Die Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen: Eine Kritik des herrschenden Methodendualismus 9783161546433, 3161546431

Nach heute allgemein anerkannter Lesart der 133, 157 BGB gibt es zwei verschiedene Methoden der Auslegung empfangsbedurf

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Table of contents :
Eine Kritik des herrschenden Methodendualismus
Vorwort
Inhaltsübersicht
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Einführung in die Untersuchung
§ 1 Einleitung
§ 2 Untersuchungsgegenstand, Abgrenzung und Gang der Darstellung
Grundlagen und Vorüberlegungen
§ 3 Das dualistische Auslegungsmodell
§ 4 Die methodenrelevanten Fälle des Vorrangs der natürlichen Auslegung
Kritik der natürlichen Auslegung
Die Unvereinbarkeit der natürlichen Auslegung mit dem Schutz nachträglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte § 5 Nachträglic
§ 6 Der gebotene Schutz nachträglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte
§ 7 Schutz des nachträglichen Vertrauens auf Basis der dualistischen Lehre?
§ 8 Historische Einordnung
Die Argumente der dualistischen Lehre
§ 9 Die teleologischen Argumente der dualistischen Lehre
§ 10 Die systematischen Argumente der dualistischen Lehre
§ 11 Die historischen Argumente der dualistischen Lehre
Drei Folgefragen für die streng normative Auslegungslehre
§ 12 Die Auswirkungen der streng normativen Auslegungslehre auf die Beweislage im Prozess
§ 13 Die streng normative Auslegung im Durchführungsszenario
§ 14 Das Problem des exorbitanten Sonderwissens
Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse
Die Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen in ausgewählten internationalen Regelwerken
Literaturverzeichnis
Sachregister
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Die Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen: Eine Kritik des herrschenden Methodendualismus
 9783161546433, 3161546431

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Studien zum Privatrecht Band 51

Morten Mittelstädt

Die Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen Eine Kritik des herrschenden Methodendualismus

Mohr Siebeck

Morten Mittelstädt, geboren 1980; Studium der Rechtswissenschaft an der Bucerius Law School, Hamburg; 2006 Erste juristische Staatsprüfung; Juristischer Vorbereitungsdienst am Kammergericht; 2011 Zweite juristische Staatsprüfung; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht und Rechtsvergleichung der Bucerius Law School (Prof. Dr. Florian Faust), Hamburg; Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes; seit 2014 Notarassessor in der Freien und Hansestadt Hamburg.

Gedruckt mit Unterstützung der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung.

ISBN 978-3-16-154643-3 ISSN 1867-4275 (Studien zum Privatrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwer­tung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen aus der Times New Roman gesetzt, auf alterungsbeständiges Werkdruck­papier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Frühjahrstrimester 2016 von der Bucerius Law School als Dissertation angenommen (Tag der mündlichen Prüfung: 24. Februar 2016). Sie entstand während meiner Zeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bucerius Law School, als Referendar am Kammergericht und in den ersten Monaten meiner Tätigkeit als Notarassessor in der Freien und Hansestadt Hamburg. Mein besonderer Dank gilt meinem verehrten Doktorvater, Herrn Professor Dr. Florian Faust, der mich und mein Promotionsvorhaben zu jeder Zeit gefördert hat und mir mit seinem Lehrstuhl ein Umfeld bot, das wissenschaftlich und vor allem menschlich gewinnbringender nicht hätte sein können. Ohne ihn wäre diese Arbeit undenkbar, die vom Vorbild seines juristisch-wissenschaftlichen Denkens geprägt und trotzdem ganz die meinige ist. Herrn Professor Dr. Christian Bumke danke ich vor allem für sein besonderes Interesse am Thema meiner Arbeit und die äußerst zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Die Entstehung dieser Arbeit wurde von der Studienstiftung des Deutschen Volkes mit einem Promotionsstipendium gefördert. Insbesondere die Begegnungen mit Doktoranden anderer Fachrichtungen im Rahmen der Doktorandenforen der Stu­ dien­stiftung waren eine große Bereicherung. Dank schulde ich auch der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung, die die Veröffentlichung dieser Arbeit durch einen großzügigen Druckkostenzuschuss gefördert hat. Während der Promotionszeit konnte ich mir stets der Unterstützung zahlreicher Freunde sicher sein, die als Diskussionspartner, kritische Leser und Motivatoren zur Verfügung standen. An erster Stelle ist Herr Professor Dr. Volker Wiese zu nennen, der mir in der gemeinsamen Zeit als Mitarbeiter am Lehrstuhl Faust zu ­einem unschätzbaren Freund geworden ist und in einer kritischen Phase den entscheidenden Anstoß gab, das Thema dieser Untersuchung weiter zu verfolgen. Frau Dr. Henriette Norda und Herr Dr. Johannes Teichmann haben sich mit dem Text schon zu einer Zeit auseinandergesetzt, als vieles noch Stückwerk und das große Ganze noch nicht erkennbar war. Herr Philipp Koch hat sich am Ende der Mühe unterzogen, das gesamte Manuskript zu lesen, und mir als scharfsichtiger Leser neue Denkanstöße gegeben. Ihnen allen und weiteren Unterstützern, deren Beistand auf nicht weniger wichtigem indirektem Weg erfolgte, danke ich von Herzen. Die Arbeit befindet sich auf dem Stand des heutigen Tages. Hamburg, den 20. März 2016

Morten Mittelstädt

Inhaltsübersicht Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXIII

Einführung in die Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 §  1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 §  2 Untersuchungsgegenstand, Abgrenzung und Gang der Darstellung . . . 12

Teil I: Grundlagen und Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 §  3 Das dualistische Auslegungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 §  4 Die methodenrelevanten Fälle des Vorrangs der natürlichen Auslegung . 79

Teil II: Kritik der natürlichen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 1. Abschnitt: Die Unvereinbarkeit der natürlichen Auslegung mit dem Schutz nachträglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte . . . . . . . . . 115 §  5 Nachträgliches Vertrauen auf das objektiv Erklärte im Entdeckungsszenario . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 §  6 Der gebotene Schutz nachträglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 §  7 Schutz des nachträglichen Vertrauens auf Basis der dualistischen Lehre? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

VIII

Inhaltsübersicht

§  8 Historische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 2. Abschnitt: Die Argumente der dualistischen Lehre . . . . . . . . . . . . 176 §  9 Die teleologischen Argumente der dualistischen Lehre . . . . . . . . . . 177 §  10 Die systematischen Argumente der dualistischen Lehre . . . . . . . . . 230 §  11 Die historischen Argumente der dualistischen Lehre . . . . . . . . . . 267

Teil III: Drei Folgefragen für die streng normative Auslegungslehre . 269 §  12 Die Auswirkungen der streng normativen Auslegungslehre auf die Beweislage im Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 §  13 Die streng normative Auslegung im Durchführungsszenario . . . . . . 283 §  14 Das Problem des exorbitanten Sonderwissens . . . . . . . . . . . . . . 313 Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Ausblick: Die Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen in ausgewählten internationalen Regelwerken . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXIII

Einführung in die Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 §  1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Der herrschende Methodendualismus . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Die hier vertretene Gegenthese der streng normativen Auslegungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 III. Die rechtspraktische und theoretische Relevanz des Themas . . . . 8 I. II.

§  2 Untersuchungsgegenstand, Abgrenzung und Gang der Darstellung . . . 12 I. Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 II. Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 1. Keine Behandlung der „natürlichen“ Auslegung nicht empfangsbedürftiger Willenserklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 2. Beschränkung auf die erläuternde Auslegung – keine Behandlung der ergänzenden Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 3. Keine Behandlung spezifischer Probleme der Auslegung Allgemeiner Geschäftsbedingungen und sonstiger Erklärungen an einen unbestimmten Personenkreis . . . . . . . . . . . . . . 15 4. Keine Behandlung von Formproblemen – Zugrundelegung der Trennung von Form und Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . 16 III. Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

Teil I: Grundlagen und Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 §  3 Das dualistische Auslegungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 I.

Der gesetzliche Ausgangspunkt: Die §§  133, 157 BGB . . . . . . . 23 1. Die Systematik der §§  133, 157 BGB . . . . . . . . . . . . . . . 23 2. Die Kriterien der §§  133, 157 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . 26

X

Inhaltsverzeichnis

3. Der geringe Aussagegehalt der §§  133, 157 BGB zur Methodik der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 II. Der Interessenkonflikt zwischen dem Empfänger und dem Erklärenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 1. Die Doppelfunktion der empfangsbedürftigen Willenserklärung 30 2. Die Auslegung allein nach dem wirklichen Willen des Erklärenden als interessenwidriger Lösungsansatz . . . . . . . 30 3. Die Auslegung nach dem Empfängerverständnis als interessenwidriger Lösungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 4. Ergebnis: Verteilung der Missverständnisrisiken als Kernproblem 35 III. Die normative Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont 35 1. Der Grundgedanke: Verteilung des Missverständnisrisikos nach wertenden Gesichtspunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2. Die Vorgehensweise bei der normativen Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 a) Das Erkenntnisinteresse: Der wirkliche Wille des Erklärenden 37 aa) Der wirkliche Wille als Idealziel der normativen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 bb) Keine tatsächliche Willensfeststellung bei der normativen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 cc) Idealziel, Privatautonomie und Heteronomie . . . . . . . 41 b) Das Auslegungsmaterial: Der objektive Empfängerhorizont . 43 aa) Die Verständnismöglichkeiten des Empfängers als Auswahlkriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 (1) Die herrschende Erkennbarkeitsformel des objektiven Empfängerhorizonts . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 (2) Die Individualität des Empfängerhorizonts – Abgrenzung zu generalisierenden Auslegungslehren (insbesondere zur Wortlautauslegung) . . . . . . . . 46 bb) Der maßgebliche Zeitpunkt: Wirksamwerden der Erklärung mit Zugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 c) Die Auslegungsarbeit: Deutungsdiligenz des Empfängers als Maßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 IV. Die natürliche Auslegung nach dem übereinstimmenden Verständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 1. Der Grundgedanke: Keine Normativierung bei gelungener Verständigung der Beteiligten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 2. Die Vorgehensweise bei der natürlichen Auslegung . . . . . . . 53 a) Die geistige Bezugsgröße auf Seiten des Erklärenden: Der wirkliche Wille bei Abgabe der Erklärung . . . . . . . . 53 b) Die geistige Bezugsgröße auf Seiten des Empfängers . . . . . 55

Inhaltsverzeichnis

XI

aa) Der wirkliche Wille des Empfängers zur Feststellung der „Willensübereinstimmung“ im Sinne eines „inneren Konsens“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 (1) Die Ambivalenz der gebrauchten Begrifflichkeiten . . 56 (2) Die Untauglichkeit des Willensabgleichs bei einseitigen Rechtsgeschäften . . . . . . . . . . . . . 57 (3) Die Untauglichkeit des Willensabgleichs bei Verträgen 57 (a) Unstimmigkeiten bei Auslegungserheblichkeit der inhaltsgleichen Willen . . . . . . . . . . . . . . 58 (b) Vermeidung der Unstimmigkeiten: Vorrang der Auslegung der Einzelerklärung zur Sicherstellung beidseitigen „Konsensbewusstseins“ . . . . . . . 59 (c) Der zweifelhafte Wert der Unterscheidung zwischen natürlichem und normativem Konsens . 62 bb) Das Verständnis des Empfängers und der relevante Zeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 V. Der Vorrang der natürlichen vor der normativen Auslegung . . . . 66 1. Der grundsätzliche Vorrang der natürlichen Auslegung . . . . . 66 2. Das Rangverhältnis im Prozess: Keine Sperrwirkung der ersten Auslegungsstufe im Falle eines non liquet . . . . . . . . . . . . 67 3. Ausnahme vom Vorrang der natürlichen Auslegung bei ausdrücklicher Verwahrung (protestatio facto contraria non valet)? . 69 VI. Scheitern der Auslegung: Unbestimmte Willenserklärungen . . . . 73 1. Die unbestimmte Willenserklärung: Phänomenologie und Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 2. Die schwankende dogmatisch-terminologische Einordnung des (Un‑)Bestimmtheitsproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 3. Unbestimmtheit und natürliche Auslegung . . . . . . . . . . . 77 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

§  4 Die methodenrelevanten Fälle des Vorrangs der natürlichen Auslegung . 79 I.

Die für das Thema uninteressanten methodenneutralen Fälle . . . . 79 1. Der fehlende Erkenntniswert methodenneutraler Fallkonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 2. Ausgrenzung der methodenneutralen „unechten“ (Wortlaut-) Falschbezeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 a) Die Parzellenverwechslung und weitere Beispiele unechter Falschbezeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 b) Die Ambivalenz des falsa-Satzes zwischen unechter und echter Falschbezeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 c) Die Schwierigkeiten der Identifizierung unechter Falschbezeichnungen am Beispiel des Haakjöringsköd-Falls (RGZ 99, 147) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

XII

Inhaltsverzeichnis

Der kongruente Doppelirrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 1. Beispiele und praktische Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . 89 2. Merkmale des kongruenten Doppelirrtums . . . . . . . . . . . 90 a) Beidseitige gleichsinnige Geschäftsirrtümer oder beidseitige Verkennung des Erklärungswerts . . . . . . . . . . . . . . . 90 b) Keine Beschränkung auf Irrtümer im Sinne der §§  119 I, 120 BGB: Empfängerirrtum und Verkennung der objektiven Unbestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 c) Keine beidseitigen kongruenten Motivirrtümer . . . . . . . . 93 3. Abgrenzung und Einordnung: Der inkongruente Doppelirrtum und seine Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 III. Der (erkannte und) durchschaute Irrtum als methodenrelevanter Fall? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 1. Die methodenneutralen Normalfälle des aufgrund von Zusatzwissens des Empfängers durchschauten Irrtums . . . . . 97 2. Der bei verspäteter erstmaliger Kenntnisnahme aufgrund hinzugewonnener Kenntnisse durchschaute Irrtum . . . . . . . 101 3. Der aufgrund von Sonderfähigkeiten oder Sonderanstrengungen des Empfängers durchschaute Irrtum . . . . . . . . . . . . . . 104 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 IV. Der erratene Wille – Wielings Eier-Fall . . . . . . . . . . . . . . . 106 1. Der Eier-Fall als erkennbarer, aber nicht durchschaubarer Irrtum 107 2. Die Abweichung von der normativen Methode im Eier-Fall . . . 109 V. Zusammenschau der methodenrelevanten Fälle: Der Zufall als das gemeinsame Moment . . . . . . . . . . . . . . 110 II.

Teil II: Kritik der natürlichen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 1. Abschnitt: Die Unvereinbarkeit der natürlichen Auslegung mit dem Schutz nachträglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte . . . . . . . . . 115 §  5 Nachträgliches Vertrauen auf das objektiv Erklärte im Entdeckungsszenario . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 I.

Die Fixierung der dualistischen Lehre auf den Zeitpunkt der Vornahme des Rechtsgeschäfts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 II. Das Entdeckungsszenario . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 III. Der Schutz nachträglichen Vertrauens als Kernpunkt der weiteren Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

§  6 Der gebotene Schutz nachträglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

Inhaltsverzeichnis

I.

II.

XIII

Der gebotene Schutz nachträglichen Vertrauens bei objektiver Eindeutigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 1. Der Schutz anfänglichen Vertrauens durch die normative Orientierungsfunktion des objektiv Erklärten . . . . . . . . . . 119 a) Die unzureichende Begründung der normativen Auslegung als Kompromiss zwischen den Verständnissen der Beteiligten . . 119 b) Die spezifische Funktion des Vertrauensschutzes bei Bewältigung des Interessenkonflikts von Erklärendem und Empfänger: die normative Orientierungsfunktion des objektiv Erklärten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 2. Die nachträgliche Preisgabe der rechtlich geschützten Orientierungsfunktion durch die Doppelirrtumsausnahmen . . . 124 3. Die schädlichen Effekte des Orientierungsverlusts . . . . . . . 125 a) Transaktionskosten und ihre Vermeidung durch risikobehafteten Verzicht auf die Nachfrage . . . . . . . . . 126 b) Opportunistisches Verhalten der Gegenseite . . . . . . . . . 127 c) Einseitige Risikobelastung des Entdeckers bei fruchtloser oder gestörter Nachfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 d) Störung des austarierten Gleichgewichts der abstrakten Beweismöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 4. Überprüfung denkbarer Sachgründe für die Preisgabe der Orientierungsfunktion des objektiv Erklärten . . . . . . . . . . 131 a) Nachträgliches Vertrauen als lebensfremdes, rein akademisches Problem (Frotz)? . . . . . . . . . . . . . . . . 131 b) Schutzlosstellung wegen selbstverschuldeter Orientierungslosigkeit infolge der Aufdeckung des eigenen Irrtums? . . . . 134 c) Verlust des faktischen Orientierungswerts bei Entdeckung des eigenen Irrtums – Verletzung einer Obliegenheit zum Selbstschutz durch Nachfrage? . . . . . . . . . . . . . . . . 134 d) Verhinderung einer unbilligen Abwälzung von Folgen der anfänglichen Fehldeutung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 e) Vermeidung der Frustration irrtumsbedingter Vertrauensinvestitionen durch die natürliche Methode? . . . 137 Der gebotene Schutz nachträglichen Vertrauens bei objektiver Unbestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 1. Die vertrauensschützende Funktion der Unwirksamkeit objektiv unbestimmter Willenserklärungen bei anfänglichem Empfängervertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 2. Schutz anfänglichen Erklärendenvertrauens auf die Unwirksamkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 a) Der Streit über den Schutz des anfänglichen Erklärendenvertrauens auf die Unwirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . 142 b) Die Irrelevanz des Streits für die Beurteilung der Schutzwürdigkeit nachträglichen Erklärendenvertrauens . . . 145

XIV

Inhaltsverzeichnis

3. Nachträgliches Vertrauen auf die Unwirksamkeit und Ansätze zur Einschränkung des Vertrauensschutzes . . . . . . . . . . . . . 145 a) Geltung des übereinstimmenden Verständnissen, weil und soweit es „miterklärt“ wurde? . . . . . . . . . . . . . . . . 147 b) Geltung des wirklichen Willens des Offerenten bei Annahme eines mehrdeutigen Antrags (Henle) – Verzicht auf Orientierungssicherheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 III. Ergebnis: Gebotenheit des Schutzes nachträglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152

§  7 Schutz des nachträglichen Vertrauens auf Basis der dualistischen Lehre? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Anfechtungsrecht des nachträglich Vertrauenden? . . . . . . . . . 153 Schadensersatzanspruch des nachträglich Vertrauenden? . . . . . . 155 1. Erster Haftungsgrund: Erweckung objektiv gerechtfertigten Vertrauens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 2. Zweiter Haftungsgrund: Ursprünglich normatives Fehlverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 3. Dritter Haftungsgrund: Verletzung einer Aufklärungspflicht über das eigene Fehlverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 III. Ausnahmsweiser Vorrang der normativen Methode bei Entstehung nachträglichen Vertrauens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 I. II.

§  8 Historische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Historische Vorläufer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 1. Das nachträgliche Vertrauen in der Diskussion über den kongruenten Doppelirrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 2. Das nachträgliche Vertrauen in der Diskussion über den inkongruenten Doppelirrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 II. Reaktionen der heute herrschenden dualistische Lehre . . . . . . . 169 1. Reaktionen im Zusammenhang mit dem kongruenten Doppelirrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 a) Der Vorwurf der Begriffsjurisprudenz . . . . . . . . . . . . 169 b) Keine Auseinandersetzung mit dem Entdeckungsszenario . . 170 2. Reaktionen im Zusammenhang mit dem inkongruenten Doppelirrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 III. Gründe für das Versanden der Diskussion über die Bedeutung des nachträglichen Vertrauens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 I.

Inhaltsverzeichnis

XV

2. Abschnitt: Die Argumente der dualistischen Lehre . . . . . . . . . . . . 176 §  9 Die teleologischen Argumente der dualistischen Lehre . . . . . . . . . . 177 I.

II.

Argumente für die Geltung des Ergebnisses der natürlichen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 1. Die Befriedigung aller maßgeblichen (Beteiligten-)Interessen durch das Ergebnis der natürlichen Auslegung . . . . . . . . . . 177 a) Das Argument und die zugrundeliegende herrschende Interessenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 b) Widerlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 aa) Die Notwendigkeit einer Ergänzung der Interessenanalyse um das „Orientierungsinteresse“ der Beteiligten . . . . . 179 bb) Das Orientierungsinteresse des Erklärenden . . . . . . . 180 cc) Die Anerkennung des Orientierungsinteresses durch die Regeln über das Wirksamwerden der Erklärung . . . . . 182 2. Die Erreichung des Zwecks der Willenserklärung . . . . . . . . 184 a) Das Zweckerreichungsargument . . . . . . . . . . . . . . . 184 b) Widerlegung: Die Unvereinbarkeit des Zweckerreichungsarguments mit den Rechtsfolgen der Willenserklärung . . . . 185 3. Der Vorrang des übereinstimmenden Parteiwillens als „oberste Norm des Vertrages“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 a) Das Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 b) Widerlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 4. Die dogmatische Einordnung als privatautonome Sprachvereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Argumente gegen die Geltung des Ergebnisses der normativen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 1. Die Sinnlosigkeit eines Vertrauensschutzes ohne Empfängervertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 a) Das Argument: Schutz konkreten Empfängervertrauens durch die normative Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . 193 b) Widerlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 aa) Die Unergiebigkeit des Sinnlosigkeitsarguments im Hinblick auf den Umgang mit nachträglichem Vertrauen . 195 bb) Die Unvereinbarkeit des Vertrauenserfordernisses mit dem positiven Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 (1) Die Beseitigung des Wahlrechts des Erklärenden . . . 198 (2) Der Desorientierungseffekt zu Lasten des Erklärenden 201 (3) Die problematische Weiterung des Vertrauenserfordernisses in Form eines Dispositionsrechts des Empfängers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 2. Die Unvereinbarkeit mit dem Prinzip der Privatautonomie . . . 208

XVI

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a) Das Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 b) Widerlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 aa) Die Verfehltheit des Willenserfordernisses beim einseitigen Rechtsgeschäft . . . . . . . . . . . . . . . . 210 bb) Die Verfehltheit des Willenserfordernisses beim Vertrag . 211 (1) Kein Festhalten beider Vertragsparteien bei Verfehlung des Willenserfordernisses . . . . . . . . 211 (2) Die Folgerichtigkeit des beschränkten „Festhaltens“ einer Vertragspartei im Rahmen der §§  119 ff. BGB auch bei Verfehlung des Willenserfordernisses . . . . 212 (a) Die unzulässige Einschränkung des §  121 BGB und des Wahlrechts der am objektiv Erklärten festhaltenden Vertragspartei . . . . . . . . . . . 214 (b) Die unzulässige Einschränkung des §  122 BGB durch das Willenserfordernis . . . . . . . . . . . 215 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 3. Die Zufälligkeit der Verteilung der Vertrauensschäden . . . . . 217 a) Das „Zufallsargument“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 b) Widerlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 4. Die Entstehung eines unbilligen Reurechts . . . . . . . . . . . 222 a) Der Reurechtseinwand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 b) Die Relativierung des Reurechtseinwands durch den allgemeinen Reurechtsausschluss . . . . . . . . . . . . . . . 223 c) Die Verfehltheit eines automatischen Reurechtsausschlusses durch natürliche Auslegung aus Empfängersicht . . . . . . . 225 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 5. Der Vorwurf des beidseitig unrichtigen Sprachgebrauchs (Bailas) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

§  10 Die systematischen Argumente der dualistischen Lehre . . . . . . . . . 230 I.

II.

§  116 S.  2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 1. Reinickes Erst-recht-Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 2. Widerlegung durch Auslegung von §  116 S.  2 BGB . . . . . . . 231 a) Wortlaut: Keine „Kenntnis“ im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs in den Zufallsfällen . . . . . . . . . . . . . 232 b) Telos: Schutzbedürftigkeit des Empfängers im Entdeckungsszenario . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 §  117 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 1. Die Regelung des §  117 I BGB über die Nichtigkeit des Scheingeschäfts bei „Einverständnis“ des Empfängers . . . . . 236 a) Die Dogmatik des Einverständnisses in der Diskussion der herrschenden Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236

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XVII

aa) Einverständnis als „Bewusstsein des fehlenden Willens“ (RGZ 134, 33) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 bb) Einverständnis als „innere Willensübereinstimmung“ (BGHZ 144, 331) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 cc) Einverständnis als „rechtsgeschäftsähnliche Simulationsabrede“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 b) Überprüfung des Bestätigungsgehalts von §  117 I BGB zugunsten der dualistischen Lehre . . . . . . . . . . . . . . 243 aa) Keine Bestätigung bei Interpretation des Einverständnisses als „Bewusstsein des fehlenden Willens“ . . . . . . . . . 243 (1) Der Normalfall: Durch objektive Umstände hervorgerufenes Simulationsbewusstsein („Kenntnis“ des Simulationswillens) . . . . . . . . . . . . . . . 243 (2) Der pathologische Ausnahmefall: Zufällig zutreffendes Simulationsbewusstsein ohne objektive Grundlage . . 246 bb) Keine Bestätigung bei Interpretation des Einverständnisses als „innere Willensübereinstimmung“ . 249 cc) Keine Bestätigung bei Interpretation des Einverständnisses als „rechtsgeschäftsähnliche Simulationsabrede“ . . . . . 250 2. Die Regelung des §  117 II BGB über die Geltung des verdeckten Geschäfts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 a) Die verfehlte rein subjektive Theorie des verdeckten Geschäfts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 b) Der fehlende Aussagegehalt des §  117 II BGB zum Methodenstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 c) Der unzutreffende klassische Erst-recht-Schluss aus §  117 II BGB vom absichtlichen auf das versehentliche Verdecken des Gewollten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 III. §  122 II BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 IV. §§  133, 157 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 V. §  155 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 VI. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

§  11 Die historischen Argumente der dualistischen Lehre . . . . . . . . . . 267

Teil III: Drei Folgefragen für die streng normative Auslegungslehre . 269 §  12 Die Auswirkungen der streng normativen Auslegungslehre auf die Beweislage im Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 I.

Verständnisbeweis und Erklärungsbeweis . . . . . . . . . . . . . 271

XVIII

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II.

Die Auswirkung des Methodenunterschieds auf die Beweisführungsmöglichkeiten anhand von Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . 272 1. Erste Fallgruppe: Einseitiges anfängliches Abweichen eines Beteiligten vom objektiv Erklärten (einseitiger Irrtum) . . . . . 273 2. Zweite Fallgruppe: Beidseitige anfängliche Übereinstimmung mit dem objektiv Erklärten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 a) Erster Unterfall: Beweisbarkeit des normativen Auslegungsmaterials und Nichtbeweisbarkeit des übereinstimmenden Verständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 b) Zweiter Unterfall: Nichtbeweisbarkeit des normativen Auslegungsmaterials und Beweisbarkeit der übereinstimmenden Verständnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 aa) Gründe für Schwierigkeiten des Erklärungsbeweises . . . 275 bb) Die beweiserleichternde Wirkung der natürlichen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 cc) Beweiserleichterung auf Basis der streng normativen Auslegungslehre: Anscheinsbeweis bei nachweisbar übereinstimmendem Verständnis . . . . . . . . . . . . . 278 3. Dritte Fallgruppe: Beidseitige anfängliche Abweichung vom objektiv Erklärten (kongruenter und inkongruenter Doppelirrtum, erratener Wille) . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282

§  13 Die streng normative Auslegung im Durchführungsszenario . . . . . . 283 Das Durchführungsszenario . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Die Entdeckung des ursprünglich objektiv Erklärten nach der Durchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 III. Der Lösungsversuch mittels einer konkludenten Änderungsvereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 1. Die Änderungslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 2. Bewertung der Änderungslösung . . . . . . . . . . . . . . . . 288 a) Der äußere Tatbestand des angeblich ändernden Durchführungsverhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 aa) Objektive Deutung des Durchführungsverhaltens bei objektiv eindeutiger Ausgangserklärung . . . . . . . . . 289 bb) Objektive Deutung des Durchführungsverhaltens bei objektiv unbestimmter Ausgangserklärung . . . . . . . . 291 b) Der innere Tatbestand des angeblich ändernden Durchführungsverhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 IV. Lösungsansätze auf Basis der Lehre von der Vertrauenshaftung . . 295 1. Rechtsscheinhaftung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 2. Ver- und Erwirkung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 I. II.

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XIX

V.

Eigener (Teil-)Lösungsvorschlag: Nachträgliche Veränderung des normativen Erklärungssinns aufgrund der Durchführung . . . . . . 298 1. Das Dogma der Unveränderlichkeit des Erklärungssinns und seine Hintergründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 a) Erster Anwendungsfall: Unveränderlichkeit wegen Unergiebigkeit nachträglichen Auslegungsmaterials . . . . . 299 b) Zweiter Anwendungsfall: Unveränderlichkeit wegen Unverwertbarkeit nachträglich erkennbar gewordenen Auslegungsmaterials – Die zeitliche Zäsur des objektiven Empfängerhorizonts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 2. Schlussfolgerungen für das Durchführungsszenario . . . . . . . 303 a) Die Ergiebigkeit des Durchführungsverhaltens . . . . . . . . 303 b) Die (ausnahmsweise) Verwertbarkeit des Durchführungsverhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 aa) Aufschub der Zäsurwirkung des Zugangs mangels schutzwürdigen Empfängervertrauens? . . . . . . . . . 304 bb) Durchbrechung der Zäsur bei wechselseitig erkennbar fehlendem Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 c) Dogmatische Einordnung und Beweislastverteilung . . . . . 308 d) Die beschränkte Reichweite der vorgeschlagenen Lösung . . 309 3. Abgrenzung zur dualistischen Lehre und deren Durchführungsszenario . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 VI. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312

§  14 Das Problem des exorbitanten Sonderwissens . . . . . . . . . . . . . . 313 I. II.

Die zwei Aussagen der herrschenden Erkennbarkeitsformel: Erkennbarkeit als notwendige und als hinreichende Bedingung . . . 313 Kritik an der Erkennbarkeit als hinreichende Verwertungsvoraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 1. Untaugliche Argumente in der historischen Diskussion . . . . . 316 a) Das Argument aus §  122 II BGB . . . . . . . . . . . . . . . 316 b) Das Argument aus §  123 I Alt.  1 BGB . . . . . . . . . . . . 318 c) Der Anspruch des Empfängers auf einen verkehrsüblichen Sprachgebrauch (Titze) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 2. Das überzeugende Argument gegen die Erkennbarkeitsformel: Desorientierung des Erklärenden durch exorbitantes Sonderwissen im Entdeckungsszenario . . . . . . . . . . . . . 323 a) Die Lage des Erklärenden im Entdeckungsszenario bei Verwertung exorbitanten Sonderwissens . . . . . . . . . . . 323 b) Folgen der Orientierungslosigkeit des Erklärenden bei Verwertung exorbitanten Sonderwissens . . . . . . . . . . . 325

XX

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c) Rechtfertigung der Desorientierung des Erklärenden durch vorrangige Wertungsgesichtspunkte? . . . . . . . . . . . . . 327 aa) Zumutbarkeit der Desorientierung aufgrund der „Erklärungsverantwortung“ bzw. des „Erklärungsrisikos“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 bb) Die Chance auf Geltung des Gewollten: Selbstbestimmungsinteresse vor Orientierungsinteresse? . 328 d) Lösung des Exorbitanzproblems auf Basis der Erkennbarkeitsformel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 aa) Lösung durch einen Schadensersatzanspruch? . . . . . . 330 bb) Lösung durch die normative Komponente der „Erkennbarkeit“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 cc) Lösung bei der Ausdeutung des Auslegungsmaterials? . . 331 dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 III. Die tatbestandliche Abgrenzung des exorbitanten Sonderwissens . 333 1. Das maßgebliche Exorbitanzkriterium: Umstände, mit deren Erkennbarkeit der Erklärende bei Zugang nicht „rechnen muss“ . 333 2. Die maßgebliche Beurteilungsperspektive – Entscheidung bei konfligierenden Orientierungsinteressen der Beteiligten . . . . . 335 3. Die theoretische Schlüssigkeit der hier vertretenen Abgrenzungsformel – Der „Schraubeneinwand“ . . . . . . . . . 338 4. Der pragmatische Einwand fehlender Praktikabilität . . . . . . 341 IV. Die Rechtsfolgen des exorbitanten Sonderwissens . . . . . . . . . 342 1. Unerheblichkeit des exorbitanten Sonderwissens für die normative Auslegung der Erklärung nach dem objektiven Empfängerhorizont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 2. Ausschluss des Anspruchs auf Vertrauensschadensersatz (§  122 II BGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 3. Potentielle Schadensersatzhaftung des Empfängers wegen Aufklärungspflichtverletzung – zu F. Leonhards „Schadensersatzlösung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 V. Exorbitantes Sonderwissen und natürliche Auslegung . . . . . . . 347 1. Die Theorie der Geltung des wirklich Gewollten bei zufällig erkanntem Willen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 a) Die Unvereinbarkeit mit dem beiderseitigen Orientierungsinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 b) Das systematische Argument aus §  116 S.  2 BGB . . . . . . . 350 2. Die Theorie der Nichtigkeit der Erklärung bei zufällig bekanntem Willen (Scherner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 VI. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356

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Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Ausblick: Die Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen in ausgewählten internationalen Regelwerken . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 VII. Die Auslegungsregeln der internationalen Regelwerke . . . . . . . 372 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 a) UN-Kaufrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 b) PECL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 c) PICC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 d) DCFR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 e) GEKR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 2. Unterschiede und gemeinsame Strukturelemente . . . . . . . . 377 a) Unterschiede beim Auslegungsgegenstand . . . . . . . . . . 377 b) Übereinstimmung hinsichtlich des Auslegungsmaterials . . . 378 c) Übereinstimmung hinsichtlich der Auslegungsziele . . . . . 379 VIII. Kritische Bewertung der gewählten Auslegungsziele . . . . . . . . 380 1. Der Vorrang der gemeinsamen Willens bei Vertragsschluss . . . 380 2. Der Vorrang des dem Empfänger/Vertragspartner erkennbaren Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 3. Der Vorrang des dem Empfänger/Vertragspartner bekannten Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 4. Die normative Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 IX. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407

Abkürzungsverzeichnis a. A. andere Ansicht, anderer Ansicht a. a. O. am angegebenen Ort a. E. am Ende a. M. am Main ABGB Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch für Österreich Abs. Absatz abw. abweichend AcP Archiv für die civilistische Praxis ADHGB Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch AG Amtsgericht AGB Allgemeine Geschäftsbedingungen AK-BGB Alternativkommentare (Reihe): Kommentar zum bürgerlichen Gesetzbuch in 6 Bänden allg. allgemein Alt. Alternative Anh. Anhang Anm. Anmerkung Art., Artt. Artikel ARWP Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie AT Allgemeiner Teil Aufl. Auflage BAG Bundesarbeitsgericht BayObLG Bayerisches Oberstes Landesgericht BayZ Zeitschrift für Rechtspflege in Bayern BB Der Betriebs-Berater Bd. Band Bearb. Bearbeitung bearb. bearbeitet BeckRS Beck-Rechtsprechung BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGH Bundesgerichtshof BGHZ Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen (Amtliche Sammlung) BJM Basler Juristische Mitteilungen (Schweiz) BKR Zeitschrift für Bank- und Kapitalmarktrecht Bl. Blatt, Blätter BR Bürgerliches Recht BT Besonderer Teil BVerwG Bundesverwaltungsgericht

XXIV

Abkürzungsverzeichnis

bzw. beziehungsweise c.i.c. culpa in contrahendo CISG UN Convention on Contracts for the International Sale of Goods vom 11. April 1980 (auch: UN-Kaufrecht) d. h. das heißt DCFR Draft Common Frame of Reference dens. denselben ders. derselbe dies. dieselben diff. differenzierend Diss. Dissertation DJT Deutscher Juristentag DJZ Deutsche Juristenzeitung DM Deutsche Mark DNotZ Deutsche Notar-Zeitschrift DR Deutsches Recht (Zeitschrift) E I Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich, Erste Lesung (1888), sog. erster Entwurf E I-RJA BGB-Entwurf in der Paragraphenzählung des E I nach den Beschlüssen der Vorkommission des Reichsjustizamts (1891–1893) E II Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich, Zweite Lesung (1894, 1895), sog. zweiter Entwurf Einl. Einleitung etc. et cetera EWiR Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht f., ff. folgende FamRZ Zeitschrift für das gesamte Familienrecht FG Festgabe Fn. Fußnote/Fußnoten FS Festschrift GEKR Gemeinsames Europäisches Kaufrecht gemäß Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht (Kom [2011], 635 endg.), Anhang I, unter Berücksichtigung der Änderungen aufgrund der Legislativen Entschließung des Europäischen Parlaments vom 26. Februar 2014 (Erste Lesung), ORAL P7_TA-PROV(2014),0159. gem. gemäß GG Grundgesetz GgA Göttingische gelehrte Anzeigen ggf. gegebenenfalls ggü. gegenüber grdl. grundlegend Gruchot Gruchot, Beiträge zur Erläuterung des Deutschen Rechts GrünhutsZ Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart, Grünhut’s Zeitschrift (Österreich) GS Gedächtnisschrift h.M. herrschende Meinung Halbbd. Halbband

Abkürzungsverzeichnis

XXV

HdWbRw Handwörterbuch der Rechtswissenschaft HGB Handelsgesetzbuch HK-BGB Bürgerliches Gesetzbuch, Handkommentar HKK-BGB Historisch-kritischer Kommentar zum BGB hrsg./Hrsg. herausgegeben/Herausgeber Hs. Halbsatz i. E. im Ergebnis i. S.d. im Sinne des i. S. v. im Sinne von i. V. m. in Verbindung mit IHR Internationales Handelsrecht (Zeitschrift) insb. insbesondere JA Juristische Arbeitsblätter JBl Juristische Blätter (Österreich) JDR Jahrbuch des Deutschen Rechts JherJb Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts JR Juristische Rundschau Jura Jura: Juristische Ausbildung (Zeitschrift) JurAnalysen Juristische Analysen jurBüro Das juristische Büro. Zeitschrift für Kostenrecht und Zwangsvollstreckung jurisPK-BGB juris Praxiskommentar BGB JuS Juristische Schulung JW Juristische Wochenschrift JZ Juristenzeitung Kap. Kapitel kg Kilogramm krit. kritisch KritV Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtsprechung KurzK-ABGB Kurzkommentar zum ABGB li. linke Lb. Lehrbuch Lfg. Lieferung LG Landgericht LM Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs, hrsg. v. Lindenmaier, Möhring u. a. m. E. meines Erachtens m.w.Nachw. mit weiteren Nachweisen MDR Monatsschrift für Deutsches Recht. Zeitschrift für die Zivilrechts-Praxis Mot. Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich MünchKommBGB Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch MünchKommHGB Münchener Kommentar zum Handelsgesetzbuch MünchKommZPO Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung Nachw. Nachweis, Nachweise Neubearb. Neubearbeitung NJOZ Neue juristische Online-Zeitschrift

XXVI

Abkürzungsverzeichnis

NJW Neue juristische Wochenschrift NJW-RR NJW-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht NK-BGB Nomos Kommentar BGB Nr. Nummer NVwZ-RR NVwZ-RR Rechtsprechungs-Report Verwaltungsrecht NZA Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht NZBau Neue Zeitschrift für Baurecht und Vergaberecht OLG Oberlandesgericht OR Schweizerisches Obligationenrecht östOGH Österreichischer Oberster Gerichtshof PECL Principles of European Contract Law Prof. Professor Prot. Protokolle der Kommission für die zweite Lesung des Entwurfs des Bürgerlichen Gesetzbuchs Prot-RJA Protokolle der Vorkommission des Reichsjustizamts re. rechte Recht Das Recht (Zeitschrift) RG Reichsgericht RGRK Reichsgerichtsrätekommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch RGZ Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen (Amtliche Sammlung) Rn. Randnummer, Randnummern RNotZ Rheinische Notar-Zeitschrift Rom I-VO Verordnung (EG) Nr.  593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht vom 17. Juni 2008 Rs Rückseite Rspr. Rechtsprechung RvglHdWb Rechtsvergleichendes Handwörterbuch für das Zivil- und Handelsrecht des In- und Auslands S. Seite, Seiten/ Satz s.o. siehe oben SchR Schuldrecht SeuffA J. A. Seuffert`s Archiv für Entscheidungen der obersten Gerichte in den deutschen Staaten SJZ Schweizerische Juristen-Zeitung sog. so genannt Sp. Spalte Spstr. Spiegelstrich StrafR Strafrecht Stud. Student Teilbd. Teilband Tz. Textziffer u. a. unter anderem/und andere UN-Kaufrecht United Nations Convention on Contracts for the International Sale of Goods vom 11. April 1980 Var. Variante v. von

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VergabeR VersR

XXVII

Vergaberecht: Zeitschrift für das gesamte Vergaberecht Versicherungsrecht: Zeitschrift für Versicherungsrecht, Haftungs- und Schadensrecht vgl. vergleiche Vs Vorderseite WG Wechselgesetz WM Wertpapier-Mitteilungen WuB Entscheidungssammlung zum Wirtschafts- und Bankrecht WuM Wohnungswirtschaft und Mietrecht z. zum z. B. zum Beispiel ZAS Zeitschrift für Arbeitsrecht und Sozialrecht (Österreich) ZEuP Zeitschrift für Europäisches Privatrecht ZfRV Zeitschrift für Rechtsvergleichung, Internationales Privatrecht und Europarecht (früher: Zeitschrift für Rechtsvergleichung) ZIP Zeitschrift für Wirtschaftsrecht zit. zitiert ZphF Zeitschrift für philosophische Forschung ZPO Zivilprozessordnung ZSR Zeitschrift für Schweizerisches Recht zust. zustimmend

Einführung in die Untersuchung

Süddeutsche Zeitung vom 25./26. Mai 2013

§  1 Einleitung Diese Abhandlung befasst sich mit einem klassischen Problem der Rechtsgeschäfts­ lehre, das heute als gelöst gilt. Sie behandelt die Frage, nach welchen Grundsätzen der rechtsmaßgebliche Sinn von Willenserklärungen zu bestimmen ist, „die einem anderen gegenüber abzugeben“ (§  130 I 1 BGB) sind – oder kürzer: wie die sog. empfangsbedürftigen Willenserklärungen auszulegen sind. Die Grundsätze über die Auslegung empfangsbedürftiger Erklärungen haben er­ hebliche Bedeutung, da sie die Rechtsfolgen der meisten Rechtsgeschäfte festlegen. Jeder Vertrag und der weitaus größte Teil der einseitigen Rechtsgeschäfte setzen zumindest eine Willenserklärung voraus, deren Wirksamwerden die Mitteilung des Gewollten gegenüber dem von den Rechtsfolgen der Erklärung Betroffenen erfor­ dert.1 Trotz dieser großen Bedeutung enthält das Bürgerliche Gesetzbuch hierzu nur wenige, obendrein noch undeutliche Vorgaben. Der historische Gesetzgeber legte bei der Kodifizierung der Auslegung äußerste Zurückhaltung an den Tag in der Überzeugung, bei konkreten Auslegungsregeln handle es sich „im Wesentlichen um Denkregeln ohne positiv rechtlichen Gehalt“, die dem Richter unliebsame „Beleh­ rungen über praktische Logik“2 erteilten. Mit den §§  133, 157 BGB fanden nur zwei allgemein gehaltene Vorschriften Eingang ins Gesetz, deren sachlicher Gehalt – vorsichtig formuliert – „vage und konkretisierungsbedürftig“3 ist. Wissenschaft und Praxis standen nach Inkrafttreten des BGB deshalb vor der Aufgabe, eine konsis­ tente und interessengerechte Lehre für die Auslegung empfangsbedürftiger Wil­ lens­erklärungen zu entwickeln.4

1  Nur auf nicht empfangsbedürftige einseitige Rechtsgeschäfte – z. B. das Testament (§§  2064 ff. BGB) oder die Dereliktion (§  959 BGB) – trifft dies nicht zu. Beim Vertrag ist zudem in den Fällen der §§  151 f., 156 BGB nur der Antrag empfangsbedürftig. Zu den nicht empfangsbedürftigen Wil­ lenserklärungen siehe noch unter §  2 II 1. 2  Mot. I (1888, 2000), 155 = Mugdan I (1899), 437. Anknüpfend hieran meint Bickel, Methoden (1976), 161, §  133 BGB sei „kein Rechtsgesetz“ (dagegen zu Recht Busche, in: MünchKommBGB [2015], §  133 Rn.  1). 3  Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  5. 4 Vgl. Vogenauer, in: HKK‑BGB (2003), §§  133, 157 Rn.  11 zur durch das Inkrafttreten der §§  133, 157 BGB begünstigten Flut wissenschaftlicher Publikationen zur Auslegung.

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§  1 Einleitung

I. Der herrschende Methodendualismus Ein Urteil des Bundesgerichtshofs vom 26.10.1983 fasst aus richterlicher Perspekti­ ve das bisherige Ergebnis der Diskussion über die Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen prägnant zusammen. Der Richter muss hiernach zweistufig vorgehen. Auf der ersten Stufe des Auslegungsvorgangs habe er die „Aufgabe, im Rahmen der Auslegung nach dem wirklichen – vielleicht ungenau oder so­ gar unzutreffend geäußerten – Willen als einer sogenannten inneren Tatsache zu forschen (…). Wird der tatsächliche Wille des Erklärenden bei Abgabe einer empfangsbedürftigen Willenserklärung bewiesen oder sogar zugestanden und hat der andere Teil sie ebenfalls in diesem Sinne verstanden, dann bestimmt dieser Wille (…) den Inhalt des Rechtsge­ schäfts, ohne daß es auf Weiteres ankommt. Denn der wirkliche Wille des Erklärenden geht, wenn alle Beteiligten die Erklärung übereinstimmend in eben diesem selben Sinne verstanden haben, nicht nur dem Wortlaut, sondern jeder anderweitigen Interpretation vor. (…) Gelingt es dagegen nicht festzustellen, was der Erklärende wirklich gewollt und daß der Empfänger die Erklärung in diesem Sinne verstanden hat, dann darf der Richter die Auslegung damit noch nicht abbrechen (…). Vielmehr kommt es alsdann auf einer weite­ ren Stufe des Auslegungsvorgangs gem. §  133, 157 BGB darauf an, wie der Empfänger der empfangsbedürftigen Willenserklärung diese bei objektiver Würdigung aller Umstände und mit Rücksicht auf Treu und Glauben zu verstehen hatte.“5

Das Bild von den zwei Stufen des Auslegungsvorgangs6 veranschaulicht den herr­ schenden Methodendualismus, von dem im Untertitel dieser Untersuchung die Rede ist. Auf der ersten Stufe, die als „natürliche“7, „empirische“8 oder „subjektive“9 Auslegung bezeichnet wird, geben Vorstellungen der Beteiligten als innere Tatsa­ chen den Ausschlag, wenn sie inhaltlich übereinstimmen (im Folgenden stets: „na­ türliche“ Auslegung). Auf der subsidiären zweiten Stufe, die in der Lehre als „nor­ mative“10 oder „objektive“11 Auslegung nach dem „Empfängerhorizont“12 firmiert, kommt es zu einer wertenden Würdigung der äußeren Umstände des Erklärungs­ 5 

BGH, Urteil vom 26.10.1983, NJW 1984, 721. So bereits Kramer, Grundfragen (1972), 141: „Zweistufigkeit der Interpretationsarbeit“. Von „mehreren Stufen“ spricht auch Mansel, in: Jauernig (2015), §  133 Rn.  9. 7  Bork, AT (2016), Rn.  512; Faust, AT (2016), §  2 Rn.  9; Ellenberger, in: Palandt (2016), §  133 Rn.  7; Brox/‌Walker, AT (2015), Rn.  130; Leenen, AT (2015), §  5 Rn.  43; Arnold, in: Erman (2014), §  133 Rn.  15 i. V. m. 18; Boecken, AT (2012), Rn.  245. 8  Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  12; M. Wolf, in: Soergel (1999), §  157 Rn.  1; Wieser, AcP 189 (1989), 112 (113); Scherer, Andeutungstheorie (1987), 80; Wieser, JZ 1985, 407. 9  Reichold, in: jurisPK‑BGB (2014), §  133 Rn.  1; Diederichsen, FS Juristische Gesellschaft zu Berlin (1984), 81 (85). Siehe auch Busche, in: MünchKommBGB (2015), §  133 Rn.  6: subjektiv individuelle Interpretation; Neuner, JuS 2007, 881 (882): subjektiv-teleologische Auslegung. 10  Bork, AT (2016), Rn.  525; Faust, AT (2016), §  2 Rn.  12; Brox/‌Walker, AT (2015), Rn.  135; Leenen, AT (2015), §  5 Rn.  43; Arnold, in: Erman (2014), §  133 Rn.  19; M. Wolf, in: Soergel (1999), §  157 Rn.  1; Flume, AT II (1992), 307. 11  Diederichsen, FS Juristische Gesellschaft zu Berlin (1984), 81 (84). Vgl. auch Reichold, in: jurisPK‑BGB (2014), §  133 Rn.  1; Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  18: objektiv-normativ. 12  BGH, Urteil vom 4.2.2009, BGHZ 179, 319 Tz.  17, 22; Urteil vom 5.12.2002, NJW 2003, 743; Bork, AT (2016), Rn.  527; Brox/Walker, AT (2015), Rn.  136. 6 

I. Der herrschende Methodendualismus

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verhaltens, die danach fragt, wie der Empfänger die Erklärung verstehen musste (im Folgenden stets: „normative“ Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont). Was die Beteiligten sich zu irgendeinem Zeitpunkt tatsächlich gedacht haben, ist auf der zweiten Stufe irrelevant; es zählt allein die „objektive Bedeutung“13. Beide Stufen bedienen sich somit grundverschiedener Auslegungsmethoden.14 Zumindest im funktionalen Sinne betrifft auch die erste Stufe die „Auslegung“, da auch sie der Erklärung eine bestimmte rechtsmaßgebliche Bedeutung zuweist.15 Als schlagwortartige Umschreibung für den Vorrang des übereinstimmenden in­ neren Parteiverständnisses vor einer „falschen“ objektiven Bezeichnung des Ge­ wollten hat sich das Rechtssprichwort falsa demonstratio non nocet durchgesetzt.16 Dieser Satz gilt heute als gesicherter Kernbestand der Rechtsgeschäftslehre. In sei­ nem einflussreichen Werk zur Privatautonomie bezeichnet F. Bydlinski den fal­ sa-Satz als „eine der am wenigsten zweifelhaften Grundlagen des Vertragsrechts“17. Die Anerkennung dieses Auslegungsgrundsatzes reicht so weit, dass er schon lange kaum mehr als wissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand, sondern vornehmlich als Deduktionsbasis für weitergehende Schlussfolgerungen in Erscheinung tritt – er ist für die heutige Lehre längst kein Problem mehr, sondern zum Argument ge­ worden18. 13  Brox/Walker, AT (2015), Rn.  135; Busche, in: MünchKommBGB (2015), §  133 Rn.  28: „ob­ jektiv-normativer Erklärungswert“; Arnold, in: Erman (2014), §  133 Rn.  19. 14  A. A. Hefermehl, in: Soergel (1999), §  133 Rn.  22 mit der Begründung, in beiden Fällen gehe es „darum, wie der Erklärungsempfänger die Erklärung nach den Umständen verstehen musste, gleichviel, ob die Parteien über ihre Bedeutung einig waren oder nicht“ (vgl. auch Süß, Jura 2011, 735 [738]). Die natürliche Methode fragt jedoch nicht danach, wie der Erklärungsempfänger die Erklärung verstehen musste, sondern danach, wie er sie verstanden hat. Auch Hefermehls weiterer Einwand, die „rechtliche Wertung der ermittelten Tatsachen mit der Konsequenz der Feststellung einer Willenserklärung bestimmten Inhalts“ sei „stets ein normativer Auslegungsakt“ (a. a. O.) kann über den Methodendualismus nicht hinweghelfen. Beide Auslegungsmethoden sind (wie jede mit der Verbindlichkeit des Rechts ausgestattete Auslegungsregel) zwar „normativ“ in dem Sinne, dass sie dem Verhalten einen rechtsmaßgeblichen Sinn zuordnen. An der Verschiedenheit der zur Ermittlung dieses Sinnes herangezogenen Methoden ändert dies aber nichts. 15  Stathopoulos, FS Larenz (1973), 357 (365 in Fn.   33); Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  13 a. E. Eine insbesondere früher verbreitete Auffassung begreift nur die zweite Stufe als Aus­ legung, die erste hingegen als vorgelagerten Arbeitsschritt der Tatsachenfeststellung, der im Er­ folgsfall der „Auslegung“ keinen Raum lasse (BGH, Urteil vom 28.10.1955, LM Nr.  2 zu §  157 BGB [Gf.]; Urteil vom 27.10.1972, WM 1972, 1422 [1424]; Foer, Regel [1987], 22, 26; Schneider, jurBüro 1969, 9; Bailas, Problem [1962], 29 ff., vgl. auch noch BGH, Urteil vom 29.5.2009, NJW‑RR 2010, 63 Tz.  10, 15). Das ist eine nicht einleuchtende Einengung des Begriffs „Ausle­ gung“ auf die normative Methode (Busche, in: MünchKommBGB [2015], §  133 Rn.  14). 16  Siehe etwa BGH, Urteil vom 16.10.2003, NJW 2004, 69 (70); Urteil vom 28.10.‌1996, NJW 1997, 261 f.; M. Wolf/Neuner, AT (2012), §  35 Rn.  27. Teilweise ist noch kürzer nur von „falsa de­ monstratio“ die Rede: BGH, Urteil vom 27.10.1972, WM 1972, 1422 (1424). 17  F. Bydlinski, Privatautonomie (1967), 140 f. (zuvor bereits S.  119: einer der „sichersten Sätze des Vertragsrechts“). 18  So z. B. Säcker, in: MünchKommBGB (2015), Einl. z. BGB Rn.  155, der die Auffassung, der reale Wille des Erklärenden müsse in der Erklärung keinen „wenn auch noch so unvollkommenen Ausdruck gefunden“ haben, auf „die unbestrittene Geltung des Satzes: ‚Falsa demonstratio non

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§  1 Einleitung

So begründet beispielsweise Canaris mit dem falsa-Satz seine Auffassung, nicht das Vertrauen des Empfängers, sondern der Wille des Erklärenden sei Geltungs­ grund der mangelfreien Willenserklärung, weil „vertrauenstheoretisch schlechter­ dings nicht zu begründen“ sei, „warum eine Regelung auch dann gelten soll, wenn sie in der Erklärung nicht den geringsten Ausdruck gefunden hat und wenn daher gar kein Vertrauenstatbestand gegeben war, die Parteien sich vielmehr nur durch einen glücklichen Zufall richtig verstanden haben“19. In Abhandlungen zur Rechts­ geschäftslehre ist es gängige Praxis, Lehrmeinungen und ganze Theoriegebäude daran zu messen, ob sie mit der Unschädlichkeit der falsa demonstratio vereinbar sind oder sie gar zu erklären vermögen 20, in der Überzeugung, die falsa demonstra­ tio eigne sich angesichts der „großen Einigkeit über das Ergebnis (…) besonders gut dazu, die Leistungsfähigkeit einzelner Theorien zu überprüfen“21. Selbst Autoren, die dem Methodendualismus mit einer gewissen Zurückhaltung begegnen, zeigen sich überzeugt, er sei „[u]nvermeidbar“ und „im Interesse vernünftiger Ergebnisse hinzunehmen“22. Ihn trotzdem in Frage zu stellen, zieht heute den Vorwurf der Verwendung „extremer Prämissen“23 nach sich.

II. Die hier vertretene Gegenthese der streng normativen Auslegungslehre Diese Untersuchung will zeigen, dass es sich bei dem Methodendualismus keines­ wegs um eine „Selbstverständlichkeit“24 handelt. Sie wendet sich gegen die dualis­ tische Lehre mit der These, die empfangsbedürftige Willenserklärung sei streng nocet‘ im Bereich der Rechtsgeschäftsauslegung“ stützt (ebenso ders., JurAnalysen 1971, 509 [510]). 19  Canaris, Vertrauenshaftung (1971), 417  f. Ähnlich schon F. Bydlinski, Privatautonomie (1967), 111 f., der durch den falsa-Satz seine These bestätigt sieht, es gebe „Fälle rechtsgeschäftli­ cher Verpflichtung, in denen allein der Gedanke der ethischen Verbindlichkeit des Versprechens und nicht jener des Vertrauensschutzes wirkt“. 20  So z. B.: Larenz, Methode (1930, 1966), 15, 20 und Kramer, Grundfragen (1972), 127 f. gegen die Auslegungslehren von Danz und F. Leonhard. Singer, JZ 1989, 1030 zugunsten der Rechtsge­ schäftslehre von F. Bydlinski. Singer, in: Staudinger (2012), Vor §§  116 ff. Rn.  16 gegen die gemein­ rechtliche Erklärungstheorie. F. Bydlinski, Privatautonomie (1967), 3 f., Kramer, ZfRV 1968, 143 (146); ders., Grundfragen (1972), 131 f. und Singer, Selbstbestimmung (1995), 74 gegen die These von Larenz, seine „Geltungstheorie“ überwinde den Dualismus von Wille und Erklärung. Kramer, Grundfragen (1972), 55 f., 143 gegen Manigks These von der fehlenden positiven Wirkung des Willens. 21  Rehberg, Rechtfertigungsprinzip (2014), 947. 22  Diederichsen, FS Juristische Gesellschaft zu Berlin (1984), 81 (85 in Fn.  25), der auf S.  85– 89 in mehrfacher Hinsicht für Einschränkungen des falsa-Satzes plädiert. 23 So Singer, Selbstbestimmung (1995), 150 in Fn.  105 gegen Spieß, JZ 1985, 593 (596), der im Zusammenhang mit dem Reurechtsausschluss den falsa-Satz knapp ablehnt. 24  Scherer, Andeutungsformel (1987), 81: eine „gebotene Selbstverständlichkeit im Instrumen­ tarium der Auslegung“. Ebenso Wieling, AcP 172 (1972), 297 (307): falsa-Satz besage „lediglich etwas Selbstverständliches“.

II. Die hier vertretene Gegenthese der streng normativen Auslegungslehre

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(d. h. ausschließlich) normativ nach dem objektiven Empfängerhorizont auszulegen. Der auf den ersten Blick so plausible Vorrang der natürlichen Methode ist ein Irr­ weg, dessen Mängel allein deshalb bislang weitgehend unbemerkt geblieben sind, weil die einschlägigen Fallkonstellationen und Beispiele nicht zu Ende gedacht wer­ den. Dabei ist die Kritik, die Fälle würden nicht „zu Ende gedacht“, durchaus wört­ lich gemeint: In einseitiger Fixierung auf die Lage bei Vornahme des Rechtsge­ schäfts bleibt in den bisherigen Analysen erstaunlicherweise nahezu völlig unbe­ rücksichtigt, wie sich das Geschehen nach der Vornahme weiterentwickeln kann. In dieser zweiten Phase, in der das Rechtsgeschäft seine Wirkungen überhaupt erst entfaltet, führt die natürliche Methode zu einer höchst problematischen Des­ orien­tierung der Beteiligten, die ihre eigene Rechtslage nicht mehr sicher beurteilen können, weil keiner von ihnen ohne weiteres wissen kann, wie der andere die Erklä­ rung tatsächlich verstanden hat. Auf das objektiv Erklärte, den einzigen für sie er­ reichbaren Orientierungspunkt, können sie sich bei Vorrang der natürlichen Metho­ de nicht mehr verlassen. Dabei wird im Rahmen dieser Arbeit vor allem die Situa­ tion einer Partei im Mittelpunkt stehen, die sich nach anfänglich irrtumsbehafteter Auffassung vom Erklärungssinn im Nachhinein des objektiv Erklärten bewusst wird (sog. Entdeckungsszenario). Es wird sich zeigen, dass die natürliche Methode zu Lasten des „Entdeckers“ den Schutz objektiv gerechtfertigten Vertrauens – ein grundlegendes Prinzip der Rechtsgeschäftslehre – außer Kraft setzt. Keines der für den Dualismus bislang vorgebrachten Argumente kann diesen Effekt rechtfertigen. Die hier vertretene These ist historisch nicht ohne Vorbilder. Wie in §  8 darge­ stellt werden wird, wiesen einige Autoren in den Anfangsjahren des BGB, unter ihnen anerkannte Zivilrechtswissenschaftler wie Oertmann, Titze, F. Leonhard und Henle, auf die hier behandelten Verwerfungen der dualistischen Lehre hin.25 Kurz­ zeitig ließ sich sogar Larenz von diesen Überlegungen beeindrucken, ging dann aber ohne ein Wort der Erläuterung in der Folgezeit wieder zur dualistischen Lehre über.26 Eine Diskussion über die Problempunkte kam nie zustande: Die Anhänger der heute herrschenden Lehre ignorierten die Kritik nahezu vollständig, während die Kritiker es versäumten, ihre Position mit der nötigen Konsequenz und Deutlich­ keit zu vertreten und deren Prämissen zu hinterfragen. Weil die Diskussion in den Kinderschuhen stecken blieb, gilt es hier nicht lediglich eine vergessene Gegenpo­ sition wiederzubeleben, sondern grundsätzlich neu anzusetzen.

25  Dazu §  8 mit Nachw. zu den im Text genannten Autoren in den Fn.  8 (Oertmann), 11 (Henle), 10 (F. Leonhard), 9 (Titze). 26  Dazu insb. §  8 II 1 b mit Nachw. in Fn.  36 und 37.

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§  1 Einleitung

III. Die rechtspraktische und theoretische Relevanz des Themas Die hier vertretene These muss mit erheblicher Skepsis rechnen, die teilweise auch einen pragmatischen Hintergrund hat. Nicht nur die Wissenschaft steht seit vielen Jahren auf dem Boden der dualistischen Lehre. Auch die Praxis geht von ihr aus, ohne dass Ergebnisse bekannt geworden sind, die auf – gar gravierende – Mängel der Theorie hinweisen. Warum also an Grundsätzen rütteln, die dem Praxistest of­ fenbar seit vielen Jahren standhalten und sich bewährt haben? Solchen praktischen Bedenken ist zuzugeben, dass die hier vertretene Auffas­ sung keine flächendeckende Änderung der Ergebnisse der Auslegung zur Folge hat. Es wäre wirklichkeitsfremd anzunehmen, bei der Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen, dem täglichen Brot des privatrechtlich tätigen Juristen, sei jahrzehntelang im Ergebnis unzutreffend entschieden worden. Vielmehr wird sich zeigen, dass die dualistische Lehre fast immer das richtige Ergebnis trifft. Die von ihr für vorrangig gehaltene natürliche Methode ist in diesem Zusammenhang aller­ dings eine unnötige Komplizierung der Dogmatik, die noch dazu in den wenigen relevanten Fällen, in denen es auf sie ankommt, zum falschen Ergebnis führt. Zu ihrer Begründung muss die herrschende Auffassung auf Argumente zurückgreifen, denen unzutreffende Vorstellungen von den Wertungsgrundlagen der Rechtsge­ schäftslehre zugrunde liegen. Dies herauszuarbeiten ist das Hauptanliegen dieser Untersuchung Die Mängel der dualistischen Lehre lassen sich nur an Fällen demonstrieren, in denen die „natürliche“ und die „normative“ Methode ausnahmsweise tatsächlich im Ergebnis voneinander abweichen. Nur dann stehen nämlich die Parteiinteressen auf dem Spiel, die von der dogmatischen Weichenstellung für und wider den Methoden­ dualismus betroffen sind. Schon in einem frühen Stadium der Untersuchung wird sich zeigen, dass es einer hochgradig unwahrscheinlichen Verkettung von Ereignis­ sen bedarf, damit es auf den Unterschied zwischen einer dualistischen oder einer streng normativen Auslegungslehre im Ergebnis ankommt.27 Ob sich ein Gericht schon einmal mit einem solchen Fall befassen musste, ist ungewiss.28 Die Konzen­ tration auf die methodenrelevanten Fälle hat zwangsläufig zur Folge, dass ganz überwiegend Fallkonstellationen im Mittelpunkt stehen werden, die nicht dem wah­ ren Leben und der Praxis der Rechtsprechung, sondern juristischen Lehrbüchern oder der Phantasie des Verfassers entsprungen sind. Die Untersuchung mag deshalb an der einen oder anderen Stelle etwas lebensfremd erscheinen. Sie ist aber letztlich nur so lebensfremd oder lebensnah wie die Rechtsregel, die sie sich zum Gegen­ stand gewählt hat und die heute in jedem Lehrbuch und jedem Kommentar zu finden ist – dort freilich häufig ohne eine realistische Einordnung, in welchen absonderli­ chen Fällen es auf den Methodenunterschied überhaupt nur ankommt. 27 

28 

Dazu §  4. Dazu insb. §  4 I 2 c.

III. Die rechtspraktische und theoretische Relevanz des Themas

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Der Ertrag, den eine kritische Auseinandersetzung mit dem Methodendualismus haben kann, ist vor diesem Hintergrund in erster Linie theoretischer Natur. Er be­ trifft unmittelbar die Frage nach den richtigen Auslegungsgrundsätzen, die als Grundlagenproblem auf die gesamte Rechtsgeschäftslehre ausstrahlen. Wie bereits unter I. dargelegt, ist die mit dem falsa-Satz gemeinte natürliche Methode schon heute insofern „systembildend“, als sie immer wieder in den unterschiedlichsten Zusammenhängen als Argument herhalten muss, um bestimmte Auffassungen zu begründen oder zu kritisieren. Selbstverständlich muss nicht alles anders und neu gedacht werden, falls sich der Vorrang der natürlichen Methode als falsch erweist. Doch auch der Wegfall eines falschen Arguments für ein richtiges Ergebnis kann die Einsicht in die tatsächlich maßgeblichen Zusammenhänge fördern. Völlig ohne praktische Bedeutung ist die hier behandelte Thematik freilich nicht. Denn die dualistische Lehre beeinflusst spürbar die tägliche, praktische Herange­ hensweise an die Auslegung. Der allgemein für selbstverständlich gehaltene Vor­ rang der natürlichen Methode führt in der Praxis dazu, dass Interessen der Beteilig­ ten gar nicht erst ins Blickfeld geraten, die nach hier vertretener Auffassung bei der Auslegung zu berücksichtigen sind. Ein Urteil des BGH vom 14.2.199729 veran­ schaulicht dies: In der Entscheidung kam es u. a. darauf an, ob die Beklagte auf die erhobene Verjährungs­ einrede vorprozessual verzichtet hatte. Der Kläger hatte der Beklagten mehr als ein Jahr vor Klageerhebung eine vorformulierte Erklärung übermittelt, nach welcher die Beklagte einen seinerzeit noch geltend gemachten Auflassungsanspruch anerkenne und auf die Ein­ rede der Verjährung verzichte. Die Beklagte unterzeichnete die vorformulierte Erklärung und sandte sie als Anlage zu einem Schreiben zurück, in dem sie erklärte mit dem Verlan­ gen des Klägers nicht einverstanden zu sein. Der Kläger hielt zunächst dadurch die erbe­ tenen Erklärungen für versagt und sandte der Beklagten das vorformulierte Schriftstück erneut zur Unterzeichnung zu. Die Beklagte kam dem nicht nach.

Der Kläger vertrat vor dem BGH die Auffassung, die Beklagte habe durch Unter­ zeichnung und Rücksendung der vorbereiteten Erklärung auf die Einrede der Ver­ jährung verzichtet und mit dem ablehnenden Begleitschreiben lediglich die Aner­ kennung des Auflassungsanspruchs verweigert. Er hatte also offenbar mittlerweile seine ursprüngliche Auffassung geändert und ging jetzt von einem Verjährungsver­ zicht aus. Der BGH folgte dem nicht. Er begründete dies allerdings nicht etwa da­ mit, die im Begleitschreiben zum Ausdruck gebrachte Ablehnung habe sich aus der objektiven Sicht des Klägers auch auf den Verjährungsverzicht bezogen, sondern beschränkte sich auf die Feststellung, die Beklagte habe eine Erklärung dieses In­ halts („Verjährungsverzicht“) nicht abgeben wollen und der Kläger habe die Erklä­ rung des Beklagten auch nicht so verstanden.

29  BGH, Urteil vom 14.2.1997, ZIP 1997, 1205 (insb. 1206 unter IV 1) = WM 1997, 777 = MDR 1997, 632.

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§  1 Einleitung

„Der Wille der Beklagten bei Abgabe ihrer Erklärung und das Verständnis des Klägers vom Inhalt der Erklärung der Beklagten decken sich. Damit ist für eine abweichende Aus­ legung kein Raum.“30

Der Vorrang der natürlichen Methode auf der ersten Auslegungsstufe wirkte sich hier erkennbar auf die Urteilsbegründung aus, indem er dem Kläger die normative Auslegung auf der zweiten Stufe abschnitt. Ob das dadurch erzielte Ergebnis aus Sicht einer streng normativen Auslegungslehre Kritik verdient, lässt sich angesichts der wenigen Angaben des Urteils zum Inhalt des Begleitschreibens der Beklagten nicht beurteilen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Schreiben in der Gesamtschau tatsächlich als eindeutige Ablehnung nicht nur der Anerkennung des Auflassungs­ anspruchs, sondern auch des Verjährungsverzichts oder zumindest insoweit als mehrdeutig und aus diesem Grund unwirksam anzusehen waren, so dass der Kläger auch bei normativer Auslegung nichts daraus hätte herleiten können. Nicht zuletzt die Tatsache, dass beide Parteien nach Überzeugung des BGH die Schreiben in der Zusammenschau nicht als Verjährungsverzicht verstanden hatten, spricht dafür, dass sie objektiv auch nicht so zu verstehen waren. Der Rekurs auf das übereinstim­ mende Verständnis war dann nur eine im Ergebnis unschädliche Abkürzung, die dem BGH eine Begründung der normativen Auslegung ersparte. Weil der BGH dem Kläger die normative Auslegung indes vollkommen verweigerte, müsste das gefun­ dene Ergebnis auch für den unwahrscheinlichen, aber möglichen Fall überzeugen, dass normativ eindeutig ein Verjährungsverzicht erklärt worden war. Man stelle sich also vor, die Unterzeichnung und Rücksendung des vorbereiteten Schreibens sei auch unter Berücksichtigung des ablehnenden Begleitschreibens als Verjährungsverzicht auszulegen gewesen, etwa weil sich das Begleitschreiben bei genauer Lektüre, die der Kläger zunächst versäumt hatte, mit hinreichender Deut­ lichkeit lediglich auf die Anerkennung des Auflassungsanspruchs bezog. Womög­ lich hatte der Kläger den Prozess dann gerade deshalb angestrengt, weil ihn ein mittlerweile beauftragter Anwalt völlig zutreffend darauf hingewiesen hatte, das Verhalten der Beklagten sei entgegen der anfänglichen Einschätzung des Klägers als Verjährungsverzicht zu verstehen. Nicht einmal das spätere Schweigen der Be­ klagten auf die zweite Aufforderung musste dem Kläger danach den ursprünglichen Ablehnungswillen der Beklagten offenbart haben; die Untätigkeit konnte aus der mittlerweile „geläuterten“ Sicht des Klägers schließlich ihren Grund auch darin ha­ ben, dass die Beklagte kommunikationsunwillig war oder meinte, schon alles Not­ wendige erklärt zu haben. Unter solchen Umständen bereitete der BGH dem Kläger mit der Verweigerung der normativen Auslegung eine „böse Überraschung“, die ihn nicht nur den Pro­ zesserfolg kostete, sondern auch mit den Kosten eines verlorenen Prozesses belaste­ te, den er im normativ begründeten Vertrauen auf den objektiv erklärten Verjäh­ rungsverzicht auf sich genommen hatte. Wie hätte er auch bei einem normativ ein­ 30 

BGH, Urteil vom 14.2.1997, ZIP 1997, 1205 (1206).

III. Die rechtspraktische und theoretische Relevanz des Themas

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deutigen Verjährungsverzicht damit rechnen können (und müssen), dass nicht nur er, sondern auch die Beklagte das Schreiben anders verstanden hatte, als es objektiv zu verstehen war, und deshalb doch kein Verjährungsverzicht vorlag? Hätte er das objektiv als Verjährungsverzicht zu verstehende Verhalten der Beklagten schon von Anfang an so verstanden, dann hätte er sich später darauf berufen und verlassen können. Warum sollte er, wenn er diesen objektiven Gehalt erst später erkannt und im Vertrauen darauf die Klage angestrengt hatte, schlechter stehen, nur weil er an­ fänglich bei Lektüre der Schreiben nicht die notwendige Sorgfalt an den Tag gelegt hatte? Wie gesagt, eine normative Auslegung der Schreiben als Verjährungsverzicht ist bei Lektüre des in diesem Punkt wenig detailreichen Urteils nicht sehr wahrschein­ lich. War sie aber objektiv richtig, durfte sie dem Kläger nicht vorenthalten werden, weil er sich dann auf den ihm gegenüber objektiv zum Ausdruck gebrachten Verjäh­ rungsverzicht verlassen durfte. Die dualistische Lehre lässt all die hier einstweilen nur angerissenen Fragen gar nicht erst aufkommen. Die folgende Untersuchung soll zeigen, warum es wichtig ist, sie zu stellen und zu beantworten.

§  2 Untersuchungsgegenstand, Abgrenzung und Gang der Darstellung I. Untersuchungsgegenstand Die vorliegende Arbeit ist konzipiert als eine Kritik der heute völlig herrschenden Auffassung, bei der Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen seien zwei verschiedene Methoden anzuwenden (Methodendualismus). Im Zentrum steht die Auseinandersetzung mit der natürlichen Methode der Auslegung empfangsbe­ dürftiger Willenserklärungen, die im Ergebnis als Figur des materiellen Rechts ver­ worfen wird. Es handelt sich um eine dogmatische Untersuchung zur Rechtsgeschäftslehre des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Die Berücksichtigung einigen österreichischen und schweizerischen Schrifttums bezweckt keinen Rechtsvergleich. Insbesondere das österreichische Schrifttum, das ohnehin häufig auf die deutsche Rechtslage Bezug nimmt, hat sich vielmehr als eine reichhaltige Quelle für Argumente erwiesen, die auch auf Basis des BGB zu berücksichtigen sind. Die unterschiedlichen Irrtumsre­ geln des ABGB und deren potentielle Verknüpfung mit der Auslegungslehre verbie­ ten allerdings eine ungeprüfte Übertragung der dort vorgetragenen Argumente. Bezugspunkt der Untersuchung bleibt stets das BGB. Am Ende der Arbeit werden die gewonnenen Erkenntnisse im Rahmen eines Ausblicks auf einige internationale Regelwerke bezogen, die ebenfalls Regeln zur Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen enthalten (UN-Kaufrecht, PECL, PICC, DCFR, GEKR).

II. Abgrenzung Der Untersuchungsgegenstand ist in mehrfacher Hinsicht begrenzt.

1. Keine Behandlung der „natürlichen“ Auslegung nicht empfangsbedürftiger Willenserklärungen Die Untersuchung beschränkt sich auf die Auslegung empfangsbedürftiger Wil­lens­ erklärungen. Nur bei ihnen besteht aufgrund des Zugangserfordernisses der die

II. Abgrenzung

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Auslegungslehre an dieser Stelle prägende spezifische Interessenkonflikt zwischen dem Erklärenden und dem Empfänger. Bei nicht empfangsbedürftigen Willenser­ klärungen wie dem Testament oder der Vertragsannahme nach §  151 S.  1 BGB muss auf die Verständnismöglichkeiten eines konkreten Empfängers hingegen keine Rücksicht genommen werden.1 Angesichts dieser unterschiedlichen Interessenlage gibt es keine einheitliche Methodik der Auslegung für sämtliche Willenserklärun­ gen.2 Die Auslegung nicht empfangsbedürftiger Willenserklärungen wird hier nicht behandelt. Im Zusammenhang mit nicht empfangsbedürftigen Willenserklärungen ist aller­ dings häufig ebenfalls von „natürlicher“ Auslegung die Rede.3 Die dadurch entste­ henden Überschneidungen mit der hier behandelten Thematik sind in erster Linie terminologischer Art.  Die Lehre bezeichnet als „natürlich“ nämlich verbreitet jede Form der Auslegung, die den wirklichen Willen des Erklärenden in Anlehnung an §  133 Hs.  1 BGB als Tatsache ermittelt.4 Die dualistische Lehre bezieht den Begriff daher auf empfangsbedürftige und nicht empfangsbedürftige Willenserklärungen gleichermaßen.5 Es macht allerdings einen erheblichen Unterschied, ob nur der Wille des Erklärenden festzustellen ist (so eine verbreitete Meinung bei den nicht empfangsbedürftigen Willenserklärungen6) oder darüber hinaus auch innere Vor­ stellungen des Empfängers relevant sind, die mit dem Willen des Erklärenden abge­ glichen werden (so die dualistische Lehre bei den empfangsbedürftigen Willenser­ klärungen). Diese Untersuchung befasst sich nur mit letzterer Ausprägung der „na­ türlichen“ Methode, der „natürliche[n] Auslegung nach dem übereinstimmenden Verständnis der Parteien“ 7. Zu der Frage, ob die natürliche Methode bei nicht em­ pfangsbedürftigen Willenserklärungen überzeugt, wird keine Stellung genommen.

1  Faust, AT (2016), §  2 Rn.  13; Hirsch, AT (2015), Rn.  155; Rüthers/Stadler, AT (2014), §  18 Rn.  5 a. E.; Schapp/Schur, Einführung (2007), Rn.  343; M. Wolf, in: Soergel (1999), §  157 Rn.  15; Eckardt, BB 1996, 1945 (1947). 2  H. Westermann, FS Arnold (1955), 281 (283 f.), dessen Differenzierung noch über die hier im Text behandelte Unterscheidung zwischen empfangsbedürftigen und nicht empfangsbedürftigen Erklärungen hinausreicht und etwa auch öffentlich-rechtliche Willenserklärungen erfasst. 3 Siehe für das Testament: Leenen, AT (2015), §   5 Rn.  44; Arnold, in: Erman (2014), §  133 Rn.  16; Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  15; Fleindl, in: NK‑BGB (2010), §  2084 Rn.  3. 4  Brox/‌Walker, AT (2015), Rn.  130; Hirsch, AT (2015), Rn.  134; Leenen, AT (2015), §  5 Rn.  43; Arnold, in: Erman (2014), §  133 Rn.  15. 5 Vgl. Bork, AT (2016), Rn.  512–524. 6  Leenen, AT (2015), §  5 Rn.  47; Arnold, in: Erman (2014), §  133 Rn.  16; Larenz/‌M. Wolf, AT (2004), §  28 Rn.  5; Schwarze, AcP 202 (2002), 607 (618 ff.) zu §  151 BGB (Maßgeblichkeit des Willens; ohne Verwendung des Terminus „natürliche“ Auslegung); Eckardt, BB 1996, 1945 (1947 ff.) insb. zu §  151 BGB; diff. Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  15 (beim Testament natürliche Auslegung nach dem Willen des Testators), Rn.  16 (bei sonstigen Willensbetätigungen Maßgeblichkeit eines objektiven Dritten, der nicht auf die Verständnismöglichkeiten des Empfän­ gers beschränkt ist). 7  Faust, AT (2016), §  2 Rn.  9.

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§  2 Untersuchungsgegenstand, Abgrenzung und Gang der Darstellung

2. Beschränkung auf die erläuternde Auslegung – keine Behandlung der ergänzenden Auslegung Die Arbeit befasst sich ausschließlich mit der sog. erläuternden8 (auch: „einfachen“9 oder „eigentlichen“10) Auslegung der Willenserklärung, die nach dem hier zugrun­ degelegten Begriffsverständnis als Oberbegriff sowohl die normative Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont als auch die natürliche Auslegung um­ fasst. Die gemeinsame Aufgabe beider Methoden erläuternder Auslegung ist die Feststellung des maßgeblichen Inhalts der Erklärungen. Nicht Gegenstand dieser Untersuchung ist die meist auf §  157 BGB gestützte sog. ergänzende Auslegung, der die Aufgabe zukommt, lückenhafte privatautonome Regelungen anhand des hypo­ thetischen Parteiwillens zu vervollständigen.11 Ihre Aufgabe setzt erst ein, wenn aufgrund des Ergebnisses der vorrangigen erläuternden Auslegung eine planwidri­ ge Lücke des Rechtsgeschäfts feststeht.12 Bei der ergänzenden Auslegung ist ein der erläuternden Auslegung vergleichbarer Methodendualismus undenkbar, da mangels tatsächlicher Vorstellungen der Beteiligten das Auslegungsergebnis stets ein nor­ matives bzw. objektives sein muss.13 Wenn in dieser Untersuchung im Folgenden ohne weitere Zusätze von Auslegung die Rede ist, so ist damit ausschließlich die erläuternde Auslegung gemeint.14

8  Leipold, AT (2015), §  15 Rn.  22; Boemke/Ulrici, AT (2014), §  8 Rn.  8; Rüthers/‌S tadler, AT (2014), §  18 Rn.  3. 9  Brox/Walker, AT (2015), Rn.  125; Leipold, AT (2015), §  15 Rn.  22; Looschelders, in: NK‑BGB (2012), §  133 Rn.  4. 10  Ellenberger, in: Palandt (2016), §  157 Rn.  2; H. Roth, in: Staudinger (2015), §  157 Rn.  3, 5. 11 Hierzu BGH, Urteil vom 11.10.2005, BGHZ 164, 286 (291 f.); Bork, AT (2016), Rn.  532 ff.; Leipold, AT (2015), §  15 Rn.  22 f.; M. Wolf, in: Soergel (1999), §  157 Rn.  3, 107. Gegen die Figur der „ergänzenden Auslegung“ M. Wolf/Neuner, AT (2012), §  35 Rn.  68–70. 12  H. Roth, in: Staudinger (2015), §  157 Rn.  4, 5; Looschelders, in: NK‑BGB (2012), §  157 Rn.  6. 13 Vgl. Looschelders, in: NK‑BGB (2012), §  133 Rn.  4: „Da der wirkliche Wille der Parteien in dieser Hinsicht keinen Aufschluss geben kann, stehen hier objektive Kriterien im Vordergrund“. 14  Die hier gewählte Systematisierung dürfte die heute am weitesten verbreitete sein. Siehe z. B. Brox/Walker, AT (2015), Rn.  140 a. E. (Schaubild); Boemke/Ulrici, AT (2014), §  8 Rn.  8 ff. (erläuternde Auslegung: natürliche und normativer Auslegung als Unterfälle), Rn.  26 ff. (ergän­ zende Auslegung); Rüthers/Stadler, AT (2014), §  18 Rn.  3 (Diff. zwischen erläuternder und ergän­ zender Auslegung), Rn.  7 ff. (erläuternde Auslegung: umfasst natürliche Auslegung und Ausle­ gung nach dem Empfängerhorizont); Looschelders, in: NK‑BGB (2012), §  133 Rn.  4; M. Wolf, in: Soergel (1999), §  157 Rn.  3 (Diff. zwischen erläuternder und ergänzender Auslegung), Rn.  29 (er­ läuternde Auslegung: empirische und normative Auslegung als Unterfälle). Abw. Bork, AT (2016), Rn.  511, der natürliche, erläuternde und ergänzende Auslegung nebeneinander nennt und die bei­ den letzteren unter dem Oberbegriff der normativen Auslegung zusammenfasst.

II. Abgrenzung

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3. Keine Behandlung spezifischer Probleme der Auslegung Allgemeiner Geschäftsbedingungen und sonstiger Erklärungen an einen unbestimmten Personenkreis Diese Abhandlung wird nicht eigens auf die Auslegung von AGB eingehen. Das hat seinen Grund nicht darin, dass der Streit über den Methodendualismus für die „ob­ jektiv“ auszulegenden AGB keine Bedeutung hätte. Nach verbreiteter Auffassung erfolgt die normative Auslegung von AGB zwar stärker typisierend unter Außer­ achtlassung der zufälligen „konkret-individuellen“ Umstände des Einzelfalls.15 Rechtsprechung16 und Lehre17 gehen aber heute im Ergebnis auch in diesem Zusam­ menhang davon aus, ein übereinstimmendes Sinnverständnis von Verwender und Verwendungsgegner gehe dem objektiven Auslegungsergebnis vor. Der Methoden­ dualismus ist somit heute auch im Recht der AGB anerkannt. Eine nähere Ausein­ andersetzung speziell mit der Auslegung von AGB erübrigt sich allein deshalb, weil es keinen spezifischen Grund gibt, der gerade in diesem Kontext für die dualistische Auslegungskonzeption spricht. Wenn die natürliche Auslegungsmethode sich bei der „normalen“ Willenserklärung als verfehlt erweist, dann erst recht bei AGB, de­ ren Auslegung allenfalls von stärkerer Verobjektivierung geprägt sein könnte. Aus demselben Grund bleiben hier auch die Besonderheiten unbehandelt, die möglicherweise bei der Auslegung sonstiger Erklärungen gegenüber einer Mehr­ zahl an Personen oder einem unbestimmten Personenkreis (Vollmachtsurkunde, Wertpapiere, Gesellschaftsverträge bei Publikumsgesellschaften etc.) gelten. Die besondere Interessenlage, die insbesondere ein Bedürfnis nach Einheitlichkeit des 15  Siehe BGH, Urteil vom 29.10.1956, BGHZ 22, 109 (113); Bork, AT (2016), Rn.  1771; Basedow, in: MünchKommBGB (2015), §  305c Rn.  22; Ulmer/Schäfer, in: Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht (2011), §  305c Rn.  73, 82; Stoffels, AGB-Recht, Rn.  360, 362. A. A. Lindacher/Hau, in: Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht (2013), §  305c Rn.  106; Schlosser, in: Staudinger (2013), §  305c Rn.  130; Dammann, GS M. Wolf (2011), 11 (14 ff.), der insb. mit Blick auf die Anerkennung des falsa-Satzes eine spezielle „objektive“ Auslegung von AGB ablehnt (21–24, 25); Hellwege, AGB (2010), 520–523, 526: allgemeine Auslegungsgrundsätze unter Berücksichtigung – typi­ scherweise fehlender – Einzelfallumstände. 16  BGH, Urteil vom 16.6.2009, NJW 2009, 3422 Tz.  16; Urteil vom 29.5.2009, NJW‑RR 2010, 63 Tz.  10; Urteil vom 10.6.2008, WM 2008, 1350 Tz.  15; Urteil vom 22.3.2002, NJW 2002, 2102 (2103); Urteil vom 9.3.1995, NJW 1995, 1494 (1496); Urteil vom 23.1.1991, BGHZ 113, 251 (259); BAG, Urteil vom 15.9.2009, NJW 2010, 550 Tz.  27. 17 Gestützt auf den Vorrang der Individualvereinbarung (§   305b BGB): Bork, AT (2016), Rn.  1771; Basedow, in: MünchKommBGB (2015), §  305c Rn.  26; Kolbe, JZ 2013, 441 (446); Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  14; Ulmer/Schäfer, in: Ulmer/‌ Brandner/‌ Hensen, AGB-Recht (2011), §  305c Rn.  84: „Rechtsgedanke des §  305b“. Gestützt auf die allgemeinen Auslegungs­ grundsätze: Lindacher/Hau, in: Wolf/‌Lindacher/‌Pfeiffer, AGB-Recht (2013), §  305c Rn.  104: Lö­ sung über §  305b „gekünstelt“; Schlosser, in: Staudinger (2013), §  305c Rn.  127; Dammann, GS M. Wolf (2011), 11 (21–24, 25); Stoffels, AGB-Recht (2009), Rn.  361; Brandner, AcP 162 (1963), 237 (256). Siehe auch Kollmann, in: NK‑BGB (2012), §  305c Rn.  44; Looschelders, in: NK‑BGB (2012), §  133 Rn.  87. A. A. auf Basis einer von nationalsozialistischem Gemeinschaftsdenken geprägten Theorie der Gesetzesähnlichkeit von AGB Herschel, DR 1942, 753 (756); ders., DR 1941, 1727 (1728).

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§  2 Untersuchungsgegenstand, Abgrenzung und Gang der Darstellung

Auslegungsergebnisses gegenüber allen Betroffenen begründen kann, mag in eini­ gen dieser Fälle Anlass für eine stärkere Typisierung der Auslegung sein.18 Derar­ tige Erklärungen liefern aber jedenfalls keine zusätzlichen Gründe, die zugunsten des Methodendualismus angeführt werden könnten. Auch hier ist die natürliche Methode erst recht abzulehnen, wenn sie sich schon bei der an eine bestimmte Per­ son gerichteten Willenserklärung als falsch erweist.

4. Keine Behandlung von Formproblemen – Zugrundelegung der Trennung von Form und Auslegung Abhandlungen zu den hier behandelten auslegungsmethodischen Fragen gehen häu­ fig auch ausführlich auf Rechtsprobleme ein, die sich nur bei formbedürftigen Wil­ lenserklärungen stellen. Insbesondere in Untersuchungen zum falsa-Satz nehmen die Ausführungen zur Form meist großen Raum ein.19 Hier wird bewusst auf einen Abschnitt zur Auslegung formbedürftiger empfangsbedürftiger Willenserklärun­ gen verzichtet. Gesichtspunkte, die die Form betreffen, werden allenfalls am Rande gestreift. Dies hat zwei Gründe: Erstens könnte die Formbedürftigkeit des Rechtsgeschäfts – wenn überhaupt – lediglich eine stärkere Verobjektivierung der Auslegung zur Folge haben. Wenn die natürliche Auslegungsmethode schon bei den nicht formbedürftigen Willenserklä­ rungen nicht überzeugt, dann erst recht nicht bei den formbedürftigen. Zweitens kann diese Untersuchung auf einer Grunderkenntnis aus der Diskussion über das Verhältnis von gesetzlichen Formvorschriften und Rechtsgeschäftsausle­ gung aufbauen. Eine teilweise bis heute nachwirkende Auffassung ging zwar davon aus, dass formbedürftige Willenserklärungen besonderen Auslegungsgrundsätzen unterliegen und der Formzwang der Auslegung Grenzen setze; außerhalb der Ur­ kunde liegende Umstände sollen hiernach nur unter bestimmten Voraussetzungen, insbesondere nach Maßgabe der sog. Andeutungstheorie bei Andeutung innerhalb der Urkunde, verwertbar sein.20 Nach der heute ganz herrschenden Gegenauffas­ sung stehen Auslegungs- und Formfrage dagegen funktional selbstständig nebenei­ nander. Der Sinn formbedürftiger Willenserklärungen ist nach den allgemeinen 18 So Reichold, in: jurisPK‑BGB (2014), §  133 Rn.  15; Wendtland, in: Bamberger/‌Roth (2012), §  133 Rn.  28; M. Wolf/Neuner, AT (2012), §  35 Rn.  33. A. A. Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  72 a. E.: allgemeine Auslegungsgrundsätze, bei deren Anwendung die stärkere Objektivierung sich nur faktisch aus dem regelmäßigen Fehlen individueller Umstände ergebe. 19  Siehe nur Reinicke, JA 1980, 455 ff.; Wieling, AcP 172 (1972), 297 ff. 20  BGH, Urteil vom 23.2.1987, NJW 1987, 2437 (2438); Urteil vom 25.3.1983, BGHZ 87, 150 (154); Urteil vom 20.12.1974, BGHZ 63, 359 (362); Urteil vom 8.11.‌1968, NJW 1969, 131 (132); RG, Urteil vom 3.4.1939, RGZ 160, 109 (110 f.); Urteil vom 10.3.1919, RGZ 95, 125 (126); Enneccerus/ Nipperdey, AT I/2 (1960), 1251 in Fn.  19; v. Tuhr, AT II/1 (1914, 1957), 507 in Fn.  84 a. E. Teilweise tauchen die alten Formulierungen noch in der jüngeren Rspr. auf: BGH, Urteil vom 11.2.2010, NJW‑RR 2010, 821 Tz.  12.

II. Abgrenzung

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Auslegungsgrundsätzen zu bestimmen (Auslegungsebene), bevor in einem zweiten Schritt zu klären ist, ob der so ermittelte Sinn formgerecht erklärt ist (Formebene).21 Der Formzwang setzt insbesondere der Verwertung von urkundenexternem Ausle­ gungsmaterial keinerlei Grenzen.22 Diese auch hier zugrundegelegte Trennungsthese wird teilweise mit sachlogi­ schen Zwängen begründet. Es könne „gar nicht anders sein“, weil erst nach der Auslegung beurteilt werden könne, „ob die Erklärung überhaupt formbedürftig ist und ob das Gewollte formgerecht erklärt ist“23. Diese Begründung allein ist freilich unzureichend, da eine teleologisch-systematische „Vorwirkung“ der Formvor­ schriften auf die Auslegung nicht a priori ausgeschlossen erscheint. Wäre eine sol­ che Vorwirkung aus Sinn und Zweck der Formvorschriften ableitbar, dann könnte bei der Auslegung die Formbedürftigkeit zunächst unterstellt werden, um auf Basis der dann einschlägigen modifizierten Auslegungsgrundsätze zu ermitteln, welchen Inhalt die Erklärung hat und ob eine Erklärung dieses Inhalts überhaupt der Form unterfällt.24 Es kommt daher letztlich allein darauf an, warum eine „Vorwirkung“ der Form auf die Auslegung nicht überzeugt. Gegen sie spricht entscheidend, dass das Gesetz bei Formverstößen regelmäßig nur die Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts vorsieht (§  125 S.  1 BGB). Die Durchsetzung der Formzwecke erfolgt allein durch Versa­ gung der Wirksamkeit. Die Auslegung durch die Form zu begrenzen hätte hinge­ gen eine für die Selbstbestimmung des Erklärenden viel einschneidendere Sankti­ on zur Folge. Aufgrund des sinnverändernden Einflusses der Form schon bei der Auslegung würde die Erklärung dann nämlich ggf. in dem formkonform ermittel­ ten Sinne positiv gelten. Die damit einhergehende Bindung des Erklärenden an eine potentiell nicht seinem Willen entsprechende Rechtsfolge ist ausweislich der regel­ mäßig vorgesehenen Nichtigkeit durch die gesetzlichen Formvorschriften nicht ge­ deckt.25 Auch mit dem Vertrauensschutz zugunsten Dritter, die z. B. eine in der Urkunde nicht formgerecht festgehaltene Abrede nicht erkennen können, lässt sich 21  BGH, Urteil vom 22.4.2010, NJW 2011, 218 Tz.  15; Urteil vom 12.7.1996, NJW 1996, 2792 (2793); BAG, Urteil vom 13.7.2006, NJW 2007, 250 Tz.  23; Bork, AT (2016), Rn.  559; Looschelders, in: NK‑BGB (2012), §  133 Rn.  74; Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  30; M. Wolf/‌Neuner, AT (2012), §  35 Rn.  36; Medicus, AT (2010), Rn.  330; Häsemeyer, Form (1971), 155–158. Be­ reits in diesem Sinne Titze, Mißverständnis (1910), 134 f. und Dernburg, DJZ 1904, 1 (2 f.). 22  Busche, in: MünchKommBGB (2015), §  133 Rn.  30; Häsemeyer, JuS 1980, 1 (7). 23  Bork, AT (2016), Rn.  559. Ähnlich Bernard, Rechtsgeschäfte (1979), 21. 24  Vgl. die Vorgehensweise im Internationalen Privatrecht, das Zustandekommen des Vertrags bzw. einer Rechtswahlvereinbarung nach dem Recht des Staates zu beurteilen, das anwendbar wäre, wenn der Vertrag bzw. die Vereinbarung zustande kommt (Artt.  3 I, 10 I Rom I-VO). Nach Art.  12 lit.  a Rom I-VO entscheidet das auf den Vertrag anwendbare Recht sogar über dessen Aus­ legung. Welches Recht auf den Vertrag anwendbar ist, hängt mitunter auch davon ab, welchen In­ halt der Vertrag hat und welchem Vertragstyp er zuzuordnen ist. Auch hier bestimmt das zunächst nur „präsumtive“ (Magnus, in: Staudinger [2011], Art.  12 Rom I-VO Rn.  27) Vertragsstatut, welche Auslegungsregeln zur Anwendung kommen. 25  Wendtland, in: Bamberger/Roth (2012), §  133 Rn.  26.1. Vgl. auch Looschelders, in: NK‑BGB (2012), §  133 Rn.  74: Gefahr der Verfälschung des Inhalts der Erklärung; Häsemeyer, Form (1971),

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§  2 Untersuchungsgegenstand, Abgrenzung und Gang der Darstellung

ein solches Vorgehen nicht begründen. Positiver Vertrauensschutz ist regelmäßig kein Anliegen der Formvorschriften, wie die damit unvereinbare Nichtigkeitssank­ tion erkennen lässt, die dem auf den Urkundeninhalt vertrauenden Dritten nicht weiterhilft.26 Auf Formprobleme ist hier auch nicht etwa deshalb einzugehen, weil dem Satz falsa demonstratio non nocet bei unbewusster Falschbezeichnung verbreitet auch die Bedeutung zugemessen wird, die Formgerechtigkeit des Auslegungsergebnisses zu rechtfertigen 27. Insofern bezeichnet der falsa-Satz eine von der natürlichen Aus­ legungsmethode zu unterscheidende weitere Rechtsregel, die allein die Formwirk­ samkeit betrifft28 und deshalb nicht Gegenstand dieser auslegungsmethodischen Untersuchung ist.

III. Gang der Darstellung Die Abhandlung ist in drei Teile gegliedert: Teil I stellt zunächst die Grundlagen der herrschenden dualistischen Auslegungslehre dar (§  3). Eine Kritik dieser Lehre ist an dieser Stelle noch nicht beabsichtigt, sondern allenfalls Klarstellungen und Kor­ rekturen, die auf dem Selbstverständnis der herrschenden Lehre aufbauen. Daran schließt die wichtige Vorüberlegung an, in welchen Fällen der Vorrang der natürli­ chen Auslegungsmethode auf Basis der herrschenden Lehre überhaupt das Ausle­ gungsergebnis beeinflusst (sog. methodenrelevante Fälle; §  4). Teil II legt die hier vertretene Kritik an der natürlichen Auslegungsmethode dar. Der erste Abschnitt (§§  5 –8) befasst sich mit der Kernthese dieser Untersuchung, die natürliche Methode der Auslegung sei unvereinbar mit dem Schutz nachträgli­ chen Vertrauens der Beteiligten auf das objektiv Erklärte. Hierfür wird zunächst das sog. Entdeckungsszenario vorgestellt, in dem nachträgliches Vertrauen der Be­ teiligten entsteht, das durch die natürliche Methode prima facie gefährdet ist (§  5). 156: Vertragsparteien dürften „nicht entgegen ihrer Verständigung an einem Rechtsgeschäft be­ stimmten Inhalts festgehalten werden, nur weil dieses Rechtsgeschäft einer Form unterliegt“. 26 Vgl. Bernard, Rechtsgeschäfte (1979), 26. Einem solchen „Wortformalismus“ (Häsemeyer, JuS 1980, 1 [7]) kommt die h.M. am nächsten beim im Umlauf befindlichen Wechsel, der aus Ver­ kehrsschutzgründen besonders streng objektiv ausgelegt werden soll. Doch auch dort werden im­ merhin Umstände in die Auslegung einbezogen, die der Wechselnehmer (BGH, Urteil vom 28.6.1956, BGHZ 21, 155 [161 f.]) bzw. ein nicht am Begebungsvertrag Beteiligter (Baumbach/ Hefermehl/Caspers, WG [2008], Einl. WG Rn.  63 m.w.Nachw.) mutmaßlich kennt oder erkennen kann. Zur Auslegung derartiger Erklärungen an einen unbestimmten Personenkreis siehe schon unter 3. a. E. 27  BGH, Urteil vom 25.3.1983, BGHZ 87, 150 (152–156); Hertel, in: Staudinger (2012), §  125 Rn.  85; Reinicke, JA 1980, 455 (458–462). A. A. Boemke/Ulrici, AT (2014), §  10 Rn.  45; Wieling, Jura 1979, 524 (526 ff.); ders., AcP 172 (1972), 297 (307 ff.). 28 Zur Differenzierung zwischen diesen beiden Bedeutungsgehalten des falsa-Satzes siehe O. Werner/Neureither, Problem (2005), 40 unter 2 b; Scherer, Andeutungsformel (1987), 78 f.; Reinicke, JA 1980, 455: „Auslegungsproblematik“ (S.  458) und „Formproblematik“ (S.  462).

III. Gang der Darstellung

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Anschließend wird überprüft, ob sich daraus ein durchschlagendes Argument ge­ gen die dualistische Lehre ergibt, und zwar anhand der Fragen, ob der Schutz nach­ träglichen Vertrauens überhaupt geboten ist (§  6) und ob sich dieses Anliegen auf Basis der dualistischen Lehre verwirklichen lässt (§  7). Als Ergebnis wird sich her­ ausstellen, dass das nachträglich entstehende Vertrauen nur bei streng normativer Auslegung der empfangsbedürftigen Willenserklärung hinreichend geschützt wird. Der erste Abschnitt schließt mit einer historischen Einordnung, die aufzeigt, welche Rolle der Schutz des nachträglichen Vertrauens in der bisherigen Diskussion der Rechtsgeschäftslehre gespielt hat (§  8). Im zweiten Abschnitt von Teil II (§§  9 –11) wird vor dem Hintergrund der gewonnenen Erkenntnisse dargelegt, warum keines der teleologischen (§  9), systematischen (§  10) und historischen (§  11) Argumente der Dualisten für den Methodendualismus und gegen eine streng normative Ausle­ gungslehre überzeugt. Teil III behandelt drei Folgefragen, die sich auf der Basis der streng normativen Auslegungslehre und der hier zu ihrer Rechtfertigung vorgebrachten Begründung stellen. Zunächst wird darauf eingegangen, welche Auswirkungen der Übergang zur streng normativen Auslegungslehre auf die Beweismöglichkeiten der Parteien im Prozess hat unter Berücksichtigung der dort obwaltenden Beweisschwierigkei­ ten. Aus den allgemeinen Grundsätzen des Beweisrechts ergibt sich eine Beweiser­ leichterung in Form eines Anscheinsbeweises, der einen begrüßenswerten be­weis­ erleichternden Effekt der natürlichen Methode auch bei streng normativer Ausle­ gung verwirklicht (§  12). Danach wird untersucht, wie nach der streng normativen Auslegungslehre mit Fällen umzugehen ist, in denen die Beteiligten aufgrund ihrer zufällig übereinstimmenden Verständnisse des Erklärungssinns ihre Rechtsbezie­ hung abwickeln (sog. Durchführungsszenario, §  13). Abschließend wird in Konse­ quenz der Erkenntnisse aus Teil II zur Interessenlage der Beteiligten eine Korrek­ tur der herrschenden Erkennbarkeitsformel des objektiven Empfängerhorizonts vorgeschlagen im Hinblick auf hier sog. exorbitantes Sonderwissen des Empfän­ gers (§  14). Die Arbeit schließt mit einer Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse und einem Ausblick, der die hier gewonnen Erkenntnisse für die Auslegung empfangs­ bedürftiger Willenserklärungen auf einige internationale Regelwerke bezieht (UN-Kaufrecht, PECL, PICC, DCFR, GEKR).

Teil I

Grundlagen und Vorüberlegungen Dieser Teil der Untersuchung behandelt Grundlagen der Auslegungslehre, auf die in den Teilen II und III beständig zugrückgegriffen werden wird. In §  3 werden die allgemeinen Auslegungsvorschriften (§§  133, 157 BGB), der Interessenkonflikt zwischen dem Erklärenden und dem Empfänger, die normative Methode der Ausle­ gung nach dem objektiven Empfängerhorizont, die natürliche Auslegung nach dem übereinstimmenden Beteiligtenverständnis und das Verhältnis beider Methoden nach dem dualistischen Modell dargelegt. Auf dieser Basis geht sodann §  4 der Fra­ ge nach, in welchen Fällen es im Ergebnis einen Unterschied macht, ob die Ausle­ gung streng normativ oder dualistisch erfolgt. Die herrschende Lehre wird in diesem Teil der Untersuchung zunächst so genom­ men, wie sie heute allgemein für richtig gehalten wird. Die Klarstellungen und we­ nigen Korrekturen in diesem Abschnitt erheben den Anspruch, sich noch innerhalb der Bahnen der dualistischen Lehre zu bewegen. Alles dient nur der Vorbereitung der Auseinandersetzung mit dieser Lehre in Teil II und III der Untersuchung, die die in diesem Abschnitt vorgestellten Grundsätze der herrschenden Meinung in vieler­ lei Hinsicht verwerfen oder modifizieren wird. Besondere Aufmerksamkeit erfah­ ren dabei die jeweils relevanten Zeitpunkte, da der Zeitaspekt, namentlich die Ent­ wicklung des Geschehens nach Vornahme des Rechtsgeschäfts, für die Kritik an der dualistischen Lehre besondere Bedeutung gewinnen wird.

§  3 Das dualistische Auslegungsmodell Das dualistische Auslegungsmodell, das die herrschende Meinung auf die §§  133, 157 BGB stützt (dazu unter I.), bemüht sich um die sachgerechte Bewältigung eines Interessenkonflikts zwischen dem Erklärenden und dem Empfänger (dazu unter II.). Sowohl die normative Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont (dazu unter III.) als auch die vorrangige natürliche Auslegung (dazu unter IV. und V.) sollen zwischen prinzipiell widerstreitenden Standpunkten der Beteiligten vermit­ teln. Regelmäßig führt die Auslegung nach diesen Grundsätzen zu einem eindeuti­ gen Ergebnis – ausnahmsweise kann die Auslegung auch einmal scheitern, weil sich kein bestimmter Erklärungssinn feststellen lässt (dazu unter VI.).

I. Der gesetzliche Ausgangspunkt: Die §§  133, 157 BGB Eine Darstellung der dualistischen Lehre hat bei den gesetzlichen Vorschriften über die Auslegung ihren Ausgangspunkt zu nehmen – sei es auch, um deren geringen Aussagegehalt zu erweisen. Die Gewöhnung an die heute allgemein vertretene Leh­ re lässt nämlich leicht vergessen, dass deren Dogmatik angesichts recht nichtssa­ gender Gesetzesvorschriften in allererster Linie ein Produkt teleologischer und sys­ tematischer Argumentation ist. Es bedarf eines hohen Maßes juristischer Konstruk­ tion, um zu dem gestuften dualistischen Auslegungsmodell zu gelangen, das heute allgemein mit den §§  133, 157 BGB verbunden wird. Isoliert betrachtet werfen die geschriebenen Auslegungsregeln mehr Fragen auf, als sie beantworten.

1. Die Systematik der §§  133, 157 BGB Einleitend wurde bereits darauf hingewiesen, dass das BGB mit den §§  133, 157 BGB nur zwei allgemeine Vorschriften über die Auslegung enthält: §  133 BGB Bei der Auslegung einer Willenserklärung ist der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften.

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§  3 Das dualistische Auslegungsmodell

§  157 BGB Verträge sind so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.

Bei unbefangener Gesetzeslektüre scheint allerdings ausschließlich §  133 BGB eine allgemeine Auslegungsvorschrift für Willenserklärungen zu sein, da sich §  157 BGB nach Wortlaut und Systematik1 nur auf Verträge bezieht. Dies erstaunt, denn der dadurch nahegelegte Umkehrschluss, die Kriterien des §  157 BGB spielten bei sonstigen Rechtsgeschäften (einseitige Rechtsgeschäfte; Beschlüsse) keine Rolle, leuchtet nicht ein. Die Gesetzgebungshistorie liefert für die inhaltliche und systematische Trennung beider Regelungen keine einleuchtende Rechtfertigung. Anders als §  133 BGB, des­ sen Vorläufer sich in allen Entstehungsphasen des BGB im allgemeinen Teil im Abschnitt über Willenserklärungen finden 2 , hatte §  157 BGB eine wechselvolle Vorgeschichte, die eng mit der Entstehung des heutigen §  242 BGB verknüpft ist3. §  359 E I sah zunächst noch eine nicht explizit als Auslegungsregel gefasste Vor­ schrift über den „Inhalt von Schuldverhältnissen aus Verträgen“4 vor, die im Recht der Schuldverhältnisse verortet war. Die Vorkommission des Reichsjustizamts strich diese Regelung bei ihrer Überarbeitung des E I, da sie an anderer Stelle eine dem heutigen §  242 BGB entsprechende Regelung über die „Bewirkung der Leis­ tung“ in den Entwurf aufgenommen hatte5 und den in §  359 E I ausgesprochenen Rechtssatz dadurch (im Zusammenspiel mit der Vorläuferregelung des §  133 BGB) für voll abgedeckt hielt.6 Die Mehrheit der Mitglieder der zweiten Kommission ging jedoch davon aus, §  359 E I habe einen weiterreichenden Regelungsgehalt, der „nicht nur die Art der Erfüllung, sondern auch das Ob und Was der Verbindlich­ keit“7 betreffe. Sie übernahm deshalb zwar die vom Reichsjustizamt vorgeschlage­ ne Vorläuferregelung des heutigen §  242 BGB in den E II8, hielt daneben aber noch eine Auslegungsvorschrift für Verträge für notwendig. Hinsichtlich des Anwen­ dungsbereichs dieser Auslegungsregel sprach sich die zweite Kommission dafür aus, sie in den Allgemeinen Teil aufzunehmen, da die Maßgeblichkeit von Treu und 1  Die Vorschrift steht im ersten Buch des BGB in Abschnitt 1 über Rechtsgeschäfte im Titel 3 über den Vertrag. 2  Siehe die Nachw. bei Jakobs/Schubert, Beratung AT/1 (1985), 687 ff. 3  Vogenauer, in: HKK‑BGB (2003), §§  133, 157 Rn.  24 f. mit ausführlicher Darstellung zum Folgenden. 4  §  359 E I: „Der Vertrag verpflichtet die Vertragsschließenden zu demjenigen, was sich aus den Bestimmungen und der Natur des Vertrages nach Gesetz und Verkehrssitte sowie mit Rück­ sicht auf Treu und Glauben als Inhalt seiner Verbindlichkeit ergiebt.“ (abgedruckt bei: Mugdan II [1899], XXXIV). 5  §  224 I E I-RJA: „Die Leistung ist so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern“ (abgedruckt bei: Jakobs/Schubert, Beratung SchR I [1978], 48). 6  Prot-RJA, 327, abgedruckt bei: Jakobs/Schubert, Beratung SchR I (1978), 48. 7  Prot. I (1897, 1983), 624 = Mugdan II (1899), 522. 8  Vgl. §  206 E II, abgedruckt bei: Mugdan II (1899), V.

I. Der gesetzliche Ausgangspunkt: Die §§  133, 157 BGB

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Glauben nicht nur auf obligatorische Verträge, sondern auf sämtliche Verträge (z. B. Bestellung dinglicher Rechte, Erbverträge, eheliche Güterverträge etc.) zutreffe.9 Sie beschloss schließlich eine dem Wortlaut des heutigen §  157 BGB entsprechende Vorschrift in den E II aufzunehmen und überließ einer Redaktionskommission die Entscheidung darüber, ob diese Regel dem Vorläufer des heutigen §  133 BGB als Satz  2 hinzuzufügen oder in den Titel über Verträge aufzunehmen sei.10 Die Redak­ tionskommission entschied sich schließlich, ohne dass eine Begründung überliefert ist11, für letzteres – durchaus folgerichtig, denn der verbindlich vorgegebene Wort­ laut bezog sich explizit nur auf Verträge und wäre deshalb im zweiten Titel über die Willenserklärung ein Fremdkörper gewesen. Die heutige Gesetzesfassung scheint somit die Folge von Reibungsverlusten der Arbeitsteilung im Gesetzgebungsverfahren zu sein: Hätten die bei den Beratungen über das zweite Buch primär in den Kategorien des Schuldrechts denkenden Mit­ glieder der zweiten Kommission die Entscheidung über die konkrete Positionierung im Allgemeinen Teil nicht delegiert, sondern selbst gefällt, so wäre ihnen wohl spä­ testens bei Erwägung einer Zusammenfassung der heutigen §  133 BGB und §  157 BGB aufgefallen, dass es wenig sinnvoll ist, Treu und Glauben und die Verkehrssit­ te als Auslegungskriterien ausschließlich auf Verträge zu beziehen. Die anschlie­ ßend tätige Redaktionskommission hatte hingegen gar nicht den Auftrag und damit auch nicht die Möglichkeit, den Regelungsgehalt noch einmal zu hinterfragen. Die systematische und inhaltliche Trennung beider Vorschriften gilt heute zu Recht als misslungen12 und wurde schon früh überwunden. Bereits 1903 wandte das RG erstmals §  157 BGB auch auf das einseitige empfangsbedürftige Rechtsgeschäft an13, nachdem dies sogar schon vor Inkrafttreten des BGB in der Lehre befürwortet worden war14. Die Heranziehung des §  157 BGB schon bei der Auslegung einzelner Willenserklärungen entspricht heute allgemeiner Auffassung.15 Da umgekehrt jeder Vertrag durch Willenserklärungen zustande kommt, §  133 BGB also seinem Wort­ laut nach ohnehin unmittelbar anwendbar ist auf die Auslegung jedweden Rechtsge­ 9 

Prot. I (1897, 1983), 625 = Mugdan II (1899), 522. Prot. I (1897, 1983), 624 = Mugdan II (1899), 522. 11  Vogenauer, in: HKK-BGB (2003), §§  133, 157 Rn.  25. 12  Bork, AT (2016), Rn.  500: „missglückt“; H. Roth, in: Staudinger (2015), §  157 Rn.  2: „verun­ glückte[ ] gesetzgeberische[ ] Entscheidung“; Reichold, in: jurisPK‑BGB (2014), §  133 Rn.  1: „ge­ künstelte Aufteilung in einseitiges und mehrseitiges Rechtsgeschäft“; Medicus, AT (2010), Rn.  320: „verunglückt“. 13  RG, Urteil vom 6.10.1903, SeuffA 59, Nr.  177, 310 (311 f.) zur Bevollmächtigung. 14  Planck, in: Planck, BGB (1897), 203 (Anm. zu §  157 a. E.): §  157 BGB werde „indessen in den dazu geeigneten Fällen auch auf einseitige Rechtsgeschäfte entsprechende Anwendung finden müssen“. 15  Ellenberger, in: Palandt (2016), §  157 Rn.  1; Wendtland, in: Bamberger/Roth (2012), §  133 Rn.  19, §  157 Rn.  2; Hefermehl, in: Soergel (1999), §  133 Rn.  2; M. Wolf, in: Soergel (1999), §  157 Rn.  29. Aus der älteren Literatur siehe etwa Larenz, Methode (1930, 1966), 8; Titze, Mißverständ­ nis (1910), 84. Abw. in der dogmatischen Herleitung Rhode, AcP 124 (1925), 257 (288): keine un­ mittelbare Anwendung von §  157 BGB, sondern des „allgemeine[n] Rechtsgrundsatz von Treu und Glauben“. 10 

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§  3 Das dualistische Auslegungsmodell

schäfts16, stehen beide Vorschriften somit bei der erläuternden Auslegung der Wil­ lenserklärung nebeneinander.17

2. Die Kriterien der §§  133, 157 BGB Die §§  133, 157 BGB nennen vier verschiedene Auslegungskriterien: Das Gebot der Forschung nach dem wirklichen Willen (§  133 Hs.  1 BGB), das Verbot der Buchsta­ benauslegung (§  133 Hs.  2 BGB), die Auslegung nach Treu und Glauben (§  157 BGB) und die „Rücksicht auf die Verkehrssitte“ (§  157 BGB). Schon der sachliche Gehalt einiger dieser Kriterien ist, isoliert betrachtet, alles andere als klar. Am greifbarsten ist noch das Verbot der Buchstabenauslegung in §  133 Hs.  2 BGB, das eine Absage an eine bestimmte Methodik der Auslegung bedeutet. Eine Auslegungslehre, die allein auf den Sinn der verwandten Wortzeichen abstellt, ist danach ausgeschlossen. Da es sich aber nur um eine Negativfestlegung handelt, bleibt offen, wie stattdessen zu verfahren ist. Das positiv dagegen gesetzte Gebot der Forschung nach dem wirklichen Willen in §  133 Hs.  1 BGB hat ebenfalls noch eine gewisse Anschaulichkeit. Es nennt als Ziel der Erforschung den wirklichen Willen, der dem Wortlaut nach wohl den empi­ rischen, realen Willen des Empfängers meint.18 Der Begriff „Erforschung“ lässt allerdings offen, mit welchen Mitteln und mit welcher Konsequenz die Erforschung zu betreiben ist.19 Völlig unanschaulich ist die in §  157 BGB genannte Treu-und-Glauben-Formel. Die Formel verweist auf eine unüberschaubare Zahl von Wertungsgesichtspunkten, die in der Norm nicht genannt sind. Der Wortlaut dieser Generalklausel lässt eine Billigkeitskorrektur im Einzelfall ebenso zu wie die Entwicklung einer kompletten Auslegungsmethodik zur Beantwortung der durch §§  133, 157 BGB ungelösten Fragen. Greifbarer ist wiederum das Kriterium der Verkehrssitte, die auf bestehende so­ ziale Übungen verweist. Allerdings wird die Bedeutung der Verkehrssitte schon unmittelbar dadurch verdunkelt, dass sie der Treu-und-Glauben-Formel unterge­ ordnet ist („mit Rücksicht auf“)20 und daher nur ein Faktor unter mehreren, im Üb­ rigen unbenannten Gesichtspunkten ist. 16  Wendtland, in: Bamberger/Roth (2012), §   133 Rn.  19; Vogenauer, in: HKK‑BGB (2003), §§  133, 157 Rn.  31. 17  BGH, Urteil vom 23.6.1988, BGHZ 105, 24 (27); Urteil vom 3.2.1967, BGHZ 47, 75 (78); RG, Urteil vom 30.4.1930, RGZ 128, 241 (245); Ellenberger, in: Palandt (2016), §  133 Rn.  1, §  157 Rn.  1; Wendtland, in: Bamberger/Roth (2012), §  133 Rn.  19, §  157 Rn.  2. 18  Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  5 mit dem Hinweis, ein „normativer Wille“ als Be­ zugspunkt wäre ein Widerspruch in sich. 19  Scherner, AT (1995), 86; vgl. Enneccerus/Nipperdey, AT I/2 (1960), 1249; Henle, Lb. I (1926), 74. 20  Siehe Prot. I (1897, 1983), 625 = Mugdan II (1899), 522.

I. Der gesetzliche Ausgangspunkt: Die §§  133, 157 BGB

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3. Der geringe Aussagegehalt der §§  133, 157 BGB zur Methodik der Auslegung Was das Verhältnis der Kriterien untereinander und damit deren Anwendung im konkreten Fall angeht, hält sich das Gesetz bedeckt. Klar ist lediglich das Zurück­ treten des Buchstabens der Erklärung hinter die Willenserforschung einerseits und die Unterordnung der Verkehrssitte unter die Treu-und-Glauben-Formel anderer­ seits. Die unter 1. beschriebene allgemein anerkannte Angleichung der Anwen­ dungsbereiche von §  133 BGB und §  157 BGB vermehrt die Zahl der offenen Fra­ gen zusätzlich.21 Es stellt sich dadurch nämlich die Frage, wie die im Gesetz ge­ nannten Kriterien zueinander stehen. Die Ergebnisse der bisherigen Bemühungen, unmittelbar aus den §§  133, 157 BGB eine stimmige Antwort zu entwickeln, sind ernüchternd: Häufig findet sich der Hinweis, der „wirkliche Wille“ in §  133 Hs.  1 BGB müsse als der wirklich erklärte Wille verstanden werden.22 Gemeint ist damit wohl meist nur ein Hinweis auf das Erklärungserfordernis, demzufolge ein innerer Wille, der nicht nach außen getreten ist und nicht einmal nach Ansicht des Erklärenden „er­ klärt“ sein sollte, keine Bedeutung haben kann.23 Auslegungsmethodisch bleibt da­ durch im Grunde alles offen, denn für die Auslegungslehre geht es gerade um die Festlegung, wann und mit welchem Inhalt der Wille in der gebotenen Weise „er­ klärt“ ist.24 Titze25 gelangt vor dem Hintergrund dieses Verständnisses des §  133 BGB durch­ aus konsequent zu der Einschätzung, §  133 BGB beschränke sich auf die Absage an „Wortklauberei“ und konkretisiere damit lediglich die Treu-und-Glauben-Formel des §  157 BGB in eine bestimmte Richtung. Positive Aussagen zur Methodik der Auslegung seien ausschließlich aus §  157 BGB zu entwickeln. Seine Grund­satz­ überlegungen zur Rechtsgeschäftsauslegung leitet er dementsprechend mit der Fra­ ge ein: „Welches sind nun im Einzelnen die Anforderungen, die die Rechtsordnung mit dem Hinweis auf Treu und Glauben an die Auslegung mehrdeutiger Erklärun­ gen stellt?“26 Dieser Herangehensweise liegt implizit die Erkenntnis zugrunde, dass 21 

Titze, Mißverständnis (1910), 84 f. Busche, in: MünchKommBGB (2015), §  133 Rn.  9: bekundeter Wille; Hefermehl, in: Soergel (1999), §  133 Rn.  1; Hübner, AT (1996), Rn.  744; Titze, Mißverständnis (1910), 85. 23  Siehe insb. die in Fn.  22 nachgewiesenen Ausführungen von Busche und Hefermehl. Noch weiter geht Hart, in: AK‑BGB (1987), §§  133, 157 Rn.  1, der meint, der wirkliche Wille in §  133 Hs.  1 BGB sei als der „erklärte Wille in seinem objektiven Erklärungswert aus der Sicht des Emp­ fängers der Erklärung“ zu verstehen. Das kann schon im Hinblick auf die ebenfalls in den Anwen­ dungsbereich der Norm fallenden nicht empfangsbedürftigen Willenserklärungen nicht überzeu­ gen. 24 Vgl. Titze, Mißverständnis (1910), 85. 25  Mißverständnis (1910), 85 f. Vgl. auch Diesselhorst, Sympotica Wieacker (1970), 180 (185): dem §  157 BGB wäre §  133 BGB, „auch wenn er nicht im Gesetz stände, sinngemäß zu entneh­ men“. 26  Titze, Mißverständnis (1910), 86. Titze war freilich kein Anhänger der heute herrschenden 22 

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§  3 Das dualistische Auslegungsmodell

die §§  133, 157 BGB dem Rechtsanwender bei der Suche nach der Auslegungsme­ thode praktisch keine Hilfestellung geben. Auch Larenz merkte in diesem Sinne an, das Gesetz verwende in §  157 BGB einen sehr „formalen Maßstab, der selbst erst der genauen Ausfüllung bedarf – denn wir wollen ja gerade wissen, welche Metho­ de der Auslegung durch Treu und Glauben gefordert wird“27. Die übrige Lehre geht regelmäßig nicht so weit, die gesamte Auslegungslehre aus der Treu-und-Glauben-Formel zu entwickeln. Einige Autoren begnügen sich heute damit, die Gleichrangigkeit beider Vorschriften und deren Ergänzungsverhältnis hervorzuheben.28 Andere rücken eher die Gegensätze in den Vordergrund und wei­ sen den Regelungen im Sinne der herrschenden dualistischen Lehre unterschiedli­ che Funktionsbereiche zu: §  133 BGB soll danach eher in Richtung der subjektiven, natürlichen Auslegung weisen, §  157 BGB dagegen „Basisnorm“29 der normativen bzw. objektiven Auslegung des Rechtsgeschäfts sein.30 Doch unabhängig davon, ob man eher die Komplementarität oder die Gegensätzlichkeit betont, führt in letzter Konsequenz kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass sich beide Vorschriften darü­ ber in Schweigen hüllen, wie sich das Komplementärverhältnis vollzieht bzw. wie die einander widersprechenden Funktionsbereiche abzugrenzen sind. In diesem Sinne bemerkt Singer zutreffend, beiden Vorschriften sei „[ü]ber ihr Verhältnis zu­ einander und das zwischen objektiver und subjektiver Methode selbst nichts zu ent­ nehmen“31. Auch Looschelders kommt letztlich zur selben Einschätzung, indem er erläutert, Rechtsprechung und Lehre hätten angesichts der prinzipiell gleichrangi­ gen, in unterschiedliche Richtungen weisenden Aussagegehalte der §§  133, 157 BGB erst noch die Aufgabe, „aus den nach diesen Vorschriften maßgeblichen Kri­ terien mit Hilfe allgemeiner methodischer Grundsätze eine in sich stimmige Ausle­

dualistischen Lehre, sondern vertrat Differenzierungen anderen Inhalts (a. a. O., 86 ff.). Seine Ein­ schätzung zum Umgang mit den §§  133, 157 BGB ist davon jedoch unabhängig, da er bei abwei­ chender Beurteilung der Interessenlage auch die Ergebnisse der heute h.M. auf Treu und Glauben hätte stützen können. 27  Larenz, Methode (1930, 1966), 7 f., der freilich Titzes Herangehensweise auf S.  8 ablehnt. 28  Busche, in: MünchKommBGB (2015), §  133 Rn.  17 f.: „methodische Basis“; Arnold, in: Er­ man (2014), §  133 Rn.  6; Ahrens, in: Prütting/‌Wegen/‌Weinreich (2013), §  133 Rn.  2: nebeneinander, aber nicht unterschiedslos anzuwenden; Schapp/Schur, Einführung (2007), Rn.  343: mit „Schwer­ gewicht“ des §  157 BGB; M. Wolf, in: Soergel (1999), §  157 Rn.  14: „Komplementärverhältnis“; Hübner, AT (1996), Rn.  743 a. E.; Flume, AT II (1992), 308. 29  Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  5. 30  Ellenberger, in: Palandt (2016), §  133 Rn.  1; Reichold, in: jurisPK‑BGB (2014), §  133 Rn.  1; McMeel/Grigoleit, in: Common European Sales Law (2013), 341 (343); Looschelders, in: NK‑BGB (2012), §  133 Rn.  3; Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  4. Etwas zurückhaltender auch Bork, AT (2016), Rn.  501; Leenen, AT (2015), §  5 Rn.  43 und Wieser, AcP 189 (1989), 112 (113). Ange­ sichts des offenen Wortlauts der Treu-und-Glauben-Formel ist die Zuordnung des §  157 BGB zur normativen Auslegung freilich alles andere als zwingend (vgl. Leenen, AT [2015], §  5 Rn.  43 a. E. und Flume, AT II [1992], 308, der den falsa-Satz auf §  157 BGB zurückführt). 31  Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  6.

I. Der gesetzliche Ausgangspunkt: Die §§  133, 157 BGB

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gungslehre zu entwickeln, mit der sich im Einzelfall ein sach- und interessengerech­ tes Ergebnis erzielen lässt“32. Die Wertungen, auf die zur Gewinnung der konkreten Auslegungsregeln zurück­ gegriffen werden muss, sind folglich jenseits der §§  133, 157 BGB zu suchen.33 Die Lehre nennt hier insbesondere die Prinzipien der Selbstbestimmung und des Ver­ trauensschutzes, deren Gewichtung sich insbesondere in den §§  119 ff. BGB nieder­ schlage.34 In den §§  133, 157 BGB ist zwar die Selbstbestimmung mit dem Willens­ erforschungsgebot ebenso angedeutet, wie der Vertrauensschutz in der Treu-undGlauben-Formel („Glauben“) anklingt. Eine Ordnung dieser Prinzipien, aus der eine operable Methodik der Auslegung zur Entscheidung konkreter Interessenkon­ flikte abgleitet werden kann, enthalten die §§  133, 157 BGB dagegen nicht.

4. Zwischenergebnis Die allgemeinen gesetzlichen Auslegungsvorschriften enthalten nur „fragmentari­ sche Grundprinzipien der Interpretation“35. Zum Verhältnis der teilweise äußerst unbestimmten Kriterien oder gar zum herrschend angenommenen gestuften Me­ thodendualismus bei der empfangsbedürftigen Willenserklärung schweigen diese Vorschriften. Die Lückenhaftigkeit der Gesetzesregelung ist der Grund für den ho­ hen Anteil teleologischer und systematischer Erwägungen, die zur Begründung jed­ weder in sich geschlossener Auslegungslehre erforderlich sind – auch der dualisti­ schen. Ob die so gewonnen Ergebnisse schließlich in die Treu-und-Glauben-Formel des §  157 BGB hineingelesen oder als ungeschriebene Anwendungsvoraussetzun­ gen komplementärer bzw. sich wechselseitig überlagernder Basisnormen begriffen werden, erscheint nur von untergeordneter Bedeutung. Die §§  133, 157 BGB sind kaum mehr als eine Projektionsfläche für Lösungen, die jenseits des vagen unmit­ telbaren Aussagehalts dieser Normen zu begründen sind. Das spricht selbstver­ ständlich nicht gegen die Güte der so gefunden Lösungen, da angesichts der frag­ mentarischen Charakters des Gesetzes letztlich jede Auslegungslehre, die überzeu­ gen will, so vorgehen muss. 32 

Looschelders, in: NK‑BGB (2012), §  133 Rn.  3. Wieacker, JZ 1967, 385 f.: es seien „erst andere Modelle, in deren Zusammenhang §§  133 und 157 einen einsichtigen Stellenwert“ gewönnen. 34  Ellenberger, in: Palandt (2016), §  133 Rn.  7; Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  6; Trupp, NJW 1990, 1346 f. unter IV, der allerdings §  157 BGB offenbar gar keine Bedeutung zumessen möchte, sondern stattdessen ganz auf §  119 BGB als „implizite“ bzw. „verdeckte“ Auslegungsregel abstellt. Ähnlich auch Schapp/Schur, Einführung (2007), Rn.  346, die die normative Auslegung „nicht nur aus §  157 BGB“, sondern auch „aus der Regelung des Anfechtungsrechtes in den §§  119 ff.“ ableiten. Zur Herleitung der Auslegungsgrundsätze aus den §§  119 ff. BGB noch unter II 2 a. E. 35  Treffende Formulierung von Maultzsch, in: Einheitliches Europäisches Kaufrecht (2012), 203 (205). 33 Vgl.

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§  3 Das dualistische Auslegungsmodell

II. Der Interessenkonflikt zwischen dem Empfänger und dem Erklärenden Nach dem gerade Gesagten muss sich die dualistische Auslegungslehre in erhebli­ chem Umfang übergreifender teleologischer Erwägungen bedienen, um die vagen gesetzlichen Auslegungsvorschriften im Sinne ihres zweistufigen Auslegungsmo­ dells zu konkretisieren. Der Analyse der Interessenlage, in deren Spannungsfeld sich die Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen vollzieht, kommt da­ her große Bedeutung zu. Diese Interessenlage ist im Folgenden aus Sicht der herr­ schenden Lehre nachzuzeichnen.

1. Die Doppelfunktion der empfangsbedürftigen Willenserklärung Die empfangsbedürftige Willenserklärung erfüllt eine Doppelfunktion. Wie alle Willenserklärungen ist sie das Mittel des Erklärenden zur Gestaltung seiner Rechts­ verhältnisse nach seinem Willen. Sie ist das „technische[ ] Instrument der Privat­ auto­nomie“36 des Erklärenden. Als empfangsbedürftige Willenserklärung ist sie aber zugleich auch ein „Mittel der Kommunikation“37 und dient mit ihrer „Informa­ tionsfunktion“38 dem Empfänger. Nur damit sich der Empfänger eine Vorstellung davon machen kann, wie sich seine Rechtslage durch die Erklärung ändert, macht das Gesetz die Wirksamkeit der Erklärung von ihrer Mitteilung gegenüber dem Empfänger abhängig. Durch diese Doppelfunktion berührt die Auslegung emp­ fangsbedürftiger Willenserklärungen einen Interessenkonflikt zwischen beiden Be­ teiligten, angesichts dessen sich einseitige Lösungen verbieten, die nur die Position eines der Beteiligten berücksichtigen. Dies wird deutlich bei der Gegenüberstellung zweier theoretisch denkbarer Extrempositionen zur Auslegungsmethodik.

2. Die Auslegung allein nach dem wirklichen Willen des Erklärenden als interessenwidriger Lösungsansatz Eine theoretisch denkbare Methode ist die Auslegung nach dem wirklichen Willen des Erklärenden. Bei isolierter Lektüre scheint §  133 Hs.  1 BGB mit der Vorgabe, „[b]ei der Auslegung“ den „wirkliche[n] Wille[n] zu erforschen“, diese Erschei­ nungsform „natürlicher“ Auslegung39 für alle Willenserklärungen vorzusehen. 36 

F. Bydlinski, JZ 1975, 1. Scherner, AT (1995), 87. Singer, Selbstbestimmung (1995), 46 spricht vom Wesen der Wil­ lenserklärung als „Akt der Verständigung“. 38  Larenz/M. Wolf, AT (2004), §  26 Rn.  1; Noack/Beuerskens, GS M. Wolf (2011), 687 (700). Vgl. auch Scherner, AT (1995), 87: „Kommunikationsfunktion“. 39  Hierzu schon §  2 II 1. 37 

II. Der Interessenkonflikt zwischen dem Empfänger und dem Erklärenden

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Teleologisch liegt diese Herangehensweise nahe, da dadurch die Selbstbestimmung des Erklärenden optimal gewährleistet würde.40 Die Willenserklärung hätte dann stets den Inhalt, den der Erklärende wollte. Nicht alle Gründe, die gegen die Maßgeblichkeit des wirklichen Willens bei der Auslegung vorgebracht werden, überzeugen. Teilweise verwirft man die Anknüp­ fung an den Willen, weil dieser als innere Tatsache nicht beweisbar und eine auf ihm aufbauende Lehre deshalb „praktisch gar nicht durchführbar“41 sei. Das Gesetz könne schon aus praktischen Gründen von vornherein nur auf äußere Umstände abstellen.42 Zwingend ist dies nicht, wenn man in diesem Zusammenhang materi­ ell-rechtliche und prozessuale Gesichtspunkte voneinander unterscheidet.43 Mate­ riell-rechtlich ist es durchaus möglich, an den Willen als innere Tatsache Rechtsfol­ gen zu knüpfen. Dies belegen im vorliegenden Zusammenhang insbesondere die Regelungen über Willensmängel, die die negative „Wirkung“ der Nichtigkeit (z. B. §  118 BGB) und der Anfechtbarkeit (§§  119, 120 BGB) u. a. vom Willen bzw. dessen Fehlen abhängig machen.44 Prozessual könnte der Wille als innere Tatsache freilich nur beachtet werden, wenn er außer Streit steht oder anhand äußerer Umstände im Wege des Indizienschlusses beweisbar ist. Dies betrifft in erster Linie die Möglich­ keit der prozessualen Rechtsdurchsetzung und der Beweisführung, muss aber nicht dazu führen, die materielle Rechtslage vom Inhalt des wirklichen Willens zu lösen. Gegen den inneren Willen als Auslegungskriterium spricht auch nicht der Um­ stand, dass nur der „erklärte“ Wille beachtlich, der bloße innere Wille dagegen un­ beachtlich ist. Das allgemein für Willenserklärungen geltende Erklärungserforder­ nis45 würde zwar überspielt, wenn der Erklärung ein Sinn zugerechnet würde, den der Erklärende zum Zeitpunkt der Äußerung zwar hatte, aber nicht einmal selbst für erklärt hielt.46 Die Maßgeblichkeit eines solchen frei über der Erklärung schwe­ benden Willens ist jedoch durch die Präzisierung vermeidbar, dass der im Rahmen der Auslegung interessierende „wirkliche Wille“ kein vom Erklärungsverhalten los­ gelöster innerer Wille ist, sondern das „Verständnis“47 des Erklärenden von seiner 40 

Boemke/Ulrici, AT (2014), §  12 Rn.  3; Singer, Selbstbestimmung (1995), 45. Meier-Hayoz, Vertrauensprinzip (1948), 66, der von prozessual unüberwindbaren Schwie­ rigkeiten spricht. Siehe auch a. a. O., 119 unter III 1. Ferner M. Wolf/Neuner, AT (2012), §  30 Rn.  3, der ein Schwäche der „Willenstheorie“ darin sieht, „dass der wahre innere Wille sich kaum je wird mit Sicherheit beweisen lassen“. Vgl. auch Honsell, FS Walter (2005), 335 (346): den wahren Wil­ len kenne „sowieso niemand“. 42  M. Wolf/Neuner, AT (2012), §  30 Rn.  3; Kramer, Grundfragen (1972), 141 f.; Rhode, Willen­ serklärung (1938), 31 f. 43 Vgl. Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 (177). 44  So auch Schwarze, AcP 202 (2002), 607 (619 f.). 45 Hierzu Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  1, 11 m.w.Nachw. 46  Wieser, AcP 189 (1989), 112 (115): „Die direkte Frage nach dem inneren Willen ist auch theoretisch bedenklich. Denn sie führt an der Erklärung vorbei und mißachtet dadurch das Prin­ zip, daß der innere Wille erklärt sein muß, um rechtserheblich zu sein.“ 47  Wieser, AcP 189 (1989), 112 ff. passim; ders., JZ 1985, 407, dort umschrieben als „Auffas­ sung, Vorstellung, innere Meinung über den Sinn der Erklärung“. 41 

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§  3 Das dualistische Auslegungsmodell

Erklärung, das „Gemeinte“, „was er mit seinen Worten ha[t] sagen wollen“48 bzw. wie er „seine Verlautbarung subjektiv verstanden hat“49.50 In diesem präzisierten Sinne ist es trotz des Erklärungserfordernisses unschädlich, den wirklichen Willen als Bezugspunkt der erläuternden Auslegung zu wählen. Speziell bei den hier betrachteten empfangsbedürftigen Willenserklärungen stün­ de eine Auslegung nach dem Willen des Erklärenden indes im unüberwindbaren Widerspruch zur Informationsfunktion der Erklärung. Der Wille des Erklärenden ist eine „innere Tatsache“, die sich der unmittelbaren Wahrnehmung durch den Empfänger entzieht.51 Der Empfänger kann ihn sich lediglich aus äußeren Umstän­ den zu erschließen versuchen. Hierfür ist er auf Informationen angewiesen, die größtenteils zur Sphäre des Erklärenden gehören und die ihm der Erklärende durch sein Erklärungsverhalten übermitteln soll. Bei einer Auslegung nach dem wirkli­ chen Willen würde der Wille des Erklärenden hingegen auch dann zum Zuge kom­ men, wenn das unklare und irreführende Mitteilungsverhalten des Erklärenden dem Empfänger nicht die zur Einschätzung seiner Rechtslage notwendigen Infor­ mationen zur Verfügung stellt. Für die Auslegung dürften dann sämtliche Erkennt­ nismittel ausgeschöpft werden, die einen Rückschluss auf den Willen des Erklären­ den zulassen.52 Der Erklärende könnte den Beweis seines Willens mit Beweismit­ teln führen, die typischerweise nur ihm zugänglich sind (z. B. eigene Aufzeichnungen oder Zeugenaussagen über Inhalte von Gesprächen mit Dritten53) oder erst nach­ träglich dem Empfänger gegenüber hervorgetreten sind (z. B. nachträgliches Ver­ halten des Erklärenden). Das Risiko von Missverständnissen würde dadurch einsei­ tig dem Empfänger auferlegt.54 Das widerspricht eklatant dem Schutzzweck des Zugangserfordernisses, den Empfänger vor überraschenden Veränderungen seiner Rechtslage zu bewahren.55 Die gesetzlich vorgesehene Mitteilung des Rechtsfolgewillens gegenüber dem Empfänger würde somit sinnentleert, wenn es zum Wirksamwerden der Erklärung im Sinne des Gemeinten genügte, dass beim Empfänger „irgendetwas“ ankommt,

48  BGH, Urteil vom 28.1.1987, FamRZ 1987, 475 (476). Es kommen freilich auch andere Erklä­ rungsträger als „Worte“ in Betracht. 49  Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  12. Ebenso Ahrens, in: Prütting/‌Wegen/‌Weinreich (2013), §  133 Rn.  16. 50  Siehe auch M. Wolf, in: Soergel (1999), §  157 Rn.  7: „Unter dem wirklichen Willen ist die Vorstellung des Erklärenden von der Bedeutung der von ihm abgegebenen Willenserklärung zu verstehen.“ 51  Looschelders, in: NK‑BGB (2012), §  133 Rn.  35; Canaris/Grigoleit, in: European Civil Code (2011), 587 (591); Larenz/M. Wolf, AT (2004), §  28 Rn.  4.; v. Tuhr, AT II/1 (1914, 1957), 534; Windscheid/Kipp, Pandekten I (1906, 1984), 377. 52  M. Wolf/Neuner, AT (2012), §  35 Rn.  23; Larenz/M. Wolf, AT (2004), §  28 Rn.  4. 53  Vgl. BGH, Urteil vom 21.4.2015, MDR 2015, 1191 Tz.  21; Urteil vom 30.4.1992, NJW 1992, 2489 (2490), jeweils im Zusammenhang mit der Willensermittlung bei der natürlichen Auslegung. 54  Zwanzger, Vertrag (2013), 185; D. Schwab/Löhnig, Einführung (2012), Rn.  565. 55  Boemke/Ulrici, AT (2014), §  8 Rn.  9, §  12 Rn.  3.

II. Der Interessenkonflikt zwischen dem Empfänger und dem Erklärenden

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ohne Rücksicht darauf, „was“ ankommt.56 Nicht die von Teilen der Lehre für „ver­ steckte“ oder „implizite“ Auslegungsregeln gehaltenen §§  119 ff. BGB57 stehen so­ mit einer ausschließlich am Willen des Erklärenden orientierten Auslegung entge­ gen, sondern das Zugangserfordernis. Es lässt sich zwar indirekt aus den §§  119 I, 120 BGB erschließen, dass Wille und Erklärung divergieren können, da anderen­ falls die dort geregelten Irrtümer undenkbar wären.58 Doch diese Regeln sind nicht der Grund dafür, dass die Erklärung nicht im Sinne des Erklärendenwillens gilt. Selbst wenn im Sinne einer strengen Erklärungstheorie die Irrtumsregeln komplett aus dem Gesetz gestrichen würden, dürfte die Auslegung sich nicht allein nach dem Willen des Erklärenden richten. Die im Zugangserfordernis enthaltene Wertung, der Empfänger müsse über die Änderung seiner Rechtslage informiert sein, lässt dies nicht zu.59

3. Die Auslegung nach dem Empfängerverständnis als interessenwidriger Lösungsansatz Mit umgekehrten Vorzeichen wäre auch das theoretische Gegenmodell60, die Ausle­ gung nach dem tatsächlichen Verständnis des Empfängers61, nicht minder einseitig und unbillig. Der Empfänger würde dadurch zwar optimal davor geschützt, die Be­ deutung der Erklärung falsch einzuschätzen, da die Erklärung stets nur so gelten würde, wie er sie selbst aufgefasst hat. Der Erklärende würde hierdurch jedoch dem Risiko aller denkbaren Missverständnisse des Empfängers ausgesetzt.62 Davon würden zwei verschiedene Interessen des Erklärenden berührt: 56  Larenz/M. Wolf, AT (2004), §  28 Rn.  6: „Bei den empfangsbedürftigen Willenserklärungen kann sich das Gesetz deshalb nicht mit dem Zugang an sich als Wirksamkeitsvoraussetzung be­ gnügen (§  130 BGB). Vielmehr kann nach Sinn und Zweck des Zugangs die Willenserklärung nur mit dem Inhalt gelten, wie er beim Empfänger angekommen ist.“ 57 So Trupp, NJW 1990, 1346 unter IV; zust. Werba, Willenserklärung (2005), 48. Leenen, AT (2015), §  5 Rn.  64 in Fn.  55 spricht von einer „systematische[n] Auslegung des §  133 BGB im Lich­ te des §  119 I BGB“. Vgl. auch Biehl, JuS 2010, 195 (197): Die §§  119 ff. BGB seien die „dogmati­ sche Begründung“ der Auslegung nach dem Empfängerhorizont. 58  Ellenberger, in: Palandt (2016), §  133 Rn.  7 a. E.; Leenen, AT (2015), §  5 Rn.  6 4; M. Wolf/ Neuner, AT (2012), §  35 Rn.  19; Biehl, JuS 2010, 195 (197); Schapp/‌Schur, Einführung (2007), Rn.  346; Reinicke, JA 1980, 455; Wieling, Jura 1979, 524 in Fn.  2; Larenz, Methode (1930, 1966), 6. 59  Zum Zusammenhang zwischen Zugangserfordernis und Auslegung auch Bitter, AT (2013), §  7 Rn.  22; Medicus, AT (2010), Rn.  323; Probst, JZ 1989, 878 (881); Schmidt-Salzer, JR 1969, 281 (283 f.); Enneccerus/Nipperdey, AT I/2 (1960), 1251. 60  Die Lehre stellt der Auslegung nach dem Willen des Erklärenden als theoretischen Gegen­ pol teilweise allein die Auslegung anhand des objektiven Erklärungsinhalts gegenüber (siehe etwa Brox, Einschränkung [1960], 49). Letztere trägt jedoch bereits kompromisshafte Züge. 61  Meier-Hayoz, Vertrauensprinzip (1948), 24 spricht insoweit vom „Deutungsprinzip“, das ein „Willensprinzip mit umgekehrtem Vorzeichen“ sei. 62  Bitter, AT (2013), §  7 Rn.  22; D. Schwab/Löhnig, Einführung (2012), Rn.  565; Schmidt-Salzer, JR 1969, 281 (286).

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§  3 Das dualistische Auslegungsmodell

Die Methode wäre mit der Privatautonomie des Erklärenden unvereinbar.63 Hätte die Willenserklärung stets die vom Empfänger angenommene Bedeutung, würde ihre Funktion als effektives Mittel der Selbstbestimmung des Erklärenden Schaden nehmen. Der Erklärende kann zwar versuchen, das Verständnis des Empfängers durch eine möglichst eindeutige Formulierung in seinem Sinne zu beeinflussen. Seinen Steuerungsmöglichkeiten sind aber angesichts nie auszuschließender Fehl­ leistungen des Empfängers bei der Erklärungsaufnahme und sonstiger Störungen in der Empfängersphäre Grenzen gesetzt. Käme es auf das tatsächliche Empfänger­ verständnis an, würde dem Empfänger sogar die Möglichkeit eröffnet, das Wirk­ samwerden der Erklärung auf der Ebene der Auslegung auszubremsen, indem er die ihm zugegangene Erklärung gar nicht erst zur Kenntnis nimmt. Das widerspräche eklatant dem in §  130 I BGB kodifizierten Grundgedanken der Empfangstheorie64, die Erklärung solle nicht erst bei tatsächlicher Kenntnisnahme, sondern bereits mit dem für den Erklärenden steuerbaren Erreichen der Empfängersphäre (bei erwart­ barer Kenntnisnahme) wirksam werden.65 Das Missverständnisrisiko betrifft nicht nur das Selbstbestimmungsinteresse des Erklärenden. Die Auslegung nach dem tatsächlichen Empfängerverständnis würde den Erklärenden darüber hinaus auch der Möglichkeit berauben, die von seiner Er­ klärung ausgelöste Veränderung seiner Rechtslage nach Vornahme des Rechtsge­ schäfts sicher einschätzen zu können. Welchen Sinn der Empfänger mit der Erklä­ rung tatsächlich verbindet, kann der Erklärende nicht nur bei Abgabe der Erklärung nicht mit Sicherheit prognostizieren66, sondern meist auch nach Zugang der Erklä­ rung nicht sicher wissen, weil ihm hierfür die notwendigen Informationen fehlen. Fehldeutungen des Empfängers würden somit nicht nur die Selbstbestimmungs­ funktion der Willenserklärung beeinträchtigen, sondern überrumpeln den Erklä­ renden zudem potentiell mit einem für ihn nicht erkennbaren Geschäftsinhalt, den der Empfänger mit allen (typischerweise nur ihm zugänglichen) Beweismitteln durchsetzen könnte. Der Erklärende bekäme wegen des Missverständnisses des Empfängers nicht nur potentiell seinen Willen nicht, sondern würde obendrein auch noch von einer für ihn nicht ersichtlichen Rechtslage überrascht. Bezüglich des letzteren Interesses stehen sich Erklärender und Empfänger völlig gleich. Nur der Erklärende hat ein Interesse an der Durchsetzung seines Rechtsfol­ 63  Faust, AT (2016), §  2 Rn.  9; Canaris/Grigoleit, in: European Civil Code (2011), 587 (591); Scherner, AT (1995), 87; vorsichtiger auch E. Schmidt/‌Brüggemeier, Grundkurs (2002), 75: „wohl vom Gedanken rechtsgeschäftlicher Autonomie nicht gedeckt“. 64  Vgl. Mot. I (1888, 2000), 168 = Mugdan I (1899), 438, wo als Grund für die Gesetz geworde­ ne Empfangstheorie angeführt wird, der Empfänger dürfe das Wirksamwerden der Erklärung nicht durch Verweigerung der Kenntnisnahme verhindern. Ebenso v. Tuhr, AT II/1 (1914, 1957), 435. 65  Wie hier Oertmann, Rechtsordnung (1914), 115. Vgl. ferner Henle, Lb. I (1926), 64 f.: wenn ein „Verstandenwerden“ verlangt würde für die Auslegung statt der Verständlichkeit, dann müsste „hinsichtlich der Zeichen selbst der Zugang durch Wahrnehmung verdrängt werden“. 66  Köhler, AT (2015), §  9 Rn.  7.

III. Die normative Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont

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gewillen, beide haben aber ein Interesse an einer von Missverständnissen des Geg­ ners unberührten Grundlage zur Einschätzung der durch die Erklärung beeinfluss­ ten Rechtslage, um ihr Verhalten daran orientieren zu können. In Teil II und III wird sich dieses im Kontext der Auslegung viel zu selten beachtete67 und nicht mit dem Selbstbestimmungsinteresse des Erklärenden identische Interesse beider Beteilig­ ten noch als folgenreich erweisen.68

4. Ergebnis: Verteilung der Missverständnisrisiken als Kernproblem Die Gegenüberstellung der Interessen beider Beteiligter zeigt, dass das „Kardinal­ problem der Rechtsgeschäftsordnung“69 bei empfangsbedürftigen Willenserklärun­ gen darin besteht, auf Störungen der Verständigung zwischen den Beteiligten zu reagieren. Den Regeln über die Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärun­ gen kommt eine Schlüsselrolle für die gerechte Verteilung von Missverständnisrisi­ ken zu.70 Da potentiell jeder der beiden Beteiligten für das schadensstiftende Miss­ lingen der Verständigung verantwortlich sein kann, verbietet es sich, bei der Be­ stimmung des Erklärungssinns einseitig vom Verständnis eines der beiden Beteiligten auszugehen. Die beiden im Folgenden dargestellten Methoden der dua­ listischen Auslegungslehre sollen in ihrem Zusammenspiel eine insgesamt ange­ messene Antwort auf den beschriebenen Interessenkonflikt der Beteiligten finden.

III. Die normative Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont 1. Der Grundgedanke: Verteilung des Missverständnisrisikos nach wertenden Gesichtspunkten Die normative Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont versucht den Interessenkonflikt zwischen den Beteiligten zu bewältigen, indem sie das Risiko von Störungen der Kommunikation nach wertenden („normativen“) Gesichtspunk­ ten unter den Beteiligten verteilt. Zu diesem Zweck wird die Auslegung von den tatsächlichen inneren Verständnissen der Beteiligten losgelöst und „objektiviert“.71 67  Die Lehre bringt die Erklärendenrolle meist nur mit dem Prinzip der Privatautonomie in Verbindung. Wie hier aber Kramer, Grundfragen (1972), 49 f.; Simonius, FG Basler Juristenfakul­ tät (1942), 233 (235); Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 (185 f.), dem Frotz, Verkehrsschutz (1972), 420 in Fn.  1016 zustimmt. Vgl. auch Scherner, AT (1995), 87 mit der Bemerkung, „dass auch der Erklärende von [der] Kommunikationsfunktion“ der Erklärung ausgehe. 68  Siehe insb. noch eingehend §  9 I 1 b. 69  Frotz, Verkehrsschutz (1972), 408. 70 Zurückhaltender Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  2 , demzufolge dies „auch“ ein Ziel der Auslegung ist. 71  Hepting, Ehevereinbarungen (1984), 245; Reinicke, JA 1980, 455.

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§  3 Das dualistische Auslegungsmodell

An die Stelle der empirischen Verständnisse tritt mit der „objektiven Bedeutung“ eine Größe, die „kein reales Element eines konkreten menschlichen Bewußtseins“72 ist, sondern ein wertendes Urteil des Rechtsanwenders, das an die äußeren Umstän­ de des Erklärungsvorgangs anknüpft. Leitend ist dabei die Frage, wie der Empfän­ ger, für den die Mitteilung bestimmt ist und dessen Informationsbedürfnis durch sie befriedigt werden soll, die Erklärung verstehen musste. Das dadurch erzielte Auslegungsergebnis entfaltet seinen risikoverteilenden Ef­ fekt durch die an die Auslegung anknüpfenden Rechtsfolgen. Die Erklärung gilt regelmäßig zunächst einmal mit ihrem normativ bestimmten Inhalt als verbindliche Willenserklärung, deren Rechtsfolge beide Beteiligte geltend machen können. Wer die Erklärung gemessen an den normativen Kriterien „richtig“ versteht, ist dadurch in seinem Vertrauen auf den Inhalt der Erklärung geschützt, während Vertrauen auf einen abweichenden Inhalt ungeschützt bleibt und der Betroffene sich unversehens mit einem unerkannten Geschäftsinhalt konfrontiert sieht. Das Gesetz räumt dem Erklärenden zwar im Hinblick auf die Funktion der Wil­ lenserklärung als Mittel der Selbstbestimmung die Möglichkeit ein, eine Erklärung mit einem tatsächlich nicht gewollten Inhalt anzufechten (§§  119 I, 120 BGB i. V. m. §  142 I BGB), oder erklärt sie ausnahmsweise sogar für ipso iure nichtig (§  118 BGB). Die Auslegung beschäftigt sich daher „nur mit der Deutung der Erklärung, nicht mit dem ‚Festhalten‘ an dem Gedeuteten“73. Als Instrument zur Verteilung von Missverständnisrisiken wirkt sie aber auch dann noch fort, falls der Erklärende nicht „festgehalten“ wird. Der Empfänger kann nämlich nach §  122 BGB den Ersatz von Schäden verlangen, die er im berechtigten Vertrauen auf den Bestand der Erklä­ rung mit ihrem normativ ermittelten Erklärungswert erlitten hat. Die normative Auslegung steuert dadurch mittelbar über die Schadenszurechnung im Rahmen des §  122 BGB die Verteilung der Missverständnisrisiken74 und bleibt so auch im Falle der Anfechtung bedeutsam75.

72 

Heck, AcP 112 (1914), 1 (40). Himmelschein, Beiträge (1930), 24 f. 74  Lobinger, Verpflichtung (1999), 142 f., der in der Zurechnung von (Vertrauens‑)‌Schäden sogar die alleinige Aufgabe der normativen Auslegung sieht. 75  A. A. M. Wolf, in: Europäische Vertragsrechtsvereinheitlichung (2000), 85 (94 f.), der meint, durch die Irrtumsanfechtung werde die Lehre vom objektiven Empfängerhorizont untergraben, indem der damit bezweckte Vertrauensschutz zerstört und sie auf eine Instrument zur Beantwor­ tung der Frage reduziert werde, wer anfechten muss. Der durch die normative Auslegung verwirk­ lichte Vertrauensschutzgedanke ist indes „hinsichtlich der Alternativen Erfüllungshaftung und Schadensersatz indifferent“ (Singer, Selbstbestimmung [1995], 110) und wird deshalb von der An­ fechtungsmöglichkeit zugunsten des Irrenden nicht berührt. 73 

III. Die normative Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont

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2. Die Vorgehensweise bei der normativen Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont Die normative Auslegung ist die idealtypische Nachbildung des Erkenntnisprozes­ ses, mit dem sich auch im Alltag ein Empfänger zu erschließen versucht, was ihm der Erklärende mitteilen wollte, d. h. welche Rechtsfolgen er in Geltung setzen woll­ te. Das dafür genutzte Erkenntnisverfahren ist ein auch der alltäglichen Kommuni­ kation zugrundeliegender Indizienschluss76: Aus dem „willensindizierende[n] Ge­ samtverhalten des Erklärenden“77 wird anhand von Erfahrungssätzen auf den hinter der Erklärung stehenden Willen rückgeschlossen.78 Zur Durchführung dieses Ver­ fahrens wird ein hypothetischer objektiver Empfänger an die Stelle des realen ­Empfängers gesetzt.79 Drei von rechtlichen Wertungen geprägte Parameter deter­ minieren das vom objektiven Empfänger erzielte Ergebnis: das von ihm verfolgte Erkenntnisinteresse (dazu unter a), die von ihm als Auslegungsmaterial zu verwer­ tenden Informationen (dazu unter b) und die Anforderungen an seine Auslegungs­ arbeit (dazu unter c). Die wesentlichen Unterschiede zu einer natürlichen Methode der Auslegung, die den Willen des Erklärenden als innere Tatsache entscheiden lässt, ergeben sich dabei insbesondere aus der Beschränkung des verwertbaren Aus­ legungsmaterials. Im Übrigen bestehen erhebliche Gemeinsamkeiten, insbesondere was das Erkenntnisinteresse des Auslegungsprozesses angeht. a) Das Erkenntnisinteresse: Der wirkliche Wille des Erklärenden aa) Der wirkliche Wille als Idealziel der normativen Auslegung Die äußeren „objektiven“ Umstände des Erklärungsvorgangs (Urkunden, Vorver­ handlungen etc.), die im Zusammenhang mit der normativen Auslegung empfangs­ bedürftiger Willenserklärungen meist in den Vordergrund gerückt werden, sind auch bei dieser Auslegungsmethode nur von mittelbarem Interesse.80 Der objektive 76 Vgl.

Eckardt, BB 1996, 1945 (1948); Singer, Selbstbestimmung (1995), 46. Hepting, Ehevereinbarungen (1984), 240. 78  Schwarze, AcP 202 (2002), 607 (616) meint, der Indizwert äußeren Verhaltens für den inne­ ren Willen sei „seiner ontologischen Struktur nach etwas anderes als der Erklärungswert einer echten Willenserklärung“. Schwarze geht es um die Unterscheidung zwischen der Erschließung eines Rechtsfolgewillens ohne Kundgabewusstsein bei den sog. (nicht empfangsbedürftigen) Wil­ lensbetätigungen (z. B. gem. §  151 S.  1 BGB) und dem intendierten Sinn absichtlich kundgegebe­ ner echter Willenserklärungen. Es dürfte aber kaum zweifelhaft sein, dass auch der intendierte Sinn „echter“ empfangsbedürftiger Willenserklärungen per Indizienschluss aus äußeren Umstän­ den (Erklärungszeichen und Begleitumstände) erschlossen werden muss. Das Erkenntnisverfah­ ren des Indizienschlusses bleibt dasselbe, nur die erschlossene geistige Größe ist eine andere als bei Willensbetätigungen, da bei „echten“ Willenserklärungen sich auch ein auf Willensmitteilung gerichtetes intentionales Moment aus den Indiztatsachen ergeben muss. 79  Faust, AT (2016), §  2 Rn.  9, 10; Rüthers/Stadler, AT (2014), §  18 Rn.  12. 80 Vgl. Schapp, Grundfragen (1986), 40. 77 

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§  3 Das dualistische Auslegungsmodell

Empfänger als Maßstabsfigur muss das von ihm verwertete Auslegungsmaterial stets unter dem Gesichtspunkt ausdeuten, was es über den wirklichen Willen des Erklärenden verrät.81 Die gesuchte objektive Bedeutung ist der aus den verwerteten Informationen sich ergebende vermeintliche wirkliche Wille des Erklärenden.82 Konzeptionell bleibt die normative Auslegung dadurch mittelbar auf den wirklichen Willen des Erklärenden als historische psychische Tatsache bezogen, auch wenn es nicht um deren tatsächliche Feststellung geht. Aufgrund der noch unter b) zu be­ sprechenden künstlichen Einengung der Informationsbasis ist der wirkliche Wille nur noch das „Idealziel der Auslegung“83, das die Richtung des Deutungsverfahrens vorgibt. Ohne dieses Idealziel bliebe undefiniert, was der objektive Empfänger mit dem herangezogenen Auslegungsmaterial anfangen soll. Dieses Verständnis des wirklichen Willens als bloßes „Idealziel“ ermöglicht es, den häufig angenommenen Widerspruch zwischen der normativen Auslegungsme­ thode und §  133 Hs.  1 BGB aufzulösen, ohne die Norm hierfür korrigieren zu müs­ sen. Der Widerspruch wäre unauflöslich, wenn die Aufforderung zur Erforschung des wirklichen Willens als Gebot der Feststellung des wirklichen Willens mit allen Mitteln begriffen würde.84 Denn die normative Auslegungsmethode produziert kein empirisches Urteil über den historischen Willen. Liest man das Erforschungs­ gebot hingegen in einem deutlich bescheideneren Sinne als die Aufforderung an den Auslegenden, in dem (ggf. künstlich beschränkten) Auslegungsmaterial nach dem sich daraus ergebenden wirklichen Willen zu suchen, also als Umschreibung des Idealziels jedweder erläuternden Auslegung, so ist damit der angebliche Wider­ spruch beseitigt.85 bb) Keine tatsächliche Willensfeststellung bei der normativen Auslegung Der Unterschied zwischen dem wirklichen Willen als „Idealziel“ der normativen Auslegung einerseits und als für diese Methode irrelevante historische Tatsache 81  Arnold, in: Erman (2014), §  133 Rn.  19: Empfänger hat bei der normativen Auslegung „die Erklärung auszulegen, um den wirklichen Willen des Erklärenden zu ermitteln“; Larenz/M. Wolf, AT (2004), §  28 Rn.  11: „[A]uch aus der Sicht des Empfängerhorizonts und der verkehrstypischen Auslegung ist das Ziel auf die Erforschung des Gemeinten und Gewollten ausgerichtet.“ Siehe schon Heck, AcP 112 (1914), 1 (42 a. E.), der die objektive Auslegung als „Spiegel einer vorgestell­ ten historischen Auslegung“ konzeptioniert und hierzu ausführt: „Auch in dem Spiegelbilde wird nach den Vorstellungen des Urhebers der Erklärung gefragt.“ 82 Vgl. Jahr, JuS 1989, 249 (251): das „vermeintlich Gewollte[ ]“; Rhode, Willenserklärung (1938), 32: der „nach äußeren Anhaltspunkten zu vermutende Wille“. 83  Singer, Selbstbestimmung (1995), 46. 84  So eine verbreitete Lesart: Busche, in: MünchKommBGB (2015), §  133 Rn.  53; Schiemann, in: Staudinger-Eckpfeiler (2014), C Rn.  43; Trupp, NJW 1990, 1346 unter I; Larenz, Methode (1930, 1966), 5 f. 85 Vgl. Scherner, AT (1995), 95 f., der auf den insoweit offenen Wortlaut hinweist; Kellmann, JuS 1971, 609 (610); Henle, Lb. I (1926), 74. Siehe auch Hefermehl, in: Soergel (1999), §  133 Rn.  10; Krüger-Nieland/‌Zöller, in: RGRK (1982), §  133 Rn.  4 a. E.; Enneccerus/‌Nipperdey, AT I/2 (1960), 1249: Forschungsgebot keine Festlegung der Verbindlichkeit des Willens.

III. Die normative Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont

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andererseits wird nicht selten verkannt. So vertrat insbesondere Manigk in seinen zahlreichen Schriften zur Auslegung mit Nachdruck die Auffassung, für die Ausle­ gung müsse stets zunächst der wirkliche Wille ermittelt werden.86 „Die Frage, wel­ chen maßgebenden Erklärungswert das Verhalten des Erklärenden hat, (…) kann nicht beantwortet werden, ohne daß der wirkliche Wille berücksichtigt ist.“87 In ei­ ner führenden Kommentierung zu §  133 BGB heißt es in diesem Sinne noch heute: „Erst wenn man um das Gewollte weiß, kann man untersuchen, ob es auch erkenn­ bar war.“88 Diese Beschreibungen werden der Herangehensweise der normativen Ausle­ gungsmethode nicht gerecht. Bei der normativen Auslegung kommt es nicht darauf an, ob ein konkreter historischer Wille erkennbar geworden ist, sondern von wel­ chem vermeintlichen Willensinhalt der Empfänger aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Informationen auszugehen hatte.89 Letztere Frage kann und muss selbst dann beantwortet werden, wenn der tatsächliche historische Wille des Erklärenden unbekannt ist.90 Der vermeintliche Wille setzt sich selbst dann durch, wenn der historische Wille nachgewiesenermaßen ein anderer war. Die Willenserklärung ist nicht unwirksam, wenn tatsächlicher Wille und vermeintlicher Wille nicht kongru­ ent sind91, sondern sie gilt (ggf. anfechtbar92) mit dem Inhalt des vermeintlichen wirklichen Willens. Die Feststellung des tatsächlichen wirklichen Willens ist ein für die Zwecke der normativen Auslegung überflüssiger Umweg93, der sich selbst mit der feinsinnigen Unterscheidung zwischen der „Berücksichtigung des inneren Willens“ als Ausle-

86  Manigk, Irrtum (1918), 197 ff.; ders., JherJb 75 (1925), 127 (174 ff.); ders., HdWbRw (1926), 439 (Stichwort: Irrtum); ders., JW 1930, 2193 (2195, 2197); ders., ARWP 26 (1932/33), 359 (370). Im Sinne der hier vertretenen Auffassung dagegen ders., Verhalten (1939), 204: „Indessen gilt der §  133 in dem Sinne für den Adressaten, daß er die Erklärung und alle ihm zugänglichen Neben­ umstände allein unter dem Gesichtspunkt zu werten hat, daraus den wirklichen Willen des Erklä­ renden zu erschließen; d. h. er hat alles nur in der Richtung zu beurteilen, auf welchen wirklichen Willen es hindeute.“ 87  Manigk, JW 1930, 2193 (2195). 88  Busche, in: MünchKommBGB (2015), §  133 Rn.  13 a. E. Siehe auch Vogenauer, in: HKK‑BGB (2003), §§  133, 157 Rn.  57: Seit der Geltung des §  133 BGB müsse „nach fast allgemeiner Ansicht auch der innere Wille des Erklärenden bei jeder rechts­ geschäftlichen Interpretation herangezogen werden“. 89  Jacobi, JherJb 70 (1921), 110 (112). 90 Auch Manigk, ARWP 26 (1932/33), 359 (370) will dann eine objektive Sinndeutung vorneh­ men. Warum dies hier möglich sein soll, ansonsten aber nicht, erläutert er nicht. 91  Verfehlt deshalb Manigk, Irrtum (1918), 208, der die Prüfung der Kongruenz von innerem Willen und erklärtem Willen für nötig hält, um „die Wirksamkeit des erklärten Willens festzustel­ len“. 92  Bei der normativen Auslegung spielt der wirkliche Wille als historische Tatsache nur nach­ gelagert im Rahmen einer etwaigen Anfechtung des Erklärenden eine Rolle, da der vom Erklä­ rungssinn divergierende historische innere Wille Definitionsmerkmal des Irrtums ist, vgl. Bork, AT (2016), Rn.  548 in Fn.  61. 93  So auch Henle, Lb. I (1926), 75.

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§  3 Das dualistische Auslegungsmodell

gungskriterium und seiner „Verbindlichkeit im Einzelfall“ nicht rechtfertigen lässt.94 Solange der Boden der normativen Auslegung nicht verlassen wird, darf die Berücksichtigung des historischen wirklichen Willens nicht nur nicht im Einzelfall, sondern niemals zu einem Ergebnis führen, das nicht auch ohne seine Berücksich­ tigung erreichbar ist.95 Wer bei der normativen Auslegung allein deshalb zu einem anderen Ergebnis kommt, weil er den wirklichen Willen des Erklärenden kennt oder zu kennen glaubt, muss etwas falsch gemacht haben. Es müssen dann nämlich auch den historischen Willen offenbarende Informationen berücksichtigt worden sein, die normativ nicht hätten berücksichtigt werden dürfen.96 Anderenfalls hätten die­ se Informationen ohnehin den Weg zum richtigen Ergebnis weisen können. Es ist deshalb zumindest missverständlich, den wirklichen Willen im Rahmen der norma­ tiven Auslegung als ein „Auslegungskriterium“97 oder ein „Auslegungsmittel“98 einzuordnen und ihn dadurch mit anderen Auslegungsmitteln wie Vorverhandlun­ gen, Äußerungen des Erklärenden, dem Wortlaut oder der Interessenlage gleichsam auf eine Stufe zu stellen. Die letztgenannten „Mittel“ dienen schließlich gerade dem Zweck, sich den vermeintlichen wirklichen Willen innerhalb der Schranken der nor­ mativen Auslegung zu erschließen. Wäre der wirkliche Wille als Tatsache ein zuläs­ siges Auslegungsmittel, würden alle mit Rücksicht auf die Verständnismöglichkei­ ten des Empfängers errichteten normativen Schranken des Auslegungsmaterials eingerissen und überflüssig. Prozessual handelt es sich bei dem wirklichen Willen, soweit die normative Aus­ legungsmethode in Rede steht, schlicht um eine unerhebliche Tatsache, zu deren Feststellung ein Richter nicht angehalten ist. Selbst als heuristische Arbeitsformel, die ihm das Auffinden von Umständen erleichtern soll, die den Willen des Erklären­ den für den Empfänger erkennbar gemacht haben99, ist eine vorherige Willensfest­ stellung mit Vorsicht zu genießen. Denn gerade die Kenntnis des tatsächlichen wirklichen Willens kann unbewusst dazu verleiten, diesen Willen in das im Um­ fang möglicherweise normativ stark beschränkte verwertbare Auslegungsmaterial 94  So aber Vogenauer, in: HKK‑BGB (2003), §§  133, 157 Rn.  57: Wer den wirklichen Willen nur bei nicht empfangsbedürftigen Willenserklärungen und ähnlichen Willenserklärungen be­ rücksichtigen wolle, missachte „den Unterschied zwischen den Auslegungskriterien und ihrer Ge­ wichtung: Die bloße Berücksichtigung des inneren Willens sagt noch nichts über seine Verbind­ lichkeit im Einzelfall aus.“ 95 Vgl. Henle, Lb. I (1926), 75. 96  Der historische Wille als „innere Tatsache“ ist nur aus äußeren Tatsachen erschließbar. Wer den inneren Willen in die Auslegung als Auslegungsmittel einbezieht, öffnet damit die Schleuse für die Berücksichtigung aller den historischen Willen offenbarenden Umstände. Himmelschein, Beiträge (1930), 6 f. hält deshalb die Berücksichtigung des inneren Willens für „geradezu schäd­ lich“, denn nichts könne „gefährlicher sein als die Vermengung des normativ wirkenden Tatbe­ standes mit Tatsachen, die der normativen Bedeutung entbehren“. 97  Vogenauer, in: HKK‑BGB (2003), §§  133, 157 Rn.  57. 98  Schimmel, JA 1998, 979 (981). Ablehnend gegenüber der Einordnung des subjektiven Wil­ lens als Auslegungsmittel Kellmann, JuS 1971, 609 (611). 99 Vgl. Kellmann, JuS 1971, 609 (611).

III. Die normative Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont

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überhaupt erst hineinzulesen. Im Sinne eines zutreffenden Ergebnisses wäre viel­ mehr ratsam, sich von Anfang an gegenüber dem wirklichen Willen bzw. den ihn offenbarenden sonstigen Indizien blind zu stellen.100 cc) Idealziel, Privatautonomie und Heteronomie Das Idealziel „wirklicher Wille“ verklammert die normative Auslegungsmethode mit dem Prinzip der Privatautonomie. Flume lehrt in diesem Sinne: „Weil das Rechtsgeschäft die willentliche Gestaltung eines Rechtsverhältnisses kraft Selbstbestimmung ist, muß die Auslegung, auch wenn sie normativ erfolgt, dennoch die rechtsgeschäftliche Erklärung als Manifestation einer willentlichen Gestaltung werten, d. h. danach fragen, welche rechtsgeschäftlichen Folgen als gewollt zu verstehen sind.“101

Würde dagegen das Idealziel der Auslegung wertend modifiziert, indem von An­ fang an ein „vernünftiger“, „redlicher“, „erlaubter“ oder aus anderen Gründen von der Gemeinschaft „gebilligter“ Wille erforscht und damit letztlich normativ vorge­ geben würde102 , dann wäre dadurch „das Prinzip der finalen Selbstbestimmung (…) bereits im Ansatz preisgegeben.“103 Die Referenz auf den wirklichen Willen ver­ sperrt heteronomen Bewertungen den Einfluss auf den Inhalt der Erklärung und verweist sie in den Bereich der lediglich rechtsfolgenhindernden Wirksamkeitshin­ dernisse (vgl. §§  134, 138 BGB). Die Normativierung bei der normativen Auslegung beschränkt sich auf das inhaltsneutrale Ziel, Missverständnisrisiken unter den Be­ teiligten zu verteilen. Heteronome Gesichtspunkte wie Redlichkeit, Erlaubtheit und Vernünftigkeit werden wohl vor allem deshalb häufig mit der normativen Auslegung in Verbindung 100  A. A. Manigk, Irrtum (1918), 207 f., der ein solches Vorgehen als nicht der gerichtlichen Praxis entsprechend zurückweist. Soweit er sich darauf stützt, der Richter nähere sich im Prozess der Auslegung meist nur von den durch die Parteien behaupteten konkreten Willensinhalten her, hat auch dies mit der Maßgeblichkeit des historischen wirklichen Willens nichts zu tun. Es liegt allein an der Struktur des Zivilprozesses, dass der Richter nicht alle denkbaren Auslegungsmög­ lichkeiten zu erwägen hat, sondern nur, ob die Willenserklärung einen ganz bestimmten (und dann auch meist durch die Parteien geltend gemachten) Inhalt hat. Denn es interessieren von vornherein nur die Auslegungsmöglichkeiten, die das Klageziel tragen oder eine Einwendung des Beklagten begründen können. Vgl. Henle, JW 1920, 255, der gegenüber Manigk anbringt, „daß der Rechts­ streit sich auf die von den Parteien vorgebrachten Behauptungen beschränkt“. 101  Flume, AT II (1992), 310, der sich dagegen wendet, insoweit von einer Feststellung des Wil­ lens zu sprechen. Das passe nur „bei einer Auslegung nach dem tatsächlichen Verständnis der an der rechtsgeschäftlichen Erklärung Beteiligten“. 102 So Pawlowski, Folgen (1966), 232 ff., der nicht den psychologischen Willen für maßgebend hält, sondern einen Willen, der „das Recht bereits in sich aufgenommen“ (S.  233) hat. Ablehnend gegenüber einem solchen normativen Willen als Bezugspunkt der Rechtsgeschäftslehre Lobinger, Verpflichtung (1999), 73 f. in Fn.  85; Singer, Selbstbestimmung (1995), 47; Hönn, Kompensation (1982), 20: durch die Loslösung vom realen psychischen Willen werde der „Unterschied zwischen autonomer und etwaiger fremdbestimmter Gestaltung des vertraglichen Interessenausgleichs völ­ lig verwischt“; Säcker, JurAnalysen 1971, 509 (519 ff.). 103  Singer, Selbstbestimmung (1995), 47 gegenüber Pawlowskis Konzept vom „normativen Willen“ (dazu s.o. Fn.  102).

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§  3 Das dualistische Auslegungsmodell

gebracht, weil sie die Grundlage bilden für die allgemeinen Erfahrungssätze, typischerweise sei das Vernünftige, Redliche oder Erlaubte vom Erklärenden gewollt.104 Derartige Vermutungen erfüllen aber lediglich eine dienende Rolle bei der For­ schung nach dem „wirklichen Willen“ als Idealziel.105 Der BGH formuliert dement­ sprechend vorsichtig: „Im Zweifel gilt, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage entspricht.“106 Wo kein Raum für Zweifel ist, weil aus Empfängersicht erkennbar107 unvernünftig, unred­ lich oder unerlaubt gehandelt werden soll, bleibt das Auslegungsergebnis von diesen Vermutungen unbeeinflusst.108 Die genannten Vermutungen sind im Übrigen kein Spezifikum der normativen erläuternden Auslegung. Auch die natürliche Auslegungsmethode ist auf derartige Erfahrungssätze angewiesen. Als innere und noch dazu vergangene109 Tatsache sind der historische wirkliche Wille und das Empfängerverständnis nicht als solche wahrnehmbar, sondern können im Bestreitensfall nur aus äußeren Indizien anhand von Erfahrungsregeln erschlossen werden, zu denen auch die Vernünftigkeits- oder Redlichkeitsvermutung gehört.110 Abgesehen von der abweichenden Verortung der Erfahrungssätze im materiellen Recht einerseits (normative Methode) und bei der Tatsachenermittlung andererseits (natürliche Methode), liegen die Unterschiede in­ soweit lediglich im Umfang des herangezogenen Auslegungsmaterials (dazu unter b) und der normativ bestimmten Anforderungen an die Deutungsdiligenz des Inter­ preten (dazu unter c). Bei der normativen Methode ist auf die beschränkten Ver­ 104 

Singer, Selbstbestimmung (1995), 46, 47; Mansel, in: Jauernig (2015), §  133 Rn.  10. M. Wolf/Neuner, AT (2012), §  35 Rn.  23, die materiale Aspekte, „wie insbesondere Redlichkeitsgesichtspunkte, wohlfahrtsökonomische Effizienzkriterien und die Verkehrssitte“ zwar nicht bei der natürlichen, dafür aber bei der normativen Auslegung berücksichtigen wollen. Das erscheint jedenfalls dann, wenn diese Zielsetzungen vom Erklärenden für den Empfänger er­ kennbar nicht verfolgt werden, kaum haltbar. Die genannten materialen Aspekte sind bestenfalls Hilfsmittel zur Erschließung des wirklichen Willens aus dem vorhandenen Auslegungsmaterial. Als solche können sie sowohl bei der natürlichen als auch bei der normativen Auslegung herange­ zogen werden. 106  BGH, Urteil vom 23.10.2003, BGHZ 156, 335 (346) (Hervorhebung hinzugefügt). Ebenso Mansel, in: Jauernig (2015), §  133 Rn.  10: „IZw“. 107  Wenn es an der Erkennbarkeit der Unvernünftigkeit für den Empfänger fehlt, bleibt nur die Geltendmachung des unvernünftigen wirklichen Willlens durch Anfechtung, Singer, Selbstbe­ stimmung (1995), 47. 108  Medicus/Petersen, BR (2015), Rn.  191; Lobinger, Verpflichtung (1999), 73; Lambrecht, Leh­ re (1994), 101; Oftinger, ZSR 58 (1939), 178 (188 f.); Rhode, AcP 124 (1925), 257 (280 f.). Zur ver­ breiteten a. A. im Zusammenhang mit dem Rechtssprichwort „protestatio facto contraria non va­ let“ siehe noch V 3. 109  G. Grünwald, FS Honig (1970), 53 (60) hebt zutreffend hervor, „daß jede Überzeugungsbil­ dung über historische Geschehnisse über Indizien geschieht“. Die Historizität der inneren Tatsa­ chen ist somit ein weiterer Grund, warum es eines Indizienschlusses bedarf. 110  Siehe BGH, Urteil vom 7.12.2001, NJW 2002, 1038 (1039), der im Rahmen der natürlichen Auslegung einer Vertragsschlusserklärung seine Auslegung damit rechtfertigt, dass „es keinen Hinweis dafür gibt, dass die Verkäuferin abweichend vom Regelfall nicht das Vernünftige wollte (…)“. 105 Abw.

III. Die normative Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont

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ständnismöglichkeiten des Empfängers Rücksicht zu nehmen, dem die tatsächliche Interessenlage des Erklärenden häufig nicht erkennbar sein wird. b) Das Auslegungsmaterial: Der objektive Empfängerhorizont Der zweite die normative Auslegung beeinflussende Parameter ist die Selektion des „Auslegungsmaterials“111 bzw. „Auslegungsstoffs“112 , also der Umstände und In­ formationen, die dem hypothetischen Empfänger als ihm bekannt zugeschrieben werden. Heck hat hierfür die heute allgemein gebräuchliche Bezeichnung „Empfän­ gerhorizont“ eingeführt: „Unter dem Empfängerhorizont verstehe ich die Gesamtheit des Materials, das dem hypo­ thetischen Ausleger zugerechnet wird, sowohl das Umstandswissen wie das Regelwissen, also sowohl die Kenntnis der vorausgegangenen Verhandlungen, begleitenden Umstände, als die Kenntnis von Sprache und Verkehrssitte.“113

Der Empfängerhorizont bezeichnet mit anderen Worten also nicht das subjektive Empfängerverständnis114, sondern ist der Inbegriff des zu verwertenden Ausle­ gungsmaterials. Die dafür herangezogenen Auswahlkriterien steuern maßgeblich die Verteilung des Missverständnisrisikos bei der normativen Auslegung. Informa­ tionen, die nicht in den Empfängerhorizont aufgenommen werden, scheiden aus der Auslegung aus. Sie werden gewissermaßen bei Erforschung des wirklichen Willens des Erklärenden mit einem materialisierten Beweisverwertungsverbot belegt, das es insbesondere dem Erklärenden verwehrt, seinem wahren Willen insoweit bei der Auslegung Beachtung zu verschaffen. Er kann auf solche Umstände – wenn nicht die Voraussetzungen der natürlichen Auslegungsmethode erfüllt sind – allenfalls noch zum Beweis eines Irrtums bei der Anfechtung zurückgreifen.115 Umgekehrt werden zum Empfängerhorizont gehörige Umstände auch dann berücksichtigt, wenn der reale Empfänger sie tatsächlich nicht zur Kenntnis genommen hat oder ihnen nicht die ihnen zukommende Bedeutung beigemessen hat. aa) Die Verständnismöglichkeiten des Empfängers als Auswahlkriterium Würden bei der normativen Auslegung alle Umstände berücksichtigt, die bei der Forschung nach dem Willen des Erklärenden ergiebig sind, dann wäre der beabsich­ tigte Risikoverteilungseffekt nicht zu erreichen. Eine schrankenlose Berücksichti­ gung aller Umstände geriete im Endergebnis zu einer Auslegung anhand des wirk­ lichen Willens des Erklärenden. In der Gesamtheit aller Umstände wären nämlich 111 

Looschelders, in: NK‑BGB (2012), §  133 Rn.  58; Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  78. Schmidt-Salzer, JZ 1995, 223 (228). 113  Heck, AcP 112 (1914), 1 (43). 114  So aber offenbar das Begriffsverständnis von Pawlowski, FS Großfeld (1999), 829 (834). 115 Vgl. Bork, AT (2016), Rn.  548 bei und in Fn.  61. 112 

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§  3 Das dualistische Auslegungsmodell

auch alle Informationen enthalten, die den wirklichen Willen des Erklärenden of­ fenlegen.116 Soweit sich ein innerer Wille überhaupt darlegen und ggf. beweisen ließe, wäre er auch der Inhalt der Erklärung. Dadurch würde entgegen dem Schutzzweck des Zugangserfordernisses das Missverständnisrisiko einseitig dem Empfänger auferlegt. (1) Die herrschende Erkennbarkeitsformel des objektiven Empfängerhorizonts Um dem Zweck des Zugangserfordernisses Rechnung zu tragen, stellt man bei der Abgrenzung des Auslegungsmaterials auf „Horizont und Verständnismöglichkeiten des Empfängers“117 ab. Die Verständnismöglichkeiten des Empfängers wirken da­ bei nach herrschender Lehre maßstabsbildend in zwei Richtungen. Einerseits sind nur Umstände zu berücksichtigen, deren Berücksichtigung vom Empfänger bei der Auslegung erwartet werden kann. Dies gewährt dem Empfänger den notwendigen Schutz vor Rechtswirkungen, mit deren Eintritt er normativ betrachtet nicht rech­ nen kann. Andererseits soll er aber auch alle diese Umstände berücksichtigen müs­ sen, da von ihm erwartet wird, sich im Rahmen seiner Verständnismöglichkeiten darum zu bemühen, den Erklärenden richtig zu verstehen und sich nicht blind auf den Wortlaut der Erklärung zu verlassen.118 Zur Umschreibung der Verständnis­ möglichkeiten bedient sich die Lehre vom Empfängerhorizont meist der sog. Er­ kennbarkeitsformel, die den Empfängerhorizont im gerade beschriebenen Sinne sowohl nach oben als auch nach unten begrenzt: „Für die Auslegung sind nur solche Umstände heranzuziehen, die dem Erklärungsemp­ fänger bekannt oder erkennbar waren.“119

116  Manigk, Willenserklärung (1907), 428 mit dem Hinweis, bei „Heranziehung aller Umstän­ de“ könne sich der Erklärende schon bei der Auslegung darauf berufen, „daß sein wahrer Wille, wie sich aus jenen Indizien ergebe“, ein anderer gewesen ist. 117  BGH, Urteil vom 9.12.2010, NJW‑RR 2011, 309 Tz.  17. 118  BGH, Urteil vom 21.8.2008, 2702 Tz.  30; BAG, Urteil vom 15.12.2005, NJW 2006, 2284 Tz.  24; Busche, in: MünchKommBGB (2015), §  133 Rn.  28; Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  18. Eine Kritik dieser Festlegung auf die Berücksichtigung aller erkennbaren Umstände erfolgt hier in §  14. 119  BGH, Urteil vom 5.10.2006, NJW 2006, 3777 Tz.  18 (Hervorhebung hinzugefügt). So auch BGH, Urteil vom 9.12.2010, NJW‑RR 2011, 309 Tz.  17; Urteil vom 17.12.‌2009, NJW 2010, 1592 Tz.  17; Ellenberger, in: Palandt (2016), §  133 Rn.  9, 15; Busche, in: MünchKommBGB (2015), §  133 Rn.  28; Musielak/Hau, Grundkurs BGB (2015), Rn.  136 a. E.; M. Wolf/Neuner, AT (2012), §  35 Rn.  7; Ahrens, in: Prütting/‌Wegen/‌Weinreich (2013), §  133 Rn.  34; Bickel, Methoden (1976), 153. Zu eng Dörner, in: HK‑BGB (2014), §  133 Rn.  8: nur soweit sie dem Empfänger „bekannt“ waren. Ohne nähere Begründung abweichend Riehm, AT (2015), Rn.  192, der darauf abstellt, ob ein Um­ stand „sowohl dem Empfänger als auch dem Erklärenden bekannt“ war. Soweit Riehm durch die kumulative Berücksichtigung der Erklärendenperspektive möglicherweise auch dessen Verständ­ nismöglichkeiten Rechnung will, stimmt dieser Ansatz in seinem Grundanliegen mit der hier in §  14 vertretenen Korrektur des Empfängerhorizonts überein.

III. Die normative Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont

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„[Der Empfänger] hat also anhand aller ihm bekannten oder erkennbaren Umstände den Sinn der Erklärung zu erforschen.“120

Die Erkennbarkeit ist das ausschlaggebende Kriterium für den Umfang der künstli­ chen Beschränkung des verwertbaren Auslegungsmaterials, da dem Empfänger ­bekannte Umstände in jedem Fall auch erkennbar waren.121 Bei gegebener Erkenn­ barkeit gilt das vom Gesetz anerkannte Informationsbedürfnis des Empfängers nor­ mativ als befriedigt, selbst wenn der reale Empfänger die ihm zugerechnete Infor­ mation nicht zur Kenntnis nimmt oder daraus nicht die gebotenen Schlüsse zieht. „Erkennbarkeit“ ist ein unscharfer Begriff, der weiterer Konkretisierung bedarf. Zur näheren Umschreibung findet sich in Rechtsprechung und Lehre ein bunter Strauß an Formulierungen, deren Gemeinsamkeit darin liegt, die Erkennbarkeit an­ hand „normative[r] Anforderungen an die Sorgfalt des Interpreten“122 zu bemessen. So heißt es etwa, „nur Umstände, die bei gebotener Sorgfalt hätten erkannt werden müssen“123 oder „alle Erkenntnismöglichkeiten, die dem Erklärungsempfänger bei gehöriger Anstrengung zur Verfügung standen“124, seien zu berücksichtigen. Ange­ sichts dieser Formulierungen „drängt sich die Parallele zum Fahrlässigkeitsbegriff auf“125, zumal nicht selten auch von „Kennenmüssen“ die Rede ist126, das in §  122 II BGB als Unkenntnis „in Folge von Fahrlässigkeit“ legaldefiniert ist. Die Auslegungserkennbarkeit ist allerdings nicht vollständig auf Verschul­ denskriterien reduzierbar, sondern zumindest teilweise auch Ergebnis einer ver­ schuldensunabhängigen Risikoverteilung nach Verantwortungssphären.127 Dies folgt mittelbar aus §  130 BGB, der die Erklärung – und damit eines der wichtigsten Auslegungsmittel – dem Empfänger selbst dann als bekannt zurechnet, wenn er sie nach dem Hineingelangen in seinen Machtbereich schuldlos nicht zur Kenntnis neh­ men konnte, weil außenstehende Dritte128 oder auch Personen aus der Sphäre des Empfängers129 die Erklärung zerstören oder verfälschen. Diese Wertung würde ausgehöhlt, falls die Erklärung zwar auf der Ebene des Wirksamwerdens als zuge­ 120 

Busche, in: MünchKommBGB (2015), §  133 Rn.  28 (Hervorhebung hinzugefügt). auf die Erkennbarkeit stellen wohl deshalb ab BGH, Urteil vom 24.6.1988, NJW 1988, 2878 (2879); Urteil vom 12.3.1992, NJW 1992, 1446 a. E.; Bork, AT (2016), Rn.  527, 549; Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  18; Hefermehl, in: Soergel (1999), §  133 Rn.  14. 122  Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  18. 123  Lehmann/Hübner, AT (1966), 211. Ähnlich Hübner, AT (1996), Rn.  748. 124  Busche, in: MünchKommBGB (2015), §  133 Rn.  28. 125  Lüderitz, Auslegung (1966), 286. 126  So bei Köhler, AT (2015), §  9 Rn.  7; Sosnitza, JA 2000, 708 (714); Schimmel, JA 1998, 979 (985); Schellhammer, Zivilrecht (1999), Rn.  1975; Probst, JZ 1989, 878 (882); Krüger-Nieland/‌Zöller, in: RGRK (1982), §  133 Rn.  21; Schmidt-Salzer, JR 1969, 281 (287). Auf §  122 II BGB bezieht sich auch Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  18 a. E. Vgl. auch Leenen, AT (2015), §  5 Rn.  61. 127  So auch Bork, AT (2016), Rn.  527 in Fn.  23. 128  Beispiel (nach Faust, AT [2016], §  2 Rn.  22): Der zur Abendzeit in den Briefkasten gelegte Brief wird in der Nacht durch von Dritten eingeworfene Feuerwerkskörper zerstört, bevor die Kenntnisnahme vom Empfänger erwartet werden kann. 129  Vgl. insoweit Marburger, AcP 173 (1973), 137 (142 f., 157) zur verschuldensunabhängigen „Risikohaftung“ des Empfängers für Fehler des Empfangsboten. 121  Allein

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§  3 Das dualistische Auslegungsmodell

gangen behandelt würde, ihr Inhalt aber stets als nicht „erkennbar“ gewertet würde, weil der Empfänger sie ohne Schuld nicht kannte. Insofern stecken im Begriff der Erkennbarkeit auch Risikoelemente zu Lasten des Empfängers.130 Eine nähere Aus­ einandersetzung mit dem bislang weitgehend unausgeleuchteten Erkennbarkeitsbe­ griff, zu der auch Fragen nach dem „Vergessendürfen“ einmal bekanntgewordener Verständnismöglichkeiten und der Reichweite der Informationsbeschaffungsoblie­ genheiten des Empfängers131 gehören würden, ist hier nicht beabsichtigt. Die fol­ gende Untersuchung setzt den Erkennbarkeitsbegriff voraus. (2) Die Individualität des Empfängerhorizonts – Abgrenzung zu generalisierenden Auslegungslehren (insbesondere zur Wortlautauslegung) Im Hinblick auf Missverständnisse und Verwechslungen, die im kritischen Teil der Untersuchung eine große Rolle spielen werden, ist bereits an dieser Stelle eine be­ stimmte Eigenschaft der herrschenden Auslegungslehre hervorzuheben, die nicht selten übersehen wird. Eine für die Lehre vom objektiven Empfängerhorizont wich­ tige Weichenstellung ist der hinter dem Erkennbarkeitskriterium stehende individuelle Auslegungsansatz132 , der die „Umstände des Einzelfalls“ anhand der individu130 Vgl. Kellmann, JuS 1971, 609 (615), der insoweit von einer Gefährdungshaftung des Emp­ fängers spricht. Brehmer, Wille (1992), 120 ff. meint ebenfalls, der Empfänger trage „innerhalb des Bereichs seiner ‚Empfängerhoheit‘ nicht nur das Risiko des Zugangs“, sondern ihn treffe „in glei­ cher Weise auch das Auslegungsrisiko, soweit es um Auslegungsumstände geht, die seiner Sphäre, also seinem Zurechnungsbereich zuzurechnen sind“. Ferner schon v. Tuhr, AT II/1 (1914, 1957), 541 bei und in Fn.  41, der dem Empfänger im Rahmen der normativen Auslegung frühere Mitteilungen des Erklärenden zurechnet, die ihm „zugegan­ gen, aber nicht zur Kenntnis gekommen sind“ (zust. Henle, Lb. I [1926], 68 in Fn.  16). 131 Hierzu Looschelders, in: NK‑BGB (2012), §  133 Rn.  48, der auf die Zumutbarkeit der Infor­ mationsbeschaffung für den Empfänger abstellt. 132 Siehe Meier-Hayoz, Vertrauensprinzip (1948), 22: „Individualisierung“ statt „Generalisie­ rung“, 25. Ferner Thomale, Leistung (2012), 85; Hepting, Ehevereinbarungen (1984), 245: Empfän­ gerhorizont ist „konkreter, individueller als der Horizont des ‚durchschnittlichen Verkehrsteilneh­ mers‘“; Stathopoulos, FS Larenz (1973), 357 (364): „individuell-objektive Bedeutung“; Weiss, Falsa demonstratio (1963), 5 f. Von „individueller Auslegung“ im Gegensatz zu „genereller Auslegung“ sprechen auch Titze, Mißverständnis (1910), 91 ff. und v. Tuhr, AT II/1 (1914, 1957), 535 ff. Beide meinen, empfangsbe­ dürftige Willenserklärungen müssten immer zunächst generell, d. h. beschränkt auf den Wortlaut und Verkehrssitte, und erst in einem zweiten Schritt individuell unter Einbeziehung weiterer be­ sonderer Umstände ausgelegt werden (krit. F. Leonhard, AcP 120 [1922], 14 [33]; vgl. auch Titze, RvglHdWb V [1936], 842, der die Reihenfolge umdreht). Ähnliche Anschauungen prägen bis heu­ te die Rechtsprechung, die bei der Auslegung zunächst vom Wortlaut ausgeht und erst im zweiten Schritt Begleitumstände einbeziehen möchte (siehe nur BGH, Urteil vom 19.1.2000, NJW‑RR 2000, 1002 [1003] m.w.Nachw.). Eine abstrakte Rangfolge oder Abstufung des Auslegungsmaterials ist jedoch nicht anzuerken­ nen: Bei der praktischen Durchführung der Auslegung mag es zwar häufig „denkökonomisch“ zweckmäßig sein, sich den Sinn der Erklärung ausgehend vom Wortlaut und Verständnis der All­ gemeinheit zu erschließen (Busche, in: MünchKommBGB [2015], §  133 Rn.  59). Prozessual kann die Unterscheidung zudem Bedeutung erlangen für die Frage, wer Umstände darlegen und bewei­ sen muss, die eine von Wortlaut und Verkehrssitte abweichende Auslegung tragen. Da aber letzt­

III. Die normative Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont

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ellen Verständnismöglichkeiten des konkreten Empfängers der Erklärung einbe­ zieht133. Das Auslegungsmaterial beschränkt sich nicht auf die der Auslegung unterworfenen Erklärungszeichen, sondern erstreckt sich grundsätzlich auch auf weitere „Begleit- und Nebenumstände“ und die „Vorgeschichte“. Prinzipiell sind bei der normativen Auslegung alle ergiebigen Willensindizien zu berücksichtigen, d. h. alle Umstände, die einen Rückschluss auf den Sinngehalt der Erklärung zulassen134, soweit sie nur für den Empfänger erkennbar waren. Im Sinne dieser individuellen Auslegung fordert etwa der BGH eine „Auslegung anhand der Gesamtumstände“135 bzw. eine „alle Umstände berücksichtigende Auslegung“136. Nicht die Verständnis­ möglichkeiten eines beliebigen außenstehenden Dritten sind entscheidend, sondern diejenigen des konkreten Empfängers.137 Dieser individuell-normative Auslegungsansatz ist das theoretische Gegenmo­ dell zu einer generalisierenden Auslegung, die anhand formaler Kriterien einen mehr oder weniger großen Teil der ergiebigen und für den Empfänger auch erkenn­ baren Umstände ausblendet und so zu dem Erklärungssinn gelangt, den eine Erklä­ rung dieser Art im Allgemeinen bzw. für die Allgemeinheit oder einen unbeteilig­ ten Dritten hat.138 Eine extreme Ausprägung generalisierender Auslegung ist die reine Wortlautauslegung, die keine anderen Umstände als die im Erklärungsträger (z. B. Vertragsurkunde; gesprochenes Wort) enthaltenen Zeichen und Laute verwer­ tet und nach Maßgabe der allgemeinen Sprachregeln ermittelt, wie „man“ die Äuße­ rung des Erklärenden zu verstehen hat. Das BGB entscheidet sich mit dem Verbot, bei der Auslegung „am buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften“ (§  133 Hs.  2 BGB), ausdrücklich gegen den rechtshistorisch nicht unbekannten139 formalisti­ lich erst eine Gesamtschau des gesamten individuell abgegrenzten Auslegungsmaterials den Aus­ schlag gibt, besteht materiell-rechtlich kein Vorrang von Wortlaut und Verkehrssitte. „Alle Vor­ gänge zwischen den Parteien, Erklärungen wie begleitende Umstände sind gleichwertig“ (Häsemeyer, Form [1971], 127) und stehen als Auslegungsmaterial auf einer Stufe. Eingehend ge­ gen eine materielle Vorrangstellung des Wortlauts bei der Auslegung Vonkilch, in: Klang, ABGB (2011), §  914 Rn.  138 ff. zum österreichischen Recht. 133  Siehe nur Leipold, AT (2015), §  15 Rn.  13; Hefermehl, in: Soergel (1999), §  133 Rn.  25; Hübner, AT (1996), Rn.  747; Wieling, Jura 1979, 524 (525). 134 Siehe die entsprechende Umschreibung der „Ergiebigkeit“ des Auslegungsmaterials bei BGH, Urteil vom 19.1.2000, NJW‑RR 2000, 1002 (1003); BGH, Urteil vom 20.6.2002, NJW 2002, 2872 (2873); Ellenberger, in: Palandt (2016), §  133 Rn.  15; Looschelders, in: NK‑BGB (2012), §  133 Rn.  31. 135  BGH, Urteil vom 19.12.2001, NJW 2001, 1260 (1261). 136 BGH, Urteil vom 19.12.2001, NJW 2001, 1260 (1261). Siehe auch BGH, Urteil vom 26.10.1983, NJW 1984, 721: „objektive[ ] Würdigung aller Umstände“; RG, Urteil vom 21.11.1927, RGZ 119, 21 (25): „Berücksichtigung des ganzen Zusammenhangs, insbesondere des Gesamtver­ haltens der Parteien und des wirtschaftlichen Zwecks des Rechtsgeschäfts“. 137  Süß, Jura 2011, 735 (738); Schapp/Schur, Einführung (2007), Rn.  346: „Verständnis eines vernünftigen Dritten in der Situation des Erklärungsempfängers“; Lüderitz, Auslegung (1966), 306 in Fn.  5 a. E. 138  Meier-Hayoz, Vertrauensprinzip (1948), 22, der insofern auch von der Perspektive eines „Unbeteiligten“ spricht. 139  Siehe Preußisches Allgemeines Landrecht vom 1.6.1794, Erster Theil, Vierter Titel, §  65:

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§  3 Das dualistische Auslegungsmodell

schen Auslegungsansatz der Wortlautauslegung.140 Dadurch macht es zugleich mit­ telbar deutlich, dass auch andere Umstände als die im Erklärungsträger enthaltenen Zeichen bei der Auslegung zu verwerten sind.141 Die Individualisierung des Auslegungsmaterials bei der normativen Auslegung ist heute unbestritten142 und wird auch hier nicht in Zweifel gezogen. Sie kann für die vorliegende Untersuchung nicht deutlich genug hervorgehoben werden. Denn obwohl die Individualisierung theoretisch allgemein anerkannt ist, wird die „objek­ tive Bedeutung“ einer Willenserklärung häufig, wenn es um den Unterschied zwi­ schen der normativen und natürlichen Auslegungsmethode geht, mit deren Wortlaut gleichgesetzt143 und die normative Auslegung dadurch in die Nähe der Wortlautaus­ legung gerückt144. Die Korrektur des angeblichen Ergebnisses („Wortlaut“) der nor­ mativen Methode mit Hilfe der natürlichen Methode erscheint aufgrund dieser „Wortlautverwechslung“ dann dringlicher und plausibler, als sie wirklich ist. Was manchen als sachwidrige Konsequenz einer streng normativen Auslegung erscheint, ist in Wirklichkeit nur die Folge einer unzutreffenden Anwendung der individu­ ell-normativen Methode, die eben anerkanntermaßen ebenfalls dem Verbot der Buchstabenauslegung (§  133 Hs.  2 BGB) untersteht145 und diesem durch Verwer­ tung weiteren (für den Empfänger erkennbaren) Auslegungsmaterials auch gerecht wird. Die Verwirrung stiftende Wortlautverwechslung wird im kritischen Teil der Untersuchung noch wiederholt eine Rolle spielen. „Der Sinn jeder ausdrücklichen Willenserklärung muß nach der gewöhnlichen Bedeutung der Worte und Zeichen verstanden werden.“ Vogenauer, in: HKK‑BGB (2003), §§  133, 157 Rn.  18 f. hebt hervor, dass Art.  278 ADHGB als historischer Vorläufer des §  133 BGB in diesem Punkt als „Gegennorm zur preußischen Wortlautbindung konzipiert“ war. 140  Canaris/Grigoleit, in: European Civil Code (2011), 587 (593 f.). 141  Looschelders, in: NK‑BGB (2012), §  133 Rn.  27; Weiss, Falsa demonstratio (1963), 5 f. 142  F. Bydlinski, BJM 1982, 1 (4) hält die „reine, formale ‚Erklärungstheorie‘“, die auf den Standpunkt eines neutralen objektiven Dritten ohne etwaige Zusatzkenntnisse des Empfängers abstellt, für „heute nicht mehr vertretbar“. Umso erstaunlicher ist es, dass ausgerechnet im An­ schluss an dens., Privatautonomie (1967), 165 f. im österreichischen Schrifttum die Auffassung verbreitet ist, bei der Auslegung ausdrücklicher Willenserklärungen seien – anders als bei konklu­ denten Erklärungen – für den Empfänger erkennbare Begleitumstände nicht zu berücksichtigen, die einen Irrtum offenbaren, um so §  871 I Var. 2 ABGB einen Anwendungsbereich zu erhalten (Welser, JBl 1974, 79 [83 f.]; Schlemmer, JBl 1986, 149 [153]; Migsch, FS Schnorr [1988], 737 [745] mit Ausnahmen; Rummel, in: Rummel, ABGB [2000], §   863 Rn.   8 a. E.; Bollenberger, in: KurzK-ABGB [2010], §  863 Rn.  2). Dagegen allerdings Vonkilch, JBl 2010, 3 ff. und bereits Kramer, Grundfragen (1972), 47 f. 143  Siehe einstweilen als Beispiele nur BGH, Urteil vom 21.2.1986, NJW‑RR 1986, 1019 unter II 2; Urteil vom 31.1.1995, NJW 1995, 1212 (1213 unter II 2); Wendtland, in: Bamberger/Roth (2012), §  117 Rn.  1. 144  So besonders deutlich bei Säcker/Mohr, Fallsammlung (2010), 95, die den normativen Wil­ len und das objektiv Erklärte mit dem Wortlaut einer Vertragsurkunde gleichsetzen. 145  Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  6 a. E.: „Das in §  133 ausgesprochene Verbot der Buchstabeninterpretation ist sowohl bei der empirischen als auch bei der normativen Auslegung zu beachten.“ Flume, AT II (1992), 308 bezieht das Verbot der Buchstabeninterpretation ebenfalls auf die normative Auslegungsmethode.

III. Die normative Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont

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bb) Der maßgebliche Zeitpunkt: Wirksamwerden der Erklärung mit Zugang Die Beschränkung des Auslegungsmaterials nach Maßgabe der Erkennbarkeit er­ fordert die Festlegung eines Zeitpunkts, zu dem die Erkennbarkeit gegeben sein muss. Anderenfalls würde die im Interesse der Verständnismöglichkeiten des Emp­ fängers bezweckte Einschränkung des Auslegungsmaterials verfehlt, da im Zeit­ punkt der gerichtlichen Entscheidung über die Auslegung Erkennbarkeit stets gege­ ben ist. Material, das nicht zum Gegenstand des Prozesses gemacht und dadurch auch der Gegenseite erkennbar wurde, könnte die Auslegung nämlich ohnehin nicht beeinflussen. Als maßgeblichen Zeitpunkt nimmt die herrschende Auffassung den Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Erklärung, also deren Zugang, an.146 Der Sinn der Erklä­ rung müsse zum Zeitpunkt ihres Wirksamwerdens festliegen und könne sich nicht nachträglich wieder ändern.147 Insbesondere nachträgliches Parteiverhalten finde im Rahmen der normativen Auslegung keine Berücksichtigung, sondern aus­ schließlich im Rahmen der natürlichen Auslegung bei der Ermittlung des ursprüng­ lichen tatsächlichen Parteiverständnisses.148 Bei Vertragsschlüssen wird teilweise pauschal auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses abgestellt.149 Das ist wenigstens missverständlich. Hiernach wäre bei zeitlich gestrecktem Vertragsabschluss durch sukzessive Antrags- und Annahmeerklärung der Zeitpunkt des Zugangs der An­ nahmeerklärung auch für die Auslegung des Antrags maßgeblich, weil erst zu die­ sem Zeitpunkt der Vertrag geschlossen ist. Der Annehmende muss jedoch bereits 146 BGH, Urteil vom 9.12.2010, NJW‑RR 2011, 309 Tz.   17; Urteil vom 7.12.2006, NJW‑RR 2007, 529 Tz.  18; Urteil vom 24.6.1988, NJW 1988, 2878 (2879); Urteil vom 28.3.1962, WM 1962, 550 (551); BVerwG, Urteil vom 13.9.1999, NVwZ‑RR 2000, 135; Ellenberger, in: Palandt (2016), §  133 Rn.  9; Busche, in: MünchKommBGB (2015), §  133 Rn.  5; Mansel, in: Jauernig (2015), §  133 Rn.  6; Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  50; Medicus, AT (2010), Rn.  323; Brehm, AT (2008), Rn.  406; Flume, AT II (1992), 310; Dilcher, in: Staudinger (1979), §§  133, 157 Rn.  30: Zeitpunkt des Wirksamkeitseintritts. A. A. v. Tuhr, AT II/1 (1914, 1957), 539 in Fn.  28: Moment der Kenntnisnah­ me, auch wenn nach Zugang (erwogen auch von Schimmel, JA 1998, 979 [986 in Fn.  64 a. E.]); Riezler, in: Staudinger (1936), §  133 Rn.  5: bei „Abgabe“ erkennbare Nebenumstände. Wider­ sprüchlich Schmidt-Salzer, JR 1969, 281 (283), der auf den Abgabezeitpunkt abstellt, dies aber damit begründet, der Empfänger könne „die Erklärung nur unter Berücksichtigung der ihm im Zeitpunkt des Zugangs ersichtlichen Umstände verstehen“. 147  BGH, Urteil vom 24.6.1988, NJW 1988, 2878 (2879); Urteil vom 28.3.1962, WM 1962, 550 (551); Busche, in: MünchKommBGB (2015), §  133 Rn.  5; Reichold, in: jurisPK‑BGB (2014), §  133 Rn.  18; Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  50; Hepting/‌Müller, in: Handbuch der Beweislast, BGB SchR BT I (2009), Art.  8 UN-Kaufrecht Rn.  16; Hefermehl, in: Soergel (1999), §  133 Rn.  26; Flume, AT II (1992), 310. Zum „Unveränderlichkeitsdogma“ noch eingehend §  13 V. 148  BGH, Urteil vom 16.3.2009, NZA 2009, 613 Tz.  16; Urteil vom 26.11.1997, NJW‑RR 1998, 802 (803); Urteil vom 16.10.1997, NJW‑RR 1998, 259 unter II 3 b; Urteil vom 24.6.1988, NJW 1988, 2878 (2879); Bork, AT (2016), Rn.  549; Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  50 f.; Flume, AT II (1992), 310. A. A. Reichold, in: jurisPK‑BGB (2014), §  133 Rn.  18 in und nach Fn.  54, der nachträgliches Verhalten der Parteien auch bei der Feststellung des objektiven erklärten Willens berücksichtigen möchte (dazu noch krit. §  13 Fn.  68). 149  Siehe etwa BGH, Urteil vom 17.12.2009, NJW 2010, 1592 Tz.   17; Urteil vom 16.3.‌2009, NZA 2009, 613 Tz.  16; Biehl, JuS 2010, 195 (200); Hefermehl, in: Soergel (1999), §  133 Rn.  26.

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§  3 Das dualistische Auslegungsmodell

bei Abgabe seiner Annahmeerklärung sicher einschätzen können, welchen Inhalt der Antrag hat.150 Klar zu unterscheiden vom Zugang als dem maßgeblichen Zeitpunkt für die Ab­ grenzung des Auslegungsmaterials ist bei der normativen Auslegung der Abgabe­ zeitpunkt.151 Auf die Abgabe kommt es an für die Frage, welchen vermeintlichen Willen des Erklärenden der Empfänger aus dem verwertbaren Auslegungsmaterial erschließen soll.152 Entscheidend ist somit bei der normativen Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont der vermeintliche Wille des Erklärenden bei Abgabe der Erklärung, wie er sich für den Empfänger aufgrund der bei Zugang erkennbaren Informationen darstellt. c) Die Auslegungsarbeit: Deutungsdiligenz des Empfängers als Maßstab Die Erschließung des wirklichen Willens aus äußeren Umständen ist eine geistige Tätigkeit, die intellektuelle Anstrengungen erfordert. Das Auslegungsmaterial muss nach Maßgabe der zur Verfügung stehenden Erfahrungssätze auf seinen Aussage­ gehalt bezüglich des vom Erklärenden Gewollten hin ausgewertet werden. Heck spricht insoweit anschaulich von der „Auslegungsarbeit“153. Im Alltag bestimmt der reale Empfänger, wie viel Aufmerksamkeit und Konzentration er auf die Ausdeu­ tung der vorhandenen Informationen verwendet. Um eine gerechte Verteilung des Missverständnisrisikos zu erreichen, soweit es aus mangelhafter Auslegungsarbeit des Empfängers und spiegelbildlich unzureichender Formulierungsarbeit des Erklä­ renden herrührt, muss die Auslegungsarbeit des objektiven Empfängers durch Ver­ haltensanforderungen reguliert werden. Diese Anforderungen können wiederum im 150  Gegen ein Anknüpfung an den Vertragsschlusszeitpunkt auch Gerlach/Manzke, VergabeR 2016 (erscheint demnächst) unter B II 2 im Zusammenhang mit der natürlichen Auslegung mit Gründen, die auch bei der normativen Auslegung gegen den Vertragsschlusszeitpunkt sprechen: Antrag und Annahme setzen bereits gesonderte Rechtsfolgen (z. B. Bindungswirkung des An­ trags). Ihr Inhalt müsse daher auch gesondert durch Auslegung ermittelt werden. Es leuchte nicht ein, welchen Einfluss der Zeitpunkt der Annahmeerklärung auf die Auslegung des Antrags haben sollte. 151 Undeutlich Sosnitza, JA 2000, 708 (717) und Schneider, jurBüro 1969, 9 (12), die den Abga­ bezeitpunkt ganz allgemein bei der erläuternden Auslegung für relevant halten. Dies ist nur in dem im Text beschriebenen eingeschränkten Sinne zutreffend. 152  Vgl. BGH, Urteil vom 10.7.1998, NJW 1998, 3268 (3269); Urteil vom 26.11.‌1999, BGHZ 143, 175 (178); Urteil vom 12.1.2001, NJW 2001, 1928 f., jeweils im Zusammenhang mit der sog. inter­ essengerechten Auslegung der Willenserklärung, bei der der Wille des Erklärenden aus seiner In­ teressenlage erschlossen wird; Singer/‌Benedict, in: Staudinger (2012), §  130 Rn.  37; Riezler, in: Staudinger (1936), §  133 Rn.  5 a. E. Unzutreffend deshalb Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  50, der auf die Interessenlage des Erklärenden im Zugangszeitpunkt abstellt. Richtig müsste es heißen, es komme auf die Interessenlage des Erklärenden bei Abgabe der Erklärung an, wie sie sich bei Zugang für den Empfänger darstellt. Zum Abgabezeitpunkt im Zusammenhang mit der natürlichen Auslegung siehe noch unter IV 2 a. 153  Heck, AcP 112 (1914), 1 (43).

III. Die normative Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont

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Anschluss an Heck als „Deutungsdiligenz“154 oder als „Auslegungssorgfalt“155 be­ zeichnet werden: „Die Deutungsdiligenz bezieht sich auf die Anforderungen, die an die Auslegungsarbeit gestellt werden, auf den Grad der Aufmerksamkeit, dasjenige Verhalten, das erwartet oder gefordert wird, das vorgezeichnet ist durch die Gewohnheit oder ein eingreifendes Gebot.“156

Welche konkreten Anforderungen an die Deutungsdiligenz des Empfängers zu stel­ len sind, ist eine Frage des Einzelfalls.157 In Rechtsprechung und Lehre finden sich Formulierungen wie die „gehörige Aufmerksamkeit“158 oder „gebotene Sorgfalt“159, die ein „vernünftiger“160 oder „verständiger“161 Dritter an den Tag legen würde, ohne dass damit sachliche Unterschiede markiert sein dürften. Bei den Anforderungen an die Deutungsdiligenz muss darauf Rücksicht genom­ men werden, dass nicht jeder Empfänger über denselben Erfahrungshintergrund, dieselbe Auffassungsgabe und dieselbe Konzentrationsfähigkeit verfügt (Fach­ mann oder Laie, Erwachsener oder Kind, etc.). Um hier keine unrealistischen An­ forderungen zu stellen, sind insoweit die erwartbaren Verständnisanstrengungen eines vernünftigen Angehörigen des Verkehrskreises maßgeblich, zu dem der reale Empfänger gehört.162 Ohne dass dies durch die Anhänger der herrschenden Lehre bislang klar ausgesprochen worden ist163, dürfte es darüber hinausgehend dem Grundgedanken dieser Lehre entsprechen, überdurchschnittliche Fähigkeiten des Empfängers ebenfalls noch zu berücksichtigen, zum Beispiel eine konkret weit überdurchschnittliche Auffassungsgabe eines zehnjährigen „Wunderkindes“. Eben­ so wie bei der Abgrenzung der Auslegungsmaterials nach der herrschenden Erkenn­ barkeitsformel das vorhandene Sonderwissen zu berücksichtigen ist („bekannt oder erkennbar“), müsste der Empfänger wohl nicht nur die von einem Angehörigen sei­ 154 

Busche, in: MünchKommBGB (2015), §  133 Rn.  12; Scherner, AT (1995), 88. Medicus, AT (2010), Rn.  323. 156  Heck, AcP 112 (1914), 1 (43). 157  Busche, in: MünchKommBGB (2015), §  133 Rn.  28 a. E.; Larenz, AT (1989), 341 in Fn.  12; Heck, AcP 112 (1914), 1 (44). Ausführlich Lüderitz, Auslegung (1966), 286 ff. 158  BGH, Urteil vom 21.5.2008, NJW 2008, 2702 Tz.  30; Urteil vom 12.2.1981, NJW 1981, 2295 (2296). Ähnlich Busche, in: MünchKommBGB (2015), §  133 Rn.  28: „gehörige[ ] Anstrengung“. 159  Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  18. Ähnlich Arnold, in: Erman (2014), §  133 Rn.  18 und Larenz, AT (1989), 339: „zumutbare Sorgfalt“. 160  Faust, AT (2016), §  2 Rn.  9. Vgl. auch BGH, Urteil vom 20.10.2005, NJW 2006, 286 (287 unter II 2 a): „bei vernünftiger Betrachtung“; Wendtland, in: Bamberger/Roth (2012), §  133 Rn.  27: „bei vernünftiger Beurteilung“. 161  Lehmann/Hübner, AT (1966), 212; Enneccerus/Nipperdey, AT I/2 (1960), 1261; Danz, Aus­ legung (1911), 78. 162  Faust, AT (2016), §  2 Rn.  10. Siehe auch Lüderitz, Auslegung (1966), 293 f., der auf die Pa­ rallele zum Fahrlässigkeitsmaßstab hinweist, der nach Gruppenmerkmalen differenziert (Alter, Beruf, Fachkenntnis). Dort auch Nachw. zu Ansätzen der Verkehrskreisbildung in der älteren Rspr. 163 Bei Lüderitz, Auslegung (1966), 294 heißt es lediglich, es bleibe offen, „ob die zu berück­ sichtigenden Umstände des Einzelfalls nicht weitere Individualisierung erzwingen“. 155 

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§  3 Das dualistische Auslegungsmodell

nes Verkehrskreises erwartbaren Verständnisanstrengungen unternehmen, sondern auch noch darüber hinausgehende „Sonderfähigkeiten“ zum Einsatz bringen, über die ein durchschnittlicher Angehöriger seines Verkehrskreises nicht verfügt. Inso­ weit dürfte auf Basis der herrschenden Lehre gewissermaßen nach unten zu genera­ lisieren und nach oben hin zu individualisieren sein, damit der Empfänger den not­ wendigen Anreiz erhält, alle ihm möglichen und zumutbaren Verständnisanstren­ gungen auch tatsächlich zu unternehmen.164

IV. Die natürliche Auslegung nach dem übereinstimmenden Verständnis Die kritische Auseinandersetzung mit der natürlichen Auslegungsmethode ist Ge­ genstand von Teil II dieser Untersuchung. An dieser Stelle wird zunächst allein dargestellt, auf welchem Grundgedanken diese Methode nach dem Selbstverständ­ nis der dualistischen Lehre beruht (dazu unter 1.) und wie sie im Einzelnen vorgeht (dazu unter 2.).

1. Der Grundgedanke: Keine Normativierung bei gelungener Verständigung der Beteiligten Der Grundgedanke der natürlichen Auslegungslehre ist von bestechender Einfach­ heit. Im Einzelnen verbergen sich dahinter mehrere Aspekte, die erst in §  9 vonein­ ander isoliert und gemeinsam mit weiteren Argumenten gewürdigt werden. An die­ ser frühen Stelle der Untersuchung geht es ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu­ nächst nur um eine bündige Darstellung des Selbstverständnisses der herrschenden Auffassung. Es lässt sich wie folgt zusammenfassen165: Auf die normative Auslegungsmethode könne es nicht ankommen, wenn der Empfänger die Willenserklärung in dem Sinn verstanden hat, den der Erklärende meinte. In einem solchen Fall fehle nämlich jeglicher Grund, der Erklärung einen anderen rechtserheblichen Sinn beizumessen als den von den Beteiligten bei Vor­ nahme des Rechtsgeschäfts übereinstimmend angenommenen. Durch die Geltung des übereinstimmenden Verständnisses werde das Selbstbestimmungsinteresse des Erklärenden ebenso verwirklicht wie das Vertrauensschutzinteresse des Empfän­ gers. Da schutzwürdige Interessen außenstehender Dritter nicht auf dem Spiel stün­

164 Vgl. Roxin, StrafR AT I (2006), §  24 Rn.  61–65, der mit ähnlichen Erwägungen zu einem nach unten generalisierenden und nach oben individualisierenden Maßstab des strafrechtlichen Fahrlässigkeitsunrechts gelangt. Dort auch ablehnend zu der denkbaren Alternative, bei Sonderfä­ higkeiten einen enger gezogenen „individualisierenden“ Verkehrskreis zu bilden, der nur Personen mit den Sonderfähigkeiten umfasst. 165  Umfangreiche Nachw. folgen erst im kritischen Teil der Untersuchung.

IV. Die natürliche Auslegung nach dem übereinstimmenden Verständnis

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den, werde dadurch allen beachtlichen Interessen Rechnung getragen.166 Die Wil­ lenserklärung habe dann ihren Zweck erreicht, dem Empfänger Kenntnis vom Rechtsfolgewillen des Erklärenden zu verschaffen bzw. beim Vertragsschluss eine Willensübereinstimmung der Beteiligten herbeizuführen.167 Durch eine hiervon abweichende normative Auslegung würde hingegen den Beteiligten eine Bedeutung aufgenötigt, die beide nicht wollten und von der sie beide nicht ausgegangen sei­ en.168 Kein Beteiligter dürfe sich darauf berufen, „die von ihm richtig aufgefaßte [Erklärung] des anderen habe eigentlich falsch aufgefaßt werden müssen“169. Die normative Auslegung sei „nur als ‚Schiedsrichter‘ gefragt, wenn der Erklärende und der Adressat sich nicht verstanden haben“170, nicht aber, „wenn bei keinem der Be­ teiligten ein Mißverständnis vorliegt“171.

2. Die Vorgehensweise bei der natürlichen Auslegung Die natürliche Auslegung greift nur ein, wenn beide Beteiligten innerlich in ihren Vorstellungen übereinstimmen. Die Anwendung dieser Methode erfordert somit im ersten Schritt eine Ermittlung dieser subjektiven Vorstellungsinhalte, die im zwei­ ten Schritt auf ihre Kongruenz überprüft werden müssen. Da die Beteiligten zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Vorstellungsinhalte haben können, muss die natürliche Auslegungsregel identifizieren, auf welche historischen Vorstel­ lungsinhalte der Beteiligten es ankommt. Die zur Umschreibung der ungeschriebe­ nen natürlichen Auslegungsregel gebräuchliche Terminologie ist durchaus schil­ lernd und bedarf an dieser Stelle einiger klarstellender Bemerkungen. a) Die geistige Bezugsgröße auf Seiten des Erklärenden: Der wirkliche Wille bei Abgabe der Erklärung Relativ klar umrissen ist noch die auf Seiten des Erklärenden ausschlaggebende geistige Bezugsgröße. Maßgeblich ist der wirkliche Wille des Erklärenden, wobei hier bereits dargelegt wurde, dass dieser Wille im Sinne des „Verständnisses“ des Erklärten (des „Gemeinten“) zu begreifen ist.172 Dieser Bezugspunkt entspricht dem Anliegen der natürlichen Auslegung, das Selbstbestimmungsinteresse des Erklä­ renden optimal zu verwirklichen. 166 

Faust, AT (2016), §  2 Rn.  12; Semmelmayer, JuS 1996, L 9 (L 10). Dazu näher §  9 I 1. Reinicke, JA 1980, 455 (457). Dazu näher §  9 I 2. 168  Larenz, AT (1989), 338. Dazu näher §  9 II 2. 169  R. Leonhard, Irrtum II (1907), 34. 170  Wieser, JZ 1985, 407 (408). 171 BGH, Urteil vom 26.10.1983, NJW 1984, 721. So auch Busche, in: MünchKommBGB (2015), §  133 Rn.  14; D. Schwab/Löhnig, Einführung (2012), Rn.  571. 172  §  3 II 2. 167 

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§  3 Das dualistische Auslegungsmodell

In zeitlicher Hinsicht kommt es dabei allein auf den Willen bei Abgabe der Erklä­ rung an.173 Auf den Abgabezeitpunkt abzustellen entspricht dem in §§  105 II, 119 I 1174, 130 II BGB zum Ausdruck kommenden Rechtsgedanken, nach dem allge­ mein der Zeitpunkt der Abgabe entscheidend ist für „willensrelevante Umstän­ de“175, die den Erklärenden betreffen.176 Die Abgabe als der eigentliche „Akt des rechtsgeschäftlichen Handelns“177 markiert den Moment, bis zu dem der Erklärende das Geschehen noch in seinem Sinne und nach seinem Willen gestalten kann. Eine spätere Willensänderung ist für die erläuternde Auslegung ohne Bedeutung.178 Ist die Erklärung einmal auf den Weg gebracht, so kann sie nicht mehr Ausdruck des geänderten Willens sein. Dem Erklärenden bleibt dann im Falle einer Willensände­ rung nur noch die Möglichkeit, das Wirksamwerden der Erklärung im Sinne des bei Abgabe vorhandenen Willens durch rechtzeitigen Widerruf vor Zugang der Erklä­ rung ganz oder teilweise zu verhindern (§  130 I 2 BGB).179 Die Widerrufserklärung, mit der ggf. (auch konkludent) eine Erklärung des neuen, geänderten Willens ein­ hergehen kann, führt aber nicht zu einer Sinnveränderung der widerrufenen Erklä­ rung, sondern hindert allein deren Wirksamwerden.180 173  BGH, Urteil vom 7.12.2006, NJW‑RR 2007, 529 Leitsatz; Urteil vom 14.2.1997, ZIP 1997, 1205 (1206); Urteil vom 26.10.1983, NJW 1984, 721; Gerlach/Manzke, VergabeR 2016 (erscheint demnächst) unter B II 1; Looschelders, in: NK‑BGB (2012), §  133 Rn.  31; Lüderitz, Auslegung (1966), 320; Riezler, in: Staudinger (1936), §  133 Rn.  5 a. E.; Himmelschein, Beiträge (1930), 3; Jacobi, JherJb 70 (1921), 110 (129). Vgl. auch Ellenberger, in: Palandt (2016), §  133 Rn.  6b: nach­ trägliches Parteiverhalten sei nur insoweit zu berücksichtigen, als es Rückschlüsse auf den tatsäch­ lichen Willen „im Ztpkt der Abgabe“ der Erklärung zulasse. A. A. Reichold, in: jurisPK‑BGB (2014), §  133 Rn.  18: der „wirkliche Wille des Erklärenden zur Zeit des Zugangs seiner Erklärung“. Wohl auch a. a. O. in Fn.  54, wobei nicht ganz klar wird, ob dort vielleicht nur das Empfängerver­ ständnis gemeint ist. 174  Sonnenschein, Zeitpunkt (1969), 65 hebt im Hinblick auf die Formulierung des §  119 I 1 BGB („bei der Abgabe der Erklärung“) zu Recht den engen Zusammenhang von Auslegung und Anfechtung hervor. 175  Bork, AT (2016), Rn.  6 47. 176 Ähnlich Heyers, Jura 2014, 11 (15): „willenserhebliche Umstände“; Scherner, AT (1995), 104; Flume, AT II (1992), 226. Siehe auch Larenz/M. Wolf, AT (2004), §  26 Rn.  4, die den Abgabe­ zeitpunkt allgemein bei Gültigkeitsvoraussetzungen in der Person des Erklärenden für maßgeblich halten. 177  Flume, AT II (1992), 226; Singer/Benedict, in: Staudinger (2012), §  130 Rn.  37. 178  BGH, Urteil vom 30.9.1959, BGHZ 31, 13 (14 f.). Zur „natürlichen“ Testamentsauslegung, die sich von der natürlichen Auslegung empfangsbedürftiger Erklärungen durch den Verzicht auf den Abgleich mit der Empfängervorstellung unterscheidet: Leipold, in: MünchKommBGB (2013), §  2084 Rn.  25; Otte, in: Staudinger (2013), Vor §§  2064–2086 Rn.  72; Fleindl, in: NK‑BGB (2010), §  2084 Rn.  12. 179 Vgl. Sonnenschein, Zeitpunkt (1969), 65 f. 180  A. A. Sonnenschein, Zeitpunkt (1969), 65–67: §  130 I 2 BGB statuiere eine Ausnahme von der Maßgeblichkeit des Abgabezeitpunkts, indem der Erklärende den Sinn der Ersterklärung mit dem Widerruf ändere. Die angeführten Beispiele belegen dies nicht. Erklärt der Käufer in Korrek­ tur seines noch nicht zugegangenen ersten Antrags, „statt 900 Stück der Ware A die gleiche An­ zahl der Ware B“ (a. a. O., 66) zu wollen, dann ist dies keine Änderung des Inhalts der widerrufe­ nen Erklärung, sondern ein Widerruf verbunden mit einem neuen Antrag, bei dessen Auslegung der rechtzeitig widerrufene Antrag allenfalls als Auslegungsmaterial heranzuziehen ist. Im Übri­

IV. Die natürliche Auslegung nach dem übereinstimmenden Verständnis

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Anders als bei der normativen Auslegung ist der wirkliche Wille an dieser Stelle nicht lediglich das Idealziel des Deutungsprozesses, dem unter künstlicher Be­ schränkung der Erkenntnismittel nachzuforschen ist, sondern eine historische psy­ chische Tatsache, die mit allen denkbaren Erkenntnismöglichkeiten aus äußeren Umständen als Indizien zu erschließen und festzustellen ist. Hierin liegt eine ent­ scheidende rechtspraktische Auswirkung der natürlichen Methode im dualistischen Auslegungsmodell: Steht die Kongruenz des wirklichen Willens mit der maßgebli­ chen Vorstellung auf Seiten des Empfängers zur Überzeugung des Gerichts fest, dann entfällt dadurch das zur Abgrenzung des Empfängerhorizonts herangezogene Erkennbarkeitskriterium als Voraussetzung für die Verwertbarkeit von Willensindi­ zien. Im Rahmen der natürlichen Auslegungsmethode kann der Wille mit allen Mit­ teln nachgewiesen werden, auch mit Hilfe von für den Empfänger nicht erkennba­ ren Umständen.181 Zudem spielt dann auch der normativ bestimmte Maßstab der Deutungsdiligenz bei Auslegung des Auslegungsmaterials keine Rolle mehr, son­ dern es kommt im Bestreitensfall faktisch allein auf die Verständnisanstrengungen und die Auffassungsgabe an, die der über den Rechtsstreit befindende Richter bei der Würdigung der ihm unterbreiteten Willensindizien an den Tag legt. b) Die geistige Bezugsgröße auf Seiten des Empfängers Einige klarstellende Bemerkungen erfordert die Bezugsgröße der natürlichen Me­ thode auf Seiten des Erklärungsempfängers, die mit dem wirklichen Willen des Erklärenden abzugleichen ist.

gen betreffen Sonnenscheins Beispiele den Teilwiderruf oder die Erweiterung der ursprünglichen Erklärung durch eine zweite Erklärung. Der Sinn der derart teilweise aufgehobenen oder durch Zusatzerklärung ergänzten Ersterklärung bleibt davon unberührt. Auch aus der Möglichkeit, nach §  130 I 2 BGB eine formbedürftige Erklärung formlos zu wi­ derrufen (Einsele, in: MünchKommBGB [2013], §  130 Rn.  40 m.w.Nachw.), ergibt sich entgegen Sonnenschein nicht die Möglichkeit einer Änderung des Erklärungssinns durch den Widerruf. Der formlose Widerruf hindert auch hier lediglich das Wirksamwerden der Ersterklärung ganz oder teilweise. Die von Sonnenschein unterstellte Befugnis des Erklärenden, beim formlosen Teilwi­ derruf einer formbedürftigen Willenserklärung zu bestimmen, dass er „den bestehen bleibenden Teil der formellen Erklärung in einem bestimmten, mit dem Wortlaut zu vereinbarenden Sinn verstanden wissen will“, ändert daran nichts. Der Teilwiderruf betrifft dann entweder eine Wil­ lens­erklärung, die tatsächlich von Anfang an (teilweise) diesen Sinn hatte. Oder der Erklärende weicht von dem – ohnehin nicht mit dem Wortlaut identischen (dazu §  3 III 2 b aa [2]) – Inhalt seiner Erklärung ab. Dann handelt es sich in Wirklichkeit um einen Vollwiderruf verbunden mit einer Neufestlegung des Inhalts. Die positiven Rechtswirkungen beruhen in einem solchen Fall auf einer neben dem Widerruf stehenden zweiten Erklärung, die formbedürftig ist. 181 Treffend Pecher, WuB IV A. §  313 BGB 1.87, Bl.  356 unter 2 d: der Wille sei dann „im Streitfall aus Indizien zu beweisen, die nicht mehr zu den ohnehin in die Auslegung einzubezie­ henden Begleitumständen der Erklärung gehören“.

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§  3 Das dualistische Auslegungsmodell

aa) Der wirkliche Wille des Empfängers zur Feststellung der „Willensübereinstimmung“ im Sinne eines „inneren Konsens“? Nach einer weit verbreiteten Diktion soll es bei der natürlichen Auslegung auf den „übereinstimmenden Willen“182 oder auf das von beiden Seiten Gemeinte183 an­ kommen. Diese Umschreibungen der natürlichen Auslegungsmethode sind verfehlt. Größtenteils sind sie wohl nur Ergebnis mangelnder sprachlicher Präzision. Teilwei­ se reflektieren diese Begrifflichkeiten aber auch ein nicht in allen Konsequenzen durchdachtes Auslegungsverständnis, das – unabhängig von den noch im kritischen Teil dieser Untersuchung zu behandelnden Einwänden gegen die natürliche Metho­ de – nicht überzeugt. (1) Die Ambivalenz der gebrauchten Begrifflichkeiten Zunächst ist die in Rechtsprechung und Lehre ambivalente Verwendung der Formu­ lierung „Willensübereinstimmung“ und ihrer Varianten hervorzuheben. Obwohl der subjektive Anstrich dies nicht vermuten lässt, werden damit in vielen Fällen Aussagen getroffen, die sich auf normativ-objektiv ermittelte Bezugsgrößen bezie­ hen184 oder zumindest nicht auf eine Differenzierung zwischen objektiven und sub­ jektiven Bezugspunkten angelegt sind. Insbesondere in zahlreichen Gerichtsent­ scheidungen, die mit der „Willensübereinstimmung“ operieren, bleibt unklar, ob damit eine Übereinstimmung der inneren Willen oder der objektiv erklärten Willen gemeint ist.185 In letzterem Sinne hat die Formulierung „Willensübereinstimmung“ mit einer „natürlichen“ Auslegung nach den inneren Vorstellungen der Beteiligten nichts zu tun.186

182  Siehe nur RG, Urteil vom 13.12.1924, RGZ 109, 334 (336); BGH, Urteil vom 15.3.‌ 1978, BGHZ 71, 75 (77 f.); Urteil vom 26.4.1978, BGHZ 71, 243 (247); Urteil vom 14.1.1993, 1325 (1326); Urteil vom 20.1.1994, NJW 1994, 1528 (1529 unter II 1 a); Urteil vom 31.1.1995, NJW 1995, 1212 (1213 unter II 4); Urteil vom 29.3.1996, NJW 1996, 1678 (1679 unter II 2); Ellenberger, in: Palandt (2016), §  133 Rn.  8; Looschelders, in: NK‑BGB (2012), §  133 Rn.  46; Werba, Willenserklärung (2005), 48 f.; Sosnitza, JA 2000, 708 (716); Säcker, JurAnalysen 1971, 509 (510). 183  OLG Köln, Urteil vom 5.5.1970, WM 1970, 892 (893); Sosnitza, JA 2000, 708 (716); Hefermehl, in: Soergel (1999), §  133 Rn.  17, 22; Leenen, Jura 1991, 393 (395): „das übereinstimmend mit den Erklärungen Gemeinte“; Larenz, AT (1989), 338. 184  Siehe etwa Dörner, in: HK‑BGB (2014), §  157 Rn.  3: „Eine erläuternde Vertragsauslegung will den übereinstimmenden Parteiwillen ermitteln, wie er im objektiven Bedeutungsgehalt der Vertragsbestimmungen zum Ausdruck kommt.“ 185  Siehe etwa BGH, Urteil vom 9.3.1995, NJW 1995, 1494 (1496 unter II 2) zur Auslegung von AGB anhand des übereinstimmenden Parteiwillens. Der BGH erläutert hierzu, die Parteien könn­ ten „einer AGB-Klausel – auch stillschweigend oder durch schlüssige Handlung – einen von der objektiven Auslegung abweichenden Sinn geben (…)“. Der Sache nach gemeint sind durch das Verhalten wechselseitig stillschweigend oder schlüssig zum Ausdruck gebrachte Willen. 186  Siehe insoweit den bis heute zutreffenden Befund der mangelnden Präzision und Unklarheit der Ausdrucksweise bei Seifert, Falsa demonstratio (1929), 141 in Fn.  273; F. Leonhard, AcP 120 (1922), 14 (104 f.).

IV. Die natürliche Auslegung nach dem übereinstimmenden Verständnis

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(2) Die Untauglichkeit des Willensabgleichs bei einseitigen Rechtsgeschäften Soweit mit „Willensübereinstimmung“ allerdings tatsächlich die inneren „wirkli­ chen Willen“ der Beteiligten gemeint sind187, suggeriert diese Formulierung einen Abgleich des vom Erklärenden „Gewollten/Gemeinten“ mit dem „Gewollten/Ge­ meinten“ auf der Gegenseite. In diesem Sinne passt sie indes nicht zu den einseiti­ gen Rechtsgeschäften, die ebenfalls der natürlichen Auslegung unterliegen sol­ len188. Der Empfänger einer Kündigungserklärung „will“ nichts in Geltung setzen und „meint“ auch nichts mit der Erklärung. Es geht schließlich nicht um seine eige­ ne Erklärung und seinen Rechtsfolgewillen, sondern um eine fremde Erklärung, die er lediglich passiv entgegen- und bestenfalls auch noch zur Kenntnis nimmt. Wer einseitige Rechtsgeschäfte natürlich auslegen will, kann nicht darauf abstellen, was der Empfänger gewollt hat, sondern nur darauf, wie er die fremde Erklärung „ver­ standen“ oder „aufgefasst“ hat, welche Bedeutung er ihr also beigelegt hat.189 (3) Die Untauglichkeit des Willensabgleichs bei Verträgen Die Redeweise von der vorrangigen Willensübereinstimmung ist besonders häufig anzutreffen im Zusammenhang mit der Auslegung von Verträgen.190 Ein Vertrag kommt durch mindestens zwei übereinstimmende Willenserklärungen zustande, so dass grundsätzlich191 bei jeder Vertragspartei ein Rechtsfolgewille vorhanden ist. Anders als bei einseitigen Rechtsgeschäften lässt sich beim Vertrag als dem „Zwei-Willens-Geschäft“192 also nicht einwenden, es existierten keine zwei Willen, die auf ihre inhaltliche Kongruenz überprüft werden könnten. Ist es aber richtig, bei der natürlichen Auslegung von Vertragserklärungen vorrangig danach zu fragen, ob 187  Siehe z. B. Backmann, in: jurisPK‑BGB (2014), §  155 Rn.  6; Giesen, AT (1995), Rn.  85; Kramer, Grundfragen (1972), 63; Säcker, JurAnalysen 1971, 509 (510): „Ermittlung des übereinstim­ menden realen Willens“; Enneccerus/Nipperdey, AT I/2 (1960), 1004: „übereinstimmende innere Willen“. 188  Siehe nur Bork, AT (2016), Rn.  519; Busche, in: MünchKommBGB (2015), §  133 Rn.  14; Schlachter, JA 1991, 105 (107 in Fn.  12); Zemen, JBl 1986, 756; Manigk, JherJb 75 (1925), 127 (212, 215 f., 221 in Fn.  1). 189  Zemen, JBl 1986, 756, der „in Analogie zum gemeinsamen Willen der Vertragsteile“ bei einseitigen Rechtsgeschäften das „gemeinsame Verstehen der Willenserklärung“ entscheiden lässt. Ebenso Larenz/M. Wolf, AT (2004), §  28 Rn.  31 („Das gemeinsame Verständnis genügt für einseitige empfangsbedürftige Willenserklärungen.“). Vgl. auch Looschelders, AcP 212 (2012), 581 (637) (zum GEKR) und Zimmermann, FS E. Picker (2010), 1353 (1367) (zum DCFR). Busche, in: MünchKommBGB (2015), §  133 Rn.  14 stellt alternativ auf „gemeinsames Wollen oder (besonders bei einseitigen, empfangsbedürftigen Willenserklärungen) gemeinsames Verste­ hen“ ab. Beim Wort genommen müsste dann – entgegen der sogleich im Text vertretenen Argu­ mentation – das vom gemeinsamen Verstehen unterscheidbare gemeinsame Wollen genügen, ei­ nen Vertrag zustande zu bringen. 190 Siehe Backmann, in: jurisPK‑BGB (2014), §  155 Rn.  6; Looschelders, in: NK‑BGB (2012), §  133 Rn.  37; Enneccerus/Nipperdey, AT I/2 (1960), 1004. 191  Nur bei fehlendem Erklärungsbewusstsein fehlt der Rechtsfolgewille. 192  Breit, Geschäftsfähigkeit (1903), 80. Es sind natürlich auch Verträge mit mehr als zwei Vertragsparteien möglich.

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§  3 Das dualistische Auslegungsmodell

die Willen der Parteien bei Abgabe ihrer jeweiligen Erklärungen ihrem Inhalt nach übereinstimmen?193

(a) Unstimmigkeiten bei Auslegungserheblichkeit der inhaltsgleichen Willen Ohne sich mit den Grundgedanken der natürlichen Auslegungsmethode in Wider­ spruch zu setzen, kann die „reine Willensübereinstimmung“194 der Beteiligten nicht genügen, um den Inhalt des Vertrages zu bestimmen und diesen zustande zu brin­ gen. Mit der Willenskongruenz würde – gemessen allein an den unter 1. dargelegten Grundgedanken der natürlichen Auslegungsmethode – einerseits „zu viel“ und an­ dererseits „zu wenig“ verlangt. Das „Zuviel“ wird von folgendem (wohl nur theoretisch interessanten) Beispiel195 illustriert: B verliest sich und versteht zufällig den mit einem Erklärungsirrtum behafteten Vertragsantrag des A in dem von A gemeinten Sinne. Beim Verfassen der Gegenerklärung verschreibt sich B obendrein und schickt A statt der gewollten Ablehnung objektiv eine Annahme. Die natürliche Auslegung müsste hier am ab­ lehnenden Willen des B scheitern, wenn sie für die natürliche Auslegung des Ver­ trages gleichlautende Willen verlangte. Es bliebe dann nur die normative Ausle­ gung, die B die Möglichkeit eröffnen würde, sich auf die objektive Bedeutung der ausgetauschten Erklärungen zu berufen. Das hält Henle gemessen am Grundgedan­ ken der natürlichen Auslegungsmethode zu Recht für inkonsequent: „[D]ann würde man ja mit einem Mal nichts mehr dabei finden, daß jemand behauptet, ‚die von ihm richtig aufgefaßte Offerte … habe eigentlich falsch aufgefaßt werden müs­ sen‘. Bleibt man aber folgerecht bei der Wirksamkeit der richtig aufgefaßten Offerte, so zeigt sich nun, daß das Maßgebende der Situation nicht in der hier ja mangelnden Wil­lens­ übereinstimmung liegt (…).“196

Die Willenskongruenz kann mit anderen Worten keine notwendige Bedingung des Vertragsschlusses sein. Schwerer noch als Henles Einwand wiegt das „Zuwenig“ der Willensüberein­ stimmung als Auslegungs- und Vertragsschlusskriterium. Folgender Fall verdeut­ licht, warum die Willensübereinstimmung auch als hinreichende Bedingung des Vertragsschlusses verfehlt wäre: B will den Antrag des A annehmen, erklärt aber aufgrund eines Erklärungsirrtums versehentlich gegenüber A objektiv die Ableh­

193  So gehen ausdrücklich Säcker/Mohr, Fallsammlung (2010), 121 unter A II vor, bevor sie zur objektiven Auslegung der Willenserklärungen übergehen. Auch Schlemmer, JBl 1986, 149 (153 bei und in Fn.  42) spricht sich dafür aus, nur zu prüfen, ob die „Absichten“ der Parteien übereinstim­ men. Siehe auch Weiler, Willenserklärung (2002), 457 f.; Waclawik, Bedeutung (2001), 27; Wilhelm, Anfechtung (1990), 95; Spieß, JZ 1985, 593 (598), der die natürliche Auslegung freilich selbst ablehnt (a. a. O., 596). 194  Jacobi, JherJb 70 (1921, 110 (113), der deren Maßgeblichkeit ebenfalls ablehnt. 195  In Anlehnung an Henle, GgA 170 (1908), 427 (486). 196  Henle, GgA 170 (1908), 427 (486).

IV. Die natürliche Auslegung nach dem übereinstimmenden Verständnis

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nung.197 Bei Beschränkung der Prüfung auf die Willenskongruenz käme hier ein wirksamer Vertrag zustande, weil A und B tatsächlich bei Abgabe ihrer Erklärun­ gen dasselbe wollten.198 Der Vertrag bestünde also nicht nur, wenn A die Äußerung des B entgegen ihrer normativen Bedeutung nach dem objektiven Empfängerhori­ zont als Annahme versteht und deshalb beide (zunächst) vom Vertragsschluss aus­ gehen199, sondern auch wenn A gemessen an seinem objektiven Empfängerhorizont zu Recht die Äußerung des B als Ablehnung auffasst.200 Einen solchen gewissermaßen „versteckten inneren Konsens“ für das Zustande­ kommen eines Vertrages ausreichen zu lassen, hätte unhaltbare Konsequenzen für A. Aufgrund des objektiven Erklärungswerts muss er vom Nichtzustandekommen des Vertrages ausgehen und tut dies auch. B könnte im Anschluss überraschend auf der Vertragserfüllung bestehen, solange er nur seinen tatsächlichen Annahmewil­ len und damit den für A nicht ersichtlichen inneren Konsens beweisen kann. Die Parteien haben sich missverstanden und trotzdem käme ein Vertrag zustande mit überraschenden Folgen ausgerechnet für A, der die Erklärung des B objektiv so verstanden hat, wie er sie verstehen musste.

(b) Vermeidung der Unstimmigkeiten: Vorrang der Auslegung der Einzelerklärung zur Sicherstellung beidseitigen „Konsensbewusstseins“ Die Reduktion des Entstehungstatbestands eines Vertrags auf die Kongruenz der Willen bei Abgabe der Willenserklärungen würde nach dem gerade Ausgeführten vernachlässigen, dass die Vertragsparteien jeweils nicht nur die Rolle des Erklären­ den einnehmen, sondern auch die Rolle des Empfängers der Gegenerklärung. Die Empfängerrolle soll ihnen die Beurteilung ermöglichen, ob der Vertrag zustande gekommen ist. Ein gelungener Vertragsschluss setzt eben idealiter201 nicht nur ge­ 197 Hierzu

R. Raiser, AcP 127 (1927), 1 (5); E. Grünwald, Dissens (1939), 26 f. In diesem Sinne Brox/Walker, AT (2015), Rn.  250 mit einem Fall, in dem V erklärt, ein Bild für 1.000 EUR verkaufen zu wollen, und K entgegnet, für 900 EUR kaufen zu wollen. Die Autoren erläutern, mangels Einigung sei hier kein Vertrag zustande gekommen, fügen allerdings hinzu: „Sollten aber beide Parteien entgegen ihren Erklärungen übereinstimmend einen Preis von zB 1.000 EUR gewollt haben, liegt wegen der Übereinstimmung der beiden Willen ein Vertrags­ schluss vor.“ 199  Für einen Vertragsschluss in diesem Fall in Anwendung der natürlichen Auslegungsmetho­ de E. Grünwald, Dissens (1939), 26 f. A. A. R. Raiser, AcP 127 (1927), 1 (6 in Fn.  15), der den fal­ sa-Satz mit einer Begründung nicht anwenden möchte, die – wie er selbst nicht erkennt – grund­ sätzliche Zweifel an der natürlichen Auslegungsmethode aufwirft (dazu noch §  8 Fn.  34). Auch Corts, Schadenshaftung (1932), 17 f. will hier auf den objektiven Erklärungswert abstellen. 200  Zemen, JBl 1986, 756 (764 ff.) und Rummel, JBl 1988, 1 (5) müssten einen Vertragsschluss auf Basis ihrer Auffassung im Beispielsfall annehmen, da sie für das Zustandekommen eines Ver­ trages lediglich „natürlichen Konsens“ verlangen, auf den zumindest eine der Parteien vertraut: Gleichlautende Willen liegen vor und außerdem vertraut auch eine Partei (B) auf das Zustande­ kommen eines Vertrages mit diesem Inhalt. Beide Autoren wollen einen Vertragsschluss nur ver­ neinen, „wenn beide Partner nicht auf den natürlichen Konsens vertraut haben“ (Rummel, a. a. O.; siehe auch Zemen, a. a. O., 763, 765). 201  D.h. jenseits von im Hinblick auf Missverständnisrisiken gebotene Normativierungen, die 198 

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§  3 Das dualistische Auslegungsmodell

meinsamen Willen, sondern auch „Kenntnis des gemeinsamen Wollens“202 im Sin­ ne eines beiderseitigen „Konsensbewußtsein[s]“203 voraus. Ohne Berücksichtigung der jeweiligen Empfängervorstellungen von der gegnerischen Erklärung wäre ein schon bei Vertragsschluss bestehendes Missverständnis nicht mehr ausgeschlossen. Gerade das Fehlen eines Missverständnisses ist aber die Rechtfertigung der dualis­ tischen Lehre für die Entnormativierung der Auslegung und den Vorrang der natür­ lichen Methode.204 Die natürliche Auslegung darf deshalb, wenn sie den eigenen Grundgedanken gerecht werden soll, auch beim Vertragsschluss nicht allein und unmittelbar auf den Gleichklang der Rechtsfolgewillen der Beteiligten abstellen, sondern muss zusätz­ lich eine durch die Erklärungen vermittelte gleichlautende Vorstellung der Beteilig­ ten von dieser Willensübereinstimmung verlangen.205 Dogmatisch umsetzen lässt sich dies, indem bei der „natürlichen Vertragsauslegung“ Auslegung und Konsens­ prüfung ebenso klar voneinander geschieden werden wie bei der normativen Me­ thode: Die erläuternde Auslegung bezieht sich nicht unmittelbar auf „den Vertrag“, sondern auf die einzelnen Willenserklärungen. Antrag und Annahme sind zunächst isoliert voneinander auszulegen und erst anschließend darauf zu überprüfen, ob eine Einigung vorliegt (Konsens) oder nicht (Dissens).206 „Die Auslegung geht also grundsätzlich der Feststellung eines Konsenses oder Dissenses vor.“207 bei einer natürlichen Vertragsauslegung außer Betracht zu bleiben haben und in den Bereich der normativen Auslegungsmethode gehören. 202  Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 (177). So bereits Heisler, Irrtum (1913), 15 f. im An­ schluss an Zitelmann, Irrtum (1879), 419 f., der zum gemeinen Recht den Tatbestand eines Vertra­ ges verneinte, wenn kein „übereinstimmendes Wissen vom gemeinsamen Consens“ vorlag. 203  Kramer, FS Canaris I (2007), 665 (667). Mayer-Maly, FS Nipperdey I (1965), 509 spricht vom „beiderseitigen Bewußtsein von der Korrespondenz des Wollens“. Vgl. auch Oertmann, AcP 117 (1919), 275 (302): „Der Vertrag ist eben nicht nur tatsächliche Übereinstimmung des beider­ seits Gewollten einer-, des Erklärten andererseits, sondern bewußte Willensübereinstimmung.“ (Sperrung übernommen). Auch RG, Urteil vom 17.4.1907, RGZ 66, 21 (24) hielt das Konsensbe­ wusstseins offenbar für eine notwendige Voraussetzung der natürlichen Vertragsauslegung: „Die Beteiligten sind hier nicht bloß einig in dem Willen, einen bestimmten Grundstücksteil von der Mitveräußerung und Mitauflassung auszuschließen, sondern sie haben auch das Bewußtsein die­ ser Willenseinigung (…).“ 204  Zemen, JBl 1986, 756 (766 f.) rechtfertigt denn auch den Vertragsschluss bei übereinstim­ mendem Willen trotz fehlenden beidseitigen Konsensbewusstseins mit der ganz andersartigen Begründung: „(…) der übereinstimmende Parteiwille gilt aber als ‚oberste Norm des Vertrages‘, weil hier der bestmögliche Grad der Selbstbestimmung erreicht wird“. Zu diesem Begründungsan­ satz noch eingehend §  9 I 3. 205  So i. E. auch Jacobi, JherJb 70 (1921), 110 (113): „Wenn beide Parteien a sagen, aber b mei­ nen, so gilt b doch nur dann, wenn jeder von ihnen durchschaute, daß der Gegner mit a nicht a, sondern b gemeint hat.“ 206  Leenen, AT (2015), §  8 Rn.  183; Hefermehl, in: Soergel (1999), §  133 Rn.  1; Wieser, JZ 1985, 407 (408 unter III); Diederichsen, FS Juristische Gesellschaft zu Berlin (1984), 81 (84). 207  Diederichsen, FS Juristische Gesellschaft zu Berlin (1984), 81 (84). Ebenso Reichold, in: jurisPK‑BGB (2014), §  133 Rn.  4; Petersen, AT (2013), §  11 Rn.  10, §  13 Rn.  2; Medicus, AT (2010), Rn.  437; Peters, AT (1997), 97.

IV. Die natürliche Auslegung nach dem übereinstimmenden Verständnis

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Diese den Vertrag in die Einzelerklärungen zergliedernde Betrachtungsweise ist auch bei der „natürlichen Vertragsauslegung“ notwendig.208 Für Antrag und Annah­ me ist gesondert zu ermitteln, ob das Verständnis des jeweiligen Erklärenden bei Abgabe seiner Erklärung und die Vorstellungen des Empfängers vom Inhalt der für ihn fremden Erklärung übereinstimmen, sonst erfolgt eine normative Auslegung.209 Bei zwei Vertragsparteien erfordert eine vollständig „natürliche Vertragsausle­ gung“ somit die Feststellung von insgesamt vier verschiedenen historischen psychi­ schen Tatsachen: (1.) Wille des Antragenden bei Abgabe des Antrags; (2.) Verständ­ nis des Empfängers des Antrags von dessen Inhalt; (3.) Wille des Annehmenden bei Abgabe der Annahme; (4.) Verständnis des Empfängers der Annahme von deren Inhalt. Allein dadurch wird vermieden, dass die Empfängerrolle der Beteiligten im Rahmen einer hybriden Auslegungs- und Konsensprüfung unter den Tisch fällt. Nach der dualistischen Auslegungslehre ist daher auch die Kombination einer natür­ lich ausgelegten mit einer normativ ausgelegten Willenserklärung möglich.210 Diese Betrachtungsweise vermeidet nicht zuletzt auch eine kaum einleuchtende methodische Spaltung der natürlichen Auslegung von Verträgen und einseitigen Rechtsgeschäfte. In beiden Fällen ist die konkrete Willenserklärung Bezugspunkt des Auslegungsvorgangs und auf Empfängerseite spielen voluntative Elemente für die Bestimmung des Erklärungssinns keine Rolle. Die bei vollständig natürlicher Vertragsauslegung feststellbare Willensübereinstimmung fällt dann lediglich mehr oder minder zufällig mit dem übereinstimmenden Verständnis der Beteiligten von ihren Erklärungen zusammen, ist aber nicht der eigentliche Grund dafür, warum dem Vertrag nach der dualistischen Lehre dieser Sinn zukommt.

208 Vgl. M. Wolf, in: Soergel (1999), §  157 Rn.  29: „Der Grundsatz falsa demonstratio non nocet findet deshalb nicht nur bei der vertraglichen Einigung, sondern schon bei der einzelnen Willens­ erklärung Anwendung.“ A. A. wohl Schlemmer, JBl 1986, 149 (153 mit Fn.  42), der zum österrei­ chischen Recht vertritt, in den Fällen der falsa demonstratio stelle sich das „Problem der isolierten Betrachtung und Bewertung der einzelnen Willenserklärung nicht, da eine übereinstimmende Absicht der Parteien (vgl. §  914 ABGB) vorliegt und sich durch diesen natürlichen Konsens sämt­ liche Fragen nach dem Inhalt der einzelnen wirksamen Willenserklärung erübrigen“. 209  Wieser, JZ 1985, 407 (408 unter III). Auch Leenen, AT (2015), §  8 Rn.  140 f., definiert „fak­ tischen Konsens“ als „Fälle, in denen eine natürliche Auslegung beider Erklärungen zu einem übereinstimmenden Ergebnis führt“ und hebt Rn.  183 f. die Bedeutung der gesonderten Auslegung der Einzelerklärungen hervor. BGH, Urteil vom 26.10.1983, NJW 1984, 721 bezieht sich ebenfalls bei der natürlichen Auslegung eines Vertrages auf die einzelne Willenserklärung. 210 Vgl. Wieser, JZ 1985, 407 (408) und die Lösung eines Falls des „erkannten und ausgenutzten Irrtums“ durch Bork, AT (2016), Rn.  943. Auch die Rechtsprechung kombiniert beim „erkannten und ausgenutzten“ Irrtum bei Vertragsschluss der Sache nach die natürliche mit der normativen Auslegungsmethode. Die angebliche Übereinstimmung des Gewollten (vgl. BGH, Urteil vom 7.12.2001, NJW 2002, 1038 [1040 unter II 3 d]) liegt in solchen Fällen nämlich in Wirklichkeit nicht vor, weil der Annehmende gerade keinen Vertrag im Sinne des vom Antragenden Gewollten zustande bringen will. Vgl. Leenen, FS Prölss (2009), 153 (160); Kramer, FS Canaris I (2007), 665 (671); Fleischer, Informationsasymmetrie (2001), 397; Lee, Voraussetzungen (1999), 24; Migsch, FS Schnorr (1988), 737 (746); Zemen, JBl 1986, 756 (763 f.).

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§  3 Das dualistische Auslegungsmodell

(c) Der zweifelhafte Wert der Unterscheidung zwischen natürlichem und normativem Konsens Der bei Willensübereinstimmung bestehende „natürliche“211, „innere“212 , „tatsäch­ liche“213 bzw. „faktische“214 Konsens hat nach alledem mit einer wohlverstandenen natürlichen Auslegungsmethode und der Festlegung des Vertragsinhalts nichts zu tun.215 Das Zustandekommen eines wirksamen Vertrages erfordert stets inhaltlich übereinstimmende Willenserklärungen. Deren rechtsmaßgeblicher Sinn kann nach der dualistischen Lehre auch das Ergebnis einer natürlichen Auslegung sein. Bei Übereinstimmung zweier natürlich ausgelegter Willenserklärungen müssen zwar immer zugleich die Willen übereinstimmen, die in die Auslegung der Einzelerklä­ rungen eingeflossen sind. Doch die Willen bestimmen nicht kraft ihrer inhaltlichen Kongruenz den Vertragsinhalt, sondern weil sie Bestandteil einer erfolgreichen na­ türlichen Auslegung der Einzelerklärungen sind. Die sich daran anschließende Konsensprüfung dient allein der Feststellung, ob der Vertrag wegen des Gleichlauts der erfolgreich natürlich ausgelegten Willenserklärungen zustande kommt. Die Gegenüberstellung von einem Konsens im Willen und einem Konsens in der Erklärung216 fördert aus diesem Grunde eher Missverständnisse, als für Klarheit zu sorgen. Sie erweckt den Eindruck, es komme bei dem „Konsens im Willen“ auf die Erklärungen als Kommunikationsmittel und Auslegungsgegenstand gar nicht an, sondern lediglich auf die Deckungsgleichheit der Rechtsfolgewillen der Beteiligten bei Abgabe der jeweiligen Erklärungen. Ein auf der natürlichen Auslegung aufbau­ ender Konsens im Willen ist aber nur als ein Konsens der Willenserklärungen be­ achtlich 217, da aus den genannten Gründen die Auslegung der Vertragsschlusserklä­ rungen notwendige Durchlaufstation auf dem Weg zur Feststellung jedes Konsen­ ses ist und nicht ausschließlich auf die Willen rekurriert werden darf. Nicht zuletzt ist vor diesem Hintergrund auch der dogmatische Wert der heutzu­ tage verbreiten Zweiteilung der vertraglichen Konsenslehre in den natürlichen und den normativen Konsens218 höchst zweifelhaft. Relevanz für die Auslegung hat der 211 

Kramer, FS Canaris I (2007), 665 (669); ders., Grundfragen (1972), 63 f., 175 f. M. Wolf/Neuner, AT (2012), §  37 Rn.  67; Larenz/M. Wolf, AT (2004), §  29 Rn.  72; Kramer, Grundfragen (1972), 175; Manigk, JherJb 75 (1925), 127 (212). 213  Feuerborn, in: NK‑BGB (2012), Vor §§  145–157 Rn.  15; Honsell, FS Walter (2005), 335 pas­ sim; Leenen, Jura 1991, 393 (395). 214  Leenen, AT (2015), §  8 Rn.  140; ders., FS Prölss (2009), 153 (159); ders., Jura 2007, 721 (722). 215 Vgl. Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  13, der im Zusammenhang mit der natürlichen Auslegung anmerkt, dass „die Frage des Konsenses erst die Ebene des Zustandekommens von Verträgen betrifft, nicht des Verstehens“. 216  M. Wolf/Neuner, AT (2012), §  37 Rn.  66: Übereinstimmung im Willen bzw. in der Erklä­ rung; Scherner, AT (1995), 113 f.; Manigk, JherJb 75 (1925), 127 (129 in Fn.  1): „Es ist lediglich erforderlich, stets darüber Klarheit zu schaffen, ob der Dissens der Willensinhalte oder der der Erklärungsinhalte gemeint ist; entsprechend beim Konsens.“ 217  Jacobi, JherJb 70 (1921), 110 (113). 218  Leenen, AT (2015), §  8 Rn.  139; M. Wolf/Neuner, AT (2012), §  37 Rn.  66–68; Kling, Sprach­ 212 

IV. Die natürliche Auslegung nach dem übereinstimmenden Verständnis

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natürliche Konsens nicht, da die Bestimmung des Vertragsinhalts die Domäne der erläuternden Auslegung der Einzelerklärungen ist. Auch um den Vertragskonsens begründen oder ablehnen zu können, muss speziell auf einen „inneren Konsens“ nie rekurriert werden. Es genügt die Feststellung, dass die (natürlich oder normativ ausgelegten) Willenserklärungen ihrem Inhalt nach übereinstimmen oder nicht.219 Die Qualifizierung des Konsenses als „natürlich“ informiert lediglich darüber, dass der Vertragsinhalt beidseitig vom Rechtsfolgewillen der Parteien bei Abgabe ihrer Erklärungen getragen ist. Doch mehr als die Tatsache, dass auf keiner Seite eine Anfechtung wegen Irrtums nach §§  119 I, 120 BGB in Betracht kommt, verrät das nicht. Und auch dies ergibt sich letztlich schon bei isolierter Betrachtung der Ein­zel­ erklärungen.220 bb) Das Verständnis des Empfängers und der relevante Zeitpunkt Da sich die natürliche Auslegung nach dem gerade Gesagten auch beim Vertrag jeweils auf eine konkrete Willenserklärung und nicht auf das Rechtsgeschäft als Ganzes bezieht, kommt es somit nicht auf den Willen des Empfängers an, sondern auf dessen tatsächliches Verständnis der fremden Erklärung, d. h. die Bedeutung, die er der Erklärung entnommen hat. Die natürliche Methode läuft leer, wenn der

risiken (2008), 356; Kramer, FS Canaris I (2007), 665 (669); ders., in: MünchKommBGB (2006), §  155 Rn.  3; Leenen, Jura 2007, 721 (722); Lee, Voraussetzungen (1999), 25 f.; Lorenz, Schutz (1997), 237; Kramer, Grundfragen (1972), 63 f. (zum österreichischen Recht), 96 (zum schweizer Recht); 175 f. (zum deutschen Recht). Besonders strikt in der Zweiteilung schon Manigk, JherJb 75 (1925), 127 (129 in Fn.  1). 219 Vgl. Lee, Voraussetzungen (1999), 29: „Wenn man aber einen einheitlichen Konsensbegriff haben will, kann man ihn einfach als Übereinstimmung der Willenserklärungen definieren. Denn unabhängig davon, ob die objektive oder subjektive Auslegung zum Zuge kommt, ist der Inhalt der Willenserklärung maßgebend für den Konsensbegriff.“ 220  A. A. Leenen, Jura 1991, 393 (395), der meint, zur Feststellung eines Inhaltsirrtums müssten zunächst beide Einzelerklärungen eines Vertrages behandelt werden und „weiterhin ein tatsächli­ cher Konsens ausgeschlossen und ein lediglich ‚normativer Konsens‘ nachgewiesen sein“. Man müsse „erst wissen, mit welchem Inhalt der Vertrag zustande gekommen ist, um entscheiden zu können, welcher Vertragsteil sich (vorbehaltlich einer Anfechtung) an einem Inhalt der Erklärung festhalten lassen muß, der seinem wirklichen Willen nicht entspricht. Anhand einer Vertragserklä­ rung allein“ lasse sich „nicht darüber befinden, ob ein zur Anfechtung berechtigender Inhaltsirr­ tum vorliegt“. Das überzeugt nicht. Eine Partei wird zwar nur an ihrer Erklärung „festgehalten“, wenn der Vertrag durch übereinstimmende Willenserklärungen zustande kommt, weil anderen­ falls mangels Konsenses keine vertragliche, sondern bestenfalls eine vorläufige Bindung an den Antrag (§  145 BGB) eintritt. Dies betrifft aber allein die praktische Frage nach dem Anfechtungs­ bedürfnis und hat mit dem Inhalt der jeweiligen (normativ oder natürlich ausgelegten) Erklärung und der Feststellung eines Inhaltsirrtums nichts zu tun. Ob ein Inhaltsirrtum vorliegt, ist ohne Rücksicht auf die Gegenerklärung und den Vertragskonsens beantwortbar. Vgl. insoweit auch Leenen, AT (2015), §  28 Rn.  30, der von der Anfechtbarkeit eines Antrags zwecks Beseitigung der vorläufigen Bindung nach §  145 BGB ausgeht. Dies setzt die Feststellbarkeit des Erklärungsinhalts und des Inhaltsirrtums ohne Rücksicht auf die (noch gar nicht existente) Gegenerklärung und eine etwaige Konsensprüfung voraus.

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§  3 Das dualistische Auslegungsmodell

Empfänger keine klare Vorstellung vom Gemeinten hat oder zweifelt, was der Er­ klärende gemeint haben könnte.221 In zeitlicher Hinsicht beziehen sich die Anhänger der natürlichen Auslegung oft auf das Verständnis der Beteiligten „bei Vornahme“ des Rechtsgeschäfts222 bzw. bei Verträgen auf den Vertragsschlusszeitpunkt223. Da sich die Entstehung eines Rechtsgeschäfts über einen längeren Zeitraum erstrecken kann, das Empfängerver­ ständnis aber immer nur zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt mit einem bestimmten Inhalt existiert und sich ändern kann, ist eine genauere zeitliche Ein­ grenzung erforderlich. Der relevante Zeitpunkt kann dabei nicht der Moment der Abgabe der auszulegenden Erklärung sein 224, weil die Willenserklärung den Emp­ fänger bei Erklärungen unter Abwesenden zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht er­ reicht haben muss. Maßgeblich kann aber auch nicht der Zeitpunkt des Wirksam­ werdens225 durch Zugang226 sein. Denn empfangsbedürftige Willenserklärungen können gemäß §  130 I BGB bereits vor ihrer tatsächlichen Kenntnisnahme zum normativ bestimmten Zugangszeitpunkt wirksam werden.227 Das bei der natürli­ chen Auslegung interessierende tatsächliche Empfängerverständnis besteht aber erst, sobald der Empfänger tatsächlich erstmals Kenntnis von der Erklärung nimmt.228 Darin liegt eine Abweichung vom zeitlichen Horizont der normativen Methode, die auf den Zugangszeitpunkt229 abstellt.230 221  M. Wolf/Neuner, AT (2012), §  35 Rn.  29; Larenz/M. Wolf, AT (2004), §  28 Rn.  29 a. E.; Larenz, AT (1989), 339. 222  Busche, in: MünchKommBGB (2015), §  133 Rn.  14; Werba, Willenserklärung (2005), 49; Lobinger, Verpflichtung (1999), 151 in Fn.  183; Flume, AT II (1992), 300. Vgl. auch Larenz, Metho­ de (1930, 1966), 78: „sogleich in dem vom Erklärenden gemeinten Sinne verstanden“ (Hervorhe­ bung hinzugefügt). 223  Vogenauer, in: HKK‑BGB (2003), §§   133, 157 Rn.  87; Schellhammer, Zivilrecht (1999), Rn.  1970: „von vornherein darüber einig“; Singer, Verbot (1993), 182; Wilhelm, Anfechtung (1990), 95; Canaris, Vertrauenshaftung (1971), 336; Keller, SJZ 57 (1961), 313 (315 bei und in Fn.  14) zum schweizer Recht; Manigk, JherJb 75 (1925), 127 (222); Jacobi, JherJb 70 (1921), 110 (129): „da­ mals“, bezogen auf die Zeit des Vertragsschlusses. Siehe auch die Formulierungen, die im Sinne der verfehlten Redeweise von der „Willensüber­ einstimmung“ auf die Willensübereinstimmung „bei Vertragsschluss“ abstellen: BGH, Urteil vom 6.10.2005, NJW-RR 2006, 281 (282); Urteil vom 22.6.2005, NJW-RR 2005, 1323 (1324). Speziell hiergegen nun auch Gerlach/Manzke, VergabeR 2016 (erscheint demnächst) unter B II 2. 224  So aber Krüger-Nieland, in: RGRK (1982), §  121 Rn.  12, die darauf abstellt, ob der Empfän­ ger den Irrtum „sofort bei Abgabe der Erklärung erkannt“ hat, und Warneyer, BGB-Kommentar I (1923), 219. 225  So aber Trupp, NJW 1990, 1346 (1347 unter V). 226  So aber Reichold, in: jurisPK‑BGB (2014), §  133 Rn.  18 in Fn.  54. Vgl. auch Flad, in: Planck, BGB (1913), 294 (§  121 Anm.  1): beim „Empfang der Willenserklärung“. 227  Arnold, in: Erman (2014), §  130 Rn.  5. 228  Jahr, JuS 1989, 249 (253); Wieser, Einführung (1982), Rn.  277. Vgl. auch Leenen, FS Prölss (2009), 153 (163 in Fn.  44). Eine Begründung der Maßgeblichket des Kenntnisnahmezeitpunkts auf Basis der Interessenanalyse der dualistischen Lehre nunmehr auch bei Gerlach/Manzke, Ver­ gabeR 2016 (erscheint demnächst) unter B II 2. Brox, Einschränkung (1960), 169 stellt bei Auslegung eines Vertragsantrags darauf ab, von welchem Willen der Erklärungsempfänger „bei Abgabe seiner Annahmeerklärung“ ausgegangen

IV. Die natürliche Auslegung nach dem übereinstimmenden Verständnis

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Ein erst später (d. h. nach der erstmaligen Kenntnisnahme) übereinstimmendes Empfängerverständnis aufgrund nachträglichen Erkennens des Gemeinten muss dagegen bei der natürlichen Auslegung unberücksichtigt bleiben. Die Erklärung gilt wegen der anfänglichen Divergenz der Verständnisse bereits anfechtbar mit ihrem normativen Erklärungsgehalt. Könnte sich der Erklärungssinn durch eine nach­ träglich eintretende Verständnisübereinstimmung noch einmal ändern, bliebe zwi­ schenzeitlich bereits entstandenes Vertrauen des Empfängers auf den objektiven Erklärungssinn ungeschützt.231 Die nachträgliche Erkenntnis des Gemeinten schließt lediglich im Falle der Anfechtung den Ersatz von Vertrauensschäden aus, die der Empfänger aufgrund von Dispositionen nach Erkenntnis des Irrtums erleidet (§  122 II Alt. 1 BGB).232 Für die Ermittlung des Empfängerverständnisses bei Kenntnisnahme der Erklä­ rung gelten ähnliche Grundsätze wie für die Feststellung des inneren Willens des Erklärenden bei Erklärungsabgabe.233 Auch hier dürfen sämtliche Umstände heran­ gezogen werden, die Aufschluss darüber geben, welche Bedeutung der Empfänger der Erklärung entnommen hat. Der „objektive“ Inhalt der Erklärung selbst spielt dabei zwar auch eine wichtige Rolle, weil es nach der Lebenserfahrung naheliegt, dass die Erklärung auch in diesem Sinne aufgefasst wurde. Insofern ist auch für die Feststellung des tatsächlichen Empfängerverständnisses von einer Vermutung ob­ jektiv richtigen Verständnisses auszugehen.234 Doch andere Umstände, wie insbe­ sondere Äußerungen des Empfängers oder sonstiges Verhalten nach Wahrnehmung der Erklärung können ergeben, dass er die Erklärung in einem anderen Sinne auf­ ist. Er erläutert nicht, warum der Antrag anders behandelt werden soll als die Willenserklärung beim einseitigen Rechtsgeschäft, für die dieser Zeitpunkt mangels Gegenerklärung von vorn­ herein nicht in Betracht kommt. Soweit Brox damit der Berücksichtigung von Änderungen des Empfängerverständnisses nach der erstmaligen Erklärungsaufnahme ein schmales Zeitfenster öffnet, berührt dies die im kritischen Teil dieser Untersuchung behandelte Frage, ob die natürliche Auslegung der Dynamik nachträglicher Verständnisentwicklungen überhaupt gerecht wird. 229  Dazu bereits III 2 b bb. 230 Zu schwierigen Anschlussfragen, die sich aufgrund der unterschiedlichen Zeithorizonte stellen, siehe noch §  4 III 2. 231  So auch Gerlach/Manzke, VergabeR 2016 (erscheint demnächst) unter B II 2. 232  Vgl. die Differenzierung der Rechtsfolgen des anfänglich (Rechtsfolge: natürliche Ausle­ gung) und nachträglich (Rechtsfolge: §  122 II BGB) durchschauten Irrtums bei Faust, AT (2016), §  23 Rn.  13; Franzen, in: jurisPK‑BGB (2014), §  122 Rn.  17 f.; Singer, in: Staudinger (2012), §  119 Rn.  40, §  122 Rn.  17; U. Huber, FS Medicus (2009), 199 (201 in Fn.  6a); Trupp, NJW 1990, 1346 (1347); Krüger-Nieland, in: RGRK (1982), §  121 Rn.  12; Wieling, AcP 172 (1972), 297 (300 in Fn.  15); Larenz, Methode (1930, 1966), 79 f. in Fn.  2; Oertmann, Rechtsordnung (1914), 105 f.; Flad, in: Planck (1913), 294 (§  121 Anm.  1); Jacobsohn, JherJb 56 (1910), 329 (362); Danz, JherJb 46 (1904), 381 (426). 233  Lüderitz, Auslegung (1966), 338 f. Wieser, AcP 189 (1989), 112 (113) verweist auf Parteibe­ fragung und Beweisaufnahme. 234 Vgl. F. Bydlinski, Privatautonomie (1967), 11, 30; ders., ZAS 1976, 83 (85); ders., BJM 1982, 1 (15); ders., System (1996), 165 und Rummel, Vertragsauslegung (1972), 93, die das tatsächliche Empfängerverständnis materiell-rechtlich im Rahmen der normativen Auslegung für relevant ­halten.

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§  3 Das dualistische Auslegungsmodell

gefasst hat. Bei der natürlichen Auslegung finden dann auch diese Umstände als Erkenntnismittel für die Erschließung des Empfängerverständnisses Beachtung – selbst wenn sie für den Erklärenden weder vorhersehbar noch erkennbar waren.

V. Der Vorrang der natürlichen vor der normativen Auslegung 1. Der grundsätzliche Vorrang der natürlichen Auslegung Das Nebeneinander zweier verschiedener Auslegungsmethoden für empfangsbe­ dürftige Willenserklärungen erzeugt im dualistischen Auslegungsmodell ein Kon­ kurrenzverhältnis. Die Erklärung kann im Ergebnis nur eine, und nicht zwei ver­ schiedene rechtsverbindliche Bedeutungen haben. In der eingangs zitierten Ent­ scheidung des BGH vom 26.10.1983 heißt es hierzu, „der wirkliche Wille des Erklärenden geht, wenn alle Beteiligten die Erklärung übereinstimmend in eben diesem selben Sinne verstanden haben, nicht nur dem Wortlaut, sondern jeder an­ derweitigen Interpretation vor“235. Die natürliche Auslegung als erste Stufe des Auslegungsvorgangs hat somit „Vorrang“236 und verdrängt in ihrem Anwendungs­ bereich die nur „subsidiär“237 eingreifende normative Methode auf der zweiten Stu­ fe. Dabei spielt es keine Rolle, ob man die natürliche Auslegung als die Grundregel begreift, bei deren Scheitern „ausnahmsweise“ die normative Auslegung ein­ greift238, oder die normative Auslegung für den Grundsatz hält, den lediglich bei übereinstimmendem Verständnis der Beteiligten eine Ausnahme durchbricht239. Es handelt sich lediglich um unterschiedliche Darstellungsformen derselben Rechtsre­ 235  BGH, Urteil vom 26.10.1983, NJW 1984, 721. Ständige Rspr.: RG, Urteil vom 10.11.‌1905, RGZ 62, 49 (50); BGH, Urteil vom 14.3.1956, LM Nr.  2 zu §  157 (Gf.) BGB; Urteil vom 26.4.1978, BGHZ 71, 243 (247); Urteil vom 25.3.1983, BGHZ 87, 150 (153); Urteil vom 20.11.1987, NJW‑RR 1988, 265; Urteil vom 30.4.1992, NJW 1992, 2489; Urteil vom 20.11.1992, NJW‑RR 1993, 373; Urteil vom 14.1.1993, NJW 1993, 1325 (1326); Urteil vom 31.1.1995, NJW 1995, 1212 (1213); Urteil vom 29.3.‌1996, NJW 1996, 1678 (1679); Urteil vom 7.12.2001, NJW 2002, 1038 (1039); Urteil vom 21.4.‌2015, MDR 2015, 1191 Tz 17. Aus der Lehre in diesem Sinne Busche, in: MünchKommBGB (2015), §  133 Rn.  14; Armbrüster, in: Erman (2014), §  155 Rn.  2; Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  6, 11; Looschelders, in: NK‑BGB (2012), §  133 Rn.  46; Leenen, FS Prölss (2009), 153 (161); Hefermehl, in: Soergel (1999), §  133 Rn.  1, 13 f.; M. Wolf, in: Soergel (1999), §  157 Rn.  16; Martinek, JuS 1997, 136 (139 [Prof.]); Larenz, AT (1989), 338 f.; Wieser, JZ 1985, 407 (408); Krüger-Nieland/‌Zöller, in: RGRK (1982), §  133 Rn.  7; Stathopoulos, FS Larenz (1973), 357 (365, 367); Bailas, Problem (1962), 9, 29; Brox, Einschränkung (1960), 100 f., 192 f.; Enneccerus/‌Nipperdey, AT I/2 (1960), 1032, 1250. 236  BGH, Urteil vom 26.10.1983, NJW 1984, 721, Leitsatz; Ellenberger, in: Palandt (2016), §  133 Rn.  8; Busche, in: MünchKommBGB (2015), §  133 Rn.  14; Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  12. 237  Manigk, JherJb 75 (1925), 127 (215); Kramer, Grundfragen (1972), 134. 238  So etwa Kramer, Grundfragen (1972), 134; Martinek, JuS 1997, 136 (139 [Stud. K.]): Aus­ nahmecharakter des falsa-Satzes fraglich. 239 So Dörner, in: HK‑BGB (2014), §  133 Rn.  8 f.; Faust/Wiese, in: Confiance (2007), 99 (104); Vogenauer, in: HKK‑BGB (2003), §§  133, 157 Rn.  84; Trupp, NJW 1990, 1346 unter I, Canaris,

V. Der Vorrang der natürlichen vor der normativen Auslegung

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gel, da die natürliche Auslegung selbstverständlich auch als „Ausnahme“ stets Vor­ rang vor der normativen Auslegung hat.240 Nach dem Grundgedanken der natürlichen Auslegung ist jede Normativierung bei Gelingen der Verständigung zwischen den Beteiligten sinnlos und schädlich. Ihre die normative Methode verdrängende Wirkung unterscheidet nicht danach, welchen Inhalt die Willenserklärung bei normativer Auslegung gehabt hätte. Eine nach dem objektiven Empfängerhorizont noch so eindeutig auf x lautende Erklärung kann im Ergebnis die Bedeutung y haben, wenn der Erklärende y meinte und der Empfänger bei Kenntnisnahme von y ausging.241 Mittelbar kann dadurch ein Vertrag, der bei normativer Auslegung aufgrund inkongruenter Willenserklärungen am Dissens ge­ scheitert wäre, im Falle gleichlautender beidseitiger Verständnisse der Erklärungen doch zustande kommen 242 , ebenso wie umgekehrt trotz normativ kongruenter Erklä­ rungen der Vertrag scheitert, wenn die Beteiligten einer der Erklärungen eine ab­ weichende Bedeutung beilegen (Dissens) oder sogar beide Erklärungen für unver­ bindlich halten und deshalb nicht von einem Vertragsschluss ausgehen 243.

2. Das Rangverhältnis im Prozess: Keine Sperrwirkung der ersten Auslegungsstufe im Falle eines non liquet Die dualistische Redeweise von der „Zweistufigkeit der Interpretationsarbeit“244 bedarf einer Präzisierung im Hinblick auf die prozessualen Konsequenzen des System (1986), 103 (105): „grundsätzlich“ werde normativ ausgelegt; Diederichsen, FS Juristische Gesellschaft zu Berlin (1984), 81 (82). 240  Himmelschein, Beiträge (1930), 27 f. in Fn.  29. 241 Vgl. Larenz/M. Wolf, AT (2004), §  28 Rn.  28. 242 Vgl. Bork, in: Staudinger (2015), §  155 Rn.  10; Backmann, in: jurisPK‑BGB (2014), §  155 Rn.  6 und Hart, in: AK‑BGB (1987), §  119 Rn.  10, die jeweils auf die Willensübereinstimmung abstellen. A. A. Diederichsen, FS Juristische Gesellschaft zu Berlin (1984), 81 (86 f.), mit der Be­ gründung, die Parteien müssten den Vertrag auch „objektiv in ihren Erklärungen irgendwie ‚zur Existenz bringen‘“. Willenserklärungen seien „nicht nur für die Parteien selbst bestimmt, sondern auch für Dritte, etwa für Gerichte, die sich mit einer derartigen Vereinbarung befassen müssen“. Diese Überlegungen überzeugen nicht. Sie würden nicht nur jegliche natürliche Methode aus­ schließen, deren Ergebnis – soweit es auf sie einmal neben der normativen Methode ankommt – niemals „objektiv in den Erklärungen zur Existenz kommt“. Darüber hinaus sind sie auch unver­ einbar mit der normativen Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont, die auf die Per­ spektive und Interessen unbeteiligter Dritter ebenfalls keine Rücksicht nimmt (vgl. Gerlach/ Manzke, VergabeR 2016 [erscheint demnächst] unter B II 1). 243  Zu letzterem Fall Rehberg, Rechtfertigungsprinzip (2014), 947 f.; Leenen, FS Prölss (2009), 153 (163); Lorenz, Schutz (1997), 237 in Fn.  136; Flume, AT II (1992), 623. A. A. Diederichsen, FS Juristische Gesellschaft zu Berlin (1984), 81 (88 f.) mit Argumenten, die – von Diederichsen nicht erkannt – grundsätzliche Bedenken gegen die natürliche Methode aufwerfen (dazu noch §  8 Fn.  35). 244  Kramer, Grundfragen (1972), 141. Siehe auch BGH, Urteil vom 26.10.1983, NJW 1984, 721 und Mansel, in: Jauernig (2015), 133 Rn.  9: „mehrere Stufen“.

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§  3 Das dualistische Auslegungsmodell

Rangverhältnisses. Die Formulierung legt die Vorstellung nahe, es müssten im Pro­ zess stets zunächst auf der ersten Stufe die inneren Verständnisse der Beteiligten ermittelt werden, bevor auf der zweiten Stufe die normative Methode zum Zuge kommen kann, falls die Verständnisse der Beteiligten nachweisbar divergieren. Dies trifft aber nicht zu. Die Anwendbarkeit der normativen Methode hängt tatbe­ standlich nicht davon ab, dass das Gericht zu der Überzeugung gelangt, die Betei­ ligten hätten die Willenserklärung unterschiedlich verstanden.245 Anderenfalls wäre auch bei Unerweislichkeit des inneren Verständnisse, also beim wohl recht häufigen non liquet auf der ersten Stufe, der Zugriff auf die normative Auslegungs­ methode versperrt – mit der nicht einleuchtenden Konsequenz, dass eine Pro­zess­ partei, die beweisen kann, wie die Erklärung verstanden werden musste, nur des­ halb unterläge, weil sie nicht darüber hinaus auch noch beweisen kann, wie die Willenserklärung tatsächlich verstanden wurde.246 Die normative Methode ist nicht nur maßgeblich, wenn eine Verständnisdivergenz positiv feststeht, sondern auch schon dann, wenn eine Verständnisübereinstimmung nicht feststeht.247 Einer Prozesspartei, die ein bestimmtes Auslegungsergebnis anstrebt und die deshalb hinsichtlich des hierfür zugrundegelegten Auslegungsmaterials die Be­ weislast trifft, stehen somit letztlich beide Auslegungsmethoden wahlweise248 zur Verfügung. Sie kann vortragen und im Bestreitensfall beweisen, die Beteiligten hät­ ten die Willenserklärung übereinstimmend in dem von ihr angestrebten Sinne ver­ standen (natürliche Methode). Sie kann aber auch die erste Stufe überspringen, in­ dem sie auf die inneren Verständnisse der Beteiligten mit keinem Wort eingeht und ausschließlich zum normativ relevanten Auslegungsmaterial vorträgt (und im Be­ streitensfall den Beweis antritt), aus dem sich der von ihr angestrebte Erklärungs­ sinn ergibt (normative Methode).249 Gelingt ihr letzteres, dann obliegt es dem Geg-

245  A. A. Wieser, Einführung (1982), Rn.  363. Aufgegeben von ders., JZ 1985, 407 (409): An­ wendung der normativen Methode auch bei einem non liquet auf der ersten Stufe. 246 Vgl. Wieser, Einführung (1982), Rn.  363. 247  Vgl. die entsprechenden Formulierungen bei BGH, Urteil vom 26.10.1983, NJW 1984, 721 („Gelingt es dagegen nicht festzustellen […]); Urteil vom 5.4.1989, BeckRS 1989, 31073374 unter I 2; Reichold, in: jurisPK‑BGB (2014), §  133 Rn.  19; Hefermehl, in: Soergel (1999), §  133 Rn.  22; M. Wolf, in: Soergel (1999), §  157 Rn.  1 a. E.; Martinek, JuS 1997, 136 (139 [Prof.]): „Nur soweit sich ein natürlicher Konsens nicht ermitteln lässt, werden die Maßstäbe normativ-objektiven Aus­ legung bedeutsam.“; Flume, AT (1992), 302. 248  Es ist der Partei freilich unbenommen, sogar kumulativ ein übereinstimmendes Parteiver­ ständnis und ein zum selben Erklärungssinn führendes Auslegungsmaterial darzulegen. 249  Vgl. BGH, Urteil vom 24.6.1988, NJW 1988, 2878 unter I 2 b, der lediglich feststellt, die Parteien hätten ein übereinstimmendes Verständnis nicht vorgetragen, und sodann zur normativen Auslegung übergeht. Siehe auch BGH, Urteil vom 24.2.‌1988, BGHZ 103, 275 (280): für die Ausle­ gung sei „in erster Linie maßgebend, wie (…) der Kl. [die Willenserklärung] als Erklärungsemp­ fänger verstehen durfte“ (Hervorhebung hinzugefügt). Ähnlich BGH, Urteil vom 31.1.1995, NJW 1995, 1212 (1213): Vertragsauslegung habe „in erster Linie den von den Parteien gewählten Wort­ laut der Erklärungen und den diesem zu entnehmenden objektiv erklärten Vertragswillen zu be­ rücksichtigen“ (Hervorhebung hinzugefügt).

V. Der Vorrang der natürlichen vor der normativen Auslegung

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ner, ein davon abweichendes übereinstimmendes Verständnis zu beweisen.250 Im dualistischen Modell führt der gelungene Nachweis der Voraussetzungen der nor­ mativen Methode somit zu einer Beweislastumkehr im Hinblick auf die natürliche Methode.251 Bei gelungenem Nachweis der tatsächlichen Voraussetzungen der nor­ mativen Erklärungsbedeutung durch eine Prozesspartei kommt die natürliche Me­ thode nur noch als Einwendung des Gegners gegen die Maßgeblichkeit der norma­ tiven Methode zum Tragen.

3. Ausnahme vom Vorrang der natürlichen Auslegung bei ausdrücklicher Verwahrung (protestatio facto contraria non valet)? Eine einzige Einschränkung des Vorrangs der natürlichen vor der normativen Aus­ legung wird verbreitet anerkannt, auch wenn sie nirgendwo als solche eingeordnet wird. Unter Berufung auf das Rechtssprichwort protestatio facto contraria non valet nimmt die wohl noch immer überwiegende Lehre an, ein seinem typischen Aus­ sagegehalt nach als Vertragsannahme zu wertendes Verhalten führe auch dann zum Vertragsschluss, wenn der Handelnde dem Empfänger rechtzeitig252 und unzweifel­ haft253 durch verbalen Protest (Verwahrung) erkennbar gemacht habe, dass er durch sein Verhalten keinen Vertrag schließen will. Ein geläufiges Beispiel ist der be­ 250  Vgl. BGH, Urteil vom 5.7.2002, NJW 2002, 3164 (3165) und Urteil vom 31.5.‌ 1995, NJW 1995, 3258 auf Basis der Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit von Urkunden. Diese Beweislastverteilung ist konsequenterweise im dualistischen Auslegungsmodell auch dann, wenn man sich von der Fixierung auf den Urkundenwortlaut löst, allgemein auf das Verhältnis von nor­ mativ Erklärtem und übereinstimmendem Verständnis zu übertragen. Selbst wenn die Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit der Urkunde also durch den Nachweis urkundenexterner, aber zum objektiven Empfängerhorizont gehöriger Begleitumstände bereits entkräftet ist und die Er­ klärung deshalb statt des Urkundenwortlauts x die (immer noch „objektive“) Bedeutung y hat, kann y wiederum durch den Nachweis eines hiervon abweichenden übereinstimmenden Verständ­ nisses (z oder ggf. sogar wieder x) entkräftet werden. Die Darlegungs- und Beweislast für das ab­ weichende übereinstimmende Verständnis trifft dann denjenigen, der das normative Auslegungs­ ergebnis y angreift. So i. E. auch Pecher, WuB IV A. §  313 BGB 1.87, Bl.  356 unter 3 b. Siehe auch Schellhammer, Zivilrecht (1999), Rn.  1959 und Stathopoulos, FS Larenz (1973), 357 (365 f.), der von einer auf der allgemeinen Lebenserfahrung beruhenden tatsächlichen Vermutung ausgeht. 251  Vgl. BGH, Urteil vom 11.9.2000, NJW 2001, 144 (145); Ellenberger, in: Palandt (2016), §  133 Rn.  29; Köhler, AT (2015), §  9 Rn.  13; Looschelders, in: NK‑BGB (2012), §  133 Rn.  100; M. Wolf/ ‌Neuner, AT (2012), §  35 Rn.  27 in Fn.  50. Auch diese Aussagen beziehen sich allerdings nur auf das Verhältnis von (Urkunden‑)‌Wortlaut bzw. allgemeinem Sprachgebrauch einerseits und überein­ stimmendem Verständnis bzw. Willen andererseits, nicht auf das Verhältnis von individuell-nor­ mativem Auslegungsergebnis und übereinstimmendem inneren Verständnis. 252  Uninteressant sind Fälle, in denen der Handelnde den Protest erst nach seinem Verhalten erhebt. Der Erklärungssinn seines Verhaltens und die daraus folgende Bindung stehen dann schon fest, Wolff, JherJb 81 (1931), 53 (108); Kellmann, NJW 1971, 265 (268); Teichmann, FS Michaelis (1972), 294 (304); Hübner, AT (1996), Rn.  1015; Kramer, in: MünchKommBGB (2006), Vor §  116 Rn.  40. 253  Uninteressant sind auch Fälle, in denen der Handelnde zwar vorher protestiert, sein späteres

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§  3 Das dualistische Auslegungsmodell

rühmte Hamburger Parkplatzfall des BGH254, in dem eine Autofahrerin mehrfach ihren Wagen auf dem Hamburger Rathausmarkt abstellte und den Parkplatzwäch­ tern erklärte, sie lehne die Bezahlung des Entgelts ab. Der BGH nahm an, durch Benutzung des Parkplatzes werde ein vertragliches Rechtsverhältnis begründet, das den Kraftfahrer zur Zahlung des Entgelts verpflichtete. „Auf seine etwaige abweichende innere Einstellung – mag sie auch von dem parklustigen Kraftfahrer bei Beginn des Parkens dem Ordner der Klägerin gegenüber zum Ausdruck gebracht worden sein – kommt es nicht an.“255

Als weitgehend überwunden gilt die hierfür vom BGH in der Entscheidung gegebe­ ne Begründung des Vertragsschlusses mittels eines besonderen, vom Rechtsfolge­ willen unabhängigen Verpflichtungsgrundes des sozialtypischen Verhaltens, das zu einem faktischen Vertragsverhältnis führe.256 Stattdessen überwiegt heute die Auf­ fassung, ein Vertrag lasse sich innerhalb der gewohnten Bahnen der Rechtsge­ schäftslehre durch Auslegung begründen, indem das tatsächliche Verhalten als „eindeutig“ und der Protest als widersprüchlich und daher normativ unbeachtlich behandelt wird.257 Dieses Ergebnis kann, wenn man es denn über die Auslegung herleiten möchte, nur das Produkt einer normativen, d. h. wertenden Deutung des Verhaltens sein. Selbst die größten Verrenkungen bei der normativen Auslegung können aber nichts daran ändern, dass dem Erklärenden innerlich der rechtsgeschäftliche Wille fehlt und der Empfänger dies bei einer ihm rechtzeitig und deutlich zur Kenntnis gebrachten Verwahrung meist auch erkennt und weiß258. Der Empfänger mag sich Verhalten objektiv aber als Aufgabe des Protests zu deuten ist, Teichmann, FS Michaelis (1972), 294 (296). 254  BGH, Urteil vom 14.7.1956, BGHZ 21, 319. 255  BGH, Urteil vom 14.7.1956, BGHZ 21, 319 (334 f.). 256  BGH, Urteil vom 14.7.1956, BGHZ 21, 319 (333–335) m.Nachw. zu entsprechenden älteren Literaturauffassungen; zust. Larenz, NJW 1956, 1897 ff. 257  BGH, Urteil vom 9.5.2000, 3429 (3431); Urteil vom 26.1.2005, NJW‑RR 2005, 639 (640); BAG, Urteil vom 19.1.2005, BeckRS 2005, 30349196 unter II 2 b a. E.; Bork, AT (2016), Rn.  744; Ellenberger, in: Palandt (2016), Vor §  145 Rn.  26; Brox/Walker, AT (2015), Rn.  194 a. E.; Busche, in: MünchKommBGB (2015), §  133 Rn.  56; Musielak/Hau, Grundkurs BGB (2015), Rn.  185; Armbrüster, in: Erman (2014), Vor §  145 Rn.  43; Pfeiffer, in: jurisPK‑BGB (2014), §  242 Rn.  60; Reichold, in: jurisPK‑BGB (2014), §  133 Rn.  8; Rüthers/Stadler, AT (2014), §  19 Rn.  34; Wertenbruch, AT (2014), §  10 Rn.  22; Bitter, AT (2013), §  5 Rn.  67, §  13 (Fall Nr.  18, S.  200); Weiler, Schuldrecht AT (2013), §  3 Rn.  5; Eckert, in: Bamberger/Roth (2012), §  145 Rn.  45 a. E.; Looschelders, in: NK‑BGB (2012), §  133 Rn.  33; Thomale, Leistung (2012), 87; Wendtland, in: Bamberger/Roth (2012), §  133 Rn.  9; Fikentscher/‌Heinemann, Schuldrecht (2006), Rn.  79; Hefermehl, in: Soergel (1999), Vor §  116 Rn.  39; Schimmel, JA 1998, 979 (981); Weth, JuS 1998, 795 (796 f.); Peters, AT (1997), 75; Winkler von Mohrenfels, JuS 1987, 692 (693); Diederichsen, JurAnalysen 1969, 71 (77); Wieacker, FS OLG Celle (1961), 263 (269 f.); ders., JZ 1957, 61. Mit anderer Begründung Willoweit, Abgrenzung (1969), 105 f.: unbeachtliche Rechtsmeinung. 258  Lobinger, Verpflichtung (1999), 73; Frotz, Verkehrsschutz (1972), 429: „[E]xistiert über­ haupt ein Verhalten, das als Verwahrung rechtserheblich sein könnte, dann weiß der Gegner oder muß er zumindest wissen, daß ein Geschäftswille fehlt.“ (Hervorhebung hinzugefügt).

V. Der Vorrang der natürlichen vor der normativen Auslegung

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den Rechtsfolgewillen des Handelnden wünschen, ihn wegen der sozialen Inad­ äquanz des Verhaltens geradezu verlangen, und trotzdem wird aus einem „Verste­ henwollen“ bzw. normativ gemeinten „Verstehendürfen“259 kein tatsächliches „Ver­ ständnis“, aus einem „Sollen“ kein „Sein“. Bei Anwendung der natürlichen Ausle­ gungsmethode käme man nicht umhin, wegen des kongruenten Verständnisses des Verhaltens als Nicht-Erklärung von einem rechtsgeschäftlichen Nullum auszuge­ hen. Damit der Vorrang der natürlichen Auslegung nicht das Zustandekommen ei­ nes Vertrages durchkreuzen kann, bleibt auf Basis der herrschenden Lehre gar nichts anderes übrig, als in den protestatio-Fällen die natürliche Methode außer Kraft zu setzen und insoweit der normativen Auslegung den Vorrang einzuräumen. Eine die natürliche Auslegungsmethode erhellende Grenze markiert dies alles indes nicht. Die Durchbrechung des „Vorrangs“ der natürlichen Auslegung ist ledig­ lich ein bislang kaum 260 zur Kenntnis genommenes Anzeichen dafür, welch prinzi­ pienumstürzende Wirkung die herrschende Lösung der protestatio-Fälle mit sich bringt – und zwar ganz unabhängig davon, ob die erläuternde Auslegung natürlich oder normativ erfolgt. Diese Veränderung schiebt nicht nur die ansonsten für selbst­ verständlich gehaltene natürliche Methode beiseite, sondern löst auch entgegen §  133 Hs.  1 BGB die letzte Verknüpfung der normativen Methode mit dem wirkli­ chen Willen und damit der Privatautonomie des Erklärenden auf261. „Der Wille wird als maßgeblicher Bezugspunkt der Auslegung aufgegeben.“262 Zugleich verliert die Verteilung von Missverständnisrisiken die Stellung als Leitgedanke, der dem heuti­ gen dualistischen Auslegungsmodell seine Gestalt gibt. Ginge es in den protesta­ tio-Fällen noch um eine sachgerechte Verteilung des Missverständnisrisikos, müss­ te nämlich das Ergebnis eindeutig zugunsten der Berücksichtigung der Verwahrung ausfallen: Eine hinreichend deutliche Verwahrung verhindert die Entstehung eines Vertrauenstatbestands263, der die Schutzwürdigkeit eines etwaigen Vertrauens auf 259 Vgl. Wieacker, FS OLG Celle (1961), 263 (269) und Hefermehl, in: Soergel (1999), Vor §  116 Rn.  39, die für ausschlaggebend halten, wie die Erklärung „verstanden werden durfte“. „Verstehen­ dürfen“ in diesem Sinne ist nicht mehr darauf bezogen, was der Empfänger im Rahmen seiner Verständnismöglichkeiten als den vermeintlichen tatsächlichen Willen verstehen durfte, sondern welchen Willen er aufgrund einer vorausgesetzten Rechtsregel normativ unterstellen, d. h. fingie­ ren darf. Siehe die entsprechende Kritik von F. Bydlinski, Privatautonomie (1967), 97 f.; Teichmann, FS Michaelis (1972), 294 (300): Umleitung „des Interpretationsakts von der Tatsachener­ mittlung auf eine rechtliche Wertung“; Köhler, JZ 1981, 464 (465). Vgl. auch Wilburg, AcP 163 (1964), 346 (369): kein „Verstehendürfen“. 260  Siehe aber Teichmann, FS Michaelis (1972), 294 (301), der der Sache nach den Vorrang der natürlichen Auslegung reklamiert, indem er hervorhebt, die normative Auslegungsmethode erlau­ be „nicht, das Verständnis beider Parteien über den Inhalt ihrer Erklärung beiseite zu wischen“. Vgl. auch Lobinger, Verpflichtung (1999), 73. 261  Von einem Verstoß gegen die Privatautonomie des Handelnden sprechen M. Wolf/Neuner, AT (2012), §  37 Rn.  47; Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  59; Scherner, AT (1995), 316. 262  Lobinger, Verpflichtung (1999), 74. 263  M. Wolf, in: Soergel (1999), Vor §  145 Rn.  104; Hübner, AT (1996), Rn.  1015; Teichmann, FS Michaelis (1972), 294 (300); Canaris, Vertrauenshaftung (1971), 446; Gudian, JZ 1967, 303 (306 f.); Wilburg, AcP 163 (1964), 346 (369).

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§  3 Das dualistische Auslegungsmodell

den Rechtsfolgewillen des Erklärenden erst begründen könnte, und – wie sich bei Anwendung der natürlichen Methode zeigt – meist sogar schon die Entstehung von Vertrauen 264, wenn der Empfänger vor der Verwahrung nicht die Augen verschließt. Angesichts der ausdrücklichen Verwahrung dürfen weder der Empfänger noch der Erklärende265 davon ausgehen, das Verhalten sei „schlüssig“ in dem Sinne, dass es einen Rückschluss auf einen bestimmten Willen zulasse.266 Der protestatio-Satz stellt die Auslegung in den Dienst ganz anderer Wertungen, wie etwa derjenigen, Leistungsanbietern im öffentlichen Massengeschäft die Zu­ mutung ersparen zu wollen, auf ihnen bekannt gewordene Verwahrungen reagieren zu müssen 267. Dadurch entsteht eine ansonsten unbekannte Befugnis des Empfän­ gers, das Fehlen des Rechtsfolgewillens des Erklärenden bewusst ignorieren und ihn – ohne Anfechtungsmöglichkeit268 – an einer erkennbar nicht gewollten Rechts­ folge festhalten zu dürfen. Der Widerspruch, der sich auftut im Vergleich zur Be­ handlung des Diebes im Selbstbedienungsladen, der auf die Verwahrung verzichtet und die Sache heimlich an sich nimmt, ist eklatant.269 Der Dieb im Warenhaus kann sich auf die Heimlichkeit seines Vorgehens berufen, um seinem erkennbar fehlen­ den Willen zum Abschluss eines Kaufvertrags Beachtung zu verschaffen. Der Ver­ wahrende dagegen dürfte nach dem protestatio-Satz trotz seiner sogar offen und gerade heraus erhobenen ausdrücklichen Verwahrung nicht geltend machen, er­ kennbar keinen Vertrag gewollt zu haben.270 Mit guten Gründen wird die Konstruk­ tion eines Vertragsschlusses in den protestatio-Fällen im Wege der erläuternden Auslegung denn auch mittlerweile verbreitet abgelehnt271 und der Leistende auf 264  F. Bydlinski, Privatautonomie (1967), 96; Teichmann, FS Michaelis (1972), 294 (300); Scherner, AT (1995), 315 und Lambrecht, Lehre (1994), 135: Vertrauen könne nicht entstehen. 265  Zur Bedeutung eines etwaigen schutzwürdigen Vertrauens des Erklärenden noch §  14. Dort wird dargelegt werden, warum es zur gerechten Verteilung von Missverständnisrisiken auch ein­ mal begründet sein kann, Verständnismöglichkeiten des Empfängers bei der normativen Ausle­ gung nicht zu berücksichtigen. Dies geschieht aber aus anderen Gründen als denjenigen, die in den protestatio-Fällen die herrschende Auffassung zur Übergehung der Verwahrung veranlassen. Die in §  14 entwickelte Lösung lässt auch die Möglichkeit der Irrtumsanfechtung unberührt (anders die h.M. in den protestatio-Fällen, siehe noch die Nachw. in §  3 Fn.  268). 266  F. Bydlinski, JBl 1968, 491. 267  So die von Schermaier, in: HKK‑BGB (2003), §§  116–124 Rn.  37 mit §  116 BGB in Verbin­ dung gebrachte Wertung in den protestatio-Fällen. 268  Die Entkoppelung vom Prinzip der Privatautonomie zeigt sich besonders deutlich am Aus­ schluss des Anfechtungsrechts nach §  119 I BGB, der bei der h.M. – wenn auch meist unausgespro­ chen (explizit Fikentscher/Heinemann, Schuldrecht [2006], Rn.  79; Hart, in: AK‑BGB [1987], §§  133, 157 Rn.  18; Nikisch, FS Dölle I [1963], 79 [88], der den Irrtum verneint) – mitgedacht wer­ den muss (vgl. Gudian, JZ 1967, 303 [305, 306, 307]; Teichmann, FS Michaelis [1972], 294 [305]; Frotz, Verkehrsschutz [1972], 429 in Fn.  1030). 269 Vgl. Teichmann, FS Michaelis (1972), 294; Kellmann, NJW 1971, 265 (268). 270  Ausdrücklich für eine unterschiedliche Behandlung beider Fälle Ellenberger, in: Palandt (2016), Vor §  145 Rn.  26; P. Huber, in: Staudinger-Eckpfeiler (2014), D Rn.  68; Wendtland, in: Bamberger/Roth (2012), §  133 Rn.  9. 271  Singer, in: Staudinger (2012), §  116 Rn.  6 a. E., §  133 Rn.  60; Kramer, in: MünchKommBGB (2006), Vor §  116 Rn.  26, 40; Lobinger, Verpflichtung (1999), 73 f.; Eckardt, BB 1996, 1945 (1949);

VI. Scheitern der Auslegung: Unbestimmte Willenserklärungen

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Ansprüche aus gesetzlichen Schuldverhältnissen (§§  812, 823, 987 ff. BGB) verwie­ sen 272. Als Ergebnis bleibt festzuhalten, dass das Problem der protestatio – wenn über­ haupt – die erläuternde Auslegung als Ganzes erfasst. Als Regelung der Auslegung würde der protestatio-Satz nicht einfach nur die natürliche Methode außer Kraft setzen, sondern auch der normativen Methode ein hier abgelehntes, systemwidriges Gepräge geben. Mit dem protestatio-Satz verbinden sich somit keine spezifischen Fragen, die speziell den hier untersuchten Unterschied zwischen der natürlichen und der normativen Methode berühren. Auf ihn wird daher im kritischen Teil der Untersuchung nicht noch einmal einzugehen sein.

VI. Scheitern der Auslegung: Unbestimmte Willenserklärungen 1. Die unbestimmte Willenserklärung: Phänomenologie und Rechtsfolge Eine noch so gewissenhaft betriebene Auslegung kann nicht verhindern, dass sich ausnahmsweise einmal kein eindeutiges Auslegungsergebnis ergibt. Die fehlende Eindeutigkeit kann viele Formen haben. Die Erklärung kann vollständig unklar und deshalb „überhaupt nicht zu verstehen“273 sein (Beispiel: Völlige Entstellung eines sinntragenden Wortes aufgrund eines Übermittlungsfehlers), sie kann mehrere po­ tentielle Bedeutungen haben, von denen auch die Begleitumstände keine mit hinrei­ chender Sicherheit als die gemeinte ausweisen (mehrdeutige Erklärung; Beispiel: Vereinbarung von Zahlung in „Dollar“ – kanadische, australische oder US-ameri­ Scherner, AT (1995), 315 f.: „keine Auslegung mehr, die den §§  133 und 157 folgt“; Singer, Verbot (1993), 51; Köhler, JZ 1981, 464 (465 f.); Frotz, Verkehrsschutz (1972), 428 f.: hat „mit Schlüssigkeit und Auslegung nichts zu tun“; Teichmann, FS Michaelis (1972), 294 (302). Siehe bereits Wolff, JherJb 81 (1931), 53 (108). Vgl. auch Wilburg, AcP 163 (1964), 346 (369) und Larenz, NJW 1956, 1897 (1899), für den die konkludenzzerstörende Wirkung der Verwahrung, über die „keine ‚Inter­ pretation‘ hinwegkommt“, ein wesentlicher Grund war, die Lösung außerhalb der klassischen Rechtsgeschäftslehre im besonderen Verpflichtungsgrund des sozialtypischen Verhaltens zu su­ chen. 272  Faust, AT (2016), §  3 Rn.  2; Leenen, AT (2015), §  8 Rn.  60 f.; Mansel, in: Jauernig (2015), Vor §  145 Rn.  20; Riehm, AT (2015), Rn.  242: Nichtigkeit wegen Perplexität; Boemke/Ulrici, AT (2014), §  7 Rn.  52 unter 3.; M. Wolf/‌Neuner, AT (2012), §  37 Rn.  47; Brehm, AT (2008), Rn.  534; M. Wolf, in: Soergel (1999), Vor §  145 Rn.  104 (anders noch ders., in: Grundlagen [1972], 59 [136 f.]); Hübner, AT (1996), Rn.  1015 (anders noch ders., FS Nipperdey I [1965], 373 [377]); Scherner, AT (1995), 316; Kellmann, NJW 1971, 265 (268); F. Bydlinski, Privatautonomie (1967), 99– 102; ­G udian, JZ 1967, 303 (307 f.). Andere wollen den Vertragsschluss aufgrund einer offen als solchen bezeichneten Einschränkung der Privatautonomie und somit durch Nichtberücksichtigung des Fehlens des Rechtsfolgewillens begründen, Frotz, Verkehrsschutz (1972), 429; Teichmann, FS Michaelis (1972), 294 (305 f., 314); Petersen, AT (2013), §  15 Rn.  6; Medicus/‌Petersen, BR (2015), Rn.  191. „Das ist aber im Grunde das, was die Lehre vom faktischen Vertrag und sozialtypischen Verhalten behauptet.“ (Scherner, AT [1995], 316; ebenso Köhler, JZ 1981, 464 [467]). 273  Flume, AT II (1992), 314.

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§  3 Das dualistische Auslegungsmodell

kanische?274), oder auch einander widersprechende, widersinnige Bestimmungen enthalten, von denen keine erkennbar Vorrang vor der anderen hat oder als Irrtum identifizierbar ist (sog. perplexe275 Erklärung; Beispiel: Der Vertrag sieht für diesel­ be Zahlungspflicht an einer Stelle ausschließlich kanadische Dollar und an anderer ausschließlich US-Dollar vor). Die Grenzen zwischen diesen Fällen sind schwer zu ziehen. Mehrdeutigkeit und völlige Unbestimmtheit unterscheiden sich nur graduell. Perplexe Erklärungen könnten häufig auch als mehrdeutig eingestuft werden, weil typischerweise nur eine der einander widersprechenden Anordnungen „wirklich“ vom Erklärenden gewollt ist und lediglich unklar bleibt, welche von ihnen. Besondere Abgrenzungsanstren­ gungen sind indes überflüssig. Die rechtlich relevante Gemeinsamkeit all dieser Konstellationen ist die fehlende Eindeutigkeit bzw. Unbestimmtheit.276 Egal ob völ­ lig unklar, mehrdeutig oder widersinnig: Es fehlt in all diesen Fällen eine ausführ­ bare Rechtsfolgebestimmung, die die Rechtslage verbindlich neu gestalten könnte. Die Auslegung scheitert an ihrer Aufgabe, eine bestimmte rechtsmaßgebliche Erklä­ rungsbedeutung festzulegen, nach der sich die neue Rechtslage richten könnte. Eine unbestimmte Willenserklärung kann deshalb nur unwirksam sein. Darüber besteht im Ergebnis Einigkeit.277

2. Die schwankende dogmatisch-terminologische Einordnung des (Un‑)Bestimmtheitsproblems Unterschiedlich beurteilt wird lediglich die Einordnung des Bestimmtheitserforder­ nisses in den systematischen Aufbau der Rechtsgeschäftslehre, wobei meist nicht ganz klar wird, ob es sich dabei um dogmatische oder lediglich terminologische Differenzen handelt. Insbesondere im Zusammenhang mit Vertragsschlusserklä­ rungen wird die Unwirksamkeit des Rechtsgeschäfts häufig auf einen „Dissens“ zurückgeführt.278 Andere Autoren meinen hingegen, die Wirksamkeit des Vertrags 274 

Faust, AT (2016), §  3 Rn.  24, Fall 9. Eckert, in: Bamberger/Roth (2012), §  155 Rn.  3; Medicus, AT (2010), Rn.  759; Hartmann, Jura 2004, 843 (845); Marburger, Klausurenkurs (2004), Rn.  125. 276 Vgl. Hildebrandt, Erklärungshaftung (1931), 204, der als Oberbegriff von „Unbestimmbar­ keit“ spricht und darunter die mehrdeutige und perplexe (widersinnige) Erklärung zusammenfasst. Ebenso Jacobi, JherJb 70 (1921), 110 (128), der unter dem Oberbegriff der „unklaren Erklärung“ solche Erklärungen zusammenfasst, die „mehrdeutig oder in keinem Sinne verständlich, insbeson­ dere in sich widerspruchsvoll sind“. 277  Dörner, in: HK‑BGB (2014), §  133 Rn.  14; Schiemann, in: Staudinger-Eckpfeiler (2014), C Rn.  59; Looschelders, in: NK‑BGB (2012), §  133 Rn.  28 a. E.; Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  23; Wendtland, in: Bamberger/Roth (2012), §  133 Rn.  3 a. E.; Brehm, AT (2008), 127; Schapp/ ‌Schur, Einführung (2007), Rn.  349; Scherner, AT (1995), 90; Flume, AT II (1992), 314; Larenz, AT (1989), 340; Lüderitz, Auslegung (1966), 305; Oftinger, ZSR 58 (1939), 178 (197) zum schweizer Recht; Kohler, Lb. I (1906), 503. 278  Faust, AT (2016), §  3 Rn.  24; Brox/Walker, AT (2015), Rn.  410; Hirsch, AT (2015), Rn.  154: 275 

VI. Scheitern der Auslegung: Unbestimmte Willenserklärungen

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scheitere nicht erst am fehlenden Konsens, sondern schon an der Unwirksamkeit bzw. Nichtigkeit einer oder beider Vertragsschlusserklärungen.279 Dogmatisch vorzugswürdig ist die zweitgenannte Auffassung, die das Bestimmt­ heitserfordernis als eine Wirksamkeitsvoraussetzung konkreter Willenserklärun­ gen begreift. Nach dem üblichen juristischen Sprachgebrauch ist Dissens der Ge­ genbegriff zum Konsens, und als solcher eine Kategorie der Vertragsschlusslehre. Unbestimmt können indes auch einseitige Rechtsgeschäfte sein, die dann auch un­ wirksam sein müssen. Die Filterstufe „Konsens/Dissens“ steht bei ihnen aber nicht zur Verfügung, weil es bei einseitigen Rechtsgeschäften einer Einigung gar nicht bedarf.280 Auch im Vertragsschlusskontext stößt man bei Beherzigung der allge­ mein empfohlenen und sachlogisch gebotenen Vorgehensweise, den Konsens erst im Anschluss an die Auslegung von Antrag und Annahme zu prüfen 281, auf die fehlende Bestimmtheit schon bei der Befassung mit den Einzelerklärungen. Es leuchtet nicht ein, dann die Unbestimmtheit an dieser Stelle auszublenden und erst bei der Konsensprüfung wieder aufzugreifen.282 Soweit auch nur eine Vertrags­ schlusserklärung unbestimmt ist, kann eine Einigung der Parteien nicht zustande kommen. Auf den Abgleich mit der Gegenerklärung und auf deren Inhalt bzw. Be­ stimmtheit kommt es dann gar nicht mehr an.283 Der Grund für die verbreitete Assoziation von Unbestimmtheit und Dissens im Vertragsschlusskontext dürfte die in §  155 BGB getroffene Regelung über den ver­ steckten Einigungsmangel sein. Danach kann ein Vertrag, den die Parteien als ge­ schlossen ansehen, obwohl sie sich über einen Punkt, über den eine Vereinbarung getroffen werden sollte, in Wirklichkeit nicht geeinigt haben, über das im Übrigen Vereinbarte zustande kommen, wenn anzunehmen ist, dass der Vertrag auch ohne eine Bestimmung über diesen Punkt geschlossen sein würde. Der „Scheinkon­ sens“284 aufgrund übersehener Unbestimmtheit ist eine anerkannte Fallgruppe des versteckter Dissens gemäß §  155 BGB; Jürgen Schmidt, in: Staudinger (1995), §  242 Rn.  410: „Dis­ sens wegen Perplexität der Willenserklärungen“; Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  63: Nich­ tigkeit mehrdeutiger Willenserklärungen „wegen Dissens bzw. Perplexität“. 279  Bork, in: Staudinger (2015), §  155 Rn.  5; Armbrüster, in: Erman (2014), §  155 Rn.  4; Brehm, AT (2008), Rn.  127; Hartmann, Jura 2004, 843 (845 unter IV 1); Bading, JW 1914, 609 (611 f.); v. Tuhr, AT II/1 (1914, 1957), 484 in Fn.  166: Unwirksamkeit der einzelnen Vertragsschlusserklä­ rung. 280  Brehm, AT (2008), Rn.  127. Allg. gegen die Verwendung des Dissensbegriffs im Zusam­ menhang mit einseitigen Rechtsgeschäften Wieser, AcP 184 (1984), 40 (41); Lüderitz, Auslegung (1966), 306. 281  Nachw. in den Fn.  206 und 207. 282  Dafür aber Leenen, FS Prölss (2009), 153 (163), der meint, bei festgestellter Unbestimmtheit lägen unstreitig die erforderlichen Erklärungen vor, die Parteien hätten aber möglicherweise kei­ nen Konsens erzielt. 283  Bork, in: Staudinger (2015), §  155 Rn.  5. Ungenau Brox/Walker, AT (2015), Rn.  410, die den „Dissens“ aufgrund Mehrdeutigkeit nur anhand des Falles erläutern, in dem beide Willenserklä­ rungen mehrdeutig sind. 284  Begriff nach R. Raiser, AcP 127 (1927), 1 (13). Übernommen von OLG Köln, Urteil vom 11.6.1999, NJW‑RR 2000, 1720; Bork, in: Staudinger (2015), §  155 Rn.  9; Backmann, in: ju­

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§  3 Das dualistische Auslegungsmodell

§  155 BGB.285 Die von der Norm vorausgesetzte punktuelle Einigungslücke kann nämlich auch darauf beruhen, dass die Vertragsparteien die partielle Unbestimmt­ heit einer oder gar beider Vertragsschlusserklärungen übersehen haben. Sie glau­ ben sich dann in allen Punkten geeinigt zu haben, obwohl eine Einigung in dem von der Unbestimmtheit betroffenen Punkt noch aussteht. Bei Erfüllung der weiteren Voraussetzungen des §  155 BGB kommt dann ein Vertrag im Umfang des nicht von der Unbestimmtheit betroffenen restlichen Inhalts der Vertragsschlusserklärungen zustande. Dies ändert allerdings nichts daran, dass die Bestimmtheit eine bei der einzelnen Vertragsschlusserklärung zu verortende Wirksamkeitsvoraussetzung bleibt. Auch bei Anwendung des §  155 BGB ist im ersten Schritt eine Einigungslücke festzustel­ len.286 Die Lücke folgt in der hier interessierenden Konstellation nicht aus §  155 BGB und einem Abgleich beider Vertragsschlusserklärungen im Rahmen der Kon­ sensprüfung, sondern aus der punktuellen Unbestimmtheit schon einer einzigen der beiden Vertragsschlusserklärungen. §  155 BGB knüpft hieran lediglich an, indem er auch eine Teileinigung der Parteien für das Zustandekommen des Vertrages genü­ gen lässt. Aus der Perspektive der unbestimmten Vertragsschlusserklärung(en) ent­ faltet §  155 BGB eine §  139 Hs.  2 BGB vergleichbare Wirkung287: Eine Erklärung, die in einem isolierbaren Nebenpunkt288 teilweise unbestimmt ist, muss nicht voll­ kommen wirkungslos bleiben. Sie kann unter den in §  155 BGB genannten Voraus­ setzungen mit ihrem im Übrigen bestimmten Inhalt aufrechterhalten werden und Grundlage eines Vertragsschlusses sein. Die Vorschrift begrenzt in der Fallgruppe des Scheinkonsenses die Rechtsfolgen teilweiser Unbestimmtheit auf den unbe­ stimmten Punkt, erhebt dadurch das Bestimmtheitserfordernis als Wirksamkeitser­ fordernis konkreter Willenserklärungen aber nicht zu einer originären Frage von Konsens oder Dissens.

risPK‑BGB (2014), §  155 Rn.  10. Krit. Diederichsen, FS Hübner (1984), 421 (424), der von „Mehr­ deutigkeitsdissens“ spricht. 285  Aus der Rspr. siehe nur RG, Urteil vom 11.3.1927, RGZ 116, 274 (275 f.); OLG Köln, Urteil vom 11.6.1999, NJW‑RR 2000, 1720; KG, Urteil vom 14.9.2007, NJW‑RR 2008, 300 (301). Ferner Ellenberger, in: Palandt (2016), §  155 Rn.  4; Backmann, in: jurisPK‑BGB (2014), §  155 Rn.  11; Brinkmann, in: Prütting/‌Wegen/‌Weinreich (2013), §  155 Rn.  7; Schulze, in: NK‑BGB (2012), §  155 Rn.  7 (bei Mehrdeutigkeit; abw. bei Perplexität: Erklärungsnichtigkeit); Piper, in: RGRK (1982), §  155 Rn.  3 („Scheindissens“). 286  M. Wolf, in: Soergel (1999), §  155 Rn.  3. 287 Vgl. Titze, Mißverständnis (1910), 435, der die §§  154, 155 BGB allgemein mit dem Rechts­ gedanken des §  139 BGB in Verbindung bringt. 288  Wenn sich die Unbestimmtheit auf die essentialia negotii erstreckt, kann §  155 BGB von vornherein nicht eingreifen, weil dann kein Rest übrig bleibt, der aufrecht erhalten werden könnte, vgl. Busche, in: MünchKommBGB (2015), §  155 Rn.  2 („Totaldissens“) und M. Wolf, in: Soergel (1999), §  155 Rn.  18, jeweils ohne Bezugnahme speziell auf die Unbestimmtheit als Grund des Einigungsmangels.

VI. Scheitern der Auslegung: Unbestimmte Willenserklärungen

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3. Unbestimmtheit und natürliche Auslegung Teilweise scheint die Verknüpfung von Unbestimmtheit und „Dissens“ auch von dem für den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit besonders interessanten An­ liegen motiviert, eine Hintertür offen zu halten für die „Heilung“ von Willenserklä­ rungen, die nach dem objektiven Empfängerhorizont unbestimmt und unwirksam wären, über deren Inhalt die Beteiligten aber trotzdem bei Vornahme des Geschäfts innerlich Konsens erzielt haben 289. Der innere Konsens soll hier also den objektiven Dissens überwinden. Auch insoweit überzeugt die Verortung des Sachproblems der Unbestimmtheit auf der Ebene der vertraglichen Einigung bei der Abgrenzung von Konsens oder Dissens jedoch nicht. Wie bereits ausgeführt290, bezieht sich die na­ türliche Auslegungsmethode nicht auf den Vertrag als Ganzes, sondern auf die ein­ zelne Vertragsschlusserklärung. Sie betrifft nicht die Frage von Konsens oder Dis­ sens bei der vertraglichen Einigung, sondern die Feststellung des Sinns konkreter Willenserklärungen, auf deren Basis die Einigung erst festgestellt werden kann. Es ist deshalb auch einer dualistischen Auslegungslehre ohne weiteres möglich, der „Heilung“ der Unbestimmtheit infolge übereinstimmenden Verständnisses bereits bei der Auslegung der konkreten Vertragsschlusserklärung Rechnung zu tragen.291 Deren rechtserheblicher Sinn wäre dann aufs Ganze gesehen aufgrund der vorran­ gigen natürlichen Auslegungsmethode gar nicht unbestimmt. Dabei macht es kei­ nen Unterschied, welche Form der Unbestimmtheit vorliegt. Die Übereinstimmung eindeutiger Verständnisse der Beteiligten bei Vornahme des Rechtsgeschäfts über­ lagert und beseitigt nach der dualistischen Lehre jede objektive Mehrdeutigkeit292 , Sinnlosigkeit293 oder Widersprüchlichkeit (Perplexität)294 der Erklärung. 289 So wohl bei Manigk, JherJb 75 (1925), 127 (181); R. Raiser, AcP 127 (1927), 1 (10 f.); E. Grünwald, Dissens (1939), 10, 27 f.; Diederichsen, FS Juristische Gesellschaft zu Berlin (1984), 81 (96 in Fn.  85 a. E.); Leenen, FS Prölss (2009), 153 (163). 290  Unter IV 2 b aa (3). 291  Brehm, AT (2008), Rn.  127; Hartmann, Jura 2004, 843 (844 unter III 1 a), der bei Prüfung objektiv perplexer Vertragsschlusserklärungen die „vorrangig zu berücksichtigende innere Wil­ lensübereinstimmung“ auf die Einzelerklärungen bezieht. Vgl. auch v. Tuhr, AT II/1 (1914, 1957), 484 in Fn.  166: jede Einzelerklärung sei unwirksam, wenn sie „unklar ist und unverstanden bleibt“. 292  Fezer, Klausurenkurs (2013), 205; Larenz/M. Wolf, AT (2004), §   29 Rn.  30; M. Wolf, in: Soergel (1999), §  155 Rn.  9; Krüger-Nieland/‌Zöller, RGRK (1982), §  133 Rn.  8; Hildebrandt, Erklä­ rungshaftung (1931), 211. Auch die Gerichte berücksichtigen bei objektiv mehrdeutigen Begriffen – im Rahmen der Prüfung eines versteckten Dissenses – vorrangig, ob ein übereinstimmendes Verständnis der Beteiligten feststellbar ist, KG, Urteil vom 14.9.2007, NJW‑RR 2008, 300 (301); OLG Jena, Urteil vom 17.9.2003, NZBau 2004, 438 (439); OLG Köln, Urteil vom 11.6.1999, NJW‑RR 2000, 1720; OLG Köln, Urteil vom 5.5.1970, WM 1970, 892 (893). Siehe auch RG, Urteil vom 11.3.1927, RGZ 116, 274 (275), das auf die Feststellung der Vorinstanz Bezug nimmt, die Parteien hätten unter dem Begriff „Typenflug“ „etwas Verschiedenes verstanden“. 293  Köhler, AT (2015), §   9 Rn.  13; Enneccerus/Nipperdey, AT I/2 (1960), 1250; Wedemeyer, Auslegung (1903), 18 in Fn.  2: „überhaupt unverständliche empfangsbedürftige Willenserklä­ rung“. 294  Köhler, AT (2015), §   9 Rn.  13; Hartmann, Jura 2004, 843 (844); Krüger-Nieland/‌Zöller, RGRK (1982), §  133 Rn.  8. A. A. OLG Saarbrücken, Urteil vom 5.7.‌1997, NJW 1998, 828 (829), das

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§  3 Das dualistische Auslegungsmodell

4. Zwischenergebnis Im Folgenden wird nach alledem die Unbestimmtheit inner- und außerhalb des Ver­ tragsschlusskontexts nicht als ein Problem von Konsens und Dissens und damit spe­ ziell des Vertragsschlusses, sondern als ein allgemeines Problem der Auslegung und Wirksamkeit konkreter Willenserklärungen behandelt. Die inhaltliche Bestimmt­ heit des Auslegungsergebnisses ist eine Wirksamkeitsvoraussetzung der jeweiligen Willenserklärung.

bei äußerlich widersprüchlichem Verhalten des Erklärenden eine nicht auslegungsfähige perplexe Erklärung annimmt, auf der der Satz falsa demonstratio non nocet nicht aufbauen könne. Diese Begründung verkennt, dass Perplexität erst nach und durch Auslegung feststellbar ist (vgl. Kling, Sprachproblem [2008], 355 in Fn.  219) und die natürliche Methode der Auslegung – wenn man sie anerkennt – die Widersprüchlichkeit beseitigt, falls der Empfänger vom innerlich widerspruchs­ freien Willen des Erklärenden ausgeht.

§  4 Die methodenrelevanten Fälle des Vorrangs der natürlichen Auslegung Indem die dualistische Lehre dem übereinstimmenden inneren Verständnis der Be­ teiligten den Vorrang vor der normativen Auslegung nach dem objektiven Empfän­ gerhorizont einräumt, entscheidet sie einige Fälle anders als bei streng normativer Auslegung. Welche Fälle sind das und wodurch zeichnen sie sich aus? Erst diese Schlüsselfrage nach den im Folgenden sog. methodenrelevanten Fällen rückt dieje­ nigen Konstellationen in den Fokus der Betrachtung, um deren Bewertung sich die Auseinandersetzung über die richtige Methode der Auslegung der Sache nach dreht.

I. Die für das Thema uninteressanten methodenneutralen Fälle 1. Der fehlende Erkenntniswert methodenneutraler Fallkonstellationen Im Alltag verstehen die Beteiligten Willenserklärungen meist im gleichen Sinne.1 Die Voraussetzungen der natürlichen Auslegung sind dann erfüllt. Die meisten die­ ser Fälle sind jedoch für Überlegungen zum Streit zwischen natürlicher und norma­ tiver Auslegung belanglos. Regelmäßig gelangen nämlich nicht nur die Beteiligten zu einem übereinstimmenden Verständnis, sondern darüber hinaus deckt sich ihr gleichlautendes Verständnis auch mit dem Ergebnis der Auslegung nach dem objek­ tiven Empfängerhorizont. Letztere misst der Willenserklärung schließlich die rechtsverbindliche Bedeutung bei, die aus der Sicht des Empfängers bei Ausschöp­ fung der ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel mit der größtmöglichen Wahrscheinlichkeit dem Willen des Erklärenden entspricht2 und die ihr ein um Ver­ stehen bemühter sorgfältiger Empfänger entnehmen wird. Weil typischerweise alle Beteiligten sich an die Kommunikationsstandards halten und exogene sinnverzer­ rende Störungen des Kommunikationsvorgangs die Ausnahme sind, ist die Über­

1  Bork, AT (2016), Rn.   495; Leenen, AT (2015), §  5 Rn.  37, 45; Riehm, AT (2015), Rn.  190; Leenen, FS Prölss (2009), 153 (160); Schellhammer, Zivilrecht (1999), Rn.  1954; Flume, AT II (1992), 619; Schapp, Grundfragen (1986), 33. 2 Siehe Hepting, Ehevereinbarungen (1984), 246 f. Auch Singer, Selbstbestimmung (1995), 48 betont den Aspekt der Wahrscheinlichkeit und spricht von „überwiegender Wahrscheinlichkeit“.

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§  4 Die methodenrelevanten Fälle des Vorrangs der natürlichen Auslegung

einstimmung von natürlichem und normativem Auslegungsergebnis der empirische Regelfall.3 Stimmen aber das natürliche und das normative Auslegungsergebnis in concreto überein, dann lässt sich – obwohl die Voraussetzungen für eine natürliche Ausle­ gung vorliegen – der Vorrang der natürlichen vor der normativen Auslegung bzw. die Richtigkeit der dualistischen Lehre anhand eines solchen Falles nicht mehr sinn­ voll diskutieren. Nicht nur ein effizient denkender Praktiker, der grundsätzlich be­ reit ist, die dualistische Lehre zu überdenken, hat in einem solchen Fall keinen An­ lass für Erwägungen zur Auslegungsmethodik. Auch wissenschaftlich versprechen die methodenneutralen Fälle keinerlei Erkenntnisgewinn, da in ihnen die Sachfra­ gen und Interessen gar nicht angelegt sind, die durch den Vorrang der natürlichen Auslegung vor der normativen Auslegung abweichend von einer streng normativen Auslegungslehre entschieden werden.

2. Ausgrenzung der methodenneutralen „unechten“ (Wortlaut-)Falschbezeichnung Die abstrakt sicherlich leicht einleuchtende Beschränkung der Diskussion auf Kon­ stellationen, in denen die beiden Methoden zu unterschiedlichen Ergebnissen füh­ ren, wird nicht unerheblich durch das Rechtssprichwort falsa demonstratio non nocet4 erschwert, mit dem sich die Grundsätze der natürlichen Auslegung nach Maßgabe des übereinstimmenden Parteiverständnisses heute verbinden. Es hat we­ sentlich zur Verfestigung eines falschen Eindrucks vom Zuschnitt und von der Be­ deutung des Problemkreises beigetragen. Übersetzt besagt der falsa-Satz lediglich, eine Falschbezeichnung oder Falschbe­ nennung schade nicht. Schaden abgewendet wird dabei vom Erklärenden, der bei der Äußerung seines Willens eigentlich zu den „falschen“ Mitteln gegriffen hat und dennoch seinen Willen bekommt. In dieser voraussetzungslosen Allgemeinheit gilt dieser Satz freilich nicht5, da anderenfalls immer das Gewollte gelten müsste und eine davon unabhängige normative Auslegung samt Pflicht zum Vertrauensscha­ densersatz nach §  122 BGB ausgeschlossen wäre.6 Das Eingreifen des Satzes hängt vielmehr von Voraussetzungen ab, die er selbst nicht nennt und die hier be­ reits als Kriterien der natürlichen Auslegungsmethode in §  3 IV herausgearbeitet 3 

Faust, AT (2016), §  2 Rn.  8: „In den meisten Fällen“; Wieser, JZ 1985, 407: „Normalfall“. den rechtshistorischen Grundlagen des falsa-Satzes siehe Bang, JherJb 66 (1916), 309 (310–344); Seifert, Falsa demonstratio (1929), 17–71; Wieling, JZ 1983, 760 f.; Vogenauer, in: HKK‑BGB (2003), §§  133, 157 Rn.  85 ff., der zu dem Ergebnis gelangt, von der ursprünglichen Bedeutung des falsa-Satzes im römischen Recht sei heute nichts übrig geblieben (Rn.  87). Ebenso Wieling, AcP 172 (1972), 297 (298 f.). 5  Meier-Hayoz, Vertrauensprinzip (1948), 138. 6  Cordes, Jura 1991, 352 (353 f.); Wieling, JZ 1983, 760; ders., Jura 1979, 524 in Fn.  1; Titze, Mißverständnis (1910), 124. 4  Zu

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wurden. Was genau ist aber die Falschbezeichnung, von der der Satz handelt und die nicht schadet? Um sie mit den hier gesuchten methodenrelevanten Fällen gleichset­ zen zu können, müssten mit Falschbezeichnung die Konstellationen gemeint sein, in denen das vom Erklärenden Gewollte (und vom Empfänger übereinstimmend Ver­ standene) von dem Ergebnis einer normativen Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont abweicht.7 Von einer „falsa demonstratio“ ist jedoch meist in einem viel weitergehenden Sinne die Rede. a) Die Parzellenverwechslung und weitere Beispiele unechter Falschbezeichnungen Paradigmatisch für das weite Verständnis von Falschbezeichnung sind insbesonde­ re die die Praxis immer wieder beschäftigenden Parzellenverwechslungsfälle, an denen auch die Lehre8 den falsa-Satz vielfach erläutert. Bei Grundstücksgeschäften kommt es mitunter vor, dass die von den Parteien übereinstimmend gemeinte Im­ mobilie aufgrund einer Verwechslung in der darüber aufgesetzten Urkunde falsch bezeichnet wird. Die Gerichte kommen dann seit jeher unter Berufung auf den fal­ sa-Satz zu dem Ergebnis, Gegenstand des Geschäfts sei das von beiden Parteien gemeinte Grundstück.9 Auch die Lehre beruft sich hier häufig auf den übereinstim­ menden Parteiwillen als innere Tatsache, um den Wortlaut der Erklärung zu korri­ gieren.10 Angesichts der tatsächlichen Hintergründe ist es in Fällen dieser Art aber über­ flüssig und geradezu falsch, eine Ausnahme von der normativen Methode zu bemü­ hen. Die normative Auslegung gelangt ohne weiteres zum selben Ergebnis.11 Die Parteien treffen sich nicht aus heiterem Himmel ohne vorherige Kontakte beim No­ tar und setzen stumm ihre Unterschrift unter einen Vertrag, mit dem sie vom Wort­ laut abweichende Vorstellungen verbinden, die lediglich zufällig übereinstimmen. 7  In diesem Sinne die Definition von Vogenauer, in: HKK‑BGB (2003), §§  133, 157 Rn.  84: „Als anerkannte Ausnahme vom Vorrang des objektiven Erklärungswerts bei der Vertragsausle­ gung gilt heute der Grundsatz falsa demonstratio non nocet. Verstehen alle Beteiligten die Erklä­ rung übereinstimmend in einem anderen Sinn, als sie ein objektiver Dritter verstehen müsste, so hat das Gewollte Vorrang. Die Falschbezeichnung schadet nicht.“ Ferner Reinicke, JA 1980, 455 (456). 8  Bork, AT (2016), Rn.  524; Mansel, in: Jauernig (2015), §  133 Rn.  9; Medicus/‌Petersen, BR (2015), Rn.  124: „Hauptfall der falsa demonstratio“; Petersen, AT (2013), §  11 Rn.  12; Säcker/ ‌Mohr, Fallsammlung (2010), 93 ff. (Fall 6); Medicus, AT (2010), Rn.  327; Petersen, Jura 2004, 536 (537); Schreiber, Jura 1999, 175 (176); Hefermehl, in: Soergel (1999), §  119 Rn.  19. 9  RG, Urteil vom 20.9.1905, RGZ 61, 264 (265); Urteil vom 17.4.1907, RGZ 66, 21; Urteil vom 21.2.1912, RGZ 78, 371 (376); BGH, Urteil vom 25.3.1983, BGHZ 87, 150 (152 f.); Urteil vom 7.12.2001, NJW 2002, 1038 (1039); Urteil vom 18.1.2008, NJW 2008, 1658 Tz.  12. 10 Siehe etwa Petersen, AT (2013), §   11 Rn.  12: entscheidend sei die „Willensrichtung bei der Einigung“; Gergen, AcP 206 (2006), 624 (627 f.); Säcker/Mohr, Fallsammlung (2010), 94: „[w]irklicher empirisch-realer Wille der Parteien“. 11  Wieling, AcP 172 (1972), 297 (307 f.); Titze, Mißverständnis (1910), 367 in Fn.  26, 427.

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§  4 Die methodenrelevanten Fälle des Vorrangs der natürlichen Auslegung

Dem Vertragsschluss gehen vielmehr Vorverhandlungen und Besichtigungen vor­ aus, aus denen für beide Seiten wechselseitig erkennbar ist, welches Grundstück auch nach Auffassung der Gegenseite Gegenstand des Kaufvertrags sein soll.12 Wie bereits dargelegt13, ist die normative Auslegung nach dem Empfängerhorizont nicht auf die Bezeichnung im Grundstückskaufvertrag als Auslegungsmaterial be­ schränkt, sondern zieht als individuell-normative Auslegungsmethode prinzipiell „sämtliche Umstände des Falles“ heran, die für die Deutung der beiderseitigen Par­ teiwillen ergiebig sind.14 Ausgeblendet werden lediglich die für den Empfänger nicht erkennbaren Umstände. Vorverhandlungen, an denen beide Seiten teilgenom­ men haben, sind indes immer auch erkennbar und deshalb stets verwertbar.15 Auch die Formbedürftigkeit des Vertrags führt bei der Parzellenverwechslung auf Basis der hier zugrundegelegten Trennungsthese16, die Auslegung und Form strikt voneinander unterscheidet, zu keiner Beschränkung des Auslegungsmateri­ als. Über die Einhaltung der Formvorschriften in einem solchen Fall mag man strei­ ten, weil in der Urkunde mitunter nicht einmal ein Anhaltspunkt für das von den beiden Parteien erkennbar gewollte Grundstück zu finden ist. Das richtige Ausle­ gungsergebnis steht jedoch unabhängig davon außer Frage, ob natürlich oder nor­ mativ nach dem objektiven Empfängerhorizont ausgelegt wird, weil beide Metho­ den zum selben Ergebnis gelangen Im Schrifttum finden sich zahlreiche weitere Beispiele, bei denen unter Berufung auf den falsa-Satz die Geltung im Sinne des übereinstimmenden Verständnisses der Parteien aufwendig begründet wird, obwohl es dessen gar nicht bedarf. Brox behan­ delt einen Fall, in dem ein herzkranker Käufer sich verspricht und bei einem Ziga­ rettenhändler koffeinarme Zigarren bestellt.17 Der Begründung, es komme mangels 12  Im von Säcker/Mohr, Fallsammlung (2010), 93 gebildeten Beispiel besichtigt die Interessen­ tin das Objekt. Die Autoren übergehen auf S.  94 dieses Sachverhaltselement bei der normativen Auslegung und kommen zum Ergebnis, nur die dem Wortlaut nach im Vertrag bezeichnete Parzel­ le sei der „[n]ormative[ ] Wille der Parteien“ und „[o]bjektiv erklärt“ worden. Ebenso bei Schreiber, Jura 1999, 175 (176); Schumacher, Abgrenzung (1935), 23. Vgl. andererseits die an Studenten gerichtete Ermahnung von Petersen, Jura 2004, 536 (537), den Sachverhalt im Hinblick auf die Vorgeschichte der Grundstücksfälle auszuschöpfen. Dabei bleibt aber offen, ob Petersen sich auf die Begleitumstände als Indizien des übereinstimmenden inneren Verständnisses (im Sinne der natürlichen Auslegungsmethode) oder als Mittel der normativen Auslegung zur Ermittlung des objektiv Erklärten bezieht. 13  §  3 III 2 b aa (2). 14  Pecher, WuB IV A. §  313 BGB 1.87, Bl.  355 unter 2 a, der auf Bl.  356 unter 2 d hiervon den „besonderen Fall der falsa demonstratio“ unterscheidet, ohne zu erläutern, wo der Unterschied liegt und was die Besonderheit ausmacht. 15  Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  49. Ob Äußerungen während der Vorverhandlungen im konkreten Fall ergiebige Indizien des späteren (bei Abgabe der Willenserklärung bestehenden) Willens des Erklärenden sind, ist eine andere Frage. Bei den hier in Rede stehende Äußerungen zur Identifizierung des Kaufobjekts dürften aber auch insofern keine Bedenken bestehen. 16  Dazu bereits §  2 II 4. 17  Brox, Einschränkung (1960), 193. Aufgegriffen von Giesen, Jura 1984, 505 (506); ders., AT (1995), Rn.  84 a. E.

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Schutzwürdigkeit des Händlers ein Vertrag über nikotinarme Zigarren zustande, wenn der Händler den wahren Willen des Herzkranken erkenne, bedarf es nicht. Der verbale Lapsus des Käufers liegt nämlich so offen erkennbar zu Tage, dass seine Bestellung auch bei verständiger objektiver Würdigung der Umstände auf ni­ kotinarme Zigarren lautet.18 Nicht erst die gar nicht so „zufällige“ Erkenntnis des Zigarettenhändlers, sondern die für ihn erkennbaren Gesamtumstände beseitigen jeden Zweifel über das Gemeinte und jede Schutzwürdigkeit des Empfängers im Hinblick auf ein anderes Auslegungsergebnis. Ebenso fehl am Platze sind aufwendige Erwägungen zur Wahl zwischen natürli­ cher oder normativer Auslegungsmethode, wenn die Parteien einen Vertragstext als „Leihvertrag“ überschreiben, im Vertrag aber eine Gegenleistung vereinbaren und deshalb in der Sprache des Gesetzes ein „Mietvertrag“ vorliegt19, oder einen Ver­ trag als „Rückbürgschaft“ bezeichnen, aus dem übrigen Text aber hervorgeht, dass eine Ausfallbürgschaft gemeint ist20. Die falsche rechtliche Qualifikation des Ver­ tragstyps21 oder allgemeiner noch die ungenaue laienhafte Verwendung juristi­ scher Terminologie hat mit der Frage, ob bei innerem übereinstimmenden Verständ­ nis eine Ausnahme von der normativen Methode zu machen ist, nichts zu tun. Die normative Methode würde zu keinem anderen Ergebnis gelangen, weil auch auf ihrer Basis anhand der Begleitumstände festzustellen ist und festgestellt werden kann, welche Regelung unter möglicherweise technisch falscher Verwendung eines juristischen Fachbegriffs in Wirklichkeit als gewollt zu gelten hat.22 Die Falschbezeichnungen, von denen die soeben genannten Beispiele handeln, betreffen Verwendungen eines Wortes unter Verstoß gegen allgemeine oder beson­ dere (juristische) Sprachregeln, die bei isolierter Betrachtung der Abschlussformel 18  So auch i. E. Scherner, AT (1995), 93; E. Grünwald (1939), 9 in Fn.  13. A. A. Lee, Vorausset­ zungen (1999), 25 in Fn.  97, der nur bei tatsächlichem Erkennen des Händlers, und nicht bei ledig­ lich bestehender Kenntnismöglichkeit den Wortlaut im Wege der Auslegung korrigieren möchte. Er erklärt nicht, wie sich dies mit der Lehre vom objektiven Empfängerhorizont verträgt, die die für den Empfänger „erkennbare“ Bedeutung gelten lässt. 19  So das Beispiel bei Bitter, AT (2013), §  5 Rn.  70. Siehe eine ähnlich gelagerte Entscheidung zu einem als Pachtvertrag überschriebenen Mietvertrag des Königlichen Obertribunals vom 9.5.1855, Entscheidungen des Königlichen Obertribunals 31, 414 (418) zitiert nach Vogenauer, in: HKK‑BGB (2003), §§  133, 157 Rn.  86 in Fn.  434. 20  Beispiel von Hirsch, AT (2015), Rn.  137 nach BGH, Urteil vom 24.1.2002, NJW 2002, 1198 unter I. 21  Auf sie geht auch Kramer, in: Berner Kommentar (1986), OR, Art.  18 Rn.  84 im Zusammen­ hang mit dem falsa-Satz ein, hebt dann aber im Anschluss an Flume, AT II (1992), 406 zutreffend hervor, dass die Qualifikation „eine Sache rechtlicher Wertung auf Grund der Rechtsordnung ist und deshalb die unrichtige Einordnung durch die Geschäftspartner ohne Belang“ ist. Ebenso Singer, in: Staudinger (2012), §  117 Rn.  12. 22 Vgl. Jahr, JuS 1989, 249 (251 bei und in Fn.   33), der den falschen Gebrauch juristischer Termini für einen besonders relevanten Fall einer „offensichtlich[en] falsa demonstratio“ hält, bei der sich der Erklärende nach Treu und Glauben und unter Berücksichtigung der Verkehrssitte im Ergebnis richtig ausdrückt. Ebenso bereits Titze, Mißverständnis (1910), 125 in Fn.  39. Auch Rummel, JBl 1988, 1 (2) schichtet Fälle dieser Art ab.

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§  4 Die methodenrelevanten Fälle des Vorrangs der natürlichen Auslegung

des Rechtsgeschäfts häufig dazu führen würden, dass „ein am Vertrag nicht betei­ ligter Dritter den gewollten Inhalt nicht ohne weiteres erkennen kann“23. Es geht um bloße Falschbezeichnungen im Wortlaut.24 Bei konsequenter Anwendung der individuell-normativen Auslegungsmethode führt ein solcher Verstoß gegen übli­ che Sprachregeln indes nicht automatisch zu einer rechtlich relevanten Falschbe­ zeichnung des Gewollten, weil auch die normative Methode mehr als nur den Wort­ laut berücksichtigt.25 Ihre Maßstabsfigur ist nicht der unbeteiligte außenstehende Dritte, sondern ein objektiver Dritter mit den Verständnismöglichkeiten des realen Empfängers.26 Vom Empfänger wird angesichts des Übergewichts anderer ihm er­ kennbarer Umstände erwartet, einen erkennbar unzutreffenden Wortlaut zu überge­ hen und den Erklärungssinn zu korrigieren. Eine Divergenz zwischen dem Willen und der individuell-normativ ausgelegten Erklärung besteht bei solchen „unechten“ Falschbezeichnungen 27 somit gar nicht.28 Dementsprechend fehlt in diesen Fällen auch jegliches Bedürfnis für eine weitere Auslegungsmethode neben der normati­ ven Methode.29

23  Bergermann, RNotZ 2002, 557 (558), die nach diesem Maßstab „Falschbezeichnung“ bzw. „falsa demonstratio“ definiert. In den Fällen ungenauer Verwendung juristischer Terminologie ist nicht einmal dies der Fall, da dort auch ein außenstehender Dritter schon bei bloßer Lektüre des gesamten Vertragstextes häufig durchschauen könnte, was wirklich gemeint ist. 24  F. Bydlinski, BJM 1982, 1 (4 f.) hält die Parzellenverwechslungsfälle zutreffend für ein Pro­ blem der formalistischen „Wortlautauslegung“, der er die der normativen Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont verwandte „Vertrauenstheorie“ des österreichischen Rechts gegen­ überstellt. 25  Oertmann, AcP 117 (1919), 275 (281). 26  Zur Individualität des Empfängerhorizonts schon §  3 III 2 b aa (2). 27  In Anlehnung an Rhode, Willenserklärung (1938), 78, der in diesem Sinne die „unechte“ und die „echte“ falsa demonstratio unterscheidet. Vgl. auch Köbl, DNotZ 1983, 598 (599 bei und in Fn.  3), der allerdings – wie dem Hinweis auf BGH, Urteil vom 23.3.1979, BGHZ 74, 116 und den Aussagen zur „Andeutungstheorie“ zu entnehmen ist – an dieser Stelle Auslegungs- und Formfra­ ge miteinander vermengt. Mit dem Streit über die „Andeutungstheorie“ hat die Unterscheidung zwischen echter und unechter Falschbezeichnung nichts zu tun. Bezüglich der Auslegung ist sich die herrschende dualistische Auslegungslehre darüber einig, dass es zum Eingreifen der natürli­ chen Auslegung keiner objektiven „Andeutung“ bedarf, sondern allenfalls im Hinblick auf die Einhaltung von Formgeboten (Häsemeyer, Form [1971], 125–127 m.‌Nachw. zu vereinzelten älteren Auffassungen, die die Andeutungstheorie noch auf sämtliche Willenserklärungen bezogen). Letzt­ lich bleibt dadurch unklar, welche Differenzierung Köbl mit seinen Begrifflichkeiten bezeichnen will. 28  Titze, Mißverständnis (1910), 367 in Fn.  26; Seifert, Falsa demonstratio (1929), 118, 127. 29 Vgl. Lehmann/Hübner, AT (1966), 214 zu den falsa-Fällen: „Regelmäßig wird es übrigens möglich sein, aus den Vorverhandlungen und den sonstigen, dem Erklärungsempfänger erkennba­ ren Umständen den fehlerhaften Ausdruck im Wege der Auslegung zu verbessern.“

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b) Die Ambivalenz des falsa-Satzes zwischen unechter und echter Falschbezeichnung Da der Satz falsa demonstratio non nocet im Gesetz nirgends verwendet wird, ist es natürlich ohne weiteres möglich, ihm auch unechte Falschbezeichnungen zuzuord­ nen oder ihn gar auf diese Fälle zu beschränken, in denen zwar der Wortlaut und das Gemeinte auseinanderfallen, das normative Auslegungsergebnis und das Gemeinte hingegen übereinstimmen.30 Bei diesem weiten Verständnis von Falschbezeichnung wäre aber auch die normative Auslegungsmethode letztlich Ausdruck und Umset­ zung des falsa-Satzes, da sie zugunsten des Erklärenden einen unrichtigen Wortlaut ebenfalls unschädlich machen kann – und zwar sogar dann, wenn der Empfänger die Wortlautfalschbezeichnung nur durchschauen konnte, ohne sie tatsächlich durchschaut zu haben.31 Der falsa-Satz ginge dann i. E. vollständig im Gebot der Auslegung nach den Umständen des Einzelfalls auf.32 Wer den falsa-Satz hingegen als eine ergebnisrelevante und dogmatisch interes­ sante Abweichung von der individuell-normativen Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont verstanden wissen will, muss mit Manigk zu dem Schluss kom­ men: „[W]o die falsa nominatio durch die begleitenden Umstände der Erklärung selbst korri­ giert und der wirkliche Wille durch diese Nebenumstände erkennbar wird, dort besteht kein besonderes Problem der falsa demonstratio.“33

Als schlagwortartige Kurzbezeichnung für die natürliche Auslegungsmethode hätte der falsa-Satz dann mit dem Erklärungswortlaut im Grunde nicht mehr zwingend etwas zu tun. Er betrifft dann auch nonverbales Verhalten, bei dem es einen irr­ tumsbehafteten „Wortlaut“ gar nicht gibt. Auch hier können die Beteiligten ihrem Verhalten eine gleichsinnige konkludente Bedeutung beimessen, die vom normati­ ven Auslegungsergebnis abweicht.34 Der falsa-Satz, in jedem Fall aber die dahinter 30  So etwa bei Meier-Hayoz, Vertrauensprinzip (1948), 138; Bang, JherJb 66 (1916), 309 (351, 352, anders aber wohl 369 f.); Danz, Auslegung (1911), 33, 63; Titze, Mißverständnis (1910), 124 f. R. Leonhard, Irrtum II (1907), 14 präzisiert den falsa-Satz in diesem Sinne als „falsa demonstratio non nocet vera opinione perspicua“, will ihn allerdings bei zufällig übereinstimmendem Verständ­ nis entsprechend anwenden (a. a. O., 33 f.). 31  So ausdrücklich Trupp, NJW 1990, 1346 (1347 unter V): „Liegen positive Kenntnis oder fahrlässige Unkenntnis bereits zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Willenserklärung vor, so gilt der Grundsatz ‚falsa demonstratio non nocet‘, d. h. die Willenserklärung hat Gültigkeit nach Maßgabe der vom Erklärenden gewollten Rechtsfolge (…).“ (Hervorhebung hinzugefügt). Zur abw. Auffassung siehe noch die Nachw. in Fn.  97. 32 Vgl. Wieling, Jura 1979, 524 (525) und ders., JZ 1983, 760 (761). 33  Manigk, JherJb 75 (1925), 127 (209). So auch Wieling, AcP 172 (1972), 297 (298); Reinicke, JA 1980, 455 (456, 457): nicht zum Anwendungsbereich der Regel gehörend; Scherner, AT (1995), 93: „kein Bedürfnis nach der Regel ‚falsa demonstratio non nocet‘“ in diesen Fällen. 34  Kramer, in: Berner Kommentar (1986), OR, Art.  18 Rn.  91 meint dagegen, der falsa-Satz sei „naturgemäß nur bei ausdrücklichen Willenserklärungen“ (Hervorhebung übernommen) anwend­ bar, weil nur bei diesen eine Diskrepanz von Wortlaut und Wille vorstellbar sei. Einen Grund, die

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stehende natürliche Methode der Auslegung nach dem übereinstimmenden Ver­ ständnis, wäre dann sogar anwendbar, wenn der Erklärende schweigt und die Betei­ ligten diesem Schweigen übereinstimmend einen bei normativer Auslegung nicht begründeten Erklärungswert zuschreiben.35 Bedeutsamer als der Streit über das Verständnis des falsa-Satzes ist für die Aus­ legungsdogmatik allemal die Erkenntnis, dass die unechten Falschbezeichnungen kein Beleg für die Gebotenheit einer Auslegung anhand des gleichsinnigen inneren Verständnisses der Beteiligten sind. Das gleichlautende Verständnis ist in diesen Fällen ein verzichtbares Element der Auslegungsdogmatik, weil sich am Ergebnis nichts ändert, selbst wenn der Empfänger ausnahmsweise den für ihn erkennbaren Fehlgriff des Erklärenden nicht durchschaut, wie ein Urteil des AG Wedding36 ver­ anschaulicht: Der Beklagte hatte sein Abonnement der „JuS“ gegenüber dem kla­ genden Zeitschriftenlieferanten durch ein irrtümlich auf „Jura“ lautendes Schrei­ ben gekündigt. Das Gericht ging trotz der „versehentliche[n] Falschbezeichnung“ von einer wirksamen Kündigung aus, weil der Klägerin, die dem Beklagten allein durch das JuS-Abonnement verbunden war, nach den Umständen der Wille zur Kündigung der „JuS“ klar sein „musste“.37 „Die Klägerin konnte nicht davon aus­ gehen, dass der Bekl. eine Zeitschrift kündigen wollte, die er weder bestellt hatte noch die ihm von der Kl. irgendwie angeboten worden war.“ Darauf, ob die Kläge­ rin bzw. ihre mit der Angelegenheit betraute Angestellte tatsächlich innerlich zu dem Schluss gelangt war, der Beklagte habe in Wirklichkeit die JuS kündigen wol­ len – was zwar nahe liegt, aber keineswegs zwingend so gewesen sein muss38 –, ging das Gericht mit keinem Wort ein. Die Frage war unerheblich für die Entschei­ dung des Rechtsstreits. Falsa demonstratio non nocet galt hier ohne Rücksicht auf die innere Übereinstimmung der Verständnisse schon aufgrund der objektiven Er­

hinter dem falsa-Satz stehenden Grundsätze der natürlichen Auslegung auf ausdrückliche Erklä­ rungen zu beschränken, gibt es aber nicht. Kramer hat wohl nur die für den Methodenstreit unin­ teressante unechte „Wortlautfalschbezeichnung“ im Blick. 35 Für eine entsprechende Anwendung des falsa-Satzes auf das Schweigen: Petersen, AT (2013), §  16 Rn.  7 a. E.; Canaris, in: Staub, HGB (2003), Anh. §  362 Rn.  4 a. E.; ders., FS Wilburg (1975), 77 (79). 36  AG Wedding, Urteil vom 20.2.1990, NJW 1990, 1797. Das Urteil hat allgemeine Zustim­ mung gefunden: Armbrüster, in: MünchKommBGB (2015), §  119 Rn.  61; Hirsch, AT (2015), Rn.  138; Leenen, AT (2015), §  5 Rn.  58; Singer, in: Staudinger (2012), §  119 Rn.  39; Brehm, AT (2008), Rn.  409; Neuner, JuS 2007, 881 (883). 37  Mit dieser Begründung auch Neuner, JuS 2007, 881 (883), der den Fall aber unter der damit kaum vereinbaren Überschrift „subjektiv-teleologische“ Auslegung behandelt, bei der „der Emp­ fänger tatsächlich versteht, was der Erklärende intendiert“. Singer, in: Staudinger (2012), §  119 Rn.  39 ordnet den Fall als „erkannten Irrtum“ ein, gibt aber als Begründung an, dem Empfänger habe der Kündigungswille klar sein müssen. Beide Autoren vermengen natürliche und normative Auslegung. Hirsch, AT (2015), Rn.  138 stellt in dem Fall ausdrücklich auf die Erkennbarkeit des Gemeinten ab. 38 Vgl. Brehm, AT (2008), Rn.  409, in dessen Beispiel die Mitarbeiterin der Klägerin lediglich überprüft, ob der Beklagte die Jura bezog.

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kennbarkeit des Gemeinten.39 Auf die natürliche Auslegungsmethode kam es nicht an. c) Die Schwierigkeiten der Identifizierung unechter Falschbezeichnungen am Beispiel des Haakjöringsköd-Falls (RGZ 99, 147) Die auslegungsmethodisch eigentlich uninteressanten unechten Falschbezeichnun­ gen tauchen wohl auch deshalb in der Diskussion immer wieder auf, weil es nicht immer leicht fällt, sie als solche zu identifizieren. Werden die Beispielsfälle gericht­ lichen Entscheidungen entnommen, dann fehlen aus prozessualen Gründen hierzu meist die notwendigen Angaben. Wo die Gerichte – warum auch immer – ein über­ einstimmendes Verständnis zu erkennen glauben, können sie es angesichts des an­ genommenen Vorrangs der natürlichen Auslegung vor jedem anderen Auslegungs­ ergebnis dahinstehen lassen, ob die Parteien berechtigterweise zum selben Ver­ ständnis gelangten und warum dies der Fall ist, da die Auslegung mit dieser Feststellung schon an ihr Ende gelangt ist.40 Solche Angaben wären aber notwendig, um sicher beurteilen zu können, ob das Gewollte für den Empfänger normativ er­ kennbar war trotz des Fehlgriffs im Wort. In Lehrbuchfällen führen die meist sehr knappen, die Lebenswirklichkeit nur sehr lückenhaft nachzeichnenden Sachverhal­ te zum selben Effekt. So findet sich in dem allgemein für den „berühmtesten und unbestrittenen Fall einer ‚falsa demonstratio‘“41 gehaltenen Haakjöringsköd-Fall des Reichsgerichts42 , in dem die Parteien im Kaufvertrag den beidseitig gemeinten Kaufgegenstand Walfleisch mit dem Wort „Haakjöringsköd“ (norwegisch43 für „Haifischfleisch“) bezeichnet hatten, zur Vorgeschichte und etwaigen Vorverhandlungen nichts.44 Es 39  In diesem Sinne ordnet Brehm, AT (2008), Rn.  409 den Fall ausdrücklich dem falsa-Satz zu, obwohl nach seiner Fallschilderung der Kündigungsempfänger den Irrtum des Kündigenden nicht „erkennt“. Vgl. auch Seifert, Falsa demonstratio (1929), 129: „Die falsa demonstratio des Offeren­ ten ist auch dann unschädlich, wenn der Gegner den wahren Willen nicht erkannt hat, trotzdem er ihn, wie gesagt, aus dem Gesamttatbestand hätte erkennen müssen.“ 40  Vgl. BGH, Urteil vom 14.2.1997, ZIP 1997, 1205 (1206); Urteil vom 26.10.‌1983, NJW 1984, 721. 41  Diederichsen, FS Juristische Gesellschaft zu Berlin (1984), 81 (86). 42  RG, Urteil vom 8.6.1920, RGZ 99, 147. 43  Das Urteil geht nicht darauf ein, dass den Parteien obendrein noch ein weiterer Irrtum un­ terlaufen war: Die korrekte norwegische Bezeichnung für den Grönlandhai bzw. Eishai lautet „Håkjerring“ (dazu Jessica Schmidt, Vertragsschluss [2013], 137 f. in Fn.  1030), die korrekte Schreibweise von „Fleisch“ lautet „kjøtt“. 44  Wieling, AcP 172 (1972), 297 (298 in Fn.  4) und ders., Jura 1979, 524 (525) stützt seine An­ nahme, der Haakjöringsköd-Fall sei kein Fall der (echten) falsa demonstratio, auf Vorverhandlun­ gen der Parteien. Davon und vom konkreten Ablauf der Vorverhandlungen ist jedoch im Urteil keine Rede (so auch Cordes, Jura 1991, 352 [354]). Wielings Unterstellung von Verhandlungen unter Verwendung von Zeichen, die mit hinreichender Sicherheit erkennbar auf Walfleisch als beidseitig Gewolltes hindeuteten, ist gleichwohl sehr lebensnah, weil dies die plausibelste Erklä­

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lässt sich daher nicht mit letzter Sicherheit beurteilen, warum sie übereinstimmend davon ausgingen, Kaufgegenstand sei Walfleisch. Trotzdem ist es hochgradig un­ wahrscheinlich, dass deutsche Parteien, die über die große Warenladung verhandelt haben müssen und mit „Haakjöringsköd“ im Kaufvertrag ein Wort benutzten, „des­ sen Bedeutung die Parteien nicht kannten“45, zuvor nicht unter Verwendung ande­ rer ihnen geläufiger Zeichen (vermutlich des deutschen Worts „Wal“) das Gewollte wechselseitig eindeutig bezeichnet hatten, sondern ohne solche äußeren Umstände rein zufällig zum selben irrigen Verständnis des Fremdworts gelangten.46 Es war deshalb aller Wahrscheinlichkeit nach keineswegs „unumgänglich“47, nach dem Willen der Parteien zu forschen, um zu einem Konsens über Walfleisch gelangen zu können. Eine individuell-normative Auslegung nach dem objektiven Empfängerho­ rizont hätte wohl, wenn man sich um Aufklärung der Vorgeschichte bemüht hätte, zum selben Ergebnis geführt. Der berühmteste Fall einer falsa demonstratio hatte aller Wahrscheinlichkeit nach eine für den Methodenstreit uninteressante unechte Falschbezeichnung zum Gegenstand. Welche Konstellationen des Vorrangs der natürlichen Auslegung bleiben übrig, wenn einmal sämtliche Fälle ausgeschieden sind, bei denen beide Methoden zum selben Ergebnis kommen unter Einschluss der unechten Falschbezeichnungen?

rung für das übereinstimmende Verständnis ist. Vgl. dazu auch den fiktiven Dialog bei Martinek, JuS 1997, 136 (137 unter II 1). 45  RG, Urteil vom 8.6.1920, RGZ 99, 147 (148). Cordes, Jura 1991, 352 (353 in Fn.  14) vermutet, die Parteien hätten das ausgefallene Wort im Vertragstext unter den Bedingungen der Kriegswirtschaft gewählt, um „den Gegenstand des Kau­ fes vor den Behörden zu verheimlichen“. In diesem Fall hätten sich die Parteien über die Wortlaut­ bedeutung von „Haakjöringsköd“ gar nicht geirrt, sondern im Sinne des §  117 II BGB ein Schein­ geschäft geschlossen. Zur Bedeutung des §  117 BGB für die natürlichen Auslegung noch §  10 II. 46  Manigk, JherJb 75 (1925), 127 (214 f.) geht hingegen ohne nähere Begründung im Haakjö­ ringsköd-Fall von „beiderseitigem Erklärungsirrtum“ (S.  214) und fehlender „Erkennbarkeit des wirklichen Willens“ (S.  215) aus. Dagegen Seifert, Falsa demonstratio (1929), 122 ff., dessen An­ nahme von Erkennbarkeit zwar sehr plausibel, aber aus dem Tatbestand ebenso wenig zwingend ableitbar ist. Dieser Punkt lässt sich auf Basis des Urteilstextes nicht aufklären. 47  So aber Kramer, ZfRV 1968, 143 (146).

II. Der kongruente Doppelirrtum

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II. Der kongruente Doppelirrtum 1. Beispiele und praktische Relevanz Zu nennen ist hier zunächst eine Konstellation, die im Folgenden mangels eines eingeführten schlagkräftigen Begriffs48 als kongruenter Doppelirrtum49 bezeichnet wird, der abstrakt folgende Grundform hat: Der Erklärende meint x, erklärt aber objektiv y, und der Empfänger versteht x.

Ein Beispiel für den immer etwas lehrbuchhaft wirkenden kongruenten Doppelirr­ tum ist der in der Lehre diskutierte „Doppelzentner-Fall“: K will 10 Doppelzentner Kartoffeln zum Listenpreis bei V kaufen. Er verschreibt sich je­ doch und bestellt 10 Zentner. V ist der Meinung, ein Zentner entspreche 100 kg und sagt zu.50

Auch der Haakjöringsköd-Fall wirkt, wenn man den Sachverhalt in Richtung des kongruenten Doppelirrtums präzisiert, ausgesprochen gekünstelt. Die deutschen Parteien müssten dann ganz unabhängig voneinander dem gleichen Inhaltsirrtum über das Wort Haakjöringsköd unterlegen sein, ohne sich bei ihren Verhandlungen das wirklich Gewollte wechselseitig offenbart zu haben. Das ist theoretisch mög­ lich51, aber kaum wahrscheinlich. Die Lebensferne der Beispiele ist letztlich unvermeidlich und gewissermaßen eine Grundvoraussetzung dafür, dass sie noch als methodenrelevant betrachtet wer­ den können. Sie müssen gerade so beschaffen sein, dass der Empfänger nach den ihm erkennbaren Umständen keinen Anlass hat, von dem wirklichen Willen des Erklärenden auszugehen, und es trotzdem tut. Anderenfalls handelt es sich um eine unechte Falschbezeichnung, die zur inhaltlichen Kongruenz von x und y führt und jede Methodenfrage erledigt. Die dadurch entstehende Situation ist naturgemäß ex­ trem unwahrscheinlich. Ein Irrtum allein kommt selten genug vor, zwei gleichsin­ nige Irrtümer auf beiden Seiten sind noch seltener. 48  Titze, FS Heymann II (1940), 72 (75): „beidseitige[r] gemeinsame[r] Irrtum“ (meint auch Motivirrtümer); Henle, Lb. I (1926), 225: „kongruenter Gegenirrtum“; Rothoeft, System (1968), 39, 159 ff.: „beidseitiger gleichartiger Bedeutungsirrtum“ (meint auch Motivirrtümer); Flume, AT II (1992), 471: „beiderseitige[r] oder doppelseitige[r] gleiche[r] Erklärungsirrtum“; Fezer, Klausuren­ kurs (2013), 193: beidseitiger inhaltsgleicher Erklärungs- oder Inhaltsirrtum; Bork, AT (2016), Rn.  942: „geteilter (‚beidseitiger‘) Irrtum“ (meint auch Motivirrtümer). 49  Von „Doppelirrtum“ sprechen Titze, Mißverständnis (1910), 422 in Fn.  47, 423; Martinek, JuS 1997, 136 (139 [Stud. L.]); Gottwald, AT (2013), Rn.  158. 50  Wieling, Jura 1979, 524 (525); Scherner, AT (1995), 93, Fall 7. Das ältere Schrifttum behandelt häufig den „Pferde-Fall“ (beide Parteien meinen „Pollux“, be­ ziehen sich aber objektiv auf „Kastor“), Titze, Mißverständnis (1910), 422 f.; Oertmann, AcP 117 (1919), 275 (276, Beispiel 6); Larenz, Methode (1930, 1966), 78 f. Weitere Beispiele bei Reinicke, JA 1980, 455 (456). 51  Larenz, AT (1989), 339 in Fn.  7 a. E.

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§  4 Die methodenrelevanten Fälle des Vorrangs der natürlichen Auslegung

2. Merkmale des kongruenten Doppelirrtums Im Einzelnen zeichnen den methodenrelevanten kongruenten Doppelirrtum folgen­ de Merkmale aus. a) Beidseitige gleichsinnige Geschäftsirrtümer oder beidseitige Verkennung des Erklärungswerts Beim kongruenten Doppelirrtum legen Erklärender und Empfänger inhaltlich über­ einstimmend der Erklärung unbewusst einen Sinn bei, der vom Ergebnis der nor­ mativen Auslegung abweicht. Aus dem Blickwinkel der normativen Methode befin­ den sich beide Seiten mit ihrer Vorstellung vom rechtserheblichen Inhalt der Erklä­ rung „an sich“, d. h. unter Ausblendung der natürlichen Methode, im Irrtum, obwohl sich ihre wechselseitigen Vorstellungen vom Erklärungsinhalt decken.52 Dabei ist unerheblich, warum genau die Beteiligten die normativ richtige Bedeu­ tung verfehlen. Ihnen muss nicht derselbe Irrtum unterlaufen, sondern es kommen auch ungleichartige Irrtümer in Betracht, solange die Beteiligten nur trotzdem von einem „gleichsinnigen“ Ergebnis ausgehen.53 Möglich sind alle Konstellationen, die typusmäßig den in den §§  119 I, 120 BGB geregelten Irrtümern entsprechen. Es muss also dazu kommen, dass beide Beteiligten unabhängig voneinander unter Be­ rücksichtigung aller normativ zu berücksichtigenden Begleitumstände54 des Falles die Erklärungszeichen falsch gehandhabt haben (vgl. §  119 I Alt. 2 BGB), mit ihnen eine falsche Bedeutung verbunden haben (vgl. §  119 I Alt. 1 BGB) oder in ihrer Sphäre ein Übermittlungsfehler geschehen ist (vgl. §  120 BGB) und sich ihr „an sich“ irriges Verständnis des Inhalts der Erklärung trotzdem deckt. Denkbar ist schließlich auch, dass beide Beteiligte irrtümlich der Erklärung über­ haupt keinen Erklärungswert beimessen, obwohl ihr bei normativer Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont ein Erklärungswert zukommt. Die Betei­ ligten verstehen die Willenserklärung objektiv zu Unrecht als „Nichterklärung“. Auf Seiten des Erklärenden liegt dann „an sich“ ein Fall fehlenden Erklärungsbe­ wusstseins vor, auf den eigentlich – jedenfalls soweit der Erklärende den erweckten Schein zu vertreten hat – nach überwiegender Auffassung §  119 I Alt. 2 BGB ent­ 52  Der Irrtum in diesem Sinne bezieht sich auf den durch normative Auslegung ermittelten Inhalt der Erklärung, nicht dagegen auf die innere Tatsache, welchen Willen der Erklärende bei Abgabe der Erklärung hatte – diesbezüglich liegt beim Empfänger gerade kein Irrtum vor, sondern eine wahre Vorstellung, die allerdings durch die dem Empfänger erkennbaren Umstände nicht gerechtfertigt ist (zu diesem „Rechtfertigungselement“, das den Unterschied zu echtem „Wissen“ des Empfängers markiert, siehe noch §  10 I 2 a). 53  Reinicke, JA 1980, 455 (457). Undeutlich insoweit Bork, AT (2016), Rn.  942, der vom „sel­ ben Irrtum“ spricht, und Wieling, AcP 172 (1972), 297 (298), der meint, die Parteien müssten „un­ abhängig voneinander in den gleichen Irrtum verfallen“. 54  Ohne diese klarstellende Einschränkung würden unechte Falschbezeichnungen (dazu I 2) in die Problematik hineingezogen.

II. Der kongruente Doppelirrtum

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sprechende Anwendung finden würde. Der von der Rechtsprechung als Vorausset­ zung einer anfechtbaren Willenserklärung formulierte Vorbehalt, der Empfänger müsse das Verhalten ohne Erklärungsbewusstsein auch so verstanden haben, wie es objektiv zu verstehen war55, kann auch als Hinweis auf einen methodenrelevanten Anwendungsfall der natürlichen Auslegung begriffen werden: Wenn beide Beteilig­ te das Verhalten irrtümlich nicht als Willenserklärung verstehen, geht dieses über­ einstimmende Verständnis als Nichterklärung im Sinne der dualistischen Ausle­ gungslehre der objektiven Bedeutung vor.56 b) Keine Beschränkung auf Irrtümer im Sinne der §§  119 I, 120 BGB: Empfängerirrtum und Verkennung der objektiven Unbestimmtheit Der Irrtum, der mit einem gleichsinnigen Irrtum des Gegners zum kongruenten Doppelirrtum führt, muss kein Irrtum im technischen Sinne der §§  119 I, 120 BGB sein, der den Irrenden „an sich“ zur Anfechtung des Rechtsgeschäfts berechtigen würde. Einem Empfänger, der die an ihn adressierte Erklärung falsch versteht, steht allein deshalb kein Anfechtungsrecht zu57, sein „Empfängerirrtum“58 beeinflusst aber im Falle eines gleichsinnigen Irrtums des Erklärenden im Rahmen der natürli­ chen Auslegungsmethode den Erklärungssinn. Die Gründe für das Zustandekom­ 55  BGH, Urteil vom 11.6.2010, NJW 2010, 2873 Tz.  18; Urteil vom 29.11.1994, NJW 1995, 953 unter II 1; Urteil vom 2.11.1989, BGHZ 109, 171 (177); Urteil vom 7.6.‌1984, BGHZ 91, 324 (dort nur im Leitsatz). Die in den Urteilen gewählte Formulierung deckt allerdings auch den Fall ab, in dem der Empfänger die Erklärung nicht lediglich als „Nichterklärung“ behandelt, sondern ihr einen anderen positiven Sinn zumisst, als ihr objektiv zukommt. Denn auch dann vertraut der Empfän­ ger nicht auf den objektiven Erklärungswert des Verhaltens. Insofern handelt es sich dann um eine besondere Erscheinung des hier im Text noch unter 3. behandelten inkongruenten Doppelirrtums, weil die Verständnisse der Beteiligten dann nicht nur vom objektiv Erklärten, sondern auch vonei­ nander abweichen. 56  Leenen, AT (2015), §   5 Rn.  7; Lorenz, Schutz (1997), 220 in Fn.  36. Vgl. auch Bork, AT (2016), Rn.  596 in Fn.  33, der aber insoweit von einem „erkannten“ Mangel der Willenserklärung spricht. Wenn der Empfänger das fehlende Erklärungsbewusstsein aufgrund ihm bekannter Um­ stände tatsächlich „erkennt“, handelt es sich um eine „unechte“ Falschbezeichnung, bei der schon nach dem objektiven Empfängerhorizont kein Erklärungsverhalten vorliegt (vgl. noch die Ausfüh­ rungen zum durchschauten Irrtum unter III 1). 57  Ein Anfechtungsrecht entsteht nur, falls die Fehlvorstellung über den Inhalt der fremden Erklärung beim Empfänger auch einen Irrtum bei Abgabe einer etwaigen Gegenerklärung hervor­ ruft (Medicus, AT [2010], Rn.  749). 58  Titze, Mißverständnis (1910), 3 will den Begriff des Irrtums auf das erklärendenseitige Aus­ einanderfallen von Wille und Erklärung beschränken und schlägt zur Bezeichnung des entspre­ chenden empfängerseitigen Auseinanderfallens von „Erklärungsinhalt und Erklärungsaufnahme“ die Bezeichnung „Mißverständnis“ vor. Er räumt aber in Fn.  1 ein, „im Sinne des gewöhnlichen Sprachgebrauchs“ könne auch auf Empfängerseite von einem „Irrtum“ gesprochen werden. Ellenberger, in: Palandt (2016), §  119 Rn.  8a; Wendtland, in: Bamberger/Roth (2012), §  119 Rn.  20; Medicus, AT (2010), Rn.  749 sprechen jeweils unbefangen vom „Empfängerirrtum“. „Irrtum“ wird hier aus pragmatischen Gründen als Oberbegriff gewählt, um eine eingängige rollenneutrale Be­ zeichnung der Fehlvorstellung vom Erklärungsinhalt zu ermöglichen.

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§  4 Die methodenrelevanten Fälle des Vorrangs der natürlichen Auslegung

men des Empfängerirrtums sind mit den in §§  119 I, 120 BGB geregelten Irr­ tumskonstellationen phänomenologisch freilich eng verwandt: Der Empfänger kann das Erklärungszeichen falsch wahrnehmen (Wahrnehmungsfehler als Pendant des Erklärungsirrtums i. S. v. §  119 I Alt.  2 BGB59), eine falsche Inhaltsvorstellung mit ihm verbinden (Deutungsfehler als Pendant des Inhaltsirrtums i. S. v. §  119 Alt.  1 BGB60) oder es innerhalb seiner Sphäre verfälscht übermittelt bekommen (empfängerseitiger Übermittlungsfehler als Pendant des §  120 BGB). Vor diesem Hintergrund ist die verbreitete Umschreibung des kongruenten Dop­ pelirrtums als beidseitige oder übereinstimmende Falschbezeichnung61 sprachlich unglücklich, da der Empfänger nichts „bezeichnet“, sondern die Willenserklärung nur passiv entgegennimmt und dabei falsch auffasst. Eine beidseitige Falschbe­ zeichnung ist nur bei Verträgen denkbar, an die hier wohl unter Übergehung des einseitigen Rechtsgeschäfts regelmäßig gedacht wird. Auch bei Verträgen ist die Redeweise von der beidseitigen bzw. übereinstimmenden Falschbezeichnung aber besser zu vermeiden, da nicht der Vertrag als Ganzes, sondern die einzelne Wil­lens­ erklärung der Bezugspunkt der hier in Rede stehenden erläuternden Auslegung ist62 und die Vertragsparteien in ihrer jeweiligen Rolle als Empfänger der fremden Er­ klärung wiederum nichts aktiv „bezeichnen“. Ein kongruenter Doppelirrtum im hier gemeinten Sinne setzt nicht einmal vor­ aus, dass überhaupt „an sich“ bei normativer Auslegung zunächst eine gültige an­ fechtbare Willenserklärung besteht. Die Willenserklärung kann auch objektiv un­ bestimmt (perplex, mehrdeutig) und deshalb eigentlich unwirksam sein. Auch bei objektiv unbestimmten Erklärungen irren die Beteiligten über den objektiven Sinn der Erklärung, indem sie ihr eine bei normativer Auslegung nicht zukommende bestimmte Bedeutung beilegen.63 Die Gründe, warum die Beteiligten trotz objekti­ 59  Singer/Benedict, in: Staudinger (2012), §  130 Rn.  117 im Anschluss an die Begriffsbildung und Kategorisierung bei Titze, Mißverständnis (1910), 13. 60  Singer/Benedict, in: Staudinger (2012), §  130 Rn.  116 im Anschluss an die Begriffsbildung und Kategorisierung bei Titze, Mißverständnis (1910), 13. 61  Faust, AT (2016), §  2 Rn.  12; Wertenbruch, AT (2014), §  9 Rn.  10, der „falsa demonstratio non nocet“ sogar als „übereinstimmende Falschbezeichnung schadet nicht“ übersetzt; Singer, in: Staudinger (2012), §  119 Rn.  39. 62  Dazu bereits §  3 IV 2 b aa. 63  Lüderitz, Auslegung (1966), 232; Bading, JW 1914, 609 (611 re. Sp.); ders., Willenserklä­ rung (1910), 52 jeweils aus Erklärendensicht. Bading, JW 1914, 609 (611 li. Sp.) hebt auch den entsprechenden Irrtum des die Unbestimmtheit verkennenden Empfängers hervor, befasst sich damit aber nicht weiter, da es ihm um andere Fragestellungen im Zusammenhang mit der Dissens­ lehre geht. Seine Annahme, der Empfängerirrtum über die Unbestimmtheit sei „untrennbar mit dem Mißverstehen der eigenen Erklärung verbunden“ (ders., Willenserklärung [1910], 52), trifft indes nicht zu. Auch bei den von Bading nicht betrachteten einseitigen Rechtsgeschäften kann ein Empfänger irren. Nach der natürlichen Auslegungsmethode entfaltet der Empfängerirrtum über die Unbestimmtheit dann sogar positive Rechtwirkungen. A. A. aus Erklärendensicht Manigk, JherJb 75 (1925), 127 (142, 185 ff.), der die mehrdeutige Erklärung für irrtums- und fehlerfrei hält (ähnlich E. Grünwald, Dissens [1939], 16 f.: von jeder Partei werde „tatsächlich erklärt, was sie erklären will“). Manigk, a. a. O., 186 stellt die Dinge auf

II. Der kongruente Doppelirrtum

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ver Unbestimmtheit innerlich von einer eindeutigen Erklärung ausgehen, entspre­ chen typusmäßig stets den Irrtumskonstellationen der §§  119 I, 120 BGB – regelmä­ ßig dem Inhaltsirrtum (§  119 I Alt. 1 BGB), indem die Beteiligten übereinstimmend dem Erklärungszeichen eine bestimmte Bedeutung beimessen, obwohl es auch un­ ter Berücksichtigung der Begleitumstände nicht eindeutig ist.64 c) Keine beidseitigen kongruenten Motivirrtümer Keine Bedeutung für die hier untersuchte erläuternde Auslegung haben Motivirrtü­ mer (u. a. §§  119 II65, 123 BGB), die beim Vertragsschluss66 bei beiden Parteien – durchaus auch einmal inhaltsgleich – vorkommen können. Motivirrtümer betreffen nicht den Erklärungsinhalt, sondern der Bildung des Rechtsfolgewillens vorgelager­ te Wirklichkeitsvorstellungen, die Einfluss auf die Bewertung der durch den Erklä­ rungsinhalt festgelegten Rechtsfolgen haben. Beidseitige Motivirrtümer werfen die der erläuternden Auslegung fremde Frage auf, ob das Rechtsgeschäft in Anbetracht der abweichenden Wirklichkeit unter normativer Ergänzung oder Korrektur seines Inhalts aufrecht erhalten wird oder sogar völlig hinfällig ist. Der beidseitige Mo­tiv­ irrtum wird dementsprechend zu Recht nicht der erläuternden (natürlichen) Aus­ legung zugeordnet67, sondern der ergänzenden Vertragsauslegung68 und der Ge­ schäftsgrundlagenlehre69. den Kopf mit seiner Auffassung, die mehrdeutige Erklärung sei als fehler- und irrtumsfrei anzuse­ hen, weil anderenfalls §  119 BGB anzuwenden und dem Gegner nach §  122 BGB das Vertrauensin­ teresse zu ersetzen wäre. Man muss den vorhandenen Irrtum des Erklärenden (Abgabe einer dem eindeutigen Willen objektiv nicht entsprechenden uneindeutigen Erklärung), den Manigk selbst einräumt (a. a. O., 166), nicht negieren, um bloße Anfechtbarkeit und Haftung auf das negative In­ teresse zu vermeiden. Die mehrdeutige Erklärung entzieht sich §§  119 I, 122 BGB nicht, weil sie eine fehlerfreie Erklärung, sondern weil sie eine ganz besonders fehlerhafte ist. Sie leidet über die Divergenz von Wille und Erklärung hinaus auch noch am Unbestimmtheitsmangel im äußeren Tatbestand, der eine Anfechtung und den Empfängerschutz nach §  122 I BGB entbehrlich macht. A. A. aus Empfängersicht auch Gschnitzer, in: Klang, ABGB (1968), 97: der Empfänger missver­ stehe nicht die mehrdeutige Erklärung, wenn er von einer ihrer möglichen Bedeutungen ausgehe, „sondern höchstens die subjektive Auffassung des Gegners“. 64  Bading, JW 1914, 609 (611 li. Sp.). 65  Hier wird die ganz herrschende Auffassung (siehe nur Bork, AT [2016], Rn.  853 m.‌Nachw. zu abw. Auffassungen bei Rn.  860–862) zugrundegelegt, die den Eigenschaftsirrtum im Sinne von §  119 II BGB als Erscheinungsform des Motivirrtums einordnet. 66  Beim einseitigen Rechtsgeschäft kann es nur einseitige Motivirrtümer des Erklärenden ge­ ben. 67  Besonders klare Abgrenzung von beidseitigem kongruentem Motivirrtum und beidseitigem kongruentem Geschäftsirrtum (§§  119 I, 120 BGB) als Anwendungsfall der natürlicher Auslegung bzw. des falsa-Satzes bei Fezer, Klausurenkurs (2013), 193; Säcker/‌Mohr, Fallsammlung (2010), 94 in Fn.  3; Larenz/‌M. Wolf, AT (2004), §  28 Rn.  30 a. E.; Hefermehl, in: Soergel (1999), §  119 Rn.  85. Vgl. auch Rummel, JBl 1988, 1 (4) und ders., JBl 1981, 1, jeweils zum österreichischen Recht. 68  Rüthers/Stadler, AT (2014), §  25 Rn.  97. 69  Bork, AT (2016), Rn.   944; Arnold, in: Erman (2014), §  119 Rn.  44; Rüthers/‌Stadler, AT

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§  4 Die methodenrelevanten Fälle des Vorrangs der natürlichen Auslegung

3. Abgrenzung und Einordnung: Der inkongruente Doppelirrtum und seine Rechtsfolgen Die methodenrelevante Konstellation des kongruenten Doppelirrtums ist zu unter­ scheiden vom eng verwandten inkongruenten Doppelirrtum. Hier irren ebenfalls beide Beteiligte, Wille und Empfängerauffassung weichen aber zudem noch vonei­ nander ab: Der Erklärende meint x, erklärt aber y, und der Empfänger versteht z.

Als Beispiel mag man an eine Abwandlung des Haakjöringsköd-Falls denken, in der einer der Beteiligten unter Haakjöringsköd Walfleisch, der andere aber Hering versteht. Die empirische Wahrscheinlichkeit eines solchen Falles dürfte ähnlich ge­ ring sein wie die des kongruenten Doppelirrtums. Gehen die Meinungen der Betei­ ligten über den Erklärungsinhalt auseinander, wird sich regelmäßig einer der Betei­ ligten mit seiner Auffassung gemessen an der normativen Auslegungsmethode im Recht befinden. Selbst wenn keiner von beiden für seine Auffassung den Wortlaut der Erklärung anführen kann, muss nicht unbedingt ein inkongruenter Doppelirr­ tum vorliegen. Denn auch dann kann es sich bei dem Wortlaut um eine unechte Falschbezeichnung handeln, die sich anhand der Begleitumstände im Sinne des Ver­ ständnisses eines der Beteiligten auflösen lässt.70 Damit ein echter inkongruenter Doppelirrtum vorliegt, müssen beide Seiten unter Berücksichtigung der Umstände im Unrecht mit ihrem Verständnis und sich darin sogar noch uneins sein. Nach wohl überwiegender Lehre71 – Rechtsprechung ist nicht ersichtlich – kommt hier mangels positiver Verständnisübereinstimmung auf zweiter Stufe die normati­ (2014), §  25 Rn.  98–100; Fezer, Klausurenkurs (2013), 193; Petersen, Jura 2011, 430 (432); M. Wolf, in: Europäische Vertragsrechtsvereinheitlichung (2000), 85 (91); Hefermehl, in: Soergel (1999), §  119 Rn.  66, 85; Rummel, JBl 1981, 1 zum österreichischen Recht; Enneccerus/Nipperdey, AT I/2 (1960), 1086. Vgl. auch bereits Oertmann, AcP 117 (1919), 275 (279 f.) und ders., BGB-Kommentar (1927), 403 (§  119 BGB Anm.  6). 70 Beispiel: Im Haakjöringsköd-Fall erkundigt sich der K beim deutschen Verkäufer V zu­ nächst auf Deutsch nach Walfleisch und gibt später eine auf die Anfrage bezugnehmende Bestel­ lung von „Haakjöringsköd“ ab. Wenn jetzt V den Antrag mit einem einfachen „Einverstanden“ in der Überzeugung annimmt, bei ihm sei Haakjöringsköd bestellt worden, und darunter zudem fälschlich „Hering“ versteht, kommt trotzdem ein Vertrag über „Wal“ zustande, weil V erkennen musste, dass der Antrag des K so gemeint war und das darauf Bezugnehmende „Einverstanden“ von K auch so verstanden werden durfte. 71  Faust, AT (2016), §  2 Rn.  10; Bork, in: Staudinger (2015), §  155 Rn.  6; Busche, in: Münch­ KommBGB (2015), §  155 Rn.  6; Armbrüster, in: Erman (2014), §  155 Rn.  8; Fezer, Klausurenkurs (2013), 193; Singer, in: Staudinger (2012), §  119 Rn.  42; Schulze, in: NK‑BGB (2012), §  155 Rn.  5; Brehm, AT (2008), Rn.  404; Kling, Sprachrisiken (2008), 449 in Fn.  317; Schermaier, Bestimmung (2000), 630 in Fn.  152; Hefermehl, in: Soergel (1999), §  119 Rn.  18, 85; Lee, Voraussetzungen (1999), 30; M. Wolf, in: Soergel (1999), §  155 Rn.  11, §  157 Rn.  29 bei und in Fn.  50; Flume, AT II (1992), 472, der in Fn.  64 die Gegenauffassung als „abwegig“ bezeichnet; Schlachter, JA 1991, 105 (107 in Fn.  11); Diederichsen, FS Hübner (1984), 421 (425 f., 427); E. Wolf, AT (1982), 418; Krüger-Nieland, in: RGRK (1982), §  119 Rn.  77; Stathopoulos, FS Larenz (1973), 357 (367); Frotz, Verkehrsschutz (1972), 422 bei und in Fn.  1018; Titze, FS Heymann II (1940), 72 (76); Henle, Lb. I

II. Der kongruente Doppelirrtum

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ve Methode zum Zuge. Die Erklärung gilt im Sinne des objektiv Erklärten, dem Erklärenden steht lediglich ein Anfechtungsrecht zu. Beim Vertragsschluss können dann sogar aufgrund der beidseitigen Irrtümer beide Vertragsparteien anfechten. Jeder „Irrtum wird für sich ohne Rücksicht auf den davon verschiedenen Irrtum des Gegners bewertet“72. Seit jeher vertritt jedoch eine beachtliche Zahl von Autoren eine Sonderbehand­ lung des inkongruenten Doppelirrtums. Einig sind sie im Ergebnis darin, dass das normative Auslegungsergebnis nicht zur Geltung gelangt. Sie vertreten damit – ebenso wie die dualistische Lehre in den Fällen des kongruenten Doppelirrtums – eine Ausnahme von der Maßgeblichkeit des normativen Auslegungsergebnisses. Im Einzelnen unterscheiden sich die Ausführungen zu dieser meist nur am Rande be­ handelten Konstellation. Am häufigsten findet sich in Untersuchungen zur Vertrags­ schlusslehre die Auffassung, der Vertrag scheitere – obwohl sich der objektive In­ halt der ausgetauschten Erklärungen deckt – bei inkongruentem Doppelirrtum an einem Dissens.73 Andere setzen mit ihren Überlegungen schon auf der Ebene der einzelnen Willenserklärung an und erfassen so auch das einseitige Rechtsgeschäft, bei dem sich die Situation des inkongruenten Doppelirrtums ebenfalls ergeben kann. Meist wird die Willenserklärung dann für unwirksam gehalten74. Seltener findet sich die Auffassung, die Erklärung gelte in einem solchen Fall im Sinne des vom Erklärenden Gewollten.75 (1926), 75, 224; Oertmann, AcP 117 (1919), 275 (283 unter 5.); Bading, Willenserklärung (1910), 38 in Fn.  51; Titze, Mißverständnis (1910), 333–336, 421 f. Vgl. Emmerich, in: Grundlagen (1972), 279 (452). Zum schweizer Recht Keller, SJZ 57 (1961), 313 (317, 3. Abschnitt unter I B 2 c) und ders., SJZ 58 (1962), 365 (370, 2. Kap. unter I C 2 c). Offen gelassen bei Zwanzger, Vertrag (2013), 186; Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 (181, 187 f.). 72  Oertmann, AcP 117 (1919), 275 (283 unter 5.). Ebenso Titze, FS Heymann II (1940), 72 (76). 73  Ellenberger, in: Palandt (2016), §  155 Rn.  3; Eckert, in: Bamberger/Roth (2012), §  155 Rn.  5 und Kramer, in: MünchKommBGB (2006), §  155 Rn.  13, die jeweils §  155 BGB entsprechend an­ wenden wollen. Ferner Leenen, FS Prölss (2009), 153 (170, 174); Jürgen Schmidt, in: Staudinger (1995), §  242 Rn.  386, 391; Bailas, Problem (1962), 21 f.; Oegg, in: RGRK (1953), §  155 Anm.  2; R. Leonhard, Irrtum II (1907), 33; Matthes, Irrtum (1905), 45. Vgl. auch Petersen, Jura 2009, 419 (420): kein Dissens, „wenn die Auslegung einen übereinstimmenden Erklärungsinhalt ergibt, den lediglich eine Partei subjektiv nicht gewollt hat“. Ferner Manigk, Irrtum (1918), 85: Erklärender muss sich beim Vertragsschluss nicht an einer Bedeutung festhalten lassen, die der Gegner nicht so aufgefasst hat. Vgl. auch Rothoeft, System (1968), 162. 74  Leenen, AT (2015), §  5 Rn.  42 (Erklärung gilt in dem Sinne, in dem „der andere Teil die Erklärung verstanden hat und verstehen durfte“), §  8 Rn.  160; Jahr, JuS 1989, 249 (252), der von Dissens spricht, diesen Begriff aber ausdrücklich auch auf die einzelne Willenserklärung bezieht (a. a. O. in Fn.  29); Wieser, JZ 1985, 407 (408); ders., Einführung (1982), Rn.  290; Jacobi, JherJb 70 (1921), 110 (129 unter 4.); ders., Theorie (1910); 38 f.; Henle, GgA 170 (1908), 427 (486); Hölder, FS Bekker (1907), 57 (70): „Ist der Inhalt der Erklärung weder mit der Meinung ihres Urhebers noch mit der Meinung ihres Empfängers über ihn identisch, so gibt es doch keinen unabhängig von der Meinung beider schlechthin gegebenen Inhalt derselben.“ Vgl. auch F. Bydlinski, Privatautonomie (1967), 10 f., 40 f. zum „beiderseits unbewussten Vertragsschluss“ (d. h. beiderseits fehlendem Er­ klärungsbewusstsein) mit einer Begründung, die sich auf die einzelne Willenserklärung und den inkongruenten Doppelirrtum beziehen lässt. 75  Rummel, Vertragsauslegung (1972), 19, der meint, es komme „bei fehlendem Vertrauen des

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§  4 Die methodenrelevanten Fälle des Vorrangs der natürlichen Auslegung

Die Konstellation ist für die weitere Untersuchung aufgrund einiger Parallelen zum kongruenten Doppelirrtum von großem Interesse. Auch beim inkongruenten Doppelirrtum will bei Vornahme des Rechtsgeschäfts keiner der Beteiligten das objektiv Erklärte und keiner vertraut darauf. Autoren, die bei inkongruentem Dop­ pelirrtum das objektiv Erklärte nicht gelten lassen wollen, verweisen in ihren teils polemisch vorgetragenen Ausführungen76 bevorzugt auf diese Aspekte, um ihre Position zu untermauern77. Die Parallelen gehen sogar so weit, dass man hier die Frage stellen kann, ob nicht im Sinne der natürlichen Auslegungsmethode eine – wenn auch nur negative – Übereinstimmung der Verständnisse vorliegt, weil beide Beteiligte sich jedenfalls darin innerlich einig sind, dass das objektiv Erklärte nicht der Sinn der Erklärung ist.78 Zu alledem ist hier an dieser Stelle noch nicht Stellung zu nehmen. Es genügt einstweilen die Feststellung, dass trotz der wertungsmäßigen Parallelen die über­ wiegende Lehre eine Ausnahme von der Geltung des objektiv Erklärten bei inkon­ gruentem Doppelirrtum nicht vornehmen möchte und sich hierfür – soweit die Po­ sition begründet wird – in jüngerer Zeit insbesondere auf die Wertungen der §§  119 ff. BGB beruft79, die nach der Gegenauffassung nicht mehr anwendbar wä­ ren. Es wird in Teil II zu überprüfen sein, inwieweit sich dies mit der zum kongru­ enten Doppelirrtum eingenommenen Haltung verträgt oder ob hier Widersprüche der dualistischen Lehre zu Tage treten.80

Erklärungsgegners (…) das vom Erklärenden Gewollte wieder zur Geltung“. Rummels Ausführun­ gen beziehen sich auf die Vertragsauslegung, bei der seine Auffassung stets zum Dissens der (im Sinne der divergierenden Willen geltenden) Vertragsschlusserklärungen führen müsste. Neuer­ dings auch Thomale, Leistung (2012), 86: Erklärung gilt so wie gewollt, wenn Empfänger auf den objektiven Erklärungsgehalt nicht vertraut. Darunter fällt auch der Fall divergierender Verständ­ nisse. 76  Jahr, JuS 1989, 249 (252): „schierer Dogmatismus, Opferung der Interessen der Parteien auf dem Altar des Götzen ‚objektiver Sinn‘, Triumph des baren Un-Sinns“; Bailas, Problem (1962), 22: „eine reine Konstruktion, geradezu ein Muster für juristischen Doktrinarismus“. 77 Zum Aspekt des beidseitig fehlenden Willens: Leenen, AT (2015), §   8 Rn.  160; Matthes, Irrtum (1905), 45 a. E. Zum Aspekt des beidseitig fehlenden Vertrauens siehe etwa Leenen, AT (2015), §  8 Rn.  160; Bailas, Problem (1962), 21; Jacobi, Theorie (1910), 38. 78 Vgl. F. Bydlinski, Privatautonomie (1967), 39 f.: übereinstimmender Parteiwille (im Sinne des falsa-Satzes) auch negativ vorrangig vor dem objektiv Erklärten, wenn beide Parteien den Eintritt von Vertragswirkungen nicht wollen. 79  Diederichsen, FS Hübner (1984), 421 (426); M. Wolf, in: Soergel (1999), §   157 Rn.  29 in Fn.  50; Armbrüster, in: Erman (2014), §  155 Rn.  8; Faust, AT (2016), §  2 Rn.  10 bei und in Fn.  6. 80  Siehe hierzu noch insb. §  6 I 4 a a. E.

III. Der (erkannte und) durchschaute Irrtum als methodenrelevanter Fall?

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III. Der (erkannte und) durchschaute Irrtum als methodenrelevanter Fall? Die Lehre diskutiert als weitere methodenrelevante Konstellation neben dem kon­ gruenten Doppelirrtum den „erkannten Irrtum“.81 Gemeint sind offenbar Fallgestal­ tungen, in denen das Verständnis des Empfängers82 nicht aufgrund eines Fehlers bei der Erklärungsaufnahme mit dem Willen des Erklärenden übereinstimmt, sondern weil er den Irrtum des Erklärenden erkennt. Die Verständnisse treffen sich nicht, weil der Empfänger zufällig auch etwas falsch macht, sondern weil er selbst es rich­ tig macht und dadurch den Fehler des Erklärenden ausgleicht, der sich nicht ord­ nungsgemäß ausgedrückt hat. Die Formulierung „erkannter Irrtum“ ist freilich ungenau, da der Empfänger ei­ nen Irrtum auch erkennen kann, ohne dadurch zugleich den hinter der Erklärung stehenden Willen des Erklärenden zu erkennen.83 Die Voraussetzungen der natür­ lichen Auslegungsmethode sind jedoch nur erfüllt, wenn das Verständnis des Emp­ fängers sich mit dem Inhalt des wirklichen Willens des Erklärenden deckt. Der Empfänger muss den Irrtum somit nicht lediglich erkennen, sondern ihn auch durchschauen.84

1. Die methodenneutralen Normalfälle des aufgrund von Zusatzwissens des Empfängers durchschauten Irrtums Die üblichen in der Lehre diskutierten Beispiele durchschauter Irrtümer betreffen Vertragsschlüsse, bei denen dem Antragenden ein Inhalts- oder Erklärungsirrtum unterläuft, der Antragsempfänger den Irrtum durchschaut und den Antrag darauf­ hin mit einer neutralen zustimmenden Formel („Ja“) annimmt in dem Bestreben, den Antragenden am Wortlaut der Erklärung festzuhalten. Diese häufig auch als 81  So etwa bei Bork, AT (2016), Rn.  942 f.; Singer, in: Staudinger (2012), §  119 Rn.  39; M. Wolf/ ‌Neuner, AT (2012), §  41 Rn.  11; Wieling, AcP 172 (1972), 297 f. 82  Die umgekehrte Konstellation, in der der Erklärende das Missverständnis des Empfängers erkennt, ist damit nicht gemeint. Das Erkennen des Missverständnisses ist ohne Einfluss auf die Auslegung der Erklärung, sondern kann allenfalls Schadensersatzansprüche (§  826 BGB oder ggf. §§  280 I, 241 II BGB innerhalb von Sonderverbindungen) auslösen. Der Erklärende muss den Emp­ fänger dann lediglich so stellen, als sei dessen Missverständnis durch die Aufklärung beseitigt worden, nicht aber so, als hätte die fälschlich angenommene Bedeutung der Wahrheit entsprochen. 83  v. Bülow, Irrtumsanfechtung (1909), 49; vgl. Musielak/Hau, Grundkurs BGB (2015), Rn.  372; Feuerborn, in: NK‑BGB (2012), §  122 Rn.  14; Singer, in: Staudinger (2012), §  119 Rn.  40; F. Bydlinski, FS Stoll (2001), 113 (121 in Fn.  22); Rummel, JBl 1988, 1 (2). Bork, AT (2016), Rn.  942 setzt das Erkennen des Irrtums und des Willens zu Unrecht gleich. 84  Vgl. die terminologische Differenzierung zwischen Erkennen und Durchschauen des Irr­ tums bei F. Bydlinski, FS Stoll (2001), 113 (121 in Fn.  22). Ferner Larenz, Methode (1930, 1966), 78: „durchschauter Irrtum“; Migsch, FS Schnorr (1988), 737 (746): „durchschaute[r] Erklärungsirr­ tum[ ]“; Rummel, JBl 1988, 1 (2).

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§  4 Die methodenrelevanten Fälle des Vorrangs der natürlichen Auslegung

„erkannter und ausgenutzter Irrtum“85 bezeichnete Sachverhaltsgestaltung lag der klassischen Reichsgerichtsentscheidung RGZ 66, 42786 zugrunde, in der ein Makler eine Provisionsvereinbarung unter Angabe des irrigen Flächenmaßes „Quadratru­ te“ anbot, obwohl er die für ihn günstigere Berechnung in „Quadratfuß“ meinte, und der Provisionspflichtige, dem revisionsrechtlich zu unterstellen war, er habe dem Schreiben die gemeinten Quadratfuß entnommen, sich mit den Vorschlägen des Maklers „einverstanden“ erklärt hatte. Bork bildet einen ähnlichen Fall: „V bietet den Verkauf von Fernsteuerungsmodulen zum Preis von 15 € an. K weiß, dass diese Module bei V normalerweise 51 € kosten und merkt, dass sich V verschrieben hat. Er schreibt an V, er nehme das Angebot an.“87

Die ganz überwiegend für richtig gehaltene Lösung in Fällen dieser Art ist das Zu­ standekommen eines unanfechtbaren Vertrags über das vom Antragenden Gewollte (Quadratfuß; 51 €).88 Vor der logisch nachrangigen und hier nicht unmittelbar inte­ ressierenden Frage der Anfechtbarkeit der Annahmeerklärung durch den „Erken­ nenden“, der einen Vertrag im Sinne des Wortlauts des Antrags wollte89, ist zu be­ antworten, wie und nach welchen Grundsätzen die Vertragserklärungen auszulegen sind. Die Auslegung des Antrags soll hier nach Bork wegen des „erkannten“ (bes­ ser: durchschauten) Irrtums im Wege der natürlichen Auslegung erfolgen.90 Schließ­ lich habe der Erkennende verstanden, wie die Erklärung „eigentlich“ gemeint war.91 Seine pauschale bejahende Antwort sei im Wege normativer Auslegung als eine Zustimmung zu diesem (natürlich ausgelegten) Antrag auszulegen, ungeachtet des 85  Armbrüster, in: MünchKommBGB (2015), §  119 Rn.  62; Singer, in: Staudinger (2012), §  119 Rn.  39. Siehe auch Busche, in: MünchKommBGB (2015), §  155 Rn.  8: „erkannter und ausgenützter Irrtum“. 86  RG, Urteil vom 20.10.1907, RGZ 66, 427. 87  Bork, AT (2016), Rn.  943. 88  RG, Urteil vom 20.10.1907, RGZ 66, 427; BGH, Urteil vom 13.2.1989, NJW‑RR 1989, 931 (932); Urteil vom 20.11.1992, NJW‑RR 1992, 373; Urteil vom 22.2.1995, NJW‑RR 1995, 859; Urteil vom 28.2.1997, NJW 1997, 1778 (1779); Urteil vom 24.7.‌1998, NJW 1998, 3196; Urteil vom 19.5.2006, NJW 2006, 3139 Tz.  13; Bork, AT (2016), Rn.  943; Leenen, AT (2015), §  8 Rn.  142; Arnold, in: Erman (2014), §  133 Rn.  18 a. E. A. A. Larenz/M. Wolf, AT (2004), §  28 Rn.  33, die der h.M. nur folgen wollen, wenn das Verhalten des Erkennenden, „insbesondere die Aufklärung des ande­ ren über seinen Irrtum“, als Indiz für seinen Zustimmungswillen zu werten ist. Ansonsten komme der Vertrag über die „objektive Erklärungsbedeutung des falschen Ausdrucks“ zustande, wobei im Falle der Anfechtung der Anspruch auf Vertrauensschadensersatz ausgeschlossen sei (§  122 II BGB). Diese Differenzierung ist weder mit der natürlichen noch der normativen Auslegungsme­ thode vereinbar, da es für die Auslegung des Antrags auf einen wie auch immer gearteten (Zustim­ mungs‑)‌Willen des Empfängers nicht ankommen kann. 89  Die h.M. verneint – wie schon RG, Urteil vom 29.10.1908, RGZ 66, 427 (429) – die Anfecht­ barkeit unter Hinweis auf §  116 S.  1 BGB, siehe Bork, AT (2016), Rn.  943; M. Wolf, in: Soergel (1999), §  155 Rn.  12; Flume, AT II (1992), 301. 90  Bork, AT (2016), Rn.  943. 91  So auch Flume, AT II (1992), 301 zum erkannten Irrtum: „Auf Grund der Erkenntnis des tatsächlichen Verständnisses des Erklärenden durch den Erklärungsempfänger befinden sich beide in übereinstimmendem Verständnis.“

III. Der (erkannte und) durchschaute Irrtum als methodenrelevanter Fall?

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abweichenden inneren Willens des Annehmenden, der einen Vertrag über den Wortlaut der Erklärung wollte.92 Die Leistung der natürlichen Auslegung beim durchschauten Irrtum soll also of­ fenbar darin liegen, eine Korrektur des Wortlauts des Antrags zu ermöglichen. Doch dafür ist die Methode verzichtbar. In Borks Beispiel ist K bekannt, was die Module bei V normalerweise kosten (er „weiß“ es), und er schließt deshalb auf („merkt“) den Zahlendreher. Seine Erkenntnis folgt also aus einer bestimmten In­ formationsgrundlage93. Im Quadratruten-Fall, auf dessen tatsächliche Hintergrün­ de das RG nicht eingeht, dürften ebenfalls irgendwelche Umstände vorgelegen ha­ ben (z. B. vorangegangene Kontakte oder die damalige Üblichkeit der Verwendung des Flächenmaßes Quadratfuß bei solchen Geschäften), die den Empfänger über­ haupt erst in die Lage versetzten zu „erkennen“, was in Wirklichkeit gemeint war. Ohne solche Umstände hätte der Beklagte gemessen am Maßstab der normativen Auslegung irren müssen, um der Erklärung trotzdem die gemeinten „Quadratfuß“ zu entnehmen. Dann hätte aber ein Fall des kongruenten Doppelirrtums vorgelegen und kein davon unterscheidbarer durchschauter Irrtum.94 Die Informationen, auf denen die Erkenntnis des Empfängers aufbaut, sind als Zusatzkenntnisse Bestand­ teil des objektiven Empfängerhorizonts.95

92  Bork, AT (2016), Rn.   943. Der BGH meint in konsensrechtlicher Terminologie dasselbe, wenn er zum erkannten und ausgenutzten Irrtum bei Vertragsschluss ausführt, es sei „nicht erfor­ derlich, daß sich der Erklärungsempfänger den Willen des Erklärenden zu eigen macht. Es genügt vielmehr daß er ihn erkennt und in Kenntnis dieses Willens den Vertrag abschließt.“ (BGH, Urteil vom 13.2.1989, NJW‑RR 1989, 931 [932]; Urteil vom 20.11.1992, NJW‑RR 1993, 373; so auch BGH, Urteil vom 24.7.1998, NJW 1998, 3196; Leenen, AT [2015], §  8 Rn.  142; Arnold, in: Erman [2014], §  133 Rn.  18 a. E.). Darin liegt, wie Leenen, FS Prölss (2009), 153 (160) und Kramer, FS Canaris I (2007), 665 (671) zu Recht hervorheben, ein normatives Element, da es tatsächlich an einer Willensübereinstimmung fehlt. Die Begründung des Vertragsschlusses ist das Ergebnis ei­ ner Kombination aus natürlicher und normativer Auslegungsmethode, die in Borks Lösung auf die Ebene der Einzelerklärungen herunter gebrochen ist (siehe hierzu schon §  3 IV 2 b aa [3] [c] bei Fn.  210). Soweit der Annehmende das vom Antragenden erkanntermaßen Gewollte selbst will, soll der Vertrag durch „natürlichen Konsens“ zustande kommen (Kramer, in: Berner Kommentar [1986], OR, Art.  18 Rn.  87 a. E.; Rummel, JBl 1988, 1 [2]). 93  Ähnliche Fallgestaltungen bei Leenen, AT (2015), §  15 Rn.  8; Boecken, AT (2012), Rn.  245; Scherner, AT (1995), 92 f.; Jürgen Schmidt, in: Staudinger (1995), §  242 Rn.  408; Manigk, Wil­ lenserklärung (1907), 468 f. Entgegen Boecken, a. a. O. hätte ein objektiver Empfänger, der als Empfänger in der Position und mit dem Wissen des realen Empfängers zu denken ist, nicht vom Wortlaut der Preisangabe ausgehen dürfen. Die anderen zitierten Autoren gelangen unter Berück­ sichtigung der Begleitumstände zu Recht zu einem vom Wortlaut abweichenden normativen Erklä­ rungssinn. 94  Das Nichtvorliegen solcher Umstände meint Manigk, JherJb 75 (1925), 127 (211) aus fehlen­ den Angaben im Urteil schließen zu dürfen. Der Grund für das Fehlen entsprechender Feststellun­ gen im Tatbestand des Urteils ist jedoch allein die Tatsache, dass das Gericht vom Vorrang der natürlichen Methode ausgeht, der Ausführungen zur Erkennbarkeit entbehrlich macht (dazu be­ reits I 2 c). 95  Armbrüster, in: MünchKommBGB (2015), §   119 Rn.  60; Jürgen Schmidt, in: Staudinger (1995), §  242 Rn.  408; Scherner, AT (1995), 93; Rummel, JBl 1988, 1 (2): Berücksichtigung allfäl­

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§  4 Die methodenrelevanten Fälle des Vorrangs der natürlichen Auslegung

Ein methodenrelevantes „Erkennen“ des Gewollten wäre theoretisch hier nur denkbar, wenn es dem realen Empfänger bekannte Tatsachen gibt, die den Irrtum des Erklärenden erhellen und trotzdem nicht zum objektiven Empfängerhorizont gehören. Nach der herrschenden Erkennbarkeitsformel des objektiven Empfänger­ horizonts ist dieser Fall grundsätzlich ausgeschlossen, da der Empfängerhorizont sämtliche dem Empfänger bekannte Umstände umfasst.96 Durchschaubare Irrtümer des Erklärenden werden dadurch unabhängig von ihrem tatsächlichen Durchschau­ en im Wege der normativen Auslegung automatisch bereinigt. Aus der herrschenden Erkennbarkeitsformel des objektiven Empfängerhorizonts folgt insoweit ein Gleich­ lauf von durchschautem und durchschaubarem Irrtum.97 So würde sich in Borks Beispiel das Ergebnis der Auslegung des Antrags keinen Deut ändern, falls K trotz seines den wahren Willen98 des Erklärenden offenbarenden Sonderwissens nicht den richtigen Schluss auf die gemeinten „51 EUR“ gezogen hätte. Er hätte das Ge­ meinte dann zwar nicht „erkannt“, es wäre aber bei Verwertung seiner Kenntnisse liger Zusatzkenntnisse des Empfängers. Eine Kritik an der voraussetzungslosen Berücksichtigung jeglichen „Sonderwissens“ des Empfängers wird hier erst in §  14 entwickelt. 96  Dazu bereits §  3 III 2 b aa. 97  I.E. so auch Faust, AT (2016), §  23 Rn.  13; Armbrüster, in: MünchKommBGB (2015), §  122 Rn.  22; Arnold, in: Erman (2014), §  119 Rn.  4; Franzen, in: jurisPK‑BGB (2014), §  119 Rn.  13; Feuerborn, in: NK‑BGB (2012), §  119 Rn.  27; Singer, in: Staudinger (2012), §  119 Rn.  41; Larenz/M. Wolf, AT (2004), §  36 Rn.  29 mit Fn.  22. So bereits Manigk, Willenserklärung (1907), 457 f., 468 f. und R. Leonhard, AT (1900), 476–478. Ferner Jacobsohn, JherJb 56 (1910), 329 (362), der aber ohne nähere Begründung verlangt, der Irrtum müsse dem Empfänger „ganz klar und eindeutig“ entge­ gengetreten sein (ansonsten nur §  122 II BGB). Aus der Rspr. AG Wedding, NJW 1990, 1797 (dazu bereits III 2 b); RG, Urteil vom 21.11.1919, RGZ 97, 191 (195): für Empfänger erkennbar vom ver­ kehrsüblichen Sinn abweichendes Erklärendenverständnis bei der normativen Auslegung zu be­ achten. A. A. in einer vereinzelten Entscheidung BGH, Urteil vom 21.5.1959, VersR 1959, 497 (498) = LM Nr.  6 zu §  119 BGB mit den Leitsätzen: „Einer Anfechtung wegen Erklärungsirrtums bedarf es nur dann nicht, wenn der Erklärungsempfänger ungeachtet dessen, daß der Erklärende seinen Willen irrtümlich unrichtig zum Ausdruck gebracht hat, erkannt hat, was der Erklärende in Wirk­ lichkeit wollte. Dann ist der wahre Wille des Erklärenden maßgebend. Hingegen bedarf es einer Irrtumsanfechtung, wenn der Erklärungsempfänger zwar den wahren Willen des Erklärenden hät­ te erkennen können oder müssen, ihn aber tatsächlich nicht erkannt hat.“ I.E. übereinstimmend Bork, AT (2016), Rn.  942; Hellwege, ZEuP 2013, 88 (92 in Fn.  27, 99 in Fn.  59); Thomale, Leistung (2012), 88; M. Wolf/‌Neuner, AT (2012), §  41 Rn.  11; Hefermehl, in: Soergel (1999), §  122 Rn.  5, der allerdings nur auf das Kennenmüssen der Irrtums abstellt, damit aber wohl den durchschaubaren Irrtum meint; Lee, Voraussetzungen (1999), 25; Schellhammer, Zivilrecht (1999), Rn.  1958; Flume, AT II (1992), 302; Schlemmer, JBl 1986, 149 (154) zum österreichischen Recht; Krüger-Nieland, in: RGRK (1982), §  119 Rn.  12, 20 a. E., §  120 Rn.  8; Oertmann, BGB-Kommentar (1927), 408 (§  119 Anm.  11 b α); Walsmann, GgA 170 (1908), 660 (675 f.), die alle bei fahrlässig nicht erkann­ tem bzw. erkennbarem Willen von einer lediglich anfechtbaren Erklärung ausgehen – wobei teil­ weise der Ausschluss des Schadensersatzanspruchs im Falle der Anfechtung hervorgehoben wird (§  122 II Alt. 2 BGB). Keiner dieser Autoren erläutert, wie sich dies mit der herrschenden Erkenn­ barkeitsformel des objektiven Empfängerhorizonts verträgt. Vgl. auch McMeel/Grigoleit, in: Common European Sales Law (2013), 341 (344, siehe aber auch abw. 345). 98  Denkbar ist auch, dass aufgrund des Sonderwissens lediglich der Irrtum, nicht aber das Gemeinte erkennbar ist. Zu den Rechtsfolgen des erkennbaren, aber nicht durchschaubaren Irr­ tums bei normativer Auslegung noch unter IV 1.

III. Der (erkannte und) durchschaute Irrtum als methodenrelevanter Fall?

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für ihn erkennbar gewesen. Es handelt sich bei den durchschauten Irrtümern auf Basis der Erkennbarkeitsformel des objektiven Empfängerhorizonts mit anderen Worten um die schon unter I 2 angesprochenen nicht methodenrelevanten unechten Falschbezeichnungen, bei denen das normative und das natürliche Auslegungser­ gebnis übereinstimmen.99 Auch beim Vertragsschluss kommt es somit in den Fällen des durchschauten Irrtums des Antragenden für die Ermittlung der rechtlich rele­ vanten Bedeutung des Antrags100 auf die Wahl der Auslegungsmethode nicht an.

2. Der bei verspäteter erstmaliger Kenntnisnahme aufgrund hinzugewonnener Kenntnisse durchschaute Irrtum Es ist allerdings eine – soweit ersichtlich nirgends diskutierte – Konstellation eines methodenrelevanten durchschauten Irrtums vorstellbar, in der das Durchschauen auf Wissen des realen Empfängers zurückzuführen ist. Sie ergibt sich aus der allge­ mein für richtig gehaltenen zeitlichen Beschränkung des objektiven Empfängerho­ rizonts auf die zum Zeitpunkt des Zugangs101 für den Empfänger erkennbaren Um­ stände. Wenn der Empfänger die Erklärung erst nach ihrem Zugang „verspätet“ wahrnimmt und im Zeitraum zwischen Zugang und erstmaliger tatsächlicher Kenntnisnahme zusätzliche Informationen erlangt, die ihm den wirklichen Willen 99 Vgl. Wieling, AcP 172 (1972), 297 (298); Scherner, AT (1995), 93. Entgegen Rehberg, Recht­ fertigungsprinzip (2014), 954 besteht hier kein Widerspruch zu einem erklärungstheoretischen Ansatz, solange man die „Erklärung“ im Sinne der Erklärungstheorie nicht mit der isolierten Wortlautbedeutung gleichsetzt. 100  Die Auslegung einer neutral formulierten Gegenerklärung („Einverstanden“), die auf den durchschauten Antrag Bezug nimmt, kann in einem solchen Fall allerdings methodenrelevant sein: Falls B als Antragsempfänger den Vertrag im Sinne des erkannten Willens des A schließen will und A das „Einverstanden“ auch so versteht, dann kommt bei natürlicher Auslegung der Gegener­ klärung ein Vertrag zustande. Die normative Auslegung gelangt dagegen zu einem anderen Ergeb­ nis, falls für A anhand der Umstände nicht mit hinreichender Sicherheit erkennbar ist, dass B einen Vertrag über das von A Gemeinte abschließen will. Dies kann aus unterschiedlichen Gründen der Fall sein. A kann ggf. nicht erkennen, dass B Informationen hat, die ihm das Durchschauen des Irrtums ermöglichten. Ein objektiver Dritter in der Position des A müsste dann davon ausgehen, das „Einverstanden“ beziehe sich auf den Wortlaut des Antrags. Selbst wenn A Grund zu der An­ nahme hat, B habe den Irrtum durchschaut, wird er nicht immer ausschließen können, dass B dem (insbesondere bei schriftlichen Erklärungen) verbreiteten Rechtsirrtum unterlag, der Wortlaut sei rechtlich maßgeblich und sein „Einverstanden“ bringe deshalb einen Vertrag in diesem Sinne zu­ stande. Lässt sich dies nicht mit hinreichender Sicherheit anhand der Gesamtumstände ausschlie­ ßen, dann ist das „Einverstanden“ aus objektiver Sicht unauflösbar mehrdeutig und daher bei nor­ mativer Auslegung unwirksam. Das Auseinanderfallen des natürlichen und des normativen Ausle­ gungsergebnisses beruht in den genannten Fällen allerdings nicht auf einem Durchschauen des Irrtums seitens des A. Es handelt sich vielmehr um eine besondere Erscheinungsform des bereits unter II. herausgearbeiteten kongruenten Doppelirrtums, da B und A in Verkennung der objekti­ ven Umstände zu der (zufällig zutreffenden) Einschätzung gelangen, das „Einverstanden“ habe sich eindeutig auf den von A gemeinten Sinn des Antrags bezogen. 101  Dazu §  3 III 2 b bb.

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§  4 Die methodenrelevanten Fälle des Vorrangs der natürlichen Auslegung

offenbaren, divergieren das natürliche und das normative Auslegungsergebnis. Man denke an den Fall, in dem der Vermieter V seinem Mieter M, dem er zwei Wohnungen vermietet hat, unter dessen Geschäftsanschrift eine Kündigung „der Wohnung“ schickt. M ist gerade im Urlaub und liest die Kündigung erst zwei Wo­ chen später. Zu diesem Zeitpunkt findet er in seinem Briefkasten neben dem Kün­ digungsschreiben einen weiteren kurz zuvor zugegangenen Brief des V vor, der die Abwicklung der Wohnungsübergabe betrifft. M kann anhand dieses Schreibens jetzt erkennen und erkennt auch, welche Wohnung V bei seiner Kündigung im Sin­ ne hatte. Das natürliche Auslegungsergebnis ist hier eindeutig. Zum Zeitpunkt des Zugangs des Kündigungsschreibens war die Kündigung bei normativer Auslegung hingegen noch unbestimmt und deshalb unwirksam. Der Fall beschreibt einen durchschauten, aber (bezogen auf den normativ bestimmten Zugangszeitpunkt) nicht durchschaubaren Irrtum.102 Der Ergebnisunterschied ist ausschließlich eine Folge der unterschiedlichen Zeithorizonte der natürlichen und der normativen Aus­ legungsmethode.103 Ein für die Bewertung des Methodenunterschieds interessanter Gehalt steckt hin­ ter dieser Konstellation m.E. aus folgenden Gründen aber nicht: Ein auf verspäteter Kenntnisnahme beruhendes Durchschauen des Gemeinten ist im Rahmen des dua­ listischen Modells nur denkbar, wenn die natürliche Auslegung das normative Aus­ legungsergebnis nach Zugang der Erklärung tatsächlich noch einmal umstoßen darf104 bzw. Wirksamwerden und/oder Auslegung bis zum Kenntnisnahmezeit­ punkt aufgeschoben werden105. Dies ist nur möglich, weil die dualistische Lehre im Rahmen der natürlichen Methode das Dogma einschränkt, wonach eine Willenser­ klärung mit ihrem Wirksamwerden einen von Anfang an feststehenden, von nach­ träglichen Ereignissen nicht mehr beeinflussbaren Inhalt hat.106 Unabhängig davon, 102  Zu dieser Fallgruppe gehören auch Fälle, in denen die Erklärung zum Zugangszeitpunkt normativ die eindeutige Bedeutung x hat, der Empfänger aber bei erstmaliger Kenntnisnahme aufgrund zwischenzeitlich hinzugewonnener Informationen erkennen kann und tatsächlich er­ kennt, dass y gemeint war. 103  Zum Zeithorizont der natürlichen Methode und den Unterschieden schon §  3 IV 2 b bb. 104  So die Lösung von Wieser, Einführung (1982), Rn.  277, der offen lässt, ob die natürliche Methode das Ergebnis der normativen Auslegung ex nunc oder ex tunc ändert. Für eine ex tunc Wirkung Gerlach/Manzke, VergabeR 2016 (erscheint demnächst) unter B II 2 mit der Begründung, ansonsten wären entgegen dem Willen des Erklärenden, der nur eine Erklärung abgeben wollte, „zwei verschiedene (nacheinander wirkende) Rechtsfolgen einer einzigen Willenserklärung in der Welt“. 105  So die Lösung von Jahr, JuS 1989, 249 (253). 106  Siehe zu diesem „Unveränderlichkeitsdogma“ die Nachw. in §  3 Fn.  147. Dieser Gesichts­ punkt ist nicht zu verwechseln mit der anerkannten Verwertung nachträglicher Umstände (insb. nachträglichen Parteiverhaltens) als Indiz für das ursprüngliche Parteiverständnis im Rahmen der natürlichen Auslegungsmethode (Nachw. hierzu in §  3 Fn.  148). Im Text geht es nicht um die Ver­ wertung einer nachträglich hervortretenden Erkenntnisquelle zur Ermittlung des bereits bei Wirk­ samwerden vorhandenen Parteiverständnisses, sondern um die Beeinflussung des Erklärungsin­ halts durch ein erst nach dem Wirksamwerden erstmalig entstehendes Verständnis des Empfän­ gers.

III. Der (erkannte und) durchschaute Irrtum als methodenrelevanter Fall?

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welche Gründe die dualistische Lehre zu diesem Schritt bewegen mögen107: Wenn der Erklärungsinhalt tatsächlich nachträglich noch einmal zur Disposition gestellt wird, leuchtet es nicht mehr ein, den Zeithorizont der normativen Auslegung weiter­ hin streng auf den Zugangszeitpunkt zu fixieren. Auf Basis der dualistischen Lehre wäre es dann vielmehr folgerichtig, auch bei der normativen Auslegung – wie es v. Tuhr vertritt – alle bis zum „Moment der Kenntnisnahme“108 für den Empfänger erkennbaren Umstände zu berücksichtigen.109 Denn warum sollte der Empfänger, wenn die verspätete Erklärungsaufnahme den Inhalt des Rechtsgeschäfts noch beeinflussen darf, nicht auch normativ gehal­ ten sein, bei dieser nachträglichen Erklärungsaufnahme alle ihm bis dahin erkenn­ bar gewordenen Umstände auch tatsächlich zu berücksichtigen? Die Erweiterung des objektiven Empfängerhorizonts um die ihm nach Zugang erkennbar geworde­ nen Umstände erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass entsprechend dem Selbstbestim­ mungsinteresse des Erklärenden die normativ ermittelte Bedeutung dem Gewollten entspricht. Und der Empfänger, der die Erklärung noch nicht zur Kenntnis genom­ men hat, kann noch kein Vertrauen auf irgendeinen Erklärungsinhalt gebildet ha­ ben, würde also durch die Obliegenheit, nachträgliches Material bei der normativen Auslegung zu berücksichtigen, ebenfalls nicht belastet. Im Gegenteil: Damit der Empfänger sich auf den Sinn verlassen kann, den er der Erklärung jetzt unter Be­ rücksichtigung des weiteren Materials entnehmen kann, müsste dieses Material auch Bestandteil des objektiven Empfängerhorizonts sein. Würde nur die natürliche Methode auf den Kenntnisnahmezeitpunkt bezogen, so könnte der Erklärende den Empfänger ggf. damit überraschen, dass sein Wille tatsächlich doch von dem Sinn abwich, den der Empfänger unter Berücksichtigung des Zusatzmaterials der Erklä­ rung tatsächlich entnommen hat und entnehmen durfte.110 Die Interessen der Betei­ ligten stehen der Berücksichtigung des dem Empfänger bis zur tatsächlichen Kenntnisnahme der Erklärung bekanntgewordenen Materials demnach nicht im Wege.111 Im Falle einer solchen auf Basis der inneren Logik der dualistischen Lehre 107 

Die Vertreter der dualistischen Lehre problematisieren diesen Punkt nicht. v. Tuhr, AT II/1 (1914, 1957), 539 in Fn.  28. Auch Schimmel, JA 1998, 979 (986 in Fn.  64 a. E.) erwägt die Verwertung von Umständen (konkret: Äußerungen des Erklärenden) aus der „Zeit zwischen Zugang und tatsächlicher Kenntnisnahme“. 109  Der Zugangszeitpunkt hätte dann im Rahmen der normativen Auslegung nur noch subsidi­ äre Bedeutung, falls der Empfänger von der Erklärung gar keine Kenntnis nimmt. Diese Lösung wird hier wohlgemerkt nicht befürwortet. Es soll allein gezeigt werden, dass die hier betrachtete Fallgruppe keine den Kern des Methodenunterschieds betreffende Bedeutung hat. 110  Beispiel (Abwandlung des im Text behandelten Kündigungs-Falls): V hat sich bei Abfas­ sung des zweiten Briefs bei der Bezeichnung der Wohnung verschrieben und seine Kündigung bezog sich (für M nicht erkennbar) doch auf die andere Wohnung. Der Wille des V und das Ver­ ständnis des M bei der verspäteten Wahrnehmung decken sich dann nicht und die natürliche Aus­ legung käme nicht zum Zuge. V könnte M jetzt mit der Unbestimmtheit und Unwirksamkeit der Erklärung überraschen, wenn statt der leerlaufenden natürlichen Methode die auf den Zugangszeitpunkt bezogene normative Methode maßgeblich wäre. 111  Dies gilt jedenfalls für solche Interessen, die durch die Anerkennung der natürlichen Ausle­ gungsmethode nicht ohnehin schon preisgegeben sind und in den Abwägungen der dualistischen 108 

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§  4 Die methodenrelevanten Fälle des Vorrangs der natürlichen Auslegung

eigentlich gebotenen Angleichung der Zeithorizonte beider Methoden wäre dann auch der hier behandelte Sonderfall eines durchschauten Irrtums nicht mehr metho­ denrelevant. Der auf verspäteter erstmalige Kenntnisnahme beruhende durchschaute Irrtum ist als methodenrelevante Konstellation somit eine ausschließlich konstruktive Fol­ ge einer bislang nicht überzeugenden Koordinierung des zeitlichen Nebeneinanders beider Methoden im dualistischen Auslegungsmodell. Dem ist hier nicht weiter nachzugehen, weil der Methodendualismus schon im Ansatz abzulehnen ist. Die Konstellation wird im Folgenden nicht wieder aufgegriffen.

3. Der aufgrund von Sonderfähigkeiten oder Sonderanstrengungen des Empfängers durchschaute Irrtum Fraglich ist noch, ob methodenrelevante Fälle eines durchschauten Irrtums darauf beruhen können, dass der reale Empfänger bei der Auslegungsarbeit112 , d. h. bei der Ausdeutung des zum Empfängerhorizont gehörigen Auslegungsmaterials, von den Anforderungen, die bei der normativen Auslegung gelten, nach „oben“ hin ab­ weicht.113 Diese Frage wird nirgends diskutiert, da regelmäßig das zum Empfänger­ horizont gehörige Auslegungsmaterial im Vordergrund steht. Denkbar ist zum einen, dass der Empfänger aufgrund von Sonderfähigkeiten, die von einem Angehörigen seines Verkehrskreises nicht erwartet werden können (z. B. der weit über dem Altersdurchschnitt liegenden Auffassungsgabe eines Kindes), in der Lage ist, dem Auslegungsmaterial bei der Auslegungsarbeit den gemeinten Sinn zu entnehmen und so den Irrtum zu durchschauen. Es ist aber nicht davon auszuge­ hen, dass die Ergebnisse der natürlichen und der normativen Auslegungsmethode nach der herrschenden dualistischen Lehre in einem solchen Fall auseinandergehen. Denn wie bereits ausgeführt wurde, dürften die Sonderfähigkeiten des realen Emp­ fängers nach dem Grundgedanken der herrschenden Lehre dem objektiven Emp­ fänger in gleicher Weise zuzuschreiben sein wie dessen Sonderkenntnisse, so dass Lehre deshalb keine Rolle mehr spielen dürfen. Zu denken ist hier insbesondere an das Problem, dass der Erklärende womöglich davon ausgehen muss und auch ausgeht, missverstanden worden zu sein, weil er weiß, dass eine seinen wirklichen Willen offenbarende Information den Empfänger erst nach dem normativ bestimmten Zugangszeitpunkt erreicht hat. Die Tatsache, dass der Emp­ fänger ihn wider Erwarten richtig verstanden hat, weil die Erklärung erst zu spät zur Kenntnis genommen wurde, ist dann ggf. völlig überraschend für den Erklärenden und vereitelt Dispositio­ nen, die dieser im Vertrauen auf das aus seiner Sicht zu erwartende Missverständnis getätigt hat. Hierzu eingehend in Teil II. 112  Dazu bereits §  3 III 2 c. 113  Eine Abweichung nach „unten“, bei der der reale Empfänger seine Fähigkeiten zur Ausdeu­ tung nicht mit der gebotenen Aufmerksamkeit zum Einsatz bringt, müsste gemessen am Maßstab der normativen Auslegung als Irrtum bewertet werden und wäre dann wiederum nur als kongru­ enter Doppelirrtum methodenrelevant.

III. Der (erkannte und) durchschaute Irrtum als methodenrelevanter Fall?

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auch die mit der Sonderfähigkeit ausgestattete normative Maßstabsfigur in der Lage ist zu durchschauen, was gemeint ist.114 Es müssen freilich nicht unbedingt Sonderfähigkeiten sein, die den Empfänger in die Lage versetzen das Gewollte zu erkennen. Die Erkenntnis des Gewollten kann auch einmal auf Sonderanstrengungen beruhen, die der reale Empfänger bei Kennt­ nisnahme der Erklärung unternimmt. Vom Empfänger kann zwar normativ nicht erwartet werden, das theoretische Maximum aller Verständnisanstrengungen zu unternehmen, sondern er muss nur den „zumutbaren“ bzw. „gebotenen“ Aufwand betreiben. Dies schließt es aber nicht aus, dass der reale Empfänger im konkreten Fall auch einmal bereit ist, über die Grenze des Zumutbaren hinauszugehen und dann aufgrund seiner Sonderanstrengungen der Erklärung den Sinn entnimmt, den der Erklärende zum Ausdruck bringen wollte. So in folgendem Beispiel: A schickt dem B einen Vertragsantrag, bei dem er wegen fehlerhafter Handhabung seines Textverarbeitungsprogramms irrtümlich eine Passage in einen sehr kleinen Schrift­ grad gesetzt hat. Bei Anwendung lediglich der gebotenen Aufmerksamkeit würde der Abschnitt überlesen und bliebe dann bei normativer Auslegung unberücksich­ tigt. B liest sich den Vertrag indes überobligationsmäßig derart eingehend und ge­ nau durch, dass ihm auch der fragliche Abschnitt auffällt, und versteht deshalb, in welchem Sinn A seinen Antrag meinte. Doch auch die Konstellation des aufgrund von Sonderanstrengungen durch­ schauten Irrtums dürfte im Ergebnis nicht methodenrelevant sein. Es griffe nämlich zu kurz, Sonderanstrengungen ausschließlich im Rahmen der natürlichen Ausle­ gungsmethode berücksichtigen zu wollen. Der Sinn der Willenserklärung hinge dann davon ab, ob der Empfänger aufgrund seiner Sonderanstrengungen zu einem Verständnis gelangt, das mit dem Willen des Erklärenden bei Abgabe seiner Erklä­ rung übereinstimmt. Das wäre für den Empfänger mit großen Unsicherheiten über den rechtsmaßgeblichen Erklärungssinn verbunden. Hat sich etwa A im gerade ge­ nannten Beispiel bei Formulierung des kleingedruckten Abschnitts obendrein auch noch verschrieben, würde B aufgrund seiner Sonderanstrengungen zu einem Erklä­ rungssinn gelangen, den er der Erklärung zwar entnehmen darf, der aber nicht dem Willen des A entspricht. Damit hier das Vertrauen des B geschützt wird, der sogar mehr getan hat, als er tun musste, darf der Inhalt des Vertragsantrags nicht vom für B nicht erkennbaren inneren Willen des A abhängen. Umgekehrt kann aber auch nicht einfach jeder Sinn des kleingedruckten Abschnitts als Inhalt des Antrags gel­ ten, den B ihm entnommen hat, da auch das Verständnis des B auf einem Irrtum beruhen kann. Vielmehr muss, wenn der kleingedruckte Abschnitt schon Berück­ sichtigung finden soll, bei der Bestimmung seines Sinns wiederum die normative Methode zum Einsatz kommen.

114  Zu der Relevanz der Sonderfähigkeiten bei der Bestimmung der Anforderungen an die Aus­ legungsarbeit des objektiven Empfängers bereits §  3 III 2 c a. E.

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§  4 Die methodenrelevanten Fälle des Vorrangs der natürlichen Auslegung

Sonderanstrengungen des Empfängers, soweit sie bei der Auslegung überhaupt zu berücksichtigen sind, wäre mit anderen Worten auch im Rahmen der normativen Auslegungsmethode Rechnung zu tragen, indem dort über das Gebotene hinausge­ hende Verständnisanstrengungen ebenfalls berücksichtigt werden. Ein Unterschied zwischen natürlicher und normativer Auslegungsmethode ergibt sich dann nicht.

4. Zwischenergebnis Fälle eines (erkannten und) durchschauten Irrtums betreffen ganz überwiegend un­ echte Falschbezeichnungen, in denen die normative Auslegungsmethode unter Be­ rücksichtigung des zum objektiven Empfängerhorizont gehörigen Auslegungsmate­ rials zum selben Ergebnis gelangt. Soweit das Durchschauen auf Zusatzkenntnissen beruht, die der Empfänger im Zeitraum zwischen Zugang und erstmaliger tatsäch­ licher Kenntnisnahme der Erklärung erlangt, können das natürliche und das norma­ tive Auslegungsergebnis zwar auseinanderfallen; dies beruht aber allein auf der inneren Unstimmigkeit der Zeithorizonte beider Methoden der dualistischen Lehre. Soweit das Durchschauen auf Sonderfähigkeiten oder Sonderanstrengungen des Empfängers beruht, dürften diese Faktoren nach der dualistischen Lehre auch im Rahmen der normativen Auslegungsmethode zu berücksichtigen sein, so dass sich auch insofern die Ergebnisse beider Methoden decken.

IV. Der erratene Wille – Wielings Eier-Fall Wieling hebt in seinen Abhandlungen zum falsa-Satz mit seltener Deutlichkeit her­ vor, dass die Fälle des erkannten Irrtums meist für die Methodenwahl irrelevante unechte Falschbezeichnungen sind, bei denen die normative Methode zum selben Ergebnis gelangt.115 Er identifiziert jedoch eine eigentümliche Variante eines „er­ kannten Irrtums“, die er wie folgt veranschaulicht: „Kunde K erhält von seinem Kaufmann (V) das Angebot, einen Posten Eier zu kaufen, das Stück zu 2,- DM. K bemerkt, das V sich geirrt haben muß, er sagt sich, daß V entweder zehn Eier oder ein Dutzend zu 2,- DM verkaufen will. Er meint, V habe wohl ein Dutzend zu 2,- DM verkaufen wollen[,] und nimmt das Angebot an. Wollte V wirklich ein Dutzend Eier zu 2,- DM verkaufen, so ist der Vertrag mit diesem Inhalt zustande gekommen.“116

115 

Wieling, Jura 1979, 524 (525); ders., AcP 172 (1972), 297 f. Wieling, Jura 1979, 524 (525 f.). Das Beispiel findet sich im Kern gleichsinnig bereits bei Wieling, AcP 172 (1972), 297 (298 in Fn.  3) und in leicht abgewandelter Form bei Reinicke, JA 1980, 455 (457) und Scherner, AT (1995), 93, Fall 8. Bei Semmelmayer, JuS 1996, L 9 (L 10) tritt in der Schilderung des Eier-Falls die Tatsache, dass der Empfänger eine bloße Vermutung aufstellt, nicht deutlich hervor. 116 

IV. Der erratene Wille – Wielings Eier-Fall

107

1. Der Eier-Fall als erkennbarer, aber nicht durchschaubarer Irrtum Um die auslegungsmethodische Bedeutung dieses Falles zu erschließen, soll zu­ nächst untersucht werden, zu welchem Ergebnis die normative Methode hier „an sich“ gelangen müsste. Die auslegungsrelevanten Umstände, zu denen unter ande­ rem auch das allgemeine Preisniveau von Eiern gehört, lassen zwar einen Irrtum des V erkennen, offenbaren aber nicht das wirklich Gewollte. Der Fall illustriert insofern, dass die Erkennbarkeit eines Irrtums nicht stets mit der Erkennbarkeit des Gemeinten einhergehen muss.117 Wäre der Irrtum nicht nur erkennbar, sondern auch durchschaubar, weil beispielsweise der Wille zum Verkauf eines Dutzends Eier aufgrund der Begleitumstände außer Zweifel steht, würde die Willenserklä­ rung auch nach der normativen Methode auf ein Dutzend lauten.118 Da hiervon aber in Wielings Eier-Fall nicht auszugehen ist, handelt es sich um einen erkennbaren, aber nicht durchschaubaren Irrtum, dessen Rechtsfolgen bis heute umstritten sind. Eine verbreitete Auffassung hält bei erkennbarem, aber nicht durchschaubarem Irrtum die Erklärung im Sinne ihres objektiven Wortsinns für zunächst gültig und lediglich nach §§  119 I, 120119 BGB anfechtbar, wobei im Falle der Anfechtung der Anspruch auf Ersatz des Vertrauensschadens nach §  122 II BGB ausgeschlossen sein soll.120 Richtigerweise ist die Erklärung aber auch ohne Anfechtung von An­ fang an unwirksam.121 Die Anfechtbarkeitstheorie geht von einer Prävalenz des 117 Unzutreffend E. Wolf, AT (1982), 508, der meint, bei Erkennbarkeit der Anfechtbarkeit in den Fällen des §§  119 I, 120 BGB bestehe auch immer die Möglichkeit zu erkennen, was der Erklä­ rende gemeint hat. Vorsichtiger Leenen, AT (2015), §  15 Rn.  7, der dies lediglich für naheliegend hält. 118  So auch F. Leonhard, AcP 120 (1922), 14 (123) im von ihm gebildeten Eier-Fall. 119  Eine Anfechtung nach §  120 BGB wird in diesem Zusammenhang zwar nicht diskutiert, ist aber ebenso vorstellbar, falls der Empfänger zwar die Beeinflussung des Erklärungssinns durch den Boten, nicht aber den unbeeinflussten Sinn erkennen kann. 120  Lüderitz, Auslegung (1966), 304; Werner, in: Düringer/‌ Hachenburg, HGB IV (1932), 10; Titze, Mißverständnis (1910), 94. Häufig wird lediglich der erkannte, aber nicht durchschaute Irr­ tum behandelt (Feuerborn, in: NK‑BGB [2012], §  122 Rn.  14; Pawlowski, AT [2003], Rn.  441; Lorenz, Schutz [1997], 237 in Fn.  137; Schlemmer, JBl 1986, 149 [155]; Hildebrandt, Erklärungshaf­ tung [1931], 202 f. in Fn.  183; F. Leonhard, AcP 120 [1922], 14 [126, 134 f.]). Die Aussagen beziehen sich dann aus Sicht der Auslegungslehre genau genommen nur auf die natürliche Methode, weil bei der normativen Auslegung das tatsächliche Erkennen von vornherein irrelevant ist. Dadurch bleibt unklar, wie diese Autoren entscheiden würden, wenn der Empfänger den erkennbaren, aber nicht durchschaubaren Irrtum einmal ausnahmsweise nicht auch tatsächlich erkennt. Die herrschende Erkennbarkeitsformel des objektiven Empfängerhorizonts (= alle bekannten oder erkennbaren Umstände) und das Nebeneinander beider Alternativen des §  122 II BGB sprechen für die Gleich­ behandlung, also auch hier für bloße Anfechtbarkeit. 121  So auch i. E. Faust, AT (2016), §  23 Rn.  13; Armbrüster, in: MünchKommBGB (2015), §  122 Rn.  22; Scherner, AT (1995), 175; Wieling, Jura 1979, 524 (526); Kramer, Grundfragen (1972), 197 in Fn.  299 a. E.; Wieling, AcP 172 (1972), 297 (298 in Fn.  3 a. E.); Rhode, Willenserklärung (1938), 78: „irreparabel unklar“; v. Tuhr, AT II/1 (1914, 1957), 569 f. Einige Autoren, die sich für die Nicht­ geltung des Erklärten aussprechen, behandeln auch hier nur den erkannten, aber nicht durchschau­ ten Irrtum (dazu schon Fn.  120), ohne darauf einzugehen, ob bei erkennbarem, aber nicht durch­ schaubarem Irrtum etwas anders gelten könnte, Busche, in: MünchKommBGB (2015), §  155 Rn.  8;

108

§  4 Die methodenrelevanten Fälle des Vorrangs der natürlichen Auslegung

Wortlauts gegenüber anderen Auslegungsmitteln aus, die nicht anzuerkennen ist. Bei der gebotenen individuellen Auslegung ist der Wortlaut durch die den Irrtum offenbarenden sonstigen Umstände entkräftet122 (vgl. 133 Hs.  2 BGB). Dem Emp­ fänger tritt unter Berücksichtigung aller ihm erkennbaren Umstände nur eine unbe­ stimmte123 Erklärung entgegen, auf deren Wortsinn zu vertrauen er keinen Anlass hat. Die bloße Anfechtbarkeit lässt sich auch nicht damit begründen, der Erklärende solle auch hier das Wahlrecht haben, ob er statt der Nichtigkeit nicht doch lieber den Wortlautsinn gelten lässt.124 Das im Anfechtungsrecht steckende Wahlrecht hielten die Gesetzesverfasser nur deshalb dem Empfänger gegenüber für zumutbar, weil er dort kein schutzwürdiges Interesse gegen die Geltung des objektiven Sinns anfüh­ ren kann, von dem er ohnehin ausgegangen ist.125 Bei einem von Anfang an erkenn­ baren, aber nicht durchschaubaren Irrtum verhält es sich dagegen wie bei allen an­ deren unbestimmten Erklärungen: Dem Empfänger ist ersichtlich, dass er sich auf einen bestimmten Sinn, sei es auch auf den offenbar nicht gemeinten Wortlaut, nicht verlassen kann und darf. Für den Empfänger wäre es daher sehr wohl eine Zumu­ tung, wenn der Erklärende durch Anfechtungsverzicht auf der Geltung des Erklä­ rungswortlauts bestehen könnte, obwohl umgekehrt der Empfänger zu keinem Zeit­ punkt das Recht hat, rechtlich geschützt in diese Richtung zu disponieren126 und auch keine sonstigen Interessen des Erklärenden diese Bevorzugung rechtfertigen könnten.127 Musielak/‌Hau, Grundkurs BGB (2015), Rn.  372; Musielak, JuS 2014, 491 (492); Singer, in: Stau­ dinger (2012), §  119 Rn.  40 a. E. (siehe aber auch in Rn.  41 die Gleichstellung von erkennbarem und erkanntem Irrtum und a. a. O., §  122 Rn.  17); ders., Selbstbestimmung (1995), 63 in Fn.  30; Larenz, Methode (1930, 1966), 79 f. in Fn.  2; Oertmann, BGB-Kommentar (1927), 408 (§  119 BGB Anm.  11 b α a. E.); ders., Rechtsordnung (1914), 100, 104 f.; v. Tuhr, AT II/1 (1914, 1957), 589 in Fn.  121, 599 (anders 569 f., wo v. Tuhr keine Kenntnis verlangt, sondern das Ergebnis aus den allgemeinen Auslegungsgrundsätzen herleitet, die auch Erkennbarkeit genügen lassen). 122  Eine „Entkräftung“ setzt nicht unbedingt voraus, dass das übrige Auslegungsmaterial den objektiven Wortsinn sicher als nicht gewollt widerlegt. Es genügt auch ein hinreichender Anlass für Zweifel, ob der Wortsinn tatsächlich gewollt ist. 123  Das sachlich richtige Ergebnis sollte auf die Unbestimmtheit und die daraus folgende Un­ wirksamkeit, nicht aber auf „Dissens“ gestützt werden, der als Kategorie bei einseitigen Rechtsge­ schäften nicht passt (dazu bereits §  3 VI 2). So aber Armbrüster, in: MünchKommBGB (2015), §  122 Rn.  22; Busche, in: MünchKommBGB (2015), §  155 Rn.  8; Wieling, Jura 1979, 524 (526); Kramer, Grundfragen (1972), 197 in Fn.  299 a.E; Wieling, AcP 172 (1972), 297 (298 in Fn.  3 a. E.). 124  So aber Rummel, JBl.  1988, 1 (3 in Fn.  10) zum österreichischen Recht. 125  Vgl. Prot. I (1897, 1983), 106 = Mugdan I (1899), 715. Hierzu noch §  9 II 1 b bb (1). 126  Dass er diese Möglichkeit niemals hatte, ergibt sich aus der von der Gegenposition ange­ nommen Anwendung von §  122 II Alt. 2 BGB, die jedes Vertrauen auf den Wortlaut schutzlos stellt. 127  Dass es sich hier um eine Grundsatzfrage handelt, die sämtliche Willenserklärungen und nicht nur die empfangsbedürftigen betrifft, zeigt die parallele Problematik bei der Testamentsaus­ legung. Auch dort ist fraglich, ob das Testament bloß anfechtbar oder nichtig ist, falls der Wille des Testators zwar nachweislich vom Wortlaut abweicht, sich der positive Inhalt des Willens aber nicht feststellen lässt. Für Anfechtbarkeit: Otte, in: Staudinger (2013), Vor §§  2064–2086 Rn.  37; Foerste, DNotZ 1993, 84 (95); Flume, AT II (1992), 335, 430; Oertmann, Rechtsordnung (1914), 135. Für

IV. Der erratene Wille – Wielings Eier-Fall

109

2. Die Abweichung von der normativen Methode im Eier-Fall Wieling will durch Anwendung der natürlichen Auslegungsmethode in seinem ­Eier-Fall die Erklärung des V trotzdem im Sinne des Gemeinten gelten lassen, weil K an den Sinn glaubt, den V tatsächlich meinte. Beruhte die Übereinstimmung der Verständnisse auf einer Verkennung der Unbestimmtheit durch K, so würde es sich wieder um einen kongruenten Doppelirrtum in Form beidseitig übersehener Unbe­ stimmtheit128 handeln. Bei Wieling bleibt K die Unbestimmtheit der Erklärung in­ des nicht verborgen. Zu einer kongruenten Auffassung vom Gewollten gelangt er lediglich, weil er die erkannte Unbestimmtheit zum Anlass nimmt, „[o]hne nähere Anhaltspunkte“129 von einem bestimmten Willen des Erklärenden auszugehen, und damit richtig liegt. In diesem letzten Punkt liegt in der Tat eine Besonderheit, die Wielings Fall phä­ nomenologisch vom kongruenten Doppelirrtum unterscheidet. Der Empfänger ge­ langt nicht aufgrund einer unbewussten irrtümlichen Annahme zu einem mit dem Willen des Erklärenden übereinstimmenden Verständnis, sondern weil er bewusst eine zutreffende „Vermutung“130 über das Gewollte aufstellt. Es ist allerdings termi­ nologisch unglücklich, zur Kennzeichnung dieses Zusammenhangs von einem „er­ kannten Irrtum“ zu sprechen. Nicht das Erkennen des Irrtums begründet die Ab­ weichung von der normativen Auslegung, sondern erst die daran anknüpfende zufällig zutreffende Spekulation des Empfängers über das Gewollte. Auch die Formulierung, hier werde vom Empfänger „das Gewollte nur durch Zufall erk[a]nnt“131, wird der Eigentümlichkeit der Konstellation nicht gerecht. Der Empfän­ ger erkennt das Gemeinte nicht, sondern „errät“132 es lediglich, weil er „[r]ein will­ kürlich“133 eine haltlose Vermutung anstellt und dabei „auf gut Glück richtig ‚ge­ tippt‘“134 hat. Der Eier-Fall ist somit Beleg für die denkbare Konstellation, in der der Empfänger trotz Kenntnis des unbestimmten objektiven Erklärungswerts bewusst von einem anderen Willen des Erklärenden ausgeht und damit zufällig richtig liegt. Nichtigkeit: Bernard, Formbedürftige Rechtsgeschäfte (1979), 25 in Fn.  47 a. E. (wegen Erfolglo­ sigkeit der Auslegung). 128  Im Eier-Fall wäre dies theoretisch vorstellbar, falls unter im Übrigen gleichbleibenden Um­ ständen, d. h. obwohl nach dem objektiven Empfängerhorizont von einem nicht durchschaubaren Irrtum auszugehen ist, der Erklärende tatsächlich Eier zum Stückpreis von je 2 DM verkaufen wollte und K den Wortlaut ernst nimmt in Verkennung des aus seiner Sicht bestehenden vermeint­ lichen Irrtums. 129  Wieling, AcP 172 (1972), 297 (298 in Fn.  3). 130  Wieling, AcP 172 (1972), 297 (298 in Fn.  3). 131  Wieling, AcP 172 (1972), 297 (298). Auch v. Bülow, Irrtumsanfechtung (1909), 50 spricht vom Erkennen des Irrtums. 132  Wieling, Jura 1979, 524 (525) eingangs des im Text zitierten Beispiels. So auch schon v. Bülow, Irrtumsanfechtung (1909), 50, der ebenfalls von dem Versuch spricht, in Kenntnis des Irrtums des Erklärenden den Willen zu erraten. Auch er geht von der Geltung des wirklichen Wil­ lens aus, wenn der Versuch gelinge, da der Empfänger dann „den richtigen Willen erkannt“ habe. 133  Reinicke, JA 1980, 455 (457). 134  Scherner, AT (1995), 93.

110

§  4 Die methodenrelevanten Fälle des Vorrangs der natürlichen Auslegung

Ob es sich beim erratenen Willen tatsächlich um einen Anwendungsfall der na­ türlichen Auslegungsmethode handelt, haben die Befürworter dieser Methode zu beantworten. Auch auf Basis der dualistischen Lehre dürfte die rechtliche Relevanz des „erratenen Willens“ nicht selbstverständlich sein, denn die Auslegungsmetho­ dik wird dadurch in ihren Voraussetzungen noch stärker von der Willenserklärung gelöst als beim kongruenten Doppelirrtum. Beim kongruenten Doppelirrtum geht der Empfänger immerhin noch subjektiv davon aus, die Willenserklärung bringe den von ihm angenommenen Willen objektiv zum Ausdruck. Beim erratenen Wil­ len ist ihm hingegen bewusst, dass er seine Überzeugung nicht aus der ihm zuge­ gangenen Willenserklärung und begleitenden oder sonstigen objektiven Umständen ableitet, sondern dass sie auf bloßer Spekulation beruht. Es ist deshalb zweifelhaft, ob der erratene Wille überhaupt noch als ein „Verständnis der Willenserklärung“ begriffen werden kann, das die Auslegung eben dieser Willenserklärung beeinflus­ sen kann. Sollte der erratene Wille allerdings als Anwendungsfall der natürlichen Methode anzuerkennen sein, würde es sich um eine methodenrelevante Fallkonstellation handeln. Sie wird im Folgenden als solche behandelt, da bislang die hier angespro­ chenen Zweifel von keinem Anhänger oder Gegner der dualistischen Lehre aufge­ worfen wurden.

V. Zusammenschau der methodenrelevanten Fälle: Der Zufall als das gemeinsame Moment Nach der Ausgrenzung der methodenneutralen Fälle, insbesondere der unechten Wortlautfalschbezeichnung, bleiben zwei methodenrelevante Divergenzfälle übrig: Die Parteien müssen entweder aufgrund beidseitiger gleichsinniger Irrtümer vom normativen Erklärungsinhalt abweichen (kongruenter Doppelirrtum) oder der Empfänger muss bewusst, willkürlich und zutreffend ohne äußeren Anlass davon ausgehen, der Erklärende habe etwas anderes gemeint, als er objektiv zum Aus­ druck brachte (erratener Wille). Die Gemeinsamkeit beider Konstellationen besteht darin, dass die Übereinstimmung der Verständnisse ihren Grund nicht in der Kom­ munikation zwischen den Parteien hat, sondern auf Zufall beruht.135 Es handelt sich 135  Den „Zufall“ als Charakteristikum der methodenrelevanten Fälle heben hervor: Scherner, AT (1995), 94; Foer, Regel (1987), 26; Schlemmer, JBl 1986, 149 (152); Reinicke, JA 1980, 455 (457): „Zufallsfälle“; Bickel, Methoden (1976), 154; Rhode, Willenserklärung (1938), 78: nur wenn das „Verstehen auf einem Zufall beruht“; Henle, Lb. I (1926), 75: „glückliche[r] Zufall“. Wieling, AcP 172 (1972), 297 (298) und ders., Jura 1979, 524 (525) jeweils bezogen auf den erratenen Willen. Vgl. auch Canaris, Vertrauenshaftung (1971), 417 f.; Sachse, AcP 127 (1927), 288 (293): „zufällig nach derselben Richtung“ geirrt; v. Bülow, Irrtumsanfechtung (1909), 47. Die Behauptung von Bickel, Methoden (1976), 154 in Fn.  61, die h.M. erörtere den Fall des zu­ fällig übereinstimmenden Verständnisses nicht, war mithin schon 1976 unzutreffend.

V. Zusammenschau der methodenrelevanten Fälle

111

um „zufällig übereinstimmende[s] Parteiverständnis“136, mit dem unter den gegebe­ nen Umständen von beiden Seiten nicht zu rechnen war. Im einen Fall ist es das zufällige Zusammentreffen gleichsinniger Irrtümer, das die Verständnisse überein­ bringt; im anderen Fall ist es der zufällig glückliche Ausgang eines „Ratespiels“ des Empfängers. Nur in diesen Fällen kommt es auf die natürliche Auslegung zur Begründung ei­ nes anderen Auslegungsergebnisses überhaupt an. Die Vertreter der dualistischen Auslegungslehre haben sowohl ihre Lösung als auch ihre Argumente vielfach spe­ ziell im Hinblick auf die Zufallsfälle bekräftigt.137 Darauf ist nunmehr im kritischen Teil der Arbeit näher einzugehen.

136 

Foer, Regel (1987), 26. So etwa Zitelmann, Irrtum (1879), 428 f., der seine Ausführungen zum gemeinen Recht von vornherein auf den „doppelten Irrtum“ beschränkt; Hölder, FS Bekker (1907), 57 (70); R. Leonhard, Irrtum II (1907), 34: entsprechende Anwendung des von ihm auf die unechte Falschbezeich­ nung beschränkten falsa-Satzes; v. Bülow, Irrtumsanfechtung (1909), 47 (kongruenter Doppelirr­ tum), 50 (erratener Wille); Manigk, JherJb 75 (1925), 127 (209, 214 f.); Larenz, Methode (1930, 1966), 78 f.; Brox, Einschränkung (1960), 100; F. Bydlinski, Privatautonomie (1967), 140 f.; Canaris, Vertrauenshaftung (1971), 417 f.; Wieling, AcP 172 (1972), 297 (298); ders., Jura 1979, 524 (525); Reinicke, JA 1980, 455 (457 f.); F. Bydlinski, BJM 1982, 1 (13): auch bei „reinem Zufall“; Schlemmer, JBl 1986, 149 (152) zum österreichischen Recht; Foer, Regel (1987), 26 ff.; Larenz, AT (1989), 339 in Fn.  7 a. E.; Singer, Selbstbestimmung (1995), 47; Semmelmayer, JuS 1996, L 9 (L 10). Vgl. auch Lehmann/‌Hübner, AT (1966), 214: das Problem der falsa demonstratio sei in erster Linie „eine Frage richtiger Auslegung, d. h. Sinndeutung des erklärten Willens“, weil es regelmäßig möglich sei „aus den Vorverhandlungen und den sonstigen, dem Erklärungsempfänger erkennba­ ren Umständen den fehlerhaften Ausdruck im Wege der Auslegung zu verbessern“, erst in zweiter Linie sei das Problem der falsa demonstratio „eine Frage der Berücksichtigung des wirklichen Willens“, wenn die Erklärung im besonderen Fall ihre Aufgabe erfülle, dem Gegner den Willen zu offenbaren. Einige Stellungnahmen haben allerdings bei Behandlung des falsa-Satzes ersichtlich nur die unechte Falschbezeichnung im Sinn, bei denen das übereinstimmende Verständnis nicht auf „Zu­ fall“, sondern auf den für den Empfänger erkennbaren Umständen beruht: Canaris/‌Grigoleit, in: European Civil Code (2011), 587 (598), E. Wolf, AT (1982), 418 f.; Bailas, Problem (1962), 53 f.; v. Tuhr, AT II/1 (1914, 1957), 538 mit Fn.  21; Danz, Auslegung (1911), 63 f. 137 

Teil II

Kritik der natürlichen Auslegung Die folgende Kritik der natürlichen Auslegung baut auf einigen Erkenntnissen aus Teil I der Arbeit auf. Dort hat sich ergeben, dass der Vorrang der natürlichen Metho­ de nur für wenige Fälle ergebnisrelevant ist, weil es nur in diesen Fällen zu einer Abweichung von den Ergebnissen der normativen Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont kommt (methodenrelevante Fälle). Der Vorrang wirkt sich nur aus, falls die Beteiligten sich zufällig bei Vornahme des Geschäfts gleichsinnig ir­ ren (kongruenter Doppelirrtum) oder falls der Empfänger den Willen des Erklären­ den zufällig richtig errät (erratener Wille). Beide Konstellationen sind im Grunde nur Varianten einer einheitlichen Fallgruppe, in der die Verständnisübereinstim­ mung der Beteiligten nicht in der Kommunikation der Beteiligten angelegt ist, son­ dern auf einem Zufall beruht. Die Kritik der natürlichen Auslegung wird sich immer wieder auf diese Fallkon­ stellationen beziehen. Dahinter steckt keine Vorliebe für unwahrscheinliche praxis­ ferne Fälle. Wer sich für einen Moment auf den Boden der normativen Auslegungs­ lehre stellt, wird schwerlich an der Erkenntnis vorbeikommen, dass die natürliche Methode eine Sonderdogmatik zur Entscheidung eben dieser absonderlichen Fälle ist. Wären diese Fälle nicht möglich, wäre die natürliche Auslegung überflüssiger dogmatischer Ballast und müsste schon aus diesem Grund als eine Erscheinung des materiellen Rechts verabschiedet werden. Die natürliche Methode ist daher auch nur an diesen Fällen zu messen und kann nur überzeugen, wenn sie genau an dieser Stelle zu überzeugenden Lösungen führt. Die Kritik wird auch immer wieder auf die Konstellation des hier sog. inkongru­ enten Doppelirrtums1 Bezug nehmen, der unter mehreren Gesichtspunkten ähnli­ che Wertungsfragen aufwirft wie der kongruente Doppelirrtum. Der kongruente und der inkongruente Doppelirrtum, die „zu den Grundlagen jeder Lehre vom Rechtsgeschäft“2 gehören, werden gemeinsam behandelt. Es gehört zu den Ver­ säumnissen zumindest der jüngeren Behandlungen der Thematik, den inneren Zu­ sammenhang beider Konstellationen gar nicht mehr zu reflektieren. An einigen Stellen wird hier auch von „Doppelirrtumsausnahmen“ gesprochen werden. Dies nimmt dann darauf Bezug, dass alle Dualisten in den Fällen des kongruenten Dop­

1  2 

Hierzu schon §  4 II 3. Rummel, Vertragsauslegung (1972), 18.

114

Kritik der natürlichen Auslegung

pelirrtums und einige Vertreter der Lehre beim inkongruenten Doppelirrtum 3 der Sache nach eine Ausnahme von der Geltung des normativen Auslegungsergebnisses vertreten. Auf die Fälle des durch den Empfänger „erratenen Willens“ wird nur dort eigens eingegangen, wo sich Besonderheiten ergeben. Im Übrigen gelten Ausfüh­ rungen zum kongruenten Doppelirrtum sinngemäß auch für diese Fälle, bei denen ebenfalls ein – wenn auch vom Empfänger bewusst herbeigeführter – Zufall zum übereinstimmenden Verständnis der Beteiligten führt. Die kritische Auseinandersetzung mit der natürlichen Auslegungsmethode er­ folgt in zwei Abschnitten. Der erste Abschnitt (§§  5 –8) enthält den Kern der Kritik an der dualistischen Lehre, dass die natürliche Methode mit dem gebotenen Schutz nachträglichen Vertrauens unvereinbar ist, und eine historische Einordnung dieses Einwandes. Der zweite Abschnitt (§§  9 –11) setzt sich mit den Argumenten ausein­ ander, die für die dualistische Lehre vorgebracht werden.

3 

Siehe §  4 II 3 mit Nachw. in den Fn.  73, 74, 75.

1. Abschnitt

Die Unvereinbarkeit der natürlichen Auslegung mit dem Schutz nachträglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte §  5 Nachträgliches Vertrauen auf das objektiv Erklärte im Entdeckungsszenario I. Die Fixierung der dualistischen Lehre auf den Zeitpunkt der Vornahme des Rechtsgeschäfts Die intuitive Überzeugungskraft der natürlichen Auslegungsmethode beruht im Kern auf der Überlegung, es sei „alles in Ordnung“, wenn die Beteiligten die Wil­ lenserklärung bei Vornahme des Rechtsgeschäfts im selben Sinne verstanden ha­ ben. Diese Einschätzung beruht auf einer verkürzten Sicht der Dinge, die allein auf die Situation bei Vornahme des Rechtsgeschäfts fixiert ist und dadurch einen für die rechtliche Bewertung wesentlichen Faktor übergeht: die Weiterentwicklung des Ge­ schehens nach der Vornahme des Rechtsgeschäfts. Erstaunlicherweise finden sich im Schrifttum der letzten 75 Jahre so gut wie keine Überlegungen dazu, ob die na­ türliche Auslegungsmethode auch in Hinblick auf mögliche Szenarien der weiteren Geschehensentwicklung zu angemessenen Ergebnissen führt. Die diskutierten Bei­ spiele beschränken die Darstellung des Geschehensverlaufs regelmäßig auf den Zeitpunkt der Vornahme des Rechtsgeschäfts1 und unterstellen dadurch zumindest stillschweigend ein Fortdauern der Verständnisübereinstimmung in der Folgezeit. Es kann jedoch auch ganz anders kommen, da es keineswegs selbstverständlich ist, dass ein Beteiligter eine Willenserklärung in der Folgezeit weiterhin so versteht, wie er sie schon bei Vornahme des Rechtsgeschäfts gemeint bzw. aufgefasst hat. Das tatsächliche Erklärungsverständnis (und das darauf aufbauende Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage) ist kein statischer Zustand, sondern wandelbar. Ein Be­ teiligter kann nachträglich (z. B. aufgrund von Erinnerungslücken) von einem nor­ mativ richtigen zu einem normativ falschen Verständnis übergehen oder auch um­ gekehrt – für die weiteren Überlegungen hier von besonderem Interesse – von ei­ nem zunächst normativ falschen Erklärungsverständnis zum normativ richtigen wechseln.

1  Siehe etwa die Beispiele bei Semmelmayer, JuS 1996, L 9 (L 10); Reinicke, JA 1980, 455 (457); Wieling, Jura 1979, 524 (525 f.); ders., AcP 172 (1972), 297 f.

116

§  5 Nachträgliches Vertrauen auf das objektiv Erklärte im Entdeckungsszenario

II. Das Entdeckungsszenario Wer die im Grunde banale Erkenntnis der Wandelbarkeit des tatsächlichen Erklä­ rungsverständnisses im Blick hat, wird in den methodenrelevanten Fällen der natür­ lichen Auslegung folgende Möglichkeit des weiteren Geschehensverlaufs in Be­ tracht ziehen müssen:2 Einer der beiden Beteiligten, die die Erklärung zunächst (zufällig im gleichen Sinne) objektiv falsch verstanden haben, kann nachträglich entdecken, wie die Erklärung von Anfang an zu verstehen war. In dieser im Folgen­ den als „Entdeckungsszenario“ bezeichneten Konstellation kann ihm etwa aufgrund eines Hinweises eines Dritten3 oder eines erneuten Blicks in den Vertragstext4 (un­ ter Berücksichtigung aller sonstigen zu berücksichtigen Begleitumstände) auffallen, dass sein Verständnis der Erklärung objektiv unzutreffend ist, weil es beispielswei­ se auf einem Verschreiben, Verlesen, Inhalts- oder Deutungsirrtum beruht. Der „Entdecker“ weiß aufgrund seiner Entdeckung dann zunächst nur von sei­ nem eigenen Irrtum. Von dem gleichsinnigen Irrtum der Gegenseite ahnt er regel­ mäßig nichts und muss angesichts der extremen Unwahrscheinlichkeit des kongru­ enten Doppelirrtums von einem solchen auch nicht ausgehen.5 Er wähnt sich in der Situation eines einseitigen Irrtums. Seine naheliegende Reaktion besteht dann darin, sich den eigenen Irrtum einzugestehen und auf dieser Basis sein weiteres Verhalten zu gestalten. Es ist zwar möglich, dass er aufgrund der Erkenntnis seines Irrtums umgehend mit dem Gegner Kontakt aufnimmt, um Nachverhandlungen an­ zustoßen oder die gesetzlichen Rechtsfolgen des (einseitigen) Irrtums geltend zu machen. Bei dieser Gelegenheit kann günstigenfalls dann auch der Gegner seinen Irrtum realisieren und ihn dem Entdecker offenlegen, so dass beide die zufällige Übereinstimmung ihrer anfänglichen Verständnisse erkennen können. Zu diesem glücklichen Verlauf muss es jedoch nicht kommen. Die Tatsache der anfänglichen Verständnisübereinstimmung kann dem Entdecker auch noch eine ganze Weile ver­ borgen bleiben – sei es, weil der Gegner für ihn nicht zu erreichen ist oder weil der Entdecker bereit ist, das objektiv Erklärte hinzunehmen, und deshalb mit dem Geg­ ner gar nicht erst in Kontakt tritt. Der Entdecker geht dann bei seinem weiteren Verhalten im Sinne der normativen Methode vom objektiv richtigen Sinn der Wil­ lenserklärung aus, der aber wegen des für ihn nicht erkennbaren Eingreifens der natürlichen Methode rechtlich nicht maßgeblich ist. Dass unter derartigen Umständen offensichtlich alles „in Ordnung“ sei, wird man schwerlich annehmen können. Die Fehleinschätzung des rechtsmaßgeblichen Er­ 2  Umfangreiche Nachw. zu Quellen der historischen Diskussion, die den folgenden Gedan­ kengang vorbringen, siehe noch eingehend in §  8. 3  Titze, Mißverständnis (1910), 335 im Zusammenhang mit dem inkongruenten Doppelirr­ tum. 4  Oertmann, AcP 117 (1919), 275 (303). 5  Anders ist dies allenfalls, wenn bei Gelegenheit des Entdeckens des eigenen Irrtums zufäl­ lig auch der Irrtum der Gegenseite aufgedeckt wird.

III. Der Schutz nachträglichen Vertrauens als Kernpunkt der weiteren Kritik

117

klärungssinns, zu der der Entdecker durch die für ihn allein erkennbaren Umstände im Entdeckungsszenario verleitet wird, kann für ihn äußerst nachteilige Folgen ha­ ben, wenn er auf dieser Basis Dispositionen trifft. Am Haakjöringsköd-Fall (in der Variante eines echten kongruenten Doppelirrtums) lässt sich dies mit besonderer Deutlichkeit illustrieren. Der Verkäufer wird im Falle der Entdeckung seines Irr­ tums womöglich schnell das Walfleisch abstoßen und sich mit Haifisch eindecken, um zu seinem Wort stehen zu können, bzw. der Käufer wird – wenn er der Entde­ cker ist – die nunmehr erwartete Lieferung Haifisch an einen Dritten weiterverkau­ fen und Walfleisch woanders ordern.6 Derartige Dispositionen des Entdeckers sind bei Geltung der natürlichen Auslegungsmethode schutzlos gestellt. Denn sein Gegner kann aufgrund des Vorrangs der natürlichen Auslegungsmethode auf der Erfüllung zu den Bedingungen des anfänglich übereinstimmenden Verständnisses bestehen. Der nachträglich auf „Haifisch“ vertrauende Verkäufer erhält dann kein Geld für den beschafften Haifisch und kommt womöglich noch mit der Lieferung des geschuldeten Walfleischs in Verzug bzw. der nachträglich von „Haifisch“ ausge­ hende Käufer bekommt am Ende die doppelte Menge Walfleisch und haftet oben­ drein noch seinem Abkäufer, wenn er keine andere Bezugsquelle für Haifisch hat.

III. Der Schutz nachträglichen Vertrauens als Kernpunkt der weiteren Kritik Abstrakt auf den Punkt gebracht lautet die nachstehend vertretene These somit, dass die natürliche Auslegungsmethode mit dem gebotenen Schutz nachträglich entstehenden Vertrauens auf das objektiv Erklärte unvereinbar ist. Ein durchschla­ gendes Argument gegen die Richtigkeit der natürlichen Methode und für eine streng normative Auslegungslehre folgt hieraus freilich nur unter zwei im Folgenden zu überprüfenden Voraussetzungen. Zum einen muss der Schutz des nachträglichen Vertrauens durch die geltende Rechtsgeschäftslehre geboten sein (dazu §  6). Zum anderen muss dieses Gebot tatsächlich zur Aufgabe der natürlichen Auslegungsme­ thode zwingen – darf also nicht auch auf Basis der dualistischen Lehre verwirklich­ bar sein (dazu §  7).

6 

Seifert, Falsa demonstratio (1929), 139 f.

§  6 Der gebotene Schutz nachträglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte Die Überzeugungskraft der in §  5 skizzierten These, die natürliche Auslegung schütze das nachträglich entstehende Vertrauen eines Beteiligten im Entdeckungs­ szenario unzureichend und sei deshalb zu verwerfen, steht und fällt mit der Frage, ob nachträgliches Vertrauen der Beteiligten auf das objektiv Erklärte überhaupt zu schützen ist. An dieser Stelle wird deshalb zunächst untersucht, ob der Schutz nach­ träglichen Vertrauens geboten ist. Wie dieser Schutz dogmatisch umzusetzen ist, wird erst in §  7 behandelt. Die folgenden Ausführungen gehen aus Darstellungsgründen zunächst auf objek­ tiv eindeutige Willenserklärungen (dazu unter I.) und erst anschließend auf objektiv unbestimmte Willenserklärungen (dazu unter II.) ein. Wie sich zeigen wird, werfen die objektiv unbestimmten Willenserklärungen teilweise besondere Sachfragen auf, so dass möglicherweise Anlass für differenzierende Lösungen besteht. Im Ergebnis werden sich derartige Differenzierungen allerdings als unbegründet erweisen, da der Schutz nachträglich entstehenden Vertrauens in jedem Fall geboten ist.

I. Der gebotene Schutz nachträglichen Vertrauens bei objektiver Eindeutigkeit Der Schutz nachträglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte ist bei objektiv ein­ deutigen Willenserklärungen geboten. Er lässt sich auf dieselben Wertungsgesichts­ punkte und Argumente stützen, die auch den Schutz anfänglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte tragen, ohne dass stichhaltige sachliche Gründe ersichtlich sind, die eine abweichende Behandlung des nachträglichen Vertrauens rechtfertigen könnten. Um dies zu verdeutlichen, muss im ersten Schritt der Schutz anfänglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte in den Blick genommen werden (1.), bevor im zweiten Schritt daran anknüpfende Erwägungen zum Schutz nachträglichen Ver­ trauens angestellt werden können (2.–4.).

I. Der gebotene Schutz nachträglichen Vertrauens bei objektiver Eindeutigkeit

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1. Der Schutz anfänglichen Vertrauens durch die normative Orientierungsfunktion des objektiv Erklärten Anfängliches Vertrauen auf das objektiv Erklärte im hier gemeinten Sinne besteht, wenn sich das Verständnis eines Beteiligten (Erklärender oder Empfänger) „von Anfang an“1 mit der durch die normative Auslegung ermittelten objektiven Erklä­ rungsbedeutung deckt, er also die Erklärung nach wertenden Gesichtspunkten rich­ tig formuliert (Erklärender) oder aufgefasst (Empfänger) hat. Das Gesetz schützt anfängliches Vertrauen auf das objektiv Erklärte bei objektiv eindeutigen Erklärungen in zwei verschiedenen Formen. Das Vertrauen des Emp­ fängers wird in einer ersten Phase geschützt, indem die Erklärung zunächst mit dem objektiven Inhalt gilt („positiver Vertrauensschutz“2 durch Erklärungsgeltung und Vertrauensentsprechung). Der Erklärende kann sich zwar bei Vorliegen der Anfech­ tungsvoraussetzungen von der Erklärung lösen – allerdings nur um den Preis des Ersatzes des Vertrauensschadens des Empfängers nach §  122 I BGB („negativer Vertrauensschutz“3 durch Ersatz des Vertrauensschadens). Vertrauensschutz wird auch in die umgekehrte Richtung dem Erklärenden gewährt. Ist die Erklärung ein­ mal durch Zugang wirksam geworden, kann sich der Erklärende darauf verlassen, dass sie mit dem Inhalt der objektiv normativen Auslegung gilt. Hier wird sein Vertrauen als Erklärender sogar ausnahmslos positiv durch Bindung des Empfän­ gers geschützt, dem kein Anfechtungsrecht zusteht4. Eine Anfechtung muss der Erklärende nur gewärtigen, wenn das Zustandekommen des Rechtsgeschäfts auch eine Gegenerklärung des Empfängers voraussetzt, die ebenfalls vom Irrtum des Empfängers infiziert ist.5 In diesem Fall ist er als Empfänger dieser Gegenerklä­ rung in seinem Vertrauen auf den Bestand des objektiv Erklärten über §  122 BGB geschützt. a) Die unzureichende Begründung der normativen Auslegung als Kompromiss zwischen den Verständnissen der Beteiligten Eine häufige Begründung für die normative Auslegung empfangsbedürftiger Wil­ lenserklärungen lautet, es bedürfe eines Kompromisses zwischen den Extremposi­ tionen des Willens des Erklärenden einerseits und der Auffassung des Empfängers 1  Mit „von Anfang an“ ist auf Seiten des Erklärenden der Zeitpunkt der Erklärungsabgabe und auf Seiten des Empfängers das Wirksamwerden der Erklärung durch Zugang gemeint. Dabei wird an dieser Stelle davon abstrahiert, dass das Wirksamwerden durch Zugang und die erstmalige Wahrnehmung durch den Empfänger zeitlich auseinanderfallen können (dazu §  3 IV 2 b bb, §  4 III 2). Für die folgende Argumentation kommt es darauf nicht an. 2  Canaris, FS BGH I (2000), 129 (132). 3  Canaris, FS BGH I (2000), 129 (132). 4  Medicus, AT (2010), Rn.  749; v. Tuhr, AT II/1 (1914, 1957), 542. 5  Schapp/Schur, Einführung (2007), Rn.  348.

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§  6 Der gebotene Schutz nachträglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte

vom Inhalt der Erklärung andererseits, die beide zu unbilligen Ergebnissen führen würden.6 Als einzig denkbare dritte Möglichkeit wird dann die Methode der norma­ tiven Auslegung herangezogen. Exemplarisch für die Annahme, es gebe nur ein Spektrum von drei Lösungsmöglichkeiten, sind die Ausführungen von Säcker 7, der meint, die Lösung für den Interessenkonflikt der Beteiligten könne vom Gesetzge­ ber „auf prinzipiell drei verschiedenen Wegen gesucht werden“: (1) Geltung des subjektiven Geschäftswillens der Erklärenden8; (2) Geltung mit dem Inhalt, den der Empfänger der Erklärung tatsächlich abge­ wonnen hat; (3) Geltung dessen, was ein „reasonable man“ angenommen hätte (normative Auslegung). Der dritte Weg sei derjenige des geltenden Rechts.9 Die Notwendigkeit einer Kompromisslösung zwischen (1) und (2) enthält indes keine hinreichende Erklärung, warum es gerade auf die objektive Erklärungsbedeu­ tung ankommen soll. Die normative Auslegung lässt sich nicht allein und erschöp­ fend als ein Kompromiss erklären, der die einseitige Durchsetzung des inneren Ver­ ständnisses eines Beteiligten zu Lasten der Gegenseite verhindern soll. Ginge es tatsächlich allein darum, dann käme eine andere Kompromisslösung in Betracht. Das Gesetz könnte sich auch unter Verzicht auf jegliches Vertrauensschutzinstru­ mentarium darauf beschränken, die Wirksamkeit der empfangsbedürftigen Wil­ lens­erklärung vom tatsächlich übereinstimmenden Verständnis der Beteiligten bei Vornahme des Geschäfts abhängig zu machen.10 Auch so würde sichergestellt, dass sich kein Beteiligter einseitig mit seinem Verständnis der Erklärung durchset­ zen kann, weil für das Wirksamwerden der Erklärung das gleichsinnige Verständ­ 6  So z. B. bei Leipold, AT (2015), §  15 Rn.  12; Bitter, AT (2013), §  7 Rn.  22; D. Schwab/‌Löhnig, Einführung (2012), Rn.  565; Brehm, AT (2008), Rn.  404; E. Schmidt/‌Brüggemeier, Grundkurs (2002), 75; Schellhammer, Zivilrecht (1999), Rn.  1955; Peters, AT (1997), 82. Hierzu bereits §  3 II 2 und 3. 7  Säcker, in: MünchKommBGB (2015), Einl. z. BGB Rn.   160; ders., Gruppenautonomie (1972), 162; ders., JurAnalysen 1971, 505 (516). 8 Die Geltung des subjektiven Geschäftswillens kann laut Säcker, in: MünchKommBGB (2015), Einl. z. BGB Rn.  160; ders., JurAnalysen 1971, 505 (516) bei Auseinanderfallen von Wille und Erklärung (womit wohl das von ihm unter [3] genannte objektive Auslegungsergebnis gemeint ist) entweder in Form der „Geltung des Willens“ oder der Nichtigkeit der Erklärung erfolgen. Die Nichtigkeit wird dabei wohlgemerkt an die Divergenz von Wille und Erklärung geknüpft und nicht – entsprechend der sogleich im Text diskutierten Alternativlösung – an die Divergenz von Wille und Empfängerverständnis. 9  Säcker, in: MünchKommBGB (2015), Einl. z. BGB Rn.   161; ders., Gruppenautonomie (1972), 163; ders., JurAnalysen 1971, 505 (516 f.). 10 Diese alternative Lösungsmöglichkeit wird selten erwogen. Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 (187) nennt als gesetzgeberische Gestaltungsmöglichkeit bei Missverständnis der Be­ teiligten den „Nichteintritt der Rechtsfolge ohne Ersatz des Vertrauensschadens“. Flume, AT II (1992), 292 erwähnt als Alternative zur normativen Auslegung, „daß die Regelung wegen des un­ terschiedlichen Verständnisses überhaupt nicht gilt“.

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nis der Gegenseite hinzutreten müsste. Nach dieser theoretischen Alternativlösung wäre die Willenserklärung im Falle des Misslingens der rechtsgeschäftlichen Kom­ munikation unwirksam und – das ist das eigentlich entscheidende Moment – kein Beteiligter müsste in einem solchen Fall dem Gegner seinen Vertrauensschaden er­ setzen. Die „Erklärung“ im Sinne ihres äußeren Tatbestands würde zu einem bloß faktischen Kundgabeinstrument verkümmern, das rechtlich nur wegen seines tat­ sächlichen Effekts (Verursachung eines übereinstimmenden Verständnisses) rele­ vant wäre. Diese denkbare Alternativlösung des Interessenkonflikts zwischen Erklärendem und Empfänger ist an dieser Stelle von Interesse, weil sie exakt zu dem Ergebnis führen würde, das sich einstellt, wenn aus dem zweistufigen dualistischen Ausle­ gungskonzept der herrschenden Meinung die zweite normative Auslegungsstufe getilgt würde. Es bliebe dann nur die erste Stufe der natürlichen Auslegung bei an­ fänglich übereinstimmendem Verständnis übrig; wären die Voraussetzungen dieser gewissermaßen „streng natürlichen Auslegungslehre“ einmal nicht erfüllt, gäbe es wegen Scheiterns der Auslegung keinen verbindlichen Inhalt der Erklärung und keinen an die normative Auslegung anknüpfenden Vertrauensschutz11. b) Die spezifische Funktion des Vertrauensschutzes bei Bewältigung des Interessenkonflikts von Erklärendem und Empfänger: die normative Orientierungsfunktion des objektiv Erklärten Die soeben als Gedankenexperiment eingeführte Alternativlösung ist völlig zu Recht nicht Gesetz geworden. Stets ein übereinstimmendes Verständnis sicherstel­ len zu müssen wäre „eine Überforderung jedes Verkehrsteilnehmers und damit eine schwere Belastung für den rechtgeschäftlichen Verkehr insgesamt“12. Da sich kei­ ner der Beteiligten je sicher darauf verlassen könnte, ob die Gegenseite sein Ver­ ständnis der Erklärung tatsächlich teilt, würde der Gebrauch des Instruments der Willenserklärung erschwert und unattraktiv.13 Beiden Beteiligten würde durch eine solche Regelung eine kaum lösbare Aufgabe gestellt.14 Um sich auf die durch die Willenserklärung potentiell veränderte Rechts­ 11  Um das beschriebene Modell in Reinform zu verwirklichen, müsste freilich noch die Haf­ tung aus c.i.c. ausgeschlossen sein, die ansonsten bei schuldhaft herbeigeführtem oder aufrechter­ haltenem Missverständnis einen negativen Vertrauensschutz verwirklichen würde. 12  Leenen, FS Prölss (2009), 153 (170). 13  So auch Canaris/Grigoleit, in: European Civil Code (2011), 587 (591) in Bezug auf Verträge: „On the other hand it would go too far to consider a contract invalid whenever the parties under­ stood its terms differently. This would largely deprive the contract of its suitability as an effective instrument for regulating the relations between the parties.“ Jahr, JuS 1989, 249 (251) betont bezo­ gen auf einzelne Willenserklärungen, die Möglichkeit des Erklärenden, mittels der Erklärung Rechtsfolgen in Geltung zu setzen, dürfe „nicht dadurch entwertet werden, dass auch noch das richtige Verständnis des Adressaten gefordert wird“. 14  v. Tuhr, ZSR 15 (1896), 278 (281  f.) hebt aus der Perspektive des Empfängers hervor:

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lage einrichten und verlassen zu können, bliebe ihnen nichts anderes übrig, als sich nach jedem Erklärungsaustausch bei der Gegenseite zu erkundigen, ob die Erklä­ rung tatsächlich sinngleich gemeint bzw. aufgefasst worden ist. Auf die Spitze ge­ trieben würde dies zu einem nie enden wollenden Hin- und Herfragen führen, weil natürlich auch die weiteren Antworten auf die Nachfragen interpretationsbedürftig sind. Es wäre nie sicher auszuschließen, dass das Verständnis der Gegenseite auf­ grund von nicht in der eigenen Sphäre wurzelnden und dadurch der Wahrnehmung typischerweise entzogenen Störungen vom eigenen Verständnis abweicht. Selbst wenn das innere Verständnis tatsächlich übereinstimmte, wäre eine streng natürliche Auslegungslehre eine Hürde für die Rechtsdurchsetzung, weil sich ihre Voraussetzungen als „innere Tatsachen“ typischerweise dem Beweis entziehen. Be­ weisrechtliche Lösungen wären zwar denkbar und sicherlich die unweigerliche Konsequenz der Praxis – etwa in Form einer Vermutung der Übereinstimmung des Verständnisses mit dem objektiv Erklärten.15 Doch diese Vermutung wäre unter Verwendung aller der Gegenseite zu Gebote stehenden Beweismittel widerlegbar, so dass der auf das objektiv Erklärte Vertrauende wiederum schutzlos gestellt wäre, falls der Gegenseite überraschend aufgrund nur ihr zur Verfügung stehender Indi­ zien der Nachweis divergierender Verständnisse gelingt. Diese Unsicherheit würde ebenfalls eine Nachfrage und Bitte um Bestätigung erzwingen, um Rechtssicherheit zu gewinnen. Die streng natürliche Auslegungslehre wäre eine unökonomische, nie letzte Gewissheit verschaffende Obliegenheit zur Nachfrage beim Gegner.16 Die Verhinderung der beschriebenen Nachfragelast durch Ausblendung der nie ausräumbaren letzten Ungewissheit über das tatsächliche Verständnis der Gegen­ seite ist der tiefere Grund für die Verknüpfung von normativer Erklärungsbedeu­ tung und Vertrauensschutz. Indem der objektive Sinn als rechtlich maßgebliche „[M]üsste er jedesmal den inneren Willen des Erklärenden erforschen, so wäre ihm damit eine strenggenommen gar nicht zu lösende Aufgabe gestellt (…).“ Das gilt gleichermaßen für den Er­ klärenden, falls dieser das Verständnis des Empfängers ermitteln müsste. 15 Vgl. F. Bydlinski, Privatautonomie (1967), 11, 30; ders., ZAS 1976, 83 (85); ders., BJM 1982, 1 (15); ders., System (1996), 165 und Rummel, Vertragsauslegung (1972), 93, die bezüglich des Empfängerverständnisses eine solche Vermutung anerkennen im Rahmen ihrer Theorie, das nor­ mative Auslegungsergebnis gelte nur bei einem inhaltsgleichen tatsächlichen Vertrauen des Emp­ fängers (dazu noch §  9 II 1). Für eine parallele Vermutung der Übereinstimmung des Erklärenden­ willens mit dem objektiv Erklärten F. Bydlinski, Privatautonomie (1967), 30 und Jacobi, JherJb 70 (1921), 110 (114 in Fn.  1). 16  Darüber hinaus bedürfte es auch einer Auffanglösung für Fälle, in denen der Empfänger die Erklärung absichtlich nicht zur Kenntnis nimmt, um sich Rechtsgeschäftsfolgen (z. B. einer Kün­ digung) zu entziehen. Soweit hierfür entsprechend den Regeln der Zugangsvereitelung auch wegen „Kenntnisnahmevereitelung“ die Erklärung nach Treu und Glauben gelten sollte, wäre letztlich ohne eine normative Auslegung nicht auszukommen, wenn dann nicht mangels schutzbedürftigen Empfängervertrauens ohnehin das Gewollte gelten sollte. Vgl. insoweit Oertmann, Rechtsordnung (1914), 115 und Bailas, Problem (1962), 28 in Fn.  33, der für das geltende Recht – entgegen §  130 I 1 BGB (!) – den Vertragsschluss an die tatsächliche Kenntnisnahme der Annahmeerklärung durch deren Empfänger knüpft und auf dieser Basis meint, bei Verweigerung der Kenntnisnahme sei dem Erklärenden (womit wohl der Annehmende gemeint ist), Recht zu geben.

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Vertrauensgrundlage festgelegt und mit Instrumenten des Vertrauensschutzes (Er­ klärungsgeltung, §  122 I BGB) flankiert wird, werden beide Seiten von der Bürde entlastet, sich nach Austausch der Erklärung erkundigen zu müssen, wie die Gegen­ seite die Erklärung gemeint oder aufgefasst hat. Der für das Zustandebringen einer wirksamen Erklärung zu betreibende Aufwand sinkt so spürbar, denn „[o]b das Verhalten der anderen Seite als Ausdruck eines derartigen übereinstimmenden Wil­ lens verstanden werden darf, lässt sich vielfach leichter überprüfen als die Frage, ob der andere Teil tatsächlich einen übereinstimmenden Willen hat“17. Dem fakti­ schen Zwang zu weiteren Verständigungsbemühungen wird Einhalt geboten, sobald aufgrund des hinreichend eindeutigen Erklärungsgehalts die Wahrscheinlichkeit einer in diesem Sinne gelungenen Verständigung hinreichend hoch ist, um daran rechtliche Konsequenzen zu knüpfen.18 Da prinzipiell beide Seiten die gleiche Mög­ lichkeit haben, den normativen Erklärungswert nach allgemeinverbindlichen Stan­ dards auf der Basis der ihnen zur Verfügung stehenden Informationen zu ermitteln, besteht kein weiterer Anlass für Nachfragen. Der äußere Erklärungstatbestand kann diesen erwünschten Effekt nur haben, weil das Gesetz ihn nicht lediglich als faktisches Kundgabeinstrument behandelt, sondern ihn zu einem Sinnträger mit einem bestimmten rechtsverbindlichen Bedeu­ tungsgehalt aufwertet, an dem sich die Beteiligten für ihr weiteres Verhalten orien­ tieren können. Der Erklärung wächst so aufgrund der normativen Auslegung und des daran anknüpfenden Vertrauensschutzes eine rechtlich gesicherte Orientierungsfunktion zu, die in zwei Richtungen wirkt. Die Beteiligten können sich bei Erfüllung aller weiteren Wirksamkeitsvoraussetzungen darauf verlassen, dass die Erklärung einerseits die objektiv erklärten Rechtsfolgen hat (positive Orientie­ rungsfunktion) und andererseits keine Rechtsfolgen auslöst, die nicht objektiv er­ klärt wurden (negative Orientierungsfunktion). All dies soll jedoch nach der dualistischen Auslegungslehre nur gelten, wenn ein Beteiligter von Anfang an der Erklärung den Sinn beimisst, den sie bei Anwendung der normativen Auslegungsmethode hat.

17  Leenen, FS Prölss (2009), 153 (170) bezogen auf Vertragsschlusserklärungen (Hervorhe­ bungen übernommen). 18  v. Tuhr, ZSR 15 (1896), 278 (281 f.) hebt in diesem Sinne aus der Sicht des Empfängers her­ vor, über das objektiv Erklärte hinaus nach dem Willen zu forschen wäre meist zwecklos, „denn in der großen Mehrzahl der Fälle wird die Erklärung ihren Zweck erfüllen, d. h. den inneren Willen des Kontrahenten zum richtigen Ausdruck bringen“.

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2. Die nachträgliche Preisgabe der rechtlich geschützten Orientierungsfunktion durch die Doppelirrtumsausnahmen Bei Anerkennung der Doppelirrtumsausnahmen19 verliert das objektiv Erklärte für Beteiligte, die die Erklärung zunächst objektiv falsch interpretieren, die Orientie­ rungsfunktion. Wer seinen eigenen Irrtum entdeckt, kann nunmehr nicht mehr rechtlich geschützt darauf vertrauen, dass die Erklärung mit ihrem normativen Er­ klärungsgehalt gilt. Er kann nämlich nicht beurteilen, ob er sich in einer Situation des einseitigen Irrtums befindet, bei dem das objektiv Erklärte zum Schutz des an­ fänglichen Vertrauens der Gegenseite den Inhalt des Rechtsgeschäfts festlegt, oder ein Doppelirrtum vorliegt, bei dem das beidseitig Verstandene gilt (kongruenter Doppelirrtum) oder auch gar nichts gilt, weil die Erklärung nach einer von Teilen der Lehre vertretenen Auffassung20 unwirksam ist (inkongruenter Doppelirrtum). Dadurch leben sämtliche Probleme auf, denen die normative Auslegung bei an­ fänglichem Vertrauen auf das objektiv Erklärte entgegenwirkt. Besonders greifbar wird dies, wenn man sich die Frage stellt, wie sich ein anfänglich Irrender bei Gel­ tung der natürlichen Auslegung verhalten sollte, nachdem er seinen Irrtum ent­ deckt. Der Entdecker kann sich dann bei der Beurteilung seiner Rechtslage nicht einfach am objektiv Erklärten orientieren. Selbst wenn er an der Erklärung gar nicht rütteln will oder kann 21, muss er sich mit der Gegenseite in Verbindung setzen und deren ursprüngliches Verständnis erfragen. Nur auf diesem Wege kann er nämlich herausfinden, ob die Erklärung möglicherweise doch nicht so gilt, wie sie objektiv lautete, sondern so, wie sie zufällig beidseitig anfänglich aufgefasst wurde (kongru­ enter Doppelirrtum) oder auch nach einer von Teilen der Lehre vertretenen Auffas­ sung völlig unwirksam ist (inkongruenter Doppelirrtum). Nimmt man die natürli­ che Auslegungsmethode ernst, müsste jeder Rechtsanwalt einem Irrenden raten, nach Entdeckung seines Irrtums Kontakt mit der Gegenseite aufzunehmen, um deren Verständnis in Erfahrung zu bringen, oder seinen Mandanten zumindest auf die Risiken hinweisen, die sich aus einem Verzicht auf die Nachfrage ergeben. So entstehen genau die Unsicherheit und die daraus erwachsende Nachfrageobliegen­ heit, denen die normative Auslegung und der daran anknüpfende Vertrauensschutz bei anfänglichem Vertrauen auf den objektiven Erklärungssinn entgegenwirken sol­ len. Selbst wenn der Erklärende als Entdecker zur Anfechtung entschlossen ist, stürzt ihn die natürliche Auslegung aufgrund der potentiellen Irrelevanz des objektiv Er­ klärten für seine Rechtslage in Orientierungslosigkeit. Er hat unverzüglich anzu­ fechten (§  121 I BGB), kann aber ohne Auskunft der Gegenseite nicht beurteilen, ob 19 

Zu diesem Begriff s.o. S. 114 f. Siehe die Nachw. in §  4 Fn.  73, 74. 21  Der Empfänger kann die fremde Erklärung nie anfechten. Der Erklärende kann nach Ablauf der Anfechtungsfrist (§  121 BGB) oder bei fehlender objektiver Erheblichkeit des Irrtums (§  119 I Hs.  2 BGB) nicht anfechten. 20 

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die Anfechtung ins Leere geht, weil das zufällig übereinstimmende Verständnis der Gegenseite seiner Anfechtung aufgrund des Vorrangs der Auslegung vor der An­ fechtung22 den Boden entzogen haben könnte. Er befindet sich plötzlich in einer mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln ohne Mitwirkung der Gegenseite nicht zu beseitigenden Ungewissheit darüber, ob die Erklärung vernichtet ist oder über das ursprünglich Gewollte fortbesteht. Diese Problematik lässt sich für den Fall der ausgesprochenen Anfechtung auch nicht mit dem Hinweis relativieren, aufgrund des sog. Reurechtsausschlusses habe der Erklärende23 selbst bei erfolgreicher Anfechtung immer noch mit einer Geltung des Gewollten zu rechnen. Denn die Lehre, die den Reurechtsauschluss heute aner­ kennt24, setzt der Möglichkeit des Anfechtungsgegners, auf der Geltung des Ge­ wollten zu bestehen, wegen der dadurch hervorgerufenen Schwebelage enge zeitli­ che Grenzen (§  121 I 1 BGB)25. Demgegenüber hat noch niemand vertreten, der Berufung auf den falsa-Satz und den durch ihn bestimmten rechtsgültigen Inhalt der Erklärung sei in zeitlicher Hinsicht auch nur annähernd eine vergleichbare Grenze gesetzt.26

3. Die schädlichen Effekte des Orientierungsverlusts Dadurch, dass die Doppelirrtumsausnahmen das objektiv Erklärte seiner Orientie­ rungsfunktion für die Beteiligten berauben, stellen sich eine ganze Reihe schädli­ cher Effekte ein.

22 

Brox/Walker, AT (2015), Rn.  410 a. E.; Larenz/M. Wolf, AT (2004), §  36 Rn.  29 f. Argument könnte ohnehin den desorientierenden Effekt der natürlichen Methode ge­ genüber dem Empfänger nicht rechtfertigen. Dazu noch eingehend §  9 II 4 c. 24  LG Berlin, Urteil vom 15.5.2007, NJW‑RR 2009, 132 f.; Bork, AT (2016), Rn.  954 f; Ellenberger, in: Palandt (2016), §  119 Rn.  2; Armbrüster, in: MünchKommBGB (2015), §  119 Rn.  141; Leenen, AT (2015), §  14 Rn.  143; Looschelders/‌Olzen, in: Staudinger (2015), §  242 Rn.  433; Feuerborn, in: NK‑BGB (2012), §  142 Rn.  11; Singer, in: Staudinger (2012), §  119 Rn.  103; Wendtland, in: Bamberger/Roth (2012), §  119 Rn.  46; M. Wolf/Neuner, AT (2012), §  41 Rn.  149 f.; Boesche, FS Georgiades (2006), 3 ff.; Müller, JuS 2005, 18 ff.; Lorenz, Schutz (1997), 264; Lobinger, AcP 195 (1995), 274 ff.; Weigelin, JR 1947, 108 ff.; grdl. Gradenwitz, Anfechtung (1902). A. A. in neuerer Zeit nur noch Spieß, JZ 1985, 593 ff.; Scherner, AT (1995), 187–190; Hefermehl, in: Soergel (1999), §  142 Rn.  9 (anders aber §  119 Rn.  76); Waclawik, Bedeutung (2001), passim mit umfangreichen Nachw. zum historischen Meinungsstand auf S.  4 f. Zurückhaltend Ramm, AcP 160 (1961), 74 (79) und Coester-Waltjen, Jura 1990, 362 (367), die die Existenz des Reurechtsausschlusses offen lässt. 25  Faust, AT (2016), §   23 Rn.  12; M. Wolf/‌Neuner, AT (2012), §  41 Rn.  150; Lorenz, Schutz (1997), 264 in Fn.  292; Lobinger, AcP 195 (1995), 274 (280); Flume, AT II (1992), 422; Rollin, Irr­ tum (1966), 164. Ebenso Thomale, Leistung (2012), 160 f. im Rahmen des von ihm angenommenen „Dispositionsrechts“ des Empfängers, das auch schon vor Erklärung der Anfechtung bestehen soll. Abw. nur in der Bestimmung der Dauer Mankowski, Beseitigungsrechte (2003), 728: drei Wochen. 26 Zum Verhältnis von natürlicher Auslegung und Reurechtsausschluss noch eingehend §   9 II 4. 23  Das

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a) Transaktionskosten und ihre Vermeidung durch risikobehafteten Verzicht auf die Nachfrage Ein erster Nachteil folgt schon daraus, dass der Entdecker des Irrtums zur rechtssi­ cheren Klärung seiner Rechtslage überhaupt noch einmal Kontakt mit der Gegen­ seite aufnehmen muss. Dadurch fallen Transaktionskosten an, die bei Fortbestand der Orientierungsfunktion vermieden werden könnten. Dies ist schwer einzusehen, da das Recht beim einseitigen Irrtum dem Gegner des Irrenden, der von Anfang an vom objektiv Erklärten ausgeht, einen solchen Aufwand nicht abverlangt. Der Entdecker kann natürlich auch auf die Nachfrage verzichten und sich auf den rechtlich nicht mehr abgesicherten faktischen Orientierungswert des objektiv Er­ klärten verlassen. Dies wird er als ökonomisch vernünftiger Akteur sogar vielfach tun, weil der zu seinen Lasten gehende Aufwand des Nachfragens angesichts der geringen Wahrscheinlichkeit eines zufälligen Doppelirrtums im Regelfall ineffizi­ ent sein dürfte27. Darin dürfte auch der Grund liegen, warum trotz allgemeiner Anerkennung der falsa-Regel die dadurch begründete Nachfrageobliegenheit ins Bewusstsein der Rechtspraxis und selbst der Wissenschaft bislang nicht vorgedrun­ gen ist. Es wird darüber hinweggesehen, weil der Vertrauensenttäuschungsfall ein­ fach zu unwahrscheinlich ist, als dass er den Aufwand der Nachfrage rechtfertigen könnte. Die wirtschaftliche Vernünftigkeit des Verzichts auf die Nachfrage ändert jedoch nichts daran, dass der Verzicht dann auf eigenes Risiko des Entdeckers er­ folgt, obwohl der Irrtum der Gegenseite als risikoauslösender Faktor in deren Sphä­ re wurzelt und von ihr am besten beherrschbar wäre. Bei von Anfang an richtigem Umgang mit der Erklärung, zu der die Gegenseite im Hinblick auf einseitige Irrtü­ mer ohnehin angehalten ist, könnte es nämlich zu dem hier interessierenden Risiko der Enttäuschung nachträglichen Vertrauens kraft natürlicher Auslegung gar nicht kommen, da dann das normative Auslegungsergebnis gälte. Risikobeherrschung und Risikotragung fallen so in bedenklicher Weise auseinander. Der Aufwand steigt auch im Hinblick auf die infolge der Doppelirrtumsausnah­ men gebotene Sicherung der Informationen über das eigene und fremde innere Ver­ ständnis bei Vornahme des Rechtsgeschäfts. Da nach den Doppelirrtumsausnah­ men der Inhalt des Anfangsverständnisses potentiell rechtserheblich werden kann, wird jedem Beteiligten faktisch die Obliegenheit auferlegt, das eigene Verständnis gegen das Vergessen zu sichern und beweisbar zu halten. Besondere Bedeutung erlangt dieser Aspekt bei juristischen Personen oder sonstigen Personenverbänden, bei denen der bei Vornahme des Rechtsgeschäfts tätige Akteur den Verband häufig schon verlassen haben wird zu dem Zeitpunkt, zu dem später über den Inhalt der Willenserklärung gestritten wird. Wenn dann nicht irgendwo aktenförmig festge­ 27  Gegenüberzustellen wäre einerseits der Aufwand des Nachfragens und andererseits der dro­ hende Vertrauensschaden multipliziert mit der ex-ante-Wahrscheinlichkeit eines (durch die Ge­ genseite nachweisbaren) Doppelirrtums oder erratenen Willens.

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halten ist, wie der mittlerweile ausgeschiedene Akteur die Willenserklärung inner­ lich gemeint bzw. aufgefasst hat und welche Informationen möglicherweise später noch über das ursprüngliche innere Verständnis des Gegners hervorgetreten sind, kann dem Verband der Zugriff auf die natürliche Methode versperrt sein oder er kann umgekehrt im Entdeckungsszenario vom Vorgehen des Gegners überrascht werden, der im Nachhinein die Anfangsverständnisse beweisen kann. Schon um später ggf. den Beweis des inneren Verständnisses führen zu können, müssten selbst nicht vergessliche natürliche Personen zu einer solchen Beweissicherung schreiten. Würde das Vertrauen auf das objektiv Erklärte hingegen auch bei Dop­ pel­irrtümern geschützt, so könnte sich jeder Beteiligte auf die Sicherung des nach dem objektiven Empfängerhorizont relevanten Auslegungsmaterials beschränken und hätte dann alle Informationen, die er zur Durchsetzung seiner Rechte benötigt. b) Opportunistisches Verhalten der Gegenseite Kommt es zu der durch die Anreizstruktur der Doppelirrtumsausnahmen indizier­ ten Nachfrage, eröffnet dies dem Gegner zudem einen problematischen Spielraum für opportunistisches Verhalten. Der Entdecker des Irrtums ist durch die Außer­ kraftsetzung der normativen Auslegung in den Doppelirrtumsfällen zur Beurtei­ lung seiner Rechtslage auf einmal darauf angewiesen an eine Information (subjekti­ ves anfängliches Verständnis der Gegenseite) zu gelangen, über die typischerweise nur die Gegenseite verfügt. Ganz gleich, ob der Gegner auf die Nachfrage einen eigenen Irrtum bestätigt oder verneint, der Nachfragende wird regelmäßig keine Möglichkeit haben zu überprüfen, ob die Antwort der Wahrheit entspricht.28 Zum Beweis ihm gegenüber ist die Gegenseite in diesem vorprozessualen Stadium, in dem der Entdecker nach Orientierung über die eigene Rechtslage sucht, nicht ver­ pflichtet.29 Will der Entdecker den sicheren Weg gehen, bleibt ihm nichts anderes übrig, als die Gegenseite beim Wort zu nehmen. Die Antwort auf die Nachfrage verschafft ihm nämlich – vom Problem ihrerseits auslegungsbedürftiger Antworten 28 Vgl. Oertmann, Rechtsordnung (1914), 103, der die Versuchung für den Empfänger erkennt, auf die Anfechtung des Erklärenden hin einfach zu behaupten, er habe den Empfänger von Anfang an richtig verstanden. Oertmann will es „bei solcher, wenn schon vielleicht in Wahrheit unzutref­ fender Behauptung bewenden lassen“, also offenbar sogar völlig auf den Nachweis kongruenten Verständnisses verzichten. Dies sei nicht unbillig, weil der Erklärende bekomme, was er gewollt habe, und der Empfänger seine Behauptung kraft seines freien Willens aufstelle und dadurch „dem Irrenden das Reurecht entzogen“ werde. Das Problem reicht freilich sehr viel weiter, weil der Emp­ fänger diese Behauptung auch völlig unabhängig von der Anfechtung aufstellen kann zu einem Zeitpunkt, zu dem die Anfechtung noch gar nicht erklärt ist oder gar nicht mehr erklärt werden kann. 29  Es besteht zwar eine prozessuale Vermutung, dass das innere Verständnis des Gegners mit dem objektiv Erklärten übereinstimmt. Aber diese Vermutung verschafft dem Entdecker keine Sicherheit, da sie mit für den Entdecker nicht ersichtlichen Beweismitteln widerlegt werden kann (vgl. dazu oben den Text bei und die Nachw. in Fn.  15).

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einmal abgesehen – immerhin insoweit Sicherheit, als sein Vertrauen auf die Rich­ tigkeit dieser Aussage durch eine Einwendung aus §  242 BGB (venire contra factum proprium)30 oder jedenfalls durch §§  280 I, 241 II BGB im Umfang seines negativen Interesses geschützt ist vor der nachträglichen Behauptung, das ursprüngliche Ver­ ständnis sei doch ein anderes gewesen. Faktisch wird dadurch die Macht zur Ent­ scheidung über den Bestand und Inhalt der Erklärung einseitig auf den Gegner des Entdeckers verlagert. Schlimmer noch: Die Gegenseite kann auch einstweilen davon absehen, die Nachfrage zu beantworten und ihr ursprüngliches Verständnis der Erklärung offen­ zulegen.31 Dies kommt insbesondere in Betracht, wenn der Nachfragende so un­ vorsichtig ist, sein anfängliches Verständnis der Erklärung mitzuteilen, und die Gegenseite ihre Rechtslage daher einschätzen kann oder wenn im Einzelfall das Interesse der Gegenseite an der Klärung der Rechtslage nicht so groß ist wie auf Seiten des Entdeckers. Das Bedürfnis nach Beseitigung der Ungewissheit über die eigene Rechtslage kann den Nachfragenden dann zu Nachverhandlungen zwingen, die der Gegenseite einen durch nichts gerechtfertigten Vorteil verschaffen. Selbstverständlich lässt sich gegen all dies theoretisch Abhilfe schaffen, indem (etwa nach §  242 BGB) ein Informationsanspruch des Nachfragenden angenommen oder der Gegenseite bei allzu langem Schweigen auf eine Nachfrage oder eine An­ fechtungserklärung die Möglichkeit der Geltendmachung des eigenen tatsächlichen Verständnisses abgeschnitten wird, so dass im Ergebnis das normative Auslegungs­ ergebnis doch wieder „auflebt“. Solche Lösungen sind auf dem Boden der dualisti­ schen Lehre letztlich wohl sogar unvermeidbar, wenn der Entdecker eines Irrtums durch die natürliche Methode nicht völlig in die Hände der Gegenseite gegeben werden soll. Notkonstruktionen dieser Art lassen sich indes von vornherein vermei­ den, wenn dem objektiv Erklärten auch nachträglich noch die rechtlich geschützte Orientierungsfunktion eingeräumt wird, die es einem anfänglich auf den objektiven Erklärungswert Vertrauenden gegenüber hat.

30 Vgl. Lüderitz, Auslegung (1966), 280 f., der §  242 BGB anwenden möchte, wenn der Erklä­ rende seinem früheren Verhalten gegenüber der Gegenseite eine bestimmte Deutung gibt und spä­ ter davon wieder abweichen will. Restriktiver Canaris, Vertrauenshaftung (1971), 337 ff., der aber ebenfalls in solchen Fällen bei Hinzutreten weiterer Umstände von einem venire contra factum proprium ausgeht. 31 Vgl. Rehberg, Rechtfertigungsprinzip (2014), 950 f. i. V. m. 946 (Fall 258), der ein Problem darin sieht, dass dem Entdecker bei einem unkooperativen Gegner möglicherweise „nicht klar ist, ob sich vor Gericht beweisen lassen wird, dass tatsächlich beide Seiten dem gleichen Inhaltsirrtum unterlagen (…)“. Rehberg setzt dabei allerdings stillschweigend voraus, dass der Entdecker auf­ grund der Entdeckung seines eigenen Irrtums Kenntnis vom Irrtum des Gegners hat und sich deshalb tatsächlich über die Beweisbarkeit Gedanken macht. In den methodenrelevanten Zufalls­ fällen wird es typischerweise schon dazu nicht kommen, da der Entdecker überhaupt keinen An­ lass hat, einen gleichsinnigen Irrtum des Gegners anzunehmen. Es bleibt auch unklar, welche Konsequenzen Rehberg aus seiner Überlegung ziehen möchte.

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c) Einseitige Risikobelastung des Entdeckers bei fruchtloser oder gestörter Nachfrage Es griffe viel zu kurz, die Wurzel des Übels der Nachfrageobliegenheit auf die po­ tentiell fehlende Kooperationsbereitschaft des Gegners zu reduzieren. Auch ein grundsätzlich kooperationswilliger Gegner, der zur ehrlichen Beantwortung der Nachfrage bereit ist, bietet keinerlei Gewähr für ein Gelingen der nachträglichen Kommunikation über das ursprüngliche Verständnis. Die für das Zustandekommen des Rechtsgeschäfts ursprünglich einmal erfüllten Kommunikationsvoraussetzun­ gen werden zum Entdeckungszeitpunkt häufig nicht mehr gegeben sein. Manches Mal wird der Entdecker schon vor dem Problem stehen, die Gegenseite nicht oder zumindest nicht zeitnah erreichen zu können (Ortswechsel, Urlaub etc.).32 Da die für das Zustandebringen des Rechtsgeschäfts notwendigen Vorgänge abgeschlossen sind, glauben schließlich beide Seiten zu wissen, woran sie sind, und haben deshalb keinen Anlass, sich zur Klärung dieser Frage kommunikationsbereit zu halten33. Erschwerend kommt hinzu, dass der Nachfragende – anders als der Erklärende bei Abgabe der Willenserklärung – nicht lediglich etwas mitzuteilen hat, sondern auch auf die Antwort des Gegners angewiesen ist, um zu wissen, woran er ist.34 Der gan­ ze Prozess kann von allen nur vorstellbaren Fehlern befallen werden, vom Verloren­ gehen der Nachfrage auf dem Weg zum Gegner über den Verlust der Antwort auf dem Weg zurück bis hin zur Entstellung des Inhalts aus Gründen, die keiner der Beteiligten zu vertreten hat. Bis zur ordnungsgemäßen Beantwortung seiner Nachfrage befindet sich der Ent­ decker in einem Schwebezustand, dem er selbst kein Ende setzen kann und der sich leicht zu einem Dauerzustand entwickeln kann. Es braucht dann gar keinen oppor­ tunistischen Gegner, damit er seine schwache Position zu spüren bekommt. Die rechtliche Unsicherheit selbst zwingt ihn, bis zur Beantwortung seiner Nachfrage mehrgleisig zu fahren und damit potentiell in eine Richtung Dispositionen zu tref­ fen, die sich später als sinnlos erweisen. Auch der zufällige Verlust oder die inhalt­ liche Entstellung der Nachfrage bzw. der Antwort des Gegners gehen zu Lasten des Nachfragenden, dem die Möglichkeit genommen ist, sich auf das objektive Erklärte zurückzuziehen und auf dieser ihm erreichbaren Basis zu disponieren. Solche Risi­ 32 Vgl.

Seifert, Falsa demonstratio (1929), 140. Die Parteien können freilich das durch die natürliche Methode ausgelöste Kommunikations­ bedürfnis antizipieren und entsprechende Vorkehrungen treffen. Dies führt dann aber zu einer weiteren Steigerung der Transaktionskosten, soweit sie hierfür Kommunikationsmöglichkeiten aufrechterhalten, auf die sie anderenfalls hätten verzichten können. 34  Auch beim Abschluss des Vertrags bedarf der Antragende keiner Antwort des Gegners, um die eigene Rechtslage einschätzen zu können. Die Annahme informiert nur über das Zustande­ kommen des Vertrags. Bekommt er dagegen keine Antwort, dann ist für ihn klar ersichtlich, dass kein Vertrag zustande gekommen ist; nur die §§  151 f., 156 BGB machen hiervon unter sehr engen Voraussetzungen eine Ausnahme, wenn die Unsicherheit über das Zustandekommen des Vertrages für den Antragenden zumutbar ist. 33 

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ken der Störung der rechtsgeschäftlichen Kommunikation werden bei der Vornah­ me des Rechtsgeschäfts unter den Beteiligten differenziert verteilt. Die Schutzlos­ stellung des nachträglichen Vertrauens dagegen belastet den Entdecker einseitig mit diesen Risiken der nachträglichen Kommunikation. d) Störung des austarierten Gleichgewichts der abstrakten Beweismöglichkeiten Wie die bereits aufgezeigten Probleme erkennen lassen, hat die Schutzlosstellung nachträglichen Vertrauens nicht zuletzt eine empfindliche Störung der durch die normative Auslegungsmethode sorgfältig austarierten abstrakten Beweislage der Parteien zur Folge. Zwar ist regelmäßig keiner der Beteiligten in der Lage, die Vor­ aussetzungen der Doppelirrtumsausnahme im Konflikt mit der Gegenseite für sich in Anspruch zu nehmen, weil die Möglichkeit fehlt, ein vom objektiv Erklärten ab­ weichendes Verständnis der Gegenseite nachzuweisen 35, so dass vordergründig ein Gleichgewicht der Beweis(un-)‌ möglichkeiten herrscht. Doch ausgeschlossen ist eine andere Beweislage nicht. Kommt A doch einmal in die Lage, das irrige Ver­ ständnis des B nachweisen zu können, weil B es unvorsichtigerweise offengelegt hat oder aus einem beliebigen anderen Grund, so erwächst A daraus eine faktische Wahlmöglichkeit. Er kann die Doppelirrtumsausnahme für sich in Anspruch neh­ men und das beiderseitige Verständnis (kongruenter Doppelirrtum) bzw. nach ei­ nem Teil der Lehre die Unwirksamkeit der Erklärung (inkongruenter Doppelirr­ tum) durchsetzen. Oder er kann sich dafür entscheiden am objektiv Erklärten fest­ zuhalten, da er regelmäßig davon ausgehen kann, B werde der Irrtum des A unbekannt geblieben und deshalb die Berufung auf den Doppelirrtum nicht mög­ lich sein. Diese faktische Wahlmöglichkeit ist unmittelbare Folge einer Beweisnot, die zu verhindern eine Aufgabe der normativen Auslegung ist. Im Rahmen der normativen Auslegung gilt die Bedeutung, die beiden Seiten grundsätzlich gleich nahe steht und zugänglich ist. Der Erklärende kann selbst beeinflussen und sicherstellen, was er mit welchen Mitteln erklärt. Das gibt ihm insbesondere auch die Möglichkeit, sich Beweismittel zu sichern, mit denen er im Streitfall nachweisen kann, wie er sich ausgedrückt hat. Umgekehrt kann der Empfänger das objektiv Erklärte mit densel­ ben Mitteln für sich in Anspruch nehmen, weil sie ihm vom Erklärenden bei Vor­ nahme des Rechtsgeschäfts zugänglich gemacht worden sein müssen. So können und müssen die Beteiligten jederzeit ihre Rechtslage auf der Basis desselben, für beide Seiten erreichbaren Auslegungsmaterials beurteilen.36 Abstrakt hat keiner 35 Vgl. Frotz, Verkehrsschutz (1972), 414 in Fn.  1009 (Wortlaut hier im Text auf S. 132 wie­ dergegeben). 36 Vgl. Wedemeyer, Auslegung (1903), 34 und Bading, Willenserklärung (1910), 14, die die Funktion der Begrenzung des Auslegungsmaterials bei der normativen Auslegung gerade darin sehen „im Interesse der Verkehrssicherheit“ sicherzustellen, dass die Beteiligten vom selben Aus­ legungsmaterial ausgehen können, um schon außerhalb des Prozesses die Bedeutung der Erklä­

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der Beteiligten die Möglichkeit, eine Auslegung geltend zu machen, die der Gegner nicht auch für sich in Anspruch nehmen könnte.37 Es lässt sich zwar auch auf Basis der normativen Auslegung nicht verhindern, dass einer der Beteiligten in Beweisnot gerät, weil er im konkreten Fall das im objektiven Empfängerhorizont enthaltene Auslegungsmaterial nicht beweisen kann.38 Doch das ist dann eine Folge der selbst zu verantwortenden unterlassenen Beweismittel­ sicherung und nicht – wie bei den Doppelirrtumsausnahmen – materieller Rechtsre­ geln, die typischerweise der Wahrnehmung und Beweisbarkeit entzogenen Umstän­ den rechtliche Relevanz beimessen. Die Doppelirrtumsausnahmen verschieben das Kräftegleichgewicht zugunsten der Partei, die aufgrund zufälliger Entwicklungen nach Vornahme des Rechtsgeschäfts den fremden Irrtum beweisen kann.

4. Überprüfung denkbarer Sachgründe für die Preisgabe der Orientierungsfunktion des objektiv Erklärten Angesichts der gerade aufgezeigten schädlichen Effekte, die sich aus der Beseiti­ gung der Orientierungsfunktion des objektiv Erklärten ergeben, bleibt zu überprü­ fen, ob es in den Doppelirrtumsfällen sachliche Gründe für diese Schutzlosstellung des nachträglichen Vertrauens gibt. Da die Vertreter der dualistischen Lehre dem Aspekt des nachträglichen Vertrauens kaum Beachtung schenken, bedarf die Suche nach denkbaren Begründungen einiger „Kreativität“. a) Nachträgliches Vertrauen als lebensfremdes, rein akademisches Problem (Frotz)? Frotz39 hat bislang als einziger Dualist die natürliche Methode gegen den Einwand verteidigt, sie stelle ohne sachlichen Grund den nachträglich auf das objektiv Erklär­ te Vertrauenden schutzlos. Anlass ist bei ihm die Auseinandersetzung mit ­Titze40, rung in einem etwaigen zukünftigen Prozess ermessen zu können. Ähnlich auch R. Leonhard, Irrtum I (1907), 175. 37 Vgl. Faust, AT (2014), §  2 Rn.  10: „Die Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont verbürgt damit für beide Parteien ein Höchstmaß an Rechtssicherheit, weil beide Parteien nicht von einer Erklärungsbedeutung überrascht werden können, mit der sie nicht rechnen mussten.“ Zu einer Modifikation der herrschenden Erkennbarkeitsformel des objektiven Empfängerhorizonts, die freilich zur Verwirklichung dieses Ziels noch erforderlich ist, siehe noch §  14. 38  Bading, Willenserklärung (1910), 15; Wedemeyer, Auslegung (1903), 34. Letzterer meint, auf die faktische Beweisnot wegen Unbeweisbarkeit einer auslegungsrelevanten Tatsache könne eine Partei im Vorfeld reagieren, indem sie „nach Möglichkeit unbeweisbare Tatsachen außer Be­ tracht lässt“. Es bleibt selbst dann aber noch bei ungleich verteilten Beweismöglichkeiten die Un­ sicherheit darüber, ob die Gegenseite ggf. den Beweis führen kann und wird. 39  Verkehrsschutz (1972), 413 f. in Fn.  1009. 40  Mißverständnis (1910), 423.

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der bei Entdeckung eines eigenen Irrtums die Verkehrssicherheit gefährdet sah, wenn ein etwaiger Schaden des Entdeckers nicht ersetzt werde, den dieser wegen Enttäuschung seines Vertrauens auf den objektiven Erklärungswert erleidet. Frotz entgegnet auf das von ihm als „Störungsfall“ bezeichnete Entdeckungsszenario: „Der Fall ist so lebensfremd, daß ihm für die ja unter realen Bedingungen zu beurteilende Verkehrssicherheitsfrage kein Beweiswert zukommt. Zunächst erscheint es schwer vor­ stellbar, daß jemand, wenn er die Diskrepanz zwischen dem Gemeinten und dem Erklär­ ten bemerkt und ein Mißverständnis befürchtet, nicht sofort versucht, seine Erklärung im Sinn des Gemeinten noch zu korrigieren, sondern großzügig seine Planung ändert. Er kann im übrigen ein Mißverständnis nur befürchten, wenn der andere keinen Einblick in seine Verhältnisse hat. Fehlt diesem in der Tat ein solcher Einblick, so ist kaum denkbar, daß er dann in der Offerte den nicht erklärten wirklichen Willen entdeckt und eine Eini­ gung im Sinn des nicht erklärten Gemeinten annehmen und beweisen kann. Das Rechts­ problem der nicht erklärten Willensübereinstimmung ist in einem solchen Störungsfall ein rein akademisches Problem.“41

Ein gelungener Versuch, die Schutzlosstellung nachträglichen Vertrauens zu recht­ fertigen, ist dies nicht. Schon die Konstellation des zufälligen kongruenten Dop­pel­ irrtums ist isoliert betrachtet „lebensfremd“ im Sinne von „extrem unwahrschein­ lich“, was Frotz trotzdem zu Recht nicht davon abhält, über die richtige Entschei­ dung eines solchen Falles in seiner „akademischen“ Arbeit nachzudenken. Die Entstehung nachträglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte in einer ohnehin schon lebensfremden Situation mag man für noch etwas lebensfremder halten – dies entbindet jedoch nicht davon, eine dogmatisch schlüssige, vor allem aber interessen­ gerechte Lösung dieses Problems zu präsentieren, das durch den auch von Frotz befürworteten Vorrang der natürlichen Auslegungsmethode überhaupt erst entsteht. Es kann eben vorkommen, dass der Entdecker es vorzieht, seinen Irrtum (zunächst) nicht offenzulegen, nicht anzufechten und sich auf das objektiv Erklärte einzurich­ ten. Und es kann auch vorkommen, dass es der Gegenseite gelingt, die wechselsei­ tigen anfänglichen Verständnisse aufgrund von Umständen nachzuweisen, die sie erst nachträglich erfahren hat. Dem dadurch aufgeworfenen Sachproblem der Ent­ stehung nachträglichen Vertrauens und dessen Bewältigung weicht Frotz mit dem Hinweis auf die Lebensfremdheit nur aus, ohne es einer Lösung zuzuführen. Kein Richter dürfte auf Verständnis hoffen, falls er seine abschlägige Entscheidung ge­ genüber dem Entdecker tatsächlich im Sinne von Frotz damit zu rechtfertigen ver­ suchte, sein objektiv berechtigtes Vertrauen werde vom Recht nicht geschützt, weil der zur Entscheidung stehende Fall doch gar zu unwahrscheinlich und lebensfremd sei und man sich über ihn deshalb keine weiteren Gedanken machen müsse. Lässt man sich gedanklich auf die Zufallsfälle ein – also auf die Fälle, um die es im Streit über die richtige Methode der Auslegung empfangsbedürftiger Willenser­ klärungen allein gehen kann –, dann ist ein Umschwenken auf das objektiv Erklär­ te unter Verzicht auf eine Kontaktaufnahme mit dem Gegner auch keineswegs so 41 

Frotz, Verkehrsschutz (1972), 414 in Fn.  1009.

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fernliegend, wie Frotz meint. Mit einer altruistischen „großzügigen Planungsände­ rung“ muss ein solches Verhalten nichts zu tun haben. Bei frühzeitiger Entdeckung des Irrtums mag der Entdecker von der Aufdeckung absehen, weil ihm das objek­ tiv Erklärte gleichermaßen Recht ist und er durch das Umschwenken mangels bis­ heriger Vertrauensdispositionen keinen Nachteil erleidet. Bei späterer Entdeckung scheut er womöglich den Ersatzanspruch aus §  122 I BGB. Dass der Gegner auf­ grund eigenen Irrtums bislang vielleicht noch gar keinen ersatzfähigen Schaden erlitten hat, kann er schließlich nicht wissen.42 Mancher Entdecker wird sich zu­ dem insbesondere bei auf Dauer angelegten Geschäftsbeziehungen trotz gewisser Nachteile nicht die Blöße geben wollen, fortan als unzuverlässig zu gelten.43 Kann er als Empfänger eines einseitigen Rechtsgeschäfts oder als Erklärender wegen Verfristung seines Anfechtungsrechts von Rechts wegen aus seinem Irrtum gar nichts (mehr) herleiten, dann wird ihm eine Kontaktaufnahme als ein gänzlich sinnloses Unterfangen erscheinen, wenn er mit Kulanz des Gegners nicht rechnen kann. Theoretisch vorstellbar ist auch, dass der Entdecker sich seines ursprüngli­ chen Fehlverständnisses aufgrund des zwischenzeitlich verstrichenen Zeitraums gar nicht mehr erinnert und deshalb glaubt, von Anfang an von dem Verständnis ausgegangen zu sein, das ihm jetzt zu Recht als objektiv richtig erscheint. Wurde beispielsweise der mit dem Vertragsschluss betraute Organwalter einer juristischen Person (Vorstand, Geschäftsführer etc.) zwischenzeitlich ausgetauscht, so wird der Nachfolger den objektiv erklärten Sinn wie selbstverständlich für maßgeblich hal­ ten, wenn ihm keine Informationen über das fehlsame innere Verständnis seines Vorgängers zur Verfügung stehen, und keinen Anlass zur Kontaktaufnahme mit dem Gegner sehen.44 Ein deutliches Indiz für die Relevanz des Entdeckungsszenarios und des nach­ träglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte sind auch die in dieser Hinsicht be­ merkenswert inkonsequenten weiteren Ausführungen von Frotz nur unwesentlich später. Bei der Behandlung der nicht viel lebensnäheren Konstellation des inkon­ gruenten Doppelirrtums stellt er sich noch einmal die Frage, ob ein Vertrag über das objektiv Erklärte zustande kommt, obwohl beide Seiten etwas davon Abweichendes meinten und verstanden haben. Hier nun bildet er selbst den „Störfall“, dass Ver­ tragspartner D nachträglich seinen Fehler erkennt und am objektiv Erklärten fest­ halten will. Frotz kommt zum Ergebnis, eine „Vertrauensschutzregelung“45 in Form einer „Korrekturregelung des Gesetzgebers zum Schutz des D“, die er in §§  155, 119, 122 BGB verankert sieht46, sei „unumgänglich“47, und macht sich da­ 42 Vgl. Seifert, Falsa demonstratio (1929), 86 f. Zur Abhängigkeit der Entstehung ersatzfähiger Vertrauensschäden von der Irrtumsentdeckung siehe noch §  9 II 3 b. 43 Vgl. Seifert, Falsa demonstratio (1929), 87. 44  Zum von den Doppelirrtumsausnahmen ausgehenden kostensteigernden Anreiz zur Siche­ rung von Informationen über das anfängliche Verständnis bereits unter I 3 a a. E. 45  Frotz, Verkehrsschutz (1972), 421. 46  Frotz, Verkehrsschutz (1972), 422 in Fn.  1018. 47  Frotz, Verkehrsschutz (1972), 421 f.

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durch den kurz zuvor noch als lebensfremd zurückgewiesenen Gedankengang zu eigen. b) Schutzlosstellung wegen selbstverschuldeter Orientierungslosigkeit infolge der Aufdeckung des eigenen Irrtums? Die Konstellation des Doppelirrtums wirkt nicht zuletzt deshalb etwas praxisfern und lebensfremd, weil sich seine Voraussetzungen im Streitfall von demjenigen, der sich darauf berufen will, praktisch nicht beweisen lassen.48 Eine Enttäuschung des nachträglich entstandenen Vertrauens des Entdeckers scheitert dann schon daran, dass der Gegner den dafür erforderlichen Nachweis des Doppelirrtums nicht führen kann. Dazu wird er praktisch meist nur in der Lage sein, wenn ihm der Entdecker seinen Irrtum offenlegt. Ist der Betroffene dann nicht selbst daran schuld, dass er dem Gegner das Leben derart leicht macht? Als eine taktische Erwägung, die einem Anwalt zum Vorwurf gereichen könnte, der dem Gegner (bei unterstellter Geltung der natürlichen Methode) ohne Not das anfängliche Verständnis seines Mandanten offenbart, hätte dieser Gedankengang sicherlich seine Berechtigung. Als eine teleologische Erwägung zur Rechtfertigung der Schutzlosstellung nachträglichen Vertrauens ist er dagegen verfehlt. Die recht­ liche Bewertung eines Interesses kann nicht davon abhängen, ob es dem Interessen­ träger möglich ist, von der Rechtsordnung zu seinem Nachteil gewertete Umstände zu verheimlichen. Es kann von bloßen Zufälligkeiten abhängen, ob dem Gegner nicht doch ein Beweismittel (z. B. ein Zeuge, dem der Entdecker seinen Irrtum of­ fenbart hat) zur Verfügung steht. Angesichts der Erstaunlichkeit des Zusammen­ treffens zweier (noch dazu vielleicht gleichsinniger) Irrtümer dürfte es einem natür­ lichen Impuls entsprechen, dem Gegner vom eigenen Irrtum zu berichten, nachdem dieser seinen Irrtum offengelegt hat. Das Recht darf nicht einseitig denjenigen be­ lohnen, der seine Zunge besser im Zaum halten kann. Wer die natürliche Methode oder auch die Unwirksamkeit bei inkongruentem Doppelirrtum so zu rechtfertigen versuchte, würde den diesen Regeln ohnehin innewohnenden Anreiz zur Geheim­ niskrämerei ohne erkennbaren Gerechtigkeitsgehalt zum Prinzip erheben. c) Verlust des faktischen Orientierungswerts bei Entdeckung des eigenen Irrtums – Verletzung einer Obliegenheit zum Selbstschutz durch Nachfrage? Ein sachlicher Grund für die Schutzlosstellung nachträglichen Vertrauens liegt auch nicht darin, dass mit der Entdeckung des eigenen Irrtums das objektiv Erklär­ te seinen tatsächlichen Orientierungswert einbüßt und als Vertrauensgrundlage 48 Vgl. Frotz, Verkehrsschutz (1972), 414 in Fn.  1009 (Wortlaut hier im Text auf S.  132 wieder­ gegeben), der auch die Unwahrscheinlichkeit des Gelingens der Beweisführung betont.

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nicht mehr taugt. Für den Entdecker eines Irrtums stellt sich nach der Entdeckung immer noch dieselbe Frage, die er sich bereits bei Vornahme des Rechtsgeschäfts stellen musste: Was meinte der Erklärende bzw. wie wird der Empfänger die Erklä­ rung auffassen? Abstrakt unterscheidet sich die Lage des Entdeckers von derjenigen eines von Anfang an sorgfältigen Beteiligten ausschließlich dadurch, dass der Ent­ decker zusätzlich darum weiß, selbst einmal geirrt zu haben. Die Kenntnis von der eigenen Fehlinterpretation gibt ihm aber keinen Anlass, das objektiv Erklärte als relevanten Orientierungspunkt für entwertet zu halten, weil etwa nun nicht mehr oder zumindest mit geringerer Sicherheit damit zu rechnen sei, dass das subjektive Verständnis der Gegenseite dem Inhalt des objektiv Erklärten entspricht. Die Ent­ deckung des eigenen Irrtums macht den Irrtum der Gegenseite um keinen Deut wahrscheinlicher, weil der eigene Verstoß gegen Standards richtigen rechtsge­ schäftlichen Kommunizierens keine Rückschlüsse auf die Verletzung dieser Stan­ dards durch die Gegenseite erlaubt. Wer sich durch die im Rahmen der normativen Auslegung relevanten Umstände nachträglich zu einem besseren Verständnis leiten lässt, kann und muss davon ausgehen, dass die Gegenseite dies bereits von Anfang an getan hat. Kurz: Die Entdeckung des eigenen Irrtums macht den fremden Irrtum nicht erkennbar.49 Die Schutzlosstellung des Entdeckers lässt sich daher auch nicht damit begrün­ den, der Entdecker habe „blind“ auf das objektiv Erklärte vertraut und dadurch eine Obliegenheit zum Selbstschutz verletzt, der er durch Nachfrage beim Gegner hätte nachkommen müssen, ob dieser sich ebenfalls geirrt habe.50 Denn das Vertrauen auf das objektiv Erklärte wird ihm auch beim einseitigen Irrtum des Gegners nicht zum Vorwurf gemacht, ohne dass der eigene Irrtum an der Vertrauenswürdigkeit des objektiv Erklärten etwas ändert. Er muss mit einem Irrtum der Gegenseite gerade nicht rechnen. Die Verletzung einer Obliegenheit zur Nachfrage könnte die gänzli­ che Schutzlosstellung nachträglichen Vertrauens ohnehin nicht rechtfertigen, da für nachteilige Konsequenzen aus der Verletzung dieser Obliegenheit zumindest zu ver­ langen wäre, dass eine Nachfrage bei der Gegenseite zeitnah möglich und erfolg­ reich gewesen wäre.51 Danach fragt die natürliche Auslegungsmethode aber nicht. 49 Vgl. Oertmann, AcP 117 (1919), 275 (294); F. Leonhard, AcP 120 (1922), 14 (108, 109) und Seifert, Falsa demonstratio (1929), 143 f. jeweils zum kongruenten Doppelirrtum; Frotz, Verkehrs­ schutz (1972), 422 in Fn.  1018 zum inkongruenten Doppelirrtum. 50 So auch Seifert, Falsa demonstratio (1929), 140 am Beispiel des Haakjöringsköd-Falls: „Man wende nicht ein, daß Y sich den Schaden selbst zuzuschreiben habe! Er hätte ja bei X anfra­ gen können, ob er nicht statt des bestellten Haifischfleisches Walfischfleisch liefern wolle! X wür­ de dies dann freudig bejaht haben! (…) Und dann mußte er diese Anfrage auch von vornherein für zwecklos halten. Denn wie konnte er denken, daß auch X Walfischfleisch liefern wollte! Er mußte also ohne weiteres damit rechnen, daß er doch einen abschlägigen Bescheid erhalten würde, wenn er um Walfischfleisch statt des bestellten Haakjöringsköd bat.“ 51 Vgl. Seifert, Falsa demonstratio (1929), 140 mit dem Hinweis, dass es auch an den techni­ schen Möglichkeiten für eine Anfrage fehlen kann. Zum Aspekt des Scheiterns der Nachfrage bereits oben unter I 3 c.

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Anders ist die Schutzwürdigkeit nachträglichen Vertrauens nur zu beurteilen, wenn der Entdecker zwischenzeitlich Kenntnis von weiteren Umständen erhalten hat, die auf einen Irrtum der Gegenseite schließen lassen und von ihm ursprünglich gar nicht zu berücksichtigen waren. Doch dann wären es diese weiteren Umstände, die das objektiv Erklärte als Orientierungsgrundlage entwerten, und nicht die damit in keinem inneren Zusammenhang stehende Entdeckung des eigenen Irrtums. Der Entwertung des ursprünglich objektiv Erklärten aufgrund neuer Informationen über den Irrtum der Gegenseite wird bei der Ausgestaltung des Vertrauensschutzes denn auch an ganz anderer Stelle bereits in ausreichender Weise Rechnung getra­ gen, ohne dass zu diesem Zweck die normative Orientierungsfunktion des objektiv Erklärten gegenüber einem Irrenden komplett über Bord geworfen werden müsste. §  122 II BGB schließt einen Ersatzanspruch aus, wenn der Empfänger den Grund der Anfechtbarkeit kannte oder kennen musste. Dies erfasst auch die Konstellation, in der der Empfänger nachträglich von Umständen Kenntnis erlangt, die auf einen Willensmangel des Erklärenden hindeuten.52 Die Entwertung des objektiv Erklär­ ten als Vertrauensgrundlage in den Doppelirrtumsfällen erscheint vor dem Hinter­ grund dieser Norm sogar besonders zweifelhaft. Wenn der Empfänger seinen eige­ nen Irrtum erkennt, übersieht er allein deshalb keineswegs den Willensmangel des Erklärenden fahrlässig, wird aber durch die Doppelirrtumsausnahmen hinsichtlich des Schutzes seines Vertrauens auf das objektiv Erklärte im Ergebnis genauso be­ handelt wie ein fahrlässiger Akteur, der den Irrtum seines Gegners kennen musste. d) Verhinderung einer unbilligen Abwälzung von Folgen der anfänglichen Fehldeutung? Ein anderer Grund für die Nichtgewährung von Vertrauensschutz bei nachträgli­ chem Vertrauen könnte das Interesse des Haftenden sein, nicht im Falle der Anfech­ tung auf dem Umweg über §  122 I BGB Nachteile tragen zu müssen, die auf dem anfänglichen Fehlverständnis der Gegenseite beruhen. Ein solcher Nachteil ist jedoch bei sachgerechter Anwendung des Gesetzes nicht gegeben; im Gegenteil: ein Irrender, der seinen Irrtum erst nach einiger Zeit ent­ deckt, kann sein Vertrauen auf den objektiven Erklärungswert frühestens ab dem Zeitpunkt der Entdeckung betätigen. Der ihm dann (im Falle einer Anfechtung) zu ersetzende Vertrauensschaden wird meist geringer ausfallen, als wenn er von An­ fang an von der normativ richtigen Bedeutung ausgegangen wäre und diesen Inhalt seinem Handeln zugrundegelegt hätte. Er hatte dann nämlich weniger Zeit für ent­ sprechende schadensbegründende Vertrauensdispositionen. Der Vertrauensscha­ 52  Brehmer, Wille (1992), 162 f.; Lüderitz, Auslegung (1966), 304 in Fn.  140; Oertmann, AcP 117 (1919), 275 (294 f.) und die Nachw. in §  3 Fn.  232. A. A. Jahr, JuS 1989, 249 (255), ohne Diffe­ renzierung zwischen anfänglichen und nachträglichen Umständen: „§  122 II gilt daher nicht für die Fälle von §  119 I, §  120.“

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den kann zwar umgekehrt auch einmal höher ausfallen, weil sich bis zur Entde­ ckung des Irrtums die Konditionen für Vertrauensinvestitionen verschlechtert ha­ ben oder kurzfristiges Nacharbeiten (z.  B. zur Einhaltung eines Termins) aufwendiger und kostenintensiver ist. Doch das würde den auf Schadensersatz in Anspruch Genommenen nicht belasten, da der Mehrbetrag vollständig durch den „zu spät“ Vertrauenden zu verantworten und nach §  254 I BGB in Abzug zu brin­ gen wäre. Die anfängliche Fehldeutung des erst nachträglich Vertrauenden kann somit im Ergebnis die Ersatzpflicht der Gegenseite nur mindern, aber nie erhöhen. Im Grun­ de muss der Haftende dem erst nachträglich Vertrauenden für seinen anfänglichen Irrtum sogar noch dankbar sein. Ein Argument für die Schlechterstellung nachträg­ lichen Vertrauens lässt sich daraus nicht gewinnen. e) Vermeidung der Frustration irrtumsbedingter Vertrauensinvestitionen durch die natürliche Methode? Es bleibt noch ein ökonomischer Grund zu erwägen, der prima facie geeignet er­ scheint, den mittelbaren Zwang zur gegenseitigen nachträglichen Kommunikation zu stützen, der von der natürlichen Methode ausgeht. Ein Irrtum geht gewöhnlich mit einer Frustration der Vertrauensinvestitionen der Beteiligten einher. Bei einem einseitigen Irrtum sind entweder die Vertrauensinves­ titionen des Irrenden betroffen, der zunächst noch auf der Basis seiner Fehlinterpre­ tation investiert hatte und diese Investitionen bei Anfechtungsverzicht und Um­ schwenken auf das objektiv Erklärte vor sich selbst „abschreiben“ muss. Oder es handelt sich um die Vertrauensinvestitionen der Gegenseite, die bei erfolgter An­ fechtung nicht das erhält, wovon sie ausgegangen ist, und deren Vertrauensschaden auf den Irrenden verlagert wird (§  122 I BGB). Die Enttäuschung des Vertrauens zumindest einer Seite ist unabwendbar. Beim inkongruenten Doppelirrtum stehen sich sogar auf beiden Seiten verlorene Vertrauensinvestitionen gegenüber, da beide vom objektiv Erklärten in unterschiedliche Richtung abgewichen sind und eine (ge­ setzliche) Lösung nicht in Betracht kommt, die einen Beteiligten auf die Linie des anderen zwingt. Die Regelungsaufgabe in all diesen Fällen ist von vornherein auf Verteilung des unabwendbaren „Frustrationsschadens“ beschränkt. Beim kongruenten Doppelirrtum ist dies anders. Hier haben beide Seiten – wenn auch normativ betrachtet zu Unrecht – zunächst auf dasselbe vertraut und in diesel­ be Richtung investiert. Erst durch das Umschwenken einer Seite drohen Vertrau­ens­ investitionen frustriert zu werden, obwohl die subjektiv ebenfalls erklärungstreue Gegenseite auf derselben Basis ihr Vertrauen betätigt hat und daher ebenfalls ein Interesse daran hat, den Sinn ihrer Investitionen zu erhalten. So betrachtet haben beide Seiten ein Interesse, auf der bisherigen, von ihrem inneren Rechtsfolgewillen getragenen Grundlage fortfahren zu können. Das kongruente Verständnis als rechts­

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§  6 Der gebotene Schutz nachträglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte

maßgeblichen Inhalt der Erklärung anzusehen hat den wünschenswerten Effekt, eine wirtschaftlich unsinnige Frustration der bisherigen beidseitigen Vertrauens­ investi­tionen zu verhindern. Zum Erreichen dieses Ziels wäre es sinnvoll, die Par­ teien nach Entdeckung des Irrtums zur Kontaktaufnahme anzuhalten, um heraus­ zufinden, ob sie – wenn auch irrtumsbedingt – bislang auf dasselbe vertraut haben. Wie bereits herausgearbeitet, setzt die natürliche Auslegungsmethode diesen An­ reiz: Indem dem Entdecker des Irrtums das objektiv Erklärte als Orientierungs­ grundlage entzogen wird, wird er zur Kontaktaufnahme angehalten, wenn er nicht die Konsequenzen einer Enttäuschung seines nachträglichen Vertrauens tragen will. Die vorangegangenen Ausführungen haben jedoch bereits erkennen lassen, dass sich das isoliert betrachtet sinnvolle Anliegen (Erhalt der beiderseitigen Ver­t rauens­ investitionen) mit dem Mittel der natürlichen Auslegungsmethode nicht ohne emp­ findliche Beeinträchtigung anderer Interessen der Parteien fördern lässt. Entgegen der Ansicht der herrschenden Auffassung, die überhaupt keine anerkennenswerten Interessen an einer objektiven Auslegung bei zufällig übereinstimmendem Ver­ ständnis erkennen will, liegt in Wirklichkeit ein mit Wertungsargumenten zu ent­ scheidender Konflikt zweier miteinander unvereinbarer Schutzanliegen vor. Poin­ tiert formuliert lässt sich aus diesem Blickwinkel auch sagen: Durch die natürliche Auslegungsmethode wird der Schutz nachträglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte zugunsten eines Schutzes des anfänglichen Vertrauens auf den irrtumsbe­ hafteten Geschäftsinhalt zurückgestellt.53 Die Entscheidung dieses Konflikts zugunsten des Schutzes des anfänglichen Ver­ trauens auf den irrtumsbehafteten Geschäftsinhalt überzeugt angesichts der damit einhergehenden negativen Effekte nicht. Kongruente Doppelirrtümer als extreme Ausnahmekonstellationen können es schwerlich rechtfertigen, um der vagen Chan­ ce eines gleichsinnigen Irrtums willen bei jedem einseitigen Irrtum dem Entdecker die Last zur Nachfrage mit allen damit verbundenen Problemen aufzubürden. Es ist auch nicht ersichtlich, warum das Ziel, die irrtumsbedingten anfänglichen Vertrauensinvestitionen zu erhalten, überhaupt einer zusätzlichen Absicherung durch gesetzliche Anreize zur Kontaktaufnahme bedarf. Nichts hält den Entdecker bei Maßgeblichkeit des objektiv Erklärten davon ab, nach Entdeckung des eigenen 53 Vgl. Zemen, JBl 1986, 756 (766), der zur Rechtfertigung des falsa-Satzes ausdrücklich an­ bringt, dass aus Sicht des nachträglich Vertrauenden „prinzipiell schutzwürdiges [nachträgliches, Verf.] Vertrauen auf den objektiven Erklärungswert (das zu Dispositionen geführt haben mag) seiner eigenen Erklärung oder jener des anderes Vertragsteiles durch das Vertrauen des anderen Vertragsteiles auf das Bestehen des übereinstimmenden Parteiwillens überkompensiert wird und im Ergebnis an Bedeutung für die Frage des Vertragsschlusses verliert, d. h. nicht ein Abgehen vom inneren Konsens bewirken kann“. Auch wenn Zemen an dieser Stelle allein gegen eine Be­ rücksichtigung des nachträglichen Vertrauens innerhalb der Auslegung argumentiert und nicht gegen die Schutzwürdigkeit nachträglichen Vertrauens „an sich“, das er auf anderem Weg schüt­ zen möchte (dazu §  7), vermag seine Argumentation schon im Ansatz nicht zu überzeugen. Es ist nicht einzusehen, wie bei wertender Betrachtung ein normativ nicht berechtigtes Vertrauen (auf eine Willensübereinstimmung) das berechtigte Vertrauen des Gegners auf den objektiven Erklä­ rungswert „überkompensieren“ kann (dazu noch eingehend §  9 I 3 a. E.).

I. Der gebotene Schutz nachträglichen Vertrauens bei objektiver Eindeutigkeit

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Irrtums zum Gegner Kontakt aufzunehmen um herauszufinden, ob dieser zufällig einem kongruenten Irrtum unterlag. Sollte es sich dabei trotz der geringen ex-an­ te-Wahrscheinlichkeit eines kongruenten Doppelirrtums einmal um eine wirt­ schaftlich vernünftige Vorgehensweise handeln, dann wird der Entdecker so unab­ hängig von dem angelegten Auslegungsmaßstab vorgehen, weil er als wirtschaftlich vernünftiger Akteur an der Erhaltung der im Falle des Umschwenkens frustrierten Vertrauensinvestitionen interessiert ist. Die Parteien können und werden dann durch eine weitere Vereinbarung das Rechtsgeschäft immer noch im Sinne des übereinstimmend Gewollten ändern. Die natürliche Methode „bestraft“ indes auch Entdecker, denen entweder eine solche nachträgliche Kontaktaufnahme und Koope­ ration aus tatsächlichen Gründen nicht möglich ist oder denen sie aufgrund der ge­ ringen Wahrscheinlichkeit ex ante nicht sinnvoll erscheint und die es deshalb vor­ ziehen, auf das objektiv Erklärte zu vertrauen. Eine Sanktion wäre aus wirtschaftlicher Sicht allenfalls noch zu erwägen, weil der Entdecker bei seiner ex-ante-Kalkulation natürlich immer nur die Bewahrung der eigenen Vertrauensdispositionen im Blick hat, nicht aber die der Gegenseite. Doch bei dieser Ratio würde der Entdecker mittels der natürlichen Auslegungsme­ thode zum Interessenwahrer der Gegenseite eingesetzt. Hierfür besteht unter Ver­ haltenssteuerungsgesichtspunkten kein Anlass, da die Gegenseite sich durch sorg­ fältige Auslegung selbst vor irriger Vertrauensbetätigung hätte schützen können und den Entdecker die von ihm typischerweise weder beeinflussbaren noch erkenn­ baren Vertrauensdispositionen der Gegenseite auch ansonsten nicht zu interessieren haben. Mit anderen Worten: Der Entdecker ist schon dadurch „bestraft“ genug, dass er beim nachfragelosen Umschwenken auf das objektiv Erklärte seine anfänglichen irrtumsgeleiteten Vertrauensinvestitionen verliert. Jeder darüber hinausgehende Verhaltensanreiz zur Kontaktaufnahme ist unter Verhaltenssteuerungsgesichts­ punkten exzessiv. Letztlich würde sich die Rechtsgeschäftslehre auch in einen Wertungswider­ spruch verstricken, wenn sie den Konflikt zwischen anfänglichem irrigem und nachträglichem berechtigtem Vertrauen zugunsten des ersteren entschiede. Wäre die Verhinderung der Entstehung frustrierter Vertrauensinvestitionen auf irrtums­ behafteter Grundlage tatsächlich das vorrangige Ziel, dann bliebe unerklärlich, wa­ rum dies nicht bereits von Anfang an gilt. Es wäre dann vielmehr folgerichtig, auch das anfängliche Vertrauen auf das objektiv Erklärte schutzlos zu stellen, weil der dadurch mittelbar ausgeübte Zwang zur Aufklärung des tatsächlichen Verständnis­ ses der Gegenseite ex ante mit höherer Wahrscheinlichkeit gewährleistet, dass sich die Beteiligten wirklich von Anfang an richtig verstehen und nicht aneinander vor­ bei investieren. Das hierfür denkbare Instrument der Nichtigkeit der Erklärung bei anfänglich nicht übereinstimmendem tatsächlichem Verständnis hat das Gesetz ­jedoch wohlweislich nicht ergriffen, weil die größtmögliche Vermeidung von Miss­ verständnissen mittels der Obliegenheit zur Nachfrage nur um den Preis allgemei­ ner Rechtsunsicherheit und ex ante ineffizienter Verständigungsbemühungen er­

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§  6 Der gebotene Schutz nachträglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte

kauft werden könnte.54 Eine „überoptimale“ Sicherstellung eines tatsächlich übereinstimmenden Verständnisses zur Vermeidung von frustrierten Vertrauensin­ vestitionen ist dann aber nachträglich genauso wenig angebracht wie anfänglich.

II. Der gebotene Schutz nachträglichen Vertrauens bei objektiver Unbestimmtheit Die Frage, ob der Schutz nachträglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte gebo­ ten ist, stellt sich nicht nur bei objektiv eindeutigen, sondern auch bei objektiv unbe­ stimmten Erklärungen, wenngleich in dieser Konstellation die Aspekte des Vertrau­ ensschutzes und der Orientierungsfunktion nicht auf Anhieb ins Auge springen. Auch diesbezüglich soll zunächst der Schutz anfänglichen Vertrauens auf das ob­ jektiv Erklärte betrachtet werden (unter 1. und 2.), um vor diesem Hintergrund die Notwendigkeit eines Schutzes des nachträglichen Vertrauens auf das objektiv Er­ klärte bei objektiv unbestimmten Willenserklärungen zu belegen (unter 3.).

1. Die vertrauensschützende Funktion der Unwirksamkeit objektiv unbestimmter Willenserklärungen bei anfänglichem Empfängervertrauen Auch die Unwirksamkeit objektiv unbestimmter Erklärungen lässt sich als eine Vertrauensschutzvorkehrung des Gesetzes interpretieren, die vergleichbar der Gel­ tung des objektiv eindeutig Erklärten den Beteiligten die notwendige Orientierung im Rechtsverkehr ermöglicht. Dies sei hier zunächst am insoweit unproblemati­ schen Fall des anfänglichen Empfängervertrauens verdeutlicht. Auch eine Willenserklärung, die unter Berücksichtigung aller Umstände des Fal­ les einen eindeutigen Willen des Erklärenden nicht mit hinreichender Sicherheit erkennen lässt, wirft den mehrfach angesprochenen Interessenkonflikt zwischen den Beteiligten über das rechtsmaßgebliche Verständnis der Erklärung auf, der nicht einseitig im Sinne des vom Erklärenden Gewollten oder im Sinne des vom Empfänger Aufgefassten entschieden werden darf.55 Die Unbestimmtheit der Er­ klärung bringt es mit sich, dass dieser Interessenkonflikt sich auch nicht auflösen lässt, indem die Erklärung zunächst (ggf. anfechtbar) in dem Sinne positiv gilt, der ihr bei objektiver Auslegung zu entnehmen war – einen solchen geltungsfähigen objektiven Sinn gibt es bei objektiv unbestimmten Erklärungen prämissengemäß nicht. Weil das objektiv Erklärte keine Sicherheit über die eintretende Rechtsfolge verschaffen kann und deshalb als Orientierungsgrundlage untauglich ist, muss das 54 

Dazu bereits unter 1. Seifert, Falsa demonstratio (1929), 131.

55 Vgl.

II. Der gebotene Schutz nachträglichen Vertrauens bei objektiver Unbestimmtheit

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Gesetz einspringen und für Klarheit sorgen, indem es der Willenserklärung unter diesen Umständen die Wirksamkeit versagt. Im Grunde bedient sich aber auch diese Lösung mittelbar des objektiv Erklärten in seiner Orientierungsfunktion für die Beteiligten, nur diesmal in dem bereits an­ gesprochenen56 negativen Sinne („es gilt nichts, was nicht [eindeutig] erklärt wur­ de“). Die Unwirksamkeit der Erklärung kann sich der Empfänger mit dem ihm zur Verfügung stehenden Bestand an Auslegungsmitteln jederzeit erschließen, ohne zur Beurteilung seiner Rechtslage erfahren und beweisen zu müssen, was der Erklä­ rende tatsächlich gemeint hat. Erkennt er die Unbestimmtheit der Erklärung sofort, dann kann er die Erklärung ignorieren57, weil der Erklärende daraus keinerlei Rechtsfolgen wird herleiten können. Sein anfängliches Vertrauen auf die Unwirk­ samkeit der Erklärung wird geschützt, ohne dass es noch einer Nachfrage beim Erklärenden oder gar einer Ablehnung der Erklärung bedarf.58 Insofern enthält die Aussage, die unbestimmte Erklärung dürfe unwirksam sein, weil schutzwürdiges Vertrauen des Empfängers auf einen bestimmten Erklärungssinn ausgeschlossen 56 

Unter I 1 b a. E. Titze, Mißverständnis (1910), 189 in Fn.  34. 58  A. A. möglicherweise Rüthers/Stadler, AT (2014), §   18 Rn.  14 und Hübner, AT (1996), Rn.  752, die bei Erläuterung der Auslegungsgrundsätze lehren, den Empfänger treffe bei objekti­ ver Mehrdeutigkeit eine Pflicht zur Nachfrage. Ähnlich Palm, in: Erman (2008), §  133 Rn.  18; Looschelders, in: NK‑BGB (2012), §  133 Rn.  106 (Zumutbarkeit einer Nachfrage) und Neuner, FS Canaris I (2007), 901 (908 f.). Hübner hält a. a. O. sogar eine Ablehnung für erforderlich. Das alles ist wenigstens missverständlich und unklar, weil diese im Kontext der Auslegung getroffenen Aus­ sagen offen lassen, welche Rechtsfolgen bei Verletzung der angeblichen „Pflichten“ eintreten. Das Unterlassen der Nachfrage oder einer Ablehnung unbestimmter Erklärungen kann jedenfalls nicht zur Folge haben, dass dann die Erklärung so gilt, wie sie gemeint war, oder das Wissen, das durch eine „pflichtgemäße“ Nachfrage hätte erlangt werden können, zum Empfängerhorizont zu rechnen ist (vgl. Rhode, Willenserklärung [1938], 44). Der Empfänger darf zwar nicht ohne Nachfrage auf eine der Auslegungsvarianten vertrauen (vgl. Singer, in: Staudinger [2012], §  133 Rn.  56) und ihn trifft in diesem Sinne eine Obliegenheit zur Nachfrage, wenn er sich eine künftige eindeutige Vertrauensgrundlage verschaffen möchte. Will er dagegen gar nicht auf einen bestimmten Sinn vertrauen, muss er auch nichts tun, um nachteilige Auslegungsfolgen zu verhindern. Schließlich hat der Erklärende seine aus dem Zugangserfordernis folgende Obliegenheit verletzt, den Empfän­ ger durch eine eindeutige Erklärung über den Inhalt seines Rechtsfolgewillens zu informieren. Eine andere Frage, die mit Auslegung und Empfängerhorizont nur sehr mittelbar etwas zu tun hat, lautet, ob den Empfänger eine schadensersatzbewehrte Pflicht zur Kontaktaufnahme mit dem Erklärenden treffen kann, wenn er die Mehrdeutigkeit entdeckt (hierzu Hildebrandt, Erklärungs­ haftung [1930], 210 f.; Rhode, a. a. O.). Eine solche Pflicht wäre ebenfalls keine Nachfrage-, son­ dern eine „Anzeigepflicht“ (Hildebrandt, a. a. O.) des Empfängers, der den Erklärenden auf die Undeutlichkeit seiner Erklärung aufmerksam machen müsste. Eine generelle Hinweispflicht die­ ses Inhalts ist nicht anzuerkennen (a. A. Hildebrandt, a. a. O.). Warum sollte etwa ein Mieter seinen mehrdeutig kündigenden Vermieter auf die Mehrdeutigkeit hinweisen müssen? Die Nachlässigkeit des Erklärenden kann den Empfänger grundsätzlich nicht zur „Aktivität“ wider die eigenen Inte­ ressen verpflichten. Eine Hinweispflicht kommt nur ausnahmsweise innerhalb von Sonderbezie­ hungen in Betracht. Die Anerkennung einer Hinweispflicht ist im Hinblick auf die Orientierungs­ funktion der Unwirksamkeit bei objektiver Unbestimmtheit unbedenklich, da die Pflicht durch die erkennbare Unbestimmtheit der Erklärung ausgelöst wird. 57 Vgl.

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§  6 Der gebotene Schutz nachträglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte

ist59, vertrauenstheoretisch nur die halbe Wahrheit. Sie muss positiv gewendet auch unwirksam sein, um die Grundlage für den gebotenen Schutz von Vertrauen auf die Unbestimmtheit und Unwirksamkeit zu legen.

2. Schutz anfänglichen Erklärendenvertrauens auf die Unwirksamkeit? Ob bei unbestimmten Erklärungen das anfängliche Erklärendenvertrauen auf die Unwirksamkeit der Erklärung vom Recht geschützt ist, ist sehr umstritten (dazu unter a). Eine Analyse der Hintergründe dieser Streitfrage ergibt jedoch, dass dar­ aus keinesfalls die Schlussfolgerung gezogen werden kann, nachträglich entstehen­ des Erklärendenvertrauen auf die Unwirksamkeit sei nicht schutzwürdig (dazu un­ ter b). a) Der Streit über den Schutz des anfänglichen Erklärendenvertrauens auf die Unwirksamkeit Nach den Maßstäben der normativen Auslegung berechtigtes anfängliches Erklä­ rendenvertrauen auf die Unbestimmtheit kann nur vorliegen, wenn der Erklärende bewusst eine objektiv60 unbestimmte Erklärung in die Welt gesetzt hat im Vertrauen darauf, sich später ggf. auf die Unwirksamkeit der Erklärung berufen zu können. Ein solches Verhalten spekuliert ersichtlich auf die Unaufmerksamkeit des Empfän­ gers, dem die Widersprüchlichkeit oder Mehrdeutigkeit möglicherweise entgeht und der sich deshalb im Sinne einer der Deutungsvarianten für gebunden hält. Für den Erklärenden entsteht dadurch faktisch eine günstige Wahlmöglichkeit: Er kann entweder auf Basis der vom Empfänger irrtumsbedingt für eindeutig und verbind­ lich gehaltenen Rechtslage kooperieren oder sich – sei es, weil er es von Anfang an vorhatte61, oder weil es ihm ex post günstiger erscheint – jeder Bindung unter Hin­ 59 

Babich, Einfluß (1934), 24. Von der im Text behandelten Frage klar zu unterscheiden ist die nahestehende Konstella­tion, in der der Erklärende die objektiv eindeutige Erklärung lediglich irrtümlich für unbestimmt hält. Ein etwaiges Vertrauen auf die Unwirksamkeit ist dann aufgrund des eindeutigen objektiven Er­ klärungswerts schon „per se“ nicht schutzwürdig. Fraglich könnte allein sein, ob der Erklärende wegen Inhaltsirrtums bzw. wohl sogar fehlenden Erklärungsbewusstseins anfechten kann, weil er nicht davon ausging eine Erklärung eindeutigen und damit rechtsverbindlichen Inhalts abzugeben. Vgl. Coing, in: Staudinger (1957), §  116 Rn.  3; Hefermehl, in: Soergel (1999), §  116 Rn.  6; Feuerborn, in: NK‑BGB (2012), §  116 Rn.  6; Wendtland, in: Bamberger/Roth (2012), §  116 Rn.  5; Armbrüster, in: MünchKommBGB (2015), §  116 Rn.  5; Bork, AT (2016), Rn.  799, die allesamt auf die Frage der Anfechtbarkeit nicht eingehen. Lee, Voraussetzungen (1999), 30 in Fn.  155 will §  116 S.  1 BGB anwenden, der freilich nicht ganz passt, da der Erklärende nicht wie bei der Mentalreserva­ tion davon ausgeht, dem Empfänger etwas zu verheimlichen, sondern darauf spekuliert, der Emp­ fänger werde die für ihn erkennbare Unbestimmtheit übersehen. 61  Singer, in: Staudinger (2012), §  116 Rn.  9; Flume, AT II (1992), 304. 60 

II. Der gebotene Schutz nachträglichen Vertrauens bei objektiver Unbestimmtheit

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weis auf die Unwirksamkeit der Erklärung entziehen.62 Der Erklärende kann ferner im Sinn haben, die Mehrdeutigkeit dazu auszunutzen, den von der Auslegungsvari­ ante x ausgehenden Empfänger dazu zu bewegen, angesichts der drohenden Alter­ native der Unwirksamkeit des Geschäfts und unter dem Druck bereits „versenkter Kosten“ die für den Erklärenden günstigere Variante y ggf. im Vergleichswege hin­ zunehmen und sich dadurch faktisch eine Wahlmöglichkeit unter den Auslegungs­ varianten zu verschaffen.63 Solch bewusst treuwidriges Verhalten des Erklärenden wollen manche Autoren bekämpfen, indem die Erklärung ausnahmsweise im Sinne der vom Empfänger auf­ gefassten Bedeutung gilt64 – was vertrauenstheoretisch eine Schutzlosstellung des Vertrauens des Erklärenden auf das objektiv Erklärte bedeutet, da er dann die ei­ gentlich aus der objektiven Unbestimmtheit folgende Unwirksamkeit, von der er ausging, nicht mehr geltend machen kann. Die verbreitete Herleitung dieses Ergeb­ nisses aus §  116 S.  1 BGB65 hilft zwar streng genommen nur über den fehlenden Willen des Erklärenden hinweg, nicht aber auch über das Fehlen eines eindeutigen äußeren Erklärungstatbestands.66 Der Sache nach geht es bei dieser Ausnahme aber um die Bekämpfung arglistigen, rechtsmissbräuchlichen Verhaltens67, wie es 62 Vgl. Wendtland, in: Bamberger/Roth (2012), §   116 Rn.  5; Hefermehl, in: Soergel (1999), §  116 Rn.  6; Lee, Voraussetzungen (1999), 39 in Fn.  155. 63 Vgl. Bork, AT (2016), Rn.  799; Wertenbruch, AT (2014), §  7 Rn.  9; Feuerborn, in: NK‑BGB (2012), §  116 Rn.  6; Lee, Voraussetzungen (1999), 39 in Fn.  155; Bading, Gruchot 58 (1914), 769 (771), die jeweils auf das Motiv des Erklärenden abstellen, nur die für ihn günstigere Variante gelten zu lassen. Soweit das Erklärendenverständnis mit dem Empfängerverständnis nicht über­ einstimmt, wird es allerdings zum Konflikt über die richtige Auslegung kommen, den der Erklä­ rende aus rechtlichen Gründen nicht für sich entscheiden kann, da auch die von ihm favorisierte Deutungsvariante normativ nicht richtig ist. Durchsetzen kann er sich nur faktisch, wenn der Geg­ ner seine falsche Rechtsbehauptung, die Erklärung sei eindeutig in seinem Sinne, leichtgläubig hinnimmt, oder aufgrund des Erpressungspotentials, das ihm die Drohung mit der Unwirksamkeit im Einzelfall verschaffen kann. 64  Wertenbruch, AT (2014), §  7 Rn.  9; Singer, in: Staudinger (2012), §  116 Rn.  9; Medicus, AT (2010), Rn.  592; Flume, AT II (1992), 403; E. Grünwald, Dissens (1939), 16 in Fn.  13; Corts, Scha­ denshaftung (1932), 41 a. E.; Oertmann, BGB-Kommentar (1927), 378 (§  116 Anm.  2); R. Raiser, AcP 127 (1927), 1 (33); Manigk, JherJb 75 (1925), 127 (148 f., 204 f.); Bading, Gruchot 58 (1914), 769 (770 f.). Für ein Wahlrecht des Empfängers Hildebrandt, Erklärungshaftung (1931), 211 f. 65  Wertenbruch, AT (2014), §  7 Rn.  9; Medicus, AT (2010), Rn.  592; Flume, AT II (1992), 403; Hart, in: AK-BGB (1987), §  116 Rn.  2; E. Grünwald (1939), 16 in Fn.  13; Corts, Schadenshaftung (1932), 41 a. E.; R. Raiser, AcP 127 (1927), 1 (33). Bading, Gruchot 58 (1914), 769 (770 f.) hält dies sogar für den einzigen „echten“ Anwendungsfall des §  116 BGB. Unklare Differenzierung bei Dilcher, in: Staudinger (1979), §  116 Rn.  4: eine objektiv mehrdeutige Erklärung kann nicht in ei­ nem bestimmten eindeutigen Sinn „erklärt“ und im anderen „gewollt“ werden. 66  Singer, in: Staudinger (2012), §  116 Rn.  9; Babich, Einfluß (1934), 24, der deshalb die Erklä­ rung für unwirksam hält. Vgl. Canaris, Vertrauenshaftung (1971), 25 in Fn.  52 zum Erfordernis eines objektiven Erklärungstatbestands bei §  116 BGB. 67  Singer, in: Staudinger (2012), §  116 Rn.  9 stützt seine Lösung dementsprechend auch darauf, dass der Arglistige keinen Schutz verdiene. Vgl. auch Manigk, JherJb 75 (1925), 127 (148 f., 204 f.), der allerdings darauf abstellt, aufgrund der Arglist entfalle der Respekt vor dem wirklichen Willen des Erklärenden (und nicht etwa vor dessen Vertrauen auf die Unwirksamkeit).

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§  6 Der gebotene Schutz nachträglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte

auch §  116 S.  1 BGB zugrundeliegt. Die dadurch eintretende Ungewissheit für den Erklärenden, der nicht erkennen kann, welches das verbindliche innere Empfänger­ verständnis ist, halten die Anhänger dieser Auffassung offenbar für hinnehmbar, weil der Erklärende die Unklarheit bewusst und arglistig geschaffen hat. Überwiegend wird die Geltung im Sinne des Verstandenen heutzutage indes ab­ gelehnt und die Erklärung für unwirksam gehalten.68 Dafür spricht, dass eine Be­ kämpfung rechtsmissbräuchlichen Verhaltens möglich ist, ohne hierfür den Inhalt des Rechtsgeschäfts von subjektiven Momenten auf Seiten einer Partei abhängig zu machen und eine Willenserklärung ohne eindeutigen äußeren Erklärungstatbestand anzunehmen. Der Empfänger kann vor den Folgen des arglistigen Verhaltens auch durch Ersatz seines Vertrauensschadens nach §§  280 I, 241 II BGB69 oder nach §  826 BGB70 geschützt werden. Aufgrund der Arglist des Erklärenden wäre es dem Erklärenden zudem verwehrt, etwaigen Schadensersatzansprüchen des Empfängers den auf §  254 BGB gestützten Einwand entgegenzusetzen, der Empfänger habe bei der Auslegung selbst nicht die notwendige Sorgfalt an den Tag gelegt.71

68  Bork, AT (2016), Rn.  799; Arnold, in: Erman (2014), §  116 Rn.  5; Babich, Einfluß (1934), 24. Ferner Armbrüster, in: MünchKommBGB (2015), §  116 Rn.  5; Feuerborn, in: NK‑BGB (2012), §  116 Rn.  6; Wendtland, in: Bamberger/Roth (2012), §  116 Rn.  5; Hefermehl, in: Soergel (1999), §  116 Rn.  6; Coing, in: Staudinger (1957), §  116 Rn.  3, die allerdings allesamt von „Dissens“ ausge­ hen. Das passt nicht bei den ebenfalls betroffenen einseitigen Rechtsgeschäften. Die Erklärung soll freilich aufgrund der natürlichen Methode im Sinne des übereinstimmenden Verständnisses gelten, falls der Empfänger die Erklärung zufällig so versteht wie vom Erklären­ den eigentlich gewollt, Coing, in: Staudinger (1957), §  116 Rn.  3 unter b. 69  Die h.M. nimmt sogar bei bloßer Fahrlässigkeit des Erklärenden eine Schadensersatzhaf­ tung für die schuldhaft missverständliche Ausdrucksweise an. Diese Fragestellung wird soweit ersichtlich ausschließlich im Vertragsschlusskontext (meist unter dem Stichwort des „versteckten Dissenses“) diskutiert (RG, Urteil vom 5.4.1922, RGZ 104, 265 [267 ff.]; Bork, in: Staudinger [2015], §  155 Rn.  17 m.w.Nachw.; R. Raiser, AcP 127 [1927], 1 [32 f.]), obwohl sich dasselbe Pro­ blem auch bei einseitigen Rechtsgeschäften stellen kann. Soweit im Vertragsschlusskontext die Haftung des Erklärenden abgelehnt wird, weil die Auslegungsregeln die vorrangige Wertung enthielten, dass der Empfänger bei erkennbarer Unbestimmtheit seinen Schaden selbst zu tragen habe und berechtigtes Vertrauen nicht bestehe (Flume, AT II [1992], 626; Schlachter, JA 1991, 105 [108]), dürften diese Bedenken jedenfalls bei arglistigem Verhalten des Erklärenden nicht durch­ greifen. 70  So bereits Titze, Mißverständnis (1910), 189 in Fn.  34. 71  A. A. Titze, Mißverständnis (1910), 189 in Fn.  34, der die Berücksichtigung eines eigenen Verschuldens des Geschädigten nach §  254 BGB für möglich hält. Bei der von Titze unterstellten vorsätzlich sittenwidrigen Schädigung (§  826 BGB) kann sich der Schädiger aber regelmäßig hin­ sichtlich der Schadensentstehung nicht auf ein mitwirkendes Verschulden des Geschädigten beru­ fen, BGH, Urteil vom 9.10.1991, NJW 1992, 310 (311); OLG Karlsruhe, Urteil vom 16.10.1991, NJW‑RR 1992, 515; Grüneberg, in: Palandt (2016), §  254 Rn.  65.

II. Der gebotene Schutz nachträglichen Vertrauens bei objektiver Unbestimmtheit

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b) Die Irrelevanz des Streits für die Beurteilung der Schutzwürdigkeit nachträglichen Erklärendenvertrauens Interessant ist die unter a) geschilderten Auseinandersetzung im vorliegenden Zu­ sammenhang nur im Hinblick auf die Anschlussfrage, ob aus der Ansicht, die den Erklärenden an die vom Empfänger verstandene Bedeutung bindet72 , auch die Schutzlosstellung nachträglichen Erklärendenvertrauens auf die Unbestimmtheit abzuleiten wäre. Davon ist jedoch nicht auszugehen. Selbst wenn die bewusst unbe­ stimmt formulierte Erklärung im Sinne des vom Empfänger Verstandenen gelten sollte, läge dem nicht die Wertung zugrunde, der Erklärende dürfe sich generell bei und wegen objektiver Unbestimmtheit nicht auf die Unwirksamkeit seiner Erklä­ rung verlassen. Sein Vertrauen auf die Unwirksamkeit würde, wie unter a) darge­ legt, nur zur Bekämpfung arglistigen Verhaltens bei Abgabe der Erklärung schutz­ los gestellt. Bei unbeabsichtigter, vielleicht sogar unverschuldeter, erst später ent­ deckter Unbestimmtheit besteht zur Bekämpfung arglistigen Verhaltens kein Anlass. Ein Argument zu Lasten des nachträglich auf die Unbestimmtheit vertrau­ enden Erklärenden ergibt sich aus dem Vergleich mit der Situation des anfänglichen Vertrauens somit nicht.

3. Nachträgliches Vertrauen auf die Unwirksamkeit und Ansätze zur Einschränkung des Vertrauensschutzes Auch bei objektiv unbestimmten Erklärungen kann es dazu kommen, dass der Empfänger oder der Erklärende die Unbestimmtheit erst entdeckt, nachdem er zu­ nächst irrtümlich von einer eindeutigen Erklärung ausgegangen ist. Diese nach­ trägliche Erkenntnis kann ihn ab Entdeckung der Unbestimmtheit dazu veranlas­ sen, in seinem künftigen Verhalten von der Unwirksamkeit der Erklärung auszuge­ hen. So kann etwa der Mieter, der die Unbestimmtheit der Kündigungserklärung zunächst übersehen hatte, im Vertrauen auf der Wirkungslosigkeit davon absehen, sich eine neue Wohnung zu besorgen, oder der Vermieter als Entdecker davon aus­ gehen, das Mietverhältnis bestehe fort, und eine rechtzeitige Weitervermietung un­ terlassen.73 Die Unwirksamkeit der Erklärung trotz des zunächst irrigen eindeuti­ gen Verständnisses hat denselben Vorzug, den diese Rechtsfolge auch bei anfängli­ 72 

Nachw. in Fn.  64. Allerdings wird in einem solchen Fall eine Aufklärungspflicht des Erklärenden, der mit seiner mehrdeutigen Erklärung die Gefahr von Missverständnissen heraufbeschworen hat, sehr nahe liegen (vgl. dazu Fn.  69). Die Verletzung der Aufklärungspflicht kann jedoch bestenfalls ei­ nen auf das negative Interesse gerichteten verschuldensabhängigen Anspruch begründen (§§  280 I, 241 II BGB), der gegebenenfalls nach §  254 BGB zu mindern ist, dagegen keine Haftung auf das positive Interesse oder gar eine rechtsgeschäftliche Bindung an die vom Empfänger verstandene Bedeutung. 73 

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§  6 Der gebotene Schutz nachträglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte

chem Erkennen der Mehrdeutigkeit hat: Der Entdecker der Unbestimmtheit erhält die Möglichkeit, seine Rechtslage mit den ihm zur Verfügung stehenden Ausle­ gungsmitteln abschließend im Sinne der Unwirksamkeit des Rechtsgeschäfts zu klären. Er ist zur Einschätzung seiner Rechtslage nicht auf die Beantwortung seiner Nachfrage angewiesen, von welcher Bedeutung der Gegner innerlich bei Vornah­ me des Geschäfts ausgegangen ist. Beide können das Geschäft ohne weiteres als unwirksam behandeln.74 Diese Sicherheit, die von der Unwirksamkeit bei objektiver Unbestimmtheit aus­ geht, ist hingegen hinfällig, wenn – wie dies die dualistische Auslegungslehre an­ nimmt – die objektiv unbestimmte Erklärung in dem (bestimmten) Sinne gelten würde, den die Beteiligten ihr zufällig gleichermaßen innerlich bei Vornahme des Geschäfts beilegen. Indem die Dualisten hier „das subjektive Moment des Richtig­ verstehens durch den Empfänger im gewollten Sinne“ als „Gültigkeitsvorausset­ zung“75 der mehrdeutigen Erklärung ansehen, nehmen sie einem Beteiligten, der die Erklärung zunächst irrtümlich für eindeutig hält, die Möglichkeit, auf die Un­ wirksamkeit zu vertrauen, und zwingen ihn zur Erkundigung nach dem inneren Verständnis des Gegners mit den schon unter I. herausgearbeiteten Folgen. Es bleibt aber zu klären, ob es spezielle Gesichtspunkte gibt, die die Problematik des Schutzes nachträglichen Vertrauens bei unbestimmten Erklärungen entschär­ fen. Im älteren Schrifttum werden zwei Aspekte zugunsten der natürlichen Metho­ de genannt, die sich speziell auf die objektiv mehrdeutige Erklärung beziehen: Zum einen wird behauptet, das übereinstimmende Verständnis dürfe hier gelten, weil es aufgrund der Mehrdeutigkeit objektiv wenigstens „miterklärt“ wurde (dazu unter a), zum anderen soll die Annahme eines objektiv mehrdeutigen Vertragsantrags bei normativer Auslegung als Hinnahme der Mehrdeutigkeit zu verstehen sein (dazu unter b).

74  Titze, Mißverständnis (1910), 188 f. in Fn.  34. So auch v. Tuhr, AT II/1 (1914, 1957), 541 in Fn.  37 beim einseitigen Rechtsgeschäft mit der Begründung, dem Erklärungsgegner dürfe „eine Unsicherheit des Rechtszustands nicht zugemutet werden“. Anders ders., a. a. O., 540 f. beim Ver­ tragsschluss, bei dem es darauf ankommen soll, ob der Empfänger die Offerte so versteht, wie der Erklärende sie meinte. v. Tuhr empfiehlt hier lediglich, wegen der Unsicherheit sei es „vorsichtiger, eine Offerte, deren Bedeutung nicht zweifellos ist, nicht anzunehmen“. Siehe auch ders., a. a. O., 214 in Fn.  58, wo wiederum allgemein für zweideutige Erklärungen von der Unwirksamkeit ausge­ gangen wird, diesmal mit der Begründung „der Gegner darf nicht der Gefahr ausgesetzt sein, daß der Erklärende später seine Worte anders deutet“. Diese Begründung ist schief, da die „Gefahr“ in dieser Konstellation nicht den Gegner (= Empfänger), sondern den Erklärenden trifft, wenn er die Erklärung später „anders“ (nämlich als unbestimmte Erklärung) deutet und damit falsch liegt, weil der rechtlich maßgebliche Sinn infolge der für ihn nicht erkennbaren inneren Verständnisüberein­ stimmung unverrückbar feststeht. Der Empfänger wäre bei Maßgeblichkeit des anfänglich über­ einstimmenden Verständnisses nur gefährdet, wenn er selbst die Unbestimmtheit der Erklärung nachträglich realisiert und seinerseits jetzt von der Unwirksamkeit ausginge. 75  So ausdrücklich Babich, Einfluß (1934), 21.

II. Der gebotene Schutz nachträglichen Vertrauens bei objektiver Unbestimmtheit

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a) Geltung des übereinstimmenden Verständnissen, weil und soweit es „miterklärt“ wurde? Oertmann stützt den Vorrang des übereinstimmenden Verständnisses bei der Aus­ legung objektiv mehrdeutiger Erklärungen auf den (nur dort vorstellbaren) zusätzli­ chen Gesichtspunkt, durch die mehrdeutige Erklärung werde zugleich das überein­ stimmende Verständnis „miterklärt“. Bei wechselseitigen doppeldeutigen Vertrags­ schlusserklärungen sei „ein Vertrag wirksam geschlossen, wenn die beiderseitigen Willen nachweislich überein­ stimmen. Denn in der mehrdeutigen Erklärung ist jeder objektiv mögliche Sinn miterklärt; es fehlt also nicht an den erforderlichen Erklärungen der übereinstimmenden Willen“76.

An anderer Stelle stellt er (durchaus besser77) nicht auf den Willen, sondern auf das Verständnis des Empfängers ab: „Steht aber der Erklärung ein Geschäftsgegner gegenüber, so hängt die Maßgeblichkeit des inneren Willens f ü r i h n davon ab, daß er den sermo ambiguus richtig, d. h. dem in­ neren Willlen gemäß, verstanden hat.“78 Dadurch werde „nicht ein nicht erklärter Wille entscheidend gemacht, sondern ein Wille, der durch den zweideutigen Erklärungsakt zwar nicht allein, aber neben den anderen möglichen Bedeutungen mit gedeckt war“79.

Auch Seifert meint, ein Vertrag dürfe in einem solchen Fall nicht scheitern, denn „die Erklärungen konnten ja, wenn auch nur möglicherweise, als Ausdruck des wirklichen Willens angesehen werden. Alle Wesensmerkmale eines vollgültigen Vertrages über den gewollten Gegenstand sind somit gegeben“80. Letzteres fußt auf der Lehre von Manigk, die mehrdeutige Erklärung sei im Grunde eine irrtums- und mangelfreie Erklärung, die den wirklichen Willen des Erklärenden objektiviert und erkennbar macht81 mit der einzigen „Eigentümlichkeit (…), sowohl den Willen des Erklärenden als auch den inhaltlich abweichenden des Gegners zum Ausdruck zu bringen“82. Auch Manigk gelangt so zu dem Schluss, bei Austausch mehrdeutiger Vertragsschlusserklärungen und übereinstimmendem Verständnis der Parteien lä­ 76  BGB-Kommentar (1927), 559 (§  155 BGB Anm.  1 b ε) unter unrichtiger Berufung auf Henle, GgA 170 (1908), 427 und ders., Unterstellung (1922), 37. Henle, GgA 170 (1908), 427 (476) lehnt es – wie auch Corts, Schadenshaftung (1932), 24 in Fn.  18 übersieht – explizit ab, auf den Willen beider Parteien abzustellen, weil beim Vertragsschluss bereits der wirkliche Wille des Offerenten allein entscheidend sei (dazu sogleich unter b). Ähnlich bereits R. Leonhard, Irrtum I (1907), 193, der bei objektiver Mehrdeutigkeit davon ausging, „dass die Parteien die Abrede nach ihren beiderseitigen nicht erkennbaren Absichten ausgelegt zu sehen wünschen“. 77  Vgl. §  3 IV 2 b aa. 78  Oertmann, Rechtsordnung (1914), 121 (Sperrung übernommen). Ebenso Oertmann, BGB-Kommentar (1927), 327 f. (Vor §§  104 ff. Anm.  9 d α αα). 79  Oertmann, Rechtsordnung (1914), 87. 80  Seifert, Falsa demonstratio (1929), 130. 81  Manigk, JherJb 75 (1925), 127 (185 in Fn.  2). Dazu bereits oben in §  4 Fn.  63. 82  Manigk, JherJb 75 (1925), 127 (166).

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§  6 Der gebotene Schutz nachträglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte

gen „zwei irrtumsfreie, übereinstimmende Willenserklärungen des übereinstim­ menden Willens vor, womit die Voraussetzungen des Vertragsschlusses auch juris­ tisch eingetreten sind“83. Diese „Miterklärungstheorie“ verdient indes keine Zustimmung. Sie lässt eine Begründung vermissen, warum bei übereinstimmendem innerem Verständnis das Bestimmtheitserfordernis verzichtbar sein sollte. Wie gerade dargelegt wurde, dient die Unwirksamkeit unbestimmter Erklärungen dem Zweck, die Orientierungslosig­ keit zu vermeiden, die sich einstellen würde, wenn Wirksamkeit und Inhalt der Er­ klärung vom inneren Willen oder Verständnis der Gegenseite abhinge. Von der Un­ wirksamkeit als Rechtsfolge abzuweichen wäre deshalb nur gerechtfertigt, wenn das „Miterklärtsein“ des übereinstimmenden Verständnisses diese Orientierungslo­ sigkeit beseitigte. Das ist jedoch wegen der unbehebbaren Vagheit mehrdeutiger Erklärungen gerade nicht der Fall. Die „Miterklärung“ ändert nichts daran, dass die Beteiligten mangels Eindeutigkeit aus der Willenserklärung84 und den ihnen be­ kannten Umständen keine hinreichend sicheren Schlüsse auf ein übereinstimmen­ des Verständnis der Gegenseite ziehen können. Die durch Auslegung nicht beseitig­ bare Vagheit nimmt jedem Beteiligten die Möglichkeit zu beurteilen, ob die Gegen­ seite die mehrdeutige Erklärung in ihrem Sinne meint bzw. auffassen wird. Bei wenigen oder gar nur zwei verbleibenden Auslegungsmöglichkeiten ist dies zwar durchaus wahrscheinlich. Es lässt sich aber nicht mit der erforderlichen hinreichenden Sicherheit mit Hilfe des zur Verfügung stehenden Auslegungsmaterials klären, ob dies tatsächlich der Fall ist85, so dass im Ergebnis weder auf die Wirksamkeit noch auf die Unwirksamkeit der Erklärung Verlass wäre. Wo die Rechtsfolge der Unwirksamkeit den Beteiligten eigentlich eine feste Grundlage zur Beurteilung ih­ rer Rechtslage geben sollte, würde diese Zielsetzung völlig zunichte gemacht, wenn die Unwirksamkeit von der mangelnden inneren Verständnisübereinstimmung ab­ hinge – mit all den bereits am Beispiel der eindeutigen Erklärungen unter I. darge­ legten Konsequenzen des Orientierungsverlusts. b) Geltung des wirklichen Willens des Offerenten bei Annahme eines mehrdeutigen Antrags (Henle) – Verzicht auf Orientierungssicherheit? Henle86 vertritt mit gänzlich anderer Begründung die Ansicht, eine objektiv mehr­ deutige Erklärung könne ausnahmsweise wirksam sein. Jede objektiv mehrdeutige Erklärung trage 83 

Manigk, JherJb 75 (1925), 127 (183). Oertmann sieht die Alternative zur Wirksamkeit im Sinne des übereinstimmend Gewollten im Dissens (Rechtsordnung [1914], 87), der nur bei Vertragsschlusserklärungen in Betracht kommt. In ders., BGB-Kommentar (1927), 327 f. (Vor §§  104 Anm.  9 d α αα) bezieht er seine Über­ legungen auch auf die einzelne Willenserklärung. 85  Anderenfalls läge schon gar keine unbestimmte Erklärung im Rechtssinne vor. 86  Lb. I (1926), 75 f.; Unterstellung (1922), 37 f. in Fn.  21; GgA 170 (1908), 427 (475–478). 84 

II. Der gebotene Schutz nachträglichen Vertrauens bei objektiver Unbestimmtheit

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„ihrem Empfänger nicht nur die mehreren Deutungen entgegen, sondern eben damit zu­ gleich auch dies, daß die Erklärung mehrdeutig ist: und wiederum damit zugleich, daß nur eine der mehreren Deutungen wirklich gemeint ist“87.

Zur Illustration gibt er folgendes Beispiel: „Bauer A, Besitzer mehrerer Schweine, sagt – ohne irgendwelche die Mehrdeutigkeit be­ hebende Vorverhandlungen – zu Bauer B: ‚Ich verkauf Dir mein Schwein‘. Eine solche Erklärung kann objektiv nur den Sinn haben: ‚Ich verkaufe Dir dasjenige von meinen Schweinen, an das ich denke (und das näher anzugeben keinen Zweck hat)‘. (…) Es ist also richtig, daß schon bei der Auslegung der innere Wille heranzuziehen ist; die Erklärung weist selber auf den hinter ihr stehenden Willen zurück.“88

Bei mehrdeutigen einseitigen Rechtsgeschäften und Vertragsannahmen ändere sich durch diese Überlegung zwar nichts an der Unwirksamkeit.89 Grund hierfür dürfte sein, dass auch der von Henle angenommene objektiv erkennbare Hinweis auf den hinter der Willenserklärung stehenden Willen dem Empfänger nicht weiterhilft, da für ihn nicht erkennbar ist, auf welchen Untergrund die Erklärung verweist. Ande­ res soll aber gelten, wenn der Empfänger eines mehrdeutigen Vertragsantrags vor­ behaltlos die Annahme erkläre. „Wer sich auf eine solche Erklärung einläßt, der nimmt sie hin in ihrer Vervollständigung durch den inneren Willen.“90 Im oben genannten Beispiel komme daher ein Vertrag über das von A gemeinte Schwein zustande, wenn B einfach erkläre „Gut, ich kaufe“.91 Die Situation sei nicht anders zu beurteilen, als wenn B eine Urkunde ungelesen unterschreibe.92 Diese Überlegungen lassen sich in ein Konzept des Schutzes des Vertrauens auf das objektiv Erklärte im Sinne der These einordnen, der Akzeptant eines mehrdeu­ tigen Antrags verzichte bei objektiver Auslegung seiner Annahmeerklärung (wie­ derum auch für den Antragenden erkennbar) freiwillig auf den Schutz, den die ob­ jektive Auslegung mit der daran geknüpften Unwirksamkeitsfolge bei Mehrdeutig­ keit vorsieht.93 Indem er den mehrdeutigen Antrag annehme, akzeptiere er unter Verzicht auf das Eindeutigkeitserfordernis die damit verbundene Unsicherheit, so 87 

Henle, Unterstellung (1922), 37 in Fn.  21. So auch schon Henle, Lb. I (1926), 76. Henle, GgA 170 (1908), 427 (476 f.). Siehe auch ders., Lb. I (1926), 76: „Die mehrdeutige Erklärung weist selbst auf den inneren Willen als ihren Untergrund zurück.“ 89  Henle, Lb. I (1926), 76. Anders noch ders., GgA 170 (1908), 427 (477 f.), der seine Argumen­ tation dort auch noch auf die Annahmeerklärung bezog. 90  Henle, Lb. I (1926), 75 f. Siehe auch ders., Unterstellung (1922), 37 f. in Fn.  21: „Wenn der Gegner auf die solchergestalt sich selbst ausfüllende Erklärung eingeht, so akzeptiert er in der Tat das innerlich Gemeinte.“ 91  Henle, GgA 170 (1908), 427 (477). 92  Henle, GgA 170 (1908), 427 (477). 93  Vgl. in diese Richtung auch v. Tuhr, AT II/1 (1914, 1957), 541 in Fn.  37, der dem Empfänger einer zweideutigen Offerte lediglich empfiehlt, diese nicht anzunehmen. Dadurch lässt v. Tuhr mittelbar erkennen, dass er die Entscheidung für die Annahme für einen hinreichenden Grund hält, dem Empfänger die „Unsicherheit des Rechtszustands“ zuzumuten, die er a. a. O. bei einseiti­ gen Rechtsgeschäften für so unzumutbar hält, dass er die natürliche Methode für sie ablehnt (dazu bereits Fn.  74). 88 

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§  6 Der gebotene Schutz nachträglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte

dass er – und der Antragende als durch den Verzicht Begünstigter – nachträglich nicht mehr auf die Unwirksamkeit des Vertrages vertrauen darf. Es soll hier nicht bestritten werden, dass es im Einzelfall im Interesse des Emp­ fängers eines mehrdeutigen Antrags liegen kann, den Antrag trotz der Ungewissheit anzunehmen, welche von mehreren objektiv ihm entgegentretenden Auslegungsva­ rianten gilt. Die Unwirksamkeit der Erklärung gäbe dem Antragenden Gelegenheit, es sich noch einmal ganz anders zu überlegen und völlig vom Vertrag abzurücken, so dass die Ungewissheit der Preis sein mag, den der Antragsempfänger für die so­ fortige Bindung des Antragenden durch eine „Blankoannahme“ auf sich zu nehmen bereit ist. Dies liegt besonders nahe, wenn für den Annehmenden wenig Interesse an dem Unterschied zwischen den verschiedenen Auslegungsvarianten besteht. Das Schweine-Beispiel mag so ein Fall sein, in dem der Schritt zur Auslegung des An­ trags als auf eine Vorratsschuld gerichtet ohnehin nicht weit ist. In solchen Situatio­ nen lässt sich die Annahmeerklärung womöglich auch in dem Sinne interpretieren, der Annehmende erkläre sich mit der Auslegungsvariante einverstanden, die der Antragende meinte – was dann aber wohl eher in dem Sinne zu verstehen wäre, er stelle es dem Erklärenden anheim, zwischen den objektiv mehrdeutig hervorgetre­ tenen Auslegungsvarianten zu wählen.94 Dies passt zwar nicht so recht zum Antrag des Erklärenden, der objektiv erkennbar keine Wahlmöglichkeit im Sinn hatte. Aber dies muss kein Hindernis sein, wenn man nur bereit ist das ihn begünstigende Wahlrecht als ein Minus des Gewollten anzusehen. Wer objektiv erkennbar eine bestimmte Sache leisten will, der möchte – so mag man vielleicht argumentieren – auch im Sinne einer Wahlschuld mit Wahlrecht des Schuldners diese oder eine an­ dere Sache leisten, solange nur das Wahlrecht nicht zu seinen Lasten geht, was bei der Konstruktion dieses Wahlrechts sicherzustellen wäre. Letztlich gibt Henles Schweine-Fall damit aber lediglich Anlass zum Nachdenken, ob nicht im Einzelfall die Rechtsfolgen der Unwirksamkeit unbestimmter Erklärungen sachgerecht zu be­ grenzen sind durch Lösungen, die den schutzwürdigen Interessen beider Seiten vollumfänglich Rechnung tragen. Egal wie man sich zu dieser hier nicht weiterzuverfolgenden Frage auch stellen mag, Henles pauschale Unterstellung, der Annehmende unterwerfe sich durch die Annahme eines mehrdeutigen Antrags stets konkludent nach dem objektiven Emp­ fängerhorizont des Antragenden dessen nicht erkennbarem inneren Willen, ist eine Überspannung der normativen Auslegung.95 Dem Antragenden als sorgfältigem 94  Dieses Wahlrecht zugunsten des Antragenden innerhalb der objektiv erkennbaren Varian­ ten würde den konstruktiven Mangel von Henles Lösung beseitigen, der darin liegt, dass der An­ nehmende bei Maßgeblichkeit des inneren Willens nicht beurteilen könnte, ob der Vertrag über­ haupt zustande gekommen ist, weil möglicherweise doch etwas ganz anderes gemeint ist (dazu sogleich im Text). Es würde dann nämlich auf jeden Fall etwas gelten und der Erklärende könnte nur im Wege der Anfechtung geltend machen, er habe nichts von dem gewollt, was er objektiv mehrdeutig erklärt habe. 95  Krit. auch Titze, Mißverständnis (1910), 187 in Fn.  32 und F. Leonhard, AcP 120 (1922), 14 (96), die sich allerdings dagegen wenden, den Antrag als einen erkennbaren Hinweis auf das Ge­

II. Der gebotene Schutz nachträglichen Vertrauens bei objektiver Unbestimmtheit

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Verkehrsteilnehmer muss sich geradezu aufdrängen, dass dem Annehmenden höchstwahrscheinlich lediglich die Mehrdeutigkeit des Antrags entgangen ist, so dass er der Erklärung objektiv nicht ohne weiteres eine „Vervollständigungser­ mächtigung“ durch den Annehmenden entnehmen darf. Bestenfalls ist Henle zu Gute zu halten, noch eine weitere Auslegungsmöglichkeit für die Annahme einer mehrdeutigen Antrags aufgezeigt zu haben, doch diese tritt angesichts der Unge­ wissheit bezüglich des Übersehens der Mehrdeutigkeit ohne eine entsprechende Klarstellung nur neben die anderen Auslegungsmöglichkeiten. Die Annahmeerklä­ rung bleibt dadurch unrettbar unbestimmt und deshalb unwirksam. Henles Konstruktion liegt noch aus einem weiteren Grund (für den Antragenden erkennbar) nicht im Interesse des Annehmenden. Ihm dürfte keinesfalls unterstellt werden, sich irgendeinem inneren Willen zu unterwerfen, sondern nur einem der mehrdeutig objektiv „miterklärt“ wurde. Meinte der Erklärende etwas Drittes, das nicht einmal andeutungsweise in der Erklärung hervortritt96, dann müsste die Er­ klärung – wie auch Henle97 sieht – wieder unwirksam sein. Dies hat aber unweiger­ lich zur Folge, dass ein Einlassen auf eine beschränkt mehrdeutige Erklärung stets die Unsicherheit für den Annehmenden mit sich brächte, ob der Vertrag über eine der ihm erkennbaren Auslegungsvarianten oder überhaupt nicht gilt. Die (angebli­ che) Bereitschaft zur Hinnahme einer beschränkten und überschaubaren Unsicher­ heit deckt den dadurch eintretenden völligen Orientierungsverlust nicht ab. Aus dem letzteren Aspekt ergibt sich auch der entscheidende Unterschied zum Unterschreiben einer ungelesenen Urkunde, den Henle als Parallelfall bemüht. Der Unterschreibende kann immerhin hinterher anhand der Urkunde herausfinden, was gilt.98 Wer sich einem nicht eindeutig erklärten inneren Willen unterwirft, kann hingegen nicht mit eigenen Mitteln herausfinden, ob überhaupt etwas gilt, denn die Erklärung könnte ja aufgrund eines in der Mehrdeutigkeit nicht hervortretenden Willensinhalts unwirksam sein. Diesen Einwand antizipierend meint Henle zwar, die Situation, in der der mehrdeutige Antrag in einem „dritten“ Sinne gemeint sei, der durch die Mehrdeutigkeit nicht einmal angedeutet ist, entspreche der Lage, in meinte auszulegen. Die Problematik von Henles Lösung liegt jedoch nicht so sehr in der gekünstel­ ten Interpretation des Antrags, die für sich betrachtet auch nach Henle keine für den Empfänger nachteilige Änderung der Rechtsfolgen mehrdeutiger Erklärungen herbeiführt, sondern in der in­ teressenwidrigen Interpretation der Annahmeerklärung. Ohne nähere Begründung ablehnend auch Babich, Einfluß (1934), 20. 96  In Anlehnung an Henles Schweine-Fall: Der Bauer hat sich obendrein noch versprochen und meinte in Wirklichkeit seine Ziege. 97  Lb. I (1926), 76: „Sollte sich aber etwa ergeben, daß keine der mehreren Deutungen gewollt war, sondern etwas überhaupt nicht Erklärtes, dann fällt die mehrdeutige Erklärung in jedem Fall dahin.“ Ebenso bereits ders., GgA 170 (1908), 427 (478). 98 Darauf, dass auch der Unterzeichner der ungelesenen Urkunde die Möglichkeit zur Er­ schließung des Erklärungssinns verlieren kann, falls er die Urkunde wieder aus der Hand gibt, kann es nicht ankommen. Die Ungewissheit, die aus der unterlassenen Beweismittelsicherung folgt, ist eine auf einem anderen Versäumnis des Unterzeichners beruhende Ungewissheit, die mit der durch das Unterschreiben geschaffenen Risikolage nicht identisch ist.

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§  6 Der gebotene Schutz nachträglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte

der die ungelesen unterschriebene Urkunde nicht fertig ausgefüllt und die Erklä­ rung aus diesem Grund unwirksam sei.99 Aus der Perspektive des Annehmenden verbleibt dann aber immer noch der entscheidende Unterschied, dass der Unter­ zeichner einer unvollständig ausgefüllten Urkunde deren Unvollständigkeit nach­ träglich erkennen und sich dieser Unwirksamkeit dann sicher sein kann. Bei der Unterwerfung unter den für ihn nicht erkennbaren Willen des mehrdeutig Antra­ genden kann er hingegen mit den ihm für die Auslegung zur Verfügung stehenden Mitteln nicht herausfinden, ob der Vertrag gilt oder wegen eines nicht einmal mehr­ deutig miterklärten Willensinhalts gar nicht gilt.

III. Ergebnis: Gebotenheit des Schutzes nachträglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte Als Ergebnis kann festgehalten werden: Das erst nachträglich entstehende Vertrau­ en auf das Ergebnis der objektiven Auslegung ist sowohl bei objektiv eindeutigen als auch bei objektiv unbestimmten Erklärungen zu schützen. Für diesen Schutz sprechen dieselben Gründe, die auch den Schutz des anfänglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte tragen. Die Parteien benötigen eine Orientierungsgrundlage zur Beurteilung ihrer Rechtslage, die unabhängig von einer nachträglichen Kom­ munikation mit dem Gegner ist und es ihnen ermöglicht, diese Rechtslage mit den ihnen zugänglichen Mitteln durchzusetzen. Durchgreifende sachliche Gründe, die eine Schlechterstellung nachträglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte gegen­ über von Anfang an bestehendem Vertrauen rechtfertigen könnten, sind nicht er­ sichtlich.

99 

Henle, GgA 170 (1908), 427 (478).

§  7 Schutz des nachträglichen Vertrauens auf Basis der dualistischen Lehre? §  6 hat ergeben, dass auch das erst nachträglich entstehende Vertrauen der Be­ teiligten auf den objektiven Erklärungssinn einer empfangsbedürftigen Willenser­ klärung zu schützen ist. Das Gebot des Schutzes nachträglichen Vertrauens kann allerdings nur dann Grundlage einer durchschlagenden Kritik an der natürlichen Auslegungsmethode sein, wenn diesem Gesichtspunkt nur durch Aufgabe des dua­ listischen Grundansatzes Rechnung getragen werden kann. Lässt sich hingegen der gebotene Schutz mit „neben“ der Auslegung stehenden Schutzinstrumenten oder durch bloße Modifikation des dualistischen Modells gewährleisten, so wäre der vom Entdeckungsszenario ausgehende Rechtfertigungsdruck aus der Methodendiskussi­ on genommen. Bei den Anhängern der dualistischen Lehre, die die Problematik des nachträglichen Vertrauens meist unerwähnt lassen, finden sich fast1 keine Ansätze in diese Richtung. Im Folgenden wird untersucht, ob auf Basis des dualistischen Grundansatzes dem nachträglich Vertrauenden durch ein Anfechtungsrecht (dazu unter I.), durch einen von der Auslegung abgekoppelten Schadensersatzanspruch (dazu unter II.) oder durch den ausnahmsweisen Vorrang der normativen Methode bei Entstehung nachträglichen Vertrauens (dazu unter III.) geholfen werden kann.

I. Anfechtungsrecht des nachträglich Vertrauenden? Lässt sich der Schutz nachträglichen Vertrauens durch Einräumung eines Anfech­ tungsrechts gewährleisten, mit dem der nachträglich Vertrauende die Wirkung einer Willenserklärung beseitigen kann, der aufgrund der natürlichen Auslegung ein für ihn nicht erkennbarer Sinn zukommt? Diesen durchaus erstaunlichen Lösungsvor­ schlag unterbreitet Zemen2 , der als bisher einziger Anhänger der dualistischen Leh­ re die durch das nachträgliche Vertrauen aufgeworfenen Probleme zu lösen ver­ sucht. Er betrachtet auf Basis des österreichischen Rechts den Fall, dass die Rechts­ folgewillen zweier Vertragsparteien trotz voneinander abweichender objektiver Erklärungen übereinstimmen und gemäß der natürlichen Auslegung ein Vertrag zustande kommt, eine der Parteien jedoch nachträglich den objektiven Sinn der ei­ 1 Lediglich Zemen, JBl 1986, 756 (766 f.) entwickelt zum österreichischen Recht Lösungen, die im Folgenden bezogen auf das deutsche Recht unter I und II berücksichtigt werden. 2  JBl 1986, 756 (767).

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§  7 Schutz des nachträglichen Vertrauens auf Basis der dualistischen Lehre?

genen oder auch der fremden Erklärung erkennt und deshalb zu dem objektiv be­ rechtigten Schluss kommt, ein Vertrag sei nicht zustande gekommen.3 „Allerdings ist hier anzuerkennen, daß beim Erklärenden eine besondere Form des be­ achtlichen Irrtums gegeben ist, weil er die falsa demonstratio, die den Vertragsschluß nach dem übereinstimmenden wahren Willen der beiden Teile nicht hindert, in ihrer Wirkung falsch versteht, wenn er sie sich nach ihrem objektiven Erklärungswert zurechnet. Dieser Irrtum mag entweder als besonderer Fall des Erklärungsirrtums (bei Zurechnung der ei­ genen Erklärung) oder als Geschäftsirrtum (bei Zurechnung der Erklärung des Erklä­ rungsgegners) qualifiziert werden, er ist im Ergebnis ein Irrtum über die Tatsache des Vertragsschlusses.“4

Zemen billigt dem Erklärenden aufgrund dieser Überlegungen ein Anfechtungs­ recht unter den im Vergleich zum deutschen Recht engeren Voraussetzungen der §§  871 f. ABGB zu, wobei er die nach österreichischem Recht erforderliche Wesent­ lichkeit des Irrtums darin sieht, „daß der Erklärende zufolge seiner Disposition im Vertrauen auf das Nichtbestehen des Vertrages das Interesse am (Weiterbestand des) Vertrag(es) gänzlich verloren hat“5. Zemens Konstruktion, zu deren Vereinbarkeit mit dem österreichischen Recht hier nicht Stellung zu nehmen ist, überzeugt auf Basis des BGB nicht. Wenn die Erklärung aufgrund der natürlichen Auslegung in dem Sinne gilt, den der Erklären­ de mit der Erklärung bei ihrer Abgabe verbunden hat, ist eine Anfechtung ausge­ schlossen. Es fehlt schlicht die Divergenz von Wille und Erklärung, die die Irr­ tumsanfechtung voraussetzt. Für die übrigen Anhänger der natürlichen Auslegung ist zu Recht völlig selbstverständlich, dass bei übereinstimmendem Verständnis nach Maßgabe des falsa-Satzes mangels Irrtums eine Anfechtung nicht in Betracht kommt6. Der „Irrtum über die Tatsache des Vertragsschlusses“, der aus der Un­ kenntnis der Erfüllung der Voraussetzungen der natürlichen Auslegungsmethode folgt, fügt sich in das gesetzliche Regime der Irrtumsanfechtung nicht ein. Es han­ delt sich um keinen für die Abgabe der Erklärung des Anfechtungswilligen ursäch­ lichen Irrtum, sondern bestenfalls um einen rechtlich unbeachtlichen nachträglichen Irrtum über den (nämlich „natürlich“ bestimmten) rechtsmaßgeblichen Erklä­ rungssinn der eigenen oder der fremden Erklärung, der in Zemens Beispiel den Entdecker zu der Fehleinschätzung führt, es sei kein Vertrag zustande gekommen. 3  Schilderung der Fallkonstellation bei Zemen, JBl 1986, 756 (764 f.). Die inhaltliche Über­ einstimmung der Rechtsfolgewillen beider Vertragsparteien genügt allerdings zur Erfüllung der Voraussetzungen der natürlichen Auslegung nicht, sondern es müssen beide Seiten die Erklärung der Gegenseite auch in diesem Sinne verstanden haben (dazu §  3 IV 2 b aa [3] [b]). Zemens Aus­ führungen lassen sich aber jedenfalls auch auf diese Konstellation beziehen. 4  Zemen, JBl 1986, 756 (767). 5  Zemen, JBl 1986, 756 (767). 6  Siehe nur RG, Urteil vom 13.12.1924, RGZ 109, 334 (337); Brox/Walker, AT (2015), Rn.  247; Leenen, AT (2015), §  8 Rn.  159; Wertenbruch, AT (2014), §  9 Rn.  17; Gottwald, AT (2013), Rn.  151; Hefermehl, in: Soergel (1999), §  122 Rn.  5; Leenen, Jura 1991, 393 (395); Brox, Einschränkung (1960), 193; Enneccerus/Nipperdey, AT I/2 (1960), 1032; Coing, in: Staudinger (1957), §  122 Rn.  11.

II. Schadensersatzanspruch des nachträglich Vertrauenden?

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Funktional wäre eine Irrtumsanfechtung hier auch fehl am Platz. Das Anfechtungs­ recht soll der Störung der Selbstbestimmung des Erklärenden bei Abgabe der Erklärung unter Wahrung der Interessen der Gegenseite (§  122 BGB7) Rechnung tra­ gen. Es dient nicht dem Zweck, eine durch die natürliche Auslegungsmethode im Namen der Privatautonomie bewirkte Desorientierung der Parteien durch Gewäh­ rung eines Beseitigungsrechts zu entschärfen. Eine wie auch immer begründete Beseitigbarkeit des natürlichen Auslegungser­ gebnisses seitens des Erklärenden wäre zudem ein zum Schutz nachträglichen Ver­ trauens völlig unzureichender Lösungsansatz.8 Das objektiv Erklärte behielte dann zwar im Falle der Anfechtung für den Erklärenden seine negative Orientierungs­ funktion, weil er sich auf normativ nicht erklärte Inhalte des Rechtsgeschäfts bei rechtzeitiger Anfechtung nicht einstellen müsste. Die positive Orientierungs­f unk­ tion im Sinne eines Schutzes des Erklärendenvertrauens auf das objektiv Erklärte bliebe jedoch nach wie vor unberücksichtigt. Die Anfechtung vernichtet das Rechtsgeschäft lediglich, lässt es aber nicht im Sinne des objektiv Erklärten gelten und schafft deshalb keine Grundlage für einen sonstigen darauf bezogenen Ver­ trauensschutz9. Nicht zuletzt versagt die Anfechtungslösung vollkommen bei den von Zemen nicht untersuchten einseitigen Rechtsgeschäften bei der Wahrung der Interessen des „bloßen Empfängers“, für den ein Anfechtungsrecht nirgends vorge­ sehen ist.

II. Schadensersatzanspruch des nachträglich Vertrauenden? Naheliegender als die ungeeignete Anfechtungslösung ist prima facie eine scha­ densrechtliche Kompensation für die Enttäuschung des nachträglichen Vertrauens. Wenn aus dem Gesetz zum Schutz nachträglichen Vertrauens eine passgenaue Ent­ schädigungslösung entwickelt werden könnte, bestünde keine zwingende Notwen­ digkeit, diesem Gesichtspunkt innerhalb der Auslegung Rechnung zu tragen. Im Folgenden wird deshalb überprüft, inwieweit ein Beteiligter bei unterstellter Gel­ tung der natürlichen Methode dafür Entschädigung verlangen könnte, dass die Er­ 7 Im österreichischen Recht wird der Schutz des Empfängers statt durch Gewährung eines Schadensersatzanspruchs durch verschärfte Anforderungen an die Anfechtungsvoraussetzungen gesichert (vgl. v. Schwind, JherJb 89 [1941], 119 [145 f.]). 8  Zemen, JBl 1986, 756 (767) befürwortet ergänzend auch noch eine sogleich im Text behan­ delte schadensersatzrechtliche Problemlösung. 9  Schadensersatzansprüche des Anfechtenden aufgrund der Anfechtung kommen ersichtlich nicht in Betracht. Zemens Vernachlässigung der positiven Orientierungsfunktion beruht wohl darauf, dass er nur den Fall objektiv divergierender Erklärungen betrachtet. In diesem Fall kann das objektiv schutzwürdige Vertrauen nur auf Nichtgeltung des Vertrags lauten. Schutzwürdiges nachträgli­ ches Vertrauen auf die Geltung des Vertrags kommt dagegen in Betracht, wenn die Erklärungen objektiv mit einem von den Willen und den anfänglichen Verständnissen der Beteiligten abwei­ chenden Sinne übereinstimmen.

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§  7 Schutz des nachträglichen Vertrauens auf Basis der dualistischen Lehre?

klärung einen von seinem nachträglich Vertrauen auf das objektiv Erklärte abwei­ chenden Inhalt hat (kongruenter Doppelirrtum) oder im Falle des inkongruenten Doppelirrtums nach Teilen der Lehre sogar unwirksam ist10.

1. Erster Haftungsgrund: Erweckung objektiv gerechtfertigten Vertrauens Erwägenswert ist, ob sich in Anlehnung an den Grundgedanken des §  122 BGB eine Haftung begründen lässt. Der dort die Ersatzpflicht rechtfertigende Umstand ist die Erweckung objektiv gerechtfertigten Vertrauens durch den Erklärenden.11 Hieran anzuknüpfen liegt durchaus nahe, da es auch im hier interessierenden Zu­ sammenhang um eine Enttäuschung von Vertrauen auf den objektiven Erklärungs­ inhalt geht. Dieser Begründungsansatz stößt jedoch an eine empfindliche Grenze. Es ist nicht nur das nachträgliche Vertrauen des Empfängers zu schützen. Auch der Erklärende kann nachträglich den objektiven Erklärungsgehalt erkennen und ent­ sprechend disponieren. In Bezug auf den Erklärenden lässt sich aber nicht sinnvoll davon sprechen, sein berechtigtes Vertrauen sei vom Empfänger geweckt worden. Die Erklärung als Vertrauensgrundlage mit ihrem objektiven Inhalt stammt vom Erklärenden selbst und ist in keinem noch so weit gefassten Sinne durch den Emp­ fänger beeinflusst, veranlasst oder verursacht worden. Wenn überhaupt, dann be­ ruht das Vertrauen des Erklärenden auf den Vorgaben der Rechtsordnung, die die Erklärung grundsätzlich – hier bei Unterstellung der natürlichen Auslegungsme­ thode allerdings gerade nicht – als Vertrauensgrundlage anerkennt. Der Empfänger leistet keinen Beitrag zur Vertrauensentstehung, an den die Haftung anknüpfen könnte. Jede auf die Erweckung objektiv gerechtfertigten Vertrauens abstellende Haftungsbegründung wäre deshalb nur eine unvollkommene Lösung, die die ver­ trauenstheoretischen Bedenken gegen die natürliche Auslegungsmethode nicht ausräumen könnte.

10 

Zum inkongruenten Doppelirrtum und dem Streit über dessen Rechtsfolgen bereits §  4 II 3. Armbrüster, in: MünchKommBGB (2015), §  122 Rn.  1; Hefermehl, in: Soergel (1999), §  122 Rn.  1; Meincke, AcP 179 (1979), 170 (171). Die genannten Autoren weisen zutreffend darauf hin, dass die Anfechtungserklärung nicht Grund der Haftung sein kann, da der Anspruch ansonsten auf das positive Interesse gerichtet sein müsste. A. A. Leenen, AT (2015), §  15 Rn.  13 f., der den Haftungsgrund in der Anfechtung sieht, und §  122 I BGB als gesetzliche Modifizierung des §  249 I BGB begreift. Als „Anfechtungshaftung“ versteht auch Brehmer, Wille (1992), 86–88 den §  122 I BGB. Dem ist entgegenzuhalten, dass §§  118, 122 BGB eine Anfechtungserklärung gar nicht voraussetzt. Die herrschende Bestimmung des Haftungsgrundes hat den Vorzug der Einheitlich­ keit für alle Anwendungsfälle der Vorschrift. 11 

II. Schadensersatzanspruch des nachträglich Vertrauenden?

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2. Zweiter Haftungsgrund: Ursprünglich normatives Fehlverständnis Die Defizite einer auf die Erweckung objektiv gerechtfertigten Vertrauens abstel­ lenden Haftungsbegründung legen einen anderen Gedankengang nahe. Der Emp­ fänger leistet zwar keinen für die Entstehung des Erklärendenvertrauens ursächli­ chen Beitrag, schafft aber doch immerhin mit seinem nicht dem normativen Erklä­ rungsinhalt entsprechenden „Fehlverständnis“ der Erklärung eine Voraussetzung für die Vertrauensenttäuschung des Erklärenden. Hätte der Empfänger sich bei der Aufnahme der Erklärung nicht geirrt12 , dann hätte die Erklärung aufgrund des ein­ seitigen Irrtums des Erklärenden mit ihrem objektiven Inhalt gegolten. Dieser Be­ gründungsansatz funktioniert auch bei umgekehrter Rollenverteilung. Auch wenn der Erklärende die Erklärung objektiv falsch versteht, schafft er damit in den me­ thodenrelevanten Fällen eine von mehreren (kumulativen) Voraussetzungen dafür, dass ein etwaiges späteres Vertrauen des Empfängers auf das objektiv Erklärte un­ ter Berufung auf die natürliche Auslegung enttäuscht werden kann. Gegen diesen Lösungsansatz spricht jedoch, dass es im geltenden Recht an einem dogmatischen Ansatzpunkt fehlt, eine derartige Haftung für das eigene Fehlver­ ständnis zu begründen. Die „Ausdruckssorgfalt“ des Erklärenden und die „Deu­ tungsdiligenz“ des Empfängers geben hierfür, etwa im Sinne einer von §  280 I BGB bewehrten Pflicht zum ordnungsgemäßen Umgang mit dem Instrument der Willen­ serklärung, nichts her. Nach herkömmlicher Sichtweise besteht nämlich keine posi­ tive Pflicht zur ordnungsgemäßen Erklärung oder Deutung gegenüber der Gegen­ seite, sondern jede Seite bemüht sich lediglich im eigenen Interesse zur Vermeidung sie selbst kraft normativer Auslegung treffender Rechtsnachteile um ein zutreffen­ des Verständnis der Erklärung.13 Es handelt sich um eine bloße Obliegenheit.14 Bei Annahme des hier unterstellten Haftungsgrundes würde jeder Beteiligte hingegen zur Sorgfalt auch im Interesse des Gegners verpflichtet. Die neu hinzutretende scha­ densersatzbewehrte Pflichtdimension würde allein dem Zweck dienen, den Gegner vor den Rechtsfolgen der Doppelirrtumsausnahmen zu bewahren, da er bei einem einseitigen Irrtum ohnehin durch die normative Auslegung geschützt ist. Es leuchtet nicht ein, warum das Gesetz diese Rechtsfolgen dann überhaupt vorsehen sollte.15 12  Oder im Falle des erratenen Willens haltlos über den Willen des Erklärenden zu spekulieren begonnen. 13  Bailas, Problem (1962), 48, 56. 14  Looschelders, in: NK‑BGB (2012), §  133 Rn.  49 und Lüderitz, Auslegung (1966), 286, je­ weils bezogen auf den Empfänger. Auch Flume, FS DJT I (1960), 135 (196 f.) mag „höchstens“ von einer Obliegenheit sprechen, hält aber auch dies „für die Auslegungslehre nicht fördernd“. Möglicherweise bezieht sich auf diesen Aspekt auch Zemen, JBl 1986, 756 (767), der bei Unter­ suchung einer Schadensersatzpflicht wegen Enttäuschung nachträglichen Vertrauens auf das ob­ jektiv Erklärte ausführt: „Worin kann der Haftungsgrund liegen? Eine Obliegenheitsverletzung braucht nicht in Betracht zu kommen, weil sie keine Ersatzpflicht für Vertrauensschäden zuguns­ ten des Erklärenden auslösen kann.“ 15  Ähnlich auch beim erratenen Willen (§  4 IV 2): Warum sollte das Gesetz das Erraten des

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§  7 Schutz des nachträglichen Vertrauens auf Basis der dualistischen Lehre?

Die wertungsmäßige Inkonsistenz, die dieser Haftungsbegründung zugrunde­ liegt, lässt sich auch an ihrer theoretischen Rechtsfolge ablesen. Haftungsbegrün­ dend ist hiernach nicht die Erweckung fremden Vertrauens, sondern dessen über die natürliche Auslegungsregel vermittelte Enttäuschung. Der Anspruchsinhaber wäre daher nach der schadensrechtlichen Differenzhypothese nicht so zu stellen, als hät­ te er nicht zu vertrauen begonnen (negatives Interesse), sondern als wäre sein Ver­ trauen nicht enttäuscht worden (positives Interesse). Das läuft darauf hinaus, im Wege des Schadensrechts zu korrigieren, was im Wege der natürlichen Auslegung als Ergebnis für richtig gehalten wird. Würde hier sogar – wie es dem Grundsatz des §  249 I BGB entspricht – ein auf Naturalrestitution gerichteter Schadensersatzan­ spruch anerkannt, dann folgt daraus das paradoxe Ergebnis eines Anspruchs auf Mitwirkung an der Beseitigung des natürlichen und Neubegründung des normati­ ven Auslegungsergebnisses. Dies wäre nämlich der Zustand, der eingetreten wäre, wenn der Haftende die Erklärung von Anfang an richtig verstanden hätte. Schwerer noch als die innere Unstimmigkeit dieser Lösung wiegt, dass auf dieser Basis ein vollumfänglicher Ersatz des Vertrauensschadens kaum noch begründbar wäre. Den Anspruchsteller trifft spiegelbildlich derselbe „Vorwurf“ wie den An­ spruchsgegner. Sein Fehlverständnis ist eine (vom Fehlverständnis des Anspruchs­ gegners unabhängige) kumulative Voraussetzung dafür, dass es zu der Ver­t rauens­ enttäuschung gekommen ist. Wenn das Fehlverständnis des Anspruchsgegners haf­ tungsbegründend wirkt, muss das Fehlverständnis des Anspruchstellers, wenn schon nicht anspruchsausschließend, so doch zumindest gemäß oder entsprechend §  254 I BGB anspruchsbeschränkend wirken. Darin läge aber eine nicht zu rechtfer­ tigende Einschränkung des Schutzes nachträglich entstandenen Vertrauens. Es wurde bereits in §  6 dargelegt, dass eine Schlechterstellung nachträglichen Vertrau­ ens gegenüber anfänglichem Vertrauen nicht angebracht ist. Es sei insbesondere daran erinnert, dass dem Anspruchsgegner aus dem anfänglichen Irrtum des An­ spruchstellers sogar noch ein Vorteil erwächst, weil der gegen ihn gerichtete An­ spruch sich dadurch nur reduzieren, aber nie anwachsen kann.16

3. Dritter Haftungsgrund: Verletzung einer Aufklärungspflicht über das eigene Fehlverständnis Bleibt noch als letzte Möglichkeit einer Haftungsbegründung die Verletzung einer Aufklärungspflicht zu erwägen, wie sie Zemen zum österreichischen Recht vertritt. Zemen will das von ihm für schutzwürdig befundene, bei der Auslegung aber über­ gangene17 nachträgliche Vertrauen auf das objektiv Erklärte durch einen Schadens­ Willens für beachtlich halten, wenn es umgekehrt an das Ratespiel des Empfängers eine Haftung knüpft? 16  Dazu bereits §  6 I 4 d. 17  Zemen, JBl 1986, 756 (767): „Es ist anzuerkennen, daß der Erklärende in schutzwürdiger

II. Schadensersatzanspruch des nachträglich Vertrauenden?

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ersatzanspruch wegen „Verletzung einer (nachvertraglichen) Aufklärungspflicht auf Seiten des Erklärungsgegners“18 auffangen. Als dogmatischer Anknüpfungs­ punkt für eine solche Haftung kommt im deutschen Recht §  280 I BGB in Betracht, wobei die Aufklärungspflicht aus §  241 II BGB folgen könnte – ggf. in Verbindung mit §  311 II BGB, falls die Aufklärungspflicht bereits in der Phase der Vertragsan­ bahnung bestehen sollte. Hier ist zunächst zwischen dem Gegenstand der Aufklärungspflicht („worüber“) und deren Auslösung („wann“) zu unterscheiden. Gegenstand der Aufklärung kann sinnvollerweise nur das anfängliche (Fehl-)Verständnis des Aufklärungspflichtigen sein, das der Gegenseite typischerweise unbekannt ist und sie ggf. dem Überra­ schungseffekt der natürlichen Auslegung aussetzt. Über sein eigenes anfängliches irriges Verständnis, wenn es dem Aufklärungspflichtigen einmal zufällig bekannt sein sollte, bedarf der Gegner keiner Aufklärung. Wodurch aber könnte eine solche Aufklärungspflicht ausgelöst werden? Unbe­ denklich dürfte die Annahme einer Aufklärungspflicht sein, wenn einer der Betei­ ligten von den beiderseitigen Irrtümern weiß und zudem noch davon erfährt, dass die Gegenseite ihren eigenen Irrtum entdeckt hat. Wer in dieser Lage den eigenen Irrtum geheim hält, um sich gegebenenfalls später gegenüber der nichtsahnenden und zwischenzeitlich auf das objektiv Erklärte umschwenkenden Gegenseite auf die natürliche Auslegung berufen zu können, lässt den Gegner bewusst ins „offene Messer“ der natürlichen Auslegung laufen. Eine solche Treuwidrigkeit müsste im dualistischen Konzept, wenn sie nicht schon wegen ihrer Rechtsmissbräuchlichkeit nach §  242 BGB ein Berufen auf die natürliche Auslegung ausschließt, wegen Ver­ letzung einer Aufklärungspflicht zu einer Haftung aus §§  280 I, 241 II BGB19 oder §  826 BGB führen. Doch damit wäre das Problem nachträglichen Vertrauens allenfalls rudimentär angegangen. Nachträgliches Vertrauen kann auch zu einem Zeitpunkt entstehen, in dem der Aufklärungspflichtige von dem anfänglichen Fehlverständnis seines Geg­ ners noch nichts ahnt und nichts ahnen muss. Selbst wenn man deshalb bereit wäre, so weit zu gehen, im Hinblick auf die abstrakte Gefahr des zufälligen Eingreifens der natürlichen Auslegung oder eines inkongruenten Doppelirrtums eine generelle Aufklärungspflicht ab Entdeckung des eigenen Irrtums anzunehmen, bliebe mögli­ Weise auf den Inhalt seiner eigenen Erklärung oder jener der anderen Partei vertraut oder vertrau­ en darf. Dieses Vertrauen bleibt aber für die Bejahung oder Verneinung und den Inhalt des Ver­ tragsschlusses ohne Einfluß.“ 18  Zemen, JBl 1986, 756 (767). Weiter heißt es dort zur dogmatischen Herleitung: „Eine solche Verletzung einer Sorgfalts- und Aufklärungspflicht lässt sich wohl noch in die Figur der culpa in contrahendo einordnen.“ Zemen erwägt in seiner Untersuchung zum Vertragsrecht nur Ansprüche „der Erklärenden“. Da es sich um ein allgemeines Problem der Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen han­ delt, müsste rollenneutral formuliert werden, um auch (insb. bei einseitigen Rechtsgeschäften) nachträglich entstandenes Empfängervertrauen zu erfassen. 19 Vgl. Zemen, JBl 1986, 756 (767).

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cherweise lange vor diesem Zeitpunkt entstandenes und betätigtes Vertrauen des Aufklärungsberechtigten auf der Strecke. Einen dem Grunde nach lückenlosen Schutz des nachträglich entstehenden Ver­ trauens könnte die Aufklärungspflichtenlösung demnach überhaupt nur gewährleis­ ten, wenn eine objektive Aufklärungspflicht bereits von Anfang an bestünde, d. h. für den Erklärenden ab der irrtumsbehafteten Erklärungsabgabe und für den Emp­ fänger ab der irrtumbehafteten Erklärungsaufnahme.20 Die Beteiligten zur Mittei­ lung ihres eigenen Irrtums zu verpflichten, sobald und weil sie anfänglich mit der Erklärung einen von ihrem objektiven Inhalt nicht gedeckten Sinn verbinden, ginge aber ersichtlich zu weit. Dadurch würde jeder Irrende mittelbar gezwungen, seinen Irrtum der Gegenseite zur Abwendung einer überhaupt erst durch eine Rechtsregel (natürliche Auslegung) heraufbeschworenen Gefahr offenzulegen; das ist ein dem Gesetz völlig fremder Gedanke, wie die Entscheidung des Gesetzgebers für die An­ fechtungskonstruktion belegt, die die Möglichkeit eines Verzichts auf Anfechtung und ein Recht auf ein Für-sich-Behalten des eigenen Irrtums einschließt. Erschwerend kommt hinzu, dass letztlich auch auf dieser Basis die Intensität des Schutzes des nachträglichen Vertrauens hinter derjenigen des anfänglichen Ver­ trauens zurückbliebe. Bei einer Haftung für Aufklärungspflichtverletzungen, die aus §  280 I BGB herzuleiten wäre, hinge der Vertrauensschutz vom Vertretenmüs­ sen des Aufklärungspflichtigen ab (§  280 I 2 BGB).21 Hat es der Aufklärungspflich­ tige nicht zu vertreten, dass er sich eine objektiv unzutreffende Auffassung vom Sinn der Erklärung gebildet und dies auch später nicht erkannt hat, so bleibt der Aufklärungsberechtigte ungeschützt. Der Schutz anfänglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte in Form der Geltung des objektiv Erklärten und der Haftung aus §  122 I BGB ist vom Gesetz hingegen verschuldensunabhängig ausgestaltet ist. Er­ klärender und Empfänger können sich auf den objektiven Inhalt der Erklärung ohne Rücksicht auf ein etwaiges Verschulden der Gegenseite berufen.22 Auf Rechtsfolgenseite erhielte der Aufklärungsberechtigte zudem typischerwei­ se nicht seinen vollen Vertrauensschaden ersetzt, da sein Ersatzanspruch bei dieser dogmatischen Herleitung fast immer unter dem Gesichtspunkt der Mitverantwor­ tung für die Entstehung des Schadens (§  254 I BGB) zu kürzen wäre.23 Zum einen 20  Möglicherweise in diesem Sinne Zemen, JBl 1986, 756 (767), der die Pflicht auf eine culpa in contrahendo stützt, also in der Vertragsschlussphase verankert. Die Ausführungen sind inso­ weit allerdings undeutlich, da er auch von einer „nachvertraglichen“ Aufklärungspflicht spricht, deren Verletzung keine „culpa in contrahendo“ begründen kann. 21  Zemen, JBl 1986, 756 (767) hält auf Basis des österreichischen Rechts ebenfalls ein Ver­ schulden des – von ihm allein als Anspruchsgegner in den Blick genommenen – Erklärungsemp­ fängers für erforderlich. 22  Dies gilt auch für den Erklärenden insoweit, als er das objektiv Erklärte selbst dann geltend machen kann, wenn der Erklärungsinhalt vor Kenntnisnahme in der Sphäre des Empfängers ver­ fälscht wird, ohne dass den Empfänger ein Verschulden trifft (vgl. Kellmann, JuS 1971, 609 [613], der von einer Gefährdungshaftung des Empfängers spricht). 23  Zemen, JBl 1986, 756 (767) erwägt eine „Teilung des Schadens aus dem Titel des Mitver­ schuldens (§  1304 ABGB)“ lediglich für den unter Vertrauensschutzgesichtspunkten unbedenkli­

III. Vorrang der normativen Methode bei Entstehung nachträglichen Vertrauens?

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wird der Aufklärungsberechtigte nämlich regelmäßig vor Tätigung seiner Vertrau­ ensinvestitionen die Aufklärungspflicht des gerade beschriebenen Zuschnitts selbst verletzt haben, deren Beachtung die Sachlage meist noch hätte aufklären können. Zum anderen hat der Aufklärungsberechtigte mit seinem eigenen anfänglichen Fehlverständnis selbst eine der Voraussetzungen dafür gesetzt, dass er von den Wir­ kungen der natürlichen Auslegung überrascht werden konnte.24 Diese Kürzung ist eine weitere unbegründete Schlechterstellung des Schutzes nachträglichen Vertrau­ ens gegenüber anfänglichem Vertrauen, das ungeschmälert geschützt wird.

III. Ausnahmsweiser Vorrang der normativen Methode bei Entstehung nachträglichen Vertrauens? Die unter I. und II. verworfenen Lösungsansätze versuchen das Problem des Schut­ zes nachträglichen Vertrauens mit Instrumenten in den Griff zu bekommen, die neben die Auslegung treten. In Betracht zu ziehen ist freilich auch die Möglichkeit, die dualistische Auslegungslehre so zu modifizieren, dass sie dem gebotenen Schutz nachträglichen Vertrauens Rechnung trägt, ohne hierfür die natürliche Methode und damit den dualistischen Grundansatz in toto aufzugeben. In diesem Sinne kommt eine – soweit ersichtlich bislang nirgends vertretene25 – Modifikation zum Schutz nachträglichen Vertrauens in Betracht, die die dualistische Lehre um folgen­ de Ausnahme ergänzt: Ungeachtet der anfänglichen Verständnisübereinstimmung bestimmt doch die normative Methode den Erklärungssinn, wenn ein Beteiligter beweist, nachträglich auf den davon abweichenden objektiven Erklärungssinn ver­ traut zu haben. Genügt es mit anderen Worten bei Entstehung nachträglichen Ver­ trauens im Entdeckungsszenario entgegen der heute allgemein vertretenen Fassung der dualistischen Lehre26 ausnahmsweise vom materiell-rechtlichen Vorrang der normativen vor der natürlichen Methode auszugehen? chen Fall, dass dem nachträglich Vertrauenden die ursprüngliche innere Übereinstimmung der Willen erkennbar war. Die eingeschränkte Schutzwürdigkeit nachträglichen Vertrauens ergibt sich im deutschen Recht dann mittelbar aus §  122 II BGB. Bei Erkennbarkeit der anfänglichen Willensübereinstimmung muss der Willensmangel der Gegenseite nachträglich aufgrund zusätz­ licher Umstände bekannt geworden sein (dazu schon §  6 I 4 c). 24  Dazu bereits unter 2. 25 Bei Zemen, JBl 1986, 756 (765 f.) finden sich lediglich einige programmatische Erwägungen zur Berücksichtigungsfähigkeit nachträglichen Vertrauens, die auf S.  766 in den Satz münden „Grundsätzlich darf man daher sagen, daß das Vertrauen der einen Partei auf den objektiven Er­ klärungswert für die Frage des Vertragsschlusses noch mitberücksichtigt werden sollte, auch wenn sich ein solches Vertrauen erst nachträglich einstellt.“ Im Folgenden zieht Zemen hieraus jedoch explizit keine Konsequenzen für das Zustandekommen und den Inhalt des Vertrags, sondern be­ fürwortet lediglich die bereits im Text unter I. und II. behandelten Lösungsansätze jenseits der Auslegung. 26  Zum allgemein angenommenen materiell-rechtlichen Vorrang der natürlichen vor der nor­ mativen Auslegungsmethode bereits §  3 V.

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§  7 Schutz des nachträglichen Vertrauens auf Basis der dualistischen Lehre?

Diese auf den ersten Blick so einfach erscheinende Adhoc-Lösung würde freilich dazu führen, dass das ohnehin schon komplizierte dualistische Modell durch eine neue streitanfällige Rückausnahme eine weitere Verkomplizierung erfährt, deren Handhabung ungeklärte Folgefragen aufwirft, die hier nur skizziert werden sollen. Das Eingreifen der Ausnahmeregel wäre nur gerechtfertigt, wenn das Vertrauen des Entdeckers auf das objektiv Erklärte auch noch zum Zeitpunkt der Entdeckung schutzwürdig ist, da schließlich gerade dieses Vertrauen als Tatbestandsmerkmal der modifizierten dualistischen Lehre den Erklärungssinn noch einmal nachträglich umstoßen können soll. Die Schutzwürdigkeit dieses Entdeckervertrauens ergibt sich nicht automatisch daraus, dass der Entdecker die Erklärung nachträglich so versteht, wie er sie bei Zugang der Erklärung zu verstehen hatte. Bis zur Entde­ ckung kann er nämlich zwischenzeitlich durchaus noch weitere Zusatzinformatio­ nen erlangt haben, in deren Licht sich das mit der Erklärung Gemeinte in einem anderen Licht darstellt. Berücksichtigt man aber die Zusatzinformationen bei der Bestimmung des objektiven Erklärungssinns, führt dies nicht nur zu einer gleiten­ den Verschiebung des Empfängerhorizonts, sondern auch zum Folgeproblem, wel­ che Bedeutung die Erklärung haben soll, wenn beide Beteiligte ihr Fehlverständnis zu unterschiedlichen Zeitpunkten (und damit auch potentiell mit unterschiedlichen Informationsständen) entdecken.27 Die Erklärung kann nur jeweils eine Bedeutung haben. Welche soll dann aber die maßgebliche sein? Unklar ist auch, ob das Eingrei­ fen der Rückausnahme zugunsten der normativen Auslegung lediglich ein intellek­ tuelles „Erkennen“ des objektiv Erklärten erfordert oder (entsprechend den Kriteri­ en der Rechtsscheinlehre) sogar eine darauf gerichtete Vertrauensbetätigung.28 27  Vorsorglich sei ergänzt: Für die hier vertretene streng normative Auslegungslehre stellt sich das Problem einer etwaigen Schutzunwürdigkeit nachträglich entstehenden Vertrauens mit der Konsequenz einer gleitenden Horizontverschiebung nicht in gleichem Maße. Diese Lehre ist zwar durch die sonst drohenden Verwerfungen im Entdeckungsszenarios teleologisch motiviert, sie ist aber – anders als die im Text erwogene modifizierte dualistische Lehre – nicht auch tatbestandlich von einer solchen nachträglichen Entdeckung abhängig, gerade um die sogleich im Text beschrie­ benen Orientierungsunsicherheiten einer solchen Konstruktion gar nicht erst aufkommen zu las­ sen. Damit beide Seiten jederzeit Orientierungssicherheit über den rechtsmaßgeblichen Erklä­ rungssinn haben, bleibt dieser grundsätzlich (zur einzigen Ausnahme siehe §  13 V) auf den Zeit­ punkt der Vornahme des Rechtsgeschäfts fixiert. Dem Umstand, dass zum Entdeckungszeitpunkt zwischenzeitlich vom Empfänger erlangte Zusatzinformationen das (zum Vornahmezeitpunkt ermittelte) objektiv Erklärte als erkennbar irrtumsbehaftet ausweisen, kann die streng normative Auslegungslehre bruchlos durch §  122 II BGB Rechnung tragen (dazu bereits §  6 I 4 c a. E.). Die im Text erwogene modifizierte dualistische Lehre dürfte sich hingegen nach ihrem eigenen Grundan­ satz auf einen solchen bloßen Ausschluss des Vertrauensschadensersatzes kaum zurückziehen, da sie selbst das durch die Entdeckung entstehende Vertrauen zum Tatbestandsmerkmal bei der Auslegung erhebt und sich folglich schon bei der Auslegung die Frage der Schutzwürdigkeit dieses Vertrauens stellen muss. 28  Diese Frage muss sich die herrschende Lehre bislang nicht stellen, soweit sie das Eingreifen der normativen Methode nicht tatbestandlich von der Existenz konkreten Vertrauens abhängig macht. Zur Diskussion über ein solches „Vertrauenserfordernis“ siehe noch eingehend §  9 II 1 b bb. Auch in diesem Zusammenhang wird allerdings die Problematik der erforderlichen Vertrauensin­ tensität bislang kaum behandelt (vgl. hierzu auch §  13 Fn.  74).

III. Vorrang der normativen Methode bei Entstehung nachträglichen Vertrauens?

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Selbst wenn es möglich sein sollte, eine in sich stimmige modifizierte dualisti­ sche Lehre zu formulieren, die auf das nachträgliche Vertrauen Rücksicht nimmt, spricht ein übergeordneter Wertungsgesichtspunkt entscheidend gegen diesen Lö­ sungsansatz. Die Modifikation hilft nämlich dem bereits herausgearbeiteten Grund­ problem der dualistischen Lehre, der Desorientierung der Beteiligten über ihre Rechtslage, nicht wirklich ab, sondern verschiebt es nur an eine andere Stelle. Die herkömmliche Variante der dualistischen Lehre bringt den Entdecker in die bereits ausführlich beschriebene missliche Lage, ohne Mitwirkung des Gegners nicht beur­ teilen zu können, ob das normative Auslegungsergebnis gilt oder durch die natürli­ che Methode verdrängt ist, soweit ihm das anfängliche innere Verständnis des Geg­ ners unbekannt ist. In der hier erwogenen modifizierten Variante der dualistischen Lehre verlagert sich diese Ungewissheit lediglich dahin, ob das natürliche Ausle­ gungsergebnis maßgeblich ist, soweit eine Partei nicht beurteilen kann, ob der Geg­ ner das objektiv Erklärte entdeckt hat. Beispiel: Wenn A und B die objektiv auf y lautende Willenserklärung aufgrund eines kongruenten Doppelirrtums bei Vornah­ me des Geschäfts als x verstanden haben und A später von diesem kongruenten Doppelirrtum erfährt29, kann er seine Rechtslage nicht beurteilen: Er weiß nicht, ob das natürliche Auslegungsergebnis aufgrund der anfänglichen Verständnisüber­ einstimmung gilt, oder ob das normative Auslegungsergebnis gilt, weil B – für A nicht erkennbar – die objektive Bedeutung entdeckt hat (ohne seinerseits von dem gleichsinnigen Irrtum des A zu wissen).30 Die Maßgeblichkeit des tatsächlichen Vertrauens verschafft dem nachträglich Vertrauenden zudem eine problematische faktische Wahlmöglichkeit, da er seinem Gegner die nicht offenbarte Entdeckung des objektiv Erklärten häufig wird ver­ heimlichen können.31 Eine streng normative Auslegungslehre schafft hingegen klare Verhältnisse und verhindert derartige Wahlmöglichkeiten schon im Ansatz, da es auf die Existenz konkreten Vertrauens für die Rechtslage nicht ankommt.

29  A muss hierfür aus irgendwelchen Quellen erfahren haben, dass sich die Verständnisse der Beteiligten bei Vornahme des Rechtsgeschäfts zufällig deckten. 30  Die Ungewissheit lässt sich im genannten Beispiel auch nicht mit der Erwägung bestreiten, die Erklärung laute (für A erkennbar) auf y, weil A den objektiven Erklärungssinn selbst nachträg­ lich „entdeckt“ haben muss, um von dem kongruenten Doppelirrtum wissen zu können. Ließe man es nämlich zum Eingreifen der normativen Methode stets genügen, dass eine Partei nachträglich den objektiven Erklärungssinn realisiert, dann wäre der natürlichen Methode schon damit der Zahn gezogen: Im Streitfall wird eine der Parteien immer (spätestens im Prozess) das objektiv Erklärte realisiert haben. Eine stimmige modifizierte Form der dualistischen Lehre müsste deshalb auch stets Bedingungen formulieren, unter denen ein nachträgliches Entdecken des objektiv Er­ klärten nicht mehr zur Außerkraftsetzung der natürlichen Methode führt. 31  Vgl. dazu bereits §  6 I 3 b und d.

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§  7 Schutz des nachträglichen Vertrauens auf Basis der dualistischen Lehre?

IV. Ergebnis Es hat sich gezeigt, dass dem nachträglich auf das objektiv Erklärte Vertrauenden weder mit einem Anfechtungsrecht noch mit einem neben der Auslegung stehenden Schadensersatzanspruch zu helfen ist. Eine Modifikation der dualistischen Lehre, die auf das nachträgliche Vertrauen Rücksicht nimmt, würde nur eine zusätzliche Verkomplizierung mit sich bringen, die zudem an anderer Stelle neue Unsicherhei­ ten für die Beteiligten schafft. Es ist nicht möglich, das Problem nachträglichen Vertrauens auf Basis der dualistischen Lehre befriedigend zu lösen und so den Übergang zu einer streng normativen Auslegungslehre abzuwenden.

§  8 Historische Einordnung Der gerade herausgearbeitete Konflikt der dualistischen Auslegungslehre mit dem Schutz nachträglichen Vertrauens wird einem Leser, der nur das aktuelle Schrift­ tum kennt, als ein Novum erscheinen. Tatsächlich hat die hier vertretene Auffas­ sung jedoch einige historische Vorläufer (dazu unter I.), die in den Schriften der Anhänger der heute herrschenden dualistischen Lehre allerdings keinerlei Wider­ hall fanden und praktisch vergessen sind (dazu unter II.). Das Versanden der Dis­ kussion über die Bedeutung des nachträglichen Vertrauens dürfte zumindest teil­ weise auch den Autoren anzulasten sein, die diesen Gesichtspunkt in die Diskussion einführten (dazu unter III.).

I. Historische Vorläufer Der Gedanke, die Rechtsgeschäftslehre müsse auch auf das nachträgliche Vertrauen der Parteien Rücksicht nehmen, begegnet in der historischen Diskussion sowohl im Zusammenhang mit dem kongruenten Doppelirrtum (dazu unter 1.) als auch im Zusammenhang mit dem inkongruenten Doppelirrtum (dazu unter 2.).

1. Das nachträgliche Vertrauen in der Diskussion über den kongruenten Doppelirrtum Ein Blick in die aktuelle Literatur zur Auslegung lässt nicht mehr erahnen, dass die Beurteilung des kongruenten Doppelirrtums einmal ernsthaft umstritten gewesen sein könnte. Selbst in umfangreichen Kommentierungen zum BGB wie denen im Staudinger1, im Münchener Kommentar 2 oder im Nomos Kommentar3 findet sich bei §  133 BGB kein einziger Hinweis auf eine andere Ansicht zu dieser für die zwei­

1  Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  1 ff. Nur das Literaturverzeichnis nennt einige der einschlägigen Schriften. 2  Busche, in: MünchKommBGB (2015), §  133 Rn.  1 ff. Bei §  119 BGB erwähnt Armbrüster, in: MünchKommBGB (2015), §  119 Rn.  59 in Fn.  155 a. E. die a. A. von Titze, Mißverständnis (1910), 422 f. und bezeichnet sie ohne nähere Begründung als „unhaltbar“. 3  Looschelders, in: NK‑BGB (2012), §  133 Rn.  1 ff.

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§  8 Historische Einordnung

stufige Struktur der dualistischen Lehre grundlegenden Frage.4 Als kritische Stim­ me wird heute allenfalls noch Wieling geführt5, dessen Kritik sich jedoch aus­ schließlich gegen das Rechtssprichwort falsa demonstratio non nocet richtet, das er für eine Regel „ohne jede Bedeutung“ hält, weil es „lediglich etwas Selbstverständ­ liches“ zum Ausdruck bringe.6 Die Breite des (historischen) Meinungsspektrums bilden diese Darstellungen nicht mehr ab. Dies mag an dem mittlerweile stattlichen Alter derjenigen Publika­ tio­nen liegen, die noch dezidiert anderer Ansicht waren. Die Auslegung von Rechts­ geschäften war ein Lieblingskind der Zivilrechtswissenschaft im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Ausgelöst durch die in drei Auflagen erschienene Schrift von Danz über „Die Auslegung der Rechtsgeschäfte“ von 1897 und das Inkrafttreten der §§  133, 157 BGB setzte eine regelrechte Flut von Publikationen ein, die erst mit dem Erscheinen der Habilitationsschrift von Larenz über „Die Methode der Auslegung der Rechtsgeschäfte“ im Jahr 1930 spürbar abebbte.7 In dieser ersten Hochphase der wissenschaftlichen Auseinandersetzung waren Stimmen, die von der heute herrschenden Meinung zum Umgang mit der falsa demonstratio abwichen, keine Seltenheit. Eine ganze Reihe von Autoren – darunter auch profilierte Zivilrechts­ wissenschaftler wie Oertmann8, Titze9, F. Leonhard10 und Henle11 – traten bei kongruentem Doppelirrtum für die normative Auslegung ein.12 4  Siehe aber – entsprechend der rechtshistorischen Ausrichtung des Kommentars – die zahl­ reichen Nachw. bei Vogenauer, in: HKK‑BGB (2003), §§  133, 157 Rn.  88 in Fn.  448, freilich ohne Erwähnung der Argumentation dieser Autoren. 5 So etwa bei Bork, AT (2016), Rn.   519 in Fn.  13 a. E.; Petersen, AT (2013), §  11 Rn.  13 in Fn.  25; Diederichsen, FS Juristische Gesellschaft zu Berlin (1984), 81 (85 in Fn.  26 a. E.). Vgl. auch Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  13: „krit, iE aber zust“. 6  Wieling, AcP 172 (1972), 297 (307). Ähnlich Martinek, JuS 1997, 136 (139 [Stud. K.]), wo­ nach „sogar der Ausnahmecharakter der falsa demonstratio-Regel fragwürdig“ sei. 7  Vogenauer, in: HKK‑BGB (2003), §§  133, 157 Rn.  11. 8  Bei objektiv eindeutigen Erklärungen: AcP 117 (1919), 275 (insb. 303 ff.); BGB-Kommentar (1927), 403 (§  119 BGB Anm.  6) und wohl auch S.  408 (§  119 Anm.  11 b β). Dualistisch dagegen bei objektiv mehrdeutigen Erklärungen: Rechtsordnung (1914), 87; BGB-Kommentar (1927), 327 f. (Vor §§  104 ff. Anm.  9), 559 (§  155 Anm.  1 b ε). 9  Mißverständnis (1910), 188–190 in Fn.  34, 337 f., 354 f., 366 f. in Fn.  26, 392, 422 f. Vgl. auch FS Heymann II (1940), 72 (75 f.), wo Titze ohne Begründung erläutert, der beidseitige gemeinsame Irrtum beim Vertragsschluss verleihe „jeder Vertragspartei nicht mehr und nicht weniger Rechte, als sie haben würde, wenn sie allein geirrt hätte, der Irrtum also ein ‚einseitiger‘ gewesen wäre“. 10  AcP 120 (1922), 14 (103–117). Nochmals BR (1948), 46 (dort ohne Begründung). 11  Bei objektiv eindeutigen Erklärungen: GgA 170 (1908), 427 (485–487); Lb. I (1926), 75, 224 f. Dualistisch dagegen bei objektiv mehrdeutigen Vertragsanträgen (Nachw. in §  6 Fn.  86). 12  In der älteren Literatur noch: Windscheid/Kipp, Pandekten I (1906, 1984), 401 Anm. IV a. E. ohne nähere Begründung (das angeführte Beispiel einer Parzellenverwechslung lässt zudem die Abschichtung der unechten Falschbezeichnung vermissen); Pickert, Vertragsschluss (1927), 48 f. bei objektiv eindeutigen Erklärungen (aber dualistisch bei objektiv mehrdeutigen Erklärungen, 57–59); Sachse, AcP 127 (1927), 288 (293 f.); Seifert, Falsa demonstratio (1929), 134 ff. bei objektiv eindeutigen Erklärungen (aber dualistisch bei objektiv mehrdeutigen Erklärungen, a. a. O., 129 f.); Rhode, Willenserklärung (1938), 77–80.

I. Historische Vorläufer

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Bei einigen dieser Autoren stößt man in diesem Zusammenhang auf die Argu­ mentation mit dem Schutz des nachträglichen Vertrauens.13 Soweit ersichtlich wird sie erstmals 1908 von Henle vorgebracht. Zitelmann hatte schon zum gemeinen Recht die Frage, ob ein „doppelter Irrtum eine gewisse Heilwirkung14 beim Vertrag auszuüben“ in der Lage sei, anhand des Beispiels positiv beantwortet, in dem je­ mand erklärt eine Million Zigarren bestellen zu wollen, tatsächlich aber nur tausend („Million“ statt „mille“) meint, der Empfänger sich aber verhört („mille“ statt „Mil­ lion“) und deshalb auch von einer Bestellung über tausend Zigarren ausgeht.15 Hie­ rauf bezugnehmend führt Henle aus: „Es mag ja im ersten Augenblick befremdend erscheinen, wenn unter Anwesenden (…) ein Vertrag scheitern soll, weil der Akzeptant die Offerte eigentlich hätte mißverstehen müs­ sen. Aber sollte nicht in solchen Fällen der wahre Vertragsschluß im späteren Verhalten der Parteien zu finden sein? Das Billigkeitsgefühl ist jedenfalls in diesen verwickelteren Fragen ein schlechter Führer, der seinerseits der Führung bedarf. Man setze nur den Fall so, daß der Offerent nach Absendung seinen Irrtum bemerkt, inzwischen seine Ansicht über das gewollte Geschäft geändert hat, aber nun den noch möglichen Widerruf unterläßt, da er sich sagt, seine Offerte habe in Folge des Versehens ja gar keinen Sinn; nun versteht Oblat16 die Sache aber richtig!“17

Innovativ war dieser (etwas umständlich dargestellte) Gedankengang, weil Henle an dieser Stelle wohl als erster einen methodenrelevanten Fall in zeitlicher Hinsicht zu Ende dachte und die Folgen der Entdeckung des Irrtums im Entdeckungsszenario in seine Überlegung einbezog. Das Unterlassen des Widerrufs des Antrags gem. §  130 I 2 BGB im Vertrauen auf die nachträglich entdeckte objektive Unwirksamkeit18 des 13  Außer dem sogleich im Text behandelten Henle argumentieren so noch Titze, Mißverständ­ nis (1910), 423 zur objektiv eindeutigen Erklärung; Oertmann, AcP 117 (1919), 275 (303 f.) zur objektiv eindeutigen Erklärung; F. Leonhard, AcP 120 (1922), 14 (108 f.); Seifert, Falsa demonstra­ tio (1929), 136 ff. zur objektiv eindeutigen Erklärung; Rhode, Willenserklärung (1938), 78. Bei den übrigen in Fn.  12 genannten Autoren findet sich keine auf die Notwendigkeit des Schutzes nach­ träglichen Vertrauens gestützte Argumentation. In neuerer Zeit für eine normative Auslegung nur noch Weiss, Falsa demonstratio (1963), 12, 13 (unter C 3); Bickel, Methoden (1976), 154 mit Fn.  60–62 (zu ihm noch §  10 Fn.  18); Spieß, JZ 1985, 593 (596); Scherner, AT (1995), 94–96. Die drei erstgenannten Autoren stützen sich nicht auf die aus dem Entdeckungsszenario abgeleitete vertrauenstheoretische Argumentation. Bei Scherner ist sie allenfalls mit der Bemerkung angedeutet, im Zentner-Fall (dazu bereits §  4 II 1) müsse sich V auf die objektive „Erklärungsbedeutung ‚10 Zentner‘ berufen können, denn er hat keinen Anlaß daran zu zweifeln“ (a. a. O., 95). 14  Die Heilwirkung bezieht sich dabei auf die Unwirksamkeit, die sich auf Basis der gemein­ rechtlichen Willenstheorie bei Divergenz von Wille und Erklärung einstellte (vgl. hierzu Zitelmann, JherJb 16 [1878], 357 ff.). 15  Zitelmann, Irrtum (1879), 428. 16  Heute kaum noch gebräuchliche, vom lateinischen „oblatum“ (Angebotenes) abgeleitete Be­ zeichnung für den Empfänger eines Vertragsantrags. 17  Henle, GgA 170 (1908), 427 (486); zust. Titze, Mißverständnis (1910), 423. So nochmals Henle, Lb. I (1926), 78. 18  Henle unterstellte wohl, dass die Erklärung bei normativer Auslegung erkennbar irrtums­ behaftet ist, ohne dass unter Berücksichtigung der erkennbaren Begleitumstände klar ist, wieviele

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Antrags war allerdings angesichts des (nicht besonders schutzbedürftig erscheinen­ den) Wankelmuts des Offerenten ein recht blasses Beispiel für die Gefahren, die dem Entdecker durch die natürliche Methode drohen. Andere Autoren brachten es später anschaulicher auf den Punkt: „Der Besteller schreibt irrig statt 350 Stück nur 250. Der Verkäufer verliest sich und liest zufällig statt 250 Stück 350. Damit hat er den in der WE nicht erkennbar geäußerten Sinn, der innerlich gemeint war und geäußert werden sollte, verstanden. Sollte dieser verstande­ ne Sinn gelten? Wie, wenn der Besteller den Fehler entdeckt und sich wegen der restlichen 100 Stück schnell anderweitig eindeckt?“19

2. Das nachträgliche Vertrauen in der Diskussion über den inkongruenten Doppelirrtum Die Argumentation mit dem Interesse der Beteiligten an einem Schutz ihres nach­ träglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte wurde in der historischen Debatte auch im Zusammenhang mit dem inkongruenten Doppelirrtum angebracht.20 Ins­ besondere Titze setzte sich mit der Frage auseinander, wie die Geltung des objektiv Erklärten in diesen Fällen gerechtfertigt werden könne, obwohl keiner der Beteilig­ ten auf das objektiv Erklärte vertraute. „Wenn A die Erklärung x hat abgeben wollen, tatsächlich aber y sagt und B z verstanden hat, welches Interesse soll dann B haben, A an der Willenserklärung y, die er, der B, gar nicht vernommen hat, festzuhalten, und welches Interesse soll A haben, diese Erklärung, die er gar nicht hat abgeben wollen, dem B gegenüber geltend zu machen?“21

Titze entschied sich schließlich trotz dieser Bedenken mit Blick auf das Entde­ ckungsszenario für die Geltung des objektiv Erklärten: „Denn es ist einmal möglich, dass der Adressat nachträglich von dritter Seite zwar über sein Mißverständnis, nicht aber über den Irrtum des Gegners aufgeklärt wird und sich infolgedessen, wenn auch nicht schon bei der Erklärungsabgabe, aber doch hinterher auf den Geschäftsinhalt y verlässt und dementsprechende Dispositionen trifft.“22 Zigarren gewollt sind. Die Erklärung wäre dann „an sich“ bei normativer Auslegung wegen Unbe­ stimmtheit nichtig und es bedürfte keines Widerrufs (vgl. zum Streit über die Rechtsfolgen des erkennbaren, aber nicht durchschaubaren Irrtums bereits §  4 IV 1). 19  Rhode, Willenserklärung (1938), 78. Siehe ferner Seifert, Falsa demonstratio (1929), 139 f. am Beispiel des Haakjöringsköd-Falls. 20 Außer Titze (dazu sogleich im Text) noch Henle, Lb. I (1926), 75: Gleichbehandlung beider Doppelirrtumskonstellationen aus diesem Grund (abw. noch ders., GgA 170 [1908], 427 [486]: Unwirksamkeit des Rechtsgeschäfts bei inkongruentem Doppelirrtum). 21  Titze, Mißverständnis (1910), 334. Bereits auf S.  45 f. zeigt Titze die besondere Problematik des inkongruenten Doppelirrtums auf, die er darin sieht, dass irrtümliche Erklärungen mit Rück­ sicht auf das Vertrauen des Empfängers aufrechterhalten werden. Dieser Vertrauensschutz sei aber „gegenstandslos, wenn dieser die Erklärung gar nicht so, wie sie abgegeben wurde, verstanden hat“. 22  Titze, Mißverständnis (1910), 335. Die Entdeckung auf Hinweis eines Dritten kann freilich

II. Reaktionen der heute herrschenden dualistische Lehre

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II. Reaktionen der heute herrschenden dualistische Lehre 1. Reaktionen im Zusammenhang mit dem kongruenten Doppelirrtum Soweit die Dualisten auf die Auffassung reagierten, die empfangsbedürftige Wil­ lenserklärung sei auch bei kongruentem Doppelirrtum normativ auszulegen, kamen sie zu einer ablehnenden Bewertung, deren im Wesentlichen gleichlautende Stoß­ richtung bis heute nachwirkt. a) Der Vorwurf der Begriffsjurisprudenz Mit teils ungewöhnlich scharfen Worten wiesen die Anhänger der dualistischen Lehre eine normative Auslegung entgegen dem übereinstimmenden inneren Ver­ ständnis der Beteiligten als eine auf Doktrinarismus und der „begriffsjuristischen Verfangenheit“23 ihrer Befürworter beruhende Position zurück, deren Ergebnisse mit den betroffenen Interessen der Beteiligten unvereinbar sei. In diesem Sinne ent­ gegnete etwa Larenz – ohne die sachgerechte Lösung der falsa-Fälle zuvor selbst begründet zu haben 24 – in seiner Habilitationsschrift auf das von ihm (zu Unrecht25) als streng normativ eingeordnete Auslegungskonzept von Rudolf Leonhard: „So ist zwar das Prinzip [der normativen Auslegung] rein durchgeführt, aber das Ergebnis kann nicht befriedigen, weil es offenbar mit einer gerechten Abwägung der beiderseitigen Interessen nicht vereinbar ist, dass der Erklärungsempfänger, der das Gemeinte richtig erkannt hat, dennoch den Erklärenden am Wortsinn oder an einem objektiven Sinn fest­ halten können sollte, weil er das Gemeinte nicht zu erkennen brauchte. Vollends erscheint es mit den Bedürfnissen des Rechtslebens, denen auch die Rechtswissenschaft als eine teleologische Wissenschaft Rechnung tragen muß, nicht als vereinbar, den ‚objektiven‘ Erklärungssinn auch dann noch als den rechtlich maßgeblichen anzusehen, wenn die Par­ teien sich über den davon abweichenden, vom Erklärenden gemeinten und vom Gegner auch so verstandenen Sinn einig sind. Insofern sich hier aber zeigt, daß der von den Betei­ nur pars pro toto für sämtliche Gründe stehen, warum ein Beteiligter seinen Irrtum nachträglich entdecken kann. 23  Kramer, Grundfragen (1972), 128 gegenüber F. Leonhard. 24  So bereits die Kritik bei Manigk, JW 1930, 2193 (2194); ders., ARWP 26 (1932/‌ 34), 359 (360). Eine Befassung mit den falsa-Fällen und insb. dem kongruenten Doppelirrtum folgt bei Larenz, Methode (1930, 1966) erst auf S.  77–80. 25  Larenz, Methode (1930, 1966), 15 f. übersah, dass sich R. Leonhard, Irrtum II (1907), 33 f. in seinem etwas unübersichtlichen zweibändigen Werk ausdrücklich dafür aussprach, den fal­ sa-Satz, dessen unmittelbaren Anwendungsbereich er auf die aus den Umständen erkennbare (un­ echte) Falschbezeichnung beschränkte (a. a. O., 14), auf den kongruenten Doppelirrtum entspre­ chend anzuwenden, weil „es wohl der bona fides widersprechen [würde], wenn in einem solchen überdies höchst seltenen Falle jemand behaupten wollte, die von ihm richtig aufgefasste Offerte des anderen habe eigentlich falsch aufgefaßt werden müssen“ (a. a. O., 34). R. Leonhard verschlei­ erte – wie Larenz, a. a. O., 77 f. selbst – den methodischen Dualismus lediglich durch seine auf Treu und Glauben gestützte Argumentation.

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§  8 Historische Einordnung

ligten gemeinte Sinn, die subjektive Bedeutung, doch nicht gänzlich unbeachtlich sein kann, erweist sich der Standpunkt L e o n h a r d s (…) als undurchführbar.“26

Noch schärfer ging Brox mit Franz Leonhard ins Gericht: „Diese Lehre hat mit Recht keine Schule gemacht. (…) Das Ergebnis Leonhards ist unhalt­ bar: Wenn im genannten Falle nicht angefochten wird, dann wird die Vertragspartei A, die sich z. B. versprochen hat, an dieser Erklärung festgehalten, obwohl der Vertragsgegner B von dem, was A gewollt hat, ausgegangen ist, und dies auch gewollt hat. Ein solches Ergeb­ nis ist eine Mißgeburt der Begriffsjurisprudenz.“27

Den Dualisten erschien eine streng normative Auslegung indiskutabel, weil da­ durch die in vielen Fällen richtige Lösung (normative Auslegung) „um den Preis eines gänzlich unverständlichen Ergebnisses“28 und unter Verkennung der „Bedürf­ nisse des Rechtslebens“29 zum Prinzip erhoben werde. In diesem Sinne wandte Brox wiederum gegenüber F. Leonhard ein: „Aus den Regelfällen, in denen der Vertrauensschutz eine Rolle spielt, wird der Begriff der Auslegung beim Rechtsgeschäft gebildet und in diesen wird der Vertrauensschutz mit eingearbeitet. So sagt Leonhard: Ziel der Auslegung ist der Sinn, der objektiv aus der Er­ klärung zu entnehmen ist. Dieser selbe Begriff wird dann aber auch auf die Fälle ange­ wandt, in denen ein Vertrauensschutz ausscheidet, und aus diesem Begriff wird dann der ‚logisch zwingende‘ Schluss gezogen, daß es auch in diesem Ausnahmefall nur auf den objektiv aus der Erklärung zu entnehmenden Sinn ankommen könne.“30

b) Keine Auseinandersetzung mit dem Entdeckungsszenario Die vehemente Kritik an der begriffsjuristischen Herangehensweise verkannte frei­ lich, dass jedenfalls die Argumentation mit dem Entdeckungsszenario nicht von juristischem Doktrinarismus, sondern von einem Bemühen um die „Billigkeit der 26  Larenz, Methode (1930, 1966), 15 f. (Sperrung übernommen). Siehe auch Manigk, HdWbRw I (1926), 439 (Stichwort: Irrtum), der gegenüber der objektiven Auslegungslehre von Titze betonte, sie stehe „zum gesunden Rechtsempfinden im Widerspruch, andererseits zum Wesen des Rechts­ geschäfts“. 27  Brox, Einschränkung (1960), 100 f. Der Formulierung „Mißgeburt der Begriffsjurisprudenz stimmen F. Bydlinski, Privatautonomie (1967), 39 in Fn.  62a und Schlemmer, JBl 1986, 149 (152 in Fn.  24) ausdrücklich zu. Ablehnend auch Enneccerus/‌Nipperdey, AT I/2 (1960), 1249 f. in Fn.  13: „dürfte mit §  133 in direktem Widerspruch stehen, auch dem §  157 und dem Rechtsgefühl nicht entsprechen und mit dem Zweck und dem Grundgedanken des Rechtsgeschäfts (…) unvereinbar sein. Die L[eonhard]`sche Ansicht zeigt, wohin die Überspannung der Erklärungstheorie führt.“ 28  Kramer, Grundfragen (1972), 128. Kramer äußert sich auch an anderer Stelle sehr scharf. Der objektivistischen Position von Titze attestiert er a. a. O., 181, sie demonstriere „unübertrefflich die lebensfremde Verfahrenheit der Kontroverse zwischen objektivistischer und subjektivistischer Auslegungstheorie um die letzte Jahrhundertwende“. Im Berner Kommentar (1986), OR, Art.  1 Rn.  124 spricht Kramer von einem „heute unverständliche[n] Rückfall in die altertümliche Erklä­ rungstheorie“. 29  R. Raiser, AcP 127 (1927), 1 (11). 30  Brox, Einschränkung (1960), 101; zust. Kramer, Grundfragen (1972), 128 f.

II. Reaktionen der heute herrschenden dualistische Lehre

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Resultate“31 getrieben war. Das von Larenz und Brox gezeichnete Zerrbild einer Auffassung, die sich aus begriffsjuristischer Blindheit an das Dogma der normati­ ven Auslegung klammert, gewann in der Folgezeit so erheblichen Einfluss auf die Diskussion, dass eine Auseinandersetzung auf der Ebene der Sachargumente unter­ blieb. In einer schier uferlosen Literatur zur Auslegung findet sich nur eine einzige dualistische Stellungnahme, die – noch dazu in einer Fußnote32 (!) – den (m. E. miss­ lungenen) Versuch unternimmt, die von der historischen Gegenposition aus dem Entdeckungsszenario gezogenen Schlussfolgerungen zu widerlegen. Zwar stießen einige Autoren (offenbar von selbst) auf das Problem des nachträglichen Vertrauens. Eine befriedigende Auseinandersetzung unterblieb aber: Sie ließen die Fragestel­ lung entweder ausdrücklich offen (Schmidt-Rimpler 33) oder machten unter Beibe­ haltung der dualistischen Grundposition willkürlich eine punktuelle Ausnahme von der natürlichen Methode in der zufällig gerade betrachteten Konstellation (R. Raiser 34; Diederichsen35). 31 

F. Leonhard, AcP 120 (1922), 14 (107). Frotz, Verkehrsschutz (1972), 413 f. in Fn.  1009 in Auseinandersetzung mit Titze (dazu be­ reits eingehend §  6 I 4 a). Im weiteren Sinne ist hierher auch noch Zemen, JBl 1986, 756 (765 ff. unter V) zu rechnen, der allerdings von selbst auf das Problem der Entstehung schutzbedürftigen nachträglichen Vertrauens stößt. Zemen versucht das Problem zu lösen, indem er spezielle neben der Auslegung stehende Schutzinstrumente hierfür entwickelt (Anfechtung, Schadensersatzan­ spruch). Dazu bereits §  7 I, II. 33  Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 (181) meint, beim Zusammentreffen zweier kongru­ enter Irrtümer handle es sich „rechtspolitisch um ein besonderes Problem, das man unter dem Begriff der falsa demonstratio meist zu einfach zu sehen pflegt“. Auf S.  187 erläutert er, zwar werde infolge der beidseitigen Irrtümer der Zweck der Erklärung erreicht, „aber andererseits rech­ net u.U., wenn er sich nachträglich über seine Ausdrucksweise klar wird, der Erklärende damit, daß die erklärte Rf. verstanden sei“. Es bedürfe in Fällen beidseitiger Geschäftsirrtümer daher im Rahmen seiner Theorie von der Richtigkeitsgewähr des Vertrages „besonderer Richtigkeitserwä­ gungen“. Die „recht schwierige Abwägung“ (a. a. O., 187) behielt Schmidt-Rimpler einer zweiten Abhandlung vor (a. a. O., 181 in Fn.  64, 187 f.), die jedoch nie erschien, da sie nicht ganz vollendet den Kriegsereignissen zum Opfer fiel und er sich nach eigenem Bekunden zu ihrer erneuten Her­ stellung „nicht mehr entschließen konnte“ (ders., FS L. Raiser [1974], 3 [24 f. in Fn.  97]). 34  R. Raiser, AcP 127 (1927), 1 (6) behandelt einen Fall, in dem eine als Vertragsannahme ge­ meinte irrtumsbehaftete Erklärung, die objektiv als Ablehnung zu verstehen ist, vom Empfänger aufgrund eigenen Irrtums als Annahme aufgefasst wird. „Anders als in den eigentlichen Fällen der falsa demonstratio ist hier zweckmäßigerweise daran festzuhalten, daß der Vertrag, solange er nicht (evtl. rückwirkend) bestätigt wird, nicht zustande gekommen ist. Wenn der Oblat seinen Irrtum bemerkt und, um der evt. Ersatzpflicht zu entgehen, seine Ablehnung gegen sich gelten lassen will, so darf dieses Vertrauen in den Wert der eigenen Erklärung nicht dadurch getäuscht werden, daß man ihn mit Rücksicht auf das zufällige Mißverständnis des Gegners auf seine erste Willensmeinung festlegt“ (a. a. O. in Fn.  15; i. E. so auch Corts, Schadenshaftung [1932], 17 f.). Dem lässt sich nicht entnehmen, was R. Raiser mit den „eigentlichen Fällen der falsa demonstratio“ meint und warum für sie dieses Argument nicht gelten soll. Jedenfalls bei objektiv mehrdeutigen Erklärungen vertritt er den Vorrang des übereinstimmenden inneren Verständnisses (a. a. O., 10 f.). 35  Diederichsen, FS Juristische Gesellschaft zu Berlin (1984), 81 (88 f.) geht auf den Fall ein, bei dem „beide Kontrahenten annehmen, daß der Vertrag nicht zustande gekommen ist, während nach dem objektiven Sinn ihrer Erklärungen ein Vertragsschluß vorliegt“. Die Anwendung des falsa-Satzes, der einen Vertragsschluss verhindern würde, gehe „[v]iel zu weit“. Anderenfalls be­ stehe „unter Umständen ein gerechtfertigtes Vertrauen des einen Teils, das der andere Teil nur um 32 

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§  8 Historische Einordnung

Es ist in diesem Zusammenhang durchaus bemerkenswert, dass ausgerechnet Larenz, dessen scharfe Kritik in der Habilitation von 1930 gerade unter a) zu Wort kam, in einer 1939 erschienenen Rezension – offenbar beeindruckt von der Argumenta­ tion mit dem Entdeckungsszenario – für die „neue, zwanglose Lösung“ plädierte, auch bei zufällig übereinstimmendem Verständnis (d. h. bei kongruentem Dop­pel­ irrtum) normativ auszulegen.36 Dieser Meinungswechsel hin zu einer streng norma­ tiven Auslegungsmethodik wurde vom übrigen Schrifttum in der Folgezeit jedoch nirgendwo registriert – wohl auch deshalb, weil Larenz in der Folgezeit auf seine Stellungnahme von 1939 nie wieder zurückkam, sondern in seinem einflussreichen Lehrbuch zum Allgemeinen Teil ohne Begründung oder Kenntlichmachung seines neuerlichen Meinungsumschwungs wieder zur dualistischen Lehre überging.37 Spätestens seit 1976 können die Gegenstimmen als faktisch vergessen gelten. Eine in diesem Jahr erschienene Marburger Habilitationsschrift zu den „Methoden der Auslegung rechtsgeschäftlicher Erklärungen“ unternahm über 90 Seiten hinweg eine „[k]ritische Analyse seit dem Inkrafttreten des BGB vertretener Lehrmeinun­ gen über die Methoden der Auslegung rechtsgeschäftlicher Erklärungen“38 und überging dabei die unter I 1 genannten Autoren und damit auch ihre Argumentation ohne ein Wort. den Preis, das negative Interesse zu ersetzen, durch Anfechtung beseitigen darf“. Auch wenn Diederichsen es nicht ausdrücklich schreibt, kann es ihm insoweit nur um den Schutz nachträglich entstehenden Vertrauens auf den objektiven Erklärungssinn gehen, weil prämissengemäß bei Ver­ tragsschluss keine Partei vom Zustandekommen des Vertrages ausging. Diederichsens Ausfüh­ rungen enthalten keine Erklärung, warum dieses Argument nur in dieser Konstellation, nicht aber in den übrigen von ihm a. a. O., 85 ff. unter 4. a) –d) behandelten falsa-Fällen relevant ist. 36  Larenz, DR 1939, 1847 bezeichnete in einer Rezension die Auffassung von Rhode, Willens­ erklärung (1938), 77 ff. als eine „neue, zwanglose Lösung der Fälle der sog. falsa demonstratio, die ich für zutreffend halte“. Rhodes „neue, zwanglose Lösung“ war keineswegs neu. Sie wiederholte im Kern lediglich die bereits zuvor von Henle, Titze, F. Leonhard, Oertmann und Seifert zum kongruenten Doppelirrtum vertretene Argumentation. Rhodes von nationalsozialistischer Diktion durchsetzter Text erweckt lediglich bei isolierter Lektüre den Anschein einer „neuen“ Lösung, weil in der von Larenz so hoch gelobten Arbeit an der hier interessierenden Stelle unter Verletzung wohl schon damals geltender wissenschaftlicher Standards Nachweise der offenbar berücksichtig­ ten älteren Literatur fehlen. 37 Erstmals Larenz, AT (1967), 341 f.; zuletzt ders., AT (1989), 338 f. 38  Überschrift des ersten Teils (S.  9 –97) von Bickel, Die Methoden der Auslegung rechtsge­ schäftlicher Erklärungen (vgl. auch den Untertitel). Bickel sah sich angesichts der Fülle bereits damals veröffentlichter Literatur (S.  9 in Fn.  1: „Seit 1900 haben sich mehr als 200 Autoren mit weit über 400 das Thema unmittelbar betreffenden Veröffentlichungen zu Wort gemeldet.“) zu einer Auswahl von zwölf ausgewählten Lehrmeinungen gezwungen, die nach seiner Überzeugung „wegen der Verschiedenartigkeit der danach behandelten Ansichten und der Vielfalt der zu ihrer Stützung verwendeten Argumente gleichwohl für die in der Literatur nach 1900 vertretenen Lehr­ meinungen annähernd repräsentativ sein [dürfte]“ (S.  10). Hierunter befindet sich keiner der unter I 1 genannten Autoren. Die einseitige Auswahl dürfte auf dem für eine historisch repräsentative Auswahl problematischen Ansatz beruhen, die „Lehrmeinungen (…) entsprechend der in der Lite­ ratur heute zugemessenen Bedeutung auszuwählen (…)“ (S.  10). Bemerkenswerterweise lehnt Bickel, a. a. O., 154 schließlich selbst den falsa-Satz bei kongruentem Doppelirrtum ab (dazu noch §  10 Fn.  18).

III. Versanden der Diskussion über die Bedeutung des nachträglichen Vertrauens

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2. Reaktionen im Zusammenhang mit dem inkongruenten Doppelirrtum Obwohl der inkongruente Doppelirrtum, wie bereits dargestellt, in seiner rechtli­ chen Behandlung bis heute sehr umstritten geblieben ist, hat die von Titze und ­Henle vorgebrachte Argumentation mit dem Entdeckungsszenario in der Folgezeit auch in diesem Zusammenhang keine Rolle mehr gespielt. In jüngerer Zeit hat niemand mehr die Geltung des objektiv Erklärten gerade damit begründet, dass die Beteilig­ ten unabhängig von der Kenntnis des (inkongruenten) Irrtums der Gegenseite auch nachträglich noch in der Lage sein müssen, sich zu erschließen, ob die Erklärung in ihrem objektiven Sinn gilt.39 Soweit die Maßgeblichkeit des objektiv Erklärten überhaupt gerechtfertigt wird, stehen andere Argumente im Mittelpunkt, wie der pauschale Hinweis auf die Wertungen der §§  119 ff. BGB40 und der Erhalt des mit dem Anfechtungsrecht gewährten Wahlrechts des Erklärenden41.42 Auch in die Ge­ genrichtung hat kein Anhänger der These, bei inkongruentem Doppelirrtum dürfe die Willenserklärung nicht im Sinne des objektiv Erklärten gelten43, den Versuch unternommen, die auf den Schutz nachträglichen Vertrauens gestützte Argumenta­ tion zu widerlegen. Der Gedanke ist auch in diesem Zusammenhang völlig aus der Diskussion verschwunden.

III. Gründe für das Versanden der Diskussion über die Bedeutung des nachträglichen Vertrauens Im Rückblick auf die bisherige Diskussion drängt sich die Frage auf, wie es dazu kommen konnte, dass ein schon zu einem frühen Zeitpunkt eingeführter wesentli­ cher Gesichtspunkt in der Folgezeit völlig in Vergessenheit geraten konnte. In erster Linie trifft die Verantwortung sicherlich die frühen Anhänger der dua­ listischen Lehre, die den Aspekt mit beispielloser Hartnäckigkeit ignorierten. Von ihnen wäre zu erwarten gewesen, sich mit dem einzigen Wertungsargument ausei­ nanderzusetzen, das ihre Auffassung ernsthaft in Frage stellt. Sie ließen es trotz mehrfacher Wiederholung flächendeckend unerwähnt und zogen es stattdessen vor, die Anhänger der Gegenposition inhaltlich („offenbar mit einer gerechten Abwä­ gung der Interessen unvereinbar“, Larenz44) und methodisch („Mißgeburt der Be­ griffsjurisprudenz“, Brox45) zu desavouieren. Den heutigen Vertretern der dualisti­ 39  Andeutungsweise allenfalls bei Frotz, Verkehrsschutz (1972), 421 f. insb. mit Fn.  1018 (zur Inkonsequenz der Argumentation bereits §  6 I 4 a a. E.). 40  Diederichsen, FS Hübner (1984), 421 (426) und Armbrüster, in: Erman (2014), §  155 Rn.  8. 41  Faust, AT (2016), §  2 Rn.  10 in Fn.  6 und M. Wolf, in: Soergel (1999), §  157 Rn.  29 in Fn.  50. 42  Vgl. hierzu noch krit. §  9 II 1 b bb (1). 43  Siehe die Nachw. in §  4 Fn.  73, 74, 75. 44  Siehe den Text bei Fn.  26. 45  Siehe den Text bei Fn.  27.

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§  8 Historische Einordnung

schen Lehre kann man freilich kaum mehr vorwerfen, auf die älteren Schriften nicht einzugehen. Wer kann schon damit rechnen, in über 80 Jahre alten Werken, die in diesem Punkt allgemein als überholt gelten, auf ein andernorts nirgendwo erwähn­ tes Argument zu stoßen, das die dualistische Lehre grundlegend in Frage stellt? Die Verantwortung für die Übergehung des nachträglichen Vertrauens liegt frei­ lich nicht allein bei den historischen Anhängern der dualistischen Lehre. Auch die Autoren, die mit dem Entdeckungsszenario argumentierten, trugen dazu bei, dass sie mit ihren Überlegungen nicht durchdrangen. Einige von ihnen legten eine er­ staunliche Inkonsequenz an den Tag, die die Überzeugungskraft ihrer Argumenta­ tion erheblich minderte. Während sie bei den objektiv eindeutigen Erklärungen auf das Entdeckungsszenario und den Schutz nachträglichen Vertrauens rekurrierten, um die normative Auslegung zu rechtfertigen, hielten sie bei objektiv mehrdeutigen Erklärungen das übereinstimmend Verstandene46 oder das vom Erklärenden inner­ lich Gewollte47 für maßgeblich, obwohl das nachträgliche Vertrauen auch hier glei­ chermaßen gefährdet ist durch die natürliche Methode. Dies weckt Zweifel daran, ob ihnen die volle Tragweite ihrer eigenen juristischen „Entdeckung“ bewusst war. Dieser Verdacht wird auch dadurch genährt, dass die genannten Autoren ihre Über­ legungen auf eine merkwürdig zurückhaltende, fast schon phlegmatische Art und Weise vortrugen. Bei Titze, der in seiner „Lehre vom Missverständnis“ an sieben verschiedenen Stellen auf den kongruenten Doppelirrtum zu sprechen kommt48, taucht das Argument nur in der letzten Textstelle äußerst knapp in Form einer rhe­ torischen Frage auf49, obwohl es schon zuvor hätte angebracht werden können50.51 F. Leonhard führt den Gedankengang erst an zweiter Stelle nach dem normativ kaum überzeugenden Argument ein, es sei psychologisch kaum denkbar, dass das Verständnis der Beteiligten zufällig übereinstimme.52 Rhode schließlich, der in 46 So Oertmann (Nachw. in Fn.  8) und Seifert, Falsa demonstratio (1929), 129 f. Dazu bereits krit. unter §  6 II 3 a. 47 So Henle bei der Annahme eines mehrdeutigen Vertragsantrags (Nachw. in §   6 Fn.  86). Dazu bereits krit. unter §  6 II 3 b. Siehe noch die weitere Inkonsequenz in ders., GgA 170 (1908), 427 (486), wo Henle bei inkon­ gruentem Doppelirrtum für die Unwirksamkeit der Erklärung und damit für die Nichtgeltung des normativen Auslegungsergebnisses eintritt. In Lb. I (1926), 75, 224 beseitigt Henle diese Inkonse­ quenz freilich. 48  Mißverständnis (1910), 46 (ohne Stellungnahme), 188–190 in Fn.  34, 337 f., 354 f., 366 f. in Fn.  26, 392, 422 f. 49  Titze, Mißverständnis (1910), 422 f. 50 Auf S.   337 f. in Fn.  4 weist Titze lediglich auf die Möglichkeit eines Schadensersatzan­ spruchs im Entdeckungsszenario hin, ohne daraus ein Argument gegen die natürliche Auslegungs­ methode abzuleiten. Im Zusammenhang mit dem inkongruenten Doppelirrtum hatte er allerdings kurz zuvor auf S.  334 die Geltung des normativen Auslegungsergebnisses u. a. mit der Notwendig­ keit begründet, Dispositionen aufgrund nachträglichen Vertrauens zu schützen (Wortlaut hier im Text auf S. 168 wiedergegeben). 51 In Titze, FS Heymann II (1940), 72 (75 f.) fehlt sogar jegliche Bezugnahme auf das Entde­ ckungsszenario. 52  F. Leonhard, AcP 120 (1922), 14 (107). Ohne jegliche Begründung ders., BR (1948), 46.

III. Versanden der Diskussion über die Bedeutung des nachträglichen Vertrauens

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seiner Habilitationsschrift von 1938 letztmalig auf das Entdeckungsszenario ein­ geht, minderte die Wahrnehmung seiner Schrift in der Nachkriegszeit dadurch, dass er dem Geist seiner Zeit huldigend seine Schrift ideologisch in den Dienst des Nationalsozialismus stellte mit dem Ziel, „in der Willenserklärung eine Pforte [zu] öffnen, die trotz der Fortgeltung des Bürgerlichen Gesetzbuches nationalsozialisti­ schem Denken den Weg in den Rechtsverkehr freigibt“53. Aufs Ganze gesehen wird das Problem bei den historischen Kritikern der dualis­ tischen Lehre meist nur anhand eines Beispiels als bloßes „Billigkeitsargument“ eingeführt. So wird kaum deutlich, in welch grundsätzlicher Weise durch diese Überlegungen die Interessenanalyse der dualistischen Lehre in Frage gestellt wird. Zudem findet sich an keiner Stelle eine Auseinandersetzung mit den hier in §  6 und §  7 behandelten Fragen, ob der Schutz nachträglichen Vertrauens geboten ist und ob es alternative Lösungsmöglichkeit auf Basis der dualistischen Lehre gibt, obwohl davon entscheidend abhängt, ob der Gedankengang überhaupt Gewicht hat.

53 So die programmatische Zielsetzung im Vorwort bei Rhode, Willenserklärung (1938), 6. Siehe ferner die Ausführungen auf S.  11 f. Die hier interessierenden Passagen zum kongruenten Doppelirrtum auf S.  77–80 sind freilich nicht erkennbar von nationalsozialistischem Gedankengut beeinflusst.

2. Abschnitt

Die Argumente der dualistischen Lehre Der folgende zweite Abschnitt der Kritik an der natürlichen Auslegungsmethode befasst sich mit den teleologischen (§  9), systematischen (§  10) und historischen (§  11) Argumenten der dualistischen Lehre. Dieser Abschnitt soll einen Überblick über die Bandbreite der Argumente geben, die bisher zur Rechtfertigung der dualis­ tischen Lehre vorgebracht wurden, und jeweils aufzeigen, dass diese Argumente entweder unergiebig, mit der dualistischen Lehre unvereinbar oder mit der im ersten Abschnitt aufgezeigten Notwendigkeit des Schutzes nachträglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte unverträglich sind. Dem mit dem bisherigen Diskussionsstand vertrauten Leser soll so vor Augen geführt werden, wie sehr das umfangreiche und nuancenreiche Argumentationsarsenal der herrschenden Lehre bislang an entschei­ denden Sachproblemen vorbeigeht. In §  10 wird bei dieser Gelegenheit zudem dar­ gelegt, in welchem Sinne die §§  116 S.  2, 117 I BGB aufgrund der hier für richtig gehaltenen Interessenanalyse auszulegen sind. Zur Widerlegung der behandelten Argumente wird umfänglich auf bereits ge­ wonnene Erkenntnisse Bezug genommen. Die Ausführungen haben dadurch teil­ weise repetitiven Charakter; neue positive Argumente zur Stützung der hier vertre­ tenen streng normativen Auslegungslehre enthält dieser Abschnitt nicht. Leser, die nicht so sehr an einer Dekonstruktion der herrschenden Lehre und des bisherigen Diskussionsstands interessiert sind, sondern allein die konzeptionellen Kernpunkte dieser Abhandlung erfassen möchten, mögen diesen Abschnitt daher überspringen.

§  9 Die teleologischen Argumente der dualistischen Lehre Die Anhänger der dualistischen Auslegungslehre rechtfertigen den Methodendua­ lismus in erster Linie mit teleologischen Argumenten, die an Aufgabe, Zweck und Funktion einzelner Elemente der Rechtsgeschäftslehre oder des Rechtsgeschäfts „an sich“ anknüpfen. Einige dieser Argumente lassen sich nicht völlig randscharf voneinander abgrenzen und gehen auch in den einschlägigen Stellungnahmen meist nahtlos ineinander über. Nachstehend werden sie, soweit es möglich ist, voneinan­ der isoliert und getrennt gewürdigt. Die teleologischen Argumente lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Einige zie­ len darauf ab zu erklären, warum in den Anwendungsfällen der natürlichen Ausle­ gung die Willenserklärung mit dem Inhalt gelten soll, der aus der natürliche Metho­ de folgt (dazu unter I.). Andere sollen weniger weitgehend lediglich rechtfertigen, warum in den einschlägigen Fällen jedenfalls das Ergebnis der normativen Methode nicht gelten dürfe (dazu unter II.).

I. Argumente für die Geltung des Ergebnisses der natürlichen Auslegung Zunächst werden hier die Argumente behandelt, die in den methodenrelevanten Fäl­ len für die Geltung des Ergebnisses der natürlichen Auslegungsmethode angeführt werden.

1. Die Befriedigung aller maßgeblichen (Beteiligten-)Interessen durch das Ergebnis der natürlichen Auslegung a) Das Argument und die zugrundeliegende herrschende Interessenanalyse Die Dualisten halten jede Abweichung vom übereinstimmenden Verständnis auf­ grund der rechtlich beachtlichen Interessen der Beteiligten für verfehlt. Weil sich wirklicher Wille (Selbstbestimmung) und Empfängerauffassung (Vertrauen) bei Vornahme des Geschäfts decken, gebe es kein rechtlich beachtliches Interesse an

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§  9 Die teleologischen Argumente der dualistischen Lehre

einer abweichenden Auslegung der Erklärung.1 „[M]it diesen beiden Gesichts­ punkten“ sei nämlich „alles berücksichtigt (…), was es bei der Auslegung in der Regel zu berücksichtigen gibt“2. Nur bei einem Missverständnis der Beteiligten bestehe ein Interessenkonflikt, der mit den Mitteln der normativen Auslegung zu bewältigen sei.3 Diese Argumentation beruht auf einer verbreiteten Analyse des Interessenkon­ flikts, den die Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen zu bewältigen hat. Hiernach stehen sich das Selbstbestimmungsinteresse des Erklärenden einer­ seits und das Vertrauensschutzinteresse des Empfängers andererseits gegenüber.4 Selbstbestimmungsinteresse meint in diesem Zusammenhang das Interesse des Er­ klärenden, (nur) Rechtsfolgen eintreten zu lassen, die von seinem (wirklichen) Wil­ len bei Abgabe der Erklärung getragen sind, während das Vertrauensschutzinteres­ se das Interesse des Empfängers bezeichnet, die Erklärung nur so gelten zu lassen, wie er sie aufgefasst hat.5 In diesem Sinne meint Säcker, es müsse bei der Ausle­ gung eine „gerechte Entscheidung in dem Widerstreit zwischen dem Interesse des Erklärenden, der nur an den subjektiv gewollten Sinn seiner Erklärung gebunden sein will, und dem Inte­ resse des Erklärungsadressaten, der den Erklärenden an dem von ihm tatsächlich ermittel­ ten Inhalt der rechtsgeschäftlichen Regelung festgehalten wissen möchte, getroffen wer­ den“6.

Aus der „Bipolarität von Willens- und Vertrauensschutz“7 folgt dann eine „in sich widerspruchsfreie Erklärung für die Unschädlichkeit der falsa demonstra­tio“8.

1  Singer, in: Staudinger (2012), §   133 Rn.  13; ders., Selbstbestimmung (1995), 149; Baeck, Scheingeschäft (1988), 66 f., 157; Scherer, Andeutungsformel (1987), 80; Wieling, Jura 1979, 524 (526); ders., AcP 172 (1972), 297 (300); Brox, JZ 1966, 761 (765); Lüderitz, Auslegung (1966), 304 in Fn.  1 bei objektiv mehrdeutiger Erklärung: „kein Interessenkonflikt!“. 2  Wieser, JZ 1985, 407 (408). 3  Hepting, Ehevereinbarungen (1984), 239 mit Fn.  77, 244. 4  Larenz/M. Wolf, AT (2004), §   28 Rn.  13; Merkt, AcP 204 (2004), 638 (647); Hepting, FS Universität Köln (1988), 209 (218 f.); Baeck, Scheingeschäft (1988), 65; Scherer, Andeutungsfor­ mel (1987), 80; Wieling, Jura 1979, 524 (526); Brox, JZ 1966, 761 (765); Meier-Hayoz, Vertrau­ ensprinzip (1948), 97. Vgl. auch Ahrens, in: Prütting/‌Wegen/‌Weinreich (2013), Vor §§  116 ff. Rn.  17, der noch die Verkehrssicherheit hinzuzieht. 5  Diese Interessenanalyse ist neutral gegenüber der Frage, ob das jeweilige Verständnis durch Geltung der Erklärung im Sinne des jeweiligen Verständnisses oder „zumindest“ durch Unwirk­ samkeit der Erklärung verwirklicht wird, damit jedenfalls keine andere Bedeutung gilt, vgl. ­Meier-Hayoz, Vertrauensprinzip (1948), 97 unter I. und II., der diese Varianten nebenander nennt und dessen Interessenanalyse die heute herrschende Sichtweise bereits mustergültig zusammen­ fasst. 6  Säcker, in: MünchKommBGB (2015), Einl. z. BGB Rn.  159. So bereits ders., Gruppenauto­ nomie (1972), 161 und ders., JurAnalysen 1971, 509 (514). 7  Säcker, Gruppenautonomie (1972), 161. 8  Singer, JZ 1989, 1030.

I. Argumente für die Geltung des Ergebnisses der natürlichen Auslegung

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b) Widerlegung Die Argumentation mit der Interessenlage überzeugt in dieser Form nicht, da die zugrundegelegte Interessenanalyse unvollständig ist. Die Gegenüberstellung von Erklärendenselbstbestimmung und Empfängervertrauen schöpft das Spektrum der rechtlich beachtlichen Beteiligteninteressen nicht aus. aa) Die Notwendigkeit einer Ergänzung der Interessenanalyse um das „Orientierungsinteresse“ der Beteiligten Die Interessen der Beteiligten reduzieren sich nicht auf das Ziel, den Erklärungs­ sinn durchzusetzen, den sie ursprünglich einmal gewollt (Erklärender) bzw. aufge­ fasst (Empfänger) haben. Ihnen ist auch daran gelegen, beurteilen zu können, wel­ ches der rechtsmaßgebliche Erklärungssinn ist. Jeder Beteiligte möchte mit zumut­ barem Aufwand erfahren können, ob und mit welchem Inhalt das Rechtsgeschäft gilt. In diesem Sinne gehört zu einer vollständigen Interessenanalyse auch das Inte­ resse an der Orientierung über die eigene Rechtslage, das im Folgenden als „Orien­ tierungsinteresse“ bezeichnet werden soll. Dabei handelt es sich um eine besondere Erscheinungsform dessen, was häufig etwas farblos als Verkehrsschutzinteresse bezeichnet wird. Der Begriff Orientierungsinteresse wird hier vorgezogen, weil „Verkehrsschutz“ oder „Verkehrsinteresse“ zu der Annahme verleitet, es gehe um die Interessen von am Rechtsgeschäft nicht beteiligten dritten Verkehrsteilnehmern oder ein überindividuelles Interesses an einem reibungslosen Güteraustausch9.10 Das Orientierungsinteresse ist in erster Linie ein Interesse der unmittelbar am Rechtsgeschäft Beteiligten. Mit Blick auf das Orientierungsinteresse erweist es sich als trügerisch, die Inter­ essen des Erklärenden bzw. des Empfängers kurzerhand mit den theoretischen Ma­ ximalpositionen gleichzusetzen, die sie wählen würden, wenn sie selbst das Gesetz einseitig in ihrem Sinne formulieren könnten. Es trifft zwar zu, dass beide in ihrer Rolle als Erklärender bzw. Empfänger kein beachtliches Interesse gegen eine Geset­ zesregelung anbringen könnten, die ihr jeweiliges anfängliches inneres Verständnis als den schlechthin unter allen Umständen maßgeblichen Faktor festlegt. Sämtliche Interessen des derart bevorzugten Rollenträgers würden dann „ideal“ verwirklicht, weil der Rollenträger sein eigenes Verständnis durchsetzen könnte und zudem auch noch über seine Rechtslage vollständig orientiert wäre, die ex lege seinem eigenen Verständnis entspricht.11 Weder der Erklärende noch der Empfänger leben indes – wie ihnen auch bewusst sein dürfte – realiter in einer derart verkehrsfeindlichen 9 

So etwa das Begriffsverständnis von Lobinger, Verpflichtung (1999), 59. etwa Jürgen Schmidt, in: Staudinger (1995), §  242 Rn.  387, der sich beim inkongruen­ ten Doppelirrtum dagegen wendet, den Vertrag aus „Verkehrsinteressen“ im objektiven Sinne gel­ ten zu lassen, weil Verträge „in erster Linie nicht der Durchsetzung objektiver Interessen der Ge­ sellschaft, sondern der Interessen der Parteien“ dienen. 11  Der jeweilige Beteiligte wäre selbst dann noch mit dem zusätzlichen Problem konfrontiert, 10  Vgl.

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§  9 Die teleologischen Argumente der dualistischen Lehre

Rechtsordnung, die unter Übergehung des Orientierungsinteresses der Gegenseite stets ungefiltert das Verständnis des Erklärenden bzw. stets das Verständnis des Empfängers als ausschlaggebend ansieht. Bei Abwägung der beiderseitigen Interes­ sen darf sich das jeweilige Verständnis nur unter bestimmten weiteren Voraus­ setzungen durchsetzen, die den Interessen des Gegners Rechnung tragen.12 Das ­eigene Verständnis büßt dadurch unweigerlich seinen Orientierungswert für den Verständnisträger ein, da dieser sich auf die rechtliche Maßgeblichkeit seines Ver­ ständnisses nicht mehr mit Sicherheit verlassen kann. Keiner der Beteiligten muss sich deshalb, wenn er in den methodenrelevanten Fällen auf dem normativen Auslegungsergebnis beharrt, den Einwand gefallen las­ sen, seine Interessen würden vollumfänglich verwirklicht, nur weil sich das Ausle­ gungsergebnis mit seinem anfänglichen Verständnis deckt. Die rechtliche Maßgeb­ lichkeit dieses Verständnisses kann für ihn ebenso überraschend sein wie die Maß­ geblichkeit eines für ihn nicht erkennbaren fremden Verständnisses – mögen beide Größen auch zufällig übereinstimmen. Jeder Beteiligte kann sich mit Fug und Recht darauf berufen, die natürliche Methode stehe im Widerspruch zu seinem Orientie­ rungsinteresse, da die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Methode nicht si­ cherstellen, dass der jeweilige Beteiligte ihr Eingreifen mit zumutbarem Aufwand beurteilen kann. bb) Das Orientierungsinteresse des Erklärenden Der bislang ungebräuchliche Begriff Orientierungsinteresse wird hier auch deshalb eingeführt, um der verbreiteten Zuordnung des Vertrauensschutzgedankens zur Person des Empfängers durch einen nicht vorbelasteten Begriff entgegenzuwirken. Die Beidseitigkeit des in der normativen Auslegung verankerten Orientierungsinte­ resses ist vor allem gegenüber zahlreichen Stimmen im Schrifttum zu betonen, die den Vertrauensschutzgedanken und den Schutzzweck der normativen Auslegung einseitig auf den Erklärungsempfänger beziehen13 und auf Seiten des Erklärenden nur dessen Selbstbestimmungsinteresse sehen, das allein die Beachtung seines ur­ sprünglichen rechtsgeschäftlichen Willens fordert14.15 Für manchen scheint schon sein eigenes subjektives Verständnis – auch wenn es ihm selbst bekannt ist – hinterher auch bewei­ sen zu müssen, was nicht immer leicht fallen wird. 12  Siehe dazu bereits §  3 II 2 und 3. 13 Pointiert Brox, Einschränkung (1960), 114, 177; Thomale, Leistung (2012), 158. 14  So etwa bei Singer, Selbstbestimmung (1995), 148 f. Ebenso Brox, Einschränkung (1960), 177 f., der im Zusammenhang mit dem sog. Reurechtsausschluss hieraus sogar die These der ein­ seitigen Verzichtbarkeit auf die normative Auslegung entwickelt (zust. Thomale, Leistung [2012], 158: normative Auslegung sei ein Geschenk, dass der Empfänger jederzeit ablehnen könne). Dazu noch eingehend II 1 b bb (3). 15  Beispielhaft für die Vernachlässigung des erklärendenbezogenen Vertrauensschutzes sind die von Leenen, AT (2015), §  5 Rn.  51, 61 formulierten Regeln der Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen. Es kann danach nur entweder der vom Erklärenden „gemeinte Sinn“ (Regel 2, Rn.  51) oder „die vom Empfänger verstandene Bedeutung“ (Regel 3, Rn.  61) gelten. Die (nach­

I. Argumente für die Geltung des Ergebnisses der natürlichen Auslegung

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die Idee eines erklärendenseitigen Vertrauensschutzinteresses, das sich auf das ob­ jektiv Erklärte bezieht, schwer nachvollziehbar. So fragt etwa Welser: „Warum soll aber der Erklärende, der ohnedies seinen Willen kennt, nicht auf diesen, sondern auf die äußere Gestalt seiner Erklärung vertrauen?“16 Dabei dürfte kaum von der Hand zu weisen sein, dass auch der Erklärende ein Interesse hat, seine Rechtslage unter Rückgriff auf eine vom Gesetz zur Verfügung gestellte Orientierungsgrundlage jederzeit auch nachträglich einschätzen zu kön­ nen, ohne hierfür auf die Kenntnis innerer Tatsachen des Gegners angewiesen zu sein.17 An der normativen Methode und einer in ihrem Sinne geltenden Erklärung ist ihm schon allein deshalb gelegen, weil er erst dadurch die Möglichkeit erhält, sich bei ordnungsgemäßer Erklärung seines Willens auf die Geltung seines Rechts­ folgewillens unabhängig davon einstellen zu können, ob der Gegner ihn richtig ver­ standen hat und ob er das beweisen könnte.18 Schon aus diesem Grund handelt sich bei der normativen Auslegung keineswegs um eine bloße Zumutung für den Erklä­ renden bzw. eine „Wohltat“19 für den Empfänger. Bei einer nicht ordnungsgemäßen Erklärung, die etwas anderes als den Willen des Erklärenden zum Ausdruck bringt, verselbständigt sich schließlich sogar das Interesse des Erklärenden am Schutz seines eigenen Vertrauens auf das Ergebnis der normativen Auslegung seiner Willenserklärung gegenüber dem Selbstbestim­ mungsinteresse.20 Wie das Entdeckungsszenario zeigt, können Wille und Vertrau­ en auf Seiten des Erklärenden dann sogar miteinander in Konflikt geraten, weil die verbreitete Unterstellung, der Erklärende werde „seine Erklärung so verstehen, wie er sie gemeint hat“21, unzutreffend ist. So paradox es auch klingen mag für denje­ nigen, der den Erklärenden zu Unrecht ausschließlich als „wollenden“ Akteur be­ träglich) vom Erklärenden verstandene objektive Bedeutung kommt als Bezugspunkt dieser Re­ geln nicht vor. Ebenso bei Jahr, JuS 1989, 249, der nur entweder eine Geltung des „Gewollten“ kennt oder eine Geltung des „Nichtgewollten“ (= objektiven Auslegungsergebnisses), wenn der „Empfänger“ der Erklärung diesen Sinn beigelegt hat (a. a. O., S.  252). Das Vertrauen des Erklären­ den auf das „Nichtgewollte“ ist auch hier nicht vorgesehen. 16  Welser, JBl 1974, 79 (80) gegenüber Kramer, Grundfragen (1972), 48 ff. 17 Vgl. Seifert, Falsa demonstratio (1929), 87 und die treffenden Ausführungen bezüglich der beiderseitigen Schutzrichtung des Vertrauensschutzgedankens bei Simonius, FG Basler Juristen­ fakultät (1942), 233 (235) zum schweizer Recht und Kramer, Grundfragen (1972), 49 f. zum öster­ reichischen Recht. 18  Kramer, Grundfragen (1972), 50 meint in diesem Sinne, der Erklärende könne bei ord­ nungsgemäßer Erklärung „mit Recht darauf vertrauen, daß sein Verhalten vom Anerklärten richtig ausgelegt wird“. Vgl. auch Zwanzger, Vertrag (2013), 185, der treffend hervorhebt, die Funktion des objektiven Auslegungsmethode liege darin, die Auslegung beiderseits „verifizierbar“ zu ma­ chen. Inwieweit sich dieses Ziel mit der natürlichen Methode verträgt, problematisiert er nicht. 19  So aber Thomale, Leistung (2012), 158. 20 Vgl. Simonius, FG Basler Juristenfakultät (1942), 233 (235): „Der Empfänger wird also in seinem Vertrauen auf diesen, für ihn massgebenden Inhalt der Erklärung geschützt, gleichzeitig aber auch der Erklärende in seinem Vertrauen darauf, dass seiner Erklärung jedenfalls die Bedeu­ tung zukomme, die ihr der Empfänger beizulegen hatte.“ 21  Schimmel, JA 1998, 979 (982).

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§  9 Die teleologischen Argumente der dualistischen Lehre

greift, der „prinzipiell nicht vor seinem wahren Parteiwillen geschützt zu werden braucht“22: Die von der natürlichen Methode ausgehende „positive“ Wirkung seines Willens ist für den Erklärenden potentiell gefährlich, da sie sein Orientierungsinte­ resse übergeht, wenn er mit einer Beachtlichkeit seines Willens im konkreten Fall nicht rechnen kann.23 Es genügt an dieser Stelle die Feststellung, dass auf Seiten des Erklärenden neben dem Selbstbestimmungsinteresse auch ein Orientierungsinteresse besteht, das ge­ gen die natürliche Auslegungsmethode streitet. Keiner Entscheidung bedarf die (über das hier behandelte Argument hinausführende24) Frage, ob bei isolierter Ab­ wägung von Selbstbestimmungs- und Orientierungsinteresse des Erklärenden im Konfliktfall das Orientierungsinteresse zurückzutreten hat, es also aus Sicht des Erklärenden wertungsmäßig überzeugt, im Sinne der Privatautonomie dem ur­ sprünglichen Willen auch um den Preis einer gewissen Desorientierung zum Durch­ bruch zu verhelfen. Eine derartige isolierte Abwägung der gegenläufigen Interessen des Erklärenden steht nämlich bei der natürlichen Auslegungsmethode von vornhe­ rein nicht in Rede, da die natürliche Methode zusätzlich auch noch in das Orientie­ rungsinteresse des Empfängers eingreift. Jedenfalls das Orientierungsinteresse des Empfängers dürfte aufgrund des gesetzlichen Zugangserfordernisses einer Relati­ vierung durch das Selbstbestimmungsinteresse des Erklärenden nicht zugänglich sein. Der isolierte Konflikt von Selbstbestimmungs- und Orientierungsinteresse des Erklärenden ist daher erst an späterer Stelle in anderem Zusammenhang zu betrach­ ten, wenn einmal ausschließlich das Orientierungsinteresse des Erklärenden be­ rührt ist.25 cc) Die Anerkennung des Orientierungsinteresses durch die Regeln über das Wirksamwerden der Erklärung Die rechtliche Bedeutung des Orientierungsinteresses für den Interessenkonflikt wird durch die gesetzliche Regelung des Wirksamwerdens der empfangsbedürfti­ gen Willenserklärung in §  130 I BGB bestätigt. Auch hinsichtlich des „Ob“ des Ein­ tritts der Erklärungswirkungen ist das Orientierungsinteresse auf beiden Seiten das ausschlaggebende Interesse: 22 

Zemen, JBl 1986, 756 (766). R. Raiser, AcP 127 (1927), 1 (6 in Fn.  15), der in dem von ihm betrachteten Anwen­ dungsfall des falsa-Satzes meint, das (nachträgliche) Vertrauen des Erklärenden auf den Wert der eigenen Erklärung dürfe nicht enttäuscht werden, indem man ihn „mit Rücksicht auf das zufällige Mißverständnis des Gegners auf seine erste Willensmeinung festlegt“. 24  Das Argument, die natürliche Methode befriedige alle maßgeblichen (Beteiligten‑)‌I nteres­ sen, stellt bereits in Frage, dass auf Seiten des Erklärenden überhaupt ein Interesse existiert, das gegen die natürliche Methode streitet. Dies ist mit Blick auf das Orientierungsinteresse des Erklä­ renden unzutreffend. Eine Abwägung von Interessen, wie sie hier im Text angedacht ist, liegt dem hier behandelten Argument nicht zugrunde. 25  Siehe dazu noch eingehend im Zusammenhang mit der Diskussion über die Verwertung exorbitanten Sonderwissens §  14 II 2 c bb. 23 Vgl.

I. Argumente für die Geltung des Ergebnisses der natürlichen Auslegung

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Auf Seiten des Empfängers liegt die Bedeutung des Orientierungsinteresses auf der Hand. Das Gesetz ordnet die Empfangsbedürftigkeit der Willenserklärung schließlich nicht an, damit der Empfänger ein anfängliches Verständnis durchset­ zen kann, das mit dem Inhalt der Erklärung nichts zu tun hat, sondern damit er über die Veränderung seiner Rechtslage aufgrund der Willenserklärung informiert wird. Im Zugangserfordernis kommt die Anerkennung des Orientierungsinteresses des Empfängers klar zum Ausdruck. Umgekehrt, bezogen auf den Erklärenden, hat der Gesetzgeber seine Entschei­ dung für die Empfangstheorie und gegen die Vernehmungstheorie bei Erklärungen unter Abwesenden (§  130 I 1 BGB) ausdrücklich damit begründet, der Erklärende dürfe nicht „im Streitfall zu dem Beweise genötigt sein, daß der Empfänger die Erklärung in sein Bewußtsein aufgenommen habe, – ein Beweis, der nur in seltenen Fällen gelingen könnte, da es sich um einen inneren, aus den begleitenden Umständen für den Urheber der Wil­ lens­erklärung nicht unmittelbar erkennbaren Vorgang handelt“26.

Die Beweisbarkeit und die vorgelagerte Wahrnehmbarkeit der für die Rechtslage erheblichen Umstände sind Gesichtspunkte, die allesamt Aspekte des Orientie­ rungsinteresses des Erklärenden umschreiben. Was für die Erklärungsaufnahme in das Bewusstsein gilt, also für die Wahrnehmung der äußeren Erklärungszeichen, gilt erst recht für die Verarbeitung und Deutung dieser Informationen. Auch hier darf der Erklärende durch für ihn nicht erkennbare Störungen in der Sphäre des Gegners nicht überrascht werden, nur weil auch auf seiner Seite vorübergehend ebenfalls eine Störung vorlag. Nicht zuletzt dreht sich der Streit über die gesetzlich nicht geregelten Vorausset­ zungen des Wirksamwerdens nicht gespeicherter Erklärungen unter Anwesenden darum, inwieweit dem Erklärenden die Rückfrage zumutbar ist, ob der Empfänger die Erklärung richtig verstanden habe.27 Im Mittelpunkt steht mit dieser Nachfra­ geobliegenheit wiederum das Maß der vom Erklärenden zu erwartenden Orientie­ rungsbemühungen. Die Anhänger der eingeschränkten Vernehmungstheorie, die eine allgemeine und voraussetzungslose Nachfrageobliegenheit ablehnen, berufen sich dabei der Sache nach auf das Orientierungsinteresse des Erklärenden. Sie wol­ len dessen berechtigtes Vertrauen auf das Verstandenwordensein schützen, falls er mit einem Missverständnis des Empfängers nicht rechnen konnte.28 Selbst die An­ 26 

Mot. I (1888, 2000), 157 = Mugdan I (1899), 438. Gegen die Zumutbarkeit jeder Nachfrageobliegenheit insb. Burgard, AcP 195 (1995), 74 (89, 93). Für eine Nachfrageobliegenheit bei äußeren Anhaltspunkten einer gestörten Vernehmung nicht verkörperter Erklärungen John, AcP 184 (1984), 385 (393 f.); Faust, in: NK‑BGB (2012), §  130 Rn.  74; Einsele, in: MünchKommBGB (2015), §  130 Rn.  28. 28  Bork, AT (2016), Rn.  631. Vgl. auch Singer/Benedict, in: Staudinger (2012), §  130 Rn.  29, die im Zusammenhang mit dem sog. Sprachrisiko ausdrücklich davon sprechen, dass dem „berechtig­ ten Vertrauen des Erklärenden, seine Erklärung würde verstanden“, Rechnung getragen werden muss. 27 

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§  9 Die teleologischen Argumente der dualistischen Lehre

hänger der strengen Vernehmungstheorie vertreten aber – wiederum wohl im Hin­ blick auf das ansonsten nicht mehr gewahrte Orientierungsinteresse des Erklären­ den –, es komme für die Wirksamkeit der Erklärung nur auf die akustisch richtige Wahrnehmung der Erklärung an und nicht auch auf ein zutreffendes inhaltliches Verständnis.29

2. Die Erreichung des Zwecks der Willenserklärung a) Das Zweckerreichungsargument Die herrschende Auffassung hält bei übereinstimmendem Verständnis die natürli­ che Methode auch deshalb für richtig, weil ihr Ergebnis die Erreichung des Zwecks der Willenserklärung widerspiegele. Die Erklärung sei lediglich ein Mittel, dem Empfänger Kenntnis vom Rechtsfolgewillen des Erklärenden zu verschaffen und insbesondere beim Vertragsschluss eine Willensübereinstimmung der Parteien her­ beizuführen. Dieser Kundgabezweck werde bei und trotz falsa demonstratio er­ reicht.30 Auch wenn der Zufall mitspiele, habe sie „immerhin im besonderen Fall trotzdem ihre Aufgabe erfüllt (…), dem Erklärungsgegner den wahren Willen des Erklärenden zu offenbaren“31. Der Erklärung als technischem Instrument zur Her­ beiführung der Willensübereinstimmung dürfe nicht mehr Gewicht eingeräumt 29  Wertenbruch, AT (2014), §  8 Rn.  23; M. Wolf/Neuner, AT (2012), §  33 Rn.  37; Schapp/‌S chur, Einführung (2007), Rn.  358; Hübner, AT (1996), Rn.  736; Flume, AT II (1992), 241. Vgl. auch die Klarstellungen von Vertretern der eingeschränkten Vernehmungstheorie, dass es für die Verneh­ mung allein darauf ankommen könne, dass die Willenserklärung akustisch richtig verstanden wurde: Bork, AT (2016), Rn.  631; Medicus, AT (2010), Rn.  271, 295; Burgard, AcP 195 (1995), 74 (81 bei Fn.  44); Einsele, in: MünchKommBGB (2015), §  130 Rn.  28 („akustisch richtig verstan­ den“). Singer/‌Benedict, in: Staudinger (2012), §  130 Rn.  112 unterscheiden zwischen einer auch auf den Inhalt bezogenen „strengen (gemeinrechtlichen) Form der ‚Vernehmungstheorie‘ und der „heute gebräuchlichen Form der Vernehmungstheorie“, die sie als „Wahrnehmungstheorie“ be­ zeichnen und die ausschließlich auf die sinnliche Wahrnehmung abstellt. Die strenge (gemein­ rechtliche) Vernehmungstheorie werde heute „kaum noch vertreten“. 30  Leenen, AT (2015), §  5 Rn.  5 und 54, §  8 Rn.  145; Thomale, Leistung (2012), 86; Leenen, FS Prölss (2009), 153 (161 f.); Martens, Dritte (2007), 331 in Fn.  91 a. E.; Neuner, FS Canaris I (2007), 901 (908); Martinek, JuS 1997, 136 (138 [Stud. I.]); Jahr, JuS 1989, 249 (251); Foer, Regel (1987), 35 f.; Reinicke, JA 1980, 455 (457); Stathopoulos, FS Larenz (1973), 357 (367); Wieling, AcP 172 (1972), 297 (300 f.); Säcker, JurAnalysen 1971, 509 (510 f.); Diesselhorst, Sympotica Wieacker (1970), 180 (185); Wieacker, JZ 1967, 385 (389); Lehmann/‌Hübner, AT (1966), 214; Lüderitz, Aus­ legung (1966), 233; Ramm, AcP 160 (1961), 74 (79); Babich, Einfluß (1934), 19 (zur mehrdeutigen Erklärung); Manigk, JherJb 75 (1925), 127 (207); Jacobi, JherJb 70 (1921), 110 (111, 113, 114, 121); Heisler, Irrtum (1913), 34; Jacobi, Theorie (1910), 25. Siehe bereits in diesem Sinn Zitelmann, Irrtum (1879), 428 zum gemeinen Recht und v. Tuhr, ZSR 15 (1896), 278 (293) zum schweizer Recht. Auch Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 (187) meint, bei übereinstimmendem Verständ­ nis sei „an sich der Zweck der Erklärung erreicht“, äußert aber Bedenken, weil der Erklärende möglicherweise später seinen Fehler bemerken und damit rechnen könne, der Empfänger habe die erklärte Rechtsfolge verstanden. 31  Lehmann/Hübner, AT (1966), 214.

I. Argumente für die Geltung des Ergebnisses der natürlichen Auslegung

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werden, als dem in diesen Fällen erreichten Zweck.32 Eisele bringt das „Zweckerrei­ chungsargument“ bezogen auf den Vertragsschluss bereits 1885 zum gemeinen Recht prägnant auf den Punkt: „Eine Vertragserklärung richtet sich nur an den anderen Kontrahenten; sie hat ihren Zweck erfüllt, wenn sie bei diesem die gewünschte Vorstellung hervorgerufen hat, und es ist gleichgültig, ob sie dazu, an und für sich betrachtet, tauglich war oder nicht. Hat der Adressat verstanden, wie der Erklärende sie meinte, so ist es gut.“33

Die Prüfung der Zweckverfehlung soll danach der normativen Auslegung vorgela­ gert sein und die Fälle der Zweckerreichung ihrem Anwendungsbereich entzo­ gen.34 Das allein der Verteilung von Kommunikationsrisiken dienende Korrektiv der normativen Auslegung sei überflüssig, „wenn bei keinem der Beteiligten ein Mißverständnis vorliegt“35. „Die Rechtsgeschäftslehre repariert nichts, was nicht kaputt ist.“36 b) Widerlegung: Die Unvereinbarkeit des Zweckerreichungsarguments mit den Rechtsfolgen der Willenserklärung Das Zweckerreichungsargument hält einer näheren Überprüfung nicht stand. Die Funktion der durch das Zugangserfordernis vorgesehenen Kommunikation zwi­ schen den Beteiligten mittels der Willenserklärung kann sinnvollerweise nicht da­ rin gesehen werden, die Vorstellungen der Beteiligten vom rechtsmaßgeblichen In­ halt der Willenserklärung lediglich zu einem bestimmten Zeitpunkt37 zu koordinie­ ren. Das wäre nur stimmig, wenn die Willenserklärung ihre Wirkung zu diesem Zeitpunkt punktuell entfalten und danach ohne weitere Bedeutung für die Beteilig­ ten „verpuffen“ würde. Nur dann wäre es unerheblich, ob die übereinstimmende Inhaltsvorstellung durch den (objektiven) Inhalt der Erklärung gerechtfertigt ist oder durch sie nur zufällig irrtumsbedingt „ausgelöst“ wurde. Ein weiteres Koordi­ nationsbedürfnis bestünde dann nicht mehr und das Recht hätte in der Tat keinen Anlass danach zu fragen, wie es zu dieser Übereinstimmung kam. Dieser Ansatz geht ersichtlich an den tatsächlichen Rechtsfolgen von Willenser­ klärungen vorbei. Sie führen in dem durch ihren Inhalt gesteckten Rahmen eine dauerhafte Änderung der Rechtslage herbei mit Wirkungen, die über den Vornah­ mezeitpunkt weit hinausreichen. Nur der Dauerhaftigkeit und Beständigkeit der 32  Leenen, FS Prölss (2009), 153 (161), der auch von einer „Ziel/Mittel-Relation“ spricht. Ähn­ lich Reinicke, JA 1980, 455 (457), der den „instrumentalen Charakter“ der Erklärung hervorhebt, und Jacobi, JherJb 70 (1921), 110 (114): „Erklärung [ist] nur Mittel zum Zweck“. 33  Eisele, JherJb 23 (1885), 1 (41); zust. Manigk, JherJb 75 (1925), 127 (207). 34  Foer, Regel (1987), 36; Reinicke, JA 1980, 455 (458). 35  BGH, Urteil vom 26.10.1983, NJW 1984, 721. 36  Thomale, Leistung (2012), 86. 37  Für die im Text folgende Argumentation spielt es dabei keine Rolle, welchen Zeitpunkt man (etwa im Rahmen der natürlichen Auslegung) wählt.

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§  9 Die teleologischen Argumente der dualistischen Lehre

Wirkungen wegen bedienen sich die Beteiligten überhaupt des Instruments der Wil­ lenserklärung zur Regelung ihrer Rechtsbeziehungen. Es geht ihnen nicht darum, ihre Vorstellungen momenthaft übereinzubringen, sondern darum, die Rechtslage neu zu gestalten. Sie müssen dementsprechend ihr Verhalten nicht lediglich in ei­ nem bestimmten Moment bei Vornahme des Geschäfts, sondern auch in Zukunft auf die Rechtsfolgen der Erklärung abstimmen. Besonders deutlich wird die Dauer­ wirkung und die Zukunftsgerichtetheit der Rechtsfolgen von Willenserklärungen bei den von Lorenz treffend als „Zukunftsregelung“38 bezeichneten Schuldverträ­ gen. Die Vertragsschlusserklärungen sollen es den Parteien ermöglichen, sich jederzeit darauf einstellen zu können, was sie selbst schulden und von der Gegenseite zu erwarten haben. Aber auch die Kündigung eines Mietvertrags als einseitiges Rechtsgeschäft wirkt in die Zukunft, weil sie nicht nur für heute, sondern auch für morgen und für übermorgen das Mietverhältnis beendet und beide Seiten sich in ihrem Verhalten jederzeit darauf einstellen müssen. Auch die Wirkungen der im Rahmen von Verfügungsgeschäften ausgetauschten Erklärungen sind keine Mo­ menterscheinungen, sondern gestalten die Rechtslage der Parteien dauerhaft um, indem Rechtspositionen für die Zukunft aufgehoben, übertragen, belastet oder ih­ rem Inhalt nach verändert werden. Die Erklärung nützt den Beteiligten unter dem Gesichtspunkt der Koordinierung ihres Verhaltens mit der durch die Erklärung ausgelösten dauerhaften Änderung ihrer Rechtslage wenig, wenn sie zwar beim Empfänger zunächst eine zutreffende Vorstellung vom rechtsmaßgeblichen Rechtsfolgewillen des Erklärenden im Sinne der condicio-sine-qua-non-Formel „verursacht“, diese Vorstellung aber „nur auf dem brüchigen Grunde einer irrigen Annahme“39 ruht und schon beim ersten Nachdenken in der Erklärung nicht nur keine Stütze mehr findet, sondern durch sie sogar völlig entkräftet wird. Spätestens dann wird sichtbar, was bereits von Anfang an der Fall war: Die Erklärung hat ihre aus dem Zugangserfordernis folgende Infor­ mationsfunktion verfehlt, die dem Empfänger die Orientierung über seine Rechtsla­ ge ermöglichen soll. Auch bezogen auf den Erklärenden kann von Zweckerreichung keine Rede sein. Es stellt die Dinge auf den Kopf, die Zweckerreichung damit begründen zu wollen, der Erklärende müsse sich in den Fällen des übereinstimmenden Verständnisses „durch sein Wort für gebunden halten, weil er durch das Wort die Vorstellung des Gebundenseinwollens hat hervorrufen wollen“40. Nicht aufgrund seines vormali­ gen Willes, beim Empfänger die „Vorstellung des Gebundenseinwollens“ hervorzu­ rufen, kann sich der Erklärende für gebunden halten, sondern nur, wenn er Grund zu der Annahme hat, es sei ihm gelungen, die Vorstellung tatsächlich hervorzurufen oder dem Empfänger zumindest die dafür notwendigen und objektiv geeigneten 38 

Lorenz, Schutz (1997), 28. Oertmann, AcP 117 (1919), 275 (303). 40  Jacobi, Theorie (1910), 25. 39 

I. Argumente für die Geltung des Ergebnisses der natürlichen Auslegung

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Informationen zur Verfügung zu stellen. Durch eine bei normativer Auslegung auf etwas ganz anderes lautende Erklärung wird er sich darin aber in keiner Weise be­ stätigt fühlen können, sondern im Gegenteil den Zweck der Erklärung für verfehlt halten müssen, wenn er noch einmal darüber nachdenkt. Zugespitzt formuliert reduziert sich die Funktion der Erklärung also keineswegs darauf, beim Empfänger für den Bruchteil einer bestimmten, dann im Grunde auch völlig willkürlich41 gewählten Sekunde eine zutreffende Vorstellung vom Willen des Erklärenden auszulösen. Die Willenserklärung – d. h. ihr äußerer Tatbestand – soll vielmehr beiden Beteiligten eine auch in Zukunft belastbare, weil jederzeit eine Rechtfertigung des eigenen „richtigen“ Verständnisses gegenüber der Gegenseite ermöglichende Orientierungsgrundlage verschaffen. Die sich auf die „Bedürfnisse des Rechtslebens“42 berufende herrschende Auffassung muss sich fragen lassen, wie es sich mit diesen Bedürfnissen verträgt, den Beteiligten das objektiv Erklärte als einen über die Zeit hinweg stabilen und erreichbaren Orientierungspunkt aus der Hand zu schlagen und an dessen Stelle mittels der vorrangigen natürlichen Methode die zufällige innere Verständnisübereinstimmung bei Vornahme des Rechtsge­ schäfts zu setzen, die längst und angesichts des objektiv Erklärten auch berechtig­ terweise hinfällig sein kann, wenn die Beteiligten später auf eine Orientierung über ihre Rechtslage angewiesen sind.

3. Der Vorrang des übereinstimmenden Parteiwillens als „oberste Norm des Vertrages“ a) Das Argument Die natürliche Auslegung wird insbesondere von Vertretern der österreichischen Lehre auch damit begründet, der übereinstimmende Parteiwille sei die „oberste 41  Es ist nicht ersichtlich, warum es auf Basis der herrschenden Auffassung vom Kundgabe­ zweck der Willenserklärung nur auf das anfänglich kongruente Verständnis ankommen soll. Müsste dann nicht auch ein nachträglich kongruentes Verständnis als gewissermaßen „nachträg­ lich gelungene Kommunikation“ den Vertrag oder das einseitige Rechtsgeschäft in diesem Sinne zu Stande bringen, wie es Jahr, JuS 1989, 249 (253, 254) für den Fall annimmt, dass der Empfänger die vom Erklärenden ursprünglich gewollte Rechtsfolge nachträglich „erkennt“? Wem dies zu Recht unhaltbar erscheint (Gerlach/Manzke, VergabeR 2016 [erscheint demnächst] unter B II 2; E. Wolf, AT [1982], 418: „Die zufällige nachträgliche Übereinstimmung ihrer Meinungen ändert am Existieren oder Nichtexistieren eines bestimmten Geschäftsinhalt nichts.“; dagegen auch Sonnenberger, Verkehrssitten [1969], 185 in Fn.  238), weil dadurch der Inhalt des Rechtsgeschäfts den Zufälligkeiten unvorhersehbarer Neudeutungen Preis gegeben würde und sich keiner der Beteilig­ ten noch auf irgendetwas verlassen könnte, der sollte sich fragen, warum diese Erwägungen nicht auch bei anfänglich zufällig kongruentem Verständnis den Ausschlag für die normative Ausle­ gung geben sollten. Die Funktion der Erklärung als belastbare Vertrauensgrundlage ist im einen wie im anderen Fall gleichermaßen hinfällig. 42  R. Raiser, AcP 127 (1927), 1 (11); Larenz, Methode (1930, 1966), 16.

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§  9 Die teleologischen Argumente der dualistischen Lehre

Norm des Vertrages“43 und dessen „stärkste[r] Geltungsgrund“44. Soweit man sich zur Begründung dieser Behauptung auf die Regelungen über das Scheingeschäft stützt, ist hierauf im Zusammenhang mit den systematischen Argumenten näher einzugehen.45 In teleologischer Hinsicht ist die Betonung des übereinstimmenden Parteiwillens eine Variante des gerade behandelten Zweckerreichungsarguments, das hier allerdings nicht auf die einzelne Willenserklärung, sondern auf den Vertrag als Ganzes bezogen wird. Nichts wird, so der Grundgedanke, der Aufgabe des Ver­ trages in der Privatrechtsordnung, den Parteien eine selbstbestimmte Regelung ­ihrer Rechtsverhältnisse zu ermöglichen, besser gerecht als die Geltung im Sinne des beidseitig Gewollten, da so „der bestmögliche Grad der Selbstbestimmung er­ reicht“46 werde. In diesem Sinne wird zur Rechtfertigung der natürlichen Methode auch zum BGB gelehrt: „Wenn die Vertragsfreiheit den einzelnen die Kompetenz gibt, ihre gegenseitigen Beziehungen selbst zu regeln, dann [müsse] man die vertraglichen Regelungen auch anhand ihrer gemeinsamen Vorstellungen und Intentionen ausle­ gen.“47 „Dem Zweck des Vertragsschlusses entsprechend [habe] der übereinstim­ mend gewollte Sinn den Vorrang vor einer misslungenen Formulierung.“48 Das übereinstimmend Gewollte gehe dem Erklärten „als Durchsetzung der Selbstbe­ stimmung“49 vor. Es spreche „nichts dagegen, die Willenserklärung in dem von beiden Parteien gewollten Sinn auszulegen und dem Gewollten somit Geltung zu verschaffen“50. Auch Flume hält in diesem Sinne dem normativen Auslegungsan­ satz von Titze entgegen: „Der Sinn des Vertrages ist, daß die rechtsgeschäftliche Regelung im Einverständnis der Kontrahenten begründet wird, und deshalb ist es sachgerecht, dass das wirkliche Einver­ ständnis dem normativen Sinn der Erklärungen der Kontrahenten vorgeht.“51

b) Widerlegung Aufgrund der engen Verwandtschaft mit dem gerade behandelten Zweckerrei­ chungsargument sind hier nur noch einige spezifische Gesichtspunkte zu ergänzen, 43 

F. Bydlinski, Privatautonomie (1967), 39; Zemen, JBl 1986, 756 (766). Zemen, JBl 1986, 756 (757, 766). 45  Hierauf beziehen sich F. Bydlinski, Privatautonomie (1967), 40 und Zemen, JBl 1986, 756 (757). Dazu noch §  10 II. 46  Zemen, JBl 1986, 756 (766). 47  Pawlowski, AT (2003), Rn.  433. 48  Leipold, AT (2015), §  15 Rn.  29 a. E. Siehe auch Larenz, AT (1989), 338: die „übereinstim­ mend gemeinte Bedeutung“ werde „den Intentionen beider [Beteiligter] am besten gerecht“. 49  Hart, in: AK-BGB (1987), §§  133/157 Rn.  9 a. E. 50  Bergermann, RNotZ 2002, 557 (558). Siehe auch Sosnitza, JA 2000, 708 (716) und Biehl, JuS 2010, 195 (198): die Auslegung habe der „Verwirklichung des übereinstimmenden Parteiwillens zu dienen“. Ferner Fezer, Klausurenkurs (2013), 205. 51  Flume, AT II (1992), 621 in Fn.  11. 44 

I. Argumente für die Geltung des Ergebnisses der natürlichen Auslegung

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die speziell gegen die angebliche „Prävalenz des (übereinstimmenden) Willens“52 sprechen. Sie ergeben sich im Wesentlichen schon aus den Ergebnissen der Vor­ über­legungen zur Dogmatik der natürlichen Auslegungsmethode.53 Gegen den hier betrachteten Begründungsansatz spricht schon die Limitierung seines Anwendungsbereichs. Die Auslegung betrifft alle Rechtsgeschäfte; einen beidseitigen Rechtsfolgewillen und zweiseitige rechtsgeschäftliche Selbstbestim­ mung kann es jedoch allenfalls beim Vertrag geben. Bei einseitigen Rechtsgeschäf­ ten fehlt jegliches rechtlich relevante Willensmoment auf Empfängerseite, so dass dort konstruktiv keine andere Möglichkeit besteht, als statt an den gleichlautenden Willen des Empfängers an dessen gleichsinnige Auffassung anzuknüpfen.54 Damit wird aber der Bezug zur beiderseitigen Selbstbestimmung aufgegeben und auch für Verträge unklar, warum ausgerechnet der beiderseitige übereinstimmende reale Wille der Parteien eine so herausgehobene Bedeutung hat. Eine einheitliche theore­ tische Grundlage der Auslegung von Vertrag und einseitigem Rechtsgeschäft lässt sich auf diesem Wege jedenfalls nicht erreichen. Auch bei isolierter Betrachtung des Vertrages hält der angebliche Vorrang des übereinstimmenden Willens der Überprüfung nicht stand. Zwei aufeinander bezo­ gene Willenserklärungen, hinter denen gleichlautende Rechtsfolgewillen stehen, bieten keine Gewähr dafür, dass auch nur einer der Beteiligten davon ausgeht, es sei ein Vertrag mit dem von ihm gewollten Inhalt zustande gekommen. Auf die Spitze getrieben müsste dann sogar ein Vertrag im Sinne der gleichlautenden Parteiwillen zustande kommen, falls und obwohl beiden Beteiligten beim Vertragsschluss ein Irrtum unterläuft und beide hinterher davon ausgehen, es sei deshalb ein Vertrag anderen Inhalts (objektiver Konsens) oder gar kein Vertrag (objektiver Dissens) zu­ stande gekommen.55 Derart absurde Ergebnisse sind nur vermeidbar, wenn über den übereinstimmenden Parteiwillen hinaus auch die Existenz von Vertrauen auf die Willensübereinstimmung verlangt würde.56 Damit ist die These von der Präva­ lenz des übereinstimmenden Parteiwillens aber bereits im Kern aufgegeben. Die Willen der Vertragsparteien allein sind hiernach nämlich ersichtlich nicht mehr der stärkste, alle anderen Wertungsgesichtspunkte verdrängende Geltungsgrund des Vertrages. Zemen versteht denn auch im Ergebnis die Prävalenz des übereinstimmenden Parteiwillens in einem bescheideneren Sinne. Ihm zufolge soll es auf den überein­ 52  F. Bydlinski, Privatautonomie (1967), 39 in Fn.  62a a. E. Siehe auch Zemen, JBl 1986, 756 (766). 53  Siehe insb. §  3 IV 2 b aa. 54  So ausdrücklich Zemen, JBl 1986, 756, der mit einem Analogieschluss vom gemeinsamen Wollen beim Vertrag auf das gemeinsame Verstehen beim einseitigen Rechtsgeschäft den Bruch in der Begründung kaschiert. Inwiefern eine Vergleichbarkeit der Interessenlage besteht, führt er nicht näher aus. Seine auf dem Gedanken der Selbstbestimmung beruhende Begründung des Vor­ rangs des beiderseitigen Parteiwillens gibt hierfür nichts her. 55 Vgl. Zemen, JBl 1986, 756 (763 unter III 2) mit Beispiel. 56  So ausdrücklich Zemen, JBl 1986, 756 (766) und Rummel, JBl 1988, 1 (5).

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§  9 Die teleologischen Argumente der dualistischen Lehre

stimmenden Parteiwillen nur ankommen, wenn zumindest eine der Vertragspartei­ en von der Übereinstimmung der Willen und damit dem Zustandekommen des Ver­ trages ausgeht. Dann würde „weiterhin der ideale Zustand bestehen, daß beide Par­ teien das Gleiche gewollt haben und zusätzlich der Erklärungsgegner auf die Gültigkeit des Vertrages nach dem übereinstimmenden Parteiwillen ‚vertraut‘“57. Diese Begünstigung des auf die Willensübereinstimmung Vertrauenden geht aller­ dings potentiell zu Lasten der anderen Vertragspartei, die vom objektiven Erklä­ rungswert ausgeht. Es stehen sich dann – wie Zemen selbst sieht – „das Vertrauen auf den objektiven Erklärungswert der einen Partei und das Vertrauen auf den über­ einstimmenden Parteiwillen der anderen Partei“58 gegenüber. Diesen Interessen­ konflikt will Zemen aufgrund der Prävalenz des übereinstimmenden Parteiwillens dahingehend entscheiden, dass das „an sich“ objektiv eigentlich gerechtfertigte Ver­ trauen des einen Vertragsteils „durch das Vertrauen des anderen Vertragsteiles auf das Bestehen des übereinstimmenden Parteiwillens überkompensiert“59 werde. Der übereinstimmende Parteiwille wird so innerhalb der Auslegung60 zum aus­ schlaggebenden Faktor bei einer Abwägung einander widersprechender Ver­t rauens­ positionen. M. E. ist nicht einzusehen, warum dem Vertrauen auf den übereinstimmenden Parteiwillen ein „höherer Grad an Schutzwürdigkeit zuzumessen“61 sein sollte als dem Vertrauen auf den objektiven Erklärungswert. Die Schutzwürdigkeit von Ver­ trauen bemisst sich auch sonst allein nach den objektiven Umständen, die es recht­ fertigen. Bei Zemen kommt zu kurz, dass in den allein interessanten methodenrele­ vanten Fällen das Vertrauen auf die Willensüberstimmung mangels hinreichender objektiver Anhaltspunkte nur zufällig zutrifft, durch keine objektiven Anhalts­ punkte gerechtfertigt und deshalb nicht schutzwürdig ist.62 Es besteht kein Anlass, wegen dieses Zufalls den Gegner zu belasten, der das Rechtsgeschäft immerhin (nachträglich) objektiv so versteht, wie er es zu verstehen hatte.63 57  Zemen, JBl 1986, 756 (766); zust. Rummel, JBl 1988, 1 (5), der den natürlichen Konsens nur dann nicht gelten lässt, wenn „beide Partner“ (Hervorhebung übernommen) nicht auf ihn vertraut haben. Zemen, a. a. O. (758 unter I 2 und 763 unter III 2) begründet diese Einschränkung im Anschluss an F. Bydlinski, Privatautonomie (1967), 39 ff. mit der Ablehnung eines beiderseits unbewussten Vertrages. F. Bydlinskis Kritik am beiderseits unbewussten Vertrag hat hingegen eine völlig ande­ re Stoßrichtung. Er will darlegen, warum ein Vertrag nicht anzuerkennen ist, wenn beiden Seiten der Rechtsfolgewille im Sinne des normativen Auslegungsergebnisses fehlt. Eine Einschränkung der Prävalenz des übereinstimmenden Parteiwillens durch das Vertrauensprinzip ist bei F. Bydlinski nicht angelegt. 58  Zemen, JBl 1986, 756 (766). 59  Zemen, JBl 1986, 756 (766). 60  Wie bereits in §  7 dargelegt, übergeht Zemen das Vertrauen auf den objektiven Erklärungs­ wert nur im Rahmen der Auslegung, möchte es aber – mit i. E. nicht tauglichen Mitteln – auf ande­ rem Wege schützen. 61  Zemen, JBl 1986, 756 (766). 62 Vgl. Canaris, Vertrauenshaftung (1971), 417 f. in anderem Zusammenhang. 63  Zur Veranschaulichung vgl. das bereits unter §  3 IV 2 b aa (3) (a) diskutierte zweite Beispiel,

I. Argumente für die Geltung des Ergebnisses der natürlichen Auslegung

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4. Die dogmatische Einordnung als privatautonome Sprachvereinbarung Einen Ansatz, dessen dogmatischen Konstruktion und Begründung sich von der dualistischen Lehre und der natürlichen Auslegungsmethode weitgehend löst, ver­ treten Ramm64 und Jürgen Schmidt65. Sie wenden sich gegen den Grundansatz der herrschenden Lehre, auf innere Tatsachen, namentlich die inneren Willen der Betei­ ligten zu rekurrieren. Die mit den Ergebnissen der herrschenden Lehre überein­ stimmende Lösung der einschlägigen Fälle ergebe sich aus dem Prinzip der Pri­vat­ auto­nomie, das sich auch auf die Erklärungen der Parteien erstrecke. Es liege „in ihrer Machvollkommenheit, sich einer eigenen Sprache zu bedienen und diese erst zu schaffen – was sie etwa auch in Privatcodes tun“66. Jürgen Schmidt meint dem­ entsprechend, die Lösung der hier interessierenden methodenrelevanten Fälle67 las­ se sich durch die Konstruktion einer Sprachvereinbarung lösen: In dem Verhalten liege der Antrag zum Abschluss einer Sprachvereinbarung, der dann entweder an­ genommen werde oder nicht.68 Beide Autoren bemühen sich um eine Überwindung des unaufgelösten methodi­ schen Dualismus der herrschenden Lehre. Die Konstruktion einer privatautonomen Sprachvereinbarung bringt auf diesem Weg aber keinen Fortschritt. Die Beteiligten können zwar im Rahmen der Privatautonomie auch Sprachvereinbarungen schlie­ ßen. Doch beide Autoren bleiben eine Erklärung schuldig, wie eine Sprachvereinba­ rung in den hier allein interessanten methodenrelevanten Fällen zustande kommen könnte. Diese Fälle, die Ramm und Jürgen Schmidt doch offenbar im Ergebnis eben­ so entscheiden wollen wie bei Anwendung der natürlichen Methode, zeichnen sich in dem Zemen auf Basis seiner Lehre zum Vertragsschluss kommen müsste (siehe insb. §  3 Fn.  200). 64  AcP 160 (1961), 74 (78 f.). 65  JZ 1989, 973 (976 f.). 66  Ramm, AcP 160 (161), 74 (78). Jürgen Schmidt, JZ 1989, 973 (976) bezeichnet die „Kompe­ tenz zur Sprachvereinbarung“ als „neue ‚Form‘ der „Privatautonomie‘, die aber mit dem ‚inneren Willen‘ der Parteien (als Faktum) nichts zu tun“ (Hervorhebung übernommen) habe. Vgl. auch Neuner, FS Canaris I (2007), 901 (908), der den Vorrang des übereinstimmenden Verständnisses u. a. damit erklärt, „dass eine ‚falsa demonstratio‘ ohnehin nur im Vergleich zum herrschenden Sprachgebrauch vorliegt, wohingegen der individuelle Sprachgebrauch durchaus konsequent sein kann“. 67  Jürgen Schmidt, JZ 1989, 973 (977) bezieht sich in Fn.  46 auf die von Wieling untersuchten Fälle. Das lässt keinen Zweifel daran, dass er echte Falschbezeichnungen im Blick hat und nicht nur die auslegungsmethodisch ohnehin uninteressanten unechten Falschbezeichnungen im Wort­ laut, die sich auch ohne die Konstruktion einer Sprachvereinbarung durch die normative Ausle­ gung lösen lassen. 68  Jürgen Schmidt, JZ 1989, 973 (977). Vgl. auch Bork, in: Staudinger (2015), §  155 Rn.  10, der ausführt, beim Vertragsschluss gelte bei Übereinstimmung der Willen der Parteien trotz divergie­ render Erklärungen „der Satz ‚falsa demonstratio non nocet‘, welcher den Erklärungswiderspruch durch Rückgriff auf eine vereinbarte einheitliche Bedeutung der Erklärung beseitigt“ (um Nachw. gekürzt).

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§  9 Die teleologischen Argumente der dualistischen Lehre

gerade dadurch aus, dass keiner der Beteiligten objektiv hinreichende Anhalts­ punkte dafür hat, von dem gleichsinnigen irrigen Sprachverständnis des Gegners auszugehen.69 Ihr Sprachverständnis stimmt für beide Seiten nicht erkennbar, son­ dern nur „zufällig“ innerlich überein. Dem Verhalten kommt folglich kein auf Ab­ schluss einer Sprachvereinbarung gerichteter objektiver Gehalt zu. Auch nach der Verlagerung des Problems auf die Metaebene der Sprachvereinbarung bleibt somit nach wie vor offen, wie die Parteien eine gemeinsame Sprache festlegen können, wenn dies nicht wechselseitig erkennbar wird.70 Hätten die Parteien tatsächlich eine Sprachvereinbarung getroffen, so läge doch nur wieder eine auslegungstheore­ tisch uninteressante unechte Falschbezeichnung vor, bei der die Beteiligten sich wechselseitig im Vorfeld zu erkennen gegeben haben, wie die Willenserklärung gemeint ist.

II. Argumente gegen die Geltung des Ergebnisses der normativen Auslegung Im Folgenden sind nunmehr die Argumente näher zu untersuchen, die eine Begrün­ dung dafür geben sollen, dass die Geltung des Ergebnisses der normativen Ausle­ gung in den methodenrelevanten Anwendungsfällen der natürlichen Auslegung der Interessenlage nicht gerecht wird. Mit ihrer gegen die normative Auslegung gerichteten rein destruktiven Stoß­ richtung verhalten sich diese Argumente neutral gegenüber der Frage, ob die Er­ klärung unwirksam ist oder im Sinne eines etwaigen übereinstimmenden Ver­ ständnisses gilt. Sie decken sich teilweise mit Argumenten, die auch im Zusam­ menhang mit dem inkongruenten Doppelirrtum von einigen Autoren gegen die Geltung des objektiv Erklärten vorgebracht werden. Stellungnahmen zum inkon­ gruenten Doppelirrtum werden aufgrund dieser Überschneidung im Folgenden mitberücksichtigt.

69 Der Empfänger eines einseitigen Rechtsgeschäfts muss zudem bei zufällig übereinstim­ mendem Verständnis keine für den Erklärenden ersichtliche Reaktion zeigen. Es wird deshalb re­ gelmäßig schon ein tatsächlicher Anknüpfungspunkt für die „Annahme“ des angeblichen Antrags einer Sprachvereinbarung fehlen. 70  Sollten beide Autoren es für das Zustandekommen der Sprachvereinbarung genügen lassen, dass die Beteiligten innerlich dasselbe Sprachverständnis teilen, so würden sie sich der Sache nach ebenfalls der natürlichen Auslegungsmethode bedienen.

II. Argumente gegen die Geltung des Ergebnisses der normativen Auslegung

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1. Die Sinnlosigkeit eines Vertrauensschutzes ohne Empfängervertrauen a) Das Argument: Schutz konkreten Empfängervertrauens durch die normative Auslegung Unter den teleologischen Argumenten, die sich in den methodenrelevanten Fällen gegen die normative Auslegung richten, sticht ein auf dem Vertrauensschutzgedan­ ken und der Funktion der normativen Auslegung aufbauendes Argument heraus. In der knappsten Form lautet es schlicht, es sei sinnlos normativ auszulegen, wenn der Empfänger auf das normative Auslegungsergebnis nicht auch tatsächlich vertraut habe.71 Der Erklärende, dem der Akt der Selbstbestimmung misslungen sei, müsse dies „nur gegenüber dem Empfänger verantworten, der auf diesen objektiv-norma­ tiven Inhalt vertraut“72. Besonders pointiert hat sich F. Bydlinski ganz allgemein gegen ein streng normatives Verständnis der Willenserklärung gewendet: „Wird jedes Verhalten als Willenserklärung gedeutet, aus dem nach seinem verkehrsmäßi­ gen Erklärungswert Schlüsse auf einen bestimmten Geschäftswillen gezogen werden kön­ nen, ohne Rücksicht darauf, ob der (potentielle) Erklärungsempfänger diese Schlüsse tat­ sächlich gezogen hat, so schützt man unter Umständen ein Vertrauen, das gar nicht be­ steht, das nur bestehen könnte. Das Vertrauensprinzip zu Gunsten gar nicht bestehenden Vertrauens ins Feld zu führen, ist aber evident sinnlos. (…) Eine zutreffende vertrauens­ theoretische Umschreibung der Willenserklärung wird fordern müssen, daß der Empfän­ ger aus dem Verhalten des anderen einen bestimmten Geschäftswillen (…) bei Anwen­ dung verkehrsmäßiger Sorgfalt unter den bestimmten Umständen erschließen durfte und auch tatsächlich erschlossen hat.“73 71 Im Zusammenhang mit dem falsa-Satz bzw. der natürlichen Auslegungsmethode: Brox, Einschränkung (1960), 100 f.; Schneider, jurBüro 1969, 9 (14); Kramer, Grundfragen (1972), 128 f.; Wieling, Jura 1979, 524 (526); Reinicke, JA 1980, 455 (458); Diederichsen, FS Juristische Gesell­ schaft zu Berlin (1984), 81 (86); Cordes, Jura 1991, 352 (354); Schlachter, JA 1991, 105 (106): „niemand“ habe auf die objektive Bedeutung vertraut; M. Wolf, in: Soergel (1999), §  157 Rn.  16; Vonkilch, in: Klang, ABGB (2011), §  914 Rn.  133 zum österreichischen Recht; Bitter, AT (2013), §  7 Rn.  23; Bork, AT (2016), Rn.  518. Vgl. auch Canaris, System (1986), 103 (105); Zemen, JBl 1986, 756 (763 unter III 1); Larenz, Methode (1930, 1966), 77 f. (guter Glaube an das objektiv Erklärte bestehe von vornherein gar nicht). Im Zusammenhang mit dem inkongruenten Doppelirrtum: Jacobi, Theorie (1910), 38 f. unter e) („Denn das Wort ohne Willen gilt nur, weil es Vertrauensgrund­ lage ist.“) und unter f); Bailas, Problem (1962), 21; Rummel, Vertragsauslegung (1972), 19, 24 in Fn.  41, 93; Zemen, JBl 1986, 756 (757) zum österreichischen Recht; Leenen, FS Prölss (2009), 153 (170, 174); ders., AT (2015), §  8 Rn.  160. Für beide Konstellationen Rothoeft, System (1968), 159. 72  Reinicke, JA 1980, 455 (458) (Hervorhebung übernommen). 73  F. Bydlinski, Privatautonomie (1967), 10  f. (Hervorhebungen übernommen). Siehe auch S.  38 „Ein solcher Vertrauensschutz dessen, der gar nicht tatsächlich vertraut, ist nun gewiß in je­ der denkbaren Hinsicht sinnlos.“ Nochmals ders., ZAS 1976, 83 (85); ders., BJM 1982, 1 (15); ders., System (1996), 165. Anlass für F. Bydlinskis Ausführungen ist der Extremfall des „beiderseits unbewußten Ver­ tragsschlusses“, an dem er Grenzen der Vertrauenstheorie des österreichischen Rechts aufzuzei­ gen versucht. Unmittelbar betrifft dies nur das „Ob“ der Willenserklärung. Seine Überlegungen sind aber wohl auch auf das „Was“ (d. h. die Auslegung des Inhalts der Erklärungen) zu beziehen, wie insbesondere die von ihm gezogene Parallele zum falsa-Satz nahelegt (Privatautonomie

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§  9 Die teleologischen Argumente der dualistischen Lehre

F. Bydlinskis „Vertrauenserfordernis“ hat sich in der österreichischen Lehre durch­ gesetzt, die allgemein zu den Voraussetzungen der normativen Auslegung zählt, der Empfänger müsse nicht nur auf deren Ergebnis vertraut haben dürfen, sondern auch konkret darauf vertraut haben.74 Die deutsche Lehre thematisiert das Vertrauenser­ fordernis im Gegensatz hierzu selten, wobei über seine Berechtigung keine Einig­ keit besteht.75 Seine Anhänger sind sich zudem uneinig darüber, ob die Willenser­ klärung nichtig ist76 oder im Sinne des vom Erklärenden Gewollten gilt77, falls das Vertrauenserfordernis nicht erfüllt ist, wobei diese Frage in vielen Fällen nicht ex­ plizit behandelt wird. Zur Klarstellung sei noch hervorgehoben: Sinnlosigkeitsargument und Vertrau­ enserfordernis können sich von vornherein ausschließlich auf die irrtumsbehaftete Willenserklärung beziehen, bei der der Wille des Erklärenden und das objektiv Er­ klärte auseinanderfallen.78 Hat der Erklärende dagegen seinen Willen normativ ordnungsgemäß erklärt, wäre die Forderung eines tatsächlichen Vertrauens des Empfängers für das Wirksamwerden des objektiv Erklärten (und Gewollten) geset­ zeswidrig. Der Gesetzgeber hat sich in §  130 I BGB für die Empfangstheorie ent­

[1967], 39 in Fn.  62a). Wie hier i. E. auch die Einordnung von F. Bydlinskis Ausführungen durch seinen Schüler Rummel, JBl 1973, 66 (68). 74  Vonkilch, in: Klang, ABGB (2011), §   914 Rn.  157 a. E.; Bollenberger, in: KurzK-ABGB (2010), §  863 Rn.  3; Rummel, in: Rummel, ABGB (2000), §  863 Rn.  8; Migsch, FS Schnorr (1988), 737 (738); Zemen, JBl 1986, 756 (757); P. Bydlinski, JBl 1983, 169 (175); Welser, JBl 1974, 79 (80): „auch wirklich vorhandenen“; Rummel, JBl 1973, 66 (68, 72); Kramer, Grundfragen (1972), 49 bei und in Fn.  119. Ebenso ders., in: Berner Kommentar (1986), OR, Art.  1 Rn.  102 a. E., Art.  18 Rn.  68 zum schweizer Recht. 75  Gegen das Vertrauenserfordernis: Frotz, Verkehrsschutz (1972), 475; Singer, in: Staudinger (2012), Vor §§  116 ff. Rn.  41 (anders wohl noch ders., Selbstbestimmung [1995], 88 in Fn.  162). Für das Vertrauenserfordernis: Leenen, AT (2015), §  5 Rn.  61 (Regel 3: „vom Empfänger verstandene Bedeutung“); Thomale, Leistung (2012), 86, der sogar im Sinne der Rechtsscheinlehre „betätigtes Vertrauen“ verlangt; Jahr, JuS 1989, 249 (252); Gudian, AcP 169 (1969), 232 (233, 234 und insb. 235 mit Fn.  10); Jacobi, Theorie (1910), 38 f. Vgl. auch Kramer, in: MünchKommBGB (2006), §  155 Rn.  3 und Dilcher, in: Staudinger (1979), §§  133, 157 Rn.  8: Willenserklärung, die „anders aufgefasst werden konnte und wurde, als der Erklärende sie gemeint hat“. Bei fehlendem Erklä­ rungsbewusstsein hält die Rspr. das Vertrauenserfordernis für eine Voraussetzung des Zustande­ kommens einer anfechtbaren Willenserklärung (Nachw. in §  4 Fn.  55). 76  Leenen, AT (2015), §  5 Rn.  51 (Regel 2) und Rn.  61 (Regel 3), der zum Schluss der Unwirk­ samkeit kommen muss, da aus dem System seiner Regeln kein Auslegungsergebnis hervorgeht; Jahr, JuS 1989, 249 (252). 77 So Thomale, Leistung (2012), 86; Rummel, Vertragsauslegung (1972), 19. Ebenso Oertmann, Rechtsordnung (1914), 115, falls der Empfänger die Erklärung noch gar nicht zur Kenntnis genommen hat: „Unmöglich kann der Empfänger sich darauf berufen, daß er sie wegen ihres irr­ tümlichen oder mißverständlichen Wortlautes anders ausgelegt haben würde: er hat sie eben nicht ausgelegt, bedarf also auch keines Vertrauensschutzes“ (Sperrungen übernommen). Möglicher­ weise sind so auch die Teile der Lehre zu verstehen, die bei inkongruentem Doppelirrtum von ei­ nem Dissens ausgehen (Nachw. in §  4 Fn.  73), wenn dieser Dissens darauf beruhen sollte, dass die Vertragsschlusserklärungen im Sinne der divergierenden Willen der Erklärenden gelten. 78  So ausdrücklich auch Jacobi, Theorie (1910), 39.

II. Argumente gegen die Geltung des Ergebnisses der normativen Auslegung

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schieden und damit das Wirksamwerden der Erklärung unabhängig von der Kennt­ nisnahme und damit einem tatsächlichen Vertrauen des Empfängers vorgesehen.79 b) Widerlegung Dem Sinnlosigkeitsargument ist unter zwei Gesichtspunkten entgegenzutreten. Zum einen ist es unergiebig, soweit es darum geht, die Übergehung der normativen Methode bei anfänglich fehlendem Vertrauen auf das objektiv Erklärte zu rechtfer­ tigen (dazu unter aa). Zum anderen ist die ihm zugrundeliegende Auffassung abzu­ lehnen, die Geltung einer irrtumsbehafteten Willenserklärung im Sinne des norma­ tiven Auslegungsergebnisses setze notwendig ein darauf bezogenes konkretes Emp­ fängervertrauen voraus (dazu unter bb). aa) Die Unergiebigkeit des Sinnlosigkeitsarguments im Hinblick auf den Umgang mit nachträglichem Vertrauen Das Sinnlosigkeitsargument ist im vorliegenden Zusammenhang unergiebig. Es hält keine Rechtfertigung für das Vorgehen der herrschenden Lehre bereit, die normati­ ve Methode in den methodenrelevanten Fällen außer Kraft zu setzen, nur weil anfänglich kein Vertrauen auf diesen Erklärungssinn besteht. Diese Rechtsfolge der herrschenden Lehre wäre vom Sinnlosigkeitsargument nur dann gedeckt, wenn al­ lein der Schutz von Anfang an vorhandenen Vertrauens „sinnvoll“ wäre. Eine Be­ schränkung auf anfängliches konkretes Vertrauen ist im Sinnlosigkeitsargument indes nicht nur nicht angelegt80, sondern würde ihm auch die Plausibilität nehmen, die es prima facie hat. Ohne überzeugende Gründe für eine Ungleichbehandlung von anfänglichem und nachträglichem Vertrauen auf das objektiv Erklärte, die bis­ lang nirgendwo diskutiert werden, spricht nämlich alles für die Gleichbehandlung beider Vertrauensformen (siehe dazu §  6). Die innere Logik des Sinnlosigkeitsarguments richtet sich aus dieser Perspektive betrachtet sogar gegen die dualistische Auslegungslehre. Zum Schutz berechtigten Vertrauens ist auch in Ermangelung anfänglichen konkreten Vertrauens die norma­ tive Auslegung nicht sinnlos, sondern ausgesprochen sinnvoll, da aus zunächst nur möglichem Vertrauen immer noch tatsächliches Vertrauen werden kann. Die (an­ fechtbare) Geltung des normativen Auslegungsergebnisses ist jedenfalls allemal sinnvoller, als durch die Fixierung auf den Vornahmezeitpunkt jede Basis für den Schutz nachträglich noch entstehenden Vertrauens zu beseitigen. 79  Die Frage, ob es zulässig ist, von dieser Wertung bei den irrtumsbehafteten Erklärungen abzuweichen, berührt einen neuralgischen Punkt des Sinnlosigkeitsarguments (dazu unter b bb [2]). 80 Die einschlägigen Stellungnahmen lassen irgendwelche Differenzierungen in zeitlicher Hinsicht nicht erkennen, sondern bedienen sich regelmäßig allein der pauschalen Formulierung, der Empfänger müsse auf den normativen Sinn vertraut „haben“.

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§  9 Die teleologischen Argumente der dualistischen Lehre

Wie wenig es überzeugt, für den Eintritt rechtsgeschäftlicher Folgen konkretes Vertrauen bei Vornahme des Rechtsgeschäfts zu verlangen, zeigen auch rechtsprak­ tische Überlegungen. Insbesondere beim Abschluss umfangreicher, von Dritten (z. B. einem Notar) vorbereiteter Vertragswerke dürfte es häufig vorkommen, dass die vertragsschließenden Akteure selbst nur sehr unklare Vorstellungen über den Inhalt der getroffenen Vereinbarungen haben. Die konkrete Rechtsfolgevorstellung bei der Formulierung der einzelnen Abreden beruht mitunter ganz auf der Vorstel­ lung des Dritten.81 Vielfach nehmen die Beteiligten auch bei der Verwendung von Formularen von darin enthaltenen Abreden keine Notiz, geschweige denn, dass sie sich auch tatsächlich Gedanken über deren Inhalt machen.82 Insbesondere im Wirt­ schaftsverkehr mit den dort üblichen umfangreichen Vertragswerken wäre es gera­ dezu weltfremd davon auszugehen, bei Vertragsschluss sei den Beteiligten in allen Einzelheiten bewusst, was sie da gerade unterzeichnen. Nicht zuletzt schließen die Parteien Vereinbarungen manchmal sogar im vollen Bewusstsein verbleibender Zweifel über ihren Inhalt83, weil ihnen irgendeine Regelung (z. B. nach nächtlichen langen Verhandlungen) lieber ist als gar keine. Käme es tatsächlich darauf an, dass zumindest einer der Beteiligten auf das ob­ jektiv Erklärte bei Vornahme des Geschäfts konkret vertraut, dann müssten solche Rechtsgeschäfte eigentlich nichtig sein.84 Trotzdem würde wohl niemand vertreten wollen, Vertragsklauseln, an die keine der beiden Seiten bei Vertragsschluss dachte oder mit denen sie zu diesem Zeitpunkt keine klare Vorstellung verbanden, seien mangels anfänglichen konkreten Vertrauens auf ihren objektiven Inhalt unwirk­ sam. Solche Vereinbarungen sind vielmehr nach den allgemeinen Grundsätzen normativ nach dem objektiven Empfängerhorizont auszulegen.85 Wenn aber eine 81 

Sonnenberger, Verkehrssitten (1969), 149. F. Leonhard, AcP 120 (1922), 14 (109 f.). Vgl. auch Lüderitz, Auslegung (1966), 290. 83  Sonnenberger, Verkehrssitten (1969), 149. 84  F. Leonhard, AcP 120 (1922), 14 (110). 85  Im Schrifttum findet sich hierzu wenig. Die normative Auslegung trotz beidseitig fehlender klarer Vorstellungen bei Vertragsschluss wird aber jedenfalls nirgendwo in Frage gestellt. Coing, in: Staudinger (1957), §  133 Rn.  36 spricht sich für eine richterliche Auslegung nach §  157 BGB – also die normative Auslegung – aus, wenn „die Parteien sich auf einen bestimmten, objektiv nicht völlig eindeutigen Text geeinigt haben, ohne sich über dessen Bedeutung zunächst ganz klare Vorstellungen zu machen“. Bei einem eindeutigen Text können unklare Vorstellungen, die nichts anderes als das beidseitige Fehlen eines bestimmten und damit überhaupt eines Geschäftswillens umschreiben (Bickel, Methoden [1976], 55; Sonnenberger, Verkehrssitte [1969], 149: „eine unbe­ stimmte Vorstellung ist eben keine Vorstellung“), dann erst recht der Wirksamkeit und der objek­ tiven Auslegung nicht im Wege stehen. M. Wolf, in: Soergel (1999), §  157 Rn.  29 möchte normativ auslegen, „wenn sich die Parteien keine klaren Vorstellungen gemacht und daher keine eindeutigen Erklärungen abgegeben haben“. Auch Sonnenberger, Verkehrssitte (1969), 148 f. spricht sich für eine Auslegung anhand der „äußerlich erkennbaren Auslegungsmittel[ ]“ und gegen eine mit dem Gesetz unvereinbare „psychologische Interpretationslehre“ in den Fällen fehlender oder unklarer Rechtsfolgevorstellungen aus. Leenen, AT (2015), §  8 Rn.  186 plädiert bei Verwendung eines den Parteien nicht in allen Einzelheiten bekannten Formulars für eine Auslegung des Vertrages nach §  157 BGB, weil und obwohl die Parteien mit den Regelungen „keine konkreten Vorstellungen verbinden“. 82 

II. Argumente gegen die Geltung des Ergebnisses der normativen Auslegung

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normative Auslegung stattfindet, obwohl keine von beiden Seiten zunächst vom In­ halt der Regelung Notiz genommen hat, dann erfolgt sie ersichtlich nicht nur zum Schutz aktuellen Vertrauens bei Vornahme des Geschäfts, sondern auch zum Schutze möglichen zukünftigen Vertrauens der Beteiligten auf den Inhalt, den sie der Klausel hätten entnehmen dürfen, falls sie sie von Anfang an zur Kenntnis ge­ nommen hätten.86 bb) Die Unvereinbarkeit des Vertrauenserfordernisses mit dem positiven Recht Das Sinnlosigkeitsargument ist nicht nur in den methodenrelevanten Fällen uner­ giebig. Auch die ihm zugrundeliegende Annahme, die Geltung des normativen Auslegungsergebnisses hänge von der Existenz konkreten Empfängervertrauens ab (Vertrauenserfordernis), verdient keine Zustimmung – und zwar unabhängig davon, ob die Willenserklärung bei fehlendem Vertrauen nichtig ist oder im Sinne des Ge­ wollten gilt87. Bei der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Sinnlosigkeitsargument ist zu beachten, dass das daraus ableitbare Vertrauenserfordernis weit über die hier inte­ ressierenden Fälle hinausgreift, in denen das Beteiligtenverständnis zufällig über­ einstimmend abweicht. Die Richtigkeit des Vertrauenserfordernisses unterstellt, bliebe das normative Auslegungsergebnis irrelevant, falls und solange der Empfän­ ger auf das objektiv Erklärte nicht schutzwürdig tatsächlich vertraut, also auch dann, wenn der Empfänger die irrtumsbehaftete Erklärung noch gar nicht zur Kenntnis genommen88, sie nicht als Willenserklärung verstanden oder ihr eine dritte Bedeutung beigelegt hat, die sich weder mit dem Willen des Erklärenden noch dem Verständnis des Empfängers deckt (inkongruenter Doppelirrtum). „Nichtgel­ tung“ des normativen Auslegungsergebnisses bedeutet in all diesen Fällen stets die Nichtanwendung der §§  119 ff. BGB. Rechtstechnisch ist das Vertrauenserfordernis somit eine ungeschriebene Einschränkung des Anwendungsbereichs dieser Vor­ schriften. Es ist deshalb insbesondere daran zu messen, ob die Anfechtungsvor­ schriften bei Verfehlung des Vertrauenserfordernisses tatsächlich unangewendet bleiben dürfen.89

86 Vgl. Lüderitz, Auslegung (1966), 290, der mit Blick auf bei Vertragsschluss ungelesene AGB ausführt: „Da sie jedoch jederzeit gelesen und relevant werden können, entfällt nicht gleich­ zeitig der Vertrauensschutz. Hier muß ein normativer Erklärungsinhalt ohne Hilfe der Alternative von empirischem Willen und Verständnis gebildet werden.“ (Hervorhebung übernommen). 87  Siehe hierzu vorstehend den Text bei und die Nachw. in den Fn.  76 und 77. 88 Vgl. Oertmann, Rechtsordnung (1914), 115. 89  Diederichsen, FS Hübner (1984), 421 (426) und Armbrüster, in: Erman (2014), §  155 Rn.  8 sehen im Vertrauenserfordernis (bei inkongruentem Doppelirrtum) einen Verstoß gegen die Wer­ tungen der §§  119 ff. BGB. Ferner Faust, AT (2016), §  2 Rn.  10 in Fn.  6 und M. Wolf, in: Soergel (1999), §  157 Rn.  29 in Fn.  50, die sich konkret auf das Wahlrecht des Anfechtungsberechtigten stützen.

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§  9 Die teleologischen Argumente der dualistischen Lehre

(1) Die Beseitigung des Wahlrechts des Erklärenden Gemessen am Zweck der §§  119 ff. BGB greift das Sinnlosigkeitsargument viel zu kurz. Entgegen einer verbreiteten Fehlvorstellung dient nämlich die (aufgrund der Anfechtbarkeit) lediglich vorläufige Geltung des objektiv Erklärten nicht allein und nicht einmal vornehmlich dem Empfänger und dem Schutz seines Vertrauens90, das durch die Anfechtungserklärung ohne weiteres enttäuscht werden kann, sondern primär dem Erklärenden.91 Der Erklärende kann aufgrund der bloßen Anfechtbar­ keit frei zwischen der Nichtigkeit und der Geltung der Willenserklärung im Sinne des objektiv Erklärten wählen. Falls ihm die Geltung des objektiv Erklärten nach Entdeckung seines Irrtums vorzugswürdig erscheint, kann er auf die Anfechtung verzichten. Diese Erweiterung seiner Handlungsoptionen im Vergleich zur automa­ tischen Nichtigkeit ist nicht lediglich ein unbeabsichtigter, vernachlässigbarer Re­ flex einer anderen Zwecken dienenden dogmatischen Konstruktion. Die zweite Kommission, auf deren Entschließungen die heutige Gesetzesfassung maßgeblich beruht, ging ausdrücklich davon aus, dass der Erklärende „nicht selten auch nach Erkenntniß [seines Irrtums] es bei seiner Erklärung belassen wer­ de. Besonders aus diesem Grunde habe man statt der nach dem ersten Entwurf eintreten­ den Nichtigkeit bloße Anfechtbarkeit eingeführt (…)“92.

Das Wahlrecht des Erklärenden bewog den BGH sogar, bei fehlendem Erklärungs­ bewusstsein von einer anfechtbaren Erklärung auszugehen.93 Das Vertrauenserfordernis entzieht dem Erklärenden dieses Wahlrecht, falls das Empfängervertrauen fehlt. Unkenntnis oder Irrtum des Empfängers können für sich betrachtet aber schlechterdings kein Grund sein, die Rechtsstellung des Erklären­

90 So

Trupp, NJW 1990, 1346 (1347 unter IV). Martens, Dritte (2007), 323; Singer, Selbstbestimmung (1995), 64 f.; Jahr, JuS 1989, 249 (255); Singer, JZ 1989, 1030 (1031). Vgl. Wieling, AcP 172 (1972), 297 (304). Freilich hätte das Gesetz das Wahlrecht auch durch die Anordnung schwebender Unwirksamkeit des objektiv Er­ klärten mit Genehmigungsmöglichkeit des Erklärenden vorsehen können, um den Erklärenden nicht mit dem Risiko zu belasten, im Falle des Fristversäumnisses gebunden zu sein (vgl. Lobinger, Verpflichtung [1999], 144 f.; Singer, JZ 1989, 1030 [1032]). 92  Prot. VI (1899, 1983), 123 = Mugdan I (1899), 719 (zweite Lesung). Siehe zuvor bereits Prot. I (1897, 1983), 106 = Mugdan I (1899), 715 (erste Lesung). Zum Wahlrecht als Hintergrund der gesetzlichen Regelung siehe auch Singer, in: Staudinger (2012), Vor §§  116 ff. Rn.  23; Weiler, Wil­ lenserklärung (2002), 475 f.; Singer, JZ 1989, 1030 (1031). 93 BGH, Urteil vom 7.6.1984, BGHZ 91, 324 (329 f.), der die Anfechtbarkeit allerdings auf S.  330 auch mit Verkehrs- und Vertrauensschutz begründet. Diese Gesichtspunkte können auf­ grund der Anfechtungsmöglichkeit allerdings im geltenden Recht allenfalls mit der Haftung aus §  122 I BGB (Martens, Dritte [2007], 323 in Fn.  65) und der Präklusionsvorschrift des §  121 BGB in Verbindung gebracht werden. Auf das Wahlrechtsargument rekurrieren in diesem Zusammenhang auch Faust, AT (2016), §  21 Rn.  25; Mansel, in: Jauernig (2015), Vor §  116 Rn.  5; Musielak, AcP 211 (2011), 769 (793 f.); Klein-Blenkers, Jura 1993, 640 (641); F. Bydlinski, JZ 1975, 1 (3 f.). 91 

II. Argumente gegen die Geltung des Ergebnisses der normativen Auslegung

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den zu verschlechtern.94 Nur falls mit dem Empfängervertrauen mittelbar auch die Rechtfertigung des Wahlrechts entfiele, wäre seine Beseitigung verständlich. Das Sinnlosigkeitsargument hält diesbezüglich keinerlei Begründungsansatz bereit, so dass hierzu im Folgenden eigenständige Erwägungen erforderlich sind: Es liegt zunächst der Gedanke nahe, das Wahlrecht könnte ausnahmsweise man­ gels Empfängervertrauens überflüssig sein, wenn es dem Erklärenden nur die Mög­ lichkeit verschaffen soll, durch Verzicht auf die Anfechtung dem Anspruch aus §  122 BGB zu entgehen95. Bei fehlendem Empfängervertrauen sind Vertrauens­ schäden undenkbar. Doch der Zweck des Wahlrechts beschränkt sich nicht auf blo­ ße Haftungsvermeidung.96 Die Existenz eines Vertrauensschadens ist nach den §§  119 ff. BGB keine Voraussetzung für die Existenz einer anfechtbaren Erklärung, sondern betrifft allein die Sekundärfolgen der Anfechtung. Zudem bliebe bei dieser Deutung des Wahlrechts unerklärlich, warum §  118 BGB Nichtigkeit vorsieht, ob­ wohl auch der Scherzende möglicherweise der Haftung aus §§  118, 122 BGB entge­ hen möchte.97 Mit dem Wahlrecht soll der Erklärende auch alle sonstigen denkba­ ren Vorteile des objektiv Erklärten an sich ziehen und etwa die versprochene Ge­ genleistung verlangen können.98 Daran hat der Erklärende auch dann ein Interesse, wenn der Empfänger das objektiv Erklärte nicht erkannt hat. Ein anderer mittelbarer Erklärungsansatz für den Wegfall des Wahlrechts bei Nichterfüllung des Vertrauenserfordernisses hat mehr Überzeugungskraft. Das in der Anfechtbarkeit steckende Wahlrecht zugunsten des Erklärenden nimmt spiegel­ bildlich dem Empfänger die Möglichkeit, das Rechtsgeschäft unter Berufung auf den Willensmangel des Erklärenden zu Fall zu bringen.99 Die zweite Kommission war sich dieses Effekts bewusst100, hielt ihn aber für unbedenklich, denn dem Emp­ 94  So auch Faust, AT (2016), §  2 Rn.  10 in Fn.  6 und M. Wolf, in: Soergel (1999), §  157 Rn.  29 in Fn.  50 im Zusammenhang mit dem inkongruenten Doppelirrtum. 95  Vgl. zu diesem Zweckverständnis BGH, Urteil vom 7.6.1984, BGHZ 91, 324 (329 f.); Jahr, JuS 1989, 249 (255); F. Bydlinski, JZ 1975, 1 (3). Vgl. auch Mansel, in: Jauernig (2015), Vor §  116 Rn.  5. 96  Lobinger, Verpflichtung (1999), 181 in Fn.  270. I.E. auch Singer, JZ 1989, 1030 (1035), aller­ dings ohne überzeugende Argumente. Singer bezweifelt den Gerechtigkeitsgehalt der Haftungs­ vermeidung, weil es gewiss gerecht sei, „den Irrenden für die Folgen seines Fehlgriffs einstehen zu lassen“. Der Haftungsumfang ist aber durch die Reichweite der schützenswerten Interessen des Geschädigten zu begrenzen. Die Vermeidung der Haftung aus §  122 BGB ist unter diesem Ge­ sichtspunkt unbedenklich, wenn und soweit der Empfänger erhält, wovon er ausgehen durfte. Zu­ dem steht der Erklärende auch dann für die Folgen seines Fehlgriffs ein, wenn er sein irriges Ver­ sprechen erfüllt. Auch Singers Zweifel am „Gerechtigkeitsgehalt einer Bindung an das Erklärte“ sind unbegründet, soweit der Erklärende sein Wahlrecht bewusst einsetzt, um der ihn sonst tref­ fenden Haftung aus §  122 I BGB zu entgehen (volenti non fit iniuria). Die Rechtsfolge beruht bei bewusstem Verzicht insoweit auf der Selbstbestimmung des Irrenden (Weiler, Willenserklärung [2002], 298, vgl. auch Lobinger, Verpflichtung [1999], 144 in Fn.  158). 97  Lobinger, Verpflichtung (1999), 181 in Fn.  270. 98  Singer, JZ 1989, 1030 (1031, 1035); ders., in: Staudinger (2012), Vor §§  116 ff. Rn.  34. 99  Lobinger, Verpflichtung (1999), 183; ders., AcP 195 (1995), 274 (275). 100 Nach Lobinger, Verpflichtung (1999), 183 soll es sogar das Hauptanliegen des Gesetzes sein, den Empfänger von der Berufung auf den Willensmangel des Erklärenden abzuhalten. Das Wahl­

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§  9 Die teleologischen Argumente der dualistischen Lehre

fänger geschehe „kein Unrecht, wenn die Willenserklärung, die er ja für wirksam gehalten habe, beim Unterbleiben einer Geltendmachung des Irrtums seitens des Irrenden wirksam bleibe“101. Ebenso wie damalige Stellungnahmen im Schrift­ tum102 gingen die Mitglieder der zweiten Kommission bei ihrer Interessenabwä­ gung somit ersichtlich vom typischen Fall aus, in dem sich der Empfänger ohnehin auf den objektiven Erklärungssinn bereits eingerichtet hatte. Auch heute noch recht­ fertigt man das Wahlrecht damit, der Empfänger selbst sei schließlich zunächst vom objektiv Erklärten ausgegangen.103 Die Interessenlage ist eine durchaus andere, wenn der Empfänger ausnahmswei­ se bislang von einer anderen oder gar keiner Rechtsfolge ausging. Das Wahlrecht setzt ihn dann einer Rechtsfolge aus, auf die er sich bislang nicht eingestellt hat. Seine Schutzwürdigkeit mag gering erscheinen, da er auch sonst nicht geltend ma­ chen kann, einen erkennbaren objektiven Erklärungssinn nicht erkannt oder sogar verkannt zu haben. Doch im Hinblick auf die im Wahlrecht liegende Erweiterung der Handlungsoptionen des Erklärenden genügt womöglich schon die zusätzliche Härte, die die Geltung einer bislang unbekannten bzw. verkannten Rechtsfolge für den Empfänger bedeutet, um die Legitimation des Wahlrechts in Frage zu stellen. Es stehen sich dann immerhin zwei bislang Ahnungslose gegenüber, von denen nur dem Erklärenden das Recht eingeräumt würde, sich mittels des Wahlrechts über den anderen zu erheben und ihm eine Rechtsfolge zu oktroyieren, die er ursprünglich gar nicht erklären wollte. Es erscheint zumindest zweifelhaft, dass die Gesetzesver­

recht sei „für den Gesetzgeber immer nur ‚Reflex‘ und nie primärer Zweck seiner Regelung“ ge­ wesen. Die Beschränkung der Optionen des Empfängers wäre freilich unverständlich und gerade­ zu schikanös, wenn die dadurch erreichte Erweiterung der Optionen des Erklärenden nicht einem positiv bewerteten Interesse des Erklärenden diente. Das Wahlrecht des Erklärenden und die spie­ gelbildliche Beschränkung der Handlungsoptionen des Empfängers lassen sich nicht voneinander trennen und in ein Rangverhältnis setzen. 101  Prot. I (1897, 1983), 106 = Mugdan I (1899), 715 (Hervorhebungen hinzugefügt). 102 Siehe Unger, GrünhutsZ 15 (1888), 673 (685): Der Gegner könne sich nicht beschweren, weil auch „er sich auf das Zustandekommen des Vertrages verlassen hat“. Mitteis, JherJb 28 (1889), 85 (125), der den Vertragspartnern des Irrenden eine Berufung auf den Willensmangel abschnei­ den will, weil „sie sich selbst für gebunden gehalten haben“. Ferner Zitelmann, Rechtsgeschäfte II (1890), 17 f.: Der Empfänger sei „ja von vornherein darauf gefaßt, daß die Erklärung in dem von ihm verstandenen Sinne gelten würde“. 103 Siehe Wieling, AcP 172 (1972), 297 (303): „Daß man [dem Irrenden] ein Wahlrecht ein­ räumt, ist eine reine Zweckmäßigkeitsentscheidung: Da der Empfänger vom objektiven Erklärungswert ausgeht, soll er kein Recht haben, gegen die Wirksamkeit der Erklärung in diesem Sinne vorzugehen.“ (Hervorhebung hinzugefügt). Ähnlich Lobinger, AcP 195 (1995), 274 (275): der „irrtumsfreie Vertragspartner“ (!) erleide kein Unrecht, weil er nur erhalte, „was er ohnehin erhalten wollte“ (ähnlich nochmals a. a. O., 278 bei Fn.  33). Diese Ausführungen setzen ebenfalls tatsächliches Vertrauen des Empfängers auf den objektiven Sinn voraus, weil ansonsten keine hierzu passende Gegenerklärung abgegeben worden wäre. Lobinger fügt dem lediglich noch ein der Empfängerrolle fremdes voluntatives Moment hinzu (so schon Mitteis, JherJb 28 [1889], 85 [125], soweit er darauf abstellt, der Mitkontrahent habe den Vertrag ebenfalls gewollt). Dies passt lediglich zu Verträgen, nicht aber zu einseitigen Rechtsgeschäften.

II. Argumente gegen die Geltung des Ergebnisses der normativen Auslegung

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fasser bei isolierter Betrachtung dieser Konstellation ebenso leichten Herzens ein Wahlrecht für richtig gehalten hätten. Hinzu kommt ein weiterer Gesichtspunkt, den allerdings nur Befürworter des Vertrauenserfordernisses für sich in Anspruch nehmen könnten, die die Erklärung bei fehlendem Empfängervertrauen im Sinne des Gewollten gelten lassen (und nicht für nichtig halten)104. Der Erklärende verliert zwar auch nach dieser Lösung sein Recht zur Wahl zwischen Nichtigkeit und Geltung des objektiv Erklärten. Doch dies geschieht nicht, indem er auf eine der beiden zur Wahl stehenden Alternativen festgelegt wird. Vielmehr tritt an die Stelle des Wahlrechts mit der Geltung des Gewollten eine Rechtsfolge, gegen die der Erklärende auf dem Boden der herr­ schenden Analyse des Interessenkonflikts der Beteiligten nichts einwenden kann, da seinem Selbstbestimmungsinteresse dadurch in vollem Umfang Rechnung getra­ gen wird.105 Auch die Materialien lassen hinreichend deutlich erkennen, dass die Anfechtungskonstruktion nur als Alternative zur Nichtigkeit gedacht war, nicht aber als Alternative zur Geltung des Gewollten106. Mit dem Wahlrecht soll der Ir­ rende die Nichtigkeit seiner Erklärung verhindern können107, nicht aber die Geltung seines Willens. Wäre der Schutz des Wahlrechts sogar der Geltung des Willens überzuordnen, wäre im Übrigen schon aus diesem Grund die natürliche Ausle­ gungsmethode zu verwerfen – sie entzieht dem Erklärenden sein Wahlrecht und kann dies dem Erklärenden gegenüber bestenfalls damit zu rechtfertigen versuchen, er dürfe sich über die Geltung seines Willens nicht beschweren. (2) Der Desorientierungseffekt zu Lasten des Erklärenden Letztlich kommt es auf die diffizile Frage, ob die Vorstellungen des historischen Gesetzgebers ein Wahlrecht auch ohne Empfängervertrauen rechtfertigen, nicht 104 

Nachw. in Fn.  77. Thomale, Leistung (2012), 158, der zur Begründung des hier noch unter (3) behandelten Dispositionsrechts des Empfängers auf den Grundsatz volenti non fit iniuria verweist. Insofern ist die Geltung des Gewollten bei Verfehlung des Vertrauenserfordernisses auf Basis der hier abge­ lehnten herrschenden Interessenanalyse, die die Polarität von Erklärendenselbstbestimmung und Empfängervertrauensschutz betont (dazu bereits I 1 a), folgerichtiger als die Nichtigkeitslösung. Schutzwürdiges Vertrauen des Empfängers besteht dann nämlich nicht, so dass eigentlich das Selbstbestimmungsinteresse ungehindert zum Zuge kommen müsste, wenn dies – was hier bestrit­ ten wird – tatsächlich das alleinige Interesse des Erklärenden wäre. 106  Vgl. Prot. I (1897, 1983), 106 (erste Lesung) und Prot. VI (1899, 1983), 123 (zweite Lesung) = Mugdan I (1899), 715 (erste Lesung) und 719 (zweite Lesung). 107  Die Maßgeblichkeit des Gewollten würde allerdings in den Fällen des inkongruenten Dop­ pelirrtums bei Verträgen (anders als bei einseitigen Rechtsgeschäften) dazu führen, dass der Ver­ trag am Dissens der den Erklärungssinn bestimmenden Willen scheitert und so im Ergebnis eben­ falls keine Rechtswirkungen eintreten. Dies zu verhindern dürfte allerdings ebenfalls nicht die Funktion des Wahlrechts sein. Das Wahlrecht soll nicht den Dissens abwenden, der aus der Nicht­ über­einstimmung des Inhalts der fremden Erklärung mit der eigenen Erklärung resultiert. Es soll lediglich eine Unwirksamkeit des Rechtsgeschäfts verhindern, die aus der Berufung des Empfän­ gers auf den Willensmangel des Erklärenden folgen würde. 105 Vgl.

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§  9 Die teleologischen Argumente der dualistischen Lehre

entscheidend an. Abzulehnen ist die Einschränkung des Anwendungsbereichs der §§  119 ff. BGB durch das Vertrauenserfordernis nicht wegen der Beschneidung des Wahlrechts, dessen Gerechtigkeitsgehalt bei isolierter Betrachtung der Doppelirr­ tumskonstellation zumindest zweifelhaft ist, sondern weil diese Einschränkung von einem Umstand abhinge, der dem Erklärenden typischerweise verborgen ist und ihm deshalb die Einsicht in seine Rechtslage nimmt. Kurz: Nicht das Entfallen der im Wahlrecht steckenden „günstigen“ Rechtsposition des Erklärenden ist das Pro­ blem, sondern dass er dies und die Nichtanwendung der §§  119 ff. BGB nicht erken­ nen kann. Ob der Empfänger schutzwürdig vertraut, d. h. die Erklärung überhaupt zur Kenntnis genommen und ihr den normativ richtigen Sinn entnommen hat, weiß der Erklärende nämlich nie sicher. Um ihn keiner Ungewissheit über diese Faktoren auszusetzen, die in der Sphäre des Empfängers liegen, gelten bei irrtumsfreien Er­ klärungen unbestrittenermaßen die Empfangstheorie (hinsichtlich des Wirksam­ werdens) und die normative Auslegungsmethode (hinsichtlich des Inhalts)108. Wirk­ samwerden und Inhalt der Erklärung bestimmen sich hiernach ohne Rücksicht auf das tatsächliche Empfängerverständnis. Durch das Vertrauenserfordernis würden einem Erklärenden, dem ein Irrtum unterläuft, diese beiden Hilfestellungen des Ge­ setzes vollkommen entzogen. Damit wären in letzter Konsequenz das Wahlrecht des Erklärenden und die §§  119 ff. BGB in toto Makulatur. Der Erklärende könnte sich nämlich nicht mehr darauf verlassen, bei bewusstem Verzicht auf die Anfech­ tung oder Verfristung des Anfechtungsrechts gelte das objektiv Erklärte „wirklich“, sondern müsste stets mit der Möglichkeit rechnen, der Empfänger könnte sich noch darauf berufen, nie auf das objektiv Erklärte vertraut zu haben. Das Vertrauenserfordernis untergräbt beide Vertrauensschutzinstrumente, die im Gesetz zugunsten des anfechtungsberechtigten Irrenden angelegt sind. Beim Ver­ trag eröffnet es dem Gegner die Möglichkeit, sich durch den Nachweis, auf den objektiven Sinn der fremden Erklärung nicht vertraut zu haben, der Haftung aus §  122 BGB zu entziehen. Denn normalerweise müsste der Empfänger, um der Gel­ tung des objektiv Erklärten zu entgehen, seine eigene Gegenerklärung anfechten und dem Erklärenden seinen Vertrauensschaden ersetzen, den dieser im (hier: nach­ träglich entstandenen) Vertrauen auf die fremde Erklärung (und den damit überein­ stimmenden objektiven Sinn der eigenen Erklärung) erlitten hat.109 Beim einseiti­ 108  Vgl. im Hinblick auf diese Schutzwirkung der normativen Methode bei der irrtumsfreien Erklärung die von Leenen, AT (2015), §  5 Rn.  51 aufgestellte Regel 2 Alt. 2, wonach der Wille gilt, wenn der Empfänger ihn „erkennen muss“, d. h. wenn er sich mit dem normativen Auslegungser­ gebnis deckt. Ebenso bei Jahr, JuS 1989, 249 (251 li. Sp., 2. Spstr.). Diese von zwei Anhängern des Vertrauenserfordernisses aufgestellten Regeln sollen ersichtlich verhindern, dass der (nichtirren­ de) Erklärende zur Beurteilung seiner Rechtslage auf die Kenntnis des Empfängerverständnisses angewiesen ist. 109  Richtig deshalb Flume, AT II (1992), 472, der gegen die von Bailas, Problem (1962), 19 ff. vertretene Nichtigkeit im Falle des inkongruenten Doppelirrtums einwendet, jeder Vertragspart­ ner habe „mit Recht den Schadenersatzanspruch nach §  122, wenn der andere nicht zu seinem Wort

II. Argumente gegen die Geltung des Ergebnisses der normativen Auslegung

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gen Rechtsgeschäft, für das im Gesetz eine Lösungsmöglichkeit des Empfängers überhaupt nicht vorgesehen ist, beseitigt das Vertrauenserfordernis mit der Geltung des objektiv Erklärten sogar den einzigen im Gesetz vorgesehenen Mechanismus, der zum Schutze des Vertrauens des Erklärenden auf das objektiv Erklärte vorgese­ hen ist. Mit alledem wird hier wohlgemerkt nicht behauptet, die Anfechtungskon­struk­ tion und das Wahlrecht seien notwendig, um dem Erklärenden die notwendige Ori­ entierungssicherheit zu verschaffen. Unter dem Gesichtspunkt des Orientierungsin­ teresses des Erklärenden wäre auch die automatische Nichtigkeit irrtumsbehafteter Willenserklärungen unbedenklich, wie es die gemeinrechtliche Willenstheorie und §  98 E I vorsahen110 und wie es bei der nicht ernstlich gemeinten Erklärung (§  118 BGB) noch heute der Fall ist. Der Erklärende weiß bei Entdeckung seines Irrtums stets um seinen Willensmangel und kann sich daher die Nichtigkeit erschließen, ohne auf verborgene Informationen aus der Sphäre des Gegners angewiesen zu sein. Entscheidet sich das Gesetz aber aus hier nicht interessierenden Gründen da­ für, dem Erklärenden eine Wahlmöglichkeit trotz seines Willensmangels einzuräu­ men oder ihn bei Verfristung der Anfechtung durch §  121 BGB endgültig an das objektiv Erklärte zu binden, darf es ihm die Abschätzung seiner Rechtslage nicht durch eine nicht überprüfbare Ausnahme unmöglich machen. Zugespitzt formu­ liert: Wenn das Gesetz A sagt und dem Erklärenden die Geltung des objektiv Er­ klärten in Aussicht stellt, muss es auch B sagen und berechtigtes Vertrauen des Er­ klärenden auf diese Rechtslage schützen. Der hier erhobene Einwand, das Vertrauenserfordernis führe zu einer Desorien­ tierung des Erklärenden, ist im Übrigen unabhängig davon, ob das Vertrauenserfor­ dernis nach der Gegenauffassung die Unwirksamkeit der Erklärung oder die Gel­ tung des vom Erklärenden Gewollten zur Folge hat.111 Die Desorientierung geht bei Geltung des Gewollten allerdings noch einen Schritt weiter als im Falle der Unwirk­ samkeit. Wäre die Willenserklärung bei fehlendem Empfängervertrauen unwirk­ sam, dann könnte der Erklärende wenigstens Rechtssicherheit herstellen, indem er nach Entdeckung des Irrtums sicherheitshalber anficht. Er kann sich dann darauf verlassen, dass die Erklärung auf jeden Fall unwirksam ist. Gälte hingegen bei Ver­ fehlung des Vertrauenserfordernisses das Gewollte, dann ginge mangels rechtser­ heblichen Irrtums auch die Anfechtung unerkennbar ins Leere. steht (…)“. In dieselbe Richtung Diederichsen, FS Juristische Gesellschaft zu Berlin (1984), 81 (88 f. unter e), der in einer Konstellation gegen die Anwendung des falsa-Satzes (!) vorbringt, be­ rechtigtes Vertrauen auf das Zustandekommen eines Vertrages mit dem Inhalt des normativen Erklärungsinhalts dürfe nur im Falle der Anfechtung unter Ersatz des negativen Interesses ent­ täuscht werden (zust. Lee, Voraussetzungen [1999], 30). Diese Autoren können, auch wenn sie dies nicht deutlich aussprechen, nur nachträglich entstandenes Vertrauen auf den objektiven Vertrags­ inhalt im Blick haben (vgl. dazu §  8 Fn.  35). 110 Siehe Jakobs/Schubert, Beratung AT/1 (1985), 611. 111  Hierzu bereits der Text bei und die Nachw. in den Fn.  76 und 77.

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§  9 Die teleologischen Argumente der dualistischen Lehre

(3) Die problematische Weiterung des Vertrauenserfordernisses in Form eines Dispositionsrechts des Empfängers Das Vertrauenserfordernis ist nicht zuletzt deshalb abzulehnen, weil es konsequent zu Ende gedacht eine weitere problematische Konsequenz nach sich ziehen muss. Ginge es der normativen Auslegung tatsächlich allein um den Schutz des konkreten Empfängervertrauens, dann müsste es dem Empfänger frei stehen, auf diesen Schutz zu verzichten. Es wäre nicht einzusehen, warum er sich die „Wohltat der Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont“112 gegen seinen Willen auf­ drängen lassen müsste. Konsequenz des Vertrauenserfordernisses und des dahinter stehenden Schutzzweckverständnisses müsste mit anderen Worten ein Wahlrecht oder „Dispositionsrecht“ des Empfängers sein.113 Das normative Auslegungsergeb­ nis würde wie die Rechtsfolgen der Rechtsscheinhaftung behandelt114, auf deren Schutz der Begünstigte nach verbreiteter Auffassung ebenfalls verzichten kann115. 112 

Thomale, Leistung (2012), 158. Thomale, Leistung (2012), 155–160; Jahr, JuS 1989, 249 (253). Ebenso Brox, Einschrän­ kung (1960), 177 f., dessen Überlegungen den sog. Reurechtsausschluss rechtfertigen sollen, der nach herkömmlicher Sichtweise dem Empfänger erst nach der Anfechtung die Möglichkeit gibt, den Erklärenden am Gewollten festzuhalten. Brox` Ausführungen enthalten aber weder ausdrück­ lich noch ihrem Grundgedanken nach eine zeitliche Beschränkung auf die Zeit nach der Anfech­ tung (vgl. Lobinger, AcP 195 [1995], 274 [276 in Fn.  16]). Von dem Recht des Empfängers, auf die nur seinem Schutz dienende objektive Auslegung mit der Folge der Geltung des objektiv Erklärten zu verzichten, gehen auch Martinek, JuS 1997, L 36 (L 40) und Singer, Selbstbestimmung (1995), 150 aus. Ob und ggf. warum dies nur nach der Anfechtung gelten soll, erläutern auch diese Autoren nicht. Wohl auch BGH, Urteil vom 29.11.1994, NJW 1995, 953 bei fehlendem Erklärungsbewusstsein. Der XI. Senat stützt sein Begründung darauf, dass bei fehlendem Erklärungsbewusstsein Rechts­ folgen nur einträten, falls der Erklärende fahrlässig „das Vertrauen auf einen bestimmten Erklä­ rungsinhalt seines Verhaltens geweckt“ habe, und bezieht sich damit auf das Vertrauenserforder­ nis. „Dieser Begründungsansatz und der Schutzzweck schließen es aus, aus einem tatsächlichen Verhalten ohne Erklärungsbewußtsein Rechtsfolgen zu Lasten Dritter herzuleiten.“ Das Urteil wird verbreitet dafür kritisiert, es sehe eine gerichtliche Prüfung der Vor- oder Nachteilhaftigkeit anhand objektiver Maßstäbe vor, statt dem Empfänger die Wahl zu überlassen (Habersack, JuS 1996, 585 [587 f.], der sich gegen eine §  107 BGB entsprechende Nachteilsprüfung wendet; zust. Köhler, AT [2015], §  7 Rn.  5; Mansel, in: Jauernig [2015], Vor §  116 Rn.  5; Thomale, Leistung [2012], 148 f.; Lobinger, Verpflichtung [1999], 177 in Fn.  259). M.E. wird das dem Urteil nicht ge­ recht. Der BGH spricht, ohne überhaupt von Vor- oder Nachteilen zu reden, lediglich davon, dass eine „entsprechende Wertung zu Lasten des Erklärungsempfängers“ (Leitsatz) bzw. „Rechtsfolgen zu Lasten Dritter“ (a. a. O., 953) nicht angemessen seien und es nicht zu einer Verbesserung der Rechtsstellung des „Erklärenden“ kommen dürfe. Das meint wohl keine objektive Bewertung der Erklärungsfolgen, sondern bezeichnet die das Dispositionsrecht des Empfängers tragenden teleo­ logischen Überlegungen. 114  Thomale, Leistung (2012), 88–90 stuft in Konsequenz seines allein auf den Empfänger be­ zogenen Schutzzweckverständnisses die „normative Willenserklärung“ ausdrücklich als einen Rechtsscheintatbestand ein und befürwortetet eine „Integration von Rechtsgeschäfts- und Rechts­ scheinslehre“ (S.  88). 115  Canaris, Vertrauenshaftung (1971), 518–521; ders., FS BGH I (2000), 129 (144); Thomale, Leistung (2012), 67 f., 150 ff. Eingehend Altmeppen, Disponibilität (1993), 315–317 und passim. 113 So

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Bisherige Erwiderungen auf die These vom Dispositionsrecht des Empfängers rügen vor allem einen Verstoß gegen die gesetzgeberische Entscheidung zugunsten des Wahlrechts des Erklärenden.116 Der Empfänger erhalte damit die Möglichkeit, sich entgegen der Intention des Gesetzes auf den Willensmangel des Erklärenden zu berufen, obwohl dieser am objektiv Erklärten vielleicht festhalten möchte. Über­ zeugend wäre diese Entgegnung freilich nur, falls die Willenserklärung durch den Verzicht des Empfängers auf den Schutz der normativen Auslegung unwirksam würde. Dann könnte der Empfänger dem Erklärenden tatsächlich durch seine Ent­ scheidung die Ungültigkeit der Erklärung aufzwingen. Die Anhänger des Disposi­ tionsrechts gehen aber nicht von der Unwirksamkeit aus, sondern lassen die Erklä­ rung im Falle des Verzichts im Sinne des Gewollten gelten.117 Wie bereits darge­ legt118, wollte der Gesetzgeber den Erklärenden mit dem Wahlrecht nicht vor der Geltung seines eigenen Willens schützen, sondern ihm angesichts der Alternative der Nichtigkeit eine Option auf das objektiv Erklärte geben. Das Wahlrecht steht deshalb seinem Sinn nach keiner Lösung im Wege, die dem Willen des Erklärenden zum Durchbruch verhilft.119 Auf dem Boden der herrschenden Interessenanalyse scheint im Gegenteil ein zur Geltung des Gewollten führendes Dispositionsrecht des Empfängers durchaus konsequent. Erst auf der Basis der hier für richtig gehaltenen abweichenden Interessenanalyse wird erkennbar, warum es aus einem anderen Grund ein solches Dispositionsrecht des Empfängers nicht geben darf. Problematisch ist für den Erklärenden nicht der Wahlrechtsverlust, sondern die Rechtsunsicherheit, der er durch das Dispositions­ recht ausgesetzt würde. Er müsste nach Entdeckung seines Irrtums stets damit rech­ nen, der Empfänger könnte sich noch für die Geltung des Gewollten entscheiden. Dies mag noch hinnehmbar sein, falls der Erklärende nach Entdeckung seines Irr­ tums die Erklärung angefochten hat, weil er dann einerseits das objektiv Erklärte selbst zur Disposition gestellt hat120, andererseits aber auch noch kein nennenswer­ tes Vertrauen auf die Ungültigkeit der Erklärung entwickeln kann, falls ihn die Ver­ zichtsentscheidung des Empfängers schnell erreicht (was sich durch eine Obliegen­ heit zur unverzüglichen Mitteilung einer Entscheidung sicherstellen lässt121). Nicht 116 So Waclawik, Bedeutung (2001), 12 f.; Lobinger, AcP 195 (1995), 274 (276 in Fn.  16); Wilhelm, Anfechtung (1990), 78. Vgl. auch Singer, in: Staudinger (2012), Vor §§  116 ff. Rn.  41 gegen­ über BGH, NJW 1995, 953. 117  Thomale, Leistung (2012), 158, 162; Jahr, JuS 1989, 249 (253). Vgl. auch Martinek, JuS 1997, L 36 (L 40); Singer, Selbstbestimmung (1995), 150; Brox, Einschränkung (1960), 177 f., die freilich nicht explizit auf die Frage eines Verzichts vor Erklärung der Anfechtung eingehen, im Falle des Verzichts aber die Geltung des Gewollten vertreten. Soweit die Erklärung auch auf dieser Basis einmal wegen fehlenden Erklärungsbewusstseins keine Rechtsfolgen hat, deckt sich das Ergebnis nur zufällig mit der Unwirksamkeitslösung. 118  Unter (1) a. E. 119  Thomale, Leistung (2012), 158. 120  Bis zur Entdeckung seines Irrtums ging er noch von einem objektiv falschen Erklärungs­ sinn aus. 121 Vgl. Thomale, Leistung (2012), 160 f. und die auch im Zusammenhang mit dem allgemeinen

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mehr zumutbar sind die Rechtsfolgen des Dispositionsrechts aber, falls der Erklä­ rende nicht anficht und sein Anfechtungsrecht schon endgültig verloren hat. Er müsste dann bei Anerkennung des Dispositionsrechts trotzdem noch auf unbe­ stimmte Zeit122 damit rechnen, der Empfänger könnte noch davon Gebrauch ma­ chen und das Gewollte gelten lassen. Um ein solches Szenario sicher ausschließen zu können, in dem sein Vertrauen auf das objektiv Erklärte schutzlos wäre, bliebe dem Erklärenden praktisch nur die Möglichkeit, seinen Irrtum stets offenzulegen und die Entscheidung des Empfängers über den Verzicht auf den objektiven Emp­ fängerhorizont einzuholen – selbst wenn er gar nicht anfechten möchte oder kann.123 Eine solche im Gesetz an keiner Stelle auch nur angedeutete Obliegenheit des Erklä­ renden, die gerade bei Unerreichbarkeit des Empfängers zu einer schweren Belas­ tung werden kann, dürfte kaum zu rechtfertigen sein. Der Empfänger darf ohnehin nur auf das objektiv Erklärte vertrauen, so dass bei ihm schutzwürdige Interessen im Hinblick auf das „Gewollte“ gar nicht bestehen. Thomale will dem Erklärenden gestatten, sich gegenüber der infolge der Aus­ übung des Dispositionsrechts eintretenden Geltung des Gewollten auf einen Weg­ fall der Geschäftsgrundlage (§  313 BGB) zu berufen, falls zum Zeitpunkt der Aus­ übung des Dispositionsrechts eine Änderung der begleitenden Umstände eingetre­ ten und deshalb dem Erklärenden ein Festgehaltenwerden am ursprünglich Gewollten unzumutbar ist.124 Er hat dabei in erster Linie Fälle im Auge, in denen ein längerer Zeitraum vergangen ist und sich die äußeren Umstände mittlerweile zu Lasten des Erklärenden verändert haben.125 Ist damit aber auch der hier erhobene Reurechtsausschluss anerkannte Obliegenheit zur unverzüglichen Entscheidung (Nachw. in §  6 Fn.  25). 122  Die Frist zur Ausübung des Dispositionsrechts kann frühestens zu laufen beginnen, sobald der Empfänger den wirklichen Willen des Erklärenden kennt (so auch Thomale, Leistung [2012], 160 f.) oder ihn zumindest kennen muss. Das kann erst einige Zeit nach Entdeckung des Irrtums durch den Erklärenden der Fall sein – insbesondere wenn der Erklärende sich gegen die Anfech­ tung entscheidet und den Irrtum deshalb zunächst nicht offenlegt und der Empfänger vom Inhalt des wahren Willens erst deutlich später erfährt. 123  Von der typischerweise bestehenden Möglichkeit, den Irrtum vor dem Empfänger zu ver­ heimlichen, wird hier abgesehen. Die Verheimlichungsmöglichkeit ist kein relevantes Wertungs­ argument (vgl. §  6 I 4 b). 124  Thomale, Leistung (2012), 161 unter Hinweis auf Wilhelm, Anfechtung (1990), 103 und Rollin, Irrtum (1966), 160 f., die diese Frage allerdings im Zusammenhang mit dem sog. Reurechts­ ausschluss nach einer erklärten Anfechtung thematisieren, also bezogen auf Fälle, in denen die Geltung des objektiv Erklärten und folglich die Schutzwürdigkeit eines darauf gerichteten Ver­ trauens von vornherein ausgeschlossen ist. 125  Vgl. insoweit auch Wilhelm, Anfechtung (1990), 103. Zu diesen hier nicht unmittelbar interessierenden Fällen sei bemerkt, dass §  313 BGB nicht die maßstabsbildende Norm sein kann. Vertragliche Bindungen sollen grundsätzlich gerade auch ge­ genüber Veränderungen der Sachlage resistent sein, die die ursprünglichen Vorstellungen und Plä­ ne einer Partei durchkreuzen. Nur in absoluten Extremfällen macht §  313 BGB hiervon eine Aus­ nahme. Derartige Fälle meint Thomale aber wohl nicht, da die Anwendung des §  313 BGB auf den durch Verzicht auf die objektive Auslegung zustande gekommenen Vertrag eine Selbstverständ­ lichkeit wäre, die keiner gesonderten Erwähnung bedürfte. Bezweckt ist wohl vielmehr eine bei

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Einwand entschärft, der Erklärende dürfe nicht in seinem Vertrauen auf den objek­ tiven Erklärungssinn enttäuscht und auf unbestimmte Zeit der Rechtsunsicherheit über die Ausübung des Dispositionsrechts ausgesetzt werden?126 Davon ist nicht auszugehen. §  313 BGB könnte bestenfalls zur Anpassung des Gewollten oder zum Wegfall der Bindung daran führen, nicht aber zur Geltung des objektiv Erklärten. Letzteres wäre aber zum Schutz des Vertrauens auf den Fortbestand des objektiv Erklärten gerade dann unerlässlich, falls der Erklärende die Anfechtung nicht er­ klärt hat. Die Rechtsunsicherheit des Erklärenden würde zudem durch die zusätzli­ che Unklarheit verschärft, wann dem Empfänger ein Festhalten am Gewollten „un­ zumutbar“ ist. Soll der Erklärende etwa gehalten sein sich Gedanken zu machen, ob der Empfänger am Gewollten interessiert ist, bevor er auf der Basis des objektiv Erklärten disponiert?127 Auch unter Berücksichtigung von §  313 BGB leuchtet letzt­ lich nicht ein, warum es überhaupt im Ausgangspunkt auf das Gewollte ankommen sollte, wenn mit der Geltung des objektiven Geschäftsinhalts eine Lösung zur Ver­ fügung steht, die den schutzwürdigen Interessen beider Beteiligten vollständig ge­ recht wird. cc) Zwischenergebnis Die Auseinandersetzung mit dem Sinnlosigkeitsargument und dem daraus folgen­ den Vertrauenserfordernis hat ein weiteres Mal gezeigt, dass sich der Zweck der normativen Auslegung nicht auf den Schutz des bei Vornahme des Rechtsgeschäfts vorhandenen Empfängervertrauens reduzieren lässt. Die Beschränkung des Zeitho­ rizonts der natürlichen Methode auf die Vornahme des Rechtsgeschäfts ist mit dem Kerngedanken des Sinnlosigkeitsarguments unvereinbar, der auch einen Schutz nachträglichen Vertrauens gebieten würde. Zudem ist die dem Sinnlosigkeitsargu­ zwischenzeitlichem Interessefortfall leichter lösbare Bindung (vgl. Rollin, Irrtum [1966], 161). Eine solche „Bindung light“ mag zwar auf den ersten Blick angemessen erscheinen, weil der Emp­ fänger sich bis zur Ausübung seines Dispositionsrechts selbst noch gar nicht gebunden hat und kein schutzwürdiges Vertrauen auf die Geltung des vom Gegner innerlich Gewollten hat bilden können. Das gesetzliche Leitbild ist insoweit aber nicht §  313 BGB zu entnehmen, sondern den viel schematischeren §§  146 ff. BGB. Der Erklärende ist an seinen Willen überhaupt nicht mehr gebun­ den, wenn die Annahme nicht innerhalb der mit dem Antrag bzw. durch das Gesetz bestimmten Zeit erfolgt, egal ob ihm das Gewollte noch „zumutbar“ ist oder nicht. 126  Thomale, Leistung (2012), 161 geht auf diese Fälle nicht ein. Rollin, Irrtum (1966), 160, auf den sich Thomale bezieht (a. a. O. in Fn.  646), behandelt den Fall, in dem sich der Erklärende nach Erklärung der Anfechtung schon anderweitig mit Ersatzware eingedeckt und insofern auf das ob­ jektiv Erklärte „vertraut“ hat, da er von der erfolgreichen Ausübung eines Anfechtungsrechts aus­ ging, das ihm nur bei Auseinanderfallen von Wille und objektiv Erklärtem zusteht. Rollin stellt diese Erwägungen freilich nur für den Fall der erfolgten Anfechtung an, befasst sich also nicht mit dem von Thomale für möglich gehaltenen anfechtungsunabhängigen Verzicht des Empfängers auf die objektive Auslegung. 127 Vgl. Rollin, Irrtum (1966), 160 f., der vom Erklärenden nach Treu und Glauben erwartet sich darüber Gedanken zu machen, ob der Empfänger ein Interesse am ursprünglich Gewollten haben könnte oder nicht. Nur wenn dies nicht der Fall sei, dürfe er disponieren. Rollin betrachtet aller­ dings nur die Situation nach Ausübung des Anfechtungsrechts.

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§  9 Die teleologischen Argumente der dualistischen Lehre

ment zugrundeliegende Beschränkung der personellen Schutzrichtung des Vertrau­ ensschutzgedankens und der normativen Auslegung auf den Empfänger abzulehnen, da auch der Erklärende des Schutzes seines Vertrauens auf das objektiv Erklärte bedarf. Deshalb ist auch das empfängerseitige „Vertrauenserfordernis“ als unge­ schriebene Voraussetzung der Geltung des objektiv Erklärten nicht anzuerkennen.

2. Die Unvereinbarkeit mit dem Prinzip der Privatautonomie Das gerade verworfene Sinnlosigkeitsargument fußt auf angeblichen Grenzen des Vertrauensschutzgedankens. Hiervon ist ein Argumentationsansatz zu unterschei­ den, der den rechtsgeschäftlichen Willen der Beteiligten in den Vordergrund rückt und im Kern auf die Behauptung hinausläuft, eine streng normative Auslegungsleh­ re sei unvereinbar mit dem Prinzip der Privatautonomie. a) Das Argument Ausgangspunkt dieses Argumentationsansatzes ist die zutreffende Analyse, dass bei alleiniger Maßgeblichkeit des objektiven Empfängerhorizonts in den methoden­ relevanten Fällen Verträge denkbar sind, deren Inhalt keine der Parteien bei Ver­ tragsschluss wollte. Dieses Ergebnis beschreiben Dualisten mit Worten, die einen Verstoß gegen das Prinzip der Privatautonomie suggerieren. Den Vertragsparteien dürfe kein Ergebnis aufgezwungen128, aufgenötigt129, aufgedrängt130, „obrigkeitlich dekretiert[ ]“131 oder untergeschoben132 werden. Sie dürften nicht entgegen ihrer beider Willen am üblichen Sinn ihrer Erklärungen festgehalten werden.133 Die Bin­ dung an einen Geschäftsinhalt, „den beide Parteien so nicht wollten und auf den auch keine der beiden so vertraut hat“, sei „ein mit dem Primat der Privatautonomie schlechterdings nicht vereinbares Resultat“134. „No one, including the adjudicator, 128  Rüthers/‌S tadler, AT (2014), §  18 Rn.  13; C. Picker, Jura 2012, 560 (562); Singer, in: Staudin­ ger (2012), §  133 Rn.  13; Semmelmayer, JuS 1996, L 9 (L 10); Singer, Selbstbestimmung (1995), 149. 129  Kling, Sprachrisiken (2008), 337; Larenz/M. Wolf, AT (2004), §   28 Rn.  27; Larenz, AT (1989), 339. Vgl. auch Stathopoulos, FS Larenz (1973), 357 (367), der beim inkongruenten Doppe­ lirrtum eine „Aufnötigung“ des objektiven Sinns sogar ausdrücklich befürwortet. 130  Schlemmer, JBl 1986, 149 (152). 131  F. Bydlinski, Privatautonomie (1967), 41. 132  Schlachter, JA 1991, 105 (106) zum kongruenten Doppelirrtum; Matthes, Irrtum (1905), 45 a. E. zum inkongruenten Doppelirrtum. 133  Bork, AT (2016), Rn.  519; Bitter, AT (2013), §  5 Rn.  69 und Medicus, AT (2010), Rn.  327, jeweils zum falsa-Satz. Jürgen Schmidt, in: Staudinger (1995), §  242 Rn.  387 zum inkongruenten Doppelirrtum. 134  Vonkilch, in: Klang, ABGB (2011), §  914 Rn.  133 (Hervorhebungen übernommen). Vgl. be­ reits Matthes, Irrtum (1905), 45 a. E. zum inkongruenten Doppelirrtum: „Man müsste konsequen­ terweise hier [bei normativer Auslegung, Verf.] zu einer beiderseitigen Anfechtung kommen, in­

II. Argumente gegen die Geltung des Ergebnisses der normativen Auslegung

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should ‚make the contract for the parties‘ by giving their agreement a meaning that they did not intend it to have.“135 Die gegenteilige „doktrinäre Auffassung“ provo­ ziere „die an sich selbstverständliche Feststellung, daß es zu den Aufgaben des Pri­ vatrechts nicht gehört, in die Privatrechtsverhältnisse störend einzugreifen“136. Positiv gewendet liegt dieser Kritik die These zugrunde, ein rechtswirksamer Vertrag müsse – auch wenn er durch normative Auslegung zustande komme – vom rechtsgeschäftlichen Willen mindestens einer Vertragspartei getragen sein.137 F. Bydlinski spricht insofern anschaulich von „halber Privatautonomie“, die die Rechtswirkungen des irrtumsbehafteten Vertrags mittrage und rechtfertige: „Auch wer eine nicht gewollte Willenserklärung abgibt, wird daran festgehalten. Aber ganz verleugnet wird das Prinzip [der Privatautonomie, Verf.] keineswegs: Der andere Vertragspartner gestaltet immerhin die Rechtsfolge wirklich nach seinem Willen, und ver­ läßt sich – das ist entscheidend – auf das (scheinbar) erklärte Einverständnis. Es bleibt mindestens eine ‚halbe‘ Privatautonomie, und es bleibt der Schutz des vom anderen Teil herbeigeführten, begründeten Vertrauens.“138

In jüngerer Zeit hat Leenen die Lehre von der „halben Privatautonomie“ und damit das Willenserfordernis durch zwei teleologische Erwägungen zu untermauern ver­ sucht. Verwirkliche sich im Vertrag der Wille einer Partei, möge „man von ‚halber Privatautonomie‘ sprechen und sich damit begnügen, dass wenigstens die wirt­ schaftliche Zielsetzung eines Kontrahenten hinter dem Vertrag steht. Einem Ver­ trag einen Inhalt zu geben, den beide Seiten nicht wollen“, ermangele „dagegen privatautonomer Rechtfertigung wie ökonomischer Vernunft“139. An anderer Stelle dem man beiden Parteien etwas unterschiebt, an das beide bei ihren Worten nicht gedacht haben, das beider Absichtswille nicht ist. Wo bliebe dann die freie Bestimmung des Vertragsinhalts durch die an ihm Beteiligten, die doch das Privatrecht grundsätzlich gewährleistet?“ 135  Vogenauer, in: Vogenauer/Kleinheisterkamp, PICC-Commentary (2009), Art.  4.1 Rn.  13. 136  Bailas, Problem (1962), 9. Vgl. auch Musielak/Hau, Grundkurs BGB (2015), Rn.   177: „Schulmeisterei“, die sich über den Parteiwillen hinwegsetzt. 137  So ausdrücklich Leenen, AT (2015), §  8 Rn.  158, 160, 185; ders., Jura 2007, 721 (722), der den Willen einer Vertragspartei als Voraussetzung des „normativen Konsens“ behandelt; Kramer, in: MünchKommBGB (2006), Vor §  116 Rn.  39 a. E.; F. Bydlinski, Privatautonomie (1967), 38, 40, der aus den Regelungen über das Scheingeschäft (dazu noch §  10 II) die allgemeine Aussage ablei­ tet: „Das übereinstimmende Fehlen des positiven, nicht das etwaige Vorhandensein des negativen Willens hindert die Vertragswirkungen.“ 138  F. Bydlinski, Privatautonomie (1967), 10 (Hervorhebung übernommen). Siehe auch ders., ZAS 1976, 123 (130); ders., BJM 1982, 1 (15). F. Bydlinski führt den Gedanken der „halben Priva­ tautonomie“ anlässlich einer Auseinandersetzung mit dem „beiderseits unbewussten Vertrags­ schluss“ ein, an dem er die Grenzen der Vertrauenstheorie des österreichischen Rechts aufzeigen will. Er bezieht sich somit unmittelbar nur auf das „Ob“ des Rechtsgeschäfts und den Willen „über­ haupt“ Rechtsfolgen in Geltung zu setzen, nicht aber auf Inhalt und Auslegung des Rechtsge­ schäfts. Es gibt aber keinen Grund, die „halbe Privatautonomie“ nicht auch auf die Rechtsfolgen des Rechtsgeschäfts, d. h. auf Geschäftsinhalt und Auslegung zu beziehen (vgl. die Einordnung von F. Bydlinskis Thesen durch Leenen, AT [2015], §  8 Rn.  160 in Fn.  137 und Rummel, JBl 1973, 66 [68]). 139  Leenen, AT (2015), §  8 Rn.  160.

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§  9 Die teleologischen Argumente der dualistischen Lehre

verweist er auf die Belastung des Rechtssystems, die aus der Anerkennung beidsei­ tig ungewollter Verträge folgen würde: „Verträge, die weder dem rechtsgeschäftlichen Willen der einen noch der anderen Seite entsprechen, haben wenig Aussicht, von den Vertragspartnern ordnungsgemäß erfüllt zu werden. Es steht von vornherein das Interesse beider Seiten im Vordergrund, sich von dem Vertrag zu lösen.“140

b) Widerlegung Auch die Ablehnung der normativen Auslegungsmethode in den methodenrelevan­ ten Fällen mit einer auf das beidseitige Fehlen des Willens und das Prinzip der Pri­ vatautonomie abstellenden Begründung geht fehl. Die hiergegen zu erhebenden Einwände unterscheiden sich im Hinblick auf einseitige Rechtsgeschäfte (dazu un­ ter aa) und Verträge (dazu unter bb). aa) Die Verfehltheit des Willenserfordernisses beim einseitigen Rechtsgeschäft Die Nichtgeltung des objektiv Erklärten lässt sich in den methodenrelevanten Fällen schon deshalb nicht allein mit dem Fehlen eines entsprechenden Rechtsfolgewillens rechtfertigen, weil diese Argumentation von vornherein nur für einen Teilbereich der Rechtsgeschäftslehre in Betracht kommt. Die Anhänger dieser Lehre beziehen ihre Ausführungen nicht ohne Grund ausschließlich auf Verträge; bei einseitigen Rechtsgeschäften wäre das Willenserfordernis schon auf den ersten Blick mit dem Gesetz unvereinbar. Eine mit einem Erklärungsirrtum behaftete Kündigung gilt schließlich bis zu ihrer Anfechtung im Sinne des objektiv Erklärten, obwohl hinter ihr weder der Wille des Erklärenden, noch der des passiven Empfängers steht.141 Das Anwendungsfeld des Willenserfordernisses wäre deshalb, wenn man es über­ haupt anerkennen wollte, auf Verträge zu beschränken.142 Das wiederum würde zu einer kaum nachvollziehbaren Spaltung der Rechtsgeschäftslehre führen. Der Par­

140  Leenen, FS Prölss (2009), 153 (174). Nicht weiterführend ist im vorliegenden Zusammen­ hang das weitere Argument Leenens, a. a. O., als Reaktion auf den beidseitig „unsorgfältigen“ Um­ gang mit dem Instrument der Willenserklärung sei eine für beide Parteien nachteilige „erziehen­ de“ Sanktion zum Zwecke der Verhaltenssteuerung geboten. Wie Leenen selbst erkennt, lässt sich auch die Geltung des nicht gewollten objektiv Erklärten als nachteilige Sanktion begreifen. Der Gesichtspunkt erziehender Verhaltenssteuerung, was auch immer von ihm zu halten sein mag, ist jedenfalls kein Grund, der gegen die Geltung des objektiv Erklärten spricht. 141 Vgl. Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 (196 f.): das irrtumsbehaftete einseitige Rechts­ geschäft sei keine „Gestaltung“, weil die „eingetretene Folge überhaupt nicht gewollt“ sei. 142  So ausdrücklich F. Bydlinski, Privatautonomie (1967), 38; ders., ZAS 1976, 123 (130, 134), der einseitige Rechtsgeschäfte von seiner Lehre von der „halben Privatautonomie“ ausnimmt und insofern ausschließlich auf das konkrete Vertrauen des Empfängers abstellt. Zu diesem Vertrau­ enserfordernis hier bereits unter II 1.

II. Argumente gegen die Geltung des Ergebnisses der normativen Auslegung

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teiwille wäre bei Verträgen Grund und Rechtfertigung der Geltung des objektiv Erklärten, bei einseitigen Rechtsgeschäften dagegen bedeutungslos.143 bb) Die Verfehltheit des Willenserfordernisses beim Vertrag Auch im Vertragsrecht hängt entgegen der hier bestrittenen Auffassung die Geltung des objektiv Erklärten nicht von der Existenz eines inhaltsgleichen Rechtsfolgewil­ lens bei einer der Vertragsparteien ab. Dies ist hier allerdings weniger offensichtlich als beim einseitigen Rechtsgeschäft, da im Vertragsrecht eine Anknüpfung an den Willen konstruktiv immerhin möglich wäre, ohne dadurch schon auf den ersten Blick evident das Gesetz zu missachten. (1) Kein Festhalten beider Vertragsparteien bei Verfehlung des Willenserfordernisses Leicht widerlegbar ist das von den Dualisten beschworene Schreckgespenst, die streng normative Auslegungslehre setze sich über den Willen der Parteien hinweg und zwinge ihnen – entgegen der Grundfunktion des Vertrages als Instrument der Privatautonomie der Vertragsparteien – ein beiderseits ungewolltes Ergebnis auf.144 Das beliebte Bild vom „Festhalten“ oder „Nötigen“ beider Parteien geht schlicht an den Rechtsfolgen der normativen Auslegung vorbei. Wenn beide Parteien das objek­ tiv Erklärte nicht wollen, steht es ihnen frei davon abzuweichen, indem sie einver­ ständlich den Vertrag ändern, aufheben oder ggf. einfach nicht erfüllen.145 Ein rechtlich relevanter Konflikt entsteht nur, falls eine Vertragspartei entgegen dem Willen der Gegenseite auf dem objektiv Erklärten beharrt. Der am objektiv Erklär­ ten festhaltenden Partei wird dann aber sicherlich nichts „aufgenötigt“ (volenti non fit iniuria). In ihrem Verhalten liegt vielmehr eine Bestätigung im Sinne von §  144 BGB, die bezogen auf diese Vertragspartei die „ursprünglich fehlende Selbstbe­ stimmung nachholt“146.147 Anders ausgedrückt: Wer beim Vertrag „halbe Privat­ 143  Vgl. die gleichlautende Kritik von Singer, Selbstbestimmung (1995), 88 an Kramer, Grund­ fragen (1972), 150 bei und in Fn.  146, der sich F. Bydlinskis Lehre von der halben Privatautonomie zu eigen gemacht hat (zuletzt Kramer, in: MünchKommBGB [2006], Vor §  116 Rn.  39 a. E.). 144  Nachw. dazu in den Fn.  128–133. 145  Scherner, AT (1995), 95; Titze, Mißverständnis (1910), 422. Ebenso Diederichsen, FS Juris­ tische Gesellschaft zu Berlin (1984), 81 (88 f.), der sich nur auf die Konstellation bezieht, „daß beide Kontrahenten annehmen, daß der Vertrag nicht zustande gekommen ist, während nach dem objektiven Sinn ihrer Erklärungen ein Vertragsschluß vorliegt“. Zum inkongruenten Doppelirr­ tum auch Lee, Voraussetzungen (1999), 30. 146  Singer, Selbstbestimmung (1995), 67 f. In concreto gilt hier freilich die Besonderheit, dass aufgrund der beidseitigen Anfechtbarkeit nur relativ auf die Person des Bestätigenden die pri­vat­ autonome Grundlage des Geschäfts nachgeholt wird, das Geschäft für den Gegner aber anfechtbar bleibt in den Grenzen der §§  119 ff. BGB. 147 Vgl. auch die verbreitete Auffassung, das Wahlrecht des Anfechtungsberechtigten, der nachträglich die Entscheidung gegen oder für die Geltung des objektiv Erklärten treffen kann, verschaffe dem objektiv Erklärten sogar bei fehlendem Erklärungsbewusstsein eine hinreichende privatautonome Rechtfertigung (BGH, Urteil vom 7.6.1984, BGHZ 91, 324 [330]; Singer, in: Stau­

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§  9 Die teleologischen Argumente der dualistischen Lehre

autonomie“ für unbedingt nötig hält, damit „den Parteien“ nichts aufgezwungen wird, kann sie im nachträglichen Festhalteentschluss finden.148 Vor diesem Hintergrund ist Leenens Überlegung, beiderseits ungewollte Verträ­ ge hätten wenig Aussicht, ordnungsgemäß erfüllt zu werden, und stellten deshalb eine unnötige Belastung des Rechtssystem dar149, ebenfalls kein überzeugendes Ar­ gument für die ipso iure-Nichtigkeit des beiderseits ursprünglich nicht gewollten Vertrages. Wollten beide Parteien das objektiv Erklärte nicht, mag „von vornherein das Interesse beider Parteien im Vordergrund [stehen], sich von dem Vertragsinhalt zu lösen“150. Doch die Beidseitigkeit des Willensmangels erhöht im Vergleich zum einseitig fehlenden Willen nicht die Wahrscheinlichkeit von Erfüllungsstörungen, sondern lediglich die Wahrscheinlichkeit einer kooperativen Lösung, die das Rechtssystem nicht zusätzlich belastet. Sollten in der Erfüllungsphase beide Seiten das objektiv Erklärte immer noch nicht wollen, können und werden sie sich auf eine Änderung einigen. Stellt sich dagegen eine Partei auf den Boden des objektiv Er­ klärten, ist die Lage im Hinblick auf Streitanfälligkeit und Erfüllungsstörungen nicht anders zu beurteilen als beim einseitigen Irrtum: Die eine Seite verlangt Be­ achtung des objektiv Erklärten, die andere widersetzt sich aus Enttäuschung über die Verfehlung ihres Willens.151 Die Störungs- und Streitanfälligkeit solcher Rechtsverhältnisse ist rechtspolitisch zwar ein guter Grund, den Irrenden nicht an einer nicht seinem Willen entsprechenden Gestaltung festzuhalten, sondern ihm ein Lösungsrecht zu geben.152 Doch damit lässt sich nur die auch von der streng norma­ tiven Auslegungslehre angenommene (beidseitige) Anfechtbarkeit rechtfertigen, nicht aber die darüber hinausgehende Außerkraftsetzung der §§  119 ff. BGB, zu der das Willenserfordernis führen würde.153 (2) Die Folgerichtigkeit des beschränkten „Festhaltens“ einer Vertragspartei im Rahmen der §§  119 ff. BGB auch bei Verfehlung des Willenserfordernisses Jede auf den fehlenden Parteiwillen bezugnehmende Kritik an der streng normati­ ven Vertragsauslegung kann sich nach dem gerade Gesagten sinnvollerweise nur dinger [2012], Vor §§  116 Rn.  23; Werba, Willenserklärung [2005], 53, 62; Weiler, Willenserklä­ rung [2002], 498; Hefermehl, in: Soergel [1999], Vor §  116 Rn.  14). Die privatautonome Rechtferti­ gung des objektiv Erklärten muss dann erst recht gegeben sein, wenn sich eine Partei tatsächlich für die Geltung des objektiv Erklärten entscheidet und den Gegner auf dieser Basis in Anspruch nimmt. 148  Diese Form „halber Privatautonomie“ lässt sich dann im Übrigen auch auf das einseitige Rechtsgeschäft beziehen. 149  Leenen, FS Prölss (2009), 153 (174). 150  Leenen, FS Prölss (2009), 153 (174). 151 Siehe Martens, Dritte (2007), 320. Vgl. auch Lobinger, Verpflichtung (1999), 59 f. 152 Vgl. Martens, Dritte (2007), 320. 153  Leenen, FS Prölss (2009), 153 (174) sieht die Alternative der beidseitigen Anfechtbarkeit, lehnt diese aber ab unter Hinweis auf die angeblich zufällige Haftungsverteilung und die daraus folgende Notwendigkeit von Korrekturen nach Treu und Glauben. Zum „Zufallsargument“ noch unter 3.

II. Argumente gegen die Geltung des Ergebnisses der normativen Auslegung

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dagegen richten, eine der Vertragsparteien an einer ungewollten Rechtsfolge festzu­ halten, obwohl der Gegner einen Vertrag dieses Inhalts selbst ursprünglich nicht wollte, ja womöglich sogar das vom Festgehaltenen Gewollte selbst wollte.154 Eine nähere Analyse zeigt indes, dass auch aus diesem Blickwinkel die Rechtsfolgen der streng normativen Auslegungslehre bedenkenlos sind. Zunächst ist hervorzuheben, dass auch bei Geltung der streng normativen Ausle­ gungslehre von einem „Festhalten“ am objektiv Erklärten nur in sehr eingeschränk­ tem Sinne die Rede sein kann. Weil beide Seiten das objektiv Erklärte nicht wollten und bei Vertragsschluss einem Willensmangel unterlagen, kommt ein beidseitig anfechtbarer Vertrag zustande (§§  119 I, 120 BGB). Ein „Festgehaltenwerden“ am objektiv Erklärten im Sinne eines Erfüllungszwangs ist dadurch grundsätzlich aus­ geschlossen.155 Schon aus diesem Grund trifft Leenens weiteres Argument nicht den Kern der Sache, ein beidseitig nicht gewollter Vertrag entbehre der privatauto­ nomen Rechtfertigung und wirtschaftlichen Vernunft, weil hinter ihm nicht die wirtschaftlichen Zielsetzungen zumindest einer Partei stünden156. Eine Vertrags­ partei, die ihre wirtschaftlichen (oder sonstigen) Ziele aufgrund ihres Willensman­ gels nicht verwirklicht sieht, ist an den Vertrag auch bei normativer Auslegung nicht gebunden, sondern kann ihn grundsätzlich anfechten. Zur Durchführung eines wirtschaftlich unsinnigen Vertrages muss es deshalb nicht kommen. Ein „Festhalten“ am objektiv Erklärten findet nur unter zwei Gesichtspunkten statt. Zum einen kann sich aus §  121 BGB eine endgültige Bindung an das objektiv Erklärte ergeben, wenn die Anfechtung nicht fristgerecht erfolgt. Zum anderen hält §  122 BGB den Anfechtenden insofern am normativen Auslegungsergebnis fest, als er dem Gegner darauf bezogene Vertrauensschäden ersetzen muss. Für eine Bewer­ tung des Willenserfordernisses ist es unerlässlich, sich den Zusammenhang mit den Anfechtungsregeln zu vergegenwärtigen. Die Kritik an der Aufnötigung eines ur­ sprünglich beidseitig ungewollten Vertragsinhalts darf sich nicht in Grundsatzer­ wägungen zur Funktion des Vertrages und zum Prinzip der Privatautonomie verlie­ ren, sondern muss speziell im Hinblick auf die §§  121, 122 BGB eine Begründung liefern, warum diese Vorschriften bei Verfehlung des Willenserfordernisses unan­ gewendet bleiben dürfen. Der Sache nach ist das Willenserfordernis nämlich – wie schon das unter 1. behandelte Vertrauenserfordernis – nichts anderes als eine unge­ schriebene Einschränkung des Anwendungsbereichs der §§  119 ff. BGB.

154 

In diesem Sinne formuliert Brox, Einschränkung (1960), 101 den Festhalteeinwand. Wieling, AcP 172 (1972), 297 (303): „Wohl kann es der Irrende bei dem objektiven Wert der Erklärung belassen, wenn er nicht anfechten will. Entscheidend ist jedoch, daß er nicht daran gebunden ist, er wird nicht am objektiven Erklärungswert festgehalten.“ 156  Leenen, AT (2015), §  8 Rn.  160. 155 Vgl.

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§  9 Die teleologischen Argumente der dualistischen Lehre

(a) Die unzulässige Einschränkung des §  121 BGB und des Wahlrechts der am objektiv Erklärten festhaltenden Vertragspartei Die Berechtigung des Willenserfordernisses ist schon im Hinblick auf §  121 BGB zweifelhaft. Der Willensmangel der „an sich“ präkludierten Vertragspartei kann von vornherein kein Argument für die Nichtanwendung dieser Vorschrift sein, die auf eine Bindung trotz des Willensmangels geradezu angelegt ist. Nur wenn §  121 BGB seinem Schutzzweck nach auf den Willen des Gegners bezogen wäre, dürfte die Vorschrift bei fehlendem Empfängerwillen unangewendet bleiben. Der Ver­ gleich mit dem einseitigen Rechtsgeschäft belegt indes, dass dies nicht der Fall ist. Die Präklusion greift dort ohne Rücksicht auf den rechtlich irrelevanten Willen des passiven Empfängers ein. Ohne hierfür die umstrittene Ratio des §  121 BGB, der dem Irrenden ein Geltungsrisiko auferlegt, positiv bestimmen zu müssen157, ist je­ denfalls eindeutig, dass die Bindung des Anfechtungswilligen nicht dem Ziel dient, der Selbstbestimmung des Empfängers zum Durchbruch zu verhelfen. Sie kann folglich auch nicht von der Existenz eines solchen Willens abhängen. Für den Vertrag das Gegenteil zu behaupten klingt allein deshalb halbwegs plau­ sibel, weil der Gegner des „an sich“ Präkludierten selbst eine eigene Willenserklä­ rung abgegeben haben muss, damit der Vertrag zustande kommt.158 Doch das allein kann kein Grund sein, §  121 BGB an den inneren Willen des Gegners bei der Ge­ generklärung zu binden. Zum Konflikt über die Gültigkeit des Vertrages kommt es schließlich nur, weil der Gegner des Präkludierten seine eigene irrtumsbehaftete Willenserklärung im Sinne des objektiv Erklärten gelten lassen möchte. Wäre der Vertrag dann trotzdem aufgrund des Willensmangels des Gegners ipso iure hinfäl­ lig, so wäre dadurch der Sache nach dem „an sich“ Präkludierten das Recht einge­ räumt, sich auf den Willensmangel seines Gegners zu berufen. Gerade die Berufung 157 Dazu Frotz, Verkehrsschutz (1972), 481 f. (Sanktion für die unnötig lange Aufrechterhal­ tung eines falschen Scheins); Singer, JZ 1989, 1030 (1033) und ders., Selbstbestimmung (1995), 125–127 (Ordnungsfunktion im Verkehrsinteresse); Lobinger, Verpflichtung (1999), 159–161 (Ab­ bild der lebensweltlichen Verhaltensweise des Erklärenden); Weiler, Willenserklärung (2002), 499 f. (empfängergünstige Präklusion als Ausgleich für die Privilegierung des Erklärenden, der aufgrund des Anfechtungsrechts die Möglichkeit zu einer nachträglichen, neuen Entscheidung erhält). Zu Recht geht keiner dieser Autoren davon aus, es solle dadurch der rechtsgeschäftliche Wille des Empfängers geschützt werden. 158 Vgl. F. Bydlinski, BJM 1982, 1 (15), der die Eigenständigkeit des Gedankens der „halben Privatautonomie“ neben dem Vertrauensprinzip wie folgt begründet: „Es genügt ja nicht, dass [ein Vertragspartner] z. B. auf eine Offerterklärung des anderen vertraut hat. Er muss sie auch anneh­ men. Was bleibt ist also immer eine ‚halbe‘ einseitige Privatautonomie dieses Vertragsteils im Sinne des Willensprinzips.“ Das Erfordernis einer Annahmeerklärung darf jedoch nicht einfach, wie F. Bydlinski es an dieser Stelle tut, mit dem Erfordernis eines gleichlautenden tatsächlichen Willens des Annehmenden „im Sinne des Willensprinzips“ gleichgesetzt werden. Ob es bei der Annahmeerklärung auf den Willen oder das objektiv Erklärte ankommt, wäre zur Rechtfertigung der Lehre von der halben Privatautonomie gerade zu begründen. Dass es hier auf das objektiv Er­ klärte ankommen muss, folgt schon daraus, dass ansonsten der Antragende im Nachhinein nicht beurteilen könnte, ob der Vertrag zustande gekommen ist, weil er dazu den ggf. vom objektiv Er­ klärten abweichenden inneren Willen kennen müsste.

II. Argumente gegen die Geltung des Ergebnisses der normativen Auslegung

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auf den Willensmangel des Gegners soll die Anfechtungskonstruktion aber verhin­ dern. Das Willenserfordernis ist mit anderem Worten auch ein unzulässiger Entzug des gesetzlich gewollten Wahlrechts des Gegners des „an sich“ Präkludierten. Vor diesem Hintergrund verbietet sich auch die denkbare Argumentation, das Willenserfordernis sei notwendig, um den Gegner des Präkludierten daran zu hin­ dern, die eigene Fehlleistung auszunutzen. Die Möglichkeit, von Willensmängeln zu profitieren und ggf. einen „windfall profit“ einzustreichen, ist durch das Wahl­ recht des Anfechtenden hinsichtlich des eigenen Willensmangels und durch §  121 BGB hinsichtlich des fremden Willensmangels gesetzlich sanktioniert. Die Situa­ tion des beidseitigen Irrtums bei Vertragsschluss zeichnet sich allein durch die Be­ sonderheit aus, dass hier aus tatsächlichen Gründen beide Regelungen gleichzeitig eingreifen, ohne dass dadurch die Sachgerechtigkeit der hierfür maßgeblichen ge­ setzlichen Einzelentscheidungen in Frage gestellt wäre.

(b) Die unzulässige Einschränkung des §  122 BGB durch das Willenserfordernis Auch im Hinblick auf §  122 BGB ist das Willenserfordernis bedenklich. Der Wil­ lensmangel des potentiellen Anspruchsgegners kann kein Grund sein, die Vor­ schrift nicht anzuwenden, da es sich bei §  122 BGB ohnehin um eine Haftung „ex lege“ und nicht „ex voluntate“ handelt.159 Das Prinzip der Privatautonomie lässt sich gegen die Haftung aus §  122 BGB niemals ins Feld führen. Erwägenswert ist allein, ob §  122 BGB unangewendet bleiben kann, weil der po­ tentielle Anspruchsinhaber ebenfalls einem Willensmangel bei Abgabe seiner Er­ klärung unterlag. Eine solche Begründung ginge am Zweck der Vorschrift vorbei. Der Anspruch auf Ersatz von Vertrauensschäden ist nicht vorgesehen, um den rechtsgeschäftlichen Willen des Anfechtungsgegners bei Vornahme des Geschäfts zu schützen. Es geht allein um Vertrauensschutz, wie auch der Vergleich mit dem einseitigen Rechtsgeschäft belegt, bei dem §  122 BGB ebenfalls eingreift, obwohl ein rechtsgeschäftlicher Wille des Empfängers hier überhaupt nicht in Betracht kommt. Einigen Anhängern des Willenserfordernisses steht denn auch nur ein sehr mit­ telbarer Zusammenhang vor Augen, der den Verzicht auf Vertrauensschutz recht­ fertigen soll. Sie heben hervor, in den Fällen des beidseitig fehlenden Willens bei Vertragsschluss fehle bei beiden Akteuren jedes Vertrauen auf den objektiven Ver­ tragsinhalt. Deshalb sei „das Zustandekommen eines Vertrages mit einem Inhalt, der vom wirklichen Willen beider Parteien abweicht, mit dem Vertrauensschutz-Ge­ danken nicht zu rechtfertigen“160. 159 

Canaris, Vertrauenshaftung (1971), 423; Singer, Selbstbestimmung (1995), 84. Leenen, FS Prölss (2009), 153 (170). Fast wortgleich noch einmal auf S.  174. Vgl. auch Vonkilch, in: Klang, ABGB (2011), §  914 Rn.  133 zum österreichischen Recht: Bei übereinstimmen­ dem Parteiwillen gebiete „keinerlei Vertrauensschutz“ eine abweichende Auslegung. 160 

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§  9 Die teleologischen Argumente der dualistischen Lehre

Für das Willenserfordernis ist diese Begründung bei näherem Hinsehen fatal, büßt es doch dadurch jeglichen eigenständigen Argumentationswert ein. Das objek­ tiv Erklärte bleibt hiernach nämlich nicht deshalb wirkungslos, weil keine der Ver­ tragsparteien es ursprünglich wollte, sondern weil keine von ihnen darauf vertraute. Das Fehlen des Willens wird nur deshalb zur „relevanten“ Größe erhoben, weil es (angeblich) mit dem Fehlen konkreten Vertrauens korreliert. Insofern könnte ebenso gut unmittelbar auf den Aspekt des fehlenden Vertrauens abgestellt werden, der allein entscheidend ist.161 Dies liefe auf das – bereits unter 1. abgelehnte – Vertrau­ enserfordernis hinaus. Das durch die Koppelung mit dem Vertrauensschutzgedanken als eigenständiges Begründungselement entwertete Willenserfordernis wäre allerdings im Ergebnis unschädlich, falls in Ermangelung eines darauf gerichteten ursprünglichen rechts­ geschäftlichen Willens auch schutzwürdiges Vertrauen auf das objektiv Erklärte tatsächlich stets ausgeschlossen wäre. Die Begründung mit dem Fehlen halber Pri­ vatautonomie wäre dann zwar ein unnötiger Umweg, würde aber zum richtigen Ergebnis führen. Die Gleichung „ohne Willen kein Vertrauen“ geht jedoch nicht auf. Typischerweise – nur insoweit wäre die Beobachtung richtig – entspricht zwar dem Vertrauen einer Vertragspartei auf den Erklärungswert der fremden Erklärung auch ein inhaltsgleicher Rechtsfolgewille bei Abgabe der eigenen Erklärung. Dies muss aber nicht so sein. Nicht nur bei einseitigen Rechtsgeschäften, sondern auch bei Verträgen ist ein berechtigtes Vertrauen ohne dahinterstehenden Rechtsfolge­ willen vorstellbar – und zwar in Form des in Abschnitt 1 ausführlich behandelten nachträglich entstehenden Vertrauens im Entdeckungsszenario nach anfänglich beidseitigen Irrtümern. Die Bereitschaft, den Vertrag bei beidseitigem Fehlen eines ihn tragenden rechts­ geschäftlichen Willens dahinfallen zu lassen, baut somit ebenfalls auf einer be­ schränkten zeitlichen Beurteilungsperspektive auf, die allein die Vertrags­ schlussphase berücksichtigt und die weitere Geschehensentwicklung ausblendet. Die Möglichkeit, nachträgliches Vertrauen durch §  122 BGB zu schützen, darf aber nicht abgeschnitten werden, nur weil der typische Zusammenhang zwischen Wille und Vertrauen fälschlich für zwingend gehalten wird.162 161  Vgl. insoweit F. Bydlinski, Privatautonomie (1967), 10, der die Prävalenz des Vertrauensge­ dankens gegenüber der von ihm trotzdem hervorgehobenen ‚halben Privatautonomie‘ erkennen lässt, ohne daraus den Schluss auf die Überflüssigkeit des Willensmoments für die Begründung der eingetretenen Rechtsfolgen zu ziehen: „Der andere Vertragspartner gestaltet immerhin die Rechtsfolge wirklich nach seinem Willen und er verläßt sich – das ist entscheidend – auf das (scheinbar) erklärte Einverständnis.“ (Hervorhebung hinzugefügt). Abw. Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 (197), der dem Willen neben dem Vertrauensaspekt – entgegen jeder Lehre von der „halben Privatautonomie“ – zu Recht keinerlei Bedeutung für die Rechtfertigung der Geltung des objektiv Erklärten zumisst: Die eingetretene Rechtsfolge werde beim misslungenen Vertrag nicht von den Parteien gemeinsam gewollt, „sondern nur vor einer Partei; und nicht daß diese ihn will“, sei „die Grundlage der Rechtsfolge, sondern daß sie in ihrem Vertrauen geschützt werden muss“. 162  Denkbar wäre dann allein noch eine Haftung des Gegners aus §§  280 I, 241 II BGB. Sie ist aber wegen des Verschuldenserfordernisses weniger schutzintensiv, ohne dass sich ein sachlicher

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cc) Zwischenergebnis Die Unmaßgeblichkeit des objektiv Erklärten lässt sich nicht damit rechtfertigen, dass keiner der Beteiligten diesen Inhalt bei Vornahme des Rechtsgeschäfts wollte. Beim irrtumsbehafteten einseitigen Rechtsgeschäft steht die anfechtbare Geltung des objektiv Erklärten trotz beidseitig fehlenden Willens außer Frage. Beim Vertrag überzeugt ein Willenserfordernis ebenfalls nicht. Die Parteien werden auch ohne ein solches Willenserfordernis nicht entgegen ihrer beider Willen am objektiv Er­ klärten festgehalten, da sie stets die Möglichkeit einer einvernehmlichen Änderung haben. Eine ungewollte Rechtsfolge wird immer nur der Vertragspartei aufgenötigt, die von ihrem Vertragspartner willentlich am objektiv Erklärten festgehalten wird. Dessen Vorgehen ist aber nicht etwa deshalb kritikwürdig, weil er selbst das ­objektiv Erklärte bei Vertragsschluss nicht wollte. Seine Rechtsposition ist allein Ausdruck der in den §§  119 ff. BGB enthaltenden gesetzlichen Wertungen, die vom ursprüng­ lichen rechtsgeschäftlichen Willen des dadurch begünstigten Vertragspartners un­ abhängig sind. Insbesondere §  122 BGB darf nicht durch das Willenserfordernis außer Kraft gesetzt werden.163

3. Die Zufälligkeit der Verteilung der Vertrauensschäden a) Das „Zufallsargument“ Bei objektiv eindeutigen Erklärungen richtet sich die Verteilung der Vertrauens­ schäden im Falle der Anfechtung nach Maßgabe von §  122 BGB. Entscheidet sich einer der Beteiligten für die Anfechtung, so muss er der Gegenseite ihren Vertrau­ ensschaden ersetzen. Handelt es sich bei dem Rechtsgeschäft um einen Vertrag, dann steht in den Doppelirrtumsfällen164 beiden Vertragsparteien ein Anfechtungs­ recht zu.165 Grund für die Herabsetzung des Schutzniveaus zu Lasten des nachträglich Vertrauenden finden lässt. 163  Die Einwände gegen das Willenserfordernis, die im Text ausgehend vom geltenden Recht des BGB entwickelt wurden, würden in abgewandelter Form auch dann fortbestehen, wenn die Irrtumsanfechtung im BGB – nach des Vorbild der Irrtumsrechts des österreichischen ABGB oder Art.  48 GEKR – restriktiver ausgestaltet wäre. Der dann nicht mehr durch Vertrauensschadenser­ satz (§  122 BGB), sondern durch (unanfechtbare) Geltung des objektiv Erklärten gewährte Ver­ trauensschutz darf nicht dadurch ausgehöhlt werden, dass ein Vertragspartner unter Berufung auf das Willenserfordernis den Vertrag zu Fall bringen kann. Etwaiges zwischenzeitlich entstandenes Vertrauen des Gegners auf den objektiven Vertragsinhalt bliebe ungeschützt. 164  Die Konstellation des erratenen Willens (dazu §  4 IV 2) gehört zu den unter b) eingangs angesprochenen Fällen unbestimmter Erklärungen, da die Erklärung hier objektiv unbestimmt ist (§  4 IV 1) und der Empfänger die erkannte Unbestimmtheit lediglich zum Anlass nimmt, bewusst auf einen bestimmten Willen des Erklärenden zu spekulieren. 165  Titze, Mißverständnis (1910), 366 f. in Fn.  26; Henle, Lb. I (1926), 225; Seifert, Falsa de­ monstratio (1929), 144; Larenz, Methode (1930, 1966), 79.

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§  9 Die teleologischen Argumente der dualistischen Lehre

Larenz hat diese konstruktive Konsequenz der normativen Auslegung in den fal­ sa-Fällen mit der Begründung angegriffen, „[e]s würde also von dem Zufall, wer zuerst anficht, abhängen, wer zum Schadensersatz verpflichtet sein soll“166. Dieser im Folgenden als „Zufallsargument“ bezeichnete Einwand findet sich auch in der Diskussion über den inkongruenten Doppelirrtum, der bei normativer Auslegung ebenfalls zu einem beidseitig anfechtbaren Vertrag führt.167 Das Zufallsargument veranlasst beim inkongruenten Doppelirrtum sogar Anhänger der überwiegenden Lehre, die von der anfechtbaren Geltung des objektiv Erklärten ausgeht, zu gewis­ sen Konzessionen. So befürworten etwa Enneccerus/Nipperdey beim inkongruen­ ten Doppelirrtum unter Hinweis auf die unbillige Zufallsverteilung ein das Anfech­ tungsrecht verdrängendes Lösungsrecht nach §  242 BGB, um §  122 BGB zu umge­ hen.168 Dieser Tendenz folgend wollen auch in jüngerer Zeit einige Autoren etwaigen Unbilligkeiten, die aus der beidseitigen Anfechtbarkeit bei inkongruentem Dop­pel­ irrtum folgen, durch §  242 BGB abhelfen.169 b) Widerlegung Das Zufallsargument kann schon deshalb kein überzeugendes Argument gegen die Maßgeblichkeit der normativen Auslegungsmethode in den methodenrelevanten Fällen sein, weil es seiner inneren Logik nach gar nicht sämtliche dieser Fälle er­ fasst. Es setzt nämlich die beidseitige Anfechtbarkeit des Rechtsgeschäfts voraus, die keineswegs in allen methodenrelevanten Fällen die Rechtsfolge der streng nor­ mativen Auslegungslehre ist. Beim einseitigen Rechtsgeschäft steht auch im Falle des Doppelirrtums allein dem Erklärenden ein Anfechtungsrecht zu. Ferner geht das Zufallsargument an allen Rechtsgeschäften vorbei, die an der objektiven Unbe­ stimmtheit der Willenserklärungen leiden. Da objektiv unbestimmte Erklärungen bei normativer Auslegung unwirksam sind, ist objektiv gerechtfertigtes Vertrauen in diesen Fällen allein auf die Unwirksamkeit des Rechtsgeschäfts gerichtet. Eine 166 

Larenz, Methode (1930, 1966), 79. Bailas, Problem (1962), 19; Leenen, FS Prölss (2009), 153 (174); ders., AT (2015), §  8 Rn.  162. Vgl. auch Jürgen Schmidt, in: Staudinger (1995), §  242 Rn.  387. 168  Enneccerus/Nipperdey, AT I/2 (1960), 1086, die an dieser Stelle nicht zwischen Geschäfts­ irrtümern und Motivirrtümern differenzieren. Das Zufallsargument ziehen auch Lehmann/Hübner, AT (1966), 268 heran, die deshalb „entsprechend den Regeln über den Wegfall der Geschäfts­ grundlage“ von einem Lösungsrecht nach §  242 BGB bei einem gemeinsamen Irrtum ausgehen. Ein „gemeinsame[r] Irrtum hinsichtlich des Inhalts der Erklärung“, der a. a. O. von einer falsa de­ monstratio unterschieden wird, soll z. B. vorliegen, wenn „motivierende Vorstellungen ausdrück­ lich zum Inhalt des Rechtsgeschäfts gemacht werden“. Dies steht noch unter dem Einfluss der überholten Lehre des RG vom erweiterten Inhaltsirrtum (RG, Urteil vom 17.12.1920, RGZ 101, 107 f.; hierzu aus heutiger Sicht Armbrüster, in: MünchKommBGB [2015], §  119 Rn.  87 ff.). 169  Busche, in: MünchKommBGB (2015), §   155 Rn.  6; Armbrüster, in: Erman (2014), §  155 Rn.  8. Siehe auch schon Siebert/Knopp, in Soergel (1967), §  242 Rn.  393, die das Zufallsargument zurückweisen, aber eine „sinngemäßen Einschränkung“ von §  122 BGB befürworten, falls der Irrtum ausnahmsweise einmal beide Seiten benachteiligt. 167 

II. Argumente gegen die Geltung des Ergebnisses der normativen Auslegung

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Enttäuschung dieses Vertrauens durch den Gegner, wie sie das Anfechtungsrecht bei eindeutigen Erklärungen ermöglicht, ist hier von vornherein ausgeschlossen, da die unbestimmte Erklärung unverrückbar unwirksam ist. Konzessionen an das Zufallsargument sind aber auch im Vertragsschlusskontext, auf den es allein passt, nicht gerechtfertigt, da die von diesem Argument vorausge­ setzte Situation, in der beide Seiten einen prinzipiell ersatzfähigen Schaden erleiden und unbilligerweise nur eine von ihnen diese Schäden tragen muss, da sie „zufällig“ zuerst angefochten hat, nicht entstehen kann. Das Argument geht insofern am Rege­ lungsgehalt der §§  119 ff. BGB vorbei, die auch ohne Korrekturen nach §  242 BGB im Falle einer Anfechtung nach §§  119 I, 120 BGB170 für eine sachgerechte Scha­ denstragung sorgen: Im Ausgangspunkt gilt es zu erkennen, dass §  122 BGB ausschließlich Scha­ densersatz für enttäuschtes Vertrauen auf die Geltung des objektiv Erklärten vor­ sieht.171 Das Gesetz spricht zwar ganz allgemein von dem im Vertrauen auf die „Gültigkeit der Erklärung“ erlittenen Schaden. Damit ist aber trotz des insoweit offenen Wortlauts keine Haftung für Enttäuschung beliebigen Gültigkeitsvertrau­ ens gemeint.172 Schützenswert ist nur Vertrauen auf die „Gültigkeit der Erklärung“, deren Erklärungsinhalt sich der Erklärende, beurteilt nach dem Maßstab der nor­ mativen Auslegung, zurechnen lassen muss. Die Enttäuschung irrigen Vertrauens begründet hingegen keine ersatzfähige Schadensposition, da dieses Vertrauen nicht auf dem dem Erklärenden zurechenbaren Erklärungsinhalt, sondern auf dem Irr­ tum des Empfängers beruht.173 Beim Doppelirrtum irren sich zunächst beide Par­ 170  Offen bleiben kann hier, ob das Zufallsargument bei beidseitigen Eigenschaftsirrtum (§  119 II BGB) überzeugt. Beidseitige Eigenschaftsirrtümer sind als Motivirrtümer auch auf Basis der dualistischen Lehre nicht auslegungsrelevant (dazu bereits §  4 II 2 c), sondern werfen die Frage nach dem Vorrang der Regeln über den Wegfall der Geschäftsgrundlage (§  313 BGB) auf. Für das Zufallsargument in diesem Zusammenhang Boemke/Ulrici, AT (2014), §  12 Rn.  77; Rüthers/‌Stadler, AT (2014), §  25 Rn.  96; Rösler, JuS 2005, 120 (122 f.). Gegen das Zufallsargument auch dort Finkenauer, in: MünchKommBGB (2015), §  313 Rn.  146; Medicus/‌Petersen, BR (2015), Rn.  162; Wertenbruch, AT (2014), §  12 Rn.  34; P. Huber, Irrtumsanfechtung (2001), 13; Hübner, AT (1996), Rn.  1101; E. Wolf, AT (1982), 491, jeweils mit der Begründung, es sei nicht zufällig, wenn derjeni­ ge den Schaden trage, der sich für die Anfechtung entscheide und sich von ihr offenbar einen Vorteil verspreche. 171  So i. E. auch Foer, Regel (1987), 19, 33. 172  Oertmann, AcP 117 (1919), 275 (293) weist auf den insoweit offenen Wortlaut hin, entschei­ det die Frage dann aber mit teleologischen Argumenten i. E. wie hier im Text. 173  Bading, Willenserklärung (1910), 38 in Fn.  51; Titze, Mißverständnis (1910), 43 f. (zu §§  118, 122 I BGB); Oertmann, AcP 117 (1919), 275 (293 f.). Vgl. auch Lobinger, Verpflichtung (1999), 142 f. Vgl. hingegen Ackermann, Schutz (2007), 275 in Fn.  106, der offenbar Ansprüche auf Ersatz des negativen Interesses für möglich hält, mit denen der Empfänger in den Anwendungsfällen des falsa-Satzes geltend machen könne, „der Erklärende habe wissentlich eine normative Erwartung geweckt, die sich der Erklärung gerade nicht durch Auslegung aus Sicht des objektiven Empfän­ gers entnehmen läßt“. Ackermann erläutert nicht, warum in den methodenrelevanten Zufallsfällen des falsa-Satzes eine normative Erwartung im Sinne einer schutzwürdigen Vertrauensposition des Empfängers jenseits des objektiven Empfängerhorizonts in Betracht kommt. Eine sich lediglich

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§  9 Die teleologischen Argumente der dualistischen Lehre

teien, so dass keine von ihnen auf das objektiv Erklärte vertraut; mangels rechtlich relevanten Vertrauensschadens gewährt §  122 BGB in dieser ersten Phase noch kei­ nen Anspruch.174 Das Gesamtergebnis leuchtet ohne weiteres ein: Jeder der Betei­ ligten muss die Nachteile tragen, die er erleidet, weil er die Erklärung objektiv falsch verstanden hat.175 Erst ab dem Zeitpunkt, in dem eine der Parteien ihren Irrtum entdeckt und nach­ träglich auf das objektiv Erklärte umschwenkt, vertraut sie auf das objektiv Erklär­ te und kann im Falle der Anfechtung Schadensersatz vom Anfechtenden verlan­ gen.176 Der Anfechtende muss daher bei streng normativer Auslegung nur dann für einen Vertrauensschaden des Gegners einstehen, falls dieser den Irrtum zuvor ent­ deckt, von der Anfechtung abgesehen177 und im Vertrauen auf den objektiven Er­ klärungswert disponiert hat. Die Verpflichtung des Anfechtenden zum Ersatz die­ ses Schadens ist dann keineswegs zufällig, sondern entspricht konsequent dem hin­ ter §  122 BGB stehenden Haftungsgrund, Vertrauen beim Gegner geweckt zu haben. Der Anfechtende wird nicht allein deshalb in die Haftung genommen, weil er sich bei Vornahme des Geschäfts geirrt hat178 – dieser „Vorwurf“ trifft in den hier betrachteten Fällen in der Tat beide Parteien. Sondern er wird in die Haftung ge­ zufällig (irrtumsbedingt) mit dem Willen des Erklärenden deckende Inhaltsvorstellung des Emp­ fängers kann schwerlich eine normativ schutzwürdige Erwartung sein. Ackermanns Überlegung könnte ohnehin im Rahmen der Haftung nach §§  119 I, 120, 122 BGB nicht relevant werden, da bei Geltung der natürlichen Auslegung mangels Divergenz von Wille und Erklärung eine Anfechtung ausgeschlossen ist. Sie könnte allenfalls im Rahmen anderer auf das negative Interesse gerichteter Ansprüche (§§  119 II, 122 BGB; 179 II BGB, c.i.c.) bedeutsam werden. Auch hier ist aber äußerst fraglich, warum z. B. der falsus procurator nach §  179 II BGB für einen Vertrauensschaden haften sollte, den der Vertrauende (abgesehen von dem in der Tat vom falsus procurator erweckten Ver­ trauen auf die Vertretungsmacht) nur erleidet, weil er selbst irrtumsbedingt der Erklärung einen im Verhalten des falsus procurator objektiv nicht angelegten Inhalt beigemessen hat, der sich bloß zufällig mit dessen Willen deckt. 174  Titze, Mißverständnis (1910), 337 f. in Fn.  4 (vgl. auch schon 334 f.); Oertmann, AcP 117 (1919), 275 (293 f.). So auch Windscheid/Kipp, Pandekten I (1906, 1984), 401; Bading, Willenser­ klärung (1910), 38 in Fn.  51 und Frotz, Verkehrsschutz (1972), 422 in Fn.  1018, jeweils ohne Be­ rücksichtigung der sogleich im Text behandelten Möglichkeit der Entstehung nachträglichen Ver­ trauens. Vgl. auch Brehm, AT (2008), Rn.  404 zum inkongruenten Doppelirrtum: Anspruch aus §  122 BGB „möglicherweise“ zu verneinen, weil der Empfänger nicht auf den rechtsmaßgeblichen Sinn der Erklärung vertraut habe. 175  Insofern folgt das von Leenen, FS Prölss (2009), 153 (174) geforderte Ergebnis, „dass jede Seite den ihr entstandenen Schaden trägt“, unmittelbar aus den §§  119 ff. BGB. 176  Titze, Mißverständnis (1910), 337 f. in Fn.  4 und 423 (in Form einer rhetorischen Frage); Oertmann, AcP 117 (1919), 275 (294); Seifert, Falsa demonstratio (1929), 143. Ebenso Henle, Lb. I (1926), 224, der jedoch zu Unrecht meint, nur der Annehmende könne in die Lage kommen, Scha­ densersatz zahlen zu müssen. 177  Seifert, Falsa demonstratio (1929), 143. 178  So aber Jürgen Schmidt, in: Staudinger (1995), §  242 Rn.  387, der es für ungerecht hält, wenn der Anfechtende beim inkongruenten Doppelirrtum beim Vertragsschluss hafte, obwohl „beide sich in zurechenbarer Weise von der Wirklichkeitsbasis der Willenserklärungen entfernt haben und (…) diese Entfernung und nicht die Tatsache der Anfechtung der Grund für die Scha­ densersatzregelung ist“ (Hervorhebung übernommen).

II. Argumente gegen die Geltung des Ergebnisses der normativen Auslegung

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nommen, weil er einmal eine Vertrauensgrundlage gelegt hat und der andere auf seine Erklärung (sei es auch erst nachträglich) Vertrauen gesetzt hat. Nur der An­ fechtende macht in diesem Sinne Gebrauch von der „Möglichkeit, das Vertrauen des anderen in den Bestand der Erklärung im Wege der Anfechtung zu enttäuschen“179. Die Sachgerechtigkeit der Haftungsverteilung bei beidseitiger Anfechtbarkeit wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass der Anfechtende nicht nur nach §  122 I BGB für den fremden Vertrauensschaden haftet, sondern zusätzlich auch noch einen etwaigen eigenen Schaden tragen muss, den er im Vertrauen auf das objektiv Erklärte erleidet. Ein solcher „Eigenschaden“ des Anfechtenden ist schon aus tat­ sächlichen Gründen schwer vorstellbar. Wer erfolgreich – d. h. auch fristgerecht (§  121 I 1 BGB) – die Anfechtung erklärt hat, hatte zuvor praktisch kaum Zeit, nach Entdeckung seines Irrtums im Vertrauen auf das objektiv Erklärte zu disponieren und sich dann doch noch rechtzeitig zur Anfechtung zu entschließen. Sollte dies doch einmal vorkommen, ist es nur angemessen, den Anfechtenden mit seinem Ei­ genschaden zu belasten. Denn er hat sich selbst zur Anfechtung entschieden und hat daher die Enttäuschung seines Vertrauens auf das objektiv Erklärte sich selbst zu­ zuschreiben. Als schutzwürdig kann der Anfechtende im Hinblick auf seinen Ei­ genschaden zudem auch deshalb nicht gelten, weil er die schadensstiftende Vertrau­ ensbetätigung erst nach Entdeckung seines Irrtums und damit in Kenntnis des in der eigenen Person verwirklichten Anfechtungsgrundes vorgenommen hat.180 Zusammengefasst bleibt also festzuhalten, dass das Zufallsargument nicht auf­ geht. Die von diesem Argument vorausgesetzte Situation, in der sich zwei Personen mit prinzipiell schutzwürdigen Schadenspositionen gegenüberstehen, von denen jedoch nur eine sämtliche Schäden tragen muss, weil sie „zufällig“ als erste die Anfechtung erklärt hat, kann nicht entstehen. Die Vertragsparteien haben nämlich entweder beidseitig noch gar keine ersatzfähigen Schadenspositionen generiert, da sie ihre Dispositionen sämtlich unter dem Eindruck ihres eigenen Irrtums getätigt haben (Phase 1), oder nur der Anfechtungsgegner hat eine prinzipiell ersatzfähige Schadensposition erlitten, nachdem er auf die Entdeckung seines Irrtums hin auf das objektiv Erklärte zu vertrauen begonnen und auf die eigene Anfechtung ver­ zichtet hat (Phase 2). Ein eigener Vertrauensschaden des Anfechtenden in Phase 2, der im hypothetischen Fall der Anfechtung durch den Gegner zum Schadensersatz berechtigt hätte, ist schon praktisch kaum vorstellbar und wäre auch in jedem Fall nicht schutzwürdig. Es sei noch hinzugefügt, dass das Zufallsargument sich nicht mit dem bereits unter 1. behandelten Argument der angeblichen Sinnlosigkeit eines Vertrauens­ 179 

Lobinger, AcP 195 (1995), 274 (280 in Fn.  40) in anderem Zusammenhang. Vgl. §  122 II Alt. 1 BGB, der bei Kenntnis des Anfechtungsgrundes dem Anfechtungsgeg­ ner seinen eigenen Vertrauensschaden aufbürdet. Wenn dort bei Kenntnis eines in der Person des Gegners begründeten Anfechtungsgrundes Vertrauen als schutzunwürdig behandelt wird, dann muss diese Bewertung hinsichtlich des Eigenschadens des Anfechtenden erst recht gelten bei Kenntnis eines in der eigenen Person begründeten Anfechtungsgrundes. 180 

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§  9 Die teleologischen Argumente der dualistischen Lehre

schutzes ohne Vertrauen verträgt. Wo sollten die durch §  122 BGB unbillig verteil­ ten Vertrauensschadenspositionen herkommen, wenn angeblich beiderseits gar kein schutzwürdiges Vertrauen besteht?181 Das Zufallsargument setzt ersatzfähige Ver­ trauensschäden voraus, die bei Richtigkeit des „Sinnlosigkeitsarguments“ undenk­ bar wären.

4. Die Entstehung eines unbilligen Reurechts a) Der Reurechtseinwand Die dualistische Lehre bindet den Erklärenden bei zufällig gleichlautendem Ver­ ständnis der Beteiligten unanfechtbar an das bei Abgabe der Erklärung wirklich Gewollte.182 Das ist bei streng normativer Auslegung (zumindest nach dem Wort­ laut des Gesetzes) anders. Bei objektiv eindeutigen Erklärungen hat der Erklärende ein Anfechtungsrecht, mit dem er einseitig die Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts her­ beiführen kann. Bei einer objektiv unbestimmten Erklärung bedarf es nicht einmal einer Anfechtungserklärung zur Beseitigung der Bindung, da die Willenserklärung aufgrund ihrer objektiven Unbestimmtheit ohnehin wirkungslos ist. Bang hat gegen diesen Effekt der normativen Auslegung am Beispiel einer objektiv eindeutigen Vertragsschlusserklärung vorgebracht: „Die Vernichtung des Nichtgewollten ist jeder der Parteien durch die Anfechtung gemäß §  119 BGB möglich. Damit wird aber der geschlossene Vertrag gemäß §  142 BGB nichtig. Einen Zwang, das wirklich Gewollte zu einem neuen Vertrag zu erheben, gibt die Rechts­ ordnung anscheinend nicht. Der berechtigte Wunsch eines der Kontrahenten, einen neuen Vertrag auf das gemeinsam Gewollte zu schließen, kann an der Weigerung des Geschäfts­ gegners, den das früher Gewollte reut, scheitern. Damit ist aber dieser Partei ein unbilliges Reurecht gegeben (…).“183

Aus der Erwägung, der Erklärende müsse sich aus Billigkeitsgründen zumindest an seinem bei Abgabe der Erklärung bestehenden inneren Willen festhalten lassen, ergibt sich somit der sog. Reurechtseinwand gegen die normative Auslegung: sie 181  Siehe etwa Larenz, Methode (1930, 1966), 77 einerseits (Geltung des objektiv Erklärten sei abzulehnen, weil guter Glaube an die objektiv verstehbare Bedeutung nicht bestehe) und auf S.  78 andererseits (Kritik an der zufälligen Verteilung von Vertrauensschäden). Ferner Leenen, FS Prölss (2009), 153 (174), der zunächst meint, der Vertrauensschutzgedanke rechtfertige das Zu­ standekommen des Vertrages nicht, weil die Vertragspartei nicht auf das objektiv Erklärte vertraut habe, kurz darauf aber gegen die beidseitige Anfechtbarkeit bei normativer Auslegung anbringt, es dürfe nicht vom Zufall abhängen, welche der Vertragsparteien dem Gegner schadensersatzpflich­ tig werde. 182  Leenen, AT (2015), §  8 Rn.  56; Martinek, JuS 1997, 136 (139 [Prof.]); Enneccerus/‌Nipperdey, AT I/2 (1960), 1032; Seifert, Falsa demonstratio (1929), 138. 183  Bang, JherJb 66 (1916), 309 (349 f.). Siehe auch S.  365: „[W]ir brauchen einen Zwang für beide Parteien, die Obligation auf das wirklich Gewollte gelten zu lassen, weil sonst jede Partei aus dem nur zum Schutze des Irrenden bestimmten §  119 ein Reurecht herleiten könnte.“

II. Argumente gegen die Geltung des Ergebnisses der normativen Auslegung

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gestatte es dem Erklärenden unbilligerweise, sich durch Anfechtung (bei objektiv eindeutigen Erklärungen)184 oder Berufung185 auf die Nichtigkeit (bei objektiv un­ bestimmten Erklärungen)186 jeglicher Bindung zu entziehen. b) Die Relativierung des Reurechtseinwands durch den allgemeinen Reurechtsausschluss Aus heutiger Sicht ist gegenüber dem im älteren Schrifttum diskutierten Reurechts­ einwand zunächst zu konstatieren, dass der reurechtsbegünstigende Effekt der nor­ mativen Methode nicht nur in den hier interessierenden methodenrelevanten Fällen auftritt, in denen der Erklärende irrt (d. h. Wille und objektiv Erklärtes divergieren), das Verständnis der Beteiligten sich aber zufällig deckt. Es handelt sich vielmehr um ein allgemeines Problem der Irrtumslehre, da der Erklärende auch bei divergie­ rendem Parteiverständnis die Möglichkeit hat, (ggf. erst nach Erklärung der An­ fechtung) jeder Bindung zu entgehen. Das Reurechtsproblem stellt sich insbesonde­ re bei jedem einseitigen Irrtum des Erklärenden. Das Sachproblem wird dement­ sprechend im Allgemeinen auch auf dieser viel breiteren Basis diskutiert. Fälle zufällig übereinstimmenden Parteiverständnisses spielen in der modernen Diskus­ sion über den Reurechtausschluss kaum noch eine Rolle, da dort die natürliche Aus­ legungsmethode die Reurechtsproblematik unter der Hand mit erledigt. Bekanntlich ist heute die Auffassung ganz herrschend geworden, der Empfänger dürfe den Erklärenden an dem ursprünglich Gewollten festhalten187. Diese in ihrer dogmatischen Begründung nach wie vor uneinheitlich beurteilte188 Befugnis des Empfängers wird ganz überwiegend nur am Beispiel der objektiv eindeutigen Er­ klärung behandelt als ein nach der Anfechtung des Erklärenden entstehendes „Ge­ genrecht“189 des Empfängers. Eine Befugnis gleichen Inhalts wird dem Empfänger aber bislang weitgehend unwidersprochen von einigen Autoren auch bei objektiv unbestimmten Erklärungen zugesprochen. Obwohl objektiv unbestimmte Erklä­ 184  So bei objektiv eindeutigen Erklärungen außer Bang (s.o. Fn.  183) auch noch Heisler, Irrtum (1913), 34 und Riezler, in: Staudinger (1936), §  119 Rn.  52. Ferner v. Bülow, Irrtumsanfechtung (1909), 47, der mit dem Reurechtsgedanken bei übereinstimmendem Verständnis allerdings nur den Ausschluss des Anfechtungsrechts und nicht die Nichtgeltung des objektiv Erklärten begrün­ det. Sogar Titze, Mißverständnis (1910), 337 f. räumt ein, durch die von ihm auch beim kongruen­ tem Doppelirrtum vertretene normative Auslegung werde „im praktischen Effekt dem Erklären­ den ein Reurecht eingeräumt“. 185  Berufung meint hier nicht die Ausübung eines materiell-rechtlichen Gestaltungsrechts oder einer Einrede, sondern nur das faktische Beharren auf einer objektiv bestehenden Rechtsposition im Konfliktfalle. 186  So bei objektiv unbestimmten Erklärungen Manigk, DJZ 1911, 1509; Heisler, Irrtum (1913), 46; Manigk, JherJb 75 (1925), 127 (181, 182 f., 183 f.). 187  Nachw. (auch zur Gegenauffassung) in §  6 Fn.  24. 188  Zu den unterschiedlichen diskutierten dogmatischen Konstruktionen siehe Lobinger, AcP 195 (1995), 274 (275–278); Wilhelm, Anfechtung (1990), 64–93. 189  Flume, AT II (1992), 422.

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§  9 Die teleologischen Argumente der dualistischen Lehre

rungen an sich unwirksam sind, soll der Empfänger das Recht haben, sich im Nach­ hinein noch für die Geltung des Gewollten zu entscheiden.190 Aufs Ganze gesehen zeichnet sich somit als Konsequenz des Reurechtsausschlussprinzips191 ein „allge­ meiner Reurechtsausschluss“ ab, der dem Erklärenden in Abhängigkeit von der Ent­ scheidung des Empfängers eine zumindest subsidiäre Bindung an seinen Willen auferlegt. Der gegen die streng normative Auslegungslehre gerichtete Reurechtseinwand wird durch die Anerkennung dieses allgemeinen Reurechtsausschlusses erheblich relativiert. Bang glaubte noch eine Abweichung von der normativen Methode for­ dern zu müssen, weil er von der uneingeschränkten Nichtigkeit angefochtener Er­ klärungen ausging.192 In einer Rechtsordnung aber, die den allgemeinen Reurechts­ ausschluss kennt, bedarf es keiner anderen Auslegungsmethode, um den Empfänger zu binden, da es ohnehin im Belieben des Empfängers steht, den Erklärenden am innerlich Gewollten festzuhalten. Nicht ohne Grund findet sich der Reurechtsein­ wand gegen die normative Methode dann auch fast193 nur in der älteren Literatur zu Zeitpunkten, zu denen der allgemeine Reurechtsausschluss noch keine verbreitete Anerkennung gefunden hatte. Notwendig zur Reurechtsverhinderung ist eine Ab­ weichung von der normativen Methode somit nicht. Vom Reurechtseinwand bleibt bei Zugrundelegung des allgemeinen Reurechts­ ausschlusses nur die viel gemäßigtere Fragestellung übrig, ob es zweckmäßiger ist, bei zufällig übereinstimmendem Verständnis der Beteiligten das Reurecht schon auf der Ebene der Auslegung auszuschließen, statt erst durch den allgemeinen Reu­ rechtsausschluss. Es geht nur noch um die Wahl zwischen zwei verschiedenen dog­ matischen Konstruktionen des Reurechtsausschlusses. Beim allgemeinen Reu­ rechtsausschluss liegt die Entscheidung über die Geltung des vom Erklärenden Ge­ 190 Siehe Boesche, FS Georgiades (2006), 3 (36), deren Beispiel eines „versteckten Dissens“ den Austausch objektiv mehrdeutiger Erklärungen beim Vertragsschluss betrifft; Hartmann, Jura 2004, 843 (845); Kindl, WM 1999, 2198 (2204 f.); Flume, AT II (1992), 503; Wieser, NJW 1972, 708 (711); Hildebrandt, Erklärungshaftung (1931), 212 f.; R. Raiser, AcP 127 (1927), 1 (37–39). Vgl. auch Lobinger, Verpflichtung (1999), 218 in Fn.  381. A. A. Armbrüster, in: MünchKommBGB (2015), §  119 Rn.  90 a. E. und Kramer, in: MünchKommBGB (2006), §  119 Rn.  92 a. E., die sich gegenüber der von Flume, a. a. O. vertretenen Wahlmöglichkeit des Empfängers bei objektiv wi­ dersprüchlicher Vertragsschlusserklärung lediglich darauf berufen, der Vertrag sei „wegen Dis­ senses nicht zustande gekommen“ und deshalb bestehe kein „Anspruch auf Zustimmung“ zu den für den Anspruchsgegner günstigeren Bedingungen, ohne auf die Reurechtsausschlussdimension der Fragestellung einzugehen. 191  Von einem solchen allgemeinen Prinzip geht Lobinger, AcP 195 (1995), 274 (280 ff.) aus; zust. Hartmann, Jura 2004, 843 (845). 192  Bang, JherJb 66 (1916), 309 (349 f.): „Einen Zwang das wirklich Gewollte zu einem Vertrag zu erheben, gibt die Rechtsordnung anscheinend nicht.“ Auf die von Gradenwitz, Anfechtung (1902) begründete Gegenauffassung, die damals noch weit von allgemeiner Anerkennung entfernt war, geht Bang nicht ein. 193  Vgl. aber in neuerer Zeit noch Leipold, AT (2015), §  15 Rn.  29 und Schapp/‌S chur, Einfüh­ rung (2007), Rn.  348, die jeweils – ohne weitere Erläuterung – hervorheben, bei übereinstimmen­ dem Verständnis bestehe kein Anlass für die Gewährung eines Lösungsrechts.

II. Argumente gegen die Geltung des Ergebnisses der normativen Auslegung

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wollten in den Händen des Empfängers. Dieser bestimmt, ob er den Erklärenden am Gewollten festhalten will oder nicht. Das „Festhalten“ setzt – unabhängig von der umstrittenen dogmatischen Begründung des allgemeinen Reurechtsausschlusses – voraus, dass der Empfänger dem Erklärenden seine Entscheidung für das Festhalten innerhalb eines eng umgrenzten, meist an §  121 I BGB angelehnten Zeitraums194 durch empfangsbedürftige „Reurechtsausschlusserklärung“ mitteilt. Die natürliche Auslegung führt die Bindung an das ursprünglich Gewollte dagegen ipso iure her­ bei. Der entscheidende dogmatische Unterschied beider Konstruktionen liegt somit im Verzicht auf die zeitlich befristete Reurechtsausschlusserklärung. Die natürliche Auslegung ist quasi ein „automatischer“ Reurechtsausschluss.195 c) Die Verfehltheit eines automatischen Reurechtsausschlusses durch natürliche Auslegung aus Empfängersicht Der gerade herausgearbeitete Automatismus spricht aus Sicht des Empfängers ent­ scheidend gegen einen Reurechtsausschluss im Wege der natürlichen Auslegung. Der Automatismus wirkt für und wider beide Beteiligte, kehrt sich also auch gegen den Empfänger, den der Erklärende an seinem ursprünglichen inneren Verständnis der Erklärung festhalten kann.196 Wirkungen zu Lasten des Empfängers sind vom Grundgedanken des Reurechtsausschlusses aber nicht gedeckt. Fast alle Argumen­ te, die für die Sachgerechtigkeit des Reurechtsausschlusses vorgebracht werden, beziehen sich ausschließlich auf die Rolle des Erklärenden und das Ziel, ihn an seinem subjektiv geäußerten Rechtsfolgewillen festzuhalten. Nur bezüglich des Er­ klärenden lässt sich nämlich davon sprechen, ihm geschehe kein Unrecht, wenn er entsprechend seinem „Willen“ und seiner privatautonomen Entscheidung gebunden werde197. Nur bezüglich des Erklärenden kann man anführen, seine subsidiäre Bin­ dung an das Gewollte sei notwendig, um das Prinzip der Unbeachtlichkeit des Mo­ tivirrtums hochzuhalten198, denn Motivirrtümer sind nur auf Erklärendenseite vor­ stellbar. Auch der Gedanke, ein rechtlich beachtlicher Irrtum dürfe nicht als Vor­ wand missbraucht werden, sich aus ganz anderen Gründen vom ursprünglich 194 

Nachw. in §  6 Fn.  25. Wilhelm, Anfechtung (1990), 97, der die dogmatische Herleitung des allgemeinen Reu­ rechtsausschlusses aus einer analogen Anwendung des falsa-Satzes ablehnt, weil dies zu einem „automatischen“ Vertragsschluss führen müsse, der mit den Interessen des Empfängers unverein­ bar sei. Vgl. auch Waclawik, Bedeutung (2001), 27. 196  Eigenständige Bedeutung erlangt dieser Gesichtspunkt bei einseitigen Rechtsgeschäften, bei denen der Empfänger keinen rechtsgeschäftlichen Willen äußert, an dem er nach dem Grund­ gedanken des Reurechtsausschlusses festzuhalten wäre. 197  M. Wolf/Neuner, AT (2012), §  41 Rn.  150; Lobinger, AcP 195 (1995), 274 (278). 198  Bitter, AT (2013), §  7 Rn.  133, §  19 (Fall 47, S.  283 f.); Boesche, FS Georgiades (2006), 3 (6); Mankowski, Beseitigungsrechte (2003), 725; Lorenz, Schutz (1997), 264 im Text und in Fn.  291; Lobinger, AcP 195 (1995), 274 (278 f.); Wilhelm, Anfechtung (1990), 3; Kerschner, Irrtumsanfech­ tung (1984), 29 zum österreichischen Recht. Vgl. schon Brox, Einschränkung (1960), 175. 195 Vgl.

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§  9 Die teleologischen Argumente der dualistischen Lehre

gewollten Geschäftsinhalt zu lösen199, trifft auf den Empfänger nicht zu. Und es liegt auf seiner Seite auch kein widersprüchliches Verhalten (venire contra factum proprium)200 darin, sich von seinem zu Recht als objektiv falsch erkannten anfäng­ lichen Verständnis zu lösen und zum objektiv richtigen Verständnis überzugehen. Nur das Argument, der Erklärende dürfe aufgrund seines Irrtums nicht besser stehen als bei korrekter Äußerung seines Willens201, wäre überhaupt annähernd ge­ eignet, auf den Empfänger übertragen zu werden, und zwar in dem Sinne, dieser dürfe nicht besser stehen, als entspreche sein (anfängliches) Verständnis dem Sinn der Erklärung. Doch es ist nicht ersichtlich, welcher Gerechtigkeitsgehalt diese Überlegung tragen sollte, die dann ja auch in den Fällen des einseitigen Empfänger­ irrtums eingreifen würde. Wer wollte beispielsweise dem Empfänger einer mehr­ deutigen Kündigung ernsthaft versagen, sich auf die erst nachträglich erkannte Un­ bestimmtheit und daraus folgende Unwirksamkeit der Kündigung zu berufen, nur weil er sie anfänglich noch zu Unrecht als eindeutig aufgefasst hatte? Soweit ersicht­ lich ist denn auch bislang nirgends vertreten worden, es gebe spiegelbildlich zum Reurechtsausschluss zu Lasten des Erklärenden einen Reurechtausschluss zu Lasten des Empfängers, aufgrund dessen der Erklärende den Empfänger an seinem anfäng­ lichen, objektiv unbegründeten Verständnis der Erklärung festhalten dürfe.202

199  Faust, AT (2016), §  23 Rn.  12; Brox/‌Walker, AT (2015), Rn.  373b; Looschelders/‌Olzen, in: Staudinger (2015), §  242 Rn.  433; Jürgen Schmidt, in: Staudinger (1995), §  242 Rn.  439; Weigelin, JR 1947, 108 (109); v. Tuhr, AT II/1 (1914, 1957), 592; Laubhardt, DJZ 1901, 349. 200  Auf das Verbot widersprüchlichen Verhaltens wird der Reurechtsausschluss gestützt von: Armbrüster, in: MünchKommBGB (2015), §  119 Rn.  141; Brox/Walker, AT (2015), Rn.  373b; Feuerborn, in: NK‑BGB (2012), 119 Rn.  46; Lorenz, Schutz (1997), 264; Martinek, JuS 1997, L 36 (L 38); Flume, AT II (1992), 422; Jahr, JuS 1989, 249 (253). A. A. Wilhelm, Anfechtung (1990), 84, der zu Recht darauf hinweist, dass der Erklärende lediglich von seinem früheren Willen, nicht aber von seinem früheren objektiven Verhalten abweicht. Der Empfänger legt in seiner passiven Emp­ fängerrolle darüber hinaus bei Zugang der Erklärung nicht einmal irgendein von seinem irrigen Verständnis getragenes rechtsgeschäftlich relevantes Verhalten an den Tag. 201  Bork, AT (2016), Rn.  954; Faust, AT (2016), §  23 Rn.  12; Brox/Walker, AT (2015), Rn.  373b; Leenen, AT (2015), §  14 Rn.  143; Rüthers/Stadler, AT (2014), §  25 Rn.  13; Bitter, AT (2013), §  7 Rn.  133, §  19 (Fall Nr.  47, S.  283). So auch schon Regelsberger, JherJb 58 (1911), 146 (156); ders., BayZ 1908, 253 (257). 202  Lobinger, Verpflichtung (1999), 140 in Fn.  146 ordnet auch den Empfänger eines einseitigen Rechtsgeschäfts in die Lehre vom „Reurechtsausschluss“ ein. Er bezieht sich dabei aber nicht auf die Bindung des Empfängers an sein anfängliches inneres Verständnis, sondern auf die Bindung an den objektiven Erklärungswert einer irrtumsbehafteten anfechtbaren Willenserklärung. Der Empfänger könne die im objektiven Sinn geltende Erklärung nicht unter Berufung auf den Wil­ lensmangel des Erklärenden angreifen, weil er sie „ohnehin hinzunehmen hatte“ (vgl. schon Zitelmann, Rechtsgeschäfte II [1890], 17). Die Bindung an den objektiven Erklärungssinn ist unter dem Gesichtspunkt des Orientierungsinteresses des Empfängers unbedenklich, denn er kann sich das Bestehen der Bindung jederzeit aus den Umständen erschließen.

II. Argumente gegen die Geltung des Ergebnisses der normativen Auslegung

227

d) Zwischenergebnis Der Reurechtsausschluss durch natürliche Auslegung ist somit, wenn es denn rich­ tig sein sollte, dem Erklärenden eine latente Bindung an seinen Willen aufzuerle­ gen, zur Erreichung dieses Ziels weder notwendig noch zweckmäßig. Notwendig ist er nicht, weil hierfür der allgemeine Reurechtsausschluss zur Verfügung steht, und zweckmäßig ist er nicht, weil von ihm eine mit der Idee des Reurechtsausschlusses nicht begründbare Bindung des Empfängers an sein anfängliches Verständnis aus­ ginge, die den Empfänger nur überraschen kann.

5. Der Vorwurf des beidseitig unrichtigen Sprachgebrauchs (Bailas) Eine eigenartige Begründung für die Unmaßgeblichkeit des normativen Ausle­ gungsergebnisses bei beidseitigem Irrtum entwickelt Bailas203 am Beispiel eines inkongruenten Doppelirrtums bei Vertragsschluss. Sein Beispiel: Der Antragende meint 800, sagt aber 500, und der Empfänger, der 300 versteht, erklärt pauschal die Annahme. Die richtige Lösung dieses Falles ergebe sich, wenn der Fall als Konflikt aus der Sicht des Rechtsstreits betrachtet werde. Bailas setzt hierfür den Fall so, dass im Prozess „jede Partei behauptet, verbindlicher Inhalt des Vertrages sei das, was sie gemeint hat“204. In diesem Fall sei keine der Parteien mit ihrer Behauptung im Recht, der verbindliche Inhalt des Vertrages stimme mit dem von ihr gemeinten Inhalt überein. Beiden Parteien sei der „Vorwurf des unrichtigen oder unzutreffen­ den Sprachgebrauchs“205 zu machen, der den Richter dazu berechtigte „die Behaup­ tung der Partei zurückzuweisen, und das heißt, zu entscheiden, daß der Vertrag nicht geschlossen wurde“206. Bailas Ausführungen, denen Kramer 207 ausdrücklich zustimmt, leuchten nicht ein. Gegen die Beurteilung eines Rechtsproblems aus der Perspektive eines Rechts­ streits ist zwar nichts einzuwenden. Es wird aber schon nicht klar, was sich Bailas im konkreten Fall davon verspricht. Spezifisch prozessuale Gesichtspunkte (z. B. Beweislastverteilung oder Verfahrensfragen) spielen in seinen Überlegungen gar keine Rolle. Die Prozessperspektive gibt ihm lediglich Gelegenheit, den Parteien ein rechtsirriges Vorgehen zu unterstellen: Sie bestehen nach Bailas Fallsetzung auf der Geltung des jeweils ursprünglich von ihnen Gemeinten, obwohl sie ihrem Vor­ gehen den normativ bestimmten Vertragsinhalt zugrundelegen müssten, wenn die 203 

Problem (1962), 20 f. Bailas, Problem (1962), 20. 205  Bailas, Problem (1962), 21. Da Bailas nicht nur das Sprechen, sondern auch das Verstehen der Sprache als Sprachgebrauch begreift, erfassen seine Überlegungen auch das einseitige Rechts­ geschäft, das außerhalb seines Untersuchungsgegenstands liegt. 206  Bailas, Problem (1962), 21. 207  MünchKommBGB (2006), §  155 Rn.  13 mit Fn.  40. 204 

228

§  9 Die teleologischen Argumente der dualistischen Lehre

normative Auslegungsmethode gelten würde – und deren Geltung müsste Bailas schon unterstellen, wenn sein Gedankengang tatsächlich (etwa im Sinne eines argumentum ad absurdum) der Überprüfung dieser Methode dienen soll. Niemand hat je behauptet, beim inkongruenten Doppelirrtum gelte der Vertrag im Sinne des inne­ ren Verständnisses eines der Beteiligten. Dass keine der Prozessparteien mit ihrer irrigen Rechtsauffassung durchdringen würde, ist somit kein Beleg für die Unmaß­ geblichkeit des normativ ermittelten Rechtsgeschäftsinhalts. Obendrein beurteilt Bailas die prozessualen Folgen im von ihm gebildeten Bei­ spiel falsch. Klagt der Kläger auf Zahlung von 800 in der Überzeugung, dies sei der Vertragsinhalt, und tritt der Beklagte dem entgegen, weil er 300 für das richtige Auslegungsergebnis hält, so wäre der Richter bei Geltung der normativen Methode nicht gehindert, trotzdem von 500 auszugehen und der Klage in dieser Höhe statt­ zugeben, wenn von einer Seite vorgetragen wurde, was objektiv gesagt wurde. Ge­ rade das von Bailas besprochene Beispiel demonstriert deutlich, dass die Divergenz der prozessual unmaßgeblichen Rechtsmeinungen der Parteien über den Vertragsin­ halt dem Richter nicht das Recht zur vollständigen Klagabweisung gibt. Nur falls der Kläger infolge seines Rechtsirrtums über die Auslegung nicht nur zu viel, son­ dern ein Aliud geltend macht208, wäre die Klage vollständig abzuweisen – dies aber allein aufgrund der prozessualen Beschränkung der Entscheidungskompetenz des Gerichts auf den gestellten Klageantrag (§  308 I 1 ZPO, ne ultra petita) und nicht in „feststellender“ Negation des Vertragsschlusses.209 Das Argument des fehlerhaften Sprachgebrauchs, das Bailas glaubt aus der Pro­ zessperspektive gewinnen zu können, führt somit keinen Schritt weiter. Fehlerhaft ist der Sprachgebrauch, weil das innere Verständnis mit dem objektiv Erklärten nicht übereinstimmt. Die einleuchtende Konsequenz der Unrichtigkeit des Sprach­ gebrauchs liegt darin, dass der Vertrag nicht im Sinne der nicht zum Ausdruck ge­ brachten inneren Verständnisse der Beteiligten gilt. Für die ganz andere, von Bailas eigentlich untersuchte Frage, ob und warum der Vertrag nicht im Sinne des durch die Äußerungen der Parteien zum Ausdruck gekommenen objektiv Erklärten gelten sollte, gibt dies nichts her.

208  Beispiel: Der Kläger meinte 100.000 Blatt Papier im Format DIN-A5, sagte aber objektiv DIN-A4 und der Empfänger verstand DIN-A3. Der Kläger klagt jetzt auf Übergabe und Übereig­ nung von 100.000 Blatt Papier im Format DIN-A5. 209  Vgl. die Kritik an Bailas von Frotz, Verkehrsschutz (1972), 422 in Fn.  1018, dessen Argu­ mentation allerdings nicht so recht zu Bailas Beispielsfall passt, in dem eine vollständige Klagab­ weisung allenfalls in dem unwahrscheinlichen Fall in Betracht käme, dass keine der Parteien etwas zu den für die normative Auslegung relevanten Tatsachen vorträgt.

III. Ergebnis

229

III. Ergebnis Keines der von der dualistischen Lehre vorgebrachten teleologischen Argumente überzeugt. Sowohl die Argumente für die Geltung des natürlichen Auslegungser­ gebnisses als auch die Argumente gegen die Geltung des normativen Auslegungser­ gebnisses erweisen sich in den methodenrelevanten Zufallsfällen als problematisch, da ihnen ein in temporaler und personeller Hinsicht stark verkürztes Verständnis von Funktion und Schutzzweck des objektiven Tatbestands der empfangsbedürfti­ gen Willenserklärung zugrundeliegt.

§  10 Die systematischen Argumente der dualistischen Lehre Nach den teleologischen Argumenten sollen nunmehr die systematischen Argu­ mente untersucht werden, auf die sich die Lehre von der natürlichen Auslegung stützt. Die Dualisten begründen die Durchbrechungen der normativen Auslegungs­ methode mit den in den §§  116 S.  2, 117 I und II, 122 II, 133, 155, 157 BGB getroffe­ nen Regelungen. Die Geltung des Satzes falsa demonstratio non nocet mit seinem die natürliche Auslegung bezeichnenden Gehalt lasse sich diesen Vorschriften „mit großer Deutlichkeit“1 entnehmen.

I. §  116 S.  2 BGB Die Richtigkeit der natürlichen Auslegungsmethode soll sich nach verbreiteter Auf­ fassung aus §  116 S.  2 BGB ergeben.2 Das Gesetz erklärt in §  116 S.  1 BGB den inneren Vorbehalt des Erklärenden für unbeachtlich, das Erklärte nicht zu wollen, macht jedoch in §  116 S.  2 BGB eine Ausnahme, falls der Empfänger den Vorbehalt kennt.

1  Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  13 bezüglich §§  116 S.  2 , 117 I und II, 122 II BGB. Ebenso C. Picker, Jura 2012, 560 (562). 2  Auf §  116 S.  2 BGB beziehen sich Jacobi, Theorie (1910), 37; Babich, Einfluß (1934), 20 (nur zur mehrdeutigen Erklärung); Lüderitz, Auslegung (1966), 231; Kellmann, JuS 1971, 609 (612); Reinicke, JA 1980, 455 (457, 458, 459); Foer, Regel (1987), 32; Martinek, JuS 1997, 136 (139 [Stud. L.]); Schermaier, in: HKK‑BGB (2003), §§  116–124 Rn.  36; Biehl, JuS 2010, 195 (198); C. Picker, Jura 2012, 560 (562); Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  13; Köhler, AT (2015), §  9 Rn.  13. Eine Parallele zwischen natürlicher Auslegung und §  116 S.  2 BGB ziehen auch Ellenberger, in: Palandt (2016), Vor §  116 Rn.  5; Leenen, AT (2015), §  6 Rn.  91; Schiemann, in: Staudinger-Eckpfeiler (2014), C Rn.  200; Thomale, Leistung (2012), 86. A. A. Martinek, JuS 1997, 136 (139 [Prof.]): §  116 S.  2 BGB ordne „nicht die Geltung einer gewillkürten Rechtsfolge, sondern die Nichtgeltung jeder Rechtsfolge an“ und sei deshalb „wenig hilfreich, wenn es um die Begründung einer Geltung des subjektiv übereinstimmend Gewollten, aber irrtümlich Falschbezeichneten geht“. Dieser Einwand ist nicht zwingend, da die Nichtgeltung in den Fällen des §  116 S.  2 BGB immerhin mit dem Nicht­ geltungswillen des Erklärenden übereinstimmt und somit im Ergebnis auf der Linie der natürli­ chen Auslegungsmethode liegt (vgl. Leenen, AT [2015], §  6 Rn.  91). Den Methodendualismus könnte die in §  116 S.  2 BGB vorgesehene Nichtigkeit zudem insofern bestätigen, als daraus eine Rechtfertigung für die Unmaßgeblichkeit des normativen Auslegungsergebnisses in bestimmten Fällen folgen könnte (vgl. die in §  9 II behandelten teleologischen Argumente gleicher Stoßrich­ tung), von der auch die dualistische Lehre ausgeht.

I. §  116 S.  2 BGB

231

1. Reinickes Erst-recht-Schluss Inwiefern §  116 S.  2 BGB ein für die Methodenfrage relevanter bestätigender Gehalt entnommen werden kann, wird meist nicht näher ausgeführt. Reinicke, der zunächst zutreffend die Zufälligkeit der Verständnisübereinstimmung als das entscheidende Merkmal der methodenrelevanten Fälle identifiziert, stützt sich insoweit auf einen Erst-recht-Schluss: „Erkennt nun der Empfänger trotz dieser Bemühung des Erklärenden [den wahren Willen zu verheimlichen] – also durch Zufall – den Vorbehalt, so kommt gem. §  116 S.  2 der reale innere Wille des Erklärenden zur Geltung. Kommt aber der vom Empfänger zufällig er­ kannte wirkliche Wille des Erklärenden selbst dann zur Geltung, wenn der Erklärende über diesen Willen täuschen will, dann muß der vom Empfänger zufällig erkannte wahre Wille des Erklärenden erst recht zur Geltung kommen, wenn es dem Erklärenden nur irr­ tümlich nicht gelungen ist, diesen Willen objektiv-normativ zum Ausdruck zu bringen.“3

Reineckes Erst-recht-Schluss baut auf der Prämisse auf, §  116 S.  2 BGB und die na­ türliche Auslegungsmethode beträfen gleichermaßen Fälle, in denen die Verständ­ nisse der Beteiligten zufallsbedingt übereinstimmen, mit dem einzigen Unter­ schied, dass der Erklärenden im einen Fall täuschen will (§  116 S.  2 BGB) und im anderen Fall irrt (natürliche Auslegung). Der Begriff „Zufall“ suggeriert indes eine Parallelität beider Fallkonstellationen, die tatsächlich nicht besteht. Die in §  116 S.  2 BGB geregelte Kenntnis des Empfängers von der Mentalreservation bezeichnet Reinicke einzig und allein deshalb als „zufällig“, weil dem Erklärenden sein Bemü­ hen misslingt, seinen inneren Vorbehalt zu verheimlichen. Gegen die Verwendung des im Gesetz ohnehin nicht verankerten Begriffs „Zufall“ zur Charakterisierung dieses Vorgangs ist zwar nichts einzuwenden.4 Doch das ausschlaggebende Zu­ fallsmoment in den methodenrelevanten Fällen der natürlichen Auslegung liegt auf einer ganz anderen Ebene. Es bezeichnet dort den Umstand, dass dem Empfänger hinreichende äußere Anhaltspunkte für den wirklichen Willen des Erklärenden feh­ len und er trotzdem („zufällig“) aufgrund eines eigenen Irrtums oder einer bloßen Vermutung vom Gewollten ausgeht.

2. Widerlegung durch Auslegung von §  116 S.  2 BGB Ein für die natürliche Auslegung tragfähiger Erst-recht-Schluss von den Rechtsfol­ gen des absichtlich unzutreffend zum Ausdruck gebrachten Willens (§  116 S.  2 BGB) auf die Rechtsfolgen des irrtümlich erklärten Willens (Auslegung) könnte aus §  116 S.  2 BGB nach dem gerade Gesagten nur folgen, falls die Willenserklärung 3 

Reinicke, JA 1980, 455 (457); zust. Foer, Regel (1987), 32. auch Prot. I (1897, 1983), 97 = Mugdan I (1899), 711, wo erläutert wird, die Erklärung sei bei §  116 S.  2 BGB „ausnahmsweise dann nichtig, wenn der Empfänger der Erklärung zufällig den Willensmangel gekannt habe“. 4  Vgl.

232

§  10 Die systematischen Argumente der dualistischen Lehre

nach dieser Vorschrift auch dann nichtig ist, wenn der Empfänger „ohne hinrei­ chenden Anhaltspunkt in den Umständen“5 von einer Mentalreservation ausgeht und damit „zufällig“ richtig liegt. Diese – von Reinicke nicht behandelte – Vorfrage lässt sich nur durch Auslegung des §  116 S.  2 BGB beantworten. M.E. ist die Norm in diesem wohl ausschließlich theoretisch interessanten Fall6 mit Blick auf Wortlaut und Telos im Ergebnis nicht anwendbar.7 a) Wortlaut: Keine „Kenntnis“ im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs in den Zufallsfällen §  116 S.  2 BGB greift nur ein, wenn der Empfänger den inneren Vorbehalt „kennt“. Ob der Empfänger in einem Fall, in dem er ohne äußere Anhaltspunkte irrtums­ bedingt von einer Mentalreservation ausgeht, auch „Kenntnis“ vom Vorbehalt hat, ist aber durchaus zweifelhaft. In der Diskussion über die natürliche Auslegungs­ methode ist zwar ebenfalls der Sprachgebrauch verbreitet, in den methodenrele­ vanten Zufallsfällen (er)kenne8 der Empfänger den Irrtum des Erklärenden oder wisse9 davon. Dies ist aber mit dem üblichen Sprachgebrauch kaum in Einklang zu bringen.10 „Kenntnis“ ist im allgemeinen und auch im juristischen Sprachgebrauch ein Sy­ nonym für „Wissen“.11 Nach der klassischen, bereits von Platon im Theaitetos-Di­ alog diskutierten Definition ist Wissen eine „mit ihrer Erklärung verbundene rich­ tige Vorstellung“12 bzw. kürzer: eine wahre und gerechtfertigte Überzeugung.13 Von Interesse ist im vorliegenden Zusammenhang das Rechtfertigungselement, das 5 

Rhode, Willenserklärung (1938), 79. Rhode, Willenserklärung (1938), 79 bildet den Fall, dass der Vermieter unter dem inneren Vorbehalt kündigt, die Kündigung nicht zu wollen, und eine Kartenleserin, der der Mieter vorbe­ haltlos vertraut, den Vorbehalt errät und dies dem Mieter mitteilt. 7  So auch i. E. Rhode, Willenserklärung (1938), 79 f. 8  Leenen, AT (2015), §   5 Rn.  54; Bergermann, RNotZ 2002, 557 (558); Schimmel, JA 1998, 979 (983); Wilhelm, Anfechtung (1990), 96; Baeck, Scheingeschäft (1988), 66, 157; Singer, Selbst­ bestimmung (1995), 149; Wieling, Jura 1979, 524 (526); Kramer, Grundfragen (1972), 127; Wieling, AcP 172 (1972), 297 (300); Manigk, JherJb 75 (1925), 127 (215). 9  Leenen, AT (2015), §  5 Rn.  54; Wilhelm, Anfechtung (1990), 106. 10  A. A. Rhode, Willenserklärung (1938), 77, der das „zufällige Verstehen“ offenbar bei wört­ licher Anwendung der Vorschrift ohne weiteres für erfasst hält. 11 Vgl. Fatemi, NJOZ 2010, 2637 (2640); Bruns, Voraussetzungen (2007), 14; Buck, Wissen (2001), 47 bei und in Fn.  1, die allesamt „Wissen“ und „Kenntnis“ als Synonyme einstufen, auch soweit diese Begriffe durch das Gesetz verwendet werden. 12  Platon, Werke VI, Theaitetos (2011), 201d–206b (Hervorhebung hinzugefügt), wo diese De­ finition allerdings wieder verworfen wird. 13 Hierzu Brendel, Wissen (2013), 28 ff., die drei Bedingungen der klassischen Wissensdefini­ tion unterscheidet: (1) Überzeugtsein, (2) Wahrheit, (3) epistemische Rechtfertigung. In der philo­ sophischen Erkenntnistheorie ist diese Definition zwar bis heute umstritten, allerdings vornehm­ lich im Hinblick darauf, dass diese Definition in einigen theoretischen Fällen trotz eines Zufalls­ moments von Wissen ausgeht (sog. Gettier-Problem, hierzu Brendel, a. a. O., 36–52). 6 

I. §  116 S.  2 BGB

233

in juristischen Auseinandersetzungen mit dem Wissensbegriff bislang kaum Auf­ merksamkeit erfahren hat14. Wissen ist, wie es in einer erkenntnistheoretischen Abhandlung zum Wissensbegriff heißt, nämlich „nur dann gegeben, wenn das Wissenssubjekt nicht bloß zufälligerweise eine wahre Über­ zeugung besitzt. Eine Person, die das Wahre nur erraten hat oder die auf der Basis eines unzuverlässigen Meinungsbildungsprozesses zu einer wahren Überzeugung gelangt, be­ sitzt kein Wissen.“15

Gemessen hieran hat der Empfänger bei lediglich zufällig zutreffender Überzeu­ gung von einer Mentalreservation kein Wissen bzw. keine Kenntnis. Er hat zwar eine wahre Überzeugung, weil sich seine Auffassung vom wirklichen Willen des Erklärenden mit der Wirklichkeit deckt. Er „kennt“ den wahren Willen des Erklä­ renden aber ebenso wenig wie der Roulettespieler, der zufällig auf die richtige Zahl tippt.16 In solchen Zufallsfällen trotzdem von „Kenntnis“ zu sprechen, führt gera­ dewegs zu dem paradoxen Sprachgebrauch, die Mentalreservation sei dem Empfän­ ger bekannt, obwohl sie für ihn nicht erkennbar ist.17 b) Telos: Schutzbedürftigkeit des Empfängers im Entdeckungsszenario Der allgemeine Sprachgebrauch ist freilich nur ein erster Anhaltspunkt für die Aus­ legung der „Kenntnis“ in §  116 S.  2 BGB. Es scheint nicht von vornherein ausge­ schlossen, „Kenntnis“ in einem sehr weiten Sinne auszulegen, der auf das Rechtfer­ tigungselement verzichtet, falls dies aus teleologischen Gründen überzeugt.18 Nach Sinn und Zweck erweist sich das Rechtfertigungselement jedoch als unverzichtbar: 14  Vgl. Prot. III (1899, 1983), 86 = Mugdan III (1899), 547: „Das ‚Kennen‘ bedeutet hier wie an anderen Stellen des Entw. soviel wie ‚für wahr halten‘.“ Auch die Wissensdefinition von v. Tuhr, AT II/1 (1914, 1957), 127 reduziert Wissen auf eine irgendwie verursachte wahre Vorstellung: „Das Wissen ist eine durch äußere Ereignisse (Sinneseindrücke) oder durch geistige Vorgänge (Schlussfolgerungen) hergestellte, der Wirklichkeit entsprechende Vorstellung einer Tatsache.“ Medicus, Karlsruher Forum 1994, 4 (5 f.) nimmt bei seiner Kritik an v. Tuhrs Definition keinen Anstoß daran, dass sie auch auf Irrtümern und Fehlschlüssen beruhende, zufällig zutreffende Vor­ stellungen als „Wissen“ erfasst. Auch bei Fatemi, NJOZ 2010, 2637 ff. und Buck, Wissen (2001), 47 ff. bleibt dieser Aspekt unerwähnt. Siehe auch Sallawitz, Gleichstellung (1973), 50, der „Kennt­ nis“ als „Übereinstimmung der subjektiven Vorstellung mit dem objektiv Gegebenen“ definiert. Ansatzweise Bruns, Voraussetzungen (2007), 17: Der Unterschied zwischen „Wissen“ und „Mei­ nen“ liege darin, dass ersteres sich „immer auf objektive Umstände stützt“. 15  Brendel, Wissen (2013), 12 (Hervorhebung übernommen). Ähnlich auch die Ausführungen von Beckermann, ZphF 55 (2001), 571 (572) zur Begriffsexplikation von „Wissen“. 16  Beispiel von Beckermann, ZphF 55 (2001), 571 (572). 17  Vgl. im Zusammenhang mit der natürlichen Auslegungsmethode Manigk, JherJb 75 (1925), 127 (215) zum Haakjöringsköd-Fall: „Auch hier fehlt Erkennbarkeit des wirklichen Willens. Aber dieser wird trotz der falsa demonstratio erkannt und bestimmt den Inhalt des zustande kommenden Vertrages.“ Auch Schlemmer, JBl 1986, 149 (154) spricht von einem erkannten Willen, der objektiv nicht erkennbar ist. 18  Abw. im Zusammenhang mit der natürlichen Auslegungsmethode Bickel, Methoden (1976), 154, der wegen der Zufälligkeit ein „Erkennen“ des vom Erklärenden Gemeinten und ein „Verste­

234

§  10 Die systematischen Argumente der dualistischen Lehre

§  116 BGB ist aufs Ganze gesehen eine dem Schutz des Empfängers verpflichtete Vorschrift. Der Empfänger muss sich die Mentalreservation nur entgegenhalten las­ sen, falls er sie tatsächlich erkennt, obwohl er sie nach den allgemeinen Grundsät­ zen (der normativen Auslegung) schon berücksichtigen müsste, wenn sie für ihn erkennbar ist.19 Der auf Privilegierung des Empfängers angelegte 116 BGB würde sich nun aber unversehens gegen ihn kehren, wenn Satz  2 auch bei einer wahren, aber objektiv haltlosen Überzeugung von der Mentalreservation eingreifen würde. Erkennt der Empfänger nämlich nachträglich, dass er objektiv nach den ihm be­ kannten Umständen keinen Anlass hatte, eine Mentalreservation anzunehmen, könnte er (mit den ihm regelmäßig nur zur Verfügung stehenden Informationen) nicht mehr sicher beurteilen, ob die Erklärung gilt oder trotzdem nichtig ist, weil der Erklärende möglicherweise zufällig tatsächlich im Verborgenen das Geschäft nicht wollte. Er wäre orientierungslos über die eigene Rechtslage. Der Erklärende hätte es dann in der Hand, ob er mit Hilfe von dem Empfänger bis dato unbekannten Um­ ständen 20 seine Mentalreservation nachweist und der Erklärung dadurch ohne Pflicht zum Vertrauensschadensersatz nach §  122 I BGB die Wirkung nimmt oder sie – wohl meist mit Erfolg – verheimlicht.21 Das Problem des Schutzes nachträglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte im Entdeckungsszenario stellt sich mit anderen Worten bei der Mentalreservation für den Empfänger22 in gleicher Weise wie in den sonstigen Fällen, in denen das hen“ des Erklärenden in den methodenrelevanten Fällen verneint und die natürliche Methode mit dieser Begründung verwirft (a. a. O. in Fn.  60). Dieser Gedankengang ist zu sehr von begrifflichen Überlegungen geprägt, zumal diese Termini im Hinblick auf die natürliche Methode (anders als bei §  116 S.  2 BGB) im Gesetz nirgendwo verankert sind. Dass in den Zufallsfällen von einem Er­ kennen des Rechtsfolgewillens schwerlich gesprochen werden kann, besagt nichts darüber, warum die zufällige Verständnisübereinstimmung, die durch die Erklärung ja immerhin „ausgelöst“ wird, nicht dieselben Rechtsfolgen haben darf. Dazu bedarf es eigenständiger teleologischer Erwä­ gungen, wie sie im 1. Abschnitt von Teil II ausgeführt wurden und an dieser Stelle auf §  116 S.  2 BGB übertragen werden. 19  Faust, AT (2016), §  20 Rn.  2; Migsch, FS Schnorr (1988), 737 f.; Henle, GgA 170 (1908), 427 (468). Insofern ungenau Leenen, FS Canaris I (2007), 699 (714): §  116 BGB entspreche den „allge­ meinen Regeln zur Auslegung von Willenserklärungen“. 20  Zur Klarstellung: Objektiv haltlos im hier gemeinten Sinne ist die Überzeugung des Emp­ fängers, wenn sich aus den ihm bekannten Umständen keine Mentalreservation ergibt. Die Exis­ tenz weiterer (dem Empfänger unbekannter) Umstände, mit denen der Erklärende seine Mentalre­ servation gegebenenfalls nachweisen und den Empfänger überraschen könnte, ist damit ohne weiteres vereinbar. 21 Vgl. Rhode, Willenserklärung (1938), 79 mit der Bemerkung, der Erklärende könne dann „auf Risiko des Empfängers einen Schwebezustand bestehen lassen, in dem praktisch der maßge­ bende Sinn der WE, Vorbehalt oder nicht, gar nicht festgestellt werden kann“. Die Möglichkeit des Empfängers, seinerseits die lediglich zufällig zutreffende Annahme der Mentalreservation zu verheimlichen, räumt diese Bedenken nicht aus. Die Bewertung der Interes­ sen des Empfängers darf nicht davon abhängen, ob er faktisch in der Lage gewesen ist, einen von der Rechtsordnung für maßgeblich gehaltenen Umstand (anfängliche zufällig zutreffende Über­ zeugung von einer Mentalreservation) zu verheimlichen (vgl. insoweit bereits oben §  6 I 4 b). 22 Soweit Rhode, Willenserklärung (1938), 80 die auch hier für richtig gehaltene enge Ausle­ gung des §  116 S.  2 BGB mit dem (Orientierungs-)‌I nteresse des Erklärenden begründet, ist dem

II. §  117 BGB

235

Verständnis der Beteiligten lediglich zufällig übereinstimmt, und ist hier im glei­ chen Sinne zu lösen. Auch wer ohne hinreichenden äußeren Anlass von einer Men­ talreservation ausgeht, muss sich nach Entdeckung der Haltlosigkeit seiner Annah­ me nach wie vor auf das ursprünglich objektiv Erklärte verlassen können. Die für die Schutzwürdigkeit des nachträglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte ange­ führten Gründe gebieten eine Auslegung des §  116 S.  2 BGB, die in Übereinstim­ mung mit dem allgemeinen Sprachgebrauch nur die aufgrund der äußeren Umstän­ de gerechtfertigte Überzeugung von einer Mentalreservation als „Kenntnis“ genü­ gen lässt, nicht aber eine irrtumsbedingte oder auf einer bloßen Vermutung beruhende („zufällige“) Vorstellung.23

II. §  117 BGB Die im Zusammenhang mit der natürlichen Auslegung wohl am häufigsten herange­ zogene Vorschrift des geschriebenen Rechts ist §  117 BGB. Absatz 1 sieht die Nich­ tigkeit einer einem anderen gegenüber abzugebenden Erklärung vor, wenn sie „mit dessen Einverständnis nur zum Schein abgegeben“ wurde. Absatz 2 bestimmt, dass auf ein durch das Scheingeschäft verdecktes Rechtsgeschäft „die für das verdeckte Rechtsgeschäft geltenden Vorschriften Anwendung“ finden. nicht zu folgen. Rhode beruft sich darauf, der Erklärende könne ansonsten „niemals wissen, ob der Empfänger den geheimen Vorbehalt erkannt hat“. An diesem Dilemma ändert sich jedoch auch dann nichts, wenn man für „Kenntnis“ im Sinne von §  116 S.  2 BGB nicht nur eine wahre Vorstel­ lung vom Vorbehalt genügen lässt, sondern kumulativ objektive Anhaltspunkte für den Empfänger verlangt, die seine Überzeugung rechtfertigen. Die Erkennbarkeit des Vorbehalts aufgrund objek­ tiver Umstände besagt nämlich nichts darüber, ob der Empfänger daraus tatsächlich die richtigen Schlüsse zieht. Da zudem der Empfänger seine aus irgendwelchen Quellen erlangte Kenntnis dem Erklärenden nicht seinerseits zu erkennen geben muss (Dilcher, in: Staudinger [1979], §  116 Rn.  9; Flad, in: Planck, BGB [1913], 271 [§  116 Anm.  4 b]), ändert die hier vertretene Auslegung des §  116 S.  2 BGB an der fehlenden Erkennbarkeit der Voraussetzungen des §  116 S.  2 BGB für den Erklärenden nichts. Die Unsicherheit für den Erklärenden ist die Reaktion des Gesetzes auf dessen Desorientierungsabsicht gegenüber dem Empfänger (dazu näher §  14 V 1 b). 23 Vgl. Boemke/Ulrici, AT (2014), §  12 Rn.  8, die dies unausgesprochen voraussetzen mit ihrer Aussage: „[Im Fall des §  116 S.  2 BGB] hat der Vorbehalt hinreichenden Ausdruck nach außen gefunden, weil der Empfänger ihn sonst nicht kennen könnte.“ Allenfalls könnte §  116 S.  2 BGB in Zufallsfällen noch nachträglich eingreifen, falls der Emp­ fänger von Umständen erfährt, die seiner fortdauernden haltlosen Überzeugung eine objektive Grundlage geben. Zwar kann normalerweise nur eine zum Zeitpunkt der erstmaligen Kenntnis­ nahme der Erklärung vorhandene Kenntnis der Mentalreservation die Wirkung des §  116 S.  2 BGB auslösen (i. E. v. Tuhr, AT II/1 [1914, 1957], 555 in Fn.  6; anders Feuerborn, in: NK‑BGB [2012], §  116 Rn.  8; Wendtland, in: Bamberger/Roth [2012], §  116 Rn.  6 und Henle, Vorstellungs- und Wil­ lenstheorie [1910], 476, die auf den Zugangszeitpunkt abstellen, zu dem der Empfänger von der Erklärung noch gar keine Kenntnis erlangt haben muss), da ansonsten bei nachträglicher Kennt­ nis­ erlangung schutzwürdiges Vertrauen des Empfängers enttäuscht würde (vgl. Migsch, FS Schnorr [1988], 737 [741]). In der hier beschriebenen Konstellation hätte indes nie schutzwürdiges Vertrauen bestanden, das durch die nachträgliche Anwendung des §  116 S.  2 BGB übergangen werden könnte, und die zukünftige Entstehung schutzwürdigen Vertrauens wäre ausgeschlossen.

236

§  10 Die systematischen Argumente der dualistischen Lehre

1. Die Regelung des §  117 I BGB über die Nichtigkeit des Scheingeschäfts bei „Einverständnis“ des Empfängers Der erste Anknüpfungspunkt der dualistischen Lehre ist die Regelung über das Scheingeschäft in §  117 I BGB. Die Nichtigkeit der zum Schein abgegebenen Wil­ lenserklärung ist dort an das „Einverständnis“ des Empfängers mit der Simulation geknüpft. Um die These überprüfen zu können, die Vorschrift bestätige als „eine Art Umkehrung des Satzes ‚falsa demonstratio non nocet‘“24 die natürliche Ausle­ gung bzw. sei eine Ausprägung dieses Auslegungsgrundsatzes25, ist zunächst zu klären, was mit dem Einverständnis im §  117 I BGB gemeint ist (dazu unter a), um sodann auf dieser Basis zu ermitteln, welche Schlussfolgerungen sich für die Aus­ legung von Willenserklärungen daraus ziehen lassen (dazu unter b). a) Die Dogmatik des Einverständnisses in der Diskussion der herrschenden Meinung Der Gewissheit, mit der §  117 I BGB heute allgemein für die natürliche Auslegungs­ methode in Anspruch genommen wird, entspricht bemerkenswerterweise keine ver­ gleichbar gefestigte Auffassung davon, was das dort genannte „Einverständnis“ überhaupt ist. In den einschlägigen Stellungnahmen treten recht unterschiedliche dogmatische Konzepte hervor, die selten klar auseinandergehalten werden. Es las­ sen sich drei verschiedene Ansätze unterscheiden, die hier von Interesse sind.

24 

Larenz, Methode (1930, 1966), 87 f. Dörner, in: HK‑BGB (2014), §  117 Rn.  1; Feuerborn, in: NK‑BGB (2012), §  117 Rn.  2; C. Picker, Jura 2012, 560 (562); Singer, in: Staudinger (2012), §  117 Rn.  1, §  133 Rn.  13; Wendtland, in: Bamberger/Roth (2012), §  117 Rn.  1; M. Wolf/‌Neuner, AT (2012), §  40 Rn.  17; Biehl, JuS 2010, 195 (198); Larenz/M. Wolf, AT (2004), §  35 Rn.  21; Schermaier, in: HKK‑BGB (2003), §  117 Rn.  4; Coester-Waltjen, Jura 1990, 360 (364); Larenz, AT (1989), 366. Ferner Köhler, AT (2015), §  9 Rn.  13, der sich allg. auf §  117 BGB bezieht. Eine Parallele ziehen auch Ellenberger, in: Palandt (2016), Vor §  116 Rn.  5; Riehm, AT (2015), Rn.  311: „gewisse Verwandtschaft“; Fezer, Klausuren­ kurs (2013), 189; Thomale, Leistung (2012), 86; Wieser, Einführung (1982), Rn.  265. Vgl. Pohl, AcP 177 (1977), 52 (64). A. A. Weiler, Willenserklärung (2002), 457 f. mit der Begründung, bei der falsa demonstratio gehe es darum, „dem übereinstimmenden rechtsgeschäftlichen Willen, der durch die Falschbezeichnung verdeckt wird, zu Geltung zu verhelfen, während es beim Scheinge­ schäft an einem solchen Rechtsgeschäftswillen gerade fehlt“. Diese Begründung überzeugt nicht, weil sie von einem zu engen Verständnis der hinter dem falsa-Satz stehenden natürlichen Ausle­ gungsmethode ausgeht. Bei der natürlichen Auslegung geht es nicht darum, den übereinstimmen­ den Willen der Beteiligten zur Geltung zu verhelfen, da es auf Seiten des Empfängers in seiner Rolle als Empfänger einen rechtlich erheblichen „Rechtsfolgewillen“ gar nicht gibt (siehe dazu bereits §  3 IV 2 b aa [2]). Es entspricht der natürlichen Auslegungsmethode durchaus, ein Verhal­ ten nicht als Willenserklärung zu werten, das die Beteiligten übereinstimmend nicht so verstanden haben (siehe dazu bereits §  4 II 2 a a. E. mit Nachw. in §  4 Fn.  56). Damit ist freilich nichts darüber gesagt, ob §  117 I BGB diese Methode bestätigt und ob sie richtig ist. 25 

II. §  117 BGB

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aa) Einverständnis als „Bewusstsein des fehlenden Willens“ (RGZ 134, 33) Anlass für grundsätzliche Erwägungen zu Rechtsnatur und Voraussetzungen des Einverständnisses waren bislang meist Mehrpersonenkonstellationen. Wenn auf Seiten des Empfängers einer Scheinerklärung mehrere Akteure involviert sind, stellt sich die Frage, inwieweit die Regelungen des Stellvertretungsrechts über die Zurechnung von Wissen oder Willensmängeln (§  166 BGB) direkt oder entspre­ chend anwendbar sind. So war etwa in RGZ 134, 33 nur eines von zwei gesamtver­ tretungsberechtigten Vorstandsmitgliedern der klagenden Wechselgläubigerin in das Simulationsvorhaben eingeweiht. Dies warf die Frage auf, ob für ein wirksames „Einverständnis“ im Sinne von §  117 I BGB auch das zweite Vorstandsmitglied hät­ te eingeweiht werden müssen. Das RG hielt dies mit folgender Begründung nicht für erforderlich: „Wenn aber die Scheinnatur des Indossaments in Frage stünde, würde schon die Kenntnis des [Vorstandsmitglieds] R. die Nichtigkeit begründen. Einverständnis im Sinne des §  117 ist keine neben der früher abgegebenen einhergehende, selbständige Willenserklärung; es müssen sich nur beide Teile dessen bewußt sein, daß jener ersten Erklärung kein Wille entsprechen soll. Dieses Umstands war sich die Klägerin aber schon dann bewußt, wenn auch nur einer ihrer Gesamtvertreter dieses Bewußtsein hatte.“26

Die dogmatische Einordnung des Einverständnisses war von ausschlaggebender Bedeutung für die vertretene Lösung. Hätte das RG das Einverständnis als eine ei­ genständige Willenserklärung eingeordnet, wäre die Anwendung der Regelungen über die aktive Gesamtvertretung unvermeidlich gewesen. Auch bei einer Einord­ nung als rechtsgeschäftsähnlicher „tatsächlicher Willensakt“ wäre zumindest deren analoge Anwendung zu erwägen gewesen. Da das RG das Einverständnis aber als bloßes „Bewusstsein“ des fehlenden Willens einstufte, ging es eher um eine Frage der Wissenszurechnung in einer Gesamtvertretungssituation.27 Dafür genügt aner­ kanntermaßen die Kenntnis eines Gesamtvertreters.28 Der BGH folgt in den Ge­ samtvertretungsfällen der Sicht des RG bis heute.29 Die „Bewusstseins-Formel“ des RG, die auch in der Lehre teilweise bis heute noch das Verständnis vom Einverständnis prägt30, erfuhr durch Kallimopoulos in 26 

RG, Urteil vom 27.10.1931, RGZ 134, 33 (37), obiter dictum. Schilken, in: Staudinger (2014), §  166 Rn.  12 a. E. 28 So bereits unmittelbar vor den hier interessierenden Ausführungen RG, Urteil vom 27.10.1931, RGZ 134, 33 (36) in Anlehnung an die entsprechende Behandlung der Passivvertretung bei Gesamtvertretern. Ferner RG, Urteil vom 31.12.1902, RGZ 53, 227 (230 f.); Urteil vom 28.1.1905, RGZ 59, 400 (408). Ebenso Wertenbruch, AT (2014), §  32 Rn.  3; Schilken, in: Staudinger (2011), §  167 Rn.  59; Voit, WuB IV A. §  166 BGB 1.99, Bl.  1270 unter I. 29  BGH, Urteil vom 1.6.1999, NJW 1999, 2882; Urteil vom 28.11.1995, NJW 1996, 663 (664). 30 Vgl. Arnold, in: Erman (2014), §   117 Rn.  7; Illmer, in: jurisPK‑BGB (2014), §  117 Rn.  17; Ahrens, in: Prütting/‌Wegen/‌Weinreich (2013), §  117 Rn.  6; Hefermehl, in: Soergel (1999), §  117 Rn.  3. Siehe bereits Hölder, BGB-Kommentar (1900), 255: mit dem Einverständnis meine „das BGB nichts anderes als die zur Zeit des Empfangs der Erklärung vorhandene Kenntniß des Ande­ ren von ihrer Eigenschaft als Scheinerklärung“. 27 Vgl.

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§  10 Die systematischen Argumente der dualistischen Lehre

seiner viel beachteten Arbeit über die „Simulation im bürgerlichen Recht“ scharfe Kritik. Kallimopoulos monierte, durch die Bewusstseins-Formel werde „die bloße Kenntnis dem Einverständnis gleichgestellt, und zwar ohne teleologische Begrün­ dung“31. Das Gesetz verlange seinem „eindeutigen“32 Wortlaut nach mit dem Ein­ verständnis über die bloße Kenntnis hinaus auch eine „Billigung der Simulationsab­ sicht“33 seitens des Erklärungsempfängers.34 Die Bewusstseins-Formel führe zu­ dem zu einer „Verschmelzung der Anwendungsvoraussetzungen“35 von §  116 S.  2 BGB und §  117 I BGB, da dann in beiden Fällen die bloße Kenntnis zur Tatbe­stands­ erfüllung genüge.36 Die Kritik kann noch ergänzt werden um den Hinweis, dass auch die Materialien die „Kenntnis [der] Simulationsabsicht und das Einverständnis mit ihr“37 durchaus voneinander unterscheiden und beide Momente für erforderlich halten für ein gelungenes Scheingeschäft. Das Einverständnis setzt Kenntnis vom Simulationswillen voraus, ist mit ihr aber nicht identisch. bb) Einverständnis als „innere Willensübereinstimmung“ (BGHZ 144, 331) In zwei jüngeren Entscheidungen zu gestörten Unterverbriefungsabreden ging auch der BGH38 von einem anderen dogmatischen Grundverständnis des Einverständ­ nisses aus, freilich ohne sich in diesem Punkt explizit von RGZ 134, 33 zu distan­ zieren. Im Leitfall BGHZ 144, 331 hatten die Kläger in einem notariell beurkundeten Vertrag ihre Käuferrechte aus einem Grundstückskaufvertrag mit einem Dritten an die Beklagten weiterverkauft und abgetreten. Die Kläger verlangten Rückabtretung u. a. mit der Begründung, in dem Vertrag mit den Beklagten seien statt des beurkun­ deten Kaufpreises von „43 200 DM“ tatsächlich „385 000 DM“ vereinbart worden. Solche meist zur Steuerhinterziehung39 und Umgehung von Notargebühren getrof­ Nur vordergründig in diesem Sinne Singer, in: Staudinger (2012), §  117 Rn.  7, der das bloße Bewusstsein nur deshalb genügen lässt, weil „hier typischerweise anzunehmen ist, die Parteien seien sich über den Simulationscharakter einig“ (krit. zu dieser Vermutung v. Hein, ZIP 2005, 191 [193]). Damit verlangt auch Singer i. E. die Billigung, deren Fehlen durchschlägt, wenn die Vermu­ tung einmal nicht begründet ist (so denn auch Singer, LM Nr.  20 zu §  117 BGB [2001], Bl.  2 Rs). 31  Kallimopoulos, Simulation (1966), 40. 32  Kallimopoulos, Simulation (1966), 40. 33  Kallimopoulos, Simulation (1966), 42. 34  So auch Kramer, in: MünchKommBGB (2006), §  117 Rn.  9 (Konsens über die Simulation); v. Hein, ZIP 2005, 191 (193); Singer, LM Nr.  20 zu §  117 BGB (2001), Bl.  2 Rs. 35  Kallimopoulos, Simulation (1966), 40. 36 Ebenso v. Hein, ZIP 2005, 191 (193); Baeck, Scheingeschäft (1988), 54, 56; Trüter, Schein­ geschäfte (1987), 57. 37  Mot. I (1888, 2000), 193 f. = Mugdan I (1899), 459. Ebenso Denkschrift BGB, in: Entwurf (1896, 1997), 21 = Mugdan I (1899), 833. 38  Urteil vom 26.5.2000, BGHZ 144, 331; Urteil vom 7.12.2000, NJW 2001, 1062. 39  Im konkreten Fall ging es in erster Linie um die Hinterziehung der Steuern, die gem. §  23 I S.  1 Nr.  1 EStG auf Gewinne aus der Weiterveräußerung von Grundstücken innerhalb der Speku­ lationsfrist anfallen.

II. §  117 BGB

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fenen Unterverbriefungsabreden führen normalerweise zur Nichtigkeit des Vertra­ ges, da der simulierte Geschäftsinhalt (43 200 DM) nur zum Schein erklärt (§  117 I BGB) und der in Wahrheit vereinbarte Kaufpreis (385 000 DM) nicht beurkundet ist (§  311b I 1 BGB i. V. m. §  125 S.  1 BGB).40 Die Besonderheit dieses Falles lag nun aber darin, dass die Kläger die Unterverbriefung nicht mit den Beklagten selbst, sondern im Vorfeld der Beurkundung mit dem Ehemann der Beklagten zu 1 verab­ redet hatten, der die Verhandlungen geführt hatte, am Vertragsabschluss im Beur­ kundungstermin aber nicht beteiligt war. Die Beklagten beriefen sich unwiderlegt darauf, von ihrem Verhandlungsgehilfen über die Unterverbriefungsabrede nicht informiert worden zu sein. Die entscheidende Frage im Hinblick auf §  117 I BGB lautete auch hier, ob das notwendige Einverständnis vorlag. Innerlich einverstanden zum Zeitpunkt der Be­ urkundung waren die ahnungslosen Beklagten nicht. Die Kläger verwiesen insoweit jedoch durchaus erfolgversprechend auf die vorhandenen Kenntnisse des Ehemanns der Beklagten zu 1. Grundsätzlich muss sich ein Geschäftsherr entsprechend §  166 I BGB auch das Wissen seiner Verhandlungsgehilfen als Wissensvertreter zurech­ nen lassen, soweit es auf die rechtlichen Folgen dieses Wissens ankommt.41 Auf Basis der Bewusstseins-Formel des RG wären die Beklagten dann womöglich so zu behandeln gewesen, als sei auch ihnen hinsichtlich des beurkundeten Kaufpreises der fehlende Rechtsfolgewille der Kläger bekannt gewesen.42 Der BGH kam jedoch zu einem anderen Ergebnis, weil er nunmehr für das Einverständnis einen „tatsäch­ lichen Konsens über die Simulation“43 verlangte, den er wie folgt näher umschrieb und begründete: „Es geht im vorliegenden Zusammenhang nicht um eine Wissenszurechnung, sondern um das bei Geschäftsabschluss unter den Beteiligten notwendige Einverständnis, nur den äu­ ßeren Schein eines Rechtsgeschäfts hervorzurufen, dessen Rechtswirkungen aber nicht eintreten lassen zu wollen. Diese Willensübereinstimmung, die hinter der zum Schein abgegebenen Erklärung steht, ist ihrerseits nicht eine selbstständige rechtsgeschäftliche Willenserklärung, die einer Auslegung zugänglich wäre, sondern gehört zum Tatbestand des Scheingeschäfts. Für den Fall einer vom objektiven Erklärungsinhalt abweichenden Willensübereinstimmung, die der Auslegung vorgeht, hat der Senat bereits entschieden, dass das Verständnis des Verhandlungsbevollmächtigten nur insoweit von Bedeutung sein könne, als die abschließende Vertragspartei diese Vorstellungen selbst kannte. Nicht an­ ders ist der vorliegende Fall zu beurteilen. Auch insoweit geht es um eine Willensüberein­ stimmung, nämlich zum Abschluss eines Scheingeschäfts. Dieser Wille muss bei den ab­ schließenden Vertragsparteien vorhanden sein und nur aus ihm ergibt sich wertungsmäßig die vom Gesetz festgelegte Nichtigkeitsfolge, weil eine Erklärung keine rechtsgeschäftli­ chen Folgen haben kann, die die Handelnden übereinstimmend nicht wollen. Insoweit wird §  117 I BGB auch als Konkretisierung der negativen Kehrseite der Privatautonomie 40 

BGH, Urteil vom 11.11.1983, BGHZ 89, 41 (43); Faust, AT (2016), §  20 Rn.  3. Urteil vom 25.3.1983, BGHZ 83, 293 (296); Schilken, in: Staudinger (2014), §  166 Rn.  4 f. 42  Koos, WuB IV A. §  117 BGB 1.01, Bl.  1059; Schöpflin, JA 2001, 1 (3). 43  BGH, Urteil vom 26.5.2000, BGHZ 144, 331 (332). 41 BGH,

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§  10 Die systematischen Argumente der dualistischen Lehre

bezeichnet. Daraus folgt, dass die notwendige Willensübereinstimmung nicht über eine Wissenszurechnung ersetzt werden kann.“44

Einer Lösung des Falles mittels der Wissenszurechnung im Rahmen des Tatbe­ stands des §  117 BGB war dadurch der Weg versperrt, dass der BGH für das Einver­ ständnis – entsprechend der Kritik von Kallimopoulos an der Bewusstseinsformel – nicht nur ein Bewusstsein des Simulationswillens, sondern auch einen eigenen billigenden Willen des Erklärungsempfängers verlangt. Die Zurechnung eines fremden Willens als Wille des Geschäftsherrn ist über die Grundsätze der Wissens­ zurechnung nicht begründbar.45 Für die hier untersuchte auslegungsmethodische Fragestellung sind die Ausfüh­ rungen des BGH von großem Interesse. Der BGH bedient sich nicht nur der von der natürlichen Auslegung her bekannten Formulierung von der „Willensübereinstim­ mung“46. Er nimmt sogar explizit auf seine Rechtsprechung zur „vom objektiven Erklärungsinhalt abweichenden Willensübereinstimmung“ Bezug47 und lässt da­ bei keinen Raum für Zweifel, ob damit eine Übereinstimmung der inneren Willen oder der nach normativen Gesichtspunkten objektiv erklärten Willen gemeint ist. Die Willensübereinstimmung soll als subjektives Tatbestandsmerkmal des Schein­ geschäfts48 explizit einer „Auslegung“ nicht zugänglich sein, womit nur eine Zu­ rückweisung jeglicher Versuche einer objektiv-normativen Auslegung gemeint sein kann, weil die natürliche Auslegung bereits in der vom BGH für das Einverständnis geforderten Willensübereinstimmung aufgeht. Ins Auge fällt auch die Bemerkung des BGH, die geforderte Willensübereinstim­ mung sei Ausdruck der durch §  117 I BGB konkretisierten negativen Kehrseite der Privatautonomie der Parteien. Diese ebenfalls auf Kallimopoulos49 zurückgehende Sichtweise des §  117 I BGB, die heute allgemein anerkannt ist50, legt den Schluss nahe, die Übereinstimmung der inneren Willen müsse ganz allgemein – sei es mit positivem oder negativem Inhalt – den Ausschlag geben. Denn warum sollte für die 44 

BGH, Urteil vom 26.5.2000, BGHZ 144, 331 (333 f.) (um Nachw. gekürzt). Schilken, in: Staudinger (2014), §  166 Rn.  12; Singer, in: Staudinger (2012), §  117 Rn.  9. Zur Bedeutung der Wissenszurechnung in diesem Fall siehe noch Fn.  103. 46 Auf die Übereinstimmung der Willen stellen auch ab BGH, Urteil vom 20.5.2011, NJW 2011, 2785 Tz.  6; Urteil vom 5.7.2002, NJW‑RR 2002, 1527; Urteil vom 7.12.2000, NJW 2001, 1062. 47  Unter Hinweis auf BGH, Urteil vom 21.2.1986, NJW‑RR 1986, 1019 (1020). Auch Wieser, Einführung (1982), Rn.  265 zieht – ohne die problematische Redeweise von der Willensüberein­ stimmung (dazu bereits §  3 IV 2 b aa [2] und [3]) – die Parallele zwischen dem übereinstimmenden Parteiwillen im Rahmen von §  117 I BGB, der auf Ausschluss der Erklärungsgeltung gerichtet ist, und der natürlichen Auslegung nach den übereinstimmenden Verständnis. 48  So auch Preuß, Jura 2002, 815 (819). 49  Kallimopoulos, Simulation (1966), 21–24 (allg. Grundlegung), 45 (konkret zum Einver­ ständnis). 50  Auf die negative Privatautonomie wird die geforderte Willensübereinstimmung auch zu­ rückgeführt von Armbrüster, in: MünchKommBGB (2015), §  117 Rn.  1, 8; Singer, in: Staudinger (2012), §  117 Rn.  7; Baeck, Scheingeschäft (1988), 57. Allg. zur negativen Privatautonomie als Grundgedanke des §  117 I BGB auch Kuhn, AcP 208 (2008), 102 (105). 45 

II. §  117 BGB

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positive Seite der Privatautonomie etwas anderes gelten als für die negative?51 Zu­ mindest auf den ersten Blick ist die Auslegung des „Einverständnisses“ als innere Willensübereinstimmung und ihre Begründung durch den BGH also Wasser auf die Mühlen der Anhänger der natürlichen Auslegung, die auf diese Willensüberein­ stimmung abstellen wollen. cc) Einverständnis als „rechtsgeschäftsähnliche Simulationsabrede“ Vor allem in der jüngeren Literatur wird noch eine dritte Interpretation des Ein­ verständnisses vertreten. Danach soll eine „Simulationsabrede“ oder „Simulations­ vereinbarung“ der Beteiligten erforderlich sein.52 Bloße „Parallelität der Partei­ vorstellungen“ genüge nicht.53 Das Einverständnis nähert sich dadurch einer ver­ traglichen Einigung (über den Simulationscharakter) an, wenngleich von den Anhängern dieser Lehre betont wird, es handle sich um eine rein tatsächliche und keine rechtsgeschäftliche Einigung54. Der Vorschlag v. Tuhrs55, das Einverständ­ nis als eine rechtsgeschäftliche Aufhebungsvereinbarung zu qualifizieren, mit der die Beteiligten antizipiert die Rechtsfolgen des Scheingeschäfts aufheben (antizi­ pierter Konträrakt), wird allgemein abgelehnt, weil es nichts aufzuheben gebe, wenn die Parteien von Anfang an gar keine Rechtsfolgen in Geltung setzen woll­ ten.56 Die Simulationsabrede soll aber immerhin „rechtsgeschäftsähnlich“ sein.57 Für die Rechtsgeschäftsähnlichkeit wird die schon vom BGH in BGHZ 144, 331 51 Vgl. Singer, in: Staudinger (2012), §  117 Rn.  1: „§  117 I ist Ausdruck des allgemeinen Grund­ satzes, dass es bei der Auslegung von Willenserklärungen primär auf den übereinstimmenden Willen ankommt und sich dieser auch gegenüber einer abweichenden objektiven Bedeutung der Erklärung behauptet. Indem das Gesetz die simulierte Erklärung für nichtig erklärt, trägt es der Privatautonomie in negativer Hinsicht Rechnung.“; Wieser, Einführung (1982), Rn.  265. 52  Bork, AT (2016), Rn.   801; Bitter, AT (2013), §  7 Rn.  44; Kramer, in: MünchKommBGB (2006), §  117 Rn.  8; v. Hein, ZIP 2005, 191 (197); Weiler, Willenserklärung (2002), 459 (Nichtgel­ tung wird „vereinbart“); Baeck, Scheingeschäft (1988), 54 ff. (Einverständnis als Einigung). Im älteren Schrifttum bereits Fuchs, Scheinhändel (1918), 195. Auch der BGH spricht gelegentlich von „Simulationsvereinbarung“ (Urteil vom 1.6.1999, NJW 1999, 2882) bzw. „Simulationsabrede“ (Urteil vom 28.11.1995, NJW 1996, 663 [664]). Er lässt hierfür aber der Sache nach das Bewusst­ sein des Empfängers vom fehlenden Willen genügen und geht ersichtlich nicht von einer Rechtsge­ schäftsähnlichkeit aus. A. A. Armbrüster, in: MünchKommBGB (2015), §  117 Rn.  8, der eine Si­ mulationsabrede ablehnt, sich dabei aber nur gegen die Annahme einer „rechtsgeschäftlichen“ Simulationsabrede wendet. 53  Bork, AT (2016), Rn.  801. 54 Siehe Bitter, AT (2013), §  7 Rn.  4 4; Weiler, Willenserklärung (2002), 459; Baeck, Scheinge­ schäft (1988), 60 f.: „Einigung tatsächlicher Art“. 55  v. Tuhr, AT II/1 (1914, 1957), 564. Ihm folgend Wacke, FS Medicus (1999), 651 (658 ff.), der von antizipierten Konträrakten spricht und seine Begründung vornehmlich auf die Formbedürftig­ keit der von ihm betrachteten Geschäfte stützt. 56  Singer, in: Staudinger (2012), §   117 Rn.  1; Kramer, in: MünchKommBGB (2006), §  117 Rn.  11 in Fn.  33; v. Hein, ZIP 2005, 191 (196); Baeck, Scheingeschäft (1988), 53 f. (unvereinbar mit den Absichten der Parteien), 61; Kallimopoulos, Simulation (1966), 40 f. mit weiteren Argumenten. Ohne Bezug auf v. Tuhr auch Koos, WuB IV A. §  117 BGB 1.01, Bl.  1060 a. E. 57  Kramer, in: MünchKommBGB (2006), §   117 Rn.  11; v. Hein, ZIP 2005, 191 (197); Koos,

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§  10 Die systematischen Argumente der dualistischen Lehre

bemühte negative Kehrseite der Privatautonomie als Grundgedanke des §  117 I BGB herangezogen. So lehrt etwa Kramer, die Simulationsabrede sei „ein Akt ne­ gativer Privatautonomie […] (Ausschluss der Geltungswirkung der Erklärung)“ und habe „damit zumindest rechtsgeschäftsähnlichen Charakter“58. Dogmatisch soll sich die Rechtsgeschäftsähnlichkeit außer in der hier nicht inte­ ressierenden Anwendung der Regeln über die aktive Stellvertretung59 auch in be­ sonderen Anforderungen an das Einverständnis niederschlagen. Für eine Simulati­ onsabrede genüge nicht die bloße innere Billigung durch den Empfänger, sondern es müsse auch eine Kundgabe der Billigung erfolgen.60 Das Einverständnis müsse „erklärt“ sein.61 Die Kundgabe sei auch konkludent möglich62 , wobei die wider­ spruchslose Hinnahme des Scheingeschäfts in Kenntnis des Simulationswillens des Erklärenden die Zustimmung hinreichend zum Ausdruck bringen soll.63 Das in der Simulationsabrede enthaltene Kundgabeerfordernis bereitet den Boden für den in dieser Untersuchung wichtigsten Aspekt dieser Lehre. Ob ein Einverständnis vorliegt, soll sich nach den Grundsätzen richten, die für die Auslegung empfangs­ bedürftiger Willenserklärungen gelten, womit auch und insbesondere die normati­ ve Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont gemeint ist.64 Das ist durch­ aus als Korrektur einer als verkehrsfeindlich eingestuften rein subjektiven Prüfung der „Willensübereinstimmung“ in BGHZ 144, 331 gemeint.65 M. Wolf lehrt in die­ sem Sinne: WuB IV A. §  117 BGB 1.01, Bl.  1060: „einer Willenserklärung, die die Wirksamkeit der späteren Willenserklärungen verhindert, zumindest (…) nahestehend“. 58  Kramer, in: MünchKommBGB (2006), §  117 Rn.  11. Ähnlich bereits v. Hein, ZIP 2005, 191 (197); Koos, WuB IV A. §  117 BGB 1.01, Bl.  1060. Diesen Zusammenhang stellen auch M. Wolf/ Neuner, AT (2012), §  40 Rn.  16 her. 59 Siehe Kramer, in: MünchKommBGB (2006), §  117 Rn.  11; v. Hein, ZIP 2005, 191 (193 f., 198), die auf dieser Basis die Rechtsprechung zur Gesamtvertretung ablehnen. 60  v. Hein, ZIP 2005, 191 (193 f.): der Simulationswille müsse „zum Ausdruck kommen“; Kallimopoulos, Simulation (1966), 42 f., der allerdings eine regelrechte Simulationsabrede in Ausnah­ mefällen für entbehrlich hält. Die weiteren in Fn.  64 zitierten Autoren setzen die Kundgabe zumin­ dest stillschweigend voraus, wenn sie die Auslegungsgrundsätze für Willenserklärungen heran­ ziehen, weil sich jene Grundsätze immer auf den „erklärten“ Willen beziehen. 61  So bereits Wolff, JherJb 81 (1931), 53 (111) und Enneccerus/Nipperdey, AT I/2 (1960), 860 in Fn.  15, die von der Notwendigkeit einer Erklärung des Einverständnisses ausgehen. Ferner Danz, DJZ 1906, 1277 (1279 a. E.), der für den Tatbestand des Scheingeschäfts stets zwei Erklärungen fordert, und Bading, Willenserklärung (1910), 24, der das „wechselseitig erklärte Einverständnis“ verlangt, das Einverständnis zugleich aber auch als inneres Moment ansieht. 62  Bork, AT (2016), Rn.  801; Kramer, in: MünchKommBGB (2006), §  117 Rn.  8; v. Hein, ZIP 2005, 191 (197); Weiler, Willenserklärung (2002), 459; Koos, WuB IV A. §  117 BGB 1.01, Bl.  1060. 63  M. Wolf, LM Nr.  4 4 zu §  166 BGB (2001), Bl.  4 Vs (durch „widerspruchslose Zustimmung“); Kallimopoulos, Simulation (1966), 43. 64  v. Hein, ZIP 2005, 191 (197): „durch Auslegung (§§  133, 157 BGB) zu ermitteln“; Koos, WuB IV A. §  117 BGB 1.01, Bl.  1060; M. Wolf, LM Nr.  44 zu §  166 BGB (2001), Bl.  4 Vs. 65  Zum (zutreffenden) Ergebnis, das sich bei konsequenter Anwendung der Grundsätze der normativen Auslegung in BGHZ 144, 331 ergibt (= Zustandekommen eines vorbehaltlich der Hei­ lung formnichtigen und seitens der Beklagten wegen Inhaltsirrtums anfechtbaren Vertrags über 350 000 DM), siehe noch Fn.  103.

II. §  117 BGB

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„Auch wenn der Wille zum Abschluss eines Scheingeschäfts keine selbständige rechtsge­ schäftliche Willenserklärung ist, sondern allein das Fehlen eines Rechtsbindungswillens zum Ausdruck bringt, so ist das Einverständnis mit dem Scheingeschäft ebenso wie das sonstige Fehlen eines Rechtsbindungswillens doch aus der Sicht des Empfängerhorizonts festzustellen. Der Umstand, dass bei der falsa demonstratio auf die tatsächliche Willens­ übereinstimmung abgestellt wird, auch wenn sie vom objektiven Erklärungsinhalt ab­ weicht, ändert nichts daran, dass auf den Empfängerhorizont abzustellen ist, solange eine tatsächliche Willensübereinstimmung nicht festzustellen ist.“66

b) Überprüfung des Bestätigungsgehalts von §  117 I BGB zugunsten der dualistischen Lehre Die geschilderten Auffassungen zur Interpretation des „Einverständnisses“ im Sin­ ne von §  117 I BGB sind nunmehr darauf zu überprüfen, inwieweit sie die natürliche Auslegungsmethode bestätigen. aa) Keine Bestätigung bei Interpretation des Einverständnisses als „Bewusstsein des fehlenden Willens“ Hat das Einverständnis, wenn man es im Sinne eines „Bewusstseins des fehlenden Willens“ im Sinne von RGR 134, 33 auffasst, einen die natürliche Auslegung bestä­ tigenden Gehalt? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, welche Anforderun­ gen an das Simulationsbewusstsein zu stellen sind: Genügt nur ein durch objektive Umstände gerechtfertigtes Simulationsbewusstsein, d. h. eine „Kenntnis“ des Si­ mulationswillens (dazu unter [1]), oder greift §  117 I BGB auch dann ein, wenn der Empfänger ohne objektive Grundlage zufällig zutreffend von einem Simulations­ willen ausgeht (dazu unter [2])? (1) Der Normalfall: Durch objektive Umstände hervorgerufenes Simulationsbewusstsein („Kenntnis“ des Simulationswillens) Die (zutreffende) Vorstellung des Empfängers, der Erklärende wolle eine simulierte Erklärung abgeben, wird normalerweise durch objektive Umstände hervorgerufen, die der Empfänger kennt und die den Schluss auf den Simulationswillen des Erklä­ renden rechtfertigen. Die Überzeugung des Empfängers vom Simulationswillen ist dann nicht nur eine wahre Vorstellung, sondern auch objektiv gerechtfertigt, und kann insofern im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs auch als „Kenntnis“ des Simulationswillens charakterisiert werden.67 Aus auslegungsmethodischer Sicht erfasst §  117 I BGB bei einer solchen „Kennt­ nis“ des Simulationswillens besondere Fälle der unechten Falschbezeichnung. Wie 66  67 

M. Wolf, LM Nr.  44 zu §  166 BGB (2001), Bl.  4 Vs (um Nachw. gekürzt). Zu den Begriffsmerkmalen der „Kenntnis“ siehe bereits I 2 a.

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§  10 Die systematischen Argumente der dualistischen Lehre

bereits dargestellt68, scheint es bei der unechten Falschbezeichnung lediglich bei isolierter Betrachtung des Wortlauts so, als ob ein dem wirklichen Willen des Erklä­ renden nicht entsprechender Inhalt erklärt wurde. Die Falschbezeichnung ist in Wirklichkeit aber unecht, d. h. im Rechtssinne gar nicht wirklich falsch, „wenn man die Gesamtheit des Auslegungsmaterials berücksichtigt: die Umstände, unter denen erklärt wurde, und alle zwischen den Parteien gewechselten Äußerungen“69. Für den Empfänger sind die der Simulation vorangegangenen oder sie begleitenden Um­ stände und Absprachen erkennbar, aus denen sich für ihn ergibt, dass der Erklären­ de durch sein Verhalten die dem Wortlaut nach erklärten Rechtsfolgen nicht in Gel­ tung setzen will.70 Eine Willenserklärung besteht nur nach dem Horizont außenste­ hender Dritter, die lediglich einen Ausschnitt des sinnbestimmenden Geschehens wahrnehmen können. Auf deren Horizont kommt es jedoch bei der Auslegung nicht an, wie die Existenz des §  117 BGB selbst am deutlichsten belegt71.72 Die simulierte Erklärung im Sinne von §  117 I BGB ist lediglich ein besonders krasser Fall einer unechten Falschbezeichnung, da die im Empfängerhorizont ent­ haltenen Umstände den Wortlautsinn vollständig „neutralisieren“73. Darin liegt die eigentliche Bedeutung der Simulationsabreden im Vorfeld der Simulation.74 Durch ihre Vorabsprache präparieren die Parteien gewissermaßen ihre Empfängerhori­ zonte in Form von Simulationsankündigungen („Wenn ich ‚x‘ sagen werde, werde 68 

§  4 I 2. Gschnitzer, in: Klang, ABGB (1968), 73. 70  Meier-Hayoz, Vertrauensprinzip (1948), 153; F. Leonhard, AcP 120 (1922), 14 (106 f.) be­ sonders deutlich: „Nur Dritten gegenüber ist der Anschein einer gewollten und gültigen Erklärung erweckt worden. Unter den Parteien selbst aber, auf die es hier allein ankommt, lautet auch die Erklärung auf Nichtgeltung.“; Danz, JherJb 46 (1904), 381 (417). Siehe auch Gschnitzer, in: Klang, ABGB (1968), 73 zum österreichischen Recht; Keller, SJZ 58 (1962), 365 (371 a. E.) zum schweizer Recht; Kohler, JherJB 16 (1978), 91 (98 ff.) und Zitelmann, JherJb 16 (1878), 357 (401 in Fn.  47, 404) zum gemeinen Recht. 71  Bading, Willenserklärung (1910), 15. 72  Das wird im Zusammenhang mit §  117 I BGB erstaunlich häufig verkannt. Besonders deut­ lich bei Binder, ARWP 6 (1912/1913), 451 (456), der eine objektive Willenserklärung annimmt mit der Begründung, es liege ein Tatbestand vor, „der für den dritten Beurteiler als W. E. erscheint, und der sogar nach der Absicht der Geschäftsparteien als solche erscheinen soll, ohne freilich für sie selbst, subjektiv, eine W. E. zu sein.“ Siehe auch S.  457: „es liegt zwar objektiv betrachtet eine W. E. vor; aber da der Erklärungsempfänger den Erklärenden durchschaut, fehlt für den Gesetzgeber die Veranlassung, an diesen Tatbestand eine Rechtsfolge zu knüpfen“. Es fehlt jede Begründung, wa­ rum es auf das „Durchschauen“, und nicht – wie in sonstigen Fällen – für die richtige Lösung auf die „Durchschaubarkeit“ für den Empfänger ankommen sollte, soweit es um die Bestimmung des Inhalts (und damit hier immer zugleich der Existenz) der Willenserklärung geht. Im aktuellen Schrifttum geht Wendtland, in: Bamberger/Roth (2012), §  117 Rn.  1 vom Vorliegen des objektiven Tatbestands einer Willenserklärung aus. 73  Bading, Gruchot 58 (1914), 769 (773) und ders., Willenserklärung (1910), 22 f., der sich mit Recht dagegen wendet, den Tatbestand der Scheinerklärung willkürlich in Wortlaut und Be­gleit­ umstände zu zerreißen „und ein Stück als alleinigen Inhalt der Erklärung hinzustellen“. So schon Isay, Willenserklärung (1899), 53. Vgl. Kohler, Lb. I (1906), 488 unter I, 489 unter IV: „neutralisie­ rende“ Gegenerklärung. 74 Vgl. Meier-Hayoz, Vertrauensprinzip (1948), 153; Danz, JherJb 46 (1904), 381 (417). 69 

II. §  117 BGB

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ich ‚non x‘ meinen.“), die die Grundlage für begründetes zukünftiges Vertrauen des Empfängers auf die Ernstlichkeit der späteren Äußerung zerstören.75 Falls bei Zu­ gang der späteren Äußerung keine objektiven Anzeichen dafür erkennbar sind, dass der Erklärende an seiner Simulationsankündigung nicht mehr festhält oder ihrer nicht mehr gewahr ist und den Wortlaut deshalb doch ernst meint, muss und darf der Empfänger die Simulationsankündigung als einen den Wortsinn neutralisierenden Begleitumstand berücksichtigen. Unter den unechten Falschbezeichnungen ist der Fall des §  117 I BGB lediglich deshalb ein besonderer, weil die Wortwahl des Erklä­ renden nicht unabsichtlich vom Gewollten abweicht, sondern bewusst gewählt wird zur Erzeugung eines falschen Scheins nach außen. Die Begleitumstände korrigieren nicht einen Lapsus des Erklärenden, sondern sind von vornherein vom Erklärenden in Stellung gebracht worden, um im (für die Rechtswirkungen entscheidenden) Ver­ hältnis zum Empfänger den Eindruck auszuschließen, es bestehe ein Geltungswille. Nicht ohne Grund wird zu §  117 I BGB denn auch verbreitet gelehrt, in den von der Norm erfassten Fällen fehle es schon am äußeren Tatbestand einer Willenser­ klärung, aus dem der Empfänger auf einen Geschäftswillen des Erklärenden schlie­ ßen kann.76 Damit wird der Sache nach davon ausgegangen, dass das Ergebnis der Vorschrift ganz auf der Linie der normativen Auslegung liegt und zu keinen abwei­ chenden Ergebnissen führt. Für den Streit zwischen der natürlichen und der norma­ tiven Auslegungsmethode sind die von §  117 I BGB erfassten unechten Falschbe­ zeichnungen bei Kenntnis des Empfängers vom Simulationswillen dadurch ohne 75  Beim Vertragsschluss genügt bereits die Simulationsankündigung einer Partei, die damit ihrer Äußerung nach dem Empfängerhorizont den Geltungssinn nimmt. Wechselseitige Simulati­ onsankündigungen sind nicht erforderlich. 76  Arnold, in: Erman (2014), §  117 Rn.  1; Rüthers/Stadler, AT (2014), §  25 Rn.  7: für den Erklä­ rungsempfänger erkennbar fehlender Rechtsbindungswille; Neuner, JuS 2007, 881 (883); Schapp/ ‌Schur, Einführung (2007), Rn.  380; Schermaier, in: HKK‑BGB (2003), §§  116–124 Rn.  44; Hefermehl, in: Soergel (1999), §  117 Rn.  1; Baeck, Scheingeschäft (1988), 110, der dies allerdings mit der Kenntnis des Empfängers vom Scheincharakter begründet und nicht mit der Erkennbarkeit. Vgl. schon die Kritik von Hölder, AcP 80 (1893), 1 (33) am E II: bei Erkennbarkeit als Scheinerklärung liege keine „nichtige, sondern überhaupt keine Willenserklärung vor“. A. A. Mansel, in: Jauernig (2015), §  117 Rn.  4: kein Nicht-Rechtsgeschäft; Wendtland, in: Bamberger/Roth (2012), §  117 Rn.  1, der die „objektive Bedeutung“ ersichtlich mit dem Wortlaut gleichsetzt; M. Schwab, Iurratio 2009, 142 (143): es sei „eindeutig der Tatbestand einer Willenserklärung erfüllt“. Unergiebig sind dagegen Aussagen, die sich auf die Feststellung beschränken, es liege tatbe­ standlich keine Willenserklärung vor (z. B. Ellenberger, in: Palandt [2016], §  117 Rn.  1; Holzhauer, FS Gmür [1983], 119 [121]), da damit offen bleibt, ob insofern der tatbestandliche Mangel auf der Ebene des äußeren oder des inneren Tatbestands liegt. Einige Autoren beziehen sich nämlich auch auf den fehlenden Rechtsbindungswillen und damit wohl auf Mängel des inneren Tatbestands der Willenserklärung: Armbrüster, in: MünchKommBGB (2015), §  117 Rn.  1; Singer, in: Staudinger (2012), §  117 Rn.  1; Boecken, AT (2012), Rn.  426; Kuhn, AcP 208 (2008), 101 (105). Das trifft nur zu, wenn das Erklärungsbewusstsein Tatbestandsvoraussetzung einer (anfechtbaren) Willenser­ klärung ist und besagt nichts über die Verwirklichung des äußeren Tatbestands. Vgl. auch Michaelis, FS Wieacker (1978), 444 (446, 448), der „schon aufgrund des Einverständnisses der Parteien“ (S.  446) die Erklärung für nicht vorhandenen hält, dabei aber vornehmlich auf die fehlende Absicht der Parteien abstellt.

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§  10 Die systematischen Argumente der dualistischen Lehre

argumentativen Wert. Sie bestätigen lediglich das Verbot der Wortlautauslegung, da Falschbezeichnungen im Wortlaut ersichtlich auch an dieser Stelle nicht ausschlag­ gebend sind, wenn andere Umstände (hier: die Simulationsankündigung) die recht­ lich relevante Bedeutung ohnehin geraderücken.77 (2) Der pathologische Ausnahmefall: Zufällig zutreffendes Simulationsbewusstsein ohne objektive Grundlage Wie kühn die These ist, §  117 I BGB bestätige die natürliche Auslegungsmethode, wird deutlich anhand der Frage, welche Fälle die Norm theoretisch erfassen müsste, damit sie Rückschlüsse für die Entscheidung der methodenrelevanten Fallkonstella­ tion der natürlichen Auslegung erlaubt. Hierzu müsste die Vorschrift nämlich auch in dem pathologischen Ausnahmefall eingreifen, in dem der Empfänger vom Simu­ lationswillen78 des Erklärenden ausgeht, obwohl angesichts der für ihn erkennbaren objektiven Lage, der Vorgeschichte und des unmittelbaren Erklärungskontexts kein Anlass bestand, das Verhalten des Erklärenden nicht als ernst gemeinte Erklärung zu werten. Es kann an dieser Stelle davon abgesehen werden, ein der Natur dieser Fälle ent­ sprechendes weiteres wirklichkeitsfremdes Beispiel für die hier einschlägigen Fälle eines kongruenten Doppelirrtums und des vom Empfänger erratenen (Simula­ tions‑)‌Willens zu konstruieren, die auch in einem Simulationskontext denkbar sind. Selbst der glühendste Anhänger der natürlichen Auslegungsmethode würde näm­ lich wohl – wenn er sich denn tatsächlich einmal einem solchen Fall zuwendete79 77  Diesen Bezug zwischen §  117 I BGB und §  133 Hs.  2 BGB stellt Armbrüster, in: Münch­ KommBGB (2015), §  117 Rn.  1 her. 78 Der Erklärende muss hierfür subjektiv die Absicht haben, seinen fehlenden Willen dem Empfänger gegenüber erkennbar zu machen – anderenfalls liegt ein Fall von §  116 BGB vor. Die im Text behandelten pathologischen Ausnahmefälle bezeichnen also Konstellationen, in denen dem Erklärenden ein Irrtum über die objektive Erkennbarkeit seines fehlenden Willens für den Empfänger unterlaufen ist. 79  Es ist nicht ersichtlich, dass sich die verbreitete Auffassung, §  117 I BGB bestätige die na­ türliche Auslegungsmethode, in Auseinandersetzung mit den im Text umschriebenen Fallkonstel­ lationen entwickelt hat. In der Literatur findet sich (fast) kein Beispiel, das in diese Richtung geht und dadurch überhaupt erst in die Nähe des Problems schutzwürdigen nachträglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte gelangen könnte. Die üblichen Beispielsfälle sind ungeeignet, weil es angesichts des erkennbar fehlenden Rechtsfolgewillens schon an einer objektiven Vertrauens­ schutzbasis fehlt. Mit der verbreiteten Auffassung, bei §  117 I BGB sei schon objektiv gar kein Geltungswille „erkennbar“ und der äußere Tatbestand einer Willenserklärung nicht verwirklicht (Nachw. in Fn.  76), wäre es sogar unvereinbar, den zufälligen Doppelirrtum im Simulationskon­ text §  117 I BGB zuzuordnen, da in diesen Fällen nach dem objektiven Empfängerhorizont eine ernst gemeinte Willenserklärung vorläge. Einzig Brehmer, Wille (1992), 165 behandelt den Fall, in dem „der Erklärende zwar von dem Einverständnis des anderen Teils ausgeht, sein, des Erklärenden, Scheingeschäftswille jedoch nicht erkannt und nicht erkennbar ist, jedoch der andere gleichwohl in das Scheingeschäft und die Scheingeschäftlichkeit eingewilligt hat“. Es wird nicht klar, ob Brehmer diesen Fall für logisch ausgeschlossen hält („unvorstellbar“) oder über §  117 I BGB lösen möchte. Ersteres wäre falsch, da bei einer zufällig irrigen Annahme des Scheingeschäftswillens ein Einverständnis möglich bleibt,

II. §  117 BGB

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– zugeben müssen, dass es sich hierbei um Konstellationen handelt, über deren Be­ handlung der Norm ausdrücklich nichts zu entnehmen ist. Die für den Streit über die natürliche Auslegung interessante Rechtsfrage im Anwendungsbereich des §  117 I BGB lautet vielmehr, ob der Empfänger ein hinreichendes „Bewusstsein des fehlenden Willens“ (RGZ 134, 33) auch dann hat, wenn er ohne rechtfertigende Umstände lediglich zufällig zutreffend von einem Simulationswillen des Erklären­ den ausgeht. Die Frage lässt sich aus §  117 I BGB heraus nicht entscheiden, sondern der Rechtsanwender ist zu ihrer Beantwortung auf alle hier bereits behandelten Er­ wägungen „allgemeiner Art“ zurückgeworfen, die sich generell um den Umgang mit dem lediglich zufällig übereinstimmenden Verständnis der Erklärung ranken. Die hier bereits im 1. Abschnitt zur allgemeinen Rechtsgeschäftslehre herausgear­ beiteten Wertungen ergeben auch im Zusammenhang mit §  117 I BGB die richtige Lösung: Zwar ist im vorliegenden Zusammenhang ausnahmsweise nichts gegen die Nich­ tigkeit der nach dem objektiven Empfängerhorizont ernstlichen Willenserklärung einzuwenden. Die Unschädlichkeit der Nichtigkeit hat dabei aber nichts mit dem gleichlautenden inneren Verständnis der Beteiligten zu tun, das auf „Scheinerklä­ rung“ lautet, sondern allein damit, dass die Erklärung ohnehin nichtig ist. Der Er­ klärende gibt nämlich (völlig unabhängig vom Vorliegen des Bewusstseins- oder Billigungselements auf Empfängerseite) eine nicht ernst gemeinte Erklärung in der Erwartung ab, der Mangel der Ernstlichkeit werde nicht verkannt werden, und er­ füllt damit den Tatbestand des §  118 BGB, der zur Nichtigkeit der Erklärung führt.80 Bei zufällig übereinstimmendem Bewusstsein einer simulierten Erklärung §  117 I BGB anzuwenden würde aber auch jeglichen Ersatz von Vertrauensschäden nach §  122 I BGB ausschließen, der auf §  117 I BGB (anders als auf §  118 BGB) nicht verweist. Dieses Ergebnis wäre mit dem gebotenen Schutz etwaigen nachträglichen Vertrauens des Empfängers81 auf den objektiv ernstlichen Gehalt der Erklärung letzteres ist mit den sogleich im Text genannten Gründen abzulehnen. Brehmer leitet aus diesem Fall keine Bestätigung der allgemeinen Auslegungsgrundsätze oder gar der natürlichen Methode her, sondern im Gegenteil eine Modifikation der allgemeinen Auslegungsgrundsätze, weil ansons­ ten jenseits dieses „unvorstellbaren“ Ausnahmefalls §  117 I BGB bedeutungslos sei. 80  Vgl. die nahezu einhellige Auffassung, die bei bloßem Fehlen von Kenntnis oder Einver­ ständnis des Empfängers (sog. missglücktes Scheingeschäft) §  118 BGB anwendet: RG, Urteil vom 24.11.1941, RGZ 168, 204 (205); BGH, Urteil vom 26.5.‌2000, BGHZ 144, 331 (334); Urteil vom 7.12.2001, NJW 2001, 1062 unter 2 a; Urteil vom 12.5.2006, NJW 2006, 2843 Tz.  23; Wertenbruch, AT (2014), §  7 Rn.  20; M. Wolf/Neuner, AT (2012), §  40 Rn.  9; Preuß, Jura 2002, 815 (820); Lorenz, EWiR 2000, 997; Hefermehl, in: Soergel (1999), §  118 Rn.  8; Flume, AT II (1992), 405. A. A. Brehmer, Wille (1992), 171, der sich in Fn.  358 gegen die „substitutive Anwendbarkeit von §  118“ auf das mißlungene Scheingeschäft mit der Begründung wendet, ansonsten sei §  117 überflüssig und „die vom Gesetz gewollte ‚hohe‘ Schwelle für die Nichtigkeit nicht erreichbar.“ Der Wille der Gesetzesverfasser zur Erfassung des misslungenen Scheingeschäfts durch §  118 BGB ist indes eindeutig: Mot. I (1888, 2000), 193 = Mugdan I (1899), 459; Prot. I (1897, 1983), 98 = Mugdan I (1899), 712. Ferner Prot‑RJA, 64, abgedruckt bei: Jakobs/Schubert, Beratung AT/1 (1985), 622; Denkschrift BGB, in: Entwurf (1896, 1997), 21 = Mugdan I (1899), 833. 81  Das nachträgliche Vertrauen des Erklärenden auf das objektiv Erklärte wirft in dieser Kon­

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§  10 Die systematischen Argumente der dualistischen Lehre

unverein­bar. Der Empfänger kann nämlich in den pathologischen Zufallsfällen im Entdeckungsszenario immer noch nachträglich realisieren, dass er die Äußerung nach den ihm vorliegenden Informationen ernst nehmen musste. Die Nichtigkeit der Erklärung hat er zwar wegen §  118 BGB hinzunehmen; der Anspruch auf Ersatz der im nachträglichen Vertrauen auf die Ernstlichkeit erlittenen Schäden aus §§  118, 122 I BGB darf ihm aber nicht vorenthalten82 werden. Das „Bewusstsein des Simulationswillens“ ist deshalb in gleicher Weise aufzu­ fassen, wie dies hier unter I. bereits zur Empfängerkenntnis vom inneren Vorbehalt in §  116 S.  2 BGB vertreten wurde: Es besteht nur, wenn die Überzeugung des Erklären­den vom Simulationswillen durch die nach dem objektiven Empfängerho­ rizont maßgeblichen Umstände gerechtfertigt ist und deshalb jegliches schutzwür­ dige Vertrauen auf die Ernstlichkeit der Erklärung auch für die Zukunft ausge­ schlossen ist. Nur ein auf echter „Kenntnis“ des Simulationswillens beruhendes Einverständnis erfüllt den Tatbestand des §  117 I BGB und nicht ein in Verkennung der objektiven Lage oder aufgrund einer willkürlichen Vermutung zustande gekom­ menes Einverständnis.83 Dass sich §  117 I BGB selbst zu den methodenrelevanten „Zufallsfällen“ und den durch sie aufgeworfenen Wertungsfragen keine klare Aussage entnehmen lässt, darf nicht verwundern. Die einzige Besonderheit, die die Simulation von anderen Kon­ stellationen unterscheidet, ist der einverständlich Dritten gegenüber erweckte Schein. Die Person des Dritten ist jedoch ein für die Auslegung – wie die Norm selbst erkennen lässt – unerhebliches Moment. So fehlt es letztlich an einem inneren Zusammenhang zwischen der Simulation und dem Problem des zufällig überein­ stimmenden Erklärungsverständnisses. Es sei hier ohne weiteres zugegeben, dass auch Erklärungen in einem Simulationskontext natürlich auszulegen sind, wenn dies im Allgemeinen richtig ist. Aber ob das erstere oder gar das letztere der Fall ist, darüber schweigt die Vorschrift, die Irrtümer und Missverständnisse zwischen den Beteiligten gar nicht im Blick hat. stellation dagegen keine Probleme auf. Der Erklärende kann und muss sich aufgrund des jedenfalls verwirklichten Tatbestands des §  118 BGB ohne Rücksicht auf das ihm unbekannte Verständnis des Empfängers darauf einstellen, dass keine wirksame Erklärung in der Welt ist. Er wäre daher – ungeachtet der faktischen Möglichkeit, seinen Scheinwillen zu verheimlichen – nicht schutzwür­ dig, wenn er nach Entdeckung der objektiven Erklärungsbedeutung auf die Wirksamkeit der Er­ klärung vertraut und dann in seinem Vertrauen enttäuscht wird, falls der Empfänger die Voraus­ setzungen des §  118 BGB nachweisen kann (siehe dazu bereits unter §  9 II 1 b bb [2] auf S. 203). 82  Denkbar ist in dieser speziellen Konstellation freilich eine Haftung des Erklärenden für die nachträglichen Vertrauensschäden aus culpa in contrahendo (§§  280 I, 311 II, 241 II BGB). Sie wäre allerdings, anders als die Haftung nach §§  118, 122 BGB, verschuldensabhängig. Es ist nicht einzusehen, warum das zufällige anfängliche sinngleiche Missverständnis des Empfängers den Haftungsmaßstab des Erklärenden absenken sollte (vgl. dazu bereits §  7 II 3 a. E.). 83  Vgl. insoweit auch die Materialien, die ebenfalls im Zusammenhang mit §  117 I BGB eine „Kenntnis“ der Simulationsabsicht auf Seiten des Empfängers voraussetzen: Mot. I (1888, 2000), 193 f. = Mugdan I (1899), 459; Denkschrift BGB, in: Entwurf (1896, 1997), 21 = Mugdan I (1899), 833.

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bb) Keine Bestätigung bei Interpretation des Einverständnisses als „innere Willensübereinstimmung“ Wie unter a) bb) dargelegt, ist nun allerdings heute mit BGHZ 144, 331 eine etwas gehaltvollere Interpretation des §  117 I BGB herrschend geworden, die das Einver­ ständnis nicht auf bloße Simulationskenntnis bzw. ein Simulationsbewusstsein re­ duziert, sondern darüber hinausgehend84 ein voluntatives Moment verlangt, das zu einer Willensübereinstimmung der an der Simulation Beteiligten führt. Dieses schon im Wortlaut angelegte empfängerseitige Billigungselement dürfte ein weite­ rer Grund sein, warum der Regelung verbreitet ein die natürliche Methode bestäti­ gender Gehalt zugemessen wird. Wenn das Gesetz im speziellen Fall der Simulation eine dem Willen der Beteiligten entsprechende Rechtsfolge eintreten lässt, weil bei­ de sie wollen bzw. die Wirkungen der Scheinerklärung gerade nicht wollen, dann – so könnte man diesen Gedankengang zuspitzen – müsse dies doch auch allgemein gelten. In BGHZ 144, 331 hat dieser angebliche Gleichlauf den BGH in umgekehrter Richtung dazu veranlasst, bei der Konturierung der Voraussetzungen des Einver­ ständnisses explizit eine Parallele zu seiner Rechtsprechung über die vorrangige Willensübereinstimmung bei der Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklä­ rungen zu ziehen.85 Wohnt also speziell dem Billigungselement ein die natürliche Auslegung bestätigender Gehalt inne? Diese Frage ist angesichts der Vorüberlegungen in dieser Untersuchung zur na­ türlichen Methode (unter §  3 IV) klar zu verneinen. Die angeblichen Parallelen zwi­ schen dem empfängerseitigen Billigungselement des §  117 I BGB und der natürli­ chen Auslegungsmethode erscheinen nur angesichts der missverständlichen Be­ grifflichkeiten („Willensübereinstimmung“) plausibel, die im Zusammenhang mit der natürlichen Auslegungsmethode gebräuchlich sind. Die Vorüberlegungen ha­ ben nämlich bereits ergeben, dass das Billigungselement des §  117 I BGB für die dualistische Lehre nicht anschlussfähig ist, weil ein empfängerseitiges voluntatives Moment kein Bestandteil einer in sich schlüssigen, mit den eigenen Grundgedan­ ken vereinbaren natürlichen Auslegungsmethode sein kann.86 Wer sich auf den du­ alistischen Standpunkt stellt, das normative Auslegungsergebnis sei unmaßgeblich, wenn der Empfänger der Erklärung das davon abweichende tatsächlich Gemeinte entnommen hat, hat keinen Anlass zu einem anderen Ergebnis zu kommen, falls der Empfänger mit dem Entnommenen nicht einverstanden ist. Der (verfehlte) 84  Um einen übereinstimmenden inneren Willen im Sinne von BGHZ 144, 331 bilden zu kön­ nen, muss sich der Empfänger des Simulationscharakters auch bewusst geworden sein. Die Kennt­ nis des Empfängers ist daher, wenn die Billigung verlangt wird, als notwendige Voraussetzung des Einverständnisses ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzung des §  117 I BGB. Die Ausführungen unter aa) zur „Bewusstseins-Formel“ lassen sich daher auch auf die hier im Text behandelte Lehre von der Willensübereinstimmung beziehen. 85 BGH, Urteil vom 26.5.2000, BGHZ 144, 331 (334) unter Hinweis auf BGH, Urteil vom 21.2.1986, NJW‑RR 1986, 1019. 86  §  3 IV 2 b aa.

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§  10 Die systematischen Argumente der dualistischen Lehre

Grundgedanke der natürlichen Auslegung lautet lediglich, der Wille des Erklären­ den sei dem Empfänger hinreichend kundgegeben, wenn der Empfänger das Ge­ meinte der Erklärung sogleich entnommen hat. Er muss sich den Willen des Erklä­ renden aber, wie der BGH im Zusammenhang mit dem „erkannten Irrtum“ bei Ver­ tragsschluss zutreffend formuliert, nicht zusätzlich noch „zu eigen machen“87, damit die Willenserklärung bei natürlicher Auslegung in dem vom Erklärenden gemeinten Sinn gilt. Die Schaffung eines empfängerseitigen Vetorechts zählt nicht zu den Anliegen der natürlichen Auslegungsmethode. Dies gilt auch bei der natürli­ chen Auslegung von Vertragsschlusserklärungen. Damit ein Vertrag zustande kommt, müssen die Vertragsparteien nach der natürlichen Auslegungsmethode ihre jeweilige Erklärung im gleichen Sinne gewollt (= gemeint) und die jeweils fremde Erklärung zudem auch gleich aufgefasst haben. Für das zusätzliche Erfordernis ­einer Billigung des vom Erklärenden Gemeinten durch den Empfänger einer natür­ lich ausgelegten Vertragsschlusserklärung ist daneben ebenso wenig Platz wie beim einseitigen Rechtsgeschäft.88 Das billigende Einverständnis des Empfängers lässt sich in die natürliche Ausle­ gungslehre somit gar nicht integrieren und leistet zu deren Legitimation nichts. Eine Bestätigung der natürlichen Auslegung kann auch insoweit von §  117 I BGB nicht ausgehen. cc) Keine Bestätigung bei Interpretation des Einverständnisses als „rechtsgeschäftsähnliche Simulationsabrede“ Bleibt noch das dritte dogmatische Grundverständnis des §  117 I BGB, welches das Einverständnis als eine „rechtsgeschäftsähnliche Simulationsabrede“ der Beteilig­ ten begreift, auf seinen Bestätigungsgehalt zu prüfen. Auch unter Zugrundelegung dieser Lehre ist eine Bestätigung jedoch nicht in Sicht. Denn die Lehre von der rechtsgeschäftsähnlichen Simulationsabrede, zu der hier nicht eigenständig Stel­ lung zu nehmen ist, wirft unweigerlich die Folgefrage auf, nach welchem Maßstab 87 BGH, Urteil vom 13.2.1989, NJW‑RR 1989, 931 (932); Urteil vom 20.11.1992, NJW‑RR 1993, 373; Urteil vom 24.7.1998, NJW 1998, 3196; Urteil vom 7.12.2001, NJW 2002, 1038 (1039). Ebenso Ellenberger, in: Palandt (2016), §  133 Rn.  8 und Leenen, AT (2015), §  8 Rn.  142, der sich insoweit auf die allgemeinen Regeln der natürlichen Auslegung bezieht. Mit dem Umstand, dass es in den BGH-Urteilen um Verträge geht und deshalb sogar noch eine Gegenerklärung erforderlich ist, hat die Überflüssigkeit des „zu eigen Machens“ im Grunde nichts zu tun. Siehe bereits F. Leonhard, AcP 120 (1922), 14 (127): „Gleichgültig ist, ob der Empfänger wirklich dem zustimmt, was er als Willen des Gegners erkannt hat: genug, daß er es kennt.“ 88  Beispiel: A versteht eine als Annahme gemeinte Äußerung des B, die objektiv eine Ableh­ nung ist, als Annahme. Für die natürliche Auslegung kann es allein darauf ankommen, ob A die Äußerung des B zufällig als Annahme versteht; nicht aber darauf, ob er die als Annahme aufge­ fasste Erklärung darüber hinaus noch billigt oder aber mit ihr nicht mehr einverstanden ist, weil er beispielsweise mittlerweile seinen Antrag reut. Die Billigung der Annahmeerklärung liegt hier auch nicht etwa in dem rechtsgeschäftlichen Willen bei Abgabe des Antrags. Dieser Wille bezieht sich auf die eigene und nicht – wie das billigende Einverständnis in §  117 I BGB – auf die fremde Erklärung und spielt für die natürliche Auslegung der Annahmeerklärung keine Rolle.

II. §  117 BGB

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sich das Zustandekommen und der Inhalt dieser Simulationsabrede bestimmt. Selbst wenn das Einverständnis als Auslegungsgegenstand nicht als rechtsge­ schäftlich, sondern lediglich als rechtsgeschäftsähnlich zu qualifizieren sein sollte, ist kein Grund ersichtlich, warum die für die Simulationsabrede einschlägigen Auslegungsgrundsätze nicht die allgemeinen rechtsgeschäftlichen Auslegungs­ grundsätze sein sollten, wie dies auch ansonsten allgemein bei rechtsgeschäftsähn­ lichen Erklärungen angenommen89 und von den Anhängern dieser Lehre auch spe­ ziell für die Auslegung der Simulationsabrede vertreten wird.90 Der Norm jeden­ falls sind wie auch immer geartete eigenständige Vorgaben an die Auslegung der Simulationsabrede nicht zu entnehmen und auch in der Lehre sind solche Vorgaben bislang nicht behauptet worden. Die Interpretation des „Einverständnisses“ als rechtsgeschäftsähnliche Simulati­ onsabrede kann der Diskussion über die allgemeine Methodik der Auslegung somit keinerlei eigenständige Impulse geben. Der Rechtsanwender müsste auf Basis die­ ser Lehre bei Anwendung der Vorschrift auf die allgemeinen Auslegungsgrundsät­ ze zurückgreifen, um deren Inhalt es in der hier interessierenden allgemeinen Me­ thodendiskussion gerade geht. Jede systematische Argumentation mit §  117 I BGB bliebe auch aus dem Blickwinkel der Lehre von der rechtsgeschäftsähnlichen Simu­ lationsabrede unweigerlich zirkulär.

2. Die Regelung des §  117 II BGB über die Geltung des verdeckten Geschäfts Ist die Geltung des Rechtsgeschäfts im Sinne des inneren übereinstimmenden Ver­ ständnisses der Beteiligten positiv-rechtlich in §  117 II BGB verankert und bestätigt dadurch die natürliche Auslegung als allgemeinen Auslegungsgrundsatz? Auch dies wird von Vertretern der dualistischen Lehre angenommen.91 Repräsentativ für die herrschende Auffassung erläutert Leenen, §  117 II BGB enthalte 89  BGH, Urteil vom 14.10.1994, NJW 1995, 45 (46); Ellenberger, in: Palandt (2016), Überbl v §  104 Rn.  7; Busche, in: MünchKommBGB (2015), §  133 Rn.  48; Riehm, AT (2015), Rn.  189; M.Wolf/‌Neuner, AT (2012), §  28 Rn.  12; Looschelders, in: NK‑BGB (2012), §  133 Rn.  8; Hefermehl, in: Soergel (1999), §  133 Rn.  5; Krüger-Nieland/‌Zöller, in: RGRK (1982), §  133 Rn.  1. 90  Nachw. in Fn.  6 4. 91  Bork, AT (2016), Rn.  809; Leenen, AT (2015), §  6 Rn.  100; Rüthers/‌S tadler, AT (2014), §  25 Rn.  8: Verdeutlichung des Grundsatzes; Bitter, AT (2013), §  7 Rn.  48, §  18 (Fall Nr.  36, S.  242): „in Kombination mit §  117 I BGB“; Petersen, AT (2013), §  10 Rn.  34; C. Picker, Jura 2012, 560 (562); Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  13; Biehl, JuS 2010, 195 (198); Brehm, AT (2008), Rn.  193; Larenz/‌M. Wolf, AT (2004), §  35 Rn.  34; Bergermann, RNotZ 2002, 557 (558); Preuß, Jura 2002, 815 (820); Semmelmayer, JuS 1996, L 9 (L 10); Reinicke, JA 1980, 455 (457, 459); Lehmann/‌Hübner, AT (1966), 214; Riezler, in: Staudinger (1936), §  119 Rn.  57; Manigk, JherJb 75 (1925), 127 (213); Bang, JherJb 66 (1916), 309 (364). Ferner Köhler, AT (2015), §  9 Rn.  13, der sich allg. auf §  117 BGB bezieht. Vgl. auch Ellenberger, in: Palandt (2016), Vor §  116 Rn.  5; Singer, Selbstbestim­ mung (1995), 149. A. A. Brehmer, Wille (1992), 167, der meint, das „verdeckte dissimulierte Ge­

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§  10 Die systematischen Argumente der dualistischen Lehre

„ausdrücklich Aussagen zum Zustandekommen wie zur Wirksamkeit des verdeckten Rechtsgeschäfts (…). Geht es, wie im Fall der Unterverbriefung um einen Vertrag, so stellt §  117 Abs.  2 BGB klar, dass der Vertrag mit dem Inhalt zustande kommt, der von beiden Seiten in Wirklichkeit gemeint und gewollt ist. §  117 Abs.  2 BGB enthält insoweit nur eine gesetzliche Bestätigung des Grundsatzes, dass der übereinstimmende tatsächliche Wille sich gegen jeden anders lautenden Inhalt der Erklärung durchsetzt (‚falsa demonstratio non nocet‘).“92

Und auch Bork entnimmt der Vorschrift entsprechend dem Grundsatz falsa demonstratio non nocet, „dass das Gesetz von einem seinem Wortlaut nach auf die verdeckten, aber tatsächlich gewollten Rechtsfolgen gerichteten Erklärungstatbestand absieht. (…) Dass die Parteien für das tatsächlich Gewollte inhaltlich anders lautende Erklärungen wählen, ist unschäd­ lich, solange sich nur ein übereinstimmender Rechtsfolgewille feststellen läßt.“93

a) Die verfehlte rein subjektive Theorie des verdeckten Geschäfts Skeptisch gegenüber den zitierten Stellungnahmen stimmt schon die ihnen zugrun­ deliegende Auffassung von den Voraussetzungen des verdeckten Geschäfts. Sie re­ den einer subjektiven Theorie das Wort, die das Zustandekommen des verdeckten Geschäfts an die Existenz übereinstimmender innerer Rechtsfolgewillen der Betei­ ligten knüpft.94 Die Wahl einer unzutreffenden Bezeichnung soll, wie auch die Stel­ lungnahme von Bork erkennen lässt, nur unschädlich sein, wenn sich ein überein­ stimmender Rechtsfolgewille feststellen lässt. Die Willen als innere Tatsachen wer­ schäft (§  117 II BGB)“ sei „der Hilfe des Grundsatzes, ‚falsa demonstratio non nocet‘, nicht zu­ gänglich, weil (…) insoweit nur der objektiv erklärte Rechtsgeschäftsinhalt den Auslegungsgegen­ stand bildet“. Brehmer vermengt, wie sich auch aus seinen Nachweisen ergibt (vgl. a. a. O. in Fn.  346 die Hinweise auf Brox und Flume), Auslegungs- und Formfrage. Die Vertreter der von ihm zitierten h.M. lassen den falsa-Satz bei §  117 II BGB nicht in seiner Funktion als Auslegungs­ grundsatz unangewendet, sondern soweit es um die Problematik geht, ob ein vom Wortlaut mögli­ cherweise stark abweichendes Auslegungsergebnis bei übereinstimmendem Verständnis der Be­ teiligten formgerecht erklärt ist (zur Doppeldeutigkeit des falsa-Satzes schon §  2 II 4 a. E.). Nur im letzteren „formwahrenden“ Sinne wendet die h.M. den falsa-Satz in den Fällen des §  117 II BGB nicht an, um eine bewusste Umgehung von Formvorschriften zu verhindern (M. Wolf/‌Neuner, AT [2012], §  40 Rn.  19; Brox, JA 1984, 548 [557]). Mit einer Modifikation der allgemeinen Ausle­ gungsgrundsätze, die auch den Inhalt nicht formbedürftiger oder geheilter formbedürftiger ver­ deckter Geschäfte beeinflussen würde, hat dies nichts zu tun. 92  Leenen, AT (2015), §  6 Rn.  100. 93  Bork, AT (2016), Rn.  809. 94  Siehe in diesem Sinne auch Boemke/Ulrici, AT (2014), §  12 Rn.  19: „zwischen den Beteilig­ ten wirklich gewollt“; Illmer, in: jurisPK‑BGB (2014), §  117 Rn.  32: von den Parteien „tatsächlich gewolltes Rechtsgeschäft“; Ahrens, in: Prütting/‌Wegen/‌Weinreich (2013), §  117 Rn.  15; Bitter, AT (2013), §  7 Rn.  48; Singer, in: Staudinger (2012), §  117 Rn.  1 a. E.; Wendtland, in: Bamberger/Roth (2012), §  117 Rn.  20: einvernehmlicher Wille; Leenen, FS Canaris I (2007), 699 (714): Rechtsge­ schäft komme „mit dem übereinstimmend gewollten Inhalt zustande“; Larenz/‌M. Wolf, AT (2004), §  35 Rn.  34; Baeck, Scheingeschäft (1988), 153: Rechtsbindungswille der Parteien notwendige Vo­ raussetzung; v. Hippel, KritV 66 (1939), 259 (265) = ders., Rechtstheorie (1964), 336.

II. §  117 BGB

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den so zu subjektiven Tatbestandsmerkmalen des verdeckten Geschäfts erhoben, denen als objektive Voraussetzungen lediglich noch Wirksamkeitshindernisse wie Formerfordernisse oder behördliche Genehmigungen gegenüberstehen.95 Wer aus dem verdeckten Geschäft Rechte herleiten will, soll dementsprechend „den erfor­ derlichen Rechtsbindungswillen darlegen und ggf. beweisen“96 müssen. An dieser Auffassung stört bereits, dass es auf einen übereinstimmenden positi­ ven Rechtsfolgewillen beider Beteiligten auch im Rahmen des §  117 II BGB schon deswegen nicht ankommen kann, weil die Norm sich auf alle Rechtsgeschäfte be­ zieht und damit auch die einseitigen, bei denen der Rechtsfolgewille des Empfän­ gers eine rechtlich unbeachtliche Größe ist.97 Die Geltung eines hinter einer Schein­ erklärung stehenden anderen Erklärungssinns kann nicht scheitern, wenn der Emp­ fänger den verdeckten Sinn zwar als solchen erkennt, aber die darin enthaltene Rechtsfolge nicht will. Auch bei §  117 II BGB steht dem Empfänger kein Vetorecht zu, mit dem er den verdeckten Erklärungssinn zu Fall bringen kann98. Von dem verfehlten empfängerseitigen voluntativen Element einmal abgesehen, wäre §  117 II BGB auf Basis der subjektiven Theorie des Scheingeschäfts nicht nur eine Bestätigung der Vorgehensweise der natürlichen Auslegung, sondern geradezu deren maßlose Verabsolutierung, indem das Vorliegen inhaltlich übereinstimmen­ der Verständnisse der Beteiligten zur notwendigen Bedingung der Rechtswirkun­ gen des verdeckten Geschäfts aufgewertet würde. Beim Wort genommen geht diese Auffassung über die dualistische Auslegungslehre noch weit hinaus, weil sie bezo­ gen auf das verdeckte Geschäft die subsidiäre normative Auslegung völlig aus­ schließt. Missverständnisse der Beteiligten kann es indes auch bezogen auf den verdeckten Geschäftsinhalt geben. Nach der subjektiven Theorie könnte dann nie­ mand mehr rechtlich geschützt auf das Zustandekommen des verdeckten Geschäfts vertrauen, selbst wenn die Gesamtheit der in den Empfängerhorizont einzubezie­ henden Umstände unter Einschluss der dem Erklärungsaustausch vorangegangen Kommunikation eigentlich keinen Anlass für Zweifel gibt. Das Geschäft bliebe un­ wirksam, wenn der Gegenseite der Nachweis gelingt, aufgrund von Vergesslichkeit oder Irrtum bei Vornahme des Geschäfts innerlich nicht vom verdeckten Geschäfts­ inhalt ausgegangen zu sein.99 So bliebe nicht lediglich das nachträgliche Vertrauen 95  So ausdrücklich die Kategorisierung der Voraussetzungen des verdeckten Geschäfts in sub­ jektive und objektive Voraussetzungen durch Feuerborn, in: NK‑BGB (2012), §  117 Rn.  22 f. 96  Arnold, in: Erman (2014), §  117 Rn.  13; Singer, in: Staudinger (2012), §  117 Rn.  28. Ebenso Ellenberger, in: Palandt (2016), §  117 Rn.  9. 97  Siehe bereits §  3 IV 2 b aa (2), §  10 II 1 b bb. Schellhammer, Zivilrecht (1999), Rn.  2415 ver­ langt – insoweit sehr viel näher an der natürlichen Auslegungsmethode –, der Empfänger müsse „den Schein durchschaut“ haben. Diese Fassung einer subjektiven Theorie des verdeckten Ge­ schäfts, die frei ist von voluntativen Elementen auf Seiten des Empfängers, ist mit den sogleich im Text genannten weiteren Gründen ebenso abzulehnen. 98  Bei Verträgen steht es ihm selbstverständlich frei, keine (verdeckte oder offene) Gegener­ klärung abzugeben, und den Vertragsschluss so zu hindern. 99  Kramer, in: Berner Kommentar (1986), OR, Art.  18 Rn.  183 stuft den Irrtum einer Partei sogar ausdrücklich als einen die Wirksamkeit des verdeckten Geschäfts hindernden Mangel ein.

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§  10 Die systematischen Argumente der dualistischen Lehre

– wie beim Vorrang der natürlichen Auslegung –, sondern sogar das anfängliche Vertrauen auf den verdeckten Geschäftsinhalt auf der Strecke. Es ist kein ein­ leuchtender Grund ersichtlich, auch verdeckte Geschäfte scheitern zu lassen, deren Voraussetzungen nach den allgemeinen Grundsätzen der normativen Auslegung eigentlich erfüllt sind. Der im Grunde nichtssagende Wortlaut des §  117 II BGB mit seinem Verweis auf die für das verdeckte Geschäft geltenden Vorschriften ist si­ cherlich kein Freibrief, die erkennbare Bedeutung im Zusammenhang mit dem ver­ deckten Geschäft vollkommen unbeachtet zu lassen und ausschließlich auf innere Tatsachen abzustellen.100 Zur Veranschaulichung der gerade erhobenen Einwände gegen eine subjektive Theorie des verdeckten Geschäfts sei noch einmal an den Sachverhalt aus BGHZ 144, 331 erinnert.101 Wäre dort der Formmangel durch Auflassung geheilt worden (§  311b I 2 BGB), dann hätte sich die Frage gestellt, ob der Vertrag über den mit dem Verhandlungsgehilfen der Beklagten besprochenen höheren Kaufpreis zustande ge­ kommen war oder am Missverständnis der Parteien scheiterte. Wäre – entsprechend der BGH-Auffassung zum Einverständnis in §  117 I BGB102 – auch im Rahmen von §  117 II BGB eine innere Willensübereinstimmung als subjektives Tatbestands­ merkmal des verdeckten Geschäfts erforderlich, dann würde auch das verdeckte Geschäft daran scheitern, dass die Beklagten von ihrem Verhandlungsgehilfen über die Absprache nicht informiert worden waren. Dieses Ergebnis ginge völlig daran vorbei, dass die Kläger davon ausgehen durften und mussten, die Beklagten seien durch ihren Verhandlungsgehilfen informiert. Um den Fall von der Problematik der Wissenszurechnung analog §  166 I BGB zu entlasten103, mag man sich vorstellen, Richtigerweise müsste das Geschäft aber (ggf. anfechtbar) zustande kommen. Wenn der Irrtum dem Empfänger eines verdeckten einseitigen Rechtsgeschäfts unterläuft, ist die Erklärung nicht einmal anfechtbar. 100 Vgl. bei Jakobs/Schubert, Beratung AT/1 (1985), 590 die Kritik eines Mitglieds der ersten Kommission an §  96 II des Vorentwurfs, das gegen die §  117 II BGB weitgehend entsprechende Vorschrift erinnerte, „daß eine Fassung sich empfehlen werde, welche schärfer als geschehen her­ vorhebe, daß die auf die Vornahme des anderen Geschäfts gerichtete Absicht der Parteien gegen­ seitig erkennbar geworden sein müsse“. Ablehnend auch Meier-Hayoz, Vertrauensprinzip (1948), 154 zum schweizer Recht: „Die Dissimulation in der durch unsere Rechtsordnung gewählten Lö­ sung bedarf ebensowenig der willenstheoretischen Begründung wie die Simulationsvereinba­ rung.“ 101  Dazu bereits 1 a bb. 102  BGH, Urteil vom 26.5.2000, BGHZ 144, 331 (333 f.). 103  Die Wissenszurechnung ist in BGHZ 144, 331 im Zusammenhang mit der normativen Aus­ legung gleich in zweifacher Hinsicht relevant und führt zum Zustandekommen des (bis zur Hei­ lung formnichtigen) verdeckten Geschäfts im Sinne der Unterverbriefungsabrede: Zum einen müssen sich die Beklagten bei der Auslegung der Willenserklärungen der Kläger analog §  166 I BGB das Wissen ihres Verhandlungsgehilfen zurechnen lassen. Die Begründung, per Wissenszu­ rechnung könne kein Wille zugerechnet werden (BGHZ 144, 331 [333]), greift hinsichtlich norma­ tiv auslegungsrelevanten Empfängerwissens nicht durch. Auch die Begründung des vom BGH a. a. O. zitierten BGH-Urteils vom 21.2.1986, NJW‑RR 1986, 1019 f., die Wissenszurechnung sei mit dem Schutzzweck der Beurkundung unvereinbar, überzeugt nicht (a. A. Thiessen, NJW 2001, 3025). Die (ohnehin nicht alle Rechtsgeschäfte betreffende) Formbedürftigkeit dient nicht dem

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die Beklagten hätten die Vorverhandlungen selbst geführt und dabei die Absprache über das verdeckte Geschäft falsch verstanden oder sich bei Abgabe ihrer Erklärun­ gen während der Beurkundung falsch daran erinnert.104 Es ist kein Grund ersicht­ lich, warum die ausgetauschten Erklärungen dann nicht zumindest subsidiär nor­ mativ auszulegen sein sollten, so dass unter Berücksichtigung der zu den jeweiligen objektiven Empfängerhorizonten gehörenden Vorabsprachen ein Vertrag mit dem Kaufpreis 385 000 DM zustande kommt, den die Beklagten wegen Inhaltsirrtums anfechten können. Dass die Parteien ihre Absprache vor außenstehenden Dritten geheim halten wollten, rechtfertigt es jedenfalls nicht, das begründete Vertrauen der Kläger auf das Zustandekommen des verdeckten Geschäfts schutzlos zu stellen, falls sich – anders als in BGHZ 144, 331 – der Formmangel durch Heilung erledigt und die Kläger statt der Rückabwicklung Erfüllung verlangen. Der Vorsicht halber sei noch hinzugefügt: Ob tatsächlich überall, wo von der Maßgeblichkeit der übereinstimmenden Rechtsfolgewillen, Rechtsbindungswillen oder Ähnlichem die Rede ist, die gerade in ihren Konsequenzen kritisierte subjek­ tive Theorie vertreten wird, lässt sich häufig nicht mit letzter Sicherheit beurteilen. Die subjektivierenden Formulierungen sprechen zwar dafür, doch es gibt Zusam­ menhänge, in denen beispielweise der allem Anschein nach ebenfalls subjektive Terminus „Rechtsbindungswille“ für den nach dem objektiven Empfängerhorizont ermittelten Eindruck eines vermeintlichen Geltungswillens reserviert wird.105 Wä­ Zweck, den Empfänger vor Fehlern in der Abstimmung mit seinen Hilfspersonen zu bewahren (M. Wolf, LM Nr.  44 zu §  166 BGB [2001], Bl.  4 Rs.) und dadurch mittelbar das Auslegungsmateri­ al zu beschränken. Den Wortlaut der Erklärungen der Kläger durften die Beklagten nicht ernst nehmen (a. A. Leenen, AT [2015], §  6 Rn.  110, der die Wissenszurechnung bei seiner normativen Auslegung nicht thematisiert). Zum anderen ist die Unterverbriefungsabrede bei der Auslegung der Erklärung der Beklagten in den Empfängerhorizont der Kläger einzustellen. Die Kläger durf­ ten wegen Erfüllung der Voraussetzungen der Wissenszurechnung davon ausgehen, der Verhand­ lungsgehilfe habe die Vorabsprachen den Beklagten mitgeteilt und sie gäben daher ihre Erklärun­ gen in diesem Wissen ab und stünden auf dem Boden der Vorabsprache (vgl. Pecher, WuB IV A. §  313 BGB 1.87, Bl.  356 unter 3 a; Koos, WuB IV A. §  117 1.01, Bl.  1060). Bei Durchführung der gebotenen normativen Auslegung hätte der BGH somit §  118 BGB gar nicht heranziehen müssen. Nicht ernstlich gemeinte Willenserklärungen der Kläger im Sinne des Wortlauts der Urkunde gab es nach dem objektiven Empfängerhorizont der Beklagten gar nicht, sondern nur solche im Sinne der Vorabsprache. Die Willenserklärungen der Beklagten waren da­ gegen mit einem Inhaltsirrtum (§  119 I Alt. 1 BGB) behaftet, wobei es in BGHZ 144, 331 mangels Heilung des Formmangels auf die Anfechtbarkeit nicht ankam. 104  Vgl. das von Manigk, Irrtum (1918), 88 gebildete Beispiel, in dem die Parteien vorher be­ sprechen b zu meinen, wenn sie nach außen a sagen, eine Seite die vorherige Besprechung aber missverstanden hat und deshalb irrtümlich doch von a ausgeht. Manigk beschränkt sich auf die Feststellung, §  117 BGB sei „dann nicht gegeben, denn das dort verlangte Einverständnis ist die wirkliche Kongruenz des beiderseitigen Willens“. Er bezieht sich damit wohl nur auf §  117 I BGB und geht nicht darauf ein, ob – was m.E. richtig wäre – ein (ggf. anfechtbarer) Vertrag über b zu­ stande kommt. 105  So namentlich im Kontext der Abgrenzung von Rechtsgeschäft und Gefälligkeitsverhältnis BGH, Urteil vom 22.6.1956, BGHZ 21, 102 (106): Maßstab sind die für den objektiven Beobachter erkennbaren Umstände; M. Schwab, Iurratio 2010, 73 (74 f.): „Rechtsbindungswille“ streng auf den objektiven Erklärungstatbestand bezogen mit dem subjektiven Gegenbegriff „Erklärungsbewusst­

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§  10 Die systematischen Argumente der dualistischen Lehre

ren die subjektiv erscheinenden Formulierungen im Kontext des §  117 II BGB je­ doch nicht beim Wort zu nehmen, so würde die These von der Bestätigung der na­ türlichen Auslegungsmethode durch §  117 II BGB schon aus diesem Grund in sich zusammenbrechen. Bei Bestimmung der Voraussetzungen des §  117 II BGB wären dann nämlich der Sache nach (zumindest auch) die Kriterien der normativen Ausle­ gungsmethode anzuwenden. b) Der fehlende Aussagegehalt des §  117 II BGB zum Methodenstreit Ein angemessener Umgang mit dem verdeckten Geschäft erfordert nach dem gerade Gesagten die Anwendung der allgemeinen Auslegungsgrundsätze auch auf das ver­ deckte Geschäft, so dass zumindest subsidiär auch normativ nach dem Empfänger­ horizont der Beteiligten auszulegen ist. Die Suche nach dem Bestätigungsgehalt des §  117 II BGB reduziert sich dadurch auf die Frage, ob der Norm etwas darüber ent­ nommen werden kann, dass die normative Auslegung nicht ausnahmslos zu erfol­ gen hat, sondern ggf. vorrangig das übereinstimmende Verständnis der Beteiligten den Ausschlag gibt. Die hier auf S.  251 f. wiedergegebenen Stellungnahmen von Leenen und Bork, die diesen Schluss aus §  117 II BGB ableiten, erweisen sich bei näherer Betrachtung als haltlos. Im Ausgangspunkt noch zutreffend sehen sie in §  117 II BGB einen Beleg dafür, dass das verdeckte Rechtsgeschäft nicht deshalb unwirksam ist, weil kein dem gewollten Inhalt entsprechender Wortlaut gewählt wurde. Diese schon in den Materialien ausgesprochene Klarstellungsfunktion106 lässt sich der Norm sicherlich entnehmen107, da ansonsten wirksame verdeckte Geschäfte kaum vorstellbar wä­ ren. Auslegungsmethodisch ist das jedoch nur eine weitere Bestärkung des in §  133

sein“; Faust, AT (2016), §  2 Rn.  6. Anders BGH, Urteil vom 7.6.1984, BGHZ 91, 324, Leitsatz und Urteil vom 7.11.‌2001, BGHZ 149, 129 (136 unter II 3 b dd), wo „Rechtsbindungswille“ ersichtlich ein subjektives Tatbestandsmerkmal bezeichnet und als Synonym für Erklärungsbewusstsein ver­ standen wird. Ebenso Armbrüster, in: MünchKommBGB (2015), Vor §  116 Rn.  23 mit Rn.  27 und Kolbe, JZ 2013, 441 (447). Diff. Singer, in: Staudinger (2012), Vor §  116 ff. Rn.  29 einerseits (Rechtsbindungswille vom Rechtsfolgewillen streng zu unterscheiden und anhand „objektiver Kriterien“ zu bestimmen) und §  117 Rn.  10 andererseits („nicht vom Standpunkt eines objektiven neutralen Beobachters zu entscheiden, sondern hängt davon ab, was die Parteien tatsächlich und ernsthaft gewollt haben“). 106  Mot. I, 193 (1888, 2000) = Mugdan I (1899), 459. Der Vorschrift wurde über diese Klarstel­ lung hinaus offenbar gar keine größere Bedeutung beigemessen. Die zweite Kommission ging sogar davon aus, für sie habe keine „unbedingte Notwendigkeit“ bestanden und berief sich gegen­ über Anträgen zur Streichung lediglich auf nicht näher spezifizierte „überwiegende Zweckmäßig­ keitsgründe“, Prot. I (1897, 1983), 97 = Mugdan I (1899), 711. 107  Armbrüster, in: MünchKommBGB (2015), §  117 Rn.  26; Arnold, in: Erman (2014), §  117 Rn.  11; Baeck, Scheingeschäft (1988), 150–152.

II. §  117 BGB

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Hs.  2 BGB zum Ausdruck kommenden allgemeinen Grundsatzes, dass es auf den Wortlaut nicht (allein) entscheidend ankommt.108 Im weiteren Gedankengang klafft eine Lücke. Es fehlt jegliche Begründung, wie aus der Absage an die Wortlautauslegung unvermittelt eine Bestätigung der Krite­ rien der natürlichen Auslegungsmethode erwächst. Nicht sklavisch dem Erklä­ rungswortlaut zu folgen begründet angesichts der Alternative einer individuell-nor­ mativen Auslegungsmethode nicht den Umkehrschluss, der „übereinstimmende tatsächliche Wille“109 oder das innere Verständnis der Beteiligten, das Gewollte oder Gemeinte bestimme den Inhalt des verdeckten Geschäfts. Indem die herr­ schende Auffassung hier sogar – wie unter a) gezeigt – in eine streng subjektive Haltung verfällt, zeigt sich nur allzu deutlich, dass die individuell-normative Ausle­ gung im Rahmen des §  117 II BGB gar nicht erwogen wird. Dabei kann doch prima facie mit gleichem Recht behauptet werden, nicht die subjektiven Vorstellungen der Parteien, sondern der Umstand, dass das Gewollte in ausreichendem Maße zwi­ schen den Beteiligten zum Ausdruck gekommen und erkennbar geworden ist, sei der im Rahmen des §  117 II BGB ausschlaggebende Faktor für die Geltung des verdeckten Geschäftsinhalts110. §  117 II BGB lässt sich letztlich weder für noch wider den Methodendualismus in Anspruch nehmen. In §  117 II BGB heißt es lediglich, es „finden die für das ver­ deckte Rechtsgeschäft geltenden Vorschriften Anwendung“. Das ist mitnichten eine „ausdrückliche Klarstellung“111 zugunsten der natürlichen Auslegung, sondern ein inhaltsleerer Verweis auf die allgemeinen rechtsgeschäftlichen Grundsätze, die ne­ ben der Wirksamkeit der Erklärungen im engeren Sinne auch das Zustandekommen des Geschäfts und die Ermittlung seines Inhalts umfassen. Das verdeckte Geschäft kann (die Vorschrift lässt jedenfalls nichts Gegenteiliges erkennen) nur auf Basis der Willenserklärungen112 der Parteien zustande kommen, so dass sich hier unwei­ 108  Diesen Bezug zur Auslegungslehre stellt auch Armbrüster, in: MünchKommBGB (2015), Vor §  116 Rn.  25 her. 109  So aber Leenen, AT (2015), §  6 Rn.  100. 110  In diesem Sinne deutet v. Craushaar, Einfluss (1969), 47 die Vorschrift ohne nähere Be­ gründung rein vertrauenstheoretisch. So auch schon Zitelmann, JherJb 16 (1878), 404 zum gemei­ nen Recht: bei der Simulation liege „eine vollgiltige Erklärung vor, der Eine muß dem Anderen irgendwie seine wahre Absicht erklärt haben, sonst könnte dieser Andere sie nicht kennen“. Ferner Manigk, Verhalten (1939), 128. 111  Leenen, AT (2015), §  6 Rn.  100. 112  Nur in der älteren Literatur finden sich noch Erläuterungen, die zu den allgemeinen Erfor­ dernissen des verdeckten Geschäfts auch dessen „Erklärtsein“ und gegenseitiges „Erkennbarsein“ zählen: Flad, in: Planck, BGB (1913), 273 (§  117 Anm.  6): „Ob das durch das Scheingeschäft ver­ deckte Rechtsgeschäft wirksam ist, hängt in erster Linie davon ab, ob der hierauf gerichtete Wille der Parteien einen genügenden Ausdruck gefunden hat. Der Grundsatz, daß ein nicht erklärter Wille keine rechtliche Wirkung hat, gilt auch hier.“ Ähnlich Endemann, BR I (1903, 2007), 365 in Fn.  17: „Der Geschäftswille ist vorhanden. Es fragt sich nur, ob er eine entsprechende rechtsge­ schäftliche Verlautbarung gefunden hat; dafür ist besonders bedeutsam die Erklärung durch schlüssiges Verhalten.“; Windscheid/‌Kipp, Pandekten I (1906, 1984), 380 f.: entscheidend, „ob (…) die abgegebene Erklärung als gehöriger Ausdruck des vorhandenen Willlens angesehen werden

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§  10 Die systematischen Argumente der dualistischen Lehre

gerlich die Frage nach den allgemeinen Auslegungsregeln stellt; also eben jenem Thema, dem §  117 II BGB nach Auffassung der Dualisten angeblich eine bestimmte Richtung geben soll. Zugegebenermaßen sind auch im Anwendungsbereich von §  117 II BGB Fallkon­ stellationen vorstellbar, in denen natürliche und normative Auslegung im Ergebnis divergieren, wenn nämlich die Beteiligten zufällig übereinstimmend von einem In­ halt ihrer Willenserklärungen ausgehen, von dem sie unter Berücksichtigung aller wechselseitig erkennbaren Umstände und insbesondere ihrer vorangegangen Be­ sprechungen nicht hätten ausgehen dürfen. Eine Stellungnahme zu diesen Fällen enthält der dürre Verweis auf die allgemeinen Regeln aber nicht. Wer von ihm die natürliche Auslegungsmethode für mitumfasst hält, muss sie aus jenseits dieser Norm liegenden Gründen für richtig halten. Die Vorschrift selbst ist insoweit in­ haltsleer und bestätigt nichts.113 c) Der unzutreffende klassische Erst-recht-Schluss aus §  117 II BGB vom absichtlichen auf das versehentliche Verdecken des Gewollten Abschließend ist noch auf eine geradezu klassische Argumentation einzugehen, die sich zur Rechtfertigung der natürlichen Auslegungsmethode ebenfalls auf §  117 II BGB stützt. Reinicke bringt sie wie folgt auf den Punkt: „Wenn das Gesetz in §  117 Abs.  2 davon ausgeht, daß das von den Parteien übereinstim­ mend Gewollte sogar dann vereinbart ist, wenn die Parteien absichtlich objektiv-normativ etwas anderes erklären, dann muß das übereinstimmend Gewollte erst recht vereinbart sein, wenn bloß versehentlich objektiv-normativ etwas anderes erklärt wird. Vermag ein bewußtes Verdecken die Geltung des Gewollten als Parteivereinbarung nicht zu berühren, so vermag ein irrtümliches Verdecken des Gewollten dies erst recht nicht (argumentum a maiore ad minus).“114 kann“; Riezler, in: Staudinger (1936), §  117 Rn.  19: nur „wirksam, wenn ein Verhalten der Parteien gegeben ist, welches (…) zum Schluß auf eben diesen Geschäftswillen nötigt (…)“. Wie Riezler auch Coing, in: Staudinger (1957), §  117 Rn.  19 unter Hinweis auf die Grundsätze der Auslegung schlüssigen Verhaltens. Auch Seifert, Falsa demonstratio (1929), 141 f. geht davon aus, §  117 II BGB setze eine „Erklärung“ des Gewollten voraus, damit des verdeckte Geschäfts zustande kommt. Im Folgenden verfällt aber auch er in eine übermäßige Versubjektivierung der Vorausset­ zungen des verdeckten Geschäfts, wenn er ausführt, für das Zustandekommen des Scheinge­ schäfts sei ein „Einverständnis“ im Sinne einer „bewußten Willensübereinstimmung“ erforder­ lich. Vgl. aus jüngerer Zeit immerhin Baeck, Scheingeschäft (1988), 151, der zum Tatbestand des verdeckten Vertrag ausführt, es müssten dafür zwei sich deckende Willenserklärungen vorliegen. Entscheidend hierfür sei „allein, ob aus der Sicht des jeweiligen Empfängers der zurechenbare Tatbestand einer Willenserklärung vorliegt“. 113  So i. E. auch Martinek, JuS 1997, 136 (139 [Prof.]): §  117 II BGB lasse die Frage offen, was bei irrtümlich übereinstimmendem Verständnis gelte. 114  Reinicke, JA 1980, 455 (457). So erstmals Bang, JherJb 66 (1916), 309 (364). Der Erst-rechtSchluss findet sich auch bei Manigk, JherJb 75 (1925), 127 (213); Riezler, in: Staudinger (1936),

II. §  117 BGB

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Auch dieser Erst-recht-Schluss krankt an hier bereits vielfach herausgearbeiteten Mängeln. Seine Prämisse, im Rahmen von §  117 II BGB würden die Parteien „ab­ sichtlich objektiv-normativ etwas anderes“ als das Gewollte erklären, ist von der Wortlautverwechslung infiziert. Die objektiv-normative Bedeutung ist in dem von Reinicke ersichtlich gemeinten Normalfall des §  117 II BGB nicht der Wortlaut der Erklärung, von dem ein mit den Begleitumständen nicht vertrauter außenstehender Dritter ausgehen würde, sondern die Bedeutung, die aus dem Horizont des Empfängers folgt. Für diesen liegt jedoch im „gesunden“ Normalfall des §  117 II BGB an­ gesichts der Begleitumstände offen zu Tage, was wirklich gewollt ist, so dass sich das Gewollte und das „objektiv-normativ“ Erklärte decken115. „Objektiv bedeutet eben nicht objektiv für irgendwen, sondern objektiv für den Empfänger.“116 Dem Empfänger gegenüber verbirgt der Erklärende das Gewollte keineswegs absichtlich, sondern legt es im Gegenteil offen. Ein absichtliches Verbergen des wirklich gewollten „anderen“ Geschäftsinhalts vor dem Erklärungsempfänger wäre nicht bei §  117 II BGB, sondern bei §  116 BGB anzusiedeln – mit der einzigen Besonderheit, dass der Erklärende sich nicht ledig­ lich insgeheim vorbehält, das Erklärte nicht zu wollen, sondern stattdessen etwas anderes positiv will. Eine solche „qualifizierte Mentalreservation“117 ist, wenn schon die einfache unbeachtlich ist (§  116 S.  1 BGB), erst recht unbeachtlich118, zumal nicht einmal aus Sicht des Erklärenden eine Erklärung des verheimlichten wahren Willens erfolgt ist und damit das Erklärungserfordernis nicht erfüllt ist119. Der von Reinicke behauptete Erst-recht-Schluss von der beidseitigen absichtli­ chen auf die beidseitige fahrlässige Falschbezeichnung wäre allenfalls in Betracht zu ziehen, wenn es eine Rechtsregel gäbe, die bei der (kaum wahrscheinlichen) beidseitigen kongruenten qualifizierten Mentalreservationen das vorbehaltene Ge­ wollte gelten lässt. Beispiel: Beide Vertragspartner verbergen voreinander, y statt des objektiv erklärten x zu wollen. Eine solche Regel lässt sich dem Gesetz jedoch nicht entnehmen und wird auch nirgendwo befürwortet120. Selbst wenn es diese Regel gäbe, würde sich zudem jeder Erst-recht-Schluss auf die Fälle irrtumsbedingt kongruenter Verständnisse verbieten. Es mag angehen, unredliches Verhalten zum Anlass zu nehmen, die Parteien durch die überraschende positive Rechtswirkung §  119 Rn.  57; Lehmann/Hübner, AT (1966), 214; Foer, Regel (1987), 31; Semmelmayer, JuS 1996, L 9 (L 10); Bergermann, RNotZ 2002, 557 (558). 115 Auch Krüger-Nieland, in: RGRK (1982), §  117 Rn.  21 geht zu Unrecht von einer Divergenz zwischen Wille und Erklärung aus. 116  Süß, Jura 2011, 735 (738) in anderem Zusammenhang. 117  Begriff nach Henle, Treu und Glauben (1912), 26 in Fn.  35. 118  Henle, Treu und Glauben (1912), 26 in Fn.  35. 119  Henle, Treu und Glauben (1912), 25 in Fn.  35; Gebhard, in: Vorlagen AT/2 (1981), 98; Zitelmann, JherJb 16 (1878), 357 (401). Vgl. auch Jacobi, Theorie (1910), 26. 120  In der Lehre behandelt soweit ersichtlich allein Wolff, JherJb 81 (1931), 53 (101) diese Kon­ stellation und geht wohl von der Anwendung des §  116 S.  1 BGB aus, wie sich aus seinen knappen Bemerkungen auf S.  175 zu den Rechtsfolgen eines solchen von ihm als „gegenstandslos“ bezeich­ neten Gedankenvorbehalts ergibt.

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§  10 Die systematischen Argumente der dualistischen Lehre

ihrer Vorbehalte orientierungslos zu machen.121 Bei beidseitigem Irrtum wäre eine solche nur als Verhaltenssanktion zu wertende Rechtsfolge dagegen unbillig.122 Die Argumentation mit der beidseitigen Absicht, das wirklich Gewollte voreinander zu verbergen, wäre nicht zuletzt auch deshalb ungeeignet für Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Auslegung von empfangsbedürftigen Willenserklärungen, weil es bei diesen – wie das einseitige Rechtsgeschäft zeigt – auf Empfängerseite eine sol­ che Absicht gar nicht geben kann. In seiner passiven Rolle als Adressat der fremden Erklärung kann der Empfänger die qualifizierte Mentalreservation bestenfalls durchschauen, aber niemals teilen. Ob die Erklärung dann bei durchschauter quali­ fizierter Mentalreservation im Sinne von y gilt123 oder gemäß §  116 S.  2 BGB nichtig ist124, kann an dieser Stelle offen bleiben. Denn mit den bereits unter I 2 dargeleg­ ten Gründen kann in den hier allein interessierenden Zufallsfällen von einem „Durchschauen“ oder einer „Kenntnis“ der qualifizierten Mentalreservation keine Rede sein, weil der Empfänger bloß zufällig ohne äußere Anhaltspunkte von y als dem wirklich Gewollten ausgeht. Ein die natürliche Auslegungsmethode bestätigen­ der Erst-recht-Schluss kommt somit auch dann nicht in Betracht, wenn einer durch­ schauten qualifizierten Mentalreservation positive Wirkung zukommen sollte. Mit §  117 II BGB hat all dies ersichtlich nichts zu tun. Der Vorschrift unterfallen im Normalfall „unechte“ Falschbezeichnungen, bei denen sich der vom Wortlaut abweichende Geschäftsinhalt schon aus einer individuellen Auslegung nach dem Empfängerhorizont anhand der für den Empfänger erkennbaren Begleitumstände ergibt. Zwar ist theoretisch auch hier der pathologische Ausnahmefall vorstellbar, in dem der Erklärende auch unter Berücksichtigung der Begleitumstände dem Emp­ fänger gegenüber normativ etwas anderes erklärt, als er selbst innerlich meint und der Empfänger übereinstimmend versteht. Doch das setzt eine nach objektiven Maßstäben misslungene Mitteilung des Gewollten voraus, deren Mängel lediglich zufällig durch einen kongruenten Gegenirrtum oder ein Erraten des wirklichen Willens seitens des Empfängers übertüncht wird. Diese methodenrelevanten Fälle 121 

Vgl. dazu noch §  14 V 2 b. Jacobi, Theorie (1910), 26, der die qualifizierte Mentalreservation auch deshalb für unbeachtlich hält, weil der Erklärende „gar nicht ahnen kann, daß er durch sein Wort an [die inner­ lich gewollte Rechtsänderung] gebunden wäre“. Bei der qualifizierten Mentalreservation ist zwar zweifelhaft, ob der Erklärende angesichts seiner Arglist vor der überraschenden Geltung seines Willens zu schützen ist. Jedenfalls bei einem fahrlässig Irrenden spricht das der Sache nach von Jacobi geltendgemachte Orientierungsinteresse der Erklärenden aber gegen den Erst-rechtSchluss. 123 So Larenz/M. Wolf, AT (2004), §  35 Rn.  11, die von der in §  116 S.  2 BGB angeordneten Rechtsfolge abweichen wollen. Sie stützen dies ersichtlich auf die dualistische Auslegungslehre. Ihre Erwägungen enthalten insofern aber keine eigenständigen Argumente, die den Methodendu­ alismus stützen könnten. Ebenso Babich, Einfluß (1934), 12 und Wolff, JherJb 81 (1931), 53 (180), der in Analogie zu §  117 II BGB die Erfüllung der Voraussetzungen des vorbehaltenen Geschäfts (insb. Einhaltung etwaiger Formvorschriften) verlangt. Auch Hölder, BGB-Kommentar (1900), 254 (§  116 Anm.  3 b), aber wohl nur de lege ferenda. 124 So Jacobi, Theorie (1910), 26; Henle, Treu und Glauben (1912), 26 in Fn.  35; Manigk, Ver­ halten (1939), 160. Vgl. auch Henle, Vorstellungs- und Willenstheorie (1910), 483 in Fn.  61. 122 Vgl.

II. §  117 BGB

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echter Falschbezeichnungen verfehlt ein Erst-recht-Schluss vom absichtlichen auf das versehentliche Verhalten der Beteiligten. Es kann dann nämlich keine Rede davon sein, es sei absichtlich objektiv-normativ etwas anderes erklärt worden, son­ dern der objektiv-normative Erklärungsgehalt beruht dann ebenfalls im Sinne Reinickes auf einem Versehen. Es stellen sich diesbezüglich dann dieselben Fragen wie außerhalb eines Simulationskontexts, die durch §  117 II BGB in keiner Weise a ma­ iore ad minus vorentschieden sind.

3. Zwischenergebnis §  117 BGB bestätigt die natürliche Methode nicht. Das (in jedem Fall als Vorstufe des Einverständnisses erforderliche) Simulationsbewusstsein des Empfängers vom Simulationscharakter ist für den Methodenstreit unergiebig, soweit es als „Kennt­ nis“ des Simulationscharakters auf dem Empfänger bekannten objektiven Umstän­ den beruht. Sollte im Simulationskontext einmal ein Einverständnis und Bewusst­ sein des Simulationscharakters ohne für den Empfänger erkennbare äußere An­ haltspunkte des Scheingeschäftswillens zustande kommen, wäre zum Schutz nachträglichen Empfängervertrauens nicht §  117 I BGB, sondern §  118 BGB (in Verbindung mit §  122 BGB) heranzuziehen. Ein etwaiges voluntatives Billigungs­ element auf Empfängerseite ist für die natürliche Methode nicht anschlussfähig, da die natürliche Methode eine Billigung des Auslegungsergebnisses durch den Emp­ fänger gar nicht voraussetzt. Die Lehre von der rechtsgeschäftsähnlichen Simula­ tions­abrede muss schließlich sogar selbst auf die allgemeinen Auslegungsgrundsät­ ze rekurrieren. Jede Argumentation mit §  117 I BGB wäre auf ihrer Basis im Zu­ sammenhang mit der allgemeinen Auslegungslehre daher zirkulär. Auch aus Absatz 2 ergibt sich keine Bestätigung der natürlichen Methode. Die heute verbreitete subjektive Theorie des verdeckten Geschäfts, die das Zustande­ kommen des verdeckten Geschäfts an das Vorhandensein übereinstimmender inne­ rer Vorstellungen oder gar Willen der Beteiligten koppelt, ist verfehlt. Sie würde ohne überzeugenden Grund den Schutz anfänglichen Vertrauens auf den für die Simulanten erkennbaren Sinn des Verhaltens außer Kraft setzen. Auch im Wege eines Erst-recht-Schlusses ist der Regelung keine Bestätigung der natürlichen Aus­ legungsmethode zu entnehmen. Die Norm verweist lediglich auf die für das ver­ deckte Geschäft geltenden Vorschriften, zu denen auch die allgemeinen Regeln der Inhaltsbestimmung gehören. Gerade um sie geht es aber beim Streit über die richti­ ge Methode der Auslegung.

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§  10 Die systematischen Argumente der dualistischen Lehre

III. §  122 II BGB Mitunter wird der Vorrang der natürlichen Auslegung auch auf §  122 II BGB ge­ stützt125, der den Anspruch auf Ersatz des negativen Interesses im Falle der Anfech­ tung ausschließt, wenn der Anfechtungsgegner den Grund der Nichtigkeit oder An­ fechtbarkeit kannte oder kennen musste. Um §  122 II BGB argumentativ überhaupt in den Blick zu bekommen, muss man zunächst darüber hinwegsehen, dass die na­ türliche Auslegungsmethode in ihrem Anwendungsbereich wegen des Vorrangs der Auslegung vor der Anfechtung auch §  122 II BGB den Boden entzieht und systema­ tisch deshalb in einem gewissen Spannungsverhältnis zu dieser Regel des geschrie­ benen Rechts steht.126 Die für die Auslegungsmethodik interessante Wertung wird dann wohl – nähere Erläuterungen finden sich praktisch nicht – in einer Beschrän­ kung des Vertrauensschutzes gesehen: Dem Empfänger soll kein Vertrauensschutz zu Teil werden, wenn er den hinter der Erklärung liegenden Willen erkannt und somit nicht auf den objektiven Erklärungssinn vertraut habe.127 Wenn ein Vertrau­ ensschutz im Falle der Anfechtung nicht angemessen ist, dann – so mag man diese Überlegung zuspitzen – darf es ihn auch unabhängig von der Anfechtung nicht im Wege der normativen Auslegung geben. Der Regelungsgehalt des §  122 II BGB enthält jedoch bei näherer Betrachtung keine Wertung, die beim methodenrelevanten Doppelirrtum eine Abweichung von den Grundsätzen der normativen Auslegung trägt. Die Vorschrift steht in einem solchen Fall bei normativer Auslegung und Anfechtung der Willenserklärung ei­ nem Ersatzanspruch nicht im Wege: Beim Doppelirrtum steht der Empfänger zunächst unter dem Einfluss seines ei­ genen Irrtums. Dass ihm kein Anspruch auf Vertrauensschadensersatz zusteht, ist in dieser Phase nicht auf die „Kenntnis“ des Willensmangels des Erklärenden (§  122 II Alt. 1 BGB) zurückzuführen, sondern darauf, dass §  122 I BGB nur Ersatz für enttäuschtes Vertrauen auf das objektiv Erklärte gewährt.128 §  122 II BGB ist in dieser Phase irrelevant, da er nicht die Frage betrifft, ob Vertrauen auf die Gültigkeit 125  Lüderitz, Auslegung (1966), 231; Foer, Regel (1987), 34; Biehl, JuS 2010, 195 (198); C. ­Picker, Jura 2012, 560 (562); Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  13. 126  Bedenken in dieser Hinsicht sind bei Larenz, Methode (1930, 1966), 79 f. in Fn.  2; Wieling, AcP 172 (1972), 297 (300 in Fn.  18) und Trupp, NJW 1990, 1346 (1347) greifbar. Sie problematisie­ ren, wie sich die Auslegung nach dem übereinstimmenden Verständnis mit §  122 II BGB vertrage, der doch davon ausgehe, dass bei Kenntnis des Irrtums der Gegenseite eine anfechtbare Erklärung zustande komme. Sie verweisen mit einer weit verbreiteten Auffassung u. a. darauf, der Vorschrift verbleibe für die Fälle nachträglicher Kenntniserlangung ein Anwendungsbereich trotz natürlicher Auslegung (Nachw. in §  3 Fn.  232). Ohne eine solche einschränkende Auslegung gerate „der Grundsatz ‚falsa demonstratio non nocet‘ tatsächlich in Gefahr“ (Trupp, NJW 1990, 1346 [1347]). Gänzlich ablehnend gegenüber dem „erkannten Irrtum“ sogar Diederichsen, FS Juristische Ge­ sellschaft zu Berlin (1984), 81 (88) unter Hinweis auf §  122 II BGB; zweifelnd auch H. Westermann, JuS 1964, 169 (171 in Fn.  9). 127  So ist wohl Foer, Regel (1987), 33 f. zu verstehen. 128  Dazu bereits §  9 II 3 b mit Nachw. in Fn.  171–173.

IV. §§  133, 157 BGB

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der Erklärung existiert, sondern die Frage, ob tatsächlich existentes Vertrauen auf das objektiv Erklärte schutzwürdig ist, wenn der Vertrauende den Grund der An­ fechtbarkeit kennt oder kennen muss129. §  122 II BGB kann das Ergebnis frühestens beeinflussen, nachdem der Empfänger den objektiven Sinn der Erklärung entdeckt hat und darauf zu vertrauen beginnt. Vorbehaltlich zwischenzeitlicher zusätzlicher Informationen, die der Empfänger zufällig erlangt haben mag, kennt der Empfänger den Willensmangel des Erklärenden aufgrund der Entdeckung seines Irrtums aber immer noch nicht und muss von ihm auch nichts wissen.130 Nicht §  122 II BGB steht seinem Anspruch auf Ersatz des Vertrauensschaden im Wege, sondern allen­ falls die natürliche Methode, die der Anfechtung (und damit auch dem Vertrauens­ schadensersatz) die Grundlage entzieht. Eine Rechtfertigung hierfür ist aus §  122 II BGB, der zum gegenteiligen Ergebnis führt, nicht zu gewinnen.

IV. §§  133, 157 BGB Es überzeugt auch nicht, die §§  133, 157 BGB gegen die hier vertretene streng nor­ mative Auslegungslehre in Stellung zu bringen.131 §  133 BGB steht einer streng normativen Auslegung nicht entgegen. Mit dem Verbot der Buchstabeninterpretation (§  133 Hs.  2 BGB) besteht kein Konflikt, da bei der heute allgemein angenommenen individuell-normativen Auslegung auch die sinntragenden Begleitumstände und der Vorgeschichte zum Empfängerhorizont zählen.132 Bedenken im Hinblick auf die Vereinbarkeit einer streng normativen Auslegung mit dem Gebot der Erforschung des wirklichen Willens (§  133 Hs.  1 BGB)133 sind 129 Auf die fehlende Schutzwürdigkeit des Vertrauens stellen ab Armbrüster, in: Münch­ KommBGB (2015), §  122 Rn.  20 („kein schützenswertes Vertrauen“); Arnold, in: Erman (2014), §  122 Rn.  9; Wendtland, in: Bamberger/Roth (2012), §  122 Rn.  10. Vgl. aber auch Singer, in: Stau­ dinger (2012), §  122 Rn.  17 und Krüger-Nieland, in: RGRK (1982), §  122 Rn.  4, die meinen, in den Fällen des §  122 II BGB vertraue der Anfechtungsgegner entweder nicht auf die Gültigkeit der Erklärung oder sein Vertrauen sei nicht schutzwürdig. Für ersteren Fall wäre §  122 II BGB jedoch überflüssig, da dann schon der Vertrauensschaden fehlt. 130  Siehe bereits §  6 I 4 c. 131  So aber Enneccerus/Nipperdey, AT I/2 (1960), 1250 in Fn.  13 gegenüber F. Leonhard. 132  Dazu bereits §  3 III 2 b aa (2). 133  So aber Schiemann, in: Staudinger-Eckpfeiler (2014), C Rn.  43: „Im Gesetz selbst sagt §  133 BGB ohne weiteres dasselbe.“ Vgl. auch U. Huber, FS Medicus (2009), 199 (208), der sich beim durchschauten Irrtum auf §  133 BGB bezieht, aus dem sich die Geltung des Gewollten ergebe. Auch Vonkilch, in: Klang, ABGB (2011), §  914 Rn.  133 geht im Hinblick auf den falsa-Satz von einem „diesbezüglich recht klaren Wortlaut“ der ähnlich formulierten Parallelvorschrift des öster­ reichischen Rechts aus (§  914 ABGB: „Bei Auslegung von Verträgen ist nicht an dem buchstäbli­ chen Sinne des Ausdrucks zu haften, sondern die Absicht der Parteien zu erforschen und der Vertrag so zu verstehen, wie es der Übung des redlichen Verkehrs entspricht.“) aus. Vgl. auch ­Fezer, Klausurenkurs (2013), 205 in Fn.  6 (Fall 19); Schimmel, JA 1998, 979 (983); Coing, in: Stau­ dinger (1957), §  157: falsa-Satz folge aus §  133 BGB.

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§  10 Die systematischen Argumente der dualistischen Lehre

ebenfalls nicht gerechtfertigt. Auch die individuell-normative Auslegung forscht nach dem wirklichen Willen des Erklärenden als ihrem Idealziel; sie tut dies nur mit normativ beschränkten Erkenntnismitteln aus der verobjektivierten Sicht des Emp­ fängers.134 Da die Dualisten selbst auf zweiter Stufe normativ auslegen wollen, kön­ nen sie schwerlich behaupten, die Vorschrift stehe einer normativen Auslegung im Wege oder gebe gar die Maßgeblichkeit des wirklichen Willens des Erklärenden schlechthin vor. Zu ihrem gestuften Dualismus gelangen sie nicht in Anknüpfung an den Wortlaut des §  133 Hs.  1 BGB, der die von ihnen vertretenen Differenzierun­ gen (z. B. zwischen empfangsbedürftigen und nicht empfangsbedürftigen Erklärun­ gen und bei ersteren zwischen übereinstimmendem und divergierendem inneren Verständnis der Beteiligten) gar nicht enthält. Sie stützen ihre Ansicht vielmehr auf teleologische Erwägungen zur Interessenlage der Beteiligten. Zuzustimmen ist al­ lein der deutlich schwächeren Aussage, die natürlichen Methode der Auslegung sei „mit dem Wortlaut des §  133 BGB vereinbar“135 – verbindlich vorgegeben ist sie dadurch aber nicht.136 Der Maßgeblichkeit von „Treu und Glauben“ und der „Verkehrssitte“ (§  157 BGB) lässt sich ebenfalls nichts Greifbares entnehmen, das bei der Beurteilung der me­ thodenrelevanten Fälle über die bereits behandelten teleologischen Argumente hin­ ausreicht.137 Wer die Problematik des nachträglich entstehenden Vertrauens auf das objektiv Erklärte im Entdeckungsszenario in die Bewertung nicht einstellt, mag die Berufung auf eine streng normative Auslegung in den methodenrelevanten Zufalls­ fällen für treuwidrig halten. Doch das beruht dann auf der Nichtberücksichtigung dieses für die Beurteilung der auf dem Spiel stehenden Interessen maßgeblichen Gesichtspunkts.

V. §  155 BGB Kramer138 möchte aufgrund der wertungsmäßigen Vergleichbarkeit mit dem ver­ steckten Dissens den inkongruenten Doppelirrtum „[n]ach §  155 BGB (…) behan­

Flume, AT II (1992), 303 dagegen meint, §  133 BGB habe nicht den konkreten Sinn, die Geltung des Satzes falsa demonstratio non nocet zum Ausdruck zu bringen, sondern betreffe nur das Ver­ bot der Buchstabeninterpretation; zust. Wieling, AcP 172 (1972), 297 (299 in Fn.  11). 134  Dazu §  3 III 2 a aa. 135  Trupp, NJW 1990, 1346 unter III. 136  Zum geringen sachlichen Gehalt der §§  133, 157 BGB siehe bereits §  3 I. 137  Flume, AT II (1992), 308 meint lediglich, die Auslegung nach dem übereinstimmenden Verständnis entspreche der in §  157 BGB geforderten Auslegung nach „Treu und Glauben“. Vgl. auch Larenz, Methode (1930, 1966), 77 f., der sich auf Treu und Glauben (ohne Bezug auf §  157 BGB) beruft. 138 MünchKommBGB (2006), §   155 Rn.  13; zust. Eckert, in: Bamberger/‌Roth (2012), §  155 Rn.  5; Ellenberger, in: Palandt (2016), §  155 Rn.  3.

VI. Ergebnis

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deln“, kommt also unter Heranziehung dieser Norm zu einer Unwirksamkeit des Vertrages entgegen dem Ergebnis der normativen Auslegung.139 Entgegen Kramer fehlt es aber an der behaupteten wertungsmäßigen Vergleich­ barkeit mit dem versteckten Dissens, bei dem die Parteien irrtümlich vom Zustan­ dekommen eines Vertrages ausgehen, obwohl die Erklärungen objektiv aneinander vorbeigehen (Erklärungsdissens) oder objektiv mehrdeutig sind (Scheinkonsens). Es trifft zwar zu, dass sich sowohl beim versteckten Dissens als auch beim inkon­ gruenten Doppelirrtum „[k]einer der beiden Kontrahenten (…) auf die von ihm in­ tendierte Bedeutung seiner Erklärung berufen“140 kann. Auf die intendierte Bedeu­ tung können sich die Parteien indes auch bei Wirksamkeit des Vertrags trotz inkon­ gruenten Doppelirrtums nicht berufen, sondern lediglich auf die normative Bedeutung.141 Die Befürworter der Unwirksamkeit des Vertrags bei inkongruen­ tem Doppelirrtum müssten erklären, warum der normativ ermittelte Geschäftsin­ halt als Basis für einen Schutz normativ gerechtfertigten (nachträglichen) Vertrau­ ens außer Kraft gesetzt werden darf. Diese Frage stellt sich beim versteckten Dis­ sens aber nicht, da der Vertrag dort bei normativer Auslegung ohnehin unwirksam ist und keiner der Beteiligten auf seinen Bestand, sondern allenfalls auf den Nicht­ bestand vertrauen darf.142

VI. Ergebnis Keines der systematischen Argumente zugunsten der dualistischen Auslegungsleh­ re überzeugt. Die häufig genannten §§  116 S.  2, 117 I und II, 122 II BGB sind teils für die Auslegungslehre gar nicht anschlussfähig (z. B. das billigende „Einverständ­ nis“ nach §  117 I BGB), teils ohne jeden auslegungsrelevanten Aussagegehalt (§  117 II BGB, 122 II BGB) und werfen im Übrigen bestenfalls dieselben – durch die Nor­ men selbst nicht beantworteten – Zweifelsfragen auf, die in den allein methodenre­ levanten Zufallsfällen ganz allgemein auftreten (so bei §§  116 S.  2, 117 I BGB, so­ weit es die für das Einverständnis erforderliche kognitive Bewusstseinslage des 139  Die Analogie zu §  155 BGB ist außer aus den im Text genannten Wertungsgründen auch dann schief, wenn keine Nebenpunkte, sondern essentialia des Vertrages betroffen sind. Auf diese Fälle ist die auf ausnahmsweise Vertragserhaltung (!) zielende Vorschrift nach allgemeiner An­ sicht schon gar nicht anwendbar, weil von vornherein die Mindestvoraussetzungen für einen Ver­ tragsschluss fehlen, Busche, in: MünchKommBGB (2015), §  155 Rn.  2; Armbrüster, in: Erman (2014), §  155 Rn.  1; Schulze, in: NK‑BGB (2012), §  155 Rn.  3. Richtigerweise müsste sich Kramer also in dem von ihm gebildeten Beispiel nicht auf §  155 BGB, sondern – wie er der Sache nach auch argumentiert – auf die allgemeinen Grundsätze über die Behandlung des versteckten Dissens be­ ziehen. 140  Kramer, in: MünchKommBGB (2006), §  155 Rn.  13. 141  Siehe dazu bereits §  9 II 5. 142  Vgl. die Kritik von Diederichsen, FS Hübner (1984), 421 (426) an Kramer mit dem (etwas kryptischen) Hinweis, das Nichtzustandekommen des Vertrages sei beim Dissens bereits das Er­ gebnis des Vertragsbegriffs bzw. der Auslegung.

266

§  10 Die systematischen Argumente der dualistischen Lehre

Empfängers betrifft). Die Vorschriften können und müssen dann so ausgelegt wer­ den, dass auch an dieser Stelle das schutzwürdige Vertrauen der Beteiligten ge­ schützt bleibt. Mit den §§  133, 157 BGB ist eine streng normative Auslegungslehre ohne weiteres vereinbar, wenn man von den hier für zutreffend gehaltenen teleolo­ gischen Erwägungen ausgeht. Ein positiv-rechtlicher Zwang zur dualistischen Aus­ legung ergibt sich aus ihnen jedenfalls nicht. Im Falle des inkongruenten Doppelirr­ tums lässt sich die Unwirksamkeit eines bei normativer Auslegung der Einzelerklä­ rungen zustande gekommenen Vertrags auch auf §  155 BGB bzw. die Grundsätze über die Behandlung des versteckten Dissens nicht stützen.

§  11 Die historischen Argumente der dualistischen Lehre Historische Argumente zur Rechtfertigung der natürlichen Auslegungsmethode fin­ den sich im Schrifttum kaum. Die Methode wird wohl allgemein für so einleuch­ tend und (insb. durch §§  116 S.  2 und §  117 BGB) systematisch abgesichert gehalten, dass sie keiner historischen Fundierung bedarf. Historisch argumentiert wird nur bezogen auf den schillernden Satz falsa demonstratio non nocet, unter dessen Rubrum auch die natürliche Auslegungsmetho­ de heute häufig behandelt wird. Wertenbruch lehrt, der BGB-Gesetzgeber sei davon ausgegangen, die Regel ergebe sich aus §  133 BGB.1 Er stützt sich hierfür auf Aussagen in den Gesetzgebungsmaterialien zum Erbrecht. Zur Testamentsausle­ gung heißt es dort, es sei nicht erforderlich, die in vielen Partikularrechten vorhan­ dene Auslegungsregel zu übernehmen, wonach unter anderem „eine unrichtige Bezeichnung der Person des Bedachten die Gültigkeit der Anordnung nicht berührt, wenn des Erblassers wirklicher Wille sich ermitteln läßt (…). Die in diesen Vorschriften enthaltenen Regeln, besonders der Satz ‚falsa demonstratio non nocet‘ sind schon aus den §§  72, 73 [E I] zu entnehmen und sind deshalb für das Erbrecht nicht beson­ ders auszusprechen.“2

Auch mehrere Anträge, die erbrechtlichen Anfechtungsregeln um eine Vorschrift über die Unschädlichkeit von bloßen Falschbezeichnungen zu ergänzen, wurden unter Hinweis auf die Vorläuferregelung des heutigen §  133 BGB abgewiesen.3 Ein historisches Argument zur Rechtfertigung der natürlichen Auslegungsme­ thode bei empfangsbedürftigen Willenserklärungen folgt aus diesen Bemerkungen freilich nicht. Dem Satz falsa demonstratio non nocet werden seit jeher rechtliche Regelungsgehalte von sehr unterschiedlicher Tragweite zugeordnet.4 Die Aussa­ gen in den Materialien zum Erbrecht haben ersichtlich nur das Problem der Wort­ lautfalschbezeichnung im Sinn. Da schon §  133 Hs.  2 BGB ganz allgemein für die Auslegung das Verbot der Wortlautauslegung ausspricht, konnte eine spezielle erb­ 1  Wertenbruch, AT (2014), §  9 Rn.  10 unter Hinweis auf eine Darstellung der Gesetzgebungsge­ schichte bei Vogenauer, in: HKK‑BGB (2003), §§  133, 157 Rn.  87. 2  Mot. V (1888, 2000), 40 f. = Mugdan V (1899), 22. §  73 E I hatte bereits den Wortlaut des heutigen §  133 BGB (vgl. Mudgan I [1899], LXXVIII). 3  Prot. V (1899, 1983), 49 = Mugdan V (1899), 540 zu der in den Anträgen 1, 2 und 6 enthal­ tenen Formulierung: „Die unrichtige Bezeichnung des Bedachten oder des Gegenstandes der Zu­ wendung beeinträchtigt die Gültigkeit der Verfügung nicht.“ (Prot. V [1899, 1983], 44 f., 46 = Mugdan V [1899], 538). 4  Dazu bereits §  3 II 4 a. E. und §  4 I 2.

268

§  11 Die historischen Argumente der dualistischen Lehre

rechtliche Regelung unterbleiben. Mit der Frage, ob sich der Inhalt einer empfangs­ bedürftigen Willenserklärung vorrangig nach dem übereinstimmenden inneren Verständnis der Beteiligten richtet, hat dies nichts zu tun – mag sie auch heute ebenfalls mit dem Rechtssprichwort falsa demonstratio non nocet belegt sein. Es fehlt jeder Anlass, ausgerechnet im Zusammenhang mit der Testamentsauslegung hierzu Stellung zu nehmen. Aufgrund der Aussagen in den Materialien zur Unschädlichkeit der Falschbe­ zeichnung dürfen sich Theorie und Praxis somit zwar berechtigt fühlen, einen un­ richtigen Wortlaut zu korrigieren.5 Mehr, als §  133 Hs.  2 BGB ohnehin expressis verbis vorsieht, wird damit aber nicht gesagt. Eine Ermächtigung speziell zur natür­ lichen Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen anhand des inneren Beteiligtenverständnisses ergibt sich aus diesen Bemerkungen angesichts der Alter­ native einer den Wortlaut unter Berücksichtigung der Begleitumstände korrigieren­ den individuell-normativen Auslegung nicht. Den Gesetzesverfassern, die in Ausle­ gungsregeln unliebsame „Belehrungen über praktische Logik“6 für den Richter sahen und die deshalb bewusst von detaillierteren Regelungen zur Auslegung absa­ hen7, lag eine solche Festlegung fern.

5 So

Vogenauer, in: HKK‑BGB (2003), §§  133, 157 Rn.  87. Mot. I (1888, 2000), 155 = Mugdan I (1899), 437. 7  Sogar die Notwendigkeit der heute in §  133 BGB getroffenen Regelung wurde bezweifelt, Mot. I (1888, 2000), 155 = Mugdan I (1899), 437. 6 

Teil III

Drei Folgefragen für die streng normative Auslegungslehre In Teil II wurde dargelegt, aus welchen Gründen die nach herrschender Auffassung vorrangige natürliche Auslegungsmethode abzulehnen ist. Die hier befürwortete streng normative Auslegungslehre und ihre Begründung werfen drei Folgefragen auf, denen im Folgenden nachzugehen ist. Zunächst wird §  12 untersucht, wie sich der Übergang zur streng normativen Auslegungslehre auf die Beweislage der Parteien eines Zivilprozesses auswirkt. Es wird sich zeigen, dass die natürliche Auslegungsmethode im dualistischen Modell eine im Kern begrüßenswerte beweiserleichternde Wirkung hat, für die aber auch auf Basis der streng normativen Auslegungslehre bei Anwendung allgemeiner Grundsätze des Beweisrechts mit dem Anscheinsbeweis ein prozessuales Äquiva­ lent zur Verfügung steht. Die in §  13 behandelte zweite Folgefrage betrifft eine spezielle Fallgestaltung, in der die Ergebnisse der streng normativen Auslegungslehre Zweifeln begegnen könnten. Es geht um Fälle, in denen die Parteien nicht lediglich bei Vornahme des Rechtsgeschäfts zufällig in ihrem Verständnis der ausgetauschten Willenserklä­ rung übereinstimmen, sondern ihre Rechtsbeziehungen anschließend auch entspre­ chend diesem Verständnis abwickeln (sog. Durchführungsszenario). Es ist zu über­ prüfen, ob das Rechtsgeschäft unter derartigen Umständen tatsächlich noch im Sinne des ursprünglich objektiv Erklärten gelten kann. Es wird sich zeigen, dass die normative Auslegungsmethode im Hinblick auf solche Fälle der Weiterentwicklung bedarf. Die in §  14 behandelte dritte Folgefrage betrifft Konsequenzen, die die hier ver­ tretene Analyse der Interessenlage für den Zuschnitt des objektiven Empfängerho­ rizonts hat. Es geht darum, ob tatsächlich das gesamte Wissen des Empfängers bei der normativen Auslegung verwertet werden darf. In Konsequenz der hier vertrete­ nen Interessenanalyse wird sich ergeben, dass in einigen – selten praktisch werden­ den – Konstellationen sog. exorbitantes Sonderwissen des Empfängers unberück­ sichtigt bleiben muss.

§  12 Die Auswirkungen der streng normativen Auslegungslehre auf die Beweislage im Prozess Eine der bisherigen Untersuchung richtunggebende Vorfrage lautete: In welchen Fallkonstellationen macht es einen Unterschied, ob die Auslegung empfangsbedürf­ tiger Willenserklärungen dualistisch mit einem Vorrang der natürlichen Methode oder streng normativ erfolgt? Bei der Beantwortung dieser Frage wurde in §  4 von feststehenden Lebenssachverhalten ausgegangen. Aus prozessualer Perspektive ist dies eine Idealisierung, denn die Beteiligten müssen die materiell-rechtlich relevan­ ten Tatsachen ggf. auch beweisen, um Recht zu bekommen. Die Unterstellung fest­ stehender Lebenssachverhalte abstrahiert von etwaigen Beweisschwierigkeiten, die aus tatsächlichen Gründen bestehen können. Bei Berücksichtigung der potentiellen Beweisschwierigkeiten, vor denen die Be­ teiligten im Prozess stehen können, tritt ein bislang nirgendwo thematisierter Effekt der dualistischen Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen hervor: Die vorrangige natürliche Methode hat eine beweiserleichternde Wirkung, die einer Partei helfen kann, die zum Empfängerhorizont gehöriges Auslegungsmaterial nicht nachweisen kann. Wie sich zeigen wird, lässt sich ein ähnlicher Effekt aller­ dings auch auf Basis der streng normativen Auslegungslehre erzielen. Um dies dar­ zulegen, werden hier zunächst die unterschiedlichen beweisrechtlichen Anknüp­ fungspunkte der beiden Auslegungsmethoden dargelegt (dazu unter I), um sodann die Auswirkungen des Übergangs zur streng normativen Auslegungslehre anhand von Fallgruppen darzustellen, in denen sich der Methodenunterschied jeweils unter­ schiedlich auswirkt (dazu unter II).

I. Verständnisbeweis und Erklärungsbeweis Bei streng normativer Auslegung entfällt die von der dualistischen Lehre vorgese­ hene erste Stufe des Auslegungsprozesses, auf der die unbestrittene, zugestandene oder auch nachgewiesene anfängliche Verständnisübereinstimmung jeder anderen Auslegung vorgeht. Der Vortrag kongruenten Verständnisses ist dann zur Begrün­ dung der begehrten Rechtsfolge prima facie1 unerheblich, weil es materiell-recht­ lich darauf nicht ankommt. Die Beteiligten verlieren dadurch die Möglichkeit, ihr 1  Zur Relevanz des übereinstimmenden Verständnisses als Vermutungsbasis eines Anscheins­ beweises siehe allerdings noch II 2 b cc.

272

§  12 Die Auswirkungen der streng normativen Auslegungslehre auf die Beweislage

Rechtsschutzziel mittels des im Folgenden sog. Verständnisbeweises zu erreichen, indem sie ein anfänglich übereinstimmendes Verständnis der Erklärung darlegen und notfalls beweisen. Bei Anwendung der normativen Auslegungsmethode sind nicht die Verständnis­ se als „innere Tatsache“ relevant, sondern es kommt nur auf das objektive Erklärt­ sein an. Die Ermittlung des normativen Erklärungssinns selbst ist zwar rechtliche Würdigung und unterliegt als solche nicht der Darlegungs- und Beweislast.2 Für die der normativen Auslegung zugrundegelegten Tatsachen (Auslegungsmaterial) gelten aber die allgemeinen Grundsätze der Darlegungs- und Beweislast.3 Wer aus einer empfangsbedürftigen Willenserklärung eine für ihn günstige Rechtsfolge herleiten will, ist zum im Folgenden sog. Erklärungsbeweis gezwungen, muss also das zum objektiven Empfängerhorizont gehörige Auslegungsmaterial darlegen und im Bestreitensfall beweisen, aus dem sich das ihm günstige Auslegungsergebnis nach Durchführung der Auslegungsarbeit ergibt.4

II. Die Auswirkung des Methodenunterschieds auf die Beweisführungsmöglichkeiten anhand von Fallgruppen Zur Systematisierung der Auswirkungen, die der Übergang von der dualistischen zur streng normativen Auslegungslehre zur Folge hat, werden im Folgenden drei Fallgruppen gebildet. In der ersten Fallgruppe weicht nur das Verständnis eines Beteiligten anfänglich vom objektiv Erklärten ab, in der zweiten Fallgruppe – den materiell-rechtlich methodenneutralen Fällen – stimmen beide Beteiligte innerlich von Anfang an mit dem objektiv Erklärten überein, in der dritten weichen sie an­ fänglich im gleichen Sinne vom objektiv Erklärten ab. In jeder dieser Fallgruppen wirkt sich die hier befürwortete Änderung der Auslegungsmethodik unterschied­ lich aus. Wie sich zeigen wird, wirft aus prozessualer Sicht die zweite Fallgruppe die interessantesten Fragen auf, obwohl es materiell-rechtlich für das Auslegungs­ ergebnis irrelevant ist, welche Methode zugrundegelegt wird.

2  BGH, Urteil vom 26.10.1983, NJW 1984, 721 f.; Urteil vom 23.2.1956, BGHZ 20, 109 (111); Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  77; Flume, AT II (1992), 338; Larenz, AT (1989), 351, 352. 3  BGH, Urteil vom 26.10.1983, NJW 1984, 721 (722); Urteil vom 23.2.1956, BGHZ 20, 109 (111); Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  78; Larenz, AT (1989), 351, 352. 4  BGH, Urteil vom 5.2.1999, NJW 1999, 1702 (1703); Urteil vom 23.2.1956, BGHZ 20, 109 (111); Bork, AT (2016), Rn.  549.

II. Die Auswirkung des Methodenunterschieds auf die Beweisführungsmöglichkeiten 273

1. Erste Fallgruppe: Einseitiges anfängliches Abweichen eines Beteiligten vom objektiv Erklärten (einseitiger Irrtum) Beim einseitigen Irrtum ist auch nach der dualistischen Auffassung ausschließlich das objektiv Erklärte ausschlaggebend, weil ein vorrangiges übereinstimmendes Verständnis nicht vorliegt. Insoweit berührt der Übergang zur streng normativen Auslegungslehre die Beweislage der Parteien nicht. Wer aus der Erklärung eine für sich günstige Rechtsfolge herleiten will, kann dies auch auf Basis der dualistischen Lehre nur im Wege des Erklärungsbeweises tun, muss also das zum objektiven Empfängerhorizont gehörige Auslegungsmaterial nachweisen.

2. Zweite Fallgruppe: Beidseitige anfängliche Übereinstimmung mit dem objektiv Erklärten Am praktisch relevantesten und unter dem Gesichtspunkt der beweisrechtlichen Di­ mension des Methodenunterschieds interessantesten ist eine zweite Fallgruppe, in der beide Beteiligte die Erklärung von Anfang an so verstehen, wie sie bei normati­ ver Auslegung zu verstehen ist. Für das materiell richtige Ergebnis macht es hier zwar keinen Unterschied, welche der beiden Auslegungsmethoden zur Anwendung kommt, da beide dasselbe Resultat haben. Die Zahl der zur Verfügung stehenden Methoden kann aber Einfluss darauf nehmen, ob das materiell richtige Ergebnis prozessual durchsetzbar ist. Unterschiede ergeben sich allerdings nur, wenn in concreto die Möglichkeiten zur Erbringung des Verständnisbeweises und des Erklärungsbeweises divergieren. Sind Verständnis- und Erklärungsbeweis gleichermaßen möglich oder unmöglich, dann kommt es auf die Entscheidung zwischen der dualistischen und der streng normativen Auslegungslehre für das Prozessergebnis nicht an. Im Übrigen ist zwi­ schen zwei Unterfällen zu unterscheiden, in denen die Möglichkeiten des Verständ­ nis- und des Erklärungsbeweises divergieren: a) Erster Unterfall: Beweisbarkeit des normativen Auslegungsmaterials und Nichtbeweisbarkeit des übereinstimmenden Verständnisses Der Übergang zur streng normativen Auslegungslehre ändert in der hier betrachte­ ten Fallgruppe auch dann nichts an der Lage der beweisbelasteten Partei, wenn sich deren Beweisnot auf das Verständnis der Beteiligten, nicht aber auf das objektive Auslegungsmaterial bezieht. Diese Partei kann nämlich auch nach der dualistischen Lehre durch Führung des Erklärungsbeweises ihr Ziel erreichen:

274

§  12 Die Auswirkungen der streng normativen Auslegungslehre auf die Beweislage

Wie bereits dargelegt5, hängt auch auf Basis der dualistischen Lehre die Anwend­ barkeit der normativen Auslegungsmethode nicht davon ab, ob tatsächliche Feststel­ lungen zum inneren Verständnis der Beteiligten möglich sind. Insbesondere ist die positive Feststellung einer Verständnisdivergenz keine Vorbedingung der normati­ ven Auslegung. Im dualistischen Modell stehen einer Partei, die aus der Willenser­ klärung eine Rechtsfolge herleiten möchte, vielmehr die natürliche und die norma­ tive Auslegungsmethode wahlweise zur Verfügung. Sie kann den (mühevollen und meist aussichtslosen) Versuch des Verständnisbeweises gehen. Sie kann aber auch den Erklärungsbeweis antreten. Praktisch kommt die natürliche Auslegungsstufe dadurch schon heute regelmäßig nur zum Tragen, wenn die Gegenseite das überein­ stimmende Verständnis nicht bestreitet6 oder beide Seiten übereinstimmend hierzu vortragen7.8 Der Antritt des aufwendigen und häufig schwer zu führenden Ver­ ständnisbeweises ist dagegen die große Ausnahme.9 Er erübrigt sich, wenn die be­ weisbelastete Partei anhand der objektiven Umstände die normative Richtigkeit ih­ rer Auslegung darlegen kann.10 Bezieht sich die Beweisnot, wie in der hier betrachteten Fallgruppe, allein auf den Verständnisbeweis, ergeben sich zwischen einer dualistischen und einer streng nor­ mativ Auslegungslehre somit keine Unterschiede. Die beweisbelastete Partei wird sich nach beiden Lehren mit dem Erklärungsbeweis durchsetzen können.11 b) Zweiter Unterfall: Nichtbeweisbarkeit des normativen Auslegungsmaterials und Beweisbarkeit der übereinstimmenden Verständnisses Die streng normative Auslegungslehre verändert die beweisrechtliche Ausgangsla­ ge der Beteiligten gegenüber der dualistischen Theorie jedoch dann, wenn die Be­ weismöglichkeiten einmal umgekehrt als soeben angenommen verteilt sind, der Verständnisbeweis also möglich, der Erklärungsbeweis dagegen nicht möglich ist. Typischerweise lässt sich zwar das für die normative Auslegung maßgebliche Aus­ 5 

§  3 V 2. So in BGH, Urteil vom 14.2.1997, ZIP 1997, 1205 (1206). Zu diesem Urteil bereits §  1 III. 7  So in BGH, Urteil vom 13.7.1973, WM 1973, 1200 (1201); Urteil vom 15.3.‌1978, BGHZ 71, 75 (77); Urteil vom 26.4.1978, BGHZ 71, 243 (247). 8  Bork, AT (2016), Rn.  548. 9  Bork, AT (2016), Rn.  548; Honsell, FS Walter (2005), 335 (338): Berufung auf den tatsäch­ lichen Konsens „im Streitfall in der Regel vergeblich“. 10 Vgl. Bork, AT (2016), Rn.  548. 11  Der Gegner könnte mit dem nach der dualistischen Lehre möglichen Einwand abweichen­ den übereinstimmenden inneren Verständnisses (dazu schon §  3 V 2 a. E.) in der hier betrachteten Fallgruppe nie durchdringen, weil das Verständnis sich prämissengemäß mit dem objektiven Er­ klärungsinhalt deckt. Nur in der noch zu behandelnden dritten Fallgruppe (dazu unter 3.) kommt dies in Betracht. Die hier vertretene streng normative Lehre lässt den Einwand des abweichenden übereinstimmenden Verständnisses dann allerdings aus den in Teil II dargelegten materiell-recht­ lichen Gründen nicht zu. 6 

II. Die Auswirkung des Methodenunterschieds auf die Beweisführungsmöglichkeiten 275

legungsmaterial leichter nachweisen als ein anfänglich übereinstimmendes Ver­ ständnis12 , doch es kann auch anders kommen. aa) Gründe für Schwierigkeiten des Erklärungsbeweises Schwierigkeiten des Erklärungsbeweises können sich insbesondere aus dem Grund­ satz der individuell-normativen Auslegung ergeben, demzufolge prinzipiell alle denkbaren Umstände als Auslegungsmaterial in Betracht kommen, wenn sie für den Empfänger erkennbar sind und ein ergiebiges Indiz des Rechtsfolgenwillens des Erklärenden sind.13 Der für den Empfänger erkennbare Wille kann sich nicht nur in dauerhaft verkörperten Umständen wie dem niedergeschriebenen Wort oder einer Bild- und Tonaufnahme manifestieren, sondern auch als gesprochenes Wort, als Geste oder auch in einem zur Kundgabe des Rechtsfolgewillens „geeigenschafteten Blick des Erklärenden“14. Derartiges „flüchtiges“ Auslegungsmaterial lässt sich später mitunter kaum noch rekonstruieren und beweisen. Vielfach wird es das Verständnis der Beteiligten schon bei der Kommunikation nur unterhalb der Bewusstseinsschwelle beeinflus­ sen, so dass sie sich hinterher nicht einmal mehr daran erinnern können.15 Sie wissen dann bestenfalls noch, wie sie die Willenserklärung verstanden haben, nicht aber auch, warum sie sie so verstanden haben. Diese Probleme stellen sich nicht nur bei „komplett“ mündlichen oder unverkör­ perten Willenserklärungen, sondern auch bei schriftlichen Abreden, zu denen die Parteien aber mündliche Nebenabreden getroffen oder andere Mitteilungen gemacht haben, die den Sinn des Geschriebenen in einem anderen Licht erscheinen lassen oder sogar völlig aufheben. Die in der Praxis anerkannte Vermutung der Vollstän­ digkeit und Richtigkeit einer Urkunde16 wird dann leicht zur unüberwindlichen Hürde für die Partei, die einen sinnverändernden Begleitumstand oder eine münd­ liche Nebenabrede nicht beweisen kann und der deshalb wegen ihrer Beweisnot beim Erklärungsbeweis droht, ein normatives Auslegungsergebnis auf einer eigent­ lich zu schmalen Auslegungsbasis hinnehmen zu müssen. Nicht zuletzt kann auch der materiell-rechtlich eigentlich unerhebliche Verlust einer Urkunde zum Rechts­ durchsetzungshindernis werden, wenn der Inhalt der getroffenen Vereinbarung oder der abgegebenen Erklärung deshalb nicht mehr nachweisbar ist.

12 Vgl.

Leenen, FS Prölss (2009), 153 (170). Zur Individualität der normativen Auslegung bereits §  3 III 2 b aa (2). 14  Bading, Willenserklärung (1910), 39. 15 Vgl. Bading, Willenserklärung (1910), 39 f. 16  BGH, Urteil vom 5.7.2002, NJW 2002, 3164 (3165); Urteil vom 31.5.1995, NJW 1995, 3285; Looschelders, in: NK‑BGB (2012), §  133 Rn.  83. 13 

276

§  12 Die Auswirkungen der streng normativen Auslegungslehre auf die Beweislage

bb) Die beweiserleichternde Wirkung der natürlichen Auslegung In allen gerade genannten Fällen des erschwerten oder unmöglichen Erklärungsbe­ weises entfaltet die dualistische Lehre eine bemerkenswerte Wirkung. Mitunter kann eine Partei, die das normative Auslegungsmaterial nicht in der für den Erklä­ rungsbeweis erforderlichen Form in den Prozess einführen kann, beweisen, wie die Willenserklärung bei Vornahme des Rechtsgeschäfts übereinstimmend verstanden wurde. Indizien hierfür, die bei der normativen Methode aufgrund der Beschrän­ kung des objektiven Empfängerhorizonts auf die bei Zugang der Erklärung für den Empfänger erkennbaren Umstände unbeachtet bleiben müssen, können sich insbe­ sondere aus dem Verhalten nach Vornahme des Rechtsgeschäfts (z. B. Kommunika­ tion zwischen den Parteien oder mit Dritten) oder aus eigenen Aufzeichnungen der Parteien ergeben. Ist die beweisbelastete Partei in der Lage, statt des nicht mehr greifbaren normativen Auslegungsmaterials zumindest das anfänglich überein­ stimmende Verständnis der Beteiligten nachzuweisen, ist ihr damit aus einer Be­ weisnot geholfen, vor der sie beim Erklärungsbeweis stünde. Die natürliche Metho­ de wirkt insofern in der hier betrachteten Fallgruppe – nochmals: obwohl es mate­ riell-rechtlich hier auf den Methodenunterschied gar nicht ankommt – als verkappte Beweiserleichterung mit materiell-rechtlichen Mitteln, indem sie der beweisbelaste­ ten Partei einen alternativen Weg zur Erreichung ihres Rechtsschutzziels eröffnet, der unabhängig vom Nachweis des zum objektiven Empfängerhorizont gehörigen Auslegungsmaterials ist. Auch ein Kritiker der dualistischen Lehre wird diesen beweiserleichternden Ef­ fekt für ausgesprochen plausibel halten müssen, da in einer solchen Situation nach der Lebenserfahrung davon auszugehen ist, dass das übereinstimmende Beteilig­ tenverständnis auf im Einzelnen nicht mehr nachweisbaren objektiven Erklärungs­ umständen beruht17. Die theoretische Alternative, dass beide Seiten sich in ihren Auffassungen vom Erklärungssinn lediglich zufällig trafen, erscheint demgegen­ über fast vernachlässigbar. Die allgemeine Beliebtheit, der sich die natürliche Aus­ legungsmethode insbesondere in der Praxis erfreut, dürfte zu einem nicht unerheb­ lichen Teil auch auf ihrem beweiserleichternden Effekt beruhen, zumal er dem Richter bei offensichtlicher oder leicht ermittelbarer Verständnisübereinstimmung die Mühsal erspart, herausfinden zu müssen, warum genau sich die Verständnisse deckten und ob dies berechtigt ist18. Die gerichtliche Praxis beschäftigen häufig Fälle, in denen eine Partei eine Auslegung wider den Wortlaut einer Urkunde an­ strebt und in denen unausgesprochen im Raum steht, aus den nicht mehr greifbaren Begleitumständen und mündlichen Nebenabreden ergebe sich möglicherweise ein anderes Auslegungsergebnis. Die Zulassung der Berufung auf ein übereinstimmen­ des Verständnis ist dann in erster Linie ein Ausweg, einer auf zu schmaler Grund­ lage betriebenen normativen (Wortlaut-)Auslegung entgegenzuwirken, richtet sich 17 

18 

Bading, Willenserklärung (1910), 40. Vgl. dazu schon §  4 I 2 c.

II. Die Auswirkung des Methodenunterschieds auf die Beweisführungsmöglichkeiten 277

aber nicht erkennbar gegen die materiell-rechtliche Richtigkeit der normativen Me­ thode an sich.19 Damit soll keineswegs die Behauptung aufgestellt werden, der beweiserleichtern­ de Effekt werde von der Praxis bewusst oder zielgerichtet verfolgt, wann immer sie auf die natürliche Auslegungsmethode zurückgreift. Die Rechtsprechung rekurriert zur Begründung einer vom Wortlaut abweichenden Auslegung selbst dort auf die natürliche Methode, wo die individuell-normative Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont den Wortlaut ebenfalls überwinden würde, weil die zur Fest­ stellung der Willensübereinstimmung genutzten nachweisbaren Indizien für den Empfänger bei Zugang erkennbar waren. So wird etwa die Verwertbarkeit des In­ halts von Vorverhandlungen für die Auslegung in den Urteilsgründen häufig auf den Vorrang der „Willensübereinstimmung“ gestützt, die sich mit Hilfe dieser Vor­ verhandlungen erschließen lasse20, obwohl die Berücksichtigungsfähigkeit von Vorverhandlungen auch im Rahmen der normativen Auslegung außer Frage steht. Die beweiserleichternde Wirkung ist somit keineswegs stets der Anlass, auf die na­ türliche Auslegungsmethode zurückzugreifen. Dieser Effekt stellt sich aber in vie­ len Fällen ein, in denen die Willensübereinstimmung unter der Hand den Zugriff auf Erkenntnismittel eröffnet, die – obwohl sie nicht Teil des objektiven Empfänger­

19  Anschaulich BGH, Urteil vom 27.10.1972, WM 1972, 1422: Die Parteien stritten darüber, ob der streitgegenständliche Nießbrauch unter der auflösenden Bedingung des Auszugs des Klä­ gers stand. Die über die dingliche Einigung aufgesetzte Urkunde enthielt keine Auszugsklausel und die Beklagte wollte nun den Beweis führen, beide Parteien seien von einer solchen Auszugs­ klausel ausgegangen. Unter den dazu angebotenen Beweismitteln fand sich auch der beurkunden­ de Notar als Zeuge, der bekunden sollte, dass er die Aufnahme der Auszugsklausel in die Urkunde vergessen hatte und dass „die Beklagte an eine Bewilligung des Nießbrauchs ohne Auszugsklausel gar nicht gedacht und daß dies gar nicht zu Diskussion gestanden habe“. Letzteres bedeutet im Umkehrschluss, dass zwischen den Parteien immer ein Nießbrauch mit Auszugsklausel in Diskus­ sion gestanden hätte, man sich also eigentlich – wenn auch aufgrund der fehlenden Auszugsklausel in der Urkunde schwer nachweisbar – objektiv auf einen Nießbrauch mit Auszugsklausel geeinigt hatte. Das übereinstimmende Verständnis, das sich auch aus späteren Äußerungen des Klägers ergab, der ebenfalls vom Erlöschen des Nießbrauchs im Falle des Auszugs ausging, war nur ein Umweg, der den Nachweis der wechselseitig erkennbaren Einigung auf die Auszugsklausel er­ möglichen sollte. Siehe auch die in wesentlichen Punkten (Vorliegen einer Vertragsurkunde; Behauptung einer vom Wortlaut abweichenden Einigung, die lediglich im Wortlaut der Urkunde nicht zum Ausdruck kam) ähnlichen Entscheidungen BGH, Urteil vom 14.3.‌1956, LM Nr.  2 zu §  157 BGB (Gf.); Urteil vom 30.4.1992, NJW 1992, 2489; Urteil vom 20.1.‌1994, NJW 1994, 1528; Urteil vom 29.3.1996, NJW 1996, 1678. 20 Siehe nur BGH, Urteil vom 7.2.2002, BGHZ 150, 32 (38 f.); Urteil vom 17.1.‌ 1997, NJW 1997, 1231 (1232); Urteil vom 21.2.1986, NJW‑RR 1986, 1019. In all diesen Urteilen wird aufgrund der hier schon oft angesprochenen „Wortlautverwechslung“ (dazu insb. §  3 III 2 b aa [2] a. E.) der „objektive Erklärungsinhalt“ mit dem Wortlaut der Erklärung gleichgesetzt. Besser dagegen BGH, Urteil vom 19.12.2001, NJW 2001, 1260 (1261), wo, ohne auf die „Willensübereinstimmung“ zu rekurrieren, lediglich auf das Verbot einer ausschließlich am Wortlaut haftenden Auslegung und die Berücksichtigung der gesamten Umstände des Falles – also das Prinzip individueller Ausle­ gung anhand der Begleitumstände – verwiesen wird.

278

§  12 Die Auswirkungen der streng normativen Auslegungslehre auf die Beweislage

horizonts sind – indirekte Schlussfolgerungen darüber erlauben, was höchstwahrscheinlich auch objektiv erklärt wurde. cc) Beweiserleichterung auf Basis der streng normativen Auslegungslehre: Anscheinsbeweis bei nachweisbar übereinstimmendem Verständnis Aus prozessualer Sicht ist die gerade behandelte Konstellation eine Bewährungs­ probe für eine streng normative Auslegungslehre. Der Wegfall der ersten (natürli­ chen) Auslegungsstufe darf dem Gegner nicht die Möglichkeit verschaffen, der be­ weisbelasteten Partei den Prozesserfolg durch bloßes Bestreiten des „objektiven Erklärtseins“ zu verbauen, obwohl ein anfänglich übereinstimmendes Verständnis prozessual feststeht. Bei anfänglich kongruentem Verständnis der Beteiligten liegt es auf der Hand, dass dieses gleichsinnige Verständnis nach aller Lebenswahr­ scheinlichkeit auf Umständen beruht, die bei normativer Auslegung zum selben Ergebnis führen würden. Der Berufung auf die reichlich unwahrscheinliche Alter­ native einer zufälligen Verständnisübereinstimmung, die materiell nach hier vertre­ tener Auffassung ein anderes Ergebnis rechtfertigen würde, ist regelmäßig die Ab­ sicht der Ausnutzung der Beweisnot der Gegenseite auf die Stirn geschrieben. Die begrüßenswerte beweiserleichternde Wirkung der natürlichen Auslegung ist indes auch auf Basis einer streng normativen Auslegungstheorie nach allgemeinen beweisrechtlichen Grundsätzen begründbar. Sie folgt aus der hohen empirischen Wahrscheinlichkeit, dass ein von beiden Beteiligten anfänglich innerlich überein­ stimmend angenommener Erklärungsinhalt auch aus Sicht des objektiven Empfän­ gerhorizonts zum Ausdruck gekommen ist. Schon 1910 hat Bading den hier maß­ geblichen Wahrscheinlichkeitszusammenhang treffend umschrieben: „Stimmen daher der Erklärende und sein Gegner in der Auffassung der Erklärung über­ ein, so ist, falls nichts dagegen spricht, die Wahrscheinlichkeit, daß den Parteien zwar nicht mehr erinnerlich, doch eine dem inneren Willen entsprechende Erklärung abgegeben worden ist, so groß, daß die Vermutung berechtigt erscheint, bei Abgabe der Erklärung hätten Umstände vorgelegen, die ohne weiteres den Willen des Erklärenden dem Gegner erkennbar zu machen geeignet waren.“21

Die hohe Wahrscheinlichkeit macht kongruentes Verständnis im Rahmen der freien Beweiswürdigung (§  286 ZPO) nicht nur zu einem ungemein starken Indiz für einen gleichsinnigen objektiven Empfängerhorizont. Noch weitergehend kann man sogar mit E. Wolf sagen: „Daß der Adressat das Gemeinte verstanden hat, begründet den Schluß, dass es für ihn objektiv erkennbar war.“22 Angesichts der unbestreitbaren Möglichkeit zufälliger Verständnisübereinstim­ mung infolge kongruenten Doppelirrtums oder Erratens des Willens steht hier zwar kein logisch zwingender Schluss in Rede, der die materiell-rechtliche Gleichsetzung von Verständnisübereinstimmung und objektivem Erklärtsein rechtfertigen könn­ 21 

22 

Bading, Willenserklärung (1910), 40. E. Wolf, AT (1982), 419 in Fn.  11.

II. Die Auswirkung des Methodenunterschieds auf die Beweisführungsmöglichkeiten 279

te.23 Es handelt sich aber um einen jener Erfahrungssätze des täglichen Lebens über einen typischen Geschehensverlauf, bei denen ein bestimmter Tatbestand (hier: kongruentes Verständnis bei Vornahme des Rechtsgeschäfts) auf eine be­ stimmte rechtlich relevante Ursache (hier: zum objektiven Empfängerhorizont ge­ hörige Umstände, die den beiderseits verstandenen Sinn bei Vornahme des Rechts­ geschäfts erkennen lassen) für den Eintritt dieses Erfolges hinweist. Die Rechtspre­ chung erkennt unter solchen Umständen einen Anscheinsbeweis24 (prima-facie Beweis) an, bei dem die Typizität eines Erfahrungssatzes es gestattet, auf den Nach­ weis der tatsächlichen Einzelumstände des historischen Geschehensverlaufs zu ver­ zichten.25 Dies entlastet in den hier interessierenden Fällen die Partei, die eigent­ lich zur Führung des Erklärungsbeweises das für die normative Auslegung maß­ gebliche Auslegungsmaterial vortragen und beweisen müsste, es aber im konkreten Fall nicht kann. Sie muss stattdessen nur das kongruente Verständnis als Vermu­ tungsbasis zur vollen Überzeugung des Gerichts belegen 26, um damit den Ein­ wand fehlenden objektiven Erklärtseins regelmäßig aus dem Feld schlagen. Der Anscheinsbeweis kann durch den Gegner der beweisbelasteten Partei aller­ dings zu Fall gebracht werden, indem er die ernsthafte Möglichkeit eines atypischen Geschehensverlaufs nachweist.27 Wer sich gegen eine Auslegung im Sinne des nachweisbar anfänglich übereinstimmenden Verständnisses wendet, muss Umstän­ de aufzeigen, die zumindest einen Anhaltspunkt dafür hergeben, dass die Erklä­ rung normativ nicht im Sinne des übereinstimmenden Verständnisses zu deuten 23  A. A. E. Wolf, AT (1982), 419 mit Fn.   11, der mit seinem Schluss die „Objektivität“ des Auslegungsergebnisses bei kongruentem Verständnis meint begründen zu können. Wenn der Ad­ ressat die gemeinte Bedeutung verstanden habe, sei sie auch „für den Adressaten aufgrund der Umstände erkennbar“ gewesen (Hervorhebung hinzugefügt). Ebenso Bading, Willenserklärung (1910), 39 f. („Legen beide [...] in die Erklärung denselben Sinn, so muß der übereinstimmende Wille erklärt worden sein, sonst hätte es zu solcher Übereinstimmung nicht kommen können.“), obwohl er in der gerade im Text wiedergegebenen Passage nur von einem Wahrscheinlichkeitszu­ sammenhang und einer Vermutung spricht. Beide Autoren übergehen die Möglichkeit einer zufäl­ ligen Verständnisübereinstimmung infolge Doppelirrtums oder erratenen Willens. Die Erklärung ist in den methodenrelevanten Fällen nur der zufällige „Auslöser“ einer richtigen Vorstellung, macht das Gemeinte aber nicht objektiv „erkennbar“. 24  Siehe nur BGH, Urteil vom 14.6.2005, BGHZ 163, 209 (212); Urteil vom 19.1.‌ 2010, NJW 2010, 1072 Tz.  8. 25  Darin sieht Prütting, in: MünchKommZPO (2013), §  286 Rn.  6 4 den Unterschied zum nor­ malen Beweis. Ähnlich Greger, in: Zöller, ZPO (2016), Vor §  284 Rn.  29: „Nachweis eines ursäch­ l[ichen] Zusammenhangs oder eines schuldhaften Verhaltens ohne exakte Tatsachengrundlage, sondern auf Grund von Erfahrungssätzen“. 26 Vom Vollbeweis des kongruentes Verständnisses, auf dem der Erfahrungssatz aufbaut, wird die beweispflichtige Partei durch den Anscheinsbeweis nicht entlastet, vgl. Greger, in: Zöller, ZPO (2016), Vor §  284 Rn.  29. Für die grundsätzlich beweisbelastete Partei stellen sich also nach wie vor sämtliche Probleme, die mit dem Nachweis des inneren Verständnisses verbunden sind. Die hier betrachtete Unterfallgruppe zeichnet sich indes gerade dadurch aus, dass der Verständnis­ beweis ausnahmsweise einmal möglich ist, der Erklärungsbeweis aber nicht. 27 BGH, Urteil vom 18.12.1952, BGHZ 8, 239 (240); Urteil vom 3.7.1990, NJW 1991, 230 (231); Greger, in: Zöller, ZPO (2016), Vor §  284 Rn.  29.

280

§  12 Die Auswirkungen der streng normativen Auslegungslehre auf die Beweislage

war. Praktisch dürfte hier die Grenze zwischen Erschütterung und vollem Beweis des Gegenteils und damit zu einer Beweislastumkehr kaum zu ziehen sein, da ange­ sichts der Mannigfaltigkeit potentiell auslegungsrelevanter Umstände ein atypi­ scher Geschehensverlauf wohl nur in Betracht kommt, wenn sich das gesamte nor­ mativ relevante Auslegungsmaterial nachweisen lässt und die Existenz anderen Materials ausgeschlossen werden kann.28 Doch das steht der Anwendung des An­ scheinsbeweises nicht entgegen, sondern ist letztlich nur ein Beleg für die besonde­ re Stärke des hier zugrundeliegenden Erfahrungssatzes, die aus der hochgradigen Unwahrscheinlichkeit eines zufällig übereinstimmenden Verständnisses folgt. Die herausgehobene beweisrechtliche Stellung, die bei dieser Behandlung dem anfänglichen (übereinstimmenden) Parteiverständnissen gegenüber den späteren (möglicherweise divergierenden) Verständnissen der Beteiligten zukommt, recht­ fertigt sich ebenfalls durch die Lebenserfahrung. Typischerweise ist das bei Vor­ nahme des Rechtsgeschäfts kongruente Verständnis des Erklärungsinhalts noch ein „echtes“, von taktischen Erwägungen und der weiteren Entwicklung der tatsächli­ chen Verhältnisse unbeeinflusstes Verständnis, das allein unter dem unmittelbaren Eindruck der für die normative Auslegung der Erklärung relevanten Verhältnisse bei Vornahme des Geschäfts zustande kam.29 Eine erst später auftretende Diver­ genz der Verständnisse beruht dagegen typischerweise nicht auf höherer Einsicht, wie die Erklärung zu verstehen war, sondern auf der Erwägung, was die jetzt güns­ tige Interpretation der Erklärung ist, oder auch auf dem Verblassen der Erinnerung an die Verhältnisse der für die normative Auslegung relevanten Situation bei Vor­ nahme des Rechtsgeschäfts. Die nachträgliche Divergenz tritt daher in ihrem In­ dizwert so weit hinter die anfängliche Konvergenz der Verständnisse zurück 30, dass sie der Anerkennung eines Anscheinsbeweises nicht im Wege steht. 28  Eine Erschütterung des Anscheinsbeweises kommt insbesondere bei ausschließlich schrift­ licher Fernkommunikation der Beteiligten in Betracht, wie sie offenbar im Verjährungsver­ zichts-Fall (BGH, Urteil vom 14.2.1997, ZIP 1997, 1205 [1206 unter IV 1]; zu diesem Urteil bereits §  1 III) stattgefunden hatte. Da die Parteien dort über den Verjährungsverzicht wohl nur brieflich kommuniziert hatten, erscheint die Existenz nicht mehr beweisbaren „unbenannten“ Auslegungs­ materials, das eine vom Wortlaut der Schreiben abweichende normative Auslegung rechtfertigen könnte, ausgeschlossen. Waren die Schreiben der Beklagten nach dem Horizont des Klägers tat­ sächlich als Verjährungsverzicht zu verstehen, hätte die Beklagte deshalb aus dem abweichenden übereinstimmenden Verständnis auch unter dem Gesichtspunkt des Anscheinsbeweises nichts herleiten können. Es müsste sich dann vielmehr um einen anfänglichen kongruenten Doppelirrtum gehandelt haben. Das (durch die Klageerhebung sogar betätigte) nachträglich entstandene Vertrau­ en des Klägers auf den Verjährungsverzicht war dann schützenswert. 29 Vgl. Lüderitz, Auslegung (1966), 337; Flume, AT II (1992), 300 in Fn.  18; Schellhammer, Zivilrecht (1999), Rn.  1959; Vonkilch, in: Klang, ABGB (2011), §  914 Rn.  162, die den besonderen Indizwert nachträglicher Äußerungen der Parteien über den Inhalt der Willenserklärungen beto­ nen, wenn sie in engem sachlichem und zeitlichem Zusammenhang mit der auszulegenden Erklä­ rung oder wider die eigenen Interessen erfolgen. Diesen Autoren geht es freilich nur um den In­ dizwert späteren Verhaltens für die Feststellung der anfänglichen Verständnisüberstimmung, der sie im Rahmen der dualistischen Lehre materiell-rechtlich Bedeutung beimessen. 30 Vgl. Wendehorst, in: Schulze, Common European Sales Law (2012), Art.  59 Rn.  9, im Zu­

II. Die Auswirkung des Methodenunterschieds auf die Beweisführungsmöglichkeiten 281

3. Dritte Fallgruppe: Beidseitige anfängliche Abweichung vom objektiv Erklärten (kongruenter und inkongruenter Doppelirrtum, erratener Wille) Der Übergang zur streng normativen Auslegungslehre verschiebt die Bezugspunkte der Darlegungs- und Beweislast in der dritten, äußerst seltenen Fallkonstellation, in der zufällig beide Beteiligte bei der Vornahme des Geschäfts zufällig anfänglich ein vom objektiv Erklärten abweichendes Verständnis der Erklärung haben (kon­ gruenter oder inkongruenter Doppelirrtum, erratener Wille). Das innere Verständ­ nis und der darauf bezogene Verständnisbeweis sind dann nicht mehr maßgeblich31, sondern es dringt die Partei durch, die den Erklärungsbeweis führen kann. Diese Konsequenz ist beweisrechtlich unbedenklich, da insofern lediglich die hier befür­ wortete materiell-rechtliche Beurteilung nachvollzogen wird. Allerdings führt die Anerkennung des gerade herausgearbeiteten Anscheinsbe­ weises bei übereinstimmendem Verständnis dazu, dass diejenige Partei, die ein (aufgrund kongruenten Doppelirrtums oder erratenen Willens) lediglich zufällig übereinstimmendes Verständnis nachweisen kann, gestärkt wird. Sie kann sich ge­ genüber ihrem Gegner materiell zu Unrecht durchsetzen, falls dieser aus Beweisnot den Anscheinsbeweis nicht erschüttern kann, da das übereinstimmende Verständ­ nis aufgrund des Anscheinsbeweises (in concreto zu Unrecht) als das objektiv Er­ klärte gilt. Es ist jedoch letztlich eine unvermeidbare Folge jeder Beweiserleichte­ rung zugunsten einer Prozesspartei, dass sie zu Lasten eines materiell eigentlich im Recht befindlichen Prozessgegners wirken kann. Die grundsätzliche Sachgerechtig­ keit des Anscheinsbeweises bleibt davon unberührt. Immerhin – das markiert den letztlich entscheidenden Unterschied zur dualisti­ schen Lehre – hat nach der hier vertretenen Auffassung der Gegner überhaupt die Möglichkeit, den Anscheinsbeweis zu erschüttern. Die dualistische Lehre schneidet hingegen demjenigen, der sich auf das objektiv Erklärte stützen will und sich wo­ möglich auch darauf verlassen hat, aufgrund des materiell-rechtlichen Vorrangs der natürlichen Methode sogar die Möglichkeit der Führung des vollen Beweises des Gegenteils ab. Dieses Ergebnis ist jedenfalls im Hinblick auf die Beweisführungs­ interessen der Beteiligten nicht begründet. Materiell-rechtlich sprechen die in Teil II herausgearbeiteten Erwägungen dagegen.

sammenhang mit dem Indizwert nachträglichen Parteiverhaltens für das bei Vertragsschluss Ver­ einbarte. „[P]arties often know very well what they have agreed upon and act accordingly during the period directly following conclusion of the contract. Only later, when a dispute arises, do views on what was really agreed tend to diverge.“ 31 Auch nicht als Wirksamkeitshindernis, von dem ein Teil der Lehre bei inkongruentem Doppelirrtum ausgeht (dazu §  4 II 3).

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§  12 Die Auswirkungen der streng normativen Auslegungslehre auf die Beweislage

III. Ergebnis Die prozessuale Perspektive hat gezeigt, dass der Unterschied der Auslegungsme­ thoden und folglich der Übergang zur streng normativen Auslegungslehre auch die Beweisführungsmöglichkeiten der Parteien beeinflusst. Die dualistische Lehre wirkt in den häufigen Fällen, in denen die natürliche und die normative Methode im Ergebnis übereinstimmen, wie eine Beweiserleichterung mit materiell-rechtlichen Mitteln. Sie ermöglicht es der beweisbelasteten Partei, das nach beiden Methoden richtige Ergebnis durch den Nachweis anfänglich übereinstimmenden Verständnis­ ses selbst dann durchzusetzen, wenn der Nachweis des zum objektiven Empfänger­ horizont gehörigen Auslegungsmaterials aus tatsächlichen Gründen im Prozess nicht möglich ist. Dieser beweiserleichternde Effekt ist begrüßenswert, weil nach der Lebenserfahrung davon auszugehen ist, dass bei anfänglich übereinstimmen­ dem Verständnis der Wille des Erklärenden für den Empfänger auch bei Vornahme des Rechtsgeschäfts objektiv erkennbar war und dessen Verständnis nicht etwa auf einem Zufall beruhte. Es ist indes nicht notwendig, zur Erzielung dieses Effekts die dualistische Ausle­ gungslehre anzuerkennen. Bei streng normativer Auslegung führt die Anerkennung eines Anscheinsbeweises zum selben Ergebnis, weil nach der Lebenserfahrung da­ von auszugehen ist, dass typischerweise bei nachgewiesenem anfänglich überein­ stimmendem Verständnis ursprünglich auch eine gleichlautende objektive Erklä­ rung vorlag und das weitere Auslegungsmaterial lediglich nicht mehr nachweisbar ist. Diese Lösung ist wohlgemerkt kein systemwidriges „Zugeständnis“ an die dua­ listische Lehre, sondern folgt unmittelbar aus allgemeinen Grundsätzen des Be­ weisrechts, die auch in anderen Zusammenhängen Anwendung finden. Der ent­ scheidende Unterschied zu einer Beweiserleichterung qua vorrangiger natürlicher Auslegung liegt darin, dass der Gegner der beweisbelasteten Partei die Möglichkeit behält, den Anscheinsbeweis zu erschüttern. Potentielle Beweisschwierigkeiten der beweisbelasteten Partei gebieten es nicht, dem Gegner darüber hinausgehend – wie die dualistische Lehre es tut – diese Möglichkeit abzuschneiden.

§  13 Die streng normative Auslegung im Durchführungsszenario Das im Folgenden behandelte „Durchführungsszenario“ spielt in der bisherigen Diskussion über die Methodik der Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklä­ rungen nur am Rande eine Rolle. Die Anhänger der dualistischen Lehre befassen sich damit so gut wie gar nicht, weil es auf Basis ihrer Auslegungslehre gewisser­ maßen unter der Hand miterledigt wird. Die wenigen Verfechter der streng norma­ tiven Auslegungskonzeption halten die dadurch aufgeworfenen Fragen dagegen für leicht lösbar; zu Unrecht, wie sich zeigen wird. Tatsächlich handelt es sich um den vielleicht schwierigsten Teilaspekt der gesamten Thematik.

I. Das Durchführungsszenario Das Kernanliegen der hier befürworteten streng normativen Auslegungslehre be­ steht darin, den Beteiligten anhand des objektiven Auslegungsmaterials jederzeit, d. h. insbesondere auch in der Phase nach Vornahme des Rechtsgeschäfts, die Ori­ entierung über ihre Rechtslage zu ermöglichen, ohne hierfür auf die Kenntnis und Beweisbarkeit des inneren Verständnisses des Gegners angewiesen zu sein. Auch wer die Erklärung zunächst objektiv falsch versteht, soll sich auf das objektiv Er­ klärte später noch verlassen können. Ziel ist insbesondere eine sachgerechte Bewäl­ tigung des Entdeckungsszenarios, in dem einer der Beteiligten sein anfängliches Fehlverständnis realisiert und auf den objektiven Erklärungsgehalt umschwenkt, ohne vom möglicherweise gleichlautenden Irrtum der Gegenseite etwas zu ahnen und ahnen zu können.1 Zu einer solchen Entdeckung muss es freilich nicht immer und vor allem nicht innerhalb einer kurzen Zeitspanne kommen. Vorstellbar ist auch, dass der Irrende zunächst noch eine ganze Weile in seinem Irrtum befangen bleibt und auf dieser Basis agiert. Beim „normalen“ einseitigen Irrtum gerät dann regelmäßig die Koope­ ration der Beteiligten irgendwann ins Stocken, weil einer der Beteiligten vom ob­ jektiv Erklärten abweicht und zwei unterschiedliche Auffassungen über die Rechts­ lage aufeinanderprallen. Dies bringt dann den Irrtum ans Tageslicht und wird meist zu einem Einsehen beim Irrenden führen. Aber auch wenn beide glauben und da­ 1 

Zum Entdeckungsszenario siehe insb. §  5 II.

284

§  13 Die streng normative Auslegung im Durchführungsszenario

rauf beharren Recht zu haben, ist die Abwicklung des Rechtsverhältnisses dadurch zunächst einmal gehemmt.2 Ganz anderes ist dagegen zu erwarten, falls zufällig beide Beteiligte vom selben normativ falschen Sinn der Erklärung ausgehen. Die Kongruenz der Verständnisse kann dann dazu führen, dass die Parteien – freilich rein zufällig – ihre Rechtsbezie­ hung nach Maßgabe ihrer inneren Vorstellungen von der Rechtslage vollkommen störungsfrei abwickeln. Irrtümer stören normalerweise die Kooperation der Betei­ ligten. Hier legen sie hingegen ein (wenn auch wegen der jederzeitigen Möglichkeit der Entdeckung brüchiges) Fundament des Zusammenwirkens. Im Durchführungs­ szenario wird der Verkäufer dann etwa in der (als „echten“ Doppelirrtum gedach­ ten) Haakjöringsköd-Konstellation Walfleisch liefern und der Käufer es zufrieden als die seiner Meinung nach geschuldete Leistung entgegennehmen und den Kauf­ preis zahlen.3 Im Doppelzentner-Fall4 wird sich der Käufer nicht daran stören, ge­ messen am vertraglich Vereinbarten die doppelte Menge Weizen geliefert zu be­ kommen, denn er erwartet eine solche Menge. Und auch bei objektiver Unbestimmt­ heit der Erklärung werden die Beteiligten, die vom selben Sinn der Erklärung ausgehen, ihr Rechtsverhältnis dann störungsfrei abwickeln, statt die Zusammenar­ beit wegen der Unwirksamkeit des Geschäfts einzustellen.

II. Die Entdeckung des ursprünglich objektiv Erklärten nach der Durchführung Das Durchführungsszenario ist wohl neben der Unwahrscheinlichkeit zufälliger Verständnisübereinstimmung ein weiterer Grund, warum sich die Praxis mit derar­ tigen Fällen kaum einmal beschäftigen muss. Wenn die Beteiligten das Rechtsge­ schäft so abwickeln, wie sie es übereinstimmend verstanden und gewollt haben, kommt es typischerweise nicht zu einem mit rechtlichen Mitteln zu entscheidenden Konflikt.5 Bleiben die Irrtümer auch nach der Durchführung unentdeckt – was nahe liegt, weil dann typischerweise noch weniger Anlass besteht, den Sinn des Rechts­ geschäfts auf den Prüfstand zu stellen –, kommt kein Streit über die Auslegung auf. Für die rechtliche Bewertung ist freilich wiederum der atypische, aber kon­ fliktträchtige Fall von Interesse. Den normativen Sinn der ursprünglichen Erklä­ rung kann einer der Beteiligten theoretisch auch noch nach der Abwicklung des 2  Beim inkongruenten Doppelirrtum gilt dasselbe, da auch dort divergierende Auffassungen vom Erklärungsinhalt bestehen und sich sogar beide Seiten mit ihrer Auffassung normativ im Unrecht befinden. 3 Dazu Seifert, Falsa demonstratio (1929), 137 f. 4  §  4 II 1. 5 Vgl. Kötz, FS Zeuner (1994), 219 (223): „Verträge, in denen die Parteien das übereinstim­ mend Gewollte versehentlich falsch oder unklar bezeichnet haben, gelangen selten vor die Gerich­ te, weil die Parteien in solchen Fällen den Vertrag in der Regel so durchführen werden, wie er von ihnen gemeint war.“ Ebenso ders., ZEuP 2013, 777 (779).

II. Die Entdeckung des ursprünglich objektiv Erklärten nach der Durchführung

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Rechtsverhältnisses entdecken. Ist dem Entdecker zu diesem Zeitpunkt aus irgend­ welchen Gründen der Sinn des Rechtsgeschäfts nicht mehr lieb, so hat er bei Zu­ grundelegung der streng normativen Auslegungslehre auch jetzt noch die Möglich­ keit, deren Rechtsfolgen für sich in Anspruch zu nehmen. Seine rechtlichen Hand­ lungsmöglichkeiten hängen dann vom Einzelfall ab. Bezieht sich der Irrtum beispielsweise auf die Identität der Hauptleistung, so könnte der Leistungsempfän­ ger statt der erhaltenen Leistung die objektiv versprochene Leistung verlangen6 oder der Leistungserbringer auf der Rückgabe der „irrtümlich“ erbrachten Leistung nach Bereicherungsrecht (§  812 I 1 Alt. 1 BGB) bestehen7. Ist der Entdecker Er­ klärender, so kann er die Entdeckung seines Irrtums auch dazu nutzen, seine Wil­ lenserklärung und damit das gesamte Rechtsgeschäft durch Anfechtung zu Fall zu bringen.8 Ist die Willenserklärung unbestimmt und deshalb unwirksam, so hätten sogar sowohl Erklärender als auch Empfänger in der Rolle des Entdeckers die Op­ tion, die Unwirksamkeit der Willenserklärung noch geltend zu machen. Dieses Ergebnis dürfte wohl selbst demjenigen befremdlich erscheinen, der die bisherige Analyse der Interessenlage in dieser Untersuchung teilt. Die hier befür­ wortete normative Auslegung trotz des abweichenden zufällig übereinstimmenden Verständnisses soll Rechtssicherheit und Orientierung in der Phase nach Vornahme des Rechtsgeschäfts ermöglichen. Die Beteiligten könnten bei Geltung der natürli­ chen Methode mit den ihnen zur Verfügung stehenden Informationen nicht sicher beurteilen, wie ihre Rechtslage lautet und wie sie sich zu verhalten haben. Im Durchführungsszenario ist das Gewicht dieses Gedankengangs indes erheblich re­ duziert. Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass die beidseitigen Irrtümer sich auch im weiteren Geschehensverlauf durch einen glücklichen Zufall nicht missver­ ständnisstiftend ausgewirkt haben und den Beteiligten sogar dazu verholfen haben, 6 

Beim Kaufvertrag ggf. im Wege der Nacherfüllung (§  434 III Alt. 1 BGB). Ausschluss der Leistungskondiktion nach §  814 BGB kommt nicht in Betracht, da der Leistende nicht in Kenntnis der Nichtschuld leistet, sondern sich aufgrund seines Irrtums irrig für verpflichtet hält. 8  Ein Anfechtungsausschluss mit der Begründung, der Erklärende würde die Erklärung „bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung des Falles nicht abgegeben haben“ (§  119 I Hs.  2 BGB), kommt nicht in Betracht, da der Erklärende das „objektiv Erklärte“ gerade nicht er­ klärt haben würde. Der Ausschluss der Anfechtung (auch nach §  242 BGB) würde auch auf Rechts­ folgenseite nicht weiter führen, da bei der hier zugrundegelegten streng normativen Auslegungs­ lehre dann das objektiv Erklärte gelten würde. Eine Änderung des Erklärungssinns geht davon nicht aus (vgl. in anderem Zusammenhang Lobinger, AcP 195 [1995], 274 [277] in Fn.  23). Eine gewisse Entschärfung würde hier allerdings die heute allgemein anerkannte Lehre vom Reurechtsausschluss (Nachw. in §  6 Fn.  24) mit sich bringen, da der Empfänger danach auf der Geltung des Gewollten bestehen könnte, das sich mit der bereits eingetretenen Lage deckt. Der Reurechtsausschluss bietet allerdings – wenn er denn anzuerkennen sein sollte – nur eine Handha­ be im Falle der Anfechtung. Ficht der Erklärende nicht an, könnte er im Durchführungsszenario auf dem objektiv Erklärten bestehen. Auch gegenüber dem auf der objektiven Rechtslage behar­ renden Empfänger (z. B. eines unbestimmten einseitigen Rechtsgeschäfts) hilft der Reurechtsaus­ schluss nicht weiter, da der Reurechtsausschlussgedanke nur eine Bindung des Erklärenden an das ursprüngliche Gewollte rechtfertigt (siehe §  9 II 4 c). 7  Ein

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§  13 Die streng normative Auslegung im Durchführungsszenario

die tatsächliche Lage herbeizuführen, die beide übereinstimmend für die rechtlich richtige hielten. Ein Entdecker, der nichtsdestotrotz auf dem ursprünglich objektiv Erklärten und den daraus folgenden Rechtsfolgen besteht, erscheint nicht mehr in erster Linie als orientierungsbedürftiger Teilnehmer des Rechtsverkehrs, sondern eher als „Stören­ fried“, der eine eigentlich befriedete Lage noch einmal aufstört. Das aus der norma­ tiven Auslegung erwachsende „Störpotential“ scheint mit der Ordnungsfunktion des Rechtsgeschäfts9 insbesondere auch deshalb schwer vereinbar zu sein, weil der Entdecker infolge der Durchführung die Lage meist viel besser einschätzen kann als noch bei Vornahme des Rechtsgeschäfts. Er hat aufgrund der weiteren Entwicklung womöglich klare Anhaltspunkte dafür, dass man sich innerlich (zufäl­ lig) richtig verstanden hat. Und er hat bislang auch weder irgendwelches Vertrauen in das objektiv Erklärte gesetzt noch läuft er Gefahr, irgendwelche Vertrauensschä­ den zukünftig zu erleiden, wenn man ihn, der die Lage mittlerweile überblickt, an dem übereinstimmenden Verständnis festhält. Damit verflüchtigen sich aber gerade diejenigen Gründe, die nach der hier vertretenen Analyse das Festhalten am Ergeb­ nis der normativen Auslegung rechtfertigen. Es ist daher im Folgenden der Frage nachzugehen, ob auf Basis der streng norma­ tiven Auslegungslehre eine adäquate Antwort auf das Durchführungsszenario mög­ lich ist. Es wird sich dabei herausstellen, dass die bisherigen Lösungsversuche der Vertreter der streng normativen Auslegungslehre nicht überzeugen (dazu unter III.), eine Lösung mit Hilfe der Grundsätze der Vertrauenshaftung ebenfalls nicht mög­ lich ist (dazu IV.), sondern lediglich durch Modifizierung des zeitlichen Horizonts der normativen Auslegungsmethode in einigen Fällen eine Stabilisierung der einge­ tretenen Lage möglich ist. In allen anderen Fällen ist von einer Fortgeltung des ur­ sprünglich objektiv Erklärten auszugehen (dazu unter V.).

III. Der Lösungsversuch mittels einer konkludenten Änderungsvereinbarung 1. Die Änderungslösung Autoren, die mit der hier vertretenen Ansicht für die normative Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont auch bei abweichendem kongruentem Partei­ verständnis eintreten, beschäftigen sich mit dem Durchführungsszenario – wenn überhaupt – nur am Rande, gelangen dann aber einhellig zum selben Ergebnis. ­Henle deutet den Lösungsansatz bereits vorsichtig an:

9 Vgl.

Singer, JZ 1989, 1030 (1033).

III. Der Lösungsversuch mittels einer konkludenten Änderungsvereinbarung

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„Sollte nicht in solchen Fällen der wahre Vertragsschluss im späteren Verhalten der Par­ teien zu finden sein?“10

Seifert meint in diesem Sinne am Beispiel des Haakjöringsköd-Falls, es sei gleich­ gültig, welcher Auslegungslehre man folge, falls die Parteien ihren beiderseitigen Irrtum nicht bemerken. „Ob man dann sagt, der Vertrag bestand von vornherein auf Walfischfleisch, weil beide es wollten, oder ob man dann sagt, es bestand zunächst ein beiderseits anfechtbarer Vertrag über Haifischfleisch, durch Lieferung und Abnahme von Walfischfleisch kam dann aber ein neuer Vertrag über Walfischfleisch unter Aufhebung des ersten Vertrages zustande.“11

Auch bei Bickel heißt es: „Wird das Rechtsverhältnis von den Beteiligten aber so abgewickelt, wie es ihren zufällig übereinstimmenden Vorstellungen entspricht, dann wird hierdurch die auf Grund der rechtsgeschäftlichen Erklärung eingetretene, den Beteiligten unbekannt gebliebene Rechtswirkung rechtsgeschäftlich abgeändert.“12

Spieß leitet aus diesem Gedankengang sogar die Überflüssigkeit des falsa-Satzes ab: „Der falsa demonstratio bedarf es im Privatrechtssystem nicht, da bei Vollzug des Gewoll­ ten, bei der Inswerksetzung und Durchführung des Geschäfts immer noch der Vertrags­ schluß angenommen werden kann, wenn beide Parteien mit der Durchführung der Leis­ tung einverstanden sind.“13

Am ausführlichsten äußert sich zu diesem heiklen Punkt Titze14, demzufolge der Erklärungsinhalt bei Durchführung des übereinstimmend angenommenen Ver­ ständnisses von den Parteien „gewissermaßen im Wege einer authentischen Inter­ pretation festgestellt“ werde. Die authentische Auslegung sei „nichts anderes als Errichtung eines neuen Geschäftes mit rückwirkender Kraft“. Wenn ein Käufer eine mehrdeutige Bestellung der „Memoiren Hohenlohes“ abgebe, der Verkäufer ihm daraufhin die tatsächlich gewünschten „Denkwürdigkeiten“ des Fürsten Chlodwig15 statt der Erinnerungen des Prinzen16 zusende und der Käufer diese be­ 10 

Henle, GgA 170 (1908), 427 (486). Seifert, Falsa demonstratio (1929), 137 f. 12  Bickel, Methoden (1976), 155 in Fn.  62. 13  Spieß, JZ 1985, 593 (596). 14  Mißverständnis (1910), 189 f. in Fn.  34. Dort auch alle folgenden Zitate im Text. Nochmals a. a. O., 354, 392 mit knappem Hinweis auf die konkludente Änderung des mehrdeutigen Erklä­ rungsinhalts. Vgl. ferner a. a. O., 422 bei und in Fn.  48 zur objektiv eindeutigen Erklärung, die ­Titze denselben Grundsätzen unterstellt. 15 Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1819–1901), Reichskanzler und preußischer Mi­ nisterpräsident 1894–1900. Verfasser der „Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig zu Hohenlo­ he-Schillingsfürst“. 16  Kraft Karl August Eduard Friedrich Prinz zu Hohenlohe-Ingelfingen (1827–1892), preußi­ scher Offizier, zuletzt General der Artillerie sowie Militärschriftsteller. Verfasser des in zahlrei­ chen Auflagen erschienenen vierbändigen Werks „Aus meinem Leben: Aufzeichnungen aus den Jahren 1848–1871“. 11 

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§  13 Die streng normative Auslegung im Durchführungsszenario

halte, so „hätten die Parteien durch den mittelst Senden und Nehmen abgeschlosse­ nen Kontrakt jenem vieldeutigen Angebot einen eindeutigen Inhalt gegeben“.

2. Bewertung der Änderungslösung Die Ausgangsprämisse der Änderungslösung ist unbedenklich. Die Beteiligten kön­ nen auch im Nachhinein noch eine Vereinbarung treffen, die den objektiven Inhalt des Rechtsgeschäfts ihren zufällig anfänglich übereinstimmenden Vorstellungen anpasst.17 Sie können dieser Vereinbarung auch, wie Titze annimmt, Rückwirkung beilegen18 und sich dadurch so stellen, als hätte die Erklärung von Anfang an diesen Sinn gehabt – allerdings nur inter partes, weil die Vereinbarung nicht zu Lasten Dritter gehen darf19, beispielsweise zu Lasten eines Gläubigers, dem durch die nachträglich beschlossene Uminterpretation eine Forderung entzogen wird, in die er bereits vollstreckt hat. Mit dieser Einschränkung sind solche Vereinbarungen grundsätzlich möglich. Die grundsätzliche rechtliche Möglichkeit einer rechtsgeschäftlichen Änderungs­ vereinbarung bedeutet freilich nicht, dass deren Voraussetzungen im Durchfüh­ rungsszenario auch tatsächlich erfüllt sind und deshalb alle aus der vorherigen Rechtslage herrührenden Fragen endgültig erledigt sind, bevor die ursprüngliche objektive Bedeutung von einem der Beteiligten entdeckt wird. Das liefe, wie im Folgenden gezeigt werden wird, auf eine Fiktion hinaus. Die Bedenken betreffen den äußeren (dazu unter a) und den inneren (dazu unter b) Tatbestand der angeblichen rechtsgeschäftlichen Erklärungen zur nachträglichen Änderung der Rechtslage. a) Der äußere Tatbestand des angeblich ändernden Durchführungsverhaltens Eine konkludente Änderung des ursprünglichen Geschäftsinhalts aufgrund des Par­ teiverhaltens ist nur möglich, wenn das Durchführungsverhalten der Beteiligten objektiv zum Ausdruck bringt, der Handelnde wolle damit eine Änderung der bis­ herigen Rechtslage herbeiführen. Kein Hindernis hierfür ist die Bewusstseinslage des realen Empfängers, der bei der Abwicklung selbst noch unter dem Eindruck des inhaltsgleichen Irrtums steht und deshalb gar keinen Anlass hat von einer Ände­

17  Vonkilch, in: Klang, ABGB (2011), §  914 Rn.  160; Scherner, AT (1995), 95; F. Leonhard, AcP 120 (1922), 14 (113 f.). Siehe auch Canaris, Vertrauenshaftung (1971), 336 (allg. im Zusam­ menhang mit Fehlinterpretationen) und Schellhammer, Zivilrecht (1999), Rn.  1970 (zur Möglich­ keit einer nachträglichen Einigung über die Auslegung, durch die die Beteiligten ihre Beziehungen neu regeln). Ferner Kerschner, Irrtumsanfechtung (1984), 28 bei und in Fn.  65: „regelmäßig“ kon­ kludenter Vertragsschluss „bei Leistungsaustausch in Kenntnis des Irrtums“. 18  Kerschner, Irrtumsanfechtung (1984), 28. 19  F. Leonhard, AcP 120 (1922), 14 (114); v. Tuhr, AT II/1 (1914, 1957), 548.

III. Der Lösungsversuch mittels einer konkludenten Änderungsvereinbarung

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rungsabsicht seines Gegners auszugehen.20 Auf die tatsächlichen Vorstellungen des realen Empfängers und dessen unzutreffende Überzeugung von der Rechtslage kommt es bei der normativen Auslegung nicht an, sondern der Empfänger ist kon­ trafaktisch als ein sorgfältiger Verkehrsteilnehmer zu denken. Einem solchen Emp­ fänger wäre die durch normative Auslegung ermittelte objektiv „richtige“ Erklä­ rungsbedeutung bewusst. Welche konkreten Schlüsse der objektive Empfänger, dem die Kenntnis des ob­ jektiven Erklärungswerts der Ausgangserklärungen zuzuschreiben ist, aus dem Verhalten des Erklärenden im Durchführungsszenario zu ziehen hat, hängt – wie nun zu zeigen ist – unter anderem davon ab, ob die ursprüngliche Erklärung objek­ tiv eindeutig oder unbestimmt war. aa) Objektive Deutung des Durchführungsverhaltens bei objektiv eindeutiger Ausgangserklärung Unmittelbar wahrnehmbar ist bei objektiv eindeutiger Ausgangserklärung ein Ver­ halten, das vom objektiven Auslegungsergebnis abweicht, also beispielsweise die Lieferung von Wal statt Hai im Haakjöringsköd-Fall oder einer doppelt so großen Menge Weizen im Doppelzentner-Fall21. Eine ausdrückliche Änderungserklärung fehlt, so dass nur ein konkludenter Änderungssinn weiterhelfen könnte. Eine denk­ bare Interpretation des Verhaltens lautet in der Tat, dass der Handelnde bewusst von der objektiven Rechtslage abweicht und damit auch zum Ausdruck bringen will, die bestehende Rechtslage solle im Sinne seines aktuellen Verhaltens geändert werden. Von diesem konkludenten Erklärungsgehalt dürfte der „Empfänger“ aber nur aus­ gehen, wenn für ihn hinreichend deutlich ist, dass dies der Hintergrund des Verhal­ tens ist. Es kommen hier indes bei objektiver Betrachtung zwei andere Deutungen in Betracht, die daran erhebliche Zweifel säen. Nach der ersten Deutungsmöglichkeit, die in den hier interessierenden Fällen so­ gar der wahre psychologische Hintergrund des Verhaltens ist, könnte der Handelnde eine falsche Vorstellung vom Inhalt des Rechtsgeschäfts haben, die ihn in dem Glauben agieren lässt, er komme mit seinem Verhalten seinen Pflichten nach. Sollte dies aus Sicht des objektiven Empfängers eine naheliegende Deutung sein, scheitert die rechtsgeschäftliche Lösung bereits an dieser Stelle. Denn dann muss der objek­ 20 Anders F. Bydlinski, Privatautonomie (1967), 30 im Zusammenhang mit der Frage, ob ei­ nem Verhalten der Bedeutungsgehalt einer Genehmigung oder Wiederholung eines nichtigen Ge­ schäfts zukommt. F. Bydlinski verneint dies mit der Überlegung, weil die Empfänger „die Nichtig­ keit selbst auch nicht kannten, konnten sie das Verhalten der [Handelnden] schon deshalb nicht als Genehmigung oder Wiederholung des nichtigen Geschäftes verstehen!“ Entscheidend ist aber nicht, wovon die Empfänger tatsächlich ausgingen, sondern wovon sie normativ hätten ausgehen müssen. Vgl. auch Kerschner, Irrtumsanfechtung (1984), 32, der für eine Auslegung des Verhal­ tens beim Leistungsaustausch als eine (§  144 BGB entsprechende) Bestätigung gem. §  863 ABGB verlangt, der Empfänger müsse positive Kenntnis vom Irrtum des Irrenden haben. Dies ist nicht erforderlich, da die Erkennbarkeit des Irrtums genügt. 21  §  4 II 1.

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§  13 Die streng normative Auslegung im Durchführungsszenario

tive Empfänger annehmen, der Erklärende habe psychologisch gar keinen Anlass, sich über eine Änderung der Rechtslage Gedanken zu machen, geschweige denn eine solche durch sein Verhalten zum Ausdruck bringen zu wollen. Für sich allein betrachtet mag diese Deutung noch zu unwahrscheinlich sein, um den rechtsgeschäftlichen Erklärungsgehalt des Durchführungsverhaltens ernsthaft in Frage zu stellen. Neben einem Irrtum über den Inhalt des objektiv Erklärten gibt es aber noch eine zweite naheliegende Erklärung für das Verhalten. Die Abwei­ chung vom objektiv Geschuldeten kann auch auf allen nur denkbaren bewussten oder unbewussten Fehlern und Störungen beruhen, die bei der Erfüllung passieren können.22 Wer eindeutig Hai bestellt und dann Wal bekommt, wird zwar nicht unbedingt mit einem von Anfang an bestehenden Irrtum des Gegners über den Ver­ tragsinhalt rechnen, aber doch jedenfalls ein „Erfüllungsversagen“ in der Sphäre des Gegners ernsthaft in Betracht ziehen müssen. Die notwendige Gewissheit, durch Zusendung von Wal solle ihm eine Vertragsänderung angetragen werden, wird er kaum haben können. Auch die Lieferung einer doppelt so großen Menge Weizen kann viele Gründe haben, die mit dem Antrag einer Änderungsvereinba­ rung nichts zu tun haben müssen und mit der Annahme eines entsprechenden Rechtsfolgewillens psychologisch unvereinbar sind.23 Generell wird ohne „beson­ dere zusätzliche Umstände“24, die in den hier interessierenden Fällen allenfalls zu­ fällig vorliegen werden, kein objektiv eindeutiger Änderungsantrag vorliegen, son­ dern allenfalls eine diffuse mehrdeutige Lage, der wegen der objektiv gebotenen Zweifel an der Konkludenz des Verhaltens kein Erklärungswert zukommt.

22  Auf diese Möglichkeit weisen hin im Zusammenhang mit Falschlieferungen: Grunewald, in: MünchKommHGB (2013), §  377 Rn.  109 (bei Aliud-Lieferung), Rn.  112 (bei Mehrlieferung); Brüggemann, in: Staub, HGB (1983), §  378 Rn.  25 (bei offener Zuweniglieferung sei die „Annah­ me eines Versehens bei der Expedierung der Waren“ naheliegend), Rn.  43. Vgl. auch O. Werner, BB 1984, 221 (223), der bei der „offenen Minderlieferung“ auf die für den Käufer nicht erkennba­ re (d. h. nicht aufklärbare) Möglichkeit hinweist, der Verkäufer könne sich versehen, verschrieben oder geirrt haben und damit wohl die Erfüllungsphase meint. 23 Vgl. Grunewald, in: MünchKommHGB (2013), §   377 Rn.  109, 112: „im Normalfall“ bei Mehrlieferung kein Antrag auf Änderung; Canaris, Handelsrecht (2006), §  29 Rn.  74: „große Zu­ rückhaltung“ gegenüber den Annahme eines rechtsgeschäftlichen Erklärungswerts. A. A. Koppensteiner, BB 1971, 547 (549 [offene Zuweniglieferung], 551 f. [offene Mehrlieferung], 553 [hö­ herwertiges Aliud]), der in weitem Umfang bei der offen vom Vertragsinhalt abweichenden Liefe­ rung (und Entgegennahme seitens des Käufers) von einer konkludenten Vertragsänderung ausgeht. Gegen diese Überinterpretation des Handelndenverhaltens zu Recht O. Werner, BB 1984, 221 (223 in Fn.  34). 24  Vgl. OLG Hamm, Urteil vom 29.11.2002, NJW‑RR 2003, 613, das nur dann einen Erklä­ rungstatbestand und eine ändernde Vereinbarung in Betracht ziehen möchte. „Die Ausführung einer Lieferung nach vorangegangenem Vertragsschluss lässt regelmäßig einen Willen, den voran­ gegangenen Vertrag zu verändern, auch dann nicht erkennen, wenn eine mangelbehaftete oder eine andere als die vereinbarte Sache geliefert wird.“

III. Der Lösungsversuch mittels einer konkludenten Änderungsvereinbarung

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bb) Objektive Deutung des Durchführungsverhaltens bei objektiv unbestimmter Ausgangserklärung Auch beim ursprünglich objektiv unbestimmten Rechtsgeschäft ist der rechtsge­ schäftliche Erklärungswert des späteren Durchführungsverhaltens im Ergebnis bestenfalls diffus und unbestimmt. Es ist zwar denkbar, dass der Handelnde die objektive Unbestimmtheit entdeckt hat oder sie zumindest in Betracht zieht und nunmehr eine eindeutige Vereinbarung herbeiführen will. Da er jedoch nicht aus­ drücklich zu erkennen gibt, die Unbestimmtheit erkannt zu haben und eine rechts­ geschäftliche Einigung herbeiführen zu wollen 25, muss der Empfänger damit rech­ nen, der Handelnde könne die Unbestimmtheit auch schlicht übersehen haben. Der Handelnde will womöglich nur seine Pflichten erfüllen, weil er nach wie vor unter dem Eindruck seines Irrtums steht, der ihm den Blick auf die Unbestimmtheit ver­ stellt.26 Der Empfänger mag dann zwar aus dem Durchführungsverhalten Rück­ schlüsse ziehen können, von welcher Rechtslage der Handelnde wohl ausgeht und welchen ursprünglichen Willen er bei Abgabe der Erklärung hatte.27 Der für die Änderungslösung unverzichtbare konstitutive rechtsgeschäftliche Änderungswille spricht daraus aber nicht. Die Lage entspricht der Situation eines Empfängers, der beurteilen soll, ob der Handelnde mit seinem Durchführungsverhalten konkludent die erforderliche Be­ stätigung oder Genehmigung (§§  141, 144, 184 BGB) erklären will. Der Handelnde hat auch dort nur dann einen psychologischen Anlass zur Bildung und Mitteilung eines Bestätigungs- oder Genehmigungswillens, wenn er von einem Bestätigungsoder Genehmigungsbedarf ausgeht oder diesen wenigstens für möglich hält.28 Der „Empfänger“ kann von einem solchen Willen folglich auch nur ausgehen, wenn er seinerseits aufgrund objektiver Umstände Anlass hat anzunehmen, dem Handeln­ den sei der Mangel des Rechtsgeschäfts bewusst oder er habe zumindest entspre­ chende Zweifel.29 Ohne entsprechende Anhaltspunkte besteht die

25 Zu diesem im Durchführungsszenario nicht gegebenen Fall M. Wolf/‌Neuner, AT (2012), §  31 Rn.  15; Larenz, AT (1989), 358. 26 Vgl. Last, JherJb 63 (1913), 71 (160, 161). 27 Vgl. v. Tuhr, AT II/1 (1914, 1957), 548 in Fn.  66. 28  Zu §  141 BGB: BGH, Urteil vom 17.3.2008, NJW‑RR 2008, 1488 Tz.  15; Busche, in: Münch­ KommBGB (2015), §  141 Rn.  14; Faust, in: NK‑BGB (2012), §  141 Rn.  13; a. A. K. Schmidt, AcP 189 (1989), 1 (8 f.). Zu §  144 BGB: Bork, AT (2016), Rn.  948. Zur Genehmigung: Canaris, Vertrau­ enshaftung (1971), 377 (ansonsten kein „Erklärungsbewußtsein“). Siehe auch ders., a. a. O., 336 f. im Zusammenhang mit der nachträglichen Fehlinterpretation von Verträgen. 29  BGH, Urteil vom 27.9.2005, BKR 2005, 501 (503); Singer, in: Staudinger (2012), Vor §§  116 Rn.  45; Singer, Selbstbestimmung (1995), 141 a. E.; Kerschner, Irrtumsanfechtung (1984), 32 zum österreichischen Recht im Zusammenhang mit der (§  144 BGB entsprechenden) Bestätigung nach §  863 ABGB: dafür „müßte der Nichtirrende annehmen dürfen, daß auch der Irrende seinen Irrtum entdeckt hat“. Vgl. Frotz, Verkehrsschutz (1972), 498 und H. Roth, in: Staudinger (2015), §  144 Rn.  8.

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§  13 Die streng normative Auslegung im Durchführungsszenario

„regelmäßig nicht auszuräumende Möglichkeit, meist sogar die überwiegende Wahr­ scheinlichkeit, daß derjenige, der ein unwirksames Rechtsgeschäft durch Ausführungs­ handlungen bestätigt, von der Wirksamkeit des Rechtsgeschäfts ausgeht, also glaubt ver­ pflichtet zu sein“30.

Das Verhalten offenbart deshalb wie im Durchführungsszenario allenfalls deklara­ torisch die aktuelle Einschätzung der Rechtslage durch den Handelnden, bringt aber keinen auf Änderung gerichteten konstitutiven rechtsgeschäftlichen Genehmi­ gungs- oder Bestätigungswillen zum Ausdruck.31 Mit eben diesen Erwägungen ist im Durchführungsszenario auch Titzes Lösung des Hohenlohe-Falls32 entgegenzutreten. Der Verkäufer beantwortet zwar die mehrdeutige Bestellung der Memoiren Hohenlohes mit einer objektiv eindeutigen Gegenerklärung durch Zusendung der Memoiren des Reichskanzlers. Dagegen bleibt das weitere Verhalten des Käufers, der das Werk behält und den Kaufpreis entrichtet, in seinem rechtsgeschäftlichen Gehalt objektiv undeutlich. Möglicher­ weise möchte er dadurch seinem als mehrdeutig erkannten Antrag einen eindeuti­ gen Inhalt geben. Viel naheliegender ist aber aus Sicht des Verkäufers die Deutung, der Käufer glaube nach wie vor daran, durch seinen für eindeutig gehaltenen Antrag den Vertrag bereits zustande gebracht zu haben. Dann aber fehlt dem Verhalten aus Empfängersicht33 der objektive Sinn einer Änderungserklärung. 30 

Singer, Selbstbestimmung (1995), 147. Singer, Selbstbestimmung (1995), 147, der auf S.  148 ff. (knapper ders., in: Staudinger [2012], Vor §§  116 Rn.  47) eine Lösung entwickelt, die auch bei fehlendem objektivem Erklärungs­ wert des Durchführungsverhaltens zu einer wirksamen Genehmigung oder Bestätigung gelangen soll. Diese Lösung führt im vorliegenden Zusammenhang nicht weiter, da Singer hierfür statt des objektiven Erklärungswerts die Kenntnis der Genehmigungs- oder Bestätigungsbedürftigkeit auf Seiten des Handelnden und eine Billigung seitens des „Empfängers“ verlangt, die sich aus der Mitwirkung am „defekten“ Rechtsgeschäft ergebe (S.  148). Im Durchführungsszenario fehlt dem Handelnden das Bewusstsein der Änderungsbedürftigkeit. Singers Ansatz, der maßgeblich auf dem falsa-Satz und der daraus abgeleiteten These der Entbehrlichkeit des objektiven Erklärungs­ tatbestands für den Eintritt rechtsgeschäftlicher Wirkungen aufbaut, verdient zudem keine Zu­ stimmung. Warum soll nach Singers Lösung überhaupt noch eine genehmigende oder bestätigende empfangsbedürftige Erklärung gegenüber dem Empfänger erfolgen, wenn die Rechtswirkungen auch eintreten, falls der Empfänger den genehmigenden Sinn gar nicht erkennt und erkennen kann? Singer behandelt der Sache nach all diese Erklärungen wie nicht empfangsbedürftige Wil­ lenserklärungen. Das ist im Falle der Genehmigung mit dem Gesetz unvereinbar (vgl. §  183 I BGB) und im Falle der Bestätigung zwar diskutabel (vgl. die sogar h.M. zu §  144 BGB, Ellenberger, in: Palandt [2016], §  144 Rn.  2 m.w.Nachw.), bedürfte aber nicht der den äußeren Erklärungstatbestand partiell für entbehrlich erklärenden Begründung Singers. 32  Titze, Mißverständnis (1910), 189 in Fn.  34. Dazu bereits unter 1. 33 Falls auf die Annahmeerklärung des Käufers durch „Behalten“ der Memoiren §   151 S.  1 BGB Anwendung findet, wäre nicht der objektive Empfängerhorizont des Verkäufers maßgeblich, sondern der „aufgrund aller äußeren Indizien“ (BGH, Urteil vom 28.3.1990, BGHZ 111, 97 [101]; Urteil vom 12.10.1999, NJW 2000, 276 [277]) erschließbare Wille. Dem allwissenden Beobachter wäre die Verkennung der Mehrdeutigkeit durch den Handelnden ersichtlich, so dass er von einem auf Änderung gerichteten Geltungswillen ebenfalls nicht ausgehen dürfte. Nach h.M. führt das zudem fehlende Erklärungsbewusstsein bei §  151 BGB außerdem stets zur ipso iure eintretenden Unwirksamkeit, BGH, Urteil vom 18.12.‌1985, NJW‑RR 1986, 415 unter II 2 31 

III. Der Lösungsversuch mittels einer konkludenten Änderungsvereinbarung

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b) Der innere Tatbestand des angeblich ändernden Durchführungsverhaltens Die Lösung des Durchführungsszenarios mittels einer Änderungsvereinbarung scheitert spätestens auf der Ebene des inneren Tatbestands der Willenserklärung. Da die Beteiligten bei der Abwicklung ihrer Rechtsbeziehungen noch unter dem Eindruck ihrer gleichsinnigen Irrtümer stehen, fehlt ihnen ein auf die Änderung der Rechtslage gerichteter Rechtsfolgewille. Beide wollen lediglich ihre Verpflichtun­ gen erfüllen34. Selbst wenn zufällig die äußeren Umstände so beschaffen sein soll­ ten, dass objektive Empfänger in der Position der Beteiligten von einer Änderungs­ vereinbarung ausgehen würden, könnte jeder der Beteiligten immer noch geltend machen, dies innerlich nicht gewollt zu haben und dadurch die mühsam konstruier­ te Änderungsvereinbarung zum Einsturz bringen. Der genauen Verortung der Defizite im inneren Tatbestand kommt an dieser Stel­ le im Ergebnis keine ausschlaggebende Bedeutung zu. Wenn sich das Durchfüh­ rungsverhalten nach der Vorstellung der Beteiligten in der Ausführung von Realak­ ten erschöpft, fehlt ihnen das Erklärungsbewusstsein, weil sie dann nicht davon ausgehen überhaupt irgendeine rechtsgeschäftliche Erklärung abzugeben35. Die Änderungsvereinbarung oder der Neuabschluss des Rechtsgeschäfts in der Durch­ führungsphase wären Anwendungsfälle des insbesondere von der österreichischen Lehre scharf zurückgewiesenen „beiderseits unbewußten Vertragsschlusses“36. Es kann sich auch um einen „echten“ Inhaltsirrtum im Sinne von §  119 I Alt. 1 BGB handeln, wenn das Ausführungsverhalten (mehr oder minder zufällig37) von ei­ nem Rechtsfolgewillen begleitet war, wie etwa bei Warenübersendung und Kauf­ preiszahlung, die als Verfügungsgeschäfte auch von den Akteuren für rechtserheb­ liches Verhalten gehalten werden. Dem Entdecker bleibt so immer noch die Option, durch Geltendmachung seines Willensmangels auf dem Rechtszustand zu bestehen, der vor einer etwaigen Ände­ rungsvereinbarung galt. Dies folgt mit Selbstverständlichkeit aus der Ansicht, bei a bb; Ellenberger, in: Palandt (2016), §  151 Rn.  2b; Schwarze, AcP 202 (2002), 607 (628 a. E.); M. Wolf, in: Soergel (1999), §  151 Rn.  5; a. A. Bork, in: Staudinger (2015), §  151 Rn.  16. Der Fall ähnelt der Konstellation, in der der Käufer die Sache entgegennimmt in dem Glauben, sie sei seine eigene, und in der ebenfalls von Unwirksamkeit der Annahme ausgegangen wird (Busche, in: Münch­ KommBGB [2015], §  151 Rn.  10). Im Hohenlohe-Fall nimmt der Käufer die Memoiren entgegen in dem Glauben, es bestehe schon ein Kaufvertrag. Vgl. hierzu Manigk, JherJb 75 (1925), 127 (181), der ohne nähere Erläuterung meint, Titzes Konstruktion versage in den Fällen des §  151 BGB. 34  Last, JherJb 63 (1913), 71 (160, 161). 35  So die heute verbreitete Definition des Erklärungsbewusstseins, Faust, AT (2016), §  2 Rn.  4; Brox/Walker, AT (2015), Rn.  85; Eisenhardt, JZ 1986, 875 (879). 36  F. Bydlinski, Privatautonomie (1967), 12 f., 38: „absurde[s] Gebilde“; Kramer, Grundfragen (1972), 49 in Fn.  119; F. Bydlinski, BJM 1982, 1 (14 f.); Kramer, FS Canaris I (2007), 665 (668). Ablehnend auch Zemen, JBl 1986, 756 (757); Schlemmer, JBl 1986, 149 (151). 37  Die Zufälligkeit der Unterscheidung ist in der allgemein für maßgeblich gehaltenen Defini­ tion des Erklärungsbewusstseins angelegt, die irgendeinen Rechtsfolgewillen genügen lässt.

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§  13 Die streng normative Auslegung im Durchführungsszenario

fehlendem Erklärungsbewusstsein liege keine wirksame Erklärung vor38. Auch die vermittelnde BGH-Konzeption müsste von einer ipso iure wirkungslosen Erklä­ rung ausgehen, da weder der „Erklärende“ die Änderung wollte, noch der Empfän­ ger von einer solchen Erklärung ausgegangen ist.39 Jede Änderungserklärung wäre jedenfalls wegen des fehlenden Erklärungsbewusstseins bzw. wegen Inhaltsirrtums anfechtbar.40 Wenn der Entdecker unverzüglich nach Entdeckung des ursprüngli­ chen Irrtums die Anfechtung erklärt, könnte er noch bis zu 10 Jahre später (§  121 II BGB) den alten Rechtszustand wieder herbeiführen. Nicht einmal der möglicherweise dem Grunde nach bestehende Schadens­ersatz­ anspruch aus §  122 I BGB wäre dem Anfechtungsgegner im Falle der Anfechtung von Nutzen. Er hätte zwar nach einem Durchführungsverhalten mit Erklärungsbe­ deutung auf eine Rechtslage vertraut, die mit dem Inhalt der angefochtenen Ände­ rungsvereinbarung übereinstimmt – aber er hätte nicht gerade wegen der Ände­ rungserklärung vertraut, sondern weil er nach wie vor unter dem Eindruck seines eigenen Irrtums stand. Der Käufer im Haakjöringsköd-Fall hätte deshalb keinen Anspruch auf Ersatz von Vertrauensschäden, falls der Verkäufer eine in die Wal-Lie­ ferung hineininterpretierte Änderungserklärung anficht. Nicht der vom Käufer gar nicht als solcher zur Kenntnis genommene Erklärungsgehalt der Wal-Lieferung hät­ te nämlich das Käufervertrauen verursacht, sondern der vom Käufer selbst zu ver­ antwortende Irrtum, es sei von Anfang an Wal vereinbart gewesen. Solange der Entdecker sein Anfechtungsrecht nicht verfristen lässt41, bringt die Änderungslö­ sung somit demjenigen praktisch nichts, der sich einer Rückkehr zum alten Rechts­ zustand widersetzen möchte. c) Zwischenergebnis Die rechtsgeschäftliche Änderungslösung, von der einige Anhänger der streng nor­ mativen Auslegungslehre im Durchführungsszenario ausgehen, führt nicht weiter. 38  So etwa Singer, in: Staudinger (2012), Vor §§  116 ff. Rn.  37–40; M. Wolf/‌Neuner, AT (2012), §  32 Rn.  22 (fehlender „Partizipationswille“); Schapp/Schur, Einführung (2007), Rn.  354; Hübner, AT (1996), Rn.  677 f.; Canaris, NJW 1984, 2281; ders., Vertrauenshaftung (1971), 427 f., 548–551. 39  Vgl. BGH, Urteil vom 11.6.2010, NJW 2010, 2873, wo sich die Frage stellte, ob der aus einer verspäteten Annahmeerklärung folgende neue Antrag (§  150 I BGB) durch Zahlung des Kaufprei­ ses konkludent angenommen worden war. Der BGH verneint dies in Tz.  18, weil die Voraussetzun­ gen für eine trotz fehlenden Erklärungsbewusstseins nur anfechtbare Willenserklärung nicht er­ füllt seien: Da die Parteien bei der Zahlung davon ausgingen, einen bereits geschlossenen Vertrag zu erfüllen, sei u. a. das – m.E. abzulehnende (siehe §  9 II 1) – Vertrauenserfordernis nicht erfüllt gewesen (BGH, Urteil vom 7.6.‌2013, NJW 2013, 3434 Tz.  27 stellt hingegen allein auf das fehlende Erklärungsbewusstsein ab). Im Durchführungsszenario müsste dasselbe gelten. 40 Vgl. Koppensteiner, BB 1971, 547 (550, 552) und Canaris, Handelsrecht (2006), §  29 Rn.  74, die die Möglichkeit der Anfechtung einer durch Falschlieferung zustande gekommenen Ände­ rungsvereinbarung hervorheben. 41  Dies setzt freilich wiederum voraus, dass die Änderungserklärung anfechtbar ist, und nicht etwa wegen des Willensmangels ipso iure nichtig.

IV. Lösungsansätze auf Basis der Lehre von der Vertrauenshaftung

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Es fehlt regelmäßig schon am objektiven Erklärungstatbestand des Durchführungs­ verhaltens, jedenfalls aber an einem „defektfreien“ inneren Tatbestand, weil die Beteiligten nicht davon ausgehen, es bedürfe überhaupt einer Änderung. Jede Än­ derung wäre deshalb wenigstens anfechtbar, wenn nicht sogar ipso iure nichtig, so dass es beim ursprünglichen objektiven Erklärungswert bliebe.

IV. Lösungsansätze auf Basis der Lehre von der Vertrauenshaftung Zu erwägen ist auch, ob im Durchführungsszenario ein auf „Vertrauenshaftung“ gestützter Lösungsansatz weiter führt. Auch wenn die Lehre von der Vertrauens­ haftung nach wie vor umstritten ist, ist doch weithin akzeptiert, dass unter be­ stimmten Umständen der Gedanke des Vertrauensschutzes Rechtsfolgen rechtfer­ tigt, die denen eines Rechtsgeschäfts angenähert sind und gerade dort Wirkungen entfalten, wo rechtsgeschäftliche Begründungsansätze an ihre Grenzen stoßen. Die Vertrauenshaftung kann dann ausnahmsweise sogar zu einer „Vertrauensentspre­ chung“ führen, entlastet den Vertrauenden also nicht nur im Wege negativen Ver­ trauensschutzes von etwaigen Vertrauensschäden, sondern stellt ihn durch positiven Vertrauensschutz so, wie er die Rechtslage tatsächlich eingeschätzt hat.42 Liegt hier ein Ansatzpunkt, im Durchführungsszenario einem Beteiligten, der auf den zufäl­ lig innerlich übereinstimmend angenommenen Inhalt des Rechtsgeschäfts vertraut hat, nach der Abwicklung der Rechtsbeziehung zu helfen?

1. Rechtsscheinhaftung? Eine der am klarsten konturierten Fallgruppen der Vertrauenshaftung ist die Rechts­ scheinhaftung. Dabei geht es „im wesentlichen darum, daß der Schein einer be­ stimmten Rechtslage gegeben ist, die in Wahrheit nicht besteht“43, und sich derjeni­ ge, der den Rechtsschein zurechenbar gesetzt hat, so behandeln lassen muss, als entspreche der gesetzte Schein der Wahrheit. Eine nähere Auseinandersetzung mit allen vier Grundvoraussetzungen der Rechtsscheinhaftung (Rechtsscheintatbestand, Zurechenbarkeit, Kausalität des Rechtsscheins für eine Disposition des Vertrauenden und Gutgläubigkeit des Ver­ trauenden)44 erübrigt sich im vorliegenden Zusammenhang freilich, da es schon am Rechtsscheintatbestand fehlt. Um das Durchführungsszenario mit der Rechts­ scheinlehre lösen zu können, bedürfte es eines objektiven Rechtsscheintatbestands, der den Eindruck erweckt, es sei die Rechtslage gegeben, von der die Beteiligten in 42 

Canaris, FS BGH I (2000), 129 (132). Canaris, FS BGH I (2000), 129 (133). 44  Faust, AT (2016), §  26 Rn.  21. 43 

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§  13 Die streng normative Auslegung im Durchführungsszenario

Verkennung des objektiven Erklärungswerts ihrer Erklärungen bei ihrem Durch­ führungsverhalten ausgehen. Ob ein solcher Schein besteht, bestimmt sich aber bei durch Äußerungen oder Verhalten hervorgerufenen „natürlichen Rechtsscheintat­ beständen“ nach den für die Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen geltenden Grundsätzen der normativen Auslegung.45 Ein den Vorstellungen der Be­ teiligten entsprechender Rechtsscheintatbestand ist deshalb in den hier interessie­ renden Fällen undenkbar, da die objektive Rechtslage das Ergebnis der normativen Auslegung der Willenserklärung ist. Die objektiv richtige, wahre Rechtslage ist bei­ den Beteiligten erkennbar, weil sich der Sinn der die Rechtslage bestimmenden Wil­ lenserklärungen selbst nach dem Maßstab der Erkennbarkeit bestimmt.46 Weil ihnen diese Rechtslage nach normativen Maßstäben ersichtlich ist, wird ihnen gegenüber auch im Rahmen der Durchführung kein Schein gesetzt. Alle Geschehnisse in die­ ser Phase könnten nämlich wiederum aus Sicht der Parteien nur dann zu einer Rechtsänderung führen, wenn sie davon ausgehen, diese Rechtslage solle durch Willenserklärungen gerade ihnen gegenüber umgestaltet werden. Insofern enthalten hier unmittelbar die Regeln der Rechtsgeschäftslehre die unter III 2 a herausgearbei­ tete abschließende Wertung, dass von einer rechtsgeschäftlichen Änderung nicht auszugehen ist. Die Rechtsscheinlehre darf diese Wertungen nicht unterlaufen. Keiner der Beteiligten kann sich somit darauf berufen, ihm gegenüber habe ein falscher Schein einer Rechtslage bestanden, der ihn gutgläubig zu Dispositionen veranlasst habe.

2. Ver- und Erwirkung? Nach weit verbreiteter Auffassung können objektiv bestehende Rechtspositionen durch Untätigkeit des Berechtigten „verwirkt“ werden, wenn aufgrund der verstri­ chenen Zeit (Zeitmoment) und weiterer Umstände des Falles (Umstandsmoment) die verspätete Geltendmachung des Rechts illoyal erscheint.47 In der Lehre wird in Anknüpfung hieran sogar eine „Erwirkung“ erwogen, die zum Schutze des Ver­ trauens eines Beteiligten für die Zukunft neue Rechtspositionen schafft.48 Für das 45  Canaris, Vertrauenshaftung (1971), 494 für „natürliche äußere Tatbestände“ wie mündli­ che Erklärungen, Urkunden und konkludentes Verhalten. 46 Vgl. Canaris, Vertrauenshaftung (1971), 337 in Fn.  6 und Singer, Verbot (1993), 182 bezo­ gen auf die nachträgliche Fehlinterpretation eines Vertrages durch die Beteiligten, die sich von den Fällen anfänglicher Fehlinterpretation in diesem Punkt nicht wesentlich unterscheidet. Die Fälle anfänglicher beidseitiger Fehlinterpretation lösen beide Autoren als Anhänger der dualistischen Auslegungslehre über den falsa-Satz (Canaris, a. a. O., 336; Singer, a. a. O.). 47  Grüneberg, in: Palandt (2016), §  242 Rn.  87. Aus der Rechtsprechung siehe nur BGH, Urteil vom 6.4.2011, FamRZ 2011, 1140 Tz.  17; Urteil vom 27.6.1957, BGHZ 25, 47 (51 f.) jeweils m.w.Nachw. 48  Canaris, Vertrauenshaftung (1971), 372 f.; Singer, Verbot (1993), 224 f.; Schubert, in: Münch­ KommBGB (2015), §  242 Rn.  420 f.

IV. Lösungsansätze auf Basis der Lehre von der Vertrauenshaftung

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Eingreifen der in Parallele zur Verwirkung entwickelten Erwirkung soll dann eben­ falls „ein mehr oder weniger langer Zeitablauf“49 erforderlich sein. Ver- und Erwirkung sind im hiesigen Zusammenhang insbesondere deshalb von Interesse, weil diese Figuren auch an anderer Stelle bemüht werden, um Konstella­ tionen in den Griff zu bekommen, in denen die Beteiligten über einen gewissen Zeitraum die Rechtslage falsch interpretieren, insbesondere auch rechtsgeschäftli­ chen Erklärungen – wie im Durchführungsszenario – eine falsche Bedeutung beile­ gen50. Es scheint im Durchführungsszenario auch durchaus noch möglich, ein (hier sogar wechselseitig verwirklichtes) Umstandsmoment darin zu sehen, dass jeder der Beteiligten den Gegner in dessen Fehlvorstellung vom Inhalt des Rechtsge­ schäfts bestärkt51, indem er sich konform der Fehlvorstellung des Gegners verhält. Dass dies unbewusst geschieht und seinen Grund im eigenen Irrtum über die objek­ tive Rechtslage hat, spricht nicht gegen das Eingreifen von Ver- und Erwirkung. Die Kenntnis des Berechtigten von der Existenz seiner Rechtsposition ist keine Voraus­ setzung der Verwirkung.52 Trotzdem verfehlen Ver- oder Erwirkung den Kern des Durchführungsszenarios aufgrund des erforderlichen Zeitmoments, das der „typusbildende[ ] Umstand“53 dieser Rechtsfiguren ist. Es ist zwar ohne weiteres denkbar, dass nach der Durch­ führung so viel weitere Zeit bis zur Entdeckung des Irrtums verstrichen ist, dass schon aus diesem Grund dem Entdecker verwehrt werden muss, alles noch einmal aufzustören. Der Gegner hat dann in der verstrichenen Zeit womöglich schon „irre­ versible“ Zustände geschaffen und darf zu Recht damit rechnen, es werde alles blei­ ben wie es ist.54 So etwa, wenn der Käufer im als kongruenter Doppelirrtum ge­ dachten Haakjöringsköd-Fall sich erst Jahre später meldet und noch auf Lieferung von Haifisch besteht. Die unter II. geschilderten Bedenken richten sich aber im Grunde völlig unabhängig vom Faktor Zeit gegen die Möglichkeit des Entdeckers, überhaupt noch einmal Unruhe zu stiften, indem er auf dem ursprünglich objektiv Erklärten besteht. Ob seit der Durchführung erhebliche Zeit verstrichen ist, spielt hierfür keine entscheidende Rolle, sondern trifft allenfalls zufällig zu. Auch zwei Tage nach der Lieferung kann dieses Ergebnis im Haakjöringsköd-Fall bedenklich

49 

Canaris, Vertrauenshaftung (1971), 373. Canaris, Vertrauenshaftung (1971), 392–395; Singer, Verbot (1993), 234 f. 51 Vgl. Singer, Selbstbestimmung (1995), 147, der eine Vertrauenshaftung in Erwägung zieht, wenn beim genehmigungs- oder bestätigungsbedürftigen Rechtsgeschäft das Verhalten des Ge­ nehmigungs- oder Bestätigungsbefugten beim Gegner einen Rechtsirrtum verstärkt oder aufrecht erhält. Singer zeigt sich aber zu Recht skeptisch gegenüber der Annahme, dies allein könne zu ei­ ner Bindung an die zunächst angenommene Rechtslage führen. 52 BGH, Urteil vom 27.6.1957, BGHZ 25, 47 (53); Urteil vom 16.3.2007, NJW 2007, 2183 Tz.  8; Grüneberg, in: Palandt (2016), §  242 Rn.  94 jeweils zur Verwirkung. 53  Canaris, Vertrauenshaftung (1971), 373. 54  In diesem Zusammenhang mit der Schaffung „irreversibler“ Verhältnisse sieht Singer, Ver­ bot (1993), 225 unter anderem die Funktion des Zeitmoments bei der Ver- und Erwirkung. 50 Vgl.

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§  13 Die streng normative Auslegung im Durchführungsszenario

erscheinen. Ver- und Erwirkung mögen also in einigen Fällen helfen, meist werden ihre Voraussetzungen aber noch nicht erfüllt sein.

V. Eigener (Teil-)Lösungsvorschlag: Nachträgliche Veränderung des normativen Erklärungssinns aufgrund der Durchführung Die vorangegangenen Überlegungen haben gezeigt, dass eine befriedigende Lösung für das Durchführungsszenario in den gewohnten dogmatischen Bahnen nicht zu finden ist. Die Konstruktion einer konkludenten Änderungsvereinbarung überzeugt ebenso wenig wie eine vertrauenshaftungsrechtliche Lösung. Das Durchführungs­ szenario ist – ebenso wie das Entdeckungsszenario – eine Konstellation, die dazu zwingt, allgemein für richtig gehaltene Dogmen zu hinterfragen. Der folgende Lösungsvorschlag setzt in diesem Sinne dogmatisch bei der zeitli­ chen Dimension der erläuternden Auslegung an, namentlich dem Zeithorizont des objektiven Empfängerhorizonts. Die Grundidee lautet dabei, dass das Durchfüh­ rungsszenario eine Konstellation ist, in der sich die normative Bedeutung der Erklä­ rung nachträglich ändern kann und so letztlich doch mit der infolge der Durchfüh­ rung eingetretenen tatsächlichen Lage übereinstimmt. Dies geschieht nicht im Wege einer weiteren rechtsgeschäftlichen Vereinbarung, sondern durch Verwertung des nachträglichen Parteiverhaltens bei der erläuternden normativen Auslegung der ur­ sprünglichen rechtsgeschäftlichen Erklärungen. Die damit hier für möglich gehalte­ ne Wandelbarkeit des Erklärungssinns steht im Widerspruch zur allgemeinen Auf­ fassung, der rechtsverbindliche objektive Sinn einer Willenserklärung könne sich nachträglich nicht mehr ändern55. Deshalb ist zunächst näher auf die Hintergründe dieses „Unveränderlichkeitsdogmas“ einzugehen (unter 1), bevor auf dieser Basis die eigene Lösung dargelegt und gerechtfertigt wird (unter 2), die allerdings – wie hier gleich zu betonen ist – nur einen beschränkten Anwendungsbereich hat (dazu insbesondere unter 2 d).

1. Das Dogma der Unveränderlichkeit des Erklärungssinns und seine Hintergründe Das Unveränderlichkeitsdogma kommt in der Rechtsprechung soweit ersichtlich erstmals in der Entscheidung BGH, WM 1962, 550 klar zum Ausdruck: 55 BGH, Urteil vom 16.3.2009, VersR 2009, 1098 Tz.   16; Urteil vom 26.11.1997, NJW‑RR 1998, 801 (803); Urteil vom 16.10.1997, NJW‑RR 1998, 259; Urteil vom 24.6.1988, NJW 1988, 2878 (2879); Urteil vom 28.3.1962, WM 1962, 550 (551); Busche, in: MünchKommBGB (2015), §  133 Rn.  5; Reichold, in: jurisPK‑BGB (2014), §  133 Rn.  18; Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  50; Hefermehl, in: Soergel (1999), §  133 Rn.  26; Flume, AT II (1992), 310. Dazu bereits §  3 III 2 b bb.

V. Eigener (Teil-)Lösungsvorschlag

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„Eine Willenserklärung hat mit dem Augenblick ihres Wirksamwerdens ihren – eventuell durch Auslegung zu ermittelnden – unveränderlichen Erklärungswert. Dieser ist von spä­ teren Ereignissen unabhängig. Eine Willenserklärung kann nicht im Augenblick des Wirksamwerdens den einen und später einen anderen Sinn haben. Künftige Ereignisse als solche können demnach für die Auslegung keine Rolle spielen, sondern allenfalls insofern, als sie vom (gegenwärtigen) Bewußtsein der Beteiligten – als möglich oder unmöglich, sicher oder ungewiß – aufgenommen waren.“56

Diese Ausführungen enthalten genau betrachtet keine stichhaltige Begründung des Unveränderlichkeitsdogmas. Die Aussagen, der Erklärungssinn sei von späteren Er­ eignissen unabhängig und künftige Ereignisse als solche könnten für die Auslegung keine Rolle spielen, umschreiben die Unveränderlichkeit nur und ziehen Konse­ quenzen daraus, begründen sie aber nicht. Die Behauptung, eine Willenserklärung könne nicht im Augenblick des Wirksamwerdens den einen und später einen ande­ ren Sinn haben57, ist zudem ein anschauliches Beispiel für ein naturalistisches Scheinargument. Wären Willenserklärungen Erscheinungen der äußeren Natur, könnte es angehen, eine nachträgliche Veränderung ihrer Bedeutung für faktisch unmöglich und jedes weitere Nachdenken darüber für sinnlos zu halten. Für Wil­ lenserklärungen als Rechtsfiguren bestehen derartige faktische oder denklogische Schranken jedoch nicht. Ihrer normativen Natur wird allein die Formulierung ge­ recht, eine Willenserklärung dürfe nicht im Augenblick ihres Wirksamwerdens den einen und später einen anderen Sinn haben. Warum sich die Bedeutung nicht ändern darf, bleibt dadurch aber unbeantwortet. Eine nähere Auseinandersetzung mit den Hintergründen des Unveränderlich­ keitsdogmas zeigt, dass es in zwei verschiedenen Zusammenhängen und Funktio­ nen eine Rolle spielt. a) Erster Anwendungsfall: Unveränderlichkeit wegen Unergiebigkeit nachträglichen Auslegungsmaterials Stellvertretend für die erste Konstellation, in der das Unveränderlichkeitsdogma bemüht wird, steht die gerade genannte Entscheidung BGH, WM 1962, 550. Die Klägerin hatte mit dem Beklagten eine als „selbstschuldnerische Bürgschaft“ über­ schriebene Vereinbarung geschlossen, die eine Forderung der Klägerin sichern soll­ te. Später verzichtete die Klägerin in einem Vergleich mit der Hauptschuldnerin (teilweise) auf die besicherte Hauptforderung. Gestritten wurde darüber, ob wirk­ lich eine Bürgschaft vereinbart worden war, die als akzessorisches Sicherungsmittel mit der Hauptforderung erloschen wäre, oder (unter Verwendung eines juristisch unpräzisen Wortlauts) ein Schuldbeitritt, der vom Erlöschen der Hauptforderung 56 

BGH, Urteil vom 28.3.1962, WM 1962, 550 (551) = LM Nr.  7 zu §  133 BGB (B). auch BGH, Urteil vom 24.6.1988, NJW 1988, 2878 (2879); Hefermehl, in: Soergel (1999), §  133 Rn.  26; Flume, AT II (1992), 310. 57 So

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§  13 Die streng normative Auslegung im Durchführungsszenario

unberührt geblieben wäre. Das Berufungsgericht hatte aus der Erklärung des Be­ klagten, „er werde alles tun, um Verluste der Klägerin“ zu verhindern, angesichts der Rechtswirkungen des Vergleichs einen Schuldbeitritt abgeleitet. Der BGH sah aber in der Berücksichtigung des späteren Zustandekommens des Vergleichs bei der Auslegung einen Verstoß gegen das wenige Sätze zuvor postulierte Unveränderlich­ keitsdogma und führt dazu näher aus: „Damals [bei Vertragsschluss] aber wäre wohl kaum jemand – ohne Kenntnis der späteren Entwicklung – auf den Gedanken gekommen, in der klar formulierten Bürgschaftserklä­ rung einen Schuldbeitritt zu sehen. Die Deutung der Klägerin, der das Berufungsgericht folgt, beruht in Wirklichkeit auf einer Rückverlegung der jetzigen Kenntnis von der späte­ ren Entwicklung auf den Zeitpunkt des Abschlusses des Vertrages. Damit wird der Begriff der Auslegung verkannt.“58

Diesen Ausführungen ist zuzustimmen, weil im konkreten Fall der nachfolgende Geschehensverlauf (Erlöschen der Hauptforderung aufgrund des Vergleichs) kein ergiebiges Indiz für die ursprünglichen Willen der Beteiligten sein konnte. Der spä­ tere Vergleichsabschluss für sich betrachtet ermöglicht (ebenso wie in anderen Fäl­ len eine nachträglich ungünstige Entwicklung der wirtschaftlichen Folgen des Rechtsgeschäfts59 oder eine nachträgliche Rechtsprechungsänderung60) keinerlei Rückschlüsse darauf, was der Erklärende bei Abgabe mit seiner Erklärung zum Ausdruck bringen wollte. Der BGH hebt in der Entscheidung zutreffend hervor, dass allenfalls ein schon bei Vornahme des Geschäfts vorhandenes Bewusstsein des späteren Geschehensverlaufs den Sinn der Äußerung erhellen kann61, nicht aber das spätere Ereignis selbst. Die allgemein geltende Voraussetzung, ein zur Auslegung herangezogener Begleitumstand müsse „einen Schluss auf den Sinngehalt der Er­ klärung zulassen“62 , ist hier nicht erfüllt. Der Vergleichsabschluss wäre nur in Be­ tracht zu ziehen, wenn es darum ginge, welchen hypothetischen Willen der Bürge gebildet hätte, falls er von einem anstehenden Vergleichsabschluss schon bei Abga­ be seiner Erklärung gewusst hätte oder mit ihm zumindest gerechnet hätte. Doch

58 

BGH, Urteil vom 28.3.1962, WM 1962, 550 (551). Hierzu BGH, Urteil vom 8.11.1972, LM Nr.  27 zu §  157 BGB (D). 60  Hierzu BGH, Urteil vom 10.7.1998, NJW 1998, 3268 (3269 f.). 61  BGH, Urteil vom 28.3.1962, WM 1962, 550 (551). Noch präziser wäre die Formulierung, es seien allenfalls die bei Abgabe der Erklärung bestehenden Erwartungen des Erklärenden in Be­ tracht zu ziehen. Erwartungen des Empfängers sind irrelevant. Ein potentiell ergiebiges Ausle­ gungsmittel ist die Bewusstseinslage des Erklärenden aufgrund des Erfahrungssatzes, dass der Erklärende typischerweise mit seiner Erklärung die Rechtsfolge in Geltung setzen will, die im Hinblick auf die erwartete Entwicklung der Geschehnisse seinen Interessen am besten gerecht wird. Verwertbar sind die Erwartungen des Erklärenden bei empfangsbedürftigen Willenserklä­ rungen zudem nur, wenn sie für den Empfänger erkennbar sind. 62 BGH, Urteil vom 19.1.2000, NJW‑RR 2000, 1002 (1003). Ebenso BGH, Urteil vom 20.6.2002, NJW 2002, 2872 (2873); Ellenberger, in: Palandt (2016), §  133 Rn.  15; Looschelders, in: NK‑BGB (2012), §  133 Rn.  31. 59 

V. Eigener (Teil-)Lösungsvorschlag

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bei der erläuternden Auslegung kommt es auf den hypothetischen Willen, anders als bei der ergänzenden Auslegung, nicht an.63 Die aus der Unergiebigkeit der meisten nachträglichen Ereignisse folgende „Un­ veränderlichkeit“ der Erklärungsbedeutung betrifft dabei wohlgemerkt nicht nur die empfangsbedürftigen, sondern sämtliche Willenserklärungen. Auch bei der er­ läuternden Testamentsauslegung sind nachträglich zu Tage tretende Umstände nur relevant, soweit sie ergiebig sind für Schlussfolgerungen hinsichtlich des Willens des Erblassers bei Testamentserrichtung.64 Entgegen dem durch BGH, WM 1962, 550 erweckten Eindruck setzt die „Unver­ änderlichkeit“ infolge der Unergiebigkeit nachträglicher Ereignisse auch nicht erst mit dem Wirksamwerden der Erklärung ein. Nach der Abgabe der Erklärung ge­ schehene unergiebige Ereignisse können den Erklärungssinn selbst dann nicht be­ einflussen, wenn sie schon vor Wirksamwerden der Erklärung geschehen und dem Empfänger womöglich sogar noch rechtzeitig vor Zugang erkennbar werden. Denn selbst dann darf der Empfänger nicht davon ausgehen, der Erklärende habe seinen Willen bei Abgabe der Erklärung unter dem Eindruck und dem Einfluss des späte­ ren Ereignisses gebildet. b) Zweiter Anwendungsfall: Unveränderlichkeit wegen Unverwertbarkeit nachträglich erkennbar gewordenen Auslegungsmaterials – Die zeitliche Zäsur des objektiven Empfängerhorizonts Ein Beispiel für die zweite Konstellation, in der auf das Unveränderlichkeitsdogma rekurriert wird, ist die Entscheidung BGH, NJW 1988, 2878, in der es darum ging, ob ein Schreiben der Kläger als Rücktrittserklärung oder als Schadensersatzverlan­ gen auszulegen war. Vor dem Hintergrund der strikten Alternativität von Rücktritt und Schadensersatz wegen Nichterfüllung vor der Schuldrechtsreform legte der BGH den Erfahrungssatz zugrunde, eine Erklärung, „in der zwar der Ausdruck ‚Rücktritt‘ gebraucht wird, gleichzeitig aber Schadensersatzansprüche angekündigt werden“, sei „nach der Verkehrsauffassung regelmäßig als Schadensersatzforde­ rung zu verstehen“. Von diesem Erfahrungssatz war auch das Berufungsgericht aus­ gegangen65, hatte aber aufgrund des späteren Verhaltens der Kläger, die ausweislich mehrerer später erhobener Klagen einen Rücktritt gewollt hatten, im Ergebnis trotz­ 63 Vgl.

M. Wolf, in: Soergel (1999), §  157 Rn.  3, 107. Dazu bereits §  2 II 2. Beschluss vom 13.4.1995, NJW‑RR 1996, 1351; Urteil vom 4.11.‌1992, FamRZ 1993, 1250; Weidlich, in: Palandt (2016), §  2084 Rn.  2; Leipold, in: MünchKommBGB (2013), §  2084 Rn.  25; Otte, in: Staudinger (2013), Vor §§  2064–2086 Rn.  75; Fleindl, in: NK‑BGB (2012), §  2084 Rn.  12 f., 25, 69. 65  Hierzu auch BGH, Urteil vom 28.11.1997, NJW 1998, 1079 (1081 unter III 2 b), der den im Text behandelten Erfahrungssatz bei der gebotenen interessengerechten Auslegung daraus ablei­ tet, dass der Rücktritt im unreformierten Schuldrecht typischerweise der ungünstigere Rechtsbe­ helf für den Erklärenden war. 64  BayObLG,

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§  13 Die streng normative Auslegung im Durchführungsszenario

dem einen Rücktritt angenommen. Dem folgte der BGH nicht und begründete dies damit, der objektive Erklärungssinn werde durch das spätere Verhalten der Kläger nicht mehr beeinflusst. Er berief sich hierfür auf BGH, WM 1962, 550 und das dort aufgestellte Unveränderlichkeitsdogma, stellte dem aber Ausführungen voran, die einen bestimmten Hintergrund der „Unveränderlichkeit“ im konkreten Fall deutlich machen: „Für die Auslegung einer empfangsbedürftigen Willenserklärung ist nach §§  133, 157 BGB maßgebend, wie diese vom Erklärungsempfänger nach Treu und Glauben und nach der Verkehrsauffassung verstanden werden musste. Zu berücksichtigen sind daher nur sol­ che Umstände, die dem Empfänger bei Zugang der Erklärung erkennbar waren. Aus Um­ ständen, die erst nach Zugang der Erklärung zutage treten, kann mithin nicht der Schluß gezogen werden, daß der Empfänger diese Erklärung in einem anderen als in dem zum Zeitpunkt des Zugangs erkennbaren Sinn verstehen mußte.“66

Anders als in der vorangegangenen Fallgruppe fußt diese Begründung der Unverän­ derlichkeit der Erklärungsbedeutung ausschließlich auf der Informationsfunktion der empfangsbedürftigen Willenserklärung. Deren Auslegung hat auf die be­ schränkten Verständnismöglichkeiten des Empfängers Rücksicht zu nehmen und dessen berechtigtes Vertrauen auf den Inhalt der Erklärung zu schützen. Die Lehre vom objektiven Empfängerhorizont stellt dies durch die künstliche Beschränkung des Auslegungsmaterials auf die für den Empfänger erkennbaren Willensindizien sicher. Ohne zeitliche Zäsur für die Berücksichtigung weiteren Auslegungsmateri­ als müsste dieses Vorhaben scheitern, weil der Empfänger häufig noch nachträglich von Umständen erfährt, die Rückschlüsse auf das bei Abgabe Gemeinte erlauben, und sich die juristisch relevante Bedeutung der Erklärung dann ändern würde.67 Das bereits entstandene schutzwürdige Vertrauen des Empfängers muss vor dem potentiell sinnverändernden Einfluss nachträglichen Auslegungsmaterials geschützt werden.68 Dies kann wohlgemerkt nachträgliche Geschehnisse ebenso treffen wie Geschehnisse vor Wirksamwerden der Erklärung. Nicht der Zeitpunkt des Auftre­ 66  BGH, Urteil vom 24.6.1988, NJW 1988, 2878 (2879). Ein weiteres Rechtsprechungsbeispiel zu dieser Fallgruppe ist BGH, Urteil vom 7.12.2006, NJW‑RR 2007, 529; zust. Leenen, AT (2015), §  6 Rn.  76. 67  Dazu bereits §  3 III 2 b bb. 68 Vgl. Singer, in: Staudinger (2012), §   133 Rn.  50 a. E.; Vonkilch, in: Klang, ABGB (2011), §  914 Rn.  157. Vgl. auch Schimmel, JA 1998, 979 (986): Zäsur solle „eine nahezu unbegrenzte Macht [des Erklärenden] über die Bestimmung des Erklärungsinhalts“ verhindern. Eine solche Bestimmungsmacht ist ebenfalls nur im Hinblick auf die Gefährdung des Empfängervertrauens problematisch. Nicht überzeugend deshalb Reichold, in: jurisPK‑BGB (2014), §  133 Rn.  18 in und nach Fn.  54, der nachträgliche Äußerungen der Parteien allgemein „nicht nur bei der (vorrangigen) Ermittlung des wirklichen Willens, sondern auch bei der Feststellung des ‚objektiv erklärten‘ Willens“ be­ rücksichtigen will. Das von Reichold, a. a. O., herangezogene Urteil des OLG München vom 21.08.2008 – Verg 1/08 (juris Rn.  47) ist auslegungsmethodisch widersprüchlich. Es geht einer­ seits von der Maßgeblichkeit des objektiven Empfängerhorizonts aus, möchte die nachträglichen Äußerungen der Beteiligten allerdings in diesem Rahmen als Indizien für Rückschlüsse auf den „wahren Willen des Erklärenden zum Zeitpunkt der Angebotsabgabe“ und das „Verständnis des

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tens eines für die Erforschung des Willens an sich ergiebigen Umstands ist für die zeitliche Zäsur entscheidend, sondern der Zeitpunkt seines Erkennbarwerdens für den Empfänger.69 c) Zwischenergebnis Der Vergleich der beiden Konstellationen, in denen das Unveränderlichkeitsdogma bemüht wird, offenbart grundlegende Unterschiede. In der ersten Fallgruppe geht es um die für alle Willenserklärungen geltende Erkenntnis, dass nur ergiebiges Ausle­ gungsmaterial die erläuternde Auslegung beeinflussen kann, d. h. nur Umstände, die Rückschlüsse auf das bei Abgabe der Erklärung vom Erklärenden Gemeinte erlauben. Den meisten nachträglichen Ereignissen fehlt diese Ergiebigkeit. Sie kön­ nen schon allein deshalb – unabhängig von der Frage der Erkennbarkeit für den Empfänger, die sich nur bei empfangsbedürftigen Erklärungen stellt – das Ausle­ gungsergebnis nicht beeinflussen. In der zweiten Fallgruppe soll dagegen gezielt ergiebiges, aber für den Empfänger zu spät erkennbar gewordenes Auslegungsma­ terial aus dem Auslegungsprozess ausgeblendet werden, um Vertrauen des Empfän­ gers zu schützen.

2. Schlussfolgerungen für das Durchführungsszenario Die Analyse der Hintergründe des Unveränderlichkeitsdogmas ermöglicht es im Folgenden zu zeigen, warum in einigen Fällen des Durchführungsszenarios aus­ nahmsweise eine nachträgliche Änderung des objektiven Erklärungssinns in Be­ tracht kommt, die zu einer Stabilisierung der von den Beteiligten zufällig überein­ stimmend angenommenen und abgewickelten Rechtsbeziehung führt. a) Die Ergiebigkeit des Durchführungsverhaltens Die Beeinflussung des Erklärungssinns durch das Durchführungsverhalten setzt sich nicht in Widerspruch zu der ersten Wurzel des Unveränderlichkeitsdogmas, die auf der fehlenden Ergiebigkeit der meisten nachträglichen Umstände beruht. Das nachträgliche Verhalten der Beteiligten bei der Abwicklung ihrer Rechtsbeziehung hat zwar – wie gezeigt wurde – nicht den aktuellen konstitutiven Erklärungswert einer neuen, auf Änderung der Rechtslage gerichteten Willenserklärung. Ihm kann aber ein deklaratorischer retrospektiver Indizwert zukommen, wenn sich aus dem Empfängers des Angebots zu dem Zeitpunkt des Zugangs des Angebots“ verwerten. Beides sind die Kriterien der natürlichen Methode. 69  Beispiel: Auch ein vor Zugang der Erklärung vom Erklärenden abgefasster Brief, der für die Auslegung ergiebig ist, kommt zu spät, wenn er den Empfänger erst nach Zugang erreicht.

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§  13 Die streng normative Auslegung im Durchführungsszenario

Verhalten in der Durchführungsphase mittelbar mit hinreichender Sicherheit schlie­ ßen lässt, wie der Erklärende seine ursprüngliche Erklärung gemeint hat.70 Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn nach den konkreten Umständen ein reiner Erfül­ lungsfehler eher fernliegt. Im Rahmen der natürlichen Auslegungsmethode ist die potentielle Ergiebigkeit nachträglichen Parteiverhaltens für die Forschung nach dem ursprünglichen Willen bei Vornahme des Geschäfts in diesem Sinne zu Recht allgemein anerkannt.71 Durch die Einbeziehung dieses Auslegungsmaterials in die normative Auslegung wird auch nicht etwa ein hypothetischer oder erst nachträg­ lich gebildeter Wille maßgeblich, sondern auch dieses Material dient ausschließlich der Erschließung des wirklichen Willens bei Abgabe der Erklärung – auf nun aller­ dings verbreiterter Auslegungsbasis. b) Die (ausnahmsweise) Verwertbarkeit des Durchführungsverhaltens Der Einbeziehung des nachträglichen Parteiverhaltens in die Auslegung steht allein die zeitliche Zäsur des objektiven Empfängerhorizonts entgegen, die das erst nach Zugang der Erklärung für den Empfänger erkennbar gewordene Auslegungs­mate­ rial aus dem Auslegungsprozess ausblendet. Dabei handelt es sich nach der unter 1 b gewonnen Erkenntnis nicht um einen naturgegebenen, quasi sachlogisch gebotenen Einschnitt, sondern um eine normative Festlegung, die speziell dem Schutzzweck des Vertrauensschutzes dient. Dies lässt Raum für die Überlegung, ob die Zäsur nicht auch erst später eingreifen kann, falls der Schutzzweck ausnahmsweise ein­ mal nicht tangiert ist. aa) Aufschub der Zäsurwirkung des Zugangs mangels schutzwürdigen Empfängervertrauens? Zunächst ist ein Rechtfertigungsversuch für eine Dynamisierung des Zeithorizonts der normativen Auslegung zu erwägen, der angesichts der herausgearbeiteten Ratio der Zäsurwirkung durchaus naheliegt. Die Begrenzung des Auslegungsmaterials auf das bei Zugang erkennbare Material soll sicherstellen, dass die „Auslegung an­ hand des nachträglichen Parteiverhaltens nicht zu Lasten desjenigen gehen darf, der als Erklärungsempfänger auf die objektive Bedeutung der Erklärung zum Zeit­ 70 Vgl. Hart, in: AK-BGB (1987), §   119 BGB Rn.  10; v. Tuhr, AT II/1 (1914, 1957), 548 in Fn.  66, jeweils speziell zum Indizwert übereinstimmenden Durchführungsverhaltens bei missver­ standener abweichender objektiver Bedeutung. 71  BGH, Urteil vom 16.3.2009, VersR 2009, 1098 Tz.  16; Urteil vom 7.12.2006, NJW‑RR 2007, 529 Tz.  18; Urteil vom 26.11.1997, NJW‑RR 1998, 801 (803); Urteil vom 16.10.1997, NJW‑RR 1998, 259; Urteil vom 24.6.1988, 2878 (2879); Bork, AT (2016), Rn.  549; Flume, AT II (1992), 300; Lüderitz, Auslegung (1966), 336 f. Siehe auch Manigk, JherJb 75 (1925), 127 (181 a. E.) und Last, JherJb 63 (1913), 71 (160) speziell zum Indizwert des Durchführungsverhaltens für das übereinstimmen­ de Verständnis („Konsens“).

V. Eigener (Teil-)Lösungsvorschlag

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punkt ihres Wirksamwerdens vertraut hat“72. Ist dann aber nicht im Umkehrschluss die Verwertung nachträglichen Parteiverhaltens unbedenklich, solange der Emp­ fänger auf den objektiven Erklärungswert nicht vertraut, weil er die Erklärung noch gar nicht73 oder inhaltlich unzutreffend zur Kenntnis genommen hat? Ginge es al­ lein um den Schutz objektiv berechtigten Empfängervertrauens, wäre es nur konse­ quent, auch nach Zugang erkennbar gewordene Umstände jedenfalls74 noch bis zu dem Zeitpunkt in den objektiven Empfängerhorizont einfließen zu lassen, in dem der Empfänger die Erklärung tatsächlich so versteht, wie er sie objektiv in diesem Moment verstehen darf und muss.75 Erst dann würde der objektive Empfängerhori­ zont „einrasten“ und der objektive Erklärungssinn definitiv feststehen. Da die Beteiligten im Durchführungsszenario prämissengemäß die Willenser­ klärung im Durchführungszeitraum noch objektiv falsch verstehen, wäre bei dieser zeitlichen Abgrenzung der objektive Empfängerhorizont noch aufnahmebereit für neues Auslegungsmaterial. Das Verhalten des Erklärenden bei der Durchführung wäre verwertbar und könnte bei entsprechender objektiver Ergiebigkeit den Sinn der Erklärung noch beeinflussen. Die Beteiligten könnten sich dann später nicht mehr auf den noch bei Zugang der Erklärung bestehenden objektiven Erklärungs­ wert berufen, weil dieser mittlerweile durch den vom nachträglichen Parteiverhal­ ten mitbeeinflussten objektiven Sinn verdrängt wurde. Dieser vor dem Hintergrund der herrschenden Interessenanalyse (Polarität von Erklärendenselbstbestimmung und Empfängervertrauensschutz) eigentlich ein­ leuchtende Ansatz ist jedoch im Ergebnis nicht zu befürworten. Die zeitliche Ab­ 72  Singer, in: Staudinger (2012), §   133 Rn.  50 a. E. (Hervorhebung hinzugefügt); zust. Vonkilch, in: Klang, ABGB (2011), §  914 Rn.  157. 73  v. Tuhr, AT II/1 (1914, 1957), 539 in Fn.  28 schiebt die Zäsur ausdrücklich bis zur erstmali­ gen Kenntnisnahme auf. Auch Schimmel, JA 1998, 979 [986 in Fn.  64 a. E.]) hält dies für möglich. Beide meinen wohl den Moment der erstmaligen äußeren Wahrnehmung der Erklärungszeichen, und nicht – wie der hier im Text diskutierte Lösungsansatz – den Zeitpunkt der erstmaligen kor­ rekten geistigen Erfassung der (zum jeweiligen Zeitpunkt erkennbaren) objektiven Erklärungsbe­ deutung. 74  Auf Basis einer allein auf den Vertrauensschutz des Empfängers abstellenden Konzeption wäre sogar diskutabel, schutzwürdiges Vertrauen nicht bereits bei intellektuell richtiger Erfassung des objektiv Erklärten, sondern – wie bei den allgemeinen Rechtsscheinhaftungsvoraussetzungen – erst bei Vornahme irgendeiner dadurch veranlassten Vertrauensdisposition anzunehmen. Vgl. Thomale, Leistung (2012), 86, der bei der Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont auf Seiten des Empfängers ein „betätigtes Vertrauen auf den objektiven Rechtsschein“ verlangt. 75 Vgl. Singer, in: Staudinger (2012), §   133 Rn.  51 a. E., der meint, in BGH, Urteil vom 24.6.1988, NJW 1988, 2878 sei die nachträgliche Selbstinterpretation der Erklärung als „Rück­ tritt“ gegen den Erklärenden zu verwenden, „da der Erklärungsempfänger nicht auf die vom BGH zu Unrecht für maßgeblich gehaltene objektive Erklärungsbedeutung vertraute und somit nicht schutzwürdig war“. Singer ordnet die nachträgliche „Verwendung gegen den Erklärenden“ zwar nicht der normativen Auslegung zu, doch seine Lösung kommt dem im Ergebnis nah. Vgl. auch Vonkilch, in: Klang, ABGB (2011), §  914 Rn.  157 in Fn.  468, der „grundsätzlich“ das nachträgliche Parteiverhalten nicht für die Ermittlung des normativen Konsenses der Parteien he­ ranziehen möchte und somit offenbar auch Raum für Ausnahmen sieht, falls das von ihm in Rn.  157 formulierte Vertrauenserfordernis nicht erfüllt ist.

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§  13 Die streng normative Auslegung im Durchführungsszenario

grenzung des objektiven Empfängerhorizonts hinge dann davon ab, auf welchen Erklärungssinn der Empfänger tatsächlich innerlich vertraut. Es wurde bereits an anderer Stelle76 dargelegt, dass ein derartiges „Vertrauenserfordernis“ nicht über­ zeugt. Auch im vorliegenden Zusammenhang ist es mit der wohlverstandenen Inte­ ressenlage der Beteiligten unvereinbar. Aus Sicht des Empfängers ist es zwar unbe­ denklich, erkennbares Auslegungsmaterial zu berücksichtigen, solange er nicht vom objektiv richtigen Erklärungssinn ausgeht. Schutzwürdiges Vertrauen des Empfängers könnte darunter nie leiden. Prekär würde aber die Lage des Erklärenden, der meist nicht erkennen kann, ob und ab wann der Empfänger tatsächlich in­ nerlich auf den gerade für ihn (den Empfänger) objektiv erkennbaren Erklärungs­ sinn vertraut. Er wäre deshalb nicht mehr in der Lage sich den rechtsmaßgeblichen Sinn seiner Erklärung verlässlich zu erschließen. Mangels Kenntnis der Entwick­ lung des Empfängerverständnisses wüsste er nicht, ob ein nach Zugang für den Empfänger erkennbar gewordener Umstand den rechtlich relevanten Erklärungsinn noch beeinflusst. Diese Ungewissheit verletzt das schutzwürdige Orientierungsinte­ resse des Erklärenden. Interessen des Erklärenden sind somit zwar nicht der Grund dafür, warum es überhaupt eine zeitliche Zäsur des Empfängerhorizonts gibt. Doch weil es sie nun einmal im Interesse des Empfängers geben muss, hat auch der Erklärende ein be­ achtliches Interesse daran, den maßgeblichen Zeitpunkt einschätzen zu können. Die Verknüpfung der zeitlichen Grenzen des objektiven Empfängerhorizonts mit dem Vertrauenserfordernis ist damit unvereinbar. bb) Durchbrechung der Zäsur bei wechselseitig erkennbar fehlendem Vertrauen Dem Grundansatz der gerade verworfenen Überlegungen ist trotzdem beizupflich­ ten. Es sind tatsächlich Fälle vorstellbar, in denen es gemessen am Zweck der zeitli­ chen Zäsur des objektiven Empfängerhorizonts sinnlos ist, nachträglich hervorge­ tretenes ergiebiges Auslegungsmaterial aus dem Auslegungsprozess auszublenden. Der Schutzzweck der Zäsur bezieht sich allerdings nicht einseitig auf den Empfän­ ger, so dass das alleinige Abstellen auf das tatsächlich vorhandende Vertrauen des Empfängers verfehlt wäre. Für die Durchbrechung der Zäsurwirkung genügt es nicht, dass der Empfänger innerlich bislang nicht auf den objektiven Erklärungssinn vertraut hat, sondern dies muss auch für den Erklärenden objektiv erkennbar sein. Nur dann kann sich der Erklärende darauf einstellen, dass es der Zäsurwirkung zum Schutze berechtigten Empfängervertrauens nicht bedarf. Es müssen ferner Umstän­ de vorliegen, denen in umgekehrter Richtung auch der Empfänger entnehmen kann, dass der Erklärende bislang ebenfalls nicht auf den objektiven Erklärungssinn ver­ traut. Anderenfalls wüsste der Empfänger nicht, ob die Zäsur zum Schutz bereits entstandenen „nachträglichen“ Vertrauens des Erklärenden auf den bisherigen ob­ jektiven Erklärungssinn eingreifen muss. 76 

§  9 II 1 b bb.

V. Eigener (Teil-)Lösungsvorschlag

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Die Verwertung nachträglichen Parteiverhaltens bei der normativen Auslegung setzt also insgesamt voraus, dass beide Beteiligte aufgrund der äußeren Umstände davon ausgehen können, keiner von ihnen habe bislang auf den objektiven Erklä­ rungssinn vertraut. Dies wird nur höchst selten einmal der Fall sein, weil die Betei­ ligten typischerweise über derartige Informationen nicht verfügen werden. Kommt es aber einmal dazu, so spricht m.E. nichts mehr dafür, die Zäsur des objektiven Empfängerhorizonts weiter aufrechtzuerhalten. Kein Beteiligter kann dann noch ein schutzwürdiges Interesse anführen, warum die erst nach Zugang erkennbar ge­ wordenen ergiebigen Umstände nicht zur Auslegung herangezogen werden sollten. Das Durchführungsszenario ist nun eine Fallkonstellation, in der die gerade aufge­ stellten Anforderungen erfüllt sein können. Der Erklärende macht hier nicht nur durch sein nachträgliches Verhalten seinen ursprünglichen rechtsgeschäftlichen Willen erneut (und womöglich erstmals hinreichend deutlich) erkennbar, sondern beide Beteiligten lassen mit ihrem Durchführungsverhalten gegebenenfalls erken­ nen, dass bislang auf das objektiv Erklärte noch nicht vertraut wurde. Die vorstehenden abstrakten Überlegungen lassen sich an einem Beispiel veran­ schaulichen und vertiefen, in dem die Beteiligten durch objektiv unbestimmte Er­ klärungen einen Vertrag zu schließen versuchen. Beide verstehen die mehrdeutige Ausdrucksweise innerlich im gleichen Sinne und wickeln dementsprechend den Vertrag ab. Man denke etwa an Titzes Hohenlohe-Fall77, in dem die Bestellung auf die Memoiren Hohenlohes lautet, der Buchhändler dann das von ihm gemeinte Werk des Reichskanzlers beschafft und der Käufer das von ihm ebenfalls gemeinte Werk freudig entgegennimmt und bezahlt. Der Informationswert des nachträglichen Verhaltens der Beteiligten bei der Ver­ tragsabwicklung ist nach hier vertretener Auffassung in mehrfacher Hinsicht rele­ vant. Zum einen ergibt sich daraus, wie die Beteiligten als Erklärende ihre jeweilige Erklärung ursprünglich gemeint haben.78 Ihr Verhalten ist ein ergiebiges Indiz, mit dem sich die Frage beantworten lässt, was sie mit ihrer damaligen Erklärung zum Ausdruck bringen wollten. Darüber hinaus lässt sich ihrem Verhalten auch entnehmen, und zwar jeweils erkennbar für den Gegner, dass sie auf den objektiven Erklärungswert nicht vertrauten, bevor ihnen das Durchführungsverhalten das wirklich Gewollte eindeutig offenbarte. Ein solches Vertrauen hätte sich bei einem „Vertrag“ mit objektiv unbestimmtem Inhalt nämlich dadurch äußern müssen, dass die Parteien, überzeugt von der Unwirksamkeit des Geschäfts, die Kooperation ein­ gestellt hätten. Unter derartigen Umständen ist nicht mehr einzusehen, warum einer der Betei­ ligten aus der ursprünglichen Unbestimmtheit zukünftig noch etwas herleiten kön­ nen sollte, falls er sie nachträglich entdeckt. Wenn er die Augen vor dem weiteren 77 

Titze, Mißverständnis (1910), 189 f. in Fn.  34. Dazu schon unter III 1 a. E. v. Tuhr, AT II/1 (1914, 1957), 548 in Fn.  66. Ferner Hart, in: AK-BGB (1987), §  119 Rn.  10: die Willensübereinstimmung im Sinne des falsa-Satzes stelle sich „bei diesen Fällen bei der Erfüllung heraus[ ]“. 78 Vgl.

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§  13 Die streng normative Auslegung im Durchführungsszenario

Geschehen seit Vornahme des Geschäfts nicht verschließt, muss ihm zum Zeitpunkt der Entdeckung der Unbestimmtheit klar sein, dass die übersehene objektive Unbe­ stimmtheit ohne Folgen geblieben ist und auch künftig – wenn der weitere Gesche­ hensverlauf berücksichtigt wird – weiter ohne Folgen bleiben kann. Die anfänglich objektiv unklare Lage hat sich für beide Beteiligte in eine klare gewandelt, noch bevor aus der ursprünglichen Unklarheit für einen der Beteiligten ein Nachteil ent­ stehen konnte. Der Schutzzweck der zeitlichen Zäsur des objektiven Empfängerhorizonts, die den Beteiligten eine verlässliche Orientierung über ihre Rechtslage ermöglichen soll, gebietet es in einer solchen Situation nicht, dem Entdecker noch die Geltend­ machung der ursprünglichen objektiven Bedeutung bei Wirksamwerden der Erklä­ rung zu gestatten. Es ist ihm ohne weiteres möglich und zumutbar, die neuen Um­ stände ebenfalls zur Kenntnis zu nehmen und sich für sein künftiges Verhalten auf dieser Basis zu orientieren. Wenn er dies ablehnen wollte, würde er die anfängliche „objektive Bedeutung“ (d. h. hier konkret: die Unbestimmtheit) entgegen ihrem Schutzzweck nicht in ihrer Funktion als die einzige für ihn verlässliche Orientie­ rungsgrundlage in Anspruch nehmen, sondern aus anderen Gründen, etwa weil ihm der mittlerweile durch die weiteren Geschehnisse klargestellte Inhalt des Rechtsge­ schäfts nicht mehr lieb ist. Solchen Zwecken dient die Normativierung des Ausle­ gungsprozesses aber nicht.79 c) Dogmatische Einordnung und Beweislastverteilung Die vorgeschlagene Lösung wird hier dogmatisch als Präzisierung der normativen Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont eingeordnet, die unter be­ stimmten Voraussetzungen zu einer ausnahmsweisen nachträglichen Erweiterung des verwertbaren Auslegungsmaterials führt. Alternativ lässt sie sich auch auf das Verbot des Rechtsmissbrauchs (§  242 BGB) stützen mit der Begründung, dem Ent­ decker sei es verwehrt, noch auf der ursprünglichen objektiven Erklärungsbedeu­ tung bei Wirksamwerden der Erklärung zu bestehen, wenn er (1.) mittlerweile über mehr Informationen zur Auslegung der Erklärung verfügt, als er noch zum Zeit­ punkt des Wirksamwerdens hatte, und er (2.) zudem ersehen kann, dass die ur­ sprünglich objektiv ermittelte Bedeutung erkennbar für beide Beteiligte bislang nicht als Vertrauensgrundlage gewirkt hat. Er bedarf des Schutzes durch die ur­ sprüngliche objektive Bedeutung der Erklärung als Orientierungsgrundlage für sein Handeln nicht mehr, wenn er unter Berücksichtigung des weiteren Geschehens 79  Damit wird hier keiner „Motivkontrolle“ das Wort geredet. Falls der Zweck der zeitlichen Zäsur des objektiven Empfängerhorizonts die Nichtverwertung des nachträglichen Parteiverhal­ tens noch rechtfertigen könnte, dürfte der Entdecker sich auch aufgrund solcher Motive auf die Unbestimmtheit berufen. Es wird hier lediglich die Auffassung vertreten, dass sich in einigen Fällen des Durchführungsszenarios der Zäsurzweck erledigt.

V. Eigener (Teil-)Lösungsvorschlag

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in der Lage ist, sich ohne irgendwelche Unsicherheiten oder Nachteile auf den Inhalt des Rechtsgeschäfts einzustellen, der sich bei normativer Auslegung unter Berück­ sichtigung des nachträglichen Parteiverhaltens ergibt. Es erscheint aber vorzugs­ würdig, den vorstehenden Überlegungen ihren Platz innerhalb der Lehre von der normativen Auslegung anzuweisen. Es geht schließlich darum, aus dem Zweck der Normativierung der Auslegung auch deren innere Grenzen und nähere Ausgestal­ tung abzuleiten. Die hier vorgeschlagene Präzisierung des zeitlichen Horizonts der normativen Auslegung bringt dies dogmatisch am sinnfälligsten zum Ausdruck. Den allgemeinen Grundsätzen der Beweislastverteilung folgend liegt die Beweis­ last dafür, dass die gerade formulierten Voraussetzungen für die Einbeziehung nachträglich erkennbar gewordenen Auslegungsmaterials vorliegen, bei der Pro­ zess­partei, die sich für die Einbeziehung dieses Auslegungsmaterials einsetzt. Es gilt insofern nichts anders als hinsichtlich des Nachweises der Tatsachen, aus denen die Erkennbarkeit eines Umstands für den Empfänger zum Zugangszeitpunkt folgt – auch die Rechtzeitigkeit hat die Partei zu beweisen, für die sie günstig ist.80 Wer einen Umstand als Material in die Auslegung einbezogen sehen will, muss also entweder die Erkennbarkeit dieses Umstands für den Empfänger zum Zugangszeit­ punkt oder die tatsächlichen Voraussetzungen für die Einbeziehung nachträglich erkennbar gewordener Umstände darlegen und beweisen. Das Durchführungsszenario war hier lediglich der Anlass, Überlegungen zur Einbeziehung nachträglichen Parteiverhaltens in die normative Auslegung anzu­ stellen. Die entwickelte Lösung ist gleichwohl nicht auf diese Fälle beschränkt. Vor­ stellbar ist auch ein bereits vor der Durchführung liegendes Verhalten der Beteilig­ ten, das die gerade beschriebene Lage herbeiführt. So können die Beteiligten bei­ spielsweise auch weit im Vorfeld der Durchführung im unmittelbaren Gespräch miteinander die beidseitigen Irrtümer entdecken und zugleich wechselseitig offen­ legen, dass die Irrtümer bislang unentdeckt geblieben sind und wie das Rechtsge­ schäft bislang verstanden wurde. d) Die beschränkte Reichweite der vorgeschlagenen Lösung Die vorgeschlagene Lösung ist kein Allheilmittel, um im Durchführungsszenario stets eine Berufung des Entdeckers auf die ursprüngliche objektive Bedeutung bei Wirksamwerden der Erklärung auszuschließen. Insbesondere wenn die Willenser­ klärungen ursprünglich einen objektiv eindeutigen Inhalt hatten, kann auch nach der Durchführung nicht mit der notwendigen Deutlichkeit unterscheidbar sein, ob 80 Im Zusammenhang mit der „Auslegungserkennbarkeit“ wird dies – wohl aufgrund der Selbstverständlichkeit – nirgends eigens betont. Vgl. aber zur strukturell gleichgelagerten Recht­ zeitigkeit des Zugangs gem. §  130 BGB: Ellenberger, in: Palandt (2016), §  130 Rn.  21; Arnold, in: Erman (2014), §  130 Rn.  34; Reichold, in: jurisPK‑BGB (2014), §  130 Rn.  44; Faust, in: NK‑BGB (2012), §  130 Rn.  81 und BGH, Urteil vom 18.1.1978, BGHZ 70, 232 (234) zum kaufmännischen Bestätigungsschreiben.

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§  13 Die streng normative Auslegung im Durchführungsszenario

bislang beidseitig das Vertrauen auf das ursprünglich objektiv Erklärte fehlte oder ob einem Beteiligten, der vom richtigen Erklärungssinn ausgeht, lediglich bei der Durchführung ein Fehler unterlaufen ist. In diesen Fällen muss es bei der ursprüng­ lichen objektiven Bedeutung bleiben, die von dem nachträglichen Parteiverhalten unbeeinflusst ist. Das erscheint dann aber auch angemessen. Solange unter den Be­ teiligten noch irgendwelche Unsicherheiten bestehen können, die sie mit den ihnen zur Verfügung stehenden Informationen nicht klären können, müssen sie die Mög­ lichkeit behalten, sich auf den ursprünglichen objektiven Erklärungswert zurückzu­ ziehen und daraus die entsprechenden Rechtsfolgen herzuleiten. Ihr Beharren auf dem ursprünglichen objektiven Erklärungssinn erscheint dann auch nicht in dem unter II. herausgearbeiteten Sinne als mutwillige Störung, da der ursprüngliche Er­ klärungssinn nach wie vor der einzige für sie verlässliche Orientierungspunkt ist.

3. Abgrenzung zur dualistischen Lehre und deren Durchführungsszenario Die hier vertretene ausnahmsweise Erweiterung des objektiven Empfängerhori­ zonts um nachträgliches Parteiverhalten darf nicht als Konzession an die heute herr­ schende dualistische Lehre missverstanden werden. Die gedankliche Basis bleibt grundverschieden. Die dualistische Lehre kann das Durchführungsszenario nur lösen, weil sie gewissermaßen das „Kind mit dem Bade ausschüttet“ und auf die inneren Vorstellungen der Beteiligten bei Vornahme des Rechtsgeschäfts abstellt, ohne in irgendeiner Form darauf Rücksicht zu nehmen, wie sich das weitere Ge­ schehen entwickelt. Sie trifft damit im Durchführungsszenario mehr oder minder zufällig ein möglicherweise angemessen erscheinendes Ergebnis, erreicht dies aber um den Preis der völligen Desorientierung der Parteien, die ihre schädliche Wir­ kung entfaltet, wenn das Geschehen nicht den „glücklichen“ Verlauf des Durchfüh­ rungsszenarios nimmt, sondern einer der Beteiligten frühzeitig auf den objektiv richtigen Sinn der Erklärung aufmerksam wird. Die hier vertretene Auffassung ermöglicht hingegen eine differenzierte Lösung, die zwischen den unterschiedlichen Phasen des Geschehensverlaufs unterscheidet, in denen sich das Vertrauen der Beteiligten und deren Informationslage verändern kann. Grundsätzlich hat jedenfalls in einer ersten Phase nach Vornahme des Rechts­ geschäfts der bei Zugang der Erklärung bestehende objektive Erklärungssinn Be­ stand, weil die Beteiligten auf ihn als Orientierungspunkt und Vertrauensschutz­ grundlage angewiesen sind. Entwickeln sich der Sachverhalt und die Informations­ lage der Beteiligten in einer zweiten Phase derart weiter, dass sie auf die ursprüngliche objektive Bedeutung als Orientierungsgrundlage nicht mehr ange­ wiesen sind, dann erfolgt lediglich für diese Fälle eine Anpassung des objektiven Erklärungssinns durch Erweiterung des objektiven Empfängerhorizonts.

V. Eigener (Teil-)Lösungsvorschlag

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Das Durchführungsszenario eignet sich im Übrigen auch deshalb schwerlich als Argument gegen die streng normative Auslegungslehre, weil die dualistische Lehre mit ihrem eigenen „Durchführungsszenario“ zu kämpfen hat. Gemeint ist der Fall, in dem beide Beteiligte irren, den objektiv richtigen Erklärungsgehalt aber unab­ hängig voneinander nachträglich realisieren, auf den objektiven Erklärungssinn umschwenken81 und schließlich ihr Rechtsverhältnis in diesem Sinne abwickeln. So in folgendem Beispiel: Beide Beteiligte entdecken unabhängig voneinander, ob­ jektiv statt über die jeweils gemeinte Ware X einen Vertrag über Ware Y geschlos­ sen zu haben und wickeln – weil keiner den anfänglichen Irrtum der Gegenseite offenlegt und beide zum objektiv „Vereinbarten“ stehen wollen – den Vertrag mit der Ware Y ab. Nach der natürlichen Auslegungsmethode müsste das Rechtsge­ schäft dann trotz der Durchführung im Sinne des ursprünglich gleichlautenden Verständnisses lauten, also auf Ware X. Jede Partei könnte sich also immer noch auf die natürliche Auslegung berufen, falls sie zufällig nachträglich die Erfüllung der Voraussetzungen der natürlichen Auslegung entdeckt und ihr das ursprünglich Ge­ wollte (Ware X) jetzt aus irgendwelchen Gründen lieber ist als das objektiv Erklär­ te (Ware Y). Die Ausgangslage für die dualistische Lehre entspricht dann derjenigen der streng normativen Lehre im gerade behandelten Durchführungsszenario. Eine kon­ kludente Änderung des natürlichen Auslegungsergebnisses aufgrund der Durch­ führung scheitert auch hier. Das Parteiverhalten bei der Abwicklung des Vertrages erfüllt nämlich weder die objektiven noch die subjektiven Voraussetzungen einer Willenserklärung. Keine der Parteien wollte das natürliche Auslegungsergebnis (Ware X) ändern, und ein objektiver Empfänger hätte davon auch nicht ausgehen dürfen. Das Beharren auf dem natürlichen Auslegungsergebnis dürfte auch nicht widersprüchlich, rechtsmissbräuchlich oder treuwidrig sein. Zu dem Zeitpunkt, in dem sich die Beteiligten zur Durchführung des Geschäfts im Sinne der objektiven Erklärungsbedeutung entschieden, war ihnen weder bekannt noch erkennbar, dass die Voraussetzungen der natürlichen Auslegung erfüllt waren, weil sie mit dem gleichlautenden Irrtum der Gegenseite nicht rechneten und nicht rechnen mussten, sondern sich lediglich für zur Leistung verpflichtet hielten.82 Falls man entgegen der hier vertretenen Auffassung von der Richtigkeit der natürlichen Auslegungsme­ thode ausgehen wollte, dürfte nichts Widersprüchliches oder Treuwidriges darin liegen, sich auf ihre Rechtsfolgen zu berufen, nachdem man erstmalig das Eingrei­ fen der natürlichen Auslegung realisiert hat.83 81 Vgl. F. Leonhard, AcP 120 (1922), 14 (108), der die Möglichkeit eines beidseitigen Entde­ ckens des objektiven Sinns erwägt. 82 Sie wollten mit der Durchführung bestenfalls auf ihr Recht zur Anfechtung verzichten, nicht aber auf die ihnen unbekannte Geltung des Gewollten. 83  Wer dennoch bereit sein sollte, Korrekturen nach §  242 BGB vorzunehmen und die mittler­ weile eingetretene Lage zu „stabilisieren“, dürfte gegen ähnlich begründete Lösungen im Durch­ führungsszenario der streng normativen Auslegungslehre wohl schwerlich noch etwas einwenden können.

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§  13 Die streng normative Auslegung im Durchführungsszenario

VI. Ergebnis Das Durchführungsszenario wirft die Frage auf, ob das ursprüngliche Ergebnis der normativen Methode auch dann gelten darf, wenn die Beteiligten ihr hiervon abwei­ chendes übereinstimmendes Verständnis in die Tat umgesetzt haben und ihre Rechtsbeziehung dementsprechend abwickeln. Es ist nicht möglich, mit der Kons­ truktion einer konkludenten Änderung oder mit vertrauenshaftungsrechtlichen Er­ klärungsansätzen zu einer Stabilisierung der eingetretenen Lage zu kommen und dadurch ein erneutes „Aufstören“ unter Berufung auf das ursprünglich objektive Erklärte durch eine der Parteien zu verhindern. Nach hier vertretener Auffassung kann aber unter bestimmten Voraussetzungen das nachträgliche Verhalten der Par­ teien ausnahmsweise noch bei der normativen Auslegung der ursprünglichen Wil­ lenserklärung herangezogen werden. Die Gründe, die für das Dogma der Unverän­ derlichkeit des Erklärungssinns und die zeitliche Zäsur des objektiven Empfänger­ horizonts bei Zugang der Erklärung sprechen, greifen in diesen eigentümlichen Fällen nicht ein. In allen übrigen Fällen des Durchführungsszenarios ist aufgrund der verbleibenden Ungewissheit der Beteiligten die Fortgeltung des ursprünglich objektiv Erklärten hinzunehmen. Die dadurch fortbestehende Möglichkeit eines Beteiligten, auf den Rechtsfolgen des objektiv Erklärten zu bestehen, ist verglichen mit der desorientierenden natürlichen Methode allemal vorzugswürdig, zumal auch die dualistische Lehre unter umgekehrten Vorzeichen mit ihrem eigenen ungelösten Durchführungsszenario zu kämpfen hat.

§  14 Das Problem des exorbitanten Sonderwissens Die in Teil II begründete Ablehnung der natürlichen Auslegung empfangsbedürfti­ ger Willenserklärungen basiert auf einer Analyse der Interessenlage der Beteilig­ ten, die deren beidseitiges Bedürfnis nach jederzeitiger Orientierung über die eige­ ne Rechtslage berücksichtigt (Orientierungsinteresse). Dieses Verständnis der Inte­ ressenlage spricht nicht nur gegen die Berechtigung der natürlichen Methode, sondern gibt auch Anlass zur Überprüfung der heutigen Lehre vom objektiven Empfängerhorizont. Die Interessenlage bestimmt schließlich nicht nur darüber, ob ein dualistisches oder ein streng normatives Auslegungsmodell überzeugt, sondern beeinflusst auch die Gestalt der normativen Methode selbst. Da das Anliegen dieser Untersuchung, eine umfassende Kritik der natürlichen Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen zu liefern, bereits in Teil II erschöpft wurde, werden die folgenden Ausführungen deutlich knapper ausfallen. Sie zielen nicht darauf ab, eine geschlossene und vollständige Theorie der normati­ ven Auslegungsmethode zu entwickeln. Ein solches Vorhaben müsste über die durch die natürliche Auslegungsmethode berührten Fragestellungen hinausgreifen. Im Folgenden ist lediglich eine Konsequenz des entwickelten Grundverständnisses für die normative Auslegungsmethode aufzuzeigen.

I. Die zwei Aussagen der herrschenden Erkennbarkeitsformel: Erkennbarkeit als notwendige und als hinreichende Bedingung Die Lehre vom objektiven Empfängerhorizont befasst sich mit der „Kernfrage“1 der normativen Methode, welche Umstände bei der Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen herangezogen werden dürfen. Nach der Erkennbarkeitsformel des objektiven Empfängerhorizonts, die auch den bisherigen Ausführungen zu­ grundeliegt2 , sind bei der normativen Auslegung die für den Empfänger bei Zu­ gang erkennbaren Umstände maßgeblich, d. h. diejenigen, die ihm bekannt sind oder deren Kenntnis von ihm normativ erwartet wird.

1  Henle, GgA 170 (1908), 427 (465). Ähnlich Bork, AT (2016), Rn.  549: der „entscheidende Schritt“. 2  §  3 III 2 b aa (1).

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§  14 Das Problem des exorbitanten Sonderwissens

Die Orientierung der Erkennbarkeitsformel an den Verständnismöglichkeiten des Empfängers wird hier nicht in Frage gestellt. Da das Zugangserfordernis der Infor­ mation des Empfängers über die Veränderung seiner Rechtslage dient, darf die Wil­ lenserklärung nur in einem für den Empfänger verständlichen Sinne gelten. Für ihn nicht erkennbare Umstände kann der Empfänger nicht berücksichtigen. Die Erkenn­ barkeitsformel zieht daraus die richtige Konsequenz, nur für den Empfänger er­ kennbare Umstände in den objektiven Empfängerhorizont einzubeziehen.3 Die Erkennbarkeitsformel hat neben dieser negativen Aussagerichtung aber noch eine positive Dimension. Erkennbarkeit ist danach nicht lediglich eine notwendige Bedingung der Verwertung von Auslegungsmaterial, der zufolge nur erkennbare Umstände in die Auslegung einfließen dürfen. Darüber hinaus soll nach der Formel die Erkennbarkeit auch eine hinreichende Bedingung sein, da sie die Verwertung aller für den Empfänger erkennbaren Umstände vorschreibt.4 Es ist kein Krite­r ium vorgesehen, das den objektiven Empfängerhorizont über die Erkennbarkeit hinaus weiter einschränkt.5 Der objektive Empfänger verfügt folglich stets über sämtliche Kenntnisse des realen Empfängers; er weiß nie weniger, sondern allenfalls mehr als der reale Empfänger. Wenn ein für die Auslegung ergiebiger Umstand dem realen Empfänger bekannt ist, spielt es keine Rolle, aus welcher Quelle er dieses Wissen erlangt hat6, ob er nur zufällig darüber verfügt7 und ob man die Kenntnis des Umstands von ihm unter irgendeinem Gesichtspunkt „erwarten“ kann. Nach der Erkennbarkeitsformel fließt das gesamte „Sonderwissen“ des realen Empfängers in die normative Auslegung ein und muss von ihm verwertet werden.8 Dieser Umgang mit dem Sonderwissen des Empfängers ist eine Konsequenz der herrschenden Analyse der Interessenlage der Beteiligten, die von einer Polarität von 3 Im Sinne des „nur“: BGH, Urteil vom 9.12.2010, NJW‑RR 2011, 309 Tz.   17; Urteil vom 7.12.2006, NJW‑RR 2007, 529 Tz.  18; Urteil vom 5.10.2006, NJW 2006, 3777 Tz.  18; Urteil vom 24.6.1988, NJW 1988, 2878 (2879); Ellenberger, in: Palandt (2016), §  133 Rn.  9, 15; Wendtland, in: Bamberger/Roth (2012), §  133 Rn.  23 a. E.; Leenen, FS Prölss (2009), 153 (169); Hübner, AT (1996), Rn.  748. 4 Im Sinne des „alle“: Ellenberger, in: Palandt (2016), §   133 Rn.  9; Busche, in: Münch­ KommBGB (2015), §  133 Rn.  28; Singer, in: Staudinger (2012), §  133 Rn.  18; Hübner, AT (1996), Rn.  749; Larenz, AT (1989), 340 f.; ders., Methode (1930, 1966), 18, 23. 5 Teilweise wird zwar nur auf die „Umstände des Erklärungsakts“ (vgl. Martens, Dritte [2007], 328 in Fn.  81 a. E.) abgestellt. Es ist aber nicht ersichtlich, dass damit eine zusätzliche Ver­ wertungsschranke bezeichnet werden soll, die den Willen offenbarende Umstände aus dem Ausle­ gungsprozess ausblendet, obwohl sie für den Empfänger erkennbar sind. Eindeutig gegen irgend­ welche Schranken dieser Art Larenz, Methode (1930, 1966), 18. 6  v. Tuhr, AT II/1 (1914, 1957), 540 in Fn.  32. Vgl. auch Enneccerus/‌Nipperdey, AT I/2 (1960), 1251 in Fn.  21. 7  Explizit auch Zufallskenntnisse einbeziehend Schumacher, Abgrenzung (1935), 27; v. Tuhr, AT II/1 (1914, 1957), 540 in Fn.  32, 541; Jacobi, Theorie (1910), 26 f. 8  Faust, AT (2014), §  2 Rn.  8 (der Terminus „Sonderwissen“ fehlt hingegen in ders., AT [2016], §  2 Rn.  10); Looschelders, AcP 212 (2012), 581 (638); ders., in: NK‑BGB (2012), §  133 Rn.  50; Thomale, Leistung (2012), 85; Süß, Jura 2011, 735 (738); Faust/Wiese, in: Confiance (2007), 99 (104): „any special knowledge“; ähnlich Rummel, JBl 1988, 1 (2) zum österreichischen Recht: „allfällige Zusatzkenntnisse“.

II. Kritik an der Erkennbarkeit als hinreichende Verwertungsvoraussetzung

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Erklärendenselbstbestimmung und Empfängervertrauensschutz ausgeht9. Unter dem Gesichtspunkt seines Selbstbestimmungsinteresses muss dem Erklärenden an der Einbeziehung möglichst vieler Umstände in den Auslegungsvorgang gelegen sein, da dadurch die Wahrscheinlichkeit der Übereinstimmung des Auslegungser­ gebnisses mit dem Gemeinten steigt10. Einen bestimmten Umstand nicht anführen zu dürfen nähme ihm potentiell die Möglichkeit, seinem Willen schon bei der Aus­ legung Beachtung zu verschaffen, und verweist ihn auf das unter dem Gesichts­ punkt der Selbstbestimmung schwächere, weil nur negativ wirkende Anfechtungs­ recht. Der Empfänger andererseits ist ohne weiteres in der Lage vorhandenes Wis­ sen einzusetzen, um sich das Gemeinte zu erschließen. Es ist deshalb mit seinem Vertrauensschutzinteresse vereinbar, vorhandene Verständnismöglichkeiten zu be­ rücksichtigen. Das Selbstbestimmungsinteresse des Erklärenden spricht somit für und das Vertrauensschutzinteresse des Empfängers nicht (maßgeblich) gegen die Einbeziehung des kompletten Empfängerwissens. Vorhandene Verständnismög­ lichkeiten zum Einsatz zu bringen muss bei dieser Interessenanalyse als ein Gebot von Treu und Glauben erscheinen11, dessen Verletzung im Rahmen der normativen Auslegung zu Lasten des Empfängers geht. Dies dürfte auch der Grund sein, warum Larenz ohne nähere Begründung meinte, es sei „nicht einzusehen, warum der Emp­ fänger nur die geschäftsgemäß hervorgetretenen und nicht auch sonstige ihm be­ kannte oder erkennbare Umstände für die Sinn-Deutung berücksichtigen solle“12.

II. Kritik an der Erkennbarkeit als hinreichende Verwertungsvoraussetzung Die Erkennbarkeitsformel ist heute ebenso unbestritten wie die natürliche Ausle­ gungsmethode. Abweichende Auffassungen werden im aktuellen Schrifttum weder vertreten13 noch überhaupt erwähnt. Es gilt als selbstverständlich, alle für den Emp­ fänger erkennbaren Umstände in die normative Auslegung einzubeziehen. Das war nicht immer so. In der lebendigen Diskussion über die Rechtsgeschäftslehre des neu geschaffenen BGB im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts vertrat eine ganze Reihe von Autoren14 noch Lehren, die – bei erheblichen Unterschieden im Detail – darin 9 

Dazu bereits §  9 I 1 a. Manigk, HdWbRw I (1926), 439 (Stichwort: Auslegung). Dabei ist an dieser Stelle davon zu abstrahieren, dass ein konkreter Umstand auch einmal irreführend wirken und vom Gewollten wegführen kann. Ohne Ansehung des konkreten Indizwerts des Auslegungsmaterials ist dessen Verwertung aus Sicht des Erklärenden abstrakt günstiger als es unberücksichtigt zu lassen. 11  Manigk, Verhalten (1939), 182. 12  Larenz, Methode (1930, 1966), 18 gegenüber der abw. Auffassung von F. Leonhard. 13 Nur Scherner, AT (1995), 95, 175 weicht ab (dazu noch V 2). 14  Henle, GgA 170 (1908), 427 (469 f.); Bading, Willenserklärung (1910), 17 in Fn.  28, 32–36; Titze, Mißverständnis (1910), 93 f., 106–108; F. Leonhard, AcP 120 (1922), 14 (68–71, 131); Henle, Lb. I (1926), 72–74, 223 f.; Seifert, Falsa demonstratio (1929), 86–91. 10 

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§  14 Das Problem des exorbitanten Sonderwissens

übereinstimmten, dass sie einen Teil der dem Empfänger erkennbaren Umstände trotz ihrer Erkennbarkeit nicht berücksichtigen wollten. Eine einheitliche Begrün­ dung für diese Einschränkung findet sich bei den Kritikern der Erkennbarkeitsfor­ mel allerdings nicht. Bevor unter 2. der hier für richtig gehaltene Kritikpunkt be­ handelt und vertieft wird, sollen Argumente der historischen Diskussion beleuchtet werden, die nicht weiterführen und mit der hier vertretenen Auffassung nichts ge­ mein haben.

1. Untaugliche Argumente in der historischen Diskussion a) Das Argument aus §  122 II BGB Die Kritik an der Erkennbarkeitsformel wurde genährt von Zweifeln an ihrer Ver­ einbarkeit mit §  122 II BGB. Es geht dabei um die Frage, wie bei Geltung der Er­ kennbarkeitsformel der von §  122 II BGB vorausgesetzte Fall denkbar sein soll, dass der Empfänger einen Irrtum kennt oder kennen muss und die Erklärung trotzdem anfechtbar ist. Müssten nach der Erkennbarkeitsformel aufgrund des Vorrangs der Auslegung vor der Anfechtung die Umstände, die der Empfänger kennt oder kennen muss, aufgrund ihrer Erkennbarkeit nicht schon den Erklärungssinn in Richtung des Gemeinten korrigieren, so dass auch die für die Anfechtung erforderliche Di­ vergenz von Wille und Erklärung entfällt? Manche sahen hierin einen Beleg dafür, dass die Erkennbarkeitsformel nicht richtig sein kann und auch bei durchschauba­ rem Irrtum zunächst eine anfechtbare Erklärung zustande kommen müsse.15 Das Argument aus §  122 II BGB ließe sich freilich entkräften durch den Nach­ weis von Restanwendungsfällen, die auch bei Geltung der Erkennbarkeitsformel für §  122 II BGB verbleiben. Insofern ist zunächst an §  119 II BGB zu denken, der als Motivirrtum nicht den bei der erläuternden Auslegung interessierenden Rechtsfol­ gewillen des Erklärenden betrifft, so dass §  122 II BGB hier in jedem Fall bedeut­ sam bleibt, selbst wenn dem Empfänger der Eigenschaftsirrtum bekannt ist oder bekannt sein muss.16 Aber das zieht nur die Anschlussfrage nach sich, warum 15  Bading, Willenserklärung (1910), 17 in Fn.  28, 33 in Fn.  48, 34 f.; Henle, Lb. I (1926), 223; Seifert, Falsa demonstratio (1929), 90. Vgl. auch Titze, Mißverständnis (1910), 93 f., 108 in Fn.  3 und in neuerer Zeit Welser, JBl 1974, 79 (83) und Schlemmer, JBl 1986, 149 (153) mit gleichgela­ gerter Argumentation zum österreichischen Recht im Hinblick auf die mit §  122 II BGB eng ver­ wandte Regelung in §  871 I Var. 2 ABGB. Im restriktiveren Irrtumsrecht des ABGB ist der Irrtum, der „aus den Umständen offenbar auffallen musste“, eine von mehreren alternativen Anfechtungs­ voraussetzungen. Auch das ABGB scheint insofern „bloß“ von Anfechtbarkeit auszugehen. Vgl. auch die Zweifel an der Vereinbarkeit des herrschenden Umgangs mit dem „erkannten Willen“ mit §  122 II BGB bei Diederichsen, FS Juristische Gesellschaft zu Berlin (1984), 81 (88) und H. Westermann, JuS 1964, 169 (171 in Fn.  9). Schlussfolgerungen für die Auslegungslehre ziehen diese Autoren aber nicht. 16  Franzen, in: jurisPK‑BGB (2014), §  122 Rn.  17; Singer, in: Staudinger (2012), §  119 Rn.  40, §  122 Rn.  17; Jahr, JuS 1989, 249 (255 in Fn.  71); Wieling, AcP 172 (1972), 297 (300 in Fn.  15);

II. Kritik an der Erkennbarkeit als hinreichende Verwertungsvoraussetzung

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§  122 BGB auch auf §§  118, 119 I, 120 BGB verweist, die keine Motivirrtümer be­ treffen. Teilweise muss in der Lehre der erkennbare, aber nicht durchschaubare Irrtum als Restanwendungsfall herhalten, bei dem es an der Erkennbarkeit des wirklichen Wil­ lens fehlt.17 Doch unter solchen Umständen ist die Willenserklärung nach hier vertretener Auffassung unbestimmt und deshalb unwirksam.18 §  122 II BGB findet deshalb in diesen Fällen mangels Anfechtbarkeit schon gar keine Anwendung. Durchschlagend ist dagegen der Hinweis auf den erst nachträglich erkennbar werdenden Irrtum.19 Nach Zugang erkennbar gewordene Umstände werden von der Erkennbarkeitsformel nicht mehr erfasst20, sie sind aber noch im Rahmen von §  122 II BGB zu berücksichtigen. Hier treten „Auslegungserkennbarkeit“ und §  122 II BGB tatsächlich auseinander. Angesichts dieser Fallkonstellation mussten sich die Kritiker der Erkennbarkeitsformel darauf zurückziehen, der Wortlaut des §  122 II BGB enthalte keine Einschränkung auf Fälle nachträglicher Erkennbarkeit.21 Die Replik, der Wortlaut sperre sich andererseits auch nicht gegen diese Einschrän­ kung22 , trifft nicht ganz das Richtige. Eine explizite zeitliche Beschränkung auf die Vornahme des Rechtsgeschäfts kann an dieser Stelle schon deshalb nicht erwar­ tet werden, weil auch der bereits anfänglich erkannte oder erkennbare Eigenschafts­ irrtum unter §  122 II BGB fällt23. Noch aus einem anderen Grunde ist §  122 II BGB von geringem Gewicht, wenn es um die Rechtfertigung einer Einschränkung der Erkennbarkeitsformel geht. Mit der Vorschrift lässt sich weder begründen, warum erkennbares Material bei der Auslegung nicht verwertet werden sollte, noch welche erkennbaren Umstände nicht zu berücksichtigen sind. Grund und Maßstab einer über die Erkennbarkeitsformel hinausreichenden Restriktion des Auslegungsmaterials lassen sich aus der Vor­ schrift nicht ableiten. Ein „zwingender Beleg“24 für eine restriktivere Fassung des Empfängerhorizonts ist die Vorschrift keineswegs. Bestenfalls zeigt sie, dass das geschriebene Recht sich gegen die Annahme einer anfechtbaren Erklärung bei Rhode, AcP 124 (1925), 257 (284). Vgl. zum verbleibenden Anwendungsbereich von §  122 II BGB bei §  119 II BGB auch Faust, AT (2016), §  23 Rn.  13; Scherner, AT (1995), 91; Larenz, Methode (1930, 1966), 79 in Fn.  2 a.E; v. Tuhr, AT II/1 (1914, 1957), 599. 17  Nachw. in §  4 Fn.  120. 18  §  4 IV 1. Zum österreichischen Recht siehe insoweit im Hinblick auf §  871 I Var. 2 ABGB, Rummel, JBl 1988, 1 (2); Schlemmer, JBl 1986, 149 (150); Gschnitzer, in: Klang, ABGB (1968), 132. 19 Siehe Thomale, Leistung (2012), 88; Brehmer, Wille (1992), 162 f.; Rhode, Willenserklä­ rung (1938), 71 und die Nachw. in §  3 Fn.  232. 20  Abgesehen von den Fällen der hier unter §  13 V ausnahmsweise befürworteten Horizont­ verschiebung. 21  Henle, GgA 170 (1908), 427 (468); Bading, Willenserklärung (1910), 34; Titze, Mißver­ ständnis (1910), 108 in Fn.  3; F. Leonhard, AcP 120 (1922), 14 (125). 22 Vgl. Trupp, NJW 1990, 1346 (1347 unter V a. E.). 23  Siehe die Nachw. in Fn.  16. 24  So aber Henle, Lb. I (1926), 223.

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durchschaubarem Irrtum nicht sperrt, falls sich dieses Ergebnis auf anderem Wege begründen lässt. b) Das Argument aus §  123 I Alt. 1 BGB Ein anderes systematisches Argument gegen die Erkennbarkeitsformel bringt Bading 25 vor. Er zieht die Parallele zur Anfechtung wegen arglistiger Täuschung (§  123 I Alt. 1 BGB). Bei Zugrundelegung der Erkennbarkeitsformel könne eigentlich „ein wegen arglistiger Täuschung anfechtbares Geschäft gar nicht anfechtbar sein, son­ dern müßte in der Gestalt Geltung haben, in der der Betrogene es abschließen wollte; denn der Täuschende kannte ja die Absichten des Getäuschten“.

Das Gesetz sehe aber Anfechtbarkeit vor, woraus Bading den Schluss zieht, auch im Übrigen dürfe es nicht auf die Erkennbarkeit ankommen, da der Empfänger beim normalen Irrtum „viel eher milder“ zu behandeln sei als der Täuschende, also auch ihm gegenüber nur ein Anfechtungsrecht bestehen dürfe (und nicht das erkennbar wirklich Gewollte gelten dürfe). Bading übergeht bei seiner Argumentation freilich, dass die Täuschung in der Regel nicht den Inhalt der Willenserklärung, sondern die Motive für die Abgabe der Erklärung betrifft.26 Ein erkennbarer Motivirrtum ist aber von vornherein für die erläuternde Auslegung ohne Bedeutung27, die nur nach dem wirklichen Rechtsfol­ gewillen des Erklärenden forscht und nicht danach, warum der Erklärende eine be­ stimmte Rechtsfolge erklären wollte. Beim Motivirrtum ist es sinnlos, mit Bading zu fragen, in welcher Gestalt der Getäuschte das Rechtsgeschäft „abschließen woll­ te“. Der Erklärende hat stets nur einen einzigen Rechtsfolgewillen, nämlich den unter dem Eindruck der manipulierten Motivlage zustande gekommen. Jeder ande­ re Wille wäre reine Unterstellung.28 Erkennbarkeitsformel und §  123 I Alt. 1 BGB können insoweit nicht in Konflikt geraten. 25  Willenserklärung (1910), 35; zust. Danowski, Anfechtung (1921), 67. Zuvor bereits ähnlich Breit, Geschäftsfähigkeit (1903), 155. Eine parallele Argumentation findet sich auch noch in jüngerer Zeit in der österreichischen Lehre, wo ebenfalls teilweise ein Widerspruch zu den Regeln über Täuschung befürchtet wird, falls sämtliche erkennbare Umstände in die Auslegung eingehen, Welser, JBl 1974, 79 (83); Schlemmer, JBl 1986, 149 (153). 26  Bork, AT (2016), Rn.  865; Armbrüster, in: MünchKommBGB (2015), §  123 Rn.  2; Singer, Selbstbestimmung (1995), 208 f.: „praktische Hauptbedeutung“. 27  Franzen, in: jurisPK‑BGB (2014), §  122 Rn.  17; Vonkilch, JBl 2010, 3 (7) zum österreichi­ schen Recht; Larenz, Methode (1930, 1966), 79 f. in Fn.  2 zum Eigenschaftsirrtum. Vgl. auch Oertmann, Rechtsordnung (1914), 106. Dazu auch §  4 II 2 c. 28  Ungenau insofern Martens, Dritte (2007), 331, der nur darauf abstellt, es könne „regelmä­ ßig“ nicht ermittelt werden, „welche Erklärung der Betrogene eigentlich gewollt hätte“. Auf einen hypothetischen Willen könnte es bei der erläuternden Auslegung auch dann nicht ankommen, wenn er sich ausnahmsweise in irgendeiner Form „feststellen“ ließe. Er bestand nämlich zu kei­ nem Zeitpunkt und konnte dementsprechend auch nicht erklärt werden.

II. Kritik an der Erkennbarkeit als hinreichende Verwertungsvoraussetzung

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Eine arglistige Täuschung kann sich allerdings auch auf den Inhalt der abgegebe­ nen Erklärung beziehen.29 So zum Beispiel wenn der Erklärende ein Fremdwort benutzt, über dessen Bedeutung er getäuscht wird 30, oder ihm vorgegaukelt wird, er unterschreibe einen Spesenbeleg, während es sich in Wirklichkeit um einen Wechsel handelt31. Doch in diesen seltenen Fällen ist nicht einzusehen, warum §  123 BGB einer Auslegungslehre im Weg stehen sollte, die nach allgemeinen Grundsätzen zu dem Ergebnis kommt, es fehle aus Empfängersicht32 erkennbar ein dem Wortlaut entsprechender Rechtsfolgewille und folglich sei auch im Rechts­ sinne keine anfechtbare „Willenserklärung“ in diesem Sinne erfolgt.33 Schon sei­ nem Wortlaut nach ordnet sich §  123 BGB bereitwillig der allgemeinen Rechtsge­ schäftslehre unter. Die Vorschrift verlangt die Bestimmung des Anfechtungsbe­ rechtigten „zur Abgabe einer Willenserklärung“. Ob und mit welchem Inhalt eine Willenserklärung vorliegt, entscheidet sich anhand der Kriterien der Auslegung.34 Der Vorrang der Auslegung vor der Arglistanfechtung macht den §  123 I Alt. 1 BGB auch keineswegs überflüssig, da der Norm jedenfalls35 mit den durch arglistige Täuschung hervorgerufenen reinen Motivirrtümern noch ein weites Anwendungs­ feld verbleibt. Nur unter einem einzigen Wertungsgesichtspunkt wäre eine generelle Anfecht­ barkeit bei arglistiger Täuschung bezüglich des Inhalts der Willenserklärung über­ haupt zu erwägen. Der Erklärende erhielte dadurch das aus §  123 BGB folgende Wahlrecht, ob er die Erklärung ihrem Wortlaut nach gelten lassen möchte oder lie­ ber anficht.36 Darin kann, auch wenn damit das Risiko der Bindung an die Erklä­

29  Bork, AT (2016), Rn.   865 in Fn.  51; Singer, Selbstbestimmung (1995), 209. Nicht berück­ sichtigt bei Peters, JR 2006, 133 (134). 30  Bork, AT (2016), Rn.  865 in Fn.  51; Armbrüster, in: MünchKommBGB (2015), §  123 Rn.  2. 31  Fall nach östOGH, Entscheidung vom 22.12.1964, JBl 1965, 323. Dazu auch Singer, Selbst­ bestimmung (1995), 131. Vgl. schon Breit, Geschäftsfähigkeit (1903), 155: Einem Blinden wird eine Schuldurkunde vorgelegt unter Vorspiegelung, es handle sich um eine Quittung. Breit wollte hier ebenfalls aus §  123 BGB ableiten, die in der Schuldurkunde enthaltene Erklärung gelte zu­ nächst anfechtbar als Schuldurkunde. 32  Die Täuschung kann vom Empfänger oder von einem Dritten verübt worden sein. Im letz­ teren Fall setzt Anfechtung aber ebenfalls die Erkennbarkeit des Irrtums voraus, da §  123 II 1 BGB Kenntnis oder Kennenmüssen der Täuschung auf Seiten des Dritten verlangt. 33  So auch i. E. Vonkilch, JBl 2010, 3 (7 f.) zum österreichischen Recht; Martens, Dritte (2007), 330 f.; Singer, Selbstbestimmung (1995), 131 in Fn.  12 (abw. aber 209, wo nur auf den Vorrang der hier abgelehnten natürlichen Auslegung abgestellt wird, bei der die Erkennbarkeit nicht genügen würde). 34  Süß, Jura 2011, 735 (737 f.). 35  Ob es auch Fälle arglistiger Täuschungen über den Inhalt der Willenserklärung gibt, die nach §  123 BGB zur Anfechtung berechtigen (dagegen v. Tuhr, AT II/1 [1914, 1957], 604 bei und in Fn.  7), kann an dieser Stelle offen bleiben. 36  Zu dieser den Erklärenden begünstigenden Funktion der Anfechtbarkeit im Vergleich zur Nichtigkeit im Zusammenhang mit §  123 BGB: Armbrüster, in: MünchKommBGB (2015), §  123 Rn.  2; Singer/v. Finckenstein, in: Staudinger (2012), §  123 Rn.  87; Weiler, Willenserklärung (2002), 474; Jacobsohn, JherJb 56 (1910), 329 (360).

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rung wegen Verfristung (§  124 BGB) einhergeht, in manchen Fällen37 ein Vorteil liegen. Diese Begründung wäre aber speziell auf Fälle arglistiger Täuschung zuge­ schnitten und könnte die von Bading gezogenen Schlussfolgerungen für die allge­ meine Auslegungslehre nicht tragen. Unter dem Gesichtspunkt des Wahlrechts ist die Anfechtungslösung nämlich nicht die von Bading angenommene „milde Be­ handlung“ des Täuschenden, die erst recht dem Nichttäuschenden zu Teil werden müsse, sondern im Gegenteil eine Belastung, die zugunsten des Getäuschten vorge­ sehen ist, um dessen Handlungsoptionen zu erweitern 38. Nicht zuletzt lassen sich aus §  123 I BGB auch keinerlei Maßstäbe ableiten, welche der für den Empfänger erkennbaren Umstände auszublenden wären, wenn einmal keine arglistige Täu­ schung in Rede steht. Notwendigkeit, Begründung und Maßstab für eine Restriktion der Erkennbar­ keitsformel ergeben sich somit auch aus §  123 I Alt. 1 BGB nicht. c) Der Anspruch des Empfängers auf einen verkehrsüblichen Sprachgebrauch (Titze) Der wohl prominenteste Befürworter der Einschränkung der Erkennbarkeitsformel ist Titze. In seiner „Lehre vom Mißverständnis“ hält auch er als Voraussetzung der von ihm sog. individuellen Auslegung, die die generelle (Wortlaut-)Auslegung ver­ drängt, die Erkennbarkeit der für die Auslegung herangezogenen Umstände für den Empfänger für erforderlich.39 Es reiche aber „nicht jedes beliebige Kennen oder Kennenmüssen“40, sondern nur die „auf Sonderbeziehungen sich gründende und darum dem Gegner erkennbare Parteiauffassung“41. Die besonderen Verständnis­ möglichkeiten müssten „im Verkehr mit dem Gegner erworben resp. durch Bezie­ hungen zu ihm gerechtfertigt“42 sein.

37  Falls der Getäuschte aufgrund der Täuschung nicht davon ausgeht, sein Verhalten habe gar keinen, sondern einen anderen rechtsgeschäftlichen Bedeutungsgehalt, ist das Wahlrecht vergli­ chen mit dem Ergebnis der allgemeinen Auslegungsvorschriften für ihn freilich nachteilig, weil dann sein Vertrauen auf die von ihm angenommene Bedeutung seiner Erklärung ungeschützt bleibt. Das Wahlrecht eröffnet nur die Wahl zwischen dem „Wortlaut“ oder der Nichtigkeit, nicht dagegen auch die Wahl des für den Empfänger erkennbar Gemeinten. Beispiel: Der Empfänger gaukelt dem Erklärenden vor, das Fremdwort „F“ bedeute x, obwohl es y bedeutet. Das Vertrauen des Getäuschten auf x bliebe ungeschützt, wenn die rechtlich relevante Bedeutung der Erklärung bei arglistiger Täuschung y wäre. Dieser Gesichtspunkt spricht dafür, dem Wahlrechtsargument in Gänze die Bedeutung bei arglistigen Täuschungen über den Inhalt abzusprechen. 38 Vgl. Jacobsohn, JherJb 56 (1910), 329 (360). 39  Titze, Mißverständnis (1910), 92, 109. 40  Titze, Mißverständnis (1910), 10. 41  Titze, Mißverständnis (1910), 92. 42  Titze, Mißverständnis (1910), 109.

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Trotz aller Bemühungen43 um Konkretisierung der erforderlichen „besonderen Beziehungen“44 fällt auf, dass in dem ansonsten so argumentationsfreudigen Werk die Begründung äußerst knapp ausfällt, warum es der „Sonderbeziehung“ über­ haupt bedarf. Bei der allgemeinen Exposition seiner „individuellen Auslegungsme­ thode“ bezieht sich Titze pauschal auf §  157 BGB und den Grundsatz von Treu und Glauben.45 Kurz darauf setzt er die Unmaßgeblichkeit zufällig vorhandener Kenntnisse schon wie selbstverständlich voraus46. Erst später wird erkennbar, aus welchen Gründen Titze den Anwendungsbereich der individuellen Auslegung mit­ tels der geforderten Sonderbeziehung beschränken möchte. Am Beispiel des Son­ dersprachgebrauchs einer Partei erläutert er, auf den besonderen Sprachgebrauch des Gegners müsse eine Partei auch dann keine Rücksicht nehmen, wenn ihr der Sondersprachgebrauch bekannt sei. „Denn niemand hat ein Recht darauf, daß im Verkehr auf seine privaten Spracheigentümlichkeiten Rücksicht genommen wer­ de.“47 Er führt dies am Beispiel des von v. Jhering48 entlehnten „Madeira“-Falls näher aus: In einer Berliner Gastwirtschaft bietet ein Gastwirt unter der Bezeich­ nung „Madeira“, die im allgemeinen Sprachgebrauch einen Likörwein von der gleichnamigen Mittelmeerinsel bezeichnet, ein selbstgemischtes Spezialgetränk an. Eines Tages bestellt ein Fremder, der nie zuvor in der Gastwirtschaft gewesen ist, aber durch dritte Personen von dem Spezialgetränk gehört hat, einen Madeira. Titze will hier einen auf Likörwein lautenden Vertrag annehmen. „Solange zwischen [dem Gast] und dem Wirt keine besonderen Beziehungen obwalten, kann er viel­ mehr beanspruchen, daß letzterer ihm gegenüber in der verkehrsüblichen Sprache rede.“49 Anderes gelte erst, wenn der Gast ein weiteres Mal in die Gastwirtschaft einkehre und so Einblick in die besonderen „Madeiraverhältnisse“ der Gastwirt­ schaft gewonnen habe. Bevor dies geschehe, könne es „gegen Treu und Glauben [verstoßen], wenn sich derjenige, der sich mit dem gewöhnlichen Sprachgebrauch in Widerspruch setzt, auf die Kenntnis des Gegners von diesem Widerspruch be­ ruft“50. Verallgemeinert man Titzes Argumentation von der Konstellation des Son­ dersprachgebrauchs auf sämtliche – möglicherweise auch wegen eines Momentver­ sagens – unübliche Ausdruckweisen, so geht er offenbar davon aus, es sei dem Emp­ 43 Siehe

Titze, Mißverständnis (1910), 109–122. Titze, Mißverständnis (1910), 107. Ebenso ders., RvglHdWb V (1936), 842 (dort aber tritt die restriktive Funktion der „Sonderbeziehung“ gegenüber der Erkennbarkeitsformel nicht deut­ lich hervor). 45  Titze, Mißverständnis (1910), 92 f., wobei die von ihm behauptete allgemeine Anerkennung seiner Auffassung nur auf das Erkennbarkeitskriterium zutrifft, nicht aber auf die von ihm ange­ nommene „Sonderbeziehung“ in ihrer Funktion als Restriktion der Erkennbarkeitsformel. 46  Titze, Mißverständnis (1910), 93 f. 47  Titze, Mißverständnis (1910), 106. So auch Oertmann, Rechtsordnung (1914), 96, der seine Bemerkung aber ersichtlich auf den Fall bezieht, bei dem der Empfänger vom Sondersprachge­ brauch nicht weiß. 48  v. Jhering, Jurisprudenz (1927), 26 f. (III Nr.  58). 49  Titze, Mißverständnis (1910), 108. 50  Titze, Mißverständnis (1910), 108 in Fn.  3. 44 

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fänger51 nicht zumutbar, auf ihm zufällig bekannte „Verstöße“ des Gegners gegen die allgemeinüblichen Kommunikationsstandards Rücksicht zu nehmen. Larenz kommt angesichts dieser Begründung zu dem nachvollziehbaren Schluss, die von Titze geforderte Sonderbeziehung sei eine „Einschränkung, deren Berechti­ gung kaum einzusehen ist“52. Der angebliche „Anspruch“ auf Verwendung einer verkehrsüblichen Sprache durch den Gegner ist nicht anzuerkennen. §  133 Hs.  2 BGB besagt das klare Gegenteil. Der Erklärende muss sich dem Empfänger gegen­ über nicht verkehrsüblich im Sinne des Sprachgebrauchs der Allgemeinheit, son­ dern nur verständlich ausdrücken.53 Auch nach Titze wäre es beachtlich, wenn der Erklärende seiner unüblichen Ausdrucksweise Erläuterungen hinzufügt, aus denen sich das Gemeinte unzweifelhaft ergibt.54 Nicht die Unüblichkeit der Zeichenver­ wendung ist dem Erklärenden vorzuhalten, sondern nur das Unterlassen einer klar­ stellenden Erläuterung. Die Erläuterung würde aber ohne einleuchtenden Grund zum Selbstzweck erhoben, wenn sich auch ein Empfänger auf ihr Fehlen berufen könnte, der die darin enthaltene Information bereits auf anderem Weg erlangt hat.55 Warum sollte der Gastwirt den Gast zur Wahrung von irgendeinem Interes­ se des Gastes noch über die besondere Bedeutung des Wortes „Madeira“ in seiner Gaststätte aufklären müssen, wenn der Gast schon davon weiß? Der Empfänger bedarf keines Schutzes, wenn ihm ein auslegungsrelevanter Umstand bekannt ist. Wenn überhaupt, dann liegt wohl ein Verstoß gegen Treu und Glauben auf Seiten des Empfängers vor, wenn er „den Erklärenden beim Wort nehmen dürfte, obwohl er genau weiß, daß das vom Erklärenden gebrauchte Wort, nach der [Verkehrssitte] ausgelegt, seinem wahren Willen nicht entspricht“56. 51  Hier interessieren vor allem die Fälle der unüblichen Zeichenverwendung durch den Erklä­ renden. Titzes Gedanke erfasst auch die umgekehrte Konstellation, in der sich der Erklärende einer Bezeichnung bedient, von der er aus irgendwelchen Quellen weiß, dass der Empfänger der verwen­ deten Begrifflichkeit (wohl) einen „falschen“ Sinn beilegen wird. Dass Titzes Gedanke rollenneu­ tral ist, ergibt sich auch anhand des Madeira-Falls, wo auch die Erklärung des Gastes auszulegen ist, der Kenntnis davon hat, dass der Gastwirt einen unüblichen Sinn mit dem Wort „Madeira“ verknüpft. In der Lehre finden sich soweit ersichtlich keine Ausführungen dazu, wie damit umzu­ gehen ist, wenn der Erklärende eine ihm bekannte Missverständnisdisposition des Empfängers ausnutzt. 52  Larenz, Methode (1930, 1966), 22 und 23, jeweils ohne Begründung. Ablehnend auch v. Tuhr, AT II/1 (1914, 1957), 540 in Fn.  32 ohne Begründung. 53  Danz, JherJb 46 (1904), 381 (418). 54 Vgl. insoweit Titze, Mißverständnis (1910), 124, der eine unübliche Zeichenverwendung berichtigt anhand der Umstände, soweit sie innerhalb der Sonderbeziehung liegen. 55  Oertmann, Rechtsordnung (1914), 97. 56  Oertmann, Rechtsordnung (1914), 97. Damit soll nicht gesagt sein, dass die Berufung auf einen solchen Erklärungsgehalt stets treuwidrig sein muss. Falls es andere – in Titzes Begrün­ dungsansatz nicht enthaltene – teleologische Gründe gibt, eine solche Erklärung (anfechtbar) im Sinne ihres üblichen Sinnes gelten zu lassen (dazu unter 2.), zieht der Empfänger nur die Konse­ quenzen aus dieser Rechtslage. Die Interessen des Empfängers sind dann aber nicht der eigentliche Grund, warum ihm dies ermöglicht wird, sondern seine Rechtsposition ist nur der Reflex einer anderen Zielen dienenden Rechtsregel.

II. Kritik an der Erkennbarkeit als hinreichende Verwertungsvoraussetzung

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Titzes „Anspruch auf eine allgemeinübliche Ausdrucksweise“ passt auch nicht zu den Rechtsfolgen, die die ohne das Sonderwissen ausgelegte Erklärung hätte. Die Erklärung ist dann immer noch wegen Irrtums anfechtbar und zwar unter Aus­ schluss des Vertrauensschadensersatzes (§  122 II BGB).57 Dies zeigt deutlich, dass der Empfänger die ihm zufällig erkennbare Unüblichkeit der Ausdrucksweise kei­ neswegs ignorieren und sich schon gar nicht auf diese Erklärung verlassen kann, da der Erklärende sie ihm ohne irgendwelche Konsequenzen einseitig wieder aus der Hand schlagen kann. Wer eine Einschränkung der Erkennbarkeitsformel vertritt, muss eine Erklärung liefern, warum eine ohne Pflicht zum Vertrauensschadenser­ satz anfechtbare Willenserklärung überhaupt anerkannt werden soll. Titzes Begrün­ dung, die auf Interessen des wegen §  122 II BGB vertrauenstheoretisch ohnehin „vogelfreien“ Empfängers abstellt, gibt dafür nichts her.

2. Das überzeugende Argument gegen die Erkennbarkeitsformel: Desorientierung des Erklärenden durch exorbitantes Sonderwissen im Entdeckungsszenario Nicht alle Einwände der historischen Diskussion gegen die Erkennbarkeitsformel erweisen sich als haltlos. Es findet sich dort ein weiteres Argument, auf das Vertre­ ter der herrschenden Lehre soweit ersichtlich noch nirgends reagiert haben. F. Leon­ hard58, Henle59 und Seifert60 beziehen sich bei der Diskussion über die Abgrenzung des objektiven Empfängerhorizonts auf die Interessenlage im Entdeckungsszenario und bedienen sich damit eines Gedankens, der sich schon in Teil II der Untersu­ chung als richtig erwiesen hat. a) Die Lage des Erklärenden im Entdeckungsszenario bei Verwertung exorbitanten Sonderwissens Die Tücken der Erkennbarkeitsformel treten wiederum hervor, wenn das Gesche­ hen über die Zeit der Vornahme des Rechtsgeschäfts hinausgedacht wird unter Be­ rücksichtigung der „Lage des Erklärenden, wenn er nach Abgabe seiner Erklärung den Irrtum seinerseits bemerkt“61. Zum Zeitpunkt der Erklärungsabgabe geht der 57 

Titze, Mißverständnis (1910), 94. AcP 120 (1922), 14 (133). Siehe auch bereits a. a. O., 130. 59  Lb. I (1926), 74. In GgA 170 (1908), 427 (469 f.) begründet Henle seine schon damals gleich­ lautende normative Auslegungslehre noch ohne Bezugnahme auf das „Entdeckungsszenario“. Das Argument taucht in diesem Beitrag erst – dort aber wohl erstmalig – im Zusammenhang mit dem kongruenten Doppelirrtum auf (a. a. O., 486). 60  Falsa demonstratio (1929), 86–88. 61  Henle, Lb. I (1926), 74. 58 

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Erklärende zwar regelmäßig62 noch davon aus, seinen Willen ordnungsgemäß dem Empfänger gegenüber zum Ausdruck gebracht zu haben. Kommen ihm im Nachhi­ nein aber Zweifel, so zwingt ihn sein Bedürfnis nach Klärung seiner Rechtslage zur Rekonstruktion der rechtlich relevanten Bedeutung seines Verhaltens durch Ausle­ gung. Hierfür muss er sich selbst das Auslegungsmaterial vorlegen und klären, wel­ che Bedeutung der Empfänger der Erklärung entnehmen musste63. Aufgrund der Vorgabe der Erkennbarkeitsformel, nur für den Empfänger erkennbare Umstände zu verwerten, wird er dabei alle Umstände außer Betracht lassen, mit deren Vorlie­ gen beim Empfänger er nicht rechnet. Gespräche, die er mit Dritten geführt, Briefe, die er an Dritte geschrieben, oder Aufzeichnungen, die er sich selbst gemacht hatte, wird er bei seiner Auslegung außer Acht lassen, obwohl sich aus ihnen möglicher­ weise klar und deutlich ergibt, dass ihm bei Abfassung der Erklärung ein Irrtum unterlaufen ist, und ggf. sogar, was wirklich gewollt war. Er muss davon ausgehen, diese Umstände seien lediglich zum Nachweis seines Irrtums im Rahmen der An­ fechtung (§§  119 I, 120 BGB) geeignet, aber ohne Einfluss auf den rechtsmaßgebli­ chen Erklärungssinn geblieben. Anders verhält es sich mit „Sonderwissen“, dessen Vorliegen beim Empfänger er erwartet, wie beispielsweise Äußerungen, die er wäh­ rend der Vorverhandlungen getätigt hat.64 Derartige Äußerungen kann der Erklä­ rende in seine nachgelagerte Auslegung einbeziehen. Die Erkennbarkeitsformel birgt für den Erklärenden nun folgende unvorherseh­ bare Falle. Aus Gründen, die er nicht überblickt, können nach menschlichem Er­ messen eigentlich nicht erkennbare Umstände dem Empfänger zufällig „hinter­ rücks“65 doch erkennbar geworden sein. F. Leonhard bildet den Fall, in dem die Waschfrau des Empfängers zufällig auch bei den Schwiegereltern des Erklärenden wäscht und dort eine Äußerung des Erklärenden aufschnappt, die sie dem Empfän­ ger weiterträgt.66 Henle setzt den Fall so, dass „der Erklärende über das Geschäft einem Dritten schreibt, und dieser, zufällig mit dem Empfänger bekannt, dem Emp­ fänger Mitteilung macht oder den Brief einsendet“67. Es bedarf nicht einmal eines unberufenen Dritten, der die Äußerung des Erklärenden weiterträgt. Der Wissens­

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Anderenfalls liegt eine Mentalreservation im Sinne von §  116 BGB vor. In Teil II wurde dargelegt, warum der Erklärende sich nicht zu fragen hat, wie der Empfän­ ger die Erklärung tatsächlich versteht oder verstanden hat. Dies könnte er auch gar nicht durch Auslegung der Erklärung beantworten, sondern nur durch Nachfrage beim Gegner. 64  Faust, AT (2014), §  2 Rn.  8 nennt als Beispiel für Sonderwissen des Empfängers Kenntnis­ se aus vorherigen geschäftlichen Kontakten. Dieses Sonderwissen ist regelmäßig unproblema­ tisch, weil der Erklärende davon ausgehen kann und muss, es sei für den Empfänger erkennbar. Ders., AT (2016), §  2 Rn.  10 verzichtet auf den Terminus „Sonderwissen“ in diesem Zusammen­ hang. 65  Henle, GgA 170 (1908), 427 (469). 66  F. Leonhard, AcP 120 (1922), 14 (130  f.). Aufgegriffen von Seifert, Falsa demonstratio (1929), 87. Vgl. auch Rhode, Willenserklärung (1938), 49 und Bading, Willenserklärung (1910), 32: „Mitteilung eines Dritten“. 67  Henle, GgA 170 (1908), 427 (467). 63 

II. Kritik an der Erkennbarkeit als hinreichende Verwertungsvoraussetzung

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zuwachs kann auch auf einer „Indiskretion“68 des Empfängers beruhen, der sich eigenmächtig Einblick in die Verhältnisse des Erklärenden verschafft, beispielswei­ se indem er in einem unbeobachteten Moment Aufzeichnungen des Gegners ein­ sieht, die den Sinn der später abgegebenen Erklärung erhellen. Theoretisch genügt ein Windstoß, der Notizen des Erklärenden zum Empfänger befördert69. Die Fälle mögen gekünstelt und lebensfremd erscheinen. Gerade ihre Atypizität, auf die die Erkennbarkeitsformel keine Rücksicht nimmt, begründet aber die Ge­ fährlichkeit für den Erklärenden. Mit dem Vorhandensein des im Folgenden sog. exorbitanten Sonderwissens des Empfängers kann er nicht rechnen.70 Da die Er­ kennbarkeitsformel es ebenfalls in den Empfängerhorizont einbezieht, ist es für den Erklärenden praktisch unmöglich, sich den Sinn der Erklärung mit den ihm zur Verfügung stehenden Informationen zu erschließen.71 b) Folgen der Orientierungslosigkeit des Erklärenden bei Verwertung exorbitanten Sonderwissens Die Verwertung exorbitanten Sonderwissens bei der normativen Auslegung zieht für den Erklärenden ähnliche Nachteile und Gefahren nach sich, wie sie bereits in Teil II der Untersuchung als Konsequenz der natürlichen Auslegungsmethode her­ ausgearbeitet wurden. Auf die entsprechenden Ausführungen kann in weitem Um­ fang Bezug genommen werden: Der Erklärende wird bei nachträglicher Entdeckung seines Irrtums davon ausge­ hen, der Empfänger verfüge nicht über exorbitantes Sonderwissen und werde sich entsprechend verhalten. Glaubt er, irrtümlich Ware X statt der gewollten Ware Y verkauft zu haben, so kann er zur Erfüllung der angenommenen Verbindlichkeit längst X beschafft und Y anderweitig veräußert haben, als ihm der Gegner sein exorbitantes Sonderwissen offenlegt und die Abnahme von X ablehnt und statt des­ sen Y fordert.72 Das nachträgliche Vertrauen des Erklärenden auf die von ihm nach­ 68  Scherner, AT (1995), 95; Henle, Lb. I (1926), 223. Vgl. auch R. Leonhard, Irrtum I (1907), 72 in Fn.  1 a. E. zum vom Empfänger unbemerkt belauschten Selbstgespräch des Erklärenden, aus dem sich Auslegungsrelevantes ergibt. 69 Vgl. Bading, Willenserklärung (1910), 32, der von Aufzeichnungen des Erklärenden spricht, „die der Gegner zufällig zu Gesicht bekommt“. 70  Seifert, Falsa demonstratio (1929), 86 f. Siehe auch Rhode, Willenserklärung (1938), 49 a. E., der hervorhebt, der Erklärende könne in einem solchen Fall nicht damit rechnen, der Erklä­ rende werde ihn durch bloßen Zufall richtig „verstehen“. Richtigerweise geht es aber, weil nicht die natürliche Auslegung in Rede steht, nur um die „Verstehbarkeit“. Ob der Erklärende aus dem exor­ bitanten Sonderwissen die gebotenen Schlüsse zieht, ist nach der Erkennbarkeitsformel unerheb­ lich. 71  Henle, Lb. I (1926), 74: „Muß [der Erklärende] nun auf die Benutzung von Auslegungsmit­ teln gefaßt sein, deren Vorliegen er nicht überblicken kann, so wird er dem Spiel von Zufälligkeiten preisgegeben, statt in Ruhe mit sich zu Rate gehen zu können, wie er sich stellen solle.“ 72 Vgl. F. Leonhard, AcP 120 (1922), 14 (133). Andere Beispiele für Vertrauensdispositionen

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§  14 Das Problem des exorbitanten Sonderwissens

vollziehbarerweise für erkennbar gehaltene Bedeutung seiner Erklärung bliebe un­ geschützt. Falls er dem Risiko der Vertrauensenttäuschung nicht ausgesetzt sein möchte73, hat er bei Geltung der Erkennbarkeitsformel nur die Option, sich beim Gegner nach dem Vorhandensein von exorbitantem Sonderwissen zu erkundigen. Nur der Emp­ fänger kann ihm nämlich die für die Beurteilung seiner Rechtslage essentielle In­ formation offenbaren, ob er über exorbitantes Sonderwissen verfügt.74 Der Nach­ fragemechanismus ist aber aus Sicht des Erklärenden nur eine unvollkommene Krücke. Er verlangt dem Erklärenden einen regelmäßig überflüssigen Aufwand ab, weil exorbitantes Sonderwissen typischerweise nicht vorhanden ist.75 Er setzt ei­ nen kooperationswilligen Empfänger voraus, der sich jedoch opportunistisch oder passiv verhalten kann.76 Die Nachfrage kann auch aus tatsächlichen Gründen un­ tunlich sein, etwa bei Unerreichbarkeit des Empfängers, und dadurch den orientie­ rungsbedürftigen Erklärenden im Ungewissen lassen.77 Dem Empfänger wächst durch die Auslegungsrelevanz des exorbitanten Sonder­ wissens eine höchst problematische faktische Wahlmöglichkeit zu. Vom Vorhan­ densein des exorbitanten Sonderwissens weiß im Streitfalle meist78 nur er, nicht aber der Erklärende. Der Empfänger kann deshalb faktisch wählen, ob er sich auf das Sonderwissen beruft oder ob er es verschweigt in der begründeten Annahme, der Erklärende könne damit nicht rechnen. Die Erkennbarkeitsformel des objekti­ ven Empfängerhorizonts ist dadurch unter Vertrauensschutzgesichtspunkten sogar potentiell noch unbilliger als die natürliche Auslegungsmethode. Während bei letz­ terer abstrakt jeder der Beteiligten von der zufälligen Übereinstimmung der beider­ seitigen Verständnisse überrascht werden kann, bevorzugt die Erkennbarkeitsfor­ mel einseitig den Empfänger. Das Orientierungsinteresse des Erklärenden bleibt auf der Strecke.

in Form von Erfüllungsvorbereitungshandlungen auf das objektiv Erklärte bei Seifert, Falsa de­ monstratio (1929), 87. 73 Typischerweise wird der Erklärende angesichts der geringen Wahrscheinlichkeit exor­ bitanten Sonderwissens nicht darüber nachdenken oder – selbst wenn er darüber nachdenken soll­ te – jede Nachfrage für überflüssig halten. Das Unterlassen der Nachfrage geht aber dann zu seinen Lasten (vgl. §  6 I 3 a). Um die Frage, ob ihn die Risiken unterlassenen Nachfragens treffen dürfen, geht es der Sache nach an dieser Stelle. 74  Vgl. §  6 I 2 zur Nachfragelast hinsichtlich des inneren Verständnisses des Empfängers. 75  Vgl. §  6 I 3 a. 76  Vgl. §  6 I 3 b. 77  Vgl. §  6 I 3 c. 78  Es ist zwar denkbar, dass der Erklärende nachträglich vom exorbitanten Sonderwissen des Empfängers erfährt und sich dann ebenfalls darauf berufen kann. Ein solches Szenario ist aber nicht besonders wahrscheinlich und vor allem vom Zufall abhängig. Die hier vertretene Lösung soll gerade verhindern, dass die Lage des Erklärenden von solchen Zufälligkeiten abhängt.

II. Kritik an der Erkennbarkeit als hinreichende Verwertungsvoraussetzung

327

c) Rechtfertigung der Desorientierung des Erklärenden durch vorrangige Wertungsgesichtspunkte? Die Desorientierung des Erklärenden wäre freilich unbedenklich, wenn sie in den Fällen des exorbitanten Sonderwissens durch vorrangige teleologische Wertungen gerechtfertigt ist. Insofern ist hier auf eine Besonderheit einzugehen, die diese Kon­ stellation von den in Teil II der Untersuchung behandelten methodenrelevanten Fäl­ len der natürlichen Auslegung unterscheidet: Während gegen die natürliche Ausle­ gungsmethode auch das Orientierungsinteresse des Empfängers streitet79, berührt das exorbitante Sonderwissen ausschließlich das Orientierungsinteresse des Erklä­ renden. Dies wirft die Frage auf, ob das Orientierungsinteresse des Erklärenden für sich allein betrachtet der erläuternden Auslegung Schranken setzen kann. Zwei Ge­ sichtspunkt wecken hieran Zweifel: Zum einen ist der Erklärende selbst dafür ver­ antwortlich, eine Erklärung in die Welt gesetzt zu haben, der erst bei Hinzuziehung exorbitanten Sonderwissens das Gemeinte entnommen werden kann (dazu unter aa), und zum anderen verhilft das exorbitante Sonderwissen immerhin dem Willen des Erklärenden zur positiven Geltung (dazu unter bb). aa) Zumutbarkeit der Desorientierung aufgrund der „Erklärungsverantwortung“ bzw. des „Erklärungsrisikos“? Auf das exorbitante Sonderwissen kommt es bei der Auslegung nur an, wenn der Erklärende es versäumt, das Gemeinte anderweitig hinreichend klar zu bezeichnen. Die Möglichkeit des Erklärenden, seinen Willen deutlich zum Ausdruck zu bringen, ist in anderen Zusammenhängen die Rechtfertigung dafür, ihm gewisse Härten zu­ zumuten. So wird etwa die verschuldensunabhängige Haftung des Erklärenden für Irrtümer gem. §  122 I BGB verbreitet damit begründet, der Erklärende könne den Erklärungsvorgang beherrschen und eine zutreffende Erklärung seines Willens si­ cherstellen.80 Ist dem Erklärenden aufgrund seiner „Erklärungsverantwortung“81 und des daraus folgenden „Erklärungsrisikos“82 auch die Desorientierung zumut­ bar, die bei Berücksichtigung des exorbitanten Sonderwissens eingreift? Diese Frage lässt sich klar verneinen. Erklärungsverantwortung und Erklärungs­ risiko sind im vorliegenden Zusammenhang die falschen Kategorien. Sie wären zur Rechtfertigung der Desorientierung nur geeignet, wenn es um die Kompensation von Nachteilen ginge, die ein anderer dadurch erleidet, dass der Erklärende seiner Erklärungsverantwortung nicht gerecht wird. Anders als etwa im Falle des §  122 I BGB, der dem Empfänger einen Ausgleich dafür verschafft, dass der Erklärende 79 

Dazu bereits §  9 I 1 b bb a. E. Armbrüster, in: MünchKommBGB (2015), §  122 Rn.  3. Vgl. auch über den Zusammenhang mit §  122 BGB hinausgehend Wieser, AcP 184 (1984), 40 (44). 81  Brehmer, JuS 1986, 440 (444). 82  Brehmer, JuS 1986, 440 (444). 80 

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§  14 Das Problem des exorbitanten Sonderwissens

seinen Willen nicht ordnungsgemäß erklärt und dadurch Vertrauen geweckt hat, stehen solche Interessen des Empfängers beim exorbitanten Sonderwissen nicht auf dem Spiel. Solange das exorbitante Sonderwissen so abgegrenzt wird, dass der Empfänger es als solches identifizieren kann83, ist es für ihn im Hinblick auf sein Orientierungsinteresse egal, ob er diese Umstände von Rechts wegen zu berücksich­ tigen hat oder nicht. Wenn überhaupt, dann können allenfalls – wie sogleich gezeigt werden wird – vorrangige anderweitige eigene Interessen des Erklärenden die Desorientierung rechtfertigen. Insofern kann die Berücksichtigung des exorbitan­ ten Sonderwissens allerdings nicht Ausdruck einer Sanktion für unzureichendes Erklärungsverhalten sein, sondern lediglich Ausdruck eines Rangverhältnisses wi­ derstreitender Interessen des Erklärenden. bb) Die Chance auf Geltung des Gewollten: Selbstbestimmungsinteresse vor Orientierungsinteresse? Aus Sicht des Erklärenden ist die Berücksichtigung exorbitanten Sonderwissens bei der normativen Auslegung nicht in jeder Hinsicht von Nachteil. Er verliert dadurch zwar an Orientierung über seine Rechtslage, gewinnt dafür aber im Gegenzug die Chance, dass die Willenserklärung trotz „an sich“ missratener Ausdrucksweise so gilt, wie sie gemeint war, falls der Empfänger zufällig über exorbitantes Sonderwis­ sen verfügt. Dies legt die Überlegung nah, ob es nicht ganz im Sinne des Erklären­ den ist, eine gewisse Desorientierung hinzunehmen, wenn er dadurch die Chance auf Geltung seines Willens erhält – oder etwas abstrakter formuliert: ob das auf Geltung des rechtsgeschäftlichen Willens gerichtete Selbstbestimmungsinteresse des Erklärenden bei wertender Betrachtung Vorrang vor dessen Orientierungsinte­ resse hat. Mancher wird geneigt sein, für einen solchen Vorrang die besondere Bedeutung der Privatautonomie für die Rechtsgeschäftslehre anzuführen. Immerhin verdankt das Rechtsgeschäft seine Anerkennung durch die Rechtsordnung gerade dem Ziel, dem Erklärenden ein Mittel zur Selbstbestimmung an die Hand zu geben.84 Es gilt freilich zu beachten, dass es im vorliegenden Zusammenhang nicht darum geht, ob dem Selbstbestimmungsinteresse überhaupt eine Bedeutung bei der Ausgestaltung der Auslegungsregeln zukommt, sondern nur um das Gewicht dieses Interesses re­ lativ zum Gewicht anderer widerstreitender Interessen des Erklärenden. Auch wenn das exorbitante Sonderwissen bei der Auslegung unberücksichtigt bleibt, trägt die normative Methode aufs Ganze gesehen dem Prinzip der Selbstbestimmung noch in weitem Umfang Rechnung. Denn auch hiernach bleibt es dabei, dass der Empfänger – freilich auf der Basis einer zusätzlich verknappten Informationsgrundlage – nach dem wirklichen Willen des Erklärenden als dem Idealziel der Auslegung zu for­ 83  Zu den insoweit maßgeblichen Grundsätzen zur Abgrenzung des exorbitanten Sonderwis­ sens siehe noch III 1 und insb. 2. 84  Leenen, AT (2015), §  4 Rn.  1; Larenz/M. Wolf, AT (2004), §  22 Rn.  1.

II. Kritik an der Erkennbarkeit als hinreichende Verwertungsvoraussetzung

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schen hat. Zudem wahrt dieser Ansatz das Selbstbestimmungsinteresse des Erklä­ renden auch vollumfänglich in seiner negativen Dimension, die sich dagegen rich­ tet, den Erklärenden an etwas anderes als das Gewollte zu binden. Der Erklärende kann nämlich die Rechtsfolgen der ungewollten Erklärung durch Anfechtung ohne weiteres abschütteln.85 Im vorliegenden Zusammenhang geht es somit allein darum, ob das „positive“ Selbstbestimmungsinteresse des Erklärenden, das auf Geltung des Gewollten ge­ richtet ist, darüber hinaus sogar noch eine Fassung der Auslegungsregeln abdeckt, die dem Erklärenden auf Kosten der Rechtssicherheit eine zusätzlich Chance auf die Geltung seines Willens verschafft. M.E. ist dies nicht der Fall. Diese Rechtfertigung für die Berücksichtigung exorbitanten Sonderwissens behandelt den durchschnittli­ chen Erklärenden als eine Spielernatur, die um einer vagen Chance willen bereit ist, sich in eine ungewisse Lage zu begeben, in der sie dem Zufall und der Willkür des Empfängers ausgeliefert ist. Die dadurch hinzugewonnene Chance auf Geltung des Gewollten ist von geringem Wert, wird sich sogar aus tatsächlichen Gründen meist als Danaergeschenk erweisen. Zwar kann der ursprüngliche rechtsgeschäftliche Wille des Erklärenden bei Berücksichtigung exorbitanten Sonderwissens unter höchst unwahrscheinlichen Umständen ggf. doch noch zur Geltung kommen. Der Erklärende wird dies jedoch meist weder ahnen noch im Konfliktfalle beweisen können. Er wird sich darauf regelmäßig nur dann berufen können, wenn der Emp­ fänger mitspielt und sein exorbitantes Sonderwissen offenlegt. Der Empfänger wird dies regelmäßig nur dann tun, wenn sich das vom Erklärenden ursprünglich Ge­ wollte für ihn ex post als günstig und damit (typischerweise) für den Erklärenden als ungünstig erwiesen hat.86 Die Nichtberücksichtigung exorbitanten Sonderwissens führt hingegen zu einer ausgewogenen Balance von Selbstbestimmungs- und Orientierungsinteresse. Der Erklärende hat es auch hiernach in der Hand, seinen Willen ordnungsgemäß zu er­ klären und ihm dadurch Geltung zu verschaffen. Gelingt ihm dies jedoch nicht, dann kann er wenigstens erkennen, woran er ist. Er wird sich zwar auch nach Ent­ deckung seines Irrtums meist wünschen, sein ursprünglicher Wille möge gelten, davon ausgehen kann und wird er aber nicht. Gerade letzteres ist für ihn zu diesem Zeitpunkt aber von erheblicher Bedeutung. Er befindet sich nämlich nach der Abga­ be und dem Wirksamwerden der Erklärung in einer neuen Phase des Geschehens, in der für ihn nicht mehr (wie noch bei Erklärungsabgabe) die privatautonome Gestal­ tung seiner Rechtsverhältnisse im Vordergrund steht, sondern sein Bedürfnis, die bereits eingetretenen Rechtsfolgen seines eigenen Verhaltens erkennen zu können. Der ursprüngliche Wille ist für ihn zu diesem Zeitpunkt schon Geschichte, die 85  Dies gilt nicht nur hinsichtlich der Bindung an das objektiv Erklärte, sondern wegen §  122 II BGB auch für die Haftung auf das negative Interesse (dazu noch näher unter IV 2). 86  Wenn das ursprünglich vom Erklärenden Gewollte für beide Seiten besser ist als das – ohne Rücksicht auf das exorbitante Sonderwissen ermittelte – objektiv Erklärte, werden die Beteiligten hierüber auch nachträglich noch eine Einigung erzielen.

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§  14 Das Problem des exorbitanten Sonderwissens

durch die Erklärung geschaffene neue Rechtslage hingegen eine Realität, auf die er sich einstellen können muss. d) Lösung des Exorbitanzproblems auf Basis der Erkennbarkeitsformel? Es bleibt zu erwägen, ob exorbitantes Sonderwissen vielleicht nur ein Scheinpro­ blem ist, weil auch auf dem Boden der Erkennbarkeitsformel die aufgezeigten Risi­ ken für den Erklärenden mit anderen Mitteln lösbar sind. aa) Lösung durch einen Schadensersatzanspruch? Vor einer Enttäuschung seines nachträglichen Vertrauens auf die ohne das exor­ bitante Sonderwissen ermittelte Erklärungsbedeutung wäre der Erklärende ge­ schützt, wenn er Schadensersatz für sein enttäuschtes Vertrauen verlangen könn­ te.87 Der einzige denkbare Ansatzpunkt hierfür wäre eine Haftung des Empfängers für Verletzung einer Pflicht zur Aufklärung über sein exorbitantes Sonderwissen aus §§  280 I, 241 II BGB. Dafür müsste ihn der Vorwurf treffen, den Erklärenden trotz erkennbarer Exorbitanz nicht informiert zu haben und ihn so – für den Fall der Entdeckung – vor der sinnbeeinflussenden Wirkung seines Sonderwissens zu war­ nen. Bei Anerkennung einer solchen Pflicht wäre aber unverständlich, warum der objektive Empfängerhorizont dieses Sonderwissen mit umfassen und das Recht dem Empfänger dadurch Mittel in die Hand geben sollte, es zu Lasten des Erklären­ den geltend zu machen. Die Aufklärungspflicht würde nur dem Zweck dienen, den Erklärenden vor Gefahren zu bewahren, die die Erkennbarkeitsformel heraufbe­ schwört. Es ist schlüssiger, stattdessen bereits die Kriterien des Empfängerhori­ zonts zu modifizieren, damit es gar nicht erst zu der Vertrauensenttäuschung kom­ men kann. Ein Schadensersatzanspruch wegen Aufklärungspflichtverletzung könnte das Vertrauen des Erklärenden auch nur unzureichend schützen. Der Empfänger haftet hiernach nämlich nicht, wenn er es nicht zur vertreten hat, dass er dem Erklärenden keine Kenntnis von seinem exorbitanten Sonderwissen verschafft hat. Trifft den Empfänger keine Schuld daran, dass er den Erklärenden nicht informiert oder seine Bemühungen fehlschlagen, weil etwa ein Brief, in dem er auf das exorbitante Son­ derwissen hinweist, auf dem Weg zum Erklärenden verloren geht, bliebe der Erklä­ rende schutzlos. Ein überzeugender Grund, warum den Erklärenden das Risiko schuldlos unterbliebener oder gescheiterter Aufklärungsbemühungen treffen sollte, ist aber nicht ersichtlich.88 Wird das exorbitante Sonderwissen dagegen schon aus dem Empfängerhorizont ausgeblendet, können sich beide Seiten bei gehöriger Auf­

87 

88 

Vgl. zur Parallelfrage im Zusammenhang mit der natürlichen Auslegung §  7 II. Vgl. hierzu bereits im Zusammenhang mit der natürlichen Auslegung §  7 II 3.

II. Kritik an der Erkennbarkeit als hinreichende Verwertungsvoraussetzung

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merksamkeit darauf einstellen, ohne auf die fehleranfällige nachgelagerte Kommu­ nikation angewiesen zu sein. bb) Lösung durch die normative Komponente der „Erkennbarkeit“? Lehmann/Hübner schlagen eine andere Lösung vor. Sie entgegnen F. Leonhard, der bei der Auslegung nur die beim Geschäftsabschluss und den dazugehörigen Vorver­ handlungen hervorgetretenen Umstände berücksichtigen wollte, um das Problem des exorbitanten Sonderwissens in den Griff zu bekommen: „Niemand hat aber wohl bisher daran gedacht, Umstände, die keine Beziehung zum Ge­ schäftsabschluß haben, aber bei sorgfältigem Verhalten h ä t t e n erkannt werden k ö n ­ n e n , als Auslegungsstoff zu verwerten. ‚Erkennbar‘ sind nur Umstände, die bei gebotener Sorgfalt hätten erkannt werden m ü s s e n .“89

Diese Entgegnung verfehlt das Problem des exorbitanten Sonderwissens. Es be­ steht nicht in der Überforderung, die dem Empfänger drohte, falls ihm unter Hin­ weis auf ihre Erkennbarkeit die Ausschöpfung aller theoretisch erreichbaren Er­ kenntnismittel abverlangt würde und man ihm beispielsweise auch Äußerungen und Informationen zurechnete, die er bei Lektüre einer bestimmten (für ihn theore­ tisch erwerbbaren) Tageszeitung hätte zur Kenntnis nehmen können. Dagegen hilft in der Tat die normative Komponente der Erkennbarkeit, die darin liegt, dem Emp­ fänger nur solche Informationen zuzurechnen, deren Kenntnisnahme für ihn zu­ mutbar ist90 und die er deshalb kennen muss. Exorbitantes Sonderwissen betrifft hingegen Fälle, in denen eine Begrenzung der Verständnisanstrengungen auf ein vertretbares Maß überflüssig ist, da der Empfänger über das Sonderwissen tatsäch­ lich verfügt. Dem Empfänger positiv bekannte exorbitante Umstände sind immer auch „erkennbar“, da die Erkennbarkeit eine Erweiterung des Auslegungsmaterials gegenüber dem Kreis der bekannten Umstände ist; dies drückt sich auch in der ge­ bräuchlichen disjunktiven Formulierung aus, es komme auf die Umstände an, die dem Empfänger „bekannt oder erkennbar“91 sind. „[W]as man erkannt hat, konnte man auch erkennen.“92 cc) Lösung bei der Ausdeutung des Auslegungsmaterials? Ein Scheinproblem wäre das exorbitante Sonderwissen, wenn es aus einem anderen Grund keine Auswirkung auf die Auslegung hätte. In diese Richtung argumentiert Seifert am Beispiel der Waschfrau, die eine Äußerung des Erklärenden zum Emp­ fänger weiterträgt. Der Empfänger dürfe sich dann auf den Standpunkt stellen, ihn 89 

Lehmann/Hübner, AT (1966), 211 (Sperrungen übernommen). Looschelders, in: NK‑BGB (2012), §  133 Rn.  48. 91  BGH, Urteil vom 5.10.2006, NJW 2006, 3777 Tz.  18. So auch Busche, in: MünchKomm­BGB (2015), §  133 Rn.  28; Leenen, FS Prölss (2009), 153 (169). 92  Wolff, JherJb 81 (1931), 53 (144). 90 Siehe

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§  14 Das Problem des exorbitanten Sonderwissens

gehe nur an, was der Erklärende ihm gesagt habe. Er könne schließlich nicht wissen, ob der Erklärende seine Äußerung verbreitet hat, um anderen gegenüber [s]eine wahren Absichten zu verbergen.93 Diesen Gedanken verallgemeinernd könnte vorgebracht werden, exorbitantes Sonderwissen sei bei objektiver Betrachtung ohnehin keine verlässliche Quelle zur Ermittlung des Erklärendenwillens, aus der der Empfänger irgendwelche Schlüsse ziehen könne, selbst wenn es als ihm bekannt in den objektiven Empfängerhorizont einfließt. Es gebe viele Gründe, warum eine Äußerung gegenüber Dritten oder eine Aufzeichnung des Erklärenden, von der der Empfänger Kenntnis bekommen hat, auf einen anderen Willen hindeutet. Nicht zuletzt kann bei der Nebenäußerung ein Irrtum unterlaufen sein. Es sei daher unschädlich, das exorbitante Sonderwissen in den Empfängerhorizont einzubeziehen. Es werde dann zwar nicht schon bei der Abgrenzung des Auslegungsmaterials herausgefiltert, dafür aber im zweiten Schritt bei der Ausdeutung dieses Materials, da nach den dafür maßgeblichen Grundsätzen exorbitantes Sonderwissen schlicht unergiebig sei und der Empfänger sich daher nie darauf verlassen dürfe. Dieser Gedankengang überzeugt indes nicht. Dem exorbitanten Sonderwissen kann zwar im Einzelfall aufgrund ersichtlicher Unzuverlässigkeit jeglicher In­ dizwert fehlen. So etwa, wenn die Waschfrau als notorische Lügnerin bekannt ist und auf ihr Wort deshalb kein Verlass ist, oder auch, wenn der Charakter der weiter­ geleiteten Nebenäußerung als wahrheitswidrige Beschwichtigung eines Dritten of­ fensichtlich ist. Aber so muss es nicht sein. Auslegungsmaterial ist nicht per se un­ zuverlässig und deshalb unergiebig, nur weil es den Empfänger auf Umwegen zufäl­ lig erreicht. Eine völlig unverfängliche Äußerung in einem an einen Dritten gerichteten Brief oder eine eigene Aufzeichnung des Erklärenden kann ein gewich­ tiges Indiz für einen abweichenden Willen sein und die spätere rechtsgeschäftliche Äußerung in einem völlig neuen Licht erscheinen lassen. Derartige Indizien für den Willen des Erklärenden würde ein Richter als Beweismittel zum Nachweis des wirklichen Willens im Rahmen der §§  118, 119 I, 120 BGB akzeptieren. Es ist nicht einzusehen, warum derartige Schlüsse im Rahmen der Auslegung wegen des angeblich fehlenden Indizwerts nicht möglich sein sollten. Die Anforderungen an die Verlässlichkeit eines Umstands dürfen zudem nicht ad hoc künstlich in die Höhe geschraubt werden, nur um das Problem des exorbitanten Sonderwissens auf der Deutungsebene zu lösen. Exorbitantes Sonderwissen muss, um einen Effekt bei der Auslegung zu haben, dem Empfänger ebenso wenig letzte Sicherheit über das wirklich Gewollte vermitteln, wie dies bei sonstigem Ausle­ 93  Seifert, Falsa demonstratio (1929), 88 am Beispiel der Waschfrau, die Äußerungen des Er­ klärenden an Dritte weiterträgt. Seifert erkennt nicht, dass dieses Argument nicht die Abgrenzung des verwertbaren Auslegungsmaterials, sondern die Ausdeutung des Auslegungsmaterials betrifft und sich mit ihm folglich eine Modifikation der Erkennbarkeitsformel nicht begründen, sondern im Gegenteil bestenfalls die Relevanz des Exorbitanzproblems für die Lehre vom objektiven Emp­ fängerhorizont bezweifeln lässt.

III. Die tatbestandliche Abgrenzung des exorbitanten Sonderwissens

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gungsmaterial der Fall ist. Es genügt, wenn es begründete Zweifel sät, ob das aus­ zulegende Verhalten in seinem üblichen Wortlaut den wirklichen Willen des Erklä­ renden zum Ausdruck bringt94. Falls sich nicht klären lässt, ob ein Irrtum vorliegt oder nicht, er aber hinreichend nahe liegt, gilt die Erklärung zwar nicht „eindeutig“ im Sinne des durch das Sonderwissen indizierten Sinnes, wäre aber doch zumindest mehrdeutig oder perplex und deshalb aufgrund ihrer Unbestimmtheit unwirksam. Dies allein würde aber schon genügen, die desorientierende Wirkung des exorbitan­ ten Sonderwissens auszulösen, da dem Erklärenden die Unbestimmtheit seiner Äu­ ßerung im Entdeckungsszenario nicht erkennbar wäre und ihn ebenfalls überra­ schen würde. dd) Zwischenergebnis Das Problem des exorbitanten Sonderwissens lässt sich nicht auf anderem Wege lösen als durch eine von der herrschenden Erkennbarkeitsformel abweichende Ab­ grenzung des objektiven Empfängerhorizonts.

III. Die tatbestandliche Abgrenzung des exorbitanten Sonderwissens Zur Behandlung des Exorbitanzproblems genügte es bis hierher, es anhand einiger Beispiele zu veranschaulichen. Eine Korrektur der Erkennbarkeitsformel erfordert aber eine nähere Umschreibung, wo die Grenze zwischen dem verwertbaren norma­ len Wissen und dem unverwertbaren exorbitanten Sonderwissen des Empfängers verläuft. Dies gestaltet sich durchaus kompliziert. Im Folgenden sollen zunächst das hier für maßgeblich gehaltene „Exorbitanzkriterium“ (unter 1.) und die ausschlag­ gebende Beurteilungsperspektive untersucht werden (unter 2.). Abschließend ist die Überzeugungskraft der dadurch gewonnenen „neuen Formel“ im Hinblick auf den sog. Schraubeneinwand zu überprüfen, der in der historischen Diskussion der Pro­ blematik schon eine gewisse Rolle gespielt hat unter den Gesichtspunkten, ob diese Formel theoretisch schlüssig (unter 3.) und praktikabel ist (unter 4.).

1. Das maßgebliche Exorbitanzkriterium: Umstände, mit deren Erkennbarkeit der Erklärende bei Zugang nicht „rechnen muss“ Das hier für maßgeblich gehaltene Exorbitanzkriterium ist unter II 2 bereits mehr­ fach angeklungen. Exorbitantes Sonderwissen bedarf einer Sonderbehandlung bei 94 Vgl. Welser, JBl 1974, 79 (83), der zum österreichischen Recht entsprechend §  863 I ABGB ausführt, es liege keine Erklärung vor, wenn „ein vernünftiger Grund zu Zweifeln übrig ist, ob das Zurechnungssubjekt eine Erklärung abgeben wollte“. Dies dürfte im BGB, auch wenn hier eine ausdrückliche gesetzliche Regelung fehlt, nicht anders zu beurteilen sein.

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§  14 Das Problem des exorbitanten Sonderwissens

der Auslegung, soweit der Erklärende das Vorliegen dieses Auslegungsmaterials beim Empfänger nicht überblicken kann und deshalb von der unter Berücksichti­ gung dieses Materials ermittelten Erklärungsbedeutung überrascht würde. Das Ori­ entierungsinteresse des Erklärenden ist gefährdet durch alle Umstände, mit deren Erkennbarkeit der Erklärende nicht rechnen muss. Letzte Sicherheit oder gar Kenntnis des Erklärenden von der Erkennbarkeit des Umstandes für den Empfänger ist nicht erforderlich.95 Wenn der Erklärende Grund zum Zweifeln hat, ob der Empfänger von einem bestimmten Umstand Kenntnis erlangt hat oder nicht, kann er dies rechtzeitig vor Vornahme des Rechts­ geschäfts durch eine Nachfrage klären oder hat in seiner Erklärung für eine entspre­ chende Klarstellung zu sorgen, die hieran jeden Zweifel beseitigt. Dies ist insbeson­ dere bei vorangegangenen werblichen Äußerungen des Erklärenden in Form von Prospekten, Werbeflyern oder ähnlichem relevant. Der Erklärende mag im Unkla­ ren darüber sein, ob der konkrete Empfänger diese Informationen tatsächlich erhal­ ten hat und sie für ihn erkennbar sind. Das Risiko der Ungewissheit über das Vorlie­ gen solcher Umstände hat er aber durch seine Werbemaßnahme selbst auf sich ge­ nommen. Will er hier sichergehen, welcher Informationsstand gilt, so kann er die Informationen gegenüber dem Empfänger bei Vornahme des Geschäfts noch ein­ mal wiederholen oder sich deren Vorliegen oder Nichtvorliegen bestätigen lassen. So wäre auch der von Titze diskutierte Madeira-Fall96 zu lösen. Wenn der Gastwirt in seiner Gastwirtschaft ein Getränk unter einem besonderen Namen anbietet, hat er beim Besuch durch Auswärtige allen Anlass nachzufragen, ob sie in die beson­ deren Madeiraverhältnisse seines Ladens eingeweiht sind. Herauszufiltern sind durch das „Rechnenmüssen“ im Ergebnis lediglich die (praktisch seltenen) Umstände, bei denen es für den Erklärenden von vornherein völlig fernliegt, sie könnten für den Empfänger erkennbar geworden sein. In den bereits genannten Beispielen für exorbitantes Sonderwissen ist dies der Fall: Der Erklärende kann nicht ahnen, dass die Waschfrau die Äußerung weiterträgt, ein Dritter einen Brief weiterleitet oder der Empfänger so indiskret ist, Aufzeichnungen des Erklärenden heimlich einzusehen. Eine trotzdem sicherheitshalber an den Emp­ fänger gerichtete Nachfrage, ob dies geschehen sei, würde hier regelmäßig nur Kopfschütteln beim Empfänger auslösen – und zwar nicht nur zur Signalisierung der Unkenntnis, sondern auch des Erstaunens darüber, dass der Erklärende eine solche fernliegende „zufällige“97 Verkettung von Umständen oder eine Indiskre­tion 95  A. A. Henle, GgA 170 (1908), 427 (469): „Der Sinn der Erklärung bestimmt sich nur nach solchen Umständen, (…) in Ansehung deren der Erklärende weiß, daß sie der Empfänger kennt oder kennen muss (…)“ (Hervorhebung hinzugefügt). Vgl. auch ders., JDR IX (1913), 40 (§  122 BGB Nr.  2). 96  Dazu unter II 1 c. 97  Scherner, AT (1995), 95, 175 stellt nur allgemein auf die Zufälligkeit der Kenntnis des Empfängers ab. Das ist farblos, weil unklar bleibt, was Zufälligkeit hier meint, und scheint auch nicht recht zu den Fällen zu passen, in denen sich der Empfänger das Auslegungsmaterial durch Indiskretion selbst gezielt verschafft hat.

III. Die tatbestandliche Abgrenzung des exorbitanten Sonderwissens

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des Empfängers überhaupt in Erwägung zieht. Der Erklärende muss dann nicht da­ mit rechnen, dass sein Wille durchschaubar ist. Bei dem „Rechnenmüssen“ handelt sich um einen unbestimmten, wertungsoffe­ nen Begriff, der weiterer Konkretisierung im Einzelfall bedarf. Das spricht aber m.E. nicht gegen seine Tauglichkeit im vorliegenden Zusammenhang. Angesichts der Vielgestaltigkeit denkbarer Konstellationen ist mehr als eine recht abstrakte Grenzziehung nicht möglich. Es verhält sich nicht anders als mit dem allgemein akzeptierten „Erkennbarkeitskriterium“ auf Empfängerseite. Die Beantwortung der Frage, ob ein dem Empfänger unbekannter Umstand trotzdem „erkennbar“ war, wirft strukturell ähnliche Zweifel auf wie diejenige, ob der Erklärende mit dem Vorliegen eines bestimmten Umstands beim Empfänger rechnen musste. Der entscheidende Zeitpunkt für die Bestimmung das „Rechnenmüssens“ ist der­ jenige des Wirksamwerdens der Erklärung, d. h. des Zugangs. Wenn der Erklärende danach davon erfährt, ein Umstand liege entgegen aller Erwartung dem Empfänger doch vor, darf dies für die Auslegung keine Rolle mehr spielen, um ein möglicher­ weise zwischenzeitlich schon entstandenes Vertrauen des Erklärenden98 auf die ohne das exorbitante Sonderwissen ermittelte Erklärungsbedeutung zu schützen. Auch der für die Voraussetzungen auf Seiten des Erklärenden ansonsten maßgebli­ che Abgabezeitpunkt ist nicht entscheidend. Es geht nicht um die Steuerbarkeit des Erklärungsvorgangs, für die der Abgabezeitpunkt relevant wäre, sondern um die Verstehbarkeit der Erklärungsbedeutung, die sich der Erklärende auch im Nach­ hinein soll erschließen können. Vertrauen auf eine bestimmte Erklärungsbedeutung kann der Erklärende jedoch frühestens mit ihrem Wirksamwerden – es genügt da­ her, wenn er bei Zugang mit dem Vorliegen eines Umstandes beim Empfänger rech­ nen muss, selbst wenn dies bei Abgabe der Erklärung noch nicht der Fall war.

2. Die maßgebliche Beurteilungsperspektive – Entscheidung bei konfligierenden Orientierungsinteressen der Beteiligten Von der Wahl des richtigen Exorbitanzkriteriums ist die Wahl der maßgeblichen Beurteilungsperspektive zu unterscheiden. Aus wessen Sicht (d. h. auf welcher In­ formationsgrundlage) bestimmt sich, ob der Erklärende mit der Erkennbarkeit des Auslegungsmaterials für den Empfänger rechnen muss? Theoretisch kommt eine Beurteilung der Exorbitanz aus Sicht des Empfängers oder aus Sicht des Erklären­ den oder eine Kombination beider Kriterien in Betracht. Der Sache nach geht es an dieser Stelle um die Entscheidungskriterien für Fälle, in denen die Orientie­r ungs­ interessen der Beteiligten einmal aus tatsächlichen Gründen in einen unauflösbaren Konflikt geraten.

98 

Zum Vertrauen des Empfängers noch unter 2.

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§  14 Das Problem des exorbitanten Sonderwissens

Die Exorbitanz aus Sicht des Erklärenden zu bestimmen hieße, einen dem Emp­ fänger vorliegenden Umstand bei der Auslegung unberücksichtigt zu lassen, wenn der Erklärende mit seinem Vorliegen beim Empfänger tatsächlich nicht rechnen muss (tatsächliche Exorbitanz). Dadurch würde das Orientierungsinteresse des Er­ klärenden vollumfänglich verwirklicht. Dies ginge jedoch zu Lasten des Empfän­ gers, der nicht unbedingt über die erforderlichen Informationen verfügt, die für die Beurteilung der tatsächlichen Exorbitanz erforderlich sind. Leitet beispielsweise der Dritte einen Brief des Erklärenden an den ihm zufällig bekannten Empfänger weiter und erzählt hiervon wiederum dem Erklärenden99, so muss zwar der Erklä­ rende tatsächlich mit dem Vorliegen des Briefes rechnen, doch dies ist dem Emp­ fänger solange nicht erkennbar, wie er nicht selbst auch von der Mitteilung der Wei­ terleitung erfahren hat.100 Tatsächliche Exorbitanz als Kriterium der normativen Auslegungsmethode wäre mit anderen Worten eine problematische Durchbrechung der Empfängerperspektive, durch die außerhalb des Gesichtskreises des Empfän­ gers liegende Informationen Einfluss auf die Bestimmung des Erklärungssinns ge­ winnen könnten. Dies verstößt gegen das aus dem Zugangserfordernis folgende Gebot, nur für den Empfänger erkennbare Informationen bei der Auslegung heran­ zuziehen. Wollte man den Empfänger hiervor schützen, indem man über die tatsächliche Exorbitanz hinaus kumulativ nun auch noch die Erkennbarkeit der tatsächlichen Exorbitanz für den Empfänger verlangte (erkennbare Exorbitanz), so wäre damit für den Empfänger wenig gewonnen. Der Empfänger kann niemals sicher sein, ob die Informationslage des Erklärenden, wie sie sich für ihn (den Empfänger) dar­ stellt, der tatsächlichen Informationslage des Erklärenden entspricht. Er weiß des­ halb nie sicher, ob er selbst alle Informationen hat, deren es zur Beurteilung der tatsächlichen Exorbitanz bedarf. Ebenso wie der Empfänger immer nur vom vermeintlichen Willen des Erklärenden ausgehen kann, ohne sich dessen Übereinstim­ mung mit dem tatsächlichen Willen gewiss sein zu können, kann er auch immer nur von der vermeintlichen Exorbitanz eines Umstands ausgehen, ohne sich der tatsächlichen Exorbitanz gewiss sein zu können. „Erkennbare Exorbitanz“ als Selek­ tions­k riterium ließe daher Raum für unliebsame Überraschungen, falls der Erklä­ rende später belegen kann, er habe entgegen dem objektiv berechtigten Eindruck, den der Empfänger nach den ihm zur Verfügung stehenden Informationen gewin­ nen musste, tatsächlich doch mit dem Vorliegen eines Umstandes beim Empfänger rechnen müssen. Um die Desorientierung des Empfängers zu vermeiden, darf es somit weder auf tatsächliche noch auf erkennbare Exorbitanz ankommen, sondern ausschließlich auf 99 

Beispiel bei Henle, GgA 170 (1908), 427 (469). F. Leonhard, AcP 120 (1922), 14 (71): „Der Erklärer weiß vielleicht nichts davon, daß der Empfänger etwas so nebenher vernommen hat – und wenn er es weiß, so ist das etwa wieder dem Empfänger unbekannt.“ 100 Vgl.

III. Die tatbestandliche Abgrenzung des exorbitanten Sonderwissens

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die vermeintliche Exorbitanz aus Empfängersicht.101 Entscheidend ist allein, ob es für den Empfänger so aussieht, als müsse der Erklärende mit der Erkennbarkeit des Umstandes für ihn (den Empfänger) rechnen. Darin liegt eine Schranke des Schutzes des Orientierungsinteresses des Erklären­ den, der sich nicht darauf berufen kann, er habe mit der Erkennbarkeit des Umstan­ des tatsächlich rechnen oder nicht rechnen müssen, falls der Empfänger aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Informationen zum gegenteiligen Ergebnis kom­ men musste. Das Orientierungsinteresse des Erklärenden wird nicht um jeden Preis geschützt, sondern nur soweit der Empfänger im Rahmen der ihm zur Verfügung stehenden Informationen darauf Rücksicht nehmen kann. Dem Erklärenden noch weiter entgegenzukommen würde gegen den Schutzzweck des Zugangserfordernis­ ses verstoßen, aus dem folgt, dass zur Abgrenzung des Auslegungsmaterials aus­ schließlich für den Empfänger erkennbare Informationen herangezogen werden dürfen. Das gilt auch bei der „Exorbitanzprüfung“, für die ebenfalls keine Informa­ tionen verwertet werden dürfen, über die der Empfänger nicht verfügt. Der Zuge­ winn an Orientierungssicherheit für den Erklärenden bleibt trotz der Beschränkung auf vermeintliche Exorbitanz beträchtlich, weil der Empfänger dadurch immerhin gezwungen ist, im Rahmen der ihm zur Verfügung stehenden Informationen die Exorbitanz zu berücksichtigen. Nach der heute anerkannten Erkennbarkeitsformel dürfte er einfach darüber hinwegsehen. In Anlehnung an einen Formulierungsvorschlag Henles102 ergibt sich aus alle­ dem die folgende modifizierte Formel zur Abgrenzung des verwertbaren Ausle­ gungsmaterials: Auslegungsmaterial sind alle die und nur die Umstände, welche dem Empfänger bei Zu­ gang103 der Erklärung erkennbar waren und von denen er auch annehmen musste, der Erklärende müsse mit ihrem Vorliegen bei ihm (dem Empfänger) rechnen.

101  So geht auch Henle, GgA 170 (1908), 427 (469 f.) vor, der auf der Basis seines Exorbitanz­ kriteriums (= „Kenntnis“, statt wie hier „Rechnenmüssen“) ebenfalls den „Standpunkt des Emp­ fängers“ für maßgeblich hält: „Und zwar wird es dabei belanglos sein müssen, ob wirklich der Erklärende diese Erkennbarkeit kannte oder ob nur der Empfänger das annehmen mußte.“ Vgl. ferner ders., Lb. I (1926), 72 f. Lüderitz, Auslegung (1966), 285 geht deshalb zu Unrecht davon aus, Henle verlange tatsächli­ che Kenntnis vom Vorliegen des Umstandes auf Seiten des Erklärenden (die von Lüderitz, a. a. O. in Fn.  14 angeführten Fundstellen sind unergiebig bzw. bringen das Gegenteil zum Ausdruck) und kommt so zu der unbegründeten Annahme, in Henles System bedinge „jede Kenntnis des einen Teils eine ebensolche des anderen“, weil auch der Gegner von der Kenntnis des anderen Kenntnis haben müsse. 102  GgA 170 (1908), 427 (470): „Auslegungsmittel sind hiernach alle die und nur die Umstände, welche dem Empfänger beim Zugang der Erklärung erkennbar waren und von denen er fernerhin annehmen mußte, daß ihr Vorliegen bei ihm (dem Empfänger) dem Erklärenden bekannt sei.“ Siehe auch ders., in: JDR IX (1913), 40 (§  122 BGB Nr.  2): „Nicht alle für den Erklärungsempfänger zugänglichen Umstände sind für den Sinn der Erklärung maßgebend, sondern nur diejenigen, von denen ihm ferner zugänglich ist, daß der Erklärende von ihrer Zugänglichkeit wisse.“ 103  Von der Berücksichtigung der hier unter §  13 V 2 herausgearbeiteten Möglichkeit der Be­

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§  14 Das Problem des exorbitanten Sonderwissens

3. Die theoretische Schlüssigkeit der hier vertretenen Abgrenzungsformel – Der „Schraubeneinwand“ Die gefundene Lösung ist noch gegen einen denkbaren Einwand zu verteidigen, der die Schlüssigkeit der vorgeschlagenen Abgrenzungsformel betrifft und in der histo­ rischen Diskussion schon angeklungen ist. In der gerade eingeführten Form ist die vorgeschlagene Formel zweistufig. Die erste Stufe betrifft die Erkennbarkeit des Umstandes für den Empfänger, die zweite Stufe den Eindruck, den der Empfänger davon gewinnen muss, ob der Erklärende mit dem Vorliegen des Umstandes beim Empfänger rechnen muss. Schematisiert lässt sich die Formel daher auch wie folgt darstellen: Ein Umstand ist verwertbar, wenn bei Zugang der Erklärung [1.] für den Empfänger dieser Umstand erkennbar ist + [2.] aus Sicht des Empfängers der Erklärende mit 1. rechnen muss.

Der Grund für die Hinzufügung der zweiten Stufe ist die Rücksichtnahme auf die Verständnismöglichkeiten des Erklärenden, soweit dies die Informationslage des Empfängers gestattet. Doch dies wirft die Frage auf, warum es mit der zweiten Stufe sein Bewenden haben soll. Ebenso wenig, wie der Erklärende mit der Erkenn­ barkeit des Umstands für den Empfänger (1. Stufe) rechnen muss, muss er womög­ lich damit rechnen, auch sein Rechnenmüssen (2. Stufe) sei für den Empfänger er­ sichtlich. Auch die auf der zweiten Stufe gewonnene Erkenntnis könnte schließlich auf exorbitantem Sonderwissen des Empfängers beruhen. Die Sachlogik des hier gewählten Ansatzes scheint die Hinzufügung einer dritten Stufe zu erzwingen, auf der danach zu fragen wäre, ob der Erklärende damit rechnen muss, für den Empfän­ ger sei sein „Rechnenmüssen“ mit der Erkennbarkeit des Umstandes erkennbar. Und auch dann scheint kein Halten möglich, so dass sich an die dritte Stufe unendlich viele weitere Stufen anschließen, die der Formel schließlich folgende Fassung geben: Ein Umstand ist verwertbar, wenn bei Zugang der Erklärung [1.] für den Empfänger dieser Umstand erkennbar ist + [2.] aus Sicht des Empfängers der Erklärende mit 1. rechnen muss + [3.] aus Sicht des Empfängers der Erklärende mit 2. rechnen muss + … [n.] aus Sicht des Empfängers der Erklärende mit n – 1 rechnen muss.

An dieser letzten Variante setzt der hier zu überprüfende Einwand an: Die Formel sei eine praktisch unbrauchbare – weil nie ein definitives Ergebnis produzierende rücksichtigung nachträglich erkennbar gewordenen Auslegungsmaterials wird hier bei Fassung der Formel abgesehen.

III. Die tatbestandliche Abgrenzung des exorbitanten Sonderwissens

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– „Schraube ohne Ende“104, der man sich bestenfalls durch einen unmotivierten Abbruch105 entziehen könne, der den gedanklichen Grundansatz preisgibt. Der Schraubeneinwand erweist sich indes bei näherer Betrachtung als unbegrün­ det. Es bedarf keines unmotivierten Abbruchs, um die Funktionstüchtigkeit der Formel zu retten, sondern das Problem löst sich aus tatsächlichen Gründen gewis­ sermaßen von selbst. Warum dies der Fall ist, lässt sich am besten anhand von Bei­ spielen veranschaulichen. Zunächst sei an eine für die Auslegung ergiebige Bemerkung des Erklärenden während der Vorverhandlungen gedacht – also einen nicht exorbitanten Umstand, an dessen Einbeziehung in die Auslegung im Ergebnis keine berechtigten Zweifel bestehen dürften. Die hier vorgeschlagene Formel müsste versagen, wenn der Schraubeneinwand zuträfe. Die Formel führt aber zu einem eindeutigen Ergebnis. Die Bemerkung ist für den Empfänger erkennbar (positives Ergebnis auf der 1. Stufe) und der Empfänger darf auch davon ausgehen, der Erklärende müsse mit dieser Erkennbarkeit rechnen (positives Ergebnis auf der 2. Stufe), weil sich dies aus den Umständen der damaligen Mitteilung ergibt und das Gegenteil indizierende Informationen nicht vorhanden sind. Auf einer gedachten dritten Stufe bliebe im Sinne des Schraubeneinwands nur zu klären, ob es für den Empfänger so aussieht, als müsse der Erklärende damit rechnen, es sehe für den Empfänger so aus, als müsse der Erklärende mit der Erkennbarkeit der Bemerkung rechnen. Will der Empfänger auch diese Frage beantworten, bleibt ihm nichts anderes übrig, als alle für ihn erkennbaren Informationen zusammenzutragen, die ihm diese Frage beant­ worten können. Ihm steht im konkreten Fall aber nicht mehr an Informationen zur Verfügung, als er bereits auf der vorangegangen Stufe ausgewertet hat. Er kann nur wiederum die für ihn erkennbaren Umstände, unter denen die Bemerkung gefallen ist, heranziehen und aus ihnen schließen, der Erklärende müsse deshalb auch damit rechnen, für ihn (den Empfänger) sehe es so aus, als müsse der Erklärende damit rechnen, für ihn (den Empfänger) sei die Bemerkung erkennbar gewesen. Mangels 104  F. Leonhard, AcP 120 (1922), 14 (134), der diesen Einwand in der historischen Diskussion gegenüber Henle erhebt. F. Leonhard leitete das Problem freilich daraus her, bei Henles Lösung „müsste nun auch noch der Erklärer wieder wissen, daß alles dies dem Empfänger bekannt war – also eine Schraube ohne Ende!“ Doch ein endloses wechselseitiges Abstellen auf tatsächliche Kenntnis, das auch Lüderitz, Auslegung (1966), 285 für eine Konsequenz von Henles Ansatz hält, ist ersichtlich unvereinbar mit Henles – auch hier unter 2. vertretenen – Festlegung auf den Emp­ fängerstandpunkt (Nachw. in Fn.  101). Henle, Lb. I (1926), 73 bei und in Fn.  28 und Rhode, Wil­ lens­erklärung (1938), 48 verwahrten sich dementsprechend gegen den Schraubeneinwand. Dessen sachlicher Kern hätte freilich auch ohne die Fehlrezeption der Lehre Henles Bestand, da F. Leonhard mit dem hier im Text in den Raum gestellten Gedankengang auch hätte einwenden können, Henle müsse konsequenterweise auch noch auf unendlich vielen weiteren Folgestufen fragen, ob der Empfänger annehmen musste, der Erklärende wisse um das Ergebnis der vorangegangenen Stufe. 105  So der Vorwurf von Lüderitz, Auslegung (1966), 285 in Fn.  16 gegenüber der Lehre Henles, die er unzutreffend (s.o. in Fn.  101) als eine Kette wechselseitiger Verweisungen auf die tatsächli­ chen Kenntnisse der Beteiligten rezipiert (zudem ist der a. a. O. gegebene Verweis auf Henle, Vor­ stellungs- und Willenstheorie [1910], 200 unergiebig).

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§  14 Das Problem des exorbitanten Sonderwissens

Verbreiterung der Informationsbasis des auf der dritten Stufe gewonnenen Urteils, muss das Ergebnis dort genauso ausfallen wie auf der zweiten Stufe. Wer jetzt sogar noch eine vierte Stufe anschließen wollte, könnte auch hier nicht anders entscheiden als auf der dritten Stufe, denn es stehen auch hier dem Empfänger nicht mehr Infor­ mationen zur Verfügung, als bereits verarbeitet wurden. Der Fragereigen gelangt also stets an sein Ende, sobald dem Empfänger auf einer Folgestufe nicht mehr Informationen zur Verfügung stehen und von ihm verwertet werden können, als bereits auf der vorangegangenen Stufe berücksichtigt wurden. Die Folgestufe kann dann das Vorgehen auf der vorangegangenen Stufe lediglich wiederholen und wäre letztlich mit ihr identisch. Das Gesamtergebnis ist dann ein­ deutig. Für die Eröffnung einer weiteren Stufe besteht nur dann Anlass, wenn die Exor­ bitanzprüfung zusätzliche Informationen berücksichtigt und sich dadurch die Infor­ mationsbasis des Auslegungsvorgangs insgesamt verbreitert. Dann, aber auch nur dann, ist es zum Schutz des Orientierungsinteresses des Erklärenden sinnvoll, auch noch zu untersuchen, ob der Erklärende aus Sicht des Empfängers mit dem Ergebnis der vorangegangen Stufe rechnen muss, denn die dort zusätzlich herangezogenen Informationen könnten exorbitant sein und dem Erklärenden die Einsicht in den rechtsmaßgeblichen Sinn der Erklärung nehmen, der schließlich von der Exor­ bitanzprüfung abhängt. Solche Fälle sind denkbar, wenngleich unwahrscheinlich. Als Beispiel kann folgende Abwandlung des Briefweiterleitungs-Falls dienen: Der Dritte, der einen Brief des Erklärenden an den mit ihm zufällig bekannten Emp­ fänger weitergeleitet hat, teilt dem Erklärenden mit, er habe den Brief weitergeleitet und berichtet anschließend sogar noch dem Empfänger, er habe den Erklärenden über die Weiterleitung informiert.106 Hier ist der auf seine Verwertbarkeit für die Auslegung überprüfte Brief für den Empfänger erkennbar (positives Ergebnis auf der 1. Stufe) und der Empfänger darf auch davon ausgehen, der Erklärende wisse um das Vorliegen des Briefes bei ihm (positives Ergebnis auf der 2. Stufe). Im Un­ terschied zur vorangegangenen Konstellation hat der Empfänger zur Beantwortung der zweiten Stufe indes eine zusätzliche Information verwertet. Er hat auch die Mit­ teilung des Dritten berücksichtigt, derzufolge der Erklärende über die Weiterleitung des Briefes informiert wurde. Erst dieses Sonderwissen versetzte ihn in die Lage, die Exorbitanz auf der zweiten Stufe zu verneinen. Hier ist es sinnvoll, nun auch noch danach zu fragen, ob der Erklärende (aus Empfängersicht) damit rechnen musste, der Erklärende werde von der Weiterleitung informiert werden. Unabhängig vom Ergebnis dieser Prüfung107 wird sich aber auch dann eine wei­ tere Exorbitanzprüfung (auf weiteren Stufen) schnell als sinnlos erweisen. Dem 106 Vgl. Henle, GgA 170 (1908), 427 (469), wo der Dritte den Empfänger allerdings nicht über die Weiterleitungsmitteilung informiert. 107  Im Ergebnis dürfte der Erklärende mit einer entsprechenden Mitteilung wohl rechnen müs­ sen, da er aufgrund der Weiterleitungsmitteilung von dem Kontakt des Dritten mit dem Empfänger weiß, und deshalb Anlass hat, mit weiteren Kommunikationsvorgängen zwischen den Beteiligten

III. Die tatbestandliche Abgrenzung des exorbitanten Sonderwissens

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Empfänger werden schon bald keine weiteren Informationen mehr zur Verfügung stehen. Dieser Punkt wird unweigerlich (meist schon nach kurzer Zeit) erreicht. Dies folgt nicht aus der kaum belegbaren metaphysischen These der Endlichkeit aller insgesamt verfügbaren Informationen. Entscheidend ist vielmehr, dass die Summe der im vorliegenden Zusammenhang rechtlich relevanten Informationen von vornherein dadurch stark begrenzt ist, dass nur die für den Empfänger „erkenn­ baren“ Informationen verwertet werden dürfen. Die Endlichkeit des Informations­ bestands des verobjektivierten Empfängers setzt auch der angeblichen „Schraube ohne Ende“ ein Ende und ermöglicht so, eine definitive und eindeutige Lösung mit der hier vorgeschlagenen Formel zu finden.

4. Der pragmatische Einwand fehlender Praktikabilität Vorsorglich sei noch auf den an dieser Stelle erwartbaren pragmatischen Einwand entgegnet, die vorgeschlagene Form der Abgrenzung des Auslegungsmaterials sei „kompliziert und unpraktikabel“108. Vordergründig ist es sicherlich einfach, die Praxistauglichkeit der vorgeschlagenen Lösung in Frage zu stellen, sie vielleicht sogar ins Lächerliche zu ziehen unter Hinweis auf die Überforderung eines Emp­ fängers, der sich dann bei jeder Auslegung fragen müsse, ob der Erklärende damit rechnen muss, der Empfänger müsse davon ausgehen, der Erklärende müsse damit rechnen … etc. Dies würde dem hiesigen Vorschlag aber m.E. kaum gerecht. Das theoretische Modell sieht weitaus komplizierter aus, als sich die Anwendung gestal­ tet, falls das Problem des exorbitanten Sonderwissens einmal praktisch wird. Im Normalfall der Auslegung ohne exorbitantes Sonderwissen wird zu Recht niemand Anlass haben, in Erwägungen zum Umgang mit der Exorbitanz einzutreten. Sollte es aber tatsächlich einmal auftreten, so würde in der Realität und bei der Rechtsan­ wendung auch dem Empfänger ins Auge springen, dass der Erklärende mit dem Vorhandensein dieser Informationen nicht rechnen kann und deshalb auch dessen Interessensphäre berührt ist, wenn diese Informationen den Erklärungssinn beein­ flussen könnten. Die hier vorgeschlagene Formel hält dann eine Lösung zur Risiko­ verteilung bereit.

zu rechnen. Es sollen schließlich ausschließlich solche Geschehensverläufe für die Auslegung un­ maßgeblich sein, die der Erklärende (aus Sicht des Empfängers) nicht in Betracht zu ziehen hatte (siehe unter 1.). 108  Vgl. die Kritik von Lüderitz, Auslegung (1966), 285 an der von ihm fehlrezipierten Lehre Henles. Lüderitz erhebt den pragmatischen Einwand explizit neben dem Vorwurf der theoretischen Unvollendetheit des Systems.

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§  14 Das Problem des exorbitanten Sonderwissens

IV. Die Rechtsfolgen des exorbitanten Sonderwissens Es bleiben noch die Rechtsfolgen des exorbitanten Sonderwissens zu untersuchen.

1. Unerheblichkeit des exorbitanten Sonderwissens für die normative Auslegung der Erklärung nach dem objektiven Empfängerhorizont Die wichtigste Konsequenz der hier vertretenen Lehre ist die Nichtberücksichti­ gung des exorbitanten Sonderwissens bei der normativen Auslegung. Der Erklä­ rung kommt die Bedeutung zu, die ihr ein Empfänger entnehmen muss, der über das exorbitante Sonderwissen nicht verfügt. Sie gilt, wenn ohne das exorbitante Sonderwissen eine bestimmte Erklärung übrig bleibt, als eine nach §§  119 I, 120 BGB anfechtbare Erklärung dieses Inhalts, ansonsten ist sie als unbestimmte Erklä­ rung unwirksam.

2. Ausschluss des Anspruchs auf Vertrauensschadensersatz (§  122 II BGB) Das exorbitante Sonderwissen des Empfängers ist nicht in jeder Hinsicht ohne Wir­ kung. Nur bei der Auslegung und für die Gültigkeit des Rechtsgeschäfts darf es keine Rolle spielen, um den Erklärenden möglichst wenig orientierungslos zu ma­ chen. Beim Empfänger dagegen kann wegen des exorbitanten Sonderwissens ein schutzwürdiges Vertrauen auf den Bestand des normativen Auslegungsergebnisses in den hier interessierenden Fällen109 nicht entstehen.110 Hat er aus seinem Sonder­ wissen den bei sorgfältiger Auslegung gebotenen Schluss gezogen, so „kennt“ er im Sinne von §  122 II Alt. 1 BGB den Grund der Anfechtbarkeit, zieht er den gebotenen Schluss nicht, so „musste“ er doch den Grund der Anfechtbarkeit im Sinne von §  122 II Alt. 2 BGB „kennen“. Im Falle der Anfechtung ist deshalb wegen des exor­ bitanten Sonderwissens der Ersatz von Vertrauensschäden ausgeschlossen.111 Ent­ 109  Fälle, in denen das exorbitante Sonderwissen lediglich einen auch ohne es ermittelbaren Erklärungssinn bestätigt, sind uninteressant. 110  Nur insofern ist Scherner, AT (1995), 95, 175 Recht zu geben. Im Übrigen siehe noch die Kritik unter V 2. 111  So i. E. (bei teilweise abw. Herleitung der Modifikation des Empfängerhorizonts) Henle, GgA 170 (1908), 427 (469); Bading, Willenserklärung (1910), 17 in Fn.  23, 33 in Fn.  48; Titze, Miß­ verständnis (1910), 93 f., 108 in Fn.  3; F. Leonhard, AcP 120 (1922), 14 (119 f., 125, 130 f.); Henle, Lb. I (1926), 223; Seifert, Falsa demonstratio (1929), 90. Vgl. auch Oechsler, Jura 2012, 497 (499), der im Zusammenhang mit §  118 BGB den §  122 II BGB in Fällen für anwendbar hält, „in denen ein objektiver Beobachter die [mangelnde, sic] Ernstlichkeit nicht erkennen konnte, wohl aber der konkrete Empfänger aufgrund eines Sonderwissens um die Absichten des Erklärenden“. Oechsler geht allerdings nicht auf die Vorfrage ein, warum dieses Sonderwissen nicht schon in den objekti­

IV. Die Rechtsfolgen des exorbitanten Sonderwissens

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scheidend für den Eintritt der Ausschlusswirkung ist allein, ob das exorbitante Son­ derwissen dem Empfänger den Irrtum offenbart; ob daraus darüber hinaus auch der wirkliche Wille daraus hervorgeht, ist belanglos. Dieser differenzierte Umgang mit dem exorbitanten Sonderwissen ist sachge­ recht. §  122 II BGB hält den Empfänger hinreichend davon ab, weiter Vertrauens­ dis­positionen zu tätigen und die daraus erwachsenden Schäden auf den Erklärenden abzuwälzen, sobald er um die Störung der Selbstbestimmung des Erklärenden weiß oder sie doch wenigstens erkennen konnte. Gleichzeitig bleibt aber berechtigtes nachträgliches Vertrauen des Erklärenden geschützt, der sich darauf verlassen kann, dass der für ihn unter Außerachtlassung des exorbitanten Sonderwissens erschließ­ bare Sinn vorbehaltlich einer Anfechtung gilt.

3. Potentielle Schadensersatzhaftung des Empfängers wegen Aufklärungspflichtverletzung – zu F. Leonhards „Schadensersatzlösung“ F. Leonhard, der ebenfalls für die Nichtberücksichtigung des exorbitanten Sonder­ wissens bei der Auslegung eintrat, erwog noch eine weitere Konsequenz des exor­ bitanten Sonderwissens.112 Der Empfänger könne deswegen verpflichtet sein, den Erklärenden auf seinen Irrtum hinzuweisen. Ob eine solche Aufklärungspflicht be­ stehe, sei eine Frage des Einzelfalls und bei einseitigen Rechtsgeschäften „nicht immer ebenso anzunehmen“ wie beim Vertragsschluss.113 Regelmäßig bestehe aber eine Aufklärungspflicht. „Irren ist menschlich – daher ist es auch Menschenpflicht aufzuklären.“114 Eine Aufklärungspflicht bestehe aber nur, wenn der Empfänger „arglistig gehandelt hat, also wirklich den richtigen Schluß auf den Willen seines Gegners gezogen hat“115. Der Erklärende könne dann im Wege des Schadensersat­ zes „Berücksichtigung seines eigentlichen Willens fordern“116. Die Erklärung gelte dann nach Wahl des Erklärenden, wie er sie gewollt habe. Dies folge aus dem „bei allen arglistigen Geschäftsschlüssen geltenden (…) Satz, daß der Getäuschte Beach­ tung des ihm vorgetäuschten verlangen darf“117. F. Leonhard gelangt so auf einem ven Empfängerhorizont eingeht und es deshalb auf §  122 II BGB überhaupt ankommt. Im Anwen­ dungsbereich des §  118 BGB stellt sich das Sachproblem der Desorientierung des Erklärenden durch exorbitantes Sonderwissen ohnehin nicht, da der Erklärende in jedem Fall von der (für ihn erkennbaren) Nichtigkeit der Erklärung ausgehen muss (vgl. §  10 Fn.  81). 112  Siehe hierzu insgesamt F. Leonhard, AcP 120 (1922), 14 (121–140). Äußerst knapp ohne Begründung ders., BR (1948), 46 unter III E. 113  F. Leonhard, AcP 120 (1922), 14 (127 f.). 114  F. Leonhard, AcP 120 (1922), 14 (128). 115  F. Leonhard, AcP 120 (1922), 14 (135). Siehe zum Arglisterfordernis zuvor bereits S.  131. 116  F. Leonhard, AcP 120 (1922), 14 (136). So auch ders., BR (1948), 46 unter III E: durch den Schadensersatzanspruch sei „das wirklich Gewollte zur Geltung zu bringen“. 117  F. Leonhard, AcP 120 (1922), 14 (136).

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anderen Begründungsweg als die herrschende Meinung unter Umständen ebenfalls dazu, dass wegen des exorbitanten Sonderwissens die Erklärung im Sinne des Ge­ wollten gilt. F. Leonhards „Schadensersatzlösung“ wurde in der älteren Lehre allgemein „nicht als eine glückliche Lösung“118 angesehen und stieß auf breite Ablehnung.119 Die Kritik ist jedoch nicht in jeder Hinsicht berechtigt. Leonhards Ausgangspunkt, den Empfänger könne eine Aufklärungspflicht treffen, wenn er aufgrund exorbitan­ ten Sonderwissens auf Umwegen von einem Irrtum des Erklärenden erfährt120, überzeugt. Grund zur Auseinandersetzung mit dieser Pflicht haben selbst diejeni­ gen, die der hier vertretenen Modifikation der Erkennbarkeitsformel des objektiven Empfängerhorizonts nicht folgen wollen. Der Empfänger kann schließlich auch erst nach Vornahme des Rechtsgeschäfts vom Irrtum des Gegners erfahren, zu einem Zeitpunkt also, zu dem dieses Wissen bei der normativen Auslegung nicht mehr zu berücksichtigen ist. Ebenso wie auch bei erkannter Unbestimmtheit eine „Anzeige­ pflicht“121 denkbar ist, ist sie dann m.E. auch bei infolge exorbitanten Sonderwis­ sens anfänglich oder nachträglich erkanntem Irrtum möglich. Falls der Empfänger tatenlos zusieht, wie der Erklärende – sei es auch selbstverschuldet – einen unzu­ treffenden Erklärungssinn zugrundelegt, kann dies ein Fall von §  826 BGB sein122 und innerhalb bestehender Sonderbeziehungen eine Verletzung von Loyalitäts- und Rücksichtnahmepflichten aus §  241 II BGB darstellen. Bei letzteren kommt theore­ tisch auch – entgegen F. Leonhard – eine Haftung für bloß fahrlässige oder ander­ weitig zu vertretende Untätigkeit in Betracht (§  280 I 2, 276 BGB). Dabei dürfte aber die Verantwortlichkeit des Erklärenden für seinen eigenen Irrtum das Ver­

118 

Larenz, Methode (1930, 1966), 19. Lehmann/Hübner, AT (1966), 213; Enneccerus/Nipperdey, AT I/2 (1960), 1250 in Fn.  13; Larenz, Methode (1930, 1966), 19 f.; Seifert, Falsa demonstratio (1929), 90 f. Für nicht „einfach“ hält Henle, Lb. I (1926), 73 in Fn.  26 F. Leonhards gesamte Lehre deshalb. 120  Ob der Erklärende tatsächlich irrte, welchen Willen er tatsächlich hatte und ob der Emp­ fänger somit wegen des exorbitanten Sonderwissens tatsächlich den Irrtum bzw. Willen „kennt“, zählt allerdings nicht zu den Voraussetzungen der Aufklärungspflicht. Der Empfänger kann sich immer nur auf der Basis der ihm – sei es auch in Form exorbitanten Sonderwissens – zur Verfü­ gung stehenden Informationen verhalten, die ihm ein Bild vom vermeintlichen Irrtum bzw. ver­ meintlichen Willen des Erklärenden verschaffen. Die tatsächlichen Vorstellungen des Erklärenden sind nur ausschlaggebend dafür, ob der Erklärende aufgrund der unterlassenen Aufklärung tat­ sächlich einen Schaden erleidet oder nicht. 121  Hildebrandt, Erklärungshaftung (1931), 210, der allerdings zu weit geht, wenn er generell bei mehrdeutigen Erklärungen eine solche Anzeigepflicht annimmt. Restriktiver, aber eine solche Pflicht „aus Vertrag oder Vertragsverhandlungen“ für möglich haltend Rhode, Willenserklärung (1938), 44. Hierzu bereits §  6 in Fn.  58. 122 Vgl. Bading, Willenserklärung (1910), der insoweit von einer „wider Treu und Glauben verstoßende[n] Handlungsweise“ und einer „unanständige[n] Verhaltensweise“ spricht. Bading zieht daraus allerdings keine rechtlichen Konsequenzen, hat aber ersichtlich nur die von ihm be­ kämpfte Auffassung der Geltung der Erklärung im Sinne des Gewollten im Blick. 119 Ablehnend

IV. Die Rechtsfolgen des exorbitanten Sonderwissens

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schulden des fahrlässigen Empfängers überwiegen123, so dass die Haftung des Emp­ fängers gem. §  254 I BGB im Umfang stark beschränkt ist. Die primäre Verantwortung des Erklärenden für seine unzureichende Ausdrucks­ weise rechtfertigt es auch, dem Erklärenden das volle Risiko eines vom Empfänger nicht zu vertretenden Misslingens der Aufklärung aufzuerlegen. Geht etwa ein „Aufklärungsbrief“ des Empfängers auf dem Weg zum Erklärenden verloren, muss der Erklärende den Nachteil alleine tragen, den er erleidet, weil er weiter unter dem Eindruck seines Fehlverständnisses Dispositionen trifft.124 Der Empfänger hat dann alles getan, was zumutbarerweise von ihm erwartet werden kann. Abzulehnen ist F. Leonhards Auffassung von den Rechtsfolgen der Aufklärungs­ pflichtverletzung, der Erklärende könne im Wege des Schadensersatzes „Berück­ sichtigung seines eigentlichen Willens fordern“125. Man wird F. Leonhard aller­ dings nicht entgegenhalten können, es handle sich um einen „unnötigen Umweg“126 verglichen mit der Berücksichtigung des Sonderwissens bereits im Rahmen des objektiven Empfängerhorizonts. Wer wie F. Leonhard das Entdeckungsszenario im Blick hat und deshalb meint, man dürfe „den Erklärer nicht wider seinen Willen bei seiner ursprünglichen Absicht festhalten, weil er vielleicht inzwischen seinen Feh­ ler bemerkt hat und sich entschlossen hat, das, was er gesagt hat, einzuhalten“127, muss gerade in dem „Umweg“ einen Vorzug der Schadensersatzlösung gegenüber der herrschenden Lehre sehen. Fließt das exorbitante Sonderwissen in die Ausle­ gung ein, dann kann sich auch der Empfänger darauf berufen; und zwar auch dann, wenn der Erklärende seine missverständliche Ausdrucksweise zwischenzeitlich entdeckt und auf deren Sinn zu vertrauen begonnen hat. F. Leonhards Schadenser­ satzlösung legt es dagegen allein in die Hand des Erklärenden, ob er die Erklärung im Sinne ihres ohne das Sonderwissen bestimmten objektiven Sinns gelten lässt oder über den Schadensersatzanspruch seinen wahren Willen durchsetzt. Letzteren Weg wird er nur wählen, wenn er seinen Irrtum noch nicht entdeckt hatte und noch kein nachträgliches Vertrauen entstanden ist. Dennoch schießt F. Leonhards Lösung auf Rechtsfolgenseite über das Ziel hin­ aus. Der Schädiger hat nach §  249 I BGB lediglich den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre. Die Erklärung würde aber auch im Falle eines Hinweises des Empfängers auf den Irrtum nicht automatisch im Sinne des „eigentlichen Willens“ bei Abgabe gel­ ten.128 Die Aufklärung ist lediglich ein Hinweis auf den Irrtum, sie reformiert aber nicht den Erklärungsinhalt. Das Nichtzustandekommen eines seinem Willen ent­ 123 Siehe

F. Leonhard, AcP 120 (1922), 14 (131). Insofern unterscheidet sich die Bewertung von der unter II 2 d aa diskutierten Pflicht zur Aufklärung über das Vorhandensein des Sonderwissens, die dort als Mittel zur Lösung des Deso­ rientierungseffekts der Erkennbarkeitsformel erwogen und verworfen wurde. 125  F. Leonhard, AcP 120 (1922), 14 (136). 126  So aber Lehmann/Hübner, AT (1966), 213. 127  F. Leonhard, AcP 120 (1922), 14 (133). 128 Vgl. Larenz, Methode (1930, 1966), 19. Enneccerus/Nipperdey, AT I/2 (1960), 1250 in 124 

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§  14 Das Problem des exorbitanten Sonderwissens

sprechenden Rechtsgeschäfts wäre deshalb nur dann ein auf der Aufklärungs­ pflichtverletzung beruhender Schaden, wenn der Erklärende nachweisen könnte, dass im Falle ordnungsgemäßer Aufklärung später ein anderes Rechtsgeschäft die­ ses Inhalts zustande gekommen wäre.129 Bei einseitigen Rechtsgeschäften mag ihm dieser Nachweis noch gelingen, weil er dafür nur belegen müsste, dass er (ggf.130 nach Anfechtung der irrtumsbehafteten Erklärung) eine korrekte Erklä­ rung nachgeschoben hätte.131 Bei Verträgen erscheint ein entsprechender Nach­ weis dagegen nahezu unmöglich, da er sich nicht nur auf die Nachholung der Ver­ tragsschlusserklärung seitens des Erklärenden, sondern auch auf die Bereitschaft des Empfängers zur Abgabe einer entsprechenden Gegenerklärung bezöge.132 Das von F. Leonhard geforderte Arglistmoment ändert hieran nichts. Es ver­ schafft dem Getäuschten insbesondere nicht das von diesem Autor angenommene Recht, so gestellt zu werden, als habe die durch die unterlassene Aufklärung nicht beseitigte Fehlvorstellung der Wahrheit entsprochen. Die Gegenauffassung, der zeitweise sogar das in diesem Punkt schwankende Reichsgericht folgte133, gilt heu­ te zu Recht als überholt134, weil der Täuschende allein aufgrund der Täuschung nicht zur Herstellung des vorgetäuschten Zustands verpflichtet ist. Dazu bedürfte es eines eigenständigen schuldrechtlichen Verpflichtungsgrundes in Form einer Ga­ rantieerklärung.135 Fn.  13 meinen wohl dasselbe, wenn sie erläutern, der Anspruch sei nur auf das „negative Interesse“ gerichtet, nicht auf das positive Interesse. 129 Vgl. Larenz, Methode (1930, 1966), 19. 130  War die Erklärung ohne Rücksicht auf das exorbitante Sonderwissen unbestimmt, bedürf­ te es der Anfechtung nicht. Ohne diese Einschränkung Larenz, Methode (1930, 1966), 19. 131  Ein wesentlicher Unterschied zu der von F. Leonhard angenommenen Geltung des Gewoll­ ten besteht aber immer noch darin, dass die hypothetische „Nachholerklärung“ möglicherweise auch bei rechtzeitiger Aufklärung zu spät gekommen wäre (um z. B. einen Kündigungstermin einzuhalten) und die Verzögerung deshalb zu Lasten des Erklärenden ginge. In derartigen Fällen wird aber wohl schon zweifelhaft sein, ob den Empfänger überhaupt eine Aufklärungspflicht trifft, denn es ist ihm wohl kaum zumutbar, den Erklärenden auf eine rechtzeitige wirksame Ausübung von Rechten hinweisen zu müssen, die zu seinen Lasten wirken. 132  Seifert, Falsa demonstratio (1929), 91. Vgl. allgemein zu den Anforderungen an den Nach­ weis eines hypothetischen anderweitigen Vertragsschlusses im Zusammenhang mit Aufklärungs­ pflichtverletzungen beim nicht erwartungsgerecht zustande gekommenen Vertrag BGH, Urteil vom 11.6.2010, WuM 2011, 524 Tz.  10; Urteil vom 19.5.‌2006, BGHZ 168, 35 Tz.  23; Urteil vom 24.6.1998, NJW 1998, 2900 (2901); RG, Urteil vom 19.10.1921, RGZ 103, 47 (51). 133  Siehe nur RG, Urteil vom 12.11.1904, RGZ 59, 155 (157): „Der Schadensersatz besteht dann in der Herstellung des Zustandes, der bestehen würde, wenn das schädigende Ereignis, nämlich die Täuschung, nicht eingetreten wäre. Handelt es sich um eine arglistige Zusicherung, so muß der Getäuschte so gestellt werden, wie er stehen würde, wenn die zugesicherte Tatsache wahr wäre.“ Siehe ferner RG, Urteil vom 26.4.1912, JW 1912, 743, das sogar bei fahrlässiger Aufklärungs­ pflichtverletzung den Täuschenden für „zum Ersatz des positiven Erfüllungsinteresse verpflichtet“ hält. 134  Im Kontext der Deliktshaftung für arglistig herbeigeführte nicht erwartungsgerechte Ver­ träge: BGH, Urteil vom 25.11.1997, JZ 1998, 855 (856); Urteil vom 14.10.‌1971, BGHZ 59, 137 (139): nur Ersatz des „negativen Interesses“; Wagner, in: MünchKommBGB (2013), §  826 Rn.  57. 135  Geibel, Kapitalanlegerschaden (2002), 51–53.

V. Exorbitantes Sonderwissen und natürliche Auslegung

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Die regelmäßig allein in Betracht kommende Rechtsfolge der Aufklärungs­ pflichtverletzung ist somit der Ersatz von Schäden, die der Erklärende dadurch er­ leidet, dass er unter dem Eindruck eines Irrtums fortgesetzt zu Unrecht darauf ver­ traut, seinen Willen ordnungsgemäß erklärt zu haben, obwohl ihn der Empfänger wegen seines exorbitanten Sonderwissens auf seinen Irrtum hätte hinweisen kön­ nen und müssen. Dadurch wird der Erklärende aber immerhin besser gestellt, als wenn er nur das Recht zur Anfechtung hätte.136 Die Anfechtung vernichtet nur das Nichtgewollte, führt aber nicht zum Ersatz von Schäden, die bei rechtzeitiger Auf­ klärung hätten vermieden werden können. Seinen wahren Willen kann der Erklärende mittels des Schadensersatzanspruchs dagegen nicht zur Geltung bringen. F. Leonhard hielt dies zwar aus Billigkeitsgrün­ den für geboten137 und strebte ersichtlich danach, durch seine Schadensersatzlö­ sung dem Erklärenden ein Wahlrecht zu eröffnen, mit dem er auch auf der Geltung seines Willens bestehen konnte. Doch das Wahlrecht würde für den Empfänger eine kaum zu rechtfertigende Härte bedeuten. Es ließe ihn nämlich zunächst im Unkla­ ren, wie sich der Erklärende entscheiden wird. Der Empfänger hätte ersatzlos alle Nachteile zu tragen, die er erleidet, weil er sich zur Erfüllung beider zu Wahl ste­ henden Varianten bereit halten muss.

V. Exorbitantes Sonderwissen und natürliche Auslegung Abschließend bleibt noch zu erwägen, ob das exorbitante Sonderwissen das Ausle­ gungsergebnis vielleicht dann beeinflusst, wenn der Empfänger wegen dieses Son­ derwissens den Willen des Erklärenden tatsächlich erkennt. Die Auseinanderset­ zung mit dieser Fragestellung ist durchaus naheliegend, denn typischerweise wird der reale Empfänger aufgrund des exorbitanten Sonderwissens nicht nur den wirk­ lichen Willen des Erklärenden erkennen können, sondern diesen Schluss auch tat­ sächlich ziehen. Die bis hier angestellten Überlegungen zum exorbitanten Sonder­ wissen enthalten hierzu noch keine definitive Festlegung, da es bislang nur um die Rechtsfolgen des exorbitanten Sonderwissens im Rahmen einer normativen Ausle­ gung der Erklärung ging. Die normative Methode nimmt aber von vornherein keine Rücksicht darauf, was der Erklärende tatsächlich gemeint und der Empfänger tat­ sächlich aufgefasst hat. Die Frage, welche Rechtsfolge eintritt, wenn der Empfänger wegen des exorbitan­ ten Sonderwissens den wirklichen Willen des Erklärenden erkennt, führt zurück zu der in Teil II der Untersuchung behandelten natürlichen Auslegungsmethode. Auf dem Boden der herrschenden Erkennbarkeitsformel konnte in §  4 eine Divergenz 136  A. A. Seifert, Falsa demonstratio (1929), 91, der meint, der Erklärende würde mit dem Schadensersatzanspruch nicht weiter kommen als mit der Anfechtung. 137  F. Leonhard, AcP 120 (1922), 14 (122 f.).

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§  14 Das Problem des exorbitanten Sonderwissens

zwischen dem natürlichen und dem normativen Auslegungsergebnis noch als aus­ geschlossen betrachtet werden, falls der reale Empfänger wegen ihm bekannter Umstände den Willen des Erklärenden erkennen kann und ihn deshalb auch tatsächlich erkennt. Nach der Erkennbarkeitsformel fließt nämlich sämtliches Wissen des rea­ len Empfängers ungefiltert in die normative Auslegung ein, so dass auch der objek­ tive Empfänger den wahren Willen erkennen kann. Die Ergebnisse beider Metho­ den decken sich dann.138 Die hier vertretene Ausblendung exorbitanten Sonderwis­ sens aus dem objektiven Empfängerhorizont eröffnet hingegen eine weitere, bislang nicht betrachtete Fallgruppe, in der das normative und das natürliche Auslegungs­ ergebnis divergieren. Da nach hier vertretener Auffassung exorbitantes Empfänger­ wissen nicht in den objektiven Empfängerhorizont eingeht, ist theoretisch auch ein Wille denkbar, den der reale Empfänger bei Vornahme des Rechtsgeschäfts auf­ grund seines Sonderwissens erkennt, den aber der verobjektivierte Empfänger nicht erkennen muss.

1. Die Theorie der Geltung des wirklich Gewollten bei zufällig erkanntem Willen Möglicherweise im Sinne der gerade herausgearbeiteten Differenzierung wollen Oertmann139 und Lüderitz140 danach unterscheiden, ob der Empfänger aufgrund des exorbitanten Sonderwissens tatsächlich den wirklichen Willen des Erklärenden er­ kennt (mit der Folge der Geltung der Erklärung im Sinne des wirklichen Willens141) oder nicht (mit der Folge der Geltung des ohne Berücksichtigung des exorbitanten Sonderwissens ermittelten objektiven Erklärungssinns142).143 Konsequenterweise müsste nach einer solchen Lehre die Erklärung zudem wohl nichtig sein, wenn der 138 

§  4 III 1. BGB-Kommentar (1927), 468 f. (§  133 Anm.  3 b γ). 140  Auslegung (1966), 307. 141  Oertmann, BGB-Kommentar (1927), 468 f. (§  133 Anm.  3 b γ ββ und γγ): Geltung des dem Wortlaut widersprechenden wahren Sinns, wenn er tatsächlich erkannt wird, gleichgültig „[w]oher dem Erklärungsgegner seine Kenntnis des dem Wortlaut widersprechenden wahren Sinns kom­ me“. 142  Oertmann, BGB-Kommentar (1927), 469 (§  133 Anm.  3 b γ δδ). Dass Oertmann die Alter­ native dann nicht in der Geltung des Wortlauts der Abschlussformel sah, sondern der aus dem „Erklärungstatbestand im weiteren Sinne sich ergebenden Bedeutung“, folgt aus den Ausführun­ gen auf S.  468 (§  133 Anm.  3 b β). 143  Vgl. auch die zahlreichen Nachw. in §  4 Fn.  97 von Gerichtsentscheidungen und Autoren, die den fahrlässig nicht erkannten (= erkennbaren) und den erkannten Irrtum unterschiedlich be­ handeln wollen. Diesen Ausführungen fehlt indes ein nachvollziehbarer theoretischer Unterbau, der – entsprechend der hier vertretenen Auffassung zum exorbitanten Sonderwissen – die Vorfra­ ge beantwortet, warum bestimmte vom realen Empfänger erkannte oder für ihn erkennbaren Um­ stände nicht bereits in den objektiven Empfängerhorizont einfließen. Ohne Einschränkung der Erkennbarkeitsformel des objektiven Empfängerhorizonts bleibt die Differenzierung zwischen durchschaubarem und durchschautem Willen bzw. Irrtum unverständlich, da dann jeder tatsäch­ 139 

V. Exorbitantes Sonderwissen und natürliche Auslegung

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Empfänger wegen des exorbitanten Sonderwissens zwar nicht den wirklichen Wil­ len, aber doch jedenfalls den Irrtum des Erklärenden erkennt. Denn dann hätte der Erklärende immerhin verstanden, dass die ohne Rücksicht auf das exorbitante Son­ derwissen ermittelte Bedeutung nicht gewollt ist. Die Beteiligten hätten dann jeden­ falls in dieser negativen Richtung innerlich übereingestimmt.144 a) Die Unvereinbarkeit mit dem beiderseitigen Orientierungsinteresse Nach den bisherigen Erkenntnissen dieser Untersuchung ist die natürliche Ausle­ gung auch in der hier betrachteten Fallgruppe abzulehnen. Der ausschlaggebende Grund für die Ausblendung exorbitanten Sonderwissens aus dem objektiven Emp­ fängerhorizont ist der Gedanke, der Erklärende könne mit dessen Vorliegen beim Empfänger nicht rechnen und sich eine dadurch beeinflusste Rechtslage (im Gegen­ satz zum Empfänger) nicht erschließen. Kann er aber mit dem Vorliegen des exor­ bitanten Sonderwissens beim Empfänger nicht rechnen, dann kann er natürlich erst recht nicht damit rechnen, deswegen tatsächlich verstanden zu werden.145 Die natür­ liche Auslegung wegen Durchschauens des Willens seitens des Empfängers würde alles zunichtemachen, was die Modifikation der normativen Auslegung zugunsten des Erklärenden erreichen soll. Umgekehrt würde auch der Empfänger orientierungslos, falls der wegen des exor­ bitanten Sonderwissens tatsächlich erkannte Wille den Inhalt der Erklärung bestim­ men könnte. Die natürliche Auslegungsmethode erfährt zwar in dieser Konstellati­ on eine objektive Rückkoppelung, da der wirkliche Wille sich mit einem durch die lich erkannte Wille bzw. Irrtum auch ein normativ erkennbarer Wille sein müsste und sich die Ergebnisse beider Methoden folglich decken. 144  Zu diesem Punkt äußern sich Oertmann und Lüderitz jeweils a. a. O. nicht. 145  Rhode, Willenserklärung (1938), 49 a. E.: „Der Erklärende kann nicht damit rechnen, daß ihn der Empfänger durch bloßen Zufall richtig versteht.“ Siehe auch Lüderitz, Auslegung (1966), 233 f.: „Insbesondere darf nicht gefolgert werden, ge­ meinsamer oder einseitig erkannter Irrtum schließe Vertrauensschutz stets aus. Damit bliebe die Unsicherheit der Rechtslage unberücksichtigt, die sich daraus ergibt, daß beiden Partnern unbe­ kannt ist, ob und inwieweit der andere den Irrtum erkannt hat, auf welchen Erklärungsinhalt er sich folglich eingestellt hat.“ (Hervorhebung übernommen). Diese Erwägungen zur Interessenlage stehen in auffälligem Widerspruch zu der von Lüderitz vertretenen Regel zum Umgang mit dem erkannten Irrtum (a. a. O., 307), die keinerlei Vertrauensschutz zur Verhinderung der treffend her­ ausgearbeiteten Unsicherheit der Rechtslage vorsieht. Vgl. auch Oertmann, Rechtsordnung (1914), 103, der die Unsicherheit für den Erklärenden ebenfalls sieht, seine Auffassung deshalb aber nicht in Frage stellt. Seine Annahme, der Erklären­ de werde bei Entdeckung des Irrtums stets reagieren und vorsorglich die Anfechtung erklären, vermag die Unsicherheit nicht zu beseitigen, weil der Erklärende dann immer noch nicht wüsste, ob die Anfechtung durchgeht. Oertmanns Überlegung hält auch keine Lösung bereit für den eben­ falls denkbaren Fall, in dem der Erklärende auf die Anfechtung verzichtet und von dem Sinn aus­ geht, der ohne das exorbitante Sonderwissen zu verstehen war. Die Berufung des Empfängers auf das Erkennen des Gewollten infolge des exorbitanten Sonderwissens kann ihn dann nur überra­ schend treffen.

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§  14 Das Problem des exorbitanten Sonderwissens

erkennbaren Umstände objektiv gerechtfertigten Verständnis des Empfängers tref­ fen muss; eine haltlose Empfängerauffassung, die sich – wie in den Fällen des kon­ gruenten Doppelirrtums oder des erratenen Willens – zufällig mit dem wirklichen Willen des Erklärenden deckt, würde nicht genügen. Der Empfänger könnte deshalb im Nachhinein die objektive Berechtigung seiner Auffassung gemessen an den für ihn erkennbaren Umständen überprüfen. Und dennoch könnte er nie sicher sein, ob die Erklärung wirklich den unter Berücksichtigung des exorbitanten Sonderwissens ermittelbaren Sinn hat und sein darauf bezogenes Vertrauen vom Recht geschützt wird. Trotz der objektiven Rückkoppelung würde es sich nämlich immer noch um eine natürliche Auslegungsregel handeln, deren Eingreifen davon abhängt, ob der Empfänger den tatsächlichen Willen des Erklärenden erkannt hat. Noch so viel exorbitantes Sonderwissen verrät dem Empfänger aber niemals sicher, ob der ihm entgegentretende vermeintliche Wille des Erklärenden auch dessen wirklicher Wille ist. Hinter dem vermeintlichen Willen kann auch ein anderslautender wirklicher Wille stehen. Es kann deshalb auch dem Empfänger verborgen gebliebene weitere Umstände geben, mit denen der Erklärende unter Umständen seinen vom vermeint­ lichen Willen abweichenden wirklichen Willen beweisen könnte. Eine Auslegungs­ regel, die nur dem erkannten tatsächlichen Willen den Vorrang einräumt, läuft dann ins Leere und lässt den Empfänger (für ihn unerkennbar) auf die ohne das Sonder­ wissen bestimmte objektive Bedeutung zurückfallen.146 b) Das systematische Argument aus §  116 S.  2 BGB Es bleibt noch auf ein systematisches Argument einzugehen, das für die Beachtlich­ keit des aufgrund exorbitanten Sonderwissens erkannten Willens streiten soll. Nach Oertmann soll §  116 S.  2 BGB „entscheidend“ für die Geltung des Gewollten spre­

146  Diese Konsequenz zieht ausdrücklich Lüderitz, Auslegung (1966), 307: „Andererseits geht es zu Lasten des Empfängers, wenn er ihm nicht mitgeteilte, nur bekannte Umstände in der Sphä­ re des Erklärenden berücksichtigt und ihn mißversteht, weil dieser die Erklärung im üblichen Sinn abgeben wollte.“ Die Ungewissheit, die den Empfänger hiernach befallen muss, nimmt Lüderitz nicht zum Anlass, seine Ansicht in Frage zu stellen. Abw. Oertmann, Rechtsordnung (1914), 96 f., der die Erklärung auch dann im Sinne eines dem Empfänger bekannten Sondersprachgebrauchs des Erklärenden gelten lassen will, falls der Erklä­ rende die Worte ausnahmsweise doch im Sinne des üblichen Sprachgebrauchs verwenden wollte. Das widerspricht seiner Auffassung, der objektive Sinn werde nur durch den „erkannten Willen“ verdrängt (a. a. O., 115 in Fn.  1, 130), weil in diesem Fall der wahre Wille gerade nicht erkannt wird. Konsequent wäre Oertmanns Aussage nur, falls sie sich auf Fälle beschränkt, bei denen die Kennt­ nis des Sondersprachgebrauchs nicht exorbitant ist. Dann bliebe aber der hier im Text vorgetragene Einwand bestehen.

V. Exorbitantes Sonderwissen und natürliche Auslegung

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chen.147 Die Vorschrift ist in ihrer Bedeutung für die natürliche Auslegung bereits148 ausführlich gewürdigt worden. In der hier betrachteten Fallgruppe erscheint sie al­ lerdings in einem völlig neuen Licht, da das Verständnis des Empfängers durch das exorbitante Sonderwissen objektiv gerechtfertigt ist und deshalb tatsächlich eine „Kenntnis“ des Empfängers im Sinne dieser Vorschrift vorliegt. Es muss daher hier neu angesetzt werden. Oertmann geht davon aus, nach §  116 S.  2 BGB solle „der Mangel des Geschäftswillens die Wirkung ausschließen, wenn er dem Gegner auch nur zufällig bekannt geworden ist, einerlei, von wem er diese Kenntnis hatte. Was hier über die Frage des Vorhandenseins des Geschäftswillens bestimmt wird, muß folgerecht bei der seines Inhalts entsprechend gelten“149.

Dem Gedankengang liegt eine zutreffende Analyse des §  116 S.  2 BGB zugrunde. Die Nichtigkeit der Erklärung bei Kenntnis des Empfängers tritt ein ohne Rücksicht darauf, woher die vom Empfänger verwerteten Erkenntnismittel150 stammen.151 Da der Erklärende den Vorbehalt vor dem Empfänger verheimlicht und ihm die zum Erkennen seines wirklichen Willens erforderlichen Auslegungsmittel absichtlich vorenthält, werden sie den Empfänger wohl regelmäßig auf Umwegen erreicht ha­ ben, mit denen der Erklärende nicht rechnen muss – beispielsweise indem ein Drit­ ter, dem der Erklärende seinen Vorbehalt verraten hat, dies dem Empfänger weiter­ trägt152. §  116 S.  2 BGB positiviert so betrachtet einen Fall, in dem exorbitantes 147  Rechtsordnung (1914), 104. Auf §  116 S.  2 BGB berufen sich auch Jacobi, Theorie (1910), 25 f. und Scherner, AT (1995), 95, letzterer allerdings nur für die von ihm vertretene rein negative, gültigkeitszerstörende Wirkung des zufällig bekannten Willens (dazu unter 2). Siehe auch die Nachw. in §  10 Fn.  2. Die dort zitierten Autoren führen die natürliche Auslegung ganz allgemein auf §  116 S.  2 BGB zurück und erfassen damit auch die hier betrachtete Fallgruppe. 148  §  10 I. 149  Oertmann, Rechtsordnung (1914), 104 (Sperrungen übernommen). 150  In dem theoretischen Fall, in dem der Empfänger nicht über solche Erkenntnismittel ver­ fügt, sondern ohne hinreichende objektive Anhaltspunkte (lediglich zufällig zutreffend) eine Mentalreservation für gegeben hält, sind schon aus den unter §  10 I 2 dargelegten Gründen man­ gels „Kenntnis“ des Empfängers die Voraussetzungen des 116 S.  2 BGB nicht erfüllt. 151  Ellenberger, in: Palandt (2016), §  116 Rn.  4; Arnold, in: Erman (2014), §  116 Rn.  10; Illmer, in: jurisPK‑BGB (2014), §  116 Rn.  28; Hübner, AT (1996), Rn.  762; Coing, in: Staudinger (1957), §  116 Rn.  6; Wolff, JherJb 81 (1931), 53 (96); Oertmann, BGB-Kommentar (1927), 378 (§  116 Anm.  5 a). Vgl. auch Jacobi, Theorie (1910), 25 f., der auf die Zufälligkeit der Kenntnis bei §  116 S.  2 BGB abstellt. A. A. zum österreichischen Recht Migsch, FS Schnorr (1988), 737 (742 f.), der eine Kenntnis aufgrund von Erkenntnismitteln, die nicht vom Erklärenden an den Empfänger ge­ richtet worden sind, nicht genügen lassen will, weil es sonst an einer „Erklärung“ des Vorbehalts fehle. Dies überzeugt nicht, da es der Mentalreservation wesenseigen ist, dass der Erklärende den Vorbehalt nicht erklären will und er die Erkenntnismittel deshalb auch nicht an den Empfänger richtet. 152 Beispiel bei Brox/Walker, AT (2015), Rn.   396 (Fall b); Boemke/Ulrici, AT (2014), §  12 Rn.  11; Schapp/Schur, Einführung (2007), Rn.  379; Preuß, Jura 2002, 815 (817); Scherner, AT (1995), 164 (Fall 2), 165; Singer, Selbstbestimmung (1995), 202; Dilcher, in: Staudinger (1979), §  116 Rn.  4, 9; Kallimopoulos, Simulation (1966), 54 in Fn.  175. Ebenso Hefermehl, in: Soergel (1999), §  116 Rn.  7, der allerdings zu Unrecht meint, der Empfänger könne die Kenntnis nur von

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§  14 Das Problem des exorbitanten Sonderwissens

Sonderwissen das Schicksal der Willenserklärung beeinflusst, falls der Empfänger es zutreffend verwertet und dadurch „Kenntnis“ von der Mentalreservation erlangt. Ob es – wie Oertmann meint – deshalb „folgerecht“ ist, den Umgang des §  116 S.  2 BGB mit exorbitantem Sonderwissen zu verallgemeinern und auf die Auslegung „normaler Willenserklärungen“ zu erstrecken, steht freilich auf einem anderen Blatt. Dazu bedürfte es einer vergleichbaren Interessenlage, auf die die Wertung des §  116 S.  2 BGB ebenfalls zutrifft. Eine nähere Auseinandersetzung mit §  116 S.  2 zeigt indes, dass die Vorschrift im Hinblick auf das Orientierungsinteresse des Erklärenden in mehrerer Hinsicht Rechtsfolgen vorsieht, die von der allgemeinen Rechtsgeschäftslehre stark abwei­ chen. Der Umgang mit exorbitantem Sonderwissen ist insofern nur ein Gesichts­ punkt. §  116 S.  2 BGB belastet den Erklärenden auch mit der Ungewissheit, ob der Empfänger den eigentlich gebotenen Schluss auf den wirklichen Willen tatsächlich gezogen hat, indem, anders in der allgemeinen Auslegungslehre, nicht bereits die objektive „Erkennbarkeit“ der Mentalreservation genügt, sondern tatsächliche „Kenntnis“ des Empfängers erforderlich ist153. Die Rechtsfolge des §  116 S.  2 ist nicht einmal an die Mitteilung des Empfängers gegenüber dem Erklärenden ge­ knüpft, dass er die Mentalreservation erkannt hat.154 Dies hat die „eigentümliche Wirkung, daß der Vorbehaltende, der ja nicht weiß, ob der Gegner den Vorbehalt durchschaut, über die Gültigkeit seiner Erklärung im ungewissen bleibt“155. Dies alles kann nicht Ausdruck eines allgemeinen Prinzips der Rechtsgeschäftslehre sein. Wäre die Kenntnis des Empfängers vom wirklichen Willen des Erklärenden eine tatbestandliche Voraussetzung für den Eintritt bestimmter Rechtswirkungen der Willenserklärung, so hätte dies eine unerträgliche Unsicherheit für den Erklä­ renden zur Folge, dem hierüber regelmäßig die notwendigen Informationen fehlen. Damit würde der Schutzgehalt der Empfangstheorie, die den Erklärenden von der Ungewissheit über die Erklärungsaufnahme seitens des Empfängers entlasten soll156, faktisch aufgehoben. einem Dritten erlangt haben. Möglich ist auch eine eigenmächtige Verschaffung der Kenntnis durch den Empfänger (vgl. Henle, Vorstellungs- und Willenstheorie [1910], 476: „verstohlener Blick“ in das Tagebuch des Erklärenden am Tag vor der Erklärung) oder die „ungeschickte Men­ talreservation“ (R. Leonhard, AT [1900], 469), bei sich der Erklärende durch sein Verhalten selbst verrät (Henle, a. a. O.; Wolff, JherJb 81 [1931], 53 [96 f.]). Im letzteren Falle wäre die Kenntnis nicht exorbitant, weil der Erklärende dann mit dem Erkennen des Vorbehalts rechnen muss. Vgl. auch Migsch, FS Schnorr (1988), 737 (742) mit einem weiteren Beispiel potentiell exor­ bitanter Kenntnis: zufällig bekannt gewordenes Schriftstück, aus dem sich der Vorbehalt ergibt. 153  Nachw. in §  10 Fn.  19. 154  Dilcher, in: Staudinger (1979), §  116 Rn.  9; Coing, in: Staudinger (1957), §  116 Rn.  6; Riezler, in: Staudinger (1936), §  116 Rn.  6; Wolff, JherJb 81 (1931), 53 (179); Flad, in: Planck, BGB (1913), 271 (§  116 Anm.  4 b). A. A. früher noch Kohler, Lb. I (1906), 488, der sogar das Erfordernis eines erklärten Einverständnisses des Empfängers in den §  116 S.  2 BGB hineinlesen wollten. 155  Wolff, JherJb 81 (1931), 53 (179). Ebenso R. Leonhard, AT (1900), 469. 156  Siehe Mot. I (1888, 2000), 157 = Mugdan I (1899), 438 (Wortlaut hier im Text bei §  9 Fn.  26 wiedergegeben)

V. Exorbitantes Sonderwissen und natürliche Auslegung

353

Der Grund dafür, dass §  116 S.  2 BGB den Erklärenden in vielerlei Hinsicht mit einer erheblichen Unsicherheit über seine Rechtslage belastet, ist vielmehr allein im speziellen Regelungsgegenstand dieser Norm zu suchen. In den Materialien ist der maßgebliche Grund bei den Ausführungen zur Maßgeblichkeit der „Kenntnis“ (statt Kennenmüssen) angedeutet. Im Falle des §  116 BGB handle „es sich um eine Willenserklärung, die nach der Absicht des Erklärenden für eine rechte Willenserklärung gehalten werden soll, und einer solchen Absicht gegenüber entfällt für den anderen Theil die Prüfungspflicht“157.

Hinter dieser Aussage steht ein Gedanke, der nicht nur die Beschränkung des §  116 S.  2 BGB auf „Kenntnis“, sondern auch die uneingeschränkte Berücksichtigung exorbitanten Sonderwissens und letztlich die vollständige Schutzlosstellung des Orientierungsinteresses des Erklärenden rechtfertigt: Durch die Mentalreservation möchte der Erklärende Rechtsfolgen ausschließen, die er dem Empfänger gegen­ über nach eigener Einschätzung zum Ausdruck gebracht hat. Er beabsichtigt, dem Empfänger eine Orientierung über seine Rechtslage unmöglich zu machen. Wer sich so verhält, kann hinterher nicht geltend machen, es müsse auf sein Orientie­ rungsinteresse Rücksicht genommen werden. Gewissermaßen wegen „Verwirkung“ seines Orientierungsinteresses fällt das Gesetz mit §  116 S.  2 BGB die Entscheidung über die Rechtsfolgen der erkannten Mentalreservation unabhängig davon, ob der Erklärende den für die Rechtslage entscheidenden Faktor „Empfängerkenntnis“ sei­ nerseits kennt oder zumindest erkennen kann. Die Ungewissheit für den Erklären­ den ist eine Reaktion auf seinen (wegen §  116 S.  1 BGB ohnehin untauglichen) Ver­ such, dem Empfänger die Orientierung zu nehmen.158 Auf die hier interessierende Konstellation, in der der Erklärende dem Empfänger gegenüber unabsichtlich eigentlich etwas anderes als das innerlich Gewollte zum Ausdruck bringt und der Empfänger dies aufgrund exorbitanten Sonderwissens durchschaut, ist dieser Gedankengang ersichtlich nicht übertragbar. Bei unabsicht­ lich missratener Ausdrucksweise fehlt dem Erklärenden die empfängerbezogene Desorientierungsabsicht, die es im Falle des §  116 S.  2 BGB rechtfertigt, seine Rechtslage vom Faktor „Empfängerkenntnis“ abhängig zu machen, den er nicht überblicken kann. Anders als in den Fällen des §  116 S.  2 BGB ist das Orientie­ rungsinteresse des Erklärenden mit anderen Worten nach wie vor schutzwürdig. Der Erst-recht-Schluss von §  116 S.  2 BGB auf die allgemeine Verwertbarkeit exor­ bitanten Sonderwissens im Rahmen der Auslegung bei erkanntem Willen verbietet sich deshalb.159 157  Mot. I (1888, 2000), 192 = Mugdan I (1899), 458. So bereits Gebhard, in: Vorlagen AT/2 (1981), 93. 158 Siehe R. Leonhard, AT (1900), 469 (die Partei ziehe sich den Nachteil der Rechtsungewiss­ heit „durch ihre eigene Verschlagenheit“ selbst zu) und Wolff, JherJb 81 (1931), 53 (179) („seinem eigenen Verhalten zuzuschreiben“). Vgl. auch Trupp, NJW 1990, 1346 (1347 unter VI): Erklären­ der verliert Schutzwürdigkeit. 159  Es wäre im Übrigen ersichtlich sinnlos, den mit der hier vertretenen Modifikation der Er­

354

§  14 Das Problem des exorbitanten Sonderwissens

2. Die Theorie der Nichtigkeit der Erklärung bei zufällig bekanntem Willen (Scherner) Scherner160 vertritt in jüngerer Zeit eine andere Differenzierung im Umgang mit exorbitantem Sonderwissen. Auch er wendet sich gegen die Einbeziehung zufälliger Kenntnisse des Empfängers in die normative Auslegung, hält die Erklärung aber stets für nichtig, falls dem Empfänger wegen seines zufälligen Wissens der wirkli­ che Wille des Erklärenden bekannt ist. „Daß hier die Willenserklärung nicht so gelten kann, wie sie erklärt ist, weil der Erklärungsempfänger nicht auf sie vertrau­ en kann“ sei „mit Recht unbestritten“161. Da bei zufällig bekanntem Willen das Vertrauen des Empfängers „zumindest erschüttert“ sei, könne „er sich dann auf den normativen Erklärungswert nicht berufen“162. „Der Fall des ‚falsch‘ ausgedrückten, aber zufällig bekannten Willens163“ sei „wie eine unklare Erklärung zu behan­ deln“164. In einem solchen Fall frage nicht nur jeder vernünftige Mensch beim Er­ klärenden nach dessen Willen, sondern er sei zu dieser Nachfrage auch nach Treu und Glauben verpflichtet.165 Scherners Lösung stimmt mit der gerade behandelten Lehre somit insoweit überein, als er das vom Erklärenden Nichtgewollte nicht gelten lässt. Er weicht davon nur insoweit ab, als er dabei stehen bleibt und nicht stattdes­ sen das Gewollte gelten lässt, wenn der Empfänger dieses erkennt.166 Scherners Lösung überzeugt ebenfalls nicht. Er steht zwar nicht hinsichtlich des Inhalts, dafür aber hinsichtlich der Gültigkeit der Willenserklärung167 auf dem Bo­ kennbarkeitsformel bezweckten Schutz des Orientierungsinteresses des Erklärenden zunichte zu machen, indem dessen Rechtslage in Anknüpfung an das Tatbestandsmerkmal „Kenntnis“ von der für ihn nicht erkennbaren kognitiven Verarbeitung des exorbitanten Sonderwissens seitens des Empfängers mitbestimmt wird. Wer dies befürwortet, dürfte schwerlich einen guten Grund fin­ den, exorbitantes Sonderwissen aus dem objektiven Empfängerhorizont herauszuhalten. Damit wäre aber §  116 S.  2 BGB als Begründungsbasis verlassen und es würde schlicht die hier abgelehn­ te herrschende Erkennbarkeitsformel des objektiven Empfängerhorizonts vertreten. 160  AT (1995), 95, 175. 161  Scherner, AT (1995), 95. 162  Scherner, AT (1995), 175. Es ist unerfindlich, warum der Empfänger nach dem ihm ja be­ reits bekannten Willen „fragen“ sollte. Sinnvoll wäre allenfalls ein an den Erklärenden gerichteter Hinweis auf den (siehe dazu bereits IV 3). 163  Konsequenterweise müsste Scherner eigentlich die Kenntnis des Irrtums für die Nichtig­ keit der Erklärung genügen lassen und dürfte nicht darüber hinaus die Kenntnis des Willens ver­ langen. Das Vertrauen ist nämlich bereits bei Kenntnis des Irrtums erschüttert. 164  Scherner, AT (1995), 175. 165  Scherner, AT (1995), 175. 166  So i. E. auch Manigk, Willenserklärung (1907), 459 f. 167  Scherners Begründung für die auch hier vertretene Nichtgeltung des Gewollten überzeugt ebenfalls nicht. Er beruft sich insoweit auf seine Ablehnung des falsa-Satzes, der den „Grundsatz der Selbstbestimmung durch bindendes Erklärungsverhalten“ missachte (a. a. O.). Diese Begrün­ dung ist zirkulär, weil es gerade darum geht, wann bindendes Erklärungsverhalten – das hier oh­ nehin nur eine anfechtbare Bindung begründen könnte – vorliegt. Das Prinzip der Selbstbestim­ mung jedenfalls kann nicht begründen, warum die Erklärung nicht im Sinne des für den Empfän­ ger erkennbar wirklich Gewollten gelten sollte. Nur das vom Selbstbestimmungsinteresse des

V. Exorbitantes Sonderwissen und natürliche Auslegung

355

den der hier bestrittenen Interessenanalyse, die den Vertrauensschutzgedanken nur auf den Empfänger bezieht. Scherner meint, die Willenserklärung dürfe und müsse nichtig sein, weil kein schutzwürdiges Vertrauen des Empfängers auf den (ohne das Zufallswissen bestimmten) objektiven Sinn bestehe, wenn er den wirklichen Willen zufällig kennt. Wollte man die richtige Lösung allein ausgehend vom Schutz des Vertrauens des Empfängers entwickeln, wäre das zufällige Wissen sogar bei der normativen Auslegung zu berücksichtigen. Die Ausblendung des exorbitanten Son­ derwissens aus dem Empfängerhorizont dient indes dem Erklärenden, der seine Rechtslage ebenfalls einschätzen können soll und der mit dem Vorhandensein des exorbitanten Sonderwissens nicht rechnen kann. Nach Scherners Lösung wäre der Erklärende zwar vor einer überraschenden Geltung des Gewollten gefeit, nicht aber vor der überraschenden Nichtigkeit die Erklärung. Aus Sicht des Erklärenden tauscht Scherner somit nur ein Übel gegen das andere aus. Die Interessenlage unterscheidet sich auch grundlegend von der objektiv unkla­ ren (d. h. unbestimmten) Erklärung, die Scherner als Vergleich heranzieht. Die Un­ bestimmtheit kann sich der Erklärende bei erneutem Nachdenken erschließen und damit auch die daran anknüpfende Nichtigkeit.168 Die Erklärung bleibt unwirksam, weil ein schutzwürdiges Vertrauen auf einen bestimmten Erklärungssinn ausge­ schlossen ist und Vertrauen auf die Unwirksamkeit zu schützen ist. Dagegen könnte sich der Erklärende bei noch so sorgfältiger nachträglicher Deutung seines Verhal­ tens eine Nichtigkeit nicht erschließen, die nur eintritt, falls der Empfänger den Willen bzw. den Irrtum des Empfängers aufgrund exorbitanten Sonderwissens tat­ sächlich erkennt. Damit das Orientierungsinteresse des Erklärenden geschützt wird, darf das exor­ bitante Sonderwissen somit weder für die Inhaltsbestimmung (Auslegung) noch für die Gültigkeit des Rechtsgeschäfts eine Rolle spielen. Die von Scherner für aus­ schlaggebend gehaltene fehlende Schutzwürdigkeit des Empfängers bei Erkenntnis des wirklichen Willens berücksichtigt das Gesetz bereits hinreichend durch §  122 II Alt. 1 BGB. All diese Bedenken bestünden im Übrigen auch, wenn man Scherners Auffas­ sung entsprechend ihrem Grundgedanken169 weiterentwickelte und unabhängig von den tatsächlichen Schlussfolgerungen des Empfängers schon wegen des Vor­ handenseins des exorbitanten Sonderwissens, aus dem sich ein abweichender Erklä­ rungssinn ergibt, eine nichtige Erklärung annähme. Scherners Beschränkung auf den tatsächlich erkannten Willen stürzt (ebenso wie die hier unter 1 kritisierte The­ Erklärenden unterscheidbare Orientierungsinteresse vermag ein solches Ergebnis zu rechtferti­ gen. 168  Dazu bereits §  6 II 3. 169  Scherner begründet die Nichtigkeit mit dem Fehlen schutzwürdigen Vertrauens des Emp­ fängers. Bei dieser Begründung ist nicht einzusehen, warum die Nichtigkeit vom Bekanntsein des Irrtums abhängen soll. Schutzwürdig ist das Vertrauen des Empfängers – wie die Gleichbehand­ lung beider Alternativen in §  122 II BGB zeigt – schon dann nicht mehr, wenn für den Empfänger der Irrtum erkennbar ist und er trotzdem die gebotenen Schlüsse nicht zieht.

356

§  14 Das Problem des exorbitanten Sonderwissens

orie) nur zusätzlich auch noch den Empfänger in Orientierungslosigkeit. Er kann nicht beurteilen, ob sein exorbitantes Sonderwissen, aus dem ein bestimmter Wille spricht, ihn tatsächlich zum wirklichen Willen geführt hat oder ob auch diese Be­ deutung nicht dem wirklichen Willen entspricht, weil auch das exorbitante Sonder­ wissen ihm nur einen vermeintlichen, nicht aber den tatsächlichen Willen offenbart hat – die Erklärung wäre dann im letzteren Fall für ihn überraschenderweise doch gültig mit ihrem normativen Sinn.

3. Zwischenergebnis Zusammenfassend ist festzuhalten, dass exorbitantes Sonderwissen des Empfän­ gers den Sinn der empfangsbedürftigen Willenserklärung auch dann nicht beein­ flusst, wenn der Empfänger das Gemeinte aufgrund dieses Sonderwissens nicht nur erkennen kann, sondern es auch tatsächlich erkennt. Die Erklärung gilt weder im Sinne des wegen des exorbitanten Sonderwissens erkannten Willens, noch ist sie aufgrund des erkannten Willensmangels nichtig. Durch die Anwendung der natür­ lichen Methode ginge ansonsten genau das Maß an zusätzlicher Orientierungssi­ cherheit für den Erklärenden verloren, das der hier vertretene Umgang mit exor­ bitantem Sonderwissen erreichen soll.

VI. Ergebnis Die Erkennbarkeitsformel des objektiven Empfängerhorizonts bedarf einer Modifi­ kation im Hinblick auf das hier sog. exorbitante Sonderwissen des Empfängers. Falls der Empfänger davon ausgehen muss, dass der Erklärende mit seiner Kenntnis von einem auslegungsrelevanten Umstand nicht rechnen muss, bleibt dieser Um­ stand als Auslegungsmaterial bei der normativen Auslegung außer Betracht. Nur so wird sichergestellt, dass der Erklärende weitestmöglich in die Lage versetzt wird, sich im Nachhinein den Sinn seiner eigenen Erklärung zu erschließen. Hieran ist auch dann festzuhalten, wenn der Empfänger aufgrund seines Sonderwissens das vom Erklärenden Gewollte tatsächlich erkannt hat. Das exorbitante Sonderwissen findet allerdings insoweit Berücksichtigung, als der Empfänger im Falle der An­ fechtung aufgrund von §  122 II BGB keinen Vertrauensschadensersatz verlangen kann und dem Erklärenden ggf. einen Schaden ersetzen muss, den dieser im Ver­ trauen auf eine ordnungsgemäße Erklärung seines Willens erleidet, weil er vom Empfänger auf den erkannten Irrtum nicht hingewiesen wurde.

Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse Teil I: Grundlagen und Vorüberlegungen §  3 Das dualistische Auslegungsmodell I. Die vagen und lückenhaften allgemeinen Auslegungsvorschriften der §§  133, 157 BGB normieren keine operable Methode der Auslegung empfangsbedürf­ tiger Willenserklärungen.1 II. Die Lehre von der Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen hat insbesondere die Aufgabe, Missverständnisrisiken zwischen dem Erklärenden und dem Empfänger zu verteilen. Sie kann sich deshalb nicht einseitig am wirklichen Willen des Erklärenden oder dem inneren Verständnis des Empfän­ gers orientieren.2 III. Das dualistische Auslegungsmodell kombiniert hierfür zwei Methoden. 1. Die normative Methode der Auslegung nach dem objektiven Empfängerhori­ zont verteilt die Missverständnisrisiken durch Objektivierung des Erklärungs­ sinns anhand des wertenden Maßstabs, wie der Empfänger die Erklärung ver­ stehen musste.3 Diese individuell-normative Auslegung unter Berücksichti­ gung der für den Empfänger erkennbaren Umstände ist klar zu unterscheiden von e­ iner Auslegung nach dem Wortlaut der Erklärung, die mit §  133 Hs.  2 BGB unvereinbar wäre.4 2. Die natürliche Auslegungsmethode geht von dem Grundgedanken aus, es be­ dürfe keiner Normativierung, wenn der Empfänger den Willen des Erklären­ den bei Kenntnisnahme der Erklärung versteht.5 Die plausibelste Fassung die­ ser Methode gleicht den wirklichen Willen des Erklärenden bei Abgabe seiner Willenserklärung6 mit dem Verständnis des Empfängers bei erstmaliger Kenntnisnahme der Willenserklärung7 ab. Die insbesondere im Vertrags­ schlusskontext verbreitete Gleichsetzung der natürlichen Methode mit der Maßgeblichkeit der übereinstimmenden Willen der Parteien ist verfehlt. Die 1 

§  3 I, S. 23 ff. §  3 II, S. 30 ff. 3  §  3 III, S. 35 ff. 4  Insb. §  3 III 2 b aa (2), S. 46 ff. 5  §  3 IV 1, S. 52 f. 6  §  3 IV 2 a, S. 53 f. 7  §  3 IV 2 b bb, S. 63 ff. 2 

358

Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse

unmittelbare Anknüpfung an die beidseitigen rechtsgeschäftlichen Willen passt nicht zum einseitigen Rechtsgeschäft8, würde bei konsequenter Anwen­ dung entgegen dem Grundgedanken der natürlichen Methode auch bei Miss­ verständnissen unter den Beteiligten eingreifen9 und verliert die konkrete Wil­ lenserklärung als Bezugspunkt der erläuternden Auslegung aus den Augen10. IV. Nach der dualistischen Lehre hat ein übereinstimmendes Verständnis von Er­ klärendem und Empfänger Vorrang vor dem Ergebnis der normativen Metho­ de.11 Die normative Methode kommt in allen übrigen Fällen zum Zug – also nicht nur bei nachweisbarer Divergenz der tatsächlichen Verständnisse, son­ dern auch bei einem non liquet in dieser Frage. Eine Partei, die ein bestimmtes Auslegungsergebnis anstrebt, kann im Prozess somit auf Basis der natürlichen oder der normativen Methode vortragen. Stützt sie sich auf die normative Me­ thode, so steht der Gegenseite allerdings die Einwendung zu, die normative Methode sei wegen eines übereinstimmend abweichenden Verständnisses der Beteiligten unmaßgeblich.12 Der Vorrang der natürlichen Auslegungsmethode vor der normativen Methode wird nur von den Anhängern der Lehre von der protestatio facto contraria non valet durchbrochen. Auch die normative Methode erfährt durch diese abzuleh­ nende Lehre eine tiefgreifende Veränderung.13 V. Unbestimmte (unklare, mehrdeutige, perplexe) Willenserklärungen sind un­ wirksam.14 Das Bestimmtheitserfordernis ist eine Wirksamkeitsvoraussetzung der konkreten Willenserklärungen und kein spezielles Problem des Vertrags­ schlusses bei der Abgrenzung von Konsens und Dissens.15 Die Einordnung bei der vertraglichen Einigung ist insbesondere nicht erforderlich, um im Ver­ tragsschlusskontext eine „Heilung“ der objektiven Unbestimmtheit im Falle eines inneren Konsenses der Parteien zu ermöglichen. Bei Anerkennung der natürlichen Methode würde die Unbestimmtheit schon bei der vorrangigen Auslegung der einzelnen Vertragsschlusserklärungen entfallen.16 §  4 Die methodenrelevanten Fälle des Vorrangs der natürlichen Auslegung I.

Für den Streit zwischen einer dualistischen und einer streng normativen Ausle­ gungslehre sind nur diejenigen Fälle relevant, in denen die Ergebnisse der na­ türlichen und die normativen Methode voneinander abweichen (methodenrele­ 8 

§  3 IV 2 b aa (2), S. 57. §  3 IV 2 b aa (3) (a), S. 58 f. 10  §  3 IV 2 b aa (3) (b), S. 59 ff. 11  §  3 V 1, S. 66 f. 12  §  3 V 2, S. 67 ff. 13  §  3 V 3, S. 69 ff. 14  §  3 VI 1, S. 73 f. 15  §  3 VI 2 und 3, S. 74 ff. 16  §  3 VI 3, S. 77. 9 

Teil II: Kritik der natürlichen Auslegung

359

vante Fälle).17 Zahlreiche in der Lehre diskutierte Beispiele von Falschbezeich­ nungen (z. B. die Parzellenverwechslung im Grundstückskaufvertrag), für die das häufig mit der natürlichen Methode gleichgesetzte Rechtssprichwort falsa demonstratio non nocet bemüht wird, betreffen nicht methodenrelevante un­ echte Falschbezeichnungen. Aufgrund des zum Empfängerhorizont gehören­ den Auslegungsmaterials und der an die Auslegung des normativen Empfän­ gers zu stellenden Anforderungen stimmen hier das natürliche und das norma­ tive Auslegungsergebnis überein.18 II. Methodenrelevant sind im Ergebnis nur solche Fälle, in denen die Verständnis­ se der Beteiligten zufällig übereinstimmen, obwohl der Empfänger objektiv keinen Anlass hatte, vom Willen des Erklärenden auszugehen.19 Dies ist zum einen der Fall, wenn beide Beteiligte irren und zufällig die Erklärung im selben Sinne verstehen (kongruenter Doppelirrtum)20, zum anderen, wenn der Emp­ fänger den Willen des Erklärenden errät, nachdem er einen Irrtum des Erklä­ renden erkannt hat, ohne aufgrund der Umstände auch den Willen erkennen zu können (erratener Wille).21 III. Der ebenfalls häufig genannte (erkannte und) durchschaute Irrtum ist hingegen regelmäßig als unechte Falschbezeichnung nicht methodenrelevant, oder das Auseinanderfallen der Ergebnisse beider Methoden beruht auf inneren Un­ stimmigkeiten der dualistischen Lehre, die den Kern des Methodenunter­ schieds nicht berühren.22

Teil II: Kritik der natürlichen Auslegung 1. Abschnitt: Die Unvereinbarkeit der natürlichen Auslegung mit dem Schutz nachträglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte §  5 Nachträgliches Vertrauen auf das objektiv Erklärte im ­Entdeckungsszenario Die natürliche Auslegungsmethode ist nur scheinbar unproblematisch, weil allge­ mein nur die Situation und Interessenlage bei Vornahme des Rechtsgeschäfts be­ rücksichtigt wird.23 Dadurch bleibt die mögliche weitere Entwicklung des Gesche­ hens nach der Vornahme des Rechtsgeschäfts unberücksichtigt: Ein Beteiligter kann bei einem kongruenten Doppelirrtum nachträglich entdecken, dass er sich geirrt hat (Entdeckungsszenario). Bei Geltung der natürlichen Auslegungsmethode 17 

§  4 I 1, S. 79 f. §  4 I 2, S. 80 ff. 19  §  4 V, S. 110 f. 20  §  4 II, S. 89 ff. 21  §  4 IV, S. 106 ff. 22  §  4 III, S. 97 ff. 23  §  5 I, S. 115. 18 

360

Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse

droht im Entdeckungsszenario das nachträglich entstehende Vertrauen des Entde­ ckers auf den objektiven Erklärungssinn ungeschützt zu bleiben.24 Dies wirft die Fragen auf, ob der Schutz nachträglichen Vertrauens geboten ist (§  6) und ob es al­ ternative Schutzmöglichkeiten auf Basis der dualistischen Lehre gibt (§  7).25 §  6 Der gebotene Schutz nachträglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte Der Schutz nachträglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte ist geboten. I. Bei objektiv eindeutigen Erklärungen ist der Vertrauensschutz aus denselben Gründen geboten, aus denen auch anfängliches Vertrauen vom Gesetz ge­ schützt wird.26 Beide Beteiligte haben im Entdeckungsszenario ein schützens­ wertes Interesse daran, sich den Sinn der Willenserklärung erschließen zu können, ohne das innere Verständnis des Gegners zu kennen. Indem die natür­ liche Methode die Orientierungsfunktion des objektiv Erklärten außer Kraft setzt, entsteht faktisch eine Obliegenheit des Entdeckers zur Nachfrage beim Gegner, die den mit dem Rechtsgeschäft verbundenen Aufwand erhöht27, op­ portunistisches Verhalten des Gegners ermöglicht28, den Entdecker einseitig mit Störungen des Nachfragemechanismus belastet29 und das durch die nor­ mative Methode austarierte Gleichgewicht der Beweismöglichkeiten der Be­ teiligten stört30. Es gibt keinen einleuchtenden sachlichen Grund, der diese Effekte rechtfertigt.31 II. Auch bei objektiv unbestimmten Erklärungen verdient Vertrauen auf den ob­ jektiven Erklärungswert, d. h. auf die aus der Unbestimmtheit folgende Un­ wirksamkeit, grundsätzlich uneingeschränkten Schutz, selbst wenn es erst nachträglich entsteht.32 Die teilweise vertretene Auffassung, dass bewusst un­ bestimmt formulierte Erklärungen im Sinne des innerlich vom Empfänger Verstandenen gelten, steht dem nicht entgegen, da es insoweit allein um die Bekämpfung arglistigen Verhaltens des Erklärenden geht.33 Das Bedürfnis nach Vertrauensschutz entfällt bei mehrdeutigen unbestimmten Willenserklä­ rungen auch nicht deshalb, weil das gleichlautende innere Verständnis „miter­ klärt“ wird 34 oder beim Vertragsschluss die Annahme eines mehrdeutigen An­

24 

§  5 II, S. 116 f. §  5 III, S. 117. 26  §  6 I, S. 118 ff. 27  §  6 I 3 a, S. 126 f. 28  §  6 I 3 b, S. 127 f. 29  §  6 I 3 c, S. 129 f. 30  §  6 I 3 d, S. 130 f. 31  §  6 I 4, S. 131 ff. 32  §  6 II, S. 140 ff. 33  §  6 II 2, S. 142 ff. 34  §  6 II 3 a, S. 147 f. 25 

Teil II: Kritik der natürlichen Auslegung

361

trags bei normativer Auslegung als Hinnahme des „miterklärten“ inneren Wil­ lens des Antragenden zu werten ist35. §  7 Schutz des nachträglichen Vertrauens auf Basis der dualistischen Lehre? Das geltende Recht hält keine Möglichkeit bereit, nachträgliches berechtigtes Ver­ trauen auf Basis der dualistischen Lehre im gebotenen Umfang zu schützen: I. Ein Anfechtungsrecht des Entdeckers ist de lege lata nicht begründbar und wäre auch als bloßes Beseitigungsrecht ungeeignet zum Schutz positiven Ver­ trauens auf das objektiv Erklärte.36 II. Schadensersatzansprüche des Entdeckers gegen seinen Gegner wegen Erwe­ ckung berechtigten Vertrauens37, wegen Mitwirkung an der Herbeiführung der Voraussetzungen der natürlichen Auslegung38 oder wegen verschuldeter Auf­ klärungspflichtverletzung39 sind entweder nicht begründbar oder bleiben in ihrem Umfang ohne einleuchtenden Grund hinter dem Schutz anfänglichen Vertrauens auf das objektiv Erklärte zurück. III. Auch eine (bislang nirgendwo erwogene) Modifikation der dualistischen Leh­ re, die bei Entstehung nachträglichen Vertrauens ausnahmsweise einen Vor­ rang der normativen vor der natürlichen Methode vorsieht, kann nicht befriedi­ gen. Sie würde nicht nur eine streitanfällige Verkomplizierung der dualisti­ schen Lehre mit bislang ungeklärten Folgefragen nach sich ziehen. Sie würde auch das Grundproblem der dualistischen Lehre, die Desorientierung der Be­ teiligten über ihre Rechtslage, nicht lösen, sondern nur an eine andere Stelle verlagern, weil dann das Eingreifen der natürlichen Methode für sie ungewiss wäre.40 §  8 Historische Einordnung I. Die Argumentation mit dem Schutz nachträglichen Vertrauens im Entde­ ckungsszenario ist in der lebhaften Diskussion über die Auslegung der Wil­ lens­erklärung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts sowohl im Zusammen­ hang mit dem kongruenten Doppelirrtum41 als auch im Zusammenhang mit dem inkongruenten Doppelirrtum42 von einigen Autoren (u. a. Oertmann, ­Titze, ­Henle, F. Leonhard) vorgebracht worden. II. Dieser Gedankengang hat in der Folgezeit keinerlei Beachtung gefunden und wurde vergessen. Die Auffassung, auch bei kongruentem Doppelirrtum sei 35 

§  6 II 3 b, S. 148 ff. §  7 I, S. 153 ff. 37  §  7 II 1, S. 156. 38  §  7 II 2, S. 157 f. 39  §  7 II 3, S. 158 ff. 40  §  7 III, S. 161 ff. 41  §  8 I 1, S. 165 ff. 42  §  8 I 2, S. 168. 36 

362

Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse

normativ auszulegen, wurde als „Missgeburt der Begriffsjurisprudenz“ verun­ glimpft, ohne dass eine Auseinandersetzung mit den Sachargumenten der Gegner erfolgte.43 Auch die Diskussion über den inkongruenten Doppelirrtum hat an die Überlegungen zum Schutz nachträglichen Vertrauens nicht mehr angeknüpft.44 III. Letztlich sind beide Seiten der historischen Diskussion dafür verantwortlich, dass der schon früh vorgebrachte Gedankengang wieder in Vergessenheit ge­ riet. Die historischen Anhänger der dualistischen Lehre ignorierten die Argu­ mentation mit dem nachträglichen Vertrauen hartnäckig. Die Befürworter der stärker normativ gesinnten Gegenposition argumentierten teils inkonsequent und stellten im Übrigen ihre Überlegungen allzu zurückhaltend dar. Sie ver­ säumten es auch, die grundsätzliche Bedeutung ihrer Überlegung deutlich he­ rauszuarbeiten und ihre Prämissen – wie hier in §  6 und §  7 geschehen – eigens zu begründen.45

2. Abschnitt: Die Argumente der dualistischen Lehre §  9 Die teleologischen Argumente der dualistischen Lehre Keines der teleologischen Argumente der dualistischen Lehre überzeugt. I. Die Argumente für die Geltung des natürlichen Auslegungsergebnisses: 1. Die natürliche Auslegung befriedigt in den methodenrelevanten Fällen nicht sämtliche maßgebliche (Beteiligten-)Interessen. Entgegen der dualistischen Lehre, die im Kontext der Auslegungsdiskussion meist nur das Selbstbestim­ mungsinteresse des Erklärenden und das Vertrauensschutzinteresse des Emp­ fängers gegenüberstellt46, besteht bei beiden Beteiligten ein hier als Orientie­ rungsinteresse bezeichnetes Bedürfnis, sich die Rechtslage mit den ihnen zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln jederzeit (d. h. auch nachträglich noch) erschließen zu können. Die natürliche Methode übergeht das Orientierungs­ interesse.47 2. Die empfangsbedürftige Willenserklärung erfüllt in den methodenrelevanten Fällen nicht im Sinne des Zweckerreichungsarguments der dualistischen Leh­ re48 ihre Aufgabe. Der Zweck des äußeren Tatbestands der empfangsbedürfti­ gen Willenserklärung besteht nicht darin, den Willen des Erklärenden und das Verständnis des Empfängers momenthaft in Übereinstimmung zu bringen, sondern den Beteiligten eine dauerhafte Orientierungsgrundlage zu geben, die 43 

§  8 II 1, S. 169 ff. §  8 II 2, S. 173. 45  §  8 III, S. 173 ff. 46  §  9 I 1 a, S. 177 f. 47  §  9 I 1 b, S. 179 ff. 48  §  9 I 2 a, S. 184 f. 44 

Teil II: Kritik der natürlichen Auslegung

3.

4.

II. 1.

2.

49 

mit der Dauerhaftigkeit der Rechtsfolgen der Willenserklärung korrespon­ diert.49 Die Geltung des Ergebnisses der natürlichen Auslegung ist nicht damit zu rechtfertigen, dass der übereinstimmende Parteiwille nach Sinn und Zweck je­ der anderen Bedeutung vorgehen müsse. Dieser Begründungsansatz versagt bei einseitigen Rechtsgeschäften, würde bei Verträgen entgegen dem Grundge­ danken der natürlichen Methode eine natürliche Auslegung dann gebieten, wenn schon anfänglich ein Missverständnis besteht, und würde im Entde­ ckungsszenario den Entdecker ohne einleuchtenden Grund gegenüber seinem Gegner benachteiligen50. Auch die Möglichkeit der Beteiligten, eine Vereinbarung über die Bedeutung der von ihnen gebrauchten Zeichen (Sprachvereinbarung) zu schließen, kann die natürliche Auslegung nicht rechtfertigen. Es ist nicht ersichtlich, wie in den methodenrelevanten Fällen eine solche Sprachvereinbarung zustande kommen soll.51 Die Argumente gegen die Geltung des normativen Auslegungsergebnisses in den methodenrelevanten Fällen: Vertrauensschutz mittels der normativen Auslegung zu gewähren ist nicht schon deshalb sinnlos, weil in den methodenrelevanten Fällen bei beiden Betei­ ligten anfänglich kein konkretes Vertrauen auf das objektiv Erklärte besteht. Das „Sinnlosigkeitsargument“ liefert keine Rechtfertigung für die Überge­ hung nachträglichen Vertrauens.52 Ein „Vertrauenserfordernis“ als Vorausset­ zung der Geltung des Ergebnisses der normativen Auslegung würde dem Er­ klärenden die Möglichkeit nehmen, seine Rechtslage einschätzen zu können.53 Aus demselben Grund ist auch ein Dispositionsrecht des Empfängers abzuleh­ nen, das diesem die Möglichkeit gibt, durch einseitigen Verzicht auf den Schutz der normativen Auslegung das Gewollte gelten zu lassen.54 Es ist nicht unvereinbar mit dem Prinzip der Privatautonomie, in den metho­ denrelevanten Fällen mit der normativen Auslegung zu einem von beiden Be­ teiligten ursprünglich nicht gewollten Ergebnis zu gelangen. An diesem Ergeb­ nis werden nie beide Beteiligte gegen ihren Willen festgehalten, sondern allen­ falls einer von ihnen, falls sich beide Beteiligte uneins sind.55 Die den Festgehaltenen dann treffende Bindung, die durch das Anfechtungsrecht ohne­ hin abgeschwächt ist, beruht auf hinter den Anfechtungsregeln (§§  119 ff. BGB)

§  9 I 2 b, S.  185 ff. §  9 I 3 b, S. 188 ff. 51  §  9 I 4, S. 191 f. 52  §  9 II 1 b aa, S. 195 ff. 53  §  9 II 1 b bb (2), S. 201 ff. 54  §  9 II 1 b bb (3), S. 204 ff. 55  §  9 II 2 b bb (1), S. 211 f. 50 

363

364

Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse

stehenden Wertungen, die durch ein „Willenserfordernis“ ohne einleuchtenden Grund eingeschränkt werden.56 3. Die bei streng normativer Auslegung eintretende Verteilung der Vertrauens­ schäden ist in den methodenrelevanten Fällen sachgerecht und keineswegs zu­ fällig – auch nicht im Falle eines beidseitig anfechtbaren Vertrags. Der An­ fechtende muss in Übereinstimmung mit dem hinter §  122 I BGB stehenden Grundgedanken einen Vertrauensschaden nur ersetzen, wenn der Gegner im Entdeckungsszenario auf den objektiven Sinn der Erklärung des Anfechtenden vertraut hat und selbst von einer Anfechtung abgesehen hat. Das „Zufallsargu­ ment“ passt zudem von vornherein nicht auf einseitige Rechtsgeschäfte und unbestimmte Willenserklärungen.57 4. Durch die streng normative Auslegung entsteht kein unbilliges Reurecht. Der Gedanke des Reurechtsausschlusses ist zur Rechtfertigung der natürlichen Auslegungsmethode schon deshalb ungeeignet, weil er Wirkungen zu Lasten des Empfängers, der bei Geltung der natürlichen Auslegungsmethode an sei­ nem anfänglichen inneren Verständnis festgehalten würde, nicht zu rechtferti­ gen vermag.58 §  10 Die systematischen Argumente der dualistischen Lehre Auch die systematischen Argumente der dualistischen Lehre überzeugen in den methodenrelevanten Fällen nicht. I. §  116 S.  2 BGB: Eine „Kenntnis“ des Empfängers vom inneren Vorbehalt be­ steht nur in den für den Methodenstreit uninteressanten Fällen, in denen der Empfänger aufgrund objektiver Umstände von einer Mentalreservation aus­ geht.59 Eine ohne derartige Umstände lediglich zufällig zustandegekommene wahre Vorstellung ist schon im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs keine „Kenntnis“.60 Eine Auslegung der Norm, die auch eine nicht durch die objekti­ ven Umstände gestützte wahre Vorstellung als „Kenntnis“ genügen lässt, wür­ de es dem Empfänger im Entdeckungsszenario unmöglich machen zu beurtei­ len, ob die Erklärung nichtig ist oder nicht.61 II. §  117 I BGB: Die Nichtigkeit einer simulierten Erklärung im Falle des Einver­ ständnisses des Empfängers mit der Simulation erlaubt keine Schlussfolgerun­ gen zugunsten der natürlichen Methode. Das (zumindest als Vorstufe der Billi­ gung) erforderliche Bewusstsein des Empfängers vom Simulationscharakter ist für den Methodenstreit unergiebig, soweit es als „Kenntnis“ des Simulati­ 56 

§  9 II 2 b bb (2), S. 212 ff. §  9 II 3 b, S. 218 ff. 58  §  9 II 4 c, S. 225 ff. 59  §  10 I, S. 230 ff. 60  §  10 I 2 a, S. 232 f. 61  §  10 I 2 b, S. 233 ff. 57 

Teil II: Kritik der natürlichen Auslegung

365

onscharakters auf dem Empfänger bekannten objektiven Umständen beruht.62 Sollte im Simulationskontext einmal beim Empfänger ein Bewusstsein des Si­ mulationscharakters ohne äußere Anhaltspunkte zustande kommen, wäre nicht §  117 I BGB, sondern §  118 BGB heranzuziehen, um das nachträgliche Vertrauen des Empfängers über §  122 I BGB schützen zu können.63 Das im Einverständnis enthaltene empfängerseitige Billigungselement ist für die na­ türliche Methode nicht anschlussfähig.64 Soweit das „Einverständnis“ eine rechtsgeschäftsähnliche Simulationsabrede bezeichnen sollte, müsste bei An­ wendung von §  117 I BGB auf die allgemeinen Auslegungsgrundsätze rekur­ riert werden, um deren Inhalt es in der Methodendiskussion gerade geht. Jede Argumenta­tion mit dieser Norm im Zusammenhang mit der allgemeinen Aus­ legungslehre wäre dann zirkulär.65 III. §  117 II BGB: Das Zustandekommen des verdeckten Geschäfts darf nicht im Sinne einer verbreiteten subjektiven Theorie von gleichlautenden inneren Wil­ len bzw. Vorstellungen der Parteien abhängig gemacht werden, sondern es muss zum Schutze berechtigten Vertrauens jedenfalls subsidiär nach den allge­ meinen Auslegungsgrundsätzen auch eine normative Auslegung stattfinden.66 Als bloßer Hinweis auf die „allgemeinen Vorschriften“ ist die Regelung dann hinsichtlich der richtigen Auslegungsmethode vollkommen inhaltsleer.67 Der verbreitete Erst-recht-Schluss aus §  117 II BGB, der aus den dort angeblich ge­ regelten Rechtsfolgen absichtlichen Verbergens des Gewollten Schlüsse für den beidseitig fahrlässigen Umgang mit der Erklärung ableiten möchte, geht fehl, da der Erklärende in den Fällen des §  117 II BGB keineswegs absichtlich das Gewollte vor dem insoweit entscheidenden Empfänger verbirgt.68 IV. §  122 II BGB: Der Ausschluss der Haftung des Anfechtenden bei Kenntnis oder fahrlässiger Unkenntnis des Anfechtungsgegners vom Anfechtungsgrund gibt nichts dafür her, im Wege der natürlichen Auslegung nachträglich entste­ hendes berechtigtes Vertrauen auf das objektiv Erklärte schutzlos zu stellen.69 V. §§  133, 157 BGB: Keines der in den allgemeinen Auslegungsvorschriften ge­ nannten Kriterien der Auslegung schreibt eine dualistische Auslegung zwin­ gend vor bzw. ist mit einer streng normativen Auslegung unvereinbar. Dies gilt auch im Hinblick auf das Gebot von Treu und Glauben (§  157 BGB) bei Be­ rücksichtigung des Orientierungsinteresses der Beteiligten im Entdeckungs­ sze­nario.70 62 

§  10 II 1 b aa (1), S. 243 ff. §  10 II 1 b aa (2), S. 246 ff. 64  §  10 II 1 b bb, S. 249 f. 65  §  10 II 1 b cc, S. 250 f. 66  §  10 II 2 a, S. 252 ff. 67  §  10 II 2 b, S. 256 ff. 68  §  10 II 2 c, S. 258 ff. 69  §  10 III, S. 262 f. 70  §  10 IV, S. 263 f. 63 

366

Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse

§  11 Die historischen Argumente der dualistischen Lehre Die dualistische Lehre wird kaum mit historischen Argumenten begründet. Soweit man sich vereinzelt auf Ausführungen in den Materialien zum Erbrecht bezieht, die die Verankerung des Satzes falsa demonstratio non nocet in den allgemeinen Aus­ legungsregeln betonen, folgt aus diesen Ausführungen zugunsten einer dualisti­ schen Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen nichts.71

Teil III: Drei Folgefragen für die streng normative Auslegungslehre §  12 Die Auswirkungen der streng normativen Auslegungslehre auf die Beweislage im Prozess I. Im Prozess hat die dualistische Lehre eine bemerkenswerte beweiserleichtern­ de Wirkung. Der beweisbelasteten Partei ermöglicht sie in nicht methodenrele­ vanten Fällen, in denen materiell-rechtlich das natürliche und normative Aus­ legungsergebnis übereinstimmen, die Beweisführung auch dann, wenn diese Partei zwar nicht das zum objektiven Empfängerhorizont gehörige Ausle­ gungsmaterial, dafür aber das ursprünglich übereinstimmende Verständnis der Beteiligten beweisen kann. Das dadurch erzielte prozessuale Ergebnis über­ zeugt, da es der Lebenserfahrung entspricht, dass ein feststellbares überein­ stimmendes Verständnis der Willenserklärung regelmäßig nicht zufällig zu­ stande gekommen ist, sondern auf objektiven Umständen beruht.72 II. Der beweiserleichternde Effekt lässt sich auch auf Basis der streng normativen Auslegungslehre nach allgemeinen Grundsätzen des Beweisrechts durch Aner­ kennung eines Anscheinsbeweises erzielen, der an den unter I. genannten Satz der Lebenserfahrung anknüpft.73 Als wesentlicher Unterschied zwischen der dualistischen und der streng normativen Lehre verbleibt so die Möglichkeit des Gegners der beweisbelasteten Partei, den Anscheinsbeweis zu erschüttern oder sogar den vollen Gegenbeweis anzutreten. Bei Anerkennung des materi­ ell-rechtlichen Vorrangs der natürlichen Auslegungsmethode wäre ihm diese Möglichkeit abgeschnitten.74 §  13 Die streng normative Auslegung im Durchführungsszenario I.

Auf Basis einer streng normativen Auslegungslehre stellt sich im sog. Durch­ führungsszenario die Frage, wie mit methodenrelevanten Fällen umzugehen ist, in denen die Beteiligten ihre Rechtsbeziehungen auf Basis ihres zufällig 71 

§  11, S. 267 f. §  12 II 2 b bb, S. 276 ff. 73  §  12 II 2 b cc, S. 278 ff. 74  §  12 II 3, S. 281. 72 

Teil III: Drei Folgefragen für die streng normative Auslegungslehre

367

übereinstimmenden Verständnisses abwickeln, ohne zuvor den objektiven Er­ klärungssinn zu entdecken.75 II. Die von den historischen Vertretern der Gegenposition zur dualistischen Lehre (dazu §  8) vertretene Auffassung, der Inhalt des Rechtsgeschäfts werde im ­Falle der Durchführung rechtsgeschäftlich geändert76, überzeugt nicht. Es fehlt am äußeren und an einem mangelfreien inneren Tatbestand eines ändernden Rechtsgeschäfts.77 III. Auch mit der Figur der Rechtsscheinhaftung oder den Regeln der Ver- und Erwirkung ist eine Stabilisierung der eingetretenen Verhältnisse im Durchfüh­ rungsszenario nicht zu erreichen.78 IV. Hier wird als (Teil-)Lösungsansatz eine Präzisierung der normativen Ausle­ gungsmethode vorgeschlagen. Im Durchführungsszenario kann ausnahmswei­ se entgegen dem Dogma der Unveränderlichkeit des Erklärungssinns79 das nachträgliche Verhalten der Beteiligten bei der Auslegung des objektiven Sinns der ursprünglichen Willenserklärung(en) zu verwerten sein. Die Zäsur des ob­ jektiven Empfängerhorizonts zum Zugangszeitpunkt ist kein Selbstzweck, sondern lässt die Berücksichtigung nachträglicher Umstände zu, wenn keine schutzwürdigen Interessen der Beteiligten dagegen sprechen.80 Diese Lösung greift jedoch nur ein, wenn unter den Beteiligten aufgrund der Durchführung weder darüber begründete Unsicherheit herrscht, wie die Erklä­ rung ursprünglich gemeint war, noch darüber, dass auch zwischenzeitlich kein schutzwürdiges Vertrauen auf den ursprünglichen Erklärungssinn entstanden ist.81 Soweit diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind, bleibt auch im Durchfüh­ rungsszenario der ursprüngliche objektive Erklärungssinn maßgeblich, auf den sich dann beide Beteiligte berufen können.82 Dies ist vorzugswürdig ge­ genüber der dualistischen Lehre, die lediglich zufällig im Durchführungssze­ nario ein billig erscheinendes Ergebnis hervorbringt, indem sie ohne Rücksicht auf den gebotenen Schutz nachträglichen Vertrauens an das anfänglich gleich­ lautende innere Verständnis der Beteiligten Rechtsfolgen knüpft, und die zu­ dem selbst mit ungelösten Problemen eines anderen „Durchführungsszena­ rios“ zu kämpfen hat, in dem die Beteiligten ihr eigenen Irrtümer unabhängig voneinander entdecken und daraufhin das Rechtsgeschäft im Sinne des Ergeb­ nisses der normativen Auslegung durchführen.83 75 

§  13 I und II, S. 283 ff. §  13 III 1, S. 286 ff. 77  §  13 III 2, S. 288 ff. 78  §  13 IV, S. 295 ff. 79  Dazu §  13 V 1, S. 298 ff. 80  §  13 V 2 a und b, S. 303 ff. 81  §  13 V 2 b bb, S. 306 ff. 82  §  13 V 2 d, S. 309 f. 83  §  13 V 3, S. 310 f. 76 

368

Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse

§  14 Das Problem des exorbitanten Sonderwissens Im Hinblick auf die in Teil II herausgearbeitete Interessenlage der Beteiligten be­ darf auch die normative Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont der Überprüfung. I. Die Erkennbarkeitsformel des objektiven Empfängerhorizonts ist problema­ tisch, soweit sie vom Empfänger verlangt bzw. ihm gestattet, sein gesamtes Sonderwissen bei der Auslegung zu verwerten. Unter diesem Sonderwissen kann sich auch sog. exorbitantes Sonderwissen befinden, mit dessen Vorliegen beim Empfänger der Erklärende nicht rechnen muss. Die Berücksichtigung dieses Sonderwissens nimmt dem Erklärenden die Möglichkeit, sich im Nach­ hinein (im Entdeckungsszenario) den Sinn der Erklärung zu erschließen84, mit Konsequenzen, die den in §  6 der Untersuchung herausgearbeiteten schädli­ chen Effekten der natürlichen Methode gleichkommen85. Diese Desorientie­ rung ist weder durch die Verantwortung des Erklärenden für die Formulierung seiner Erklärung86 noch durch das Selbstbestimmungsinteresse des Erklären­ den in Form einer zusätzlichen Chance auf Geltung seines Willens87 gerecht­ fertigt. Es handelt sich auch um kein „Scheinproblem“, das sich auf Basis der Erkennbarkeitsformel anderweitig beheben lässt, z. B. durch Gewährung eines Schadensersatzanspruchs88 oder bei der Ausdeutung des Auslegungsmate­ rials89. II. Hier wird als Reaktion auf das Problem des exorbitanten Sonderwissens vorge­ schlagen, Auslegungsmaterial nicht bei der normativen Auslegung zu berück­ sichtigen, von dessen Exorbitanz der Empfänger ausgehen muss, von dem er also annehmen muss, der Erklärende könne mit seinem Vorliegen bei ihm (dem Empfänger) nicht rechnen.90 Entscheidend bleibt auch bei der Feststellung der Exorbitanz die Perspektive des Empfängers, auf dessen Orientierungsinteresse aufgrund des Zugangserfordernisses vorrangig Rücksicht zu nehmen ist.91 Die­ ser modifizierte Zuschnitt des Empfängerhorizonts ist theoretisch schlüssig92 und praktisch handhabbar93. III. Exorbitantes Sonderwissen des Empfängers ist nicht in jeder Hinsicht ohne Rechtsfolgen. Es schließt im Falle der Anfechtung den Ersatz von Vertrauens­ schäden aus (§  122 II BGB).94 Es kann ferner mittelbar Auslöser für einen 84 

§  14 II 2 a, S. 323 ff. §  14 II 2 b, S. 325 f. 86  §  14 II 2 c aa, S. 327 f. 87  §  14 II 2 c bb, S. 328 ff. 88  §  14 II 2 d aa, S. 330 f. 89  §  14 II 2 d cc, S. 331 f. 90  §  14 III, S. 333 ff. 91  §  14 III 2, S. 335 ff. 92  §  14 III 3, S. 338 ff. 93  §  14 III 4, S. 341. 94  §  14 IV 2, S. 342 f. 85 

Teil III: Drei Folgefragen für die streng normative Auslegungslehre

369

Schadensersatzanspruch des Erklärenden gegen den Empfänger gem. §  826 BGB oder (innerhalb von Sonderbeziehungen) gem. §§  280 I, 241 II BGB sein, wenn der Empfänger schuldhaft einen Hinweis auf den erkannten oder erkenn­ baren Irrtum unterlässt95. IV. Das exorbitante Sonderwissen beeinflusst den Sinn der Erklärung auch dann nicht, wenn der Empfänger deshalb den wirklichen Willen des Erklärenden tatsächlich durchschaut.96 Auch in dieser Fallkonstellation, die erst durch die hier vertretene Modifikation der Erkennbarkeitsformel methodenrelevant wird, richtet sich der Erklärungssinn nicht nach dem innerlich übereinstimmenden Verständnis. Dies wäre mit Sinn und Zweck der hier vertretenen Modifikation der Erkennbarkeitsformel zugunsten des Erklärenden unvereinbar, der im Ent­ deckungsszenario mit dem Durchschauen seines Irrtums nicht rechnen kann.97 Mangels Vergleichbarkeit der Interessenlage erlaubt auch §  116 S.  2 BGB keine gegenteiligen Schlussfolgerungen.98 Das Durchschauen des Irrtums aufgrund exorbitanten Sonderwissens lässt auch die Gültigkeit der Willenserklärung un­ berührt.99

95 

§  14 IV 3, S. 343 ff. §  14 V, S. 347 ff. 97  §  14 V 1 a, S. 349 f. 98  §  14 V 1 b, S. 350 ff. 99  §  14 V 2, S. 354 ff. 96 

Ausblick

Die Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen in ausgewählten internationalen Regelwerken Der thematische Zuschnitt dieser Untersuchung ist in gewisser Weise unzeitgemäß. Auf Basis des deutschen BGB haben die Methoden der Auslegung empfangsbedürf­ tiger Willenserklärungen schon lange keine vertiefte wissenschaftliche, gar mono­ graphische Aufmerksamkeit mehr erfahren. Die hier behandelten Grundfragen der Auslegung rechtsgeschäftlicher Erklärungen werden, wenn überhaupt, in jüngerer Zeit nur noch in einem anderen Kontext berührt: Auf internationaler Ebene sind in den letzten Jahren eine Vielzahl von Regelwerken unterschiedlicher Herkunft und rechtlicher Qualität auf den Plan getreten, die jeweils auch Vorschriften über die Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen enthalten. Insbesondere auf europäischer Ebene hat sich in diesem Zusammenhang in jüngerer Zeit viel getan und – wenngleich auch hier nicht unbedingt im Zentrum des Interesses stehend – einiges an Aufmerksamkeit für Auslegungsfragen erzeugt. Die im Vergleich mit den fragmentarischen Regelungen der §§  133, 157 BGB weitaus detaillierteren und in sich geschlosseneren Regelungen erfahren dabei im deutschen Schrifttum insge­ samt eine überwiegend positive Bewertung – wohl in der verbreiteten Überzeu­ gung, die Vorschriften buchstabierten aus, was zum BGB als (dualistische) Ausle­ gungslehre allgemein anerkannt ist1. Abschließend soll noch im Rahmen eines Ausblicks auf diese internationalen Re­ gelwerke und die in ihnen enthaltenen Auslegungsregeln eingegangen werden. Eine umfassende Würdigung ist nicht beabsichtigt. Vielmehr wird allein dargelegt wer­ den, inwieweit die in dieser Abhandlung zum BGB gewonnen Erkenntnisse auch für die Auslegungsregeln der im Folgenden behandelten Regelwerke relevant und fruchtbar sind.

1  McMeel/Grigoleit, in: Common European Sales Law (2013), 341 (369) zum DCFR und zum GEKR: „corresponds with the German approach“; Looschelders, AcP 212 (2012), 581 (637 f.); Müller-Graff, in: Einheitliches Europäisches Kaufrecht (2012), 51 (77 f.) zu Art.  12 GEKR: „dürfte im Ergebnis mit der judikativen Handhabung der Auslegungsregel des §  133 BGB bei empfangsbe­ dürftigen Willenserklärungen übereinstimmen“; Saenger, in: Internationales Vertragsrecht (2012), Art.  8 CISG Rn.  1; Hepting/‌Müller, in: Handbuch der Beweislast, BGB SchR BT I (2009), Art.  8 UN-Kaufrecht Rn.  4; Junge, in: Schlechtriem, UN-Kaufrecht (2000), Art.  8 Rn.  3: „entspricht da­ mit den §§  133, 157 BGB“; Witz, in: Witz/‌Salger/‌Lorenz, International Einheitliches Kaufrecht (2000), Art.  8 Rn.  2.

372

Ausblick

VII. Die Auslegungsregeln der internationalen Regelwerke 1. Überblick Nachstehend werden die hier behandelten Regelwerke und die in ihnen enthaltenen Auslegungsregeln zunächst im Überblick vorgestellt, soweit sie die methodischen Weichenstellungen zwischen natürlicher und normativer Auslegung betreffen.2 Die Abfolge ist chronologisch nach dem Zeitpunkt der Entstehung geordnet, da die vor­ angegangenen Instrumente jeweils die Entstehung der späteren Instrumente mit beeinflusst haben. a) UN-Kaufrecht Die „United Nations Convention on Contracts for the International Sale of Goods“ vom 11. April 1980 (UN-Kaufrecht), die in Deutschland unmittelbar geltendes Recht ist, enthält in Art.  8 eine Vorschrift über die Auslegung von Erklärungen und sonstigem Parteiverhalten, die deutlich detaillierter als die §§  133, 157 BGB ist, ohne die Ausführlichkeit der nachfolgend vorgestellten Regelwerke zu erreichen: Artikel 8 UN-Kaufrecht (1) Für die Zwecke dieses Übereinkommens sind Erklärungen und das sonstige Verhal­ ten einer Partei nach deren Willen auszulegen, wenn die andere Partei diesen Willen kannte oder darüber nicht in Unkenntnis sein konnte. (2) Ist Absatz 1 nicht anwendbar, so sind Erklärungen und das sonstige Verhalten einer Partei so auszulegen, wie eine vernünftige Person der gleichen Art wie die andere Partei sie unter den gleichen Umständen aufgefaßt hätte. (3) Um den Willen einer Partei oder die Auffassung festzustellen, die eine vernünftige Person gehabt hätte, sind alle erheblichen Umstände zu berücksichtigen, insbesonde­ re die Verhandlungen zwischen den Parteien, die zwischen ihnen entstandenen Ge­ pflogenheiten, die Gebräuche und das spätere Verhalten der Parteien.

b) PECL Die „Principles of European Conract Law“ (PECL), eine nicht rechtsverbindliche Zusammenstellung gemeinsamer Vertragsrechtsgrundsätze, die von einer Kommis­ sion führender europäischer Zivilrechtswissenschaftler unter Vorsitz des Dänen Ole 2  Die Regelwerke enthalten neben den im Folgenden im Text vorgestellten Vorschriften teil­ weise noch weitere Auslegungsregeln. Diese betreffen jedoch nicht den in dieser Untersuchung im Mittelpunkt stehenden Unterschied zwischen natürlicher und normativer Auslegungsmethodik, sondern die nachgeordnete Fragestellung, wie mit verbleibenden Auslegungszweifeln umzugehen ist. Vgl. insofern etwa die sog. contra-proferentem-Regel, die eine Auslegung wider den Erklären­ den vorsieht (z. B. Art.  65 GEKR), oder die Zweifelsregel zu Gunsten einer wirksamkeitsfördern­ den Auslegung (z. B. Art.  63 GEKR).

Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen in internationalen Regelwerken 373

Lando erstellt wurde, enthalten ebenfalls einige Auslegungsregeln. Zur Methodik der Auslegung von Verträgen sehen die PECL folgende Regeln3 vor: Article 5:101: General Rules of Interpretation (1) A contract is to be interpreted according to the common intention of the parties even if this differs from the literal meaning of the words. (2) If it is established that one party intended the contract to have a particular meaning, and at the time of the conclusion of the contract the other party could not have been unaware of the first party‘s intention, the contract is to be interpreted in the way in­ tended by the first party. (3) If an intention cannot be established according to (1) or (2), the contract is to be inter­ preted according to the meaning that reasonable persons of the same kind as the par­ ties would give to it in the same circumstances. Article 5:102: Relevant Circumstances In interpreting the contract, regard shall be had, in particular, to: (a) the circumstances in which it was concluded, including the preliminary negotiations; (b) the conduct of the parties, even subsequent to the conclusion of the contract; (c) the nature and purpose of the contract; (d) the interpretation which has already been given to similar clauses by the parties and the practices they have established between themselves; (e) the meaning commonly given to terms and expressions in the branch of activity con­ cerned and the interpretation similar clauses may already have received; (f) usages; and (g) good faith and fair dealing.

c) PICC Die durch UNIDROIT, eine internationale Organisation zur Förderung der Verein­ heitlichung des Zivilrechts mit Sitz in Rom, formulierten „Principles of Internatio­ nal Commercial Contracts“ (PICC) enthalten in Art.  4 mehrere Auslegungsregeln für internationale Handelsverträge4: 4.1 (Intention of the parties) (1) A contract shall be interpreted according to the common intention of the parties. (2) If such an intention cannot be established, the contract shall be interpreted according to the meaning that reasonable persons of the same kind as the parties would give to it in the same circumstances.

3 

Abgedruckt bei: Lando/Beale, Principles of European Contract Law (2000), 287 ff. bei: UNIDROIT, Unidroit Principles of International Commercial Contracts 2010 (2010), 137 ff. Zuvor bereits im Hinblick auf die hier interessierenden Auslegungsregeln in­ haltlich übereinstimmend: UNIDROIT, Unidroit Principles of International Commercial Cont­ racts 2004 (2004), 118 ff. und UNIDROIT, Unidroit Principles of International Contracts 1994 (1994), 90 ff. 4 Abgedruckt

374

Ausblick

4.2 (Interpretation of statements and other conduct) (1) The statements and other conduct of a party shall be interpreted according to that party‘s intention if the other party knew or could not have been unaware of that inten­ tion. (2) If the preceding paragraph is not applicable, such statements and other conduct shall be interpreted according to the meaning that a reasonable person of the same kind as the other party would give to it in the same circumstances. 4.3 (Relevant circumstances) In applying Articles 4.1 and 4.2, regard shall be had to all the circumstances, including (a) preliminary negotiations between the parties; (b) practices which the parties have established between themselves; (c) the conduct of the parties subsequent to the conclusion of the contract; (d) the nature and purpose of the contract; (e) the meaning commonly given to terms and expressions in the trade concerned; (f) usages.

d) DCFR Als Grundlage für ein zukünftiges europäisches Zivilgesetzbuch haben im Jahr 2009 zwei Wissenschaftlergruppen, nämlich die Study Group on a European Civil Code und die Research Group on EC Private Law (Acquis Group), einen „Draft Common Frame of Reference“ (DCFR) vorgelegt. Der DCFR enthält folgende Re­ gelungen zur Vertragsauslegung: II.-8:101: General rules (1) A contract is to be interpreted according to the common intention of the parties even if this differs from the literal meaning of the words.5 (2) If one party intended the contract, or a term or expression used in it, to have a parti­ cular meaning, and at the time of the conclusion of the contract the other party was aware, or could reasonably be expected to have been aware, of the first party’s inten­ tion, the contract is to be interpreted in the way intended by the first party. (3) The contract is, however, to be interpreted according to the meaning which a reason­ able person would give to it: (a) if an intention cannot be established under the preceding paragraphs; or (b) if the question arises with a person, not being a party to the contract or a person who by law has no better rights than such a party, who has reasonably and in good faith relied on the contract’s apparent meaning. II.-8:102: Relevant matters (1) In interpreting the contract, regard may be had, in particular, to: (a) the circumstances in which it was concluded, including the preliminary negotiations; (b) the conduct of the parties, even subsequent to the conclusion of the contract;

5 Abgedruckt bei: v. Bar/Clive, DCFR, Full Edition I (2009), 553 ff.; dies., DCFR, Outline Edition (2009), 216 ff.

Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen in internationalen Regelwerken 375

(c) the interpretation which has already been given by the parties to terms or expressions which are the same as, or similar to, those used in the contract and the practices they have established between themselves; (d) the meaning commonly given to such terms or expressions in the branch of activity concerned and the interpretation such terms or expressions may already have re­ ceived; (e) the nature and purpose of the contract; (f) usages; and (g) good faith and fair dealing. (2) In a question with a person, not being a party to the contract or a person such as an assignee who by law has no better rights than such a party, who has reasonably and in good faith relied on the contract’s apparent meaning, regard may be had to the circum­ stances mentioned in sub-paragraphs (a) to (c) above only to the extent that those cir­ cumstances were known to, or could reasonably be expected to have been known to, that person.

Äußerst knapp fällt demgegenüber im DCFR die Regelung über die Auslegung von Vertragsschlusserklärungen6 aus: II.-4:102: How intention is determined The intention of a party to enter into a binding legal relationship or bring about some other legal effect is to be determined from the party’s statements or conduct as they were reaso­ nably understood by the other party.

e) GEKR Das jüngste Regelungsinstrument, das im hiesigen Zusammenhang von Interesse ist, ist der Entwurf eines „Gemeinsamen Europäischen Kaufrechts“ (GEKR), wie es von der Europäischen Kommission vorgeschlagen7, mit zahlreichen vom Rechts­ ausschuss vorgeschlagenen Änderungen8 vom Europäischen Parlament am 26. Feb­ ruar 2014 in erster Lesung angenommen9 und von der Kommission gebilligt wurde. Der Verordnungsentwurf hat zwar aufgrund des Widerstands zahlreicher Mitglied­ 6 Abgedruckt bei: v. Bar/Clive, DCFR, Outline Edition (2009), 195. Inhaltsgleich auch Art.   II.-4:302 DCFR bezüglich anderer Rechtsgeschäfte („other juridical acts“), abgedruckt a. a. O., 200. Zu dieser Regel siehe noch krit. Fn.  56. 7  Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Ge­ meinsames Europäisches Kaufrecht vom 11.10.2011, Kom(2011), 635 endg., Anhang I: Gemeinsa­ mes Europäisches Kaufrecht. 8 Bericht über den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht, abrufbar unter http://www.europarl.europa. eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP/TEXT+REPORT+A7-2013-0301+0+DOC+XML+V0//DE#tit le1. 9  Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments vom 26. Februar 2014 zu dem Vor­ schlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht, ORAL P7_TA-PROV(2014)0159, abrufbar unter http://www.europarl. europa.eu/RegData/seance_ pleniere/‌t extes_adpotes/‌p rovisoire//‌2 014/‌0 2-26/0159/P7_TAPROV(2014)0159_DE.pdf.

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Ausblick

staaten derzeit wohl keine Aussicht mehr verabschiedet zu werden und wird von der Kommission auf einer Liste der „zurückzuziehenden oder zu ändernden Vorschlä­ ge“ geführt10. Als Orientierungspunkt für künftige europäische Regelungen mit Bezug zur Auslegungsthematik dürfte er allerdings auch in Zukunft Bedeutung haben. Im Verordnungsentwurf (in der in der ersten Lesung vom Europäischen Par­ lament verabschiedeten geänderten Fassung) befassen sich die Artt.  58 f. GEKR mit den methodischen Weichenstellungen zur Auslegung: Artikel 58 Allgemeine Regeln zur Auslegung von Verträgen 1. Ein Vertrag wird nach dem gemeinsamen Willen der Parteien ausgelegt, auch wenn dieser nicht mit der normalen Bedeutung der im Vertrag verwendeten Ausdrücke übereinstimmt. 2. Wenn eine Partei einen im Vertrag verwendeten Ausdruck oder entsprechendes Ver­ halten in einem bestimmten Sinne verstanden wissen wollte und dies der anderen Partei bei Vertragsschluss bewusst war oder hätte bewusst sein müssen, wird der Ausdruck oder das entsprechende Verhalten so ausgelegt, wie die erste Partei ihn verstanden wissen wollte. 3. Sofern die Absätze 1 und 2 nicht anders bestimmen, ist der Vertrag in dem Sinne auszulegen, den ihm eine vernünftige Person geben würde. 3a. In einem Vertrag verwendete Ausdrücke sind im Lichte des gesamten Vertrages aus­ zulegen. 3b. Die Vorschriften dieses Kapitels sind auf die Auslegung eines Angebots, einer An­ nahme, einer einseitigen Absichtserklärung oder ähnlichen Verhaltens entsprechend anwendbar. Artikel 59 Erhebliche Umstände Bei der Auslegung des Vertrags können insbesondere berücksichtigt werden: a) die Umstände, unter denen er geschlossen wurde, b) das Verhalten der Parteien vor, während und nach Vertragsschluss, c) die Auslegung, die von den Parteien denselben oder ähnlichen Ausdrücken wie den im Vertrag verwendeten früher gegeben wurde, d) Gebräuche, die von Parteien, die sich in der gleichen Situation befinden, als allgemein anwendbar angesehen würden, e) Gepflogenheiten, die zwischen den Parteien entstanden sind, f) die Bedeutung, die Ausdrücken in dem betreffenden Tätigkeitsbereich gewöhnlich gegeben wird, g) die Natur und den Zweck des Vertrags und h) das Gebot von Treu und Glauben und des redlichen Geschäftsverkehrs.

Daneben sieht das GEKR in seinem Teil I (Einleitende Bestimmung) noch eine weitere allgemeine Auslegungsregel vor, die sich auf einseitige Absichtserklärun­ gen oder einseitiges Verhalten bezieht, d. h. im Sinne des deutschen Rechts auf Wil­ lenserklärungen: 10 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Arbeitsprogramm der Kom­ mission 2015: Ein neuer Start, COM(2014) 910 final vom 16.12.2014, Annex II Ziffer 60.

Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen in internationalen Regelwerken 377

Artikel 12 Einseitige Erklärungen oder einseitiges Verhalten 1. Eine einseitige Absichtserklärung wird so ausgelegt, wie erwartet werden kann, dass die Person, an die sie gerichtet ist, sie versteht. 2. Wollte die Person, die die Erklärung abgegeben hat, einem darin verwendeten Aus­ druck eine bestimmte Bedeutung geben und kannte die andere Partei diesen Willen oder hätte sie ihn kennen müssen, so wird der Ausdruck so ausgelegt, wie die Person, die die Erklärung abgegeben hat, ihn verstanden wissen wollte. 3. Unter einer Erklärung im Sinne dieses Artikels ist auch ein Verhalten zu verstehen, das als einer Erklärung entsprechend betrachtet werden kann.

2. Unterschiede und gemeinsame Strukturelemente a) Unterschiede beim Auslegungsgegenstand Beim Vergleich der vorstehenden Regelungen fällt auf, dass sie unterschiedliche Auslegungsgegenstände wählen. Während sich einige – wie die §§  133, 157 BGB – auf Willenserklärungen beziehen11, haben andere dem Wortlaut nach unmittelbar den Vertrag als Bezugspunkt12. Manche der Regelwerke (DCFR, PICC, GEKR) ent­ halten sogar nebeneinander Auslegungsregeln für Willenserklärungen und Verträ­ ge. Das Schrifttum steht dieser Frage bislang mit einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber13, lässt teilweise sogar eine Präferenz für den Ansatz erkennen, den Ver­ trag als Bezugspunkt zu wählen14. Diese Indifferenz ist erstaunlich, wenn man sich vor Augen führt, dass ein Ver­ trag – auch in den betrachteten Regelwerken – nur durch eine Einigung mittels in­ haltlich übereinstimmender Willenserklärungen zustande kommen kann. Die Fest­ stellung der vertraglichen Einigung setzt deshalb geradezu zwingend voraus, dass bereits vor dem Abgleich der Erklärungen deren Inhalt (mit Hilfe der Regelung über die Auslegung von Einzelerklärungen15) ermittelt wurde. Welcher Raum für eine „Vertragsauslegung“ dann noch bleibt, die das Zustandekommen des Vertrages im­ mer schon voraussetzen muss, ist unerfindlich, da mit dem bereits ermittelten Inhalt der Vertragsschlusserklärungen der Vertragsinhalt feststeht.16 Eine Arbeitsteilung, 11 

Art.  8 UN-Kaufrecht; Art.  4.2 PICC; Artt. II.-4:102, II.-4:302 DCFR; Art.  12 GEKR. Art.  5:101 f. PECL; Art.  4.1 PICC; Art.  II.-8:101 f. DCFR; Art.  58 f. GEKR. 13  Looschelders, AcP 212 (2012), 581 (637); Zimmermann, FS E. Picker (2010), 1353 (1355 f.). 14 Siehe Maultzsch, in: Einheitliches Europäisches Kaufrecht (2012), 203 (208), der sich i. E. für den zweispurigen Ansatz, der Erklärungs- und Vertragsauslegungsregeln nebeneinander vor­ sieht, ausspricht. 15  Für die Anwendung der erklärungsbezogenen Auslegungsregeln auf die Vertragsschlusser­ klärungen dementsprechend auch: Jessica Schmidt, Vertragsschluss (2013), 162 (zu Art.   12 GEKR); Looschelders, AcP 212 (2012), 581 (637); Schulze, in: Schulze, Common European Sales Law (2012), Art.  12 Rn.  4; Zimmermann, FS E. Picker (2010), 1353 (1356); Vogenauer, in: Vogenau­ er/‌K leinheisterkamp, PICC-Commentary (2009), Art.  4.2 Rn.  1. 16 Vgl. Jessica Schmidt, Vertragsschluss (2013), 162, die mit Blick auf den Kommissionsent­ wurf zum GEKR lediglich darauf verweist, für die Auslegung von Vertrag und Vertragsschlusser­ 12 

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bei der die „Erklärungsauslegung“ lediglich die essentialia negotii und die „Ver­ tragsauslegung“ den restlichen Inhalt des Vertrages ermittelt17, funktioniert schon deshalb nicht, weil der Vertragsschluss auch an einem Dissens über die accidentalia negotii scheitern kann. Aufgrund des beschriebenen sachlogischen Zusammen­ hangs käme der Rechtsanwender selbst dann, wenn ein Regelwerk ausschließlich vertragsbezogene Auslegungsregeln vorsähe, schwerlich daran vorbei, seine Ausle­ gungsbemühungen trotzdem zunächst auf die einzelne Vertragsschlusserklärung zu beziehen.18 Umgekehrt bedarf es bei Regelwerken, die – wie das UN-Kaufrecht – allein die Auslegung von Einzelerklärungen vorsehen, keiner besonderen Anstren­ gungen, um auf dieser Basis Vertragsschlusserklärungen und damit mittelbar Ver­ träge auszulegen19. Die Idee einer unmittelbaren erläuternden Auslegung „des Ver­ trages“ ist somit dogmatisch schlicht nicht zu Ende gedacht. b) Übereinstimmung hinsichtlich des Auslegungsmaterials Die betrachteten Regelwerke stimmen überein in der großen Liberalität hinsichtlich des verwertbaren Auslegungsmaterials. Die einschlägigen Regelungen 20 sehen die Berücksichtigung aller ergiebigen Umstände vor und wenden sich damit gegen die klärungen dürften keine unterschiedlichen Maßstäbe gelten. Dann drängt sich die Anschlussfrage auf, warum es überhaupt zweier Regelungen bedarf. Die in erster Lesung geänderte Fassung des GEKR stellt zwar – anders als der Kommissionsentwurf – mit Art.  58 IIIb GEKR klar, dass die Vertragsschlussregeln in den Artt.  58 ff. auf Angebot und Annahme entsprechend anwendbar sind und beseitigt dadurch die Unsicherheiten über das Verhältnis von Art.  12 GEKR und Artt.  58 ff. GEKR in diesem Bereich. Unklar ist aber nach wie vor, welcher Raum überhaupt verbleibt für eine (erläuternde) Vertragsauslegung, die unmittelbar den Artt.  58 ff. GEKR unterfällt, neben der Aus­ legung der Vertragsschlusserklärungen, auf die diese Regeln lediglich entsprechende Anwendung finden sollen. Vgl. auch Looschelders, AcP 212 (2012), 581 (637), der immerhin hervorhebt, dass ohne Ausle­ gung von Antrag und Annahme sich gar nicht klären lasse, ob eine Einigung zustande gekommen sei. Ferner Zimmermann, FS E. Picker (2010), 1353 (1356), der sich aber nur gegen unklare „Misch­ lösungen“ aus Erklärungs- und Vertragsauslegungsregeln ausspricht. 17 So versucht Maultzsch, in: Einheitliches Europäisches Kaufrecht (2012), 203 (208) den zweispurigen Ansatz des Kommissionsentwurfs zum GEKR zu rechtfertigen. 18  Letztlich kommt keines der Regelwerke ohne erklärungsbezogene Auslegungsregeln aus, sei es auch nur – wie im Falle der PECL (Art.  1:107) –, indem auf eine entsprechende Anwendung der Grundregeln für Verträge verwiesen wird. 19 Erstaunlicherweise verwenden trotzdem einige Autoren – insbesondere zum UN-Kauf­ recht – viel Mühe auf die Begründung, warum und in welcher modifizierten Form die Auslegungs­ regeln für Erklärungen entsprechend auf Verträge anwendbar sind (siehe etwa Magnus, in: Stau­ dinger [2013], Art.  8 CISG Rn.  7; Schmidt-Kessel, in: Schlechtriem/‌Schwenzer, UN-Kaufrecht [2013], Art.  8 Rn.  3 –5, 21; Ferrari, IHR 2003, 10 [11]: „mutatis mutandis“). Diese Erwägungen sind weitgehend überflüssig, da der Vertrag durch Vertragsschlusserklärungen zustande kommt, deren Inhalt auch den Vertragsinhalt determiniert. Erklärungsauslegung ist mittelbare Vertrags­ auslegung. Das beim Vertrag hinzutretende Konsenserfordernis hat mit Auslegung nichts zu tun (vgl. dazu schon §  3 IV 2 b aa [3] [c]). 20 Art.   8 III UN-Kaufrecht; Art.  5:102 PECL; Art.  4.3 PICC; Art.  II.-8:102 DCFR; Art.  59 GEKR.

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insbesondere im anglo-amerikanischen Rechtskreis bekannten formelle Einschrän­ kungen des Auslegungsmaterials, die beispielsweise vorvertragliche Äußerungen ohne Rücksicht auf deren Ergiebigkeit als Indizien für den Willen des Erklärenden im konkreten Fall ausklammern.21 Mit diesem Auslegungsansatz liegen die Regel­ werke ganz auf der Linie des BGB, das ebenfalls prinzipiell alle ergiebigen Umstän­ de berücksichtigt.22 Die Regelwerke unterscheiden sich untereinander lediglich im Umfang und der Zusammenstellung der nicht abschließenden Kataloge von Fakto­ ren, die als potentiell ergiebiges und verwertbares Auslegungsmaterial explizit her­ vorgehoben werden. c) Übereinstimmung hinsichtlich der Auslegungsziele Die Bestimmungen über das Auslegungsmaterial sehen lediglich recht abstrakt vor, dass prinzipiell sämtliche Erkenntnismittel herangezogen werden dürfen, die ergie­ big für die Beantwortung der durch die Auslegungsregeln aufgeworfenen Fragen sind. Welche Fragen dies sind, bestimmen die vorangestellten Vorschriften zu den „Auslegungszielen“23.24 Diese Vorschriften enthalten die grundlegenden methodi­ schen Weichenstellungen, da von ihnen abhängt, welches Auslegungsmaterial er­ giebig und verwertbar ist. Die Regelwerke greifen – bei im Detail freilich abweichenden Formulierungen – bei Festlegung der Auslegungsziele weitgehend übereinstimmend 25 auf vier ver­ schiedene Kriterien zurück, nämlich – den gemeinsamen Willen bzw. die gemeinsame Absicht (common intention) der Vertragsparteien (Willensübereinstimmung)26, – den Willen des Erklärenden, wenn der Gegner ihn kennt bzw. sich seiner bewusst ist (erkannter Wille)27, 21 

Zimmermann, FS E. Picker (2010), 1353 (1358 f.). Siehe zum BGB bereits insb. §  3 III 2 b aa (2). 23 In diesem Sinne unterscheidet Wendehorst, in: Schulze, Common European Sales Law (2012), Art.  59 Rn.  1 zwischen den „aims“ und „means“ der Auslegung. 24  Die Regelungen über die Auslegungsziele sind enthalten in Art.  8 Abs.  1 und 2 UN-Kauf­ recht; Art.  5:101 PECL; Artt.  4.1 und 4.2 PICC; Art.  II.-8:101 DCFR; Artt.  12 I und II, 58 GEKR. 25  Singulär ist allerdings das im DCFR zur Ermittlung des Rechtsbindungswillens bei Ver­ tragsschlusserklärungen (Art.  II.-4:102 DCFR) und des Sinns anderen rechtsgeschäftlichen Ver­ haltens (Art.  II.-4:302 DCFR) herangezogene Kriterium, das darauf abstellt, welchen Sinn der Empfänger vernünftigerweise verstanden hat. Zu dieser wenig geglückten Kumulation von Emp­ fängerverständnis (natürliches Element) und objektivem Empfängerhorizont siehe noch Fn.  56. 26  Art.  5:101 (1) PECL; Art.  4.1 I PICC; Art.  I I.-8:101 (1) DCFR; Art.  58 I GEKR. Im UN-Kauf­ recht fehlt eine entsprechende Regel, da der Bezugspunkt dort die einzelne Erklärung ist und ein übereinstimmender Wille im Hinblick auf die rein passive Rolle des bloßen Empfängers ausge­ schlossen ist. 27  Art.  8 Abs.  1 Var. 1 UN-Kaufrecht; Art.  4.2 I Var. 1 PICC; Art.  I I.-8:101 (2) Var. 1 DCFR; Artt.  12 II Var. 1, 58 II Var. 1 GEKR. Nur Art.  5:101 (2) PECL nennt den Fall der Kenntnis nicht ausdrücklich, sondern verwendet lediglich die normative Formulierung: „could not have been una­ 22 

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– den Willen des Erklärenden, wenn er für den Gegner erkennbar ist (erkennbarer Wille)28, – die Bedeutung, von der eine vernünftige Person in der Position des Empfängers ausgehen muss (objektiver Empfängerhorizont)29. Alle hier betrachteten Regelwerke sehen ferner vor, dass die Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont nur dann zum Zuge kommt, wenn eine Willensüber­ einstimmung nicht besteht und der Wille auch nicht vom Gegner erkannt wurde oder für ihn erkennbar war.30 Auch hier wird also entsprechend der in Deutschland herrschenden Lehre die normative Methode natürlichen Auslegungsregeln unterge­ ordnet, die auch auf innere Tatsachen der Beteiligten abstellen. Im Folgenden bleibt noch zu beleuchten, ob dies im Ergebnis überzeugt.

VIII. Kritische Bewertung der gewählten Auslegungsziele 1. Der Vorrang der gemeinsamen Willens bei Vertragsschluss Die weithin für unproblematisch31 gehaltene Regelung über den Vorrang des ge­ meinsamen Willens32 bei der Vertragsauslegung ist, wie die Ergebnisse dieser Un­ tersuchung zeigen, verfehlt. Ihre Ungereimtheiten treten hervor, wenn man sich – ware“. Der Fall tatsächlich bestehender „awareness“ fällt aber aufgrund eines Erst-recht-Schlusses unter die Norm. 28 Art.   8 I Var. 2 UN-Kaufrecht: „darüber nicht in Unkenntnis sein konnte“; Art.  5:101 (2) PECL: „could not have been unaware“; Art.  4.2 I Var. 2 PICC: „could not have been unaware“; Art.  II.-8:101 (2) Var. 2 DCFR: „could reasonably be expected to have been aware“; Art.  12 II Var.  2 GEKR: „hätte sie ihn kennen müssen“; Art.  58 II Var. 2 GEKR: „hätte bewusst sein müssen“. 29 Art.   8 II UN-Kaufrecht; Art.  5:101 (3) PECL; Artt.  4.1 II, 4.2 II PICC; Art.  II-8:101 (3) DCFR; Artt.  12 I, 58 III GEKR. 30  Dieser Vorrang der natürlichen Auslegung gilt auch bei Art.  12 GEKR, da die (anders als in den übrigen hier betrachteten Auslegungsvorschriften als Grundsatz an den Anfang gestellte) Re­ gelung über den objektiven Empfängerhorizont (Abs.  1) dort ebenfalls von dem erkannten oder erkennbaren Wille verdrängt wird (Abs.  2). Art.  II.-8:101 (3) (b) DCFR räumt der normativen Auslegung allerdings auch dann den Vorrang ein, wenn ein nicht vertragsbeteiligter Dritter sich vernünftigerweise und in gutem Glauben auf die aus dem Vertrag ersichtliche Bedeutung verlassen hat. Diese pauschale Rücksichtnahme auf die Verständnismöglichkeit eines außenstehenden Dritten im Rahmen der Auslegung wurde zu Recht allgemein kritisiert (McMeel/Grigoleit, in: Common European Sales Law [2013], 341 [353 f.]; Wendehorst, in: Schulze, Common European Sales Law [2012], Art.  59 Rn.  11; Zimmermann, FS E. Picker [2010], 1353 [1368 f.]). Der Dritte ist an dem Rechtsgeschäft nicht beteiligt und ist deshalb allenfalls im Rahmen seiner Rechtsbeziehungen zu den Vertragsparteien oder über Instrumente der Vertrauenshaftung nach dem Vorbild des §  405 BGB zu schützen. Im GEKR hat die Regelung keine Entsprechung mehr. 31 Siehe etwa Jessica Schmidt, Vertragsschluss (2013), 157  f. (zum GEKR); Looschelders, AcP 212 (2012), 581 (637 f.) (zum GEKR). 32  Art.  5:101 (1) PECL; Art.  4.1 I PICC; Art.  I I.-8:101 (1) DCFR; Art.  58 I GEKR.

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was kaum einmal geschieht – um eine subsumtionsfähige Definition bemüht, wann ein „gemeinsamer Wille“ (common intention) vorliegt. Wollte man, wie der Wort­ laut durchaus nahelegt, einen gemeinsamen Willen stets annehmen, wenn beide Vertragsparteien bei Vertragsschluss (d. h. bei Abgabe ihrer jeweiligen Vertrags­ schlusserklärungen) denselben rechtsgeschäftlichen Willen haben 33, so hätte diese Form „natürlicher“ Auslegung ein absurdes Ergebnis zur Folge, das hier zum BGB bereits zurückgewiesen wurde. Die Regel würde dann nämlich auch eingreifen, wenn beide Beteiligte innerlich bei Abgabe ihrer Erklärungen denselben Willen hatten, obwohl einer von beiden Beteiligten objektiv (irrtümlich) etwas anderes zum Ausdruck brachte und der andere Vertragsteil deshalb vom tatsächlichen inne­ ren Gleichklang der Willen weder etwas wusste noch etwas wissen konnte.34 Es ist deshalb bereits im Schrifttum zu Recht hervorgehoben worden, für die Willens­ übereinstimmung könne es nicht genügen, dass die Parteien unabhängig voneinan­ der denselben Willen haben.35 Doch wenn der Gleichklang der inneren Willen nicht genügt, bedarf es einer anderen Konkretisierung, wann „gemeinsame Willen“ im Sinne dieser Norm vorliegen. Zwei Lösungen kommen in Betracht. Zum einen erscheint es denkbar, von einer Gemeinsamkeit der Willen nur dann auszugehen, wenn sich die Beteiligten dieser Gemeinsamkeit auch bewusst sind. Dies entspricht der auch hier zum BGB herausgearbeiteten präzisierten Fassung der natürlichen Auslegungsmethode, die die Vertragsparteien nicht nur in ihrer jeweili­ gen Rolle als „Wollende“ im Blick hat, sondern auch in ihrer Rolle als informations­ bedürftige Empfänger der Gegenerklärung.36 Gemeinsam wäre der Wille hiernach nur, wenn die Vertragsparteien dasselbe wollen und sich dessen auch bewusst sind, weil sie die Vertragsschlusserklärung der anderen Partei im selben Sinne verstehen wie ihre eigene. Zum anderen ist es denkbar, einen „gemeinsamen Willen“ nur dann anzuneh­ men, wenn bei objektiver Würdigung des Verhaltens eine Willensübereinstimmung vorliegt, weil es eine objektive Grundlage im Verhalten der Parteien hierfür gibt.37 33  Vgl. bei Vogenauer, in: Vogenauer/Kleinheisterkamp, PICC-Commentary (2009), Art.  4.1 Rn.  3 die Definitionen von „intention“ („the state of mind of the parties at the time of the conclu­sion of the contract“) und „common“ („both parties must have shared the same intention at the time of the making of the contract“). 34  Dagegen bereits auf Basis des BGB unter §  3 IV 2 b aa (2). 35  Clive, in: Making (2013), 181 (183) (zum GEKR); ders., in: European Contract Law (2006), 176 (197) (zu den PECL): „a common intention is not the same as identical uncommunicated indi­ vidual intentions“. Es wird freilich nicht deutlich, ob Clive mit seinen Ausführungen vielleicht auch nur den Fall meint, in dem zwei Beteiligte gleichen Willens sind, ohne überhaupt miteinander kommuniziert zu haben. Dann ist nicht einmal aus Sicht des jeweils Beteiligten überhaupt eine Erklärung des rechtsgeschäftlichen Willens erfolgt und ein Vertragsschluss schon aus diesem Grunde abzulehnen. 36  Dazu bereits auf Basis des BGB unter §  3 IV 2 b aa (3). 37  So wohl Clive, in: Making (2013), 181 (183) (zum GEKR): „There has to be something ex­ ternal, something objective, before you can have a shared intention“. Vgl. auch schon ders., in: European Contract Law (2006), 176 (197) (zu den PECL): „In my view the expression ‚common

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Die Gemeinsamkeit des Willens würde so zu einem objektiven Tatbestandsmerk­ mal, dessen Anforderungen nur erfüllt sind, wenn auch anhand der wechselseitig erkennbaren Umstände von einer Willensübereinstimmung auszugehen ist.38 Diese beiden – soweit ersichtlich einzigen in Betracht kommenden – Lösungswe­ ge zur Vermeidung der beschriebenen Absurdität haben indes für die Bewertung des dogmatischen Stellenwerts der Regelung einen verheerenden Effekt: Die Rege­ lung über den gemeinsamen Willen wird dadurch im Ergebnis neben den übrigen Regeln vollständig überflüssig. Verlangt man nämlich für einen gemeinsamen Willen, dass sich die Beteiligten des gemeinsamen Willens bewusst sind, indem sie jeweils auch Kenntnis vom (gleichlautenden) Willen des anderen Vertragsteils erlangt haben, dann geht die Re­ gel über den gemeinsamen Willen vollständig in der in den jeweiligen Regelwerken ebenfalls enthaltenen Vorschrift über den erkannten Willens auf. Es würde sich dann lediglich um einen recht undeutlich formulierten Unterfall der Vorschrift über den erkannten Willen handeln39, auf den man der Einfachheit und Klarheit wegen besser verzichtet hätte. Diese Konkretisierung der Vorschrift beinhaltet zudem das stillschweigende Eingeständnis, dass diese spezielle Auslegungsregel für Verträge überflüssig ist, da der Sache nach für die Ermittlung des gemeinsamen Willens zu­ nächst der maßgebliche Sinn jeder einzelnen Vertragsschlusserklärung unter He­ ranziehung der Vorstellungen des jeweiligen Empfängers ermittelt werden müsste. Dies ist genau das Vorgehen, das bei einer Anknüpfung der Auslegung an die ein­ zelne Willenserklärung beschritten wird. Verobjektiviert man hingegen den gemeinsamen Willen, so geht die Regel über den Vorrang der übereinstimmenden Willen in der Vorschrift über die Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont auf. Das ist eine erhebliche Korrektur des Normtexts. Die normative Auslegung aus Empfängerperspektive soll nämlich nach dem klaren Wortlaut der Regelwerke eigentlich nur subsidiär zum Zuge kommen, falls eine Auslegung nach dem gemeinsamen Willen kein Ergebnis hervorbringt.40 Wird der „gemeinsame Wille“ nun aber seinerseits verobjektiviert, bleibt von dem Vorrangverhältnis nichts mehr übrig, sondern beide Ansätze werden gewissermaintention‘ implies that the parties have communicated with each other sufficiently to form a com­ mon intention: (…).“ 38 Vgl. Canaris/Grigoleit, in: European Civil Code (2011), 587 (595). 39  So ausdrücklich Clive, in: Making (2013), 181 (184) (zum GEKR) und ders., in: European Contract Law (2006), 176 (199) (zu den PECL), der davon ausgeht, dass sämtliche Fälle der Wil­ lens­übereinstimmung auch solche des beidseitig erkannten Willen sind. Es leuchtet kaum ein, warum sich Clive zum GEKR trotzdem aus Klarstellungsgründen für diese Regel ausspricht. Sie bringt, wie die Schwierigkeiten ihrer Interpretation zeigen, keine Klarheit, sondern stiftet mit ihrer i. E. nicht durchhaltbaren unmittelbaren Anknüpfung an den Willen der Parteien eher Unklarheit. 40  Siehe: Art.  5:101 (3) PECL: „If an intention cannot be established according to (1) or (2) …“; Art.  4.1 II PICC: „If such an intention cannot be established …“; Art.  II.-8:101 (3) (a) DCFR: „if an intention cannot be established under the preceding paragraphs“; Art.  58 III GEKR: „Sofern die Absätze 1 und 2 nicht anders bestimmen …“.

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ßen zu einer einheitlichen Methode verschmolzen, bei der das normative Element die Oberhand behält.41 M. E. dürfte dies zwar im Ergebnis ein zutreffender Schritt sein, um zu sachgerechten Ergebnissen zu gelangen. Für die hier betrachteten Aus­ legungsregeln ist die Notwendigkeit einer derart tiefgreifenden Korrektur, die das vorgesehene Stufenverhältnis beseitigt, indes ein Offenbarungseid.

2. Der Vorrang des dem Empfänger/Vertragspartner erkennbaren Willens Alle hier betrachteten Regelungsinstrumente enthalten eine Vorschrift, derzufolge ein für den Empfänger bzw. die andere Vertragspartei bei Vornahme des Geschäfts erkennbarer Wille dem Ergebnis der normativen Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont vorgeht.42 Diese Regel hat bislang kaum Kritik erfahren. Dies erstaunt, denn ein Bedürfnis für sie ist nicht erkennbar. Ein für den Empfänger er­ kennbarer tatsächlicher Wille ist nämlich stets zugleich derjenige Sinn, von dem auch eine vernünftige Person an seiner Stelle und mit den Erkenntnismöglichkeiten des Empfängers ausgehen müsste. Es bedarf folglich keiner Vorschrift über die Maßgeblichkeit des erkennbaren Willens, da der allein aus Perspektive des Empfän­ gers bestimmte vermeintliche Wille bei Anwendung der normativen Auslegungs­ methode stets zum selben Ziel führt.43 Die Prozessperspektive offenbart die Über­ flüssigkeit: Mangels Erheblichkeit für den Ausgang des Rechtsstreits wäre ein Rich­ ter sub specie der Auslegung44 niemals gehalten, Beweis über den wirklichen historischen Willen des Erklärenden zu erheben. Es ist unerheblich, ob der dem Empfänger entgegentretende Wille tatsächlich besteht (erkennbarer Wille) oder nur ein scheinbarer Wille ist. Die Empfängerperspektive gibt in jedem Fall den Aus­ schlag.45 41 Vgl. Canaris/Grigoleit, in: European Civil Code (2011), 587 (595), die zum DCFR und zu den PECL lehren, bei der Ermittlung der übereinstimmenden Willen sei die Empfängerperspekti­ ve maßgeblich, und hierfür die Regelungen über den objektiven Empfängerhorizont heranziehen wollen. Dass dieses begrüßenswerte Ergebnis eine Korrektur des Normtextes ist, wird bei diesen Autoren freilich nicht erkennbar. 42  Nachw. in Fn.  28. 43 Vgl. Zimmermann, FS E. Picker (2010), 1353 (1357) am Beispiel des Haakjöringsköd-Falls. Zimmermann billigt der Regelung neben dem objektiven Empfängerhorizont immerhin eine Klar­ stellungsfunktion zu, wobei er nicht darlegt, welchen Klarstellungsbedarf er sieht. Die Regelungen über den objektiven Empfängerhorizont, wie sie die hier betrachteten Regelwerke enthalten, be­ dürfen keiner Klarstellung. M.E. fördert die Regel über die Maßgeblichkeit des erkennbaren Wil­ lens eher neue Unklarheiten, wie die nachstehenden Ausführungen im Text belegen. 44  Der Wille als innere Tatsache kann freilich im Hinblick auf die Vorschriften über Willens­ mängel relevant werden. Doch dies betrifft dann nicht die Auslegung und muss auch, etwa bei Verstreichenlassen von Anfechtungsfristen, im konkreten Fall nicht stets zum Tragen kommen. 45  Siehe auch McMeel/Grigoleit, in: Common European Sales Law (2013), 341 (345), die so­ gar erwägen, ob Art.  II.-8:101 (2) DCFR eine Präzisierung der Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont sei. Die Funktion der Regel neben Art.  II.-8:101 (3) DCFR wird dadurch aber

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Das überflüssige Nebeneinander von erkennbarem Willen und normativer Ausle­ gung hat bereits einige Verwirrung gestiftet. Es inspiriert manche Autoren zu Ver­ suchen, der Differenzierung zwischen beiden Methoden einen Sinn „abzuringen“. So wird etwa vertreten, die Regelungen bezögen sich auf Empfängerhorizonte un­ terschiedlichen Zuschnitts. Die Vorschrift über den erkennbaren Willen beziehe sich auf den subjektiven Empfängerhorizont des konkreten Empfängers, während bei der normativen Auslegung der objektive Empfängerhorizont maßgeblich sei.46 Dies könnte jedoch nur überzeugen, wenn dargelegt würde, worin der angebliche Unterschied zwischen dem subjektiven und dem objektiven Empfängerhorizont lie­ gen soll. „Subjektiv“ in dem Sinne, dass es auf die tatsächliche Vorstellungen des realen Empfängers ankäme, kann ein Empfängerhorizont, der auf den „erkennbaren“ Willen abstellt, nicht sein. Sollte die Differenzierung hingegen auf der Prämis­ se beruhen, die Maßstabsfigur des „objektiven Empfängerhorizonts“ könne wo­ möglich über weniger Kenntnisse als diejenige des „subjektiven Empfängerhori­ zonts“ verfügen, wäre auch dies nicht überzeugend. Die Regelungen zum objektiven Empfängerhorizont heben nämlich größtenteils ausdrücklich hervor, dass die Maß­ stabsfigur als eine in der Situation des konkreten Empfängers unter den gleichen Umständen befindliche Person zu denken ist.47 Selbst dort, wo der Wortlaut der Regelwerke ohne individualisierende Zusätze von einer „reasonable person“ spricht48, wird zu Recht allgemein angenommen, der objektive Empfänger sei nicht auf die Kenntnisse eines außenstehenden Dritten beschränkt, sondern verfüge auch über die spezifischen Verständnismöglichkeiten des realen Empfängers.49 Ein Unterschied zwischen subjektivem und objektivem Empfängerhorizont lässt sich dann aber nicht mehr ausmachen. nur noch zweifelhafter. Auch Saenger, in: Internationales Vertragsrecht (2012), Art.  8 CISG Rn.  4 verweist für die Bestimmung des Parteiwillens auf den „Empfängerhorizont“. Vgl. auch Hepting/ ‌Müller, in: Handbuch der Beweislast, BGB SchR BT I (2009), Art.  8 UN-Kaufrecht Rn.  19. 46  Junge, in: Schlechtriem, UN-Kaufrecht (2000), Art.  8 Rn.  5 („Diese Formel meint – anders als Abs.  2 – den subjektiven Horizont des jeweiligen Erklärungsempfängers.“) und Rn.  7, 16 a. E. Dem folgend Schmidt-Kessel, in: Schlechtriem/‌Schwenzer, UN-Kaufrecht (2013), Art.  8 Rn.  19: „Art.  8 II stellt also von vornherein auf den Empfängerhorizont ab, im Unterschied zu Abs.  1 aller­ dings auf den objektiven.“ 47  Art.  8 II UN-Kaufrecht; Art.  5:101 (3) PECL; Artt.  4.1 II und 4.2 II PICC. Art.  12 I GEKR spricht ebenfalls individualisierend von der „Person, an die [die Erklärung] gerichtet ist“. Zur Re­ levanz von Empfängersonderwissen im Rahmen dieser Normen siehe etwa Looschelders, AcP 212 (2012), 581 (638) zu Art.  12 I GEKR; Witz, in: Witz/‌Salger/‌Lorenz, International Einheitliches Kaufrecht (2000), Art.  8 Rn.  7 a. E.: „Der Empfängerhorizont einer vernünftigen Person wird des­ halb auch durch Umstände bestimmt, die ihm aus der Sphäre des Erklärenden bekannt sind.“ 48  So Art.  I I.-8:101 (3) DCFR und Art.  58 III GEKR. 49  So auch Jessica Schmidt, Vertragsschluss (2013), 160 zum GEKR unter Hinweis auf den inneren Zusammenhang mit Art.  12 GEKR und die individualisierende Definitionsnorm für Ver­ nünftigkeit in Art.  5 II GEKR; Looschelders, AcP 212 (2012), 581 (638 f.); Maultzsch, in: Einheit­ liches Europäisches Kaufrecht (2012), 203 (209 f.) unter Hinweis auf die in Art.  59 GEKR genann­ ten individuellen Umstände; Wendehorst, in: Schulze, Common European Sales Law (2012), Art.  59 Rn.  11, 12; Hepting/‌Müller, in: Handbuch der Beweislast, BGB SchR BT I (2009), Art.  8 UN-Kaufrecht Rn.  24.

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Dass das überflüssige Nebeneinander von erkennbarem Willen und normativer Auslegung bislang weitgehend unbemerkt geblieben ist, zeigt nicht zuletzt der bis­ herige Meinungsstand zu Art.  8 I UN-Kaufrecht. Die Formulierung, die Erklärung sei nach dem Willen des Erklärenden auszulegen, wenn die andere Partei „darüber nicht in Unkenntnis sein konnte“, wird allgemein als ein Hinweis auf einen qualifizierten Sorgfaltsverstoß des Empfängers gelesen, d. h. der Wille des Erklärenden soll nur dann maßgeblich sein, wenn er gewissermaßen „grob fahrlässig“ übersehen wurde.50 Es ist indes sinnlos, in Abs.  1 grobe Fahrlässigkeit zu verlangen, wenn trotzdem bei lediglich leichter Fahrlässigkeit die Erklärung aufgrund des dann sub­ sidiär anwendbaren Abs.  2 trotzdem im Sinne des Gewollten gilt. Dies ist aber der Fall, da nun einmal eine vernünftige (und d. h. auch durchschnittlich aufmerksame) Person an der Stelle des Empfängers den Willen des Erklärenden erkannt hätte, wenn sie sorgfältig zur Werke gegangen wäre.

3. Der Vorrang des dem Empfänger/Vertragspartner bekannten Willens Das gerade zum erkennbaren Willen Gesagte gilt im Grundsatz auch hinsichtlich der in allen Regelwerken enthaltenen51 Vorschrift über den Vorrang des erkannten Willens. Auch diese Auslegungsregel ist bei näherer Betrachtung neben der norma­ tiven Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont überflüssig. Denn der Empfänger kann den wahren Willen des Erklärenden nur erkennen, wenn er für ihn auch erkennbar ist – und wenn dies der Fall ist, dann stimmt der Inhalt des erkann­ ten Willens denknotwendig auch mit dem vermeintlichen Willen überein, zu dem der objektive Empfänger in der Position des realen Empfängers bei Verarbeitung der ihm zugerechneten Informationen gelangt. Es leuchtet auch insofern nicht ein, warum die Regelwerke durch Vorschaltung der Vorschrift über den erkannten Wil­ len den falschen Eindruck erzeugen, es komme auf den Nachweis des realen Willens des Erklärenden und der tatsächlichen Kenntnis des Empfängers an, obwohl letzt­ lich allein erheblich ist, von welchem Sinn der Empfänger unter Berücksichtigung der für ihn erkennbaren Umstände ausgehen musste. Nur unter einer Voraussetzung würde sich die „Kenntnis“ (awareness) des wah­ ren Willens auf Empfängerseite materiell-rechtlich von der normativen Auslegung emanzipieren. Dazu müssten die einschlägigen Vorschriften so zu verstehen sein, dass eine „Kenntnis“ bzw. ein „Bewusstsein“ auch dann besteht, wenn der Empfän­ 50  Magnus, in: Staudinger (2013), Art.  8 CISG Rn.  12; H. P. Westermann, in: MünchKomm­BGB (2012), Art.  8 CISG Rn.  3; Melis, in: Honsell, UN-Kaufrecht (2010), Art.  8 Rn.  6; Ferrari, IHR 2003, 10 (12); Herber/‌Czerwenka, Internationales Kaufrecht (1991), Art.   8 Rn.   3. Ebenso Schmidt-Kessel, in: Schlechtriem/‌Schwenzer, UN-Kaufrecht (2013), Art.  8 Rn.  16, der aber von der Verwendung des durch das deutsche Recht vorgeprägten Terminus „grob fahrlässig“ abrät. Zu­ rückhaltend nur hinsichtlich der Terminologie auch Witz, in: Witz/‌Salger/Lorenz, International Einheitliches Kaufrecht (2000), Art.  8 Rn.  5. 51  Nachw. in Fn.  27.

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Ausblick

ger objektiv unter Berücksichtigung der für ihn erkennbaren Umstände keinen hin­ reichenden Anlass hat vom wirklichen Willen auszugehen und dies zufällig (irr­ tumsbedingt) trotzdem tut. In diesen – soweit ersichtlich im Zusammenhang mit den hier betrachteten Regelwerken nirgends behandelten – Zufallsfällen52 würde die Regelung über den „erkannten Willen“ dann tatsächlich zu anderen Ergebnissen als die normative Methode gelangen. Die Ergebnisse dieser Untersuchung zum BGB sprechen freilich auch in diesem Kontext gegen eine derartige extensive Handhabung der Vorschriften über den „er­ kannten Willen“. Es widerspricht nicht nur dem alltäglichen Sprachgebrauch, eine zufällig zutreffende, auf Basis der Verständnismöglichkeiten des Empfängers aber völlig haltlose Überzeugung als „Kenntnis“ anzusehen53. Eine solche Norminter­ pretation hätte auch die bereits ausführlich behandelte54 Desorientierung der Betei­ ligten im Entdeckungsszenario zur Folge. Gerade dort, wo sie auf Orientierung an­ gewiesen sind, weil sie sich zunächst objektiv eine haltlose Auffassung vom Erklä­ rungssinn gebildet haben, könnten sie im Nachhinein nicht mehr selbständig rekonstruieren, wie der rechtsmaßgebliche Sinn des Rechtsgeschäfts lautet. Die Kenntnis des wirklichen Willens setzt somit aus teleologischen Gründen auch auf Basis der internationalen Regelwerke voraus, dass die zutreffende Vorstellung des Empfängers vom Willen des Erklärenden durch für ihn erkennbare Umstände ge­ rechtfertigt ist. Die Tatsache, dass sich Wille und Verständnis der Beteiligten bei Vornahme des Rechtsgeschäfts deckten, ist freilich auch auf Basis der internationalen Regelwerke rechtlich relevant. Die Lebenserfahrung begründet nämlich auch in diesem Kontext die Vermutung, dass in derartigen Fällen bei Vornahme des Rechtsgeschäfts einer der in den Regelwerken teils minutiös aufgelisteten Umstände vorlag, der aus der verobjektivierten Sicht des Empfängers zu dem beiderseits angenommenen Erklä­ rungssinn führt und jetzt lediglich nicht mehr beweisbar ist.55 Es spricht deshalb auch hier ein Anscheinsbeweis dafür, dass das normative Auslegungsergebnis dem anfänglich übereinstimmenden Verständnis der Erklärung entspricht. Die Anwen­ dung der Grundsätze über den Anscheinsbeweis, die dem Gegner die Möglichkeit der Erschütterung und des Gegenbeweises belassen, dürfte dabei keinen Bedenken begegnen. Jedenfalls soweit, wie hier, dadurch kein Widerspruch zu den vorgesehe­ nen materiell-rechtlichen Regeln entsteht, können nationale beweisrechtliche Grundsätze ungehindert zum Zuge kommen. 52 

Zu ihnen auf Basis des BGB eingehend §  4. hierzu im Zusammenhang mit §  116 S.  2 BGB bereits §  10 I 2 a. Auch soweit man den in den Regelwerken im Englischen verwandten Terminus „awareness“ nicht als „Kenntnis“, son­ dern als „Bewusstsein“ des Willens übersetzen wollte, dürfte zweifelhaft sein, ob eine zufällig zutreffende, aber objektiv haltlose Vorstellung hierfür genügt. Letztlich sind auch an dieser Stelle die im Text sogleich behandelten teleologischen Erwägungen ausschlaggebend. 54  Siehe insbesondere Teil II Abschnitt 1. 55  Dazu auf Basis des BGB eingehend §  12 insb. unter II 2 b cc. 53  Vgl.

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4. Die normative Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont Unbedenklich ist die in allen Regelwerken vorgesehene56 Regel über die normative Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont. Wie sich gezeigt hat, enthält sie die entscheidenden auslegungsmethodischen Festlegungen. Die dem Wortlaut nach eigentlich vorrangigen „natürlichen“ Auslegungsmethoden, die ganz oder teil­ weise an innere Tatsachen (Willensübereinstimmung; erkannter Wille; erkennbarer Wille) anknüpfen, sind entweder überflüssige Ergänzungen um rechtlich nicht er­ hebliche Tatbestandsmerkmale oder bedürfen der Korrektur, um absurde oder inte­ ressenwidrige Ergebnisse abzuwenden. Statt den natürlichen Auslegungsansätzen so viel Raum zu geben, hätte es sich empfohlen, bei der Ausarbeitung der Auslegungsregeln mehr Augenmerk auf eine noch klarere Fassung der normativen Auslegungsmethode zu verwenden. So hätte etwa deutlicher herausgearbeitet werden können, wovon es abhängt, welcher der zahlreichen auslegungsrelevanten Umstände in die Auslegung einfließen darf. Die zweigleisige (dualistische) Grundposition der Verfasser hat dem Rechtsanwender eine bloße Auflistung denkbaren Auslegungsmaterials beschert, das nur unter ganz bestimmten Umständen bei der normativen Auslegung zum Tragen kommen kann, etwa falls es für den Empfänger bei Vornahme des Rechtsgeschäfts erkennbar war. Die offene Fassung der internationalen Regelwerke ermöglicht es immerhin, die hier in §  13 (zum Durchführungsszenario) und §  14 (zum exorbitanten Sonderwis­ sen) entwickelten Positionen zur Abgrenzung des verwertbaren Auslegungs­mate­ rials auch bei der gebotenen Konkretisierung des objektiven Empfängerhorizonts zum Tragen zu bringen. Auf die Ausführungen zum BGB sei im vorliegenden Zu­ sammenhang, in dem diese Probleme bislang ebenfalls nicht diskutiert werden, ver­ wiesen.

56 

Nachw. in Fn.  29. Allerdings enthält der DCFR im Hinblick auf die Ermittlung des Rechtsbindungswillens bei Vertragsschlusserklärungen (Art.  II.-4:102 DCFR) und des Sinns anderen rechtsgeschäftlichen Verhaltens (Art.  II.-4:302 DCFR) lediglich die eigentümliche Regel, es gelte der Wille, den der Empfänger vernünftigerweise verstanden hat („as they were reasonably understood“). Dem Wort­ laut nach hängt die Geltung des Ergebnisses des objektiven Empfängerhorizonts somit davon ab, dass der Empfänger den vernünftigerweise zu verstehenden Sinn auch tatsächlich verstanden hat. Dies ist eine kaum zu rechtfertigende Zumutung für den Erklärenden, der sich darauf verlassen können muss, im Sinne des objektiv Erklärten verstanden zu werden. Die Regelungen sind deshalb zu Recht in das GEKR nicht übernommen worden: Art.  12 GEKR stellt allein darauf ab, wie die Erklärung aus Sicht des Empfängers zu verstehen war, ohne auf das tatsächliche Verständnis des Empfängers Rücksicht zu nehmen.

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Ausblick

IX. Fazit Es hat sich gezeigt, dass die verbreitete positive Bewertung der Auslegungsregeln in den hier betrachteten internationalen Regelwerken hinsichtlich der grundsätzlichen auslegungsmethodischen Weichenstellungen unberechtigt ist. Vorgeprägt von dem hier bekämpften dualistischen Grundansatz haben die Verfasser hypertrophe Vor­ schriften geschaffen, die ein schwer auflösbares Neben- und Nacheineinander un­ terschiedlicher Auslegungsmethoden etablieren. Dies alles geschah wohl in erster Linie deshalb, weil sich die Verfasser (und die Interpreten) dieser Regeln – ebenso wie in der sehr viel älteren Diskussion zum BGB – zu selten die Frage stellen, wo­r in genau der Unterschied zwischen den verschiedenen Auslegungsmethoden liegt und wann sie zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen. Im Ergebnis bedarf es auch hier einer (teilweise den Normtext korrigierenden) Interpretation, die zu einer streng normativen Auslegungslehre führt.

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Sachregister Allgemeine Geschäftsbedingungen  15 f., 56, 197 Anscheinsbeweis 272, 278 ff., 386 arglistige Täuschung  318 ff., 346 Auslegung – ergänzende 14, 93, 301 – erläuternde 14, 54, 56, 60, 71, 73, 93, 303, 318, 378 – individuelle 46 ff., 69, 82 f., 84, 85, 108, 257, 260, 263 f., 268, 275 ff., 320 – natürliche 4 f., 52 ff., passim – normative 4 f.; 35 ff., passim – Schweigen 86 – Vertrag  24 f., 49 f., 57 ff., 64, 189 ff., 211 ff., 377 f., passim – Regeln, gesetzliche  23 ff., 29, 30 f., 263 f. – Zeitpunkt 49 f., 53 f., 63 f., 101 ff., 115, 119, 162, 185, 302 f., 304 ff., 335, 344 Auslegungsarbeit 37, 51 f., 104 f., 272 Auslegungsmaterial  37 f., 43 ff., 301 ff., passim – Ausdeutung durch Auslegungsarbeit  50 ff., 104, 331 ff. – Beweis/Beweislast  68, 130 f., 272, 273 ff., 275 f., 309 – Ergiebigkeit 47, 82, 275, 299 ff., 314, 332, 378 f. – formbedürftiges Rechtsgeschäft  17, 82 – Gleichrangigkeit/Rangverhältnis  46 f. – internationale Regelwerke  378 f., 387 – wirklicher Wille als Auslegungsmate­ rial  39 f. Beweis im Prozess  31 f., 34, 43 f., 46, 55, 65, 67 ff., 122, 126 f., 127 f., 130 f., 134, 141, 151, 181, 183, 273 ff., 308 f., 383, 386 Buchstabeninterpretation, siehe Verbot der Wortlautauslegung/‌Buchstabeninterpretation (§  133 Hs.  2 BGB)

DCFR  57, 371, 374 f., 377 ff. Deutungsdiligenz 42, 50 ff., 55, 157 Dissens  60, 62, 67, 74 ff., 95 f., 108, 144, 148, 189, 194, 201, 224, 264 ff., 378 Doppelirrtum – Doppelirrtumsausnahme 113, 124 ff., 127, 131, 133, 136, 154 – inkongruenter 94 ff., 116, 124, 130, 133 ff., 137, 156, 159, 168, 173 f., 179, 192 ff., 197, 199, 201, 202, 208, 211, 218, 220, 227 f., 264 ff., 281, 284 – kongruenter 91 ff., 97, 99, 101, 104, 109 ff., 113 f., 116 f., 124, 126, 130, 132 ff., 137, 139, 156, 163, 165 f., 169, 172, 174 f., 208, 223, 246, 278, 280 f., 281, 297, 323, 350 Durchführungsszenario 269, 284 ff., 387 – der dualistischen Lehre  311 durchschaubarer Irrtum  100 durchschauter Irrtum  65, 85, 91, 97 ff., 348 Eier-Fall  106 ff. Einseitiges Rechtsgeschäft  1, 24 f., 57, 61, 65, 75, 92 f., 95, 108, 133, 144 f., 146, 149, 155, 159, 189, 192, 200, 201, 210 f., 212, 214, 215, 218, 226, 227, 250, 254, 260, 285, 343, 346 Empfängerhorizont  43 ff., 380, 384, 387, passim Empfangstheorie  34, 183, 194 f., 202, 352 Entdeckungsszenario 7, 115 ff., 127, 132 f., 153, 162, 167 f., 170 ff., 181, 216, 233 ff., 248, 283, 298, 323 ff., 333, 345 Erklärungsbewusstsein  57, 91, 95, 194, 198, 204, 211, 245, 256, 291 ff., 293 erkennbarer, aber nicht durchschaubarer Irrtum 100, 107 ff.

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Sachregister

Erkennbarkeitsformel des objektiven Empfängerhorizonts  44 f., 51, 100 f., 107, 131, 313 ff. erratener Wille  106 ff., 110, 113, 126, 157, 246, 260, 278, 279, 281, 350 Erwirkung  296 ff. exorbitantes Sonderwissen  182, 313 ff., 387 – Abgrenzungsformel 337 – Abgrenzungskriterium  333 ff. – Aufklärungspflicht des Empfän­ gers  343 ff. – Beurteilungsperspektive  335 ff. – Desorientierung des Erklärenden  323 ff., 349 f. – und natürliche Auslegung  347 ff. falsa demonstratio non nocet  5, 18, 61, 78, 80 ff., 92, 166, 191, 236, 252, 262, 264, 267 f., passim Falschbezeichnung, siehe falsa demonstratio non nocet – echte/unechte (Begriff)  84 Form siehe Willenserklärung, formbedürftige geheimer Vorbehalt siehe Mental­reserva­ tion GEKR 57, 217, 371 f., 375 ff., 377 ff. Geschäftsgrundlage, siehe Wegfall der Geschäftsgrundlage (§  313 BGB) Haakjöringsköd-Fall (RGZ 99, 147)  87 f., 89, 94, 117, 135, 168, 233, 284, 287, 289, 294, 297, 383 inkongruenter Doppelirrtum siehe Doppelirrtum, inkongruenter Kenntnis (Begriff), siehe Wissen (Begriff) kongruenter Doppelirrtum siehe Doppelirrtum, kongruenter Konsens 60, 62 f., 75 f., 77, 88 – faktischer siehe Konsens, natürlicher – innerer siehe Konsens, natürlicher – natürlicher  56, 59, 61, 63, 68, 77, 99, 138, 274 – normativer  62, 189, 209 – objektiver siehe Konsens, normativer

– tatsächlicher siehe Konsens, natürlicher Mehrdeutigkeit, siehe Willenserklärung, unbestimmte Mentalreservation (§  116 BGB) 142, 230 ff., 248, 259 f., 324, 350 ff. – qualifizierte  259 f. – Zeitpunkt 235 Methodendualismus  4 ff., 12, 14, 15 f., 29, 104, 177, 230, 257, 260 methodenrelevante Fälle (Begriff)  79 Missverständnis (Begriff)  91 Motivirrtum, 93, 225, 316, 318 Orientierungsinteresse  179 ff., 203, 226, 260, 306, 313, 326 ff., 334 ff., 340, 340, 352 ff., 355 PECL 372 f., 377 ff. Perplexität  74, 75 f., 77 f., 92, 333, i. Ü. siehe Willenserklärung, unbestimmte PICC  373 f., 377 ff. prima-facie Beweis, siehe Anscheinsbeweis Privatautonomie  30, 34, 35, 41 f., 71 ff., 155, 182, 191, 208 ff., 239 ff., 328 – halbe 209 f., 211 f., 214, 216 – negative 239 ff., 242, 329 protestatio facto contraria non valet  42, 69 ff. Rechtsbindungswille  245, 255 f., 379, 387 Rechtsschein  162, 194, 204, 295 f., 305 Reurechtsausschluss  6, 125, 180, 204, 205 f., 223 ff., 285 Reurechtseinwand  222 ff. Richtigkeitsgewähr 171 Scheingeschäft (§  117 BGB)  88, 188, 209, 235 ff. – misslungenes/missglücktes  247, 254 f. Schraubeneinwand  338 ff. Simulation (§  117 BGB) siehe Schein­ geschäft Sinnlosigkeitsargument  193 ff., 222 Sonderwissen  51, 99 f., 313 ff., 384 – exorbitantes, siehe exorbitantes Sonderwissen Sprachvereinbarung  191 f.

Sachregister

Testament  1, 13, 54, 108 f. 267 f., 301 UN-Kaufrecht  372, 377 ff. Unbestimmtheit, siehe Willenserklärung, unbestimmte Unveränderlichkeitsdogma  49, 102, 298 ff. Verbot der Wortlautauslegung/‌Buchstaben­ interpretation (§  133 Hs.  2 BGB)  26, 47 f., 84, 246 f., 257, 263 f., 267 f., 322 verdecktes Geschäft  251 ff. Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit von Urkunden  69, 275 Vertrauenserfordernis 162, 193 ff., 294, 305, 306 Verwahrung, siehe protestatio facto contraria non valet Verwirkung  296 ff. Verzicht des Empfängers auf normative Auslegung  125, 148 ff., 180, 201, 204 ff. Wahlrecht des Anfechtungsberechtig­ ten  108, 173, 197, 198 ff., 211, 214 f., 319 f. Wegfall der Geschäftsgrundlage (§  313 BGB)  93, 206, 218 f. Widerruf vor Zugang (§  130 I 2 BGB)  54 f., 167 f.

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Willenserfordernis  209 ff. Willenserklärung – formbedürftige 16 ff., 55, 82, 252 – mehrdeutige, siehe Willenserklärung, unbestimmte – Orientierungsfunktion 119 ff. – perplexe, siehe Willenserklärung, unbestimmte – unbestimmte 74 ff., 92 f., 101, 102, 140 ff., 166, 171, 174, 217, 224, 226, 265, 285, 287 f., 289, 291 f., 307, 317, 333, 344, 346, passim Willenstheorie  167, 209 Willensübereinstimmung 53, 56 ff., 67, 77, 99, 132, 184, 189 f., 238 ff., 242 f., 249 f., 258, 277, 307, 379 f., 381 f. Wissen (Begriff) 90, 232 f., 248 Wortlautverwechslung  48, 259, 277 Wortlautauslegung, siehe Verbot der Wortlautauslegung/‌Buchstabeninterpretation (§  133 Hs.  2 BGB) Zufallsargument 212, 217 ff. Zweckerreichungsargument  184 ff.