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German Pages [283] Year 2019
Aventiuren
Band 15
Herausgegeben von Martin Baisch, Johannes Keller, Elke Koch, Florian Kragl, Michael Mecklenburg, Matthias Meyer und Andrea Sieber
Martin Schneider
Kampf, Streit und Konkurrenz Wettkämpfe als Erzählformen der Pluralisierung in Mären
Mit 5 Abbildungen
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber https://dnb.d-nb.de abrufbar. Die Arbeit geht aus dem Forschungsprojekt »Wettkampfkulturen. ErzÐhlformen der Pluralisierung in der deutschen Literatur des Mittelalters« hervor, das unter Leitung von Bent Gebert durch das Ministerium fþr Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Wþrttemberg gefçrdert wurde. 2020, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, FB 32001, fol. 14v–15r Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-7009 ISBN 978-3-7370-1018-4
Reiner Schneider gewidmet, meinem verstorbenen Vater
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Konfliktforschung außerhalb der Mediävistik: Simmel zur Produktivität des Streits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Wettkampftheorie innerhalb der Mediävistik . . . . . . . . 2.2.1. Poetik des Wettkampfs im Wartburg-Komplex . . 2.2.2. Das Streitgespräch – der Ackermann . . . . . . . 2.2.3. Rechtsstreit im Schwanritter . . . . . . . . . . . 2.2.4. Die agonale Erzählstruktur des Schwanks . . . . . 2.3. Pluralisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1. Inklusion/Exklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2. Pluralisierung durch Inklusion/Exklusion . . . . . 2.4. Textauswahl und -reihenfolge . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Modellanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Reihummären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1. Erzählschema der Werkreihe . . . . . . . . 3.1.2. Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3. Erzählmodus . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4. Nähe der Reihummären zu den Nürnberger Einkehrspielen . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.5. Fazit: Inklusion und Pluralisierung durch Konkurrenzerzählungen . . . . . . . . . . . 3.2. Priapeia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1. Textanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.1. Das Nonnenturnier . . . . . . . . 3.2.1.2. Der Rosendorn . . . . . . . . . .
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Inhalt
3.2.1.3. Gold und Zers . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.4. Der verklagte Zwetzler . . . . . . . . . . . 3.2.2. Fazit: exklusive Geschlechtsabhängigkeiten . . . . . . . 3.3. Heinrich Kaufringer : Die Suche nach dem glücklichen Ehepaar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1. Erzählbausteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2. Forschungsüberblick zu Kaufringer als Märenautor . . . 3.3.3. Sozialgeschichtlicher Kontext . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4. Krisenhafte Männlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.5. Fehlende Ordnung in der Suche . . . . . . . . . . . . . 3.3.6. Pluralisierung der Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.7. Kombination durch aventiureschematisches Erzählen . . 3.3.8. milte als männliche Tugend . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.9. Kasusspezifische Lösung im Vergleich – zu Kaufringers Erzählprofil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.10. Fazit: Inklusion in soziale Ordnungen durch Kampf . . 3.4. Heinrich Teichner : Die Rosshaut . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1. Forschungsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2. Ein Einmaliger Widerspruch . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3. Narrativer Verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.4. Ständetheorie in den lehrhaften Gattungen des Teichners 3.4.5. Fazit: Binnendifferenzierung tradierter Werte . . . . . . 3.5. Hermann Fressant: Hellerwertwitz . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1. Forschungsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2. Exemplarisches Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.3. Entfalten der Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.4. Reduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.5. Fazit: Pluralisierung durch Exklusion . . . . . . . . . . 3.6. Konrad von Würzburg: Heinrich von Kempten . . . . . . . . 3.6.1. Forschungsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.2. zuht bei Konrad von Würzburg . . . . . . . . . . . . . . 3.6.3. Handschriftlicher Überlieferungskontext des Märe . . . 3.6.4. Textanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.4.1. Die richtige zuht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.4.2. Hierarchische Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.4.3. Der Herrscherkörper als Metapher für den Staat 3.6.4.4. Fortsetzung getrennter Polysemie . . . . . . . . 3.6.5. Exklusion aus Handlungsmustern . . . . . . . . . . . . . 3.6.6. Bedeutung dieser Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7. Der Weinschwelg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7.1. Forschungsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
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5. Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3.7.2. 3.7.3. 3.7.4. 3.7.5.
Systemreferenzen auf Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . Narrative Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Tradition des Weinlobs nach dem Weinschwelg . Fazit: Inklusion intertextueller Referenzen . . . . . . .
4. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Gefahren von Wettkämpfen . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1. Beispiel Weinschwelg . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2. Beispiel Priapeia . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Pluralisierung durch differente Formen des Wettkampfs 4.3. Ebenen des Wettkampfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1. Figurenebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2. Narrationsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3. Diskursebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4. Intertextuelle Widersprüche . . . . . . . . . . . . 4.4. Inklusion und Exklusion normativer Ordnungen . . . . 4.4.1. Inklusion von Ordnungen . . . . . . . . . . . . . 4.4.2. Exklusion von Ordnungen . . . . . . . . . . . . . 4.5. Einordnung der Ergebnisse in eine differenzorientierte Mediävistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6. Von der reflexiven zur selbstreflexiven Gattung . . . . .
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Vorwort
Die vorliegende Untersuchung wurde im Sommer 2017 an der Geisteswissenschaftlichen Sektion der Universität Konstanz als Dissertation eingereicht. Für die vorliegende Druckfassung habe ich den Text geringfügig überarbeitet. Die Kapitel 3.7 und 4.1 wurden in verkürzter Form als Aufsätze veröffentlicht. Eine Promotion ist kein Alleingang und ich bin vielen Leuten dankbar für ihre Unterstützung. Für meine Studienzeit gilt dies allen voran meinen Eltern, die mich immer unterstützten, auch wenn sie weder die Wahl meines Studiums noch die Dauer von sieben Jahren nachvollziehen konnten. Und Stephan Jolie, Uta Störmer-Caysa und Hans Wißmann, die mir durch den Einblick in die akademische Welt überhaupt erst eine Doktorarbeit als Möglichkeit eröffneten. Während des Entstehungsprozesses haben wir in unserer Schreibgruppe als interdisziplinäres Promovierendenteam unsere Thesen diskutiert, Kapitel arrangiert und uns zum Schreiben motiviert. Für die gegenseitige Hilfe, die schöne Zeit und die Freundschaft, verbunden durch ein gemeinsames Schicksal, danke ich Nike Dreyer, Maren Luy, Nick de Hoog und Rosa Schaab. Viel profitiert habe ich auch durch den Austausch mit Susanne Köller und Marie Revellio während der gemeinsamen Zeit am Fachbereich – Danke für eure innige Kollegialität. Norbert Kössinger bin ich dankbar, bei Fragen zur Editions- und Überlieferungsgeschichte stets ein offenes Ohr gehabt zu haben. Bei der Fertigstellung des Manuskripts haben mich viele Menschen unterstützt, denen ich meinen Dank zum Ausdruck bringen will: Ina Weckop, William Frye, Eva Schneider, Annika Kley, Kerstin Rüther, Amelie Bendheim und Alisa Heinemann. Martin Baisch danke ich als Reihenherausgeber für alle inhaltlichen Anmerkungen am Manuskript. Zuletzt danke ich meinem Doktorvater Bent Gebert, der diese Arbeit zu jeder Zeit gefördert hat und mit seiner Unterstützung dazu beigetragen hat, sie in drei Jahren fertigstellen zu können. Berlin 2019
Martin Schneider
1.
Einleitung
Die vorliegende Arbeit untersucht die Repräsentation von Streitkulturen innerhalb der spätmittelalterlichen Märendichtung, in welcher die Pluralisierung sozialer und kultureller Ordnungen erzählt und verhandelt wird. Ihr liegt die These zugrunde, dass sich durch Wettkämpfe Phänomene der Vervielfältigung eröffnen. Der Wettkampf ist auf den ersten Blick eine einfache soziale Form, in der Aktanten mindestens zweier unterschiedlicher Standpunkte gegeneinander antreten. Darüber hinaus erweist sich der Wettkampf jedoch als höchst dynamisierend, denn jede Aktion befördert eine Reaktion. Eine formale Betrachtungsweise von Wettkämpfen bietet Anregungen, um variierende Abläufe veranschaulichen zu können: Selbst einfach strukturierte Wettkampfformen können schnell komplexer werden, wenn sie nach außen oszillieren; alternierende Abfolgen können sich in Wiederholungsfiguren stabilisieren oder in asymmetrische Ausgänge von Sieg und Niederlage auslaufen. Solche agonale Vorgänge können auf mehreren Ebenen beobachtet werden. Natürlich können sich Figuren in Streit oder Kampf zueinander befinden. In solchen Fällen entspinnen sich Konflikte kommunikativ oder im Handeln. Als eine Beobachtungsform zweiter Ordnung zielt das im Weiteren verwendete Konzept von Wettkampf aber auch auf Analysen ab, die Narration-, Diskursoder intertextuelle Ebenen beobachten. In solchen Fällen lassen sich agonale Formen nachverfolgen, bei denen binäre Oppositionen selten expliziert werden. So können sich beispielsweise kulturelle Wissenskategorien in Konkurrenz gegenüberstehen oder unscharfe Ordnungen über Rekursionsstrukturen verarbeitet werden. Wettkampf soll dabei als Oberbegriff für ein Kontinuum agonaler Formen wie Streit, Konkurrenz oder Kampf dienen. Als Beobachtungsformen sollen diese drei nicht als trennscharfe Begriffe verwendet, sondern ihre Semantiken möglichst offengehalten werden, um alternierende Wechsel auf verschiedenen Ebenen beschreiben zu können. Differenzziehungen durch den Wettkampf werden in der weiteren Arbeit als Ausgangsmöglichkeiten von Pluralisierungen verstanden. Vielfalt kann sich dort einstellen, wo einem Wert ein Gegenwert entgegengestellt wird, ohne dass
14
Einleitung
Zweideutigkeiten im gleichen Zug einkassiert werden. Soziale und kulturelle Ordnungen werden in solchen Fällen entweder in eine größere soziale Ordnung eingefahren, womit sich die Komplexität innerhalb des Gesamtsystems erhöht. Dabei kommt es zu Binnendifferenzierungen, in denen Ordnungen Teilberechtigungen erhalten. Oder es finden Ausschlussbewegungen statt, bei denen tradierte Ordnungen ihre Legitimation zugunsten neuer Systeme verlieren. Beide Phänomene werden als Pluralisierung gegenüber der kulturellen Tradition verstanden. Deshalb werden agonale Formen auf ihre produktive Kraft hinsichtlich vergesellschaftender Wirkungen analysiert, das heißt auf die Organisation und Vereinheitlichung sozialer Gruppen und kultureller Selbstreflektion mit den literarischen Mitteln der Vormoderne, denn Literatur bildet kulturelle Wandlungen nicht einfach nur ab, sondern kann dabei auf eigene poetische Methoden der Kommunikation zurückgreifen. Außerdem ist die Literatur ein eigenes kulturelles System, in dem sich eigene Wandel- und Pluralisierungsphänomene abspielen. Ein Beispiel dafür kann die Entwicklung der Gattung Märe sein, die sich aus der exemplarisch-didaktischen Literatur emanzipierte.1 Die einfachen Erzählstrukturen der kurzen Versnovellen haben sich in der Forschung als besonders fruchtbar erwiesen zur Darstellung von konkurrierenden sozialen Habitus, Geschlechts- und Begehrensordnungen oder normativen Orientierungen. Seit Klaus Grubmüllers Monografie zur europäischen Novellistik und der von ihm herausgegebenen Märenanthologie2 sowie einem komparativ angelegten Tagungsband3 haben sich im letzten Jahrzehnt mehrere Monografien, vor allem Dissertationen, den Mären gewidmet.4 Dabei ist die Komplexitätssteigerung und 1 Zuletzt griff dies Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive (2015), S. 134f. auf. 2 Grubmüller : Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter : Fabliau, Märe, Novelle (2006); Grubmüller : Novellistik des Mittelalters. Märendichtung (1996). 3 Chinca [u. a.]: Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext. Kulturwissenschaftliche Perspektiven (2006). 4 Silvan: Gottesbilder in höfischen Mären des Hochmittelalters. Höfische Paradoxie und religiöse Kontingenzbewältigung durch die Grammatik des christlichen Glaubens (2009), Reichlin: Ökonomien des Begehrens, Ökonomien des Erzählens. Zur poetologischen Dimension des Tauschens in Mären (2009), Schallenberg: Spiel mit Grenzen. Zur Geschlechterdifferenz in mittelhochdeutschen Verserzählungen (2012), Rippl: Erzählen als Argumentationsspiel. Heinrich Kaufringers Fallkonstruktionen zwischen Rhetorik, Recht und literarischer Stofftradition (2014), Heiland: Visualisierung und Rhetorisierung von Geschlecht. Strategien zur Inszenierung weiblicher Sexualität im Märe (2015). Vielleicht scheint sich hier etwas zu wiederholen, was Hanns Fischer zur »dritten Periode« der Märenforschung äußerte: Nämlich, dass nach 1900 bis in die 30iger Jahre die Gattung vor allem in Promotionsarbeiten aufgegriffen wurde, was nach Fischer durch die Kürze der einzelnen Mären motiviert war. Dass die Qualität dieser Arbeiten zu wünschen ließ, das lässt sich für die neuen Forschungen indes keinesfalls behaupten. Vgl. Hanns Fischer : Studien zur deutschen Märendichtung, 2., durchges. u. erw. Aufl., Tübingen 1983, S. 15f.
Einleitung
15
Transgression sozialer Normen in den Mären schon seit längerem ein Thema der Forschung.5 Die größte Gruppe der Mären, die Schwänke, bauen auf einem agonalen Erzählprinzip von Schlag und Gegenschlag auf. In der Entwicklung der Gattung werden zunehmend soziale Normen thematisiert, die sonst in nur geringem Maße bis gar nicht zu Wort kommen.6 Schlag und Gegenschlag als Kampfformen lassen sich leicht unter dem hier verwendeten Wettkampfbegriff subsumieren. Traditionelle Hierarchien werden dabei neu geordnet und der Normverletzung ein Raum eröffnet. In diesen Fällen werden symbolische Ordnungen im Vollzug ausgehandelt und soziale Ordnungen nicht nur problematisiert,7 sondern häufig auch vervielfältigt. Durch die »Lust an der List«8 werden Tabus wie Ehebruch legitimiert und zu komplexen Erzählbausteinen ausgebaut, in denen das Anbahnen, der Vorgang und das Vertuschen des Seitensprungs systematisiert und variiert wird. Doch nicht nur in den Schwänken und nicht nur auf der Handlungsebene kommt es zu solchen Vervielfältigungen. Mären können auch zueinander in intertextueller Konkurrenz stehen, wenn gleiche oder ähnliche Erzählanfänge unterschiedlich, wenn nicht sogar widersprechend auserzählt werden. In solchen Fällen werden Erzählmöglichkeiten innerhalb der Tradition binnendifferenziert. In sozialgeschichtliche Kontexte werden die Texte nur selten und mit großer Vorsicht eingeordnet. So können überlieferte Autoren Hinweise über die Entstehungsbedingungen der Mären und literarische Traditionen geben. Häufiger werden aber intertextuelle Bezüge und intratextuelle Verknüpfungen fokussiert. Zusammenhänge zum Beispiel, wie sie in Werkreihen beobachtbar werden,9 lassen sich auf Spannungen zwischen Einheit und Vielfalt untersuchen. In ihrer minimalsten Form kann Vielfalt beschrieben werden als das Ergebnis daraus, dass Differenzen gezogen werden und somit Unterschiede zutage treten. Aufgrund dessen ist eine textnahe Interpretation unverzichtbar. Die Kapitel dieser Arbeit stellen deshalb auch Einzeltexte beziehungsweise Werkreihen in den Mittelpunkt, während das Schlussresümee noch einmal auf übergreifende Aspekte eingeht. Damit ist der Aufbau der Arbeit angerissen. Die theoretische Hinführung besteht aus vier Teilen. Sie beginnt mit einer zusammenfassenden Vorstellung der Konflikttheorie Georg Simmels (Kap. 2.1). Simmel war nicht der erste, der 5 Müller : Noch einmal: Märe und Novelle. Zu den Versionen des Maere von den Drei listigen Frauen (1984), Ziegeler : Art. Maere, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft: Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 2 (2000). 6 Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive (2015), S. 136f. 7 Ebd., S. 136. 8 Warning: Die narrative Lust an der List. Norm und Transgression im Tristan (2003). 9 Vgl. Grubmüller : Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter : Fabliau, Märe, Novelle (2006), S. 16.
16
Einleitung
Konflikte in den Mittelpunkt seiner Arbeit stellte,10 doch beschrieb er als erstes sein konstruktiv-sozialisierendes Moment, wenn Streit oder Konkurrenz als Prozesse der Gruppenbildung verstanden werden. Bis heute baut die moderne Konfliktforschung auf seinem Theorem der Vergesellschaftung durch Streit auf.11 Zudem wird begründet, warum in dieser Arbeit Wettkampf als Oberbegriff eines Kontinuums agonaler Praktiken verwendet wird, von dem Simmel ausging. Daran anschließend widmet sich die Arbeit den Forschungen innerhalb der germanistischen Mediävistik, die positive Effekte von Konflikten fokussieren (Kap. 2.2.). Vor allem die wegweisende Studie von Peter Strohschneider und Beate Kellner hat eine Möglichkeit aufgezeigt, kompetitive Kommunikation am Beispiel des Wartburgkrieg12 als erzählanalytisches Instrument nutzbar zu machen. Dieser Ansatz wurde fruchtbar aufgegriffen, zum Beispiel in Albrecht Dröses Interpretation des Ackermann Johannes’ von Tepl. Aber auch an Mären orientierte Analysen konnten agonale Erzählstrukturen ausmachen, allen voran durch Peter Strohschneider zu Konrads von Würzburg Schwanritter oder Armin Schulz’ Erzähltheorie des Schwanks. Mittelalterliches Erzählen, vor allem im Fall der Mären, versucht häufig, Ausfaltungen sozialer Handlungsmöglichkeiten am Ende einer Geschichte wieder einzufalten, und lässt damit überbleibendes Geschehen unbeachtet.13 Eine Beschäftigung mit Pluralisierungen in der Versnovellistik setzt deshalb zwangsläufig ihren Fokus auf die narrativen Vorgänge und weniger auf die Ausgänge, will sie diesem Phänomen nicht unterliegen. Für die Analyse von Bewegungen der Ein- und Ausschlüsse hat sich auch für die historische Kulturwissenschaft die Unterscheidung von Inklusion und Exklusion als ergiebig erwiesen, die ursprünglich in der Systemtheorie Niklas Luhmanns als Analyseinstrument entwickelt wurde.14 In Kap. 2.3. wird diese Unterscheidungsmöglichkeit für eine differenzorientierte Untersuchung kultureller Bewegungen ertragreich nutzbar gemacht.
10 Man denke beispielsweise an das Theorem des Klassenkampfs bei Marx/Engels. 11 Vgl. Coser : Theorie sozialer Konflikte (2009), Witte und Dennaoui: Streit und Kultur. Vorüberlegungen zu einer Soziologie des Streits (2008). 12 Der übrigen Märenforschung folgend, setze ich in meiner Arbeit die Titel literarischer Werke in Kapitälchen. 13 Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive (2015), S. 316. 14 Für eine geschichtsorientierte Kulturwissenschaft hat beispielsweise der Sonderforschungsbereich (SFB) 600 »Fremdheit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von der Antike bis zur Gegenwart« das Theorem Inklusion/Exklusion der Systemtheorie historisierend nutzen können. Vgl. der Abschlussband Patrut und Uerlings: Inklusion/Exklusion und Kultur. Theoretische Perspektiven und Fallstudien von der Antike bis zur Gegenwart (2013).
Einleitung
17
Kap. 2.4. begründet die Auswahl der dieser Arbeit zugrundeliegenden Mären. Es wurde ein möglichst breites Spektrum in der Gattung gesucht, bezogen auf die Ebenen und die Formen von Agonalität. Der Hauptteil (Kap. 3) analysiert die sieben Texte beziehungsweise Textreihen auf die textspezifischen Pluralisierungen durch kompetitive Praktiken. Im Schlusskapitel werden die variantenreichen Ausgestaltungen von Agonalität resümiert und geordnet. Dabei werden zu Beginn (Kap. 4.1.) die Gefahren des Wettkampfs aufgezeigt, womit auf die Möglichkeiten eingegangen wird, wie Mären die zerstörerischen Wirkungen des Agonalen einzufangen versuchen. In Kap. 4.2. und 4.3. werden die Formen der Wettkämpfe beziehungsweise die Ebenen erfasst, auf denen Wettkämpfe stattfinden. Auch die Pluralisierungen lassen sich, trotz aller Kontextabhängigkeit, weiter in einen gemeinsamen Zusammenhang bringen (Kap. 4.4.). Für die Mediävistik kann es ein Gewinn sein, wenn sie kulturelle Zugewinne dadurch nachzeichnet, dass sie noch mehr als jetzt Differenzen in den Mittelpunkt nimmt. Bisherige Forschungen können dabei gute Beispiele sein, die vorgestellt und mit den Ergebnissen dieser Arbeit in Zusammenhang gebracht werden (Kap. 4.5.). Abschließend wird eine literaturgeschichtliche Entwicklung des Märengenres nachgezeichnet, wenn späte Mären als zunehmend selbstbezüglich, das heißt reflexiv zur eigenen Gattung, vorgestellt werden.
2.
Theoretische Grundlagen
2.1. Konfliktforschung außerhalb der Mediävistik: Simmel zur Produktivität des Streits Die Arbeit geht von einem Kontinuum agonaler Formen aus, das heißt Wettkampf, Streit, Konflikt oder Konkurrenz werden unter dem ihnen gemeinsamen Aspekt der Vergesellschaftung betrachtet. Dabei kann sie sich wissenschaftsgeschichtlich auf den Soziologen Georg Simmel berufen, dessen Arbeiten bis heute maßgebenden Einfluss auf die Konfliktforschung ausüben.15 Die Wechselwirkung, die im Kampf entsteht, sieht Simmel als eine Form der Vergesellschaftung an. Simmels Nachweis, dass allen Formen von Streit ein sozialisierendes Element inne liegt, ist für diese Arbeit grundlegend. Simmel gelingt es in seinem analytischem Entwurf Der Streit16, unzählige Beispiele vor allem historischer Kämpfe und Konflikte zu formalisieren und ordnen. Er tut dies, indem er sie nach dem Grad der Direktheit in den agonalen Interaktionsbeziehungen sortiert.17 Allen Formen gemein sind ihre unleugbar konstruktiven Auswirkungen, die Simmel als Vergesellschaftung bezeichnet, als eine Verbindung der sonst nebeneinander herlaufenden (Simmel: ›gleichgültigen‹) Kräfte. In allen agonalen Formen kommen somit unterschiedliche Menschen zusammen und Dissonanzen werden durch den konstruierten Raum der Wechselwirkung aufgelöst.18 Drei Formen können beispielhaft die soziale
15 Vgl. Coser : Theorie sozialer Konflikte (2009), Witte und Dennaoui: Streit und Kultur. Vorüberlegungen zu einer Soziologie des Streits (2008). 16 Simmel: Der Streit (2001). 17 S. Stark: Die Konflikttheorie von Georg Simmel (2008), S. 85. 18 Tatsächlich sind Dissonanzen (Hass und Neid, Not und Begierde) nach Simmel die Ursachen des Kampfs, nicht die Auswirkungen: »Ist auf sie hin der Kampf erst ausgebrochen, so ist [der Kampf] eigentlich die Abhülfsbewegung gegen den auseinanderführenden Dualismus« Simmel: Der Streit (2001), S. 284.
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Theoretische Grundlagen
Triebkraft des Konflikts verdeutlichen: der Kampf, der Streit und die Konkurrenz.19 Die grundlegende Form des Streits ist für Simmel der Kampf. Mit ihm beschreibt er Dissonanzen fremder Elemente, Streitereien und direkte Feindschaft, die im Kampf paradoxerweise in eine Einheit gebracht werden. Der Kampf bringt es nämlich mit sich, dass gegensätzliche Kombattanten unintentional sich einander annähern, ihre Dualismen auflösen und latent vorhandene Bezüge zueinander in Beziehung setzen.20 Somit bringt der Kampf zu Friedenszeiten unbestimmte und unmerkliche Spannungen zum Vorschein und versucht sie zu ordnen. Dafür bedienen sich Kämpfe der Gewalt, die für Simmel nur ein Mittel zum Zweck ist. Solange sie nicht auf die bloße Vernichtung des Gegners abzielt, gesteht er also auch der Gewalt ein sozialisierendes Moment zu.21 In diesem Fall strebt der Kampf nach der Vereinigung von Gegensätzen.22 Schon in seinem Verlauf ordnen sich im Kampf die Beziehungen. Das einfachste Ende eines Kampfes ist der Sieg des Einen über den Anderen, aber auch Kompromisse oder Versöhnungen sind möglich. In allen Fällen ordnet der Kampf die Verhältnisse zwischen Individuen und Gruppen, bringt untereinander funktionelle Beziehungen zustande und zieht gesellschaftliche Elemente in eine größere Einheit zusammen.23 Mit dem Kampf teilt sich der Streit die Vereinigung gegensätzlicher Kräfte. Dabei zielen die Kombattanten im Streit nicht auf den Schaden des anderen, sondern sie streben danach, ein Streitobjekt zu erlangen. Das Ende des Streits liegt im Gewinn dieses Streitobjekts, womit »der Streit befriedigend beendet werde[ ]«24. Die Form des Streits wird für Simmel perfekt beschrieben durch den Rechtsstreit, da dieser institutionalisierte Konflikt nach den Regeln der Sachlichkeit verfahre und Störfaktoren ausschließe. Der Eintritt in den Rechtsstreit zwingt die Parteien, und dies ist sein vergesellschaftender Effekt, zur beiderseitigen Anerkennung und zur gemeinsamen Unterordnung unter das Gesetz. Beide Parteien beanspruchen für sich und den jeweils anderen im Rechtsstreit das Einhalten gleicher Regeln und akzeptieren die Gültigkeit des Richterspruchs, der eine objektive Entscheidung treffen soll. Wegen all jener konsen19 Mit der Auswahl der drei Formen folge ich Stark: Die Konflikttheorie von Georg Simmel (2008). Simmel selbst verweist immer wieder auf den gemeinsamen Charakter aller agonalen Formen, insofern ist eine Trennung weniger in seinem Sinn. Doch hat die Forschungstradition nach Simmel, allen voran sein Schüler Lewis Coser, wieder verstärkt die Unterschiede der Konflikte thematisiert. S. Gebert: Wettkampfkulturen. Erza¨ hlformen der Pluralisierung in der deutschen Literatur des Mittelalters (2019), Kap. II. 1. 20 Simmel: Der Streit (2001), S. 362. 21 Ebd., S. 296. 22 Ebd., S. 305, 360 u. 361. 23 Ebd., S. 287. 24 Ebd., S. 305.
Konfliktforschung außerhalb der Mediävistik
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suellen Momente beruht nach Simmel der »Rechtsstreit auf einer breiten Basis von Einheitlichkeiten und Übereinstimmungen zwischen den Feinden«25. Somit liegt die sozialisierende Kraft des Streits darin, ritualisierte Formen so lange einzuhalten, bis die Verhandlung abgeschlossen und der Streit beigelegt ist. Die Gemeinsamkeit zwischen Streit und Konkurrenz nach Simmel liegt darin, dass beide Formen indirekt sind. Auch in der Konkurrenz geht es darum, ein Streitobjekt zu erlangen. Hier ist dieses Objekt aber ein Drittes, das heißt, der Preis, für den man in den Wettbewerb tritt, befindet sich nicht im Besitz einer der konkurrierenden Parteien. Der Sieg in der Konkurrenz liegt in dem Erreichen dieses Dritten, nicht in dem Besiegen des Konkurrenten. Deshalb lassen sich auch zwei Arten der Konkurrenz unterscheiden:26 Bei der einen buhlen zwei Kombattanten um das Siegesobjekt. Diese können beispielsweise in einer Demokratie zwei Parteien sein, die um die Mehrheit einer festen Anzahl von Wählerinnen und Wähler konkurrieren und dabei ihr Profil gegenüber der anderen Partei schärfen müssen. Bei der anderen Art strebt jeder Konkurrent allein auf das Ziel zu, »ohne eine Kraft auf den Gegner zu verwenden.«27 Das können zum Beispiel Kaufleute sein, die durch die Qualität ihrer Ware die Gunst der Kundschaft gewinnen können, oder ein Wettläufer, der allein durch seine Schnelligkeit den Pokal gewinnt. In dieser Art der Konkurrenz kann es sogar vorkommen, dass sich die Kraft der Gegner positiv auf alle Beteiligten auswirkt, dass »der Antagonismus ein rein formaler wird und […] de[r] Sieg des Siegers dem Besiegten zugutekomm[t].«28 In solchen Fällen werden Innovationen gefördert oder Leichtathleten angespornt. Die vergesellschaftende Wirkung der Konkurrenz liegt wie bei allen Formen in der Nähe der Gegner : Um das Streitobjekt zu gewinnen, müssen sich die Mitbewerber untereinander entgegenkommen. Sie müssen sich gegenseitig erkunden, Schwächen und Stärken des anderen wahrnehmen und sich aneinander anpassen.29 Wieder müssen sich beide Kontrahenten einem Streitgegenstand unterordnen und begegnen sich unter dessen Wirkung, denkt man zum Beispiel an den Pokal der Wettläufer. Die vergesellschaftende Wirkung der Konkurrenz ist gegenüber den anderen Formen größer, weil die Konkurrierenden keine oder zumindest kaum destruktive Energie verwenden müssen, um den Gegner zu besiegen.30 Konkurrenz bewirkt das Dynamisieren des eigenen Einsatzes und 25 26 27 28 29
Ebd., S. 305f, Zitat S. 306. Ebd., S. 323f. Ebd., S. 324. Ebd., S. 324. Ebd., S. 327. Vgl auch ebd., S. 316: »Ja, daß überhaupt eine Differenz der Überzeugungen in Haß und Kampf ausartet, findet meist nur bei wesentlichen und ursprünglichen Gleichheiten der Parteien statt.« 30 Stark: Die Konflikttheorie von Georg Simmel (2008), S. 88.
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stellt eine antreibende Wechselwirkung unter den Konkurrierenden her. Die Verbindung zwischen den Mitbewerbern schafft eine Gemeinschaft, die sich durch das gemeinsame Zielobjekt identifiziert und dadurch zusammenkommt. Im Bereich der Wirtschaft tritt dies sowohl in modernen Unternehmensverbänden als auch mittelalterlichen Handwerkerzünften ein. Die Vergesellschaftung findet in solchen Fällen in einem inneren Kreis statt, der sich nach außen abgrenzt. Durch die Formalisierung der Interaktionen geraten bei Simmel die Durchführung des Konflikts und die dabei wiederkehrenden Muster in den Fokus, womit er auch den sozialisierenden Effekt von Konflikten beobachten kann.31 Sozialität konstituiert sich in agonalen Formen durch die Wechselbeziehungen der Individuen, die in Kampf, Streit oder Konkurrenz miteinander verbunden sind. In solcher Art entwickelt der Konflikt seine formal inkludierende Kraft, weil er seine Kontrahenten aneinander bindet und sie in wechselseitige Abfolgen einspannt. In das agonale Wechselspiel bringen sich Personen in unterschiedlichen Graden der Direktheit ein beziehungsweise werden eingebracht. In der Ethnologie beschreibt man dieses Hin und Her auch als ›Prinzip der Alternanz‹32 und trägt damit dem Umstand Rechnung, dass im Schlagabtausch der Kontrahenten Aufmerksamkeit fokussiert und über das Wettkampfgeschehen hinaus Bestehendes ausgeblendet wird. Konflikte besitzen die Eigenart, schnell an Geschwindigkeit und Intensität zuzunehmen, sie wachsen über ihre ursprünglichen Grenzen hinaus und verschlingen Ressourcen. Für jeden Gegenschlag bis hin zu Sieg oder Niederlage braucht es den Kontext des Konflikts, aus dessen Quelle der letzte Schlag gewonnen werden soll. Das kann im Wettlauf die Energie für die letzten Meter sein, im Wirtschaftsmarkt der Wettbewerbsvorteil, der den Konkurrenten aussticht oder können im Krieg die entscheidenden Truppen sein, die die Übermacht bilden. Sollte diese Kontextanreicherung, dieser Einbezug außenliegenden Materials nicht dazu führen, dass der Gegner überboten wird, beginnt eine neue Runde, bis der Konflikt durch eine asymmetrische Auflösung endet, was Sieg oder Niederlage bedeutet, oder beide Parteien trennen sich mit einem Kompromiss in gegenseitigem Einverständnis;
31 Zur formalen soziologischen Analyse bei Simmel s. Krähnke: Georg Simmel (2012), S. 142. 32 Hénaff: Die Gabe der Philosophen. Gegenseitigkeit neu denken (2014), Kap. 4., bes. S. 122: »Es besteht eine doppelte Dynamik der Reaktion. Einerseits handelt man, nachdem man einen Schlag erhalten hat, oder einfach als Antwort auf die Handlung des anderen. Beim Spiel führt dies zur Regel des Jeder der Reihe nach […]. Andererseits enthält die Logik der Aufeinanderfolge Aktion/Reaktion die Fähigkeit zur unendlichen Erzeugung von Bewegung: Die Vendetta könnte nie aufhören, das Ballspiel bis zur Erschöpfung weitergehen, der Krieg sich unablässig von Neuem entzünden.«
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häufig, weil die sich ausgleichenden Ressourcen keinen eindeutigen Sieg zulassen.33 Für die weitere Arbeit sind nicht die speziellen Semantiken agonaler Praktiken leitend, sondern das Verständnis für die Form dieser alternierenden Konflikte. Auch Simmel war nicht interessiert an trennscharfen Unterscheidungen und stellte kontinuierliche Gemeinsamkeit in den Mittelpunkt seines Streitkapitels. Man entfernt sich deshalb nicht von seinen Grundgedanken der produktiven Kraft des Konflikts, wenn man einen besseren Begriff als Streit wählt, der im Weiteren als Arbeitsterminus dient und mehr als Streit die fortlaufende Wechselseitigkeit betont. Als Alternative bietet sich der Begriff Wettkampf an, der aus mehreren Gründen besser geeignet erscheint. Zum einen akzentuiert er die alternierende Abfolge und die immer neu einsetzenden Positionsbestimmungen der Kombattanten während dieser Seitenwechsel, zum anderen sperrt sich der Wettkampf zumindest in seinem Beginn und Verlauf gegen zwingend asymmetrische Verhältnisse, wie sie zum Beispiel dem Rechtsstreit zwischen Kläger und Angeklagtem immanent sind. Ferner nimmt der Wettkampf eine Mittelstellung ein zwischen mittelbarer und unmittelbarer Direktheit der agonalen Interaktionsbeziehungen. Zuletzt schließlich ist der Wettkampf offen für einen variablen Grad des Einsatzes der eigenen Person, schreitet also ein Kontinuum zwischen Formen des Krieges und des gewaltfreien Spiels ab.
2.2. Wettkampftheorie innerhalb der Mediävistik In der mediävistischen Forschung bilden Arbeiten zum Spätmittelalter hinsichtlich agonaler Beziehungen den Schwerpunkt. Diesen Zeitraum betreffend, haben mehrere Beiträge in den letzten Jahren Streitkulturen sichten und beschreiben können, zum Beispiel zum Ackermann: Albrecht Dröse 2013, zum Wartburgkrieg: Beate Kellner und Peter Strohschneider 2007. Zwei Beiträge befassen sich explizit mit Mären (zum Schwanritter : Peter Strohschneider 1997, narratologisch: Armin Schulz 2015). Diese Arbeit will daran anschließen und beschreibt mögliche Schnittstellen. Zum einen beschäftigen sich all diese Forschungen mit unterschiedlichen Arten des Wettkampfs, die im Sinn Simmels weiter bestimmt werden können. Zum anderen verfolgen Texte wie der Ackermann, Wartburgkrieg oder Schwanritter differierende Ziele innerhalb poetischer Praktiken und im Rahmen mittelalterlicher Ordnungssystemen. Hier lohnt es, nach wiederkehrenden Prozessen zu suchen, die sich auch in der Märendichtung widerfinden könnten. 33 Zum Ausgang aus dem Streit s. Simmel: Der Streit (2001), S. 368–382.
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2.2.1. Poetik des Wettkampfs im WARTBURG-Komplex In Kellner/Strohschneiders Artikel zum Wartburg-Komplex entwerfen die beiden AutorInnen eine Poetik des kriegens. Der mittelalterlichen Textsammlung liegt eine spezifische Kommunikationsform zugrunde, bei der der Dichterwettstreit fortgesetzt wird, indem auf Polemiken des Gegners geantwortet wird und der Wettstreit endet, wenn der Gegner zum Schweigen gebracht werden kann. Bei den Rätselspielen handelt es sich um ein Wissensduell, bei dem am Ende die Abwehr ›magischen Wissens‹ zum Sieg führt (in Fassung C und J). Die Produktivität des Agonalen liegt im Fall der Dichterfehde bei der Textgenerierung. Das »gegenseitige[ ] Übertrumpfen[ ]«34 ruft immer wieder neue Rede hervor und setzt das Singen fort. Begrifflichkeiten des Krieges, Kampfes und der Gewalt bestimmen weite Teile des Wartburgkrieg, allen voran das Fürstenlob. Das gilt nicht nur als Metapher, sondern auch wortwörtlich: geht es bei diesem Wettkampf doch ums Leben, denn der Verlierer wird dem Henker übergeben. Die eigene Dichterexistenz kann nur mithilfe einer poetischen, die anderen überbietenden Rede gerettet werden. Ziel ist es, die Gegner zum Schweigen zu bringen; die Kommunikation abzubrechen und vom Reden in körperliches Handeln überzugehen.35 Kellner/Strohschneider sprechen von einem Kampf der Körper und einem Spiel »mit hohem Einsatz«36. Dieses kriegen und die auf der Isotopieebene zusammenhängende Gewalt stellen ein zentrales Textmuster des gesamten Wartburg-Komplexes dar,37 weil beide übergreifend den entscheidenden Bezugsrahmen setzen. Gewiss semantisch unterschiedlich gefüllt, unterstellen sich alle Teile fortgehend dem Agonalen als Kampf der Körper. Die Produktivität des kriegens schafft es, die Erzählung weiter zu spinnen, neuen Text zu generieren und auch heterogene Textteile zusammen zu bringen. In den besonderen Blick geraten deshalb die Grenzgängerfiguren, die auch unverwandte und scheinbar zufällige und beliebige Wissenskontexte miteinander in Verbindung bringen,38 immer mit dem Ziel, »den Gegner zu domesti34 Kellner und Strohschneider: Poetik des Krieges. Eine Skizze zum WartburgkriegKomplex (2007), S. 350. 35 »[Wolfram] beendet den Agon, indem er verstummt und die rituelle Handlung des Kreuzzeichens an die Stelle weiterer Rede setzt: Wolfram ein krüze für sich reis ([Handschrift] C 55,1). Gerade im Verstummen zeigt sich Wolfram damit als unbesiegbar im Agon der Rede. Die Redebegrenzung im entscheidenden Moment und der Wechsel von der Rede auf das Ritual erweisen sich als Strategien, die komplementär zu den Prätentionen von Wissensfülle zu erachten sind. Die Überbietung des Gegners erfolgt hier durch das Abbrechen der Kommunikation.« ebd., S. 355. 36 Ebd., S. 340. 37 Ebd. 38 Ebd., S. 356.
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zieren, was gelungen ist, wenn dieser nicht mehr angemessen replizieren kann.«39 Eine Konzentration auf »kommunikationsgeschichtliche, institutionelle, diskursgeschichtliche und ästhetische Aspekte«40 lenkt den Blick auf die hohe Bedeutung des Kampfes für die Textgenerierung. Der kriec im Textkomplex wird beendet, indem der Konkurrent zum Verstummen gebracht und damit einhergehend sein Körper zerstört wird. Die Gewalt ist nicht nur Teil der Rede, sondern prägt auch ihren Vollzug – und dies macht die besondere Spannung der literarischen Rede als ein Spiel um Leben und Tod aus.41 Kellner/Strohschneider sehen diese implizite Poetik in allen Handschriften des Überlieferungskomplexes – sie ist also nicht nur vers- und strophen-, sondern auch fassungsübergreifend. Auch die Paratexte wie Bildunterschriften innerhalb der Handschriften oder ergänzende Einleitungsworte unterliegen ihr.42 Durch die elementare Bedeutung des WartburgkriegKomplexes für das gesamte Genre der Dichterfehden erklären sie diese implizite Poetik als stilbildend für jegliche spätmittelalterliche Sangspruchdichtung. Das Wissen der Figuren spielt eine maßgebende Rolle, um den Kampf für sich zu entscheiden, vor allem zur Lösung der gegenseitig präsentierten Rätselspiele. Dazu gehört auch, Wissen richtig einzuordnen: Das Schweigen Wolframs am Ende beweist dessen Triumph über die Gefahr des Magischen und löst Diffusitäten in die geordnete Beziehung von Sieg und Niederlage auf. Der Kampf endet somit mit der expliziten Niederlage Clinschors und der abschließenden Rede Wolframs, in der das Religiöse als Fundament des wahren Wissens wie auch der ästhetischen Kompetenz gesetzt wird.43 Das kriegen innerhalb des Wartburgkrieges hat einen paradoxen Charakter. Einerseits besitzt es eine integrative Kraft, weil es Figuren unterschiedlicher und auch ungewöhnlicher Beziehungen zusammenbringt und durch die Textgenerierung den Dialog zwischen den Poeten voranbringt. Dafür greifen die Poeten auf differente Wissenskontexte zurück, die in den Kampf inkludiert werden. Auf diese Art beweist das kriegen seine Produktivität im Sinn kreativer Neu- und Weiterschreibung. Auch in den Mären meiner späteren Analysen zeigt sich immer wieder die textgenerierende Produktivität des Agonalen, bei der schon Erzähltes neu- und umgedichtet wird. Andererseits ist ihm eine Ausschluss erzeugende Energie eigen, wenn es den Redeakt als Überbietungsstrategie ebenso verwendet wie zum polemischen Herabsetzens des Gegners.44 In diesem Sinn lässt der Wettkampf Figuren auch verstummen und verschwinden. 39 40 41 42 43 44
Ebd., S. 348. Ebd., S. 338. Ebd., S. 356. Ebd., S. 339. Ebd., S. 355. Ebd., S. 347.
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2.2.2. Das Streitgespräch – der ACKERMANN Albrecht Dröses Analyse des Ackermanns45 profitiert in großem Maße von Kellner/Strohschneiders Modell einer impliziten Poetik. Dröse findet im Streitgedicht des Johannes von Tepl eine gleiche zentrale poetologische Metaphorik des kriegen wie im Sängerkrieg.46 Zwar entwerfe der Ackermann einen anderen thematischen Rahmen als der Wartburgkrieg, denn der Text schildere einen krieg, wie einer, dem sein liebes gestorben ist, schiltet den Tot, so verantwortt sich der Tot47 (so die Überschrift). Aber auch der Streit zwischen einem Witwer und dem personifizierten Tod basiert auf einem Wechsel zwischen Angriff und Verteidigung in 34 Kapiteln. Auch hier ist es das Ziel beider Kontrahenten, durch behendigkait, durch ein möglichst kunstvolles Präsentieren von Wissen, das Gegenüber zum Schweigen zu bringen. Dröse sieht den Ackermann als Sprachspiel des Inkommensurablen, in dem die Akteure kein gemeinsames Werturteil über das Sterben finden. Der Tod setzt auf Logik und bisweilen Zynismus, der Witwer verteidigt seine Emotion über den Tod seiner Ehefrau. Der Streit kann solcherart nicht durch ein Einigen der Streitenden beendet werden, sondern nur durch das Eingreifen Gottes. Dem Bauern gelingt es nach Dröse, die Trauer und das Gefühl des Leids in ihrem Eigenwert zu behaupten und sie nicht der Zweckrationalität des Todes zu subsumieren. Auf diese Weise wird durch ein Streitgespräch eine neue kulturelle Bewältigungsstrategie geschaffen. Der Diskurs des Todes steht konträr zu dem des Witwers. Seine zentrale Operation ist die Entdifferenzierung: Im Tod seien alle gleich. Er wirke sein unwiderrufliches Tun an allen und unterscheide in seiner Tätigkeit nicht zwischen Gut und Böse. Er legitimiert sich als Funktionsträger, dessen Wirken nicht durch äußere Affekte bestimmt wird. Gerade dieses amoralische Entscheiden bildet die Machtgrundlage des Todes, dadurch wird sein Handeln zu einer lex universalis: »Rechtmäßigkeit erweist sich gerade in der Nivellierung jedweder sozialen, ethischen und ästhetischen Unterschiede.«48 Der Ackermann beklagt dagegen den Verlust seiner Lebensfreude durch den Tod der Ehefrau. In seinen Augen war die Frau eine warsagende winschelrute (5,3f.)49, ein flutender morgenstern (5,7f.), eine erentreicher valcke (7,7) und eine reine haußere (11,21). »[D]ie bonitas der Ehefrau [ist] nicht nur als abstrakte Idealität, sondern als konkrete ästhetische, ethische und soziale Wirksamkeit 45 Dröse: Die Poetik des Widerstreits. Konflikt und Transformation der Diskurse im Ackermann des Johannes von Tepl (2013). 46 Ebd., S. 38. 47 Zitiert nach ebd. 48 Ebd., S. 115. 49 Die vier Textzitate aus dem Ackermann nach ebd., S. 114f.
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entworfen.«50 Da der Witwer nun den Verursacher seines Verlustes vor sich hat, begleitet die Klage auch eine Forderung nach Vergeltung. Der Ackermann übersät den Tod mit Flüchen, Verwünschungen und Absagen, in späteren Kapiteln addieren sich dazu die Entschädigungsforderungen und die Rede vom widerpringen der Verstorben (Kap. 19 und 21). Über alle Kapitel hinweg weigert sich der Bauer, den Tod der Ehefrau hinzunehmen.51 In dem Streitgespräch bekommt die Trauer seine Legitimation. Der Bauer ist das Opfer, das nicht zur Sprache kommen soll. Doch verschafft der Text ein neues Idiom, das das bisher Nichtgesagte aus dem Schweigen auftauchen lässt. Zum Schluss inszeniert der Text (Kapitel 33) eine göttliche Intervention, in der Gott dem Ackermann das Recht, sein Leid zu klagen, zugesteht. »Das Ende des Textes offeriert keine Auflösung des Diskurskonflikts, aber es bietet eine neue Anschlussmöglichkeit für den ›Satz‹ der Trauer.«52 Die Trauer als Gefühl wird der Diskursroutine entgegengestellt. Der Ackermann ist innovativ, weil er durch eine rhetorische Neubearbeitung der Textmuster einen neuen Standpunkt offeriert, die die übliche und gewohnte Bearbeitung des Themas Tod überschreitet und die Orthodoxie überwindet.53 Die Rhetorik und die Dialektik »können in einer spezifischen Arbeit an der Tradition die hegemonialen Diskurse relativieren und der unterlegenen Position immerhin literarisch zur Geltung […] verhelfen – und darin den Schmerz des Schweigens überwinden.«54 Formal handelt es sich im Ackermann um einen Streit, dessen Besonderes die Unfähigkeit der beiden Beteiligten ist, eine Lösung zu finden, so dass der Disput ohne den extern-göttlichen Eingriff nicht gelöst werden kann.55 Das Verhältnis zwischen den beiden Streitenden ist prekär, weil das Opfer, der Bauer, seinen Schaden im Idiom des anderen nicht darstellen kann. Im Grunde ist der Streit zwischen Ackermann und Tod nicht sozial, weil beide in unterschiedlichen Systemen und deshalb aneinander vorbeireden. Gleichzeitig eröffnet er aber auch die Möglichkeit, sonst blinde Stellen in einem hegemonialen Diskurs zu artikulieren. Es ist die charakteristische Eigenschaft dieses Streits, dass er etwas Unausgesprochenes an die Öffentlichkeit bringt, das sonst nicht ausgesprochen werden kann. Die Produktivität des Streitgesprächs im Ackermann liegt damit auf der Diskursebene. Hier formuliert sich geschichtlich gesehen ein neues Idiom über den Tod, der die Trauer als eigenständigen und alleinigen Inhalt eines Sprechakts 50 51 52 53 54 55
Ebd., S. 114. S. Ebd., S. 115. Ebd., S. 203. Vgl. Ebd., S. 204. Ebd., S. 205. Genauer gesagt handelt es sich aufgrund dessen, dass die Reden der beiden inkommensurabel sind, um einen Widerstreit im Sinn Jean-FranÅois Lyotards; s. Ebd., S. 50–59.
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legitimiert. Eine neue kulturelle Bewältigungsstrategie wird begründet, die dem Tod von Angehörigen eine Geltung verschafft. Dies geschieht in Abspaltung und in einer diskursiven Differenzmarkierung zum Diskurs des Zweckrationalismus, der den Tod einer Logik des Werdens und Vergehens unterordnet. Der neue Diskurs widersetzt sich dieser rationalen Erklärung und formuliert das Recht auf die emotionale Betroffenheit der Hinterbliebenen aus. Gerade in den geschlechterdiskursiven Analysen in meiner Arbeit wird sich eine ähnliche Diskursöffnung zeigen: Der Ehebruch, seine De- oder Legitimation, oder die Verteidigung des sexuellen Triebs sind immer wiederkehrende Themen der Mären. Wie sich die Diskurse durch den Streit öffnen und erweitern können, lässt sich aus Dröses Analyse gewinnbringend lernen. Um die Artikulation einer neuen Idee geht es auch in einem Text Konrads von Würzburg – womit dieser Forschungsüberblick zum Wettkampf bei der im Zentrum stehenden Gattung der Arbeit ankommt, den Mären.
2.2.3. Rechtsstreit im SCHWANRITTER Peter Strohschneiders Aufsatz zum Schwanritter56 stellt innerhalb des Textes eine Konkurrenz zweier sozialgeschichtlich entscheidender Rechtssysteme fest, die das Erbrecht um das Herzogtum Brabant regeln. Der nächste männliche Verwandte, ein Herzog der Sachsen, berufe sich, ohne dass dies explizit werde, auf das agnatische Recht, nach dem das Erbe auf ihn übergehen würde. Witwe und Tochter des Verstorben pochen auf eine kognatische Erbfolge, das heißt das Erbe solle an sie, die nächsten Blutsverwandten fallen. Dieser Konflikt zweier Rechtssysteme ist der Dreh- und Angelpunkt der Erzählung und kann nur durch einen Gerichtskampf gelöst werden, den der von einem Schwan hereingebrachte, unbekannte Ritter im Namen der Damen gewinnt. Dabei wird die Lösung in der Erbrechts- und Rechtssystemkonkurrenz durch transzendierte Legitimation gelöst. Den Text durchläuft das Thema der ordnungsgemäßen Genealogie: Die Frauen Brabants und der Sachsenherzog streiten um das Erbe des toten Gottfrieds. Der Schwanritter stellt zudem ein Fragetabu um seine Herkunft auf. Eines Tages bricht seine Ehefrau das Verbot – um den Willen der gemeinsamen Kinder, denn die väterliche Herkunft ist die Grundlage ihrer adeligen Identität.57 Auch die Textproduktion selbst ist einem genealogischen Verständnis geschuldet: 56 Strohschneider: Ur-Sprünge. Körper, Gewalt und Schrift im Schwanritter Konrads von Würzburg (1997). 57 Vgl. ebd, S. 134.
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Konrad von Würzburg verlängert im Schlussteil des Schwanritter das Geschlecht des mythischen Ritters bis zu den Grafen von Geldern, Kleve und Rieneck, vermutlich die Auftraggeber und Mäzene des Texts, und setzt ihn als den Spitzenahn der Sippe.58 Der Wettkampfform nach handelt es sich hier um einen typischen Verlauf eines Rechtsstreits. Das Streitobjekt ist das Brabanter Herrschaftsgebiet und entscheiden soll der auf beiden Seiten anerkannte Richter Kaiser Karl. Der institutionalisierte Konflikt zwischen den beiden potentiellen Erbnachfolgenden wird über diesen indirekt ausgetragen. Problematisch ist aber, dass auch Karl nicht klar ist, nach welchem Rechtsprinzip entschieden werden soll. Dem Rechtsstreit fehlt das elementare Regelwerk. Die vergesellschaftende Wirkung des Rechtsstreits geht nicht auf, das sozialisierende Prinzip schlägt fehl, weil es keine Rechtsordnung gibt, auf die sich beide Parteien sowie der Richter einigen können. Über die Figurenebene hinaus geht es deshalb um eine sozialgeschichtliche Konkurrenz zwischen agnatischem und kognatischem Recht, um einen »Konflikt zweier Rechtssysteme«.59 Das Gewohnheitsrecht des Herzogs ist das historisch ältere, und es baut darauf auf, dass der Stärkere das Recht auf seiner Seite hat. Die Brabanter Frauen setzen auf das neue, verschriftliche Recht. Mit diesem wird versucht, das Recht vom Körper der Prozessbeteiligten zu lösen – seine Schriftform trachtet danach zu garantieren, dass es personenunabhängige Geltung besitzt.60 Paradox ist der Gewinn des kognatischen Rechts, das sieht auch Strohschneider,61 weil es sich durch den körperlichen Zweikampf zwischen Schwanritter und Sachsenherzog durchsetzt. Damit schaltet sich nun eine neue Form des Konflikts auf der Figurenebene ein, um die Konkurrenz der Rechtssysteme zu lösen. Der Text nutzt den Kampf als geeignetes Mittel zur Schlichtung, denn er lässt das neue Recht im System des alten durchsetzen. Das innovative Recht legitimiert sich als Überwinden des Alten, das auf Papier basierende über jenes, das dem Körper eingeschrieben ist, durch die körperliche Zerstörung. Mit dem Sieg des Schwanritters im Kampf werden beide eingeschachtelten Konflikte beendet: Die Konkurrenz der Rechtssystem ist entschieden und der Rechtsstreit wird zugunsten der Frauen gelöst. Das Paradox der Rechtsarten ist auf Seiten der Form nicht aufzulösen, kognatisches und agnatisches Recht sind eigentlich inkommensurabel, weil sie sich ausschließen: Wo eine kognatische Erblinie wirksam ist, kann kein agnatisches Erbrecht wirken und vice versa. Aufseiten der sozialgeschichtlichen Prinzipien, 58 59 60 61
Vgl. ebd, S. 136. Ebd., S. 147. S. Ebd., S. 147. Ebd., S. 148.
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die der Text gegeneinander ausspielt, ließe sich jedoch von einer fruchtbaren Verklammerung sprechen. Es werden zwei Systeme miteinander zusammengebracht, die eigentlich unvereinbar sind. Das neue, kognatische Rechtsprinzip setzt sich innerhalb der Funktionsansprüche des alten Gewohnheitsrechts durch. Konrad kombiniert hier geschickt, um eine historische kulturelle Neuerung aufzugreifen. Viel konkreter als beim Trauerdiskurs im Ackermann geht es im Schwanritter um ein kulturelles Ordnungsprinzip. Am Ende kann sich nur eins der beiden Erbrechtsprinzipien durchsetzen, dazu dient die Figur des Schwanritters. Weil der Kampf in eine einfache Lösung des Siegens und Verlierens aufgeht, verliert auch das Prinzip, das durch den Sachsenherzog repräsentiert wird, alle Ansprüche. Innerhalb des Märe setzt sich somit ein neues Prinzip mithilfe eines Ausschlusses durch. Das Moment des Verwerfens ist dem Kampf öfters zu Eigen, wenn sich mit ihm neue Ideen gegenüber alten behaupten.
2.2.4. Die agonale Erzählstruktur des Schwanks Dass agonale Strukturen für Mären grundlegende Bedeutung haben, hat Armin Schulz ausführlich herausgearbeitet.62 Er setzt bei den Schwänken an, welche die größte Gruppe unter den Mären sind: »Als agonales Handlungsmuster paßt das Schwankschema perfekt in die mittelalterliche Erzählwelt. Es geht dabei um das narrative Infragestellen und Aushandeln von Hierarchien.«63 Vom Schwank und vor allem von jenen sehr frühen des Strickers aus, der als der erste Märenschriftsteller eine Schlüsselrolle einnimmt,64 überträgt sich die agonale Struktur auch auf die anderen Mären. Aufgrund der Gattungsgenese aus der exemplarisch-didaktischen Kleinepik haben Mären Reste einer sozialen Funktion, vor allem in der moralischen Belehrung.65 Eigentlich hat sich das Literarische in der Gattung davon weitgehend 62 Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive (2015), S 134–143. Schulz kann dabei vor allem auf die Arbeit von Ziegeler: Art. Schwank2, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft: Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3 (2003) und v. a. Bausinger: Bemerkungen zum Schwank und seinen Formtypen (1967) aufbauen. 63 Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive (2015), S. 136. 64 Fischer: Studien zur deutschen Märendichtung (1983), S. 145. Fischer warnt aber auch davor, den Stricker als Märendichter par excellence anzusehen: zu verschieden sei sein Themenoeuvre von dem der anderen bekannten Gattungspoeten. Fischer : Studien zur deutschen Märendichtung (1983), S. 146. Das ist auch darin begründet, dass der Stricker nicht auf dem französischen Fabliau aufbaut; s. Grubmüller : Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter : Fabliau, Märe, Novelle (2006), S. 103. 65 Fischer : Studien zur deutschen Märendichtung (1983), S. 35–63.
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emanzipiert und seine didaktische Funktion verloren,66 doch bleiben Spuren erhalten: »Auch wenn die explizit formulierte Moral das mitunter überschießende Geschehen nicht mehr einholen, bändigen oder gar bewältigen kann, geht es doch immer noch um Problemfälle sozialer Normativität.«67 Besonders zeigt sich dies an den Differenzen beschworener moralischer Werte in den Pro- und Epimythia, die häufig hinter den Sinnangeboten der eigentlichen Erzählung zurückbleiben.68 Dabei setzt der Schwank auf normativ besetzte Handlungsoppositionen: Ehre versus Schande, Öffentlichkeit versus Heimlichkeit, verfeinertes höfisches Verhalten versus elementare Gewalt und Sexualität, wild versus kultiviert etc.69 Schulz gesteht ein, dass die wettbewerblichen Handlungslogiken von Aktion und Reaktion, Schlag und Gegenschlag moralisch neutral sind: Der Klügste oder moralisch Integerste gewinnt den Schlagabtausch nicht zwangsläufig, stattdessen entwickeln die Autoren der Mären eine narrative Lust an der List. Den Sieg erringt im Schwank häufig die Ehebrecherin, der Dümmere usw. Der Form nach sind solche Konflikte natürlich alles Kämpfe zwischen recht einfachen, binären Gegensätzen. Damit erklärt sich häufig auch der gewalttätige Charakter der Erzählungen, der auf klare Lösungen abzielt, anders als beim Ackermann. Schwänke setzen häufig axiologische Trennlinien und lenken dabei die Sympathie der Rezipienten auf die siegreichen, aber moralisch fragwürdigen und gewalttätigen Figuren.70 Die Gewalt ist oftmals nur ein Mittel, um Diffuses zu klären und die Beziehungen der Figuren in Asymmetrien aufzulösen. Dadurch, dass die entindividualisierten Figuren im Märe immer auch ganze Gruppen repräsentieren, seien es Frauen, Pfarrer, Bettler o. a., finden die Kämpfe in Schwänken nicht nur auf der Handlungsebene statt. Ethnische, intellektuelle, geschlechtliche oder soziale Differenzen71 können ebenso alternierend wechseln. Hier beweist sich das innovative Moment des Schwanks, wenn sich gegensätzliche Kombattanten einander annähern oder in der Literatur sonst passive bis unsichtbare Figuren in den Streit mit eingebaut werden, vor allem Bauern und Kaufleute. In solchen Fällen werden die traditionellen Grenzen der Epik verlassen. Auch durch die thematische Erweiterung ziehen sich immer weitere Kontextlinien um den Text, mit denen das Märe die unsichtbaren Leerstellen der
Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive (2015), S. 135f. Ebd., S. 136. Ebd. Ebd., S. 142. Vgl. Ziegeler: Art. Schwank2, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft: Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3 (2003), S. 408. 71 S. Ebd.
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zeitgenössischen Literatur zu schließen versucht.72 Der Rückgriff auf textexterne Kontexte liefert neues Erzählmaterial, mit dem Konflikte gelöst werden. Bei Ehebruchserzählen kann es sich dabei beispielsweise um Rückgriffe auf moralische Ehediskussionen handeln oder bei Konflikten zwischen Judentum und Christentum auf theologische Streitschriften etc. Stets geht es »um die Auflösung starrer Ordnungsformen«73 ; häufig kommt es zu einer Vervielfältigung kultureller Praktiken. Der Blick in die Forschungsliteratur zeigt: Wettkämpfe können differente Figuren (Wartburgkrieg), sozialgeschichtliche Ordnungsprinzipien (Schwanritter) und Diskurse (Ackermann) in einem gemeinsamen Raum zusammenbringen. Dabei wirkt der Wettkampf textgenerierend im Vergleich zu Prätexten, v. a. im Wartburgkrieg. Die verschiedenen Formen des Wettkampfs funktionieren sehr unterschiedlich im Umgang mit tradierten und neuen Erzählinhalten. Während die einfache Form des Kampfs häufig durch Ausschlüsse funktioniert, können gerade Konkurrenzen auch auf Kombinationen zielen (Schwanritter). Auch der Streit lässt bisher Unausgesprochenes oder ganz Neues an die Oberfläche treten (Ackermann). Die Bedeutung der Texte innerhalb der Tradition, das mehr oder weniger explizite Ziel, auf das die Mären zulaufen, lässt sich noch weiter kategorisieren. So streiten sich die Figuren im Schwanritter um eine sozialgeschichtliche Neuerung; im Wartburgkrieg etablieren sich neue religiöse und Wissensdiskurse, im Ackermann organisiert sich ein bisher unbekannter Diskurs um die Trauer. In den Schwänken ist das Prinzip der alternierenden Abfolge sogar das narrative Grundschema. Die weitere Arbeit fokussiert noch stärker, wie sich Neues innerhalb kultureller Ordnungen bildet. Dröses Analyse des Ackermann kann dabei als gutes Beispiel dienen. Der Wettkampf wird als Möglichkeit betrachtet, Latenzen zu offenbaren und bisher Verbundenes zu differenzieren. Er legt Unterschiede offen und expliziert unterschwellige Spannungen. Er bringt Kombattanten in einem gemeinsamen Raum zusammen. In allen Fällen beweist sich die produktive Kraft des Konflikts. Durch das Prinzip der Alternanz wirkt er textgenerierend und sucht im Textkontext nach neuen Ressourcen, um Konflikte asymmetrisch aufzulösen. Außerdem bindet er bisher Unverbundenes zusammen, vergleicht und stellt Figuren und Diskurse nebeneinander. Gleichermaßen kann er aber auch differenzieren und Trennlinien aufzeigen, bisher Zusammengedachtes voneinander lösen. Wenn sich in Konflikten die Handlungsmöglichkeiten er-
72 Vgl. Friedrich: Trieb und Ökonomie. Serialität und Kombinatorik in mittelalterlichen Kurzerzählungen (2006), S. 53. 73 Ebd.
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weitern oder neu eröffnen, lässt sich von einer Pluralisierung sprechen. Das nächste Kapitel stellt dar, was einen solchen Anwuchs an Komplexität ausmacht.
2.3. Pluralisierung Wenn in dieser Arbeit von Pluralität gesprochen wird, sind damit vervielfältigte normative Ordnungen gemeint. Hierunter ist ein Komplex von Normen und Werten gemeint, die soziales Handeln lenken. Entlehnt ist der Begriff aus der Geschichtswissenschaft.74 Normative Ordnungen geben den Rahmen vor, in dem sich individuelle Praktiken realisieren. Sie sind normativ, weil sie das Agieren von Figuren bedingen und lenken. Sie sind Ordnungen, weil einzelnes Handeln durch sie in einen Zusammenhang gebracht wird. Wenn sich Figuren anders verhalten, als es traditionelle Handlungsmuster vorgeben, dann geschieht dies in der Regel nicht einmalig, sondern ist in ein verkettendes Muster eingebaut, das gerade die entindividualisierten Figuren der Mären in all ihren Handlungen leitet. Ein klassisches Beispiel für die Mären ist das übele w%p, bei dem alles Agieren der Frau in das Muster von Boshaftigkeit und Widerspenstigkeit eingeordnet ist und bei dem auch der Text selbst diese zwanghafte AntiHaltung reflektierten kann (beispielhaft in Die Böse Adelheid, in der die Augsburger Ehefrau für ihr Leben schwört, daz si nimmer wolt werden guot; V. 575). So werden Elemente der Erzählung wie das übele w%p schnell selbst normgebend und gattungskonstitutiv. Hier sollen jedoch nicht solch große, gattungsspezifische Elemente untersucht werden, sondern Handlungsmuster des Wettkampfs, die textintern beziehungsweise maximal textreihenintern bleiben. Auch auf dieser Ebene ist Handeln nicht losgelöst, sondern in eine verkettete Ordnung gebracht. Diese Handlungsmuster sind analytisch herausfordernd, weil sie zum größten Teil nicht expliziert werden, zum Beispiel durch Marker wie nimmer oder durch Wiedererzählen. Deshalb müssen die normativen Ordnungen aus der Beobachtung und Interpretation individueller und einzelner Praktiken abstrahiert werden.76 Pluralisierung normativer Ordnungen bedeutet in diesem Sinn, dass neue Ordnungen eingeführt und narrativ, dabei nur in seltenen Fällen explizit, ver74 Imhausen und Fahrmeir : Einleitung: Dynamik normativer Ordnungen. Ethnologische und historische Perspektiven (2013), S. 11. 75 Aufgrund dieses Charakterzuges bleibt sie mit ihrem Mann in permanentem Widerstreit. Als er sie vor einer gefährlichen Brücke warnt, fällt Adelheid gerade wegen ihrer Widerspenstigkeit in den Fluss und ertrinkt. Der Ehemann sucht sie in falscher Richtung flussaufwärts, in dem Glauben, dass ihre Aufsässigkeit über den Tod hinaus beständig bleibt. 76 Vgl. Imhausen und Fahrmeir : Einleitung: Dynamik normativer Ordnungen. Ethnologische und historische Perspektiven (2013), S. 11.
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teidigt werden. Die vorliegende Arbeit geht davon aus, dass keine natürliche Hierarchie von Ordnung existiert, und sich dadurch theoretisch potenziell unendliche Möglichkeiten ergeben, neue Normen in bestehende Systeme einzubringen. Es gibt kein übergreifendes Wertesystem für Normen, weil Werte qualitativ heterogen sind, das heißt sie sind prinzipiell nicht unter einem universellen System kategorisierbar. Diese Vorstellung teilt die Arbeit mit der modernen Pluralismusforschung.77 Gleichzeitig wäre es jedoch ahistorisch, davon auszugehen, dass diese Sicht auch in der Vormoderne gegolten hätte. Mittelalterliche Diskurse geben zeitweilig ein sehr starkes Korsett von erlaubten und unerlaubten Ordnungen vor, innerhalb derer sich Akteure bewegen dürfen. Die Literatur unternimmt es, Werte in eine Hierarchie einzuordnen und Normen axiologisch zu kontrastieren. Dies gilt ebenso für die Mären, auch wenn gerade ihre partielle Unterwanderung starrer Ordnungen oftmals für große Beliebtheit in der jüngeren Forschung gesorgt hat.78 Um mittelalterliche Pluralisierung von Ordnungen wahrzunehmen, lohnen sich zwei Methoden, deren sich der Mittelalterhistoriker Michael Borgolte bedient. Zum einen ist es die Analyse von Beziehungen, zum anderen der Vergleich.79 Für die Literaturwissenschaft kann eine Analyse von Beziehungen als die klassische Methode der Hermeneutik übersetzt werden. Für eine Historisierung von Pluralismus wird dabei die Analyse von Disparitäten unabdingbar, die sich zwischen differenten Ordnungen auftun und die den Text zwingen, Strategien der Hierarchisierung auszubilden. Eine historische Hermeneutik muss deshalb davon ausgehen, dass ein vormodernes Denken versucht, Ordnungen zu sortieren und dieses Sortieren in ein Narrativ zu bringen. Der Wettkampf kann dafür als fruchtbare Erzählstruktur herangezogen werden, weil er latente Diffusität ordnet. Eine Analyse von Beziehungen wird so zu einer Interpretation von Konflikten, die Reaktionen auf Differenzen fokussiert. Pluralität zeigt sich dann in jenen textinternen Fällen, in denen Antworten gesucht werden, um widersprüchliche Elemente wieder zu vereinen. Für den Vergleich als zweite Methode werden solche Verschiedenheiten intertextuell gesucht. Das Märenkorpus nach Hanns Fischer und Hans-Joachim Ziegeler enthält über 250 Erzählungen, in denen vielfach gleiches Erzählgut vorkommt. Bei einem variierenden Wiedererzählen werden selten die Quellen offengelegt, doch lassen sich durch die Sichtung äquivalenter Stoffe und Motive jene Neuerungen beweisen, die eine Wahl neuer Ordnungen deutlich macht. Pluralisierung lässt sich in der vergleichenden Methode dort nachzeichnen, wo tradierte Handlungsmuster 77 S. a. Galston: Liberal pluralism. The implications of value pluralism for political theory and practice (2002), bes. S. 5f. und Lassman: Pluralism (2011). 78 Diesen Umstand thematisiert Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive (2015), S. 135. 79 Borgolte: Europa entdeckt seine Vielfalt: 1050–1250 (2002), S. 357.
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aufgegriffen werden, um ihnen neue Ordnungen entgegen zu setzen. Beinah immer kann das nur mit Reibungen auf der Handlungsebene einhergehen. Das liegt daran, dass in der Pluralisierung von Ordnung ein hohes Konfliktpotenzial steckt. Darauf haben Jan-Dirk Müller und Jörg Robert im Kontext des Münchener Sonderforschungsbereichs 573 hingewiesen (›Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit‹, 2001–2011). Pluralisierung meint für den SFB »widerständige, unabgegoltene, potentiell konflikthafte Vielfalt«80. Dieser Definition von Pluralisierung wird auch in der vorliegenden Arbeit gefolgt. Die Bewegungen innerhalb der frühneuzeitlichen Norm- und Ordnungsstiftung erwecken nach Müller/Robert zwangsläufig Kontroversen: Pluralisierung bedeutet […] nicht einfach Vervielfältigung, Vielfalt als rein quantitative (statistische) Tatsache; sie setzt vielmehr Konflikte (offene oder verdeckte), Diskrepanzen (wahrgenommene, unbewußte oder ›ausgehaltene‹), Dissens (zwischen Personen/ Institutionen) oder Disparität (zwischen Diskursen und Wissensbeständen) voraus.81
Der Untersuchungsgegenstand des ausgelaufenen SFB 573 waren die Phänomene der Pluralisierung von Wissensbeständen, epistemischer Ordnungen und deren symbolische Repräsentation in der Frühen Neuzeit; Pluralisierung galt als Signatur der Epoche.82 Dennoch können solche Dissens- und Differenzphänomene auch innerhalb der spätmittelalterlichen Märendichtung gesichtet werden. Dies resultiert aus der Gattungsemanzipation von der exemplarisch-didaktischen Kleinepik. Die Mären entwickelten sich vom exemplarischen Erzählen her und behaupten das »eigentlich Literarische« gegenüber der »erzählerischen Weisheits- und Tugendlehre«.83 Eindrücklich geschieht dies, wenn die expliziten Sinnangebote der Pro- und Epimythia hinter der eigentlichen Erzählung zurückbleiben.84 Der Normüberschuss des Textes über die explizit formulierte Moral hinaus ist bereits eine widerspenstige textinterne Pluralisierung verwendeter Ordnungen vieler Mären. Der Unterschied zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit, die der SFB behandelt, lässt sich aus dem Medienwechsel erklären. »Die typographische Revolution und die von ihr ausgelöste – oder doch so genannte – Bücherflut«85 schafft es, dass sich in der Frühen Neuzeit Phänomene der Pluralisierung zwischen den Texten verdichten. Innerhalb der Frühen Neuzeit entwickeln sich Strategien der »Normierung, Systematisierung, 80 Müller und Robert: Poetik und Pluralisierung in der Frühen Neuzeit. Eine Skizze (2007), S. 8. 81 Ebd. 82 Ebd., S. 9. 83 Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive (2015), S. 134f. 84 Ebd., S. 137, S. 143. 85 Müller und Robert: Poetik und Pluralisierung in der Frühen Neuzeit. Eine Skizze (2007), S. 12.
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des Ab- und Ausgleichs konkurrierender Autoren, Autoritäten und Wissensbestande«86. In der Märendichtung verbleiben Pluralisierungen zum allergrößten Teil auf der Ebene des Texts oder der Textreihe, auf jeden Fall immer kontextbezogen.87 Die Pluralität der Mären verharrt oft in einem Status des Nebeneinanders, des Parallelen und des Unvereinbar-nebeneinander-Herlaufens. Die Arbeit verfolgt schon durch ihr Ordnungsverständnis das Ziel, diese kontextbezogenen Pluralisierungsphänomene als eigenständige Ordnungsstiftungen zu begreifen. Diese Auffassung von Sinnstiftungsangeboten in der Märendichtung ermöglicht es auch, die kontextbedingten Ordnungsmuster der Mären als »explizite oder implizite Faktoren des Erzählaufbaus zu beschreiben«88. Im Zentrum der Betrachtung von Pluralisierungsvorgängen stehen die Differenzziehungen der Texte innerhalb der Erzählung oder zur literarischen Tradition. Die Frage, wie Diskrepanzen am Ende aufgelöst oder reduziert werden, ist dabei sekundär zu der Beobachtung von Phänomen der Differenzmarkierungen. Der Fokus verschiebt sich somit auf den Verlauf der Handlungen und die Verknüpfungen der Diskurse und Figuren.89 Lesbar werden solche Unterscheidungen als Konflikte, manchmal auch als Diskrepanzen oder Disparitäten. Pluralisierung geschieht in einer kulturellen Praxis, in der eine Unterscheidung getroffen und einem Wert ein Gegenwert entgegensetzt wird. Durch diese Differenzziehung wird eine Pluralisierung im Sinne eines Nebeneinanders hervorgebracht. Um solche Vervielfältigungen genauer verfolgen zu können, braucht es ein präziseres Analysevokabular.
2.3.1. Inklusion/Exklusion Um eine Differenz zu beobachten und zu beschreiben, hilft es, die Unterschiede differenzierender Ordnungen untereinander in ein Verhältnis zu setzen. Bei86 Ebd., S. 11. 87 Friedrich: Trieb und Ökonomie. Serialität und Kombinatorik in mittelalterlichen Kurzerzählungen (2006), S. 53. Ein Beispiel ist meine Textanalyse des Weinschwelg: Die Abgrenzungsstrategien des lyrischen Ichs können verstanden werden als Systemreferenzen auf Minnesang und Sangspruch. Die älteste Fassung aus dem 13. Jahrhundert setzt dem Minneschmerz der höfischen Literatur eine Selbstermächtigung und eine eigens formulierte meisterschaft in Trinken und Geheimwissen entgegen. Die spätere Fassung glättet diese Selbsterhöhung, denn der Handschriftensammler setzte die Erzählung in den Kontext schwankhafter und erotischer Mären, womit die Systemreferenzen obsolet wurden. 88 Ebd. 89 Für die Analyse des Ackermann formuliert Dröse ähnlich: »Es geht also um die paralogischen Verknüpfungen zwischen den Diskursen, beispielsweise den Ambiguitäten, Homonymien und ihre konkreten diskursiven Funktionen.« Dröse: Die Poetik des Widerstreits. Konflikt und Transformation der Diskurse im Ackermann des Johannes von Tepl (2013), S. 60.
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spielsweise zeigte es sich schon beim Schwanritter, dass die differenten Erbprinzipien nur unter Mitführen eines Paradoxons kombinierbar sind: Das entpersonifizierte, unabhängig von den beteiligten Personen immer gleich urteilende kognatische Recht setzt sich innerhalb des personenbezogenen, die Macht des Stärkeren favorisierenden Systems des agnatischen Rechtprinzips durch. Um die ineinander verschachtelten Konflikte zu lösen, werden neben Bewegungen der Partizipation am Gericht, des Ankommens des mythischen Ritters und der Solidarität mit den Frauen auch soziale Trennungen beschrieben, allen voran das Töten des Sachsenherzogs. In solchen Fällen bewirkt der Wettkampf einen Ausschluss beziehungsweise eine Trennung. In den Sozialwissenschaften wird für die Formen sozialer Differenzierung schon länger auf das Schema von Inklusion und Exklusion zurückgegriffen. Besonders einschlägig sind dabei Niklas Luhmann und die von ihm geprägte Systemtheorie. Inklusion bei Luhmann meint das Einfalten eines Bündels von Handlungen, das innerhalb der systemtheoretischen Abstraktion ein System genannt wird, in ein breiteres, komplexeres System durch das Markieren einer Differenz.90 Durch jenes Pochen auf Unterschiede zeigt das System, mit welchen Teilsystemen es unverbunden ist. Luhmann bezeichnet die Differenzierung deshalb als »Systembildung im System«91. Die logische Kehrseite der Inklusion ist die Exklusion: »Von Inklusion kann man also sinnvoll nur sprechen, wenn es Exklusion gibt.«92 Dabei werden Verbindungen innerhalb einer Ordnung unterbrochen.93 Dies kann geschehen durch einen Übergang in ein anderes Teilsystem oder einen kompletten Ausschluss aus einem bestehenden System.94 Luhmann betont mehrfach den Zusammenhang beider Bewegungen.95 Die Einteilung in einen der beiden Prozesse hänge vom Standpunkt der Betrachtung ab, von einer Beobachtung von Innen oder Außen: »›Inklusion‹ bezeichnet […] die innere Seite der Form, deren äußere Seite ›Exklusion‹ ist.«96 Ein mittelalterliches Beispiel, das Luhmann selber wählt, ist der Status der Mönche. In der mediävistischen Rezeption Luhmanns wurde daraufhin das Klosterwesen tief-
90 Luhmann: Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch (2008), S. 227f. Grundlage dieser Definition ist Talcott Parsons Inklusionsbegriff, den Luhmann durch die Differenzziehung in George-Spencer Browns Formtheorie weiterentwickelt. Dadurch verweist er auf den Zusammenhang zwischen Inklusion auf der einen Seite, Exklusion auf der anderen. 91 Ebd., S. 228. 92 Ebd., S. 229. 93 Ebd. 94 Ebd., S. 230. 95 Ebd., S. 227, 229, 234 und 244f. 96 Ebd., S. 229.
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ergehend betrachtet.97 Die mittelalterlichen Ordensbrüder und -schwestern unterwarfen sich freiwillig einer Exklusion, wobei einige von ihnen später in die Gesellschaft zurückkehrten. In der soziologischen Forschung wird diese Rückkehr positiv gewertet als eine Form der Reintegration. Aus der Innenansicht des Klosterwesen wurde sie jedoch ganz anders eingeschätzt: »Aus der Sicht mittelalterlicher Mönchsregeln hingegen war die Rückkehr eines Mönchs/einer Nonne in die Welt ein möglichst zu verhindernder Betriebsunfall.«98 Es lassen sich also zwei entgegengesetzte Bewertungen von Inklusion oder Exklusion konstatieren. »Aus der Sicht der monastischen Regeln sind die Exkludierten inkludiert in die Gemeinschaft Gleichgesinnter. Einschließung, Klausurierung heißt in den lateinischen Regeltexten daher inclusio, nicht exclusio.«99 Die Mönche leben in einem eigenen, abgeschlossenen und autonomen System. Diese Parallelgesellschaft wurde von der Gesamtbevölkerung akzeptiert. Die Regeln des Klosters galten nicht für den Rest der Gesellschaft, und deren Ordnungen wiederum nicht unter den Mönchen. Die Klosterleitung konnte einen ihrer Mönche zur Rückkehr in die Welt durch die excommunicatio zwingen, ein dauerhafter Ausschluss aus der monastischen Gemeinschaft.100 In Luhmanns Ausführung lässt sich auch eine diachrone Perspektive ausmachen. Das Mittelalter dient ihm zur Demonstration einer segmentierten Gesellschaft. Alle Mitglieder definieren sich über die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht. Die Summe der Teilsysteme bildet dann das Ganze der Gesellschaft. Ausschluss ist in solchen Gesellschaftsformen nicht möglich. Die Exklusion eines Individuums aus einer Sphäre resultiert in einer Inklusion in eine andere.101 Diese schemenhafte Vorstellung lässt sich noch mehr an die tatsächlichen historischen Gegebenheiten anpassen, wenn man bedenkt, dass 97 Hahn und Bohn: Partizipative Identität, Selbstexklusion und Mönchtum (2002) und Röckelein: Inklusion – Exklusion, weiblich – männlich (2014). 98 Röckelein: Inklusion – Exklusion, weiblich – männlich (2014), S. 128. 99 Ebd., S. 129. 100 Die Wertung von Inklusion und Exklusion ist, wie bereits dargelegt, erheblich abhängig von der Innen- oder Außensicht des Wertenden. Luhmann unterscheidet hier zwischen einer Selbst- oder Fremdreferenz; s. Luhmann: Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch (2008), S. 244. Die Lösung dieser Crux sieht er in einer künstlichen Setzung, eine Entscheidung für einen Bezugspunkt, aus dem die Wertung zwischen Inklusion und Exklusion getroffen werden kann. Aus diesem Beobachtungspunkt heraus gilt es, die Differenz von Inklusion und Exklusion, das Verhältnis beider Bewegungen zu beschreiben und die Form der Differenzierung benennen zu können; beispielsweise der Mönch, der sich entscheidet, aus der Mehrheitsgesellschaft aus- und in den monastischen Zirkel einzutreten, als der Übergang in ein autonomes Teilsystem zur Stärkung des eigenen Seelenheils. 101 Bohn: Inklusion und Exklusion. Theorien und Befunde (2008), S. 181: »Exklusion aus einem Stratum, einem Territorium, einer Kirchengemeinde, einer Hausgemeinschaft [bedeutet] Inklusion in eine andere Zugehörigkeitssphäre […] hin zu Auffanglagern wie Klöstern, Arbeitshäusern, den unehrenhaften Berufen oder anderen ausgewiesenen Positionen.«
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auch im Mittelalter konsensuale Zusammenschlüsse existierten, deren Gruppenangehörige neben ihren Ständen ebenso beheimatet waren in Gilden, Zünften oder Stadtkommunen.102 Die Moderne unterscheidet sich nach Luhmann von der Vormoderne in ihrer Differenzierung nach der Funktion ihrer Mitglieder, das heißt allein nach der Relevanz innerhalb des Systems. Ökonomische Randgruppen wie Bettlerinnen oder religiöse Minderheiten wie Juden wurden deshalb immer stärker spezifischen, exkludierten Teilsystemen zugeordnet wie Begünstigten der staatlichen Armenfürsorge oder in exkludierte Räume wie jüdische Ghettos. Die Reaktion der Gesamtgesellschaft darauf war es, Techniken zu entwickeln, diese Teilsysteme verwalten zu können und systemspezifische Rechte zu bestimmen. In der Gegenwart hat diese Entwicklung zum Bemühen geführt, spezifische Rechtsregelungen zugunsten einer Rechtslage wieder aufzulösen, die die Mitgliedschaft in funktional differenzierten Teilsystemen außer Acht lassen.103 Ein generelles Inklusionsversprechen garantiert für alle Bürgerinnen und Bürger, sei es auf nationaler Ebene oder seit dem Zweiten Weltkrieg auch immer stärker international, die gleichen Menschen- und Bürgerrechte.104 Exklusion ist dabei ausnahmslos negativ konnotiert und in der sozialwissenschaftlichen Gegenwartsforschung findet sich folglich die Position, dass immer weiterführende Inklusion das moralisch einzig richtige Ziel sei. Exklusion wird in einer axiologischen Unterscheidung in eine hierarchische Opposition zur Inklusion gebracht und verliert zunehmend ihre Legitimationsgrundlage.105 Dass real existierende gesellschaftliche Ausschlüsse in den letzten Jahrzehnten der sozialwissenschaftlichen Beobachtungen thematisiert wurden, liegt in besonderem Maß an der Arbeit Luhmanns. Auch in der mediävistischen Forschung finden sich im letzten Jahrzehnt mehrere Arbeiten, die Einschlüsse nicht ohne die stattfindenden Ausschlüsse mitdenken.106 In der Märenforschung fehlt noch eine Interpretation 102 Die Kritik an Luhmanns schablonenhafter Mittelaltervorstellung formuliert Otto Oexle und weist eben auf jene Formen, die querlagen zu einer in sich geschlossenen Entität: Oexle: Luhmanns Mittelalter (1991), bes. S. 61–64. 103 Ein Beispiel dafür wäre das Aufheben des besonderen Schutzalters für gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen unter Männern 1994. 104 Vgl. Uerlings und Patrut: Inklusion/Exklusion und die Analyse der Kultur (2013), S. 9f. Uerlings und Patrut weisen auf die Unmöglichkeit, im Rahmen der ›Nation‹ Angehörige anderer Nationen zu inkludieren. Das betrifft vor allem auch innere ›Fremde‹, wie Juden, Sinti und Roma, die vorgeblich keiner Nation angehören und folglich ein absoluter Inklusionsanspruch bei diesen Gruppen folglich nicht aufgeht. 105 So zum Beispiel Stichweh: Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie (2016), v. a. S. 61–63. 106 Im Opac der Regesta Imperii zum Beispiel finden sich unter den Stichwörtern Inklusion beziehungsweise Exklusion 22 Einträge, die das Verhältnis der beiden Bewegungen untersuchen. Der älteste unter ihnen ist von 2005: Sprandel: Grundmuster von Inklusion und Exklusion besonders im europäischen Mittelalter (2005). Aus dieser Stichwortsuche her-
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unter dem Theorem von Inklusion und Exklusion. Dabei ließe sich eine präzisere Beschreibung gewinnen, wie Handeln in ein breiteres, komplexes System eingeflochten wird (Inklusion) oder wie tradierte Verbindungen getrennt werden (Exklusion).
2.3.2. Pluralisierung durch Inklusion/Exklusion In welchem Verhältnis stehen Inklusion und Exklusion zur Vervielfältigung soziokultureller Handlungsmöglichkeiten? Bedeutet Inklusion das Vergrößern der sozialen Ordnung, des Handlungsspielraums von Figuren und Autoren? Und bringt Exklusion in gleichem Maße ein Verkürzen von Ordnungen, einen Ausschluss von Bewegung mit sich? Luhmann kann eine Vergrößerung der Systeme erkennen, wenn Inklusion einsetzt. Durch die Generalisierung von Werten erhöht sich der Zuständigkeitsbereich von Systemen, die Gültigkeit für sich verbuchen können.107 In diesem Sinn entwickelt sich das System weiter, indem es seinen Funktionsbereich erhöht. Beispielhaft kann dafür die Entwicklung der modernen Bürgerrechte gelten, die ihre Gültigkeit auf immer weitere Bevölkerungsgruppen erweitert. Die Gültigkeit von Systemen scheint der Schlüsselmoment zu sein, wenn die Frage nach der Pluralisierung von Handlungsmöglichkeiten gestellt wird. Für die Evolution des Gesellschaftssystems ist es entscheidend, dass Erleben und Handeln sinnhaft bleiben,108 also ihre Gültigkeit behalten. Verlieren sie jene Schlüssigkeit, werden neue Gesellschaftssysteme als Produkte des »normalen Aufbauens und Zerstörens von Systemstrukturen«109 gebildet. Diese neu geschaffenen Systeme können eine höhere Komplexität erweisen als alte. Änderungen in der Gesellschaft finden durch Variation, Selektion und Stabilisierung von Systemen statt. Die Vergrößerung des Gesellschaftssystems erklärt sich dadurch, dass »keine wie immer strenge Selektion und Stabilisierung Variatiovorzuheben sind besonders die Publikationen des geschichtswissenschaftlich orientierten Sonderforschungsbereich 600 an der Universität Trier : ›Fremdheit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von der Antike bis zur Gegenwart‹ (2002 bis 2012). Ein Abschlussbericht liegt vor in Patrut und Uerlings: Inklusion/Exklusion und Kultur. Theoretische Perspektiven und Fallstudien von der Antike bis zur Gegenwart (2013). 107 Luhmann: Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch (2008), S. 227. Luhmann baut hier auf Talcott Parsons einseitiges Verständnis von Inklusion auf, dem er durch die Vernachlässigung der Exklusion eine evolutionäre Vorstellung immer umfassender Inklusion unterstellt. 108 Luhmann: Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition (1980), S. 42. 109 Ebd., S. 42. Luhmann bezeichnet solche Produkte als ›Nebenprodukte‹.
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nen ganz ausschließen kann.«110 Veränderungen finden deshalb im Laufe der diachronen Entwicklung immer wieder statt, und mit einer höheren Komplexität neugeschaffener Systeme vergrößert sich auch das gesamte Gesellschaftssystem. In diesem Fall findet durch Differenzierung eine Pluralisierung statt.111 Für die Exklusion bedeutet dies, dass auch sie zu einer Vervielfältigung sozialer Ordnungen beitragen kann. Dies kann in zwei Fällen geschehen: a) Wenn eine ungültig gewordene Ordnung durch eine komplexere ersetzt wird. Häufiger scheint Fall b) einzutreten. Hier bilden sich durch Variation Teilsysteme, die ihre Gültigkeit in ihren jeweiligen Systemen behaupten können. In der Forschungsgeschichte beispielsweise wurde für die Märendichtung eine solche Eigenständigkeit vor allem in den milieubezogenen, kaufmännischen Geschlechterverhältnissen gesehen.112 Auf der Basis mentalitätsgeschichtlicher Erkenntnisse wurde der spätmittelalterlichen Kurzepik seit Mitte der 1980er Jahre eine spezifisch bürgerliche Sexualmoral unterstellt, die neben der immer noch tradierten und weitererzählten höfischen Literatur ihren Platz einforderte. Von diesem »allzu engen Konnex zwischen literarischer Gestaltung sowie normativer und alltäglicher ›Realität‹ der Geschlechterverhältnisse«113 hat sich die Märenforschung der letzten Jahre distanziert. Es ist weitgehend Konsens geworden, dass die poetischen Texte die sozialgeschichtliche Realität nicht einfach repetieren, sondern auf ihre jeweils eigene Art mit literarischen Traditionen kombinieren. In diesem Sinn entsteht ein eigener gattungsgemäßer Entwurf von Welt mit gattungsspezifischen sozialen Ordnungen. »Diese Erkenntnis hat dazu geführt, dass sich die Forschung stärker auf die genuinen Möglichkeiten literarischer Texte kapriziert, das Thema der Geschlechterbeziehungen mit narrativen Schemata und unterschiedlichen literarischen Figurationen in variierender Form auszufüllen.«114 Somit bilden sich in Mären gattungseigene Ordnungen innerhalb des literarischen Systems der (Klein-)Epik durch Ausschlüsse der sozialgeschichtlichen Realität zum Vorteil einer poetischen Umsetzung. Auch auf der Ebene der Märenkomposition lassen sich Beispiele einer Pluralisierung durch Inklusion und Exklusion finden. Eine erstmals stoff- und motivübergreifende, komparative Arbeit115 dazu lieferte Klaus Grubmüller116 mit einem Schwerpunkt auf den ersten überlieferten Märendichter, dem Stri110 111 112 113 114 115
Ebd. S. Ebd. S. Einleitung in (Chinca et al., 2006), S. XI–XXXII, S. XVII. Ebd., S. XVI. Ebd., S. XVII. Ebd., S. XXV. Reuvekamp-Felber beklagte 2006 noch eine fehlende komparative Gesamtschau. 116 Grubmüller : Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter : Fabliau, Märe, Novelle (2006).
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cker. Noch bevor das französische Fabliau zum Vorbild für das deutsche Märe wird, entwickelt der Stricker seine Reimpaargedichte aus der lehrhaften lateinischen Dichtung heraus. Er hat selbst Fabeln geschrieben und kannte nachweisbar das lateinische Exempel.117 Dieses besteht aus undurchschaubarer Durchmischung von Exempel und Fabel: »Beide vermengen sich in der lateinischen Überlieferung, und so hat der Stricker sie auch kennengelernt.«118 Um Elemente beider Gattungen zum Märe umzugestalten, bedient er sowohl Ausschlüsse als auch Einschlüsse. Erstens exkludiert der Stricker aus dem Exempel die unselbstständigen Episoden und formt sie zu selbständigen Texten. Das Exempel, so Grubmüller, »hat für sich genommen keine Struktur.«119 Es dient der Illustrationen von Aussagen, die im Rahmen festgeschrieben sind. Überliefert ist das Exempel entweder als dienendes Beispiel mit einer rahmenden Didaxe oder als »zur Verwendung bereit gestelltes Material, als potentieller Textbaustein, der der Form seines Trägertextes mühelos eingepaßt werden kann.«120 An sich hat das Exempel keine Form, es erhält seinen Sinn erst durch den Kontext, den das Exempel illustrieren soll. Der Stricker exkludiert das Exempel aus dem Kontext und baut es zu einem selbstständigen Text aus, der seine Gültigkeit durch seine Eigenständigkeit erhält. Zweitens erhält das Märe seine immer noch vorhandene lehrhafte Bedeutung durch die Figurentypisierung und die Handlungspointe – diese Strategie übernimmt die Gattung aus der Fabel. Letztere entspricht einer tradierten Narrationsform, in der die Botschaft ohne Erklärung, nur durch das Handeln der Figuren selbst zum Vorschein kommt. Die Fabel tut dies »mit Hilfe typisierter […] Figuren, die bestimmte Verhaltenserwartungen wecken.«121 Klassische Fabelfiguren wie der tückische Fuchs oder das dumme Schaf verweisen darauf. Die Figurentypen bestätigen, modifizieren oder durchbrechen mithilfe der Handlungspointe die an sie gerichteten Verhaltenserwartungen. Damit bringen sie ihre lehrhafte Aussage zum Ausdruck: meist Warnungen vor Habgier, Geiz oder Dummheit durch das Sterben des Fuchses, das Fressen des Schafs etc. Die Strickermären inkludieren dieses Strukturbeispiel in die Gattung und vermitteln ebenso generelle Einsichten. Die typisierten Figuren garantieren eine exemplarische Bedeutung, die Handlungspointen weisen auf die lehrhafte Bedeutung der Erzählung. Eine zusammenfassende Deutung wird optional: »Weil die Fabel durch ihre Figuren und durch ihre Handlung im Modell lehrt, braucht sie – ebenso wie das Märe – kein Epimythion; weil die vermittelte Einsicht eine ge-
117 118 119 120 121
Ebd., S. 103. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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nerelle ist, kann sie – ebenso wie beim Märe – durch ein Epimythion spezifiziert werden.«122 Der Stricker schafft die ältesten überlieferten Mären, indem er fabeltypischen Erzählformen (typisierte Figuren, lehrhafte Handlungspointen) in die Gattung inkludiert und Exempelepisoden aus ihren Kontexten herausnimmt. Alle Beispiele in diesem Kapitel entstammen einer textübergreifenden Gattungsperspektive der Mären. Im Folgenden werden die ausgeführten Formen der Differenzierung, Inklusion und Exklusion, auf die Pluralisierung sozialer beziehungsweise kultureller Ordnungen untersucht, und zwar anhand ausgewählter Textbeispiele. Daraus ergibt sich eine Schwierigkeit: Wenn Pluralisierung durch die Inklusion oder die Exklusion eines Teilsystems entsteht, braucht es mindestens zwei Teilsysteme innerhalb eines Textes oder im unmittelbaren Kontext des Textes, beispielsweise wenn Figuren (wie im Schwanritter) unterschiedliche Ordnungen repräsentieren oder zwischen Erzählung und Epimythion ein moralisches Gefälle besteht. Dieser Umstand macht eine zielgerichtete Textauswahl nötig. Bevor jene Entscheidung begründet wird, soll noch der Zusammenhang zwischen den bisherigen Theoriebausteinen Pluralisierung, Wettkampf und Inklusion/Exklusion verdeutlicht werden. Der Wettkampf ist eine einfache soziale Form, die dynamisierend wirkt. Das Prinzip der Alternanz führt zu einer alternierenden Kontextanreicherung, die zu einer binären Lösung von Siegen/Verlieren strebt. Pluralisierung durch Wettkampf nutzt das Prinzip der Alternanz, um einer normativen Ordnung mindestens eine zweite nebenan zu stellen. Dabei entsteht der Wettkampf aus dem Widerspruch, aus einer Kommunikation der Unterscheidung. Aus dem Widerspruch ergeben sich zwei Möglichkeiten: Entweder werden in bisherige Strukturen Unterschiede eingebaut, womit es zu Binnendifferenzierung und Inklusion kommt, oder eine Differenz wird zu einem komplexen, alternativen Handlungsmodell ausgebaut, also aus ihrer Grundlage exkludiert. Die Vervielfältigungen in der Erzählung führen zu neuen normativen Ordnungen, die nach komplexen Handlungsmustern streben. Die text(reihen)internen oder kontextbezogenen Systeme können als neue, experimentelle Ordnungen verstanden werden. Differente Formen des Wettkampfs besitzen zu Inklusion oder Exklusion eine natürliche Nähe. Der Kampf, das wurde bereits beschrieben, zielt auf eine Ordnung, die Spannungen in hierarchische Ordnung auflöst. Solcherart bedient sich der Kampf wohl am häufigsten der Exklusion. Die Konkurrenz braucht eine solche Gegenüberstellung nicht. Die Konkurrierenden stehen sich nicht direkt 122 Ebd., S. 107.
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gegenüber, sondern haben aus unterschiedlichen Richtungen das gleiche Ziel. In den Seitensprungerzählungen der Mären können das zum Beispiel konkurrierende Geliebte sein, die sich untereinander nicht kennen, aber vom Erzähler in Vergleich gebracht werden. In solchen Fällen tritt eine Inklusion ein, wenn sich Energien unter den Figuren nicht gegeneinander entladen.
2.4. Textauswahl und -reihenfolge Wenn Bewegungen der Inklusion/Exklusion nicht nur innerhalb eines Textes wahrgenommen werden sollen und der Wettkampf dazu tendiert, außenliegende Kontexte mit einzubeziehen, wird das literarische Umfeld ein bedeutender Faktor für die weitere Interpretation. Im Forschungsstreit um die Gattung Märe hat sich mit der Arbeit von Coralie Rippl123 jüngst eine neue Perspektive aufgetan, die sehr explizit den Kontext der Mären thematisiert. Hanns Fischers Definition der Märengattung ist vor allem an formale Bedingungen geknüpft, während die Inhalte nur recht vage beschrieben werden: fiktive, diesseitig-profane und weltliche Vorgänge nennt er als Bedingung für eine Zuordnung zum Märe.124 Die darauf folgende Gattungsdiskussion125 hat sich in den letzten Jahren vor allem mit den inhaltlichen Bedingungen des Märe beschäftigt, dem Sinnangebot der Kurzerzählung. Walter Haugs These vom »Erzählen im gattungsfreien Raum«126 negiert jegliche exemplarische Bedeutung der Mären. Damit operiere die Gattung jenseits jeglicher literarischer Vorgaben. Klaus Grubmüller sprach daraufhin den frühen Mären sehr wohl eine Referenz auf die gesellschaftliche Ordnung und eine lehrhafte Relevanz zu, allen voran denen des Strickers. Erst mit den späteren Mären des ausgehenden 14. und des 15. Jahrhunderts verliere die Gattung das traditionelle Konzept exemplarischen Erzählens und wende sich hin zu einer »zynischen Subversion des exemplarischen Märengestus.«127 Diese Einordnung nach moralischen Sinnangeboten für Liebe und Sexualität erklärt auch die Kapiteleinteilung seiner Märenanthologie.128 Von dieser Reduktion der Forschung auf den Sinn des Märe, die hier nur 123 Rippl: Erzählen als Argumentationsspiel. Heinrich Kaufringers Fallkonstruktionen zwischen Rhetorik, Recht und literarischer Stofftradition (2014). 124 Fischer : Studien zur deutschen Märendichtung (1983), S. 55–59. 125 Ausführlich dazu Rippl: Erzählen als Argumentationsspiel. Heinrich Kaufringers Fallkonstruktionen zwischen Rhetorik, Recht und literarischer Stofftradition (2014), S. 7–13. 126 Haug: Entwurf zu einer Theorie der mittelalterlichen Kurzerzählung (1993), S. 35. 127 Grubmüller : Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter : Fabliau, Märe, Novelle (2006), S. 185, über Heinrich Kaufringer. 128 Grubmüller : Novellistik des Mittelalters. Märendichtung (1996); explizit dazu Grubmu¨ ller: Gattungskonstitution im Mittelalter (1999), S. 201f. Anm. 40.
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kurz dargestellt wurde, will sich Coralie Rippl lösen.129 Sie definiert die Gattung Märe nicht mehr anhand der inhaltlichen Exemplarität, sondern durch den externen Bezug des Märe auf kontextuelle Erzählvorgaben. Mären bilden vor allem eine »Reflexgattung«, das heißt in ihrer »formal-stilistischen Konzeption« erweisen sich die Mären »als anschlußfähig an sämtliche Bereiche« mittelalterlicher Literatur.130 Sie entnehmen Stilmerkmale von »der paradoxalen Sinn- und Klangverschränkung im Stil des Gottfriedschen Tristan (Konrads von Würzburg Herzmäre) oder der höfischen Entfaltung eines Minnekasus (Mauritius von Craun) über die dialogische Dramatik des Streitgesprächs (Strickers Ehescheidungsgespräch).« In ihrer Konzeption nehmen sie »Anleihen bei der Legendenform (Strickers Die eingemauerte Frau, Kaufringers Einsiedler und Engel, Die fromme Müllerin) oder der Ich-Erzählform der Minnerede (Das Liebesabenteuer in Konstanz), bis hin zur Fastnachtspiel-Nähe (Hans Folz, Hans Rosenplüt, Hans Sachs).«131 Durch das Nachahmen divergenter Texte werden gleichzeitig deren Sinnangebote übernommen. Eine Imitation höfischer Dichtung beispielsweise prägt damit auch diejenigen Mären, die den höfischen Habitus nachformen (das sind die höfisch-galanten Mären) oder in Frage stellen beziehungsweise dekonstruieren (Helmbrecht, Ritter Beringer, Die Heidin u. v. m.). Da Stil und Form einer Erzählung auch deren Inhalte prägt, »werden Mären zu Experimentierfeldern, auf denen sich Erzählformen und Diskurse kreuzen, Traditionelles aufgegriffen und neu kontextualisiert, damit neu verhandelt wird.«132 Mit dieser Gattungsdefinition setzt Rippl den Schwerpunt auf die Reflexivität und Anschlussfähigkeit der Mären in Bezug zu fremden Gattungen, in denen es »eine poetologische Flexibilität über die Vorstellung von Gattungsgrenzen hinweg [ist], die die Gemeinsamkeit der Texte stiftet.«133 Damit entfernt sich Rippl an diesem vorläufigen Ende der Gattungsdiskussion von der, aus Grubmüllers Überlegungen sich zwangsläufig ergebenden, Qualitätshierarchie innerhalb der Gattung, die diachrone Gegenüberstellung von ordo vs. Chaos und Groteske, und differenziert wieder stärker zwischen den Gattungen. Eine umfassende Eingrenzung der Gattungsexemplare ist damit noch nicht erreicht, doch nimmt sie nicht den Sinn von Erzählungen als Maßstab einer Wertung innerhalb der Gattung, sondern sucht nach Differenzen und Gemeinsamkeiten hinsichtlich Form und Stil, die dann wiederum Einfluss auf den Inhalt der Erzählungen nehmen. 129 Rippl: Erzählen als Argumentationsspiel. Heinrich Kaufringers Fallkonstruktionen zwischen Rhetorik, Recht und literarischer Stofftradition (2014), S. 17–19. 130 Ebd., S. 15. 131 Ebd. 132 Ebd. 133 Ebd., S. 16.
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Diese Perspektive soll weiterverfolgt werden. Es ergibt sich daraus eine Konsequenz: Es werden einige Texte analysiert, die von Fischer zu den Grenzfällen der Märengattung gezählt wurden, nämlich die Werkreihe der Reihummären, der Weinschwelg und einige Priapeia. Fischer begründet diese Kategorisierung mit einer zu hohen Nähe zu anderen Gattungen.134 In den meisten Fällen hat dieser Umstand dazu geführt, dass die Texte nicht mehr von der Forschung beachtet wurden. Wenn die Reflexivität der Mären ernst genommen wird, kann diese Variation und Adaption der Prätexte, dieses Pluralisieren der Perspektiven nichts anderes als märentypisch genannt werden. Aufgrund dessen werden auch alle 44 Texte grundsätzlich ›Mären‹ genannt, die Hans-Joachim Ziegeler in seiner Sammlung der Grenzfälle aufzählt.135 Für eine differenzorientierte Analyse ist es sehr hilfreich, konkrete Referenzen herausarbeiten zu können. Zum Beispiel lässt sich eine solche für den Weinschwelg auf den ersten Blick erkennen, nämlich die Vagantenlyrik. Primär begründet sich die Auswahl aber durch die Rolle des Wettkampfs: Es wurde versucht, Mären mit Konflikten auf möglichst divergenten Ebenen zu suchen. Streit kann sich zwischen den Figuren entspinnen (im Fall der Priapeia und der Reihummären), auf der Narrationsebene (Suche nach dem glücklichen Ehepaar und Rosshaut), auf der Diskursebene (Hellerwertwitz und Heinrich von Kempten) oder in eben jenen intertextuellen Beziehungen (Weinschwelg). Diesem Auswahlkriterium folgend ist die vorliegende Arbeit aufgebaut. Den Beginn machen die konkreten Wettkämpfe auf der Figurenebene, während der Grad der Indirektheit im Verlauf der Arbeit steigt. Zweimal handelt es sich nicht um einen analysierten Einzeltext, sondern um eine Werkreihe: bei den Reihummären und den Priapeia. Ihr Vorteil ist, dass sie ihren Kontext selbst zur Verfügung stellen: In Werkreihentexten lassen sich Wiederholungen, Weiterschreibungen und Widersprüche über Textgrenzen hinaus erkennen. Ähnliches gilt auch für die Mären, deren Autoren bekannt sind: Vielerorts sollen dadurch Differenzen zum restlichen Œuvre sichtbar werden (Heinrich Kaufringer : Suche nach dem glücklichen Ehepaar, Heinrich der Teichner : Rosshaut, Konrad von Würzburg Heinrich von Kempten). Insgesamt wurde eine Mischung aus vielbeachteten Texten (das sind v. a. diejenigen mit bekannten Autoren) und von der Forschung eher stiefmütterlich behandelten Fällen versucht (Reihummären, die Priapeia mit Ausnahme des Nonnenturnier, Der Weinschwelg, Hermann Fressants Hellerwertwitz). 134 Fischer : Studien zur deutschen Märendichtung (1983), S. 72–77. 135 Ziegeler : Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen (1985), S. 495–511.
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Insgesamt ergibt sich eine Liste mit sieben Texten beziehungsweise Werkreihen, denen die Kapitel im Hauptteil jeweils gewidmet sind. – Sieben Reihummären: Hans Rosenplüts Die drei Ehefrauen, Hans Rosners Der Frauenkrieg, Die zwölf (sieben) faulen Pfaffenknechte, Die sieben größten Freuden, Die Beichte der zwölf Frauen, Hans Schneiders Die Klage der drei Männer ; – Vier Priapeia: Das Nonnenturnier, Der Rosendorn, Gold und Zers, Der verklagte Zwetzler ; – Die Rosshaut Heinrichs des Teichners; – Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten; – Der Weinschwelg (anonym); – Hermann Fressants Hellerwertwitz; – Heinrich Kaufringers Die Suche nach dem glücklichen Ehepaar. Im Schlusskapitel werden textübergreifende Linien aufgezeigt, und dabei wieder Bezug zu den Ausführungen dieser Einleitung genommen.
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3.1. Reihummären In den Texten der spätmittelalterlichen Kurzepik, die einen Wettstreit beschreiben, existiert eine Gruppe von sechs Erzählungen, die ein gemeinsamer Strukturaufbau verbindet. In ihnen treten verschiedene Unterrednerinnen und Unterredner auf und erörtern klassische Themen des Märe: Ehe, sexuelles Begehren, generell die Erfüllung von Gelüsten. Gebunden werden diese Reden von einem Erzähler, der Prolog und Epilog liefert. Fischer zählt sie zu den Grenzfällen und nennt sie Revuen,136 weil hier Reden durch eine lose Rahmenhandlung zusammengehalten werden. Ein besserer Oberbegriff wäre Reihummäre, denn die Figurenreden referieren aufeinander und sind nicht nur lose miteinander verbunden, sondern werden durch ein gemeinsames Thema und eine feste Ordnung umschlossen. Im Weiteren werden sie deshalb Reihummären genannt. Sie sind alle in das 15. Jahrhundert einzuordnen, mit Schwerpunkt auf die erste Hälfte, und im südlichen Sprachraum zu verorten, mit Schwerpunkt Nürnberg. Es sind die FGf 3–8 (Fischer Grenzfälle, nach Hans-Joachim Ziegeler) und für die Hälfte von ihnen lassen sich Autoren festmachen: – FGf 3: Die drei Ehefrauen von Hans Rosenplüt,137 – FGf 4: Der Frauenkrieg von Hans (?) Rosner,138 – FGf 5: Die zwölf (sieben) faulen Pfaffenknechte,139 136 Fischer : Studien zur deutschen Märendichtung (1983), S. 73. 137 Rosenplüt: Die drei Ehefrauen (Edition: Reichel). 138 Rosner : Der Frauenkrieg (Edition: Keller). Fischer ordnete FGf 4 noch Rosenplüt zu. Dass es sich bei der Autorsignatur Rosner/Rößner nicht um eine familiär-umgangssprachliche Variante von Rosenplüt handelt, sondern drei Erzählungen dem ansonsten unbekannten Hans Rosner zugeordnet werden können, hat Jörn Reichel in seiner Monographie zu Rosenplüt erweisen können. Reichel: Der Spruchdichter Hans Rosenplüt. Literatur und Leben im spätmittelalterlichen Nürnberg (1985), S. 90–93. Auch der Titel Der Frauenkrieg hat sich gegenüber dem alten Titel bei Fischer und Ziegeler (Gespräch der elf Frauen) durchgesetzt. 139 Die zwölf faulen Pfaffenknechte (Edition: Greil).
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– FGf 6: Die sieben größten Freuden,140 – FGf 7: Die Beichte der zwölf Frauen141 und – FGf 8: Die Klage der drei Männer von Hans Schneider.142 Die Mären sollen als Werkreihe betrachtet werden unter der Annahme, dass beim Dichten gemeinsame Struktur- und Erzählelemente beachtet und diese kontinuierlich weiterverwendet wurden. Der Begriff Werkreihe in diesem Sinn ist für die Mären durch Klaus Grubmüller eingeführt worden, um gegenseitige Bezugnahmen zu verdeutlichen.143 Wichtigste Komponente der Reihummären sind die nacheinander gereihten Reden der Figuren zu einem gemeinsamen Thema, die in einer Struktur von Konkurrenz aufgebaut sind. Dabei wird nicht zwingend eine wettkampferöffnende Frage erörtert (am stärksten noch in den sieben größten Freuden: Jr eyner begjnde den andern fragen, / WaZ sein aller beste freude wer, V. 60f.). Die Reden haben gemeinsame Streitthemen: die Frage, welches Grundbedürfnis die größte Freude bringt, oder eine gemeinsame Klage über die Ehemänner. Doch variiert nicht die Qualität oder das Ausmaß moralischen Fehlverhaltens (ein anschauliches Beispiel wäre dann: ein Ehemann hat eine Geliebte, der nächste zwei, der andere drei usw.). Stattdessen treten die Rednerinnen und Redner in den Streit durch eine Artikulation immer neuer Sünden. Die Debattierenden stehen sich nicht feindlich gegenüber, ihr gemeinsames Interesse liegt in den Klagen. So zum Beispiel bei den Drei Ehefrauen Rosenplüts, die stets noch ein Vorwurf über ihre Männer artikulieren können: Die erste, die hub zu clagen an, Sie sprach: »Ich habe den grosten weinslauch[.«] Die andere hub auch an zu clagen, »Ich habe den allergrosten spiler[.«] Die dritte hub an zu clagen auch, Sie sprach: »ich habe den snödsten gauch[.«] (Die drei Ehefrauen, V. 36f., 73+75, 109f.)
Der Kampf ist indirekt: es geht nicht um das Überbieten der Gegner, sondern die Klage an sich motiviert die Frauen und Männer. Der Antagonismus zwi140 141 142 143
Die sieben größten Freuden (Edition: Schmid). Die Beichte der zwölf Frauen (Edition: Fischer). Schneider: Die Klage der drei Männer (Edition: Keller). Grubmüller beschreibt sie als »literarische Reihen, von denen zu verlangen ist, daß die auf einander folgenden Elemente oder Stufen sich – kontinuierlich oder auch diskontinuierlich, sogar über lange Distanzen 2013 aber auf jeden Fall erkennbar und beschreibbar aufeinander beziehen.« Grubmüller : Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter : Fabliau, Märe, Novelle (2006), S. 13f.
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schen den Beteiligten lässt sich als ein Konkurrenzverhältnis begreifen. Es ist wie ein Wettlauf, bei der ein Läufer durch seine eigene Schnelligkeit bestechen will.144 Das Ziel der Reden erhält seinen Wert durch das »Sich-Darbieten«145 der eigenen Klage, das heißt des Missstands der eigenen Ehe oder das Darstellen menschlicher Bedürfnisse. Gleichzeitig geht mit der Profilierung der Protagonisten eine anonymisierende Typisierung einher. Die Reden werden austausch-, erweiter- oder umsortierbar, so nachweislich geschehen im Falle der Fassungen von den zwölf oder sieben Pfaffenknechten, auch die Variationen des Ehemotivs in FGf 3, 4, 7 und 8 beweisen dies. Textübergreifend ließe sich von einem Wettkampf in Serie sprechen, denn die Reden werden stets neu abgewandelt. Der Wettkampf wirkt hier produktiv für die Textgenerierung. Die Abgeschlossenheit eines Märe benötigt eine von außen eintretende Schlussfigur, etwa den sich involvierenden Beobachter, oder noch viel häufiger das Runden durch die Benutzung besonderer Zahlenreihen: nach der dritten, der siebten oder der zwölften Rede hören die Redereihen auf. Der Sieg liegt damit nicht im Überbieten des Gegners, sondern in der Verwirklichung der Dreizahl, Siebenzahl oder Zwölfzahl. Gerade deshalb ist die Konkurrenz wertsteigernd, weil sie immer wieder eine neue Differenzziehung vollführt. Die Ehefrauen schaffen es, immer noch ein Laster ihrer Männer mehr an die Reihe anzuschließen; den Pfaffenknechten gelingt es, immer noch eine weitere Ebene an Faulheit zu öffnen usw. Um des Erzählens willen eröffnet sich die Konkurrenz der Protagonisten. Fischer ordnet die Texte zu den Grenzfällen, da sie stark szenisch sind, also der Figurentext gegenüber dem Erzählertext überwiegt. Diese Einordnung hat dazu geführt, dass die Texte unterschiedliche Gattungsbezeichnungen erhielten, die die Gemeinsamkeit der Texte missachten: – Die drei Ehefrauen: didaktische Rede146, weltliche Rede,147 Spruchdichtung148 – Der Frauenkrieg: didaktische Rede149
144 Den Vergleich übernommen aus Simmel: Der Streit (2001), S. 324. 145 Ebd., S. 323. 146 Reichel: Der Spruchdichter Hans Rosenplüt. Literatur und Leben im spätmittelalterlichen Nürnberg (1985) und Fischer: Studien zur deutschen Märendichtung (1983), S. 155: »weltliche oder geistliche Rede«. 147 Glier : Art. Rosenplüt, Hans, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters [Verfasserlexikon] (1992), Sp. 205. 148 Keller : Die Darstellung der Frau in Fastnachtspiel und Spruchdichtung von Hans Rosenplüt und Hans Folz (1992). 149 Reichel: Der Spruchdichter Hans Rosenplüt. Literatur und Leben im spätmittelalterlichen Nürnberg (1985), S. 259.
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– Die sieben größten Freuden: Streitgespräch150, pragmatische Rede151, Obszönrede152 – Die Beichte der zwölf Frauen: Märe153 – Die Klage der drei Männer : Spruch154 Motivierend für diese Gattungszuordnungen in der Forschung war oftmals der diskursive Inhalt oder der hohe Redeanteil, weshalb die Texte den Reden oder den Sprüchen zugewiesen wurden. Diese Zuordnung missachtet zum einen den narrativen Rahmen, der die Reden umfasst. Zum anderen wird übersehen, dass es sich bei dem ›Ich‹ in Rahmen- und Binnenteil um ein geschachteltes System handelt:155 In den Texten unterscheiden sich ein Rede-Ich und ein erzählendes Ich. So ist das Rede-Ich in Die drei Ehefrauen, das das Publikum anspricht (Als ich euch hernach wirde sagen, V. 34) und sich Hans Schnepperer Rosenplüt nennt,156 nicht das erzählende Ich, das zu den Protagonistinnen spricht (Nu last euch ewer man so sere nicht leidingen, V. 162). Das Erzähler-Ich kann erklären, dass es sich in seinen jungen Jahren ebenso schlecht verhalten hat wie die Ehemänner in den Klagen ihrer Frauen (V. 146–149). Weil es sich bei diesen Sünden jedoch um gestandenen Alkoholismus, Gewalt in der Partnerschaft und regelmäßigen Ehebruch handelt, ist an eine Identifikation mit Hans Schnepperer Rosenplüt nicht zu denken, selbst ohne das Redner-Ich mit dem historischen Autor gleichzusetzen. Im Frauenkrieg ist das Redner-Ich durch das Präsens markiert (Spricht Rößner in seim frawen kriegen; S. 187, V. 25), während das Erzähler-Ich für die Eingangstopoi präterital berichtet (Ains tags spaciert ich auß nach lust; S. 177, V. 5 u. v. m.). Auch im Binnenteil schaltet sich der Redner ein: 150 Grunewald: Die Zecher- und Schlemmerliteratur des deutschen Spätmittelalters (1976), S. 134–137. 151 Gerhardt: Grobianische Diätetik. Zu den sieben grössten Freuden in Rede, Lied und Priamel sowie zu dem Fastnachtspiel Das Ungetüm (2007), S. 50. 152 Altenhöfer : Art. Die sieben größten Freuden, in: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter : Autoren und Werke nach Themenkreisen und Gattungen. Band 5: Epik (Vers – Strophe – Prosa) und Kleinformen (2013), Sp. 1407. 153 Walter: Unkeuschheit und Werk der Liebe. Diskurse über Sexualität am Beginn der Neuzeit in Deutschland (1998), S. 190, Anm. 107. 154 Schanze: Art. Schneider, Hans, in : Die deutsche Literatur des Mittelalters [Verfasserlexikon] (1992b), Sp. 795; Kanz: Art. Schneider, Hans, in: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter : Autoren und Werke nach Themenkreisen und Gattungen. Band 3: Reiseberichte und Geschichtsdichtung (2012), Sp. 987. 155 Ziegeler : Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen (1985), S. 57–74, für die Unterscheidung zwischen Minnerede als Rede oder als Erzählung. 156 Reichel: Der Spruchdichter Hans Rosenplüt. Literatur und Leben im spätmittelalterlichen Nürnberg (1985), S. 85 u. 90, argumentiert, dass die Zeile So hat geticht Snepperer Hans Rosenplüt aus metrischer Unmöglichkeit eine Veränderung durch den Schreiber ist, eine Zuordnung zu Rosenplüt jedoch sicher sei.
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Wenn die Damen auftreten, kann er nicht gleichzeitig der Beobachter in seinem Versteck unter einer Bank sein, der für die Beschreibung ihrer Schönheit ein ganzes Jahr zum Dichten bräuchte und dabei weder end noch zil fände (S. 179, V. 7–10 u. 21–24). Das Durchbrechen der erzählten Zeit geschieht mittels einer höheren Erzählebene. Das Resümee des Redners daz ist von frawen sagen / Gewesen gar ain hüpsches klagen, / Als ichs all mein tag hab gehörtt (S. 187, V. 20– 22) schließt auch den beobachtenden Erzähler mit ein. Das Beobachter-Ich ist ein betrachteter Gegenstand.157 Wenn das Charakteristikum der Differenz zwischen Redner-Ich und Beobachter-Ich ernst genommen wird, kann eine Zuordnung zur Rede oder zum Spruch in der Forschungsliteratur nicht mehr aufrechterhalten werden. Auch das Argument Fischers, wegen des hohen Redeanteils die Texte außerhalb der Märendichtung einzuordnen, ist dann obsolet zu nennen. Alle Gattungszuordnungen versuchen, die Texte von den Mären durch äußere Merkmale abzugrenzen (zum Beispiel mehr Figurentext als Erzählertext bei Fischer) oder in ihrer einzelnen Aufführungsform (Rede oder Spruch) zu beschreiben. Im Folgenden werden die sechs Texte stattdessen in ihren übergreifenden Merkmalen betrachtet und innere Gemeinsamkeiten betont, sowohl auf der Ebene des Aufbaus (Reihumreden mit Erzählerrahmung) als auch auf der Inhaltsebene (Wettstreit über Themen der Sexualität und der sinnlichen Genüsse). Statt externer Abgrenzung wird auf den internen Zusammenhang Wert gelegt. Wird dies konsequent vollzogen, erweisen sich FGf 3–8 als eine miteinander zusammenhängende Werkreihe, die sich nicht einer der bisherigen Untergattungen der Mären (höfisch-galant, exemplarisch, schwankhaft) zuordnen lassen158 und die als Reihummären passend beschrieben sind: Referierende Figurenreden, umschlossen durch eine feste Ordnung. In diesem Sinn sollen die Reihummären betrachtet werden. Der Form nach stehen die Frauen und Männer in Konkurrenz untereinander um zentrale Fragen: Wer hat den schlimmsten Ehemann? Wer ist der faulste unter den Knechten? Oder : Welche Grundbedürfnisse haben den höchsten Wert? Das Erzählen von Konkurrenz hat ihren Zweck im Darbieten der abwechselnden Klagen. Durch die stetigen Differenzziehungen zwischen den Konkurrent*innen 157 Die recht blass wirkende Beobachterfigur ist für die Mären mit Ich-Erzähler die häufigste Form, s. Ziegeler : Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen (1985), S. 77–81. Es ließe sich darüber streiten, ob diese Ich-Form als Entlehnung aus der Minnerede zu sehen ist. Ingeborg Glier spricht für die Redegattung von einer »Ich-Hohlform«, s. Glier : Artes amandi. Untersuchung zu Geschichte, Überlieferung und Typologie der deutschen Minnereden (1971), S. 395. 158 Dies ist nicht so ungewöhnlich wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Fischer selbst konnte mehrere Mären nicht in die Dreiteilung einordnen und konstatierte Oszillationsprozesse. Fischer : Studien zur deutschen Märendichtung (1983), S. 112–115.
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entwickelt sich ein neuer Stil des Erzählens, der im weiteren Zentrum steht. Weil der Wettkampf besonders auf poetische Verfahrensweisen abzielt, wird die Erzählform ausführlich behandelt. Alle sechs Mären einigt ein narrativer Stil, der sich um das Darstellen und die Rollen der Wettkampfteilnehmer dreht. Darüber hinaus steht im Fokus die gemeinsame Anthropologie der Werkreihe, die sich aus der Wettkampfstruktur ergibt (Kapitel 3.1.2.). Die Narrationsanalyse unterteilt sich in zwei Unterkapitel vor und hinter der Anthropologie: über das Erzählschema (Kap. 3.1.1.) und den Erzählmodus (Kap. 3.1.3.). Die Reflexivität der Reihummären gegenüber anderen Gattungen ergibt sich aus der literaturhistorischen Stellung der Reihe, und das wenige, das sich davon darstellen lässt, bildet das letzte Unterkapitel (3.1.4.).
3.1.1. Erzählschema der Werkreihe Im Folgenden wird ein Erzählschema erarbeitet, das die Reihummären als Erzählkomplex abbildet und die Erzählweise aller sechs in ein übertextuelles Schema fasst. Erzählschema meint im narratologischen Sinn ein Bündel »stereotype[r] Handlungsmuster, die über einen individuellen Text hinaus für Textgruppen […] charakteristisch sind«159. Von einer Textgruppe lässt sich tatsächlich sprechen, denn es liegt ihnen allen ein gemeinsames Muster zugrunde. Ein Textprototyp lässt sich nicht ausmachen, in allen Zeugen lassen sich Veränderungen finden, die Textzeugen kürzen das Schema oder lassen es komplexer werden, fügen Einschübe ein oder spekulieren Teile aus. Es kann höchstens eine Tendenz ausgemacht werden, nämlich dass die Sieben größten Freuden und Der Frauenkrieg die meisten Erzählbausteine aufweisen, die auch die anderen Texte aufgreifen. Neben der Aufzählung und Erläuterung dieser Erzählbausteine werden die spezifischen Realisierungen beziehungsweise Abweichungen der einzelnen Mären in eingerückte Passagen gesetzt. 1. Das Erzähler-Ich geht ›eines Tages‹ spazieren. Zufällig wird er heimlicher Augenzeuge eines Streits, der sich an einem Brunnen entspinnt.160 Variation dieses Bausteines: Die Sieben größten Freuden beginnen mit einem ausführlichen Lob auf den Wein (V. 1–37), das überleitet zu der fröhlichen Trinkrunde, 159 Martínez: Art. Erzählschema, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft: Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Band 1 (1997), Sp. 506. 160 Der belauschte Streit ist ein häufig verwendeter Topos, für die Mären in dieser Arbeit zum Beispiel auch im Falle des Rosendorns und bei Gold und Zers.
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in die der Erzähler gerät. Der Frauenkrieg findet nicht am Brunnen statt, sondern in einer für fremde Zuhörer verschlossenen Wohnung, von deren gedecktem Tisch sich der Erzähler erst fröhlich bedient, um sich dann zum Belauschen der eintreffenden Damen unter der Bank zu verstecken. In Die drei Ehefrauen bedient sich Rosenplüt des Spaziergangtopos, um sein »aufgelesenes Wissen«161 aus der Musik zu beweisen: Die Vögel in der Natur zwitschern im Hexachordsystem. Die Beichte der zwölf Frauen beginnt unvermittelt im intimen Geschehen der Beichte.
2. Eine Gruppe von Frauen klagt reihum über ihre Ehemänner, die sie sexuell nicht befriedigen können. Gelegentlich wird das Thema von einer Ordnungsfigur vorgegeben, meist vom Erzähler selbst, vor allem wenn es von der Klage über die Ehemänner abweicht. Idealtypisch ist hier der Frauenkrieg: Die Gastgeberin beginnt mit ihrer Rede, dann treten die weiteren Damen auf (die dritt, die vierdt, die fünfft). Reihum treten auch die zwölf Pfaffenknechte auf, hier sind es jedoch Männer, zwischen denen entschieden werden soll, wer der faulste unter ihnen sei. In den Handschriften des Märe ist das Reihum besonders markiert: in der ältesten162 mit der Incipitformel Der erst sprach […] usw.; in einer späteren163 werden die Sprecher als Überschrift und farbig durch den Schreiber hervorgehoben (Der erst, Der ander, Der dritt usw.). In Die Klage der drei Männer sind es die Frauen, die zum Objekt der Klage werden. In den sieben größten Freuden entspinnt sich die Frage nach dem besten Zeitvertreib: Jr eyner begjnde den andern fragen, / WaZ sein aller beste freude wer (V. 60f.).
3. Die Sprecherinnen – manchmal auch Sprecher – beziehen sich jeweils auf ihre Vorrednerinnen. Ihr eigenes Schicksal sei, erklären sie, stets schlimmer als das vorherige. Eine Logik in der Abfolge ist jedoch bei objektiver Betrachtung in keinem Text ersichtlich. In späteren Bearbeitungen, zum Beispiel in den zwölf Pfaffenknechte, stellte es deshalb auch kein Problem dar, die Sprecher umzusortieren und ihre Reden durch andere zu ersetzen.164 In den sieben größten Freuden folgt ein Vergnügen auf das andere, damit wird das sonstige Prinzip des Immer-noch-schlimmeren umgekehrt. Nachdem der eine das Schlafen als den besten Zeitvertreibt preist, erwidert der nächste: Schlafen führe zu 161 Reichel: Der Spruchdichter Hans Rosenplüt. Literatur und Leben im spätmittelalterlichen Nürnberg (1985), S. 171. 162 München, BSB, Cgm 379. 163 Wolfenbüttel HAB, Cod. 18.12 Aug. 48. 164 Die Fassung des Hans Betz (aus dem 16. Jahrhundert) vertauscht die Rede des ersten und des zweiten Sprecher ; der siebte Spruch wird durch einen neuen ersetzt (Der Knecht ließe sich lieber hängen als den Strick um den eigenen Hals abzuschneiden), vermutlich »wegen der Motivähnlichkeit mit der sechsten« Episode, s. Klein: Art. Die zwölf (sieben) Pfaffenknechte, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters [Verfasserlexikon] (1999), Sp. 1642. Ausgabe der Fassung von Hans Betz von J. M. Wagner : Die faul schelmzunft der zwelf pfaffenknecht, Archiv für die Geschichte deutscher Sprache und Dichtung 1 (1874) 71–79 (Abdruck von 190 Versen ohne die 250 Verse zählende Moralisatio).
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Albträumen und sei damit keineswegs die beste Freude. Ein anderer erklärt in Bezug auf seinen Vorredner: Essen sei schön und gut, nur mache es umso durstiger, weshalb der Wein die größte Freude sei usw. Im Frauenkrieg wechseln sich Lob und Klage über den Ehemann ab, eine Logik der Abfolge besteht jeweils zwischen zwei Reden: Ist der eine Mann zu geizig und lässt seine Frau hungern, ist der nächste selbstlos gebend an der Tafel und im Ehebett. Ist der einen Frau ihr Mann körperlich zuwider, kann die andere kaum von dem ihren lassen usw. In der Beichte der zwölf Frauen sind die Frauen Vertreterinnen eines Berufs, auch hier scheint die Reihenfolge des Auftritts165 keiner Ordnung zu folgen. Die Argumente gegen die Impotenz der Männer sind jedoch motiviert aus dem Beruf: Der »Schlüssel« des Schmieds will nicht in den »Schrein« der Ehefrau passen; der Kürschner jagt den Tag über die Tiere, nur bei seiner Frau versagt seine Jagdfähigkeit; der Kaufmann ist immer nur unterwegs usw. Der Pfarrer, der die Beichte der Frauen abnimmt, verwendet die Klage, um sich als potenten Liebhaber zu empfehlen, durch den Seitensprung wird das Problem gelöst. Zu der Anzahl der Rednerinnen und Redner lässt sich folgendes sagen: Zweimal sind es zwölf (die Zwölf faulen Pfaffenknechte, in der ältesten Handschrift sieben, Beichte der zwölf Frauen), einmal elf (Frauenkrieg), zweimal drei (Die drei Ehefrauen, Die Klage der drei Männer), einmal 7+1 (Die sieben größten Freuden, der achte Mann ist der Erzähler in seiner Funktion als herbeigerufener Schiedsrichter). Christoph Gerhardt hat bewiesen, dass es sich hierbei nicht um Parodien von heiligen Zahlen handelt, sondern um eine Strukturierungsmöglichkeit. Durch eine Anzahl von drei, sieben oder zwölf Episoden wird Vollständigkeit und Abgeschlossenheit suggeriert.166 Die strukturierende Dreizahl wirkt in den Reden der Drei Ehefrauen zum Beispiel soweit, als dass einer Rede mehrere Vorwürfe untergeordnet werden, während im regulären Muster ein Redner einen Vorwurf postuliert.
4. Die Reihum-Reden enden ohne Sieg. Der Erzähler tritt ein in den Kreis der Sprecherinnen und Sprecher und beendet den Schlagabtausch, ohne dass Entscheidungen über den schlechtesten Ehemann, den faulsten Mann etc. getroffen oder eine Problemlösung für die beklagten ehelichen Defizite getroffen werden. Einen Gewinn gegenüber der Ausgangslage für die Protagonisten lässt sich nicht ausmachen. Auch deshalb spielt die Abgeschlossenheit durch die Zahl der Reden eine bedeutende Rolle und eben aus jenem Grund braucht es den Eintritt des Erzählers als Marker für den Schluss. In den sieben größten Freuden verweigert sich der Erzähler in seiner Richterfunktion einem endgültigen Urteil, er möchte keine Freuden entbehren und kann sich keiner entziehen (Jr keyns mag ich nit en bern / Jch han zu jn allen pflicht, / Dar vmb schelt ich ir keyner nicht, V. 297–299). In Die drei Ehefrauen erscheint der Erzähler unter den Frauen und verweist auf das fortschreitende Alter ihrer Männer, durch das sich jeglicher Makel mit der Zeit in Bequemlichkeit auflösen werde. Mit einem Verweis 165 Müllerin – Bäuerin – Schusterin – Schneiderin – Schmiedin – Fischerin – Weinschenkin – Weberin – Kürschnerin – Metzgerin – Kaufmannsfrau. 166 Gerhardt: Grobianische Diätetik. Zu den sieben grössten Freuden in Rede, Lied und Priamel sowie zu dem Fastnachtspiel Das Ungetüm (2007), v. a. S. 4, Anm. 6; S. 9 u. S. 42f.
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auf die Psalmen werden die Ehefrauen vertröstet auf spätere Jahre, in denen sie die Männer immer noch ›zähmen‹ könnten. Lösungsansätze werden damit in die ferne Zukunft verschoben. Einen moralischen Einwurf macht auch der Erzähler in der Klage der drei Männer, nämlich sich nicht in Hass und Neid zu begegnen. Im Frauenkrieg erteilt die elfte Dame allen anderen ein Sprechverbot mit Hinweis auf die Unzüchtigkeit ihrer obszönen Reden (Ist ainer vom mann ettwaz kundt, / So soll sy pschliessen iren mund / Vnd selbs allain im hertzen tragen; S. 187, V. 2–4). Nur Die Beichte der zwölf Frauen endet abrupt und ohne Erzählereinsatz.
3.1.2. Anthropologie Mittelalterliche Gattungen unterscheiden sich untereinander in ihrer Anthropologie. Anthropologische Entwürfe stehen durchaus in Konkurrenz, und ihre eigenen Spezifika können durch den Vergleich ersichtlich werden.167 Beispielhaft ist der höfische Roman des Hochmittelalters, der die Geltung des Höfischen gegenüber archaischen Handlungs- und Wertungsmustern durchsetzt. Der Romanritter tritt dabei in eine nichthöfische Welt ein, um das Archaische zu ›kultivieren‹, oder eliminiert das Nichthöfische, wenn es im Hof selbst Fuß fassen kann. Höfisch ist in diesem Zusammenhang die »zeitgenössische[ ] Leitkultur der adeligen Elite Europas.«168 Eine Anthropologie wird in den allermeisten Fällen »nicht diskursiv oder dialogisch erörtert, sondern die Probleme, die damit verbunden sind, werden exemplarisch in Form eines ›narrativen Agon‹ zwischen Repräsentanten unterschiedlicher Konzepte ausspekuliert und dem Rezipienten vor Augen gestellt.«169 Das Höfische entspannt sich damit aus dem agonalen Verhältnis von Ritter und gegnerischen Monstren, von Hof und wilde oder von hövescheit und dörperheit. Differente Anthropologien formulieren sich auch in der Märendichtung. Die Länge der hochmittelalterlichen Romane, schon banal an der Versmenge gemessen, geht nicht zwangsläufig mit einer umfassenderen Anthropologie einher. Zum Beispiel hinterlässt sie auf großer Strecke eine Lücke im Beschreiben basaler menschlicher Bedürfnisse; eine Lücke, die die spätmittelalterlichen Mären in ihrer sexuellen und skatologischen Komik mit großem Vergnügen ausfüllen. Besonders gewichtete Themen innerhalb des anthropologischen Spektrums in der Kurzepik sind die Kategorien des Geschlechts und das Geschlechterverhältnis an sich, allen voran die Sexualität und die Ehe. Die Texte transportieren spezifische Weiblichkeits- und Männlichkeitskonzepte mit sich, die different zu 167 Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive (2015), Kap. 2–4, explizit 2.3.6 und 3.4.4.2. Zur Konkurrenz anthropologischer Entwürfe v. a. S. 117. 168 Ebd. 169 Ebd.
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anderen Gattungen sein können.170 Doch auch innerhalb des weiten Felds der Märendichtung finden sich bedeutsame Unterschiede: So ist beispielsweise das Eheverständnis innerhalb der höfisch-galanten und den moralisch-exemplarischen Mären mit ihren adhortativen Apellen der Treue und den vorbildhaften Darstellungen171 gänzlich gegensätzlich zu den Schwänken mit ihrer Struktur von Schlag und Gegenschlag und den umfänglichen Wegen des Treuebruchs.172 Wie ist die Anthropologie innerhalb der Reihummären entfaltet? Im Frauenkrieg kommen die elf Damen auf Einladung der Gastgeberin zu einem gemeinsamen Mahl zusammen. Das Erzähler-Ich, das sich unter einer Bank versteckt, kann beobachten, wie die Frauen in höfischem Schmuck (houeliche[ ] brangen; S.178, V. 4) und wunneclich beklaydt (ebd., V. 5) mit zichtigklichen tritten (ebd., V. 7) in den Raum einkehren. Ihre Ausstattung und ihr Auftreten ist ganz und gar adelig, ebenso ihr Verhalten (ebd., V. 8). Die Hausherrin bittet die Damen Platz zu nehmen. Das gemeinsame Einnehmen der Mahlzeit wird von Lachen begleitet, ein Verweis auf die Kommunikation am Hof.173 In der Körperbeschreibung splittet der Erzähler die klassischen Damenbeschreibungen auf und verteilt das Lob unter den Anwesen: das Antlitz der ersten Frau gibt lichten schein, der zweiten Mund ist ihr mündlein fein, die Dritte kann weiße Hände für sich verbuchen, die Vierte schöne Arme, die Fünfte zeichnet grüeblin in den wengle aus, wenn sie lacht usw. (S. 178, V. 24 – S. 179, V. 6). Es findet sich weder eine Steigerung unter den Damen noch eine Ordnung wie in einer konsequenten Beschreibung a capite ad calcem. Der Erzähler hegt starke Sympathie für die Frauen und verteilt wohlwollende Attribute gleichmäßig auf alle Anwesenden. Es könnte denkbar erscheinen, dass der Frauenkrieg Anleihen bei der höfischen Erzählung genommen hat, indem er die Konflikte höfischen Personals schildert. Doch sind die Probleme dieser Damen keineswegs galant: Das Sprechen für und wider ihre Ehemänner fußt bei allen in der sexuellen (Im-)Potenz 170 Zwei Beispiele für gattungseigene Geschlechterbilder : Der höfische Roman trägt eine »dialogische« Männlichkeit, die sich in »Relation zum Weiblichen« konstruiert, während die Heldenepik ihre »monologische« Männlichkeit durch den Ausschluss des Weiblichen konstruiert. Zitate von Schmitt, Kerstin (2002): Poetik der Montage. Figurenkonzeption und Intertextualität in der ›Kudrun‹, Berlin (Philologische Studien und Quellen 174), S. 50, und Gaunt, Simon (1995): Gender and genre in medieval French literature, Cambridge [u. a.] (Cambridge Studies in French 53), passim; beide zitiert aus Schulz, S. 109. Historische Bedingungen zur Entstehung und Wandel des Frauenbilds in der Nähe der Reihummären macht Keller : Die Darstellung der Frau in Fastnachtspiel und Spruchdichtung von Hans Rosenplüt und Hans Folz (1992), S. 7, aus. 171 Z. B. Das Auge, Die treue Gattin oder Pyramus und Thisbe. 172 Z. B. in Die böse Adelheid, Drei listige Frauen oder Sibotes Frauenerziehung. 173 Vgl. Bießenecker : Das Lachen im Mittelalter. Soziokulturelle Bedingungen und sozialkommunikative Funktionen einer Expression in den »finsteren Jahrhunderten« (2012), S. 133–137.
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der Ehepartner. Die Frauen klagen über den Sexentzug durch die Männer oder loben deren sexuelle Energie. Dabei wechseln sich Klage und Lob ab. Das freizügige Sprechen kontrastiert mit ihrem übrigen Verhalten und dem Zierrat ihrer Garderobe. Die erste Dame beispielsweise beendet ihre Klage mit dem Wunsch, jemand möge ihren Mann ermorden. Von diesen krassen Gegensätzen jedoch lebt der Schwank, dessen Komik sich auch hier aus dem Nebeneinander von Hoch und Tief entspinnt.174 Für eine Nähe zum Schwank lässt sich auch die moralisatio am Ende anführen, die im Frauenkrieg wie im Schwank zum größten Teil auf einen »Gemeinplatzcharakter«175 reduziert wird. Das RednerIch resümiert generalisierend und beinahe nichtssagend: Von frawen würdt mancher betört, / Der maint, man müg in nit betriegen (S. 187, V. 23f.). Doch gerade der Schwank trägt eine Geschlechterkonzeption mit sich, wie sie dem Frauenkrieg nicht zugesprochen werden kann. Die Komik des Schwanks entspinnt sich im Gegensatz und auch die Geschlechter werden konträr entworfen. Die Erzählungen von Ehekonstellationen, von Treueproben und entdecktem oder unentdecktem Ehebruch leben von einem undifferenzierten Charakterisieren der Protagonisten. Klassische Hauptrollenpaare sind die listigüberlegene Ehefrau versus den düpierten Ehemann oder ihr gendervertauschtes Äquivalent. Solche dramatisiert opponierende Konstellationen brauchen überzeichnete Handelnde wie das böse w%p, das ausgesprochen populär und so passend für den Schwank ist.176 Der Frauenkrieg verwehrt sich dieser schwarzweißen Konstellation. Die einerseits höfisch auftretenden Damen verwenden andererseits eine obszöne Sprache und fordern ihr Recht auf sexuelle Erfüllung ein. Es fällt auf, dass weder die männliche Erzählerstimme noch das BeobachterIch dieses sexuelle Aufbegehren abkanzeln oder darin eingreifen, sondern den Inhalt der Frauenreden legitimieren: daz ist von frawen sagen / Gewesen gar ain hüpsches klagen (S. 187, V. 20f.).177 Es ist die elfte Frau, die den Gesprächen Einhalt gebietet und den übrigen das weitere Klagen untersagt. Dafür greift sie zu einer höherliegenden Moral, die das ›Geschwätz‹ (klaffen; S. 186, V. 34) über 174 Die häufigste Konstellation zwischen den Protagonisten im Schwank ist der Sieg des Toren über den Klugen, s. Fischer: Studien zur deutschen Märendichtung (1983), S. 102–104. Auch sexuelle Spannungen subsumiert Fischer unter diese Konstellation, vor dem amourösen Background entwickele sich eine besonders eindrucksvolle Listentfaltung. Gegen eine Subsumierung unter das exemplarisch-didaktische Märe spricht meines Erachtens gerade die geringe moralische Aussagekraft des Frauenkriegs und eben jene schwarzweiße Positionierung des Erzählers und der Figuren, die hier nicht als geschwätzige Frauen o. ä. abgestempelt werden. S. dazu ebenso Fischer, S. 111f. 175 Ebd., S. 107. 176 Schirmer : Stil- und Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle (1969), S. 315. 177 Man könnte hier von Ironie sprechen, wenn dies so ist, erscheint sie mir aber nur schwach verurteilend.
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die Herren verbietet und als Privatangelegenheit abtut, ohne dass sie die Damen im Generellen tadelt und damit ein friedliches Auseinandergehen verhindert würde: Die red sölten ir hie lassen sein. Darumb, ir zartten frawen fein [!], Ist ainer vom mann ettwaz kundt, So soll sy pschliessen iren mund Vnd selbs allain im hertzen tragen (S. 186, V. 37 – S. 187, V. 4)
Der Frauenkrieg verzichtet auf eine männliche Ordnungsfigur, beziehungsweise auf einen männlichen Korrektor weiblichen Verhaltens. Die Frauen schlichten ihren Streit selbst, ohne dadurch die Sympathie zu verlieren, die der Erzähler am Anfang und am Ende den Frauen gegenüber hegt. Dass es für die Frauen legitim ist, die männliche Potenz für deren Ehetauglichkeit als Wertmaßstab anzulegen, kommt nicht nur in den Reihummären zur Sprache. Das Motiv findet sich ebenso in den Fastnachtspielen Rosenplüts. Es entstammt einer Parodie auf die höfisch-literarische Form des Frauenpreises, indem das Lob auf das Sexuelle reduziert wird. So reduziert sich die ethische Qualität der Männer in seinen Fastnachtspielen auf die sexuelle Fähigkeit, insbesondere wenn es um die Prüfung ihrer Ehetauglichkeit geht. Frauen lehnen die Ehe mit Männern ab, weil Gerüchte um deren Impotenz im Umlauf sind, oder die Ehe wird an die Bedingung einer potenzsteigernden ›Kur‹ durch den Mann geknüpft.178 In Rosenplüts Reihummäre Die drei Ehefrauen gestaltet sich das Motiv komplexer. Hier trifft das Erzähler-Ich auf drei Frauen, die unter der Nichterfüllung ihrer sexuellen Begierden durch den eigenen Mann leiden und darum klagen. Die Unfähigkeit ihrer Männer ist dabei ausgelöst von beziehungsweise verknüpft mit deren charakterlichen Schwächen. Der Mann der Ersten ist Alkoholiker und ekelt sie an, wenn er nachts ins Ehebett steigt; die Zweite klagt über die Spielsucht ihres Mannes, die nachts zu Streit und Gewalt gegenüber der Frau anstelle von Vereinigung führt. Der Mann der Dritten lebt seine Sexualität mit Prostituierten aus. Der Erzähler tritt als Kommentator auf und versucht, die Taten der Männer mit der jugendlichen Energie zu rechtfertigen. Auch er sei in jungen Jahren zu ungestüm gewesen. Die Frauen sollen es den Männern verzeihen, fordert er. Das Motiv der fehlenden oder erst zu erreichenden Einsicht über die gute Ehe tritt auch wiederholt in der Schwankdichtung auf,179 wobei 178 Keller : Die Darstellung der Frau in Fastnachtspiel und Spruchdichtung von Hans Rosenplüt und Hans Folz (1992), S. 61f. 179 Auf die Spitze getrieben ist das fehlende Verständnis in den Erzählungen von den stets verneinenden Ehefrauen in der Xanthippetradition (zum Beispiel Die böse Adelheid,
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man dort lernen kann, dass gedult (im Gegensatz zu den drei Ehefrauen) nicht den gewünschten Effekt einer harmonischen Ehe bringt. Elisabeth Keller hat in ihrer Abhandlung zur Geschlechterdarstellung erarbeiten können, dass Rosenplüt hier das Fehlverhalten der drei Männer (Trink- und Spielsucht, Fremdgehen) vom Standpunkt der praktischen Moral wertet. Der Erzähler prangert nicht die Süchte der Männer an, sondern will den Damen mit Verweis auf die Zukunft eine praktische Hilfestellung geben. An die Männer gerichtet erinnert er sie an die negativen Folgen ihres Tuns für ihr Seelenheil: Eine Heilserwartung verliere jener, der sich nicht von seinen Sünden lossagt (V. 156– 160). Damit wird mit der Erzählerfigur eine Differenz gezogen zur Fastnachtsdichtung, in der zum Beispiel männlicher Ehebruch in fingierten Gerichtssequenzen ohne Konsequenzen für die Männer bleibt – entweder verläuft eine Anklage im Sand oder der Mann wird von seiner Tat freigesprochen. In den drei Ehefrauen wird gegenüber männlichem Vergehen mit einer ›überzeitlichen‹ Bestrafung gedroht.180 Auch das Verhalten der Frauen ändert sich. Im Reihummäre unterlassen sie trotz ihrer prekären Lage einen eigenen Seitensprung. Im Fastnachtspiel K 31 Rosenplüts181 beispielsweise findet sich nicht nur die Klage einer Frau über ihren Alkoholiker-Ehemann wieder, darüber hinaus auch fünf in weiten Teilen übereinstimmende Verse.182 Die Frau im Fastnachtspiel entscheidet sich für den Ehebruch als Reaktion auf die Trinksucht des Mannes (Wil er nit von der pubrei lan, / So wil ich mich unter munch und pfaffen stecken; S. 257, V. 3f.). Die Frau im Reihummäre ist »ihr insofern überlegen, als Weitsichtigkeit ihr Handeln bestimmt, setzt sie doch ihre Ehre [wegen der Trinksucht des Mannes] nicht aufs Spiel«183. Im Märe lässt sich eine »individuellere, die Situation der Frau berücksichtigende Blickrichtung erkennen«184, weil das Fehlverhalten auf der Seite des Mannes verortet wird, für das der Erzähler bei den Frauen Rücksicht fordert. Auch vor der Folie der didaktischen Rede Rosenplüts ist eine Differenz ersichtlich, weil die Problematik aus Sicht der Frauen be-
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Strickers Die eingemauerte Frau, Die böse Frau); Verständnis für seine Frau muss zum Beispiel der Kaufmann in Kaufringers Die Suche nach dem glücklichen Ehepaar durch eine Aventiure finden. Keller : Die Darstellung der Frau in Fastnachtspiel und Spruchdichtung von Hans Rosenplüt und Hans Folz (1992), S. 183–185. K 31 Ein hubsch vasnachtspil (Incipit: Nu gruß euch got all mit einander). In: Keller : Fastnachtspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert (1853–1858), Bd. 1, S. 252–257. Vgl. K 31 S. 256, V. 25 entspricht V. 41 in FGf 3 Die drei Ehefrauen, K 31 S. 256, V. 26 entspricht V. 45 in FGf 3, K 31 S. 256, V. 27 entspricht V. 46 in FGf 3, K 31 S. 256, V. 28 entspricht V. 44 in FGf 3, K 31 S. 256, V. 29 entspricht V. 43 in FGf 3. Keller : Die Darstellung der Frau in Fastnachtspiel und Spruchdichtung von Hans Rosenplüt und Hans Folz (1992), S. 173. Ebd., S. 171.
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sprochen wird, statt wie sonst unter einer umfassenden Moral, die die Trinkoder Spielsucht allgemein verdammt. Elisabeth Keller spricht noch von einem »Widerspruch«185 beziehungsweise von einer »Ambivalenz im Frauenbild«186, weil sie das Reihummäre unter die Spruchdichtung Rosenplüts subsumiert und deshalb unerkannt die Anthropologie zweier unterschiedlicher Gattungen zusammenzubringen versucht. Der männliche Blick des Erzählers in Die drei Ehefrauen stellt sich hinter den Blick der Damen und legitimiert ihre Wünsche. Sicher muss man die Empathie gegenüber den Frauen als Blickwinkel des Erzählers verstehen und nicht Rosenplüt selbst zuschreiben, dessen Fastnachtsspiele von einer »überwiegend negative[n] diffamierende[n] Darstellung des weiblichen Geschlechts«187 getragen sind. Seine sonstigen Mären transportieren bei einer nur oberflächlich bleibenden Sichtung sowohl legitimierende als auch anklagende Sichtweisen auf weibliche Sexualität; eine genauere Differenzierung wäre hier noch lohnenswert.188 Das Reihummäre Die Beichte der zwölf Frauen gewinnt seinen komischen Effekt durch die Fähigkeit der Frauen und des Pfaffen, die Umschreibungen und speziellen Fachbegriffe aus Handwerkertätigkeiten der Ehemänner wie Werkzeuge, Werkstätten, oder Arbeitsvorgänge geschickt doppeldeutig auszulegen und in ihren Gesprächen die Metapher aufrecht zu halten. So klagt die Frau des Schusters, dass dessen Schusternadel nicht fest genug sei, um »gute[n] stich [zu] pflegen« (V. 67). Der Pfarrer aber wisse, wie er das Leder vor dem Nähen erweicht und kann den besten zuestich (V. 71) setzen. Die Beichte der Frauen beginnt stets mit einer Klage über ihre Männer, die Vorwürfe sind Impotenz, hohes Alter, Kargheit, andere Frauen, Vernachlässigung neben der Arbeit oder Abwesenheit. Die Bitternisse werden vom Pfaffen anerkannt – der dann die Bedürfnisse der Frauen selbst stillt. In dieser Reihummäre ist der Geistliche die verlachte Figur, weil er seine Position als Beichtvater ausnutzt – ein in der Gattung häufiger auftretendes Motiv.189 Die Beichte als »stereotype Verführungssituation« hat in der Literatur des 15. Jhs. ihren »eigentlich sakralen An185 186 187 188
Ebd., S. 183. Ebd., S. 228. Ebd. Dem Reihum am nächsten kommt wohl das Märe vom Barbier, in der eine Frau den Erzähler selbst in ihre Herberge einlädt, in der er ihre sexuelle Begierde jedoch nur teilweise stillen kann. In Der Wettstreit der drei Liebhaber braucht es eben jene drei, um die Frau zufrieden zu stellen. Am anderen Ende einer Skala ließe sich vielleicht Die Wolfsgrube fassen, in der der Mann die Ehebrecherin vor der Familie bloßstellt und die Hoden des Pfaffen, des Liebhaber, sowohl seiner Frau als auch der frivolen Magd über das Bett als Warnung hängt. Wie gesagt muss diese kurze Übersicht hier oberflächlich bleiben. 189 Beispiel und zur realhistorischen Praxis s. Tanner : Sex, Sünde, Seelenheil. Die Figur des Pfaffen in der Märenliteratur und ihr historischer Hintergrund (1200–1600), S. 230–242 u. 555–559.
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spruch bereits verloren«190 und der Beichtvater kann für die Rezipienten keine Autorität mehr verbuchen. Die Frauen sind nicht naiv und evozieren konsequent die Bildsprache des Sexuellen. Schon der ersten Frau wird die Absicht unterstellt, dass sie eigentlich nicht zur Beichte, sondern zum Pfaffen selbst will: die erst die was ain müllerin / zu dem pfaffen stund ir sinn (V. 3f.). Über das Verhalten zwischen den Frauen und dem Pfaffen enthält sich der Erzähler einer Wertung, der Einstieg ist unvermittelt (Welt ir horn und schauen: / ain peicht teten zwelf frauen, V. 1f.) und ein Epimythion fehlt völlig. Den größten Redeteil haben die Handwerksfrauen, die sich selbst als vorzügliche Partnerinnen von Unfähigen loben; die Antworten des Pfarrers bleiben Reminiszenzen auf gleicher Bildebene. Damit zielt stärker die Figur des Pfarrers auf das Lachen der Rezipienten, während die Frauen kluge Verführerinnen sind. Elisabeth Keller hat versucht, für ein Recht der Frau auf sexuelle Erfüllung in der Zeit Rosenplüts und Folz historische Zeugnisse zu finden. Konkret als Vorlage dienende Rechts- oder Kirchenrechtsquellen kann sie jedoch nicht aufzeigen, die für eine Neuerung der Stellung der Frau hätten herhalten können.191 Vielleicht herrschte im Nürnberg in den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts ein gesellschaftlich-sozialer Diskurs über die sexuelle Erfüllung in der Ehe, der literarisch verarbeitet wurde, doch lässt sich dieser nicht greifen. Was greifbar ist, sind zwei literarische Traditionslinien im Fastnachtspiel. So treten in den Narrenaufzügen reihum Männer auf und beklagen ihren Misserfolg bei Frauen. In drei Stücken, eines davon sicher von Rosenplüt selbst, wird die Impotenz der Männer in der Öffentlichkeit dem Lachen preisgegeben.192 Eine andere Textgruppe sind fingierte Gerichtsszenen auf der Bühne. Dort klagen die Frauen über die Schlechtigkeit der Männer in ähnlichem Stil der schon beschriebenen drei Reihummären. Damit rechtfertigen die Frauen ihre 190 Beine: Der Wolf in der Kutte. Geistliche in den Mären des deutschen Mittelalters (1999), S. 90f. 191 Der Nürnberger Rat verurteilte männlichen Ehebruch im interessanten Zeitraum zweimal, die Strafe war die Stadtverweisung, also ein lebenslanger Bann jeglichen Kontakts mit dem reichen Wirtschaftszentrum, s. Keller : Die Darstellung der Frau in Fastnachtspiel und Spruchdichtung von Hans Rosenplüt und Hans Folz (1992), S. 87f. Aus diesem männlichen Blick der Moral eine Legitimation weiblichen Begehrens abzuleiten, dafür scheint mir das Beispiel Kellers zu unkonkret. Im kirchlichen Lehrwerk Corpus Iuris Canonici wird die Pflicht zur ehelichen Treue entgegen älteren Rechtsbräuchen auch auf den Mann erweitert, doch hat das Werk neben einer jahrhundertelangen Vortradition seit Augustinus eine fast ebenso lange Entstehungszeit. 192 Rosenplüt: Fastnachtsspiel K 116 Die narren (Incipit: Ich pin ein diern von adels art). In: Keller : Fastnachtspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert (1853–1858), Bd. 2, S. 1008– 1012. Anonym: Fastnachtsspiel K 13 Aliud von der puolschaft (Incipit: Got grüßt den wirt zu aller frist) und K 14 Morischgentanz (Incipit: Herr wirt, ir tugenthafter man). In: ebd., S. 114-127. Eine Ähnlichkeit besteht zu Rosenplüts Märe vom Barbier, s. meine Anmerkung in Fußnote 188.
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eigenen Affären.193 Beide Erzählkonstellationen können eine Referenzgrundlage für das Motiv des weiblichen Rechts auf sexuelle Erfüllung für die Reihumdichter Rosenplüt, Hans Rosner und den anonymen Verfasser der Beichte der zwölf Frauen gewesen sein. Die drei Mären stammen alle aus dem zweiten Viertel beziehungsweise der Mitte des 15. Jahrhunderts. Ein gutes halbes Jahrhundert später schreibt Hans Schneider seine Klage der drei Männer, und es ist allzu deutlich, dass die oben genannten seine Vorbilder waren, vermutlich am stärksten Rosenplüts Dichtung. In der Klage trifft der Erzähler auf drei Männer, die über ihre Frauen stöhnen. Besonders der zweite und der dritte Mann leiden unter der sexuellen Nichterfüllung: Die Frau des Zweiten hat noch andere Männer neben ihm und der Dritte hat sich verlig[en] / bey einem altten bösenn weib (S. 190, V. 28f.; der zu alte Ehepartner findet sich nicht bei den Drei Ehefrauen, sondern im Frauenkrieg wieder). Die Frau des Ersten ist kaufsüchtig, wie auch die beiden anderen Frauen noch weitere Sünden vor sich hertragen. Der Erzähler tritt gegen Ende in die Mitte der drei und erinnert sie, dass sie sich besser in tugend versammeln als in neyd und haß (S. 191, V. 16f.). Die Sympathielenkung führt hier nicht mehr zu den Damen, sondern genderumgekehrt zu den Herren. Das Motiv weiblicher Klage war hier schon so weit tradiert, dass es einem Geschlechtertausch unterzogen werden konnte. Was ist also die geschlechterkonstruierende Anthropologie der Reihummären? Die Dichter verstehen es, die Sympathie auf die Klagenden zu lenken, indem sie zur Beschreibung der Protagonisten auf klassische Lobstrategien zurückgreifen, ihnen ratend zur Seite stehen, das andere Geschlecht zum Gespött und Objekt der Klage machen oder indem sie Frauen gleichzeitig die Rolle von Wettstreiterinnen und Streitschlichterinnen zugestehen. Die Textreihe wirbt für das Recht auf sexuelle Erfüllung in der Ehe, verdammt Ehebruch und Lasterhaftigkeit. Aus der Gruppe fallen dabei die beiden Mären Die sieben größten Freuden und die Zwölf faulen Pfaffenknechte heraus, weil beide andere Themen bearbeiten und das Geschlechterverhältnis nicht im Mittelpunkt steht. Die Pfaffenknechte greift die Narrenreihe aus dem Theaterspiel wieder auf und verwandelt die Narren in geistliche Handlanger und das Thema der Impotenz in Faulheit. Das Gedicht steht »in der Tradition komischer und parodistischer Reden, die sich im 14. Jahrhundert entwickelte, insbesondere auch in der Nähe der Lügen- und Unsinnsdichtung.«194 Hier wird nicht für eine Akzeptanz der Langsamkeit geworben, sondern die Faulheiten der Pfaffenknechte 193 Keller : Die Darstellung der Frau in Fastnachtspiel und Spruchdichtung von Hans Rosenplüt und Hans Folz (1992), S. 75–77. 194 Klein: Art. Die zwölf (sieben) Pfaffenknechte, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters [Verfasserlexikon] (1999), Sp. 1640.
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werden als komische Pointen aneinandergereiht und die Männer der Lächerlichkeit preisgegeben. Die sieben größten Freuden wurde in den 1970igern von Eckhard Grunewald in die »Zecher- und Schlemmerliteratur«195 eingeordnet. Dies begründete er mit dem ausführlichen Loblied auf den Wein, mit dem der Text beginnt (V. 1–33). Doch wird damit übersehen, dass die Redner nicht das Trinken oder das Essen präferieren. Während der erste Redner die Speisen lobt, erinnert ihn der zweite daran, dass man, je mehr man zu sich nimmt, desto durstiger sei. Deshalb sei dem Wein der Vorzug zu geben. Der Dritte erklärt Essen und Trinken zur Völlerei und preist über allem die zwischenmenschliche Minne usw. Die aufgezählten Bedürfnisse des Menschen werden, so hat auch die jüngere Forschung ihr Fazit gezogen, in ihrer »excruciating irresistibility«196 geschildert. Dies trifft vermutlich vor allem auf die beiden ›Freuden‹ der Verdauung zu, bei der am stärksten von einer »bewußten Verletzung von Normen gesprochen«197 werden kann. Beide werden als unabdingbare menschliche Zwänge geschildert: Scheißen nyemant mag enpfliehen (V. 170) beziehungsweise Mein bester lust ist seychen. […] Wieder steen ym nyeman en kan (V. 193 u. V. 197). Ein Regelverstoß wäre jedoch nur der Fall, wenn es sich um skatologische Obszönität handeln würde. Christoph Gerhardt konnte jedoch beweisen, dass sich scheyssen und saichen ziemlich selbstverständlich in die Freuden einreihen, wird der Text vor dem Hintergrund der Diätetikliteratur betrachtet. In Galens sex res non naturales, Teil der Temperamentenlehre und der mittelalterlichen Humoralpathologie, gehören die Absonderungen und Ausscheidungen zu den Dingen, deren ausgewogenes Mischverhältnis für die Gesundheit unabdingbar ist. Die Regimen sanitatis als literarische Fachgattung des späten Mittelalters griff Galens Regelwerk auf und verbreitete das medizinische Wissen. In dieser diätischen Wissensliteratur »haben beide Verrichtungen ihren festen […] Platz.«198 Gerhardt erkennt in den sieben größten Freuden eine Popularisierung mittelalterlicher Medizinwissenschaft, die wenig Anstrengung betreiben musste, Ausscheidungen in die Freudenreihe einzureihen. Nachdem alle Sprecher mit ihrem Vergnügen aufgetreten sind (das sind Essen, Trinken, Minne, Stuhlgang, Urinieren, Schlafen, Baden) und der Erzähler als Schiedsrichter zur Wahl des besten aufgerufen wird, entzieht sich dieser einer Entscheidung:
195 Grunewald: Die Zecher- und Schlemmerliteratur des deutschen Spätmittelalters (1976), S. 134. 196 Coxon: Laughter and narrative in the Later Middle Ages. German comic tales 1350–1525 (2008), S. 136. 197 Gier : Skatologische Komik in der französischen Literatur des Mittelalters (1982), S. 163. 198 Gerhardt: Grobianische Diätetik. Zu den sieben grössten Freuden in Rede, Lied und Priamel sowie zu dem Fastnachtspiel Das Ungetüm (2007), S. 40.
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jch saget eZ euch gern, Jr keyns mag ich nit en bern. Jch han zu jn allen pflicht, Dar vmb schelt ich ir keyner nicht. (V. 296–299)
Die sieben größten Freuden sind – wie die sex res non naturales Galens – »freilich nicht nur als eine reihende Aufzählung, sondern naturgemäß als eine Gesamtsystem aufzufassen, das keine besondere Gewichtung einer bestimmten Komponente oder die Hierarchisierung der einzelnen Punkte verträgt.«199 Der Erzähler wertet alle sieben als »gleichberechtigt, gleichwertig und gleichnotwendig«200. Eine Übergewichtung des Obszönen würde dieses Gesamtsystem sprengen. Es handelt sich also nicht um skatologische Komik, auch nicht um eine Obszönrede.201 Komisch ist das Reihummäre dennoch, doch seine Komik entspinnt sich aus der Situierung der Reden innerhalb des Wirtshaussettings und aus der abschließenden Rede der Barfrau. Sie will die Männer aus dem Haus werfen, sie scheinen die letzten Gäste zu sein und hindern das Schließen. Außerdem hätten die kämpfenden Reden verhindert, dass die Wirtschefin mit ihrem Mann hätte schlafen können. Daraufhin gehen die Konkurrenten, inklusive des Erzählers, nach Hause, das Märe endet damit. Der Streit wird damit in eine komplexere Struktur eingewoben: über jedem Streiten steht die Tat; das Reden über die Freude verhindert den sexuellen Akt. Das Streitgespräch geht nicht mit einem Sieg aus, sondern seine Nützlichkeit selbst wird in Frage gestellt. Was hier der Lächerlichkeit preisgegeben wird, ist die Diätetik an sich. Alles Fachsimpeln wird in ein Schwankschema eingebettet, in der das tumbe über das w%se siegt,202 das Niedere über das Hohe, das Einfache (Sex) über das Komplexe (Streitgespräch).203 Als Fazit über die Anthropologie der Reihummären lässt sich neben der Sympathielenkung für die Redefiguren ein Werben um Akzeptanz erkennen. Neben dem Recht der Frau auf sexuelle Erfüllung postulieren die Texte auch ein Primat des Begehrens vor allzu hypothetischen Fragestellungen (Die sieben größten Freuden: Welches Grundbedürfnis bringt die größte Freude?) oder präsentieren sexuelle Energie als primäre Wertekategorie, in dem man den Wert von Ehemännern (Die drei Ehefrauen, der Frauenkrieg, die Beichte der 199 200 201 202 203
Ebd., S. 43. Ebd. So auch ebd., S. 50. Fischer : Studien zur deutschen Märendichtung (1983), S. 102. Ein vermutlich zeitgenössisches, typisches Beispiel aus dem gleichen Nürnberger Raum ist die Disputation Hans Rosenplüts. Hier streiten sich ein Christ und ein Jude um die richtige Religion mittels Gestik. Der Jude versucht eine komplexe Theologie darzustellen, während der am Ende siegreiche Christ grobe Drohungen gebärdet.
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zwölf Frauen) und Ehefrauen (die Klage der drei Männer) misst. Sie tun dies, und damit unterscheiden sich die Reihummären von anderen Mären, in der spezifischen Kombination von ähnlichem Leitthema und gleichem Erzählmodus.
3.1.3. Erzählmodus Es hat sich bereits gezeigt, dass und wie der Erzähler die Publikumssympathie auf die Hauptprotagonisten lenkt. Diese Position des Erzählers kann noch weiter konkretisiert und erzähltheoretisch genauer bestimmt werden. Die Beweise werden sich häufen, dass es sich beim häufigsten Modus in den Reihumerzählungen um einen beteiligten Beobachter handelt. Die Amerikanistin Susan Lanser hat den Begriff erstmals verwendet und von einem witness-participant gesprochen.204 Aus dieser besonderen Stellung des Erzählers zum Geschehen leiten sich eine geringe Distanz des Erzählers von den Figuren und dem Erzählten, die Erzählebenen und die Fokalisierung folgerichtig ab. Der Wettkampf unterstützt diese Erzählweise, indem der Erzähler am Ende der Konkurrenzreden als Richter auftritt, um Konflikte zu beenden. Für die Reihummären ist dieser besondere Erzählmodus bisher nirgends beschrieben worden. Angeklungen ist bereits, dass sich das Erzähler-Ich in einer außergewöhnlichen Nähe zum Erzählten befindet, das Redner-Ich sich dafür sehr zurücknimmt. Letzterer lässt seine Protagonisten der Reihe nach auftreten, die narrativen Elemente treten weitestgehend in den Hintergrund, es fehlen Kommentare und die Pro- und Epimythia sind auf ein Minimum reduziert. In der Beichte der zwölf Frauen sind sie völlig ausgelassen, die einführenden Worte auf zwei Verse reduziert, um unvermittelt einzusteigen: Welt ir horn und schauen: ain peicht teten zwelf frauen die erst die was ain müllerin zu dem pfaffen stund ir sinn. sie sprach: »herr, ich beger ainer pueß[«] (V. 1–5)
Ein Epimythion fehlt völlig. Häufiger eröffnen die Mären mit einem Spaziergang des Erzählers, bei dem er auf die Rednerinnen und Redner trifft, häufig am Brunnen:
204 Lanser : The narrative act. Point of view in prose fiction (1981), S. 160.
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Eins tags spacirt ich zu einem brünlein. […] Darob da saßen junger weiber drei, Den wont ich auf ein halben tag bei, Die umb das prunlein sassen so müßlich (Die drei Ehefrauen, V. 1 u. 5–7) Jch kam zu einem kulen prunnen Da vand ich ligen an der sunnen Zwelff faul pfaffenknecht (Pfaffenknechte, V. 3–5) Jch gyng eins tages durch guten mut Vnd wolt auch sturczen weyblers hut, Da vant ich siczen ob eyner gluet Syeben verch gesellen gut, (Die sieben größten Freuden, V. 39–42) Ains tags spaciert ich auß nach lust Hin in ain hauß ich mich verdust, (Frauenkrieg, S. 177, V. 1f.) Ich stand ains mals ain ainem ortt. Da hortt ich dreyer man wortt, Die klagten ab den weibern wunder. (Klage der drei Männer, S. 188, V. 3–5)
Das Auftreten als Ich-Erzähler ist zwar nicht üblich in der Märendichtung, aber auch nicht außergewöhnlich. Er findet sich nach der engeren Märendefinition nach Fischer in 20 aus 219 und in 34 der 44 Grenzfälle der Märendichtung. Meist dient der Ich-Erzähler der Quellenberufung und verbürgt die Wahrheit der Erzählung;205 bekannt ist er aus Minnereden und -allegorien. Es fällt auf, dass fast ausnahmslos alle ich-erzählenden Mären (ob Grenzfall oder nicht) aus dem 15. Jahrhundert stammen. Die »Einschränkung des Wissens- und Wahrnehmungshorizont[s]«206 ließ sich erst nach einiger Entwicklung vereinbaren mit der auktorialen Erzähltradition der Mären und wurde nur in einem Bruchteil der Gattung nachgeahmt. Dieser besondere Modus wird in den Reihummären auch in der Handlung auserzählt, in der der Erzähler als versteckter oder teilnehmender Beobachter ganz nahe bei seinen Figuren steht: [Die sieben Gesellen] rieffen mich alle frolich an: »Nement den wein, vix, byederman!« Jch nam den wein vnd tranck, 205 Fischer : Studien zur deutschen Märendichtung (1983), S. 247–252. 206 Ziegeler : Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen (1985), S. 76. Zur Ich-Hohlform bei den Minnereden s. meine Fußnote 157.
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Da must ich sunder meinen danck Da bey jn beleiben. (Die sieben größten Freuden, V. 43–47) Darnach ich mich gar schier verbarg Hin zu dem ouen vndern banck. Darvnder stond mir mein gedanck, Vnd daz mich nyemantz nit wer sehen. (Frauenkrieg, S. 177, V. 28 – S. 178, V. 1) bei dem brünlein ich da rut Und hort von [den Ehefrauen] ein abentewrlichs clagen (Die drei Ehefrauen, V. 32f.)
Durch die Erzählerposition des Beobachters wird das Erzähltempo verlangsamt, es deckt sich die erzählte Zeit in der Figurenrede mit der Erzählzeit. Dies trägt zu einem Eindruck der Nähe bei. Die Illusion des Greifbaren wird auch gestützt, indem der Erzähler ausführlich über die Ausgangssituation spricht, die er beobachtet. Für die eigentliche Handlung sind diese Beobachtungen funktionslos, sie scheinen »in einer Welt jenseits der Erzählung einfach ›da‹ zu sein.«207 Am stärksten geschieht dies im Frauenkrieg im Beschreiben des Hauses, bevor die Damen überhaupt eingekehrt sind (S. 177, V. 8 – S. 178, V. 1). Der Hausknecht ist nicht vor Ort und die Magd hat gerade erst einen Braten in den Ofen geschoben. Die Küche, in die sich der Erzähler eingeschlichen hat, ist voll mit guten Speisen. Er tritt durch die Tür und findet den reich gedeckten Tisch, der erschöpfend beschrieben wird, nimmt sich einige Bissen und trinkt von den bereitgestellten Bechern. Dieser Einschub widerspricht im Grunde dem Prinzip der Kürze in den Mären. Roland Barthes hat bei diesen für die Erzählung funktionslosen Beschreibungen von einem Realitätseffekt gesprochen (effet de r8el), ein narrativer Überhang ohne Bedeutung, der nur der Illusion des Realismus dient.208 Von Realität ist in den Reihummären nur schwer zu sprechen, zu gekünstelt sind diese Bausteine. Rosenplüt beispielsweise baut in seine drei Ehefrauen einen Einschub über die Schönheit und Perfektion der Singvögel ein (V. 8–31). Jörn Reichel konnte nachweisen, dass er dies nicht nur hier als ›Versatzstück‹ nutzte, als narrativen Baustein in Rosenplüts »halbgebildete[r] Art, in der er aufgelesenes Wissen«209 präsentiert, baut er es auch in andere Texte ein. Übertrieben artifiziell wirken seine Latinismen, mit der er die Vogelgeräusche beschreibt, und die sich am Versende anhäufen. Lateinische Versatzstücke sind in der Märendichtung mehr als selten. 207 Martínez und Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2016), S. 50. 208 Barthes: L’effet de r8el (1968). 209 Reichel: Der Spruchdichter Hans Rosenplüt. Literatur und Leben im spätmittelalterlichen Nürnberg (1985), S. 171.
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Die droschel rußtet sich enpor, Die furt do den contratenor. Die amsel in vortenorirt. Doruber die lerch discantirt Mit faberdon auß gravibus. (V. 13–17)
Die sieben größten Freuden beginnt mit einem längeren Lob auf den Wein. Die Hauptaussage im Prolog, neuer Wein sei dem alten vorzuziehen, wird mit einem Vergleich zwischen jungen versus alten Frauen verbildlicht. Das Lob wird nicht mehr aufgegriffen, obwohl die Stammtischsituation dafür eine umfassende Gelegenheit geliefert hätte. Das ausführliche Weinlob ist kein Realismus, sondern stimmt in die Situation ein und dient als illokutionärer Akt, um die kommenden Reden der alkoholisierten Männer einzuleiten. Auffallend häufig sprechen die Erzähleinschübe der drei Mären die Sinnesebene an: die alimentären Gerüche und die Gaumenfreuden auf der gedeckten Tafel (Frauenkrieg), den akustischen Perfektionismus der Vogelgesänge (Die drei Ehefrauen), den vollmundigen Geschmack des jungen Weins (Die sieben größten Freuden). Das Erzählen von Sinneswahrnehmungen eignet sich besonders, um Natürlichkeit zu simulieren.210 Dieser auf basale Erfahrungen basierende Effekt versucht die Nähe des Erzählten zu den Rezipienten und eine hohe Authentizität zu suggerieren. Der Eindruck der unmittelbaren Präsenz durch den Realitätseffekt wirkt im Frauenkrieg und den sieben größten Freuden besser angepasst als die ›Versatzstücke‹ in den Drei Ehefrauen Rosenplüts. Durch das Schildern basaler Effekte zur Illusion der Nähe folgt oftmals der eigentliche Hauptteil, die Reden. Dass sie sich untereinander nahtlos ineinanderfügen, wurde bereits gesagt. Der Übergang ist reduziert auf die Inquitformel, und wenn diese fehlt, wurde sie zum Beispiel in spätere Handschriften der zwölf Pfaffenknechte vom Schreiber hinzugefügt. Damit bleibt nur ein Rest Erzählung, mit dem der Hauptteil als »szenische Darstellung«211 gut beschrieben werden kann. Der Handlungsbericht ist auf ein Minimum reduziert: Ain schuesterin die drat dort her. / sie sprach: […] (Beichte der zwölf Frauen, V. 53f.); Darmit hub an der ander man / Vnd sagt von seiner frawen auch / und sprach: […] (Die Klage der drei Männer, S. 189, V. 11–13). Die unpersönliche Formelhaftigkeit solcher Erzähläußerungen passt zum beobachtenden Erzähler und trägt zur Illusion bei, das Geschehen sei unmittelbar.212 Dadurch bedingt ist jedoch auch die Handlung der Rednerinnen und Redner auf ein 210 Vgl. Lahn [u. a.]: Einführung in die Erzähltextanalyse (2016), S. 9. 211 Ins Deutsche hat den Begriff Franz Stanzel eingeführt, s. Stanzel: Theorie des Erzählens (2001), S. 191–194; er geht zurück auf Genettes »dramatischen Modus«. 212 Ebd., S. 193.
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Minimum beschränkt (Ain schusterin die drat dort her) beziehungsweise wird auf Halbsätze gerafft. Dadurch werden die Übergänge zwischen den konkurrierenden Monologen austauschbar und formelhaft, was den Effekt der Serialität verstärkt: Die erste, die hub zu klagen an, Sie sprach: […] Die ander hub auch an zu clagen, Sie sprach: […] Die dritte hub an zu clagen auch, Sie sprach: […] (Die drei Ehefrauen, V. 36f., 73f., 109f.)
Dieser Revuecharakter mit seiner szenischen Darstellung ermöglichte es, das Reihummäre mit einfachen Mitteln und wenig redaktionellem Eingriff zu Theaterstücken umzubauen.213 Geschehen ist dies beweisbar für die zwölf faulen Pfaffenknechte. Das Nürnberger Fastnachtspiel Ein spil von den zwelf pfaffenknechten214 ist vermutlich in das Folz-Umfeld einzuordnen215. Um das Märe umzuschreiben, musste nur die Inquitformel aus dem Text gezogen und der Rohtext um einen fastnachtstypischen Rahmenteil erweitert werden: Die Spaziergangszene des Erzählers wird einem Precursor in den Mund gelegt. Dieser begrüßt den Wirt, und gegen Ende spricht ein Herold, »von der spielinternen Wirklichkeit auf die Performanzebene wechselnd«.216 Dank aus für das Bewirten der Spieltruppe. Die Datierung des ganzen Werkkomplexes um die zwölf Pfaffenknechte bleibt schwierig, die vier Fassungen (drei epische und ein dramatisches im engeren Sinn) können nur mit der Handschriftenentstehung als termini ante quem bestimmt werden. Sprechende Namen in falscher Abfolge durch das Umbauen der Sprecherreihenfolge sprechen dafür, dass die Fassung *NWmit zwölf Knechten eine sekundäre Erweiterung der Siebenerreihe
213 Vgl. Gerhardt: Grobianische Diätetik. Zu den sieben grössten Freuden in Rede, Lied und Priamel sowie zu dem Fastnachtspiel Das Ungetüm (2007), S. 4. Für andere Beispiele außerhalb der von mir dargestellten Mären, nämlich zu dialogischen Texten, Bispeln und Streitgedichten s. Gerhardt: Eine unbemerkt gebliebene Bilderhandschrift des Rosengarten zu Worms und der Funktionswandel von Überschriften im Überlieferungsprozeß (1999); Gerhardt: Das Exempel Vom Vater, Sohn und Esel als Theaterstück: Ein Spiel von Hans Hechler? (2000). 214 Anonym: spil von den zwelf pfaffenknechten, in: Keller : Fastnachtspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert (1853–1858), Bd. II, S. 562–566. 215 Klein: Art. Die zwölf (sieben) Pfaffenknechte, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters [Verfasserlexikon] (1999), Sp. 1643. 216 Ebd.
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der Fassung *M ist.217 Weil Fassung *NW näher an *M angelehnt und aus älterer Handschrift ist, lässt sich vermuten, dass erst die zwei Märenfassungen entstanden, dann das Fastnachtspiel. Eine Bearbeitung von Hans Betz stammt aus dem 16. Jahrhundert;218 sie zeigt, dass es eine parallele Entwicklung gab: Weiterentwicklung als Epik und als Drama. Mit der Position des Beobachters, der an Kommentaren spart, und den verkürzten Einleitungsformeln in den Reden der Figuren geht auch eine Verschiebung der Fokalisierung einher. Weil der Erzähler Teil der Geschehnisse wird, versiegt auch sein auktoriales Wissen. Gegen Ende weiß der Erzähler nicht mehr als seine Figuren, die Nullfokalisierung wird zur internen Fokalisierung. Diese ist bedingt durch die Beteiligung und zeigt sich auch an einer Parallelisierung zwischen Erzähler- und Protagonistenhandeln. Auf der Handlungsebene löst sich die Trennung zwischen Erzähler und Protagonisten auf. Im Frauenkrieg machen sich die Frauen nach ihrer Klage auf den Heimweg, vor ihren Männern verheimlichen sie das Geschehene. Eine ebensolche Beschreibung der stillschweigenden Heimlichkeit trägt das Erzähler-Ich nach Hause (S. 187, V. 9–22). Je stärker der Erzähler an den Geschehnissen beteiligt ist, umso weniger tritt er in der Erzählung als Richter auf. In den sieben größten Freuden entzieht er sich, weil er mitten in der Stammtischrunde sitzt, jeglicher Entscheidung. Er weiß es auch nicht besser als seine neuen Freunde (trewt geselle, V. 289). Er greift die Argumentation von ihnen auf, dass die größte Freude auch größte Pflicht sei, und bleibt bei einer Zusammenfassung: So sprachen sie alle zu mir, »Welche freude gefellet dir Vnder disen freuden allen, Dar vmb wir hie schallen?« […] Jch sprach: »jch saget eZ euch gern, Jr keyns mag ich nit en bern. Jch han zu jn allen pflicht, 217 Hier folge ich Klein: ebd., Sp. 1641. Die Handschrift München Cgm 379 entstand um 1454 (Schneider : Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Cgm 351–500 (1973), S. 96). Die Fassung *NW in der Handschrift Nürnberg 5339a wurde 1471–73 erstmals verschriftlicht (Kurras: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften. Erster Teil: Die literarischen und religiösen Handschriften. Anhang: Die Hardenbergschen Fragmente (1974), S. 47), zusätzlich existiert eine spätere Handschrift mit gleicher Fassung (Janota: Art. Von dem Hurübel, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters [Verfasserlexikon] (1983), Sp. 326). Die Fastnachtsfassung stammt aus der Handschrift Wolfenbüttel Cod. 18.12 Aug. 48, die die Jahreszahl 1494 selbst als Jahr der Niederschrift nennt. 218 Ziegeler : Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen (1985), S. 497.
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Dar vmb scheltich ir keyner nicht. Dan ich iße alZ ein mader Vnd trinck alZ ein bader Vnd mynne alZ der esel jm meyen Vnd scheiß alZ der reyger. Den krug heiß ich mir reichen, Trinck ich vil, ich must dester me seychen. Mit slauffen, baden ist mir wol, Da von ich ir nit strauffen sol Vnd schelt auch ir keyn.« (V. 290–293 u. 296–308)
In G8rard Genettes Erzähltheorie meint Fokalisierung das Wissen des Erzählers, auch die Sicht des Erzählers auf das Geschehen.219 In der volkssprachigen Literatur wird Wissen nicht theorisierend artikuliert, sondern häufig mithilfe von Figuren verhandelt.220 Wenn der Erzähler in den Reihummären eine interne Fokalisierung eingeht, verortet sich auch sein Handeln im Bewegungsraum der Figuren. Dabei verliert er sein außenstehendes Mehr an Wissen gegenüber den Figuren und kann seine Richterfunktion nicht erfüllen.
3.1.4. Nähe der Reihummären zu den Nürnberger Einkehrspielen Welche Information geben die Texte immanent über ihre Herkunft? Von dreien ist eine textinterne Autorzuschreibung überliefert (Rosenplüt, Rosner, Schneider), darüber hinaus sprechen die zwölf faulen Pfaffenknechte selbst von Nürnberg als Ort der Handlung und das Personal der Mären lässt sich sozialgeschichtlich einordnen. Zusammenfassend lassen sich die Reihummären in das Handwerksmilieu Nürnbergs verorten. Von Hans Rosenplüt haben sich einige historische Zeugnisse erhalten und die Mediävistik hat schon länger einige dankenswerte Anstrengungen unternommen, diese auszuwerten.221 Der historische Rosenplüt muss zwischen 1396
219 Genette: Die Erzählung (2010), S. 121–124. 220 Man denke beispielsweise an Heinrichs von Mügeln Der meide kranz, in dem die Frage nach der höchsten Wissenschaft (v. a. theologia oder philosophia) durch allegorisches Personal in einem Wettstreit entschieden wird; die Minnereden, in der Frau Venus die Liebe erklärt oder die didaktischen Mären, die in ihrer Exemplarität sehr nah an Bispeln und Fabeln liegen. 221 Einen aktuellen Überblick bietet Müller : Art. Rosenplüt, Hans, in: Deutsches LiteraturLexikon. Das Mittelalter : Autoren und Werke nach Themenkreisen und Gattungen. Band 5: Epik (Vers – Strophe – Prosa) und Kleinformen (2013).
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und 1404 geboren sein.222 Er stammt nicht aus Nürnberg. Weil jedoch auch die ältesten datierbaren Dichtungen in nordbairisch-oberfränkischer Mundart klingen, wird eine Herkunft aus dem Nürnberger Umland angenommen. Von hier macht er sich auf in die Stadt und wird 1426 als Neubürger registriert. Als Freischaffender kann der ausgebildete Kettenhemdmacher in jungen Jahren nicht viel erwirtschaften, die ärmeren Jahre enden spätestens 1449, als er eine feste Anstellung in der Stadt gewinnen kann. Vor diesem Zeitpunkt hat Rosenplüt sein Metier gewechselt, er ist nun Rotschmied. Sein städtisches letztes Gehalt erhält Rosenplüt 1460, weshalb er vermutlich in diesem Jahr stirbt. Hans Schneider lebt zwei Generationen nach Rosenplüt, seine Lebensdaten sind ungewiss und wissenschaftlich kaum ausgewertet. Auch er ist nicht in Nürnberg geboren, sondern vermutlich in der Gegend um Augsburg, im fünften Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts.223 In der Stadt lässt er sich erstmals 1488 archivalisch greifen. Die Baumeisterbücher in Augsburg verzeichnen von 1488 bis 1503 Geldabgaben an Schneider als Poeten. Im Gegensatz zu Rosenplüt stammt er nicht aus dem Handwerkermilieu, scheint ihm aber nahe gewesen zu sein. Spätestens im September 1501 zieht es ihn nach Nürnberg, wo er im Dezember das Bürgerrecht geschenkt bekommt.224 Damit hatte er es weitaus leichter als Rosenplüt, der wegen eines geringeren Einkommens erst probeweise fünf Jahre in die Vorstadt ziehen durfte.225 Ein konfliktfreies Verhältnis blieb die Beziehung zu den Patriziern nicht lange. Hans Schneider bedient sich der neuen Drucktechnik und seine publizierten Reden zur aktuellen Politik des Nürnberger Rats werden dreimal mit einem Druckverbot belegt.226 Kaiser Maximilian ist dem Dichter zugeneigt und hält Fürsprache für ihn (1502),227 die Beziehung zu letz222 Zur Biografie lohnt immer noch die Habilitationsschrift Reichel: Der Spruchdichter Hans Rosenplüt. Literatur und Leben im spätmittelalterlichen Nürnberg (1985), S. 104–154. Ergänzungen durch Müller : Art. Rosenplüt, Hans, in: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter : Autoren und Werke nach Themenkreisen und Gattungen. Band 5: Epik (Vers – Strophe – Prosa) und Kleinformen (2013); Glier : Art. Rosenplüt, Hans, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters [Verfasserlexikon] (1992). 223 Kanz: Art. Schneider, Hans, in: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter : Autoren und Werke nach Themenkreisen und Gattungen. Band 3: Reiseberichte und Geschichtsdichtung (2012); ebd., Sp. 985. 224 Ebd; Schanze: Art. Schneider, Hans, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters [Verfasserlexikon] (1992b), Sp. 786. 225 Reichel: Der Spruchdichter Hans Rosenplüt. Literatur und Leben im spätmittelalterlichen Nürnberg (1985), S. 127. 226 Nachweise bei Kellermann: Abschied vom »historischen Volkslied«. Studien zu Funktion, Ästhetik und Publizität der Gattung historisch-politische Ereignisdichtung (2000), S. 521, Anm. 110. 227 Zu Schneider als Herrschaftsdichter s.a. Fasbender : Die Wiederkehr der Stadt in Hans Schneiders Ursprung und Herkommen der Stadt Annaberg (1510) (2013), v. a. S. 107.
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terem scheint nah zu sein, Schneider nennt sich selbst »kaiserlicher Sprecher«228. Dennoch erhält Schneider kein Amt vom Rat, sondern verdingt sich als freier Spruchdichter. 1488–1493 ist er für Herzog Christoph von Bayern tätig, darüber hinaus für Kaiser Friedrich und Kaiser Maximilian.229 Damit kann Schneider in zwei große Milieus eingeordnet werden: das städtisch-handwerkliche und das des hohen bis höchsten Adels. Die Gunst der städtischen Oberschicht des Nürnberger Rats jedoch bleibt ihm verwehrt. Dies scheint weniger von Schneider als vom Rat auszugehen, die Druckverbote scheinen nur einmal aus politischen Gründen, zwei andere Male aus reinem Kontrollbedürfnis motiviert.230 Auch eine Bezichtigung der Unruhestiftung und des Diebstahls kommen aus dem Patriziat.231 Die letzte biographische Spur von Schneider findet sich 1513.232 Der Schwerpunkt seines Œuvres liegt in der politischen Spruchdichtung (überliefert sind 22), »die der Information wie der Unterhaltung der Stadtbevölkerung dienten und stilistisch in diesem eher mündlichen Bereich anzusiedeln sind«233. Unpolitische Werke sind fünf erhalten: Eine Minnerede, ein Gebet für Pestzeiten, eine didaktische Rede (Unterweisung eines Brautpaares) und zwei Mären: Dieb und Henker und Die Klage der drei Männer. Dieb und Henker spielt im städtischen Brügge. Schneider nutzt hier kein einzelnes städtisches Milieu exklusiv : Ein Henker erwischt einen Dieb auf frischer Tat am Beutel eines Adligen, lässt ihn jedoch nach Reuebekundung laufen. Doch der Dieb eilt zum 228 Ebd., S. 106. 229 Schanze: Art. Schneider, Hans, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters [Verfasserlexikon] (1992b), Sp. 786. 230 Kellermann: Abschied vom »historischen Volkslied«. Studien zu Funktion, Ästhetik und Publizität der Gattung historisch-politische Ereignisdichtung (2000), S. 251f. 231 Kanz: Art. Schneider, Hans, in: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter : Autoren und Werke nach Themenkreisen und Gattungen. Band 3: Reiseberichte und Geschichtsdichtung (2012), S. 985. Ein beispielhafter Fall ist Schneiders Spruch vom Landshuter Erbfolgekrieg, den er am 26. Juni nach Ende des Krieges dichtet. Er apostrophiert den Rat mit meine herren und widmet ihnen die Dichtung: zu˚ eren aim frumen weisen rat / das Hans Schneider gesprochen hat, / der kaiserlichen stat zu˚ eren / zu˚ Nürmberg meinen frumen herren (Zitat aus Kellermann: Abschied vom »historischen Volkslied«. Studien zu Funktion, Ästhetik und Publizität der Gattung historisch-politische Ereignisdichtung (2000), S. 253). Am 12. Juli wird Schneider von eben diesen herren zur Rechenschaft gezogen, weil er seinen Spruch ohne deren Erlaubnis druckt. Die Druckerin muss den Verkauf stoppen (Schanze: Art. Schneider, Hans, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters [Verfasserlexikon] (1992b), Sp. 790; es gibt deshalb kein überliefertes Exemplar des Drucks, s. Schanze: Zu drei Nürnberger Einblattdrucken des frühen 16. Jahrhunderts. (1992c), S. 138. Überliefert sind spätere Fassungen. Die Widmung kann den Rat nicht umstimmen. 232 Fischer : Studien zur deutschen Märendichtung (1983), S. 179. 233 Kanz: Art. Schneider, Hans, in: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter : Autoren und Werke nach Themenkreisen und Gattungen. Band 3: Reiseberichte und Geschichtsdichtung (2012), Sp. 985.
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Adligen zurück und bezichtigt den Henker, der deswegen zum Tod verurteilt wird. Als Henker springt der Dieb ein, der sich als Bauer ausgibt und den Henker tötet. In der Unterweisung eines Brautpaares wird die bürgerliche Ehe gepriesen und vor dem Fremdgehen gewarnt. Hans Rosner, der dritte namentlich erhaltene Autor, lässt sich archivarisch nicht fassen. Bis in die 1970iger Jahre wurden seine erhaltenen Texte Rosenplüt aufgrund der gemeinsamen handschriftlichen Überlieferung und der Namensnähe zugesprochen. In verschiedenen Formen234 signiert er drei Reimpaargedichte in der Mitte des 15. Jahrhunderts.235 Erhalten sind sie in Kleinliteratursammlungen Nürnberger Provenienz, die eben oftmals auch Rosenplütdichtungen enthalten. Die drei Dichtungen sind Der Einsiedel, Die Handwerke und Der Frauenkrieg. Aufgrund der fehlenden historischen Zeugnisse müssen textimmanente Spuren für eine sozialgeschichtliche Verortung sprechen. Ein solcher Versuch blieb in der Forschung aus. Beispielsweise sind die Protagonistinnen im Frauenkrieg allesamt aus der bürgerlichen Oberschicht. Die Gastgeberin verfügt über einen Hausknecht und eine Küchenmagd. Vielleicht sind es auch mehrere Untergebene, doch sind die Funktionsrollen wie in Mären typisch entindividualisiert. Über Bedienstete verfügt mindestens auch die fünfte Rednerin. Die Frauen sind mit (Perlen-)Schmuck ausgestattet und in adeliger Aufmachung. Der Ehemann der neunten kann alle Kleidergeschenke erfüllen, wann er ist reich (S. 185, V. 36). Das Haus des Treffens ist Teil der inneren Stadt. Die Frauen scheinen gebildet: sie bedienen sich einer bildhaften Sprache (zum Beispiel S. 182, V. 11f.) und verfügen über einen breiten Wortschatz (zum Beispiel die vielen Synonyme für den Phallus S. 182, V. 18f u. 23). In Rosners Einsiedel236 werden die Verfehlungen der verschiedensten Schichten beklagt. Das Redner-Ich trifft auf einen Eremiten und beklagt diesem gegenüber die Schieflage der Welt. Unter dem Kaiser wird Unrecht Recht, die Ritter dienen nicht den Witwen und Waisen, sondern ziehen plündernd durch die Straßen. Der Papst und die Kleriker feiern sich selbst, abgeschlossen von dem Elend der Welt, und in der Bürgerschicht der Städte hält die Hoffart ein, wobei die Sünden der Bürger am kürzesten beklagt werden. Der Einsiedler erinnert an literarische und historische Vorbilder, warnt vor dem jüngsten Gericht als letzte moralische Richtinstanz und bittet Maria um Abhilfe. 234 Auch: Johannes Rosner, Roßner, Rößner, Hans der Schwätzer, s. Malm: Art. Rosner, Hans, in: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter : Autoren und Werke nach Themenkreisen und Gattungen. Band 5: Epik (Vers – Strophe – Prosa) und Kleinformen (2013), Sp. 809. 235 Schanze: Art. Rosner, Hans, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters [Verfasserlexikon] (1992a), Sp. 241. 236 Edition bei Keller : Fastnachtspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert (1853–1858), Bd. 3, S. 1124–1134.
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In Die Handwerke237 klagt der Dichter, dass der zu wenig verdiene, der sich singens vnd sagens annymt, und meint sich damit selbst. Seine Begabung zur Unterhaltung werde nicht hoch genug geschätzt. Dabei hat er noch ganz andere Fähigkeiten, die recht konkret als Geschicke der Handwerke gelesen werden können. Der Redner zählt sie listenartig auf: Ich kann auch wol taschen vnd görtel machen (S. 1135, die Edition ohne Versangabe); So kann ich auch ein gut prot pachen (S. 1136) usw. Der Schwerpunkt liegt hier auf dem Nahrungsgewerbe (Backen, Fischen, Jagen, Schlachten, Bier brauen), dem Leder- und Textilgewerbe (Herstellung von Taschen, Gürtel, Hüten und Sättel, allgemein Lederverarbeitung, Gerben, Schneidern, Weben) und der Holzverarbeitung. Einen erstaunlich geringen Anteil nimmt das Metallgewerbe ein, es fehlen zum Beispiel Schmiedearbeiten, Messinggießerei, Rüstungsproduktion o. ä. Diese Verteilung entspricht keineswegs den tatsächlichen historischen Gegebenheiten im Handwerkermilieu der Stadt Nürnberg, soweit sie sich fassen lassen. In einer Gruppierung der Handwerke in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts nimmt das Metallgewerbe mit der Lederverarbeitung in den Statistiken der Gewerbemeister den vordersten Platz ein. Mehr als ein Viertel der gezählten Meister in Nürnberg gehörten der Metallarbeit an.238 Interessanterweise spiegelte sich diese Verteilung ebenfalls nicht in den Handwerken wider, die im Nürnberger Rat vertreten waren. 1370 nahmen die Patrizier neben sich acht Handwerke auf, aus denen konsequent bis 1543 Vertreter in den Rat berufen wurden: Bäcker, Bierbrauer, Blechschmied, Kürschner, Lederer, Metzger, Schneider und Tuchmacher.239 Auch hier war neben dem Blechschmied das Metallgewerbe ansonsten deutlich unterrepräsentiert.240 Diese Übereinstimmung des Dichtens von den Handwerken Rosners und der Nürnberger Politik kann zwei mögliche Gründe haben: Entweder die Handwerker waren trotz ihrer Häufigkeit wenig populär und sowohl Hans Rosner als auch der Rat haben sie unabhängig voneinander wenig beachtet oder Hans Rosner übernimmt hier die Sicht des Rats auf das Handwerk beziehungsweise stand ihm sogar nahe. Die drei namentlich bekannten Dichter, Hans Rosenplüt, Hans Schneider und Hans Rosner, lassen sich zusammenfassend biographisch dem handwerklichen beziehungsweise einfachen bürgerlichen Milieu zuordnen. Die Biographien Rosenplüts und Schneiders sind aufstiegsgeprägt, das Patriziat und der Nürnberger Stadtrat als deren Herrschaftsorganisation bilden die scharfe Trennlinie. Rosenplüt als Handwerksdichter und Rosner als Berufsdichter können Zeit ihres 237 Edition bei ebd., S. 1135–1138. 238 Fleischmann: Rat und Patriziat in Nürnberg. Die Herrschaft der Ratsgeschlechter vom 13. bis zum 18. Jahrhundert. Bd. 1: Der Kleinere Rat (2008), S. 38f. 239 Ebd., S. 131f. Die Besetzung wurde 1543 übrigens nur sehr gering verändert, indem der Blechschmied durch einen Goldschmied ersetzt wurde. 240 Ebd., S. 40.
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Lebens keineswegs finanziell gesicherte Existenzen unterstellt werden, wie es beispielsweise später bei Hans Folz angenommen werden kann. Ihre literarische und populärwissenschaftliche Bildung werden sie sich vermutlich autodidaktisch erarbeitet haben, v. a. im Fall Rosenplüt, was mit einem Nutzen verschiedener Gattungen der Kleinepik, der Sprüche und Reden und der fastnachtsnahen Dichtung einherging. Wie lassen sich die Reihummären in diesem städtischen Kontext Nürnbergs verorten? Unklar ist, ob das Gesamtkorpus der Mären aufgeschrieben oder aufgeführt wurde. Die Forschung gibt wenig Auskunft darüber und das angesichts der enormen Fülle an überlieferten Mären und konstatiert ein Sowohl-alsauch: »Mären sind Kunststücke des Erzählens, die sich auf der Grenze von mündlicher Performanz und schriftlicher Inszenierung abspielen.«241 Hans Schneider bedient sich der Drucktechnik und benötigte dafür schriftliche Ausformulierungen. Sein literarischer Schwerpunkt liegt jedoch in der mündlichen Spruchdichtung, die traditionell erst nachträglich verschriftlicht wurde. Er selbst nennt sich auch sprecher (für den Kaiser oder den Herzog von Bayern), ebenso verweist auch Hans Rosner auf den mündlichen Stil (singen vnd sagen).242 Wenn die Reihummären in erster Linie aufgeführt statt aufgeschrieben wurden, wie kann der Kontext dieser Performanz gedacht werden? Die sieben größten Freuden beginnen mit einer Intention nach Buhlschaft: Jch gyng eins tages durch guten mut / Vnd wolt auch sturczen weyblers hut (V. 39f.). Stattdessen landet der Erzähler in der weintrinkenden Stammtischgesellschaft. Die Männerrunde ist gut gelaunt (frolich, V. 43) und lädt den Neuzugang in ihre Runde ein. Rosners Frauenkrieg beginnt ebenfalls mit einer Spaziergangsentenz (Ains tags spaciert ich auß nach lust; S. 177, V. 5) – ein Topos aus Minnerede beziehungsweise -allegorie. Dieser Ausflug führt ihn überraschend in ein Haus inklusive gedecktem Tisch für eine nahende Frauengesellschaft. Essen und vor allem Wein stehen in großer Menge zur Verfügung. Nachdem die Gastgeberin befohlen hat, die Tür zu schließen, während der Erzähler unbemerkt unter der Bank liegt, setzen sich auch die Damen zu Tisch und 241 Schnyder: Schreibmacht vs. Wortgewalt. Medien im Kampf der Geschlechter (2006), S. 108. 242 Die Auskünfte, die im Märenkorpus in Pro- und Epilogen textimmanent zur Verfügung stehen, sind dennoch mit Vorsicht zu genießen; es ist nicht immer einfach festzustellen, wo es sich um literarische Topoi oder tatsächliche historische Mitteilungen handelt. Die Autopsie-Berufungen (Jch kam zu einem kulen prunnen, / Da vand ich […]; Pfaffenknechte, V. 3f.) lassen sich mit Bestimmtheit als Konvention und nicht als tatsächliche Erfahrungen lesen. Dies trifft ebenso auf die weiteren Spaziergang- und Brunnensequenzen zu, die aus der Tradition der Minnereden geschöpft werden konnten. Um die Mehraussage zu filtern, die die Reihummären über die performativen Aspekte geben können, müssen solche Topoi subtrahiert werden. S.a. Fischer: Studien zur deutschen Märendichtung (1983), S. 247.
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beginnen zu essen. Das Schließen der Tür soll eine fröhliche Stimmung herstellen (Wir wölln ains gutten müettlins sein; S. 178, V. 16), die man sich wohl ähnlich wie die der Stammtischgesellschaft in den sieben größten Freuden vorstellen kann. In ihrer geschlossenen Gesellschaft stimmen die Frauen bald unisono ein Lachen an (S. 178, V. 17). Die Heiterkeit ist für den Mann unter dem Tisch ein Zeichen, dass nun bald eine interessante Wende ansteht: Gedacht ich wol: es will sich machen (S. 178, V. 18). Das Lachen, vor allem wenn es laut ist, gilt in der Literatur als narrative Begleitung sündhaften Redens.243 Und in der Tat wird das Klagen über die betrunkenen, groben und geizigen Männer begleitet vom Ausformulieren der weiblichen Sexualität. Gleichzeitig hat das Lachen jedoch auch einen innertextuell performativen Aspekt.244 Das Lachen im Frauenkrieg, und das frolichsein in die sieben größten Freuden ist seine äquivalente Stimmung, ist ein Geselligkeitsritual, womit die Frauengruppe sich in eine Lachgemeinsaft inkludiert,245 die von außen durch das Schließen der Tür nicht gestört werden kann und durch die der Erzähler angeregt wird, seinen Schönheitspreis der Damen in die Beschreibung eines einzelnen Frauenkörpers zu verschachteln. Gleichzeitig hat die Lachgemeinschaft einen Katalysatoreffekt, mit dem das Unsagbare sagbar wird: »Der Lachvorgang ist aus dieser Perspektive etwas Prozessuales, denn Komik und Witz ›sagen‹ weniger etwas, als dass sie es in Gang setzen«246. Neben dieser konzeptuellen Performativität auf der innertextuellen Repräsentationsebene des Lachens hat Gelächter auch eine außertextuelle Performanzfunktion.247 Diese lässt sich schwerer fassen, da stets die Gefahr besteht, über den Text hinaus zu interpretieren.248 Für den Stellenwert von figürlichem Lachen für die Rezipient*innen fehlen außertextuelle Nachweise, wenn auch innertextuell eine Reflexion der Rezeption beispielsweise im Prolog durchaus verhandelt wird. »[L]iterarische Traditionen im Mittelalter, die als Hauptziel Rezipientengelächter […] hatten, sind ebenso wenig von der Hand zu weisen wie die ärgerliche Tatsache, dass dies oft nur, wenn überhaupt, im literarischen Text
243 Coxon: was betütt das lachen dein? Lachen, Sprechen und Schweigen in komischen Kurzerzählungen (2017), S. 139f. 244 Röcke: Lachgemeinschaften. Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (2005). 245 Vgl. Wolf: »das die herren was zu lachen hetten«. Lachgemeinschaften im südwestdeutschen Adel? (2005), S. 151f. 246 Velten: Text und Lachgemeinschaft. Zur Funktion des Gruppenlachens bei Hofe in der Schwankliteraturebd., S. 130. Zur Bildung einer Lachgemeinschaft Bachorski [u. a.]: Performativität und Lachkultur im Mittelalter und früher Neuzeit (2001). 247 Die Begriffsunterscheidung Performanz/Performativität nach Barton und Nöcker : Performativität (2015). 248 Ebd., S. 426.
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selbst belegt wird.«249 Es wurde auf Versuche nicht verzichtet, die innertextuellen Reflexionen als Ausgangslage für Forschung über außertextuelle Wirkung zu nehmen, anders ausgedrückt aus der Performativität durch den Text eine Performanzpraxis abzuleiten.250 Eine Relationsbeziehung hat hier durchaus ihre Legitimation. Humoristische Elemente im Text können »eine Art ›Gebrauchsanweisung‹ sein, die für die Aufführung von Witzen bestimmt ist; sie [enthalten] bestimmte Hinweise auf Situation und Publikum des Witzgebrauchs.«251 Ohne die performativen Spuren in Frauenkrieg und Die sieben größten Freuden überzuinterpretieren, lässt sich doch aus ihnen ein Kontext der Performanz erschließen. Die Settings der Reihumerzählungen haben eine große Ähnlichkeit zu dem fastnächtlichen Setting der Einkehrspiele. In der beliebtesten szenischen Aufführungsform in Nürnberg existierte kein fester Bühnenort. Man spielte an den Abenden der Fastnachtszeit in den Bürgerhäusern, den Wirtsstuben oder den Gasthäusern. Das Publikum bestand aus »dem etablierten stadtbürgerlichem Publikum aus Handwerkern und Kaufleuten, vielleicht auch […] Patriziern.«252 Um die Gewogenheit des Publikums in einem solch kleinen Raum herzustellen, war die bewusste Auflösung der Grenze zwischen Publikum und Auftretenden elementar. Es vermischten sich Spiel- und Alltagswirklichkeit. Seine [des Einkehrspiels] Eigentümlichkeit besteht darin, dass hierbei nicht, wie bei den großen öffentlichen Marktplatzaufführungen, die Zuschauer zum Theater kommen, sondern das Theater zu den Zuschauern. Das Wirtshaus beziehungsweise die Bürgerstube verwandelt sich in eine Bühne, oder umgekehrt: die Bühne geht in die Alltagswelt auf.253
Um solche Grenzen aufzuheben, ist das Schaffen einer einheitlichen Stimmung und einer homogenen Gemeinschaft notwendig. In den überlieferten Fastnachtspielen tritt deshalb der Precursor vor die versammelten Zuschauer und ruft, wie im Frauenkrieg, dazu auf, die Türen zu schließen und keinen mehr hereinzulassen.254 Ebenso dient das Anrufen des Wirts der Erzeugung von Intimität. Das 249 Coxon: Weltliches Spiel und Lachen. Überlegungen zu Literarizität, Theatralität und Performativität des Nürnberger Fastnachtspiel im 15. Jahrhundert (2009), S. 221. 250 Programmatisch: Bachorski [u. a.]: Performativität und Lachkultur im Mittelalter und früher Neuzeit (2001). 251 Ebd., S. 181. 252 Ridder [u. a.]: Spiel und Schrift. Nürnberger Fastnachtspiele zwischen Aufführung und Überlieferung (2009), S. 199. 253 Ridder: Einleitung (1999), S. 3. 254 Zum Beispiel in Hans Folz’ Disputation, Z. 40–47: Wann fremd vnd kund versammelt sein, So sperrt zu vnd laßt niemant herein. Ob yemantz pulschalffthalb herein kem, Der hab dabej ein kleine schem Vnd nem jm nit zu gach der sach,
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Schaffen frolicher Heiterkeit erzeugt eine Lachgemeinschaft zwischen Publikum und Schauspielern, in der das Lachen der Figuren ein Lachen der Zuschauer bewirken soll. Ohne die Szene im Text mit dem Wirkungskontext zu verwechseln, scheint das Fastnachtsspiel eine wichtige Bezugsgröße. Das Dichten eines narrativen Abbilds des Performanz-Rahmens baut eine imaginative Brücke zwischen dem Gehörten und der realen Umgebung des Publikums. Das Setting der sieben größten Freuden bildet das Setting eines Einkehrspiels gut ab: Der Erzähler tritt in eine Weinstube und wird von den Gästen empfangen, mit denen er in Kommunikation tritt. Am Ende wird er (und alle Anwesenden) von der Gaststubenbedienung wegen des Feierabends herausgeworfen. Der Frauenkrieg endet mit dem Ausgang der Protagonisten, die Einkehrspiele beendet der Precursor, indem er den Aufbruch der Spielrotte verkündet.255 In die Beichte der zwölf Frauen eröffnet der Redner mit der Ansprache an das Publikum Welt ir horn und schauen (V. 1); die Klage der drei Männer endet mit dem Verweis auf den mündlichen Vortrag: Also Hanns Schneider gesprochen hatt. (S. 191, 19). Diese Aussagen haben nicht nur außertextuelle Bezüge, sondern sie entstehen auch in einem gemeinsamen Setting. Die szenische Darstellungsweise verweist darauf, wie schnell aus einem Reihummäre ein Reihumspiel gewonnen werden konnte, bestes Beispiel sind die zwölf faulen Pfaffenknechte. Die Schauspieler und die Rolle des Precursors fielen in einer einzelnen Person zusammen. Die Fastnachtspiele kamen traditionsgemäß mit schlichten Kostümen und wenigen Requisiten aus.256 Statt des dramatischen Stücks einer Schauspielrotte wurde im Falle der Reihummären den Zuschauern ein Stück durch einen einzelnen Erzähler aufgeführt. Wenn hier vielleicht auch auf Kostüme verzichtet wurde, wurde doch ein gewisser Witz erzeugt aus der Diskrepanz zwischen männlichem Sprecher und Frauenfigur, ein Umstand der »sich vermutlich dazu anbot, theatralisch und fastnächtlich ausgekostet zu werden.«257 Das weibliche Lachen, das männliche Trinkgelage – hier konnte die Erzählung auch mimisch und gestisch unterstrichen werden. In diesem Fall dürfte es sich lohnen, für die Reihummären von einem monodramatischen Vortrag zu sprechen,258 im Gegensatz zu den ›polydramatischen‹ Fastnacht-
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Das er kein sunder auffrür mach. Seit still, was ewr sej jm hauffen, Ee wir an ends daruon selbs lauffen. zitiert nach Ridder [u. a.]: Spiel und Schrift. Nürnberger Fastnachtspiele zwischen Aufführung und Überlieferung (2009), S. 201. Ebd., S. 198. Ebd., S. 205. Coxon: Weltliches Spiel und Lachen. Überlegungen zu Literarizität, Theatralität und Performativität des Nürnberger Fastnachtspiel im 15. Jahrhundert (2009), S. 232. Den Terminus übernehme ich aus Fischer : Studien zur deutschen Märendichtung (1983), S. 268f.
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spielen – auch wenn generelle Vorsicht geboten ist, denn es fehlen Aufzeichnungen einer solchen Praxis.
3.1.5. Fazit: Inklusion und Pluralisierung durch Konkurrenzerzählungen Dieses Kapitel über die Reihummären versuchte, die Texte nicht über ihre äußere Form zu beschreiben, sondern über ihren gemeinsamen narrativen Strukturaufbau als Werkreihe im Sinn Grubmüllers zu verbinden. Mit dem Differenzbeweis zwischen Redner-Ich und Erzähler-Ich ließen sich viele frühere Gattungszuordnungen nicht mehr aufrechterhalten. Die Texte müssen der Erzählung zugeordnet werden, nicht der Rede oder dem Spruch. Das Ziel der Reden erhält seinen Wert durch das Sich-Darbieten der eigenen Klage. Durch das Prinzip der Alternanz schließen sich immer neue Reden an. Das Konkurrenzverhältnis bewirkt durch die ständige Differenzziehung zwei Bewegungen: auf Seiten der Organisation schafft es Inklusion in bestehende Systeme, auf Seiten der Expansion Pluralisierung narrativer Elemente sowie sozialer Ordnungen. Die beiden Bewegungen haben keine direkte Kausalabhängigkeit, Phänomene der Inklusion und der Pluralisierung lassen sich aufseiten der Textgenese und der Textwirkung erfassen. Auf diese Phänomene soll weiter eingegangen werden. Als textübergreifendes Schema entwickelt die Konkurrenz ein werkreihenerschaffendes und -sortierendes Prinzip. Gemeinsam sind den Texten narrative Muster, die den Anschluss neuer Texte ermöglichen, womit sie sich in eine Werkreihe einsortieren lassen. Innerhalb der Erzählung sind dies beispielsweise die gegenseitige Bezugnahme der Figurenreden, ein übergeordnetes Leitthema, eine von außen eintretende Schlussfigur und das Ziel der Verwirklichung von Dreizahl, Siebenzahl oder Zwölfzahl. Für die Entstehung solcher Regeln sind gegenseitige Bezugnahmen entscheidend. Bei der Auserzählung einer neuen Geschichte sind solche Regeln fruchtbar, weil sie ein helfendes Erzählkorsett zur Textgenerierung vorgeben. Dadurch ermöglichen sie ein serielles Erzählen, bei der bekanntes Erzählmaterial herangezogen, dann variiert und durch neues Material ergänzt wird. Solch neues Material kann beispielsweise in den verschiedenen Fassungen der Pfaffenknechte beobachtet werden, bei denen die Reden von sieben Männern auf zwölf erweitert werden oder das Märe in ein Fastnachtspiel umgedichtet wird. Bei der Klage der unerfüllten Sexualität der Frau kann ein Genderwechsel erfolgen (Die Klage der drei Männer), Erzählbausteine können eingefügt werden (Die drei Ehefrauen) oder die Klagen können sich mit Lob abwechseln (Der Frauenkrieg). Das Erfüllen der Begierde kann auserzählt werden (Die Beichte der zwölf Frauen) oder das Thema der Sexualität kann in einen größeren Kontext um die Akzeptanz all-
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gemeinerer sinnlicher Freuden gebracht werden (Die sieben größten Freuden). Inklusionsprozesse lassen sich bei jenem neuen Textmaterial erkennen, mit dem die Mären erweitert werden mit Merkmalen anderer Gattungen. Coralie Rippls Definition der Mären als Reflexionsgattung verweist auf solche Anleihen. Im Falle der Reihummären konnten aus den Minnereden zentrale Elemente wie das Beobachter-Ich oder der Spaziergangstopos entlehnt werden.259 Als Konsequenzen verliert der Erzähler seinen auktorialen Charakter ebenso wie seine Richterfunktion und wird zum beteiligten Beobachter, ein Erzählmodus, der für die Gattung der Mären außerordentlich innovativ ist. Mit den Einkehrspielen haben die Reihummären den dramatischen Vortrag gemeinsam, wobei die Mären monodramatisch, die Fastnachtspiele durch mehrere Sprecher in Serie strukturiert sind. Wenn man die Performativität in den Texten zur Grundlage einer vorsichtigen Herleitung der Performanz (also der außertextuellen Aufführungswirklichkeit) macht, tritt die Nähe zu den Einkehrspielen als bedeutend für die Werkreihe auf. Das handwerkliche beziehungsweise bürgerliche Milieu des Einkehrspielpublikums deckt sich mit den Ständen der historisch verbrieften Reihummärendichtern. Ein gemeinsamer Aufführungsort lässt sich vermuten, denn das Setting einiger Reihummären bildet das Setting eines Einkehrspiels gut ab und auch das Personal findet sich in beiden Gattungen wieder. Inklusionsprozesse lassen sich auch innertextuell feststellen, etwa beispielsweise wenn die Lachgemeinschaft der Frauen im Frauenkrieg zu Vereinigungsbestrebungen führt. In solchen Fällen werden Männer ausgeschlossen, womit die Frauen ihre Kritik an den Ehepartnern erst beginnen können. Solche Vereinigungen machen deutlich wie stark Agonalität aufbaut auf Differenzmarkierungen zwischen Wir und die anderen, Männer und Frauen etc. Pluralisierungen lassen sich sowohl narrativ als auch hinsichtlich sozialer Ordnungen feststellen. Der in den Mären allermeist auktorial entworfene Erzähler wird in vielen Reihummären ein beteiligter Beobachter. In der Pluralisierung der Erzählerposition entwickelt sich die Nullfokalisierung zu Formen von interner und externer Fokalisierung. Dies führt zu einem Modus der szenischen Darstellung, mit dessen Hilfe ein Reihummäre wie die zwölf Pfaffenknechte zu einem Reihumspiel umformuliert werden konnte. Auch wenn die Reihummären eine Stil- und formale Nähe zu den Fastnachtsspielen aufweisen, operieren sie jedoch mit differenten sozialen Ordnungen. Vor allem in der Anthropologie zeigt sich eine eigene Linie. So lenken die Mären der Werkreihe die Sympathie auf die Wünsche der Protagonisten und 259 Interessanterweise sind die Reihummären nicht die einzigen, bei denen der Wettkampf einhergeht mit dem Spaziergang und dem Beobachter-Ich. Andere Beispiele wären Der Rosendorn oder Gold und Zers.
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rechtfertigen sexuelle Bedürfnisse, v. a. die der Frauen. Sie werben für das Recht auf sexuelle Erfüllung in der Ehe und verdammen Ehebruch und Lasterhaftigkeit. Sie gestehen weiblichen Figuren einen größeren Bewegungsspielraum ohne direkte Sanktionierungen zu, beispielsweise die weibliche Position der Schiedsrichterfigur oder der Ehebruch ohne Verurteilung. Weibliches Begehren wird durchaus legitimiert. Allgemeiner wird für die Verwirklichung des Genusses geworben und die Erfüllung sinnlicher Bedürfnisse dargestellt. Damit werden Traditionen aufgegriffen und neu kontextualisiert, zum einen aus den Fastnachtspielen und zum anderen aus den Mären. Mit ersteren teilen die Reihummären die Artikulation sexuellen Rechts in der Ehe, mit letzteren die ungewöhnlichen Gegenpositionen der Erfüllung niederer Bedürfnisse. Wie viele Mären im 15. Jh. zeichnen sich die Reihummären nicht nur durch hohe poetologische Flexibilität im Umgang mit fremden Gattungen, sondern auch durch eine Reflexion der eigenen Tradition aus.260
3.2. Priapeia Um Konkurrenzen geht es auch in den Mären, in denen das Genital eine zentrale Rolle einnimmt, und für die sich die Bezeichnung Priapeia eingebürgert hat. Vier davon werden ins Zentrum gestellt: Das Nonnenturnier und Der Rosendorn, Gold und Zers und Der Verklagte Zwetzler. Die ersten beiden weisen eine Gemeinsamkeit auf: In Konkurrenz stehen der entsexualisierte Körper und das losgelöste Genital als anthropomorphisierte Sexualität. Währenddessen rivalisieren in Gold und Zers der Phallus und das Edelmetall um den eigenen Wert. In Der verklagte Zwetzler wird das Genital vor einem Gericht von einem sexuell naiven Mädchen verteidigt. Allen Texten ist gemein, dass sie mit divers realisierten Wettkämpfen zu einer schlichten Lösung streben, indem die menschliche Begierde als unabdingbar für die Identität der Person gesetzt wird. Wettkämpfe um den Wert werden in allen vier Mären nicht bloß diskutiert, sondern schlussendlich im Vollzug geklärt. Die Probe aufs Exempel wird als Entscheidungslösung benannt und häufig von den Protagonisten eingefordert. Wie bei Konkurrenzverhältnissen üblich, wird der Wettstreit ausgelagert, das heißt Sieg oder Niederlage wird mit dem Erreichen eines Dritten entschieden – in den Priapeia ist dies die Anerkennung durch das andere Geschlecht: Im Rosendorn trifft sowohl Frau als auch fud auf junge Männer ; in Gold und Zers treten beide vor dieselbe Gruppe Frauen; im Nonnenturnier wendet sich das Genital an eine Gruppe Nonnen. 260 Ich gehe darauf ausführlich in Kapitel 4.6. ein.
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Gewalt nimmt in den Priapeia einen großen Raum ein. Die Analysen behandeln dementsprechend neben wettkampfspezifischen Eigenheiten auch Aspekte von Gewalt und Chaos und erklärt scheinbare Willkür, wenn dies möglich ist. Grundsätzlich lässt sich die gewalttätige Heftigkeit mit der symbolischen Rolle der Figuren erklären. Die Protagonisten in den Mären kämpfen nicht für sich selbst, sondern vertreten Ideale. Vor allem die personifizierten Genitalien greifen auf kollektives Wissen jenseits der eigenen Erfahrung zurück und argumentieren repräsentativ. Zugunsten einer Anerkennung des Sexuellen wird der Streit zweier Parteien damit zu einem Kampf immanenter Ideen, woraus sich eine besondere Schärfe durch den Wegfall persönlicher Zurückhaltung entwickelt.261 Nachgiebigkeit und höflicher Verzicht entfallen, wenn überindividuelle Ziele verfolgt und vermeintlich absolute Antworten artikuliert werden, hier zu der Frage nach dem Wert menschlicher Sexualität. Die Kontrahenten bewegen sich am Rand der Eskalation, und dennoch lassen sich Regeln im scheinbar Chaotischen ausmachen. Haupterkenntnisinteresse des Kapitels ist es, die Denkund Vorstellungshorizonte zu rekonstruieren, die dem Funktionieren der Texte zugrunde liegen und durch Konkurrenzen ausgedrückt werden. Dies betrifft vor allem die Anerkennungsprozesse: In allen Mären suchen die Genitalien das andere Geschlecht, um ihre Geltung zu prüfen. Die Reaktion, An- oder Aberkennung, entscheidet den Konflikt.
3.2.1. Textanalysen 3.2.1.1. DAS NONNENTURNIER Das Märe ist unikal überliefert im Codex Karlsruhe 408, entstanden 1430– 1435.262 Die Dichtung selbst nennt als Überschrift Der tu˚rney von dem czers, Hanns Fischer änderte den Titel.263 Er ordnet das Nonnenturnier wegen der zentralen Rolle des Genitals in die Kategorie Priapeia ein – vor allem mangels einer besseren Bezeichnung.264 Bis heute hat sich kein anderer Oberbegriff als diese ›Notlösung‹ gefunden.
261 Die Heftigkeit bei nicht-persönlichen, ideologischen Konkurrenzen beschreibt Simmel: Der Streit (2001), S. 308. 262 Die Datierung nach Schmid: Codex Karlsruhe 408 (1974), S. 13. 263 Fasbender und Kropik: Der turney von dem czers zwischen Kohärenz und Ambiguität (2001), S. 341. 264 Fischer : Studien zur deutschen Märendichtung (1983), S. 97. Die anderen Texte: Preller, Striegel, Der verklagte Zwetzler (Kapitel 3.4), Traum am Feuer. Die so bezeichneten Mären haben dabei keinerlei Traditionsbezug zum antiken Fruchtbarkeitsgott Priapos oder den römischen Carmina priapea, von denen der Name stammt. S. Dicke: Mären-
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Der Text beginnt mit einem recht umfangreichen, zweigliedrigen Exordium. Im prologus praeter rem (V. 1–11) fordert der Dichter die Anwesenden auf, mit Tanz und Musik aufzuhören und sich lieber Geschichten (abenteuer, V. 10) zu erzählen. Dies soll der kurzweile (V. 6) dienen, und er will den Anfang machen.265 Im prologus ante rem wird ein fahrender Ritter vorgestellt: Hievor ein frecher ritter was, den sahen schön frauwen gern bei kurzweile und bei hohen ern, und wo die meinst mennige was, da man trank und aß. (V. 12–16)
Der Ritter scheint ein tapferer Mann zu sein (frech)266, auch wenn hier bereits das Augenmerk auf dem körperlichen Wohl liegt (trank und aß). Zweideutig wird dann der Folgetext, in dem sowohl auf die ritterliche Kampferfahrung im Turnier als auch das Können im Schlafgemach mit einer doppelten Bedeutung des Speers verwiesen wird: ich wil euch sagen so vil mer : waidenlichen mit dem sper kond er wol in turnei. er was ein ritter frei. sein ungelück was vertret. er was auch liep an dem bett. (V. 25–30)
Lange zieht er von Stadt zu Stadt und schläft mit den Frauen, die sich dadurch hoffertig und here (V. 34) fühlen. Deshalb scheint es besonders überraschend,
Priapeia. Deutungsgehalte des Obszönen im Nonnenturnier und seinen europäischen Motivverwandten (2002), S. 262. 265 Nach Fischer ist dies das einzige Beispiel einer solchen Vortragssituation: »[D]ieser Prolog [belegt] für Deutschland das für Italien durch Boccaccio exemplarisch dokumentierte ›Novellieren‹ als Gesellschaftsspiel.« Fischer : Studien zur deutschen Märendichtung (1983), S. 273. 266 Schlechtweg-Jahn: Geschlechtsidentität und höfische Kultur. Zur Diskussion von Geschlechtermodellen in den sog. priapeiischen Mären (1999), S. 87. Nur Hoven sieht im Adjektiv frech ein eindeutig sexuelles Charakteristikum: Hoven: Studien zur Erotik in der deutschen Märendichtung (1978), S. 223. Sein Beispiel aus den Drei Wäscherinnen (die dirn was frech und frei, V. 11, zitiert nach Hoven) kann aber nicht überzeugen. Der Lexer kennt nur die positive Bedeutung mutig, kühn, tapfer, keck, dreist, lebhaft; Vergleich Parzival 5, 22f: der kiusche und der vreche / Gahmuret der wigant. Nach dem Grimm’schne Wörterbuch (Lemma frech) findet sich die negative, sexuelle Bedeutung erst im Neuhochdeutschen. Vielleicht ein Grund, warum Strohschneider vor Hovens »in zahlreichen Details nicht korrekte[r]«, flüchtiger Darstellung warnt: Strohschneider: Der turney von dem czers. Versuch über ein priapeiisches Märe (1987), S. 151 Anm. 8.
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wenn sich dieser sexuell erfahrene Mann so einfach von der letzten täuschen lässt. Auf seiner Reise durch den Ort Saraphat trifft er nämlich eine Frau, die sich ihm anbietet (er solt des nachtes bei ir ligen, V. 41). Er kennt die Dame und macht zur Bedingung, dass sie ihn am nächsten Morgen weiterziehen lässt. Die beiden erleben eine Nacht voller Genüsse und Freuden, doch als der Mann sich aufmachen will, fordert die Dame eine zweite Nacht ein, was der Mann ablehnt. Sie will sich am Ritter rächen und erklärt, es sei der Penis, der immer im Weg zwischen den Geschlechtern stehe.267 Wann immer eine Frau bei ihm liegen wolle, stehe der verhasste Penis nicht nur bildlich zwischen ihnen und bringe Schande: ich wil es euch uf mein eid sagen: und wolt [den zagel] kein weil tragen, ir wert allen frauwen unwert, das euch niemant zu freunde gert. (V. 111–114)
Besser sei es, das Genital loszuwerden (versteinen268), dann würde das weibliche Geschlecht nach ihm wüten und toben (V. 128) und er würde im Ansehen der Frauen wachsen. Überraschend nimmt der Ritter diesen Rat an, weil er die Anerkennung der Frauen im Sinn hat. Warum hat die Dame ihn so einfach überzeugen können – obwohl er doch als so sexuell erfahren dargestellt und auch ansonsten positiv konnotiert wird?269 Grubmüller zweifelt: »[E]s bleibt die textlogische Zumutung, daß der Ritter das plumpe taktische Manöver nicht durchschaut«270. HansJoachim Ziegeler ordnet den Mann in den novellentypischen Heldentyp des spezifisch Unwissenden ein, der von seinem Gegenspieler ausgenutzt wird271 – 267 Dabei übernimmt sie die Rolle des sexuell unersättlichen, bösen w%p. S. Schirmer : Stil- und Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle (1969), S. 314–317, Kap.: Das Bild von der Frau. 268 Grubmüller nennt steinigen, möglich ist nach Lexer auch zu Stein werden lassen. 269 Dimpel: du bist aller tugent voll. Rezeptionssteurung im Nonnenturnier (2012), S. 33–35. 270 Grubmüller : Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter : Fabliau, Märe, Novelle (2006), S. 234. 271 Ziegeler : Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen (1985), S. 232f. Er führt dazu 37 Mären auf; als Beispiel kann Der Sperber oder Das Häslein dienen, in dem die weibliche, unerfahrene Protagonistin ihre Jungfräulichkeit im Tauschhandel für ein Tier verliert. Jonas: Der spätmittelalterliche Versschwank. Studien zu einer Vorform trivialer Literatur (1987), S. 42f., ergänzt, dass meist junge Mädchen diese Eigenschaft sexueller Naivität innehaben. Bei den wenigen männlichen Protagonisten findet er kein Schema. Strohschneider: Der turney von dem czers. Versuch über ein priapeiisches Märe (1987), S. 153, interpretiert den Ritter als »Ausbund an sexueller Naivität«. Hoven: Studien zur Erotik in der deutschen Märendichtung (1978), S. 221, demgegenüber sieht die Wandlung eines »erfahrenen Don Juanes« zum »Naiven«.
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der Mann, der die Tücke der Dame nicht erkennen will. Die Frau schafft es erfolgreich ihm einzureden, dass richtige Minne den Geschlechtsverkehr nicht braucht – obwohl dies vollkommen gegensätzlich ist zu den realen Leistungen, die er bei Frauen bisher mit seinem Genital hatte. Er lässt sich von ihr eine heilende Salbe geben und beginnt mit seinem Geschlechtsteil ein Streitgespräch. Überraschend wirft er ihm direkt zu Anfang Versagen vor: du ungiftige slange, / wer hat dich hergehangen? (V. 155f.) Diese bildliche Beschuldigung der Impotenz (das fehlende Ejakulat der ungiftigen Schlange und der Penis, der herabhängt) steht in Widerspruch zu seinen eigenen Erfahrungen. Und weiter greift der Mann die Kompetenz des zagel an: wan ich mich gein ir wil neigen und ir meinen dinst erzeigen, so hastu dich niedergelegt und die minneklich erschreckt. (V. 171–174)
Hoven und Fasbender/Kropik sprechen aufgrund der ritterlichen Vorwürfe auch vom Versagen des Penis.272 Aber bisher hat der Text nicht von einer sexuellen Unfähigkeit gesprochen, ganz im Gegenteil (V. 30, V. 32–34, V. 72–74). Monika Gsell zeigt in ihrem Band Die Bedeutung der Baubo darüber hinaus auf, dass der Ritter dem Penis Erektion zum falschen Zeitpunkt vorhält (V. 164–168). Sie liest aus der Rede des Ritters die Angst, dass er nicht Herr über seinen Penis ist: Es ist die Unwägbarkeit, die angesprochen wird:273 Der Penis erigiert, wenn sein Träger es nicht will oder nicht daran denkt – oder tut es nicht, wenn es an der Zeit wäre. Psychoanalytisch geht sie von einer unterbewusst verankerten Angst des Mannes aus, die hier als Wut auf das eigene Anhängsel durchgespielt würde: Mal ist es also die Impotenz, mal die Potenz, die sich in der Begegnung mit dem anderen Geschlecht als störend erweist. Man könnte auch sagen: Als störend wird die Präsenz des Genitales an sich empfunden, seine Unkontrollierbarkeit, die sich sowohl im potenten als auch im impotenten Zustand manifestiert. Dass der Ritter nicht realiter als funktionsuntüchtig geschildert werden soll, beweist die Liebesnacht, die offensichtlich für beide Seiten befriedigend war.274 272 Hoven: Studien zur Erotik in der deutschen Märendichtung (1978), S. 223, und Fasbender und Kropik: Der turney von dem czers zwischen Kohärenz und Ambiguität (2001), S. 347. 273 Die unwägbare Erektion wird auch andernorts thematisiert, zum Beispiel in der Halben Birne, in der der Ritter Arnold zur Erektion geprügelt werden muss. Grubmüller : Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter : Fabliau, Märe, Novelle (2006), S. 238, nennt das Nonnenturnier einen Text zweiter Ordnung, der »die in den anderen Mären entfalteten Vorstellungen manipulativ nutzt.« Die Halbe Birne entstand ca. 100–80 Jahre vor dem Nonnenturnier. 274 Gsell: Die Bedeutung der Baubo. Kulturgeschichtliche Studien zur Repräsentation des weiblichen Genitales (2001), S. 325.
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Es lässt sich noch ein weiteres Argument außerhalb der sicherlich richtigen psychoanalytischen Lesart anführen, in der Rede des Ritters die Angst vor der Impotenz zu lesen: die Absicht des Lachens auf der Rezipientenebene. Die doppelte Ungewissheit (mal zu hart, mal zu weich) ist noch demütigender als eine unbeabsichtigte Erektion allein, sie lockt noch einmal mehr das Gelächter hervor.275 In der Handschrift ist das Märe Der turnei von dem zers benannt. Interessanterweise kommt das Wort zers im Text nicht mehr vor.276 Der Ritter und später die Nonnen sprechen vom zagel. Die beiden Wörter haben eine differente Bedeutung. Mittelhochdeutsch zagel entstammt dem germanischen *tagl, im Gotischen gibt es noch das Wort tagl.277 zagel bezeichnet vor allem den Schweif oder den Schwanz von Tieren. Gleichzeitig meint es den allgemeinen hinteren Teil eines Schiffs, eines Heers, den Stachel der Biene, des Skorpions usw. Als Bezeichnung für den Penis listen Lexer und Benecke vier Nachweise für diese Verwendung auf, davon sind drei kürzere Texte aus Fastnachtspielen und Liedersammlungen, daneben eine Chronik. Der Kluge führt noch an, dass das Wort sich zu unserem neuhochdeutschen Haar entwickelt hat, ebenso wandelte es sich weiter zum neuenglischen tail; bis heute ist im Schwedischen und Isländischen noch der Ausdruck Tag(e)l erhalten.278 Im Nonnenturnier erscheint zagel 31 Mal: einmal im Gespräch mit der Frau, als der Ritter wieder zu ihr zurückkehrt (V. 255), viermal im Dialog mit dem Ritter279, sechsmal wird der Penis von den Nonnen so genannt280, 21 Mal vom Erzähler281 – davon 18 Mal im zweiten Teil (ab 275 Siehe Grubmüllers Vorstellung eines Textes zweiter Ordnung, die ich in Fußnote 273 zusammengefasst habe. 276 Das Lexem existiert im modernen Wortschatz nicht mehr. Das Deutsche Wörterbuch nennt es ein westgermanisches Wort, angelsächsisch teors hätte sich zum veraltet neuenglischen tarse entwickelt. DWb (1956), Bd. 31, Sp. 754. Im englischspracheigen online-Wörterbuch en.wiktionary.org zum Beispiel ist tarse noch aufgeführt, aber als außer Gebrauch markiert. Immer bezeichnet zers das Geschlechtsorgan. Verwandt könnte es sein mit altgriechisch dq?kur Regenwurm, Penis. Lexer, Benecke und Grimm finden vor allem für das 15. Jahrhundert (aber auch im Trojalied Herborts von Fritzlar) Beispiele größtenteils obszöner Konnotationen; daneben finden sich auch fünf neutrale Zeugen aus dem 14. bis 17. Jahrhundert: Beispiele aus dem medizinischen-, religiösen- und stadtrechtlichen Gebrauch. Es könnte (und das deutet auch der Grimm an) Pejoration stattgefunden haben. Die Handschriftenüberschrift ist dann ein Witz aus der Kombination unterschiedlicher Semantiken (Das Turnier um den Penis). Die Überschrift wird wohl erst später zum Text gekommen sein, da der zers nur hier vorkommt. Der Handschriftschreiber griff auf frühere Märenkompilationen zurück: Mihm: Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung im Spätmittelalter (1967), S. 71–78. 277 Etymologie durch Lexer und Benecke. 278 Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (2011), Lemma zagel. 279 V. 182, 225, 229, 230. 280 V. 374, 394, 479, 488, 535, 553. 281 V. 238, 245, 290, 294, 312, 324, 363, 365, 418, 435, 446, 458, 511, 524, 544, 546, 549, 563, 569, 571, 573.
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V. 289); der Fokuswechsel vom Ritter zum Genital geht mit mehr sprachlicher Direktheit einher. Da sowohl im Streitgespräch als auch in den Nonnenreden zagel benutzt wird, scheint das Wort innerhalb des Textes weder eine ausschließlich negative, noch ausschließlich positive Semantik inne zu haben. Der Erzähler verwendet den Begriff nicht, um seine Figuren als besonders verdorben darzustellen: Im zweiten Teil beispielsweise, in dem sich die Nonnen alles andere als demütig verhalten, benutzen sie das Wort ebenso häufig wie er.282 Der Erzähler leitet das Streitgespräch Ritter-Penis ein mit den Worten: da er den edeln freien sach, / nu höret, wie der tor sprach! (V. 153f.). Hier scheint die Bewertung klar. Als edel und frei ›adelt‹ der Erzähler das Genital noch zweimal,283 einmal spricht er von [des] werden zagel süße (V. 446), einmal von einem hort (V. 453), einmal ist er ein minneklich[ ] funt (V. 595). Doch der Ritter behandelt ihn ganz gegen diesen hohen Stand. Er duzt den zagel durchgängig,284 während der Penis seinen Träger immer siezt.285 Doch das Glied ist über die pejorative Geringschätzung gar nicht erschreckt und kontert gegen die Vorwürfe: ich bin euwer strauf286 fro und euwer bösen dro zwor ir seint ein böser man. euch ist manig gruß gegeben oft und dick von meinen wegen und habt zwor wirde und ere werlich von mir mere dan von dem deursten kleinot, das ir an euwerm leip irgen habt, und habt mich des noch nie ergetzet. (V. 183–193)
Der Mann solle froh sein, dass er ihn habe. wirde und ere (V. 189) seien durch ihn gekommen, und gedankt werde es ihm nie. Der Vers ist wie eine direkte Antwort auf die falsche Rede der Dame zu lesen, die in V. 129 wirde und ere versprach: Nicht ohne, sondern nur durch seine Attraktivität steige der Ritter sozial auf. Dieser sei jetzt in der Bringschuld. Denn sein Gemächt sei das deuerste kleinot (V. 191), wie der Phallus sich selbst bezeichnet. Es sei zwar ein Anhängsel, aber das beste und wichtigste.
282 Der zweite Teil: insgesamt 313 Verse, davon 104 wörtliche Rede des Penis und v. a. der Nonnen, in 209 spricht der Erzähler. In beiden Anteilen kommt in 6 % der Verse zagel vor. 283 V. 294, 324 nur edel. 284 Zum Beispiel V. 155, 161, 173, 204 und passim. 285 Etwa V. 183, 192, 199. 286 Strenge; nach Grubmüllers Kommentar zu »str.f mit schwäbischer Diphthongierung«.
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Die Argumentation des Penis kehrt sich um: Zuerst noch seine fehlende Anerkennung beklagend, ändert er seine Rede ohne Motivation und geht zum rhetorischen Angriff über. Der Herr solle sich ruhig kastrieren (V. 200).287 Er würde sehen, dass ihn das zum Nachteil gereiche. Der zagel provoziert selbstsicher. Die Kampfansage fruchtet, der Ritter antwortet mit einer Beleidigung: du vergrünter, schalkhaftiger böswicht (V. 206). Fischer leitet in seiner Edition vergrünt von grind (Schorf, Ausschlag) ab und erklärt: vergrünt = grindig, schmutzig werden.288 Zudem droht der Ritter, das abgelöste Genital unter eine Klostertreppe zu bringen, wo süde und verchergetran (= Absud289 und Schweinetrank290) auf ihn triefen sollen. Es ist der Abfallort der Zivilisation und am Ende des Streitgesprächs wird der abgetrennte Penis dorthin verstoßen.291 Nachdem der Mann ohne Genital in die Siedlung zurückkehrt, erwartet ihn statt des erhofften Gunstgewinns die Dame und mit ihr 99 Frauen, die ihn wieder aus den Stadtmauern hinaustreiben. 34 Jahre in der Einsiedelei später stirbt der Mann. Der erste Teil endet hier, im zweiten steht das weitere Schicksal seines ehemaligen Anhängsels im Mittelpunkt. Der Penis lebt ein Jahr ohne Hoffnung auf Verbesserung seiner Lage unter der Treppe eines Klosters und will sich schlussendlich den Nonnen stellen, damit sie ihn wegen seiner bloßen Existenz töten. Er hält einen kleinen Monolog, in dem er sich seiner Todesabsicht versichert und tritt dann aus der Treppe heraus. Hier ist die Personifikation überzeugend dargestellt: Der Penis spricht, denkt und entscheidet über sein Schicksal, er bewegt sich. Die Nonnen erkennen sofort, was sie da vor sich haben: Das Setting in ein Kloster zu legen ist typisch für Mären mit sexueller Thematik.292 Die Ordensschwestern beginnen zu streiten: Erst darüber
287 von Bloh: Heimliche Kämpfe. Frauenturniere in mittelalterlichen Mären (1999), S. 223f. 288 Das Nonnenturnier (Edition: Fischer) 1966, S. 528. 289 Fischers Edition ebd., S. 528, erklärt als Futterbrei für das Vieh, Ursula Schmidt nennt es Absud; Schmid: Codex Karlsruhe 408 (1974). Grubmüller übernimmt Schmidts Übersetzung mit Verweis auf die Belege von Sud in der Bedeutung Absud, Brühe im Deutschen Wörterbuch. Aus dem Kontext heraus ist das Wort hier stark negativ konnotiert. 290 Nach Das Nonnenturnier (Edition: Grubmüller) 2006, S. 1336, ein Kompositum aus dem Plural von varch (Schwein): vercher und getrank. 291 Gsell: Die Bedeutung der Baubo. Kulturgeschichtliche Studien zur Repräsentation des weiblichen Genitales (2001), S. 328. Strohschneider: Der turney von dem czers. Versuch über ein priapeiisches Märe (1987), S. 158 Anm. 25, weist auf die Legende des heiligen Alexius hin, der geduldig und leidend unter einer Treppe den Schmutzabfall über sich habe ergehen lassen. Im Rosendorn fehlt dieser Vorwurf fehlender Hygiene überraschend komplett außer in einem einzigen Wort der zweiten Fassung: unrein, Rosendorn II, V. 153. 292 Jonas: Der spätmittelalterliche Versschwank. Studien zu einer Vorform trivialer Literatur (1987), S. 43, erklärt, dass »im Bereich des erotischen Schwanks gerade der Kleriker als
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wie man ihn am besten bestrafen kann, dann, wer seine Besitzerin werden soll. Verehrende Bezeichnungen überwiegen in den Nonnenreden. Es werden typische Redewendungen benutzt, die auf den Sex zwischen Mann und Frau hinweisen: den willen tuon (V. 344), trist geben (V. 372), kurzweil machen (V. 378).293 Die Zusprachen steigern sich dahingehend, dass das Genital als gottgegeben die Gesinnung aller Menschen verbessern werde: got hat in uns zu trost gegeben. nu ist die werlt wol gemut alle dorch des werden zagels gut. (V. 372–374)
Ab dem Auffinden durch die Nonnen bleibt der Penis wieder sprach- und reglos. Er steht im Mittelpunkt des Geschehens – aber Einfluss nimmt er bis zum Schluss nicht mehr, wenn er von einer ungenannten Nonne von dem heillosen Turnier entwendet wird. Der Penis hat im zweiten Teil seine Persönlichkeit verloren, doch steht er im Zentrum der Nonnenverehrung. Die Phallusverehrung der Nonnen, die durch seine Objekthaftigkeit verstärkt wird, führt dazu, dass sich die Frauen in das Turnier begeben – ein normalerweise männlich codierter Raum. Doch ist dies kein Unikum innerhalb des Märenkorpus – auch im Ritter Beringer oder im Ritter Alexander verkleiden sich Frauen als Männer und übernehmen männliche Gendercodes. Dadurch schaffen es diese Crossdresserinnen den Ehemann einmal bloßzustellen und ihn ein anderes Mal in einem Gerichtsprozess zu verteidigen. Es hat sich als sinnvoll erwiesen, das Nonnenturnier als Text zweiter Ordnung294 zu lesen, das heißt als Märe, das auf andere Mären referiert. In diesem Sinn kann man in ihm eine Pointe anderer Gattungsexemplare erkennen.295 Der Penis ist dann Verehrungs- und Anziehungspunkt der Nonnen (Motiv : sexuelle Unersättlichkeit der Frauen), besonders da er passiv als Sexualobjekt degradiert ist. Um ihn zu erreichen, benehmen sie sich männlich und wollen ein Turnier bestreiten, was ein Aufsteigen auf der Geschlechterskala bedeutet. Als Parodie auf bekannte Gender-Turn-Texte und vor allem als Steigerung dieser bekannten Geschlechtsumkehrungen bis ins Absurde hinein lässt der Erzähler die Nonnen geradezu prädestiniert für die Rolle der Spottfigur zu gelten hat.« Von erotischer Naivität im Kloster erzählen beispielsweise Der Sperber oder Die Gans. 293 Hoven: Studien zur Erotik in der deutschen Märendichtung (1978), S. 224. 294 Grubmüller : Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter : Fabliau, Märe, Novelle (2006), S. 238. 295 Der Ritter Beringer geht auf ein französisches Fabliau zurück, das Motiv (eine verkleidete Frau zwingt ihren prahlerischen Mann, ihr das Hinterteil zu küssen), ist noch weitaus älter, s. Grubmüllers Kommentar, S. 1108. Spannenderweise kämpft auch hier eine Frau auf einem Turnier und gelangt dadurch zur Anerkennung eines Männertitels. Der Ritter Alexander stammt vermutlich aus der zweiten Hälfte des 15. Jhs.; in der Datierung folge ich Frieder Schanzes Artikel im Verfasserlexikon.
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jedoch scheitern. Dass der Penis plötzlich spurlos gestohlen werden kann, deutet auf eine Sinnlosigkeit des gewollten Unterfangens. Seit Jahren beschäftigt sich die Forschung mit der Frage nach dem Sinn des Texts. Hinterlässt der Text nur einfache chaotische Zustände? Gekoppelt ist die Antwort stets an Geschlechterordnungen – können die vertrackten Verhältnisse vor allem zwischen zagel und Nonnen schlüssig systematisiert werden oder bleiben sie in einem unentwirrbaren Zustand?296 Jutta Eming deutet die zweite Hälfte, das Turnier, nicht als chaotisch, sondern als grotesk, womit sie zu einer kohärenzstiftenden Deutung gelangt. Primär für das Groteske ist für sie mit Rückgriff auf Michail Bachtin ein Aufheben von Körpergrenzen, mit dem der individuelle Körper aufgeht in eine umfassendere hybride Körperlichkeit des Kreatürlichen, das heißt das Auflösen der menschlichen Form und eine Transformation ins Tierische.297 An den Nonnenfiguren lässt sich dies deutlich erkennen: Durch das Auftreten des zagels verlieren sie jegliche Würde und Haltung, die ihrem Stand entsprächen. In dem Kampf auf dem Turnierplatz wird dann die Kontrolle über das eigene Leben aufgegeben und sich in den grotesken Überkörper aufgelöst. »Die Lakonie, mit welcher in Kauf genommen wird, dass einige Nonnen sogar ihr Leben lassen, ist Indiz für den in der Groteske wichtigen Triumph über den Tod.«298 Die Kontrolllosigkeit der Älteren ist für die zuschauenden jüngeren Nonnen am Turnierrand nicht abschreckend. Viel eher drängt es sie, ebenfalls ihr Leben zu lassen, ein Indiz hemmungsloser Verausgabung und das Aufgehen in der Meute. Das Turniertreiben wird in ihrem Blick zu einem »ununterscheidbar werdenden Durcheinander[ ] sich vermischender Leiber«299, in dem Individual-Körper in einem bewegenden Gesamt-Körper aufgehen. Diese Einheitsbewegung wird auch auf der Wortebene verdeutlicht.300 Innerhalb des grotesken Körpers werden Hierarchien und klosterinterne Rangordnungen aufgehoben wie zwischen der Älteren und der Jüngeren. Die Frauen sind auf einen kreatürlichen Stand reduziert, der kaum noch an Menschliches, sondern eher an Tierisches erinnert: Kratzen und Beißen, Gezerre und Knurren: manig rittermessig frauwe / die grienen vast als die swein (V. 516f.).
296 Die Forschung zusammenfassend Eming: Der Kampf um den Phallus. Körperfragmentierung, Textbegehren und groteske Ästhetik im Nonnenturnier (2012), S. 381, S. 384–386 u. S. 392. 297 Ebd., S. 391. 298 Ebd., S. 392. 299 Ebd., S. 392f. 300 etlich vil laute schrei, V. 475; ertumeln V. 478; sie sprachen alle V. 491; das sprach so manig munt so rot V. 494; geleich zwainzig klonstermait / die sprungen in den turnei. / sehet, da hub sich erst ein geschrei!, V. 496–498.
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Durch die mangelnde Transfermöglichkeit des Phallus kehrt sich das weibliche Begehren nicht vom männlichen Körper ab, sondern strebt zu einem weiblichen Gesamtkörper.301 Die Frauen verbleiben nicht bei einem begehrlichen Defizit, dem mangelnden Besitz des Penis, sondern sie überschreiten dieses und zielen auf einen kreatürlichen weiblichen Körper statt einer Phallozentrik ab. Damit stellt das Geschlechterverhältnis des Nonnenturnier einen alternativen Entwurf zu traditionellen Begehrensstrukturen dar. Der zweite Teil des Nonnenturnier ist also damit nur augenscheinlich chaotisch in dem Sinn, dass hier jegliche Maßstäbe einer Ordnung fehlen. Stattdessen tritt ein Phänomen der Vereinigung auf den Plan, das auf ein Überschreiten von Individuumsgrenzen zielt. Diese Bewegung des Verschränkens ist im Nonnenturnier stark kontextabhängig: Verschwindet der zagel, löst sich auch der Gesamtkörper auf. Vereinheitlichen geht im Nonnenturnier mit Gewalt einher ; sie ist keine Begleiterscheinung, sondern ein charakteristisches Merkmal des Gesamtkörpers, wirkt nach innen und ist nach außen sichtbar. Effekte der Synthese, die durch Gewalt hergestellt werden, finden sich auch in zwei anderen Priapeiamären, die im Weiteren fokussiert werden.
3.2.1.2. DER ROSENDORN Der Rosendorn ist der genderkomplementäre Text zum Nonnenturnier, wenn auch mit anderem Ausgang: Eine junge Frau gerät in Streit mit ihrem eigenen Genital darum, wer von Männern mehr begehrt wird. Nach der Trennung müssen sowohl die fud als auch die fudlose bittere Ablehnung erfahren, so dass sie sich schlussendlich wieder zusammenfinden. Am Ende vereint der Erzähler ziemlich brachial die Frau mit ihrem Genital. Die Reimpaardichtung ist durch zwei Handschriften überliefert (wieder Codex Karlsruhe 408 und Codex Dresden M 68, entstanden 1447)302. Der ältere Text aus Karlsruhe (276 Verse) ist überschrieben mit Von dem weissen rosen dorn; Dresden (252 Verse) titelt Von dem Rosen Dorn ein gut red. Fischer stellte die beiden Fassungen gegenüber, aus seiner Edition ergeben sich die Bezeichnung Ro I (Dresden) und Ro II (Karlsruhe).303 Für 1369/76 ist vielleicht eine
301 Eming: Der Kampf um den Phallus. Körperfragmentierung, Textbegehren und groteske Ästhetik im Nonnenturnier (2012), S. 394. 302 Die Jahreszahl ergibt sich aus der Selbstdatierung der Handschrift (Bl. 78vb). In der Karlsruher Handschrift sind zudem die Verse 1–16 aus Dresen enthalten und rot durchgestrichen. Schröder (1971), S. 542, mutmaßt, dass der Schreiber C des Codex mit Verspätung bemerkte, dass sein Kollege B den Text bereits abgeschrieben hat. 303 Der Rosendorn (Edition: Fischer), S. 444–461.
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weitere Handschrift bezeugt.304 In diesem Fall wäre der Rosendorn das älteste der hier beschriebenen Priapeia.305 Die weitere Zitation folgt der älteren Fassung Ro I; auf Ro II soll nur hingewiesen werden, wenn die Fassung erheblich abweicht. Obwohl Schröder 1971 dem Rosendorn eine bessere Erzählweise und Aufbau als dem Nonnenturnier attestierte,306 gibt es zum Text nur wenig Forschungsliteratur – vor allem mit einem Schwerpunkt auf feministische und psychoanalytische Lesarten.307 Das genderkomplementäre Nonnenturnier hat in der Forschung ungleich stärkere Resonanz erfahren; die geringere Forschungsdichte ist der Grund, warum der Rosendorn erst an zweiter Stelle analysiert wird, obwohl es das ältere Märe ist. Der Anlass für die seltenere Interpretation liegt am Zustand des Rosendorns als »fataler Zwitter«308 : Fischer bezeichnet den Text aufgrund des geringen Handlungsanteils als »Grenzfall«309 und ordnet ihn dem Streitgedicht oder der Minnerede zu; Tilo Brandis’ Verzeichnis der Minnereden jedoch nimmt den Text nicht mit auf, genau wie das neue Handbuch Minnereden von Jacob Klingner und Ludger Lieb. Schröder vermutet, dass Brandis dies aufgrund des hohen Handlungsanteils unterließ.310 Es scheint, als hätte der Rosendorn für Mären zu geringe, für Minnereden zu viel Handlung. Im ersten Vers erklärt der Erzähler, er wolle von einem gemelich[ ] ding[ ] berichten. Gemelich bedeutet nach Lexer zu allererst lustig, spaßhaft, ausgelassen – man kann hier an das Ziel der kurzweil aus dem Nonnenturnier denken. Fischer nennt es ein »Leitwort«311, das beispielhaft für das ursprüngliche Ziel 304 Matzel: Ein Bücherverzeichnis eines bayerischen Ritters aus dem 14. Jahrhundert (1979), S. 239 u. 243. 305 Grubmüllers Kommentar zu Das Nonnenturnier (Edition: Grubmüller), S. 1331. Dafür spricht auch, dass das Nonnenturnier vermutlich kurz vor der Karlsruher Handschrift verschriftlicht wurde und der Rosendorn bereits auf eine frühere Vorlage zurückgreifen konnte. 306 Schröder : Von dem Rosen Dorn ein gut red (1971), S. 559. 307 Gsell: Die Bedeutung der Baubo. Kulturgeschichtliche Studien zur Repräsentation des weiblichen Genitales (2001), Heiland: Visualisierung und Rhetorisierung von Geschlecht. Strategien zur Inszenierung weiblicher Sexualität im Märe (2015). Karl-Heinz Schirmer untersuchte 1969 die Motive und den Stil; Werner Schröder schrieb 1971 eine Gattungseinordnung. Das Motiv des Rosengartens untersuchte bereits 1916 Archer Taylor und wieder 2014 Schwembacher : Laughter and Joy behind High Walls: Curiosities and Ludicrous Scenes in Medieval Gardens (2014). Die Übersicht über alle weitere Forschung findet sich bei Malm: Art. Rosendorn, in: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter : Autoren und Werke nach Themenkreisen und Gattungen. Band 5: Epik (Vers – Strophe – Prosa) und Kleinformen (2013). 308 Schröder : Von dem Rosen Dorn ein gut red (1971), S. 546. 309 Fischer : Studien zur deutschen Märendichtung (1983), S. 75. 310 Schröder : Von dem Rosen Dorn ein gut red (1971), S. 544. 311 Fischer : Studien zur deutschen Märendichtung (1983), S. 104. Andere Prologbemerkungen mit gemelich: Frauenerziehung, Alte Mutter, Studentenabenteuer B.
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aller Schwankerzählungen steht: »Die Erweckung des Lachens und die damit verbundene Erheiterung, Entspannung und Unterhaltung der Hörer- und Leserschaft.«312 Auch das Deutsche Wörterbuch übersetzt überwiegend mit spaßig, weist aber auch auf eine sexuelle Nebenbedeutung des Lexems seit dem Spätmittelalter hin, die sich später als die vorherrschende durchsetzen wird.313 Eine solche lustbetonte, möglicherweise parodistische Konnotation wie beim Nonnenturnier ist dem Ziel der Zerstreuung sicher nicht abträglich. Erzählt wird von einem Mädchen, das einen schönen wurzgarten hinter seiner Schlafkammer herangezogen hat. Der Garten ist umfriedet, so dass weder oben noch niden / darein nichts komen (V. 10f.) kann. Herzstück ist ein weißer Rosenbusch, der an einem runden Bogen wächst und damit den gesamten Garten umzäunt und wie eine Art Laube abschließt. Unter den Rosen wachsen die unterschiedlichsten Kräuter und Gräser. Jeden Morgen, noch vor Sonnenaufgang, geht das Mdchen in den Garten, nackent und ploß (V. 39) und begießt sich mit roswasser (V. 40). Der Erzähler will in den Garten gelangen, vermutlich will er das Mädchen entjungfern,314 versteht man den Einbruch in den Garten als Defloration.315 Doch er kann sein Ziel wegen der schützenden Rosenhecke nicht erreichen. Er bleibt draußen und muss sich mit einem Guckloch begnügen, um die junge Dame zu belauern und zu sehen, wie deren Vagina plötzlich mit ihr zu reden beginnt. Eine magische Wurzel macht das Streitgespräch möglich, das von Vers 76–169 ein Drittel des Rosendorns einnimmt. Es beginnt mit einem Vorwurf des Geschlechtsteils: Die Frau kümmere sich zwar gut um ihren Körper, nur ihre Vagina würde sie dabei vernachlässigen.316 Dies wiederholt sie später und fügt den aus dem Nonnenturnier bekannten Verweis an, dass alle empfangene Zuneigung nur durch sie komme: mich dunkt das gar zu vil, das euch selber ist so wol, und das ich sein nicht genißen sol, wann man euch an aller stat nicht dann durch mich liep hat, ob ir mein allein enpert, das ir idem man wert unwert. (Ro II 100–106, der hier prägnanter formuliert) 312 313 314 315
Ebd., S. 104. Verglichen wird der Bedeutungswandel mit dem ganz ähnlichen geil. Die Beschreibung des Gartens klingt, als wäre der Ort selbst ein Bild der Vagina. Schwembacher: Laughter and Joy behind High Walls: Curiosities and Ludicrous Scenes in Medieval Gardens (2014), S. 162. 316 das ich da beleib (V. 78). beleib kommt wohl von bel%ben – im gleichen zustand bleiben, verharren, unterlassen werden, unterbleiben (Lexer). Die 1. Pers. Sg. Präs. Ind. des starken Verbs müsste eigentlich beliube heißen.
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Wenig überrascht zeigt sich der Dichter, dass die fud der Dame zu sprechen beginnt – womit erahnt werden kann, welches sexuelle Thema hier auserzählt wird.317 Die Frau dagegen ärgert sich über die Anklage durch ihren Körperteil. Sie glaubt ihm nicht und widerspricht, dass die Männer ihr verfallen seien: ich hör doch ie sprechen die man, das si mich gern sechen an und das si gern dienen mir. (Ro I, V. 101–103)
Dann wirft sie ihrer Vagina Hässlichkeit vor: ich han es dafür, ob man dich sech, das man dir doch nit lobes jäch [eigentlich: jehen], wenn du pist praun und darzu ruch [struppig?] prait gefleckot an dem puch [Ro II: breit geflochten an den bauch], das ich scham davon han, ob man dich solt sechen an. (V. 105–110)
Auf diese Beleidigungen hin wird die Fud rasend. Sie erwidert ganz selbstbewusst, dass ihr Aussehen ihr nur zum Vorteil sei.318 Die Fud weiß, dass die Trennung nicht gutgehen kann und dass das Experiment nicht klappen wird. Das Mädchen ist noch Jungfrau, sie kann nur vermuten, dass sie ohne Genital besser dasteht. Doch die Vagina verfügt über ein kollektives Wissen und kann deshalb auch ihre Existenz legitimieren und die fehlende Anerkennung beklagen, die ihr entgegengebracht wird: Es gebühre ihr zumindest ein ain klaines häftelein (V. 149) als Schmuck. Das Wissen des Mädchens ist individuell, das des Genitals überindividuell und repräsentativ. Es weiß, dass beide ihre Daseinsberechtigung haben und dass die Sexualität elementarer Bestandteil der Persönlichkeit ist. Hier wird auf poetischer Ebene ein minnetheoretischer Disput veranschaulicht, der vom Theologen Andreas Capellanus in De amore dargestellt wird.319 317 Der nachgeholte Prolog, in dem der Poet vorsichtig den vielleicht peinlichen Stoff vorbereitet, entpuppt sich deshalb als Scheinsorge; diese Interpretation zeigt Schirmer: Stilund Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle (1969), S. 261, durch die Entlarvung der hier eingesetzten rhetorischen Kniffe. Der Prolog dient v. a. dem bene volum. 318 Gsell: Die Bedeutung der Baubo. Kulturgeschichtliche Studien zur Repräsentation des weiblichen Genitales (2001), S. 285, sieht in diesen drei Versen »ein für die Frage nach der abendländischen Repräsentation der Frau insgesamt entscheidendes Problem auf den Begriff gebracht: Das Problem des Verhältnisses von weiblicher Schönheit und der Tabuisierung der sichtbaren Teile des weiblichen Genitales.« Dass gerade der Rosendorn dafür herhalten kann, dem will ich widersprechen; im Nonnenturnier ist der Vorwurf der fehlenden Schönheit auch gegenüber dem männlichen Genital enthalten. 319 Schirmer : Stil- und Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle (1969), S. 266–270; Schröder : Von dem Rosen Dorn ein gut red (1971), S. 547; Gsell: Die Be-
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Bei Capellanus geht es um die Frage nach dem ›besseren‹ Teil der Frau. Der Kasus ist folgender : Eine Frau steht zwischen zwei Verehrer und will herausfinden, welcher der würdigere Liebhaber ist. Sie bietet den Männern an, sich für ihre obere oder untere Körperhälfte zu entscheiden. Die Männer treffen jeweils eine unterschiedliche Wahl. Wen soll die Frau auswählen? Der erste Redner plädiert dafür, dass die Dame sich für denjenigen entscheidet, der den oberen Teil beansprucht. Dies hat zwei Gründe: Zum einen hebe sich durch die Wahl des unteren Teils das Trennen des Menschen vom Tier auf, denn nur der obere Teil sei die Eigenart der menschlichen Natur. Zum anderen werde man der Wahl des oberen Teils niemals überdrüssig, während man bei dem Vergnügen am unteren Teil bald Ekel und Reue empfinde. Von daher sei es unsittlich, dem unteren Teil den Vorzug zu geben.320 Von dieser Meinung geht auch das Mädchen aus – keiner will den unteren Teil haben, der aufrichtige Mensch entscheidet sich für den oberen. So trennt sie sich von ihrer Fud und prophezeit ihr besserwisserisch den Untergang (V. 164–169). Ohne Geschlechtsteil geht sie zu einem Schüler (in der zweiten Fassung ein Ritter), der ihr bisher immer minneglich gedient hat. Doch der Mann bemerkt sofort, dass der Körperteil fehlt, und macht den Makel öffentlich. Die junge Frau wird über alle Land fudlos (V. 196) genannt und nirgendwo kann sie mehr hin, ohne soziale Sanktionen zu erfahren. Wenn sie auf Männer trifft, drehen diese sich um und tun so, als ob sie nicht da sei. Die Frau wird wortwörtlich sozial unsichtbar. »Die Probe aufs Exempel fällt damit noch härter aus als von der Fud prophezeit: Nicht nur, dass bei einer Frau ohne Vagina die Schönheit wertlos wird, ihre Person als solche wird es.«321 Auch vom Werdegang der Fud wird erzählt. Sie kehrt sich von der Frau ab und wendet sich in eine andere Richtung um: gen ainer grienen aue / hub sich die fud, ward wild. (V. 172f.) Gsell untersucht genauer den Begriff wild als Negation des kulturell eigenen: deutung der Baubo. Kulturgeschichtliche Studien zur Repräsentation des weiblichen Genitales (2001), S. 262–267, Heiland: Visualisierung und Rhetorisierung von Geschlecht. Strategien zur Inszenierung weiblicher Sexualität im Märe (2015), S. 326. Schröder verweist darauf, dass dem Erzähler Capellanus’ Text nicht zwingend vorgelegen haben muss. 320 [T]urpis tamen et inepta videtur nimis gestio corporis et plurimum feminae verecundum, inferiora sine superioribus solatiis exercere. [545] Immo inferioris delectationis impossibilis sine superiori videtur assumptio, nisi indecens corporis dispositio nimis inde ac verecunda sequatur. [Es] erscheint […] als ein sehr häßliches und ungehöriges Benehmen (gestio) des Körpers und am meisten beschämend für die Frau, sich den unteren ohne die oberen Vergnügungen (solatia) zu widmen. (545) Ja es scheint unmöglich, die untere Ergötzung zu erreichen ohne die obere, es sei denn, es folge daraus ein sehr unziemliches und schamloses Verhalten (dispositio) des Körpers. Königlicher Hofkapellan Andreas: Von der Liebe (Edition: Knapp), S. 168. 321 Gsell: Die Bedeutung der Baubo. Kulturgeschichtliche Studien zur Repräsentation des weiblichen Genitales (2001), S. 297.
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Die unbedenklichste Übersetzung wäre wohl diejenige, die wild werden hier in Bedeutung von sich entfernen, fremd gehen im wörtlichen Sinn von in die Fremde gehen wiedergibt. Ro I, V. 173 beziehungsweise Ro II, V. 169 könnte dann übersetzt werden: sie machte sich auf und davon, entfernte sich, ging in die Fremde.322
Doch wild hat auch eine weitere Konnotation, wie Klaus Hufeland darstellt. Äquivalent zum Neuhochdeutschen dient es im Mittelhochdeutschen »zur Bezeichnung unkontrollierter, stark affektbetonter Verhaltensweisen […], [es] zielt […] auf einen Normenverstoß, auf einen Mißachten von Umgangsformen.«323 Die Vagina ist also ungebändigt; stürmisch entfernt sie sich von der Dame.324 Wie im Nonnenturnier (bedenkt man das Verhalten der Nonnen im Beisein des zagels) ist das Genital also wieder Zeichenträger von Ungestüm und der Abwesenheit von Zivilisation. In der Lebenswelt des Genitals sind höfische Umgangsformen aufgehoben, hier herrscht Verrohung. Die Fud trifft auf einen jungen Mann, der sie für eine Kröte hält und mit Gewalt auf ihren Annäherungsversuch antwortet: wann sie sach ein jünglink, von dem wart es ir misseboten325. man het sie für ein krotten. doch begond sie im vil dick unter die augen plick und begond in oft grüßen. do wart sie mit den füßen getreten hart sere. (Ro II 200–207)
Die Abwesenheit von Zivilisation zeigt sich in der sozialen Aberkennung: Was in der Welt der Dame die öffentliche Ächtung ist, ist in der wilde handgreifliche Gewalt. Der Jüngling tritt die Fud, weil er in ihr das Animalische sieht. Gsell stellt dar, dass die Kröte schon immer mit Furchtbarkeit und Geburt assoziiert ist: So ist die Kröte entweder das Tier, das in Gebärhaltung hockt, oder die Gebärmutter wird als Kröte angesehen.326. Auch ikonographisch wird die Vulva mit der Kröte in direkte Verbindung gebracht; Gsell verweist dabei auf Hieronymus Boschs Tafelbild Die sieben Todsünden und die vier letzten Dinge (Abbildungen 322 Ebd., S. 291. 323 Hufeland: Das Motiv der Wildheit in mittelhochdeutscher Dichtung (1976), S. 2. 324 wilde meint aber nicht in böser oder wütender Absicht; diese pejorative Semanitk findet sich gemäß Hufeland im Mittelhochdeutschen im Vergleich zum Neuhochdeutschen noch nicht. 325 Kully/Rupps Übersetzung: unglimpflich behandelt. 326 Gsell: Die Bedeutung der Baubo. Kulturgeschichtliche Studien zur Repräsentation des weiblichen Genitales (2001), S. 300.
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1 & 2).327 Ein anderes Beispiel für die Gleichsetzung des weiblichen Geschlechts mit der Kröte in der Bildkunst ist das anonyme Gemälde eines oberrheinischen Malers Das verstorbene Liebespaar (Abbildung 3). Bei allen Bildern repräsentiert eine Kröte die äußeren Geschlechtsteile der Frau; bei Bosch findet sich das Paar in der Höhle wieder, beim Anonymus erinnert der Tod an die Vergänglichkeit. Der Rosendorn spielt ebenfalls mit der Differenz zwischen Bedeutungsebenen und Wahrnehmungen: Die Assoziation der Vagina mit der Kröte wird in aller Konsequenz durchgespielt, die Bildlichkeit ersetzt den realen Gegenstand, der Text greift auf topische Reduktionen zurück.
Abb. 1 & 2 Hieronymus Bosch: Die sieben Todsünden und die vier letzten Dinge (ab 1500), Detail (Hölle); Prado, Madrid.
Die Fud stellt sich dem Jüngling in den Weg und erwartet Anerkennung, von ihrem Gegenüber wird sie aber als hässlich-abstoßende Kröte wahrgenommen und mit Füßen getreten. »[D]as [ist] die narrative Konsequenz, der zuvor lediglich symbolisch vollzogenen Ausgrenzung der Fud in den Bereich der wilde.«328 Spätestens durch die grobe Gewalt, hervorgehoben durch das aktive, autonome Genital, wird die Wirkung des Geschlechtsorgans auf das andere Geschlecht ins Groteske verzerrt.329 Dasselbe passiert auch im Nonnen-
327 Ebd., S. 298–301. 328 Ebd. 329 Das Groteske ist noch gesteigert, weil die Fud ein »höfisches« Verhalten an den Tag legt, wenn sie sich den Männern zum Gruss (213) darbietet; in der Diskussion mit ihrer ursprünglichen Besitzerin betont sie ihre Ansprüche auf »Dienst« und »Ehre« oder sie siezt die Dame durchgängig (während sie geduzt wird, gleich wie das Gespräch Ritter – Zagel im Nonnenturnier). Dieses höfische Verhalten wird mit Fußtritten beantwortet, ein tiefer sozialer Absturz. Siehe ebd., S. 303.
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turnier.330 Doch der weitere Verlauf ist unterschiedlich: Während im Nonnenturnier die Welt um das Genital ins Groteske versinkt, sieht die Fud im Rosendorn ihren Fehler ein und merkt, dass sie ohne die Frau nur Schaden erfährt: da mir mein tummer mut geriet, das ich von meiner frauen schiet. man hett mich doch paß [baz] pi ir. sie hat war gesait mir. nun muß ich laster dulden. nach meiner frauen hulden wil ich gern ringen. (V. 219–225)
Abb. 3: Anonym: Das verstorbene Liebespaar (Les amants tr8pass8s), ca. 1470, Mus8e des Beaux-Arts de Strasbourg.
330 Ebd., S. 302. Gsell bezieht sich hier nicht auf das Nonnenturnier, sie sieht in der Gewalt an der Vulva eine Antwort auf die »angstbewirkende Potenz des weiblichen Genitals«.
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Und auch die Jungfrau weiß es inzwischen besser und möchte ihre fud wider gewinnen (V. 230), damit sie sie ihren sälden tail (V. 231) wiederbekommt. Dass weder Frau noch Fud erfolgreich sind, ist die Antwort auf das minnekasuistische Problem bei Andreas Capellanus.331 »Die beiden Protagonistinnen stehen so betrachtet als Allegorien für widerstreitende konkurrierende Liebeskonzepte, wobei die Figur der Jungfrau so etwas wie ein platonisches Liebesideal vertritt, die Fud dagegen die Idee von der rein triebhaften, sexuellen Natur der Liebe.«332 Der Streitfall bei Andreas war die Bevorzugung entweder der oberen oder der unteren Hälfte der Frau.333 Der Rosendorn führt diese theoretische Frage in eine einfache Tatsächlichkeit: Als die Dame die Fud wiedergefunden hat, wendet sie sich an den Erzähler und bittet ihn um Hilfe. Der BeobachterErzähler wird wieder Teil der Geschichte und treibt in einer Metapher der Penetration ziemlich brachial ainen nagel (V. 268) durch den Leib der Frau, damit an alter Stelle die fud immer mer belaib (V. 270). In dem abschließenden Epimythion rät er allen Männern es ihm gleichzutun: Also raut ich ainem ietlichen man, der ie liebes weib gewann, das er seinem weib nagle die fud zu dem leib, das ir die fud icht entrinn, oder er ist versaumpt seiner minn. (V. 271–276)334
Mit diesem Ratschlag entlarvt das Märe den bei Andreas entworfenen Kasus als »grotesk-komisches Scheinproblem«335. Wieder ist es die Parodie, der sich der Text bedient. Und sie funktioniert nur, wenn und weil das Publikum die Streitsache kennen: »Bei alledem ist natürlich zu bedenken, daß der beste Teil des Witzes dieses Schwankes daraus resultiert, daß im Bewußtsein des Publi-
331 Schirmer : Stil- und Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle (1969), S. 265f.; Hoven: Studien zur Erotik in der deutschen Märendichtung (1978), S. 210; Gsell: Die Bedeutung der Baubo. Kulturgeschichtliche Studien zur Repräsentation des weiblichen Genitales (2001), S. 263f. 332 Gsell: Die Bedeutung der Baubo. Kulturgeschichtliche Studien zur Repräsentation des weiblichen Genitales (2001), S. 264. 333 Siehe auch die Heidin, in der der Ritter sich erst für die obere Hälfte entscheidet, die dem Küssen und Umarmen dient. Dann aber merkt er, dass er auch die untere Hälfte will und erreicht den Sex mit der Frau. 334 Klar ist hier die nicht mehr nur zweideutige Bedeutung von nageln gemeint, vielmehr rät der Erzähler zu einer eindeutig sexuellen Handlung. 335 Hoven: Studien zur Erotik in der deutschen Märendichtung (1978), S. 210.
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kums fest verankerte formale und inhaltliche Elemente parodiert werden, daß also der Witz durch den Bezug zum Ernst entsteht.«336 Während Capellanus die weibliche Sexualität als nicht zwingend notwendig, ja sogar als störend für die geistige Entwicklung verurteilt, formuliert der Rosendorn die notwendige Inklusion des Sexuellen in die körperliche Identität und erhöht damit die Komplexität weiblicher Körperdarstellungen. Dies gilt besonders für das weibliche Genital, das in der kulturellen Ordnung der Symbole keinen Platz besitzt und auch im Rosendorn durch die Bildallegorie der Kröte ersetzt wird.337 Das männliche Genital wird nicht durch eine solche bildliche Trope ersetzt, beispielsweise wenn im Nonnenturnier der nackte Adonis auf ein Banner gemalt wird. Der Rosendorn nimmt Anteil an der Ersetzung, indem das Märe die Vagina durch die Kröte austauscht. Eine andere Strategie ist die Ableitung der weiblichen Sexualität aus dem männlichen Körper wie im Fall der weiblichen Brüste, die am Ende von Gold und Zers aus den Augen des Phallus wachsen.
3.2.1.3. GOLD UND ZERS Als dritten der Priapeia soll das Märe analysiert werden, in dem ebenfalls um die Vorrangstellung des Begehrens gestritten wird. Wieder debattiert ein Penis, diesmal hat er das personalisierte Gold als Widerpart. Der Text ist in zwei, inhaltlich nicht wesentlich unterschiedlichen Fassungen überliefert. Fassung I umfasst 264 Verse und ist in drei Handschriften erhalten: im Codex Vindobonensis 2885 (1393)338, wie das Nonnenturnier im Codex Karlsruhe 408 (die Verse 1–57) und im Codex FB 32001 des Tiroler Landesmuseums (entstanden 1456)339. Fassung II besteht aus 176 Versen und ist niedergeschrieben in der Handschrift Cgm 5919 München (entstanden Anfang des 16. Jahrhunderts)340. 51 Verse sind in beiden Fassungen enthalten. Die erste, aus der bevorzugt zitiert wird, ist die umfangreichere und ältere, die zweite kürzt 336 Suchomski: Delectatio und utilitas. Ein Beitrag zum Verständnis mittelalterlicher komischer Literatur (1975), S. 199. Diese Ansicht widerspricht Schröder, der glaubt, dass sich bereits Andreas Capellanus’ kasuistisches Gespräch auf der »schmalen Grenzlinie zwischen unterhaltendem Gesellschaftsspiel und dem dahinter liegenden Ernst einer so umfassenden Idee wie der höfischen Minne bewegt.« Schröder : Von dem Rosen Dorn ein gut red (1971), S. 265. 337 Gsell: Die Bedeutung der Baubo. Kulturgeschichtliche Studien zur Repräsentation des weiblichen Genitales (2001), S. 287. 338 Selbstdatierung der Handschrift (Bl. 213vb). 339 Die Jahreszahl ergibt sich aus der Selbstdatierung der Handschrift (Bl. 88vb). 340 Die Handschrift beruft sich auf den Reichstag zu Augsburg im Juli 1500 und Kaiser Maximilian.
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Prolog und Schluss und verknappt die Handlung.341 Fischers Edition setzt in seiner Märenausgabe beide Fassungen hintereinander.342 Fischer ordnet den Text, ebenso wie den Rosendorn, als Grenzfall ein. Ihm scheint für ein Märe zu wenig »menschliches Personal«343 vorhanden. Ingeborg Glier entdeckt in dem Vorrangstreit zwischen Gold und Genital mehrere Motive der Minnerede, zum Beispiel der unter einer Linde lauschende Dichter, auch wenn die pointierte Erzählweise auf ein Märe hinweisen würde.344 Wie im Rosendorn hat das nicht dazu geführt, dass Brandis oder Klingner/Lieb Gold und Zers in ihrem Katalog der Minnereden aufgenommen haben.345 Klaus Grubmüller betrachtet die Reimpaardichtung als Märe. Im Übrigen kommt das Lemma Minne in Fassung I nur dreimal (V. 77, 165 und 174), in Fassung II gar nicht vor. Der Sprecher kündigt ein abenteur (V. 20) an, von dem er berichten will. Im prologus praeter rem (V. 1–18) fordert er die störenden Zuhörer, die nie schweigen wollen, auf, den Raum zu verlassen.346 Alle sollen nun Ruhe geben, denn er will zur Kurzweil (ze schimpf, V. 2) des Publikums von einem einzigartigen Streit berichten, den ir vor oder seit / nicht so frömds habt vernomen. (V. 4f.) Der Erzähler nimmt eine passive Beobachterposition ein. So erwähnt er im prologus ante rem (V. 19–28), dass er unter einer Linde sitzt und ein Streitgespräch mitbekommt, ob Gold oder Genital den Frauen wichtiger sei. Später verfolgt er den Phallus und das Metall auf der Suche nach den Frauen, die über die beiden richten sollen (V. 100–109). Der Poet ist aber nicht mehr Teil der Erzählung, wenn sich die Frauen erst für das Gold entscheiden, sich dann aber so nach dem Penis verzehren, dass sie ihn blenden, damit er nicht mehr davonlaufen kann. Die alten Augen des Penis hängt sich eine Nonne um den Hals, wo sie sich zu prüstel (V. 244) verwandeln. Am Ende spinnt der Erzähler über das Geschehene eine Ätiologie, in der er den Ursprung heterosexuellen Geschlechtsverkehrs
341 Williams-Krapp: Art. Gold und Zers, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters [Verfasserlexikon] (1981), Sp. 76. Meist kann man davon ausgehen, dass die kürzere Fassung die ältere ist, dies ist hier nicht so. 342 Gold und Zers (Edition: Fischer)1966, S. 431–443. 343 Fischer : Studien zur deutschen Märendichtung (1983), S. 75. 344 Glier : Artes amandi. Untersuchung zu Geschichte, Überlieferung und Typologie der deutschen Minnereden (1971), S. 215. Glier vergleicht Gold und Zers dabei mit der Minnerede Minne und Pfennig. 345 Brandis: Mittelhochdeutsche, mittelniederdeutsche und mittelniederländische Minnereden. Verzeichnis d. Handschriften u. Drucke (1968), Klingner und Lieb: Handbuch Minnereden. 2 Bd. (2013). 346 Dieses favete-linguis findet Fischer : Studien zur deutschen Märendichtung (1983), S. 264, noch im Pfaffen mit der Schnur A und im Hellerwertwitz.
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erklärt: Wenn ein Mann diese Brüste anfasst, schnellt der Zers auf, weil er seine verlorenen Augen wiedererlangen will. Die Ätiologien mehren sich in Gold und Zers. So weiß der Text auch, dass die männliche Eichel bis heute haarlos ist, weil sich der Zers vor Zorn im Streit mit dem Gold die Haare vom Kopf gerissen hat. Mit den Ursachenlehren über die Figurenhandlungen beansprucht der Text eine Bedeutung über den Einzelkasus der Minnefrage hinaus, im Gegensatz zu Rosendorn und Nonnenturnier, in denen der Streit um den Wert des Genitals als selbstverständlich und nicht als erklärungsbedürftig gezeichnet werden.347 Eine exemplarische Bedeutsamkeit unterstreicht Gold und Zers mit der »rede-typischen Minnestreitfrage«,348 im zweiten Teil wird die Blendung des Penis dem höheren Zweck der Sexualität untergeordnet. Die Figur des Zers ist weniger selbstständig, wird dafür aber auch weniger stark in Mitleidenschaft gezogen – und sein Schicksal scheint zweckvoll und notwendig. Weil der Autor des Textes die Strategie verfolgte, den Streit zwischen Phallus und Gold nicht als Einzelfall, sondern als exemplarisch-bedeutsame Ideologiefrage erscheinen zu lassen, wird auf der Figurenebene ohne viel Rücksicht aufeinander gefochten. So will der Zers vom Gold wissen, wer die höhere wirdigkait (V. 33) habe. Als das Gold von seiner Schönheit und Anziehungskraft spricht (mich tret diu kaiserinne / an iren chlaidern vorn, V. 36f.), kann der Penis diese Nutzlosigkeit und Oberflächigkeit nur gehässig widersprechen: sol das dein höchste ere sein? du klebst als ain rötzlein den fraun an dem kütze349 du pist ze ander nichte nütze, wan das man dich versmide. (V. 39–43)
In der Karlsruher Handschrift soll das Metall Ruhe geben, es sei ohnehin tot (Nu loß dein claffen du bist tot, V. 40); in Fassung II wirft der Penis dem Gold vor, in eine Form gepresst zu sein (GuZ II 16f.). Das Genital sei das nützlichere Beiwerk zur Frau, denn er gib[t] gut hirt350 stich / darumb lobt di frau mich für dich (GuZ II 23f.). Die Antwort des erzürnten Golds: Sein Gegner sei ein Schurke, ein hantloser stumpf (V. 50)351. Das Genital hänge an der unmöglichsten Stelle des Körpers (in 347 Dicke: Mären-Priapeia. Deutungsgehalte des Obszönen im Nonnenturnier und seinen europäischen Motivverwandten (2002), S. 286f. 348 Ebd., S. 286. 349 Ein grober Stoff. 350 Müsste eigentlich heißen hert = hart. 351 Ein seltsamer Vorwurf von einem Stück Gold gegen einen Penis. Wir wissen aber in allen Stücken nicht, wie sich die Autoren ihre Personifikationen vorgestellt haben: Redet in Gold
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der pruch, V. 51), müsse immer zugedeckt sein352 und erscheine so als ein versteckter Dieb. Er sei genauso wenig nützlich (du dunkst mich ze nicht sein, / neur das ain rapp den sein / hunger an dir gelabe, V. 55–57) und solle seine Prahlerei seinlassen. Darauf wird der Zers wirklich zornig und sticht so heftig auf einen Lindenbaum ein, dass die Holzspäne fliegen.353 Die Beleidigungen werden verletzender (du schimlknolle, V. 63, gegen das Gold). Um den Streit zu beenden, schlägt der Penis den Schiedsspruch durch die Frauen vor: ich verdin [verpflichte] dik mit ainer djost umb unser paider frauen. so mag man denn schauen, weder under uns der werder sein. ich tun dich deins schalls354 frei. wan wirt min frau minnsiech, gerür ich sei denn ans diech, si geit sich mir für aigen. ich kan dich wol geswaigen. (V. 72–80)
Die beiden Kontrahenten brauchen die Frauen als Schiedsfiguren, um der steigernden Gewalt zu entkommen. Das Gold stimmt zu, damit sie das […] gäuden lassen faren / und [ihr] paidr streiten sparen (V. 83f.). Die beiden gehen zu den Damen, welche sich dann vorläufig für das Metall entscheiden. Leider geben sie – auch im Nachhinein – keine Begründung ab, weshalb nur vermutet werden kann: Man entscheidet sich einfach nicht für den unteren Teil. Dies wäre ein deviantes und potentiell sanktionierbares Verhalten. Aber auch hier sind die Frauen nach kürzester Zeit unzufrieden mit ihrer Entscheidung. Schon bald verlieren die Frauen das Interesse am Geld, weil sie aus ihm keine Lustbefriedigung gewinnen können. Der Penis weiß dies, und will deshalb wieder zurückkehren zu den Frauen. Wieder scheint das Genital auf ein überindividuelles Allwissen zurückgreifen zu können. er sprach: »ich wil ze land wider. es sint leicht die frauen sider und Zers ein geschmiedetes Stück Gold (ein Schmuckstück, wie es verwendet werden will)? Wie kann die Fud im Rosendorn dem Mann entgegengehen? 352 Ein ganz ähnlicher Vorwurf macht die Dame im Rosendorn ihrer Fud, die versteckt werde müsse wegen ihrer Hässlichkeit: wenn du pist praun und darzu ruch, / prait gefleckot an dem puch, / das ich scham davon han, ob man dich solt sechen an. (107–110). Obwohl im Text nur sehr kurz von ungenügender Hygiene gesprochen wird (unrein, Rosendorn II 153) und ebenso nur kurz im Nonnenturnier, scheint die Stelle des Genitals (nah am Anus?) eine wichtige Rolle zur Diffamierung darzustellen. 353 Warum der Penis so handelt bleibt offen. Heute würde man vielleicht sagen, er lässt seine Wut an dem Baum aus. 354 Eigentlich schal, Geschrei.
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in grosser klag umb mich gwesen. si mügen an mich nicht gnesen. es hat sei leicht gerauen [= gereut]. si süllen mir getrauen: ich wil mich an in rechen und wil sei allen stechen in iren rauhen flek ain stich; so han ich wol gerochen mich.« (V. 177–86)
Das Selbstvertrauen erscheint paradox zum vorherigen Streit um den Wert. Ohne dass in der Einöde eine Veränderung stattgefunden hat, weiß der Phallus vom Missstand bei den Frauen. Auf dem Weg zu ihnen hält er an einem Brunnen. Dort will er sich für die Damen schick machen (den laib wil ich maussen355, / so wird ich herleich gtan, / wenn ich für die fraun gan. V. 194-96). Eine vorbeikommende Magd beklagt das Fehlen des Penis, worauf sich dieser ganz selbstbewusst präsentiert.356 In Fassung I erinnert das Verhalten der Frau an Oralsex357: si kust den zers an sein munt / vil diker dann tausentstunt. (V. 207f.); in Fassung II benutzt sie ihn mit seiner Einwilligung zur Masturbation, was der Erzähler in aller Direktheit schildert (stiß in zwischen ire pein, GuZ II V. 127). Die Frau nimmt den Penis mit in die Gemeinschaft der Frauen,358 die sehr glücklich über seine Rückkehr sind. Das Gold haben sie in den Abort geworfen, 355 Meint eigentlich: Den Leib wil ich verändern. maussen ist vermutlich m0zen (= ändern); die Änderung des Äußeren findet sich nur in Vogelbeschreibung, dort ist die Bedeutung unser heutiges mausern. Siehe Lexer m0zen. 356 chau, wa wau, ich pin hie! (205). Dieses »Hundegebell« um Aufmerksamkeit ist das zweite (und letzte) Mal, dass der Penis ins Tierreich gesetzt wird (s. vorherige Fußnote 355). 357 Von der Zunge als Sexualorgan gehe ich nicht aus. Wie weit Oralsex tatsächlich verbreitet ist, kann nur vermutet werden. Die christlichen Sexualmoralisten halten sich dazu überraschenderweisend weitgehend zurück, wenn überhaupt hat zum Beispiel Thomas von Aquin ihn unter der Beschreibung subsumiert »den Beischlaf nicht in gebührender Art und Weise einhaltend« (non servatur debitus modus concumbendi, eigene Übersetzung. Thomas von Aquin: Summa theologiae (Edition: Gilby), 2a2æ. Frage 154, Artikel 12. Der Historiker Ulrich Hegemöller kann aus einem Verhörprotokoll von 1536 aus Münster zitieren, in der ein angeblicher Arzt zugibt, einem anderen Mann mehrmals »die Natur ausgesaugt« zu haben. Hergemöller : Sodom und Gomorrha. Zur Alltagswirklichkeit und Verfolgung Homosexueller im Mittelalter (2000), S. 52. Hegemöller unterstreicht jedoch, dass für den Oralsex in den Quellenbeständen kaum Belege gefunden werden können; vgl. Ebd., S. 33. Eine dichterische Beschreibung des Oralsexes findet sich bei Oswalds von Wolkenstein Es seusst dort her von orient. Vgl. Lazda-Cazers: Oral Sex in the Songs of Oswald von Wolkenstein. Did It Really Happen? (2008). 358 Schlechtweg-Jahn stellt sich die die Frage, wo in dieser Welt die Männer sind. Seine Meinung dazu: Es handelt sich bei den Orten in Nonnenturnier, Rosendorn und Gold & Zers um »Orte für Weiblichkeit […] außerhalb der Gesellschaft« (aus der Diskussion in: Schlechtweg-Jahn: Geschlechtsidentität und höfische Kultur. Zur Diskussion von Geschlechtermodellen in den sog. priapeiischen Mären (1999), S. 109). Mir scheint dies nicht
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weil es sie sexuell nicht erfüllte (an einen ganz ähnlichen Ort hat der Ritter im Nonnenturnier sein Genital entsorgt). Mehrere Frauen tragen ihn in ihre Kemenate, wo sich der Zers vil wol rach359 (V. 223, spöttisch für die vorherige Schmähung). Danach kommen die Damen zusammen und diskutieren, wie sie den Penis in Zukunft an sich binden und ihn am Weglaufen hindern können. Eine Nonne schlägt vor ihn zu blenden und setzt ihren Vorschlag direkt in die Tat um.360 Die Körperlichkeit des Genitals ist hier ausgeprägter und direkter als in Nonnenturnier und Rosendorn. In V. 206 hat es einen Mund, in V. 242 unzweifelhaft Augen. Die schneidet die Frau ab, fädelt sie auf eine Schnur und hängt sie sich um den Hals. In diesem Moment verwandeln sich die Augen in Brüste. Die zukünftige Freude des Penis in der Ätiologie, wenn er sich nach seinen ›Augen‹ reckt, bleibt unerfüllt. Die Frauen haben sich gegen das Genital versworen (V. 256). In Fassung II wertet der Erzähler das nutzlose Mühen: so mag es laider nit gesein (GuZ II, V. 167). So wie das Genital über ein überindividuelles Wissen verfügt, so wird die Personifikation hier wie folgt aufgelöst: Er ist nun ein Körperteil eines jedes Mannes. In der Ursprungsgeschichte wird der fragmentierte Zers ohne Augen zum Bestandteil jedes Mannes, der von nun am weiblichen Körper seine verlorene Einheit sucht; der Mann begehrt also nicht das Weibliche, sondern das eigens Männliche.361 Liegt hier ein one-sex-model im Sinn Thomas Laqueurs vor? Danach besitzt die Frau einen Phallus, der jedoch innen liegt und weniger Potenz besitzt. Es passt deshalb, dass die Frau in Gold und Zers nach der ›Blendung‹ die abgetrennten Augen trägt. Das Aneignen männlicher Teile ist ein Aufwerten der Frauen, wie es im Text beschrieben wird: Die Frauen entscheiden unter sich und tun dem Penis Gewalt an – eine ebensolche Machtdemonstration wie im zweiten Teil des Nonnenturnier durch die Nonnen (auch in Gold und Zers ist es eine Nonne).362 Die Frage nach dem Geschlecht beschreibt Laquer vor allem als eine der Macht, nicht als eine Frage nach einem Körperteil: »Ein Mann oder eine Frau
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aufzugehen: Es deutet hier nichts auf eine andere Welt hin: Die Magd geht zum Brunnen (199), die Frauen wohnen in Kemenaten (225) usw. Vielmehr scheint es mir so zu sein, dass die Männer hier nicht existieren, weil sie nicht als relevant für die Handlung angesehen werden. Der Penis repräsentiert bereits die Männlichkeit. Was nicht gebraucht wird, stellt der Text nicht dar. Als Bild für Sex wird hier das Bild benutzt sein[en] leib verraten (226). Sie stümelt in zehant. Stümeln war auch ein geläufiges Wort für Kastration, s. Lexer. Reichlin: Ökonomien des Begehrens, Ökonomien des Erzählens. Zur poetologischen Dimension des Tauschens in Mären (2009), S. 219. Schlechtweg-Jahn beschreibt es auch so: »Durch alle drei [das heißt auch im Rosendorn] Texte zieht sich diese religiöse Komponente, die Möglichkeit, daß Frauen in religiöstheologischen Kontexten Eigenständigkeit und Handlungsfähigkeit gewinnen können, als Schreckensbild.« Schlechtweg-Jahn: Geschlechtsidentität und höfische Kultur. Zur Diskussion von Geschlechtermodellen in den sog. priapeiischen Mären (1999), S. 102, Fußnote 234.
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zu sein, hieß einen sozialen Rang, einen Platz in der Gesellschaft zu haben und eine kulturelle Rolle wahrzunehmen, nicht jedoch, die eine oder andere zweier organisch unvergleichlicher Ausprägungen des Sexus zu sein. Anders gesagt: Vor dem 17. Jahrhundert war der Sexus noch eine soziologische und keine ontologische Kategorie.«363 Entscheidend ist die Macht, die die Frauen durch den Zers bekommen. Es stellt ihren Machtgewinn dar, einen Teil des Genitals mit sich zu vereinigen. Dass die Augen des Penis so kompatibel sind mit dem Körper der Frau, ist deshalb nur logisch. Tatsächlich agieren die Figuren hier entlang einer vertikalen Hierarchielinie. Das Genital wird durch die Frauen anerkannt, indem sie es mit ihrem weiblichen Körper vereinigen. Die Frauen ihrerseits gewinnen durch das Applizieren des Phallus an Macht. Durch den Wettkampf, indem sich das Genital dem Willen der Frauen unterwirft, erhalten die Frauen einen Machtgewinn. In die Frage über geschlechtliche Machtverhältnisse schaltet sich ein weiteres Märe ein, das von Fischer zu den priapeischen gerechnet wird: Der verklagte Zwetzler. 3.2.1.4. DER VERKLAGTE ZWETZLER In diesem Priapeia kann der Penis zwar nicht sprechen, wird aber vom Erzähler und vor allem durch die anderen Protagonisten anthromorphisiert. Und auch hier unterliegt das Genital der weiblichen Macht, wenn ein junges Mädchen den Phallus vor einem Gerichtsstreit verteidigt und schlussendlich rettet. Die Reimpaardichtung ist in drei Handschriften erhalten: wieder Codex Karlsruhe 408 (entstanden 1430–1435, Fassung I soll hier als Grundlage dienen),364 Handschrift 5339a aus der Germanischen Nationalmuseum Nürnberg (entstanden 1471–73, Fassung II)365 und Codex Weimar Q 565 (2. Hälfte 15. Jh.), der auf dem Nürnberger Codex beruht.366 Die Texte Der Verklagte Zwetzler und Das Nonnenturnier sind erstmals in der Karlsruher Handschrift und damit später als Rosendorn und Gold und Zers nachweisbar. Ein junger Mann, der um ein Mädchen wirbt, leitet das Märe ein. Untypisch für seinen Stand, handelt er hoflich (V. 5) und umwirbt sie in klassischer hoher Minnetradition. Die junge, bäuerliche dirne wehrt dies aber ebenso klassisch ab. 363 Laqueur: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud (1996), S. 20f. 364 Beide Fassungen nacheinander : Der verklagte Zwetzler (Edition: Fischer), S. 52–61. 365 Datierung nach Kurras: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften. Erster Teil: Die literarischen und religiösen Handschriften. Anhang: Die Hardenbergschen Fragmente (1974), S. 47. 366 Kully : Codex Weimar Q 565 (1982), S. 18.
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Überzeugen kann er sie erst, als sie sieht, dass das er unter dem gern367 truk, / das begond toben und leben / und wart vast herfür streben (V. 60–62). Auf die Frage, was sich da in seiner Hose bewege, erklärt der Junge: es ist mein zwetzler. […] er ist edel und hat den sit, wer sich streichen loßt domit, dem kan es nimmer missegon (V. 64–69).
Die erotisch Naive lässt sich darauf ein und will nun unentwegt den sexuellen Verkehr. Die glückliche Verbindung hält jedoch nicht lange, denn sie werden von den Eltern des Mädchens in flagranti überrascht. Erbost verprügeln sie die Tochter und machen die missetat (V. 122) der jungen Leute öffentlich. Es wird überlegt, den Burschen zu erhängen, doch man entscheidet, ihn vor Gericht zu bringen. In der Verhandlung reiht sich eine komische Verdrehung an die andere: Das Mädchen wird als Zeugin vorgeladen und soll gleichzeitig die Anklage gegen das Genital führen.368 Doch sie kann nur widersprechen, dass ihr ein Übel geschah. Zudem sei all das nicht durch den jungen Mann geschehen, vielmehr habe ihr sein zwetzler Freude gebracht. Daraufhin wird das seltsame Urteil gesprochen: Das Mädchen soll als Henker den Zwetzler mit einem hackmesser (V. 167) abschlagen. Als er auf dem Hackstock liegt, richtet sich der Penis in ihre Richtung auf, worauf das Mädchen liebevoll zu ihm spricht: kenstu mich noch, du vil lieber knecht? (V. 172) Sein Handeln deutet sie als ein liebevolles Wiedersehen und Zuneigung des Genitals, weshalb sie sich weigert das Urteil über ihren freund (V. 180) zu vollstrecken. Stattdessen bittet sie ihn, sie stets auf ihren Reisen zu begleiten und wünscht ihn sich als Begleiter in der Zukunft: ich wil dir sagen gute mer : du solt leben on alle swer, ………….. und solt ich auß dem lande gon, ich wolt kein beßern geverten hon. du host schon geton mir. des wil ich immer danken dir. (V. 186–192)
367 Unter dem Garn? 368 Es ist aus dem Text nicht klar erkenntlich, was genau dem jungen Mann vorgeworfen wird: Verführung? Vergewaltigung? Raub der Jungfräulichkeit?
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Der Erzähler schließt mit den Worten: Von dann käm noch ein zwetzler, / so gut gericht in dem land wer (V. 195f.). Zur Darstellung des Genitals findet sich vieles, was bereits zu den anderen Mären geschrieben wurde. Das Kastrationsmotiv wird hier noch zugespitzt, weil nicht mehr der junge Mann im Zentrum steht, der in der Gerichtsszene gar nicht mehr genannt wird. Es geht nur noch um das Genital und allein dessen Leben scheint auf dem Hackstock gefährdet. Das Mädchen will auch nicht mit dem Mann in die Fremde ziehen, sondern wünscht sich nur den Zwetzler als Gefährten. Das macht die Szene natürlich umso absurder. Grubmüller sieht in dem Urteil eine Spiegelstrafe für das Delikt, das in seiner Aufhebung auch seine Schändlichkeit verliert: Die Kastration […] ist [eine] direkte Folge der ›Leistung‹ des zwetzlers, und seine ›Begnadigung‹ ist es auch. Genauer : das vermeintliche Sexualdelikt, das mit der Kastrationsstrafe angezeigt wird, wird durch die Verweigerung der Kastration in ein Lusterlebnis umgedeutet.369
Wichtig seien hierbei die öffentliche Zurschaustellung der Tat und seine Ahndung. Während Eltern und Richter den Geschlechtsverkehr verurteilen, kann das Mädchen daran nichts Schlechtes finden. Das Verhalten der ›Beteiligten‹ entlarvt die öffentlich-rechtliche Bewertung des Falles durch den Ritter als eine schematische, die der persönlichen Erfahrung nicht gerecht wird. Sehr präzise werden hier die beiden Blickrichtungen auf Sexualität, die öffentliche und die private, gegeneinander ausgespielt.370
Diese private, sexualbejahende Sicht auf die Sexualität spielt auch in Gold und Zers eine wichtige Rolle, wenn sich die Frauen aus Schicklichkeit zuerst für das Gold entscheiden. Sie gerät mit der öffentlich-kollektiven, verneinenden Sicht in Konflikt. Auch in der Verklagte Zwetzler gewinnt am Ende die sexuelle Offenheit, wenn sich das Mädchen durch die Erektion des Genitals in ihrer Nähe wiedererkannt glaubt. Während es zu Beginn noch vollkommen unerfahren in sexuellen Dingen ist,371 lernt es sie später umso mehr zu schätzen. Sein erster Kontakt beruht nicht auf Hörensagen, sondern auf einem Erlebnis. »Sie ist somit unbehindert von gesellschaftlichen Konventionen und Beschränkungen und offen für die elementare körperliche Erfahrung. Von ihr wird sie überwältigt und diese Überwältigung erweist sich dem öffentlichen Regelwerk, vertreten von
369 Grubmüller : Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter : Fabliau, Märe, Novelle (2006), S. 226. 370 Ebd. 371 Erfahren ist sie jedoch in den Minneregeln, weiß sie doch zuerst genau, dass sie das männliche Werben ablehnen muss.
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Eltern und Richtern, als überlegen.«372 Gelingen kann diese Erzählung von der Macht des Sexuellen, weil der Phallus synekdochisch für das pure Begehren außerhalb der Konventionen steht. Die gesellschaftlichen Schranken lassen sich auch im Benennen und dem Sprechen über das Genital erkennen. Der Richter weiß erst nicht, wovon das Mädchen spricht. Fischer vermutet, das Wort Zwetzler sei »augenscheinlich eine Wortbildung ad hoc, etwa mit der Grundbedeutung ›Zappler‹.«373 Das Mädchen wie auch der Erzähler nutzen im gesamten Text keine bekannte Benennung wie zum Beispiel zers, sondern zehn Mal die Wortneubildung.374 Der Phallus bleibt somit in einer »Hüllmetapher«375, das Märe ist weniger obszön als zum Beispiel Nonnenturnier oder Rosendorn. Darüber hinaus hat das Schicksal des Genitals überraschende Ähnlichkeit mit den bisherigen Texten: Es ist das Mädchen, von dessen Entscheidung seine Existenz abhängt. In Der verklagte Zwetzler regt sich der Penis auf seinem Hinrichtungsklotz, um sich dem Mädchen zu offenbaren und gleichzeitig seine Rettung zu ›erbitten‹. Auch im Nonnenturnier sieht der Zagel seinem Tod entgegen, wenn er sich den Nonnen in den Weg stellt, stattdessen preisen sie ihn. Zum Schluss rettet eine der Ordensschwestern das Genital aus dem chaotischen Kampf. In Gold und Zers verkriecht sich der Körperteil nach seiner Ablehnung und sieht seine einzige Chance zur Rückkehr in der Bestätigung der Damen. Es scheint also so zu sein, dass das Wohl des Genitals dem anderen Geschlecht unterworfen ist. Nur von ihm hängt die Existenz der Genitalien ab, indem sie die Anerkennung durch das andere Geschlecht suchen oder sich der Vernichtung durch Frau oder Mann unterordnen. Diese Abhängigkeit erfordert eine weitergehende Analyse.
3.2.2. Fazit: exklusive Geschlechtsabhängigkeiten Nicht nur an deren Ende, sondern schon der Erzählvorgang aller vier Priapeia eint ein gemeinsames Motiv : Immer wenn das Genital angesprochen oder von ihm erzählt wird, ist auch das entsprechend andere Geschlecht in nächster Nähe. Was ist damit gemeint? 372 Grubmüller : Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter : Fabliau, Märe, Novelle (2006), S. 227. Grubmüller sieht dieses Muster auch im Preller und im Striegel. Wichtig scheint mir jedoch auch, dass das Mädchen hier der Lächerlichkeit preisgegeben wird, das heißt dass ihre Vorrangstellung nicht ohne Makel ist. 373 Der verklagte Zwetzler (Edition: Fischer) (1966), S. 529. Auch der Lexer kennt nur diese Quelle. 374 Vers 64, 74, 81, 151, 156, 166, 168, 182, 185 und 195. 375 Grubmüller : Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter : Fabliau, Märe, Novelle (2006), S. 226.
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– Nonnenturnier : Der Zagel erwacht erst dann zum Leben, als die Dame empfiehlt, ihn abzutrennen. Im Kloster bringen die Nonnen den Penis durch ihre Streitereien wieder zum Schweigen. – Rosendorn: Sowohl Dame als auch Fud glauben, dass sie ohne den anderen viel eher die Gunst der Männer gewinnen können. Sie trennen sich und die Vagina sucht den Gruß der Männer, die ihr stattdessen Gewalt antun. Die Fud erkennt, dass sie ohne die Frau nicht leben kann und lässt sich vom Erzähler gewalttätig an die Frau applizieren. – Gold und Zers: Die Frauen entscheiden sich für das Gold und vertreiben den Penis in die Einöde. Der kehrt nur zurück, um von den Frauen im Nachhinein angenommen zu werden. Damit er sich nie mehr entfernt, rauben sie ihm die Augen. – Der verklagte Zwetzler : Der Zwetzler liegt auf dem Schafott. Ein junges Mädchen soll ihn exekutieren. Als sie kurz davor ist, erigiert der Penis. Sie erkennt ihn als alten Freund an, rettet ihn und will ihn in Zukunft als Begleiter. Es ist in allen Texten gleich: Immer ist das andere Geschlecht anwesend, egal ob es sich um den Zers oder die Fud handelt. Der gegengeschlechtliche Part ist zuständig für das Wohl und Wehe des Genitals. Sein beziehungsweise ihr Gegenüber hat die Macht, das Schicksal des Genitals zu bestimmen. Oder anders formuliert: Phallus oder Vagina können nur auftreten, wenn das andere Geschlecht dabei ist. Das eigene ist nicht notwendig: In Gold und Zers erscheint kein einziger Mann, in Der Verklagte Zwetzler ist der Träger auffällig ausgespart. Dieser Zwang der Bestätigung wird weiter fokussiert. In den Mären beweist sich ein eigenes Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Geschlechtern, das Geschlechtsorgan repräsentiert dabei die geschlechtliche Sexualität. Über den Umweg neuzeitlicher Theorien soll sich dieser Dependenz genähert werden. Ausgangspunkt soll Simone de Beauvoir sein. In ihrem weltbekannten, für die zweite Frauenbewegung vielleicht wirksamsten Text Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau376 erkennt und beschreibt sie die Abhängigkeit der Frau vom Mann. Dabei ist ihr Ausgangspunkt die weiße, westliche Frau im 20. Jahrhundert. Sie fragt sich, warum diese Frau »das Unwesentliche ist, das niemals zum Wesentlichen wird«377. Den Grund sieht sie in dem asymmetrischen Machtverhältnis zwischen Männern und Frauen. Der Mann ist der, der sich selbst als Bezugspunkt seines Denkens definiert und die Frau davon als das
376 Beide Bände erschienen im Französischen 1949. 377 Beauvoir : Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Aus dem Französischen von Uli Aumüller (2008), S. 12.
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Andere abgrenzt. Der Mann ist in diesem System das Richtige, die Frau das Falsche: [E]s steht allgemein fest, dass ein Mann zu sein keine Besonderheit darstellt; ein Mensch ist im Recht, wenn er ein Mann ist; die Frau ist alles was Unrecht ist. Ein Mann fängt niemals damit an, sich erst einmal als Individuum eines bestimmten Geschlechts vorzustellen: dass er ein Mann ist versteht sich von selbst. […] Der Mann ist so sehr […] das Ganze, dass im Französischen das Wort ›homme (Mann)‹ den Mensch schlechthin bezeichnet. […] Er ist das Subjekt, er ist das Absolute: sie ist das Andere.378
Der zweite Band (Gelebte Erfahrung) beginnt mit dem berühmten, »wohl am häufigsten zitierte[n] Satz der feministischen Theorie«379 : »Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.« Der Satz konzentriert nochmal die Vorstellung de Beauvoirs, dass der Mann die Frau durch seine Vormachtstellung als zweites Geschlecht bildet. Der Mann ist das Subjekt, die Frau das Objekt. De Beauvoirs Theorie kann bei den Mären und Minnereden weiterhelfen, ist aber nicht passgenau. Sie erkennt zwar die Abhängigkeit der Frauen von den Männern, aber sie sieht die jeweils zugrundeliegenden Genitalien als feste Instanzen, die nicht veränderbar sind. Daraus entstand die feministische Theoriearbeit mit der »nahezu unhinterfragten […] Trennung von sex und gender«380 ab Mitte der 1970er Jahre bis zu Beginn der 1990er Jahre. Erst die Arbeiten von Judith Butler durchbrachen die Annahme, dass es keinen notwendigen kausalen Zusammenhang zwischen sozialem und biologischem Geschlecht gibt; das sex bleibt unverändert, während sich gender wandeln kann. Das Genital in den Schwanktexten erscheint jedoch nicht fest, sonst bräuchte es keine Bestätigung durch das andere Geschlecht. Judith Butler radikalisiert in ihrem Buch Gender trouble 1990 die feministische Forschung und deckt auch den geschlechtlichen Körper als kulturelle Konstruktion auf. Dabei baut sie selbst auf Strukturalisten wie Michel Foucault auf, der bemerkt, dass der Körper ein Spielball der Kultur ist. Er ist durch die Geschichte, nicht durch eine feste Biologie geprägt.381 Foucault erklärt »wie die 378 Ebd., S. 9 und 10. 379 Konnertz: Simone de Beauvoir Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau (2005), S. 33. 380 Ebd., S. 38. Konnertz weist aber auch darauf hin, dass diese »Rückführung auf Beauvoir […] nicht unproblematisch« ist. Denn die Philosophin hat diese Trennung biologischer Geschlechterdifferenz nicht eindeutig für ahistorisch gehalten: »In Wirklichkeit ist die Natur ebenso wenig eine unwandelbare Gegebenheit wie die historische Realität.« Beauvoir : Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Aus dem Französischen von Uli Aumüller (2008), S. 12. 381 »Der Leib- und alles, was den Leib berührt – ist der Ort der Herkunft: am Leib findet man das Stigma der vergangenen Ereignisse, aus ihm erwachsen auch die Begierden, die Ohnmachten und die Irrtümer ; am Leib finden die Ereignisse ihre Einheit und ihren Ausdruck, in ihm entzweien sie sich aber auch und tragen ihre unaufhörlichen Konflikte aus. Dem Leib
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Geschichte am Leib nagt.«382 Butler nutzt diese Vorstellung, um über die Geschlechtlichkeit des Körpers zu reden. Sie erkennt, dass es keinen natürlichen Körper gibt und dass auch das Geschlecht durch Zuschreibungen bestimmt ist. Der Körper wird gebildet durch die Diskurse, die nur scheinbar natürliche Tatsachen behaupten.383 Wodurch wird der Körper nun gebildet? Nach Butler ist es die heterosexuelle Matrix, die Festschreibung heterosexueller Praktiken auf den Körper. Dadurch wird der Leib dem Begehren unterworfen. Er muss so gebildet werden, dass zweigeschlechtliche Sexualität möglich wird, zum Wohl der Fortpflanzung. Es entstehen der männliche und der weibliche Körper, die sich ergänzen sollen. Der Körper ist aufgebaut auf das zwingende Vorhandensein des anderen Geschlechts: »Damit die Körper eine Einheit bilden und sinnvoll sind, muss es ein festes Geschlecht geben, das durch eine feste Geschlechtsidentität zum Ausdruck gebracht wird, die durch die zwanghafte Praxis der Heterosexualität gegensätzlich und hierarchisch definiert ist.«384 Durch die heterosexuelle Matrix wird außerhalb dieser Kreise die Vielfältigkeit der Geschlechter auf zwei reduziert, die sich binär entgegenstehen und sich gleichzeitig bedingen. De Beauvoir beschreibt die soziale Abhängigkeit der Frau vom Mann und wie er die Frau als das Andere gestaltet. Butler weitet diese Dependenz auch auf den Körper aus und zeigt, wie auch eine bisher als vorhanden geglaubte Natürlichkeit abhängig vom Diskurs sozial konstruiert ist. De Beauvoir beschreibt ausführlich das othering385, das die Frau durch den Mann erfährt, das heißt wie die Frau stets nur in Bezug auf den Mann erklärt wird. Nun fehlt aber für eine Analyse gegenseitiger Abhängigkeit in den Mären die des Mannes von der Frau. Die fehlende Forschung über diese Lücke wurde bereits beklagt – innerhalb der Männerforschung. So erklärte Raewyn Connel 1995 in Bezug auf de Beauvoire:
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prägen sich die Ereignisse ein. Am Leib löst sich das Ich auf. Es ist eine Masse, die ständig bröckelt.« Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie (1996), S. 75. Ebd. »Und was bedeutet der Begriff Geschlecht (sex) überhaupt? Handelt sich um eine natürlich, anatomische, durch Hormone oder Chromosomen bedingte Tatsache? […] Hat das Geschlecht eine Geschichte? […] Wenn man den unveränderlichen Charakter des Geschlechts bestreitet, erweist sich dieses Konstrukt namens Geschlecht vielleicht als ebenso kulturell hervorgebracht wie die Geschlechtsidentität. Ja, möglicherweise ist das Geschlecht (sex) immer schon Geschlechtsidentität (gender) gewesen, so dass sich herausstellt, dass die Unterscheidung zwischen Geschlecht und Geschlechtsidentität letztlich gar keine Unterscheidung ist.« Butler: Das Unbehagen der Geschlechter (2009), S. 23f. Ebd., S. 220, Anm. 6. Auch hier baut Butler auf andere Arbeiten auf, nämlich auf die Monique Wittigs. Die französische Philosophin erklärt aus dieser heterosexuellen Matrix und deren Einfluss auf den Körper, dass konsequenterweise Homosexuelle außerhalb der binären Körpereinteilung stehen: Lesben sind keine Frauen. Der Begriff aus der Sozialwissenschaft bezeichnet eine Herabsetzung fremder Gruppen, um sein eigenes Image zu pflegen. Für Verwendung in der Germanistik s. Benthien: Historische Anthropologie. Neuere deutsche Literaturwissenschaft (2002), v. a. S. 72.
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»As far as I know this [de Beauvoires] approach has never been explicitly applied to the First Sex, as a theory of masculinity.«386 Doch dies kann nicht so einfach geschehen – das zeigt Pierre Bourdieu. Vor allem der späte Bourdieu beschäftigte sich explizit mit der Männlichkeit. Dabei basieren seine Arbeiten zu großen Teilen auf dem ethnografischen Material, das er während seiner Feldforschung in der algerischen Kabylei in den fünfziger Jahren erhoben hat. Dies muss mitgedacht werden. Die kabylische Gesellschaft ist durchdrungen von nur einem dominanten Prinzip sozialer Differenzierung: dasjenige des Geschlechts. Der öffentliche und der private Raum sind streng geschlechtlich getrennt. Weiblichkeit steht für das Innere und das Passive, Männlichkeit für das Äußere und das Aktive. Bourdieu sieht die »männliche Herrschaft [als] das Paradigma aller Herrschaft.«387 In einem solchen System ist es nicht entscheidend, was die Frauen über die Männer sagen. Sie sind nicht teilnahmeberechtigt am Diskurs. Viel wichtiger ist, was Männer über Männer sagen und wie sie mit ihnen agieren: Konstruiert und vollendet wird der männliche Habitus nur in Verbindung mit dem den Männern vorbehaltenen Raum, in dem sich, unter Männern, die ernsten Spiele des Wettbewerbs abspielen. […] Von diesen Spielen rechtlich oder faktisch ausgeschlossen, sind die Frauen auf die Rolle von Zuschauerinnen oder, wie Virginia Wolf sagt, von schmeichelnden Spiegeln verwiesen, die dem Mann das vergrößerte Bild seiner selbst zurückwerfen.388
Männlichkeit ist in einer doppelten Abgrenzung geformt: gegenüber Frauen und gegenüber anderen Männern. In beiden Fällen ist die Dominanz der entscheidende Schubfaktor. Bourdieu spricht dabei von der libido dominandi des Mannes: Es ist die Größe und das Elend des Mannes […], dass seine libido gesellschaftlich als libido dominandi konstituiert ist, als Wunsch, die anderen Männer zu dominieren, und sekundär, als Instrument des symbolischen Kampfes, die Frauen.389
Was Bourdieu hier aufzeigt, ist die Binnendifferenzierung der Männer als die sprechende Gruppe. Wenn man suchen will, wer über Männer spricht, muss unter ihnen selbst suchen. Die Men Studies haben diese weiter ausgebaut.390
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Connell: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten (2006), S. 19. Bourdieu: Die männliche Herrschaft (1997), S. 216. Ebd., S. 203. Ebd., S. 215. Zentral für die Forschung ist die Arbeit von Raewyn Connell über die soziale Hierarchieordnung unter Männern. Dabei kann sie vier Formen ausmachen, wie Männer miteinander handeln: Hegemonie, Unterordnung, Komplizenschaft, Marginalisierung. Connell: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten (2006), S. 97–102.
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Bourdieus zeigt anhand der von ihm untersuchten Kabylen, dass ein Sprechen von Frauen über Männer in der Mitte des letzten Jahrhunderts nicht möglich war. In Bezug auf die Mären scheint es sich wiederum anders zu verhalten: Was findet sich denn anderes in ihnen vor, als dass hier Frauen über den männlichen Sexualkörper und seinen zentralen Mittelpunkt, den Zers, sprechen? Die Situation geschlechtlicher Abhängigkeit im Spätmittelalter, wie sie uns in den Texten erscheint, ist eine andere als im klassischen Patriarchat, wie ihn de Beauvoir und Bourdieu beschrieben haben. Bedenkt man Bourdieus Begründung des weiblichen Verbots der Mitsprache im Patriarchat mit seiner gleichzeitigen Differenzierung innerhalb der Sprechergruppe, kann das nur bedeuten, dass im Vergleich zur Moderne im Spätmittelalter die Geschlechter und ihre Stellung zueinander weniger gefestigt sind.391 Beachtet man Butlers Theorie der Köperprägung durch den Diskurs, scheinen hier die Teilnahmebedingungen schwammiger zu sein. Mal ist die Fud abhängig von der Meinung des Mannes, mal entscheidet die Frau über das Wohl und Wehe des Zers. Die starre, binäre Trennung der Geschlechter ist hier weniger zu finden, ein Umstand, den zum Beispiel Carol Clover bereits für die frühe Neuzeit entdeckt hat: »the difference was conceived less as a set of absolute opposites than as a system of isomorphic analogues, the superior male set working as a visible map to the invisible and inferior male set.«392 Für das (späte) Mittelalter scheinen mehrere Arbeiten über andere Textgattungen diese Ergebnisse zu bestätigen. Rüdiger Schnell kann diesen Umstand für Ehetraktate und -predigten aus dem 15. und 16. Jahrhundert nachweisen: Vom Androzentrismus ist die Textsorte (Ehe-)Predigt ein gutes Stück abgerückt. Nun wird der Mann selbst mit in den Diskussionsprozeß über die Voraussetzung einer rechten Ehe hineingezogen. […] Die in der Feminismus-Bewegung des 20. Jahrhunderts anklagende Feststellung ›Die Frau ist nicht Subjekt‹ besitzt ganz gewiß ihre Berechtigung. Doch mittelalterliche und frühneuzeitliche Ehepredigten und Bußsummen scheinen in manchen Passagen ein Denken in Subjekt- und Objekt-Rollen auszuschließen und statt dessen ein Modell der – auch heute noch eingeklagten – Interdependenz zu favorisieren.393
391 Normalerweise bin ich immer sehr vorsichtig, wenn es darum geht, Theorien über moderne Verhaltensweisen auf die mittelalterliche Welt zu übertragen. Aber hier geht es mir darum zu zeigen, dass diese modernen Theorien (im Sinn von Theorien über die Moderne) hier gerade nicht greifen und die Geschlechtersituation eine andere war. 392 Carol Clover (1993): Regardeless of Sex. Men, Women and Power in Early Northern Europe. In: Speculum 68, S. 363–387, S. 377. Zitiert nach Bennewitz: Zur Konstruktion von Körper und Geschlecht in der Literatur des Mittelalters (2002), S. 5. 393 Schnell: Frauendiskurs, Männerdiskurs, Ehediskurs. Textsorten und Geschlechterkonzepte in Mittelalter und Früher Neuzeit (1998), S. 160f.
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Ebenso kann er Männerkritik bei Christine de Pizan (ca. 1400) und Jo¼o de Barros (1540) aufzeigen.394 In Andrea Siebers Dissertation zu den Trojaromanen kann sie in der Figur der Medea eine Repräsentantin eines gender-Kontinuums feststellen: In den Trojaromanen zeichnet sich die Dominanz der Kategorie gender ab, wobei die Polarität der Geschlechter mitunter zugunsten eines gender-Kontinuums aufgegeben und die Asymmetrie der Geschlechter bemerkenswert forciert und invertiert wird.395
In der Minnelyrik stehen auch Männer zur Disposition, wie Judith Klinger herausarbeitete: Wenn ferner die Dame des Minnesangs nicht nur mit sozial männlich konnotierten Attributen ausgestattet wird, sondern in der Figuration der frouwe auch ein männlicher Adressat des Liedes, nämlich ein Ehemann oder Mäzen angesprochen sein sollte, ergeben sich derart komplexe wechselseitige Repräsentationsverhältnisse, daß die Stabilität der Kategorien Mann und Frau keinesfalls als gegeben unterstellt werden kann.396
Der Vorteil des Mittelalters ist, dass es ein Erfahrungsort kultureller Alterität sein kann, in dem die gesellschaftlichen Verhältnisse unter anderen Vorzeichen als unsere heutigen standen. In Hinsicht auf die Geschlechterverhältnisse in den Mären scheint die asymmetrische Abhängigkeit der Frau vom Mann nicht vorhanden, viel eher herrschen hier Interdependenzen und gegenseitige Bezugnahmen vor. Im Zentrum dieses Kapitels standen die Mären, in denen das Genital als Agens eine zentrale Rolle spielt, meist auch über eine Anthromorphisierung – in unterschiedlichem Grad. Von den vier Priapeia drehen sich drei um den Phallus, eine um die Vagina. In den Analysen hat sich gezeigt, dass es auf der anthropologischen Ebene der Geschlechterabhängigkeit kaum entscheidend ist, ob es sich um eine Penis- oder eine Vaginaerzählung handelt. Der Schreiber des Nonnenturnier schien keine Probleme gehabt zu haben, die ältere Erzählung des Rosendorn genderkomplementär zu drehen. Während das ältere Märe theologische Minnetraktate reflektiert, öffnet sich im Nonnenturnier eine zweite Ebene: Einerseits bleibt der Schwank dieser Reflexion verhaftet, in dem der Text das Aufspalten von entsexualisiertem Körper und konzentrierter Sexualität und der Frage nach der Priorität beibehält. Anderseits greift er auf märenspezifische Stilmerkmale zurück: Er verlegt die zweite Hälfte ins Kloster, 394 Schnell: Geschlechtergeschichte, Diskursgeschichte und Literaturgeschichte. Eine Studie zu konkurrierenden Männerbildern in Mittelalter und Früher Neuzeit (1998), S. 328–331. 395 Sieber : Medeas Rache. Liebesverrat und Geschlechterkonflikte in Romanen des Mittelalters (2008), S. 80. 396 Klinger : Ferne Welten, fremde Geschlechter. Gender Studies in der germanistischen Mediaevistik (1999), S. 53.
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parodiert religiöse Regeln und treibt die menschliche Triebhaftigkeit auf die Spitze. Wie ist Sexualität in den Priapeia übergreifend dargestellt? Bei den Einzeluntersuchungen hat es sich gezeigt, dass das Wohl und Wehe des Genitals immer abhängig ist von einem Repräsentanten des anderen Geschlechts. Es ließ sich beweisen, dass es in der Geschlechterdarstellung einen Unterschied gibt zwischen einer Moderne, wie sie von de Beauvoir, Butler oder Bourdieu gesehen wird, und dem Mittelalter, wie es in den Texten vermittelt wird. Das starre, binäre Trennen der Geschlechter ist hier weniger vorhanden. In Hinsicht auf die Geschlechterverhältnisse in den Mären scheint die asymmetrische Abhängigkeit der Frau vom Mann nicht vorhanden, viel eher herrschen in den Texten Interdependenzen und gegenseitige Bezugnahmen vor. In allen vier Priapeia wird im Streit dem Genital vorgeworfen, Chaos hervorzubringen oder ein Zeichen von Kulturferne zu sein. Es wird eine Basisopposition entworfen, die axiologisch aufgeladen wird und in der das Genital (Nonnenturnier, Rosendorn, Gold und Zers) beziehungsweise der Geschlechtsverkehr (Der verklagte Zwetzler) der Enthaltsamkeit gegenübersteht. Schon beim Charakterisieren der personifizierten Sexualität wird deutlich, dass diese Opposition nicht aufgeht: Das Genital entspricht selten den Vorwürfen radikaler Barbarei, sondern verfügt über ein überindividuelles Wissen, durch das der Träger oder die Trägerin beziehungsweise die Richterfiguren als naiv entlarvt wird. Die Mären reagieren parodistisch auf »konventionelle« Minnetraktate, -reden oder andere Mären, indem sie das chaotische Potenzial der Sexualität zu zügeln versuchen. Das heißt, dass der Streit zwischen allen Kontrahenten schlussendlich dazu führt, dass die personifizierte Sexualität in eine Abhängigkeit zum anderen Geschlecht geführt wird, in dessen Zusammenhang es zu Vereinigungsbewegungen kommt. In der Anthropologie der Priapeia befinden sich das Männliche und das Weibliche in einem gegenseitigen Anerkennungsbedürfnis, wenn sich der Streit zwischen einem Geschlecht (Nonnenturnier, Rosendorn) oder vor gesellschaftlichen Konventionen (Gold und Zers, Der Verklagte Zwetzler) entspinnt. Dies stellt einen tatsächlichen Gegenentwurf zur konventionellen Anthropologie dar. Die Interdependenz der Geschlechter ist die Antwort der Mären auf den Versuch, Basisoppositionen zu ziehen. Konkurrenzen werden hier über Aushandlungsprozesse aufgelöst.
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3.3. Heinrich Kaufringer: DIE SUCHE NACH DEM GLÜCKLICHEN EHEPAAR Mit Coralie Rippls Dissertation von 2014 liegt eine aktuelle und ausführliche Arbeit zu Kaufringer vor.397 Für einen autorbezogenen Forschungsbericht kann auf ihre Arbeit verwiesen werden,398 in diesem Kapitel werden nur jene Arbeiten herangezogen, die sich unmittelbar mit der Suche nach dem glücklichen Ehepaar (im Folgenden meist: die Suche) auseinandersetzen.399 Rippl untersucht den Text nicht gesondert beziehungsweise nur eingeschränkt als Bestätigung ihrer Modellanalysen anderer Kaufringermären. Die Ergebnisse ihrer Dissertation sollen deshalb die Analyse der Suche unterstützen, können jedoch nicht die spezifische Bedeutung des Textes erklären. In der Suche setzt sich mithilfe einer Konkurrenz ein bürgerliches Eheideal durch, das milte in der Partnerschaft positiv besetzt. Die Handlung lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Prolog: Mann und Frau sollen wie ein Leib mit zwei Seelen vereint leben. Ein reicher Bürger leidet unter seiner geizigen Frau. Lädt er Freunde ein, moniert sie die hohen Kosten. Wenn sie zu geizig ist, ist er zu großzügig. Ansonsten erweist sich die Frau als tüchtig und von hohem Ansehen bei allen anderen. Der Ehemann befürchtet, dass er und seine Frau keine Einheit bilden. Er will sich aufmachen, um das eine Ehepaar zu finden, das ohne Zank und Widerworte sei, egal wie lange es dauere. Nach vier Jahren ohne Erfolg landet er bei einem scheinbar glücklichen Ehepaar und sieht sich seinem Ziel nahe. Er offenbart sich seinem Gastgeber, worauf dieser ihm ein schreckliches Geheimnis preisgibt: Seine Frau hat ihn einst mit einem Pfarrer betrogen, weshalb sie nun zur Strafe jeden Abend aus dem Schädel des aus Rache getöteten Geistlichen Wein trinken muss. Der Bürger reist erschrocken wieder ab. In einer großen Stadt scheint er das perfekte Paar gefunden zu haben. Doch wieder zeigt sich ihm bei näherer Betrachtung ein haarsträubendes Bild: Im Keller des Haushalts hält der Ehemann einen entführten Bauern an Ketten, zu dem die Ehefrau 397 Rippl: Erzählen als Argumentationsspiel. Heinrich Kaufringers Fallkonstruktionen zwischen Rhetorik, Recht und literarischer Stofftradition (2014). 398 Ebd., S. 7–19. Nur die wichtigsten Daten: Die Texte Kaufringers werden ins späte 14. oder frühe 15. Jh. datiert, s. (Rippl, 2014), S. 5. Die Suche nach dem glücklichen Ehepaar ist wie alle Mären des Autors nur in der Handschrift Cgm 270 überliefert, die um das Jahr 1494 datiert wird, s. Schneider: Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Cgm 201–350 (1970), S. 189. Für alle weiteren relevanten historischen Fakten s. die folgenden Unterkapitel 3.3.2 und 3.3.3. 399 Euling: Das glückliche Ehepaar (1968), Ranke: Art. Buße der Ehebrecherin, in: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Bd. 2: Be – Chri (1979), Sappler : Art. Heinrich Kaufringer, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters [Verfasserlexikon] (1983), Krohn: Die Entdeckung der Moral oder : Ehebruch und Weisheit das Märe von der Suche nach dem glücklichen Ehepaar und die Kaufringer-Sammlung im cgm 270 (1987), Willers: Heinrich Kaufringer als Märenautor das Oeuvre des cgm 270 (2002), S. 104–117, Groitl: Er ist ze milte, sie ist ze karc. Kaufringers Märe Die Suche nach dem glücklichen Ehepaar (2006).
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immer geht, wenn sie nach Minne sucht. Damit kommt der Ehemann dem öffentlichen Ehrverlust durch die Frau zuvor. Selbst ihre Kinder stammen von dem Gefangenen ab. Der Rat an den Bürger : Er solle die Knausrigkeit seiner Ehefrau nicht tadeln, niemand sei gänzlich vollkommen, dieser eingeschriebene Makel sei die Frucht des Teufels. Der Bürger kehrt mit diesem Rat in seine Heimat zurück und sieht seiner Frau ihren Geiz nach, da sie ansonsten tadellos ist. Epilog: Wenn es nur Geiz ist, sollte der Mann es seiner Frau nachsehen.
Das Märe ist aus drei Blöcken zusammengesetzt, von denen die Episode ›Der Bauer im Keller‹ von Kaufringer selbst stammt; ›Die Buße der Ehebrecherin‹ und ›Entlarvung des nur scheinbaren Glücks‹ sind älterer Natur und bereits in den Gesta Romanorum miteinander verknüpft, die als Grundlage von Kaufringers Fassung angesehen wird.400 Schaut man auf die Schnittstellen der Kombination der drei Blöcke, erkennt man die wettbewerbliche Erzählstruktur, die den Rahmen der drei Teile bildet.
3.3.1. Erzählbausteine Bei der Kompilation reihen sich nicht einfach drei Blöcke hintereinander, sondern stets wird auf die Konkurrenzsuche des Ehemanns verwiesen. Der Minimaldefinition des Wettkampfs folgend, in dem sich Variablen in einem gemeinsamen Kontext alternierend unterscheiden,401 kann man die Erschaffung dieses gemeinsamen Rahmens nicht nur in der Thematik der richtigen Ehe, sondern auch in der Narration erkennen. Vergleichbarkeit wird auf zwei Ebenen generiert: zwischen den drei Erzählblöcken insgesamt und darin untergeordnet noch einmal zwischen den beiden Gastgebererzählungen. Nach der Darstellung der ehelichen Differenzen durch den Erzähler wechselt Kaufringer in einen Monolog des Kaufmanns. Dabei wiederholt er noch einmal das Erzählte: Seine Frau sei eine gute Frau und werde überall öffentlich gelobt, aber sie sei doch zu geizig und im Privaten zeige sie ihr wahres Gesicht. Seine Frau sei zwar sonst tugendhaft, aber ihr Geiz schade ihm. Nun sei die Zeit gekommen, um auszureisen und eine perfekte Ehe zu finden. In der Rede diskursiviert der Kaufmann das Ziel seiner Reise. Immer wenn der Kaufmann auf seine Gastgeber trifft, kommt der Zeitpunkt, an dem er sich offenbaren muss. Beide Male geschieht dies durch eine Rede, die seinen Monolog im ersten Teil wiederholt. Am Ende erschrickt der Kaufmann über das radikale Leid innerhalb der Ehen und reitet entweder weiter (Ehemann 400 Mehr zu den Textquellen findet sich in Kaufringer: Die Suche nach dem glücklichen Ehepaar (Edition: Grubmüller), S. 1279–1281. 401 S. meine Zusammenfassung am Ende von Kap. 2.3.
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zwei) oder begibt sich geläutert nach Hause (Ehemann drei). Die verbindenden Momente aller drei Erzählbausteine lassen sich dementsprechend folgendermaßen abbilden: Lob der Frau ↓ Kritik an Frau ↓ Diskursivierung des Kaufmannsziels ↓ Abreise beziehungsweise Heimreise
Darin eingebaut sind die beiden Gastgebererzählungen, die einer komplexeren Struktur folgen. Sobald der Kaufmann denkt, dass er Erfolg in seiner Suche nach dem besten Ehepaar hat, will er sich aufmachen heimzukehren. Beide Gastgeber fragen erst jetzt, was eigentlich das Ziel seines Aufenthalts ist und offenbaren die erschreckende Realität der eigenen Ehe. Ehemann zwei lässt seine Frau den Schädel des toten Buhlers bringen, Ehemann drei führt den Kaufmann zum angeketteten Bauern im Keller. Die Erklärung dieser seltsamen Umstände erfolgt beide Male im Nachhinein in den Reden der Gastgeber. Im Fall des Schädeltrinkens führt dies zur sofortigen Abreise, im Fall des Kellersklaven folgt auf die Nachrede des betrogenen Ehemanns die Heimkehr. Als Schema ergibt sich damit: Freude des Kaufmanns und Aufmachen zur Abreise ↓ Nachfrage des Gastgebers ↓ Lob der Frau ↓ Kritik an Frau ↓ Diskursiveren des Kaufmannsziels ↓ demonstratives Enthüllen des Eheunglücks seitens der Gastgeber ↓ mündliche Begründung des Eheunglücks ↓ Nachrede (bei Ehemann drei) ↓ Abreise beziehungsweise Heimreise
Durch den gleichen narrativen Aufbau schafft es Kaufringer, die einzelnen Episoden zu verbinden. Alle Bausteine sind ähnlich aufgebaut, wobei die beiden Gastgeberszenen wiederum gleich ablaufen. Die Ähnlichkeit, um auf das Ziel
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einer solchen Strukturbildung zu kommen, dient dem Realisieren eines Wettkampfmusters. Durch das Herstellen von Erzählmustern im Märe wird ein gemeinsamer Kontext erschaffen, der diese Konkurrenz erzeugt. Die Wiederholung des Eheunglücks in beiden Gastgeberszenen bringt den Mangel des Kaufmanns in einen direkten Vergleich. Durch diesen Analogiecharakter wird der Fehler gegen Ende gelöst: Ehemann drei bringt in seiner Rede den Kaufmann zur Einsicht, dass im Vergleich zu seiner Ehe die des Fremden gar nicht so übel sei. Damit geht die Konkurrenz in einem Perspektivenwechsel des Protagonisten auf. Die Vergleichbarkeit der Erzählblöcke bringt die Möglichkeit für die Konkurrenz überhaupt erst zustande. Dies gilt sowohl für das Verhältnis zwischen den Gastgeberszenen, mit denen sich beide Ehen als unmögliche Alternativen erweisen, als auch für die Beziehung zwischen dem Gastgeber und dem Kaufmann. Dessen Ehe erweist sich gegenüber den beiden Kombattanten nicht als absolut, aber relativ beste.
3.3.2. Forschungsüberblick zu Kaufringer als Märenautor Ein Auseinandersetzen mit Kaufringer als Autor zeigt, inwieweit sich diese relative Konkurrenz als Kasuserzählung erweist und wie sich aus dem Wettkampf der Erzählstruktur eine Transformation sozialer Ordnung ergibt. Die Suche zielt darauf ab, in das bürgerliche Milieu der Figuren die milte als männliche Tugend zu inkludieren. Beim Autor handelt es sich vermutlich um einen Bürger der Stadt Landsberg am Lech in der Nähe von Augsburg. Der Familienname verweist als Herkunftsmarker auf den nahen Ort Kaufering. In Landsberg lassen sich zwei Heinrich Kaufringer nachweisen, Vater und Sohn, beheimatet in einem bürgerlichen Milieu.402 Ob der jüngere oder der ältere Kaufringer der Autor ist, kann nicht entschieden werden.403 Aus Augsburg stammen die beiden Haupthandschriften404 und die Stadt ist zweimal Schauplatz der Handlung405. Das Märe Bürgermeister und Königssohn setzt die Gründung der Erfurter Universität 402 Offen bleibt, ob der Autor der ältere Heinrich Kaufringer war oder sein gleichnamiger Sohn. Der ältere ist als Kirchenpfleger beurkundet, der jüngere verpflichtet sich Geld zu stiften. Fischer : Studien zur deutschen Märendichtung (1983), S. 148–152. Fischer zählte Heinrich Kaufringer zu den vier großen Märendichtern. 403 Zuletzt Rippl: Erzählen als Argumentationsspiel. Heinrich Kaufringers Fallkonstruktionen zwischen Rhetorik, Recht und literarischer Stofftradition (2014), S. 7 u. Grubmüller : Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter : Fabliau, Märe, Novelle (2006), S. 175, Anm. 1. 404 München Cgm 270 (um 1464) und Berlin mgf 564 (1472). Die weitere Handschrift München Cgm 1119 (1467) enthält einen einzigen Kaufringertext. 405 Mönch als Liebesbote u. Chorherr und Schusterin.
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(1392) voraus, als sicherer terminus ante quem gilt die Fertigung der Handschrift Cgm 270 im Jahr 1464 – für eine solche Lebenszeit müsste Heinrich ein sehr hohes Alter erreicht haben, für plausibler gehalten wird daher die Autorisierung der Textreihenfolge einer Vorlage.406 Drei der Texte enden mit der Verfassersignatur Also sprach der Kauffringer beziehungsweise Also sprach Hainrich Kaufringer. Insgesamt lassen sich 27 Reimpaargedichte (17 Mären, dazu Bispeln, geistliche Erzählungen und Reden, zwei weltlich-didaktische Reden) dem Dichter Umfeld zuordnen. Paul Sappler legt auch eine Mitgliedschaft in dem sich damals konstituierenden Berufsliteratentum nahe.407 Als literarische Würdigung ist Kaufringer immer wieder eine eigene Schreibweise zugesprochen worden: Sappler betont seine Fähigkeit, »in einigen seiner Erzählungen die für das literarische Genre typischen Situationen und Handlungsabläufe zu variieren, das ständische Personal in unerwarteten Rollen zu zeigen, ja manche Fabel wohl selbst erst zu erfinden.«408 Für Jan-Dirk Müller liegt die Modernität Kaufringers in der ›Nicht-Integration‹ in die Märendichtung. Kaufringer breche mit den Erzählkonventionen, wenn beispielsweise klassische Erzählschemata nicht erfüllt werden oder der Handlungsverlauf bestenfalls partiell einem exemplarischen Anspruch gerecht wird.409 Klaus Grubmüller spricht Kaufringer einen Sonderstatus zu; dass jedoch diese Zuweisung aus einem nicht unproblematischen Gattungshorizont heraus erfolgt, davor hat zuletzt Coralie Rippl in ihrer Paraphrase Grubmüllers gewarnt: »Die Gattung Märe sei seit dem Stricker geprägt durch das exemplarische Erzählen, die Gattungserwartung auf das Lehrhafte gerichtet. Kaufringer entwickle sich vom traditionellen exemplarischen Märenerzählen weg, hin zum literarischen 406 Für die Gesamthandschrift scheint die Kaufringersammlung neben Minnereden, didaktischen und pragmatischen Texten »die Funktion eines erzählenden, stofflich unterhaltenden Schlußteils« zu haben. Mihm: Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung im Spätmittelalter (1967), S. 26; vgl. auch Rippl: Erzählen als Argumentationsspiel. Heinrich Kaufringers Fallkonstruktionen zwischen Rhetorik, Recht und literarischer Stofftradition (2014), S. 3. 407 Sappler : Art. Heinrich Kaufringer, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters [Verfasserlexikon] (1983), Sp. 1078. 408 Einleitung zu: Kaufringer : Bürgermeister und Königssohn (Edition: Sappler), Bd. 1, S. XVII. 409 Müller : Noch einmal: Märe und Novelle. Zu den Versionen des Maere von den Drei listigen Frauen (1984), S. 310, Anm. 36. Es scheint mir zu viel an behaupteter Eigenart Kaufringers zu sein, wenn Brüche entstehen »durch das nicht mehr stimmige Verhältnis von Erzählerkommentar im Pro- und Epimythion und Geschichte oder durch die Erzähltechnik innerhalb der Geschichte«, wie es Coralie Rippl formuliert (Rippl: Erzählen als Argumentationsspiel. Heinrich Kaufringers Fallkonstruktionen zwischen Rhetorik, Recht und literarischer Stofftradition (2014), S. 9). Der Erzählüberschuss des Geschehens gegenüber der Moral findet sich in nahezu allen Mären und diese Verselbstständigung erklärt sich aus der Weiterentwicklung der Gattung aus dem der Exempelliteratur. Vgl. Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive (2015), S. 136.
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Freiraum der Gestaltung von Groteske und Chaos.«410 Für die Suche stellt Grubmüller fest, dass das Lehrziel unverstellt deutlich ausgesprochen werde, nämlich die empfehlenswerte Zufriedenheit mit dem Gegebenen. Jedoch gehe diese Moral nicht nur unzureichend in der Erzählung auf, stattdessen stellt nach Grubmüller »die überspitzte Kraßheit der Motive […] die Gültigkeit dieser Empfehlungen [überhaupt] in Frage. Die Abstrusität der erzählten Fälle eignet sich nicht als Belegmaterial für Alltagsregeln.«411 Aus den grellen Situationen seien keine Regeln ableitbar und wenn dies versucht werde, taugen sie nicht mehr für das Leben. Damit unterlaufe die »Lust am Auserzählen des Abstrusen das exemplarische Erzählen, das die Mären Heinrich Kaufringers auszustellen vorgeben.«412 Die Texte fänden ihren Sinn in der »zynischen Subversion«413 des exemplarischen Märengestus. Coralie Rippl wertet diese Einteilung Grubmüllers als teleologische Zuschreibung: »In [seinem] Entwurf einer Gattungsgeschichte des Märe ist Heinrich Kaufringer damit nur als oppositionelles Element integrierbar«414, der die Gattung typologisch an ihr Ende führt. Damit greife Grubmüller ein Denkmuster von »Werden, Blühen und Vergehen einer Epoche oder Gattung«415 auf. An der Frage nach dem Sinn der Gattung entwickelt Rippl ihre Definition von der reflexiven Gattung. Ihr folgend kann es weitaus spannender sein, die ›Lust am Abstrusen‹ Kaufringers als Aufgreifen und Umformulieren von Referenzen zu lesen, womit die Komplexität von Erzählmustern gesteigert wird. Die weitere Analyse zielt darauf ab. Rippls Dissertation stellt in den Kaufringermären eine spezifische Erzählpoetik fest, die sie als ›kasuistisches Erzählen‹ beschreibt. »Es ist ein Erzählen, in dem immer wieder der Gestus eines argumentativen Gegeneinanders verschiedener Standpunkte als Prinzip aufscheint.«416 Der Kasus ist dabei unterschieden von dem »betonte[n] Geschehnismoment«, der »besonderen Begebenheit«417 der modernen Novelle. Den Kaufringermären liegt tatsächlich eine axiologische Offenheit zugrunde, die problemorientiert die Geschichte in einem Urteil auflöst. Gleichzeitig ist diese Entscheidung an die konkreten Umstände 410 Rippl: Erzählen als Argumentationsspiel. Heinrich Kaufringers Fallkonstruktionen zwischen Rhetorik, Recht und literarischer Stofftradition (2014), S. 9. 411 Grubmüller : Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter : Fabliau, Märe, Novelle (2006), S. 185. 412 Ebd., S. 185. 413 Ebd. 414 Rippl: Erzählen als Argumentationsspiel. Heinrich Kaufringers Fallkonstruktionen zwischen Rhetorik, Recht und literarischer Stofftradition (2014), S. 9. 415 Ebd., S. 9, Anm. 46. 416 Ebd., S. 272. 417 Thomé und Wehle: Art. Novelle, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft: Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Band 2 (2000), die Umschreibung als ›besonderen Begebenheit‹ ist entnommen aus einem Gespräch Goethes mit Ekkermann vom 29. Januar 1827.
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gebunden.418 Für die Suche heißt dies, dass die rechte ee nicht ohne den Einzelfall gefunden werden kann: »Das abstrakte Problem einer Theorie der idealen Ehe kann freilich nur in all seine praktisch-individuellen Fallkonstellation aufgelöst werden.«419 Dazu passt, dass das Märe mehrere Erzählungen umfasst, die ineinander verschränkt sind. Die Konkurrenzstruktur der Erzählbausteine erklärt die überspitzte Krassheit der Kasus im Falle von Ehemann zwei und drei. Sie dienen Ehemann eins als abschreckendes Beispiel und sind solchermaßen auch überzeichnet. In dieser Lesart enthält das Märe sehr wohl einen exemplarischen Charakter mit einem beurteilenden Ende. Darüber hinaus erweist sich Ehemann drei auch als wendebringende Ratgeber, der einen Ausweg aus der Misere eröffnet, indem er kasusspezifisch an die Erfahrungen des Kaufmanns erinnert und damit seine Ehe als relativ beste erscheinen lässt. Der reisende Ehemann postuliert am Anfang noch seine Perspektive auf die Ehe als die einzig richtige: Seine Ehefrau ist zu sparsam, dies gilt ihm als geprest (V. 151)420, an dem die Ehe kranke: das ist ain missfallen mir, / das si ain wenig ze karg ist (V. 152f.). Grubmüller geht hier in seinem Kommentar nachvollziehbar von einer Litotes aus und übersetzt Es mißfällt mir, daß sie viel zu geizig ist421. Die anderen Männer lassen den Mangel jedoch als Einzelfall erscheinen und ermöglichen implizit eine Pluralisierung der Perspektiven auf den Einzelkasus und auf die im Promythion aufgeworfene Frage nach der richtigen Ehe. Die Suche des Protagonisten liest sich somit als ein Experiment, bei dem ein dialogischer Erkenntnisprozess aufgeführt wird.
3.3.3. Sozialgeschichtlicher Kontext Rüdiger Krohn versucht eine sozialgeschichtliche Lesart des Märe und geht dabei vor allem auf die Leithandschrift cgm 270 ein.422 Der verbürgte erste Besitzer der Handschrift, Wilhelm von Zell423 war in Augsburg nachweislich Mitglied des Stadtpatriziats, obwohl er aus einem bayrischen Adelsgeschlecht stammte. Als Teil der städtischen Oberschicht dürfte er »sich die Normen der
418 Rippl: Erzählen als Argumentationsspiel. Heinrich Kaufringers Fallkonstruktionen zwischen Rhetorik, Recht und literarischer Stofftradition (2014), S. 19–29, v. a. S. 21–25. 419 Ebd., S. 290. Das kurze Kapitel über die Suche von S. 287–295. 420 Ich zitiere nach: Kaufringer: Die Suche nach dem glücklichen Ehepaar (Edition: Grubmüller). 421 Ebd., S. 777 u. 1283. 422 Krohn: Die Entdeckung der Moral oder : Ehebruch und Weisheit das Märe von der Suche nach dem glücklichen Ehepaar und die Kaufringer-Sammlung im cgm 270 (1987). 423 Sein Name ist auf der Innenseite des vorderen Deckels eingetragen.
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reichen Fernhändler und Kaufleute zu eigen gemacht haben«424. Vielleicht hat er als ehemals Außenstehender besonders auf ein richtiges soziales Passing425 und den damit verbundenen sozialen Integrationsgewinn geachtet. Der Besitz der Kaufringermären sei dabei nützlich gewesen, weil in ihnen bürgerliche Tugenden positiv besetzt sind. Dies betrifft vor allem die karcheit. In Kaufringers Märe vom verklagten Bauern wird Sparsamkeit erst als Vorwurf angeführt, um gegen Ende als positive Eigenschaft gewertet zu werden, »die namentlich für das stadtbürgerliche Publikum der wohlhabenden Oberschicht nichts Verdächtiges oder gar Verwerfliches haben konnte.«426 Zu Beginn der Suche ist der Geiz der Frau kein absolutes Übel, sondern nur Opposition zur Freigiebigkeit des Mannes: er zoch hin, so zoch si her. / si was ze karg, er was ze milt (V. 44f.). Zum Schluss wird Sparsamkeit »nicht nur als minderes Übel, sondern gerade als Ausdruck lobenswerter frümkait (500) akzeptiert.«427 Krohn sieht darin ein Erfüllen der Publikumserwartung durch Kaufringer oder durch einen Bearbeiter. Die zweite sozialgeschichtliche Folie, vor der Krohn das Märe liest, ist der Wandel des Geschlechterverhältnisses dieser Oberschicht, der aus der Perspektive der Männer ein erhöhtes Irritationspotenzial mit sich brachte. Während in vorherigen Jahrhunderten das Ehebruchthema »wohl nur als pikanter Topos«428 verwendet wurde, sieht Krohn die heftige Bestrafung (Trinken aus dem Schädel des Buhlers, auch der Bauer im Keller) von außerehelichem Sex in der Suche als Zeichen einer erhöhten Unsicherheit. Diese sei entstanden als Reaktion auf die breitere Emanzipationsmöglichkeit der Frau im freien Stadtbürgertum und gipfelte in der gleichberechtigten Partnerin des Mannes, »bis sie durch die ökonomischen Krisen im ausgehenden Mittelalter aus dieser Stellung wieder verdrängt wurde.«429 Von solchen übergreifenden Krisen zu sprechen ist
424 Krohn: Die Entdeckung der Moral oder : Ehebruch und Weisheit das Märe von der Suche nach dem glücklichen Ehepaar und die Kaufringer-Sammlung im cgm 270 (1987), S. 267. 425 Der englische Begriff bezeichnet den Assimilationserfolg von Individuen, sich einer fremden sozialen Gruppe durch Angleichung anzuschließen. Passing wurde vor allem durch die Gender und Postcolonial Studies in den deutschen Forschungsraum eingeführt, in denen es beispielsweise das Bestehen von Transsexuellen als Mitglied ihres Wunschgeschlechts oder das Durchgehen von Nicht-Weißen in der weißen Mehrheitsgesellschaft beschreibt. Zu einer allgemeinen Definition von Passing als sozialer Adaptionsstrategie mit Beispielen als amerikanisch-literaturwissenschaftliches Analysetool s. Ginsberg: Passing and the fictions of identity (1996). 426 Krohn: Die Entdeckung der Moral oder : Ehebruch und Weisheit das Märe von der Suche nach dem glücklichen Ehepaar und die Kaufringer-Sammlung im cgm 270 (1987), S. 266f. 427 Ebd., S. 267. 428 Ebd., S. 269. 429 Ebd.
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hier wenig hilfreich.430 Die sadistische Buße, die der erste Gastgeber seiner Ehefrau aufdrängt, unterscheidet sich in ihrer Drastik nicht fundamental von älteren Mären. In Strickers Rache des Ehemannes beispielsweise wird die Frau nicht nur öffentlich verstoßen, sondern verliert zusätzlich ihre Zunge. Zudem ist die komplette Szene vom Kopf als Trinkbecher in der Suche aus der literarischen Vorlagen übernommen. Die Auswahl des Motivs erklärt sich viel mehr aus der Vorliebe Kaufringers für erotische Sujets,431 die bis ins Burlesk-Obszöne oder Derbe reichen können.432 Diese sozialhistorische Lesart ist nur schwer beweisbar, da sie selbst wiederum auf nicht gesicherten Thesen zur Person Kaufringers aufbauen. Mit der Annahme der breiteren Emanzipationsmöglichkeit der Frau wird zudem von historischen Entwicklungen ausgegangen, die im Text selbst nicht konkret erwähnt oder thematisiert werden. Subtrahiert man diese Unwägbarkeiten, wird man wieder auf den konkreten Text zurückgeworfen und kann dort eine krisenhafte Männlichkeit erkennen, die im Mittelhochdeutschen bei allen drei Männern mit laid433 und pain434 umschrieben wird, und die als jeweils kasusspezifisch angesehen werden kann.
3.3.4. Krisenhafte Männlichkeit Der Protagonist kann keine Einigkeit in seiner Ehe durchsetzen: wir seien nicht also veraint, / als man von uns spricht und maint, V. 69f. Dabei ist in den Mären die Kontrolle der Ehe typische Aufgabe des Ehemanns. Diese Pflicht findet ihre poetische Formulierung auch vor und nach Kaufringer. Prominentes Motiv in den Mären ist die Frauenerziehung, das heißt die Korrektur und die Modifikation devianten Verhaltens durch den Ehepartner. Ältestes Beispiel ist dabei der Stricker. In seinem Märe Die eingemauerte Frau ist die Partnerin dem Mann nicht zu Diensten und will ihren Kopf gegen den Willen des Mannes durchsetzen. 430 Es erscheint mir signifikant, wie im Sprechen über Kaufringer noch häufiger als bei anderen Märendichtern von einer ›Krise‹ des Spätmittelalters gesprochen wird; siehe schon am Titel von Stede: Schreiben in der Krise. Die Texte des Heinrich Kaufringer (1993). Auf diesen Grobbegriff hat schon Grubmüller reagiert: »Keinerlei Aufschluß bringt der pauschale Bezug auf eine ›Krise des Spätmittelalters‹.« Grubmüller : Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter : Fabliau, Märe, Novelle (2006), S. 176, Anm. 4. 431 So auch schon Krohn: Die Entdeckung der Moral oder: Ehebruch und Weisheit das Märe von der Suche nach dem glücklichen Ehepaar und die Kaufringer-Sammlung im cgm 270 (1987) selbst, S. 260. 432 Ebd., S. 270. 433 V. 35, 60, 67, 68, 218, 350, 434 u. 447. 434 V. 7, 34, 60, 200, 442, 490 u. 502.
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Um den Ungehorsam der Frau abzuwenden, lässt der Mann sie in ein Gemach einmauern. In dieser gezwungenen Einkehr bereut sie ihre bisherige Haltung. Sie beichtet einem Pfarrer, der es schafft, den Mann vom Sinneswandel der Frau zu überzeugen. Sie wird aus ihrem Gefängnis befreit und wünscht öffentlich, alle widerspenstigen Frauen sollten ihrem Beispiel folgen und von nun an den Männern gehorchen. Dem eindimensionalen Geschlechterverständnis des Strickers, der zu Beginn des 13. Jhs. schrieb, folgte ideell rund ein halbes Jh. später Die Frauenerziehung des Sibote. Hier ist die Renitenz sogar genealogisch weitervererbt, die Mutter rät der Tochter ihrem Mann beharrlich zu widersprechen, so wie sie es bei ihrem Mann tut. Der Schwiegersohn will dies jedoch nicht billigen und schüchtert die Frau schon während der Heirat nachhaltig ein, indem er sie zwingt, als sein Pferd zu dienen. Die junge Frau ist ein für alle Mal geläutert und zeigt sich als beste Ehefrau. Diesem Beispiel folgend, tut es ihm auch der Schwiegervater gleich. Im Märe Die Faule Frau des Jörg Zobel wird dieser Stoff reduziert. Zobel entfernt die Mutter/Tochter-Beziehung, stattdessen übergibt ein verzweifelter Vater seine widerspenstige Tochter an einen benachbarten Pferdehändler, damit dieser sich die Frau gefügig macht. Durch rohes Einprügeln wird sie am Ende dem Mann in allem gehorsam. Es braucht keinen sozialgeschichtlichen Hintergrund, um die Krisenhaftigkeit der Männlichkeit im Kaufringermäre sichtbar werden zu lassen. Vor dem literarischen Hintergrund wird deutlich, dass der Kaufmann nicht in der Lage ist, seine Ehe zu korrigieren. Denn das Aufheben des ehelichen Makels wird in allen anderen Mären dem Mann als Aufgabe gegeben. In Kaufringers Märe fehlt dieser Imperativ. So wird zum Beispiel bei Sibote die Aufgabe des Mannes im Gespräch vom Vater ausformuliert: »Tohter, daz dunkt mich niht guot. woldestu haben senften muot, daz möhte dir hernach gevromen. du maht dem manne zuo komen der dich schiere twinget und nach sinen siten bringet[.«] (V. 151–156)435
Vertreten wird diese Aufforderung bei Sibote und Jörg Zobel durch die Herkunftssippe, beim Stricker ist das richtige Eheverhalten zusätzlich dominant religiös436 durch eine Rede des Pfarrers motiviert. 435 Sibote: Frauenzucht (Edition: Sonntag). 436 Überschneidung zwischen Herkunftssippe und Religion sind natürlich möglich: In der Eingemauerten Frau versucht erst die Familie, die Frau »zu Vernunft« zu bringen; bei Sibote wird die Zähmung auch religiös begründet, zum Beispiel in V. 13–15: Spriche ich ›swarz‹, s% sprichet ›w%z‹, / dar an kÞret si ir vl%z / und tuot daz sÞre wider gote. Zum Motiv der Frauenzähmung in der Frauenerziehung s. ausführlicher Silvan: Gottesbilder in höfi-
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3.3.5. Fehlende Ordnung in der SUCHE Dem Ehemann bei Kaufringer fehlt dieser imperative Charakter des richtigen ehelichen Selbstverständnisses. Im Promythion wird eine Einigkeit formuliert, die aus Gen. 2, 24 abgeleitet ist437: ain man und auch sein eweib / zwuo sel und ainen Ieib / süllen mit ainander haun (V. 3–5). Weil der Protagonist sich auf den Weg macht, um eine vollkommene Entsprechung des formulierten Ideals christlicher Ehemoral zu finden, lässt sich von einer »Diskursivierung der Sentenz«438 sprechen. Diese beginnt damit, dass der Spruch von einem Leib erst vom Erzähler interpretiert wird: si süllen also sein veraint, was ir ains mit willen maint und im ain wolgefallen ist, so sol das ander ze der frist auch sein gunst dazuo geben. das haist wol ain raines leben und ist ain rechte ee zwar. (V. 9–15)
Die Ehe des Mannes ist gegenüber diesem Ideal rückständig. Das erkennt auch der Kaufmann selbst (V. 69). Statt die Ordnung gewalttätig durchzusetzen wie beim Stricker, bei Sibote oder bei Jörg Zobel, stellt Kaufringer sie in Frage. Aus der Unmöglichkeit, die rechte ee (V. 15) zu realisieren, entsteht Leiden auf Seiten des Mannes: das haun ich […] / gelitten manig zeit und tag (V. 66f.). Gemäß der männlichen Sichtweise ist die eheliche Einigkeit alleinige Aufgabe des Ehemanns439 und dieser kommt er nicht nach. Auf seiner Reise sucht er deshalb Vorbilder, an denen er sich orientieren kann. Ehemann zwei wurde durch den Betrug seiner Frau zum Hahnrei. Zwar hat er Rache geübt, den Buhlen enthauptet, aus dem Schädel das Trinkgefäß gemacht sowie seine Frau gezwungen, sich jeden Abend symbolisch von ihrem ehemaligen Geliebten loszusagen und die eigene Schuld einzugestehen. Das allschen Mären des Hochmittelalters. Höfische Paradoxie und religiöse Kontingenzbewältigung durch die Grammatik des christlichen Glaubens (2009), S. 155–192. 437 Das Promythion ist eine Anspielung auf Gen. 2, 24: Darum verlässt ein Mann seinen Vater und seine Mutter und hängt an seiner Frau, und sie werden ein Fleisch. Die Bibelstelle ist jedoch weit weniger eine Handlungsmaxime, sondern ein moraltheologisches Ideal. 438 Rippl: Erzählen als Argumentationsspiel. Heinrich Kaufringers Fallkonstruktionen zwischen Rhetorik, Recht und literarischer Stofftradition (2014), S. 287. 439 Vgl. V. 62–65: die statt gemainclich wänt und sait, si sei gar in meinem willen; so tuot si mir widerpillen mer, dann iemant waiß fürwar
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abendliche Wiederholen des Rituals stiftet jedoch keine Einung, sondern reaktualisiert den Ehebruch.440 Durch den »permanenten Vollzug der Strafe«441 wird auch die Normverletzung stets aufs Neue in Erinnerung gerufen. Der einmalige Vollzug eines Strafrechts in der Suche, wenn der Ehemann den buhlenden Pfarrer tötet, wird zum ständigen Leid von Frau und Mann. Frieden und auch Einigkeit kann in dieser Situation nicht erzeugt werden. Der Mann müsste dafür die Schuld der Frau vergeben. Zu diesem Lösungsansatz ist der Mann nicht bereit und leidet stattdessen stets abermals: der wirt da zuo dem gast sprach: »herr, das ist mein ungemach, den ich all nacht muoß sehen an. wenn ich des nachtz will schlafen gan[.«] (V. 237–240)
Der Johannistrunk, auf den der Ehemann hier direkt verweist, ist traditionell eigentlich ein einmaliger Trunk, der einem Sterbenden oder einem Brautpaar gereicht wird.442 Hier symbolisiert er den Abschied vom verstorbenen Buhler. Indem der Ehemann sich von diesem Ritual nicht lossagen kann (si muoß in der buos bestaun / bis an ir end oun underlaß, V. 256f.), verweigert er sich der Einmaligkeit des Rituals – und entzieht sich der ihm eigentlich zukommenden Rolle des vergebenden Ehemanns (V. 258). Ehemann drei hat es geschafft, den Ehrverlust seiner Sippe durch die deviante Sexualität seiner Frau zu stoppen. Auch sein Gesicht konnte er in der Öffentlichkeit bewahren beziehungsweise zurückerobern (V. 391–393 u. 398f.). Dem Trieb seiner Frau aber kann er nichts entgegensetzen (V. 397). Der Bauer im Keller ist nur ein Ventil. Der Ehemann hat sogar die Rolle des Erzeugers verloren, der ungehür baur (V. 376f.) sichert nun die Generationennachfolge.443 Der Ehrverlust ist ins Private verschoben: so ist mein ere vast versert / gar haimlich und gar leise (V. 420f.). Die Frau tritt in der gesamten Episode nicht auf, der Kaufmann spricht das Leiden des Ehepaars ausnahmslos dem Mann zu. Durch den ständigen Sexsklaven im Keller ist auch die Männlichkeit von Ehemann drei krisenhaft, überhaupt im Vergleich zu den anderen Männern am stärksten beschädigt, denn er hat jede Handlungsoption in diesem Dilemma verloren und 440 Vielleicht ist es keine Zufälligkeit, dass der Ehebetrug zeitlich ca. mit dem Beginn der .ventiure zusammenfällt (beide fünf Jahre). 441 Willers: Heinrich Kaufringer als Märenautor das Oeuvre des cgm 270 (2002), S. 109. 442 Vgl. das Lemma Johannistrunk in: Deutsch: Art. Johannistrunk, in: Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache. 443 Unklar bleibt, warum der Mann die Ehe überhaupt nicht mehr vollzieht. Es scheint, dass aus den Egoperspektiven der drei Ehemänner die Schuld allein bei den Frauen liegt, während die Männer leiden.
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über seine eigene Generation hinaus Schaden durch die illegitime Herkunft seiner Kinder verursacht.
3.3.6. Pluralisierung der Perspektive Trotz seiner Leidensperspektive bringt Ehemann drei die Wende. Verstärkt wird diese Rolle durch die Topoi der Männerfreundschaft zwischen ihm und dem Kaufmann, die durch Semantiken der Treue und des Mitleids ausgedrückt werden, mit der die Verbindlichkeit seines Rats betont werden. Der letzte Ehemann schafft es, die Leidensperspektive des ersten zu brechen. Die pain durch die Taten ihrer Ehefrauen ist die Qual aller drei Männer. Der Erzähler verfährt in dieser Hinsicht komplexer : Er relativiert den Geiz von Ehefrau eins (si was ze karg, er was ze milt, V. 45). Erst mit Ehemann drei erreicht diese relativierende Sicht die Binnenerzählung beziehungsweise die Figurensicht. Die Egoperspektive des Kaufmanns wird verlassen, indem Ehemann drei seine Statusgleichheit hervorhebt und damit seine Ratgeberfunktion legitimiert:444 ich rat ew auf die trewe mein, ir sült nit lenger aus sein von ewrm weib frumm und guot. gar übel ir zwar an ir tuot. si verschult es nicht an ew, wann si hat kain untrew. ir karkait ist ze schelten nicht. (V. 449–455)
Ehemann eins nimmt den Rat an und kehrt nach Hause zurück. Er verzeiht seiner Frau ihre Sparsamkeit (er lies ir iren willen do / mit der karkhait, die si het, V. 480f.). Nach den kennengelernten Missständen erscheint ihm seine Ehe vergleichsweise frei von Leiden. Die imperative, biblische Handlungsanweisung vom Beginn der Märe wird ersetzt durch ein relatives In-Beziehung-Setzen. Am Ende der Binnenerzählung dient die Frau dem Mann als Legitimation der eigenen Freigiebigkeit: ob si gen im wart ungemuot, / das er truog der milte kron, / das übersach er ir vil schon (V. 492–494). Die Handlungsweisen werden kontextualisiert und das Ehepaar demonstriert nicht Einigkeit, sondern die Frau wird dem Mann als Ergänzung zugeordnet. Das Verhalten der beiden aus der Ausgangslage selbst hat sich nicht verändert. Die Lösung des Problems, nicht herbeigeführt durch handelndes Einschreiten, sondern durch Relativieren und 444 Mit Berufung auf die männliche Treue wird soziale Gleichheit aufgerufen: V. 358, 426, 449, 469.
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Kontextualisieren, ergibt sich aus der suchenden Reise, die ein .ventiureSchema zum Verbinden der Erzählblöcke verwendet.
3.3.7. Kombination durch aventiureschematisches Erzählen Der literarische Ausgangspunkt der Märenfassung ist eine didaktische Erzählung aus den Gesta Romanorum, die den Kaufmann in Begegnung bringt mit einem Fürst, dessen augenscheinliches Glück einer perfekten Ehe mit dem Trinken aus dem Schädel als Desaster entlarvt wird.445 Diesen Erzählbaustein hat Kaufringer um die Episode des Sklaven im Keller erweitert und mit der Suche des Kaufmanns gerahmt. Dabei transferiert er die histoire in das Erzählschema der Abenteuerfahrt, die »prädestiniert ist für die Integration von Binnenepisoden«446. In dieser Verschachtelung wird die Reise des Kaufmanns als aubentüre – die schwache Diphthongierung von .ventiure – von Fremden erkannt; zuerst vom ersten Gastgeber : in meinem sinn so dunket mich, / wie ir hie aubentüre suocht (V. 138f.). Die zweite Episode wird ebenfalls solchermaßen eingeleitet: mich dunkt, ir suochent aubenteur (V. 298); worauf der Kaufmann nicht nur bestätigt, sondern präzisiert: ich suoch sältzam aubentür (V. 309). Ungeheuer oder obskure Bestien gehören zum selbstverständlichen Figurenrepertoire von .ventiuren. So reimt Hartmann von Aue im Iwein .ventiure auf ungehiure, als der Ritter den Waldmensch nach der Bedeutung der Rittersuche fragt.447 In der Suche findet sich die Bestie, mit dem sich die sältzam aubentür erfüllt, als eingesperrter Sexsklave im Keller : da der gast den bauren sach, zuo dem wirt er da sprach: »das sind sältzan aubentür. was betütt der ungehür baur, der hie gefangen ist?« (V. 373–377)
Damit kontrastieren die Gastgeberszenarien mit der Welt des Protagonisten, die nicht zufällig durch seine milte und seine geselligen Gesellschaftsfeiern das adlige Milieu mit ihren Festen und auch sonst höfische Topoi zitiert: Würde und Ehre, hochgemuot und tugent und eine hervorragende Abstammung zieren den Kaufmann. Seine Identität erscheint wie eine Chimäre aus Bürgerlichkeit und 445 Grubmüllers Kommentar in: Kaufringer : Die Suche nach dem glücklichen Ehepaar (Edition: Grubmüller), S. 1279–1281. 446 Rippl: Geld und .ventiure. Narrative Aspekte der Zeit-Raum-Erfahrung bei Heinrich Kaufringer (2012), S. 548. 447 In Zusammenhang mit Kaufringers Suche bringt dies bereits Rippl, S. 549.
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Rittertum. So verlässt er seine Stadt in Begleitung eines Knechts, begründet seinen Aufbruch offiziell jedoch als Kaufmannsreise. Zum einen hat seine Reise ein .ventiure-haftes Raum-Zeit-Konzept, in dem der Held während seiner Fahrt auf eine scheinbar unbegrenzte Zeitreserve zurückgreifen kann.448 Gleichzeitig berechnet der Erzähler die Reise sehr wohl, und zwar zeitlich als auch monetär : Bis zu Ehemann zwei verbringt er fünf Jahre auf der Suche, bis zu Ehemann drei hat er tausend Gulden aus seiner Kasse verloren. Dieses Aufrechnen von Geld in Zeit weist auf die ökonomische Denkweise des städtischen Bürgertums in Abgrenzung zu der unbekümmerten ökonomischen Lebensform des ländlichen Feudaladels hin,449 weshalb Ehemann drei auf die ökonomische Verschwendung durch die .ventiure verweist (metaphorisch verstärkend: wölt ir lenger haben pflicht, / […] so mügt ir ewer guot zerzaisen450, V. 456–458). Wie im Artusroman, in dem der Held die Grenze zwischen der höfischen und der außerhöfischen Welt überschreitet und in die Außenwelt eintritt,451 trifft auch der suchende Ehemann auf gefährliche und barbarische Praktiken. Diese Außenwelt ist aber seltsam durchmischt. So veranstaltet der erste Gastgeber ein großes Fest, »Sinnbild und Urszene des Höfischen«,452 auf dem manig süeß gedön (V. 181) erklingt und der Tanz die Frauen bis in die Nacht erheitert. Die gute Stimmung nach dem Fest wird dann jäh durch das Auftragen des abgetrennten Schädels, die Marter der Frau und das selbstverschuldete Leiden des Mannes durchbrochen. Auch die Welt des zweiten Gastgebers besticht eigentlich und ursprünglich durch wird und ere (V. 399), in der der Protagonist hervortritt durch gepurt und raichtum (V. 386). Die Bestie im Keller beweist aber die Scheinhaftigkeit dieser Welt. Wie im Artusroman ist die Außenwelt nie reines Chaos, sondern sie ist durchzogen von »›verwunschene[n]‹ Weltausschnitte[n] […] im Sinne einer strukturellen Ambivalenz, weil die Differenzierung zwischen dem Höfischen und dem NichtHöfischen […] zusammengefallen ist.«453 Doch im Gegensatz zum klassischen Roman gliedert der Held der Suche die ambivalenten Teilwelten nicht wieder in die höfische Welt beziehungsweise in seine bürgerlich-adelige Chimäre ein, 448 ich will suochen und auch vinden / in aller der welt gemain / zwai wirtlüt frumm und auch rain, V. 72–74; ich haun mir des gedacht, / das ich nimmer haim kumm, / bis das ich vind zwai wirtlüt frumm, V. 158–160. Zum Raum-Zeit-Konzept der .ventiure des Artusromans und der Suche s. Rippl: Geld und .ventiure. Narrative Aspekte der Zeit-Raum-Erfahrung bei Heinrich Kaufringer (2012). 449 Friedrich: Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer (1996), S. 21. 450 zerzaisen meint eigentlich: zerzausen, zerrupfen. Nach dem Kommentar von Grubmüller : Kaufringer: Die Suche nach dem glücklichen Ehepaar (Edition: Grubmüller), S. 1283. 451 Warning: Die narrative Lust an der List. Norm und Transgression im Tristan (2003), S. 184. 452 Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive (2015), S. 243. 453 Ebd.
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sondern überlässt seine beiden Gastgeber ihrem Schicksal. Sie dienen ihm nur als abschreckende Beispiele. Kaufringer hat die bürgerliche Ehe in ein Ritterromanschema eingewoben. Wie in einer klassischen Aventiureerzählung454 entsteht der Konflikt im Zentrum des bürgerlichen Haushaltes, wird jedoch nicht innerhalb des eigenen Hauses bereinigt, sondern durch Ausfahrt zu lösen versucht. Am Ende bringen die Außenwelten der Aventiurefahrt die Ordnung im eigenen Haushalt wieder zurück. Der entscheidende Unterschied liegt in der differenten Ansicht zwischen Erzähler und Protagonisten: Der Kaufmann ist aus seiner Egoperspektive bereits ohne Mangel, stattdessen sei seine Frau das Problem. Es ist das innere, private Grübeln über den status quo, der den Kaufmann erregt: das haun ich gar haimlich zwar / gelitten manig zeit und tag, / das ichs nit lenger leiden mag (V. 66–68). Das Ende seiner .ventiure bringt auch keine Korrektur äußerlicher Missstände oder ein Einwirken auf die Umwelt, sondern eine Kontextualisierung des bürgerlichen Konflikts durch äußeren Vergleich. Ohne den Kaufmann am Ende noch einmal selbst zu Wort kommen lassen, schreibt der Erzähler dem Protagonisten eine Erkenntnis zu, in der die eigene pain durch Akzeptanz gelöst wird: so maint er, ir baider leben, das er hett und das weib sein, das wär weder schand noch pein (V. 482–490). Damit überträgt der Erzähler seine Sichtweise am Schluss auf den Protagonisten, der nun jenen Punkt erreicht hat, den der Erzähler bereits zu Beginn vertritt. Durch den fehlenden Reifeprozess verliert das Märe seine normative Bedeutung: Der Ritter muss und wird nicht als ein anderer wiederkommen, wie beispielsweise Erec als Herrscher über Destregales, Iwein über das Brunnenreich oder Parzival als Gralskönig. Ganz im Gegenteil: Der Kaufmann kann keinen Machtzuwachs oder monetären Gewinn verbuchen, sondern gerät an die Armutsgrenze, die finanziellen Einbußen können nur durch die Beratung des letzten Gastgebers gestoppt werden. Dazu passt auch, dass die .ventiuren in der Suche selbst nicht stattfinden. Das eigentlich Abenteuerliche (beispielsweise der Raub des Bauern oder dass die Frau ihre sexuelle Lust mit der Bestie befriedigt) wird verkürzt auf seine Ergebnisse, während der konflikthafte Vorgang in die Figurenerinnerung vorgelagert wird. Die Ehemänner erzählen nur von ihren Taten.455 Der gesellschaftliche Zusammenhang der Taten wird neutralisiert und auf ihre – grausamen – Lösungen verkürzt. Der öffentliche Vorgang der .ventiure wird ins Private verlegt, in das Schlafzimmer von Ehemann zwei oder den Keller von Ehemann drei,456 womit das Märe seinen »Lebenszusammenhang«457 isoliert. Die Bewäh454 Ebd., S. 127. 455 Rippl: Erzählen als Argumentationsspiel. Heinrich Kaufringers Fallkonstruktionen zwischen Rhetorik, Recht und literarischer Stofftradition (2014), S. 292. 456 Coxon: Keller, Schlafkammer, Badewanne. Innenräume und komische Räume bei Heinrich Kaufringer (2005).
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rungsproben für den Kaufmann bleiben aus – auf der Handlungsebene unternimmt der Protagonist »eine sehr lange Reise, auf der nicht viel passiert.«458 Stattdessen werden Fakten aneinandergereiht und die Ehe in Rivalität gebracht.459 Durch die Einzelfälle verliert die .ventiure ihre Bedeutung. Kompositorisch bauen die beiden Episoden der Gastgeber nicht aufeinander auf, es gibt keinen fortschreitenden Zusammenhang, selbst die Radikalität des Leidens ließe sich theoretisch immer weitertreiben (zum Beispiel durch einen Ehemann 4, 5, etc.). Durch diese Wiederholbarkeit und potentielle Unabschließbarkeit verliert das Abenteuer an normativer Konsequenz.460 Gleichzeitig wird es aber befreit von einem exemplarischen Absolutheitsanspruch und schafft eine neue Perspektive auf tradierte Sinnbestände. Dies trifft auch auf die Erzählung von der .ventiure zu: Anders als der klassische Ritterroman endet die Ausfahrt in der Suche in einer Neubewertung alter Zustände, indem die milte als männliche Tugend positiv besetzt wird.
3.3.8. milte als männliche Tugend Bereits im Welschen Gast betont Thomas, dass milte zwar beiden Geschlechtern geziemt, doch vornehmlich eine männliche Tugend sei: Si st.t milte allen liuten wol: ein iegl%ch vrowe milt wesen sol; doch zimt diu milt den r%tern baz denne den vrouwen, wizzet daz. (V. 973–976)461
Milte ist eigentlich eine Verpflichtung des privilegierten Adels.462 Der junge Parzival beispielsweise erhält am Hof des Fürsten Gurnemanz’ vor allem eine 457 Müller : Funktionswandel ritterlicher Epik am Ausgang des Mittelalters (1980), S. 17. Diese Charakteristik der Isolierung ansonsten verflochtener ethischer Prinzipien teilt Kaufringer mit weiteren Epikern des späten Mittelalters. Müller zeigt dies an der History des Wigoleis, dem Iban Fuetrers, am Teuerdank und (am Rand) am deutschen Amadis. Deshalb will ich auch Rippl: Geld und .ventiure. Narrative Aspekte der Zeit-RaumErfahrung bei Heinrich Kaufringer (2012), S. 558, widersprechen, die Kaufringers Märe als Parodie auf den höfischen Roman wertet. 458 Rippl: Geld und .ventiure. Narrative Aspekte der Zeit-Raum-Erfahrung bei Heinrich Kaufringer (2012), S. 550. 459 Ebd. spricht dementsprechend von einer »Novellenreihe« (S. 552). 460 Müller : Funktionswandel ritterlicher Epik am Ausgang des Mittelalters (1980), S. 26. 461 Thomasin von Zerklaere: Der Welsche Gast (Edition: Willms). 462 Vgl. Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter (2008), S. 369.
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Lehre in der richtigen Praxis der Freigiebigkeit. Entscheidend ist das richtige Verhältnis zwischen Knausrigkeit und zügelloser Freigiebigkeit: gebt rehter maze ir orden (171, 13).463 Bei Kaufringer wird milte übertragen zu einer Tugend des burgers (V. 16–18), der mit seiner Gastfreundschaft große Beliebtheit erringt. Die Wohltätigkeit des Adels wird auf die Kaufmannsfigur transformiert und sein geschlechterspezifischer Marker. Die Kritik an ihr (ze milt, V. 45) verweist auf die sozioökonomische Besonderheit des Mannes, auf das fehlende wirtschaftliche Maß.464 Ein Ungleichgewicht in der milte lässt sich aber auch allen anderen Männern unterstellen, wobei diese im moralischen Sinn zu freigiebig sind. Denn Ehemann zwei macht die ehefrauliche Schande sichtbar, legt durch das repetitive Vollstrecken des Urteils ein Zeugnis allzu grausamer Bestrafung ab und markiert damit ein fehlendes Maß an Vergebung und Barmherzigkeit. Ehemann drei auf der anderen Seite mangelt es gerade an dieser Kontrollkraft, er ist zu freigiebig. Er konnte seine genderspezifische Aufgabe des Hausvorstands465 nicht erfüllen und lässt seine Frau beständig gewähren, indem er ihre Sexualität nur zu kanalisieren vermag. Das Leiden der beiden ist damit selbstverschuldet und erklärt sich aus der falschen Reaktion auf die krisenhafte Männlichkeit, hervorgerufen durch den Ehebruch der Partnerin (Ehemann zwei) oder die Unfähigkeit, die Sexualität der eigenen Ehefrau voll kontrollieren zu können (Ehemann drei). In der Einsicht, dass er seine Wohltätigkeit allzu häufig auf die Spitze treibt, erkennt Ehemann eins sein eigenes Ungenügen und kann seine Frau als strenge ökonomische Ergänzung seiner selbst anerkennen. Die Bruchstelle der eigenen Männlichkeit wird durch die Partnerin geschlossen und die milte in ein ausgewogenes Maß gebracht. Damit wird auch das charakterliche Extrem der Ehefrau gemildert und dem Gemeinsamen untergeordnet. Es handelt sich um eine Synthese: Die karcheit der Frau wird mit der milte des Mannes aufgewogen, motiviert wird dies durch den ökonomischen Profit.466
463 Wolfram von Eschenbach: Parzival (Edition: Lachmann). Interpretation der Textstelle nach Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter (2008), S. 434. 464 S. Groitl: Er ist ze milte, sie ist ze karc. Kaufringers Märe Die Suche nach dem glücklichen Ehepaar (2006), zusammenfassend S. 172. 465 Die patriarchale Kontrolle der weiblichen Sexualität im gesamten Wohnverbund, inklusiver eigener Familie und sogar Angestellten, schafft beispielsweise der Hausherr in Bürgermeister und Königssohn, indem er dem Buhler finanziellen Ersatz für den Beischlaf mit Frau und Magd anbietet. 466 Grubmüller übersetzt frümkait hier zu Recht mit Tüchtigkeit.
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3.3.9. Kasusspezifische Lösung im Vergleich – zu Kaufringers Erzählprofil Eine abstrakte Theorie der idealen Ehe wird in der Suche nur innerhalb der praktisch-individuellen Fallkonstellation aufgelöst. Die gegenseitige Abhängigkeit von Mann und Frau ist hier stark an die beiden Extremen der milte und der kargheit gebunden. Der Geiz der Dame ist nur legitim, weil auch ihr Ehemann bereits einen Makel besitzt. Dennoch ist die milte, die Heinrich hier seiner Figur zuspricht, ein echtes Novum der sozialen Ordnung gegenüber dem religiösen Ideal des ›einen Leibes‹ aus dem Erzählbeginn, das durch die Suche nach echter Verwirklichung seinen normativen Charakter verliert. Während die Eingangssequenz eine Vereinigung beider Ehepartner zu einer Gestalt beschreibt (si süllen also sein veraint, V. 9)467, sind die beiden Eheleute in der Suche interdependent zueinander, in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit brauchen sie einander. Noch stärker tritt die Suche als Neuerung gegenüber der Erzähltradition auf. Während die Figuren beim Stricker, bei Sibote und Zobel auf weiblichen Widerspruch mit gewalttätigen Erziehungsmaßnamen antworten, reagiert der Kaufmann in der Suche mit echtem Großmut. Dass diese Handlungsoption kasusspezifisch ist, zeigt sich auch darin, dass der zwei bis vier Generationen jüngere Jörg Zobel diese Neuerung nicht aufgriff, sondern wieder bei Sibote ansetzte. Das Märe scheint damit keine Wirkung für nachfolgende Autoren gehabt zu haben, obwohl die milte bei Kaufringer nicht nur in diesem Märe eine Handlungsmöglichkeit darstellt. Die Leithandschrift Cgm 270 enthält zwei weitere Novellen, in denen auf eine Krise der Männlichkeit mit Vergebung reagiert wird. In Bürgermeister und Königssohn erwischt der Bürger seine Frau in flagranti mit einem sich als Studenten ausgebenden Prinzen im Bad. Erst nimmt er den beiden die Kleider weg und sperrt sie in der Kammer ein. Doch statt die beiden Eingeschlossenen weiter zu quälen, unterdrückt er seine Schmach: er det als ain weiser man, / der sein schand vertrucken kann (V. 269f).468 Er bringt ihnen Speisen und Getränke und bewirtet die beiden in seinem eigenen Haus freundlich. Zuletzt bietet er dem Studenten Geld an, damit dieser in Zukunft seiner Frau (und seinem Hausmädchen) entsage. Von so viel Großmut beschämt, gibt sich der Jüngere als Prinz Frankreichs zu erkennen und belohnt den Kaufmann mit Handelsfreibriefen. Die Gnade zahlt sich auch monetär aus. Im Zurückgegebem Minnelohn trifft ein junger Ritter auf .ventiure eines Nachts eine Adlige und die beiden schlafen miteinander. Um die Dame zu 467 In diesem Sinn ist beispielsweise auch die Ehe des ersten Gastgebers beschrieben: si zugen baide gar geleich / mit worten, werken und mit sin (V. 118f.). 468 Zitiert nach Kaufringer : Bürgermeister und Königssohn (Edition: Sappler), S. 41– 52.
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überzeugen, dass sie nicht außer Stande verkehrt, schenkt er ihr seine einzige Habe, 60 Gulden, und erhält von ihr im Gegenzug einen weitaus weniger wertvollen Ring. Am nächsten Tag trifft er einen anderen Ritter, die beiden reiten auf Turnier. Am Abend erzählt der Jüngere von der Bewandtnis des Rings. Natürlich erkennt der Ältere sofort seine eigene Frau. Ohne sich die Schande anmerken zu lassen, lädt er den Jüngeren auf seine Burg ein.469 Der junge Ritter und die Ehefrau erkennen sich mit Schrecken wieder und versuchen den Ehebruch zu vertuschen. Nach einem gemeinsamen Mahl offenbart sich der Ehemann als längst aufgeklärt und lässt von seiner Frau die 60 Gulden zurückgeben. Der Jüngere erbittet von seinem Freund Güte und der Alte gewährt sie ihm. Er verschont seine Frau, ebenso wie den Liebhaber, mit welchem er lebenslang in Freundschaft verbunden bleibt. Die Reaktion des Mannes auf den Ehebruch spielt in beinah allen Mären Kaufringers eine bedeutende Rolle, entweder partiell, wie in den Gastgeberepisoden der Suche oder als zentrales Thema.470 Insgesamt sind es zehn der 13 Mären, die das Thema des Umgangs mit dem Betrug aufwerfen.471 Den drei anderen großen Märendichtern472 Stricker, Hans Rosenplüt und Hans Folz ist es weit weniger wichtig. Auf die Frage, wie der Mann reagieren soll, hält Kaufringer, quergelesen, mehrere Antworten bereitet: Bestrafung der Frau und des Buhlers wie bei Ehemann zwei oder nur einer der beiden, gnädige Vergebung, Anerkennen einer weiblichen natur wie bei Ehemann drei; zweimal findet sich auch schlichtes Nichterkennen. Der spätmittelalterliche Autor offeriert ein komplexes Verhaltensrepertoire seiner Figuren, das unter seinen Dichterkollegen seinesgleichen sucht. Die Motivwahl gehört damit zum Erzählerprofil Kaufringers ebenso dazu wie die Kasusstruktur seiner Erzählweise. Eng verbunden mit der Reaktion des Ehemanns auf den Betrug ist das Motiv der krisenhaften Männlichkeit, wie sie in der Suche bereits der Kaufmann erlitt. Im Wissen, aber auch im Nichtwissen um den Nebenbuhler, liegt immer eine Gefahr des genderspezifischen Ehrverlusts für die Figuren. Im Umgang mit der 469 Zur generationsübergreifenden Konkurrenz zwischen den beiden Männern, die genderbezogene Konkurrenz schafft, s. Schnyder: Abenteuer, Liebe, Geld zu Heinrich Kaufringers Märe Der zurückgegebene Minnelohn (1997). 470 Man kann diskutieren, ob die Reaktion des Mannes in seiner häufigen Kehrtwende oder Radikalität das in unserem heutigen Sinn novellistische, das heißt unerhörte Moment der Kaufringermären darstellt. Für eine solch komplexe Einordnung seiner Mären zwischen Kasus und Novelle verweise ich weiter auf die Monografie zu Kaufringer : Rippl: Erzählen als Argumentationsspiel. Heinrich Kaufringers Fallkonstruktionen zwischen Rhetorik, Recht und literarischer Stofftradition (2014), Kap. III 3.2. 471 Bürgermeister und Königssohn, Der zurückgegebene Minnelohn, Der Feige Ehemann, Die Suche nach dem glücklichen Ehepaar, Chorherr und Schusterin, Die zurückgelassene Hose, Der Zehnte von der Minne, Die Rache des Ehemanns, Die unschuldige Mörderin, Der Schlafpelz (in der Reihenfolge der Leithandschrift). 472 Fischer : Studien zur deutschen Märendichtung (1983), S. 145–162.
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Situation ergibt sich gleichzeitig die Möglichkeit, die eigene Handlungsmacht zu restaurieren oder sie für immer partiell oder total einzubüßen. Wenn im Zurückgegebenen Minnelohn der Ältere die Freundschaft zum aufstrebenden Ritter beibehält, ist dessen zukünftige Beliebtheit durch Turniergewinne ein Ansehensgewinn für das Männerfreundschaftspaar.473 Auch in der Suche erweist sich der scheinbare Ehrverlust des Mannes durch die Neuperspektivierung als ökonomischer Zugewinn durch das Wechselspiel zwischen Freigiebigkeit und Geiz.474 Und er gewinnt die Kompetenz, situativ die Legitimation von Gewalt abzuwägen – ein genderbezogenes Wissen.475 Mit der milte als Alternative zur Gewalt schließt Kaufringer mit einer neuen Handlungsoption den Bruch in der Männlichkeit. Diese Handlungsoption wird in eine komplexere bürgerlich-kaufmännische Ordnung inkludiert, in der sich karcheit als Tüchtigkeit erweist.
3.3.10. Fazit: Inklusion in soziale Ordnungen durch Kampf Freigiebigkeit und Nachsicht innerhalb der Ehe erweisen sich als subordinierende Regel des bürgerlichen Zusammenseins, die sich einem ökonomischen Kalkül unterordnet. Sie stellt neue Imperative als Teilglieder eines übergeordneten Gesamtsystems von Eheerzählungen und bietet eine alternative Handlungsmöglichkeit, beispielsweise gegenüber den Erzählungen von den verprügelten und eingemauerten Frauen beim Stricker, Sibote und Zobel. Durch die Inklusion der milte in das Gesamtsystem gewinnt letzteres an Komplexität, weil sich ein neues Aktionspotenzial aufseiten bürgerlicher Figuren ergibt: Auf weiblichen Widerstand lässt sich nicht mehr nur noch mit grober Gewalt oder unverzeihlicher Rache reagieren, wie es die beiden Gastgeber mit dem Trinken der Johannesminne oder der Entführung eines Fremden tun. Dadurch gewinnt das im 14. Jh. neue Erzählsetting an Anschlussfähigkeit, weil es ein zusätzliches Handlungsmodell für neue Erzählungen anbieten kann: die milte als bürgerlichmännliche Tugend. Der zweite große milte-Diskurs bei den Märendichtern, 473 Zur mittelalterlichen Männerfreundschaft s. v. a. die Arbeiten von Andreas Kraß, zuletzt Kraß: Ein Herz und eine Seele. Geschichte der Männerfreundschaft (2016). 474 Groitl: Er ist ze milte, sie ist ze karc. Kaufringers Märe Die Suche nach dem glücklichen Ehepaar (2006). 475 Siehe die genderbezogene zucht im Heinrich von Kempten. Bei Kaufringer zeigt sich trotz aller Radikalität auch eine Reflexion über Gewalt, die beim Stricker, Sibote oder Jörg Zobel nicht zu finden ist. Die Gewalt bei Ehemann zwei und drei wird mit Ehemann eins diskutiert, sie wird legitimationsbedürftig. Allgemeiner zu Gewalt bei Kaufringer s. Classen: Mord, Totschlag, Vergewaltigung, Unterdrückung und Sexualität. Liebe und Gewalt in der Welt von Heinrich Kaufringer (2000).
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nämlich im Werk des Strickers, verbleibt noch ganz im Milieu des Adels,476 Kaufringer transferiert die mittelalterliche Kardinaltugend in der Suche nach dem glücklichen Ehepaar sowie Bürgermeister und Königssohn in den neuen Kontext der Kaufmannswelt. Kaufringer übernimmt die Aspekte höfischen Erzählens und inkludiert sie in das bürgerliche Milieu. Wie bei einem Faltenwurf477 wechseln sich adelige und bürgerliche Erzählbausteine ab: Auf die milte des Mannes folgt die karcheit der Frau; die .ventiure-Fahrt führt den Mann in eine skurrile Unter-Welt ohne jede Kultiviertheit, die lange Reise birgt das Risiko der Verarmung usw. Diese Elemente steigern die potentiellen Erzählformen, indem sich neue Handlungsoptionen in einer Wettkampfstruktur neben alten organisieren. Sie erhalten ihren Wert, indem sie ihre Differenz gegenüber alten Ordnungen markieren, beispielsweise wenn der Kaufmann über die Zustände seiner Gastgeber erschrickt. Die Differenzen werden besonders sichtbar, wenn die agonale Struktur zwischen den konkurrierenden Elementen offenliegt. Durch die Konkurrenz unterschiedlicher Ehemodelle in den Erzählbausteinen der Suche validiert sich der neu eröffnete Perspektivwechsel des Protagonisten als plausible Lösungsmöglichkeit ehelicher Konfliktsituationen, birgt also einen Ausgang aus zwei agonalen Verstrickungen. Zum einen wird der Zwist zwischen Ehepartnern beigelegt, zum anderen wird die Auseinandersetzung mit anderen Ehemodellen zu ihrem Ende geführt. Indem eine Konkurrenzfähigkeit geschaffen wird, löst sich der erste Konflikt durch einen eingeschachtelten Wettkampf; seine Lösung ergibt sich aus der Beilegung der Konkurrenzsuche, denn keine Ehe erweist sich besser als die des Kaufmanns. Mit dem Analogiecharakter der drei Ehen wird eine neue, alternative Ordnung entworfen, die eigene Sinnangebote durch das alternierende Unterscheiden bildet und legitimiert. Dann wird das Ende auf den Anfang rückbezogen, und die Einfaltungen adeliger als auch bürgerlich-kaufmännischer Erzählbausteine erweitern den Handlungsspielraum. Um die Handlungsmacht entlang ständischer Hierarchie geht es auch in der Analyse des nächsten Märe, der Rosshaut Heinrichs des Teichners. 476 Ragotzky : Die kunst der milte. Anspruch und Funktion der milte-Diskussion in den Texten des Strickers (1980) weist nach, dass in Strickers Texten Die herren zu Österreich und Falsche und rechte milte Freigebigkeit eine wesentliche Form adeliger Selbstpräsentation ist. Dazu passt auch das Märe vom Edelmann und Pferdehändler, in dem der Adlige diese an der Tugend der milte missen lässt, s. Grubmüller : Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter : Fabliau, Märe, Novelle (2006), S. 83. 477 Über die Bedeutung von Einfalten kultureller Kontexte s. Gebert: Wettkampfkulturen. Erza¨ hlformen der Pluralisierung in der deutschen Literatur des Mittelalters (2019), Kap. Involution und Evolution.
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3.4. Heinrich Teichner: DIE ROSSHAUT Von Heinrich dem Teichner ist eins der umfangreichsten Œuvres des Spätmittelalters überliefert. Seine Lebenszeit ist mit den Angaben ca. 1310 bis kurz vor 1377 ungefähr umrissen. Über 700 Kleindichtungen sind in 44 Handschriften erhalten geblieben, 19 davon reine Sammelhandschriften des Österreichers. Keine ist aus seiner eigenen Hand oder autorisiert, doch zwei stammen noch aus seiner Lebenszeit, eine in Augsburger, eine in vermutlich Wiener Dialekt.478 Christian Schmidt hat zuletzt im Fall eines dritten Fragments für eine Niederschrift zu Teichners Lebzeiten plädiert.479 Das nach Teichners Tod schnell einsetzende Sammelinteresse an seinem Werk, das früh die Grenze zwischen mittelbairischer und ostschwäbischer Sprache überquerte, bleibt im 15. Jahrhundert durchweg bestehen und kommt erst im 16. Jh. mit dem Medienwechsel zum gedruckten Buch zum Erliegen.480 Damit teilen die Teichner-Mären das Schicksal der meisten Mären und Bispeln des Spätmittelalters. Der Teichner selbst stammte vermutlich aus Kärnten oder der Steiermark, urkundlich bezeugt ist seine Person jedoch nicht.481 Der Beiname scheint eine nicht bekannte Herkunftsbezeichnung zu sein.482 Bis auf eines der Werke beendet er alle anderen mit dem Vers also sprach der Teychner, sein Vorname ist aus einer Handschrift und 478 Für »mittelbairische, im Besonderen wohl Wiener Entstehung« plädiert Niewöhner für das mit 22 Versen recht knappe Gedicht des Schreibers und nimmt dies als ersten Anhaltspunkt für eine ausführlichere Analyse des Vokal- und Konsonantismus der Handschrift A, s. Ebd., Bd. 1, S. XLI–LV. Die beiden Handschriften sind Wien Cod. 2901 und München Cgm. 574; vgl. Glier : Art. Heinrich der Teichner, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters [Verfasserlexikon] (1981), Sp. 884 u. 886. Die heute in München liegende Handschrift ist in Augsburger Mundart und damit fern vom Dichter entstanden, im Gegensatz zur Wiener, die Heinrich Niewöhner deshalb auch als Leithandschrift benutzt, s. Heinrich der Teichner : Gedichte (Edition: Niewöhner), Bd. 1, S. XV u. XXX. Für eine Autorisierung der beiden Handschriften plädiert Knapp: Die Literatur zur Zeit der habsburgischen Herzöge von Rudolf IV. bis Albrecht V. (1358–1439) (2004), S. 69. Im Handschriftencensus fehlt die Rosshaut leider als eigenständiges Werk, in der Auflistung der Werke z. B. der Handschrift Nürnberg Merkel 28 966 bleibt deshalb eine Lücke. 479 Schmidt: Fragmente einer frühen Sammlung von Teichnerreden in Hamburg und St. Petersburg (2014). Dass auch die Handschriftenkunde und Lexikographie zum Teichner aktuell noch nicht abgeschlossen ist, zeigen auch zwei weitere Aufsätze jüngster Zeit: Stackmann: Mhd. geschal in der Teichner-Rede 576. Ein Stolperstein für den Lexikographen (2012) und Baldzuhn: Teichnerreden und Meisterlieder in einer Handschrift des Erfurter Kanonikers und Universitätsrektors Tilomann Ziegler († 1479) (2004). 480 Zur Handschriftenüberlieferung ausführlich Lämmert: Reimsprecherkunst im Spätmittelalter. Eine Untersuchung der Teichnerreden (1970), S. 14–108. 481 Malm: Art. Heinrich der Teichner, in: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter : Autoren und Werke nach Themenkreisen und Gattungen. Band 5: Epik (Vers – Strophe – Prosa) und Kleinformen (2013), Sp. 1079. 482 Glier : Art. Heinrich der Teichner, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters [Verfasserlexikon] (1981), Sp. 884.
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einem Nachruf von Peter Suchenwirt bekannt. In nur einer Rede bezieht er sich auf ein konkretes außerliterarisches Ereignis: In Werk Nr. 661483 nennt er die Pestepidemie von 1348 und erklärt, dass diese nun zehn Jahre her sei.
3.4.1. Forschungsüberblick In Folge der Gesamtausgabe484 erscheinen in den 1970iger Jahren mehrere Monographien über den Teichner. Die komplexeste darunter stammt von Eberhard Lämmert, der sich mit der historischen Person des Teichners auseinandersetzt. Lämmert kann darlegen, dass die Teichnertexte aus frei verfügbaren, thematisch orientierten Aufbauelementen bestehen, die als ›Versatzstücke‹ für immer neue Kompositionen verwendet werden.485 Der Dichter Heinrich der Teichner war eine historische Figur, seine Schlusssignatur Also sprach der Teychner wurde jedoch bald auch von anderen gemeinsam mit seinem schlichten, lehrhaften Stil übernommen. Eine genaue Trennung zwischen dem Dichter selbst und seinen Nachahmern ist deshalb nicht immer möglich. In diesem Kapitel ist mit dem Teichner nicht die historische Figur gemeint, sondern eine Gruppe von Texten gleichen Genus, die den Korpus eint, den einzelnen Text jedoch nicht immer mit Sicherheit dem ursprünglichen Dichter zuordnen lässt. In diesem Sinn verfährt zuletzt auch Manuela Niesner : Wenn […] im folgenden von ›dem Teichner‹ die Rede ist, so soll dies im Sinne eines Autor-Etiketts verstanden werden, ohne daß dadurch im Einzelfall etwas über die Textgenese gesagt sei. Jedenfalls finden sich zwischen den hier herangezogenen Sprüchen immer wieder inhaltliche Übereinstimmungen, und das sich ergebende Gesamtbild ist insgesamt so kohärent, daß es in seinen wesentlichen Zügen nicht von der Echtheit eines Einzeltextes abhängen dürfte.486
Für die hier im Zentrum stehende Rosshaut wird im Folgenden davon ausgegangen, dass das Märe vom Teichner selbst stammt, begründet werden kann dies durch Niederschrift des Texts in der Leithandschrift A. Fremd ist allen Texten des Teichners ein allegorischer Stil, der sich im Spätmittelalter sonst großer Beliebtheit erfreut, denkt man zum Beispiel an die Minnerede. Die Adressaten 483 Die verwendete Zählung der Teichnerwerke stammt aus der Gesamtausgabe von Heinrich Niewöhner. 484 Die Edition der Gesamtausgabe hat Niewöhner Mitte der 1950iger Jahre publiziert: Heinrich der Teichner: Gedichte. Glücklicherweise ist der Grundtext (ohne Apparat) durch die Arbeit am Mittelhochdeutschen Wörterbuch voll online zugänglich. 485 Lämmert: Reimsprecherkunst im Spätmittelalter. Eine Untersuchung der Teichnerreden (1970), S. 296. Mit Textbeispielen s. a. Knapp: Die Literatur zur Zeit der habsburgischen Herzöge von Rudolf IV. bis Albrecht V. (1358–1439) (2004), S. 68. 486 Niesner : Die Juden in den Teichnerreden (2000), S. 40.
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der Teichnerreden sind schichtübergreifend zu suchen, es scheint ihm darum gegangen zu sein, allgemein verständlich Themen zu behandeln, die ein möglichst großes Publikum ansprechen. Seine Figuren finden sich in allen Ständen, seine Sozialkritik schließt sowohl Städter wie Bauern ein, Frauen ebenso wie Männer, höfische Ritter und Geistliche innerhalb und außerhalb der Klöster. Vermutlich können dem Teichner Beziehungen zur Laienbruderschaft zugeschrieben werden, vielleicht dichtete er auch in ihrem Auftrag.487 Ausgespart von seiner Kritik bleibt lediglich »eine verhältnismäßig kleine, exklusive Schicht der engeren Hofkreise und der gebildeten Geistlichkeit.«488 Kurt Otto Seidel interpretiert in seiner Dissertation 1973 die Reden des Teichners vor seinem historischen Umfeld. Er kann herausarbeiten, dass sich der Dichter in theologischen Erörterungen nur in der Theodizee-Frage sowie der Unbefleckten Empfängnis, und auch dabei nur in geringem Maß, von seinen Zeitgenossen unterschied. An der Spitze der Sünden steht für den Teichner die hochvart, mit der sich der Mensch die ewige Verdammnis wie im abschreckenden Beispiel Luzifers zuzieht.489 Heribert Bögl (seine Dissertation wurde 1975 publiziert) erkennt, dass beim Teichner die Begriffe Übermut, Hoffart und Hochmut zusammenfließen und bisweilen synonym verwendet wurden. Das Werk des Österreichers sei dabei als konservative Reaktion auf eine ›spätmittelalterliche Kulturkrise‹490 zu sehen, ohne dass Bögl diese Krise in der Tiefe und ihrer spezifischen Auswirkung auf den Teichner umreißen kann.491 Wolfgang Heinemann ordnet die Didaktik des Teichners in die soziale Lehrdichtung zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert ein und erkennt, dass der Dichter empfindlich reagierte auf die Wandlungen der Sozialstruktur seiner Zeit, vor allem auf das Aufkommen des Kaufleutenmilieus. Er erlebt »die Welt als eine Zeit des Verfalls auf allen Gebieten; das [gibt] ihm das Bewußtsein, in einer Endzeit zu leben«492. Die einzige Möglichkeit zur Rettung und zum Heil scheint ihm eine »Rückkehr zum gottgewollten ordo in allen Lebensbereichen. Bitter klagt er : es get alles durch einander ([Nr.] 564, [V.] 1285).«493 Häufigstes Angriffsziel des Dichters sind deshalb auch die Menschen oder ganze Stände, die 487 S. Lämmert: Reimsprecherkunst im Spätmittelalter. Eine Untersuchung der Teichnerreden (1970), S. 174. 488 Ebd., S. 164. 489 Seidel: »Wandel« als Welterfahrung des Spätmittelalters im didaktischen Werk Heinrichs des Teichners (1973), zum Beispiel S. 156 u. 215. 490 Bögl: Soziale Anschauungen bei Heinrich dem Teichner (1975), das Kapitel S. 9–32. 491 Die nachvollziehbare Kritik an dem Begriff der »spätmittelalterlichen Kulturkrise« findet sich in der Rezension von Friedrich Wilhelm von Kries in der Colloquia Germanica, 01/ 1978, S. 178–181. 492 Heinemann: Zur Ständedidaxe in der Deutschen Literatur des 13.–15. Jahrhunderts, Teil 3, S. 415. 493 Ebd.
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sich gegen die tradierte Ordnung stellen, indem sie ihrer natürlichen Pflicht nicht nachkommen. Wer so handelt, hat seine edelhait verloren und ist auf einer Stufe mit den Bauern. Trotz der um ihn herum sozialen Verschiebungen hält der Teichner an den alten Idealen unverrückbar fest. Zwischen 2007 und 2010 veröffentlicht Albrecht Classen drei Artikel, die den Dichter als beherzten Kritiker der sozialen Missstände seiner Zeit darstellen.494 Der im 14. Jh. sehr beliebte Teichner ist nach Classen »actually at the forefront of attacking failings and vices among all social classes of his time and was one of the most radical critics oft the mighty and powerful, the greedy and the violent.«495 Gerade diese »unabashaded, if not rebellious and blunt, attacks«496 beziehungsweise »radical-political […] protests«497 im Medium der Dichtung seien der Grund für seine Popularität gewesen. Typische Themen sind dabei die Verschwendungssucht des Adels, der fehlende Schutz von Waisen und Frauen, die verlorengegangene innere Tugend des hohen Stands, die Jagd nach dem Mammon in der Kaufmannsschicht und die ausbleibende Unterstützung der Aristokratie; fehlende Bescheidenheit bei den Bauern, gottloses Leben innerhalb der christlichen Geistlichkeit und die Kritik am jüdischen Glauben.498 Werk- und genreübergreifend verfolge der Teichner dabei eine konsistente und wertbeständige Agenda. Seine Kritik sei allzu idealistisch, die in seiner Zeit scheinbar verlorenen Werte sollen stets in einer – unbestimmten – Vergangenheit geherrscht haben, während im realen Alltag keinerlei Spuren mehr auffindbar seien. Selbst innerhalb des politischen Systems aktiv tätig zu werden, lehne der Teichner jedoch ab.499 Die Kritik des Teichners verbleibe dadurch im Poetischen und somit insgesamt unkonkret. Namen von Herrschern oder historischen
494 Classen: Heinrich der Teichner. Commentator and critic of the worlds of the court and the aristocracy (2008); Classen: Money, power, poverty, and social criticism in the work of Heinrich der Teichner. A late-medieval poet challenges his world (2010); Classen: Heinrich der Teichner. The Didactic Poet as a Troublemaker, Whistle-Blower, and Social Rebel (2007). 495 Classen: Heinrich der Teichner. The Didactic Poet as a Troublemaker, Whistle-Blower, and Social Rebel (2007), S. 63. 496 Ebd., S. 64. 497 Ebd., S. 65f. 498 Zum Umgang mit den Juden in den Werken des Teichners s. Niesner : Die Juden in den Teichnerreden (2000). Niesner kann herausarbeiten, dass Teichner in der Messiasfrage »naiv« (S. 44), in der verbreiteten Anklage des Gottesmords eine »gemäßigte Position« (S. 48) vertritt, keine »besondere Vertrautheit mit jüdischen Positionen« (S. 58) erkennen lässt, eine »besonders judenfreundliche Haltung« (S. 62) nicht herauslesbar ist und – als Fazit – sich das »Judenthema […] vor allem [eine] rhetorische Funktion« (S. 66) für die innerchristliche Laienmission aneignet. Der Antijudaismus des Teichners entspringt dem Thema der Seelsorge. Es war kein allzu freundlicher Umgang mit den Juden, auch wenn ihm eine »Art von ›Toleranz‹« zugesprochen werden muss (vgl. S. 67f.). 499 Darauf kann Niesner ebd., S. 67, verweisen.
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Personen sind beim Teichner nicht zu finden. Dennoch kann es nach Classens Artikel von 2007 keinen Zweifel am Wirken seiner Kritik geben: There is no doubt about the effectiveness of his aggressive stanzas, as reflected by the rich manuscript tradition, and it might well be that his audiences deeply agreed with this whistle-blower who finally dared to speak out and address many oft the burning issues that had affected them all at practically every social level and in every life situation, causing adverse effects for practically everyone.500
Ein Nachweis für die Effektivität des radikalen Zeitkritikers bleibt bei Classen jedoch aus und lässt sich auch nicht in dem kurz nach des Teichners Tod entstandenen Nachruf Peter Suchenwirts finden, der sein Lob auf die hingebungsvolle Gottgefälligkeit und formschöne Dichtkunst beschränkt.501 Für die Einordnung des Teichner als eines – um ein modernes Wort zu bemühen – konservativen Dichters finden sich dagegen mehr Argumente: So lässt sich eine starke Differenz in seinen Werken ausmachen zwischen der als defizitär formulierten Gegenwart und einer unkonkreten Idealvergangenheit502 in der Form der häufig auftretenden laudatio temporis acti. Auch gelangte sein Werk sicher zu großer Popularität, weil es mehr unkonkret Klage führt als dass reale Missstände aufgedeckt, greifbare Fehlentwicklung gegeißelt503 oder historische Personen angegriffen werden, weshalb es ohne Vorbehalte von den nachfolgenden Generationen weitertradiert werden konnte. Es ist deshalb auch begrüßenswert, dass Classen in seinem bisher letzten Aufsatz die vorherige Grundrichtung in mancher Hinsicht verlässt und die spezifische Didaktik des Teichners vor dem Hintergrund seiner konservativen Grundausrichtung sucht beziehungsweise sie daraus ableitet.504 Während der Teichner an tradierten (Standes-)Werten festhielt, fächert er sie nach Berufsgruppen auf und geißelt dort Fehlentwicklungen wie Wucher und Übermut. Damit nimmt er auch Anteil am Aktualisieren der Tradition und versucht sie in die Gegenwart zu überneh500 Classen: Heinrich der Teichner. The Didactic Poet as a Troublemaker, Whistle-Blower, and Social Rebel (2007), S. 72. 501 Der Nachruf ist zu finden in Lämmert: Reimsprecherkunst im Spätmittelalter. Eine Untersuchung der Teichnerreden (1970), S. 321–323. 502 Vgl. Classen: Heinrich der Teichner. The Didactic Poet as a Troublemaker, Whistle-Blower, and Social Rebel (2007), S. 67 u. 72 und Classen: Heinrich der Teichner. Commentator and critic of the worlds of the court and the aristocracy (2008), S. 244 u. 251. 503 Eine Ausnahme bietet die wiederholt auftauchende Kritik an der »rheinischen Mode«, die sich zur Lebenszeit des Teichners ausbreitete. Dazu ausführlicher Glier : Art. Heinrich der Teichner, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters [Verfasserlexikon] (1981), Sp. 885. 504 »Although, or perhaps because, Teichner was highly conservative in his general attitude, this paper will demonstrate that the poet’s didactic stanza contain remarkable comments on the effects of emerging capitalistic thinking on all levels of society, and of the devasting consequences of financial poverty for the individual in his character developement.« Classen: Money, power, poverty, and social criticism in the work of Heinrich der Teichner. A late-medieval poet challenges his world (2010), S. 672f.
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men. Ingeborg Glier würdigt diese Leistung in ihrem Abschnitt in de Boors Literaturgeschichte, die den Teichner abhebt von anderen Dichtern seiner Epoche: [K]einer der Zeitgenossen [hat] christliche und sozialethische Werte so umfänglich und mit so viel gesundem Menschenverstand verfochten wie der Teichner. Dieser Common sense, der konventionellen Ansichten immer wieder auch unkonventionelle Aspekte abgewinnt, wird nicht zuletzt zur außergewöhnlichen Popularität der Teichner-Reden im späten Mittelalter beigetragen haben.505
Classen verortet dieses Aktualisieren im besonderen Maße in der Thematik des Ökonomischen, durch dessen Wirkung im späten Mittelalter »far-reaching changes in the social and economic fabric of society«506 entstehen. Am deutlichsten verdammt Teichner in seiner Rede Nr. 621 den Wucherer. Dafür nutzt er ein Bild aus der Landwirtschaft: Wucherer sind in seinen Worten wie Mastschweine. Sie werden ihr Leben lang nur gestopft und erfüllen ihren Zweck erst, wenn sie der Tod ereilt. Und so verleibt sich auch der Wucherer sein Leben lang nur Geld ein, ohne dass chind noch ander lewt (V. 23) sich daran erfreuen können. Er ist keinem seiner Familie von Nutzen bis zu seinem Ableben: uncz auf die czeit / das er dort am endt leit / und gedenkcht, er mu˚g nicht wider (V. 15– 17). Erst dann wird sein eingesparter Wohlstand auch der Gesellschaft Nutzen bringen. Deswegen sehnen die Menschen sogar den Tod des Wucherers herbei: so spricht ein yeder : ›lat nur sterben / disen vaigen lewt verderben!‹ (V. 25f.). Der Teichner übernimmt das Bild des Mastschweins, um das wachsende Finanzsystem anzugreifen.507 Seit der Jahrtausendwende entstehen vermehrt Forschungstexte zum Teichner, nachdem die Forschung nach den 1970iger Jahre weitgehend pausierte. Neben Classen wurden mehrere weitere Zeitschriftenartikel publiziert.508 Darüber hinaus widmen sich die Dissertationen von Angelika Kölbl509 und Angelika
505 Glier : Die deutsche Literatur im späten Mittelalter 1250–1370 (1988), S. 43. 506 Classen: Money, power, poverty, and social criticism in the work of Heinrich der Teichner. A late-medieval poet challenges his world (2010), S. 680f. 507 Überraschenderweise setzt er den Wucherer dabei nicht mit dem Juden gleich, wie andere spätmittelalterlich Kommentatoren es tun. Dass der Teichner sich wenig mit den Juden auseinandersetzt und damit die zeitgeschichtliche Position der Kirche nicht übernimmt, zeigt Niesner : Die Juden in den Teichnerreden (2000); s. a. Fußnote 498. 508 U. a. Ebd; Malm: Art. Heinrich der Teichner, in: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter : Autoren und Werke nach Themenkreisen und Gattungen. Band 5: Epik (Vers – Strophe – Prosa) und Kleinformen (2013); Schmidt: Fragmente einer frühen Sammlung von Teichnerreden in Hamburg und St. Petersburg (2014); auch der längere Abschnitt S. 68–89 in Knapp: Die Literatur zur Zeit der habsburgischen Herzöge von Rudolf IV. bis Albrecht V. (1358–1439) (2004). 509 Kölbl: Der Blick auf die Frau. Frauendidaxe in den Reden Heinrichs des Teichners (2005).
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Schallenberg510 dem Geschlechteraspekt in seiner Dichtung. So erstellt Kölbl in der ersten Monographie zum Teichner seit 30 Jahren einen systematischen Frauen-Katalog in Tabellenform, der im gesamten Korpus der NiewöhnerAusgabe alle Themen in Bezug auf Frauenfiguren, ihren Sozial- beziehungsweise Familienstand und biologisierende Charakterisierungen sammelt.511 Leider entbehren die Daten noch einer aussagekräftigen Interpretation.512 Anschlussfähiger ist die vierseitige Kurzanalyse Schallenbergs, in der sie die Rosshaut des Teichners einreiht in vergleichbare Frauenerziehungs-Mären. In ihrer Genderanalyse mittelhochdeutscher Reimpaarerzählungen erweist sich die Rosshaut als eine Geschichte mit einer »eher indirekten Form der ›Züchtigung‹«513, in der e in knapper Weise moralische Basiskonzepte kontrastiert werden, nämlich uber e mut/hochvart versus zucht. Mit Schallenbergs Interpretation ist damit das Märe angesprochen, das auch in der weiteren Analyse dieser Arbeit im Zentrum steht.
3.4.2. Ein Einmaliger Widerspruch Die Rosshaut ist das einzige erhaltene Teichner-Märe, überliefert in elf Handschriften.514 Da einige wenige Gedichte mit Sicherheit in die späte Lebenszeit des Dichters verortet werden können, wird angenommen, dass sich seine gesamte dichterische Schaffensphase über den Zeitraum zwischen 1350 und seinem Tod in den 1370iger Jahren erstreckt.515 510 Das Kapitel zur Rosshaut: Schallenberg: Spiel mit Grenzen. Zur Geschlechterdifferenz in mittelhochdeutschen Verserzählungen (2012), S. 78–81. 511 Kölbl: Der Blick auf die Frau. Frauendidaxe in den Reden Heinrichs des Teichners (2005), S. 23–157. 512 Die unterscheidende Analyse der Frauenfiguren in Jungfrau, Ehefrau und Witwe erscheint leider recht willkürlich; beispielsweise gibt Kölbl selbst zu, dass die Suche nach der Witwe im Werk des Teichners eine »sprichwörtliche Suche nach ›der Nadel im Heuhaufen‹« (S. 209) sei. Unterscheidungen nach »thematischem Schwerpunkt« von »Frau mit negativen« beziehungsweise »positiven Eigenschaften«, »Geliebte«, »Alte Frau«, »Modische Frau« und »Hure« auf einer Ebene erscheint mir wegen möglichen Überschneidungen und fehlender klarer Trennschärfe nicht fruchtbar und wird nicht weiter erläutert. Dafür wäre eine intersektionale Kontextualisierung sehr hilfreich, die aber offen bleibt, obwohl dem Teichner neben den Frauen an »Pfaffen und Rittern […] in besonderem Maße gelegen ist.« (S. 158) »Merkwürdige[ ] Ordnungskategorien« und fehlende Kontextualisierung in das literarische Umfeld seiner Zeit hat auch Rüdiger Schnell in seiner Anzeige moniert. In: Germanistik 48 (2007), S. 234f. 513 Schallenberg: Spiel mit Grenzen. Zur Geschlechterdifferenz in mittelhochdeutschen Verserzählungen (2012), S. 78. 514 »[D]ie inhaltlichen Varianten betreffen weder die Handlungsführung noch den Kern der didaktischen Aussagen des Textes.« ebd., S. 78, Anm. 111. 515 Ebd., S. 78, Anm. 111, u. Glier : Art. Heinrich der Teichner, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters [Verfasserlexikon] (1981), Sp. 884f.
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Das Märe ist geprägt durch eine einfache Rhetorik mit dem Ziel der Laiendidaxe, die Lämmert für den Teichner häufiger beweist.516 Es erzählt in nur 104 Versen moralisierend von einer sozialen Grenzüberschreitung: Aus Bayern stammen ein dienst herr und seine Frau. Die Gattin besteht darauf, ebenso extravagante Kleider zu tragen wie die Herzogin. Der Mann erinnert sie vergeblich, dass eine solche Anmaßung und Überschreitung der standesspezifischen Kleidere ordnung ihnen nicht angeort. Um sie zu belehren, verspricht er ihr zum nächsten Festtag ein Kleid, schlachtet jedoch ein Pferd, das ebenso wie das Kleid der Herzogin 100 Pfund wert war. An besagtem Tag zwingt der Mann seine Frau, die Rosshaut überzuziehen und damit am Gottesdienst in der Öffentlichkeit aufzutreten. Solchermaßen bloßgestellt erregt sie die volle Aufmerksamkeit. Der Herzog wird über das auffallende Gebaren der Dame aufgeklärt und schenkt ihr in seiner Güte ein Kleid, das dem der Herzogin ebenbürtig ist und mit dem beide Frauen nun gleich prächtig gekleidet sind. Seinem Diener kauft er ein neues Pferd und gleicht damit den finanziellen Verlust der Züchtigung aus. Das mit 25 Versen ein knappes Viertel des Märe ausmachende Epimythion richtet sich erst an Ehemänner (V. 80–83), indem die Erziehung hochmütiger Frauen gelobt wird. Ausführlicher wendet es sich dann an Frauen (V. 84– 103): Vorbild soll das pider weib (V. 84) sein, welche wisse, wie man sich zu kleiden habe. Eine Frau, die den ordo missachte, werde aus Anstand geduldet. Die zurückhaltende Dame wird aufgrund dessen Anerkennung wegen ihrer zucht (V. 100) und ir pider art (V. 101) erhalten. So wird die hochvart (V. 102) der anderen am Ende offenbar.517
Zwei Merkmale der Reimpaarerzählung fallen ins Auge und sollen in den folgenden Unterkapiteln untersucht werden. Das erste ist das für Mären ungewöhnlich lange Epimythion. In der Forschung wird es entweder als maximal »zwiespältiges Lehrangebot«518, »Überreglement«519 oder sogar als »vermutlich angeflickte Ermahnung«520 gering geschätzt. Diese kritische Betrachtung scheint 516 Lämmert: Reimsprecherkunst im Spätmittelalter. Eine Untersuchung der Teichnerreden (1970). 517 Die Kontrastierung von biderber und hochvaertiger Frau ist typisch für den Teichner, s. Kölbl: Der Blick auf die Frau. Frauendidaxe in den Reden Heinrichs des Teichners (2005), S. 159. 518 Schallenberg: Spiel mit Grenzen. Zur Geschlechterdifferenz in mittelhochdeutschen Verserzählungen (2012), S. 80. 519 Kölbl: Der Blick auf die Frau. Frauendidaxe in den Reden Heinrichs des Teichners (2005), S. 159 zu den Moralisierungen mithilfe der Distinktionen biderbe, reine oder zühtec. Auch Knapp: Die Literatur zur Zeit der habsburgischen Herzöge von Rudolf IV. bis Albrecht V. (1358–1439) (2004), S. 75, plädiert für eine identische Aussage von Binnenteil und Epimythion. Bei der moralischen Intention wäre es »um die wenig aufregende Geschichte […] nicht eben schade, wenn uns nicht überliefert wäre.« Ich halte es allein schon aus einem bewahrenden Geschichtsverständnis für falsch, die Textüberlieferung daran zu bewerten, ob die Erzählung einen Affekt bei modernen Leser*innen auslöst. 520 Lämmert: Reimsprecherkunst im Spätmittelalter. Eine Untersuchung der Teichnerreden (1970), S. 244.
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sich auch auf den Überlieferungszustand zu gründen. In sieben der elf Handschriften umfasst das Epimythion nur eine Zeile: Daz er seins weibes meists wer.521 In den restlichen vier füllt es 25 Verse.522 Dies könnte für eine nachträgliche Zufügung sprechen, doch sind die Handschriften A und B die ältesten. Nachvollziehbar wählte Niewöhner deshalb A als Leithandschrift. Beinah alle anderen Sammel- und Mischhandschriften stammen aus dem 15. Jahrhundert. Es erscheint kontraintuitiv, in den älteren Handschriften sekundäres zu vermuten, wie es in der Forschung geschieht.523 Zudem schrieb der Teichner vor allem Didaxe, es wäre also nicht ungewöhnlich, dass er sich der Deutung des Märes ausführlich widmete. Und zuletzt: Im Epimythion werden drei Figuren in Stellung zueinander gebracht, der Ehemann und das pider weib, beide gegen die hochvaertige Frau. Die Grenzziehung verläuft damit einmal zwischen den Geschlechtern und ausführlicher in der moralischen Hierarchie. Das Epimythion ist weitaus komplexer als in anderen Mären, eine qualitative Abwertung hat keinen Grund. Die zweite für diese Arbeit bedeutende Eigenschaft ist eine inhaltliche Kohärenz, die auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint: Am Schluss der Binnenerzählung erhält die Dienstfrau das Kleid, das ihr zu Beginn verwehrt wird. Die beiden Damen treten auf vestimentär gleicher Ebene auf: Der Herzog […] gab der vrawen ein gewant / als der hertzoginn zu hant, / daz si mit ein ander trugen (V. 73–75).524 Dieses Moment scheidet die Rosshaut des Teichners von inhaltlich verwandten Mären, in denen die Standesgrenzen nach einer Überschreitung am Ende wiederhergestellt werden. Beispiele können verdeutlichen, wie in Mären Distinktionsmerkmale allenfalls ersetzt, aber niemals ganz umgangen werden. Das Märe Bürger im Harnisch ist unikal überliefert, in der einzigen Handschrift wurde es unmittelbar nach die Rosshaut gesetzt, da beide von hochvart handeln.525 Hier lässt sich eine Frau in ihrem Hochmut stets von zwei Mägden begleiten. Als letztere einmal vom Ehemann im Haus zurückgehalten werden, weigert sich die Ehefrau ohne ihr Geleit nach Hause zu gehen. Der Ehemann kleidet sich in volle Rüstung und schleppt die Frau in aller Öffent-
521 Handschriften H, J, O, h, i, k und l; s. Heinrich der Teichner: Gedichte (Edition: Niewöhner), Bd. 1, S. 110, Anm. 75. 522 Handschriften A, B, C, K. 523 So Lämmert: Reimsprecherkunst im Spätmittelalter. Eine Untersuchung der Teichnerreden (1970), S. 244. 524 Schallenberg spricht von einer sozialen Nivellierung von Lehnsherrin und Lehnsfrau: Schallenberg: Spiel mit Grenzen. Zur Geschlechterdifferenz in mittelhochdeutschen Verserzählungen (2012), S. 80, Anm. 118. 525 S. Ziegeler : Art. Der Bürger im Harnisch, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters [Verfasserlexikon] (1978), Sp. 1130.
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lichkeit und ohne Begleitung aus der Kirche. Die zum Gespött Gewordene bessert sich, wird jedoch von nun an die Bürgerin im Harnisch genannt.526 In Harm der Hund besitzt ein armer Ritter einen vortrefflichen Jagdhund namens Harm. Der Kaiser lässt nach beiden schicken und nach kurzem Zögern begibt sich der Ritter wegen des Versprechens auf eine hohe Belohnung zum Königshof. Dort wird der Vierbeiner am kaiserlichen Zwinger erprobt. Harm besiegt alle Hunde des Kaisers. Dieser ist zunächst wütend, beweist aber am Ende seinen höheren Rang, indem er dem armen Ritter ein Teil seines Vermögens zukommen lässt. Der Ritter kehrt mit seinem Hund in seine Heimat zurück und genießt von nun an das neue Vermögen.527 In Heinrich Kaufringers Bürgermeister und Königssohn erwischt der Stadtvorsitzende von Erfurt seine Frau beim Liebesspiel mit dem bisher unerkannt gebliebenen Sohn des französischen Königs. Erst erzürnt, verzichtet der Ehemann jedoch auf seine Rache und bewirtet die beiden stattdessen. Der Mann will dem Eindringling in Zukunft Geld geben, wenn er nicht mehr mit den Frauen in seinem Haushalt schläft. Der viel reichere Jüngling gibt sich aufgrund dieses Großmuts zu erkennen und entlohnt den Kaufmann mit Handelsfreibriefen, sodass sich der Racheverzicht für den Kaufmann doppelt auszahlt.528 Alle drei Mären behandeln wie Die Rosshaut den ständischen ordo mit einem Moment der (versuchten oder realisierten) Aufhebung. In der Rosshaut wird der Rangunterschied erst radikal mithilfe des Überspitzens verbildlicht, um dann genau jene symbolische, distinguierende Kleidung überflüssig werden zu lassen und über die moralische Welt eine differenzierende Moral zu beweisen: Die Tugend des Adels zeige sich im Handeln des Herzogs. In Harm der Hund wird der Besitz des stärksten Hundes als Privileg des Herrschers außer Kraft gesetzt. Doch verlässt das Märe nicht die dinghafte Ebene, am Ende wird die Standesgrenze durch Geld wieder aufgezogen. Im Bürger im Harnisch wird die Moral auf der materiellen Ebene entschieden, wenn die Attribute des höheren Standes gegeneinander ausgespielt werden: Das Dienstpersonal wird durch die Ritterrüstung aus dem Spiel gebracht. Am ehesten entsprechen sich noch Bürgermeister und Königssohn und Rosshaut, denn in beiden wird das Aktualisieren des ordo durch ein nachträgliches Belohnen legitimiert. In Bürgermeister und Königssohn ist es die Sittlichkeit des Bürgers, die durch Geld anerkannt wird. Gleichzeitig zeigt sich die Moral der Figuren anhand ihrer Reaktion auf das Liebesspiel. Indem der Ehemann auf Rache verzichtet und der Königssohn mit gleichem Großmut 526 Kaufringer: Der Bürger im Harnisch (Edition: Fischer). 527 Harm der Hund. In: Laßberg: Lieder-Saal, das ist: Sammelung altteutscher Gedichte: aus ungedrukten Quellen [1820–25]; Bd. 2, S. 411–416. 528 Kaufringer: Bürgermeister und Königssohn (Edition: Sappler).
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reagiert, gleichen sich die Haltungen der beiden mehr, als dass sie different wären. Die im Märe häufig formulierte Dominanz des Geldes im Handeln der Kaufleute fehlt hier und wird ersetzt durch einen Schutz der Tugend. Der Prinz bekommt erst einen Ersatztribut von wöchentlich einem halben Pfund und fünf Schilling angeboten, schenkt dem Ehemann daraufhin aber die Zollfreiheit in seinem Heimatland. Beide, Kaufmann und Prinz, handeln im gleichen normativen Modell, in dem Vergebung über die Rachsucht siegt und Generosität über rächende Gewalt gestellt wird. Allen drei Vergleichsmären ist gemein, dass am Ende die aufgebrochene soziale Distinktion ohne Veränderung der Ausgangslage wiederhergestellt wird. Die Eigenheit des Teichner-Märe scheint demgegenüber das Unterordnen der Handlung unter die Moral und die Komplexitätssteigerung des Ethischen zu sein, die sich in der hochvart als Kristallisationspunkt verdichten. Schallenberg erläutert, dass durch das Negativbeispiel der Ehefrau die hochvart als »Untugend zur Disposition«529 gestellt wird. Durch ihren Vergleich mit anderen Verserzählungen, in denen die Männer an superbia530 leiden, kann die Hoffart grundsätzlich als geschlechtsunspezifisch angesehen werden. Dagegen steht das Bildfeld der Pferdezucht, dem ein Natur-Kultur-Paradigma zugrunde liegt, in dem es stets Aufgabe des Mannes ist, die Frau durch ein symbolisches Degradieren als Tier zu einem Kulturwesen zu erziehen. »Durch den Ehrverlust, den sie durch den öffentlich zur Schau gestellten Mensch-Tier-Vergleich erleidet, sowie die daraus resultierende Scham gibt die Frau ihren Hochmut schließlich aus eigenem Antrieb und innerer Einsicht preis.«531 Geschlechterspezifisch ist damit nicht das zugrunde liegende Fehlverhalten, sondern seine Korrektur. Das Eingreifen des Mannes funktioniert über tradierte Geschlechterzuschreibungen, in denen der Ehemann die Erziehung der Frau verantwortet. Spezifisch er hat dafür Sorge zu tragen, dass die Frau ihre soziale Stellung akzeptiert. Nach Classen gilt innerhalb des Adelsstands eine universale Ethik, die hier zum Tragen kommt, immerhin arbeitet der Ehemann der hochvartigen Frau für den Herzog und alle drei sind damit Teil des feudalen Systems.532 Der Dienst529 Schallenberg: Spiel mit Grenzen. Zur Geschlechterdifferenz in mittelhochdeutschen Verserzählungen (2012), S. 80. 530 hochvart, uebermuot und superbia verwende ich beim Teichner synonym, auch angesichts des Beweises von Kurt Heribert Bögl, dass auch der Dichter keine scharfe semantische Trennung pflegt. 531 Schallenberg: Spiel mit Grenzen. Zur Geschlechterdifferenz in mittelhochdeutschen Verserzählungen (2012), S. 81. 532 Nach Schulz: Art. Dienstmann, in: Lexikon des Mittelalters (1986) entspricht der ›Dienstmann‹ als volkssprachliche Bezeichnung im 12. Jahrhundert dem lat. serviens/servitor, cliens, famulus, minister. Sie sind Abhängige im adeligen System, die wichtige Amtsfunktionen (Verwaltung, Wirtschaft, Gerichtsbarkeit, Militärwesen) und herausge-
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mann und der Herzog sind beide tugendhaft in ihrem Tun und genießen doch nicht den gleichen sozialen Status. Es wird also ein innerständisches Grenzüberschreiten verhandelt, die am Ende durch das Verhalten aller Akteure verhindert wird. »Teichner was, we might say, a rebel in his arguments, as long as the traditional framework and the social structure of feudal society was not threatened by them.«533 Es verbleibt jedoch in Classens Analyse eine Lücke, denn er geht nicht darauf ein, dass der Dienstmann sein Handeln nicht aus einem universalen Wertesystem ableitet, und übersieht damit, dass der Höhergestellte wohlwollend auftritt und die soziale Grenze zu negieren scheint, der Untergebene die Frau jedoch für den gleichen Wunsch züchtigt und die sozialen Grenzen gewaltvoll überzeichnet.
3.4.3. Narrativer Verlauf Die standesethische Motivation von Handeln wird auch in der narrativen Struktur ersichtlich. Bei der Rosshaut handelt es sich um einen Schwank, der durch eine Abfolge von Schlag und Gegenschlag gekennzeichnet ist. Die einfachste Art des Schwanks »basiert auf dem Konflikt weniger, meist nur zweier […] Figuren«534, die gegensätzlichen, potentiell konflikthaften Kreisen angehören, weshalb der Schwank so oft ständische Asymmetrien, intellektuelle Unterschiede oder geschlechtliche Spannungen thematisiert. Schwanktypisch entspinnt sich der Konflikt an einem versuchten Normbruch, der den anderen zu schädigen versucht. Dem Opfer obliegt es, in einer Gegenaktion den Schaden zu mildern.535 Im Verlauf korreliert die Narrationsform des Schwanks mit der sozialen Form Kampf. Beide sind darauf angelegt, Konfliktpotential aufzugreifen und latente Spannungen evident zu machen. Der Kampf endet, ebenso wie der Schwank, mit einer Ordnung von Hierarchie.536 Das Aushandeln der Macht ist ein zentrales Ziel des Schwanks und auch der Kampf geht am Ende in einer Ordnung der
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hobene Hofämter (Truchsess, Kämmerer, Schenk und Marschall) innehatten. Seit dem 13. Jahrhundert lässt sich auch eine Entwicklung als eigenständige Schicht innerhalb des niederen Adels nachweisen. Classen: Money, power, poverty, and social criticism in the work of Heinrich der Teichner. A late-medieval poet challenges his world (2010), S. 684. Ziegeler : Art. Schwank2, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft: Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3 (2003), S. 408. Ebd. Die Struktur des Schwanks als Neutralisation der Überlegenheit einer Partei durch die Gegenpartei nach Bausinger, Hermann: Bemerkungen zum Schwank und seinen Formtypen. In: Fabula 9 (1967), S. 118–136; entnommen aus Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive (2015), S. 136.
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Beziehungen auf. Um dies zu erreichen, wird Gewalt zum legitimen Mittel. Erst einmal in Gang gesetzt, zielt der Kampf darauf ab, als Sieger über den Gegner zu triumphieren. Dieser Kampfcharakter des Schwanks beweist sich vor allem im ersten Teil des Märe, im Hin und Her der Eheleute. Der erste Schlag wird ausgeführt von der Ehefrau und ihrer Forderung, wie die Herzogin gekleidet zu sein. Der Mann leider durch den Wunsch der Frau: [es] begund im ser laiden, V. 11. Die dienstvraw (V. 17) erhöht sich durch ihren Hochmut selbst. Auf dieses vertikale Streben im ordo nach oben folgt die List des Mannes, der dem Begehren seiner Frau argumentativ nichts entgegen zu setzen vermag (waz er ret, daz het nicht chraft, V. 26). Er muss auf einen Trick ausweichen – dieses Zurückgreifen auf die List neutralisiert die anfängliche Überlegenheit der Frau. Er verspricht ihr das Kleid, um ihr dann am Tag des Kirchgangs die Pferdehaut zu präsentieren. Über dieses Täuschen hinaus bedient er sich einer gewaltsamen Drohung, um seine Frau in das tierische Kostüm zu zwingen. legt an dw haut pey ewern leben / oder ez gilt ewern leib! (V. 58f.) Gezwungenermaßen wird die Frau in der Öffentlichkeit bloßgestellt, durch den Gegenschlag ihres Mannes ihrer Würde beraubt: Statt wie sonst vraw wird sie nun vom Erzähler weib genannt (V. 60) und in den Grenzbereich des Animalischen verschoben.537 Ihr Ehemann hat ihre Asymmetriedynamik sanktioniert wie auch Ständeordnung und Geschlechterhierarchie wiederhergestellt. Das angestrebte soziale Aufwärtsstreben der Frau erweist sich damit als moralische Abwärtsbewegung. Mit dieser einfachen Struktur von Schlag und Gegenschlag könnte der Schwank enden. Der Kampf zwischen den beiden Eheleuten ist aufgelöst zugunsten des Mannes, der seine Frau in die Schranken gewiesen hat. Doch jetzt tritt der Herzog als Handelnder auf. Das Verhältnis zwischen den beiden Männern ist asymmetrisch, doch die Frau ist von ihrer Hoffart erst dann endgültig befreit, als der Herrscher ihr das Kleid schenkt: daz pracht der herr mit seinn fuegen / […] daz fi chainer hochvart / nymmer het in irem mu˚t (V. 76–79). Wenn der Konflikt zwischen Ehemann und Ehefrau der sozialen Form nach ein Kampf war, ist das Verhältnis zwischen dem herzöglichen und dem Handeln des Dienstmanns eine Konkurrenz, in der die moralische Reinigung der Frau das tertiäre Streitobjekt darstellt. Natürlich treten die Figuren nicht gegeneinander an, sondern ihr Handeln steht sich gegenüber : Es braucht den Einsatz des ständisch höher Gestellten um das Dilemma der Hoffart zu seinem Ende zu bringen. Der Sieg in dieser Konkurrenz liegt im Auflösen dieser Zwangslage und die Frau wird das Objekt, an dem die Differenz zwischen Ehemann und Herzog ausgetragen wird. Die Korrektur weiblichen Verhaltens ist geschlechterspezifi537 Zur Degradierung in ein naturhaftes Wesen s. Schallenberg: Spiel mit Grenzen. Zur Geschlechterdifferenz in mittelhochdeutschen Verserzählungen (2012), S. 81.
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sche Aufgabe der Männer, in beiden Ständen stehen dafür jeweilige Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung: Gewalt auf der einen, Großzügigkeit auf der anderen Seite. Der Antagonismus zwischen beiden Männern ist nur formal, denn ihr Handeln zielt auf einen gemeinsamen Zweck. Durch den Zwang des Niedriggestellten ebenso wie durch den Edelmut des Höhergestellten ist die Standesgrenze wieder ganz hergestellt. Der Triumph des Siegers kommt damit Beiden zugute.538 Die narrative Schwankabfolge von Schlag und Gegenschlag bleibt davon nicht unberührt. Die neu einsetzende Handlung lässt sich nicht mehr als Schlagabtausch systematisieren. Die Struktur wird mit dem Auftritt des Herzogs komplexer als bisher. Durch das Öffnen des Konflikts aus dem geschlossenen System des Dienermilieus ergibt sich ein neues Handlungsmodell, das nun über Standesgrenzen hinweg operiert. Zur Bezeichnung dieses ernsten Spiels, das über hierarchische Grenzen Gesten austauscht, erweist sich in der Nachfolge von Marcel Mauss der Terminus der Gabe als nützlich.539 So ließe sich das Züchtigen der Frau durch den Ehemann als Geschenk an den Herzog deuten, als »großzügig dargebotene[s] Präsent«540, von dem man schwer ablesen kann, ob Freiwilligkeit oder sozialer Zwang das Handeln motiviert. Die Gabenökonomie bestimmt, dass aus einer Gabe eine doppelte Beziehung entsteht, »zwischen dem, der gibt, und dem, der annimmt«541. Das Verhältnis zwischen den Akteuren bestimmt sich auf der Hierarchievertikalen. Die doppelte Beziehung markiert die ständischen Unterschiede: Aus der Gabe ergibt sich eine »Beziehung der Solidarität, da derjenige, welcher gibt, das, was er hat, ja sogar das, was er ist, mit demjenigen teilt, welchem er gibt, und eine Beziehung der Superiorität, da derjenige, welcher die Gabe empfängt und sie annimmt, sich gegenüber demjenigen, der ihm etwas gegeben hat, in eine Schuld begibt.«542 Die Solidarität zwischen Dienstmann und Dienstherr verläuft in der Rosshaut im Handlungssystem von gender : Beide teilen sich die geschlechterspezifische Aufgabe weiblicher Kontrolle. Dem Herzog obliegt nun die Pflicht der Reaktion. Im Schenken des Kleids und der nur scheinbaren Nivellierung der Lehensgrenze offenbart sich die Gegengabe, die sowohl Ding als auch Zeichen ist. Diese »Doppelung von Materialität
538 Auch Simmel: Der Streit (2001), S. 324, beschreibt diesen formalen Antagonismus in dieser speziellen Art von Konkurrenz, in der Sieger und Besiegter nur gewinnen können. 539 Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften (2013). 540 Ebd., S. 18. 541 Godelier: Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte (1999), S. 22. 542 Ebd., S. 22, kursiv durch Godelier.
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und Symbolik«543 verkettet die zwei Erzählepisoden, die auch in zwei unterschiedlichen Räumen stattfinden: im privaten Raum der Eheleute und dem öffentlichen Raum der Kirche. Während der Ehemann mit List und Gewalt reagiert, erscheint das Handeln des Herzogs als generös. Er schenkt der Dame das ursprünglich gewünschte Kleid. Erst durch diese Gegengabe wird die Frau bekehrt. Zum Deckeln des Streits zwischen zwei Untertanen und als Zeichen der Freigiebigkeit erhält auch der Mann ein neues Pferd. Damit ist der ordo wiederhergestellt und die Ordnungsgewalt des Dienstmanns auf seinen Stand begrenzt. Die Differenzziehung vollzieht sich gleichzeitig an der Standes- und Geschlechtergrenze. In Analogie zum narrativen Schema des Schwanks von Schlag und Gegenschlag lässt sich die narrative Form der zweiten Episode als Gabe und Gegengabe benennen. Somit entwickelt das Märe eine komplexe Struktur, die aber mit der typisch dualen Gegenüberstellung des Schwanks ebenso korreliert wie im kompetitiven Schema von Aktion und Gegenaktion. Das Differenzieren zwischen den Frauen wird schlussendlich im Epimythion in eine übergreifende Norm gebracht. Mit dem Lob auf das pider weib (V. 84) wird der Charakter derjenigen hervorgehoben, die nicht nur ihre soziale Rolle akzeptiert, sondern auch generös das Fehlverhalten anderer übersehen können. Erzählt wird über zwei Frauen, von denen eine sich während des Kirchgangs vordrängelt. Dass die moralisch integrere Frau über das Fehlverhalten der anderen hinwegsieht, stellt das genderspezifische Abbild der Generosität des Herzogs dar. Die Grenze zwischen unterschiedlichen Ständen wird mit den Begriffen zucht und pider und der Umschreibung von fehlender Selbsterkenntnis der übermütigen Frau gezogen: deu erchent fich felben nicht (V. 93). Das Aufgliedern der Stände ist für den Teichner ein typisches Thema, das er auch in seiner didaktischen Literatur häufig einbringt.
3.4.4. Ständetheorie in den lehrhaften Gattungen des Teichners In der ausführlichen Arbeit Wolfgang Heinemanns zur Ständedidaxe544 wird deutlich, dass der Teichner die Semantiken zur Ständebeschreibung stark ausgeweitet hat, ein von der übrigen Literatur seiner Zeit abhebendes Charakteristikum. Er gliedert die klassische Dreiteilung Bauer – Ritter – Kleriker in 543 Strobel: Eine Kulturpoetik des Adels in der Romantik. Verhandlungen zwischen »Adeligkeit« und Literatur um 1800 (2010), S. 114. 544 Heinemann: Zur Ständedidaxe in der Deutschen Literatur des 13.–15. Jahrhunderts.
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insgesamt 92 Unterglieder, bis hinein in die Berufsebene, auf.545 Dabei geht er nicht ordnend voran, wählt willkürlich Stände zur genaueren Auslegung als Fallbeispiel aus oder bespricht spezifische Probleme von Einzelständen. Am häufigsten wertet er die einzelnen Stände nach klerikal-moralischen Gesichtspunkten, schließlich waiz es got vil wol, / wen er hohen oder nidern sol. (Nr. 537, V. 57f., dort am Beispiel des Bauern). In Gedicht Nr. 600 beispielsweise spottet er über die Laster von 54 verschiedenen Handwerksberufen. Auch hier erscheinen die Stände ohne systematische Ordnung. So ist der Metzger raffgierig, der Pfaffe faul, der Kaufmann neidisch, der Schuster ein Betrüger usw. Die Stände sind für ihn keine feste Größen, sie spalten sich (vor allem das neue, sich entwickelnde Bürgertum) in eine Vielzahl kleinerer Gruppen auf. adel kann für den Teichner neben der deskriptiven Beschreibung des Standes ein moralischer Wert sein.546 Angedeutet ist dies in Warnungen wie ist ain e mensch von adel gu˚t, / daz doch unadelichen tu˚t, / dester boser ist sin leben. (Nr. 517, V. 93–95). Aber auch ein Bauer kann adelich sein; wenn er rechtschaffen lebt und seiner Arbeit nachgeht, ist er ein pider man (Nr. 333, V. 8; so wie die Frau in der Rosshaut ein bider w%p ist) und adelich genu˚g (Nr. 491, V. 22). Und der Lehrdichter geht noch weiter : So wie adel keine feste Standes545 Nach ebd., Teil 3 S. 414f., werden 45 ordines und gradus apostrophiert (mit Textangabe Anm. 86). Darüber kennt der Teichner 47 weitere (Anm. 87). Aufgezählt werden: phaffen, p.best, Rom, pyscholff, prelaet, techant, kchapplan, vicariy, mesner, apt, munich, grawe muniche, nunnen, herren, kayser, chunig, fursten, graffen, vreien, dienstman, ritter, pawrn die zu rittern wern, edelknehte, schiltknehte, rihter, vorsprechen, scherge, hovegallen, r.tgeben, schreiber, amptman, amme, kamer weiben, chameraer, kelnar, kuchenmeister, schenken, schaffer, choche, marstaller, turhuetter, hayczer, hoffnarren, jaeger, purger, ckauffleut, underkauffell, gelerter man, arczt, pader, wirt, hueffsmid, ckaltsmid, goltsmicl, sporer, zimerman, mawrer, maler, pildsnitzer, weber, loder, sneider, manteller, ckurssnar, ledderar, schuster, satler, glasner, hafner, mulner, protpeck, fleischman, pir preu, fragner, ckramer, rostauscher, Iaich dy leut, pawrn, weinpawr, mader, chnecht, diern, tagwercher, aigen man, schefman, varund man, schelter, tichtent man, geygar, pfeyffer, lauten slaher, pauckneht, Kupplerin und Dirne. 546 Dabei ist er nicht der Einzige. In der zweiten Hälfte des 13. Jh. entfaltet Frauenlob in einem seiner Sprüche (VII, 22) das Dreierschema Bauer – Ritter – Kleriker und spricht ihnen spezifische Aufgaben zu. Die Kleriker lehren den Rittern und die Bauern verschaffen den anderen zu ihrem eigenen Vorteil Nahrung. Im selben Spruch wird allen drei Ständen geraten, sich nicht über den ordo hinwegzusetzen beziehungsweise sich ihrer angestammten In-Group anzupassen. Auch die art des Standes wird als Distinktionsmerkmal betont, gemeinsam mit dem Begriff des adel steht art in konjunktiver Wortstellung. Der adel fällt hier nicht wie im Neuhochdeutschen mit der Oberschicht zusammen, sondern ist in jedem Stand zu finden. Begrenzt wird jedes Milieu durch die jeweilige m.ze. Göttinger Ausgabe: Frauenlob: Leichs, Sangsprüche, Lieder (Edition: Stackmann und Bertau), Bd. 1. Diesen erweiterten Adels-Begriff verwenden auch andere volkssprachliche Texte. So zum Beispiel Thomasin im Welschen Gast, in welchem er vor einem Verlust des Geburtsstands warnt, wenn nicht Gottes Regeln befolgt werden. Die Gefahr besteht, den angeborenen Adel zu verlieren und unedel zu werden. Thomasin von Zerklaere: Der Welsche Gast (Edition: Willms), V. 3881–3895.
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verortung beinhaltet, sondern übergreifend ein Aufwerten darstellt, meint e burisch das Gegenteil. Bei der Standesschelte diskreditiert er einen Adligen, weil e e dieser sich tugendlos verhält: ez ist nichtz anderz bu˚rischeit / denn nur sund und unfu˚g (Nr. 517, 80f.). Der Mann, der auf dem Acker arbeitet, ist nicht bu˚risch: der e da drischt und habt den phlu˚g, / der ist darumb nit ain pur. (Nr. 517, V. 82f.). Heinemann kann überzeugend feststellen: »So wird die b0rischeit zu einer moralischen Kategorie, die in jedem Menschen stecken kann und daher nicht auf einen Stand beschränkt ist.«547 Die ständische Rangordnung ist nicht durch Abstammung gerechtfertigt (edelhait dw erbet nicht, Nr. 104, V. 16), sondern der Teichner fordert von jedem Mitglied des ordo den selbstlosen Einsatz für die Gesellschaft. Nicht nur der Bauer muss seinen Teil für die Gemeinschaft leisten (Nahrungsbesorgung), sondern alle Gruppen sind aufgefordert ihre soziale Funktion unter Beweis zu stellen. Die Motivation des Handelns wandelt sich von einer Gesinnungsethik zu einer Verantwortungsethik im Sinn von Max Weber.548 Heinemann schreibt: Die Lehre vom Tugendadel erfährt so bei ihm [dem Teichner] eine Wendung aus dem Bereich des Ethisch-Religiösen in die Sphäre des mehr weltlich gerichteten gesitteten ständischen Verhaltens; nicht mehr allein die tugendhafte Gesinnung, sondern ein tugendhaftes Leben entscheidet über den Wert eines Menschen.549
Diese Verantwortungsethik gipfelt im Absolutsetzen des Tugendadels, der in allen Ständen zu finden ist: ich sprach: ’iz ist als geleich, purger, pawrn, arm und reich, e chunig und chaiser nach dem mut: e wer tugent phligt, der ist auch gut. (Nr. 104, 5–8)
Aus dem Tugendadel wird damit ein »sittliche[s] Moment«550, das das Geburtsrecht vergessen lässt. Dabei erreicht der Teichner ein gezwungen paradoxes Ethik-Verständnis: Einerseits ist die Ordnung göttlichen Ursprungs und kann als solche nicht übergangen oder durchbrochen werden. Gleichzeitig verlieren die Stände aber ihre Rechtfertigung, wenn sie nicht mehr ihrer genuinen Aufgabe nachkommen. Dieser Zwiespalt kann nicht gelöst werden, ohne eine Prämisse zu brechen. 547 Heinrich der Teichner: Gedichte (Edition: Niewöhner), Teil 3, S. 421. 548 Weber : Politik als Beruf (2010 [1919]). 549 Heinemann: Zur Ständedidaxe in der Deutschen Literatur des 13.–15. Jahrhunderts, Teil 3, S. 422. 550 Seidel: »Wandel« als Welterfahrung des Spätmittelalters im didaktischen Werk Heinrichs des Teichners (1973), S. 241.
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Den verschiedenen Arten von adel gemäß hat auch jeder Stand und jede Berufsgruppe seine beziehungsweise ihre eigene Art, gegen die Tugendmaximen zu verstoßen. In Spruch Nr. 491 spielt der Teichner dies in der klassischen Dreiergruppe Adel – Bauer – Kleriker durch. Der Versuch, sine[n] adel zu übergehen, ist in allen Ständen motiviert durch die hochvart (Nr. 491, 39); hoffärtigen Menschen wird der adel […] nie bekannt (V. 42). So bedeutet die e superbia für den Ritter, unnötig in den Krieg zu ziehen (uppiclichen raisen, V. 16) und gegen unbescholtene Mittellose vorzugehen: Ein Bauer widersetzt sich seiner angeborenen Aufgabe, wenn er (wie im Helmbrecht) nach höfischer Art leben will (V. 24–27). Das Fehlverhalten des Klerikers ist es, die Regeln des Teufels zu befolgen. An anderer Stelle nennt der e Teichner die Keuschheit als Maxime von munich, pfaffen und ir gesellen (Nr. 350, V. 108–132), und ein entsprechender Verstoß bedeutet hochvart. Ein reicher ist hochvaertig, wenn er sich nicht in Zurückhaltung gegenüber seinen Widersachern übt (wie es das pider w%p im Epimythion der Rosshaut tut) und sie öffentlich vorführt. Widersetzt er sich dieser Maxime, ist ein reicher Mann nicht besser als ein freundlicher Armer (Nr. 49, V. 10–20). Was für einen Stand tugendhaft ist, kann in den anderen Milieus hochvart sein. So gehört es nach dem Teichner genuin zu den herren, in Reichtum zu leben (was hier bedeutet, imposante Kleider zu tragen), was grundsätzlich begrüßenswert ist, solange er nicht falsch eingesetzt oder unrechtmäßig erworben wird. Für alle anderen ist eine solche Zurschaustellung von Vermögen jedoch abzulehnen: daz die herren herlich lebent, daz ist nit ain hochvart. ain ieglich mensch nach siner art e aun hochvart mocht geleben, e e wolt er sich nit uber geben uff dez adelz mitelschaft. (Nr. 511, V. 40–45)
In Waz daz aller swarist sei (Nr. 350) erklärt der Teichner, dass hochvart e e und uber mut die schwerste Sünde sei (in ähnlicher Weise auch Nr. 300, V. 5). Häufig verwendet er beide Begriffe synonym. Den Ursprung dieser Unart identifiziert der Teichner im Aufbegehren Luzifers, dessen hochvart ihn aus dem Himmel fallen ließ. Und auch im menschlichen Handeln ist die superbia ein Verstoß gegen die göttliche Ordnung. Gleich ist aller hochvart auch die vertikale Bewegung nach unten (für den Teufel: V. 9), die auf das Aufstiegsstreben folgt. Denn hochvart ist stets ein Abfallen, selbst für Bauern, die gerne dem oberen Stand angehören möchten, ist es ein Abwärtsbewegen aus dem ordo (Nr. 262, 29). Wegen dieses Umstands kann durch hochvart niemals Gleichheit entstehen:
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Der Bauer steigt nicht nach oben, er fällt nach unten. Will ein herr einen chnecht finden, sollte er sich vorab über das Wesen der Bewerber erkundigen. Übermütige Männer sollte er direkt gehen lassen, sie taugten nicht als Untergebene (weshalb der Dienstmann in der Rosshaut den Wunsch seiner Frau radikal ablehnen muss, um seine Anstellung nicht zu verlieren). Und auch der Dienstherr sollte sich schützen, denn hochvaertiges Verhalten werde von Hausangestellten mit schlechter Arbeit vergolten (Nr. 350, 21–33). Am Verhalten gegenüber dem unmoralisch Handelnden unterscheidet sich das Verhalten zwischen den Klassen: Während ein reicher nicht auf einen Affront eingehen darf, ist ein Bestrafen falschen Adels durch den gerechten diener statthaft. So ist auch die Reaktion des Dienstmanns und des Herzogs in der Rosshaut zu erklären: Das gewaltsame Züchtigen einer Frau kann legitim für einen chnecht sein, jedoch nicht für einen herren.551 Häufig beweist sich die hochvart durch die falsche Kleiderwahl. In mehreren Reden wendet sich der Teichner gegen die ›rheinische Mode‹, die sich ab 1350 in den deutschen Ländern ausbreitete.552 Damit scheint hochvart beim Teichner schnell zu einem Vorwurf gegen alles Neue zu werden.553 In Von den hohen slayren (= Schleiern, Nr. 359) bündelt sich des Teichners Kritik in zwei Gefahren der Mode – doch nur die Frauen betreffend: Zum einen sei die neue Mode sexuell anzüglich. Die Damen verdeckten ihre Brüste und Haut nicht mehr genügend, wie es früher noch der Fall gewesen sei (V. 44–49). Zum anderen bestehe die Gefahr, an den teuren Wünschen der Ehefrauen zu verarmen. Sonst ungewöhnlich, wechselt der Teichner hier in eine Ich-Aussage: Selbst wenn er reich wäre, seine Frau müsste dennoch die alte Kleidung tragen. Seinen monetären Überschuss würde er lieber wohltätig den Armen spenden. Die Bemäkelung des exemplarischen Ichs an seiner eigenen Frau554 bescheinigt besonders, dass er für seine konservative Schelte auch mehr als abwegige Ver-
551 Hier fehlt noch die Betrachtung aus Sicht der Dame. Der Teichner hält sich sehr zurück, wie hochvart von alleine überwunden werden kann. In den häufigsten Fällen empfiehlt er die e Einkehr ins Kloster : wer mit hochvart war besezzen, / daz der solt ins chloster ziehen (Nr. 350, 44f.). Das ist für eine Ehefrau keine Lösung, es bleibt eine Leerstelle in der Didaxe. 552 Zum Beispiel Nr. 192: Von der reinischait, V. 1–3: Ain sit ist chomen in dw lant, / der macht dw chunden unbechant: / daz ist gehaizzen reinischait. Ich lese chunden unbechant hier als Nachweis, dass die neue Mode bisherige Kleiderkonventionen ablöste. Zeitliche Verortung nach Glier : Art. Heinrich der Teichner, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters [Verfasserlexikon] (1981), Sp. 1350. 553 Darauf verweist auch der nur negativ verwendete Begriff, s. Knapp: Die Literatur zur Zeit der habsburgischen Herzöge von Rudolf IV. bis Albrecht V. (1358–1439) (2004), S. 85. 554 Es ist unklar, ob der Teichner verheiratet war. In Gedicht Nr. 632 schildert er ein vielleicht autobiographisches Missgeschick. Eine Frau, die ihn pflegte, als er mit einem gebrochenen Bein das Bett hüten musste, verklagte ihn, weil er ein angebliches Eheversprechen ihr gegenüber nicht eingehalten hat.
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gleiche heranzieht: Wenn er könnte, würde seine Ehefrau Badeschwämme auf dem Kopf tragen, das sei günstiger (Nr. 359, V. 105–107). Das zitierte Von den hohen slayren wurde in den drei Handschriften A, B und J vor die Rosshaut gesetzt, darunter also auch die älteste A aus Teichners Lebenszeit, die den Text überliefert und für die Edition als Leithandschrift fungiert. Entweder der Sammler oder sogar der Teichner selbst scheint das Märe als ein Exempel auf die vorangegangene Schleier-Rede angesehen zu haben.555 Die hochvart durch die Kleiderwahl zerlegt der Teichner in Untersemantiken. So wird sie beispielsweise die lipliche hochvart unterschieden von der gaistlich hochvart, die die Mönche und Nonnen ereilt (Nr. 492, V. 9 u. 18). Die lipliche hochvart ist meist mit Frauen verbunden, doch gibt es nicht nur diese eine Geschlechterzuordnung: die hochvart der gedanck (V. 42) erleiden auch Mönche. Nur zweimal scheint sich der Poet mit der Standesübertretung abgefunden zu haben. Die Bauern, die es in die städtische Elite geschafft haben, fordert er »nicht zur Rückkehr in den alten ordo auf, sondern rät ihnen nur, ihre neue ständische Privilegierung auch moralisch zu rechtfertigen.«556 Grundsätzlich lässt sich jedoch nicht erkennen, dass die moralisch untadeligen Bauern die Möglichkeit eines sozialen Aufstieges zugebilligt bekommen.557 Die verschiedenen Aufsplitterungen und Unterformen scheinen kaum ein Ende zu finden und können die Ständeordnung, die Rangfolge der Klassen oder die Geschlechterhierarchie ebenso gefährden wie quer zu diesen Unterscheidungen liegen, beispielsweise, wenn sie Frauen und Mönchen zur Gefahr wird. 555 Eine andere Anordnung enthält die Handschrift mit der Sigle O: Der Rosshaut (Nr. 360) folgt in der Niewöhnerschen Zählung Nr. 470, danach erst Von den hohen slayren (Nr. 359). Hier scheint der didaktische Text bewusst hinter das Märe gesetzt worden zu sein. Die dazwischen liegende Rede Nr. 470 kann aus Sicht der Rosshaut als ein sekundärer Text mit anderer Sammlermotivation gelesen werden: Hier wird die Züchtigung von Frauen gerechtfertigt. Im Vergleich zwischen A, B, J und O scheinen die älteren Handschriften (O ist gut ein halbes beziehungsweise volles Jahrhundert jünger als A, B und J) thematisch mehr an einem moralischen Disput interessiert gewesen zu sein, O an Erziehungsfragen. Dies setzt aber voraus, dass der Schreiber von O die älteren Handschriften oder eine ihrer Kopien gekannt haben muss, um dann eine bewusste Änderung der Reihenfolge zu vollziehen. Meine These kann jedoch mit einer weiteren Kontext-Sichtung unterstützt werden: In O folgt die Rosshaut auf Nr. 152, eine Ständeunterweisung, als Parabel von Pferd, Wolf und Esel erzählt. In A und B unikal überliefert ist Nr. 361 über die hochvart bei Luzifer und Adam. Welcher Text in J auf die Rosshaut folgt, ist mir aus der Gesamtausgabe nicht ersichtlich. Die Zählung entspricht der Gesamtausgabe, nicht der Zählung innerhalb der einzelnen Handschriften. Ich habe nur diejenigen Handschriften ausgewählt, die sowohl Rosshaut als auch Nr. 359 überliefert haben. Eine komplette Sammelmotivation der Handschriften A, B, J und O lassen sich daraus keineswegs ableiten. 556 Heinemann: Zur Ständedidaxe in der Deutschen Literatur des 13.–15. Jahrhunderts, Teil 3, S. 422. 557 Ebd., S. 423.
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Es wurden nun genügend Beispiele für die Stände- und Geschlechterspezifikationen in der Teichnerdidaxe aufgezeigt, um für die Analyse der Rosshaut zu einem Fazit zu gelangen.
3.4.5. Fazit: Binnendifferenzierung tradierter Werte Die Ausgangsproblematik bestand in einer auffälligen inhaltlichen Kohärenz, die widersprüchlich erschien: Am Ende der Rosshaut erhält die Dienstfrau das Kleid, dass ihr zu Beginn verwehrt blieb. Lehnsherrin und Lehnsfrau treten auf vestimentär gleicher Ebene auf. Dennoch hat sich die problematische hochvart der Frau durch den radikalen Eingriff des Dienstmanns aufgelöst. Deuten ließ sich dieser Widerspruch nicht als Sieg der Frau: Am Ende ist die Grenze zwischen Oben und Unten nicht aufgehoben, sondern betonter als zuvor. Die Erzählung bietet eine ordnungskonservative Teillösung an, die aber nicht alle Zeichen abdeckt. Die Züchtigung der Frau ist ein in den Mären häufig verwendetes Erzählmoment.558 Das Unikum in der Rosshaut ist jedoch das Belehren durch die Gabe. Für das umfangreiche Teichner-Œuvre, das sich im Spätmittelalter an den Stände-, Klassen- und Berufsgrenzen entlangarbeitet, ist die Inklusion der generösen Gabe die standesspezifische Reaktion auf die gewaltsame Struktur von Schlag und Gegenschlag innerhalb des Züchtigungsmotiversus Am Ende ist damit der ordo wieder völlig hergestellt. Die Ethik in der Rosshaut ist wie in den didaktischen Reden des Teichners standesspezifisch zu sehen. Der dienstmann handelt in einem anderen normativen Modell als der dienstherr. Beide agieren in differenten hierarchischen Ebenen und dem Diener obliegt die genderspezifsche Aufgabe, die hochvart der Frau zu unterbinden und einem Überschreiten der sozialen Grenze entgegenzuwirken. Dafür Gewalt einzusetzen, ist für einen Untergebenen durchaus legitim. Die Pflicht des Herzogs ist es, seine Unterstellten respektvoll zu behandeln und keine poshait an den Tag zu legen. Ein öffentliches Vorführen niedriger gestellter Personen verbietet sich, ebenso jegliche Form des Gewalteinsatzes. Bestrafen wäre ebenso Teil der hochvart, stattdessen soll er wohlwollend und generös handeln. Die Zurschaustellung des eigenen Reichtums soll, wie im Schenken des Kleides, die Eigenart der Oberschicht bleiben. Demgegenüber gehört sich Freigiebigkeit für untere Klassen nicht, weshalb die Schenkung des Herzogs die soziale Differenz öffentlich markiert. Das regelkonforme Verhalten verstärkt damit die Moral unter den Untergebenen und dem inneren Adel auf beiden Seiten. Das Epimythion deckt diese gender- und klassenspezifischen 558 S. Jonas: Der spätmittelalterliche Versschwank. Studien zu einer Vorform trivialer Literatur (1987), S. 85.
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Ethiken ab und ist damit ein Metakommentar, der kohärent mit der Binnennarration ist. Diese erzählerische Pluralisierung der Ethik anhand unterschiedlicher Standesnormen führt zu einer vielfältigeren Lösung als nur zu einer einfachen Logik von Übertreten und Einrenken von Ordnung. Die Inklusion neuer Elemente findet sich auch auf der Erzählebene wieder. Der erste Teil des Märe folgt einem typischen Schwankaufbau, doch wird die narrative Struktur von Schlag und Gegenschlag unter den Eheleuten ergänzt um die Rolle des Herzogs. Erst er schafft es, die Frau von ihrem Hochmut zu befreien. Die Züchtigung durch den Mann lässt sich in Folge einer Lesart nach der Gabentheorie als Geschenk an den Dienstherren lesen. Dessen Verhalten wiederrum ist ein Erwidern auf das Geschenk und das Aktion-Reaktion-Schema wird aus der Geschlechterbinarität zusätzlich in die Hierarchievertikale verschoben, durch die konkurrierende Beziehung (im Verhältnis zur Frau) vervielfältigt sich das Handlungsmuster. Das narrative Schema im zweiten Teil des Märe lässt sich in Analogie als Gabe und Gegengabe benennen. Aus Sicht der Wettkampftheorie beginnt die Rosshaut mit einem Kampf zwischen den Eheleuten, mit dem hierarchische Unklarheiten gelöst werden sollen. Der Ehemann muss auf eine List zurückgreifen, um den Kampf für sich entscheiden zu können. Die einfache Auflösung erweist sich jedoch nur als bedingt möglich und der Konflikt wird weitergeführt. Um das Ziel der geschlechterspezifischen Aufgabe zu erfüllen, konkurrieren im zweiten Teil die beiden Männer in der Behandlung der passiv gewordenen Frau. Der Wettkampf zwischen den beiden endet mit einem gemeinsamen Sieg, denn durch die Zusammenarbeit beider akzeptiert die Frau ihre angeborene Stellung. Gesellschaftliche Anerkennung wird zum Streitobjekt in der Gegenüberstellung des pider weib und der Hochmütigen im Epimythion. Nur diejenige, die sich der tradierten Moral fügt, wird von ihrem Umfeld gelobt und nicht verurteilt. Der Teichner nutzt alle Wettkampfformen, um Grenzen zu ziehen und Moral nach Geschlecht und Stand nacheinander zu differenzieren. Im Vergleich zu den einfachen Schwänken, die entweder zwei Geschlechter, zwei Stände oder zwei Ethnien gegeneinander ausspielen, besitzt die Rosshaut damit eine komplexere Struktur. Der Teichner muss verstanden werden als ein Fortschreiber tradierter Werte, indem er sie durch Auffächern und Neukomposition zu aktualisieren versucht. Im Beschreiben beinahe hundert historischer sozialer Gruppen pluralisiert er das klassische Dreierschema und schreibt den einzelnen Ständen und Berufsgruppen spezifische Wertmaßstäbe zu. In seiner Analyse des damaligen Zeitgeschehens wechseln sich sowohl Standesschelten als auch positive Zuschreibungen ab, wobei die warnenden Adressierungen überwiegen. Mit dem Attribut e adel und pider, vereinzelt auch das Gegenteil burisch, wertet er das Sozialverhalten seiner Zeitgenossen jeweils nach ihren vom Teichner postulierten Auf-
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gaben. Im Märe Die Rosshaut bringt er seine Didaktik in eine unterhaltsame und gleichzeitig exemplarische Erzählform. Sowohl die standes- als auch die geschlechtsspezifische Grenze betont er mit den jeweiligen normativen Modellen. Damit erweist sich eine scheinbar widersprüchliche Kohärenz als innerlich schlüssige Differenzierung.
3.5. Hermann Fressant: HELLERWERTWITZ Vermutlich im 2. Viertel des 14. Jahrhunderts verfasste ein Autor den Hellerwertwitz, der sich selbst im Epilog als Herman Frezzant und als in Augsburg bekannt vorstellt. Sein Märe soll einer Analyse unterzogen werden, weil Fressants Text im Vergleich zu den erhaltenen Stofffassungen mit dem Erweitern des Erzählmaterials unterschiedliche Vorstellungen von triuwe in Konkurrenz setzt. Gleichzeitig wird die triuwe durch die agonale Struktur der Handlung in eine breitere Sinnstruktur eingebettet, indem Fressant sie gegenüber der Plottradition in bisher unverhandelte Idiome von Monogamie und Polygamie inkludierte. Er baute eine weitere Protagonistin in das Handlungsgerüst ein und konzipierte damit, wie gezeigt wird, ein zusätzliches Normset, das mit demjenigen – bereits bestehenden – Wertesystem verschränkt wird. Triuwe als zu erreichende zwischenmenschliche Maxime wird durch die agonale Struktur in ihrer Semantik erweitert. Bevor darauf näher eingegangen wird, erfolgt zunächst eine Rekapitulation der Handlung sowie der bisherigen Forschung zum Märe. Ein Kaufmann hat neben seiner Ehefrau noch zwei Geliebte. Kurz bevor er sich auf eine Geschäftsreise aufmacht, besucht er beide nacheinander und kündigt seine Abreise mit dem Versprechen an, jeder von ihnen ein Geschenk aus der Fremde mitzubringen. Die erste Dame empfängt ihn freundlich, es kommt zum Liebesakt und die Frau drückt ihre Trauer über seine bevorstehende Abwesenheit aus. Als der Kaufmann am Haus seiner zweiten Mätresse ankommt, wird diese von ihrem Hund vor dem Besuch gewarnt. Sie hat noch einen anderen Geliebten bei sich liegen, den sie vor dem Kaufmann in einer Truhe versteckt. Dann öffnet sie ihm, auch sie bejammert seine baldige Abwesenheit, es folgen der Beischlaf und das Versprechen des Mitbringsels. Damit kehrt der Mann schlussendlich zu seiner Ehefrau zurück. Sie weiß von den Geliebten, bedauert den falschen Lebenswandel ihres Mannes, gibt ihm selbst eine Münze und wünscht, er möge ihr einen Witz im Wert eines Hellers mitbringen. Gemeint ist also ein Fünkchen Verstand, gewendet in der Kaufmannsmetaphorik des Geldes. Weil er auf seiner Reise überall fragt, wer ihm für einen Heller Witz verkaufen könne, wird er von zwei genervten Männern verprügelt. Ein hilfsbereiter Fremder fragt den Geschundenen nach der Ursache seiner Verletzungen. Er rät, er solle sich bei seiner Rückkehr als ausgeraubt und verarmt auszugeben, um die drei Frauen zu testen. Der Kaufmann gibt dem Fremden den Heller und befolgt seinen Rat. Als er zurückkommt, sein vermeintlich
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schlimmes Schicksal beklagt und sich hilfesuchend an seine früheren Freundinnen wendet, treiben diese ihn jedoch fort. Rückhalt findet er nur bei seiner Ehefrau, die ihm trotzdem zur Seite stehen will. Daraufhin offenbart der Ehemann seinen Trick und ist erfreut, durch diesen den Wert seiner Ehefrau erkannt zu haben.
3.5.1. Forschungsüberblick Der Autor des Märe scheint ein Stadtschreiber aus Ulm gewesen zu sein (bezeugt 1348, 1352 und 1353), in Augsburg selbst findet sich sein Name nicht. In Ulm war er vermutlich am Entstehen eines Ratsbuchs beteiligt, einer Sammlung von Ratsbeschlüssen und -protokollen, Bestimmungen, Verträgen und Urkunden. Stadtschreiber gehörten wie Kaufleute zum oberen Bildungs- beziehungsweise Einkommensmilieu der Städte und waren häufiger literarisch tätig.559 Das Setting eines reichen Kaufmanns mit Handlungsbeziehungen ins Ausland lässt sich mit den realen wirtschaftlichen Verhältnissen in den süddeutschen Städten im 14. Jahrhundert gut in Einklang bringen.560 Die ökonomische Thematik scheint auch für die mittelalterliche Rezeption der Handschriftenschreiber von Interesse gewesen zu sein. In der Innsbrucker Handschrift FB 32001, eine von vier Überlieferungsträger,561 wurde das Märe mit dem Schneekind gruppiert, das ebenfalls von einem reichen Kaufmann auf Handelsreise erzählt – zudem erzählen beide vom Ehebruch. Susanne Reichlin hat in ihrer Dissertation den Hellerwertwitz dieser Linie folgend in einer performativen Dimension des Monetären interpretiert. Sie geht dabei von einer Gegenüberstellung zweier Werte aus, bei der die Liebe der ersten beiden Frauen auf den materiellen Werten der Geschenke fußt. Die Liebe der Ehefrau gründet sich auf immaterielle Werte wie Tapferkeit und Ehre. Diskursgeschichtlich diene das Märe der Ausbildung einer ›Zusatzsemantik‹, durch die die Vorstellung einer universellen Käuflichkeit aller Güter eingeschränkt werde. Fressant stellt dem absoluten Glauben an die rein materielle Kaufkraft der Geliebten die immateriellen Werte der guten Ehefrau entgegen, die ihren Mann nicht aus ökonomischem Kalkül liebt. Gleichzeitig wird dieser ideelle Wert der richtigen Liebe in einen realen Wert externalisiert, indem er als einem heller wert in ein monetäres System übertragen wird. Dabei vermisst man bei Reichlins Beobachtung jedoch die Änderungen, mit denen Fressant den Erzählstoff erweitert hat. Ihre Analyse 559 Ziegeler : Geld, Liebe und Verstand. Hermann Fressants Verserzählung Der Hellerwert Witz (1987), S. 123f. Als andere Beispiele nennt Hanns Fischer Nikolaus von Qyle, Johannes Rothe oder Georg Alt. Fischer : Studien zur deutschen Märendichtung (1983), S. 187. 560 Wolf: Augsburg (2013), S. 55f. 561 Die anderen drei sind Wien Cod. 2885 (von Rosenfeld im Verfasserlexikon als Leiths. identifiziert), Dresden M 68, und eine verschollene Hs.
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kann daher ebenso für die französische Vorlage La Bourse pleine de Sens des Jean Galois562 wie auch für die deutsche Bearbeitung im Säcklein Witz des Schweizer Anonymus563 gelten. Beide kennen nur eine Geliebte und arbeiten mit dieser binären Gegenüberstellung.564 Fressant ergänzte dazu jedoch eine zweite Geliebte. Diese Erweiterung ist keineswegs irrelevant565 und wurde auch in der Bearbeitung des Märe im Pfennigwertwitz übernommen.566 Deshalb soll in der folgenden Analyse auf die unterschiedlichen Beziehungen zwischen dem Ehemann und den beiden Geliebten in Zusammenhang mit den Ergebnissen Reichlins besonders geachtet werden.
3.5.2. Exemplarisches Erzählen Wie es für die Mären charakteristisch ist,567 werden die propagierten Werte im Hellerwertwitz nicht oder nur teilweise expliziert, sondern durch die Protagonisten repräsentiert. Die Figuren stehen in diesem Sinn zuallererst für einen Liebesdiskurs, der sich bei Andreas Capellanus ausformuliert findet.568 Dieser warnt vor den geldhungrigen Geliebten: Denn wenn du ihren Worten willfährig sein und ihre Treue [fidem] ganz ernst nehmen willst, wirst du dich in deiner Überlegung getäuscht finden. Denn du wirst nicht imstande sein, ihre Treue und ihre Absicht durch Nachforschungen kennenzulernen, außer wenn der Blutegel voll von Blut ist und dich halbtot losläßt, wenn das Blut deines Reichtums ausgesaugt ist. Kaum nämlich erkennt man mit dem Eifer irgendeines Wesen, was die List im Inneren einer hinterhältigen Freundin [amicae] im Schilde führt, weil sie ihren Betrügereien mit so viel Künsten und Schlauheit zu verbrämen 562 Das Fabliau ins Deutsche übersetzt: Jean LeGalois: Von der vollen Börse mit Witz (Edition: Strasser). 563 Säcklein Witz (Edition: Fischer). 564 Grubmüller : Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter : Fabliau, Märe, Novelle (2006), S. 129 u. 131; Rosenfeld: Art. Fressant, Hermann, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters [Verfasserlexikon] (1981), Sp. 912. 565 So das Fazit bei Steinbauer : Art. Verstand für einen Pfennig, in: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Bd. 14: ¯ bı¯ – Zombie (2014), Sp. 131. Vergeltung – Zypern. Nachträge: A 566 Überblick über die Überlieferung bieten ebd. und Rosenfeld: Mittelhochdeutsche Novellenstudien: 1. Der Hellerwertwitz. 2. Der Schüler von Paris. (1967 [1927]), S. 27–37, 98– 103, 115–117, 122–145. 567 Vgl. Müller : Noch einmal: Märe und Novelle. Zu den Versionen des Maere von den Drei listigen Frauen (1984) und Neuschäfer: Boccaccio und der Beginn der Novelle. Strukturen der Kurzerzählung auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit (1969). 568 Schirmer : Stil- und Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle (1969), S. 206, Anm. 182.
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weiß, daß es kaum jemals durch die Schlauheit eines treuen Liebhabers [amatoris] entdeckt werden könnte.569
Demgegenüber rät Andreas, sich eine Geliebte zu suchen, deren Treue [fidem] weder aufkommende große Armut noch ein hereinbrechendes feindliches Mißgeschick dir abspenstig machen können.570
Die allermeisten Strukturmomente und Leitdifferenzen des Hellerwertwitz sind hier schon angesprochen: Treue, Nachdenken über und Prüfen wahrer Absichten, Geldgier, Blindheit aufgrund des Wirkens einer Frau, Fallengelassen werden durch die Frau wegen Armut und die wahre Treue der adäquaten Dame, deren Liebe aufkommenden Missgeschicken trotzt. Capellanus spricht hier stets von amicae, nicht von Ehefrauen. Und dennoch ist es im Hellerwertwitz gerade die eheliche Treue, die dem Mann trotz seiner vermeintlichen plötzlichen Mittellosigkeit zur Seite steht. Die Ehefrau erklärt dem vorgeblich Verarmten, dass sie selbst – vorübergehend – wortwörtlich Hand anlegen werde und das benötigte Geld erwirtschaften könne. Aufgrund dieser Opferbereitschaft erkennt der Mann nun die Güte seiner Ehefrau, vor allem aber die wahre Treue.
3.5.3. Entfalten der Möglichkeiten Die Treue der Ehefrau ist das gewinnende Konzept der Erzählung in Konkurrenz zu den Geliebten. Von der Vorgabe des Cappellanus’ weicht der Hellerwertwitz jedoch entscheidend ab, wenn auch die Beziehungen mit den beiden Liebhaberinnen keineswegs als ausschließlich untreu oder falsch bezeichnet werden. Die erste Geliebte wird ganz als gute Frau geschildert: Sie empfängt ihn minneclich (V. 64) und lässt ihn sich zu ihr setzen. Als der Mann ihr seine Abwesenheit ankündigt, beklagt sie ihre große Treue. Auch der Mann scheint ihr sehr zugetan zu sein und geht auf ihre Wünsche ein. Sie bittet ihn, einen Rock und einen Mantel mitzubringen – worauf er nur antwortet: daz tuon ich gerne (V. 85). Die beiden schlafen miteinander und sind 569 Nam, si eius volueris obsecundare sermonibus eiusque plenius agnoscere fidem, propria te invenies cogitatione frustratum, quia fidem eius et propositum nulla poteris indagatione cognoscere, nisi quum plena fuerit cruoris hirudo et te semivivum divitiarum exhausto cruore dimittit. Vix enim alicuius industria sapientis agnoscitur, quid gerat interius dolus fallentis amicae, quia tantis novit artibus suas fraudes et ingenio colorare, quod vix unquam posset istud fidelis amatoris ingenio deprehendi. 570 cuius fidem nec magna superveniens inopia rerum nec adversitas iniqua consurgens tibi [eam] possit facere alteratam. Beide Zitate aus: Königlicher Hofkapellan Andreas: Von der Liebe (Edition: Knapp), ix, 17 (S. 365) und ix, 14 (S. 363). Latein: Andreas Capellanus: De amore. Libri tres (Edition: Trojel), Liber primus, Cap. ix, (S. 230 und 229).
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sich so nah, dass der Erzähler die Nähe ihrer Körper mit einer berühmten Metapher akzentuiert: ich sage iu, daz sie l.gen gel%mt .n allen smerzen. schimpfen unde scherzen begunnens vil guote w%le. (V. 98–101)
Das positiv konnotierte Bild der geleimten Liebenden ist aus zahlreichen höfischen Romanen bekannt: Nicht nur Gottfrieds Tristan kommt darauf zu sprechen, auch im Trojanerkrieg beschreibt Konrad von Würzburg mithilfe dieser Metapher die Liebenden Jason und Medea.571 Im Hellerwertwitz ist Sex nicht nur spaßiger Zeitvertreib, sondern dient auch dem Darstellen zweier einander Gewogenen, weshalb der Mann den Akt nur sehr widerwillig beendet. Als er weiterziehen will, wünscht er ihr Gottes Gunst und verspricht ihr ein Geschenk aus der Ferne mitzubringen. Sie beginnt zu weinen und schwört, sich selbst zu kasteien, bis ihr seine Rückkehr verkündet wird. Bis zu seiner Heimkehr wolle sie fasten und beten und keinen Schuh mehr anziehen. Von seiner Anwesenheit hänge ihre Freude ab. Die erste Geliebte vertritt somit ein reziprokes Verständnis von triuwe, das vonseiten des Erzählers nicht verurteilt wird.
571 Der wunsch ir herzen wart gegeben, si enhaeten niht ein süezer leben gekoufet umb ein halbez ei. seht, alsi l.gen disiu zwei mit armen umbeslozzen und was in zuo geflozzen minn unde herzeclich gelust. d. wart getwungen brust an brust und munt an munt gel%met wol. si wurden hiher minne vol und ganzer fröude r%che. V. 9153–9163, nach: Konrad von Würzburg: Trojanerkrieg (Edition: Thoelen und Häberlein). Auf die vielen Berührungspunkte zwischen Hellerwertwitz und Konrad von Würzburg hat bereits Rosenfeld: Mittelhochdeutsche Novellenstudien: 1. Der Hellerwertwitz. 2. Der Schüler von Paris. (1967 [1927]), S. 41, hingewiesen. Im Reinfried von Braunschweig wird geleimt als Sinnbild des Kusses verwendet, V. 2360. In Hartmanns Gregorius liegen die beiden Geschwister wie geleimt beieinander im Bett, V. 373. Im Tristan nutzt Gottfried geleimt mithilfe einer Metapher als Ausdruck der unausweichlichen Macht der Minne zwischen Riwalin und Blanscheflur : der bejagte Vogel verfängt sich in der mit Leim bestrichenen Falle des Jägers. Dieses Bild hat auch der Autor des nach dem Hellerwertwitz entstandenen Märe Aristoteles und Phyllis benutzt. Lambertus Okken hat auf die Warnung der Kirchenväter vor der gefährlichen Sexualität hingewiesen: Okken: Kommentar zum Tristan-Roman Gottfrieds von Straßburg (1996), zu V. 842–851.
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Ganz anders in der zweiten Episode: Es besteht kein Zweifel, dass die weitere Geliebte von Anfang an nicht aufrichtig ist. Als der Mann bei ihr eintreten will, warnt der Hund seine Besitzerin vor der Ankunft. Diese hat nämlich noch einen anderen Mann in ihrem Bett, den sie schnell loswerden muss und in einer Kiste versteckt. Der Hellerwertwitz ist eine Erzählung mit einer komplexerer Figurenkonstellation im Vergleich zu der ursprünglichen Dreiecksgeschichte, wie sie im gut hundert Jahre älteren französischen Fabliau Bourse pleine de Sens und dem im 15. Jahrhundert und damit weit jünger entstanden Säcklein Witz erhalten ist.572 In der eingefügten Episode um die zweite Geliebte verdeutlicht der Mann in der Truhe die Doppelzüngigkeit der Geliebten: sie hat nicht nur ein Verhältnis zu einem verheirateten Mann, sondern auch noch zu anderen. Ihre Rolle ähnelt einer Prostituierten, wie nicht zuletzt in ihrer obszönen Sprache (v. a. V. 546, 568), ihrer Gewalttätigkeit (V. 560–564) und ihren beiden prügelnden Gästen (V. 565–567, 572f.) im späteren Teil deutlich wird. Die erste Geliebte erscheint dagegen geradezu tadellos. Indem Fressant die zweite Geliebte einfügte, gestaltete er mit ihr eine deutlichere Gegenposition zur Ehefrau als mit der ersten Geliebten. Fressant hat hier Wiederholung mit Variationen verbunden. Die zweite Geliebte wird uns in ähnlicher Art geschildert wie die erste: Der Mann erreicht ihr Haus, bei der zweiten Geliebten mit eingebauter NebenbuhlerErzählung, und wird liebevoll empfangen. Er offenbart seine baldige Abwesenheit, woraufhin beide ihr Unglück beklagen. Auch die zweite Geliebte wünscht sich einen roten Rock und Mantel – diesmal aus Gent (statt Ypern). Dann kommt es zum Beischlaf. Nach der Vereinigung bejammern beide die drohende Trennung. Wie auch bei der ersten Geliebten vergessen Mann und Frau nicht sich zu umbv.hen (V. 214) und der Mann geht seines Weges. Fressant erzählt damit nicht nur von Treuekonkurrenz, sondern inszeniert die Genese und Figuration solcher Konkurrenz selbst. Der Text beginnt mit einem einheitlichen Treuekonzept, das im Verlauf binnendifferenziert wird. Auf dieser Ausdifferenzierung gründet der Konflikt. Welche Semantiken von Treue stehen hier in Konkurrenz zueinander und wie werden sie repräsentiert? Die erste Geliebte vertritt eine Idee von Treue, die auf einem reziprokes Tauschverhältnis beruht: Sie gibt Treue und erhält dafür Aufmerksamkeiten in Form von Geschenken und Intimität. Damit steht dieses Verständnis von Treue in Konkurrenz zur Monogamie der Ehefrau und auch der zweiten Geliebten. Deren Treue wird am Exklusivitätsanspruch vom Standpunkt des Mannes und von ihrer Stabilität aus gemessen. Ihre Beteuerung, alle man sint mir unmaere / 572 Vgl. Rosenfeld: Mittelhochdeutsche Novellenstudien: 1. Der Hellerwertwitz. 2. Der Schüler von Paris. (1967 [1927]), S. 27–37 zum Fabliau und S. 115–117 zum Säcklein Witz.
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danne d0 (V. 176f.), ist, wie man weiß, schlicht erlogen.573 Fressant konnte für diese Position auf ein Motiv zurückgreifen, das aus vielen Mären wohlbekannt ist: Frau versteckt ihren Geliebten vor ihrem Ehemann.574 Fressant griff dieses auf, um ein neues Konzept zu integrieren: die Monogamie. Sie wird zuerst negativ profiliert: Die zweite Geliebte ist nicht monogam. Das Signalwort triuwe fehlt in Erzählepisode V. 118–219, in der der Kaufmann die Frau aufsucht. Wenn sie sich später wiedersehen, wird sie der Mann an ihre alte[ ] (V. 540) beziehungsweise ihre friuntl%che[ ] triuwe (V. 556f.) erinnern. Der Basiskonflikt, der dem Hellerwertwitz zugrunde liegt, ist nicht wie in anderen mittelalterlichen Erzählungen als binäre Opposition von beispielsweise Ehre versus Schande oder Wildheit versus Kultiviertheit angelegt.575 Er entspinnt sich vielmehr aus der mehrfach codierten Semantik des triuwe-Konzepts. Aus der Polysemie eines gemeinschaftsbildenden Leitbegriffs wird hier ein Streitkonflikt eines Kaufmanns zwischen seinen Konkubinatsfrauen und seiner Angetrauten, die verschiedene Treuesemantiken vertreten. Allerdings nur temporär, denn im Hellerwertwitz kann die Polysemie nicht aufrecht erhalten bleiben. Zum einen werden beide Geliebte in Vergleich zueinander gebracht: Welche wird auch in schlechteren Zeiten zum Kaufmann stehen, die monogam oder die polygam agierende? Zum anderen werden beide gleichsam in Konkurrenz zur Ehefrau gesetzt; die Grundfrage lautet in dieser Perspektive: Ehe oder Promiskuität? Das bürgerlich-kaufmännische Ideal der unkäuflichen Liebe wird durch Fressant um die Monogamie erweitert. Damit entwickelt das Märe eine doppelte Perspektive, welche die Polysemie ihres Schlüsselkonzepts letztlich dissoziiert. Die unterschiedlichen Vorstellungen erzeugen zwei widerstreitende Regelsysteme, die nicht kommensurabel sind – zumindest nicht von Seiten des monogamen Ehekonzepts der Kaufmannsfrau: ihre Treue ist nicht vereinbar mit Nebenbuhlerinnen. Die geforderte Treue der Ehefrau lässt keine andere Form zu, woraus »der Konflikt aus dem Auseinandergehen folgt«576, wie Simmel zur Ausfaltung vormals einheitlicher Elemente schreibt.
573 Allzu unwahrscheinlich ist es hier, die Frau spiele darauf an mit anderen Männern, anders als mit unserem Kaufmann, nur aus Pflicht zu verkehren. Ich lese unmaere hier nicht als Komparativ, sondern als Positiv. 574 Um nur einige zu nennen: Der Ritter unter dem Zuber, Hans Folz’ Die Wiedervergeltung, Heinrichs von Pforzen Der Pfaffe in der Reuse, Heinrich Kaufringers Der Schlafpelz, Der Ritter mit den Nüssen, Hans Rosenplüts Der Knecht im Garten oder als tödliche Bestrafung in Die drei Mönche zu Kolmar. 575 Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive (2015), S. 142. 576 Simmel: Der Streit (2001), S. 316. Umgekehrt gilt jedoch: Die Geliebten scheinen keine Schwierigkeiten mit dem Ehestatus des Kaufmanns zu haben.
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Neben der nicht-erfüllten monogamen Treue der zweiten Geliebten steht die verwirklichte der Ehefrau. Sie hat von Anfang an unter dem Verhalten des Mannes zu leiden. Der fröude[ ] (V. 219, .n allen smerzen, V. 99) halber besucht der Kaufmann die Konkubinen. Als er aus dem Bett der beiden letztendlich zu ihr kommt, beklagt sie seine Abwesenheit: »w. bist d0 si lange 0z gewesen?« sprach s%n frouwe. »deich dir so wol getrouwe, des engilte ich dicke sÞre. d0 soldst nach m%ner lÞre leben baz, des fröute ich mich.« (V. 224–229)
Die Semantik ehelicher Treue (getrouwe) meint hier ein Vertrauen in den Erwählten und einen Zusammenhalt in der Zweiergemeinschaft. Sie ist nicht reziprok in dem Sinn, dass sie stets aufs Neue bewiesen werden müsste. Vielmehr ist sie independent von auftauchenden Widrigkeiten und soll über solche hinaus bestehen. Um dem Ehemann den Wert ehelicher Treue zu beweisen, greift sie zu der List, durch welche dieser – für einen Heller – zu Verstand kommen solle: sie sprach: »nim hin an dirre frist einen helblinc und niht mÞr unde kouf mir, als ich ger, dar umb ein helwertwitze!« […] sie ged.hte innercl%cher : si mac m%n dinc wol werden guot: (V. 232–235 und 272f.)
Die widerstreitenden Konzepte von Treue der Ehefrau und der Geliebten werden zueinander in Konkurrenz gesetzt. Ohne dass Fressant die Treue der ersten Geliebten als unzulänglich stigmatisieren muss, stellt seine Wettkampferzählung den Gewinn heraus, den die Ehefrau repräsentiert: nur sie wird am Ende zu ihm stehen. Dies setzt voraus, sich selbst in das gewagte Spiel hineinzubringen.577 Sie stellt ihre eigentlich sichere Position als Ehefrau eines augenscheinlich wohlhabenden Kaufmanns zur Disposition, weil dieser monogame Treue nicht als Teil der Ehe ansieht. Wertsteigerung der triuwe gelingt nur, weil sie sich dem Risiko der Konkurrenz aussetzt. 577 Dass die Ehefrau sich selbst in Konkurrenz zu den Nebenbuhlerinnen ihres Ehemanns bringt, hat auch schon Schirmer : Stil- und Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle (1969), S. 97, erkannt.
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Dass dieses Risiko auch den Ehemann erfasst, ahnt dieser zunächst nicht. Er ist vielmehr gewillt, der Bitte seiner Frau zu entsprechen, die nicht nur keinen teuren Wunsch äußert, sondern selbst dem Mann den Heller zahlt – damit er ihr seine Treue beweisen kann. So macht der Kaufmann sich mit drei höchst ungleichartigen Wünschen im Gepäck auf seine Handelsreise: zwei Röcke für seine Geliebten und eine Erkenntnis für seine Ehefrau. Auch auf seiner Reise lässt der Mann keinen Argwohn erkennen und ermahnt sich an das gegebene Versprechen. In Flandern begibt er sich in die Gassen der Stadt und erfragt, ob ihm jemand Vernunft verkaufen könne. Die Anwohner halten ihn für verrückt und lassen ihn links liegen. Er versucht es weiter, bis er von zwei Bürgern verprügelt wird, deren Hass er erzeugt. Stark verletzt trifft er auf einen alten Mann, der ihm mit seinem Ratschlag helfen will und so die Wende einleitet.578 Der Kaufmann solle einen Überfall erfinden und bei der Heimkehr seine Armut verkünden. Alle drei Frauen möge er erinnern an aller triuwen, / der alten und der niuwen, / der d0 ie zin gewünne (V. 421–423). Dann würde er erkennen, welche wirklich treu sei: meint dich mit triuwen gar (V. 435). Beide triuwe-Wendungen in der Rede des Ratgebers finden sich an anderer Stelle wieder. Das Mahnen an die alten und der niuwe triuwen wiederholt Fressant in der Ansprache an die zweite Geliebte in den Versen 539–541. Die Wiederholung aber verweist darauf, dass die Angesprochene gerade nicht treu war, die alte triuwe also unbesetzt ist. Deswegen kann auch die niuwe triuwe nur inhaltsleer sein, bei ihr wird er keine Unterstützung erhalten. Mit triuwe meinen tut ihn nur die Ehefrau, die am Ende froh ist, dass er dies erkannt hat und dies mit einem Christuslob zusätzlich verstärkt. Spätestens mit dem Rat des Alten wird die Treue auf eine einzige Möglichkeitsform reduziert: Die Intimbeziehung wird entkoppelt von Bewährungskontexten, womit reziproke Beweise hinter stabilen Erwartungen zurückstehen. Treue wird zeitresistent – eine reziproke Liebe, die ein beständiges Erwidern bedarf, wird dagegen abgewiesen. Kurzum: In jeglicher Hinsicht wird damit das differenzierte Spektrum der triuwe vereinfacht, welches die Konkurrenzerzählung zuerst entfaltet hatte.
3.5.4. Reduktion Das Verkürzen der Treuesemantik wird im letzten Teil des Märe narrativ weitergeführt. Wie ihm vom Ratgeber geraten wurde, kehrt der Kaufmann in 578 Vgl. Ebd., S. 95. Die besondere Würde des Rats wird auch durch das Alter des Ratgebers betont (V. 368) im Gegensatz zum jungen Alter des Kaufmanns (V. 32); vgl. den Pfennigwertwitz, der nicht mit solchen Dichotomien arbeitet.
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scheinbar üblem Zustand zurück. Zyklisch zum ersten Teil wendet er sich zunächst der ersten Geliebten zu. Ein unfreundlicher Empfang deutet bereits ihre anschließende Reaktion auf den ausgeraubten Kaufmann an. Sie kündigt ihm die Zuneigung auf und verweist ihn des Hauses. Der Mann hält ihr entgegen, dass sie seine bisherigen Taten scheinbar vergessen hat: dir ist ie m%n muot gewesen holt mit triuwen. ez mac mich vil wol riuwen, ob d0 des wilt vergezzen. (V. 482–485)
Während im ersten Teil die Dame noch ihre Treue bekräftigt hatte (getriuwe ist das herze m%n, V. 77), ist es hier nur noch der Mann, der davon spricht; dies wiederholt sich auch später bei der zweiten Geliebten, V. 539f. und 556. Zwar bestreitet sie nicht ihre vorherige Zuneigung – oder zumindest, dass sie ihm w%lent undert.n (V. 505) war –, doch sei dies nur aus Vorteilsnahme geschehen. Das vorherige gute Verhältnis sei auch jederzeit wiederherstellbar, vorausgesetzt er käme wieder zu Geld. Das reziproke triuwe-Verhältnis erweist sich somit als kritikwürdig: Es ist nicht überdauernd, in dem Sinn, dass es rückhaltlos wäre, sondern vielmehr bedingungsbezogen auf das ökonomische Kalkül, das das Märe durchzieht. Der Kaufmann erinnert sie an ihr Versprechen, bis zu seiner Rückkehr in Askese zu leben; doch ob sie sich tatsächlich in Enthaltsamkeit geübt hat, ist nichtig, da schon die Prämissen nicht mehr erfüllt sind. Folgerichtig wird die Askese von ihr nicht aufgegriffen. Selbst die Hilfsbedürftigkeit des vermeintlich Beraubten, die christliche caritas erfordern würde, bleibt unbeantwortet. Die Ehefrau wird dieses Verhalten später als ungetriuwelich[e] t.ten (V. 716f.) brandmarken. Bei der zweiten Geliebten ergeht es ihm noch schlechter. Vor der Dame erklärt er sein Unglück, appelliert an vergangenes Glück und fordert Hilfe: »ich wil dich manen unde biten«, sprach er, »aller triuwen, der alten und der niuwen, der ich ie ze dir gewan[.«] (V. 538–541)
Wieder profilieren Wiederholungsstrukturen die Varianten der zweiten Treueprobe. Vers 538 wiederholt Vers 490 aus dem Gespräch mit der ersten Geliebten, und die Wiederholung von Vers 539–541 aus der Rede des Ratgebers erinnert an die Leere der alten Treue.579 Auch ein erneutes Ermahnen an vergangene Treue 579 Auf alle Wiederholungen geht Rosenfeld: Mittelhochdeutsche Novellenstudien: 1. Der Hellerwertwitz. 2. Der Schüler von Paris. (1967 [1927]), S. 23 Anm. 1 ein, für ihn »lästig«
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kann sie nicht umstimmen, sie antwortet nicht mehr verbal, sondern körperlich. Die Grobheit, die er nun erfährt, die Schläge auf Gurgel und Kopf und die Prügel der beiden zufällig anwesenden Männer treiben den Konflikt auf die Spitze.580 Ihre Gewalttätigkeit kann auch als Füllen des freien Raums der doppelten Konkurrenzstruktur gelesen werden, denn immerhin hat sie im Gegensatz zur ersten Geliebten ihre Unehrenhaftigkeit bereits von Anfang an bewiesen. Die vielen Verskorrespondenzen, Wiederaufnahmen und die ins Leere laufenden Treueermahnungen durch den Kaufmann verweisen ebenso auf die schrittweise Reduktion des Wettkampfsystems. Beide Frauen haben sich nun vollends als unehrenhaft erwiesen und damit die von ihnen versinnbildlichte Treue depotenziert: die reziproke Treue der ersten Geliebten ebenso wie das nicht erfüllte Monogamieversprechen der zweiten. Der Erzähler bringt das Fehlverhalten der Beiden auf eine scheinbar exemplarische Ebene, indem er sie in seiner digressio mit anderen Frauen vergleicht. Er denunziert gierige Frauen, die noch nicht einmal von den Größen der Literatur oder den wichtigsten Tugenden zu redlichem Verhalten gebracht werden würden. Kurneval (der die Klugheit repräsentiert), Parzival (für Schönheit und Gesangskunst), Tristan (Liebesfähigkeit), Gawan (Tugendhaftigkeit und Mut), Gahmuret (Kühnheit und Verständigkeit) – sie alle könnten die Damen nicht erfreuen, wenn sie nicht reich wären.581 Selbst ein hässliches Aussehen – und damit im Sinn der Kalokagathia ein schlechter Charakter – wäre für sie bei entsprechender monetärer Entschädigung akzeptabel. Diese Frauen bildeten den Gegensatz zum reinen w%p, das unabhängig vom Kapitalbesitz den guten Mann erkenne. Darum vereine diese der Þren s.m […] / unde hoehsten pr%s (V. 634f.) sowie alle Tugenden. Ein solches Ideal repräsentiere die Ehefrau, zu der sich der Kaufmann nun wende. Auch die dritte Probe beginnt als Wiederholung: Vor seiner Gattin klagt er zunächst über sein vermeintliches Ungeschick. Doch im deutlichen Gegensatz zu ihren Konkurrentinnen verstummt die Ehefrau mit schoenen zühten (V. 667), während er spricht – eine ideale Rollenerwartung im Eheverhältnis, die wenige und ein Zeichen »stilistischer Armut; der einfache Mann hat eben nur einen Ausdruck zur Verfügung oder er sucht wenigstens ungern nach einem neuen«. Für eine positivere Sichtweise auf Wiederholungsstrukturen in Mären siehe Friedrich: Trieb und Ökonomie. Serialität und Kombinatorik in mittelalterlichen Kurzerzählungen (2006) und Nowakowski: Alternativen der Vergeltung. Rache, Revanche und die Logik des Wiedererzählens in schwankhaften mittelhochdeutschen Kurzerzählungen (2014). Fischer : Studien zur deutschen Märendichtung (1983), S. 186, erkennt im Vergleich zu anderen Mären gleichwohl an, dass der Hellerwertwitz »recht kunstfertig und anspruchsvoll erzählt ist.« 580 Mit Schirmer: Stil- und Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle (1969), S. 96, kann man von den beiden Männern auch von »Konfliktverschärfern« reden. 581 Die besondere Kumulation literarischer Anspielung hält Fischer : Studien zur deutschen Märendichtung (1983), für einen ausgeprägte literarische Bildung des Märenpublikums.
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Verse später nochmals wiederholt wird (V. 702).582 Ihre Hilfsbereitschaft überschlägt sich: Er bekommt von ihr ein Bad eingelassen und wart von ir wol gehandelt (Vers 675), denn ir muot wart nie verwandelt (Vers 676). Wenn er kein Geld mehr hat, wird sie nun, wenn auch nur für den Übergang, das Geld verdienen. Der Mann erkennt, welche Frau auch in schlechten Zeiten zu ihm steht. Das Konzept der monogamen Treue verdichtet ein komplexes Bündel unterschiedlicher Aspekte, die im Text mit dem Leitbegriff der triuwe verknüpft werden: – sie ist rückhaltlos (er wart von ir wol gehandelt, / ir muot wart nie verwandelt, / swie gar er waer beroubet, V. 675–678); – sie wird christlich konnotiert (ich wil des iemer loben Krist, / daz d0 des innen worden bist, / wer dich mit triuwen meinet, V. 707–709); – sie baut auf klaren Prämissen auf (als rehte liep ich dir s%, / si verm%t ir geselleschaft, / daz d0 iht werdest mÞ behaft, V. 712–714); – sie fordert ein gegenseitiges Einverständnis (swaz d0 wilt, daz wil ouch ich, / […] des wil ich dir swern V. 718f.) – sie beruht auf Monogamie (si verm%t ir geselleschaft, / […] gedenke, dazs dir t.ten / si gar ungetriuwelich!, V. 713–717 und d%n triu, d%n güete mac mir wern, / daz ich muoz m%den alliu w%p / dan d%nen tugentl%chen l%p, V. 720–722); – sie basiert auf affirmativer, expressiver Wertschätzung (m%n herz dir ganzer triuwen giht, V. 724); – sie ist ein Füreinander einstehen, vor allem der Frau für den Mann (ich gedenke an die get.t, / die d%n l%p begangen h.t / an mir in rehter triuwe, V. 725–727) und – sie ist beständig und eine kontinuierliche Grundlage des beiderseitigen Zusammenlebens (ob ich daz leben sol geh.n, / si wirt dir von mir kunt get.n, / des d0 dich maht lützel schamen, V. 729–731). In sozialhistorischer Sicht kann man dieses Verständnis ehelichen Zusammenlebens als Leitidee des spätmittelalterlichen Bürgertums identifizieren.583 582 Im Epimythion 750–780 werden folgende Attribute der perfekten Frau und des vollkommenen Manns benannt: tugent soll sein der Mann (764); rein (767, 770, 772) und güetec (774) die Frau, dazu kann [sie] stillen / mannes ungemüete (772f.); zühtec (763 u. 765) und mit Þre (764 beziehungsweise 770) ausgestattet sollen beide sein. 583 Für die Darstellung des ökonomische Kalküls der Kaufmannsschicht im Märe siehe zuletzt Friedrich: Trieb und Ökonomie. Serialität und Kombinatorik in mittelalterlichen Kurzerzählungen (2006). Die Stadt (auch Fressants Heimatorte Ulm beziehungsweise Augsburg) als Zentrum mittelalterlicher Tuchindustrie stellt Hirschmann: Die Stadt im Mittelalter (2016) dar. Ziegeler : Geld, Liebe und Verstand. Hermann Fressants Verserzählung Der Hellerwert Witz (1987), S. 129, stellt den Hellerwertwitz als literarischen Diskussionsbeitrag in den juristischen Ehediskurs dar und kann dazu historische Nachweise liefern.
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Demgegenüber entspricht triuwe im Sinn eines reziproken Tauschverhältnisses der älteren Semantiypenk des Wortes und entstammt einem feudaladligen Denken.584 Dem bürgerlichen Verständnis von Liebe folgend, erscheint an allen entscheidenden Stellen der Konkurrenzerzählung585 das entscheidendste Distinktionsmedium dieser Schicht: das Geld.586 Die perfekte Liebe für den Bürger der spätmittelalterlichen Stadt ist nicht nur tugendhaft, sondern Teil ökonomischer Berechnungen. Die Ehefrau hat schon zuvorderst keinen Rock verlangt, sondern ihrem Mann noch einen Heller ›Verdienst‹ beschert. Sie kann in schlechten Zeiten selbst Hand anlegen und Geld verdienen. Sie ist also nicht bloß Teil der Reproduktions- und Affektgemeinschaft, sondern eine praktische Hilfe für den Kaufmann.587 Selbst witz kann mit Geld erworben werden, so die Pointe.588 Da der Gatte nun seine wahre Treue gefunden hat, gibt es auch keinen Grund mehr für die vorgespielte Armut. Der Erzähler verknüpft die List des Täuschens mit dem wirtschaftlichen Erfolg seiner Reise589 – seiner Ankündigung, dass
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Mihm: Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung im Spätmittelalter (1967), S. 98f., hat diese besondere Rolle des Kaufmännischen für die Entstehung der Handschriftenreihenfolge in i nachgewiesen: Das in einem ganz ähnlichen Setting spielende Schneekind wurde, im Vergleich zur früheren Schrift w, dem Hellerwertwitz hintangestellt. Die aktuellste Darstellung des historischen Augsburger beziehungsweise Ulmer Bürgers Hermann Fressant in Ziegeler : Geld, Liebe und Verstand. Hermann Fressants Verserzählung Der Hellerwert Witz (1987), S. 123f. Vgl. Müller : Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes (1998), S. 163– 170. Ein Wandel hin zu einer emotional-individualen Beziehung ist nicht bürgerspezifisch, sondern lässt sich auch im Nibelungenlied im Verhältnis Kriemhild-Siegfried greifen. Die kaufmännische Neuerung ist das ökonomische Zweckdenken, das hier eingelagert wird. Dass im Spätmittelalter eine extrem gestiegener Gebrauch des triuwe-Begriffes abzulesen ist, darauf verweist Schultz-Balluff: Wissenswelt »triuwe«. Kollokationen – Semantisierung – Konzeptualiserung (2018). Der Wunsch der Geliebten und der der Frau, die vorgespielte Armut, die moralische Abwertung der Konkubinen bis hin zum paratextuellen Titel. Geld als Maßstab aller Dinge sieht Ziegeler : Geld, Liebe und Verstand. Hermann Fressants Verserzählung Der Hellerwert Witz (1987), S. 128, als grundlegend für die komplette Stofftradition. Nach Schirmer : Stil- und Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle (1969), S. 230, ist die Eheliebe im Hellerwertwitz »eine der maritalis affectio ähnliche Empfindung, eine Zuneigung, die sich im Einstehen füreinander, in praktischer Hilfe, vor allem in ehelicher Treue bewährt.« Er erkennt, dass die Verinnerlichung der Liebe im Märe hier fehlt. Hans-Joachim Ziegeler spricht vom Verstandeskaufmotiv, siehe Ziegeler : Geld, Liebe und Verstand. Hermann Fressants Verserzählung Der Hellerwert Witz (1987), S. 126. Gernentz hat diese Verknüpfung in seiner neuhochdeutschen Übertragung aufgehoben, bei ihm heißt es: Du kannst guten Mutes sein, ich hab noch Ansehn und Vermögen. Du brauchst dich nicht zu sorgen! Wahrscheinlich kommen übermorgen
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übermorgen reiche Ware aus Ypern und Flandern kommen würde, fügt er seine Erleichterung über die gefundene Treue in Parenthese bei. Mit diesem doppelt guten Ende, ökonomisch wie auch emotional, schließt die Binnenerzählung. Verallgemeinernd beschwört der Erzähler, dass jeder zühtec Mann eine solche Kaufmannsfrau erhalten solle.
3.5.5. Fazit: Pluralisierung durch Exklusion Die im Hellerwertwitz proklamierte Moral im Epimythion (eine edle Ehefrau hebt die Sorgen ihres Mannes auf) trifft kaum das zuvor Erzählte: Denn der Mann wurde im ersten Teil nicht als unglücklich gezeichnet, ganz im Gegenteil. Zudem hat er nichts gewonnen, sondern zwei Geliebte ›verloren‹, seine Frau wurde hingegen bereits zu Beginn der Handlung als moralisch mustergültig ausgewiesen. Der Zweck weiblicher Reinheit wird innerhalb des Textes auf das Befreien männlichen Missmutes allein bezogen (ein reinez w%p kan stillen / mannes ungemüete / mit ir w%pl%cher güete, V. 772–774) – doch wurde dieses Defizit gerade erst durch ihre List hervorgerufen. Das Erproben der Geliebten geschieht in einer künstlich erschaffenen Notlage, die am alltäglichen Leben des Kaufmanns vorbeigeht und Erkenntnisgewinn durch Schläge und Abweisungen erreicht. Umso deutlicher werden die narrativen Verfahren sichtbar, mit der die Differenzziehung vonstattengeht. Das hochkomplexe System unterschiedlicher Normbereiche inner- und außerhalb ehelicher Beziehungen wird konkretisiert auf ein Treuekonzept, das zuvor aufgebaute Alternativen demonstrativ ausschließt und durch die Wiederholung von Negativbeweisen evident gemacht wird. In diesem Sinn erzählt der Hellerwertwitz vom Aufspalten sozialer Handlungsmöglichkeiten. Das Märe verbindet verschiedene Sets sozialer Ordnungen, die eigentlich auf unterschiedlichen Ebenen zum Tragen kommen: zum einen die Dichotomie Monogamie/Polygamie als Charakter des interpersonellen Kontakts, zum anderen Ehe/Promiskuität als übergreifende Lebensform. Diese binären Oppositionen werden hier unter einer komplexen Verbindung der Konkurrenz verneun Wagen, voll beladen. Aus dem Lande Flandern und von Ypern her bringen sie uns Stoffe, das ist bestimmt die Wahrheit. Ich glaub, daß ich den größten Schaden jetzt völlig überwunden habe, besonders weil ich Treue fand. Fressant: Der Hellerwertwitz (Edition: Gernentz), S. 349.
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schachtelt. Im Unterschied zu struktureinfacheren Fassungen, die eine Binarität von materiellen und immateriellen Werten aufstellen, erzählt der Hellerwertwitz vom Arrangement der Möglichkeiten. Dabei ist im ersten Teil der Kaufmann zufrieden mit allen drei Frauen. fröude als erstrebenswerter Zustand findet er bei den dreien in gleichem Maße, doch wird sie brüchig, als seine Frau diese Freude nicht teilen kann. Die Zwischenepisode des weisen Ratgebers beschleunigt den Konflikt und ebnet den Weg zur weiteren Differenzierung: Im letzten Teil, zyklisch wie der erste gegliedert, erhält der Kaufmann kein Wohlgefallen mehr von seinen Geliebten. Freude wird reduziert und existiert hier nur noch in Gleichzeitigkeit mit exklusiver Treue. Promiskuität wird an Polygamie gebunden, Monogamie und Ehe als einzig wahre Werte prononciert. Das entworfene Ideal der unverkäuflichen und stabilen Liebe wird mit der Monogamie verknüpft. Das soziale Ordnungssystem bürgerlicher Emotionalität wird konkretisiert, indem man es in Gegnerschaft zur polygamen und käuflichen Liebe bringt. Die Pluralisierung der Ordnung findet damit durch Exklusion statt, das heißt durch das Trennen vorher verwobener Elemente: Promiskuität und Liebe schließen sich nun aus. Der Wettkampf ermöglicht es, unterschiedliche Positionen zur Sprache zu bringen, zu vergleichen und narrativ zu verhandeln. Zu Beginn des Hellerwerwitz werden sie entfaltet, um sie dann gegen Ende zu exkludieren. Eine Analyse von Wettkampfstrukturen ermöglicht eine Sinndeutung von mittelalterlichen Mären, die weiter geht als eine reine sozialgeschichtliche Einordnung. Sie lässt die Bewegungen erkennen, die sich durch die Wechselbeziehung der kontrahierenden Systeme ergeben. Zwei oder mehrere Normensets werden auf gleicher Ebene statuiert, damit sie in Konkurrenz miteinander treten können. Im Falle des Hellerwerwitz bedeutet dies eine Kontextanreicherung. Gegenüber dem französischen Fabliau nimmt der deutsche Text die monogame Bindung als Werturteil mit hinzu. Während die Vorlage einen pointierten Widerspruch gegen die Käuflichkeit der Liebe erhebt, entfaltet der Hellerwertwitz eine komplexere soziale Ordnung. Was auf einer anfänglichen Vergleichbarkeit beruht, wird im Laufe der Erzählung durch vertikale Grenzziehungen ausgeschlossen, monogamen und belastbaren Bindungen wird alleinige Gültigkeit zugesprochen. Verdeutlicht wird dieses Verfahren durch relativ einfache semantische Mittel von reinen und unreinen Frauen, treuer und falscher Liebe. Während die Ehe von Anfang an der ständigen Bedrohung durch das Treiben des Ehemanns ausgesetzt ist, hat sie sich am Ende als eigene Ordnung stabilisiert. Der letzte Erzählbaustein, in der die Ehefrau ihre Redlichkeit beweist, wird eingerahmt von einer doppelten Legitimation, in die Vergangenheit und in die Zukunft. Vor der Szene wird die Ehe zurückgebunden an literarische-historische Figuren (Tristan, Gawan, Ovid, Adam), während nach ihr mit der Erzählerrede auf die glückliche Zukunft der beiden verwiesen wird im Stil von ›sie lebten von
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nun an glücklich zusammen‹. Mit dieser Strategie reichert der Erzähler die Ehe mit Werten wie Freude und Stabilität an. Der finanzielle Gewinn der treusorgenden Ehefrau wird somit axiologisch aufgewertet. In diesem Sinn wird die Ehe durch die Konkurrenz mit zwei Geliebten zu einer komplexeren sozialen Ordnung erweitert.
3.6. Konrad von Würzburg: HEINRICH VON KEMPTEN In Konrads Märe um den Ritter Heinrich spielt das Ringen um die richtige soziale Ordnung eine prominente Rolle. Dreh- und Angelpunkt ist dabei der mhd. Begriff der zuht. Dessen Polysemie von Erziehung mit dem Ziel des Einhaltens von Verhaltensregeln einerseits und körperlicher Gewaltkontrolle andererseits wird stellvertretend von zwei Figuren zugunsten blanker Körperlichkeit aufgelöst. In dem Kampf zwischen Heinrich und dem Truchsess am Hof Kaiser Ottos werfen sich beide vor, unzühtec zu sein beziehungsweise die Aufgaben als zuhtmeister eines jungen Prinzen vernachlässigt zu haben. Entschieden durch das Töten des Truchsesses wird die direktive Kontrolle aus dem Handlungssystem Heinrichs exkludiert, weshalb Heinrich zum einen den Kaiser als Geisel nimmt, zum anderen denselben später nackt, nur mit Schwert und Schild ›bekleidet‹, das Leben retten. Die Bedeutung der zuht im Märe als auch im Ritterroman nimmt im Weiteren eine prominente Stelle ein. Darüber hinaus wird auch das restaurative kulturelle System erklärt, in dem sich der archaisierte Ritter Heinrich bewegt. Eine Einordnung des Märe in die Erzählweise Konrads von Würzburg beschließt das Kapitel.
3.6.1. Forschungsüberblick zuht gehört zu den zentralen Begriffen der höfischen mittelhochdeutschen Dichtersprache. Sie dient als Lehnübersetzung der lateinischen disciplina, im Mittellateinischen hufig verwendet. Während weder das Provenzalische noch das Altfranzösische über eine direkte Übersetzung aus dem Lateinischen verfügen und auch das altfranzösische bien apris einen weitaus geringeren Bedeutungs- und Verwendungsumfang verzeichnen kann, hat das mittelenglische disciplyne einen ähnlich zentralen Stellenwert wie zuht.590 Mit dem Entstehen territorialer weltlicher Herrschaftszentren im Lauf des 12. und 590 Jaeger: Die Entstehung höfischer Kultur. Vom höfischen Bischof zum höfischen Ritter (2001), S. 186f.
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frühen 13. Jahrhunderts in Deutschland und Frankreich differenziert sich die dynastische Adelsgesellschaft aus und etabliert neue Standards der Selbstdarstellung und ein höfisches Symbolsystem zur inneren Verständigung und äußerer Abgrenzung. Das Erziehen im Familiären wird erweitert um eine über sie hinausweisende »zweite, höfische Sozialisation durch das Ausformen höfischer Verhaltensstandards, höfischen Lebensformen und Sprachregelungen, die insgesamt den Selbstdeutungs- und Darstellungszusammenhang des höfischen Adels gewährleisten.«591 Hinter diesem kulturellen Horizont instituiert sich der Redegegenstand ›Erziehung‹ durch die monastische Kultur, der in die Hofkultur übertragen wird.592 Höfische zuht, spezifizierend auch das seltener auftretende Kompositum hovzuht, beschreibt dabei schemenhaft zwei Inhalte, die in dem Begriff verflochten sind: – eine mentale Semantik mit zuht als direktiver Kontrolle und – eine konkrete Bedeutung: zuht als Gewalt der Körper.593 Beide Aspekte werden als Basisoperatoren verwendet, die die Hofgesellschaft zur Identifikation heranzieht. »Alles, was nicht ›höfisch‹ war, wurde als ›bäuerlich‹ (dörperlich) ausgegrenzt und dem Spott und der Verachtung preisgegeben.«594 In der Literatur wird dabei auch verhandelt, wie das richtige Verhalten gelernt werden kann. Das Verinnerlichen von Normen, die Übernahme von Werten geschieht dabei in einer »textunabhängige[n] Kommunikationssituation, eine face-to-face-Situation«595, wie Horst Wenzel durch die Lektüre des Welschen 591 Wenzel: zuht und Þre. höfische Erziehung im Welschen Gast des Thomasin von Zerclaere (1215) (1991), S. 21f. Vgl. auch Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter (2008), S. 426 und Bumke: Höfischer Körper – höfische Kultur (1994), S. 97. 592 Friedrich: Diskurs und Narration. Zur Kontextualisierung des Erzählens in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg (2007), S. 111f. 593 Diese Polysemie wurde in jüngster Zeit durch zwei Arbeiten beschrieben. Die von mir verwendeten Termini stammen aus Gebert: Poetik der Tugend. Zur Semantik und Anthropologie des Habitus in höfischer Epik (2012), S. 148. Auf ganz ähnliche Ergebnisse kommt die empirische Wortanalyse Nina Bartschs, nämlich den Unterschied zwischen zuht als Bezeichnung höfischer Erziehung an sich und als greifbares Handlungsmuster beispielsweise im höfischen Protokoll. Siehe Bartsch: Programmwortschatz einer höfischen Dichtersprache. hof/hövescheit, m.ze, tugent, zuht, Þre und muot in den höfischen Epen um 1200 (2014), v. a. S. 217, entwickelt aus Gustavs Ehrismann Die Grundlagen des ritterlichen Tugendsystems von 1969. Ehrismann: Die Grundlagen des ritterlichen Tugendsystems (1969 [1919]). Zur Debatte um Ehrismanns Beitrag vgl. Ritterliches Tugendsystem (1970) und Gebert: Poetik der Tugend. Zur Semantik und Anthropologie des Habitus in höfischer Epik (2012). 594 Bumke: Höfischer Körper – höfische Kultur (1994), S. 79. Siehe auch Wenzel: zuht und Þre. höfische Erziehung im Welschen Gast des Thomasin von Zerclaere (1215) (1991). 595 Wenzel: Repräsentation und Wahrnehmung. Zur Inszenierung höfisch-ritterlicher Imagination im Welschen Gast des Thomasin von Zerclaere (2004), S. 321. Zum Moment der
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Gast ausarbeiten konnte. So erklärt Thomasin in seinem Prolog, dass jeder Mann das realisieren soll, was er zuerst (nur) gelesen hat: daz er ervüll mit guoter t.t / swaz er guots gelesen h.t. (Welscher Gast, V. 5f.)596. Die sprachliche Unterrichtung ist sekundär, sie »bleibt eingebunden in die szenische Erfahrung, die den Lernprozeß weitgehend dominiert.«597 Eine zentrale Rolle nehmen dabei Vorbilder ein, die Teil des höfischen Zeremoniells sind. Der wise man soll dem adligen Heranwachsenden ein erster und wichtiger Spiegel sein. Erziehen ist kein bewusster Vorgang im Sinn eines Aufziehens, sondern geschieht durch Imitation des richtigen Gebarens. Der Körper ist dabei das zentrale Medium.598 Für poetische Texte ist die Fixierung auf die didaktische Funktion jedoch nicht ausreichend. Der Nachfolgecharakter durch imitatio hat auch seine Grenzen: Die höfische Epik beispielsweise entfaltet in ihren Texten »vielfältige Handlungsspiele […], die gerade das Unterlaufen, die Mimikry und offene Paradoxierungen von Normhandeln vorführt. […] Die Poetik von Tugendbegriffen e n t f a l t e t Kontingenz von Normhandeln also eher, anstatt sie zu reduzieren.«599 Man könnte auch sagen: es wird der Bruch mit der Norm durchgespielt.
3.6.2. zuht bei Konrad von Würzburg Konrad von Würzburg, dessen Heinrich von Kempten im Zentrum der weiteren Analyse steht, hat sich mehrmals mit zuht beschäftigt. In seinem Trojanerkrieg beschreibt Konrad gleich zwei Reifeprozesse: Der Roman beginnt mit der Geburt und der Jugend des Paris. Diese laufen auf den Streit der Göttinnen und das Parisurteil hinaus.600
596 597 598 599 600
Einübung auch Wenzel: zuht und Þre. höfische Erziehung im Welschen Gast des Thomasin von Zerclaere (1215) (1991), S. 40. Thomasin von Zerklaere: Der Welsche Gast (Edition: Willms). Wenzel: Repräsentation und Wahrnehmung. Zur Inszenierung höfisch-ritterlicher Imagination im Welschen Gast des Thomasin von Zerclaere (2004), S. 321. Ebd., S. 322. Wenzel erklärt auch, dass literarische Helden als Vorbilder dienen können. Gebert: Poetik der Tugend. Zur Semantik und Anthropologie des Habitus in höfischer Epik (2012), S. 153 und 154. Konrad von Würzburg: Trojanerkrieg (Edition: Thoelen und Häberlein), V. 5826– 6471 u. 13496–13588. Die aktuellste und umfänglichste Bibliographie sowie eine Analyse der Jugendgeschichte des Paris unter besonderen Berücksichtigung der Freundschaftsverflechtung desselben findet sich in Gebert: Mythos als Wissensform. Epistemik und Poetik des Trojanerkriegs Konrads von Würzburg (2013). Im Vergleich der Adoleszenzerzählungen von Paris und Achill folge ich hier ebenfalls Friedrich: Diskurs und Narration. Zur Kontextualisierung des Erzählens in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg (2007) und Barton: Manheit und minne. Achills zweifache Erziehung bei Konrad von Würzburg (2009).
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Als Jupiter den jungen Paris zum Schlichten zwischen den Göttinnen rufen lässt, rechtfertigt er diese Wahl mit dessen zuht: n0 sol P.r%s dur s%ne zuht / den str%t gescheiden under in (V. 1758f.). In diesem Fall bezieht sich zuht direkt auf das Heranwachsen des Prinzen. Erzogen wird er in einer Hirtenfamilie und ohne davon zu wissen, qualifiziert ihn seine wahre, adelige Herkunft zur Richterfigur. In dieser Funktion entzieht er sich den Konflikten seines kindlichen Umfelds und wird dort als Richter angerufen. Der Gewalt im bäuerlichen Milieu begegnet er mit Gerechtigkeit. Doch Paris kann bei dem Urteil unter den Göttinnen keinen Frieden stiften und verfehlt seine Rolle im entscheidenden Punkt, weil seine direktive Kontrolle nicht vollkommen lückenlos ist: Aus sexuellem Begehren entscheidet er sich zugunsten der Venus. Der Erzähler entschuldigt dieses Verhalten mit der nat0re der Jugend, womit wieder die prägenden Rollen der Schicksalshaftigkeit und der Vorbestimmtheit hervorgehoben werden, die die Grenze der Entwicklungsmöglichkeit und der Erziehbarkeit markieren. Die Jugend Achills bricht aus den traditionellen Erzählmustern aus und stellt gleichzeitig einen Kontrapunkt zu Paris dar. Konrad entwirft »die paradigmatische Ausbildung eines adeligen Kriegers.«601 Dies geschieht um den Topos der wilde, der leitend für die Binnenerzählung ist. Doch wird Achill nicht in Opposition zur wilde erzogen. Mit seinem Erzieher Schyron erhält er das Vorbild der richtigen Relation: »Die Eigenschaften, die dessen Körper qua Natur eingeschrieben sind – die Spannung von Mensch und Tier –, repräsentieren das ideale Selbstbild des feudalen Kriegers.«602 Das pädagogische Ziel Schyrons ist es, Achill zu hiher zuht (V. 6000) zu erziehen. Auch hier sind in dem Begriff beide Bedeutungen enthalten: Zum einen lässt Schyron Achill in der wilde und im Kampf mit Tieren ein körperbetontes Kampftraining angedeihen, mit dem Achill zu einem Krieger heranwächst. Zum anderen unterlässt er es jedoch nicht, Achill in höfischem Kontrollverhalten wie der Selbstbeherrschung bei der Jagd oder auch in die höfischen Kulturtechniken von Gesang, Schach- und Saitenspiel einzuführen.603 Der Schwerpunkt liegt bei Achill auf Kraft und Gewaltlust.604 Korrespondenzen verbinden die beiden Teile: Während Paris beispielsweise zu Beginn von einer Hirschkuh gesäugt wird, besiegt Schyron eine Löwin und 601 Friedrich: Diskurs und Narration. Zur Kontextualisierung des Erzählens in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg (2007), S. 117. 602 Ebd. 603 Gebert: Mythos als Wissensform. Epistemik und Poetik des Trojanerkriegs Konrads von Würzburg (2013), S. 504. 604 Mit dieser Einschätzung versuche ich einen Kompromiss zwischen der Interpretation Geberts und Friedrichs zu finden. Gebert neigt zur Gleichwertigkeit von Gewalt und Gewaltregulierung; Friedrich bleibt bei einer »marginalen« Entfaltung von höfischen Fertigkeiten. Ebd., S. 504f.; Friedrich: Diskurs und Narration. Zur Kontextualisierung des Erzählens in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg (2007), S. 117.
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zwingt diese dem Jungen Milch zu geben. Bei Paris stellt das Säugen eine providentielle Fürsorge dar, Schyrons Eingreifen einen Transfer wilder Energie. Konrad arbeitet innerhalb der Vergleiche mit Gegensätzen und schafft divergierende Bilder, die seine kontrastive Variation ausmachen.605 Nach Udo Friedrich inszeniert Konrad mit den beiden Jugendgeschichten »zwei zentrale Selbstzuschreibungen feudaladeliger Existenz: Gerechtigkeit und Tapferkeit.«606 Andere Werte werden marginalisiert oder exkludiert. Die Kontrastierung geht mit einer Reduktion einher. Auch im Märe, soviel sei vorweggenommen, ist sowohl diese Kürzung als auch die binäre Kontrastierung durch eine wertesystemische Konkurrenz zu finden. Friedrich macht sich die weit ältere Forschung von Wolfgang Monecke aus den 1960er Jahren zu Eigen und erweitert Moneckes Prinzip des kontrastiven Erzählens: Friedrich spricht von der kontrastiven Variation des Kompositionsverfahrens Konrads. Vom selben Sujet, hier das Motiv des problematischen Kindes, entwirft Konrad zwei gegensätzliche Positionen und stellt diese nebeneinander. Gleichzeitig treten die beiden Jugenderzählungen in ein intertextuelles Verhältnis zu anderen Sozialisationsentwürfen. Narrativ folgen diese einer festen Verlaufsform, die sich idealiter von der Vorgeschichte der Eltern über zeichenhafte Umstände der Geburt und die frühe Kindheit bis hin zu Ausbildung und ersten Bewährungstaten erstreckt. [Das Narrativ von der Jugend] erfüllt mithin eine Grundanforderung syntagmatischer Narration, indem es einen Prozeß der Veränderung innerhalb eines abgesteckten Zeitraums beschreibt, in der Vorstrukturiertheit seines Handlungsmodells bildet es sichtbar ein Erzählschema, das innerhalb der Plotstruktur des biographischen Entwurfs eine abgeschlossene Einheit darstellt.607
Dies betrifft ebenfalls den Aspekt der zuht. Auch wenn das Schema vor allem auf der Seite Achills nicht vollständig aufgeht, lässt sich grundsätzlich sagen: Paris’ zuht repräsentiert den disziplinierten Streit- und Gewaltverzicht durch den gerechten Urteilsspruch, der jedoch am personalen Schicksal und der Vorherbestimmung seine Grenze findet. Achills zuht lässt sich als Training des tapferen Kriegers lesen, das neben der Lust an der Gewalt auch den Gewaltverzicht nicht außenvor lässt. Konrad geht hier kontrastiv vor, indem er die verflochtene Polysemie des zuht-Begriffs auflöst und auf seine Protagonisten verteilt. Das Verfahren der kontrastiven Variation ließe sich sicher noch bei weiteren Werken Konrads finden. Mit dem Trojanerkrieg kann die Dichterstrategie aber ausreichend beispielhaft verdeutlicht werden. Nur auf eine Analyse sollte 605 Friedrich: Diskurs und Narration. Zur Kontextualisierung des Erzählens in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg (2007), S. 117. 606 Ebd., S. 119. 607 Ebd., S. 111.
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hingewiesen werden: Timothy Jackson hat das gegensätzliche Bearbeiten des Themas ›Adel‹ bei Konrad intertextuell untersucht und dabei ein ganz ähnliches Ergebnis erarbeiten können. Konrad ist niemand, der »auf einmal eine neue Wahrheit entdeckt«608, sondern jemand, der unterschiedliche Stimmen zu Sprache bringt.
3.6.3. Handschriftlicher Überlieferungskontext des Märe Konrads Heinrich von Kempten ist auffallend häufig in Verbindung mit mittelalterlichen Hof- und Tischzuchten aufgeschrieben worden. Tatsächlich sind in drei der sieben Handschriften, in denen das Märe überliefert ist, auch diese höfischen Regelwerke erhalten.609 Von dem Londoner Fragment MS Germ. 5 zum Beispiel sind nur vier Texte erhalten, davon drei Mären: Die letzten Verse eben jenes Heinrich von Kempten, Egenolfs von Staufenberg Peter von Staufenberg, eine Hofzucht und Der Bussard. Die Hofzucht enthält 101 Verse, 72 davon fallen auf eine Tischzuht, die mit den Worten Sitze stille vnd vfreht / Die hofezuht heißet dich610 beginnt. Interessant ist die inhaltliche Nähe der Mären: Sie spielen alle drei im höfischen Milieu. Im Peter von Staufenberg wird im Promythion ein Beispielcharakter der Erzählung für die zukünftige Jugend postuliert. Mit dem Erziehungscharakter des Heinrich von Kempten und der Hofzucht kann man wohl von einem »›Lehrbuch‹ für höfisches Benehmen«611 sprechen – eingedenk des Fragmentarischen der Handschrift muss jedoch diese Annahme eine ebensolche bleiben. Die Erforschung der Tischzuchten in Verbindung mit dem Tugendbegriff ist in der Forschung eng mit Norbert Elias verknüpft. Elias nimmt die Gattungen in den Blick, um das fortlaufende Entwickeln des höfischen Habitus durch eine Internalisierung zu klären. »Die zunehmende Distanzierung körperlicher Bedürfnisse, die Disziplinierung von Affekten und das Eindämmen von Gewalt transformieren Elias zufolge Fremd- in Selbstzwänge, die in historisch variierenden, gruppenspezifischen Veränderungen des psychischen Habitus sedimentierten.«612 Ein weites mediävistisches Forschungsfeld hat seitdem die These 608 Jackson: Der Adel im Werk Konrads von Würzburg. Idealisierung und Kritik (1989). 609 Wien Codex 2885 (w), Innsbruck Codex FB 32001 (i) und das Londoner Fragment MS Germ. 5 (b6). Die Siglen aus Fischer : Studien zur deutschen Märendichtung (1983). 610 Zitiert nach Winkler : Selbständige deutsche Tischzuchten des Mittelalters. Texte u. Studien (1982), S. 216. Dort auch Abdruck. 611 Voigt: Forschungen zu den selbständigen deutschsprachigen Tischzuchten des Mittelalters und der fru¨ hen Neuzeit (1995), S. 143. 612 Gebert: Poetik der Tugend. Zur Semantik und Anthropologie des Habitus in höfischer Epik (2012), S. 146 mit einem Zitat aus Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. 2 Bd. (1997).
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Elias’ für ihre Interpretationen benutzt.613 Drei Themenkomplexe dominieren die Tischzuchten: die Hygiene, das Disziplinieren der eigenen Bedürfnisse während den Mahlzeiten zum Verhindern sozialer Spannungen und zuletzt der Tisch als Repräsentationsraum der ständischen Ordnung in einer durchgängigen Spannung zwischen Bestätigen und Überbrücken sozialer Hierarchie. JanDirk Müller fokussiert die zwei letzteren, wenn er davon spricht dass die Kontrolle der eigenen Bedürfnisse »auf die Disziplinierung der Eßgier [abzielt] (nicht zu große Bissen, nicht sich mit Brot vollstopfen, nicht mit beiden Händen essen, nicht den Becher immer ausleeren, nicht die besten Stücke herausfischen)«. Sie regelt das Zeremoniell am Tisch zum Ziel der Geselligkeit: »warten bis zum Beginn der Mahlzeit; den anderen nicht mit den eigenen Gliedmaßen beim Essen behindern; ihm beim Zugreifen nicht zuvorkommen, sondern ›zuvorkommend‹ auf seine Wünsche eingehen; Speisen miteinander teilen; einander vorlegen usw.«614 Das Mahl als Konzentrationsmoment höfischer Zusammenkunft benötigt besondere Aufmerksamkeit der Regularitäten. Die Tischzucht stellt deshalb Forderungen hinsichtlich der ständischen Ordnung auf: »in der Tischzucht hat sich reale oder prätendierte ständige Hierarchie darzustellen (Tischordnung, Verhalten gegenüber einem Vornehmeren oder einer Dame). Gleichzeitig aber soll die geselligkeit des Mahles Rangunterschiede vernachlässigen, – zweifellos in begrenztem Rahmen – ›Gleichheit‹ zelebrieren.«615 Auf jeden Fall findet sich ein interessanter Zusammenhang in der Londoner Handschrift zwischen der Hofzucht und dem Heinrich von Kempten. Die Hofzucht warnt genau vor jenem Fehlverhalten, das der Prinz im Heinrich von Kempten begeht, nämlich das vorzeitige Nehmen des Brots vor dem eigentli-
613 Eine kritische Bestandsaufnahme der Elias-Rezeption in der mediävistischen Germanistik liefert Joachim Heinzle in Ders.: Usurpation des Fremden? Die Theorie vom Zivilisationsprozess als literarhistorisches Modell, in: Peters, Ursula (Hg.): Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150-1450. DFG-Symposium 2000, Stuttgart, Weimar 2001 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 23), S. 198–214. Hinweis entnommen aus Gebert: Poetik der Tugend. Zur Semantik und Anthropologie des Habitus in höfischer Epik (2012). Auch Anne Schulz geht kritisch auf Elias ein und konfrontiert seine Thesen mit der frühen Kritik von Hans Peter Duerr und Rüdiger Schnell aus dem Jahr 2004. Schulz: Essen und Trinken im Mittelalter (1000–1300). Literarische, kunsthistorische und archäologische Quellen (2011), S. 125–132. 614 Müller : Die hovezuht und ihr Preis. Zum Problem höfischer Verhaltensregulierung in Ps.Konrads ›Halber Birne‹ (2010), S. 217. Das Negieren von Standesunterschieden an Tisch spielt v. a. in der Artusdichtung eine wichtige Rolle, siehe Bleumer: Poetik und Diagramm. Ein Versuch zum Mahl in mittelhochdeutscher Literatur (2014), S. 105. 615 Heinrich von Veldeke: Eneasroman (Edition: Kartschoke), S. 217.
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chen Beginn des Essens: Du solt dz brot essen niht / E man dz erste gerihte siht (V. 6f.).616 Die Handschriften w und i enthalten weitaus mehrere Texte, w beispielsweise 68 Reimpaargedichte, unter ihnen »34 Mären, 14 geistliche und weltliche Bispel und eine Anzahl von Minne-, Streit- und Scherzreden, […] aber auch einige fromme Erzählungen, geistliche Reden und weltliche Lehrgedichte sowie ein Kleinroman.«617 Tannhäusers Tischzucht wurde extra vom Kreuzreim in Paarreim umgedichtet, um sie der formalen Einheitlichkeit von w anzupassen. Handschrift i geht auf w zurück, wenn auch nicht in direkter Abhängigkeit.618 Auch in i finden sich die Texte Konrads und Tannhäusers in Reimpaar. Dass die Tischzucht von w auf i übernommen wurde, war keine zwingende Selbstverständlichkeit; der Schreiber von i hat einige Texte herausgenommen, sämtliche acht geistliche Stücke aus w sowie zwei Lehrgedichte und ein weltliches Bispel. Man kann damit von einer Entgeistlichung und Entdidaktisierung sprechen.619 Umso entscheidender ist es, dass die Tischzucht mit übertragen wurde, denn anscheinend wurde ein Bezug zwischen den Mären und der Tischzucht gesehen, die nicht aufgegeben werden sollte. Tischzuchten und die Gattung Mären allgemein weisen thematische Gemeinsamkeiten auf, besonders im Erzählen des Scheiterns beim Essen. Immer wieder wird in den Mären zu viel Alkohol konsumiert.620 In Konrads Texten ist das richtige Essen so zentral, dass das Scheitern bei Tisch bereits als ein distinguierendes Charakteristikum seiner Kleinepik angesehen wurde.621 Bei Heinrich von Kempten, und damit soll zur Textanalyse übergegangen werden, ist es das mangelhafte Verhalten eines Heranwachsenden am Tisch, das seinen zuhtmeister in einen Konflikt treibt.
616 Hofzucht (Edition: Priebsch), S. 19. Dieser Rat ist aus einem lateinischen Regelsatz des Petrus Alfonsi aus dem 12. Jahrhundert (Disciplina clericalis) entnommen, s. Kellner : Zur Kodierung von Gewalt in der mittelalterlichen Literatur am Beispiel von Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten (2004), S. 87. 617 Mihm: Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung im Spätmittelalter (1967), S. 66. 618 Über das Verhältnis der beiden Handschriften zuletzt Zotz: Sammeln als Interpretieren (2014). 619 So ebd., S. 359f. Zotz baut dabei auf Mihm: Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung im Spätmittelalter (1967), S. 98, auf. 620 Ein Paradebeispiel dafür ist das Märe von der Bauernhochzeit. 621 Feistner : Kulinarische Begegnungen. Konrad von Würzburg und Die halbe Birne (2000).
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3.6.4. Textanalyse
Über Konrads Märe wurde bereits häufig in der Forschung diskutiert.622 Die große Zahl an Untersuchungen lässt sich vermutlich aus drei Gründen erklären: der berühmte Autor, der im Mittelalter zu den zwölf alten Meistern zählte; die prominente Figur des Kaisers Otto, der dem Märe in den Handschriften den Titel gab,623 und der historische Stoff, der den anekdotischen Text in die Nähe his622 Für dieses Kapitel konnten folgende Arbeiten beachtet werden: Klein: Art. Die zwölf (sieben) Pfaffenknechte, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters [Verfasserlexikon] (1999); Schnyder: Beobachtungen und Überlegungen zum Heinrich von Kempten Konrads von Würzburg (1989/1990); Heitzmann: Blick – Affekt – Handlung. Die männliche Blicke im Heinrich von Kempten Konrads von Würzburg (2002); Dobozy : Der alte und der neue Bund in Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten (1988); Zacke: Die Gelegenheit beim Schopfe packen. Über Ursachen und Lösungen von Konflikten in Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten (2007); Brall-Tuchel: Geraufter Bart und nackter Retter. Verletzung und Heilung des Autoritätsprinzips in Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten (1989); Wailes: Konrad von Würzburg and Pseudo-Konrad. Varieties of Humour in the »Märe« (1974); Schnyder: Konrad von Wu¨rzburg, Kaiser Otto und ¨ berlieferung und Materialien zur Heinrich von Kempten. Abbildung der gesamten U Stoffgeschichte (1989); Fischer und Völker : Konrad von Würzburg: Heinrich von Kempten. Individuum und feudale Anarchie (1975); Brandt: Konrad von Wu¨ rzburg. Kleinere epische Werke (2009); Turner-Wallbank: Tradition und Innovation in Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten (1989/1990); Oettli: Zum Ritterbegriff bei Konrad von Würzburg (1989/1990); Kellner : Zur Kodierung von Gewalt in der mittelalterlichen Literatur am Beispiel von Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten (2004); Klein: Art. Die zwölf (sieben) Pfaffenknechte, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters [Verfasserlexikon] (1999); Schnyder: Beobachtungen und Überlegungen zum Heinrich von Kempten Konrads von Würzburg (1989/1990); Heitzmann: Blick – Affekt – Handlung. Die männliche Blicke im Heinrich von Kempten Konrads von Würzburg (2002); Dobozy : Der alte und der neue Bund in Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten (1988); Zacke: Die Gelegenheit beim Schopfe packen. Über Ursachen und Lösungen von Konflikten in Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten (2007); Brall-Tuchel: Geraufter Bart und nackter Retter. Verletzung und Heilung des Autoritätsprinzips in Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten (1989); Schnyder: Konrad von Wu¨ rzburg, Kaiser Otto und ¨ berlieferung und Materialien zur Heinrich von Kempten. Abbildung der gesamten U Stoffgeschichte (1989); Fischer und Völker : Konrad von Würzburg: Heinrich von Kempten. Individuum und feudale Anarchie (1975); Turner-Wallbank: Tradition und Innovation in Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten (1989/1990); Hoffmann: Wan manheit unde ritterschaft / diu zwei diu tiurent sÞre. Ein semantisches Problem im Heinrich von Kempten (2003); Kellner : Zur Kodierung von Gewalt in der mittelalterlichen Literatur am Beispiel von Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten (2004). 623 Erhalten sind sechs Handschriften und ein Fragment, Die Handschriften P, K, H, V und I folgen der mittelalterlichen Konvention, »die zuerst auftauchenden Figur oder die in der sozialen Hierarchie am höchsten angesiedelten – beides trifft hier zu – in die Überschrift aufzunehmen.« Brandt: Konrad von Wu¨ rzburg. Kleinere epische Werke (2009), S. 95f. Abbildungen aller Codices finden sich gesammelt im Bildteil von Schnyder : Konrad von ¨ berlieferung Wu¨ rzburg, Kaiser Otto und Heinrich von Kempten. Abbildung der gesamten U und Materialien zur Stoffgeschichte (1989), S. 1*-43*. In der Buchstabierung der Handschriften folge ich Schnyder und dem an Konrads Œuvre interessiertem Überblick von
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torisch-chronikaler Dichtung bringt und sich somit aus der üblichen Thematik der Mären abhebt.624 Noch nicht in den Blick der Mediävistik geraten ist, wie das Märe das Erzählprinzip der kontrastiven Variation nutzt, um in den Konflikten zwischen Heinrich und dem Truchsess und zwischen Heinrich und dem Kaiser Semantik der direktiven Kontrolle aus dem Handlungsmuster des Kempener exkludiert werden. Genau diese versucht die folgende Darstellung zu leisten. Die These und Konklusion, die hier vorweggenommen werden soll, lautet: Im Streit zwischen Heinrich und dem Truchsess spiegelt sich eine Kontroverse um die einzig richtige Bedeutung von zuht wider, die die andere Seite ausschließt. Vielfalt wird entfaltet, um Semantiken in Konkurrenz auszuspielen. Konrad von Würzburg nutzt auch hier das Verfahren der Kontrastsetzung, indem beide Figuren für jeweils einen Aspekt stehen, die beide mit zuht benannt werden: Der Truchsess repräsentiert das höfische Zeremoniell, das durch seine direktive Kontrolle ständeinkludierend wirkt und den Werten und Weisungen folgt, wie sie in den Tischzuchten formuliert sind. Heinrich hingegen steht für die brachiale Form körperlicher Gewalt, die die Etikette am Hof ausschließt und die feudale Ordnung auf die stratifizierende Hierarchie zwischen Herrscher und Vasall reduziert. Gewalt und Körperlichkeit gehört zu beiden Semantiken. Durch das Töten des Truchsesses wird das höfische Zeremoniell ausgesetzt und durch die Hierarchie ersetzt. Die weiteren Figuren, inklusive Heinrich und dem Kaiser, handeln nun nur noch im Sinn des Vasallentums und nach ihrer Funktion in der Standesgesellschaft. Diese Einschränkung bestimmt den weiteren Erzählverlauf. Um die These zu verifizieren, müssen sich folgende Prämissen als gültig erweisen: – Heinrich und der Truchsess repräsentieren unterschiedliche Semantiken der zuht; – diese differenten Semantiken werden widerstreitend entfaltet, das heißt die Bedeutung der direktiven Kontrolle, die sich in dem richtigen höfischen Zeremoniell, dem korrekten Verhalten bei der Mahlzeit oder in distinguierenden Kleidercodes ausdrückt, also alle geselligen Regeln innerhalb der höfischen Schicht, laufen ins Leere und werden aus der zuht exkludiert. – Heinrich handelt nicht, wie es die Etikette erfordern würde, sondern nur im System der Hierarchie; – die Exklusion bleibt den gesamten Handlungsverlauf über bestehen.
Reiner Brandt. Hanns Fischer beispielsweise hat in seinem Überblickswerk zu den Mären die Handschriften anders durchbuchstabiert. 624 Vor einem historischen Setting erzählen auch Alexander und Anteloie, das Frauenturnier, Harm der hund und Konrads Schwanritter, vgl. Fischer : Studien zur deutschen Märendichtung (1983), S. 100.
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Diese Prämissen lassen sich ganz unverkennbar aus der Analyse des Textes herleiten. Die Handlung von Konrads Märe stellt sich wie folgt dar : Der arrogante Kaiser Otto ist ein übler Herrscher, der auf seinen Bart schwörend schon viele Widersacher hat umbringen lassen und dabei keine Barmherzigkeit gelten ließ. In Bamberg lädt er zu einem Fest zu Ostern ein. Der versammelte Hof begibt sich zur Messe, während der sich absetzende Sohn des Herzogs von Schwaben die angerichtete Tafel erblickt. Das Kind nimmt sich ein Stück Brot vom Tisch und wird dabei vom Truchsess des Königs erwischt. Wutentbrannt fährt dieser ihn an und prügelt auf den Jungen ein, bis er zu bluten beginnt. Der Ritter Heinrich von Kempten, der den Schwabenprinzen erziehen soll, schreitet ein und spricht dem Truchsess das Recht ab, den Höhergestellten zu bestrafen. Der Streit endet tödlich: Heinrich erschlägt den Hofvorsteher. Der Kaiser erreicht den Tatort und will den Ermordeten rächen, woraufhin Heinrich Otto als Geisel nimmt und von ihm Straffreiheit erpresst. Heinrich kann ohne Verfolgung den Hof des wutentbrannten Kaisers verlassen. Zehn Jahre später befindet sich Otto im Krieg gegen eine Stadt in Apulien und ruft seine Vasallen zur Waffenpflicht. Heinrich wird von seinem Dienstherren, einem Abt, gezwungen die Heerfolge zu leisten. In Apulien geht er dem Kaiser geflissentlich aus dem Weg. Eines Tages sieht er, wie Otto in einen Hinterhalt italienischer Männer gerät. Er springt aus dem Bad, das er eben eingenommen hat, ergreift nackt seine Waffe und verjagt hüllenlos die Angreifer. Der gerettete Kaiser erfährt von seinen Männern den Namen des Retters und rehabilitiert Heinrich.
3.6.4.1. Die richtige zuht Wie im Hellerwertwitz repräsentieren die Protagonisten menschliche Eigenschaften und höfische Ideale, die in Konflikt zueinanderstehen. Das Märe beginnt ohne Promythion, das die Erzählung in einen moralischen Rahmen einbetten würde. Das ist für Konrads Mären nicht ungewöhnlich, auch vom Schwanritter fehlt uns der moralisierende Anfang. Ein Epimythion hingegen überliefern alle drei Mären.625 Im Heinrich von Kempten werden dort manheit unde ritterschaft als wichtigste Werte eines Mannes genannt, was bedeutet: muot und Leibeskraft und das Negieren aller Zagheit: Dar umbe ein ieslich ritter sol gerne s%n des muotes quec, werf alle zageheit enwec und üebe s%nes l%bes kraft. 625 Von der Handschrift des Schwanritters fehlt ein Blatt mit den ersten 140 Verszeilen, überliefert ist ein Epimythion. Das Herzmäre besitzt sowohl moralisierenden Anfang und moralisierendes Ende. Die Verfasserangabe von Wirzeburc ich Cuonr.t beschließt alle drei Werke.
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wan manheit unde ritterschaft diu zwei diu tiurent sÞre (V. 744–749)626
Verständnisprobleme hat hier das Wort tiurent bereitet. Werner Hoffmann konnte veranschaulichen, dass die Verse sowohl als Argumentation gelesen werden können, manheit und ritterschaft seien Tugenden aus der Zeit Konrads, die ihren Träger veredeln, womit tiure als Denominativum des Adjektivs tiure übersetzt werden muss ›an Wert erhöhen‹, ›ehren‹, ›auszeichnen‹; für dieses Lob auf Ritterlichkeit hat sich Hans-Joachim Gernentz entschieden. Alternativ könnten sie auch für eine laudatio temporis acti stehen, womit die Tugenden der Männlichkeit in der Gegenwart nur schwer zu finden seien; dann müsste tiure übersetzt werden in der Bedeutung ›selten beziehungsweise überhaupt nicht vorhanden sein‹, dafür entscheidet sich Rölleke. Ausschließen lässt sich keine der Bedeutungen, auch wenn nach einem Sichten des Gesamtœuvres die erste Lesart zu präferieren ist. Dadurch erhält das Epimythion einen stärkeren appellativen Charakter, der die Handlung als Anregung für die Adressaten erzählt.627 Die Schlussrede unterstützt eine exemplarische Bedeutung der Binnenerzählung, womit in einer binären Opposition zwischen mentaler Zurückhaltung (zageheit) und Körperkraft (l%bes kraft) zugunsten physischer Macht entschieden wird. Die eigentliche Erzählung beginnt mit der Schilderung des Kaisers und dem Betonen seiner Bosheit. Mittelalterlicher Erzähllogik folgend, wird darauf die in der Hierarchie nachfolgende Person vorgestellt, der Schwabenprinz, der an der Feierlichkeit zu Ostern einen Fauxpas begeht. Das Vergehen des jungen Mannes leitet über zum Auftreten von Truchsess und Heinrich. Letzterer ist der Erzieher des Jungen (zuhtmeister), der durch hovezuht zu Heinrich geschickt wurde – durch ist hier final zu verstehen, wie auch Hans-Joachim Gernentz und Rüdiger Brandt übertragen628 : Nu was durch hovezuht gesant ein werder juncherre dar, der edel unde wünnevar an herzen und an l%be schein. (V. 50–53)
626 Ich zitiere nach der Ausgabe von Schröder, überarbeitet zuletzt von Heinz Rölleke. 627 Hoffmann: Wan manheit unde ritterschaft / diu zwei diu tiurent sÞre. Ein semantisches Problem im Heinrich von Kempten (2003). 628 Edition Gernentz: An dem Hof war damals auch / zur Erziehung und zur Bildung / ein edler, junger, hübscher Knabe; Edition Brandt: Am Hof war damals auch ein junger Adliger, der, um höfisches Benehmen zu lernen, dorthin geschickt worden war.
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Der Schwabenprinz vergreift sich an dem vorbereiteten Brot, während die Festgesellschaft noch in der Messe weilt. Konrad entschuldigt das Verhalten und verweist auf die kindliche Gewohnheit – eine Naturalisierung des Verhaltens ähnlich wie bei Paris: [er] wolte ez ezzen sam diu kint, / diu des sites elliu sint (V. 67f.). Auf der anderen Seite steht der Truchsesses, der bereits bei Kleinigkeiten hochfährt: der site s%n was si gewant, / daz in muote ein cleine dinc (V. 82f.). Das Fehlverhalten des noch kindlichen Jungen wird überspielt und dasjenige des jähzornigen Truchsesses betont. Der Truchsess und Heinrich haben einander ausschließende Vorstellungen, welche Eigenschaften an den jungen Mann herangetragen werden sollten. Der Truchsess erwartet von einem angehenden Prinzen tischzuht;629 die konkrete Handlungsanweisung kann deutlich benannt werden: So ist eben jene Regel, welche der Herzogssohn bricht, bereits in der zu Beginn des 12. Jahrhunderts aufgezeichneten Schrift Disciplina clericalis des Petrus Alfonsi zu finden, in einem Text also, der in der Folgezeit sowohl auf lateinische wie auf volkssprachliche Tischzuchten stark gewirkt hat: ›nec comedas panem priusquam veniat aliud ferculum super mensam, ne dicaris impatiens‹ (›Iß nicht das Brot, bevor der erste Gang auf den Tisch kommt, sonst wirst du für unbeherscht gehalten‹).630
Man könnte diese Tischzucht weiter einordnen als das richtige performative Verhalten und das praktische Benehmen innerhalb des höfischen Zeremoniells.631 In diesem Sinn hat der künftige König falsch gehandelt und der Truchsess beklagt fehlende zuht: der hie ze hove unzühtic ist (V. 120–123). Darauf antwortet nicht der Junge, sondern Heinrich. Ihn erregt, dass man den hich[en] juncherren (V. 102) verprügelt. Dies sei einem Ritter nicht würdig: waz habent ir gerochen, daz ir nu h.nt zebrochen iuwer ritterlichen zuht, daz ir eins edeln fürsten fruht als übell%che habet geslagen? (V. 109–113) 629 Wailes: Konrad von Würzburg and Pseudo-Konrad. Varieties of Humour in the »Märe« (1974), S. 105. Anders dagegen Brall-Tuchel: Geraufter Bart und nackter Retter. Verletzung und Heilung des Autoritätsprinzips in Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten (1989), S. 47f., der auch die Tischzucht im Kontext der herrschaftlichen Autorität gelesen sehen will. 630 Kellner : Zur Kodierung von Gewalt in der mittelalterlichen Literatur am Beispiel von Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten (2004), S. 86f. 631 Dobozy : Der alte und der neue Bund in Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten (1988) interpretiert das richtige Verhalten am Ostertisch auch in seiner Bedeutung als christliche Ritualordnung, auch Kellner : Zur Kodierung von Gewalt in der mittelalterlichen Literatur am Beispiel von Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten (2004), S. 85f.
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Die Zucht, die für Heinrich entscheidend ist und die er dem Jungen angedeihen lässt, ist keine hovezuht, sondern begründet sich aus dem adeligen Dienstverhältnis.632 Dass der Höfling gegen die hierarchische Ordnung verstößt, kostet ihn schlussendlich das Leben: Heinrich ergreift ein Holzscheit und zertrümmert brachial den Kopf des Zeremonienmeisters. Die Gewalttätigkeit, die vorherig bereits den Prinzen traf, wird hier nach dem Talionsprinzip wiederholt, da das Nicht-Befolgen des höfischen Zeremoniells und das Nicht-Beachten stratifikatorischer Regeln auf gleiche Art bestraft. Dies erfüllt nicht die Lust an der Gewalt allein, sondern erklärt sich folgerichtig aus dem negierten Nimbus höfischer Gewaltverhinderung,633 der Leerstelle fehlender rechtlicher Sanktionierungsmöglichkeiten634 und der Bedeutungsverengung der zuht auf feudalen ordo, die der Heinrichfigur immanent ist. Der Ritter hat den Wettkampf unter den Männern durch Ausschalten des Gegners gewonnen.635 Wenn zuht im Sinn des korrekten Hofverhaltens nicht mehr zählt, ist auch die mit ihr verbundene m.ze als Regulieren des Affektes636 bedeutungslos. Mäßigung ist in der körperlichen Auseinandersetzung und im kämpferischen Heerdienst entbehrlich und deshalb
632 Helmut Brall-Tuchel spricht vom Autoritätsprinzip, das im Text absolut gesetzt wird; zusammenfassend: »Ausgangspunkt der Textanalyse soll die These sein, daß weder Ritter noch Herrscher als Hauptpersonen der Verserzählung gelten können, sondern das ›Autoritätsprinzip‹, welches den Handlungsverlauf trägt und dem eher ein ›Charakter‹ und historische Besonderheit zukommt als den handelnden Figuren oder gar den wirklichen Personen und Ereignissen, an welche die Sage anknüpft.« Brall-Tuchel: Geraufter Bart und nackter Retter. Verletzung und Heilung des Autoritätsprinzips in Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten (1989), S. 35. 633 »Die regulierenden sozialen Codes des Hoftages […] verlieren ihre Bedeutung, der Ausbruch von Gewalt wird lebensnotwendig.« Zacke: Die Gelegenheit beim Schopfe packen. Über Ursachen und Lösungen von Konflikten in Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten (2007), S. 198. 634 Kellner : Zur Kodierung von Gewalt in der mittelalterlichen Literatur am Beispiel von Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten (2004), S. 88. 635 Für Heitzmann: Blick – Affekt – Handlung. Die männliche Blicke im Heinrich von Kempten Konrads von Würzburg (2002) ist bereits das Handeln des Schwabenprinzen und sein Überschreiten der höfischen Etikette männlich-adoleszentes Verhalten ebenso wie das des Truchsesses und Heinrich selbst. Über das Aushandeln von männlicher Rangfolge im Wettbewerb siehe die bis heute grundlegende ethnologische Studie von Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft (1976), ausdifferenzierter noch von Connell: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten (2006). 636 Kellner : Zur Kodierung von Gewalt in der mittelalterlichen Literatur am Beispiel von Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten (2004), S. 92. Auf die fehlende m.ze hat auch schon Heinz Rölleke in seinem Nachwort zur Übersetzung hingewiesen, Konrad von Wu¨ rzburg: Heinrich von Kempten, S. 155. m.ze im Sinn von Bescheidenheit, Selbstbeherrschung oder Mäßigung erhält man erst durch zuht, sie ist nicht angeboren, Wolf: Vademecum medievale. Glossar zur höfischen Literatur des deutschsprachigen Mittelalters (2002), Art. m.ze und zuht.
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im Märe nicht zu finden:637 ein ieslich ritter […] / werf alle zageheit enwec (V. 744 u. 746), wie Konrad im Epimythion fordert.
3.6.4.2. Hierarchische Gewalt Der weitere Verlauf des Märe lässt sich anhand der vorgestellten Schablone hierarchischer Gewalt lesen. Stets geht es eine Zu- oder Abnahme der ambivalenten mittelalterlichen Macht.638 Als der Kaiser eintritt und das Blutbad erblickt, will er den Täter zur Rede stellen. Der Vorwurf des Herrschers: Der Mörder habe den Saal verunreinigt. Außerdem habe er die gewaltexkludierende Ostertradition missachtet. Heinrich widerspricht der Anschuldigung und verschiebt die Argumentation auf das interpersonale Band zwischen ihm und Otto. Gen.de und huld (in V. 204f. adjektivisch verstärkt durch stæte; sonst auch V. 240, V. 289 und V. 163, V. 214, V. 227) werden die bedeutendsten Verhandlungskategorien, die das weitere Schicksal des Ritters prägen. Beides erbittet er vom Kaiser und unterstellt sich dessen Urteil: l.nt hie gen.de vinden mich / und iuwer stæte hulde (V. 204–211). Wenn er seine Unschuld erweisen könne, solle der Herrscher Heinrich ohne Schaden ziehen lassen. Zum Verstärken seines Arguments mahnt Heinrich auch an die Gnade Jesu innerhalb des Ostergeschehens, an das die Gesellschaft feierlich erinnert. Der Angeklagte führt das Vergehen des toten Truchsesses zur völligen Schuldbefreiung seinerseits an. Doch ist der Kaiser nicht willens Gnade walten zu lassen, immerhin stand auch der Truchsess in einem direkten Dienstverhältnis und wirkte als Überwacher der kaiserlichen Autorität.639 Aus der Sicht des Kaisers liegt ein Angriff auf den herrschaftlichen Körper vor : des tides smerzen / den hie m%n truhsæze treit, / I%d ich mit solher arebeit (V. 234–236) 637 Nach Heitzmann: Blick – Affekt – Handlung. Die männliche Blicke im Heinrich von Kempten Konrads von Würzburg (2002), S. 97, werden alle Männer im Ritterstand für den Kampf (sei es im Krieg oder im Turnier) zu aggressivem Verhalten erzogen. 638 Zacke: Die Gelegenheit beim Schopfe packen. Über Ursachen und Lösungen von Konflikten in Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten (2007), S. 195, liest das Märe vor der Schablone des höfisch korrekten oder inkorrekten Verhaltens des Kaisers. Da der Herrscher nicht gerecht agiert, muss für seine Untertanen »der Angriff die beste Verteidigung sein.« Vgl. auch S. 192: »Es soll gezeigt werden, dass es sich im Wesentlichen um einen einzigen Konflikt handelt – ausgelöst durch den Kaiser und sein falsches Herrschaftsverhältnis –, zu dessen Lösung dann die einzelnen Episoden Stück für Stück beitragen.« 639 Vgl. Brall-Tuchel: Geraufter Bart und nackter Retter. Verletzung und Heilung des Autoritätsprinzips in Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten (1989), S. 47. Die Dienstverhältnisse sind im Einzelnen: Der Truchsess ist als Überprüfer der Tische direkt Otto untergeordnet; Heinrich ist erst der zuhtmeister des Königssohn aus Schwaben, im späteren Teil des Märe einem Abt untergeordnet. Er ist mittelbar durch die Abhängigkeit vom Abt dem Kaiser dienstpflichtig, siehe zum Beispiel V. 487.
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und Heinrich hat ungen.de manicvalt (V. 193) auf sich gezogen. Die kaiserliche Huld und Gnade soll Heinrich folgerichtig für immer verwehrt werden, was Otto auf seinen Bart schwört. Für Heinrich ist der Eid auf den imperialen Körperteil das finale Zeichen, dass sein Leben ausgelöscht werden soll. Er springt auf den Kaiser zu, packt dessen langes Kinnhaar und zieht ihn über den Tisch, nimmt ein Messer, setzt es an Ottos Kehle und würgt ihn mit der anderen Hand. Er will die Gunst des Übertölpelten gewaltvoll erzwingen: […] nu l.nt mich bürgen emph.hen unde sicherheit, daz iuwer gn.de mir bereit und iuwer hulde werde, ir muozent 0f der erde daz leben anders h.n verlorn. (V. 286–291)
Wertet der Erzähler das Handeln Heinrichs? Kurz vor der Geiselnahme schildert er ihn als in alsi rehte[m] zorn (V. 250).640 Der Kaiser auf der anderen Seite wird bereits zu Beginn rachsüchtig und als ein übel man (V. 9) vorgestellt. Die legitimierte und dennoch selbst für die häufig drastischen Mären ungewöhnliche Szene einer Kaisergeiselnahme vollzieht sich als Negation des feudalen Herrscherparadigmas; die »Regeln des höfischen Codes und der angemessenen Disziplinierung [haben] keine Geltung«641. Die ungewöhnliche, in seiner Radikalität unerhört und damit zum Lachen preisgegebene Situation dreht das stratifikatorische Modell für einen Moment um, ohne es zu verlassen. Der kaiserliche Korpus wird kurzzeitig außer Kraft gesetzt: [Heinrich] wurgte in alsi harte / daz er niht mohte sprechen (V. 298f.); der keiser titgevar / lag under dem von Kempten (V. 304f.). Mit dem Messer an der Kehle bleibt dem Kaiser nichts anderes übrig als Heinrich freies Geleit zu schwören und damit seinen vorherigen Richterspruch aufzuheben. Heinrich entlässt Otto aus seiner Klammer, der Kaiser kehrt zu seinem Sitzplatz zurück und erneuert seine Sicherheitszusage. Heinrich soll jedoch verschwinden sowie Kaiser und Hof von nun meiden. Seine Unfähigkeit, am Hof zu bestehen, ist erwiesen. Aufgrund seines Habitus ist er zu plump und unfähig. 640 Das Mittelhochdeutsche Wörterbuch von Benecke erklärt zum Lemma reht, eine neutrale Übersetzungsmöglichkeit im Sinn von ›richtig, wirklich, wahrhaft‹ sei nur bei attributiver Stellung möglich, prädikativ (wie hier : des wart im alsi rehte zorn) sei mit ›so wie es sich gehört, gebührt, schickt‹ zu übersetzen. 641 Zacke: Die Gelegenheit beim Schopfe packen. Über Ursachen und Lösungen von Konflikten in Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten (2007), S. 196.
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Mit einer in Vers 366 beginnenden Metapher von Heinrich als kläglicher Barbier des Kaisers wird der eben beschriebene Vorfall am Hof wieder auf die interpersonale Ebene transferiert: An dem entstellten Bart Ottos könne nun jeder sehen, dass man Heinrich meide müsse, denn dessen Messer schneide zu grob. Ein neuer Barbier müsse her und der Mann von Kempten solle Bamberg verlassen. Psychoanalytisch lässt sich erkennen: Der Bart, der die Bosheit Ottos symbolisiert, und der kaiserliche Korpus als Repräsentation des Staates inklusive des ihm unterstehenden Truchsesses wurde von Heinrich beschnitten und beschädigt. Heinrich nutzt den Bann und verlässt Bamberg und den Königshof. Damit endet die Episode in Bamberg, die quantitativ circa die Hälfte des Märe einnimmt, nämlich 382 von 770 Versen. Die überlieferten Erzählungen um die Figur Heinrich von Kempten außerhalb des Märe kennen zum aller größten Teil nur die erste Hälfte, die Geschichte der Kaisergeisel – dabei sind sie alle jünger als Konrad, der 1287 verstarb.642 Nur eine lateinische Quelle und die Würzburger Fassung der deutschen Kemptener Karlschronik aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts mit Karl statt Otto als Kaiser berichten beide Episoden ganz ähnlich wie sie Konrad schrieb, beide sind nach Konrads Version entstanden.643 In der Chronik Gottfrieds von Viterbo, die von Andr8 Schnyder als einziges erhaltenes Stoffzeugnis vor Konrad herausgearbeitet werden konnte,644 ist die zweite Episode grundsätzlich anders aufgebaut: Otto bereut sein Urteil gegen Heinrich, da er nicht auf die heilige Osterfestzeit geachtet hat. Auch erzählt Gottfried nicht von einer Belagerung der fremden Stadt zehn Jahre darauf, 642 Klein: Art. Die zwölf (sieben) Pfaffenknechte, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters [Verfasserlexikon] (1999), Sp. 273. Zum Erzählumfeld siehe die folgenden beiden Fußnoten 643 und 644. 643 Eine komplette Übersicht der Versionen vor, neben und nach Konrad gibt Schnyder: Konrad von Wu¨ rzburg, Kaiser Otto und Heinrich von Kempten. Abbildung der gesamten ¨ berlieferung und Materialien zur Stoffgeschichte (1989), S. 19–62. Die beiden Texte sind U Nummer 3 und 9b. Man muss dazu sagen, dass in keiner Handschrift des Märe Konrads der Vers 383 von anderen grafisch unterscheidet. In einigen Handschriften beginnt Vers 383 nicht einmal mit einer Initiale oder anderen besonderen Markierungen, eine deutliche Trennung der beiden Hälften war bei den Schreibern also nicht vorgesehen. Handschriftenkürzel und Abbildungen bei ebd., S. 7–10 und 1*–43*. Online finden sich farbige Digitalisate der Codices, die Links sind versammelt auf den Seiten des Handschriftencensus. 644 Siehe die vorherige Fußnote 643. Der lateinische Text ist abgedruckt in: Gottfried von Viterbo: Pantheon (Edition: Pertz), S. 235f. Turner-Wallbank: Tradition und Innovation in Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten (1989/1990), S. 263 und noch einmal S. 264, argumentiert, dass das lateinische Vorbild, auf das Konrad in Vers 757 verweist, direkt Viterbos Pantheon war. Dazu zuletzt Neudeck: Erzählen von Kaiser Otto. Zur Fiktionalisierung von Geschichte in mittelhochdeutscher Literatur (2003), S. 277 u. S. 283f., und Brandt: Konrad von Wu¨rzburg. Kleinere epische Werke (2009), S. 96. Ob ein Zwischentext existierte oder nicht, ist für meine Fragestellung nicht entscheidend, ich will deshalb nicht weiter darauf eingehen.
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sondern lässt den Kaiser während des Schlafs einem drohenden Meuchelangriff erleiden. Wieder tritt der nackte Ritter, hier nur ein unidentifizierter miles, auf, und rettet den Kaiser, der daraufhin das alte Urteil auflöst. Konrad war es nach allem Augenschein also wichtig, die Geschichte anders zu vollenden und einen eigenen Schwerpunkt zu bilden. Bevor darauf eingegangen wird, soll die Vorstellung hinter dem Vorwurf des Kaisers verdeutlicht werden, dass ein Angriff auf den Truchsess ein Gewaltakt gegen den Herrscher selbst darstellt, die Schlüsselaussage, die Heinrich zur Geiselnahme veranlasst.
3.6.4.3. Der Herrscherkörper als Metapher für den Staat Wieso deutet der Kaiser das Töten des Truchsesses als eine Tat gegen sich selbst (wer h.t an im beswaeret mich?, V. 173)? Warum ist der spätere Angriff Heinrichs auf den Körper des Kaisers gleichsam ein Angriff auf die Gesellschaft und warum ist es sinnvoll, Heinrichs Hand am Kopf des Kaisers als Gewalt innerhalb der hierarchischen Ordnung und nicht nur interpersonal zu lesen? In der Bildsprache des Lehnswesens ist der Kopf des Kaisers Spitze der Gesellschaft, während alle anderen Mitglieder dieser Gesellschaft den Körper bilden. So beschrieb Johannes von Salisbury im Policraticus (geschrieben 1159) die Bevölkerung als Körper. Im Kapitel corpus rei publicae bestimmt Johannes den Herrscher als Kopf, über ihm stehe nur noch die Geistlichkeit, die den Platz der Seele einnimmt. Den Kaiser als Kopf zu setzen, zeugt nicht nur von der hierarchischen Bedeutung der mittelalterlichen Monarchie, sondern verbildlicht auch die Verpflichtung des Herrschers gegenüber den Untertanen.645 Das Haupt ist das Zentralorgan des Körpers, von dem alle anderen Teile abhängig sind. Christine de Pizan (1363–1430) übernimmt das Bild Johannes’, sie subtrahiert im Livre du corps de policie jedoch die Geistlichkeit, womit der weltliche Herrscher die alleinige Vormacht einnimmt.646 Der Kaiser ist bei Christine primäres Führungsprinzip im Körper und die Monarchie damit naturgemäß legitimiert. Der restliche Körper bildet stratifikatorisch geordnet die Vereinigung der beherrschten Bevölkerung. Diese neue Sichtweise fand sich auch in der Malerei wieder. Zwar entstand das berühmteste Beispiel dieses Bildes, jenes Frontispiz des Leviathans von Thomas Hobbes, nicht mehr im Mittelalter (sondern 1651), ist doch aber das berühmteste. Der Künstler Abraham Bosse 645 Peil: Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart (1983), S. 309 u. 311. 646 Ebd., S. 324. In ihrem Werk Livre de la paix nehmen die Geistlichen stattdessen die Seiten des Körpers ein, welche bei Johannes den Höflingen gehört hatte. Peil kann dafür keine Motivation ausmachen, vielleicht dachte sich Christine die Kirche als einen eigenen Stand. Vgl. Ebd., S. 326f und 334.
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malte den Kopf des künftigen englischen Königs Charles II. auf eine Komposition aus Menschenköpfen aller Stände (Abb. 4).
Abbildung 4: Abraham Bosse, Leviathan, Frontispitz von: Thomas Hobbes, Leviathan, 1651, Ausschnitt
Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp sieht als ein mögliches Bildvorbild für den zusammengesetzten Körper das mittelalterliche Motiv des Mantelschutzes. Dieser stammt ursprünglich aus einem genealogischen Zusammenhang: »Kinder konnten adoptiert und legitimiert und Verfolgte beschützt werden, indem Erwachsene oder hochgestellte Personen diese unter den Mantel nahmen. […] In der Staatstheorie wurde die Mantelumhüllung [darauf folgend] als königliche Umkleidung gedeutet«647. In einem französischen Fürstenspiegel um ca. 1350 ist das Bild eines Königs abgedruckt (Abb. 5), unter dessen Mantel sich eine Menschentraube findet, darunter eine Frau mit Nonnenkappe, ein Mann mit offenen Haaren und geschultertem Sack, zwei Bischöfe (zu jeder Seite des Königs einer) sowie eine Frau mit Schleier – ein Mix also aus unterschiedlichen Stän-
647 Bredekamp: Thomas Hobbes’ Der Leviathan. Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder, 1651–2001 (2012).
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demitgliedern.648 Stets ist der Kaiser der Kopf des ›Körpers‹ Staat und stellt somit das zentrale Organ dieses Lebewesen dar und, die Mitglieder der Stände bilden den Körper.
Abbildung 5: Schutzmantelfürst, Avis au roys, 1347–1350, Pierpont Morgan Library, New York
In dieser Bildsprache vom Körper der Gesellschaft und dem Kopf des Kaisers ist das Töten des Truchsesses ein Angriff auf den Körper des Kaisers selbst. Diesem Gedanken folgend ist Heinrichs Geiselnahme des Kaisers, das Würgen des Halses und das Anlegen des Messers an die Kehle ein Angriff auf die zugrundeliegende Klassengesellschaft. Die Gewalt Heinrichs vollzieht sich nicht nur im interpersonalen Schlagabtausch Heinrich versus Truchsess und Heinrich versus Kaiser, sondern im Bewegungsraum des hierarchischen ordo – das bestimmende Wertesystem im Märe.
3.6.4.4. Fortsetzung getrennter Polysemie Die zweite Hälfte beginnt bei Konrad mit der Heimreise Heinrichs nach Schwaben. Ohne noch einmal auf das zuhtmeister-Verhältnis zum Königssohn einzugehen, es wird wohl mit dem Bann vom Hof seinen narrativen Zweck erfüllt 648 »La quatre raison est ceste & est especial ou royaume de france quarportant que le royaume de france dessus touz autres royaumes est plains et […] de sapience et de science de noble chevalier de meurs vertues & plaisenz.« Übersetzung aus ebd., S. 81. Der Originaltext findet sich auf der Abb. 5 und auf der Homepage der Pierpont Morgan Library, New York: http:// ica.themorgan.org/manuscript/page/6/112420. Einen Nachweis, dass die Bildtradition bis in die Zeit Hobbes’ und Bosses reicht, kann Bredekamp ebenfalls anführen durch ein englisches Flugblatt aus den 1640er Jahren, s. Ebd., S. 82f.
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haben, wird erzählt, wie er sich in Kempten niederlässt.649 Während Heinrich in den darauffolgenden zehn Jahren Geld und Ehren ansammelt, geht Otto auf Kriegszug. Die Handlung setzt wieder ein, wenn der Kaiser vor der apulischen Stadt liegt. Lange Zeit lässt er die Stadt schon wenig erfolgreich beschießen und braucht nun neue Kämpfer. Deshalb ruft er in allen deutschen Landen zur Heerfahrt aus und verlangt nach allen Männern in Lehnsverhältnissen. Damit ist indirekt auch Heinrich gemeint. Den Abt von Kempten, der als Fürst über ihm steht,650 erreicht ein Bote mit der kaiserlichen Nachricht, eher eine Drohung mit Verdeutlichen der Strafe bei Nichterfüllung. Er ruft all seine dienestman zusammen und erinnert sie b% triuwen und b% eiden (V. 435) mitzukommen. Doch Heinrich begreift, dass Heerfahrt auch Hoffahrt bedeutet651 und dass er von eben diesem Hof verbannt wurde. Er wagt es nicht zum Kaiser zu fahren, weil er dessen Huld (V. 457, nochmal V. 460) verloren hat und in Ungnade gefallen ist. Heinrich bietet dem Abt seine zwei Söhne als Ersatz an, doch dieser ist nicht bereit, Heinrich zu entbinden – zu entscheidend ist der tapfere und berühmte Kämpfer als Garant seines eigenen Ansehens, zudem ist Heinrich ein guter Ratgeber.652 Eine ausschlaggebende Drohung lässt Heinrich einwilligen: Wenn er nicht am Kreuzzug Ottos teilnehme, werde ihm durch den Abt sein Lehen entzogen und an jemand anderen vergeben. Der Landbesitzt ist somit geknüpft an den Mut und das Wagnis, welche man dafür aufbringen muss. Die Heerfahrt abzulehnen und den Grundbesitz zu verlieren sind einerseits Zeichen von Schwäche und Feigheit, eine Annahme andererseits steht für Stärke und Unverzagen, denn die Pflichterfüllung bedeutet für Heinrich einen Ritt in den tit (V. 501). Ohne das Vasallentum wäre der Adelige unwert, für das vererbbare653
649 Der heute gebräuchliche Titel ist übrigens neuzeitlich. In den drei ältesten Handschriften sind die Text überschrieben mit »Ditz ist von keiser otten ein mer« (I), »Ditz buchel ist keyser otte genant« (P) und »keiser otto mit dem barte« (H). Alle drei stammen aus dem 1. Viertel des 14. Jhs. Siehe auch Fußnote 643. 650 »Äbte von Reichsklöstern (wie Kempten) besaßen in Deutschland Fürstenstatus.« Brandt: Konrad von Wu¨ rzburg. Kleinere epische Werke (2009), S. 93. 651 Vgl. »Servitium regis tam in expeditione quam in curia abeunda […]. Der Königsdienst umfaßt sowohl die Heeresfolge als auch die Verpflichtung zur Hofsuche […].« Aus: Karl Wilhelm Nitzsch (1859): Ministerialität und Bürgertum im 11. und 12. Jahrhundert. Ein Beitrag zur deutschen Städtegeschichte. Leipzig: Teubner, S. 43, nochmal 60. Zitiert und übersetzt nach Fischer und Völker : Konrad von Würzburg: Heinrich von Kempten. Individuum und feudale Anarchie (1975), S. 94. »Heerfahrt und Hofsuche sind die beiden Hauptdienste der Vasallen des Kaisers.« 652 Hier sind zwei Aspekte des Vasallentums angeführt, die sonst nicht auftauchen: Die Veredelung des Lehensherren durch den -mann und der intellektuelle Gewinn des Lehensherrn, in diesem Fall das Kriegswesen des Ritters gegenüber dem Kleriker. 653 Heinrich bietet seine Söhne zum Heerdienst an, dies deutet daraufhin, dass das Dienstverhältnis zwischen ihm und dem Abt generationenübergreifend ist und damit eine Erbpacht darstellt.
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Lehen als Lebensgrundlage wird die Existenz der einzelnen Generationsglieder aufs Spiel gesetzt: swaz mir der keiser übels tuot, daz wil ich gerne dulden, durch daz ich iu ze hulden gedienen müge an dirre vart. (V. 508–511)
Indem Konrad hier gegenüber der Legende Gottfrieds die Streitepisode einschiebt, wird deutlich, welchen gewichtigen Stellenwert das Vasallentum innerhalb des Märe einnimmt: »Anders als Gottfried von Viterbo […] tendiert Konrad ja nicht zu einer eiligen Lösung […], sondern er lotet […] die Ambivalenz der Macht erzählerisch aus.«654 Für Heinrich ist die Stratifikatorik die einzig entscheidende Motivationsstruktur des Handelns und des verstandesmäßigen Entscheidungs- und Ordnungsprinzip. Dreh- und Angelbegriffe wie huld655, (un-)gnade656, auch eid657 und triuwe658 geben davon ein Zeichen. Es wird auch deutlich, welchem Zweck das Vasallentum in erster Linie dient: dem Kampf. Der Kaiser im Kampf muss sich auf die Heerpflicht seiner Abhängigen verlassen können. Der Krieg gibt den Rahmen für die Motivation von hinten im Sinn Clemens Lugowskis für den Streit zwischen Heinrich und Truchsess ebenso wie für das fehlende Bestrafen des jungen Prinzen vor : Heinrich ist an tischzuht nicht interessiert – und den richtigen Ritter machten hier allein aggressive Werte im Sinn kämpferischen Vasallentums aus. Die beiden Teile des Märe scheinen außer den auftretenden Figuren keine Verbindung zu haben, aus der Geiselnahme des Kaisers muss sich nicht konsekutiv seine Rettung vor einem Übergriff anschließen, zudem trennt die beiden Episoden die zeitliche und örtliche Divergenz; der Aufruf scheint zufällig. Lugowski nennt eine solche Unverbundenheit die ›Perlenkette‹ der Aufzählung.659 654 Brall-Tuchel: Geraufter Bart und nackter Retter. Verletzung und Heilung des Autoritätsprinzips in Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten (1989), S. 46. 655 In den Versen 205, 240, 289, 457, 460, 510, 652 und 707. 656 Verse 22, 163, 204, 214, 227, 238, 288, 463, 648, 659, 677 und 702. 657 Verse 14, 246, 292 und 435. 658 Verse 435, 546, 563, 572, 634 und 660. 659 »Die strenge ›Motivation von hinten‹ kennt keinen direkten Zusammenhang zwischen konkreten Einzelzügen am Leibe der Dichtung; der Zusammenhang geht immer über das Ergebnis, und soweit uns heute [als moderne Leser] die vorbereitende Motivation im Blute liegt, sehen wir da nur Zusammenhanglosigkeit. Die ›Perlenkette‹ der Aufzählung mit ihren unverbundenen Gliedern und dem herausspringenden Resultat ist nichts als ein erzählerischer Mikrokosmos, der mit dem Makrokosmos der ganzen ergebnisbestimmten Erzählung morphologisch korrespondiert. Die einzelnen Glieder hängen mit dem herausspringenden Resultat notwendiger zusammen als untereinander. Die ganze Erzählung verhält sich zum Mikrokosmos wie der große Kristall zu den kleinen, in die er zerfällt, wenn man ihn zerschlägt, und die von der gleichen Struktur sind wie der große.« Lugowski: Die
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Fruchtbar ist es also, den Beginn vom Ende her zu lesen: Otto ist auf Kampf aus, und für die Heerfahrt benötigt er Krieger, die in Treue zu ihm stehen. Als Krieger erscheint Heinrich am Ende in Reinform. Gleichzeitig wird er, der unbekleidet unter den heimtückischen Mörder des Kaisers ein Blutbad anrichten kann, wegen seiner brachialen Männlichkeit von vergangenen Vergehen freigesprochen. Die komische Nacktheit, mit der er den Kaiser rettet, ist kein Makel, sondern wird noch pointiert: den Kaiser, der waffenlos von seinen Attentätern in die Enge gedrängt wurde, liste er […] / und werte in alsi nacket (V. 584f.). Der Schutz des Kaisers als ein weiterer Teil der gegenseitigen Loyalität steht über den korrekten Habitus. Der Erzähler treibt dies so weit, dass er zühtec völlig vom Aspekt des gesellschaftlichen Anstands befreit und den Begriff reduziert auf das richtige hierarchische Verhalten: und di der ritter zühtec den keiser hæte enbunden, di lief er an den stunden nacket in daz bat hin wider. (V. 596–599)
Otto hat seinen Retter nicht erkannt, erzählerisch nicht überraschend, ist es doch sonst die Rüstung, die einen Ritter unerkennbar macht, und beginnt, ihn in Unwissenheit zu loben. Obwohl er nicht weiß, um wen es hier geht: seine Gefolgschaft weiß es und nennt ihn Heinrich; nun sei es leider so, dass er diesem Mann die Gnade entzogen und dieser die Huld verloren habe (wofür natürlich der Unterstellte die Schuld trage). Der Kaiser schwört, alle Srafen seines Erretters zu tilgen und ihn zu rehabilitieren: hæt er den vater m%n erslagen, ich lieze in m%ne gunst bejagen und tæte im m%ne gn.de sch%n; daz nim ich 0f die triuwe m%n und 0f m%n Þre keiserlich. (V. 657–661)
Gerade die Nacktheit dient dem Kaiser als Beweis, dass es sich um Heinrich handeln muss: wer hæte ouch anders diz get.n / daz er nacket hiute streit? (V. 668f.), da ihm hier wie bei seiner Geiselnahme damals die fehlende Sittsamkeit zu Eigen ist. Doch bedeutet diese archaisch anmutende Sittenlosigkeit Form der Individualität im Roman. Mit einer Einl. von Heinz Schlaffer (1994), S. 79. Zum Verhältnis von der Motivation ›von vorne‹ und ›von hinten‹ bei Konrad ausführlicher Schulz: Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik: Willehalm von Orlens – Partonopier und Meliur – Wilhelm von Österreich – Die schöne Magelone (2000), S. 82–121.
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hier kein Makel, sondern ein herausragendes Attribut: s%n muot ist frevel unde frisch, / [jedoch] des enkilt er niemer (V. 674f.). Der Kaiser beordert Heinrich zu sich und lässt ihn in dem Glauben, empört über dessen Anwesenheit zu sein. Heinrich verweist nicht auf seine Heldentat, sondern appelliert wieder an die herrschaftliche Gnade wie beim Mord des Truchsesses. Zudem sei er nur unter Zwang am Kriegshof. Schuld sei das Dienstverhältnis zum Abt: m%n herre, ein fürste der hie st.t, b% s%ner hulde mir gebit, daz ich durch keiner slahte nit liez ich enfüere her mit ime. (V. 706–709)
Der Pflicht der Heerfolge, einem göttlichen Gebot, sei er nur gegen Widerstand gefolgt. Zudem hinge sein Lehen davon ab. Auffällig ist die Abwesenheit des Abtes, seit Heinrich mit ihm nach Apulien geritten ist. Auch an dieser Stelle entscheidet sich der Konflikt auf der interpersonalen Ebene Kaiser-Heinrich. Der unterstellte Ritter Heinrich beruft sich hier auf die Gehorsamspflicht als Dienstmann und bestätigt dadurch seine Abhängigkeit, Andr8 Schnyder betont: Der fingierte Zorn Ottos schafft ein retardierendes Moment, und er hat seine sozialpsychologische (und natürlich auch strukturelle) Logik: indem der Kaiser nochmals den Tyrannen hervorkehrt […], tut er das seinige, um die Machtverhältnisse klarzustellen: Heinrich hat keinen Rechtsanspruch auf Aussöhnung und Wiederaufnahme am Hof. Diese ist vielmehr ausschließlich Folge eines freien Entscheids des Kaisers.660
Die angespannte Lage dissoziiert Otto mit heftigem Lachen: Sein Retter könne unmöglich weiterhin mit dem Bann bestraft werden. Er tritt an Heinrich heran, kust[ ] im ougen unde lide (V. 731) und löst damit den Bann und die Feindschaft. Darüberhinausgehend schenkt er ihm Geld und gibt ihm ein Lehen661 und damit seiner Gunst einen monetären Gegenwert zusätzlich zu Ruhm und Ehre. Konrad beendet sein Märe mit der Nennung eines Mäzenen: Für den Herrn von Tiersberg, Mitglied eines ortenauischen Adelsgeschlechts vor Straßburg,662 habe
660 Schnyder: Beobachtungen und Überlegungen zum Heinrich von Kempten Konrads von Würzburg (1989/1990), S. 281. 661 Nach Andr8 Schnyders Interpretation von lÞch würde dies ein Aufstieg in die Reichsministerialität bedeuten: ebd., S. 278. 662 Zur historischen Person Berthold von Tiersberg s. Neudeck: Erzählen von Kaiser Otto. Zur Fiktionalisierung von Geschichte in mittelhochdeutscher Literatur (2003), S. 269–274 und der Überblick bei Kellner : Zur Kodierung von Gewalt in der mittelalterlichen Literatur am Beispiel von Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten (2004), S. 84 Anm. 20.
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er aus dem Lateinischen ins Deutsche gedichtet. Der Herr sei Probst in Straßburg und der Beste seiner Art; er vereine vielfältige Tugenden in sich: ze Str.zburc in der guoten stat, da er inne zuo dem tuome ist pribest unde ein bluome, d. sch%net maneger Þren. Got welle im sælde mÞren, wand er si vil der tugende h.t. von Wirzeburc ich Cuonr.t muoz im iemer heiles biten. er h.t der Þren str%t gestriten mit gerne gebender hende. hie h.t daz buoch ein ende. (V. 760–770)
In seinen anderen beiden Versnovellen, dem Schwanritter und dem Herzmäre, finden sich keine solch direkten Mäzene.663 Die textexterne Motivation des Poeten kann die Fokussierung des Vasallenwesens erklären, wenn auch das Verhältnis Herrscher-Ritter ein anderes ist als dasjenige zwischen Dichter und Gönner, möchte man eine sozialgeschichtliche Lesart bemühen.664 Hat auch Konrads Heinrich von Kempten einen kulturellen Überschuss gegenüber seinem Epimythion, wie es Armin Schulz für die Halbe Birne A des Pseudo-Konrads konstatiert hat?665 Beide Texte basieren auf einem Schwankschema, »dessen Handlungslogik von Aktion und Reaktion, Schlag und Ge663 Jedoch verweist Konrad im Schwanritter auf die Herren von Cleve und Rienecker (V. 1604–1606) als Nachfolge des mystischen Ritters. 664 Brall-Tuchel: Geraufter Bart und nackter Retter. Verletzung und Heilung des Autoritätsprinzips in Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten (1989), S. 51, liest das Märe vor dem sozialgeschichtlichen Hintergrund der »erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Bischöfen und Bürgerschaft, wie sie in Straßburg und vergleichbar in Köln in der Mitte des XIII. Jahrhunderts um die Freiheit der Städte geführt wurden.« Dennoch stellen die Protagonisten Konrads keine Abbildung realer Machtverhältnisse dar : »Die Erzählung nimmt Anteil am gesellschaftsgeschichtlichen Bewußtsein und Geschehen, indem sie die Agenten hinter den konfliktbesetzten Standpunkten ausfindig zu machen sucht und eine Autoritätsvorstellung jenseits dieser Positionen entwirft.« Die Bezeichnung Heinrichs als »Ritter« ist nicht als spezifische sozialständische Bezeichnung (Ministerialamt o. a.) zu deuten. Da seine Stellung innerhalb des Textes sich mehrfach ändert (Zuchtmeister des Schwabenprinzen, Ministeriale des Abts, Reichsministerials), schließe ich daran an. Auch Oettli: Zum Ritterbegriff bei Konrad von Würzburg (1989/1990) kann kein spezifisches Ritterverständnis ausarbeiten und weist in Konrads Gesamtwerk eine unpräzise Handhabung nach. Fischer/Völker pochen bei jeder sozialhistorischen Lesart darauf, dass die behandelten Konflikte für Konrads Zeit ganz irreal waren, zum Beispiel die Verpflichtung zum Italienfeldzug, Fischer und Völker : Konrad von Würzburg: Heinrich von Kempten. Individuum und feudale Anarchie (1975), S. 124 Anm. 21. 665 Brandt: Konrad von Wu¨ rzburg. Kleinere epische Werke (2009), S. 100, spricht gar davon, Konrad habe »wohl bewusst [eine] zu tief zielende ›Exegese‹« ermöglicht.
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genschlag moralisch indifferent ist«666. Heinrich obsiegt über den unmoralischen Kaiser mithilfe einer doppelten Situationskomik.667 Zum einen ist hier die Geiselnahme eines Kaisers zu nennen, zum anderen dessen spätere Rettung in barer Nacktheit. Dennoch agieren die Protagonisten in einem höfisch-galanten Setting, das aus einer historisch-chronikalen Thematik schöpft.668 So verhandelt der Text gleichzeitig auch courtoise, normativ besetzte Tugenden:669 zuht und Erziehung und die gesellschaftliche Rolle von Sittsamkeit und Nacktheit sowie das richtige Einsetzen gewaltvoller Stärke. Konrad trennt die Polysemie der zuht und breitet die Bedeutung direkter Gewalt weiter aus. In dieser Weise entspricht die Reduktion des Männerbildes im Epimythion sehr wohl der Erzählung. Der in der moralisatio entworfene richtige Ritter ist eine einseitige Kürzung höfischen Verhaltens, ebenso wie es Heinrich in der Erzählung ist.670 Damit entwickelt sich ein Paradox: Im Märe pluralisieren sich zwar die Handlungssysteme, aber diese sind unterkomplex und auf spezifische Situationen beschränkt. Dass diese Unterkomplexität an die besondere Person Heinrichs geknüpft ist, zeigt bereits die Eloge auf den Textgönner, dessen Tugenden ganz andere sind im Vergleich zur manheit unde ritterschaft des guten Ritters. Der Domprobst repräsentiert demgegenüber schon beinah konträre Werte (sælde; gern[ ] gebende[ ] hende)671, die jetzt auf einmal gelobt werden.
3.6.5. Exklusion aus Handlungsmustern Eine textnahe Interpretation des Heinrich von Kempten erkennt in der Erzählung die widerstreitenden Logiken innerhalb Konrads Märe. Die Eingangsthese erklärte, dass sich im Streit zwischen Heinrich und dem Truchsess ein Antagonismus um die Semantik von zuht entwickelt. Der Sieger exkludiert hövescheit aus seinem Denk- und Handlungsrepertoire und beschränkt sich auf 666 Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive (2015), S. 142. 667 S. Fischer : Studien zur deutschen Märendichtung (1983), S. 102. 668 Vgl. Ebd., S. 100, der das Märe deshalb einem kleinem Rest-Themenkreis zuordnet und damit auch die Klassifizierung des Heinrich von Kempten in die Grundtypen (schwankhaft, höfisch-galant, moralisch-exemplarisch) unterlässt. 669 Vgl. Ebd., S. 109 und Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive (2015), S. 142. 670 Wie Ritterlichkeit in Konrads Märe auch anders aussehen könnte, skizziert Schnyder: Konrad von Wu¨ rzburg, Kaiser Otto und Heinrich von Kempten. Abbildung der gesamten ¨ berlieferung und Materialien zur Stoffgeschichte (1989), S. 282. U 671 Zur Bedeutung von Ritter als Ehren-, nicht als spezifischer Standestitel, s. Fußnote 664. Otto Neudeck verweist auf den Mäzenen Berthold, der kaum an einer Propagierung traditioneller Ritter- und Minneideale interessiert gewesen sein wird, sondern eher an einem Spiel mit progressiven Erzählmitteln, die durchaus Ambivalenzen aufzeigen durften, vgl. Neudeck: Erzählen von Kaiser Otto. Zur Fiktionalisierung von Geschichte in mittelhochdeutscher Literatur (2003), S. 274.
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seine gewaltbetonte Rolle innerhalb des hierarchischen Vasallensystems; diese Einschränkung bestimmt sowohl beide Teile der Binnenerzählung als auch das Epimythion. Um die These zu verifizieren, haben sich die vier aufgestellten Prämissen als gültig erwiesen: – Heinrich und der Truchsess repräsentieren tatsächlich unterschiedliche Semantiken der zuht. Während der Truchsess es nicht zulassen kann, dass der angehende König sich der tischzuht entzieht, klagt Heinrich als zuhtmeister die fehlende Legitimation der Gewalt an, die der Truchsess an dem Prinzen vollzieht. – Diese differenten Semantiken werden widerstreitend entfaltet und der Aspekt der direktiven Kontrolle am Hof verliert seine Legitimation. Durch das Töten des Truchsesses und die Geiselnahme des Kaisers bricht Heinrich mit jeglichen Konventionen der höfischen Sittenregeln. Die rohe Gewaltsamkeit Heinrichs wird zweifach legitimiert: zum einen durch den schlechten Charakter des Kaisers selbst, zum anderen, weil es gerade die archaisch anmutende Befreiung von den höfischen Regularien ist, die allein den Kaiser am Ende retten kann. – Heinrich handelt nicht höfisch, sondern stets exklusiv im Sinn des Vasallentums. Er wird eingeführt als Erzieher des Jungen, bricht aber mit dem gewaltexkludierenden Anspruch des Osterfestes. Die Anklage des Kaisers prangert jedoch nicht dieses Sakrileg an, sondern das Töten des Vasallen. Die Bitte um Gnade wird nicht erfüllt, sodass der Ritter den Kaiser, und damit metonymisch die Vasallengesellschaft, in Geiselhaft nimmt. So erreicht er seinen Freispruch, wird jedoch von Otto vom Hof verbannt. – Die Exklusion bleibt über den Handlungsverlauf bestehen. Durch den Italienfeldzug erhält die erste Episode ihre Motivation: milte ist hier überflüssig. Selbst nackt ist Heinrich zühtec (in seinem eingeschränkten Sinn) und wird vom Kaiserbann erlöst. Das Epimythion hebt diese aufgelöste Polysemie nicht auf, auch das Epimythion deckt sich mit der Handlung.
3.6.6. Bedeutung dieser Analyse Was kann diese Analyse des Heinrich von Kempten bedeuten? Erstens, dass das von Udo Friedrich für Konrads Trojanerkrieg herausgearbeitete Kompositionsverfahren der kontrastiven Variation auch in diesem Märe zutrifft. Das Sujet, nämlich die Bedeutung der richtigen zuht, wird mit zwei gegensätzlichen Standpunkten thematisiert und kontrastiert. Im weiteren Verlauf des Textes wird dann das Thema der legitimen Gewalt durchgespielt. Innerhalb der Hierarchie wird die physische Gewalt das leitende Regulativ und die Parameter, in denen die Figuren handeln. Zweitens, dass dieses Kompositionsverfahren Konrad als
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klugen Verhandler hochmittelalterlicher Ideale ausweist. Zucht dient sozialhistorisch gesehen der sich ausbildenden Hofgesellschaft für das Abwenden vom Unhöfischen. Konrad überwindet eine semantische Doppeldeutigkeit, unterteilt zuht in konkrete Bedeutungen und spielt sie gegeneinander aus. Er entwirft kein neues Ideal, sondern binnendifferenziert bestehende. Im Vergleich zur Vorlage Gottfrieds von Viterbo dient in Konrads Märe der zugedichtete zweite Teil der Legitimation des ersten Parts. Im Heinrich von Kempten lässt sich auch eine Tendenz der Archaisierung verzeichnen, indem das Ausüben praktischer Gewalt und die feudale Hierarchie in Gegensatz gebracht werden zu den im 13. Jh. populären Tisch- und Benimmregeln. Dieser Zusammenhang wird auch überlieferungsgeschichtlich gestützt, denn Konrads Märe wurde in drei der sieben Handschriften vor oder hinter Tischzuchten gesetzt. Es zeigt sich bei Konrad kein Epigonentum, das den literarischen Vorbildern nachzueifern versucht und dabei fast zwangsläufig scheitern müsste, sondern eine Weiterentwicklung eines bestehenden höfischen Diskurses. Damit kann ein weiterer Baustein zu einer Revision der literarhistorischen Stellung Konrads hinzugefügt werden, während ein umfassender Versuch noch aussteht.
3.7. DER WEINSCHWELG Während bisherige Untersuchungen des Wettkampfs von einer alternierenden Abfolge mindestens zweier Kombattanten ausgingen, findet sich im Weinschwelg eine einseitige Strategie des Überbietens.672 Der Protagonist im Weinschwelg inszeniert sich in seinem Monolog als meister gegenüber literarischen Figuren und als Beherrscher der Welt. Dabei kommt es zu allen wettkampftypischen Bewegungen, die sich in den anderen Erzählungen dieser Arbeit ebenfalls zeigten. Die Strategie des Autors, intertextuelle Referenzen zu inkludieren, führt zu einer einmaligen literaturgeschichtlichen Stellung des Weinschwelg, der mit der Parodie auf bekannte Texte und Gattungen einen der ersten mittelhochdeutschen Weinlobe bildet und eine Tradition des Selbsterhöhens des literarischen Ichs in der Trinkliteratur beginnt, die von späteren Erzählungen und Lieder aufgenommen wird.
672 Ein Teil dieses Kapitels erscheint in gekürzter Form als Aufsatz im Sammelband der Tagung »Poesie des Widerstreits«, herausgegeben von Anna Kathrin Bleuler, Manfred Kern und Peter Kuon. Publikation voraussichtlich 2020 in der Reihe »Interdisziplinäre Beiträge zu Mittelalter und Früher Neuzeit« im Winter Verlag.
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3.7.1. Forschungsüberblick Der Text ist in drei Handschriften überliefert. Im Wiener Codex 2705, aus dem dritten Viertel des 13. Jahrhundert und damit der ältesten aller Märenhandschriften überhaupt,673 umfasst er 416 Verse. Gedichtet wurde der Weinschwelg kurz vor Entstehen des Codex, darauf verweist die Nennung der oberitalienischen Stadt Terv%s, Treviso. Dass die Stadt in den 1260iger-Jahren ihre Blütezeit erlebte, dient als terminus post quem.674 In der großen Märenhandschrift Karlsruhe 408, gut anderthalb Jahrhunderte später, besteht das komplette Reimpaargedicht aus nur 200 Versen, vermutlich sekundär entstanden.675 Dazwischen entstand ein Fragment676 und eine auf die Karlsruher Fassung verweisendes Bücherverzeichnis.677 Der anonym überlieferte Text blickt in der Forschungsliteratur auf eine wiederholt positive Würdigung als kunstvolle Parodie zurück.678 Hervorgehoben wurden vor allem der poetische Rhythmus, der den Text durch einen wiederkehrenden Refrain gliedert,679 oder der grammatische Reim.680 In der Frage, welcher spezifischen Gattungs- und Stofftradition der Text zugeordnet werden kann, herrscht jedoch keine Einigkeit. So wurde der Dichter aufgrund seiner Wortspielkunst in eine Reihe gestellt mit der Schlemmerliteratur Steinmars und der Frühen Neuzeit681 oder als Verfasser des Märe von der Bösen Frau aus dem
673 Mihm: Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung im Spätmittelalter (1967), S. 35, setzt den Codex in die letzten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts. Ich folge der Datierung bei Schneider: Gotische Schriften in deutscher Sprache. Bd. 1: Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300. Textband (1987), S. 177, die auch der Handschriftencensus übernommen hat. Die Provenienz ist österreichisch bis bayrisch. 674 S. Schröders Einführung in Der Weinschwelg, S. 12. 675 Eckart: Art. Der Weinschwelg, in: Kindlers neues Literatur-Lexikon. Bd. 19: Anonyma, Kollektivwerke, Stoffe: La – Zz (1998), Sp. 780. 676 Leipzig, Universitätsbibl., Ms. 1614, Bl. 14, erhalten sind nur 2 Querstreifen. Faksimiles der drei Handschriften(-stücke) zum Weinschwelg finden sich in Janota: Der Stricker. Ab¨ berlieferung (1974), S. 29–37. bildungen zur handschriftlichen U 677 Matzel: Ein Bücherverzeichnis eines bayerischen Ritters aus dem 14. Jahrhundert (1979). 678 Einen aktuellen Überblick über die hier nicht zitierte Forschungsliteratur findet sich in: Altenhöfer : Art. Der Weinschwelg, in: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter : Autoren und Werke nach Themenkreisen und Gattungen. Band 5: Epik (Vers – Strophe – Prosa) und Kleinformen (2013). 679 Wolff: Reimwahl und Reimfolge im Weinschwelg (1935). 680 neic/genigen, tranc/trunc (zweifach), grüezet/gruoz, ingniz/inegiezen und guot/muot/ güete/gemüete. Vgl. Wailes: Wit in Der Weinschwelg (1973). Zur Aufhebung der Reimbrechung und des Dreierreims im Weinschwelg s. Schirmer : Stil- und Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle (1969), S. 102. 681 Wehrli: Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 16. Jahrhunderts (1997), S. 535.
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Ambraser Heldenbuch angesehen.682 Inhaltliche Nähe ließ sich zu Strickers Unbelehrbaren Zecher (früherer Titel: Lob des Trinkens) feststellen,683 an anderer Stelle wieder wurde einem solchen direkten Bezug widersprochen.684 Eine konkrete lateinische Vorlage aus der Weinpanegyrik ließ sich ebenso wenig ausmachen685 wie ein Vorbild aus der deutschsprachigen Epik.686 Aufgrund des hohen Redeanteils wurde der Text allzu streng zu den Grenzfällen der Mären gezählt.687 Der Weinschwelg scheint ein literaturgeschichtlich »schwierig einzuordnende[s] Unika[t]«688 zu sein. Daher scheint es gewinnbringender, ihn nicht neben eine einzelne Vorlage zu legen, sondern Systemreferenzen herauszuarbeiten,689 an die der in der Märendichtung früh verschriftlichte Text und eines der ersten handschriftlich fixierten, volkssprachlichen Weinlobe anknüpft. Zunächst ein Vergleich mit den Regeln lyrischer und epischer Gattungen in der lateinischen und deutschen Tradition. Einzeltextreferenzen sollen auf diejenigen Fälle reduziert werden, aus denen der Weinschwelg literarische Figuren nennt, an denen er seine Trinkfähigkeit misst und die allesamt nicht aus dem Stoffbereich der Trinkerliteratur stammen. Der gesamte Text aus Trinkerrede und Erzählerkommentare kann als geschickte Referenzen auf generische Regeln und literarische Figuren verstanden werden, in denen eine spezifische Kombination von Können und Wissen entworfen wird. Das Können bezieht sich dabei auf die Fähigkeit des Schwelgs (mhd. swelch für Säufer)690, Unmengen von Wein in sich aufnehmen zu können; das Wissen umfasst die Vorzüge des Weins 682 Schröders Einführung in Der Weinschwelg (Edition: Schröder), S. 10. Auch Wailes: Wit in Der Weinschwelg (1973), S. 5. 683 Heinzle: Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert (1220/30–1280/90) (1984), S. 190. Zuletzt Altenhöfer: Art. Der Weinschwelg, in: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter : Autoren und Werke nach Themenkreisen und Gattungen. Band 5: Epik (Vers – Strophe – Prosa) und Kleinformen (2013). 684 Grunewald: Die Zecher- und Schlemmerliteratur des deutschen Spätmittelalters (1976), S. 40–49; Wailes: An Analysis of Des Wirtes Maere (1968), bes. S. 344; Boor : Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Teil 1: 1250–1350 [Epik, Lyrik, Didaktik, geistliche und historische Dichtung] (1997), S. 249–254. 685 Wailes: An Analysis of Des Wirtes Maere (1968). 686 Grunewald: Die Zecher- und Schlemmerliteratur des deutschen Spätmittelalters (1976). 687 Fischer : Studien zur deutschen Märendichtung (1983), S. 73. 688 Ziegeler : Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen (1985), S. 36, Anm. 15. 689 Den Begriff der Systemreferenz verwende ich im Sinn Manfred Pfisters. Pfister : Zur Systemreferenz (1985): Die Referenz bezieht sich dabei auf Textkollektive, auf Systeme von textbildenden Strukturen. Man kann auch von generischen Regeln einer Gattung sprechen, konventionalisierten Strukturen, auf die Bezug genommen wird. Weiterführend dazu Emmelius: Intertextualität (2015), v. a. S. 282–284. 690 Ich zitiere nach der Edition von Hanns Fischer, der die Fassung der älteren, Wiener Handschrift als Grundlage nahm.
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und gipfelt in einem Ablehnen zentraler Aspekte höfischer Lebenswirklichkeit (Jagd, Gesang, Minne). Beide, Wissen und Können, nutzt der Text, um seinen Protagonisten als meister zu pointieren. Im Promythion wird einem Schwelg die Meisterschaft zugesprochen, weil weder Mann noch Tier je so große Schlucke in sich hat schütten können. Alles Gesehene wird in den Schatten gestellt, wenn der Trinker eine Kanne Wein nach der anderen leert. Dieser stimmt daraufhin ein Lob auf den Wein an. Eingeteilt ist der Monolog in 23 ungleich lange Teile (je 14–40 Verse im Wiener Codex), die durch den Refrain di hub er 0f unde tranc gegliedert werden. Der Reim auf tranc leitet stets eine neue Strophe ein. Nach und nach werden die Vorzüge des Weintrinkens aufgezählt und erörtert, was man durch den Alkohol alles erlangen könne (Weisheit, Reichtum, Schönheit, etc.). Der Redner arbeitet sich an klassischen Sujets der Literatur ab: Turnier, Tanz und Lob der Natur. Alles sei dem Wein hintangestellt; Würdigungs- und Unterwerfungsgesten wechseln sich ab. Er spielt auch auf literarische Figuren an: Horant, Paris, Dido wäre kein Leid widerfahren, hätten sie den Wein so geminnt, wie er es tut. Im Laufe der Rede wendet sich das Wein- zum Selbstlob, alle Menschen sollen sich vor dem Trinker verneigen etc. Gegen Ende droht das Hemd des Schwelgs, der immer mehr Alkohol in sich hineinschüttet, zu platzen. Um sich davor zu schützen, legt er sich eine Eisenpanzerung an und trinkt weiter. Das fehlende Epimythion und der am Ende erneut ansetzende Refrain deuten eine »potenziell unendliche Fortsetzung an«691.
Helmut de Boor sieht im Weinschwelg ein Schließen offener Stellen innerhalb der höfischen Dichtung und eine Ergänzung der unvollständigen Weltbeschreibung der klassischen Literatur : Zum ersten Mal käme hier ein ungebändigter Alkoholgenuss zur Sprache. Gemeinsam mit der Bösen Frau handele es sich um zwei Gedichte, »welche die Welt in ihrer Vielfalt ergreifen, die sie zeigen mit ihren Freuden und Leiden, ihren Torheiten und Gebrechen. So ist die Welt, sagt ihr vielstimmiger Chor ; man muß sie kennen und erkennen, um mit ihr fertig zu werden. Darin liegt ihre Buntheit, ihr Reiz und ihre Wirkung.«692 Der Autor des Weinschwelg füllt damit eine Lücke auf und verbreitert die Themenwahl. Der Säufer im Weinschwelg sei ein Urbild geworden, der erste, der die Idee des genießenden Trinkens verkörpert – auch im Vergleich zum Zecher beim Stricker, der das Trinken noch verurteilt. Der Weinschwelg beziehe sich auf die klassische mittelalterliche Literatur, denn »bei aller Gegensätzlichkeit in den Stoffen und im äußeren Erscheinungsbild [wird darin] der innere Zusammenhang mit der höfischen der ›klassischen‹ Zeit offenbar.«693 Man könnte mit de Boor von einer parodistischen Wirkung sprechen. Genauso gut könne man 691 Altenhöfer : Art. Der Weinschwelg, in: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter : Autoren und Werke nach Themenkreisen und Gattungen. Band 5: Epik (Vers – Strophe – Prosa) und Kleinformen (2013), Sp. 584. 692 Boor : Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Teil 1: 1250–1350 (Epik, Lyrik, Didaktik, geistliche und historische Dichtung) (1997), S. 254. 693 Ebd.
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die Parodie aber auch als Differenzmarkierung erkennen. Damit geht de Boor im Grunde weiter als die Idee des Lückenfüllens, er sieht in dem Text ein neues Motiv. Gemessen an der Gattungstradition kann ihm Recht gegeben werden. Der Weinschwelg wurde zum Prototyp des Weinlobs, in dem bereits alle Preisungen des Alkohols für das Genre in den folgenden Jahrhunderte enthalten sind.694 Das Märe kann nicht gelesen werden ohne die Folie der klassischen Literatur, die es benutzt und von der er sich abgrenzt, um die Minneliebe in eine Weinliebe umzuwandeln. Im Weiteren soll deshalb auf jene Systemreferenzen eingegangen werden, die der Text für seine Strategie der Selbstbehauptung nutzt. Wichtigste Referenzen bilden zum einen die strophische Literatur, deutsche und lateinische Lyrik und der Sangspruch des 13. Jahrhunderts. Zum anderen ist es die epische Dichtung, auf die sich der Weinschwelg bezieht. Für eine Analyse des Wettkampfs im Märe ist es ertragsreich, solche Referenzen herauszuarbeiten, weil sie die Kontextanreicherung sind, die der Schwelg in seiner Abgrenzung zur literarischen Tradition heranzieht. Im inszenierten Streit bilden sie das Material, mit dem der Trinker seine Eigenart markiert, und mit deren Hilfe er als Sieger aus dem Konflikt hervorgeht.
3.7.2. Systemreferenzen auf Lyrik Im Monolog zählt der Trinker die vorzüglichen Wirkungen des Trinkens auf. Weisheit und Stärke, Frohsinn und Entschlossenheit werden demjenigen zuteil, der sich dem Alkohol hingebe. Das gute Aussehen zeichnet gleichzeitig den Genießenden und das Genussmittel aus: du machest die liute wolgevar. / du bist ouch selbe schœne gar, / du bist l0ter unde blanc (V. 33–35). Diese Verschiebung der Hymne vom Wirken des Weins hin zum Wein als Verursacher verläuft gleichzeitig mit einem Betonen des lyrischen Ichs. Der Trinker sei der größte Freund des Alkohols und könne nie genug von ihm bekommen. Der Schwelg stellt den Wein über höfisches Vergnügen (Turnier, Tanz) und die adelsspezifische Dingwelt (Blumenschmuck, Felle oder Samt) und überhöht damit den Wein in einer vertikalen Wertehierarchie. Mit dieser Begünstigung referiert der Schwank auf die topische Redeweise des Minnesangs.695 Der Wein nimmt die Stelle der Geliebten ein und besungen wird die gegenseitige Verbundenheit wie im prototypischen Minneverhältnis von D0 bist m%n, ich bin d%n: 694 Haas: Trinklieder des deutschen Spätmittelalters. Philologische Studien an Hand ausgewählter Beispiele (1991), S. 208f. Antike Quellen einzelner Motiven konnte Hans Ritte ausmachen, vgl. Ritte: Das Trinklied in Deutschland und Schweden. Vergleichende Typologie der Motive bis 1800 (1973). 695 S. Schirmer : Stil- und Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle (1969), S. 278, Anm. 120.
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in h.t in dem herzen m%n m%n minne alsi beh0set, versigelt und vercl0set: wir mugen uns niht gescheiden. (V. 50–53)
Der Schwelg verbeugt sich vor dem Wein wie vor einer Dame.696 Das lyrische Ich imaginiert eine Liebesantwort, wie es sich Autoren im Minnesang erträumen, markiert mit dem Terminus enp.he (V. 224).697 Die Liebe des Ichs wird über die der Konkurrenten gestellt und bringt aus sich heraus Freude (fröudebære).698 Das Minnen des Weines ist keine Freiwilligkeit, sondern eine innere Pflicht: ich muoz in immer minnen. / ich mac im niht entrinnen (V. 359f.). Diese Gleichzeitigkeit zwischen freudestiftender Liebe und endloser Minnepflicht entstammt dem paradox amoureux des Minnesangs, das parodistisch mit dem Besitz des geliebten Weins gelöst wird.699 All diesen Bezügen immanent ist eine vertikale Hierarchie zwischen Schwelg und Wein wie im klassischen Minnesang zwischen Sprecher-Ich und Dame. Dieser vertikalen Hierarchie entsprechen das häufige Erwähnen von Unterwerfung und Dienerschaft sowie mehrere Gesten des Verneigens und das fröhliche Springen.700 Semantiken des Aufwärtsstrebens komplementieren diese 696 di stuont er 0f unde neic. / er sprach: »w%n, dir s% genigen! / ich tr0we mit dir wol gesigen.« (V. 170–172). 697 ich enp.he dich immer .ne haz, / du enph.hest mich, als tuon ich dich; / der anpfanc ist minneclich. / daz s% unser beider anpfanc! (V. 224–227). Im Lindenlied Walthers bspw. spricht die Frau: Ich kam gegangen / zuo der ouwe, / di was m%n friedel komen Þ. / d. wart ich enpfangen, / hÞre frouwe, / daz ich bin sælic iemer mÞ. (Buch II, Ton 16, V. 1–6). Zitiert nach Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche (Edition Lachmann). 698 m%n minne ist bezzers lines wert, / denne ir aller minne wære. / m%n minne ist fröudebære[.] (V. 340–342). 699 Auf die Spitze getrieben hat die Minnepflicht Heinrich von Morungen mit seinem Narzisslied, in dem das Kind an seiner Liebe stirbt: sam ein kint, daz w%sheit unversunnen / s%nen schaten ersach in einem brunnen / und den minnen muoz unz an s%nen tit. (Lied XXXII, 3, 6), zitiert nach Heinrich von Morungen: Lieder (Edition: Tervooren). Das paradox amoureux, das heißt die Liebe des Manns provoziert die Nicht-Liebe der Dame, die Nicht-Liebe garantiert seine Liebe, ist im Minnesang der Grundkonflikt, aber auch die Motivation des Sängers; s. Obermaier : Möglichkeiten und Grenzen der Interpretation von »Dichtung über Dichtung« als Schlüssel für eine Poetik mittelhochdeutscher Lyrik. Eine Skizze (1999), bes. S. 24. Im Weinschwelg beeinträchtigt der Besitz des Weines, das heißt die Erfüllung der Liebe, den Trinker nicht in seiner Trinklust. Vgl. Schirmer : Stil- und Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle (1969), S. 276. Die Lieder Walthers und Heinrichs müssen dem Verfasser nicht zwingend als konkrete Prätexte vorgelegen haben, die ihnen zugrunde liegende Tradition (Erhöhen der Dame, Liebesantwort, Minneparadox) war hier jedoch sicher Vorbild. 700 er h.t mich des betwungen, / daz ich ie tet, swaz er mir gebit (V. 82f.); w%n, dir s% genigen! (V. 171); w%n, ich valle dir ze fuoz (V. 222); di begunde er springen unde treten / manigen
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Bewegungen.701 Der als Refrain wiederkehrende Vers di hub er 0f unde tranc wiederholt gleichsam die Trinkgeste als auch das Überhöhen des Weins. Weil im Weinschwelg von der zwischenmenschlichen Liebe abgeraten wird, wurde der Text in die Nähe von Steinmars Herbstlied gerückt.702 Steinmar bezeichnet die Minnenden als marterære (1, 8)703, ähnlich wie der Trinker im Weinschwelg von der tumpheit der Minnesklaven spricht. Der Verdruss des lyrischen Ichs bei Steinmar speist sich jedoch aus eigener Erfahrung als unbelohnter Sänger.704 Daraufhin schwört er der Minne ab und wendet sich dem Trinken und der Völlerei zu.705 Das Ich im Weinschwelg erklärt jedoch die Minne nicht für nichtig, daher ist der Text kein ›Minneabsaglied‹. Stattdessen wird das Objekt des Begehrens ersetzt durch den Wein, wenn der Schwelg beispielsweise das Begehren des Minnesklaven Paris umlenkt: er solde den w%n geminnet h.n (Weinschwelg, V. 331). Das lyrische Ich nennt fünf Städte und Regionen, in denen sich nach seinen Aussagen kein so fähiger Trinker findet, wie er einer sei: P.r%s, Padouwe, Terv%s, Rime und Tusc.n (V. 299–301). Edward Schröder hat die Blütezeit der Stadt Treviso (ab 1260) als terminus post quem genommen und die Städte als Aufzählung mittelalterlicher Universitätszentren gedeutet.706 Zweifel an dieser Einordnung der Städte äußerten vor allem Ute Schwab707 und – verhaltener – Burghart Wachinger708, jedoch ohne alternative Deutungen zu nennen. Paris und Padua zumindest gehören gegen Ende des 13. Jahrhunderts zu den führenden akademischen Zentren Europas.709 Damit kann Schröders Erklärung aber nicht
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sprunc seltsænen. (V. 236f.; auch V. 241–243); vor dem Trinker sollen sich die Menschen neigen (V. 383). diu werlt solde immer gein im [dem Wein] streben (V. 86). Grunewald: Die Zecher- und Schlemmerliteratur des deutschen Spätmittelalters (1976), S. 45. Ohne genaue Nennung spielt auch Gert Hübner auf den Weinschwelg und Strickers Unbelehrbaren Zecher bei seiner Analyse Steinmars an. Hübner: Minnesang im 13. Jahrhundert. Eine Einführung (2008), S. 128. Steinmar: Herbstlied (Edition: Schiendorfer), S. 179f. S%t si mir niht linen will, / der ich h.n gesungen vil; Herbstlied 1, 1f. Dass Steinmar dabei weiterhin mit den Minnemotiven spielt und die thematischen Konventionen auf den Herbst überträgt, darauf verweist Hübner Hübner : Minnesang im 13. Jahrhundert. Eine Einführung (2008), S. 125–130. Der Weinschwelg (Edition: Schröder), S. 9: »Für alter und heimat zugleich ist v. 300 bedeutsam, wo von dem studium ze Padomve und ze Tervis die rede ist.« Schröder eilt hier schon zu weit voraus, von Studium oder studieren ist im Weinschwelg keine Rede. Ute Schwabs Rezension zu Fischers Edition von Stricker und Weinschwelg, in: PBB 83 1961/62, S. 382: »Auf jeden Fall aber müssen die aus der Nennung von Tervis (300) von Schröder gezogenen chronologischen Schlüsse aus begreiflichen Gründen revidiert werden«. Wachinger : Art. Der Weinschwelg, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters [Verfasserlexikon] (1999), Sp. 822. Verger : Grundlagen (1993), S. 65.
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erschöpfend sein: Die Universität Treviso ist erst 1318 gegründet worden710 und konnte keineswegs auf eine städtisch präuniversitäre Wissenskultur aufbauen, weshalb sie auch nach einigen Jahren wieder schließen musste.711 Auch die anderen Städte gehen in der Deutung Schröders nicht auf: Die Universität in Rom (die studium urbis genannt wurde) ist ebenfalls erst im 14. Jahrhundert, 1303, gegründet worden.712 Es könnten nur die theologische und die juristische Fakultät der studium curiae gemeint sein, die 1244 durch Dekret entstanden sind.713 Am erklärungsbedürftigsten ist die Nennung der Toskana (Tusc.n) – steht die Region, folgt man Schröder, für die Universitäten Arezzo oder Siena, die schon bestanden (jedoch mit Unterbrechungen)714, oder für die Universität Florenz, die erst Mitte des 14. Jahrhunderts gegründet wurde?715 Und warum fehlt in der Aufzählung der Wissenszentren Bologna, neben Paris der zweite große »Archetyp« der mittelalterlichen Universitäten716 und bereits damals ein Vorbild? Erhellend kann es sein, die genannten Orte als ein Nebeneinander von intellektuellem Können und Trinkfähigkeit aufzufassen. Die Toskana hatte im gesamten Mittelalter eine Rolle als bedeutende Weinregion inne.717 Auch Padua ist sowohl Universitätsstadt als auch italienische Weinregion. Treviso, heute önologisch bekannt als Ursprungsregion des Proseccos, gehört im späten Mittelalter zu den bedeutenden Drehkreuzen des Weinhandels. Hierher gelangte der Wein aus dem Mittelmeerraum, der zum allergrößten Teil nach Norden weiterbefördert wurde und damit engen Kontakt zu den deutschen Ländern hatte.718 Die erste Geschichte des zweiten Tages in Boccaccios Decamerone beispielsweise spielt in Treviso. Ein Deutscher wird in der Stadt als Heiliger verehrt und deutsche Soldaten bewachen seine Grabstätte.719 Die Beziehungen zum Reich waren wichtig für die Stadt und dem Weinhandel geschuldet. Die Wahl der im Weinschwelg aufgezählten Städte ist eine Mischung zwischen intellektuellen Zentren und Weinregionen. Wissenskontexte als sozialgeschichtlicher Hintergrund parodistischer Weingesänge prägen die mittellateinische Vagantenlyrik, die zweifelsohne als Sys710 Dunphy : The Medieval University (2015), S. 1714. 711 Verger : Grundlagen (1993), S. 65. 712 Dunphy : The Medieval University (2015), S. 1714; Grendler : The Universities of the Italian Renaissance (2002), S. 56–64. 713 Dunphy : The Medieval University (2015), S. 1714. 714 Verger : Grundlagen (1993), S. 70. 715 Dunphy : The Medieval University (2015), S. 1714. 716 Ebd., S. 1709. 717 Jones: Medieval Agrarian Society in its Prime. Italy (1966). 718 Varanini: Le strade del vino. Note sul commercio vinicolo nel tardo Medioevo (con particolare riferimento all’Italia settentrionale) (2003), S. 661. 719 Boccaccio: Das Decameron (Edition: Brockmeier), S. 84–89.
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temreferenzraum des Weinschwelg gedeutet werden kann. Die biographisch heute bekannten Dichter verfassten nie ausschließlich weltliche Texte über alltägliche Genüsse, sondern ganz überwiegend theologische Texte. Die säkulare, oft derb-humoristische lateinische Lyrik ist in der kulturellen Oberschicht zu verorten, nicht, wie lange angenommen, an ihren Rändern oder ihr lose angegliedert.720 Diese Vagantendichter (oder besser : jene, die auch Vagantendichtung verfassten) bewegen sich sowohl in der kirchlichen als auch der universitären Welt. Alexander Neckam beispielsweise wächst neben dem späteren englischen König Richard I. auf und studiert später in Paris. Dort lehrt er vor allem auch Grammatik. In der Mitte seines Lebens geht er wieder nach England, wird erst Mönch und dann Abt des Klosters Cirencester.721 In seiner commendatione vini preist er Bacchus, der gleichzeitig Adressat des Weinlobs ist: Rursus, Bache, tuas laudes describo libenter (2, 1).722 Hugo von Orl8ans erhielt von seinen Schülern zu Lebzeiten den Beinamen Primas als vorzüglicher Lehrer der Literatur. In einer Chronik wird er posthum charakterisiert: »von jugendlichem Alter an in den weltlichen Wissenschaften gebildet und von Witz und Literaturkenntnissen strahlend.«723 Er reist als Lehrer und Dichter zwischen französischen Metropolen und Bischofsstädten hin und her, auch nach England. Sein Wissen scheint sich jedoch langfristig nicht ausgezahlt zu haben, in späten Schriften klagt er über Altersarmut.724 Sein Denudata veritate ist ein Streitgedicht zwischen personifiziertem Wasser und Wein, ein beliebter Stoff der mittellateinischen Literatur.725 Die beiden Flüssigkeiten wechseln sich ab in Lob des eigenen und Schmähen des anderen. Verkürzt aufgenommen wurde das Gedicht in die Carmina Burana, die noch weitere Weinlobgesänge enthalten neben ihren didaktischen, Liebes-, Spott- und Spielerliedern. Wie bei Alexander Neckam und Hugo von Orl8ans sind alle voll des Lobs für den Wein, häufig als Bacchuslob verkleidet. Doch findet sich dort, und dies scheint für die gesamte 720 Gillingham: The social background to secular medieval Latin song (1998). 721 Eine ausführliche Biographie von Alexander Neckam bei Hunt und Gibson: The schools and the cloister. The life and writings of Alexander Nequam (1157–1217) (1984) und Manitius: Vom Ausbruch des Kirchenstreites bis zum Ende des 12. Jahrhunderts (1973 [1931]). 722 Wieder preise ich gerne deine Vorzüge, Bacchus. Nackam: Suppletio defectuum. Carmina minora (Edition: Hochgürtel), S. 201. 723 Zitiert nach Langosch: Mittellatein und Europa. Führung in die Hauptliteratur des Mittelalters (1997), S. 213. 724 Zu Hugo von Orl8ans s. die Einführung in der Edition und Übersetzung: Hugo Primas Aurelianensis: Dichtung (Edition Adcock):, xvii–xxii; Langosch: Mittellatein und Europa. Führung in die Hauptliteratur des Mittelalters (1997), S. 213–215, und Manitius: Vom Ausbruch des Kirchenstreites bis zum Ende des 12. Jahrhunderts (1973 [1931]), S. 973–978. 725 Manitius: Vom Ausbruch des Kirchenstreites bis zum Ende des 12. Jahrhunderts (1973 [1931]), S. 944.
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mittellateinische Literatur zu gelten, kein solch ausgefeiltes Selbstlob, wie es der Dichter im Weinschwelg ausgearbeitet hat. So endet beispielhaft das zweihundertste Lied der Carmina Burana mit dem Lob des Bacchus, aber ohne Selbstlob.726 Der Trinker im Weinschwelg dagegen bezeichnet sich selbst als meister (V. 297, 303) unter den Männern. Diese ebenfalls vertikale Einordnung stammt ursprünglich aus dem Lob des Weines, nicht des Trinkers: […] w%n, mir ist d%n tugent kunt. ich erkenne wol d%ne craft, d%n kunst und d%ne meisterschaft. du bist meister der sinne[.] (V. 116–119)
Die Dreierformel craft, kunst und meisterschaft erscheint später im Verlauf noch einmal als Doppel (ich h.n künste unde craft, V. 165), mit der sich der sich der Schwelg selbst behauptet. Die Meisterschaft ist nun mehrmals sein Attribut (V. 144, 297, 303) und das Diener-Meister-Verhältnis kennzeichnet gegen Ende nicht mehr das zwischen Wein und Weintrinker (V. 82f., 130f.), sondern zwischen Trinker/Meister und Welt/Diener.727 Das Verknüpfen von Wissen, Können (hier : virtuosem Trinken) und Meisterschaft weist auf die verwandte lyrische Gattung des Sangspruchs. Die »Inszenierung einer Position der Überlegenheit«728 reklamiert ein selbstbewusstes Könner-Ich in der Gattung. Die Kombination von Können und Wissen gehört 726 12. Bache, deus inclite, omnes hic astantes leti sumus munera tua prelibantes. Refrain: Istud uinum, bonum uinum, uinum generosum. reddit uirum, curialem, probum, animosum. 13. Omnes tibi canimus maxima preconia te laudantes merito tempora per omina. Refrain: … 12. Bacchus, erhabener Gott, alle, die wir hier stehen, bringen dir hocherfreut deine Gaben als Opfer dar. Refrain: So ein Wein, ein guter Wein, ein edler Wein macht einen Menschen höfisch, tüchtig, mutig. 13. Alle singen wir die herrlichsten Lobgesänge und preisen dich, wie du es verdienst, in Ewigkeit. Übersetzung: Carmina Burana, S. 640f. 727 die liute solten alle sich zu m%nem gebote neigen. diu werlde ist gar m%n eigen. ich h.n gewaltes si vil, daz ich tuon, swaz ich wil. swaz ich wil, daz ist get.n. (V. 382–387) 728 Seitz: Autorrollen in der Sangspruchdichtung des 13. Jahrhunderts (2003), S. 514.
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zum typischen Repertoire des Sangspruchs,729 mit der die Figur des Trinkers erst den Wein in den Himmel lobt, um sich dann selbst als meister zu stilisieren.730 Das literarische Können der Sangspruchdichter wird mit dem trinkfesten Können des Schwelgs parodiert. Der Trinker, dessen Monologe stets durch die Worte des Erzählers er sprach eingeleitet werden, gefällt sich in der Rolle des unikalen Weinwerbers. Die sangspruchtypische Gelehrsamkeit ist im Weinschwelg das Wissen um die wahre Kraft der Minne, die als Geheimwissen inszeniert wird. Elitär geheim ist, die wohltuenden Effekte des Weins zu kennen. Der Trinker prophezeit ein verligen der Bauern herbei, die – wie im Fall der Vernachlässigung der Herrschaft im Erec731 – ihren Aufgaben nicht mehr nachkommen würden, würden sie um die Kraft des Weins wissen.732 Zu seinem Vorteil (daz h.n ich ze einem heile, V. 195) ist dieses erkennen jedoch den Bauern vorenthalten. Das Zurückgreifen auf breite Wissenskontexte, das literarisch weit verbreitete Figuren wie Erec, Paris und Dido ebenso umfasst wie entlegene Namen (Nordian, Curaz, Graland), beweist die Meisterschaft des Trinkers in Wissensbeständen. Das Trinkvermögen zeigt sich an den immer größer werdenden Schlucken im Verlauf der Rahmenerzählung: Schafft er zu Beginn [e]inen trunc von zweinzec slünden (V. 19), sind es später hundert (V. 199). Natur- und Sturmwellenvergleiche werden herangezogen, um das Schütten veranschaulichen zu können (V. 133–143, 229–231), gegen Ende läuft die Sitzbank Gefahr, unter ihm zu bersten und er droht zu platzen. Die Meisterschaft des Schwelgs bezieht sich daneben auch auf das Beherrschen des eigenen Körpers, denn er kann sich aus dieser Gefahr befreien, indem er auf eine Rüstung zurückgreift, die geradezu magisch-metallisch seine menschliche Haut vor dem Zerplatzen schützt.733 729 Vgl. Kellner und Strohschneider : Poetik des Krieges. Eine Skizze zum Wartburgkrieg-Komplex (2007), bes. S. 338, Wenzel: Meisterschaft und Transgression. Studie zur Spruchdichtung am Beispiel des Langen Tons der Frauenlob-Überlieferungebd., Tervooren: Sangspruchdichtung (2001), S. 37f. 730 Klaus Grubmüller erinnert daran, dass in der frühen Sangspruchdichtung meisterschaft als Selbstzuschreibung noch kein hervorgehobener Begriff ist. Im Laufe des 13. Jahrhunderts tritt sie ins Blickfeld der Spruchdichter, jedoch als artikulierte Meisterschaft der anderen mit dem Versuch, sich von den bekannten Dichtern abzuheben. Die Selbstermächtigung des Dichters aus seiner eigenen meisterschaft ist erst im 14. Jahrhundert erreicht. Dieser Versuch der Antizipation gestaltet sich im Weinschwelg anders, denn nicht dem Dichter, sondern seinem Protagonisten wird meisterschaft zugesprochen. Grubmu¨ ller : Autorität und meisterschaft. Zur Fundierung geistlicher Rede in der deutschen Spruchdichtung des 13. Jahrhunderts (2009). 731 Hartmann von Aue: Erec (Edition: Scholz), V. 2971. 732 diu houwe und der pfluoc / diu müesen immer ledic s%n; Weinschwelg, V. 186f. 733 Diese Potenz zur Zerstörung des eigenen Leibs findet sich auch im Wartburgkrieg, s. Kellner und Strohschneider: Poetik des Krieges. Eine Skizze zum WartburgkriegKomplex (2007), S. 347.
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Die Auseinandersetzung des Sprechers mit den Minnesklaven ist ebenfalls eine Reminiszenz an den Sangspruch. Der Katalog der Opfer, die der Minne unterliegen, wird in der Gattung verwendet, um sich selbst im besten Licht darzustellen. Die Strategie der Sänger ist es dabei, sich selbst mit den Minnesklaven zu vergleichen und ihr Leid zu klagen. Allen Vergleichen gemein ist das Betonen der Gefahr durch die falsche Minne.734 Das Einreihen in die prominente Kette bringt eine Adelung des Sprecher-Ichs mit sich.735 Um dem Unglück der falschen Liebe zu entgehen, muss sich der Dichter dieser entledigen oder sie bewusst überwinden.736 Der Sangspruchdichter Boppe beispielsweise setzt auf die Spitze der Reihe seine Geliebte, deren Zuneigung er über alles andere bevorzugt. Das Beispiel des Boppe eignet sich sehr gut zum Vergleich mit dem Weinschwelg, weil er zum einen seine Liebe als das einzig Wahre markiert wie der Schwelg im Märe nur die Liebe zum Wein gelten lässt. Zum anderen ist er einer der ganz wenigen, die wie der Autor des Weinschwelg die Figur des Cur.z (hier : G0r.z) kennt und in die Reihe der Männer aufnimmt.737 734 Maurer : Der Topos von den »Minnesklaven« (1953). Maurer weist überzeugend darauf hin, dass die Gefahr der Minne durch jeweils kontextspezifische Lösungen verdrängt wird: In den Bildern des klösterlichen Maltererteppichs wird die menschliche Liebe durch die Gottesliebe ersetzt, bei den frühen Minnesängern (Veldeke, Walther) wird die minne von der unminne, die hohe von der nideren Minne unterschieden usw. 735 Viel später wird Oswald von Wolkenstein den Vergleich bis zum Ende führen: Er inszeniert sich in seiner unerfüllten Liebe zu Sabine Jäger als Minnesklaven: auch wart betaubet, / gevangen durch ains weibes list / der Wolkenstain, des hank er manchen trit. Statt den bösen Frauen solle man sich den reinen Frauen zuwenden, resümiert er am Ende. Lied 88, V. 46–48 (nach ebd., S. 202). 736 Prominentes Beispiel ist dabei die Strophe des Pseudo-Frauenlobs, der am Ende eines Minnekatalog mit einer selbstbewussten Nonchalance den Gefahren der Minne trotzt: Achilli, dem geschach alsam; der wilde Ismahel wart zam. Arthuses scham von wibe kam, Parcifal groze sorge nam. sit daz fugte der minnen stam, waz schat denn, ab ein reinez wib mich brennet oder fröret? Pseudo-Frauenlob: Adam, den ersten menschen, den betrog ein wib. Aus: Frauenlob: Sangsprüche in Tönen Frauenlobs (Edition: Haustein und Stackmann), S. 38. 737 Haet ich des küniges Salomines w%sheit ganz und Absolines schoene d. b% sunder schranz und gewalt des r%chen küniges D.v%des; waere ich d. b% noch sterker, danne sich was Samsin, künde verbringen alse Hirant süezen din und waere gewaltic alles goltgesm%des; waere ich als Aristitiles und künde kunst als Virgil%us zouber%e (vil wol möcht ich mich troesten des); waere ich der beste in Art0s massen%e;
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In seinem Katalog vereinigt Boppe einen umfangreichen Reigen an wertvollen Eigenschaften und Vorzügen seines Ichs: Weisheit, Schönheit, Stärke, Gesangskunst, Reichtum, Zauberkunst, Ritterlichkeit usw., die jeweils von literarischen Figuren repräsentiert wird, z. B. die Gesangskunst im Weinschwelg durch Horant. Durch die Vergleiche mit den Vorbildern inszeniert sich der Redner als außergewöhnlicher Mann, sogar als übermenschliches Sänger-Ich.738 Am Ende bricht der Sänger aber mit dieser ›Gigantomie‹ und entsagt allen Privilegien, um seine Liebe zu verdeutlichen. »Alles […] ist für ihn wertlos gegenüber der Gunst und der Hingabe der Geliebten. […] Der Abschlussvers […] enthüllt die exorbitante Liebesstärke des Sängers«739. Der Trinker im Weinschwelg hat diese Strategie als Vorbild. Doch er stellt sich von Anfang an über die berühmten Vorbilder und kanzelt ihr Schicksal als dumme Verblendung ab. Die Sklaven der Minne sind die, die sich dem Wein hätten zuwenden sollen: wie starp der künic Par%s, der durch Helenam wart erslagen! des tumpheit sol man immer clagen. er solde den w%n geminnet h.n, si het im niemen niht get.n. (Weinschwelg, V. 328–332)
Dem Verzicht, wie ihn beispielsweise Boppe in seinem Schlussvers vollzieht, folgt der Schwelg nicht. Er positioniert seine Liebe als superior über alle anderen und breitet seine eigene Exorbitanz in voller Gänze aus. Im Sangspruch ist es üblich, durch Erniedrigung Erhöhung zu finden. Im Weinschwelg ist die Demutsgeste aufgelöst zugunsten eines sich über seine Gegnerschaft stellenden Trinker-Ichs: m%n minne ist bezzers lines wert, / denne ir aller minne wære (V. 340f.). Wettkampftheoretisch lässt sich der Umgang mit dem Minnesklaventopos als Entlarven geheuchelter Demut lesen. Die konditionale Verbindung mit den berühmten Figuren wird zugunsten einer Position der Exorbitanz verworfen. Die Strategie des Sangspruchdichters, der den Umweg über die Demut hin zur selbstbewussten Positionierung geht, wird gekürzt auf ihr Ende hin, um sich von waere ich als Ad.m edel gar und G0r.z was, tr0t den vrouwen allen, vroioh grime vn zivhte bar vn Gawin (wem möchte daz missevallen?); haet ich tugent als SÞneca (daz waere ze der werlte ein wunne) und daz ich waere ze’n vüezen snel als AzahÞl – hie vür naeme ich, daz sich m%n liep gegen mir liepl%ch versunne. Spruch I, 18, Boppe: Der Spruchdichter Boppe (Edition: Alex), S. 64. 738 Lauer : Der »starke« Boppe. Meisterschaft des Armes und des Wortes (2007), S. 121. 739 Ebd.
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Beginn an als ›Gigantom‹ zu inszenieren. Der Weinschwelg bedient Systemreferenzen von Minnesang und Sangspruch.740 Aus der Liebesdichtung entlehnt ist die vertikal verhandelte Hierarchie zwischen dem Trinker und dem Wein, den er gegenüber allen Freuden des Hofes bevorzugt und dessen Minne ihm gleichzeitig Pflicht und Freude ist. Semantiken der Dienerschaft, des Verneigens und des Emporhebens verdeutlichen die Hierarchie. Mit dem Verhöhnen der literarischen Figuren der Minnesklaven reiht sich der Trinker in die Minnetradition ein. Sich selbst als meister darzustellen gegenüber den tump[en], die Demonstration von geheimen und spezialisierten Wissenskontexten und das Darstellen trinkfesten Könnens verweisen auf den Sangspruch. Im Verlauf des Textes gehen Genießer und Genussmittel ineinander über und der Trinker partizipiert an den Attributen und dem Wert des Weines, die er zuvor besungen hat. Die meisterschaft des Weines wird zur meisterschaft des Schwelgs. Die Systemreferenzen dienen der Kontextanreicherung, aus der sich der Dichter des Weinschwelg bediente, um seinen Protagonisten aus dem Wettkampf als Sieger hervorgehen zu lassen. Seine meisterschaft erstreckt sich nicht nur in seiner Trinkfähigkeit, sondern auch in seiner Stellung zur Welt, in der er um die einzig wahre Minne allein Bescheid weiß. Dabei werden das Referenzmaterial nicht einfach kopiert, stattdessen wird es kunstvoll dem neuen Kontext angepasst und an ihr gedankliches Ende gebracht: Die Demutsgeste gilt nicht mehr der Angebeteten, sondern der Wein wird das Zentrum des Begehrens. Die sinnliche Vereinigung, die im Minnesang nur imaginiert wird, wird in der Handlung des Weinschwelg durch das stete Einschütten des Liebesobjekts real vollzogen. Die Kräfte des Weins lassen den Trinker dabei erstarken. Das selbstbewusste ›Könner-Ich‹ des Sangspruchdichters ist am Ende allem überlegen. Das Heranziehen fremder Kontexte ermöglicht es ihm, Siegerstrategien zu übernehmen und damit den Wettkampf schlussendlich zu beenden, indem der Trinker als ›Gigantom‹ und Herrscher über die Welt auftritt.
740 Die jüngere Forschung konnte aufweisen, wie in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts die Grenzen zwischen Minnesang und Sangspruch sowohl von den Dichterbiographie als auch den typischen Inhalten immer weiter aufweicht. Vgl. Brem: Gattungsinterferenzen im Bereich von Minnesang und Sangspruchdichtung des 12. und beginnenden 13. Jahrhunderts (2003), Rettelbach: Minnelied und Sangspruch. Formale Differenzen und Interferenzen bei der Tonkonstitution im 13. Jahrhundert (2007) und zuletzt Schnell: Minnesang und Sangspruch im 13. Jahrhundert. Gattungsdifferenzen und Gattungsinterferenzen (2013).
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3.7.3. Narrative Elemente Auf der formalen Ebene ist der Weinschwelg aber keine Lyrik, sondern ein episches Reimpaargedicht mit einer Erzählerinstanz und einem handelnden Protagonisten: Der Trinker hebt den Krug, sein Gewicht lässt die Bank unter sich zerspringen, er kleidet sich in Rüstung etc. Das Märe operiert sehr wohl mit typischen Erzählinstrumenten, vor allem mit einer ständespezifischen Lobrede auf die Hauptfigur (ich h.n einen swelch gesehen, / dem wil ich meisterschefte jehen, V. 3f.), worauf weiter eingegangen werden soll. Der selten mehr als wenige Verse lang kommentierende Erzähler741 beginnt das Gedicht mit einem Lob auf den Schwelg. Die rühmende Einführung der Hauptpersonen ist ein narrativer Baustein, der in vielen Schwänken und galanthöfischen Mären den Textbeginn generiert.742 Ein Beispiel für eine Lobrede auf den Protagonisten liefert der Mauricius von Crâun aus dem zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts. Darin werden der Name und die Herkunft des Protagonisten geschildert, außerdem enthält die Lobrede eine Beschreibung guter Erziehung und den Hinweis auf die gesellschaftliche Anerkennung: Mauritius ist ein ehrbarer Streiter im Turnier usw. Gemessen werden die Protagonisten stets an den anderen Repräsentanten des Geschlechts, unter ihnen sticht er durch eine hohe Kunstfertigkeit oder Meisterschaft im Kampf hervor. Der Held der höfischen Romane ist jeweils der tiurste, der höfschste, der küenste, der schoenste, der tugende r%cheste, der werdeste man, der ritters namen ie gewan.743 So ist auch der Schwelg der Erste unter den Trinkern. Seine Meisterschaft ergibt sich aus der Wahl seiner Trinkgefäße, mit Bechern gibt er sich nicht ab, sondern er präferiert es, direkt aus der Kanne zu trinken. Damit schlägt er nicht nur seine menschlichen Konkurrenten, sondern auch die 0ren und die elhe (V. 10), womit der Überbietungstopos ins Animalische verlängert wird. Gleichermaßen wird der Schwelg vom Erzähler fortwährend in die Nähe von Tier und Natur gesetzt (zum Beispiel V. 133–141) und damit als Anti-Höfling stilisiert. Seine Schlucke zum Beispiel gleichen dem Rauschen der Fluten auf den Schaufeln einer Mühle. Der Trinker übernimmt diese semantische Isotopie über die Erzählebenen hinweg: daz ist ein süeziu fluot (V. 232). Dadurch scheint die 741 Mehr als fünf Verse im Weinschwelg: V. 1–13, 132–143, 258–266, 362–367. 742 Schirmer : Stil- und Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle (1969), S. 4–14. 743 Grunewald: Die Zecher- und Schlemmerliteratur des deutschen Spätmittelalters (1976), S. 41, zum Weinschwelg, unter Verwendung eines Zitats von Joachim Bumke: Studien zum Ritterbegriff im 12. und 13. Jahrhundert, Heidelberg 1964 (Beihefte zum Euphorion 1), S. 131. Dass sich in den Großformen aus dieser Perfektion stets auch Schwierigkeiten ergeben, hat Armin Schulz hervorgehoben. Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive (2015), S. 85–88.
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Grenze zwischen Monolog und Kommentar, zwischen Erzähler und Protagonist unscharf. Den gleichen Effekt hat der Reim mit dem Refrainvers: Der Vers di huob er 0f unde tranc des Erzählers ist stets gepaart ist mit dem vorangehenden, letzten Monologvers des Trinkers. Elemente der Narration wie die Erzählerstimme, Protagonistenhandeln oder auftretende Objekte in Binnen- und Rahmenhandlung werden im Laufe des Weinschwelg immer weiter reduziert. Dies scheint der Grund zu sein, warum der Weinschwelg literaturhistorisch weniger Einfluss auf die Märendichtung, als vor allem auf die Gattung der Reden und der Lieder hat.
3.7.4. Die Tradition des Weinlobs nach dem WEINSCHWELG Im dritten Viertel des 13. Jahrhunderts komponiert, begründet das Märe gemeinsam mit dem früher oder gleichzeitig entstandenen Unbelehrbaren Zecher des Strickers die Idee des genießenden Trinkens in der deutschen Literatur. Im Vergleich zum Strickermäre setzt der Weinschwelg den Alkohol absolut, denn der Zecher beim Stricker muss den Wein noch gegenüber seinem Widersprecher verteidigen, und das Streitgespräch endet nicht argumentativ, sondern durch Rückgriff auf eine dem Text vorgelagerte Moral.744 Der Weinschwelg dagegen verteidigt seinen Trinkkonsum nicht, er setzt seine Fähigkeit sogar noch über die Liebesfähigkeit literarischer Figuren. Erstmalig ist im Weinschwelg das Selbsterhöhen des lyrischen Ichs durch die Hymne auf den Alkohol dargestellt. Der Autor kann dabei nicht auf das mittellateinische Weinlob zurückgreifen, denn ihm ist diese Dichterstrategie nicht bekannt, zum Beispiel bei Neckam oder in den Carmina Burana. Der Überbietungstopos des lyrischen Ichs entstammt nicht dem lateinischen Weinlob, sondern der Tradition des Sangspruchs und des Minnesangs, in der das Preisen der Minnedame die Dichtkunst des Sängers veredelt. Von diesen beiden Gattungen ausgehend hat der Überbietungstopos auch auf andere Textgattungen im Spätmittelalter eingewirkt. Überraschend ist dabei, dass das Selbsterhöhen im Weingenuss nur sehr partiell übernommen wurde, obwohl sich das Weinlob seit der Zeit des Strickers und des Weinschwelg weit verbreitet hat. In den Mären ist sie in ihrer Radikalität einmalig geblieben.745 Die anonyme Zechrede 744 Nachdem der Trinker den Wein gepriesen hat, antwortet sein Widersprecher : d%n r.t und d%n lÞre / sint von mir unversuochet. / dine ere sint vervluochet. Der Stricker : Der unbelehrbare Zecher (Edition: Fischer), V. 126–128. 745 In dem ebenfalls noch im 13. Jahrhundert entstandenen Märe von der Wiener Meerfahrt finden sich eine Parodie auf die Wiener Gesellschaft reicher Bürger und eine Satire auf das Pilgerlied, eine æmulatio des Dichters liegt nicht vor. Vgl. Knapp: Diesen Trinkern gnade Gott! Säuferpoesie im deutschen Mittelalter (1999), bes. S. 265f.
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von den Zwölf Trünken aus dem 15. Jahrhundert zitiert Passagen aus dem Weinschwelg,746 nimmt das Selbsterhöhen im weiteren Verlauf der Rede – und im weiteren Verlauf der Trunkenheit – aber wieder zurück: die spähen sprüng, die ee trat / die sach man mich do meiden. (V. 118f.)747 Die Weingrüße und -segen – vermutlich Nürnberger Provenienz – aus dem 15. Jahrhundert aber sind ohne die Strategien des Weinschwelg nicht zu denken, auch hier wird der Wein absolut gesetzt: Der keyser von Constantinopel Vnd der groß kaen von Kathey Vnd briester Johann, die reichen drey, Die mochten dein edel nicht vergelten […] Vnd were der pabst zu tisch geseßen, Vnd solt der keyser mit im eßen, […] Noch were es alles zu mal vernicht Wenn du nicht gegenwerttig werst. (6. Weinsegen, V. 3–6, 17f., 20f.)748
Die Segen und Grüße reißen alle Motive an, die ebenso im Weinschwelg zur Verwendung kommen. Auch das Selbsterhöhen des lyrischen Ichs findet sich: Darumb gebeut ich alt und jungen Daß sy halten den weyn in eeren (14. Weinsegen, V. 12f.) Nu mußen alle die selig sein Die do gern trincken wein; Den muß got alltzeit wein bescheren Vnd speise damit sie den leib erneren; So will ich der erst sein der anfecht (1. Weingruß, V. 21–25)
In das 16. Jahrhundert zurück reichen die sogenannten Muskatellerlieder über ebendiese Weinsorte, von denen verschiedene Fassungen erhalten sind. In den Liedern ist der gelobte und besungene Wein der Liebhaber. Ein stolzes Sänger-Ich ist in solchen Konstellationen nur noch indirekt, im Preis auf den Liebhaber, vorhanden. Ein ähnlicher Fall liegt auch in einer Liebeserklärung an den Wein vor, die 1581 in eine frühneuhochdeutsche Liedersammlung aufgenommen wurde: 746 Vgl. Grunewald: Die Zecher- und Schlemmerliteratur des deutschen Spätmittelalters (1976), S. 49–53, der jedoch in der Rede keinen direkten Nachfolger des Weinschwelg sieht. 747 Zitiert nach ebd., S. 51. 748 Zitiert nach Weingrüße und Weinsegen (Edition: Haupt).
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Den liebsten Bulen den ich hab der leit beim Wird im keller er hat ein höltzens röcklein an er heist der Muscateller (Muskatellerlied V. 1–5) Hertz liebster wein von mir nit weich ich lieb dich gantz on argen list: Du bist allein in allem reich für dich kein freund zu gleichen ist […] (Reiner Lied XVI)749
In späterer Zeit geht das Motiv der Weinliebe in dem der Flaschenliebe auf, das in die Antike zurückweist.750
3.7.5. Fazit: Inklusion intertextueller Referenzen Die Selbsterhöhung des lyrischen Ichs durch die Hymne auf den Alkohol ist lange Zeit in der Literatur und im Gesang produktiv, aber nur vereinzelt auffindbar. Sie scheint besonders dann wirksam gewesen zu sein, wenn die literarischen intertextuellen Bezüge zur Minnepoetik oder – im Falle der Weinsegen – zu geistlichen Hymnen noch erkennbar waren. Die spätere Fassung c des Weinschwelg glättet diese Selbsterhöhung; ein Umstand, der sich aus der Intention des Handschriftensammlers erklären lässt. Die Sammlung stellt die Unterhaltung vor die Minnekasuistik und zieht schwankhafte und erotische Mären den höfischen vor.751 Die älteste Fassung hingegen ist in besonderem Maße geprägt von ihren Systemreferenzen auf die epische und lyrische Dichtung; das literarische Umfeld stand in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts noch stärker unter höfischen Vorzeichen. Die Selbstermächtigung des lyrischen Ichs ist ohne sie nicht denkbar und wurde in der Gattung der Trinkliteratur in ihrer Radikalität und im Verschmelzen unterschiedlicher Gattungsreferenzen vorher und später nicht mehr erreicht. Die Überbietungsstrategien im Weinschwelg lassen sich weiter unterteilen: Mit den Referenzen auf Minnesang und Sangspruch inkludiert der Dichter den Überbietungstopos in das Märe hinein. Im Umgang mit dem Minnesklaventopos 749 Muskatellerlied, ediert in: Max Steidel: Die Zecher- und Schlemmerlieder im deutschen Volksliede bis zum dreißigjährigen Kriege, Karlsruhe 1914. Lied aus der Reiner-Sammlung: Jacob Reiner: Schöne newe Teutsche Lieder. München 1581. Zitiert aus Ritte: Das Trinklied in Deutschland und Schweden. Vergleichende Typologie der Motive bis 1800 (1973), S. 184. 750 S. Ebd., S. 183–186, der die beiden Motive nicht trennt. 751 S. Mihm: Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung im Spätmittelalter (1967), S. 74f.
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aus dem Sangspruch entblößt der Autor die Demutsformel als leere Geste, deren Erniedrigung in Wahrheit ein Erhöhen des Sänger-Ichs darstellt. Die Weisheit wird zum alles entscheidenden Moment. Das Wissen des Schwelgs unterscheidet ihn von anderen Trinkern und lässt ihn am Ende als omnipotenten meister aus dem Wettstreit mit den Zechern und den anzitierten literarischen Figuren hervortreten. Die Kontextanreicherung gegenüber dem lateinischen Weinlob oder Strickers Der unbelehrbare Zecher verdeutlicht diese Gigantomie des Redners, die sich aus den intertextuellen Referenzen ergibt.
4.
Resümee
Die vorliegende Arbeit zielt darauf, mit einer sehr breit gefassten Definition von Wettkampf Konflikte in der Märendichtung aufzuspüren und die Pluralisierung kultureller Kontexte aufzuzeigen, die sich aus den agonalen Strukturen ergeben. Natürlich müssen dabei im Zentrum stets die einzelnen Texte stehen, denn ohne den konkreten Kontext lässt sich keine validierte Aussage über das Innovationspotential treffen, das sich in den Mären verbalisiert. Im Resümee soll nun zu einer textübergreifenden Linie zurückgekehrt werden. Ein solcher Schritt ergibt sich allein schon aus dem Analyseobjekt selbst, weil Agonalität phänomen- und ebenenübergreifend wirkt. Es werden also nicht nur Ergebnisse wiederholt, sondern auf einer höheren Abstraktionsebene gemeinsame Effekte herausgearbeitet. Kapitel 4.1. geht auf die Strategien ein, mit denen die Mären auf das Risiko reagieren, dass Wettkämpfe in sinnlose Gewalt ausarten können. Kapitel 4.2. arbeitet die verschiedenen Narrations-, Figur-, Diskurs- und intertextuellen Ebenen heraus, in denen sich ein Wettkampf entspinnt. Kapitel 4.3. kategorisiert die Formen dieser Wettkämpfe. Die Pluralisierungen von Ordnungen kommen in Kapitel 4.4 in den Blick, deren Verhältnisse zum Kontext als entweder Inklusions- oder Exklusionsbewegung bestimmt werden können. Ein Einordnen der Ergebnisse in die Forschung unter dem Begriff der ›differenzorientierten Mediävistik‹ versucht Kapitel 4.5. Das letzte Kapitel. zielt auf eine gattungsgeschichtliche Einschätzung der gewonnenen Erkenntnisse, indem die Entwicklung von der frühen zur späteren Märendichtung beschrieben wird: ›Von der reflexiven zur selbstreflexiven Gattung‹.
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4.1. Gefahren von Wettkämpfen Wenn von der Destruktivität durch Wettkampf gesprochen wird, meint man dabei in den allermeisten Fällen Formen von Gewalt.752 Das Einlassen auf agonale Praktiken geht mit einem enormen Risiko einher. Denn während der Wettkampf auf der einen Seite mit dem Hoffen auf den Sieg lockt, birgt er auf der anderen Seite auch die Gefahr zu verlieren. Diese Limitation schafft es, dass sich Konflikte häufig zu einem Spiel um Alles oder Nichts entwickeln – kurz: in Wettkämpfen wird heiß gefochten. Um die Auswirkungen kompetitiver Praktiken abzumindern, kommen oftmals Regeln zum Einsatz, die einvernehmlich gelten müssen. Da die spätmittelalterlichen Reimpaarerzählungen häufig quer zu tradierten Erzählkonventionen stehen, entwickeln sie eigene Regeln, um die chaotischen Effekte von Konflikten entweder zu reduzieren oder Gewalt zu legitimieren. Zwei Beispiele, der Weinschwelg und die Gruppe der Priapeiamären zeigen beispielhaft, wie zerstörerische Gewalt eingefangen, sozusagen geregelt wird.
4.1.1. Beispiel Weinschwelg Eine starke Körperlichkeit transportiert der Trinker im Märe. Höfische Umgangsformen verwirft der Schwelg zugunsten des exorbitanten Trinkgenusses. Sein Können erweist er durch das immer stärkere Einschütten des Weins, was gegen Ende beinah zum Zerplatzen des Trinkers führt. Um seine Trinkfähigkeit zu demonstrieren, bemühen der Erzähler und der Ich-Redner semantische Isotopien von Naturgewalt. Eindrücklich ist etwa der Vergleich eines Sturms auf hoher See, dessen wallende Wassermassen die gewaltigen Schlucke des Trinkers versinnbildlichen. Immer wieder werden Bilder von Sturm und Meer, von brechenden Wellen, von Wasseruntiefen und von Wasser auf Mühlrädern aktiviert. Sie stellen einprägsam das sich ausweitende Besäufnis des Trinkers dar – die Trinkfestigkeit des Mannes scheint unendlich. Die Exorbitanz des Schwelgs beweist sich im Beherrschen des eigenen Körpers. Das unendliche Trinken kann ihm nämlich doch gefährlich werden: Weil er immer mehr Wein in sich hineinschüttet, droht gegen Ende sein Körper zu platzen. Das unablässige Trinken wird dem Trinker zum tödlichen Risiko und der Widerstand, den die Haut dem Wein noch bietet, steht vor der Auflösung. Doch hat der Mann in seinem un752 Dieses Kapitel zu den Gefahren der Wettkämpfe erschien in gekürzter Form als Aufsatz im Tagungssammelband Kreativität und Zerstörung. Zur riskanten Produktivität von Wettkämpfen in mittelalterlicher Literatur und Kultur, herausgegeben von Bent Gebert, in Vorbereitung.
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endlichen Wissen auch hier Rat, er weiß sich wohl zu wehren. Er lässt sich eine Rüstung bringen, die geradezu magisch-metallisch seine menschliche Haut vor dem Zerplatzen schützt. Und an seinen Hals bewahrt ein Kragen aus Leder seinen Rachen vor dem Bersten. Die Kombination von Bauch- und Halsschutz soll ihn nun vor den Gefahren des Weins schützen. Während vorher der betrunkene Schwelg seine Kontrahenten in den literarischen Figuren gesucht hat, wird ihm nun der Wein selbst zur Bedrohung. Doch auch hier zeigt sich die meisterschaft des Trinkers: Denn weder Mann noch Frau habe je so sehr den eigenen Körper kontrolliert. Freudig nimmt er sich eine neue Kanne vor und kann sein Trinken bis ins scheinbar Unendliche fortsetzen. Die Selbstbehauptung des lyrischen Ichs ist grenzenlos, er ist der Beherrscher der Erde. Gegen Ende besteht das Diener-Meister-Verhältnis nicht mehr zwischen Wein und Weintrinker, sondern zwischen Trinker und Welt. Liest man die Systemreferenzen des Weinschwelg aus dem Sangspruch richtig, erklärt sich die bedeutsame Rolle des Ichs im Märe. Literaturgeschichtlich erstmalig ist im Weinschwelg das Selbsterhöhen des lyrischen Ichs durch die Hymne auf den Alkohol erhalten. Die immer stärkere Ermächtigung des Protagonisten ist mit dem exzessiven Hineinschütten des Weins verbunden, das am Ende zu kippen droht. Der Autor des Weinschwelg nutzt das ausgebreitete Wissen und Können des Trinkers, um seinen Protagonisten vor dem Tod zu bewahren. Eben weil er sich durch die maßlose Aufnahme des Weins dessen überbietende Macht einverleibt hat, kann der Trinker nun die tödliche Gefahr des Weins abwehren. Aus dem Würdigen des Alkohols ist die Dominanz über den Wein geworden. Das Risiko, dass der Schwelg am Ende stirbt, wird abgewendet durch das überlegene Ich in der Trinkerrede. Der Wein wird zum Gegner, den es zu überwinden gilt. Die gefahrvollen Auswirkungen dieses Antagonismus werden mit dem Einverleiben des Weins aufgelöst. Aus der Wettkampftheorie, schon bei Simmel, ist bekannt, dass kompetitive Praktiken mehr sind als nur das Markieren von Differenzen. Konfliktformen grenzen Wettbewerber nicht zwangsweise aus, durch das Mittel der Alternanz werden die an Wettkämpfen Beteiligten einander angenähert, in Vergleich gebracht und genseitig angepasst. Im Weinschwelg geht der Trinker das Risiko ein, den Tod zu erleiden. Er entgeht diesem Risiko, indem er die Macht des Weins in sich aufnimmt. Der Text reagiert somit auf die Gefahr des Wettkampfs mit einem Überwinden der Differenz und einem Vereinigen der Kontrahenten. Somit läuft der Wettkampf nicht auf ein Finale von Sieger und Verlierer aus und entgeht einem gewaltvollen Ende. Auch in einer Textreihe lässt sich eine ähnliche Vereinigung der Kontrahenten als intertextuelle Strategie ausmachen, den chaotischen Effekten des Konkurrenzverhaltens entgegenzuarbeiten.
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4.1.2. Beispiel Priapeia Die Gruppe der Priapeiamären eint die zentrale, sogar personale Rolle des Genitals. Die »unabhängig gewordenen isolierten und fragmentierten Körperteile«753 machen sich vom Körper der Eigentümer selbstständig und entwickeln ein Eigenleben, gewinnen die Fähigkeit sich fortzubewegen und zu sprechen. Im Rosendorn ist die Trägerin über das Selbstbewusstsein ihrer Vulva erzürnt, weil diese sich nicht genug gewürdigt sieht. Das Mädchen ist demgegenüber der Auffassung, dass die schmutzige Vagina ihren Erfolg bei Männern schmälere. Um den Wettstreit durch eine Probe aufs Exempel zu lösen, entscheiden sie sich zur Trennung. Die Jungfrau nähert sich einem jungen Mann, der ihr zuvor Avancen gemacht hatte. Ohne die Fakten gänzlich zu durchschauen, erkennt der Ritter ihre Geschlechtslosigkeit bereits von weitem und verstößt das Mädchen. Aufgrund ihres Defizits wird sie von allen nur noch die fudlose, die Geschlechtslose, genannt. Der Vulva ergeht es kaum besser. Auf einen Mann treffend erwartet sie von ihm einen amourösen Gruß. Doch er erkennt in ihr nur eine Kröte und verjagt sie mit Tritten. Beide, Vagina und Mädchen, erkennen mithilfe ihrer Erfahrungen, dass sie nicht ohne einander leben können. Deshalb rufen sie den Erzähler herbei, der nun in die Diegese eintritt und mit einem Nagel die Vagina wieder an den Körper des Mädchens hämmert. Mit dieser Metapher für brachialen Geschlechtsverkehr und einer Proklamation an alle Männer, es ihm gleichzutun, endet die Erzählung. Der Streit ist damit in seinem Verlauf und seinem Ende von körperlicher Härte geprägt. Während die Trägerin soziale Sanktionen des Verstoßens und des Bloßstellens erlebt, herrschen in der Lebenswelt des Genitals physische Gewalt und brachiale Verrohung. Ähnlich auch das Nonnenturnier. Hier sind es Ritter und zers, die miteinander um ihren Wert streiten. Nachdem der Mann sich seines Penis entledigt hat, wird er von seiner früheren Geliebten aus der Stadt gejagt. Er zieht sich als Eremit in die Berge zurück, wo er einsam stirbt. Das Genital begibt sich in die Hände der Nonnen, unter denen sich nun ein Streit um den Besitz entspannt, in dem sich sadistische Gewaltfantasien häufen. Die Äbtissin will zur Schlichtung ein Turnier veranstalten, mit dem der Besitzanspruch an der extrahierten Männlichkeit geklärt werden soll. Damit bringt der Streit zwischen Ritter und Genital einen zweiten Wettkampf hervor, dessen Regellosigkeit einen Gewaltexzess auslöst. Der Text lässt nichts aus, um sich an der Härte der Ordensschwestern zu ergötzen. Das Turnier folgt keinen Regeln und Hierarchiegrenzen werden gewaltvoll übergangen. Durch das Auftreten des zers verlieren sie jeg753 Eming: Der Kampf um den Phallus. Körperfragmentierung, Textbegehren und groteske Ästhetik im Nonnenturnier (2012), S. 381.
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liche Würde und Haltung ihres Standes; eine bizarre Kontrolllosigkeit, die zur hemmungslosen Verausgabung drängt. Am Ende entwischt eine der Damen mit dem Penis vom Schlachtfeld, ihr weiteres Schicksal bleibt unerzählt. Die Nonnen werden ihrer Gewalttätigkeit gewahr und verpflichten sich kollektiv zur Verschwiegenheit, während ihre Wunden und die zerschundene Kleidung den Verlust weiblicher Zucht und Ehre indizieren. In beiden Texten kommt es durch die Anwesenheit bloßer Geschlechtlichkeit zu Gewalt, und auch die geschlechtsbefreiten Träger erfahren soziale Ächtung und werden verstoßen. Auf allen Seiten scheint durch den Streit um den Wert des Sexuellen jede einvernehmliche Regel außer Kraft gesetzt zu sein. Chaos oder brachiale Heftigkeit sind das Ergebnis dieser fehlenden Normen. Besonders bedeutsam scheint dies für Inklusionsbewegungen zu sein, wenn die Vagina wieder an den Körper appliziert wird, Mensch oder Genital sich dem anderen Geschlecht annähern oder die Nonnen sich den Phallus aneignen wollen. Die Texte verschließen sich friedvollen Ausgängen aus dem Streit oder eines Austrittes aus den Differenzmarkierungen. Stattdessen betonen sie das Gegensätzliche. Als Beispiel einer differenzauflösenden und glückenden inkludierenden Strategie kann das Märe von Gold und Zers dienen, das erstmals nach dem Entstehen des Rosendorn und bis ins 16. Jahrhundert überliefert ist. Hier streiten sich nicht Träger und Genital, sondern ein Phallus mit einem Stück Gold um den eigenen Wert. Das extrahierte Geschlechtsteil hält die verbalen Attacken seines Widersachers nicht aus, schlägt gegen einen Baum und reißt sich die Haare aus. Über den Sieg des Genitals oder des Golds soll eine Gruppe von Frauen in der Nähe entscheiden. Das Gold gewinnt, der Phallus zieht sich geschlagen zurück. Nachdem sich die Damen wegen der unmöglichen Lustbefriedigung vom Gold befreit haben, kehrt der Phallus zurück. Dieses Mal wird er von ihnen freundlich empfangen – die Konkurrenz zwischen dem Gold und Zers ist durch den Ausschluss des einen und dem vollständigen Anerkennen des andern entschieden. Um ein erneutes Fortgehen des Penis zu verhindern, blenden die Frauen das Genital. Eine Nonne hängt sich die Augen um den Hals, welche sich dort in Brüste verwandeln. In der Ätiologie des Erzählers wird damit der Ursprung heterosexuellen Geschlechtsverkehrs erklärt: Die Erektion des Manns ist der Versuch seines Genitals, wieder mit seinen verlorenen Augen zusammenzukommen. Damit hebt der Text die Trenngrenzen zwischen dem Sieger und dem begehrten Objekt auf und integriert das isolierte Genital zurück in einen Sinnkontext. Das Märe von Gold und Zers entwickelt so eine eigene Strategie zum Beilegen von Gewalt und Chaos, indem es die Anerkennung des Phallus in die Hände der Frauen legt. Ein immer wiederkehrender Erzählbaustein der Priapeia ist die Abhängigkeit der Personen und Genitalien vom anderen Geschlecht. Dies
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kann im Fall der entsexualisierten Träger*innen der ehemalige Liebhaber sein, bei Phallus und Vagina sind es fremde Frauen und Männer, deren Nähe gesucht wird. Die Anerkennungsbedürftigkeit der Genitalien wird vom jeweils anderen Geschlecht erfüllt; in den Texten herrscht eine wechselseitige Bezugnahme zwischen den Geschlechtern vor. Für die Konkurrenz heißt dies schlussfolgernd, dass sie zwischen allen Kontrahenten aufgelöst wird, indem sie in gegenseitige Dependenz überführt werden. Erzählt werden diese Abhängigkeiten als Vereinigungsversuche, wenn die Nonnen den Phallus für sich haben möchten, die Vagina den amourösen Gruß von dem fremden Mann erwartet oder die Frau sich die Augen des Penis um den Hals hängt. Glücken solche Inklusionsbewegungen am Ende, werden textspezifische Ordnungen geschaffen, die die chaotischen Auswirkungen der Wettkämpfe ausschließen. Oder anders gesagt: Wenn die alternierende Abfolge aufgelöst wird zugunsten einer Vereinigung beider Geschlechter, wird Gewalt verhindert oder zumindest legitimiert, im Rosendorn und in Gold und Zers ist dies der heterosexuelle Geschlechtsverkehr. Wettkämpfe streben zu einer binären Lösung des Siegens und Verlierens, weshalb in der Pluralisierung von Ordnung ein hohes Konfliktpotenzial steckt. Sie spitzen häufig einen Dissens zwischen Personen oder eine Disparität zwischen Diskursen zu. Auf den formalen Grundlagen dessen entwickeln die Mären eigene Strategien der Chaosbewältigung. Die Frage nach den Regeln, mit denen die gewaltvollen Effekte von Konkurrenz und Wettkampf abgefangen werden, lässt sich im Fall des Weinschwelg und der Priapeia wie folgt beantworten: Die Gewalt verringert sich, indem vorher markierte Differenzen wieder aufgelöst werden. In beiden Textbeispielen lassen sich diese Strategien als Vereinigungen bezeichnen, bei denen Stabilität entsteht durch die Inklusion von Kontexten und durch gegenseitige Bezugnahmen. Drohender Gewalt in den Texten wird entgegengearbeitet durch das Einverleiben des gefährlichen Alkohols wie im Falle des Weinschwelg oder indem zwei Geschlechter in gegenseitige Abhängigkeit gebracht werden wie im Falle der Priapeia, womit die Gewalt am Genital legitimiert wird. Die beiden Beispiele machen ebenso deutlich, dass Wettkämpfe anhand unterschiedlicher begrenzender Effekten charakterisiert werden können: Der Konflikt zwischen Träger und Genital ist stärker wechselseitig als der zwischen dem Schwelg und dem passiv verbleibenden Wein. Diese differenten Grade von direkter Gegnerschaft lassen sich durch die verschiedenen Formen der Wettkämpfe erklären, die im folgenden Kapitel zusammengebracht werden sollen.
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4.2. Pluralisierung durch differente Formen des Wettkampfs Die Arbeit geht von einem Kontinuum der Konfliktarten aus, deren Gemeinsamkeit die alternierenden und aufeinander sich beziehenden abwechselnden Gegensätze sind. In diesem Sinn können alle Formen des Wettkampfs von ihrem Anfang an als sozialisierend beschrieben werden, weil sie Kontrahenten und Diskurse aneinanderbinden und in Wechselbeziehungen einspannen. Unterschieden werden können Wettkämpfe jedoch anhand der Direktheit der konkurrierenden Beziehungen. Das Einleitungskapitel verdeutlichte im Anschluss an Georg Simmel anhand dreier beispielhafter Formen die soziale Triebkraft des Konflikts: der Kampf, der Streit und die Konkurrenz. Auch in den Analysen der Mären konnten sie als die häufigsten Konfliktformen ausgemacht werden, auch wenn ihre Charakteristika weniger zur Katalogisierung denn zur Wahrnehmung dienten. Zudem können unterhalb dominanter Formen noch unzählige andere Wettkämpfe ausgetragen werden, die nicht im Mittelpunkt standen.754 Eine Gruppierung hilft jedoch, die Wirkung der Wettkämpfe hinsichtlich der Pluralisierungen sozialer beziehungsweise kultureller Ordnungen genauer zu erfassen. Der Kampf ist die direkteste Form der Auseinandersetzung. Hier stehen sich Kontrahenten feindlich gegenüber. Der Kampf zielt vor allem darauf, diffus vorhandene Bezüge zu ordnen und latente Spannungen zur Oberfläche zu bringen. Am Ende geht er in einer hierarchischen Ordnung von Sieg und Niederlage auf. Gesellschaftliche Elemente werden in funktionelle Beziehungen zu größeren Einheiten zusammengefasst. Pluralisierungsprozesse lassen sich im Kampf deshalb weniger in seinem Ausgang als vielmehr in seinem Verlauf wahrnehmen. Kämpfe können Latenzen offenbaren oder einheitliche Elemente binnendifferenzieren, um verschachtelte Totalitäten aufzubrechen. In Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten wird dies durch stark körperliche Konfrontationen deutlich. Da ist zum einen der Kampf zwischen Heinrich und dem Truchsess, in dem der zweideutige Charakter mittelalterlicher zuht aufgelöst wird. Die direktive Kontrolle, symbolisiert durch das höfische Tischzeremoniell, obliegt dem höfischen Vertreter. Währenddessen repräsentiert Heinrich die körperliche Gewalt, die die höfischen Regularien zugunsten individueller, zwischenmenschlicher Verpflichtungen missachtet, hier der Schutz des Heinrich zur Obhut gegebenen Schwabenprinzen. Der archaisierte Ritter kann den Kampf für sich entscheiden, indem er den Truchsess brutal tötet. 754 Zum Beispiel wurde im Weinschwelg vor allem die Auseinandersetzung des Trinkers mit den intertextuellen Referenzen fokussiert, die sich als Streit einordnen lassen kann; währenddessen ist das Verhältnis zwischen Wein und Schwelg eine Form der Konkurrenz. Im Nonnenturnier entspinnt sich zwischen Genital und Träger eine Konkurrenz um die Gunst der Frauen, während das Turnier der Nonnen ein klassischer Kampf ist usw.
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Der Kampf erreicht eine höhere Machtebene, wenn der Kaiser versucht, den Tod des Truchsesses zu rächen. Doch auch hier kann Heinrich die Ordnung am Hof brechen, indem er den Mächtigen als Geisel nimmt und somit einer Strafe entgeht. Damit wird die Polysemie der zuht dissoziiert und die mentale Bedeutung zum Vorteil einer konkreten Nützlichkeit aufgegeben. Denn der Gewalteinsatz wird durch den Erzähler mehrfach legitimiert und kann sich auch im weiteren Handlungsverlauf als einzig richtige Art der Kontrolle bewähren. Wenn der Kaiser im zweiten Teil in Bedrängnis gerät, lässt Heinrich alle sittlichen Regeln hinter sich und bekämpft als nackter Kämpfer die Feinde des Herrschers, und wird gerade wegen seiner fehlenden direktiven Kontrolle belohnt. Die Bedeutungsmöglichkeiten des zuht-Begriffs werden damit in eine hierarchische Ordnung gebracht beziehungsweise hövescheit aus dem Denk- und Handlungsrepertoire exkludiert. Vor allem der erste Teil des Märe folgt einer klassischen Schwankstruktur, in der Hierarchien durch die Abfolge von Schlag und Gegenschlag geklärt werden: Der Truchsess schlägt den Prinzen, Heinrich tötet den Truchsess, Otto will Heinrich bestrafen, doch der Ritter nimmt den Kaiser in Geiselhaft. Der Kampf als eine Form des Konflikts lässt sich leicht mit dem Schwank als Muster der Erzählung in Einklang bringen, sie scheinen sich sogar zu decken. Auch scheint die Gewalt in beiden ein zielführendes Mittel, um Spannungen zu ordnen. Begründen ließe sich diese Einheit, weil beide in schlichter Struktur Wechselbeziehungen unter Figuren herstellen. Ein anderer Schwank in Form des Kampfes ist die Rosshaut von Heinrich dem Teichner. Angelegt als traditionelle Frauenzüchtigungserzählung, differenziert sich im Märe die männliche Kompetenz beziehungsweise Aufgabe zum Tilgen weiblicher Hoffart entlang der Ständevertikalen, ein Novum im Züchtigungsmotiv der Mären. Während der Dienstmann mit Gewalt auf das Aufwärtsstreben seiner Ehefrau reagiert, braucht es noch das generöse Geschenk des Dienstherrn, um die Frau schlussendlich zur Akzeptanz ihrer Stellung zu bringen. Erst in Kombination des männlichen Handelns wird der Kampf entschieden: Die Ordnung zwischen den Figuren ist auf der einen Seite zwischen Mann und Frau, auf der anderen zwischen Diener und Herr geklärt. Im Streit kommt zu der Auseinandersetzung der Wunsch dazu, primär ein Streitobjekt für sich gewinnen zu können. Deswegen zielen die Kombattanten nicht auf den Schaden des anderen, sondern auf den Gewinn des begehrten Objekts, das sich in Händen des Gegners befindet. Deswegen ist der Streit ein Konflikt mit ungleicher Ausgangslage der Beteiligten, während beispielsweis die Konkurrenz von gleichwertigen Gegnern ausgeht. Vervielfältigungen durch den Streit stellen sich häufig ein als Gewinne traditionell anders verteilter Privilegien oder durch Verbindungen bisher unver-
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bundener Ordnungssysteme. So schafft es der Weinschwelg, durch die intertextuellen Referenzen auf die Vagantenlyrik einerseits und auf den Sangspruch andererseits, die Selbsterhöhung des lyrischen Ichs durch die Hymne auf den Alkohol darzustellen. Der Schwelg stellt sich selbst in einen Streit mit den lyrischen Vorbildern, an deren herausragende Fähigkeiten er partizipieren und die er gleichzeitig überbieten will: so könne er besser jagen als Nordian, singen wie Horant, besser lieben als die Opfer der Minne etc. All diese Talente stellen die immateriellen Streitobjekte im inszenierten Konflikt des Redners dar. Sie sollen ihn und den Wein auszeichnen als meister, womit der Trinker motivgeschichtlich zum ersten Mal ausschließlich positiv gezeichnet wird. Die Überlegenheitsposition des lyrischen Ichs gewinnt der Dichter aus dem Sangspruch und transportiert sie in die lateinische Vagantenlyrik, der eine solche Strategie der Überlegenheit fremd ist. Die häufigste Wettkampfform indes ist die Konkurrenz. Auch hier dreht sich der Konflikt um den Gewinn eines Streitobjekts, aber jenes Objekt ist ein Drittes, das heißt außerhalb der Hände beziehungsweise kein Attribut der Kombattanten. Der Sieg in der Konkurrenz liegt im Gewinn jenes dritten Objekts, nicht im Besiegen des anderen. Unterscheiden lassen sich Konkurrenzen weiter an der Direktheit oder Indirektheit der Gegnerschaft. Theoretisch können Konkurrenten ganz autonom voneinander agieren, solange sie ein gemeinsames Ziel anstreben. In der häufigeren Form kommt es jedoch zu Wechselwirkungen untereinander, indem sich Konkurrenten anpassen, um den Gegner durch die bestmöglichste Performance auszustechen. Pluralisierungen geschehen in Konkurrenzen durch jene alternierenden Assimilierungen. Konkurrenten beruhen auf gemeinsamen Vereinheitlichungen, weil sie unter dem gemeinsamen Zielobjekt und miteinander geteilten Regeln zusammenkommen. So entstehen neue Ordnungssysteme, die differente Elemente binden können. Oder bisherige Ordnungen werden binnendifferenziert, um Anschlussmöglichkeiten für bisher Unverbundenes zu ermöglichen. Für den Hellerwertwitz gilt dies beispielhaft. Hier konkurrieren Figuren stellvertretend um das richtige triuwe-Konzept. Die erste Geliebte vertritt ein reziprokes Liebesverständnis, das Zuneigung gegen Gefälligkeiten tauscht. Die zweite Geliebte und die Ehefrau werden demgegenüber anhand eines monogamen Versprechens gemessen, in dem sich ›wahre‹ Treue durch Exklusivität einstellt. Beide werden im ersten Teil als triuwe markiert, wenn auch die zweite Geliebte gegen diese Treue verstößt. Eine andere Dichotomie zieht der zweite Teil der Erzählung, in dem sich die Ehe gegenüber den promiskuitiven Liebschaften durchsetzt. Damit wird triuwe ganz in die Sphäre ehelicher Monogamie versetzt, weil sich allein die Ehefrau als treue Unterstützerin erweist. Solche binären Oppositionen werden hier durch die Konkurrenzen zwischen den beiden Geliebten untereinander auf der einen Seite, auf der anderen Seite
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Resümee
zwischen Geliebter und Ehefrau gesetzt. Dem Autor des Hellerwertwitz muss sehr daran gelegen gewesen sein, alle Figuren einer bürgerlichen Ordnung unterzuordnen. Promiskuität und Liebe schließen sich am Ende aus, weil die Geliebten sich nicht als stabile Partnerinnen erwiesen haben. Alle Beteiligten stehen nicht in konkretem Kontakt zueinander, sondern sind verbunden durch den alternierenden Kontakt mit dem Protagonisten, dem Kaufmann, und werden doch am Ende exkludiert. Die Ehefrau gewinnt die Konkurrenz und somit den eigenen Ehemann, weil sie die einzige ist, deren Treue hinsichtlich den beiden Dichotomien Monogamie/Polygamie und Ehe/Promiskuität bestehen kann. Ein Novum gegenüber den bisherigen Fassungen des Stoffes ist es, das Thema der Monogamie in die Erzählung aufzunehmen, womit der Konkurrenzraum komplexer wird. Um die richtige Ehe wird auch in Heinrich Kaufringers Suche nach dem glücklichen Ehepaar konkurriert. Dabei tritt hier der Kaufmann freiwillig in den Vergleich mit anderen Ehemännern, von denen er sich eine Verbesserung der eigenen Ehe erwünscht. Die drei verschiedenen Erzählbausteine gründen auf unterschiedliche Realisierungsmöglichkeiten der Ehe, die durch die aventiurehafte Rahmenhandlung zusammengehalten werden. Ohne die Konkurrenzstruktur würden diese parallel verlaufen, doch führt gerade die zweite Gastgebererzählung zum Ausgangspunkt und einer Neuperspektivierung der anfangs als defizitär empfunden Ehe. Freigiebigkeit und Nachsicht werden dem bürgerlichen Selbstverständnis subordiniert und einem ökonomischen Kalkül unterzogen. Als neue Imperative innerhalb des Gesamtsystems ›Eheerzählungen‹ bietet die Suche alternative Handlungsmöglichkeiten in Differenz zu den Gastgeberepisoden sowieso potenziell zu anderen Mären. Die Konkurrenz in den Priapeia ist demgegenüber weitaus expliziter formuliert. Ob man den Rosendorn, das Nonnenturnier oder Gold und Zers betrachtet: immer stellen die personifizierten Genitalien die Behauptung auf, besser beim anderen Geschlecht anzukommen, als es Trägerin, Träger oder das Gold könnten. Die Probe aufs Exempel eröffnet daraufhin unterschiedliche Weiterführungen: Im Rosendorn können beide Parteien keinen Gewinn über das Streitobjekt ›Mann‹ verzeichnen. In den Phalluserzählungen demgegenüber werden die Fronten geklärt: In Gold und Zers schafft es der Penis, sich als die bessere Alternative geltend zu machen. Im Nonnenturnier wird der entsexualisierte Träger von einer Hundertschaft Frauen verjagt, während das Genital von einer Horde Nonnen gewonnen werden will. Die Konkurrenz in Der Verklagte Zwetzler geht ebenfalls zugunsten des Phallus aus, indem in der Vereinnahmung des jungen Mädchens das Begehren über die Sexualfeindlichkeit der Eltern und des Gerichts siegt. Die Vervielfältigung in den Priapeia liegt im Übertragen der Konkurrenzerzählung zwischen dem »oberen« und dem »unteren« Teil auf das männliche
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Geschlecht. Damit wird männliche Sexualität ebenso fragil und hinterfragbar gemacht, wie es Capellanus, die Heidin oder der Rosendorn für das Weibliche formulieren. In allen Fällen entscheidet das andersgeschlechtliche Gegenüber über den Wert der binär konstruierten Sexualität. In unterschiedlichen Graden der Direktheit formulieren sich Konkurrenzen in den Reihummären. In manchen Redereihen wird das Thema sehr direkt formuliert: In den Sieben größten Freuden fragen sich die Figuren selbst, welche sinnliche Befriedigung die wichtigste sei. Bei den zwölf faulen Pfaffenknechten versuchen die Beteiligten, sich jeweils als der Arbeitsscheueste unter den Müßiggängern zu krönen. Die meisten Erzählungen drehen sich jedoch um die Frage, wer den schlimmsten Ehepartner hat, was selten direkt geäußert wird. Auch das Siegerobjekt hier ist weitaus abstrakter. Man ist geneigt, an Trophäen sportlicher Wettkämpfe zu denken. Die Konkurrenzen der Reihummären lassen sich als weitererzählende Funktion begreifen: Durch den Wettkampf schaltet sich immer noch eine Rede ein, antwortet noch eine Figur etc. Die Reden erhalten ihren Wert durch das Sich-Darbieten der eigenen Klage oder Rühmung. Dementsprechend können sich diese Reihen nicht selbst schließen, sondern es treten Schlussfiguren auf oder sie werden durch die Verwirklichungen besonderer Zahlenreihen geschlossen. Vervielfältigungen in den Reihummären lassen sich auf verschiedenen Ebenen feststellen. Da ist zum einen die interne Ausfaltung der Reden, indem narrative Elemente immer wieder Differenzen zu vorher kommuniziertem markieren. Hinsichtlich der Gattungen bilden die Reihummären eine fruchtbare Gattungsuntergruppe, indem sie Inhalts- und Stilmerkmale der Mären mit der Performanz Nürnberger Einkehrspiele vermischen. Das Paradigma der Variation generiert durch das Erzählkorsett immer neue Texte, wodurch ein serieller Charakter entsteht, dabei wird Bestehendes durch herangezogenes Erzählmaterial ergänzt. Auf der Diskursebene vertreten die Reihummären vor allem gegenüber den Einkehrspielen eine eigene Anthropologie, die das Erfüllen sinnlicher Genüsse verteidigt. Die Textanalysen beruhen auf einem Verständnis von Wettkämpfen, die produktiv für eine Vervielfältigung sozialer Ordnung wirken. Gemeinsames Element der Textauswahl ist der agonale Charakter der Mären. Dabei bedient sich die Dichtung keiner differenzierten Semantik des Streitens; widerständige Ordnungen müssen aus Beobachten und Interpretation figürlich-individueller und darauf bezogener Praktiken abstrahiert werden. Die Fruchtbarkeit agonaler Wechselbeziehungen bestätigt sich dabei in den unterschiedlichen Formen. Ihren Grund lässt sich in der starken Dynamik der Wettkämpfe sehen. Alle Formen gewinnen auch bei einfachen sozialen Ausgangslagen schnell an
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Resümee
Komplexität. Durch die alternierenden Formen von Figurenrede oder impliziten Ordnungen entstehen neue Ordnungen, auch wenn diese zurückgenommen werden können. Dies kann durch direkte als auch indirekte Konflikte geschehen. Darüber hinaus können Wettkämpfe auf unterschiedlichen Ebenen eintreten, die im Weiteren fokussiert werden.
4.3. Ebenen des Wettkampfs Alle Wettkämpfe eint eine gemeinsame Grundform: In einem gemeinsamen Raum beziehen sich Widersprüche alternierend aufeinander. Mit dieser abstrakten Definition wird es möglich, Wettkämpfe auf verschiedenen Ebenen zu erkennen. Die Größe dieses Raums ist variabel: In den Mären kann a) auf der Figurenebene miteinander gestritten werden, oder b) narrative Bausteine stehen logisch widerständig zueinander. Kompetitiv können c) Diskurse verlaufen oder es entstehen d) intertextuelle Widersprüche. Diese vier Konfliktebenen charakterisiert das folgende Kapitel. Alle Mären werden jeweils nur einer Ebene zugeordnet; wenn Konflikte auf mehreren Ebenen stattfinden, wurde darauf in den Einzelanalysen im Hauptteil eingegangen.755
4.3.1. Figurenebene Am explizitesten geschehen Wettkämpfe zwischen dem Handlungspersonal. Häufig werden dann auch die Rahmenbedingungen des Streits benannt: Wer streitet? Um was wird gestritten? Wie wird der Streit entschieden? In den Priapeia Rosendorn und Nonnenturnier beispielsweise entfacht der Streit zwischen Genital und Trägern. Streitthema ist dabei der Wert des Sexuellen, ausformuliert als Frage, ob ein geschlechtsloser Körper größere Anerkennung im anderen Geschlecht finden würde. In beiden Fällen wird die Probe aufs Exempel gemacht, indem Genital und Körper voneinander getrennt werden. Damit werden Abstrakta wie Sexualität und Geist, ›oberer‹ und ›unterer‹ Teil als tatsächliche Figuren konkretisiert. Das ungewöhnliche Setting kann noch variiert werden, beispielsweise indem der Streit zwischen dem Sexuellen und dem Geld ausgetragen wird wie in Gold und Zers. 755 So fokussiert zum Beispiel meine Analyse der Priapeiamären in diesem Kapitel den Konflikt zwischen den Figuren, während sie als Ganzes auch als intertextueller Widerspruch zu Capellanus De Amore lesen ließen oder das späteren Nonnenturnier als Reaktion auf den Rosendorn gesehen werden kann. Auf das Verhältnis zu De Amore bin ich im Kapitel über die Priapeia im Hauptteil eingegangen; märeninterne Beziehungen werde ich im letzten Kapitel dieses Resümees beschreiben.
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In den sieben Reihummären folgen die Reden von Frauen und Männer aufeinander und unterstehen jeweils einer gemeinsamen Frage, zum Beispiel ›Wer hat den schlimmsten Mann?‹ ›Wer ist der faulste unter den Knechten?‹ ›Welches Grundbedürfnis hat den höchsten Wert?‹ Entschieden werden können solche Wettkämpfe ebenfalls durch die Figuren: Häufig tritt eine Richterfigur auf, zum Beispiel in Hans Rosenplüts Die drei Ehefrauen, Hans Schneiders Die Klage der drei Männer, Hans Rosners Der Frauenkrieg oder Die sieben größten Freuden. Der Erzähler hat in fast allen Priapeia- oder Reihummären die Rolle des Beobachters inne, der von außerhalb den Streit interessiert begleitet. Wenn er zu Beginn in Erscheinung tritt, spazieren geht oder von außen auf die Streitenden blickt, bildet sein Handeln die Rahmenerzählung. Selten greift er in die Erzählung ein und führt den Streit selbst zu einem Abschluss; dies ist der Fall bei den Texten Die drei Ehefrauen, Die sieben größten Freuden und Die Klage der drei Männer ; in das Ende des Konflikts involviert ist er im Rosendorn. Auch in diesen vier Mären nimmt er jedoch keine streitimmanente Position ein, sondern erscheint als externer, moralischer Interpretator, der die Kombattanten wieder versöhnen möchte. In allen Fällen bleibt der Wettkampf zwischen den Figuren auf der Ebene der Binnenerzählung.
4.3.2. Narrationsebene In Konkurrenz zueinander können auch ganze Erzählepisoden stehen. Besonders ersichtlich wird dies im Fall der Variation, wenn innerhalb des Textes ähnliche Erzählbausteine neu erzählt werden oder wenn vorhandenes Erzählmaterial anders ausgestaltet wird. Spannend sind figurenübergreifende Interaktionsmuster, die innerhalb eines Textes in Kohärenz zueinander gebracht werden sollen. In solchen Fällen können sich neue narrative Muster mit alten arrangieren, womit neue Erzählweisen in tradierte Systeme inkludiert werden. Oder sie können die Gültigkeit tradierter Muster ablehnen und neues Figurenhandeln miteinander verknüpfen, womit sie aus vorherigen Ordnungen exkludiert werden. Eine Inklusion in bestehende Erzählmuster beweist Heinrich der Teichner. In der Rosshaut legt er das Prinzip von Schlag und Gegenschlag an ein streitendes Ehepaar an, während über Standesgrenzen Dienstherr und Dienstmann nach einem Prinzip von Gabe und Gegengabe agieren. Das Handeln des Herzogs erhält seine Kohärenz in dem ständespezifischen Handlungsrepertoire der Figuren. Das Erzählschema der Schwankdichtung wird binnendifferenziert. Folgerichtig löst sich die Hoffart der Ehefrau erst durch die Kombination beider Handlungen auf.
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Resümee
Das Handeln der Gastgeber in der Suche nach dem glücklichen Ehepaar wird mit dem des Kaufmanns in Verbindung gebracht, um sie als alternative Möglichkeiten auszuschließen. Heinrich Kaufringer variierte die tradierte Erzählung vom Schädeltrinken der überführten Ehebrecherin, um sie mit der neu geschaffenen Episode um den Bauern im Keller zu kombinieren. Damit die Episoden wiederstreitende Ehemodelle transportieren, wurde das Personal vereinheitlicht, ins Kaufmannsmilieu verschoben und somit Vergleichbarkeit generiert. Gerahmt werden die Bausteine durch ein Aventiureschema, in dem ein Kaufmann nach der bestmöglichsten Ehe sucht. Die Negativbeispiele der Suche stehen in Konkurrenz zur Ehe des Protagonisten. Neu gewertet wird am Ende ein Ideal der Kaufmannsehe: Der Ehemann erkennt in seiner Frau eine strenge Ergänzung seiner eigenen milte, womit seine Freigiebigkeit aufgewogen wird. Den Episoden der beiden Gastgeber fehlt es an einer Vorbildfunktion, weil es den Männern entweder an verzeihender Güte wie in der Schädelepisode oder an Durchsetzungskraft wie im Fall des Bauern im Keller mangelt. Wettkämpfe auf Narrationsebene lassen sich als ›Überbietungsformen‹ tradierter Erzählungen verstehen, was die Variation innerhalb des Wiedererzählens motiviert. Eine solche Lizenzbegründung für das Um- und Weiterdichten bekannten Erzählmaterials ist der Narrationsforschung bereits länger bekannt, die dilatatio materiae ist als eine zentrale rhetorische Technik im Mittelalter bestimmt worden.756 Das Besondere der agonalen Narrationsstrukturen in den Mären ist es, dass die Gültigkeit tradierter Interaktionsmuster entweder partiell wie in der Rosshaut oder vollständig wie in der Suche abgelehnt wird, indem alte Ordnungen neuen gegenübergestellt werden.
4.3.3. Diskursebene Wettkämpfe auf Diskursebene lassen sich vermutlich am schwierigsten greifen, weil sie sehr abstrakt sind.757 Diese Arbeit versucht einer solchen Ungenauigkeit entgegenzuarbeiten, indem sie sich an konkreten Begriffen auf der Wortebene orientiert, die synekdochisch für komplexere Ordnungen stehen. Die Mären reflektieren mehrfach latente semantische Brüche in Leitwörtern mittelalterlicher Kulturen, womit differente Ordnungsdiskurse bewiesen werden können. Im Hellerwertwitz des Herrmann Fressants ist es die triuwe, die einerseits auf einem reziproken Tauschverhältnis beruht, auf der anderen Seite ein mo756 S. Worstbrock: Dilatatio materia. Zur Poetik des Erec Hartmanns von Aue (1985). 757 Vgl. Friedrich: Trieb und Ökonomie. Serialität und Kombinatorik in mittelalterlichen Kurzerzählungen (2006), der eine ebensolche Unkonkretheit direkter Bezüge innerhalb neuer Ordnungsentwürfe auf der Diskursebene bei Boccaccio feststellt.
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nogames Treueversprechen etabliert. Konflikte von Idealen entstehen zwischen den beiden Geliebten des Kaufmanns und seiner Ehegattin. In diesem Konkurrenzkonflikt kann die Polysemie des triuwe-Begriffs, die der Text in der ersten Hälfte aufrechterhält, nicht bestehen bleiben. Am Ende wird eine städtische, ökonomische Ethik mit einer zwischenmenschlichen Moral kombiniert. Promiskuität wird ebenso wie Polygamie ausgeschlossen und die kaufmännische Ehe an Monogamie gebunden, denn nur die exklusive Treue ist imstande, finanzielle Widrigkeiten zu überstehen. Damit entsteht ein neuer, ausschließender Diskurs: froide entsteht nur in monogamer Verbundenheit. Das Ideal der Ehe stellt schlussendlich sowohl Beständigkeit über Reziprozität als auch Monogamie über Polygamie. In Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten repräsentieren der Ritter und der befeindete Truchsess differente Semantiken der zuht, die widerstreitend entworfen werden und nicht ineinander integriert werden können. Konrad löst damit eine Polysemie des zuht-Begriffs auf, teilt sie in kontrastive Bedeutungen auf und spielt sie durch die repräsentierenden Figuren des Märe gegeneinander aus. Er entwirft damit kein neues Männerideal, sondern fächert bekannte männliche Handlungsoptionen auf. Der Truchsess vertritt die Hofzucht im Sinn einer Begrenzung körperlicher Bedürfnisse, also als Disziplinieren von Affekten innerhalb des höfischen Zeremoniells. Heinrich steht für eine Reduktion der zuht auf ein gewaltvoll-hierarchisches System und gewinnt den Streit durch Töten seines Kombattanten. Die von ihm repräsentierte Teilsemantik des Körperlichen wird in der zweiten Hälfte, die der Autor an die tradierte Erzählung anhing, legitimiert. Beiden Mären gemein ist das Betonen des Körperlichen, mit dem die Ordnungen ausgehandelt werden. Da Diskurse in den Erzählungen durch das Handeln der Figuren offenbart werden, erfolgen Ausschlüsse häufig gewaltsam. Das kann bedeuten, dass sich funktionale Ordnungssystem entweder durch Gewalttätigkeit disqualifizieren, wie es im Verhalten der Geliebten im Hellerwertwitz der Fall ist. Oder Ordnungen können durch Gewalt ihr Recht auf alleinigen Wert durchsetzen, das beweist sich im Heinrich von Kempten. Beide Male finden Ausschlüsse mithilfe axiologisch aufgeladener Grenzen statt. Die Gewalt, die dabei zum Einsatz kommt, ist in den Mären grundsätzlich unparteiisch: Sie kann sowohl im Sieger- als auch im Verlierersystem zur Durchsetzung von Trennungen genutzt werden.
4.3.4. Intertextuelle Widersprüche Im Unterschied zu bisherigen Wettkämpfen fehlt Widersprüchen auf intertextueller Ebene die Wechselseitigkeit gegenseitiger Bezugnahme. Man könnte auch
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von one-way Wettkämpfen sprechen, weil die Antwort bei intertextuellen Referenzen naturgegeben ausbleiben muss. Das ist jedoch für die Formen des Wettkampfs nicht außergewöhnlich. Bereits Simmel spricht von einseitigen Antagonismen, beispielsweise bei Neid auf den Erfolg eines Fremden.758 Mären füllen mit ihrer Konzentration auf sexuelle und sinnliche Sujets häufig Leerstellen der mittelalterlichen Klassiker. Mehrere Gattungsexemplare können literaturgeschichtlich als das Schließen thematischer Lücken in der literarischen Tradition eingeordnet werden.759 Dies kann ebenso für den Weinschwelg gelten,760 das mittellateinische Weinlob ins Deutsche überträgt und dabei aus der Sangspruchdichtung die Selbstbehauptung des lyrischen Ichs übernimmt. Die lateinische Vagantenlyrik kennt dieses selbstbewusste Sänger-Ich nicht und der Weinschwelg erweitert damit das Wein- und Bacchuslob zum Eigenlob. Gegenüber der Spruchdichtung, dessen Minnesklaventopos der Text übernimmt, offenbart der Weinschwelg die typische Demutsformel als leere Hülle. Demgegenüber treibt der Trinker in einer Mischung aus Können und Wissen seine Meisterschaft ins Absolute, indem er sich als Beherrscher der Welt stilisiert. Die Neuartigkeit dieser Position wird durch den Vergleicht mit Strickers Märe der unbelehrbare Zecher deutlich, welches ungefähr zur gleichen Zeit entstand und mit dem es handschriftlich zusammen überliefert wurde. Während beide als Protagonisten exzessive Alkoholiker sind, markiert das Strickermäre durch den Erzähler und die Figur des Gegenredners eine klare moralische Meinung gegen den überbordenden Alkoholkonsum. Der Weinschwelg widerspricht einer solchen Abwertung – ganz im Gegenteil rühmt der Erzähler den Trinker als den ersten unter den Männern. 758 S. Simmel: Der Streit (2001), S. 319–321. 759 Widersprüche gegenüber der literarischen Tradition ließen sich auch in den anderen analysierten Texten ausmachen. So entwickeln die Priapeia, wenn man sie als Werkreihe begreift, eine Geschlechterbild gegenseitiger geschlechtlicher Abhängigkeit. Gegen die Minnekasuistik Andreas Capellanus’ stellen sie die Unabdingbarkeit des sexuellen Körpers fest, der nicht völlig negiert werden darf (Rosendorn, Gold und Zers), eine exorbitante Wirkmächtigkeit besitzt (Nonnenturnier) oder dominantestes Körperobjekt ist (Der verklagte Zwetzler). Die dahinterliegende Anthropologie erklärt die Bedürftigkeit der Anerkennung der weiblichen und der männlichen Geschlechtlichkeit durch andersgeschlechtliche Figuren, kumuliert in dem Bild der jungen Frau, die den Zwetzel in letzter Minute vor dem Henkersbeil rettet. In der Geschlechteranthropologie sind diese neuen Handlungsmuster Spiegelbilder vorhandener sozialhistorischer oder literarischer Abhängigkeiten: Während sich Weiblichkeit sonst häufig nur im engen Rahmen der Abgrenzung zur Männlichkeit bewegt, gerät hier Männlichkeit in die anerkennungsbedürftige Rolle. Die Reihummären schließen die Leerstellen zwischen der Kleinepik und den frühen Fastnachtspielen; sie lassen sich als monodramatische Äquivalente der vor allem nürnbergischstädtische Einkehrspiele lesen. Narrativ setzen sie diesen Fastnachtspielen eine Sympathielenkung hin zur Legitimität weiblicher Triebbefriedigung entgegen. 760 So Boor : Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Teil 1: 1250–1350 (Epik, Lyrik, Didaktik, geistliche und historische Dichtung) (1997), S. 254.
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In intertextuellen Bezügen erweist die Märengattung ihren hohen Grad an Reflexivität, indem sie formal-stilistische als auch inhaltliche Merkmale vorhandener Gattung annimmt und flexibel mit gattungseigenem Stil vermischt. Dabei kommt es zu Phänomenen der Verschränkungen,761 aber viel häufiger zu Widersprüchen, wenn die Mären die tradierten Ordnungen ihrer Prätexte ablehnen. Um diese Widerstände überhaupt artikulieren zu können, müssen die Mären im ersten Schritt Zusammenhalt stiften, was oftmals durch intertextuelle Referenzen geschieht. Der Antagonismus beginnt in solchen Fällen damit, dass Einheit gestiftet wird.762 Erst dann lassen die Texte Widersprüche erkennen, indem sie die Gültigkeit der Referenzen in Frage stellen und im letzten Schritt Alternativen bilden. Dass es sich dabei immer noch um Wettkämpfe handelt, wird daran sichtbar, dass der geschaffene, gemeinsame Raum nicht verlassen wird: Der Trinker im Weinschwelg tritt nicht aus der Strategie des Sangspruchs aus, sondern er führt sie an ihr logisches Ende. Die Liebe der Minnesklaven wird nicht abgekanzelt, sondern das Objekt der Begierde auf den Wein verschoben usw. Aus dieser Summierung lassen sich zwei Ergebnisse ablesen. Erstens explizieren die Texte kaum ihre Pluralisierungsphänomene, auch nicht, wenn sich direkte Vorlagen ausmachen lassen, wie zum Beispiel die theologische Schrift des Capellanus’ oder Bezüge auf literarische Figuren wie im Weinschwelg und in der Suche nach dem glücklichen Ehepaar. Zweitens lassen sich über alle Ebenen hinweg übergreifende Bewegungen ablesen. Streitende Figuren, konkurrierende Erzählbausteine, inkommensurable Diskurse oder intertextuelle Widersprüche: Alle lassen sich in ihrem Verhältnis zu ihrem jeweiligen Kontext als Formen von Inklusion oder Exklusion beschreiben. Beispielsweise scheint in der Rosshaut das generöse Handeln des Herzogs eine Abgrenzung zur Gewalttätigkeit des Dienstmanns zu beschreiben, doch erweisen sich beide Handlungsmodelle als interne Differenzierung einer zielgerichteten Reaktion auf die Hoffart der Ehefrau. Wettkämpfe beginnen stets als Binnendifferenzierung; ihr Ausgang kann aber eine Inklusion oder eine Exklusion von Ordnung hervorbringen. Dies betrachtet das nächste Kapitel näher.
761 Rippl: Erzählen als Argumentationsspiel. Heinrich Kaufringers Fallkonstruktionen zwischen Rhetorik, Recht und literarischer Stofftradition (2014), S. 10. 762 Für die höfischen Epen hat Amelie Bendheim den sehr ähnlichen Beweis erbracht, dass im Erzählrahmen intertextuelle Referenzen gezogen werden, um einen »geteilten Erfahrungsraum« zwischen Erzähler und Rezipienten zu stiften. Die darauffolgende Binnenerzählung aber bricht mit dieser stabilen Anfangswelt, wodurch die Änderungen gegenüber den Referenzen offenliegen; s. Bendheim: Wechselrahmen. Medienhistorische Fallstudien zum Romananfang des 13. Jahrhunderts (2017), zusammenfassend S. 418–421.
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4.4. Inklusion und Exklusion normativer Ordnungen In der Theorie über Wettkämpfe wurde deutlich gemacht, dass sie stets zu einer schlichten Lösung des Siegens und Verlierens drängen. Solche asymmetrischen Auflösungen lassen sich für die Märendichtung nicht überall konstatieren. Neben der Exklusion einer Ordnung können sie auch inkludiert werden. Eine Exklusion liegt beispielsweise vor, wenn im Hellerwertwitz die polygame Liebe moralisch ausgeschlossen wird. In diesem Fall reduziert sich in der Erzählung die soziale Handlungsmöglichkeit. Inklusion von Ordnung beispielsweise lässt sich in der Suche nach dem glücklichen Ehepaar finden, wenn milte als neue Handlungsoption des Protagonisten eingeführt wird. Somit erweitert sich die Handlungsoption des Ehemanns in der Erzählung. Der Wettkampf ist in seiner Entscheidung zwischen Inklusion und Exklusion indifferent. Ein Sieg kann durch beide Phänomene errungen werden. Im Hellerwertwitz zum Beispiel siegt die Ehe durch Exklusion von Käuflichkeit und Polygamie. Doch Konkurrenzen müssen nicht nur durch Ausschluss entschieden werden. In den Priapeia wird der Sieg durch die Annäherung an das andere Geschlecht gesucht. In Gold und Zers gewinnt der Phallus, weil nur er sich mit dem Körper der Damen vereinigen lässt. In Der verklagte Zwetzler kann der Penis nur vor der Exekution gerettet werden, indem er von der jungen Frau als Begleiter vereinnahmt wird. Die Arbeit geht von einem hohen Abhängigkeitsgrad des Figurenhandelns vom Kontext aus, um Vervielfältigung als solche zu erkennen. Von neuen Ordnungen lässt sich dann sprechen, wenn gegenüber dem Ausgangspunkt eine Differenzmarkierung erkennbar wird. Die Innenperspektive der Pluralisierung wurde bereits ausreichend in den Einzeltextanalysen nachgewiesen. Zumindest im Resümee soll, wenn auch in einem kürzeren Gedankengang, die Außenperspektive eingenommen werden. Wie verhalten sich die Pluralisierungsphänomene gegenüber dem außertextuellen Kontext?
4.4.1. Inklusion von Ordnungen Das Erzählen im Märe profitiert von den knappen Handlungsgerüsten, die allen Texten zugrunde liegen. Sie werden erweitert, kombiniert und variiert im Wiedererzählen fremder Texte, Fassungen und Reihen. Wettkampfstrukturen bieten in dieser Experimentalität ein fruchtbares Setting, weil dabei oft der Tradition widersprochen und mit Alternativen auf der Handlungsebene experimentiert wird. Häufig werden dabei neue Handlungen als Subsysteme in bestehende Handlungsmodelle eingegliedert. So entstehen interne Differenzie-
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rungen in der Gattung, die durch Wettkämpfe Ordnungen in größere Komplexe einfahren. Ein sehr frühes Beispiel ist der bereits häufig angesprochene Weinschwelg. Der anonyme Autor lässt seinen Protagonisten in eine Konkurrenz zu den Figuren aus Sangspruch und Minne treten: Die Sklaven der Minne (Dido, Paris, Tyramus und Thisbe u. a.) gelten dem Trinker als Negativbeispiele, deren Verblendung er überwinden will. Ihnen allen steht er als meister vor, eine Eigenschaft, deren Mischung aus Können und Wissen auf den Sangspruch verweist. Damit arbeitet sich der Weinschwelg an höfischen Topoi und Figuren ab und reiht sich ein die höfische Tradition. Die Reihummären inkludieren Elemente der Nürnberger Einkehrspiele und betonen in deren Kontext das Recht auf Triebbefriedigung. Sie festigen ihren verbalisierten Anspruch durch eine argumentative Streuung: Sie bilden Sequenzen, die Dichte durch Aneinanderreihung herstellen. Eine Rednerin löst die nächste ab und jede von ihnen hat noch einen Grund mehr, den Ehemann als unfähigen Partner darzustellen. In den anderen Mären der Werkreihe wird immer noch ein weiteres Laster aufgeworfen, stets ist ein Pfaffenknecht noch fauler oder ein Zeitvertreib noch bedeutsamer als der vorherige, sei es Alkohol, Schlemmen, Schlafen etc. Der literarische Gewinn liegt dabei im Darbieten der eigenen Klage, das heißt der Misere in der eigenen Ehe, dem Preisen der Grundbedürfnisse oder der Verteidigung der eigenen Faulheit. Auf der Ebene figürlichen Handelns werben sie mehrfach für das Recht auf Erfüllen weiblicher Begierde. Der Bewegungsspielraum der Frauen vergrößert sich gegenüber dem Einkehrspiel, weibliche Figuren können Schiedsrichterfunktionen haben, Ehebruch wird nicht verhindert. Narrativ wird durch die Referenz auf das Theater der auktoriale Erzähler zum beteiligten Beobachter. Die Nullfokalisierung entwickelt sich in der Inklusion von externen Traditionen zu Formen von interner und externer Fokalisierung. Die Reihummären entwickeln einen monodramatischen Modus, der an die szenische Darstellung des Fastnachtsspiels angelehnt ist. Mit diesem Erzählmodus ist es möglich, ein Reihummäre zu einem Spiel umzuformulieren, indem die Figuren verschiedenen Rollen zugeordnet wurden und der Erzähler zum Ausrufer wird. Nachweisbar ist dies im Fall der zwölf (sieben) faulen Pfaffenknechte, das erst als Erzählung, dann als Fastnachtsspiel überliefert ist. Heinrich der Teichner binnendifferenziert das schwanktypische Handlungsmuster von Schlag und Gegenschlag. Auf die versuchte Normverletzung der Dienstfrau müssen die weiteren Figuren reagieren, damit das Märe durch die Handlung vorführen kann, dass man am besten an seinem angeborenen Platz bleibt. Diese Leitlinie entspricht dem typischen Handlungsmodell der Mären.763 763 Schulz und Hübner : Mittelalter (2011), S. 194f.
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Die didaktischen Sprüche des Teichners haben auf der anderen Seite vornehmlich die Stände zum Thema, in seinem umfangreichen Œuvre pocht er immer wieder auf die standesspezifischen Aufgaben und differenziert sie in eine ausgedehnte Berufs- und Zunftsmoral. In diesem Sinn baute er auch das Motiv des verhinderten Aufwärtsstrebens in seinem einzigen überlieferten Märe aus und integriert es in die Ständekriege der Mären. Die Reaktion der Männer ist standesspezifisch aufgeteilt: Gewalt auf der einen Seite, Gutmütigkeit auf der anderen. Das narrative Muster von Schlag und Gegenschlag wird komplimentiert durch eines von Gabe und Gegengabe. Mit einem solchen Verfahren wird Harmonie angestrebt, indem mit beiden opponierenden Elementen das Aufwärtsstreben der Frau gedeckelt wird. Die Gewalt des Ehemanns wird einer sozialen Klasse zugeteilt, legitimiert und in eine Hierarchie eingeordnet, in der erst nach sozialem Rang, dann standesintern nach Geschlecht sortiert wird. Auf der Herrschaftsebene darf Generosität und Großzügigkeit herrschen, während der Dienerschicht unerbittliche Kompromisslosigkeit und Gewalt übrigbleibt. Das Züchtigungsmotiv, das in zahlreichen Mären aufgegriffen wird, erfährt damit in der Bearbeitung des Teichners eine Binnendifferenzierung. Der Text reiht sich in eine Tradition ein und inkludiert in ihr eine alternative Handlungsmöglichkeit. Eine Inklusion in die Tradition anthropologischer Modelle schaffen die Priapeiamären. Sie stellen Spiegelbildlichkeit her, bei dem die vermeintlich ausschließlich weibliche Bedürftigkeit nach Anerkennung äquivalent auf das männliche Geschlecht transformiert wird. Somit wird andersgeschlechtliche Bestätigung zum grundsätzlichen Anliegen in der Geschlechterbeziehung. Als Antwortmöglichkeiten auf Capellanus’ De Amore wird die Frage nach der Stellung des Sexuellen aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet. Rosendorn und Nonnenturnier zeigen die jeweiligen Seiten derselben Medaille: In beiden teilen sich ›obere‹ und ›untere‹ Hälfte auf und beweisen, dass eine Negation des Sexuellen, wie es die Gesprächspartner bei Capellanus behaupten, eine Unvollständigkeit der Person nach sich zieht, dass Sexualität also ein elementar menschlicher Bestandteil ist. In einer Gesamtschau der Priapeia überwiegen dabei die männlichen Genitalien, die extrahiert werden. Damit eröffnen sie eine andere Sichtweise als der Diskurs über den weiblichen Körper bei Capellanus oder das sehr erfolgreiche Märe Die Heidin, in dem ebenfalls zwei Teile der Frau zur Disposition stehen und das in einem Zeitraum von fünf Jahrzehnten vier Bearbeitungen erfuhr.764 Schon hier wurde das hypothetische Denkkon764 Grubmüller : Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter : Fabliau, Märe, Novelle (2006), S. 173. Die vier Mären Heidin I–III und Heidin B entstanden alle zwischen 1250 und 1300, also mindestens 100 Jahre älter als die Priapeia in dieser Arbeit.
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strukt bei Capellanus in die »Realität einer erzählten Situation«765 übertragen. Das Novum aller späteren Priapeia nach dem Rosendorn besteht darin, den männlichen Körper zu ›zerteilen‹. Während im Nonnenturnier das losgelöste Genital bei den Frauen groteske Gewalt auslöst, kommt es in Gold und Zers und in Der Verklagte Zwetzler zu Vereinigungsbewegungen. Die Frauen in Gold und Zers verletzen das Genital, um es zum Bleiben zu zwingen; seine Augen wachsen mit der Nonne zusammen. In der verklagte Zwetzler wird ein gemeinsames Verlassen der Stadt von Genital und Mädchen vorausgedeutet. Allen Mären gemeinsam ist die eigenmächtige Bewegung des Genitals hin zu den Frauen, dabei kann sich der Penis den Nonnen in den Weg stellen (Nonnenturnier), gezielt nach den Damen suchen (Gold und Zers) oder sich durch eine Erektion zu den weiblichen Figuren ›strecken‹ (Der Verklagte Zwetzler, auch Gold und Zers). Somit verdeutlichen die Phalli die Suchbewegungen nach dem anderen Geschlecht, in deren Hände sie ihr Schicksal legen wollen. Die Anthropologie der Priapeia766 fügt in den Diskurs über die Notwendigkeit des Sexuellen die männliche Begierde ein; auch die männliche ›untere Hälfte‹ steht nun zur Disposition. In dieser Inklusion wird die Anthropologie um ein weiteres Geschlecht erweitert. Alle vier Inklusionen auf den verschiedenen Ebenen wie der Gattung, der narrativen Muster oder des anthropologischen Diskurses lassen sich noch weiter differenzieren in ihrer Entfernung zum Kontext. So ist das Handeln des Herzogs in der Rosshaut weitgehend abhängig von dem gewaltsamen Aufwärtsstreben der Dienstfrau. Ein generöses Schenken wäre als einzige Reaktion auf eine hierarchische Grenzüberschreitung keine zielführende Strategie. Die Effektivität lässt sich durch die Kombination mit dem gewaltsamen Handeln erklären. Es entstehen zwei unterschiedliche Normen, die sich jeweils durch unabhängige Teilansprüche qualifizieren. Solche Teilansprüche verbalisieren sich häufig in Textteilen oder abhängigen Texten. Sie partizipieren an einem übergeordneten Gesamtsystem, dessen Teilglieder sie darstellen. Dies gilt auch für den Weinschwelg. Der Überbietungstopos des Schwelgs scheint nur durch die Referenz auf den Sangspruch zu funktionieren. Ohne die Auseinandersetzung mit den Minnesklaven oder den Jäger des falschen Jagdguts fehlten der Leiter die Sprossen, mit der der Trinker seine Meisterschaft ›erklettert‹. Kontextabhängige Inklusionen brauchen das Gesamtsystem, in denen sie stattfinden. Ihre Pluralisierungen lassen sich als unselbständig bezeichnen, weil sie ohne ihre Referenz nicht oder nur bedingt funktionieren.
765 Ebd., S. 158. 766 In den anderen von Fischer als Priapeia eingeordneten Mären (Preller, Striegel, Traum am Feuer) ist es ebenso der Penis, der personalisiert wird.
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Demgegenüber stehen weitgehend autarke Binnendifferenzierungen. Ihre Ordnungsentwürfe besitzen einen selbständigen Wert, weil sie in sich geschlossen sind. Der anthropologische Entwurf der Priapeia zum Beispiel besitzt eine independente Struktur, weil er auch ohne das andersgeschlechtliche Äquivalent funktioniert. Die Abhängigkeit untereinander wird nur sichtbar, wenn Texte wie Rosendorn und Nonnenturnier nebeneinandergelegt werden. In beiden stellt sich die gleiche Ausgangsfrage und in beiden bringen sich die Figuren in die Abhängigkeit zum anderen Geschlecht. Varianz erfährt vor allem der Ausgang. Die Inklusion in den Kontext funktioniert durch das Öffnen eines bisher geschlossenen Systems: Auch männliche Sexualität ist in den Priapeia abhängig von der Anerkennung des andersgeschlechtlichen Gegenübers. Auf ähnliche Weise funktioniert bei den Reihummären die Referenz auf die Einkehrspiele. Die Texte brauchen für ihre wechselseitigen Reden nicht die verschiedenen Rollendarsteller in einer Spielrotte, deren aufeinander folgendes Auftreten die Einkehrspiele charakterisieren.767 Der monodramatische Modus fängt alle Rollen in einem Sprecher ein. Das Recht auf Triebbefriedigung artikulieren die Figuren unabhängig von den Gerichtsszenen der Fastnachtsspiele. Solche weitgehend unabhängige Binnendifferenzierungen von sozialen und literarischen Ordnungen stellen ihrem Kontext ein in sich geschlossenes Teilsystem entgegen. Damit stehen sie in der Nähe zu exkludierenden Bewegungen, die ebenfalls unabhängige Ordnungen behaupten, dabei aber tradierte Werte für ungültig erklären und ausschließende Alternativvorstellungen zur Sprache bringen.
4.4.2. Exklusion von Ordnungen Bei den Exklusionen von Ordnungen geht es in allen Fällen um soziale Handlungsmuster. Ihnen ist gemein, dass sie traditionellen Diskursen eine alternative Handlungsmöglichkeit gegenüberstellen, die durch ein neues Wertesystem alte Normen ablehnt. Dabei wird der Widerspruch märentypisch drastisch artikuliert und in die Handlung eingebaut. Exkludierende Ordnungen stehen in asymmetrischen Relationen, im Fall des Wettkampfs in Sieger- über Verlierersystemen. Immer behaupten sie einen alleinigen Lösungsanspruch komplexer Verhältnisse. Ein Paradebeispiel stellt Heinrich Kaufringers Suche nach dem glücklichen Ehepaar dar. Kaufringer verwendet eine einfache Erzählform, um in767 Ehrstine: Aufführungsort als Kommunikationsraum. Ein Vergleich der fastnächtlichen Spieltradition Nürnbergs, Lübecks und der Schweiz (1999), S. 83.
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nerhalb seines Textes Handlungsmodelle zu differenzieren, indem er unter einer gemeinsamen Leiterzählung Alternativen aneinanderreiht. Die Konkurrenz beginnt mit einer Konzeption der Vergleichbarkeit, in der der Protagonist Männer gleichen Standes aufsucht, um bei ihnen die ideale Ehe kennen zu lernen. Dabei erweisen sich die beiden schnell als trügerische Idyllen, die sich hinter dem öffentlichen Schein als gewalttätige Rache- und Unglücksspiralen entpuppen. Der Protagonist wendet sich von beiden Negativbeispielen angewidert ab. Gegenüber ihrem Unglück erweist sich der anfänglich wahrgenommene Mangel, der Geiz der Ehefrau, nicht nur als minderes Übel, sondern als ergänzende Korrektur allzu großer eigener milte, die dem Kaufmannsstand ungebührend ist. Der Erzähler expliziert die Lehre im Epimythion anhand der Fehler anderer. Die milte in der Ehe erweise sich nicht nur als einzelner guter Charakterzug, aus ihr erwächst Tüchtigkeit (frümkait), die sich monetär auszahlt als Gegenwert der männlichen Wohltätigkeit. Somit wird der Widerspruch gegenüber dem Kontext in ein übergreifendes Wertesystem ausgebaut, in dem sich ein bürgerlich-kaufmännisches Eheideal wiederfindet. Ebenfalls auf eine finanziell gewinnbringende Ehe läuft das Wertekonzept des Hellerwertwitz hinaus. Aus den vermutlich französischen Textvorlagen konnte der Autor die Vorstellung einer unkäuflichen Liebe entnehmen. Innerhalb der Diskursgeschichte bildet der Text eine »Zusatzsemantik«768 aus, in der einer universellen Käuflichkeit aller Güter widersprochen wird. Mit der zusätzlich in die Texttradition eingebauten Konkurrenz führt Fressant die Unterscheidung Monogamie/Polygamie als neuen Wert in den Vergleich mit ein. Die polygamen Beziehungen werden durch eine moralische Abwertung ausgeschlossen; die ›rein‹ genannte, monogame Ehe wird mit Semantiken von Freude und Stabilität angereichert. Im Nachhinein wird versucht, das Gewinnersystem nachträglich zu naturalisieren, indem binäre Unterscheidungen zwischen reinen und unreinen Frauen, treuer und falscher Liebe gezogen werden. Mit solchen Gegenüberstellungen zeichnet der Hellerwertwitz vertikale Hierarchien. Nachhaltige Stabilisierung strebt der Text an, indem er die Kaufmannsehe einrahmt durch ein Rückbinden an prominente Vorbilder (Tristan, Gawan, Ovid, Adam) auf der einen Seite, eine Verheißung auf eine glückliche Zukunft auf der anderen Seite. Somit legitimiert der Text sein Ideal monogamer, beständiger Liebe auf doppelte Weise und baut die exkludierte Ehe axiologisch aus. In gewaltvolleren Formen können horizontale Abgrenzungen mit Auslöschung vollzogen werden. Im Heinrich von Kempten erschlägt der Ritter seinen Gegner, weil dieser gegen sein hierarchisches Ordnungsmuster verstößt, indem er einen jungen Prinzen maßregelt. Dieser Akt der Gewalt wird im 768 Reichlin: Ökonomien des Begehrens, Ökonomien des Erzählens. Zur poetologischen Dimension des Tauschens in Mären (2009), S. 126.
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Nachhinein legitimiert, weil der Ritter den Kaiser erst in Geiselhaft nimmt, ihn später jedoch im Alleingang vor Meuchelmördern rettet und damit beide Extreme der Hierarchie durchläuft: maximales Aufbegehren und völlige Aufopferungsbereitschaft. Konrad von Würzburg lenkt in der Bearbeitung des Stoffs das Augenmerk des Publikums auf den stratifikatorischen Aufbau der Macht, dies beweist sich vor allem in den Schlüsselepisoden. Das Märe ließe sich durchaus als archaisierende Reaktion auf die spätmittelalterlich sehr beliebten Hof- und Tischzuchten lesen: In drei der sieben Handschriften sind ebenjene höfischen Regelsammlungen mit dem Märe überliefert. Heinrich handelt immer nur im Koordinatensystem des Vasallentums und missachtet das höfische Zeremoniell. Ambivalenzen der mittelalterlichen zuht werden in dem Streit Truchsess-Heinrich zugunsten einer körperbetonten Gewaltpraktik gelöst. Für Heinrich ist die Hierarchie das einzig entscheidende Ordnungsprinzip. Durch Rückbinden der Italien- an die Hofepisode wird diese Handlungsmotivation von hinten legitimiert. Mit dem Retten des Kaisers wird das Gewaltpotenzial der ›entdisziplinierten‹ Figur autorisiert: Somit hat sich ein alleiniger Lösungsanspruch gebildet, dessen reduziertes Männerbild im Epimythion sogar eine Vorbildfunktion für alle Ritter zugesprochen wird. Konrads entworfenes Handlungsmuster behauptet einen alleinigen Anspruch auf Gültigkeit durch Auflösen und Ausschluss von Polysemie im Begriff der zuht. Exkludierende Phänomene wirken nicht solchermaßen kulturreduzierend, wie es vielleicht auf den ersten Blick erscheint. Vielmehr behaupten exkludierende Ordnungen ihren eigenen Wert in einem Funktionssystem. Sie stellen kontradiktorische Einsprüche auf, indem sie die Aussagen und Werte anderer normativer Ordnungen in Zweifel ziehen und somit sich selbst rechtfertigen. Neue und tradierte Ordnungen teilen sich ein gemeinsames Bezugssystem, aus dem aber unterschiedliche Bewältigungsstrategien hervorgehen. Exklusion funktioniert durch die Behauptung neuer Verfahren innerhalb bekannter Kasus während des Wiedererzählens. In diesem Sinn sind exkludierende Ordnungen zunächst nur Widersprüche, die dann durch immer mehr Kontextbezug zu selbständigen Ordnungen heranwachsen. Die anfangs singulären Widersprüche werden durch Sequenzen und narrative Legitimierungen ausgebaut und stabilisiert. Exkludierende Ordnungen sind in sich geschlossen und besitzen eine eigene innere Struktur, in der sie einen alleingültigen Wert behaupten. Sie können einen relativ hohen Stabilitätsgrad erreichen, da sie sich weder in einem fortlaufenden Abgrenzungs- noch Abhängigkeitsverhältnis befinden. Sowohl die Inklusion als auch die Exklusion setzen auf eine Differenzierung von Ordnungen, nach innen oder außen, und pluralisieren damit Normen. Eine ähnliche Beobachtung von Differenzen als Ausgangslage einer Analyse von Vielfalt hat sich in der Mediävistik im Übrigen schon länger als fruchtbar er-
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wiesen. Und so lassen sich auch die Ergebnisse dieser Arbeit in eine bestehende Forschungsrichtung einfügen.
4.5. Einordnung der Ergebnisse in eine differenzorientierte Mediävistik Die erbrachten Ergebnisse resultieren aus Analysen spätmittelalterlicher Mären, die im besonderen Maße Pluralisierungen durch Ein- oder Ausschlüsse thematisieren. Die Beobachtung von Inklusionen und Exklusionen normativer Ordnungen lässt sich sicher weniger in gleichem Maße auf andere Gattungen beziehen. Bei den Mären ist ein partielles Unterwandern starrer Ordnungen ein beliebtes Thema. Doch bereits die höfisch-galanten Mären769 sind weitaus weniger bereit, bestimmte moralische Positionen einfach aufzugeben. Nicht umsonst haben die Einzeltextanalysen hier kein Märe aus jenem Grundtyp behandelt.770 Es ist hilfreich, hinter inhaltliche Gemeinsamkeiten zurückzutreten, um die hier gesammelten Erkenntnisse in einen größeren Forschungskontext einordnen zu können. Will man die Ergebnisse in einen breiteren Zusammenhang bringen, lohnt es sich einen Schritt weiter zu gehen und den Erzählfaden der Mären zu formalisieren. Am Beginn jedes Pluralisierungsprozesses vollziehen die Erzählungen ein Markieren von Unterschiedlichkeit, bevor sie erst in einem zweiten Schritt einen Gegensatz entwerfen oder Gemeinsamkeiten betonen. Somit lassen sich Differenzmarkierung als Bedingung für Vielfalt begreifen. Auch Wettkämpfe fußen darauf, dass Differenzen vollzogen werden. Für Simmel galt Dissoziieren als Ursache jeder Form des Streits. Konflikte waren für ihn bereits die Versuche, Dualismen aufzuheben oder divergierende Elemente unter einem gemeinsamen Ziel zusammenzubringen.771 Von Vielfalt lässt sich bei Simmel dann sprechen, wenn solche gegensätzliche Elemente in ein geordnetes Verhältnis gebracht werden.772 Auch innerhalb der Mediävistik gibt es Arbeiten, die Pluralisierungen beschreiben, indem sie offenlegen, wie innerhalb einer kulturellen Praxis Unterscheidungen getroffen und einem Wert ein Gegenwert entgegensetzt wird. Drei 769 Zu diesem Grundtypus der Märendichtung s. Fischer : Studien zur deutschen Märendichtung (1983), S. 111–113. 770 Es ließe sich vielleicht noch an Heinrich von Kempten denken, der in einem höfischen Kontext spielt. Doch steht der Text der höfischen Welt sehr kritisch gegenüber, in der er der höfischen Kultur eine archaisierte Vorstellung von Männlichkeit entgegensetzt. Auch Fischer ordnet ihn nicht zu den höfisch-galanten, sondern unter die kleine Gruppe, die sich an die historisch-chronikalischen Dichtung anlehnt. Ebd., S. 100. 771 Simmel: Der Streit (2001), S. 284. 772 Vgl. Ebd., S. 285–288.
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solcher Ansätze in der kulturwissenschaftlich versierten Mediävistik werden im Folgenden vorgestellt. Der Historiker Michael Borgolte hat in den letzten Jahren mehrere Arbeiten zur Vielfalt Europas veröffentlicht. Sie eint die Vorstellung einer kulturellen Vielfalt im europäischen Mittelalter, die Borgolte dem ›Einheitssyndrom‹ der übrigen Geschichtswissenschaft entgegensetzt.773 Vielfalt bedeutet für ihn, dass eine Unterscheidung in Erscheinen tritt, die nicht vereinheitlicht werden kann.774 Seine Monographie Europa entdeckt seine Vielfalt 1050–1250 folgt im Aufbau diesem Denken. Im umfangreichsten Kapitel vergleicht er jeweils zwei oder drei europäische Monarchien unter dem Aspekt ihrer differenten Herrschaftsidee. So beanspruchten beispielsweise sowohl das römisch-deutsche Reich im Westen als auch Byzanz im Osten jeweils für sich das Fortsetzen der Herrschaft des antiken römischen Imperiums, die in der Ideologie des Kaisertums gipfelte. Byzanz stand in ununterbrochener Kontinuität zur römischen Antike; sein Herrscher verkörperte das Reich selbst, das heißt den orbis Romanus. Dies hinderte Karl den Großen jedoch nicht, sich seinerseits 800 zum Kaiser über das Imperium Romanum krönen zu lassen. Die Provokation dieses Selbstverständnisses für den östlichen Kaiser war ihm ebenso bekannt wie Otto I., der als zweites die Kaiserwürde 962 antrat. Mit der Empörung konnte man scheinbar ebenso gut leben wie mit der Konkurrenzsituation. Widersprüche konnten ohne größere Probleme ertragen und aufrechterhalten werden. Konrad I., dem der römische Titel Caesar augustus zukam, sah kein Problem darin, (wenn auch am Ende erfolglos) in Byzanz um eine Prinzessin als Braut für seinen Sohn Heinrich werben zu lassen.775 Das Reich im Osten schien er als seinem ebenbürtig anzuerkennen, auch wenn oder gerade weil die beiden Reiche in Konkurrenz zueinander standen. Die Herrschaftslegitimationen beider Reiche konnten nebeneinander koexistieren. Innerhalb Europas herrschte eine plurale Herrschaftsgenealogie, die – aus Sicht der deutschen Kaiser – der oströmischen Herrschaft eine Differenz entgegensetzte. Die mittelalterlichen Europäer begriffen laut Borgolte Vielfalt vor allem als die Pluralität der Sprachen und der Ethnien. Dabei bildet die Genesis eine Leiterzählung, die »Ursprung und Verbreitung der Völker und Sprachen von
773 Als ›Einheitssyndrom‹ nennt Borgolte eine Vorstellung in der Mediävistik, in der jeder mittelalterlichen Kulturpraxis eine diskursive Hegemonie übergeordnet gewesen, vom Lateinischen geprägte und durch die römische Kirche dominiert. Borgolte: Wie Europa seine Vielfalt fand (2005), S. 122. Er erwidert dieser Vorstellung auf S. 128: »Europa war nicht ›Einheit in der Vielfalt‹, sondern muß eher als ein Gefüge von Einheiten mit zahllosen Differenzen begriffen werden.« 774 Ebd., S. 129. 775 Borgolte: Europa entdeckt seine Vielfalt: 1050–1250 (2002).
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vornhinein in einen systematischen Zusammenhang bringt.«776 Die Geschichte vom Turmbau zu Babel erzählt von einem Volk mit einer Sprache, die Gott über die ganze Erde verstreut. Die neuen Ethnien werden in die Nachfolge Noahs und seiner Söhne eingeteilt und in einer ›Völkertafel‹ sortiert.777 Die Differenzziehung unter den Kulturen wurde in göttliche Gewalt transzendiert. Die Unterschiedlichkeit der Sprachen und der Kulturen konnte an ihren zeitgenössischen Endpunkten nebeneinander bestehen. Im Waltharius konnte »erstaunlich nüchtern«778 über Europas Differenzen gedacht werden, wenn Kategorien aufgeworfen werden, um die Ethnien Europas zu unterscheiden: [E]in Drittel des Erdkreises trägt den Namen Europa / welches mancherlei Völker nach Sitten, Sprache und Namen / scheidet, ferner nach Tracht und den Göttern, die sie verehren.779 In den eigenen Geschichtsschreibungen leiteten sich nahezu alle Königreiche und ethnischen Gruppen von Eneas und den Trojanern ab: Franken und Franzosen, Briten und Engländer, Iren, Normannen und Dänen, Isländer, Polen und Ungarn. »Alle wollten Trojaner sein, in der Regel ohne von den konkurrierenden Ansprüchen anderer überhaupt Kenntnis zu nehmen.«780 Das Nebeneinander genealogischer Abstammungsnarrative wurde stillschweigend geduldet. Der Unterschied des Eigenen vom Anderen war immer bekannt, jedoch fand eine Auseinandersetzung mit dem Unterscheidungsvorgang und der damit einhergehenden widersprüchlichen Pluralität nicht statt. Damit blieben Zweideutigkeiten unthematisiert und unkonzeptionell, wurden insgesamt selten problematisiert. Borgolte erkennt an, dass Vielfalt ein schwer erträglicher Zustand ist, der in den allermeisten Fällen nicht angestrebt wurde. Der Unordnung wird nur ungern Dauer und Wirken zuerkannt.781 Wenn Zweideutigkeiten sichtbar werden, werden sie allzu häufig einkassiert. In der mittelalterlichen Geschichtsschreibung konnte deshalb ein Nebeneinander von sich eigentlich logisch ausschließenden Narrativen aufrechterhalten werden. Als Unterscheidungskategorien ethnischer Pluralität galten Religion und Sprache und der Akt der Differenzziehung wurde mit göttlicher Kraft begründet. Der eigene Kulturkreis in der pluralen Koexistenz der Völker Europas legitimierte sich durch transzendente Aufgliederung. Ein differenzorientiertes Kulturverständnis war damit der damaligen Historik nicht fremd. 776 Borgolte: Wie Europa seine Vielfalt fand (2005), S. 135. 777 »Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Ethnien, von denen vierzehn von Noahs Sohn Japhet, dreißig von dessen Bruder Ham und sechsundzwanzig vom dritten Sohn Sem abstammen.« ebd., S. 136. 778 Ebd., S. 137. 779 Tertia pars orbis[, fratres,] Europa vocatur, / Moribus ac linguis varias et nomine gentes / Distinguens, cultu, tum relligione sequestrans Waltharius (Edition: Vogt-Spira), V. 1–3. 780 Borgolte: Wie Europa seine Vielfalt fand (2005), S. 139. 781 Ebd., S. 130.
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In der Literaturwissenschaft zeigt sich die Suche nach kulturellen Grenzziehungen, durch die Ordnung vervielfältigt wird, besonders in der diskursanalytisch versierten Forschung. Zwei Beiträge aus dem Handbuch Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik782 sollen als Beispiele dienen: Andrea Sieber zu den Gender Studies und Andreas Kraß zur Kritischen Heteronormativitätsforschung. Andrea Sieber erkennt in der Geschichte der germanistischen Genderforschung, dass vor allem jene Geschlechterordnungen in der Wissenschaft in den Blick genommen wurden, die vor der mittelalterlichen Norm zwangsweise ›irritierend‹ gewirkt haben mussten.783 Aufgrund »des erotischen Experimentalcharakters und des Potenzials zur Transgression von gender-Stereotypen« wurde crossdressing ein »altgermanistischer ›Dauerbrenner‹«.784 Im Akt des Einkleidens des Körpers in die entgegengeschlechtlich codierte Kleidung wird das crossdressing zur Möglichkeit des Widerspruchs gegen eine dichotome Geschlechterwelt. Das Auffinden solcher und anderer ›alternativer genderKonfigurationen‹ wurde zur Leitperspektive mediävistischer Genderforschung. Geht man mit dieser Leitperspektive an die Texte heran, ergibt sich daraus zwangsläufig »ein[ ] Pluralismus koexistierender, kooperierender und konkurrierender Begehrensformen und Identitätsentwürfe«785. Dass dies nicht selbstverständlich ist, wird deutlich, wenn man die Leitperspektive anderen Ansätzen gegenüberstellt. Der Analyseansatz von doing gender beispielsweise, also das Verständnis von gender als ein Produkt performativer Tätigkeiten, wie es häufig in den Sozialwissenschaften gepflegt wird, nimmt nicht die Grenzziehung, sondern die Konstruktion von Geschlechtermodellen und Geschlechterhierarchien in den Blick. Nun ist die Herstellungspraxis von Geschlecht an das Wissen um Geschlecht gekoppelt, weshalb in einem binär imaginierten System doing gender ebenfalls kontrastiv vonstattengeht (männlich als nicht-weiblich und vice versa), doch fällt diese logische Schlussfolgerung allzu oft in der Betrachtung aus. Die Untersuchung von crossdressing hingegen fokussiert von ihrer Ausgangsidee der Transgression her zwangsläufig den Widerspruchscharakter innerhalb des Geschlechtersystems. Die Genderforschung betrachtet damit eine jener differenzorientierten mittelalterlichen Kulturpraxen. Die zuvor formulierte Differenzbetrachtung geht dann folgerichtig auch in Siebers Analyse des Nibelungenlied auf. Damit die »gender-Identität«786 der literarischen Figuren (Kriemhild, Brünhild, Siegfried, Gunther) intelligibel wird, 782 Ackermann und Egerding: Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik. Ein Handbuch (2015). 783 Sieber : Gender Studies (2015). 784 Ebd., S. 112. 785 Ebd. 786 Ebd., S. 121.
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setzt das Epos auf unterschiedsbetonende Attribute, die exkludierend gesetzt werden. Sieber zählt auf, welche Elemente auf der Grammatik- und Figureneben männlich codiert sind und wie Weiblichkeit allein aus der Abwesenheit jener Codes konstruiert wird: Gegenstände, Frisuren, Gesten, Tätigkeiten, aber auch Örtlichkeiten, Namen, Pronomina und das grammatische Genus sind geeignet, geschlechtliche Identität zu signifizieren. Die Wahrnehmung des sozialen Geschlechts wird von einem System männlich codierter Attribute und Machtinsignien (wie Bart, Zepter oder Zeremonienstab) gesteuert und der Effekt von Weiblichkeit in Abgrenzung dazu erzeugt.787
Zehn Mal in ihrem Handbuchbeitrag788 und sicherlich gewollt wählt Sieber für die Beschreibung der Figurendarstellung den Terminus ›gender-distinkt‹; die Differenzziehung ist damit in die Semantik ihrer Analysetools eingeschrieben. Einen ebenfalls diskursgeschichtlich versierten Ansatz folgt Andreas Kraß zur Queer Theorie.789 Äquivalent zu einer Genderwissenschaft, die sich nicht auf Weiblichkeitsforschung reduziert, beschränken sich die Queer Studies nicht auf die Erforschung sexueller Minderheiten. Vielmehr wird der Diskurs binärer Oppositionen des Geschlechts und der Sexualität hinterfragt und Grenzziehungen zwischen als normal angenommenen sowie als deviant markierten Identitäten offengelegt. Mithilfe eines close readings werden in weiteren Schritten die »expliziten und impliziten Spielräume des Begehrens« in den Blick genommen.790 Damit geht es den Queer Studies auch um jene Literatur, die einer Grenzziehung unterliegt, um dieser eine Handlungsmacht oder -ohnmacht entgegenzusetzen. Kraß wählt für seine Beispielanalyse Heinrichs von Veldeke Eneasroman vor dem Hintergrund des antiken Epos Vergils (Aeneis) sowie des altfranzösischen Roman d’Êneas. Dabei kann er anhand der den jeweiligen Texten zugrundeliegenden Verschiebungen des Sexualitätsdispositivs – im Sinn Foucaults – Differenzziehungen des mittelhochdeutschen Textes ausfindig machen. In der antiken Stofftraditionen der Figuren Achilles und Patroklos aus der Trojasage, die Vergil als Vorlage für die freundschaftliche Beziehung zwischen Aeneas und Pallas diente, beklagt Achilles den Tod seines Geliebten und erinnert sich an Küsse, Liebkosungen und an den (vor allem an das Konzept der Päderastie gebundenen) Schenkelverkehr zwischen beiden.791 In den beiden mittelalterlichen Eneasromanen wird dieses intime Verhältnis zur Schuld der Sodomie. Der französische Roman entspinnt den Dialog zwischen Lavine und ihrer Mutter, in dem die Ältere »dem Trojaner [unterstellt], dass er sein Begehren 787 788 789 790 791
Ebd. Ebd., S. 118, 119, 120 (zweifach), 122, 123, 126, 129, 131 und 132. Kraß: Kritische Heteronormativitätsforschung (Queer Studies), ebd. Ebd., S. 329. Ebd., S. 334.
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nicht auf Frauen, sondern auf Männer richte.«792 Sie verdammt ihn als sodomite und »beklagt die Naturwidrigkeit seines Verhaltens. Die Saat der üblen Nachrede geht in Lavinia auf, die sich ihrerseits vorstellt, was Eneas wohl mit anderen Männern mache.«793 Im Bearbeiten der antiken Vorlage wird damit eine Differenzziehung ersichtlich, die der antiken Päderastie einen Widerspruch entgegen setzt: Sexueller Kontakt zwischen Männern wird als deviant verdammt, der tatsächliche Vorgang gerät in den Blick, eine spezifische Veranlagung wird nicht behauptet. Heinrich von Veldeke »kürzt die betroffenen Szenen und nimmt größere Rücksicht auf das Tabu der Sodomie«794. Es überwiegen moralische Vorwürfe: Eneas trage Schuld am Tod Didos und er vernachlässige die Reproduktionspflicht. Beide Umschreibungen sind unterschiedliche Ausformulierungen desselben mittelalterlichen Sodomiediskurses und gleichzeitig ein Widersprechen gegenüber der antiken Päderastievorstellung. Ihre Motivation findet sich nach Kraß im Rechtfertigen der Freundschaftsbeziehung zwischen Eneas und Pallas. »Wenn der Vorwurf der Sodomie Eneas nicht trifft, dann trifft er auch nicht die Beziehung zu seinem Freund.«795 Der Mehrwert gegenüber der Analyse von Sieber ist das Herausarbeiten nicht intratextueller, sondern intertextueller Differenzen. Darüber hinaus kommen epochenübergreifende Grenzen zur Sprache. Die mittelalterlichen Fassungen setzen dem antiken Diskurs eine Differenz entgegen: der Sodomiediskurs gegenüber dem der Päderastie. Die mittelalterlichen Autoren behaupten gegenüber Vergil eine differente Wertung und schreiben die Sodomie in die Vorlagenbearbeitung hinein. Die deutsche Fassung treibt den Unterscheidungsakt weiter als die französische Vorlage: Der innere Monolog der Lavine wird gekürzt, das Tabu bedingt Kürzen und Moralisieren bei Lavinia. Komplexe Differenzen lassen sich also auch in vormodernem Denken finden und wurde beispielsweise im Turmbau zu Babel in ein Narrativ übersetzt. Dieser Umstand wird in der Erforschung koexistierender, kooperierender und konkurrierender Kulturkonzepte bestätigt, beispielsweise in den Gender und Queer Studies. Die Markierungen von Differenzen kann dabei unterschiedliche Formen angenommen haben und ihre Wahrnehmung ist geprägt von differenten Theoriemodellen. Darin unterscheiden sich beispielsweise auch Kraß’ Darlegen des Sodomiediskurs von der Antike hin zum Mittelalter und Borgoltes Verständnis mittelalterlicher Geschichtsschreibung vom Turmbau zu Babel. Kraß’ diskursanalytischer Ansatz baut auf einer Grenzziehung zwischen Sodomieund Päderastiediskurs auf. Dabei bezieht er sich ausführlich auf Michel Fou792 793 794 795
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 335.
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cault, der die historisch wandelnden Grenzziehungen zwischen Vernunft und Wahnsinn, Außen und Innen der Gesellschaft, dem Ausschluss der Perversion, ganz allgemein zwischen ›Normal‹ und ›Devianz‹ beschrieb.796 Borgoltes Beispiel des Noah- und Turmbau-Narrativs beschreibt ausführlicher das Verketten von Einheit und Differenz: Durch Noahs Erbfolge werden die Völker in ein binnendifferenziertes System mit den drei Söhnen als Schlüsselfiguren zusammengebracht. Im Mittelalter und der Frühen Neuzeit postulieren die Staatengebilde und die beginnenden Nationalstaaten eine Nachfolge des Eneas’ und bringen ihre eigene Ethnie ein in eine nationale Ursprungserzählung der vier Reiche – unbeeindruckt davon, dass sich beinahe alle Staaten dieses gleichen Geschichts-Narrativs bedienen. Die Beobachtungen stützen unterschiedliche Formen der inneren Differenzierung von Diskursen: Austausch tradierter Diskurse (Kraß/Foucault) und Verketten wechselnder Ein- und Ausschlüsse (Borgolte). In der vorliegenden Arbeit wurden Differenzen vor allem auf ihr Änderungspotenzial gegenüber dem tradierten Erzählgut hin beobachtet. Mit dem Analysetool von Inklusion und Exklusion wurden die Wirkungen von Unterscheidungen beschrieben, womit Änderungen vor allem als Eingliederungen oder bewusste Distanznahmen beschrieben wurden. Im Zentrum standen die Differenzsetzungen der Mären innerhalb der Erzählung oder zur literarischen Tradition. Sekundär war die Frage, wie Diskrepanzen am Ende aufgelöst werden. Vervielfältigung findet in den Mären vor allem im Handlungsverlauf statt und weniger in den Epimythia. Für einen Wettkampf ist es grundlegend, dass eine Unterscheidung getroffen und einem Wert ein Gegenwert entgegensetzt wird. In einem solchen Sinn kann auch eine Analyse von erzählten Konflikten in eine differenzorientierte Mediävistik einsortiert werden. Betrachtet man die Referenztexte, von denen sich die Mären distanzieren, lässt sich im Übrigen eine diachrone Entwicklung festmachen. Während frühe Gattungsbeispiele sich vor der Folie höfischer Dichtung entwickeln wie Sangspruch oder Aventiureroman, orientieren sich die späteren Mären durchaus an ihrer eigenen Gattung. Darauf wird im Folgenden weiter einzugehen sein.
796 Für den Unterschied zwischen den verschiedenen Forschungstraditionen zu Inklusion und Exklusion, auch in Bezug zu Foucault, s. Bohn: Inklusion, Exklusion und die Person (2006), S. 15–17.
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4.6. Von der reflexiven zur selbstreflexiven Gattung Coralie Rippl verweist in ihrer Dissertation auf die hohe Anschlussfähigkeit der Gattung Märe an andere Genres mittelalterlicher Literatur (s. a. Kapitel 2.4 in dieser Arbeit). Die Mären nehmen fremde Texte als Ausgangslage. In ihrer »formal-stilistischen Konzeption«797 orientieren sie sich nach außen; diese Reflexivität zeichnet sich als Gattungsmerkmal des Märe aus. Für die analysierten Einzeltexte dieser Arbeit lässt sich das Theorem von der ›Reflexgattung Märe‹ bestätigen. Mehrere von ihnen übernehmen formale Merkmale fremder Gattungen, beispielsweise in Gold und Zers Elemente der Minnerede wie das Beobachter-Ich oder der Spaziergangtopos, oder die .ventiure-Episoden, die Kaufringers Suche rahmen. Das instruktivste Beispiel ist aber der Rosendorn. Aus dem religiös motivierten Lehrstreit zwischen einem Mann und einer Frau bei Capellanus wird ein Streitgespräch zwischen einer Frau und ihrer Vagina. Wenn das Märe Capellanus aufgreift, verschiebt es also das Personal. Die Frau in De Amore entspricht dabei der Vagina im Märe: Beide eröffnen den Streit um den Wert des Genitals und plädieren auf der Inhaltsebene für das Wertschätzen des ›unteren‹ Körperteils durch das Argument der Natürlichkeit. Die Argumentation des Mannes im Lateinischen übernimmt im Mittelhochdeutschen die Frau: Beide werten die Natürlichkeit als Kreatürlichkeit ab, woraus sie die Superiorität des geschlechtslosen Körpers schlussfolgern. Formal übernimmt der Rosendorn damit das Erzählgerüst des Prätextes.798 Experimentiert wird vor allem mit dem Stil: Während sich bei Capellanus ein eloquenter Streit entspinnt zwischen zwei Hochadeligen (nobilior und nobilori), fällt das Märe in einen derberen und direkteren stilus humilis zwischen einer ständisch unbestimmten Frau (bezeichnet als juncfrau, magd oder weib) und ihrer Vulva.799 Dass die Variation des Stils auch mit einer inhaltlichen Verschiebung einhergehen kann, wird bereits schon von Rippl betont.800 Im Beispiel des Rosendorn ist dies der Ausgang des 797 Rippl: Erzählen als Argumentationsspiel. Heinrich Kaufringers Fallkonstruktionen zwischen Rhetorik, Recht und literarischer Stofftradition (2014), S. 15, nach einem Zitat von Wolf-Dieter Stempel über das französische Fabliau, deren ebensolche Reflexivität schon länger bekannt ist. 798 Damit widerspreche ich Schirmer, der eine direkte Vorlage von de Amore anzweifelte. Vgl. Schirmer : Stil- und Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle (1969), S. 267f. 799 Den einfachere Stil als Phänomen des Schwanks hat Heinrich von Veldeke: Eneasroman (Edition: Kartschoke) herausgearbeitet. Darauf verweist auch schon Rippl: Erzählen als Argumentationsspiel. Heinrich Kaufringers Fallkonstruktionen zwischen Rhetorik, Recht und literarischer Stofftradition (2014), S. 15, Anm. 72. 800 Rippl: Erzählen als Argumentationsspiel. Heinrich Kaufringers Fallkonstruktionen zwischen Rhetorik, Recht und literarischer Stofftradition (2014), S. 15.
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Streits: Das Entsexualisieren des Körpers wird im Märe am Ende verworfen, das Genital wieder an den Körper appliziert. Der Text verhandelt die von einem Theologen entworfene Pointe neu, indem er sie in einen differenten Kontext stellt und dort neu durchspielt. Das Primat des Geistes wird dabei aufgehoben. Ein letztes Beispiel: Die Erzählung Der Weinschwelg mit seinem hohen Monologanteil verbindet den deutschen Sangspruch mit der lateinischen Vagantenlyrik. Ohne dies ebenso ausführlich auszuführen wie im Rosendorn, lässt sich die Reflexivität des Weinschwelg vornehmlich als Variation durch Kombination einordnen. Ein direkter Prätext lässt sich nicht ausmachen, das Märe bleibt aber sehr nah am Gestus der vorbildhaften Gattungen, allen voran des Sangspruchs, dessen Pointieren der Meisterschaft es übernimmt. Damit gelingt es dem Text im Vergleich zum lateinischen Weinlob, das Ich des Trinkers in den Mittelpunkt zu stellen. Das Märe kombiniert Vagantenlyrik und Spruchdichtung und bringt ihre Sujets und ihren Stil in einer Kurzerzählung unter. Die Reflexivität in der Märenkomposition betont vor allem, wie durch Variation die Erzähltechniken erweitert werden.801 Dass die obigen Beispiele von Hanns Fischer zu den Grenzfällen gezählt wurden,802 beweist, wie schnell die Reflexivität des Märe falsch gedeutet werden kann als Abkehr von der Gattung. Dabei können die Variationen der Prätexte nichts anderes als märentypisch genannt werden: die Mären betonen das Triebhafte, sie entindividualisieren die Figuren oder erproben ansonsten festgesetzte Normierung.803 Darüber hinaus haben die obigen Beispiele noch eine weitere Eigenschaft. Sie reflektieren fremde Gattungen: Minnereden, lateinisches Traktat oder Sangspruch. Ausgehend von der Reflexivität fremder Traditionen lässt sich in späteren Mären eine Weiterentwicklung erkennen. Denn die Mären des 14. und 15. Jahrhunderts lassen sich gewissermaßen als selbstreflexiv lesen, das heißt sie übernehmen Merkmale nicht der fremden, sondern der eigenen Gattungstradition. In diese Richtung geht bereits Klaus Grubmüller bei seiner Deutung des Nonnenturnier. Er liest das Märe als einen »Text zweiter Ordnung«804, der auf die Darstellungselemente anderer Priapeia aufbaut. Während ältere Texte wie der Rosendorn das Trennen von Person und Sexualität durchspielen und als experimentelles Durchgangsstadium für die Frage nach dem Wert des Sexuellen 801 Ebd., S. 16. 802 Fischer : Studien zur deutschen Märendichtung (1983), S. 72–77. 803 Vgl. Friedrich: Trieb und Ökonomie. Serialität und Kombinatorik in mittelalterlichen Kurzerzählungen (2006). 804 Grubmüller : Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter : Fabliau, Märe, Novelle (2006), S. 238.
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Resümee
nutzen, weiß die böse frau zu Beginn des Nonnenturnier bereits um den Ausgang eines solchen Versuches. Sie nutzt die Denkfiguren und die Argumente, ohne dass sie im Verlauf erst evoziert werden müssen und macht sie für ihre Rache dienstbar. Der Text referiert damit nicht auf eine fremde Gattung, sondern zeigt seinen Anschluss an bestehende Exemplare des eigenen Genres, ohne nur im Rahmen des Wiedererzählens zu verbleiben. Bringt man Rippls Verweis auf die Reflexivität des Märe und Grubmüllers Verständnis von einem Text zweiter Ordnung zusammen, lassen sich diese fruchtbar verknüpfen. Mären jenseits der frühen Gattungszeugnisse, vor allem jene der zweiten Hälfte des 14. und des 15. Jhs. werden zunehmend selbstreferentiell, das heißt sie greifen keine fremden, sondern eigene Konzeptionen hinsichtlich Stils, Form und Denkfiguren auf und wandeln diese kreativ um. Selbstreflexivität experimentiert mit ungenutzten Formen des Erzählens, verhandelt neu und entwickelt die Gattung weiter. Die Kontextanreicherung gegenüber der Textreferenz bringt neue Ideen ins Spiel, entwickelt Traditionelles fort und bringt alte plots in neue Zusammenhänge. Auch hier nimmt das Überführen der Erzähltechnik Einfluss auf den Inhalt: Obwohl die Mären Änderungen an den Prätexten nicht explizieren, lassen sich märenspezifische Strategien festmachen, beispielsweise wenn Moral ambiguisiert wird und Wertesysteme gegeneinander ausgespielt werden.805 Wettkämpfe bieten hier ein besonders fruchtbares Setting, weil sich in ihnen Inhalte wechselseitig überbieten. Doch auch andere Formen der selbstreflexiven Anknüpfung sind denkbar und weitere Forschung könnte sich der Selbstreflexivität der Gattung widmen. Zwei weitere Beispiele zeigen, wie die Kontextanreicherung durch den Wettkampf nicht auf fremde, sondern auf eigene Gattungselemente zurückgreift. In Heinrichs des Teichners Rosshaut, Mitte des 14. Jhs. entstanden, wird das Schwankschema von Schlag und Gegenschlag im Kontext der Frauenzüchtigung um ein Muster von Gabe und Gegengabe erweitert. In einer ganzen Reihe von Mären wird weibliches Aufbegehren mit einer gewaltvollen Korrektur seitens des Ehemanns beantwortet, einschließlich der einstimmigen Legitimation durch die Eltern, die Herkunftssippe oder den Pfarrer; beispielhaft können hier Strickers Die eingemauerte Frau, Sibotes Frauenerziehung oder Jörg Zobels Die Faule Frau sein. Beim Teichner wird die Reaktion ständespezifisch differenziert: Gewaltvolle Züchtigung wird dem Handlungsrepertoire des Ehemanns aus unterem Stand zugeordnet, während dem herzoglichen Adel die generöse Gabe zufällt, um die Dienstfrau von ihrer hochvart zu lösen und den Einsatz des Dienstmanns zu entschädigen. Der märenspezifisch moralische Widerspruch gegenüber den Vorlagen wird hier mithilfe der Ständethematik eingebracht. In 805 Friedrich: Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen (2005), v. a. S. 246 u. 248f.
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diesem Fall stammt die Kontextanreicherung nachweislich aus dem lehrhaften Spruchœuvre des Teichners, der die standesspezifischen Handlungsmaximen in ein übergreifendes Ideal brachte, das er als inneren Adel begriff. Ein anders Beispiel für eine Selbstreflexion der Gattung sind die Reihummären, entstanden ab dem Beginn des 15. Jhs. und beeinflusst von den Nürnberger Einkehrspiele. In der Werkgruppe treten die Figuren in Reihe nacheinander auf, um ihre Triebbefriedigung zu rechtfertigen, am häufigsten verteidigen Frauen ihren Ehebruch gegenüber ihren schwachen Männern. Damit füllen sie ein tradiertes Erzähldefizit. In früheren Mären wird weibliche Treulosigkeit, sei es widerspenstiges Verhalten gegenüber dem Ehemann (das ist die Xanthippetradition), oder tatsächlicher Seitensprung, nicht motiviert. Beim Fremdgehen im Märe folgt die Ehefrau immer nur ihrem Sexualtrieb, die Untreue wird nicht weiter begründet als durch die schlechte Natur der Frauen.806 Ebenso wie der häufig beteiligte Pfarrer scheint die Ehebrecherin biologisch zum Ehebruch determiniert. Sobald sich eine Möglichkeit zur Untreue ergibt, wird diese auch ergriffen. Dementsprechend handeln die Eheschwänke dann auch davon, wie das Stelldichein arrangiert wird, die Frau es vertuscht oder der Mann es aufdecken kann. Das klassische Schwankpaar listig-überlegene Ehefrau vs. düpierter Ehemann bleibt undifferenziert darin, wie der
806 Es gibt ein paar wenige Ausnahme unter den fast 200 Mären, die ich jedoch als mögliche Referenzmöglichkeit der Reihummären ausschließen kann: – Eine Begründung des Seitensprungs nennen Die zwei Beichten A und B, doch hier rechtfertigt sich die Frau nur nach gezielter Nachfrage ihres Ehemanns (Fassung B) oder streitet jede Einwilligung in die Vergewaltigung ab (Fassung A). Von einem unfreiwilligen Ehebruch erzählt auch Heinrich Kaufringers Der zehnte von der Minne. – In Moritz von Craûn überzeugt der Protagonist die Dame durch sein Können. Der eigentliche Akt kommt dann aber erst gegen den Willen der Frau (beziehungsweise durch eine List des Ritters) zustande. – In Schampiflor sträubt sich die verheiratete Dame erst gegen die Avancen des Buhlers, willigt am Ende jedoch ein. Zum Akt kommt es am Ende jedoch nicht. – In der Heidin motiviert sich der Ehebruch der heidnischen Dame durch den klugen Trick des buhlenden christlichen Ritters. Die Entscheidung der Frau motiviert sich vor allem auch dadurch, dass er am Ende die Frau mit nach Hause nehmen und christianisieren kann. – In Rosenplüts Der Knecht im Garten überredet der Untergebene die Ehefrau zum Ehebruch. Anscheinend war die Motivation des Ehebruchs Rosenplüt tatsächlich ein Anliegen, vor allem wenn man neben das Märe die viel einfacheren Erzählungen desselben plots in Der Koch des Schweizer Anonymus und im anonymen Schreiber legt. – Wirklich nahe kommt dem Verteidigen des Ehebruchs vor der Entstehungszeit der Reihummären im Grunde nur das Märe Pfaffe und Ehebrecherin A aus dem 14. Jahrhundert. Die Fassung durch Hans Folz (Pfaffe und Ehebrecherin A) ist jünger als Rosenplüts Märe. Eine Referenz der Reihummären auf das ältere Reimpaargedicht ist aber nicht ersichtlich, nachweisbar bleibt nur, dass die Reihummären die Argumentation aus der Fastnachtsdichtung zitieren (s. nächste Fußnote).
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Resümee
Ehebruch motiviert ist. Ähnliches gilt auch für die Xanthippefiguren oder die hoffärtigen Frauen, die sich aus der Standesgrenze erheben wollen. Die Reihummären lassen demgegenüber diejenigen Frauen selbst auftreten, die die Missgeschicke ihrer Männer, ihre Ungenügsamkeit, ihr böswillige Fehlverhalten und ihre Gewalt an den Frauen artikulieren. Aus diesen Verstößen der Männer heraus rechtfertigen sie ihre abweisende bis gewaltvolle Haltung gegenüber den Männern (Frauenkrieg), fordern ihr Recht auf sexuelle Erfüllung ein (Die drei Ehefrauen, Frauenkrieg) oder gehen von der Forderung direkt zum Vollzug des Ehebruchs über (Die Beichte der zwölf Frauen). Die Genderrollen können vertauscht werden (Die Klage der drei Ehemänner), doch sind es in den Reihummären häufiger die Frauen, die ihre Treulosigkeit verteidigen. Mit diesem Erzählelement füllen die Reihummären eine narrative Lücke der restlichen Mären. Gewonnen werden konnte die Motivation zum Seitensprung aus der besonderen Nähe der Reihummären zu den Fastnachtsspielen Nürnberger Herkunft. Dort finden sich fingierte Gerichtsreden und simulierte Ehestreitereien, in denen Ehebrecherinnen ihre Tat verteidigen. Für Rosenplüts Reihummäre Die drei Ehefrauen beispielsweise lassen sich übereinstimmende Verse mit seinem Fastnachtspiel K 31 finden.807 Den Inhalt des Widerspruchs, den sie der eigenen Gattung entgegensetzen, entnehmen die Reihummären also wie beim Beispiel des Teichners aus einer anderen Textsorte. Die Kontextanreicherung dient dazu, bestehende Erzählformen aufzugreifen und zu erweitern. Die Reflexivität der Gattung profitiert dabei von der Erweiterbarkeit seiner meist knappen Handlungsgerüste, die auf vielfältige Weise ausgebaut werden können und mit denen auf differente Weise experimentiert werden kann. Wie lässt sich dieses selbstreflexive Vorgehen der späteren Mären kulturhistorisch fassen? Ein Märe, beispielsweise das Nonnenturnier, als selbstreflexiv zu lesen ermöglicht eine neue Lesart gegenüber der bisherigen Forschungsliteratur. Für Grubmüller ist es nicht nur ein Text zweiter Ordnung, sondern auch zentrales Beispiel in seiner Wertung der späten Mären als chaotische Erzählungen. Die diametralen Deutungskategorien Ordnung und Chaos hat er in seinem Buch Die Ordnung, der Witz und das Chaos prominent in die Forschungsliteratur eingebracht. Das Nonnenturnier stehe auf der Spitze der Entwicklung späterer Mären, in denen »das Böse in der Welt, Tod und
807 Fastnachtsspiel K 31 Ein hubsch vasnachtspil (Incipit: Nu gruß euch got all mit einander). Fußnote 182 mit Angabe der betreffenden Stellen. Der Unterschied zu den Gerichtsreden und den Fastnachtsspielen wiederrum ist die Wertung des Ehebruchs: Im Fastnachtsspiel kommt es zur Verurteilung durch Richter oder Precursor, die Reihummären enthalten sich, wie so oft in der Gattung, einer Wertung.
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Zerstörung«808 die Oberhand gewinnen, die späten Reimpaargedichte setzten Gewalt, Sexualität und Obszönität in den Mittelpunkt. Solche Phänomene träten an die Stelle des Ordnungsdiskurses der frühen Mären, sie negierten eine werthafte Ordnung und setzten jegliche ordnende Werte außer Kraft.809 Die späte Märendichtung habe sich damit von einer sinnvollen Bedeutung und dem Ordnungswillen früherer Gattungsexemplare entfernt – allen voran scheint er an den Stricker zu denken.810 Ihre einzige Bedeutung liegt in der »Lust am Gemeinen«811. Alles gehe ins Chaos auf, die Erzählung integriere ihre Darstellungsverfahren in keinen Sinnzusammenhang, der eigentliche Zweck sei »die unverfrorene Rede über das Unanständige.«812 Dabei lassen sich im Nonnenturnier sehr wohl geordnete Bezüge erkennen, die als reflexiv zu den anderen Priapeia verstanden werden können und laufende Erzähllinien variieren. Der Text stellt dabei einen Widerspruch dar zu den harmonisierenden Lösungen vorangehender Mären, begonnen bei der Heidin, weitergeführt beispielsweise in Gold und Zers und allen voran im Rosendorn. Während all jene von einer unabdingbaren Inklusion des Sexuellen mit der Persönlichkeit ausgehen, artikuliert die Dame in der ersten Hälfte des Nonnenturnier die Nutzlosigkeit des Genitals. Zudem lässt der Text den kastrierten Ritter schnell der Bedeutungslosigkeit anheimfallen, indem er den Tod des Entmannten durch eine Prolepse erzählerisch vorwegnimmt. Der größte Teil des Märe widmet sich nur noch dem Genital und dem Scheitern der Nonnen, des Genitals habhaft zu werden. Das Nonenturnier tritt damit in gleicher Weise in Widerspruch wie der früher entstanden Rosendorn zu seinem Prätext, Capellanus’ De Amore. Der Rosendorn, frühstes Zeugnis ca. 1369/76, widersetzt sich dem Ergebnis des intellektuellen Spiels bei Capellanus, in dem der Geist über die Sexualität siegt, und formuliert die unabdingbare Einigkeit von Person und Begehren. Das Nonnenturnier, ein einziges Mal um 1430/35 verschriftlicht, dem dieses Postulat ebenso bekannt ist wie seine Darstellungsmittel, versperrt sich dieser inklusiven Lösung und betont die umfängliche Macht des Sexuellen. Damit führt der Text nur eine Strategie fort, die für die gesamte Märendichtung gilt: Die didaktische Funktion des Textes tritt in den Hintergrund, stattdessen wird auf die Sujetfügung, das Spiel mit der Metapher und das Pointieren des Besonderen
808 Grubmüller : Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter : Fabliau, Märe, Novelle (2006), S. 238. 809 Ebd., S. 201. 810 S. sein fünftes Kapitel. 811 So die Kapitelüberschrift von Kap. 9.3. 812 Grubmüller : Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter : Fabliau, Märe, Novelle (2006), S. 243.
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Wert gelegt,813 in diesem Fall die extrahierte Sexualität als metaphorische Konzentration des Geschlechtlichen. Dass der Text inhaltlich im Grotesken endet, kann ein Grund sein, warum er nur unikal überliefert und der in ihm formulierte Widerspruch nicht von anderen Texten aufgegriffen wurde. Stattdessen entstanden weiterhin Mären mit einem harmonisierenden Erzählausgang, beispielsweise Der verklagte Zwetzler, der mindestens zwei weitere Male in Märensammlungen aufgenommen wurde. Ein solcher Zusammenhang muss jedoch Vermutung bleiben. Der Umgang mit den Referenzquellen in der Märendichtung ist jedenfalls gleichbleibend: Die Texte formulieren einen Widerspruch, in späterer Phase auch zur eigenen Erzähltradition. Im Feld der Priapeia ist das Nonnenturnier deshalb keine selbstzweckhafte Gewaltdarstellung ohne Sinnzusammenhang, sondern inneres Pluralisieren der Erzählmöglichkeiten, ein Zugewinn an Komplexität.
813 S. Friedrich: Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen (2005), v. a. S. 248f.
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