmündigkeit (§ 19 StGB) oder weil die Verantwortlichkeit einer Person für ihr Tun sonst ausgeschlossen ist (z. B. wegen unvermeidbaren Verbotsirrtums).95 Die Legitimation der Verhaltensnormen mit dem Prinzip des Rechtsgüterschutzes korrespondiert bei Frisch und Freund folglich mit einem spezifisch personfunktionalen Verständnis des Verhaltensnormverstoßes: Ein solcher liegt nur dann vor, wenn sich der Täter vor sich selbst im Unrecht weiß und nach dem herkömmlichen Begriffsverständnis schuldhaft und vorwerfbar gehandelt hat. Bei Frisch tritt dieser personfunktionale Argumentationszusammenhang besonders deutlich anhand seiner Ausführungen zum so genannten „wertrationalen“ Aspekt der Vorsatzstrafe hervor: „Dass die Vorsatzstrafe eher eingreift und schärfer ausfällt, erfährt seine Berechtigung . . . auch dadurch, dass das Handeln des Vorsatztäters als typischerweise erhöhte Fehlleistung gegenüber den Anforderungen des Rechts erscheint. Das Wissen um das Verhalten in seiner die Unwertigkeit begründenden und damit Verbot und Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens tragenden Eigentümlichkeit erklärt diese erhöhte Fehlleistung – jedenfalls soweit diese unter Wissensaspekten überhaupt erklärbar ist. Es macht deutlich, dass der Grund der erhöhten Fehlleistung in der Nichtausnutzung einer Vermeidemacht liegt, die im Falle des Wissens gegenüber dem Fall des Nichtwissens typischerweise erhöht ist. Wer um jene Dimension seines Verhaltens weiß, die den Anlass zum gesetzlichen Verbot gibt, kann die Tat mit Blick auf die Anforderungen des Rechts eher vermeiden als der, dem diese Kenntnis abgeht.“96 89

Freund, G.: Strafrecht AT 1998, Vorwort, S. V (Hervorhebung im Original). Freund, G.: Erfolgsdelikt 1992, S. 36. 91 Frisch, W.: Vorsatz 1983, S. 502–506; ders.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 518 ff.; ders.: JuS 1983, 915 ff., 923. 92 Freund, G.: GA 1991, 387 ff.; Frisch, W.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 94. 93 Freund, G.: Strafrecht AT 1998, S. 107. 94 Freund, G.: Strafrecht AT 1998, S. 108. 95 Freund, G.: Strafrecht AT 1998, S. 116. 90

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Schon durch diese personfunktionale Ausrichtung des Strafrechts auf der Ebene des Verhaltensnormverstoßes wird ein wesentlicher Unterschied der beiden unter dem Etikett des „Funktionalismus“ operierenden Ansätze Jakobs’ (und seiner Schüler) sowie Frischs und Freunds deutlich. Während die zuletzt genannten Autoren hinsichtlich der Strafzwecke zwischen Verhaltensnorm und Sanktionsnorm differenzieren, liegt dem Modell von Jakobs eine homogene systemfunktionale Zweckbestimmung zugrunde. Alle Komponenten der Strafbarkeit sind hier auf den auf die Gesellschaft bezogenen Zweck hin ausgerichtet, den Geltungsanspruch der durch die Tat beeinträchtigten Normgeltung zu bestätigen und zu erneuern. Demgegenüber sind Freund und Frisch durch die von ihnen vertretene normtheoretische Unterscheidung grundsätzlich offen für ein personfunktionales Konzept der Strafbarkeit, das nicht allein den Schutz der Gesellschaft durch den Staat, sondern auch den Schutz des Individuums vor dem Staat gewährleisten kann. b) Die Funktion der Sanktionsnormen Während sich die Auffassung Frischs und Freunds zur Legitimation der Verhaltensnormen und zu dem hiermit in Verbindung stehenden Konzept des Verhaltensnormverstoßes als Verwirklichung personalen Unrechts zumindest dem Programm nach geradezu als Idealtypus einer personfunktionalen Strafrechtsdogmatik darstellt, zeigt ihre Begründung der Sanktionsnormen und des Sanktionsnormverstoßes eine eindeutige, mit der Position von Jakobs und seinen Schülern durchaus vergleichbare systemfunktionale Zuspitzung. Da Sanktionsnormen – wie bereits dargelegt – nicht mit dem Prinzip des Rechtsgüterschutzes legitimiert werden können, bedürfen sie zu ihrer rechtsstaatlichen Anerkennung eines grundsätzlich anderen, aber gleichermaßen verfassungsmäßigen Begründungszusammenhangs. Dieser wird sowohl von Frisch97 und argumentativ pointierter auch von Freund98 ausschließlich in den Bedürfnissen positiver Generalprävention gesehen. Nach dieser Auffassung zielt die Sanktionsnorm und der auf ihr beruhende richterliche Schuldspruch alleine darauf ab, zu bestätigen, dass die der Verhaltensnorm zugrunde liegende Bewertung nach wie vor zutreffend und gesellschaftlich maßgeblich ist. Strafe dient damit auch nach der Konzeption von Frisch und Freund der Bestätigung der durch die Straftat gefährdeten „Geltungskraft der übertretenen Verhaltensnorm“.99 Diese schon terminologisch an Jakobs erinnernde systemfunktionale Ausrichtung des Strafrechts in 96

Frisch, W.: Vorsatz 1983, S. 97 (Hervorhebungen im Original). Frisch, W.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 516–518; ders. in: Schünemann, B. u. a. (Hrsg.): Generalprävention 1998, S. 125; ders.: Vorsatz 1983, S. 47 ff., 51 ff. 98 Freund, G. in: Wolter, J./Freund, G. (Hrsg.): Straftat 1996, S. 43; ders.: GA 1995, 4 ff.; ders.: ZLR 1994, 261 ff.; ders.: Erfolgsdelikt 1992, S. 107 ff. 97

I. Straf- und normtheoretische Grundannahmen

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Gestalt der Sanktionsnormen sowie die entsprechende Begründung der Strafe ist das „Marburger Programm“, das Freund im Jahre 1993 in seiner Antrittsvorlesung „Der Zweckgedanke im Strafrecht?“ vorstellt: „Die inhaltlich richtige Kennzeichnung des Verhaltens (etwa als rechtlich zu missbilligendes Tötungs-, Körperverletzungs-, oder Sachbeschädigungsverhalten) dient der Bekräftigung, dass man sich so – wie der Normbrüchige – nicht verhalten darf und dass er in diesem Sinne Unrecht getan hat. Diese Bekräftigung fungiert als Widerspruch gegenüber dem begangenen Normbruch. Sie soll die im Normbruch zu erblickende Infragestellung der Bewertung kompensieren, die der übertretenen Verhaltensnorm zugrunde liegt. Der entsprechende Tadel soll – in prozessualer Terminologie gesprochen – den durch die Tat gestörten Rechtsfrieden wieder herstellen. Das kann nur gelingen, wenn der Tadel berechtigt ist. Fehlt es daran, muss ein dennoch erfolgender Schuldspruch nicht nur ungerecht erscheinen, sondern kann schon rein zweckrational nicht legitimiert werden.“100

In einer erweiterten Fassung seiner Antrittsvorlesung101 präzisiert Freund die Funktionsbestimmung der Sanktionsnorm und differenziert darüber hinaus zwischen Schuldspruch und Rechtsfolgenausspruch des richterlichen Urteils. Der Schuldspruch beinhaltet die Feststellung eines Verstoßes gegen Verhaltens- und Sanktionsnorm. Er kennzeichnet und präzisiert, dass sich der Täter in strafrechtlich zu missbilligender Weise verhalten hat. Seine wesentliche Funktion besteht allerdings nicht darin, dem Täter selbst die personale Fehlleistung zum Vorwurf zu machen, sondern der Adressat des Schuldspruches ist – entsprechend dem generalpräventiven Konzept – wiederum die Allgemeinheit. Ihr wird demonstriert, dass der „Normbrüchige“ Unrecht getan hat, und dass es richtig ist, an der Verhaltensnorm festzuhalten. Individuelles Fehlverhalten und Generalprävention sind dabei derart miteinander verknüpft, dass nur die zutreffende, „inhaltlich richtige“ Kennzeichnung des verwirklichten Unrechts der durch den Schuldspruch erfolgenden „Kompensation“ bedarf. Ist der „Tadel“ dagegen unberechtigt, ist der Rechtsfrieden nicht gefährdet, und es ist keine strafrechtliche Antwort in Form des richterlichen Schuldspruchs erforderlich. Die Strafe, die auf diesem gesellschaftlich („zweckrational“) legitimierten Schuldspruch beruht, sowie die einzelnen Schritte der Strafzumessung verstehen sich nach dem Ansatz beider Autoren102 als konsequente Fortschreibung dieses systemfunktionalen Begründungsansatzes: „Im Bereich der Strafzumessung findet vor allem eine quantitative Abschichtung nach dem jeweiligen Gewicht des begangenen Delikts statt. Diese Differenzierung erscheint zur Erfüllung des legitimen Zwecks der Bestrafung angezeigt. Denn allein 99 Freund, G.: Strafrecht AT 1998, S. 4; ähnliche Formulierungen bei Frisch, W.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 517: „Aufrechterhaltung des Geltungsanspruchs der Norm“ bzw. S. 516: „Aufweis der Unverbrüchlichkeit der Norm“. 100 Freund, G.: GA 1995, 4 ff., 7 f. (Hervorhebung im Original). 101 Freund, G. in: Wolter, J./Freund, G. (Hrsg.): Straftat 1996, S. 43 ff. 102 Frisch, W. in: Wolter, J. (Hrsg.): 140 Jahre GA 1993, S. 1 ff.

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eine dem Normbruch angemessene Reaktion vermag das verwirklichte Unrecht zu ,brandmarken‘. Allein sie kann – als entsprechend sinnfälliger Widerspruch gegenüber dem die Normgeltung gefährdenden Normbruch – mit der zur Wiederherstellung des gestörten Rechtsfriedens notwendigen Akzeptanz rechnen – seitens des Normbrüchigen selbst wie seitens der Allgemeinheit. Wer insoweit wesentlich Gleiches ungleich oder wesentlich Ungleiches gleich behandeln würde, verfehlte den die Strafe allein legitimierenden Zweck (der Kompensation des die Normgeltung gefährdenden Normbruchs) und störte selbst den Rechtsfrieden, statt ihn wiederherzustellen.“103

Diese Ausführungen Freunds werfen im Hinblick auf die in dieser Arbeit zugrunde gelegte Problemstellung zunächst mehr Fragen auf, als sie beantworten. Der Text in der Klammer beinhaltet zwar ein eindeutiges Bekenntnis zur positiven Generalprävention als alleiniger Legitimationsgrundlage für die staatliche Kriminalstrafe. Offen bleibt allerdings, unter welchem Gesichtspunkt ein im Hinblick auf die Strafzumessung relevanter Sachverhalt als „gleich“ bzw. „ungleich“ eingestuft und nach welchen Kriterien eine strafrechtliche Reaktion vor dem Hintergrund dieser Straftheorie als „angemessen“ angesehen werden kann. Resümiert man die Veröffentlichungen Frischs und Freunds, so wird zunächst erkennbar, dass weder die Vergleichbarkeit der Lebenssachverhalte noch die Angemessenheit der Sanktion mit spezialpräventiven oder mit empirisch-generalpräventiven Aspekten begründet wird. Bei der Bestimmung der Angemessenheit ist es daher nach Auffassung der Autoren zunächst bedeutungslos, ob die Strafe zur Einwirkung auf den Täter erforderlich bzw. ausreichend ist. Denn die Effekte der positiven Spezialprävention sind nach dieser Konzeption allenfalls Nebenaspekte der Strafe und tragen insbesondere nicht zu ihrer Legitimation bei.104 Trotz der Bezugnahme auf die positive Generalprävention soll es aber auch auf die sozialpsychologischen Aspekte, die mit diesem Strafzweck verbunden sind, nicht ankommen. Vor allem Frisch hebt vielmehr hervor, dass die empirische Seite der positiven Generalprävention lediglich eine „plausible Annahme“ und keinen erfahrungswissenschaftlich abgesicherten Befund darstellt und folglich auch keine Grundlage für eine zweckrationale Strafzumessungsdogmatik darstellen kann. Denn „nach dem Konzept der positiven Generalprävention müssten die Strafen so bemessen sein, dass sie geeignet sind, das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung zu stärken; aus normativen Gründen dürften nur die Strafen verhängt werden, die im Blick auf dieses Konzept erforderlich sind. Es ist leicht zu sehen, dass dieses Konzept weit davon entfernt ist, umsetzbar zu sein. Im Grunde fehlt es für die Umsetzbarkeit schon an der präzisen Formulierung des anzustrebenden ,Sollzustands‘: Auf welches Maß von Straftaten soll reduziert werden? Geht es darum, das Rechtsbewusstsein so zu stärken, dass Straftaten überhaupt verhindert werden? Aber kann man das im Wege der Strafe überhaupt? Und wenn es weniger ist: Welches Maß an Rechtsbe103 104

Freund, G. in: Wolter, J./Freund, G. (Hrsg.): Straftat 1996, S. 43 ff., 50. Frisch, W.: Vorsatz 1983, S. 49.

I. Straf- und normtheoretische Grundannahmen

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wusstsein ist genau angestrebt? – Doch selbst wenn insoweit Klarheit bestünde: Es fehlt offensichtlich an empirisch abgesicherten Aussagen darüber, welche Strafen geeignet und erforderlich sind, um ein bestimmtes Rechtsbewusstsein zu schaffen oder zu stabilisieren.“105

Der Argumentationsansatz der Autoren zielt daher – ebenso wie die jüngeren Arbeiten Jakobs’ – auf eine Integration absoluter Strafbegründung in die Theorie der Generalprävention, die auch hier mit der Absicht verbunden ist, einen Kern der Theorie der positiven Generalprävention zu identifizieren, der gegen eine empirische Falsifizierung immun ist. Bei Frisch steht diese Strategie allerdings erst in neueren Arbeiten im Vordergrund. Noch in der Monographie „Vorsatz und Risiko“ assoziiert er mit der Theorie der positiven Generalprävention bestimmte, ausdrücklich als solche benannte sozialpsychologische Effekte. Ein „generalpräventiv orientierter Strafeinsatz“ stellt nach seiner dort vertretenen Meinung ein „Konzept des Güterschutzes“ dar, durch das der „infizierenden“ und “verunsichernden“ Wirkung der „unwertigen Tat“ entgegen getreten werden soll. Frisch bezieht sich dabei auf die „erfahrungsbegründete Einsicht“,106 dass Straftaten oder allgemein güterbedrohende Verhaltensweisen die Einstellungen und das Verhalten anderer Gesellschaftsmitglieder verändern und das Vertrauen in die Geltung und Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung untergraben können. Die Kriminalstrafe versteht Frisch in dieser Veröffentlichung folglich als eine durchaus reale und nicht lediglich symbolisch zu verstehende staatliche Maßnahme, die im Sinne einer „erste(n) Strategie staatlichen Strafeinsatzes“107 dazu geeignet ist, diesen Gefahren zu begegnen. Der in neuen Arbeiten Frischs108 und Freunds109 gewählte Rekurs auf die absolute Straftheorie kombiniert dabei die möglichen Begründungsansätze, die in der Literatur im Rahmen der Verbindung absoluter und relativer Theorien vertreten werden.110 Ähnlich dem Ansatz Jakobs’ und Leschs bezieht sich vor allem Frisch in neueren Veröffentlichungen auf eine „Zerrbilder“ korrigierende Interpretation der Straftheorien Kants und Hegels, bei denen bereits ein „irdischer Zweck“, nämlich die „Erhaltung und Gewährleistung des Rechtszustandes und eines Lebens in diesem“111 im Vordergrund gestanden habe. Frisch sieht die Kriminalstrafe in Übereinstimmung mit dieser Interpretation Kants und vor allem Hegels als „Negation der Negation des Rechts“ an, die den Täter tadelt 105

Frisch, W. in: Schünemann, B. u. a. (Hrsg.): Generalprävention 1998, S. 125 ff.,

134. 106

Frisch, W.: Vorsatz 1983, S. 48, 49. Frisch, W.: Vorsatz 1983, S. 48, 49. 108 Frisch, W. in: Schünemann, B. u. a. (Hrsg.): Generalprävention 1998, S. 125 ff. 109 Freund, G. in: Wolter, J./Freund, G. (Hrsg.): Straftat 1996, S. 43 ff., 73 ff. 110 Eingehend zu den vertretenen Meinungen: Hoffmann, P.: Vergeltung und Generalprävention 1992, weitere Literaturnachweise in Kapitel 3 Fn. 59, 60. 111 Frisch, W. in: Schünemann, B. u. a. (Hrsg.): Generalprävention 1998, S. 125 ff., 141. 107

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Kap. 4: Funktionalismus bei Wolfgang Frisch und Georg Freund

und eine gesellschaftlich symbolische Wirkung entfaltet: Sie verdeutlicht, dass die Gemeinschaft trotz des Verhaltens des Täters am Recht festhält und das Recht als geltende Grundlage des gesellschaftlichen Lebens akzeptiert. Vor diesem Hintergrund will Frisch die Termini „Einübung in Normanerkennung“ oder „Erzeugung von Normvertrauen“ nicht (mehr) als empirischen Ausgangspunkt eines darauf zielgerichteten Programms des Strafeinsatzes verstanden haben wissen, sondern er spricht insoweit zurückhaltender von der „Beschreibung des Effekts“ des „symbolischen Mittel(s)“ einer „um der Freiheit willen erfolgenden“ Strafe.112 Geringere Selbstbeschränkungen legt sich Frisch allerdings im Rahmen der aus dieser Straftheorie zu ziehenden Konsequenzen auf, die in seinem neueren Aufsatz über die Theorie der Generalprävention aber nur angedeutet werden. Die von ihm vertretene Theorie der Generalprävention stellt danach den „berechtigten Kern“ bzw. eine „überzeugende Fundierung des Strafrechts“ dar, die auch für dessen „Einzelausgestaltung“ tragfähig ist und damit die Akzeptanz für ein „dezidiert funktionale(s), präventionsorientierte(s) Strafrecht“113 herbeiführt. Welche Konsequenzen Frisch aus dem Konzept der positiven Generalprävention im Einzelnen ableitet, wird im folgenden Abschnitt (II.) näher beleuchtet. Bei Freund ist die Verbindung präventiver Überlegungen in Gestalt der Theorie der positiven Generalprävention zunächst weniger offensichtlich als bei Frisch. Freund wendet sich in verschiedenen Stellungnahmen sogar ausdrücklich gegen eine absolute Straftheorie114 und bezieht sich ausschließlich auf ein zweckorientiertes, auf Normstabilisierung zielendes Konzept staatlichen Strafeinsatzes. Dennoch ist er der Auffassung, dass der „für eine absolute Straftheorie charakteristische Gedanke“ in seinem „zweckrationalen Strafrechtskonzept“115 einen Stellenwert erlangt. Um diese Verbindung herzustellen, bedienen sich Freund und in älteren Beiträgen auch Frisch116 implizit des zweiten Begründungsansatzes zur Integration der absoluten Straftheorie in das Konzept der positiven Generalprävention. Generalpräventiv wirksam ist danach nur die dem Gewicht des begangenen Delikts entsprechende und damit im Ergebnis die schuldadäquate Strafe, die sich abstrakt in den Strafrahmen der gesetzlichen Straftatbestände widerspiegelt und die im richterlichen Urteil zu einer im zu entscheidenden Einzelfall angemessenen Sanktion konkretisiert wird. Freund er112

Frisch, W. in: Schünemann, B. u. a. (Hrsg.): Generalprävention 1998, S. 125 ff., 143. Frisch, W. in: Schünemann, B. u. a. (Hrsg.): Generalprävention 1998, S. 125 ff., 139. 114 Z. B.: Freund, G. in: Wolter, J./Freund, G. (Hrsg.): Straftat 1996, S. 43 ff., 43, 44: „Nur die notwendige Strafe ist eine gerechte Strafe. Eine absolute (zweckfreie) Straftheorie kann vor diesem Hintergrund nicht mehr vertreten werden. Sie entspricht jedenfalls nicht dem geltenden Recht. Zu dieser Interpretation Freunds vgl. auch Frisch, W. in: Wolter, J./Freund, G. (Hrsg.): Straftat 1996, S. 135 ff., 206. 115 Freund, G.: Strafrecht AT 1998, S. 5. 116 Frisch, W. in: Wolter, J. (Hrsg.): 140 Jahre GA 1993, S. 1 ff., 20. 113

I. Straf- und normtheoretische Grundannahmen

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teilt der absoluten Straftheorie daher nur insoweit eine Absage, als sie Vergeltung um ihrer selbst willen anstrebt. Sofern diese Theorie aber in das systemfunktionale Nützlichkeitsdenken integriert werden kann, ist der Rückgriff auf Aspekte des gerechten Schuldausgleichs nach seiner auch insoweit an Frisch anknüpfenden Auffassung legitim. In einem Beitrag Frischs zur Strafzumessungsdogmatik findet sich dieser Gedanke explizit ausgeführt: „Der Zweck, an dem sich der Rechtsanwender bei der Strafzumessung zu orientieren hat, ist der mit der Verhängung der Strafe überhaupt verfolgte Zweck. Dieser Zweck liegt – das ist trotz unterschiedlicher Begrifflichkeiten letztlich schwer bestreitbar – im Aufweis der Unverbrüchlichkeit der verletzten Norm, dem Aufweis ihrer Geltung, also der Normstabilisierung. Zur Normstabilisierung bedient man sich dabei einer an der negativen Bedeutung der Tat für die Normgeltung Maß nehmenden Reaktion – also einer Reaktion, die sich am Ausmaß des verschuldeten Unrechts orientiert . . . Zu all dem mag man, obwohl das die Zusammenhänge verkürzt, auch Ausgleich der Schuld oder Vergeltung des Unrechts sagen; auch Sühneerwägungen lassen sich in diesem Zusammenhang ansiedeln.“117

c) Die Funktion des Strafverfahrens Während die dem Leitgedanken der Generalprävention verpflichtete Kategorie der Sanktionsnorm bei Frisch lediglich die dort zu diskutierenden materiellstrafrechtlichen Aspekte sowie wesentliche sanktionenrechtliche Problemstellungen betrifft, will Freund das systemfunktionale Konzept auch auf die oben präzisierten Bereiche des Strafprozessrechts anwenden, die seiner Auffassung nach systematisch den Sanktionsnormen zuzuordnen sind. Wenn Freund den Anfangsverdacht, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung, die Verfahrenseinstellung unter Auflagen (§§ 153a ff. StPO) oder Grundrechtseingriffe wie die Anordnung der körperlichen Untersuchung nach § 81a StPO sowie die Untersuchungshaft (§§ 122 ff. StPO) bereits als „angemessene Reaktion auf einen möglichen Normbruch“118 ansieht, bezieht er sich auf die Bedürfnisse der positiven Generalprävention, die nach seiner Auffassung den Maßstab für die Anwendung dieser verfahrensrechtlichen Regelungen abgeben. Für die an das Vorliegen eines Anfangsverdachts119 (§ 152 Abs. 2 StPO) geknüpfte Einleitung eines Ermittlungsverfahrens bedeutet dies, den Maßstab für diese Entscheidung nicht normativ einheitlich einer bestimmten Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer verfolgbaren Straftat zu entnehmen, sondern ausschließlich anhand des systemfunktional verstandenen übergeordneten Zwecks des Strafverfahrens, der „Wiederherstellung des gestörten Rechtsfriedens“ zu 117

Frisch, W. in: Wolter, J. (Hrsg.): 140 Jahre GA 1993, S. 1 ff., 20. Freund, G. in: Wolter, J./Freund, G. (Hrsg.): Straftat 1996, S. 43 ff., 55 ff. 119 Vgl. § 152 Abs. 2 StPO: Für die Einleitung des Ermittlungsverfahrens müssen „zureichende tatsächliche Anhaltspunkte“ einer „verfolgbaren Straftat“ bestehen. 118

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bestimmen. Entscheidendes Kriterium für die Beurteilung des Anfangsverdachts ist damit das Gewicht der möglicherweise begangenen Straftat. Während dieses Kriterium in der herkömmlichen Prozessrechtsdogmatik im Rahmen der Prüfung des Anfangsverdachts allenfalls bei bestimmten Grenzfragen des Verfolgungszwangs wie etwa dem außerdienstlich erlangten Wissen der Verfolgungsorgane120 oder nach Einleitung eines Ermittlungsverfahrens über die „Nichtverfolgungsermächtigungen“121 der § 153 ff. StPO Bedeutung erlangt, sieht Freund das Gewicht der Straftat mit Blick auf den hiervon ausgehenden Normgeltungsschaden als insoweit entscheidendes Abwägungskriterium an: „Je nachdem, ob ein Mord oder ein kleiner Bagatelldiebstahl in Frage steht, kann ein und derselbe Umstand einmal Grund genug für daran anknüpfende Ermittlungen sein, das andere Mal nicht – man denke etwa an die Äußerung eines Kindes, das als Zeuge der möglichen Tat in Betracht kommt. Mit dem möglichen Mord kann man sich nicht ohne weiteres abfinden, mit dem möglichen Bagatelldiebstahl dagegen schon.“122

In Bagatellsachen misst Freund aber bereits dem Ermittlungsverfahren einen sanktionierenden Charakter bei, der im Sinne eines „Zur-Rede-Stellens“ eines „möglichen Straftäters“ unter bestimmten Umständen „den sonst gestörten Rechtsfrieden wenigstens annähernd wiederherzustellen“123 vermag. Er warnt daher grundsätzlich davor, in diesem Bereich auf eine mögliche Aufklärung der Tat zu verzichten, denn ein Desinteresse an Aufklärung könnte zu einer Fehleinschätzung der verletzten Verhaltensnorm und damit im Ergebnis zu einer Destabilisierung der Normgeltung führen. Die anhand des Anfangsverdachtes aufgezeigte Abwägungsdogmatik soll nach Freund auch der entscheidende Leitgesichtspunkt für Grundrechtseingriffe im Ermittlungsverfahren darstellen. Der mit der möglicherweise begangenen Tat assoziierte Normgeltungsschaden ist auch hier das maßgebliche Kriterium für die bei diesen Eingriffen vorzunehmende Verhältnismäßigkeitsprüfung sowie für die Auslegung der maßgeblichen Verdachtsgrade. Aus dem Blickwinkel der positiven Generalprävention kommt etwa der Untersuchungshaft für Freund jedenfalls dann ein sanktionierender Charakter zu, wenn die Beweislage klar und der Normbruch hinreichend gewichtig ist. Denn in diesem Fall kann das „Zögern mit einer spürbaren und auch weithin deutlich sichtbaren Reaktion als Nichternstnahme des Verbrechens aufgefasst werden“, die ihrerseits geeignet ist, die Normgeltung zu beeinträchtigen.124 Ebenso, wie der Ansatz Leschs, der in bestimmten Bereichen noch über die Forderungen seines Lehrers Jakobs hinausgeht und den systemfunktionalen An120

Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 160 StPO, Rn. 10. KMR-Plöd (20. Juli 1999), § 152 StPO, Rn. 27. 122 Freund, G. in: Wolter, J./Freund, G. (Hrsg.): Straftat 1996, S. 43 ff., 58 (Hervorhebung im Original). 123 Freund, G. in: Wolter, J./Freund, G. (Hrsg.): Straftat 1996, S. 43 ff., 59. 124 Freund, G. in: Wolter, J./Freund, G. (Hrsg.): Straftat 1996, S. 43 ff., 70. 121

I. Straf- und normtheoretische Grundannahmen

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satz vertieft, zeigt auch der Übergriff der Theorie der positiven Generalprävention auf den Bereich des Prozessrechts in Gestalt der Überlegungen Freunds die Ausweitung und Radikalisierung bestimmter Lehrmeinungen durch die Schülergeneration. Frisch gibt Freund zwar in methodischer Hinsicht Recht, die normtheoretische Differenzierung „in den Prozess hinein fortzudenken“,125 beurteilt die Tragfähigkeit des Kriteriums der positiven Generalprävention insoweit aber zurückhaltender und skeptischer als Freund. Bei der Lösung konkreter prozessualer Sachfragen sind seiner Auffassung nach grundsätzlich auch andere Wertungen als die der Normstabilisierung in die Entscheidung mit einzubeziehen und weitergehende Gesichtspunkte und Kriterien (z. B. bei der Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr: „Verhältnismäßigkeit, Verallgemeinerbarkeit bestimmter Annahmen, Recht zu bestimmter Lebensführung, folgenorientierte Überlegungen usw.) maßgeblich.126 3. Kritik aus personfunktionaler Sicht Da die straftheoretische Grundposition der Autoren unmittelbar auf den Unterschied zwischen Sanktions- und Verhaltensnormen bezogen ist und nur die Kategorie der Sanktionsnorm systemfunktional ausgelegt wird, ist die richtige „Rubrizierung“ einzeldogmatischer Problemstellungen unmittelbar ausschlaggebend für die Frage, inwieweit die Schutzinteressen der Person vor dem staatlichen Zugriff gewahrt bleiben. Soweit Freund und Frisch ein materiell-strafrechtliches Problem, etwa die Frage der „tatbestandsspezifisch missbilligten Schaffung oder Nichtabwendung von Möglichkeiten eines schadensträchtigen Verlaufs“, sowie bei den Vorsatzdelikten die „Vorsätzlichkeit des Verhaltensunrechts“ der Rubrik der Verhaltensnorm zuweisen, steht zumindest der erklärten Absicht der Autoren nach die personfunktionale Ausrichtung des Strafrechts im Vordergrund. Da das Konzept der personalen Straftatlehre auf die Funktion des Strafrechts als Instrument des Rechtsgüterschutzes bezogen ist, kann es grundsätzlich auf die hiermit verbundene Kontroll- und Limitierungsfunktion zurückgreifen. Auch die verfassungsrechtlichen Überlegungen der Autoren, die Begrenzung der Handlungsfreiheit an den Kriterien der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit zu orientieren, tendieren in diese Richtung. Mit diesem verfassungsrechtlichen Bezug wird aber zugleich eine Grenze der personfunktionalen Limitierung des Strafrechts deutlich. Die Abwägung zwischen Freiheitsrechten der Bürger und legitimen öffentlichen Zwecken anhand der Kriterien des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes mag dann zur Begrenzung

125 126

Frisch, W. in: Wolter, J./Freund, G. (Hrsg.): Straftat 1996, S. 135 ff., 207. Frisch, W. in: Wolter, J./Freund, G. (Hrsg.): Straftat 1996, S. 135 ff., 205 ff.

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Kap. 4: Funktionalismus bei Wolfgang Frisch und Georg Freund

des hoheitlichen Handelns ausreichend sein, wenn es sich allgemein um hoheitliche Eingriffe, d. h. insbesondere um Eingriffe der Exekutive auf der Grundlage des Verwaltungsrechts handelt. Sofern die Limitierung der Handlungsfreiheit ausschließlich anhand dieser Kriterien durchgeführt wird, besteht aber die Gefahr, dass sich das Strafrecht bzw. die zugrunde liegenden Verhaltensnormen nicht mehr darauf beschränken, die ultima ratio der Sozialkontrolle darzustellen.127 Vor diesem Hintergrund müssen Beschränkungen der Handlungsfreiheit durch das Strafrecht nicht nur den allgemeinen Anforderungen an staatliche Eingriffe (in Gestalt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes) genügen, sondern sie sind auf die besonders relevanten sozialschädlichen Verhaltensweisen zu beschränken.128 Frisch hebt zwar hervor, dass die Verhaltensnormen nicht nur verhältnismäßig sein müssen, sondern dass es darüber hinaus insbesondere eines Schutzes der hinter den Verhaltensnormen stehenden Rechtsgüter durch das Strafrecht bedarf. Diese allgemeine Forderung bleibt aber deshalb weitgehend konturenlos, weil er bei den „drei phänomenologischen Grundtypen“, anhand deren die Notwendigkeit und Angemessenheit des strafrechtlichen Schutzes durch Verhaltensnormen beurteilt werden soll, im Wesentlichen nur auf den Unmittelbarkeitszusammenhang zwischen Täterverhalten und Rechtsgutsverletzung abstellt, diese Überlegungen aber nicht mit einer spezifischen Rechtsgutslehre verbindet. Insoweit bleibt unklar, anhand welchen Maßstabs der Kanon durch Strafrecht geschützter Interessen ausgewählt werden soll bzw. welche Prinzipien hierbei den Ausschlag geben können. Der bereits durch den Titel „Vorsatz und Risiko“ gewählte Bezug auf das „Risikostrafrecht“129 macht deutlich, dass Frisch Entkriminalisierungstendenzen oder eine restriktive Auslegung der Voraussetzungen von Verhaltensnormen nur dort befürworten kann, wo kein Bedarf an Rechtsgüterschutz besteht, sein Ansatz jedoch grundsätzlich dann auch für Neukriminalisierungen (etwa auf der Ebene der abstrakten Gefährdungsdelikte) oder eine weitere Auslegung von Tatbestandsvoraussetzungen offen ist, wenn es um die Verminderung (vermeintlicher) gesellschaftlicher Risiken geht. Das Strafrecht wird damit zu einem allgemeinen politischen Steuerungsinstrument menschlichen Entscheidungsverhaltens, das über seine Rechtsfolge Strafe die Kosten für das Eingehen bestimmter Risiken erhöht und damit an den Typus des zweckrational handelnden Straftäters adressiert ist, der diese Kostenseite in seinen Handlungsentwürfen berücksichtigt. Damit wird deutlich, dass die Autoren bereits auf der Ebene der Genese von Verhaltensnormen „staatsutilitaristische“ und im Ergebnis systemfunktionale Erwägungen in den Vordergrund stellen. Die Auswahl der Handlungsbeschränkungen durch Verhaltensnormen ist weniger am Magna Charta Gedanken des 127 128 129

Prittwitz, C.: Strafrecht und Risiko 1993, S. 346 f. Albrecht, P.-A. u. a. (Hrsg.): Strafrecht – ultima ratio 1992, S. 14. Vgl. hierzu im Einzelnen Prittwitz, C.: Strafrecht und Risiko 1993.

I. Straf- und normtheoretische Grundannahmen

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Strafrechts oder am ultima-ratio-Prinzip orientiert, sondern zielt primär auf die Effizienzsteigerung gesellschaftlicher Mechanismen und auf die Erhaltung der Strukturen und Institutionen des Systems. Folgerichtig ist die teleologische Auslegung ranghöchstes Auslegungsprinzip und die Auslegung nach dem Wortlaut bildet nicht mehr das Fundament, sondern nurmehr die äußerste Grenze für die Bestimmung der Strafbarkeit innerhalb eines gesetzlichen Straftatbestandes. Ein auch praktisch relevantes Beispiel für diese von den Autoren in den Mittelpunkt gestellte systemfunktionale Steuerungsfunktion des Strafrechts schon auf der Ebene der Verhaltensnorm ist Freunds Position zu dem strafrechtsdogmatischen Meinungsstreit über die Urkundenqualität von Fotokopien.130 Entgegen der herrschenden Meinung in Rechtsprechung131 und Lehre132 ist Freund der Auffassung, Fotokopien seien auch dann Urkunden im Sinne der §§ 267 ff. StGB, wenn sie nicht als angebliches Original eingesetzt würden. Freund begründet seinen Standpunkt mit einer an der Schutzfunktion des § 267 StGB orientierten teleologischen Auslegung, deren Resultat er nur daraufhin überprüft, ob es von den Grenzen der Wortlautauslegung gedeckt ist.133 Den hiernach maßgeblichen Schutzzweck des § 267 StGB identifiziert Freund mit dem „schutzwürdigen Vertrauen“ des Rechtsverkehrs, dass die „entsprechend verkörperte Erklärung von dem stammt, von dem sie zu stammen scheint“.134 Kopien aus dem strafrechtlichen Schutz der Urkundsdelikte auszunehmen, ist vor diesem Hintergrund und angesichts ihrer zunehmenden Verbreitung im „mitmenschlichen Umgang“ sowie wegen der damit verbundenen „gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen“ sachlich unberechtigt. Denn ohne den strafrechtlichen Schutz der Kopie wären stetige Nachforschungen und Nachfragen über die Echtheit des vorgelegten Dokuments erforderlich, die für den damit Konfrontierten „nicht nur lästig, sondern auch diskriminierend“135 ausfallen und allgemein zu einer Behinderung des wirtschaftlichen Lebens führen würden.136 130 Freund, G.: JuS 1991, 723 ff. (Besprechung von BayObLG, NJW 1990, 3221); ders.: Urkundenstraftaten 1996; ders.: StV 2001, 233 ff. (Anmerkungen zu OLG Düsseldorf, StV 2001, 233 f.). 131 BayObLG, NJW 1990, 3221; BayObLG NJW 1992, 3311; OLG Düsseldorf, StV 2001, 233 f.; BGHSt 20, 18 f.; 24, 140 ff., 141 f. 132 Schönke-Schröder-Cramer: § 267, Rn. 42; Zaczyk, R.: NJW 1989, 2515 f.; Wessels/Hettinger: Strafrecht BT 1 2001, S. 203 (Rn. 811). 133 Freund, G.: JuS 1991, 723 ff., 724: „Einerseits muss – will man einen Selbstwiderspruch vermeiden – bei fehlender Verletzung eines als je spezifisch schutzwürdig anerkannten Interesses die Strafbarkeit selbst dann verneint werden, wenn der Wortlaut der Strafnorm eine solche an sich zuließe. Andererseits muss – gleichfalls zur Vermeidung eines Selbstwiderspruchs – eine entsprechende Strafbarkeit grundsätzlich dann angenommen werden, wenn der Wortlaut der Strafnorm dies zulässt und ein als je spezifisch schutzwürdig anerkanntes – in concreto auch eindeutig überwiegendes – Interesse verletzt wurde. 134 Freund, G.: JuS 1991, 723 ff., 726. 135 Freund, G.: JuS 1991, 723 ff., 726.

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Kap. 4: Funktionalismus bei Wolfgang Frisch und Georg Freund

Sofern ein strafrechtsdogmatischer Problembereich der Kategorie der Sanktionsnorm zuzuordnen ist, werden infolge der ausschließlich systemfunktionalen Ausrichtung dieses Bereiches die personfunktionalen Grenzen des Strafrechts noch eindeutiger aufgelöst als dies bei den Verhaltensnormen der Fall ist. Zumindest dem Konzept nach sollen für die hier zu lokalisierenden Problemstellungen des Strafrechts ausschließlich die Bedürfnisse der positiven Generalprävention maßgeblich sein, so dass insoweit dieselben Kritikpunkte einschlägig sind, die bereits an dem straftheoretischen Konzept Jakobs angeführt wurden (vgl. oben Kapitel 3). Wie dort ausführlich dargelegt, stellt die Ausrichtung der Sanktionsnormen an dem Zweck „Einübung in Normanerkennung“ die Funktionsfähigkeit des Systems in den Vordergrund, während die Schutzinteressen des Einzelnen, sofern sie überhaupt Berücksichtigung finden, in den Hintergrund treten. Infolge dieser unterschiedlichen Berücksichtigung personfunktionaler Schutzinteressen erhält die Zuordnung einer Voraussetzung der Strafbarkeit zu der Kategorie der Verhaltens- oder Sanktionsnorm erhebliches Gewicht. Insofern ist aber problematisch, dass die Lokalisierung einer Fragestellung des materiellen Strafrechts in der einen oder anderen Rubrik keineswegs zwingend ist und sich jedenfalls nicht hinreichend deutlich aus dem Gesetz selbst ableiten lässt. So ist zum Beispiel die von den Autoren zugrunde gelegte Trennung von missbilligtem Verhalten und Erfolg nicht unmittelbar aus den Tatbeständen der Erfolgsdelikte herauszulesen, nach deren Systematik der Erfolg vielmehr zu den „Voraussetzungen der Strafbarkeit mit Schuldbezug“137 gehört. Gleiches gilt für 136 Diese Auslegung des Begriffs der Urkunde und die generelle Einbeziehung von Fotokopien in den Schutzbereich der Urkundsdelikte ist Ausgangspunkt der personfunktional orientierten Fundamentalkritik Erbs (GA 1998, 577 ff. und NStZ 2001, 317 f. = Anm. zu OLG Düsseldorf NJW 2001, 167 f.), der selbst zu der Problematik der Kopien unter Betonung des Systemzusammenhangs der Urkundsdelikte dezidiert den Gegenstandpunkt vertritt. Erb wirft Freund vor, durch seine rein ergebnisorientierte „funktionalistische Schutzzweckbetrachtung“ (Erb, V.: GA 1998, 577 ff., 583) die Systematik der Urkundsdelikte durchbrochen zu haben. In Übereinstimmung mit dieser Systematik liege das spezifische Merkmal des strafrechtlichen Urkundsbegriffs „nicht in der authentischen Wiedergabe von beweiserheblichen Vorgängen . . . sondern in der Besonderheit, dass es sich bei der Urkunde . . . um die beweiserhebliche Erklärung selbst“ (Erb, V.: NStZ 2001, 317 f.) handele. Die folglich notwendige „Identität zwischen Beweismittel und Beweisgegenstand“ (Erb, V.: NStZ 2001, 317 f.) sei bei der Fotokopie ersichtlich nicht gegeben, so daß diese aus dem strafrechtlichen Schutz der Urkundsdelikte auszuscheiden habe. Entgegen Freund schützten die § 267 ff. StGB daher „nicht jedes schutzwürdige Vertrauen in die Richtigkeit von Nachweisen einer Willenserklärung“ (Erb, V.: NStZ 2001, 317 f., Hervorhebung vom Verf.), sondern nur dann, wenn es sich um eine tatsächliche oder zumindest scheinbare unmittelbar verkörperte Erklärung des Ausstellers handele. Die mit dieser Auslegung verbundenen Strafbarkeitslücken seien hinzunehmen bzw. allenfalls vom Gesetzgeber zu beseitigen. Sie durch eine funktionalistische Schutzzweckbetrachtung zu überspielen, bei der der Gesetzeswortlaut lediglich formal akzeptiert werde, degradiere diesen zu einem „rechtsstaatlichen Feigenblatt“ (Erb, V.: GA 1998, 577 ff., 583) und beraube das Strafrecht letztlich seines systematischen Fundaments. 137 Hettinger, M.: JZ 1990, 231 f., 232.

I. Straf- und normtheoretische Grundannahmen

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die hierauf bezogene Trennung des Vorsatzes in „Vorsätzlichkeit des Verhaltensunrechts“ und „vorsätzliche Herbeiführung oder Nichtabwendung von Verhaltensfolgen“, die nicht direkt der Systematik des § 16 Abs. 1 StGB entnommen werden kann. Die angeführten Kritikpunkte an der ausschließlich systemfunktionalen Ausrichtung der Kategorie der Sanktionsnorm lassen sich bereits an dieser Stelle anhand der von Freund funktional interpretierten strafprozessualen Institute in ihren praktischen Auswirkungen veranschaulichen. Die systemfunktionale Auslegung der Rechtsbegriffe „besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung“, „Anfangsverdacht“ oder „dringender Tatverdacht“, von der die ermittlungsbehördliche oder richterliche Entscheidung maßgeblich abhängig ist, kann zumindest potentiell allen denkbaren kriminalpolitischen Wertungen zum Durchbruch verhelfen. Denn die Frage, in welchem Umfang staatliche Ermittlungen und vor allem Grundrechtseingriffe im Sinne einer allgemeinen und von der Bevölkerung zu Kenntnis genommenen ermittlungsbehördlichen Tätigkeit stattfinden müssen, damit die Geltung der Verhaltensnorm angemessen bestätigt wird, ist ebenso ungeklärt wie die Frage des insoweit erforderlichen Ausmaßes der im Einzelfall zu verhängenden Strafe. Schon die Frage, ob eine auf die Überführung eines Tatverdächtigen gerichtete Ermittlungstätigkeit überhaupt generalpräventiv wirksam ist, oder ob das wahre Ausmaß der in der Gesellschaft vorkommenden Gesetzesverletzungen aus diesen Gründen nicht besser im Dunkeln zu bleiben hat (sog. Präventivwirkung des Nichtwissens138), ist kriminologisch-empirisch fraglich und lässt sich jedenfalls nicht mit der bloßen Behauptung lösen, die Aufklärung einer Straftat sei gegenüber der Untätigkeit grundsätzlich vorzugswürdig, weil durch letztere der Normgeltungsschaden nicht beseitigt werden könne. Dass die zuletzt genannte Grundannahme bei Freund nicht in einem dem „Feindstrafrecht“139 entsprechenden Plädoyer für flächendeckende Aufklärungsarbeit und geringere Schwellenhöhe für Grundrechtseingriffe im Ermittlungsverfahren sowie für den Abbau prozessualer Schranken wie etwa der verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien ausmündet, liegt weniger an dem grundsätzlichen Ansatz Freunds als vielmehr an dessen eigener kriminalpolitischer Zurückhaltung. Wie bereits oben dargelegt, geht Freund nämlich im Ergebnis von der zwar plausiblen, empirisch aber ungeklärten und daher angreifbaren Annahme aus, dass die Gefahr für den Normgeltungsschaden dann besonders groß ist, wenn sowohl das Gewicht des begangenen Delikts als auch die Aufklärungswahrscheinlichkeit im Einzelfall hoch sind. Deshalb argumentiert er 138

Popitz, H.: Präventivwirkung des Nichtwissens 1968. Jakobs, G. in: Eser A. u. a. (Hrsg.): Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende 2000, S. 47 ff., 52, 53; kritisch zu diesem Konzept: Schünemann, B.: GA 2001, 205 ff., 210; Schulz, L.: GA 2001, 226 ff., 238; Schneider, H.: ZStW 113 (2001), 499 ff., 504. 139

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Kap. 4: Funktionalismus bei Wolfgang Frisch und Georg Freund

zum Beispiel hinsichtlich der Zulässigkeit körperlicher Untersuchungen nach § 81a StPO, wie etwa der Entnahme einer Blutprobe zur Bestimmung des Blutalkoholgehalts, betont restriktiv und vertritt den Standpunkt, dass hierfür „die bloße statistische Häufigkeit von Trunkenheitsfahrten an bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten als Legitimationsdatum zu schwach ist“ und zur Begründung des Eingriffs weitere Voraussetzungen (Alkoholgeruch oder alkoholtypische Veränderungen der Sprache) hinzukommen müssen.140 Wenn aber das Interesse an der Bestätigung der Verhaltensnorm schon durch Maßnahmen im Ermittlungsverfahren den leitenden Gesichtspunkt abgibt, ließe sich leicht auch der gegenteilige Standpunkt vertreten und zur Steigerung des Entdeckungsrisikos auch die von Freund abgelehnte verdachtslose Kontrolle (ggf. unter Einschluss des Eingriffs nach § 81a StPO) legitimieren. Zumindest dieses für die personfunktionalen Schranken des Strafprozessrechts bedenkliche Ergebnis lässt sich mit dem herkömmlichen Konzept vermeiden, das die Eingriffsschwellen für die unterschiedlichen Ermittlungsmaßnahmen ohne Rückgriff auf „zweckrationale“ Erwägungen von dem Vorliegen bestimmter Verdachtsgrade abhängig macht.141 Denn hier müssen jeweils auf Tatsachen beruhende, empirisch feststellbare Anhaltspunkte vorliegen, die über bloße Vermutungen hinausgehen und daher im Unterschied zu reinen kriminalpolitischen Wertungsentscheidungen auch einer grundsätzlichen Überprüfung im Rechtsmittelverfahren zugänglich sind. Inwieweit die Leitgedanken der positiven Generalprävention über die geschilderten prozessualen Problemlagen hinaus auch Auswirkungen auf die Auslegung der Institute des Allgemeinen Strafrechts haben, soll durch die nachstehende, an den von den Autoren selbst gesetzten Schwerpunkten orientierte Analyse eingehend untersucht werden.

II. Strafrechtsdogmatische Schlussfolgerungen Da sich anhand der Ausführungen der Autoren zu strafrechtdogmatischen Einzelproblemen eine Entwicklung des systemfunktionalen Ansatzes erkennen lässt, ist die nachfolgende Darstellung der strafrechtsdogmatischen Schlussfolgerungen der Position Frischs und Freunds vor allem an der Chronologie der Veröffentlichungen orientiert. Die Analyse nimmt ihren Ausgangspunkt daher bei der vor allem von Frisch in den 80er Jahren entfalteten Vorsatzdogmatik und behandelt dann die auf seiner Monographie „Vorsatz und Risiko“ aufbauende Zurechnungslehre. Danach erfolgt eine summarische Darstellung der Position der Autoren zur Auslegung und Inhaltsbestimmung des Schuldbegriffs. 140

Freund, G. in: Wolter, J./Freund, G. (Hrsg.): Straftat 1996, S. 43 ff., 64, 65. Einfacher Tatverdacht z. B. bei §§ 81a, 81b, 99, 100a, 102 StPO; dringender Tatverdacht bei §§ 112, 127 Abs. 2, 134 StPO. 141

II. Strafrechtsdogmatische Schlussfolgerungen

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Wegen der eindeutigen Verortung der Problematik in der systemfunktional verstandenen Kategorie der Sanktionsnorm kann die Diskussion mit einer Analyse des von den Autoren allerdings weniger differenziert behandelten Rücktritts vom Versuch abgeschlossen werden. 1. Der Vorsatzbegriff Frischs a) Die Ratio der Vorsatzbestrafung Bei einer konsequenten Zuordnung des subjektiven Deliktstatbestandes zu der Kategorie der Verhaltensnorm, die eindeutig zumindest für das tatbestandsmäßige Verhalten dem Aufbauschema Freunds zu entnehmen ist, wäre der Begriff des Vorsatzes – soweit er sich auf das tatbestandsmäßige Verhalten bezieht – im Sinne der von den Autoren vertretenen Differenzierung grundsätzlich ausschließlich anhand der straftheoretischen Fundierung der Verhaltensnorm auszulegen. Denn die Bestimmung des personalen Verhaltensunrechts, das bei den Vorsatzdelikten – wie oben dargelegt – auch die vorsätzliche Verwirklichung des tatbestandsmäßigen Verhaltens umfasst, erfolgt nach diesem Konzept alleine am Maßstab des Rechtsgüterschutzes, der durch das bei der Formulierung der Verhaltensnorm zu berücksichtigende Prinzip der Verhältnismäßigkeit begrenzt wird. In seiner Monographie „Vorsatz und Risiko“ aus dem Jahr 1983142 greift Frisch zwar wiederum die oben dargelegte normtheoretische Differenzierung auf. Den Begriff des Vorsatzes entwickelt er aber nicht nur unter Rückgriff auf die Funktion der Verhaltensnorm, sondern er bezieht sich insgesamt auf die Ratio der Vorsatzbestrafung (37 ff.), so dass hier über die Kategorie der Sanktionsnorm, der die Strafe als Rechtsfolge zuzuordnen ist, vor allem auch systemfunktionale Aspekte in die Begriffsbildung mit einfließen. Mit der Intention einer ratio-orientierten Auslegung des Vorsatzbegriffes grenzt sich Frisch zunächst von einer Begriffsbildungsmethodologie ab, die darauf abzielt, die Konturen des Vorsatzes durch „Abbildung ontischer Strukturen“ (42 ff.) zu bestimmen. Insoweit wendet er sich explizit gegen „gewisse finalistische Positionen“143 (42), die zwar auch das Werturteil zugrunde legen, dass vorsätzliches Verhalten strafwürdiger und strafbedürftiger sei als lediglich fahrlässiges Verhalten, bei diesen Wertungen aber an einen aufgrund bestimmter ontischer Gegebenheiten vorkonturierten Vorsatzbegriff anknüpfen. Der Sache nach geht es Frisch dabei ebenso wie Jakobs um die Befreiung des Strafrechts 142 Fundstellen aus „Vorsatz und Risiko“ werden in diesem Abschnitt durch Angabe der Seitenzahl im Text zitiert. 143 Namentlich in Gestalt der Auffassung Armin Kaufmanns, vgl. speziell zum dolus eventualis ZStW 70 (1958), 64 ff.

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von den Erkenntnissen bestimmter Bezugswissenschaften, wie etwa der Psychologie (172 ff.),144 die nach seiner Auffassung nur verschleiern, dass es sich bei der Frage des Vorsatzes um eine genuin normative Problematik etwa im Sinne der Grenzbestimmung von Vorsatz und Fahrlässigkeit handelt, für die Aspekte wie die „Finalsteuerung“ des Geschehens nur bedingt aussagekräftig sind. Näher ausgeführt wird diese von ihm angenommene Unzulänglichkeit einer an naturwissenschaftlichen Befunden orientierten strafrechtlichen Begriffsbildung vor allem anhand der Mitbewusstseinslehre (178 ff.),145 die er mit empirischen und normativen Argumenten als für das Strafrecht ungeeignet kritisiert. Aus der Binnenperspektive der Psychologie erweist sich die Mitbewusstseinslehre nach der den insoweit vertretenen Meinungsstand dieser Disziplin zusammenfassenden Auffassung Frischs deshalb zumindest als fragwürdig, weil die von Rohracher146 zugrunde gelegte Unterscheidung verschiedener Bewusstseinsstufen selbst innerhalb der psychologischen Lehrmeinung nicht unangefochten ist. Unter Berufung auf Huber147 kann Frisch daher aufzeigen, dass die von „Platzgummer in Anspruch genommene Lehre von der Bewusstseinszugehörigkeit bestimmter für den einzelnen jederzeit verfügbarer Sachverhalte nichts weiter als eine von allgemeiner Anerkennung weit entfernte Schulmeinung“148 darstellt und andere Psychologen und Mediziner149 die von Rohracher als „mitbewusst“ gedachten Bewusstseinsinhalte der Kategorie des Unterbewussten zuordnen. Selbst wenn die Mitbewusstseinslehre empirisch vor dem Hintergrund des Kategoriensystems der eigenen Disziplin zuträfe, wäre nach Frisch allerdings der Ertrag für die Strafrechtswissenschaft gering (182 ff.). Denn offensichtlich wird die Entscheidung zwischen vorsätzlichem und fahrlässigem Verhalten von Erwägungen getragen, die von der Psychologie allgemein und der Mitbewusstseinslehre im Besonderen nicht genannt werden. Die für ihn wesentlichen Gesichtspunkte ergeben sich ausschließlich aus den „Rationes“ der Vorsatzstrafe, 144 Eine solche Begründung stellt für ihn eine „Begriffsjurisprudenz gepaart mit einem methodologisch sonst längst überwundenen Psychologismus“ dar, Frisch, W. in: Arm. Kaufmann-GS 1989, S. 311 ff., 320. 145 Insoweit bezieht sich Frisch vor allem auf Platzgummer, der in seiner 1964 erschienen Habilitationsschrift über „Die Bewusstseinsformen des Vorsatzes“ vor allem die von dem Wiener Psychologen Rohracher entwickelten Überlegungen auf bestimmte Problemlagen des Strafrechts übertragen hatte. 146 Rohracher, H.: Psychologie 1963. 147 Huber, G. in: Göppinger, H./Witter, H. (Hrsg.): Handbuch der forensischen Psychiatrie I 1972, S. 663 ff., 678. 148 Frisch, W. in: Arm. Kaufmann-GS 1989, S. 311 ff., 318. 149 Frisch (in: Arm. Kaufmann-GS 1989, S. 311 ff., 318.) bezieht sich auf Huber, G. in: Göppinger, H./Witter, H. (Hrsg.): Handbuch der forensischen Psychiatrie I 1972, S. 663 ff., 438; Witter, H. in: Göppinger, H./Witter, H. (Hrsg.): Handbuch der forensischen Psychiatrie I 1972, S. 429 ff., 438 und Schewe, G.: Bewusstsein und Vorsatz 1967, S. 79 f., 85 f.

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deren überzeugende Begründung schließlich die Mitbewusstseinslehre als eine „begriffliche Gedankenbrücke“150 obsolet machen. Einen Beleg für die Relevanz dieser wenn auch unreflektiert aber doch faktisch ohnehin ratio-orientierten Vorgehensweise sieht Frisch in der großen Popularität der Mitbewusstseinslehre in Rechtsprechung und Kommentarliteratur vor allem in den 70er Jahren.151 Über die Argumentationskette „Vorsatz in Bezug auf alle Tatumstände des gesetzlichen Tatbestands“, „Vorsatz ist auch Mitbewusstsein“ und „mitbewusst sind alle jederzeit verfügbaren Umstände“ (188)152 lassen sich nämlich Fallkonstellationen in den Bereich vorsätzlichen Handelns einbeziehen, bei denen der Täter sich unwiderlegbar einlässt, an bestimmte Tatbestandsvoraussetzungen wie etwa seinen Beamtenstatus (bei der Annahme des Bestechungsgeldes) oder die Dienstwaffe (im Fall des Ladendiebstahls) nicht gedacht zu haben.153 In solchen Fällen, aber auch allgemein bei Affekttaten und Triebhandlungen, bei denen häufig keine Reflexion über die Möglichkeit der Erfolgsverwirklichung gegeben ist, lassen sich nach Frisch über die Mitbewusstseinslehre Ergebnisse erzielen, die aus „normativer Sicht“ „wohlbegründet“ (188) erscheinen. Denn die Mitbewusstseinslehre trägt der Einsicht Rechnung, dass die Rechtsordnung dem Täter dann die von ihm verwirklichten Folgen des Handelns in besonderem Maße anzulasten hat, wenn „er die rechtserschütternden Konturen seines Verhaltens jederzeit hätte sehen können“ (188). Hinsichtlich der Ratio der Vorsatzstrafe, auf die es nach der von ihm befürworteten funktionalen Begriffsbildungsmethodologie somit alleine ankommen soll, differenziert Frisch zwischen personfunktionalen, von ihm selbst als „wertrational“ bezeichneten Gründen der gegenüber fahrlässiger Deliktsbegehung regelmäßig erhöhten Strafdrohung und systemfunktionalen (d. h. in seinen Worten „zweckrationalen“) Gesichtspunkten. Bei der zweckrationalen Komponente stellt Frisch – wie bereits oben im Rahmen der straftheoretischen Fundierung des Sanktionsnormkonzepts dargestellt – auf ein Konzept der positiven Generalprävention ab, das im Unterschied zu seinen späteren Ausführungen zu diesem Strafzweck noch an empirische und nicht lediglich symbolische Wirkun150 Frisch, W. in: Arm. Kaufmann-GS 1989, S. 311 ff., 320: „Ausschlaggebend ist also nicht, dass man bestimmte psychische Beziehungen wie die jederzeitige Verfügbarkeit bestimmter Inhalte in der Psychologie noch als Bewusstsein (im Sinne einer an den Zwecken der Psychologie orientierten Begriffsbildung) bezeichnet. Maßgebend ist vielmehr allein, ob die entsprechenden psychischen Substrate im Blick auf spezifisch juristische Zwecke, insbesondere den Zweck oder die Ratio der Vorsatzstrafe, ausreichen.“ 151 Die Mitbewusstseinslehre wurde vereinzelt durch die Rechtsprechung aufgegriffen, vgl. z. B.: BayOblG NJW 1977, 1974, OLG Köln, NZfWehrR 1978, 36 ff.; zur Literatur vgl. Schönke-Schröder-Cramer/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 51; SK-Rudolphi, § 16, Rn. 24; Wessels/Beulke: Strafrecht AT 2001, S. 79, vgl. dazu im Einzelnen unten. 152 Außerdem: Frisch, W. in: Arm. Kaufmann-GS 1989, S. 311 ff., 319. 153 Frisch, W. in: Arm. Kaufmann-GS 1989, S. 311 ff., 312 ff.

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gen der im Fall des vorsätzlichen Handelns erhöhten Strafe anknüpft. Die Nähe des folgenden Argumentationsansatzes Frischs, der aus der so ermittelten Ratio der Vorsatzstrafe unmittelbar auf den Begriff des Vorsatzes schließen will, zu der im vorangehenden Kapitel dargestellten Position von Jakobs ist dabei unübersehbar: „Die unwertige Tat verunsichert, sie erschüttert – wird auf sie nicht reagiert – das Vertrauen in die Geltung und Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung als verbindliches Verhaltensschema, sie wirkt nicht selten infizierend. Ziel der ersten Strategie staatlichen Strafeinsatzes ist es, diesen hier nur skizzenhaft andeutbaren sozialpsychologischen Gefahren der begangenen Tat entgegenzutreten: also das Bewusstsein von der Geltung und der Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung als zugleich (gegen)motivierender und Sicherheitsgefühl und Vertrauen spendender elementarer Bedingung friedlichen Zusammenlebens in der Gemeinschaft zu erhalten und zu bestärken; die Ahndung der Tat mit Strafe erscheint dabei, zumal angesichts des dieser Sanktion eigenen Tadelsmoments, als das je geeignete und erforderliche Instrument zur Erreichung dieses Zieles.“ . . . „Offenbar sind jene negativen sozialpsychologischen Auswirkungen und Gefahren für Rechtsgüter, die durch die Begehung bestimmter unwertiger Taten heraufbeschworen werden, mit vorsätzlichem Handeln in ganz besonderem Maße verbunden. Vorsätzliches Handeln erschüttert die Rechtstreue und das Vertrauen in die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung offenbar eher und stärker als fahrlässiges; der Verzicht auf eine staatliche Reaktion kommt hier mit Blick auf die angedeuteten Gefahren offenbar weniger in Betracht“ (48, 49, Hervorhebungen im Original).

Im Gegensatz zu Jakobs ist die zweckrationale Grundlage aber für Frisch nicht die einzige Legitimation der Strafe wegen vorsätzlicher Deliktsverwirklichung. Im Rahmen der wertrationalen Komponente (51 ff.) stellt Frisch darüber hinaus auch darauf ab, dass die Vorsatztat typischerweise mit einer erhöhten „personalen Fehlleistung“ (52) verbunden ist. Insoweit bezieht er sich auf die besondere „Ausprägung spezifischer Teilaspekte gerade der persönlichen Verantwortlichkeit“ (53), die das Handeln des Täters als gegenüber fahrlässiger Deliktsbegehung grundsätzlich strafwürdiger erscheinen lassen. Beide Aspekte, d. h. sowohl die zweckrationale als auch die wertrationale ratio der Vorsatzstrafe, fließen unmittelbar in die Begriffsbildung ein. Sie fungieren als „Leitgesichtspunkte“ der Bestimmung des Vorsatzes und sind daher der Bezugspunkt für die von Frisch intendierte „funktionale“ Auslegung, die der Autor auch auf andere Strukturbegriffe des Allgemeinen Teils anzuwenden beabsichtigt.

b) Konsequenzen für den Vorsatzbegriff Um die Konsequenzen dieser ratio-orientierten Auslegung des Vorsatzbegriffes aufzuzeigen, führt Frisch im Folgenden zunächst in die bereits oben geschilderte normtheoretische Differenzierung zwischen Verhaltensnormen und Sanktionsnormen ein. Im Ergebnis dient diese Unterscheidung der Ermittlung eines

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adäquaten Bezugspunktes des Vorsatzes (55 ff.), der sich entgegen der herrschenden Meinung154 nicht auf die Voraussetzungen des objektiven Deliktstatbestands insgesamt, sondern nur auf die in der Verhaltensnorm enthaltenen Gesichtspunkte erstreckt. Der Vorsatz des Täters kann daher im Zeitpunkt der Begehung der Tathandlung [ex ante Perspektive (77), auf die es bei der Beurteilung des Verhaltensnormverstoßes entscheidend ankommt] schon der Sache155 nach nicht auch auf den deliktischen Erfolg, sondern nur auf den „bevorstehenden Erfolg, oder genauer: darauf, dass ein Erfolg bestimmter Art (als Folge des Verhaltens) eintreten wird oder einzutreten droht“ (65) bezogen sein. Frisch wendet sich damit implizit auch gegen die Fassung des § 16 StGB, der hinsichtlich der für den Vorsatz erforderlichen Kenntnis auf die zum gesetzlichen Tatbestand gehörenden Umstände insgesamt abstellt und daher bei den Erfolgsdelikten auch den Erfolg mit einbezieht. Wie bereits in der Rezension von Küper156 herausgestellt, liegt dem jedoch eine etwas überspannte Interpretation des Gesetzes sowie der herrschenden Meinung zugrunde. Soweit § 16 StGB auch auf die Kenntnis des Erfolgs Bezug nimmt, bedeutet dies die gedankliche Antizipation des Handlungsziels, kraft der der Handelnde die einzelnen Zwischenschritte und Teilakte seines Verhaltens auf den Erfolg hin lenkt. Alleine diese Interpretation des § 16 StGB entspricht auch unserer Vorgehensweise im Alltag.157 Nur durch die vorausschauende und erfahrungsfundierte gedankliche Vorwegnahme der Handlungsfolge kann es überhaupt zu einer planvollen Gestaltung des Lebens kommen. Kenntnis des Erfolges kann schon wegen des prognostischen Charakters dieser Technik nicht Kenntnis der tatsächlichen Realisierung des Erfolgseintritts nach vollzogener Handlung, sondern nur „Kenntnis eines bestimmten Erfahrungswissens“ bedeuten, das dem Handelnden Anlass zu der Annahme gibt, dass aufgrund seines Verhaltens regelmäßig ein bestimmter Außenwelterfolg eintreten wird.

Um eine erste Definition des Vorsatzes vorzubereiten, ermittelt Frisch in den folgenden Ausführungen die entscheidenden Kriterien, die das Verhalten des Täters als eine die Rechtsordnung erheblich erschütternde personale Fehlleistung erscheinen lassen. Das mit diesen Zweckgesichtspunkten übereinstimmende „Wesen vorsätzlichen Handelns“ (111) sieht Frisch im Ergebnis in der „Entscheidung“ des Täters „gegen das Rechtsgut“. Eine solche Entscheidung kann der Täter aber nur dann treffen, wenn er im Zeitpunkt des Handelns davon Kenntnis hat, dass sein Verhalten dem von der Verhaltensnorm geschützten Rechtsgut ein insgesamt nicht mehr tolerierbares Risiko aufbürdet.

154 Vgl. z. B. Jescheck/Weigend: Strafrecht AT 1996, S. 293; SK-Rudolphi, § 15, Rn. 6 ff.; Wessels/Beulke: Strafrecht AT 2001, S. 79 (Rn. 238 ff.). 155 Frisch, W. (63) spricht insoweit von einer „unübersteigbaren Sacheinsicht“. 156 Küper, W.: GA 1987, 479 ff., 503; ähnliche Argumentation im Rahmen einer Kurzrezension von Frischs „Tatbestandsmäßiges Verhalten“ von Hettinger, M.: JZ 1990, 231 f., 232. 157 Schütz, A.: Aufbau 1991; zusammenfassend: Schneider, H.: Kriminalprognose 1996.

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Ähnlich wie bei Jakobs steht folglich der Begriff der „Kenntnis“ bzw. des „Wissens“ eines „normrelevanten (nicht mehr tolerierten) Risikos“ (341) auch bei Frisch im Mittelpunkt der Vorsatzdogmatik. Im Unterschied zu dem „reinen“ Systemfunktionalismus Jakobs’ fasst Frisch aber diesen Begriff zumindest im Regelfall (d. h. abgesehen von einer unten dargestellten „Randkorrektur“) nicht als ein systemfunktionales Konstrukt der Wirklichkeit auf, sondern er rekurriert insoweit – trotz formaler Ablehnung jeglicher psychologisierender Betrachtung – auf ein „psychisches Substrat“ (172)158 der normrelevanten Kenntnis der Risikoeignung des Verhaltens. Kenntnis ist nach seiner Auffassung somit gleichzusetzen mit der „Erfassung des relevanten Gegenstands im Bewusstsein“ (169). Hinsichtlich dessen, was unter strafrechtlichen Gesichtspunkten als Bewusstsein angesehen wird, will Frisch aber wiederum nicht auf den psychologischen Forschungsstand, sondern vielmehr auf „semantische Überlegungen“ (192) Bezug nehmen. Danach bedeutet „Kenntnis“ bzw. „Erfassung des relevanten Gegenstands im Bewusstsein“ ein „subjektives So-ist-es des Wissenden“ (193) bzw. einen Akt der Stellungnahme im Sinne eines „für sich so Sehens“ (192 ff.), der ohne Umwege über psychologische Lehrmeinungen unmittelbar subsumtionsfähig sein soll: „Der Sachverhalt (z. B. ,Das Haus ist unbewohnt‘, ,Die Sache gehört einem anderen‘, aber auch ,Die Handlung könnte ihn verletzen‘) muss vom Vorstellungsgegenstand zum Inhalt einer verbindlichen persönlichen Sicht geworden sein; der Täter muss die Welt im je interessierenden Punkt ,für sein Teil‘ im Sinne des bedachten Sachverhalts sehen“ (193, Hervorhebungen im Original).

Im Ergebnis schließt Frisch aus den vorstehend skizzierten Überlegungen (ebenso wie Jakobs) auf einen eindimensionalen Vorsatzbegriff. Vorsatz bedeutet: „Wissen (im o. g. Sinne, H. S.) um das der Handlung eignende und (normativ) ihre Tatbestandsmäßigkeit begründende Risiko . . .“ (341, Hervorhebung im Original).

Ein voluntatives Element ist für Frisch schon infolge der Ratio der Vorsatzstrafe entbehrlich. Handelt der Täter in Kenntnis des Risikos, so setzt er sich über den Geltungsanspruch der Verhaltensnorm und die durch diese geschützten Rechtsgüter hinweg, ohne dass es auf die emotionale Beziehung zu dem eigenen Verhalten in Form des Billigens oder Ablehnens ankäme. Diese abstufbaren Grade der Zustimmung zu den möglichen Folgen des eigenen Verhaltens sind allenfalls Indikatoren (333 ff.) für die Einschätzung der Risikoeignung eines Verhaltens durch den Täter, deren Bejahung sachlich nichts anderes bedeutet als Vorliegen/Nichtvorliegen einer Entscheidung des Täters gegen das Rechtsgut. Im Sinne einer „heuristischen Funktion“ auf der Ebene der Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung (334) stellt die emotionale Ablehnung daher ebenso 158 Auch diese Überlegung ist ein Beleg dafür, dass sich Frisch trotz formaler Ablehnung jeglicher ontologisierender Begriffsbildungsmethodologie nicht vollständig von dieser Betrachtungsweise des Vorsatzes lösen kann, vgl. hierzu auch Küper, W.: GA 1987, 479 ff., 502.

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nur ein Indiz für die fehlende persönliche „Stellungnahme gegen das Rechtsgut“ dar, wie die „Billigung“ des Erfolges eine Vermutung im Hinblick auf das Vorliegen eines entsprechenden Risikourteils zulässt. Als zusätzliches Kriterium zur Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit ist das voluntative Element nach Frisch aber zumindest überflüssig und auch in der Rechtsprechung dient es nach seiner Auffassung nur einer ratio- und ergebnisorientierten Korrektur, um in bestimmten Fallkonstellationen das gewünschte Ergebnis zu erzielen, das sich bei zutreffender Inhaltsbestimmung des Vorsatzbezugspunktes sowie des Vorsatzbegriffes aber auch ohne voluntatives Element begründen lässt. Während Frisch hinsichtlich der zentralen Kategorie Kenntnis nach den oben stehenden Ausführungen auf eine subjektive Sicht des Täters Bezug nimmt, die im Prozess konkret zu rekonstruieren ist, sieht er es vor allem aus systemfunktionalen Erwägungen als erforderlich an, in der bereits von Jakobs herangezogenen Fallgruppe der Gleichgültigkeit159 eine Korrektur vorzunehmen und die subjektiv fehlende Kenntnis normativ zu konstruieren. Hat der Täter infolge von Gleichgültigkeit gegenüber dem Rechtsgut nicht erkannt und bedacht, dass seinem Verhalten eine konkrete Risikodimension zukommt, will Frisch eine „hypothetische Vorsatztäterqualität“ zumindest dann an die Stelle der realen Kenntnis treten lassen (233), wenn es sich forensisch rekonstruieren lässt, dass der Täter vor der eigentlichen Tatbegehung eine „Für-alle-Fälle-Entscheidung“ getroffen hat, sich notfalls über eine mögliche Gefährdung von Rechtsgütern hinwegzusetzen, oder aber dass, belegt durch „frühere Bekundungen oder Verhaltensweisen“, seinem allgemeinen Entscheidungsverhalten ein Maßstab zugrunde liegt, der eine hypothetische Entscheidung gegen das Gut erkennen lässt. Kann im Strafverfahren einer der beiden Anhaltspunkte festgestellt werden, so ist ersichtlich, dass der Täter „nach seinen persönlichen Entscheidungsmaßstäben trotz verbindlicher Annahme eines normrelevanten Risikos“ (232) gehandelt hätte; und es ist nach Frisch aus zweckrationalen Gesichtspunkten gerechtfertigt, ihn einem vorsätzlich handelnden Täter gleich zustellen:160 „Der eben beschriebene Täter ist nicht nur in besonderem Maße gefährlich – so dass seine Vorsatzbestrafung unter täterstrafrechtlichen Aspekten wohlbegründet ist. Der Umstand, dass das konkrete Verhalten des Täters . . . statt auf einer ad hoc getroffenen Negativentscheidung regelmäßig auf einer prinzipiellen Entscheidungshaltung 159 Die Problematik des vollständig gleichgültigen und deswegen keinerlei Gefahren ernstnehmenden Täters ist nach der ausführlichen Darstellung durch Mezger, E. (in: Kohlrausch-FS 1944, S. 180 ff.) vor allem in den 70er Jahren wiederbelebt worden, ohne dass insoweit allerdings eine einheitliche Lösung erzielt werden konnte. Überblick über den neueren Diskussionsstand bei Schünemann, B.: JA 1975, 787 ff., 788; kritisch gegenüber einer Einbeziehung in den Bereich vorsätzlichen Handelns: Wolff, E. A. in: Gallas-FS 1973, S. 197 ff., 225; Sancinetti, M. A.: Subjektive Unrechtsbegründung 1995, S. 246 ff. 160 Kritisch: Schroth, U.: NStZ 1990, 324 ff., 326; dagegen wiederum Frisch, W.: NStZ 1991, 23 ff., 24; SK-Rudolphi, § 15, Rn. 43.

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beruht, lässt den zuletzt genannten Fall auch unter dem generalpräventiven Aspekt der von der Tat ausgehenden rechtserschütternden Wirkung als das eher gewichtigere Datum erscheinen. Zugegebenermaßen geringer ist allein die Vermeidemacht: Dem Täter fehlt das (echte) Wissen davon, dass seinem Verhalten das normrelevante Risiko eignet. Indes kann dieses Defizit nicht ins Gewicht fallen; es ist nichts weiter als die Folge der Vor-Entscheidung des Täters, und wie diese von ihm zu verantworten“ (236, Hervorhebungen im Original).

Auch jenseits der speziellen Problematik des gleichgültigen Täters vollzieht Frisch die Abgrenzung des Vorsatzes von der (bewussten) Fahrlässigkeit im Wesentlichen nicht über eine bestimmte Abgrenzungsformel, sondern fallgruppenspezifisch, ohne hier jedoch mit einer hypothetischen Konstruktion des „Wissens“ zu arbeiten.161 Für die Kategorie des dolus eventualis ist es nach Frisch weiterhin nicht erforderlich, die oben angeführte Definition des Vorsatzes – etwa im Hinblick auf eine dieser Vorsatzform eigenen Auslegung des kognitiven Elements – zu modifizieren. Nach seiner Auffassung stellt der dolus eventualis die Grundform des Vorsatzes überhaupt dar (496 f.), so dass die von ihm zugrunde gelegte Definition sowohl die Spezifika des bedingten Vorsatzes, als auch die der Absicht und des dolus directus 2. Grades mit erfasst. Die zuletzt genannten Formen des Vorsatzes verkörpern lediglich spezielle Sachverhalte, in denen die „Entscheidung des Täters gegen das Rechtsgut“ (498) besonders offensichtlich ist und die daher auch exponierte general- und spezialpräventive Bedürfnisse wecken bzw. indizieren. Da die Ratio der Vorsatzstrafe alleine bereits an die Missachtung des Rechtsguts bei Handeln in Kenntnis des nicht mehr tolerierten Risikos anknüpft, ist der den Erfolg „für-möglich-haltende“ Täter der Grundtypus des Vorsatztäters (496 f.). Denn dieser kennt das Risiko, dem er das Rechtsgut ausliefert. Setzt man am tatbestandsmäßigen Verhalten und nicht beim Tatbestand der Sanktionsnorm an, erübrigt sich folglich auch eine graduelle Abstufung des kognitiven Elements etwa in die Kategorien „für-möglich-halten“ und „sicher wissen“. Sofern die Kenntnis auf das nicht mehr tolerierbare Risiko bezogen wird, ist auch das „für-möglich-halten“ der herrschenden Meinung sachlich gesehen Wissen, ohne dass es dieser Differenzierung bedarf. Entsprechend dieser vereinheitlichenden Sichtweise gibt es Abgrenzungsprobleme nur zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit allgemein. Die Fälle fehlenden Vorsatzes, die Frisch an typisierend erfassten Tatkonstellationen veranschaulicht (207 ff.), sind daher vor allem Fälle fehlenden Wissens um die Verwirklichung einer normrelevanten Gefahr, bei denen es aus den von ihm zugrunde gelegten zweck- und wertrationalen Gesichtspunkten – mit denen Frisch seine Ergebnisse im Sinne einer Gegenprobe immer wieder konfrontiert – zur Wiederherstellung des Geltungsanspruchs der Verhaltensnorm keiner Vorsatzstrafe bedarf.

161 Zu weitgehende Interpretation der Vorsatztheorie Frischs daher bei Schroth, U.: NStZ 1990, 324 ff.

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Wesentliche Konturen erhält die von Frisch vertretene funktionale Abgrenzungslehre von Vorsatz und Fahrlässigkeit darüber hinaus auch über die normtheoretische Differenzierung zwischen Sanktions- und Verhaltensnormen. Da Frisch bestimmte Tatbestandvoraussetzungen des gesetzlichen Straftatbestandes – wie dargelegt – nicht zu der Kategorie der Verhaltensnorm, sondern zur Sanktionsnorm zählt, die nur für Rechtsanwender, nicht aber für den Handelnden von Bedeutung ist, müssen diese Voraussetzungen auch nicht vom Vorsatz erfasst sein. Im Einzelnen: c) Fallgruppenspezifische Abgrenzung von Vorsatz und (bewusster) Fahrlässigkeit aa) Zur Vorsatzproblematik in den Aids-Fällen Eine von Frisch in den 80er Jahren eingehend thematisierte Abgrenzungsproblematik zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit betrifft die Strafbarkeit eines mit dem HIV-Virus infizierten Menschen, der in Kenntnis der Infektion und des Übertragungsrisikos den geschützten oder ungeschützten Geschlechtsverkehr ausführt.162 Ausgangspunkt seiner Erörterungen ist die Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs163 zu dieser Problematik, die unter Bezugnahme auf den herkömmlichen zweigliedrigen Vorsatzbegriff im Ergebnis zur Annahme eines bedingten Körperverletzungsvorsatzes sowie zur Verneinung des (bedingten) Tötungsvorsatzes kommt.164 Frisch sieht in der Argumentation des BGH, der dem Wissen des Täters um das Infektionsrisiko des ungeschützten Verkehrs zumindest eine Indizwirkung für das „Billigen im Rechtssinne“ zuspricht,165 zunächst eine Bestätigung der 162 Frisch, W. in: Meyer-GS 1990, S. 533 ff.; ders.: JuS 1990, 362 ff.; ders.: NStZ 1991, 23 ff. 163 BGHSt 36, 1 ff. 164 In dem zur Entscheidung stehenden Sachverhalt war der Angeklagte (A) in einem ausführlichen Beratungsgespräch durch den ihn behandelnden Arzt zweimal über Art und Auswirkungen der AIDS-Krankheit und insbesondere über notwendige Schutzmaßnahmen bei der Ausübung des (homosexuellen) Sexualverkehrs hingewiesen worden. Ungeachtet dieser Informationen übte der Angeklagte in einem Homosexuellen-Club mehrmals ungeschützten Geschlechtsverkehr aus, ohne seine Sexualpartner von der Infektion in Kenntnis zu setzen. Unter anderem vollzog er zunächst ohne ein Kondom den Analverkehr, unterbrach diesen dann aber und setzte ihn schließlich mit Kondom bis zur Ejakulation fort. 165 BGHSt 36, 1 ff., 13: „Soweit die Strafkammer . . . zur Begründung des Willensmoments zunächst darauf abhebt, dass ,schon aufgrund des hohen Wissensstandes des Angeklagten‘ infolge der ihm erteilten Belehrungen angenommen werden könnte, er habe die mögliche Ansteckung und die mögliche Lebensgefährdung seines Partners billigend in Kauf genommen oder sich doch mit solchen Folgen abgefunden, begegnet diese Beweiserwägung keinen durchgreifenden Bedenken. Wie bereits ausgeführt, kann der Qualität und Intensität des beim Täter vorhandenen Wissens über die Gefähr-

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eigenen Auffassung, nach der es sich bei der Differenzierung zwischen voluntativem und kognitivem Element in Wahrheit lediglich um eine komplementäre und daher entbehrliche Umschreibung ein und desselben inneren Sachverhaltes, der Entscheidung des Täters gegen das Rechtsgut, handelt.166 Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs will Frisch aber im konkreten Fall, entgegen der Auffassung des BGH, den Infektionsvorsatz allgemein und damit im Ergebnis sowohl den Körperverletzungs- als auch den Tötungsvorsatz verneinen.167 Wie bereits oben dargelegt, kommt es für ihn bei der Frage der Vorliegens oder Nichtvorliegens einer Entscheidung gegen das Rechtsgut vor allem darauf an, ob der Täter „für sich“168 von der realistischen Möglichkeit des Eintritts bestimmter tatbestandlicher Folgen ausgegangen ist. Da aber auch nach Frisch das „Vertrauen auf einen guten Ausgang des Geschehens“ ein wichtiges Indiz für die Nichtannahme der „realistischen Möglichkeit des Erfolgseintritts“169 darstellt, kann er bei der folgenden Argumentation trotz seines eingliedrigen Vorsatzbegriffes innerhalb der terminologischen Kategorien der Rechtsprechung verbleiben und in dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt nach „Anhaltspunkten für ein mögliches Vertrauen auf einen guten Ausgang des Geschehens“ suchen. Diese Vorgehensweise entspricht dabei Frischs Auffassung einer normativ orientierten Tatsachenfeststellung, bei der ein bestimmter innerer Sachverhalt (z. B. Vertrauen auf einen guten Ausgang des Geschehens) gedanklich mit möglichen Alternativhypothesen konfrontiert wird, die den Rückschluss auf den gegenteiligen inneren Sachverhalt zulassen. In diesem methodisch geleiteten und strukturierten Vorgehen sieht Frisch im Anschluss an Freund170 einen entscheidenden Vorteil gegenüber der auch in der AIDS-Rechtsprechung zu erkennenden Praxis des BGH, eine Vorsatzfeststellung der Instanzgerichte auch dann zu akzeptieren, wenn sich diese in einer unspezifischen „Anhäufung in Wahrheit nicht aussagekräftige(r)“171 Kriterien erschöpft. Ausgangspunkt der von ihm belichkeit seiner Handlungsweise im Einzelfall ein wesentlicher indizieller Hinweis auf das Vorliegen des voluntativen Vorsatzelements entnommen werden.“ 166 Eingehend nochmals: Frisch, W. in: Meyer-GS 1990, S. 533 ff., 545 ff. 167 Frisch liegt damit im Ergebnis auf der Linie der herrschenden Meinung in der Literatur, vgl. z. B. die Rezensionen (der Entscheidung BGHSt 36, 1 ff.) von Prittwitz, C.: StV 1989, 123 ff., 126; ders.: JA 1988, 486 ff.; Schünemann, B.: JR 1989, 89 ff. (der aber Raum für eine Strafbarkeit nach § 229 StGB sieht) sowie Bruns, M.: NJW 1987, 693 ff., die der Entscheidung speziell zu der Vorsatzproblematik überwiegend ablehnend gegenüber stehen. 168 Frisch, W. in: Meyer-GS 1990, S. 533 ff., 547. 169 Frisch, W. in: Meyer-GS 1990, S. 533 ff., 552 ff. 170 Freund, G.: Tatsachenfeststellung 1987, speziell zum Nachweis des Tötungsvorsatzes unter beispielhafter Erfassung denkbarer Alternativhypothesen S. 32 ff., 138 ff.; vergleichbare Überlegungen auch bei Prittwitz, C.: StV 1989, 123 ff. und ders.: JA 1988, 486 ff. 171 Frisch, W. in: Meyer-GS 1990, S. 533 ff., 566.

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fürworteten Formulierung von Hypothesen und Gegenhypothesen sind dabei einzelne, auf die Problemstellung bezogene objektive Anhaltspunkte wie „Art des Risikos und Vermeidemaßnahmen“, „Art oder Qualität des allgemeinen Risikowissens über den speziellen Risikosachverhalt“ oder die „allgemeine Disposition des Täters“.172 Für die weitere Argumentation Frischs ist wesentlich, dass er die genannten Kriterien ausschließlich auf den konkreten Täter in der konkret gestellten Entscheidungssituation bezieht.173 So ist etwa das allgemeine Wissen um das (geringe) Infektionsrisiko ein Indiz für das Vertrauen auf einen guten Ausgang der riskanten Handlung. Dieses gilt nach Frisch dann aber als widerlegt, wenn der Täter sich das Risiko im Einzelfall z. B. infolge einer (unrichtigen) Belehrung als weit höher vorgestellt hat.174 Auf dieser personfunktionalen Argumentationsgrundlage sieht Frisch im Ausgangsfall keine Möglichkeit, den Infektionsvorsatz begründen zu können. Selbst die eindringliche Belehrung durch den behandelnden Arzt konnte A nur auf das statistisch geringe Infektionsrisiko von 1% bei ungeschütztem Verkehr hinweisen und ihm daher die grundsätzliche Möglichkeit eröffnen, auf einen guten Ausgang des Geschehens zu vertrauen. Gegenteilige Anhaltspunkte sind schon deshalb nicht ersichtlich, weil A vor dem Samenerguss zum geschützten Verkehr übergegangen war und deshalb allenfalls die zweite Phase des Verkehrs als wirklich gefährlich angesehen hatte.175 Für die hier wesentliche Differenzierung zwischen personfunktionaler und systemfunktionaler Dogmatik ist daher zunächst festzustellen, dass Frisch hinsichtlich der Abgrenzungsproblematik in den AIDS-Fällen – im Unterschied zu seiner Auffassung zu der Problematik des aus Gleichgültigkeit tatsachenblinden Täters – eindeutig personfunktional argumentiert.176 Die Bestrafung wegen vorsätzlicher Deliktsverwirklichung kommt nur dann in Betracht, wenn der Täter selbst von einem relevanten Risiko ausgegangen ist. Hierbei hat die statistisch gegebene Risikowahrscheinlichkeit lediglich indizielle Wirkung. Sie kann entkräftet werden, wenn im Einzelfall Anhaltspunkte ersichtlich sind, die ergeben, dass der Täter „für sich“ von einer anderen Risikoeinschätzung ausgegangen ist. Der danach wesentliche individuelle Entscheidungsmaßstab kann sich im Einzelfall belastend auswirken, wenn das vorgestellte Risiko erheblich höher als die statistisch messbare Risikowahrscheinlichkeit ist und der Täter deshalb eine 172

Frisch, W. in: Meyer-GS 1990, S. 533 ff., 556 ff. Frisch, W. in: Meyer-GS 1990, S. 533 ff., allgemein 557 ff., speziell zur AIDSProblematik 563 ff. 174 Frisch, W. in: Meyer-GS 1990, S. 533 ff., 564, 565. 175 Frisch, W.: JuS 1990, 362 ff., 368. 176 Frisch will seiner Argumentation im Rahmen der Fälle der Tatsachenblindheit aus Gleichgültigkeit ausdrücklich keinen verallgemeinernden Charakter beimessen, vgl. Frisch, W.: NStZ 1991, 23 ff. gegen die zu weitgehende Interpretation der Vorsatztheorie Frischs durch Schroth, NStZ 1990, 324 ff. 173

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persönliche Entscheidung gegen das Rechtsgut getroffen hat. Geht der Täter irrtümlich aber von einer nur geringen Risikowahrscheinlichkeit aus, kann dies im Einzelfall auch dann zur Verneinung des Vorsatzes führen, wenn aus systemfunktionalen Gesichtspunkten, etwa zur Verdeutlichung und Stabilisierung der Verhaltensnorm die schärfere Vorsatzstrafe zu legitimieren wäre.177 Durch die Mischung personfunktionaler und systemfunktionaler Begründungsansätze kann Frisch daher trotz seines der Formulierung Jakobs’ ähnlichen Vorsatzbegriffs zu grundsätzlich anderen Ergebnissen kommen. Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Ansätzen liegt vor allem darin, dass Jakobs auch außerhalb der Gruppe des aus Gleichgültigkeit „tatsachenblinden“ Täters aus den geschilderten systemfunktionalen Gesichtspunkten von einer normativen Konstruktion der Kenntnis ausgeht, bei der es (im Gegensatz zu der Position Frischs) weniger auf den individuellen Kenntnisstand des Täters als vielmehr auf den Umfang der Beeinträchtigung des Geltungsanspruchs der Norm ankommt. Gerade in den AIDS-Fällen, bei denen zumindest potentiell das Leben und die Gesundheit der Sexualpartner des Infizierten betroffen ist und daher die Notwendigkeit besteht, das Wissen der Gesellschaft über die Gefährlichkeit bestimmter Sexualpraktiken zu festigen, dürfte auf der Grundlage des systemfunktionalen Ansatzes daher weniger Anlass zur Kritik der Rechtsprechung des BGH bestehen, als dies in der Entscheidungsrezension Frischs zum Ausdruck kommt. bb) Die von der Mitbewusstseinslehre erfassten Problemsachverhalte Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam innerhalb der Strafrechtswissenschaft die Diskussion178 auf, ob für die Bejahung des Vorsatzes auch Bewusstseinsformen unterhalb der Schwelle der aktuellen Tatsachenkenntnis ausreichend sein können. Problematisch waren insoweit insbesondere Lebenssachverhalte, bei denen der Täter zwar das Kerngeschehen planvoll gelenkt und in seinem Bewusstsein voll erfasst hatte, sich hinsichtlich bestimmter Merkmale des objektiven Deliktstatbestands aber dahingehend einließ, bei Begehung der Tat an diese Aspekte des Geschehens nicht gedacht zu haben. Bei den zuletzt genannten Merkmalen bezog sich das wissenschaftliche Interesse vor allem auf zwei Gruppen von Tatbestandsvoraussetzungen. Diskutiert wurden einerseits bestimmte, vor allem in den Sonderdelikten genannte Eigenschaften des Handlungssubjekts (z. B. als Arzt in § 203 oder als Amtsträger in §§ 331 ff. StGB)179 und andererseits bestimmte in den Tatbeständen genannte situative oder personelle Aspekte 177

Frisch, W. in: Meyer-GS 1990, S. 533 ff., 564, 565. Vgl. die Problemdarstellung sowie den Überblick zum damaligen Diskussionsstand bei Platzgummer, W.: Bewusstseinsform 1964, S. 1–9. 179 Vgl. etwa BGHSt 8, 322 ff.; RGSt 23, 274 ff. 178

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des Tatbildes, die begrifflich auf einen vom Täter zu erfassenden sozialen Bedeutungsgehalt verweisen wie etwa „Kirche“ (§ 243 Abs. 1 Nr. 4 StGB) oder „Verwandter“ (§ 223 Abs. 2 StGB in der Fassung vor dem 01.12.1994).180 Bei diesen Fragestellungen schien die von Platzgummer181 entwickelte „Mitbewusstseinslehre“ einen den vorherrschenden kriminalpolitischen Bedürfnissen entsprechenden Lösungsansatz bereitzuhalten. In beiden Fallgruppen soll nach Platzgummer eine Verurteilung wegen vorsätzlicher Tatbegehung zwar nur dann in Betracht kommen, wenn sich der Vorsatz des Täters auch auf das betroffene Merkmal erstreckt. Hierfür ist seiner Auffassung nach aber regelmäßig eine unterhalb der Schwelle des „Daran-Denkens“ liegende Bewusstseinsform ausreichend.182 Eine in diesem Sinne bewusste Erfassung der relevanten Tatumstände liegt nach Platzgummer auch dann vor, wenn dem Täter diese Umstände „mitbewusst“ sind. Unter „Mitbewusstsein“ versteht er dabei ein „Bewusstsein, das zwar nicht explizit beachtet wird, das aber mit einem anderen beachteten Bewusstseinsinhalt mitbewusst ist“ (83). Platzgummer geht insoweit in Übereinstimmung mit den Erkenntnissen des Wiener Psychologen Rohracher183 davon aus, dass jede mit den Sinnesorganen wahrgenommene Erscheinung der Außenwelt, d. h. jede Tatsachenwahrnehmung zwangsläufig mit einer bewusst erlebbaren, aber nicht stets auch reflektierend nachvollzogenen Einordnung des Wahrgenommenen in den Gesamtzusammenhang des persönlichen Erfahrungswissens einhergeht. Hierdurch rückt nicht nur der sinnlich wahrgenommene Gegenstand als solcher, sondern auch der hiermit assoziierte soziale Bedeutungsgehalt in das Bewusstsein des Handelnden. Diese Überlegung, die Platzgummer ausdrücklich als einen nicht durch willentliche Anstrengung oder auch Ablenkung zu vermeidenden Automatismus einstuft,184 macht der Autor zunächst für die zuerst genannte Gruppe von Tatbestandsmerkmalen strafrechtlich nutzbar. Richtet sich die Körperverletzung zum Beispiel gegen den leiblichen Vater, ist es für die Qualifikation des § 223 Abs. 2 alte Fassung StGB folglich nicht erforderlich, dass sich der Täter eigens den Umstand vorstellt, es handele sich bei dem Angegriffenen um den eigenen Vater. Durch die Wahrnehmung des Tatopfers als solchen wird nach den oben beschriebenen Bewusstseinsleistungen vielmehr implizit notwendig auch das Vater-Kind Verhältnis mitgedacht, das insoweit während der Tatbegehung stets mitbewusst ist.

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Vgl. etwa BGH NJW 1953, 152. Platzgummer, W.: Bewusstseinsform 1964. 182 Platzgummer, W.: Bewusstseinsform 1964, S. 82. 183 Platzgummer, W.: Bewusstseinsform 1964, S. 81 ff. bezieht sich auf Rohracher, H.: Psychologie 1963. 184 Platzgummer, W.: Bewusstseinsform 1964, S. 83. 181

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Von den nur unterbewusst vorhandenen Erfahrungen und Wissensbeständen unterscheidet sich das Mitbewusste insbesondere dadurch, dass die hier vorhandenen Inhalte im „unmittelbaren gegenwärtigen Erleben“ ohne Nachdenken verfügbar sind und daher nicht mit den charakteristischen Erscheinungen in Verbindung stehen, die dann auftreten, wenn man sich an etwas erinnert. Mitbewusste Inhalte sind folglich da, ohne dass man sich erinnern muss: „Das ist ein feiner, aber charakteristischer Unterschied; wer gefragt wird, wann die Schlacht bei Cannae war, muss lange nachdenken, und ebenso, wenn man wissen will, was er vorgestern abends getan hat; fragt man ihn aber, wer er sei, wo er wohne und welche Arbeit er gegenwärtig habe, so bedarf es keiner Erinnerungsleistung, um die Antwort zu geben. Es ist ihm mitbewusst – er braucht nur etwas sprachlich zu formulieren, was umformuliert immer ,nebenher‘ bewusst ist.“185

Vor allem diesen Aspekt der Mitbewusstseinslehre kann Platzgummer für die in der zweiten Fallgruppe genannten Eigenschaftsmerkmale des Handlungssubjekts strafrechtlich auswerten.186 Der Beruf bzw. die Eigenschaft, Amtsträger zu sein, gehört nach Platzgummer zu den Bewusstseinsinhalten, die insbesondere bei auf die Tätigkeit bezogenen oder gelegentlich dieser Tätigkeit ausgeführten Handlungen stets mitbewusst sind und die daher – im Gegensatz zu den nur erinnerungsfähigen Wissensbeständen – nicht erst durch einen Akt der Zuwendung von Aufmerksamkeit in das Bewusstsein gehoben werden müssen. Dieses wiederum zwangsläufig gegebene Mitbewusstsein in Bezug auf die fraglichen Tatbestandsvoraussetzungen hält Platzgummer dann für ausreichend, wenn der Täter nur in grundsätzlicher Kenntnis des jeweiligen Merkmals handelt: „Der ungetreue Beamte, der aus der Amtskasse Gelder nimmt, ruft sich beim Griff in die Kasse vielleicht nicht besonders in Erinnerung, dass er Amtsrat bei der Bezirkshauptmannschaft und als solcher besonders zur Redlichkeit verpflichtet ist. Aber die Tatsache ist ihm doch ständig gegenwärtig. Es kann gar nicht anders sein, denn indem ihm der Gedanke kommt: ,Ich helfe meiner Not ab, ich greife in die Amtskasse‘, denkt er mit dem ,Ich‘ implicite auch die Qualitäten mit, die dieses Ich ausmachen.“187

Von Rechtsprechung188 und Rechtslehre189 ist die Mitbewusstseinslehre in der Folgezeit aufgegriffen und argumentativ teilweise auf den von Frisch190 gekennzeichneten Ableitungszusammenhang „Vorsatz in Bezug auf alle Tatumstände des gesetzlichen Tatbestands“, „Vorsatz ist auch Mitbewusstsein“ und 185

Platzgummer, W.: Bewusstseinsform 1964, S. 88. Platzgummer, W.: Bewusstseinsform 1964, S. 87 ff. 187 Platzgummer, W.: Bewusstseinsform 1964, S. 89. 188 BayOblG NJW 1977, 1974; OLG Köln NZfWehrR 1978, 36 ff.; zur Literatur vgl. Schönke-Schröder-Cramer/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 51; SK-Rudolphi, § 16, Rn. 24; Wessels/Beulke: Strafrecht AT 2001, S. 79. 189 Schönke-Schröder-Cramer/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 51; SK-Rudolphi, § 16, Rn. 24; Wessels/Beulke: Strafrecht AT 2001, S. 79. 190 Frisch, W. in: Arm. Kaufmann-GS 1989, S. 311 ff., 319. 186

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„mitbewusst sind alle jederzeit verfügbaren Umstände“ verkürzt sowie sachlich auf weitere Sachverhaltskonstellationen angewendet worden. Ein Beispiel hierfür bildet die auch von Frisch191 erörterte Problematik des Diebstahls eines Dienstwaffenträgers,192 der von der Rechtsprechung ebenfalls über die Mitbewusstseinslehre gelöst wurde. Die nachfolgenden überwiegend kritischen Rezensionen und Aufsätze193 zu dieser oder ähnlich gelagerten Fallgestaltungen beanstanden (im Hinblick auf die Vorsatzproblematik) vor allem den bereits von Platzgummer mit der Mitbewusstseinslehre assoziierten Automatismus, der nach Auffassung der Autoren im Einzelfall zu einer mit den Voraussetzungen des § 16 StGB nicht zu vereinbarenden Vorsatzfiktion führen kann. Hintergrund dieser Kritik sind im Wesentlichen personfunktionale Erwägungen zur Vorsatzstrafe, die besonders deutlich in der Kritik Köhlers zum Ausdruck kommen. In Anlehnung an Hegels Rechtsphilosophie und Persönlichkeitstheorie sieht Köhler194 das Wesen des vorsätzlichen Handelns in der Negation des Rechts durch den ein „konkretes Unrechtsbewusstsein“ auslösenden „Unrechtswillen“, der von einer freien Entscheidung des autonomen Subjekts getragen wird. Auf diesem Unrecht des Vorsatzverbrechens beruht nach seiner Auffassung die Vorsatzstrafe, durch die dem Täter diese Entscheidung gegen das Recht zum persönlichen Vorwurf gemacht wird. Diese (personfunktionale) Ratio der Vorsatzstrafe greift aber nur dann ein, wenn der Handelnde über ein „autonome(s) Praxiswissen“ verfügt und um die „Verletzungsbedeutung seines Tuns weiß“.195 Mit dieser Grundposition Köhlers ist die von der Mitbewusstseinslehre vertre191

Frisch, W. in: Arm. Kaufmann-GS 1989, S. 311 ff., 332 ff. OLG Köln NZfWehrR 1978, 36 ff. Nach dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt hatte der Angeklagte, ein 19jähriger Soldat der Bundeswehr, bei einem Streifendienst zur Überwachung des Geländes des Bundesverteidigungsministeriums, bei dem er pflichtgemäß ein schussbereites Gewehr bei sich führte, aus dem Offizierskasino eine Flasche Wodka und einige Schachteln Zigaretten entwendet. Ein ihn begleitender weiterer Wachsoldat nahm 2 Flaschen Spirituosen und ebenfalls Zigaretten an sich. Während das Jugendschöffengericht hinsichtlich des § 244 Abs. 1 Nr. 1 StGB (in der Fassung vor dem 6. StrRG) den Vorsatz verneint hatte, kam das OLG unter Anwendung der Mitbewusstseinslehre zum gegenteiligen Ergebnis: „Es wäre eine Überspannung des Vorsatzbegriffes, wollte man Vorsatz nur dann bejahen, wenn der Täter im Zeitpunkt der Tat sämtliche Tatumstände ausdrücklich im Sinne eines „Daran-Denkens“ bedacht, ihnen also in jedem Augenblick der Tatausführung volle Aufmerksamkeit seines Bewusstseins zugewendet hätte . . . Vielmehr ist die erforderliche Kenntnis, das Wissen von den Tatumständen, auch dann aktuell wirksam vorhanden, . . . wenn sie als „sachgedankliches Mitbewusstsein“ das Vorstellungsbild des Täters begleitet. Dazu gehört auch ein abgeschwächtes, der gegenwärtigen Aufmerksamkeit entzogenes Bewusstsein von geringerem Deutlichkeitsgrad.“ 193 Hettinger, M.: GA 1982, 525 ff., 550; Köhler, M.: GA 1981, 285 ff.; zu der Entscheidung BGHSt 30, 44 ff. (Diebstahl eines Polizeibeamten, der in Ausübung seines Dienstes eine Schusswaffe bei sich führt): Lenckner, Th.: JR 1982, 424 ff., 425. 194 Köhler, M.: GA 1981, 285 ff.; ausführlich zum Unrecht des Vorsatzverbrechens ders.: Bewusste Fahrlässigkeit 1982, S. 321–334. 195 Köhler, M.: GA 1981, 285 ff., 287. 192

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tene Annahme einer zwangsläufigen, durch Wahrnehmungen ausgelösten Erfassung bestimmter Bedeutungsgehalte nicht zu vereinbaren. Köhler sieht diesbezüglich einen Widerspruch zu der eigenen Auffassung von der „Autonomie des denkenden Subjekts“, durch die es im Einzelfall dazu kommen kann, dass Bedeutungszusammenhänge verdrängt und nicht (mit-)bewusst wahrgenommen werden. Beispielhaft bezieht sich Köhler dabei auf Irrtümer, unsicheres subjektives Erfahrungswissen oder die unterschiedliche Reflexionsfähigkeit einzelner Personen, die hier als relevante intervenierende Faktoren in Rechnung zu stellen sind. Dem Richter obliegt es daher im Einzelfall, nach Anhaltspunkten für einen zumindest kurzen Reflexionsprozess des Täters zu suchen, in dem dieser sich des fraglichen tatbestandlichen Bedeutungskomplexes vergewissert hat.196 Fehlt es an einem solchen Reflexionsvorgang, stellt die gleichwohl erfolgende Bestrafung wegen vorsätzlicher Deliktsverwirklichung eine unzulässige „objektivistische Verkürzung des vorsatzkonstitutiven Bedeutungswissensmoments“ und damit im Ergebnis eine dem Gesetz und der Ratio der Vorsatzstrafe widersprechende „dolus-Präsumtion“ dar.197 Obwohl Frisch sich dieser Kritik anschließt198 und sich ebenfalls auf das Argument der Vorsatzfiktion bezieht, entfaltet er in seiner Auseinandersetzung mit der Mitbewusstseinslehre einen Gegenstandpunkt, der mit der personfunktionalen Grundposition der oben genannten Autoren weder argumentativ noch im Ergebnis übereinstimmt. Frisch befürwortet für die genannten, von der Mitbewusstseinslehre erfassten Fallkonstellationen nämlich eine normative Einheitslösung, die es ihm ermöglicht, in den zugrunde liegenden Sachverhalten grundsätzlich immer wegen vorsätzlicher Deliktsverwirklichung zu strafen. Denn sowohl hinsichtlich der täterspezifischen Kriterien als auch in Bezug auf bestimmte Gefährlichkeitsmerkmale (hier allerdings argumentativ weniger eindeutig) ist Frisch der Ansicht, dass diese Merkmale überhaupt keinen Vorsatzbezug aufweisen müssen. Er greift hier im Ergebnis auf eine schon von Welzel199 und Armin Kaufmann200 vertretene Auffassung zurück, nach der die so genannten „Tätermerkmale“ im Gegensatz zu den „Handlungsmerkmalen“ von einem hierauf bezogenen Bewusstsein nicht erfasst sein müssen. Nach Kaufmann ist es schon sachgedanklich ausgeschlossen, es verwirklichen zu wollen, zum Beispiel bei der Tat ein Beamter zu sein. Daher betreffen diese täterbezogenen Merkmale nicht den „auf etwas gerichteten“ Vorsatz und müssen nur objektiv und nicht auch subjektiv vorliegen: „Der Vorsatz als Verwirklichungswille kann sich nur auf das richten, was verwirklicht wird bzw. werden soll, nicht aber auf den Träger des Verwirklichungswillens selbst. Alle Um196 197 198 199 200

Köhler, M.: GA 1981, 285 ff., 295. Köhler, M.: GA 1981, 285 ff., 294. Frisch, W. in: Arm. Kaufmann-GS 1989, S. 311 ff., 333. Welzel, H.: Strafrecht 1969, S. 80. Kaufmann, Arm.: Lebendiges und Totes 1954, S. 152 ff.

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stände, die den Täter, nicht aber die Handlung des Täters betreffen, können nicht Gegenstand des Vorsatzes eben dieses Täters sein.“201

Nach der ratio-orientierten Auffassung Frischs müssen die Tätermerkmale schon deshalb nicht vom Vorsatz umfasst sein, weil sie nicht zu den Voraussetzungen der vom Täter zu beachtenden Verhaltensnorm gehören, sondern nur vom Rechtsanwender der Sanktionsnorm festgestellt werden müssen. Nur dieses Ergebnis entspreche dem Grund der hervorgehobenen Vorsatzstrafe, denn „vor dem Hintergrund angenommener Norminternalisierung und Normbefolgungswilligkeit“ hat z. B. der „Amtsträger so wie der Jedermann bei Jedermannsdelikten die für den Vorsatztäter charakteristische erhöhte Vermeidemacht bereits dann, wenn er die Gestalt jener Handlung, die ihm als Amtsträger bei Strafe verboten ist, in ihren maßgeblichen Zügen erfasst hat – Bewusstseinsinhalte in Richtung auf seine Amtsträgereigenschaft sind insoweit unnötig“.202 Ausschlaggebend für diesen Lösungsansatz Frischs sind in erster Linie systemfunktionale Argumente (186 ff.). Für Frisch beinhaltet die Entscheidung des Täters, d. h. in den hier fraglichen Fällen des Beamten, Richters oder allgemein des Amtsträgers, sich abweichend von den Maßstäben zu verhalten, welche die Rechtsordnung zum Schutz des Gutes aufgestellt und im Straftatbestand abgesichert hat, ein „besonders rechtserschütterndes oder verunsicherndes Datum“, das nach den oben beschriebenen sozialpsychologischen Effekten der Kompensation durch die erhöhte Vorsatzstrafe bedarf. Personfunktionale Gesichtspunkte, die auch bei denjenigen Autoren im Vordergrund stehen, die die Mitbewusstseinslehre wegen der Gefahr der Vorsatzfiktion als zu weitgehend kritisieren,203 treten demgegenüber in den Hintergrund. So kommt es Frisch offensichtlich nicht darauf an, dass derjenige, der sich bei der Ausführung der Tat bestimmter qualifizierender Tätermerkmale überhaupt nicht bewusst war, sich insoweit auch vor sich selbst nicht im Unrecht weiß. Ausschlaggebend ist ausschließlich die enttäuschte Erwartungshaltung der Gesellschaft, die von dem, „der sich seine Rolle jederzeit mühelos bewusst machen kann“ (189) erwartet, diesen an ihn gerichteten Anforderungen auch gerecht zu werden. Einen vergleichbaren Argumentationsansatz legt Frisch zudem bei bestimmten Merkmalen auf der Gefährlichkeitsebene zugrunde,204 bei denen er sich beispielhaft auch auf die Problematik der Strafbarkeit des Dienstwaffenträgers nach § 244 Abs. 1 Nr. 1 StGB (alte Fassung) bezieht. Um auch hier das Merkmal des Beisichführens einer Schusswaffe (bzw. „Waffe“ lt. neuer Fassung) aus dem Bereich, auf den sich der Tatvorsatz nach § 16 StGB beziehen muss, aus201 Kaufmann, Arm.: Lebendiges und Totes 1954, S. 152 (Hervorhebungen im Original). 202 Frisch, W. in: Arm. Kaufmann-GS 1989, S. 311 ff., 328. 203 Köhler, M.: GA 1981, 285 ff.; Hettinger, M.: GA 1982, 525 ff. 204 Frisch, W. in: Arm. Kaufmann-GS 1989, S. 311 ff., 333.

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zuschließen, greift er auf ein Argument zurück, das von der Rechtsprechung205 und einem Teil des Schrifttums206 zutreffend schon zur Bejahung des objektiven Tatbestands des § 244 Abs. 1 Nr. 1 StGB herangezogen wird: Er bezieht sich auf den Gesichtspunkt der abstrakten Gefahr des Beisichführens der (Schuss-) Waffe: „Es ist ganz einfach so, dass der Dieb, der im Sinne jederzeitiger Verfügbarkeit dieses Wissens um die mitgeführte Waffe weiß, die im Sinne des § 244 Abs. 1 Nr. 1 qualifiziert gefährliche Person verkörpert – weil er eben auch jederzeit auf die Idee kommen könnte, zur Lösung etwa entstehender Probleme kurzerhand die Waffe einzusetzen.“207

Damit vertritt Frisch im Ergebnis einen pragmatischen, am Gedanken des Rechtsgüterschutzes orientierten Lösungsansatz, der es ihm im Gegensatz zu den oben angeführten Kritikern der Mitbewusstseinslehre nicht erlaubt, flexibel auf bestimmte Fallkonstellationen zu reagieren und bereits auf der Ebene der Tatbestandsmäßigkeit nach dem im Einzelfall verwirklichten Unrecht zu differenzieren. d) Kritik aus personfunktionaler Sicht Die in Anbetracht der Materialfülle gebotene ausschnittartige Darstellung der Vorsatztheorie Wolfgang Frischs vermittelt trotz der von dem Autor zugrunde gelegten wertrationalen Komponente Bedenken im Hinblick auf den Schutz des Einzelnen vor dem Zugriff des Staates in Form der Vorsatzstrafe. Die drei genannten Beispielsfälle, die Problemgruppe der gleichgültigen Täter, die Abgrenzung zum dolus eventualis am Beispiel der AIDS-Fälle sowie der Bereich der über die Mitbewusstseinslehre erfassten Fallkonstellationen kennzeichnen drei unterschiedliche Zugangswege zur Gesamtproblematik der Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit bzw. vorsätzlichem und nicht-vorsätzlichem Handeln. Im Ergebnis wendet Frisch bei allen drei Fallgruppen zwar insgesamt seine ratio-, d. h. – wie dargelegt – gemischt person- und systemfunktional orientierte Auslegungslehre an, kommt aber jeweils zu einer völlig unterschiedlichen Gewichtung dieser beiden Zwecküberlegungen. Bei der Problematik der AIDSFälle stellt Frisch eindeutig den personfunktionalen Schutzaspekt in den Vordergrund und propagiert eine restriktive Festlegung der für die Bejahung des Vorsatzes maßgeblichen Umstände. Dabei blendet er systemfunktionale Interessen weitgehend aus. Gerade in den AIDS-Fällen wäre es ihm aber möglich gewesen, die Gesichtspunkte der Normstabilisierung in den Vordergrund zu rücken, 205

BGHSt 30, 44 ff.; OLG Köln NJW 1978, 652. Hettinger, M.: GA 1982, 525 ff.; Katzer, H.: NStZ 1982, 236 ff.; Sonnen, B.-R.: JA 1978, 467 ff., 468. 207 Frisch, W. in: Arm. Kaufmann-GS 1989, S. 311 ff., 333. 206

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um damit der auf das System bezogenen Intention zum Durchbruch zu verhelfen, ein bestimmtes Wissen in der Gesellschaft über die Gefährlichkeit bestimmter Sexualpraktiken zu fundieren und über die unterstellte sozialpsychologische Wirkungskraft des Strafrechts zu unterstreichen. Bei der Gruppe des aus Gleichgültigkeit gegenüber den Rechtsgütern anderer „tatsachenblinden“ Täters stellt Frisch demgegenüber ebenso die systemfunktionalen Interessen in den Vordergrund, wie bei der Konstellation der „Mitbewusstseinsfälle“, ohne insoweit ausreichend auf die personfunktionalen Schutzbedürfnisse einzugehen. Selbst bei der Gleichgültigkeit aus Rechtsfeindschaft geht die Bestrafung wegen vorsätzlicher Deliktsverwirklichung jedenfalls dann nicht mit einem erhöhten personalen Verhaltensunrecht einher, wenn man – wie auf der Grundlage des geltenden Strafrechts vorausgesetzt – nicht auf die Lebensführungsschuld oder eine negative Gesamteinstellung des Täters gegenüber der Rechtsordnung,208 sondern auf eine Einzeltatschuld abstellt.209 In dieser unterschiedlichen Akzentuierung personfunktionaler und systemfunktionaler Argumente kommt ein grundsätzlicher Mangel der Vorgehensweise Frischs zum Ausdruck, die seinen Ansatz zudem im erhöhten Maße anfällig für eine ergebnisorientierte kriminalpolitische Grenzbestimmung des Vorsatzes erscheinen lässt. Frisch kann letztlich nicht klären, in welchem Verhältnis die zweck- und wertrationalen „Rationes“ der Vorsatzstrafe in die Begriffsbildung einfließen sollen. Wie am Beispiel der zuletzt genannten Fallgruppen veranschaulicht wurde, kann es im Einzelfall sogar zu einer Reduktion der personfunktionalen Interessen „auf Null“ und damit – wenn auch in der Realisierung durch Frisch weitaus zurückhaltender – zu einer der Position Jakobs’ und seiner Schüler entsprechenden ausschließlichen Berücksichtigung systemfunktionaler Argumente kommen. Sowohl der wert- als auch der zweckrationalen Komponente der Vorsatzstrafe fehlt insoweit ein abwägungsfester Kern, der notwendig bei der Auslegung des Vorsatzes Berücksichtigung finden muss, und von dem aus eine sichere Grenzziehung zwischen vorsätzlichem und nicht-vorsätzlichem Handeln erfolgen kann. 2. Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs In Frischs Monographie „Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechung des Erfolgs“210 wird die bereits in „Vorsatz und Risiko“ zugrunde gelegte normtheoretische Differenzierung weiter vertieft und an Beispielen exemplifiziert, 208

So aber Mezger, E. in: Kohlrausch-FS 1944, S. 180 ff., 184. So die h. M., vgl. Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 131 (§ 6, Rn. 1 ff.); Jescheck/Weigend: Strafrecht AT 1996, S. 54, jeweils m. w. N. 210 Fundstellen aus dieser Monographie werden in diesem Abschnitt im Text und nur durch Angabe der Seitenzahl zitiert. 209

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die heute Anwendungsfelder der Lehre von der objektiven Erfolgszurechnung oder hierauf aufbauender Zurechnungslehren darstellen.211 Das Werk beinhaltet daher eine breit angelegte Auseinandersetzung mit Lösungsansätzen zu den Problemen ungewöhnlicher Kausalverläufe, der Mitwirkung des Täters an einer bewussten oder unbewussten Selbstschädigung des Opfers, hypothetischer Kausalverläufe sowie pflichtgemäßen Alternativverhaltens usw., die Frisch bis auf einige praktisch allerdings sehr bedeutsame Grenzfragen weniger vom Ergebnis her als im Hinblick auf die zugrunde gelegte Argumentation kritisiert. a) Kritik an der Ausweitung der Lehre von der objektiven Erfolgszurechnung Frischs Arbeit beginnt mit einer Rekonstruktion der von ihm diagnostizierten und kritisierten Ausweitung der Lehre von der objektiven Erfolgszurechnung, die nach seiner Auffassung an ein historisches Unrechtsverständnis anknüpft (S. 10 ff.). Der Sache nach sieht Frisch das Grundübel der herrschenden Lösungsansätze zu der vorstehend genannten Problemstellung in einer durch die Lehre vom corpus delicti und dem hiermit korrespondierenden naturalistischen Verursachungsbegriff (S. 10) geprägten Blickverengung auf den Erfolg, dem er durch einen Perspektivenwechsel auf die Kategorie des tatbestandsmäßigen Verhaltens abhelfen möchte: Die Lehre von der objektiven Zurechnung212 folgt für Frisch einem von der Strafrechtswissenschaft an sich längst überwundenen Modell der Straftat, in dem die Tatbestände der Erfolgsdelikte die Funktion allgemeiner Verursachungsverbote einnehmen, so dass folgerichtig zunächst alle Handlungen in den Sog strafrechtlicher Zurechnung geraten, die irgendeine, wenn auch weit entfernte Bedingung des Erfolgseintritts darstellen (S. 10–47). Die Instrumente dieser Auffassung vom Wesen der Straftat waren die Äquivalenztheorie213 und der kausale Handlungsbegriff214 (S. 10), die von der kausalen Gleichwertigkeit aller Erfolgsbedingungen ausgingen und damit praktisch ins Unendliche führten: Wenn unter einer Handlung lediglich „naturalistisch“ die „Bewirkung einer Veränderung in der Außenwelt“ zu verstehen ist (kausaler Handlungsbegriff), und 211 Dem Standpunkt Frischs entspricht auch insoweit die Auffassung Freunds, die aber bezüglich der Probleme der Zurechenbarkeit eines Erfolges bei den Begehungsdelikten nicht näher monographisch vertieft wird, vgl. die diesbezüglichen Ausführungen Freunds in seinem Lehrbuch Strafrecht AT 1998, S. 39 ff.; 268 ff. 212 Eine dem Ansatz Frischs vergleichbare kritische Einordnung der Lehre von der objektiven Zurechnung vertritt Hettinger, M.: JuS Lernbogen 1991, L 9 ff., L 11. 213 Erste Ausformulierung der Äquivalenztheorie bereits 1859 bei Julius Glaser; Überblick bei Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 292 ff. (§ 11, Rn. 3 ff.). 214 Der kausale Handlungsbegriff des „klassischen Systems“ geht zurück auf Franz von Liszt und Ernst Beling, zur dogmengeschichtlichen Entwicklung vgl.: Jescheck, H.-H. in: Eb. Schmidt-FS 1961, S. 139 ff., 142 ff.

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es für die Frage der Bewirkung nur auf den naturwissenschaftlich feststellbaren Kausalzusammenhang ankommt (Äquivalenztheorie), sind nicht nur grundsätzlich auch die „Eltern und Voreltern des Täters kausal für alle von diesem begangene Taten“,215 sondern sie handeln auch „tatbestandsmäßig“ im Sinne des jeweils geprüften Erfolgsdelikts. Aufgrund dieses problematischen Ausgangspunktes der kausalen Handlungslehre und der Äquivalenztheorie, werden die Straftatbestände der Erfolgsdelikte folglich auf allgemeine Verbote der Erfolgsherbeiführung reduziert, deren Regelungsgehalt in dem Appell besteht: „Verursache nie in Straftatbeständen beschriebene Erfolge“.216 Nach Frisch haben sich alle in der Folgezeit von der Strafrechtswissenschaft entwickelten Lösungsansätze zur Einschränkung der strafrechtlichen Haftung nicht von diesem Erfolgsdenken und von dem Verständnis der Erfolgsdelikte als Verursachungsverbote befreien können. Die zentrale Frage dieser Begrenzungsversuche lautet daher, welche Erfolge zurechenbar sind. Die sachlich an sich vorgelagerte und durch die Feststellung der Kausalität nicht alleine zu beantwortende Frage, ob das Verhalten des Täters überhaupt den jeweils geprüften Deliktstatbestand erfüllt, sei hingegen grundsätzlich vernachlässigt worden (S. 10 ff.).217 Dieser Vorbehalt gilt zunächst sowohl für die Versuche, die Einschränkung durch speziellere Kausalitätstheorien218 zu erzielen (S. 15), als auch für die Vorläufer der Lehre von der objektiven Zurechnung, das heißt die Adäquanz-219 sowie die Relevanztheorie,220 die eine Begrenzung der Haftung erst in einem zweiten Schritt nach der Kausalitätsfeststellung erzielen und mit unterschiedlicher Argumentation im Einzelnen bestimmten Kausalverläufen die strafrechtliche Bedeutung absprechen. Auch der Lösungsansatz der Rechtsprechung, eine Einschränkung der Haftung etwa bei abweichenden Kausalverläufen über den 215 Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 295 (§ 11, Rn. 10); vergleichbare Formulierungen bei Jescheck/Weigend: Strafrecht AT 1996, S. 284; Wessels/Beulke: Strafrecht AT 2001, S. 51 (§ 6, Rn. 156). 216 Hettinger, M.: JuS Lernbogen 1991, L 9 ff., 10. 217 So hätte man nach Frisch [Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 13 (Hervorhebung im Original)] versuchen können, „die bis dahin noch wenig präzisierte tatbestandsmäßige Handlung inhaltlich so anzureichern, dass die unbefriedigenden Konsequenzen entfallen – gewissermaßen grundsätzliche, aus dem Wesen der Erfolgsdelikte und gewissen anderen normativen Hintergründen folgende sowie u. U. spezielle, bestimmten Einzeltatbeständen verpflichtete Kriterien des tatbestandsmäßigen Verhaltens (als solchen) herauszuarbeiten. Dieser Weg wurde – seltsamerweise – nur vereinzelt bestritten; das insoweit Geleistete geriet rasch in Vergessenheit.“ 218 Überblick über diese Versuche bei Träger, L.: Kausalbegriff 1929, S. 80 ff. 219 Begründet durch den Freiburger Logiker und Mediziner Johannes von Kries, vgl. hierzu den für die Strafrechtswissenschaft bedeutsamen Artikel desselben in: ZStW 9 (1889), 528 ff., 532 ff. 220 Begründet von Edmund Mezger, vgl. hierzu sein Lehrbuch des Strafrechts 1933, S. 122 ff.

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Vorsatz zu erzielen,221 gehört nach Frisch in diese Rubrik und unterliegt einer einseitigen erfolgsorientierten Sichtweise. Denn die Entscheidung über die von der Rechtsprechung als maßgeblich erachteten Frage des Vorliegens/Nichtvorliegens einer wesentlichen Abweichung vom vorgestellten Kausalverlauf fällt ausgehend von dem bereits eingetretenen Erfolg erst aus der ex-post-Perspektive des Rechtsanwenders und nicht ex ante aus dem Blickwinkel des Handelnden. In der Konsequenz dieser Betrachtung muss auch der Erfolg und nicht lediglich das tatbestandsmäßige Verhalten vom Vorsatz umfasst sein. Dies führt allerdings zu den von Frisch schon im Rahmen seiner Vorsatzdogmatik hervorgehobenen Widersprüchen.222 Von der geschilderten Fehlakzentuierung ist nach Auffassung Frischs auch die im Schrifttum mittlerweile herrschende und in zahlreichen, inhaltlich jedoch weitgehend übereinstimmenden Varianten vertretene Lehre von der objektiven Erfolgszurechnung223 betroffen (S. 18 ff.).224 Denn auch bei dieser Lehre wird die grundlegende Perspektive der vorausgehenden Begrenzungsversuche beibe221 Nach dem Lösungsansatz der Rechtsprechung (vgl. hierzu z. B. BGH GA 1955, 123 ff., 125) gehört zum Vorsatz „auch eine Vorstellung darüber . . . auf welche Weise der den Tatbestand eines Verbrechens . . . verwirklichende Erfolg herbeigeführt werden soll“ (BGH GA 1955, 123 ff., 125). „Abweichungen gegenüber dem vorgestellten Verlauf schließen den Vorsatz regelmäßig dann nicht aus, wenn sie sich noch innerhalb der Grenzen des nach allgemeiner Lebenserfahrung Voraussehbaren halten und keine andere Bewertung der Tat rechtfertigen“ (BGH GA 1955, 123 ff., 125); differenzierte Rekonstruktion der Argumentation der Rechtsprechung bei Hettinger, M.: JuS Lernbogen 1990, L 73 ff. 222 Wie oben anhand der Vorsatztheorie Frischs gezeigt, kann sich der Vorsatz nach Auffassung Frischs schon deshalb nicht auf den Kausalverlauf erstrecken, weil dieser bei Begehung der Handlung als dem für § 16 StGB maßgeblichen Zeitpunkt noch in der Zukunft liegt und somit nur Gegenstand einer mit Unsicherheiten belasteten Prognose, nicht aber des „Wissens“ im Sinne des § 16 Abs. 1 StGB sein kann. Diese Auffassung Frischs ist von Küper [in seiner ausführlichen Rezension von Frischs Monographie „Vorsatz und Risiko“ in GA 1987, 479 ff., 503 (Hervorhebungen im Original)] zurecht als „überpointiert“ bezeichnet worden: „Dass sich der Vorsatz, auch in seinem Wissensmoment, auf den tatbestandlichen Erfolg ,bezieht‘, diesen Erfolg ,umfasst‘ (usw.), mag eine logisch mehrdeutige und unpräzise Redewendung sein, in der, wie bei vielen gängigen dogmatischen Formeln, Gewöhnung und Einprägsamkeit den Anspruch schärferer Reflexion verdrängt haben. Doch sehe ich nicht, dass diese Redeweise in der modernen Dogmatik jemals so verstanden worden wäre, wie Frisch dies der ,landläufigen Meinung‘ unterstellt. Denn der Vorsatz als ,Wille zur Verwirklichung des Tatbestandes in Kenntnis seiner objektiven Merkmale‘, wie eine der Standardformulierungen lautet, bezeichnet bei den Erfolgsdelikten doch von jeher einen auf den künftigen Erfolg bezogenen, ihn seelisch antizipierenden subjektiven Sachverhalt, und ,Kenntnis‘ oder ,Wissen‘ sind insoweit eindeutig prognostisch, nicht nachträglichkognitiv gemeint.“ 223 Nach einer verbreiteten Formulierung ist der tatbestandsmäßige Erfolg nach der Lehre von der objektiven Zurechnung nur dann zurechenbar, wenn das ihn verursachende Verhalten eine rechtlich missbilligte Gefahr für den Erfolgseintritt geschaffen hat, und sich diese Gefahr auch in dem konkreten Erfolgseintritt realisiert hat; vgl. Lackner/Kühl: § 13 StGB 2001, Rn. 14; Wessels/Beulke: Strafrecht AT 2001, S. 56 ff. (Rn. 176 ff.).

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halten, retrospektiv vom Erfolg auf das Verhalten rückzuschließen, ohne zunächst prospektiv aus dem Blickwinkel des Handelnden das Verhalten selbst zu analysieren und zu prüfen, ob dieses die Voraussetzungen des inhaltlich durch eine Lehre vom tatbestandsmäßigen Verhalten präzisierten Kriterien des jeweiligen Deliktstatbestandes erfüllt. Dieser problematische argumentative Ausgangspunkt der Lehre von der objektiven Zurechnung ist für Frisch schon deshalb von erheblicher praktischer Bedeutung, weil sich das Anliegen dieser Lehre im Zuge ihrer weiten Verbreitung innerhalb der Strafrechtswissenschaft längst nicht mehr auf den Ausschluss außergewöhnlicher, zufälliger Kausalverläufe beschränkt, sondern zunehmend auch in weitere Problembereiche vordringt (S. 18 ff.). Frisch bezieht sich insoweit zum Beispiel auf die Probleme „hypothetischer Ursachen“, der „Einschaltung eines vorsätzlich handelnden Dritten in den Kausalverlauf“, der „Veranlassung fremder Selbstverletzung oder Tötung“ sowie aus der jüngeren Diskussion der „Risikoverringerung“, „Schutzzweckerwägungen“ oder der „Risikoerhöhung“ (S. 18–21). Bei diesen Problemen handelt es sich nach seiner Auffassung überwiegend überhaupt nicht um Zurechnungsvoraussetzungen, sondern um Fragen des „tatbestandsmäßigen Verhaltens der Erfolgsdelikte“, die anhand anderer Kriterien zu lösen sind, als dies in den Formeln der Lehre von der objektiven Zurechnung zum Ausdruck kommt. Frisch will die Lehre von der objektiven Zurechnung mithin nicht vollständig verwerfen (S. 569 ff.), sondern lediglich in ihrem Anwendungsbereich begrenzen. Vor allem bezüglich der genannten Ausweitungsversuche geht es Frisch darum, die Zurechnungslehre von einem insgesamt nicht mehr zeitgemäßen Erfolgsdenken zu befreien, das seine Wurzeln noch in einer Epoche der Strafrechtswissenschaft hat, in der das Unrecht weitgehend mit dem Erfolgsunwert225 identifiziert wurde (S. 23). Exemplarisch für dieses Verständnis eines grundsätzlich objektiven, erfolgsbezogenen Charakters des Unrechts ist etwa die 224 Frisch (S. 18) bezieht sich insbesondere auf Schönke/Schröder-Lenckner, vor § 13, Rn. 91 ff.; Stratenwerth, G.: Strafrecht AT (hier zit. nach der insoweit unveränderten 4. Aufl. 2000), S. 108 ff.; Wessels/Beulke: Strafrecht AT (hier zit. nach der insoweit unveränderten 31. Aufl. 2001), S. 56 ff. (Rn. 176 ff.); SK-Rudolphi, vor § 1, Rn. 57 ff. 225 Die Ursprünge des Erfolgsdenkens und der Blickwinkel vom Erfolg auf das Verhalten und nicht umgekehrt vom Verhalten auf den Erfolg lassen sich bis in die Wissenschaft des gemeinen deutschen Inquisitionsprozesses zurückverfolgen. Bereits mit der Trennung von Generalinquisition und Spezialinquisition war die für diese Perspektive maßgebliche Verfahrensreihenfolge festgelegt. Der Richter durfte mit dem Verfahren gegen den Beschuldigten (Spezialinquisition) und einer „gefänglichen Einziehung“ erst dann beginnen, wenn aufgrund der Ergebnisse der Generalinquisition feststand, ob überhaupt eine verbrecherische Tat begangen worden war (Judici ante omnia constare debet de delicto). Die auf dieser Trennung beruhende (nach heutigen Maßstäben prozessuale) Lehre vom corpus delicti bezog sich zumindest bei den „delicta facti permanentis“ auf einen konkreten Außenwelterfolg in Form eines „körperlichen Beweismittels“ (Hall, K. A.: Corpus delicti 1933, S. 28), bei den Tötungsdelikten z. B. in Form eines Leichnams mit letaler Verwundung. Überblick zur Lehre vom corpus delicti bei

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akzentuierende Forderung Mezgers,226 nach der das Unrecht in einer „Veränderung eines rechtlich gebilligten bzw. der Herbeiführung eines rechtlich missbilligten Zustands“ besteht oder die Stellungnahme von Liszts,227 „zu jedem Verbrechen“ sei ein „Erfolg erforderlich“.228 Die durch die finale Handlungslehre ausgelöste Blickwende vom Erfolgs- auf den Handlungsunwert, die Frisch im Grundsatz begrüßt, wurde nach seiner Auffassung von der (objektiven) Zurechnungslehre bislang nicht aufgegriffen, und die sich hieraus ergebende Möglichkeit, die „uferlose Weite“ des naturalistischen Kausalitätsbegriffs durch „Anreicherung“ der auf den Handlungsunwert bezogenen Kategorie des tatbestandsmäßigen Verhaltens einzugrenzen, blieb ungenutzt. b) Frischs eigener Lösungsansatz: systemfunktionale Differenzierung zwischen Handlungs- und Erfolgsunwert Frisch, der die Konturen des tatbestandsmäßigen Verhaltens – wie oben dargelegt – anhand einer am Verhältnismäßigkeitsprinzip orientierten Abwägung von Handlungsfreiheit und Rechtsgüterschutz bestimmt, geht allerdings trotz seiner Kritik am Erfolgsdenken selbst ebenfalls von einem zweigliedrigen Unrechtsbegriff, bestehend aus Handlungs- und Erfolgsunwert aus.229 Der Handlungsunwert ergibt sich dabei unmittelbar aus Frischs Konzept der Straftat als Verhaltensnormverstoß und ist auf diesen bezogen: Das „Bild der Rechtsordnung als einer auf richtiges Verhalten gerichteten Verhaltensordnung bestimmt zwangsläufig auch das Bild des (strafrechtlichen) Unrechts mit: Unrecht, als Unrecht einer Person verstanden, ist in diesem Licht zunächst einmal Abfall der Person von den Verhaltensnormen, Zuwiderhandlung gegen die Verbots- oder Gebotsnormen der Rechtsordnung, kurz: Verhaltensunrecht“ (S. 24, Hervorhebung im Original).

Problematischer als die Bestimmung des Handlungsunwerts [bzw. des „Verhaltensunrechts“ in der Terminologie Frischs (S. 24)] ist demgegenüber der Nachweis der Existenz eines über den Handlungsunwert hinausgehenden Erfolgsunwerts. Ähnlich wie die Position des radikalen Finalismus, nach der bereits der beendete Versuch einen perfekten Normbruch darstellt und der Erfolg Schmidt, Eb.: Geschichte der deutschen Strafrechtspflege 1965, S. 196 ff. (§§ 188 ff.); differenzierte Rekonstruktion bei Hall, K. A.: Corpus delicti 1933. 226 Mezger, E.: Der Gerichtssaal 89 (1924), 207 ff., 245. Paradoxerweise ist diese Stellungnahme Mezgers in einer Abhandlung veröffentlicht, deren eigentliches Anliegen darin bestand, das Augenmerk zumindest auch auf die subjektiven Unrechtselemente zu richten. Ähnliche Formulierung auf S. 246: „Das Verbrechen ist rechtswidrig, weil es seine Rechtswidrigkeit bewirkt“. 227 Liszt, F. v.: Lehrbuch 1912, S. 125. 228 Frühe Kritik des erfolgsorientierten Denkens aber z. B. bei Merkel, A.: Abhandlungen Band 1 1899, S. 46 ff. und Germann, O. A.: Versuch 1914, S. 76 ff. 229 Entsprechende Auffassung bei Freund, G.: Strafrecht AT 1998, S. 271 ff.

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zu einer objektiven Bedingung der Strafbarkeit degradiert wird,230 ist der Eintritt des tatbestandlichen Erfolges auch für die nach der Konzeption Frischs maßgebliche Frage des unrechtskonstituierenden Verhaltensnormverstoßes unbeachtlich. Frisch bezieht den Erfolgseintritt folgerichtig auch nicht auf das personale Verhaltensunrecht, sondern auf das systemfunktional verstandene Konzept der Sanktionsnorm: Der Erfolg hat für ihn lediglich die Funktion eines Indikators „generalpräventiv besonders indizierten bzw. legitimierbaren Strafeinsatzes“ (S. 516 ff.). Mit dieser Position grenzt sich Frisch etwa von der Auffassung des gemäßigten Finalismus in Gestalt der Lehren Welzels231 und Stratenwerths232 ab, die einerseits zwar die Relevanz des Handlungsunrechts hervorheben, andererseits aber auch dem Erfolgseintritt eine den tatbestandsmäßigen Unrechtsgehalt steigernde Wirkung zusprechen.233 Besonders deutlich wird diese Position bei Günter Stratenwerth,234 der sich trotz eines dem Ansatz Frischs vergleichbaren argumentativen Ausgangspunktes gegen eine funktionale Interpretation des Erfolgskriteriums ausspricht. Stratenwerth differenziert zumindest der Sache nach ebenfalls zwischen Verhaltens- und Sanktionsnormverstoß235 und sieht den Schwerpunkt des Unrechts im Abfall des Täters von den Anforderungen der Verhaltensnorm. Dennoch bestimmt sich für ihn das Ausmaß der persönlichen Verantwortlichkeit auch nach den Folgen der Tat und dem Umfang der Rechtsgüterbeeinträchtigung. Er bezieht sich dabei im Wesentlichen auf ein der Position Arthur Kaufmanns vergleichbares personfunktionales Verständnis der Schuld, das sich nach seiner Meinung auch im alltagsweltlichen Unrechtsverständnis und in der richterliche Praxis wiederfindet. Nach diesem „ursprünglichen und umfassenden Begriff der Schuld“236 ist ein dem Täter anzulastender

230 Zielinski, D.: Unrechtsbegriff 1973; Kaufmann, Arm.: ZStW 80 (1968), 34 ff., 50 ff.; ders. in: Welzel-FS 1974, 393 ff., 403. 231 Welzel, H.: ZStW 58 (1939), 491 ff., 523, 524; ders.: Das neue Bild 1961, S. 30: Für Welzel ist der Erfolgsunwert bei den Vorsatzdelikten zumindest noch ein unselbständiges Teilelement des Handlungsunwerts. Nur bei den Fahrlässigkeitsdelikten soll dem Erfolgsunwert keine selbständige unrechtskonstituierende Bedeutung mehr zukommen (so ausdrücklich ders.: Das neue Bild 1961, S. XII und S. 31 ff). 232 Stratenwerth, G.: SchwZfStrR 79 (1963), 233 ff.; ders. in: Schaffstein-FS 1975, S. 177 ff. 233 Dieser Gesichtspunkt wird nachdrücklich auch von Hirsch (in: Meurer-GS 2002, S. 3 ff., 7 f.) hervorgehoben. In einer Kritik an der Position Armin Kaufmanns führt er aus: „Der tatbestandsmäßige Unrechtsgehalt ist ein verschiedener, je nachdem, ob der Täter den tatbestandlichen Erfolg verwirklicht oder ob seine Tat im Versuchsstadium steckenbleibt oder – wie im Falle eines ungefährlichen untauglichen Versuchs – überhaupt nur eingebildet ist.“ 234 Stratenwerth, G.: SchwZfStrR 79 (1963), 233 ff.; ders. in: Schaffstein-FS 1975, S. 177 ff. 235 Stratenwerth, G.: SchwZfStrR 79 (1963), 233 ff., 244 ff. 236 Stratenwerth, G.: SchwZfStrR 79 (1963), 233 ff., 244.

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Mangel an verantwortlichem Verhalten nicht nur an der reinen Vorwerfbarkeit des Verhaltens selbst, sondern insbesondere auch an dem Umfang der herbeigeführten Verletzungen zu bemessen: „Kein Zweifel, dass das Maß, in dem der Täter schuldig wird, in dieser Sicht der Schuld auch von dem Ausmaß des Leides und der Einbuße an Gütern abhängt, die er dem anderen zufügt. Das bezeugen die sozialethischen Phänomene sehr eindeutig. Anerkennt der Täter seine Schuld und versucht er sie abzutragen, so ist die Schwere des Erfolges für die Sühne, die er auf sich nehmen wird, nicht gleichgültig: Hier macht es einen wesentlichen Unterschied, ob der Täter, der einen Menschen töten wollte, ihn verfehlt oder wirklich tötet, und ebenso, ob leichtsinniges Verhalten ohne Folgen bleibt oder der Täter, wie man sagt, den Tod eines Menschen auf dem Gewissen hat. Für die auf die Sühne bezogene Strafe aber kann nichts anderes gelten und hat nie etwas anderes gegolten. Für sie sind der Handlungsunwert und der Erfolgsunwert in gleicher Weise maßgebend. In diesen Zusammenhängen also ist es begründet, wenn nicht nur das verbots- oder gebotswidrige Verhalten, sondern auch der Erfolg, die Rechtsgutsverletzung, im Strafrecht berücksichtigt zu werden verlangt.“237

Für Frisch steht demgegenüber ausschließlich die systemfunktionale Bedeutung des Erfolges im Vordergrund. Ähnlich wie Jakobs spricht er von der „Manifestationswirkung der Normverletzung“ (S. 517), für die der Eintritt des tatbestandlichen Erfolges besondere Relevanz aufweist. Seine Ausführungen zum Stellenwert des Erfolgsunwerts, in denen kein Wort über eine mögliche unrechtserhöhende Wirkung des Erfolgseintritts zu finden ist,238 lesen sich folgerichtig wie das systemfunktionale Gegenstück zu der oben wiedergegeben Position Stratenwerths: „In den Folgen der Tat wird das sonst häufig nur von wenigen wahrgenommene Fehlverhalten des Täters für viele sichtbar, mit ihnen tritt an die Stelle eines sonst vielfach ganz flüchtigen Fehlverhaltens ein mehr oder weniger lang dauernder unerwünschter Zustand – man denke nur an die Tötung eines Menschen, die Verursachung eines körperlichen Dauerschadens usw. Dementsprechend ist dann auch die rechtsfriedenstörende Wirkung der folgenschweren Tat regelmäßig erheblich größer als die der folgenlosen, und ebenso wird die Infragestellung der Norm in einem solchen Fall deutlicher und ihre Wirkung nachhaltiger. Ein in erster Linie um die 237

Stratenwerth, G.: SchwZfStrR 79 (1963), 233 ff., 254, 255. Auf die Steigerung des tatbestandsmäßigen Unrechtsgehalts kommt es Frisch (Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 515) schon deshalb nicht an, weil er den Gedanken des Schuldausgleichs als Legitimationsgrundlage der Strafe ablehnt. Wenn an den Erfolgseintritt dennoch eine höhere Strafe geknüpft werden soll, muss dies folglich mit anderen Argumenten begründet werden können, als dem im Vergleich zum Versuch erhöhten Unrechtsgehalt des vollendeten Delikts. Vor dem Hintergrund dieses straftheoretischen Ausgangspunktes kommt Frisch nahezu zwangsläufig zur positiven Generalprävention (S. 516): „Die Konzentration der Bestrafung auf Fälle folgenreichen Fehlverhaltens muss damit zu tun haben, dass der Einsatz von Strafe zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens, zur Bekräftigung des Geltungsanspruchs der Norm . . . in Fällen folgenreichen Fehlverhaltens besonders indiziert und legitimierbar erscheint . . .“ 238

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Wiederherstellung des Rechtsfriedens und . . . um die Aufrechterhaltung des Geltungsanspruchs der Rechtsordnung bemühtes Strafrecht muss dies zur Kenntnis nehmen: Es ist, will es seinen grundsätzlichen Zielen gerecht werden, in den Fällen folgenreichen Fehlverhaltens besonders gefordert – in diesen Fällen besteht eine besondere Notwendigkeit, dem Rechtsbruch durch Strafe entgegenzutreten; im Verhältnis zur folgenlosen Tat muss die Reaktion auch tendenziell nachdrücklicher sein.“ (S. 517, Hervorhebung im Original).

Diese systemfunktionale Interpretation des Erfolgskriteriums hat Auswirkungen vor allem auch auf die Frage der nach der Differenzierung Frischs verbleibenden „echten“ Fälle der Erfolgszurechnung. Während er bei den Fragestellungen, die nach seiner Auffassung der Rubrik des Verhaltensnormverstoßes zuzuordnen sind – entsprechend seiner Inhaltsbestimmung der Verhaltensnorm – einen personfunktionalen Entscheidungsmaßstab zugrunde legt, sieht er für die „eigentlichen“ Probleme der objektiven und subjektiven Erfolgszurechnung hiervon grundsätzlich abweichende Kriterien als maßgeblich an. Es geht ihm hier nicht um eine Steigerung des tatbestandsmäßigen Unrechtsgehalts, sondern um das Ausmaß der Rechtsfriedensstörung und „sozialpädagogischen Bedarf“ (S. 518), durch eine an den Erfolg anknüpfende Strafe „die Sinnhaftigkeit bestimmter Normen aufzuweisen“, die „Normtreue zu befestigen“ sowie „Norminhalte einsichtig zu machen“ (S. 518). Damit wird aus der vordergründig eher aufbau- und prüfungstechnischen Frage der richtigen „Rubrizierung“ einer Problematik eine entscheidungsrelevante Sachfrage und es kommt für die Lösung der von der herrschenden Meinung als Probleme der „objektiven Zurechnung“ thematisierten Sachverhaltskonstellationen maßgeblich darauf an, ob diese nach der normtheoretischen Differenzierung Frischs als „eigentliche“ oder „uneigentliche“ Zurechnungsprobleme angesehen werden können. c) Eigentliche und uneigentliche Probleme der Erfolgszurechnung – Beispielhafte Verdeutlichung Mit einiger Vereinfachung lassen sich die diesbezüglichen komplexen Überlegungen und Abschichtungen Frischs (S. 50 ff.) dahingehend zusammenfassen, dass sich die Frage der objektiven Erfolgszurechnung im Wesentlichen lediglich bei den von der Risikoerhöhungslehre erfassten Sachverhalten, in den Problembereichen hypothetischer Ersatzursachen sowie bei bestimmten Fällen abweichender Kausalverläufe stellt, die Fallgruppen missbilligter Gefahrschaffung hingegen der Rubrik des tatbestandsmäßigen Verhaltens zuzuordnen sind.239 Mit dieser Differenzierung Frischs werden wesentliche Aufgabenbereiche der 239 Beispiele und Überblick zu den genannten Problembereichen bei Ebert, U. und Kühl, K.: JURA 1979, 561 ff.; Ebert, U.: Strafrecht AT 2001, S. 45 ff.; Puppe, I.: JURA 1997, 408 ff.; 513 ff.; 624 ff.; 1998, 21 ff.; dies.: Erfolgszurechnung 2000.

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Lehre von der objektiven Zurechnung in Probleme des tatbestandsmäßigen Verhaltens umformuliert. Hiervon betroffen sind zunächst etwa diejenigen Sachverhaltskonstellationen, die von der Lehre der objektiven Zurechnung unter dem Oberbergriff des „Schutzzwecks der Norm“ diskutiert werden. Hinzu kommen Fälle freiverantwortlicher Selbstschädigung oder Selbstgefährdung des Opfers; Probleme der Reichweite des erlaubten Risikos, des eigenverantwortlichen Dazwischentretens eines Dritten oder Aspekte der Risikoverringerung. Während die Vertreter der „klassischen“ Lehre von der objektiven Zurechnung diese Fragestellungen als Unterfälle der übergeordneten Problematik des Vorliegens einer rechtlich missbilligten Gefahr ansehen,240 betreffen sie für Frisch das „Kernelement des tatbestandsmäßigen Verhaltens der Erfolgsdelikte“. Welche Auswirkungen diese unterschiedliche Rubrizierung der Zurechnungsprobleme hat, soll hier nur beispielhaft unter Bezug auf zwei besonders praxisrelevante Problemstellungen dargestellt werden. aa) Die Fallgruppe der bewussten Selbstschädigung des Opfers Wie oben summarisch dargestellt, ordnet Frisch die Problematik der bewussten Selbstschädigung der Rubrik des tatbestandlichen Verhaltens (S. 148 ff., zusammenfassend S. 225–229) zu.241 Bei der insoweit erforderlichen Formulierung einer konkreten Verhaltensnorm und der sich anschließenden Prüfung des Verhaltensnormverstoßes242 sind daher im Wesentlichen personfunktionale Leit240 Vgl. zur Schutzzwecklehre anhand von Fällen aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung und m. w. N. (mit kritischen Anmerkungen): Puppe, I.: JURA 1997, 624 ff. Zu dieser und den übrigen Fallgruppen, ebenfalls anhand von Beispielen aus der Rechtsprechung, vgl. Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 310–351 (§ 11, Rn. 39–119); Wessels/Beulke: Strafrecht AT 2001, S. 61 ff. (Rn. 188 ff.). 241 Ausführliche Ausführungen Frischs zu dieser Fallgruppe finden sich neben den im Text zitierten Fundstellen aus der Monographie „Tatbestandsmäßiges Verhalten“ ferner in den Aufsätzen in: NStZ 1992, 1 ff.; 62 ff. 242 Zur Problematik der eigenverantwortlichen Selbstschädigung findet sich in der höchstrichterlichen Rechtsprechung reiches Anschauungsmaterial. Beispiele sind etwa der von Frisch bereits in der Einleitung zu seiner Monographie „Tatbestandsmäßiges Verhalten . . .“ als Problemaufriss dargestellte „Heroinspritzenfall“ (BGHSt 32, 262) oder der spätere „Heroinvergabefall“ (BGHSt 37, 179). Im „Heroinspritzenfall“ hatte der Angeklagte einem Drogenabhängigen, der sich bereits im Besitz von Heroin befand, eine Einwegspritze verschafft und diesem damit die Möglichkeit eröffnet, sich die Droge zu injizieren, was schließlich den Tod des Opfers zur Folge hatte. Im „Heroinvergabefall“ ging es um einen Dealer, der einem Konsumenten eine bestimmte Menge Heroin veräußert hatte, woran dieser gestorben war. Weitere Fallgestaltungen bei BayObLG, JR 1990, 473 ff. (Einvernehmlicher ungeschützter Geschlechtsverkehr trotz Kenntnis der Partnerin von der HIV-Infektion des Angeklagten); BGHSt 7, 112 (einvernehmliches Motorradrennen auf öffentlichen Straßen, bei dem einer der Beteiligten, der zuvor von dem Angeklagten zu dem Rennen überredet worden war, ums Leben kommt); weitere Rechtsprechungsnachweise zu dieser Fallgruppe bei Puppe, I.: JURA 1998, 21 ff., 27 ff.

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gesichtspunkte maßgeblich, denen Frisch durch eine Abwägung zwischen Handlungsfreiheit und Rechtsgüterschutz unter Berücksichtigung der Kriterien der Verhältnismäßigkeit gerecht werden will. Eine Einschränkung der Handlungsfreiheit des Täters kommt folglich nur dann in Betracht, wenn das strafrechtlich sanktionierte Verbot einer Handlung zum Güterschutz erforderlich und angemessen ist.243 Für die Abgrenzung im Einzelnen soll es nach Frisch im Wesentlichen auf zwei Determinanten, nämlich primär auf die eigene Verantwortlichkeit des Dritten und sekundär auf den Rang des betroffenen Rechtsguts ankommen (S. 154 ff.). Die Bezugnahme auf das Kriterium der Verantwortlichkeit des Opfers zeigt, dass Frisch sowohl argumentativ als auch bezüglich der im Einzelnen angenommenen Ergebnisse nicht sehr weit von der Lehre der objektiven Erfolgszurechnung entfernt ist, die diese Fälle anhand des „Schutzzwecks der Norm“ und über das „Prinzip der Eigenverantwortlichkeit“ löst.244 Bei diesen Kriterien handelt es sich um selbständige Zurechnungstopoi245 im Rahmen der Lehre von der objektiven Zurechnung, aus denen Einschränkungen der Erfolgszurechnung abgeleitet werden können. Der Sache nach geht es bei dem Prinzip der Eigenverantwortlichkeit um die Abschichtung von Verantwortungsbereichen zwischen dem sich selbst gefährdenden oder verletzenden Opfer und einem Dritten, der hierzu einen Beitrag leistet. Der tatbestandsmäßige Erfolg kann einem Dritten in der Regel dann nicht zugerechnet werden, wenn er auf eine bewusste und eigenverantwortliche Entscheidung des Opfers zurückgeht und sich die Mitwirkung des Dritten auf eine Veranlassung, Ermöglichung oder Förderung der Selbstschädigung beschränkt.246 Diese Differenzierung nach Verantwortungsbereichen ergibt sich für die Vertreter der Lehre von der objektiven Erfolgszurechnung aus dem Schutzzweck247 der jeweils einschlägigen Erfolgsdelikte, die den 243

Frisch, W.: NStZ 1992, 1 ff., 6. Wessels/Beulke: Strafrecht AT 2001, S. 61 ff. (Rn. 188 ff.); Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 335 ff. (§ 11, Rn. 91 ff.); Schönke/Schröder-Lenckner, vor § 13, Rn. 91 ff., 100. 245 Zum Begriff „Topos“ in diesem Zusammenhang vgl. die kritische Analyse der Lehre von der objektiven Zurechnung durch Puppe, I.: JURA 1997, 408 ff. 246 Wessels/Beulke: Strafrecht AT 2001, S. 60 (Rn. 185 ff.). 247 Grundlegend hierzu Rudolphi, H.-J.: JuS 1969, 549 ff., der bezüglich des Zusammenhangs zwischen Sorgfaltspflichtverletzung und Erfolgseintritt bei den Fahrlässigkeitsdelikten erstmals explizit auf die Lehre vom Schutzzweck der Norm im Sinne eines „verfeinerten und verbesserten Zurechnungsmaßstabs“ (S. 552) abstellt, um hierdurch eine „exaktere Begrenzung des fahrlässigen Unrechts“ (S. 555) zu erreichen. Seine Überlegungen wurden zunächst aufgegriffen von Roxin, C. in: Gallas-FS 1973, S. 241 ff., der die Zurechnungsproblematik anhand der Schutzzwecklehre unter anderem unter Bezug auf BGHSt 24, 342 ff. thematisiert (S. 243) und eine (wiederum von Frisch rezipierte) erste Systematisierung der einzelnen Fallgruppen der Selbstschädigung und Selbstgefährdung vornimmt. Im Anschluss an diese Arbeiten ist die Lehre vom Schutzzweck der Norm allgemein in die objektive Erfolgszurechnung einbezogen worden, wobei die Autoren in den Einzelheiten allerdings jeweils unterschiedliche Ak244

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Inhaber des geschützten Rechtsguts primär vor Eingriffen Dritter und nicht vor einer eigenverantwortlichen Selbstschädigung schützen sollen. Sowohl im Hinblick auf die für Frisch maßgebliche Abwägungsentscheidung zwischen Handlungsfreiheit und Rechtsgüterschutz als auch für die Differenzierung nach Verantwortungsbereichen, die der Lehre von der objektiven Erfolgszurechnung zugrunde liegt, ist daher die inhaltliche Präzisierung der Verantwortlichkeit des Opfers von entscheidender Bedeutung. Frisch legt an verschiedenen Stellen dar, dass er selbst eine „funktionale“ Inhaltsbestimmung des Verantwortlichkeitskriteriums anstrebt [z. B.: S. 164 (Fn. 45); S. 225], bei der es sich infolge der Zuordnung der Problematik in die Rubrik der Verhaltensnorm nur um eine personfunktionale Zweckbestimmung und Auslegung handeln kann. Im Ergebnis orientiert sich Frisch in Übereinstimmung mit einem Teil der Vertreter der Lehre von der objektiven Zurechnung248 dabei an den im Rahmen der Einwilligungslehre entwickelten Grundsätzen der wirksamen Einwilligung249 (S. 166 ff.),250 die er allerdings mit Blick auf den Schutz des potentiellen Täters vor dem Zugriff des Staates in Form der Haftung wegen eines Erfolgsdeliktes entscheidend subjektiviert (S. 160 ff.). Nach diesen Grundsätzen handelt das Opfer eigenverantwortlich und der Erfolg ist dem Dritten nicht zurechenbar, wenn es sich um ein disponibles Rechtsgut handelt, der Zustimmende einwilligungsfähig ist und keine wesentlichen Willensmängel vorliegen. In diesem Fall ist es nach der Auffassung Frischs grundsätzlich gerechtfertigt, den Dritten von einer strafrechtlichen Haftung für den Erfolgseintritt zu befreien. Denn die Zurechnung des Erfolges ist bei gegebener Einwilligungsfähigkeit des Rechtsgutsträgers nicht nur mit Blick auf die Handlungsfreiheit des Täters unverhältnismäßig, sondern als zumindest mittelbare Einschränkung der Dispositionsbefugnis des Opfers (bei grundsätzlich disponiblen Rechtsgütern) auch bezüglich dessen eigener Interessen nicht zu legitimieren (S. 157). Fehlt es demgegenüber an der Einwilligungsfähigkeit und ist die sich selbst gefährdende oder verletzende Person nicht in der Lage, „die volle Bedeutung und Tragweite ihres Verzente setzen und auch in den Ergebnissen teilweise voneinander abweichen, vgl. hierzu zusammenfassend: Ebert, U. und Kühl, K.: JURA 1979, 561 ff., 574 ff.; Wessels/ Beulke: Strafrecht AT 2001, S. 61 ff. (Rn. 188 ff.); Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 335 ff. (§ 11, Rn. 91 ff.). 248 Z. B.: Lackner/Kühl: vor § 211 StGB 2001, Rn. 13a; Wessels/Hettinger: Strafrecht BT 1 2001, S. 15 (Rn. 48); Geilen, G.: JZ 1974, 145 ff. 249 Frisch, W.: NStZ 1992, 62 ff.; 63 ff. 250 Eine andere (von Frisch verworfene) im Schrifttum vertretene Auffassung stellt zur Bestimmung der Verantwortlichkeit auf die gesetzlichen Regelungen über die strafrechtliche Verantwortlichkeit einer Person, das heißt auf die §§ 19, 20, 35 StGB, 3 JGG ab und legt insoweit einen – gegenüber der Position Frischs – engeren, die Strafbarkeit des Dritten in den Selbstschädigungsfällen einschränkenden Maßstab zugrunde. Vertreter dieser Ansicht sind z. B.: Hirsch, H. J.: JR 1979, 429 ff.; Dölling, D.: GA 1984, 71 ff., 78. Weitere Nachweise bei Frisch, W.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 166, Fn. 50.

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haltens zu erfassen“ (S. 169), so ist die Beschränkung der Handlungsfreiheit des Täters nach Frisch zum Schutz der Rechtsgüter des Opfers erforderlich und angemessen, und der tatbestandsmäßige Erfolg wird dem Täter zugerechnet. Eine Einschränkung erfährt die Beurteilung der Verantwortlichkeit anhand der Regeln über die Einwilligung bei Frisch aber insoweit, als er im Unterschied zu den oben angeführten Autoren alleine das objektive Vorliegen mangelnder Einwilligungsfähigkeit als Zurechnungskriterium nicht ausreichend sein lässt. Ergänzend stellt er vielmehr ausdrücklich auch auf die konkreten Erkenntnismöglichkeiten des Täters ab und legt insoweit im Sinne eines einschränkenden Korrektivs zusätzlich einen subjektiven Entscheidungsmaßstab zugrunde. Seine Überlegungen sind dabei wiederum das Resultat der von ihm bei der Prüfung des Verhaltensnormverstoßes zugrunde gelegten Beurteilungsperspektive. Es kommt ihm folglich nicht nur darauf an, ob das Verhalten des Dritten „aus der Sicht ex post zu eigenschädigendem Handeln einer Person in einer Lage geführt“ hat, „in der diese vor bewilligtem fremdschädigendem Verhalten durch die Regeln über die Unwirksamkeit der Einwilligung geschützt wird.“ Für ihn ist vielmehr darüber hinaus maßgeblich, dass das „Gegebensein der Situation“ „im Zeitpunkt der Vornahme des Fremdverhaltens als naheliegende, d. h. durch konkrete Umstände nahegelegte Möglichkeit“ erscheint [S. 171, 172 (Fn. 67)]. Sofern es an konkreten Anhaltspunkten für die mangelnde Einwilligungsfähigkeit gefehlt hat, wirken sich daher Zweifel über die Einwilligungsfähigkeit des Opfers ebenso wie die grundsätzliche Verkennung des Fehlens der Einwilligungsfähigkeit zugunsten des Täters aus, der sich dann nicht tatbestandsmäßig verhalten hat. bb) Die Fallgruppe abweichender Kausalverläufe Die Fallgruppe abweichender Kausalverläufe scheint sich nach der von Frisch zugrunde gelegten Unterscheidung zwischen tatbestandsmäßigem Verhalten und objektiver Zurechnung auf den ersten Blick geradezu als Musterbeispiel für den Anwendungsbereich der Lehre von der objektiven Zurechnung darzustellen.251 Da in diesen Fällen zumindest im Bereich vorsätzlicher Tatbegehung grundsätzlich das Handlungsunrecht des jeweiligen Deliktstatbestands verwirklicht ist252 und damit strafrechtlich verbotenes Verhalten vorliegt, lassen sich aus der Abwägung zwischen Handlungsfreiheit und Gütersicherung keine tragfähigen Rückschlüsse ziehen. Verstirbt das durch einen Messerstich des Täters verletzte 251 Zum Lösungsansatz der Rechtsprechung in dieser Fallgruppe vgl. Fn. 221. Die Lehre von der objektiven Erfolgszurechnung löst die Abweichungsfälle anhand der in Fn. 223 dargestellten Abgrenzungsformel; vgl. hierzu zusammenfassend, Hettinger, M.: JuS Lernbogen 1991, L 9 ff. 252 Zum Umfang des Handlungsunwerts und den hier erforderlichen Differenzierungen, vgl.: Hirsch, H. J. in: Meurer-GS 2002, S. 3 ff., 14.

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und versorgungsbedürftige Opfer z. B. durch einen Verkehrsunfall auf dem Weg ins Krankenhaus, durch einen ärztlichen Behandlungsfehler oder verblutet es, weil es sich um einen Bluter handelt, dessen Blutungen nicht gestillt werden können, so liegt zunächst völlig unabhängig vom Eintritt des Erfolges oder dessen Zurechenbarkeit bereits durch den Stich mit dem Messer ein Verstoß gegen die Verhaltensnorm des § 212 StGB vor, so dass von einer möglicherweise illegitimen Beschränkung der Handlungsfreiheit zugunsten der Interessen des Rechtsgüterschutzes nicht die Rede sein kann. In einem neueren Beitrag in der Festschrift für Roxin ordnet Frisch253 die Fälle abweichender Kausalverläufe dementsprechend auch eindeutig der Rubrik der objektiven Zurechnung und nicht dem tatbestandsmäßigen Verhalten zu:254 „Um echte Fälle (allein) fehlender Zurechnung handelt es sich so gesehen erst, wenn das Verhalten des Täters zwar eine prinzipiell missbilligte Gefahrschaffung beinhaltet (und damit verboten ist), sich im eingetretenen Erfolg aber nicht diese, sondern eine generell tolerierte Gefahr realisiert hat.“

Seine Ausführungen in der Monographie „Tatbestandsmäßiges Verhalten“ zeigen jedoch auch in Bezug auf die Fallgruppe der abweichenden Kausalverläufe wesentliche Differenzierungen [S. 62–65, 524–529, 583 (Fn. 71)], die bereits die Zuordnung der Einzelprobleme zu der Kategorie „tatbestandsmäßiges Verhalten“ oder „objektive Zurechnung“ mit erheblichen Unsicherheiten behaften und denen wegen der völlig unterschiedlichen Funktionsbestimmung dieser Rubriken wesentliche Bedeutung für die Falllösung zukommt. In den genannten Fällen abweichender Kausalverläufe liegt die Besonderheit nach seiner Auffassung darin begründet, dass das Verhalten des Täters unter mehreren Aspekten als Verhaltensunrecht in Betracht kommt. Insoweit bezieht er sich nicht in erster Linie auf einen Verstoß gegen die Verhaltensnorm mehrerer Straftatbestände, sondern auf einen Verstoß gegen die Verhaltensnorm „in mehrfacher Hinsicht“ (S. 64). Die für ihn wesentlichen Unterschiede ergeben sich dabei aus der jeweiligen Richtung des tatbestandsmäßigen Verhaltens aus der Perspektive ex ante. In dem oben genannten Messerfall hat der Täter eindeutig tatbestandsmäßig „in Richtung auf“ den Eintritt der Körperverletzung gehandelt. Ein tatbestandsmäßiges Verhalten „in Richtung auf“ die weiteren Ver-

253 Frisch, W. in: Roxin-FS 2001, S. 213 ff., 233: Zur beispielhaften Verdeutlichung bezieht sich Frisch [in: Roxin-FS 2001, S. 213 ff., S. 233 (Fn. 93)] auf „die allgemeine Gefahr des Straßenverkehrs, wenn das versorgungsbedürftige, vom Täter verletzte Opfer auf dem Weg in die Klinik durch Unfall getötet wird.“ 254 Wesentlich zurückhaltender fallen demgegenüber bereits seine einleitenden Ausführungen im „Tatbestandsmäßigen Verhalten“ 1988, S. 63 aus: Bei der Fallgruppe abweichender Kausalverläufe „. . . – so scheint es – geht es nicht mehr um eine Frage des . . . Verhaltensunrechts, sondern um eine solche der objektiven Zurechnung des Erfolgs.“ Es handelt sich insoweit „offenbar“ um eine Frage der objektiven Zurechnung (Hervorhebungen: H. S.).

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letzungsfolgen (den Eintritt des Todes durch den Unfall bzw. den Behandlungsfehler oder die Vorerkrankung) ist demgegenüber nur dann anzunehmen, wenn „neben der missbilligten konkreten Gefahrschaffung in Richtung auf die Körperverletzungsfolge für den konkreten Fall auch bereits die belegbare Gefahr des Eintritts einer weiteren Körperverletzungsfolge oder des Todes wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung zu konstatieren wäre“ (S. 426). Für die Beurteilung dieser Frage sind – infolge der Zuordnung der Problematik zu der Rubrik des Verhaltensnormverstoßes – wiederum personfunktionale Aspekte und Kriterien des Rechtsgüterschutzes maßgeblich. Realisieren sich etwa lediglich allgemeine Lebensrisiken (z. B. Verkehrsunfälle auf dem Weg zur Klinik), so ist das tatbestandsmäßige Verhalten in Bezug auf diese eingetretene Folge wegen fehlender Bedürfnisse des Rechtsgüterschutzes grundsätzlich zu verneinen (S. 396). Denn aus der für die Missbilligung des Verhaltens entscheidenden Sicht ex ante lässt sich nicht sagen, ob das Risiko der Verwirklichung allgemeiner Gefahren des Alltags bei der Begehung einer bestimmten Straftat größer ist als bei der Nichtbegehung: „. . . ein tödlicher Verkehrsunfall kann sich genauso ereignen, wenn das Opfer nicht angegriffen wird, sondern unbehelligt weitergeht! Da das Opfer im einen wie im anderen Fall allgemeinen Lebensrisiken ausgesetzt ist, und sich zwischen diesen ex ante keine überzeugenden Unterschiede ausmachen lassen, bietet ein – ohnehin auf die Fälle der Straftatenbegehung beschränktes – Verbot der Schaffung ganz bestimmter allgemeiner Lebensrisiken aus der Sicht ex ante schon prinzipiell keinen besseren Schutz für Rechtsgüter als der Verzicht auf eine solche Norm; der Blick aus der ex-post-Perspektive, die den zufälligen Eintritt der Rechtsgutsbeeinträchtigung gerade im Gefolge der Deliktsbegehung sichtbar macht, darf darüber nicht täuschen“ (S. 396).

Wie die von Frisch intendierte Abgrenzung zwischen missbilligter und nicht missbilligter Gefahrschaffung im Hinblick auf den Eintritt der jeweiligen Folge konkret durchgeführt werden soll, exemplifiziert der Autor im Wesentlichen anhand von „ärztlichen Behandlungsfehlern im Gefolge einer Straftat“ (S. 423 ff.). Bei den Behandlungsfehlern des Arztes an einem z. B. durch einen Messerstich verletzten Opfer ist nach Frisch zwischen „handlungsunspezifischen“ (1) und „handlungsspezifischen“ (2) Folgen der Behandlung zu unterscheiden. (1) Handlungsunspezifische Folgen (S. 425–428) sind Verletzungen, die über das hinausgehen, was ohne die ärztliche Behandlung zu erwarten gewesen wäre. Diese Folgen stellen sich regelmäßig255 aus der Sicht ex ante nicht als eine missbilligte Gefahrschaffung auch in Bezug auf die infolge der fehlerhaften Behandlung eingetretene (weitere) Körperverletzung (z. B. nach dem vorausgehenden Messerstich) dar. Denn der Täter hat hier sein Opfer durch die erste Verlet255 Frisch sieht aber auch hier Ausnahmen von dem oben entwickelten Grundsatz (S. 427), die zu den hier erforderlichen Demonstrationszwecken allerdings nicht wiedergegeben werden müssen.

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zung nur der allgemeinen statistischen Gefahr ausgesetzt, dass jemand durch einen ärztlichen Kunstfehler einen Schaden erleidet oder gar getötet wird. In den Folgeverletzungen hat sich daher nur ein allgemeines Lebensrisiko verwirklicht, dem man im täglichen Leben im Alltag auch sonst ausgesetzt ist (S. 426). (2) In der Fallgruppe der handlungsspezifischen Folgen (S. 428–440) realisiert sich demgegenüber eine Gefahr, die bereits in der Verletzungshandlung des Täters angelegt war. Der ärztliche Behandlungsfehler führt lediglich dazu, dass ein weitergehender Erfolg (z. B. der Eintritt des Todes, weil die Blutungen infolge fehlerhafter Wundversorgung nicht gestillt werden konnten) eintreten kann. Hier birgt bereits das ursprüngliche Verletzungsverhalten des Täters eine konkrete Gefahr der schließlich herbeigeführten Folge in sich, und ist demnach auch in Richtung auf den Eintritt dieser Folge „eindeutig tatbestandsmäßig“ (S. 428). Die eigentliche Frage der Erfolgszurechnung, die der Prüfung des tatbestandsmäßigen Verhaltens sachlich nachgeordnet ist, stellt sich für Frisch nur in der ersten Fallgruppe handlungsunspezifischer Folgen. Hier sind die weiteren Verletzungen zwar nicht auf ein tatbestandsmäßiges Verhalten des Täters in Richtung auf diesen Erfolg zu verstehen. Davon unabhängig kann jedoch eine Zurechnung des Erfolges über die Kriterien der objektiven Zurechnung begründet werden. Ein solches Problem „echter“ Erfolgszurechnung stellt sich in der Fallgruppe der handlungsspezifischen Folgen schon deshalb nicht, weil der Täter hier bereits eine missbilligte Gefahr in Richtung auf den konkreten Erfolg geschaffen hat. Die Lehre von der objektiven Zurechnung ist für Frisch demnach kein weiterer „Filter“ zur Einschränkung einer möglicherweise zu weitgehenden Haftung des Täters,256 der erst dann argumentativ zum Tragen kommt, wenn bereits ein tatbestandsmäßiges Verhalten „in Richtung“ auf den konkreten Erfolg vorlag, sondern sie kann eine Zurechnung des Erfolges begründen, obwohl kein tatbestandsmäßiges Verhalten in diese Richtung gegeben ist.257 Damit stellt sich für die verbleibenden Fallgruppen „echter“ Erfolgszurechnung die Frage, anhand welcher Kriterien diese Beurteilung erfolgen soll. An256 Mit Ausnahme der unter dem Stichwort der Risikoerhöhung diskutierten Sachverhalte, vgl. hierzu Frisch, W.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 537–551. 257 Diese Funktion der Lehre von der objektiven Zurechnung kommt deutlich z. B. in folgender Stellungnahme Frischs zum Ausdruck: „In Fällen von Handlungen mit mehrfacher Risikodimension stellt sich also durchaus ein Zurechnungsproblem . . . Die entscheidende Vorfrage liegt jedoch im Bereich des tatbestandsmäßigen Verhaltens – nämlich in der Frage, ob die Schaffung des . . . Risikos zu missbilligen und damit als tatbestandsmäßiges Handeln zu qualifizieren ist. Wäre das zu bejahen, so wäre damit auch das Problem der Zurechnung – und zwar positiv – entschieden. Nur wegen seiner Verneinung kommt es überhaupt zu der oben angedeuteten (Zurechnungs-)Frage, ob der Erfolg auch dann zurechenbar ist, wenn sich nicht das eigentlich missbilligte, sondern ein nicht missbilligtes Begleitrisiko realisiert hat – wobei, wie gezeigt, für die Beantwortung dieser Frage dann ganz ähnliche Gesichtspunkte gelten wie im Rahmen der Qualifikation bestimmter Begleitrisiken als tatbestandsmäßiges Verhalten“ (S. 526).

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ders als die Vertreter der „klassischen“ Lehre von der objektiven Zurechnung258 lehnt es Frisch zunächst ab, diese Problematik anhand einer bestimmten Formel (S. 526–529) zu lösen. Das Bedürfnis, bei den Fallgestaltungen „echter“ Erfolgszurechnung auf eine Abgrenzungsformel Bezug zu nehmen, ist für ihn geradezu ein Beleg dafür, dass die entscheidende Sachfrage nach dem tatbestandsmäßigen Verhalten übergangen und „die Ausdifferenzierung des tatbestandsmäßig missbilligten Verhaltens unvollständig betrieben“ (S. 527) wurde. Denn das bei den gebräuchlichen Definitionsansätzen der objektiven Zurechnung maßgebliche „Realisierungskriterium“ steht – wie dargelegt – im Mittelpunkt der Frage nach dem missbilligten Risiko und gehört demnach in Wahrheit der Rubrik des tatbestandsmäßigen Verhaltens an. Frisch beurteilt die objektive Zurechnung daher unmittelbar anhand der Ratio der Sanktionsnorm, der diese Frage systematisch zuzuordnen ist. Die beiden wesentlichen Determinanten dieser Entscheidung sind dabei in Übereinstimmung mit der systemfunktionalen Ausrichtung der Sanktionsnorm nicht auf die Person des Straftäters, sondern auf die Bedürfnisse des Systems bezogen: Es kommt darauf an, ob der Erfolg zu einer „sinnfälligen Demonstration der Unwertigkeit des Täterhandelns“ tauglich ist. Nur dann bedarf es der Zurechnung, durch die festgestellt wird, dass das Täterhandeln eine weitere Störung des Rechtsfriedens verursacht hat (S. 519). Hinsichtlich der Konsequenzen für die Bearbeitung von Einzelfällen sieht Frisch allerdings wiederum wesentliche Zusammenhänge zwischen den systemfunktionalen Bedürfnissen und dem jeweiligen Verhaltensunrecht, so dass im Ergebnis kein relevanter Unterschied zu den Resultaten besteht, die mit den verbreiteten „Realisierungsformeln“ der Lehre von der objektiven Zurechnung erzielt werden. Denn für Frisch ist die rechtsfriedenstörende Wirkung des Gesamtsachverhalts ebenso wie die grundsätzliche Demonstrationsfunktion des Erfolges nur dann gegeben, wenn der Erfolg auf eine missbilligte Gefahrschaffung des Täters und nicht auf ein „allgemeines Lebensrisiko“ zurückgeht (S. 518 ff.). In den oben beispielhaft angeführten Messerstecherfällen kommt eine Haftung des Täters wegen der weiteren (auch) auf den Behandlungsfehler zurück zu führenden Folgen daher nur in Betracht, wenn es sich um handlungsspezifische Folgen handelt. Bei handlungsunspezifischen Folgen, für die primär der Arzt verantwortlich gemacht werden kann, ist die Zurechnung des Erfolges aus den genannten systemfunktionalen Gesichtspunkten demgegenüber nicht erforderlich. d) Kritik aus personfunktionaler Sicht Die eben dargestellte Abgrenzungslehre, die Frisch in seiner Monographie „Tatbestandsmäßiges Verhalten“ auf weit subtilere Weise und anhand von zahl258

Vgl. hierzu die in Fn. 223 und 224 genannten Autoren jeweils m. w. N.

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reichen Beispielsfällen aus der Rechtsprechung entfaltet, löst im Hinblick auf die personfunktionale Schutzfunktion des Strafrechts erhebliche Bedenken aus, die sich nur infolge der grundsätzlichen kriminalpolitischen Zurückhaltung Frischs nicht auch in den konkreten Einzelergebnissen niederschlagen. Zunächst ist fraglich, ob Frisch die beabsichtigte Systematisierung und Entschlackung der Zurechnungslehre wirklich gelungen ist. Zumindest im „Tatbestandsmäßigen Verhalten“ deutet sich an, dass alle wesentlichen Fragestellungen, die von der Lehre der objektiven Zurechnung thematisiert werden, nach der Lösung Frischs nun Probleme des tatbestandsmäßigen Verhaltens darstellen und damit im Ergebnis nur einer anderen Prüfungsebene angehören. In dem Kapitel 3 seiner Monographie (S. 507 ff.), das der Problematik der „eigentlichen Erfolgszurechnung“ gewidmet ist, setzt sich Frisch im Wesentlichen mit der Risikoerhöhungslehre259 (S. 537–562) auseinander und nimmt zu der Problematik hypothetischer Ersatzursachen Stellung (S. 562–568). Obwohl in den der Risikoerhöhungslehre zugrunde liegenden Sachverhalten260 ein Verstoß gegen die Verhaltensnorm gegeben ist, lehnt er eine Zurechnung des Erfolges über diesen Gesichtspunkt mit Blick auf die Rationes der Sanktionsnorm ab. Denn in solchen Fallkonstellationen lässt sich der eingetretene Erfolg „nicht mehr überzeugend auf das rechtswidrige Verhalten zurückführen – womit ihm die sozialpädagogische Demonstrationsfunktion ebenso abgeht wie ein über die Handlung hinausgehendes deutliches zusätzliches Gewicht der Rechtsfriedensstörung“ (S. 550).261 Hypothetische Ersatzursachen, das heißt Fallkonstellationen, bei denen die vom Täter herbeigeführte Beeinträchtigung zeitgleich oder in einem engen zeitlichen Zusammenhang aufgrund anderer Umstände wie Naturereignissen oder dem Verhalten eines Dritten eingetreten wäre, sind nach 259 Entwickelt von Roxin, C.: ZStW 74 (1962), 411 ff. [unter anderem anhand des bekannten Radfahrerfalls (BGHSt 11, 1 ff.)]. Seit dem hat die Risikoerhöhungslehre zahlreiche Anhänger aber auch Kritiker gefunden. Überblick zum Streitstand bei Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 328 (Fn. 144, 145, 146). 260 Vgl. z. B. BGHSt 11, 1 [Zusammenfassung des Sachverhalts nach Roxin, C.: ZStW 74 (1962), 411 ff., 411]: Der Fahrer eines Lastwagens hatte einen Radfahrer überholen wollen und dabei den nach der StVO gebotenen Mindestseitenabstand nicht eingehalten. Während des Überholvorgangs geriet der stark alkoholisierte Radfahrer infolge einer trunkenheitsbedingten Fehlreaktion unter die Hinterreifen des Anhängers und verunglückte tödlich. Es wurde festgestellt, dass der Unfall sich mit hoher Wahrscheinlichkeit mit dem gleichen tödlichen Ausgang auch dann ereignet hätte, wenn der Fahrer den Mindestabstand eingehalten hätte. 261 Die einzelnen Konsequenzen dieser Auffassung verdeutlicht Frisch anhand der Problematik der Erfolgszurechnung bei ärztlichem Fehlverhalten (S. 551–562). Hier kommt es ihm für die Zurechnung des Erfolges bei einem gegebenen Behandlungsfehler im Wesentlichen darauf an, ob bei pflichtgemäßem Alternativverhalten nur ein bei ärztlichen Eingriffen grundsätzlich gegebenes statistisches Restrisiko des Erfolgseintritts oder ein im Einzelfall vorliegendes größeres Risiko bestanden hätte. Mit Blick auf die Rationes der Erfolgszurechnung kommt für Frisch (abweichend von der Lösung der Problematik über die Risikoerhöhungslehre) nur in der ersten Alternative eine Erfolgszurechnung in Betracht.

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Frisch grundsätzlich unbeachtlich und schließen folglich weder Kausalität noch Zurechnung aus. Auch insoweit liegt – nach Frischs Terminologie – ein „eigentliches“ Problem der Erfolgszurechnung vor, das unter Bezugnahme auf die systemfunktionale Zweckbestimmung der Sanktionsnorm zu lösen ist. Auf hypothetische Ersatzursachen kommt es danach schon deshalb nicht an, weil diese weder imstande sind, „die Geeignetheit des eingetretenen Erfolgs zur Demonstration der Unwertigkeit des Verhaltens“ in Frage zu stellen, noch die rechtsfriedenstörende Wirkung des Erfolgseintritts relativieren (S. 565). Stehen diese Ergebnisse einmal fest und ist zur Risikoerhöhungslehre und zu der Problematik der hypothetischen Ersatzursachen abschließend Stellung genommen, lässt der zumindest in der Monographie „Tatbestandsmäßiges Verhalten“ eingeschlagene Lösungsweg Frischs keine weiteren „eigentlichen“ Probleme der Erfolgszurechnung erkennen, die mit den erarbeiteten Rationes der Sanktionsnorm zu lösen wären. Alle Fragestellungen gehören der Rubrik des tatbestandsmäßigen Verhaltens an, die folglich ebenso als „Schmelztiegel“ heterogener Aspekte fungiert, wie die Lehre der objektiven Erfolgszurechnung, die Frisch unter diesem Gesichtspunkt selbst entscheidend kritisiert. Wenn Frisch in seinem Beitrag in der Festschrift für Roxin die Fälle abweichender Kausalverläufe im Unterschied (d. h. entweder vereinfachend oder schlicht abweichend) zur Darstellung in seiner Monographie aus dem Jahr 1988 als Fragestellungen eigentlicher Erfolgszurechnung bezeichnet, so kommt darin im Hinblick auf die personfunktionalen Schutzinteressen des Einzelnen ein weiterer problematischer Gesichtspunkt zum Ausdruck. Wegen der völlig unterschiedlichen Funktionsbestimmung von Verhaltens- und Sanktionsnormen geht es insoweit auch nicht nur um ein prüfungs- und aufbautechnisches Rubrizierungsproblem, sondern um eine entscheidende Sachfrage. Sofern alle einschlägigen Sachverhalte dieser Art als Fragen der objektiven Erfolgszurechnung behandelt werden sollen, beurteilt sich die Strafbarkeit des Betroffenen anhand des dargelegten systemfunktionalen Maßstabs. Die Zurechnung des strafrechtlich relevanten Erfolges ist davon abhängig, ob sie zur Aufrechterhaltung des Geltungsanspruchs der Norm erforderlich ist. Da es sich bei diesem Kriterium aber um einen empirisch vollkommen ungeklärten Sachverhalt handelt, zwingt diese Ausgangsposition nicht zu der von Frisch zugrunde gelegten (kriminalpolitisch zurückhaltenden) Konnexität zwischen Verhaltensnormverstoß und systemfunktionalen Notwendigkeiten. Wird der von Frisch entwickelte Lösungsansatz von einem Dritten in der Fallprüfung angewandt, kann es daher zu einer Erfolgszurechnung kommen, obwohl das Verhalten des Täters sich nicht als eine missbilligte Gefahrschaffung des Täters „in Richtung“ auf den Erfolg darstellt. Denn je nach Ausgangslage und kriminalpolitischen Präferenzen ist es möglich, die Erfolgszurechung aus systemfunktionalen Erwägungen auch in diesen Sachverhalten als geboten anzusehen und dies z. B. anhand von Meinungsbildern in der Öffentlichkeit oder

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diagnostizierten Erosionserscheinungen bestimmter Verhaltensnormen entsprechend zu begründen. Wie immer, wenn mit dem systemfunktionalen Begründungsansatz konkrete Strafrechtsdogmatik betrieben wird, droht folglich auch an dieser problematischen Schnittstelle der Zurechnungslehre eine bedenkliche Aushöhlung der Schutzinteressen des Einzelnen vor dem staatlichen Zugriff, die sich in den Resultaten Frischs nur deshalb nicht niederschlägt, weil er nach der Klassifizierung der Probleme in seiner großen Monographie aus dem Jahr 1988 alle wesentlichen Fragestellungen der personfunktional verstandenen Rubrik der Verhaltensnorm zuordnet und im übrigen selbst einen kriminalpolitisch restriktiven Ansatz zugrunde legt. 3. Schuld Zur Kategorie der Schuld wurde Wesentliches bereits oben [in diesem Kapitel I. 2. b)] gesagt. Da die Schuld nach Auffassung Frischs und Freunds der Rubrik des Verhaltensnormverstoßes unterfällt und im Verhalten des Schuldunfähigen schon grundsätzlich kein rechtlich zu missbilligendes personales Fehlverhalten zu sehen ist,262 ist die Schuld auf die Person des Straftäters und dessen persönliche „Vermeidemacht“263 zu beziehen. Ungeachtet dieser Rubrizierung, durch welche die Schuld ihrer kategorialen Eigenständigkeit beraubt wird, stimmt ihre Auffassung inhaltlich daher mit dem herrschenden personfunktionalen Schuldbegriff überein. Besonders deutlich tritt dieses Verständnis strafrechtlicher Schuld in Frischs Ausführungen zur Bestrafung „verschuldeter“ Affekttaten hervor.264 Bei der von ihm favorisierten ratio-orientierten Auslegung der §§ 20, 21 StGB stellt er nicht auf die gesellschaftlichen Auswirkungen einer Exkulpation des Täters bei 262 Freund, G.: Strafrecht AT 1998, S. 112. Bei Frisch ist diese Einordnung allerdings weniger deutlich. Insbesondere im Rahmen seiner Ausführungen zum Verbotsirrtum [Frisch, W. in: Eser, A./Perron, W. (Hrsg.): Rechtfertigung und Entschuldigung III 1991, S. 217 ff., 220 ff., 260 ff.] legt Frisch dar, dass insoweit zwar grundsätzlich ein zu missbilligendes Entscheidungsverhalten vorliegt (d. h. ein Verstoß gegen die Verhaltensnorm), jener aber (bei Vermeidbarkeit) zu einem Ausschluss der Schuld führt. Diese Differenzierung Frischs deutet an, dass er im Unterschied zu Freund in der Kategorie der Schuld eine eigenständige Voraussetzung der Strafbarkeit sieht. Dieser für den Deliktsaufbau und die Fallprüfung wesentliche Gesichtspunkt bleibt jedoch für die Inhaltsbestimmung des Schuldbegriffs unerheblich, weil Frisch – dies zeigen seine Ausführungen zu den Affekttaten [ZStW 101 (1989), 538 ff.] und zur Irrtumslehre [in: Eser, A./Perron, W. (Hrsg.): Rechtfertigung und Entschuldigung III 1991, S. 217 ff., 220 ff., 260 ff.] – in Übereinstimmung mit Freund von einer personfunktionalen Begriffsbestimmung ausgeht. 263 Frisch, W.: ZStW 101 (1989), 538 ff., 571. 264 Frisch untersucht insofern vor allem die Problematik des Rückgriffs auf ein schuldhaftes Vorverhalten des Affekttäters. Da vorliegend nur die grundsätzliche personfunktionale Inhaltsbestimmung des Schuldbegriffs von Interesse ist, kann dieser Gesichtspunkt in der nachfolgenden Darstellung außer Betracht bleiben.

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Affekttaten ab, sondern auf die individuell herabgesetzte oder fehlende Fähigkeit zur Normbefolgung. Es kommt ihm folglich entscheidend darauf an, ob der Täter bei Begehung der Affekttat trotz möglicher Erfassung der mit der Tathandlung verbundenen Risiken und Folgen die typische „Vermeidemacht“ inne hat, die mit dieser Kenntnis regelmäßig verbunden ist. Fehlt es an der „Vermeidemacht“ oder ist sie, wie im Fall des § 21 StGB, erheblich reduziert, trifft der Täter keine Entscheidung gegen das Rechtsgut oder diese weist im Fall des § 21 StGB ein erheblich geringeres Gewicht auf als im Fall voller Schuldfähigkeit. Vor allem im Bereich des nicht krankheitsbedingten, so genannten normalpsychologischen Affekts kann die Frage der persönlichen „Vermeidemacht“ des Täters nur unter Bezug auf das Fachwissen aus den verschiedenen Richtungen der Psychiatrie und Psychologie beantwortet werden und ist daher (mit Ausnahme der Problematik der Festsetzung einer bestimmten „Schwellenhöhe“) kein normatives, sondern ein empirisches Problem. Das bei der Auslegung der §§ 20, 21 StGB zugrunde gelegte personfunktionale Verständnis der Schuld wird von den Autoren z. B. auch im Rahmen ihrer Ausführungen zur Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums beibehalten. Entgegen dem Ansatz Jakobs’ und seiner Schüler [vgl. Kapitel 3, III. 3. c)] kommt es Frisch und Freund folglich nicht darauf an, inwieweit eine Exkulpation im Fall des § 17 StGB mit Blick auf die systemfunktionalen Interessen des Staates erträglich oder unerträglich ist, sondern „es gilt zu klären, was von der konkret betroffenen individuellen Person rechtlich in der Situation, in der sie sich befand, erwartet werden konnte“.265 Entsprechend dieser Grundorientierung hat sich die Prüfung der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums ebenfalls an einem individualisierenden Maßstab zu orientieren. Freund bezieht sich in seinem Lehrbuch266 dabei auf die Abgrenzungsformeln der Rechtsprechung267 und geht von der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums nur dann aus, wenn „der Betreffende nach seinen individuellen Fähigkeiten bei Einsatz aller seiner Erkenntniskräfte und sittlichen Wertvorstellungen“ zur Unrechtseinsicht hätte kommen können. War der Irrtum nicht in diesem Sinne vermeidbar, fehlt dem Staat die Befugnis, den Täter wegen seiner falschen Entscheidung zur Rechenschaft zu ziehen und ihm seine unrechte Entscheidung persönlich vorzuwerfen.268 Soweit die Autoren im Zusammenhang mit der Kategorie Schuld überhaupt auf den systemfunktionalen Ansatz rekurrieren, beschränken sie sich auf eine entsprechende Deutung der Exkulpationsvorschriften, die aber keinen Einfluss auf die Auslegung dieser Bestimmungen hat.269 Der Vorrang personfunktionaler 265

Freund, G.: Strafrecht AT 1998, S. 130. Freund, G.: Strafrecht AT 1998, S. 132. 267 BGHSt 3, 357 ff., 366; 4, 1 ff., 5. 268 Frisch, W. in: Eser, A./Perron, W. (Hrsg.): Rechtfertigung und Entschuldigung III 1991, S. 217 ff., 273. 266

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Erwägungen gegenüber den Bedürfnissen der Generalprävention im Rahmen der Kategorie Schuld kommt bei Frisch auch im Rahmen seiner schon oben angeführten Analysen „verschuldeter“ Affekttaten zum Ausdruck. Frisch befürwortet selbst eine extensive Auslegung der Exkulpationsregeln bei affektbedingten Vorsatztaten und tritt insbesondere einer weitgehenden Vorverlagerung der Verantwortlichkeit (z. B. unter Rückgriff auf bestimmte „Vorgestalten der Tat“270) entgegen. Da seine Auffassung der bisherigen exkulpationsfeindlicheren Praxis der Rechtsprechung widerspricht,271 setzt er sich auch mit der „kriminalpolitischen Erträglichkeit“ des eigenen Standpunktes auseinander:272 Einem extensiven Gebrauch der „Privilegierung“ des § 21 StGB oder der vollständigen Exkulpation nach § 20 StGB kann jedenfalls nicht damit begegnet werden, „dass man die sich aus dem Schuldprinzip und den Rationes dieser Vorschriften ergebenden Konsequenzen unter Berufung auf angebliche generalpräventive Bedürfnisse nicht einlöst“.273 Neben diesen dogmatischen Überlegungen, die an einem personfunktional verstandenen Schuldprinzip orientiert sind, bezieht sich Frisch auch auf empirische Aspekte der Generalprävention und legt insoweit einen differenzierenderen und kritischeren Maßstab zugrunde als z. B. im Rahmen seiner Darstellung der zweckrationalen Komponente der Vorsatzstrafe. Bezüglich der Affekttaten führt er an, sei es eine „blanke Fiktion“, dass „eine schärfere Bestrafung (z. B. Versagung der Milderung; Vorsatz- statt Fahrlässigkeitsbestrafung) durch Verzicht auf das postulierte Vorsatzmoment stärker generalpräventiv wirken würde“. Zur näheren Begründung bezieht er sich allerdings nicht auf die Gesichtspunkte der Systemstabilisierung, sondern insbesondere auf Effekte der negativen Generalprävention: „Denn der, der für sich annimmt, dass es nicht zu einer Affekttat kommen, er die Gewalt über sich nicht verlieren werde, . . . wird sich schwerlich zusätzlich von Strategien beeindrucken lassen, die an etwas anknüpfen, von dem er gerade nicht ausgeht. Die damit unter dem Aspekt generalpräventiver Effektivierung allein noch denkbare Ausweitung von Pflichten und Obliegenheiten in frühere Phasen der Affektgenese unter Verzicht auf das Erfordernis der konkreten Gefahr einer Affekttat aber ist nicht weniger unrealistisch, weil sie auf die Motivation von Personen setzt, denen . . . noch nicht einmal einsichtig gemacht werden kann, warum sie bereits jetzt in die Pflicht genommen werden, geschweige denn, wie sie sich verhalten sollen. Eine Pönalisierung kann unter diesen Voraussetzungen allenfalls zu einer Verunsicherung führen.“274 269 Freund, G.: Strafrecht AT 1998, S. 116: „Das Verhalten des Schuldunfähigen bewirkt schon keine Gefahr des Normgeltungsschadens“. 270 Frisch, W.: ZStW 101 (1989), 538 ff., 566. 271 Frisch bezieht sich vor allem auf BGH NStZ 1984, 311 ff. und BGHSt 35, 143. 272 Frisch, W.: ZStW 101 (1989), 538 ff., 602–604. 273 Frisch, W.: ZStW 101 (1989), 538 ff., 604. 274 Frisch, W.: ZStW 101 (1989), 538 ff., 602.

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Zusammenfassend lässt sich zur Kategorie der Schuld somit festhalten, dass die Autoren – im Gegensatz zu Jakobs und seiner Schule – ein herkömmliches personfunktionales Begriffsverständnis zugrunde legen. Systemfunktionale Zweckgesichtspunkte wirken sich auf die Auslegung einzelner Bestimmungen und Abgrenzungsprobleme nicht aus und haben nur die untergeordnete Bedeutung einer Gegenprobe, mit der die personfunktionalen Ergebnisse unter dem Gesichtspunkt kriminalpolitischer Erträglichkeit abgeglichen werden, oder sie werden herangezogen, um die Existenz und Notwendigkeit bestimmter schuldbezogener Regelungen zu erklären und diese weiter zu legitimieren. 4. Versuchsunrecht und Rücktritt a) Der argumentative Ausgangspunkt der Frisch-Schule Arbeiten speziell zu der Problematik des Rücktritts vom Versuch sind innerhalb des in diesem Kapitel interessierenden Autorenspektrums weniger von Frisch und Freund selbst als vielmehr von zwei Schülern Frischs275 veröffentlicht worden, die in einem zeitlichen Abstand von ca. 10 Jahren zwei in der Argumentation höchst unterschiedliche Beiträge vorgelegt haben. Wesentliche Ansätze zum Unrecht des Versuchs lassen sich zudem Frischs Arbeiten zur Strafrahmenmilderung insbesondere im Fall des Versuchs entnehmen;276 bezüglich Freunds kann auf die Ausführungen in seinem Lehrbuch „Strafrecht Allgemeiner Teil“277 verwiesen werden. Der gemeinsame argumentative Ausgangspunkt der genannten Arbeiten ist weitgehend mit dem des Ansatzes von Jakobs vergleichbar. Die Autoren befürworten eine „versuchsinterne“ Lösung der Rücktrittsproblematik und zielen darauf ab, die einzelnen Fallgruppen des Rücktritts auf den Strafgrund des Versuchs zu beziehen. Bereits an dieser Stelle trennen sich allerdings die Wege, und die Autoren folgen trotz vergleichbarer Ergebnisse zu einzelnen Problemstellungen des Rücktritts völlig unterschiedlichen Argumentationsgängen. Im Einzelnen: (1) Freund und Frischs älterer Schüler Bergmann sehen den Strafgrund des Versuchs homogen mit dem Strafgrund des vollendeten Delikts in der positiven Generalprävention. Der Strafeinsatz dient daher sowohl bei der Vollendung als auch im Fall des Versuchs der Restitution des „Vertrauens in die Geltung und Beachtung der die Rechtsgüter schützenden Verhaltensnormen“278 und ist insbe275 Bergmann, M.: ZStW 100 (1988), 329 ff. und Murmann, U.: Versuchsunrecht und Rücktritt 1999; ders.: JuS 1996, 590 ff. 276 Frisch, W. in: Spendel-FS 1992, S. 381 ff.; ders. in: Wolter, J. (Hrsg.): 140 Jahre GA 1993, S. 1 ff.; ders. gemeinsam mit Bergmann, M.: JZ 1990, 944 ff. 277 Freund, G.: Strafrecht AT 1998, S. 292–315.

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sondere darauf ausgerichtet, „im Wege der Heranziehung . . . desjenigen, der diese Normen vorwerfbar negiert hat, . . . die allgemeine Normgeltung zu bekräftigen“. Vor diesem Hintergrund ist bereits der Versuch ein perfekter Normbruch und es bedarf der Erklärung, warum ein Rücktrittsprivileg ausschließlich im Fall des Versuchs angemessen erscheint. Hinsichtlich dieser Frage können die Autoren auf die von Frisch entwickelte systemfunktionale Differenzierung zwischen Handlungs- und Erfolgsunwert zurückgreifen.279 Da im Fall des Versuchs mit dem deliktischen Erfolg der „lang dauernde unerwünschte Zustand“ fehlt, durch den die Missachtung der Normgeltung durch den Täter besonders sinnfällig manifestiert wird, ist folglich die „rechtsfriedenstörende Wirkung“280 des Versuchs geringer als die der Vollendung. Ein Rücktritt ist jedenfalls dann möglich, wenn „der Versuchstäter bereits selbst den rechtserschütternden Eindruck hinreichend kompensiert, indem er durch sein Rücktrittsverhalten letztlich doch die zunächst übertretene Verhaltensnorm uneingeschränkt anerkennt und dies auch hinreichend manifestiert“.281 Im Rahmen der Auslegung einzelner Voraussetzungen des § 24 StGB führt dieser Ansatz schließlich zu einer weitgehend „rücktrittsfeindlichen“ Rücktrittsdogmatik, die zusätzlich mit einer Kritik an der mit der systemfunktional verstandenen Ratio dieser Bestimmung unvereinbaren „starren“ Regelung des § 24 StGB verbunden ist. (2) In Kontrast zu diesem systemfunktionalen Verständnis des Versuchsunrechts entwickelt Frischs Schüler Murmann in seiner 1999 erschienen Kurzmonographie „Versuchsunrecht und Rücktritt“ einen geradezu idealtypisch personfunktionalen Gegenstandpunkt, der sich entscheidend auch in seiner Argumentation zum Rücktritt auswirkt. In einer Auseinandersetzung mit der „Eindruckstheorie“, in deren Mittelpunkt – wie oben dargelegt – ebenfalls systemfunktionale Argumente stehen, verdeutlicht Murmann, dass die positive Generalprävention nach seiner Auffassung keine taugliche Grundlage zur Konturierung strafbaren Verhaltens darstellen kann, und er wendet sich dezidiert gegen eine systemfunktionale Strafrechtsdogmatik: Denn „diese, vom subjektiven Verständnis der anderen abhängige Unrechtsbegründung“ verbleibt „im Rahmen der banalen Einsicht, dass die Verwirklichung von Unrecht das Rechtsbewusstsein der Mitbürger zu erschüttern vermag“. Ihr Mangel liegt darin „dass sie an ein Sekundärphänomen anknüpft, nämlich an einen Reflex des vom Täter begangenen Unrechts, wie es im Verständnis der anderen Mitglieder der Rechtsgemeinschaft (als rechtserschütternder Eindruck) aufscheint.“ Es kann daher keine „angemessene Lösung sein, eine uferlose Unrechtsbegründung (Betätigung des rechtsfeindlichen Willens) erst durch an gesellschaftlichen Belangen orientierte 278 279 280 281

Bergmann, M.: ZStW 100 (1988), 329 ff., 335. Vgl. hierzu die Ausführungen in diesem Kapitel unter III. 2. b). Frisch, W.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 517. Freund, G.: Strafrecht AT 1998, S. 298.

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Zweckerwägungen einzuschränken und so die Strafbarkeit wesentlich von den Rechtsbekräftigungsbedürfnissen der anderen Mitglieder der Rechtsgemeinschaft abhängig zu machen“.282

Murmann leitet aus dieser grundsätzlichen Kritik an der systemfunktionalen Begründungsstruktur der Eindruckstheorie die Forderung nach einer personfunktionalen Inhaltsbestimmung des Versuchsunrechts ab, die ihren Ausgangspunkt bei der Person des Täters nehmen muss. Auf dieser Grundlage bekennt sich Murmann im Folgenden zur subjektiven Versuchstheorie und sieht das Unrecht des Versuchs im betätigten Willensentschluss des Täters. Diese Perspektive korrespondiert bei Murmann mit einem terminologisch und inhaltlich weitgehend von Zaczyk283 übernommenen Verständnis des Anerkennungsverhältnisses rechtlicher Normen, das die Rechtsgemeinschaft konstituiert und an dem grundsätzlich auch der Täter gestaltend beteiligt ist. Der betätigte Willenentschluss des Täters negiert die jeweilige Verhaltensnorm und verletzt damit das Anerkennungsverhältnis; der vom Täter mitgestaltete Zusammenhang wird zumindest partiell aufgehoben.284 Auch nach dieser Auffassung ist daher der Versuch ein „perfekter Normbruch“ und es besteht Erklärungsbedarf für die Frage, unter welchen Voraussetzungen trotz des Vorliegens von „vollwertigem“ Strafunrecht285 die Straffreiheit als Privileg des Versuchstäters gerechtfertigt ist. Das Strafbedürfnis, mit dem die Verletzung des Anerkennungsverhältnisses durch strafrechtlich relevantes Verhalten regelmäßig verbunden ist, entfällt nach Auffassung Murmanns, sofern der Täter die Verletzung geheilt hat. Diese Heilung ist aber nur dann möglich, wenn die Tat noch im Versuchsstadium stecken geblieben ist. Nur in diesem Fall kann der Täter noch eine gegenteilige Erklärung im Sinne der Anerkennung des Rechtsverhältnisses abgeben, der prinzipiell das gleiche Gewicht zukommt, wie der ursprünglichen Verletzung des Anerkennungsverhältnisses. Die Symmetrie im Hinblick auf das Gewicht des „personalen Erklärungswerts“ ist gestört, wenn bereits der deliktische Erfolg eingetreten ist. Da der Täter jetzt keine Änderungsmöglichkeiten mehr inne hat, kommt der Verletzung des Anerkennungsverhältnisses eine grundsätzlich andere Qualität zu. Wiedergutmachungsbemühungen des Täters entfalten hier nicht die gleiche Überzeugungskraft wie im Fall des Versuchs und sind nicht ausreichend, um das verletzte Anerkennungsverhältnis zu heilen. Murmann geht demnach ebenso wie Bergmann und Freund von einem zweigliedrigen Unrechtsbegriff aus. Der Eintritt des deliktischen Erfolges hat Auswirkungen auf das vom Täter verwirklichte Unrecht, denn die Erklärung des Täters, die jeweilige Verhaltensnorm sei für ihn nicht maßgeblich, wird erst durch den Erfolgseintritt 282 Murmann, U.: Versuchsunrecht und Rücktritt 1999, S. 4 (Hervorhebung im Original). 283 Zaczyk, R.: Das Unrecht der versuchten Tat 1989, S. 128 ff. 284 Murmann, U.: Versuchsunrecht und Rücktritt 1999, S. 4 285 Murmann, U.: Versuchsunrecht und Rücktritt 1999, S. 5 (Fn. 13).

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vollständig objektiviert. Im Fall des Versuchs bleibt der Sinnausdruck des Täters demgegenüber vorläufig. Obwohl der Verstoß gegen die Verhaltensnorm bereits perfekt ist, bleibt der „Angriff auf das Recht“ folglich „hinter dem mit der vollendeten Tat Erklärten“ zurück. Ob dem Erfolgsunwert allerdings lediglich die von Frisch in den Mittelpunkt gestellte systemfunktionale Bedeutung zukommt oder ob er sich auch unrechtssteigernd auswirkt, lässt sich Murmanns Ausführungen nicht eindeutig entnehmen.

Für den Rücktritt kommt es nach Murmann folglich wesentlich auf den „personalen Erklärungswert zum Bestand des Rechtsverhältnisses“ an286 (28). Seine Rücktrittsdogmatik ist vor allem auf die Symmetrie der Verletzung und Heilung des Anerkennungsverhältnisses und damit explizit auf die Person des Täters und sein Entscheidungsverhalten bezogen. Eine (systemfunktionale) Argumentation mit den Bedürfnissen der positiven Generalprävention lehnt Murmann demgegenüber auch bei der Auslegung des § 24 StGB konsequent ab: Denn bei diesem Ansatz „wird . . . die Strafaufhebung – so wie zuvor schon die Strafbegründung – von der psychischen Befindlichkeit der übrigen Gesellschaftsmitglieder abhängig gemacht und der Täter aus seiner begründenden Rolle gedrängt. Das Rücktrittsverhalten ist in einem solchen Zusammenhang nurmehr ein empirisches Datum, das naturhaft Empfindungen der anderen Gesellschaftsmitglieder berührt, die dann – von einer diesem Vorgang übergeordneten Instanz – im Sinne der Aufhebung von Strafbedürfnissen gewertet werden“.287

Die wesentlichen Ergebnisse der unterschiedlichen argumentativen Ausgangspositionen innerhalb der Frisch-Schule stellen sich nach allem wie folgt dar: b) Konsequenzen für den Rücktritt aa) Die Abgrenzung zwischen unbeendetem und beendetem Versuch Im Rahmen der Abgrenzung zwischen unbeendetem und beendetem Versuch führen beide Auffassungen des hier interessierenden Meinungsspektrums zu der rücktrittsfeindlichen Einzelaktstheorie, 288 wobei allerdings im Einzelnen interessante Binnendifferenzierungen sichtbar werden. (1) Bei Murmann wird die Vorzugswürdigkeit der Einzelaktstheorie gegenüber der Lehre von der Gesamtbetrachtung mit dem Erklärungswert des Gesamtverhaltens in Bezug auf eine mögliche Heilung des Anerkennungsverhältnisses begründet. Dabei verlässt Murmann allerdings partiell den bislang konsequent personfunktionalen Begründungsansatz und stellt hinsichtlich des Erklärungswerts nicht auf den Täter, sondern auf einen potentiellen Erklärungsempfänger 286

Murmann, U.: Versuchsunrecht und Rücktritt 1999, S. 27 f. Murmann, U.: Versuchsunrecht und Rücktritt 1999, S. 28. 288 Vgl. hierzu die Ausführungen zu Jakobs im vorausgegangenen Kapitel unter II. 4. b) aa) mit ausführlicher Darstellung des sonst vertretenen Meinungsspektrums. 287

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ab. Hat der Täter die Möglichkeit, den Versuch mit anderen Mitteln fortzusetzen,289 so hat das Unterlassen weiterer Versuchshandlungen nur dann einen Erklärungswert bezüglich der ersten Versuchshandlung, wenn weitere Handlungen zu erwarten gewesen wären „und der Verzicht auf ihre Vornahme eine Distanzierung von der bereits vorgenommen Ausführungshandlung zum Ausdruck“ bringt. Murmann kommt es somit nur sekundär darauf an, ob sich der Täter nach dem subjektiv gemeinten Sinn seines Verhaltens von der Verletzung des Anerkennungsverhältnisses distanziert; der für ihn relevante Maßstab ist ein „empirischer Mensch“,290 das heißt ein Homunkulus, dessen Auslegung des Geschehens an allgemeinen empirischen Normalitätsfeststellungen orientiert ist. Nach diesem empirischen Maßstab nimmt Murmann dann einen beendeten Versuch an, wenn weitere Handlungen nicht zu erwarten sind. Hierfür ist nach seiner Auffassung auf den Wertungsmaßstab des § 22 StGB zurückzugreifen. Zu erwarten sind weitere Ausführungshandlungen demnach nur dann, wenn der Täter bereits unmittelbar nach der ersten Ausführungshandlung bezüglich einer möglichen Zweithandlung das Stadium des unmittelbaren Ansetzens erreicht hat. Damit begrenzt sich die Fallgruppe des unbeendeten Versuchs im Fall des mehraktigen Geschehens auf forensisch seltene Ausnahmefälle, bei denen der Täter seinen Angriff unmittelbar fortsetzen kann. Dies ist nach den Beispielen Murmanns im Wesentlichen nur bei gleichen Tatmitteln (z. B. mehrere Schüsse) und unveränderter Ausgangslage der Fall, nicht aber dann, wenn der Täter etwa durch den Gebrauch anderer Tatmittel (Messer statt Schüsse) neu zu der Tatbegehung ansetzen müsste. (2) Ganz andere Akzente setzen demgegenüber Frischs Schüler Bergmann und Freund, wobei der systemfunktionale Argumentationszusammenhang besonders deutlich bei Bergmann sichtbar wird. Er stellt zunächst wiederum auf die systemfunktionale Differenzierung zwischen Handlungs- und Erfolgsunwert ab und legt dar, dass das Ausmaß der Erschütterung des Normvertrauens entscheidend auch vom Eintreten bzw. Ausbleiben des deliktischen Erfolges abhängig sei. Dieser Standpunkt führt nach der Argumentation des Autors, die im Wesentlichen der Begründung Jakobs’ und von Heintschel-Heineggs entspricht, folgerichtig zur Einzelaktstheorie. Denn sofern der Täter das Geschehen durch einen „erfolgstauglichen und nicht mehr revozierbaren Angriffsakt“291 aus den Händen gegeben hat, ist die Normgeltung nahezu in demselben Umfang betroffen wie im Fall der Vollendung und es bestehen „massive generalpräventive Bedürfnisse“, den Geltungsanspruch der Norm durch eine allenfalls milder aus289 Murmann (Versuchsunrecht und Rücktritt 1999, S. 44) bezieht sich auf das klassische Beispiel eines Täters, der in Tötungsabsicht auf sein Opfer schießt, dieses verfehlt und schließlich von weiteren Tathandlungen absieht, obwohl er hierzu Möglichkeiten gesehen hätte. 290 Murmann, U.: Versuchsunrecht und Rücktritt 1999, S. 46. 291 Bergmann, M.: ZStW 100 (1989), 329 ff., 344.

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fallende Strafe wiederherzustellen. Keinesfalls ist es aber gerechtfertigt, den Täter durch bloße Aufgabe der weiteren Tatbegehung infolge der „starren“ Regelung des § 24 StGB in den Genuss der Straffreiheit kommen zu lassen. Zur Verdeutlichung des Ausmaßes der Beeinträchtigung der Normgeltung in den Fällen, die nach der Gesamtbetrachtungslehre als Anwendungsbeispiele des unbeendeten Versuches gelten, bezieht sich Bergmann auf „das Kathederbeispiel . . . des 99mal fehlschießenden Attentäters“292 sowie auf Sachverhalte aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung,293 die nach seiner Auffassung einen „derart großen Normgeltungsschaden“ aufweisen, „dass der – durchaus schadensvermindernde – Verzicht auf die weitere Zielverfolgung die Rechtsfolge des § 24 StGB beim besten Willen nicht trägt“.294 Mit Blick auf die gebotenen Begrenzungen eines Kurzlehrbuchs weniger ausführlich, aber in der Sache durchaus vergleichbar argumentiert Freund, der die Einzelaktstheorie gegen Einwände ihrer Kritiker ebenfalls mit systemfunktionalen Überlegungen verteidigt. Der Verzicht auf die Nichtvornahme weiterer Tathandlungen stellt in den Fällen bereits abgeschlossener erfolgsgeeigneter Ausführungsakte nach seiner Auffassung keinen „actus contrarius zur Versuchstat“ dar, der geeignet wäre, die Infragestellung der Normgeltung hinreichend zu kompensieren.295 bb) Rücktritt vom beendeten Versuch Wenn danach in den für die gerichtliche Praxis wesentlichen Fallgruppen nach der Einzelaktstheorie ein beendeter Versuch anzunehmen ist, bleibt fraglich, ob die Autoren überhaupt eine Möglichkeit der Strafbefreiung sehen und den Rücktritt zumindest dann zulassen, wenn der Täter den Erfolgseintritt verhindert (§ 24 Abs. 1 S. 1 2. Alt., S. 2 StGB) oder ob sie in Übereinstimmungen mit der radikalen Einzelaktstheorie den Rücktritt in diesen Fällen vollkommen ausschließen. Nur bei Murmann fällt die Antwort eindeutig aus. In einer expliziten Auseinandersetzung mit dem Standpunkt von Jakobs296 bezieht er sich auf die prinzipielle Abänderbarkeit der noch nicht vollendeten Tat, die sich nach seiner Auffassung auch in der Möglichkeit des Rücktritts widerspiegeln muss. In den Fällen des beendeten Versuchs bleibt dem Täter somit die Möglichkeit des Rücktritts offen, sofern er die Vollendung verhindert bzw. er sich in den Fällen 292

Bergmann, M.: ZStW 100 (1989), 329 ff., 344. Bergmann [ZStW 100 (1989), 329 ff., 344] bezieht sich auf BGH NStZ 1986, 264 ff. und BGHSt 34, 53 ff. 294 Bergmann, M.: ZStW 100 (1989), 329 ff., 344. 295 Freund, G.: Strafrecht AT 1998, S. 302 296 Murmann, U.: Versuchsunrecht und Rücktritt 1999, S. 39–44. 293

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des § 24 Abs. 1 Satz 2 StGB freiwillig und ernsthaft um die Vollendungsverhinderung bemüht: „Die von Jakobs behauptete Unmöglichkeit einer Variierung des in der Ausführungshandlung objektivierten Sinnausdrucks297 schneidet dem Täter also Erklärungsmöglichkeiten ab, die von einer Handlung, deren Sinngehalt (auch) in der Zukunft seinen Ausdruck findet, nicht getrennt werden können. Gegen das Ergreifen dieser Möglichkeit hat sich der Täter mit Vornahme der tatbestandsmäßigen Handlung nicht ausgesprochen. Der in der Handlung liegende Sinnausdruck, die Vollendung soll sein, lässt sich durch die Verhinderung des Erfolges in sein Gegenteil verkehren und die in der Verhinderung liegende Erklärung ist eine Stellungnahme zu der gleichen Maxime, deren Objektivierung bis in das Stadium des Versuchs . . . fortgeschritten ist“ (S. 41).

Diese Lösung Murmanns entspricht demnach im Wesentlichen der gemäßigten Einzelaktstheorie, die etwa von Herzberg vertreten wird. Relevante Unterschiede zu dieser Variante der Einzelaktstheorie bestehen aber insoweit, als Murmann im Rahmen der Abgrenzung zwischen beendetem und unbeendetem Versuch die oben skizzierte Differenzierung vornimmt und damit den Kreis der durch bloßes Aufgeben der weiteren Tatbegehung rücktrittsfähigen Taten etwas weiter absteckt als der von Herzberg propagierte Lösungsansatz. Bergmann schließt sich demgegenüber der radikalen Variante der Einzelaktstheorie an298 und setzt sich über Bedenken im Hinblick auf die Vereinbarkeit dieser Lösung mit § 24 Abs. 1 2. Alt. StGB299 unmittelbar mit systemfunktionalen Erwägungen hinweg. Mit Blick auf die erheblichen Auswirkungen des nicht mehr revozierbaren Angriffsverhaltens des Täters auf die Normgeltung und die insoweit gegebenen Restitutions- und Kompensationsbedürfnisse kommt er zu dem Ergebnis, dass die „überwiegend abgelehnte strenge Einzelaktstheorie“ de lege lata „die besten Karten“ hat. Den von ihm angenommenen Verstoß gegen die Wertung des Gesetzgebers in § 24 Abs. 1 2. Alt. StGB will er durch die Annahme einer einzigen Ausnahme der strengen Einzelaktsbetrachtung kompensieren. Ein Rücktritt durch aktive Vollendungsverhinderung soll dann möglich 297 Unmöglich ist die Variierung des Sinnausdrucks in den hier interessierenden Fallgruppen für Jakobs deshalb, weil er als Erfolg im Wesentlichen nur den Normgeltungsschaden ansieht und dieser auch im Fall des beendeten Versuchs „perfekt“ ist. Vgl. dazu ausführlich unten (Kapitel 3 II. 4.). 298 Bergmann, M.: ZStW 100 (1988), 329 ff., 351. 299 Vgl. hierzu ausdrücklich Bergmann, M.: ZStW 100 (1988), 329 ff., 345 (Hervorhebung im Original): „Ist eine so ausgestaltete ,strenge‘ Einzelaktstheorie mit dem Gesetz vereinbar? Hier zeigt sich doch . . . eine schwache Stelle dieser Ansicht. Sie muss . . . konsequenterweise auch demjenigen das Rücktrittsprivileg verwehren, der nach Ausführung eines einzigen erfolgstauglichen und nicht mehr revozierbaren Angriffsaktes (z. B. eines Pistolenschusses) das gefährdete Rechtsgut (z. B. das getroffene und verletzte Opfer) durch Entfaltung aktiver Bemühungen rettet. Doch lässt sich diese Konsequenz nicht durchhalten – die geschilderte Konstellation ist ein Fall des Rücktritts vom ,beendeten‘ Versuch, den der Wortlaut des § 24 Abs. 1 Satz 1, 2. Alternative StGB eindeutig erfasst.“

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Kap. 4: Funktionalismus bei Wolfgang Frisch und Georg Freund

sein, wenn das Rückrittsverhalten des Täters unmittelbar im Anschluss an einen „einzigen Ausführungsakt“ stattfindet. Die übrigen, durch die strenge Einzelaktstheorie aus dem Anwendungsbereich des § 24 StGB ausgeschiedenen Fälle können nach seiner Auffassung durch eine „extensive Ausschöpfung des nach § 49 Abs. 1 StGB gemilderten Strafrahmens einer adäquaten Behandlung“ zugeführt werden. De lege ferenda spricht er sich aber ebenso wie Jakobs und von Heintschel-Heinegg für eine Änderung des § 24 StGB in eine flexible Bestimmung aus, die den Charakter einer „Strafmilderungsnorm“ annehmen sollte. Freund vertritt im Wesentlichen einen der Position Bergmanns vergleichbaren Ansatz, ist allerdings im Hinblick auf den auch von ihm angenommenen Verstoß der radikalen Einzelaktstheorie gegen § 24 Abs. 1 2. Alt. StGB in den Konsequenzen vergleichsweise zurückhaltender. Eine eindeutige Lösung der problematischen Fallgestaltungen (Rettung des Opfers nach Ausführung einer erfolgsgeeigneten Tathandlung) wird dem Leser seines Lehrbuchs dabei zunächst nicht unterbreitet. Zwar stellt er eingangs klar, dass der Versuchstäter in diesen Fällen „wegen der eindeutigen Regelung des § 24 I 1 Fall 2 StGB Strafbefreiung wegen des aktiven Rücktritts vom beendeten Versuch“ erlangt.300 Wenige Zeilen später wird diese Lösung aber als ein „wenig überzeugendes Argument“301 in Zweifel gezogen. Denn „statt der Anordnung eines vollständigen Ausschlusses der Strafbarkeit wegen des versuchten Tötungsdelikts in den Fällen aktiver Verhinderungsbemühungen bei beendetem Versuch könnte ein Absehen von Strafe oder eine bloße Strafmilderung eher angebracht sein. Letzterenfalls sollte der Gesetzgeber aufgefordert werden, de lege ferenda eine sachgerechte Regelung dieser Fälle vorzunehmen. Dagegen ist es verfehlt, Fälle, in denen nach derzeitiger Gesetzeslage gezwungenermaßen strafbefreiender Rücktritt einzuräumen ist, als Ansatzpunkt dafür zu nehmen, die verfehlte Rechtsfolge ohne gesetzliche Notwendigkeit auf weitere Fälle zu übertragen.“302

Nur im Rahmen eines Resümees seiner Ausführung zu der hier relevanten Problematik303 führt er schließlich aus, dass ein Rücktritt in den nach der Einzelaktstheorie als beendeter Versuch zu wertenden Fällen möglich sein soll, wenn der Täter sein Opfer rettet. Diese Lösung, die in der Sache weitgehend der gemäßigten Einzelaktstheorie entspricht, ist auch für Freund allerdings nur ein Kompromiss, zu dem die Gestaltung des Rücktrittsrechts durch den Gesetzgeber zwingt, und damit insgesamt mehr als eine „schadensbegrenzende Maßnahme“ und nicht als eine insgesamt gelungene „Abschichtung der verschiedenen Fallgruppen“304 zu verstehen.

300 301 302 303 304

Freund, Freund, Freund, Freund, Freund,

G.: G.: G.: G.: G.:

Strafrecht Strafrecht Strafrecht Strafrecht Strafrecht

AT AT AT AT AT

1998, 1998, 1998, 1998, 1998,

S. S. S. S. S.

303. 303. 303. 307. 307 (Fn. 42).

II. Strafrechtsdogmatische Schlussfolgerungen

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cc) Rücktritt vom unbeendeten Versuch In Konsequenz der folglich von allen der Frisch-Schule zuzuordnenden Autoren vertretenen Einzelaktstheorie beschränkt sich die Fallgruppe des unbeendeten Versuchs auf in der forensischen Praxis eher seltene Fallgruppen, in denen zwar das unmittelbare Ansetzen zu bejahen ist, der Täter aber noch keinen erfolgsgeeigneten und nicht mehr revozierbaren Angriffsakt vorgenommen hat. Murmann, der diese Fälle als „tatbestandsnahe Vorbereitungshandlungen“305 bezeichnet, arbeitet hier ebenso wie Jakobs und von Heintschel-Heinegg mit der Figur des fehlgeschlagenen Versuchs und nimmt einen strafbefreienden Rücktritt nur dann an, wenn „der Täter seinen Willen, zur tatbestandsmäßigen Handlung überzugehen, noch realisieren“306 kann. Besteht diese Möglichkeit und fehlt es demnach an einem Fehlschlag, kommt ein Rücktritt durch bloße Aufgabe der weiteren Tatbegehung in Betracht, sofern der Täter nur den Willen fallen lässt, zur „Vornahme der tatbestandsmäßigen Handlungen überzugehen“.307 Damit diesem Willensentschluss ein personaler Erklärungswert im „interpersonalen Verhältnis“308 zukommt, muss der Täter seine Entscheidung, von der Tat abzulassen, zudem nach außen objektivieren. An diese Leistung des Täters sind allerdings insgesamt geringe Anforderungen zu stellen; es genügt zum Beispiel, wenn der Täter, der sein Opfer anvisiert hatte, nunmehr die Waffe nach unten absenkt. Hinsichtlich der Möglichkeiten des Rücktritts vom unbeendeten Versuch nimmt Murmann im Unterschied zu Jakobs und von Heintschel-Heinegg keine weiteren Einschränkungen vor. Insbesondere folgt er der von diesen Autoren angenommene Differenzierung zwischen rücktrittsfähigen reparablen und rücktrittsausschließenden irreparablen Fehlschlägen, durch die die Rücktrittsmöglichkeiten durch Aufgabe der weiteren Tatbegehung weiter eingeschränkt werden [vgl. dazu im vorausgegangenen Kapitel unter II. 4. b) cc)]. Eine Strafbefreiung nach § 24 StGB ist – sofern nur ein unbeendeter Versuch vorliegt – folglich auch dann möglich, wenn der Täter den Versuch nur noch mit anderen präsenten Tatmitteln, nicht aber mit dem ursprünglich vorgesehen Angriffswerkzeug fortsetzen kann.309

305 Freund (Strafrecht AT 1998, S. 300 ff.) differenziert auch in der Fallgruppe des unbeendeten Versuchs zwischen fehlgeschlagenem und nicht fehlgeschlagenem Versuch und kommt auf dieser Grundlage zu den auch von Murmann und der h. M. (die teilweise mit dem Freiwilligkeitskriterium argumentiert) angenommenen Ergebnissen. Der Beitrag Bergmanns, der sich speziell der Abgrenzung zwischen Einzelaktstheorie und Gesamtbetrachtung widmet, enthält insoweit keine Lösungsansätze, so dass im Folgenden ausschließlich auf die Ausführungen Murmanns und Freunds eingegangen wird. 306 Murmann, U.: Versuchsunrecht und Rücktritt 1999, S. 34. 307 Murmann, U.: Versuchsunrecht und Rücktritt 1999, S. 34. 308 Murmann, U.: Versuchsunrecht und Rücktritt 1999, S. 35.

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Kap. 4: Funktionalismus bei Wolfgang Frisch und Georg Freund

c) Kritik aus personfunktionaler Sicht Wie bereits im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Rücktrittsdogmatik von Jakobs angeführt [vgl. hierzu Kap. 3 II. 4. c)], lässt die personfunktionale Interpretation des Strafrechts keine zwingenden Schlussfolgerungen für die hier in den Mittelpunkt gestellten Abgrenzungsprobleme zu. Auch bezüglich der argumentativ gegensätzlichen Standpunkte der Lehren Murmanns und Bergmanns sind die Konsequenzen, welche die Autoren aus den Lösungsansätzen ableiten, gering und betreffen lediglich Randbereiche einzelner Problemstellungen. Teilweise liegt dies aber auch darin begründet, dass Murmann über die Figur des „Anerkennungsverhältnisses“ selbst eine gesellschaftliche Perspektive in die Betrachtung einbezieht und seine maßgebliche Frage, unter welchen Voraussetzungen das Anerkennungsverhältnis durch einen Beitrag des Täters geheilt wird, keine wesentlichen Strukturunterschiede zu der systemfunktionalen Frage aufweist, welche Leistungen vom Täter zu erbringen sind, damit eine hinreichende Kompensation des Normgeltungsschadens eintritt. Zudem konnte bereits oben aufgezeigt werden, dass Murmann selbst den personfunktionalen Standpunkt nicht vollständig beibehält und im Rahmen seiner Differenzierung bei der Einzelaktstheorie teilweise auf empirische Normalitätsvorstellungen und damit auf einen außerhalb des Einflussbereichs des Täters liegenden Gesichtspunkt abstellt. Der eindeutig systemfunktionale Ansatz Bergmanns und Freunds zeigt darüber hinaus wiederum eine grundsätzliche Problematik dieser Perspektive. Da strafrechtsdogmatische Problemstellungen unmittelbar anhand von kriminalpolitisch systemfunktionalen Gesichtspunkten beurteilt werden, erfolgt die Entwicklung von Lösungsansätzen nicht mehr auf der Grundlage des Gesetzes. Die Lösungen müssen – je nach persönlicher Gewichtung des Autors – nur im Nachhinein mehr oder weniger mit dem Gesetz abgestimmt werden. Entsprechende Bedenken, über die sich Jakobs und von Heintschel-Heinegg weitgehend hinwegsetzen, kommen bei Bergmann und Freund etwa in der Annahme von aus systemfunktionaler Sicht an sich sinnwidrigen Ausnahmen zu der strengen Einzelaktstheorie zum Ausdruck, zu deren Anerkennung sich die Autoren nur durch den Wortlaut des Gesetzes gezwungen sehen. Durch diesen Ansatz wird die Garantiefunktion des Strafrechts310 wesentlich ausgehöhlt. Es ist weitgehend in das Belieben des Rechtsanwenders gestellt und 309 Im „Säurebeispiel“ von Jakobs [ZStW 104 (1992), 82 ff., 99] wäre ein Rücktritt nach der Auffassung Murmanns folglich auch dann möglich, wenn der Täter zu einem Wurf mit dem Gefäß ansetzt, in dem sich die Säure befindet und er dabei die Säure verschüttet. Es kommt lediglich darauf an, ob der Täter das Opfer noch durch das Gefäß selbst (oder andere präsente Tatmittel) verletzen kann – nimmt er hiervon Abstand, ist ein Rücktritt nach Murmann möglich. Für Jakobs liegt demgegenüber ein partieller (irreparabler) Fehlschlag vor, so dass der Täter bezüglich des Versuchs, das Opfer mit der Säure zu verletzen, nicht mehr zurücktreten kann.

III. Zusammenfassung und Tendenzen

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nicht mehr durch das Gesetz vorgegeben, in welchem Umfang den systemfunktionalen Bedürfnissen Rechnung getragen werden soll und welche Implikationen sich aus dem empirisch vollkommen ungeklärten Normstabilisierungsbedürfnissen konkret ableiten lassen.

III. Zusammenfassung und Tendenzen Bei Frisch und seinen Schülern wird der Begriff des Funktionalismus bzw. des „funktionalen Systems“ sowohl im Sinne von personfunktional als auch in der Bedeutung systemfunktional verwendet. Nach der von den Autoren zugrunde gelegten normtheoretischen Differenzierung ist der personfunktionale Maßstab im Rahmen der Auslegung der Rechtsbegriffe der Verhaltensnorm leitend, während systemfunktionale Gesichtspunkte für den Bereich der Sanktionsnorm bestimmend sein sollen. Damit erhält die richtige „Rubrizierung“ einer Problematik auch in sachlicher Hinsicht ausschlaggebende Bedeutung. Wie oben vor allem am Beispiel der Zurechnungslehre (z. B. in Bezug auf die Abgrenzung echter und unechter Anwendungsfälle der Lehre von der objektiven Zurechnung) Frischs dargestellt, ist diese Zuordnung schon nach den eigenen Ausführungen der Autoren nicht eindeutig. In den früheren Darstellungen Frischs, z. B. in der Monographie Vorsatz und Risiko, wird die angestrebte normtheoretische Unterscheidung außerdem nicht in allen Bereichen durchgehalten. Frisch argumentiert im Rahmen des Vorsatzes, der als „vorsätzlicher Verstoß gegen eine Verhaltensnorm“ der Kategorie der Verhaltensnorm zuzuordnen ist, auch mit einer „zweckrationalen“ Komponente und lässt damit systemfunktionale Gesichtspunkte in die Begriffsbildung einfließen. Darüber hinaus bestehen Unsicherheiten auch insoweit, als die normtheoretische Unterscheidung der Autoren nicht zwingend dem Gesetz zu entnehmen ist. Nach der Systematik der Erfolgsdelikte gehört der deliktische Erfolg zu den Voraussetzungen der Strafbarkeit und kann daher nicht ohne weiteres in eine vom Schuldbezug unabhängige Rubrik der Sanktionsnorm verlagert werden. Soweit infolge der Zuordnung einer Problematik zu der Rubrik der Sanktionsnorm die Auslegung der Rechtsbegriffe unmittelbar anhand der Ratio der Sanktionsnorm, das heißt unter systemfunktionalen Zweckgesichtspunkten erfolgen soll, ergeben sich die bereits an den einzelnen dogmatischen Problemstellungen aufgezeigten Kritikpunkte. Die strafrechtliche Haftung wird hier nicht mehr am Ausmaß der persönlichen Verfehlung des Straftäters orientiert, sondern es kommt darauf an, ob die Zuschreibung der Verantwortlichkeit zu einer „sinnfälligen Demonstration der Unwertigkeit des Täterhandelns“311 und damit 310 Zu dieser vgl. Stratenwerth, G.: Strafrecht AT 2000, S. 53; Jescheck/Weigend: Strafrecht AT 1996, S. 126 ff. 311 Frisch, W.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 519.

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Kap. 4: Funktionalismus bei Wolfgang Frisch und Georg Freund

zur Beseitigung eines Normgeltungsschadens erforderlich ist. Damit wird aber die Strafbarkeit des Täters wesentlich von den empirisch zumindest nicht feststellbaren Bedürfnissen der Gesellschaft abhängig gemacht und der Schutz des Einzelnen vor dem Zugriff des Staates in Gestalt des Strafrechts ist an den aufgezeigten Schnittstellen, an denen die Autoren den Argumentationszusammenhang einer „personalen Straftatlehre“ zugunsten einer idealtypisch systemfunktionalen Begriffsbildung verlassen, nicht mehr gewährleistet.

Kapitel 5

Funktionalismus der „Münchener Schule“ um Claus Roxin I. Grundlagen des zweckrationalen (funktionalen) Strafrechtssystems Es war der Verdienst Claus Roxins, mit seiner 1970 erschienenen Schrift „Kriminalpolitik und Strafrechtssystem“1 den Anstoß für die in dieser Arbeit diskutierte systemfunktionale Strafrechtsdogmatik gegeben zu haben. Sein in dieser Schrift programmatisch dargestelltes Anliegen wurde insbesondere von seinen Schülern2 Schünemann, Rudolphi und Wolter aufgegriffen, die in Monographien,3 Festschriftbeiträgen4 und Aufsätzen5 bestimmte Detailaspekte eines zweckrationalen (funktionalen) Strafrechtssystems bearbeitet haben. Die zur Charakterisierung des eigenen Ansatzes verwendete Terminologie ist dabei nicht einheitlich. Zumeist ist von einem zweckrationalen (funktionalen) Strafrechtssystem die Rede.6 Teilweise verwenden die Autoren diese Begriffe auch alternativ bzw. synonym7 oder sie sprechen von einer normativ-funktionalen Strafrechtsdogmatik.8 Inwieweit Roxin und seine Schüler zu den hier im Mittelpunkt der Erörterung stehenden Vertretern einer systemfunktionalen Strafrechtsdogmatik zu zählen sind und gegebenenfalls in welchem Umfang der von ihnen entwickelte Ansatz Eingriffe in die personfunktionale Schutzfunktion des Strafrechts zulässt, kann wiederum nur durch eine differenzierte Erörterung des ar-

1

Im Folgenden zitiert nach der um ein Nachwort ergänzten 2. Aufl. 1973. Bei den genannten Professoren handelt es sich um (frühere) Schüler des emeritierten Münchener Strafrechtslehrers Claus Roxin. In einem neueren Beitrag von Wolter [in: Gimbernat, E./Schünemann, B./Wolter, J. (Hrsg.): Objektive Zurechnung 1995, S. 3 ff., 24] werden diese Autoren als „Münchener Schule“ bezeichnet. Dieses Etikett wird in der nachfolgenden Darstellung zur Vereinfachung übernommen. 3 Wolter, J.: Zurechnung 1981. 4 Schünemann, B. in: ders. (Hrsg.): Grundfragen 1984, 1 ff., 153 ff.; Schünemann, B. in: Rudolf Schmitt-FS 1992, S. 117 ff.; Wolter, J. in: ders. (Hrsg.): 140 Jahre GA 1993, S. 269 ff. 5 Schünemann, B. in: ders./De Figueiredo Dias, J. (Hrsg.): Coimbra-Symposium 1995, S. 149 ff.; ferner: SK-Rudolphi, vor §1 und vor §19. 6 Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 157 (§ 7, Rn. 30). 7 Schünemann, B. in: ders. (Hrsg.): Grundfragen 1984, S. 1 ff., 45; ders. in: RoxinFS 2001, S. 1 ff., 13; Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 157 (§ 7, Rn. 30). 8 Wolter, J.: GA 1986, 143 ff. 2

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Kap. 5: Funktionalismus der „Münchener Schule‘‘ um Claus Roxin

gumentativen Ausgangspunktes der Roxin-Schule und der einzelnen dogmatischen Schlussfolgerungen ermittelt werden. Die nachfolgenden Analyse setzt bei der oben genannten, auf einem Vortrag beruhenden Schrift Roxins an, die allerdings wegen der breiten Rezeption in der strafrechtswissenschaftlichen Literatur,9 auf die insoweit verwiesen werden kann, nur unter dem engen Blickwinkel der Herausarbeitung spezifisch systemfunktionaler Argumentationsansätze dargestellt wird. Bevor die einzelnen dogmatischen Implikationen des von Roxin entworfenen Strafrechtssystems besprochen werden können, bedarf es schließlich einer Skizze der kriminalpolitischen10 und insbesondere der straftheoretischen Grundposition des Autors sowie seines methodologischen Ansatzes. Denn ebenso wie bei Jakobs und Frisch wird die Strafrechtsdogmatik auch bei Roxin von kriminalpolitischen Leitentscheidungen bestimmt, die über einen bestimmten methodischen Ansatz in die Auslegung grundlegender Rechtsbegriffe vor allem des Allgemeinen Strafrechts Eingang finden. 1. Kriminalpolitische Grundlagen a) Die Aufgabe des Strafrechts Der für den systemfunktionalen Ansatz charakteristische Ableitungszusammenhang zwischen dem Strafzweck der positiven Generalprävention und einzelnen strafrechtsdogmatischen Fragestellungen ist für Roxin lediglich eine Teilkomponente in einem übergeordneten Anliegen, die Grenzen zwischen Kriminalpolitik einerseits und Strafrechtsdogmatik andererseits zu überwinden. Das Strafrecht hat sich folglich nicht auf seine rechtsstaatlich-liberale, auf den Schutz des Einzelnen vor dem Zugriff des Leviathans bezogene personfunktionale Schutzfunktion zu beschränken, sondern die kriminalpolitischen Wertentscheidungen sollen unmittelbar in das System des Strafrechts und seine grundlegenden Begriffe eingehen:11 Prototyp des von Roxin kritisierten Gegensatzes von Kriminalpolitik und Strafrechtsdogmatik ist der Beling/Lisztsche Systementwurf, in dem das Strafrecht lediglich die „magna charta“ des Verbrechers darstellt und insofern „nicht 9 Zur ersten Auflage 1970, vgl. Heinitz, E.: ZStW 83 (1971), 756 ff.; Dreher, E.: GA 1971, 217 f.; Stratenwerth, G.: MschrKrim 1972, 196 f.; Blei, H.: JA 1971, StR 103; zur 2. Aufl. (1973), vgl.: Zipf, H.: ZStW 89 (1977), 706 ff.; Amelung, K.: JZ 1982, 617 ff.; zusammenfassende Darstellungen ferner bei Schünemann, B. in: ders. (Hrsg.): Grundfragen 1984, S. 1 ff., 45; Mantovani, L. P.: ZStW 109 (1997), 17 ff.; Albuquerque, P. P. de: ZStW 110 (1998), 640 ff. 10 Roxin, C. in: Baumann, J. (Hrsg.): Programm für ein neues Strafgesetzbuch 1968, S. 75 ff.; ders.: ZStW 81 (1969), 613 ff.; ders.: JA 1980, 221 ff.; ders.: JA 1980, 546 ff. 11 Roxin, C.: Kriminalpolitik 1973, S. 10.

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die Gesamtheit, sondern den gegen diese sich auflehnenden Einzelnen schützt“.12 Diese Sichtweise der Aufgabe des Strafrechts, die der Funktion der Kriminalpolitik als Instrument zweckmäßiger Verbrechenskontrolle diametral entgegengesetzt ist, findet sich nach Roxin auch im (gegenwärtig vorherrschenden) System des Finalismus und der von Welzel befürworteten axiomatisch-deduktiven Methode,13 die nach seiner Auffassung zwar eine eindeutige und gleichmäßige Lösung der Rechtsprobleme ermöglicht, unter kriminalpolitischen Erwägungen im Ergebnis aber vollkommen verfehlt sein kann.14 Trotz dieser kritischen Ausführungen zum rechtsstaatlich-liberalen Verständnis des Strafrechts will Roxin die hiermit assoziierte personfunktionale Schutzfunktion nicht vollständig preisgeben, sondern – analog der Entwicklung im Verwaltungsrecht von der Eingriffs- zur Leistungsverwaltung15 – lediglich um eine sozialstaatliche Steuerungsfunktion ergänzen. Das Strafrecht ist damit in den Augen Roxins einerseits ein „höchst bedeutsames Instrument der Sozialgestaltung“,16 das Verhaltensrichtlinien aufstellt und Konfliktsituationen anhand des Maßstabs konkreter kriminalpolitischer Wertentscheidungen löst. Andererseits darf es aber, damit die liberalstaatliche Schutzfunktion beibehalten wird, an gesetzlicher Fundierung, Klarheit und Berechenbarkeit nicht hinter den Errungenschaften des „formal-positivistischen Systems Lisztscher Provienz“ zurückbleiben. Seine Zielsetzung ist es daher, eine Synthese zwischen „rechtlicher Gebundenheit und kriminalpolitischer Zweckmäßigkeit“ zu bilden, die der „dialektischen Einheit“17 von Rechts- und Sozialstaat entsprechen soll: „Eine Staatsordnung ohne soziale Gerechtigkeit ist kein materieller Rechtsstaat, ebensowenig wie ein Planungs- und Versorgungsstaat ohne die freiheitswahrenden Errungenschaften des Rechtsstaates das Prädikat sozialstaatlicher Verfasstheit in Anspruch nehmen darf. Sehr deutlich zeigt sich das jetzt bei der Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems und des Strafvollzuges: Resozialisierung bedeutet nicht die Einführung unbestimmter Strafurteile oder die beliebige Verfügbarkeit des Verurteilten für staatliche Zwangsbehandlungen. Vielmehr wird die Reform dem Verfassungsauftrag nur gerecht, wenn sie gleichzeitig mit der Einführung moderner sozialtherapeutischer Methoden die Rechtsstellung des Strafgefangenen verstärkt und das bisher juristischer Durchleuchtung wenig zugängliche besondere Gewaltverhältnis rechtlich durchstrukturiert.“18 12

Liszt, F. v. in: ders. (Hrsg.): Aufsätze Band 2 1905, S. 75 ff., 80. Roxin, C.: Kriminalpolitik 1973, S. 13. 14 Als Kardinalsbeispiel für eine kriminalpolitische Fehlleistung des Finalismus wird von den Kritikern immer wieder auf die Irrtumslehre und die Konsequenzen der von Welzel vertretenen strengen Schuldtheorie beim Erlaubnistatbestandsirrtum verwiesen; vgl. hierzu aus der Perspektive des teleologisch-kriminalpolitischen Strafrechtssystems von Roxin: Schünemann, B. in: ders. (Hrsg.): Grundfragen 1984, S. 1 ff., 40. 15 Roxin, C.: Kriminalpolitik 1973, S. 7. 16 Roxin, C.: Kriminalpolitik 1973, S. 8. 17 Roxin, C.: Kriminalpolitik 1973, S. 10. 18 Roxin, C.: Kriminalpolitik 1973, S. 10, 11. 13

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Diese Überlegungen Roxins korrespondieren mit einem bestimmten Verständnis des Autors von den Aufgaben und Möglichkeiten der modernen Kriminalpolitik, das seinen ersten Niederschlag in dem von ihm mitverfassten „Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuchs“ (1966) findet und auch in seinen neuesten Veröffentlichungen, die allerdings andere Akzente setzen, beibehalten wird.19 Roxins Position innerhalb der am Alternativ-Entwurf beteiligten Gruppe der Strafrechtslehrer und seine später erschienen Beiträge zur Kriminalpolitik20 machen deutlich, dass es ihm nicht generell um die Integration von Kriminalpolitik und Strafrechtsdogmatik, sondern um den Einbezug einer bestimmten „modernen“ kriminalpolitischen Auffassung geht. Diese resultiert aus einem aufgeklärten, von allen irrationalen und metaphysischen Schlacken befreiten Verständnis der Aufgaben des modernen Staates, der seine Macht nicht „einer höheren (göttlichen) Instanz“ verdankt, sondern alleine vom Volk als Träger der Staatsgewalt „und damit von jedem mündigen Bürger ableitet“.21 Die nachstehend differenzierter skizzierte, weitgehend mit den Forderungen des Alternativ-Entwurfs übereinstimmende kriminalpolitische Linie und insbesondere die straftheoretische Grundposition des Autors verdeutlichen ferner, dass Roxin von dieser Kriminalpolitik keine besondere Bedrohung für die Schutzinteressen des Einzelnen gegenüber dem staatlichen Zugriff in Form des Strafrechts ausgehen sieht, so dass nach seiner Auffassung – sofern man nur den „richtigen“ kriminalpolitischen Ansatz vertritt – die rechtsstaatlich-liberale Funktion des Strafrechts gegenüber den sozialstaatlichen Interessen ohnehin an Bedeutung verliert. Denn die „richtige“ moderne Kriminalpolitik beinhaltet selbst die maßgeblichen Begrenzungsparameter und bedarf lediglich, um eine gleichmäßige und berechenbare Rechtsfindung zu gewährleisten, der strafrechtsdogmatischen Verankerung in einem Korsett systematisierender Begriffe.

19 Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 8 ff.; ders. in: Kühne, H.-H./Miyazawa, K. (Hrsg.): Neue Strafrechtsentwicklungen 1995, S. 407 ff.; vgl. aus rückschauender autobiographischer Sicht auch ders.: Rechtshistorisches Journal 19 (2000), 637 ff., 638: „Auch gilt die Denkarbeit des Strafrechtlers nicht dem Ziel, immer neue Strafbarkeiten zu ersinnen, sondern das einschneidende Mittel der Strafe bei gleichbleibender Sicherheitsgewähr soweit wie möglich zu vermeiden und durch weniger eingreifende soziale Steuerungsinstrumente zu ersetzen. Die Etablierung des Strafrechts als ultima ratio der Sozialpolitik ist eine Aufgabe, die nach der Ablösung dieser Materie von Religion, Philosophie, Moral und ,gesundem Volksempfinden‘ erst in der Nachkriegszeit in vollem Umfang erkannt worden ist . . . Jedenfalls hat es mich immer fasziniert, auf dieser Basis an der Entwicklung des Strafrechts konstruktiv arbeiten zu können.“ 20 Roxin, C. in: Baumann, J. (Hrsg.): Programm für ein neues Strafgesetzbuch 1968, S. 75 ff.; ders.: ZStW 81 (1969), 613 ff.; ders.: JA 1980, 221 ff.; ders.: JA 1980, 546 ff. 21 Roxin, C.: SchwZStrR 104 (1987), 356 ff., 357.

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aa) Strafrecht als Rechtsgüterschutz Die von Roxin befürwortete Kriminalpolitik drückt sich zunächst in den von ihm herausgearbeiteten „strafrechtstheoretischen Voraussetzungen strafbaren Verhaltens“22 aus. Hier wendet er sich in erster Linie gegen die noch in den 60er Jahren vorherrschende und auch vom E 1962 zugrunde gelegte Moralisierung des Strafrechts und die Vorstellung, das Strafrecht habe ein ethisches Minimum zu garantieren und auf die sittlichen Vorstellungen der Bürger einzuwirken. Beispiele für diese ethisierende und moralisierende Funktion des Strafrechts ergeben sich aus Entscheidungen des BGH aus den 50er Jahren, in denen ausdrücklich auf das „Sittengesetz“ Bezug genommen wird. So führt etwa der BGH in einer Entscheidung zur „Kuppelei“ aus, das Sittengesetz habe dem Menschen die Einehe und die Familie als verbindliche Lebensform gesetzt, so dass „sich der Verkehr der Geschlechter grundsätzlich nur in der Einehe vollziehen soll und dass der Verstoß dagegen ein elementares Gebot geschlechtlicher Zucht verletzt“.23 Eine vergleichbare Argumentation findet sich auch in der Begründung des E 1962, in der für die Beibehaltung der Strafdrohung gegen die männliche Homosexualität angeführt wurde, die Rechtsordnung habe die Aufgabe, „durch die sittenbildende Kraft des Strafgesetzes einen Damm gegen die Ausbreitung eines lasterhaften Treibens zu errichten“.24

In seiner Kritik an dieser Funktionsbestimmung des Strafrechts knüpft Roxin unmittelbar an das liberalstaatliche Verständnis von den Aufgaben des modernen Staates an.25 Der Staat hat danach lediglich die Befugnis, „den einzelnen vor Übergriffen anderer in seine Persönlichkeitssphäre“ zu schützen und die Voraussetzungen für eine freie Entfaltung der Persönlichkeit zu schaffen. Keinesfalls darf es dem Staat aber erlaubt sein, den Bürger mit Moralvorstellungen zu bevormunden26 oder ihm diese aufzuoktroyieren. Dies gilt insbesondere dann, wenn über die Moralvorstellungen kein gesellschaftlicher Konsens zu erzielen ist und die Vorstellungen nur eine bestimmte gesellschaftliche Gruppierung repräsentieren, die über die als moralisch anerkannten Verhaltensweisen die Definitionsmacht inne hat. Daher darf das Strafrecht insbesondere keine einvernehmlichen Handlungen unter Strafe stellen, die lediglich gegen Gebote der Sittlichkeit verstoßen, ohne dass die Rechtsgüter Dritter oder der Allgemeinheit geschädigt werden. Mit dieser Forderung nach einer Beschränkung des Strafrechts auf die Aufgabe des Rechtsgüterschutzes liegt Roxin ganz auf der Linie des Alternativ-Entwurfs, der in § 2 Abs. 1 festlegt, dass Strafen und Maßregeln „dem Schutz der Rechtsgüter 22 Roxin, C.: JA 1980, 221 ff., 222.; ähnliche Ausführungen bei dems.: JA 1980, 546 ff., 546 (These 1) sowie zuletzt ders.: Strafrecht AT 1997, S. 11 ff. (§ 2, Rn. 1 ff.). 23 BGHSt 6, 53, 54. 24 BT Drucksache IV/650, S. 376. 25 Roxin, C.: ZStW 81 (1969), 613 ff.; ders.: JA 1980, 546 ff.; ders.: JA 1980, 221 ff. 26 Roxin, C.: SchwZStrR 104 (1987), 356 ff., 357.

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und der Wiedereingliederung des Täters in die Rechtsgemeinschaft dienen“ und der deshalb für den Bereich des Sexualstrafrechts27 für eine weitgehende Liberalisierung und Entkriminalisierung eintritt.28 Dabei sieht Roxin allerdings den Begriff des Rechtsguts als Maßstab der Begrenzung strafrechtlicher Eingriffsbefugnisse selbst als problematisch an und ist der Auffassung, „dass das Problem, welche Verhaltensweisen ein legitimer Gegenstand der Strafgesetzgebung sein dürfen, bis heute wissenschaftlich ungeklärt ist“.29 Seinen neueren Arbeiten liegt der Ansatz eines verfassungsrechtlichen Rechtsgutsbegriffs30 zugrunde, den er aus den „im Grundgesetz niedergelegten Aufgaben unseres auf die Freiheit des Einzelnen gegründeten Rechtsstaats“31 ableitet. Rechtsgüter sind danach „Gegebenheiten oder Zwecksetzungen, die dem einzelnen und seiner freien Entfaltung im Rahmen eines auf dieser Zielvorstellung aufbauenden sozialen Gesamtsystems oder dem Funktionieren dieses Systems selbst nützlich sind.“32

Neben dem Ausschluss bloßer Moralwidrigkeiten verbindet Roxin mit dem verfassungsrechtlichen Rechtsgutsbegriff weiterhin die Funktion der Abgrenzung gegen ideologische Zielsetzungen, die – da sie ebenfalls nicht den Status eines Rechtsguts inne haben – nicht mit den Mitteln des Strafrechts verfolgt werden dürfen. Im Rahmen der Auseinandersetzung mit den neueren Fragen des „Risiko- bzw. Gefährdungsstrafrechts“, die allerdings zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seiner Schrift „Kriminalpolitik und Strafrechtssystem“ noch nicht Gegenstand der 27 Der Gesetzgeber ist diesen Forderungen durch das erste (25.06.1969) und vierte (23.11.1973) Gesetz zur Reform des Strafrechts weitgehend nachgekommen. Das Sexualstrafrecht beschränkt sich nunmehr weitgehend auf nicht einvernehmliche sexuelle Handlungen und auf Verstöße gegenüber Kindern und Jugendlichen. Dieser Wandel schlägt sich auch in der veränderten Fassung der amtlichen Überschrift nieder. Bis zur Reform von 1969 trug der 13. Abschnitt des Besonderen Teils noch die Überschrift „Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit“. Heute bezieht sich der 13. Abschnitt neutraler auf „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“. 28 Vgl. etwa die Kritik Hanacks an den „Straftaten gegen die Sittlichkeit“ im Entwurf 1962: ZStW 77 (1965), 338 ff., 398 ff., zusammenfassend: 403–406. 29 Roxin, C.: JA 1980, 545 ff., 546. 30 In früheren Darstellungen [Tatherrschaft 1994 (1963), S. 413; Jus 1966, 377 ff., 382; ZStW 81 (1969), 613 ff., 623] formuliert Roxin seinen Rechtsgutsbegriff in Anlehnung an die liberalstaatliche Rechtsgutslehre Herbert Jägers (Rechtsgüterschutz 1957) und definiert Rechtsgut als: „. . . abgrenzbare, in der Außenwelt verwirklichte und deshalb durch äußeres Handeln zu beeinträchtigende werthafte Zustände, wie Leben, Gesundheit, Eigentum, Freiheit, der Willensbildung, die Funktionsfähigkeit der Staatsorgane und dergleichen“ (Tatherrschaft 1994, S. 413). Gegenüber seiner heute zugrunde gelegten Definition weist dieser Ansatz eine größere stoffliche Gebundenheit auf. Rechtsgüter sind hier noch nicht allgemein „Zwecksetzungen“, sondern es bedarf zumindest einer Verwirklichung in der Außenwelt. 31 Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 15 (§ 2, Rn. 9 ff.). 32 Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 15 (§ 2, Rn. 9 ff.).

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Diskussion waren und somit in seinem damaligen Systementwurf keinen Niederschlag finden, vertritt er eine vermittelnde Position und will Abgrenzungsschwierigkeiten durch Einzelanalysen der jeweiligen Deliktstatbestände begegnen. Das Rechtsgutsprinzip dient dabei als allgemeiner Maßstab, anhand dessen die Grenzen staatlicher Pönalisierungsbefugnisse verdeutlicht und abgewogen werden können. Grundsätzlich hat sich das Strafrecht aber auch in diesem Bereich zurückzuhalten. Die Lösung der Probleme, die mit dem Risiko- und Gefährdungsstrafrecht erfasst werden, sollte vorrangig durch außerstrafrechtliche Maßnahmen (wie zum Beispiel im Umweltstrafrecht durch öffentlich-rechtliche Auflagen oder der Androhung von Betriebsstilllegungen) erfolgen.33 bb) Strafrecht als ultima-ratio der Kriminalpolitik Auch beim Schutz von Rechtsgütern hat sich der Strafgesetzgeber nach den Forderungen Roxins, die auch insoweit dem Programm des Alternativ-Entwurfs entsprechen, zurückzuhalten. Das Strafrecht soll die ultima-ratio der Sozialkontrolle sein und nur dort eingreifen, wo andere sozialpolitische Maßnahmen oder eigene freiwillige Leistungen des Täters zum Schutz der Rechtsgüter nicht mehr ausreichen. In Anlehnung an Franz von Liszt sieht er daher die Kriterien der Subsidiarität und Effektivität als entscheidende Rechtfertigungsvoraussetzungen der Strafe an, die für ihn ein Bollwerk gegen die Tendenz des Gesetzgebers darstellen, sozialpolitische Gestaltungsaufgaben durch eine „Flucht in das Strafrecht“34 zu lösen. Dem Grundsatz der Subsidiarität entsprechen im Alternativ-Entwurf bestimmte sanktionenrechtliche Forderungen, aus denen sich der Vorrang selbstverpflichtender Maßnahmen gegenüber Zwangsanordnungen ergibt (z. B.: §§ 41 Abs. 3, 42 Abs. 4, 47 Abs. 2 AE) oder die Regelung des § 16 Abs. 2 AE, nach der der Täter bei „geringfügig fahrlässigem Verhalten“ straffrei bleiben sollte. Im Besonderen Teil ergibt sich aus dem Subsidiaritätsgrundsatz wiederum ein weitgehender Entkriminalisierungsbedarf, den die Autoren des Alternativ-Entwurfs vor allem im Bereich des „politischen Strafrechts“ und bei den Sexualdelikten sahen. Das Effektivitätsprinzip knüpft vor allem an kriminologische Erkenntnisse an, die sich wiederum in sanktionenrechtlichen Forderungen niederschlagen. Roxin (in Übereinstimmung mit dem sanktionenrechtlichen Konzept des AlternativEntwurfs, vgl. § 36 Abs. 1 AE: Das Mindestmaß der Freiheitsstrafe ist 6 Monate) tritt daher z. B. für die Abschaffung der kurzen Freiheitsstrafe ein, von deren schädlicher Wirkung er überzeugt ist. Im Besonderen Teil fordert er die

33 34

Vgl. im Einzelnen Roxin, C.: JA 1980, 546 ff., 547. Roxin, C.: ZStW 81 (1969), 613 ff., 621.

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Abschaffung „leerlaufender“, das heißt präventiv wirkungsloser Straftatbestände,35 bei denen er sich beispielhaft auf die Strafbarkeit des Ehebruches bezieht. Ein Straftatbestand, durch den der Ehebruch pönalisiert wird, dient zwar dem Schutz des verfassungsrechtlich fundierten Rechtsgutes der Ehe, ist aber nicht geeignet, den Ehebruch effizient zu verhindern. b) Der Zweck der Strafe aa) Kritik am Vergeltungsprinzip In der Diskussion um die legitimen Strafzwecke entwickelt Roxin bereits in frühen Beiträgen36 eine vergeltungsfreie Vereinigungstheorie, die ihren Niederschlag vor allem in der Fassung des § 59 AE gefunden hat. Nach dieser auch unter den Professoren des Alternativ-Entwurfs nicht unstreitigen Auffassung37 scheidet eine Legitimation der Strafe aus Gründen gerechter Schuldvergeltung vollständig, das heißt sowohl als „reine Vergeltungstheorie“ als auch, im Sinne einer Vereinigungstheorie in Verbindung mit präventiven Strafzwecken aus. Der Vergeltungsgedanke ist nach der Auffassung Roxins wegen seiner philosophischen und theologischen Wurzeln nicht mit dem Selbstverständnis des modernen demokratischen Rechtsstaats zu vereinbaren und deshalb aus dem Strafrecht zu verbannen. Denn nur „solange die Staatsgewalt aus göttlicher Autorität abgeleitet wird, ist es folgerichtig, den Richter als irdischen Vollstrecker des göttlichen Strafgerichtes anzusehen und seinem Spruch die Kraft zum Ausgleich menschlicher Schuld und zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit beizumessen. Da jedoch in der Demokratie alle Staatsgewalt (und somit auch die richterliche Gewalt) allein vom Volke ausgeht, hat der Richterspruch keine metaphysisch-theologische Legitimation, sondern eine ausschließlich rationale Grundlage im Willen der Bürger. Dieser Wille kann . . . nicht

35

Roxin, C.: ZStW 81 (1969), 613 ff., 622. Roxin, C.: JuS 1966, 377 ff.; ders.: ZStW 81 (1969), 613 ff., 616 ff.; ders.: MschKrim 1973, 316 ff. 37 Ein der Position Roxins vergleichbarer Standpunkt etwa von Gerald Grünwald [ZStW 80 (1968), 89 ff.] vertreten, der ebenfalls am Alternativ-Entwurf beteiligt war. Dezidiert ablehnend ist demgegenüber die Stellungnahme Wilhelm Gallas [ZStW 80 (1968), 1 ff.], der sich auch ausdrücklich gegen die Fassung des § 59 Abs. 2 AE wendet. Kritisch zu Roxins Auffassung von der nur limitierenden Funktion der Schuld auch Arthur Kaufmann: JZ 1967, 553 ff. Weitere Meinungen, vor allem aus dem Kreis der AE-Professoren, lassen sich dem Diskussionsbericht von Karl A. Friedrichs [ZStW 80 (1968), 119 ff.] zur Strafrechtslehrertagung in Münster (1967) entnehmen. Auch unter den Mitgliedern der großen Strafrechtskommission war die Grundhaltung insoweit allerdings nicht einheitlich. Insbesondere Eberhardt Schmidt, der letzte der damals noch lebenden Schüler von Franz von Liszt, bekennt sich (mit bestimmten Abstrichen) zu dem sanktionenrechtlichen Konzept des AE, vgl. hiezu dens.: ZStW 69 (1957), 359 ff., 370 ff. sowie dens.: NJW 1967, 1929 ff. 36

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. . . auf einen Schuldausgleich gerichtet sein, dessen Herbeiführung sich menschlicher Macht entzieht.“38

Die Vergeltungstheorie hat daher in einem säkularisierten Rechtsstaat keinen legitimen Platz. Sie ist nach der Auffassung Roxins darüber hinaus wissenschaftlich unhaltbar und kriminalpolitisch schädlich.39 Im Rahmen seiner Ausführungen zur wissenschaftlichen Unhaltbarkeit bezieht sich Roxin auf die Determinismus/Indeterminismus-Debatte40 und legt dar, dass der Streit um die Willensfreiheit sich nicht zu Lasten, sondern allenfalls zugunsten des Täters auswirken darf. Da Schuld Willensfreiheit begrifflich voraussetzt, gründet sich die Vergeltungstheorie daher auf eine bloße Vermutung, die jedenfalls nicht ausreichend ist, um einen staatlichen Eingriff in die Rechtspositionen seiner Bürger zu legitimieren. Kriminalpolitisch schädlich ist die Vergeltungsstrafe deshalb, weil von ihr kein Weg zu einem der wirksamen Verbrechensverhütung dienlichen Strafvollzug führt. Denn die mit bloßer Schuldvergeltung begründete Strafe liefert keine theoretischen und praktischen Anhaltspunkte für einen modernen Resozialisierungsstrafvollzug, mit dem die „sozialen Fehlhaltungen“,41 die zur Kriminalität geführt haben, korrigiert werden könnten. bb) General- und Spezialprävention als Legitimationsgrundlagen der Strafe Auf der Grundlage dieser fundamentalen Kritik des Schuldvergeltungsprinzips kommt Roxin zu der Schlussfolgerung, dass die staatliche Kriminalstrafe ausschließlich durch präventive Gesichtspunkte legitimiert werden kann. Dies ergibt sich schon aus der von ihm zugrunde gelegten Aufgabe des Strafrechts. Wenn diese nur darin besteht, den Schutz der individuellen Freiheit und einer ihr dienenden Gesellschaftsordnung herzustellen, dann darf auch die Strafe lediglich auf diese präventive Zwecksetzung bezogen sein. Die von ihm entwickelte vergeltungsfreie Vereinigungstheorie verbindet dabei die Strafzwecke der positiven und negativen Spezial- und Generalprävention, die aber nicht unverbunden neben einander stehen dürfen (sogenannte additive Vereinigungstheorie), sondern in einer übergreifenden Konzeption zueinander wechselseitig in Bezug gesetzt werden sollen. Innerhalb der präventiven Strafzwecke legt er den Schwerpunkt auf die positive General- und Spezialprävention, die gemeinsam die entscheidende Legitimationsgrundlage für die Strafe darstellen, den Eingriff in die Freiheitsrechte des Täters aber im Einzelfall auch jeweils alleine begründen können.42 38 39 40 41

Roxin, Roxin, Roxin, Roxin,

C.: C.: C.: C.:

MschrKrim 1973, 316 ff., 317. MschrKrim 1973, 316 ff., 317. JuS 1966, 377 ff., 378; ders.: MschrKrim 1973, 316 ff., 320. MschrKrim 1973, 316 ff., 317.

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Kap. 5: Funktionalismus der „Münchener Schule‘‘ um Claus Roxin

Bei der positiven Generalprävention unterscheidet Roxin zwischen drei verschiedenen, sich inhaltlich allerdings überschneidenden Teilkomponenten. An erster Stelle nennt er insoweit die von Jakobs (zumindest in früheren Arbeiten) und Frisch in den Vordergrund gestellte sozialpädagogische Funktion der „Einübung in Rechtstreue“ bzw. „Normanerkennung“. Daneben erkennt er einen Vertrauenseffekt, der sich dann ergibt, wenn die Normadressaten feststellen können, dass sich das Recht durchsetzt. Besondere Akzente legt er schließlich auf einen dritten, von ihm43 als „Integrationsprävention“ bezeichneten Teileffekt der positiven Generalprävention, mit dem er eine Einwirkung auf das „allgemeine Rechtsbewusstsein“ verbindet. Die Integrationsprävention, auf die im Zusammenhang mit der Funktion der Schuld noch näher einzugehen sein wird, kennzeichnet danach eine allgemeine „Befriedungswirkung“, die sich durch Sanktionierung des Unrechts einstellt und aufgrund deren schließlich der durch den Rechtsbruch entstandene Konflikt des Täters mit der Gesellschaft als erledigt angesehen wird. Neben diesen differenzierten Aspekten der positiven Generalprävention bezieht sich Roxin vor allem auch auf die positive Spezialprävention. In seinem Lehrbuch (Strafrecht AT Teil 1) vermag er zwar zahlreiche bekannte Kritikpunkte des Resozialisierungsgedankens aufzuzeigen,44 seine Veröffentlichungen aus früheren Jahren45 zeigen aber, dass er zumindest zu jener Zeit ebenfalls von der damals vorherrschenden Resozialisierungseuphorie ergriffen war und große Hoffnungen in differenzierte sozialpädagogische Interventionsprogramme setzte. Die durch die theoretischen Annahmen der Etikettierungsansätze46 und die empirischen Ergebnisse der Sanktionsforschung47 ausgelöste „Krisis“ des Resozialisierungsgedankens, mit der er sich in späteren Arbeiten48 (seit 1980) kritisch auseinandersetzt, führt bei ihm nicht zu einem maßgeblichen kriminalpolitischen Richtungswechsel und lassen ihn insbesondere nicht von dem Strafzweck der positiven Spezialprävention Abstand nehmen. Obwohl er den empirischen Erkenntnissen zur spezialpräventiven Effizienz bestimmter Sanktionen nicht grundsätzlich jede Bedeutung abspricht und auch die etikettierungstheoretischen Grundaussagen der sozial selektiven Kriminalisierung sowie der Ubiquität des 42

Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 54 ff. (§ 3, Rn. 34 ff.). Zuerst in der Bockelmann-FS 1979, S. 279 ff., 306; vgl. auch zusammenfassend Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 54 ff. (§ 3, Rn. 34 ff.). 44 Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 44 ff. (§ 3, Rn. 8 ff.). 45 Roxin, C.: JuS 1966, 377 ff.; ders.: ZStW 81 (1969), 613 ff. 46 Vgl. dazu die deutsche Rezeption des Labeling Approach durch Fritz Sack in: Sack, F./König, R. (Hrsg.): Kriminalsoziologie 1968, S. 431 ff.; kritisch dazu: Schneider, H.: MschrKrim 1999, S. 202 ff. 47 Vgl. dazu die Nachweise bei Göppinger, H.: Kriminologie 1997, S. 158 ff.; Vorbehalte gegenüber einer zu weitgehenden Interpretation der Ergebnisse der Sanktionsforschung bei: Bock, M.: ZStW 102 (1990), 504 ff. 48 Roxin, C.: JA 1980, 546 ff.; ders.: JA 1980, 221 ff., 226. 43

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kriminellen Verhaltens nicht vollständig verwirft, sondern als wichtige Anregung zur Erweiterung der kriminologischen Forschungsrichtungen aufnimmt, vermag er die von manchen Autoren aus diesen Erkenntnissen abgeleiteten radikalen Schlussfolgerungen49 nicht zu teilen. Die Ergebnisse der Sanktionsforschung sprechen nach seiner Interpretation dieser Befunde schon deshalb nicht gegen den Resozialisierungsansatz als solchen, weil trotz aller Bemühungen im In- und Ausland bislang noch kein erfolgversprechendes Konzept zur Behandlung Straffälliger entwickelt werden konnte.50 Nach dem Resümee Roxins stecken die Bemühungen um die Entwicklung eines „Sozialisierungsstrafrechts“ trotz aller „gut gemeinten“ Resozialisierungsprogramme noch in den Anfängen der Verwirklichung. Ohne insofern allerdings differenzierte Vorschläge zu unterbreiten, hebt er hervor, dass der Schlüssel für die spezialpräventive Effizienz der unterschiedlichen Sozialisationsprogramme in der Freiwilligkeit der Mitwirkung zu erblicken ist. Eine „Zwangs-Sozialisierung“ ist seiner Auffassung nach wegen eines Verstoßes gegen die Menschenwürde nicht nur verfassungswidrig, sondern auch pädagogisch und therapeutisch wirkungslos. Dieser Ansatz Roxins entspricht ganz der Konzeption des StVollzG, nach der die Bereitschaft des Gefangenen zur Mitwirkung an Behandlungsprogrammen durch das Vollzugspersonal zwar zu wecken ist, nicht aber – z. B. durch Disziplinarmaßnahmen – erzwungen werden darf.51

Dem Etikettierungsansatz kann er zwar insoweit folgen, als er von einer grundsätzlichen Disposition zu abweichendem Verhalten in allen Menschen ausgeht. Die aus dieser Grundannahme von den (radikalen) Vertretern dieser kriminologischen Schulmeinung abgeleitete These von der Ubiquität und Normalität kriminellen Verhaltens greift demgegenüber nach seiner Auffassung zu weit.52 Denn diese Vorstellungen sind allenfalls im Bereich geringfügigerer Delikte und Gelegenheitstaten von Jugendlichen und Heranwachsenden plausibel, bei verfestigter Kriminalität im Erwachsenenalter liegen nach Roxin aber mehrheitlich schwere Sozialisationsdefizite vor, die nur durch ein auf die Mitarbeit des Täters setzendes Resozialisierungskonzept wieder beseitigt werden können. Bei 49 Radikale Schlussfolgerungen im Sinne einer Abschaffung des Strafrechts werden etwa von Vertretern einer psychoanalytisch motivierten Kritik der Strafrechtspflege vorgetragen (z. B. Plack, A.: Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts 1974, vgl. dazu auch Kapitel 6 III. 2.). Vor allem aus den Ergebnissen der Sanktionsforschung und der hierauf beruhenden Austauschbarkeitsthese werden andere radikale Schlussfolgerungen – die Rückkehr zu einem rein vergeltenden Strafrecht – von den Vertretern des Neoklassizismus gezogen; vgl. dazu zusammenfassend Göppinger, H.: Kriminologie 1997, S. 175 ff. 50 Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 55, 56 (§ 3, Rn. 37 ff.). 51 Die entsprechende Bestimmung im StVollzG, § 4 Abs. 1 lautet: „Der Gefangene wirkt an der Gestaltung seiner Behandlung und an der Erreichung des Vollzugszieles mit.“ Sie wird von der h. M. im Sinne einer Mitwirkungsnotwendigkeit ausgelegt, so dass die fehlende Bereitschaft eines Gefangenen zumindest nicht unmittelbar geahndet werden darf; vgl. Calliess/Müller-Dietz: StVollzG 2001, § 4, Rn. 3, 4, m. w. N. 52 Roxin, C.: JA 1980, 221 ff., 226.

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diesen Erscheinungsformen der Straffälligkeit fehlt jedenfalls der entscheidende empirische Beleg für die etikettierungstheoretische Gleichverteilungsthese, die danach nicht als zutreffender Ausgangspunkt für kriminalpolitische Empfehlungen zum Umgang mit diesen Tätern gelten kann.53 Das Gewicht der positiven Spezialprävention in der straftheoretischen Grundkonzeption Roxins kommt auch darin zum Ausdruck, dass er im Fall einer Konkurrenz zwischen den Bedürfnissen der Resozialisierung und der positiven Generalprävention bis zu einer gewissen Grenze vom Vorrang der Resozialisierung ausgeht. Ein solches Konkurrenzverhältnis kann dann entstehen, wenn beide Präventionsziele unterschiedliche Strafgrößen erfordern. In einem solchen Fall begrenzen die Erfordernisse der Spezialprävention die aus Gründen der Generalprävention notwendige Strafe. Die äußerste Grenze, bis zu der die Strafe wegen der Bedürfnisse der Spezialprävention herabgesenkt werden darf, bildet das „generalpräventive Minimum“,54 das durch die Schwelle markiert wird, ab der die Sanktion „durch die Bevölkerung nicht mehr ernst genommen wird“. Ist diese Schwelle überschritten, wird ein Anreiz zum Nachahmen der Straftat geschaffen und das Vertrauen in die Rechtsordnung ist beeinträchtigt. Die genannten generalpräventiven Mindesterfordernisse können die Strafe auch dann legitimieren, wenn im Einzelfall keinerlei Bedarf an spezialpräventiver Einwirkung besteht. cc) Die limitierende Funktion der Schuld Trotz der geschilderten ausschließlichen Legitimation der Strafe durch präventive Zwecksetzungen entscheidet sich Roxin entgegen der Annahme verschiedener anderer Kritiker des Vergeltungsstrafrechts nicht für ein reines schuldunabhängiges Maßnahme- bzw. Maßregelrecht.55 Schon in seinen Schriften mit Bezug zur Strafrechtsreform der 60er Jahre legt er dar, dass er lediglich die eingriffsfundierende Wirkung des Schuldprinzips, nicht aber seine personfunktionale Limitierungsfunktion preisgeben möchte. Diese Position, an der Roxin bis heute festhält,56 kommt deutlich bereits in einem Aufsatz aus dem Jahr 1966 zum Ausdruck, in dem er seinen straftheoretischen Ansatz wie folgt zusammenfasst: „Insoweit als man der Person des Täters sein Tun zurechnen kann, ist er um der Gemeinschaft willen verpflichtet, die Strafe auf sich zu nehmen. Das ist nicht deshalb Rechtens, weil er sich aufgrund eines kategorischen Imperativs von anderen ein 53

Roxin, C.: JA 1980, 221 ff., 226. Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 56 (§ 3, Rn. 41). 55 Vgl. z. B. Plack, A.: Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts 1974; tendenziell auch Kargl, W.: Kritik des Schuldprinzips 1982, S. 402 ff., 406; Scheffler, U.: Kriminologische Kritik des Schuldstrafrechts 1985, S. 192 ff. (jeweils m. w. N.). 56 Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 59 ff. (§ 3, Rn. 48 ff.). 54

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Übel müsste zufügen lassen, sondern es ist legitim, weil er als Glied der Gemeinschaft für seine Taten zur Wahrung ihrer Ordnung nach dem Maße seiner Schuld einstehen muss. Er wird damit nicht als Mittel zu den Zwecken anderer benutzt, sondern, indem er die Verantwortung für das Schicksal aller mitträgt, in seiner Stellung als gleichberechtigter und -verpflichteter Staatsbürger bestätigt. Wer das als Rechtfertigung der Strafe nicht gelten lässt, muss öffentliche Pflichten und damit Sinn und Aufgabe des Staates überhaupt leugnen. Freilich muss man dann ernst machen mit dem Gedanken, dass schuldunangemessene Strafen schlechthin verboten sind. . . . Der generalpräventive Zweck der Bestrafung darf nur im Rahmen der individuellen Schuld verfolgt werden. . . . Das Schuldprinzip ist also, wenn man es von der Vergeltungstheorie trennt, mit der es meist irrigerweise als unlöslich verbunden angesehen wird, ein rechtsstaatlich unentbehrliches Mittel zur Begrenzung der staatlichen Strafgewalt.“57

Dieses Bekenntnis zu der personfunktionalen Limitierungsfunktion der Schuld entspricht im Wesentlichen den Vorschlägen des Alternativ-Entwurfs, der sich – wie bereits dargelegt – in § 2 Abs. 1 zwar ebenfalls für ein ausschließlich präventives Strafrecht ausspricht, in Abs. 2 aber ausdrücklich festhält, dass die Strafe „das Maß der Tatschuld nicht überschreiten“ darf. Im Unterschied zu der Konzeption des Alternativ Entwurfs, der sich mit dem Begriff der Tatschuld zur Konzeption der Lebensführungsschuld58 abgrenzt59 und damit auf ein bestimmtes herkömmliches Verständnis der Schuld60 festlegt, bleibt es bei Roxin aber zunächst unausgeführt, welcher Inhalt dem Begriff der Schuld bzw. dem Schuldprinzip beigemessen werden soll. In seinen Ausführungen in „Kriminalpolitik und Strafrechtssystem“, die sich auch auf die Systemkategorie der Schuld beziehen, distanziert er sich ebenso wie Jakobs zunächst von einem herkömmlichen Begriffsverständnis der Schuld als „empirisch schwer verifizierbare Kategorie des Andershandelnkönnes“61 und tritt für eine „Entzauberung“ bzw. „Entmythologisierung“62 des Schuldbegriffs ein. Hierbei bedient er sich zwar nicht der Methoden der Systemtheorie, er ge57

Roxin, C.: JuS 1966, 377 ff., 385. Mezger, E.: ZStW 57 (1938), 675 ff. 59 Baumann, J. u. a. (Hrsg.): Alternativ-Entwurf 1966, S. 29: „Die Bindung der Strafe an das durch die Tatschuld gesetzte Höchstmaß besitzt mehrfache Bedeutung. Einmal kommt dadurch zum Ausdruck, dass schuldhaftes Verhalten unabdingbare Voraussetzung jeder Strafe ist und bleibt. Rechtsstaatlich lässt es sich einzig verantworten, die Strafe durch die Tatschuld zu begrenzen. Die Lebensführungsschuld, die sich rechtlicher Erfassung entzieht, ist, wie dies auch der E 1962 ausspricht, abzulehnen.“ 60 Mit dem herkömmlichen Verständnis der Schuld ist eine Auffassung gemeint, die Schuld als individuelle Vorwerfbarkeit begreift und dieses Urteil an das Prinzip der Verantwortlichkeit und die grundsätzliche Fähigkeit des „Andershandelnkönnens“ im Sinne einer „unumstößlichen Realität unserer sozialen Existenz“ anknüpft, vgl. z. B. Wessels/Beulke: Strafrecht AT 2001, S. 123 [Rn. 369, 379 (zum vorstehenden Zitat)]; Schönke-Schröder-Lenckner, vor § 13, Rn. 107 ff.; Kaufmann, Arth.: JURA 1986, 225 ff. 61 Roxin, C.: Kriminalpolitik 1973, S. 15. 62 Vgl. Gallas, W.: ZStW 80 (1968), 1 ff., 3. 58

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langt aber – soweit er die geltenden Schuldausschließungs- und Entschuldigungsgründe systemfunktional deutet – zu einem mit der von Jakobs in „Schuld und Prävention“ dargelegten Position durchaus vergleichbaren Ergebnis. Bei der Schuld kommt es für ihn folglich nicht entscheidend auf das „Andershandelnkönnen“,63 sondern auf die Strafbedürftigkeit des Verhaltens unter präventiven Gesichtspunkten an.64 Deutlich zeigt sich diese kriminalpolitische Grundorientierung der Kategorie Schuld nach seiner Auffassung etwa beim entschuldigenden Notstand (§ 35 StGB). Bei den Zwangssituationen, die von diesem Entschuldigungsgrund erfasst werden, steht ersichtlich nicht die psychische Unmöglichkeit des Andershandelns im Mittelpunkt, denn „jeder Krieg hat gezeigt, dass Menschen notfalls auch Lebensgefahren bestehen können“.65 Der wahre Grund für die Exkulpationsmöglichkeit in § 35 StGB besteht vielmehr im Fehlen einer präventiven Notwendigkeit der Strafe. Das Strafrecht kann sich eine Exkulpation der Täter, die in den von § 35 StGB erfassten Situationen handeln, deshalb leisten, weil „die irreguläre Unwiederholbarkeit solcher Situationen general- und spezialpräventive Einwirkungen unnötig macht“.66 Anders als bei Jakobs führt dieser Ansatz bei Roxin aber nicht zu einer vollständigen Identifikation der Schuld mit systemfunktionalen Zwecksetzungen. In einer Serie von drei thematisch eng aufeinander bezogenen Festschriftbeiträgen67 und einem Aufsatz68 aus den Jahren 1977 bis 1987 legt er vielmehr dar, dass die Schuld zumindest auf der Ebene der Strafzumessung inhaltlich nicht durch präventive Zweckgesichtspunkte bestimmt sein soll. Dennoch ist eine herkömmlich verstandene Schuld, an welche die personfunktionale Limitierungsfunktion anknüpft, auch unter systemfunktionalen Gesichtspunkten nicht vollkommen zweckfrei. Sie dient – insoweit steht er der später von Frisch hervorgehobenen Konzeption nahe – in einem hier noch differenzierter zu analysierendem Umfang den Bedürfnissen der positiven Generalprävention: Soweit Roxin die personfunktionale Limitierungsfunktion der Schuld hervorhebt und diese von einer systemfunktionalen Interpretation der Exkulpationsregeln unterscheidet, differenziert er nicht nur zwischen zwei unterschiedlichen Funktionen des Schuldbegriffs, sondern auch zwischen zwei heterogenen Ebenen im Vorgang der richterlichen Urteilsfindung, auf der das Schuldprinzip eine jeweils andere Bedeutung entfaltet. Seine diesbezüglichen Überlegungen, die bereits in den beiden ersten Beiträgen der oben angesprochenen Publikations63 Vgl. hierzu aber den nachfolgenden Abschnitt II. 3., in dem Roxins Position zur Strafbegründungsschuld eingehend gewürdigt wird. 64 Roxin, C.: Kriminalpolitik 1973, S. 15. 65 Roxin, C.: Kriminalpolitik 1973, S. 34. 66 Roxin, C.: Kriminalpolitik 1973, S. 34. 67 Roxin, C. in: Schultz-FS 1977, S. 463 ff.; ders. in: Bruns-FS 1978, 183 ff.; ders. in: Bockelmann-FS 1979, S. 279 ff. 68 Roxin, C.: SchwZStrR 104 (1987), 356 ff.

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serie angedeutet werden, erhalten ihre begriffliche Transparenz in einem 1979 erschienen Beitrag in der „Festschrift für Paul Bockelmann“, in dem er sich der von seinem Schüler Achenbach69 entwickelten Unterscheidung zwischen Strafbegründungs- und Strafzumessungsschuld anschließt. Unter Strafbegründungsschuld versteht Achenbach den „Inbegriff der Momente, die die Verhängung der Strafe gegen den einzelnen Täter entweder rechtfertigen oder verhindern“.70 Die Strafbegründungsschuld ist daher auf das strafrechtsdogmatische System bezogen und repräsentiert eine Stufe im Deliktsaufbau, auf der bestimmte strafrechtsdogmatische Fragen wie zum Beispiel der Zurechnungsfähigkeit, Vorsatz und Fahrlässigkeit als Schuldformen oder Probleme der Verbotskenntnis diskutiert werden können. Die Strafmaß- oder Strafzumessungsschuld bezeichnet demgegenüber den „Anknüpfungstatbestand für die richterliche Strafzumessung“.71 Auf dieser Stufe können etwa Fragen nach dem unterschiedlichen Gewicht vorsätzlicher oder fahrlässiger Tatbegehung, den Differenzen zwischen Handlungs- und Erfolgsunwert oder der Relevanz von Faktoren thematisiert werden, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Tat stehen. In dem zuletzt genannten Beitrag hebt Roxin zunächst hervor, dass seine in „Kriminalpolitik und Strafrechtssystem“ dargelegten Überlegungen zum Verhältnis von präventiven Strafzwecken und Schuldbegriff vor allem die Kategorie der Strafbegründungsschuld betreffen. Diese Inhaltsbestimmung der Systemkategorie Schuld soll aber nicht72 unbesehen auch auf die Strafzumessungsschuld übertragen werden. Denn „bei der Strafbegründungsschuld geht es darum, ob der Täter überhaupt bestraft werden soll, also um die Frage: Konnte der Täter anders handeln? Bedarf sein Verhalten aus präventiven Gründen der Strafsanktion? Die Elemente, aus denen sich eine bejahende Antwort ergibt, lassen sich nicht ohne weiteres in der Weise ,steigern‘, dass man daraus die Höhe der Schuld ablesen könnte. Vielmehr ist die Höhe der Schuld von teilweise ganz anderen Umständen abhängig, wie sich schon aus § 46 Abs. 2 StGB und aus der Tatsache ergibt, dass sich die Strafzumessungslehre zu einer selbständigen wissenschaftlichen Disziplin entwickelt hat. . . . Die Funktion des Schuldprinzips ist bei der Strafzumessung keineswegs dieselbe wie bei der Strafbegründung, sondern bedarf einer durchaus eigenständigen Analyse.“73

Wendet man sich dieser Analyse im Einzelnen zu, so wird deutlich, dass die Strafzumessungsschuld nach der Auffassung Roxins inhaltlich zunächst vollkommen frei von präventiven Überlegungen sein soll. Die Strafzumessungsschuld ist daher auf die Person des Täters und das Ausmaß des durch die Tat 69 70 71 72 73

Achenbach, H.: Grundlagen der Schuldlehre 1974. Achenbach, H.: Grundlagen der Schuldlehre 1974, S. 4. Achenbach, H.: Grundlagen der Schuldlehre 1974, S. 4. Roxin, C. in: Bockelmann-FS 1979, S. 279 ff., 304. Roxin, C. in: Bockelmann-FS 1979, S. 279 ff., 304.

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verwirklichten Unrechts bezogen. Im Vordergrund stehen „Gerechtigkeitsvorstellungen“. Durch ein „Urteil der Rechtsgemeinschaft“ soll ermittelt werden, was „der Täter verdient hat“. Der sozialpsychologische Wertungsvorgang, der schließlich zu einem bestimmten, durch die Schuld abgesteckten Spielraum, nicht aber zu einer konkreten „Punktstrafe“74 führt, bezieht sich auf den „Wert des verletzten Rechtsguts“, das „Ausmaß der Verletzungen“ sowie auf die „Einstellung des Täters zur Tat“, für die es entscheidend z. B. auf die Differenzierung von Vorsatz und Fahrlässigkeit oder etwaige Einschränkungen der Steuerungsfähigkeit ankommt. Der Umrechnungsmaßstab dieser Kriterien in eine konkrete, die Höhe der Schuld weder überschreitende noch unterschreitende Strafe ist zwar von kulturellen Vorstellungen zur Schwere einer Tat abhängig; dies bedeutet allerdings nicht, dass die limitierende Funktion der Schuld dadurch relativiert wird. Indem auch unter einem rechtshistorischen Zusammenhang die Vorstellungen von einer gerechten, schuldangemessenen Strafe mit dem Bewusstseinszustand einer Gesellschaft in Verbindung gebracht werden können, lassen sich Vergleichsmaßstäbe bilden und Entwicklungslinien aufzeigen, vor deren Hintergrund eine konkret verhängte Strafe gegebenenfalls als nicht mehr zeitgemäß erscheint und entsprechend bewertet bzw. kritisiert werden kann. Obwohl daher die Strafzumessungsschuld alleine auf die Person des Straftäters und die begangene Tat bezogen ist, soll die hierauf folgende Strafe die Schuld nicht ausgleichen oder aufheben, sondern ausschließlich präventive Nützlichkeit entfalten. Die Schuldstrafe trägt ihren Sinn daher nicht in sich selbst, sondern sie ist ein „Instrument im Dienste eines sozialpolitischen Zweckes“.75 Mit diesem Ansatz greift Roxin einen bereits von Noll im Jahre 196676 entwickelten Gedanken auf und sieht entscheidende Wechselwirkungen zwischen einer herkömmlich verstandenen Schuld und dem Strafzweck der positiven Generalprävention, die er unter dem schon oben eingeführten Begriff der „Integrationsprävention“ zusammenfasst. Integrationsprävention bedeutet danach, dass sich die Höhe der persönlichen Schuld des Täters im Wesentlichen proportional zu den generalpräventiven Bedürfnissen verhält.77 Je größer das Ausmaß der individuellen Vorwerfbarkeit, desto ausgeprägter ist der generalpräventive Einwirkungsbedarf. Je geringer die Schuld ausfällt (z. B. weil die Voraussetzungen des § 21 StGB vorliegen), desto eher wird die Rechtsgemeinschaft auch eine niedrigere Strafe akzeptieren. Diese Akzeptanz der Strafe 74

Roxin, C. in: Schultz-FS 1977, S. 463 ff., 466. Roxin, C. in: Schultz-FS 1977, S. 463 ff., 467. 76 Noll, P. in: H. Mayer-FS 1965, S. 219 ff., 220: „Das geltende Strafrecht . . . ist . . . kein Schuldstrafrecht in dem Sinne, dass es seine Sanktion nach dem Gesichtspunkt der Schuldvergeltung bestimmen würde, sondern ein Rechtsgüterschutzrecht, das sich vornehmlich des Mittels der Generalprävention bedient und aus diesem Grunde des Schuldgedankens bedarf.“ 77 Roxin, C. in: Schultz-FS 1977, S. 463 ff., 466 ff. 75

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durch die Rechtsgemeinschaft hat weiterhin Bedeutung auch für die positive Spezialprävention: „Im Ergebnis jedenfalls entspricht die Schuldstrafe so oder so den Notwendigkeiten einer auf Integration und Befriedung abzielenden Generalprävention. Daraus folgt aber auch eine spezialpräventive Funktion der Schuldstrafe: Denn da der Delinquent selbst Mitglied der Rechtsgemeinschaft ist, wird er eine von der Allgemeinheit als gerecht empfundene Strafe auch seinerseits noch am ehesten annehmen und ihrem Appell zugänglich sein.“78

Diese von Roxin angenommenen Wechselwirkungen zwischen individueller Schuld, (positiver) Generalprävention und Spezialprävention führen aber nicht dazu, dass die Schuldstrafe auch im vollen Umfang ausgeschöpft werden muss und nur die an der Obergrenze der Schuld orientierte Strafe generalpräventiv nützlich ist. Die Strafe genügt vielmehr bereits dann den Anforderungen der positiven und negativen Generalprävention, wenn sie im unteren Teil des durch die Schuld abgesteckten Spielraums liegt.79 Diese Grundannahme wird von Roxin in seinem ein Jahr später erschienen Beitrag in der Festschrift für Bruns argumentativ weiter ausgebaut. Roxin setzt sich an dieser Stelle kritisch mit einer Entscheidung des BGH80 aus dem Jahr 1954 auseinander, in der sich das Gericht zur Spielraumtheorie bekennt und darlegt, dass der durch die Schuld als Ober- und Untergrenze abgesteckte Strafrahmen aus Gründen der negativen Generalprävention unter (im konkreten zu entscheidenden Fall bejahten) Umständen voll auszunutzen ist.81 Nach Roxin ist dies zumindest dann unzulässig, wenn unter spezialpräventiven Gesichtspunkten eine kürzere Strafe sinnvoll wäre. Denn den Gesichtspunkten der Generalprävention ist bereits durch die Festsetzung eines anhand des Maßstabs der Schuld gebildeten Spielraums ausreichend Rechnung getragen. Damit ist der Strafzweck der Generalprävention für den Akt der Strafzumessung verbraucht; insbesondere dürfen generalpräventive Gesichtspunkte (und zwar sowohl Aspekte der positiven wie auch der negativen Generalprävention) bei der Ausfüllung des Strafrahmens, d. h. bei der Festsetzung eines konkreten Strafmaßes keine Rolle mehr spielen. Dem entspricht nach seiner Auffassung auch der Wortlaut des § 46 Abs. 1 StGB, der in S. 2 ausdrücklich lediglich die Berücksichtigung der Belange positiver Spezialprävention fordert und die Generalprävention mit keinem Wort erwähnt. Demnach geht auch der Gesetzgeber davon aus, dass bereits die „schon schuldangemessene“ Strafe generalpräventiv ausreichend ist. Zusammenfassend kommt Roxin daher zu dem Ergebnis, dass eine Strafe, die 78

Roxin, C. in: Bockelmann-FS 1979, S. 279 ff., 305. Roxin, C. in: Schultz-FS 1977, S. 463 ff., 472: „Den Notwendigkeiten sozialintegrierender Generalprävention“ genügt vollauf schon „die mildeste schuldausgleichende Strafe“. 80 BGHSt 7, 28 ff. 81 Roxin, C. in: Bruns-FS 1978, S. 183 ff., 195 ff. 79

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„schon schuldangemessen‘ ist, also im unteren Teil des Spielraums liegt, . . . eo ipso den Erfordernissen der Ausgleichsprävention . . . genügt . . . Eine weitergehende Generalprävention ist nicht zulässig, so dass die Ausfüllung des Schuldspielraums allein nach spezialpräventiven Bedürfnissen erfolgen muss. Jede andere Auffassung ist auch . . . kriminologisch verfehlt.82 Denn es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass generalpräventive ,Zugaben‘ innerhalb des Schuldspielraums den ohnehin mehr als zweifelhaften ,Abschreckungseffekt‘ der Strafzumessung vergrößern könnten. Wortlaut und Sinnzusammenhang des Gesetzes erweisen also, . . . dass der Generalprävention bei der Strafhöhenbemessung nach § 46 StGB keine selbständige Bedeutung zukommt.“83

Roxin vertritt daher im Ergebnis eine Spielraumtheorie, bei der die Strafhöhe nach oben durch die Schuld und nach unten durch das generalpräventive Minimum begrenzt wird. Da er es zumindest nicht ausschließt, dass das „generalpräventive Minimum“ im Einzelfall unter der „schon schuldangemessenen“ Strafe liegt, stellt sich für ihn weiterhin die Frage, ob eine Unterschreitung der Untergrenze der Schuld zulässig ist. Bezüglich dieser von Roxin vor allem in der Festschrift für Hans Schulz84 diskutierten Frage ist zwischen seiner Auffassung de lege lata und de lege ferenda zu unterscheiden.85 De lege ferenda soll die Schuldunterschreitung grundsätzlich möglich sein. Denn es ist kriminalpolitisch nicht belegt, dass nur die schon schuldangemessene und nicht auch eine unterhalb dieser Schwelle liegende Strafe dem Schutz der Rechtsgüter dient und von der Rechtsgemeinschaft anerkannt wird.86 Dem entspricht der Gesetzesvorschlag des Alternativ-Entwurfs (§§ 2 Abs. 1, 59 Abs. 2 AE), der nur eine durch die Schuld abgesteckte Höchstgrenze vorsieht und einer Unterschreitung der Schuld jedenfalls nicht grundsätzlich entgegensteht.87

82

Insoweit beruft er sich auf Schöch, H.: Strafzumessungspraxis 1973, S. 86 ff. Roxin, C. in: Bruns-FS 1978, S. 183 ff., 197. 84 Roxin, C. in: Schultz-FS 1977, S. 463 ff., 473 ff. 85 Weniger deutlich ist diese Unterscheidung nach einer Position de lege lata und de lege ferenda in seinem Lehrbuch Strafrecht AT 1 1997, S. 60; kritisch dazu Hettinger, M.: JR 1994, 437 f., 438. 86 Roxin, C. in: Schultz-FS 1977, 463 ff., 476. 87 Eine andere Ansicht im Hinblick auf die Auslegung der einschlägigen Bestimmungen des AE wird von Grünwald, einem der Mitverfasser des AE vertreten, der der kriminalpolitischen Konzeption Roxins ansonsten sehr nahe steht. Grünwald ist der Auffassung, dass trotz des Wortlauts der §§ 2 Abs. 1, 59 Abs. 2 AE der Tatschuld unter dem Gesichtspunkt der Generalprävention eine nicht nur limitierende, sondern unmittelbar konstitutive Funktion zukommt. Daher ist eine Unterschreitung der Schuld aus Gründen der Generalprävention unzulässig. Begründet wird diese Auffassung im Wesentlichen durch eine Bezugnahme auf das empirische Nichtwissen über die Mechanismen der Generalprävention: „Angesichts unserer Unwissenheit über den Motivationsmechanismus der Abschreckung“ lässt sich die Frage der Untergrenze der Strafe nicht verlässlich anhand eines anderen Maßstabs als dem der Schuld bilden, Grünwald, G.: ZStW 80 (1968), 89 ff., 94; vgl. hierzu kritisch: Roxin, C. in: Schultz-FS 1977, S. 463 ff., 476 (Fn. 33). 83

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Das geltende Recht, das in § 46 StGB die für die Strafzumessung im engeren Sinne maßgebliche Bestimmung enthält, interpretiert er demgegenüber im Sinne eines Regel/Ausnahmeverhältnisses. In der Regel ist demnach die Schuldunterschreitung ausgeschlossen. Dies ergibt sich für Roxin wiederum aus der Tatsache, dass der Gesetzgeber in § 46 Abs. 1 StGB den Strafzweck der positiven Generalprävention vollständig unerwähnt gelassen hat und vorschreibt, dass die Strafzumessung auf der Grundlage der Schuld erfolgen soll.88 Die Fassung des § 46 StGB ist zwar nach ihrem Wortlaut im Hinblick auf die Frage der Schuldunterschreitung nicht eindeutig. Greift man aber auf den straftheoretischen Hintergrund der Bestimmung und den darin zum Ausdruck kommenden präventiven Gehalt der Schuldstrafe (im Sinne der Rahmentheorie) zurück, so ergibt sich, dass dem Gesetzgeber die Schuldstrafe „zur Erhaltung der Rechtstreue der Bevölkerung am besten geeignet erscheint und dass dieser Gesichtspunkt gewissermaßen das Rückgrad der Strafzumessung bilden soll“.89 In Ausnahmefällen, die vor allem dann anzunehmen sind, wenn die Schuldstrafe im konkreten Fall für den Täter eine entsozialisierende Wirkung haben würde, ist die Unterschreitung der Untergrenze der Schuld demgegenüber auch nach der Konzeption de lege lata zulässig.90 Dies ergibt sich für Roxin aus dem Gesamtzusammenhang des Gesetzes, der das Zurücktreten der Belange der Generalprävention gegenüber den spezialpräventiven Zwecküberlegungen in bestimmten Vorschriften, namentlich den §§ 47, 56 (und 67 Abs. 5) StGB durchaus vorsieht. So dürfen nach § 47 Abs. 1 StGB Freiheitsstrafen unter sechs Monaten ohne Rücksicht auf die Schuld des Täters nur dann verhängt werden, wenn besondere Umstände dies zur Einwirkung auf den Täter unerlässlich machen. Auch bei der primären Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung (§ 56 StGB), d. h. bei der Strafzumessung im weiteren Sinne, kommt es ausschließlich auf die Gesichtpunkte der positiven Spezialprävention an. Die Aussetzung darf mit Blick auf die Generalprävention nur dann versagt werden, wenn es sich um eine Strafe von mindestens sechs Monaten handelt (§ 65 Abs. 3 StGB: „Verteidigung der Rechtsordnung“). Außerhalb dieser Spezialbestimmungen ist im Einzelfall zu prüfen, ob die Unterschreitung der Untergrenze der schuldangemessenen Strafe zur Verhinderung einer entsozialisierenden Wirkung der Strafe geboten ist. Roxin geht dabei von der kriminologischen Annahme aus, dass insbesondere die Länge einer Freiheitsstrafe entsozialisierende Wirkung haben kann. Ob dies der Fall ist, be88

Roxin, C. in: Schultz-FS 1977, 463 ff., 473. Roxin, C. in: Schultz-FS 1977, 463 ff., 475. 90 Roxin, C. in: Schultz-FS 1977, 463 ff., 476. Anders die herrschende Spielraumtheorie, nach der die Schuld präventiven Zwecküberlegungen sowohl nach oben als auch nach unten Grenzen setzt; vgl. Streng, F.: Strafrechtliche Sanktionen 2002, S. 252 (Rn. 480) m. w. N.; vgl. aus der neueren Rechtsprechung ferner BGH NStZ 1992, 489 f.; BGHSt 43, 195 ff., 208. 89

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urteilt sich vorrangig anhand der persönlichen Verhältnisse des Täters. Ist der Täter zum Beispiel gut eingegliedert, kommt es im Wesentlichen darauf an, „die berufliche und familiäre Einordnung und die Verbindung zur Außenwelt zu erhalten“. Eine lange Freiheitsstrafe, die an der Untergrenze der Schuld bemessen ist, wäre hier aus spezialpräventiven Gesichtspunkten kontraproduktiv. Eine Untergrenze wird in diesen Fällen legitimerweise nur durch den generalpräventiven Mindestbedarf abgesteckt: „Wenn in solchen Fällen ausnahmsweise das Maß der Schuldstrafe unterschritten werden darf, wird die generalpräventive Komponente des Strafzumessungsaktes nicht beiseitegeschoben, sondern nur auf das Maß des zur Verteidigung der Rechtsordnung Unerlässlichen zurückgedrängt. Es kehrt sich nur die gesetzliche Abwägung der general- und spezialpräventiven Faktoren um: Während der Gesetzgeber im Normalfall die ,verdiente‘ Schuldstrafe als das generalpräventive Optimum zugrundelegt und darauf vertraut, dass die spezialpräventiven Zielsetzungen sich im Rahmen ihres Spielraums hinreichend . . . verwirklichen lassen, gestattet er, wenn die Verhängung einer schuldentsprechenden Freiheitsstrafe von vornherein erkennbar eine entsozialisierende Wirkung haben würde, deren Unterschreitung und vertraut umgekehrt darauf, dass der generalpräventive Effekt durch den Bremsklotz der Verteidigung der Rechtsordnung noch einigermaßen . . . erreicht wird.“91

c) Abgrenzung von der Schuldlehre Jakobs In dem letzten Beitrag der oben angeführten Publikationsserie92 grenzt sich Roxin im Wesentlichen von der vollständigen Ersetzung des Schuldprinzips durch die Kategorie der positiven Generalprävention in Gestalt der Schuldlehre Jakobs ab. Diese Arbeit aus dem Jahr 1987 ist ein geradezu leidenschaftliches Plädoyer für die personfunktionale Schutzfunktion des Schuldprinzips und lässt keinen Zweifel mehr daran, dass Roxin den Begriff der Schuld, zumindest auf der Ebene der Strafzumessung, nicht vollends in der Generalprävention aufgehen lassen möchte. Noch im Jahr 1976, dem Zeitpunkt des Erscheinens von Jakobs Schrift „Schuld und Prävention“, in der die systemfunktionale Interpretation der Schuld von diesem Autor erstmals dargelegt wird, d. h. ein Jahr vor dem ersten klarstellenden Aufsatz Roxins in der oben dargestellten Publikationsserie, scheinen beide Autoren demselben Spektrum der neuen Strafrechtswissenschaft zuzuordnen zu sein. Entsprechend sieht Schünemann in einem Überblick über das strafrechtliche Systemdenken anlässlich eines Symposions zu Roxins 50. Geburtstag noch im Jahr 1984 Roxin und Jakobs als Bundesgenossen und Wegbereiter ein und derselben „als zweckrational oder funktional zu bezeichnenden Phase des strafrechtssystematischen Denkens“ an,93 von der er sich „eine Erlösung des 91 92

Roxin, C. in: Schultz-FS 1977, S. 463 ff., 479, 480. Roxin, C.: SchwZStrR 104 (1987), 356 ff.

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Strafrechtssystems aus seiner traditionellen esoterischen Existenz“94 erhofft. Das kriminalpolitische Zielsetzungen absorbierende Systemdenken, das die Ansätze der Autoren in unterschiedlicher Radikalität des Denkens kennzeichnet und insbesondere die „Initialzündung“ zu dieser Epoche durch Roxin werden in dem aus Anlass des Symposions unter dem Titel „Grundfragen des modernen Strafrechtssystems“ veröffentlichten Sammelband als Beginn einer neuen Ära der Strafrechtsdogmatik gefeiert, „deren Verhältnis zu dem (trotz der weitverbreiteten eklektizistischen Welzel-Kritik zuvor gedanklich dominierenden) Finalismus mit der Ablösung durch das neukantianische Strafrechtsdenken“95 verglichen werden kann.96 Gleichwohl legt Schünemann, der heute als einer der Hauptkritiker Jakobs’ angesehen werden kann,97 bereits in einem weiteren Beitrag in dieser Schrift98 dar, dass die vollständige Ersetzung der Schuld durch die positive Generalprävention in Gestalt der Jakobs’schen Lehre mit einem rechtsstaatlichen Strafrechtsverständnis nicht zu vereinbaren sei. Auf die personfunktionale Limitierungsfunktion der Schuld, die ihre Wirkung sowohl auf der Ebene der Strafbegründung als auch im Bereich der Strafbemessung entfaltet, kann daher nach seiner Meinung in einem modernen, ausschließlich präventiv legitimierten Strafrecht nicht verzichtet werden. Das eigenständige, von präventiven Zwecksetzungen freie Schuldprinzip ist nach diesem Konzept das entscheidende Mittel zur „Domestikation der Zweckstrafe“.99 Denn eine reine Zweckstrafe lässt sich nach seiner Auffassung auch dann als präventiv erfolgversprechend begründen,

93

Schünemann, B. in: ders. (Hrsg.): Grundfragen 1984, S. 1 ff., 45. Schünemann, B. in: ders. (Hrsg.): Grundfragen 1984, Vorwort S. VIII. 95 Schünemann, B. in: ders. (Hrsg.): Grundfragen 1984, S. 1 ff., 45 ff. 96 Auch von anderen Autoren [z. B. Albuquerque, P. P. de: ZStW 110 (1998), 640 ff.] und grundsätzlichen Kritikern des „Funktionalismus“ werden Jakobs und Roxin als Vertreter einer Richtung angesehen, die den Funktionalismus lediglich in unterschiedlicher Radikalität vertreten, vgl. etwa Hirsch, H. J. in: Köln-FS 1988, S. 399 ff., 414 ff.; ders. in: Regensburg-FS 1993; 35 ff., 48 ff. 97 Vgl. aus neuerer Zeit Schünemanns Beiträge in: GA 1995, 201 ff., 219; ders. in: Hirsch-FS 1999, S. 363 ff., 373 ff.; ders. in: Roxin-FS 2001, S. 1 ff., 13 ff. (hier schlägt er vor, zur besseren Abgrenzung der Ansätze Jakobs und Roxins, die von dem erstgenannten Autor vertretene Richtung in der Strafrechtsdogmatik als „empiriefreien Normativismus“ zu bezeichnen.); sowie ders.: GA 2001, 205 ff., 219 (in diesem Beitrag wendet sich Schünemann vor allem den jüngsten Entwicklungen in der Strafrechtslehre Jakobs’, dem Konzept des „Feindstrafrechts“, zu). Das heutige Selbstverständnis Schünemanns kommt schließlich auch in seiner jüngsten Äußerung auf der Tagung „Moderne Tendenzen in Strafrechtswissenschaft und Kriminologie“ im Winter 2000 in Madrid zum Ausdruck. Im Anschluss an einen Beitrag von Jakobs ordnete er sich selbst die Rolle eines „Toreros“ zu, der „den Stier des funktionalistischen Systems von Jakobs niederzustechen habe“ [vgl. den Tagungsbericht von Porto, T. M.: ZStW 113 (2001), 632 ff., 638]. 98 Schünemann, B. in: ders. (Hrsg.): Grundfragen 1984, S. 153 ff. 99 Schünemann, B. in: ders. (Hrsg.): Grundfragen 1984, S. 153 ff., 179. 94

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wenn im Einzelfall z. B. der Nachweis der Schuld wegen Beweisschwierigkeiten nicht erbracht werden kann. Insofern sieht Schünemann keine unmittelbare Korrelation zwischen Schuld und präventiven Bedürfnissen und der Verzicht auf eine möglicherweise präventiv effiziente Strafe ist in diesen Fällen der Preis des „rechtsstaatlichen Luxus“, der gezahlt werden muss, damit der staatliche Eingriff in Form der Strafe nicht an dem utilitaristischen Prinzip „der Zweck heiligt die Mittel“, sondern an der Richtschnur der Achtung der Personenwürde (Art. 1 GG) orientiert ist.100 Diese Kritikpunkte Schünemanns werden von Roxin in dem Beitrag aus dem Jahr 1987 aufgegriffen und weiter ausgebaut. Um die Differenzen zu Jakobs – mit dem ihn dennoch Gemeinsamkeiten verbinden101 – herauszustreichen, greift er fünf programmatische verfassungsrechtliche, kriminologische, kriminalpolitische und strafrechtsdogmatische Kritikpunkte an der systemfunktionalen Interpretation der Schuld durch Jakobs heraus und betont die Unerlässlichkeit der personfunktionalen Limitierungsfunktion der Schuld auf der Ebene der Strafbemessung. Der Ansatz von Jakobs ist für ihn verfassungsrechtlich bedenklich, weil er das Individuum unter Verstoß gegen die Menschenwürde vollständig den gesellschaftlichen Nützlichkeitserwägungen unterordnet und als Mittel zur Herstellung eines gesellschaftlichen Zwecks macht. Diese „totale Instrumentalisierung“102 der Person ist auch kriminologisch nicht zu rechtfertigen. Denn nach dem derzeitigen Forschungsstand zu den Wirkungsmechanismen positiver Generalprävention ist vollkommen unklar, in welchem Umfang Strafe erfolgen muss, damit das „Ordnungsvertrauen der Bevölkerung“103 stabilisiert wird. Da insoweit ein dem Maßstab der Strafzumessungsschuld an Präzision und intersubjektiver Transparenz entsprechendes Kriterium der Eingriffsbegrenzung weitgehend fehlt, ist der einzelne Straftäter vollständig der Willkür der Gerichte ausgesetzt, die nach ihrem Belieben den generalpräventiven Bedarf ermitteln und festsetzen können. Diese Flexibilität, die zu einer prinzipiellen Variabilität und Unberechenbarkeit der Strafzumessung führt (2. kriminologischer Kritikpunkt), schadet der Einübung in Normanerkennung mehr als diesem generalpräventiven Zweck förderlich ist: „Denn jeder wird sich sagen: ,Wenn ich einmal in die Mühlen der Strafjustiz gerate, hängt Bejahung oder Verneinung der Schuld nicht von meiner Person, sondern von Faktoren ab, die mit mir nichts zu tun haben, so dass ich zum Spielball der jeweiligen Umstände werde.‘ Das kann dem ,Ordnungsvertrauen‘ des Bürgers nicht dienlich sein.“104 100

Schünemann, B. in: ders. (Hrsg.): Grundfragen 1984, S. 153 ff., 171. Vgl. dazu insbesondere unten (in diesem Kapitel II. 3.) zur Interpretation der Strafbegründungsschuld. 102 Roxin, C.: SchwZStrR 104 (1987), 356 ff., 365. 103 Roxin, C.: SchwZStrR 104 (1987), 356 ff., 366. 104 Roxin, C.: SchwZStrR 104 (1987), 356 ff., 366. 101

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Nach Roxin ist der Ansatz von Jakobs darüber hinaus kriminalpolitisch bedenklich, da das Prinzip der positiven Generalprävention aus den genannten kriminologischen Gesichtspunkten als selbständiges Mittel der Eingriffsbegrenzung untauglich ist. Wenn der Maßstab für die Höhe der Strafe empirisch unklar ist, lassen sich hieraus auch keine gesicherten Erkenntnisse ableiten, welche Strafe den Umfang des generalpräventiv Erforderlichen überschreitet. Im Anschluss an Schünemann stellt er heraus, dass die angenommenen Konnexität zwischen Schuld und Generalprävention nicht immer plausibel ist und insoweit ohne das Schuldprinzip kein vollständiger Schutz gegen generalpräventive Übertreibungen besteht. Schließlich kann das Schuldprinzip auch strafrechtsdogmatischen Gesichtspunkten nicht ohne weitere preisgegeben werden. Denn die einzelnen, aus der herkömmlich verstandenen Schuld abzuleitenden Ergebnisse, z. B. im Hinblick auf die Auslegung der Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB oder die Irrtumslehre, lassen sich aus den präventiven Überlegungen in Gestalt der Theorie der positiven Generalprävention nicht mit der für die Bedürfnisse eines Rechtsstaates ausreichenden Sicherheit ableiten.105 Mit diesen Kritikpunkten an dem Schuldverständnis Jakobs’ lassen sich die Ausführungen Roxins zur Kriminalpolitik und zu den Strafzwecken vorläufig abschließen. Roxin stellt sich zusammenfassend als Befürworter einer liberalsozialen Kriminalpolitik dar, der den personfunktionalen Schutzbedürfnissen der Staatsbürger vor dem Eingriff in ihre Freiheitsrechte ebenso zur Geltung verhelfen möchte wie allgemein den präventiven Zielsetzungen des Strafrechts. Diese kriminalpolitischen Grundentscheidungen stellen – wie Roxin zuerst in der Schrift „Kriminalpolitik und Strafrechtssystem“ darlegt – die „Substanz“ dar, die in die „Form“106 des Strafrechts transferiert werden soll.107 2. Methodologische Grundlagen Wie bereits in Kapitel 1 (III. 1., 2.) dargelegt, verfolgt Roxin dieses Anliegen durch einen Rekurs auf die wertbeziehende Methode des Neukantianismus. Die kriminalpolitischen Entschließungen sind für ihn die entscheidenden Wertvorstellungen, durch die der Bedeutungsgehalt der Systemkategorien Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld im Einzelnen bestimmt werden soll. Die konkrete Vorgehensweise im Rahmen dieser Begriffsbildungsmethodologie wird von Roxin in „Kriminalpolitik und Strafrechtssystem“ allerdings mehr programmatisch vorgestellt und an Beispielen veranschaulicht, als konkret methodisch expliziert. Bezieht man seine (weiteren) Beiträge zu Methodenproblemen der Rechtswissenschaft in die Betrachtung mit ein,108 so zeigt sich, dass er trotz des in 105 106 107

Roxin, C.: SchwZStrR 104 (1987), 356 ff., 362. Roxin, C.: Kriminalpolitik 1973, S. 40. Vgl. auch Roxin, C. in: Radbruch-GS 1968, S. 260 ff., 261.

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„Kriminalpolitik und Strafrechtsystem“ eingeschlagenen Weges und seiner zunächst nahezu polemischen Kritik an der Begriffsbildungsmethodologie des Finalismus nicht vollständig auf eine empirische Fundierung der strafrechtlichen Begriffe verzichten möchte. So unterscheidet er bereits in seiner Monographie „Täterschaft und Tatherrschaft“ aus dem Jahr 1963 bei der Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme zwischen vorgegebenen Differenzierungen109 und maßgebenden Wertungen und strebt eine Überwindung des Methodendualismus zwischen der wertbeziehenden und der sinnerfassenden Methode an, die er in einer Synthese miteinander verbinden will: „Die grundsätzliche Frage, ob bei der Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme von einer wertenden oder von einer sinn- und strukturerfassenden Methode auszugehen sei, ist, wie mir scheint, nicht einseitig im Sinne der einen oder anderen Denkrichtung zu entscheiden. Denn so sehr die Betrachtung des Rechtsstoffes als ein durch den Begriff und die Zweckbeziehung erst zu formendes gestaltloses Material oder im Gegensatz dazu als vorgegebener, schon in sich selbst sinnvoll gegliederter Bedeutungszusammenhang in der polemischen Zuspitzung antithetisch gegeneinander stehen mögen, so sehr bedarf die Rechtswissenschaft einer Synthese beider Methoden.“110

Unter der wertenden Methode versteht er dabei die aus dem kulturwissenschaftlichen Wissenschaftsverständnis durch die neukantianische Schule und insbesondere die so genannte südwestdeutsche Wertphilosophie (Lask,111 Windelband112 und Rickert,113 zusammenfassend Mittasch114) entwickelte, spezifisch geisteswissenschaftliche Methode der Strukturierung der Rechtsmaterie sowie die von dieser Schule präferierte Auslegung der Begriffe des Strafrechts nach dem geschütztem Rechtsgut. Rechtsbegriffe wie Handlung, Schuld oder der Täterbegriff erhalten nach dieser Auffassung ihre Bedeutung nicht über eine an empirischen Kriterien orientierte „naturalistische“ Deskription der entsprechenden Lebenssachverhalte. Sie sind vielmehr das Produkt einer kulturwissenschaftlichen Begriffsbildung, in der der Bedeutungsgehalt vornehmlich aus den zugrunde liegenden Wertvorstellungen abgeleitet wird.115 Da zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der strafrechtsmethodologischen Schriften des Neukantianismus das Strafrecht unter der Vorherrschaft des Naturalismus stand, dessen Grundverständnis im Wesentlichen auf dem sozialwissenschaftlichen Positivismus beruht, bezieht sich die Abgrenzung des Neukantianismus von der „naturalistischen

108 109 110 111 112 113 114 115

Roxin, C. in: Radbruch-GS 1968, S. 260 ff.; ders.: Tatherrschaft 1994, S. 4–32. Roxin, C.: Tatherrschaft 1994, S. 22. Roxin, C.: Tatherrschaft 1994, S. 19, 20. Lask, E.: Philosophie 1905. Windelband, W.: Geschichte und Naturwissenschaft 1915. Rickert, H.: Grenzen 1913. Mittasch, H.: Auswirkungen 1939. Roxin, C.: Tatherrschaft 1994, S. 8.

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Deskription von Lebenssachverhalten“ vor allem auf das für den strafrechtlichen Naturalismus charakteristische verengte Wirklichkeitsverständnis. Die Grenzen dieser Sichtweise und die veränderte Wahrnehmungsperspektive des Neukantianismus verdeutlicht Roxin, der die oben skizzierte Entwicklung differenziert rekonstruiert, am Beispiel der Täterlehre.116 Die rein naturwissenschaftlich kausale, „naturalistische“ Begriffsbildung führt aufgrund der Gleichartigkeit aller Bedingungen eines Erfolges entweder zum Einheitstäter, oder die Unterscheidung zwischen Täterschaft und Teilnahme muss in den subjektiven Tatbestand verlagert werden. Unter dem Eindruck des neukantianistischen Methodenverständnisses lässt sich dieser Ansatz nicht nur als für die spezifischen Aufgaben des Strafrechts ungeeignet kritisieren, sondern die wertbeziehende Methode schafft auch die Grundlage für eine eigene teleologische Täterlehre, die eine Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme über eine normative Bewertung der einzelnen Tatbeiträge erreicht.

Mit dem Begriff der sinn- und strukturerfassenden Methode, auf die Roxin in der oben zitierten Textpassage Bezug nimmt und die er mit der teleologischen Methode verbinden will, bezieht er sich nicht auf den angesprochenen Dualismus zwischen Neukantianismus und Naturalismus und damit auf die alten Gegner des Neukantianismus, sondern auf eine neue Kritik dieses Ansatzes in Gestalt der ontologisierenden Begriffsbildungsmethodologie Welzels und seiner Schule. Nach dieser Auffassung sind die strafrechtlichen Begriffe wiederum aus der Wirklichkeit und nicht unmittelbar aus „Wertvorstellungen“ oder „Wertideen“ abzuleiten. Wie bereits in Kapitel 1 (III. 3.) dargelegt, ist die „Wirklichkeit“, auf die in den ontologischen Lehren Welzels Bezug genommen wird, nicht mehr das Abbild des positivistischen Wissenschaftsverständnisses, sondern eine soziale Lebenswirklichkeit, die nicht auf das Sichtbare und Messbare reduziert ist, sondern vor allem auch im Hinblick auf den Sinn und die Bedeutung menschlicher Verhaltensweisen hinterfragt werden kann. Mit der Absicht einer Symbiose dieser beiden Ansätze, die Roxin eindeutig zumindest für die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme anstrebt,117 bezieht er sich daher auf eine Integration neukantianistischer und ontologisierender Betrachtung und erkennt an, dass der Bedeutungsgehalt der strafrechtlichen Grundbegriffe nicht vollkommen unabhängig von den empirischen Lebenssachverhalten ermittelt werden kann. Um dies argumentativ näher zu fundieren, greift er methodologische Beiträge der Neukantianer auf, in denen diese Perspektive ebenfalls angedeutet wird. Nach den Ausführungen des Neukantianers Emil Lask,118 auf den Roxin insoweit unter anderem Bezug nimmt, besteht eine Übereinstimmung des Bedeutungsgehalts spezifisch rechtlicher Begriffe mit ihrer alltagssprachlichen Bedeutung bzw. ihres empirisch-feststellbaren Sinngehalts insoweit, als sich diese Begriffe bis zu einem gewissen Grad an ihr „vor116 117 118

Roxin, C.: Tatherrschaft 1994, S. 4–13. Roxin, C.: Tatherrschaft 1994, S. 19, 20. Lask, E.: Philosophie 1905.

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rechtliches Substrat“ „anschmiegen“.119 Mit dieser bildlichen Umschreibung des Verhältnisses rechtlicher und vorrechtlicher Begriffsbedeutungen zielt Lask im Ergebnis darauf ab, bestimmte dieser Differenzierung zugängliche rechtlich relevante Begriffe in ihre „psychologisch-naturalistischen und ihre teleologischen Elemente“ zu zerlegen. Dieses Programm wird allerdings von Lask nicht selbst ausgeführt, sondern als Aufgabe einer „Methodologie der Zukunft“ propagiert.120 Roxin greift das Anliegen Lasks in dem von ihm entwickelten Täterbegriff auf, den er ausdrücklich als „Synthese sinnerfassender und zwecksetzender Betrachtungsweise“ versteht.121 Dieser methodische Standpunkt entspricht seinen neueren Stellungnahmen, nach denen das teleologisch-kriminalpolitische System nicht auf einen „reinen Normativismus“ hinausläuft und dem „Widerstand der Sache“ durch den „Kontakt mit der Wirklichkeit“ gerecht wird. Neben Roxin versucht neuerdings auch Schünemann eine Verbindung dieser beiden Ansätze zu erreichen. In seinem Beitrag in der Festschrift für Roxin im Jahr 2001122 ruft er (wie bereits zwei Jahre zuvor in seinem Beitrag in der Festschrift für Hirsch)123 zur „Versöhnung zwischen normativem Denken und Sachlogik“124 auf und skizziert am Beispiel des Schuldbegriffs, wie eine „gebotene Synthese“ zwischen „Ontologismus“ und „Normativismus“ aussehen könnte. So setzt sich nach seiner Auffassung der Schuldbegriff aus dem rein normativen Begriff der „Zumutbarkeit“ und dem rein empirischen Begriff der „individuellen Vermeidbarkeit“ zusammen.125 Beide Prämissen des Schuldvorwurfs weisen dabei unterschiedliche Schwierigkeiten auf. Während der Begriff der Zumutbarkeit nur durch kriminalpolitisch teleologische Argumente präzisiert werden kann und daher definitorische Schwierigkeiten bereitet, ergeben sich aus dem empirischen Begriff der individuellen Vermeidbarkeit vor allem Anwendungsprobleme, angefangen bei der Frage der Willensfreiheit, bis hin zu Diagnoseproblemen bei bestimmten Krankheitsbildern. Der herrschende so genannte normative Schuldbegriff ist daher für Schünemann ein typisches Beispiel für einen strafrechtlichen Grundbegriff, der aus ontologischen und normativen Prämissen zusammengesetzt ist. Daneben gebe es Begriffe (z. B. den Begriff des „unmittelbaren Ansetzens“), die einen kleinen, empirisch feststellbaren Bedeutungskern und zusätzlich einen unklaren, teleologisch auszufüllenden Begriffshof auf-

119

Lask, E.: Philosophie 1905, S. 42. Lask, E.: Philosophie 1905, S. 40. 121 Dabei kann an dieser Stelle nicht dargelegt werden, in welchem Verhältnis sich in der Täterlehre Roxins wertende und ontologisch-empirische Elemente wieder finden. 122 Schünemann, B. in: Roxin-FS 2001, S. 1 ff., 13 ff., 23 ff. 123 Schünemann, B. in: Hirsch-FS 1999, S. 363 ff. 124 Schünemann, B. in: Roxin-FS 2001, S. 1 ff., 13. 125 Schünemann, B. in: Roxin-FS 2001, S. 1 ff., 26. 120

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weisen und daher unter Bezug auf kriminalpolitische Zwecküberlegungen präzisiert werden müssten.126 Diese vermittelnde Auffassung, die Roxin und seine Schule heute auch in Abgrenzung von Jakobs ausdrücklich hervorheben, kommt allerdings weder in der schon oben (und in Kapitel 1 II.) angeführten Fundamentalkritik an der Begriffsbildungslehre Welzels127 noch in der hier zunächst im Mittelpunkt stehenden Schrift „Kriminalpolitik und Strafrechtssystem“ zum Ausdruck. Inwieweit Roxin tatsächlich eine Zusammenführung einer sinnerfassend-empirischen und damit an der sozialen Wirklichkeit orientierten Begriffsbildungsmethodologie mit der wertbeziehenden Begriffsbildungslehre realisieren kann, muss an den einzelnen dogmatischen Problemen rekonstruiert werden. 3. Einzelne Elemente des teleologisch-kriminalpolitischen Systems In „Kriminalpolitik und Strafrechtssystem“ werden die Grundbegriffe des „Unrechtstatbestandes“, der „Rechtswidrigkeit“ und der „Schuld“ jedenfalls ausschließlich unter Bezug auf bestimmte, von Roxin als wesentlich erachtete kriminalpolitische Entschließungen analysiert. Roxin ordnet den genannten Grundbegriffen zunächst jeweils eine spezifische kriminalpolitische Funktion zu, die in den weiteren Ausführungen an Detailfragen der jeweiligen Stufe des Deliktsaufbaus näher exemplifiziert wird. Der Tatbestand steht unter dem Leitmotiv der Gesetzesbestimmtheit und des nullum-crimen-Grundsatzes und dient daher nach der in der vorliegenden Arbeit zugrunde gelegten Begrifflichkeit im Wesentlichen personfunktionalen Schutzinteressen. Denn die Garantiefunktion des Strafrechts (Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB) mit ihren einzelnen Bedingungen in Gestalt des Ausschlusses von Gewohnheitsrecht („nullum crimen sine lege scripta“), des Analogieverbots zulasten des Täters („nullum crimen sine lege stricta“) und des Bestimmtheitsgebots („nullum crimen sine lege certa“) gewährleistet, dass der einzelne Bürger vorhersehen kann, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist,128 und schützt ihn vor einer nicht kalkulierbaren Ausweitung der Strafvorschriften sowie der Verschärfung von Strafen. Aus diesen personfunktionalen Schutzinteressen leitet Roxin bereits in „Kriminalpolitik und Strafrechtssystem“ Forderungen nach einer Begrenzung der strafrechtlichen Haftung etwa in bestimmten Fallgruppen der unechten Unterlassungsdelikte, im Bereich der Teilnahmelehre oder allgemein bezüglich der Auslegung von Tatbestandsvoraussetzungen der gesetzlichen Straftatbestände ab. In diesem Zusammenhang äußert er sich zum Beispiel auch kritisch gegen von ihm festgestellte 126 127 128

Schünemann, B. in: Roxin-FS 2001, S. 1 ff., 26. Roxin, C.: ZStW 74 (1962), 515 ff. BVerfGE 48, 48 ff., 56; 73, 206 ff., 234 ff.

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Tendenzen in der Rechtsprechung, einzelne Tatbestände unter Bezugnahme auf Bedürfnisse des Rechtsgüterschutzes extensiv auszulegen. Unter dem Gesichtspunkt des „nullum-crimen-Satzes“ ist nach seiner Auffassung das Gegenteil, nämlich eine „restriktive, die magna-charta-Funktion des Strafrechts und seine fragmentarische Natur aktualisierende Auslegung richtig“,129 der er durch „Interpretationsbehelfe“ wie zum Beispiel das „Geringfügigkeitsprinzip“ oder das Prinzip der Sozialadäquanz zur Geltung verhelfen will. Zumindest mittelbar sind personfunktionale Erwägungen darüber hinaus bei der Kategorie der Rechtwidrigkeit maßgeblich, der nach der Auffassung Roxins die Aufgabe der sozialen Konfliktlösung zukommt. Soziale Konfliktlösung bedeutet in diesem Zusammenhang, anhand der den Rechtfertigungsgründen zugrunde liegenden Prinzipien Maßstäbe zum Ausgleich konfligierender Individualinteressen zu entwickeln, die der Strafbarkeit des Einzelnen wiederum eindeutige und berechenbare, am „nullum-crimen-Prinzip“ orientierte Grenzen setzen. Sofern Roxin im Bereich der Rechtfertigungsgründe auf systemfunktionale Erwägungen Bezug nimmt, beschränkt sich dies auf das bei der Notwehr anerkannte Rechtsbewährungsinteresse, das die Eingriffsbefugnisse des sich auf den Rechtfertigungsgrund der Notwehr berufenden Täters in bestimmten Grenzen über die zum Selbstschutz notwendigen Maßnahmen erweitert, sofern die Geltung der Rechtsordnung durch den Angriff, dem sich der Handelnde ausgesetzt sieht, mehr als nur unmaßgeblich beeinträchtigt wird.130 Diese Überlegungen führen aber nicht zur Erweiterung, sondern zu einer Einschränkung der strafrechtlichen Haftung und sind deshalb im Hinblick auf die personfunktionalen Konsequenzen dieses der herrschenden Meinung entsprechenden Argumentationsansatzes unbedenklich. Auch bei den Rechtfertigungsgründen steht bei Roxin daher im Ergebnis der Schutz des Einzelnen vor dem Strafrecht im Vordergrund und es ist nach seiner Auffassung zum Beispiel nicht zulässig, die Strafbarkeit im Notwehrbereich „dadurch zu erweitern, dass man das Güterabwägungsprinzip generell auf diesen Rechtfertigungsgrund überträgt oder dass man das Rechtsbewährungsprinzip ablehnt und überall eine Ausweichpflicht annimmt, wo man sich einem Angriff entziehen kann“.131 129

Roxin, C.: Kriminalpolitik 1973, S. 23. Der systemfunktionale Aspekt der mit dem Prinzip der Rechtsbewährung verbunden ist, kommt auch in der Begründung des E 1962 (BT-Drucks. IV/650, 157), auf die Roxin in seinem Lehrbuch ausdrücklich Bezug nimmt [Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 550 (§ 15, Rn. 2)], deutlich zum Ausdruck: „Das Notwehrrecht schreckt auch in wirksamer Weise davor ab, Unrecht zu tun“. Daher wird der Individualschutz bei der Notwehr nicht nur im Rahmen der Verhältnismäßigkeit gewährt, sondern erlaubt zumindest grundsätzlich eine Beeinträchtigung von Rechtsgütern des Angreifers, die über die Verletzungen des Angegriffenen deutlich hinausgehen können: „Schließlich enthalten auch Angriffe gegen minder wertvolle Güter zugleich Angriffe gegen die Rechtsordnung als solche, die der Notwehrübende zugleich mitverteidigt.“ (BTDrucks. IV/650, 157). 131 Roxin, C.: Kriminalpolitik 1973, S. 31 f. 130

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Systemfunktionale Überlegungen, die ihn argumentativ in die Nähe des Standpunktes von Jakobs bringen, finden sich allerdings im Rahmen seiner Ausführungen zur Kategorie der (Strafbegründungs-)Schuld,132 in denen er – wie bereits oben dargestellt – für eine „Entzauberung“ und „Entmythologisierung“ des Begriffs der Schuld eintritt. Seine Ausführungen enthalten ausführliche präventive Deutungen der geltenden Exkulpationsregeln, ohne dass er differenziert zu den Inhalten der einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen und ihrer Auslegung Stellung nimmt. Ob und inwieweit Roxin das systemfunktionale Nützlichkeitsdenken, in dessen Dienst er die Strafbegründungsschuld stellt, noch durch ein herkömmlich verstandenes Schuldprinzip als „Notbremse“133 einschränken will, bleibt in „Kriminalpolitik und Strafrechtssystem“ daher weitgehend unklar.134 Neben seiner Analyse des § 35 StGB bezieht er sich vor allem auf Fragen der Irrtumslehre, bei denen die Problematik des so genannten Erlaubnistatbestandsirrtums im Vordergrund steht, sowie auf eine Deutung der Vorschriften über den Rückritt vom Versuch. Die hier jeweils gegebenen strafrechtsdogmatischen Fragestellungen versteht er der Sache nach allgemein als rechtspolitische oder spezifisch kriminalpolitische Probleme, die angemessen nur durch einen Bezug auf die Strafzwecke gelöst werden könnten. Bei der Irrtumskonstellation, die den Fällen des Erlaubnistatbestandsirrtums zugrunde liegt, geht es nach Roxin zum Beispiel um die Frage, ob der Delinquent135 aus dem Blickwinkel der spezifischen Aufgaben des Strafrechts die Strafe eines Vorsatztäters verdient. Da Roxin die Vergeltung als Strafzweck ablehnt, kommt es ihm insoweit grundsätzlich nur auf präventive Zwecksetzungen an. Unter Bezug auf seine früheren Ausführungen zur Behandlung des Irrtums im Entwurf 1962136 legt er 132

Roxin, C.: Kriminalpolitik 1973, S. 15. Hettinger, M.: JR 1994, 437 f., 438. 134 Daher konzentriert sich Kritik anderer Autoren an „Kriminalpolitik“ vor allem auf das an dieser Stelle dargelegte Schuldverständnis Roxins; vgl. insbesondere: Schöneborn, C.: ZStW 88 (1976), 349 ff., 364: Die „Bemühungen zur präventiven Umdeutung der Strafbegründungsschuld . . . müssen . . . daran scheitern, dass die Abschätzung der generalpräventiven Komponente im richterlichen Entscheidungsakt nicht sachgemäß durchführbar ist . . . und das Prinzip der Schuld unter dem Aspekt ausgehöhlt wird, gegen das es intentional gewendet ist“; Stratenwerth, G.: MschrKrim 1972, 196 f.: „. . . die Entscheidung über die Schuld kann schwerlich in direktem Rückgriff auf Erwägungen der Prävention getroffen werden, die zumeist viel zu komplex sind, als dass sie mit einzelnen Verbrechensmerkmalen, wie der Schuldfähigkeit oder der Unfreiwilligkeit eines Rücktritts starr gekoppelt werden könnten.“; Seelmann, K.: JURA 1980, 505 ff., 509; Dreher, E.: GA 1971, 217 f.: „Am wenigsten überzeugt mich die These Roxins, dass es bei der Schuld nur noch um die Frage gehe, ob der tatbestandsmäßig und rechtswidrig handelnde Täter Schuld verdiene. Im Rückzug auf eine solche Generalklausel, . . . mit der man alles oder nichts anfangen kann, vermag ich nur das Gegenteil eines Fortschritts zu sehen“; zurückhaltend dagegen: Amelung, K.: JZ 1982, 617 ff., 620. 135 Roxin, C.: Kriminalpolitik 1973, S. 34. 136 Roxin, C.: ZStW 76 (1964), 582 ff. 133

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dar,137 dass eine solche Annahme „völlig verfehlt wäre und in aller Regel selbst eine Fahrlässigkeitsbestrafung bei solchen Taten unnötig und unangemessen ist“. Vergleichbar argumentiert Roxin im Rahmen der von ihm als Schuldfrage angesehenen Problematik der Freiwilligkeit des Rücktritts vom Versuch. Freiwillig handelt der Täter dann, wenn sein Verhalten zu erkennen gibt, dass eine Einwirkung weder aus spezialpräventiven noch aus generalpräventiven Gründen erforderlich ist. Entscheidend für diese Abgrenzung nach präventiven Bedürfnissen sind die „Maßstäbe des Verbrecherhandwerks“. Bricht der Täter insoweit „unvernünftig“ die weitere Tatbegehung ab oder verhindert er deren Vollendung, bedarf es keiner Strafe. Etwas anders gilt aber dann, wenn er „nur deshalb zurücktritt, weil er beobachtet worden ist und eine Anzeige befürchtet“. Hier bestehe präventiver Einwirkungsbedarf, denn „die Notwendigkeit präventiver Einwirkung wird dadurch nicht vermindert; und das schlechte Beispiel, das der Täter gesetzt hat, lässt auch aus generalpräventiven Gründen eine Strafsanktion als erforderlich erscheinen“.138 4. Kritik aus personfunktionaler Sicht Die erste Analyse des von Roxin vertretenen „zweckrational-funktionalen“ Systementwurfs anhand seiner einführenden Schrift „Kriminalpolitik und Strafrechtssystem“ und der diese Konzeption leitenden kriminalpolitischen und straftheoretischen Grundlagen ergibt im Hinblick auf die Auswirkungen dieses Standpunktes auf die personfunktionale Konzeption des Strafrechts und das Ausmaß der systemfunktionalen Argumentation ein heterogenes Bild. Auf der einen Seite betont er den Schutzanspruch des Einzelnen vor dem staatlichen Zugriff in Gestalt des Strafrechts und versucht diesem vor allem durch die limitierende Funktion eines herkömmlich verstandenen Begriffs der Strafzumessungsschuld gerecht zu werden. Diese Bestrebungen werden flankiert von einer am Rechtsgutsbegriff orientierten Begrenzung der staatlichen Kriminalisierungskompetenz und das gleichfalls limitierende Prinzip des Strafrechts als ultima ratio der Sozialkontrolle und den „nullum crimen Grundsatz“, der die gesamte Tatbestandslehre beherrscht. Seine kriminalpolitische Haltung ist insgesamt betont restriktiv und stimmt nur deshalb nicht vollkommen mit der liberalen Grundhaltung einiger Frankfurter Strafrechtslehrer überein, weil er dem Plädoyer für einen Rückzug des Strafrechts auf ein „Kernstrafrecht“ mit Blick auf das insoweit mögliche „Klassenstrafrecht“ nicht folgen kann.139 137

Roxin, C.: Kriminalpolitik 1973, S. 35. Roxin, C.: Kriminalpolitik 1973, S. 37. 139 Insoweit folgt Roxin (Strafrecht AT 1997, S. 21, § 2, Rn. 29, 30) der Kritik Lüderssens (Abschaffen des Strafens? 1995, S. 11) an dessen Frankfurter Kollegen Hassemer (ZRP 1992, 378 ff.), Naucke (KritV 1993, 135 ff.) und Albrecht, P.-A. 138

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Auf der anderen Seite steht seine von einem personfunktionalen Standpunkt aus bedenkliche systemfunktionale Deutung der Strafbegründungsschuld, deren Umfang in den (in dieser Arbeit) bislang ausgewerteten Schriften Roxins aber noch nicht hinreichend sichtbar gemacht werden konnte. Die oben skizzierten Ausführungen in „Kriminalpolitik und Strafrechtssystem“ tendieren in Richtung einer vollständig systemfunktionalen Interpretation der einschlägigen Bestimmungen, wobei allerdings, abgesehen von der Freiwilligkeitsproblematik, unklar ist, ob diese Deutung entsprechend dem Ansatz von Jakobs auch in eine systemfunktionale Auslegung der maßgeblichen Tatbestandsvoraussetzungen einmündet. In seinem späteren Beitrag in der Schweizerischen Zeitschrift für Strafrecht140 korrigiert Roxin den Eindruck einer gänzlichen Funktionalisierung der Schuld, lässt aber offen, in welchem Verhältnis die herkömmlich interpretierte Schuld zu der präventiven Deutung und Funktionsbestimmung des Schuldbegriffs stehen soll. Ähnlich problematisch ist das von Roxin zugrunde gelegte Methodenverständnis. Die angestrebte Symbiose zwischen wertbeziehender und ontologisierender Begriffsbildungsmethodologie, durch die systemfunktionale Erwägungen in die strafrechtsdogmatischen Grundbegriffe integriert werden können, lässt offen, an welcher Stelle der „Widerstand der Sache“ der wertbeziehenden Betrachtung eine eindeutige Grenze setzt.141 Ob und gegebenenfalls in welchem Umfang Roxin zum Idealtypus der systemfunktionalen Strafrechtsdogmatik tendiert, bleibt daher der folgenden Analyse einzelner dogmatischer Problempunkte vorbehalten. Über die Problematik einer systemfunktionalen Interpretation der Schuld und die ungeklärte Methodenfrage hinaus ist allerdings auch der straftheoretische Grundansatz Roxins im Hinblick auf die personfunktionale Schutzfunktion des Strafrechts nicht unbedenklich. Auf den ersten Blick wird dem Schutzanspruch des Einzelnen gegenüber dem staatlichen Zugriff in Form der Kriminalstrafe (KritV 1993, 163 ff.). Während die zuletzt genannten Autoren sich gegen die Ausweitung des Strafrechts zu einem Instrument der Bekämpfung bestimmter (atomarer, chemischer und ökologischer) Risiken aussprechen und die Rückkehr zu einem Kernstrafrecht propagieren, sieht Lüderssen in diesen Forderungen die Gefahr eines Klassenstrafrechts. Dieser Kritik schließen sich sowohl Roxin als auch Schünemann an. Roxin (Strafrecht AT 1997, S. 21, § 2, Rn. 29) führt hierzu aus, der Dieb müsste Strafe erleiden, während begüterte Wirtschafts- und Umweltdelinquenten nur den milderen Sanktionen eines Interventionsrechts ausgesetzt wären.“ Noch pointierter sieht Schünemann (GA 1995, 201 ff., 207) in diesen Tendenzen die Gefahr eines „Atavismus“, wenn angesichts des „unermesslichen Plunders, zu dessen Produktion der ständige Raubbau an den natürlichen Ressourcen betrieben wird, . . . die meisten Umweltdelikte in den Ordnungswidrigkeitenbereich“ verlagert würden. 140 Roxin, C.: SchwZStrR 104 (1987), 356 ff. 141 Anders als in den neuesten Stellungnahmen Schünemanns (ders. in: Hirsch-FS 1999, S. 363 ff. und Roxin-FS 2001, S. 1 ff.), in denen dieser zur Versöhnung normativierender und ontologisierender Ansätze aufruft und zwischen normativen und ontologischen Begriffen differenziert, bleibt dieses Verhältnis bei Roxin in den bislang untersuchten Schriften undeutlich.

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zwar durch die limitierende Funktion der Schuld hinreichend Rechnung getragen. Da die Schuld aber keine eingriffsfundierende Wirkung hat und zumindest nach Roxins Konzept de lege ferenda nach unten keine Grenze mehr setzt, bleibt ein beträchtlicher, Ungleichheit produzierender Spielraum, der ausschließlich durch präventive Aspekte auszufüllen ist. Bereits nach der Konzeption de lege lata und dem von der Rechtsprechung vertretenen Konzept der Spielraumtheorie142 (bei dem die Schuld den präventiven Strafzwecken nach oben und unten eine Grenze setzt) sind relevante Unterschiede im Umfang und in der Ausgestaltung der Strafe möglich. Dies ergibt sich insbesondere auch aus der unterschiedlichen gesetzlichen Regelung der Strafzumessung im engeren und weiteren Sinne. Eine (auf der Grundlage der Schuld nach § 46 StGB bemessene) Freiheitsstrafe von 2 Jahren kann beispielsweise gemäß § 56 Abs. 2 StGB zur Bewährung ausgesetzt werden, ohne dass dem Verurteilten flankierende Auflagen und Weisungen auferlegt werden oder er einem Bewährungshelfer unterstellt wird. Dieselbe Strafe kann aber auch bis zur vollständigen Verbüßung in einer Anstalt des geschlossenen Strafvollzuges vollzogen werden, ohne dass der Betroffene in den Genuss von Lockerungen etwa nach den §§ 11, 13 StVollzG kommt. Ob die eine oder andere Variante eintritt, hängt nach der Konzeption de lege lata primär von spezialpräventiven und sekundär von generalpräventiven Gesichtspunkten ab und hat folglich nichts mehr mit dem in der Tat hervorgetretenen Unrecht zu tun. Schon vor diesem Hintergrund ist es denkbar, dass das gegenwärtig praktizierte System den vermeintlich eingegliederten und sozial anpassungsfähigen Täter privilegiert, dem zumal vor dem Hintergrund unsicherer Prognoseverfahren eher eine geringere Gefährlichkeit bescheinigt wird, als einem desintegrierten oder sonst sozial benachteiligten Verurteilten.143 Diese Gefahren potenzieren sich, wenn nach der Konzeption Roxins de lege ferenda bereits die Strafzumessung im engeren Sinne abgesehen von der Schuld als Obergrenze ausschließlich von präventiven Aspekten abhängig ist. Folgen Gesetzgeber und Gerichte diesem Konzept Roxins, so werden eingegliederte Täter, bei denen die Tat nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem sonstigen Sozialverhalten steht, sehr viel eher eine Strafe im aussetzungsfähigen Bereich erhalten als der auch ansonsten sozialauffällige unterprivilegierte Täter. Dann aber droht die Gefahr einer „Auffälligkeits- oder Gefährlichkeitsjustiz“, die Roxin, wie seine Kritik an der Rückkehr zum Kernstrafrecht erkennen lässt, gerade vermeiden möchte. 142

BGHSt 7, 28 ff., 32; 20, 264 ff., 266; 24, 132 ff., 133. So wurde zum Beispiel in der empirischen Untersuchung von Freimund, B. [Vollzugslockerungen 1990, (zusammenfassend) S. 233 f.] anhand eines Vergleichs von inhaftierten Wirtschaftsstraftätern mit wegen Diebstahls verurteilten Gefangenen festgestellt, dass die gesellschaftlich gut integrierten Wirtschaftsstraftäter sehr viel eher in den Genuss von Vollzugslockerungen kommen als die Gruppe der überwiegend schlecht eingegliederten Diebe, bei denen die Lockerungen als Behandlungsmittel aber besonders indiziert wären. 143

II. Strafrechtsdogmatische Schlussfolgerungen

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II. Strafrechtsdogmatische Schlussfolgerungen 1. Handlungsbegriff und Zurechnung a) Der Handlungsbegriff als das Produkt kulturwissenschaftlicher Begriffsbildung Da die Probleme von Handlung und Zurechnung systematisch in die Kategorie des Tatbestands gehören und diese unter dem personfunktionalen Leitgedanken des „nullum-crimen-Grundsatzes“ steht, ist zu erwarten, dass sich hier keine systemfunktionalen Argumentationsansätze finden. Um zu prüfen, ob der von Roxin entwickelte Handlungsbegriff diesen aus der kriminalpolitischen Funktionsbestimmung abzuleitenden Erwartungen entspricht, bedarf es einer zumindest überblicksartigen Diskussion seiner Publikationen zu diesem Themenbereich. Die Arbeiten Roxins zum Handlungsbegriff nehmen ihren Ausgangspunkt bei der schon in Kapitel 1 angesprochenen Kritik der finalen Handlungslehre.144 Die eigene Auffassung des Autors tritt zuerst in seinem Beitrag in der Gedächtnisschrift für Radbruch hervor.145 Die dort entwickelte „personale Handlungslehre“ wird von Roxin (und insbesondere seinem Schüler Rudolphi)146 noch heute vertreten.147 In dem zuerst genannten Beitrag,148 mit dem Roxin den berühmt gewordenen Schlagabtausch mit Welzel einleitet, erscheint die Diskussion um den Handlungsbegriff als ein Streit um die im Strafrecht maßgebliche Begriffsbildungsmethodologie. Argumentativ zugespitzt schließt sich Roxin dabei der neukantianischen Methode an und tritt der Auffassung Welzels entgegen, es sei möglich, einen von Bezügen zur (Straf-)Rechtswissenschaft unabhängigen Begriff der Handlung zu formulieren, der gleichwohl eine für das Strafrecht tragfähige Grundlage abgebe. Das mit dieser Kritik angesprochene Verhältnis zwischen empirischer Lebenswirklichkeit und rechtlichen Begriffen wird von Roxin sechs Jahre später in Anlehnung an die Terminologie Radbruchs als die Relation von Rechtsstoff und Rechtsidee erneut thematisiert und mündet an dieser Stelle in eine erste Beschreibung des Handlungsbegriffs als „personal zurechenbares Verhalten“ ein. Handlung ist danach alles, „was sich einem Menschen als Person, d. h. als geistiges Aktionszentrum, zuordnen lässt, sei es, dass er es willkürlich 144

Roxin, C.: ZStW 74 (1962), 515 ff. Roxin, C. in: Radbruch-GS 1968, S. 260 ff. 146 SK-Rudolphi, vor § 1, Rn. 16 ff.; ders. in: Schünemann, B. (Hrsg.): Grundfragen 1984, S. 69 ff. 147 Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 202 ff. (§ 8, Rn. 44 ff.); eingehende Analyse des von Roxin vertretenen Handlungsbegriffs bei Bunster, A. in: Roxin-FS 2001, S. 173 ff. 148 Roxin, C.: ZStW 74 (1962), 515 ff.; dagegen Welzel, H. in: Grünhut-Erinnerungsgabe 1965, S. 173 ff. 145

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getan oder gelassen hat, sei es, dass er es wenigstens hätte tun oder unterlassen sollen“.149 Entsprechend dem von Roxin zugrunde gelegten Methodenverständnis ist dieser Handlungsbegriff nicht das Produkt einer Abstraktion wesentlicher Merkmale der Handlung aus der empirischen Lebenswirklichkeit bzw. dem „Rechtsstoff“ in der Begrifflichkeit Radbruchs,150 sondern es handelt sich um die auf den Begriff gebrachte „Idee der Handlung“,151 die er aus einer Funktionsbestimmung des Handlungsbegriffs ableitet. Nach den zusammenfassenden Darstellungen Roxins in seinem Lehrbuch hat der Handlungsbegriff in der Strafrechtswissenschaft drei verschiedenen Aufgaben zu erfüllen: Im Sinne einer „Klassifikationsfunktion“ kommt dem Handlungsbegriff zunächst die Bedeutung zu, das Grundelement des Strafrechts darzustellen. Insoweit knüpft er an die bereits von Radbruch in den Vordergrund gerückte Aufgabe152 an, einen Oberbegriff für alle Erscheinungsformen strafbaren Verhaltens darzustellen und somit ein „Etwas“ zu bezeichnen, das „sich bei vorsätzlichen und fahrlässigen Taten ebenso wie bei Unterlassungsdelikten findet“.153 Daneben hat die Handlung die Funktion eines „Verbindungselements“. Der Handlungsbegriff muss daher einerseits neutral sein, und darf nicht die auf späteren Ebenen der Prüfung relevanten Wertungskriterien, das heißt die Prädikate „rechtswidrig“ und „schuldhaft“ vorwegnehmen. Anderseits muss er bereits so viel Inhalt und Aussagekraft besitzen, dass er die Prädikate der nachfolgenden Wertungsstufen überhaupt tragen kann.154 Schließlich hat er die Funktion eines „Grenzelements“ und muss ohne auf weitere Wertungsstufen zu rekurrieren, eine Abgrenzung zu solchen Verhaltensweisen ermöglichen, die für eine strafrechtliche Beurteilung von vornherein nicht in Betracht kommen. In dieser letzten Funktion bezieht sich Roxin daher auf die hier in den Mittelpunkt gestellte personfunktionale Abgrenzungsfunktion des Handlungsbegriffs, nach der es möglich sein muss, anhand einer Definition der Handlung bestimmte Verhaltensweisen wie Reflexe, Automatismen, Delirien usw. aus dem Kreis strafrechtlich zurechenbarer Sachverhalte auszuscheiden. Diese heterogene Aufgabenbestimmung des Handlungsbegriffs macht es in den Augen Roxins unmöglich und sinnlos, ihn definitorisch zu erfassen.155 149 Roxin, C. in: Radbruch-GS 1968, S. 260 ff., 262; vergleichbare Charakterisierung der Handlung bei SK-Rudolphi, vor § 1, Rn. 18. 150 Radbruch, G.: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie 1923/24, S. 343 ff. 151 Roxin, C. in: Radbruch-GS 1968, S. 260 ff., 262 spricht insoweit von einem „ideellen Maßstab“; vergleichbare Formulierung bei SK-Rudolphi, vor § 1, Rn. 23 von der „Idee der personalen Zurechenbarkeit“. 152 Radbruch, G.: Handlungsbegriff (1903) 1967. 153 Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 184 (§ 8, Rn. 1). 154 Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 184 (§ 8, Rn. 2, 3). 155 Roxin, C. in: Radbruch-GS 1968, S. 260 ff., 263.

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Seine Charakterisierung des Handlungsbegriffs als „personal zurechenbares Verhalten“ bzw. als „Persönlichkeitsäußerung“156 gibt daher lediglich das geistige Band an, durch das die disparaten, unter dem strafrechtlichen Blickwinkel sich als Handlung darstellenden Erscheinungen der Lebenswirklichkeit zusammengehalten werden. Seine nähere Präzisierung erhält der Handlungsbegriff nach Roxin daher erst im Kontakt mit dem Rechtsstoff, das heißt mit der sozialen Lebenswirklichkeit, zu der er im Rahmen der konkretisierenden Begriffsbildung in Bezug gesetzt wird.157 Nur dieser Weg führt nach der Überzeugung des Autors zu stoffadäquaten Lösungen der mit dem Handlungsbegriff verbundenen juristischen Sachfragen, und es gelingt, Lebenswirklichkeit und Rechtsidee sinnvoll aufeinander abzustimmen.158 Diese Konkretisierung des Begriffs „personal zurechenbares Verhalten“ ist im Einzelnen nicht von Roxin selbst, sondern von Rudolphi entwickelt worden. Dieser159 differenziert zunächst zwischen Handeln160 und Unterlassen als den beiden Grundformen menschlichen Verhaltens und stellt dar, unter welchen näheren Voraussetzungen ein Verhalten bei diesen unterschiedlichen Begehungsalternativen personal zurechenbar ist. Personale Zurechenbarkeit ist im Fall des Unterlassens nur dann gegeben, wenn der „Täter aufgrund seiner allgemeinmenschlichen Fähigkeit, die Folgen seines Tätigwerdens in bestimmten Grenzen vorauszusehen und seine Tätigkeit auf die Erreichung bestimmter von ihm selbst gesetzter Ziele hin planvoll zu lenken fähig ist“.161 Im Bereich des Handelns, bei dem der Täter den Geschehensablauf aktiv ausgelöst hat, differenziert Rudolphi wiederum zwischen zwei Grundtypen personal zurechenbaren Verhaltens. Der erste Grundtypus erfasst Fallgestaltungen, bei denen der Täter den Geschehensablauf final auf ein bestimmtes Ziel hin steuert. In diesem Fall gründet sich die personale Zurechnung darauf, dass der Täter „das Kausalgeschehen vorausgesehen, den sozialen Sinngehalt dieses Geschehens erkannt und dennoch, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, diesen Geschehensablauf durch einen Willensakt ausgelöst, ihn also beherrscht hat“.162 Zugerechnet werden dem Täter in dieser Fallgruppe zunächst diejenigen Folgen, die er als sichere oder auch nur als mögliche Nebenfolgen seiner Aktivität vorausgesehen hat. Darüber hinaus sind ihm allerdings auch solche Folgen zurechenbar, die ihm lediglich 156 Den Begriff „Persönlichkeitsäußerung“ führt Roxin erst in seinem Lehrbuch ein, Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 202 (§ 8, Rn. 44). 157 Entsprechender Standpunkt bei SK-Rudolphi, vor § 1, Rn. 22: „Das personal zurechenbare Verhalten als konkretisierungsbedürftiger Begriff.“ 158 Dieser methodische Ansatz wird von Roxin vor allem im Rahmen der Täterlehre näher veranschaulicht, vgl. dens.: Tatherrschaft 1994, S. 579 ff. 159 SK-Rudolphi, vor § 1, Rn. 17 ff. 160 Der Begriff des „Tuns“ wird von Rudolphi vermieden. 161 SK-Rudolphi, vor § 1, Rn. 26. 162 SK-Rudolphi, vor § 1, Rn. 26.

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mitbewusst sind. Der zweite Grundtypus personal zurechenbaren Verhaltens bezieht sich auf aktiv durch den Täter ausgelöste Geschehensabläufe, die außerhalb des Finalzusammenhangs liegen.163 Bei dieser Fallgruppe gründet die personale Zurechnung darauf, dass „der Täter fähig war, diese Geschehensabläufe als Folge seiner Willensbetätigung vorauszusehen, in ihrem sozialen Sinn und Bedeutungsgehalt geistig zu erfassen und daher durch ein finales Handeln zu beeinflussen . . . Im Bereich menschlichen Handelns sind folglich zwei in ihrer Struktur verschiedene Weisen personal zurechenbaren Verhaltens, die final gesteuerte Handlung einerseits und die final steuerbare Handlung andererseits, streng zu unterscheiden.“164 Obwohl Rudolphi im Rahmen seiner Konkretisierung der Idee der Handlung als „personal zurechenbares Verhalten“ auf subjektive Gesichtspunkte zugreift und z. B. mit dem Begriff des Mitbewussten auf ein Problem des Vorsatzbegriffes verweist, will er damit nicht notwendig auch einen Vorgriff auf weitere, außerhalb der Handlung liegende Zurechnungsebenen verbinden. Denn in einer Zusammenfassung seines Standpunktes hebt er ausdrücklich hervor, dass die genannten Grundtypen des personal zurechenbaren Verhaltens nicht mit vorsätzlichem Handeln einerseits und fahrlässigem Handeln andererseits identisch sein müssen. Entsprechend bezieht sich der Begriff der Finalität nach seiner Auffassung lediglich auf eine bestimmte ontologisch vorgegebene Struktur der Handlung und kennzeichnet einen bestimmten Grundtypus des Handelns. Darüber hinaus – insoweit schließt er sich der Kritik Roxins an der finalen Handlungslehre an – lässt sich aus dem Begriff der Finalität für die Aufgaben des Strafrechts aber nichts Relevantes ableiten. Insbesondere trifft dieser Begriff über den Inhalt des Vorsatzes (über den auf einer zweiten Zurechnungsstufe, dem subjektiven Deliktstatbestand zu entscheiden ist) keine Aussage. Die Unterschiede im subjektiven Bereich dienen Rudolphi demnach nur dazu, die strukturellen Unterschiede innerhalb der Phänotypen personal zurechenbaren Verhaltens zu verdeutlichen und die Bedingungen aufzuzeigen, die an das Vorliegen einer Handlung im strafrechtlichen Sinne zu knüpfen sind. Eine konkrete inhaltliche Aussage über den Umfang der objektiven oder subjektiven Zurechnung bestimmter Folgen der Handlung soll mit der Aussage, es liege eine Handlung im Sinne eines der genannten Typen vor, noch nicht verbunden sein. Anders als Roxin ordnet Rudolphi die zum Handlungsbegriff gehörenden Problemstellungen darüber hinaus in ein der Position Frischs und Freunds165 entsprechendes normtheoretisches Modell ein.166 Rudolphi differenziert ebenso wie Frisch und Freund zwischen Verhaltens- und Sanktionsnormen und verbindet mit diesen beiden Kategorien – wie die genannten Autoren – unterschiedliche kriminalpolitische Ziel163 164 165 166

SK-Rudolphi, vor § 1, Rn. 29. SK-Rudolphi, vor § 1, Rn. 30. Vgl. Kapitel 4 I. 1. Rudolphi, H.-J. in: Schünemann, B. (Hrsg.): Grundfragen 1984, S. 69 ff.

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setzungen. Die Verhaltensnormen dienen demnach unmittelbar dem Rechtsgüterschutz. „Ihr Zweck ist es, sozialschädliches Verhalten zu bekämpfen.“167 Adressat der Verhaltensnorm ist der Mensch in der Situation ex ante, vor Eintritt der Rechtsgutsverletzung. Dieser Ansatz ist für Rudolphi die entscheidende Grundlage für die Forderung, dass die Feststellung des Verhaltensnormverstoßes notwenig auf einem personal zurechenbaren Verhalten beruhen muss. Denn der Schutz der Rechtsgüter kann durch Verhaltensnormen nur dann realisiert werden, wenn sich diese auf „menschliche Reaktionsabläufe“ beziehen, „die einer bewussten Steuerung zugänglich sind“.168 Infolge dieser Zuordnung der Handlungsproblematik in die Rubrik der Verhaltensnorm rückt bei Rudolphi die personfunktionale Abgrenzungsfunktion in den Vordergrund und er bezieht sich im Wesentlichen auf den Handlungsbegriff als „Grenzelement“ strafrechtlicher Zurechnung.

Da der von Roxin und Rudolphi vertretene personale Handlungsbegriff seine entscheidenden Konturen folglich erst in der Konkretisierung einzelner Phänotypen der Handlung im unmittelbaren Kontakt zum heterogenen Rechtsstoff erhält, wird verständlich, dass Roxin in seiner grundlegenden Arbeit zum Handlungsbegriff weitgehend auf eine sprachliche Präzisierung des Inhalts der „Persönlichkeitsäußerung“ verzichtet. Seine Charakterisierung von Handlung als „alles, was sich einem Menschen als Person, das heißt als geistiges Aktionszentrum zuordnen lässt“, erscheint dabei als eine terminologische Kompromisslösung, um den Handlungsbegriff als „Idee“ sowohl für die Unterlassungsform als auch für vorsätzliches und fahrlässiges Tun kompatibel zu halten. Diese sorgfältige sprachliche Neutralisierung des Handlungsbegriffes lässt sich in beiden Ebenen nachweisen, die den Begriff der „Persönlichkeitsäußerung“ konstituieren.169 Auf der ersten Ebene, dem „geistigen Aktionszentrum“ bzw. der „Persönlichkeit“, versucht Roxin weitgehend auf den Begriff „Wille“170 oder „Entschluss“ zu verzichten, da dieser unmittelbar mit der vorsätzlichen Deliktsverwirklichung in Bezug gesetzt werden kann und für die fahrlässige Begehung zumindest missverständlich ist. Er präferiert daher eine allgemeine Umschreibung des inneren Sachverhalts durch Ausdrücke wie „Kontrolle“ durch das „Ich“ bzw. durch eine „geistig seelische Steuerungsinstanz des Menschen“.171 Auf der zweiten Ebene, der durch die geistig seelische Steuerungsinstanz bewirkten Folgen in der Außenwelt, spricht er lediglich allgemein von „Äußerung“172 und weicht damit 167

Rudolphi, H.-J. in: Schünemann, B. (Hrsg.): Grundfragen 1984, S. 69 ff., 75. Rudolphi, H.-J. in: Schünemann, B. (Hrsg.): Grundfragen 1984, S. 69 ff., 79. 169 Entsprechende Interpretation des Handlungsbegriffs Roxins bei Bunster, A. in: Roxin-FS 2001, S. 173 ff., 175. 170 In den Begriffen der „Willkürlichkeit“ oder der „Finalität“ sieht Roxin eine Reduzierung der Handlung auf „naturalistische Details“, die das anschauliche Phänomen der Persönlichkeitsäußerung eher verzerren als erhellen; Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 203 (§ 8, Rn. 46). 171 Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 202 (§ 8, Rn. 44). 172 Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 202 (§ 8, Rn. 44). 168

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Begriffen aus, die eine Verengung auf eine körperliche Bewegung nahe legen. Nur diese Begrifflichkeit ist nach seiner Auffassung geeignet, den Handlungsbegriff als „Grundelement“ für alle Erscheinungsformen deliktischen Verhaltens offen zu halten. Der personale Handlungsbegriff Roxins stellt sich nach den obigen Analysen als das Produkt einer spezifisch kulturwissenschaftlichen Begriffsbildung dar. Aus der Perspektive von Wertideen, das heißt den vom Handlungsbegriff zu erbringenden Funktionen, werden bestimmte Komponenten der sozialen Lebenswirklichkeit in den Blick genommen und begrifflich erfasst.173 Es entsteht eine Charakterisierung der Handlung, in der nur diejenigen Elemente aufgenommen werden, die für die besonderen Aufgaben des Strafrechts sachdienlich sind. Als ein auf die empirische Wirklichkeit bezogener Begriff erhebt diese Beschreibung der Handlung dabei gleichzeitig den Anspruch, sich trotz ihrer Abstraktionshöhe nicht zu weit von der Lebenswirklichkeit zu entfernen. Denn die Konkretisierung der „Persönlichkeitsäußerung“ ergibt sich erst im unmittelbaren Kontakt zu der sinnerfüllten und bereits begrifflich vorgeformten Lebenswelt und selbst der Grundbegriff des personal zurechenbaren Verhaltens will sich zu dieser Vorstrukturierung nicht in Widerspruch setzen, sondern auf ihr aufbauen.174 Roxin hebt deshalb (in Anlehnung an Engisch) ausdrücklich hervor, dass sein personaler Handlungsbegriff der „natürlichen sozialen Welt der alltäglichen Erfahrung“ entspricht und an ein vorstrafrechtliches Verständnis von Handlung anknüpft, ohne sich dabei in naturalistischer (wie die ,Muskelbewe173 Deshalb hebt Roxin [Strafrecht AT 1997, S. 215 (§ 8, Rn. 73)] hervor, dass es sich bei seinem Handlungsbegriff um einen „normativen Begriff“ handelt: „Er ist normativ, indem das Kriterium der Persönlichkeitsäußerung von vornherein den entscheidenden Wertungsaspekt bezeichnet, auf den es hier bei der Handlungsprüfung rechtlich ankommt. 174 Nach dem kulturwissenschaftlichen Wissenschaftsverständnis ist (wie in Kapitel 1 III. 3. ausführlich dargelegt) eine unvoreingenommene, quasi protokollartige sprachliche Abbildung der Wirklichkeit nicht möglich [Kritik an der naiven Abbildtheorie (Rickert, H.: Grenzen 1913; Windelband, W.: Geschichte und Naturwissenschaft 1915)]. Jede Begriffsarbeit ist daher eine selektierende und abstrahierende Tätigkeit des Bewusstseins, durch die nur bestimmte, für die zu treffende Aussage wesentliche Komponenten der Wirklichkeit angegeben werden. Wenn die rechtswissenschaftlichen Begriffe auf der begrifflich vorgeformten Lebenswirklichkeit aufbauen sollen, so ist damit eine „Begriffsarbeit zweiten Grades“ (Radbruch, G.: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie 1923/24, S. 343 ff., 347) angesprochen. Schon die Begriffe der Lebenswelt formen ihren Gegenstand. Das heißt, bereits der alltagsweltliche Begriff der Handlung enthält maßgebliche Abstraktionen und Kürzungen und ist nicht als ein Abbild der Wirklichkeit zu verstehen. Da die Rechtswissenschaft auf diese Alltagswelt (die soziale Lebenswirklichkeit) bezogen ist, darf sie sich zu deren Begrifflichkeit einerseits nicht in Widerspruch setzen. Andererseits kann sie aber auch nicht einfach die alltagsweltlichen Begriffe übernehmen, denn die Strukturierung der Lebenswirklichkeit für die Zwecke der Rechtswissenschaft unterliegt spezifischen Relevanzkriterien (z. B. die vom Handlungsbegriff zu erbringenden Leistungen), die sich von denen des Alltags wesentlich unterscheiden können. Auf dieses Wechselspiel zwischen „Stoff“ und „Idee“ nimmt Roxin in seiner Darstellung des Handlungsbegriffes Bezug.

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gung‘) oder normativistischer Weise (wie die ,vermeidbare Nichtvermeidung‘) von der gewöhnlichen Lebensauffassung zu entfernen. Dieser Handlungsbegriff kann nach Auffassung Roxins die beiden weiteren Aufgaben, die Verbindungsfunktion und die Abgrenzungsfunktion sachgerecht wahrnehmen und die hier gegebenen Probleme adäquat lösen. Er stellt ein Verbindungselement dar, an „das sich alle ferneren strafrechtlichen Wertungen, ohne dass sie dadurch präjudiziert würden, zwanglos anschließen lassen“.175 Die Überlegenheit des personalen Handlungsbegriffs als Grenzelement demonstriert Roxin anhand von Fallgruppen, die soweit wie möglich an einer Rechtsprechungskasuistik veranschaulicht werden. Da es an einer Äußerung, an einer Manifestation in der Außenwelt fehlt, sind zum Beispiel Gedanken, Gesinnungen, Einstellungen oder Gemütsregungen keine Handlungen. Im Fall des Unterlassens liegt demgegenüber eine Äußerung und damit eine Handlung vor, denn hier kann ein Außenweltgeschehen einer bestimmten Person zugerechnet werden. Keine Äußerung der Persönlichkeit liegt ferner dann vor, wenn der Körper lediglich als „mechanische Masse“ wirkt und eine Einflussnahme durch die „geistig-seelische Steuerungsinstanz“ nicht gegeben ist. Eine Handlung ist daher auszuschließen im Fall der Bewusstlosigkeit, der Narkose, im hochgradigen Delirium, bei vis absoluta, im Fall eines epileptischen Krampfanfalles oder bei unbeherrschbarem Erbrechen.176 Im umstrittenen Grenzbereich von Reflexen, Automatismen und Taten im hochgradigen Affekt kommt Roxin überwiegend ebenfalls zu Ergebnissen, die mit der herrschenden Meinung in der strafrechtlichen Literatur übereinstimmen. Dabei bestimmt er die Grenze zwischen Naturereignissen und Persönlichkeitsäußerungen im Wesentlichen anhand eines normativen Maßstabs. Eine Persönlichkeitsäußerung liegt vor, solange „wir es mit Anpassungsleistungen des seelischen Apparates an Gegebenheiten oder Ereignisse der Außenwelt zu tun haben“.177 Obwohl Roxin betont, dass diese nähere Definition der „Persönlichkeitsäußerung“ auch mit naturwissenschaftlichen Befunden zum Handlungsbegriff übereinstimmt, kommt es ihm bei den Problemstellungen, die mit dem Terminus der „Anpassungsleistung“ verbunden sind, entscheidend auf normative Kriterien und nicht auf naturwissenschaftlich-empirische Erkenntnisse (bzw. „ontische Erkenntnisse“) an.178 Dabei lässt er allerdings offen, nach

175

Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 206 (§ 8, Rn. 53). Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 211 (§ 8, Rn. 64). 177 Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 214 (§ 8, Rn. 70). 178 Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 214 (§ 8, Rn. 72); dieser Standpunkt wird geteilt von Rudolphi (in: SK, vor § 1, Rn. 19a): „In diesem Grenzbereich ist daher die Frage nach der Beherrschbarkeit einer bestimmten körperlichen Aktion keine rein empirische, vom psychologischen Sachverständigen allein zu beantwortende Frage, sondern auch und in erster Linie ein vom Richter zu lösendes Wertungsproblem (Hervorhebung im Original). Er hat i. e. die Anforderungen festzulegen, die an den Menschen bei der Steuerung seines Verhaltens zu stellen sind, also etwa zu entscheiden, welche 176

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welchen konkreten normativen Maßstäben sich die Abgrenzung zwischen Handlung und Nicht-Handlung in diesem Grenzbereich richten soll. Auch in seiner Besprechung bestimmter Fallgruppen aus der Rechtsprechung tritt der normative Abgrenzungsmaßstab nicht hervor, denn seine Argumentation bezieht sich insoweit ausschließlich auf bestimmte empirische Gesichtspunkte. So liegt nach seiner Auffassung bei Reflexen „wenn auch ohne bewusste Reflexion – eine psychisch vermittelte, zielgerichtete Abwehrbewegung vor“179 und das „Torkeln eines Betrunkenen“ ist „immer noch ein (vielleicht kaum bewusster und nur mehr oder weniger geglückter) Gehversuch“180 und deshalb eine Handlung. b) Kritik aus personfunktionaler Sicht Obwohl Roxin bei seinen Analysen des Handlungsbegriffes nicht explizit auf die kriminalpolitische Funktion des Tatbestandes Bezug nimmt und der nullumcrimen-Grundsatz, der in dieser Rubrik Bedeutung entfalten soll, als Leitprinzip wohl auf die Tatbestandslehre im engeren Sinne und die Auslegung bestimmter Tatbestandsvoraussetzungen beschränkt ist, trägt seine „personale Handlungslehre“ den personfunktionalen Bedürfnissen181 im Wesentlichen angemessen Rechnung. Denn der personale Handlungsbegriff Roxins erweist sich in dem oben stehenden Resümee als ein taugliches Grenzelement gegenüber Verhaltensweisen, die nicht als Handlungen bezeichnet werden können, und dient daher als erster systematischer Filter zur Verneinung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit. Da der Handlungsbegriff Roxins somit auf die Person des Straftäters bezogen ist und sich zumindest nicht in Widerspruch zu einem vorrechtlichen Verständnis von Handlung setzen will, erscheint es allerdings problematisch und missverständlich, diese Handlungslehre (und ihre Weiterentwicklung durch Rudolphi) als eine normative Handlungslehre ontologischen Handlungslehren polarisierend entgegenzusetzen.182 Der Handlungsbegriff Roxins ist insoweit ontoloAnstrengungen der Mensch auf sich zu nehmen hat, um einem äußeren oder inneren Handlungszwang zu widerstehen.“ 179 Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 212 (§ 8, Rn. 66). 180 Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 213 (§ 8, Rn. 69). 181 Zu der Bedeutung des Handlungsbegriffs in einer personfunktionalen Konzeption des Strafrechts vgl. bereits Kapitel 3 III. 1. d). 182 Insofern ist es zumindest missverständlich, wenn Roxin [ZStW 74 (1962), 515 ff., 562] selbst in seiner Kritik an der finalen Handlungslehre zum Handlungsbegriff zusammenfassend ausführt: „Das ganze ist eine Sinn- und Wertungsfrage und kann allein durch teleologische Erwägungen, die an der Art des jeweiligen Rechtsstoffes orientiert sind, gelöst werden. . .“. Heute [Strafrecht AT 1997, S. 215 (§ 8, Rn. 73)] versucht er das von ihm zugrunde gelegte Wechselspiel zwischen Empirie und Wertung durch den Gegensatz „normativ“ und „normativistisch“ zu kennzeichnen: Der personale Handlungsbegriff „ist normativ, indem das Kriterium der Persönlichkeits-

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gisch, als er einen bestimmten empirisch gegebenen Ausschnitt der Lebenswirklichkeit zutreffend begrifflich erfassen will. Er ist daher im Gegensatz zu dem Handlungsbegriff von Jakobs kein reines Produkt einer von bestimmten systemfunktionalen Bedürfnissen geleiteten Konstruktion der Wirklichkeit, sondern unmittelbar auf die empirische Lebenswelt bezogen183 und damit zumindest prinzipiell offen für eine empirische Falsifikation. Gesetzt den Fall, es gelänge der Nachweis, dass Verhaltensweisen im Zustand hochgradiger Trunkenheit ausschließlich der somatischen Sphäre entstammen und sich als bloße Naturereignisse bzw. Kausalvorgänge darstellen, müsste demnach das Vorliegen einer Handlung im Sinne Roxins konsequent verneint werden. Normativ ist sein Handlungsbegriff daher nur insoweit, als die Auswahl der Begriffselemente aus der Vielfalt der Einzelkomponenten, aus denen sich Handlungen im täglichen Leben zusammensetzen, unter spezifisch strafrechtlichen Gesichtspunkten erfolgt. Die Begriffsbildung ist demnach vor allem ein Problem der Relevanz bzw. des Erkenntnisinteresses. Bezogen auf das Phänomen der Handlung bedeutet dies, dass für den Juristen hiernach andere Aspekte des Geschehens ausschlaggebend sein können, als für den Sozialwissenschaftler oder den Mediziner. Als wissenschaftliche Begriffe beziehen sie sich aber alle auf eine begriffliche Vorstrukturierung des Phänomens Handlung durch die Lebenswelt und sind damit selbst in der empirischen Wirklichkeit verwurzelt.184

äußerung von vornherein den entscheidenden Wertungsaspekt bezeichnet, auf den es hier bei der Handlungsprüfung rechtlich ankommt. Er ist normativ auch insofern, als er in den Grenzbereichen auf eine diesem Wertungsgesichtspunkt entsprechende rechtliche Entscheidung abstellt. Er ist aber nicht normativistisch, weil er die Lebensrealität genauestens in den Blick nimmt und die neuesten Erkenntnisse der empirischen Forschung jederzeit berücksichtigen kann“. 183 Daher sind entscheidende Parallelen zwischen dem Handlungsbegriff Roxins und dem ebenfalls personalen Handlungsbegriffs Arthur Kaufmanns (in: H. Mayer-FS 1965, S. 79 ff.) ersichtlich, die über die bloße Verwendung des Etiketts „personal“ hinausgehen. Der Handlungsbegriff Kaufmanns ist wie derjenige Roxins auf die Person bezogen und beschreibt Handeln als „Objektivation der Person“, wobei allerdings das Freiheitskriterium eine Rolle spielt, von dem sich Roxin [Strafrecht AT 1997, S. 203 (§ 8, Rn. 47)] wiederum abgrenzt. Obwohl beide Autoren einen im Kernaussagegehalt vergleichbaren Handlungsbegriff formulieren, legen sie eine unterschiedliche methodische Vorgehensweise zugrunde. Roxin geht primär von den Aufgaben aus, die der Handlungsbegriff im Strafrecht zu bewältigen hat und greift sekundär auf die empirische Lebenswirklichkeit zu. Kaufmann geht demgegenüber umgekehrt vor und bestimmt zunächst die „ontologische Struktur der Handlung“, die er erst in einem zweiten Schritt mit den Aufgaben des Handlungsbegriffes für die Strafrechtswissenschaft in Bezug setzt. Insofern ist Kaufmann näher am personfunktionalen Idealtypus als Roxin, bzw. Kaufmanns Position markiert bereits den Idealtypus der personfunktionalen Strafrechtsdogmatik, während Roxin lediglich in diese Richtung tendiert. 184 Diesen Aspekt der kulturwissenschaftlichen Begriffsbildung kennzeichnet Radbruch treffend als „Begriffsarbeit zweiten Grades“ (Radbruch, G.: Archiv für Rechtsund Wirtschaftsphilosophie 1923/24, S. 343 ff., 347).

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Daher ist der Handlungsbegriffs Roxins auch weitgehend resistent gegen eine vollständige Absorption durch systemfunktionale Interessen. Dies zeigt sich vor allem an der Lösung der Abgrenzungsprobleme bei Reflexen, Automatismen und Affekten, bei denen Roxin mit dem Begriff der „Anpassungsleistung des seelischen Apparates“185 arbeitet und wie dargelegt auf naturwissenschaftlichempirische und normative Aspekte Bezug nimmt. Bei konsequenter Anwendung seiner methodologischen Differenzierung zwischen dem Objekt der Wertung und der Wertung selbst ergibt sich,186 dass die Frage, ob eine solche Anpassungsleistung vorliegt, zunächst eine genuin erfahrungswissenschaftliche Problematik darstellt. Eine normative Frage ist es hingegen, ob die gegebene Anpassungsleistung der Person, die im Hinblick auf die Steuerungsintensität durch das Bewusstsein hinter einer „finalen Handlung“ naturgemäß zurückbleibt, für die strafrechtliche Zurechnungsfrage ausreicht. Erst hier können systemfunktionale Gesichtspunkte eine Rolle spielen, auf die Roxin aber an keiner Stelle Bezug nimmt. Die systemfunktionale Wertung allein kann aber nach der Konzeption Roxins niemals die vorgelagerte erfahrungswissenschaftliche Frage substituieren und für sich einnehmen. Roxin formuliert damit im Ergebnis auf der Grundlage einer kulturwissenschaftlichen Begriffsbildungsmethodologie einen personfunktionalen Handlungsbegriff, bei dem unter dem Etikett „Grenzelement“ der Schutz der Person vor dem staatlichen Zugriff in Form der Strafe eine wesentliche Rolle einnimmt. c) Objektive Zurechnung und Risikoerhöhung Wie im Folgenden nachzuweisen ist, werden demgegenüber die Lehre von der objektiven Erfolgszurechnung und insbesondere die Risikoerhöhungstheorie maßgeblich von systemfunktionalen Argumentationszusammenhängen getragen, die in der bisherigen Diskussion dieser Positionen nicht oder nur ansatzweise dargestellt wurden. aa) Die Entwicklung der Lehre von der objektiven Zurechnung Die heutige Verbreitung der Lehre von der objektiven Zurechnung ist im Wesentlichen auf Roxins Beitrag in der Festschrift für Honig187 zurückzuführen, 185

Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 184 (§ 8, Rn. 2, 3). Für die Strafrechtswissenschaft ist diese Differenzierung aber bereits von Welzel [Welzel, H.: Wertungen, in: ders. (Hrsg.): Abhandlungen 1975, S. 23 ff., 25] herausgearbeitet worden (vgl. hierzu bereits eingehend Kapitel 1 II. 3.). In Anlehnung an Rickert führt er aus, dass man unter keinen Umständen „das ontologische Substrat mit dem Wert in irgendeiner Weise identifizieren“ darf. „Der ontologisch bestimmte Gegenstand ist nur der ,Träger‘ des Wertes, aber nicht der Wert selbst“. 187 Roxin, C. in: Honig-FS 1970, S. 133 ff. 186

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der hinsichtlich des Lösungsansatzes zu den von dieser Lehre erfassten Problembereichen188 im strafrechtlichen Schrifttum189 geradezu einen Paradigmenwechsel ausgelöst hat.190 Während in den 50er und 60er Jahren im Bereich der Vorsatzdelikte nahezu191 alle dogmatischen Fragestellungen, die heute mit der Lehre der objektiven Zurechnung gelöst werden, als Vorsatzprobleme aufgefasst wurden, verlagert sie Roxin in den objektiven Tatbestand und bezieht sich damit auf eine tatsächliche schon ältere, im Jahre 1930 von Honig192 entwickelte Auffassung, deren Wurzeln bis in die Imputationslehre der Naturrechtsphilosophie Samuel Pufendorfs zurückverfolgt werden können.193 Ebenso wie Honig verzichtet Roxin allerdings auf eine philosophische Fundierung seiner Lehre und leitet den Begriff „der objektiven Zurechnung . . . aus den allgemein anerkannten Grundsätzen der allgemeinen Rechtslehre ab“.194 Bei beiden Autoren ist die Lehre von der objektiven Zurechnung demnach er188 Beispiele für die Fallgruppen, in denen die Lehre von der objektiven Zurechnung nach Auffassung ihrer Vertreter Anwendung finden soll bei Ebert, U. und Kühl, K.: JURA 1979, 561 ff.; Puppe, I.: JURA 1997, 408 ff.; 513 ff.; 624 ff.; 1998, 21 ff. 189 Zum Lösungsansatz der Rechtsprechung, vgl. Hettinger, M.: JuS Lernbogen 1990, L 73 ff. Zu neueren Entwicklungen in der Rechtsprechung: Wolter, J. in: Gimbernat, E./Schünemann, B./Wolter, J. (Hrsg.): Objektive Zurechnung 1995, S. 3 ff. 190 Zu dieser Einschätzung der Bedeutung von Roxins Festschriftbeitrag aus dem Jahr 1970: Schünemann, B.: GA 1999, 207 ff., 207; Hirsch, H. J. in: Lenckner-FS 1998, S. 119 ff., 119; ders. in: Regensburg-FS 1993, S. 35 ff., 48. Die Lehre von der objektiven Zurechnung kann im Schrifttum heute als herrschende Meinung angesehen werden: Lackner/Kühl: vor § 211 StGB 2001, Rn. 13a; Geilen, G.: JZ 1974, 145 ff.; Schönke-Schröder-Lenckner, vor § 13, Rn. 91 ff.; Jescheck/Weigend: Strafrecht AT 1996, S. 286 ff.; Ebert, U. und Kühl, K.: JURA 1979, 561 ff.; Puppe, I.: JURA 1997, 408 ff.; 513 ff.; 624 ff.; 1998, 21 ff. Innerhalb der Roxin-Schule wird die Lehre von der objektiven Zurechnung einheitlich vertreten: SK-Rudolphi, vor § 1, Rn. 57 ff.; Wolter, J.: Zurechnung 1981, S. 330 ff.; Schünemann, B.: JA 1975, 787 ff.; ders.: GA 1999, 207 ff. 191 Welzel selbst hat über das Kriterium der „Sozialadäquanz“ in der Frühphase der finalen Handlungslehre, z. B. im Erbonkelfall, schon den objektiven Tatbestand verneint [ZStW 58 (1939), 491 ff., 517]: Sozialadäquate Handlungen scheiden für den Unrechtsbegriff aus. „Damit beantwortet sich das ziemlich abgeschmackte Beispiel, ob der Neffe ein Verbrechen begeht, wenn er den Erbonkel zu einer Eisenbahnfahrt überredet in der Absicht, dass dieser bei einem Eisenbahnunglück ums Leben kommen möge, und dies tatsächlich geschieht. Dieses Beispiel hat weder mit der Kausalität, noch mit dem Vorsatz etwas zu tun, sondern mit der sozialen . . . Adäquanz.“ Erst später (Strafrecht 1969, S. 66) löst er das an einem geringfügig modifizierten Beispiel erläuterte Problem über den Vorsatz: „Wer nach einem häufig benutzten Beispiel einen anderen bei einem aufkommenden Gewitter in den Wald schickt in der Hoffnung, der andere werde durch einen Blitz erschlagen werden, hat keinen Tötungswillen.“ 192 Honig, R. in: Frank-Festgabe 1930, S. 174 ff. 193 Ausführlich zu den historischen Wurzeln der Lehre von der objektiven Zurechnung: Schünemann, B.: GA 1999, 207 ff., 208; Hettinger, M.: JuS Lernbogen 1991, L 9 ff., L 11; sowie in dieser Arbeit Kapitel 4 III. 2. a). 194 Honig, R. in: Frank-Festgabe 1930, S. 174 ff., 181, 182; Roxin, C. (in: Honig-FS 1970, S. 133 ff., 134) schließt sich diesem Ansatz ausdrücklich an.

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neut ein Anschauungsbeispiel für die kulturwissenschaftliche Begriffsbildungsmethodologie. Die objektive Zurechnung löst ein Problem der Auswahl der für das Strafrecht maßgeblichen Bedingungszusammenhänge. Auf ihrer Grundlage soll die Vielfalt der Lebenswirklichkeit in bedeutsame und weniger bedeutsame Gesichtspunkte gegliedert werden, so dass nur diejenigen Ereignisse im Blick einer strafrechtlichen Bearbeitung bleiben, die für die hier relevanten Zusammenhänge von Interesse sind. Das entscheidende Kriterium, das diese Abschichtung leiten soll, ist bei Honig die Idee der personalen Zurechnung. Das strafrechtliche Zurechnungsurteil ist auf „menschliches Verhalten im Sinne einer Willensäußerung“195 bezogen. Daher interessieren im Bereich des Strafrechts nur solche Kausalverläufe, die auf einem menschlichen Verhalten im Sinne einer Willensäußerung bzw. eines „bewussten Setzens von Ursachen“ oder eines „quasi-schöpferischen-Aktes“196 beruhen. Aus dieser grundsätzlichen Wertentscheidung des Strafrechts ergibt sich für Honig auch der konkrete Inhalt des Zurechnungsurteils: „. . . soweit der Mensch fähig ist, die Wirkungen eines bestimmten Verhaltens vorauszusehen, und soweit er weiter fähig ist, diese Wirkungen durch entsprechendes Verhalten herbeizuführen bzw. durch entgegen gesetztes Verhalten zu verhindern, soweit reicht die Möglichkeit seiner Urheberschaft . . . Gerade deshalb aber kann sein Verhalten – auch objektiv betrachtet, d. h. ohne Rücksicht auf das was er de facto wollte – als zweckhafte Äußerung seines Willens angesehen werden. Und da gerade das zweckhafte Eingreifen in die Naturvorgänge das Wesen des menschlichen Verhaltens ausmacht, ist objektive Zweckhaftigkeit das Kriterium für die Zurechenbarkeit eines Erfolges und damit auch für seine Abgrenzung vom zufälligen Ereignis. Zurechenbar ist damit derjenige Erfolg, welcher als zweckhaft gesetzt gedacht werden kann.“197

Da es auf die Zielsetzungen, die der Täter tatsächlich verwirklichen will, nach den oben wiedergegebenen Äußerungen Honigs nicht ankommt, bezieht sich das Kriterium der Zweckhaftigkeit nur auf einen möglichen teleologischen Zusammenhang zwischen dem Verhalten des Täters und dem Erfolg. Objektive Zurechenbarkeit ist demnach schon dann gegeben, wenn der deliktische Erfolg für „jemanden, der in der in Betracht kommenden Situation steht“, erreichbar oder abwendbar war. Von diesem Urteil unabhängig ist demgegenüber die Frage nach der psychischen Beziehung zum Erfolg. Ist die objektive Zurechenbarkeit gegeben, muss daher weiterhin geprüft werden, ob der Täter „den Erfolg beabsichtigte oder nur billigte oder auch nur voraussah“.198 Eine strafrechtliche Verantwortlichkeit scheidet aus, wenn lediglich die objektive, nicht aber auch die subjektive Zurechnung des Erfolgs möglich ist. 195

Honig, Honig, 197 Honig, Original). 198 Honig, 196

R. in: Frank-Festgabe 1930, S. 174 ff., 183. R. in: Frank-Festgabe 1930, S. 174 ff., 183. R. in: Frank-Festgabe 1930, S. 174 ff., 183, 184 (Hervorhebungen im R. in: Frank-Festgabe 1930, S. 174 ff., 185.

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In dieser ursprünglichen Fassung der Theorie von der objektiven Zurechnung finden sich dementsprechend noch keine Anhaltspunkte für eine systemfunktionale Argumentation oder eine systemfunktional begründete Ausweitung der strafrechtlichen Haftung. Das Kriterium der „objektiven Zweckhaftigkeit“ ist zunächst nur ein Korrektiv des weiten Kausalurteils. Es eliminiert alle Komponenten eines komplexen Zusammenhangs zwischen Ursache und Wirkung, die sich nicht als „zweckhafte Äußerungen des menschlichen Willens“ begreifen lassen. Neben diese objektiven Kriterien treten als weiteres Haftungskorrektiv die subjektiven Zurechnungsvoraussetzungen, durch die erst die Frage der Verantwortlichkeit des Täters für den Erfolg abschließend geklärt wird. In seinem Beitrag in der Festschrift für Honig knüpft Roxin zwar an die oben im Original wiedergegebene Formel Honigs von der objektiven Zurechnung als „objektive Zweckhaftigkeit“ an – er löst dieses Kriterium aber von der „Faktizität des Könnens“,199 die bei Honigs Formel von der „Beherrschbarkeit durch den menschlichen Willen“ entsprechend den obigen Ausführungen im Mittelpunkt gestanden hat. Ausgangspunkt dieser Abstraktion des Zurechnungsurteils vom Willen ist der von Roxin aufgegriffene, ursprünglich von Honig zur beispielhaften Verdeutlichung herangezogene Gewitterfall. Um die Funktionsweise seiner Lehre von der objektiven Zurechnung zu veranschaulichen, operiert Honig200 mit zwei Varianten dieses bekannten Lehrbuchfalles. Im Ausgangsfall,201 bei dem Honig eine Beherrschbarkeit durch den Willen und damit die objektive Zurechenbarkeit des Erfolges ablehnt, schickt der Täter seinen Onkel, den er beerben will, während eines Gewitters auf eine Anhöhe. Dabei realisiert sich durch Zufall der vom Täter erhoffte Kausalzusammenhang und der Onkel verstirbt in Folge eines Blitzschlages. In der Abwandlung202 liegt der Handlung des Täters die Beobachtung zugrunde, dass sich die Gewitter in der fraglichen Jahreszeit regelmäßig über der Anhöhe entladen und somit dort mit Blitzeinschlag zu rechnen ist. Hier will Honig die objektive Zurechenbarkeit mit der Begründung bejahen, dass sich der Täter „die Naturgewalt zunutze macht“ und sich der Erfolg somit nicht als Zufall sondern als „zweckhaft gedacht“ darstellt.203

199 200 201 202 203

Roxin, C. in: Honig-FS 1970, S. 133 ff., 135. Honig, R. in: Frank-Festgabe 1930, S. 174 ff., Honig, R. in: Frank-Festgabe 1930, S. 174 ff., Honig, R. in: Frank-Festgabe 1930, S. 174 ff., Honig, R. in: Frank-Festgabe 1930, S. 174 ff.,

186 f. 186. 187. 188.

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bb) Systemfunktionale Interpretation der Lehre von der objektiven Zurechnung Nach Roxin liegt das entscheidende Kriterium für die unterschiedliche Lösung der Fallvarianten demgegenüber nicht vorrangig in der (potentiellen) Beherrschbarkeit des Geschehens durch den Willen, sondern vor allem in den unterschiedlichen Risiken einer möglichen Rechtsgutsverletzung.204 Die Rechtsordnung könne daher nur im Ausgangsfall auf eine Zurechnung des Erfolges verzichten. In der Abwandlung liege demgegenüber ein gesteigertes Risiko für das Rechtsgut Leben vor, das dem Gesetzgeber nicht gleichgültig sein könne und die Zurechnung des Erfolges erfordere. Dieser Erklärungsansatz greift der Sache nach bereits auf systemfunktionale Bedürfnisse zurück. Wird der Onkel (in beiden Fallvarianten) durch den Blitzschlag getötet, so kann sein Leben im konkreten Fall auch durch eine Zurechnung des Erfolges zum Täter und eine entsprechende strafrechtliche Reaktion nicht mehr geschützt werden. Wenn Roxin demnach in der Fallabwandlung mit dem „gesteigerten Risiko für das Rechtsgut“205 argumentiert, liegt dem ein (general-)präventives Verständnis von Rechtsgüterschutz zugrunde, das nur dann Wirkungen entfaltet, wenn als primärer Adressat der Einwirkung nicht der einzelne Straftäter, sondern die Allgemeinheit (das heißt die rechtstreue Bevölkerung) angesehen wird. Roxin argumentiert damit im Ergebnis ähnlich wie Frisch mit einer Demonstrationsfunktion der Erfolgszurechnung. Nur wenn der Täter ein gesteigertes Risiko für das Rechtsgut schafft und sich im Erfolgseintritt auch dieses konkrete Risiko realisiert, ist eine Erfolgszurechnung mit Blick auf die Verhinderung zukünftiger Rechtsgutsverletzungen geeignet und erforderlich. Sofern sich demgegenüber ein anderes als das vom Täter ins Werk gesetzte Risiko verwirklicht, kommt der Erfolgszurechnung keine Demonstrationsfunktion zu. Denn die Zurechnung des Erfolges zum Täter veranschaulicht in diesem Fall nicht die besondere Gefährlichkeit der vom Täter begangenen Handlung und ist daher auch nicht geeignet, die strafrechtlich geschützten Rechtsgüter vor zukünftigen Beeinträchtigungen zu schützen. Nach diesem von Roxin so genannten „Risikoprinzip“ hängt die Möglichkeit der objektiven Erfolgszurechnung somit davon ab, „ob das Verhalten der in Frage stehenden Person ein rechtlich relevantes Risiko tatbestandlicher Rechtsgutsbeeinträchtigung schuf oder nicht“.206 204

Roxin, C. in: Honig-FS 1970, S. 133 ff., 135. Roxin, C. in: Honig-FS 1970, S. 133 ff., 135. 206 Roxin, C. in: Honig-FS 1970, S. 133 ff., 135. Vergleichbare Abgrenzungsformel in Roxins Lehrbuch: Strafrecht AT 1997, S. 312 (§ 11, Rn. 44): Man darf also zusammenfassend sagen, dass die Zurechnung zum objektiven Tatbestand die Verwirklichung einer vom Täter geschaffenen, nicht durch ein erlaubtes Risiko gedeckten Gefahr innerhalb der Reichweite des Tatbestandes voraussetzt. 205

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Dieser generalpräventiv-systemfunktionale Argumentationszusammenhang, der folglich der Lehre Roxins zumindest implizit zugrunde liegt, ist in einer neueren Abhandlung über die Theorie der objektiven Zurechnung von einem ihrer Vertreter, Bernd Schünemann, auch ausdrücklich hervorgehoben worden. In dem Roxin und Hirsch gewidmeten Beitrag207 verteidigt Schünemann die Position seines früheren Lehrers gegen Angriffe aus dem finalistischen Lager und bezieht sich auf kriminalpolitische Zwecküberlegungen, vor deren Hintergrund sich die Lehre von der objektiven Zurechnung nach seiner Auffassung als unentbehrlich erweist: Im Strafrecht geht es „um die Verhütung der Schäden durch die generalpräventive Wirkung der Verbotsnormen. Die Erfolgszurechung ist deshalb im Strafrecht nur dann kriminalpolitisch sinnvoll, wenn sie sich in einen generalpräventiven Wirkungsmechanismus einfügen lässt. Bei inadäquaten Kausalverläufen ist das von vornherein zu verneinen, denn was sich nicht einmal voraussehen lässt, kann auch unter dem Druck einer Strafandrohung nicht ins Kalkül gezogen werden. . . . Immer dann, wenn die Verbotsnorm kein zweckmäßiges Instrument ist, um gerade den eingetretenen Erfolg zu verhindern, macht es keinen Sinn, bei der Bestrafung wegen Verletzung der Verbotsnorm auch diesen Erfolg strafrechtlich in Ansatz zu bringen. . . . Das Fundament der Doktrin der objektiven Zurechnung besteht also in der doppelten Erkenntnis, dass die Adäquanztheorie für die strafrechtliche Erfolgszurechnung nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung formuliert und dass es der generalpräventive Nutzen ist, der die Belastung des Täters mit dem eingetretenen Erfolg rechtfertigt, während ohne einen solchen generalpräventiven Nutzen die Erfolgszurechnung im Strafrecht sinnlos wäre.“208

Wenn demnach der Sinn der strafrechtlichen Zurechnung im „generalpräventiven Nutzen“ besteht, liegt es nahe, dass die Autoren der „Münchener Schule“ auch bei der Wertungsentscheidung nach dem „Ob“ der strafrechtlichen Zurechnung auf generalpräventive Aspekte Bezug nehmen. Besonders deutlich wird dieser systemfunktionale Ansatz der objektiven Zurechnungsdogmatik bei der von Roxin schon vor seinem Beitrag in der Festschrift für Honig entwickelten Risikoerhöhungslehre.209 Wie bereits in Kapitel 4 dargestellt, nimmt Roxin eine strafrechtliche Haftung in den der Entwicklung der Risikoerhöhungslehre zugrunde liegenden Sachverhalten210 auch dann an, wenn sich nicht zweifelsfrei ermitteln lässt, ob der Erfolg auch bei sorgfaltsgemäßem Verhalten (rechtmäßigem Alternativverhalten) eingetreten wäre. Nach einer Formulierung211 Roxins genügt es für die 207

Schünemann, B.: GA 1999, 207 ff. Schünemann, B.: GA 1999, 207 ff., 214, 215. 209 Roxin, C.: ZStW 74 (1962), 411 ff.; ausführliche Rekonstruktion der Risikoerhöhungslehre bei Erb, V.: Rechtmäßiges Alternativverhalten 1991, S. 120 ff. 210 Roxin [ZStW 74 (1962), 411 ff.] entwickelt die Risikoerhöhungslehre anhand des „Radfahrerfalles“ (BGHSt 11, 1 ff.), des „Apothekerfalles“ (RGST 15, 151 ff.) sowie des „Ziegenhaarfalles“ (RGSt 63, 211 ff.). 208

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Zurechnung des Erfolges demnach, dass „die Chance des Erfolgseintritts durch das unkorrekte Täterverhalten gegenüber dem erlaubten Risiko erhöht worden ist“.212 Mit dieser Auffassung tritt Roxin den heute unter dem Oberbegriff der „Vermeidbarkeitstheorie“213 firmierenden Ansätzen entgegen, die im Fall fahrlässiger Erfolgsdelikte eine Zurechnung des Erfolges vom Vorliegen eines spezifischen Pflichtwidrigkeitszusammenhangs abhängig machen. Mit erheblichen Unterschieden im Einzelnen setzt eine Haftung nach dieser von Roxin kritisierten Auffassung voraus, dass der Erfolg gerade infolge der Pflichtwidrigkeit eingetreten ist. An dieser Voraussetzung fehlt es, wenn „konkrete Anhaltspunkte“ dafür vorliegen, dass es bei rechtmäßigem Verhalten möglicherweise zum gleichen Erfolg gekommen wäre.214 Analysiert man die hinter diesen opponierenden Meinungen stehenden Grundpositionen, so wird deutlich, dass sich insoweit unausgesprochen personfunktionale und systemfunktionale Argumentationsmuster gegenüberstehen. Unausgesprochen sind diese Argumentationsmuster deshalb, weil die heutige Auseinandersetzung zwischen der „Vermeidbarkeits“- und der „Risikoerhöhungslehre“ überwiegend in den Bahnen zweier dogmatischer Argumente verläuft, die von den Vertretern der Vermeidbarkeitstheorie als Kritikpunkte gegenüber der Risikoerhöhungslehre formuliert wurden. Diskutiert wird in diesem Zusammenhang über eine mögliche Kollision des Risikoprinzips mit dem Grundsatz in dubio pro reo sowie über die Frage, ob die Risikoerhöhungslehre zu einer unzulässigen Umdeutung von Verletzungsdelikten in (konkrete) Gefährdungsdelikte führt.215 Die Grundproblematik, warum das rechtmäßige Alternativverhalten zu berücksichtigen ist (so die Vermeidbarkeitstheorie) bzw. aus welchem Grund die Erhöhung eines bestehenden Risikos überhaupt Unrecht darstellt216 (so die Risikoerhöhungslehre), bleibt demgegenüber in den überwiegenden Stellungnahmen der Autoren unerörtert.

211 Auch die Risikoerhöhungslehre wird in zahlreichen unterschiedlichen begrifflichen Nuancen vertreten, deren Unterschiede sich vor allem in der Bestimmung des Grades des erhöhten Risikos manifestieren. Überblick bei Küpper, G.: Grenzen 1990, S. 102: Gefordert wird eine „deutliche“, „messbare“, „erhebliche“, „wesentliche“, „eindeutige“, „echte“ oder „nachweisbare“ Risikodifferenz. 212 Roxin, C.: ZStW 74 (1962), 411 ff., 432. 213 Die Vermeidbarkeitstheorie wird (im Bereich der Fahrlässigkeitsdogmatik) vertreten von der Rechtsprechung (BGHSt 11, 1 ff., 7; 21, 59 ff., 61; 33, 61 ff.) sowie in der Literatur u. a. von Niewenhuis, H.: Gefahr und Gefahrverwirklichung 1984; Küpper, G.: Grenzen 1990, S. 100 ff.; Dencker, F.: JuS 1980, 210 ff., 212; Wessels/ Beulke: Strafrecht AT 2001, S. 66 ff. (§ 6, Rn. 197 ff., insbesondere Rn. 199). Ausführliche Zusammenfassung des Meinungsspektrums (unter Heranziehung vermittelnder Positionen) bei Erb, V.: Rechtmäßiges Alternativverhalten 1991, S. 72 ff. 214 Wessels/Beulke: Strafrecht AT 2001, S. 66 ff. (§ 6, Rn. 197 ff.). 215 Z. B.: Wessels/Beulke: Strafrecht AT 2001, S. 66 ff. (§ 6, Rn. 197 ff.); Küpper, G.: Grenzen 1990, S. 100 ff.; Dencker, F.: JuS 1980, 210 ff., 212. 216 So auch: Kaufmann, Arth. in: Jescheck-FS 1985, S. 273 ff., 275.

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Nur bei einem Vertreter der Vermeidbarkeitstheorie, Helmut Niewenhuis,217 wird der Hintergrund dieser Lehre näher beleuchtet und die Bedeutung des rechtmäßigen Alternativverhaltens mit spezifisch personfunktionalen Erwägungen begründet. Der Autor nimmt insoweit auf die personfunktional verstandene Relevanz des Erfolgsunwertes Bezug,218 dem er eine Steigerung des tatbestandsmäßigen Unrechtsgehalts zuspricht. Nach Niewenhuis fehlt insbesondere diese Komponente des Erfolgsunwertes in den der Risikoerhöhungslehre zugrunde liegenden Sachverhalten: Der Erfolg verliert in diesen Fällen seine „innere Rechtfertigung“ als „unrechtsbegründendes oder unrechtssteigerndes Element“.219 Denn ohne den nachweisbaren Pflichtwidrigkeitszusammenhang wird der Täter gezwungen, die Verantwortung für eine Folge (in den Worten Stratenwerths:220 „ein Leid bzw. eine Einbuße an Gütern“) auf sich zu nehmen, die nicht sicher auf sein Fehlverhalten zurückzuführen ist. Nach der Konzeption eines auf die Person des Straftäters und dessen persönliche Verantwortlichkeit bezogenen Strafrechts genügt daher die Steigerung eines Risikos für die betroffenen Rechtsgüter nicht, um dem Täter den mit der Belastung durch den Erfolgsunwert verbundenen erhöhten personalen Vorwurf zu machen. Soweit Roxin in den hier zur Diskussion stehenden Sachverhalten den Erfolgsunwert gleichwohl als gegeben ansieht, liegt dem wiederum eine der Position Frischs vergleichbare systemfunktionale Inhaltsbestimmung des Erfolgsunwertes zugrunde, die sich in seiner Forderung nach einer Optimierung des (general)-präventiven Rechtsgüterschutzes niederschlägt. Die Zurechnung des Erfolges in den Fallgruppen der Risikoerhöhungslehre dient daher faktisch dazu, der Allgemeinheit zu demonstrieren, dass die Verhaltensnormen, die den Verletzungsverboten zugrunde liegen, unbedingt eingehalten werden müssen. Überschreitet der Täter infolge der Verletzung einer Verhaltensnorm (z. B. im Radfahrerfall durch Unterschreitung des beim Überholen gebotenen Mindestabstands) ein toleriertes Risiko, so soll die personfunktionale Schutzfunktion des Strafrechts daher hinter die systemfunktionalen Bedürfnisse zurücktreten. Diese systemfunktionale Ratio der Risikoerhöhungslehre tritt deutlich bereits in Roxins grundlegendem Aufsatz aus dem Jahr 1962 hervor. Im Sinne einer „Erklärung dafür, warum die Gefahrsteigerung notwendig eine Strafe nach sich ziehen soll“,221 bezieht sich er sich auf folgende Gesichtspunkte: „Wenn beim Überholen ein Mensch zu Tode kommt, dann beruht das im einen wie im anderen Falle auf der mit diesem Verkehrsvorgang verknüpften Gefahr. Der Gesetzgeber könnte, um ihr vorzubeugen, deshalb theoretisch das Überholen ganz verbieten. Um einen reibungslosen Ablauf des Verkehrs zu ermöglichen, tut er das je217 218 219 220 221

Niewenhuis, H.: Gefahr und Gefahrverwirklichung 1984. Ausführlich dazu bereits Kapitel 4 III. 2. b). Niewenhuis, H.: Gefahr und Gefahrverwirklichung 1984, S. 3 f. Stratenwerth, G.: SchwZStrR 79 (1963), 233 ff., 244. Roxin, C.: ZStW 74 (1962), 411 ff., 433.

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doch nicht; vielmehr gestattet er es dem Verkehrsteilnehmer dort, wo die Gefahr generell und ex ante gesehen sehr gering ist, dieses Risiko einzugehen. Tritt der Erfolg trotzdem ein, so muss der Gesetzgeber, weil er dieses Risiko in Kauf genommen hatte, auf eine Bestrafung verzichten. Es wäre aber ganz unrichtig anzunehmen, dass die Erfolgsbewirkung durch eine Handlung, die ein höheres, nicht mehr gestattetes Risiko in sich birgt, nur deshalb straflos sein sollte, weil der Erfolg vielleicht auch sonst eingetreten wäre. . . . Das erlaubte Risiko ist immer das Produkt einer Abwägung zwischen den Verkehrserfordernissen und den individuellen Schutzbelangen. Die Erhöhung der gerade noch hingenommenen Gefahr lässt die Waagschale zugunsten des Rechtsgüterschutzes sinken und die Erfolgsherbeiführung, die sonst nicht hätte beanstandet werden dürfen, als fahrlässig erscheinen.“222

Da der generalpräventive Rechtsgüterschutz demnach die entscheidende Legitimationsgrundlage für die Risikoerhöhungslehre bildet, geht Roxin offensichtlich davon aus, dass die Erfolgszurechnung in den zugrunde liegenden Sachverhalten auch ein geeignetes Mittel darstellt, um dieses Ziel, d. h. die Verhinderung weiterer gefahrträchtiger Verhaltensweisen durch Überschreitung tolerierter Risiken, zu erreichen. Damit operiert er unausgesprochen mit einer systemtheoretischen Aussage über Wirkungszusammenhänge in der empirischen Lebenswirklichkeit, deren Stichhaltigkeit wie dargelegt – insbesondere für die Risikoerhöhungslehre – von Frisch bestritten worden ist. Trotz des vergleichbaren argumentativen Ausgangspunktes der Autoren, die beide eine systemfunktionale Inhaltsbestimmung der Erfolgszurechnung223 zugrunde legen, lehnt Frisch die Risikoerhöhungslehre als empirisch nicht überzeugend ab: In den Sachverhalten, auf die die Risikoerhöhungslehre Anwendung finde, lasse sich der eingetreten Erfolg „nicht mehr überzeugend auf das rechtswidrige Verhalten zurückführen – womit ihm die sozialpädagogische Demonstrationsfunktion ebenso“ abgehe „wie ein über die Handlung hinausgehendes Gewicht der Rechtsfriedensstörung“.224 Dieses Argumentationspatt im Rahmen des systemfunktionalen Begründungszusammenhangs sowie die sich hieraus ergebenden Konsequenzen für den Systemfunktionalismus werden im nachfolgenden Kapitel eingehender betrachtet. cc) Zur Notwendigkeit eines zusätzlichen Zurechnungskorrektivs Abgesehen von den Fallgruppen der Risikoerhöhungslehre, bei denen Roxin, wie dargelegt, zu einer gegenüber der herrschenden Vermeidbarkeitslehre erweiterten strafrechtlichen Haftung kommt, wäre der Ansatz der Lehre von der ob222 Roxin, C.: ZStW 74 (1962), 411 ff., 433; vergleichbare Argumentation Roxins in seinem Beitrag in der Honig-FS 1970, S. 133 ff., 135. 223 Bei Frisch, der „eigentlichen Fragen der Erfolgszurechnung“, vgl. dazu im Einzelnen Kapitel 4 III. 2. 224 Frisch, W.: Tatbestandsmäßiges Verhalten 1988, S. 530.

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jektiven Zurechnung aus einer personfunktionalen Perspektive dann unbedenklich, wenn auf der subjektiven Ebene ein an der Person des Täters orientiertes zusätzliches Zurechnungskorrektiv vorhanden wäre. Die Notwendigkeit eines solchen weiteren subjektiven Filters, auf den bestimmte Vertreter225 der mittlerweile in verschiedene heterogene Positionen zersplitterten Lehre von der objektiven Zurechnung nicht verzichten wollen, lässt sich etwa anhand der Fallgruppen des Irrtums über den Kausalverlauf veranschaulichen. Die Problematik der Abweichung des eingetretenen vom vorgestellten Kausalverlauf ist für die „Münchener Schule“ wie für die sonstigen Vertreter der Lehre von der objektiven Zurechnung zunächst ein Problem des objektiven Tatbestandes. In Anwendung der von Roxin entwickelten Formel ist daher zu fragen, ob das Verhalten des Täters ein rechtlich relevantes Risiko tatbestandlicher Rechtsgüterverletzung schuf oder nicht.226 Wenn für diese Frage, zumindest für den Ansatz der „Münchener Schule“, systemfunktionale Gesichtspunkte ausschlaggebend sein sollen und bei bestimmten Fällen abweichender Kausalverläufe die objektive Zurechnung unter Rückgriff auf diese Argumente bejaht wird, hängt der Schutz der Person vor dem Zugriff des Strafrechts alleine von der Inhaltsbestimmung des subjektiven Tatbestands und der Reichweite des Vorsatzbegriffes ab. Dieser Schutz greift nur dann ein, wenn man die Auffassung vertritt, der Vorsatz des Täters habe sich auf den Kausalverlauf zu erstrecken. Denn nur in diesem Fall ist sichergestellt, dass eine Strafbarkeit des Täters wegen vorsätzlicher vollendeter Deliktsverwirklichung trotz objektiver Zurechenbarkeit des Erfolges ausbleibt, wenn der Täter mit seinem konkreten Risikowissen im Hinblick auf mögliche Kausalverläufe hinter dem von der objektiven Zurechnungslehre vorausgesetzten Kenntnisstand zurückbleibt.227 Eine entsprechende explizite Bezugnahme auf diese subjektiven, auf das „Wissen“ des Täters abstellenden Kriterien findet sich allerdings weder bei Roxin und seiner Schule noch bei den sonstigen Vertretern der Lehre von der objektiven Zurechnung. Die Problematik des Irrtums über den Kausalverlauf wird vielmehr auch im Bereich des subjektiven Tatbestandes durchgängig von normativen Erwägungen abhängig gemacht.

225

Vgl. dazu die nachfolgend dargestellten Positionen. Roxin, C. in: Honig-FS 1970, S. 133 ff., 135. 227 So ausdrücklich Hettinger, M.: [JuS Lernbogen 1991, L 25 ff., L 27 (Hervorhebung im Original)]: „Bleibt der Täter mit seinem ,Wissen‘ (seinem Erkenntnisvermögen) hinter dem Standard zurück, den die Formel der ,allgemeinen Lebenserfahrung‘ umschreiben will, so kann im Einzelfall für ihn nicht voraussehbar sein, was sich einem durchschnittlich begabten Dritten als Möglichkeit erschließen würde. Damit wäre der ,subjektiv‘ ausgerichteten Abweichungslehre ein Anwendungsfeld gesichert: Was der Täter erkennen konnte, darf ihm (dann) nicht als von ihm vorsätzlich bewirkt zugerechnet werden.“ 226

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Die Rechtsprechung arbeitet im subjektiven Tatbestand insoweit mit zwei Kriterien. Die Abweichung muss sich erstens noch innerhalb der Grenzen der allgemeinen Lebenserfahrung halten und daher vorhersehbar sein und sie darf zweitens keine andere Bewertung der Tat rechtfertigen. Beide Kriterien beziehen sich dabei auf Wertungsfragen, die nicht notwendig auch auf den Kenntnisstand des Täters bezogen sein müssen. Gleiches gilt für die Abgrenzungsformel der herrschenden Meinung, die im subjektiven Tatbestand danach fragt, ob es sich um eine wesentliche Abweichung handelt, wobei objektiv zurechenbare Kausalverläufe „in der Regel“228 nur unwesentliche Abweichungen darstellen sollen und Ausnahmen lediglich dann möglich sind, wenn eine „andere rechtlich-sittliche Bewertung der Tat“ geboten ist.229 Diese Auffassungen sind daher zumindest grundsätzlich offen für systemfunktionale Wertungsgesichtspunkte, auf die die genannten Autoren allerdings nicht explizit zurückgreifen.

Innerhalb des skizzenhaft angeführten Meinungsspektrums wird die weitestgehende Normativierung unter gleichzeitigem ausdrücklichen Rückgriff auf systemfunktionale Wertungsgesichtspunkte von Wolter vertreten, der in seinen neueren Abhandlungen zu dieser Problematik auch auf ein von Roxin eingeführtes Kriterium, den Aspekt der „Planverwirklichung“, Bezug nimmt. In einem bereits im Jahr 1977 veröffentlichten Beitrag hatte Wolter zunächst angenommen, der Vorsatz habe sich überhaupt nicht auf den Kausalverlauf zu erstrecken.230 Die Problematik der Abweichung des vorgestellten vom eingetretenen Kausalverlauf sei vielmehr alleine über die Lehre von der objektiven Zurechnung zu lösen. Ausgangspunkt dieser Auffassung Wolters ist die weitgehend mit der „Frisch-Schule“ übereinstimmende normtheoretischen Differenzierung231 zwischen Verhaltensnorm und Sanktionsnorm sowie ein general228

Jescheck/Weigend: Strafrecht AT 1996, S. 312. Jescheck/Weigend: Strafrecht AT 1996, S. 312. Otto [Grundkurs Strafrecht 2000, S. 94 (§ 7, Rn. 82–85)] kritisiert zwar die Vorgehensweise der herrschenden Meinung, indem er argumentiert, es sei nicht gerechtfertigt, dem Täter Sachverhalte „als bewusst verwirklicht zuzurechnen, nur weil sie allgemein vorhersehbar“ seien. Obwohl er mit dem Kriterium des (Mit-)Bewusstseins arbeitet, unterliegt sein eigener Ansatz jedoch der Gefahr einer unzulässigen Vorsatzfiktion. (Zu diesem Kritikpunkt bereits Hettinger, M.: JuS Lernbogen 1991, L 25 ff., L 27) Denn er will diejenigen Abweichungen in der Realisierung der durch den Täter begründeten Gefahr als unwesentlich ansehen, die „typischerweise mit der ins Werk gesetzten Gefährdung verbunden sind“. Das Kriterium der Typizität ist aber wiederum normativ. Was typischerweise bewusst ist, muss dem handelnden Täter nicht notwendig auch selbst bewusst gewesen sein. 230 Wolter, J.: ZStW 89 (1977), 649 ff., 670: Die Frage, „ob sich der Vorsatz und vor allem die subjektive Erkennbarkeit tatsächlich auf den konkreten Verlauf wenigstens in seinen wesentlichen Umrissen zu erstrecken“ hat, „ist strikt zu verneinen“. Der Standpunkt von Wolter wird übernommen von SK-Rudolphi, § 15, Rn. 31: „Der Umstand, dass sich in der vom Täter gewollten tatbestandsmäßigen Verletzung des konkreten Rechtsgutsobjekts nicht die von ihm bewusst ins Werk gesetzte unerlaubte Gefahr, sondern eine weitere, von ihm ebenfalls durch sein Verhalten objektiv zurechenbar aber unbewusst begründete unerlaubte Gefahr realisiert hat, vermag ihn nicht zu entlasten. . . . Insofern ist es . . . gerade nicht erforderlich, dass der Täter den objektiv abweichenden Kausalverlauf (in seinen wesentlichen Zügen) erkennt oder ihm zumindest mitbewusst ist.“ 229

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präventives Konzept von der Aufgabe des Strafrechts, „den Menschen zum Zwecke des Rechtsgüterschutzes zu inhaltlich richtigem Wollen anzuleiten“. 232 Für eine strafrechtliche Haftung des Täters wegen vorsätzlichen vollendeten Erfolgsdelikts genügt es danach, dass der Täter „vollumfänglich“233 gegen die den strafrechtlichen Sanktionsnormen zugrunde liegenden Verhaltensnormen verstoßen hat. Ein solcher vollendeter Verstoß gegen die Anforderungen der Verhaltensnormen ist aber schon dann anzunehmen, wenn der Täter vorsätzlich ein „kausalträchtiges und wegen objektiver Vorhersehbarkeit rechtlich relevantes (adäquates, geeignetes, sozialinadäquates) Risiko . . . für das tatbestandlich vertypte Rechtsgut“234 geschaffen hat. Wer hier ein Mehr an Zurechnungsvoraussetzungen verlangt (d. h. etwa auf das subjektive Risikowissen des Täters abstellt), setzt sich nach Wolter in Widerspruch zu der Aufgabe des Strafrechts. Denn er verstößt gegen „den Grundsatz der Generalprävention i. S. langfristiger ,Internalisierung von Rechtsnormen‘ und im Hinblick auf die ,Einübung von Rechtstreue‘“.235 Im Anschluss an Roxin stellt Wolter bei der Lösung der Probleme der Fälle des Irrtums über den Kausalverlauf heute236 auf den Gesichtspunkt der Planverwirklichung ab, ohne damit allerdings seinen früheren Standpunkt inhaltlich wesentlich zu modifizieren. Der Aspekt der Planverwirklichung wurde im Jahr 1977 zuerst von Roxin in einem Beitrag zur Problematik des „dolus generalis“237 in der Festschrift für Würtenberger238 entwickelt. Nach dem dort dargestellten Lösungsansatz will Roxin in den „dolus generalis-Fällen“ dann ein vor231 Angedeutet in Wolter, J.: ZStW 89 (1977), 649 ff.; ausführlich später ders.: Zurechnung 1981. 232 Wolter, J.: ZStW 89 (1977), 649 ff., 672. 233 Wolter, J.: ZStW 89 (1977), 649 ff., 675. 234 Wolter, J.: ZStW 89 (1977), 649 ff., 673. 235 Für Wolter lassen sich dem Strafzweck der Generalprävention darüber hinaus allerdings auch die Mindestanforderungen des Zurechnungsurteils entnehmen. Wer folglich objektiv weniger verlangt, als objektive Erkennbarkeit, schiebt das „regulative Prinzip der Generalprävention sorglos beiseite“, denn er überschreitet „die Untergrenze der Strafe“, Wolter, J.: ZStW 89 (1977), 649 ff., 676. Ähnlich Argumentation auf S. 684: Bei völlig unvorhersehbaren Entwicklungen des Geschehens ist eine Strafe wegen vollendeten Delikts nicht gerechtfertigt, weil diese den hervorgehobenen Prinzipien von „Generalprävention, Unrecht und Schuld widerstreitet“. 236 Wolter, J. in: Leferenz-FS 1983, S. 545 ff., 549 ff.; ders.: Zurechnung 1981, S. 109 ff.; ders. in: Gimbernat, E./Schünemann, B./Wolter, J. (Hrsg.): Objektive Zurechnung 1995, S. 3 ff. 237 Gemeint sind die Fälle eines mehraktigen Geschehens, bei denen der Täter annimmt, den Erfolg bereits mit dem ersten Handlungsakt erzielt zu haben, obwohl der Erfolg tatsächlich erst durch den zweiten Handlungsakt herbeigeführt wird, der nach dem Vorstellungsbild des Täters nur zur Verdeckung der als vollendet angenommenen Tat fungieren soll. 238 Roxin, C. in: Würtenberger-FS 1977, S. 109 ff. Kritisch zu diesem Lösungsansatz [am Beispiel des „Jauchegrubenfalls“ (BGHSt 14, 193)]: Hettinger, M. in: Spendel-FS 1992, S. 237 ff., 244, 252–255.

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sätzliches vollendetes Delikt annehmen, wenn der Täter nach seinem Tatplan bereits durch den ersten Handlungsakt den deliktischen Erfolg herbeiführen wollte und insoweit bezüglich des Erfolgseintrittes bei Verwirklichung des ersten Handlungsaktes mit dolus directus ersten Grades gehandelt hat. Tritt der Erfolg tatsächlich erst durch den zweiten Handlungsakt ein, ist dies deshalb unbeachtlich, weil in diesem Fall das geplante Handlungsziel schließlich erreicht wird. Hat der Täter demgegenüber im ersten Handlungsakt lediglich mit dolus eventualis gehandelt, wird durch die Zweithandlung im Ergebnis etwas „seinen Intentionen durchaus“239 Zuwiderlaufendes erreicht, so dass dem Täter der Erfolg nicht mehr als vorsätzlich zugerechnet werden kann. Obwohl das Kriterium des Tatplanes faktisch ein subjektives Kriterium darstellt, erblickt Roxin darin lediglich ein „normatives Regulativ“ und hebt in seinem Lehrbuch auch ausdrücklich hervor, dass es sich insoweit nicht um eine „die Psyche des Täters betreffende Frage“240 handelt. Der Plan des Täters wird damit zu einem normativen Konstrukt der sozialen Wirklichkeit. Nur das ursprünglich vom Täter anvisierte Ziel (etwa der Tod eines Menschen), nicht aber die vom Täter hierbei gedanklich antizipierten Zwischenschritte werden auf das Bewusstsein des handelnden Täters bezogen. Ob das reale Geschehen dem Plan entspricht oder nicht, ist daher eine Wertungsfrage, die an normativen Maßstäben zu beurteilen ist. Vor allem in der Rezeption dieses Ansatzes durch Wolter wird deutlich, dass es sich bei den entscheidenden normativen Wertungsaspekten wiederum um systemfunktionale Gesichtspunkte handelt. In seiner Habilitationsschrift, in der er auch zu der Übereinstimmung seiner Lösung der Abweichungsfälle mit der Konzeption des Schuldstrafrechts Stellung bezieht, argumentiert er insoweit eindeutig: „Die vom Täter . . . herbeigeführte objektiv-konkrete Verletzungsgefahr ist schon dann von Schuld umfasst, wenn dem rechtstreuen Bürger einsichtig gemacht werden kann, dass solche Plangefahren auch objektiv ernsthafte Risiken für die geschützten Rechtsgüter beinhalten. Diese ,negative Vorbildwirkung‘ der Tat, die den Bürger von der Nachahmung abhält, tritt stets schon dann ein, wenn die Täterhandlung zu einem adäquaten und für den Rechtsgenossen in der sozialen Rolle des Täters jederzeit wiederholbaren objektiven Verletzungsrisiko führt . . . Mit dieser Deutung deckt es sich, . . . – bei Risikorealisierung – wegen schuldhaft vollendeter Tat zu strafen.“241

Auch auf der subjektiven Ebene ist daher nach den Vertretern der „Münchener Schule“ das Zurechnungsurteil im Wesentlichen an normativen Kriterien ausgerichtet. Da auch hier der Aspekt der positiven Generalprävention im Vordergrund steht, ist der Adressat der Einwirkung in Form einer Strafe wegen vorsätzlichen vollendeten Delikts in erster Linie der „rechtstreue Bürger“, dem das Risikopotential bestimmter Verhaltensweisen verdeutlicht wird, und der so von 239 240 241

Roxin, C. in: Würtenberger-FS 1977, S. 109 ff., 122. Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 434 (§ 12, Rn. 143). Wolter, J.: Zurechnung 1981, S. 126.

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einer Nachahmung der Tat abgehalten werden soll. Damit bleibt der oben angesprochene Schutz der Person vor dem Zugriff des Strafrechts, der durch ein personfunktional ausgelegtes Vorsatzkriterium erreicht werden kann, aus, und es besteht die Gefahr, dass der Straftäter zu einem bloßen Anschauungsobjekt degradiert wird. 2. Vorsatz und Abgrenzung zur Fahrlässigkeit Nachdem in der vorstehenden Untersuchung über die Problematik der Abweichung des vorgestellten vom eingetretenen Kausalverlauf bereits ein Spezialfall der Vorsatzdogmatik untersucht wurde, geht es in der nachfolgenden Darstellung um den Vorsatzbegriff der „Münchener Schule“ und die sich hieran anschließende Abgrenzung zwischen (bedingtem) Vorsatz und (bewusster) Fahrlässigkeit. Die entscheidenden Weichenstellungen für die Vorsatzdogmatik finden sich bei Roxin bereits in einem frühen didaktisch orientierten Beitrag,242 in dem er anhand des „Lederriemenfalles“243 des BGH die eigene Vorsatzkonzeption unter Bezug auf die Ratio der Vorsatzstrafe – das heißt methodisch zunächst in Einklang mit Jakobs und Frisch – entwickelt. Sein dort dargelegter Standpunkt stimmt in seinen Grundzügen noch mit der heute im Lehrbuch entwickelten Konzeption vom Vorsatz als „Planverwirklichung“244 überein und wird innerhalb des Ansatzes der „Münchener Schule“ vor allem von Rudolphi245 geteilt. Im Einzelnen: a) Die Ratio der Vorsatzstrafe und der Begriff des Vorsatzes aa) Die Position von Claus Roxin und Hans-Joachim Rudolphi Beide Autoren gehen davon aus, dass die Ratio der Vorsatzstrafe, aus der der Inhalt und Begriff des Vorsatzes abzuleiten sind, vor allem die Schulddifferenz 242

Roxin, C.: JuS 1964, 53 ff. BGHSt 7, 363 ff.: Nach dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt (eigene Zusammenfassung) wollten die Täter ihr Opfer (M) berauben. Sie erwogen daher zunächst, M mit einem Lederriemen bis zur Bewusstlosigkeit zu drosseln, entschieden sich jedoch dann dafür, ihn mit einem Sandsack auf den Kopf zu schlagen und so zu betäuben. Die Drosselung mit dem Lederriemen erschien den Tätern wegen der Erstickungsgefahr zu gefährlich. Bei der Ausführung der Tat platzte der Sandsack und es kam zu einem Handgemenge, in dessen Verlauf die Täter schließlich trotz ihrer Bedenken auf den Lederriemen zurückgriffen. Sie warfen M die Schlinge um den Hals und zogen an beiden Enden, bist M sich nicht mehr rührte. Dann nahmen sie die Sachen des M an sich. Nachdem den Tätern Bedenken kamen, ob M noch lebe, stellten sie Wiederbelebungsversuche an, die aber vergeblich waren. 244 Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 365 (§ 12, Rn. 6). 245 SK-Rudolphi, § 15, Rn. 1 ff. 243

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zur fahrlässigen Deliktsbegehung widerspiegeln muss.246 Roxin wirft daher zunächst die Frage auf, ob der Grund für das Unwertgefälle zwischen vorsätzlichen und fahrlässigen Taten vornehmlich in der Einstellung des Täters zum Erfolg oder aber in der unterschiedlichen Einschätzung der Risiken für das betroffene Rechtsgut zu erblicken ist. Mit Blick auf die Aufgabe des Strafrechts als einem Instrument des Rechtsgüterschutzes entscheidet er sich für die zweite Alternative und sieht daher das Wesen des Vorsatzes in der Entscheidung des Täters gegen das betroffene Rechtsgut. Sofern der Täter nur die Vorstellung hat, durch sein Verhalten den „strafbaren Erfolg herbeizuführen“,247 und er sich über diese Vorstellung hinwegsetzt, ist vorsätzliches Handeln gegeben. Auf eine mögliche ablehnende Haltung gegenüber dem Erfolgseintritt kommt es nicht an: Unser Strafrecht ist „vornehmlich am Rechtsgüterschutz orientiert . . . Es kann ihm nicht in erster Linie darauf ankommen, zu verhindern, dass jemand eine Rechtsgüterbeeinträchtigung auf Grund einer besonders missbilligenswerten inneren Einstellung begeht; vielmehr muss verhindert werden, dass sie überhaupt begangen wird. Räumt man das ein, dann ergibt sich ein grundlegender Unterschied der Schuldformen danach, ob der Täter sich (mit welchen Gefühlen, Hoffnungen und Wünschen auch immer) für die mögliche Tatbestandsverwirklichung entschieden hat oder nicht. Eine solche Entscheidung für oder gegen den von der Strafdrohung geschützten Rechtswert ist immer schon dann nötig, wenn der Täter sich vor die Frage gestellt sieht, ob er um des möglichen Erfolges willen von seinem Tun Abstand nehmen oder ob er trotzdem handeln soll. Gibt er in dieser Lage seinen Plan auf, so hat die Norm ihren Zweck erreicht, und das Rechtsgut ist gesichert. Zieht er dagegen das Weitermachen vor, so hat er sich, da er weiß, dass er den möglichen Erfolg nicht verhindern kann, durch sein Tun gegen das Rechtsgut entschieden. Seine innere Hoffnung, der Erfolg möge ausbleiben, ändert daran nicht das geringste.“248

Obwohl Roxin damit die voluntative Komponente des Vorsatzbegriffes (zumindest im Sinne der Einwilligungs- bzw. Billigungs-249 oder Gleichgültigkeitstheorie)250 beiseite schiebt, bezieht er sich bei der Bestimmung des Vorsatzes 246 Bereits hier wird demnach ein entscheidender Unterschied zu Jakobs sichtbar, der nicht auf Schulddifferenz, sondern auf die unterschiedliche Intensität des Angriffs auf die Normgeltung und damit unmittelbar auf den Strafzweck der positiven Generalprävention abstellt, vgl. hierzu im Einzelnen Kapitel 3 II. 2. a). 247 Roxin, C.: JuS 1964, 53 ff., 58. 248 Roxin, C.: JuS 1964, 53 ff., 58. 249 Er wendet sich allerdings ausdrücklich nur gegen eine Interpretation des Billigungskriteriums nach dem Wortsinn als ein „Gutheißen“ oder „sich Freuen“ über den Erfolgseintritt und nicht gegen das neuere Begriffsverständnis als „Billigen im Rechtssinne“. Diese, der Entscheidung des BGH im Lederriemenfall (BGHSt 7, 363 ff., 369) zugrunde liegende Inhaltsbestimmung des voluntativen Elements, hält er zwar für sprachlich missverständlich [Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 379 (§ 12, Rn. 36); ders.: NStZ 1998, 616 f., 616], inhaltlich sieht er allerdings eine weitgehende Übereinstimmung mit dem eigenen Standpunkt. 250 Die insbesondere von Engisch, K. (NJW 1955, 1688 f.) vertretene Gleichgültigkeitstheorie sieht die Schulddifferenz zwischen bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit vor allem im voluntativen Element. Nach seiner Auffassung „verliert das

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im Ergebnis dennoch nicht ausschließlich auf kognitive Kriterien. Sein aus den vorstehenden kriminalpolitischen Überlegungen abgeleitetes Verständnis des Vorsatzes als „Planverwirklichung“251 soll als ein gemeinsamer Oberbegriff aller drei Vorsatzformen vielmehr sowohl kognitive als auch voluntative Elemente in sich aufnehmen. Dieser Ansatz wird besonders bei Roxins Ausführungen zum dolus eventualis deutlich,252 die inhaltlich mit dem Konzept Rudolphis253 weitgehend übereinstimmen. Roxin nimmt eine „Entscheidung des Täters gegen das Rechtsgut“ oder eine Einbeziehung der Rechtsgutsbeeinträchtigung in den Plan des Täters nämlich dann nicht an, wenn der Täter trotz eines Risikobewusstseins darauf vertraut, den Erfolg vermeiden zu können und dieses Vertrauen über ein bloßes unberechtigtes „Wünschen“ hinausgeht. Denn in diesem Fall hat der Täter keine Entscheidung gegen das Rechtsgut getroffen und der Erfolgseintritt ist nicht Bestandteil seines Planes geworden. Im Ergebnis steht Roxin daher mit seiner Begriffsbestimmung des dolus eventualis in Einklang mit dem Definitionsansatz der wohl herrschenden Meinung254 und bejaht den bedingten Vorsatz, „wenn der Täter mit der Möglichkeit einer Tatbestandsverwirklichung ernstlich rechnet, um des erstrebten Zieles willen aber trotzdem weiterhandelt, und sich dadurch mit einer eventuellen Deliktsrealisierung – sei es auch wohl oder übel – abfindet, sie in Kauf nimmt“.255 Die dieser Differenzierung zugrunde liegenden Unterschiede im Bereich des Wollens exemplifiziert Roxin anhand des Lederriemenfalles, bei dem er, im Ergebnis mit der Rechtsprechung übereinstimmend, den bedingten Vorsatz bejaht. Kontrastierend stellt er der dort gegebenen Fallkonstellation die Situation eines riskanten Überholmanövers gegenüber, bei der in der Regel lediglich eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Deliktsbegehung in Betracht kommen soll. Der Lederriemenfall256 bildet nach seiner Auffassung geradezu ein Musterbeispiel der für den Vorsatz maßgeblichen Entscheidung des Täters gegen das Handeln in der Hoffnung auf den Nichteintritt des . . . Erfolges seinen verwerflichen Charakter und offenbart uns aller Vorwerfbarkeit ungeachtet eine Einstellung zu der Rechtsgüterwelt, die wir schonender zu beurteilen geneigt sind als den Standpunkt desjenigen, der jener Hoffnung ermangelt, weil es ihm auf einen rechtswidrigen Erfolg nicht ankommt“ (ders.: Untersuchungen 1964, S. 177). Von diesem Standpunkt grenzt sich Roxin (JuS 1964, 53 ff., 58) ausdrücklich ab. 251 Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 365 (§ 12, Rn. 6). 252 Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 372 ff. (§ 12, Rn. 21 ff.). 253 SK-Rudolphi, § 15, Rn. 38 ff. 254 Krümpelmann, J.: ZStW 87 (1975), 888 ff., 895 ff.; Wessels/Beulke: Strafrecht AT 2001, S. 74 (§ 7, Rn. 216); Jescheck/Weigend: Strafrecht AT 1996, S. 299, jeweils mit weiteren Nachweisen. 255 Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 375 (§ 12, Rn. 27); übereinstimmend: SK-Rudolphi, § 15, Rn. 43: Dolus eventualis ist nur dann zu bejahen, wenn „der Täter die Möglichkeit (d. h. das tatbestandsmäßige Risiko) der Rechtsgutsverletzung ernst nimmt, d. h. mit ihr rechnet und sich mit ihr abfindet.“ 256 Zum Sachverhalt dieser Entscheidung siehe die Zusammenfassung in Fn. 243.

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Rechtsgut. Da die Täter genau wussten, dass die Drosselung mit dem Lederriemen eine tödliche Gefahr beinhalten würde, haben sie zunächst von diesem Vorhaben Abstand genommen und zum Sandsack gegriffen. Erst als sie sich vor die Alternative gestellt sahen, auf die weitere Tatbegehung zu verzichten und den Raub erfolglos abzubrechen, hatten sie sich für die Durchsetzung ihres Planes und damit gegen das Rechtsgut entschieden. Ein ganz anderes Entscheidungsverhalten liegt nach Roxin demgegenüber z. B. den meisten Fallkonstellationen tödlich ausgehender Verkehrsunfälle infolge bewusst riskanter Fahrmanöver zugrunde. Obwohl hier, etwa infolge einer vorausgegangenen Warnung des Beifahrers, die Kenntnis eines Risikos für eigene und fremde Rechtsgüter ebenso deutlich ausgeprägt sein kann wie das Risikobewusstsein der Täter im Lederriemenfall, ist doch die Einstellung des Täters zum Erfolgseintritt eine ganz andere. Der Autofahrer wird regelmäßig darauf vertrauen, den Unfall durch seine eigene Fahrtüchtigkeit vermeiden zu können und nimmt daher – im Unterschied zu den Tätern im Lederriemenfall – den tödlichen Ausgang nicht ernsthaft in seinen Tatplan auf. Dieses Vertrauen lässt es nach Roxin nicht zu einer „Entscheidung gegen die tatbestandlich geschützten Rechtswerte kommen“, so dass aus Sicht des Rechtsgüterschutzes die Vorsatzstrafe nicht gerechtfertigt ist. Sekundär stellt Roxin in seiner Darstellung der Problematik im Lehrbuch darüber hinaus auch auf die „erhebliche Schulddifferenz“ ab, die aus der jeweils unterschiedlichen Gesinnung der Täter resultiert. Denn „wer sich – sei es auch nur für den Eventualfall – gegen das geschützte Rechtsgut entscheidet, verrät eine rechtsfeindlichere Einstellung als derjenige, der – wenngleich leichtsinnig – auf den Nichteintritt des Erfolges vertraut“.257 Die Ausführungen Roxins zum Inhalt des kognitiven Vorsatzelements rekurrieren mit Ausnahme der oben dargestellten Problematik der Abweichung vom vorgestellten Kausalverlauf, bei der er bezüglich der einzelnen zum Erfolgseintritt führenden Zwischenschritte partiell mit einer normativen Konstruktion der Kenntnis arbeitet, auf einen realen psychischen Sachverhalt, der in der Hauptverhandlung im Einzelfall zu rekonstruieren ist. Lediglich die Schwelle, ab welchem Grad der Aktualisierung eines psychischen Befundes von Kenntnis gesprochen werden kann, ist nach seiner Auffassung an normativen Maßstäben zu beurteilen. Vor dem Hintergrund dieses Wechselspiels zwischen ontologischen und normativen Aspekten des kognitiven Elements kann Roxin etwa gegenüber der Mitbewusstseinslehre einen differenzierenden Standpunkt einnehmen. Im Unterschied zu Frisch, der die Mitbewusstseinslehre grundsätzlich ablehnt und die von dieser Lehre erfassten Fallgruppen ausschließlich anhand normativer und wie dargelegt258 vor allem systemfunktionaler Kriterien löst, steht Roxin dem psychologisierenden Konzept der Mitbewusstseinslehre jedenfalls nicht 257 258

Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 374, 375 (§ 12, Rn. 26). Vergleiche dazu im Einzelnen Kapitel 4 II. 2. d) bb).

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grundsätzlich verneinend gegenüber. Obwohl er der Auffassung ist, dass die psychologischen Grundlagen der strafrechtlichen Kenntnisproblematik noch nicht ausreichend differenziert erarbeitet sind, sieht er in der Begriffsbildungsmethodologie der Mitbewusstseinslehre (in Übereinstimmung mit der oben näher rekonstruierten methodologischen Grundhaltung) und in der daraus resultierenden Anerkennung eines „impliziten Bewusstseins“259 einen eindeutigen Erkenntnisfortschritt, hinter dem die rein normativen Ansätze zurückbleiben. Die Mitbewusstseinslehre oder vergleichbare psychologisierende Konzepte dürfen nach seiner insoweit eindeutig personfunktional orientierten Ansicht allerdings nicht dazu führen, dass der Vorsatz pauschal ohne Rücksicht auf die Spezifika des Einzelfalles bejaht wird. Auch das Vorliegen eines impliziten Bewusstseins bedarf daher der einzelfallbezogenen Prüfung und „muss in Zweifelsfällen aus dem Kontext der konkreten Situation begründet werden.“ Es kann folglich „in die Irre führen, wenn alles, was jemand an ,Bedeutungen‘ einmal erfahren hat und damit ,latent‘ weiß, über den Hilfsbegriff des Mitbewusstseins schematisch der Kenntnis und damit dem Vorsatz zugeschlagen wird“.260 Dieser methodische Ansatz Roxins verdeutlicht auch die entscheidende Diskrepanz zu dem ausschließlich systemfunktionalen Vorsatzkonzept Günther Jakobs’, der auf der Ebene des dolus eventualis mit einer normativen Konstruktion des kognitiven Elements arbeitet, für die alleine systemfunktionale Aspekte ausschlaggebend sein sollen. Die Vorsatzdogmatik ist daher ein Feld, auf dem die Autoren der „Münchener Schule“ vor allem in neueren Abhandlungen der „totalen postmodernen Objektivierung“261 durch Jakobs entgegentreten. Jüngstes Beispiel für diese Abgrenzung von der durch Jakobs begründeten „reinen“ systemfunktionalen Dogmatik ist ein Beitrag Schünemanns in der Festschrift für Hirsch,262 in der dieser auch einen eigenen „typologischen Vorsatzbegriff“ entwickelt, der die sich in der Vorsatzdogmatik Roxins und Rudolphis widerspiegelnden Bestrebungen einer Harmonisierung zwischen ontologisierender und normativierender Begriffsbildungsmethodologie weiter ausdifferenziert. bb) Der neuere typologische Vorsatzbegriff Bernd Schünemanns In dem oben genannten Beitrag bezieht sich Schünemann zunächst auf eine „Achillesferse“ des traditionellen psychologischen Vorsatzbegriffes, die nach seiner Auffassung vor allem aus der sprachlichen Umschreibung des voluntativen Elements im Sinne eines „Sichabfindens“ oder „Inkaufnehmens“ resultiert. 259

Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 420 (§ 12, Rn. 114). Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 421 (§ 12, Rn. 116), zu der Problematik der Vorsatzfiktion in den Mitbewusstseinsfällen bereits Hettinger, M.: GA 1982, 525 ff., 550. 261 Schünemann, B. in: Hirsch-FS 1999, S. 363 ff., 365. 262 Schünemann, B. in: Hirsch-FS 1999, S. 363 ff. 260

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Die herrschende Lehre, die mit diesen Abgrenzungsformeln operiert, nimmt seiner Auffassung nach in der Sache auf ein Bewusstseinsphänomen Bezug, das sich in der Lebenswirklichkeit nicht nur einer exakten Beschreibung und philologischen Fixierung entzieht, sondern als solches bis auf wenige Grenzfälle überhaupt nicht im Bewusstsein des Täters vorkommt. Denn der Täter wird in der Mehrzahl der Fälle, sofern ihm nur die Rechtsgutsverletzung an sich unerwünscht ist, „zwischen Hoffen und Bangen bezüglich des schlechten Ausgangs hin und her schwanken und nicht einmal selbst sagen können, ob er denn nun den Erfolg in Kauf genommen oder auf dessen Ausbleiben vertraut hatte“.263 Wenn im gerichtlichen Verfahren dennoch die voluntative Komponente festgestellt wird, so beinhaltet dies faktisch eine „verkappte Bewertung des Gesamtsachverhalts“,264 die von den Vertretern des psychologischen Vorsatzbegriffes an sich abgelehnt wird. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis sieht er die Kritik der neueren Versuche einer Objektivierung des Vorsatzbegriffes in Gestalt der „eingeschränkten Objektivierung“ durch Frisch und der „totalen postmodernen Objektivierung“ durch Jakobs im Grundsatz als berechtigt an. Dennoch will Schünemann – im Unterschied vor allem zu Jakobs – dem Vorsatzbegriff nicht jegliches „ontologisches Substrat“265 absprechen. Denn sofern der Vorsatz ausschließlich das Produkt einer normativen Zuschreibung darstellt, liegt dem eine „prinzipielle Geringschätzung der realen Geschehensstrukturen“266 zugrunde, die die Gefahr eines „normativistischen Fehlschlusses“ begründet. Ein solcher Begriff des Vorsatzes kann sich leicht über bestimmte Minimalbedingungen hinwegsetzen, die aus normativen Gesichtspunkten (Schünemann bezieht sich insoweit vor allem auf den Rechtsgüterschutz) für die Bejahung des Vorsatzes unerlässlich sind und so gerade infolge der ausschließlich normativierenden Betrachtung unterlaufen werden. Als Ausweg aus dieser Sackgasse entwickelt Schünemann einen typologischen Vorsatzbegriff, dessen Kriterien er aus „zwei unterschiedlichen normativen Bezugssystemen“267 ableitet. Die dabei maßgeblichen Bezugspunkte sind wiederum der Ratio der Vorsatzstrafe entnommen, die nach Schünemann einerseits im „Missbrauch einer qualifizierten Vermeidemacht“, das heißt in der „Tatherrschaft“,268 und andererseits in der „Brandmarkung“ einer für die geschützten Rechtsgüter „besonders gefährlichen Gesinnung“269 zu erblicken ist. Aus dem Kriterium des Missbrauchs der qualifizierten Vermeidemacht leitet 263 264 265 266 267 268 269

Schünemann, Schünemann, Schünemann, Schünemann, Schünemann, Schünemann, Schünemann,

B. B. B. B. B. B. B.

in: in: in: in: in: in: in:

Hirsch-FS Hirsch-FS Hirsch-FS Hirsch-FS Hirsch-FS Hirsch-FS Hirsch-FS

1999, 1999, 1999, 1999, 1999, 1999, 1999,

S. S. S. S. S. S. S.

363 363 363 363 363 363 363

ff., ff., ff., ff., ff., ff., ff.,

367, 368. 367. 377. 373. 372. 371. 372.

II. Strafrechtsdogmatische Schlussfolgerungen

289

Schünemann die Notwendigkeit eines ontologisch verstandenen kognitiven Vorsatzelements ab, bei dem es auf das Wissen um die Gefährlichkeit der eigenen Handlung ankommt. Um den oben dargelegten Anwendungsproblemen des herkömmlich verstandenen voluntativen Elements zu begegnen, begreift Schünemann das aus dem Aspekt der „Brandmarkung einer rechtsfeindlichen Gesinnung“ abgeleitete voluntative Element demgegenüber nicht als einen rein ontologischen Sachverhalt, sondern er versucht die Gesinnung des Täters durch bestimmte subjektive und objektive Unrechtselemente zu konkretisieren. Beispielhaft bezieht er sich dabei auf den „Wert oder Unwert des Endzwecks des Handelns“,270 die „Bereitschaft des Täters, das Risiko auch selbst zu übernehmen“, „das Ausmaß der Tatherrschaft über das Opfer“, „die Risikogewöhnung der Gesellschaft“ und „die Art des Rechtsgüterschutzes“.271 Der oben skizzierte Vorsatzbegriff Schünemanns stellt deshalb einen typologischen Begriff dar,272 weil es sich bei den Kriterien beider Elemente um Steigerungsbegriffe handelt, die in der Lebenswirklichkeit mit einer jeweils abstufbaren Intensität der Merkmalsausprägung vorkommen können. Schünemann ist dabei der Auffassung, dass „die weniger intensive Ausprägung eines Merkmals durch die intensivere Ausprägung eines anderen Merkmals quasi kompensiert werden kann“.273 Dieser Ausgleich findet allerdings dann seine Grenze, wenn die Minimalbedingungen des einen oder anderen Merkmals unterschritten sind. Bei dem kognitiven Element des Vorsatzbegriffes liegt die Schwelle des Mindesterfordernisses nach Schünemann bei der Kenntnis des Täters von der Möglichkeit einer Rechtsgutsverletzung. Fehlt diese Möglichkeitskenntnis, so vermag auch die rechtsfeindlichste Gesinnung des Täters nicht den Vorwurf vorsätzlicher Deliktsverwirklichung zu rechtfertigen.274 b) Einzelne Anwendungsbeispiele der Vorsatzdogmatik der Münchener Schule aa) Der nicht Stellung nehmende (gleichgültige) Täter Da in der Fallgruppe des nicht Stellung nehmenden Täters275 sowohl Jakobs als auch Frisch unter Bezug auf systemfunktionale Erwägungen im Ergebnis 270

Schünemann, B. in: Hirsch-FS 1999, S. 363 ff., 374. Diese Kriterien entsprechen inhaltlich weitgehend den von Frisch und Freund im Rahmen ihrer normativ orientierten Tatsachenfeststellung herangezogenen Hypothesen wie „Art des Risikos und Vermeidemaßnahmen“, „Art oder Qualität des allgemeinen Risikowissens“ usw., vgl. dazu im Einzelnen Kapitel 4 II. 1. c) aa). 272 Zur Struktur typologischer Begriffe im Strafrecht vgl.: Engisch, K.: Idee der Konkretisierung 1968, S. 237 ff. sowie aus neuerer Zeit Puppe, I. in: Arm. KaufmannGS 1989, S. 15 ff., 25 ff. 273 Schünemann, B. in: Hirsch-FS 1999, S. 363 ff., 372. 274 Schünemann, B. in: Hirsch-FS 1999, S. 363 ff., 373. 271

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Kap. 5: Funktionalismus der „Münchener Schule‘‘ um Claus Roxin

eine vorsätzliche Deliktsverwirklichung annehmen, stellt diese Problematik geradezu einen Prüfstein für die Vorsatzdogmatik der Münchener Schule dar. Wie bereits die obigen Ausführungen Schünemanns nahe legen, lehnt der Autor die Einbeziehung der Fallgruppe des nicht Stellung nehmenden Täters in den Bereich vorsätzlicher Deliktsverwirklichung grundsätzlich ab. Schünemann sieht in dem gegenteiligen Ansatz Jakobs’ (auf Frisch geht er in diesem Zusammenhang nicht ein) geradezu ein Musterbeispiel für den kritisierten „normativistischen Fehlschluss“, in denen sich Jakobs infolge seiner „totalen postmodernen Objektivierung des Vorsatzbegriffes“276 verwickelt. Denn wenn der Täter, wie dies in den hier interessierenden Sachverhalten der Fall ist, die Möglichkeit einer Rechtsgutsbeeinträchtigung aus welchen Motiven auch immer nicht sieht, fehlt es an den Minimalvoraussetzungen der Tatherrschaft und damit an einer Komponente des Vorsatzbegriffes. Obwohl – wie bereits in der Auseinandersetzung mit den Standpunkten Jakobs’ und Frischs (in dieser Arbeit) dargelegt wurde – diese Auffassung aus personfunktionalen Gesichtspunkten folgerichtig und zutreffend ist, bleibt fraglich, ob die gezogenen Schlussfolgerungen auch eine notwendige Konsequenz der Ausgangsprämissen Schünemanns darstellen. Ebenso wie Roxin sieht auch Schünemann die Möglichkeitskenntnis deshalb als eine Minimalvoraussetzung des Vorsatzes an, weil sich nur diese Sichtweise mit der Aufgabe des Strafrechts deckt, Rechtsgüterschutz zu gewährleisten. Da die Autoren weiterhin der Auffassung sind, dass Rechtsgüterschutz vorrangig über die Mechanismen der positiven Generalprävention277 erzielt werden kann, ist auch die gegenteilige, von Jakobs und Frisch ebenfalls mit generalpräventiven Argumenten untermauerte Schlussfolgerung, den gleichgültigen Täter wegen vorsätzlicher Deliktsverwirklichung zur Verantwortung zu ziehen, jedenfalls nicht von vornherein unplausibel. Schünemann tritt dem zwar mit der These entgegen, der gleichgültige Täter sei deshalb für die Rechtsgüterordnung weniger gefährlich, weil die Tatbegehung ohne Steuerungskapazität lediglich zu einer zufälligen Beeinträchtigung der Rechtsgüter führen könne.278 Stellt man aber, wie dies der Ansatz der positiven Generalprävention nahe legt, in Übereinstimmung mit Jakobs und Frisch auf den durch die Tat objektivierten Angriff auf die Normgeltung ab, so 275 Hierbei handelt es sich um die bereits in Kapitel 3 und 4 angesprochenen Fallkonstellationen, bei denen der Täter die Gefahr für ein Rechtsgut nur deshalb nicht kennt, weil ihn der Gegenstandsbereich nicht interessiert. So liegt es in dem von Jakobs [ZStW 101 (1989), 516 ff., 528] formulierten Lehrbuchfall eines Terroristen, der die Gefahr für das Leben eines die Straße sperrenden Polizisten, auf den er mit seinem Fahrzeug ungebremst zufährt, nur deshalb nicht sieht, weil ihm das Leben eines Polizeibeamten schon grundsätzlich nicht bedenkenswert ist. 276 Schünemann, B. in: Hirsch-FS 1999, S. 363 ff., 365; ders. in: Roxin-FS 2001, S. 1 ff., 20. 277 Schünemann, B. in: Hirsch-FS 1999, S. 363 ff., 372. 278 Schünemann, B. in: Hirsch-FS 1999, S. 363 ff., 373.

II. Strafrechtsdogmatische Schlussfolgerungen

291

relativiert dies die von Schünemann angenommene Bindung des Vorsatzes an das ontologische Kriterium der Möglichkeitskenntnis. Zufällig ist der Angriff auf die Rechtsordnung in den Gleichgültigkeitsfällen aus dieser Perspektive nämlich schon deshalb nicht, weil die Tat das Produkt einer grundsätzlich rechtsgüterfeindlichen Einstellung des Täters ist und die Normgeltung bereits durch diese in der Tat nach außen hervortretende und dadurch manifestierte Haltung des Täters in Frage gestellt wird. Einen wirklichen Schutz der Person vor einer Ausdehnung der strafrechtlichen Haftung wegen vorsätzlicher Deliktsverwirklichung erreicht man erst dann, wenn man den Begriff des Vorsatzes nicht an den Bedürfnissen der Generalprävention orientiert, sondern ausschließlich auf die Verantwortung des Täters für die konkret von ihm verursachten Tatfolgen bezieht. Unter diesem personfunktionalen Blickwinkel ist der tatbestandliche Erfolg in den Gleichgültigkeitsfällen tatsächlich als zufällig herbeigeführt anzusehen und die Möglichkeitskenntnis als Minimalvoraussetzung der Steuerungskapazität ist eine notwendige Bedingung, um dem Täter den Vorwurf vorsätzlicher Deliktsverwirklichung machen zu können. Eine vergleichbar kritische Haltung gegenüber der von Jakobs und Frisch befürworteten Ausdehnung der Vorsatzstrafe auf die Fallgruppe des nicht Stellung nehmenden Täters liegt auch den Ansätzen Roxins279 und Rudolphis280 zugrunde, die hier im Grundsatz ebenfalls keine vorsätzliche Deliktsverwirklichung annehmen wollen. Auch bei diesen Autoren ist das Vorsatzkonzept aber auf die systemfunktional verstandene Ratio der Vorsatzstrafe bezogen, so dass dieser im Ergebnis zutreffenden Ansicht die oben angeführten prinzipiellen methodischen Bedenken entgegengehalten werden können. bb) Zur Vorsatzproblematik in den AIDS-Fällen In den Aids-Fällen finden sich bei den Autoren der Münchener Schule sowohl im Ergebnis als auch in der Argumentation keine Anhaltshaltspunkte für eine systemfunktional begründete Ausweitung der strafrechtlichen Haftung.281 Die Effizienz des Mittels Strafrecht als ein Instrument der (general-)präventiv wirkenden Infektionsprophylaxe wird insbesondere von Schünemann als gering eingestuft, so dass schon aus Gründen fehlender Strafbedürftigkeit Zurückhaltung geboten sei. Vor diesem Hintergrund plädieren die Autoren vor allem in Fallkonstellationen, bei denen ein „betätigter Vermeidewille“282 erkennbar ist, für die Vernei279

Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 388 ff. (§ 12, Rn. 56 ff.). SK-Rudolphi, § 15, Rn. 45 mit kritischen Anmerkungen zu dem gegenteiligen Ansatz Wolfgang Frischs. 281 Schünemann, B.: JR 1989, 89 ff.; Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 499 (§ 12, Rn. 76 ff.); SK-Rudolphi, § 15, Rn. 41 ff. 280

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nung sowohl des Körperverletzungs- (das heißt des Infektionsvorsatzes) als auch des Tötungsvorsatzes.283 Denn da das Infektionsrisiko selbst bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr nach derzeitiger medizinischer Erkenntnis sich lediglich zwischen 0,1 und 1 % bewegt, hat der Täter regelmäßig „guten Grund“, „darauf zu vertrauen, dass es nicht zu einer Infektion kommen werde“.284 Schünemann leitet diese Lösung heute aus konkretisierenden Kriterien seines typologischen Vorsatzbegriffes ab. Der Vorsatz scheidet danach schon deshalb aus, weil „solange man nicht von einer allgemeinen Kondombenutzungspflicht ausgeht“,285 das Ausmaß der Tatherrschaft über das Opfer in den zugrunde liegenden Fallkonstellationen als äußerst gering einzustufen ist. Mit dieser Argumentation entgeht der Autor einer Fiktion bestimmter voluntativer Kriterien (sei es in Form des „sich Abfindens“, sei es in Gestalt eines „Vertrauens auf die Nichtverwirklichung der Gefahr“), zumal in den gegebenen Sachverhalten regelmäßig kein konkretes Bewusstseinserlebnis vorhanden sein wird. c) Kritik aus personfunktionaler Sicht Der von der Münchener Schule vertretene zweigliedrige Vorsatzbegriff sowie die Ergebnisse zu den oben analysierten Einzelproblemen zeigen auf, dass der Vorsatzbegriff der Autoren auf die Person des Täters und sein konkretes Entscheidungsverhalten bezogen ist. Wenn dieser personfunktionale Vorsatzbegriff wie dargelegt dennoch aus der Aufgabe des Strafrechts abgeleitet wird und diese Aufgabe nach dem Verständnis der Autoren im generalpräventiven Rechtsgüterschutz besteht, so muss dem ein grundsätzlich von dem Ansatz Jakobs zu unterscheidendes Verständnis von den Wirkungsmechanismen der positiven Generalprävention zugrunde liegen. Jakobs geht – wie in Kapitel 3 gezeigt wurde – offensichtlich davon aus, dass die systemfunktionale Auslegung der grundlegenden Rechtsbegriffe erforderlich ist, um die intendierte Systemstabilisierung, auf die es ihm entscheidend an282

Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 400 (§ 12, Rn. 77). Die Autoren verweisen dabei auf das schon von Frisch hervorgehobene Paradoxon, dass die Infektionswahrscheinlichkeit selbst bei ungeschütztem Verkehr ausgesprochen gering ist, während das Mortalitätsrisiko bei erfolgter Infektion als hoch einzustufen ist. Deshalb sei entgegen der Auffassung des BGH (BGHSt 36, 1 ff.) schon der Körperverletzungsvorsatz zu verneinen. Bejaht man indessen wegen des verbleibenden Restrisikos den bedingten Infektionsvorsatz, so ist es inkonsequent, nicht gleichzeitig auch den Tötungsvorsatz zu bejahen. Das vom BGH gegen die Annahme des Tötungsvorsatzes herangezogene Argument einer „erhöhten Hemmschwelle“ halten sowohl Roxin als auch Schünemann deshalb für wenig überzeugend, weil das Vertrauen auf eine Heilung von der Krankheit nach dem derzeitigen Kenntnisstand nur eine „reichlich vage Hoffnung darstellt“; vgl. hierzu Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 400 (§ 12, Rn. 78). 284 Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 400 (Fn. 153). 285 Schünemann, B. in: Hirsch-FS 1999, S. 363 ff., 374. 283

II. Strafrechtsdogmatische Schlussfolgerungen

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kommt, zu erreichen. Um die Normgeltung zu schützen und die Verhaltsnormen im Kollektivbewusstsein der Bevölkerung, das durch den Normbruch empfindlich destabilisiert ist, wach zu halten, will er zum Beispiel den „tatsachenblinden Täter“, der bei Begehung der Tat ohne „Möglichkeitskenntnis“ handelt, wegen vorsätzlicher Deliktsverwirklichung bestrafen. Denn nur diese „Reaktion auf den Normbruch“ ist nach seiner Auffassung geeignet, den genannten Bedürfnissen der Systemstabilisierung Rechnung zu tragen. Eine vergleichbare Argumentation legt Roxin etwa bei der Risikoerhöhungslehre zugrunde, wobei er allerdings im Unterschied zu Jakobs nicht mit dem abstrakten Begriff der Systemstablisierung, sondern mit dem Aspekt des (generalpräventiven) Rechtsgüterschutzes argumentiert. Wie bereits oben ausführlich dargelegt, nimmt er dabei aber faktisch auf einen identischen empirischen Sachverhalt Bezug. Über die Kriminalisierung begangenen Unrechts kann Rechtsgüterschutz nämlich nur dann erreicht werden, wenn man der Auffassung ist, dass diese Kriminalisierung andere (die rechtstreue Bevölkerung) deshalb von der Begehung einer vergleichbaren Tat abhält, weil dadurch ein sozialpsychologischer Prozess der „Einübung in Normanerkennung“ initiiert wird. In den Sachverhalten, die Roxin mit der (systemfunktionalen) Risikoerhöhungslehre löst, ist er offensichtlich der Auffassung, dass der generalpräventive Rechtsgüterschutz nur dann zu erreichen ist (d. h. zum Beispiel im Radfahrerfall: das Gebot der Einhaltung eines Mindestabstands nur dann im Kollektivbewusstsein der Bevölkerung „verankert“ wird), wenn dem Täter der Erfolg zugerechnet wird, obwohl er sich mangels Pflichtwidrigkeitszusammenhangs nicht notwendig selbst für den tödlichen Ausgang des Geschehens verantwortlich weiß. Diese Ausweitung der strafrechtlichen Haftung hält Roxin – ebenso wie die anderen Autoren der Münchener Schule – im Rahmen der Vorsatzdogmatik aus Gründen des Rechtsgüterschutzes nicht für erforderlich. Hier erscheint es ihnen als zur Demonstration der Unwertigkeit des Täterverhaltens ausreichend – dies geht etwa aus den Stellungnahmen der Autoren zu den Gleichgültigkeitsfällen hervor –, dass der Täter nur dann wegen vorsätzlichen Delikts bestraft wird, wenn er sich infolge der gegebenen Tatsachenkenntnis für den Erfolg vor sich selbst verantwortlich weiß. Die Frage, welchem der beiden Argumentationsansätze in Bezug auf die generalpräventiven Wirkungszusammenhänge zu folgen ist, betrifft den Kernbereich den Systemfunktionalismus. Stellte sich heraus, dass – wie dies die Autoren der Münchener Schule in ihrer Vorsatzdogmatik implizit annehmen – bereits die personfunktionale Auslegung der Rechtsbegriffe geeignet ist, den systemfunktionalen Bedürfnissen angemessen Rechnung zu tragen, wäre der systemfunktionalen Dogmatik buchstäblich der Boden entzogen. Die Ausweitung der strafrechtlichen Haftung um den Preis einer weitgehenden Schutzlosigkeit der Person vor dem staatlichen Zugriff in Form der Strafe wäre dann nach den eigenen systemtheoretischen Ausgangsprämissen des systemfunktionalen Ansat-

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zes nicht gerechtfertigt. Bevor dieser Problematik im nachfolgenden Kapitel 6 nachgegangen werden wird, bedarf es allerdings zunächst noch weitergehender Analysen der Dogmatik der Münchener-Schule, die den Umfang person- oder systemfunktionaler Argumentation bei den hier im Vordergrund stehenden Grundbegriffen des Allgemeinen Strafrechts sichtbar machen. 3. Schuld a) Die Differenzierung zwischen Schuld und Verantwortlichkeit Zu Roxins Verständnis der Systemkategorie Schuld wurde Wesentliches bereits oben im Rahmen der Rekonstruktion der straftheoretischen Grundposition des Autors gesagt. Diese Betrachtung wird im vorliegenden Abschnitt um eine Analyse einzelner dogmatischer Problempunkte der Schuld ergänzt, die auch den erforderlichen Einblick in den Umfang der systemfunktionalen Argumentation Roxins zu diesem Problembereich gewährleistet. In „Kriminalpolitik und Strafrechtssystem“ sowie in nachfolgenden Beiträgen286 hatte Roxin immer wieder hervorgehoben, dass die Schuld als strafrechtliche Systemkategorie aus der Strafzwecklehre abzuleiten sei. Vor diesem Hintergrund besteht die Ratio der Entschuldigungsgründe (z. B. § 35 StGB) nach seiner Auffassung – wie oben bereits ausführlich dargelegt – ausschließlich in der fehlenden präventiven Strafnotwendigkeit, so dass zumindest von diesem Ansatz aus eine weitgehende Vergleichbarkeit zu der Position von Jakobs zu bestehen scheint. Trotz dieser Parallele grenzt sich Roxin auch auf der Ebene der Strafbegründungsschuld eindeutig von Jakobs ab und hebt – entsprechend seiner liberalstaatlich-kriminalpolitischen Grundorientierung – die Notwendigkeit hervor, die Person vor „dem Zugriff des Strafrechts“287 zu schützen. Methodisch kann Roxin diese beiden Aufgabenbestimmungen der Strafbegründungsschuld, die einerseits ein Instrument der präventiven Rechtsgüterschutzes und andererseits ein Bollwerk gegen die präventiven Zwecküberlegungen darstellen soll, dadurch miteinander verbinden, dass er zwischen Schuld im engeren Sinne und Verantwortlichkeit unterscheidet.288 Nach dieser in seinem Beitrag in der Festschrift für Henkel289 entwickelten und vor allem von Wolter290 aufgegriffenen Diffe286 Roxin, C. in: Henkel-FS 1974, S. 171 ff.; ders. in: Bockelmann-FS 1979, S. 279 ff. 287 Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 727 (§ 19, Rn. 7). 288 Diese Differenzierung wird von Jakobs ausdrücklich abgelehnt, vgl. schon Jakobs, G.: Schuld und Prävention 1976, S. 8: Unter ausdrücklicher Abgrenzung von der Position Roxins stellt er klar: „In der vorliegenden Untersuchung wird zu zeigen versucht, dass die Schuld zweckbestimmt ist, und zwar die Schuld selbst und nicht eine abgespaltete Verantwortlichkeit“. 289 Roxin, C. in: Henkel-FS 1974, S. 171 ff.

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295

renzierung ist die personfunktional als „unrechtes Handeln trotz normativer Ansprechbarkeit“291 verstandene Schuld des Täters nur eine notwendige, aber nicht zugleich auch hinreichende Bedingung für die staatliche Strafe. Die in diesem Sinne schuldhafte Verwirklichung eines Straftatbestandes führt zwar in der Regel zur Verantwortlichkeit des Täters und löst damit den staatlichen Strafanspruch aus. In Ausnahmefällen, zum Beispiel in den Situationen des § 35 StGB oder des § 33 StGB, kann allerdings – trotz einer grundsätzlich auch hier gegebenen normativen Ansprechbarkeit – die Verantwortlichkeit aus (general-)präventiven Aspekten verneint werden. Die Frage, ob Roxin bei konkreten Fragestellungen, die herkömmlicherweise generell der Schuld zugeordnet werden, mit systemfunktionalen Gesichtspunkten argumentiert, erscheint demnach vor allem als eine Frage der Rubrizierung der jeweiligen Problematik. Sofern diese der Schuld im engeren Sinne zuzuordnen ist, stehen nach dem Ansatz Roxins personfunktionale Aspekte im Vordergrund, während für die der Kategorie der Verantwortlichkeit unterfallenden Problempunkte systemfunktionale Interessen ausschlaggebend sein dürften. Trotz seines Bekenntnisses zu der Konzeption des zweckrational-funktionalen Strafrechtssystems hat Roxins portugiesischer Schüler de Figueiredo Dias Bedenken gegen die von Roxin vorgeschlagene Differenzierung zwischen Verantwortlichkeit und Schuld.292 Der Autor, der die personfunktionale Schutzfunktion des Schuldprinzips besonders hervorhebt, sieht die Gefahr einer möglichen Verwechslung der beiden Analyseebenen und dadurch bedingt die Möglichkeit einer „störenden Einmischung von Präventionsüberlegungen auf der Ebene des Schuldurteils“,293 durch die die Garantiefunktion des Strafrechts unterlaufen werden könne. Roxin tritt dieser Kritik mit 290 Wolter, J.: GA 1996, 207 ff.; im Anschluss an eine Laudatio anlässlich Roxins 65. Geburtstags (GA 1996, 201 ff.). Ansätze auch bei Schünemann, B. in: ders. (Hrsg.): Grundfragen 1984, S. 153 ff., 187. Weitergehend demgegenüber Roxins Schüler Achenbach [in: Schünemann, B. (Hrsg.): Grundfragen 1984, S. 135 ff., 148–151], der sich gegen die Trennung von Schuld und Verantwortlichkeit ausspricht und gänzlich auf den Begriff der Strafbegründungsschuld verzichten will. 291 Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 740 (§ 19, Rn. 36). Mit dieser Inhaltsbestimmung des Schuldvorwurfs enthält sich Roxin in Übereinstimmung mit der wohl herrschenden Meinung im strafrechtlichen Schrifttum einer Stellungnahme in der Determinismus/Indeterminismus-Debatte und will den Täter „bei intakter Steuerungsfähigkeit und damit gegebener normativer Ansprechbarkeit“ lediglich „als frei“ behandeln. Schünemann, der zu inhaltlich im Wesentlichen mit Roxin vergleichbaren Ergebnissen kommt, nimmt zu dem Problem der Willensfreiheit insofern Stellung, als er zwischen Freiheit als einem „bio-physikalischem Faktum“ und einem „gesellschaftlichen Phänomen“ unterscheidet [Schünemann, B. in: ders. (Hrsg.): Grundfragen 1984, S. 153 ff., 166]. Eine „völlige Preisgabe der Idee der Willensfreiheit“ dokumentiert nach seiner Auffassung für das Strafrecht Naivität und Hilflosigkeit und ist schon deshalb nicht sachgerecht, weil sie „in den elementaren Strukturen der gesellschaftlichen Kommunikation“ verankert und damit „gesellschaftlich real“ ist. 292 De Figueiredo Dias, J. in: Schünemann, B./De Figueiredo Dias, J. (Hrsg.): Coimbra-Symposion 1995, S. 357 ff. 293 De Figueiredo Dias, J. in: Schünemann, B./De Figueiredo Dias, J. (Hrsg.): Coimbra-Symposion 1995, S. 357 ff., 363.

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der These entgegen, die beiden Subkategorien des Schuldurteils seien deutlich von einander zu unterscheiden und führten letztlich sogar zu einer Erweiterung des Schutzes der Person vor der staatlichen Strafgewalt: „Die Forderung nach Anerkennung eines präventiven Strafbedürfnisses als einer zusätzlichen Voraussetzung der Strafbarkeit bedeutet lediglich einen weiteren Schutz vor dem Zugriff des Strafrechts, indem nicht mehr nur das präventiv Zulässige durch das Schuldprinzip begrenzt, sondern auch die Möglichkeit einer Bestrafung schuldhaften Verhaltens durch das Erfordernis präventiver Unerlässlichkeit eingeschränkt wird.“294 Inwieweit die einzelnen Problempunkte eindeutig von einander abgegrenzt werden können, und ob die Kritik De Figueiredo Dias berechtigt ist, kann allerdings nicht pauschal, sondern nur durch eine Analyse der einzelnen Problembereiche beurteilt werden. Ähnlich wie bereits am Beispiel der Rubrizierungsprobleme der Vorsatzdogmatik Frischs aufgezeigt wurde, ist der Ansatz Roxins aber schon deshalb nicht unbedenklich, weil sich die Unterscheidung zwischen Schuld im engeren Sinne und Verantwortlichkeit jedenfalls nicht unmittelbar aus dem Gesetz ergibt. Nach dem Wortlaut der §§ 17 und 35 StGB handelt der Täter bei Vorliegen der in diesen Vorschriften genannten Voraussetzungen ebenso wie im Fall des § 20 StGB „ohne Schuld“. Die von Roxin angenommene Unterscheidung kann daher allenfalls der Ratio dieser Bestimmungen entnommen werden.

b) Die Voraussetzungen der Schuldfähigkeit Der Schuld im engeren Sinne ordnet Roxin zunächst die Voraussetzungen der Schuldfähigkeit zu. Hinsichtlich der biologisch-psychologischen Anknüpfungstatsachen rekurriert Roxin auf das entsprechende Fachwissen der Bezugsdisziplinen Psychologie und Psychiatrie und bezieht diese Erkenntnisse in eine personfunktionale Interpretation der Exkulpationsvorschriften (§§ 20, 21 StGB) ein.295 Deutlich wird dieser Argumentationszusammenhang bei Roxins Ausführungen zur Frage der Schuldfähigkeit im Fall von Affekttaten. Der Autor fordert hier eine sorgfältige einzelfallbezogene Prüfung der „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“ und schließt es aus, eine Exkulpation des Täters aus generalpräventiven Gründen deshalb zu versagen, weil dieser den Affekt verschuldet habe.296 Diese in der strafrechtlichen Literatur vor allem von Krümpelmann297 294

Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 727 (§ 19, Rn. 7). Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 756 ff. (§ 20). 296 Diesen Argumentationsansatz legt vor allem die Rechtsprechung zugrunde; vgl. z. B.: BGHSt 3, 82 ff.; BGH NJW 1959, 2315 f.; zurückhaltender allerdings BGHSt 7, 327 f. Roxins Argumentation stimmt daher auf dieser Ebene im Wesentlichen mit dem Ansatz Frischs überein, vgl. Kapitel 4 II. 3. 297 Im Rahmen eines Aufsatzes über die Neugestaltung der Vorschriften über die Schuldfähigkeit (durch das 2. Strafrechtsreformgesetz vom 4. Juli 1969) hatte Krümpelmann [ZStW 88 (1976), 6 ff., 36] diese Auslegung des § 20 de lege lata zunächst für inakzeptabel erklärt und sich deshalb aus kriminalpolitischen Gesichtspunkten de lege ferenda im Fall der vermeidbaren Defektlage für eine fakultative Strafmilderung ausgesprochen. Erst in einem späteren Aufsatz (GA 1983, 337 ff.) hat er sich ausdrücklich über seine früher geäußerten Bedenken hinweggesetzt [S. 356 (Fn. 79)] und 295

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befürwortete weite Auslegung des Merkmals „bei Begehung der Tat“ (§ 20 StGB) will den Zielkonflikt zwischen der „Durchsetzung des Schuldprinzips und den Notwendigkeiten der Kriminalpolitik“298 bei der genannten Affektproblematik trotz methodischer Bedenken zugunsten der Generalprävention lösen. Denn es sei kriminalpolitisch unhaltbar und einfach „nicht möglich, bei einem Viertel der Tötungskriminalität die Täter freizusprechen“.299 Roxin tritt dieser „bis an die äußerste Grenze getriebenen Auslegung“300 mit dem personfunktionalen Argument entgegen, ein „tatbestandsbezogenes Schuldprinzip“ sei „nur glaubwürdig, wenn man es nicht in jedem Konfliktsfall präventiven Interessen selbst gegen den Gesetzeswortlaut opfert“.301 Diese restriktive, auf die Person des Straftäters und seine konkrete normative Ansprechbarkeit im Zeitpunkt der Tatbegehung bezogene Auslegung der Bestimmungen über die Schuldfähigkeit liegt auch bei Roxins Stellungnahmen zu weiteren Grenzfragen dieser Normen zugrunde und dokumentiert damit die – im Unterschied zu Jakobs und in Übereinstimmung mit Frisch und Freund – grundsätzlich personfunktionale Ausrichtung der Kategorie der Strafbegründungsschuld (im engeren Sinne). c) Die Kategorie der Verantwortlichkeit Soweit Roxin eine Problematik der Kategorie der Verantwortlichkeit zuordnet, stellt er demgegenüber auf kriminalpolitische Aspekte ab. Deutlich wird diese Argumentation vor allem in der Dogmatik der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums,302 in der Roxin zwischen der Vermeidbarkeit des Irrtums als Voraussetzung schuldhaften Handelns303 und der Entschuldbarkeit als Fall ausgeschlossener Verantwortlichkeit304 differenziert. Nach seiner Auffassung ist die die oben dargelegte Ansicht aus teleologischen Aspekten für zulässig erklärt. Denn es entspreche nicht dem Willen des Gesetzgebers, die „sonst notwendigen Freispruchräume zu eröffnen“. In diesem Zusammenhang ist allerdings darauf hinzuweisen, dass Krümpelmann der Funktionalisierung des Schuldbegriffes (in Gestalt der Lehre Jakobs) kritisch gegenübersteht [vgl. z. B. Krümpelmann, J.: GA 1983, 337 ff., 357 (Fn. 83)] und (in Übereinstimmung mit Welzel) grundsätzlich eine personfunktionale Auslegung des geltenden Rechts befürwortet. 298 Krümpelmann, J.: ZStW 88 (1976), 6 ff., 7. 299 Krümpelmann, J.: ZStW 88 (1976), 6 ff., 35. 300 Krümpelmann, J.: GA 1983, 337 ff., 356. 301 Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 763 (§ 20, Rn. 16). 302 Roxin setzt einen weiteren Schwerpunkt seiner Lehre von der Verantwortlichkeit zudem auf die §§ 33, 35 StGB. Vgl. hierzu bereits die Ausführungen oben [in diesem Kapitel I. 1. b) cc)]. In der nachfolgenden Darstellung liegt der Akzent schon deshalb auf der Dogmatik des Verbotsirrtums, weil dies den Vergleich zur Schule Jakobs ermöglicht, die im Rahmen der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums ein systemfunktionales Konzept zugrunde legt. 303 Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 809 f. (§ 21, Rn. 34–36). 304 Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 810 ff. (§ 21, Rn. 37–45).

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Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums zunächst eine Voraussetzung der Schuld im engeren Sinne. Der Schuldvorwurf bezieht sich daher im Fall des Handelns in Verbotsunkenntnis auf die Möglichkeit, die Kenntnis des Unrechts zu erlangen. Bei diesem Möglichkeitsurteil ist ein subjektiver Maßstab anzulegen und auf das „Können“ des individuellen Täters abzustellen. Eine entsprechende Möglichkeit besteht allerdings bereits dann, wenn der Täter bei extremen Anstrengungen Anhaltspunkte für die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens hätte gewinnen können. Steht unter diesen Gesichtspunkten – und damit in den praktisch überwiegenden Fällen – fest, dass „eine (geringe) . . . Schuld vorliegt“,305 so ist damit nach der Differenzierung Roxins aber noch keine endgültige Entscheidung über die Strafbarkeit des Täters getroffen. Für diese Frage sollen nunmehr Gesichtspunkte der Verantwortlichkeit ausschlaggebend sein, die das Verhalten ausnahmsweise „entschuldigen“ können: „Wer im entschuldigenden Notstand (§ 35) oder Notwehrexzess (§ 33) handelt ,kann‘ sich – wenn auch unter Erschwerung – immer noch normgemäß motivieren (sonst liegt ein Fall des § 20 vor); aber der Gesetzgeber übt Nachsicht und schließt die Verantwortlichkeit aus, soweit nicht präventive Bedürfnisse eine Sanktion unabweisbar gebieten . . . So wird man auch im Falle des Verbotsirrtums Straflosigkeit schon immer dann eintreten lassen müssen, wenn der Täter den Ansprüchen normaler Rechtstreue genügt hat. Hätte er nur bei extremen Anstrengungen Anhaltspunkte für die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens gewinnen können – was, wie gesagt, fast stets zu bejahen ist – so liegt eine (geringe) Schuld noch vor; aber da derartige Anstrengungen nicht mehr zumutbar sind, wird der Täter ,entschuldigt‘, genauer: die strafrechtliche Verantwortung wird ausgeschlossen.“306

Roxin propagiert damit im Ergebnis ein zweistufiges Prüfungsprogramm für die Feststellung der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums.307 In einem ersten Schritt ist nach der individuellen Möglichkeit zu fragen, ob sich der Täter die erforderliche Kenntnis des Unrechts überhaupt hätte verschaffen können (tatsächliche individuelle Vermeidbarkeitsprüfung).308 In einem zweiten Schritt ist 305

Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 810 (§ 21, Rn. 37). Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 810 (§ 21, Rn. 37). 307 Das Prüfungsprogramm Roxins entspricht dabei in den wesentlichen Zügen der von Rudolphi in seiner Habilitationsschrift entwickelten Vermeidbarkeitslehre, die allerdings trotz ihrer Einbindung in ein der kriminalpolitischen Linie Roxins entsprechendes Konzept des Präventionsstrafrechts ohne die Aufspaltung in Schuld im engeren Sinne und Verantwortlichkeit auskommt, vgl. hierzu ausführlich Rudolphi, H.-J.: Verbotsirrtum 1969, S. 200 ff.; zusammenfassend SK-Rudolphi, § 17, Rn. 30 ff. 308 Der personfunktionale Maßstab dieser Prüfung tritt besonders plastisch in den Ausführungen Rudolphis (Verbotsirrtum 1969, S. 205) hervor, der zu der Frage der Möglichkeit zum Erkennen der Rechtswidrigkeit ausführt: „Der Richter hat – bildlich gesprochen – in die Haut des Täters zu schlüpfen und sich zu fragen, ob ein Mensch wie dieser Täter in der Lage war, durch eigenes Nachdenken die Rechtswidrigkeit zu erkennen. Dies erfordert nicht nur ein Höchstmaß an Einfühlungsvermögen, sondern auch ein möglichst genaues und umfassendes Bild von den geistigen Fähigkeiten und der Werthaltung des konkreten Täters.“ 306

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sodann zu prüfen, ob die notwendigen Anstrengungen im konkreten Fall zumutbar waren (Vermeidbarkeitsprüfung im Rechtssinne). Dieses Stufenverhältnis bei der Feststellung der Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums tritt deutlich nochmals in folgenden Ausführungen Roxins hervor: „Ein Verbotsirrtum kann auch bei bestehender (verminderter) Schuld die Verantwortlichkeit ausschließen und als im Rechtssinne unvermeidbar angesehen werden, wenn ein Verzicht auf die Ahndung mit den präventiven Aufgaben des Strafrechts vereinbar ist. Es ist daher unberechtigt, den unvermeidbaren Verbotsirrtum als angeblich reinen ,Schuldausschließungsgrund‘ den ,Entschuldigungsgründen‘ der §§ 33, 35 entgegenzusetzen . . .“309

Wenn damit zumindest für die Frage der Vermeidbarkeit Gesichtspunkte der Prävention ausschlaggebend sein sollen, ist zu erwarten, dass Roxin zu einer mit der Schule von Jakobs vergleichbaren rein normativen Interpretation dieses Merkmals gelangt, deren entscheidender Maßstab die Bedürfnisse des Systems darstellen. Roxins Ausführungen zeigen allerdings auch hier, dass er insoweit von einer vollständig unterschiedlichen Bedürfnislage des Systems ausgeht und glaubt, dass die Normgeltung auch bei einer relativ weitgehenden Exkulpation der in einem Verbotsirrtum handelnden Täter nicht ernsthaft in Frage gestellt wird. Auch legt er dem Kriterium der Vermeidbarkeit keinen rein normativen, systemfunktionalen Beurteilungsmaßstab zugrunde, sondern bezieht sich – soweit die Regelung des § 17 StGB dies zulässt – auf die Person des Straftäters und dessen Erkenntnismöglichkeiten. Im Einzelnen: Die erwartungswidrig personfunktionale Auslegung des Vermeidbarkeitskriteriums als Fall ausgeschlossener Verantwortlichkeit wird zunächst dadurch deutlich, dass Roxin in Übereinstimmung mit dem überwiegenden Teil des strafrechtlichen Schrifttums310 einen „Anlass“ für die Vergewisserungsbemühungen des Täters fordert.311 Denn im Unterschied zu dem Ansatz von Jakobs werden damit nicht primär die Interessen des Systems, sondern der individuelle 309

Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 812 (§ 21, Rn. 43). LK-Schroeder, § 17, Rn. 28, 29; Krümpelmann, J.: Budapest-Beiheft zur ZStW 1978, S. 6 ff., 34; Zaczyk, R.: JuS 1990, 889 ff., 893; Horn, E.: Verbotsirrtum 1969, S. 105. Zu den Binnendifferenzen innerhalb dieses Meinungsspektrums vgl. die Ausführungen in Kapitel 3 III. 3. b). 311 Besonders deutlich tritt dieser personfunktionale Ableitungszusammenhang wiederum bei Rudolphi hervor, der das Kriterium des Anlasses unmittelbar aus dem Schuldprinzip und seinem spezifischen (von Roxin zumindest terminologisch abweichenden) Verständnis von Freiheit ableitet: „Jedem Menschen sind in jedem Moment unzählige Verhaltensmöglichkeiten gegeben, und es ist auch einzuräumen, dass er damit bereits in einer bestimmten Weise in die Lage versetzt ist, sie zu realisieren. Solange jedoch für den Menschen keinerlei Anlass besteht, eine dieser Möglichkeiten zu realisieren, . . . ist es allein eine Frage des Zufalls, ob er diese oder jene Verhaltensmöglichkeit in die Tat umsetzt. Erst dann, wenn für ihn ein Anlass besteht, es für ihn also einen bestimmten Sinn hat, eine dieser ihm gegebenen Möglichkeiten in die Tat umzusetzen, ist er auch befähigt, sich frei für oder gegen sie zu entscheiden.“ [Rudolphi, H.-J.: Verbotsirrtum 1969, S. 209 (Hervorhebung im Original)]. 310

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Täter zum Maßstab der Entscheidung über die Vermeidbarkeit erklärt, der nur dann für den Irrtum zu Verantwortung gezogen wird, wenn er neben der objektiven Möglichkeit zur Erkenntnis des Unrechts auch einen sinnvollen Grund für die Vergewisserungsbemühungen gesehen hat. Hinsichtlich der Kriterien der für den Anlass erforderlichen Situation versucht Roxin einen Mittelweg zwischen den durch die Ansicht Horns312 auf der einen Seite und die Auffassung der Rechtsprechung313 auf der anderen Seite markierten Extrempositionen zu finden und bejaht das Vorliegen eines Anlasses im Wesentlichen in drei verschiedenen Fallgruppen. Ein Anlass zur Überprüfung der Rechtslage besteht dann, wenn „dem Täter selbst spontan oder durch Hinweise Dritter, durch eigenes Nachdenken oder Fachlektüre Zweifel gekommen sind; wenn der Täter zwar keine Zweifel hat, aber weiß, dass er sich auf einem Gebiet bewegt, das im Einzelnen rechtlichen Sonderregelungen unterliegt; und wenn dem Täter bewusst ist, dass sein Verhalten einzelnen oder der Allgemeinheit Schaden zufügt“.314 Kann es unter Berücksichtigung dieser von Roxin durch eine reichhaltige Kasuistik veranschaulichten Kriterien ausgeschlossen werden, dass der Täter für sich einen Anlass gesehen hat, entsprechende Vergewisserungsbemühungen zu entfalten, so scheidet eine Strafbarkeit im Hinblick auf den konkreten geprüften Unrechtstatbestand aus, obwohl der Täter grundsätzlich die Möglichkeit gehabt hat, die notwendige Unrechtskenntnis zu erlangen. Auch den Umfang der bei gegebenem Anlass erforderlichen Vergewisserungsbemühungen beurteilt Roxin personfunktional aus der Perspektive des handelnden Täters und stellt auf dessen konkrete Erkenntnismöglichkeiten ab. So darf sich nach seiner Auffassung der „juristisch nicht vorgebildete Bürger“315 auf die auch „stegreif“ erteilten Auskünfte eines Rechtsanwaltes verlassen. Ist der Täter demgegenüber selbst Anwalt, sieht Roxin die Konsultation eines weiteren Anwalts jedenfalls dann nicht als erforderlich an, wenn sich die Rechtsfrage auf das Tätigkeitsfeld des Anwalts bezieht und dieser in „Rechtsprechung und Literatur“ nachsieht. Diese in Roxins Lehrbuch wiederum mit einem reichhaltigen Anschauungsmaterial entwickelte Dogmatik der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums unterscheidet sich demnach maßgeblich von der Argumentation Jakobs’ und seiner 312 Horn, E.: Verbotsirrtum 1969, S. 105 geht von einem Anlass erst dann aus, wenn dem Täter „unspezifische Zweifel“ an der Rechtmäßigkeit seines Verhaltens gekommen sind. Seine Auffassung wird geteilt von Zaczyk, R.: JuS 1990, 889 ff., 893. 313 Die Rechtsprechung legt dem Bürger allgemein die Pflicht auf, sich über die Rechtmäßigkeit prinzipiell aller Verhaltensweisen zu vergewissern, grundlegend: BGHSt 2, 201: Der Mensch hat „bei allem was er zu tun im Begriffe steht, sich bewusst zu machen, ob es mit den Sätzen des rechtlichen Sollens in Einklang steht.“ 314 Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 816 (§ 21, Rn. 54). Vergleichbare Fallgruppen wiederum bei Rudolphi, H.-J.: Verbotsirrtum 1969, S. 209 ff.; zusammenfassend: SK-Rudolphi, § 17, Rn. 31. 315 Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 818 (§ 21, Rn. 61).

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Schüler Lesch und Timpe, nach deren Konzeption es auf die psychologisierende und individualisierende Betrachtung der Fähigkeiten und Möglichkeiten des Täters im Tatzeitpunkt nicht ankommt. Dennoch sind die beiden unterschiedlichen Schulen des Funktionalismus (Roxin auf der einen, Jakobs auf der anderen Seite) im Hinblick auf den kriminalpolitischen Ansatzpunkt mit einander vergleichbar. Die Bestimmung der Grenze, ab wann eine konkret gegebene Verbotsunkenntnis zum Ausschluss der Schuld und damit zur Verneinung der Strafbarkeit führt, hat sich an den Bedürfnissen des „Soziallebens“316 bzw. den Anforderungen an „gesellschaftliche Ordnung“317 auszurichten. Im Unterschied zu der Schule von Jakobs ist Roxin offensichtlich der Auffassung, dass diesen Bedürfnissen auch oder gerade durch eine an der Person orientierte Auslegung des Vermeidbarkeitsbegriffes Rechnung getragen werden kann. In der breit angelegten Monographie Rudolphis wird dieses Verständnis der auf Generalprävention beruhenden Wirkungsmechanismen des Rechtsgüterschutzes auch explizit herausgestellt: „Der von den Strafnormen bezweckte Rechtsgüterschutz lässt sich nicht beliebig dadurch steigern, dass man die an den Täter hinsichtlich seiner Bemühungen um die Erkenntnis der Rechtswidrigkeit zu stellenden Anforderungen bis zur äußersten Grenze erhöht. Im Gegenteil, von einer bestimmten Grenzlinie an lässt sich, wenn man das Maß der von den Bürgern zu erbringenden, auf Erkenntnis der Rechtswidrigkeit gerichteten Leistungen weiter steigert, nur noch ein immer geringer werdender Zuwachs an Rechtsgüterschutz erzielen. . . . Mit der Abnahme der den Täter treffenden Schuld wachsen die sich aus der Ahndung dieser Schuld ergebenden Belastungen des einzelnen und der Gemeinschaft, während der dadurch zusätzlich erzielte Rechtsgüterschutz immer mehr an Gewicht verliert.“318

In diametralem Gegensatz zu dieser Argumentation glauben vor allem Timpe und Lesch die Grenze der Vermeidbarkeit ohne Rücksicht auf die individuellen Fähigkeiten des konkreten Täters unmittelbar aus den Bedürfnissen des Systems ableiten zu müssen. Hinter den beiden Positionen stehen daher, wie bereits oben zur Vorsatzdogmatik dargelegt, völlig unterschiedliche Anschauungen über die Wirkungsmechanismen, die zum Rechtsgüterschutz oder zu der diesen zumindest mittelbar bewirkenden „Einübung in Normanerkennung“ nach dem Konzept der positiven Generalprävention erforderlich sind. Diese Wirkungszusammenhänge werden aber weder bei Jakobs noch bei Roxin selbst hinterfragt, sondern sie gehören zu den unausgesprochenen Ausgangsprämissen der jeweiligen Ansätze.

316 317 318

Roxin, C.: Strafrecht AT 1997, S. 810 (§ 21, Rn. 37). Timpe, G.: GA 1984, 51 ff., 55. Rudolphi, H.-J.: Verbotsirrtum 1969, S. 213.

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4. Versuchsunrecht und Rücktritt a) Die Ratio der Rücktrittsregelungen Der oben skizzierte Zusammenhang zwischen einer personfunktionalen Auslegung der Rechtsbegriffe und der angenommenen systemstabilisierenden präventiven Wirkung der so verstandenen Normen liegt auch Roxins Konzept des Rücktritts vom Versuch zugrunde. Roxin sieht den Rücktritt vom Versuch als Entschuldigungsgrund319 an und ordnet die Problematik im engeren Sinne der Kategorie ausgeschlossener Verantwortlichkeit zu. Mit dieser Rubrizierung ist die Ratio der Rücktrittsbestimmungen, die nach dem Konzept Roxins für die Auslegung einzelner Grundbegriffe des § 24 StGB leitend sein soll, vorgezeichnet. Roxin schließt sich insoweit der zuerst vom BGH320 formulierten Strafzwecktheorie an,321 nach der ein Rücktritt vom Versuch insbesondere dann in Betracht kommt, wenn kein Grund zur Sanktionierung des Versuchs ersichtlich ist. Bei den maßgeblichen Strafzweckerwägungen kommt es ihm – wie bereits am Beispiel des Verbotsirrtums erläutert – auf spezialpräventive und generalpräventive Gesichtspunkte sowie auf Aspekte des Schuldausgleichs322 an. Das zentrale übergeordnete Kriterium, von dem die genannten präventiven Wirkungen und der Gesichtspunkt der Schuldkompensation maßgeblich abhängen, ist der Gesichtspunkt der „Rückkehr“ des Täters „zur „Rechtstreue“.323 Vor diesem Hintergrund erhält das Freiwilligkeitskriterium (im Unterschied zu der Position Jakobs) eine entscheidende Bedeutung.324 Denn eine Rückkehr in die Legalität ist nur dann anzunehmen, wenn diese auch „Ausdruck einer inneren Umkehr des Täters“325 darstellt. 319 Roxin, C.: Kriminalpolitik 1973, S. 36 ff.; ders. in: Heinitz-FS 1972, S. 251 ff., 273; aus der „Münchener Schule“ ferner Rudolphi, H.-J. in: SK, § 24, Rn. 6. 320 BGHSt 9, 48 ff., 52: „Sieht der Täter von dem begonnenen Versuch freiwillig ab, so zeigt sich darin, dass sein verbrecherischer Wille nicht so stark war, wie es zur Durchführung der Tat erforderlich gewesen wäre. Seine Gefährlichkeit, die im Versuch zunächst zum Ausdruck gekommen war, erweist sich nachträglich als wesentlich geringer. Aus diesem Grund sieht das Gesetz davon ab, den ,Versuch als solchen‘ zu ahnden. Denn eine Strafe erscheint ihm nicht mehr nötig, um den Täter für die Zukunft von Straftaten abzuhalten, um andere abzuschrecken und die Rechtsordnung wieder herzustellen“. 321 Roxin, C. in: Caballero-FS 1998, S. 299 ff.; ebenso SK-Rudolphi, § 24, Rn. 4; ders.: ZStW 85 (1973), 104 ff., 120. 322 Roxin nimmt in seinen Ausführungen zum Rücktritt explizit (Roxin, C. in: Heinitz-FS 1972, S. 251 ff., 270) auch auf Gesichtspunkte des Schuldausgleichs Bezug, obwohl er der Vergeltung als Strafzweck – wie oben bereits ausführlich dargelegt – keine Bedeutung beimisst (vgl. hierzu nochmals Roxin, C. in: Caballero-FS 1998, S. 299 ff., 302). 323 Roxin, C. in: Caballero-FS 1998, S. 299 ff., 308; ders. in: Heinitz-FS 1972, S. 251 ff., 260 ff. 324 Roxin, C.: Kriminalpolitik 1973, S. 36 ff.; ders. in: Heinitz-FS 1972, S. 251 ff., 260 ff.

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Neben diesem Aspekt, an den die kriminalpolitischen Strafzweckerwägungen anknüpfen, argumentiert Roxin sekundär mit dem Gesichtspunkt des Opferschutzes326 und nimmt damit auf Überlegungen Bezug, die auch der älteren Theorie der „goldenen Brücke“ zugrunde liegen.327 Obwohl er annimmt, dass der Täter bei Begehung der Tat kaum diesbezüglichen rationalen Erwägungen zugänglich sein werde, stellt Roxin im Rahmen seiner Rücktrittsdogmatik doch darauf ab, dass das von den Rücktrittsbestimmungen zumindest potentiell motivierte Entscheidungsverhalten des Täters einen weitestgehenden Opferschutz zulässt. Bei den maßgeblichen Auslegungsfragen, die sich bei der Anwendung des § 24 StGB stellen, will er daher dem Täter die Möglichkeiten offen halten, alle Maßnahmen zum Schutz des Opfers zu ergreifen und hierdurch Straffreiheit zu erlangen. Hat der Täter sein Entscheidungsverhalten an diesen Prämissen des Opferschutzes orientiert und erweist er sich damit im entscheidenden Augenblick als rechtstreu, ist eine Sanktionierung des Versuchs aus allen denkbaren Strafzweckerwägungen obsolet. Denn „generalpräventive Gründe fordern keine Bestrafung, weil . . . der Täter . . . kein schlechtes Beispiel gibt. Spezialpräventive Einwirkungen sind unnötig, weil der Täter durch seinen Rücktritt in die Legalität zurückgekehrt ist; seine etwaige Labilität, die schon durch den Versuch in Erscheinung tritt, ist, solange er von der Erfolgsherbeiführung freiwillig Abstand nimmt, allein kein ausreichender Grund für strafrechtliche Sanktionen. Und auch ein Schuldausgleich erweist sich als überflüssig, weil der Täter die im Versuch steckende Schuld durch seinen freiwilligen Rücktritt selbst wieder gutgemacht und ,ausgeglichen‘ hat.“328

Von der in der Rechtsprechung vertretenen Strafzwecktheorie unterscheidet sich die Auffassung Roxins aber insoweit, als er sich von der „kriminologischen Prognose“ mangelnden spezialpräventiven Einwirkungsbedarfs im Fall des Rücktritts vom Versuch weitgehend distanziert.329 Denn die durch das Gesamtverhalten dokumentierte Labilität des Täters gegenüber den Anforderungen des Rechts kann im Einzelfall durchaus Anlass für spezialpräventive Interventionen bieten. Auf diesen Gesichtspunkt darf im Rahmen des Rücktritts nach seiner Auffassung aber deshalb nicht abgestellt werden, weil sich das „spezial325

Roxin, C. in: Caballero-FS 1998, S. 299 ff., 308. Roxin, C.: JuS 1981, 1 ff., 8; ders.: JR 1986, 424 ff., 426; ders. in: Hirsch-FS 1999, S. 327 ff., 335 ff. 327 Die Theorie von der „goldenen Brücke“ verwirft Roxin aber unter anderem auch deshalb, weil diese das Freiwilligkeitserfordernis nicht zutreffend zu erklären vermag, vgl. Roxin, C. in: Caballero-FS 1998, S. 299 ff., 305. Diese Kritik hindert ihn aber nicht daran, im Rahmen der Strafzwecktheorie auch mit dem Gesichtspunkt des Opferschutzes und damit dem maßgeblichen Kriterium der Lehre von der „goldenen Brücke“ zu argumentieren. Der Aspekt des Opferschutzes steht auch in einer weiteren Arbeit Rudolphis (NStZ 1989, 508 ff., 513) im Mittelpunkt, der sich in dieser Darstellung auch ausdrücklich an die Theorie von der goldenen Brücke anlehnt. 328 Roxin, C. in: Heinitz-FS 1972, S. 251 ff., 270. 329 Ausführlich: Roxin, C. in: Caballero-FS 1998, S. 299 ff., 300. 326

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präventive Einwirkungsbedürfnis“ „aus dem realen Geschehen der vorliegenden Tat ergeben muss“.330 Unter Berücksichtigung dieser Binnenperspektive kommt eine spezialpräventive Intervention im Fall des Zurücktretenden nicht in Betracht: Denn der Täter „ist hinsichtlich der versuchten Tat in die Legalität zurückgekehrt, und seine etwa noch vorhandenen Deliktsneigungen geben zu seiner Bestrafung so wenig Anlass wie bei anderen kriminell gefährdeten Menschen“.331 Aus dieser Ratio einer „modifizierten Strafzwecktheorie“ ergeben sich für die Auslegung des § 24 StGB folgende Konsequenzen: b) Konsequenzen für den Rücktritt aa) Die Abgrenzung zwischen fehlgeschlagenem, unbeendetem und beendetemVersuch Die personfunktionale Auslegung der Rücktrittsbestimmungen, die aus den oben skizzierten kriminalpolitischen Überlegungen folgt, wird zunächst im Rahmen der Abgrenzung zwischen unbeendetem und beendetem Versuch deutlich. Bei den hier vor allem problematischen Fällen der wiederholten bzw. wiederholbaren Ausführungshandlung schließt sich Roxin332 (im Gegensatz zu Jakobs und Freund) der rückrittsfreundlichen Gesamtbetrachtungslehre an und geht im Grundsatz333 nur dann von einem den Rücktritt grundsätzlich ausschließenden fehlgeschlagenen Versuch aus, wenn der Täter alle ihm möglichen, in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang stehenden Akte erfolglos vorgenommen hat. Die vor allem von Jakobs und Freund mit systemfunktionalen Erwägungen begründete Einzelaktstheorie, die in allen Fällen wiederholter Ausführungshandlungen einen beendeten, selbständig fehlgeschlagenen Versuch annimmt,334 hält Roxin vorrangig aus in der Person des Täters liegenden Gründen – an die sich die vorstehend skizzierten Strafzwecküberlegungen anschließen – für wenig überzeugend. Denn es ist für die Gewährung des Rücktrittsprivilegs entscheidend, dass „der Handelnde die kriminelle Energie zur Vollendung des Delikts nicht aufbringt, obwohl diese durch Gewährenlassen oder Weitermachen ohne besondere Schwierigkeiten möglich gewesen wäre. Die darin liegende ,Rückkehr zur Rechtstreue‘ prämiert der Gesetzgeber mit Straflosigkeit . . .“335

330

Roxin, C. in: Caballero-FS 1998, S. 299 ff., 300. Roxin, C. in: Caballero-FS 1998, S. 299 ff., 300. 332 Roxin, C.: JuS 1981, 1 ff., 6; ders.: JR 1986, 424 ff.; ebenso SK-Rudolphi, § 24, Rn. 11 ff. 333 Zu den von Roxin angenommenen Ausnahmen siehe unten in diesem Abschnitt. 334 Vgl. dazu im Einzelnen die Ausführungen in Kapitel 4 II. 4. 335 Roxin, C.: JuS 1981, 1 ff., 8. 331

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Die Einzelaktstheorie kommt nach seiner Auffassung darüber hinaus auch zu kriminalpolitisch unbefriedigenden Ergebnissen. Denn vom Standpunkt der Einzelaktstheorie muss sich der Täter sagen, „dass er, wenn er von weiteren Ausführungshandlungen absieht, auf die Anzeige des Opfers hin mit Sicherheit eine langjährige Freiheitsstrafe wegen versuchten Mordes oder Totschlags zu erwarten hat. Dagegen kann er hoffen, unentdeckt und ungestraft davonzukommen, wenn er seinem ursprünglichen Plan entsprechend das Opfer vollends umbringt. Eine Theorie, in deren Konsequenz eine Tötung des Opfers ,lohnender‘ ist als seine Schonung, leuchtet aber nicht ein, während nach der hier vertretenen Auffassung derjenige, der auf die ihm mögliche Vollendung freiwillig verzichtet, jedenfalls wegen eines Tötungsversuchs nicht bestraft werden kann und somit besser dasteht als der Täter einer vollendeten Tötung, der mit seiner Entdeckung und Bestrafung immerhin rechnen muss.“336

Bei der Abgrenzung zwischen unbeendetem und beendetem Versuch ist der leitende Maßstab damit der personfunktionale Gesichtspunkt der Rückkehr des Täters in die Legalität. Die Versuchshandlung und der nachfolgende Rücktritt sind dabei als einheitlicher Bewertungsgegenstand zu beurteilen und unter dem Gesichtspunkt der Strafwürdigkeit zu analysieren. Ergibt diese einzelfallbezogene Gesamtbetrachtung, dass der Täter sich letztlich doch, obwohl ihm ein Weitermachen möglich gewesen wäre, für die Bewahrung der Rechtsgüter entscheidet, entfällt seine persönliche strafrechtliche Verantwortlichkeit und deshalb ist auch „von der Strafzwecklehre her kein Grund zur Sanktionierung“337 ersichtlich. Den Bedürfnissen der positiven Generalprävention ist nach dem Konzept Roxins folglich schon dann Rechnung getragen, wenn der Schutz der Rechtsgüter letztlich erreicht ist und der Täter insgesamt zur „Rechtstreue“ zurückgefunden hat. Auf die bereits im ersten Teilausführungsakt zu erblickende „Missachtung der Normgeltung“ kommt es in diesem Fall offensichtlich nicht mehr an. Vor dem Hintergrund dieser maßgeblichen Wertungskriterien für die Auslegung des § 24 StGB sieht es Roxin allerdings als notwendig an, in bestimmten Fallgruppen Ausnahmen von der Gesamtbetrachtungslehre anzuerkennen. Eine solche Ausnahmesituation, die den Regeln des beendeten Versuchs folgen soll, nimmt er vor allem dann an, wenn der Täter bei einem mehraktigen Geschehen ernsthaft damit rechnet, den Erfolg schon durch seine erste Ausführungshandlung herbeigeführt zu haben.338 Hier stellt es nach Roxin zwar ein Verdienst 336

Roxin, C.: JuS 1981, 1 ff., 8. Roxin, C. in: Heinitz-FS 1972, S. 251 ff., 274. 338 Exemplarisch bezieht sich Roxin dabei auf die den Entscheidungen BGHSt 33, 295 ff. sowie BGH JR 1996, 423 zugrunde liegenden Sachverhalten. In BGHSt 33, 295 ff. (eigene Zusammenfassung des Sachverhalts) hatte der Angeklagte sein Opfer in die Schläfe geschossen, das Projektil war aber neben der Nasenwurzel wieder ausgetreten und hatte das Opfer noch nicht tödlich verletzt. Der Angeklagte stellte fest, dass er sein Opfer nicht getötet hatte und gab keinen weiteren Schuss ab, obwohl er 337

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dar, dass der Täter die weitere Tatbegehung und damit die sichere Erfolgsherbeiführung unterlässt. Gleichzeitig wertet er es aber als „schweres Versäumnis“, wenn der Täter „das Opfer seinem Schicksal überlässt, anstatt den als möglich erkannten Erfolg abzuwenden oder sich wenigstens nach Kräften darum zu bemühen“.339 Neben den genannten Gesichtspunkten der Vorwerfbarkeit bezieht sich Roxin zur näheren Begründung dieser Ausnahmekonstellation auf Gesichtspunkte des Opferschutzes. Denn nur wenn das Opfer keiner Hilfe bedarf, ist es aus Gründen seines Schutzes gerechtfertigt, den Täter durch das freiwillige Ablassen von der weiteren Tatbegehung mit Straffreiheit zu belohnen. Ist es hingegen bereits durch die erste Ausführungshandlung verletzt, setzt der Schutz des Opfers voraus, dass seitens des Täters alles zur Abwendung der (weiteren) Rechtsgutsbeeinträchtigung getan wird.340 Neben dieser Fallkonstellation will Roxin eine zweite Ausnahme von der Gesamtbetrachtungslehre dann anerkennen, wenn „nach dem misslungenen Erstakt eine an sich noch mögliche Erfolgsherbeiführung auf Grund des von Anfang an bestehenden Täterplanes sinnlos geworden ist“.341 Denn wenn das Motiv für ein Weiterhandeln entfallen ist, liegt in der Nichtwiederholung des Versuchs kein Verdienst, der die Verantwortlichkeit des Täters entfallen lassen und damit die Straffreistellung rechtfertigen würde. Unter Zugrundelegung dieser Abgrenzungskriterien ist ein Rücktritt vom Versuch in den Fallgruppen des beendeten und unbeendeten Versuchs unter folgenden weiteren Voraussetzungen möglich:

noch Munition in der Waffe hatte. Er verließ schließlich die Bürobaracke, in der er den Schuss abgegeben hatte und sagte den Angestellten des Opfers, „sie sollten nach ihrem Chef sehen“. Sodann fuhr er davon. In BGH JR 1986, 423 (eigene Zusammenfassung des Sachverhalts) stieß der Angeklagte seinem Vater ein langes Küchenmesser in die linke Brustseite. Nach Reinigung der Waffe und Verwischen der Spuren bedrängte er das schwerverletzte Opfer, „das ganze als Unglücksfall darzustellen“ und „die Polizei aus dem Spiel zu lassen“. Später reichte er seinem Vater das Telefon und ließ ihn den Notruf anrufen. Zuvor hatte er auf die Bitte seines Vaters, einen Krankenwagen herbeizurufen, „einige Zeit im Telefonbuch geblättert“ und dann erklärt, „er könne die Nummer nicht finden“. 339 Die Ansicht Roxins ist schon deshalb nicht mit der von Herzberg (in: Blau-FS 1985, S. 97 ff.; ders.: NJW 1986, 2466 ff. [vgl. hierzu ausführlich Kapitel 3 III. 4. b) aa)] vertretenen „elastischen Variante der Einzelaktstheorie“ identisch, weil nach dieser Auffassung ein Rücktritt durch Aufgabe der weiteren Tatbegehung auch dann ausscheidet, wenn keine Erfolgsgefahr besteht. Lediglich in den von Roxin angeführten Beispielen führen beide Ansichten zu demselben Ergebnis; zur Kritik an Herzberg, vgl. Roxin, C.: JR 1986, 424 ff., 425. 340 Roxin, C.: JR 1986, 424 ff., 425. 341 Roxin, C.: JR 1986, 424 ff., 425.

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bb) Rücktritt vom beendeten Versuch Liegt nach den oben genannten Ausführungen ein nicht fehlgeschlagener beendeter Versuch vor, ist der Täter unter den Voraussetzungen des §§ 24 Abs. 1 S. 1 2. Alt, S. 2 StGB entschuldigt. Roxin setzt in neueren Darstellungen den Schwerpunkt seiner Analysen des Rücktrittsrechts auf die Frage, welche Anforderungen an das „Verhindern“ des Erfolgseintritts im Einzelfall zu stellen sind.342 Auch in diesem Zusammenhang entwirft er eine Theorie, die auf das Entscheidungsverhalten des konkreten Täters und den Schutz des Opfers bezogen ist. Innerhalb des Meinungsspektrums, das durch die rücktrittsfreundliche „Chanceneröffnungstheorie“343 auf der einen Seite und die rücktrittsfeindliche „Bestleistungstheorie“344 abgesteckt wird,345 favorisiert er einen Mittelweg, den er selbst durch das Schlagwort „Differenzierungstheorie“346 kennzeichnet. Nach dieser Theorie ist zwischen eigenhändiger und fremdhändiger Erfolgsverhinderung zu unterscheiden. Ist das Opfer ohne Zutun eines Dritten nur durch den Täter gerettet worden (eigenhändige Erfolgsverhinderung), so dokumentiert der Täter bereits durch das ihm objektiv zurechenbare und für die Erfolgsverhinderung ursächliche Verhalten seine Rückkehr in die Legalität. Für den Rücktritt des Täters ist es daher in dieser Fallgruppe unerheblich, dass es bessere und sichere Wege der Erfolgsverhinderung gegeben hätte: „Denn das Rettungsengagement des Täters ist gleichwohl so augenfällig und erfolgreich, dass es nicht schwerfällt, seinen Willen zur Rückkehr in die Legalität darin in ausreichendem Maße manifestiert zu sehen“.347 Veranlasst der Täter demgegenüber in zurechenbarer Weise eine Rettung des Opfers durch Dritte, hat der Versuchstäter die ihm erkennbar beste Rettungsmöglichkeit zu ergreifen, um damit seine Rückkehr in die Legalität zu dokumentieren. Läßt der Täter demnach infolge von lediglich halbherzigen Bemühungen wesentliche Gefährdungsmomente für das Opfer bestehen, so genügt dies weder aus den personfunktionalen Erwägungen der Anerkennung des Rechts, noch aus kriminalpolitischen Gesichtspunkten des Opferschutzes den Anforderungen des § 24 Abs. 1 S. 1 2. Alt. StGB. Denn im Sinne des Opfer342

Roxin, C. in: Hirsch-FS 1999, S. 327 ff. SK-Rudolphi, § 24, Rn. 27; ders.: NStZ 1989, 508 ff., 512; außerhalb des Spektrums der Münchener Schule etwa Puppe, I.: NStZ 1984, 488 ff.; Grünwald, G. in: Welzel-FS 1974, S. 701 ff., 715; zu der gespaltenen Rechtsprechung vgl. die umfassende Analyse bei Roxin, C. in: Hirsch-FS 1999, S. 327 ff. 344 Herzberg, R. D.: NJW 1989, 862 ff., 867. 345 Die genannten Begriffe sind keine allgemein gebräuchlichen Etikette der angesprochenen Meinungen, sondern sie werden von Roxin zur Vereinfachung eingeführt, vgl.: Roxin, C. in: Hirsch-FS 1999, S. 327 ff., 328 (Fn. 3). 346 In diese Richtung auch Lackner/Kühl: § 24 StGB 2001, Rn. 19b. 347 Roxin, C. in: Hirsch-FS 1999, S. 327 ff., 335. 343

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schutzes ist zu berücksichtigen, dass „Bestleistungen .. natürlich sachdienlicher sind als halbherzige Bemühungen“.348 Zudem zeigen nach Roxin die Fälle der gerichtlichen Praxis, dass auch optimale Rettungsbemühungen kaum je mit Selbstpreisgabe verknüpft sind und sich der Täter deshalb regelmäßig auch nicht wegen der Gefahr einer eigenen Überführung von den bestmöglichen Rettungshandlungen abhalten lassen wird. cc) Rücktritt vom unbeendeten Versuch Im Fall des Rücktritts vom unbeendeten Versuch genügt für die Straflosigkeit ein freiwilliges Aufgeben der weiteren Tatbegehung, § 24 Abs. 1 S. 1 1. Alt. StGB. Die grundsätzlich personfunktionale Interpretation der Rücktrittsvorschriften durch Roxin wird im Rahmen dieser Problematik durch die Ausführungen des Autors zum Freiwilligkeitskriterium belegt. Die wesentlichen Grundlagen der Auffassung Roxins finden sich bereits in „Kriminalpolitik und Strafrechtsystem“, wo er verdeutlicht, dass es ihm auch insoweit entscheidend auf die Motivation des Täters und die hierdurch dokumentierte Rückkehr zur Rechtstreue ankommt. Nur wenn sich im Verhalten des Täters diese – im Verfahren konkret zu rekonstruierende – Einstellung manifestiert, ist eine Strafe aus kriminalpolitischen Gründen und damit auch zur Stabilisierung des Systems obsolet.349 Wenn es danach auch hier auf die „Rückkehr zur Rechtstreue“ ankommt, ist es nach dem Ansatz Roxins folgerichtig, die Freiwilligkeit am Maßstab sozialethischer Wertkriterien zu beurteilen und auf die Beweggründe des Täters abzustellen. Roxin fasst diese Gesichtspunkte unter dem Begriff der „Verbrechervernunft“350 zusammen, und bezieht sich dabei auf ein Motivbündel, das den sozialethischen Wertvorstellungen der rechtstreuen Bevölkerung diametral entgegengesetzt sein soll. Erfolgt der Rücktritt daher lediglich aus Gründen der Verbrechervernunft, stellt er sich vom Standpunkt des Gesetzes her nicht als Rückkehr zur Legalität dar und ist als unfreiwillig zu beurteilen. Welche empirischen Kriterien bei der „Verbrechervernunft“ eine Rolle spielen sollen, vermag Roxin allerdings nicht zu definieren sondern lediglich anhand einer reichhaltigen Rechtsprechungskasuistik zu veranschaulichen. Die von ihm herangezogenen Beispielsfälle zeigen dabei, dass er insoweit weitgehend zu denselben Ergebnissen gelangt, die von der überwiegenden Auffassung über die Gegenüberstellung des Begriffspaares der autonomen bzw. heteronomen Motive erzielt werden.351 Sieht der Täter aus heteronomen Motiven – etwa weil er sich bereits entdeckt glaubt – von der weiteren Tatbegehung ab, entspricht dies in der Ter348 349 350

Roxin, C. in: Hirsch-FS 1999, S. 327 ff., 337. Roxin, C.: Kriminalpolitik 1973, S. 37. Roxin, C. in: Heinitz-FS 1972, S. 251 ff.; ders.: ZStW 77 (1965), 91 ff., 97.

II. Strafrechtsdogmatische Schlussfolgerungen

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minologie Roxins daher in der Regel den Maßstäben der Verbrechervernunft und das Aufgeben der weiteren Tatbegehung ist nicht als Rückkehr in die Legalität und damit auch nicht als freiwilliger Rücktritt zu qualifizieren: „Wer sich entdeckt sieht und nun zurücktritt, handelt in diesem Sinne ,vernünftig‘, wobei zwar vom individuellen Tatplan auszugehen, der an den Rücktritt anzulegende Maßstab aber auf seiner Grundlage generell zu bestimmen ist. Ein solcher Gehorsam gegenüber den Regeln des Verbrecherhandwerks verdient natürlich nicht den Lohn der Rechtsordnung, so dass dieser Rücktritt als unfreiwillig bewertet werden muss. Wer dagegen auf seinem Diebesgang ohne konkreten Anlass plötzlich von heftiger Angst gepackt wird und davonläuft, verfährt nach den Maßstäben seines Gewerbes ,unvernünftig‘ (denn ein ,ordentlicher‘ Verbrecher fürchtet sich nicht grundlos). Der Rücktritt ist daher freiwillig, weil die Rechtsordnung den Abfall von den Normen der Verbrechervernunft belohnt.“352

Man mag darüber streiten, ob das Kriterium der Verbrechervernunft einen hinreichend präzisen Leitmaßstab für die erforderliche Abgrenzung zwischen freiwilligen und unfreiwilligen Entscheidungen des Täters darstellt.353 Für den vorliegenden Argumentationszusammenhang ist lediglich maßgeblich, dass Roxins Auslegung des Merkmals der „Freiwilligkeit“ personfunktional an dem Bewertungskriterium der „Rückkehr zur Legalität“ orientiert ist und der Gesichtspunkt der „Verbrechervernunft“ lediglich eine operative Formel darstellt, anhand derer die insoweit relevanten Aspekte versinnbildlicht werden sollen. Allein dieser Ansatz erklärt auch den zunächst überraschenden Befund, dass Roxin sachlich zu weitgehend mit der herrschenden Auffassung übereinstimmenden Ergebnissen kommt.354 351 Vgl. z. B.: Ulsenheimer, K.: Grundfragen des Rücktritts 1976, S. 283 ff.; Wessels/Beulke: Strafrecht AT 2001, S. 215 (§ 14, Rn. 651); Lackner/Kühl: § 24 StGB 2001, Rn. 17 (jeweils m. w. N.). Bei bestimmten Zwangslagen, die nach dieser Auffassung als heteronome Motive in Betracht kommen, will Roxin den Rücktritt wegen fehlender Vollendungsmöglichkeit als Fall des fehlgeschlagenen Versuchs ausscheiden. Roxins Kritik an der psychologisierenden Betrachtung der herrschenden Meinung bezieht sich daher auch nicht auf den grundsätzlichen individualisierenden Ansatz dieser Auffassung, sondern er reklamiert die Undurchführbarkeit der Abgrenzungsformeln in Fallgruppen, in denen die Herbeiführung des tatbestandsmäßigen Erfolges objektiv unmöglich geworden ist. Denn ein Aufgeben der Tatausführung ist schon begrifflich an die fortdauernde Möglichkeit gebunden (Roxin, C. in: Heinitz-FS 1972, S. 251 ff., 253). 352 Roxin, C.: ZStW 77 (1965), 91 ff., 97; ders. in: Heinitz-FS 1972, S. 251 ff., 256. 353 Eine eingehende Kritik findet sich bei Ulsenheimer, K.: Grundfragen des Rücktritts 1976, S. 306–313; ferner Wessels/Beulke: Strafrecht AT 2001, S. 216 (§ 14, Rn. 652). 354 Dieser Befund wird von Ulsenheimer (Grundfragen des Rücktritts 1976, S. 312), der selbst ein personfunktionales Konzept der Rücktrittsbestimmungen vertritt, auch ausdrücklich hervorgehoben: «Nach den vorstehenden Einwendungen gegen die ,Normen des Verbrecherhandwerks‘ als Beurteilungsmaßstab der ,Freiwilligkeit‘ liegt der Schluss nahe, dass auch die von Roxin im Einzelfall vertretenen Lösungen weitgehend abzulehnen sind. Dies ist aber – wie mit Nachdruck hervorgehoben werden soll, nicht

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Kap. 5: Funktionalismus der „Münchener Schule‘‘ um Claus Roxin

III. Zusammenfassung und Tendenzen Der Funktionalismus der „Münchener Schule“ um Claus Roxin ist nach den oben stehenden Analysen durch eine weitgehend personfunktionale Auslegung der maßgeblichen Rechtsbegriffe gekennzeichnet. Konkrete Abgrenzungsprobleme, wie etwa die Differenzierung zwischen Handlungen und Verhaltensweisen, denen keine Handlungsqualität zukommt, die Unterscheidung zwischen dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit oder zwischen unbeendetem und beendetem Versuch sind auf die Person des handelnden Täters und dessen Entscheidungsverhalten bezogen und insoweit grundsätzlich geeignet, den Zugriff des Staates in Gestalt des Strafrechts angemessen zu begrenzen. Wenn im Rahmen des kriminalpolitisch-teleologischen Ansatzes durch das Strafrecht gleichwohl systemfunktionalen Interessen Rechnung getragen werden soll, so lassen sich diese nach der – von den Autoren allerdings nicht näher hinterfragten Auffassung – auch durch die personfunktionale Auslegung der Bestimmungen verwirklichen. Dieser Ansatz wird allerdings im Rahmen der Dogmatik der objektiven Zurechnung und hier im Besonderen im Rahmen der „Risikoerhöhungslehre“ nicht immer konsequent durchgehalten. Indem Roxin es als erforderlich ansieht, mit Blick auf den Strafzweck der positiven Generalprävention auch denjenigen Täter wegen eines vollendeten Erfolgsdelikts zu bestrafen, der nur das Risiko der Erfolgsverwirklichung erhöht, nicht aber nachweisbar den Erfolg durch seine Pflichtwidrigkeit herbeigeführt hat, finden damit – wie dargelegt355 – unmittelbar systemfunktionale Argumente Einzug in die Dogmatik. Damit ergeben sich innerhalb der Ansätze, die unter dem Etikett des Funktionalismus oder anderen Bezeichnungen firmieren, erhebliche Binnendifferenzen. Gemeinsam ist ihnen lediglich die Zielsetzung, durch eine Verwirklichung des Strafzwecks der positiven Generalprävention, über dessen genaueren Inhalt die Meinungen aber bereits auseinander gehen, eine Stabilisierung der normativen Verhaltenserwartungen zu erreichen. Völlig unterschiedliche Auffassungen bestehen außerdem über die Wege, wie diese Ziele erreicht werden sollen, bzw. über die Auswirkungen, die sich daraus für die Strafrechtsdogmatik ergeben. Während vor allem Jakobs und seine Schüler eine radikale Umstrukturierung des Strafrechts propagieren und bei der Auslegung des geltenden Rechts unmittelbar auf die systemfunktionalen Bedürfnisse abstellen, ist die Argumentation der Schulen um Wolfgang Frisch und Claus Roxin nach wie vor wesentlich auf die Person des Straftäters und den Gesichtspunkt der individuellen Vorwerfbarkeit bezogen. Nur an bestimmten Schnittstellen, die in den vorangegangenen der Fall. . . . Denn hinter ,der Entscheidung des Freiwilligkeitsproblems‘ steht ein ganz anderer Gesichtspunkt. „Roxin nennt ihn selbst, wenn er als ausschlaggebendes ,Bewertungskriterium‘ die Frage ansieht, ob der Rücktritt sich ,vom Standpunkt des Gesetzes aus‘ als Rückkehr zur Legalität darstellt“ . . .» 355 In diesem Kapitel II. 1. c).

III. Zusammenfassung und Tendenzen

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Analysen im Einzelnen aufgezeigt werden konnten, wird dieser Argumentationsansatz verlassen und finden systemfunktionale Aspekte unmittelbar Einzug in die Rechtsanwendung. Da die systemfunktionale Auslegung der Rechtsnormen immer mit dem Preis einer weitgehenden Vernachlässigung personfunktionaler Schutzbedürfnisse erkauft wird, drängt sich Frage auf, ob eine solche Auslegung erforderlich ist, um die genannten Zwecke zu erreichen, oder ob – wie dies implizit etwa dem Ansatz der Münchener Schule zugrunde liegt – das Ziel der Systemstabilisierung, gewissermaßen als Begleitaspekt, auch durch eine herkömmliche personfunktionale Inhaltsbestimmung der Strafrechtsnormen erreicht werden kann. Mit dieser Fragestellung wird der Bereich der Strafrechtsdogmatik verlassen. Die nachfolgende Rekonstruktion der sozialpsychologischen Mechanismen, die mit dem Aspekt der Systemstabilisierung verbunden sind, nimmt vielmehr Bezug auf die Erkenntnisse der (Rechts-)Soziologie, die hierzu zumindest partiell weitere Beiträge leistet und somit auch die Beantwortung der Frage ermöglicht, ob der systemfunktionale Ansatz seinem eigenen Anspruch gerecht wird.

Kapitel 6

Die rechtssoziologische Plausibilität des systemfunktionalen Ansatzes I. Präzisierung der verbleibenden Fragestellung Die in den letzten drei Kapiteln vollzogene Analyse der unter dem Etikett des Funktionalismus firmierenden Ansätze der Strafrechtswissenschaft hat das Ausmaß bzw. den Umfang der systemfunktionalen Argumentation im Rahmen konkreter dogmatischer Problemstellungen in den einzelnen untersuchten Schulen veranschaulicht und zugleich die erhebliche praktische Bedeutung dieses Ansatzes aufgezeigt. Im Vordergrund der systemfunktionalen Argumentation, mit der die Autoren insbesondere auch die Notwendigkeit einer entsprechenden Auslegung der grundlegenden Rechtsbegriffe legitimieren, stehen dabei zwei inhaltlich aufeinander bezogene Aussagen über die soziale Wirklichkeit. In ihrer ersten Aussage äußern die Autoren die Annahme, dass das Strafrecht und das System der Strafjustiz mit seinen Mechanismen der Strafandrohung, Feststellung der Strafbarkeit eines Täters, der Sanktionierung des begangenen Unrechts bis hin zur Vollstreckung der verhängten Sanktion dazu beiträgt, die normative Identität der Gesellschaft1 zu konservieren oder wiederherzustellen. Schlagwortartig kennzeichnen die Autoren diesen komplexen Wirkungszusammenhang zwischen Strafrechtspflege und Systemstabilisierung mit Begriffen wie „Gewährleistung der Enttäuschungsfestigkeit der wesentlichen normativen Erwartungen“;2 Gewährleistung von „Gruppentauglichkeit“3 der Individuen; „Erzeugung von Normvertrauen“4 oder „Einwirkung auf das allgemeine Rechtsbewusstsein“.5 Während es sich bei diesen Wirkungen des Strafrechts um Effekte handelt, über deren Relevanz – trotz der mangelnden empirischen Belegbarkeit – in Kriminalpolitik und Strafrechtswissenschaft kaum Streit besteht, betrifft die zweite Aussage das eigentliche hier zur Diskussion gestellte Spezifikum des system1

Begriff nach Popitz, H.: Normative Konstruktion 1980, S. 90 ff. Jakobs, G.: Strafrecht AT 1991, S. 35. 3 Jakobs, G.: Norm, Person, Gesellschaft 1997, S. 32. 4 Frisch, W. in: Schünemann, B. u. a. (Hrsg.): Generalprävention 1998, S. 125 ff. 5 Roxin, C. in: Bockelmann-FS 1979, S. 279 ff.; zusammenfassend: ders.: Strafrecht AT 1997, S. 54 ff. (§ 3, Rn. 35 ff.). 2

I. Präzisierung der verbleibenden Fragestellung

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funktionalen Ansatzes. Denn soweit die Autoren eine systemfunktionale Auslegung der grundlegenden Rechtsbegriffe propagieren, sind sie offensichtlich der Auffassung, dass die systemstabilisierenden Wirkungen nicht vom Strafrecht generell ausgehen, sondern dass es – um diese Effekte zu optimieren oder überhaupt erst zu ermöglichen – einer Umstrukturierung des Strafrechts in Gestalt der partiell (Roxin bzw. Frisch) oder allgemein (Jakobs) befürworteten systemfunktionalen Strafrechtsdogmatik bedarf. Die insoweit zugrunde gelegten Hypothesen sollen in diesem Kapitel unter Bezug auf (rechts)soziologische Erkenntnisse eingehender untersucht werden. Es stellt sich demnach die Frage, ob es die Herstellung der normativen Identität der Gesellschaft zum Beispiel erfordert, das Element der Tatsachenkenntnis beim Vorsatzbegriff normativ zu konstruieren und etwa den „tatsachenblinden“ Täter wegen vorsätzlicher Deliktsverwirklichung zu bestrafen;6 bei der Feststellung der Schuld auf die Zuschreibung von Gleichheit abzustellen;7 die Frage der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums von der Möglichkeit abhängig zu machen, den Konflikt auf andere „Störquellen“ zu verlagern;8 den Rücktritt vom Versuch deshalb maßgeblich zu beschränken, weil bereits der Versuch im Regelfall eine vollendete Missachtung der Norm verkörpert,9 oder ob es aus dieser Sicht notwendig ist, mit dem Prinzip der „Risikoerhöhung“10 zu arbeiten. Wenn diese Frage hier durch einen Rekurs auf (rechts)soziologische Erkenntnisse bearbeitet werden soll, so ergibt sich die Antwort nicht einfach aus der Rekonstruktion einer bestimmten Schule der Rechtssoziologie, die sich mit dieser Problematik bereits befasst hat und deren Erkenntnisse unmittelbar übernommen werden können. Dies ist schon deshalb nicht möglich, weil die rechtssoziologischen Theorien, die der systemfunktionale Ansatz explizit oder implizit aufgreift, das Spektrum der Dogmatik und die konkreten Inhalte der Rechtsbegriffe von ihren Betrachtungen ausschließen und die Funktionsanalysen lediglich auf ein generalisiertes „Recht der Gesellschaft“ beziehen. Diese weitgehende Abstraktion von den konkreten Anwendungs- und Auslegungsproblemen der Rechtswissenschaft stellt ein grundlegendes Charakteristikum aller systemtheoretischen Ansätze der Rechtssoziologie dar, die aufgrund ihres universalistischen Erklärungsanspruches die Grundzüge der normativen Konstruktion von modernen arbeitsteiligen Gesellschaften allgemein und nicht lediglich das Recht einer bestimmten Gesellschaft beschreiben wollen. Aus diesem Grund dringt die systemtheoretische Analyse des Rechts nur bis zu der Konkretisierung allgemeiner Strukturmerkmale der Normen vor. Hierbei setzen die Autoren jeweils un-

6

Vgl. hierzu den Ansatz Jakobs, Kapitel 3 III. 2. b). Jakobs, Kapitel 3 III. 3. b); sowie Frisch, Kapitel 4 II. 1. 8 Jakobs sowie seine Schüler Timpe und Lesch, Kapitel 3 III. 3. c). 9 Jakobs, Kapitel 3 III. 4.; sowie Freund, Kapitel 4 II. 4. 10 Roxin, Kapitel 5 II. 1. c). 7

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Kap. 6: Rechtssoziologische Plausibilität des systemfunktionalen Ansatzes

terschiedliche Akzente.11 Luhmann sieht als wesentliches Strukturmerkmal des Rechts z. B. die „konditionale Programmierung“ der Entscheidung an und ordnet diese einer wesentlichen Entlastungsfunktion der Justiz zu, die infolge dieser Programmstruktur nicht für die gesellschaftlichen Folgen ihrer Tätigkeit verantwortlich gemacht werden kann.12 Der Systemtheoretiker Popitz, der die normative Konstruktion von Gesellschaft eingehend untersucht hat,13 differenziert demgegenüber, vergleichbar dem normtheoretischen Modell Frischs und Freunds, zwischen einer Verpflichtungs- und einer Sanktionsstruktur14 und sieht in diesen beiden Komponenten ein allgemeines Konstruktionsprinzip „sozialer Normen“. Nur wenn soziale Normen diese beiden Strukturmerkmale aufweisen, gelingt es nach seiner Auffassung, die „normative Ordnung schlecht und recht über Wasser zu halten“15 und eine wechselseitige Verhaltensorientierung durch normativ stabilisierte Verhaltenserwartungen zu ermöglichen. Gerade weil die Autoren aber eine allgemeingültige Theorie für die moderne Gesellschaft formulieren wollen, sind ihre Lehren – ungeachtet der hier skizzenhaft angeführten Binnendifferenzen – gleichermaßen gezwungen, die erhebliche Abstraktionshöhe ihrer Funktionsbestimmung des Rechts beizubehalten. Um die Einseitigkeit dieser Betrachtungsperspektive zu überwinden und zu der hier gestellten konkreteren Fragestellung vorzudringen, erscheint es geboten, die in Kapitel 2 begonnene Diskussion des Funktionsbegriffes wieder aufzugreifen. Die von Schelsky vorgenommene Gegenüberstellung von systemfunktionalen und personfunktionalen Ansätzen der Rechtssoziologie16 hat bereits gezeigt, dass die auf das „System“ bezogene Deutung der Funktion des 11 Bei Parsons (Sozialstruktur und Persönlichkeit 1968, S. 244) findet sich lediglich die abstrakte Definition von Normen als „Regeln, die für bestimmte Kategorien und Einheiten in einem System in bestimmten Typen von Situationen Gültigkeit haben“. Eine weitere Konkretisierung allgemeiner Strukturmerkmale ist nicht ersichtlich, vgl. hierzu: Damm, R.: Systemtheorie und Recht 1976, S. 52 ff. 12 Luhmann, N.: Rechtssoziologie 1987, S. 227 ff. (Hervorhebung im Original): „Mit dem Bedürfnis nach Festlegung der Bedingungen richtigen Entscheidens verbindet sich sehr früh schon eine Tendenz zur Konditionalisierung der Rechtsnormen, die, wenn nicht in der Formulierung der Rechtssätze, so doch in deren entscheidungsmäßiger Verwendung zum Ausdruck kommt. Die Grundform lautet: wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind (wenn ein im Voraus definierter Tatbestand vorliegt), ist eine bestimmte Entscheidung zu treffen. In dieser besonderen Formung ist das Recht nicht mehr einfach berechtigte Verhaltenserwartung und auch nicht mehr ethische Vorgabe eines bestimmten Ziels, durch dessen Aktualisierung das Handeln sein Wesen und der Handelnde seine Tugend verwirklicht. Es bringt vielmehr Tatbestand und Rechtsfolge in einen erwartbaren Wenn/Dann-Zusammenhang, dessen Vollzug Prüfung und Selektion, also eine Entscheidungstätigkeit voraussetzt.“ 13 Popitz, H.: Normative Konstruktion 1980. 14 Popitz, H.: Normative Konstruktion 1980, S. 37 ff. 15 Popitz, H.: Normative Konstruktion 1980, S. 90. 16 Schelsky, H.: Ansatz, in: ders. (Hrsg.): Die Soziologen und das Recht 1980, S. 95 ff.

II. Die Weiterentwicklung der funktionalen Analyse

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Rechts nur einen der möglichen Bezugspunkte darstellt. Indem Schelsky damit für die Bestimmung der Funktion des Rechts die Monopolstellung des systemtheoretischen Ansatzes bestreitet und um die Perspektive des anthropologischen und des personfunktionalen Ansatzes erweitert, nimmt er auf „eine inzwischen fast klassisch zu nennende Erörterung des Funktionsbegriffes“17 Bezug, die auch für die hier vorliegende Fragestellung von entscheidender Bedeutung ist.

II. Die Weiterentwicklung der funktionalen Analyse durch Robert King Merton 1. Die Beschränkung der bisherigen Perspektive Bei der von Schelsky aufgegriffenen „klassischen Erörterung des Funktionsbegriffes“ handelt es sich um den Ansatz des US-amerikanischen (Kriminal-) Soziologen Robert King Merton.18 Merton (geb. am 05. Juli 1910)19 war als Schüler von Talcott Parsons ursprünglich ebenfalls ein Vertreter der „klassischen“ Funktionsanalyse.20 In seinem programmatischen Aufsatz über manifes-

17 Schelsky, H.: Ansatz, in: ders. (Hrsg.): Die Soziologen und das Recht 1980, S. 95 ff., 99. 18 Merton, R. K. in: Social Theory 1968, S. 19 ff. Nachfolgende Zitate in deutscher Sprache sind der deutschen Ausgabe dieser Aufsatzsammlung (herausgegeben von Volker Meja und Nico Stehr 1995) entnommen. Die entscheidende Differenzierung des Funktionsbegriffes findet sich in dem Aufsatz „Manifest and latent functions“ aus dem Jahr 1949. 19 Ausführliche Biographie Mertons bei Sztompka, P.: Robert K. Merton 1986, S. 9– 34. Innerhalb der gesamten Strafrechtswissenschaft ist Merton vor allem durch seine „Anomietheorie“ bekannt geworden. Die nachstehenden Ausführungen zur funktionalen Methode haben (ebenso wie sein Konzept von Theorien mittlerer Reichweite, durch das er sich ebenfalls in Opposition zu Parsons setzt) in der Soziologie zwar eine breite (teilweise auch kritische) Rezeption erfahren, für eine strafrechtliche Problematik wird die Weiterentwicklung der funktionalen Methode hier aber erstmals nutzbar gemacht. 20 Meja, V./Stehr, N. in: dies. (Hrsg.): Soziologische Theorie 1995, S. VIIff., XI. Eine Abgrenzung von der funktionalen Methode Parsons erfolgt ausdrücklich in einem Diskussionsbeitrag Mertons [zu einem voraus gehenden Aufsatz Parsons (American Sociological Review 1948, 156 ff.)]: „In his brief presentation, Mr. Parsons has not explicitly treated several concepts which point away from this emphasis of social system as given. Chief among these are the concepts social dysfunction, manifest and latent functions, functional substitutes and equivalents . . . etc. These and other kindred concepts . . . happen to be the very concepts which are necessary to avoid a tacit bias otherwise entailed by functional sociology“, Merton, R. K.: American Sociological Review 1948, 164 ff., 168. In einem späteren Beitrag in einer Festschrift für Merton kommt Parsons auf dieses Kritik Mertons zurück und räumt ein: „he (Merton) clearly made a major contribution to the understanding and clarification of the theoretical methodology of what he called ,functional analysis‘“ [Parsons, T. in: Coser, L. A. (Hrsg.): Papers in honor of Robert K. Merton 1975, S. 67 ff., 67].

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Kap. 6: Rechtssoziologische Plausibilität des systemfunktionalen Ansatzes

te und latente Funktionen21 entwickelt er – ohne den Funktionsbegriff aufzugeben – eine eigene Variante der funktionalen Analyse,22 deren Spezifikum vor allem in einer Erweiterung des Funktionalismus durch dichotomisch konzipierte Begriffspaare und darauf bezogene Betrachtungsebenen der sozialen Wirklichkeit besteht. Ausgangspunkt dieser Modifikation der funktionalen Methode der Soziologie und Anthropologie ist eine Kritik an dem verengten Betrachtungsspektrum der herkömmlichen (in Kapitel 2 dieser Arbeit skizzierten) Funktionsanalyse der genannten Disziplinen. Nach Mertons Bestandsaufnahme der bisherigen Leistungen der funktionalen Methode arbeitet diese mit drei wechselseitig aufeinander bezogenen Ausgangsprämissen (Postulaten), die sich bei näherer Betrachtung aber als fragwürdig bzw. als allzu einseitig erweisen. (1) Die kritisierte limitierte Betrachtungsperspektive der funktionalen Methode ergibt sich für den Autor zunächst aus dem von dieser Lehre implizit zugrunde gelegten „Postulat der funktionalen Einheit der Gesellschaft“ („Postulate of the Functional Unity of Society“).23 Mit diesem Kritikpunkt bezieht sich Merton auf den auch von Schelsky hervorgehobenen und für die vorliegende Arbeit nutzbar gemachten Befund der Einseitigkeit einer ausschließlich auf „die Gesellschaft“ bezogenen Funktionsanalyse. Anhand von Beispielen aus der Anthropologie kann Merton darlegen, dass die funktionale Methode, sofern diese einen sozialen Brauch grundsätzlich nur im Hinblick auf seine Funktion für das soziale System insgesamt analysiert, diejenigen Auswirkungen vernachlässigt, die sich für den Einzelnen oder für bestimmte gesellschaftliche Gruppen ergeben können. Was aus dem Gesichtspunkt der Erhaltung des Systems funktional sein kann, ist deshalb für bestimmte Gruppen oder Individuen derselben Gesellschaft möglicherweise dysfunktional: „Man braucht gar nicht weit auszuholen, um zu zeigen, dass die Annahme der vollständigen funktionalen Einheit der menschlichen Gesellschaft mehrfach kontrafaktisch ist. Soziale Bräuche oder Empfindungen können in ein- und derselben Gesellschaft für bestimmte Gruppen funktional und für andere dysfunktional sein. Die Anthropologen zitieren oft den ,größeren Zusammenhalt der Gemeinschaft‘ und den ,größeren Familienstolz‘ als Beispiele für funktional angepasste soziale Gefühle. Doch kann . . . der größere Stolz zwischen Einzelfamilien oft auch dazu führen, dass der Zusammenhalt einer kleinen Gemeinde zerstört wird. Das Postulat der funktionalen Einheit ist nicht nur kontrafaktisch, sondern hat auch wenig heuristischen 21 Der Beitrag gehört zu den klassischen Texten der Soziologie. Die in „Manifest and latent functions“ entwickelte Differenzierung des Funktionsbegriffes gilt auch heute noch als repräsentativ für den Diskussionsstand über die „funktionale Analyse“ in der Soziologie; vgl. Coser, L. A. in: Kaesler, D. (Hrsg.): Klassiker der Soziologie Bd. 2 1999, S. 152 ff.; Hillmann, K.-H.: Wörterbuch der Soziologie 1994, S. 251 (Stichwort „Funktion“); aus rechtswissenschaftlicher Sicht ferner Karamagiolis, D.: Schuldprinzip 2002, S. 57–60. 22 Zusammenfassung bei Sztompka, P.: Robert K. Merton 1986, S. 126–143. 23 Merton, R. K. in: Meja, V./Stehr, N. (Hrsg.): Soziologische Theorie 1995, S. 17 ff., 23.

II. Die Weiterentwicklung der funktionalen Analyse

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Wert, lenkt es doch die Aufmerksamkeit des soziologischen Analytikers von den möglichen disparaten Folgen ab, die ein gegebenes gesellschaftliches oder kulturelles Phänomen (ein Brauch, ein Glaube, ein Verhaltensmuster, eine Institution) für die verschiedenen sozialen Gruppen und für die einzelnen Mitglieder dieser Gruppen haben kann.“24

Das von Merton als zu einseitig kritisierte Postulat der funktionalen Einheit liegt implizit auch den in Kapitel 3–5 analysierten Schulen der Strafrechtswissenschaft zugrunde, soweit diese eine systemfunktionale Inhaltsbestimmung der Rechtsbegriffe befürworten. Was nach dieser Auffassung als funktional für das gesellschaftliche System insgesamt angesehen wird, erweist sich vor dem Hintergrund der personfunktionalen Perspektive – da der Schutz des Einzelnen vor dem Zugriff des Staates in Form des Strafrechts nicht mehr gewahrt wird – als dysfunktional. Da der Funktionalismus im Strafrecht die insoweit angesprochene Differenzierung Mertons nicht aufgreift und ebenso wie die Anthropologie lediglich auf die Bedürfnisse des gesellschaftlichen Systems insgesamt abstellt, bleibt in den Analysen der dem Spektrum des Systemfunktionalismus zuzuordnenden Autoren nicht nur die Frage nach den Folgen des systemfunktionalen Ansatzes für die personfunktionalen Konzeption des Strafrechts unbeantwortet (bzw. sie wird erst gar nicht gestellt), sondern es fehlt auch an einer grundsätzlichen Reflexion darüber, ob nicht bereits die personfunktionale Auslegung in der Lage ist, den systemfunktionalen Bedürfnissen angemessen Rechnung zu tragen (vgl. dazu unten). (2) Der zweite Kritikpunkt Mertons bezieht sich auf das Postulat des „universalen Funktionalismus“ („Postulate of Universal Functionalism“).25 Hierunter versteht Merton die von der herkömmlichen funktionalen Betrachtung angenommene Hypothese, dass jede soziale Erscheinung, „jeder Brauch, jedes materielle Objekt, jede Idee, jeder Glaube“,26 eine lebenswichtige Funktion für den Fortbestand des gesellschaftlichen Systems erfüllt.27 Diese Grundannahme ist nach seiner Auffassung dafür verantwortlich, dass der Blick auf sozialwissenschaftlich relevante „nicht-funktionale Folgen der bestehenden kulturellen Form“ abgelenkt wird.28 Wird z. B. ein bestimmter sozialer Brauch beibehalten, obwohl 24

Merton, R. K. in: Meja, V./Stehr, N. (Hrsg.): Soziologische Theorie 1995, S. 17 ff., 25. Merton, R. K. in: Meja, V./Stehr, N. (Hrsg.): Soziologische Theorie 1995, S. 17 ff., 28. 26 Merton, R. K. in: Meja, V./Stehr, N. (Hrsg.): Soziologische Theorie 1995, S. 17 ff., 28. 27 Als Beispiel für die Universalität des Funktionalismus bezieht sich Merton [in: Meja, V./Stehr, N. (Hrsg.): Soziologische Theorie 1995, S. 17 ff., 28] auf den amerikanischen Anthropologen Clyde Kluckhohn, der sogar den Knöpfen am Ärmel eines europäischen Herrenanzugs eine gesellschaftliche Funktion zuweist: Denn nach der Auffassung Kluckhohns dienen die Knöpfe dazu, „Vertrautes zu erhalten und die Tradition fortzuführen. Die Menschen fühlen sich im allgemeinen wohler, wenn sie ihr Verhalten als in einer Kontinuität stehend empfinden, wenn sie sich als Menschen fühlen, die orthodoxe und sozial gebilligte Formen des Verhaltens befolgen.“ 28 Merton, R. K. in: Meja, V./Stehr, N. (Hrsg.): Soziologische Theorie 1995, S. 17 ff., 28. 25

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Kap. 6: Rechtssoziologische Plausibilität des systemfunktionalen Ansatzes

gegenwärtig kein gesamtgesellschaftlicher Nutzen zu erkennen ist, so kann dies etwa dazu dienen, einer gesellschaftlichen Teilgruppe, die mächtig genug ist, diese Formen durch Überzeugung oder Zwang beizubehalten, eine „positive Bilanz funktionaler Folgen“29 zu erhalten, ohne dass ein unmittelbarer Nutzen für das Gesamtsystem zu beobachten ist. Aufgrund des Postulats des universalen Funktionalismus bleiben diese Aspekte aber der sozialwissenschaftlichen oder anthropologischen Funktionsanalyse verschlossen. Denn entweder es gelingt mittels der (herkömmlichen) funktionalen Analyse, eine gegenwärtige auf das System bezogene Funktion zu enthüllen oder die jeweilige kulturelle Erscheinung erhält das Etikett eines „survivals“,30 eines kulturellen Überbleibsels, das eine soziale Bedeutung lediglich in einer früheren Stufe der kulturellen Entwicklung inne hatte und somit Zeugnis für die Entwicklung abgibt. (3) Das letzte von Merton identifizierte und kritisierte Postulat, auf dem die funktionale Methode aufbaut, ist das Postulat der Unentbehrlichkeit („Postulate of Indispensibility“).31 Vor allem in den funktionalen Analysen der Anthropologie wird der Interpretation Mertons zufolge nicht nur unterstellt, dass jedem Brauch und jeder kulturellen Erscheinung eine Bedeutung für das gesellschaftliche System zukommt, sondern weiterhin angenommen, es handele sich um eine für den Fortbestand der Gesellschaft jeweils unentbehrliche Funktion bzw. um ein unentbehrliches Phänomen. Diese Vorannahme der funktionalen Methode führt nach Merton wiederum zu einer wesentlichen Verengung des wissenschaftlichen Erkenntnishorizonts. Denn soweit die Autoren die Unentbehrlichkeit des Phänomens an sich (der Sitte, des Gegenstands, der Idee, des Glaubens) postulieren, verstellt dies den Blick für die Erkenntnis möglicher funktionaler Äquivalente, das heißt alternativer Lösungsmöglichkeiten für ein und dieselbe soziale Problemstellung. Merton setzt der Grundannahme der Unentbehrlichkeit des Phänomens daher die Hypothese der funktionalen Alternative gegenüber: „Genau so wie ein- und dasselbe Phänomen mehrfache Funktionen haben kann, so kann auch ein- und dieselbe Funktion von jeweils anderen Phänomenen auf jeweils andere Weise erfüllt werden“.32 Die herkömmliche funktionale Methode geht zwar grundsätzlich ebenfalls von der Möglichkeit funktional äquivalenter Lösungsmöglichkeiten für gleich bleibende soziale Problemlagen aus und operiert mit dem Begriff des funktiona29

Merton, R. K. in: Meja, V./Stehr, N. (Hrsg.): Soziologische Theorie 1995, S. 17 ff.,

29. 30 Merton, R. K. in: Meja, V./Stehr, N. (Hrsg.): Soziologische Theorie 1995, S. 17 ff., 29; vgl. hierzu bereits Kapitel 2 I. 2. 31 Merton, R. K. in: Meja, V./Stehr, N. (Hrsg.): Soziologische Theorie 1995, S. 17 ff., 29. 32 Merton, R. K. in: Meja, V./Stehr, N. (Hrsg.): Soziologische Theorie 1995, S. 17 ff., 31.

II. Die Weiterentwicklung der funktionalen Analyse

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len Substituts bzw. der funktionalen Alternative. Diese prinzipielle Offenheit besteht nach der Interpretation Mertons aber nur im interkulturellen Vergleich.33 Es wird folglich angenommen, dass bei gleich bleibenden kulturellen Problemlagen (z. B. die Herstellung des Zusammenhalts der Gesellschaft oder der Gruppe) in unterschiedlichen Sozialsystemen auch unterschiedliche Lösungsansätze entwickelt wurden. Innerhalb einer untersuchten Kultur behalten die Autoren aber das Postulat der Unentbehrlichkeit bei und ziehen die Möglichkeit äquivalenter Lösungen nicht einmal in Betracht. Dies verstellt nach Merton nicht nur den Blick für andere, möglicherweise wirkungsvollere, aber weniger offensichtliche Mechanismen der Problembewältigung, sondern lenkt die Aufmerksamkeit auch von alternativen kulturellen Handlungsmöglichkeiten ab, die von der betroffenen Kultur nur deshalb nicht ergriffen oder nutzbar gemacht werden, weil diese an scheinbar funktionalen Praktiken festhält.34 Bei näherem Hinsehen kann auch die mit der Erkenntnis des Postulats der Unentbehrlichkeit verbundene Kritik an dem herkömmlichen sozialwissenschaftlichen und anthropologischen Methodenverständnis des Funktionalismus den systemfunktionalen Ansätzen der Strafrechtswissenschaft entgegen gehalten werden. Wenn vor allem Jakobs der Auffassung ist, dass die Funktion der Herstellung der normativen Identität der Gesellschaft nur dann erreicht werden kann, wenn auch die grundlegenden Begriffe des Strafrechtssystems mit Blick auf diese Funktion hin ausgelegt werden, so verstellt diese Grundannahme den Blick für äquivalente Lösungsmöglichkeiten dieser Problematik. Auch wenn man anerkennt, dass allgemein das Recht in der komplexen arbeitsteiligen Industriegesellschaft einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung des Systems leistet, bedeutet dies nicht notwendig, auch der Strafrechtsdogmatik, die das begriffliche Instrumentarium für die Beurteilung der Strafbarkeit eines Täters bereit hält, primär diese Funktion beizumessen. Insbesondere weil Jakobs in seinen früheren Beiträgen ausdrücklich die Auffassung vertritt, das Strafrecht sei – „trotz . . . schwerer Mängel“35 – auch ohne systemfunktionale Umgestaltung in der Lage, den von ihm (Jakobs) als wichtig erkannten Zweck insgesamt zu erreichen, hätte es nahe gelegen, die näheren Bedingungen für diesen sozialen Mechanismus zu untersuchen und nicht von der prinzipiellen Unentbehrlichkeit einer entsprechenden Auslegung der Rechtsbegriffe auszugehen.

33 Entsprechend argumentiert zum Beispiel Parsons im Rahmen einer Auseinandersetzung mit Malinowskis Theorie der „funktionalen Notwendigkeit der Magie“: „Wo immer solche Elemente von Unsicherheit in die Verfolgung emotional wichtiger Ziele eingehen, wäre demnach mit dem Auftreten, wenn schon nicht der Magie, so doch zumindest funktional äquivalenter Erscheinungen zu rechnen.“ [zitiert nach Merton, R. K. in: Meja, V./Stehr, N. (Hrsg.): Soziologische Theorie 1995, S. 17 ff., 31]. 34 Merton, R. K. in: Meja, V./Stehr, N. (Hrsg.): Soziologische Theorie 1995, S. 17 ff., 33. 35 Jakobs, G.: Schuld und Prävention 1976, S. 3.

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Kap. 6: Rechtssoziologische Plausibilität des systemfunktionalen Ansatzes

2. Das von Merton entwickelte Paradigma einer funktionalen Analyse Die genannten Kritikpunkte bilden für Merton den Ausgangspunkt der Entwicklung eines „Leitfadens für adäquate und fruchtbare funktionale Analysen“.36 Der wesentliche Vorteil des von ihm entwickelten begrifflichen Instrumentariums dieses Leitfadens, das in der nachfolgenden Analyse auf die Problemlage des Strafrechts angewandt werden soll, besteht in seiner Offenheit für die Komplexität und Vielschichtigkeit des Funktionsbegriffes. Merton führt zunächst zwei wesentliche, jeweils auf das System bezogene Unterscheidungsebenen ein und grenzt zwischen beobachtbaren Folgen, die der Erhaltung des Systems dienen (Funktionen) und beobachtbaren Folgen, die das System destabilisieren (Dysfunktionen) ab. Daneben unterscheidet er in Analogie zu der psychoanalytischen Fachterminologie37 zwischen manifesten und latenten Funktionen: „Manifeste Funktionen sind solche objektiven Folgen, die zur Angleichung oder Anpassung des Systems beitragen und von den Personen, die diesem System angehören, beabsichtigt sind und erkannt werden. Latente Funktionen dementsprechend solche, die weder beabsichtigt sind noch erkannt werden.“38

In seinen weiteren Ausführungen erläutert Merton die oben entwickelte Begrifflichkeit anhand verschiedener Beispiele aus Anthropologie und Soziologie. Dabei zeigt er auf, dass die latenten Funktionen in der Anthropologie in den einschlägigen empirischen Untersuchungen vor allem dann näher analysiert werden, wenn die manifesten Funktionen eines sozialen Brauches nach dem Kenntnisstand der Forscher ersichtlich untauglich sind, den von den Gesellschaftsmitgliedern erwünschten Zweck zu erfüllen. Um auch diesen Befund näher zu exemplifizieren, bezieht er sich auf den Regentanz der Hopi-Indianer,39 deren zeremonielle Handlungen auf das Eingreifen der Götter in die Witterungsverhältnisse abzielen. Da dieser Zweck nach meteorologischen Erkenntnissen nicht erreicht werden kann, nach dem Postulat des universellen Funktiona36

Merton, R. K. in: Meja, V./Stehr, N. (Hrsg.): Soziologische Theorie 1995, S. 17 ff.,

53. 37

Die Differenzierung stammt von Freud, der in den „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ zwischen einer manifesten und einer latenten Bedeutung des Trauminhalts unterscheidet; vgl. Freud, S.: Vorlesungen 2000 (1915–1917), S. 128– 138 (134, Hervorhebung im Original): „Es scheint mir an der Zeit, zwei Termini einzuführen, die wir längst hätten verwenden können. Wir wollen das, was der Traum erzählt, den manifesten Trauminhalt nennen, das Verborgene, zu dem wir durch die Verfolgung der Einfälle kommen sollen, die latenten Traumgedanken.“ 38 Merton, R. K. in: Meja, V./Stehr, N. (Hrsg.): Soziologische Theorie 1995, S. 17 ff., 49 (Hervorhebungen im Original). Im englischsprachigen Original heißt es: „Manifest functions are those objective consequences contributing to the adjustment or adaption of the system which are intended and recognized by participants in the system; Latent functions, correlatively, being those which are neither intended nor recognized. 39 Bei den Hopi-Indianern handelt es sich um einen Stamm in Nord-Arizona, USA.

II. Die Weiterentwicklung der funktionalen Analyse

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lismus aber jeder Brauch eine soziale Funktion innehaben muss, wird das wissenschaftliche Interesse auf die latente Funktion des Regentanzes gelenkt. Vor diesem Hintergrund kann sodann die Frage untersucht werden, welche Bedeutung der Tanz für die individuell beteiligten Personen40 und für die Gruppe der Hopi41 insgesamt hat. Schon in diesem Beispiel Mertons wird deutlich, dass sich bei der Beurteilung der Frage, ob eine Funktion manifest oder latent ist, zwei grundsätzlich zu unterscheidende Typen sozialen Wissens gegenüber stehen.42 Die manifeste Funktion repräsentiert das common-sense-Wissen der beteiligten Gesellschaftsmitglieder. Die latente Funktion eines sozialen Brauchs, einer Sitte usw. erschließt sich demgegenüber erst über eine sozialwissenschaftliche Analyse und repräsentiert daher den Typus der (nach dem Verständnis der dem Funktionalismus zuzuordnenden Sozialwissenschaftler: überlegenen und eigentlich wichtigen) soziologisch/anthropologischen Erkenntnis. Dieser Befund, der sich auch in der Diskussion über den Funktionalismus in der Strafrechtswissenschaft widerspiegelt, kommt nochmals in Mertons zweitem Beispiel zur Bedeutung einer Differenzierung zwischen manifesten und latenten Funktionen deutlich zum Ausdruck. Merton bezieht sich dabei auf eine sozialwissenschaftlich/ökonomische Forschungsarbeit über die Bedeutung des demonstrativen Konsums von Luxusgütern43 und legt dar, dass die Befriedigung der individuellen Bedürfnisse, für die diese Güter explizit bestimmt sind, lediglich der „common-senseVorstellung“,44 das heißt der manifesten Funktion des Konsums entspricht. Die latente Funktion erschließt sich erst in der sozialwissenschaftlichen Funktionsanalyse und ergibt, dass der demonstrative Konsum von Luxusgütern zu einer Erhöhung oder Behauptung des sozialen Status führt und diese Güter vor allem deshalb gekauft und konsumiert werden, weil sie teuer sind. Daraus ergibt sich die „latente Gleichung: Kostspieligkeit = Merkmal eines höheren Status“, die der „manifesten Gleichung: Kostspieligkeit = hervorragende Qualität der Güter“ entgegengesetzt werden kann.45

40 In Erweiterung des Spektrums der funktionalen Analyse durch Schelsky handelt es sich insoweit um die latente personfunktionale Bedeutung des Regentanzes. 41 Latente systemfunktionale Bedeutung des Regentanzes. 42 Dieser Gesichtspunkt ist erst in der neueren Literatur eingehender herausgearbeitet worden, vgl. Campbell, C.: American Sociological Review 1982, 29 ff., 32: „Thus, although Merton defines the distinction between manifest and latent functions as that between purpose and consequence, in this subsequent discussion, he generally employs the dichotomy to refer to the contrast between common sense knowledge and sociological understanding.“ 43 Veblen, T.: Theorie der feinen Leute 1964, S. 79 ff. 44 Merton, R. K. in: Meja, V./Stehr, N. (Hrsg.): Soziologische Theorie 1995, S. 17 ff., 67. 45 Merton, R. K. in: Meja, V./Stehr, N. (Hrsg.): Soziologische Theorie 1995, S. 17 ff., 67.

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Kap. 6: Rechtssoziologische Plausibilität des systemfunktionalen Ansatzes

Resümiert man die vorstehend genannten Beispiele, die zeigen, unter welchen Voraussetzungen die bisherigen Untersuchungen der Anthropologie und Soziologie einen Anlass zur Analyse latenter Funktionen gesehen haben (nämlich dann, wenn die manifesten Funktionen das Phänomen als solches nicht zureichend erklären können), so verwundert es nicht, dass die Vertreter des strafrechtlichen (System-)Funktionalismus ihre Auffassung vor allem auch mit einer fundamentalen Kritik des Schuldprinzips begründen und ihre grundlegenden Schriften zu einer Zeit publiziert haben, als der Schuldgrundsatz in der Strafrechtswissenschaft generell Gegenstand zahlreicher Kontroversen war.46 Die Überlegung, es sei möglich, durch die Sanktionierung begangenen Unrechts eine individuelle Schuld auszugleichen, ist für diese Autoren – wie dargelegt – nur der Überrest eines verkappt theologischen und damit überholten irrationalen Verständnisses der Funktion des Strafrechts (faktisch vergleichbar dem Regenzeremoniell der Hopi, das seine manifeste Funktion ersichtlich nicht erfüllen kann), die es durch die neue (systemtheoretische säkularisierte) Epoche des Strafrechts zu überwinden gilt. Besonders deutlich geht dieser Ansatz aus den beiden programmatischen Schriften Roxins47 und Jakobs’48 hervor, mit denen diese Autoren die neue Epoche des strafrechtlichen Systemdenkens einleiten. Ausgangspunkt ihrer Darstellungen ist – wie oben ausführlich dargelegt – die „Entmythologisierung“ des Schuldbegriffs und des Schuldstrafrechts und damit faktisch ein Angriff auf die manifesten Grundlagen der Funktionsbestimmung des Strafrechts, der bei Jakobs explizit mit dem methodischen Instrumentarium der Systemtheorie ausgeführt wird. Das vorläufig vor allem von Jakobs formulierte Ergebnis dieser „Aufklärungsarbeit“, die „Gewährleistung der Enttäuschungsfestigkeit der wesentlichen normativen Erwartungen“,49 werde trotz der etablierten Schimäre der zweckfrei verstandenen Schuld insgesamt erreicht, beinhaltet dabei einen zweifachen Wechsel der Beurteilungsperspektive: Der Blick des wissenschaftlichen Interesses wendet sich von den personfunktionalen auf die systemfunktionalen Wirkungen des Strafrechts und von den manifesten zu den latenten Funktionen, die bislang weitgehend im Verborgenen geblieben sind und erst durch die funktionale Analyse selbst sichtbar werden. Besonders offensichtlich wird dieser Perspektivenwechsel wiederum bei Jakobs, der seine grundlegende Schrift „Schuld und Prävention“ wie folgt einleitet: „Die Problematik zweckfrei bestimmter Schuld. Wenn zur Erreichung eines vorgegebenen Zwecks die gegebenen Mittel nicht zu taugen scheinen, der Zweck aber dennoch erreicht wird, kann dies daran liegen, dass die Mittel nur in ihrer offenen, bekannten Ausgestaltung (manifeste Funktion, H. S.) untauglich sind, während die Analyse des Verborgenen (latente Funktion, H. S.) Zweckdienliches zutage fördert.“50 46 47 48 49

Vgl. die Diskussion anlässlich der Strafrechtsreform der 60er Jahre, oben, Kapitel 5 I. Roxin, C.: Kriminalpolitik 1973. Jakobs, G.: Schuld und Prävention 1976. Jakobs, G.: Schuld und Prävention 1976, S. 3.

II. Die Weiterentwicklung der funktionalen Analyse

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Soweit sich Jakobs und Roxin in ihren Beiträgen daher darauf beschränken, das geltende Recht systemfunktional zu deuten und etwa erläutern, warum bestimmte Exkulpationsregeln überhaupt strafrechtliche Anerkennung finden, betreiben sie damit im Grunde keine Rechtsdogmatik oder Kriminalpolitik sondern Rechtssoziologie. Ihre Beiträge sind – sofern sie dieser Selbstbeschränkung (lediglich „Deutung“, nicht Umgestaltung des Strafrechts) gerecht werden – als rechtssoziologische Analysen der latenten Funktion des Strafrechts zu verstehen, die sie in Übereinstimmung mit dem systemtheoretischen Paradigma ausschließlich auf bestimmte Bedürfnisse des Systems zurückführen. Als Funktionsanalysen unterliegen sie dabei denselben Kritikpunkten, die Merton bereits bei den Untersuchungen der Rechtsanthropologie und Rechtssoziologie ausgemacht hat. Sie tendieren dazu, die latente Funktion als die eigentlich bedeutsame anzusehen und versehen dabei die erzielten Ergebnisse unter dem Etikett des „scientific knowledge“ mit einem wissenschaftlichen Mehrwert, der jedenfalls in ihren Untersuchungen selbst nicht weiter belegt wird. Der Wechsel der Fachdisziplinen verlangt allerdings auch, seine Vorgehensweise an den Methoden der jeweiligen Wissenschaft zu orientieren. Sofern es demnach von den Autoren beabsichtigt und durchgeführt wird, die latente Funktion bestimmter strafrechtlicher Grundentscheidungen zu erörtern, ist die Argumentation und Beweisführung nicht mehr den Methoden der juristischen Hermeneutik zugänglich, sondern es bedarf der empirischen Fundierung der zugrunde gelegten Aussagen.51 Das hierfür erforderliche Wissen um die Funktionsweise der positiven Generalprävention ist allerdings, wie bereits in Kapitel 3 ausführlich dargelegt,52 allenfalls rudimentär, so dass die Autoren, selbst wenn sie sich mit dem Forschungsstand auseinandergesetzt hätten, zu keiner erfahrungswissenschaftlichen Bestätigung ihrer Aussagen gekommen wären. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass vor allem Jakobs und Frisch in späteren Darstellungen dazu übergehen,53 die Theorie der positiven Generalprävention mit einer absoluten Begründung der Strafe zu verbinden und damit versuchen, diese gegen empirische Einwände abzusichern.

In seinem grundlegenden Beitrag über manifeste und latente Funktionen interessiert sich Merton allerdings nur sekundär für die Ergebnisse der angeführten Untersuchungen,54 primär hingegen für die aus seiner Differenzierung des Funktionsbegriffs resultierenden methodologischen Konsequenzen. Die einzelnen genannten Unterbegriffe bieten nach seiner Interpretation vor allem einen „Ansatz zum Studium der Dynamik und des Wandels“,55, 56 während die herkömmliche funktionale Methode weitgehend auf die Statik der sozialen Struktur 50

Jakobs, G.: Schuld und Prävention 1976, S. 3 (Hervorhebung im Original). Zu diesem Gesichtspunkt des systemfunktionalen Ansatzes Jakobs ausführlich: Bock, M.: ZStW 103 (1991), 636 ff., 654; Stratenwerth, G.: Strafzwecke 1995, S. 7. 52 Kapitel 3 I. 3. 53 Vgl. hierzu die Nachweise in Kapitel 3 I. 3.; Kapitel 4 I. 2. 54 Merton bezieht sich z. B. auf die bekannte Untersuchung von Thomas, W. I./Znaniecki, F.: The Polish Peasant in Europe and America 1996. 51

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Kap. 6: Rechtssoziologische Plausibilität des systemfunktionalen Ansatzes

konzentriert ist. Nur eine Differenzierung des Funktionsbegriffes ermöglicht es nach seiner Auffassung, Fragestellungen zu thematisieren, die bislang vom Erkenntnisinteresse des Funktionalismus ausgeklammert wurden. Als Grundfrage ergibt sich zum Beispiel die Problematik der Auswirkungen der Umwandlung einer zunächst latenten in eine manifeste Funktion. Die hierdurch eingetretenen oder prognostizierten Folgen für das gesellschaftliche System oder seine Teilglieder lassen sich wiederum in das Spektrum funktionaler oder dysfunktionaler Beiträge einordnen. Da Merton nur einen Leitfaden für die funktionale Analyse entwickeln will und seine Arbeit über manifeste und latente Funktionen daher im engeren Sinne einen methodologischen Beitrag über den Funktionalismus darstellt, beantwortet er diese Frage nicht selbst und pauschal für alle möglichen sozialen Problemlagen, sondern er zeigt lediglich das Aufgabenspektrum für eine an seinem Paradigma orientierte funktionale Analyse auf. Die in diesem Abschnitt gestellte Ausgangsfrage, ob die Herstellung der normativen Identität der Gesellschaft bzw. speziell die „Gewährleistung der Enttäuschungsfestigkeit der wesentlichen normativen Erwartungen“ auch der systemfunktionalen Auslegung der einzelnen Rechtsbegriffe bedarf, soll in der nachfolgenden Analyse daher unter Rückgriff auf das begriffliche Instrumentarium des Funktionalismus nach Merton eingehender untersucht werden. Dabei werden folgende Ausgangshypothesen in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt: (1) Die manifeste Funktion der Strafrechtsdogmatik ist nach ihrem herkömmlichen Aufgabenverständnis nicht auf den Gesichtspunkt der „Gewährleistung der Enttäuschungsfestigkeit der normativen Erwartungen“ bezogen. (2) Dieser Gesichtspunkt kann nach dem herkömmlichen Aufgabenverständnis der Strafrechtsdogmatik allenfalls als eine latente Funktion angesehen werden. (3) Die Umstrukturierung des Strafrechts in Gestalt der systemfunktionalen Ansätze stellt faktisch die Umwandlung einer latenten in eine manifeste Funktion dar. (4) Diese Umwandlung ist nicht nur für die Person (dies wurde bereits in den vorausgegangenen Kapiteln 3–5 dargestellt), sondern gerade auch für die damit intendierten Bedürfnisse der Systemstabilisierung dysfunktional und setzt sich darüber hinaus in Widerspruch zu den eigenen theoretischen Grundannahmen der Systemtheorie.

55 Merton, R. K. in: Meja, V./Stehr, N. (Hrsg.): Soziologische Theorie 1995, S. 17 ff., 37 ff. 56 Dieser Gesichtspunkt wird in der Literatur als wesentlicher Fortschritt der funktionalen Methode Mertons hervorgehoben, vgl. z. B.: Sztompka, P.: Robert K. Merton 1986, S. 129.

III. Funktionsbestimmung der Strafrechtsdogmatik

325

III. Konsequenzen für die Funktionsbestimmung der Strafrechtsdogmatik – Erörterung der Ausgangshypothesen 1. Die manifeste Funktion der Strafrechtsdogmatik Bei der Bestimmung der manifesten Funktion der Strafrechtsdogmatik ist der Bezugspunkt der Analyse nicht das Strafrecht insgesamt, angefangen bei den Voraussetzungen der Strafbarkeit bis hin zu den Entscheidungen über Strafvollstreckung und Strafvollzug. Gegenstand der Erörterung ist vielmehr ausschließlich die Funktion der in den Kapiteln 3–5 diskutierten Grundbegriffe des Allgemeinen Teils, bei denen sich die systemfunktionale Auslegung durch die hier interessierenden Schulen der Strafrechtswissenschaft in dem oben aufgezeigten Umfang niederschlägt. Diese Grundbegriffe nehmen innerhalb des Strafrechts als Ganzem eine entscheidende manifeste Binnenfunktion wahr, die sich klar von der Funktion der weiteren Stufen in dem komplexen Wirkungszusammenhang des Strafrechts unterscheiden lässt. Bereits bei der Zumessung der Strafe im engeren und weiteren Sinne ist allgemein anerkannt und teilweise auch gesetzlich normiert, dass die positive Generalprävention explizit zu berücksichtigen ist. Auch bei den Vollstreckungsentscheidungen über die Aussetzung des Strafrests dürfen die Folgen, die eine Aussetzung für die Allgemeinheit haben würde, in die Entscheidung einbezogen werden. Denn in diesen Fällen stößt die Verwirklichung der spezialpräventiv erwünschten Ziele, zum Beispiel die Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafe (§ 47 StGB), die Ausweitung der Möglichkeit, die Strafe zur Bewährung auszusetzen (§§ 56, 57 StGB) und die Möglichkeit, die Strafe bei bloßer Verwarnung vorzubehalten (§ 59 StGB) an die Grenze der „Verteidigung der Rechtsordnung“. Daher ist es durchaus zutreffend, bei der Auslegung dieser Vorschriften auch auf den Gesichtspunkt der „Stabilisierung der wesentlichen normativen Verhaltenserwartungen“ abzustellen.57 Demgegenüber kommt den hier interessierenden Grundbegriffen des Allgemeinen Teils eine ganz andere manifeste Funktion zu, die sich vor allem dann erschließt, wenn das Augenmerk auf das „Produkt“ gerichtet wird, bei dessen Herstellung diese Begriffe Anwendung finden. Die Begriffe Handlung, Vorsatz, Schuld und Rücktritt sowie die dogmatischen Bemühungen zu ihrer Auslegung im Sinne des „Inbegriffs der Lösungsvorschläge der Strafrechtswissenschaft“58 57 Vgl. dazu Hassemer, W. in: Coing-FS 1982, S. 493 ff., 504: In diesen Fällen limitiert die „Furcht des Strafgesetzgebers vor schädlichen Wirkungen von Straf- und Strafvollzugsverzicht auf die Allgemeinheit . . . die Hoffnung des Strafgesetzgebers auf erwünschte Wirkungen von Straf- und Strafvollzugsverzicht auf den betroffenen einzelnen.“ Ausführlich ferner Hassemer, W.: Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik 1974, S. 118 ff., 156 ff.

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Kap. 6: Rechtssoziologische Plausibilität des systemfunktionalen Ansatzes

zu diesen Problemen stellen die zentralen allgemeinen Eingriffsvoraussetzungen dar, die zu der Erörterung der Frage dienen, ob sich der Beschuldigte strafbarer Handlungen schuldig gemacht hat und gegen ihn der mit einer Verurteilung verbundene persönliche Vorwurf erhoben werden kann. Maßgeblicher Bezugspunkt dieser Prüfung ist der einzelne Täter, der im Mittelpunkt des Strafprozesses steht und über dessen Schuld oder Unschuld im Hinblick auf eine ihm konkret vorgeworfene Tat durch Urteil zu entscheiden ist. Die Auswirkungen, die dem Urteil, der Täter sei schuldig oder unschuldig, für die gesellschaftliche Lebenswirklichkeit zu kommen, sind nach dem manifesten Funktionsverständnis der an der Urteilsfindung beteiligten Personen und der Öffentlichkeit grundsätzlich unbeachtlich. Bereits die dem Strafverfahren zugrunde gelegten Bearbeitungsroutinen sind so ausgestaltet, dass den beteiligten Personen (Richter, Staatsanwalt, Verteidiger, Beschuldigter) kein Raum für Zweifel an dieser manifesten Funktion eröffnet wird. Z. B. ist dem Beschuldigten schon bei der ersten Vernehmung und später in der Anklageschrift zu eröffnen, „welche Tat ihm zur Last gelegt wird“ (§§ 136 Abs. 1, 200 Abs. 1 StPO). Diese Tat ist Gegenstand des Urteils, in dem gegebenenfalls im Tenor festgestellt wird, welcher Tat sich der Angeklagte „schuldig gemacht“ hat. Diesem Funktionsverständnis des Strafverfahrens entspricht es, auch bei den dogmatischen Ausgangsentscheidungen, von denen die persönliche Schuldfeststellung letztlich abhängig ist, ausschließlich auf die Person des Täters, seine individuelle Kenntnis von Tatumständen usw. und nicht auf die Interessen des Systems abzustellen. Dass demnach alleine die manifeste personfunktionale Auslegung dieser Rechtsbegriffe dem common-sense-Verständnis der beteiligten Personen und Institutionen entspricht, ergibt sich implizit auch aus den Stellungnahmen der (System-)Funktionalisten selbst. Denn nur wenn nach der manifesten Funktion der Strafrechtsdogmatik die Herstellung der „Enttäuschungsfestigkeit der wesentlichen normativen Erwartungen“ keine Berücksichtigung findet, ist nachvollziehbar, weshalb etwa Jakobs von der „Analyse des Verborgenen“59 spricht und Roxin dazu ansetzt, bestimmte dogmatische und legislative Entscheidungen auf der Schuldebene von der Strafzwecklehre her zu „erklären“ und damit für den Leser seiner Abhandlung erst „verständlich“60 zu machen. Dieses Verständnis der manifesten Funktion der Strafrechtsdogmatik schließt es allerdings nicht aus, dass die Gerichte im Einzelfall aus in den Urteilen allerdings explizit nicht ersichtlichen Gründen bestimmte dogmatische Weichenstellungen gerade mit Blick auf die Folgen treffen, die von ihrer Entscheidung ausgehen. Wesentliche Streitfragen zwischen Literatur und Rechtsprechung verdan58 Loos, F. in: Immenga, U. (Hrsg.): Rechtswissenschaft und Rechtsentwicklung 1980, S. 261 ff. 59 Jakobs, G.: Schuld und Prävention 1976, S. 3. 60 Roxin, C.: Kriminalpolitik 1973, S. 33 ff.

III. Funktionsbestimmung der Strafrechtsdogmatik

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ken ihre Entstehung sogar diesem Umstand, der letztlich daraus resultiert, dass die Gerichte ihre Urteile „handlungsbelastet“ treffen, während die Lehre „handlungsentlastet“61 ausschließlich auf die dogmatische Folgerichtigkeit ihrer Argumentationsfiguren achten kann. In diesem Fall bleiben die Folgen, auf welche die Strafurteile ausgerichtet sind, allerdings insoweit latent, als sie lediglich den „apokryphen“ Urteilsgründen zu entnehmen sind. Außerdem geht es in diesen Fällen im Wesentlichen nur um Folgen, die das Urteil für den betroffenen Einzelnen hat und nicht um die Konsequenzen der Entscheidung für die Allgemeinheit. Das prominenteste Beispiel für diesen Befund liefert der bekannte vom Reichsgericht entschiedene „Badewannenfall“,62 in dem das Gericht auf der Grundlage der „extrem subjektiven Theorie“ trotz eigenhändiger vollständiger Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestands durch die Angeklagte nur eine Strafbarkeit wegen Beihilfe angenommen hatte. Erst viele Jahre später gab das frühere Senatsmitglied Hartung63 zu erkennen, dass hinter der Anwendung der extrem-subjektiven Theorie nicht dogmatische Einsicht, sondern das Bedürfnis stand, der Angeklagten die ansonsten zwingend zu verhängende Todesstrafe zu ersparen.64 Die hier analysierte manifeste Funktion der Strafrechtsdogmatik ist ferner auch nicht die einzige manifeste Bedeutung, die diesen Leistungen für das Strafrecht zukommt. Neben der Hauptfunktion, den Bereich der Strafbarkeit für den individuellen Schuldspruch abzustecken und damit die wesentlichen Eingriffsvoraussetzungen zu formulieren, sind auch weitere Funktionen anerkannt, die sich allerdings wiederum nicht auf die Auswirkungen der Entscheidung für das gesellschaftliche System beziehen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sind hier etwa die „technische oder didaktische Funktion“, sowie die „Beratungsund Vorlaufsfunktion“ zu nennen.65 Erstere bezieht sich auf die Lern- und Lehrbarkeit des Rechtsstoffes, die dadurch gewährleistet wird, dass die leitenden Grundgedanken des Rechts methodisch herausgearbeitet werden. Letztere dient 61 Zu dieser Begrifflichkeit vgl. Schelsky, H.: Juridische Rationalität, in: ders. (Hrsg.): Die Soziologen und das Recht 1980, S. 34 ff.; zu einem weiteren Beispiel für diese Differenzierung vgl. BVerfG, NStZ 1998, 430, (mit Anm. Schneider, H.: NStZ 1999, 157 f.). 62 RGSt 74, 85 ff. 63 Hartung, F.: JZ 1954, 430 f.: „Das junge Mädchen aber dem Henker zu überantworten, das schien dem Senat nach Lage des Falles unmöglich zu sein. Schließlich – nach langer Beratung, in der alle Möglichkeiten eingehend erwogen worden waren – fand sich ein Weg, der die Aussicht zu eröffnen schien, das Mädchen vor der Todesstrafe zu bewahren. . . . Wie müssen unsere subjektive Teilnahmelehre auf die Spitze treiben und aussprechen: „Gehilfe kann auch sein, wer die tatbestandsmäßige Handlung allein ausführt!“ 64 Vgl. hierzu eingehend: Hassemer, W. in: Coing-FS 1982, S. 493 ff., 501. 65 Zu diesen und weiteren Funktionen der Strafrechtsdogmatik, vgl.: Burkhardt, B. in: Eser, A. u. a. (Hrsg.): Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende 2000, S. 111 ff., 119.

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Kap. 6: Rechtssoziologische Plausibilität des systemfunktionalen Ansatzes

der Vorbereitung der Gesetzgebung und zeigt Alternativen für die Formulierung und Anpassung gesetzlicher Bestimmungen auf.66 2. Die latente Funktion der Strafrechtsdogmatik Trotz dieser manifesten Hauptfunktion der um die Auslegung der Grundbegriffe des Allgemeinen Strafrechts bemühten Strafrechtsdogmatik ist es durchaus plausibel, sowohl den Entscheidungen des Gesetzgebers über die Ausgestaltung der einzelnen Institute als auch den Lösungsvorschlägen der Strafrechtswissenschaft und Judikatur zu bestimmten Auslegungsproblemen eine latente Funktion in Bezug auf die Bestätigung der normativen Identität der Gesellschaft beizumessen. In diesem Zusammenhang erhalten die Versuche Jakobs’ und Roxins, das geltende Strafrecht systemfunktional zu deuten, ihre Berechtigung, auch wenn der empirische Nachweis für ihre Aussagen fehlt. So ist es zum Beispiel keineswegs sicher, dass sich am Normvertrauen der rechtstreuen Bevölkerung irgendetwas ändern würde, wenn auch die in § 35 Abs. 1 S. 2 2. Alt. StGB angesprochenen, in einem besonderen Rechtsverhältnis stehenden Personen (Polizeibeamte, Soldaten, Feuerwehrleute oder Seeleute) über § 35 StGB exkulpiert würden.67 Ein gewisser Beleg für die Stichhaltigkeit der systemfunktionalen Interpretation des in der Praxis im Wesentlichen personfunktional ausgelegten geltenden Rechts ergibt sich aber bereits daraus, dass die Gesellschaft zumindest gegenwärtig nicht in völliger Anomie versinkt und das Kollektivbewusstsein in Bezug auf die grundlegenden normativen Verhaltenserwartungen noch ausreichend ausgeprägt ist. Unter einem spezifisch rechtssoziologischen Blickwinkel, auf den sich die Autoren mit ihrer systemfunktionalen Deutung des geltenden Rechts selbst eingelassen haben, gestalten sich die tatsächlichen sozialpsychologischen Mechanismen der Einübung in Normanerkennung aber als erheblicher komplexer und vielschichtiger, als dies in ihren Bestandsanalysen selbst zum Ausdruck kommt. Fragt man allgemein nach den Bedingungen, unter denen die 66 Burkhardt, B. in: Eser, A. u. a. (Hrsg.): Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende 2000, S. 111 ff., 119 mit weiteren Beispielen. 67 Wenn Hirsch [ZStW 106 (1994), 746 ff., 757] dieser systemfunktionalen Interpretation der Exkulpationsvorschriften mit dem Argument entgegentritt, hinter der Differenzierung des § 35 StGB stünden in erster Linie verschiedene Grade psychischer Belastbarkeit, so zeigt er damit lediglich eine alternative personfunktionale Deutung der Regelung des § 35 StGB, welche die systemfunktionale Interpretation von Roxin und Jakobs nicht als falsch erscheinen lässt. Der Unterschied, der sich in diesen beiden Interpretationsvarianten von Jakobs und Roxin einerseits und Hirsch andererseits widerspiegelt, ist daher nur ein Beispiel für die grundsätzliche Komplementarität der Perspektiven, die der personfunktionalen und der systemfunktionalen Interpretation des Rechts zugrunde liegt. Hirsch interpretiert die Differenzierung nach Personengruppen in § 35 Abs. 1 StGB von der Person des Straftäters aus, während Roxin und Jakobs die Interessen des Systems in den Vordergrund stellen.

III. Funktionsbestimmung der Strafrechtsdogmatik

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grundlegenden normativen Verhaltenserwartungen von dem überwiegenden Teil der Bevölkerung beachtet werden, so geraten teilweise sogar paradoxe Effekte in den Blick des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses, die mit der Strafrechtspflege und der Sanktionierung individuellen Unrechts allenfalls mittelbar in Verbindung stehen und die in den systemfunktionalen Analysen der in dieser Arbeit rekonstruierten Schulen der Strafrechtswissenschaft keine Berücksichtigung gefunden haben. (1) Zu den paradoxen Effekten, die auch in den meisten soziologischen Darstellungen über die Funktion der Strafe im Hinblick auf die Einübung in Normanerkennung keine Erwähnung finden, zählt vor allem die von Heinrich Popitz entdeckte „Präventivwirkung des Nichtwissens“.68 Popitz differenziert zwischen einer Verhaltensgeltung und einer Sanktionsgeltung sozialer Normen,69 und legt dar, dass die Anerkennung einer Norm durch die Gesellschaftsmitglieder auf einem bestimmten Gleichgewicht von Verhaltens- und Sanktionsgeltung beruht.70 Der Begriff der Verhaltensgeltung bezieht sich auf den quantifizierbaren Umfang, mit dem eine bestimmte Norm in einer „normrelevanten Situation“ von den Gesellschaftsmitgliedern eingehalten wird. „Sanktionsgeltung“ bedeutet demgegenüber die Häufigkeit der Sanktionierung des jeweiligen Normverstoßes.71 Da die durchgehende Sanktionierung notwendig eine lückenlose Aufklärung aller Normbrüche voraussetzt und dies lediglich in einer utopischen Gesellschaft ohne Geheimnisse möglich wäre,72 besteht eine Schwundrate zwischen Verhaltensgeltung und Sanktionsgeltung, über deren genauen Umfang keine Gewissheit zu erlangen ist. Denn abgesehen von den Fällen aufgeklärter, aber dennoch ungeahndeter Fälle bleiben alle diejenigen Normbrüche unsanktioniert, bei denen entweder zwar der Normbruch, nicht aber der Normbrecher entdeckt wurde oder der Normbruch insgesamt im Dunkelfeld geblieben ist.73 Dieser im Hinblick auf die einzelnen Normen (Strafgesetze) jeweils unterschiedliche Umfang an „unsanktionierter Nichtgeltung“74 ist nach Popitz für die Einübung in Normanerkennung nicht etwa schädlich, sondern elementar notwendig. Lückenlose Information der Gesellschaft über den wahren Umfang der Nichtgeltung gefährdet nach seiner Auffassung den Geltungsanspruch der Norm und ist deshalb für die intendierten Zwecke der positiven Generalprävention dysfunktional. Ein Mehr an Aufklärung belastet zunächst die Sanktionsorganisation, so dass wegen fehlender Kapazitäten mit einem Nachlassen der Sanktions68 69 70 71 72 73 74

Popitz, H.: Präventivwirkung des Nichtwissens 1968. Ausführlich: Popitz, H.: Normative Konstruktion 1980, S. 37 ff. Popitz, H.: Präventivwirkung des Nichtwissens 1968, S. 17 ff. Popitz, H.: Präventivwirkung des Nichtwissens 1968, S. 15. Popitz, H.: Präventivwirkung des Nichtwissens 1968, S. 7–9. Popitz, H.: Präventivwirkung des Nichtwissens 1968, S. 10 (mit Schaubild). Popitz, H.: Präventivwirkung des Nichtwissens 1968, S. 10.

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Kap. 6: Rechtssoziologische Plausibilität des systemfunktionalen Ansatzes

bereitschaft zu rechnen wäre.75 Anders als der bewusste Informationsverzicht führt der bewusste Sanktionsverzicht aber zu einer Erosion der Normgeltung. Denn die Normgeltung ist insofern wesentlich von der Sanktionsgeltung abhängig, als die Normadressaten ihr Verhalten vor allem dann an einer Norm orientieren, wenn der Normverstoß mit informellen oder formellen Sanktionen geahndet wird. Selbst wenn das System aber seine Sanktionskapazitäten dem gestiegenen Bedarf anpasst, ist die folgende exzessive Vermehrung der Sanktionen für die Normgeltung kontraproduktiv: „Wenn auch der Nachbar zur Rechten und zur Linken bestraft wird, verliert die Strafe ihr moralisches Gewicht. Etwas, das beinahe jedem reihum passiert, gilt nicht mehr als diskriminierend. Auch die Strafe kann sich verbrauchen. Wenn die Norm nicht mehr oder zu selten sanktioniert wird, verliert sie ihre Zähne, – muss sie dauernd zubeißen, werden die Zähne stumpf. . . . Aber nicht nur die Sanktion verliert ihr Gewicht, wenn der Nachbar zur Rechten und zur Linken bestraft wird. Es wird auch offenbar – und zwar in denkbar eindeutiger Weise –, dass auch der Nachbar die Norm nicht einhält. Diese Demonstration des Ausmaßes der Nichtgeltung der Norm wird sich aber ebenso wie der Gewichtsverlust der Sanktion auf die Konformitätsbereitschaft auswirken. Werden allzu viele an den Pranger gestellt, verliert nicht nur der Pranger seine Schrecken, sondern auch der Normbruch seinen Ausnahmecharakter und damit den Charakter einer Tat, in der etwas ,gebrochen‘, zerbrochen wird.“76

Diese Ausführungen Popitz erlangen im Bereich des Strafrechts vor allem bei Delikten mit einer hohen Dunkelzifferrelation (Diebstahl, Beleidigung, bestimmte Verkehrdelikte)77 besondere Bedeutung. Bei den Diebstahlsdelikten (§§ 242–244a, 247, 248a–c StGB) wird vermutlich der größte Teil der Straftaten überhaupt nicht entdeckt. Geht man für die Bundesrepublik Deutschland bei diesen Delikten von einer Dunkelzifferrelation von 1:378 aus, bedeutet dies etwa 12.533.672 Delikte, denen aber nur 36.997 zu Freiheitsstrafe verurteilte Täter gegenüber stehen. Sofern dieser Befund den Gesellschaftsmitgliedern bewusst ist, wirkt sich dies nicht nur – wie dargelegt – zu Lasten der Sanktionsgeltung der Diebstahlsstraftatbestände sowie der Verhaltensgeltung der zugrunde liegenden Verhaltensnormen aus, sondern die Strafrechtspflege wäre insgesamt in eine Sackgasse geraten. Denn auch eine Reaktion durch kriminalpolitische Maßnahmen – etwa in Form der Steigerung der Aufklärungsarbeit – ist im Ergebnis nicht erfolgversprechend. Zum einen ist die lückenlose Aufklärung dieser Delikte schon aus kriminalistischen Gründen weitgehend ausgeschlossen, zum an75

Popitz, H.: Präventivwirkung des Nichtwissens 1968, S. 15. Popitz, H.: Präventivwirkung des Nichtwissens 1968, S. 17. 77 Überblick zum Forschungsstand bei Schwind, H.-D.: Kriminologie 2002, S. 40 ff. (§ 2, Rn. 54–71). 78 Hochrechung aufgrund der Resultate der Dunkelfeldforschung Bochum 1975, 1986 und 1998, zusammenfassende Darstellung bei Schwind, H.-D.: Kriminologie 2002, S. 40 ff. (§ 2, Rn. 54–85). 76

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deren könnte das Fallaufkommen durch die Justiz rein organisatorisch nicht mehr bewältigt werden und müsste folglich zu einer weiteren – ebenfalls kontraproduktiven – Ausweitung des Sanktionsverzichts führen. Zumindest bei diesen Delikten argumentiert die systemfunktionale Deutung des Strafrechts daher – ohne dies offen zu legen oder überhaupt zu reflektieren – mit quantitativen Annahmen. Die Strafrechtspflege trägt hier nur insofern zur Bestätigung der normativen Identität der Gesellschaft bei, als sie ihre Tätigkeit auf einen bestimmten Bereich des Hellfeldes bezieht und ansonsten (bewusst) auf weitere Informationen und Aufklärungsarbeit verzichtet. Denn anders als der bewusste Sanktionsverzicht beinhaltet der Informationsverzicht einen Entlastungseffekt, der sich nicht zu Lasten der Normgeltung auswirkt. Sofern die Nichtsanktionierung auf einem Informationsdefizit oder einem Informationsverzicht beruht, bedarf sie keiner weiteren Rechtfertigung und muss insbesondere nicht, wie der Verzicht auf Verfolgung, Anklageerhebung und Verurteilung, eindeutig als solcher artikuliert werden. (2) Die in Popitz’ Ansatz enthaltene Aussage, die Verhaltensgeltung einer Norm werde dann beeinträchtigt, wenn die Sanktionsgeltung nach dem Kenntnisstand der beteiligten Akteure als gering eingestuft wird, erlangt eine besondere Spezifizierung zudem anhand neuerer kriminologisch-theoretischer und empirischer Erkenntnisse, welche die Schlussfolgerung zulassen, dass die Normanerkennung wesentlich auch von situativen Bedingungen abhängt,79 die weder von der Strafrechtspflege allgemein, noch von bestimmten dogmatischen Entscheidungen beeinflusst werden können. Nach diesen kriminologischen Überlegungen und Forschungsresultaten werden Normen von den beteiligten Akteuren nicht generell akzeptiert oder für unmaßgeblich gehalten, sondern die Entscheidung zwischen konformem und abweichendem Verhalten variiert je nach den Möglichkeiten der Tatbegehung. Zu den wesentlichen Determinanten der Akzeptanz sozialer und insbesondere strafrechtlicher Normen gehören daher die technischen Voraussetzungen der Tatbegehung und das mit der Tat verknüpfte Entdeckungsrisiko (die Sanktionsgeltung im Einzelfall). Das kriminologischtheoretische Fundament, auf dem diese Überlegungen beruhen, besteht in bestimmten neueren ökonomischen Kriminalitätstheorien 80 und dem „brokenwindows Ansatz“,81 die vor allem in den USA und zunehmend auch in Deutschland in Programme situationsbezogener Kriminalprävention umgesetzt werden. Nach der Grundaussage der genannten theoretischen Ansätze trifft das Individuum eine situationsbedingte Wahl zwischen konformen und abweichenden 79 Dokumentation des Forschungsstandes bei Herrmann, D./Laue, C. in: Jehle, J.-M. (Hrsg.): Raum und Kriminalität 2001, S. 89 ff.; Laue, C.: MschrKrim 82 (1999), 277 ff.; Streng, F.: Das „broken windows“-Paradigma 1999. 80 Überblick zu den einzelnen Ansätzen: Müller, J.: Ökonomische Grundlagen der Generalprävention 1996. 81 Wilson, J. W./Kelling, G. L.: KrimJ 1996, 121 ff.

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Verhaltensweisen, die maßgeblich von einer konkreten Kosten-Nutzen Analyse geleitet wird. Daneben steht die Beobachtung, dass Verwahrlosungserscheinungen an öffentlichen Plätzen und Gebäuden (zerbrochene Fensterscheiben, verlassene Häuser, Graffiti an den Wänden oder Abfall auf den Straßen) das Risiko für kriminelle Verhaltensweisen erhöhen, da dies von den Akteuren gegebenenfalls als ein Anzeichen für das Fehlen staatlichen Einflusses und sozialer Kontrolle gewertet wird. So erlagen in dem bekannten Experiment des amerikanischen Psychologen Zimbardo82 auch bislang nicht strafrechtlich in Erscheinung getretenen Personen dem „Anreiz“ eines in einer bestimmten schlechtbeleumundeten Gegend abgestellten, nicht zugelassenen Autos, dessen Kofferraum und Motorhaube offen standen, und entwendeten den Kühler und die Batterie des Fahrzeuges. Diese hier nur skizzenhaft wiedergegebenen Überlegungen verdeutlichen, dass die Normanerkennung im Einzelfall von vielfältigen Faktoren abhängig ist, die in ihrer wechselseitigen Beeinflussung nur unzureichend empirisch erforscht sind. Wie allerdings die inzwischen zahlreichen Untersuchungen zur Effizienz bestimmter kriminalpräventiver Maßnahmen ergeben,83 kann die Bedeutung des situativen Kontextes für die Anerkennung der Normgeltung auch nicht vollständig über die Annahme sogenannter Abwanderungseffekte bzw. die These der Deliktsverlagerung relativiert werden. Vor allem dann, wenn der situationsbedingte Reiz einer guten Gelegenheit im Vordergrund steht, ergeben präventive Maßnahmen (z. B. Sicherheitssysteme in öffentlichen Bibliotheken;84 Fahrradpatrouillen auf Parkplätzen) auch „zielübergreifende Gewinne“ (diffusion of benefits),85 und es kommt zu einer Verbesserung der Kriminalitätslage in Gebieten und Bereichen, die überhaupt nicht unmittelbar im Fokus der kriminalpräventiven Interventionen gestanden haben. (3) Neben der latenten Funktion des Strafurteils, in einer Art sozialpsychologischem Lernprozess die Normgeltung zu verdeutlichen,86 sind auch weitere latente Funktionen denkbar, die in den systemfunktionalen Bestandsanalysen keine Berücksichtigung erfahren haben, obwohl ihnen ebenfalls eine Bedeutung für die Einübung in Normanerkennung zukommen kann. Vor allem in den 60er und frühen 70er Jahren ist der Strafrechtspflege in einer Welle von Veröffentlichungen, unter anderem durch den Roxin-Schüler Bernhard Haffke,87 unter dem 82 Zimbardo, P. G. in: Arnold, W. J./Levine, D. (Hrsg.): Nebraska Symposium 1970, S. 237 ff. 83 Der Forschungsstand wird dokumentiert in der Dissertation von Riedel, C.: Situationsbezogene Kriminalprävention 2002. 84 Scherdin, M. J.: Information Technology and Libraries 1986, 232 ff. 85 Riedel, C.: Situationsbezogene Kriminalprävention 2002, S. 87 ff. 86 In der Praxis dürfte sich diese Funktion aber auf öffentlichkeitswirksame Fälle mit begleitender Berichterstattung in den Medien beschränken. 87 Haffke, B.: Tiefenpsychologie und Generalprävention 1976.

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Etikett der Sündenbocktheorie die Funktion zugesprochen worden, die strafende Gesellschaft von ihren eigenen unbewussten Schuldgefühlen zu entlasten.88 Ausgangspunkt der Überlegungen ist der bereits von Sigmund Freud ausführlich beschriebene Abwehrmechanismus der Projektion. Projektion meint allgemein die Fähigkeit des Menschen, verbotene Triebregungen und Wünsche nach außen auf andere Gegenstände, Tiere oder Menschen zu übertragen. Geht man von einer angeborenen Aggressionsneigung des Menschen aus,89 die in einem langen universalgeschichtlichen Prozess im Dienste der Kultur domestiziert wurde, so bedarf diese ebenso wie andere Triebregungen aus dem „Es“ der ständigen Befriedigung. Ein Teil dieser Impulse kann zum Beispiel durch aggressive Spiele, Autofahren, Ausnützung gesellschaftlicher Machtstellungen usw. sublimiert werden, ein anderer Teil wird analog des Ritus der Israeliten, einen Ziegenbock mit der Schuld des Volkes zu beladen und in die Wüste zu schicken, auf andere Menschen, wie zum Beispiel den Verbrecher, übertragen. Der Sündenbock wird dabei mit allem Hass bedacht, der eigentlich uns selber gilt, und er soll stellvertretend für unsere eigenen Schwächen und Nöte büßen. Wird so der Hass gegenüber dem Projektionsobjekt ausgelebt, empfindet der Einzelne gegenüber dem Sündenbock nicht nur keine Gewissensbisse, sondern es gelingt ihm, sich selbst geradezu pharisäerhaft zu „idealisieren“. 90 Die Entlastung von eigener Schuld durch Projektion auf den Rechtsbrecher manifestiert sich dabei in allen möglichen Bereichen des Strafrechts: Bei der Strafzumessung erfolgt ein „Zuschlag“, der nicht der Bestrafung des Delinquenten, sondern dem eigenen latenten Schuldbewusstsein des Strafenden dient. Die Nebenfolgen, wie etwa der Verlust der Wählbarkeit oder das „mit vielen Schikanen behaftete Strafregister“, schaffen nach dieser Auffassung zudem eine fortgesetzte und bleibende Institutionalisierung des Rechtsbrechers als Sündenbock der Gesellschaft. Sofern wegen Sexualdelikten bestraft oder – wie im Bereich des Strafvollzugs – dem Delinquenten auch ein Triebverzicht aufoktroyiert wird, vermuten die Autoren außerdem eine sexuelle Komponente: Der Strafende bezweckt insgeheim „eine Lust für sich selbst . . ., eine Freude, den Bestraften leiden zu sehen, und sei es auch nur die Genugtuung darüber, dass dieser einen beständigen Mangel leidet: einen Mangel an Triebbefriedigung“.91 Eine besondere Durchschlagskraft erhielt dieser Ansatz dadurch, dass die Psychoanalyse und insbesondere die Projektion in den 50er und 60er Jahren zur Erklärung des Antisemitismus und anderer kollektiver Mechanismen angewandt wurden. Die Sündenbockprojektion ist in diesen Analysen Symptom einer kol88 Aus der Fülle der Veröffentlichungen z. B.: Menninger, K.: Strafe – ein Verbrechen? 1970; Ostermeyer, H.: Die bestrafte Gesellschaft 1975; Plack, A.: Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts 1974; Naegeli, E.: Das Böse 1969. 89 Freud, S. in: ders. (Hrsg.): Psychoanalyse 1997, S. 90 ff. 90 Mitscherlich, A. und M.: Unfähigkeit zu trauern 1967, S. 151, 153. 91 Plack, A.: Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts 1974, S. 111.

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lektiven Neurose, die es aufzudecken und zu therapieren gilt. Entsprechend versteht sich auch die psychoanalytische Rekonstruktion des Strafrechts als eine geradezu missionarische Flurbereinigung, an deren Ende in letzter Konsequenz nur eines stehen kann: Die Abschaffung des Strafrechts. Haffke, der diesen Ansatz in einer gemäßigten Variante vertritt und die Abschaffung des Strafrechts wegen der derzeitigen „Realität des kollektiven Bewusstseins“92 als eine „Sozialutopie“ zurückstellt, versucht daher die tiefenpsychologischen Erkenntnisse mit dem Strafzweck der positiven Generalprävention zu verbinden. Denn wenn die Bestrafung des Delinquenten nach den Grundannahmen der Psychoanalyse dazu beiträgt, die kriminelle Energie der rechtstreuen, aber latent kriminellen Bevölkerung zu verdrängen und zu beruhigen, dann ist es nach seiner Auffassung legitim, „die eingeübten Mechanismen zwangsmoralischer Indoktrination“ (in Gestalt des Strafverfahrens und der Sanktionierung individuellen Unrechts) zu wiederholen und an dem Täter ein Exempel zu statuieren:93 „Auf den ersten Blick ist das Modell eines ,reinen‘ Kriminal-Schutz-rechts vorzugswürdig. Denn dass sich eine Gesellschaft gegen zu erwartende erhebliche kriminelle Handlungen zur Wehr setzen muss, leuchtet unmittelbar ein. Dass aber dort gestraft wird, wo eine derartige Gefahr nicht besteht, erscheint unvernünftig und ungerecht; und doch verzichtet unsere Gesellschaft, wie das geltende Strafgesetzbuch bezeugt, auch in diesen Fällen nicht auf den ,sozialethisch deklassierenden Tadel‘ der Strafe. Weicht man hier nicht in das Spekulativ-Unverbindliche aus, sondern bleibt um eine rationale Strafrechtstheorie bemüht, so ist der Rekurs auf die einer solchen Gesetzgebung zugrunde liegende sozialpsychologische Realität unumgänglich. Auf diese Realität nimmt die generalpräventive Theorie im Ansatz Bezug, wenn sie erklärt, dass das allgemeine Rechtsbewusstsein durch jedwede kriminell-schuldhafte Handlung ,erschüttert‘ wird und um der Rechtstreue der überwiegenden Anzahl der Bürger willen das Verbrechen nicht ungesühnt bleiben darf.“94

Wenn der tiefenpsychologische Versuch der Rekonstruktion der latenten Funktionen der Strafe zutreffend ist – und dies ist, da es sich um innerpsychische Mechanismen handelt, empirisch weder zu belegen noch zu falsifizieren –, dann bestehen allerdings gegenüber der systemfunktionalen Auslegung der grundlegenden Rechtsbegriffe erhebliche Bedenken. Sofern den Gesellschaftsmitgliedern nämlich offen gelegt wird, dass die Strafe nicht dazu dient, die Schuld des Täters auszugleichen, sondern lediglich die eigenen Schuldgefühle zu kompensieren, ist zu befürchten, dass diese latente Entlastungsfunktion nicht mehr verwirklicht wird und die Gesellschaft auf andere Objekte der Projektion ausweichen muss. Dieser Umstand wird auch von Haffke unausgesprochen in Rechnung gestellt, in dem er – wie aus dem oben wiedergegebenen Zitat hervorgeht – von einer Sühne des Verbrechens ausgeht und seine Analysen auf das

92 93 94

Haffke, B.: Tiefenpsychologie und Generalprävention 1976, S. 163. Haffke, B.: Tiefenpsychologie und Generalprävention 1976, S. 172. Haffke, B.: Tiefenpsychologie und Generalprävention 1976, S. 162.

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derzeit praktizierte Strafrecht bezieht. Gerade aus dem Gesichtspunkt der Sündenbocktheorie sind die angesprochenen Funktionen daher davon abhängig, dass die zugrunde liegenden Mechanismen den Gesellschaftsmitgliedern verborgen und damit latent bleiben. Die hier nur exemplarisch aufgeführten Aspekte, von denen die Anerkennung der maßgeblichen Verhaltensnormen abhängig ist, verdeutlichen, dass die von den systemfunktionalen Schulen der Strafrechtswissenschaft angenommenen Wirkungszusammenhänge zu kurz greifen. Die von diesen Autoren im Rahmen ihrer Deutung des geltenden Strafrechts in den Mittelpunkt gestellten Mechanismen der positiven Generalprävention stellen nur eine Teilkomponente in einem vielschichtigen Prozess dar, dessen wesentliche Bedingungen allerdings kaum einer empirischen Überprüfung zugänglich sind. Insgesamt zeigt sich daher, dass die Prozesse und Umstände, unter denen die Gesellschaftsmitglieder die Geltung einer Norm akzeptieren und sich nach ihrem Inhalt richten, weitgehend unklar sind. Deshalb ist schon die rein systemfunktionale Deutung des Strafrechts spekulativ. Vor allem aber fehlt der entscheidende empirische Rückhalt für eine systemfunktionale Umgestaltung des Strafrechts in Form der systemfunktionalen Auslegung der grundlegenden Rechtsbegriffe. Die Tragweite der Aussagekraft der systemtheoretischen Annahmen über die sozialpsychologischen Wirkungen des Strafrechts für die Normanerkennung durch die Gesellschaft wird daher von den Autoren des systemfunktionalen Spektrums bei weitem überschätzt und rechtfertigt nicht die Schlussfolgerungen, die aus diesen Annahmen abgeleitet werden.

IV. Konsequenzen der Umwandlung latenter in manifeste Funktionen 1. Die Gefahr unbemerkter Sinnverschiebungen Während die vorstehenden Überlegungen auf die systemfunktionalen Bestandsanalysen der in den Kapiteln 3–5 rekonstruierten Schulen der Strafrechtswissenschaft beschränkt waren, steht im Mittelpunkt der nachfolgenden Erörterungen das zentrale (generell oder partiell verfolgte) Anliegen dieser Lehrmeinungen, die strafrechtlichen Grundbegriffe funktional auszulegen. Ausgehend von der hier zugrunde gelegten Terminologie beinhaltet diese Umgestaltung des Strafrechts eine Umwandlung latenter in manifeste Funktionen, die unter einem rechtssoziologischen Blickwinkel zu einer völlig veränderten Ausgangssituation im Hinblick auf die verfolgten Ziele der Einübung in Normanerkennung führt. Wie bereits oben am Beispiel der Sündenbocktheorie aufgezeigt, besteht insoweit die Gefahr „unbemerkter Sinnverschiebungen“,95 die sich für die intendierten kriminalpolitischen Zielsetzungen geradezu kontraproduktiv auswirken

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Kap. 6: Rechtssoziologische Plausibilität des systemfunktionalen Ansatzes

können und die in den systemfunktionalen Ansätzen der Strafrechtswissenschaft bislang nicht reflektiert wurden. Das Gemeinte lässt sich dabei zunächst leicht an einem außerjuristischen Beispiel verdeutlichen. Wie in Kapitel 2 (und in diesem Kapitel) dargelegt, waren die frühen anthropologischen Funktionsanalysen vor allem auf diejenigen kulturellen Erscheinungen fokussiert, die nach dem aufgeklärten Wissenschaftsverständnis der Forscher ihre manifeste Funktion ersichtlich nicht verwirklichen konnten. Der Regentanz der Hopi oder die kultischen Handlungen der Aborigines an den Totem-Zentren mussten daher anderen, den Gesellschaftsmitgliedern verborgenen (latenten) Funktionen, wie etwa dem Verbund der lokalen Gruppen, dienen. Schon hier wird ersichtlich, dass die latenten Funktionen in ihrem Bestand wesentlich davon abhängen, dass die wahren Mechanismen den Gesellschaftsmitgliedern verborgen bleiben. Eine „soziologische Aufklärung“ der Gruppen, die von diesen Gesellschaften als Erklärungsansatz für plausibel erachtet würde, könnte daher zur Preisgabe der kultischen Handlungen führen.96 Dies hätte gleichzeitig auch den Verlust der latenten Funktionen zur Folge und der Zusammenhalt der Gruppe wäre nur über funktionale Äquivalente, die sich allerdings nur langsam herausbilden können, zu gewährleisten.97 Dieses Beispiel lässt sich unmittelbar auf die hier gegebene strafrechtliche Problemlage übertragen. Wenn etwa der Richter in seiner Urteilverkündung in einem die Öffentlichkeit interessierenden Fall ausführt, der Angeklagte habe zwar das von ihm verletzte Strafgesetz nicht gekannt und ihm sei insofern auch kein persönlicher Vorwurf tadelnswerter Rechtsgesinnung zu machen, aber er müsse dennoch bestraft werden, weil der Konflikt nicht auf ein anderes Subsystem der Gesellschaft verlagert werden könne, so wird dies die rechtstreue Bevölkerung eher verunsichern als in ihrem Glauben an den Bestand der Normen festigen. Es ist daher zu vermuten, dass auch die latenten Funktionen der Ein95

Luhmann, N.: AöR 1969, 1 ff. (näher dazu im Folgenden). Denkbar ist auch, dass die kultischen Handlungen aus einem Traditionsverständnis heraus beibehalten werden. Dies ist offensichtlich bei den Hopi nach wie vor der Fall. Der Regentanz wird zudem auch für Zwecke des Tourismus weiterhin im Sommer praktiziert. Vgl. dazu den Internetauftritt des Stammes: www.hopi.nsn.us. Auch diese Veränderung der manifesten Funktion kann sich allerdings gegebenenfalls auf die bisherige latente Funktion auswirken. 97 Bock, M. [ZStW 103 (1991), 636 ff., 650] verdeutlicht die Umwandlung latenter und manifester Funktionen am Beispiel christlicher Glaubensvorstellungen: „Man stelle sich vor, ein Pfarrer steigt auf die Kanzel und predigte den Gläubigen, an sich sei der Glaube an eine Erlösung im Jenseits oder an die universalistischen Normen der christlichen Ethik ein völliger Blödsinn und Humbug; sie, die Gläubigen sollten ihn aber nur fleißig weiter behalten und pflegen, denn dieser Glaube integriere die Gesellschaft (eine multikulturelle zumal), außerdem mache er Versagen und Leid erträglich und das Sterben leichter. Es ist leicht vorstellbar, was passieren würde. Bei den Gläubigen, die sich einen solchen Glauben um seiner Funktion willen zu eigen machen oder ihn deshalb beibehalten würden, könnten sich die genannten Funktionen schwerlich einstellen. Man merkt die Absicht und ist verstört.“ 96

IV. Umwandlung latenter in manifeste Funktionen

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übung in Normanerkennung nur dann wirksam sind, wenn der Bevölkerung die zugrunde liegenden Mechanismen gerade verborgen bleiben. Ist erst einmal bekannt, dass das Gerichtsverfahren und das Urteil nur zu dem Zweck dienen, an dem Täter ein Exempel zu statuieren und nicht ihm persönlich einen Schuldvorwurf zu machen, so führt dies demnach möglicherweise98 zu einer vollständigen Erosion der Strafrechtspflege und diese würde auch als Mechanismus der Einübung in Normanerkennung ihre gesellschaftliche Bedeutung verlieren. 2. Die Differenzierung Niklas Luhmanns In sachlicher Übereinstimmung mit den hier vorgebrachten Bedenken spricht sich auch Luhmann grundsätzlich gegen eine an den latenten Folgen der Entscheidung orientierte Rechtsanwendung aus und warnt vor einem unbesehenen „Brückenschlag“ zwischen funktionaler Methode und rechtsdogmatischen Entscheidungen. Die Ausführungen Luhmanns, die auch in den eng an der Systemtheorie orientierten Arbeiten von Jakobs nicht näher berücksichtigt wurden, finden sich in besonders pointierter Form in seinem Aufsatz „Funktionale Methode und juristische Entscheidung“99 aus dem Jahr 1969 sowie in der Schrift „Rechtssystem und Rechtsdogmatik (1974).100 Die Annahme der Unvereinbarkeit der funktionalen Methode mit der Struktur juristisch-dogmatischer Entscheidungen ist für Luhmann die Konsequenz der Unterscheidung zwischen Zweck- und Konditionalprogrammen. Danach wird durch die gesetzgebenden Organe über die Inhalte des Rechts der Gesellschaft zwar unter (im Strafrecht: kriminalpolitischen) Zweckgesichtspunkten entschieden, die gesetzlichen Tatbestände selbst sind allerdings typischerweise „konditional programmiert“ und nicht durch Zwecke oder Funktionen inhaltlich festgelegt.101 Nur diese kondi98 Die oben stehenden Überlegungen sind naturgemäß spekulativ, da sich der systemfunktionale Ansatz noch nicht allgemein durchgesetzt hat, und die Umwandlung latenter in manifeste Funktionen für das Strafrecht deshalb keiner empirischen Überprüfung zugänglich ist. 99 Luhmann, N.: AöR 1969, 1 ff. 100 Die Arbeit stammt demnach aus der Zeit vor der „autopoietischen Wende“ Luhmanns. Wie allerdings seine Darstellungen in dem später erschienenen grundlegenden Werk „Das Recht der Gesellschaft“ 1993 (S. 195 ff.) zeigen, hat dieser Paradigmenwechsel auf die nachstehend geschilderte Argumentation Luhmanns keinen Einfluss gehabt; vgl. hierzu aus rechtsmethodologischer Sicht: Deckert, M. R.: Folgenorientierung 1995, S. 13 m. w. N. 101 Auf die Kritik aus dem rechtssoziologischen Schrifttum (vgl. etwa Limbach, J.: ZfR 1988, 155 ff.) räumt Luhmann in seiner Arbeit aus dem Jahr 1993 (Recht der Gesellschaft, S. 202 ff.) zwar ein, dass heute insbesondere im Verwaltungsrecht „Zweckformulierungen“ in die gesetzlichen Tatbestände Einzug genommen haben. Nach seiner Auffassung handelt es sich in diesem Fall allerdings nicht um „echte Zweckprogramme“, sondern lediglich um allgemeine Leitmaßstäbe, um die Entscheidung „zwischen Recht und Unrecht tragen zu können“ (S. 202). Wenn die Folgenimmunisierung der Rechtsprechung aufrecht erhalten bleiben soll, ist es daher erforderlich,

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tionale Programmierung richterlichen oder administrativen Entscheidungsverhaltens ermöglicht die (wie oben unter I bereits dargelegt wurde) notwendige Folgenentlastung der Justiz, die sich stets darauf berufen kann, nur die Gesetze angewandt zu haben und nicht für die empirischen Konsequenzen der Entscheidung verantwortlich zu sein: „Wenn eine Prüfungsordnung zum Beispiel vorsieht, dass ein Kandidat, der in der schriftlichen Prüfung in zwei Fächern mangelhaft war, von der mündlichen Prüfung ausgeschlossen wird, bedarf es keiner weiteren Abwägung, welche Folgen eine solche Mitteilung an ihn hat. Weder stellt der Jurist in dieser Hinsicht Kausalhypothesen oder Wahrscheinlichkeitsrechnungen auf, noch wertet er erwartbare Folgen im Vergleich zu der im Programm vorgezeichneten Wirkung. Das heißt: Er benutzt diese Wirkung nicht eigentlich als Zweck, nämlich als Grundlage seiner Wahl, sondern sieht in ihr nur die fraglose Wirkung, die immer dann einzutreten hat, wenn die vorgesehenen Bedingungen zutreffen. Selbst wenn der Kandidat sich das Leben nimmt, hat nicht das Prüfungsamt die Schuld, obwohl es den Tod bewirkt hat.“102

Nach dieser Differenzierung Luhmanns haben demnach die empirischen Folgen in der Anwendung rechtlicher Normen keinen Platz. Sie würden das Entscheidungsverhalten der Entscheidungsträger (Verwaltungsbeamte, Richter) mit Fragestellungen belasten, die von diesem Subsystem des Rechts nicht getragen werden können, ohne dass sich damit nicht zugleich auch der gesamte „Arbeitsund Prüfstil“ der Entscheidungsträger verändern würde. Denn, sofern die Folgen in der Entscheidung des Rechtsanwenders Berücksichtigung finden müssten, wäre er gezwungen, ganz andere Informationen in seinen Entscheidungsgang einzubeziehen: „Voraussagen, Wahrscheinlichkeitserwägungen, Wirtschaftlichkeitsberechnungen und Nebenfolgenbewertungen“.103 Da aber diese Zweckgesichtspunkte nicht in der gleichen Weise wie Konditionalprogramme vorab festgelegt werden können und sich von Entscheidung zu Entscheidung in einem jeweils anderen Licht stellen, würde sich die Rechtsanwendung zu einem zunehmend unberechenbaren Element entwickeln, das demnach auch für die gesellschaftliche Funktion des Rechts, normative Erwartungen zu sichern, dysfunktional wäre: „Die Orientierung an Handlungsfolgen und damit die Orientierung an einer noch ungewissen Zukunft ist ein dominierender Grundzug der modernen Gesellschaft. Dies bringt Unsicherheit mit sich und macht Sicherheit, auch Rechtssicherheit, als Problem und als Wert zum Thema. Darauf beziehen sich Erkenntnis-, Darstellungs-, und Organisationsbemühungen des ausdifferenzierten Rechtssystems. Der Bürger wird auf Voraussicht der Entscheidungen des Rechtssystems verwiesen. Eben desdiese Bestimmungen so auszulegen, dass die Entscheidung auch dann rechtmäßig ist, wenn der intendierte Zweck nicht eintritt (S. 200). Dies setzt wiederum formalisierbare Entscheidungskriterien voraus, die im hier maßgeblichen Fall der „Stabilisierung normativer Verhaltenserwartungen“ allerdings nicht zur Verfügung stehen. 102 Luhmann, N.: AöR 1969, 1 ff., 4. 103 Luhmann, N.: AöR 1969, 1 ff., 4.

IV. Umwandlung latenter in manifeste Funktionen

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halb kann aber das Entscheiden dieses Rechtssystems selbst nicht wiederum nur auf der Voraussicht seiner eigenen Folgen beruhen. Das würde den Bürger nötigen, Voraussicht vorauszusehen.“104

Diese von Luhmann sehr abstrakt und generell dargestellte Problemlage spiegelt sich geradezu prototypisch auch in den hier wesentlichen systemfunktionalen Ansätzen der Strafrechtswissenschaft wider. Sofern die einzelnen dogmatischen Entscheidungen an dem Gesichtspunkt der Einübung in Normanerkennung orientiert sein sollen, helfen die Methoden der juristischen Hermeneutik nicht weiter, sondern es besteht Bedarf an empirischem Wissen über die konkreten Wirkungszusammenhänge der Mechanismen, die für die Normanerkennung durch die rechtstreue Bevölkerung maßgeblich sind. Insoweit wirkt sich zu Lasten der Entscheidung vor allem aus, dass über diese Zusammenhänge bislang keine validen empirischen Erkenntnisse vorliegen.105 Außerdem wäre der Richter unmittelbar für die gesellschaftlichen Folgen seines Handelns – etwa die Erhöhung der Kriminalitätsbelastung in seinem Bezirk – verantwortlich und sähe sich folglich mit einem völlig veränderten Rollenverständnis konfrontiert, das sich schließlich auch auf sein Entscheidungsverhalten selbst auswirken würde. Aus diesem Befund leitet Luhmann allgemein die Forderung nach einer auf klaren Kompetenzzuweisungen basierenden Arbeitsteilung von Soziologie und Rechtswissenschaft ab. Die funktionale Methode der Rechtssoziologie lenkt das Erkenntnisinteresse des Soziologen auf die manifesten und latenten Funktionen eines Gesetzes und klärt Sachverhalte auf, die sogar dazu geeignet sein können, das „Rechts- und Programmbewusstsein des Handelnden“ zu unterhöhlen.106 In der Anwendung gesetzlicher Tatbestände ist die funktionale Methode demnach kontraproduktiv, so dass die durch soziologische Funktionsanalysen ermittelten Erkenntnisse hier keine Berücksichtigung finden dürfen. Entsprechend führt Luhmann in aller Deutlichkeit aus: „Die funktionale Methode ist eine heuristische Methode, eine Methode der Aufklärung, nicht aber eine Methode der Entscheidungsvereinfachung, der Reduktion von Komplexität. Sie bemüht sich, das Problemfeld zu erweitern und alles, was gilt und evident erscheint, zu problematisieren, nicht aber die Fülle des Möglichen auf eine brauchbare oder gar einzig richtige Entscheidung zusammenzuziehen. Sie arbeitet 104

Luhmann, N.: Rechtssystem und Rechtsdogmatik 1974, S. 35. Aus diesem Grund entspricht der Funktionalismus im Strafrecht auch nicht den Anforderungen derjenigen Autoren des rechtsmethodologischen Schrifttums, die einer folgenorientierten Rechtsanwendung weniger kritisch gegenüberstehen als Luhmann. So hebt etwa Hassemer, der ebenfalls auf die hier zitierten Arbeiten Luhmanns eingeht, hervor, dass eine Folgenorientierung nur dann möglich ist, wenn sie auf empirisch beschreibbare und feststellbare Sachverhalte Bezug nimmt; vgl. Hassemer, W. in: Coing-FS 1982, S. 493 ff., 501, zusammenfassend: Deckert, M. R.: Folgenorientierung 1995, S. 108 m. w. N. 106 Luhmann, N.: AöR 1969, 1 ff., 8. 105

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also genau gegenläufig zu dem, was der Jurist braucht.“107 Der Jurist „hat Normen zu interpretieren, und dafür gibt die Norm ihm mehr Struktur vor, als der Soziologe akzeptieren könnte. Der Vergleich mit den dadurch ausgeschlossenen Alternativen, der den Soziologen fasziniert, wäre juristisch unergiebig; ein Heranziehen latenter Funktionen . . . ist eine in der Soziologie verbreitete Technik des Erkennens aus inkongruenten Perspektiven. Dem Juristen sind solche Blicke hinter die Kulissen verboten.“108

Nach diesen Ausführungen kann festgehalten werden, dass der systemfunktionale Ansatz in der Strafrechtsdogmatik mit seiner an den Bedürfnissen des Systems orientierten Auslegung der Rechtsbegriffe genau der Versuchung eines „Blicks hinter die Kulissen“ erlegen ist, vor der Luhmann, auf den sich vor allem Jakobs immer wieder beruft, den Juristen so eindringlich gewarnt hat. Soweit die Rechtsdogmatik daher in der Inhaltsbestimmung der Voraussetzungen der Strafbarkeit auf die latente Funktion von Schuldspruch und Urteil Bezug nimmt, bewegt sie sich auf einem verbotenen Terrain. Die unvoreingenommene Anwendung der funktionalen Methode kann Folgen nach sich ziehen, die in ihren Auswirkungen sowohl für das gesellschaftliche Subsystem der Justiz als auch für die normative Konstruktion der Gesellschaft selbst empirisch nicht absehbar sind.

107 108

Luhmann, N.: AöR 1969, 1 ff., 11, 12. Luhmann, N.: AöR 1969, 1 ff., 17.

Schlussbetrachtung Die vorstehenden Analysen lassen es nun zu, die in der Einführung gestellten Ausgangsfragen zusammenfassend zu beantworten. Anhand der Rekonstruktion der in den Kapiteln drei bis fünf dargestellten strafrechtswissenschaftlichen Lehrmeinungen konnten zunächst die Spezifika der systemfunktionalen Argumentation verdeutlicht werden (erste Aufgabe). Den systemfunktionalen Ansatz kennzeichnet danach eine Auslegung der Grundbegriffe des Strafrechts, die unmittelbar an den Bedürfnissen des Systems, das heißt der Gesellschaft als Ganzes orientiert ist. Der leitende Gesichtspunkt dieser systemfunktionalen Begriffsbildungsmethodologie ist die „Einübung in Normanerkennung“, die von den Autoren aus dem Strafzweck der positiven Generalprävention abgeleitet wird. Vor dem Hintergrund dieses übergeordneten Zwecks wird es als überflüssig und schädlich angesehen, die Voraussetzungen der Strafbarkeit wie Handlung, Vorsatz oder Schuld auf einer „ontologischen Grundsubstanz“ basieren zu lassen bzw. bei der Auslegung der genannten Grundbegriffe auf die alltagsweltliche Wortbedeutung Rücksicht zu nehmen. Im Ergebnis formuliert der idealtypisch systemfunktionale Ansatz in der Strafrechtsdogmatik damit Rechtsbegriffe, die auf einer normativen Konstruktion der Lebenswirklichkeit aufbauen und nur noch für den Kenner der Materie, nicht aber für die in der Lebenswelt handelnden Menschen verständlich und nachvollziehbar sind. Besonders deutlich ließ sich diese Argumentation in der Strafrechtsdogmatik von Jakobs nachweisen, der alle Ebenen der strafrechtlichen Zurechnung systemfunktional umgestaltet und damit den systemfunktionalen Ansatz in einer geradezu idealtypisch zugespitzten Form verwirklicht. Bei den Schulen von Frisch und Roxin konnte diese für den systemfunktionalen Ansatz charakteristische Argumentation demgegenüber nicht bei allen dogmatischen Einzelfragen ausgemacht werden. Hier vermischen sich systemfunktionale und personfunktionale Argumentationsstränge, wobei allerdings bei zentralen Problemen des Allgemeinen Teils des Strafrechts eine deutliche Tendenz zum systemfunktionalen Idealtypus aufgezeigt werden konnte. Zu erinnern ist insofern zum Beispiel an die Lösung der Problematik der „Tatsachenblindheit“ oder der „Mitbewusstseinsfälle“ [Kapitel 4 II. 1. c)] in der Vorsatzdogmatik Wolfgang Frischs, die nach seiner Lehre entstehenden Rubrizierungsprobleme bei der Differenzierung zwischen eigentlichen und uneigentlichen Problemen der Erfolgszurechnung (Kapitel 4 II. 2.) oder die Abgrenzung zwischen unbeendetem und beendetem Versuch in Gestalt der Lehrmeinungen von Frischs Schülern Freund und Bergmann [Kapitel 4 II. 4. b)]. Auch bei Roxin und seiner Schule ließen sich schließlich Annäherungen

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Schlussbetrachtung

an den Idealtypus des systemfunktionalen Strafrechts feststellen, die sich vor allem in der von diesem Autor begründeten Risikoerhöhungslehre manifestieren [Kapitel 5 II. 1. c)]. Die praktische Relevanz dieser Befunde ermöglicht es zugleich, zu der zweiten, in der Einführung formulierten Aufgabe Stellung zu nehmen: Bei dem systemfunktionalen Ansatz handelt es nicht um eine typische „Überfeinerung“ der Strafrechtsdogmatik, der lediglich eine theoretische wissenschaftsinterne Bedeutung zukommt. Da der Systemfunktionalismus in seinen Ergebnissen und Begründungen an den in den Kapiteln 3 bis 5 im Einzelnen aufgezeigten Problempunkten wesentlich von der personfunktionalen Konzeption des Strafrechts abweicht, ergeben sich vielmehr erhebliche praktische Konsequenzen, die – zumindest bei der idealtypisch zugespitzten Variante des Systemfunktionalismus – nicht weniger als eine vollständige Umgestaltung des strafrechtlichen Zurechnungsmodells von der Person auf das System beinhalten. Diese von den Autoren des systemfunktionalen Spektrums beabsichtigte Umstrukturierung des Strafrechts wirft neben der verfassungsrechtlichen Problematik der Legitimität vor allem auch die in dieser Arbeit in den Mittelpunkt gestellte Frage der Effizienz auf, die durch die sozialwissenschaftlichen Analysen in Kapitel 6 beantwortet werden konnte. Danach stellt die „Einübung in Normanerkennung“ auch aus diesem Blickwinkel gerade kein geeignetes Leitkriterium der Strafrechtsdogmatik dar. Wenn die Strafrechtsdogmatik mit der Inhaltsbestimmung der Voraussetzungen der Strafbarkeit überhaupt einen Beitrag zu den komplexen Wirkungszusammenhängen der Einübung in Normanerkennung leisten soll, so lässt sich dies nur dann realisieren, wenn diese Zielsetzung latent bleibt und nicht in die Auslegung der grundlegenden Rechtsbegriffe einfließt. Ebenso wie allgemein die Theorie der positiven Generalprävention stellen allerdings auch die oben angeführten Hypothesen über die Folgen der Umwandlung latenter in manifeste Funktionen durch die systemfunktionalen Ansätze der Strafrechtsdogmatik lediglich plausible Aussagen über gesellschaftliche Wirkungszusammenhänge dar, die einer empirischen Überprüfung kaum zugänglich sind. Wie oben angedeutet, sind die sozialpsychologischen Bedingungen der Normanerkennung so komplex, dass sich in einer empirischen Untersuchung nicht alle Variablen berücksichtigen oder gar einzelne isolieren lassen. Zudem dürften Veränderungen des bisherigen Zustandes, die ohnehin nicht hinreichend authentisch experimentell simuliert werden können, erst nach längerem Zeitablauf zu nachweisbaren Folgen führen. Da die Gesellschaft gegenwärtig nicht in einen Zustand völliger Anomie versinkt, wirkt sich dieses non liquet in Bezug auf die Mechanismen der Normakzeptanz aber grundsätzlich zu Lasten derjenigen Autoren und Ansätze aus, die das Strafrecht verändern wollen. Denn solange dem systemfunktionalen Ansatz der empirische Beweis fehlt und seine Hypothesen selbst erfahrungswissen-

Schlussbetrachtung

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schaftlich nicht zu widerlegenden Einwänden ausgesetzt sind, fehlt es an einem tragfähigen Fundament für die teilweise weitreichenden dogmatischen Kurskorrekturen und die damit verbundenen Eingriffe in die personfunktionale Schutzfunktion des Strafrechts. Soweit die strafrechtlichen Grundbegriffe – entgegen dem systemfunktionalen Ansatz – auf die Person des Straftäters, seine Erkenntnismöglichkeiten, sein persönliches Wissen von konkreten Tatumständen und seine Fähigkeit des Anders-handeln-Könnens bezogen sind, rekurriert die Strafrechtsdogmatik zwar ebenfalls auf Hypothesen, die dem erfahrungswissenschaftlichen Nachweis nicht zugänglich sind und vermutlich auch nicht zugänglich sein werden. Diesem Ansatz kommt aber schon deshalb eine höhere Plausibilität zu, weil die Menschen ihr Handeln auch im Alltag an subjektiven Zwecksetzungen orientieren und sich und andere für ihr Verhalten verantwortlich machen. Die weitgehende Kongruenz alltagsweltlicher und strafrechtwissenschaftlicher Begriffe, die der systemfunktionale Ansatz für überflüssig erachtet, ist zudem ein wichtiger Garant für den Gesichtspunkt der Einübung in Normanerkennung. Nur wenn die Menschen in der Lage sind, die strafrechtlichen Gebote und Verbote subjektiv nachzuvollziehen, wenn es ihnen gelingt, strafbares von nicht-strafbarem Verhalten abzugrenzen und das Strafrecht somit auch in der Alltagswelt intersubjektiv transparent bleibt, kann dieser latente sozialpsychologische Mechanismus seine Wirkung entfalten. Das personfunktionale Konzept des Strafrechts, aus dessen Perspektive der Systemfunktionalismus in dieser Arbeit kritisch beleuchtet werden konnte, entspricht schließlich alleine auch dem Verständnis vom Menschen als einem Wesen, das befähigt ist, zur Welt Stellung zu nehmen und sein Handeln teleologisch zu orientieren. Es beruht daher auf dem Menschenbild des Grundgesetzes und den Kulturvorstellungen des Abendlandes (vgl. dazu Kapitel 2 III. 1.). Werden die Voraussetzungen der Strafbarkeit demgegenüber ausschließlich über den gesamtgesellschaftlichen Bedarf definiert, besteht die Gefahr, dass dieses verfassungsrechtliche Fundament des Strafrechts außer Acht gelassen und der Straftäter zu einem bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung degradiert wird. Mit dieser Tendenz setzt sich der Systemfunktionalismus nicht nur in Widerspruch zu den eigenen systemtheoretischen Grundlagen, sondern er negiert auch die Wertentscheidungen, die allgemein für das Recht unserer Gesellschaft maßgeblich und verbindlich sind.

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Sachwortverzeichnis Einzelaktstheorie 132 f., 134 ff., 142, 220, 221 Erfolgsunwert 141 f., 200 ff., 218, 221 ff. 277 Feindstrafrecht 89 ff., 175 Finalismus, finale Handlungslehre 97 ff., 140 f., 177, 200 f., 231 ff., 249, 252, 264, 275 Funktion – latente 15, 315 ff., 320 ff., 328 ff., 332 ff. – manifeste 15, 315 ff., 320 ff. – primäre 41, 44 – sekundäre 41, 44 funktionale Methode – in der Rechtsethnologie 42 ff. – in der Rechtssoziologie 40 ff., 44 ff., 315 ff., 339 ff. Generalprävention – negative 75 f., 79, 216 – positive 38, 55 f., 73 ff., 78 ff., 121 ff., 130, 139, 161, 164 ff., 169, 179 f., 200, 220, 221, 230, 237 ff., 244, 250, 275 ff., 281 ff., 290, 305, 310, 323, 325, 329, 334 Gesamtbetrachtungslehre 132 f., 220, 304 Gleichgültigkeit, gleichgültiger Täter 183 ff., 195, 289 ff. Handlungsbegriff – bei Jakobs 93 ff., 158 – bei Roxin 261 ff. Handlungsunwert 141, 221 ff.

200 ff.,

218,

Mitbewusstseinslehre 178 ff., 188, 286 f. Naturalismus 28, 252, 266 f. Neukantianismus 27 f., 249, 251 ff., 261 ff. Personfunktionalismus, personfunktionale Auslegung, personfunktionale Strafrechtsdogmatik 84 ff., 89 ff., 97, 107 ff., 118 ff., 124, 139 ff., 143, 163 f., 171 ff., 179, 187, 191, 194 ff., 204 ff., 209, 211 ff., 216 ff., 226 ff., 240, 248 ff., 255, 258 ff., 265, 268 ff. 290, 296, 304 f., 309 f., 317 ff., 328 f. Positivismus 26 ff., 43 f., 51, 252 f. Rechtsgüterschutz 84 ff., 128 f., 141 ff., 151 f., 162, 171, 177, 194, 200, 206 ff., 233 ff., 252, 265 f., 274 f., 284, 288 ff., 301 Risikoerhöhungslehre 212 ff., 270, 275 ff., 293, 310 Rücktritt vom Versuch – bei Frisch 217 ff., 297 – bei Jakobs 128 ff., 217, 221, 297 – bei Roxin 257, 302 ff. Sanktionsnormen 148 ff., 161 ff., 164 ff., 180, 185, 211, 213, 227, 264 f., 280 Schuld – allgemein zum Schuldbegriff 58 f., 89 ff. – bei Frisch 163, 214 ff. – bei Jakobs 55 f., 76 f., 121 ff., 248 ff., 322 – bei Roxin 240 ff., 294 ff., 322 Spezialprävention 75 ff. 79 ff., 91, 166, 184, 237 ff., 245, 303

380

Sachwortverzeichnis

Spielraumtheorie 79, 244 ff., 260 Strafbegründungsschuld 75 f., 243 ff., 249, 257 ff., 294 ff. Strafzumessung 169, 242 f., 325 Strafzumessungsschuld 75 f., 243 ff., 249, 258 Systemfunktionalismus, systemfunktionale Auslegung, systemfunktionale Strafrechtsdogmatik 54 ff., 56 ff., 79, 87, 110 ff., 117 ff., 123 ff., 131, 138 ff., 143 ff., 164 ff., 169, 177, 182 ff., 179, 187, 193 ff., 200 ff., 211, 274 ff., 277, 287 f., 317 ff., 339 ff. Systemtheorie 45 ff., 51 ff., 56, 79, 241, 293, 315, 322, 337

Verhaltensnormen 104, 112, 117, 148 ff., 161 ff., 177, 180, 184 f., 193, 213, 217, 227, 264 f., 280, 293 Versuch – beendeter 133, 134 ff., 220, 222 ff., 304 ff. – fehlgeschlagener 304 ff.

134,

136,

225,

– unbeendeter 133, 136 ff., 220, 304 ff., 308 ff. Vorsatz mit Abgrenzung zur Fahrlässigkeit – bei Frisch 177 ff., 286 ff. – bei Jakobs 108 ff., 188, 287

Tatsachenblindheit, tatsachenblinder Täter 117 ff., 120 f., 187, 195, 293, 313 Verbotsirrtum – bei Frisch 215 f. – bei Jakobs 123 ff., 215 – bei Roxin 297 ff.

– bei Roxin 264, 283 ff. Wertphilosophie, südwestdeutsche 252 ff. Zurechnung, objektive 196 ff., 207 ff., 210 ff., 227, 270 ff.