Jugendfürsorge und Strafrecht: in den Vereinigten Staaten von Amerika [1 ed.]
 9783428560677, 9783428160679

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Jugendfürsorge und Strafrecht in den Vereinigten Staaten von Amerika Von Joseph Maria Baernreither

Duncker & Humblot reprints

Jugendfürsorge und Strafrecht in den vereinigten Staaten von Amerika.

MMdMorgk und Straftkiht in den vereinigten Ztaaten von Knrerika.

Lin Beitrag zur Lrziehungspolitik unserer Zeit. von

Dr.

I. M. Vaernreither.

Leipzig, Verlag von Duncker L k)umblot. 1905.

Alle Rechte vorbehalten.

Vorrede. Vor Jahren habe ich, mehr zufällig als absichtlich, auf

meinen Reisen nacheinander

eine

Reihe

von

Besserungs­

anstalten für die verwahrloste und straffällige Jugend besucht und eingehend besichtigt.

Es waren dies das Rauhe Haus

bei Hamburg, Mettray in der Touraine, Redhill in Surrey, Ruyselöde

in Belgien

und

das

Niederländische Mettray.

Ich habe an diesen Orten einen lebhaften Eindruck von der Wichtigkeit und Tragweite der Frage bekommen, welche durch

diese Schöpfungen zu lösen versucht wird.

Wichern, Demetz,

Sidney Turner, Suringar, die Gründer dieser Anstalten, und andere, die sich ihnen anschlossen, haben ihr Leben, ihr Wollen und Wissen, ihre außergewöhnliche moralische Kraft einer Kultur­

aufgabe gewidmet, die sie durch eine frische Unmittelbarkeit des

Handelns und durch ihre praktischen Leistungen zum mindesten ebensosehr gefördert haben als dies durch die theoretischen Er­ örterungen geschah, welche sich seither mit dem Probleme be­ schäftigten. Die neue Auffassung von dem Verhältnis des Straf­

rechtes zur Jugend und von der Verpflichtung der Gesellschaft,

der Verwahrlosung der Jugend entgegenzuwirken, ist zum guten Teile das Ergebnis der Lebensarbeit dieser Männer. Ich habe l"-

IV — mit einer einzigen Ausnahme — keinen dieser Pioniere

des modernen Fürsorgewesens und Jugendstrafrechtes per­ sönlich gekannt, bin aber im Verlaufe der letzten Jahrzehnte in Deutschland, Frankreich und insbesondere in England mit vielen unmittelbaren Schülern und Anhängern derselben in Berührung gekommen, so daß mein Interesse an der Ent­

wicklung der modernen Anschauungen auf diesem Gebiete

immer lebhafter wurde.

Ich habe infolgedessen im Laufe

der Jahre eine große Zahl jener Anstalten besucht, die mehr

oder weniger nach dem Muster der oben genannten in Europa gegründet wurden; insbesondere habe ich einen großen Teil der Iltzkorinutor^ anä Inäustriul 8ekool8 von England, Schottland und Irland kennen gelernt. über alle

diese

Besichtigungen

und

Da ich von jeher

über

den

Gedanken­

austausch, den ich sowohl mit den Leitern dieser Anstalten

als mit Männern und Frauen gepflogen habe, die sich für

diese Frage praktisch oder theoretisch interessierten, genaue Aufzeichnungen führe, so habe ich dadurch ein ziemlich großes

Material an festgehaltenen Eindrücken

und

Ansichten ge­

sammelt, wozu im Laufe der Zeit eine große Zahl von

Anstaltsberichten, Abhandlungen usw. kam.

In den letzten

zwei jJahren habe ich zudem meine Studien auf die Ver­

hältnisse in den Vereinigten Staaten ausgedehnt und durch eine Reise nach Amerika auch die persönliche Anschauung der

dortigen Einrichtungen sowie den Kontakt mit jenen Männern

und Frauen gewonnen, die in den Vereinigten Staaten die

Träger der Reformbewegung sind. Ich beabsichtige nicht, ein gelehrtes Buch zu schreiben;

V ich stelle keine Theorien auf, noch bekämpfe ich solche.

Ich

habe aber während der letzten zwanzig Jahre durch An­

schauung, Verkehr und Studium — häufig für lange Zeit unterbrochen, aber bei jeder Gelegenheit wieder angeknüpft

und fortgesetzt — in der Frage der Jugendfürsorge und des Jugendstrafrechtes so viel gesehen, gehört und gelesen, daß ich mich entschlossen habe, mein reiches Material zu ver­

werten.

Ich hatte ursprünglich die Absicht, Einrichtungen

und Gesetzgebung in Frankreich, Deutschland, England und den Vereinigten Staaten zum Gegenstand einer vergleichenden

Darstellung zu machen; nicht als ob ich unterschätzen würde,

was in anderen europäischen Staaten geleistet worden ist, sondern weil sich meine Studien hauptsächlich auf diese Länder beschränkt haben. Durch äußere Umstände bin ich aber leider vorläufig an der Vollendung dieser umfangreichen Arbeit ver­ hindert und ich habe mich daher entschlossen, jenen Teil meiner

Arbeit, der sich auf die Vereinigten Staaten bezieht, der

Öffentlichkeit zu übergeben.

Ich bin zu diesem Entschlusse

aber auch aus dem Grunde gekommen, weil die Jugend­ fürsorge und das Jugendstrafrecht, wie es sich heute in den

Vereinigten Staaten entwickelt, in Europa durch eine zu­ sammenhängende Darstellung noch nicht bekannt ist und weil

mir — wie ich zu beweisen hoffe — im höchsten Grad be­ achtenswert scheint, was jenseits des Ozeans in dieser wichtigen

Kulturfrage angestrebt wird.

Aber ich will diese Vorrede

doch dazu benutzen, um zu der großen Frage selbst Stellung

zu nehmen und um von der französischen, englischen und deutschen Auffassung des Gegenstandes so viel zu sagen, daß

VI das Bild der amerikanischen Entwicklung sich nicht ganz un­ vermittelt vor dem Auge des Lesers entrollen soll.

Vor allem sei mir gestattet, zwei Gesichtspunkte etwas ausführlicher zu begründen.

Ich erblicke den größten Fortschritt darin, daß nach und

nach überall die verlassene, mißhandelte, physisch und geistig defekte, verwahrloste, straffällige Jugend als eine einzige soziale Erscheinung aufgefaßt wird, die uus in

verschiedenen tritt.

gegenüber­

Entwicklungsstadien

Wir haben einen Komplex von Erscheinungen und

Fragen vor uns, die jetzt überall in ihrem Zusammenhangs

erforscht werden. Man gestatte mir einen Vergleich. In der

organischen Welt ist jeder Teil eines Organismus mit anderen

Teilen

desselben

in

einem

bestimmten Zusammenhangs.

Innerhalb eines und desselben

Organismus gibt es Be­

ziehungen, welche sich gegenseitig bedingen. Gesetz der Korrelation besteht Erscheinungen

am

sozialen Körper.

Ein gleiches rücksichtlich der

auch

Eines

bedingt

das

andere; Wirkung und Rückwirkung verbinden sich wie in der

organischen so auch in der sozialen Welt; nur die Erkenntnis

des inneren Zusammenhanges gibt für das organische Leben so gut wie für das soziale ein Bild der Krankheit oder der Gesundheit, der normalen oder anormalen Funktionen.

So

stehen auch die Erscheinungen der erblich belasteten, in einer verpesteten

lassenen,

Umgebung

aufwachsenden,

vernachlässigten

und

mißhandelten,

schließlich

Jugend untereinander im Zusammenhang.

ver­

verbrecherischen

Kann diese un­

VII heilvolle Kette unterbrochen werden, so wird dieser sonst ver­ lorene Strom jugendlicher Kraft in ein gesundes Bett zurück­

geleitet; sonst aber erzeugt die Vernachlässigung Verbrecher und die Verbrecher zeugen wieder Kinder, welche denselben Weg betreten wie ihre Väter; das Elend erzeugt neues Elend und die physische Degeneration wachsende, vielleicht unheil­

bare Entartung. So

tritt uns dieser Zusammenhang in den Massen­

erscheinungen entgegen; er hat aber seinen letzten Grund in der physischen und psychischen

Entwicklung

des

einzelnen

Subjektes, das möglicherweise schon belastet zur Welt kommt und den Weg, der bei der Vernachlässigung und Mißhandlung

anfängt und beim Verbrechen endet, ganz oder teilweise zurück­ legt. Die subjektive Entwicklung zum Verbrecher,

welche das Heranwachsende Individuum unter dem Einflüsse

bestimmter äußerer Verhältnisse durchmacht, hat Morrison in

seinem Werke „Juvenils Orims" so anschaulich geschildert,

daß ich die betreffende Stelle hier in ihrer Gänze wieder­ holen will: „In der Zeit des Wachstums und der Entwick­

lung sind die Sinne verhältnismäßig viel reifer als die leib­

lichen und geistigen Kräfte.

Diese Zeit erstreckt sich von der

Kindheit bis zum Herannahen des Mannesalters, und in ihr

macht das Individuum den langen, verwickelten Vorgang der Anpassung an die soziale Umgebung durch. Den meisten

jugendlichen Personen fällt diese Anpassung leicht; doch gibt

es auch zahlreiche, denen sie schwer fällt, und in solchen

Fällen nimmt die Sprödigkeit oft Formen an, die die Be­ treffenden in Widerspruch mit dem Strafgesetz bringen.

In

VIII der frühen Jugend äußert sich der Mangel an Anpassungs­ vermögen in einer Neigung zu nomadischen Gewohnheiten,

wie Landstreicherei, Umherstreifen, Schulschwänzen.

Je größer

die Anforderungen der Gesellschaft an das Kind sind — in

unserer Zeit zum Beispiel die Vorschrift regelmäßigen Schul­

besuches —, desto deutlicher tritt die Ausdehnung nomadischen

Triebes

zutage.

Selbstverständlich

dieses

wird

in

den Fällen, wo die elterliche Überwachung eine ausreichende

ist, der Wandertrieb gewöhnlich unterdrückt werden; wo aber keine oder ungenügende Aufsicht

vorhanden ist, kommt es

leicht dazu, daß ein Kind, das jenem Trieb folgt, von der Polizei wegen Vagabundierens aufgegriffen wird und dadurch

sehr früh mit dem Strafgesetz Bekanntschaft macht. Die sich in Vagabundiergewohnheiten äußernde Abneigung gegen die

elterliche Überwachung oder die Schulaufsicht ist sehr häufig der erste Schritt zur Ausbildung eures völlig gesellschafts­

widrigen Lebenswandels.

Dieser Schritt kann schon — und

das geschieht nicht selten — in überraschend zartem Alter

getan werden; er stellt sich als das erste Vergehen dar, welches man bereits in frühester Kindheit gegen die Ge­

sellschaftsordnung begehen kann.

Tritt keine eingreifende

Beschränkung dieser Neigungen ein, so gesellt sich während

des Fortschreitens der Entwicklung und des Wachtums bei dem Kinde sehr leicht die Neigung zur Auflehnung hinzu.

Dann wird aus dem jungen Müßiggänger ein junger Dieb. Mit zunehmendem Alter treten immer neue sittliche Gefahren

für das Kind auf.

Die kritische Zeit zwischen dem Knaben-

und Jünglingsalter erzeugt den Verbrecher gegen die Person.

IX ist

Diese Zeit

voll

einschneidender

Ver­

physiologischer

änderungen; schlummernde Triebe und Empfindungen er­ wachen und machen erhebliche Eindämmungen notwendig. Gar mancher junge Mensch, der sich bis zu diesem kritischen Alter

unbewußt den ihn umgebenden sozialen Verhältnissen angepaßt

hat, kann den auf ihn einstürmenden neuen Gefühlsbewegnngen nicht widerstehen und begeht Missetaten gegen die Person. In diesem Alter wird die Hinneigung zum Verbrechen nicht

nur von den individuellen biologischen Veränderungen, sondern

auch von neuen sozialen Verhältnissen verstärkt, denn nunmehr erweitert sich der Kreis der Berührung mit der Außenwelt

ungemein.

Blieb dieser Kreis bislang auf das Elternhaus

und die Schule beschränkt, so umfaßt er von jetzt an das

unbegrenzte Gebiet des Arbeitslebens mit seinen zahlreichen Berührungspunkten.

Der Jüngling betritt eine neue Welt,

eine Welt des schwierigen Kampfes, der verdoppelten An­

strengung, der schärferen Disziplin. Hier fällt es ihm immer

schwerer, sich den äußeren Umständen anzupassen. Gar viele jugendliche Personen, die die Disziplin des Elternhauses, der

Schule und der Zeit vor der Mannbarkeit glücklich überstanden

haben, zeigen sich unfähig, den Anforderungen des Arbeits­ lebens gerecht zu werden.

Dies rührt bald von der Härte

des Arbeitslebens an sich her, bald von der körperlichen Un­ zufriedenheit des Individuums, bald von der Unfähigkeit des unreifen Geistes, die gereiften Sinne zu beherrschen; aber

welche

immer

dieser

Ursachen — eine

oder mehrere

jene Anpassungsunmöglichkeit verschulden mögen, das gebnis wird

wohl

stets

die Heranbildung

eines



Er­

Vaga-

bunden oder eines Eigentumsverletzers oder einer Vereinigung beider sein." Von der psychologischen Seite der Frage hat Morrison

durch dieses typische Beispiel einen guten Begriff gegeben. Die Entwicklung zum Verbrecher kann aber selbstverständlich

in sehr verschiedener Weise vor sich gehen, die gesellschafts­

widrigen Neigungen können im Geiste des Betreffenden in verschiedener Stufenfolge erwachen und sich betätigen; auch muffen nicht alle bis an das letzte Ziel gelangen, sondern können durch ihr Gewissen aufgehalten oder durch glückliche Umstände abgelenkt werden.

auffassung nichts.

Das ändert aber an der Grund­

Alle Fragen der Verwahrlosung und des

Verbrechens bei der Jugend stehen untereinander im Zusammen­

hänge.

Diese einheitliche Auffassung hat fiir die praktische

Behandlung die größte Bedeutung.

Sie ist das Richtmaß

für alle Bestrebungen der Zukunft.

Aber dieser eine Gesichtspunkt löst sofort einen andern aus: Wie stellt sich das öffentliche, gesellschaftliche Interesse zu dieser Frage?

Von jeher hat es einen Bruchteil der Jugend gegeben, welcher der öffentlichen Obsorge und der Mildtätigkeit oder

aber dem Elend und dem Gefängnis verfallen war, aber das

öffentliche Bewußtsein empfindet heute den Kontrast stärker, der zwischen diesem verlorenen Teil der Jugend und der

Zunahme des Reichtums und der Wohlfahrt im allgemeinen besteht,

die Erkenntnis der Ursachen

der

Verwahrlosung

und Kriminalität der Jugend ist durch die wissenschaftliche Forschung vertieft worden, und Staat und Gesellschaft be-

XI werten die Verluste an tätiger Volkskraft, die wir durch Ver­

wahrlosung oder Verbrechen erleiden, höher als in früheren Zeiten. Das Schicksal der nächsten Generation entscheidet sich

durch die Erziehung der heutigen, physisch, moralisch, wirt­

schaftlich.

Der Einsatz ist aber nicht nur das Individuum,

sondern auch die Familie, von der Ruskin mit Recht sagt: „Ilio truo bistorx ok a Xation is not ok its vars, but ok

it8 bou8olwlck8."

Deswegen steht auch die Frage der Jugend­

fürsorge und des Jugendstrafrechtes mit sozialen, anthropo­

logischen und wirtschaftlichen Auffassungen in engem Zusammen­ hangs. Es wird von niemandem mehr bestritten, daß die modernen Arbeitsformen dem Familienbande vielfach verderblich geworden

sind, daß durch die Anhäufung der Bevölkerung in den großen Städten Wohuungsverhältnisse hervorgerufen wurden, die auf

die physische und moralische Erziehung der Jugend sehr un­ günstig eingewirkt haben, daß Not, Überanstrengung, Arbeits­

losigkeit mit der ungenügenden Ernährung, der ungenügenden Erziehung und der ungenügenden Überwachung jenes Teiles der Jugend eng Zusammenhängen, der aus diesen sozialen Ur­ sachen

gegen seine glücklicheren Altersgenossen weit zurück­

geblieben ist. Ebenso sind alle Fragen der Gesundheit und Ent­

wicklung, der Degenerierung und Vererbung bezüglich der Jugend in der letzten Zeit mit Recht in den Vordergrund der Diskussion gerückt.

In jeder Besserungsschule wird man

Individuen finden, die nicht normal sind, mit denen nichts anzufangen ist, denen der Schwachsinn oder die physische Ent­

artung an der Stirne geschrieben steht. Diese sind aber heute

XII ebenfalls Objekte der Jugendfürsorge; denn diejenigen, welche

einfach „die Ausschaltung des Untauglichen" befürworten, nm dadurch die Verbesserung der Rasse zu erzielen, übersehen, daß

sich heute gerade in den lebensvollsten Nationen gegenüber den Anhängern dieser modernen Taygetostheorie die christliche

Lebensanschauung sehr kräftig regt.

Aber ein dritter Faktor,

der wirtschaftliche, unterstützt den sozialen und den anthropo­ logischenmächtig. Die Fundamentalwahrheit, die Adam Smith ausgesprochen hat: daß die wirtschaftliche Lage eines Volkes von

dem Verhältnisse abhängt, welches zwischen der Anzahl jener

besteht, die einer nützlichen Arbeit obliegen, und jener, welche nichts tun, — ist heute lebendig geworden. Für alle öffentlichen

Gewalten in unserem Jahrhundert des äußersten Wettbewerbes der Nationen besteht der wirtschaftliche Antrieb, alle Kräfte zu mobilisieren, keine zu verschwenden, daher den gefährdeten

Bruchteil der Jugend für die große Volksarbeit zu retten,

anstatt ihn wie bisher unwiderruflich verloren gehen zu lassen. Jugendfürsorge

und Jugendstrafrecht

sind

also kein isoliertes Problem der Gesetzgebung oder Verwaltung, sondern Ku lturaufg oben, Auf­

gaben

der Erziehungspolitik,

der Entwicklung

der Volksmoral und der Volksgesundheit.

Dies

ist der zweite Gesichtspunkt, den ich vor allem geltend machen

möchte. Die Verwahrlosung der Jugend ist aber nichts anderes als die Verwahrlosung eines Teils des Volkes überhaupt.

Die Einflüsse, welche im großen und ganzen auf das Volks­

leben ungünstig einwirken, sind gewöhnlich auch die Ursachen

XIII jener gesellschaftlichen Gebrechen, welche die moderne Jugend­

fürsorge zu bekämpfen sich vornimmt.

Alle Einrichtungen

derselben tragen daher die Bodenfarbe an sich. Trotzdem gibt

es aber kaum ein Mittel, welches wirksamer die verschiedenen Seiten

der Frage zum

Bewußtsein

bringt

als

die Be­

trachtung, wie sich aus den spezifischen historischen Voraus­ setzungen bei den großen Kulturvölkern der Gegenwart das

Problem der Jugendfürsorge entwickelt hat, und auf welche

Weise dasselbe behandelt wird.

In dieser Hinsicht bin ich

bei meinen vergleichenden Betrachtungen zu dem Resultate gekommen, daß in Frankreich, England und den Vereinigten

Staaten, so verschieden der Charakter der Bevölkerung, ihre

Rasseeigenschaften, ihre Rechtsanschauungen und die historischen

Voraussetzungen auch immer sind, doch ein gewisser Parallelismus in der Behandlung des gefährdeten Teiles der Jugend, ins­ besondere bezüglich des Jugendstrafrechtes, vorherrscht.

Es

spricht dies für den mächtigen Einfluß der Ideen, welche unsere Zeit überhaupt bewegen.

Aber gerade deswegen scheint

es mir nützlich, sich über diese gemeinsamen Züge Rechenschaft zu geben.

Frankreich hat in der letzten Zeit auf diesem Gebiete große Fortschritte gemacht. Der heutige Zustand der Jugend­ fürsorge und des Jugendstrafrechtes beruht dort auf drei ge­ sellschaftlichen Faktoren, die längst nebeneinander tätig waren,

durch die neue Gesetzgebung aber miteinander in enge Verbindung gesetzt wurden.

Von alters her haben Stiftungen für wohl­

tätige Zwecke eine hervorragende Stelle in den sozialen Be­

XIV strebungen des französischen Volkes eingenommen.

Die An­

stalten, welche sich der Jugend widmen, zählen nach Tausenden. In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts haben auch

die Vereine einen großen Aufschwung genommen, welche sich die »patronage« der Jugend zum Ziele setzen.

Die Selbst­

tätigkeit der bürgerlichen Kreise auf diesem Gebiete in Frank­

reich ist viel größer, als man annehmen möchte.

„Unter

einem Scheine, der oberflächliche oder übelwollende Beurteiler täuschen kann, arbeitet die französische Bevölkerung, wenn man sie als Ganzes nimmt, müht sich ab, spart und übt im Stillen die Tugenden der Voraussicht und der Wohltätigkeit."

Die „kienknisanee privee« ist eine breite Grundlage der Jugendfürsorge, und ist es nur zu beklagen, daß der

heutige Kampf um den konfessionellen Charakter der Schule und der Erziehungsanstalten aller Art es erschwert, ja teil­ weise geradezu verhindert, daß diese auf Selbsttütigkeit be­

ruhenden Schöpfungen mit den

öffentlichen Einrichtungen

besser zusammenwirken und mit ihnen in ein einheitliches System verwachsen, wie dies in England, noch mehr aber in den Vereinigten Staaten der Fall ist.

Aber trotz aller Hinder­

nisse ist diese Verbindung doch schon angeknüpft, insbesondere

was die entlassenen Sträflinge anbelangt.

In dieser Hinsicht

hat das Gesetz vom 14. August 1885 (loi sur los mozens äo prövomr la rSeiäivo) die Gefängnisverwaltungen er­

mächtigt, die Fürsorgevereine mit der Obhut bestimmter ent­ lassener Sträflinge zu betrauen und finanzielle Zuschüsse zu

diesem Zwecke zu leisten.

faltet

die

„patronuge

Auf Grund dieses Gesetzes ent­

clos jsunes

Menus«

eine

große

XV Tätigkeit. Zahlreiche, über ganz Frankreich verbreitete Vereine verfolgen bekanntlich diesen Zweck.

Der zweite für unsere Frage entscheidende Faktor ist die ^ssistaneo kubligus, eine Einrichtung, welche vor

allem der Jugendfürsorge gewidmet ist, aber außerdem auch Aufgaben der Armenversorgung und der öffentlichen Kranken­ pflege erfüllt.

Mit ihren Anfängen vor die große Revolution

zurückreichend

datiert ihre heutige

Tagen der Nationalversammlung.

Organisation aus den Das Eomitö äs lEiuü-

citö, welches damals unter der Leitung des Herzogs von

Larochefoucauld-Liancourt die ganze Frage studierte, entwarf den Plan eines einheitlichen nationalen Systems der Jugend­ fürsorge, der durch nachfolgende napoleonische Dekrete und

spätere Gesetze nur teilweise ins Leben gerufen und später

vielfach modifiziert und abgeändert wurde.

Die ^ssistance

?ubligu6 ist heute eine in jedem Departement bestehende Ein­

richtung der öffentlichen Fürsorge.

Eine Hauptaufgabe der­

selben besteht in der Obsorge für die „enkants assistösJ

unter welcher Kollektivbezeichnung gesetzlich die eigentlichen

Findelkinder

(sukants

trouvss),

die

verlassenen

(enkants abanäovnös), und die mittellosen

pkelins pauvrss) verstanden werden.

Kinder

Waisen

(or-

Die große Ausdehnung,

welche der Dienst der ^ssistanos ?ubligu6 genommen hat,

ist auf die tiefgehende, das soziale Leben beeinflussende An­ schauung zurückzusühren,

die sich in dem Rechtssatze des

Artikels 340 des Oocks civil ausspricht: Im reobereke cis la paternitö sst intsickite.

In Paris besteht die ^sistaneo

kubligue in einer großartigen Organisation, die in Europa

XVI kaum ihresgleichen hat. Es zeigt sich in ihr nicht nur das große Ver­ waltungsgeschick der Franzosen, welches viele Lücken und Mängel der Gesetzgebung wettmacht, sondern es herrschen in ihr große

Gesichtspunkte der Bevölkerungspolitik und der Vorbeugung. Die V88i8tsves Uudligus in Paris hat auch schon vor Jahren der

zunehmenden

Verwahrlosung

der Jugend

gegenüber

Stellung genommen, indem sie seit 1881, ohne gesetzlich dazu

verpflichtet zu sein, ihre Tätigkeit auf die Obsorge vagabun­ dierender, widerspenstiger, von ihren Eltern vernachlässigter, aus der Haft entlassener Kinder ausgedehnt und einen be­ sonderen Dienst für die „6vksnt8 moralsmsvt abauckonnö8"

— wie seither in Frankreich die verwahrlosten Kinder im

allgemeinen genannt werden — eingerichtet hat. Sie hat da­

durch praktisch den Gesetzen der neuesten Zeit vorgearbeitet. Nicht minder

hat

endlich

die

Entwicklung

des

Jugendstrafrechtes in Frankreich der neuen Auffassung

der ganzen Frage vorgearbeitet.

Durch die Art. 66—69 des

Locks pönal, der das vollendete 16. Lebensjahr zur entscheiden­ den Altersgrenze bezüglich der strafrechtlichen Behandlung

der Jugend gemacht hat, ist die damalige französische Gesetz­

gebung ihrer Zeit weit vorangeeilt.

Nach diesen gesetzlichen

Bestimmungen wird jedes Kind unter 16 Jahren, das nach

der Überzeugung des Richters ohne „ck^esrnsmsnt" (sagen

wir: Unterscheidungsvermögen) gehandelt hat, freigesprochen und seinen Eltern zurückgegeben oder in eine Besserungs­

anstalt verwiesen; wenn dagegen der Richter „cki^srnsmsnt« als vorhanden annimmt, findet zwar eine Verurteilung statt, jedoch zu einer gegenüber der allgemeinen Regel kürzeren

XVII Strafe, die

soll.

auch in besonderen Anstalten abgebüßt werden

Während des 19. Jahrhunderts haben Gesetze und

Verordnungen diesen Gedanken im Sinne einer besonderen

strafrechtlichen Behandlung der Jugend unter 16 Jahren

weiter verfolgt. Durch die Gründung der landwirtschaftlichen Besserungsschule in Mettray ist der Anstoß zur Errichtung

einer Reihe

von Anstalten

gegeben worden,

die Gegen­

stand der sorgfältigsten Pflege seitens der Justizverwaltung

sind.

Das Interessante an der heutigen Entwicklung des

Jugendstrafrechtes in Frankreich besteht aber darin, daß jener

Fundamentalsatz des Ooäs psnal ins Wanken gekommen ist, daß sich immer mehr and mehr die Ansicht Bahn bricht, der

Richter, welcher entscheiden soll, ob ein Kind mit oder ohne

„ckiLeernomönt" gehandelt hat, sei wegen der unberechenbaren

Einflüsse, die auf dasselbe möglicherweise schon von der ersten Kindheit an einwirken, eigentlich vor eine unlösbare Aufgabe gestellt, weil dieses Unterscheidungsvermögen häufig psycho­

logisch gar nicht zu konstatieren ist und aus Abstufungen des

Bewußtseins besteht, inspektor

der

die ineinanderfließen.

Gefängnisse

M. Puiburaud, hat in

im

einem

Ministerium 1893

Der General­

des Innern,

veröffentlichten aus­

gezeichneten Aufsatze ausgesprochen, daß man für die über­ wiegende Zahl der von der Jugend begangenen Handlungen

(der „ckölits"), also den minderen Vergehungen, vom „äiseernemsnt« ganz absehen müsse.

„Es ist gar nicht not­

wendig, diese Vorfrage, dieses präjudizielle Rätsel des ,äi8-

cernömsnt' zu lösen, man muß im Gegenteile gerade auf

das Ziel losgehen, und das ist die moralische Wiederaufrichtung Laernreither.

II

XVIII des Kindes."

Diese Worte sind aber nur der Ausdruck für

eine Anschauung, die in den französischen Richterkreisen immer

mehr an Boden gewinnt.

Schon im Jahre 1889 hat der

Justizminister durch einen an die Staatsanwälte gerichteten Zirkularerlaß vom 4. Januar verfügt: „Die Staatsanwälte

sollen gegen die Jugendlichen unter 16 Jahren, wenn diese

nicht strafbarer Handlungen bezichtigt sind, die einen besonders schweren Charakter an sich tragen, die Strafe der Haft nicht

beantragen.

Es ist vorzuziehen, vom Richter die Freisprechung

mit der Begründung zu verlangen, daß sie ohne .ckisoornsmont' gehandelt haben, um auf diese Weise zu erzielen, daß sie auf eine genügend lange Zeit der Zwangserziehung über­

wiesen werden." Zu einem gewissen Abschlusse sind diese parallel wirkenden

Bestrebungen durch die Gesetze der Jahre 1889 und 1898 gekommen.

Das Gesetz vom 24. Juli 1889, betreffend

die mißhandelten und verwahrlosten Kinder (loi sur la pro-

teetiou äes 6nkant8 inaltraitss ou moralsmsnt abanckovn^s)

setzt sich vor allem mit der väterlichen Gewalt auseinander und legt eine große Bresche in die strenge Auffassung des 6ocko civil.

Das Interesse des Kindes tritt in den Vorder­

grund der Erwägungen; die mißhandelten und verwahrlosten

Kinder werden unter öffentlichen Schutz gestellt, und der

Wirkungskreis der ^ssistanetz kudliguo wird nunmehr auch moraleinsnt abanäounös aus­

gesetzlich

auf die snkants

gedehnt.

Aber das Gesetz geht noch einen Schritt weiter:

es greift auch in jenen Fällen ein, in denen die Verwahr­ losung der Kinder weniger die Schuld der Eltern als der

XIX Verhältnisse ist, in denen die Kinder gezwungen sind zu leben.

In diesen Fällen kommt es nicht zu einer Aberkennung der väterlichen Gewalt, aber der Richter kann die Obhut (la

Zarcle) des Kindes an die ^ssistance kubligu«, an eine

geeignete Privatanstalt oder an eine vertrauenswürdige Privat­ person übertragen, und es ist auch als zulässig erklärt, daß

Eltern, die sich als unfähig oder unvermögend erwiesen haben,

für ihre Kinder ordentlich zu sorgen, unter richterlicher Inter­ vention Übereinkommen mit der ^ssistanee kudligus, An­ stalten oder Privatpersonen bezüglich

Kinder schließen.

der Übernahme der

Hat dieses Gesetz dem Richter neue wichtige

Aufgaben gegenüber derverwahrlosten Jugend übertragen,

so wurde ihm durch ein späteres Gesetz auch gegenüber der straffälligen Jugend eine neue Stellung eingeräumt.

Es

ist dies das Gesetz vom 19. April 1898 (loi sur la itzpr688ion ä68 violene68, voitz8 ätz kait8, aettz8 ätz eruautö tzt attsntat8 coinmi8 snvtzr8 Is8 enkant-).

Früher hatte der

Richter, wenn er einen Jugendlichen auf Grund des Art. 66

des Ooätz pönal wegen mangelnden „äi806rn6msllt" frei­ sprach, nur die Wahl, das Kind seinen Eltern zurückzugeben

oder es in eine Besserungsanstalt zu verweisen.

Das Gesetz

vom Jahre 1898 erweitert seinen Machtbereich.

Wenn ihm

jetzt Kinder wegen Vagabondage, kleiner

Diebstähle oder

anderer Delikte, die keinen schweren Charakter an sich tragen, vorgeführt werden, und er spricht sie

wegen mangelnden

Unterscheidungsvermögens frei, wozu er vom Justizminister,

wie ich gezeigt habe, geradezu angewiesen wird, so fällt ihm

die Aufgabe zu, je nach Beschaffenheit des Falles zu entll*

XX scheiden; dabei steht ihm die Wahl frei, das Kind seinen

Eltern zurückzugeben, es der Obhut einer Privatperson, einer

Anstalt oder eines Vereines anzuvertrauen, es der ^ssistanee

kudlique zu übergeben oder endlich es in eine Zwangs­ erziehungsanstalt zu verweisen.

Der Jugend gegenüber hat also in Frankreich das Amt

des Strafrichters einen Einschlag von vormundschaftlichen Pflichten bekommen.

Die Entscheidung des Richters ist in

diesem Falle kein bloßes Strafurteil mehr, sondern ihrer

inneren Natur nach häufig eine Verfügung der öffentlichen Fürsorge.

Was man vor allem zu vermeiden sucht, ist, ein

Kind dem gewöhnlichen Gefängnisse zu überantworten.

Diese

Scheu vor dem verderblichen Einflüsse einer gewöhnlichen Freiheitsstrafe auf junge Personen ist in Frankreich so stark, daß sie häufig die Ursache einer geradezu laxen Behandlung

der straffälligen Jugend wird.

Jugendliche Gesetzesübertreter

werden übrigens von rechtswegen auch teilhaftig des bedingten

Strafaufschubs (sursis ü l'oxScutiou), welcher bekanntlich durch das Gesetz vom 26. März 1891 ganz allgemein dem

Richter anheimstellt, rücksichtlich Personen jedes Alters, wenn es sich um eine Verurteilung zu einfachem Gefängnis oder zu einer Geldstrafe handelt, und wenn sie wegen Verbrechens oder schwerer Vergehen nicht vorbestraft sind, den Vollzug der Strafe auszusetzen, welche als getilgt angesehen wird,

wenn der Betreffende sich durch fünf Jahre nicht eine neue Verurteilung

wegen Verbrechens

oder schweren Vergehens

zugezogen hat. Im vorigen Jahre endlich sind in Frankreich zwei Gesetze

XXI zustande gekommen, welche eine weitere gesetzliche Ausdehnung

und Ausgestaltung der Jugendfürsorge bedeuten.

Durch das

Gesetz vom 27. Juni 1904 (loi sur Io 8srvies ätz8 sukant8 08818148) wird fürdas Verwaltungsgebiet derX88i8tauos kukliqus eine neue umfaffende Kodifikation hergestellt, die

Bestehendes und Neues verbindet und die Jugendfürsorge

abermals erweitert.

Wichtig ist, daß zu den bestehenden

Kategorien der hilfsbedürftigen Kinder, welche bereits bis dahin

in der Obhut der ^88i8tanes kukliqus gestanden sind, ge­ setzlich neue hinzukommen, „ls8 sukaul8 8soouru8«, meist un­

eheliche Kinder, deren Mütter nicht im stände sind, sie auf­ zuziehen, und für welche Unterstützungen geleistet werden, um

zu verhindern, daß sie verlassen werden; ferner

solang

su äspot". Kinder, die wegen Krankheit oder Haft des

Vaters oder müssen.

ü

der Mutter vorübergehend

versorgt werden

Das Gesetz vom 18. Juni 1904 (loi relativ«

I'4äueation

äs8

pupilltz8

äs

I'a88i8taneo

publiqus

0Mrwmsnt8 oder von Privaten oder Vereinen zu errichten; doch müssen alle nicht öffentlichen

Schulen dieser Art vom Ministerium besonders autorisiert

werden.

Ferner bestimmt das Gesetz — und es ist dies für

XXII das Zusammenwirken und Jneinandergreifen der verschiedenen

Faktoren

auf

diesem

Gebiete

bezeichnend

daß

—,

die

^ssistaneo kukliguo jene Individuen, die ihr wegen Un­ moralität, Gewalttätigkeit oder Hang zur Grausamkeit zu

schaffen machen, wenn sie auch eine strafbare Handlung nicht

begangen

haben,

vor den Richter stellen kann,

der ent­

scheidet, ob sie in eine für die straffällige Jugend bestimmte

Befferungsschule zu verweisen sind. Die Grundlage, auf welcher heute in England Jugend­

fürsorge und Zwangserziehung ruhen, wurde durch eine groß­

artige Selbsttätigkeit geschaffen.

In der ersten Hälfte des

vorigen Jahrhunderts waren es einzelne Männer und Frauen,

die sich der verwahrlosten und straffälligen Jugend annahmen und Anstalten begründeten, um sie zu unterrichten und zu erziehen.

Auch heute noch sind von den vielen hundert An­

stalten, die den Zwecken der Jugendfürsorge gewidmet sind,

bei weitem Komitees.

die meisten in der Verwaltung von privaten Dieser kräftige Stamm der freien Schöpfungen

hat sich seither in drei mächtige Zweige geteilt.

Es gibt in

England eine große Menge von Fürsorgeeinrichtungen, „Voluntar^ Homes", die aus Privatmitteln gestiftet und erhalten werden und sich der Staatsaufsicht nicht unterworfen haben.

Ihr Wert ist ein sehr verschiedener, und immer allgemeiner wird verlangt,

daß

diese

freien

Staatsaufsicht gestellt werden.

Fürsorgeanstalten

unter

Eine zweite Kategorie von

Anstalten sind jene, welche mit der Armenverwaltung in Ver­

bindung stehen (auf Grund des Gesetzes vom Jahre 1862,

an aet to provicko kor tim ockueation anck maiotouaneo ok

XXIII paupsr ebildreu in eortaiu seliovls and institutions, 25 n.

Sie werden vom I^oeal dovorument Board

26 Viet. e. 43).

inspiziert und beaufsichtigt.

Die dritte Kategorie endlich sind

die bekannten Botormator^ and Industrial Lednols, für welche seit dem Jahre 1854 eine Reihe von Gesetzen erlassen

wurde.

zuletzt

Diese Gesetzgebung ist wiederholt dargestellt worden,

besonders

ausführlich

von

Dr. Reicher in

Buche über die englische Fürsorgeerziehung.

seinem

Es ist in Eng­

land immer der Richter, der die Verwahrlosung oder Straf­

fälligkeit feststellt und je nach Lage der Verhältnisse entscheidet, welche Maßregeln verhängt werden sollen.

Die Bolormator^

and Industrial Lekools, heute 222 an der Zahl, sind es

insbesondere, mit welchen die englische Gesellschaft seit mehr als einem halben Jahrhundert einen im großen Ganzen er­ folgreichen Kampf gegen Verwahrlosung und Verbrechen der

Jugend führt.

Etwa 10°/» dieser Anstalten dürften in der

Verwaltung von Schulbehörden, Grafschaften und Städten

stehen; die übrigen werden von privaten Komitees geleitet, aber großenteils aus Staatsmitteln erhalten und stehen unter der Inspektion des Home OKeo.

Die kolormator^ aud Industrial Ledools haben in der

letzten Zeit eine Wandlung durchgemacht, welche für die Ent­ wicklung der Zwangserziehung in England charakteristisch ist. Früher waren diese beiden Arten von Zwangsschulen von­

einander

ziemlich scharf getrennt.

In die Bokormatorios

kamen Jugendliche unter 16 Jahren, die wegen schwerer Ge­

setzesübertretungen verurteilt waren, ferner alle, über welche der Assisenrichter die Zwangserziehung verhängt hatte, endlich

XXIV alle Vorbestraften.

Auch mußte der Anhaltung in einer Us-

kormator^ 8ebool immer eine kurze Einsperrung im gewöhnlichen

Gefängnisse vorangehen.

Die Inäustrial Sedools waren da­

gegen für leichte Vergehungen, besonders aber für die ver­ wahrloste und sittlich gefährdete Jugend bestimmt. Diese Ein­

teilung hat sich in letzter Zeit verschoben.

Heute bildet das

Alter der Jugendlichen für die Verweisung in die eine oder andere Art der Zwangsschule einen Hauptgrund.

In dieser

Richtung bewegt sich auch der Einfluß, den das Homs Olüos

und das Inspektorat auf die Klassifikation der vom Richter der Zwangserziehung zugewiesenen Personen ausübt. In die Uslormutoi^ Felwok — die heute in der Sprache der offi­

ziellen Berichte auch 8snior Homs Ollies Seliools genannt werden — kommen Jugendliche, die das 16. Lebensjahr nicht

überschritten haben und wegen einer strafbaren Handlung ver­

urteilt wurden, für welche im Gesetz Strafknechtschaft (psnal

ssrvituäs) oder Gefängnis (imprisonnsmsnt) angedroht ist.

Eine vorgängige Einsperrung in dem gewöhnlichen Gefängnis findet

nicht mehr statt.

Homs Okües

Leüovls)

Die Inäu8triul Ledools (junior sind im allgemeinen bestimmt für

Kinder, die das 14. Lebensjahr nicht überschritten haben, die entweder wegen geringerer strafbarer Handlungen oder wegen eingetretener oder drohender Verwahrlosung der Zwangs­

erziehung zugewiesen werden. Vorbestrafung ist kein Hindernis

mehr für die Aufnahme in eine Inclustrial 8edool. und auch der Assisenrichter hat die Wahl, je nach den Umständen das

Kind in eine Usloi matoi^ oder Inäustriul 8etwol zu schicken. Die Uskormutoriss enthalten also die älteren Jahrgänge der

straffälligen Jugend, die Ivclu8trial 8elwol8 die jüngeren Jahrgänge der Gesetzesübertreter und die Verwahrlosten; in

den ktztorinataritz« finden sich im Durchschnitt um drei Jahre ältere Kinder als in den Inäu8trial 8olwol8 und in diesen vorwiegend die jüngeren, wenn auch die Grenze nicht scharf eingehalten wird, weil dem Ermessen des Richters bei der Zu­ weisung ein weiter Spielraum gelassen ist. Diese Organisation

zeigt, wie sehr man bemüht ist, zu klassifizieren, wie aber das Problem der verwahrlosten und straffälligen Jugend doch als

ein einheitliches aufgefaßt wird. Nicht minder bezeichnend ist der Gang der Gesetzgebung

nach einer andern Richtung, zunächst, was die Einschränkung der väterlichen Gewalt betrifft, zu der man sich in England

nur zögernd entschloß.

Schon in den verschiedenen Gesetzen

über den Wirkungskreis und die Einrichtung der Utzkormatorv und Imlustrial 8edool8 sind wesentliche Einschränkungen der väterlichen Gewalt enthalten.

Aber auch sonst hat das Gesetz

schrittweise die Befugnisse des Richters gegenüber der familien­

rechtlichen Sphäre der Eltern erweitert.

In den koor Imv

^et8 der Jahre 1889 und 1899 (52 und 53 Viet. e. 56 und 62 und 63 Viet. e. 37 > erhalten die Armenbehörden weit­

gehende Vollmachten.

Sie haben das Recht — über welches,

wenn bestritten, der Richter entscheidet —, ein Kind bis zum

18. Lebensjahre in Obhut zu nehmen und bis dahin alle Rechte der Eltern auszuüben, wenn das Kind verwahrlost ist,

die Eltern wegen geistiger oder physischer Gebrechen oder schlechten Lebenswandels unfähig sind, ihre elterlichen Pflichten zu erfüllen, oder wenn sie zu pönal 86rvitucl6 oder wegen

XXVI strafbarer Handlungen, begangen gegen das Kind selbst, ver­ urteilt

worden

sind.

Reformator^

Der

ancl Industrial

Lebool's ^et vom Jahre 1891 (54 und 55 Viet. e. 23) gibt den Vorstehern von Anstalten, welche einen Jugendlichen

auf Probe entlassen, das Recht, ihn mit seiner Einwilligung zu verdingen, ja selbst mit Zustimmung des Romo (Moe seine Auswanderung einzuleiten, und zwar alles das mit derselben Rechtswirkung, als wenn diese Verfügungen von seinen Eltern

ausgehen würden.

Endlich möchte ich hier noch den Eustoä^

ok Edilclron ^ct vom Jahre 1891 (54 Viet. e. 3) erwähnen, welcher

die Rückforderungsansprüche

der Eltern beschränkt

und der richterlichen Beurteilung unterwirft, falls ein ver­ nachlässigtes Kind von jemandem tatsächlich in entsprechende Ob­

hut genommen wurde.

zeigen,

wie

Diese Beispiele genügen wohl, um zu

auch in der englischen Rechtsentwicklung das

individuelle Interesse des Kindes in den Vordergrund tritt.

Der Richter wird zum Hüter dieses Interesses.

Seine

Machtfülle, sein Ermessen, sein Abwägen aller Umstände, welche für die Zukunft des Kindes maßgebend sein können, sind die Stützpunkte für die Behandlung der verwahrlosten

Die zahlreichen vom Staate be­

und straffälligen Jugend.

aufsichtigten Anstalten auf der einen Seite, aber auch die Tätigkeit großer eifriger Vereine auf der andern erleichtern

dem Richter seine große, verantwortungsvolle Aufgabe. Xatioval

Society

kor

tim

Rrovovtion

ok Oruolt^

Die

to

Eüiläron, die bis zum Jahre 1899 bereits das Schicksal von 411 777

halbverhungerten,

mißhandelten,

bettelnden

und

moralisch gefährdeten Kindern in die Hand genommen hatte.

XXVII ist eine mächtige soziale Hilfe für das wichtige Kinderschutz­

gesetz vom Jahre 1894, das wegen seiner grundlegenden, weitreichenden Bestimmungen als His Odildrsn Odnrtör be­

zeichnet wird (kisveution ok Ornoll v to Okilüren Xot 57 und 58 Viet. e. 41).

Auf Grund dieses Gesetzes untersucht

und bestraft der Richter die Fälle der Mißhandlung und

schuldbaren Vernachlässigung von Kindern unter 16 Jahren

und den von den Eltern verschuldeten Straßenbettel derselben.

verfügt auch

die

provisorische

Unterbringung

der Kinder,

wenn es nötig ist, und entscheidet, ob es seinen Eltern mit oder ohne Bürgschaftsleistung zurückgegeben,

einer dritten

Person anvertraut oder in eine Industrial 8ebool gesendet

werden soll. Ebenso bedeutsam ist aber der Umschwung der eng­ lischen Kriminalpolitik gegenüber der straffälligen Jugend,

der sich in den letzten Jahrzehnten vollzogen hat. Der 8ummar)' lurisdietion Xet vom Jahre 1879 (42 und 43 Viet, e. 49), ferner der krodation ok tirst Otksnckers ^et vom Jahre

1887

(50 und 51

Viet. e.

25), endlich

der Voutbkul

Ockenclers Xet vom Jahre 1901 (I ückv. o. 20) bezeichnet die Hauptetappen in dieser Entwicklung.

Das Wesentliche

dieses bedeutsamen Umschwunges liegt darin, daß der Richter

gegenüber den jugendlichen Übeltätern den weitesten Spiel­ raum erhält.

Wenn die strafbare Handlung eine unbedeutende

ist, kann er von einer Strafe ganz absehen, und der Be­ treffende kommt mit einer Verwarnung weg.

Strafurteil auch

Wenn

ein

nicht ausgesprochen wird, kann doch in

einem gewissen Umfange auf Schadensersatz oder Geldstrafe

XXVIII erkannt werden; da aber der Jugendliche wohl in den seltensten Fällen diesen Ersatz zu leisten oder die Geldstrafe zu erlegen

im stände sein wird und in diesem Fall dann doch wieder Haft eintreten müßte, wurden durch den Voutllkul 0Ü6uä8i8

^et die Eltern für haftbar erklärt, wenn sie durch Vernach­ lässigung ihrer Pflichten die Handlungen ihrer Kinder mit­

verschuldet haben.

Eine sehr wichtige Befugnis liegt ferner

in den Händen des Richters dadurch, daß er zwar den

Schuldspruch fällen, die Verhängung der Strafe aber aus­ setzen und den Gesetzesübertreter auf Probe entlassen kann.

sei es mit oder ohne Bürgschaft, so daß es von seinem Lebenswandel abhängig gemacht wird, ob die Strafe eintritt

oder ob von ihr ganz abgesehen wird.

In gewissen Fällen

kann der Richter bei Knaben auch auf körperliche Züchtigung erkennen.

Sind die Umstände danach, so kann das Urteil

auf Verweisung in eine Reformator^ oder Inäustrial 8ebool lauten; handelt es sich endlich um einen sehr schweren Fall

und ist schon die ausgesprochene Verbrecherlaufbahn betreten, so wird die gewöhnliche Gefängnisstrafe verhängt.

Man

sucht also der Kriminalität der Jugend in England heute

auf eine andere Weise als durch die schablonenhafte Ver­ hängung der Gefängnisstrafe beizukommen. Die Gefängnis­

strafe, die früher die Regel war, ist jetzt die Aus­ Die überwiegende Zahl der Jugend­

nahme geworden.

lichen, welche heute mit dem Strafgesetze in Konflikt kommen,

werden

verwarnt,

bedingt

erziehung unterworfen.

entlaßen

oder

der Zwangs­

Das ist der große Fortschritt, den

die englische Kriminalpolitik in der letzten Zeit gemacht hat.

XXIX Die heutige Bewegung auf dem Gebiete der Jugend­ fürsorge und des Jugendstrafrechtes in den Vereinigten Staaten verdient eine besondere Aufmerksamkeit, welche ich

durch die vorliegende Schrift rege machen möchte, weil dort

— frei von hemmenden Traditionen, inmitten einer jungen, die Rechtsregeln ihres Zusammenlebens teilweise erst neu gestaltenden Gesellschaft, weniger geleitet durch Theorien als

durch das Bestreben, zweckmäßige und unmittelbar wirkende Einrichtungen zu schaffen — ganz neue Gedanken sich im

Leben durchzusetzen versuchen, die ungeprüft anzunehmen sehr

voreilig, die zu übersehen aber ein großer Fehler sein würde.

Auch in den Vereinigten Staaten spielt die Tätigkeit der freien Vereine und Gesellschaften eine Rolle, und zwar eine größere als in irgendeinem Lande von Europa.

Das Zu­

sammenwirken dieser freien gesellschaftlichen Kräfte mit staat­ lichen Behörden und Selbstverwaltungskörpern ist dort ein

fehr enges.

Für die verwahrloste und straffällige Jugend

gilt im allgemeinen die Regel: Zwangserziehung auf der

ganzen Linie. Im Strafrecht macht sich immer mehr der Grundsatz geltend, daß innerhalb eines gewißen jugendlichen

Alters (das 16. bis 18. Lebensjahr als Grenze) das Ermessen

des Richters entscheidet, welche Maßregel der Ermahnung, Beaufsichtigung, Zwangserziehung und in letzter Reihe der

Strafe in jedem einzelnen Falle einzutreten habe.

Mit allen

Mitteln wird die Loslösung des jugendlichen Gesetzesübertreters von den erwachsenen Verbrechern angestrebt und der Kontakt

mit der eigentlichen Verbrecherwelt zu vermeiden gesucht, in

neuester Zeit durch die Errichtung besonderer Jugendgerichte.

XXX Weder in Frankreich noch in England noch in den Ver­ einigten Staaten vollzieht sich diese Wandlung in der Ver­ waltung und Justiz ohne Widerspruch. Sehr stark ist dieser in

Frankreich, wo eine große besonders interessante Literatur sich mit der Jugendfürsorge und dem Jugendstrafrechte be­

schäftigt. Die Gegner der neuen Richtung beklagen es, daß in den heutigen Maßregeln gegenüber der gefährdeten Jugend ein „snsrvsmsnt äs la rsprsssion" zu erblicken ist; sie lehnen unter anderem auch das Aussetzen des Strafvollzugs, „sursis

ü l'sxseution," ab, und bekämpfen die „ssnsiblsris", die in

ihren Augen den heutigen Richter gegenüber der Jugend er­

griffen hat. Nur eines können sie nicht beweisen, daß nämlich

die Mittel, welche bisher angewendet wurden, im stände waren, das Anwachsen der Verwahrlosung und Kriminalität in der

Jugend auch nur aufzuhalten, geschweige denn zu vermindern. In England hat insbesondere William Tallack, der Sekretär

der Howard Xssoeiation, in seinem vielzitierten, wenn auch nicht immer richtig verstandenen Buche die Hekorumtor^ und

Industrial Lebvols scharf und geistreich kritisiert, die Über­ treibungen der Wohltätigkeitsvereine, die ausschließliche An­

staltserziehung und die Schwächung der elterlichen Verant­ wortung

als ein Übel hingestellt,

das

mit

der heutigen

Richtung in England verbunden sei — alles das mehr oder

weniger mit Recht.

Nur die Tatsache kann er nicht leugnen,

daß unter der nunmehr über ein halbes Jahrhundert dauern­ den Herrschaft der Ideen der Zwangserziehung in England und unter der Einwirkung des Systems der Uskorinator^ und Industrial 8ebools die Kriminalität der Jugend zum min-

XXXI



besten nicht zugenommen, wahrscheinlich nicht unbedeutend abgenommen hat, sowie daß dieses System auf das Zurück­

gehen der Kriminalität im allgemeinen in England einen

großen, unleugbaren Einfluß ausübt.

Auch in Amerika gibt

es Gegner der neuen Richtung, aber duldsamer als irgendwo sonst werden dort Meinungen ausgetauscht und geprüft und praktische Versuche nach verschiedenen Richtungen gemacht.

Trotz aller Hemmungen stehen wir vor einer radi­

kalen Umgestaltung von Recht und Verwaltung

bezüglich Zug end.

der

verwahrlosten und

straffälligen

Wir sind mitten in der Bewegung.

Sie ist

keineswegs abgeschlossen, die einzelnen Bestrebungen sind noch keineswegs ohne Widerspruch zusammengefaßt und in ihren einzelnen Teilen noch vielfach streitig; die Anhänger der alten

Theorien sind noch nicht aus dem Felde geschlagen, und die

Verwaltung und Gesetzgebung sind in manchen Ländern noch sehr mangelhaft und rückständig.

Aber überall sind die ver­

schiedenen Fragen aufgeworfen, Maßregeln werden beobachtet, verglichen, nachgeahmt, die Erfolge genau geprüft; man ist bereits im stände, die Umrisse ganz neuer Verwaltungs­ organisationen, neuer Rechtssätze und Rechtssormen zu er­ kennen, und das Gemeinsame tritt bereits deutlich hervor.

Gemeinsam ist in erster Reihe allen diesen Bestrebungen auf unserem Gebiete der Standpunkt der Erziehung.

Die Erziehung

ist besonders

qualifiziert

für

geistig

oder

physisch defekte Kinder; sie ist N a ch e r z i e h u n g, wenn

nötig Zwangserziehung in milderen oder strengeren

XXXII Formen für alle Arten der verwahrlosten und straffälligen Kinder.

Inhalt und Gedankenkreis der modernen Erziehung

haben durch

die neuen Forschungen

rung erfahren.

eine große Erweite­

Der körperlichen Erziehung wird eine viel

größere Bedeutung beigemefsen als früher.

Die Notwendig­

keit, für dieselbe ebenso vorzusorgen wie für die moralische und geistige Ausbildung, ist zur allgemeinen Überzeugung geworden und spielt gerade bei der Zwangserziehung eine große Rolle.

sischer

Der Zusammenhang zwischen Armut und phy­

Verwahrlosung,

schlechter

Körperbeschaffenheit und

Arbeitsuntüchtigkeit ist von allen Seiten beleuchtet worden.

Ich greife nur ein Beispiel heraus.

bohm Rowntree

So hat jüngst B. See­

in seinem interessanten Buche „?ovsrt^

den exakten Nachweis erbracht, daß eine Hauptursache der Degenerierung der Bevölkerung in dem Ernährungsdefizit der Jugend liege.

Er hat in der englischen Stadt Dork, die ge­

wisse Durchschnittsverhältnisse darbot, 1919 Kinder gemessen

und gewogen und in drei Klassen eingeteilt: solche, die der

ärmsten Klasse angehören und seit ihrer Geburt ungenügend genährt sind, solche einer mittleren Klaffe, die nicht regel­

mäßig gut genährt sind, und endlich solche, die von wohl­

habenden Eltern stammen und durchaus gut genährt sind. Er kam zu dem Resultate, daß die Knaben der ärmsten Klasse

zwischen 3 und 13 Jahren im Durchschnitt um 2^4 englische

Zoll kleiner sind als die Knaben der mittleren Klasse und 3'/? Zoll kleiner als die Knaben der besten Klasse, während

bei den Mädchen derselbe Unterschied 1' 4 Zoll und l'/s Zoll betrug.

Was das Gewicht anbelangt, so fand er, daß die

XXXIII Knaben der ärmsten Klasse im Durchschnitt 2Vs engl. Pfund leichter als die der mittleren und ö'/s engl. Pfund leichter als die der gut genährten Klaffe sind, während bei den Mädchen dieser Unterschied 3 Pfund und 3'/« Pfund betrug. Diese Resultate haben Lord Grey zu der Anregung veranlaßt, eine periodische Untersuchung der Schulkinder durch Messen und Wägen einzuführen, um ihre physische Entwicklung zu

prüfen und festzustellen, und eine österreichische Autorität hat

diesen Vorschlag wärmstens durch das Argument unterstützt,

daß so gut durch technische Probeanstalten die wissenschaft­ lichen Instrumente und alle Arbeitsmaterialien geprüft und

geprobt

werden,

dasselbe

doch

auch mit dem lebendigen

Arbeitsmaterial der Nation, auf dem ihre Wehrhaftigkeit und

wirtschaftliche Tüchtigkeit beruht, vorgenommen werden sollte.

Deswegen wird überall, wo die Zwangserziehung bereits Wurzel gefaßt hat, und wo man sich ihres eigentlichen Zweckes

voll bewußt ist, die Herstellung der individuellen physischen

Arbeitstüchtigkeit angestrebt, denn auf ihr beruht die Berufs­ tüchtigkeit und jede Möglichkeit, sich besondere Fertigkeiten an­

zueignen.

„Das Bitterste an dem bitteren Los der Armen

ist, daß sie der Gelegenheit beraubt sind, gut arbeiten zu lernen" — deswegen handelt es sich gerade bei den Verwahr­

losten und verbrecherisch Veranlagten darum, die körperlichen

Mängel

ebenso

auszugleichen

wie

die moralischen, denn

„diese jungen Leute gehören einer Klasse an, die von ihrer

Hände Arbeit lebt; ihr ganzes Kapital besteht aus Knochen und Muskeln; besitzen sie hiervon zu wenig, so gleichen sie Ladeninhabern, die minderwertige Ware feilbieten; die KaufB a ernreith er.

III

XXXIV lustigen decken ihren Bedarf lieber anderswo".

Aber gerade

von dieser Seite betrachtet, bekommt die Zwangserziehung ihren praktisch-ethischen Inhalt, denn in der Arbeitstüchtigkeit

und in den gelernten Fertigkeiten liegt eine selbsterworbene,

daher sichere moralische Kraft, die sich in der Freiheit be­ währen wird.

Aus diesem Grunde sind alle geisttötenden,

unwirtschaftlichen Beschäftigungen, die in Gefängnissen und

Besserungsanstalten bisher so oft vorgenommen werden, damit überhaupt etwas vorgenommen wird, zu verbannen; denn sie

sind moralisch und wirtschaftlich ohne Wert.

An ihre Stelle

müssen überall Beschäftigungen treten, welche das Individuum zur Arbeit im freien Leben vorbilden, welche technisch nützlich

und seinen Kräften und Fähigkeiten angepaßt sind. Ein zweiter Grundsatz, der in der heutigen Jugend­ fürsorge überall seinen Platz behauptet, ist das Zusammen wirken

von Selbsthilfe

und

Staatshilfe.

In

welchen Formen dieses Zusammenwirken möglich ist und ein­ gerichtet werden kann, das hängt von so vielen öffentlichrechtlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen ab, daß von allgemeinen und überall geltenden Regeln keine Rede sein kann.

Persönliche Initiative, Selbstverwaltung und Staats­

tätigkeit können sich in sehr verschiedener Weise zu dem ge­

meinsamen Zwecke verbinden, aber wie immer sich diese Ver­ bindung gestalten mag, das heutige Fürsorgewesen beruht überall auf diesem Zusammenwirken.

hat hier Großes geleistet.

Der Individualismus

Wichern im Rauhen Haus, Demetz

in Mettrap, Sidney Turner in Redhill, Brace als Gründer

der Obilckrsu

Xicl Loeitzt^ in New Aork, Suringar in

XXXV Niederländisch Mettray, in neuester Zeit Dr. Barnardo in

London und viele andere haben persönlich mehr gewirkt als Gesetze, Bücher und Lehrstühle, durch ihr Beispiel, ihre Aus­ opferung, ihre Erfolge.

Für die verschiedenen Bedürfnisse

des Fürsorgewesens ist das Fortdauern freiwilliger individueller Arbeit eine Notwendigkeit. Die liebevolle Arbeit im einzelnen so­ wie das Eingreifen der Selbstverwaltung ist hier ebenso geboten

wie eine gewisse zusammenfassende, regulierende Tätigkeit des Staates. Auch finanziell wären die Staaten — wenigstens die

europäischen — nicht im stände, alle Leistungen ganz aus sich zu nehmen.

Aus der innersten Volksseele heraus quillt aber

von jeher und überall der Wille, der gefährdeten und ver­ wahrlosten Jugend zu helfen.

Gerade in unserer Zeit hat die

Betätigung dieses Willens einen großen Umfang angenommen. Deswegen ist Lombrosos Ausspruch über „die Machtlosigkeit der

Wohltätigkeit" unrichtig. Gerade gegenüber „der Unendlichkeit der Bedürfnisse und des Elends" ist sie eine Notwendigkeit,

glücklicherweise auch eine Tatsache.

Dabei ist die freiwillig

geschenkte persönliche Tätigkeit sozial das Wertvollste, aber

niemand wird leugnen, daß die finanz ielle Hilfe, die dieser Verwaltungszweig durch die Opferwilligkeit erhält, für die

Erreichung seiner Zwecke von größter, ja entscheidender Be­ deutung

ist.

Ich

entnehme

einem amerikanischen Blatte,

welches eine Namenliste jener Persönlichkeiten veröffentlicht,

die im Verlaufe des Jahres 1902 in den Vereinigten Staaten freiwillige Spenden von mehr als K 1000 für Zwecke der

Erziehung und Wohltätigkeit gemacht haben, daß die Gesamt­

summe K 20 O2 Millionen, d. i. 1o2O? Millionen Kronen, ui*

XXXVI Das Budget für Kultus und Unterricht in Öster­

beträgt.

reich ist für das Jahr 1905 mit 84,9 Millionen Kronen ver­ anschlagt.

Nicht vom Verzicht auf die Wohltätigkeit kann

also die Rede sein, wohl aber bildet die richtige Verwertung

der gebrachten Opfer eine wichtige Frage.

Es ist eine be­

kannte Tatsache, daß diese Opfer oft ebenso planlos gebracht als planlos verwendet werden und manchmal positiv schädlich wirken.

Deswegen ist gerade in Verbindung mit der frei­

willigen Jugendfürsorge die Organisierung der öffentlichen

Wohltätigkeit, wie sie in England und Amerika durch die Ollarit^ Organisation ebenso

zeitgemäß

als

bereits in Angriff notwendig.

genommen ist.

Eine Inventarisierung

aller freiwilligen Fürsorgeanstalten im Staate ist der erste unerläßliche Schritt in dieser Richtung. Eine wichtige und schwierige Frage der Zwangserziehung bildet ihr Verhältnis zur väterlichen Gewalt. In den meisten Ländern sind > in der letzten Zeit Gesetze erlassen

worden, welche, von den Interessen des Kindes ausgehend, die

Einschränkung oder Aberkennung der elterlichen Gewalt er­ möglichen, wenn diese Gewalt mißbraucht wird, oder wenn die damit verbundenen Pflichten vernachlässigt werden.

Aber

der Ausgangspunkt für die Beurteilung dieser Frage ist in den einzelnen Rechtsgebieten ein ganz verschiedener ; denn die

väterliche Gewalt hat, je nachdem sie sich mehr nach der

römisch-rechtlichen oder mehr nach der deutsch-rechtlichen Auf­ fassung entwickelt hat, einen sehr verschiedenen Inhalt.

Der

Ooclo civil, der römischen Auffassung zuneigend, geht ur­

sprünglich davon aus, daß der Vater seine Rechte immer nur

XXXVII im liebevollen Interesse für das Wohl seines Kindes aus­ üben wird, und definiert daher die väterliche Gewalt nur als

Recht, nicht als Pflicht, indem er alle Konsequenzen ignoriert, welche

ein

schlechter

seine Krankheit

Lebenswandel

oder Abwesenheit

des

Familienhauptes,

auf die Erziehung und

Entwicklung seiner Kinder haben können.

Außer der Be­

stimmung des Artikels 334 des Oocke pönal (der es als ein Vergehen erklärt, wenn die Eltern die Moral ihrer Kinder dadurch in Gefahr bringen, daß sie sie zur Unzucht verleiten)

gab es in Frankreich keinen Schutz gegen den Vater, der seine Kinder durch böses Beispiel verdarb, sie der Verwahr­

losung preisgab, mißhandelte oder zu Bettlern oder Vaga­

bunden werden ließ.

Erst schrittweise wurde die väterliche

Gewalt beschränkt, zuerst durch die Fabriksgesetze, welche die Kinder gegen die Ausbeutung in Schutz nahmen,

später

durch die Schulgesetze, endlich in einschneidender Weise durch die obenerwähnten Gesetze aus den Jahren 1889 und 1898

über den Kinderschutz.

Unser Bürgerliches Gesetzbuch dagegen

— auf der deutsch-rechtlichen Auffassung beruhend, wonach jedem Herrschaftsverhältnis auch ein Schutzverhältnis ent­ spricht, so daß in der väterlichen Gewalt die Rechte an Pflichten geknüpft sind — bezeichnet in den

176, 177

und 178 klar die Fälle, in welchen die väterliche Gewalt

außer Wirksamkeit gesetzt werden kann oder für immer ver­ loren geht, und es werden vom Gesetz dem Gerichte zugleich weitgehende Vollmachten im Interesse des gefährdeten Kindes

erteilt.

Während also die französische Gesetzgebung erst die

familienrechtlichen Voraussetzungen für die heutige Zwangs­

XXXVIII erziehung schaffen mußte, bedürfen wir höchstens einer ge­

wissen Ergänzung unserer familienrechtlichen Bestimmungen, die, hundert Jahre alt, in ihrer klassischen Einfachheit ganz

modern sind.

Dieses Beispiel zeigt, wie man die Kinder-

schutzgesetzgebung verschiedener

Länder

bezüglich

der

Ent­

ziehung der väterlichen Gewalt nicht oberflächlich miteinander

vergleichen darf; es zeigt aber auch, wie tief die Wurzeln der Rechtsanschauung liegen, die bei der Ausdehnung der

Die Auseinandersetzung

Zwangserziehung berührt werden.

zwischen der Fürsorgegesetzgebung und den elterlichen Rechten

und Pflichten wird also immer — will man nicht auf der

einen Seite zerstören, während man auf der andern aufbaut — ein heikler Punkt bleiben,

der

nur mit Rücksicht auf die

konkrete Gestaltung des Familienrechtes zu entscheiden ist.

Die Gesetzgebungspolitik wird allerdings, will sie nicht in

einseitige Bahnen geraten, ihr Augenmerk auf ein Doppeltes

richten müssen, auf die Ursachen der Verwahrlosung so gut

wie auf die Verwahrlosung selbst.

Aber die Umgestaltung

der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, welche heute

auf das Familienband zerstörend wirken, kann naturgemäß nur langsam vor sich gehen; die Behandlung der tatsächlich

Verwahrlosten wird also immer die nächste praktische Sorge bleiben.

In dieser Hinsicht kann man aber wohl sagen, daß

heute der Grundsatz zur Geltung kommt: wo unter dem

Einfluß besonderer gesellschaftlicher Verhältnisse die Erfüllung der elterlichen Pflichten gegenüber den Kindern nicht mehr

erzielt

werden kann,

tritt der Staat für die gefährdete

Generation ein, um ihre Interessen und ihre Zukunft zu

XXXIX retten.

Sehr bezeichnend spricht man in Amerika in diesem

Falle von dem „Obilä ok tdo staks«. Große Anfechtung

erfährt die Idee

der Zwangs­

erziehung immer noch, wenn sie auf die straffällige Jugend an gewendet werden soll.

Ich habe aber die

Überzeugung gewonnen, daß hier vieles auf Mißverständnissen beruht und daß gerade auf diesem Gebiete des Strafrechtes eine Einigung leichter möglich wäre als auf manchem andern.

Ich fühle mich nicht berufen, Strafrechtstheorien zu erörtern.

Sb zwischen den Anhängern der verschiedenen Richtungen, den Anhängern der Vergeltungstheorie und den Anhängern

der

sozialwissenschaftlichen

und

der

naturwissenschaftlichen

Schule, dann jenen, die verbinden und vermitteln möchten — ganz abgesehen von allen unberechenbaren Einflüssen —, ein

Kompromiß zustande kommen wird, haltbar genug, um ein neues

deutsches oder österreichisches Strafgesetzbuch zustande zu bringen,

will ich als Laie in der Strafrechtswissenschaft dahingestellt

sein lassen.

Aber eines scheint mir gewiß: bezüglich der Be­

handlung der Jugend können wir den ganzen theoretischen

Streit ruhen lassen und uns die Hände zu gemeinsamer praktischer Arbeit reichen.

Die meisten Streitfragen, welche

die Gemüter bewegen, solange sie auf die Erwachsenen be­ zogen werden, verschwinden, wenn man sich auf die Be­

urteilung und Behandlung der Jugend beschränkt.

Daß bei

der Jugend von einer Vergeltung nicht die Rede sein kann, daß man bis zu einer gewissen Altersgrenze, die natürlich über das 14. Jahr hinausgehen muß, vom Verbrechen über­

haupt nicht reden soll, daß zwischen geistiger und sittlicher



XU



Reife in diesem jugendlichen Alter unterschieden werden müsse,

das sind Sätze, über die man sich wohl einigen könnte.

„Das

Wachstum der moralischen Ideen und Empfindungen erfolgt

langsamer als die Entwicklung der geistigen Wahrnehmungen. Das Kind vermag also zwischen Recht und Unrecht zu unter­

scheiden, ehe es die entsprechende Kraft der Zurückhaltung oder Selbstbeherrschung erlangt.

Angesichts dessen ist die

bloße Kenntnis des Unterschiedes zwischen Recht und Unrecht

strafrechtliche Ver­

noch kein genügender Maßstab für die

antwortlichkeit des jugendlichen Gesetzesübertreters; vielmehr muß erst auch noch die sittliche Reife vorhanden sein."

Hier

steht man allerdings vor der schwierigen Frage, für diesen

Zeitpunkt

eine

Altersgrenze anzugeben.

Keine Festsetzung

wird einwandfrei sein, und verschiedene Nationen können in

dieser Hinsicht auch zu

verschiedenen Resultaten

kommen.

Aber schließlich kann die Entscheidung doch nur zwischen dem 1Ü. und 18. Lebensjahre schwanken, und jede Entscheidung

ist besser als die Fortdauer eines Zustandes, in welchem Schulkinder, wenn sie gegen ein Strafgesetz verstoßen, als

Verbrecher

angesehen und

behandelt

werden.

Deswegen

sollte es auch heute kaum mehr bestritten werden, daß es sich

innerhalb

dieser

Altersgrenze

nur

um

Zwangserziehung

handeln kann, alle andern Gesichtspunkte zu Nebenzwecken

herabsinken und nur die schwersten und unheilbaren Fälle auszuscheiden sind.

Diese Anschauung

hat die mächtigste

Unterstützung durch die Untersuchungen über die Ursachen der Verwahrlosung und Kriminalität der Jugend erhalten.

Es

liegt bereits eine Fülle von Material in dieser Hinsicht vor.



XIU



durch welches in verschiedenen Ländern sowohl die sittlichen als die sozialen und anthropologischen Ursachen aufgedeckt siud.

Wer unter der Fülle von Tatsachen, die hier mitentscheiden, nur an die Folgen des Verwaistseins denkt, an die schlechte Ernährung und Pflege durch trunksüchtige und verbrecherische Eltern, an die Auflösung der Familie aus den verschiedensten

Ursachen,

Wohnens

an

die

Wirkungen

des

zusammengepferchten

und den Versuchungen der Großstadt, an den

Mangel jedes

sittlichen

und

religiösen

Gegengewichts —

von Anlage und Vererbung ganz abgesehen —, dem dürfte

wohl der Mut fehlen, der Jugend gegenüber die Vergeltungstheorie aufrechtzuerhalten.

Die entgegengesetzte Idee kommt

zum Durchbruch: Die Gesellschaft ist der verwahrlosten und straffällig gewordenen Jugend gegenüber in Schuld, die sie nur durch eine besondere Gesetzgebung und durch eine besondere Fürsorgepolitik, die vom Zwecke der Besserung ausgeht, zu

löseu im stände ist.

Freilich müßte man sich vor allem darüber einigen, was dem Besserungszweck versteht.

Die

landläufige Besserungstheorie ist in Mißkredit gekommen.

„Die

man unter

überschwenglichen Hoffnungen, die wir auf die erziehende

Kraft der Strafanstalten gesetzt haben, sind gescheitert.

Der

psychologische Irrtum der Besserungstheorie ist mit Händen zu greifen: Der Zögling: ein ausgewachsener, vielleicht schon

hartgesottener Sünder; das Zuchtmittel: Unfreiheit, welche den Willen bricht, nicht zur sittlichen Kraft entwickelt, zum

innere» Schaden den äußeren Makel hinzufügt und damit

die Bedingungen künftiger gesunder sozialer Existenz nicht be­

XIUI lebt, sondern zerstört; die Erziehungsmaschinerie: geistesarme

Einzelhaft oder ansteckende Gemeinschaftshaft, welche bei aller Anstrengung über ein Mindestmaß von Individualisierung

und höherem sittlichem Einfluß nicht hinanskommt!"

Diese

Worte, die Wach in seiner Schrift über die Reform der Freiheitsstrafe

ausspricht,

sind

unwiderleglich

und

gelten

für die straffällige Jugend in noch weit höherem Maße als

für Erwachsene.

Nur

folgt aus dieser Erkenntnis

nicht,

daß nian die Besserungstheorie, sondern daß man die bis­

werfen

herige

Methode

müsse.

Und deswegen feiert auch die Besserungstheorie —

ihrer

Durchführung

über

Bord

ich rede nur immer in bezug auf die Jugend — eine Auf­ erstehung in einem neuen Gewände, von neuen Zielen erfüllt,

neue Mittel anwendend.

Diese neue Besserungspraxis ist in

großen Umrissen bereits erkennbar, so sehr im einzelnen die Ansichten noch auseinandergehen.

Man steuert nicht mehr

einer abstrakten moralischen Besserung zu, sondern verfolgt

das Ziel praktischer, unmittelbarer, sicherer.

Es handelt sich

darum, aus dem Verwahrlosten und verbrecherisch Veranlagten

vor allem eintauglichesJndividuumzu machen, tauglich für das Leben und den Erwerb in der Freiheit. Deswegen muß

sich die Besserung auf die physische Beschaffenheit so gut erstrecken wie auf die moralische Gesundheit; allgemeine Kenntnisse und die

Urteilsfähigkeit müssen dem Individuum ebenso beigebracht

werden wie eine bestimmte Fertigkeit, von der in der Zukunft seine wirtschaftliche Existenz abhängt.

Damit ist aber die neue

Besserungsmethode erst zur Hälfte bezeichnet.

Es ist der Teil,

der sich in einer Anstalt vollziehen kann.

Damit ist die

XI.III Besserung angebahnt, noch nicht erprobt.

Erst im freien

Leben kann sie sich bewähren; aber es entstehen in demselben

neue Schwierigkeiten, deren Überwindung man in einer An­ stalt überhaupt weder lehren noch lernen kann.

Das Auf­

suchen der Arbeitsgelegenheit, das Anpassen an die Verhält­

nisse, die Standhaftigkeit gegenüber Versuchungen machen eine Bewährungsfrist notwendig, eine Übergangszeit, während

welcher das Individuum unter einer wohlwollenden, aber strengen und unaufhörlichen Überwachung stehen muß, bis

endlich auch diese letzte Fessel gelöst und es der Gesellschaft

als ein voraussichtlich nützliches Arbeitsglied übergeben werden kann.

Die Einrichtung dieser Bewährungs- und Übergangs­

zeit bildet demnach die notwendige Fortsetzung der Anstalts­ erziehung.

In England und in den Vereinigten Staaten

beschäftigt man sich sehr eingehend mit dieser Seite der Frage. Besonders von Amerika können wir in dieser Hinsicht lernen.

Dort

hat man überhaupt

des Problem

eines

modernen

Besserungssystems am klarsten erfaßt und das „rskormator^

sz stein", welches in den Vereinigten Staaten in Ausbildung

begriffen ist, sollte uns viel zu denken geben. Es ist selbstverständlich, daß auch die Stellung des Richters

zu

den

Straffällen

andere wird als bisher.

der Jugend

eine

Wenn er die richtige Auswahl unter

den Maßregeln treffen soll, die er möglicherweise verhängen kann, muß er die Einrichtungen, die in Frage kommen können. also vor allem die Anstalten, kennen und beobachtet haben.

Seine Vorbildung zu einem Amte, das richterliche und vor­

mundschaftliche Funktionen in sich schließt, wird teilweise eine

XIUV andere sein müssen als unter den heutigen Verhältnissen, in denen der Richter Strafen verhängt, die er oft weder in

ihrer Strenge noch in ihrer Wirkung auf Körper und Geist

des Verurteilten richtig abzuschätzen im stände ist. Eine Reihe prozessualer und polizeilicher Veränderungen werden im Interesse der Jugend ebenfalls Platz greifen müssen. Vor allem die Absonderung der Jugendlichen von

den erwachsenen Verbrechern in allen Stadien des Verfahrens.

Durch eine Verfügung des Polizei­

präfekten ist in Paris vorgesehen, daß Kinder, die von der Polizei aufgegriffen werden, nicht in dem gemeinsamen Raume

der Polizeistationen, sondern in besonderen Zimmern, und

zwar so kurze Zeit als möglich, angehalten werden.

Während

der Untersuchung ist bei den Pariser Gerichtshöfen die ab­ gesonderte Verwahrung der Kinder, und zwar getrennt nach

Geschlechtern,

durchgeführt.

Departements

hat

Der Generalrat

den Versuch gemacht,

in

des

Seine-

dem großen

Mutterhaus der ^SZistunee kudliquo in der Rue Denfert-

Rocherau in Paris ein „X8vl ä'observation" für jugendliche Untersuchungsgefangene einzurichten, von denen der Unter­

suchungsrichter gleich bei ihrer ersten Vernehmung erkennt, daß ihnen jeder Aufenthalt in einem Gefängnisse erspart werden müsse.

Sie werden dort zur Arbeit angehalten, einige

Zeit genau beobachtet, und es wird dem Untersuchungsrichter über jeden einzelnen Fall ein genaues Gutachten erstattet.

Der Polizeipräfekt Lozs hat im Jahre 1892 verfügt, daß alle Kinder, seien es verirrte, verlassene oder wegen straf­

barer Handlungen aufgegriffene, nicht im gewöhnlichen Zellen­

XI.V wagen (der im Pariser Volksmund „panisr ä xulacls" heißt)

überführt werden

sollen,

sondern

zu

Fuß

oder mittelst

Omnibus, Eisenbahn, Dampfschiffs zu transportieren sind. In England hat der Xoutblül Obknäsrb Xet 1901

dem

Richter ganz allgemein die Vollmacht gegeben, Kinder und jugendliche Personen, über welche die Untersuchungshaft ver­

hängt werden muß, in den Gewahrsam von verläßlichen Per­ sonen zu übergeben.

In Amerika sind gleiche Bestrebungen

heute überall im Gange. Es ist ferner eine wohlbegründete Forderung, daß die Öffentlichkeit des Strafverfahrens, die für die

Jugend nicht paßt, ihre Zukunft gefährdet, ein falsches Helden­

tum fördert und mit dem Erziehungszweck in Widerspruch

steht, eingeschränkt werden soll.

Das Verlangen nach

einer Ausnahme von der „schonungslosen Öffentlichkeit" für die

Jugend ist allgemein geworden. In Amerika bin ich aber auch

dem Verlangen begegnet, für die Strafsachen der Frauen, wenn

es sich um gewisse Delikte handelt, die Öffentlichkeit zu beschränken. Immer wieder kehrten aber bei der Beurteilung der Zwangserziehung, wenn sie als Ersatz für die Strafhaft

dienen soll, gewisse Mißverständnisse wieder.

Die

Zwangserziehung wird als Laxheit gedeutet, als Schwäche

gegenüber der Roheit und Verkommenheit, der so viele jugend­ liche Übeltaten entspringen.

Wer aber den Dingen nähertritt,

wird bald davon überzeugt werden, daß gerade das Gegenteil

der Fall ist.

Das heutige Gefängnis verliert seine Schrecken

für die eingesperrte jugendliche Person sehr bald.

„Das Los

vieler Kinder jener Schichten, aus denen die meisten Verbrecher

XI.VI Wenn solche Kinder im

hervorgehen, ist ein äußerst hartes.

Gefängnisse finden, daß sie Nahrung, bequeme Wohnung, aus­ reichende Kleidung und einen warmen Ofen haben, ohne da­

für zahlen oder schwer arbeiten zu müssen, ohne geschlagen, gestoßen oder beschimpft zu werden, so muß die ursprüngliche

Furcht vor dem Gefängnis und folglich auch die heilsam ab­ schreckende Wirkung schwinden . . ."

„Die meisten Häftlinge

würden, wenn sie die Wahl hätten, der Zellenhaft eine andere

Haftform vorziehen; aber viel machen sie sich aus ihr nicht,

denn das Zellenleben bildet eine Wiedergabe des apathischen, acht- und ziellosen Daseins, das sie in der Außenwelt geführt

haben.

Die Zeit vergeht ihnen wie im Halbschlummer.

Ganz

anders würde sie ihnen unter dem Walten einer Arbeitsdisziplin

vergehen.

Diese würde sie aus ihrer physischen und geistigen

Trägheit reißen, die schlummernden Fähigkeiten ihrer Hand und ihres Hirnes wecken, sie zu ungewohnter Tätigkeit, zu neuartiger Äußerung zwingen.

Das sind Dinge, vor denen

dem jugendlichen Durchschnittsgefangenen graut, weil sie stetige Aufmerksamkeit, anhaltenden Fleiß, anstrengende Arbeit er­ fordern; demgemäß würde er eine richtige Arbeitsdisziplin

weit schwerer empfinden als die strengste Zellenhaft."

Damit

hat Morrison, dessen Werk ich auch diese Aussprüche ent­

nommen habe, den Kern der Sache getroffen.

in der Gefängnisdisziplin

Viel mehr als

liegt in der Arbeits-

disziplin der Willenszwang, der zur Besserung im modernen

Sinne des Wortes führt, der aber auch täglich und stündlich

als ein empfindlicher Eindruck gefühlt wird, und der die heil­ same, weil praktisch wirkende Sühne für die strafbare Hand-

XI.VII lung ist.

Aber die Zwangserziehung, unerbittlich in allen

Fällen verhängt, in denen sie notwendig ist, wirkt in einer andern Richtung geradezu als ein Mittel gegen die Laxheit

und Schwäche.

Es wird in Frankreich, England und in den

Vereinigten Staaten immer behauptet, daß heute die Richter eine große Abneigung haben, jugendliche Personen zu der

für sie verderblichen Gefängnisstrafe zu verurteilen — eine Erscheinung, die gewiß auch in andern Ländern vorkommt.

Der Richter ergreift nur zu gern jede Gelegenheit, einen Jugendlichen

ohne

Strafe davonkommen

zu lassen.

Das

wird aber sofort aufhören, wenn er in der Verhängung der Zwangserziehung einen andern Ausweg hat.

Aber noch eines andern Mißverständnisses will ich hier Erwähnung tun.

Wenn man von Fürsorge oder Zwangs­

erziehung gegenüber verlassenen oder verwahrlosten Kindern ebenso wie gegenüber Straffälligen redet, begegnet man häufig

der Vorstellung, als werde dadurch jede Grenzlinie verwischt, zwischen unverschuldeten Zuständen und strafbarer Schuld kein

Unterschied gemacht. im

Die Zwangserziehung beabsichtigt aber

Gegenteil keineswegs,

aus

der

großen Zahl

verlassener, verwahrloster, physisch und mora­

lisch defekter, straffälliger Jugendlichen einen

Mischmasch zu machen, in dem der Begriff von Schuld und Strafe ganz untergehen soll.

Im Gegenteil: dem straf­

fälligen Jugendlichen soll viel mehr als heute zum Bewußtsein gebracht werden, daß er gefehlt hat, nur mit anderen Mitteln

als bisher, nicht durch ein ödes, Geist und Körper unter­ grabendes Gefängnisleben, sondern durch einen Prozeß, der

XI.VIII ihn physisch und moralisch aufrüttelt und zu einem andern Menschen macht.

Deswegen sind Individualisierung

und Klassifikation die größten und schwierigsten Aufgaben

der Zwangserziehung.

Es ist Sache des Richters, den ihm

Vorgeführten richtig zu beurteilen;

aber es ist auch not­

wendig, die Anstalten und Einrichtungen, welche für die

Behandlung

der

verschiedenen

Arten

der verwahrlosten,

anormalen und straffälligen Jugend bestimmt sind, besonders

abzustufen.

Die Differenzierung der verschiedenen für die

verwahrloste und straffällige Jugend bestimmten Einrichtungen und Anstalten beginnt jetzt immer mehr und mehr Gegen­

eingehenden Studiums und

stand

praktischer Versuche zu

Der Erfolg der Zwangserziehung hängt wesentlich

werden.

davon ab, wie diese Aufgabe gelöst werden wird. wendet ihr mit Recht die größte Aufmerksamkeit zu. näministintion pooitentiairs in Frankreich

ist in

Man

Die

dieser

Hinsicht bestrebt, nicht nur innerhalb der Anstalten,

die

nach

dem Familien-

oder

Cottagesystem

eingerichtet

sind, gewisse Kategorien von Zwangszöglingen zu machen,

sondern sie sucht auch für die Behandlung jenes Teils der straffälligen Jugend, die eine strengere Disziplinierung not­

wendig hat, besondere Anstalten einzurichten (eolonio psuitontiairö ä'b^ssos).

Desgleichen ist auch in England

beantragt, Ilökonuatoriss für schwere Fälle zu gründen, um dadurch

die übrigen Anstalten von der Ansteckungsgefahr

durch die besonders verdorbenen Individuen zu befreien. In Amerika ist die Klassikation in der Zwangserziehung ein Gegenstand, der auf jedem Fürsorgekongreß, ja überall, wo

XI^IX von der Zwangserziehung die Rede ist, erörtert wird. Praktisch wird versucht, einzelnen Anstalten einen Charakter für leichte,

mittlere oder schwere Fälle zu geben; innerhalb der Anstalten

wird vielfach die Einrichtung getroffen, jeden neu aufgenommenen Zwangszögling vorerst einer isolierten Beobachtung zu unter­ ziehen, um denselben in die für ihn geeignete Abteilung der

Anstalt einweisen zu können.

Die modernen Bestrebungen

bewegen sich also in einer Richtung, die einer schädlichen Ver­ mischung der gefährdeten Jugend bewußt entgegengesetzt ist.

Diese und manche andere Fragen bedürfen der Klärung und Durcharbeitung, vor allem der praktischen Erprobung.

Die Antworten werden nach den besonderen Verhältnissen ver­ schiedener Länder verschieden ausfallen, denn die Zwangs­

erziehung ist auch nur ein Teil der allgemeinen Erziehungspolitik, muß auf dem Niveau derselben bleiben und mit allen Besonder­

heiten rechnen, welche in einem Lande für die wirtschaftliche

Erziehung des Volkes überhaupt maßgebend sind.

Dabei

werden die Meinungen über Organisation, Disziplin und Unterricht voneinander abweichen.

Kein System wird je be­

haupten können, vollkommen zu sein, aber keines darf be­ haupten, ein Fortschritt zu sein, das nicht fortwährend seine

Resultate genau verfolgt und feststellt und seinen eigenen Wert

nur nach seinem Erfolge bemißt.

Es ist natürlich, daß ich als Österreicher vor allem wünschen würde, daß in dieser Richtung in meinem Vater­

lands eifrig gearbeitet werde. vorhanden.

Gewisse Voraussetzungen sind

Die Selbsttätigkeit regt sich auch bei uns; Ge-

Baerureither.

IV

sellschaften

und Vereine

haben Kinderschutz

und Jugend­

fürsorge zu ihrer Aufgabe gemacht; auch bei uns geschieht

oft im stillen mehr, als man äußerlich wahrnimmt.

Auch

einige Landesverwaltungen haben die Sache in die Hand

genommen.

In erster Reihe muß hier der hervorragenden

Tätigkeit des niederösterreichischen Landesausschusses und der

bereits durch Jahre fortgesetzten Bemühungen der steirischen

Landesverwaltung gedacht werden.

Aber es fehlt an der

Zusammenfassung aller dieser Kräfte, an einer systematischen

Förderung durch die Gesetzgebung und Verwaltung.

Wir

entbehren noch immer eines Fürsorgegesetzes für die ver­ wahrloste Jugend.

Unser Strafgesetz ist in jeder Hinsicht

rückständig; das Gesetz vom 24. Mai 1885 über die An­

haltung

von Jugendlichen

in Besserungsanstalten

ein

ist

Anlauf geblieben, und die Einrichtungen, die in den ver­ schiedenen Strafanstalten für die besondere Behandlung der

Jugendlichen getroffen wurden, sind ganz unzulänglich.

Leider sind in der letzten Zeit auch Fehler geschehen. Ich stimme mit Dr. Reicher vollkommen seinem jüngst erschienenen Buche:

überein, der in

„Die Fürsorge für die

verwahrloste Jugend", das österreichische Reichsgesetz betreffend

die gemeinsamen Waisenkassen ein trauriges Kapitel ober­ vormundschaftlicher Fürsorge in Österreich genannt hat.

Die

reichen Überschüsse der Waisenkassen, welche zur Verfügung

standen,

hätten für das ganze Fürsorgewesen Österreichs

grundlegend verwendet werden können, aber es hat an dem Verständnis für die Bedeutung der ganzen Frage gefehlt. Unsere Blicke in Österreich richten sich, wenn wir nach



I.I



Vorbildern in der Gesetzgebung Umschan halten, naturgemäß in erster Reihe auf Deutschland.

Dieses hat in den letzten

Jahrzehnten ein großartiges Beispiel durch seine Fürsorge­

gesetzgebung gegeben, während es zu einer Entscheidung be­ züglich der strafrechtlichen Seite der Frage noch nicht ge­

kommen ist.

Es ist für uns also vor allem notwendig, den

richtigen Gesichtspunkt für die Beurteilung

der deutschen

Verhältnisse zu gewinnen. Auch in Deutschland hat in der zweiten Hälfte des

vorigen Jahrhunderts

Anstrengungen

und

ein

großer Aufschwung persönlicher

Opferwilligkeit

Selbsttätigkeit stattgefunden.

sowie

gesellschaftlicher

Eine große Zahl von Anstalten

und Einrichtungen haben sich die Fürsorge für die Jugend nach

den

macht.

verschiedensten Richtungen hin zur Aufgabe ge­

Nach der Gründung des neuen Reiches hat dann

auch die Gesetzgebung, und Zwar sowohl die des Reiches als

die der einzelnen Bundesländer, eingegriffen.

Das Reichs­

strafgesetz vom Jahre 1871 hat für ganz Deutschland gütige Bestimmungen über die Altersgrenzen getroffen, welche für die Strafmündigkeit und die spezifische Behandlung jugendlicher

Verbrecher maßgebend sind, — das Bürgerliche Gesetzbuch

vom Jahre 1896 hat durch die Verschmelzung der drei großen Rechtsgebiete

und des

des Ooäc civil, des preußischen Landrechtes

gemeinen Rechtes die einheitliche

Fürsorgewesens für die Jugend möglich

Ordnung

des

gemacht, — das

Reichsgesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichts­

barkeit vom Jahre 1898 hat in Vormundschaftssachen ein einheitliches Verfahren begründet und insbesondere das BeIV»

— schwerderecht geregelt.

I.II —

Das Fürsorgewesen bezüglich der ver­

wahrlosten Jugend selbst ist aber in Deutschland Sache der Landesgesetzgebung,

die Durchführung Sache

verwaltung in den Bundesländern.

durch

hat,

die Reichsgesetzgebung

der Selbst­

Rasch hintereinander bestimmt,

das deutsche

Fürsorgewesen zwei Entwicklungsstufen durchgemacht.

Zuerst

war es das Reichsstrafgesetz, welches den Anstoß zu einer

Reihe von Landesgesetzen gab, erziehung befaßten;

die sich mit der Zwangs­

der zweite Schritt wurde durch

das

Bürgerliche Gesetzbuch angeregt, welches die Änderung und Ergänzung bestehender Zwangserziehungsgesetze und die Ent­

neuer veranlaßte.

stehung

In ganz Deutschland hat auf

diese Weise die Fürsorgeerziehung eine große Ausdehnung gewonnen und ist in allen Bundesländern der Gegenstand lebhaften Interesses und einer unermüdlichen Arbeit. In Preußen kamen nacheinander zwei Gesetze zustande,

und zwar das erste am 13. März 1878 über die Unterbringung verwahrloster Kinder und das zweite am 2. Juli 1900 über

die Fürsorgeerziehung Minderjähriger, welches sich als eine

wesentliche Erweiterung des ersteren darstellt.

Die Rechts­

entwicklung in Preußen ist für die Vergangenheit und Zu­ kunft der Frage der Jugendfürsorge und Zwangserziehung in Deutschland derartig lehrreich, daß ich auf dieselbe hier

einen Blick werfen will.

Diese Rechtsentwicklung hat einer­

seits das Reichsstrafgesetz, anderseits das Bürgerliche Gesetz­

buch zur Voraussetzung. Das

zwölfte

deutsche

Reichsstrafgesetz

macht

das

vollendete

und das vollendete achtzehnte Lebensjahr zu den

um entscheidenden

Altersgrenzen

Behandlung.

Vorher

bezüglich

der

strafrechtlichen

ist eine strafgerichtliche Verfolgung

ausgeschlossen; nachher wird ein Unterschied nicht mehr ge­

macht.

Der Landesgesetzgebung ist es überlassen, rücksichtlich

von Kindern unter zwölf Jahren, welche strafbare Handlungen begangen haben, Vorschriften zu erlassen, die ihre Beaufsich­ tigung oder Besserung bezwecken.

Bezüglich der Jugendlichen

innerhalb der obbezeichneten Altersgrenze, also zwischen zwölf

Lind achtzehn Jahren, folgt das Reichsstrafgesetz den Grund­

sätzen des Ooätz p4nul, indem der Richter zu entscheiden hat, ob der Angeschuldigte die zur Erkenntnis seiner Strafbarkeit erforderliche Einsicht besaß oder nicht.

Im letzteren Falle

wird er freigesprochen; es ist jedoch im Urteile zu bestimmen,

ob er seiner Familie zurückgegeben oder in eine Erziehungs­ oder Besserungsanstalt gebracht werden solle, wo er so lange

angehalten werden kann, als es die vorgesetzte Verwaltungs­

behörde für erforderlich hält, jedoch nicht länger zum vollendeten zwanzigsten Lebensjahre.

als bis

Hält dagegen der

Richter bei dem jugendlichen Angeklagten die erforderliche Einsicht in die Strafbarkeit seiner Handlung für vorhanden, so erfolgt die Verurteilung zu einer gegenüber der allgemeinen

Regel wesentlich herabgeminderten Strafe (nie Zuchthaus),

und es ist die Strafe in Anstalten und Räumen zu vollziehen, welche für den Strafvollzug an jugendlichen Personen be­

sonders bestimmt sind. In Preußen fügt sich das erste der beiden erwähnten

Gesetze (vom Jahre 1878) in diese reichsgesetzlichen Bestimmungen derart ein, daß Kinder, die nach Vollendung des sechsten und

-

I^IV



vor Vollendung des zwölften Lebensjahres eine mit Strafe

bedrohte

Handlung

begehen,

wegen

deren

sie

straf­

rechtlich nicht verfolgt werden können, durch Unterbringung in einer Familie oder in einer Besserungsanstalt in Fürsorge­

erziehung genommen werden, jedoch auch nur dann, wenn dies „zur Verhütung weiterer sittlicher Verwahrlosung" nötig

scheint.

An dem guten Willen, dieses Gesetz durchzuführen,

hat es nicht gefehlt.

In den zwanzig Jahren, die seiner Er­

lassung folgten, wurden 30885 Kinder in Obhut genommen

und namhafte Geldmittel aufgewendet.

Die gehoffte Wirkung

blieb aber aus.

Die Kriminalität der Jugend nahm nicht

ab, sondern zu.

Für diese Zunahme waren gewiß verschiedene

Ursachen maßgebend, aber alle Urteile stimmen darin überein,

daß dieses erste preußische Zwangserziehungsgesetz deswegen

ohne Wirkung geblieben ist, weil es achtlos an den Verwahr­ losten jugendlichen Alters, sofern sie nur mit dem Gerichte nicht in Berührung gekommen sind, vorbeigegangen ist.

Es zeigte

sich hier wieder, daß die Verwahrlosten das große Reservoir bilden, aus dem die heute von allen Seiten beklagte Krimina­ lität

der Jugend ihre

wachsenden Zuflüsse erhält.

Des­

wegen können vereinzelte Maßregeln, sei es auf dem Ge­ biete des Strafvollzugs, der Zwangserziehung oder Armen­

versorgung

nur

durch

eine Wirkung nicht ausüben,

sondern dies ist

ein lückenloses ineinandergreifendes

System von Einrichtungen möglich, welche vor­ beugend, erziehend — wenn nötig, strafend —

die

ganze

Kette

der verlassenen,

verwahr­

losten und straffälligen Jugend zu fassen sucht

— die

und

I.V

gefährlichen



Zusammenhänge

unter­

bricht. Durch das zweite preußische Gesetz vom (Jahre 1900)

wurde der Fürsorgeerziehung eine große Ausdehnung gegeben. Hier spielen die Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches

herein.

Das Reichsrecht verfügt (§ 1666 des Bürgerlichen

Gesetzbuches) im Falle, als das geistige und leibliche Wohl

des Kindes dadurch gefährdet ist, „daß der Vater das Recht der Sorge für die Person des Kindes mißbraucht, das Kind vernachlässigt oder sich eines ehrlosen oder unsittlichen Ver­

haltens schuldig gemacht", ein Eingreifen des Vormundschafts­ gerichtes zur Abwendung der Gefahr.

Das Gericht kann die

Unterbringung des Kindes in einer geeigneten Familie oder

in einer Erziehungs- oder Besserungsanstalt anordnen. Analoge Befugnisse hat auf Grund des einer Vormundschaft.

1838 das Gericht im Falle

Darüber hinaus überläßt es jedoch das

Bürgerliche Gesetzbuch (im Art. 135 des Einführungsgesetzes) den Landesrechten, Zwangserziehung zu verhängen, wenn dies

„zur Verhütung des völligen sittlichen Verderbens notwendig ist".

Das preußische Fürsorgegesetz füllt diesen reichsgesetz­

lichen Rahmen dadurch aus, daß es die Überweisung von

Minderjährigen bis zum vollendeten 18. Lebensjahre zur Für­

sorgeerziehung anordnet, wenn Kinder, die unter elterlicher

Gewalt stehen, durch schuldhaftes Verhalten der Eltern in Gefahr geraten, zu verwahrlosen, oder wenn diese Gefahr auch ohne Verschulden der Eltern vorliegt, oder wenn die erziehliche Einwirkung der Eltern oder der Schule nicht aus­ reichen, um ein völliges sittliches Verderben zu verhüten.



I^VI



Die Fürsorgeerziehung tritt also ein, wenn die Eltern ihre Kinder mißhandeln, ihnen die körperliche Pflege versagen, sie

zu Arbeiten zwingen, welche ihre physische oder geistige Ent­ wicklung schädigen, sie am Schulbesuch hindern oder sie vom

Verkehr mit verbrecherischen Personen und der Begehung von strafbaren Handlungen nicht abhalten; ebenso tritt Fürsorge­

erziehung ein, wenn Vater oder Mutter der Trunksucht, der

Landstreicherei, dem Bettel oder Diebstahl usw. ergeben sind, aber anderseits auch, wenn die Kinder sich der Aufsicht ihrer Eltern entziehen oder widersetzen oder sich gegen ihren Willen

in verderblicher Gesellschaft bewegen.

Die Fürsorgeerziehung

wird in den einzelnen Fällen immer über Beschluß des Vor­ mundschaftsgerichts eingeleitet. Die Durchführung des Gesetzes

obliegt den Kommunalverbänden, die darüber entscheiden, ob der Zögling an eine Anstalt abgegeben oder in einer Familie

untergebracht werden soll.

Für jeden Zögling, der in

einer Familie untergebracht wird, ist ein Für­

sorger zu be st ellen.

Die Fürsorgeerziehung kann bis zur

Erreichung der Großjährigkeit ausgedehnt werden; die frühere

Aufhebung erfolgt durch Beschluß des Kommunalverbandes, wenn der Zweck erreicht oder anderweitig sichergestellt ist. Die Provinzialverbände haben die Verpflichtung, die Zöglinge

entweder in schon bestehende Anstalten unterzubringen oder

solche zu errichten, oder geeignete Familien zu ihrer Unter­ bringung ausfindig zu machen, endlich auch nach Beendigung der Fürsorgeerziehung, wenn nötig, ein Unterkommen zu

beschaffen.

Die Wirkungen dieses Gesetzes müssen erst abgewartet

I.VII werden.

Es unterliegt heute keinem Zweifel mehr, daß das

Gesetz an gewissen Mängeln leidet, daß die Aufteilung der

Kosten sich als nicht entsprechend erwiesen hat und das Ver­ hältnis der Fürsorgeerziehung zu den Verpflichtungen der Armen­ verwaltungen zum mindesten ein unklares ist. Es ist aber jeden­ falls ein Versuch in großem Stil, dessen Bedeutung darin liegt,

daß die erziehungspolitische Seite der Frage nicht nur von den Behörden mit vollem Ernste erfaßt, sondern im Volke auch ver­

standen wird.

Der jüngste offizielle Bericht über die preußische

Fürsorgeerziehung sagt in dieser Hinsicht gewiß mit vollem

Rechte: „Mit diesem Gesetze ist das Herz des ge­

samten Volkes, und wo das Herz des Volkes ist,

kann der Erfolg nicht fehlen." Für den Gedanken, den ich hier herausheben möchte,

ist aber die Art der Durchführung des Gesetzes von

großer Wichtigkeit.

In dieser Hinsicht wirkt die Regierung

mit den Provinzialbehörden und den einzelnen Anstalten in mustergültiger Weise zusammen.

Man ist darüber einig, daß

die Familienerziehung im allgemeinen den Vorzug vor der Anstaltserziehung verdiene, daß aber für gewiße Fälle die letztere geradezu eine Notwendigkeit sei.

Es wird betont, daß

bei der Auswahl der Familien mit der größten Vorsicht und

Sorgfalt vorgegangen werden müsse, daß die Pflegegelder

ausreichend bemessen werden müssen, damit Erziehung und Pflege unter dem Bestreben, die Zöglinge wirtschaftlich aus­ zubeuten, nicht leide.

Unter Umständen ist auch die Unter­

bringung des Zöglings in der eigenen Familie zulässig, wobei

er aber auch in diesem Falle unter der Aufsicht des Für­

I.VIII sorgers steht, der veranlassen kann, daß er seiner Familie

wieder genommen und anderweitig untergebracht wird.

Zur

vorläufigen Unterbringung erachtet man Anstalten geeigneter

als Familien.

Anstaltserziehung wird auch immer verhängt,

wenn es sich um Minderjährige handelt, die zur Land­ streicherei, zur Begehung von strafbaren Handlungen Hin­

neigen, sittlich Verwahrlost sind oder der besonderen Pflege

ihres körperlichen Zustandes bedürfen.

Fürsorgers wird gesehen.

Das Amt eines

als ein hochbedeutsames

an­

Es wird gefordert, daß der Fürsorger stets sozial

über der erziehenden Familie stehe; am Lande werden Geist­

liche und Lehrer für dieses Amt in erster Reihe ins Auge gefaßt, aber keineswegs ausschließlich.

In vielen Fällen er­

achtet man, daß Frauen die geeignetsten Fürsorger sein werden.

Ganz besonders wichtig erscheint, daß jeder Zögling einen besonderen Fürsorger erhalte.

Diese Einrichtung wird jetzt

besonders durchgebildet, denn sie hat eine gleich große Be­

deutung für jene Zöglinge, die, ohne in eine Anstalt zu

kommen, untergebracht werden als für solche, die nach einiger Zeit der Anstaltserziehung auf Probe entlassen werden.

Es

wird auch in Deutschland anerkannt, daß es ein Übel ist,

einen Zögling länger in einer Anstalt zu halten, als es un­ bedingt notwendig ist.

Denn ist der notwendige physische

und moralische Reinigungsprozeß an ihm vollzogen, soll er

sobald als möglich wieder in Kontakt mit den freien Lebens­ verhältnissen kommen, gegen deren Gefahren und Schwierig­ keiten er gefeit werden soll. Die Überwachung während dieser

Probezeit

wird

zu

einem wichtigen Faktor der Fürsorge­

— erziehung gemacht.

I^IX



Ich fand in einigen Anstalten folgendes

Verfahren im Gange, das von der Staatsverwaltung syste­ matisch gefördert wird.

Jeder Familienvater, Landwirt oder

Gewerbetreibende, der einen Fürsorgezögling übernimmt, muß

mit der Anstalt einen schriftlichen Vertrag eingehen, der die Bedingungen znr Überlassung enthält.

Er übernimmt die

Verpflichtung, für das leibliche und moralische Wohl des Be­

treffenden zu sorgen.

Für jeden Zögling wird an dem Orte,

wo er untergebracht ist, ein Fürsorger bestellt, der seinen

Schulbesuch, seine Unterkunft und Verpflegung sowie seine Er­

ziehung überwacht.

Der Familienvater oder Dienstgeber hat

sich an diesen Fürsorger in erster Reihe zu wenden, wenn das Betragen oder der Gesundheitszustand des Zöglings hierzu Anlaß gibt.

Der Familienvater oder Dienstgeber hat

die Verpflichtung, den Zögling auch während seiner freien

Zeit zu überwachen, ihn zu veranlassen, Sonntags zur Kirche zu gehen; er hat schädliche Einflüsse von ihm abzuhalten, ihn durch Teilnahme an Jünglingsvereinen und durch die

Förderung einer nützlichen Lektüre aus Volksbibliotheken an

eine gute Benutzung seiner freien Zeit zu gewöhnen.

Der

Briefwechsel des Zöglings wird kontrolliert; Besuche von Ver­

wandten, Beurlaubungen zum Zwecke, Verwandte zu besuchen,

bedürfen der Zustimmung des Fürsorgers eventuell der An­ staltsdirektion. Der Fürsorger hat darauf zu halten, daß der

Arbeitsverdienst des Zöglings in angemessener Weise verwendet und ein Teil desselben in der Sparkasse hinterlegt wird. Die

Fürsorgezöglinge werden in der Regel am Lande untergebracht; größere Städte werden grundsätzlich vermieden. Ich fand auch



I.X



die Einrichtung, daß der Direktor der Anstalt jährlich alle auf Probe entlassenen Zöglinge besucht, mit den Pslegeeltern oder

dem Dienstgeber und dem bestellten Fürsorger sowie mit dem

Zögling selbst spricht und auf diese Weise in die betreffenden Familien hineinsieht. Diese Gestaltung des preußischen Fürsorgewesens fordert zu einem interessanten Vergleiche heraus. Ich werde bemüht

sein, in meiner Schrift zu zeigen, wie man die Behandlung der verwahrlosten und straffälligen Jugend in den Vereinigten Staaten dadurch auf eine ganz neue Basis zu stellen ver­ sucht, daß man den Besserungszweck nicht nach einer Schablone

verfolgt, nicht von allgemeinen Maßregeln oder einer gleich­ förmigen Anstaltsdisziplin allein das Heil erwartet, sondern das

Individuum durch individuelle Einflüsse zur Einkehr und Umkehr zu bewegen sucht.

Diese Methode der Bewährung,

krobation, unter der Anleitung eines Fürsorgers, krodation (Meer, stimmt mit dem, was ich soeben über die Durch­

führung des preußischen Fürsorgegesetzes gesagt habe, voll­ kommen überein.

Hier wie dort sucht man eine Einrichtung

auszubilden und zu verbreiten, durch welche der persönliche Einfluß zu einem Hauptfaktor der Zwangserziehung gemacht wird.

Aber allerdings besteht auch ein großer Unterschied.

Diese Methode wird in Amerika nicht nur auf verwahrloste,

sondern in erster Reihe auf straffällig gewordene Jugendliche angewendet und steht in Verbindung mit dem ausgedehnten

Gebrauch der von der Aussetzung des Strafurteils (bedingtem

Strafnachlaß) gemacht wird.

In Deutschland hat man sich

dazu noch nicht entschließen können.

Deutschland steht be-



UXI



züglich der Behandlung der straffälligen Jugend noch am

Scheidewege.

Niemand verteidigt den heutigen Rechtszustand,

nach welchem Schulkinder als Verbrecher behandelt werden

können, aber man ist noch unschlüssig, nach welcher Richtung

man sich wenden soll.

Die Meinung, daß bei der Jugend

der Gedanke der Vergeltung und abschreckenden Strafe ver­

bunden werden könne mit den Erziehungszwecken, hat mächtige

Fürsprecher, während auf der anderen Seite für den deutschen Richter dieselbe Freiheit der Entscheidung gegenüber der straf­ fälligen Jugend gefordert wird, welche der französische oder englische Richter besitzt.

Ein so konservativer Mann wie Wach bezeichnet in

seiner klassischen Abhandlung über die Reform der Freiheits­

strafe „die Zwangserziehung als die für die jugendlichen Ver­ brecher allein angemessene Form der Behandlung derselben";

v. Liszt ruft am Schluffe seines bekannten Vortrages über

das Verbrechen als sozial-pathologische Erscheinung aus:

„Schutz für die verwahrlosende Jugend aus der arbeitenden Klasse!"; Seuffert, dem für die große Strafrechtsreform die

Jetztzeit nicht günstig scheint, kommt am Ende seiner Unter­

suchung über die Bewegung im Strafrechte während der letzten 30 Jahre zu dem Ergebnis: „Wir brauchen ein Gesetz,

welches die Gerichte ermächtigt, bei den Jugendlichen (14 bis

18 jährigen) zwischen Zwangserziehung und Strafbehandlung frei zu wählen."

Für diesen Gedanken kämpft die krimina­

listische Vereinigung seit Jahren.

Der Gesetzentwurf, den

Dr. Appelius im Auftrage derselben verfaßt und veröffentlicht

hat, steht auf demselben Standpunkt.

Dr. Aschrott hat sich

I.X1I mehrmals in derselben Richtung ausgesprochen. Diese Kreise

der strafrechtlichen Theorie und Praxis sind darüber einig,

daß die Strafmündigkeit nicht, wie jetzt, nach dem vollendeten 12., sondern nach vollendetem 14. eventuell 16. Lebensjahre zu beginnen

habe, daß für das deutsche Recht der alt­

französische Grundsatz des „äiseerneinvnt" aufzugeben sei,

daß man es dem Richter in die Hand legen müsse, in jedem einzelnen Falle die angemessene Entscheidung zu treffen, und

daß unter den möglichen Entscheidungen der bedingte Straf­

nachlaß in erste Reihe zu treten habe. verlangt man

Auch in Deutschland

die abgesonderte Verwahrung der Jugend­

lichen während der Untersuchung und des Strafvollzuges;

die

Bestellung

besonderer

Jugendrichter

ist

ebenso

an­

geregt wie der Ausschluß der Öffentlichkeit der Verhand­ lung und die Beschränkung der Berichterstattung für die

Zeitungen. Es kann für uns Österreicher meines Erachtens

kein Zweifel darüber aufkommen, daß wir uns dieser Richtung anzuschließen haben, selbst wenn sie inDeutschland nichtsiegreich sein sollte.

müssen weiter blicken.

Die Argumente, welche

in der französischen, englischen

nischen

Entwicklung

Wir

und

amerika­

des Jugendstrafrechtes

liegen, dürfen für uns nicht verloren sein.

Wir

dürfen denWeg, den uns die kulturgeschichtliche

Entwicklung dieser Völker weist, nicht verfehlen. Wir dürfen auch einer, wenngleich erloschenen Tradition aus unserer besten Zeit nicht untreu werden.

Wir müssen uns

I.XIII aber zugleich vor gedankenlosen Nachahmungen ausländischer

Einrichtungen hüten. Alles dies zeigt sich in einer speziellen Frage sehr deutlich. Vor wenigen Jahren schien es, als ob die richtige Einsicht

in

die Unwirksamkeit

und

Schädlichkeit

kurzer Freiheits­

strafen und die Vorbilder fremder Gesetzgebungen dem be­ dingten Strafnachlasse insbesondere bezüglich der Jugendlichen

auch in Deutschland die Bahn brechen würden.

Verschiedene

Umstände haben trotz der glänzenden Verteidigung der Ein­

richtung durch hervorragende Rechtslehrer und Praktiker einen

Umschlag der Meinung herbeigeführt.

Unter anderem wurde

vorgebracht, daß der bedingte Strafnachlaß das Prinzip der vergeltenden Gerechtigkeit verletze und einen Eingriff in das

Begnadigungsrecht der Krone bedeute. Es scheint heute kaum eine Aussicht zu bestehen, daß das Rechtsinstitut des bedingten Strafnachlasses in Deutschland in naher Zukunft verwirklicht werden wird.

Ich glaube erst dann an eine Auferstehung

des an sich unzerstörbaren Gedankens, wenn man sich von der belgisch-französischen Schablone frei machen und das

Rechtsinstitut durch die Verarbeitung englisch-amerikanischer Anschauungen neu zu konstruieren sich entschließen wird.

In

dieser Hinsicht werden vor allem die Erfahrungen maßgebend sein, die man mit den Fürsorgegesetzen und den auf Grund derselben bestellten Fürsorgern machen wird.

Ich will kein

Urteil über dieselben aussprechen, aber so viel ist sicher, daß gewisse höhere Ziele der modernen Kultur überhaupt nur durch einen höheren Grad von Gemeinsinn erreichbar sind,

und ich möchte nicht daran zweifeln, daß in der aufsteigenden

I.XIV Entwicklung des deutschen Volkes sich die notwendigen sozialen

Kräfte auch für die neuen Aufgaben des Jugendstrafrechtes

finden werden. Aber die Diskussion über den bedingten Strafnachlaß hat in Deutschland doch einen — allerdings von vielen

Seiten als unerwünscht bezeichneten — Niederschlag gehabt.

Die deutschen Regierungen haben eine Maßregel getroffen, die als „bedingte Begnadigung" bezeichnet wird. Sie besteht darin, daß durch eine landesherrliche Anordnung die

obersten Justizverwaltungsbehörden

zur

Bewilligung

von

Strafaufschub ermächtigt werden, der eine Bewährungsfrist

sein soll, so daß entweder bei guter Führung des Verurteilten

die endgültige Begnadigung durch den Landesherrn erfolgt, im andern Falle die ausgesprochene Strafe vollstreckt wird. Diese Einrichtung kann nicht verteidigt werden. Mag man über

den bedingten Strafnachlaß wie immer denken, so muß man an­

erkennen, daß der Grundgedanke überhaupt nur dann erziehend und bessernd wirken und die innere Einkehr herbeiführen könne, wenn er als Rechtsinstitution verkörpert ist.

Das Aus­

setzen der Strafe muß, wenn überhaupt, als ein allgemeines, unter bestimmten Voraussetzungen gleichmäßig angewendetes Mittel gehandhabt werden, nicht aber als ein Gnadenakt von

Fall zu Fall.

Aber diese deutsche Einrichtung beruht wenigstens

darauf, daß die Begnadigung nur eine bedingte ist und von einer Bewährung abhängig gemacht wird.

Auch geht alljährlich

dem Reichstage eine ausführliche Denkschrift zu, welche genaue statistische Angaben über den Umfang und den Erfolg dieser Maßregel enthält, sie also in das Licht der Öffentlichkeit

I.XV rückt.

Die österreichische Nachahmung dieser Einrichtung da­

gegen, welche

durch

den

Erlaß

des Justizministers vom

25. November 1902 erfolgte, nimmt unter gewissen Voraus­ setzungen dieunbedingteBegnadigungvon Jugend­

lichen in Aussicht, verlangt keine Probezeit, keinen noch so

schwachen Beweis der Bewährung, in dem großen Irrtume befangen, als könne man in der Regel darauf rechnen, daß das

durchgeführte

Strafverfahren

allein „als

eindringliche Mahnung zur Umkehr" genüge.

ernste

und

Über den eigent­

lichen Erfolg dieser Gnadenakte erfährt das Justizministerium

auf diese Weise nichts; statistische Daten werden nicht ver­ öffentlicht.

Es kommt also auf nicht viel anderes hinaus,

als daß man eine Anzahl von Jugendlichen „laufen läßt",

was nur bei einer ganz oberflächlichen Beurteilung der Maß­ regel als eine der straffälligen Jugend erwiesene Wohltat an­ gesehen werden kann.

Es sei mir eine Reminiszenz aus längst vergangener

Zeit gestattet.

Schon vor nahezu 120 Jahren hat man sich

in Österreich über die Frage der Strafnachsicht Gedanken ge­ macht, die ihrer Zeit weit vorauseilten. In dem durch kaiserliches Patent vom 17. Juni 1788

kundgemachten Kriminalverfahren für Österreich ist im 15. Hauptstücke ein „Begnadigungsverfahren" angeordnet. Sobald

jemand die Hälfte der ihm zuerkannten Strafe verbüßt hat,

kann er um Nachsicht der übrigen Strafe bitten (ß 201). Die Begnadigung darf nicht willkürlich erteilt werden, sondern

es müssen hinlängliche Gründe vorhanden sein; ein solcher Grund liegt insbesondere vor: „wenn der Verurteilte während B a ern reitl; e r.

V

UXVI der Haft sich so betragen hat, daß er nach dem Zeugnisse der Vorgesetzten dauerhafte Besserung erwarten läßt" (8 203).

Trotzdem in diesen Bestimmungen immer von „Begnadigung" gesprochen wird, so ist damit doch eigentlich

gewissen

allgemeinen

Voraussetzungen

eine unter Straf­

eintretende

nachsicht gemeint, eine Entlassung aus der Haft, welche durch

die

eingetretene

Besserung

gerechtfertigt

ist,

denn

die

Entscheidungen über diese Strafnachsicht stehen nach diesem Gesetze den Gerichten zu, nicht der

Krone, und nur in den schwersten Fällen bleibt die Ent­ scheidung der obersten Justizstelle vorbehalten (8 202). In dem Archiv des Justizministeriums ist der Vortrag

der „Kompilationskommission" an den Kaiser Joseph und die daraufhin erflossene kaiserliche Entschließung, die sich auf dieses

Kriminalverfahren bezieht, aufbewahrt.

Aus diesen Akten­

stücken geht hervor, daß die Kompilationskommission — deren Vorsitzender jener Graf Sinzendorf gewesen ist,

der mit

Pestalozzi über Erziehungspläne im Briefwechsel stand — für

diese Fälle der Strafnachsicht noch weiter beantragt hatte, daß dieselbe mit einer Unterstützung und Aufsicht des

Entlassenen verbunden werden sollte; die Straf­

nachsicht hätte nach diesem Anträge nur erfolgen sollen, wenn

sich des Entlassenen „ein rechtschaffener Mann annimmt, der ihm

redlichen

Nahrungsstand und

Versorgung verschaffen

will". Dieser Zusatz wurde in das Gesetz nicht ausgenommen, aber es ist sehr interessant, daß die Hofräte Kaiser Josephs den modernen Gedanken der Bewährung schon damals er­

kannt haben.

I^XVII Aber noch mehr.

Sie haben auch die von einer Mi­

norität unter ihnen erhobene Behauptung — die heute noch

in Deutschland gegenüber der bedingten Verurteilung eine Rolle spielt —, als widerstreite die systematische Anwendung

der Strafnachsicht durch die Gerichte den Rechten der Krone, mit jenem Freimute widerlegt, der uns aus den österreichischen Akten jener Zeit so oft entgegenweht.

In demselben Vortrage

wird ausgesprochen, daß „bei einer ordentlichen Stimmung einer Staatsverwaltung nur das Dniversum zum Throne gehöre,

das ^artikulare aber nie anders, als wenn von den ordent­ lichen Instanzen die Ordnung übertreten worden wäre", und es wird dort weiter ausgeführt, daß die in dem Kriminal­

verfahren

vorgesehenen

Fälle

der

Strafnachsicht

„zum

Throne nicht gelangen und den zu wichtigeren Geschäften nötigen arbeitsamen Geist des Landes­

fürsten nicht beschäftigen" sollen.

Zum Schluffe

noch

ein Wort.

Mögen in Österreich

endlich die Stimmen gehört werden, die sich für eine Für­

sorgepolitik und für die Reform des Jugendstrafrechtes längst

erhoben haben.

Mir scheint, daß bei der Ungewißheit dar­

über, wie und wann die allgemeine Reform unseres Straf­

rechtes zustande kommen wird, es eine dankbare und edle Auf­

gabe der Erziehungs- und Justizpolitik in Österreich wäre, diesen Gegenstand so rasch

als möglich,

gesondert, in Angriff zu nehmen.

wenn auch ab­

Merkwürdigerweise haben

sich bei uns schon Meinungen geltend gemacht, die vor einer

Übertreibung der Fürsorge- und Zwangserziehung warnen —

während wir doch kaum am Anfang dieser Dinge stehen. V'*



I^XVIII



Man darf eben nicht kleinlich an den Fehlern und Übel­ ständen haften bleiben, die sich dort etwa zeigen, wo diese

Einrichtung, die eine menschliche ist, wie alle andern, schon seit

Jahren besteht, sondern man muß sich den großen Kultur­

fortschritt vor Augen halten, der überall mit diesem neuen Verwaltungszweige verbunden ist. Ich möchte deswegen allen jenen, welche bei uns be­

rufen sind, in dieser Richtung voranzugehen, zurufen, sich

nicht durch Zweifler, Pessimisten und Kleinigkeitskrämer irre­ machen und aufhalten zu lassen, sondern eingedenk zu sein

des großen Satzes von Pestalozzi: „Taten, fortdauernde Taten überwinden alle Meinungen, so tief sie

auch eingewurzelt sind." Lünz, Lubenz, Böhmen, im April 1905.

Per Werfasser.

Inhaltsverzeichnis. Vorrede..................................................................... S. III-I.XVIII I. Einleitung..................................................................S. 1—20 Sozialer Hintergrund der Fürsorgebewegung in den Vereinigten Staaten: große Regsamkeit auf diesem Gebiete: wirtschaftliche Expansion und er­ ziehliche Energie, in ihrem Zusammenhänge schon von Tocqueville er­ kannt; diese Triebkräfte beherrschen auch die Maßnahmen bezüglich der verwahrlosten und straffälligen Jugend. — Gesellschaftliche Verschieden­ heiten in den einzelnen Teilen der Union: trotzdem große einheitliche Züge: Vielheit in der Einheit: diese drückt sich in der Straf- und Zivilgesetz­ gebung aus; bei aller Mannigfaltigkeit der Fürsorgeanstalten und -Ein­ richtungen ist dieser Zweig der Verwaltung und Gerichtsbarkeit heute eine gemeinsame, wahrhaft nationale Sache. — Die großen Gegensätze im amerikanischen Leben; Verschiedenheit in dem Werte der Fürsorgeanstaltengebotene Vorsicht bei der Fällung allgemeiner Urteile; abgesonderte Be­ handlung der verlassenen und verwahrlosten Kinder (äepenäsnv ekiläron) und der straffälligen Jugend (äelinHuent okilären); gemeinsames Prinzip der Zwangserziehung; Ausdehnung des Reformgedankens. — Die Loarä8 ok Okaritio8 und ihre Bedeutung für die Fürsorgeverwaltung; ihre Zu­ sammensetzung und Organisation; ihr Wirkungskreis und ihre Berichte. — Die Reform des Staatsdienstes (tlle Oivil Service Nekorna) inner­ halb der Fürsorgeverwaltung in den Staaten und Städten; Anstrengungen, politische Einflüsse fernzuhalten: Fortschritte in der Richtung einer un­ parteiischen Fürsorgeverwaltung durch die Boards. — Erziehung zur Selbsthilfe der alles beherrschende Grundzug.

II. Die Jugendfürsorge der Gesellschaften und Vereine S. 21—40

Die verwahrlosten Klassen in den großen amerikanischen Städten; das Wirken von Charles Loring Brace; die Okilären'Z ^.ick Societies; ihre Tätigkeit und Ausbreitung — Die Kinderschutzgesellschaften: Societät kor tti6 xrevontion ok oruolt^ to okiläron; die Gerrygesellschaft in Rew Hork; rechtliche Stellung dieser Vereine; Übernahme polizeilicher

HX Funktionen durch dieselben: das Aufnahmsgebüude der Gerrygesellschast in New Jork: Kinderschutzgesetzgebung im Staate New York. — Die großen Stiftungen; Oiiarä OolloKo in Philadelphia; die Fürsorge­ anstalten konfessionellen Charakters; Ontliolio ?i-ot66torv in New ^ork; Gesamtübersicht der Fürsorgeanstalten. — Die Gesetzgebung bezüglich der verwahrlosten Jugend, im Staate New Jork, in Massachusetts. III. Die Jugendfürsorge der Staaten und der Selbstverwaltungen

S. 41—63

Das System des Staates New Hork: Beiträge aus öffentlichen Mitteln für private Anstalten; geschichtliche Entwicklung dieser Methode; der 8kate Loarä ok Okarit^, seine Zusammensetzung und sein Wirkungs­ kreis: seine Berichte; Übelstände der großen Anstalten: die Staatsanstalt für schwachsinnige Kinder in Syrakus; Verhältnisse in Kalifornien. — Das System von Ohio: Die Grafschaftsbehörden errichten Anstalten und subventionieren sie; Loarä ok Oountv Vi8itor8; sein Wirkungskreis, sein Aufsichtsrecht und seine Berichte: Connecticut und Indiana. — Das System von Massachusetts: Das Unterbringen der Pfleglinge in Familien; Vorzüge dieser Methode gegenüber der Anstaltserziehung; 8tato Loarä ok 0Uaritie8; sein Wirkungskreis; Organisation des Über­ wachungsdienstes bezüglich der in Familien untergebrachten Kinder; Pennsylvanien. — Das System von Michigan: Fürsorge für die verwahr­ loste Jugend vorerst in einer Staatsanstalt in der Absicht, sie so bald als möglich in Familien unterzubringen oder in Dienst zu geben; die Staatsschule in Coldwater; ihre Einrichtung, ihr Überwachungsdienst; Resultate dieser Methode; andere Staaten folgen dem Beispiel von Michigan. — Gesamtbeurteilung dieser vier Hauptrichtungen.

IV. Die Neformschulen für die straffällige Jugend

S. 64—85

Erste Gründungen dieser Art in den Jahren 1825, 1826 und 1828. Es bildet sich der Grundsatz heraus: Zwangserziehung an die Stelle der Gefängnisstrafe zu setzen: das „rokorniator^ 8^8toin" in seiner An­ wendung auf Kinder und Jugendliche. — Anstaltserziehung und xrodation; physische, moralische und gewerbliche Ausbildung: Entlassung auf Probe: das unverbesserliche Residuum. — Gesetzliche Bestimmungen über die Behandlung der straffälligen Jugend; allgemeiner Grundsatz: das Ermessen des Richters entscheidet über die Behandlung: die gesetz­ lichen Bestimmungen in Massachusetts; die 8olloo1 und ihre Erfolge. — Fortschritte, welche die Nekomnator^ 8ellool8 aufzuweisen haben; ihre Erziehungsmethode; das Meritsystem; körperliche Züchtigung. — Die Besserungsanstalt in Glenmills, Pennsylvanien; ihre Einrichtung, Methode und Erfolge; das iuvenile ^.8^1uin in New Nork.

I.XXI V. Vie Neformgefangnisse

S. 86—121

Ausdehnung des Reformsystems; Vorläufer der heutigen Bestrebungen: Edward Livingstone und Alexander Macconochie; der Strafrechtskongreß in Cincinnati 1870. — Die Gründung von Elmira; gesetzliche Bestim­ mungen; Gefängnismethode Brockways; Statistik der Erfolge in Elmira; Krise in der Verwaltung der Anstalt; Joseph F. Scott, bisher Direktor in Concord, tritt an die Stelle Brockways. — Concord in Massachusetts; gesetzliche Bestimmungen; die dortige Methode, insbesondere der Schul­ unterricht; Vereinstätigkeit in Concord; Erfolge; Gesetz vom 23. Mai 1904 über die konfessionellen Verhältnisse in den Strafanstalten von Massachusetts. — Das Latein und seine theoretische Begründung; Argumente gegen das bestehende Strafensystem; Ziele der neuen Methode; Behandlung der erstmaligen Verbrecher, krodatioir; Arbeit, Erziehung und Religion in den reformierten Strafanstalten; Lebenshaltung der Sträflinge; die erziehende Disziplin; die probeweise Entlassung; Incietsrininats Lentsnes, ihre Begründung und An­ fechtung.

VI. Die Bewahrung (kiobalion).......................... S. 122—158

Der der Bewährung (krodation) zugrunde liegende Gedanke; damit verwandt die Entlassung on xai-ols. — Entstehung der ki-odation in Massachusetts; sie ist heute eine durchgebildete Einrichtung des Straf­ rechtes in diesem Staate: die Gerichtsverfassung in Massachusetts: die Ge­ fängniskommission (Loarä ol ^ri80ir00iurni83i0N6r8); die Ernennung der öffentlichen Fürsorger (krodation OLLioei-8); ihre Zahl, ihr Wirkungskreis und ihre Entlohnung; das 8v8tem" kommt nicht in Betracht. — Das Eingreifen der Probation 01ti66i'8 in das gerichtliche Verfahren; Schilderung des Vorganges; Behandlung der Trunkenheitsfülle, eine Haupttätigkeit der öffentlichen Fürsorge; Fälle, in denen der Richter auf krodation erkennt; richtige Auswahl dieser Fülle; Behandlung der Jugendlichen. — Erfolge dieses Systems; Eindruck, den der Richter macht; Form der probeweisen Entlassung; Aufgabe des krodatioir OMoeiwährend der Bewährungsfrist; Art und Zweck der Überwachung; ?i-odatioir keine gerichtliche, sondern eine soziale Funktion. — Statistik für die Jahre 1895, 1902 und 1903; Einzelbeobachtungen; Statistik der Jugendlichen, die unter Probation gestellt werden. — Bestrebungen, Einheitlichkeit in das Verfahren zu bringen; gemeinsame Konferenzen aller krodation Okkie6N8; die ^.880oiatiou ok krodation Okkio6i'8; die Praxis der Gerichte bezüglich der Dauer der Bewährung. — Er­ sparnis von Strafvollzugskosten durch das Verfahren; Gefahren, die in demselben liegen; Zusammenhang der krodation mit den allgemeinen Zielen der Strafrechtsreform in den Vereinigten Staaten.

HXII VII. Die Jugendgerichte (iuvenile Oourts). . . S. 159—181

Die allgemeine Kinderschutzbewegung führt zu der Errichtung von Jugend­ gerichten; das erste Gesetz dieser Art kommt in Illinois im Jahre 1899 zu stände; Analyse dieses Gesetzes; Stellung des Richters zur ver­ wahrlosten und straffälligen Jugend; die Aufgabe der krodation OkkieerZ; ihre Organisation in Chicago; Vereine und Anstalten, die ständig beim Jugendgerichte in Chicago vertreten sind. — Getrennte Behandlung der verwahrlosten, straffälligen und schulschwänzenden Kinder vor dem Jugendgerichte; bisherige Resultate dieser Einrichtung. — Jugend­ gerichte in Pennsylvanien; Geschichte ihrer Entstehung; Aufhebung des ersten Gesetzes durch den obersten Gerichtshof des Staates Pennsylvania; ein zweites Gesetz kommt zu stände und ist seit 1903 in Wirksamkeit; Urteil hervorragender Rechtsanwälte und Richter in Philadelphia über die Wirkungen des Gesetzes; Ausbreitung der Jugendgerichte in anderen Staaten der Union. VIII. Das Jugendgericht in Denver (Colorado) . S. 182—198

Kompetenz dieses Gerichtes bezüglich verwahrloster, straffälliger und die Schule vernachlässigender Kinder; bezüglich Personen, die für die Hand­ lungen der Kinder verantwortlich gemacht werden können; bezüglich der Kinderarbeit und Kindermißhandlung. — Der Überwachungsdienst, der vom Richter Lindsay eingerichtet ist; die soziale Funktion des Ge­ richtes; seine Ausnahmsstellung; Roosevelts Ausblick in die Zukunft. — Schilderung der verschiedenen Typen verwahrloster und straffälliger Kinder; persönliche Einwirkung des Richters; Voluntai-v Er­ ziehung durch Vertrauen. — Preisfrage über die Behandlung verwahr­ loster und straffälliger Kinder, von diesen selbst beantwortet; Zeugnisse über die Erfolge dieser Methode. IX.

Wissenschaft und Leben............................. S. 199—231

Zug nach Einheitlichkeit in den geschilderten Einrichtungen; das Ver­ langen nach Überwachung des Fürsorgewesens durch öffentliche und frei­

willige Organisationen. — Ilie American Koeial Leioneo ^.88ooiation; ihre Gründer und ihre Ziele. — ^lie Rational Oonkerenoe ok 0karitie8 anä Oorrootion; ihre Organisation und der Charakter ihrer Verhand­ lungen; der ganze Umfang der Jugendfürsorge und des Jugendstrafrechtes bildet den Gegenstand der Arbeiten dieser Vereinigung; ihr Einfluß auf die Verbreitung der neuen Ideen. — Ilio Rational ?ri8on ^880eiation. — Die Gebrechen der „Oliariti^"; Okarit^ or^ani8ation, Organisationsvereine, ihre Entstehung, ihre Absichten und bisherigen Erfolge; krionäl^ vi8itin§. — Wissenschaftliche Behandlung des Für­ sorgewesens und des Jugendstrafrechtes; das Werk von Charles Richmond

I.XXIII Henderson über die verwahrlosten und verbrecherischen Klassen der Be­ völkerung; die von Henry M. Boies; die Bücher von Amos G. Warner, Frederick Howard Wines und E. C. Wines. — Stellung der Wissenschaft zu den Anforderungen des Lebens; Wechsel­ wirkung zwischen Wissenschaft und praktischer Arbeit; die Entwicklung des Fürsorgewesens ist gefördert durch das Interesse an psychologischer Forschung und ^das ungestörte Nebeneinanderwirken der verschiedenen Konfessionen. — Die Einwirkung amerikanischer Ideen und Arbeits­ methoden auf Europa. X. Vas Mmilienrecht und die Rechtsprechung

. . S. 232—260

Allgemeiner Charakter des amerikanischen Familienrechtes; Grundzug desselben, die Wohlfahrt der Kinder vor allem zu berücksichtigen. — Bestimmungen über die Entziehung der väterlichen Gewalt; Vergleich mit dem englischen Recht; auch das Kind hat nach amerikanischem Rechte einen gewissen Einfluß auf seine Unterbringung. — Die ausdrückliche oder stillschweigende Übertragung väterlicher Rechte an Vereine oder Personen; Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes von Kansas. — Rechtliche Stellung des Vaters gegenüber dem selbständigen Arbeits­ einkommen seines Kindes; prinzipielle Auffassung des amerikanischen Rechtes; Übereinkommen zwischen Vater und Kind bezüglich dessen Arbeits­ einkommen. — Emanzipation und die Tendenz bes amerikanischen Rechtes, sie zu begünstigen. — Übereinstimmung des Familienrechtes mit der Für­ sorgepolitik. — Die staatspolitischen Interessen machen sich in der Recht­ sprechung immer mehr geltend; Konflikte zwischen konstitutionellen Bestimmungen und den Fürsorgegesehen; Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes des Staates Illinois, die auf einen Umschwung in der Auffassung der Richter zu gunsten der Fürsorgegesetzgebung schließen lassen.

Anmerkungen..................................................................... S. 261—304

I. Einleitung. Sozialer Hintergrund der Fürsorgebewegung in den Vereinigten Staaten; große Regsamkeit auf diesem Gebiete; wirtschaftliche Expansion und er­ ziehliche Energie, in ihrem Zusammenhänge schon von Tocqueville er­ kannt; diese Triebkräfte beherrschen auch die Maßnahmen bezüglich der verwahrlosten und straffälligen Jugend. — Gesellschaftliche Verschieden­ heiten in den einzelnen Teilen der Union: trotzdem große einheitliche Züge: Vielheit sin der Einheit; diese drückt sich in der Straf- und Zivilgesetz­ gebung aus; bei aller Mannigfaltigkeit der Fürsorgeanstalten und -Ein­ richtungen ist dieser Zweig der Verwaltung und Gerichtsbarkeit heute eine gemeinsame, wahrhaft nationale Sache. — Die großen Gegensätze im amerikanischen Leben; Verschiedenheit in dem Werte der Fürsorgeanstalten; gebotene Vorsicht bei der Fällung allgemeiner Urteile; abgesonderte Be­ handlung der verlassenen und verwahrlosten Kinder (äepenäent ellilären) und der straffälligen Jugend (äoliuyueut ellilären); gemeinsames Prinzip der Zwangserziehung; Ausdehnung des Reformgedankens. — Die Boards of Ollaritios und ihre Bedeutung für die Fürsorgeverwaltung; ihre Zu­ sammensetzung und Organisation; ihr Wirkungskreis und ihre Berichte. — Die Reform des Staatsdienstes (tke Oivil Lerviee Ret'orm) inner­ halb der Fürsorgeverwaltung in den Staaten und Städten; Anstrengungen, politische Einflüsse fernzuhalten; Fortschritte in der Richtung einer un­ parteiischen Fürsorgeverwaltung durch die Boards. — Erziehung zur Selbsthilfe der alles beherrschende Grundzug.

In den folgenden Aufsätzen will ich versuchen, in Um­ rissen jene Maßnahmen zu schildern, welche in verschiedenen

Staaten der Union gegenüber der verwahrlosten und straf­ fälligen Jugend ergriffen werden.

Daran möchte ich die Er­

örterung einzelner Fragen des Jugendstrafrechtes knüpfen, die

in Amerika im Vordergründe stehen, um zum Schluffe zu Baernreither.

1

2 zeigen,

wie

Wissenschaft

und Rechtsprechung

den

großen

praktischen Zug, der in diesen Dingen zum Ausdrucke kommt, anerkennen und unterstützen, erheben und vergeistigen.

Mein Versuch hat aber mehr den Zweck, zu einem ein­

gehenden Studium dieses Teiles der amerikanischen Gesetz­ gebung und Verwaltung anzuregen, als abgeschlossene Re­

sultate vorzulegen.

Was ich bieten kann, sind nur Ausblicke

auf eine überreiche Entwicklung, welche im vollen Flusse ist und sich noch in lebhafter Bewegung befindet. Wer sich mit der Frage des Jugendschutzes, der Jugend­ erziehung und der Behandlung der straffälligen Jugend in Amerika beschäftigt, dem wird sofort die erstaunliche Regsam­

keit und das eifrige Streben von Individuen, Vereinen,

Städten und Staaten auffallen sowie nicht minder die große Mannigfaltigkeit in dem tatsächlich Geschaffenen.

Sehr bald aber treten für den Beobachter die großen Züge hervor, welche die Behandlung unserer Frage als eine

einheitliche, durchaus volkstümliche erscheinen lassen. Die Amerikaner sind vor allem ausgezeichnet durch den unerschütterlichen Glauben an sich selbst.

Schaffensfreudigkeit

und Optimismus beherrschen das Leben.

Das Volk, das

einen ununterbrochenen Amalgamierungsprozeß mit fremden

Elementen durchzumachen hat, ist willig, sich organisieren zu lassen,

es

ordnet individuelle Ansichten allgemeinen Not­

wendigkeiten unter und ist der Selbstdisziplin in hohem Grade fähig.

Von Traditionen nicht beeinflußt ist es stets bereit,

neue Ideen zu prüfen und aufzunehmen, und ist daher lern­

begierig und rezeptiv wie vielleicht kein anderes Volk der Erde. Ausgestattet mit diesen Eigenschasten geht es auch auf dem Gebiete, von dem ich sprechen will, seinen Weg.

3

Zwei bewegende Kräfte wirken in Amerika parallel: die

Expansion in seiner Gesamtwirtschaft und die Energie in seinem Erziehungswesen.

Diese beiden gesellschaftlichen Ele­

mente bedingen sich gegenseitig, verstärken sich und drücken

dem amerikanischen Leben den Stempel auf — Geschäftssinn und Bildungstrieb, beides im weitesten Sinne des Wortes

zu nehmen.

Die Erziehung ist getragen von dem festen

Glauben des Amerikaners an die Möglichkeit, die große Masse

des Volkes durch technische, geistige und moralische Mittel zu heben und vorwärtszubringen.

Sie ist durchdrungen von

dem „Geiste der Selbstvervollkommnung", der die Erhebung

des Einzelnen nicht nur anstrebt, um ihn selbst für das Leben so leistungsfähig als möglich zu machen, dessen Walten aber

auch der Erfüllung eines ethischen Gebotes gilt, der Wohl­ fahrt der Allgemeinheit.

Diesen Bildungstrieb des amerikanischen Volkes hat schon der erste philosophische Betrachter der dortigen Verhältnisse

in seinen Anfängen beobachtet.

Tocqueville erklärt ihn als

einen Ausfluß der Demokratie.

Die Gleichheit der Lebens­

bedingungen schaffe ein gleiches Interesse für höhere Fragen;

niemand lasse sich in den engen Kreis materieller Sorgen ein­ schließen, sondern nehme teil an der Welt der Intelligenz; die große Menge erkenne sehr bald den Zusammenhang zwischen

Kenntnissen und Erwerb und ergreife jede Gelegenheit zur Er­

weiterung beider.

»1^6 uoinbrs cis eoux qui eultivent les

seitzneos, les lettres et les art8 äevient imiu6N86; uns

aetivits proäiAi6U86 86 revelk ckan8 le moncke äs I'intolli-

gsnee; ellaeun cberciw ä 8'^ ouvrir un vll6min 6t 8'6tkore6, (I'attir6r I'c»6il clu pudlic ü 8a 8uit6.« Nicht so tief, aber jedenfalls viel breiter als in den 1*

4 Ländern, in denen der Hände Arbeit von den geistigen Be­

schäftigungen schärfer getrennt ist, flutet der Strom geistiger

Interessen, nützlicher Kenntnisse und allgemeiner Bildung durch das amerikanische Volk.

Was Tocqueville aus den damals

noch unentwickelten Zuständen gefolgert hat, ist heute in die

Halme geschossen, und rein fachmännische Beobachtungen be­

stätigen es. Als im Jahre 1893 A. Mosely die große Studien­

reise englischer Gelehrter und Schulmänner zur Untersuchung und Beurteilung des amerikanischen Schulwesens veranstaltete,

wurden alle Zweige desselben, von der Volksschule und der Zwangserziehungsanstalt bis zur Universität durchforscht.

Die

interessanten Urteile der englischen Fachmänner lauteten sehr

verschieden, aber fast in jedem der 26 Berichte, welche über die verschiedensten Unterrichtsfragen vorliegen, kehrt der Aus­

druck der Bewunderung wieder über die Hingebung und den Enthusiasmus der Lehrenden und Lernenden, über den Glauben

an den Erfolg des Unterrichtes und über die Zuversicht, mit der das große Erziehungswerk der Nation verfolgt wird'. Diese Wahrnehmung wird jeder bestätigt finden, der amerikanische Zustände auch nur eine kurze Zeit beobachtet.

Ich lege auf diesen Punkt ein großes Gewicht, denn das ganze System der Fürsorge für die verwahrloste Jugend und die prinzipielle Auffassung des Verhältnisses des Strafrechtes

zur Jugend ist nur erklärlich, wenn man diese Grundfeste des

amerikanischen Denkens und Strebens stets vor Augen hat. Aber ich möchte noch eine andere Tatsache klarstellen.

Der Charakter der ursprünglichen Einwanderer, die Art der später Gekommenen, die verschiedenen Formen der Be­ siedlung,

der stärkere oder geringere Einschlag an Neger­

bevölkerung, die politischen Kämpfe und der Bürgerkrieg mit

5

seinen Folgen, ferner Klima und Bodenbeschaffenheit, natür­ liche Verkehrswege und anderes haben in den verschiedenen Teilen der Vereinigten Staaten als verschiedene Voraus­ setzungen der Entwicklung gewirkt, so daß die Staaten der

Union

in

gewisse

Gruppen

besonderen

gesellschaftlichen

Charakters zerfallen, die, ohne gegeneinander fest abgegrenzt zu sein, in ihrem sozialen Zustande, in den Neigungen, dem Charakter und der Beschäftigung der Bevölkerung, in der Art

ihrer Selbstverwaltung Verschiedenheiten aufweisen.

Bryce

in seinem Werke „Vke ^moriean eommonvoaltk" teilt die Unionstaaten in fünf Gruppen.

Neu-England (Massachusetts,

Connecticut, Rhode Island, New Hampshire, Vermont, Maine) ist die alte Heimat der Puritaner, welche trotz des irischen

Einschlages und der französischen Einwanderung aus Canada,

der sie in den letzten Jahrzehnten ausgesetzt war, immer noch die starken Züge ihres ursprünglichen Charakters bewahrt hat;

die Mittelstaaten, die sich um New Jork gruppieren, sind heute die führeuden in der großen Industrie; die südlichen, ehemaligen Sklavenstaaten, werden noch lange unter dem Drucke der Negerfrage stehen, nicht nur durch die große

Negerbevölkerung gekommenen

selbst,

sondern

auch

armen weißen Bewohner;

durch die

ihre

herab­

nordwestlichen

Staaten sind das Land der hoffnungsvollsten Expansion und

kühner Gesetzgebung; endlich jene Staaten, welche nach dem Stillen Ozean gravitieren, vereinigen die Energie des Westens

mit der oft zügellosen Spekulation einer Minenbevölkerung

und fassen Nationalitäten in sich, die von allen Teilen der

Erde dorthin geweht wurden. Aber anderseits

sind Umstände am Werke und zwar

übermächtig, welche das materielle und geistige Leben des

6

ganzen Volkes beherrschen und im Sinne der Uniformität

wirken.

Die einzelnen Staaten sind in der Regel nicht durch

natürliche

Grenzen

voneinander

getrennt,

sondern

bilden

geometrische Figuren, was regionale Eigenheiten nicht auf­ kommen läßt; die fortwährende Fluktuation der Bevölkerung

bringt einen unausgesetzten Austausch von Ansichten mit sich;

die Assimilation der Einwanderer vollzieht sich in der ganzen Union gleichmäßig, so daß nur die eine amerikanische Nation

zur Geltung kommt und eine Sprache alle vereinigt; die

großen Verkehrsmittel, die gleichen Handels- und Produktions­ interessen kennen innerhalb der Union keine staatliche Grenze;

die führenden Zeitungen sind weithin über die Staatsgrenzen, innerhalb welcher sie erscheinen, verbreitet, und das öffent­

liche Interesse ist jeden Tag auf die Ereignisse in der ganzen Union gerichtet; in den einzelnen Staaten gibt es keine lo­ kalen politischen Parteien, sondern überall nur die beiden

großen Reichsparteien mit ihren Schattierungen; so stolz end­

lich die Amerikaner auf ihre lokalen und staatlichen Ein­ richtungen sind, und so ausgebildet auch ihr Lokalpatriotis­

mus ist, so verbindet doch alle die Begeisterung für das Ganze, für die Stellung und das Ansehen des ganzen amerikanischen Volkes auf der Welt, für ihre Flagge und für ihre Zukunft.

So begegnen wir überall in den Vereinigten Staaten einer Vielheit in der Einheit.

Das sind die Grund­

töne, auf welche alle Einrichtungen gestimmt sind.

Es tritt uns dies vor allem in den Gesetzgebungen der einzelnen Staaten entgegen. Straf- und Zivilrecht, alle Fragen

der Erziehung, der Jugendfürsorge, des Armenwesens und

der Hygiene fallen in die Kompetenz der Einzelstaaten.

Es

haben daher 46 Legislativen, die durch die bereits erwähnten

7 äußeren Umstände bestimmt werden, aber auch sehr oft unter

den verschiedensten politischen, manchmal auch korrupten Ein­ flüssen stehen, über alle diese Zweige der Gesetzgebung zu ent­

scheiden.

Demnach besteht eine

große und manchmal un­

begreifliche Verschiedenheit. Dazu kommt, daß die amerikanische

Gesetzgebung sehr konkret ist, was durch ganz lokale Ab­ weichungen zum Ausdruck kommt.

Es ist erwähnenswert,

daß schon in den Verfassungen einzelner Staaten die Direk­ tiven für die Errichtung von Fürsorgeanstalten, Besserungs­ schulen, für die Kinderschutzgesetzgebung sowie für die Ge­

fängnisdisziplin euthalten sind.

Von großer Ausführlichkeit

sind die Gesetze der einzelnen Staaten, indem sie eine Menge von Bestimmungen aufweisen, welche bei uns in das Gebiet der Ausführungsverordnung, ja selbst der laufenden Ver­

waltungsverfügungen gehören würden.

Konkret ist die Ge­

setzgebung der einzelnen Unionsstaaten ferner in dem Sinne,

daß beispielsweise für einzelne staatliche Anstalten, welche

strafrechtliche Zwecke

verfolgen,

besondere Gesetze erlaßen

werden, die auf ganz spezifische äußere Verhältnisse der einen

oder anderen Anstalt Rücksicht nehmen. Trotz alledem ist aber der Zug nach Einheitlichkeit so stark, daß der allgemeine Charakter der Gesetzgebung eine große Übereinstimmung aufweist; überall gleiche oder sehr ver­

wandte geistige Strömungen, überall das Bestreben, praktische Erfahrungen, wo immer sie gemacht wurden, als ein Gemein­

gut anzusehen und zu verwerten, so daß uns bei der Lektüre der Gesetze, Verwaltungsvorschriften, bei der Prüfung der

einzelnen Einrichtungen doch wieder jene Uniformität der An­ schauungen entgegentritt, die das Erbteil und die Stärke der

angelsächsischen Rasse ist.

8

Es ist daher natürlich, daß in allem dem, was auf den Gebieten der Jugendfürsorge und der strafrechtlichen Behand­

lung der Jugend geschehen ist, alle Einrichtungen, Anstalten, Vereine,

welche, über die ganze Union verbreitet,

diesen

Zwecken dienen, diesen Grundzug des öffentlichen Wesens eben­ falls an sich tragen.

Die Unterrichtsanstalten haben keines­

wegs die scharf abgegrenzten Formen wie bei uns (Volksschule,

Gymnasium, Universität, Technik), sondern sie bilden — als ein Ganzes überblickt — eine Stufenleiter der verschiedensten

Anstalten von sehr verschiedenem Werte und verschiedener Be­ deutung, mit Übergängen, sich lokalen Mitteln uud Bedürf­

nissen anschmiegend 2.

Dasselbe gilt für alle Einrichtungen

und Anstalten, die sich mit der verwahrlosten und straffälligen

Jugend beschäftigen.

Es herrscht hier eine große Mannig­

faltigkeit, welche durch die Gesetzgebung der einzelnen Staaten,

durch spezielle Impulse einzelner Persönlichkeiten, Vereine oder Städte, durch den Charakter und die Mischung der Be­ völkerung, vor allem aber durch die Entwicklungsfreiheit be­ dingt ist, welche alle diese Dinge in Amerika genießen. Ander­

seits

aber finden wir auch

hier eine Gleichheit der Be­

strebungen, einen Austausch von Ideen und Erfahrungen,

eine Bereitwilligkeit, von einander zu lernen, welche dieses Problem weit über alle Staatsgrenzen erhebt und zu einer

gemeinsamen, wahrhaft nationalen Sache macht. Diese Vielheit in der Einheit der großen amerikanischen

Erscheinungswelt nötigt aber jeden Beobachter zu einer ge­ nauen Prüfung aller Einrichtungen, will er aus dem, was ersieht und hört, allgemeine Schlüsse ziehen.

Dazu kommt noch eine

weitere Tatsache. Die sprunghafte Entwicklung der Vereinigten Staaten bringt es mit sich, daß Amerika das Land der größten

9 Gegensätze ist.

Biel Licht, viel Schatten.

Wir begegnen der

größten Hingebung an soziale Pflichten neben rücksichtsloser Ausbeutung, der bedingungslosen Redlichkeit neben offen­

kundiger Korruption.

Die Atmosphäre, in welcher die Ein­

richtungen und Anstalten, die uns hier interessieren, entstehen und leben, ist also eine sehr verschiedene. Ausgezeichnetes be­

steht neben Mittelmäßigem und Schlechtem, und jeder kritische Beobachter wird allgemeine Urteile nur mit großer Vorsicht fällen; durch die Beurteilung, welche die Amerikaner selbst

ihren eigenen Einrichtungen angedeihen lassen, wird er selten

unterstützt.

Nicht als ob der Amerikaner blind wäre gegen

Ubelstände; im Gegenteil: der „Geist der Selbstvervollkomm­

nung" ist fast überall wirksam, aber der Amerikaner möchte

sein Land und seine Nation — besonders jenen gegenüber, welche eine „Studienreise" machen — immer im schönsten

Lichte zeigen.

Man muß also schon tiefer eindringen, wenn

man eine so aufrichtige und offenbar richtige Bemerkung zu

hören bekommen will, wie sie mir gegenüber von dem Sheriff

einer großen Stadt in Neu-England, die im Gefängniswesen große Fortschritte aufzuweisen hat, gemacht wurde.

Er sprach

von den gewöhnlichen Gefängnissen (jails), über die seit

Tocquevilles Zeiten die verschiedensten Urteile, die traurigsten und heitersten Geschichten im Umlauf sind, und meinte, daß

die Gegensätze, welche die guten und schlechten Einrichtungen dieser Art in den Vereinigten Staaten noch heute aufweisen,

mindestens so groß seien wie zwischen den besten und aller­ schlechtesten Gefängnissen von ganz Europa. Ich habe Muster­

anstalten dieser Art in den Vereinigten Staaten gesehen, die

an Ordnung und Reinlichkeit nicht übertroffen werden können und erfüllt sind von dem reformatorischen Geiste der Erhebung

10 und Besserung der Sträflinge; ich muß jedoch anderseits auch einem hervorragenden Schriftsteller glauben, welcher versichert, daß gewisse Gefängnisse (eamp8), in denen in Florida die zur Arbeit vermieteten Sträflinge angehalten werden, die größte

Ähnlichkeit mit jenen von Schmutz und Ungeziefer starrenden sibirischen Kameras haben, die George Kennan geschildert hat

Aus dem Gesagten folgt, daß man in unserer Frage zwar

gewisse allgemeine Gesichtspunkte feststellen und die Richtung der Bestrebungen bezeichnen kann, welche in den Vereinigten

Staaten heute die herrschenden sind, aber nur durch einzelne Bilder die Mannigfaltigkeit der amerikanischen Entwicklung

zu veranschaulichen vermag. Die Amerikaner unterscheiden zwischen verlassenen und verwahrlosten Kindern (orpdan8, negltzeteck, äspeuäsnt

odilären) einerseits und straffälligen Kindern (äslingusnt

edilckrsn) anderseits. Für beide Kategorien gilt dem Amerikaner der Grundsatz der Erziehung.

Auch verkennt man keineswegs,

daß zwischen diesen beiden Kategorien eine scharfe Grenzlinie nicht läuft, und deswegen finden sich noch heute verwaiste,

verwahrloste und straffällige Kinder in manchen Anstalten

vereinigt. Aber die Tendenz geht dahin, sie zu trennen. Neuere Gesetze behandeln sie getrennt; wissenschaftliche Erörterungen handeln

abgesondert

eMären".

von

„ckopenckont«

und

„äoliuguent

Der Grundsatz der Zwangserziehung bleibt für

alle aufrecht, aber man ist fast überall der Meinung, daß eine Gesetzesverletzung die Absonderung von andern Kindern sowie

gewisse strengere Formen der Erziehung zur Folge haben müsse. Für die Behandlung der straffälligen Jugend ist die Altersgrenze, innerhalb welcher dieses Prinzip der Zwangs­

erziehung unbedingt Geltung haben soll, von entscheidender

11

Wichtigkeit.

Diese Altersgrenze ist in der Regel das voll­

endete 16. Lebensjahr, wenn auch einzelne Staaten in diesem Punkte Abweichungen aufweisen.

Auch werden Ausnahmen

gemacht, wenn es sich um gewisse schwere Verbrechen handelt. Aber in den meisten Staaten und in der überwiegendsten Zahl

der Fälle findet bezüglich der Jugendlichen, die das 16. Lebens­

jahr noch nicht vollendet haben, eine Behandlung statt, die ausschließlich von dem Gedanken der Erziehung und Besserung

geleitet ist.

Die Anstalten, welche hier in Betracht kommen,

haben sehr verschiedene Bezeichnungen, aber man kann sie alle mit dem Ausdruck „Besserungsschulen" bezeichnen (kokorinator^ seüools).

Aber in vielen Staaten hat man noch darüber hinaus

einen Schritt gemacht.

Personen, die wegen Verbrechens zum

ersten Male verurteilt werden und zwischen dem 16. Lebens­ jahre und einem mittleren Lebensalter stehen (welches in den

verschiedenen Staaten verschieden festgestellt ist, mit 25, 30 oder selbst 40 Jahren), können von dem Richter in besondere Anstalten verwiesen werden (kskormator^ kri8on8), welche, wenn auch mit anderen pädagogischen Mitteln als die

Uskormator^ Ledook, sich doch in erster Reihe Erziehungs-

nnd Besserungszwecke zum Ziele stecken. Aber zum Verständnisse, wie alle diese Einrichtungen in Amerika geleitet werden und sich entwickeln, ist es notwendig,

von vornherein ein Wort über ihr Verhältnis zu den öffentlichen Gewalten zu sagen. Man muß festhalten:

die Lösung aller der Aufgaben, die sich auf unserem Gebiete ergeben, geschieht durch das Zusammenwirken freier und frei organisierter gesellschaftlicher Kräfte mit staatlichen und städtischen Behörden.

Dieses

12 Zusammenwirken ist ein eigenartiges.

Viele Einrichtungen

der öffentlichen Armenpflege und der Fürsorge wurden von

England herübergebracht, aber schon in der kolonialen Zeit war die Ausgestaltung der öffentlichen Verwaltung eine freie. Auf den ersten Blick ist man erstaunt, wie groß in den Vereinigten Staaten die Einwirkung und unmittelbare Be­

tätigung des Staates auf unserem Gebiete ist, eine Ein­ wirkung, viel unmittelbarer, umfangreicher und verantwort­

licher als im ehemaligen Mutterlands. offenliegender.

Der Grund ist ein

Der amerikanische Staat tritt den gesellschaft­

lichen Bedürfnissen nicht als ein abgesondertes Wesen gegen­

über, es gibt keine Bureaukratie, die gegliedert zusammenhält

und ein besonderes Element im Staate bildet, es gibt aber

auch keine regierenden Klassen, welche — im englischen Sinne — in der Selbstverwaltung eine

historische Stellung ein­

nehmen würden, es besteht im Gegenteil im amerikanischen

Staate eine Einheit der Regierenden und Regierten wie viel­

leicht nirgends.

In das Gefüge der staatlichen Behörden

sind freie Kräfte eingegliedert, welche, die Bedürfnisse des

Lebens kennend, dieselben in der Verwaltung unmittelbar re­ präsentieren, aber zugleich als Organe des öffentlichen Willens

dienen.

In dieser Verbindung und Umschaltung freier gesell­

schaftlicher Kräfte im öffentlichen Organismus liegt das Wesen

der amerikanischen Verwaltung; darin liegt aber auch die Er­

klärung, warum man in Amerika neben der besten die schlechteste Verwaltung antrifft, denn sie steht immer auf jener Stufe,

auf welche sie durch den verschiedenen Grad der Bildung, Ehrlichkeit und Gewissenhaftigkeit der sich selbst regierenden Gesellschaft gestellt wird. In einer Reihe neu-englischer mittlerer und nordwest­

13 licher Staaten ist in den letzten Dezennien auf dem uns be­ schäftigenden Gebiete der Verwaltung eine Einrichtung ins

Leben getreten, welche hinsichtlich der Fürsorgeerziehung eine so allgemeine Bedeutung erlangt hat, daß ich hier einige Be­ merkungen über diesen Verwaltungsorganismus einschalten muß. Ich meine die unter den verschiedenen Namen (Ltats

Loarä ok Obarit^, Loarä ok ?ublio Institutious, Loarä vk Oommibsion ol kublie Obaritiss, 8tat6 Lvarcl ok Obarities

anä Oorroetion, Loarä ak Ltate Obaritiss, Ltate Loarä

ok Ekilärsns Kuaräians, Loaräs ok Eount^ Visitors usw.) in Wirksamkeit stehenden Körperschaften oder Räte, denen die

Fürsorgeverwaltung im weitesten Sinne des Wortes übertragen ist.

Analog bestehen für die Schulverwaltung Loaräs ok

Läucation, für die Sanitätssachen Loaräs ok kublio UsaUd,

für die Jrrenverwaltung Loarcls ot I^unae^, endlich für die Verwaltung der Gefängnisse Loaräs vt krisovs.

Boards

Alle diese

beschäftigen sich mit aneinander grenzenden Ver­

waltungsgebieten, daher sind auch in den einzelnen Staaten die Grenzlinien zwischen diesen Boards verschieden und manch­

mal mehrere dieser Verwaltungszweige einem und demselben Board zugewiesen.

Es kommt auch vor, daß zwei dieser

Boards ein konkurrierendes Recht der Inspektion gewisser An­ stalten und der Berichterstattung über diese besitzen.

Im Jahre 1863 wurde in Massachusetts der erste 8tats Loarä ok Obaritx errichtet; sehr bald folgten andere nach, und es bestehen jetzt solche Boards in 21 Staaten der Union.

Meist wurde der Anstoß zu ihrer Errichtung durch Übelstände,

wohl auch einzelne skandalöse Vorfälle gegeben, die ihre Wurzel in der Unerfahrenheit, Unfähigkeit und Korruption der lo­ kalen Selbstverwaltungskörper hatten.

14 Die Mitglieder dieser Boards werden vom Oovsrnor des Staates im Einvernehmen mit seinem Oouneil ernannt.

Sie

sind unbesoldet und erhalten nur den Ersatz ihrer Auslagen.

Sie sind eine ständige Behörde, da in jedem Jahre nur ein

Teil ausscheidet und neu ernannt wird.

Die Zahl der Mit­

glieder ist verschieden, nicht unter drei und wohl nirgends

über zwölf.

In einzelnen Boards kommen bezüglich der

Organisation

Abweichungen

Frauen Mitglieder.

vor.

Fast immer sind

auch

In der Regel wählt der Board seinen

Präsidenten und Vizepräsidenten, es kommt ihm auch gewöhn­ lich das Ernennungsrecht seiner Beamten zu, wobei die Be­

stellung . der Leiter der verschiedenen Anstalten an das Ein­ vernehmen mit dem 6ov6iuor des Staates gebunden zu sein

pflegt.

gleiche.

Die Kompetenz dieser Boards ist nicht überall die

Sie umfaßt mehr oder weniger:

alle Anstalten,

private oder öffentliche, die der Fürsorge für die verwahr­

loste und straffällige Jugend gewidmet sind, die Anstalten

für Schwachsinnige, Epileptische, Blinde und Taube, die

Armenanstalten, Spitäler und Irrenanstalten. Allen diesen Boards liegt die Verpflichtung ob, die ihrer Kompetenz unterworfenen Anstalten und Einrichtungen zu in­

spizieren und jährlich einen Bericht an den dovtzruor des Staates zu erstatten, der veröffentlicht wird.

Einzelne dieser

Berichte sind sehr umfassende, mit reichem, statistischen Material

ausgestattete Arbeiten, in denen der Zustand der Einrichtungen einzeln behandelt und genaue Auskunft über ihre Wirksamkeit

gegeben wird.

Außerdem enthalten diese Berichte die Er­

örterung einschlägiger legislativer Fragen, Kritiken bestehender

Zustände, Anregungen und Vorschläge und sind deswegen für

jeden, der die sozialen Verhältnisse Amerikas eingehend er­

15

forschen will, reiche, wenn auch nicht ohne jede Einschränkung

zu benutzende Quellen. Schon diese öffentliche Berichterstattung wirkt, da alles beim Namen genannt wird, ganz ähnlich wie

die englischen Reports, im hohen Grade verbessernd.

Bezüglich der eigentlichen Amtstätigkeit dieser Boards

muß man aber unterscheiden.

Einige von ihnen haben mehr

den Charakter von Beiräten und sind nur „vitll aävisorv

povors" ausgestattet, andere erscheinen mit mehr oder weniger überwachenden und administrativen Funktionen betraut.

Die

Stärke der ersteren liegt darin, daß sie unbelastet mit eigent­ lichen Verwaltungsausgaben Wesen und Ziele der ihnen an­ vertrauten Einrichtungen frei beurteilen, vergleichende Studien

über heimatliche und ausländische Verhältnisse machen und

durch Ratschläge und Anträge auf eine kräftige Entwicklung derselben Hinzielen, während die anderen, verwaltenden Boards sich mehr den administrativen Fragen widmen, Beamte er­

nennen, Ein- und Ausgänge der Anstalt kontrollieren, Kon­ trakte vergeben.

Praktisch tritt aber dieser Unterschied zurück.

Wenn der Oovernor des Staates das Gute will, unbekümmert

um politische Einflüsse, wenn er die richtigen Personen aus­

sucht, ohne Parteimännern einen unbegründeten Vorzug zu

geben, dann sind die Boards lebendige, äußerst wohltätig wirkende Organe, bei denen es auf das System, nach welchem sie eingerichtet sind, weniger ankommt. Aber hier wird dieses Verwaltungsgebiet wie die ganze

Administration in den Vereinigten Staaten von der großen, alles bewegenden Frage der Beamtenernennungen beherrscht. Präsident Jackson, welcher im Jahre 1829 in das Weiße

Haus einzog, verkündete in seiner Botschaft an den Kongreß,

daß der Wechsel in den Beamtenstellen — rotntion in oktieo

16

— ein republikanischer Grundsatz sei.

Aus dieser Zeit stammt

die Übung, daß die im Wahlkampfe siegende Partei die Be­

amtenstellen jedesmal mit ihren Anhängern neu besetzte.

Dies

galt eine zeitlang unbeschränkt sowohl für die Bundesregierung,

als auch für die Staatsregierungen und die städtischen Ver­

waltungen, und man kann sich eine Vorstellung machen, in

welchem Umfange dieses sogenannte Spoilsystem („to tim vietor dolonZ tim spoUs«) seine Wirkung übte.

In der

neueren Zeit trat aber eine Reaktion in der öffentlichen

Meinung gegen diese Art der Stellenverwertung ein und insbesondere seit der Präsidentschaft Hayes (1877—1881) bildet die Reform des Staatsdienstes (Um Oivil Service

Uekorin)

eine

der wichtigsten Fragen der inneren Politik

nicht nur der Union, sondern auch der einzelnen Staaten.

Diesem schwierigen

und interessanten Problem scheint

mir die in der jüngsten Zeit erschienene Darstellung Münster-

bergs gerecht zu werden.

Er trifft meiner Ansicht nach den

Kern der Sache, wenn er anerkennt, daß die oberen Ver­ waltungsstellen Vertrauensstellungen sind, in denen der Be­

amte in seinen Anschauungen mit dem Leiter der Exekutive übereinstimmen müsse, daß diese Erwägung aber für die große Zahl jener Stellen, deren Besorgung mit politischen Anschauungen gar nichts zu tun hat, nicht gelte; daß es sich also nur darum handeln könne, gewisse Grenzen zu ziehen

zwischen jenen Stellen, bei deren Besetzung das politische

Moment ausschlaggebend bleiben muß, und jenen, bei deren Besetzung solche Grundsätze zur Anwendung kommen müssen, welche die Auswahl nur nach der spezifischen Eignung und

nach den Anforderungen des Dienstes gewährleisten. Nach dieser Richtung bewegt sich auch — nicht ohne

17 zeitweilige Rückschritte — die Entwicklung

dieser für das

öffentliche Leben Amerikas wichtigen Angelegenheit und damit geht auch dieses Land schrittweise der Schaffung eines partei­

losen Beamtentums entgegen.

Es ist dies ein in die bisherige

Gesellschaftsordnung nach und nach hineinwachsendes neues

Element. In den Kreisen, in welchen man lebhaften Anteil an

der Entwicklung der Fürsorgeverwaltung nimmt, war man

von jeher auf der Seite der Reformer und hat Anstrengungen gemacht, die Boards und ihre Beamten aus dem Spoilsystem

auszuschalten. Schurz

Mit großer Kraft ist unter anderen Karl

in der National Oonktzrevee ok Okaritios avä

Oorroetion des großen, jährlich in einer andern Stadt der

Union stattfindenden Fürsorgetages, der im Jahre 1898 in

New Dork seine Sitzungen hielt, für die Reinhaltung dieses Verwaltungszweiges von politischen Beutezügen eingetreten. „Schlecht und verwerflich", sagt er, „ist überall das Spoil­

system, geradezu grausam und verbrecherisch, wenn es auf

Einrichtungen angewendet wird, bei welchen die uneigen­

nützigste Hingebung und das weiseste Wohlwollen die aus­ nahmslose Regel bilden müssen."

Gleich auf der nächsten National Eonksroneo ok Okaritios anä Oorroetion, welche im Jahre 1899 in Cincinnati statt­ fand, wurden Tatsachen vorgebracht, welche beweisen, wie be­

gründet diese ernsten Worte waren.

In dem Berichte, er­

stattet von dem Komitee, welches eigens zur Untersuchung des

Zusammenhangs zwischen Politik und Fürsorgeverwaltung ein­

gesetzt worden war, wurde Klage geführt, daß viele Gefäng­ nisse, Armenhäuser und verwandte Einrichtungen von Beamten geleitet werden, die nur aus politischen Rücksichten angestellt Baernreith er.

2

18 wurden und welche ihre Stellen gewissenlos ausbeuten.

Zu­

gleich wird aber auch anerkannt, daß die Einführung der Loarcks ot Edarities einen großen Fortschritt bedeute, weil

durch die Berichte derselben alle Übelständc in die Öffentlichkeit gelangen.

Als Beweis, wie sehr diese Boards luftreinigend

wirken, wird angeführt, daß ein von politischen Einflüssen ganz beherrschter Staat (Oregon) durch zwei Jahre einen solchen

Board besaß, jedoch fand, daß entweder die parteipolitische Führung der Geschäfte oder der unpolitische Board weichen müsse.

Der letztere wurde geopfert

Ich kann es mir nicht versagen, aus demselben Berichte eine jener Einzelheiten mitzuteilen, die man zwar nicht ver­

allgemeinern darf, welche aber auf die amerikanischen Ver­ hältnisse ein überraschendes Licht werfen.

„Im Jahre 1897"

— heißt es in diesem Berichte — „wurde der Bürgermeister von Indianapolis wiedergewählt. Direktor des städtischen Spitales

war damals ein fast unübertrefflicher Mann, ehrlich, fähig, furchtlos, dem Wohle des Spitales und der Öffentlichkeit

dienend.

Aber er war ein ,8olci clenioerut'und es erhob

sich der Ruf nach einem ,silver äoinoerut' für diese Stelle. Am 23. Oktober schrieb noch das Blatt ,8sntillo? in Indiana­ polis, es könne nicht der leiseste Zweifel aufkommen über die

Fähigkeit und den Charakter des Direktors.

Er habe den

Ruf eines ausgezeichneten Arztes und habe sich als ein aus­ gezeichneter Mann auf seinem Platze erwiesen.

Tags darauf

hieß es aber in demselben Blatte, das Volk von Indianapolis

habe sehr deutlich zum Ausdruck gebracht: ,tdat tbe^ rvaut

a tr66 silver dospita?; das sei in den Wahlen zum Aus­

druck gekommen.

Der Bürgermeister gab diesen Argumenten

nach, der musterhafte Direktor wurde entfernt und durch einen

19 Diann ersetzt, der ganz unerfahren war und der den alten

Weg betreten mußte, sein Geschäft auf Kosten der öffentlichen

Wohlfahrt erst zu erlernen." Aber trotz dieser aufrichtigen Enthüllungen kommt dieser

Bericht, welchem man darum vielleicht um so eher Glauben schenken darf, zu dem Schluffe, daß die Dinge sich auf dem

Gebiete der Fürsorgeverwaltung schrittweise verbessern und daß die Boards durch ihre stetige sachliche Arbeit wie auch dadurch, daß sie in alle Verhältnisse mit ihren Berichten hinein­

leuchten, mächtige Triebkräfte des Fortschrittes geworden sind. Ich selbst habe gefunden, daß Beamte jener Boards, die nichparteimäßig zusammengesetzt sind, geradezu stolz auf diese Unt

abhängigkeit sind und sich derselben rühmen. Ich habe den krassen Fall in Indianapolis angeführt, um zu beweisen, wie tief noch immer das amerikanische Spoilsystem in der landläufigen Auffassung wurzelt, aber wenn ich

alles zusammenfasse, was ich über die Tätigkeit dieser amerika­

nischen Fürsorgebehörden gelesen und gehört habe, möchte ich

behaupten, daß die öffentliche Meinung gerade in diesem Teile der amerikanischen Verwaltung die Befreiung von einem Partei­ zwange in einer nicht fernen Zukunft durchsetzen wird.

Ich hoffe, in den folgenden Aufsätzen zeigen zu können,

daß die große Aufgabe der Jugendfürsorge und des Straf­ rechtes in den Vereinigten Staaten in erster Reihe erzieh­

lich

und

wirtschaftspolitisch

aufgefaßt wird.

Der

schwache, kranke, degenerierte Teil der Jugend, auf dessen mög­

liche Entwicklung und verborgene Kräfte die Gesellschaft nicht verzichten will, soll geheilt, gekräftigt, eingereiht werden in die große Arbeiterarmee der Republik; es soll auch diesem zurück­ gebliebenen Teile das Tor geöffnet werden zu dem frischen Wett2*

20 bewerb der großen Gesellschaft, „to snjo^ anä äekouä liks anä libert^", wie es in der Verfassung vieler amerikanischer Staaten als die Aufgabe der Nation hingestellt wird.

Das Ziel dieser

Methode ist daher praktisch und ethisch zugleich, denn die

Individuen sollen umgeformt, auf sich selbst gestellt werden

und jenen Halt bekommen, der sie für ein nützliches, ehrliches und glückliches Leben tauglich macht.

Deswegen sind die

Worte bezeichnend, welche im Jahre 1900 der damalige 60vsrnor des Staates New Dork, Theodor Roosevelt, in einer Begrüßungsrede auf einem Kongreß der Wohltätigkeits- und Besserungsanstalten gesprochen hat: „Wir machen es — wie

ich glaube — immer mehr und mehr zur Tatsache, daß

das

einzig wirksame Mittel, mit dem wir jemandem auf

die Dauer helfen können, darin besteht, daß wir ihm helfen,

sich selbst zu helfen."

II. Die Jugendfürsorge der Gesellschaften und Vereine. Die verwahrlosten Klassen in den großen amerikanischen Städten; das Wirken von Charles Loring Brace; die Okiläron'8 Loeiotios; ihre Tätigkeit und Ausbreitung. — Die Kinderschuhgesellschaften: LooietioZ kor tke xreventioL ok eruolt^ to oliiläron; die Gerrygesellschaft in New Dork; rechtliche Stellung dieser Vereine; Übernahme polizeilicher

Funktionen durch dieselben; das Aufnahmsgebäude der Gerrygesellschaft in New Jork; Kinderschutzgesetzgebung im Staate New Jork. — Die großen Stiftungen; Oärarä OolIeZo in Philadelphia; die Fürsorge­ anstalten konfessionellen Charakters; Ilio Oatkolio kroteotorv in New Hork; Gesamtübersicht der Fürsorgeanstalten. — Die Gesetzgebung bezüglich der verwahrlosten Jugend, im Staate New Jork, in Massachusetts.

In der europäischen Vorstellung war Amerika lange Zeit

das Land, in dem die Armut und Not europäischer Städte,

die Verelendung großer Volksklaffen eine unbekannte Sache sei.

Das Werk von Charles Loring Brace: „Ilio clanZorous

elas868 ok Rov ^ork", welches 1872 erschien, hat weite

Kreise darüber belehrt, daß in dieser Weltstadt unter den verwahrlosten Klaffen seiner Bevölkerung Zustände herrschen,

wie sie schlechter in keinem der verrufensten europäischen Stadt­ viertel vorkommen.

Seither ist — besonders in den großen

Städten des Ostens — viel geschehen, um mit Verwahrlosung

und Verbrechen einen erfolgreichen Kampf führen zu können, und Staat, Städte und freie gesellschaftliche Kräfte reichen

22 sich zu diesem Zwecke die Hand.

Die verschiedenen Versuche

sind mannigfaltiger, die Regsamkeit ist allgemeiner, die Mittel sind reicher als irgendwo. Wie überall, gaben zum Beobachten,

Nachdenken und Verbessern einzelne Persönlichkeiten den Anstoß, welche die Pioniere der heutigen Fürsorgeverwaltung waren.

Wie in den frühen Tagen des 19. Jahrhunderts Edward

Livingstone zuerst Reform und moderne Gestaltung des Strafrechts predigte, Dorothea Lynde Dix die Unions­

staaten nach allen Richtungen bereiste, um eine menschliche und vernünftige Behandlung der Irren in den öffentlichen Anstalten zu erreichen, wie Samuel Gridley Howe der

Gründer der heutigen systematischen Erziehung und Aus­ bildung der Blinden wurde, so fanden sich in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts eine Reihe von Männern

und Frauen, die das Ziel verfolgten, die der Verwahrlosung und dem Verbrechen anheimfallende Jugend der großen Arbeit

der Nation zu erhalten.

Nach einer Richtung werden diese Bestrebungen durch

die besonderen Verhältnisse in den Vereinigten Staaten mächtig

unterstützt. die

dem

Es eröffnet sich dort nämlich eine Möglichkeit, ganzen

Fürsorgewesen

Amerikas

geradezu

ihren

Stempel aufdrückt. Die Verhältnisse in Amerika sind unfertig aber nicht eng.

Handelt es sich darum, Kinder unterzubringen, so bieten sich mehr Gelegenheiten als irgendwo sonst.

Wohltätigkeitssinn

zahlreiche

Nicht nur, daß der

Anstalten geschaffen hat und

täglich neue schafft, die zur Aufnahme von Kindern bereit sind, sondern es macht sich noch ein anderer sozialer Zug

geltend: es finden sich viel leichter und viel mehr Familien, welche geneigt sind, Kinder anzunehmen und zu erziehen.

23

Es hat dies verschiedene Ursachen. Von genauen Kennern Amerikas wird darauf hingewiesen, daß die Freude an Kindern

in den besser gestellten Familien des Landes ein hervor­ stechender Zug sei.

Gewiß ist aber, daß die expansiven wirt­

schaftlichen Verhältnisse die Aufnahme von Kindern in fremden

Familien sehr befördern.

Natürlich im Westen viel mehr als

in den großen Städten des Ostens.

Dort ist ein heran­

wachsendes Kind eine große wirtschaftliche Hilfe.

Für jene

aber, die sich später selbständig machen, bietet das freie Land, der Westen, die sich immer mehr ausbreitende Landwirtschaft und Industrie ein sicheres Feld einträglicher Arbeit.

Deswegen spielt sich das amerikanische Fürsorgewesen von Anfang an nicht innerhalb der vier Wände von Anstalten und Vereinen ab, sondern die Expansion der Wirtschaft ge­

stattet eine andere Methode: das „placinK out", „boarämg

out", die Unterbringung von Kindern in Familien, sei es ohne, sei es gegen ein gewisses Entgelt, also die radikale Ent­ fernung aus der bisherigen schädlichen Umgebung, die Er­

öffnung einer neuen Zukunft unter ganz neuen Verhältnissen. Aber die Schattenseite macht sich auch sofort geltend:

es ist die Ausbeutung derjenigen, die in fremde Familien verpflanzt werden.

Diese Gefahr hat aber wieder die Selbst­

tätigkeit angeregt und auch die öffentlichen Gewalten zum Einschreiten bewogen, um Mittel und Wege zu finden, diese

üblen Konsequenzen einer an sich richtigen Maßregel zu ver­

hüten.

Mittelst Agenten wird die Unterbringung von Kindern

durch vorherige genaue Untersuchung der Familienverhältnisse gehörig vorbereitet, die Behandlung der Untergebrachten stetig

überwacht und alle Maßregeln ergriffen, die zu ihrem Schutze

notwendig sind.

Die Vorteile dieses Systems scheinen die

24

Nachteile desselben weit zu überwiegen, denn man hört und liest wenige Klagen, dagegen begegnet man immer wieder der Versicherung, daß die Verpflanzung dieser gefährdeten Volks­

elemente in Verhältnisse, in denen jeder arbeiten muß, um

sich zu erhalten, aber in den meisten Fällen sich ein ver­ hältnismäßig gutes Leben erarbeiten kann, von großem Er­ folge begleitet ist. Unter den freien Kräften, welche in den Vereinigten

Staaten zunächst die Aufgabe ergriffen haben, von der wir

sprechen, stehen jene großen Gesellschaften in erster Reihe, deren Tätigkeit eine so große soziale Bedeutung erlangt hat,

daß sie sozusagen in die öffentliche Verwaltung hineingewachsen

und Teile derselben geworden sind. Fast in allen Staaten bestehen heute die Obilärsu's

Uck 8 0 oi 6 ti 6 8, Vereine der Kinderfürsorge.

Der hervor­

ragendste Verein dieser Art, der auch das Muster und Vorbild für andere geworden ist, wurde im Jahre 1853 in New Jork gegründet und verdankt seine Entstehung und Ausbreitung

dem jüngst verstorbenen Charles Loring Brace, der seine reichen Erfahrungen in seinem bereits erwähnten Werke niedergelegt hat.

Seine Erzählung, wie er sich die Sache der verwahrlosten

Jugend zu seiner Lebensaufgabe setzte, wie er für die Ideen der Jugendfürsorge Propaganda

machte

und

unermüdlich

herumreiste, um Verständnis für sein Werk zu verbreiten und

die Mittel für dasselbe aufzutreiben, ist von schlichter Wahrheit erfüllt.

„Offenbar", sagt er, „erschien die Tatsache, daß ein

Mann von Erziehung sich solchen Dingen widmete, vielen als

ein Rätsel oder als eine Exzentrizität.

Glücklicherweise war

ich im stände, schon frühzeitig von den Predigerpulten aus in

25 Stadt und Land zu sprechen, und zeitweise widmete ich jeden

Abend in der Woche und den Sonntag, um in den östlichen Staaten Predigten und Anreden zu halten.

In der Regel

habe ich nicht direkt Geld gesammelt, sondern versucht, ein richtiges Verständnis für die Sache zu wecken und dieselbe meinen Hörern so einzupflanzen, daß sie darüber nachdenken

mußten.

Ich habe nie eine angenehmere Pflicht erfüllt, und

das Resultat war ein glückliches, denn ich schuf mir eine große Anhängerschaft, die mein Werk ständig unterstützt, in guten

wie in schlechten Zeiten, und zwar so hingebungsvoll, daß sie ihr Interesse noch über das Grab hinaus betätigt; viele

unserer wertvollsten Legate stammen daher."

Unausgesetzt benützte er durch viele Jahre die Presse, um auf die Phantasie der wohlhabenden Bevölkerung durch lebendige Schilderungen des Elends zu wirken, Mittel und Wege der Abhilfe zu diskutieren, um der Frage in der Öffent­

lichkeit einen ständigen breiten Raum zu erobern.

Er wurde

nicht müde, die Ziele klar zu bezeichnen: persönlicher Einfluß in einem geordneten Familienleben ist besser als Anstalts­

erziehung, Tätigkeit und Selbsthilfe bester als Almosen, die vollständige Veränderung in der Umgebung das beste Mittel der Heilung.

Tätigkeit.

Brace begann auf verschiedene Weise seine

Er trug dem Charakter

der

schwer lenkbaren

Jugend und ihren verschiedenen Bedürfnissen Rechnung und benützte, sich keineswegs an irgend eine Schablone bindend,

alle Möglichkeiten, um zu wirken.

So gründete er im Jahre

1854 ein I^oäKMK House für die große Zahl der sich in den Straßen herumtreibenden, meist im Freien übernachtenden

Knaben, die sich täglich ein paar Cents durch allerhand kleine

Arbeiten, Zeitungsverkauf, Schuheputzen usw. erwarben.

26 Er

handelte

dabei

nach

anscheinend

dem

paradoxen

Grundsatz: to tako, not to givo, — indem er diesen Jungen nichts schenkte, sondern gegen ein kleines Entgelt, sehr oft

aber auch nur als einen freigebigen Vorschuß Unterkunft, Nahrung, Kleidung billig und gut darbot, ohne direkt Zwang zu üben, aber sie doch nach und nach zu reinlichen, geordneten

Lebensverhältnissen erziehend.

Im Jahre 1903 hatte die von

ihm gegründete Gesellschaft neun solcher I^oäZinF Houso8 und sechs Lox's Olubs in New Jork, in welchen Anstalten mehr als 6000 Knaben jeweilig Unterkunft, Abendschule, Gottes­

Ähnliche Einrichtungen

dienst und Arbeitsnachweis finden.

hat der Verein für verkommene Mädchen geschaffen,

die

wesentlich dazu beitrugen, die Straße von diesen Geschöpfen

zu säubern.

Die Verurteilungen wegen Vagabondage nahmen

rapid ab. Im Jahre 1861 wurden in der Stadt New Jork

noch 3172 weibliche Personen verurteilt, 10 Jahre später nur mehr 339.

Ein weiterer Schritt war die Errichtung von

Inäustrial 8edool8, die Gründung einer landwirtschaftlichen Schule,

die

Einrichtung

von

Sommerfrischen

(8uinmor

Odaritios) auf dem Lande und an der See, heute im ganzen 6,

darunter

das größte

das

8ou8iätz

8anat,orium

auf

der

Coney Insel.

Im Jahre 1903 hat die Gesellschaft auf verschiedene Weise im ganzen 55265 Kinder betreut; davon 15 816 in den

Inäu8trial 8edool8,

10236

durch

Unterstützung

der

Familien, 4302 wurden in die I^oäZin§ Uou868 ausgenommen,

692 in die landwirtschaftliche Schule, 389 wurden unter spezielle Überwachung gestellt, in 1975 Fällen wurden Kinder

oder Mütter mit kranken Kindern aufs Land oder an die See geschickt, 1522 kranke Kinder wurden in Pflege übernommen,

27 2192 Kinder waren in

ländlichen Familien untergebracht

worden, wo sie unter Aufsicht der Gesellschaft standen, in 69000 Fällen unterstützte die Gesellschaft Eltern und Kinder,

um westwärts zu wandern, und 350 Kinder, die sich verirrt

hatten, wurden ihren Eltern zurückgegeben.

Mit Recht sagt

ein Jahresbericht der Gesellschaft: „Diese Einrichtungen sind

ganz in der Stille nach und nach an Zahl und Umfang derart gewachsen, daß sie heute zu den wirksamsten und

ständigen Elementen unserer christlichen Zivilisation gerechnet werden müssen °."

Die nachhaltigste Tätigkeit entfaltet die Gesellschaft in der Durchführung ihres Planes, Kinder in ländlichen Familien

unterzubringen.

Sie hat in einer Reihe von Staaten ständige,

außerdem noch

reisende Agenten, welche der Gelegenheit,

Pfleglinge zu versorgen, nachforschen, die untergebrachten über­ wachen und regelmäßig besuchen.

In kleinen Gruppen werden

die Kinder, nachdem sie einige Zeit unterrichtet, körperlich

gepflegt und ordentlich gekleidet worden sind, an Orte gebracht, wo Aussicht vorhanden ist, für sie in ordentlichen Farmer­

familien dauernde Unterkunft zu finden.

Schon vor ihrer

Ankunft hat ein zu diesem Zwecke von dem Agenten der Ge­

sellschaft gebildetes Komitee Plätze für sie ausgesucht.

Die

Kinder bleiben in der Obhut der Gesellschaft, die sie jederzeit

zurücknehmen und anderweitig unterbringen kann.

Seit dem

Bestände der Gesellschaft hat dieselbe 23061 Waisen oder verlassene Kinder auf diese Weise in Familien versorgt, für 25 200 ältere Knaben und Mädchen Stellen mit Lohnzahlung

ermittelt und 5551 ihren Eltern entlaufene Kinder denselben zurückerstattet.

Die meisten dieser Pfleglinge

sind Farmer

oder Farmersfrauen geworden, doch führt der Jahresbericht

28

der Gesellschaft für das Jahr 1903 mit Stolz an, daß unter

den ehemaligen Pfleglingen der Gesellschaft sich der Oovornor

eines Staates, sowie der Oovornor eines Territoriums, zwei Kongreßmitglieder, vier Abgeordnete der Staatslegislative,

In den Berichten

34 Advokaten, 27 Bankiers usw. befinden.

der Gesellschaft finden sich zahlreiche Briefe abgedruckt, welche die Schutzbefohlenen oft nach Jahren dem Gründer der Ge­

Diese gewähren einen

sellschaft geschrieben haben.

tiefen

Einblick in die Verhältnisse jener Tausende, die in der Groß­

stadt zu verkommen drohten oder aber von Europa über das Meer gewandert kommen, von ihren Eltern preisgegeben und

nun, wenn auch durch eine harte Schule, für die Arbeit in dem großen

Gemeinwesen erzogen

werden.

Diese Briefe

scheinen auch zu beweisen, daß der Anschluß dieser Heimat­ losen an die ländlichen Familien sich leicht vollzieht".

Die Ediläron's ^iä 8ocü«tv von New Jork hat im Jahre

1903

im

ganzen

S 695628 ausgegeben.

K

696057

eingenommen

und

Aus öffentlichen Mitteln, Beiträgen

des Lourä ok Lckucation der Stadt New Aork bezog sie

S 173082; Legate im Betrage von S 153191 und freiwillige

Beiträge in der Höhe von S 100558 flossen ihr zu.

Der

Rest des Erfordernisses wurde durch eine Reihe spezieller

Widmungen, durch die Einnahme der I^oäginA Housos, sowie durch Grundverkäufe gedeckt.

Sekretär der Gesellschaft ist

heute ein Sohn ihres Gründers.

Er versicherte mich, daß

unter 600 Fällen, welche die Gesellschaft in die Hand nehme, in 500 die Mühe von Erfolg begleitet sei

Von gleich großer Bedeutung sind die über ganz Nord­ amerika verbreiteten Loeistiss kor tbo provontion

okeruolt^ to ebilckron, die Kinderschutzgesellschaften.

29

Im Jahre 1903 gab es innerhalb der Union 294 solcher Vereine, von denen viele auch zugleich Tierschutzvereine sind Die New Dorker Gesellschaft wurde 1874 gegründet.

Die Seele derselben war Elbridge T. Gerry, weshalb die Gesellschaft gewöhnlich dorr/s Society genannt wird.

Sie besitzt in New Dort ein großes Haus, das Tag und Nacht zur Aufnahme von Kindern offen steht.

Es dient nur

vorübergehenden Zwecken, da die Gesellschaft über alle ihr

zukommenden Kinder in der Regel nach wenigen Tagen, oft nach wenigen Stunden verfügt.

Der Jahresbericht für 1903

weist aus, daß die Gesellschaft in diesem Jahre in 7640 Fällen gerichtlich interveniert hat, daß in 6083 Fällen richter­

liche Verfügungen getroffen wurden, fei es gegen Personen, welche gegen die Kinder widerrechtlich gehandelt hatten, oder

gegen die Kinder selbst; daß für 8465 Kinder von der Ge­

sellschaft in irgendeiner Weise vorgesorgt wurde, und daß 7294 vorübergehend in dem Hause der Gesellschaft Aufnahme

gefunden haben. Diese Tätigkeit steht mit der öffentlich-rechtlichen Stellung

im Zusammenhangs, welche die Gesetze des Staates New Dork jeder inkorporierten, d. h. gesetzlich zugelassenen Kinderschutz­ gesellschaft des Staates einräumen.

Es kann jede Kinder­

schutzgesellschaft innerhalb des Staates New Dork in allen. Jugendliche unter 16 Jahren betreffenden Fällen dem Gerichte bei der Untersuchung von Tatsachen und Anwendung des

Rechtes behilflich sein tko kaets).

aiä in prosontinZ tdo lav and

Der Richter kann auch eine solche Gesellschaft

zum Kurator (Zuarciian ok tüe por8on ok a ininor) bestellen und das Kind ihrer Obhut (jedoch auf ihre Kosten) anvertrauen.

Richter und Polizeiorgane sind vom Gesetze angewiesen, die

30 Funktionäre und Agenten der Gesellschaft bei der Verfolgung ihrer

statutarischen

Zwecke

zu

unterstützen.

Von

großer

Wichtigkeit ist die Übertragung polizeilicher Gewalt an diese

Gesellschaften für jene Fälle, in denen irgend jemand gegen die Kinderschutzgesetzgebung verstoßen hat, oder in denen es sich um das Aufgreifen und die Versorgung von verlassenen

oder verwahrlosten Kindern handelt, oder in denen eine pro­

visorische Anhaltung während eines Strafprozesses notwendig wird, oder in denen ein Kind bei einer verbotenen Beschäf­

tigung betreten wird. In diesem Umfange erklärt das Gesetz die Funktionäre und Agenten der Gesellschaft als „keaee (Meers", als welche sie Verhaftungen vorzunehmen und das Begehen

strafbarer Handlungen zu verhindern das Recht haben.

sind

Sie

in diesen Fällen gleich anderen Polizeiorganen vom

Gesetze geschützt; alle Geldstrafen in den Strafsachen, welche die Gesellschaft zur Anzeige gebracht oder vor Gericht ver­

treten hat, fallen ihr zu. Praktisch genommen läuft die Einräumung dieser gericht­ lichen und polizeilichen Funktionen an die Kinderschutzgesell­ schaften darauf hinaus, daß dieselben häufig als Untersuchungs­

richter in den Fällen der Jugendlichen unter 16 Jahren ein­ treten.

Die Gesellschaften beginnen die Untersuchung über

Auftrag des Richters, warten aber unter Umständen einen solchen Auftrag nicht erst ab, wenn sie in die Lage kommen, sich mit einem Kinde zu beschäftigen, das vor Gericht gestellt

werden muß.

Sie forschen sofort der Familie und dem Vor­

leben des Jugendlichen nach, bringen die nötigen Zeugen zu­

stande, besorgen ihre Vorladung, nehmen das Kind in pro­ visorische Obhut, sorgen durch den Transport desselben in

ihren eigenen Wagen, daß jeder Kontakt mit Erwachsenen ver­

31 mieden werde usw. Vor allem übernehmen die Kinderschutzgesell­ schaften aber das Amt eines „krobation Oktieer", d. h. die

Aufsicht über die bedingt entlassenen Jugendlichen.

Im Jahre

1903 hat der Sekretär der dsrr^'s Society in New Dork auf diese Weise die Aufsicht über 1146 bedingt entlassene Knaben und über 58 bedingt entlassene Mädchen geführt.

Die Einnahmen der Gerry-Gesellschaft bestanden im

Jahre 1903 hauptsächlich in freiwilligen Gaben und Mit­ gliederbeiträgen im Gesamtbeträge von S 34440, in einer Subvention der Stadt New Jork von K 30000, in Straf­ geldern in der Höhe von K 5342, wozu noch etwa K 20 000 aus verschiedenen Quellen (Widmungen, Zinsen usw.) kamen.

Die Gesellschaft hat in demselben Jahre über richterlichen

Auftrag von Eltern K 21830 eingehoben und damit die

Kosten der Unterbringung der betreffenden Kinder in Anstalten wenigstens teilweise bestritten * °. Das Haus der Gerry-Gesellschaft in New Jork ist sehens­

wert.

Es enthält sowohl die Bureaus als alle Räume für

Aufnahme, ärztliche Untersuchung, Reinigung der ununter­ brochen ankommenden Kinder; Schlafsäle, Eßzimmer, Spiel­ zimmer und alle Nebenräume, welche die Verwaltung dieses

Organismus

erheischt.

Bewunderungswürdig

und

eines

speziellen Studiums wert ist die Art und Weise, wie die Evidenz (reeorcl) über die tausend und abertausend Kinder erhalten wird, die im Laufe der Jahre in diesem Hause Auf­ nahme finden.

Ein bis ins Detail praktisch erdachtes System

von Anweisungen, Eintragungen und Registern ermöglicht es, alle Fälle, neue wie alte, sofort festzustellen, was der

Gesellschaft — da sie mit einer großen Zahl wiederkehrender

Fälle zu tun hat — bei ihren Untersuchungen außerordentlich

32 zustatten kommt.

Ebenso umsichtig sind die sanitären Vor­

kehrungen, die bei einer Anstalt notwendig sind, welche jeden Monat zwischen 600 und 700 Kinder vorübergehend beherbergt. Sofortige Untersuchung jedes angekommenen Kindes, Bad,

Desinfektion, Isolierung beim geringsten Verdacht einer Krank­ heit, zusammen mit einer geradezu staunenswerten Reinlichkeit machen es erklärlich, daß — vereinzelte Fälle ausgenommen — ansteckende Krankheiten nicht vorkommen.

Die Gerry-Gesellschaft hat auch auf den Gang der Gesetz­

gebung im Staate New Dork einen bedeutenden Einfluß Die Bewegung für gesetzlichen Kinderschutz hat hier

geübt.

eine umfassende Kodifikation zur Folge gehabt, die vielfach

Muster für das Vorgehen anderer amerikanischer Staaten geworden ist".

Ich will hier einen Blick auf die gesetzlichen Bestimmungen in Staate New Jork werfen. Das entscheidende Alter ist das vollendete 16. Jahr.

Bis dahin stehen Kinder unter dem besonderen Schutz des Gesetzes.

jenen

Strenge Strafen (Gefängnis bis 15 Jahre) sind

angedroht, welche

Kinder ihren Eltern oder jenen

Personen, unter deren Obhut sie stehen, widerrechtlich entziehen, dieselben ihrer Freiheit berauben, um mit ihnen Geld zu ver­

dienen. Diese Bestimmung richtet sich insbesondere auch gegen

die nicht seltenen Fälle, in denen Einwanderer mit solchen Kindern ankommen und durch deren Arbeit oder Verwendung bei Schaustellungen, Produktionen usw. sich Vorteile zuwenden

wollen. Das Recht körperlicher Züchtigung durch

Eltern und

Lehrer besteht zwar, doch sind demselben durch das Gesetz

enge Grenzen gezogen, die den Mißbrauch sowie jede körper­

33

liche Schädigung verhindern sollen.

Eine Verordnung des

Loarä ok Läueation der Stadt New Jork verbietet jede körperliche Züchtigung in den öffentlichen Schulen der Stadt.

Mit Gefängnis bis zu sieben Jahren ist das Aussetzen oder Verlassen eines Kindes bedroht.

Wer die gesetzliche

Pflicht gegenüber Minderjährigen, für ihre Nahrung, Kleidung,

Obdach und ärztliche Hilfe zu sorgen, vernachlässigt, begeht ein Vergehen (misäomoanor).

Als eine gleiche strafbare

Handlung ist qualifiziert, wenn jemand ohne gehörige behörd­

liche

Bewilligung

eine

Entbindungsanstalt

hält,

Frauen

während der Schwangerschaft oder Kinder unter 12 Jahren

in Pflege übernimmt.

Weitgehend sind die Bestimmungen, welche verhindern sollen, daß Kinder unter 16 Jahren durch einen schädlichen

Kontakt mit Erwachsenen verdorben werden.

Ganz allgemein

erklärt es das Gesetz als misäomoavor, wenn jemand die Ge­

sundheit oder die Moral eines Kindes in Gefahr bringt oder verletzt, oder ein Kind in eine solche Lage bringt, oder einen

solchen Beruf ausüben läßt, wo diese Gefahren eintreten.

Es wird insbesondere an allen für ein Kind verantwortlichen

Personen gestraft, wenn ein Kind an einem öffentlichen Orte, im Theater, Konzertsaal oder an dem Orte, wo geistige Ge­

tränke ausgeschenkt werden, allein ohne Begleitung von Er­

wachsenen sich aufhält, oder wenn ein Kind an einem Orte betroffen wird, welcher der Prostitution dient oder wo Opium geraucht wird.

Es ist verboten und strafbar, einem Kinde

geistige Getränke zu verabreichen oder ihm etwas gegen Pfand zu leihen; Kinder unter 16 Jahren dürfen auf der Straße oder in öffentlichen Lokalen nicht rauchen.

Wer ein Kind zu

einer Schaustellung verwendet, als Akrobat, Seiltänzer, es Baernreither.

3

34 zum Betteln gebraucht oder gebrauchen läßt, macht sich eines

Vergehens schuldig; ebenso wer ein Kind zum Sammeln von

Auch das Auftreten von

Lumpen und Abfällen verwendet.

Kindern in öffentlichen Lokalen, wenn es sich nur um Singen, Tanzen oder Musik handelt, ist grundsätzlich verboten und

nur fallweise erlaubt, wenn die behördliche Bewilligung zum Auftreten von Kindern gegeben wurde. Auch

zu Botengängen

nach

übel

berüchtigten Orten

dürfen Kinder nicht verwendet werden, ebensowenig wie sie

als Lehrlinge ausgenommen werden dürfen ohne Einwilligung ihrer gesetzlichen Vertreter.

Besonders strenge Vorschriften

(die immer mit Strafandrohungen verbunden sind) bestehen gegen die Verbreitung von obsköner Literatur und Bildern

durch Kinder. Diese Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, wie ein­

gehend die Gesetzgebung des Staates New Jork sich mit dem Kinderschutz beschäftigt.

Es wäre fehr interessant, eine ver­

gleichende Darstellung jener Bestimmungen zu versuchen, die sich bezüglich des Kinderschutzes in den Strafgesetzen der ein­

zelnen Unionsstaaten vorfinden, eine Zusammenstellung, die

ein Helles Licht auf die Richtung der Ideen und Bestrebungen

in Amerika werfen würde.

Leider

kenne

ich

kein Werk,

welches diese Übersicht gewähren würde, noch bin ich imstande,

diese Aufgabe selbst zu lösen.

Ich muß jedoch die Bemerkung

machen, daß die Handhabung dieser auf hoher sittlicher Stufe stehenden Bestimmungen, insbesondere soweit die Polizei in Betracht kommt, keineswegs überall auf der Höhe dieser Bestimmungen selbst steht, sondern im Gegenteil sehr häufig ganz unzulänglich ist, so daß die Tätigkeit solcher privater

Vereinigungen,

wie es die Gerry-Gesellschaft ist, für die

35 Durchführung der Gesetze die größte Bedeutung erlangt hat und diese Gesellschaften selbst auf diese Weise zu einem an­

erkannten Faktor der öffentlichen Fürsorge geworden sind. Ich kehre nunmehr zur Aufzählung jener privaten Ein­

richtungen zurück, die sich die verschiedenen Zweige der Für­

sorge zur Aufgabe gesetzt haben. übersehbare Zahl solcher

einigten Staaten.

Es gibt eine große, ja un­

privater Anstalten

in den Ver­

Auch hier geht — wie in allen Unter­

nehmungen der Amerikaner — alles ins Große.

Es sind

darunter Etablissements, die mit ihren Gärten, Spielplätzen, landwirtschaftlichen Ländereien, Schwimmschulen, mit allen Nebengebäuden, welche der gewerblichen Arbeit gewidmet sind

oder Verwaltungszwecken dienen, mit ihren elektrischen An­

lagen, Wasch- und Badeanstalten den Anblick großer Ansied­ lungen bieten. Einige dieser Fürsorgeanstalten verdanken großartigen Stiftungen

ihre Entstehung,

jener amerikanischen Philan­

thropie, die ein gewisses Gegengewicht gegen die Anhäufung

kolossaler Vermögen in einzelnen Händen geworden ist.

Sie

hat Schöpfungen hervorgerufen, die anderwärts gar nicht oder

doch

nur

nach

Stephan Girard,

jahrelangen

der

Bemühungen

als Kajütenjunge

entstehen.

anfing und

später Reeder, Kaufmann und Bankier in Philadelphia war, hinterließ im Jahre 1831 6 Millionen Dollar zur Errichtung eines Erziehungshauses in Philadelphia.

Er hat vielleicht

das großartigste Beispiel in dieser Hinsicht gegeben.

Trotz­

dem die Anstalt geradezu mit Verschwendung gebaut wurde, besitzt sie heute ein Vermögen von 15 Millionen Dollar und ein Einkommen von 1,5 Millionen Dollar, das durch Er­

höhung des Wertes der Grundstücke und durch Anwachsen 3*

36

des Kapitals sich seither so bedeutend vermehrt hat.

C. C.

Washburn (geboren 1818) schuf in Minnesota Ähnliches,

wenn auch in kleineren Dimensionen, und Chancery Rose in Indiana (geboren 1794) hat während seines Lebens

3 Millionen Dollar für Erziehungs- und Besserungsanstalten

ausgegeben und eine große Anstalt in Haute Terre (Indiana) Diese Art Widmungen sind bekanntlich in

hervorgerufen.

neuerer und neuester Zeit noch in Zunahme begriffen.

Es

zählt nach vielen Millionen Dollars, was jährlich bestehenden Fürsorgeanstalten verschiedenster Art zufließt oder für neue

Gründungen ausgegeben wird. Einige dieser Stiftungen sind

^nonssetarjun" d. h. nach Absicht des Gründers konfessions­ los.

Girard ging, um, wie er sagte, „die zarten Gemüter der

Waisen, welche aus der Stiftung Vorteil ziehen sollen, frei zu

halten von allen Doktrinen und Kontroversen", so weit, aus­ drücklich zu verbieten, daß ein Priester irgendeiner Konfession

die Anstalt auch nur betrete, eine Vorschrift, die bis zum heutigen Tage besteht.

Aber solche Bestimmungen sind Aus­

nahmen. Im allgemeinen herrscht in den amerikanischen An­

stalten religiöser Sinn, dem aber bei der streng durchgeführten Religionsfreiheit

Spielraum gelassen ist, sich in den ver­

schiedensten Formen auszuleben.

Deswegen begegnet man auch großartigen Schöpfungen,

die auf streng konfessioneller Grundlage errichtet sind.

Viel­

leicht das hervorragendste Beispiel in dieser Hinsicht ist das im

Jahre

1863 errichtete

New Aork.

Eatdvlie krotoetor/ in

Es beherbergte im September 1901 im ganzen

2545 Kinder, Knaben und Mädchen, in getrennten, großen, freistehenden, luftigen Gebäuden mit Arbeitssälen, einer Kirche, Schlafräumen, Eßräumen, Spital, Bibliothek, Gärten, Spiel-

37 platzen.

Die Anstalt genießt ein großes Ansehen, und es

spricht sich eine nicht katholische Stimme über diese und ähnliche katholische Einrichtungen in einem Berichte, der auf

dem allgemeinen Kongresse der Wohltätigkeits- und Besserungs­ anstalten in Chicago im Jahre 1893 erstattet wurde, in

folgender Weise aus: „Die Werke, die von mildtätigen Per­ sonen dieser Konfession geleitet werden, stehen in vieler Hinsicht

einzig da.

Mit kaum einer Ausnahme werden die Lasten

dieser frommen Werke von einer Kongregation getragen.

Die

meisten dieser Orden und Kongregationen bestehen aus Frauen, welche für diese Art Beruf besonders vorgebildet sind, dem sie ihr Leben ohne Entgelt widmen.

Die Kongregationen,

die sich darin besonders hervortun, sind: Ido Listers ok Elmrit)', tlle Listers ok 8t. llosepü, tbe Listers ok Nere^ und tbe Listers ok tde ßooä Llieperä.

Unter den männ­

lichen Kongregationen sind es die Ebristian Lrotkers, welche

sich der Knabenerziehung widmen" In großen Dimensionen sorgen auch israelitische An­

stalten für die verwaisten und verwahrlosten Kinder dieses Religionsbekenntnisses, und insbesondere die in New Dork

befindlichen Organisationen gehören zu den bestgeführten und großartigsten der Vereinigten Staaten

Die vollkommene Freiheit, welche in den Vereinigten

Staaten in religiösen Dingen herrscht, die neutrale Stellung der Staaten zu allen Konfessionen und Bekenntnissen hat den Erfolg gehabt, daß die verschiedenen konfessionellen Anstalten sich nicht nur nebeneinander ohne irgendwelche Reibung ent­ wickeln und dadurch dem amerikanischen Fürsorgewesen jeder

Kampf auf diesem Gebiete erspart ist, sondern daß auch An­

gehörige aller religiösen Überzeugungen auf diesem Gebiete

38 gemeinsam

arbeiten.

Auf

der

National

Eonkorsnee

ok

Odarities unä Oorroetioo, die im Jahre 1899 in New Aork

stattfand und als 25. Versammlung dieser Art gefeiert wurde, spricht der katholische Erzbischof Corrigan Worte, die in dem

amerikanischen Jdeenkreise nur natürlich, ja selbstverständlich klingen:

„Kein Ort kann für ein Jubiläum geeigneter sein

als diese Metropole, das offene Tor der Nation, durch welches

Tausende und Hunderttausende eintreten, die aus weniger begünstigten Gegenden zu uns kommen, um bürgerliche und religiöse Freiheit zu genießen.

Hier überbieten sich die ver­

schiedenen Kirchen, Gesellschaften und Individuen in den Werken der Barmherzigkeit." Alle diese Verhältnisse machen es erklärlich, daß die

amerikanischen Fürsorgeanstalten sich in einer Art Wetteifer vermehrt und vergrößert haben.

Ein genauer Kenner der

Verhältnisse, Homer Folks, der bei der Leitung großer

Gesellschaften beteiligt war, schätzt für das Jahr 1900 die Gesamtzahl von Anstalten dieser Art in den Vereinigten Staaten auf mehr als 600, die zwischen 80000 und 85000

Kinder und Jugendliche beherbergen.

Außerdem sind nach

seiner Berechnung etwa 50000 Kinder in Familien unter­ gebracht.

Dazu kommen noch an 15000 straffällige Jugend­

liche, meist in Staatsanstalten, so daß nach Homer Folks' Schätzung im Jahre 1900 ungefähr 150000 Jugendliche in

der Fürsorge und Zwangserziehung gestanden sind". Daß bei der Vielgestaltigkeit dieser Einrichtungen, bei

den verschiedenen Menschen und Motiven, die ins Spiel kommen, neben Gutem und Nützlichem auch Schlechtes und Verfehltes emporwächst, ist natürlich.

Dem ganzen amerikani­

schen Wohltätigkeitswesen haften gewisse Übelstände an. Schon

39 Loring Brace bezeichnet sie rückhaltslos.

Die „6dnriti68"

machen sich gegenseitig Konkurrenz, viele verfolgen dasselbe Ziel ohne Zusammenwirken, viel unnütze Kosten werden gemacht, und trotzdem bleibt viel Elend und Armut unberührt.

Eine

besondere Klasse von Personen wird herangezogen, die von einem Verein zum anderen wandern, die Vorschriften der­ selben genau kennen und die von der Kunst, Almosen und

Unterstützung zu ergattern, leben.

Die Findigkeit solcher

Individuen, die dieses Geschäft (pauper tracks)

schildert Brace als erstaunlich.

betreiben,

Geld wird in Amerika leicht

verdient, reichlich zu wohltätigen Zwecken gespendet, aber

häufig verschwenderisch, zwecklos, wenn nicht geradezu schädlich,

verwendet.

Man darf aber nicht übersehen, daß gegenüber

diesen Übelständen auch gewisse Gegengewichte wirksam ge­ worden sind und sich mehr und mehr reformierend geltend­ machen.

Der Kampf gegen diese Mißbräuche ist auf der

ganzen Linie ausgenommen.

Was in

Bereich des Fürsorgewesens geschieht,

dieser Hinsicht im werde

ich in

dem

Schlußkapitel zusammenzufassen versuchen, wo ich von den gemeinsamen Zielen sprechen will, welche sich die Wissenschaft,

die Verwaltung und die freien Gesellschaften auf unserem Gebiete gesteckt haben.

Die Gesetzgebung bezüglich der verwahrlosten Jugend bewegt sich in den einzelnen Staaten, soweit ich

es überblicken kann, überall auf derselben Linie. Es ist immer der Richter, der die Voraussetzungen der Fürsorgeerziehung

prüft und über die Art der Durchführung entscheidet.

So

bestimmt das Gesetz im Staate New Dork (M 290 und 291,

luvs 1884 eü. 46; lavs 1886 ek. 31; lacvs 1888 cd. 145; Iav8 1889 ob.

170), daß Kinder, die bettelnd, Abfälle

40 sammelnd, ohne Heim oder gehörige Obsorge gefunden werden, die verlassen oder verwahrlost sind, mittellose Waisen, Kinder

von Verbrechern oder in Gesellschaft von Verbrechern oder Prostituierten lebend oder sich ohne Aufsicht der Eltern in

öffentlichen

Unterhaltungslokalen

herumtreibend,

vor

den

Richter gebracht werden füllen, der je nach Beschaffenheit des Falles entscheidet.

Ganz ähnliche Bestimmungen trifft das neue Gesetz von

Massachusetts (7. Mai 1903), welches dem Richter unter anderem auch die Möglichkeit gibt, das betreffende Kind dem Loarä ok

als „varä ok Uro state" zu übergeben,

und zwar für eine bestimmte Zeit oder bis zur erreichten Großjährigkeit.

und erkennt

Der Richter entscheidet nach freiem Ermessen

je nach Beschaffenheit des Falles auf Unter­

bringung in einer Anstalt oder in einer fremden Familie oder

auf Belassung in der eigenen Familie, in den beiden letzteren Fällen jedoch immer unter gleichzeitiger Verfügung einer be­

sonderen Überwachung. Dieser Überwachung der Fürsorgezöglinge, die sich außer­

halb von Anstalten befinden, wird in Amerika die größte Auf­ merksamkeit geschenkt.

Sie ist nur durchführbar unter Mit­

wirkung der freien Vereine und Gesellschaften. Die Einrichtung

der Jugendgerichtshöfe, die ich zum Gegenstände einer-

besonderen Besprechung machen will, ist der wichtige Hebel für die praktische Verbreitung dieses Gedankens.

III. Die Jugendfürsorge der Staaten und der Selbstverwaltungen. Das System des Staates New Hork: Beiträge aus öffentlichen Mitteln für private Anstalten; geschichtliche Entwicklung dieser Methode; der State Loarä ok Okarit^, seine Zusammensetzung und sein Wirkungs­ kreis; seine Berichte; Übelstände der großen Anstalten; die Staatsanstalt

für schwachsinnige Kinder in Syrakus; Verhältnisse in Kalifornien. — Das System von Ohio: Die Grafschaftsbehörden errichten Anstalten und subventionieren sie; Loaiä ok Oount^ Vi8itor8; sein Wirkungskreis, sein Aufsichtsrecht und seine Berichte; Connecticut und Indiana. — Das System von Massachusetts; Das Unterbringen der Pfleglinge in Familien; Vorzüge dieser Methode gegenüber der Anstaltserziehung; State Loai-ä ok 0karitie8; sein Wirkungskreis; Organisation des Über­ wachungsdienstes bezüglich der in Familien untergebrachten Kinder; Pennsylvanien. — Das System von Michigan: Fürsorge für die verwahr­ loste Jugend vorerst in einer Staatsanstalt in der Absicht, sie so bald als möglich in Familien unterzubringen oder in Dienst zu geben; die Staatsschule in Coldwater; ihre Einrichtung, ihr Überwachungsdienst; Resultate dieser Methode; andere Staaten folgen dem Beispiel von Michigan. — Gesamtbeurteilung dieser vier Hauptrichtungen.

Die Initiative und stetige Arbeit der Vereine und Ge­ sellschaften hat in Amerika der staatlichen Fürsorgepolitik eine

breite Grundlage geschaffen.

Die einzelnen Staaten benützen

dieselbe in sehr verschiedener Weise.

Die Art der Über­

wachung und Unterstützung der freiwilligen Einrichtungen, die Art der Eingliederung derselben in ein allgemeines Fürsorge­

system, das Maß dessen, was der Staat aus Eigenem leistet —

42 das ist in den

alles

einzelnen Staaten

sehr verschieden.

Trotzdem lassen sich gewisse Typen der Staatsfürsorge auf­ stellen, und ich will nach dem Vorgänge von HomerFolks versuchen, diese Typen zu charakterisieren.

Dabei ist es un­

ausweichlich, vorgreifend auch bezüglich der Behandlung der

straffälligen Jugend einige Bemerkungen zu machen.

Ich beginne mit dem Staate New Aork und seinem System, das man nach diesem Staate benennen kann.

Dieses System läßt sich sehr einfach charakterisieren:

Beiträge aus öffentlichen Mitteln für private Anstalten, da­ neben in geringer Zahl öffentliche Anstalten, in denen die

verwahrloste und straffällige Jugend untergebracht wird. New Jork ist dem größten Anprall der Einwanderung

ausgesetzt.

Früher

als

irgendwo

in

den

amerikanischen

Städten häuften sich dort verlaßene, verwahrloste und straf­

fällige Kinder. Sie wurden früher mit Erwachsenen zusammen in den Armenhäusern untergebracht, was die größten Übel­ stände mit sich führte.

Ein Gesetz aus dem Jahre 1875

(OMären's I-uv) bezeichnet einen Wendepunkt.

Die Ent­

fernung der Kinder aus den Armenhäusern wurde verfügt und nach und nach durchgeführt.

Nach Tausenden zählten

die Kinder, die infolgedessen besonderen Anstalten zur Pflege

übergeben wurden.

sidien.

Diesen Anstalten zahlte der Staat Sub-

Dieses Vorgehen hatte aber auch eine ungemessene

Ausdehnung des Anstaltswesens und der Dimensionen der einzelnen Anstalten zur Folge, die geschäftsmäßig betrieben

wurden, die rationelle Erziehung vernachlässigten und die

Kritik immer mehr herausforderten.

Vom Jahre 1875 bis

1900 wuchs die Bevölkerung im Staate New Dork um 55 °/o, die Kinder in den Anstalten um 139°/»!

Es wurde immer

43

mehr und mehr klar, daß die Eltern, besonders eingewanderter

Familien, sich gewöhnten, diese Anstalten als eine Art freier Erziehungsstätte anzusehen.

Auch ergriffen konfessionelle An­

stalten die Gelegenheit, sich im Interesse ihrer Konfession

so viel als möglich auszudehnen, so daß schließlich ein lebhafter

Wettbewerb unter diesen Organisationen stattfand, der dahin

ging, viele Kinder und daher so viel von den Zuschüssen aus öffentlichen Geldern zu bekommen, als nur möglich. Gegen

diese Zustände machte sich alsbald eine starke

Reaktion geltend.

Zunächst wurden die staatlichen Zuschüsse

eingestellt und die Stadtverwaltungen angewiesen, diese Zu­ schüsse aus Eigenem zu leisten.

Im Jahre 1894 hob aber die

Gesetzgebung diese bedingungslose Verpflichtung der Lokal­

behörde, Zuschüsse zu leisten, wieder auf, und es darf heute ein

Zuschuß aus öffentlichen Mitteln nur Anstalten gewährt werden, die sich der Aufsicht des 8tate Loarä ok Ebaritiss unterwerfen.

Inzwischen hatte auch der Staat selbst einige Anstalten errichtet. Der heutige Zustand der allgemeinen staatlichen Fürsorge

im Staate New Hork ist nach dem letzten mir zu Gebote

stehenden Ausweis der folgende: Unter der Aufsicht des Ltuto Loarä ok 6darititz8 stehen im ganzen 647 Anstalten und zwar 14 Staatsanstalten, von

denen vier zur Aufnahme straffälliger Jugendlicher, die anderen zur Aufnahme von schwachsinnigen, verkrüppelten, tuberkulösen

Kindern bestimmt sind, elf Anstalten für erwachsene Blinde, Taube und Stumme, 77 Armenhäuser, 129 ärztliche Hilfs­

stellen (äispsnsarios), endlich 416 Privatanstalten, welche vornehmlich der Aufnahme der verlassenen und verwahrlosten, teilweise auch der straffälligen Jugend gewidmet sind und

Zuschüsse aus öffentlichen Mitteln erhalten.

Die Zahl der

44 jugendlichen und erwachsenen Personen in diesen Anstalten

beträgt mehr als 6000V, davon etwa die Hälfte Jugendliche unter 16 Jahren.

Die unter Aufsicht stehenden privaten Anstalten, welche der Jugendfürsorge gewidmet sind, hatten (1901) eine Gesamt­

ausgabe von 5,1 Millionen Dollars, wovon durch Zuschüsse der städtischen Verwaltungen 2,2 Millionen Dollars gedeckt wurden.

Dazu kamen noch öffentliche Gelder verschiedenen

Ursprungs im Betrage von 0,5 Millionen Dollars, so daß mehr als die Hälfte ihrer Auslagen durch öffentliche Gelder

gedeckt sind.

Der State Loarck ok Obaritios des Staates New Jork ist aus einer bereits seit dem Jahre 1867 bestehenden Gesellschaft

erwachsen, die durch Artikel VIII der Konstitution dieses Staates zu einer verfassungsmäßigen Behörde gemacht wurde. In dieser Eigenschaft ist diese Behörde seit dem Jahr 1895

in Tätigkeit.

Die Bedeutung der Wortes „Obaritios'' ist

hier, wie der Wirkungskreis des Loarck beweist, in einem

weiteren Sinne zu nehmen.

Seine Funktionen beruhen auf

einer Reihe von Gesetzen.

Das Verfassungsgesetz des Staates New Jork (soe. 12

art. VIII der Konstitution) macht es dem State Loarä ok Okarities zur Pflicht, alle Fürsorgeanstalten, die vom Staate,

der Grafschaft, einer Stadt oder von Vereinen oder Privaten errichtet sind und sich der Armenpflege, Zwangserziehung oder

Wohltätigkeitszwecken widmen, zu inspizieren, was durch eine

Entscheidung des Obergerichts des Staates New Pork jedoch

auf solche Anstalten eingeschränkt wurde, die aus öffentlichen Mitteln erhalten werden oder Zuschüsse beziehen.

Eine Reihe

von Spezialgesetzen führt diese allgemeine Anordnung der

45 Verfassung durch.

Das Ltato Okuritiss la« (ekap. 546

Ia«8 1896) regelt die Aufsicht, Verwaltungstätigkeit, Bericht­

erstattung bezüglich der oben erwähnten Anstalt; das koor la« (obap. 225 la«s 1896) regelt insbesondere die Kompetenz

des Board rücksichtlich der Armenhäuser; durch das Uomborskip Oorporution la« (edax. 529 Ia«8 1895) ist von der Zustimmung des Board die gesetzliche Zulassung von Fürsorge­ anstalten abhängig gemacht, welche Unterstützungen aus öffent­ lichen Geldern erhalten.

Das vispsnsarx la« (elmp. 368

1a«s 1899) überträgt ihm die Lizenzierung von ärztlichen

Hilfsstellen.

Endlich hat das klaoing out la« (elmp. 264

Ia«8 1898) dem Board auch die Zulassung jener Anstalten und Personen übertragen, die sich mit der Unterbringung

von Kindern in Familien beschäftigen. Eine wesentliche Funktion

des Board besteht ferner in der Pflicht, für die Anstalten Vorschriften in bezug auf die Aufnahme und Behandlung Jugendlicher zu erlassen.

Die zwölf Mitglieder des Loarä werden vom Gouverneur

des Staates unter Zustimmung des Senates auf acht Jahre ernannt, haben ihren Wohnsitz in verschiedenen Grafschaften, kommen zu den Sitzungen des Board zusammen, erhalten Diäten im Betrage von 10 K, die aber die Gesamtsumme von

500 S in einem Jahre nicht übersteigen dürfen, haben die Ver­

pflichtung der Aufsicht und Inspektion, sind berechtigt, Ver­ ordnungen zu erlassen (k/-la«8 und Uulo8), Übelstände ab­ zustellen und haben jedes Jahr den gesetzgebenden Körper­ schaften einen Bericht zu erstatten. Derselbe ist sehr ausführlich

gestaltet, erscheint jährlich in mehreren Bänden, erörtert die

Verhältnisse jeder einzelnen Anstalt,

außerdem

Fragen aller Art, die in das Gebiet fallen.

legislative

Der Board wählt

46 aus seinen Mitgliedern einen Präsidenten und einen Vize­

präsidenten und hat einen großen Stab von Beamten zur

Durchführung seiner Aufgabe.

Der Sitz der Behörde ist in

Albany, der gouvernementalen Hauptstadt des Staates New Aork, und besteht aus mehreren Departements für die Armen­ häuser, Fürsorgeanstalten usw.

Die Beamten des Board be­

reisen die Anstalten jedes Jahr und berichten über die Er­ gebnisse.

Der Oberinspektor (suptzrintenäsnt ok iuspeetion)

hat im Jahre 1900 auf seinen Inspektionsreisen insgesamt

11696 Meilen zurückgelegt. Die Berichte des Board sind nicht nur wegen der Kritik

bemerkenswert, die sie an den ihnen unterstehenden Anstalten üben; sie enthalten nicht nur eine reiche Statistik, die, mit

der nötigen Vorsicht und Aufmerksamkeit benützt, sehr lehrreich

ist, sondern sie sind auch die Vorkämpfer für den Ausbau der Fürsorgegesetzgebung und Verwaltung, für die richtige Ver­ wendung der Mittel zu diesen Zwecken und für die Hebung

des ganzen Verwaltungszweiges.

So macht der Bericht für

das Jahr 1902 kein Hehl daraus, daß dem Board die Mittel fehlen, um seine Pflicht zur Inspektion aller seiner Kompetenz

unterliegenden Anstalten erfüllen zu können.

Diese Inspektion

ist noch eine unvollkommene, und es wird eine Erhöhung der bewilligten Mittel verlangt.

„Diejenigen, die nur vom Stand­

punkte der Sparsamkeit ausgehen/' heißt es in dem Berichte für 1902, „verkennen die Tatsache, daß die Anstrengungen, die der Staat zum Besten seiner Pfleglinge macht, die ver­

nünftigste und rationellste Sparsamkeit bedeutet.

Es ist doch

der Zweck, die mit Gebrechen behafteten und straffälligen Kinder in besondere Obhut zu nehmen und ihnen in dem möglichen Umfange eine Erziehung angedeihen zu lassen, die

47 ihnen ihre früheren Verhältnisse versagt haben, nm sie auf

diese Weise der Gesellschaft als intelligente, nützliche und selbständige Bürger zurückgeben zu können.

Ohne diese Er­

ziehung und Ausbildung zu einer praktischen Tätigkeit müssen sie notwendigerweise die Reihen der verkommenen und ver­ brecherischen Klassen vermehren, welche zerstörend auf das

gesellschaftliche Leben wirken und dem Staate gefährlich sind/' " Aber da der Kompetenz des Ltuto Lourä ok Lbaritios

in New York auch

Besserungsanstalten für die straffällige

Jugend unterworfen sind, kommt er auch in die Gelegenheit, sich über diesen Teil des Fürsorgewesens auszusprechen.

Verurteilungen

der Jugendlichen

„Die

sollen keine Strafurteile

sein", heißt es im Berichte für das Jahr 1901, „sondern eine

Überweisung

Disziplin.

in

eine

Anstalt

zur

Erziehung

und

Die Idee, daß die Insassen unserer -rokorma-

torios' meistens geschädigte und nur deswegen verbrecherische

Individuen sind, wird immer allgemeiner anerkannt.

Einen

gewissen Einfluß mag man der Vererbung zuerkennen, die Hauptursachen der Kriminalität der Jugend liegen anerkannter­

maßen in der fehlerhaften Umgebung in den ersten Jahren und in dem Mangel der Bedingungen für alle körperliche

und geistige Entwicklung."

Der Bericht führt dann weiter

aus, daß eine Hauptsache die gehörige Klassifikation der ver­ brecherischen Jugend sei.

„Schon der Richter tappt im Dun­

keln, da er die Familiengeschichte und überhaupt die Vor­

geschichte des Betreffenden nicht kennt.

Die meisten Anstalten

sind auch lokal für eine Differenzierung gar nicht eingerichtet. Einer angemessenen Klassifikation der Überwiesenen stehen die

Lokalitäten in den meisten Anstalten entgegen.

Die

Not­

wendigkeit liegt auf der Hand, eine Anzahl kleinerer Ge­

48

bäude zu errichten, in welchen die Insassen mehr in der Art einer Familie vereinigt sind, aber es wird Zeit und Geld

kosten, das durchzuführen." Noch eine Stelle aus einem Bericht möge hier Platz finden, die zeigt, was für Übelstände trotz aller Anstren­

gungen, die Hypertrophie des Anstaltswesens einzudämmen, noch bestehen, zugleich aber, wie freimütig sich die Verwal­

tung einer Staatsanstalt der Aufsichtsbehörde und der Öffent­ lichkeit gegenüber ausspricht.

In ihrem Berichte für das

Jahr 1901 konstatiert die Anstaltsleitung der Ztuts luäustrial

8ebool in Rochester,

einer staatlichen Zwangserziehungs­

anstalt, daß sich in derselben Jugendliche zwischen 12 und

18 Jahren aller Kategorien befinden: Schulschwänzer, vaga­ bundierende, verwahrloste, bettelnde und verlassene Kinder, solche, welche in Gesellschaft von Dieben und Prostituierten

gefunden werden, und alle Arten von jugendlichen Ver­

brechern, darunter auch solche, die für schwere Delikte, wie Einbruch, Brandlegung und Raub, hereingebracht wurden.

Der

Bericht bricht vollständig

den

Stab

über

derartige

Sammelanstalten, die im Kasernenstil gebaut sind, verlangt die Verlegung der Anstalten aufs Land, den Bau nach dem

Cottage-System und eine rationelle Trennung und Klassifi­

kation der Überwiesenen.

„Der Staat bringt," heißt es im

Berichte, „wie mit einem gesetzlichen Schleppnetze Hunderte

von Kindern zusammen; solche, die erblich belastet sind oder

schon gewohnheitsmäßig die Strafgesetze übertreten, der Trunk­ sucht,

dem Diebstahl

oder der Prostitution ergeben sind,

werden zusammen mit solchen, die verlassen, unglücklich, un­ schuldig sind und in einem Alter stehen, in welchem von einer

Verantwortlichkeit noch

nicht

gesprochen werden kann, in

49

Massen innerhalb der Mauern derselben Anstalt versammelt. Soll der Staat dieser zusammengewürfelten Masse gegenüber

seine Pflicht der Beschützung

und Erziehung erfüllen, so

müßten Gesetze erlaßen und mit Strenge durchgeführt werden, welche die Absonderung und Klassifikation dieser Jugendlichen erzwingt.

Aber es sind keine solchen Vorschriften erlassen.

Unter der Herrschaft der heutigen Strafgesetze ist der Einfluß selbst wohlmeinender Bestrebungen von Privaten und öffent­

lichen Gewalten nur ein noch weiter zerstörender gewesen.

Kein Irrtum hat sich verhängnisvoller erwiesen als der Ver­ such, unglückliche, lasterhafte und verbrecherische Jugend an­

zuhäufen, ohne Einteilung, Absonderung und spezielle Be­

handlung

vorzuschreiben.

Der

Staat gibt jährlich

große

Summen für die Verhütung und Unterdrückung von gewissen

Krankheiten selbst unter Tieren aus und erzwingt strenge Quarantäne gegen die Ansteckung.

Für die Unterdrückung

von Epidemien können die Sanitätsbeamten die polizeilichen Gewalten des Staates in jedem Augenblick in Anspruch

nehmen und die schärfsten Maßregeln treffen, aber die mora­ lische Ansteckung, die notwendigerweise physische Verkommen­

heit zur Folge hat, wird sorglos vom Staate selbst verbreitet.

So verordnet die Gesetzgebung selbst die Verderbnis der

Sitten." " Unter den Anstalten, welche der Staat New Jork ganz

aus

eigenen Mitteln erhält, möchte ich

das Institut für

Schwachsinnige in Syracus nennen (8^raeus6 8tat« In8ti-

tutiou kor koobls Ninckock Obilckron).

Es ist für 600—700

Kinder eingerichtet".

Ähnlich wie in dem Staate New Aork haben sich die Ver­ hältnisse in Kalifornien ausgebildet. Der Staat subventioB aernreith er.

4

50

nierte (1900) im ganzen 55 Anstalten mit S 215000, wovon 44"/« auf die protestantischen und konfessionslosen, 3°/« auf die jüdischen und 53° « auf die katholischen Anstalten ent­

fielen.

Auch hier ein unverhältnismäßiges Anwachsen der

Zahl der Anstaltskinder.

Während zwischen 1890 und 1900

die Bevölkerung des Staates um 22°/« zunahm, betrug die Zunahme der Anstaltskinder 51°/«.

Der Finanzminister hat

schon im Jahre 1898 Einspruch gegen das Anwachsen der Staatsausgaben für diesen Zweck erhoben, doch scheint er bis­

her damit nicht durchgedrungen zu sein.

Auch in den Staaten Maryland, Oregon, Delaware, Nordkarolina, Maine und New Hampshire werden öffentliche Gelder in größerem und geringerem Umfange den betreffenden

Anstalten zur Versorgung der Verwahrlosten und Straffälligen zugewendet.

Diese Subsidien sucht man überall damit zu

rechtfertigen, daß dadurch die Selbsttätigkeit gefördert wird, und daß sie gegenüber der Einrichtung von Staatsanstalten

immer noch eine Ersparnis bedeuten. Ein anderes Bild der Staatshilfe für verwahrloste Jugend bietet uns Ohio.

Das dortige System besteht ebenfalls in

der Unterstützung von Anstalten, aber zum Unterschiede von

New Jork in der Weise, daß nach einem im Jahre 1866 in Wirksamkeit getretenen Gesetze die Grafschaftsbehörden

ermächtigt wurden, Anstalten zu errichten und dieselben zu subventionieren.

schaften

Im Jahre 1901 hatten 48 von den 88 Graf­

des Staates Grafschaftsanstalten (eount^ bomss)

errichtet, während in 9 Grafschaften die Kinder in privaten An­ stalten gegen Bezahlung untergebracht waren und 25 Graf­

schaften ihre verwahrlosten Kinder in den Anstalten anderer

Grafschaften gegen Zahlung einer bestimmten Summe per

Kopf und Jahr versorgten. Diese Zuschüsse werden durch Um­ lagen in der Grafschaft gedeckt, und das Fürsorgewesen ist

demnach in Ohio dezentralisiert.

Die staatliche Überwachung

geschieht durch den öoarä ot Oount^ Visitors (Gesetz vom 17. März 1898).

Der Graffchaftsrichter ernennt die sechs

Mitglieder dieses Board, darunter drei weibliche und nicht mehr als drei, welche derselben politischen Partei angehören, als Aufsichtsrat bezüglich aller Anstalten in der Grafschaft,

die

ganz

oder teilweise aus öffentlichen Geldern erhalten

werden und wohltätigen oder strafrechtlichen Zwecken dienen.

Bezüglich dieses Aufsichtsrates, der ein Seitenstück des New Yorker 8 tato Loarä ok Odaritios ist, gelten nachstehende gesetzliche Verfügungen:

1.

Er hat sich über den Zustand und die Verwaltung

aller Einrichtungen der Fürsorgeerziehung oder Zwangserziehung Jugendlicher, ferner aller Spitäler, Grafschaftsgefängnisse und

städtischen Gefängnisse volle Einsicht zu verschaffen, Anträge über notwendige Änderungen und Verbesserungen zu stellen und jedes Jahr einen detailierten Bericht in betreff seiner Überwachungstätigkeit sowohl an den Grafschaftsrichter als

auch an den 8tattz Loarä ok 6liariti«8 des Staates Ohio zu erstatten.

2. Von jeder gerichtlichen Verhandlung, die ein Kind

unter 16 Jahren betrifft, muß dem Board Kenntnis gegeben werden, welcher verpflichtet ist, in corpore oder durch eine

Abordnung der Verhandlung beizuwohnen und die Interessen

des betreffenden Kindes zu wahren.

Die Verweisung eines

Kindes in ein Vortdv 8eüool ist eine

Massenanstalt, eine große Kaserne, alles unter Schloß und Riegel.

Sie macht im allgemeinen keinen ungünstigen Ein­

druck, enthält aber stets zwischen 300 und 400 Knaben, was

für die vorhandene Einrichtung eine große Überfüllung bebedeutet, und es werden noch immer Jugendliche dort zur

Abbüßung kurzer Strafen angehalten, so daß diese Anstalt

keineswegs auf der Höhe jener Ideen steht, welche heute in den Vereinigten Staaten als die allein richtigen verkündet

werden.

Es besteht daher auch die Absicht, diese Anstalt zu

verlegen.

Ich habe den Plan für die neue Anstalt, welche

im Baue ist, gesehen.

Dieses neue 8t. Okurlos Home kor

Loys liegt am Lande, besitzt 1000 aero für landwirtschaftliche

Zwecke und besteht aus 30 Familienhäusern für je 40 Knaben. Dieses Etablissement soll nicht als Gefängnis, sondern als

eine offene Anstalt wie Mettray betrieben werden.

Für die

geannte Anstalt sind K 100 000 an freiwilligen Beiträgen ein­ gegangen, den Rest zahlt der Staat.

Unverbesserliche, Rückfällige und wegen sehr schwerer Ver­ brechen vom Gericht Verurteilte kommen nach Pontiac, einer

Anstalt, deren ich schon Erwähnung getan habe.

Es ist dies

eine großartige Anlage, die aus zwei getrennten Abteilungen besteht, die eine für Knaben bis 16 Jahre, die andere als

Lokormatory Lrison für ein höheres Alter, in die Kategorie

von Elmira fallend.

Für Mädchen bestehen eine Reihe von

Anstalten, und zwar eine Staatsanstalt in Geneva für alle

Konfessionen, das katholische Louso ok 6ooä 8d6porock und

171

das protestantische Odieago LrnvZ Nomens kskuZo.

Alle

diese Anstalten leiden zeitweise an großer Überfüllung.

Eine Ergänzung dieser Anstalten bildet das vontontiou Homo zur Aufnahme von Knaben während der Untersuchung.

Die Idee ist sehr gut, das Haus ist aber weit vom Gerichts­ hause entfernt und seine ganze Einrichtung mittelmäßig.

Für

die provisorische Anhaltung der Mädchen ist noch sehr un­ vollkommen in dem Annex einer großen Polizeistation ge­ sorgt.

Der OdieaZo Nomens Olud und insbesondere der

Spezialausschuß derselben, das lluvouilo Oourt Oommittos, an deren Spitze Frau Joseph T. Bowen steht, verfolgt die Ab­

sicht, eine in jeder Hinsicht geeignete Anstalt zur provisorischen Aufnahme der Jugendlichen zu erbauen, deren Kosten durch freiwillige Beiträge und Zuschüsse der Grafschaft und der

Stadt aufgebracht werden sollen.

Wie gestalten sich nun in diesem Rahmen

die Ver­

handlungen vor diesem Gerichtshof?

Zunächst muß ich bemerken, daß die Fälle der Ver­ wahrlosten von den Fällen der Gesetzesübertreter und von

den Fällen, in denen es sich um Schulschwänzer handelt, in

(äoliuguout

äav,

äopouäout äav. truaue^ «luv in tdo juvenile oourt).

Der

getrennten Sitzungen behandelt

werden

Richter leitet die Verhandlung, der Vertreter der Behörde

(kro86outivK ^ttoruez^) ist anwesend, die krodatiou Oklioors,

Vertreter der Gesellschaft und Vereine

stehen helfend und

ratend zur Seite. Bei der Kategorie der äspenlleut edilärons handelt es sich um alle Arten der Verwahrlosung, aber auch um solche Fälle, in denen die Eltern einfach nicht im stände sind, das

Nötige für ihre Kinder aufzubringen.

Der krodatiou Oldeer.

172 der diesen Fällen nachgeht, bringt Eltern und Kinder vor den

Gerichtshof, und es kann das Kind einer Anstalt oder einer ordentlichen Familie übergeben werden, bis seine Eltern wieder im stände sind, für dasselbe zu sorgen.

Es kommen Mütter

vor den Gerichtshof, die von ihren Männern verlassen wurden und wegen der Sorge um kleine Kinder oder wegen der Unfähigkeit, sich irgendetwas zu verdienen, dieselben unter­ bringen wollen.

Viele Kinder kommen auf diese Weise in

andere Familien, von denen sie schließlich adoptiert werden.

Es geschieht auf diesem Wege unleugbar viel Gutes.

Es

wird aber auch nicht in Abrede gestellt, daß diese Art Für­

sorge oft mißbraucht wird, um von Kindern loszuwerden. Aber man weiß das und sieht darin ein geringeres Übel,

als in der um sich greifenden Verwahrlosung mit allen ihren Folgen.

Unter den strafbaren Handlungen,

gegen welche der

Gerichtshof einschreitet, nehmen größere und kleinere Dieb­ stähle den ersten Platz ein; dann sind es insbesondere die

Fälle von Eisenbahndelikten, Landstreicherei und unordent­ lichem Lebenswandel, seltener schwere strafbare Handlungen,

wie Einbrüche, Raub und Brandlegung, die den Jugend­ gerichtshof beschäftigen.

Handelt es sich um sehr schwere Ver­

brechen, wie Mord, oder sind sonst die Umstände danach, so findet die Verweisung des Betreffenden vor die 6rrwcl lurz'

statt; er wird in der gewöhnlichen Weise vor den Geschworenen abgeurteilt und kommt in der Regel nach Pontiac, der bereits erwähnten Strafanstalt für Jugendliche.

Im Jahre 1903

wurden von 1586 Knaben, die wegen Gesetzesübertretung vor

das Jugendgericht gestellt wurden, nur 21 vor die 6ranä llur^ verwiesen, von den 231 Mädchen keines.

173 Die Strafverhandlung vor dem Jugendrichter wickelt sich formlos ab. Die Beeidigung der Vernommenen geht ungemein rasch mittelst eines einzigen Satzes vor sich. Formalien

nicht

verloren.

Der

Zeit wird mit

Strafzweck tritt in den

Hintergrund, die ernste, aber wohlwollende Einwirkung des

Richters beherrscht das Verfahren.

Ein Teil der Fälle wird

behufs weiterer Erhebungen vertagt, andere werden durch Ermahnungen an Kinder und Eltern erledigt, der Rest zum Abschluß gebracht, nachdem alle Beteiligten, Kinder, Eltern,

Vormünder, Zeugen, Nachbarn gehört wurden.

Alles kommt

auf die Beurteilung des Falles durch den Richter an.

Es

kommt vor, daß die Entlassung auf Probe selbst in schweren Fällen stattfindet, wenn es sich um die erste Gesetzesübertretung

des Betreffenden handelt, wenn aus den Umständen zu schließen ist, daß der Eindruck der gerichtlichen Verhandlung ein nach­

haltiger sein dürfte und wenn die Wahrscheinlichkeit vor­

handen ist, daß der Betreffende nicht neuerlich straffällig

werden wird.

Ich habe beobachtet, daß ungefähr acht bis

zehn Fälle in einer Stunde erledigt werden, worunter aber auch solche sind, die nach ganz kurzer Verhandlung wegen not­

wendiger weiterer Erhebungen vertagt werden. Es ist aber zu bemerken, daß der Richter durch seine Erfahrung, durch die

Kenntnis der sozialen Verhältnisse, aus denen alle die Fälle erwachsen und die in der Regel die gleichen sind, vor allem aber durch die vorbereitenden Erhebungen der krobation Oklieors,

welche sich auf das Vorleben, die häuslichen Verhältnisse, den Charakter und die Glaubwürdigkeit der Eltern und alles sonst

Wissenswerte erstrecken, wesentlich unterstützt werden. Ob trotz

aller dieser Hilfsquellen der Richter innerhalb der kurzen Zeit,

die jedem Falle gewidmet ist, immer das Richtige treffen kann.

174 will ich dahingestellt sein lassen, besonders da das Kind selbst und seine Verwandten oft alles tun, um den Richter irre­ zuführen.

Zur Sicherheit der Entscheidung tragen ferner die

Sprachenverhältnisse

keineswegs

bei.

Ich

habe der Ver­

handlung deutscher, tschechischer und italienischer Fälle in Chicago und New Jork beigewohnt, bei denen ich durchaus

nicht den Eindruck hatte, daß das Tatsächliche wirklich auf­ geklärt fei. Die dritte Abteilung des Jugendgerichtes in Chicago

beschäftigt sich mit den Fällen der Schulschwänzer, die be­

sonders ernst genommen werden. wachung

des

regelmäßigen

Zum Zwecke der Über­

Schulbesuches

ist Chicago

in

23 Bezirke eingeteilt, jeder unter Aufsicht eines Beamten (Iruant (Meer).

Dieser besucht regelmäßig die Schulen

und untersucht in jedem Falle die Ursache, aus welcher der Schulbesuch unterblieben ist.

Wenn eine Schuld der Eltern

vorliegt, werden sie zuerst verwarnt, nötigenfalls vor den

ordentlichen Richter gebracht und verurteilt.

Wenn das Kind

Schuld trägt, wird es samt den Eltern vor den Jugend­

gerichtshof gestellt, der es in eine Schwänzerschule (kurontal Kellool, Irukut Leliool) senden kann.

Die Frage nach den Resultaten dieser lluvouils Oourts,

die in Amerika nun schon fast fünf Jahre bestehen, ist heute noch unvollständig zu beantworten.

Die Amerikaner lieben es,

mit Statistik zu prunken, besonders mit hohen Ziffern, und

diese werden immer und immer wiederholt; viel weniger Mühe wird aber darauf verwendet, sie kritisch zu prüfen und die gewonnenen Resultate zu sichten.

Auch das hängt mit

dem Optimismus der Amerikaner zusammen, erschwert aber unparteiische Feststellungen.

175 Eines ist sicher.

Die Zahl der Kinder und Jugendlichen

unter sechzehn Jahren, die früher in die gewöhnlichen Gefängnisse kamen, hat außerordentlich abgenommen. John L. Whitman, Strafhausdirektor in Chicago, der in hohem Ansehen steht,

konstatiert, daß dort in den drei Jahren, die der Erlassung des Gesetzes über die Jugendgerichte vorangegangen sind, die Zahl der Knaben in den gewöhnlichen Gefängnissen 1705

betrug, in den drei Jahren nach Erlassung des Gesetzes hin­ gegen nur 48.

Solche Tatsachen machen in Amerika einen

bedeutenden Eindruck, denn man wollte diesen Erfolg herbei­ führen und beurteilt deswegen Schattenseiten der Institution

eher milder.

Der lluvenile 6ourt in Chicago ist viel beschäftigt.

Er

hat im Jahre 1903 im ganzen 1817 Entscheidungen über

straffällige Jugendliche (1586 Knaben, 231 Mädchen) und

über 1125 Verwahrloste (606 Knaben, 519 Mädchen) gefällt. Diese Ziffern sind im Steigen begriffen, wie es in den ersten Jahren einer Einrichtung, die ihren gesetzlichen Wirkungs­

kreis nach und nach ausfüllt, natürlich ist.

Von den Knaben

wurde die kleinere Hälfte auf Probe unter Aufsicht der ?robation 0t'6esr8 entlassen beziehungsweise in Familien untergebracht;

von den Mädchen viel weniger".

Über die Rückfälligkeit

liegen noch keine ausreichenden Ziffern vor.

Von den 717

Knaben, die im Jahre 1903 in die Besserungsanstalt llobu ^ortll^ 8ebool abgegeben wurden, kamen 460 zum erstenmal

dahin, 155 zum zweitenmal, 75 zum drittenmal, 23 zum

viertenmal und 4 zum fünftenmal, so daß bezüglich 36 °/v der Gesamtzahl der erste Erziehungsversuch vergeblich gemacht

worden war". Neben dem Staate Illinois verdient vor allem Penn-

176

sylvanien als Pionier für die Idee der Jugendgerichte genannt zu werden. Hier muß vor allem der Tätigkeit einer Frau gedacht

werden, Mrs. Hannah Kent Schoff in Philadelphia, die

als Präsidentin des bereits von mir erwähnten National

Oougrsss ok Uotksr8 an der Spitze der einflußreichen Frauen­

bewegung steht.

Sie hat der Frage der strafrechtlichen Be­

handlung der Jugend ein ebenso eifriges Studium gewidmet,

als sie bemüht war, die Gesetzgebung des Staates Penn-

sylvanien

zu

beeinflussen".

Es

gelang

ihr,

den

Nov

Oontur^ Olub in Philadelphia für die Sache zu begeistern; es bildete sich innerhalb desselben das Oommittoo on lluvouilo

Oourt avcl krodatiou (Meers, ein Ausschuß, der es sich zum Ziele setzte, die Erlassung der nötigen Gesetze zu betreiben und

ihre Durchführung mit allen Mitteln zu unterstützen.

Es

gelang sehr bald, ein Gesetz zu stände zu bringen, und im Mai 1900 fand die erste Sitzung des Jugendgerichtshofes

in Philadelphia statt.

Das Gesetz beruhte auf ganz ähnlichen

Grundsätzen wie der lluvonilo Oourt ^.et von Illinois.

Es

spricht für die Ausdauer, mit welcher die Schöpfer des Ge­ setzes den legislativen Gedanken desselben verteidigen, sowie

für die werbende Kraft, welche die begeisterte Überzeugung dieser Frauen und Männer verbreitete, daß, nachdem das eben erwähnte Gesetz vom obersten Gerichtshof von Pennsylvanien als verfassungswidrig erklärt worden war, eine ab­

geänderte Fassung

sofort wieder durchgesetzt wurde.

Die

Gegner des Gesetzes hatten nämlich herausgefunden, daß die besondere Behandlung der Jugendlichen vor dem Juvenils Oourt eine Art Privileg begründe, ein Vorwurf, der in

Amerika stets geeignet ist, Eindruck zu machen, und daß das

Gesetz aus diesem Grunde mit der Konstitution des Staates

177 im Widerspruche stehe. Der 8uporior Court von Pennsylvania fand unter anderem, daß die besondere Behandlung von

Personen

unter

der verfassungsmäßigen

sechzehn Jahren

Gleichheit vor dem Gesetze zuwiderlaufe, und daß das inqui­

sitorische Verfahren mit Ausschluß von Geschworenen der Lill ok kiZüts widerspreche.

Es gelang den Juristen jedoch,

dem Gesetze, ohne an seinen Grundgedanken etwas zu ändern, eine solche Formulierung zu geben, daß diese Einwendungen

gegen die Verfassungsmäßigkeit umgangen wurden, so daß der Entwurf in feiner neuen Form am 23. April 1903 aber­ mals Gesetzeskraft erlangte

und

seither unangefochten in

Wirksamkeit steht. Das Gesetz weicht in für unsere Betrachtung nur minder wesentlichen Punkten von dem Gesetze des Staates Illinois

ab.

In der Durchführung sind

wähnenswert.

einige Abweichungen er­

Die krobatiou Oküeors in Philadelphia sind

sämtlich Frauen, darunter auch eine Negerin für die Neger­

kinder.

Sie werden vom Richter ernannt, beziehen jedoch

ihren Gehalt, um alle politischen

Einflüsse auf ihre Er­

nennung fernzuhalten, von dem obengenannten Komitee, also aus Privatmitteln.

Die Stadt Philadelphia ist, wie Chicago,

zum Zweck des Dienstes in Bezirke geteilt, jeder unter der

verantwortlichen Aufsicht eines krobation Oktieor.

Im allgemeinen haben mir die Verhandlungen vor dem Jugendgerichtshof

in

Philadelphia

den

gemacht wie die Verhandlungen in Chicago.

ist aber

hier

die

Sorgfalt,

die

gleichen Eindruck Besonders groß

man der Auswahl der

krobatiou Oktiesrs und ihrer Ausbildung für ihre schwierige

Aufgabe widmet.

Auch

in

dieser Hinsicht sind

die Be­

mühungen der Mrs. Hannah Kent Schaff unermüdlich und von Baernreith er.

12

178 der Einsicht getragen, daß die ganze Einrichtung mit dem

Erfolg oder Mißerfolg der krobation steht und fällt.

Die

Frauen, die ich in Ausübung ihres Amtes in Philadelphia kennen gelernt habe, haben mir den besten Eindruck gemacht.

Sie berichten dem Richter auf das gewissenhafteste aus ihren Aufzeichnungen über den Fall, haben sich offenbar sehr rasch in die juristischen Formen, die übrigens sehr einfache sind,

hineingefunden.

Sobald man sich an das für uns Fremd­

artige gewöhnt hat, eine Gerichtsverhandlung vorzugsweise in Händen von Frauen zu sehen, so findet man es natürlich,

daß Angelegenheiten von Kindern von Frauen betreut werden, die den geschäftsmäßigen Ernst doch immer mit einer ge­

wissen mütterlichen Haltung gegenüber dem Kinde verbinden.

Ob diese Methode in allen Fällen wirksam ist, will ich nicht entscheiden.

Gewiß ist, daß sie bei vielen jener unglücklichen

Geschöpfe, die oft in ihrem ganzen Leben kein gutes Wort gehört haben, ihren Zweck nicht verfehlt.

Ein hervorragender Rechtsanwalt in Philadelphia, Robert

Davison Coxe, war so gütig, mir in einer Denkschrift sehr

interessante Daten über die Geschichte, den Inhalt und die bisherige Wirkung des Jugendgerichtes in Philadelphia zu­ kommen zu lassen.

Er leitet seine Ausführungen zwar mit der

ganz richtigen Bemerkung ein, daß die Wirksamkeit des Ge­ setzes noch viel zu kurz sei, um nach irgendeiner Richtung

ein abschließendes Urteil fällen zu können, spricht aber selbst im ganzen ein günstiges Urteil aus.

„Der Richter/' heißt es

in seiner Denkschrift, „ist bei der Verhandlung des einzelnen

Falles wesentlich unterstützt durch die Untersuchung, welche

der Urobution Okkoer bereits angestellt hat.

Die Zeugen­

aussagen werden in der Verhandlung stenographisch aus­

179

genommen, mit der Schreibmaschine übertragen und auf­ bewahrt.

Wenn der Richter den Eltern die Obhut des

Kindes abspricht, so kann er sie zur Zahlung eines Erhaltungs­ beitrages verurteilen, der den Verhältnissen angemessen ist.

Im Sinne des Gesetzes werden Kinder manchmal Verwandten anvertraut, manchmal einer Anstalt, aber immer mit Rücksicht

auf das religiöse Bekenntnis des Kindes.

Es ist die Über­

zeugung aller Richter, daß die wertvollste Bestimmung des Ge­ setzes die Einführung der krobation (Meers ist.

Anstatt dem

Kinde bloß das Versprechen abzunehmen, sich gut aufzuführen, und es damit nach Hause zu schicken, stellt es das Gericht unter die Obhut eines krodation (Meer und entläßt es

dann erst nach Hause.

seinem Leben,

Sehr oft ist es zum erstenmal in

daß dem Kinde eine Möglichkeit (u ekanoe)

gegeben wird, in dem Kampfe des Lebens etwas aus sich zu machen.

Viele von den Straffälligen zeigen Schwäche oder

Stumpfheit; aber manchmal sind die Eltern in einer noch

viel schlechteren Verfassung.

Der krodation (Meer wird

der Hüter des Knaben, sein Freund, ihn gegen sich selbst

beschützend, häufig gegen seine eigenen Eltern." Von

besonderem Interesse sind ferner die Aussprüche

hervorragender Richter,

welche dieselben bei verschiedenen

öffentlichen Gelegenheiten getan haben, und die Herr Coxe in seiner Denkschrift mitteilt. Ich will zwei dieser Äußerungen hierhersetzen.

„Um gute Männer und Frauen aus solchen verwahr­

losten Kindern zu machen, müssen diese aus ihrer bisherigen Umgebung entfernt werden, und das

ist die Pflicht des

Jugendgerichtes, das von seinen Gradation (Meers untere

stützt ist, welche alle Frauen der edelsten und selbstlosesten Art 12*

180 sind, die in ihrer ruhigen und bescheidenen Weise ein großes Werk verrichten, indem sie verbrecherische Kinder wieder auf

den rechten Weg bringen und Verlassenen die nötige Hilfe gewähren."

Ein anderer Richter sagt: „Meine Erfahrung, die ich

durch Anwendung des Gesetzes beim Jugendgerichte gemacht

habe, hat mir die feste Überzeugung beigebracht, daß die Er­ richtung dieses Gerichtes von unschätzbarem Werte ist als ein zivilisatorischer Faktor unseres Gemeinwesens. Die vollständig

getrennte Behandlung der Kinder, ohne zuzulassen, daß sie irgendwie mit erwachsenen Verbrechern zusammenkommen, und die Überwachung von Kindern und Eltern durch gewissen­

hafte krobation Oktmers sind wirksame Mittel, die Zahl der Verbrechen zu verringern."

Der Leser, der meinen Ausführungen bis hierher gefolgt ist, kann sich ein MsumS aus dem Gesagten selbst bilden. Diese ganze Einrichtung der lluvunils Oourts ist ein mit

reichen sozialen Mtteln gemachter Versuch, die Kriminalität

und Verwahrlosung der Jugend

durch ein intensives Er­

ziehungswerk zu bekämpfen, das an die Wurzel des Übels zu gelangen sucht.

Die Urteile, die ich von den verschiedensten

Seiten, insbesondere auch von den beim Jugendgerichte in

New Jork beschäftigten Persönlichkeiten, einzuholen Gelegen­ heit hatte, stimmen darin überein, daß sich diese Einrichtung erst im Stadium des Versuches befindet, daß alles davon

abhängt, wie die krobution Oküeurs ihres Amtes walten, und insbesondere, ob und wie sie mit den Eltern zusammenwirken können.

Allgemein ist aber die Anschauung, daß damit eine

Richtung eingeschlagen ist, die in der Zukunft nicht mehr ver­ lassen werden wird.



181



Jugendgerichte bestehen in: Illinois, Pennsylvania, New Jork, Wisconsin, District of Columbia, Ohio, Maryland, Missouri,

New

Jersey,

Colorado, Indiana, Connecticut,

California, Louisiana, Minnesota, Kansas und Delaware". Diese rasche Verbreitung zeigt, daß man die neue Ein­

richtung in Amerika sehr günstig beurteilt.

Für den vor­

wärts strebenden Geist und für die freie Rechtsbildung im

Westen der Vereinigten Staaten ist das Jugendgericht in Denver (Colorado) von besonderem Interesse.

VIII. Das Jugendgericht in Denver (Colorado). Kompetenz dieses Gerichtes bezüglich verwahrloster, straffälliger und die Schule vernachlässigender Kinder; bezüglich Personen, die für die Hand­ lungen der Kinder verantwortlich gemacht werden können; bezüglich der Kinderarbeit und Kindermißhandlung. — Der Überwachungsdienst, der vom Richter Lindsay eingerichtet ist; die soziale Funktion des Ge­ richtes; seine Ausnahmsstellung; Roosevelts Ausblick in die Zukunft. — Schilderung der verschiedenen Typen verwahrloster und straffälliger Kinder; persönliche Einwirkung des Richters; Voluutar^ ?rodatiouer8; Er­ ziehung durch Vertrauen. — Preisfrage über die Behandlung verwahr­ loster und straffälliger Kinder, von diesen selbst beantwortet; Zeugnisse über die Erfolge dieser Methode.

In der letzten Zeit hat sich das Jugendgericht in Denver

(Colorado) einen

besonderen Ruf

erworben.

Ein

junger

Richter, Ben. B. Lindsay, hat sich mit großem Eifer der Sache angenommen.

Dieser iuvenile Oourt hat nicht nur

durch die Gesetzgebung des Staates Colorado einen größeren

jurisdiktionellen Umfang erhalten

als die übrigen ameri­

kanischen Gerichte dieser Art, sondern er übt auch mehr als

andere Jugendgerichte

Funktionen

der Fürsorgeverwaltung

aus und steht mitten in der großen Erziehungsbewegung".

Die gesetzlichen Bestimmungen in Colorado in

betreff

der verwahrlosten und straffälligen Jugendlichen zwischen 8

und 16 Jahren sind jenen von Illinois ähnlich.

Das richter­

183 liche Ermessen hat einen weiten Spielraum; der Schwerpunkt

des Ganzen liegt auch hier in der Bewährung.

Es gibt in

Denver drei bezahlte Drobation (Meers, die vom Richter ernannt werden, ohne daß politische Rücksichten entscheiden; sie haben die Rechte von Polizeibeamten.

Die Popularklage

bezüglich der verwahrlosten oder straffälligen Jugend ist nicht zulässig; jeder muß sich mit einer Beschwerde an den District ^ttorne^ oder an den Drobation Oktiesr wenden, welche

die Sache an sich ziehen, manchmal auch durch eine Warnung abtun.

Fälle

besonderer

Verderbtheit

kommen

vor

den

ordentlichen Gerichtshof. Im Jahre 1903 wurden dem Jugendgerichtshof in Denver 00 verwahrloste Kinder vorgeführt (37 Knaben, 23 Mädchen),

von denen die Hälfte in Familien, die andern in das staat­ liche Heim für verlassene und verwahrloste Kinder überwiesen

wurden.

Von den 389 wegen strafbarer Handlungen dem

Jugendrichter Vorgeführten (359 Knaben, 30 Mädchen) wurden

38 für nicht-schuldig erklärt, 55 nach einer Ermahnung ent­ lassen, weil die Übertretung zu geringfügig war, ferner 276

unter krodatiou gestellt, 11 durch Entscheidung des Richters

sofort in die staatliche Besserungsschule

abgegeben, 9 da­

gegen erst, nachdem ein fruchtloser Versuch mit der Bewährung

gemacht worden war. Alle diese Verfügungen entspringen der Idee, die in Amerika geradezu zu einem Axiom geworden ist: alles mit den Kindern versuchen, nur keine Gefängnisstrafe.

Aber auch das Schulgesetz überträgt dem Jugendrichter in

Denver wichtige Entscheidungen. Nach dem Oompulsor^ 8edool Dav von Colorado ist jedes Kind zwischen dem 8. und 16. Lebensjahre schulpflichtig.

Es kann jedoch vom 14. Jahre an

befreit werden, wenn es das vorgeschriebene Lehrziel erreicht

184

hat, oder wenn es tatsächlich in eine höhere Schule eingetreten ist, oder wenn es einen entsprechenden häuslichen Unterricht

erhält, oder wenn es für seinen eigenen oder seiner Eltern Unterhalt zu sorgen hat, und endlich, wenn der Arzt bestätigt, daß Gründe der Gesundheit gegen den Schulbesuch sprechen. In allen diesen Fällen entscheidet zunächst der Schulleiter,

aber von seiner Entscheidung geht die Berufung an den

3uvenilo Court, der außerdem auch dadurch tief in das Schulwesen eingreift,

daß er die Schulschwänzer in

die

Zwangsschulen (karoutal Lebools, Iruavt bebools) verweist.

So steht schon der erste Schritt vom Wege, den ein Kind unternimmt, die Vernachlässigung des Schulbesuches, unter

Überwachung und Einfluß des Jugendrichters.

Ein Gesetz ferner (to proviäo kor tbs punislioniont ok porsons rospousiblo kor or eoutributinZ to tbo äolin^uerie) ok ebilären) bedroht mit Geld bis zu S 100V und Gefängnis

bis zu einem Jahre Eltern, Vormünder und jene Personen, in deren Obhut das Kind sich befindet, wenn es straffällig

wird und sie dafür verantwortlich gemacht werden können

oder zur Straffälligkeit auf irgendeine Weise haben.

beigetragen

Diese Fälle kommen gleichfalls vor das Jugendgericht

und hat dasselbe im Jahre 1903 im ganzen 46 solcher Fälle

(und zwar 23 gegen Väter und 23 gegen Mütter) verhandelt. Auch in diesem Falle kann der Richter auf krobatiou der verantwortlichen Personen erkennen.

Aber auch Fälle der Verletzung jener Gesetze kommen vor den iluvonilo Court, welche die Kinderarbeit regeln.

Diese Gesetze haben keineswegs den Charakter eines einseitigen Schutzes

und wollen Faulheit der arbeitsfähigen Jugend

nicht unterstützen.

Schule und Gericht wirken hier zusammen.

185

In Denver sind die Schulinspektoren auch die Inspektoren für die Kinderarbeit.

Wenn es sich um Kinder über 14 Jahre

handelt, entscheidet der Jugendrichter nach seinem Ermessen,

ob die Arbeitszeit oder die Art der Arbeit für die Gesundheit

des Kindes abträglich, daher unzulässig ist oder nicht. Dazu werden noch vor dem ckuvonilo Oourt auch Fälle der Kindermißhandlungen anhängig gemacht.

Die Tendenz ist klar.

Es soll in diesem Jugendgerichte

eine besondere Instanz für alle rechtlichen Beziehungen der Jugend bis zum 16. Lebensjahre geschaffen werden.

Man

muß sich diese Dinge aber im Flusse denken, in der Rechts­

bildung begriffen, da die Kompetenzen nicht so fest abgegrenzt sind wie bei uns.

Noch viel deutlicher tritt diese Art Ent­

wicklung hervor, wenn die Fürsorgetätigkeit des ckuvouilo

Oourt in Denver überblickt wird.

„^11 tllo

nov

luovowonts iueluäing

tlls juvonilo

court itsoü ar« ockueatioual", heißt es in dem Berichte

des Jugendgerichtes. politik.

wegung.

Diese ganze Richtung ist Erziehungs­

Der Jugendgerichtshof ist ein Zentrum dieser Be­

Er ist ein wichtiges Glied in den Erziehungs­

maßregeln, die allein im stände sind, den Kampf gegen die Verwahrlosung und das Verbrechen bei der Jugend mit Erfolg aufzunehmen.

Lindsay hat ein Meldungswesen eingerichtet, um mit

allen auf Probe entlassenen Knaben neben der Überwachung

durch den ürobation Oltieor in Fühlung zu bleiben.

Zahl­

reich und verschieden sind die Übertretungen, welche in Denver von Kindern begangen werden können.

Schon das Herum­

lungern von Knaben bringt diese in Colorado vor den Richter,

denn sie haben in diesem Alter entweder in der Schule zu

186 sein oder bei einer nützlichen Arbeit. Tabakrauchen in diesem Alter und jede Störung des Verkehrs auf der offenen Straße durch Spiele usw. ist ebenfalls verboten.

handelt es sich.

Aber auch um Ernsteres

Banden von Knaben haben sich die beladenen

Wagen der Bahnhöfe, und was dort nicht niet- und nagelfest ist, zum Gegenstand ihrer Diebszüge gemacht; auch die „gangs" von jungen Einbrechern kommen vor den Jugendrichter; selbst

mit Anfängen anarchistischer Neigungen hat es der Gerichtshof zu tun. Trotz alledem versucht es der Richter, die Selbstachtung

des Knaben zu wecken, und nach eindringlicher Ermahnung und moralischer Einwirkung wird, hoffnungslose Fälle aus­ genommen, damit begonnen, zunächst jedem ein gewisses Ver­

trauen zu schenken. Alle Knaben, die noch in die Schule gehen und unter krobation stehen, haben sich jede Woche einmal, und zwar am Samstag zu einer bestimmten Stunde, dem Gerichtshof zu stellen. Jeder hat (mittels eines gedruckten Formulars) vom Schülerleiter

ein Verhaltungszeugnis mitzubringen.

Der Richter tritt unter

die versammelte Schar — oft an 200 Knaben —, die krobation

Okkeers sind ebenfalls anwesend, die Zeugnisse werden ge­ prüft, es erfolgt Ausfragen, Lob oder Tadel.

Vergangenes

soll vergessen, das Ehrgefühl geweckt werden.

Aus dem An­

schauungskreis der Knaben heraus, mit jener praktischen Logik,

die dort drüben Gemeingut ist, sucht der Richter zu wirken. Schwierige Fälle behandelt er unter vier Augen mit der

Drohung, schärfere Maßregeln zu ergreifen, der Verweisung

in die Besserungsanstalt.

„Ein moralisch krankes Kind ist

viel wichtiger, verlangt unendlich mehr Aufmerksamkeit, Sorg­ falt, Geduld, Güte und Festigkeit als ein physisch krankes,"

sagt Lindsay in seinem Berichte.

Überall schlägt die Neigung

187

zu den Kindern durch, die eine der schönsten Züge des ameri­

kanischen Lebens ist.

So bildet sich nach und nach ein Vertrauensverhältnis zwischen den auf Probe entlassenen Knaben und dem Richter heraus.

Das Verzeichnis der auf Probe Entlassenen wird

gedruckt und

den

Schulen 'mitgeteilt,

damit

dort

ihnen

eine erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt werden kann.

Jene

Knaben, welche nicht mehr in die Schule gehen, sondern in

der Arbeit stehen, kommen eines Abends in der Woche vor

den Jugendgerichtshof und werden in gleicher Weise be­ handelt.

Im Jahre 1903 wurden im ganzen 2275 Ver­

haltungszeugnisse aus Schulen bei diesen Kontrollversamm­

lungen vorgewiesen sowie 864 Zeugnisse von Arbeitgebern.

Für die Dauer der Bewährungsfrist gibt es keine Vor­ schriften; alles hängt vom Ermessen des Richters ab.

In

allen Fällen sucht er individuell zu beurteilen, je nach den Familienverhältnissen, der Umgebung und dem Charakter des

Betreffenden, je nach den Garantien, die für sein ferneres Wohlverhalten vorhanden sind.

Wenn nötig, vernimmt der Gerichtshof einen Arzt, und

das Kind kann in ein Spital verwiesen werden.

Ist aus

Anhaltung

des Be­

irgendeinem

Grunde

eine

vorläufige

treffenden notwendig, so geschieht das in der „Votovtion 8cdook', einer diesem Zwecke speziell dienenden Anstalt.

In

diese werden auch jene gebracht, die von der Schule oder der

Kontrollversammlung ausbleiben. der Gerichtshof in seinem

Aber auch ein Bad hat

Gebäude eingerichtet,

und

es

wurden im Jahre 1903 an die unter krodatiou stehenden Knaben 1150 Bäder verabreicht. Durch die krodatiou Okdeors

wurden während dieses Jahres 252 Stellen für die Kinder

188 vermittelt; 175 erhielten direkte Unterstützungen und 395 neue

Anzüge;

77 ältere Knaben bezogen unter Führung eines

krobation Oküeor in den Ferienmonaten ein Lager (oawx) in den

Rübendistrikten Colorados, wo sie durch die Be­

arbeitung der Rübe ansehnlichen Lohn verdienten.

Auch Rat

und Hilfe bei Anständen mit ihren Arbeitgebern oder

in

anderen Fällen gewährt der Jugendrichter seinen Schütz­ lingen.

Ein Gerichtshof nach unseren staatsrechtlichen Begriffen ist dieser ckuvouilo Court allerdings nicht, aber wenn man,

wie dies jetzt in Amerika geschieht, den Standpunkt des Strafrechtes der Jugend gegenüber modifiziert, ist es nur

folgerichtig, wenn man auch die Funktion des Strafrichters Daher ist es verständlich, wenn Lindsay in

umwandelt.

seinem Berichte sagt, dieser Gerichtshof muß eher in dem

Lichte einer Schule als eines Gerichtes erblickt werden —

Jt In

do our great moral improvowout assoeiation".

England

und

Frankreich

ist

die

Strafgerichtsbarkeit

Jugendlichen gegenüber ebenfalls in einer Umwandlung be­

griffen, aber hier in diesen westlichen Staaten Amerikas — Denver wurde 1858 gegründet,

ist rasch

gewachsen und

Chicago nachstrebend —, wo sich die Rechtseinrichtungen so­

zusagen parallel mit der städtischen Ansiedlung entwickeln, muß diese Richtung nicht erst alte Formen sprengen und be­

seitigen, sondern ringt sich durch ohne viele Gerichtsformen, ohne Kompetenzbedenken, und ohne sich über Bezeichnungen

zu streiten — lediglich den anerkannten Bedürfnissen folgend,

unter den Impulsen von Männern, die sich unter ihren Mit­

bürgern Ansehen und Autorität zu verschaffen wissen.

Daß

Lindsay nach der Meinung seiner Mitbürger das Richtige trifft.

189 geht daraus hervor, daß er im Mai 1904 von allen Parteien mit Ausnahme der Sozialisten zum Richter mit etwa 56000

Stimmen wiedergewählt wurde.

Er hat fast täglich gewöhn­

liche Gerichtssitzungen und kommt in der Regel erst um fünf Uhr nachmittags dazu, den lluvsuilo Oourt abzuhalten;

der Samstag ist der beschriebenen Kontrollversammlung ge­ widmet —, gewiß eine große Anspannung der Kräfte, die von

einem unverwüstlichen Optimismus, ja, ich möchte sagen: Fanatismus für die Sache, getragen ist.

Trotzdem täuscht sich Lindsay über die Schwierigkeit der

Sache nicht.

„Zu viel darf man von dem Iuvenile Oourt

nicht erwarten.

Es ist aber ein Erfolg, alle Fehler und

Mißerfolge zugegeben, wenn man es mit der früheren Methode vergleicht."

Damit hat er den Kern der Sache getroffen, und

das hat ihm auch die vielen Stimmen bei seiner Wahl ein­ getragen.

Die Kinder aus den Händen der Polizei und aus

den Gefängnissen zu befreien — das ist Volksstimme ge­

worden.

Man will für die Kinderwelt selbst mitten in der

noch vorhandenen Korruption eine geschützte Insel schaffen,

und auch hier zeigt sich, was ich in der Einleitung zu diesen Aufsätzen behauptet habe, daß in Amerika die besten und

edelsten Versuche knapp neben den für uns Europäer oft unbegreiflichen Mißständen zu finden sind.

Aus demselben

Berichte, von dem ich spreche, entnehme ich, daß in Colorado (wie übrigens auch anderwärts) für die strafbare Handlungen

verfolgenden Funktionäre noch das Sportelsystem (koosMom) besteht.

Für die jugendlichen Fälle mußte schon deswegen

eine Ausnahmsstelle errungen werden, weil es vorkam, daß Kinder ganz unbegründeterweise verfolgt wurden nur der

Sporteln wegen.

Hierher gehört auch die Korruption in der

190 Polizei.

Der Bericht erzählt davon erstaunliche Dinge.

Die

Polizei ist mit den Haltern der Trinkstuben (saloons) wegen

politischer

Wahl- und Parteiinteressen

im Einverständnis.

Sie ignoriert deswegen ganz ungescheut die Gesetzesüber­ tretungen dieser Art Wirte, insbesondere auch, wenn Kinder

unter sechzehn Jahren, denen der Eintritt in solche Lokale verboten ist, dort verkehren.

Das Bedürfnis nach besonderer

Behandlung der Jugend ist ein natürliches, und die Popularität

des Jugendgerichtes ist sehr erklärlich. Wer diese aus

beurteilt,

Schilderung vom europäischen Standpunkt

wird

skeptisch betrachten.

wahrscheinlich die ganze Sache

sehr

Anders, wenn man die Art und Weise

berücksichtigt, wie diese Dinge sich in Amerika überhaupt ent­ wickeln.

Diese Fragen werden alle viel voraussetzungsloser

betrachtet und entschieden als bei uns.

nicht, einen Versuch zu machen.

Man scheut sich auch

Keine hergebrachten Formen

sind hinderlich, keine historischen Vorurteile sind aus dem

Wege zu räumen.

Man vertraut mehr den Personen als

gesetzlichen Bestimmungen, man nimmt Enttäuschungen und Mißerfolge im öffentlichen sowie im Geschäftsleben nicht so

schwer; man blickt nicht

fortwährend

rückwärts,

sondern

vorwärts; man kritisiert und verurteilt Mißlungenes, aber man hält sich dabei nicht auf, sondern sucht es besser zu

machen.

Das bedeutet aber keineswegs, daß man sich der

Ziele, die man verfolgt, nicht vollkommen bewußt wäre, oder

daß man nicht alles daran setzen würde, sie zu erreichen.

Auch in dem Falle, von dem ich hier spreche, ist es so. ist sich über zwei Punkte klar.

Man

Wenn der Staat das Recht

und die Pflicht hat, für elternlose Minderjährige bezüglich

ihres Vermögens Vorsorge zu treffen, wie viel mehr, wenn es sich

191

darum handelt, dieselben aus gefährlichen Verhältnissen zu

befreien, die ihr ganzes Leben gefährden und aus ihnen die Gesellschaft bedrohende Menschen machen können! Präsident

Roosevelt spricht in Colorado in einer Versammlung: „Wie

unser Land in 20, 30 und 40 Jahren aussehen wird, das hängt ein gut Teil davon ab, wie wir unsere Geschäfte be­

treiben, wie wir unsere große industrielle Aufgabe erfüllen,

wie wir unsere Farmen und großen landwirtschaftlichen Unter­ nehmungen leiten werden, aber am meisten kommt es darauf an, aus was für Männern und Frauen zu jener

Zeit unser Volk bestehen wird; kein Staat ist sicher, wenn in den gewöhnlichen Familien nicht gesunde und glückliche Kinder zu finden sind. Wenn diese Kinder nicht ordentlich auf­

erzogen werden, so sind sie ein Fluch für sich und ihre Eltern,

aber zugleich das Verderben für den Staat und seine Zukunft."

Das ist der eine Gesichtspunkt.

Man folgt ihm ohne

viel Rücksicht auf die väterliche Gewalt, indem man sich des

zurückgebliebenen, defekten, verbrecherischen Teils der Jugend bemächtigt, konzentrisch die notwendigen Maßregeln auf ihn

wirken läßt, um ihn der großen nationalen Arbeit zu erhalten.

Dazu kommt die andere, schon mehrfach erwähnte Er­ wägung.

Es ist das sichere Verderben, wenn ein Kind in

ein allgemeines Gefängnis gesteckt wird —, also muß man

es davor bewahren. Der Logik folgt hier die Tat auf dem Fuße. Die wichtigste Grundlage für die Behandlung der Fälle

nach dieser Methode ist die genaue Beobachtung. In dieser Hin­ sicht enthält der Bericht, von dem ich spreche, außerordentlich

interessante Feststellungen.

Lindsay gibt sich die Mühe, eine

auf die sorgfältigsten Beobachtungen aufgebaute Charakteristik

der straffälligen Jugend von Denver zu geben.

Er schildert

192 den Übeltäter aus Übermut und Lust an Abenteuern, den Schwächling gegenüber der Versuchung, das Opfer häuslicher

Verhältnisse, des schlechten Beispiels oder der sozialen Um­ gebung;

er

schildert die Vagabunden

und

die

mit

dem

Wandertrieb Behafteten, die in Amerika so häufig vorkommen;

er konstatiert auch den Typus, bei dem jeder Sinn für Ver­ antwortung, jede Selbstachtung,

an die man appellieren

könnte, fehlen, und von dem jede Güte als Schwäche an­

gesehen wird. Anarchisten,

Er schildert sie alle bis zum jugendlichen aber

nicht

durch

theoretische Klassifikationen,

sondern durch erlebte, wirkliche, typische Fälle, die er erzählt,

und welche fortwährend Blicke auf jenen sozialen Hintergrund eröffnen, der alles beherrscht.

Das ist das Material.

Welches sind aber die Kräfte,

welche angewendet werden?

Wer sie hier in der Präzision

juristischer Begriffe, in einem System von Gesetzen und Ver­

ordnungen, in einem nach Beförderung und Auszeichnung

strebenden Beamtenkörper, in einer exklusiven Staatstätigkeit suchen würde, würde sie nicht finden.

Sie liegen in den

Menschen, die — ohne Unterschied, ob sie eine amtliche Stellung

einnehmen oder nicht — Zeit, materielle Mittel, Sorgfalt und ihr das Interesse Anderer erweckendes Beispiel einsetzen, um einen Erfolg zu erzielen.

Mitwirken mag, daß diese Art Tätigkeit

Modesache ist, daß die Freigebigkeit für öffentliche Zwecke für die Erringung einer gewissen gesellschaftlichen Stellung not­

wendig ist, — trotzdem bleibt die persönliche Leistung das Entscheidende, und an die Kontinuität solcher Leistungen, daran,

daß dort, wo der eine aufhören muß, der andere fortsetzt, daran ist der Erfolg geknüpft.

Es ist daher ganz natürlich,

daß der Bericht an einer Stelle sagt: „vs are ivünitel^

193 more in nesä ok won anä vomon to äo tdo vork tlian to inako Ike lavs".

Die Methode der persönlichen Einwirkung, die Lindsay anwendet, ist sehr eigenartig und eindrucksvoll, denn sie hat

ihm den Namen eines „Seelenmasseurs" eingetragen. Die Gespräche, die er mit seinen Pfleglingen führt, sind keine allgemeinen Morallehren, kein Appell an allgemeine

Begriffe und Gefühle, die der Knabe nicht hat, sondern sie knüpfen an sein Leben an, an das, was aus ihm werden

soll,

unmittelbar,

praktisch,

auf

seinen Fall angewendet.

Lindsay erzählt, wie er trachtet, die Jungen für sein eigenes

Werk zu interessieren; er sucht sie herumzubekommen, damit sie den Unfug aufgeben und dafür das Hüten der Ordnung zu ihrem Sport machen.

Es kommt nur darauf an, ihr

Interesse zu wecken, dann unterhält sie das eine so gut wie

das andere.

So bringt der eine seine Komplizen mit vor

den ^uvovilo Oourt, die auch sehen wollen, wie es dort

zugeht, und die hören, daß sie dort mit Ernst, aber auch mit

Güte und mit Interesse für ihre kleinen Lebensverhältnisse

behandelt werden.

Der Bericht weist aus, daß in den letzten

Jahren 200 Knaben sich auf diese Weise freiwillig gestellt haben, die zu „Zan^s" gehörten, von denen der eine oder der andere vor den Richter gebracht worden war.

Sie werden

in der Regel dem Gerichtsverfahren formell nicht unterworfen, sondern als „voluntar^ probationors" behandelt, auf eigenes Verlangen unter Aufsicht gestellt.

Diese Tatsache ist der beste

Beweis, daß diese Überwachung durch den krobution Okücer nichts von einer Polizeiaufsicht und alles von einer wohl­

wollenden, helfenden Bevormundung an sich trägt.

Aber ein Versuch, den Lindsay gemacht hat, ist für seine Baernreith er.

13

194 Methode vielleicht charakteristischer als alles andere.

Er schickt

Knaben, die zur vorläufigen Anhaltung in der „vstention

Leüool" bestimmt sind oder selbst solche, die in die Besserungs­ schule nach Golden — wohin sie Tramway und Eisenbahn

benützen müssen — verwiesen sind, an ihren Bestimmungsort ohne Begleitung, mit dem eigenen Haftbefehl (varrant) in der Tasche.

Er hat bemerkt, daß in diesen Anstalten viele

Insassen sich nur als die Opfer von Gewaltanwendung an­ sehen und dies ihrer Besserung hinderlich ist.

vermeiden.

Er will das

Von den 18 Knaben, die in der letzten Zeit auf

diese Weise in die Besserungsschule geschickt wurden, ist jeder

ordnungsmäßig

eingetroffen.

Es werden die durch diesen

Selbsttransport ersparten Kosten dem betreffenden Knaben

gutgeschrieben.

Der Richter besucht diese Anstalten regel­

mäßig, was natürlich sehr wichtig ist, spricht immer wieder

mit den Knaben und ist für sie stets zugänglich, wenn sie einmal definitiv entlassen sind und seiner Hilfe bedürfen.

Die Frage, welche jedem auf den Lippen schwebt, der diese Dinge liest, ist wohl: Was ist das für eine Rasse von Knaben, mit denen solche Versuche überhaupt möglich sind?

Ich kann keine andere Antwort geben, als daß es sehr früh­

reife Intellekte sind, die in den amerikanischen Lebensverhältniffen frühzeitig die Witterung ihrer persönlichen Interessen

und eine richtige Abschätzung der sie umgebenden Lebensverhältniffe erlangt haben.

Doch ich will einen von ihnen hier selbst sprechen lassen.

Lindsay

hat zu Weihnachten — außer einer Christ­

bescherung — seiner Kontrollversammlung Preise ausgesetzt

für die beste schriftliche Beantwortung der Fragen: „Welche Umstände sind schuld, daß ein Knabe ins Unglück kommt, daß

195

er Dinge entwendet, die Schule schwänzt und schlechte Streiche Fürchtet er sich mehr davor, etwas Schlechtes zu

macht?

tun oder erwischt zu werden?

Ist ein Unterschied zwischen

dem Entwenden eines Apfels oder eines Dollars?

Nützt es

etwas, wenn der Richter offen und redlich mit dem Knaben

umgeht?

Werden die meisten auch ihrerseits offen und redlich

mit ihm sein?"

Diese Fragen beantwortete ein Knabe (F. K., 12 Jahre alt, Lroaävu^ Lekool), wie folgt:

„Es gibt verschiedene Ursachen, aus denen ein Knabe

ins Unglück kommt.

Die Hauptursache ist, daß für viele

Knaben nicht gehörig gesorgt wird, und daß die Eltern nicht daran denken, daß ihre Kinder schon so viel wissen, als sie

tatsächlich wissen, und daß sie sich nicht genug um ihre Kinder kümmern, damit diese gute moralische Gedanken bekommen. Ein Knabe will als etwas angesehen sein, und in vielen

Fällen kommt man ihm nicht entgegen, wie es notwendig wäre.

Ein anderer Grund ist die schlechte Gesellschaft und

der Wunsch, einige Unterhaltungen und Aufregung zu haben.

Wenn ein armer Bub etwas entwendet, so verkauft er es, um

sich irgend etwas Gutes, das er nicht oft bekommt, für das Geld zu verschaffen.

Sehr wenig Knaben sind wirklich schlecht,

und sie glauben nicht, daß sie mit solchen Dingen schon

Diebe sind.

Die meisten Knaben, die ins Unglück kommen,

sind nur zu schlechten Streichen aufgelegt und probieren es

eben, einen Spaß zu haben. einen Apfel

nehmen

Manche Knaben glauben, daß

nicht schlecht sei: es ist aber ebenso

schlecht als einen Dollar nehmen.

Zwei Dritteile der Knaben

in meiner Schule sind zu allerhand Streichen aufgelegt, und das bringt sie ins Unglück.

Freilich gibt es auch wirklich 13*

196 schlechte Knaben, die in die Besserungsschule gehören, aber

Einige von den Knaben, die jetzt in der Besse­

nur wenige.

rungsschule sind, waren früher im Gefängnis, manche sechs­ mal; hat es ihnen etwas genützt? nur schlechter geworden.

Nein, sie sind dadurch

Der beste Weg, einen Knaben zum

Gehorsam zu bringen, ist, ihm Sympathie zeigen und ihm zeigen, daß man nicht sein Feind ist.

Ist es nicht besser, sich

auf sein Ehrgefühl zu verlassen als ihn ins Gefängnis werfen, wo er in schlechte Gesellschaft kommt?

Es ist das Beste,

mit dem Knaben offen und redlich zu sein; er wird es dann

auch sein.

Es gibt Leute, die meinen, daß es ganz gleich

sei für ihre Kinder, wenn sie selbst in der Nacht aufbleiben und Poker spielen, aber das ist eine Sache, die zu schlechten Dingen führt.

Ich kenne Leute, die ihren Kindern nicht er­

lauben, ihre Freunde ins Haus zu bringen. Knabe

die Freunde,

Wenn ein

die er haben will, nicht ins Haus

bringen darf, so geht er auf die Straße und sucht sich andere, aber ein Knabe soll von der Straße wegbleiben, sonst wird

er fast immer ungehorsam werden." Es mag sein, daß man in diesem Aufsatz Redensarten

finden wird, die Erinnerungen an jene Lehren sind, die der Schreiber vom Richter gehört hat, aber vieles ist offenbar

unverfälschte eigene Meinung. Dieser Knabe hat den zweiten Preis bekommen.

Charakteristisch für den Schreiber und den

Preisverteiler ist jedoch der kurze Brief, der den ersten Preis erhielt.

Ich will ihn hier vollinhaltlich hersetzen.

„Lieber

Herr Richter! — Antwortlich auf Ihr Schreiben mit der

Frage, aus was für Gründen ein Knabe ins Unglück kommt, kann ich als beste Erklärung folgendes sagen: das ist, wenn

er die zehn Gebote nicht befolgt und seinen Sinn (minck)

197 von Gott abwendet und dem Satan gehorcht und dem, was dieser ihm in den Kopf setzt.

In der Hoffnung, daß ich den

Preis gewinne, bleibe ich mit Verehrung E. I., 11 Jahre alt, in der Franklin Schule." Von Resultaten der ganzen Einrichtung und der Methode

Lindsays, die irgendwie ziffernmäßig zusammenzufassen wären,

kann noch keine Rede sein, da das Jugendgericht in Denver erst wenige Jahre in Tätigkeit ist und die heute geltende

gesetzliche Feststellung seines Verfahrens erst aus dem Beginn

des Jahres 1903 stammt. Es sind jedoch dem Jahresberichte des lluvonilo 6ourt in Denver eine große Zahl von Schreiben der Polizei- und Schulbehörden sowie der Eisenbahngesellschaften

beigedruckt, die einen sehr günstigen Einfluß dieses richter­ lichen Verfahrens konstatieren.

So schreibt die Ooloraäo

anä Loutbsrn Hailroaä OmuMiiv, daß sie seit langer Zeit von Banden junger Übeltäter zu leiden hatte, welche ihre Bahnhöfe mit Kühnheit

und

Verschlagenheit

plünderten.

„Wir wissen jetzt aus eigener Kenntnis von einigen hundert Knaben, die sich den Bemühungen des Richters zugänglich erwiesen und die seine Lehren nicht vergessen haben, sondern

jetzt ein einwandfreies Leben führen." Briefe

derselben

Eisenbahngesellschaft

In einem andern

wird

gesagt,

daß

ihre Aufzeichnungen eine merkwürdige Abnahme jener Fälle zeigen, die früher gegen solche junge Übeltäter anhängig ge­ macht

werden

mußten.

kaeitie

Die Eisenbahngesellschaft Union

behauptet sogar, daß ihre Verluste durch

solche jugendliche Banden im letzten Jahre um 90°/» ab­

genommen haben.

Wenn auch

bei diesen und ähnlichen Zeugnissen die

wohlwollende Beurteilung, die in Amerika allen sozialen An­



198



strengungen entgegengebracht wird, mitspielt, dem Kerne dieser

öffentlich abgegebenen Zeugnisse kann eine Bedeutung nicht

abgesprochen werden.

Dieser Versuch in Denver wird

jedenfalls die Mühe

lohnen, ihn in seiner weiteren Entwicklung mit Aufmerksamkeit zu verfolgen.

IX.

Wissenschaft und Leben.

Zug nach Einheitlichkeit in den geschilderten Einrichtungen; das Ver­ langen nach Überwachung des Fürsorgewesens durch öffentliche und frei­

willige Organisationen. — Ike ^.nieriean Social Selenes ^88ooiation; ihre Gründer und ihre Ziele. — Ilio Rational Oonterenes ok Oliaritio8 anä Oorreetion; ihre Organisation und der Charakter ihrer Verhand­ lungen ; der ganze Umfang der Jugendfürsorge und des Jugendstrafrechtes bildet den Gegenstand der Arbeiten dieser Vereinigung; ihr Einfluß auf die Verbreitung der neuen Ideen. — ss'lis Rational ?ri8on ^.880eiation. — Die Gebrechen der „0Uaritie8"; Oliarit^ orKani8ation, Organisationsvereine, ihre Entstehung, ihre Absichten und bisherigen Erfolge; krienäl^ vi8iting-. — Wissenschaftliche Behandlung des Für­ sorgewesens und des Jugendstrafrechtes; das Werk von Charles Richmond Henderson über die verwahrlosten und verbrecherischen Klassen der Be­ völkerung; die „kenoloA^" von Henry M. Boies; die Bücher von Amos G. Warner, Frederick Howard Wines und E. C. Wines. — Stellung der Wissenschaft zu den Anforderungen des Lebens; Wechsel­ wirkung zwischen Wissenschaft und praktischer Arbeit; die Entwicklung des Fürsorgewesens ist gefördert durch das Interesse an psychologischer Forschung und das ungestörte Nebeneinanderwirken der verschiedenen Konfessionen. — Die Einwirkung amerikanischer Ideen und Arbeits­ methoden auf Europa.

Überblickt man alle die Einrichtungen, von denen ich

bisher gesprochen habe, die geistigen und materiellen Mittel, welche aufgewendet werden, um auf einem Gebiete, auf dem

seit unvordenklicher Zeit die Repression die größte Nolle ge­ spielt hat, die Grundsätze der Erziehung, Entwicklung, Um­

200 bildung zur Geltung zu bringen, macht man sich klar, unter wie verschiedenen Verhältnissen und in wie

Formen in

den

Vereinigten Staaten

verschiedenen

diese Einrichtungen

entstanden sind, wie sehr dort alles von der Mitwirkung freier sozialer

von

dem

Kräfte

dem das Unkraut drängt

sich

abhängt

wohl

üppig

und

Boden

gesellschaftlichen

wie

sehr

beeinflußt

dort alles

wird,

zwischen den Halmen

steht

auf



von selbst eine Reihe von Fragen auf.

Was für Elemente sind tätig, um in dieser Entwicklung

jene Einheit der Gedanken,

Bestrebungen und praktischer

Vorkehrungen herbeizuführen, die wir trotz aller störenden

Lichteffekte in dem Gesamtbild doch deutlich wahrnehmen? Was für Kräfte sind am Werke, welche dem Mißbrauch

steuern, dem auch diese Dinge in Amerika unterworfen sind? Endlich, welches sind die Ziele aller dieser Bestrebungen, in

welcher Richtung bewegt sich das ganze große Werk vorwärts, an dem Individuen, Vereine, Städte und Staaten arbeiten,

und das der Gesundung, dem Unterricht, der wirtschaftlichen und moralischen Erziehung des von Not und Verbrechen be­ drohten Teiles der Jugend gilt?

Ich will versuchen, zusammenfassend eine Antwort auf diese Fragen zu geben.

Die großen sozialen Veranstaltungen unserer Zeit haben die natürliche Tendenz nach einheitlicher Organisation.

Es

folgt das aus der Tatsache, daß sie auf breiter Basis ent­

stehen und für die Allgemeinheit bestimmt sind.

Deswegen

macht sich auch in diesen amerikanischen Erscheinungen der

Zug nach Einheitlichkeit, Zusammenfassung der Kräfte geltend,

das Bedürfnis nach Überwachung und Regelung, um unnötige oder schädliche Singularitäten auszuschließen, um Arbeit zu

201

sparen, sich zu konzentrieren und dadurch die Gesamtwirkung zu erhöhen. Welches sind nun in diesem Stücke der amerikanischen

Welt die Faktoren des einheitlichen Denkens, der einheitlichen Verwaltung und der einheitlichen Bestrebungen?

Ich habe auf die verschiedenen Loarcks, die in den letzten

Dezennien entstanden sind und unter verschiedenen Namen als Fürsorgeämter (Loarä ok Lbaritios anä Oorroetiou), als Gefängniskommissionen (Loarck ok krisous), als Gesund­ heitsämter (Loarck ok kublie doaltü) usw. in Tätigkeit sind,

bereits mehrfach hingewiesen.

Es bedarf hier nur eines

Wortes, um ihre allgemeine Bedeutung zu charakterisiere«.

Die Zentralisation der Verwaltung, welche durch diese Loaräs

herbeigeführt wird, die Verbesserung aller ihnen unterstehenden

Anstalten,

die

Verbreitung

wichtiger Kenntnisse und ge­

wonnener Erfahrungen über die Verwaltungszweige, welche sie besorgen, die rationelle Ausbildung von Beamten, die

richtige Verbindung einer stetigen Bureautätigkeit mit dem lebendigen Wirken durch persönliche Besichtigung und Ein­ wirkung — das sind die Früchte dieser Organismen, die sich,

wenn auch unter verschiedenen Formen und mit verschiedenem Wirkungskreise, nach und nach immer mehr über das ganze

Gebiet der Vereinigten Staaten verbreiten.

Sie sind die

Hebel der wachsenden Staatsaufsicht, des wachsenden Staats­ einflusses, der Verwaltungseinheit. Diese Ansichten kommen mehr und mehr zum allgemeinen

Bewußtsein.

Auf der National Lonkoroveo ok Odaritios

anck Eorrootion, die im Jahre 1903 in Atlanta abgehalten

wurde, stellte das Komitee, welches dazu eingesetzt worden

war, um über das Verhältnis der Staatsaufsicht zur Für­

202 sorgeverwaltung zu berichten, und das aus hervorragenden Kennern aller einschlägigen Verhältnisse zusammengesetzt war,

nachstehende Anträge: Staatsaufsicht ist bezüglich aller Für­

sorgeanstalten und bezüglich aller strafrechtlichen Einrichtungen unbedingt

notwendig, — an Privatanstalten

keine

sollen

Staatsunterstützungen gewährt werden, — auch alle privaten Wohltätigkeitsanstalten sollen der Inspektion und einer wohl­

wollenden

Verordnungsgewalt

rößulations)

des

unterworfen werden,

Staates —

alle

(inotktzn8ivs Einflüsse

der

Parteipolitik sollen von den Fürsorge- und Strafanstalten ferngehalten werden, und alle diese Einrichtungen sollen auf

eine rein fachliche und wissenschaftliche Grundlage

gestellt

werden; — wo die überwachende und verwaltende Tätigkeit

über die verschiedenen Zweige der Fürsorge eine zu umfang­

reiche wird, soll die Arbeit zwischen mehreren Loaräs geteilt werden.

Auf derselben National Oonkoroneo ok Eliaritios and

Eorroetion ist das Wort gefallen: „Okaritx is a 86wipudlie

kunetion."

Dieser Ausspruch kann als Devise für eine Be­

wegung gelten, die um die Mitte des vorigen Jahrhunderts anhebt und sich seither außerordentlich verstärkt hat.

Bewegung

kommt

in

wissenschaftlichen

praktischen

Diese Ver­

einigungen, in Kongressen und genossenschaftlichen Organi­ sationen zum Ausdruck, die alle das Ziel verfolgen, die Für­

sorgepolitik in den einzelnen Staaten gewissen leitenden Ideen unterzuordnen, für diese Ideen Propaganda zu machen, die Gesamttätigkeit auf dem Gebiete der Fürsorge von ihren

Schlacken zu reinigen, um aus ihr eine anerkannte gesell­ schaftliche Funktion zu machen, welche eingegliedert werden muß in die große staatliche und kommunale Verwaltung.

203 Zuerst waren es die Leiter und Vorsteher verschiedener An­

stalten, die zusammenkamen, um Besprechungen über ver­

schiedene Fragen zu halten, welche für sie ein gemeinsames Interesse darboten. Im Jahre 1865 wurde die ^merioau

8ooial Leieneo ^ssvointion gegründet, um „den gesundheitlichen Zustand des Volkes, die Unterstützung, Be­ schäftigung und Erziehung der Armen, die Verhütung der

Verbrechen, die Verbesserung des Strafrechtes, der Gefängnis­

disziplin und der Behandlung der Irrsinnigen" zum Gegen­ stände ihrer Forschungen zu machen.

Der Gefängniskongreß

in Cincinnati im Jahre 1870, dessen ich schon Erwähnung getan habe, bedeutet für die Reform des Strafrechtes einen Markstein.

Bald darauf schlossen sich

künfte der

Loeial

an die Zusammen­

Leienc« ^88oeiation

gemeinsame

Be­

sprechungen von Mitgliedern verschiedener 8tate Loarä8 an;

„es kann nicht eifrig genug", heißt es, „ein Zusammenwirken zwischen den verschiedenen Loarä8, die ja die gleichen Inter­ essen haben und den gleichen Wunsch, die Fürsorgeanstalten

und Gefängnisse zu verbessern, angestrebt werden, weil ein

schlechtes System in einem Staate sich mehr oder weniger direkt auch in einem andern fühlbar macht."

Träger dieser

neuen Ideen waren damals Charles Loring Brace in New Aork,

George L. Harrison in Philadelphia, Z. R. Brockway, damals

in Detroit, Frank B. Sanborne, E. C. Wines, sowie eine Reihe hervorragender Frauen. Auf diese Weise war der Boden vorbereitet für eine

Vereinigung von Wissenschaft und Praxis, welche für die

ganze Entwicklung allgemeiner Ideen

in den Vereinigten

Staaten von großer Bedeutung geworden ist.

Ich meine die

im Jahre 1879 in Chicago ins Leben gerufene blatioual

204 Eonkoroneo ok Ebaritio» anck Oorrsetion.

Die

Organisation dieser jährlich wiederkehrenden Konferenz, die

abwechselnd in verschiedenen Städten der Union ihre Zu­ sammenkünfte hält, ist eine sehr einfache.

Der Präsident,

einige Vizepräsidenten, ein Generalsekretär mit Hilfssekretären,

ein Schatzmeister und ein ständiger Herausgeber der Ver­ handlungen (Mrs. Isabel C. Barrows in New Aork) bilden

das Bureau,

dem

ein

Exekutivkomitee

zur

Seite

steht.

Außerdem gibt es ständige Komitees für bestimmte Zweige

der Arbeit.

Alle diese Funktionäre werden jährlich gewählt,

nur bilden alle gewesenen Präsidenten der Konferenz ex oküeio Mitglieder des Exekutivkomitees. Das besondere Kennzeichen dieser Konferenz ist aber, daß keine Beschlüsse gefaßt werden;

die Verhandlungen „sind nur ein Austausch von Ansichten und Erfahrungen; die Konferenz ist nicht dazu bestimmt, ge­ wisse Lehrmeinungen anzunehmen, noch ist sie eine Körper­ schaft, die dazu dienen würde, irgendeinen Plan, irgendeine

Unternehmung zur Durchführung zu bringen; die praktische

Anwendung der Ansichten, die geäußert werden, oder der Vorschläge, die einzelne etwa machen, sei auch die Majorität

dafür, ist jedermanns Entschluß und Verantwortung über­

lassen; die Wirkung dieser Politik bei der Führung dieser Konferenzen ist die Beförderung einer allgemeinen Diskussion,

allseitiger Teilnahme, gegenseitiger Duldsamkeit und voller Freiheit, mit der sorgfältig bewahrten Rücksicht gegenüber

allen Meinungen, die ausgesprochen werden; der Einfluß der Verhandlungen auf das öffentliche Urteil ist aber vielleicht

gerade deswegen so mächtig". Jede Konferenz wird mit einer Rede des Präsidenten

und einer Konferenzpredigt eröffnet. Ebenfalls jährlich wieder­

205 kehrend sind die Berichte, die bezüglich des jeweiligen Standes

der Gesetzgebung und Verwaltung in Sachen der Jugend­

fürsorge in den einzelnen Staaten der Union von den Dele­

gierten

derselben

erstattet

werden.

Teilweise

sind

diese

Delegierten offiziell vom Kovornor des betreffenden Staates

ernannt, und es ist das Gesamtbild, das diese Berichte ge­ währen, ein nahezu vollständiges.

Daran schließen sich Vor­

träge und Diskussionen. Die Verhandlungen werden gedruckt und herausgegeben und bilden jedes Jahr

Band.

einen

starken

Immer wiederkehrend ist die Besprechung der Be­

handlung der verwahrlosten und straffälligen Jugend, der

abgesonderten Erziehung der schwachsinnigen, erblindeten und taubstummen Kinder; Berichte über einzelne Anstalten und

Einrichtungen, über Kindergärten (die in den Vereinigten Staaten eine riesige Verbreitung haben) wechseln mit der

Diskussion über hygienische Fragen, über Fragen der Ad­

ministration, der Staatsüberwachung, der Unterstützung von Schulkindern, sowie mit allgemeinen theoretischen Darlegungen ab.

Es wird kaum einen in dieser Frage hervorragend be­

teiligten Mann und unter den vielen Frauen, die sich mit großer Gründlichkeit derselben widmen, keine geben, die in

diesem Kreise nicht einmal ihre Stimme erhoben hätte.

Des­

wegen sind die 25 Bände der National Eonkoroneo für jeden, der diese Materie studiert, geradezu eine Fundgrube, eine Quelle ersten Ranges. Trotzdem die einzelnen Aufsätze und Reden ganz un­

systematisch nebeneinander stehen, bilden doch die Heutigen Reformgedanken, die das Gebiet beherrschen, die deutlich er­

kennbaren Fäden, die alles verbinden.

Diese Konferenzen

sind das Sprachrohr aller Reformer, die durch die viel ge-

206 lesens Publikation der Verhandlungen und Aufsätze ihre An­ sichten verbreiten, anregen und angeregt werden.

Die Ge­

danken, die in Hunderten von Aufsätzen seit Jahren in Umlauf

gesetzt werden, haben Gefängnisse umgewandelt, Spitäler und Irrenhäuser reformiert.

Vor allem aber sind die Wirklingen

dieser vieljährigen konsequenten Arbeit Tausenden von ver­ wahrlosten und straffälligen Kindern zugute gekommen. „Diese

Konferenzen haben", spricht F. H. Wines, einer der Gründer dieser Vereinigung, „sowohl ihre Teilnehmer als die Vor­ steher und Leiter der öffentlichen Anstalten erzogen, sie haben

auch alle jene erzogen, welche Arbeiter auf dem Felde der Privatwohltätigkeit sind, sie haben die Gesetzgeber erzogen,

sowie die Kovernors der Staaten; vor allem aber haben sie die öffentliche Meinung und die Presse erzogen.

aber mehr als das getan.

Sie haben

Sie haben, wenn auch innerhalb

engerer sachlicher Grenzen, die Funktion einer Universität

erfüllt, indem sie Licht und Ordnung in neue Wahrheiten

brachten und alte Wahrheiten in neue Beziehungen setzten.

Sie

haben auch keine geringe Rolle gespielt in der Evolution der Sozialwissenschaft, in jenem noch immer nicht durchforschten

Gebiete, welches die besten Köpfe des neuen Jahrhunderts in Bewegung setzen wird." Historische und bureaukratische Widerstände sind bei der

Verwirklichung von Reformgedanken in Amerika nicht zu

überwinden, auch der ganze Zuschnitt der Gesetzgebung macht

es leichter, neue Ideen zu erproben; da überdies gewöhnlich Geld genug vorhanden ist und der Amerikaner für alle Vor­

kehrungen, die der Jugend zugute kommen sollen, eine große Vorliebe hat, so kann man sich leicht vorstellen, daß der Einfluß einer solchen wissenschaftlich-praktischen Vereinigung

207

dort drüben ein viel intensiverer und unmittelbarerer ist als

bei uns.

Geht doch dieser Einfluß heute so weit, daß einer

der tätigsten und in den Konferenzverhandlungen bewandertsten Teilnehmer den Ausspruch getan hat, es bestehe manchmal

die Gefahr, daß eine neue Methode irgendwo eingeführt werde, bevor die Bevölkerung gehörig darauf vorbereitet und dazu erzogen sei, sie auch gehörig wirksam zu machen.

Es

ist unleugbar, daß es in Amerika leichter als irgendwo sonst zu legislativen Experimenten kommt; aber schließlich rütteln

sich die Dinge zurecht, denn „das amerikanische Volk, manch­

mal sehr kühn in seinen Versuchen, hat einen Schatz von

gesundem Sinn, der es wachsam bezüglich der Erfolge und zugleich nicht abgeneigt macht, gefaßte Beschlüsse neuerlich in Erwägung zu ziehen"^.

Eine ganz ähnliche

vereinigende,

die Ansichten aus­

gleichende und klärende Arbeit verrichtet auf dem rein straf­ rechtlichen Gebiete die im Jahre 1883 gegründete National krison Association, welche ebenfalls jährliche Wander­

versammlungen abhält und

ihre Verhandlungen ebenfalls

veröffentlicht. Brockway, Mrs. Johnson, die Vorsteherin der

berühmten weiblichen Strafanstalt in Sherborn (Massachusetts), General Brinckerhoff, Charles Dudley Warner und andere haben

sich

in

dieser

Vereinigung hervorragend

betätigt.

Im Juni 1904 hat in Portland (Maine) eine besondere nationale Konferenz über die Erziehung schwachsinniger und

straffälliger Kinder stattgefunden. Diesen und ähnlichen nationalen Vereinigungen schließen sich solche an, die mehr lokale, innerstaatliche Bedeutung

haben, aber innerhalb dieser engeren Grenzen derselben Idee

der Zusammenfassung der Bestrebungen, des Austausches von

208 Erfahrungen, der Herstellung einer gemeinsamen Meinung

und durch diese der Herstellung gleichartiger Einrichtungen dienen.

So gibt es seit 1876 in Pennsylvanien eine Ver­

einigung der Armenverwalter, in Massachusetts seit 1887

eine Vereinigung von Beamten, welche die öffentlichen Unter­ stützungen zu verteilen haben. Der Staat Wisconsin hat 1882

damit begonnen, nach dem Muster der National Oonkoronco eine 8tato Oonkoroneo ok Okaritios anä Oor-

roetion abzuhalten, ein Beispiel, das vielfach Nachahmung fand. Seither haben sich die im Staate New Dort abgehaltenen Konferenzen dieser Art besonders bemerkbar gemacht.

Ich habe schon einmal erwähnt, daß die ganze freiwillige Fürsorgetätigkeit in den

Vereinigten Staaten,

der ganze

Komplex freiwilliger Leistungen, den man „Obaritz^ nennt,

mit großen Übelständen belastet ist. Nur zu häufig wird das

vorhandene Geld an Unwürdige verschwendet, und umgekehrt gehen wirklich Bedürftige leer aus. Unwürdigen, aber keines­ wegs unvermögenden Eltern werden die Kinder abgenommen,

während andere in wirklicher Not verderben. Die Verteilung

der vorhandenen Mittel ist oft ganz mechanisch, und die er­ wiesenen Wohltaten demoralisieren oft mehr, als sie helfen,

abgesehen davon, daß viele dieser Vereine und Anstalten an Verschwendung in der Verwaltung leiden, und daß Ungeschick

und Untreue der Beamten vorkommt. Damit will ich nur einige jener schweren Mängel herausgegriffen haben, die auch bei

den englischen Okaritios vorgekommen sind und in London

im Jahre 1868 zu einer Bewegung Anstoß gegeben haben, die sich die Organisierung der zahlreichen freiwilligen Fürsorge­

anstalten zur Aufgabe gemacht hat: Okarit^ Organi­ sation.

Seither bildet diese Frage sowohl in England als

209

in den Vereinigten Staaten den Gegenstand des eifrigsten

Studiums sowie der praktischen Arbeit, was schon daraus zu ersehen ist, daß die erste ^ssoeiatiou kor orZunisivA

eliarit^ in Buffalo im Jahre 1877 gegründet wurde und

heute an 120 solcher Organisationsvereine in der Union bestehen.

Ich kann selbstverständlich hier nur in Kürze auf diese Bestrebungen Hinweisen; sie sind auch für die Verhältnisse

des europäischen Kontinents außerordentlich lehrreich. Diese Odarit^ Organisation, Organisationsvereine, wie

ich sie nennen möchte, üben keine direkte Fürsorgetätigkeit aus und gewähren Unterstützungen nur ganz ausnahmsweise;

sie fassen vielmehr ihre Aufgabe tiefer auf, suchen dem Übel der Armut, des Elends und der Verwahrlosung an der

Wurzel beizukommen. Sie richten ihre Anstrengungen dahin, damit die vorhandenen Mittel der Fürsorgeanstalten richtig angewendet werden, aber auch damit dies nicht planlos,

sondern erziehlich und wirtschaftlich geschehe.

Es sollen auch

die Kräfte jener geweckt werden, die heute sehr häufig nur das stumpfe Objekt der Wohltätigkeit sind; der Betreffende

soll mit tätig gemacht werden, damit die aufgewendeten Mittel nicht verschwendet, er selbst nicht demoralisiert werde. Die

Organisationsvereine

aller

Kräfte

wollen

erhöhen,

die

daher in

den den

Nutzwert Fürsorge­

anstalten liegen, aber auch alles, was an individueller

Kraft im unterstützten Individuum liegt, vor dem Untergang bewahren und, so gut es geht, entwickeln und nutzbar machen. Diese Organisationsgesellschaften sind also in erster Reihe

Zentralorgane für das Zusammenwirken von philanthropischen Bestrebungen, öffentlichen wie privaten, um durch eine richtige Baernreither. 14

210 Arbeitsteilung und, wenn nötig, Arbeitsvereinigung, der Ver­ schwendung und dem Mißbrauch zu steuern und Lücken in der

Fürsorgetätigkeit auszufüllen. Sie suchen daher die öffentliche Meinung sowie jene Kreise, welche sich mit Wohltätigkeit und

Fürsorge beschäftigen, über die höhere gesellschaftliche Aufgabe

ihrer Bemühungen aufzuklären.

„Die freiwillige Fürsorge

muß über sich selbst nachdenken; sie muß systematisch werden,

sich nach bestimmten Grundsätzen einrichten, auf die Ursachen zurückgehen, die Lebensverhältnisse methodisch studieren und

behandeln."

Von großer Bedeutung kann der Einfluß werden,

den diese Organisationsvereine auf die Verwaltung öffentlicher

und privater Fürsorgeanstalten zu erlangen trachten.

Hie

und da ist ihnen der Weg schon dadurch eröffnet, daß ihnen der Besuch der öffentlichen Fürsorgeanstalten gesetzlich erlaubt

ist und sie darüber an die betreffenden Loarcks Bericht erstatten.

Aber nicht nur die Verwaltung der Anstalten, sondern auch die Individuen in diesen Anstalten bilden das Objekt ihrer Bemühungen.

Wo noch ein Funke von eigener Kraft,

von möglicher Selbsttätigkeit glimmt, soll er angefacht werden,

und wo die Organisationsvereine selbst Einrichtungen ins Leben rufen, da haben sie alle diese erziehliche Tendenz: Haus­

haltungsschulen, Werkstätten für ungelernte Arbeiter usw. Deswegen treten sie auch gegen den Straßenbettel und gegen die professionsmäßigen Almosenempfänger auf, die in Amerika

bei den vielen reich dotierten konfessionellen Vereinen und Anstalten ein reiches Feld der Tätigkeit haben.

Das Wirken der Organisationsvereine beruht auf frei­ williger Mitarbeit.

Die wenigen Mitglieder des Vorstandes

können die Aktion nur leiten; die Arbeit selbst muß von Menschen verrichtet werden, die geneigt sind, persönlich zu

211 wirken, ihren persönlichen Einfluß gegenüber den Fürsorge­ anstalten

und ihren Insassen

sowie gegenüber den hilfs­

bedürftigen unselbständigen Klassen der Gesellschaft auszuüben.

Damit

hängt

das

„krienälv

visitinZ"

zusammen,

welches den Kontakt zwischen den verschiedenen Kreisen der

Bevölkerung Herstellen will. Arbeit in einigen Städten

merksamkeit zu.

Man wendet dieser Art sozialer

des Ostens

eine

große

Auf­

Doch wird die richtige Bemerkung gemacht,

daß die Angehörigen der höheren Stände durch das, was sie bei ihren Besuchen sehen und hören, ebensoviel lernen als

die besuchten Armen, denen sie nicht Almosen, aber Unter­ weisung in häuslichen und beruflichen Fragen, Unterstützung

ihrer wirtschaftlichen Bestrebungen und Mitgefühl für ihre Freuden und Leiden zu bringen bereit sind.

An diese Okarit^ Organisation knüpft man in Amerika große, manchmal, wie mir scheint, überschwengliche Hoffnungen,

wie sie anderseits auch wieder skeptischer Beurteilung unter­

worfen werden.

Gewiß ist, daß jener große Teil der privaten

Fürsorge, welcher auf rein individuellen Impulsen beruht

und sein Wirken nicht an die große Glocke hängen will, für diese Bestrebungen nicht erreichbar sein wird, aber trotzdem bleibt das Feld der Tätigkeit für diese Organisationsvereine ein sehr großes, und die Idee, die ihr zugrunde liegt, ist

eine so gesunde nnd liegt derartig im Geiste der Zeit, daß sie gewiß praktische Ergebnisse zeitigen wird.

Ich habe diese Andeutungen hier gemacht, weil diese Organisationsvereine zu jenen Elementen gehören, welche der

schädlichen Zersplitterung sozialer Kräfte entgegenwirken, weil

sie die Aufgabe übernommen haben, Ordnung in die chaotisch ausgeübte Wohltätigkeit zu bringen und gegenüber oft mit 14*

212 reichen Mitteln ausgestatteten, aber planlosen Bestrebungen den Standpunkt einer einheitlichen Verwaltung vertreten^.

Der

Verbreitung und

wissenschaftlichen

Verarbeitung

der Gedanken und Bestrebungen, welche ich, wenn auch nur

in flüchtigen Umrissen, in den vorstehenden Aufsätzen geschildert habe, dient heute in Amerika eine ganze Literatur.

Ich

würde es nicht wagen, von ihr zu sprechen — denn mir fehlt eine vollständige Übersicht derselben —, wenn die Bücher,

Aufsätze, Zeitschriften, die in reicher Fülle vorhanden sind

und in Amerika auf das eifrigste gelesen werden, bei uns bisher irgendeine Beachtung gefunden hätten. Das ist leider

nicht der Fall.

Münsterberg hat vollkommen recht, wenn er

sagt, daß man in Deutschland — und das gilt in einem noch höheren Grade von uns in Österreich — von der großen

wissenschaftlichen Entwicklung Amerikas noch wenig wisse, und

daß amerikanische Bücher unberücksichtigt gelassen werden. Ich glaube daher, allen jenen, welche sich durch meine bis­ herigen Ausführungen vielleicht angeregt fühlen könnten, die

von mir geschilderten

amerikanischen

Einrichtungen

einem

eingehenderen Studium zu unterziehen, als es mir möglich war,

einen Dienst zu erweisen, wenn ich auch bezüglich der Lite­ ratur wenigstens so viel sage, daß der Leser den angedeuteten

Quellen selbst weiter nachgehen kann. Wissenschaftliche

und

praktische Betätigung

stehen

in

Amerika in einem viel engeren Verhältnis zueinander als bei uns.

Die Sozialwissenschaft schöpft unmittelbar aus dem,

was geschieht, und wirkt unmittelbar darauf zurück, was ge­ schehen soll.

Man lernt aus diesen amerikanischen Büchern

ebensosehr die verschiedenen Einrichtungen und Bestrebungen kennen, die da und dort bestehen, als umgekehrt diese Werke

213 — vielgelesen und vielzitiert wie sie sind — alle sozialen

Veranstaltungen stark beeinflussen. Ich möchte zunächst von einem Buche sprechen, das in hervorragender Weise die einheitliche Auffassung zum Aus­ druck bringt, welche heute bezüglich der Beurteilung und Be­

handlung der verwahrlosten, anormalen

und

straffälligen

Klassen der Gesellschaft, insbesondere der Jugend, als die in

der Theorie und Praxis herrschende bezeichnet werden kann.

Es ist dies das Werk des Professors der Soziologie an der

Universität in Chicago: Introckuetion to tllo 8tuä^ ok tllo cloptzuäont, ckokoctivo unck äolinguont

eia 8868

anck

ok

tlleir

8oei ul

troatmont

b)'

Obarl68liielimonäll6llcktzr80ll, Lo8tou, 0.0. Hoatll L Oo. 1901.

Schon der allgemeine Standpunkt, den das Buch ein­ nimmt, gibt die Richtung an für die ganze Behandlung der Frage.

Die verwahrloste und verbrecherische Jugend ist eine

Erscheinung, die nicht isoliert betrachtet werden sollte, sondern

nur im Zusammenhänge mit dem Boden, dem sie entsprungen ist, mit der wirtschaftlichen, moralischen und intellektuellen Verwahrlosung jener Bevölkerungsklassen, deren unglückliches

Produkt sie ist.

Dies ergibt für die Erkenntnis der Ursachen

der Verwahrlosung und des Verbrechens der Jugend, noch mehr aber für die Beurteilung der zu ergreifenden Maß­ regeln dem Verfasser den Ausgangspunkt.

Krankheit, ge­

wohnheitsmäßige Trunksucht, Rasseeigenschaften, Vererbung

und Anpassung

an das Schlechte, ungünstige Wohnungs­

verhältnisse, Armut und schlechte Erwerbsverhältnisse, die

verschiedenen Wirkungen eines harten Kampfes ums Dasein,

das

„8pirituol environmont", die Summe

der

geistigen

214 und moralischen Einwirkungen, Religionslosigkeit, Unwissen­ heit und Hilflosigkeit, — das sind nicht Übel, die nur von der Jugend abzuwenden sind, denn sie bilden den Nährboden

für allgemeine Zustände.

Diese fordern aber nicht bloß eine

Fürsorgepolitik im engeren Sinn, die auf Rettung der ge­

fährdeten Jugend gerichtet ist, heraus, sondern zugleich eine

allgemeine Sozialpolitik, wenn man an die wirklichen Quellen

der Verkommenheit und des Lasters gelangen will. Das hindert natürlich eine Fürsorgepolitik zugunsten der Jugend nicht, sondern

weist den Bestrebungen, die sich zunächst auf die Jugend be­

schränken wollen, nur den richtigen Weg.

Vor allem bewahrt

dieser Gesichtspunkt vor dem Fehler, die ganze Kette der ver­

lassener:, verwahrlosten und straffälligen Jugend in Kategorien einzuteilen, die dem soziologischen Zusammenhänge nicht ent­ sprechen. „Es herrscht", sagt Henderson, „Solidarität, organische

Verbindung zwischen den Verwahrlosten und Straffälligen. Sie können nicht studiert noch behandelt werden, als wären sie durch

unübersteigbare Mauern getrennt. Sehr oft belastet eine einzige Familie die Gesellschaft mit physisch entarteten und schlecht

herangezogenen Kindern, die später unter den verwahrlosten,

anormalen und verbrecherischen Individuen zu finden sind. Die schwächsten kommen in Anstalten für Unheilbare, die

weiblichen werden die Schar der Verworfenen vermehren, während die männlichen als Vagabunden und Diebe enden.

Wird eines von diesen Individuen alt, so ist das Armenhaus

sein Obdach."

Unser Verfasser sagt daher von der Klassi­

fikation in Verwahrloste, Anormale und Verbrecher, daß dies nur Kategorien unseres Denkens sind, „seeonclai^ kormations«,

an und für sich sehr komplex in ihrer eigentlichen Zusammen­ setzung.

Er behält aber diese Einteilung aus praktischen

215 Gründen bei, weil sie die allgemein angenommene Grundlage der Forschung ist, und weil Gedanken und Worte auf sie geprägt sind.

Es ist aber für die amerikanische Auffassung von Ver­ wahrlosung und Verbrechen bei der Jugend entscheidend, daß

diese Grundanschauungen sich überall durchsetzen.

Diese An­

schauungen gehen davon aus, daß jeder, der sich, aus was für Ursachen immer, seien es physische oder moralische, mit der

anerkannten Ordnung des Lebens, des Handelns und des Denkens in Widerspruch setzt oder sich dieser Ordnung nicht anzupassen im stände ist, untergehen muß.

Er kann also

nur durch die Anpassung gerettet werden.

„Eine Tatsache

scheint klar erwiesen zu sein: der Mangel an Fertigkeiten und

beruflicher Bildung,

an

physischer, moralischer

und

geistiger Kraft ist vor allem Schuld an den verbrecherischen

Neigungen.

Die Überzeugung ist bei allen Lehrern eine

tiefe, daß die Vernachlässigung einer sorgfältigen moralischen

Unterweisung

mehrung

der

und

religiöser

Verbrechen

viel

Einwirkung

beiträgt."

zur

Demgegenüber

Ver­ ist

Erziehung auf der ganzen Linie, und zwar die moralische, religiöse, physische

und intellektuelle,

das

einheitliche

Prinzip, welches je nach Beschaffenheit der Gruppen, mit

denen man es zu tun hat, in einer gehörig abgestuften Methode zur Anwendung kommen muß.

„Das ganze System

der Fürsorge und des Strafrechtes ist im Wesen ein Teil

des Erziehungssystems, durch welches die

Gesellschaft sich

schützt, indem sie die Jugend und die Anormalen den Be­ dingungen des Lebens anpaßt."

Eine

interessante Konsequenz

dieses

Erziehungsstand­

punktes ist es, daß die Vererbungstheorie und die Lehre vom

216 geborenen Verbrecher die Geister in Amerika zwar beschäftigt,

im großen ganzen aber keinen entscheidenden Einfluß ausübt. Zwar hat August Drähms, Gefängnisgeistlicher in Kali­

fornien, ein Buch geliefert (Iks eriminal, bis personnol auä environment), zu welchem Lombroso selbst ein Vorwort

geschrieben hat, ich kann mir aber nicht denken, daß eine auf

so dürftige Induktion gebaute Abhandlung auf den praktischen und positiven Sinn der Amerikaner großen Eindruck machen kann.

Ich habe schon oben gesagt, daß die Verfechter des

Utzkormutor^

die

ganze Streitfrage der Verant­

wortlichkeit des Verbrechers ausschalten.

Henderson sagt es

rund heraus, daß er das „metaphysische" System Lombrosos und seiner Schule, das auf strengem Determinismus aufgebaut

ist, für seine Zwecke nicht in Betracht ziehen könne.

im Gegenteil

Er führt

aus, „daß die ererbten physiologischen und

physischen Merkmale als Ursachen des Verbrechens nur in

geringem, ja, selbst unbedeutendem Maße angesehen werden können, außer in ausgesprochenen Fällen der Krankheit und

des Irrsinns, daß im Gegenteil soziale, ökonomische, in­

dustrielle, häusliche und erziehliche Verhältnisse die Haupt­ ursachen sind und daß es geradezu verwirrend und schädlich

ist, auf physische und geistige Merkmale zu viel, ja, überhaupt

ein Gewicht zu legen, weil dadurch die öffentliche Aufmerksam­

keit von den sozialen Reformen und von jenen möglichen Verbesserungen abgelenkt wird, die innerhalb des menschlichen

Könnens liegen, und die allein im stände sind, die Verbrecher­ laufbahn zu verhindern". Man studiert also in Amerika die

Ursachen der Verwahrlosung, der Verkommenheit und des Verbrechens — vielleicht eifriger als irgendwo sonst —, aber

nur zu dem Zwecke, um jene Erziehungsmethode heraus­

217 zufinden, die für den einzelnen Fall angemessen ist. Ans die Frage der Verantwortlichkeit und des freien oder unfreien

Willens

wird

kein

System

gebaut;

dagegen

strebt

man

praktisch und ethisch zugleich an, den verdorbenen, unter­

drückten, durch physische oder geistige Krankheit verkümmerten Willen zu erziehen, einem Individuum, dem der Unterschied

zwischen Recht und Unrecht aus irgendeinem Grunde fehlt, diese Erkenntnis beizubringen, bei ihm das Gewissen und

das Bewußtsein eigener Verantwortung zu wecken.

„Wir

müssen wünschen, daß mehr Kinder mit gesundem Hirn, ge­ sunden Nerven, guten Verdauungsorganen und der Neigung

zu einem unabhängigen Leben geboren werden; wir müssen

wünschen, daß der neuropathische Makel, die schwindsüchtige Anlage und die verderblichen Krankheiten aussterben.

Das

sind die sozialen Ziele, und es ist die Pflicht jedes Menschen­ freundes, sie in sein Programm einzuschließen." . . . „Die

Erforschung

der sozialen Ursachen,

die

durch

menschliche

Handlungen hervorgerufen wurden, führt zur Hoffnung, daß, wenn der Mensch schlechte Einrichtungen entstehen ließ, er sie

auch zerstören und durch bessere ersetzen könne.

Fatalismus

und Vernachlässigung sind unvernünftig. Die allgemeinen und

umfassenden Anschauungen über die Verkettung der Ursachen werden aber auch jenen vorschnellen und oberflächlichen Opti­

mismus beschränken nnd reinigen, welcher geneigt wäre, Um­ wälzungen herbeizuführen, ohne zu bedenken, wie tief in dem geschichtlichen Boden die Wurzeln des Elends und der Ver­

kommenheit ruhen." .... „Lasterhafte und verbrecherische Neigungen

sind

nur

natürlicher Impulse.

Mensch

Verderbungen

und

Übertreibungen

Der lasterhafte und der verbrecherische

hat keine besondere Anlage oder einen besonderen

218 Verbrechen ist

Naturtrieb (aääeä kaeult^ or appetene^).

keine physisch übertragene oder ansteckende Mikrobe; es ist

wie eine Fertigkeit oder ein Können, das man sich durch Nachahmung oder Gewohnheit aneignet." Das sind die allgemeinen Gedanken, auf denen Henderson

seine eigentlichen Ausführungen aufbaut.

Man mag über

dieselben urteilen, wie man will, man wird ihm aber weder Folgerichtigkeit, noch weniger aber einen hohen idealen Zug

absprechen können.

Dieser Zug geht in Amerika durch alle

wissenschaftlichen Erörterungen unserer Frage. Henderson behandelt, von den angedeuteten Ideen aus­

gehend, die soziale Organisation der Fürsorge für die ver­

wahrlosten Klassen, die Vorkehrungen über die Erziehung

und Anhaltung

der Anormalen

und

die Grundsätze der

Kriminalsoziologie — alles mit besonderer Berücksichtigung der Jugend, der alle amerikanischen Schriftsteller in diesen Fragen die besondere Stellung des bildungs- und umbildungs­

fähigsten Teiles der in Betracht kommenden Bevölkerungs­

klassen einräumen. Ich kann in die Einzelheiten der Ausführungen Hender­ sons nicht eingehen; ich will nur zur Ergänzung des bereits oben Gesagten anführen, daß auch er die private Fürsorge

als einen notwendigen Teil der gesellschaftlichen Gesamt­

tätigkeit ansieht und alle Einrichtungen der Selbstverwaltung billigt und ausgestaltet haben will, die den Zweck verfolgen, die Privattätigkeit in ein allgemeines System der Fürsorge

einzugliedern und ihr das Bewußtsein beizubringen, daß sie

eine wichtige, verantwortungsvolle Funktion gegenüber ihren Mitmenschen erfüllt.

Er ist deswegen ein Vorkämpfer sowohl

für die weitere Entwicklung der Loarcks als auch für die

219

Ausgestaltung der Organisationsvereine. Er hofft, daß, wenn erst einmal die private Fürsorge die Stellung, die er ihr anweist, einzunehmen bestrebt sein wird, bei ihr auch von innen heraus

durch die Anstellung von fähigen und kenntnisreichen Beamten ihre Reform gefördert werden wird. Es sei mir gestattet, noch ein Erzeugnis der amerikanischen

Literatur, welches für die neue Auffassung des Strafrechtes sehr lehrreich ist, etwas näher zu betrachten. Eine Zusammen­

stellung der modernen amerikanischen Ideen iiber Strafrechts­ pflege und Reform enthält das Buch von Henry M. Boies: Urs seisnLtz ok ponoloK)-, New Aork und London

1901.

Wenn man von gewissen Sonderbarkeiten und Aus­

wüchsen, von denen dieses Werk nicht frei ist, absieht, wird

man durch dasselbe über den Standpunkt, der sich heute in

Amerika zur Geltung zu bringen sucht, in umfassender Weise aufgeklärt.

Das Strafrecht führt bei uns in Europa bis heute noch

ein im ganzen streng abgeschlossenes Dasein.

Es beruht auf

der Tradition von Jahrhunderten, ist innig verknüpft mit

transzendenten

Theorien

und

monarchischen Prärogativen.

steht

in

Verbindung

mit

Das Buch von Boies versetzt

uns in eine andere Gedankenwelt, mitten in soziale Er­ wägungen; es stellt uns vor Ziele der Erziehungspolitik; es betrachtet gegenüber den großen moralischen Gebrechen, die

wir Verbrechen nennen, die Verhinderung und Vorbeugung als

das Hauptziel der Kriminalpolitik.

Selbst derjenige,

welcher solchen Ausblicken zweifelnd gegenübersteht, ungewiß, ob sich auf diesem Wege ein fester Boden für das Strafrecht

der Zukunft wird gewinnen lassen, muß den Ausführungen

des genannten Verfassers schon deswegen Interesse entgegen­

220

bringen, weil bei ihm das Jugendstrafrecht eine hervorragende

Rolle spielt. Boies geht wie die Verteidiger des von mir skizzierten

Uskormator^ LMsm von der Überzeugung aus, daß das heutige Strafrecht sozial unbrauchbar ist.

„Es ist klar, daß

das Strafrecht das nach und nach entstandene Erzeugnis

vergangener gesellschaftlicher Zustände und Notlagen ist, ohne ein inneres, zusammenhängendes Prinzip, daß es der Ordnung,

Harmonie

und

eines Systems entbehrt.

Wenn irgendein

Verbrechen überhand nahm und lästig wurde, wurde ihn: eine Strafe entgegengesetzt, in der falschen Hoffnung, daß

die Furcht vor dieser Strafe die Begehung verhindern würde. Strafgesetze sind in ihrer heutigen Gestalt im Lichte des 20. Jahrhunderts ein Konglomerat von Androhungen, die verschiedene Abstufungen von Härte, Sinnlosigkeit, Unvernunft

und Nutzlosigkeit darstellen.

Sie sind Überbleibsel blinder

gesellschaftlicher Kämpfe gegen gesellschaftliche Übel, Antiqui­

täten, die zusammen mit den alten Folterwerkzeugen in ein

Museum gehören.

gesetze

zu

Einen wirksamen Ersatz für diese Straf­

schaffen, jene

Grundsätze

zu

verkünden,

nach

welchen der erfolgreiche Kampf der Gesellschaft gegen das Verbrechen geführt und die Vernichtung des Verbrecherwesens

erreicht werden kann, — das ist das Arbeitsfeld und Ziel der Penologie." Diese Kritik der bestehenden Strafgesetze trägt die spezifisch

amerikanische Ursprungsmarke an sich. Sie ist beeinflußt durch

die notorische Langsamkeit und Unverläßlichkeit der Straf­ rechtspflege, durch das Schwanken in der Spruchpraxis und

durch das entsetzliche Ventil für die unnatürliche Spannung im Rechtsgefühl des amerikanischen Volkes, die Lynchjustiz.

221

Aber der Kern der Ausführungen des Verfassers enthält

für die soziale Auffassung des Strafrechtes sehr viel Richtiges. Er studiert die Verbrecherklasse nicht als etwas Gegebenes,

sondern in ihrem Entstehen.

Die verbrecherischen Geistes­

kranken, die als verantwortliche Verbrecher nicht in Betracht

kommen, schätzt er auf 5—10°/o der ganzen Verbrecherklasse und scheidet sie von vornherein aus.

Er erörtert die mensch­

lichen Anlagen und Gewohnheiten sowie die Gelegenheiten,

welche zum Verbrechen führen und nennt diesen Teil seiner Untersuchungen die Diagnostik seiner Wissenschaft. Hierbei

widmet er eine eingehende Betrachtung den „Bedrohten", zu welchen die verlassene, verwahrloste und straffällige Jugend

gehört.

Ihr gegenüber muß die Gesellschaft, die in einem

großen Verteidigungskampfe gegen das Verbrechen begriffen ist, die elterliche Gewalt an sich nehmen, um sie der Zwangs­ erziehung zu unterwerfen.

Die

gemeinsame

letzte Ursache

aller verbrecherischen Erscheinungen ist ihm die moralische Schwäche. Dieser psycho-physiologische Zustand hebt aber die

moralische Verantwortlichkeit des Individuums für seine Tat notwendigerweise noch nicht auf; freier Wille ist vorhanden, aber er ist defekt und unterliegt der Versuchung und Ge­

legenheit.

Die Einschränkung der Kriminalität hängt also

hauptsächlich von der Bekämpfung der moralischen Schwäche ab.

Übergehend auf die Therapeutik des Strafrechtes,

die Behandlungsart des Verbrechertums, verwirft er die heute angewendeten Mittel. Strafrechtspflege

Er findet die Mängel der heutigen

insbesondere: in

dem

Glauben

an

die

Wirkung strenger Strafen, in dem Umstand, daß das Straf­ recht erst einsetzt, wenn das Verbrechen schon begangen ist, und daher nicht systematisch vorbeugend wirkt, ferner in der

222 Korruption und in dem Mißbrauch der Jury, in der zu weit ausgedehnten diskretionären Gewalt des Richters bei der

Bestimmung der Strafe, deren nötiger Umfang sich

erst

während des Vollzuges herausstellt, ferner in dem Uberhandnehmen des Meineids und endlich in der Verschiedenheit der Strafgesetze in den einzelnen Staaten der Union.

Dagegen

ist er erfüllt von dem Glauben an die Möglichkeit, durch die

richtige Kombination heilender und vorbeugender Maßregeln, die konzentrisch in der Richtung der Verminderung der Ver­ brechen zu wirken haben, das Verbrechertum mit Erfolg be­

kämpfen zu können, wie man Krankheiten bekämpft hat.

„Das höchste Ziel der Penologie ist, Verbrechen zu ver­ hindern, nicht, sie zu bestrafen.

Sie verfolgt ähnliche Zwecke

wie die Medizin und Chirurgie, welche nicht nur einzelne

Krankheitsfälle zu heilen bemüht sind, sondern welche auch die Entstehung, Wiederkehr und Ausbreitung von Krankheiten

zu verhindern suchen.

Die Verbrecherkrankheit muß unter­

sucht und mit planmäßigen Maßregeln behandelt und bekämpft

werden, wie dies bei den anderen großen, die Menschheit bedrohenden Krankheiten geschieht.

Sie wird — wenigstens

so weit als möglich — unterdrückt werden, geradeso wie Blattern, Cholera, gelbes Fieber, Typhus und Tuberkulosis, diese schrecklichen, einst als unheilbar angesehenen Krankheiten

durch wissenschaftliche Untersuchung und die Entdeckung und

Anwendung geeigneter Mittel und vorbeugender Maßregeln." Die therapeutischen Mittel, die Boies gegen das Ver­ brechertum angewendet wissen will, sind dem Leser aus meinen

früheren Ausführungen

großenteils schon bekannt.

Es ist

die erste Aufgabe der Strafrechtspflege, die ganze Verbrecher­ klasse dingfest zu machen und dann die notwendige Auslese

223 vorzunehmen.

Wer

immer

heilbar

ist, muß

durch

eine

reformatorische Behandlung den Bedingungen des Lebens in der Freiheit angepaßt werden.

Auf erstmalige Verbrechen

finden je nachdem krobation, Geldstrafen oder Anhaltung in einem Reformgefängnisse Anwendung. Kurze Freiheitsstrafen sind unbedingt zu vermeiden.

Er ist für die inäeterminate

seutonetz und für die dauernde Abschließung der unheilbar

Rückfälligen und Unverbesserlichen; aber da er politische Ein­ flüsse fürchtet, will er einerseits das Gnadenrecht der Exekutive ganz aufheben, anderseits sucht er nach Garantien, um die

möglichen Härten und Ungerechtigkeiten dieses Systems zu

vermeiden, ohne diese Sicherheit aber — wie ich schon gezeigt habe — zu finden.

Aber wenn man auch alle diese Elemente seiner straf­

rechtlichen Lehren dahingestellt sein lassen will, wird man einigen Kapiteln seiner strafrechtlichen Therapeutik eine un­

mittelbar praktische Bedeutung auch für außeramerikanische Verhältnisse nicht absprechen können.

Was er über die Be­

handlung der Kinder von Verbrechern und was er von der

verwahrlosten und straffälligen Jugend sagt, die er als eine besonders zu behandelnde Gruppe ansieht, deckt sich mit all den rationellen Versuchen, die man in den Vereinigten Staaten

in den letzten Dezennien gemacht hat, und die ich in den

vorstehenden Kapiteln zu schildern versucht habe. sagt

er,

daß

das

Studium

der Ursachen

und

Mit Recht

der Be­

dingungen der Kriminalität der Jugend mit allen Zweigen

der Sozialwissenschaft in Verbindung steht, und daß das

Jugendstrafrecht daher bei weitem der wichtigste, aber auch schwierigste Teil der Penologie ist.

Nicht minder richtig ist

sein Standpunkt bezüglich der Bekämpfung der Trunksucht,

224 wenn er systematische Vorkehrungen gegen dieselbe vorschlägt. Was er sehr freimütig über die notwendigen Reformen des

Gefängniswesens und der Strafhausarbeit in den Vereinigten Staaten sagt, muß ihm ebenfalls als ein praktisches Verdienst

angerechnet werden.

Den dritten Teil seines Buches bildet die Hygiene der Penologie. Diesen Teil möchte ich als die schwächste Leistung

des Buches bezeichnen, wiewohl auch hier einzelne bemerkens­ werte Ausführungen vorkommen.

Er beweist sehr schlüssig,

daß rationelle Einrichtungen und Maßregeln bezüglich der verwahrlosten

und

straffälligen Jugend

eine

große

Zahl

„präsumtiver" Verbrecher aus der Welt schaffen, und er mag

mit Rücksicht auf die Verhältnisse in seinem Vaterlande recht haben, wenn er verlangt, daß in den Schulen im allgemeinen die Erziehung des moralischen

angestrebt werden sollte.

Willens viel systematischer

Richtige Bemerkungen macht er

auch bezüglich der Erziehung in den ersten Kinderjahren,

über die Kindergärten und die Waisenversorgung, — aber

gerade sein Bestreben, der Vorbeugung um jeden Preis den Vorrang zu verschaffen, verleitet ihn zu den absonderlichsten

Konsequenzen.

Er kommt unter anderem dazu, die allgemeine

Einführung eines Heiratskonsenses zu befürworten, nur um

die Fortpflanzung krimineller und defekter Volkselemente zu

verhindern.

Der Übertreibung,

dieser echt amerikanischen

Eigenschaft, erliegt auch unser Verfasser, indem er so weit

geht, daß er für die Übertretung des Heiratsverbotes, das er für belastete und kranke Individuen aufgestellt haben will,

allen Ernstes die Strafe der Kastration empfiehlt.

Wenn

man sich einmal daran gewöhnt hat, in den amerikanischen

Verhältnissen das Begreiflichste neben dem Unbegreiflichsten

225 hinzunehmen, wird man durch eine solche völlige Entgleisung

des „coiumon Seuse", auf den sich die Amerikaner sonst so viel einbilden, nicht ungerecht gegen jene Teile des Werkes

unseres Verfassers werden, die, wie ich gezeigt habe, anregende

und wertvolle Untersuchungen liefern. Zwei

Bücher, deren

ich schon in den Anmerkungen

gelegentlich Erwähnung getan habe, möchte ich hier noch besonders hervorheben. suchung

über

die

Es ist das zunächst die Unter­ verwahrlosten

Klassen

von

Amos G. Warner (^moriean ebaritio8, a 8tud^ in pkilautbrop^ und 6eouomio8), sowie die strafrechtliche Arbeit

von

Frederic

rokormation,

Howard

Wines

(?uui8liiu6ut

au bi8torieal 866tek ok tbo

und

ri8o ok tdo

pomtontiar^ 8v8tom), beides Werke, die in der Sammlung Zakrarv ok Leonomie8 and kolitio8« erschienen sind.

Sie

führen den Leser in interessanter Weise in diesen Teil der

amerikanischen Gedankenwelt ein.

Nicht unerwähnt darf ich

zum Schluffe das große Werk von E. C. Wines lassen (Vbo 8tats ok kri8on8 and ok Oüild-8aving In8titution8

in tko eivilirod ^Vorld, Cambridge, Maff. 1880).

Es be­

schreibt das Gefängnis- und Fürsorgewesen von Amerika, Europa,

den britischen Kolonien und Japan und enthält

bezüglich der Vereinigten Staaten eine wertvolle historische

Skizze, sowie Darstellungen einzelnen Staaten.

über die Verhältnisse

in den

Die kritischen Erörterungen dieses Ver­

fassers sind noch heute, nach Ablauf eines Vierteljahrhunderts, in vieler Hinsicht aktuell.

Ich muß meine Literaturbetrachtungen abbrechen.

Sie

machen nicht im Entferntesten Anspruch auf Vollständigkeit, aber sie genügen doch vielleicht, um zu beweisen, daß man Baernreither.

15

226 an diesen Erzeugnissen des amerikanischen Geistes bei uns nicht ohne weiteres vorbeigehen sollte.

Mit unserer fest­

gefügten, von philosophischen Gedanken vergangener Zeiten

und Völker durchdrungenen Wissenschaft kann sich ihre jüngere Schwester in Amerika nicht vergleichen.

Jahrhunderte

an

unserer

europäischen

Es

haben eben

Ideenwelt

gebaut.

Aber vielleicht ist es mir durch dasjenige, was ich in diesem

und den früheren Kapiteln angedeutet habe, gelungen, die Aufmerksamkeit des Lesers auf den Zusammenhang zu lenken, der in Amerika zwischen der Wissenschaft und

den praktischen Anforderungen des Lebens be­ steht.

Darin

ist

Amerika

uns weit

überlegen,

gewiß auf jenem Gebiete, von dem ich hier gesprochen habe und das ich annähernd zu überblicken im stände bin.

Wissenschaft, öffentliche Verwaltung und Privattätigkeit sind in den Vereinigten Staaten geistig und praktisch innig miteinander verbunden,

wirken

aufeinander,

lernen von­

einander und vermehren in gemeinsamer Arbeit den Schatz von Erfahrungen und Kenntnissen.

Zwischen der Fürsorge­

verwaltung der Staaten und Selbstverwaltungskörper und

den freien Vereinen und Gesellschaften besteht, wie wir ge­

sehen haben, ein enger Kontakt; die freiwillige Tätigkeit des nicht bezahlten krobation Oktieor ist ein wichtiger Faktor

für die Erfüllung öffentlicher Zwecke geworden; die Lehrer der Wissenschaft an den Kolleges und Universitäten schöpfen

ihre Gedanken aus demjenigen, was praktische Männer tat­ sächlich geschaffen haben, aber sie befruchten auch wieder die

Ideen

dieser

Loarcks,

die

letzteren

Vorsteher

und der

bewahren Anstalten,

die Mitglieder

der

die Arbeiter

auf

dem Feld der freiwilligen Fürsorge, vor der Gefahr, der

227 Schablone zu verfallen. und Frauen zusammen,

Auf den Kongressen treffen Männer die

in der Wissenschaft, in der

öffentlichen Verwaltung und in freiwilliger Tätigkeit ihren Beruf

gesunden

haben.

Ich

habe

absichtlich

dem

Leser

mehrmals wörtliche Zitate aus diesen Kongreßverhandlungen

vorgeführt.

Auf diesen Kongreffen wird jenes Amalgam

zwischen abstraktem Denken und praktischer Erfahrung her­ gestellt, das den stofflichen Inhalt der heutigen Richtung auf

unserem Gebiete in den Vereinigten Staaten bildet.

Durch

die Vorträge, I^eturss, die im amerikanischen Leben eine so

große Rolle spielen, wird das gemeinsam Errungene über die

ganze Union verbreitet. Neues vorgeschlagen und erörtert,

Erfahrungen mitgeteilt, Versuche zur allgemeinen Kenntnis gebracht und der ganze Stoff des Fürsorgewesens (im weitesten

Sinne des Wortes) in einer Weise propagiert, wie es sonst nirgends der Fall ist.

Demselben Zwecke der Verbreitung

der Ansichten dient die Presse, insbesondere die periodische,

welche bekanntlich in Amerika eine sehr große Ausdehnung

und Verbreitung besitzt. Auf diese Weise wird jene Wechselwirkung zwischen Leben und Wissenschaft hergestellt, von welcher alle Bestrebungen bei der Behandlung der verwahrlosten und straffälligen Jugend

in den Vereinigten Staaten beherrscht werden.

Ich habe wiederholt davon gesprochen, welche spezifische Umstände in den Vereinigten Staaten diese ganze Entwicklung

befördern und ich will daher hier nur noch auf zwei Tat­

sachen verweisen, die einer besonderen Würdigung wert sind. Münsterberg hat darauf aufmerksam gemacht, daß die

Psychologie in ganz Amerika besonders eifrig betrieben wird,

daß sie „ein im ganzen Lande grassierendes Interesse" hervor15*

228 ruft.

Ich habe diese Bemerkung auf Schritt und Tritt be­

stätigt gefunden und dieses Interesse spiegelt sich auch in der

Literatur des Gebietes, von dem ich spreche, und welches

von der Psychologie naturgemäß beherrscht ist.

Der psycho­

logischen Betrachtung der Vorgänge in der jugendlichen Seele,

der Erörterung der daraus zu ziehenden Konsequenzen, dem

Studium der möglichen psychologischen Einwirkungen, die zur Erreichung

des Besserungszweckes angewendet werden

können, begegnen wir nicht nur in wissenschaftlichen Werken, sondern überall, wo von diesen Dingen die Rede ist; auch

die Jahresberichte der einzelnen Anstalten, die ich mehrfach erwähnt habe, sind von diesen Anschauungen erfüllt.

Man

kann sich in Amerika leicht eine kleine Bibliothek solcher An­ staltsberichte sammeln,

durch

deren Lektüre man bestätigt

finden wird, was ich über die heilsame Wirkung des Kontaktes zwischen Wissenschaft und Praxis gesagt habe^.

Diese all­

gemeine psychologische Tendenz ist auch einer jener gemein­ samen Faktoren, welche für die einheitliche Gestaltung der

Jugendfürsorge in den Vereinigten Staaten wirksam sind.

Aber

als

einen

der

größten Vorteile für die Fort­

entwicklung des Fürsorgewesens in den Vereinigten Staaten sehe ich das ungestörte Nebeneinanderwirken der verschiedenen religiösen Konfessionen und Körperschaften an. Die Neutralität der Staatsgewalt gegenüber allen konfessionellen Bestrebungen,

die Religions- und Gewissensfreiheit, die bis in die äußersten Konsequenzen aufrecht erhalten wird, hat es mit sich ge­

bracht, daß dem ganzen Gebiete der Jugendfürsorge jene Reibung erspart geblieben ist, welche sich in anderen Ländern — besonders in Frankreich, wo eine so große Zahl edler

Menschen gegeneinander statt miteinander wirken — hemmend

229 und störend geltend macht.

eben

so

schwer

wie

Dieser negative Umstand wiegt

mancher positive,

welcher

der

ge­

schilderten Entwicklung in den Vereinigten Staaten zugute kommt. Zum Schlüsse möchte ich noch einem allgemeinen Ge­

danken Ausdruck geben, der sich mir in Amerika geradezu

aufgedrängt hat und zwar im allgemeinen, nicht bloß bei der Betrachtung der Jugendfürsorge.

Die eigene amerikanische

Geistesrichtung, die eigene Schichtung und Durchdringung

praktischer Betätigung und abstrakten Denkens, die ich in den vorstehenden Kapiteln nur an einem einzelnen Durchschlag

des amerikanischen Lebens nachweisen konnte, tritt uns auch in anderen Äußerungen der Tatkraft und geistigen Energie

des anglo-amerikanischen Volkes entgegen.

Sie bildet eine

neue Evolution in der Methode der nationalen Arbeit über­

haupt.

Diese Geistesrichtung kommt in der Welt der staat­

lichen, sozialen und technischen Aufgaben in gleicher Weise zum Ausdruck.

Überall tritt in diesen Zweigen menschlicher

Arbeit die Wissenschaft in ein enges Verhältnis zum Leben

und zu seinen unmittelbar praktischen Anforderungen.

Wir

haben bei der Fürsorgeverwaltung beobachtet, daß sich die abstrakten Bestrebungen mit den tatsächlichen innig verbinden;

Dieser Wechselwirkung begegnen wir auch sonst; beispielsweise gewisse große

so

technische Unternehmungen

sind in

Amerika tatsächlich zugleich Hochschulen für die betreffenden

Produktionszweige.

Das ist ein

allgemeiner Zug

in der

staatlichen, wirtschaftlichen, kulturellen Entwicklung Amerikas.

Das ist mit eine Ursache des riesigen Aufschwunges.

Die

Wissenschaft ist demokratisiert, die Praxis ist gehoben.

Wir

empfinden in Europa seit Jahren den Einfluß dieser amerika­

230

nischen Methode und zwar um so mehr, als wir in einer Darum ist es not­

ähnlichen Entwicklung begriffen sind.

wendig, sich dieser Einwirkung bewußt zu sein, sie zu prüfen

und sich volle Rechenschaft über dieselbe zu geben.

Ich möchte es wagen, auszusprechen, daß, so wie einst im 16. Jahrhundert Italien durch

die Kultur der Re­

naissance auf ganz Europa gewirkt hat, wie von Frankreich aus im 18. Jahrhundert sich

Sitten, philosophische und

monarchische Anschauungen über den

ganzen

europäischen

Kontinent verbreitet haben, wie im 19. Jahrhundert die wirtschaftlichen

Ansichten,

die

Staatswissenschaft

und die

Staatspraxis fast der ganzen zivilisierten Welt von England aus einen mächtigen Einschlag erhalten haben, — wir im

20. Jahrhundert von dem großen anglo-amerikanischen

Kontinent einen neuen Geistesstoff beziehen werden, der das Produkt dieser wissenschaftlich-praktischen Arbeitsmethode

ist und den aufzufassen und zu verwerten unsere Aufgabe sein wird.

Vieles von dem, was ich in dem vorstehenden

Kapitel geschildert habe, mag europäischen Lesern — und

mit Recht — unübertragbar auf europäische, insbesondere kontinentale Verhältnisse erscheinen.

Aber wenn meine Dar­

stellung nicht ganz verfehlt ist, wird man doch zugeben, daß

vieles von dem, was sich auf dem Gebiete der Jugendfürsorge drüben entwickelt, für uns in höchstem Grade lehrreich ist.

Das gilt selbstverständlich auch von anderen Zweigen des

menschlichen Wissens und Strebens.

Die amerikanische Ein­

wirkung wird dahin führen, daß wir viele unserer Begriffe

und Anschauungen an den Notwendigkeiten und an den un­ mittelbaren Bedürfnissen des Lebens überprüfen und danach ändern werden; sie wird uns hoffentlich auch von jenen

231 Übertreibungen und Auswüchsen des Historizismus befreien. welche der natürlichen Entwicklung der Volkskräfte in Europa vielfach ein Hindernis sind.

Wir dürfen uns dabei von den amerikanischen Ver­ hältnissen nicht verblüffen lassen.

was

glänzt.

Keine

fremde

Es ist nicht alles Gold,

Einrichtung

bedarf

so

sehr

kritischer Prüfung wie die amerikanische, aber keine tritt uns

wie sie so lebensvoll, so ursprünglich, so menschlich im guten wie im unvollkommenen Sinne entgegen.

Der richtigen Ver­

arbeitung des amerikanischen Geistesstoffes dürfen wir nicht aus dem Wege gehen, am wenigsten auf dem Gebiete, dem

diese Schrift gewidmet ist.

X. Das Familienrecht und die Recht­ sprechung. Allgemeiner Charakter des amerikanischen Familienrechtes: Grundzug desselben, die Wohlfahrt der Kinder vor allem zu berücksichtigen. — Bestimmungen über die Entziehung der väterlichen Gewalt: Vergleich mit dem englischen Recht; auch das Kind hat nach amerikanischem Rechte einen gewissen Einfluß auf seine Unterbringung. — Die ausdrückliche oder stillschweigende Übertragung väterlicher Rechte an Vereine oder

Personen; Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes von Kansas. — Rechtliche Stellung des Naters gegenüber dem selbständigen Arbeits­ einkommen seines Kindes; prinzipielle Auffassung des amerikanischen Rechtes; Übereinkommen zwischen Vater und Kind bezüglich dessen Arbeits­ einkommen. — Emanzipation und die Tendenz des amerikanischen Rechtes, sie zu begünstigen. — Übereinstimmung des Familienrechtes mit der Für­

sorgepolitik. — Die staatspolitischen Interessen machen sich in der Recht­ sprechung immer mehr geltend; Konflikte zwischen konstitutionellen Bestimmnngen und den Fürsorgegesetzen; Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes des Staates Illinois, die auf einen Umschwung in der Auffassung der Richter zu gunsten der Fürsorgegesetzgebung schließen lassen.

Das amerikanische Familien- und Vormundschaftsrecht

beruht, wie das Zivilrecht überhaupt, aus englischem Rechte,

auf dem kodifizierten Privatrechte der einzelnen Staaten und auf den durch die Entscheidungen der Gerichte festgelegten

Rechtsregeln.

Die Geltung des englischen comwon lav ist

aber territorial und inhaltlich beschränkt, da es in einzelnen

Staaten überhaupt nicht in Geltung war und sonst überall

durch das Wachstum des kodifizierten Rechtes der einzelnen

233 Staaten (8Latutar^ lav, loeal Statutes), sowie des Prä-

judizialrechtes (3uäieial ckicta) überwuchert ist.

Lebendig, so zu sagen vor unseren Augen geht in den Vereinigten Staaten die Rechtsbildung vor sich.

Sie steht

unter den verschiedensten Einflüssen, ist nicht frei von Ab­

normitäten und schlägt in den einzelnen Staaten getrennte Wege ein, da das kodifizierte Recht immer nur das Recht

des betreffenden Staates ist und die leitenden richterlichen Entscheidungen „tbo leaäiuK eastzs" zunächst nur innerhalb

des Staates, in welchem sie gefällt werden, präjudizielle Be­ deutung haben.

Aber gerade in den wichtigen Fragen des

Familien- und Vormundschaftsrechtes, die uns hier interessieren, zeigt sich wieder, daß diese Vielheit der Rechtsbildung ein

starkes, ja überwiegendes Gegengewicht findet, das in den gleichen Lebensauffassungen der Amerikaner sowie in den

gleichen sozialen und wirtschaftlichen Interessen der Union

besteht, so

daß

man — abgesehen von jenen allerdings

manchmal bedeutenden lokalen Abweichungen — von einer

amerikanischen Rechtsauffassung im allgemeinen reden kann. Die Wissenschaft, das Juristenrecht, ist auch hier ein ver­

einigendes Band; die Gesetze der einzelnen Staaten werden untereinander verglichen und auf ihre Zweckmäßigkeit geprüft;

das Erprobte in einem Staate dient als Vorbild für andere und die leitenden richterlichen Sprüche, tlio loackinA oasos,

erlangen auf diese Weise Bedeutung für die Rechtswissenschaft

und die Rechtsprechung in der ganzen Union. Das amerikanische Recht stellt bei der Beurteilung der

väterlichen Gewalt die Pflichten des Vaters gegenüber seinen Kindern in den Vordergrund. Sie bestehen in der Gewährung

des nötigen Schutzes und Unterhaltes und in der Erziehung;

234 wenn die Erfüllung dieser Pflichten ausbleibt, macht der Staat sein Recht geltend als pawns patriae, als Beschützer

des Kindes, aber auch im Interesse der Allgemeinheit.

„Nicht

das Anwachsen der Bevölkerung an sich, sondern nur das

Wachsen einer in geordneten Verhältnissen lebenden intelligenten und ehrenhaften Bevölkerung ist bestimmend für die Macht

des Staates und Eltern, die es zugeben, daß ihr Kind wild aufwächst, als unnützes Glied der Allgemeinheit und als eine

Schmach für sich selbst, haben demselben ein sehr zweifelhaftes Geschenk gemacht, indem sie es in die Welt setzten."

Dieser

Satz, den James Schouler in seinem ausgezeichneten

Werke über die rechtlichen Familienbeziehungen (ckomostio rslations) am Eingänge seiner Erörterungen über die elterlichen Pflichten niedergeschrieben hat, kann als Devise

der Gesetzgebung und Rechtsprechung auf dem Gebiete des

amerikanischen Familien- und Vormundschaftsrechtes gelten^. Es ist eine anerkannte Kulturfrage geworden, wie die gehörige Erziehung der Kinder erreicht, wie ihnen jene Aus­

bildung gesichert werden könne, deren sie im Leben bedürfen. Dahin geht auch der große Zug der Gesetzgebung und Recht­

sprechung.

Er ist verschönert durch eine Forderung, die für

die amerikanische Lebensauffassung bezeichnend ist und die

insbesondere aus richterlichen Entscheidungen herausklingt: die Heranwachsende Generation hat nicht nur einen Anspruch

auf die Möglichkeit, sich eine geordnete wirtschaftliche Existenz zu schaffen, sondern auch auf ein gewisses Lebensglück, auf

ein gewisses Maß von Zufriedenheit in den Verhältnissen, in denen sie lebt. Auf diesem allerdings sehr flüchtig skizzierten Hintergrund

will ich einige spezielle Fragen familienrechtlicher Natur er­

235

örtern, welche sich auf das Verhältnis der von mir in den vorstehenden Kapiteln geschilderten Einrichtungen zur väter­

lichen Gewalt beziehen und die sich dem Leser wohl längst

selbst aufgedrängt haben.

Es handelt sich vor allem darum, festzustellen, unter welchen Voraussetzungen, in welchem Umfange und auf welche

Art die Entziehung der väterlichen Gewalt vor

sich gehen kann. Bis zum Jahr 1839 war im

englischen Rechte

die

Tendenz, die väterliche Gewalt aufrecht zu erhalten, eine

entschiedene.

Nur sehr grobe Vernachlässigung (vor^ gross

miseonäuet) führte zur Entziehung derselben.

Diese Maß­

regel wurde im englischen Rechte nur zögernd ausgedehnt. Ein Fall zu Beginn der Regierungszeit der Königin Viktoria,

in welchem das Gericht einem Vater, der mit einer Konkubine lebte, das Recht zusprach, sein Kind der eigenen Gattin, die ein tadelloses Leben führte, zu nehmen, rief eine große Ent­

rüstung hervor und gab den Anstoß zu dem Gesetze 2 und 3 Vikt. Kap. 54, bekannt als «lustieo lÄkourds ^et. Die Inter­

essen des Kindes, die in diesem Gesetze zum erstenmal in den Vordergrund treten, erhielten eine weitere legislative Speziali­

sierung in dem Ivkant's Oustock^

(36 und 37 Vikt. Kap. 12),

bis in dem Oustock^ ok Obilckron ^ot von 1891 (54 Vikt.

Kap. 3) der Standpunkt zum Durchbruch kam, wonach, wenn

ein Vater sein Kind aufgegeben oder zugelassen hat, daß es

von anderen Leuten oder in einer öffentlichen Anstalt auf­ gezogen werde, das Gericht nach Erwägung aller Umstände

die Rückgabe an den Vater verweigern kann. In den Vereinigten Staaten hat man von jeher im

Gegensatz zu England mehr Rücksicht auf die Wohlfahrt und

236 die Zukunft des Kindes genommen.

Es ist heute anerkannte

Doktrin, daß das Gericht, wenn es die Moral, die Sicher­ heit oder das Interesse des Kindes nach seinem Ermessen

als gefährdet ansieht, dem Vater die Obhut (eustoä^) ent­ ziehen und dieselbe der Mutter, oder, wenn diese auch nicht

geeignet ist, einer dritten Person übertragen kann.

Die

einzelnen Staaten weichen bezüglich der Rechte der Blutter

voneinander ab, Grundsatz bleibt aber, daß die Rücksicht auf das Wohl des Kindes stärker ist als alle anderen Interessen.

„Kurz gesprochen", sagt der oben erwähnte Autor,

„die

Wohlfahrt des Kindes ist in der heutigen Rechtsprechung

die alles andere überragende Erwägung, und die elterlichen Rechte werden nur im Vergleich mit der Art, wie die elter­

lichen Pflichten erfüllt werden, in Betracht gezogen." Es ist wohl eine

Eigentümlichkeit des amerikanischen

Rechtes, daß bei der Auswahl jener Person, welcher das

Kind an Stelle der Eltern in Obhut gegeben werden soll, dieses, falls es vom Gerichte als urteilsfähig anerkannt wird,

seinen eigenen Wunsch äußern dürfe, der nach dem Ermessen des Gerichtes

berücksichtigt wird.

Einen

charakteristischen

Fall, der in Chicago zur richterlichen Entscheidung kam, er­ zählt die Illinois Oüilärons Homo anck ^iä Loeiot^ in

einem Berichte des Jahres 1904.

Vor zehn Jahren hatte

eine Mutter dieser Gesellschaft ein kleines Mädchen übergeben, weil sie für dasselbe zu sorgen ganz außer stände war. Das Mädchen war jetzt dreizehn Jahre alt geworden und nun

verlangte es die Mutter vor Gericht wieder zurück.

Das

Mädchen war von der Gesellschaft als kleines armes Wesen

bei Pflegeeltern untergebracht worden, die es Tag und Nacht betreut, sorgsam aufgezogen hatten und jetzt wie ihr eigenes

237 Kind behandelten. Sie waren über die Zumutung, es heraus­

geben zu sollen,

empört.

Der Rechtsanwalt der Mutter

machte die Gefühle derselben und ihre Vereinsamung geltend,

der Rechtsanwalt der Pflegeeltern dagegen die innigen Bande,

die sich zwischen ihnen und dem Mädchen binnen diesen zehn Jahren geknüpft hatten, sowie die Opfer, welche von den

Pflegeeltern gebracht worden waren.

Der Richter, nachdem

er die Parteien achtmal vorgeladen uud vernommen hatte, fällte ein echt amerikanisches Urteil, indem er die Entscheidung

dem Kinde überließ, nachdem dasselbe wiederholt Gelegenheit

gehabt hatte, mit seiner Mutter zu verkehren und mit ihr bekannt zu werden.

Das Mädchen wollte jedoch bei den

Pflegeeltern bleiben, womit die Sache erledigt wurde.

Nach englischem Rechte kann der Vater, der durch ein

Übereinkommen sein Kind

der Obhut

einer Anstalt

oder

Person anvertraut hat, dasselbe jederzeit, nötigenfalls mit einer Klage (rvrit ok kabeas oorpus) zurückfordern.

Das

amerikanische Recht erkennt jedoch innerhalb gewisser Grenzen die

ausdrückliche

tragung

oder

väterlicher

Personen als giltig an.

stillschweigende

Rechte

an

Vereine

Über­ oder

Die Doktrin — wenigstens in

einer großen Zahl von Staaten — hält, wie Schouler aus­

führt, zwar daran fest, daß in der Regel die natürlichen

Rechte des Vaters bezüglich der Obhut seiner Kinder gewahrt werden müssen, daß aber das Interesse und die Wohlfahrt

des Kindes die Hauptrolle bei der Entscheidung dieser Fälle zu spielen haben.

Daher wird das Übereinkommen bezüglich

der Erhaltung und Erziehung eines Kindes, das ein Vater getroffen hat, der persönlich nicht geeignet ist, seine Pflichten zu erfüllen

oder das Übereinkommen, durch welches eine

238 mittellose, verwitwete Mutter ihr Kind einem Fürsorgeverein oder einer Familie zur Erziehung übergeben hat, in dem

Falle aufrecht erhalten, daß die Anstalt oder Person, welche das Kind übernommen hat, ihre Pflichten gegen dasselbe

erfüllt, und wenn diese Art Erziehung für dasselbe zweifellos von

Vorteil ist.

Alles

hängt

der

von

Beurteilung

des

einzelnen Falles ab, also auch die Frage, ob ein ausdrückliches oder stillschweigendes

Übereinkommen

genommen werden könne.

als

vorhanden

an­

Haben mittellose Eltern ihr Kind

bei Anverwandten aufziehen lassen oder haben Eltern ihre Rechte tatsächlich dadurch aufgegeben, daß sie ihr Kind in

einer fremden Familie aufwachsen ließen, so daß dadurch

quasi Familienbande angeknüpft wurden, so sind die ameri­ kanischen Gerichte nicht geneigt, diese Bande zu lösen, immer

vorausgesetzt, daß es der klare Vorteil des Kindes ist, daß dieselben aufrecht erhalten werden.

Andernfalls wird dem

Vater sein Kind auf die Klage kuboas eorpus hin zurück­ gegeben.

In

diese

Rechtsauffassung,

welche

die

amerikanische

Jurisprudenz beherrscht, gewähren die Entscheidungen der Gerichte den besten Einblick.

Ich bin von Herrn David

Brewer, der heute Richter am Obersten Gerichtshof der Union

(Luxrowo Oourt ok tbo Dnitock Ltatos in Washington) ist, auf einige Entscheidungen des Obersten Gerichts­

hofes des Staates Kansas aufmerksam gemacht worden, die er seinerzeit als Mitglied dieses Gerichtes gefällt hat. Diese IsaäinA easos sind für die in Rede stehende Rechts­

frage, aber auch für die Lebensauffassung, aus welcher sie geschöpft sind, sehr belehrend. In dem Falle Morris A. Chapscy v. Joseph H. Wood

239 (26 Kansas 650) lag folgender Tatbestand vor: Die Heirat der Eltern des Kindes, um welches es sich in dem Rechts­

streite handelte, war gegen den Willen der Eltern des Vaters

geschlossen worden, weswegen dieser mit seiner ihm angetrauten Gattin in die Welt ging, um sich eine Existenz zu gründen,

zu welchem Zwecke er übrigens eine Beisteuer von seiner Familie erhielt.

Rach einiger Zeit wurde dem Paar eine

Tochter geboren, aber die Mutter kränkelte seither und das

Kind

wurde von Vater und Mutter einverständlich einer

Schwester der letzteren, also seiner Tante, in Obhut über­ geben, wo es durch 5^2 Jahre in guter Pflege war.

Die

Mutter des Kindes war inzwischen gestorben, die Großeltern desselben söhnten sich mit dem Vater aus und wünschten,

daß er sein Kind wieder in sein Haus zurttcknehme.

Er

wurde jedoch mit seiner Klage auf Herausgabe des Kindes abgewiesen.

Das Gericht spricht in seinen Entscheidungs­

gründen aus, daß, wenn auch der Vater ein primäres Recht auf die Obhut des Kindes habe, doch die Interessen desselben

von entscheidender Bedeutung seien.

In der Beurteilung der

tatsächlichen Verhältnisse geht das Gericht davon aus, daß unter den gegebenen Umständen das Wohl des Kindes besser

gewahrt werde, wenn es in den Händen seiner Tante bleibe,

die tatsächlich Mutterstelle vertreten habe und von dem Kinde auch immer als Mutter angesehen wurde.

Dabei erwog der

Gerichtshof auch die Zukunft des Kindes und sagte in dieser Hinsicht: „Es liegt gar nichts vor, was darauf schließen ließe,

daß die Wohlfahrt des Kindes, das in der Vergangenheit

fo sehr befördert wurde, irgendeine Einschränkung in der Zukunft erfahren werde. Was die Pflegeeltern für das Kind

getan haben, zeigt, was sie auch in der Zukunft für dasselbe

240

tun werden; und das war mehr, als ein Kind durchschnittlich überhaupt zu erwarten hat."

Die besprochene prinzipielle Auffassung der Frage bringt

der Gerichtshof bei dieser Gelegenheit in nachstehender Weise

zum Ausdruck:

„Wenn Eltern ihr Kind erst nach Jahren

zurttckfordern, während welcher es durch neue Bande mit seinen Pflegeeltern verbunden und während welcher seinem

Leben und seinem Denken eine bestimmte Richtung gegeben wurde, muß genau geprüpft werden, ob eine Veränderung

zum Vorteile des Kindes ausfallen wird oder nicht.

Es ist

eine einleuchtende Tatsache, daß mit der Zeit die Bande des Blutes

schwächer werden, wenn

inzwischen

Bande

eines

anderen Zusammenlebens sich geknüpft haben und erstarken.

Das Gedeihen und die Wohlfahrt des Kindes beruht aber auf der Zahl und der Stärke dieser Bande." In einem anderen Falle (ilosopü V. Lullen kor u vrit

ok kaboas corpus 28 Lansas 781) wird das Kind von der

Großmutter zurückgefordert. Die Großeltern lebten in London. Der Vater des Kindes kam 1868 nach Kansas und heiratete 1875 in Leavenworth (Kansas), worauf er mit seiner Frau nach London zurückkehrte, wo das Kind, ein Mädchen, geboren

wurde.

Nicht lange darauf starb der Vater, der Protestant

war, und die Mutter, eine Katholikin, kehrte mit dem kleinen

Kinde nach Leavenworth zurück. Nach längerem Leiden starb sie dort in Armut und es war ihr letzter Wunsch, das Mädchen den Esters ok Okarit^ ok 8t. Vincent ok Laut

anzuvertrauen, welche ihr auch das Versprechen gaben, für das Kind zu sorgen und dieses Versprechen gewissenhaft er­ füllten.

Zwei Jahre später wurde von der Großmutter in

London die Klage auf Herausgabe des Kindes erhoben.

Der

241 Großvater war inzwischen in London gestorben und hatte

seiner Enkelin ein Vermögen hinterlassen unter der Bedingung, daß sie, bevor sie sieben Jahre alt geworden sei, nach England

gebracht und in der Religion ihres Vaters, der protestantischen, erzogen werde.

In diesem Falle entschied der oberste Ge­

richtshof von Kansas zugunsten der Klägerin, indem er das

Interesse des Kindes am besten durch die Übergabe an seine

Großmutter für gewahrt erkannte. In den Entscheidungsgründen werden die von den beider­

seitigen Vertretern vorgebrachten Argumente resümiert und

gegeneinander abgewogen, wobei auch hier die Wohlfahrt des

Kindes den Ausschlag gibt.

Von der einen Seite (der ge­

klagten Partei) wird geltend gemacht: eine Großmutter hat überhaupt keinen gesetzlichen Anspruch auf die Obhut ihrer

Enkelin; es kann niemals Sache eines amerikanischen Ge­

richtes sein, einen Ausspruch zu fällen, durch welchen ein Bürger der Union expatriiert wird, und sei es selbst ein Kind;

der letzte Wunsch der sterbenden Mutter muß geachtet werden; abgesehen von allen diesen Umständen ist das Kind jetzt

glücklich untergebracht, befindet sich in guten Händen, die es

liebevoll betreuen und ordentlich erziehen; es ist nicht ge­

nügend dargetan, daß der Wechsel die Lage des Kindes

wesentlich verbessern werde.

Von der anderen Seite (der

klägerischen Partei) wird behauptet: durch die Übergabe an

die Großmutter wird das Kind erhalten, was es bis jetzt entbehrt, nämlich die Umgebung und den Segen einer Familie, wo persönliche Anhänglichkeit und nicht nur eine geschäfts­

mäßige Pflicht im Hause herrscht; zudem ist dem Kinde ein Vermögen gesichert, falls es in England erzogen wird, in

einem Ausmaße, wodurch es in der Zukunft verhältnismäßig Baernreither.

16

242 unabhängig sein wird.

Aus diesem Grunde liegt die Über­

gabe des Kindes an die Großmutter in seinem Interesse.

Der Anwalt der Klägerin führt auf Grund dieses Tat­ bestandes weiter aus, es sei richtig, daß die Großmutter kein Anrecht auf das Kind habe, sowie auch von ihrer Seite keine

gesetzliche Verpflichtung vorliege, es in Obhut zu nehmen. Auch könne nicht behauptet werden, daß das Kind von den

Listen ok Odarit^ rechtswidrig zurückgehalten und seiner Freiheit beraubt werde, ein Umstand, der in der Regel die

notwendige Voraussetzung einer Klage badest eorpu8 bildet.

Aber was Kinder betrifft, wurde die Geltung dieser Klage sehr ausgedehnt.

Die Gerichte seien geneigt, auch abgesehen

von rechtswidriger Vorenthaltung im technischen Sinne des Wortes, die Klage rücksichtlich von Kindern zuzulassen, indem

sie auf Grund derselben untersuchen, ob das Kind in Ver­

hältnissen untergebracht ist, die seine möglichste Wohlfahrt

gewährleisten.

In diesen Fällen sei, wie vorliegend, die Klage

als eine Klage des Kindes aufzufassen. Diesen Plaidoyers gegenüber spricht sich

der Richter,

nachdem er die Verhältnisse in dem Hause der Großmutter

in London besprochen und festgestellt hatte, daß dieselben durchaus günstige seien, in nachstehender Weise aus: „Mit verzeihlicher Parteilichkeit blicken wir auf unser Vaterland, auf seine Gesetze, Einrichtungen und sein soziales Leben, die

wir für die besten halten, und nicht leichthin sollte ein Kind dieser Wohltaten beraubt werden.

Doch dürfen wir in dieseni

Falle die Tatsache nicht übersehen, daß das Mutterland des

Kindes, England, ein Land ist, wo Freiheit und Gesetzmäßig­

keit herrschen, wo Erziehung und soziale Bildung, Moralität

und Religion zu Hause sind.

Es wäre daher falsch, die Ex­

243 patriierung des Mädchens gegenüber jenen Vorteilen geltend zu machen, deren es teilhaftig werden kann.

Auch kann die

Rückgabe des Kindes nach England im technischen Sinne gar

nicht eine Expatriierung genannt werden.

Das Kind ist nicht

in Amerika geboren, und es ist nicht erwiesen, daß Vater oder

Mutter je die fremde Staatsbürgerschaft verloren hätten. Außerdem ist die Großmutter des Kindes von dem Gerichts­

höfe in England zur Vormünderin desselben bestellt worden, und wenn daher der Klage stattgegeben wird, so kommt das

Kind unter den gesetzlichen Schutz einer Gerichtsbarkeit, deren Zuverlässigkeit allgemein anerkannt ist.

Aber ich lege auf

alles das verhältnismäßig wenig Gewicht und

wende mich der wichtigsten Erwägung zu, indem ich frage: Was ist in diesem Falle das Vorteil­ hafteste für

das Kind?

Wenn ich diese Frage aus

meiner Erfahrung zu beantworten suche und sie auf Grund von allgemein anerkannten Lebensverhältnissen prüfe, kann ich nicht anders entscheiden, als daß die Wohlfahrt des Kindes und seine Interessen am besten befördert werden, wenn der Klage stattgegeben und das Mädchen der Groß­

mutter ausgefolgt wird. dafür.

Es sprechen zunächst zwei Gründe

Das Leben des Kindes wäre in Amerika das Leben

in einer Anstalt, in England das Leben in einer Familie.

Mag

eine

Anstalt

noch

so

hoch

stehen bezüglich

ihrer

Lehrer, mag das Leben in derselben noch so rein, mögen die Leiter derselben noch so treu und hingebend sein, und

mag für das leibliche Wohl und die Erziehung aller der vielen Insassen noch so gut gesorgt werden — es wird dort einem

Mädchen doch jene weibliche und liebenswürdige Entwicklung

fehlen, welche durch eine persönliche und liebevolle Behandlung 16*

244 in der Familie erreicht wird.

Ich will nicht im geringsten

die Vorteile, welche solche Anstalten bieten, herabsetzen; ich halte sie für segensreich und bin der Meinung, daß selbst Kinder, die das Glück eines Heims genießen, mit großem

und bleibendem Nutzen

zeitweilig

in Anstalten

unter­

gebracht werden können. Aber wenn die Frage zu entscheiden

ist, ob die ganze Jugend in einer Anstalt zugebracht werden soll oder in einer Familie, so ist wohl kein Zweifel, daß das letztere vorzuziehen ist.

Und ich zweifle nicht, daß selbst die

guten Schwestern, welche die Anstalt, um die es sich handelt, leiten, mit Ehrfurcht auf das Familienleben in ihrer eigenen Jugend zurückblicken trotz

allem Stolz, den sie in ihren

jetzigen Beruf setzen, und trotz aller Liebe für eine Anstalt, der sie ihr Leben mit heiligem Eifer gewidmet haben; sie fühlen vielleicht trotz alledem, daß das Familienleben ein

Segen war, der durch nichts aufgewogen werden kann.

Der

zweite bestimmende Grund für meine Entscheidung ist eine pe­ kuniäre Erwägung.

Ich denke nicht so niedrig, zu glauben,

daß die Geldfrage die einzige ist, die Berücksichtigung verdient, aber wenn andere Dinge sich die Wage halten, ist sie gewiß

von Bedeutung.

Wenn das Kind in Amerika bleibt, wird

es erwachsen sein und ohne jede materielle Mittel dastehen, einzig auf seine Arbeit und auf die Hilfe anderer angewiesen. Dort in England wird es ein kleines Vermögen haben, keine Reichtümer, aber so viel, daß es vor Mangel geschützt ist und

eine freiere Bewegung im Leben gewinnt.

Es ist wahr, daß

eine Bedingung an den Erwerb dieses Vermögens geknüpft

ist (die Erziehung in der protestantischen Religion), die nach

meiner Meinung etwas Gehässiges und Ungerechtes hat, und die ich verurteile.

Sie läßt auf den engherzigen Geist des

245 Testators schließen, der weit entfernt gewesen zu sein scheint

von der freien Auffassung, die heute allgemein ist.

Aber

dieses kleine Mädchen soll die Gelegenheit haben, einst für sich selbst zu entscheiden, ob es das Vermögen, welches mit

dieser Bedingung belastet ist, annehmen, oder ob es darauf verzichten will. Heute weiß es nichts von dem Werte dieser Zu­

wendung, von der Absicht und Bedeutung der Bedingung. Es wäre falsch, dem Mädchen die Möglichkeit zu versagen, selbst eine wohlüberlegte Wahl zu treffen. Wenn es die Unterscheidungs­

jahre erreicht haben wird, so kann es sich dem Glauben seiner

Mutter anschließen und das Legat seines Großvaters aus­ schlagen oder es kann es annehmen, und sich für den Glauben

feines Vaters entscheiden.

Dadurch, daß der Klage statt­

gegeben wird, bleibt dem Mädchen die Entscheidung vorbehalten. Es haben die Vertreter des geklagten Teiles sehr nachdrücklich geltend gemacht, daß es der letzte Wunsch

der sterbenden

Mutter war, das Kind in die Anstalt ausgenommen zu sehen. Aber dabei ist zu bedenken, daß sie eine Fremde war im

fremden Land, allein und sterbend, und daß alle ihre Ge­

danken der Zukunft ihres Kindes galten.

Sie hatte zuerst

in Aussicht genommen, ihr Kind der Familie ihres Mannes in England anzuempfehlen, aber als sie bei den Schwestern

der Anstalt eine so liebevolle Aufnahme fand, kam sie zur

Überzeugung, daß dieselbe Sorgfalt auch ihrem Kinde zu­

gewendet werden würde, und fo kamen ihre Gedanken auf den naheliegenden und sichersten Ausweg, der sich ihr in ihrer

Hilflosigkeit darbot.

Aus einem Briefe, den sie kurz

vor

ihrem Tode schrieb, als sie schon in der Pflege der Schwestern stand,

geht

übrigens

unzweifelhaft

ihre Zuneigung

zur

Familie ihres Gatten hervor, und sie übergab ihr Kind den

246 Schwestern ohne jeden Widerwillen gegen die Familie ihres

Mannes." Diese beiden Entscheidungen beweisen, wie weit amerika­ nische Gerichte in familienrechtlichen Fragen geneigt sind, die

Rücksicht auf die Erziehung, das Lebensglück und die Zukunft

des Kindes in den Vordergrund aller Erwägungen zu stellen. Dem Urteil des Lesers muß ich es allerdings überlaßen, ob

der Richter in dem zweiten Falle dem Dilemma, in dem er sich

bezüglich

der konfessionellen Frage befand, tatsächlich ent­

gangen ist. Eine möchte,

zweite Rechtsfrage, betrifft die

auf die ich hier Hinweisen

Stellung

des

Vaters zu

dem

selbständigen Arbeitseinkommen seines Kindes.

Die Gerichtshöfe erkennen, wenn der Vater das Kind genötigt hat, sich selbst zu erhalten, ein Recht desselben auf

das Arbeitseinkommen des Kindes nicht an. Die Entscheidung

eines Gerichtshofes in New Hampshire sagt, es wäre geradezu Sklaverei, wollte man einem Vater unter solchen Umständen ein Recht einräumen.

Wenn der Vater auch nur stillschweigend einwilligt, daß sein Kind sich verdingt und seine Arbeitskraft verwertet, so hat er auf das Einkommen desselben keinen Anspruch.

Im

Gegenteil begünstigen die amerikanischen Gerichtshöfe einen

solchen Erwerb des Kindes, und zwar ohne Rücksicht auf eine Altersgrenze.

Ein Gesetz des Staates New Jork besagt, daß,

wenn ein Vater dem Arbeitgeber seines Kindes nicht inner­

halb 30 Tagen Kenntnis davon gibt, daß er auf den Ver­

dienst des Kindes Anspruch mache, die Zahlung an das Kind rechtsgültig erfolgen könne. Übereinkommen

bezüglich

Zwischen Vater und Kind können

des Arbeitseinkommens

getroffen

247

Es kommt oft vor und ist gesetzlich zulässig, daß

werden.

ein Minderjähriger sich bezüglich seiner persönlichen Erwerbs­ fähigkeit loskauft (to duz? out bis time Lor tim remaimier ok bis minoiit;), indem er seinem Vater eine gewiße Summe

zahlt und dagegen feine Arbeit für sich verwerten kann, wie

Es ist auch zulässig und üblich, daß der Vater

er will.

seinem Kinde in dieser Hinsicht nur teilweise Einräumungen In diesen Fällen liberiert ein solches Übereinkommen

macht.

den Arbeitgeber gegenüber einer Forderung des Vaters nur

dann,

ivenn ihm von dem Übereinkommen Kenntnis ge­

geben ist.

Andernfalls muß der Arbeitgeber den Lohn dem

Vater heransgeben.

Der Heuerlohn minderjähriger Seeleute

gehört, wenn kein Übereinkommen vorliegt, dem Vater; die

Löhnung und Bezüge des Soldaten zu Land und zu Wasser sind aber als ein höchst persönliches Einkommen des Minder­

jährigen anerkannt, und der Vater hat keinen Anspruch darauf.

Die Emanzipation ist in verschiedenen Formen zu­ lässig, in manchen Staaten auch durch mündliches Überein­

kommen.

Sie kann auch aus den Umständen und konklu­

denten Handlungen gefolgert werden. Umstände,"

lehrt

Schouler,

„die

„Selbst geringfügige

noch

kein

Verschulden

(miseonäuet) des Vaters involvieren, aber auf seine Zu­

stimmung schließen lassen, das Kind möge das elterliche Haus

verlassen und in der Welt sein Glück versuchen, werden oft

als Emanzipation anerkannt." Was hier von der väterlichen Gewalt gesagt ist, gilt

analog

auch

für das vormundschaftliche Verhältnis.

Die

Großjährigkeit tritt in Amerika fast überall mit vollendetem 21. Lebensjahr ein; in einigen Staaten sind Mädchen schon

nach dem zurückgelegten 18. Lebensjahr großjährig (Vermont,

248 Ohio, Illinois und in einigen westlichen Staaten).

Das

amerikanische Recht erkennt auch eine mit den Jahren wachsende

Handlungsfähigkeit innerhalb der Minderjährigkeit an; in dieser Hinsicht

bildet das

erreichte

14. Lebensjahr

beim

männlichen und das erreichte 12. beim weiblichen Geschlechte eine gewisse Grenze; auch das tatsächliche, von Fall zu Fall

vom Richter zu untersuchende Unterscheidungsvermögen spielt eine Rolle. Ich muß mich auf diese wenigen Andeutungen bezüglich

des Familienrechtes und der Rechtsprechung beschränken.

Ich

glaube aber damit dennoch meinen Zweck erreicht zu haben,

nämlich zu zeigen, wie die Gestaltung des Privatrechtes in den Vereinigten Staaten sich nicht nur in voller Überein­

stimmung mit den Hauptzügen der Fürsorgepolitik befindet,

sondern wie Recht und Rechtsprechung die

ausgesprochene

Tendenz haben, die Richtung, die ich in den vorangegangenen

Kapiteln zu schildern bemüht war, anzuerkennen und ihr eine

sichere, allgemein gültige Grundlage zu geben. nische Recht

erleichtert

Das amerika­

die Anknüpfung neuer Bande in

fremden Familien, wenn die Verhältnisse in der natürlichen Familie unhaltbar geworden sind; das stimmt auch mit der

Ansiedlungspolitik zusammen, die heute in Amerika bezüglich der

verwahrlosten und straffälligen Jugend verfolgt wird.

Gesetzgebung und Rechtsprechung verfolgen ferner die Absicht,

es der Jugend zu erleichtern, sich wirtschaftlich selbständig zu machen; denn sie erblickt in jedem Kinde den zukünftigen

Staatsbürger der Union, der ein Recht darauf hat, sich durch eigene Kraft Einkommen und Lebensglück zu erringen.

Möglichkeit soll ihm nicht versperrt werden.

bei

allen

Diese

Deswegen spielt

familienrechtlichen Entscheidungen die Wohlfahrt

249 und die Zukunft des Kindes die Hauptrolle, und die Rechte der Eltern schwinden, wenn sie in dieser Hinsicht ihre Pflichten

versäumen.

Man darf aber aus diesen Tatsachen nicht etwa zu weit­ gehende Folgerungen ziehen.

Die Familie und die väterliche

Gewalt soll die Grundfeste der Gesellschaft bleiben.

Der

Amerikaner dürfte nicht Anglo-Sachse sein, wollte er diesen Grundsatz verleugnen.

Aber ebenso entschieden bricht sich die

Auffassung Bahn, Familienbande, die unbrauchbar geworden

sind, aufzugeben und andere an deren Stelle zu setzen.

Be­

stimmt durch diese beiden Erwägungen sucht Gesetzgebung

und Verwaltung heute ihren Weg.

Man kann aber für die letzten Jahrzehnte feststellen, wie

in der Rechtsprechung die staatspolitischen Interessen, die sich bezüglich des Fürsorgewesens geltend machen, sowohl

die

Herrschaft des abstrakten Freiheitsbegriffes als privatrechtliche Erwägungen nach und nach zurückdrängen.

Ich möchte diese

Tatsache an einigen Entscheidungen des obersten Ge­ richtshofes des Staates Illinois nachweisen.

Da

aber hier gewisse konstitutionelle Fragen mitspielen, muß ich mir

erlauben, etwas weiter auszuholen. Die Konstitution der Union ist ein Grundgesetz, das in

geheimer Beratung zustande gekommen und dann in den ein­ zelnen Staaten in eigens zu diesem Zwecke gewählten Ver­

sammlungen angenommen worden ist, also unmittelbar auf

dem Volkswillen beruht. Es können daher zwar Abänderungen und Zusätze (^mevckmouts) zu der Konstitution mittelst eines

besonderen Verfahrens beschlossen werden, aber der Kongreß kann innerhalb seiner regelmäßigen Kompetenz an der Kon­

stitution nichts ändern, sondern er muß sich im Gegenteil be­

250 züglich seiner Gesetzgebung innerhalb der von der Konstitution

gezogenen Grenzen bewegen.

Das Urteil darüber,

ob er

diese Grenze im einzelnen Falle überschritten hat oder nicht,

steht dem obersten Gerichtshof der Union (Zuprome Oourt

in Washington) zu.

Ganz analog verhält es sich bezüglich

des Verhältnisses der Konstitution und der legislativen Körper­ schaft in jedem einzelnen Staate.

Diese letztere muß sich bei

ihren Beschlüßen innerhalb jener Grenzen halten, welche ihr

die Konstitution des Staates vorzeichnet.

Auch hier ruht die

Entscheidung, ob ein staatliches Gesetz der staatlichen Kon­

stitution und den in derselben festgelegten Grundsätzen zuwider­ läuft oder nicht, in den Händen der Richter, und zwar in

diesem Falle in den Händen des obersten Gerichtshofes des

betreffenden Staates.

Der richterlichen Gewalt ist hier wie

dort die Auslegung der Verfassung anvertraut. Eine amerikanische Staatsverfassung enthält aber viele Dinge, die in Europa der gewöhnlichen Gesetzgebung über­ lassen wären oder selbst in das Gebiet der Verwaltung fallen

würden.

Auf diese Weise sind Konflikte mit der beweg­

lichen Gesetzgebung des Staates nicht nur denkbar, sondern

sie kommen tatsächlich auch nicht selten vor. Eine große Rolle

spielt in allen Verfassungen der Vereinigten Staaten die Lill ok kißdtZ, in welcher aber sehr verschiedene allgemeine Grund­ sätze ausgesprochen sind, und die Richtung der Gesetzgebung in einem Staate wird oft erklärlich, wenn man auf den ur­

sprünglichen Sinn und die ursprüngliche Tendenz der Staats­ konstitution zurückgeht.

So nimmt es nicht wunder, daß in

Massachusetts die Trunkenheit an sich schon als eine strafbare Handlung verpönt ist, wenn man in der Konstitution dieses ursprünglich puritanischen Staates den Satz findet, daß zur

251 Wahrung

der Freiheit und zum Vorteile der bürgerlichen

Gemeinschaft unbedingt notwendig sei, die Frömmigkeit, Ge­

rechtigkeit, Mäßigkeit (tomperanoo), den Fleiß und die Ge­ nügsamkeit aufrechtzuerhalten

Die Richter der obersten Gerichtshöfe kommen also in die Lage, auch über die Verfassungsmäßigkeit staatlicher Ge­

setze, d. h. über die Frage, ob ein Gesetz sich in Überein­ stimmung mit den Bestimmungen der Konstitution befindet, zu entscheiden.

Diese Frage der Verfassungsmäßigkeit kann aus

Anlaß jedes einzelnen Falles, in welchem sich eine Partei

durch die Anwendung des angefochtenen Gesetzes beschwert erachtet, aufgeworfen werden und wird immer zunächst mit

Rücksicht auf den speziellen Fall entschieden. Natürlich spielen die I^aäing Oasos auch hier eine große Rolle. Ich habe bereits anläßlich der Besprechung des Jugend­ gerichtes in Pennsylvanien berichtet, daß dort das erste Gesetz,

das Jugendgericht betreffend, von dem obersten Gerichtshöfe

des Staates für verfassungswidrig erklärt wurde, und ich habe auch angedeutet, aus welchem Grunde dies geschah. Der oberste Gerichtshof fand in dem «luvonile Oourt Imnein Sonderrecht, welches verschiedenen Bestimmungen der Ver­

fassung widerspreche.

Von Anhängern der besondern Jugend­

gerichtsbarkeit wurde aber behauptet, daß bei dieser Ent­

scheidung die prinzipielle Gegnerschaft der oberstrichterlichen

Kreise gegen die Idee der Jugendgerichtsbarkeit überhaupt

mit von Einfluß auf die Entscheidung gewesen sei. Ich kann das natürlich nicht entscheiden, aber habe bereits gesagt, daß

die Anhänger der Reform nach kurzer Zeit ein neues lluvouilo Oourt Imv durchsetzten,

welches in der Sache ganz un­

wesentlich von dem ersten, als verfassungswidrig erklärten

252

Gesetze abweicht, und daß das neue Gesetz heute nicht nur ganz unangefochten in Wirksamkeit steht, sondern von der

Sympathie aller daran beteiligten Kreise getragen wird. Die Fälle, die ich hier der Rechtsprechung des obersten

Gerichtshofes

von Illinois entnehme,

beweisen aber noch

klarer und konkreter, wie in den Anschauungen der oberst­ richterlichen Kreise in den letzten Jahren ein bemerkenswerter Umschwung zugunsten der heutigen Fürsorgepolitik eingetreten

zu sein scheint.

Diese Entscheidungen nebeneinander gestellt,

lassen die veränderte Auffassung deutlich erkennen. Als die Bevölkerung Chicagos die ersten 100000 Ein­ wohner überschritten hatte und in rascher Zunahme begriffen

war, wurde im Jahre 1863 durch das Statut der Stadt und im Jahre 1867 durch ein Gesetz des Staates Illinois eine

Zwangsschule ins Leben gerufen, um in derselben Kinder zwischen dem 6. und 16. Jahre, „welche der gehörigen elterlichen

Fürsorge entbehren und in Bettelhaftigkeit, Unwissen, Faulheit

und Laster aufwachsen" (vba are äostituto ok proper parental

eure and grocvinß up in nieclieave^, i^noranee, iäleness or viee) zu erziehen.

Der Richter, welcher nach Anhörung

der Eltern und Angehörigen des betreffenden Kindes die Ver­ weisung in die Anstalt zu verfügen hatte, konnte aber auch

straffällige Kinder, wenn sie sich seiner Meinung nach zur Er­

ziehung in der Anstalt eigneten, dahin senden.

Diese Ver­

weisung galt in allen Fällen für so lange, bis der Ver­ waltungsrat der Anstalt das Kind als gebessert zu entlassen

fand, jedoch für nicht länger als bis zur erreichten Groß­

jährigkeit.

Diese Bestimmungen waren Vorläufer jenes aus­

führlichen Gesetzes, das heute in Chicago in Kraft ist, und

das ich aus Anlaß der Besprechung des Jugendgerichtes in

253

dieser Stadt dem Leser vorgeführt habe.

Ich darf hier wohl

in Erinnerung bringen, daß dieses Fürsorgegesetz heute für

andere Staaten ein Vorbild geworden ist, und daß alle Faktoren der öffentlichen Verwaltung seine Durchführung unterstützen

und fördern.

Im Jahre 1870 jedoch, als der oberste Ge­

richtshof von Illinois in die Lage kam, über die ersten An­

fänge der heute so allgemein anerkannten Grundsätze zu ent­

scheiden, hatte er noch keineswegs eine günstige Meinung von den Absichten dieser Art Gesetzgebung und hielt sie mit dem

Geiste der Konstitution des Staates Illinois für unvereinbarlich. In dem erwähnten Jahre hatte der Richter einen Knaben,

der zwischen 14 und 15 Jahre alt war, und den er als ver­ wahrlost, wenn auch nicht als straffällig erkannte, in die er­

wähnte städtische Zwaugsschule verwiesen.

Der Vater des

Knaben bestritt die Rechtmäßigkeit dieser Verweisung und

verlangte dessen Freilassung (mittelst vrit ok Kadens eorpus) hauptsächlich mit der Begründung, daß der Knabe

keine

strafbare Handlung begangen habe, feiner Freiheit unrecht­ mäßig beraubt worden sei, und daß das Gesetz, auf Grund

dessen die Verweisung erfolgte, eine Verletzung der Lill ok Ligkts bedeute und daher nichtig sei.

Der oberste Gerichts­

hof gab dem Klagebegehren statt und verfügte die Entlassung

des Knaben aus der Anstalt.

Er begründete dies mit Aus­

führungen, die beweisen, wie damals die oberstrichterlichen Kreise des Staates über die Anfänge der neuen Gesetzgebung

dachten.

In den Entscheidungsgründen

des Falles (Vdo

xooplo ok tko Ltato ok Illinois ox rol. NiekaoI O'Eonnol

v. Lobort lurnor, Luporintonäont ok tko Lokormator^ Lekool ok tko Oit^ ok Okieago, 55 III. 280)°° geht das

254 Gericht — das sich auf die Untersuchung der Art der ver­

hängten Zwangserziehung und der Einrichtungen der betreffen­ den Anstalt gar nicht eingelassen hatte — davon aus, daß ihm

nichts anderes vorliege als das Verlangen des Vaters, sein Kind zurückzuerhalten, welches eine strafbare Handlung nicht

begangen habe, ferner daß das Kind in einer Anstalt, von deren Einrichtung der oberste Gerichtshof nichts wisse, für

eine übermäßig lange Zeit verwiesen sei.

Der Gerichtshof

unternimmt es, die Begriffe der „gehörigen elterlichen Fürsorge"

sowie die verschiedenen Kriterien der Verwahrlosung, die das

Gesetz von 1867 aufstellt, zu kritisieren, und kommt zu dem

Schluffe, daß alle diese Begriffe relative seien, und daß das

Gesetz

ungerechtfertigte Konsequenzen

aus

denselben

ziehe.

„Ein Gesetz sollte bezüglich der Erziehung zwischen Kindern

und Eltern nur im äußersten Notfälle eingreifen.

Das an­

gewendete Gesetz macht aber den Eingriff zu leicht; die ge­ forderten Beweise sind nicht ernst genug, das Verfahren ist zu formlos, und dies führt zu einem Konflikte mit den natür­

lichen Rechten der Eltern.

Bevor die elterlichen Rechte in

irgendeiner Richtung eingeschränkt werden, müßte grobe Ver­ nachlässigung oder eine fast gänzliche Unfähigkeit von feiten

der Eltern klar erwiesen sein.

Die elterliche Gewalt ist gött­

lichen Ursprungs, und jedem Versuch, sie außer im Falle un­

bedingter Notwendigkeit zu beschränken, muß in allen gut verwalteten Staaten entgegengetreten werden.

In unserm

Lande beruht die Hoffnung des Kindes, was seine Erziehung und Zukunft betrifft, vor allem auf seinem Vater; dieser kämpft und arbeitet in seinem Leben für sein Kind, und das

Bestreben, dasselbe glücklich zu machen, ist ein mächtiger An­

sporn für ihn, fleißig und sparsam zu sein.

Der gewaltsame

255 Abbruch dieser Beziehungen würde nicht nur bei dem Vater diese Motive abschwüchen, sondern geradezu seine natürlichen

Gefühle zerstören."

Die Entscheidungsgründe führen weiter aus, daß auch das elterliche Recht auf Züchtigung und Zwang gegenüber

den Kindern ein beschränktes sei, und daß, wenn ein Vater sein Kind auf ein Jahr einsperren wollte, sich ein Schrei der Entrüstung wegen einer solchen Unmenschlichkeit erheben

würde.

Nach dem erwähnten Gesetze sei es aber denkbar,

daß ein Kind von 6 Jahren bis zu seinem 21. Lebensjahre in die Anstalt verwiesen wird, also auf ein halbes Menschen­

alter.

Eine solche Beschränkung der natürlichen Freiheit sei

Tyrannei und Unterdrückung.

Die Entlassung durch

den

Verwaltungsrat der Anstalt, also durch eine Verwaltungs­

behörde (oxoeutivo elomonex), sei hier nicht am Platze, denn

es wurde keine strafbare Handlung begangen.

Jedes über

10 Jahre alte Kind kann eines Verbrechens schuldig befunden

und in das Gefängnis gebracht werden;

aber ohne Ver­

urteilung, ohne daß es eine strafbare Handlung begangen hat, kann es niemand der Freiheit berauben, da die Lill ok Uigdts erklärt: „all mon aro, b^naturo krss anä inckspenäent

anck dnve eertain indsront ami inalianubls ri^dts — among td686 aro liko, lidsrt^ ancl tdo pursuit ok buppinoss.« Der oberste Gerichtshof geht aber in diesem Falle in der Verteidigung der persönlichen Freiheit und in der Verurteilung

der Zwangserziehung so weit, daß er zum Schlüsse sagt: „Man kann nicht sagen, daß in diesem Falle eine Ein­

sperrung nichtstattfindet; der Knabe ist der väterlichen Sorg­ falt entzogen, der häuslichen Einflüsse beraubt, hat nicht die

Freiheit der Bewegung, ist für eine unbestimmte Zeit ver-

256

urteilt, ist zum Übeltäter gestempelt, dem Willen anderer unterworfen und fühlt sich als Sklave.

Nichts trägt mehr

dazu bei als diese Umstände, seine jugendliche Energie zu lähmen, seine guten Vorsätze zu vernichten und ihn ungeeignet

zu machen für sein späteres Leben.

Andere Mittel milderer

Art, andere Gesetze, welche die persönliche Freiheit weniger

einschränken, würden die Besserung der Verwahrlosten sicherer erreichen und unveräußerliche Rechte weniger beeinträchtigen." Schärfer kann wohl der Gedanke der Zwangserziehung nicht beurteilt werden.

Aber schon 12 Jahre später fällte

derselbe oberste Gerichtshof in einem ähnlichen Falle ein ganz

anderes

Urteil,

und

in

den

Entscheidungsgründen

kommt ein vollkommener Umschwung der Ansichten zum Aus­

druck. (Hie Petition ok ^lexanckor lerritzr tiltzck at Oktavs, lluntz 21 1882.

103 III. 367.)

Auf Grund eines Gesetzes in Illinois aus dem Jahre

1879 — welches dem Gerichte die Befugnis gab, „Mädchen,

die auf der Straße bettelnd, sei es auch unter dem Vorwand, etwas zu verkaufen, angetroffen werden oder die der gehörigen elterlichen Fürsorge entbehren, oder die subsistenzlos herum­

ziehen oder in Gesellschaft von übelberüchtigten Personen gefunden werden", in eine Zwangsschule (Inckustrisl Lekool kor Oirls) zu verweisen — wurde ein neunjähriges Mädchen dieser Zwangsschule überwiesen, jedoch seine Freilassung, und

zwar unter Berufung auf die eben angeführte Entscheidung aus dem Jahre 1870, begehrt.

gewiesen.

Dieses Begehren wurde ab­

Der Gerichtshof geht vor allem in die Unter­

suchung der Art und Weise der verhängten Zwangserziehung

näher ein.

Von der Vorsteherin der Anstalt wird vor dem

Gerichtshöfe ausführlich darüber Bericht erstattet, wie diese

257

Zwangserziehungslinstalt aussieht; es wird erklärt, daß sie

kein Gefängnis sei, daß die Mädchen dort keineswegs unter Schloß und Riegel gehalten, sondern nur jenen Einschränkungen

unterworfen werden, wie sie in öffentlichen Schulen über­ haupt üblich und notwendig sind.

Der oberste Gerichtshof

stellt die Verwahrlosung des Mädchens fest, den Mangel

elterlicher Überwachung und die Gefahren des Straßenlebens für dasselbe, während er anderseits alle Vorteile einer guten

Erziehung in der Anstalt in lebhaften Farben schildert.

Er

sieht daher in der Anhaltung des Mädchens in der betreffen­ den Juckustrial sebool" keine Verletzung der bill ok rigllts,

da diese Anhaltung mit keiner anderen Einschränkung der

persönlichen Freiheit verbunden ist, als es dem Zweck der Er­ ziehung

überhaupt entspricht.

„Eine solche Einschränkung

der persönlichen Freiheit ist für die Erziehung wesentlich und es liegt darin mit nichten eine Verletzung von unveräußer­

lichen Rechten.

Der

Gewalt, welche

das

Gericht

durch

den Beschluß auf Überweisung des Mädchens in die An­

stalt ausgeübt hat, wohnt derselbe Charakter inne wie der

Entscheidung

eines

Vormundschaftsgerichtes

(tllo

sums

eüaraetor ok ttio jurisäiotion oxereisock bv tbo oourt ok

edancor^

ovor tllo porsons

auä proport^ ok inkant8),

welches einschreitet als paron8 patriae, um jene zu beschützen, die des Schutzes entbehren.

Diese Jurisdiktion erstreckt sich

auf die Sorge um die Person des Kindes, und zwar so weit,

als dies in seinem Interesse notwendig ist; aus diesem Grunde kann sie auch in die elterlichen Rechte eingreifen, wenn diese

Obsorge in Frage kommt."

Es spreche, sagt der oberste

Gerichtshof weiter, eine Präsumption dafür, daß die Eltern

die Erziehung ihrer Kinder besorgen; sobald aber diese PräBaernreither.

17

258

sumption durch die Tatsachen entkräftet werde, hat das Ge­

richt

als

Vormundschaftsbehörde

einzuschreiten

und

den

Eltern die Obhut des Kindes zu entziehen. Von dem Zwangs­

erziehungsgesetze des Jahres 1879 sagt der oberste Gerichts­ hof jetzt: „Es enthält Bestimmungen, die Vorsorge treffen

für solche Mädchen, die der Überwachung und Vorsorge be­ dürfen, die sie aber entbehren, wiewohl sie sie von ihren Eltern erhalten sollten; wenn daher ihre Überwachung vom

Staate übernommen werden muß, so kommen diesem bezüg­ lich des nützlichen Zwanges zugunsten der Kinder und ihrer

Erziehung dieselben Befugnisse zu wie

den Eltern.

Das

Recht auf Freiheit beruht nicht in dem Rechte auf jedes

zwangslose Benehmen.

Jede Staatsverwaltung enthält an

sich eine Einschränkung der natürlichen Freiheit.

Es gibt Ein­

schränkungen der persönlichen Freiheit, die aus dem hilflosen

und verwahrlosten Zustand eines Individuums und seiner Beziehungen im Leben unmittelbar entspringen."

Der oberste

Gerichtshof findet zum Schluffe seiner Ausführungen, daß in dem vorliegenden Falle die Grenzen jener notwendigen Ein­

schränkung der persönlichen Freiheit in dem angefochtenen Gesetze nicht überschritten sind.

Wo möglich noch klarer und unzweideutiger spricht sich

eine andere, in demselben Jahre (1882) gefällte Entscheidung desselben Gerichtes bezüglich desselben Gesetzes vom Jahre 1879 aus (Oount^ ok No I^oan v. Hamplno^s 104 III. 379):

„Man kann sich

schwer eine Bevölkerungsklasse vorstellen,

welche gebieterischer ein Einschreiten der Staatsgewalt fordert als die verwahrlosten Mädchen.

Es wäre ein trauriges

Zeichen unserer Staatseinrichtungen, wenn der Gesetzgebung wirklich keine verfassungsmäßige Macht innewohnen würde.

259

durch geeignete Bestimmungen für die Erziehung, Überwachung und den Schutz solcher verwahrloster Mädchen Vorsorge zu treffen.

Es ist ein unanzweifelbares Recht und eine ge­

bieterische Pflicht jedes erleuchteten Staates, in seiner Eigen­

schaft als parsns patrias Schutz und Fürsorge jenen Bürgern

zuzuwenden, die wegen ihres kindlichen Alters, mangelnden Unterscheidnngsvermögens oder wegen anderer Gebrechen oder

unglücklicher Lebensverhältniffe nicht im stände sind, für sich

selbst zu sorgen.

Die Erfüllung dieser Pflicht wird mit

Recht als eine der wichtigsten staatlichen Funktionen an­ gesehen, und alle verfassungsmäßigen Einschränkungen müssen

gegenüber dieser Pflicht so verstanden und ausgelegt werden, daß dieselbe in ihrer angemessenen und berechtigten Wirksam­

keit nicht behindert wird." Privatrecht und Rechtsprechung bewegen sich also auf

derselben Linie wie die geschilderten Reformbestrebungen.

Es

darf aber nicht verkannt werden, daß der Umschwung in den richterlichen Ansichten dadurch stark beeinflußt ist, daß in der letzten

Zeit die öffentlichen Einrichtungen der Jugendfürsorge und der Zwangserziehung wesentlich verbessert worden sind und da­

durch Einwendungen beseitigt wurden, welche in früherer Zeit

gegen die Zwangserziehung mit Recht erhoben werden konnten. Der Fortschritt,

der

in

der

Behandlung,

Klassifizierung

Unterweisung und Überwachung der gefährdeten Jugend zu verzeichnen ist, geht also Hand in Hand mit der veränderten Auffassung, die sich im Privatrechte und in der Rechtsprechung

geltend macht.

Je sicherer, verläßlicher die praktischen Vor­

kehrungen werden, desto mehr Vertrauen fassen Gesetz und Gerichte zu dieser Methode. Eines bedingt das Andere, aber beide dienen demselben Zweck.

Dieser Zweck beherrscht kon17*



260



sequenter als irgendwo sonst die Fürsorgepolitik in den Ver­

einigten Staaten.

Die Familie bleibt der Grundstein der

Erziehung, wo sie aber versagt, aus der Jugend gesetzachtende,

wirtschaftlich tüchtige, zufriedene Staatsbürger heranzubilden, tritt der Staat ohne Schwanken ein, indem er alle gesell­

schaftlichen Kräfte zusammenfaßt, um das Ziel zu erreichen.

Anmerkungen. * Itoxort8 ok tko ^Io8ol^ ^dueational Oommi88ion to tko Ilnitod 8tat08 ok ^.inorioa, Oetokor-l^ovomkor 1903. London 1904. 2 Münsterberg hat in dem zweiten Band seines Werkes „Die Amerikaner" diese Verhältnisse sehr anschaulich geschildert. s ?uni8kmont und Rokorination k^ k'rodoriok Howard ^Vin68, Lo8ton, ^Koma8 Orowoll L Oomx. Seite 177.

I>roooodinA8 ok tko National Oonkoroneo ok Okaritio8 and Oorrootion at tko twontv-8ixtk annnal 8688ion kold in tko Oitv ok Oineinnati. Boston und London 1900, S. 239. Das heißt jenem Teile der demokratischen Partei angehörend, der für die Goldwährung ist.

6 Die Jahresberichte dieses Vereins geben sehr ausführlich Auskunft über alle Anstalten und Einrichtungen desselben, über die Finanz­ gebarung, über die Einrichtung seiner Schulen und den Unterricht in den­ selben sowie über die hygienischen Verhältnisse der Pfleglinge. Sie sind, wie die meisten Berichte dieser Art in Amerika, sehr schön ausgestattet mit Ansichten und Plänen und geben ein sehr geschickt entworfenes Bild der Gesamttätigkeit des Vereins. Der ^nnual Roxort ok tko OKHdron'8 ^id 8ooiotv kor ^oar ondinA Oetokor 1903 ist der 51. Bericht, den die Gesellschaft veröffentlicht. ? Ich will aus den letzten zwei Jahresberichten der Gesellschaft einige dieser Briefe mitteilen, weil sie diese Verpflanzung der heimatlosen Kinder in fremde Familien veranschaulichen. Von den folgenden zwei Briefen ist der erste vom Pflegling, der

andere vom Pflegevater.

0------ , 1oxa8. D o ar r. Lraeo — I am AoinA to 8okool at L------- tki8 kalk I kko to Ao to 8ekook I am ArowinA ka8t. I want von to writo a lottor and toll mo kow tko karm 8okool ko^8 aro AOttinA a

262 lonK. I kavs Kot 12 littlo PIAS. I liavo Kot adout 100 little oliiolL6N8. I vont to 0----- . I Uke 0------- Line, N^ liorse is K6ttinK tat and in^ tv^o oalv68 aro K6ttinK lat. I ^vould kavs 8OIN6 tnrl^6^8 dut tlie^ diod. Ooni6 to 866 IN6, wli6n )^ou ean. I don't ^V6ar INV o1a8868 innell. I eould 866 in tll6IN Kood. I rid6 NI^ 1ior86 to tli6 xa8tur6 6V6r^ inorninK, ^vli6N I earrv our 6O^V8 to t^6 xa8tur6. I 1iav6 IN^ doK 1i6lx IN6 earrv tli6 oov^8 to tli6 pa8tur6. ar6 liavinK a Kood rain Koro. Our eorn and ootton i8 Kro^vinK ka8t. N^ xi§8 and eliiek6N8 Krov diKKor and lnKK6r. liavo Kot a xrott^ Kardon and a lot ok Kood tliinK8 in it. ^Vo liavo 8oino xrott^ klo^vor8 in tlio ^ard. ^Vo liavo Kot a lot ok eain, wliioli ^6 kood to our ko§8 and 1ior808. ^Vo 1iav6 Kot 8ON16 xoaeli tr008 in tlio Kardon. loll Nr. LuKdoo to eoino to 866 INO ^vlion lio oan. 11ii8 l6tt6r i8 kroin Ildward o------ .

0------ , I6xa8, dulv 20, 1903. Ooar Nr. Lraeo: I xroini3od to ^vrito to ^ou and toll von liow Ild^vard ^a8 KOttinK aloNK. Ho i8 doiiiK kiN6. I a8k6d liiin liO^V lio 1ilL68 to 8tav. l^o 8aid tliat lio lil^od it kir8t rato. Ho i8 a kino do^ and 8inart, too. Ho i8 doinK ^voll. Nv ^viko tliinlc8 1i6 i8 tli6 onl^ dov in tli6 v^orld. liavo no eliildron but liini; ^V6 8ur6l^ do 1ÜL6 liini. I Kavo Iiirn a lior86 to rido, and told liini ik 1i6 v^antod liini 1i6 niiKlit liavo liini, and in^ ^viko Kavo liiin a ealk. Ü6 tlnnk8 tli6^ aro kino. I >vi11 elo86 kor tlii8 tiino, ^our3 trulv,

^V. R. 0------ .

Der Schreiber des folgenden, an einen Lehrer der Gesellschaft ge­ richteten Briefes ist 17 Jahre alt, elternlos, im Staat Montana unter­ gebracht. Narek 15, 1903. voar Nr. Ln^doo: I anxiou8lv v^rito to von to oxxlain to ^ou lio^v I lilco inv N6V^ and elianKoaldo lioino ^vitli Nr. N------ at N-------- , No, and N^6ll. I ain xorlioetl^ 3ati8kiod in 6V6r^ r68x6ot, and lilco in^ xlao6 in 6V6r^ v^a)'. I liavo t^vo lior368 to attond to, eo^8, 6liielL6N8,1iOK8, 8li66x, 6te., all ok v^ieli I talco Kood int6r68t in. I K6t Nior6 tlran 6NONKI1 to 6at and xlont^ ok Kood 8l66p. ^ltlrouKli tli6 li0U36 i8 not tli6 1at68t 8t^l6 and in a ^ ild6rn638, ^6t I kind 6V6r^tlrinK V6r^ eoinkortal)l6, a8 inuoli a8 INV Kuardian



203



Nr. N------ eau p088lbl^ urallo 1t, auä I tlllull tllat tllo otllor do^8 oau Laro llarälv a8 ^voll a8 I äo. Illo vor^ Lir8t tlliuA tllat iu)^ do88 Aavs ui6 va8 a Aolä ^atell. Xow tllat ^va8 c^ulto a xr686ut to Ast wllilo lluo^vluA a 8trauA6r. vou't ^ou tlllull 80? I Kops tllat ^ou arrivoä lloiuo all rl^llt auä -will 6ujo^ ^our vi8it, a8 I aiu at xr686ut, auä al8o llopo tliat tllo otllor llo^8 ^vill ^vrits to vou to let vou lluovv^ llovv^ tllo^ aro AettluA alouK, auä llo^v tllo^ like tllo U6^v lloiuo. I suxxo86 )^ou lluo^v tliat tlloro 18 a Aroat älLLorouoo 1u tlll8 xlaoo Lroiu tllo olt^, dut I tlllull tliat I vüll Kot U86ä to 1t. LlopluA to 866 vou 1u a oouxlo oL ^V66lr8 auä 866 UiV U6W li0Ni6 auä all tli6 otli6r llovo' li01U6, I o1o86 UiV l6tt6r ^vltll d68t VÜ8ll68 to all. ^111 ^vrlto to )^0U oLtoU. ^our do^, ?otor L. L------

Charles H. kam schon 18 Jahre alt in die Hände der Gesellschaft, und zwar aus einer Besserungsanstalt, wurde zuerst auf der Farm der Gesellschaft verwendet, führte sich dort sehr gut auf und wurde in Kansas untergebracht. Er schreibt: Ooar l^rlouä—^our I6tt6r oL Naroll 5 roooivoä. I aiu tlllullluA ok trzüuA Lor a lioui6 1u tli6 luälau l6rr1tor^, ^llou tli6 0oV6rU1U6Ut 0P6U8 tllo lauä Lor 86ttl6IU6Ut, ^vllloll ^vlll

b6 80U16 tiiU6 1u «lul^ or ^UAU8t. I tlliull I väll 8tauä a llottor oliauoo oL iuakluK a lioiuo tliat -wav tliau I ^voulä oaruiuA ou6. vou't ^ou tlllull 80? I vüll llavo allout Livo lluuäroä äo11ar8 ll^ tliat tluio auä I l^uo^v oL uo llottor v a^ oL 1uv68tiuA 1t tliau xuttluA 1t 1u a Lariu. Illoro väll do adout 3000000 aer68 oxouoä Lor 86ttl6iu6ut auä 8urol^ out oL 3000000 aer68 I ou^lit to §6t 160 aer68. ^.t au^ rat6 I

aiu AoluA to tr^. I'oll ui6 v^liat ^ou tliiul^ oL 1t 1u ^our uoxt. 8ox1uA to 1i6ar Lroin vou 8vou, I rorualu r68x6otLull^ Oll. L.

Der folgende Brief rührt von einem ehemaligen Pfleglinge der Ge­ sellschaft her, der im Jahre 1861 als achtjähriger Knabe von seinem Vater verlassen wurde. Alle späteren Nachforschungen nach demselben seitens des Sohnes waren vergebens. ^Va8ll1uAtou, O. O., Naroll 8, 1901. Nr. O. ll,. Lraoo, Xovv ^orll Olt^:

Nv 1)6 ar Nr. Lrav6 — ^our llluä Lavor ok tllo 4tll iu8t. at llauä, auä I Lull^ apxroolato ^our xroruxt roxlv, tllou^ll 8orr^,

264 indood, tliat ^ou vv^oro unadlo to Aivo ino 8onio dokinito inkorination a8 to inv paront8 and tlio oirouin8tanoo8 tliat plaood ino in edarAO ok ^our 8ooiot^. ^ov^ to niV8olk. I roinainod till I v^a8 kiktoon voar8 old, ^vdon I wordod on karni8 in tdo noi^ddourdood in 8unnnor ancl AoinA to 8olioo1 in sinter. In tdi8 inannor I rnana^od to 8avo onou^d to tado a 8ovon inontli'8 oour8o in a norinal oolloAO, aktor ^vdied I do^an toaedinA. In tlii8 wa^ I v^ordod in^ ^va^ tdrou^d oolloAO, AraduatinA in 1882 vütd tlio doKroo ok l?d. L. ^.t tlii8 tiino I dad an oxxortunitv to ontor tdo Oivil LnZinoor Doxartinont ok tlio Union ?aoikie Hailv^av. In duno, 1894, I inarriod ^Ü88 D------ , a ino8t O8tnnadlo ladv ok Lontuedv, wdo wa8 a ola88mato ^vdilo in eolloAO. 8dortlv aktor tlii8 I ^a8 xroniotod to tlio Oornpan^'8 a^onev at R-------, ^V^o., and t^vo voar8 aktor tran8korrod to tlio a^one^v at ------ , ^V^o., ^vdoro I roinainod till tlio outdroad ok tlio 8pani8d^.inoriean ^Var, ^vdon I ^va8 ooinnri88ionod a 8takk okkioor dv tlio ?ro8idont vütd tlio rand ok eapitain and a88iAnod to tlio 8takk ok Oonoral 8anAor a8 Odiok Oonnni88ar^, and i'oniainod in Ouda till «Inno, 1899, wdon I wa.8 donoradl^ di8edarAod. Ilio

!

75 23 4

Frau Hannah Kent Schoff berichtet über die Vorbereitung des juvouilo oourt 1a^ in Pennsylvania sehr anschaulich iu einem in der Zeitschrift „Okaritios" erschienenen Aufsatz: Listor^ ot tlio duvsuilo Oourt Novoinout in Pennsylvania. Sie bespricht, wie das erste Gesetz und nach seiner Aushebung das zweite zustande kam. Ich möchte aus dem Aufsatze hier eine Stelle mitteilen, die zeigt, wie energisch

288 die Frauen in den Vereinigten Staaten im öffentlichen Leben wirken. Frau Schaff schreibt: In Ootoder, 1899, tlie New Oentnrv Olud ok Ldilaäelxdia inviteä nie to korin a ooinrnittee ok tlie elnd, anä xnr8ue inv inveeti^atione tdere. Ilio olnd i8 eoinxo8oä ok 8ix dnnäreä -VV0N16N, it8 inklnenoe 18 valuadle in inan^ äireetion8, anä tde invitation ^va8 aooexteä, on oonäition tliat tde v^ork edoulä not enä vätd tde invo8tiAation, dut tliat ^ve 8lion1ä dave tlie enäoreeinent ok tlio olnd in duiläinA up a 8uitadle 8^8tern ok edilä eare in ?enn8^1vania. Ilio eoininittee ^va8 earekull^ eeleeteä anä a 8tnä^ ok tlio 1a^v8 eoneerninA äexenäent, äekeetive, anä äednhuent odilären in ever^ 8tate wa8 xlanneä. Ide Lar ^.88oeiation ok Ldilaäelxdia ^ener0U8l^ okkereä tlio eoininittee tlio N86 ok it8 lidrar^ kor tlii8 8tnä^. ^Ieinder8 ok tlio eoininittee v^ordeä tlioro änrin§ tlio sinter, inäoxinA tlio 8tatuto8 ok oaoli 8tato. ^lared v^e liaä ooinxiloä „tlio 8tatnto8 in ever^ 8tato in tlio Ilnitoä 8tato8 eoneerninA äokoetivo, äexenäent, anä äolin^uont edilären", anä liaä deeonie ovon inoro 8tronAl^ eonvineeä ok tlio noeo88it^ kor 8noli 8tnä^, li6oau86 eoinxarativel^ kew 8tato8 liaä §iven real tdouAdt to xroteetinA tlio intor68t8 ok oliLläliooä. ,, tdo 8inaI1 routoo nntil tdoi aro uow oarninA troin Kl to K 1.50 por wook aktor oedool kouro. ^etinA uuäor tdo äiroetion ot tdo xrodation okkioor, tdo tatdor wko doaräoä at tdo oaloon edanAoä to a inoro ouitadlo plaoo. HavinA aeeornxliodoä tdo adovo ro8u1t8, tdo ea8O aZain8t tdo 1aä8 wao äioinioooä. Ido oa80 Aivon adovo i8 not a unn8ual ono, dut it i8 not a1wa^8 tdat tdo prodation okkioor ean 8olvo tdo xrodloin xro8ontoä 80 8ati8taetori1^, anä do i8 kro^uoutl^ eornpolloä to roeonnnonä tdo rokorui oedool a8 tdo onl^ xlaoo wkoro tdo kiuko in tdo ^ouuA lito ina^ do 8trai§dtonoä. Die Besserungsschule, nicht etwa das Gefängnis, wird hier als ultiina ratio angesehen. 49 Ido krodloin ot tdo Odiläron anä kow tdo 8tato ot Ooloraäo oaroo tor tdoin, a Itoxort ot tdo äuvonilo Oourt ot vonvor 1904. Dieser Bericht gibt ausführlich Rechenschaft über die Einrichtung und Tätigkeit des Jugendgerichtes in Colorado. Die gesetzgebende Körperschaft dieses Staates hat im Jahre 1903 eine Reihe von Gesetzen, Jugendfürsorge und Strafrecht betreffend, be­ schlossen, von denen ich die wichtigsten hier vollinhaltlich mitteile. Das erste (an aot oonoorninA äolinyuont odiläron) ist das Gesetz, auf welchem das Jugendgericht in Denver beruht. Bezeichnend ist, daß das Gesetz unter c/rMre-r" nicht nur solche versteht, die tatsächlich schon ein Gesetz übertreten haben, sondern auch alle jene ein­ bezieht, deren Lebenswandel derartig ist, daß er sie voraussichtlich zu Verbrechern machen würde. Die Absicht des Gesetzes ist es, daß alle Fälle der Jugendlichen vor den Jugendrichter kommen, der vom eouuk^ oourt als solcher designiert wird, und diese Absicht wird auch erreicht; aber um zu vermeiden, daß das Gesetz von dem die konstitutionellen Grundsätze hütenden obersten Gerichtshof des Staates aufgehoben wird

293 (wie dies in Pennsylvania u. a. der Fall war), ist die Klausel aus­ genommen, daß immer ein Prozeß vor den Geschworenen verlangt werden kann. Das zweite Gesetz, das ich hier mitteile (an aot to xroviäe kor tlie punieliinent ok per8ON8 rs8pon8iblo kor or oontridntinA to tlio äelingueno^ ok eliilären), macht Eltern und Vormünder strafbar, wenn sie das in dem vorher erwähnten Gesetze bezeichnete Verhalten des Kindes verschuldet haben. Das dritte Gesetz endlich (an aot to eonkor original jurieäiotion npon eourt8 in all eriniinal ea808 a^ainet niinore) bezieht sich auf Minderjährige über 16 Jahre, die demselben System der Probation unterworfen werden können wie die äelinguent eliilären (eee. 9). Auch kann der Richter über Minderjährige, die über 16 Jahre alt sind, das Strafurteil zwar sprechen, aber es aussetzen (eso. 10). ^.n ^.et eoneerninA äelingnent eliilären. Le r't enaeteä b?/ tbe ^enerat assemdt?/ o^ tbe L'tate o^ Ooto-aäo 8eotion 1. 1lii8 aet eliall appl^ onl^ to eliilären eixteen (16) ^ear8 ok aZe or nnäer not ininatee ok a 8tate inetitntion or an^ inetitution ineorporateä nnäer tlie 1av^8 ok tlie 8tate kor tlie eare anä eorreetion ok äelingnent eliilären. ^be reoräs „äe?r-?^?rrever, Idat tdo juä^o ot tdo eourt inav, in all ea808 wdoro a jur^ trial io waivoä, oall a jurv to trz^ 8ued ea808 not^itdotanäinA 8ued waivor. 8ootion4. ^11 xrooooäinAo uxon intorination in tdo eountv eourt8, attor tdo 8aino aro tiloä, oxeoxt a8 doroin otdor^vioo xroviäoä, odall do tdo oanTO a8 tdou^d 8ued xroeooäinAO daä doon eonnnoneoä in tdo äi8triet eourt.

8 oetion 5. Ido äi8triet attorno^ ot tdo proxor ^'uäioial äiotriot in ^vdied 8ued oount^ 8dall do loeatoä odall do xrooooutinA attorno^ in 8ued eountv eourt8, anä 8da11 oxorei8o tdo 8arno po^voro, xortorin tdo 8aino äutio8, anä roeoivo tdo 8aino oonixon8ation tor di8 8orvieo8 tdoroin, to do daiä in tdo 8aino inannor ao xroviäoä tor d^ law tor oiinilar 8orvieo8 in tdo äiotriot eourt.

8oetion6. l^otdinA in tdi8 aet odall do eon8truoä to xrodidit tdo inäietniont d^ Aranä jur^ anä trial in tdo äi8triet oourt ot anv xoroon edar^oä vv^itd a erinio, ^vdotdor niioäoinoanor or tolon^, a^ainot ^vdoin xrooooution da8 not doon eoininoneoä in tdo eount^ eourt. 8oetion 7. Ido aeeu8oä in anv orinnnal ea8O drou^dt in tdo eountv oourt unäer tdio aot odall davo tdo ri^dt, at an^ tiino attor tdo tilinA ot tdo intorination anä dotoro xloa dao doon aotuall^ inaäo to tdo oaino, to tilo dio axxlioation in v^ritinA in tdo oount^ oourt, aolrinA tdat oaiä oauoo do tranotorroä to tdo äiotriot oourt ot tdo ^juäioial äiotriet in v^diod ouod oount^

302 inav do situatoä, v doroupon it odall do tdo äut^ ok tko eount^ oourt to transinit, or oauso to do tranoinittoä, tdo inkorination anä all otdor papors in 8aiä oau86 to 8ued äiotriot oonrt ok 8uod oount^ v^itd all oonvoniont opooä, ^vdon it 8da11 do tdo äutv ok tdo äiotriot attorno^ anä 8aiä äiotriot oonrt to prooooä ^itd tdo äioxosition anä trial ok 8uod oau8S a8 tdon§d oriAinallv dronZdt in 8aiä äi8triot oourt. 8ootion8. I^o appoal odall do tadon kroin anv ^'uä^inont or äooioion ok an^ oount^ oourt, in an^ oa86 prosooutoä tdoroin unäor tdo provioiono ok tdi8 aot, to anv äiotriot oourt; dut vrito ok orror odall lio kroin tde ouproino eourt a8 to 8uod kinal juäAnionto, anä odall do prosooutoä anä äispoooä ok in tdo saino inannor ao ^vrito ok orror to kinal juäAinonto ok tdo äistriot oourt in oriininal oaooo. 8ootion 9. 8 /ouuä e/ur'/Zr/ ru t/re esu-^r/ eourt o/'uur/ o/ uur/ tare M's or o^ uur/ er/me, urur/ de sutr^'eeteä 6r/ sue/r eourt to uur/ o^ ide terrrrs uuä eouctr'trorrs o^ tde /rrotrutr'ou sr/sterrr xrorr'äeä /or r'u euses o^ äe/r'u^uerrt cdr'd/ren br/ tde Statute o/' tdr> Sterte, r/ r'u tde oxru/orr o^ tde ,Mä