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German Pages 256 [259] Year 2019
A S T R I D VA N N A H L
JUDITH KERR
Astrid van Nahl
Judith Kerr Die Frau, der Hitler das rosa Kaninchen stahl
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg THEISS ist ein Imprint der wbg. © 2019 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Redaktion: Mechthilde Vahsen, Düsseldorf Satz: Mario Moths, Marl Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-3929-4 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-3955-3 eBook (Epub): ISBN 978-3-8062-3956-0
INHA LT
Vorwort 7 Eine Kindheit in Berlin (1923–1933) 12 Unruhige Zeiten 12 Alfred Kerr – Liebevoller Vater und scharfzüngiger Kritiker 19 Julia Weismann – Mutter mit schwieriger Familie 27 Judith Kerr – Eine Insel des Glücks und draußen das Chaos 32 Eine Heimat geht verloren 56 Im Exil (1933–1945) 64 Wenn die gleiche Sprache etwas anderes bedeutet 64 Ortswechsel – Und nichts ist, wie es war 86 In einem Land, das man nicht will 117 Die Angst vor den Verfolgern 128 Nach dem Krieg (1946–1970) 149 Erste Erfolge 149 Eine Lehrerin, die Literatur und die Liebe 164 Ein Kater wird geboren 180 Das rosa Kaninchen oder: Wie können Kinder das Unfassbare fassen 197 Schriftstellerin und Zeichnerin (1970–2019) 205 Lebensstationen 240 Bibliografie 243 249 Register Dank 254 5
Vorwort
E
ines Tages steht ein Mädchen, gerade elf Jahre alt, am Fenster einer beengten Pariser Wohnung in einem heruntergekommenen Haus in einer schmalen Straße. Gerade hat die Familie nach mehreren Monaten Aufenthalt in der Schweiz das Land verlassen, in das sie einen Tag vor den Wahlen in Deutschland geflohen ist; dort haben sie alles zurückgelassen und fast nur das Leben gerettet, das sich nun für mehr als ein Jahrzehnt in bitterster Armut abspielen wird. Sie haben alles verloren – aber dieses Mädchen, „aus Deutschland vor Lumpen geflohen, die Kinder demütigen“, steht nun neben ihrem Vater an besagtem Fenster und blickt über die Dächer und Schornsteine von Paris und sagt: „Pappi, es ist herrlich, ein Flüchtling zu sein.“ Es ist das Jahr 1933. Drei Jahrzehnte später schreibt das Mädchen ein Buch, in dem sie diese Geschichte erzählt. Wenige Jahre später setzt sie die Geschichte mit einem zweiten Band fort, in dem sie 17 Jahre alt ist und in London lebt, wieder als Flüchtling. Es ist Krieg. Die deutsche Luftwaffe fliegt gegen England und beschert den Menschen dort Nächte des Grauens. Da steht sie in dem verwilderten Garten eines Hauses, in das sie eingeladen ist, und entdeckt einen Bach, der durch die Wiese fließt. Für einen Augenblick kommt gleißend die Sonne hervor und lässt das Wasser grün und transparent aufscheinen. Über dem sandigen Grund des Baches steht reglos ein Fisch. „Sie konnte jede einzelne der glänzenden Schuppen erkennen, die sich um den plumpen Körper legten, die runden, erstaunten Augen, den fein geformten Schwanz und die Rückenflossen. Der Fisch hielt sich gegen die Strömung und 7
Vorwort
schimmerte manchmal blau, manchmal silbern.“ In der trostlosen Situation des Tages durchfährt sie ein plötzliches Glücksgefühl und sie denkt: „wenn man das malen könnte … die Giraffen möchte ich malen und die Tiger und die Bäume und Menschen und die ganze Schönheit der Welt.“ Es ist das Jahr 1940. Die Zeit vergeht und das Mädchen wird Ehefrau und Mutter und Großmutter. Mehr als sieben Jahrzehnte nach dem Erlebnis mit dem Fisch wird sie Witwe und zieht sich zurück in die Einsamkeit ihres Verlusts. Eines Abends vor Weihnachten laden langjährige Freundinnen sie ins Kino ein. Als sie aus dem Kino kommt, sieht sie die vielen Lichter der Stadt und die Menschen in weihnachtlichen Vorbereitungen: „Da ist überall diese Welt, die ich schon völlig vergessen habe! Und ich dachte, man darf sie nicht vergeuden.“ Bevor sie geheiratet hat, ist sie eine Beobachterin des Lebens. Als ihr Mann und die Kinder da sind, ist es die Zeit des miteinander Sprechens. Als Mann und Kinder aus ihrem Leben geglitten sind, geht sie zurück: „Ich kehrte zurück zum Schauen, und ich schaute und schaute.“ Es ist das Jahr 2007. Drei Episoden, die sich über mehr als 80 Jahre erstrecken: Sie zeigen, was diese Frau zu sagen und vor allem zu zeichnen hat: all das, was sie sah, was ihr Leben ausmachte, und hinter allem steht für sie das Gute, ist sie offen für neue Erlebnisse, ohne Bitterkeit über das, was ihr im Leben vorenthalten worden ist, was sie entbehrt hat. Als man sie fragt, ob sie eine schwere Kindheit hatte, ist sie fast ein bisschen melancholisch. Nein, richtig schwer war sie nicht, diese Kindheit, solange die Familie immer zusammen war, meint sie. Und das hätte es doch gebraucht, um wirklich berühmt zu werden: eine schwere Kindheit, wie der Vater es gesagt hatte. Berühmt ist sie trotzdem geworden, in England vorwiegend durch ihre vielen Bilderbücher – sie schuf unter anderem den unsterblichen Kater Mog –, in Deutschland vor allem durch ein Kinderbuch, das sie mehr als 30 Jahre nach den aufgezeichneten Ereignissen schrieb: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl, ein Kinderbuch, das 1971 unter 8
Vorwort
dem Originaltitel When Hitler Stole Pink Rabbit in England erschien. Zwei Jahre später von Annemarie Böll ins Deutsche übersetzt, erhielt es 1974 den Deutschen Jugendliteraturpreis als herausragendes Kinderbuch und wurde in den folgenden zwei Jahrzehnten als Pflichtlektüre fest im Literaturkanon deutscher Schulen verankert: der Beginn der Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit auch im Kinder- und Jugendbuch. Und dieses Buch hatte für die jungen Leser einen Vorteil: Es war aus der kindlichen Perspektive heraus für Kinder geschrieben, mit dem vereinfachten Blick auf das Geschehen. Die anfangs neunjährige Anna hält als die Hauptperson die drei Romane zusammen, über einen Zeitraum von ungefähr 20 Jahren. „Anna“, das ist in Wirklichkeit Anna Judith Gertrud Helene Kerr (geb. 1923), die als Judith Kerr weltweit bekannt wurde. So lesen sich die drei Romane, in England herausgegeben unter dem gemeinsamen Titel Out of the Hitler Time („Aus der Hitler-Zeit“) wie eine Autobiografie, aber nicht in Ich-Form geschrieben, und zwar ganz bewusst. „Aber es sind eben Romane in dem Sinne, dass sie Schwerpunkte setzen. Einige Ereignisse sind dramatisiert, andere abgeschwächt. Da die Geschichte aus der Perspektive des Mädchens Anna erzählt wird (ein Mädchen, das viel Ähnlichkeit mit mir hat), kann sie natürlich keine Informationen enthalten, die Anna damals nicht zugänglich waren. Es gibt aber auch Begebenheiten im Leben meiner Eltern, die ich zu der Zeit, als ich die Bücher schrieb, nicht kannte, sondern die erst nach und nach ans Licht kamen“, erklärt Judith Kerr in ihrer echten Autobiografie, Judith Kerr’s Creatures. A celebration of her life and work, die 2013 anlässlich ihres 90. Geburtstags erschien, in der deutschen Übersetzung von Ute Wegmann fünf Jahre später unter dem Titel Judith Kerr: Geschöpfe. Mein Leben und Werk. 9
Vorwort
Trotz dieser Einschränkungen ist die Hitler-Trilogie eine der wichtigsten, zumindest ergänzenden Quellen zum Leben der gesamten Familie und vor allem der Judith Kerr, da, wo die anderen Quellen schweigen oder nur knapp andeuten. Die anderen Quellen, das sind in erster Linie immer wieder die Publikationen ihres Vaters Alfred Kempner, der unter dem selbst gewählten Namen Alfred Kerr mit seinem scharfen Verstand einer der bekannten Literaturkritiker Deutschlands war, mit einem Werk, das ein unschätzbares Zeitdokument darstellt. In Tagebüchern, Gedichten, Prosastücken, Erinnerungen und Plauderbriefen beleuchtet er vor allem die Zeit des eigenen Heranwachsens und vermittelt intime Einblicke in die familiäre Welt wie auch in Gesellschaft und Politik; sie erlauben unter seinem ganz persönlichen Blickwinkel Einsichten in Ereignisse und Weltsicht, wie sie keinem Geschichtsbuch zu entnehmen sind; sie dokumentieren zugleich Zeit und Welt, in die die Tochter Judith hineingeboren und in der sie aufwachsen wird. Auch der Sohn der Familie trägt zum Lebensbild der Familie bei, Judiths Bruder Michael, der in seiner in späten Lebensjahren für die Enkel geschriebenen Autobiografie As far as I remember („So weit ich mich erinnere“) vieles anders und differenzierter als Judith wahrgenommen und festgehalten hat; er war gut zwei Jahre älter als sie. Seine Erinnerungen tragen immer wieder zur Abrundung der Lebensgeschichte der Judith Kerr bei. Interviews und Gespräche mit Judith Kerr selbst, Artikel, die in Zeitungen zu einem ihrer Geburtstage erschienen sind, und nicht zuletzt ihre eigenen Bücher samt ihren zugehörigen Kommentaren haben geholfen, Lücken zu füllen und die vielen Seiten ihres Lebens wenigstens zu beleuchten. Die hier vorgelegte Biografie zu Judith Kerr ist ein erzählendes Sachbuch, das ein breites Publikum ansprechen möchte. Weitgehend chronologisch zeichnet es das Leben der Schriftstellerin nach, die sich selbst Zeit ihres Lebens in erster Linie als Zeichnerin sah, verbindet ihre geschriebenen und gezeichneten Werke mit den privaten, künst10
Vorwort
lerischen und beruflichen Stationen dieses Lebens, denn egal ob sie schrieb oder malte: Sie tat es, weil sie „schaute“, und was sie sah, fand seinen Ausdruck in Wort oder Bild oder in beiden zusammen. Davon zeugen mehr als 20 Bilderbücher. Judith Kerr starb am 22. Mai 2019, einen Monat vor ihrem 96. Geburtstag, kurz vor Erscheinen unserer Biografie. Wir würdigen sie darin als eine große Frau, deren Geschichte auch immer einen Blick in Weltgeschehen, Weltbild und Zeitgeist über fast 100 Jahre ihres Lebens hinweg erlaubt. Astrid van Nahl Bonn, Mai 2019
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Eine Kindheit in Berlin (1923–1933) Unruhige Zeiten
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er 31. Juli 1919 war ein wichtiger Tag in der Geschichte Deutschlands: Die Nationalversammlung in Weimar, Thüringen, verabschiedete nach dem Ersten Weltkrieg die Verfassung der neuen deutschen Republik, am 11. August 1919 setzte Friedrich Ebert seine Unterschrift darunter. Eine kurze demokratische Phase begann, bekannt unter dem Namen Weimarer Republik und benannt nach dem Ort, an dem eben diese Nationalversammlung getagt hatte. Vorausgegangen waren dramatische Ereignisse zum Ende des Ersten Weltkriegs. Deutschlands Niederlage war zugleich das Ende des Deutschen Kaiserreichs: Wilhelm II. dankte ab und floh in die Niederlande ins Exil. Aber noch waren die alten monarchischen Eliten des Kaiserreichs mächtig, die nach der „alten Ordnung“ riefen. Die unmittelbaren Folgen und Probleme eines verlorenen Krieges, wirtschaftliche Not, Arbeitslosigkeit, Putschversuche, politische Morde und Wirren einer nachfolgenden Revolution kennzeichnen den Sommer und Herbst 1918 – Bedrohungen, die sich letzten Endes als so groß erwiesen, dass die junge Weimarer Republik ihnen nicht länger als 14 Jahre standhalten konnte. Ahnte Philipp Scheidemann, SPD-Politiker und Symbolfigur der Weimarer Republik, den Ernst der Lage, als er am Nachmittag des 9. November 1918 von einem Balkon des Reichstags die Republik ausrief? „Das deutsche Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt. Das alte Morsche ist zusammengebrochen; der Militarismus ist erledigt!
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Unruhige Zeiten
Die Hohenzollern haben abgedankt! Es lebe die deutsche Republik! Der Abgeordnete Ebert ist zum Reichskanzler ausgerufen worden. Ebert ist damit beauftragt worden, eine neue Regierung zusammenzustellen. Dieser Regierung werden alle sozialistischen Parteien angehören. Jetzt besteht unsere Aufgabe darin, diesen glänzenden Sieg, diesen vollen Sieg des deutschen Volkes, nicht beschmutzen zu lassen …“. (Von einem, der dabei war) Es sind vor allem die Namen mancher historischen Persönlichkeiten aus der Weimarer Republik, die heute noch in Erinnerung sind: eben jener Sozialdemokrat Friedrich Ebert, den die Nationalversammlung zum Reichspräsidenten und Staatsoberhaupt wählte; Gustav Stresemann von der Deutschen Volkspartei, der sechs Jahre lang, von 1923 bis 1929, als deutscher Außenminister wirkte; Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, beide ursprünglich vom linken Flügel der SPD, die aufgrund ihrer Aktivitäten rund um die von ihnen gegründete KPD und ihres Engagements 1919 verhaftet und wenig später – es sollte nach einer spontanen Tat Unbekannter aussehen – von Mitgliedern des Freikorps erschossen wurden; Rosa Luxemburgs Leiche wurde in den Berliner Landwehrkanal in der Nähe der heutigen Lichtensteinbrücke geworfen … Unruhige Zeiten warteten auf die Menschen in vielen Teilen Deutschlands, etwa die kommunistischen Aufstände in Sachsen, Hamburg und im Ruhrgebiet oder die Münchner Räterepublik, die mit der Ermordung ihres Vorkämpfers Kurt Eisner auf offener Straße 1919 blutig niedergeschlagen wurde und 1920 bereits Geschichte war. 1923 unternahm Adolf Hitler am 8./9. November einen Putschversuch, zusammen mit Erich Ludendorff und anderen Putschisten, als sie in München mit einem Marsch auf die Feldherrenhalle die Macht an sich zu reißen versuchten. Im Falle eines Sieges war ein Marsch auf Berlin geplant, sicherlich in Anlehnung an den glorreichen Marsch Mussolinis auf Rom vom 27. bis 31. Oktober 1922, der das Land in die totalitäre Diktatur führen sollte. Hitlers Putschversuch scheiterte; stattdessen kam er für einige Zeit ins 13
Eine Kindheit in Berlin (1923–1933)
Ein historischer Augenblick: der 9. November 1918. Philipp Scheidemann ruft auf dem Balkon des Deutschen Reichstags die Republik aus.
Gefängnis und schrieb dort bis zu seiner Entlassung im Dezember 1924 seine politisch-weltanschauliche Schrift Mein Kampf. Ähnlich unruhig sah auch in Berlin die Welt aus, in die am 14. Juni 1923 Judith Kerr als zweites Kind des Theater- und Literaturkritikers Alfred Kerr und seiner Frau Julia geboren wurde: eine angespannte, revolutionäre Zeit, die zwischen 1918/19 und Ende 1932 insgesamt 22 verschiedene Regierungen ertrug – untrügliches Zeichen für die Instabilität des politischen Systems. Und doch – trotz aller Wirren der Weimarer Republik: Sie bot auch eine gewisse Sicherheit und Stabilität, allein durch das beginnende Wirtschaftswachstum. Sicherheit und Stabilität – sie spiegeln sich wider in dem bis heute faszinierenden Begriff der „Goldenen Zwanziger“, den Jahren von etwa 14
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1924 bis 1929, die – wie fast nach jedem Krieg – eine Art kultureller Blütezeit mit sich brachten und Raum boten für die Entwicklung von Kunst, Kultur und Wissenschaft. Dies galt ganz besonders für die Hauptstadt Berlin, die in kurzer Zeit zu einem der weltweit bedeutendsten Zentren auf allen drei Gebieten avancieren sollte. Auch der Alltag änderte sich nun. Unter dem Stichwort „Der Rundfunk in der Weimarer Republik“ zeugen auf der Webseite des WDR, des Westdeutschen Rundfunks, 34 Schwarz-Weiß-Fotos mit ausführlichen Kommentaren von den Anfängen des Rundfunks nach dem Ersten Weltkrieg: Galten Rundfunkübertragungen bis dahin fast ausschließlich als Kommunikationsmittel des Militärs, wurde nun die drahtlose Sendetechnik erstmals auch privat für die Allgemeinheit genutzt; der öffentliche Rundfunk startete am 29. Oktober 1923 – und etablierte sich bald, wie auch der Film, als Massenmedium. „Bereits vor dem Ersten Weltkrieg gab es in Deutschland zahlreiche Lichtspielhäuser, in denen Stummfilme vorgeführt wurden. In den Jahren der Weimarer Republik konnte sich der Film als einflussreiches Massenmedium etablieren, die Lichtspielhäuser nahmen einen rasanten Aufstieg. Deutschland war der europäische Staat mit den meisten Kinos, deren Anzahl zwischen 1918 und 1930 von 2.300 auf 5.000 anwuchs. Mitte der 1920er-Jahre gingen auf der Suche nach Unterhaltung und Freizeitvergnügen täglich etwa zwei Millionen Menschen in die Kinos. Für ihr Eintrittsgeld bekamen sie neben dem Hauptfilm kurze Vorfilme, gelegentlich Natur- oder Reisefilme und stets die Wochenschau zu sehen.“ (Scriba 2007) Vor allem die feine Gesellschaft fand hier ihre vergnügliche Ablenkung, zum Beispiel in dem Lichtspielhaus Marmorhaus, wo im Februar 1920 ein Meilenstein der deutschen Filmgeschichte uraufgeführt wurde, Das Kabinett des Dr. Caligari. Oder man besuchte das Varieté 15
Eine Kindheit in Berlin (1923–1933)
im Wintergarten; noch heute wirbt die Webseite des Wintergarten mit den Worten: „Hier trifft sich die Welt in der einzigartigen Atmosphäre aus Spiegeln, edlem Holz, dunkelrotem Samt und dem legendären Sternenhimmel.“ Deutsche Ingenieure hatten Geräte entwickelt, um 1922 den ersten Tonfilm zu präsentieren, und auf der Deutschen Funkausstellung in Berlin 1928 faszinierte die erste Vorführung von Fernsehbildern. Schon zwei Jahre früher, 1926, hatte in Deutschland das erste Selbstwähltelefon ohne „Fräulein vom Amt“ funktioniert – der Beginn einer Kommunikationstechnik, die noch heute zu keinem Ende gekommen zu sein scheint. Die Wissenschaft blühte, und man tat alles, sie zu befördern; nährte sie doch auch bei den Politikern die Hoffnung, dass gerade die Wissenschaft helfen konnte, das verlorene internationale Ansehen wieder aufzubauen. Schließlich galt es, die vielleicht größte bis dahin bekannte Nachkriegskrise zu bewältigen. Zahlreiche Nobelpreisträger aus Deutschland legten dafür beredtes Zeugnis ab: zwei Friedensnobelpreise, zwei für Medizin, vier für Physik (darunter einer für Albert Einstein), acht für Chemie und ein Nobelpreis für Literatur (Thomas Mann). Den Spuren der technischen Erfindungen und Entwicklungen der Zeit kann man noch heute in Berlin nachgehen, zum Beispiel im Technik-Museum mit seinen historischen Flugzeugen und Autos. Aber nicht nur in der Technik, auch in der Kunst, in Malerei und Architektur, in Musik und Literatur fand die neue Zeit ihren Ausdruck und wurde vielleicht sogar deutlicher wahrgenommen durch sichtbare Gegensätze, die sich zu formieren begannen. Den Kriegsinvaliden und dem Elend der Armen stand bald eine feinere und vornehmere Gesellschaftsschicht gegenüber; der luxuriöse Lebensstil dieser Hautevolee, der sogenannten besseren Gesellschaft, griff zusammen mit einer Aufbruchs- und Modernisierungsstimmung um sich, besonders in intellektuellen Kreisen. 16
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George Grosz: Republikanische Automaten, Aquarell 1920. New York, Museum of Modern Art.
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Vor allem in Berlin erblühte in Abkehr von wilhelminischen Traditionen die Kultur- und Kunstszene auf verschiedenen Ebenen; es war eine innovative Zeit für die Musik, die den Lebensstil vielleicht am sichtbarsten und lautesten prägte, durch improvisierenden Jazz mit der spontanen Erfindung einer Melodie, durch den von Josephine Baker in Europa bekannt gemachten Charleston, der die quirligen Goldenen Zwanziger symbolisierte, oder durch die Zwölftonmusik des Arnold Schönberg mit ihrem Gegensatz von Konsonanz und Dissonanz. In der bildenden und darstellenden Kunst ging der Expressionismus als „Ausdruckskunst“ seinem Ende entgegen und wurde vor allem in der Malerei zeitnah begleitet, wenn auch nicht ganz abgelöst, durch die sogenannte Neue Sachlichkeit, der in ihrer Entwicklung auch zahlreiche bekannte Maler des späten Expressionismus angehörten; Namen wie Otto Dix, George Grosz, Wassily Kandinsky, Paul Klee, Emil Nolde – es handelte sich weitgehend um „Männerzirkel“ – verbinden sich damit. In der Architektur blühte mit seinem Begründer Walter Gropius der Bauhaus-Stil, der eine Verbindung von Handwerk und Kunst anstrebte. Kurz: Kunst war experimentell. Heute erzählt die Berlinische Galerie von der Geschichte der modernen Kunst ab 1870, mit einem Schwerpunkt auf Dada und der Neuen Sachlichkeit, und im Bauhaus Archiv/Museum für Gestaltung kann man die Welt der Architektur und des Designs vor allem in den Plänen und Modellen von Walter Gropius bewundern. Auch in der Literatur begann etwas wie „Neue Sachlichkeit“. Die Inhalte wurden anti-bürgerlich, politisch, sozialkritisch und sollten nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten ab 1933 nicht mehr in deren Bild passen. Wie auch die Bilder etwa eines Emil Nolde sollten etliche Bücher und Beiträge verboten werden. Hier wird später auch Alfred Kerr, der damals vielleicht bekannteste Berliner Theaterkritiker und Vater von Judith Kerr, ins Spiel kommen. Die Personen dieser neuen Romane sind Arbeiter, Angestellte, Arbeitslose; Durchschnittsmenschen, 18
Alfred Kerr – Liebevoller Vater und scharfzüngiger Kritiker
deren unauffälliges, unaufgeregtes Leben mit seinen Problemen und Alltagssorgen seine Darstellung findet. Die Gesellschaft ist das eigentliche Thema der Romane dieser Zeit, und sie wird in einer schnörkellosen und einfachen Weise beschrieben, in der sich die Alltagssprache samt Dialekten und Mundarten spiegelt. Der 1919 erschienene Roman Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin mit dem Untertitel Die Geschichte vom Franz Biberkopf ist ein Paradebeispiel dafür, erzählt er doch vom Scheitern eines einfachen Lohnarbeiters. Allein die Titel bedeutender Werke verweisen auf ihre Inhalte, wie Kleiner Mann – was nun? von Hans Fallada (1932), der von bedrückenden wirtschaftlichen Verhältnissen des Verkäufers Johannes Pinneberg und seiner Freundin Lämmchen erzählt. Zur Neuen Sachlichkeit gehören ebenfalls Namen wie Hermann Hesse mit seinen Romanen Siddharta (1922) und Der Steppenwolf (1927); Heinrich Mann mit Ein ernstes Leben (1932); Erich Maria Remarque mit Im Westen nichts Neues (1928); Kurt Tucholsky mit Schloss Gripsholm (1931); Vicki Baum mit Menschen im Hotel (1929) und Veza Canetti, deren Romane zu Lebzeiten keinen Verleger fanden. Viele dieser Autoren haben noch etwas gemeinsam: Sie gingen ab 1933 ins Exil. Aber gehen wir erst wieder einen Schritt zurück in die Gründerzeit, in das letzte Drittel des ausgehenden 19. Jahrhunderts, denn noch sind wir weit entfernt von dem Jahr 1923, als Judith Kerr in Berlin in eine gebildete, wohlhabende Familie hineingeboren wird.
Alfred Kerr – Liebevoller Vater und scharfzüngiger Kritiker Der bekannte Theater- und Literaturkritiker Alfred Kerr wurde 1867 als Alfred Kempner in Breslau (heute das polnische Wrocław) geboren. Seine Eltern konnten ihm eine sorglose Jugend bescheren: Der Vater, Emanuel Kempner, war schon in sechster Generation jüdischer Weinhändler und expandierte nach einem Umzug innerhalb Breslaus 19
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Alfred Kerr (1867–1948). Deutscher Schriftsteller jüdischer Abstammung, Theaterkritiker und Journalist – und Vater von Judith Kerr.
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Anfang der 1870er-Jahre Jahre mit Weinstuben, die in der 6. Auflage des englischen Baedeker immerhin Erwähnung fanden (Vietor-Engländer, 17). Die Mutter, Helene Kempner, geborene Calé, führte den Haushalt und kümmerte sich mithilfe französischer Gouvernanten um die Erziehung der Kinder, der etwa eineinhalb Jahre älteren Schwester Alfreds, Anna Rebecca, und des jüngeren Bruders, der in früher Kindheit an Cholera verstarb. „Mein Vater war: still, zurückhaltend, kritisch; voll schweigsamer, innigster Liebe für meine Mutter und für uns“ (AK, GW V/VI, 251), schreibt Alfred Kerr. Die liebevolle Atmosphäre zu Hause hat ihn sein Leben lang geprägt; liebevoll war auch bis zu seinem Tod 1948 das Verhältnis zur Schwester. In seiner letzten Äußerung im Oktober 1948, bevor er freiwillig aus dem Leben schied, schrieb er noch: „Ännchen einen letzten Kuss“. Die Eltern waren orthodoxe Juden, und doch hatten sie sich der Gesellschaft angepasst, mit einem toleranten, wenn nicht gar akzeptierenden Blick auf die christliche Religion. In Briefe aus der Reichshauptstadt liest man zum Beispiel bei Alfred Kerr am 24. Dezember 1899 – in der Nacht zum 25. Dezember wurde er geboren: „Auch riecht es nach Christbaum in diesem Zimmer. Er steht auf dem Blüthner-Flügel, vorläufig noch ungeputzt. Morgen aber wird er leuchten und funkeln; vor Schweinskeulen aus Marzipan, vor silbernen Kügelein, vor süßen Würfeln, vor Schokoladenkringeln, vor Zuckerpüppchen, vor Lamettafäden, und es werden mehrere Knechte Ruprecht, mit Schneewatte, zwischen den Ästen und Nadeln hervorlugen. Ei, ei, das wird herrlich sein“[…] „Wahrlich, Leser, diese Seligkeit kann das Herz, diese Süßigkeit der Bauch nicht fassen […] Schon jetzt überschleicht mich Rührung, wenn ich an das Doppelfest denke“. (AK, WlB, 538 f.) In seinen Gedanken zu Berlin als Lebensort werden auch die nicht physischen Freuden und die innere Bedeutung des christlichen Weih21
Eine Kindheit in Berlin (1923–1933)
nachtsfestes deutlich: Seiten füllt er in diesen Briefen mit seinen Impressionen zu diesem christlichen Fest. „Die frohe Innigkeit des Christabends geht nicht verloren, und der Charakter dieses Weltpunkts hält die Krähwinkligkeit fern. Weihnachten ist hier ein holder Familienvorgang, zugleich ein gesellschaftliches Ereignis. Eine private Freude, zugleich eine Massendemonstration für die Glückseligkeit aller Menschen. Auch feiert sich das deutscheste aller Feste am komfortabelsten in der deutschen Hauptstadt“ (AK, WlB, 538 f.) – ein Weltbild der Toleranz, das er auch an seine Familie weitergegeben hat. Mehr als 100 Jahre später wird seine Tochter Judith Weihnachten für die zweite Kerr-Generation in einem Interview so beschreiben: „Wir waren Juden, aber es war auch in unserer Familie eine Tradition. Mein Vater spielte Klavier und sang ‚Stille Nacht, heilige Nacht‘, und wir durften den ganzen Abend wach bleiben, Geschenke auspacken und den Baum mit den Kerzen bewundern. Meine Eltern wussten: Für eine Familie gibt es nicht Schöneres als dieses Fest.“ (Littger, 24.12.2017) Es war ein offen gesonnenes, liberales Elternhaus, in dem Alfred Kempner aufwuchs; umgekehrt machte er allerdings früh Bekanntschaft mit einem aufkeimenden Antisemitismus. Zwar hatte die Wirtschaft nach der Gründung des Deutschen Reiches im Januar 1871 zunächst eine rasante Entwicklung genommen, aber nur zwei Jahre später kam es zum Börsenkrach 1873 und die so hoffnungsvoll begonnene Gründerzeit mit ihrer Aufschwungstimmung war auch schon am Ende. Von Gründerkrise war nun die Rede, und viele Unternehmer, Geschäftsleute und Händler gingen bankrott. Man suchte nach Erklärungen dafür und fand rasch einen Sündenbock: Die Juden waren schuld, und bald formierten sich erste antisemitische Organisationen und Parteien mit zunehmender Agitation, die mehr und mehr Zustimmung in der Bevölkerung fanden. Das Bild vom geldgierigen jüdischen 22
Alfred Kerr – Liebevoller Vater und scharfzüngiger Kritiker
Blutsauger und Wucherer wurde genährt und dem „bodenständigen Deutschen“ gegenübergestellt. Ganz sicher wird auch der Weinhändler Emanuel Kempner seine negativen Erfahrungen in der Geschäftswelt gemacht haben. Nichtsdestotrotz wurde 1873 Alfred Kempner eingeschult und besuchte nach der Volksschule das Gymnasium, wie es für strebsame Bürger, zu denen besonders Juden zu rechnen waren, Usus war; versprach man sich von Bildung doch viel für die Zukunft. Alfred kam auf das älteste Gymnasium der Stadt, das St. Elisabeth-Gymnasium. Heute beherbergt das Gebäude das Psychologische Institut der Universität Wrocław (Breslau). Das Gymnasium, auch „Elisabetan“ genannt, war das älteste und traditionsreichste Gymnasium, gegründet 1293, und es legte in dem jungen Alfred den Grundstein für die Lust an zeitgenössischer Dramatik, an Theatergeschichte, an Sprachen, an Musik. 1886 legte er hier sein Abitur ab – und änderte nur ein Jahr später, 1887, seinen Namen: Nun war er Alfred Kerr, auch wenn die offiziell beglaubigte Namensänderung erst mehr als 20 Jahre später erfolgte, 1909. Warum er das wollte und tat, ist nicht ganz sicher, aber Michael Kerr berichtet, dass sein Vater bereits als Schulkind in Breslau seine Freunde und Lehrer darüber unterrichtete, dass er, wäre er erst einmal Schriftsteller geworden, seinen Namen zu Kerr ändern wollte. Offenbar wollte er schon früh vermeiden, mit Friederike Kempner in (nicht bestehenden) Bezug gebracht zu werden – eine Zeitlang vermutete man eine Tante in ihr –, die als Meisterin und Genie der unfreiwilligen Komik in ihren Gedichten galt; auch als „schlesischer Schwan“ wurde sie bezeichnet, und ihre Gedichte gaben reichlich Anlass zum öffentlichen Spott: „Du sähest herrliche Gesichte | In finstrer Nacht, | Ein ganzes Blatt der Weltgeschichte: | Du hast es vollgemacht!“, schrieb sie etwa zur Person des Astronomen Johannes Kepler. Schon wenige Wochen nach dem Abitur immatrikulierte sich Alfred Kerr an der Universität in Breslau, hörte neben Altgermanistik auch französische Grammatik, nahm an Übungen der provenzali23
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schen (heute: okzitanischen) Sprache teil und besuchte Vorlesungen in Philosophie. Zu der Zeit war Karl Gotthelf Jakob Weinhold Ordinarius für Deutsche Philologie und Literaturgeschichte, und er sollte in Alfred Kerr weitere Grundlagen legen, die sein Verständnis der neuen deutschen Literatur ein Leben lang prägten. Als es diesem gelang, einen selbstbewussten Artikel zu Lessing in der Täglichen Rundschau (02.09.1887) in Berlin unterzubringen, erlaubten seine Eltern den Wechsel von Breslau zur Universität in Berlin. Während seines Studiums in Berlin schrieb Alfred Kerr immer wieder für verschiedene Tageszeitungen und Zeitschriften, vor allem Erzählungen und Geschichten aus dem Alltagsleben in der Hauptstadt. Aber je weiter er in seinen Studien fortschritt, je intensiver der Kontakt zu Professoren wurde, desto zielorientierter und fachlicher wurden seine Publikationen. Er setzte sich mit der gegenwärtigen Literatur auseinander, las Gerhart Hauptmann, sah die Stücke Henrik Ibsens auf der Bühne, ließ sich ergreifen. Er schrieb Rezensionen und Theaterkritiken und veröffentlichte sie in so renommierten Blättern wie der Vossischen Zeitung, der Königsberger Allgemeinen Zeitung, der Neuen Rundschau. Aber er schrieb nun auch selbst Gedichte und suchte seine Rolle zu finden als Literaturkritiker oder Schriftsteller. Als die Zeit der Promotion gekommen war, wurde ihm zu weiterführenden Studien die Universität Halle empfohlen, wo er 1894 mit einer Arbeit zu Clemens von Brentano promoviert wurde. Die Dissertation erschien vier Jahre später, 1898, unter dem Titel Godwi. Ein Kapitel deutscher Romantik. Fast nahtlos fand sich Kerr in der Rolle eines Theaterkritikers, die er ein Leben lang wahrnehmen sollte – öffentlich für viele Jahre, solange es ihm die Nationalsozialisten erlaubten, und auch danach unverdrossen, egal, ob es jemand lesen oder hören oder auch nur publizieren wollte; aufgegeben hat er nie. Seine neuen Ansätze, seine frische und selbstbewusste Art zu schreiben, das rigorose Benennen dessen, was er in den Stücken, in der Literatur erkannte, verschafften ihm Bekanntheit. Sein ana24
Alfred Kerr – Liebevoller Vater und scharfzüngiger Kritiker
lytischer Verstand half ihm zu einer glasklaren Sicht der Dinge, die sein ganzes Werk auszeichnen sollte, und er scheute sich nicht, seine Schlussfolgerungen und Wertungen scharf, eindeutig und persönlich zu präsentieren. Etwa so, wie 1893 im Magazin für Litteratur 47: „Bekanntlich besteht das deutsche Lustspiel darin, dass eine oder mehrere Personen blödsinnig werden.“ Nach einer Auszeit in Italien kehrte Alfred Kerr nach Berlin zurück und begann als Schriftsteller zu arbeiten, und zwar an den Briefen aus der Reichshauptstadt. In der Sonntagsausgabe der Breslauer Zeitung sollten sie wöchentlich erscheinen, ein Feuilleton aus Berlin, das über alles Interessante aus Politik und Gesellschaft berichtete. Allein die Briefform gab Alfred Kerr Gelegenheit, ganz Persönliches auszudrücken, Stimmungen nachzugeben, Kommentare abzugeben, zu werten, zu richten. Unter dem Titel Wo liegt Berlin? erschienen seine Briefe von 1895 bis 1900. Günther Rühle hat sie 1997 mit Anmerkungen und Kommentaren herausgegeben; der kritische Marcel Reich-Ranicki schrieb dazu: „Die Geschichte des deutschen Feuilletons muss nach diesem Buch neu geschrieben werden“ (Vietor-Engländer, Klappentext). „Kerrs Leidenschaft für das Leben in der Stadt, für das Theater und aufwendige Massenspektakel, für Ballatmosphäre und Großstadtfluidum drückt sich in den Berichten ebenso aus wie die zunehmende Kritik am Kaiser, seine Verachtung für das antiquierte Beamtentum und den Luxus der Neureichen. Alles, was ihn umgibt und was er empfindet, hat die Aufmerksamkeit des Chronisten: das Wetter, die Jahreszeiten, Weihnachten, Fastnacht und Pfingsten, Überschwang und Niedergeschlagenheit. So überträgt sich das Persönlich-Dynamische des jungen Schreibers auf den Leser und ermuntert ihn, mit Kerr zu fragen: ‚Wo liegt Berlin?‘ Im Schloß, im Reichstag, im Dom, im Tiergarten, im Deutschen Theater, in den neuerbauten Kaufhäusern der Leipziger Straße? Überall hält Kerr Ausschau nach seinem Berlin“, 25
Eine Kindheit in Berlin (1923–1933)
heißt es in der Inhaltsangabe der von Rühle herausgegebenen Briefe aus der Reichshauptstadt. Kerr erwies sich als ein scharfsinniger Beobachter mit einem feinen Gespür für das, „was in der Luft lag“, und das er noch nicht konkret zu benennen wusste. Am letzten Abend des Jahres 1899 bemerkt er in seinem Brief (AK, WlB, 547): „31. Dezember 1899. Die Zeit ist aus den Fugen. Die Entwicklungen, die sich anbahnen, brauchen viele Säkula, um Ergebnisse zu zeitigen. Wir werden sie nicht sehen. Wir fühlen bloß den Kampf. Ungeheuer große Zeiträume, ungeheuer kleine Fortschritte – dieses Gesetz hat schon David Friedrich Strauß festgestellt. Wenn aber das Bewußtsein, in einem der grandiosesten und konfusesten Augenblicke gelebt zu haben, Seligkeit ist – dann können wir alle selig werden.“ Von 1900 an schrieb Alfred Kerr fast zwanzig Jahre lang als Theaterkritiker für die illustrierte Tageszeitung Der Tag des Berliner Großverlegers August Scherl. Zusätzlich war er ab 1911 Mitherausgeber der Kunst- und Literaturzeitschrift Pan. Von 1895 bis 1900 war Pan, gegründet von Otto Julius Bierbaum und Julius Meier-Graefe, ein wichtiges Organ des Jugendstils gewesen, das Illustrationen von bekannten und unbekannten Künstlern abdruckte, aber auch Erzählungen und Lyrik aufnahm. Zehn Jahre nach ihrem Einstellen wurde Pan 1910 von dem Verleger Paul Cassirer neubegründet, und ab 1912 war für einige Jahre Alfred Kerr ihr alleiniger Herausgeber. Er schrieb den ganzen Ersten Weltkrieg hindurch, immer düsterer wurden seine Ansichten über den Zustand der Welt. Seine gesammelten Beiträge wurden vom S. Fischer Verlag 1917 unter dem Titel Die Welt im Drama herausgegeben. Im gleichen Jahr erschien Kerrs erster Gedichtband Die Harfe. 1917 begegnete Alfred Kerr der 30 Jahre jüngeren Ingeborg Thormählen und die beiden heirateten – eine kurze Ehe, denn die junge 26
Julia Weismann – Mutter mit schwieriger Familie
Frau verstarb noch im selben Jahr an der Spanischen Grippe; ein schwerer Schlag für ihn. Er schrieb nun auch für zwei der bedeutendsten Tageszeitungen der Weimarer Republik, das Berliner Tageblatt und die Frankfurter Zeitung, und galt als einer der schärfsten und zynischsten Kritiker. Drei Jahre später, 1920, heiratete er Julia Weismann.
Julia Weismann – Mutter mit schwieriger Familie Es war der Sommer 1919, der erste Sommer nach dem großen Krieg, und Alfred Kerr saß an der Fertigstellung von Texten für den Druck; die Wohnung in Berlin bedrückte ihn nach dem Tod seiner Frau immer noch, und so fuhr er mitsamt seinen zu bearbeitenden Beiträgen nach Sellin auf der Insel Rügen. Dort traf er Julia Weismann, eine junge Frau, 30 Jahre jünger als er, die er bereits flüchtig aus Berlin kannte – die Familie Weismann war 1912 in eine große Villa in Berlin-Grunewald umgezogen, ziemlich nahe der Familie Kerr, und hier hatten sich die beiden oberflächlich kennengelernt. 80 Jahre später wird ihr Sohn Michael in seinen Erinnerungen die hübsche Geschichte erzählen, wie sie seine Eltern immer wieder zum Besten gaben: dass nämlich Alfred Kerr Julia bereits in ihren Teenagerjahren in der Straßenbahn gesehen und dabei gedacht habe, dass er sie sehr gern geheiratet hätte. Allerdings war Alfred da gerade im Begriff, Ingeborg zu heiraten. Das Zusammentreffen auf Rügen wurde eine „Begegnung für die Zukunft“, wie Kerrs Biografin Deborah Vietor-Engländer ihr entsprechendes Kapitel dazu nennt. Nach Unterlagen aus dem Alfred-KerrArchiv hat Alfred Julia, die er „Mozartle“ nannte, bereits einen sehr liebevollen Brief bei seinem Abschied von Rügen geschrieben, bezeichnete sich darin als „lebensbejahend; überzeugt, dass es das Schicksal überhaupt gut mit mir meint.“ (Vietor-Engländer, 285)
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Eine Kindheit in Berlin (1923–1933)
Julia Weismann (1898–1965), Komponistin. Zweite Ehefrau von Alfred Kerr und Mutter von Michael und Judith Kerr.
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Julia Weismann – Mutter mit schwieriger Familie
Julia Weismann, geboren 1898, war die Tochter von Robert Weismann und seiner Ehefrau Gertrud Reichenheim, geboren 1869. Weismann war Jurist und preußischer Beamter und arbeitete jahrelang als Staatssekretär im Preußischen Staatsministerium, das direkt dem König von Preußen unterstellt war, und war für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung verantwortlich. In seinen Tagebüchern, bedeutende Zeitzeugnisse, die sich vom Ende des Kaiserreichs bis zum Nationalsozialismus erstrecken, schrieb der deutsche Publizist und Schriftsteller Harry Graf Kessler 1920: „Weismann, unser Polizeiminister, der bekannteste und glücklichste Bacspieler Berlins, ist ein blonder Jude, der noch blonder sein möchte: […] Ist als Parvenü der guten Gesellschaft notwendig erzreaktionär, nicht aus Sentimentalität, sondern weil er seine neugewonnene Stellung verteidigt und in diese Verteidigung die ganze Willenskraft hineinlegt, die er gebraucht hat, um als Jude emporzusteigen. Dieses Rädchen wird jedenfalls die Maschine immer nur nach rechts drehen.“ (Kessler, 23. Juni 1920) Allerdings sollte 13 Jahre später Weismann einer von den 33 Deutschen sein, deren Namen nach der Machtergreifung auf der im August 1933 verabschiedeten „Ersten Ausbürgerungsliste“ der Nationalsozialisten stand. Nachdem ihm die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt worden war, emigrierte er in die damalige Tschechoslowakei und später über die Schweiz und Frankreich in die USA. Die Weismanns waren eine wohlhabende und bis 1933 auch einflussreiche, ursprünglich jüdische Familie, die aus politischen und gesellschaftlichen Gründen zum Christentum konvertiert war; Julia wurde bereits als Christin geboren. Sie wuchs in finanzieller Sicherheit auf und genoss die Erziehung einer „höheren Tochter“: Sie sprach fließend Englisch und etwas Französisch, kannte sich in der Welt der Literatur und des Theaters aus und studierte schließlich einige Semester 29
Eine Kindheit in Berlin (1923–1933)
Mathematik – ihr Herz aber gehörte der Musik. Da sie früh Talent zeigte, ermöglichte man ihr eine Ausbildung in Komposition bei dem Professor und Komponisten Wilhelm Klatte. Sie war eine liebenswürdige Person und glaubte an das Gute im Menschen; ihr Sohn Michael erinnert sich später: „Sie war romantisch und von einfacher Natur, mit einem instinktiven, liebenswerten Glauben, dass die Welt gut war und sie erfolgreich und glücklich sein würde“ (MK, Remember, 12). Julias Eltern hatten sich sicherlich mehr für das Leben der begabten Tochter versprochen und reagierten verhalten auf ihre Freundschaft und Liebe zu Alfred Kerr – war doch ihr Vater zwei Jahre jünger als sein angehender Schwiegersohn. Und es gab gravierende Unterschiede, die niemals überbrückt werden sollten. Michael Kerr hat sie bereits auf den ersten Seiten seiner Erinnerungen klar definiert. „Mein Vater war klein, altmodisch, was die Kleidung betraf, anspruchsvoll in seinen Gewohnheiten und zurückhaltend in seiner Art. Er war eine sehr eigene Persönlichkeit, lebhaft, aber voller Sanftmut und Charme. Mein jüngerer Großvater war das genaue Gegenteil von allem. Er war groß, immens gutaussehend in jedem Lebensstadium, stark extrovertiert und ein Salonlöwe. Seine Ausstrahlung und sein Erfolg bei Frauen waren legendär.“ (MK, Remember, 7) Der Erfolg bei den Frauen hatte sich auch nicht nach seiner Heirat mit Gertrud Reichenheim geändert, die ein „beachtlicher Fang“ war. Der badische Reichsratsvertreter Fecht bezeichnete Weismann als „durch und durch verlogen, brutal, arrogant bis zur Unverschämtheit, im Privatleben ein Spieler, Vergeuder eines Millionenvermögens, Schuldenmacher, Lebemann.“ (Vietor-Engländer, 302) Zeit seines Lebens hat seine Frau Gertrud unter den Liebschaften und Affären ihres Mannes gelitten, auch wenn sie sich ihm kritiklos unterordnete. Kam sie doch aus einer viel älteren, angesehenen und immens reichen Familie, den 30
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Reichenheims, die ihren Reichtum schlesischen Textilfabriken verdankten. Gertrud, ältestes von sieben Kindern aus zwei Ehen der Anna Reichenheim, stand völlig unter der Kuratel ihrer Mutter; Anna – spätere Urgroßmutter also von Michael und Judith Kerr – herrschte nach dem Tod ihrer Ehemänner uneingeschränkt über die vielköpfige Familie und laut Michael Kerr auch über die tonangebende Gesellschaft in Berlin. Als Kind, so erinnert er sich, wurden er und seine Schwester Judith regelmäßig der Urgroßmutter vorgeführt. „Jeder Besuch erschien wie eine Audienz bei Hofe. Dienstmädchen in schwarzer Kleidung, weißen Schürzen und Häubchen servierten unvergessliche Kuchen in der erschreckenden Umgebung von Familienporträts, antiken Möbeln, dicken Teppichen, schwerem Silber und durchsichtigem Porzellan; das alles dämpfte unseren Appetit und machte uns sprachlos vor Schüchternheit.“ (MK, Remember, 8). Keine Vorbehalte der Reichenheim-Weismann’schen Familie konnten die Beziehung zwischen Alfred und Julia auseinanderbringen. Gegen alle Widerstände heirateten Julia Weismann und Alfred Kerr am 21. April 1920; in der Heiratsanzeige werden – damals durchaus ungewöhnlich – auf beiden Seiten die Eltern nicht genannt. Die Beziehung vor allem der beiden Männer blieb schwierig, und sie sollten sich Zeit ihres Lebens aus dem Weg gehen. Nach der Hochzeit wohnte das Paar in der Wohnung von Alfred Kerr, die von Julias Eltern durch eine standesgemäße Aussteuer aufgebessert wurde. Die Flitterwochen erlebten die beiden in Italien, Eindrücke von der Reise hat Alfred Kerr in Artikeln und den sogenannten Plauderbriefen für diverse Zeitungen festgehalten. Nach schönen Tagen in Südtirol, seit 1919 unter italienischer Hoheit, hieß es für das junge Paar: Alltag in Berlin. Und Julia war schwanger. Am 1. März 1921 brachte sie in Berlin-Charlottenburg den Sohn Michael zur Welt (er starb am 14. April 2002 in London).
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Eine Kindheit in Berlin (1923–1933)
Judith Kerr – Eine Insel des Glücks und draußen das Chaos Zwei Jahre später kam am 14. Juni 1923 in Berlin die Tochter zur Welt: Anna Judith Gertrud Helene Kerr, Anna nach der innig geliebten Schwester des Vaters wie auch der Urgroßmutter mütterlicherseits, Gertrud und Helene nach den beiden so unterschiedlichen Großmüttern benannt; aber zeitlebens war es der zusätzliche Name Judith, dessen Klang der Vater so liebte, den das Mädchen tragen und unter dem sie berühmt werden sollte. Judith wurde mitten in die Goldenen Zwanziger hineingeboren, in eine Stadt, die wie keine andere für die angehenden Veränderungen des 20. Jahrhunderts stand. Kulturelle, historische, politische und gesellschaftliche Umbrüche markieren die Zeit. „Es war ein Freitag, als in Wilmersdorf das Abendland unterging“, schrieb 2010 der Redakteur Sven Goldmann in Der Tagesspiegel: „Zum Abschied richtete der Leitartikler des Lokalblattes noch ‚Ein Wort an alle Muß-Berliner‘, es begann mit der Feststellung: ‚Von heute an hören wir auf, Wilmersdorfer, Schöneberger, Charlottenburger zu sein. Wir sind kraft jenes Gesetzes, das sein Zustandekommen einer Zufalls-Parlaments-Mehrheit verdankt, Muß-Berliner geworden. In allen entscheidenden Fragen werden wir uns dem Diktat des roten Berliner Magistrats zu fügen haben. Einstweilen wenigstens, bis die rote Militärwirtschaft abgewirtschaftet haben wird und an Stelle der Gesinnungslosigkeit wieder andere Faktoren den Ausschlag geben werden.‘“ Die Rede ist vom „Gesetz über die Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin“, im Volksmund kurz „Groß-Berlin-Gesetz“ genannt, das am 1. Oktober 1920 in Kraft getreten war. Durch die Eingemeindung wohl32
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habender Vororte wie Wilmersdorf, Charlottenburg, Wannsee und Spandau, die auf einmal keine Vororte mehr waren – insgesamt sieben Städte, 59 Landgemeinden und 72 Gutsbezirke – war ein Groß-Berlin entstanden, dessen Stadtgebiet um das Dreizehnfache auf 878 Quadratkilometer angewachsen war; die Bevölkerung verdoppelte sich auf 3,8 Millionen Menschen. Zum Vergleich: 2016 waren es knapp 3,6 Millionen. Was am Schreibtisch ausgearbeitet wurde, machte Berlin flächenmäßig plötzlich zur zweitgrößten Stadt der Welt (hinter Los Angeles) und zur drittgrößten mit Blick auf die Einwohnerzahlen (hinter London und New York). Die Ansiedlung industrieller Unternehmen wie Siemens oder AEG brachte in der Hoffnung auf Arbeit und Lohn mehr und mehr Menschen in die Stadt; das wiederum forderte Architekten wie zum Beispiel Walter Gropius heraus, neue Siedlungen mit ansprechenden Wohnungen zu schaffen. Einen kulturellen Höhepunkt bot unter anderem Leopold Ullstein, der mit einer Papiergroßhandlung begann, eine Druckerei erwarb und mit seinen Zeitungen nach und nach eine liberale Alternative zur konservativen Presse im preußischen Berlin schuf. Er kaufte das Neue Berliner Tageblatt, die Berliner Zeitung, brachte mit der Berliner Illustrierten Zeitung die erste deutsche Zeitschrift auf den Markt und machte die Berliner Morgenpost zur größten Tageszeitung Deutschlands. Unter seinen fünf Söhnen kamen die B.Z. am Mittag und die Vossische Zeitung hinzu sowie der Ullstein Buchverlag, der „rasch zu einem der führenden deutschen Verlage aufstieg: Autoren wie Brecht, Zuckmayer, Feuchtwanger, von Horváth und Heinrich Mann veröffentlichten bei Ullstein. Ihr Motto war ‚politischer Liberalismus und moderne Kultur‘, schrieb Arthur Koestler über die Ullsteins. Viele Ullstein-Bücher trafen den Zeitgeist und wurden Bestseller, Erich Maria Remarques ,Im Westen nichts Neues‘ und Vicki Baums ‚Menschen im Hotel‘.“ (Ullstein Buchverlage) 33
Eine Kindheit in Berlin (1923–1933)
Eine Zeit des Umbruchs also, in die Judith Kerr hineingeboren wurde. Doch davon war dem Mädchen kaum etwas bewusst, schließlich war sie erst 9 Jahre alt, als die Familie Berlin verließ. Es sind nicht viele Erinnerungen an das Berlin der 1920er-Jahre, die sie hat; ihre Erinnerungen, die sie in ihrer Hitler-Trilogie in literarischer Form zu Papier brachte, beginnen mit den Tagen des bevorstehenden Exils im Jahr 1933. Aber am 7. Oktober 1990 hielt Judith Kerr im Berliner Renaissance Theater im Rahmen der „Berliner Lektionen“ einen Vortrag. Die „Berliner Lektionen“, 1987 anlässlich der 750-Jahr-Feier Berlins begründet und Teil der Berliner Festspiele, laden „Persönlichkeiten der Zeitgeschichte, darunter Philosophen, Künstler, Wissenschaftler und Politiker“ zu Vorträgen und Reflexionen über ihre Erfahrungen in einer sich verändernden Welt ein, „die diese Reihe zu einer Chronik des politischen und kulturellen Wandels gemacht haben“, wie es im Archiv der Berliner Festspiele zu lesen ist. Judith Kerrs Vortrag erschien im selben Jahr unter dem Titel Eine eingeweckte Kindheit im Argon Verlag, der einzige Text, den sie über ihre Kindheit in Berlin veröffentlicht hat. „Ich habe in Berlin keine Geschichte erlebt, nur eine normale, glückliche Kindheit. Und weil das Leben dann nachher ganz anders wurde – ich will nicht sagen, weniger glücklich, aber doch eben anders –, deswegen ist die Zeit in Berlin etwas ganz Besonderes geblieben.“ (JK, Kindheit, 19). Bewusst habe sie, so führt sie in diesem Text weiter aus, alles verdrängt, was sie an diese glückliche Zeit in Berlin erinnerte; es hatte keinen Zweck mehr, weil es nicht mehr existierte. Und: „Man hatte jetzt anderes zu tun“. Erst viele Jahre später, als sie selbst in England verheiratet war und Kinder hatte, da habe sie plötzlich gedacht: „Ja, wie war das eigentlich, als ich so klein war, wie meine Kinder jetzt? […] Es war, als hätte das alles jemand eingeweckt, als wir damals aus Berlin wegzogen, und jetzt hätte ich das Einmachglas geöffnet.“ Gegenüber dem, was kommen sollte, war die Zeit in Berlin geradezu ereignislos, und Judith Kerr beschreibt unbeschwerte Kindheitstage, in denen sie 34
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Kind sein durfte und die Veränderungen nur wenig realisierte. „Es war eine normale Kindheit. Aber für mich war es ein Stück meines Lebens, ganz abgegrenzt von allem, was später kam. Etwas Leuchtendes, Flammendes, etwas, von dem man beinah glaubte, es wäre jemand anderem passiert.“ (JK, Kindheit, 20) Aus Tagebucheinträgen von Alfred Kerr, aus den späteren Erinnerungen ihres Bruders Michael und dem bemerkenswerten Vortrag Judith Kerrs lassen sich unbeschwerte Jahre der Kindheit in Berlin rekonstruieren – unbeschwert für die Kinder, vielleicht auch für den Vater, aber ganz gewiss nicht immer für Julia, die Mutter. Alfred Kerr war ein vielbeschäftigter Mann, der den Tag lesend und schreibend in seinem Arbeitszimmer verbrachte, sich der Literatur widmete; immer kam seine Arbeit an der Schreibmaschine an erster Stelle, er lebte in seiner „literaturkritischen Welt“. Die Probleme des Alltags konnten nicht zu ihm durchdringen; alle Alltagsdinge wurden von seiner Frau Julia geregelt. Dass Geld ihm nur wenig bedeutete, hatte diese schon beim ersten Kennenlernen gemerkt, als sie feststellen musste, dass er nicht einmal ein Bankkonto besaß, sondern Geld einfach zu Hause aufbewahrte. Dementsprechend machte er sich auch wenig Sorgen um die familiären Finanzen, etwa die Miete oder die Kosten für Lebensmittel – in den Nöten des Exils wird das dazu führen, dass Julia all diese Aufgaben allein zu bewältigen hat. Schon früh beschreibt ihn sein Sohn als „einen engagierten Individualisten, einen Künstler in Worten, einen Schriftsteller und Dichter“, der in gewisser Weise völlig weltfremd war; durch seine eigene Bescheidenheit sei ihm niemals richtig klar gewesen, was das Leben wirklich kostete. Die Mutter kümmerte sich um den Alltag der Kinder, begegnete ihnen aufmerksam, nahm sie ernst, kannte ihre Sorgen und Freuden und Ängste, ihre Freunde, später ihre Lehrer in der Schule. Die Mutter in Judith Kerrs Rosa Kaninchen hat täuschende Ähnlichkeit mit der echten Mutter Julia:
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„Einen Augenblick später kam Mama herein. ‚Hallo Kinder, hallo Günther!‘, rief sie. ‚Wie war es in der Schule?‘ Jeder fing sofort an, es ihr zu erzählen, und das Zimmer war plötzlich voller Lärm und Gelächter. Sie kannte die Namen aller Lehrer und erinnerte sich immer, was sie ihr erzählt hatten. Als Max und Günther ihr erzählten, dass der Geografielehrer wütend geworden war, sagte sie: ‚Kein Wunder, wo ihr ihn vorige Woche so geärgert habt!‘ Und als Anna ihr erzählte, dass ihr Aufsatz in der Klasse vorgelesen worden war, sagte sie: ‚Das ist wundervoll – denn Fräulein Schmidt liest selten etwas in der Klasse vor, nicht wahr?‘ Wenn sie zuhörte, so sah sie den, der gerade sprach, mit äußerster Konzentration an. Wenn sie sprach, so legte sie ihre ganze Kraft in das, was sie sagte. Sie schien alles, was sie tat, doppelt so heftig zu tun wie andere Leute; sogar ihre Augen waren von einem strahlenderen Blau, als Anna es je gesehen hatte.“ (JK, Kaninchen, 14) Die Plauderbriefe, eine Kolumne, die der Vater 25 Jahre lang für die Königsberger Allgemeine Zeitung schrieb, erweisen sich nicht nur für die gesellschaftlichen Ereignisse in Berlin und die große Politik als Spiegel des Lebens; auch über den privaten Alltag der jungen Familie erfährt man immer wieder einiges, und alles, was Alfred Kerr schrieb, auch in seinen Tagebüchern, zeigt sein tief empfundenes Glück vor allem mit den Kindern. Als sein Sohn geboren wurde, schrieb er zum Beispiel: „Das Tollste bleibt in jedem Augenblick, jenseits von diesen Dingen, die unfaßbare Tatsache, daß jetzt statt zwei Menschen drei Menschen im Zimmer sind. Wer dies alles nicht erlebt hat, ich weiß es nun, kennt die Welt nicht – und hätt’ er sie durchwandert in Höhen und Tiefen.“ (AK, Tagebuch, 206) Oft sind es die kleinen, unbedeutenden Episoden, die seine Liebe deutlich erkennen lassen. 36
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Judith Kerr als Kind.
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„Meine Tochter tanzt mit drei Jahren wie eine Zirkusperson. Du Stupsnase. Von mir belehrt, sagt sie das Gedicht: ‚Ich ging im Walde so für mich hin …‘; sehr ausdrucksvoll; bei der Schlußzeile steht sie plötzlich auf den Händen. Was hab’ ich da in die Welt gesetzt! Rad schlägt sie auch … Oft macht sie ‚Spagat‘ – wo beide langgestreckten Beinchen eine grade Linie bilden; den Kopf legt sie dann zwischenhin auf die Erde. Jetzt steht sie schon wieder auf den Händen. Was hab ich in die Welt gesetzt! Stupsnase! Puppi! Turnkatzl!“ (AK, Tagebuch, 216) Für die Kinder waren es wohlbehütete, unbeschwerte Jahre. Zur Familie gehörte seit 1925 auch Fräulein Heimpel, liebevoll Heimpi genannt; sie kam zur Betreuung der Kinder und wurde von ihnen heiß geliebt. In der Hitler-Trilogie ist sie die Einzige, die mit ihrem richtigen Namen genannt wird. Offenbar war Heimpi fast so etwas wie ein Familienmitglied, denn als die Familie später fliehen musste, war geplant, dass Heimpi bei der Flucht und in der Fremde dabei sein sollte. Aber weil die Familie durch die staatlichen Beschlagnahmungen da schon alles Geld verloren hatte, musste Heimpi zurückbleiben. Erst als alte Frau im Altersheim sollte Judith Kerr sie wiederfinden und von Heimpis schwerem Schicksal erfahren. Jedenfalls wollte Heimpi immer als „Gouvernante“ bezeichnet werden, nicht als „Fräulein“ für die Kinder; vielleicht hat sie sich dadurch noch älter gefühlt, als sie war. Und es gab weitere Angestellte, Martha, das Stubenmädchen, Herrn Freiberg, der die Heizung erledigte, seine Frau, die die Fußböden wienerte, die Waschfrau und Fräulein Stärke, die zum Bügeln kam. In ihrem Vortrag über die „eingeweckte Kindheit“ setzt Judith Kerr Letzterer ein Denkmal mit der Erinnerung, dass sie und ihr Bruder immer – erfolglos – versucht hatten, Fräulein Stärke mit Herrn Schwach, dem Gemüsehändler, zu verheiraten. Aus den oft minutiösen Eintragungen Alfred Kerrs ergibt sich schnell das Bild einer Kindheit im behüteten, bildungsbürgerlichen Milieu. Zunächst spielte sie sich in der Wohnung in der Höhmannstraße 6 38
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ab; eine Gedenktafel erinnert heute an ihren Mieter Alfred Kerr, ebenso wie an dem Haus in der Douglasstraße 10, in das die Familie zog, als Judith fünf Jahre alt war. Es war wie ein Neubeginn für die Familie, vor allem für die Mutter, denn sie konnte das Haus zu einem Heim ganz nach ihren Wünschen gestalten, im Gegensatz zur Wohnung in der Höhmannstraße, in der Alfred Kerr bereits vor seiner Heirat mit Julia gelebt hatte. „Sie hat alles hell und bunt gemacht. Ich fand es wunderschön“, berichtet Judith Kerr (JK, Kindheit, 23) Hier setzte sich die sorglose Kindheit fort, auch wenn die Zeiten politisch turbulent waren und Inflation und Wirtschaftskrise sich mehr und mehr bemerkbar machten, bis im Oktober 1929 die Aktienkurse an der New Yorker Börse einbrachen und eine folgenschwere Weltwirtschaftskrise einläuteten – mit verheerenden Folgen auch für die deutsche Wirtschaft. Firmen und Unternehmen brachen zusammen und meldeten Konkurs an, Banken mussten schließen, die Arbeitslosenzahlen allein in Deutschland stiegen als Folge innerhalb von drei Jahren sprunghaft um circa fünf Millionen. Die Einkommen sanken, Verarmung und Ansteigen der Kriminalität waren die Folge. Elend des Alltags, Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit – Resignation, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung griffen um sich. Was als Wirtschaftskrise begann, sollte den Nährboden bereiten für den rasanten Aufschwung der gewaltbereiten Nationalsozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, kurz NSDAP, die sich als Gegner der Weimarer Republik gegen jede demokratische Ordnung wandte. Der Aufstieg der nationalsozialistischen Bewegung um Adolf Hitler hatte begonnen und setzte sich fort – auch wenn die NSDAP bei den Wahlen am 6. November 1932 sogar Verluste hinnehmen musste und es im Blick auf die bald anstehenden neuen Wahlen für sie gar nicht gut aussah. Aber die zunächst chancenlose Kleinpartei NSDAP wurde bei den Wahlen 1933 Regierungspartei, beseitigte systematisch die verfassungsmäßigen Grundlagen des Landes und bereitete so die Errichtung einer Diktatur konsequent vor. 39
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Im Hause Kerr war indes von dieser niederdrückenden Stimmung noch wenig zu spüren. Die Familie war glücklich, nachdem sie 1928 in das geräumige Haus in der Douglasstraße gezogen war; es hatte einen großen Garten, in dem die Kinder nach Lust und Laune herumtoben und Lärm machen durften, so viel sie wollten. Im gleichen Jahr hatte Alfred Kerr seiner jungen Frau zum 30. Geburtstag ein wunderbares Geschenk gemacht, das von keinerlei finanziellen Engpässen zeugte: Er schenkte ihr einen Flügel. Noch 1990, bei ihrer Rede in Berlin, war es eine der lebhaftesten und stärksten Erinnerungen Judith Kerrs, „wie ich aus der Schule mittags nach Hause kam und schon beim Eintreten meine Mutter am Klavier hörte. Dort probierte sie ihre Melodien für die Opern aus. Die meisten davon könnte ich heute noch singen.“ (JK, Kindheit, 23). Aber es war mehr als ein Hobby, denn nach ihrer Ausbildung in Komposition bei Professor Wilhelm Klatte verstand sich Julia Kerr als Komponistin. Zwei Opern hat sie insgesamt geschrieben, die erste wurde wenige Monate vor dem großen Börsenkrach im Staatstheater Schwerin ab dem 12. Mai 1929 eine Woche lange aufgeführt und noch im selben Jahr auch im Berliner Rundfunk übertragen. Die Oper trug den Namen Die schöne Lau und ging auf Eduard Mörikes gleichnamiges populäres Märchen zurück, das Teil einer größeren Erzählung ist. Es geht um die Geschichte der jungen, schönen Lau, die Frau des Donau-Nixen – eine Volkssage oder ein Märchen. Julia schrieb diese Oper unter dem Namen Julia Kerwey, eine Huldigung an ihre Eltern und die Familie väterlicherseits, denn der Name war eine Zusammensetzung von Kerr und Weismann. Eine zweite Oper war zu dieser Zeit schon seit zwei Jahren in Arbeit und fast fertig, Chronoplan sollte sie heißen; eine Fantasy-Geschichte, würde man heute sagen. Chronoplan war eine Zusammenarbeit des Ehepaars Kerr. Alfred hatte sich die Handlung ausgedacht, ein Spiel mit dem Motiv der Zeitreise und bekannten zeitgenössischen Personen vorwiegend aus der Literatur- und Musikszene: Albert Einstein lädt 40
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Familienbild: Alfred Kerr mit seiner zweiten Ehefrau Julia, geb. Weismann, und den Kindern Michael und Judith. Um 1928.
bei einem Treffen in seinem Landhaus Gerhart Hauptmann, Bernard Shaw, Richard Strauss, Max Liebermann, eine Journalistin und einen namenlosen Kritiker (Kerr?) zu einer Reise durch die Zeit mit dem Chronoplan ein, mit dem man schneller als das Licht in die Vergangenheit reisen kann. Alfred Kerr schrieb das Libretto, seine Frau komponierte die Musik. 1933 wollten sie beide damit fertig sein – zu spät, wie sich zeigen sollte. Die Ereignisse von Anfang 1933 sollten alle Hoffnungen zerstören. Die Oper wurde nie aufgeführt. Die Arbeit strukturierte das Familienleben der Kerrs. Die Tagesabläufe waren klar definiert und ordneten auch das Leben der Kinder. Vormittags arbeitete ihr Vater, schrieb seine Kritiken und Plauderbriefe, war in seinem Arbeitszimmer, während seine Frau komponierte und Noten schrieb, soweit ihre Rolle als Hausfrau und Mutter dies zuließ. Nachmittags entspannte er sich, abends besuchten beide meist das Theater. Das Ehepaar hatte viel Besuch; allein beim Stöbern in Briefen und Tagebucheintragungen stößt der Leser auf große Namen und man darf davon ausgehen, dass das Haus 41
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Treffpunkt für die intellektuelle Elite der damaligen Zeit war. Aber Judith Kerr war ein Kind, sechs, sieben Jahre alt, und erinnert sich kaum an die Besucher ihrer Eltern; ein Zusammentreffen mit Gerhart Hauptmann erwähnt sie, mehr nicht. Kein Wunder, die Namen der Großen sagten ihr nichts. Nur an Max Meyerfeld erinnert sie sich, er war als enger Freund des Vaters ein gern gesehener Gast im Haus, sogar ein regelmäßiger Weihnachtsgast. „Er war wohl mein liebster Onkel, aber er war kein Verwandter, sondern ein Freund meines Vaters. Max Meierfeld [sic] hieß er. Wir nannten ihn Onkel Meierfeld. Ein ewiger Junggeselle, liebenswürdig, etwas pedantisch und ein begabter Übersetzer. Hat Shaw und, ich glaube, auch Oscar Wilde ins Deutsche übersetzt. Aber das wussten wir natürlich damals nicht. Wir kannten ihn nur als jemanden, der oft zu uns kam und uns verwöhnte.“ (JK, Kindheit, 31) Er war es auch, wie Judith Kerr weiter erzählt, der ihre Liebe zu Tieren prägte. Am liebsten gingen die beiden in den Zoo, wo sie das Gefühl hatte, dass Onkel Meyerfeld jedes Tier persönlich kannte – und sie wünschte sich so sehr, dass sie die Sprache der Tiere verstehen könnte. Hatte sie doch gerade die Doktor-Dolittle-Bücher gelesen! Onkel Meyerfeld tröstete sie: Bis sie erwachsen sei, habe sie die Sprache der Tiere ganz bestimmt gelernt. Vielleicht war gerade er es, der den Keim zur Liebe zu Tieren in sie legte, die schließlich das künstlerische Werk ihres ganzen Lebens bestimmen sollte. Auch Max Meyerfeld blieb zurück, als die Kerrs Deutschland verließen, aber er schrieb Ansichtskarten mit Tieren darauf an Judith. Sie erinnert sich an seine letzte Karte, auf der stand, „The more I see of men, the more I love animals.“ Als man ihm, dem Juden, eines Tages nicht mehr erlaubte, in den Zoo zu gehen, nahm er sich das Leben. Vielleicht hat Judith Kerr ihm mit dem Namen Max (für ihren Bruder Michael) in ihrem Roman Als Hitler das rosa Kaninchen stahl ein Denkmal gesetzt; als Person taucht er in der Erzählung unter dem Namen „Onkel Julius“ auf. 42
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Sie waren tierlieb in der Familie, vor allem Vater Alfred, und sie versuchten, sich zu Hause an eigenen kleinen Tieren zu erfreuen; zu Weihnachten oder anderen Festtagen schenkte der Vater den Kindern gern Goldfische oder Mäuse oder am liebsten Vögel; eine Chinesische Nachtigall war dabei und ein Dompfaff. Sie erlebten nur wenige Tage im Hause Kerr, bevor man sie tot im Käfig fand. Der Tierliebe ihres Vaters hat Judith Kerr noch vor einigen Jahren ein Denkmal gesetzt. 2015 erschien ihr Kinderbuch Mister Cleghorn’s Seal (Ein Seehund für Herrn Albert, Sauerländer 2016), ihr erster illustrierter Roman nach 37 Jahren. Ein älterer Herr – Mr Cleghorn alias Herr Albert alias Alfred Kerr – fährt mit seinem jungen Neffen im Ruderboot hinaus aufs Meer und beobachtet Seehunde; aber eines Tages ist die Mutter erschossen und das Junge allein. Kurzerhand nimmt Herr Albert das Seehundbaby mit zu sich nach Hause und versucht es aufzuziehen. Aber ein Seehund in einer Stadtwohnung? Das kann nicht gut gehen, zumal Haustiere verboten sind. Glücklicherweise kann die Nachbarin Fräulein Millicent bei der Suche nach einem neuen Zuhause für den Seehund helfen … „Die Geschichte selbst ist unaufgeregt, zwar nicht ohne Konflikte, aber im Grundton doch eher heiter und schön – fast zu schön, um realistisch zu sein, aber genau das ist auch die Absicht Kerrs, die besonders durch das sehr persönliche Nachwort zum Ausdruck kommt, denn Ein Seehund für Herrn Albert beruht erstaunlicherweise auf einer wahren Geschichte, der Kerr durch ihr Kinderbuch zu einem besseren Ende verhelfen wollte“ (Burger). Hatte doch Judiths Vater tatsächlich einmal vergebens versucht, einen Seehund an der normannischen Küste zu retten und zu Hause auf dem Balkon aufzuziehen, aber das Tier musste eingeschläfert werden und war später ausgestopft in der Wohnung in Berlin zu finden. In ihrem Nachwort erinnert sich Judith Kerr, dass sie immer gern auf dem Seehund gesessen und ihn gestreichelt habe. Die Geschichte in ihrem 43
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Buch aber hat ein glückliches Ende, vielleicht ein Gegenpol zu den vielen „wunderschönen Begräbnissen“, die Tante Annchen, Schwester von Alfred Kerr und gern gesehener und häufiger Gast im Haus, mit Judith für die vom Vater geschenkten Vögelchen organisiert und zelebriert hatte. Anders als Judith, die sich vorwiegend an die kleinen privaten Ereignisse der oben geschilderten Art erinnert, hatte der zwei Jahre ältere Bruder Michael schon tiefergehende Erinnerungen an das Elternhaus, auch an das intellektuelle Publikum, das bei ihnen verkehrte, oder an Menschen, die sie bei bestimmten Ereignissen trafen. Immer wieder wird in seinen Erinnerungen das bildungsbürgerliche Umfeld der Familie deutlich, das den Kindern ganz selbstverständlich Interesse an Kultur und Bildung bereits in die Wiege legte und später gezielt förderte. Sie lernten früh die Welt der Literatur und auch der Wissenschaft kennen. So erinnert er sich zum Beispiel an Arthur Schnitzler und Albert Einstein, die bei ihnen zu Gast waren. Manchmal durfte Michael den Vater zu Premieren ins Theater begleiten oder es gab Einladungen zu besonderen Festen, etwa bei den Botschaften. Judith erinnert sich etwa an ein wunderbares Fest in der Französischen Botschaft, auf dem sie Charlie Chaplin trafen; am nächsten Tag war Chaplin samt Judiths Bruder Michael in der Zeitung abgebildet. Aber erst als fast 70-Jährige ging ihr auf, dass diese Gesellschaft als Zeichen des Protests gegen Antisemitismus vom französischen Botschafter François Poncé ausgerichtet worden war. Damals war sie neun Jahre alt und ihre Welt war Berlin. Was in der Welt geschah, davon wusste sie nichts, wie sie in ihrer Autobiografie Geschöpfe über das Jahr 1933 schreibt, kurz bevor die Familie die Flucht antreten sollte, und legt damit Zeugnis ab von der als unbekümmert empfundenen Zeit ihrer frühen Kindheit. Aus dieser Zeit gibt es Kinderzeichnungen von Judith Kerr, die ihre Mutter ins Exil gerettet hat, als einige der wenigen Dinge, die sie für wert hielt, bewahrt zu werden. Von Anfang an hatte Judith weniger die Sprache, das Wort fasziniert als vielmehr das Bild. „Judy war dun44
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kel, in gewisser Weise auch hübsch, mit einem angeborenen Talent zum Zeichnen, dann Malen und schließlich Schreiben. […] Sie war immer zurückhaltend, eigenständig und sehr reserviert; genau wie ihr Vater, nur dass dieser keinerlei zeichnerisches Talent hatte.“ (MK, Remember, 23) Zeichnen, das war etwas, das nur ihr allein gehörte. Daher wehrte sie – lange Zeit erfolgreich – alle gut gemeinten Ratschläge von Erwachsenen ab und ignorierte sie einfach. In ihrer Autobiografie Geschöpfe weiß Judith Kerr davon mit allen Anzeichen einer Selbstkritik ausgiebig gleich zu Beginn zu berichten. Aber einmal hatte sie doch der Hinweis eines Besuchers zu einem Bild, das er gerade sah, nachdenklich gestimmt, vor allem, als sie merkte, dass er recht hatte, und sie begann, zunächst widerwillig, hier und da etwas am Hintergrund und an der Perspektive zu ändern. Doch egal, wie perspektivisch korrekt ihre Zeichnungen waren, sie spiegelten ihre – scheinbar – heile Welt: Alltagsszenen aus der Großstadt, eine breite Straße, die Straßenbahn, ein prächtiges Auto, ein Verkaufsstand mit einer vornehmen Kundin davor, ein Luftballonverkäufer umgeben von Kindern; ein Spielplatz, auf dem sich Kinder auf einer großen Rutsche vergnügen, ein Kasperletheater und eine andere mobile Bühne, Kinder, ein Hund; ein Vergnügungspark, mit fröhlichen Erwachsenen beim Spaziergang, bei der Rast, beim Tanz, während Kinder sich im Ringelreihen drehen; und auf allen Bildern der Mann im dunklen Anzug, meist mit Hut, der starke Ähnlichkeit aufweist mit dem Vater, Alfred Kerr. Der große Garten um das Haus und die sichere Umgebung waren eine wunderbare Kulisse für all die Abenteuer, die Kinder zu allen Zeiten erleben wollen. Die Geschwister verstanden sich gut, bildeten eine Einheit gegenüber den Erwachsenen. Mit dem Fahrrad fuhren sie umher, aber sie machten auch all die reizvollen Dinge, von denen sie wussten, dass sie verboten waren: Sie klauten Äpfel aus dem Garten des Nachbarn, sie „liehen“ ungeachtet jeder Gefahr – sie konnten nicht schwimmen – ein Rettungsboot, mit dem sie den Königssee entdeck45
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ten; das Schlimmste aber war die Sache mit dem verbotenen Lunapark, zu dem sie heimlich mit der Straßenbahn fuhren und ein Stück Wegs auch zu Fuß gingen, um Geld zu sparen, das sie dringend für die gefährliche Berg-und-Tal-Bahn benötigten. Wie durch ein Wunder durften sie diese Bahn kostenlos besteigen und kreischend vor Wonne in das Tal hinuntersausen – bis sie merkten, dass man sie gefilmt hatte, um den Film in der Wochenschau in allen Kinos zu zeigen … Mit diesen Alltäglichkeiten der Kinder schien Alfred Kerr nur wenig zu tun zu haben, er kannte nicht ihre Freunde, wusste nicht, wie ihre Lehrer hießen. Andererseits konnten die Kinder sich nur wenig vorstellen, was ihr Vater machte. Das Wort „Kritiker“ konnte Judith nicht richtig aussprechen, seine Bedeutung war ihr nicht bekannt. „Trikiter“ oder „Kitriker“ habe sie daraus meist gemacht, erzählte sie in dem Vortrag zu ihrer Kindheit (JK, Kindheit, 8). Wie abwesend und zerstreut der Vater oft war, beleuchtet eine Anekdote, die sie ebenfalls erwähnt. Ihr Bruder habe einmal wissen wollen, wie ihre Eltern Hochzeit gefeiert hätten, und da habe der Vater sich ganz erstaunt erkundigt, ob er – Michael – denn nicht dabei gewesen wäre … Dennoch war er in ihrer Welt immer präsent und lebte ihnen das Leben vor, das er für das richtige hielt. Er brachte ihnen grundlegende Dinge und Werte bei, die sich bis zuletzt im Werk von Judith Kerr widerspiegeln. Eine seiner Grundforderungen war, dass man sich als Mensch immer anständig verhalten sollte, egal ob man an Gott glaubte oder nicht. „Also, man sollte ein guter Mensch sein, nicht um einem Gott zu gefallen und möglicherweise in den Himmel zu kommen, sondern weil man sich das selbst schuldete. Ich kann mich kaum an eine Zeit erinnern, in der ich dieses Prinzip nicht ganz fest im Kopf hatte“, kommentiert Judith Kerr im Vortrag die Aussage ihres Vaters (JK, Kindheit, 11), die sich indirekt durch ihre gesamte Hitler-Trilogie zieht. Dabei spielte Religion gar keine große Rolle im Hause Kerr, denn auch wenn mit Juden bzw. ursprünglich mit der jüdischen Religion und deren Traditionen vertraut, wuchsen die Kinder nicht im jüdischen 46
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Glauben auf und sollten später lange Zeit gar nicht verstehen, warum sie von den Nationalsozialisten ausgegrenzt und verfolgt wurden. Beide Kinder, Judith und Michael, erinnern sich, dass ihnen der Vater regelmäßig aus dem Alten Testament vorgelesen habe, das er sehr liebte, und dementsprechend waren sie gebührend beeindruckt von vielen Geschichten; die von Adam und Eva fanden sie spannend, andere erschreckten sie, zum Beispiel die Geschichte von der Opferung Isaaks durch seinen Vater Abraham. Michael bekam nächtliche Alpträume, aus denen er schreiend erwachte, und fürchtete um sein Leben; darauf stellte Alfred Kerr seine Bibellesungen ein und gab den Kindern nur einen Rat mit auf den Weg: Sollte Michael in der Schule nach seiner Religionszugehörigkeit gefragt werden, dann sollte er sich als „dissident“, als „andersdenkend“ bezeichnen. (MK, Remember, 5) Ja, die Schule! Bei dem intellektuellen und auch wohlhabenden Elternhaus verstand es sich von selbst, dass die Kinder entsprechende Bildungswege beschritten. Michael war begabt, vieles flog ihm nur so zu, aber er war nicht der Fleißigste; statt Hausaufgaben zu machen spielte er lieber mit seinen Freunden draußen Fußball und sorgte so für manch enttäuschende Bemerkung in den Zeugnissen, was vor allem Mutter Julia aufbrachte. Sah sie doch das unglaubliche Talent des Sohnes und konnte nicht verstehen, dass er so wenig ehrgeizig war. Der Ehrgeiz sollte erst in den Ländern des Exils erwachen, als sich vor allem durch unbekannte Sprachen ganz neue Herausforderungen stellten; vielleicht darf man daraus schließen, dass Michael, der nach der Zeit in Deutschland sein Leben lang Auszeichnungen als Hochbegabter, als Klassenbester, als Jahrgangsbester erhielt, schlichtweg mit dem deutschen Schulsystem unterfordert war. Judith Kerr war fünf, als sie in Berlin zunächst in einen privaten Montessori-Kindergarten kam; in ihrer Autobiografie spricht sie von „Montessori-Schule“. Wahrscheinlich war das Montessori-Haus etwas dazwischen. Auch sie war nicht glücklich. Aber als Kind galt sie als etwas zart und die Mutter fand, dass diese Schule weniger anstrengend 47
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sei als eine normale Volksschule, wie sie der Bruder Michael besuchte. Erst 1907 hatte die Italienerin Maria Montessori in Rom eine Casa dei Bambini, ein Kinderhaus für Kinder aus sozial schwachen Familien, eröffnet, mit einem Bildungsangebot, das ganz auf das jeweilige Kind zugeschnitten war und sich an dessen Bedürfnissen orientierte. In den 1920er-Jahren war diese Bewegung auch nach Deutschland gekommen, vor allem durch Clara Grunwald, die 1919 in Berlin-Lankwitz, einem der Ortsteile des Bezirks Steglitz-Zehlendorf, ein Montessori-Kinderhaus eröffnete; nur fünf Jahre später war in Jena die erste deutsche Montessori-Schule eröffnet worden, und im gleichen Jahr, 1924, gab es ein zweites Montessori-Kinderhaus in Berlin. Kinder sollten – damals eine fast revolutionäre Sicht – nach der Montessori-Pädagogik als „vollwertige“ Menschen gelten und lernen, ihren eigenen Willen zu entwickeln. Sie sollten Raum haben für eigene Entscheidungen und lernen, nach diesen zu handeln und Verantwortung zu übernehmen. Dabei sollten die Kinder ganz dem eigenen Lernbedürfnis folgen und entscheiden können, wann sie was taten. So ein Unterricht gefiel Judith ganz und gar nicht: Sie wollte nicht das machen dürfen, was sie wollte, sondern das tun, was man von ihr verlangte. In ihrem Vortrag über ihre Kindheit setzte sie sich explizit mit dieser Pädagogik auseinander, und es ist deutlich, dass sie auch als alte Frau nichts davon hielt. „Man sagte uns dort, wir dürften machen, was wir wollten. Da habe ich immer gezeichnet. Jeden Tag hat man mich gefragt: ‚Möchtest du heute nicht lieber lesen oder schreiben oder rechnen?‘, und jeden Tag habe ich gesagt: ‚Nein, danke!‘ Das ist der Lehrerin langsam auf die Nerven gegangen, und ich fand es auch blöd. Außerdem war das Zeichenpapier, das es dort gab, nicht halb so gut, wie mein Zeichenpapier zu Hause. Ich fragte mich endlich: ‚Warum soll man da eigentlich hingehen?‘“ (JK, Kindheit, 24) 48
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Judith zeichnete also mit ihren knappen fünf Jahren – damals wusste niemand, dass sie 90 Jahre später immer noch zeichnen sollte. Die Montessori-Pädagogin – Judith Kerr nennt sie in ihrer englischsprachigen Autobiografie Creatures „kindergarten fräulein“ – war irritiert von Judiths ersten Zeichenversuchen. Sie hatte vorgeschlagen, dass alle Kinder eine Tulpe zeichnen sollten, die sie mitgebracht hatte, einen realen Gegenstand also. „Ich schaute auf die Tulpe. Es schien eine Menge gerundeter Teile zu geben, von denen ich noch nicht wusste, dass sie Blütenblätter hießen, also zeichnete ich eines. Aber als ich von meiner Zeichnung aufblickte, sah es nicht mehr so aus. Es hatte sich seitwärts verschoben und sah schmäler aus, also änderte ich es und zeichnete die nächstgelegene und dann noch eine und noch eine und noch eine. Aber jedes Mal, wenn ich aufblickte, verlagerten sie sich erneut, und ich versuchte mich zu erinnern, welche ich gezeichnet hatte und welche noch nicht, als das Kindergarten-Fräulein neben mir erschien. ‚Was um alles in der Welt machst du da?‘, sagte sie. ‚Weißt du nicht, wie wir eine Tulpe zeichnen? So zeichnen wir eine Tulpe.‘“ (JK, Geschöpfe, 7) Eine einfachste Zeichnung mit wenigen Strichen folgt im Text, an ein Salatbesteck erinnernd; für das Kind Judith muss diese Episode sehr bedeutend und prägend gewesen sein, denn bis sie schließlich als Erwachsene zur Kunstschule ging, hat sie nicht wieder nach der Natur gezeichnet. Mit ihrem Zeichentalent stand Judith allein in der Familie da, die Mutter komponierte, der Vater war ein Meister des geschriebenen Textes, der Bruder glänzte im Sport. Aber wie bedeutsam muss das Zeichnen für die Fünfjährige gewesen sein, wenn Judith Kerr 85 Jahre später damit ihr Buch Geschöpfe einleitet – die einzige Reminiszenz in diesem Buch an ihre Kindheit in Berlin, denn 49
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schon die zweite Seite schwenkt über zur Flucht aus Deutschland in die Schweiz. Jedenfalls bekniete Judith ihre Mutter, auf eine „richtige“ Schule gehen zu dürfen, und ab dem nächsten Halbjahr besuchte sie die Grundschule in Grunewald, auf der auch ihr Bruder war. In ihrem Vortrag erzählte sie, wie großartig sie es fand, dass es dort „normalen Unterricht“ gab und dass sie den sogenannten progressiven Schulen seit ihrer Kindheitserfahrung nie mehr ganz getraut habe. So ging es zwei Jahre weiter, bis Judith – wie ihr Bruder – eine Klasse überspringen sollte, aber die Klasse, in die sie dann gekommen wäre, bestand nur aus Jungen. Die Schule hatte gerade erst mit Judiths Jahrgang Mädchen als Schülerinnen zugelassen, und es blieb nach Ansicht der Schule nichts anderes übrig, als dass Judith auf die Mädchenschule wechselte – eine große Enttäuschung für Judith, die sich aber als gar nicht so schlecht erwies: Sie begegnete hier Herrn Sauer. Herr Sauer war ein junger Lehrer an der Mädchenschule und verlangte, wie alle guten Lehrer, viel von seinen Schülerinnen. Judith war in das Alter gekommen, in dem sie sich für das Schreiben zu interessieren begann und die Macht der Worte entdeckte. Sie schrieb Aufsätze und Gedichte, nicht etwa gefühlvoll, sondern dramatisch, am liebsten über Unglück und Unfälle. „Bombastisch“ nannte sie ihren Stil und würzte diese mit der Erinnerung an einen zu schreibenden Sachaufsatz über die Nützlichkeit der Kuh im Laufe deren Lebens, „von der Milch bis zum Roastbeef “. Judith beendete den Aufsatz mit den wunderbar pathetischen Worten: „Und siehe da! Die, die noch gestern vergnügt auf der Wiese Gras fraß, liegt jetzt tot da!“ (JK, Kindheit, 25) Natürlich waren da auch die Ferien; nach den Krisenjahren des Ersten Weltkriegs reiste man wieder, vor allem die mittleren und gehobenen bürgerlichen Schichten. In die Sommerfrische ging es oft für die Kerrs, vier Wochen an die Ostsee in die Nähe von Rostock – unbeschwerte Tage und Wochen in der Natur, das letzte Mal im Sommer 50
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1932. Aber die bildungsbewusste Familie Kerr bereiste auch andere Länder. Alfred Kerr hat Erinnerungen an kleine Episoden in seinen Tagebüchern festgehalten, manchmal erfährt man sie nur aus dem Nebensatz. 1925 waren sie beispielsweise mit dem vierjährigen Michael und der zweijährigen Judith in Italien am Mittelmeer. „Wir baden einen Sommer hindurch mit den Kleinen im Mittelmeer unweit von Pisa. Die Zweijährige sagt: ‚Pija‘ – das ‚j‘ wie in ‚Jenny‘. (Klingt viel hübscher als ‚Pisa‘.) Zu Italienern, die sie ansprechen: ‚Non capisco itasano.‘“, berichtet Alfred Kerr in seinem Tagebuch für das Jahr 1924. Ein Jahr später, 1925, reisten sie nach Spanien und die Kinder lernten die Pyrenäen und Andorra kennen, hörten fremde Sprachen, lernten offenbar schnell einige Brocken Französisch, Italienisch, später auch Englisch. Als die Kinder älter wurden, verbrachten sie auch Ferien ohne die Eltern, vermutlich bei (mit?) Tante Anna, der Schwester des Vaters. Im Nachlass, dem Alfred-Kerr-Archiv in der Akademie der Künste, Berlin, finden sich diese Zeilen von Judith an ihre Eltern, geschrieben am 6. Juli 1931. „Liebe Eltern! Wie geht es Pappi? Wir baden sehr oft. Heute gehen wir vielleicht in den Blaubeerwald. Ich habe 109 Mückenstiche. Die Blaubeeren sind noch nicht ganz reif, aber ziemlich. 1930 ist hier ein Schoner gestrandet, wir waren selbst auf ihm drauf. 100 000 Küsse Puppi“. (Sig. 440) Die erhaltenen Fotografien aus den 1920er- und sehr frühen 1930er-Jahren zeigen Bilder aus einer glücklichen, unbeschwerten Kindheit, egal ob in Berlin oder an der See: eine lachende Judith, die das Leben genießt. Aber während der ganzen Kindheit, nicht nur in Deutschland, lauerten die Spannungen zwischen Alfred Kerr und den Schwiegereltern, vor allem seinem Schwiegervater Robert Weismann. Die Atmosphäre zwischen den beiden war extrem angespannt, Alfreds Lebensstil und Robert Weismanns Lebenswandel hätten nicht entgegengesetzter sein können, und ihre gegenseitige Abneigung trugen sie offen zutage. Michael Kerr erinnert sich:
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„Der Hauptgrund war, dass mein Vater und Großvater einander von Herzen und ganz offen ablehnten. Sie hatten nichts gemeinsam. Mein Großvater war Politiker und ein wohlhabender Gesellschaftslöwe. Er hatte zahlreiche, allgemein bekannte Liebesaffären, besonders mit jungen Schauspielerinnen. Als mein Vater die Erstaufführung eines Stückes rezensierte, in das mein Großvater Geld investiert hatte, damit eine seiner letzten Errungenschaften darin auftreten konnte, schrieb er, dass sie sich vielleicht bei bestimmten Dingen hervortun könnte, aber nicht auf der Bühne. Das rief große Heiterkeit hervor und einen Streit von öffentlichem Ausmaß, der zu einer noch größeren privaten Feindschaft führte.“ (MK, Remember, 36) Der Hass ging sogar so weit, dass Robert Weismann seinem Schwiegersohn zwei Schläger auf den Hals hetzte, die ihn verprügeln sollten, aber Alfred Kerr gelang es, mit ihnen stattdessen ein Bier im Jagdhaus Grunewald trinken zu gehen. Die Einstellung der Geschwister zu ihrem Großvater war unterschiedlich; Michael schreibt, sie seien sich der Spannungen zwischen den beiden Häusern voll bewusst gewesen. Judith habe den Großvater immer durch die Augen des vergötterten Vaters gesehen und ihn deswegen nie wirklich gemocht – ganz im Gegensatz zu ihm selbst; obwohl er seinen Vater von Herzen bewundert und angebetet habe, beschreibt er ihn als „reserviert und altmodisch und die ganze Zeit in seinem Arbeitszimmer an der Schreibmaschine“; der Großvater hingegen, zwei Jahre jünger als der Vater, habe sie mit Geschenken überhäuft, und es habe immer viel Spaß mit ihm gegeben. Aber die Spannungen seien keine Tragödie für die Familie gewesen, Michael Kerr nennt sie einen „bloßen Reizstoff“ in seiner Kindheit, die damals noch sehr glanzvoll gewesen sei. Doch das ist die Sicht eines Sohnes und Mannes; immerhin führte der von ihrem Vater geplante Überfall auf ihren Ehemann und vermutlich die generelle Hoffnungslosigkeit der Situation dazu, dass Julia Kerr 52
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Julia Kerrs Eltern: Das Ehepaar Robert Weismann (1869–1942) und seine Ehefrau Gertrud Reichenheim.
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bereits 1924 einen Suizidversuch mit Veronal unternahm – nach späterer Ansicht ihrer Kinder ein bewusst geplanter Versuch, der zumindest bewirkte, dass ihr Mann auf eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft verzichtete. Michael Kerr schränkt seine Ansicht ein: „Für meine Mutter war es eine Tragödie.“ Es sollte nicht der letzte Suizidversuch von Julia Kerr sein. Insgesamt hatten aber, wie gesagt, beide Kinder doch eine glückliche und relativ sorglose Kindheit in einem intellektuellen Elternhaus und Umfeld, in dem Literatur und Musik wohl die größte Rolle spielten. Heute zeugen davon noch einige erhaltene Briefe aus dieser Zeit sowie Illustrationen, die Judith Kerr gezeichnet hat und später immer wieder zeichnen sollte. Sind doch vermutlich die heiteren Tage der Familie rund um die Kater-Mog-Geschichten Reminiszenzen an Judiths eigene Welt in den späten 1920er- und beginnenden 1930er-Jahren – eine Welt, deren Symbol für die späteren Leser ein Leben lang Judiths treuer Spielgefährte, das rosa Stoffkaninchen, werden sollte. Aber die Zeichen mehrten sich und irgendwann waren sie nicht mehr zu übersehen. „Clouds“, „Wolken“, überschreibt Michael Kerr in seinen Erinnerungen Kapitel 10 über die letzten Wochen der Familie in Berlin. „Es gab ein allgemeines Gefühl von Bedrohung und Unsicherheit, nicht spezifisch auf uns gerichtet, sondern überall“ (MK, Remember, 37), und auch wenn die Eltern versuchten, die politische Lage von den Kindern fernzuhalten oder sie wenigstens nicht zu dramatisieren, so spürten beide, Michael und Judith, dass sich etwas veränderte. Doch richtig Angst hatten sie – noch – nicht. Von realen Anfeindungen gegenüber Juden merkte Judith zunächst nichts, aber sie war sich ihres Judentums auch nicht wirklich bewusst, Religion war kein Thema im Hause Kerr. Ein Gespräch über das Jüdisch-Sein leitet Judith Kerrs Roman Als Hitler das rosa Kaninchen stahl ein. Da ist sie – die Anna aus dem Buch – auf dem Weg nach Hause mit Elsbeth, ihrer besten Freundin, und sie sehen ein großes Plakat mit einem Mann darauf; ihre Schwester habe ihn erst für Charlie Chaplin 54
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gehalten, erzählt Elsbeth, und sie buchstabieren den Namen unter dem Plakat: Adolf Hitler. Unschuldig-naiv plappert Elsbeth nach, was sie von den Erwachsenen gehört haben muss, dass nämlich Hitler den Juden „einen Riegel vorschieben“ würde, und sie überlegt, ob eventuell Rachel Löwenstein aus ihrer Klasse davon betroffen sein könnte. Das kann sich Anna nicht vorstellen, schließlich sei Rachel Klassensprecherin. Aber, so fügt sie hinzu, eventuell sie selbst? Elsbeth ist erstaunt und betrachtet Anna eindringlich: „‚Ich dachte, Juden hätten krumme Nasen, aber deine Nase ist ganz normal. Hat dein Bruder eine krumme Nase?‘ ‚Nein‘, sagte Anna, ‚der einzige Mensch in unserem Haus mit einer krummen Nase ist unser Mädchen Bertha, und deren Nase ist krumm, weil sie aus der Straßenbahn gestürzt ist und sie sich gebrochen hat.‘ Elsbeth wurde ärgerlich. ‚Aber dann‘, sagte sie, ‚wenn du wie alle anderen aussiehst und nicht in eine besondere Kirche gehst, wie kannst du dann wissen, dass du wirklich jüdisch bist? Wie kannst du sicher sein?‘“ (JK, Kaninchen, 10) Michael erlebte vor allem in der Schule manches bewusster und verständiger als die kleine Schwester, verstand wenigstens ansatzweise politische Hintergründe und übernahm wie selbstverständlich die liberalen Einstellungen und Ansichten des Vaters. Deutlich erinnert er sich an Spannungen in der Schule, berichtet von ausgefochtenen Kämpfen auf dem Schulhof zwischen Nationalsozialisten auf der einen und Kommunisten und Sozialdemokraten auf der anderen Seite, zwischen denen nicht nur Worte, sondern auch regelmäßig mit Steinen gefüllte Papiertüten hin und her flogen und explodierten; Gewalt lag in der Luft. In ihrem Roman lässt Judith Kerr Annas Bruder Max – also ihren Bruder Michael – von einer handfesten Auseinandersetzung mit Nationalsozialisten erzählen, bei der Max und sein Freund Günther einem Schüler mit Gewalt sein Parteiabzeichen abrissen: ein Hakenkreuz – Auseinandersetzungen, die es an der Mädchenschule Judiths nicht gab. Vermehrt tauchten nun braune Uniformen in den Straßen (nicht nur) Berlins auf, Braun als die „Kennfarbe“ der 55
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Nationalsozialisten, so wie sich die Kommunisten mit der Farbe Rot definierten oder die italienischen Faschisten mit Schwarz. Michael erlebte die Anfänge der Hitlerjugend, erlebte, wie seine Jungengruppe sich spaltete, erlebte, wie aus Freunden Feinde wurden. Es muss eine schwierige Zeit für den Jungen gewesen sein, denn seine Welt in Berlin war eindeutig draußen, bei den Freunden, beim Sport – ganz anders als bei Judith, die ihre Leidenschaft für das Zeichnen entdeckt hatte, sich zu Hause entfaltete und viel Zeit allein verbrachte. Vielleicht sind diesen unterschiedlichen Erfahrungen auch der Umgang mit dem Thema Flucht und deren spätere unterschiedliche Bewältigung durch die Geschwister geschuldet.
Eine Heimat geht verloren Das Jahr 1933 wurde der große Umbruch im Leben der Familie Kerr, nicht ganz überraschend, da er sich kontinuierlich angedeutet hatte. Seit den 1920er-Jahren hatte Alfred Kerr mehr und mehr Stellung bezogen, nicht als Theaterkritiker, sondern als Schriftsteller und Dichter, und sich als „Linker“ positioniert. „Der linke Kerr“ nennt seine Biografin Deborah Vietor-Engländer das entsprechende Kapitel in ihrem Buch. Sie schreibt: „Kerr sprach gern und oft von der ‚Zivilisierung der Menschennatur‘; also galten ihm Fortschritt, Freiheit, Vernunft, Menschlichkeit als die Maximen politischen Handelns.“ (Vietor-Engländer, 443) – Werte und Maximen übrigens, die er auch seinen Kindern vorlebte und vermittelte und die sich in Judith Kerrs Werk deutlich spiegeln. Er war durchdrungen von sozialdemokratischen Ideen und Gedanken und sympathisierte mit der KPD, der Kommunistischen Partei Deutschlands. Nach der Veröffentlichung von Hitlers politisch-ideologischer Programmschrift Mein Kampf, in der dieser unter anderem seinen Anspruch auf die Führung der NSDAP untermauerte und die Nationalisten Deutschlands auf das 56
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Feindbild der Juden einschwor, erhob Alfred Kerr seine Stimme laut und deutlich gegen die Gefahren des aufkommenden Nationalsozialismus. Er engagierte sich in den Wahlkämpfen der SPD 1932 und schrieb am 9. November 1932 im Tageblatt: „Deutschlands Bühne leistet heldisch Widerstand. Deutschland! – leiste Widerstand! Feste!“ oder im gleichen Jahr in Form seines Gedichts Diese Zeit, abgedruckt in Die Diktatur des Hausknechts, nur eines von vielen: „Das faucht, verbohrt und beutegeil, Das brüllt (zum Brechen): ‚Hitler-Heil!‘ Das schwört verworren Rache – ‚Deutschland, erwache!‘ Wahn, Wahn, überall Wahn. Nach Hirnkraft kräht kein Hahn. Du fühlst den Sinn der Sache: ‚Deutschland, zerkrache!‘ Wie höhnend haucht was: ‚Hitler-Heil!‘ Aus einem vollen Hinterteil.“ (AK, Hausknecht, 120) Alfred Kerrs Stimme wurde unüberhörbar lauter, vor allem, nachdem er jeden Montagabend im Rundfunk eine halbe Stunde auf Sendezeit war. Es waren politische Themen, die ihn bewegten, ganz besonders die Bedrohung durch die Nationalsozialisten wie überhaupt jede Form der politischen Diktatur. Michael erinnert sich, dass sein Vater aus Sicherheitsgründen mit einer Polizei-Eskorte zu den Sendungen gebracht wurde und dass er einmal seiner Frau einen Abschiedsbrief schrieb, in dem er sie seiner Liebe versicherte, dies für den Fall, dass man ihn unterwegs einfach erschoss. Der Sommer 1932 brachte die letzte Urlaubsreise der Familie Kerr an die Ostsee in Mecklenburg – der Sommer, in dem ihnen jemand auf die Terrasse ein riesiges rotes Hakenkreuz malte. Es ließ sich nicht entfernen. 57
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Anfang 1933 änderte sich die politische Stimmung dramatisch: Am 30. Januar ernannte Reichspräsident Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler. „Hitler: Das ist der Mob, der Nietzsche gelesen hat. Das ist Mussolini im Ausverkauf. Das ist der Ochlokrat, der den ‚Individualisten‘ äfft. Das ist die Brutalität per Nachahmung. Verschlagen, wie es der sog. dumme Kerl sein kann; und verschlagen aus menschlicher Niederung: in die Herrschaft“, schreibt Alfred Kerr (AK, Hausknecht, 13). Wohlgemerkt: Noch immer galt die Verfassung der Weimarer Republik und die drei Nationalsozialisten im Kabinett hatten keine Schlüsselpositionen inne. Es war auch keineswegs sicher, dass die Nationalsozialisten den Sieg bei den Neuwahlen davontragen würden, die Hindenburg nach seiner Auflösung des Reichstags auf den 5. März festgesetzt hatte, im Gegenteil: Der Sieg galt eher als unwahrscheinlich, und trotz aller Befürchtungen und Ängste gab es noch keinen Grund zur Panik. Und doch … Hitlers Wille zum Herrschen war ungebrochen; die Wiedergewinnung der politischen Macht Deutschlands, Umkehrung innenpolitischer Zustände, Ausrottung des Kommunismus waren seine erklärten Ziele, die sich massiv gegen alle Linksparteien richteten. Die Verfolgung der andersdenkenden Menschen und der Juden begann. Es war nur wenige Tage später, am 14. Februar des Jahres. Alfred Kerr lag mit Fieber und Grippe zu Bett, als der Anruf eines Freundes oder Vertrauten die Familie erreichte. Jemand würde am folgenden Tag kommen, so die Warnung, und den Pass Alfred Kerrs einziehen, wodurch eine Ausreise aus Deutschland so gut wie unmöglich gemacht wurde. Julia Kerr nahm den Anruf entgegen und das Ehepaar sah sich innerhalb von Stunden vor eine Entscheidung gestellt, nach der nichts mehr so sein würde wie zuvor. Schnelles Handeln war gefragt, aber trotz aller Ahnungen und Ängste war man nicht so schnell auf diese zugespitzte Situation vorbereitet. Ein eilig gepackter Rucksack mit dem Allernötigsten, raus aus dem Bett trotz 39 Grad Fieber und dreieinhalb Stunden später in der Tschechoslowa58
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kei – Jahre später erinnert sich Alfred Kerr, tiefes Glück an diesem Abend empfunden zu haben, jenseits der deutschen Grenze zu sein. Es war der Tag, an dem – wie Judith sich in ihrer Autobiografie erinnert – sie zum ersten Mal etwas wahrnahm, was um sie herum in Berlin geschah, und die Flucht des Vaters, von der Mutter am folgenden Morgen notdürftig erklärt, setzte ihrer unbekümmerten Kindheit ein abruptes Ende. Wie es weiterging, habe sie in ihrer Trilogie Out of the Hitler Time erzählt, schreibt sie weiter, aber – und das ist ein wichtiger Ansatz für die Forschung – es seien eben „Romane in dem Sinne, dass sie Schwerpunkte setzen. Einige Ereignisse sind dramatisiert, andere abgeschwächt“ (JK, Geschöpfe, 8). Es mag überraschend erscheinen, dass Alfred Kerr bei aller Weitsicht nicht auf ein solches Ereignis vorbereitet war. Vielleicht hätte das Leben der Familie ganz anders ausgesehen, hätten sie für den „Fall der Fälle“ Vorsorge getroffen, auch finanzieller Art. Aber so wie viele andere nicht an einen Sieg Hitlers und der Nationalsozialisten geglaubt hatten, hatten auch die Kerrs offenbar nicht mit derart schnellen (Re-) Aktionen nach Hitlers Machtergreifung gerechnet. Dabei hätte sich vermutlich durchaus eine Lösung finden lassen; trotz der schlechten Beziehungen und des angespannten Verhältnisses hätten die Kerrs vermutlich ohne Aufsehen in die Nähe der Schwiegereltern, der Weismanns, ziehen können. Die hatten sich 1931, ein Jahr nach der Pensionierung von Robert Weismann, nach Nizza in Südfrankreich zurückgezogen und dort ihr neues Leben eingerichtet; nicht etwa aus politischen Gründen, sondern des Klimas wegen. Ob dieser Grund wirklich stimmte oder nur offiziell vorgegeben wurde, sei dahingestellt. Immerhin war Robert Weismann Politiker in gehobener Position und als preußischer Staatssekretär ein so erbitterter Gegner der Nationalsozialisten gewesen, dass er zwei Jahre später, 1933, auf der „Ersten Ausbürgerungsliste des Deutschen Reichs von 1933“ stand, mit der das nationalsozialistische Regime dreiunddreißig Personen die deutsche Staatsangehörigkeit entzog 59
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und sie staatenlos machte. Wie auch immer, Alfred Kerr war nun in der Tschechoslowakei, und die Familie saß in Deutschland. Zum ersten Mal musste Julia Kerr ihren Kindern Politik erklären. „‚Die Sache ist ganz einfach‘, sagte Mama. ‚Papa glaubt, dass Hitler und die Nazis die Wahlen gewinnen könnten. Wenn das geschieht, möchte er nicht mehr in Deutschland leben, solange sie an der Macht sind, und keiner von uns möchte das.‘ […] ‚Natürlich kann es sein, dass es nicht so kommt, und wenn es so kommt, wird es wahrscheinlich nicht lange dauern – vielleicht sechs Monate oder so. Aber im Augenblick wissen wir es einfach nicht.‘ […] Anna und Max brauchten einige Zeit, um all das zu verdauen. ‚Nun‘, sagte Mama, ‚bis zu den Wahlen sind nur noch zehn Tage. Entweder die Nazis verlieren, dann kommt Papa zurück – oder sie gewinnen, dann fahren wir zu ihm.‘“ (JK, Kaninchen, 18 f.) Schwierige Tage für die Kinder, die gewohnt waren, alle Gedanken mit den Freunden in der Schule zu teilen und von allen Ereignissen in ihrem Leben zu erzählen; stattdessen mussten sie nun lügen, Freunden und Nachbarn und Lehrern weismachen, der Vater sei immer noch krank und liege mit hohem Fieber zu Bett. Aus der Tschechoslowakei schrieb Alfred Kerr Briefe an seine Familie und versuchte, mit humoristischen Einlagen, die Seinen – und vielleicht auch sich selbst – zu trösten und aufzuheitern. So schrieb er zum Beispiel am 24. Februar 1933 einen Brief im böhmischen Dialekt (alle seine Briefe liegen im Alfred-Kerr-Archiv in der Akademie der Künste, Berlin): „Umstähend auf dän großen Zätteln findöst Du noch wichtige Sachen, was missen aufgehoben wärden und verpackt und mitgenommen, was aber nicht missen in Zeitungskiste kommen. Bloß, wenn Du ohne Mihe kannst finden die Niederschrift über 60
Eine Heimat geht verloren
Bronnens Schwainereien, so schick sie mir. Auf Diwan? Aber nain, ich glaaube: liegt im Fach, wo naiste Kritiken sind, auf Regal an Kopfende. (Nur, wenn ohne Mihe!) Wie du siehst, geht mir haiete besser. Bloß Temperatur springt wie ein Floh. Aber nicht seer hoch. Gestern war nicht gutt. Sollte Mittwoch Vurtrag in Urania halten. Mußte natierlich absagen. No, speter! … Kam von Urania 3 1/34, war für Restaurace zu spätt, gibt nur bis drai. So habe Knoblauchwürstchen gäkauft und Brotscheibe (zusammen 1 ½ Kc = 18 Pfg). Und hob verspaist in Hotelzimmer. Als Nachtisch: Apflisisnkimarmalada, mit Gabel“. (Alfred Kerr an seine Frau Julia, 24.2.1933, AKA, Lf. Nr. 432 ) Dann brannte am 27. Februar 1933 der Reichstag und die politischen Bedingungen veränderten sich schlagartig, denn die Nationalsozialisten nutzten den Anschlag zu einer skrupellosen Verfolgung aller Regimegegner. Es war klar, dass Julia wie auch beide Kinder das Land verlassen mussten. Alfred Kerr befürchtete, dass man ihn mit den in Deutschland verbliebenen Seinen zur Rückkehr würde erpressen wollen, und beschloss, dass die Familie nicht länger warten, sondern ungeachtet der noch bevorstehenden Wahlen ausreisen sollte, und zwar in die Schweiz. In Zürich wollte er sie treffen. Julia, die bisher keinen Tag hatte arbeiten müssen, stand der ersten Herausforderung ihres Lebens gegenüber, der weitere, schlimmere folgen sollten. In den Erinnerungen Michael Kerrs spürt man die enge Verbundenheit des Sohnes und die Achtung vor der Leistung der Mutter, die alles einpacken und dann einlagern musste. Da das Haus nicht ihr Eigentum, sondern angemietet war, musste alles leergeräumt und verwahrt werden; noch wusste ja niemand, dass sie nie wieder zurückkehren würden. „Meine Mutter musste sich alleine um alles kümmern. Mein Vater war in Prag und ihre Eltern in Nizza. Sie war vierunddreißig. Bis dahin hatte sie nur mit wenig fertig werden oder selbst erle61
Eine Kindheit in Berlin (1923–1933)
digen müssen. Nicht mal kochen oder auch nur einen Tag Hausarbeit. Aber am Ende sollte ihr Leben Mühsal, Kampf, Versagen und große Einsamkeit sein.“ (MK, Remember, 42) Es waren die Tage, an denen sich Judith entschied, das rosa Stoffkaninchen, das all die Jahre ihr treuer Spielgefährte gewesen war, zurückzulassen zugunsten des neuen wolligen Hündchens, mit dem sie kaum gespielt hatte. Am 1. März 1933 feierte Michael – scheinbar unbekümmert – noch einmal seinen Geburtstag in Berlin; seine Schwester erinnert sich an ein Versteckspiel zwischen den Speicherkisten. Zwei Tage später, am 3. März, war ihr letzter Schultag in Deutschland. Die Abwesenheit hatte die Mutter den Lehrern mit der Krankheit ihres Mannes erklärt, die einen Aufenthalt in der Schweiz zur Erholung nötig machte. Zu Judiths Überraschung war die Lehrerin gar nicht überrascht, nickte nur und wünschte ihr Glück … In der Zwischenzeit bemühte sich Alfred Kerr um Kontakte in Prag, weil er versuchen wollte, wieder zu schreiben. „Man geht nicht zum Vergnügen ins Exil. (Nur, das Vergnügen des Bleibens wäre noch geringer).“ (AK, Hausknecht 28) Auch wollte er gern die gemeinsame Oper des Ehepaars, den Chronoplan, in den Rundfunk bringen, aber alle Versuche scheiterten. Es waren schon zu viele Emigranten in Prag, als dass eine Arbeit dort noch erfolgsversprechend gewesen wäre: „In Prag sitzen an allerlei Caféhaustischen deutsche Flüchtlinge – und gründen Zeitungen, Zeitschriften. Einer gründet immer gegen den andren.“ (AK, Hausknecht, 29) Er wanderte durch Prag, die „uralt-reizende Stadt“, ging in die Oper, ins Theater, sah Cocteau und Gide. „Hinten in meiner Loge versink’ ich in Düsternis; jählings fällt mir auf: ich bin ja nicht mehr Kritiker in Berlin!“ – und am Ende steht die bittere Erkenntnis: „Im übrigen (pathosfrei gesprochen) ich weiß, daß es keine Rückkehr gibt.“ (AK, Hausknecht, 28/29). Kurz war Alfred Kerr der Hoffnung, dass Österreich – Wien – Heimat für Flüchtlinge werden konnte, aber bei seinem kurzen Aufenthalt 62
Eine Heimat geht verloren
dort erkannte er, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Nationalsozialisten auch Österreich „überrennen“ würden. In der Schweiz glaubte er schließlich, bessere Arbeitsbedingungen für einen wie ihn zu finden, und es wurde verabredet, dass die Familie sich in Zürich treffen sollte. Weiterwandern musste er, das sogenannte „Erbteil seines Stammes“, wie er es im Hausknecht formuliert. Und auch für Judith Kerr fing ein ganz neues Leben an. Berlin – das waren von einem Tag zum anderen nur noch Erinnerungen, die privaten Erinnerungen eines Kindes: „Für mich bedeutete Berlin nicht den Kurfürstendamm oder das Brandenburger Tor, sondern meinen Schulweg und den Papierladen, wo ich meine Buntstifte gekauft habe, und unser Haus und Freundinnen und Würstchen mit Sauerkraut und eben dieses schon erwähnte rosa Stoffkaninchen. Dies alles hieß nach der Auswanderung: ‚Als wir noch in Berlin waren.‘“ (JK, Kindheit, 37)
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Im Exil (1933–1945) Wenn die gleiche Sprache etwas anderes bedeutet
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ie Schweiz sollte also die neue Heimat werden, denn: „Von hundert Schweizern reden sechzig deutsch. Fühlen sich als Halbgeschwister der Deutschen im Reiche. Deren Geschick verfolgen sie mit stärkstem Anteil ohne für die Methoden des Göring was übrig zu haben. Sie drücken bloß manchmal ein Auge zu … Wieviel Deutschland gerade denen verdankt, die heut auf der Flucht, in Haftlöchern und Folterkammern sind, das wissen die Schweizer.“ Aber Alfred Kerr sah auch „ein Gefühl der Ängstlichkeit. Ihre Blätter können in Deutschland beschlagnahmt werden. Man hängt auch wirtschaftlich etwas von dort ab; nicht zuletzt die Buchverleger. Niemand weiß, was kommt; auf welche Seite man fallen soll …“ (AK, Hausknecht, 34) Der größte Anreiz, den die Schweiz bot, war die Sprache. Man sprach und verstand dort Deutsch, und das gab Alfred Kerr trotz der „Ängstlichkeit“ die Hoffnung, dort Arbeit zu finden, wieder schreiben zu können, den Lebensunterhalt zu verdienen, der nun nötiger war als je zuvor. Alles Vermögen, alle Sachwerte waren ja in Berlin geblieben bei der Abreise, die sich überstürzter vollzogen hatte als geplant. Julia Kerr hatte den Kindern ein schönes, beschauliches Leben in der Schweiz ausgemalt, mit einem angemieteten Haus und Heimpi, die den Haushalt führte. Aufregend hatte es für Judith geklungen. Später, im Rosa Kaninchen, wird Anna es sich ausmalen: ein Haus in den Bergen, Ziegen, Kühe, ländliche Idylle. Aber als das Gerücht ging, dass auch ihre Pässe eingezogen werden sollten, hieß es sofort handeln. Drei Tage nach Michaels Geburtstag, am Samstag, den 4. März, verließ Julia Kerr mit den Kindern Berlin. 64
Wenn die gleiche Sprache etwas anderes bedeutet
Gerade noch rechtzeitig waren sie abgereist, denn bereits am Montag kam die Polizei in ihr Haus, um die Pässe einzufordern, sie trafen jedoch nur auf Heimpi. Sie sollte nachreisen und sah die Familie nie wieder. Ein trauriges Schicksal wartete auf sie. Das Vermögen der Kerrs war beschlagnahmt, die Familie hatte kein Geld mehr und konnte weder Heimpis Fahrt bezahlen noch ihren Lohn. Eine neue Stelle war – auch später – nicht leicht zu finden für Heimpi, da sie bei dem Juden und Staatsfeind Alfred Kerr gearbeitet hatte. Alle ihre Pläne, sich zu verändern, scheiterten. Man musste den Eindruck erwecken, weder auf einer zu langen Fahrt noch gar auf der Flucht zu sein. Sie mieden daher große Bahnhöfe und reisten mit Unterbrechungen über Stuttgart in Richtung Schweiz, passierten die Grenze dann am frühen Sonntagmorgen in einem Lokalzug. Im Roman kann Anna es kaum glauben, dass sie wirklich in der Schweiz sind. Michael erinnert sich 70 Jahre später, wie sein Vater ihm später erzählte, wie er am Zürcher Bahnhof auf den Zug gewartet hatte, in banger Erwartung, weil er nicht wusste, ob sie ankommen würden oder nicht. Er selbst beschreibt die Fahrt als eine wunderbare Reise durch ein Deutschland, das er kaum kannte, erinnert sich an die Gefühle von Aufregung und Furcht und an die etwas verwirrte Erleichterung, als sie in Zürich aus dem Zug stiegen und den Vater, ein bisschen gebrechlich, blass und ängstlich, auf dem Bahnsteig stehen sahen. Auch wenn sich Alfred Kerr in Prag erfolglos nach Arbeit umgesehen hatte, war das Exil noch nicht wirklich in seiner Wahrnehmung angekommen. Über die finanzielle Situation schien er sich keine großen Gedanken gemacht zu haben, denn er quartierte die Familie erst einmal in Zimmern des besten Hotels der Stadt ein; Judith (Anna) erinnert sich an eine Drehtür, dicke Teppiche und viel Gold. Die ersten zwei Tage ähnelten sorglosen, fröhlichen Urlaubstagen. Überhaupt hatten die Eltern, vor allem Mutter Julia, eine glückliche Hand, den Kindern den Beginn des Exils als ein großes Abenteuer zu vermitteln. 65
Im Exil (1933–1945)
Spaziergänge, Wanderungen, Fahrten mit der Zahnradbahn und einem Ausflugsschiff schufen schnell die typische Urlaubsatmosphäre. Nach wenigen Tagen in Zürich reisten die Kerrs innerhalb der Schweiz weiter nach Lugano-Cassarate nahe der italienischen Grenze im Kanton Tessin. Auch hier, am Luganer See, verbrachte die Familie gezwungenermaßen mehrere Wochen in einem guten Hotel: Judith war schwer erkrankt, vermutlich an einer Virusgrippe mit wochenlangen Fieberattacken, die ihr das Bewusstsein raubten. „Schwerste Wochen in Lugano; Puppi wird krank; Angina; Fieber; Lebensgefahr. Furchtbare Zeit“, notiert Alfred Kerr. (AK, Hausknecht, 34).Hotelzimmer, anfallende Arztkosten, Medikamente, all das vergrößerte neben der Angst um die Tochter die existenziellen Sorgen der Eltern. Es war zugleich die Zeit der Wahl in Deutschland. Judith erlebte sie in ihren Fieberträumen, beschrieben Jahrzehnte später, als Anna: „Dann schwankte der Raum wieder, und es war Anna, als triebe sie davon, während die Stimmen weiterklangen. Jemand sagte: ‚… Sie haben also die Mehrheit …‘ Dann verstummte die Stimme und eine andere (oder war es dieselbe Stimme?) sagte: ‚… Genug Stimmen, um zu tun, was er will …‘ Schließlich hörte sie unverkennbar Max in ganz unglücklichem Ton erklären: ‚Wir gehen also nicht nach Deutschland zurück … wir gehen also nicht nach Deutschland zurück … wir gehen also nicht nach Deutschland zurück …‘ Hatte er es wirklich dreimal gesagt?“ (JK, Kaninchen, 39 f.) Indessen fuhr Alfred Kerr immer wieder zwischen Cassarate und Zürich hin und her, versuchte, seine finanzielle Situation zu klären und zu festigen, die ihm anfangs nicht derart schlecht erschienen war. Schließlich war sein „alter ego“, wie er seine geliebte Reiseschreibmaschine zu nennen pflegte, mit den Koffern der Familie wieder bei ihm angekommen, und zu schreiben verstand er ja, wozu sich also allzu 66
Wenn die gleiche Sprache etwas anderes bedeutet
große elementare Sorgen machen. Ihren Einstieg in der Schweiz hatte Alfred Kerr vielleicht noch als den Urlaub gesehen, den die ersten Tage in Zürich verheißen hatten. Das Berliner Tageblatt, für das er seit Jahren schrieb, hatte die Schweizreise schließlich gebilligt, war insgeheim sicherlich auch erleichtert, dass ihr scharfer Kritiker zum Zeitpunkt der Wahlen gar nicht im Lande war. Zwei Ereignisse trafen in diesen Tagen zusammen; das erste war eine Verschärfung des Asylrechts in der Schweiz. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung hatte die „neutrale“ Schweiz schnell zu den bevorzugten Fluchtzielen der politisch und „rassisch“ Verfolgten aus Deutschland gehört, sicherlich in erster Linie wegen der Sprache. Schließlich war es auch für Alfred Kerr naheliegend gewesen, nicht in der Tschechoslowakei zu bleiben, sondern aufgrund der Sprache in den deutschsprechenden Teil der Schweiz zu emigrieren. Die Tatsache, dass die ganze Familie deutschsprachig war, gab allen das Gefühl, dass nicht alle Brücken nach Deutschland, in die Heimat, abgebrochen waren. Allerdings sollte Michael später von den großen Schwierigkeiten berichten, das Schweizerdeutsch der Einheimischen zu verstehen und als Hochdeutsch Sprechender auch bei den Gefährten nicht als Außenseiter zu gelten. Doch wie andere Exilanten enttäuschte die Schweiz nun auch Alfred Kerr: Die Behörden reagierten schnell auf die zahllosen Flüchtlinge und erließen neue Verordnungen über das Asylrecht. Das Bleiberecht war nun nur noch für Flüchtlinge gedacht, die aus politischen Gründen verfolgt wurden, und die Schweizer Bundesanwaltschaft entschied über ihre Anerkennung. „Rassische“ oder religiöse Verfolgung war kein anerkannter Asylgrund, sodass jüdische Flüchtlinge in der Schweiz bald keine längere Aufenthaltsgenehmigung mehr bekamen. Das zweite gravierende Ereignis – diesmal persönlicher Art – war die Reaktion des Berliner Tageblatts auf die Wahl in Deutschland. Die Probleme hatten sich bereits angedeutet, als Alfred Kerr auf sei67
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ne Nachfrage hin Nachzahlungen aus Artikeln, die vor seiner Flucht im nationalsozialistischen Deutschland erschienen waren, verweigert wurden. In einem Brief an seine Frau klagte er bereits im März 1933, dass Hans Lachmann-Mosse, sein Chef beim Berliner Tageblatt, ihm nichts zahlen wollte oder konnte, aus Angst vor den Nationalsozialisten. Hatte die Zeitung während der Weimarer Republik eine linksliberale Linie vertreten, so unterlag sie nun der sogenannten Gleichschaltung, durch die die Nationalsozialisten ihr erklärtes Ziel, alle Bereiche von Politik, Gesellschaft und Kultur gemäß ihren Vorstellungen neu zu organisieren, schneller erreichen wollten. Für den Verlag und die Zeitung bedeutete diese Gleichschaltung nicht nur die „Beseitigung demokratischer Strukturen zugunsten des ‚Führerprinzips‘“, sondern auch die „Implementierung antisemitischer Grundsätze, indem Juden aus leitenden Positionen entfernt oder gänzlich aus der Organisation verstoßen wurden“ (Grüttner, 45). Lachmann-Mosse hatte Angst vor den Nationalsozialisten, die mit der Beschlagnahmung seines Besitzes drohten, und setzte sich nicht mehr für seine betroffenen Mitarbeiter ein. Damit endete die 14-jährige Zusammenarbeit zwischen dem Verleger Lachmann-Mosse und dem Literaturkritiker Alfred Kerr. Empört über diese „ungeheuerliche Angelegenheit“ schrieb dieser im März 1933 einen Brief an Gottfried Bermann, den Schwiegersohn seines Verlegers Samuel Fischer, und bat ihn um Vermittlung. Wieder und wieder führte er an, dass Lachmann-Mosse mit seiner Auslandsreise nicht nur einverstanden gewesen wäre, sondern den Plan „ganz ausdrücklich“ (im Original unterstrichen) gebilligt hätte, da ihm Reiseberichte noch lieber wären als Kritiken. Dann jedoch hätte der Verlag erfahren, „daß kein Beitrag von mir im B.T. veröffentlicht werden dürfe, die Notverordnung sehe vor, ‚Das Erscheinen in der Presse‘ bestimmter Autoren zu verbieten. Und nun kommt das Unglaubliche: Der Verlag sendet mir die ‚sofortige Kündigung‘. Ich empfing 68
Wenn die gleiche Sprache etwas anderes bedeutet
Das so genannte Mosse-Haus. Hier wurde das Berliner Tageblatt gedruckt. 1. Januar 1919.
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sie am 20. März und er stellt sämtliche Zahlungen an mich mit diesem Tag ein. Nach rund vierzehnjähriger Zusammenarbeit.“ (AKA, März 1933, Lf. Nr. 212) Reich waren die Kerrs niemals gewesen, aber die journalistische Tätigkeit hatte der Familie ein regelmäßiges Einkommen beschert. Nun wurde die Not groß, zumal die Kosten für die kranke Judith zusätzlich zu tragen waren. Immer wieder wandte sich Alfred Kerr an den Zeitungsverleger, bat auch andere um Geld, erinnerte sich an Menschen, denen er in vergangenen Zeiten geholfen hatte, appellierte an ihr Gewissen. So schrieb er zum Beispiel an den spanischen Schriftsteller Luis Araquistain, der 1932 zum spanischen Botschafter in Deutschland ernannt worden war: „In wenigen Tagen werden meine Kinder hungern, und wir fliegen aus dem Hotel. Dazu ist meine kleine Tochter schwer krank […] Ist es Ihnen möglich, selbst oder durch eine Mittelsperson in diplomatischen Kreisen, die literarisch interessiert sind, unter Discretion einen Betrag zu sammeln, der meine Angehörigen aus dieser schrecklichen Lage befreit, und ihnen das Notdürftigste zum Leben giebt.“ Man kann sich die Demütigung vorstellen, die Kerr angesichts solcher Bettelbriefe empfunden haben muss; seine Frau Julia fügte handschriftlich unter dem Brief hinzu: „Liebe Frau Araquistain, es geht uns unglaublich schlecht! Ich bin verzweifelt! Ihre Julia Kerr.“ (beides zit. nach Vietor-Engländer, 465) Im Gegensatz zu Lachmann-Mosse, der niemals antwortete, da er selbst im April 1933 nach Paris fliehen musste – und von dort aus die Umwandlung seines Konzerns in eine Stiftung in die Wege leitete, die drei Monate später Insolvenz anmeldete –, versuchte der spanische Botschafter angeblich zu helfen, blieb jedoch ohne Erfolg. Zu den neuen Asylbestimmungen in der Schweiz kam ein striktes Arbeitsverbot hinzu, das einen längeren Aufenthalt für viele Flüchtlinge nun vollends unmöglich machte. Das bisherige, immer noch erträgliche Leben der Familie Kerr war endgültig an seinem Ende 70
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angekommen. Fast 40 Jahre später wird Judith Kerr diese Erkenntnis in ihrem ersten Kinderbuch verarbeiten. Da erfährt Anna nach ihrer Krankheit, dass Heimpi nicht kommen wird, und Bruder Max erklärt, es sei in Deutschland alles so gekommen, wie der Vater es prophezeit hatte. Anna glaubt, dass Heimpi im Gefängnis sei, fragt, ob diese etwas gegen Hitler gesagt habe? Nein, erklärt Max, aber Papa habe es getan und deshalb dürfe niemand mehr drucken, was er schreibe, und deshalb hätten sie kein Geld, Heimpi zu bezahlen. Zum ersten Mal macht Anna sich Gedanken über ihre Lage: Sie sind arm. Ein Grund, dass Alfred Kerr fortan versuchen sollte, für Schweizer Zeitschriften zu schreiben. Optimistisch, wie er war, hoffte er, die angespannte Situation der Familie verbessern zu können. Zum ersten Mal wurden die in der Familie bislang wohlbehüteten Kinder also mit der Realität konfrontiert, wenn auch mit Beschönigungen. Nun mussten Judith und Michael sich den Problemen des Alltags stellen, sie zumindest akzeptieren und Entbehrungen auf sich nehmen. Was Michael schon rational verstand, überstieg die Vorstellungskraft Judiths. „Die Nazis haben alles geklaut“, verdeutlicht Max es seiner Schwester im Rosa Kaninchen, und wieder versteht sie: Ihnen ist nur das geblieben, was sie in die Schweiz mitgenommen haben. „Anna versuchte, es sich vorzustellen. Das Klavier war weg … die Vorhänge im Esszimmer mit dem Blumenmuster … ihr Bett … alle Spielsachen, auch das rosa Kaninchen. Es hatte schwarze, aufgestickte Augen – die Glasaugen waren schon vor Jahren ausgefallen –, und es sackte so reizend zusammen, wenn man es auf die Pfoten stellte. Das Fell war, obgleich nur noch verwaschen rosa, so weich und vertraut gewesen. Warum hatte sie nur statt ihres lieben rosa Kaninchens diesen blöden Wollhund mitgenommen? Das war ein arger Fehler gewesen, und sie würde ihn nie wiedergutmachen können.“ (JK, Kaninchen, 45)
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Für die Zielgruppe der Leser ist das eine wunderbare Schilderung. Was bedeuten in kindlicher Perspektive die Probleme des Alltags mit all seinen Nöten gegen den Verlust des rosa Kaninchens! Da sind keine Erläuterungen eines Erzählers nötig. Aber vermutlich war es auch rein biografisch eine der wenigen Erinnerungen, die Judith Kerr tatsächlich an die Anfänge ihres Exils hatte. In Interviews hat sie immer wieder betont, dass sie kaum Erinnerungen an diesen ersten Monat in der Schweiz habe, sicherlich auch ihrer schweren Erkrankung geschuldet. Als erwachsene Frau, die sich 2013 als 90-Jährige erinnert, weiß sie mehr um die Zeithintergründe und die Gefahr, in der sich ihr Vater befand: Ein paar Monate später hatten die Nationalsozialisten in Deutschland eine Belohnung für denjenigen ausgesetzt, der Alfred Kerr tot oder lebendig ergriff. Nach Judiths Genesung sieht sich die Familie aus Kostengründen schnell nach einer anderen, billigeren Unterkunft um und zieht wieder in die Nähe von Zürich, nach Küsnacht, wohl auch in der Erkenntnis, dass, sollte Alfred Kerr überhaupt eine Chance haben, in der Schweiz irgendetwas zu arbeiten und zu publizieren, dies nur in der Stadt möglich sein würde. Zürich war das kulturelle deutschsprachige Zentrum der Schweiz, und in Zürich hatte er Freunde, echte Freunde, wie er schreibt, und die Familie fand ein Quartier, das ihnen wochenlang einen sicheren und sogar einigermaßen heimeligen Platz bieten sollte: in dem Jahrhunderte alten Seegasthof von Eduard Guggenbühl-Heer; mit einem Zweizeiler in Die Diktatur des Hausknechts setzte Alfred Kerr ihm ein Denkmal: „Ich weiß ein köstliches Asyl | In Küsnacht bei Herrn Guggenbühl“ – ein Mann, dem er blindlings vertraut haben musste. Michael Kerr beschreibt später den hilflosen und aus der späteren Perspektive lächerlichen Versuch des Vaters, seinen in Deutschland von den Nationalsozialisten bereits konfiszierten Besitz an den Schweizer Guggenbühl zu übertragen, damit dieser den Transport in die Schweiz anordnen konnte; Michaels Kommentar: Die Gestapo habe sicherlich vor Lachen gebrüllt. 72
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Erste Heimat im Exil: Das Hotel Sonne der Familie Eduard Guggenbühl in Küsnacht, Kanton Zürich/Schweiz.
Es gab offenbar einen „echten“ Freund, der helfen wollte – und es auch tat, indem er die nötigen Mittel für den Umzug und die erste Zeit in Küsnacht zur Verfügung stellte: Eduard Korrodi, von 1914 bis 1950 Feuilletonchef der Neuen Zürcher Zeitung. Allerdings hatte Julia ihren Mann indirekt vor Korrodi gewarnt, als sie in einem Brief über eine Begegnung mit diesem berichtete und auf ein gewisses Sympathisieren mit den Nationalsozialisten und einen damit einhergehenden latenten Antisemitismus hinwies. Mit ihren Vermutungen sollte sie nicht unrecht behalten, denn Korrodi provozierte deutsche Exilliteraten, darunter am massivsten wohl Thomas Mann (der zu der Zeit ebenfalls in Küsnacht lebte), indem er sich abfällig über ihre literarischen Werke äußerte und sie als Massenschreiberlinge bezeichnete. „Wir wüßten nicht einen Dichter zu benennen.“ Es dauerte Monate, bis Thomas Mann, vor allem auf Drängen seiner Tochter Erika, auf diese Herausforderung reagierte und die im Exil lebenden Schriftsteller in Schutz nahm; in diese Zeit fällt auch Thomas Manns erste öffentliche Stellungnahme gegen das nationalsozialistische Deutschland. Von ei73
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ner Begegnung Alfred Kerrs mit Thomas Mann in Küsnacht ist nichts bekannt, vermutlich gingen sich die beiden nach Streitigkeiten, die in die Weimarer Republik zurückreichten, aus dem Weg, da sie weder die Person noch das Werk des anderen mochten und schätzten. In Küsnacht, so hofften die Kerrs, würden sie erst einmal eine Atempause und Ruhe finden, aber das nächste aufregende und einschneidende Ereignis wartete bereits auf sie. Am 10. Mai 1933 kam es in Berlin zur ersten Bücherverbrennung, bei der im nächtlichen Dunkel auf dem Opernplatz 20.000 Bücher in Flammen aufgingen, darunter alle Werke Alfred Kerrs. Das Börsenblatt hatte ihn bereits 1932 auf die erste im Völkischen Beobachter erschienene Schwarze Liste derjenigen Staatsfeinde gesetzt, die es zu erschießen galt – und zeit seines Lebens sollte der Vater stolz darauf sein, von den Nationalsozialisten zum Volksfeind erklärt worden zu sein, erinnert sich sein Sohn. Nun hatte sich die Situation verschärft und die Bücher brannten, Werke, deren Autoren „für das deutsche Ansehen als schädigend“ eingestuft wurden. Die Bücher mussten aus allen öffentlichen Bibliotheken ausgesondert werden und wurden dann, mit regelrechtem Ritual zelebriert, in die Flammen geworfen. Zu dem Ritual gehörten Feuersprüche, mit denen Bücher und Autoren – Lyriker, Kritiker, Romanciers, Philosophen, Wissenschaftler – belegt wurden. Bei Alfred Kerr war es der „8. Rufer“: „Gegen dünkelhafte Verhunzung der deutschen Sprache, für Pflege des kostbarsten Gutes unseres Volkes! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Alfred Kerr“. Zwei Monate später, am 14. Juli, stand der Name Alfred Kerr auf der ersten Ausbürgerungsliste des deutschen Reiches von 1933, mit der die nationalsozialistische Regierung 33 Personen die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannte und sie damit staatenlos machte. Der Deutsche Klub in London zeigte Fotos der 33 Ausgebürgerten mit der Aufforderung: „Wenn ihr einen trefft, schlagt ihn tot!“ Das waren keine guten Voraussetzungen für einen Neuanfang oder auch nur eine geldbringende Tätigkeit in der Schweiz. Große Sorgen also für die Eltern, die nach Möglichkeiten einer neuen Existenz su74
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chen mussten. Aber für die Kinder ging auch diesmal das Leben ohne große Aufregung weiter. Liebevoll beschreibt Judith Kerr im Rosa Kaninchen, wie Anna die Umgebung und ihre Menschen wahrnahm, mit viel Sinn für Details. Ihr gefiel der große Speisesaal mit Hirschgeweihen und Edelweißsträußchen auf den Tischen, die Kastanienbäume, unter denen bei schönem Wetter das Essen serviert wurde. Musikanten aus dem Dorf spielten an den Wochenenden auf, und in dem glitzernden Wasser des Sees konnte man die vorbeigleitenden Dampfer beobachten, auf denen bunte Laternen entzündet worden waren. „Manche dieser Lichter waren gelb, aber die schönsten waren von einem tiefen, leuchtenden Blauviolett. Immer wenn Anna eines dieser magischen blauen Lichter gegen den dunkelblauen Himmel und dessen mattere Spiegelung im dunklen See sah, war es ihr, als habe sie ein kleines Geschenk erhalten.“ (JK, Kaninchen, 46) Schnell schlossen sie Freundschaften mit anderen Kindern, auch wenn die unterschiedliche Aussprache des Deutschen und des Schweizer Dorfdialektes bei der Verständigung oft ein Problem war; besonders mit Rosemarie und Werner, den Kindern der Guggenbühls – im Buch heißen sie Vreneli und Franz – wurden sie schnell vertraut. Nach der Großstadt Berlin genossen sie nun die Freuden des Landlebens, und vor allem Michael konnte sehr schnell seinem leidenschaftlich geliebten Hobby nachgehen, dem Fußballspiel. Von den Problemen der Eltern bekamen sie nur wenig mit, aber Michael erinnert sich an die wachsende Verzweiflung des Vaters, als diesem klar wurde, dass er nach politischen Vorfällen in den deutschsprachigen Nachbarländern nicht mehr sein Auskommen finden und stattdessen das verlieren würde, womit er am längsten gearbeitet hatte und worin er ein Meister war: die deutsche Sprache. Indes kam Judith in dieser landschaftlich schönen Umgebung nach der langen Krankheit schnell wieder zu Kräften, und es dauerte nicht lange, da beschloss Julia Kerr, dass die Kinder zur Schule gehen sollten. Michael wurde in der Kantonsschule in Zürich eingeschult, musste 75
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eine halbe Stunde Bahnfahrt in Kauf nehmen und erinnert sich, dass er Latein aufzuholen hatte, ein Fach, das er an der Berliner Schule nicht gehabt hatte; generell sind seine Erinnerungen weitgehend vom Fußballspielen mit Werner Guggenbühl geprägt. Judith hingegen besuchte die Dorfschule, zusammen mit Rosemarie. Glaubt man den Passagen im Rosa Kaninchen, dann war sie eher unterfordert und schätzte am meisten das Singen und – zum Entsetzen der Mutter – das Angebot der Jungen, ihr das Jodeln beizubringen. Im Roman geht es um Missverständnisse durch die Sprache, aber auch durch Bräuche, etwa als die Jungen anfangen, Steinchen nach Anna zu werfen. In der Realität veranlasste dies die Mutter Julia zum harschen Eingreifen – nicht ahnend, was dahintersteckte: „Wenn sie sich in jemand verlieben, dann werfen sie Sachen nach ihm“, klärte der Bruder später auf – und warf kurz danach selbst Äpfel auf Rosemarie. Überblickt man den gesamten ersten Teil der Hitler-Trilogie, ergibt sich das Bild, dass Judith (Anna) ganz gern zur Schule ging, nur unterfordert war – was ihr viel Zeit für die Erforschung der Umgebung und Landschaft ließ. Sie erzählt weniger von Schule und Lernstoff als von Gepflogenheiten, Sitten und Bräuchen des Landes, insbesondere der Schweizer Kinder; hier erweist sie sich als genaue Beobachterin. In diese Zeit des Frühsommers fiel Judith Kerrs zehnter Geburtstag am 14. Juni 1933. Zufällig war Alfred Kerr an diesem Tag von der Zürcher Literarischen Gesellschaft zu einem Ausflug eingeladen, und als er den Geburtstag der Tochter erwähnte, lud man die ganze Familie ein. Judith freute sich nicht. Viel lieber hätte sie, wie aus Berlin gewohnt, eine richtige Kindergesellschaft gegeben, und die Erklärungen der Mutter, sie seien nun mal nicht mehr in Berlin, machte ihr wieder einmal bewusst: Sie waren nicht zu Hause, sie waren Flüchtlinge. Als ihr Bruder zehn geworden war, hatte er in Berlin ein neues Fahrrad bekommen; sie bekam ein neues Federmäppchen und Farbstifte. Allzu deutlich wurde sie sich der Unterschiede bewusst; in Berlin wäre alles 76
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Judith Kerr. So prunkvoll ging es an ihrem 10. Geburtstag im Exil sicher nicht mehr zu.
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anders gewesen. Im Rosa Kaninchen erinnert sich Anna, wie der Kindergeburtstag abgelaufen wäre: mit mindestens zwanzig eingeladenen Kindern und vielen Geschenken und einer riesigen Geburtstagstorte von Heimpi, die mit Kerzen geschmückt war … Wieder ist es im Buch der Vater, der die richtigen Worte des Trostes findet und Anna erklärt, dass niemand habe wissen können, dass sie an Annas zehntem Geburtstag Flüchtlinge vor Hitler wären. „‚Ist ein Flüchtling jemand, der von zu Hause hat weggehen müssen?‘, fragte Anna. ‚Jemand, der in einem anderen Land Zuflucht sucht‘, sagte Papa. ‚Ich glaube, ich habe mich noch nicht ganz daran gewöhnt, dass ich ein Flüchtling bin‘, sagte Anna. ‚Es ist ein seltsames Gefühl‘, sagte Papa. ‚Man wohnt sein ganzes Leben in einem Land. Dann wird es plötzlich von Räubern übernommen, und man findet sich an einem fremden Ort, mit nichts.‘“ Auf ihre Frage, ob ihm das denn nichts ausmache, antwortet er: ‚Doch. Aber ich finde es auch sehr interessant.“ (JK, Kaninchen, 61) Eine Einsicht in das Leben und eine Einstellung, die Judith Kerr ganz offensichtlich übernahm und Zeit ihres Lebens beibehalten sollte; sie gipfelte zwei Jahre später – dann in Paris – in der Frage an ihren Bruder, dann auch an ihren Vater: „Ist es nicht herrlich, ein Flüchtling zu sein?“ Zwischendrin, wenn Alfred Kerr unterwegs war, kam auch die Großmutter mütterlicherseits zu Besuch. Zu tief war die Abneigung, der Hass, der ihn mit seinem Schwiegervater verband, als dass er den Besuch hätte ertragen können. Die Schwiegereltern waren nach der Pensionierung 1931 nach Südfrankreich gezogen. Zweifellos war „Omama“ eine spezielle Frau; sie war mit ihrem alten Dackel (im Roman heißt er Pumpel) angereist, den sie schon in Berlin gehabt hatte. Immerhin kam sie, um der Tochter in schwierigen Zeiten zur Seite zu stehen, trotz aller Zwistigkeiten. Eines Tages jedoch wurde Pum78
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pel tot aufgefunden, er war offenbar von der Balkonbrüstung auf das darunterliegende Vordach gefallen und vermutlich im See ertrunken. Omama war, wie Michael Kerr sich erinnert, untröstlich und ganz sicher, dass der Dackel in den schlechten Zeiten Selbstmord begangen hatte – und dass niemand als die Nationalsozialisten und der „grässliche Hitler“ in Deutschland daran Schuld waren. Auch für Judith verquickten sich die Ereignisse rund um das tote Tier mit unbegreiflichen Ereignissen, von denen sie in belauschten Gesprächen zwischen der Mutter und Omama erfuhr. Bruchstücke drangen an ihr Ohr und formten sich zu schrecklichen Bildern, als sie Omama, noch immer im Aufruhr um den toten Dackel, von einem berühmten Professor erzählen hörte, den man in ein Lager gebracht und an eine Hundehütte in dessen Eingangsbereich gekettet hatte. Immer wenn jemand kam, musste der Professor bellen, bekam dann etwas Essen in einem Napf und musste fressen, ohne es mit den Händen zu berühren. Nach zwei Monaten sei er wahnsinnig geworden, berichtete Omama. „Vor Annas Augen schien sich plötzlich eine schwarze Wand aufzurichten. Sie konnte nicht mehr atmen. Sie hielt ihr Buch fest vor sich und tat so, als läse sie. Sie wünschte, sie hätte nicht gehört, was Omama sagte. Sie wünschte, sie könnte es loswerden, es erbrechen. Mama musste etwas gemerkt haben, denn plötzlich war es still, Anna merkte, wie Mama sie ansah.“ (JK, Kaninchen, 75) Zwar brach das Gespräch dann ab und Mutter und Omama sprachen über Belanglosigkeiten wie das Wetter, aber die Situation, die dem Kind den Atem nimmt, zeigt bildhaft und für junge Leser verständlich, wie sich die Kindheit in der kurzen Zeit gewandelt hatte. Hatten die Eltern in Berlin noch ihre Kinder beschützt und alles Politische von ihnen ferngehalten und heruntergespielt, so wurden Judith und Michael nun immer mehr mit nationalsozialistischen Gräueltaten konfrontiert und begannen, in dem „Abenteuer Exil“ auch andere Komponenten zu erahnen. Bei Judith führte es zu einer Sprachlosigkeit; nicht einmal mit dem Bruder konnte sie darüber sprechen. 79
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Natürlich konnte es nicht gelingen, den Gedanken an das, was in der Heimat geschah, zu verdrängen, selbst wenn die Informationen nur spärlich flossen – was die Sache vielleicht noch schlimmer für das Kind machte, da sie sich alles ganz furchtbar ausmalen konnte. „Onkel“ Max Meyerfeld kam zu Besuch bei seinen Freunden, und Judith hörte, wie die beiden Männer die Situation in Deutschland diskutierten, erfuhr von den Gefahren, denen vor allem ihr Vater zu Hause entgangen war. Werner Guggenbühl erzählte von dem Preisgeld, das die Nationalsozialisten auf den Kopf ihres Vaters ausgesetzt hatten. Wieder wusste Alfred Kerr die Tochter zu beruhigen, indem er sich empörte über die seiner Meinung nach viel zu geringe Summe; er meinte, er sei doch viel mehr wert, und überlegte, sicher im Scherz und zur Beruhigung der Kinder, an Hitler zu schreiben und sich zu beklagen. Aber doch litt sie unter nächtlichen Alpträumen, träumte, wie der Vater unter dem Gewicht der auf seinen Kopf ausgesetzten Goldmünzen in die Knie ging, bis er ganz von ihnen begraben war. Hinzu kamen erste Erfahrungen, als Juden nicht akzeptiert oder gar minderwertig zu sein, und das ausgerechnet im Hotel der befreundeten Guggenbühls. Antisemitische Erlebnisse kommen bei Judith Kerr ausschließlich in ihrem Roman vor, etwa als eine Familie aus München zu Gast im Hotel ist und die Kinder unbeschwert miteinander spielen. Da stellt sich „eine große, dünne Frau mit einem unangenehmen Ausdruck im Gesicht“ in den Weg und ruft ihre Kinder mit den für sich sprechenden germanischen Namen Gudrun und Siegfried (im Buch) zu sich und erinnert sie an ihr Verbot, „mit diesen Kindern“ zu spielen. Am nächsten Tag werden Anna und Max auch von den Guggenbühl-Kindern beim Spiel ausgegrenzt; die beiden deutschen Kinder hätten angeordnet, dass sie nicht mehr mitspielen dürften – ein Ereignis, das die Mutter auf den Plan ruft, die sich lautstark mit der Mutter der deutschen Kinder auseinandersetzt. Wieder ist es der Vater, der eine Lösung findet und darauf hinweist, dass Vreneli und Franz sich würden entscheiden müssen, wen sie für ihre Freunde halten 80
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und mit wem sie spielen wollten. Neutralität sei gut und schön, aber in manchen Situationen müsse man Stellung beziehen. Es ist Fiktion, Literatur, aber in den Erinnerungen Judith Kerrs die erste konkrete Begegnung mit Antisemitismus in Form einer reichsdeutschen Familie, die sie ihr Dasein als jüdische Emigrantenkinder empfinden ließ. Alfred Kerr hat auf seine unnachahmliche Weise immer wieder versucht, den Kindern den Rücken zu stärken, indem er ihnen von ihrem Jüdischsein erzählte. So erfuhren sie von den „schrecklichen Lügen“ der Nationalsozialisten über sie und von dem, was man tun sollte und konnte: „Wir müssen besser sein als andere Menschen […] Zum Beispiel sagen die Nazis, die Juden wären unehrlich. Es genügt also nicht, dass wir genauso ehrlich sind wie andere Leute. Wir müssen ehrlicher sein“ (JK, Kaninchen, 78), oder: „Wir müssen fleißiger sein als andere Leute […] um zu beweisen, dass wir nicht faul sind, großzügiger, um zu beweisen, dass wir nicht geizig sind, höflicher, um zu beweisen, dass wir nicht unhöflicher sind.“ Und er fährt fort: „Ich glaube, es lohnt sich, denn die Juden sind ein wunderbares Volk, und es ist wunderbar, ein Jude zu sein. Und wenn Mama und ich zurückkommen, so bin ich sicher, wir werden stolz drauf sein können, wie ihr uns in der Schweiz vertreten habt.“ (JK, Kaninchen, 79) Alfred Kerr war es immer klarer geworden, dass es für ihn in der Schweiz auch beruflich keine Zukunft geben würde. Er musste sich andernorts umsehen, und da der „Anschluss“ Österreichs bereits in der Luft lag (auch wenn es noch fünf Jahre dauern sollte), konzentrierte sich sein Interesse auf Frankreich. Michael Kerr ist sich in seinen späten Erinnerungen sicher, dass die Eltern trotz aller weitsichtigen Einschätzung die politische Lage in Europa durchaus verkannt hätten; 1933 wäre es noch ein Einfaches gewesen, in die Vereinigten Staaten zu emigrieren, wo Alfred Kerr – wie so viele – mithilfe von Universi81
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täten, Stiftungen oder anderen Instituten ganz sicher eine neue Karriere hätte aufbauen können. Aber da war vor allem die Sprache; seit seiner Kindheit sprach Kerr perfekt Französisch, und er schätzte die französische Lebensart und die französische Küche, wohingegen das Misstrauen gegen das nicht kontinentale England in jeder Hinsicht zu tief saß, als dass er es sich als neue Heimat hätte vorstellen können. Sein Misstrauen war durch Aufenthalte in England geschürt worden: „er hatte das Essen fürchterlich gefunden, Wein praktisch nicht vorhanden und die Sprache ziemlich schwierig“ (MK, Remember, 33). Auch wenn für seine Frau England das „gelobte Land“ war, tendierte Alfred Kerr nach Frankreich und reiste von der Schweiz auf der Suche nach Verdienstmöglichkeiten mehrfach nach Frankreich, wo er Anzeichen für eine hoffnungsvolle Zukunft zu erkennen glaubte. „Ich landete, das war eines Maitags zur Abendzeit, in dieser anderen Stadt – die von Göttern und Menschen geliebt wird; der die Kraft ist: Ringende glücklich, Glückliche glücklicher zu machen. Die Stadt, die meine Schriften feiern, seit ich sie kenne. Die mir teuer blieb: durch ihren Glanz und ihre Güte. Der man danken muß: weil sie da ist. Sie nennt sich … Aber das wißt ihr.“ (AK, Hausknecht, 34 f.) Alfred Kerrs geplantes neues Leben in Frankreich, das es nun zu besiegeln galt, schien ihm in euphorischer Stimmung vielversprechender, als es in Wirklichkeit war. Er war in dieser Stimmung, weil er zwei erfreuliche Ereignisse hinter sich hatte, die ihm Mut machten. Auf dem Kongress der Société Universelle du Thêatre in Zürich hatte er zunächst eine Rede gehalten, „Der Zustand in Deutschlands Theater. Unpolitische Rede“, und dabei erfahren dürfen, dass sein Wort noch immer Gewicht hatte und er immer noch ein gern gesehener Redner war. Direkt im Anschluss fuhr er nach Paris, und zwar über Luxemburg, wohin man ihn unter dem tatkräftigen Schutz einer Studentengruppe 82
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eingeladen hatte. Dort, auf seiner Zwischenstation, hielt er den Vortrag „Das doppelte Gesicht der Gegenwart. Predigt an eine welkende Welt“, den er bereits im Dezember 1932 auf Einladung der American Church in Berlin gehalten hatte Seine Biografin Deborah Vietor-Engländer listet die hymnisch-enthusiastischen Preisungen auf, die das Escher Tageblatt für den „Meister der Sprache“ fand. Beide Reden Alfred Kerrs sind abgedruckt in Die Diktatur des Hausknechts und Melodien. In solcher Hochstimmung konnte die Wahl Alfred Kerrs für seine Zukunft eigentlich nur auf Paris fallen; die Stimme seiner Frau Julia, die die Reise mit ihm zusammen unternahm und für die immer England die erste Wahl gewesen war, zählte nicht, wie prägnant sie ihre Worte und Taten auch zu setzen wusste. In einem Geburtstagsbrief im Juni 1933 an seine Schwester deutete Alfred Kerr Probleme dieser Art an, sprach von den Unsicherheiten der Zukunft, denen sie ausgesetzt wären, verriet der Schwester, dass seine Frau leicht die Flinte ins Korn werfe oder gar vom „Schlussmachen“ spreche – was ihm unter keinen Umständen entsprach, doch die vermutlich auf einen angedachten (erneuten) Selbstmordversuch zielenden Worte Julias relativierte er gleich danach und betonte, sie stehe ihm prachtvoll zur Seite. Noch im September sah er die Situation sehr positiv und schrieb an seine Frau einen optimistischen Brief, in dem er nicht bezweifelte, dass er auch finanziell in der Stadt sein Glück machen werde, wenn er denn erst seine Arbeit aufnähme. Am 29. September 1933 bat er seine Frau in einem Brief, ihm unter anderem „Bücher, Papiere, Kritiken“ mitzubringen; vermutlich sah er Chancen, in Paris seiner Tätigkeit als Theater- und Literaturkritiker nachzugehen und wenigstens bedingt den Lebensunterhalt der Familie zu sichern. Doch am Ende desselben Briefes relativierte er schon seine Hoffnungen, sprach vom „Wackelnden Theater“, das vor dem Zusammenbruch stehe, und schimpfte auf die dumme Politik. Schon früher hatte Alfred Kerr Artikel und Beiträge für diverse Zeitungen und Zeitschriften geschrieben, wie zum Beispiel die Nouvelles Littéraires, auf die er auch nun wieder seine 83
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Hoffnungen setzte. Zudem gab es zu diesem Zeitpunkt, im Herbst 1933, in Paris einen Kreis sehr aktiver deutscher Emigranten, die unter anderem das Pariser Tageblatt gegründet hatten und nun Kerr bedrängten zu kommen. Immerhin sprach und schrieb Alfred Kerr fließend Französisch, und die Karriere des Familienvaters musste bei allen Entscheidungen im Mittelpunkt stehen, auch weil nur sie das Überleben der Familie sichern konnte. Natürlich konnte ein endgültiger Umzug nach Paris nicht ohne Julia entschieden werden, und so kam es, dass Michael und Judith eines Tages kurzerhand in ihrer Unterkunft in Küsnacht bei den Guggenbühls unter deren Obhut gestellt wurden, während Julia für einige Zeit zu ihrem Mann nach Paris fuhr und beide Eltern in Frankreich versuchten, Wege zu finden, ihrer aller Leben neu einzurichten, der eine im Beruf, die andere in den Anforderungen des Alltags als Hausfrau und Mutter. Die Guggenbühls kümmerten sich in der Zeit rührend um die Kinder und versuchten, das merkwürdige Gefühl des Verlassenseins gar nicht erst aufkommen zu lassen. Von Frau Guggenbühl bekamen sie ihre Lieblingsgerichte, während Herr Guggenbühl ihnen am Abend lustige Geschichten von den Gästen erzählte. Vor allem Michael erinnert sich an die Herzlichkeit, die die Jahrzehnte überdauerte und mit der man ihn dort auch im späteren Leben immer wieder empfing; da war dann längst Werner, der Sohn der Guggenbühls, Inhaber des Hotels. Man wechselte Karten und Briefe mit den Eltern und erzählte von all den Erlebnissen. Dennoch war das Heimweh nach ihnen groß, immer begleitet von der Angst, dass den Eltern etwas zustoßen könnte. Von dem auf Alfred Kerr ausgesetzten Kopfpreis wussten sie ja schon. Glaubt man den Abschnitten im Rosa Kaninchen, so gelang es Judith aber, Kummer und Sorgen mit sich allein abzumachen und die Eltern in ihren Postkarten und Briefen nicht noch mehr zu beunruhigen. Die Worte des Vaters waren auf fruchtbaren Boden bei ihr gefallen: Sie wollte eine Jüdin ohne Angst sein, damit die Nationalsozialisten nicht sagen könnten, Juden seien alle feige. 84
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Im Dezember 1933 war es dann endlich so weit. Alfred und Julia Kerr hatten eine kleine billige Wohnung in der Nähe des Arc de Triomphe gefunden, in der damaligen Rue de Villejuste, die heute den Namen Rue Paul-Valéry trägt. Sein knappes Jahr in der Schweiz fasste Alfred Kerr resümierend zusammen: „Die Menschen hier sind nicht niedergedrückt – jedoch eine sonst fremde Spannung lebt in diesen prachtvoll nüchternen, tätigen, rechtschaffenden Leuten. Ein gewisser beschatteter Ernst. So sorgenvoll waren sie kaum je. Kommt es von der Wirtschaft? Sie tragen ihr politisches Päckchen. Haben zwar den Faschismus nicht im Land: aber die Furcht vor dem Faschismus. (Bei manchen: die Hoffnung auf ihn? …) Die große schwyzerische Mehrheit will nichts davon wissen, besonnen wie sie sind. Die Schweiz wird nie faschistisch sein, Aber: faschistisch beunruhigt.“ (AK, Hausknecht, 33) Und er fügt hinzu: „Aber Zürich ist nur Zwischenstation auf der Wanderung, die das sogenannte Erbteil meines Stammes ist.“ Nun hieß es auch für Michael und Judith Abschied nehmen von der Schweiz. Vermutlich verlief er ganz ähnlich wie der Abschied von Anna und Max im Rosa Kaninchen, nach dem sie bereit waren, ein neues Leben in Frankreich zu beginnen. Und doch fühlten sie, dass der Abschied von der Schweiz ganz anders war als der von Berlin. Anna tröstet sich, dass sie ja jederzeit wiederkommen und ihre Vermieter besuchen könnten, Herr Zwirn (alias Herr Guggenbühl) hatte sie schon eingeladen für den kommenden Sommer. Dennoch fiel der Abschied von der Schweiz den Kindern schwer. Ein gutes Dreivierteljahr war das Land ihnen Heimat gewesen; die Abreise aus Berlin hatte überstürzt und von Ängsten und Irritationen geprägt stattgefunden, sicherlich auch von einer gewissen Nervosität der Mutter überschattet. Man war ins völlig Ungewisse gefahren und 85
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hatte nicht gewusst, ob und wo man überhaupt ankommen würde. Nun vollzog sich alles geordnet, denn, wie Michael Kerr sich erinnert, waren sie beide erwachsener geworden, nicht mehr dieselben Kinder. Das knappe Jahr in der Schweiz hatte die Kinder tatsächlich erwachsener werden lassen, als es unter normalen Umständen der Fall gewesen wäre; sie verstanden die schwierige finanzielle Lage, hatten Armut kennengelernt und ahnten zumindest die Gefahren des Nationalsozialismus, der sich immer gefährlicher ausbreitete. Während Judith den Abschied als etwas Vorübergehendes schildert – sich womöglich die Situation trostreich schönredet –, zeigen die Erinnerungen ihres Bruders Michael, dass er das Leben und ihre Zukunft sehr viel realistischer einschätzte als die Schwester. „Es war ein trauriger Abschied von Küsnacht und Die Sonne. In vielerlei Hinsicht fühlten wir es stärker, als Berlin zu verlassen; damals waren wir gehetzt und verwirrt und konnten kaum begreifen, was geschah. Inzwischen fühlten wir, dass wir Wanderer waren, und wir wussten, dass wir weiterwanderten, um nicht zurückzukehren.“ (MK, Remember, 59) „Dire adieu est un peu mourir“, wie Michael fortfährt, „adieu zu sagen ist ein bisschen wie sterben.“ Nun begann das Exil im Ernst.
Ortswechsel – Und nichts ist, wie es war Es begann mit einer Bahnfahrt, die Judith Kerr im Rosa Kaninchen ausgiebig schildert; vielleicht haben sie ihre Erinnerungen getrogen – immerhin war sie damals keine elf Jahre alt –, vielleicht hat sie aber auch bewusst die Realität leicht verändert, um dem kindlichen Leser etwas zuvor Erzähltes deutlicher vor Augen zu führen. Nach dem, was Judith Kerr in ihrem Roman schildert, war die ganze Familie beisammen. Die Fahrt von Zürich nach Basel – an der Grenze von Schweiz, Deutschland und Frankreich gelegen – war unspektakulär. Doch hier musste man den Zug wechseln, und wie so oft standen für 86
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das Umsteigen nur wenige Minuten zur Verfügung. Der Gepäckträger eilte mit seinem Handkarren voran, und in dem Gewimmel halfen ihm der Vater und Max, das Gepäck bereits in den Zug zu laden. Ein junger Mann lehnte sich aus dem Zugfenster, um seine Freundin noch einmal zu umarmen, und dabei kam das Schild mit der Aufschrift STUTTGART in Sicht – der falsche Zug, in Richtung Deutschland! Max und der Vater überlegten, ob der Gepäckträger sich wirklich nur mit dem Zug vertan hatte – oder war es Absicht gewesen und der Mann hatte sich die tausend Mark verdienen wollen, die auf Alfreds Kerrs Kopf standen? In Wirklichkeit hat nach diversen Briefen und Erinnerungen nur Julia Kerr die Kinder in der Schweiz abgeholt. Das passt auch besser zu dem, was Judith Kerr vorher erzählt, nämlich dass die Zwirns (wie sie im Roman heißen), also die Guggenbühls, für sie gepackt hätten. Auch Michael erinnert sich an das Erlebnis mit dem falschen Zug, aber da erzählt Julia diese Geschichte den Kindern. Auf dem Weg nach Frankreich war es Alfred Kerr passiert, dass er auf dem falschen Gleis gestanden hatte und beinahe in den Zug gestiegen wäre, der ihn nach Stuttgart und Frankfurt gebracht hätte und damit unweigerlich in die Hände der Nationalsozialisten. Immerhin veranlasste der Schrecken Mutter und Kinder zu besonderer Sorgfalt bei der Reise, und die Erleichterung war groß, als französische Namen auf den Bahnhöfen auftauchten und sie das Land erreichten, in das sie so große Hoffnungen setzten. Zwischen 1933 und 1939 emigrierten mehr als 50.000 Deutsche nach Frankreich, und bis 1942, als die Judengesetze verschärft wurden und es zu den ersten Deportationen kam, führte Frankreich weltweit – noch vor den USA – die Liste der Länder an, die Flüchtlinge aufnahmen. 285.000 Flüchtlinge haben sich – zum Teil auf dem Weg in ein anderes Exilland – in Frankreich aufgehalten, dies waren etwa 57 Prozent aller deutschsprachigen Emigranten in diesem Zeitraum. Bis zum Ausbruch des Krieges hielt Frankreich seine Grenzen offen für Flüchtlinge, doch gab es über die Jahre hinweg keine einheitli87
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che Politik zu den Aufenthalts- und Arbeitserlaubnissen, da sich die Einwanderungspolitik aufgrund der hohen Migrantenzahlen immer wieder verschärfte. So mussten deutsche Emigranten ab Juli 1933 einen gültigen deutschen Pass besitzen – was zumindest Alfred Kerr übel getroffen hätte –, um eine offizielle Aufenthaltsgenehmigung zu erwirken. Ein anderes Mal wurden bestimmte Berufe für Flüchtlinge mit einer Sperre belegt, zum Beispiel Rechtsanwälte und Ärzte, und wer arbeiten wollte, musste generell für den Antrag einer Arbeitserlaubnis bereits einen französischen Arbeitsvertrag vorweisen können. Erstaunlicherweise waren andere Berufe nicht von den gesetzlichen Einschränkungen betroffen, dazu gehörten vor allem Schriftsteller und anderweitige Publizisten. Durch die deutschen Exilanten entwickelte sich trotz der schwierigen ökonomischen Lage ein überaus reges intellektuelles Leben, besonders in der zur deutschen Grenze günstig gelegenen Hauptstadt Paris sowie in Südfrankreich. In der kleinen Gemeinde Sanary-sur-Mer nahe Toulon in der Region ProvenceAlpes-Côte d’Azur hatten sich bereits nach dem Ersten Weltkrieg Maler und Schriftsteller angesiedelt, und sie wurde schnell zu einem Zentrum des Exils; Namen wie Bertolt Brecht, Arthur Koestler, Thomas und Katja Mann mit Golo und Klaus, Franz Werfel, Lion Feuchtwanger, die alle dort Quartier nahmen, verbinden sich damit. In Paris entstand eine ganze Reihe von Exilverlagen, und mehr als 400 deutschsprachige Zeitschriften und Zeitungen erschienen, die wichtigste darunter sicherlich das Pariser Tageblatt, das zum ersten Mal fast zeitgleich mit der Ankunft der Kerrs im Dezember 1933 erschien. Bis 1940 war es die einzige deutschsprachige Tageszeitung in Frankreich, parteiunabhängig, von liberalen und linksgerichteten Journalisten gegründet. Die Zeitung erschien täglich mit vier Seiten Umfang, und die Sonntagsausgabe enthielt ab Januar 1934 eine zweiseitige Beilage. „Die Zeitung hatte einen festen Aufbau. Die erste Seite enthielt politische Kommentare, Leitartikel, Berichte aus Deutschland. Auf der zweiten Seite gab es eine Rubrik mit Pressestimmen des 88
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Auslands, die dritte Seite hatte Aktuelles aus Paris.“ (Pariser Tageblatt) Die Sonntagsbeilage sollte neben Beiträgen aus Literatur, Kunst und Reisen auch die Kolumne „Theater und Film“ enthalten, die zu schreiben sich Alfred Kerr schon gesichert hatte. Das Interesse daran war groß, denn diese Zeitungen spielten trotz ihrer wirtschaftlich mehr als angespannten Lage eine wichtige Rolle. Das Naziregime wurde darin nicht aus der Sicht seiner Anhänger geschildert, sondern aus der von Emigranten, und diese Sicht bildete ein ausgleichendes Gegengewicht zu den Agitationen des Propagandaministers Goebbels. Sie ermöglichten auch engeren Kontakt der Emigranten untereinander und galten als Wegbereiter neuer Exilliteratur; das machte die Werke nicht nur bekannt, sondern brachte dem einen oder anderen immer wieder ein schmales Einkommen. Genau das war es, worauf Alfred Kerr seine Hoffnungen gesetzt hatte; neben der Sprache hatte dieser erstrebte Anschluss an die intellektuelle Kulturszene den Ausschlag für seine Entscheidung „Paris“ gegeben. Schon die Fahrt im Zug und die Ankunft in Paris machten vor allem den Kindern klar, wie sehr sich ihr Leben nun ändern würde, und das hatte auch mit der Sprachlosigkeit zu tun. Im Gegensatz zum eher gemächlichen Schweizerdeutsch sprachen die Stimmen nun schnell, scharf und unverständlich, nämlich Französisch. Nach den Monaten in der ländlichen und geruhsamen Schweiz muss die erste Begegnung mit der Millionenstadt und ihren Bewohnern ein gewisser Schock gewesen sein. Die Überforderung des Kindes zeigt sich deutlich im Rosa Kaninchen, wo Anna die Lebhaftigkeit und die Nähe der intensiv gestikulierenden Franzosen schier überwältigt. Bei dem vielen Gepäck mussten sie sich den Luxus eines Taxis gönnen, und wieder zeigen die ersten Eindrücke die Überwältigung Annas durch diese riesige Stadt, denn „sie hatte ganz vergessen, wie es in einer großen Stadt aussah: Überall waren Lichter. Menschen spazierten über breite Bürgersteige, aßen und tranken hinter den verglasten Veranden der 89
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Cafés, lasen Zeitungen, betrachteten Schaufenster […] Die Höhe der Gebäude überraschte sie und der Lärm. Während das Taxi durch den Verkehr kurvte, tauchten unbekannte Autos und Busse und farbige Leuchtschriften, die sie nicht entziffern konnte, aus der Dunkelheit auf und verschwanden wieder.“ (JK, Kaninchen, 87) Vielleicht war es schon auf dieser Fahrt, dass Judith verstand, wie sehr sich ihr bislang vertrautes Lebensumfeld ändern würde. Ganz abgesehen von der ländlichen Schweiz hatten sie ja auch in Berlin eher ruhig in vornehmer Gegend gewohnt, den Grunewald genossen, draußen in der frischen Natur des großen Gartens gespielt. Das alles tauschten sie nun ein gegen eine kleine Dreizimmerwohnung, in der Alfred Kerr seine Frau und die Kinder erwartete, die er sieben Wochen lang nicht gesehen hatte. Michael Kerr schildert seine ersten Eindrücke: Nach dem wunderbaren Quartier bei den Guggenbühls fand er die Lage der Wohnung und diese selbst sehr deprimierend, auch wenn Julia Kerr versuchte, ihnen die enge Straße mit dem schmutzigen Gebäude als einen der besten Stadtteile von Paris schmackhaft zu machen. Er erinnert sich als Erstes an den Aufzug, der so winzig war, dass das wenige Gepäck in mehreren Schüben nach oben gebracht werden musste, und der sich nur unter solchem Ächzen in Bewegung setzte, dass er von Judith und ihm in bestem Schweizerdeutsch sofort „Stöhni“ getauft wurde. Die Wohnung selbst wirkte viel zu klein und kaum ausreichend für eine vierköpfige Familie: eine schmale Diele, vollgepfercht mit Sachen; ein kleines Esszimmer mit einem Tisch, an dem die Kinder später ihre Hausaufgaben machen sollten und der mit einem Stück roten Wachstuchs geschützt war, um Tischwäsche zu sparen. Das Kinderzimmer, ganz in hässlichem Gelb, mit zwei Betten, zwei Stühlen und einem Kleiderschrank. Alfred Kerr hatte ein kleines Arbeitszimmer mit Bett, Stuhl, Schrank und einem Tisch mit der unabkömmlichen Schreibmaschine; eine Verbindungstür führte in ein ebenso kleines Wohnzimmer, dessen Sofa sich nachts in ein Bett für 90
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Julia verwandelte. Die Wände waren so dünn, dass jeder alles verstehen konnte. Die Küche war eigentlich viel zu klein, um dort zu kochen, aber nachdem Grete, eine österreichische Studentin in Paris, die Julia beim Haushalt zur Hand gehen sollte, ihre Anstellung aus Faulheit bald niederlegte, sollte hier für lange Zeit das Reich einer oftmals verzweifelten Julia Kerr sein, die ihre ersten, meist missglückenden Erfahrungen mit Kochen und Haushalt machte. Der Balkon, von dem der Vater so geschwärmt und der Judith hatte träumen lassen, erwies sich rasch nur als eine Art Wandbord mit einem der typisch französischen schwarzen Gitter aus Schmiedeeisen, und auch der Blick aus dem Fenster des Kinderzimmers, das Michael und Judith sich teilten, war enttäuschend: keine schöne aufregende Straße, vielmehr der in Paris so häufige Blick in einen von Mauern und Fenstern eingeschlossenen Innenhof, in dem oft die Mülltonnen standen und kein Himmel sichtbar war. Eine belastende Enge, die die Beziehung der Geschwister, aber auch der Eltern immer wieder kriseln ließ. Nicht nur die Wohnung war fremd, auch der Vater hatte sich verändert. Wieder wirkte er – wie am Bahnhof in Zürich – blass und „ein bisschen geschrumpft“, als die Kinder ihn nach den sieben Wochen der Trennung wiedersahen. Es ist anrührend zu lesen, wie sehr sie sich Mühe gaben, das Gute in all dem zu sehen. „‚Es ist schön hier‘, sagte Anna, ‚im Gasthof Zwirn hätten wir nicht im Schlafanzug frühstücken können.‘“ Unbewusst fühlt sie, was sie erst wenig später in Worte fassen kann: „‚Es ist mir wirklich ganz gleich, wo wir sind‘, sagte sie, ‚solange wir nur alle zusammen sind.‘“ (JK, Kaninchen, 92) Der Roman mit Anna als Hauptfigur ist fast das Einzige, aus dem sich Informationen über die Frankreichzeit herauslesen lassen; ca. 80 Seiten gelten dem Leben in der Stadt an der Seine. Da ist dann auch manchmal von den Streitigkeiten und familiären Krisen die Rede, die sich vermutlich in die Erinnerung Judiths gegraben haben, egal, wie unbedeutend sie auch gewesen sein mögen; es sind gerade die banalen Kleinigkeiten des Alltags, die nerven, etwa wenn Anna an dem kleinen 91
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Tisch im Esszimmer ihre Zeichensachen ausbreitet, wo der Bruder den Platz für seine Hausaufgaben beansprucht. Erstaunlicherweise widmet Judith Kerr in ihrer Autobiografie, die immerhin 176 Seiten im Folioformat umfasst, ihrer Zeit in Frankreich nur eine einzige Seite (S. 12), die auch noch eine breite ganzseitige Spalte für Bebilderung umfasst. In den vielen Interviews, die sie über all die Jahrzehnte gegeben hat, bleibt das Leben in Paris ebenfalls erstaunlich blass und beschränkt sich auf Allgemeinplätze, wie wunderbar sie die Zeit empfunden hat. „Ich fand es sehr schön in Paris, wissen Sie“, sagte sie in einem Interview mit Thomas Kielinger. „Die Eltern gaben uns Kindern das Gefühl, während der zwei Jahre in Frankreich, dass es alles ein großes Abenteuer war.“ Auf den Einwand Kielingers, „Ein höchst unbequemes. Enge Wohnverhältnisse und …“, antwortete sie: „Aber da war die Schule, die neue Sprache. Wenn man als Kind eine neue Sprache lernt, ist alles nicht so schlimm. Wenn man sie schließlich beherrscht, weiß man: Das schien so schwer, aber ich hab’s geschafft. Ein Riesenauftrieb.“ Dann erzählt sie die Episode, die fast immer zitiert wird, wenn über Judith Kerr und ihre Zeit in Frankreich geschrieben wird: „Ich erinnere mich, wie ich eines Abends oben von dem höchsten Stockwerk unseres Hauses auf Paris schaute, in all seiner Schönheit, und ich zu meinem Vater sagte: ‚Ist es nicht herrlich, ein Flüchtling zu sein?‘ Ich fand das viel interessanter, als wenn wir in Deutschland geblieben wären.“ Alfred Kerr hält das im Sommer 1934 in seinen Torsprüchen (AK, Hausknecht, S. 8) fest: „Das elfjährige Mädchen (aus Deutschland vor Lumpen geflohen, die Kinder demütigen) sagt in Paris – auf einem Wohnungsaltan, der zwischen dem Eiffelturm und dem Triumphbogen schwebt: ‚Pappi, es ist herrlich, ein Flüchtling zu sein‘“ – sicherlich ein trostreicher Augenblick für ihn. Es dauerte einige Zeit, bis man tatsächlich von etwas wie „Normalität des Alltags“ sprechen konnte. Zu groß waren die Sprachprobleme. Zwar sprach Alfred Kerr fließend Französisch, doch die Bewältigung 92
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des Alltags mit all seinen Problemen blieb an Julia hängen, die rudimentär (und mit gravierendem Akzent, der das Verstehen erschwerte) Französisch sprach und sich weder in Berlin noch in Küsnacht mit den Anforderungen eines Haushalts konfrontiert gesehen hatte. Humorvoll erzählt Michael in seinen Erinnerungen von so mancher Küchen- und Kochszene. Vor allem er litt unter seiner Sprachlosigkeit, und Julia erkannte, dass trotz aller Geldnot etwas geschehen musste. Die Hilfe kam in Gestalt von Mademoiselle Martel – jedenfalls heißt sie im Roman so. Michael Kerr nennt keinen Namen. Ein paar Wochen lang lernten die beiden Geschwister zu Hause in einer Art „Crashkurs“ vor allem Vokabeln und schrieben mithilfe eines Wörterbuches kleine Geschichten; dennoch blieb es schwierig. Judith Kerr erzählt eine detailliert und witzig geschriebene Geschichte, in der sich Anna und Max aufmachen, je einen Bleistift zu kaufen – zur Erinnerung: Damals gab es keine Selbstbedienungsläden –, und dem mürrischen Inhaber des Geschäftes klarmachen wollen, dass der ihnen angebotene Stift zu teuer sei. Mit Händen und Füßen und Wörterbuch gelingt es ihnen, und um dem Mann ihre Dankbarkeit zu erweisen, verabschiedet sich Anna freundlich mit einem „Bonsoir, Madame“ – „Guten Abend, gnädige Frau“. Es wurde schnell klar, dass Mademoiselle keine dauerhafte Lösung war, und Julia beschloss, dass zumindest Michael wieder zur Schule gehen sollte, und zwar ins Lycée Michelet, eine Schule, die keine sonderliche intellektuelle Reputation aufzuweisen hatte, dafür aber die sportliche Ertüchtigung in den Mittelpunkt stellte und ein eigenes Fußballfeld besaß. Die Mutter kannte ihren Sohn! Die Schule hatte eine ungünstige Lage zur Wohnung, und Michael erinnert sich an endloses Fahren und Umsteigen mit der Metro, was er aber bald problemlos meisterte. Seine Schwierigkeiten lagen ganz woanders, drei davon nennt er „überwältigend“, nämlich seine Kleidung, seinen Schulranzen und die Sprache. Es ist erstaunlich, wie den doch ziemlich selbstständig und vernünftig erscheinenden Jungen sein Fremdsein belastete. Mehr noch als sein 93
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kaum vorhandenes Französisch empfand er sein Äußeres als einen Makel, denn man konnte ihm den Ausländer auf den ersten Blick ansehen. „Damals und noch viele viele Jahre lang, wahrscheinlich bis in meine Vierziger, wollte ich meinen ausländischen Ursprung verbergen, erst in Frankreich, dann in England […]. Es war ein Makel, anders zu sein.“ (MK, Remember, 62) Natürlich muss man das Problem auch innerhalb des Zeitgeistes und der Mode der 1930er-Jahre sehen, in der die Frage der Kleidung formal viel geregelter war als heute: Der legere, zwanglose Look war noch nicht erfunden. Die kurzen Hosen, die ein deutscher Junge mindestens bis zu seinem 15. Lebensjahr trug, sowie seine in die Socken gestopften Knickerbocker waren für Michael ebenso schlimm wie sein deutscher Schulranzen, der Tornister aus stabilem Leder, fürs Leben gearbeitet, ganz anders als die zwanglose Mappe, die französische Jugendliche trugen. Aber die Eltern hatten kein Geld, etwas Neues zu kaufen, und es blieb Michael nichts anderes übrig, als jeden Tag ganz allein seine Reise mit der Metro anzutreten, angezogen wie ein Außenseiter und Sonderling. Vielleicht war es tatsächlich einfacher für Judith. Sie war erst zehneinhalb, ein Kind also noch, während Michael mit seinen knapp dreizehn Jahren schon als Jugendlicher zu bezeichnen war. Und die Geschwister waren ganz unterschiedlich veranlagt. Michael suchte und brauchte Freunde, verlangte nach Fußball in seiner Freizeit, nach gemeinsamen Aktivitäten, was im Winter in Paris einige Monate lang ein Problem gewesen sein dürfte. Da hatte es Judith einfacher, die sich zu Hause am Tisch mit ihren Zeichensachen ausbreiten und in eine Welt versinken konnte, die sie sich jedes Mal aufs Neue erschuf. Zahlreiche Illustrationen aus dieser Zeit zeugen in ihrer Autobiografie davon. Während Michael also tapfer seinen täglichen Weg zur Schule ging, blieb Judith zunächst noch zu Hause, und jeder beneidete den anderen glühend. In ihrem Roman erzählt Judith Kerr anhand des Verhaltens ihres Bruders von den Schwierigkeiten durch sein Außenseitertum, 94
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ohne es je in Worte zu fassen. Michael ärgerte sich, dass Judith untätig zu Hause herumsaß, und Judith hatte Angst, dass sie den Rückstand nie würde aufholen können, und bettelte bei der Mutter, eine Schule besuchen zu dürfen. Aber Julia hatte trotz aller Erfahrungen im Exil noch immer feste Vorstellungen von dem, was man tat und was sich gehörte, und es schien ihr undenkbar, die Tochter auf eine école communale, eine kommunale Schule zu schicken; eine Privatschule konnten sie sich aber nicht leisten. Zum Glück hatte Julia auf dem Markt eine Bekannte getroffen (im Buch heißt sie „Madame Fernand“), die nicht nur unschlagbaren Rat bei allen Einkäufen wusste, sondern bald auch einen guten Tipp zu einer école communale geben konnte – gerade noch rechtzeitig, dass die Situation zwischen den Geschwistern nicht noch weiter eskalierte. Und wieder hatte Judith Glück bzw. empfand es so: Die Schule gefiel ihr, und noch mehr gefiel ihr Colette (so der Name im Roman), das Mädchen, das die Schuldirektorin ausersehen hatte, Judith unter ihre Fittiche zu nehmen. Die Integration in die Klasse erfolgte schnell; die Mädchen waren freundlich, starrten sie nicht an, sondern lächelten; und wenn es auch komisch war, dem Unterricht nicht folgen zu können, ja, kaum zu erkennen, welches Fach gerade unterrichtet wurde, so waren die Pausen, in denen sie mit den anderen spielen durfte, nicht nur schön, sondern auch der Beginn zum Verstehen und Sprechen der fremden Sprache. In ihrem Roman widmet Judith Kerr diesem ersten Schultag ungewöhnlich viel Raum, ganze sieben Seiten. „Es war herrlich wieder in die Schule zu gehen“, schreibt sie da, und all das, was Michael so belastete, das „Anderssein“, spielte für sie keine Rolle. Auch zur Sprache hatten sie beide eine unterschiedliche Einstellung: Während Michael darunter litt, nicht wie „ein französischer Junge“ zu sprechen, fand Judith es nicht schlimm, wenig zu verstehen oder sich in der Schule nicht ausdrücken zu können. So ließen sie auch die 142 Fehler in ihrem ersten französischen Diktat nicht verzweifeln, in dem der Text „unter einem See von roter Tinte verschwunden“ war. 95
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Für Michael verschärfte sich die Situation noch einmal, als er in die Lateinklasse eingeführt wurde und plötzlich vor den Herausforderungen einer toten Sprache stand, die er weder in Deutschland noch in der Schweiz gelernt hatte. Er fühlte sich wie ein Fremder, ein „Alien“ würde man heute sagen, einer aus dem Weltraum. Die folgenden Wochen, die er in seinen Erinnerungen beschreibt, müssen zu den schlimmsten seines Lebens gehört haben. Für ihn selbst erstaunlich, arbeitete er konzentriert und unermüdlich, litt unter der französischen Eigenheit, Freunde aus der Schule keinesfalls in der Freizeit oder am Wochenende zu treffen. Aber allmählich erarbeitete er sich seinen Platz, und irgendwann wurde ihm klar, dass er ein akzeptiertes Mitglied in der Menge geworden war und sich fast zu Hause fühlte. Bei Judith in der Mädchenschule ging die Integration wesentlich spielerischer und auch lustiger vor sich. Die Mädchen nahmen sie einfach in ihren Alltag auf, zum Beispiel in ihre Singspiele auf dem Pausenhof. „Wenn sie es falsch machte, lachten alle, aber auf eine freundliche Weise. Wenn sie es richtig machte, waren alle entzückt. Sie wurden ganz heiß und aufgeregt, und wegen Annas vieler Fehler endete das Ganze in einem noch größeren Durcheinander. Colette lachte so sehr, dass sie sich hinsetzen musste, und auch Anna lachte.“ (JK, Kaninchen, 113) Indessen sollte sich „Madame Fernand“ samt ihrem Ehemann als eine weitere Stütze im Leben der Kerrs erweisen. „Fernand“ – der Name, den Judith Kerr in ihrem Roman als Nachnamen des Ehepaars Fizaine verwendet – war in Wirklichkeit der Vorname von Herrn Fizaine, seine Frau hieß Maggie; ein lothringisches Ehepaar mit französisch-deutscher Kultur und erklärte Gegner der Nationalsozialisten in Deutschland. Herr Fizaine hatte eine hohe Position bei der Agence Havas inne, einem ursprünglich als Übersetzungsbüro gegründeten Unternehmen, das sich rasch zur französischen Nachrichtenagentur entwickelt hatte. Aus ihr ging gegen Ende des Zweiten Weltkriegs die heutige Agence France-Presse hervor, vergleichbar der deutschen Presse-Agentur Reuters. Kurz vor der Übersiedlung der Kerrs nach Paris 96
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hatten sich die beiden Männer kennengelernt und Herr Fizaine war rasch zu einem Bewunderer Alfred Kerrs geworden. Die beiden Männer, so erinnert sich Michael Kerr, hatten viele gemeinsame Interessen, von Literatur, Sprache und Geschichte bis hin zu Wein und Frauen. Nach ihrem zufälligen Zusammentreffen kam es rasch zu einem intensiven Kontakt der beiden Familien, und sie verbrachten fast jedes Wochenende miteinander. Maggie wurde zur Stütze Julias, die im Exil alles neu lernen musste. Vielleicht war Julia die tragischste, weil am wenigsten beachtete Person der Familie, wie man es in Zeiten des Exils häufiger erlebt: Sie hatte Deutschland verlassen müssen und damit ihre Karriere, vielleicht schlimmer: ihre Träume verloren. Hatte sie sich in Berlin schon durch ihre Musik und die Kompositionen außerhalb des Haushalts positioniert, so fand sie ihre Rolle in Paris nur in den Alltagssorgen einer Hausfrau. Ohne Hilfe – das Mädchen Grete, die Studentin, die ihr im Haushalt hatte zur Hand gehen sollen, war durch ihre Faulheit eine einzige Enttäuschung und verließ die Familie – sah sie sich der Hausarbeit gegenüber und musste alles von Grund auf erlernen, sei es Kochen, Putzen, Bügeln, Einkaufen oder anderes. Und sie war allein. Beide Kinder, Judith und Michael, waren von morgens bis abends in der Schule, und ihr Mann, unpraktisch und in gewisser Weise lebensfremd, war ihr keine große Hilfe. Kurz vor ihrer späteren Umsiedlung nach England weiß Judith von einer häuslichen Szene anschaulich zu berichten: Julia, die Mutter, ist krank und die Concièrge kommt nicht als Hilfe. „Jetzt war Mama ganz allein damit. Sie hatte Hausarbeit nie gemocht und fühlte sich elend, wie die meisten Leute nach einer Grippe, und die ganze Last des Saubermachens, Kochens, Waschens, Bügelns und Flickens schien ihr unerträglich“, schreibt Judith Kerr, und „Papa war überhaupt keine Hilfe. Er hatte keine Vorstellung davon, was in einem Haushalt alles getan werden muss, und wenn Mama sich beklagte, wie das Bügeln der Bettwäsche sie ermüdete, schien er ehrlich erstaunt.“ Als er vorschlägt, die Arbeit einfach nicht zu tun, da sie doch ohnehin überflüssig sei, endet das in 97
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einer Szene. „‚Oh, du verstehst überhaupt nichts!‘, schrie Mama […] ‚Du hast keine Ahnung – keine Ahnung!‘“ (JK, Kaninchen, 143). Wenige Jahre später sollten sich Frauen wie Anna Seghers und Erika Mann gezielt mit solchen Sozial- und Wirtschaftsproblemen von Frauen im Exil auseinandersetzen, die Neuanfang („fruchtbar“) oder Untergang („furchtbar“) bedeuten konnten. Jedenfalls fing Maggie Fizaine an, sich zu kümmern. „Madame Fernand war nicht nur eine gute Köchin. Sie nähte auch selbst alle Kleider für sich und ihre Tochter. Sie hatte das Sofa neu bezogen und ihrem Mann einen schönen Morgenmantel genäht. Sie hatte ihm sogar einen Schlafanzug geschneidert, weil man die Farbe, die er sich wünschte, im Laden nicht bekommen konnte.“ (JK, Kaninchen, 117) Sie unterwies Julia in allerlei Hausarbeiten und sprang bei dem einen oder anderen ein, brachte ihr das Nähen bei und schaffte manche Probleme aus der Welt, die das Ehepaar Kerr unbeholfen selbst heraufbeschworen hatte. Beide Kerrs schienen ihr die unpraktischsten Menschen in der ganzen Welt, sodass sie sich öfter der scheinbar unlösbaren Probleme annahm. Judith Kerr erinnert sich, wie nach einem von Maggie Fizaine gelösten Problem – der Rückgabe einer gekauften, defekten Nähmaschine – auf einmal wieder das Geld für ihre dringend benötigten neuen Schuhe in Papas Tasche war. Aber auch Fernand Fizaine erwies sich als Freund und Helfer und nutzte seine Beziehungen, um Alfred Kerr die eine oder andere Verdienstmöglichkeit zu beschaffen. Bei den Verhandlungen mit dem Pariser Tageblatt, der Tageszeitung der deutschen Emigranten, unterstützte er ihn ebenso wie bei diversen anderen Publikationen, die wenigstens das Allernötigste zum Überleben brachten. Während Julia also die Rolle der Hausfrau übernahm, schrieb ihr Mann weiter an Büchern und veröffentlichte den einen oder anderen – immer schlecht bezahlten – Artikel. Das Klavier in Berlin war trotz aller Bemühungen nicht nach Frankreich zu schaffen gewesen, und so konnte Julia auch nicht mehr komponieren. Der Chronoplan sollte ihr letztes Stück bleiben. 98
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Fast zwei Jahre lang schrieb Alfred Kerr seine Theaterkritiken für das Pariser Tageblatt; sein erster Artikel erschien unmittelbar beim Eintreffen der Familie in Paris, am 12. Dezember 1933, sein letzter am 16. November 1935, als die Übersiedlung in das Exil in England direkt bevorstand. Auch für einige französische Zeitungen schrieb er, Les Nouvelles, Le Rempart oder Le Soir, darunter seine erbarmungslose Abrechnung mit dem lebenslangen Freund Gerhart Hauptmann wegen dessen politischer Einstellungen. In der Theaterwelt war er immer zu Hause gewesen, und so wundert es nicht, dass er bald wieder in seinem Element war, sprachgewaltig und wortreich, wie früher. Aber das Geld reichte trotzdem hinten und vorn nicht zum Leben. Nun, da beide Kinder immer besser Französisch verstanden, konnten die Eltern in der beengten Wohnung die existentiellen Probleme nicht mehr vor ihnen verbergen; es gab keine „Geheimsprache“ mehr. In ihrem Roman klammert Judith Kerr das Thema dieser gravierenden Armut weitgehend aus, vielleicht, weil sie konsequent die kindliche Perspektive beibehält und sie als Kind die Sorgen ihrer Eltern möglicherweise als weniger bedrohlich wahrgenommen hat als ihr Bruder. Briefe belegen, wie Alfred Kerr immer wieder bei Freunden und Bekannten um Unterstützung bettelte. Aber unbeirrt arbeitete er auch weiter und schrieb – was man erst viel später erfahren sollte –, und wusste, was er wert war. Michael Kerr berichtet von Höhen und Tiefen, von Hoffnungen und vom Optimismus des Vaters, von Ängsten und Depressionen der Mutter. 1934 erschien in Brüssel mit Die Diktatur des Hausknechts Alfred Kerrs erstes Buch im Exil, ein Appell an die Großmächte, in Deutschland zu intervenieren; er versprach sich keinen großen Erfolg davon. Ein Jahr später, 1935, veröffentlichte er das Buch Walther Rathenau. Erinnerungen eines Freundes, das in Amsterdam auf den Markt kam. Trotzdem hatte das Leben auch heitere Momente, die Normalität vortäuschen sollten, etwa als Alfred Kerr einen Vertrag mit seinem 99
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Sohn schloss, dass dieser bis zu seinem 21. Geburtstag weder rauchen noch Alkohol trinken dürfe: „Sind die vorstehenden Bedingungen erfüllt, so verpflichtet sich mein Vater, Alfred Kerr, mir am 1.III.1942 300 französische francs bar auszuzahlen, oder, falls ich mich in einem anderen Lande befinden sollte, mir die vorstehende Summe in der Geldwährung des Landes, in dem ich sein werde, mit gleichem Werte ebenfalls bar auszuzahlen. Wir zeichnen: Michael Kerr/ Alfred Kerr, der Zeuge: Mag. Fizaine.“ (Vietor-Engländer, 488) Witzig gemacht, doch war der Zusatz mit der anderen Geldwährung vielleicht schon ein Hinweis darauf, dass Alfred Kerr bereits im Sommer 1934 daran zweifelte, sich in Frankreich eine neue Existenz aufbauen zu können, und seine Fühler in ein anderes Land ausstrecken wollte. Viel Geld hat Alfred Kerr nicht für seine Publikationen bekommen, davon zeugt einer seiner Briefe an den Freund und Unterstützer Rudolf Kommer, den er kurz vor Weihnachten 1934 schrieb: „Wir haben eine schreckliche Zeit hinter uns. Ich mußte mich dem Irrsinn meiner Frau widersetzen, deren Energie sich leider auch in energischer Verzweiflung betätigt, und die mir in den Ohren lag, durch ein gemeinsames Schlafmittel dieser ewigen zerrüttenden Unsicherheit des Daseins, auch für die Kinder, ein Ende zu machen. Derlei liegt mir nun garnicht, das Aufpassen auf sie war schwer. Ich hielt uns einige Wochen dadurch über Wasser, daß ich, nicht wie Deutschland zum Ersatz, sondern zum Versatz überging.“ (nach Wendler, 201) Über das Weihnachtsfest selbst erfährt der Leser des Romans Rosa Kaninchen nicht viel, dafür umso mehr über Silvester, das Judith als das 100
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größte Fest in Frankreich bezeichnet; sie waren Gäste der Fizaines, und die Kinder durften bis Mitternacht aufbleiben. An diesem Weihnachtsfest, das trotz des Geldmangels wegen der Fizaines lustiger war als das davor, sollte Michael Kerr plötzlich merken, dass er Französisch ebenso fließend sprach wie Deutsch, und es dauerte nicht lange, da fingen Judith und Michael an, auch untereinander Französisch zu sprechen. Noch eine andere Tür tat sich in der Not auf. Eine Großtante von Judith, die Schwester der Großmutter mütterlicherseits, lebte in Paris in relativ aufwendigem Stil in einer großen Wohnung mit Bediensteten, und man fragt sich unwillkürlich, warum sie ihrer Nichte samt Familie nicht mehr unter die Arme gegriffen hat. Zumindest Julia und die beiden Kinder nahmen Kontakt zu ihr auf, was der Vater mit großem Missmut und wachsender Skepsis sah. Die verwitwete Großtante – im Buch heißt sie Sarah, Michael Kerr spricht von „Tante Lucy“ – war Mitglied in einer Organisation, die Kinder in ärmlichen Verhältnissen mit Kleidung und Stoffen aus Spenden versorgte; Judith und Michael, beide im Wachstumsalter, waren aus den meisten Kleidungsstücken herausgewachsen. Streitigkeiten zwischen den Eltern waren die Folge, denn Alfred Kerr wollte keine Almosen aus der Verwandtschaft, aber hier setzte sich Julia durch. Beide Kinder bekamen die dringend benötigte neue Kleidung, die nicht nur wärmte, sondern sie auch durchaus französisch aussehen ließ. Da Julia in dieser Zeit schon bei Maggie Fizaine nähen lernte, wurde das „Nähfest bei den Fernands“ ein großer Erfolg – auch insofern, als beide Kinder durch ihr neues Erscheinungsbild einen weiteren Schritt in Richtung Integration innerhalb ihrer Kameraden erfahren durften. Insgesamt machten sich erst in den beiden Jahren, die die Kerrs in Frankreich verbrachten, die Folgen der Großen Depression vom 24. Oktober 1929 so richtig bemerkbar, dem Tag, an dem die New Yorker Börse zusammengebrochen war. Eine globale Wirtschaftskrise bislang unbekannten Ausmaßes war die Folge gewesen, deren Auswirkungen nun auch Frankreich erreichten – vor allem dadurch, dass die 101
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zusammengebrochene Wirtschaft in den USA und in einigen Ländern Europas einen drastischen Rückgang der französischen Exporte hervorrief, der wiederum zu extremen Sparmaßnahmen und durch Massenentlassungen zu Arbeitslosigkeit führte. Ohne eine Sozialversicherung, wie sie schon damals bedingt in Deutschland bekannt war, wurden viele der Arbeitslosen in der Folge obdachlos und kämpften als Straßenbettler ums Überleben. Das Motiv der Armut zieht sich durch den ganzen Roman Judith Kerrs, wenn auch nur indirekt, etwa in eingeschobenen Sätzen, dass man sich diesen oder jenen Wunsch nicht erfüllen könne, da das Geld nicht für solche Extrawünsche reiche und man sparen müsse. Aber das wahre Ausmaß ihrer Armut wussten die Eltern sicherlich immer noch vor den Kindern zu verbergen. Vom 12. Februar 1934 ist im AlfredKerr-Archiv ein Brief von Alfred Kerr an den Freund Albert Einstein erhalten, der abrupt beginnt: „Unendlich Verehrter, ich will mit der Tür gleich ins Haus fallen: wissen Sie dort, in New York irgend etwas, das zwei sich hold entwickelnden Kindern, meiner Frau und mir irgend ein Existenzminimum ermöglicht?“ Er beschreibt ihm das Leben in Paris: „Zu haben ist Freundlichkeit, bis zu Banketten gesteigert. Nicht zu haben ist die geringste wirtschaftliche Grundlage. Mit meinen französisch geschriebenen Aufsätzen nahm ich vielleicht etliche Leser für mich, aber sonst wenig ein. Hier ist Krise, Honorarschwund, Unternehmungsscheu.“ (nach Wendler, 48) Das Honorar für die beiden Bücher sei aufgezehrt, Mitte Juni (1934) würde man mitsamt den Kindern auf der Straße stehen. Zum ersten Mal lässt sich erkennen, dass Kerr an eine Ausreise nach Amerika 102
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denkt, er fragt nach Unterstützung und Empfehlung Einsteins an eines der amerikanischen Komitees; wenn sie denn alle die Überfahrt bezahlt bekämen, könnte er ein neues Leben beginnen. Michael Kerr wird sich der verzweifelten Lage erst in seinen Erinnerungen bewusst, als er verstand, dass es sich insgesamt um eine der dunkelsten Zeiten im Leben seiner Eltern gehandelt haben muss – als er nämlich auf die Korrespondenz Einsteins mit seinem Vater stieß. Wirkliche Hilfe kam übrigens nicht von Einstein, der das Problem in seiner Tragweite offenbar gar nicht erkannte. Aber er schickte Hilfe in Form eines befreundeten Mannes, der den Kerrs auch noch in England hilfreich zur Seite stehen sollte: Rudolf Kommer. In seiner zweiten Autobiografie, Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht – im Original zuerst in englischer Sprache in New York erschienen als The Turning Point: Thirty-Five Years in this Century – erwähnt auch Klaus Mann Rudolf Kommer. Dieser war Journalist und Impresario und arbeitete lange Zeit für Max Reinhardt, den bekannten österreichischen Theater- und Filmregisseur, Intendanten und Theatergründer. Kommer lebte seit 1923 in den USA, vergaß aber nie seine deutsche Herkunft und unterstützte nachweislich zahlreiche Exilanten, die in die USA auswandern wollten. Auch die Kerrs erhielten seine Hilfe. Die ergebene Dankbarkeit, die die Familie empfunden hat, brachte Alfred Kerr 1943 nach dem Tod Kommers in einem fünfzigzeiligen Epilog. Dem Andenken an Rudolf Kommer zu Papier: „In aller Stille bist du weggegangen, | Dein letzter Tag hat unscheinbar getagt. | Ich hab an dir, Du hast an mir gehangen, | Du warst mein Freund – und alles ist gesagt.“ Das Gedicht erschien am 2. Juli 1943 in der Exilzeitschrift Aufbau. Als der Sommer vor der Tür stand, hatten beide Kinder einen bewundernswerten Schulabschluss geschafft; auch Michael war Fleiß und Intelligenz bestätigt worden, und die Zeugnisse sprechen bei beiden von bemerkenswerten Fortschritten. Nun stand die lange schulfreie Zeit vor der Tür, und Judith und Michael sahen deprimiert einem heißen Sommer in der kleinen stickigen Wohnung in der Großstadt entge103
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gen. Wieder kam Rettung, diesmal in Gestalt der Guggenbühls: Sollte man die Fahrtkosten aufbringen können, würde man sie den Sommer über gern kostenfrei in Küsnacht im Hotel Die Sonne beherbergen. Es wurden noch einmal unbeschwerte Ferien. Nichts hatte sich in der Schweiz geändert, es war, als hätte die Zeit für alle stillgestanden. Der Kontakt zu Werner (im Roman Franz) und Rosemarie (im Roman Vreneli) Guggenbühl war gleich wieder da, „als seien sie erst gestern getrennt worden“: „Franz nahm Max mit derselben alten Angelrute zum Fischen mit, sie spielten dieselben Spiele und gingen auf denselben Pfaden durch die Wälder, die sie im vergangenen Jahr so geliebt hatten. Es war alles genau wie es gewesen war.“ (JK, Kaninchen, 133) Und doch war alles anders. Judith und Michael empfanden es deutlich: Das Leben in der Schweiz hatte stagniert, und niemand von den dort Lebenden hatte es bemerkt. Nicht die Guggenbühl-Kinder und nicht der ehemalige Lehrer, den Judith (Anna) dort zufällig traf, und der sich missbilligend äußerte, wie französisch sie schon geworden sei. Bei Michael Kerr findet sich nur ein einziger Abschnitt zu diesem Sommer, mit der Erkenntnis: „Ich war in Paris halbwegs angepasst, gehörte aber immer noch nirgendwo hin und ganz bestimmt nicht zurück in die Schweiz.“ (MK, Remember, 69) In Judith Kerrs Roman klingt das so: „Vreneli hatte Anna gedankenverloren angestarrt. Jetzt sagte sie: ‚Weißt du, du bist doch irgendwie anders geworden.‘ ‚Unsinn‘, rief Anna, ‚das stimmt nicht!‘ Aber sie wusste, dass Vreneli Recht hatte, und plötzlich, obwohl sie erst elf Jahre alt war, fühlte sie sich ganz alt und traurig.“ (JK, Kaninchen, 135) Am Ende des Sommers waren sie alle traurig, dass sie wieder abfahren mussten, und es gab einen langen herzlichen Abschied von ihren Freunden. Und doch: Beiden Kindern war ihre eigene Veränderung in ihrem neuen Leben bewusst geworden, ihre Entwicklung, die sie als positiv erlebten; wo sie vorher vom Bleiben geträumt hatten, sahen sie nun Stagnation bei den anderen. Michael Kerr erinnert sich an die Ruhelosigkeit, die ihn in diesem September erfasste und ihn innerlich 104
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Momentaufnahme aus dem jüdischen Viertel, Paris. Aufnahme Mitte der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts.
bereit machte für die Rückkehr nach Paris und in die Schule. Frankreich war ihre Heimat geworden. Ganz problemlos aber war die Rückkehr in den französischen Alltag nicht. Zu Hause verschärften sich Probleme und existentielle Nöte. Während Michael sich mehr und mehr integrierte und wie ein Besessener dafür arbeitete, erlebte Judith immer wieder Krisen, der Sprache wegen. Nach wie vor zeigten ihre Diktate überaus viele Fehler, und da sie sich alle Texte, auch zum Beispiel bei mathematischen Aufgaben, gedanklich erst ins Deutsche übersetzen musste, war sie zu langsam, um sich aktiv am Unterricht zu beteiligen. Die Hausaufgaben dauerten unendlich lang und provozierten so manche lautstarke Krise mit der Mutter, die diese dann doch immer wieder verständnisvoll und einfühlsam herunterspielte. Sie gab nicht auf, der Tochter Mut zu machen, dass sie es eines Tages schaffen würde. 105
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Und Judith Kerr schaffte es. Eines Tages war ihre Welt verändert, heißt es im Roman: Anna begann, spontan Französisch zu sprechen, ohne nachzudenken, ohne zu übersetzen. Sie dachte Französisch. „Es war wie ein Wunder. Sie konnte nicht glauben, dass es andauern würde. Es war, als hätte sie plötzlich herausgefunden, dass sie fliegen konnte, und sie erwartete jeden Augenblick, wieder auf die Erde zu stürzen.“ (JK, Kaninchen, 140) Aber Judith stürzte nicht – und Michael Kerr erinnert sich, dass sie begannen, untereinander Französisch zu sprechen, ohne dass sie es wirklich merkten, und nur noch mit den Eltern Deutsch sprachen. Eines der wenigen Details, die Judith Kerr in ihrer Autobiografie über die Pariser Zeit festhält, ist ihre Erinnerung an das Zeichnen, das sie fortsetzte; sicherlich hat ihr das den Alltag erleichtert. Die Seiten 13 bis 19 in Geschöpfe sind gefüllt mit solchen Zeichnungen, die auch konkrete Einblicke in Momente des Kerr’schen Lebens bieten; gezeichnet auf heute vergilbten karierten Blättern, offensichtlich aus einem Heft gerissen, eine Cover-Illustration dazu auf braunem Packpapier und die folgende Titelseite „Pierre et Michelle par Anna Judith Kerr“ („Pierre und Michelle“, von Anna Judith Kerr), eine Bildergeschichte, in der offenbar die beiden Kinder – ein älterer Junge und ein Mädchen – allerlei Unsinn anstellen. Andere frühe Zeichnungen zeigen Kinder bei unbeschwertem Tun, in Ferienstimmung, an einem See, beim Baden. Insgesamt erinnert sich Judith nicht sehr an ihre Aktivitäten, sondern an Ereignisse, die damit verbunden waren: „Der französische Schultag war sehr lang, und ich erinnere mich nicht daran, viel gezeichnet zu haben. Einige Zeichnungen muss ich aber gemacht haben, denn ich weiß noch, dass es einen großen Krach gab, weil ich in der Wohnung Tusche auf dem Fußboden vergossen hatte, wofür wir hätten haftbar gemacht werden können. Außerdem hatte mich in einer meiner Schulen eine Kunstlehrerin in ihr Atelier eingeladen, um mir 106
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zu helfen, Details wie Hände zu zeichnen, denn darin war ich sehr schlecht.“ (JK, Geschöpfe, 12) Daneben schrieb sie kleine Verse und Gedichte zum Geburtstag der Eltern oder zum neuen Jahr (1934/35), als der Vater vorher krank gewesen sein muss: „Doch jetzt ist der Papi schon wieder | Ganz munter, | Und läuft die Straßen rauf und runter, | Und darf schon ins Theater gehen | Darf wieder alle Stücke sehn | Was er vorher niemals dürfte | Wo er immer nur kalten Tee schlürfte […]“. (AKA; undatiert; 25.12.1934 oder 1935) Nach den Osterferien, in denen Omama sie besuchte und ihnen so das eine oder andere Vergnügen bescherte, das sie sich andernfalls nicht hätten leisten können, konnte Judith es kaum erwarten, dass die Schule wieder anfing. Alles erschien ihr leicht, die Arbeit im Unterricht und danach zu Hause machte ihr Spaß. Sie schrieb Geschichten und Aufsätze auf Französisch und liebte es, weil sie sich mit den französischen Wörtern viel eleganter ausrücken konnte, was sie sehr aufregend fand. In ihrem zweiten Jahr konnte Judith zum Ende des Schuljahres bereits eine wichtige Prüfung an der französischen Schule ablegen, und sie bekam sogar eine Auszeichnung vom Bürgermeister in Höhe von zwei Zehn-Franc-Scheinen für den französischen Aufsatz, den sie schreiben musste. Sie hatte sich für das Thema „Eine Reise“ entschieden und beschrieb darin, wie sie sich die Reise ihres Vaters vorstellte, als der seinerzeit – war es wirklich erst zweieinhalb Jahre her? – eines Nachts mit Fieber nach Prag geflohen war; „das erste Geld“, sagte Alfred Kerr zu seiner Tochter, „das du als Berufsschriftstellerin verdienst“. (JK, Kaninchen, 156) Ihr großer Erfolg ging ein wenig unter in der zeitgleichen Nachricht des aufgeregten Michael, dass er zu seinem eigenen Erstaunen den prix d’excellence, den Exzellenzpreis, als der beste Schüler seiner Klasse gewonnen hatte – ein Tag des Triumphes für Alfred Kerr, denn bei der Verleihung des Preises war eine Gruppe von 107
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Hitlerjungen im Rahmen eines Austauschprogramms dabei, denen er vorzuführen gedachte, welch begabten jungen Menschen Deutschland durch das Exil der Kerrs verloren hatte. Michael schreibt, wie beschämt und auch traurig er sich für den Vater fühlte, weil er die Leere und Sinnlosigkeit des Augenblicks empfand, in dem sein Vater so stolz auf ihn war. Während die Kinder in Frankreich mehr und mehr auflebten und sich integrierten, war die Zeit im Exil für Alfred Kerr nicht so, wie er es erhofft hatte. All seine Versuche zu schreiben, zu publizieren und Geld zu verdienen, endeten im Nichts, eine Hoffnung nach der anderen verpuffte. Er war müde und überarbeitet, nachts plagten ihn Alpträume. Die finanzielle Not nahm zu. Bereits Ende 1934 musste Alfred Kerr klar gewesen sein, dass es in Frankreich keine Zukunft für die Familie geben konnte. Seine verzweifelnden, klagenden, bettelnden Briefe im Alfred-Kerr-Archiv belegen, wie sich die finanzielle Lage weiter und weiter zugespitzt hatte. Es war Zeit, der Realität ins Auge zu sehen. Mit dem Ende des Schuljahres kam auch wieder der Sommer in der Großstadt. Im Rosa Kaninchen beschwert sich Anna über die Hitze, die sie auf dem Pflaster durch die Schuhsohlen spürte, während sich die Häuser mit Sonnenwärme vollzusaugen schienen. Noch immer hoffte Alfred Kerr, sein neu geschriebenes Drehbuch, ein Filmmanuskript, zu verkaufen, eine Geschichte über Letitia, die Mutter Napoleons, wie sie ihre Kinder ohne jedes Geld erzog und den berühmten Sohn am Ende sogar noch überlebte. Aber niemand wollte dieses Drehbuch kaufen. Judith fiel ein, dass Omama bei ihrem Besuch zu Ostern angeboten hatte, die Kinder im Notfall bei sich aufzunehmen. Würden die Eltern sie wegschicken, um Geld zu sparen? Dann kam der Tag, an dem die Kerrs nicht mehr die Miete für ihre Wohnung zahlen konnten. Wieder versuchten die Eltern, das größte Elend vor den Kindern zu verbergen. In Sommerfrische wolle man fahren, an die See in Belgien, nach Coxyde-les-Bains südlich von 108
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Ostende, und in einer billigen Pension wohnen. Da ahnten Michael und Judith noch nicht, dass sie nie mehr in Paris leben sollten. Während Alfred und Julia Kerr an der See auf das Wunder warteten – den Ankauf der Filmrechte in England –, erlebten die Kinder noch einmal unbeschwerte Ferien. Erstaunlicherweise hat Judith Kerr in ihrem Roman den ganzen Sommer in Belgien ausgeklammert; sie erwähnt ihn mit keinem Wort. Aber es sind diese Szenen, die sie immer wieder gezeichnet hat: den Strand, das Meer, Kinder, die sich im Wasser vergnügen und Drachen steigen lassen, Sandburgen bauen. Idyllische Szenen mit einer friedlichen, ja fröhlichen Atmosphäre. Der Sommer verging, und die Touristen verließen in Scharen Coxyde. Die Kerrs blieben. Erst als das Wetter sich verschlechterte, es immer kühler wurde, die Herbststürme einsetzten und sie immer noch nicht an ihre Abreise dachten, merkten die Kinder, dass etwas nicht stimmte – und sie erfuhren, dass es nichts mehr gab, wohin sie hätten zurückkehren können. Vielmehr wollten die Eltern nun nach England gehen, nach London, und versuchen, dort etwas wie eine Zukunft für sie alle zu finden. Während der Zeit des Wartens sollten Judith und Michael in Nizza bei den Großeltern wohnen. Was für eine Schmach. Es muss einer der bittersten Momente für den Vater gewesen sein, erinnert sich Michael Kerr: erst die zweite erzwungene Trennung von seinen Kindern und dann die erwartete Dankbarkeit seinem verachteten Schwiegervater gegenüber für die Aufnahme der Kinder. Selbst die Kinder schienen dies bereits zu verstehen. Aber es gab keine Alternative. Judith war von der Vorstellung, Paris zu verlassen, offenbar sehr verängstigt. In ihrem Roman widmet sie der Szene, in der die Eltern den Kindern ihre Pläne für die Zukunft erklären, ungewöhnlich viel Raum. Auf die Erklärung der Mutter, dass viele Kinder sich eine Zeitlang von ihren Eltern trennen würden, wirft Anna ein, das sei etwas anderes, weil sie keine Heimat hätten und deshalb bei ihrer Familie bleiben müssten. Und sie denkt darüber nach, was es heißt, Flüchtling zu sein. 109
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„‚Aber bis jetzt hat es mir nie etwas ausgemacht, ein Flüchtling zu sein. Es hat mir sogar gefallen. Ich finde, die beiden letzten Jahre, wo wir Flüchtlinge waren, waren viel schöner als die Zeit in Deutschland. Aber wenn ihr uns jetzt wegschickt, habe ich solche Angst … ich habe so schreckliche Angst …‘ ‚Wovor denn?‘, fragte Papa. ‚Dass ich mir wie ein Flüchtling vorkomme‘, sagte Anna und brach in Tränen aus.“ (JK, Kaninchen, 162 f.) Und wieder ändert Judith Kerr in ihrem Roman die Realität ihrer Kindheit ab; sie mutet ihren kindlichen Lesern – oder ihren Romanfiguren? – die Reise zu den Großeltern nicht zu. In letzter Minute kommt in der Geschichte der erlösende Brief aus England, dass ein Regisseur das Filmmanuskript gekauft habe. Die Reise nach England kann so direkt zu viert beginnen. Der Vater tröstet beim Verlassen der Wohnung, sie würden sicherlich zurückkommen. Anna sagt: „‚Aber es wird nicht dasselbe sein – wir werden nicht mehr hierhergehören. Glaubst du, dass wir jemals irgendwo richtig hingehören werden?‘ ‚Ich glaube nicht‘, sagte Papa, ‚nicht so, wie die Menschen irgendwo hingehören, die ihr Leben lang an einem Ort gewohnt haben. Aber wir werden zu vielen Orten ein wenig gehören, und ich glaube, das kann ebenso gut sein.‘“ (JK, Kaninchen, 168) Die Realität sah anders aus. Eine Nacht und einen Tag wohnte die Familie in einem schäbigen Hotel nahe der Gare du Nord in Paris, bevor Judith und Michael in den Zug nach Nizza gesetzt wurden. Michael hat in seinen Aufzeichnungen erstaunlicherweise kaum Erinnerungen an diese Tage, betont, dass er erst durch Gespräche und Nachfragen bei seiner Schwester überhaupt wieder an manches gedacht habe. Judith hingegen erinnert sich an völlig unbedeutende Details, zum Beispiel an eine Spirituslampe im Hotelzimmer der Eltern, über deren Flamme 110
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der Vater vergeblich versuchte, Eier hart zu kochen, die die Mutter irgendwo erstanden haben musste. Die Reise der beiden Kinder – sie waren jetzt gut vierzehn und zwölf – begann mit dem Nachtzug von der Gare de Lyon. Angst hatten sie nicht, sie fühlten sich den Herausforderungen gewachsen. Michael Kerr erinnert sich an ein unglaubliches Gefühl der Freiheit, als er des Nachts bei einem längeren Aufenthalt auf einem der Bahnhöfe stand. Mehrere Wochen mussten indes die Eltern in dem schäbigen kleinen Hotel in Paris warten, bis sie das Geld zusammengebettelt haben sollten, das sie für ihre Reise nach England brauchten. In ihrer Autobiografie widmet Judith Kerr auch ihren Monaten bei den Großeltern nur zwei Abschnitte; zuvor ruft sie in Erinnerung, was es für den Vater bedeuten haben musste, die Kinder bei dem verhassten Schwiegervater unterkommen zu lassen, erzählt kurz die Geschichte von Alfreds Kerrs seinerzeit in Berlin veröffentlichter Kritik an einem Theaterstück, die den Schwiegervater und seine Geliebte bloßgestellt hatte, und von den beiden Schlägern, die dieser auf ihren Vater angesetzt hatte. „Ich glaube nicht, dass Michael und ich in Nizza unglücklich waren“, zieht sie ihr Resümee des Sommers bei den Großeltern. „Unser Aufenthalt in Nizza wurde immer als nur vorübergehend bezeichnet, aber wir hatten endlich die finanzielle Situation verstanden, und manchmal überlegten wir im Geheimen, ob unsere Eltern wohl jemals genug Geld haben würden, um uns wieder zu sich zu nehmen.“ (JK, Geschöpfe, 19) Sie erinnert sich daran, während ihres Aufenthalts bei den Großeltern wie Michael in die Schule gegangen zu sein, in eine Mädchenschule in der Nähe des Hafens, in die Omama sie ursprünglich gar nicht gehen lassen wollte; vielmehr hatte sie zu Judiths Entsetzen vorgeschlagen, sie zu Hause selbst in Nähen und Sticken zu unterrichten. Den knappen Informationen bei Judith Kerr steht das sechsseitige Kapitel 19 „To Nice“ von Michael Kerr gegenüber. Es gibt einen schönen Einblick in das tägliche Leben des Ehepaares Weismann, das in Cimiez (heute ein Stadtteil von Nizza) wohnte, in einer erdgeschossigen, groß111
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zügigen Wohnung der stilvollen Villa La Roserai mit einem großen Garten; ein Dienstmädchen und ein Koch standen ihnen zur Seite – ein Leben, das dem Ehepaar gefiel, mit schönem Essen und Wein und insgesamt einem gewissen Stil, der sie dennoch finanziell nicht überforderte. Trotz ihrer ebenfalls beschränkten finanziellen Verhältnisse gab es den Bridge Club, die Bibliothek, den täglichen Gang zum Barbier, Dinge, die den Alltag für beide angenehm machten. Da Weismanns Pension von den Nationalsozialisten nicht mehr ausgezahlt wurde, unterstützte ihr Sohn, Julias Bruder, die Familie; er war nach London emigriert und dort ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden. Michael Kerr erinnert sich an viele Klagen des Onkels, dass er als einzig Erfolgreicher der gesamten Familie seinen Verwandten deren relativ aufwendigen Lebensstil bezahlen musste, einschließlich so mancher Geliebten, die sein Vater sogar nach Hause brachte. Für Michael hatte man die weiterführende Schule, Lycée de Nice, gewählt. Er erinnert sich daran, wie peinlich es ihm war, wieder einmal mitten in ein Schuljahr hineinzukommen und so alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Aber: Niemand kannte ihn hier, und er galt einfach als ein Franzose, der von Paris nach Nizza gezogen war; ein Aspekt, der ihm ungemein wichtig war, ganz im Gegensatz zu Judith. In seiner Autobiografie reflektiert er, warum es für ihn so wesentlich war, nicht als Ausländer zu gelten: „Ich war entwurzelt und ein Flüchtling geworden, ein Wanderer, und ich wollte unbedingt dazugehören. Ich war kein Individualist oder Künstler wie meine Schwester. Ich fühlte instinktiv, dass mein Leben und meine Karriere ihren Weg in einer bodenständigen, praktischen Männergesellschaft würden finden müssen, in der – zumindest damals – Sicherheit und Akzeptanz davon abhingen, ein erkennbar konventionelles Mitglied der Gemeinschaft zu sein. Anders zu sein schien verheerend.“ (MK, Remember, 81) 112
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Wieder war es ihm gelungen, sich anzupassen, und er bezeichnet sein Leben als durchaus schön, mit guten Freunden und gemeinsamen Unternehmungen, zu denen auch schon Mädchen gehörten. Sie verbrachten Freizeit miteinander und machten Ausflüge und kurze Reisen in die mediterrane Gegend, und zu Hause entwickelte er sich unter der Obhut seiner Großeltern zu einem leidenschaftlichen Bridgespieler. Eine Vielzahl an Zeichnungen zeugt davon, dass auch Judith insgesamt mit ihrem Leben klarkam. In ihrer Autobiografie veröffentlicht sie das schöne farbige Bild einer älteren Dame, wie sie gerade an einem der typischen südfranzösischen Marktstände einkauft, mit der Bildunterschrift: „Il me faudrait au moins cinq chouffleurs [sic] comme ça pour mes petits-enfants!“ („Ich bräuchte mindestens fünf solcher Blumenkohlköpfe wie den hier für meine Enkel!“), und gegenüber eine Bleistiftzeichnung mit zwei Kindern, die die Treppe hochrennen, wo hinter einer Glastür die Omama wartet mit dem Ausruf: „Euer grässlicher Opapa hat mich wieder eingeschlossen!“ (JK, Geschöpfe, 16 u. 17). In den vielen Briefen – sie sind im Alfred-Kerr-Archiv in Berlin ab dem Jahr 1933 archiviert – an ihre Eltern versuchte Judith Kerr bewusst, einen glücklichen Eindruck zu machen, um diese nicht noch mehr zu belasten; intuitiv verstand sie viel für ihr Alter und fühlte, wie sehr auch ihre Eltern unter der angespannten Situation leiden mussten. Sie erzählte ihnen also über Theaterbesuche, berichtete viel aus dem Schulalltag, schrieb von ihrer deutschen Lektüre, listete all das auf, von dem sie glaubte, dass es ihnen gefallen würde. Zum Beispiel las sie Lessings Nathan der Weise und Schillers Der Neffe als Onkel. „Den Neffen habe ich aus. Er ist wahnsinnig komisch. Nathan gefällt mir auch großartig. Ich bin mittendrin!“. (AKA, JK an Eltern zwischen 1933–1936, 440) Daneben las sie englischsprachige Bücher, um die Sprache besser zu lernen und sich auf England vorzubereiten. Über eines ihrer englischen „school-girls-books“ schrieb sie belustigt: „Eben habe ich wieder eins aus, das 300 Seiten lang ist. Omama sagt, ich verschlänge Bücher. Und das stimmt auch. Was bleibt mir denn 113
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anderes übrig?“. (AKA, JK an Eltern zwischen 1933–1936, 440) Die Briefe, die auch ihre Wünsche und Sehnsüchte nennen, zeigen, dass sie in dieser Zeit den Schritt vom Kind zur Jugendlichen vollzog. Sie spielte in Theaterstücken mit, träumte von Filmrollen, schrieb zum Beispiel den Eltern: „Ich nehme aber auch was anderes [Gemeint ist hier eine andere Bühnenrolle, sie vermutet, für den Puck aus dem Sommernachtstraum zu klein zu sein. AvN] und vielleicht seht Ihr irgend einen Filmonkel und es lässt sich was machen.“ (AKA, JK an Eltern zwischen 1933–1936, 440) In einem seiner Briefe kommentierte Alfred Kerr die Ambitionen seiner Tochter mit einem Hauch von Ironie, er sah wohl ihre Stärken auf anderen Gebieten liegen. Aber ihre Interessen hatten sich deutlich erweitert. Doch glücklich war Judith Kerr nicht. Sie kam nicht sonderlich gut mit den Großeltern aus, vor allem nicht mit Omama. Michael vermutet in seinen Erinnerungen, sie würde beide zu sehr an ihren nicht wohl gelittenen Vater erinnern, während er selbst eher ihrer Tochter, also der Mutter, glich, ganz abgesehen von der Tatsache, dass Judith gut zwei Jahre jünger war und eine Mutter an ihrer Seite gebraucht hätte. Michael Kerr erinnert sich, dass sie unglücklich und nachdenklich wirkte, während er einigermaßen glücklich war und dem Augenblick lebte. Anschaulich erzählt er in seinen Erinnerungen, wie seine Eltern noch einige Wochen im Herbst 1935 in dem kümmerlichen Hotel in der Nähe des Gare du Nord in Paris festsaßen, ohne Geld, auf die Hilfe eines Hilfskomitees angewiesen, das erst nach einem lautstarken Krach von Alfred Kerr das Geld für die Überfahrt nach England zur Verfügung stellte. Wohl im November schifften sie endlich nach England ein, wo sie in einer kleinen Pension unterkamen. Alfred Kerr nahm sofort Kontakt auf zu Alexander Korda, einem ungarisch-britischen Filmproduzenten und Regisseur, der über viele Jahre eine der wichtigsten Gestalten des britischen Films war; zugleich trafen sie andere Freunde wieder, die ohne den Umweg über andere Länder direkt nach England emigriert waren, darunter das Ehepaar Plesch. Diese Familie Plesch 114
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Alexander Korda (1893–1956), ungarisch-britischer Filmproduzent und Filmregisseur – und Gönner Alfred Kerrs.
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sollte in den kommenden Jahren im Leben der Kerrs noch mehrmals eine wichtige, hilfreiche Rolle spielen. Was auch immer zwischen ihnen allen geschah, es endete damit, dass Korda das Kerr’sche Filmmanuskript für die fast unvorstellbare Summe von 1.000 Pfund kaufte – zum Vergleich: Michael Kerrs gesamtes erstes Halbjahr an einer Privatschule in England sollte 40 Pfund kosten. Michael Kerr berichtete, man habe dies als ein Märchen, ein Wunder empfunden und nie darüber gesprochen – vielleicht hatte er den Verdacht, dass es nicht wirklich ein Geschäft war, sondern dass Mitleid und versteckte Wohltätigkeit zu einem großen Teil mit im Spiel waren. Kurz vor Weihnachten 1935 erreichte die gute Nachricht auch die Kinder in Nizza: Der Familienzusammenführung im neuen Jahr stand nichts mehr im Wege. Kurz vorher hatte Judith an ihre Eltern geschrieben, sie könne sich kaum an den Gedanken gewöhnen, dass die Familie zu Weihnachten nicht zusammen sein sollte. Der rege Briefwechsel, der sich zwischen London und Nizza entfaltet hatte, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, wie schwer das Getrenntsein von beiden Seiten empfunden wurde. Das Weihnachtsfest und den Jahreswechsel 1935/36 erlebte die Familie in verschiedenen Ländern. Doch Anfang Januar reiste Julia Kerr nach Nizza, um alles für die erneute Übersiedlung zu regeln. Sie kam früh, völlig erschöpft, aber weitgehend neu ausstaffiert; sie wollte etwas länger bleiben, sich – auch auf Kosten des zahlenden Bruders – bei den Eltern erholen von den Strapazen und Entbehrungen der letzten Monate und Jahre, Kraft tanken für den nächsten Schritt, das neue Exil. Die Kinder gingen ganz normal weiter zur Schule, und wenn sie zu Hause waren, schwärmte Julia ihnen von England und seiner Kultur vor, pries die dortigen wundervollen Lyons Tea Shops und entwarf das Bild eines „gelobten Landes“. So spät wie möglich kam Alfred Kerr nachgereist, und natürlich wohnte er nicht im Haus der Schwiegereltern, sondern in einem klei116
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nen Hotel; allenfalls kam er einige wenige Male zum Essen. Zu groß war die gegenseitige Abneigung, und man sollte sich schließlich auch in Abneigung trennen – ein Riss, der nicht mehr zu heilen war, schreibt Michael in seinen Erinnerungen. Nun waren die Vorbereitungen zu treffen für den endgültigen Abschied von Frankreich. Michael fiel der Abschied von seinem Großvater schwer, den er als warmherzig und großzügig erlebt hatte; beide hatten sich gut miteinander verstanden. Judith hingegen hatte ein anderes Großvaterbild, hatte feinfühlig und mit gutem Gespür zum Beispiel bemerkt, dass Opapa in der Stadt nicht immer nur in die Bibliothek oder zum Friseur ging, sondern zu seiner Geliebten; erst später, als erwachsener Mann, sollte Michael verstehen, dass seine Schwester recht gehabt hatte. Fast auf den Tag genau waren bei ihrer Abreise im März 1936 drei Jahre vergangen, seitdem die Familie Berlin verlassen hatte.
In einem Land, das man nicht will „Der Zug kroch weiter durch die Dunkelheit, und Anna wurde schläfrig. Irgendwie kamen ihr die Umstände bekannt vor – ihre Müdigkeit, das Rattern der Eisenbahnräder und der Regen, der gegen die Scheiben klatschte. Es war alles schon einmal so gewesen, vor sehr langer Zeit.“ (JK, Kaninchen, 169) Auch das dritte Exil begann mit einer Bahnfahrt. Vorausgegangen war diesmal aber eine Schiffsreise, die Judith mit großer Begeisterung angetreten hatte. Aber die See war rau und 125 Kilometer lagen zwischen Dieppe, wo die Fähre in Frankreich ablegte, und Newhaven, wo sie in England ankam. Alle bis auf Alfred Kerr wurden seekrank. Der für das Schiff vorgesehene Anschlusszug nach London war bereits abgefahren, aber ein freundlicher Gepäckträger brachte sie zu einem 117
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Bummelzug, sodass sie wenigstens nirgendwo draußen ungeschützt warten mussten. Nach den Jahren bei den „lebendigen“ Franzosen erlebte Judith den Gegensatz zu den ersten Engländern, denen sie begegnete, als sehr groß. Die schwarzen, melonenförmigen Hüte, die sie bisher selten gesehen hatte, fielen ihr auf und dass die Engländer sehr aufrecht saßen und alle schweigend ihre Zeitung lasen. Gegenüber den lebhaften, gestenreichen Franzosen schienen ihr die Engländer ein stilles Volk zu sein. Ein Verwandter, im Buch „Vetter Otto“ genannt, holte sie ab und half ihnen, sich zurechtzufinden. Und wieder wunderte sich Judith: „Am Ende des Bahnsteigs gab es einen kleinen Aufenthalt, aber niemand stieß oder drängte, wie es in Frankreich und Deutschland üblich war. Jeder wartete, bis die Reihe an ihn kam.“ Aber noch mehr beeindruckte die unbekannte Fülle des Angebots: „Durch den Dunst hindurch leuchtete ein Obststand mit seinen Orangen, Äpfeln und gelben Bananen, und ein Ladenfenster war ganz mit Bonbons und Schokolade gefüllt. Die Engländer mussten sehr reich sein, wenn sie alle diese Dinge kaufen konnten.“ Einen Augenblick lang wusste sie nicht, wo sie war, zu oft hatte sie eine Ankunft an fremden Bahnhöfen erlebt; die Ereignisse überlagerten und vermischten sich, und der Vater bringt es im Roman auf den Punkt, als er ausspricht, wie schwer eine Kindheit sein muss, wenn man von Land zu Land zieht. „Sie erinnerte sich an die lange, mühselige Reise mit Mama von Berlin in die Schweiz, wie es geregnet hatte, und wie sie in Günthers Buch gelesen und sich eine schwere Kindheit gewünscht hatte, damit sie eines Tages berühmt werden konnte. Hatte ihr Wunsch sich erfüllt? Konnte man ihr Leben, seit sie von Deutschland weggegangen waren, wirklich als schwere Kindheit bezeichnen?“ Mit diesen letzten Augenblicken endet der Roman Als Hitler das rosa Kaninchen stahl. Ein Taxi fährt vor und die Familie steigt ein. 118
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„Anna drückte ihr Gesicht gegen die Scheibe, und das Taxi fuhr an“. (JK, Kaninchen, 171) Es sind nicht nur die letzten Worte des Romans, es ist auch das Ende von Judith Kerrs Kindheit. Von nun an sind die Informationen über ihr Leben nicht mehr so einfach zusammenzutragen. Michael Kerr wird mit seinen präzisen Erinnerungen für das Leben seiner Schwester als „Zeitzeuge“ weitgehend ausfallen, denn die Wege der beiden Kinder sollten sich in England bald trennen und sich nur noch – auch da immer seltener – in Ferienzeiten berühren. Ihren Fortsetzungsroman Warten bis der Frieden kommt, von Annemarie Böll übersetzt und im gleichen Jahr, 1975, erschienen wie das englische Original The Other Way Round, schrieb Judith Kerr vier Jahre nach dem großen Erfolg mit dem Rosa Kaninchen. Genau vier Jahre sind auch zwischen dem Ende des ersten und dem Anfang des zweiten Bandes der Trilogie vergangen. Es ist eine neue Anna, der der Leser begegnet, nunmehr siebzehn Jahre alt, bereits voll in England integriert und mit ganz anderen Problemen. Aber erst sind die vier fehlenden Jahre zu füllen, die den Weg dahin zeigen. Der Anfang war nicht so rosig, wie es scheinen mag; das empfanden vor allem Michael und Judith. Sie sahen ein, dass Frankreich ihrem Vater keine Möglichkeit der Arbeit bot und somit keine Zukunft sichern konnte, aber: „Ich glaube nicht, dass Judith und ich in London das gelobte Land sahen. Wir kannten den Enthusiasmus meiner Mutter und wussten, dass England immer ihr Zukunftsziel gewesen war. Aber für uns bedeutete es wieder das Unbekannte mit neuen Kämpfen, und wir gewöhnten uns gerade an Frankreich.“ (MK, Remember, 91) Dennoch wollten sie sich mutig den neuen Herausforderungen stellen, sich um eine positive Einstellung zum Land bemühen. Das wollte auch Alfred Kerr, der immer wieder versuchen sollte, Land und 119
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Leuten etwas abzugewinnen. Aber das Land seines Herzens war und blieb Frankreich, nicht nur der Sprache wegen. „Die Liebe für London beginnt meistens bissl spät“, schreibt er. Als er fast ein ganzes Jahr in England lebte, schrieb er am 4. Oktober 1936 aus Paris in einem Brief an seine Frau Julia: „Ich komme bald nach London … heim. Das letzte Wort gilt für Dich und Euch, nicht für die Stadt.“ London war nicht die Heimat, in der er Ruhe und Frieden finden sollte. Seine Erfahrungen mit England in den 1930er- und 1940er-Jahren hat Alfred Kerr zusammengefasst in der Schrift Ich kam nach England, um deren Veröffentlichung in Englisch oder Deutsch, in England oder den Vereinigten Staaten er sich zeit seines Lebens vergebens bemühte. Lakonisch fasste er sein Exil dort so zusammen: „November 1935: London. Seitdem (mit alljährlichen Unterbrechungen in Südfrankreich) bin ich hier. Ich kam nach England.“ (AK, GW V/VI, 421) Auch Michael erschien England zunächst nicht als das Land seiner Träume; für ihn war es ein gewisser Trost, dass sie Frankreich in dem Bewusstsein verließen, immer wieder als willkommene Gäste zu den Großeltern zurückkehren zu können. Zudem stellten die Fizaines in Aussicht, die Kerrs zusammen mit ihrer Tochter Michèle im Sommer des Jahres 1936 in England besuchen zu wollen; eine schöne Aussicht, war doch Michael Michèle recht verbunden, „ein bisschen wie Bruder und Schwester, aber doch anders.“ (MK, Remember, 92) Anders als im Roman seiner Schwester erinnert er sich an niemanden, der sie am Bahnhof in London abholte, während Judith (Anna) von Otto, einem Vetter des Vaters, erzählt. Michaels erster Eindruck des neuen Landes war nicht sehr positiv: „Meine erste deutliche Erinnerung an England war die Aussicht auf endlose hässliche Reihenhäuser, die lange vor London begannen. Das war etwas ganz anderes als in Berlin oder Zürich und sogar in Paris; solider, aber auch abstoßend.“ (MK, Remember, 92) Auch in London lag der Anfang nicht in einer eigenen Wohnung. Diesmal war es ein Schweizer Hotel, eher eine Pension, das Hotel Foyer Suisse im Bedford Way, nicht weit von der Underground Station 120
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Russell Square. Die ganze Seite der Straße sollte einige Jahre später bei den Bombenflügen der deutschen Luftwaffe zerstört werden. Aufgebaut wurde nach dem Krieg genau an dieser Stelle das UCL, University College London; heute beherbergt es unter anderem das Zentrum für Sprachen und Internationale Erziehung. Neu aufgebaut wurde dort auch das Charles Clore House, es beherbergte das Institut für Internationales und Vergleichendes Recht sowie das Institut für fortgeschrittene Rechtsstudien. Jahre später sollte Michael Kerr dort eine lange Zeit tätig sein. Die Pension bot der Familie eine langfristige Vermietung von drei Zimmern samt Halbpension, was Julia angesichts der ungeliebten Haus- und Küchenarbeit sicherlich sehr zusagte. Judith Kerr verbindet in ihren Erinnerungen mit dem Beginn in England in erster Linie Sprachschwierigkeiten. Während für Michael bereits in der Schule Englisch auf dem Stundenplan stand, hatte Judith, unterstützt von Omama in Nizza, lediglich versucht, die Sprache im Selbststudium zu erlernen, und mithilfe eines Wörterbuchs den Roman The Madcap of the Fifth Form von Angela Brazil gelesen, der als einer der ersten Romane dieses Genres Höhen und Tiefen im Leben von Schulmädchen zum Thema hatte. Es war ein bemerkenswerter Wortschatz, den Judith sich da erarbeitet hatte, er sollte später manches Mal für Verwunderung sorgen. Judith erinnert sich, dass sie es in der ersten Zeit in England sehr verwirrend fand, außerhalb der Familie überhaupt zu kommunizieren, und dass sie häufig alle drei Sprachen – Deutsch, Französisch und Englisch – in einem Satz unterbrachte. Da die Eltern durch den Verkauf der Filmrechte vorübergehend zu Geld gekommen waren, wurde sogleich ein Teil davon in die schulische Ausbildung des Sohnes gesteckt – eine Investition, die sich auszahlte, denn er sollte sich in allem, was er tat, hervortun, in Sport und Spiel und später im Beruf. Er wurde in seinem ersten Schuljahr sogar so gut, dass er ein Stipendium der Schule bekam und kein Schulgeld mehr bezahlen musste – ein Segen angesichts der Tatsache, dass zu dem Zeitpunkt 121
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das ganze Geld bereits wieder verbraucht war und die Eltern keinerlei Möglichkeit mehr sahen, ihn weiter finanziell zu unterstützen. Es blieb nicht das einzige Stipendium für Michael; es folgten ein umfangreiches Stipendium für Cambridge und ein weiteres für das Jurastudium, an dessen Ende die Berufung zum Richter am Berufungsgericht stehen sollte. Wieder musste Judith zurückstehen, und Michael scheint der Einzige zu sein, dem das auffiel; er schreibt, dass Judith wieder einmal als zweitrangig gesehen wurde. Wieder führten die beiden ein unterschiedliches Leben – und so sollte es auch weitgehend bleiben. Immer noch setzten die Eltern große Hoffnungen in das Filmmanuskript, das Alexander Korda gekauft hatte, aber allmählich begann sich Judith zu fragen, ob dieser wirklich jemals die Absicht gehabt hatte, es zu verfilmen, oder ob er als „milde Gabe“ mit einer Summe, die er sich aufgrund seines großen Erfolgs leisten konnte, einfach helfen wollte. Aus dem Film wurde jedenfalls nie etwas, doch hat der Kauf vermutlich das Überleben der Familie Kerr gesichert, allein weil er sie aus Frankreich nach England brachte. Spätestens 1940 hätte sie das Schicksal in Form der in Frankreich einmarschierenden Deutschen ereilt. Wirtschaftlich ging es den Kerrs in London bald nicht viel besser als in Frankreich. Das Geld war knapp, und da der Vater die englische Sprache nur rudimentär beherrschte, war kaum an Publikationen im Land zu denken; in Frankreich hatte er mühelos und nuanciert schreiben und all das ausdrücken können, was er zu sagen hatte. Im Sommer 1936 kam es dennoch zu einem Ferienaufenthalt an der See, schließlich hatte man mit den Fizaines ein Treffen verabredet, vordergründig zur Verbesserung der englischen Sprache bei der Tochter Michèle. Die Wahl fiel auf Deal, einen unattraktiven, langweiligen Ferienort nördlich von Dover. Michael erinnert sich. „Es gab keine Cafés oder Bars, und niemand trank Kaffee, der praktisch auch nicht zu bekommen war, ebenso wie Wein, ganz abgesehen vom Preis. Es gab Fleisch und zweierlei Gemüse mit Soße, Würstchen und Kartoffelbrei, Fisch und Chips oder Bohnen auf Toast und Bier, Limonade oder Tee als Getränk.“ 122
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(MK, Remember, 100) Der Aufenthalt zog sich unangenehm in die Länge, den Fizaines gefiel England offensichtlich nur wenig, auch wenn sie gute Miene zum Spiel machten. Das in Frankreich so gute Verhältnis der beiden Jugendlichen zueinander hatte sich ebenfalls abgekühlt. Alles, was Michèle kritisierte und nicht mochte, verteidigte Michael, der bereits deutlicher auf dem Weg war, sich englisch fühlen, als ihm selbst bis dahin bewusst gewesen sein mag. Trotz einiger „emotionaler Verwicklungen“, wie Michael es in seinen Erinnerungen nennt, wären sie beide einfach unvereinbar gewesen. Es wurde ein kurzer Besuch der Familie Fizaine, und man trennte sich auf beiden Seiten mit einiger Erleichterung. Da das Leben in dem tristen Ort nicht so teuer wie in London war, blieben die Kerrs noch eine ganze Zeitlang dort; in jedem Fall war es an der See besser als in der heißen Großstadt im Sommer. Auch ihrem Leben in den ersten vier Jahren in England widmet Judith Kerr in ihrer Autobiografie nicht einmal eine Seite, und wenn man diese Zeilen aufmerksam liest, lässt sich herauslesen, warum. Es kann keine glückliche Zeit für sie gewesen sein. Während für Michaels Schulausbildung keine Kosten gescheut wurden, gab es für Judith zunächst gar keine Schule; stattdessen wanderte sie jeden Tag zu einem Haus am Campden Hill Square, in dem eine amerikanische Familie mit zwei Töchtern wohnte, die zu Hause unterrichtet wurden, und Judith durfte am Unterricht teilnehmen. Sie fand diese Art, eine Sprache zu lernen, sehr entspannt, und dementsprechend war sie auch erfolgreich. Die Mädchen und sie wurden gute Freundinnen, und in ihrer Autobiografie erinnert sie sich nach mehr als 80 Jahren voller Dankbarkeit daran, wie unendlich gut die Eltern der beiden Mädchen zu ihr gewesen waren. Die Familie sollte sich bald als besonderer Glücksfall erweisen, denn schon im Folgejahr 1937 war das Geld, das Korda gezahlt hatte, aufgebraucht, die Eltern konnten nicht mehr das schäbige Hotelzimmer für Judith bezahlen. Da bot die (namenlos bleibende) Familie an, dass Judith bei ihnen auch wohnen konnte. Sie blieb dort, bis der Krieg bedrohlich näher rückte und die Amerikaner von ihrer 123
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Regierung angewiesen wurden, England zu verlassen und in die USA zurückzukehren. Im Sommer 1937 waren die 1.000 £ also verbraucht und wieder stand die ohnehin zerbrechliche Existenz der Familie auf dem Spiel. Eine neue Familie wurde gefunden, Bekannte des Ehepaares Plesch, und sie boten ihr bezauberndes Haus in Sussex für die Sommerferien des Jahres 1937 an. Während Alfred Kerr – vermutlich mit Unterstützung von Janos Plesch – zwei Monate in das Land seines Herzens, nach Frankreich, reisen durfte, wurden Julia, Michael und Judith Kerr Gäste der ihnen bis dahin unbekannten Gladys Gardner. Um den Sommeraufenthalt bei ihnen nicht vollends als Almosen erscheinen zu lassen, wurde vereinbart, dass Julia der 15-jährigen Tochter der Gardners, Melissa, Deutschunterricht geben würde. Michael Kerr erinnert sich vor allem an den hauseigenen Tennisplatz, auf dem er endlos mit den Frauen zu spielen pflegte. Im Herbst des Jahres war klar, dass man sich im Hotel Foyer Suisse nicht länger würde mehrere Zimmer leisten können; Alfred Kerr blieb allein dort wohnen, versuchte weiterhin unermüdlich Artikel zu schreiben und zu verkaufen. Niemand wusste, dass er damals das Tagebuch führte, das erst mehr als dreißig Jahre nach seinem Tod erschien. Michael Kerr philosophiert in seinen Erinnerungen über die Einsamkeit, die der Vater in seiner Erfolglosigkeit empfunden haben muss, zumal bereits zwei Jahre zuvor, als er und die Seinen noch in Paris lebten, seine innig geliebte Schwester, Annchen, mit ihrer Tochter Käthe nach Israel ausgewandert war. Er hatte gewusst, dass er sie nie wiedersehen würde. Während dieser Zeit lebten Julia und Judith Kerr einige Zeit wieder in Nizza bei den Eltern Julias. Weder in Judith Kerrs Autobiografie noch in ihrem Roman finden der Sommer in Sussex und die Monate in Nizza bei den Großeltern Erwähnung. Es muss eine freudlose Zeit gewesen sein, denn Michael Kerr zitiert in seinen Erinnerungen einen endlosen Brief, den Julia an Alfred Kerr schrieb, mit konkreten Überlegungen zu einem gemeinsamen Selbstmord. Sie 124
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verdiente mit einer Reihe von Anstellungen als Privatsekretärin und anderen Arbeiten den Unterhalt der Familie fast ganz allein und fühlte sich letztlich doch in der Verantwortung, vor allem für Judith. Während der ganzen Zeit führte das Ehepaar ein sehr zurückgezogenes, isoliertes Leben, ohne Freunde und Bekannte im Umkreis, die ihnen hätten helfen können, mit der Einsamkeit fertig zu werden. Michael Kerr beschreibt einfühlsam und zugleich betroffen, wie man sie manchmal Arm in Arm spazieren gehen sah, traurig und verloren und zugleich unnahbar, was ihre Einsamkeit noch verstärkt haben muss. Das Weihnachtsfest 1937 verbrachten alle vier Kerrs gemeinsam in Nizza. Im Januar 1938 kehrte die Familie nach London zurück, aber das Hotelzimmer für Julia konnte man nicht mehr bezahlen. Einige „freundliche Damen“, darunter Frau Plesch und die oben erwähnte Gladys Gardner, brachten für Judith das Schulgeld auf, damit sie auf eine Internatsschule, Hayes Court, gehen konnte, „ein schickes und ziemlich versnobtes Mädcheninternat.“ (JK, Geschöpfe, 22) Es wurde aber auch dort nicht ihre glücklichste Zeit, obwohl sie unter Menschen kam, zumal ihr die Mutter immer wieder vor Augen führte, wie erfolgreich Michael an seiner Schule war und welch große Erwartungen man auch in sie, Judith, setze; zum Beispiel hoffte sie, die Tochter könnte eine berühmte Filmschauspielerin werden und damit alle finanziellen Sorgen der Familie ein für alle Mal beenden – ein ehrgeiziger Plan, der Judith Kerr in keiner Weise interessierte, denn mittlerweile wurde immer deutlicher, dass ihre einzigen Interessen auf dem Gebiet von Zeichnen und Malen lagen. Im Gegensatz zu ihrem Bruder war Judith kein As in Sport, was ihr die generelle Anerkennung in England schon erschwerte. Dazu kam, wie schon Jahre zuvor in Frankreich, ihre billige und keineswegs modische Kleidung, und dass sie aufgrund der amerikanischen Familie nun ein amerikanisches Englisch sprach, begleitet von französischem Gestikulieren, kam auch nicht sonderlich gut bei den Klassenkameradinnen an. Es dauerte lange, bis sie eine Freundschaft schließen konnte, nämlich mit 125
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Lavinia Thorpe; deren Familie legte auch ein angemessen liebe- und verständnisvolles Verhalten an den Tag, zum Beispiel wenn es um Einladungen und Geld ging. Zusammen mit Lavinia gab Judith auch eine Zeitlang ein „schreckliches, rebellisches Magazin“ heraus; leider erfährt man nicht mehr dazu. 1938 war das Jahr des „Anschlusses“ von Österreich. Von nun an galt Österreich als Land Österreich völkerrechtlich als Teil des Deutschen Reiches. Michael Kerr erinnert sich, dass trotz der aktuellen politischen Tatsachen, die Änderungen im schulischen Ablauf und sportlichen Drill forderten, Gerüchte über einen bevorstehenden Krieg ganz abseits ihres Lebens lagen. Vielmehr richteten sich seine Gedanken nun auf das, was nach der Schule kommen sollte. Er hatte keine besonderen Vorlieben, aber viele Abneigungen, was schließlich auf ein einziges Studienfach hinauslief: Jura. Kurz vor dem Ausbruch des Krieges, mit sechzehn, beendete Judith ihre Schulzeit erfolgreich, aber sie erinnert sich, dass sie die Einzige blieb, die keine Tränen aus Sentimentalität über das Ende der Schulzeit vergoss, als am Tag der Verleihung des Zeugnisses „Jerusalem“ gesungen wurde, jene inoffizielle Nationalhymne Englands, die bei offiziellen Anlässen in Kirchen und Schulen oder bei sportlichen Ereignissen immer noch mit emotionaler Inbrunst gesungen wird, wie zum Beispiel 2011 bei der Hochzeit von Thronfolger William und Kate. Mit einer gewissen Genugtuung erlebte sie nach dem Krieg die spätere Umwandlung des ehemaligen Schulgebäudes in den Hauptgeschäftssitz der Communist Electric Union. Aber erst lagen noch lange Sommerferien vor ihnen, die sie wieder in Nizza bei den Großeltern, den Weismanns, verbrachten. Mitte August 1939, als sie erst drei Wochen in Nizza waren, wurde die Kriegsgefahr mit den Händen greifbar. Täglich ging man in die Bibliothek und informierte sich in den ausliegenden englischen Zeitungen über die aktuelle Lage. Schließlich hielt es Michael Kerr nicht mehr aus und verkündete seine beabsichtigte Rückkehr nach England – eine Tatsa126
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che, die den größten Familienstreit auslöste, an den er sich erinnert. Aber zu stark war seine Angst, im Falle eines Kriegsausbruchs nicht mehr nach England zurückzukommen, das Land, das mittlerweile für ihn Heimat geworden war und in dem er seine Zukunft sah. Aber das Bahnticket war für die ganze Familie gemeinsam ausgestellt, und es bedeutete, dass entweder alle oder niemand fahren konnte. Eine vorzeitige Abreise hieß, in England für einen Monat mehr Unterkunft und Essen bezahlen zu müssen, und es dauerte lange, ehe die Eltern nachgaben, aber schließlich einigte man sich darauf, in England noch einige Zeit bei den Pleschs in The Pavilion zu verbringen. Die Stimmung blieb angespannt, in der Familie, im ganzen Land. Es wäre fast eine Erleichterung gewesen, schreibt Michael Kerr, als Chamberlain am 3. September um 11 Uhr den Ausbruch des Krieges verkündete – ein denkwürdiger Tag in der Weltgeschichte. Am 3. September 1939 erklärten sowohl Großbritannien als auch Frankreich dem Deutschen Reich den Krieg. Unter der Überschrift „Dank an England“ schreibt Alfred Kerr in seinem Tagebuch: „Endlich! Also Krieg. Dass man ein Unglück herbeiwünschen kann – weil ein anderes Unglück noch grausiger wäre! […] Mittlerweile geht England an die Arbeit. Für die grosse Menschheitsschlacht. Für die Rettung. Als ich nach England kam, hielt ich die Weltrettung durch dieses Land für denkbar – und liess das drucken, 1935. Dann war Chamberlain zu überklimmen, mit allen schweren [Angstträumen], mit dem Glauben an England. [heute weiß ich dennoch: ich habe nicht] geirrt. Zu dieser Insel fliegt ein Dank, für den es Worte nicht gibt.“ (AK, England, 197 f.) Es war auch „the final end of Nice“, das endgültige Ende der Nizza-Besuche, wie Michael Kerr sein Kapitel nennt. Die Kinder sollten ihre Großeltern nicht wiedersehen. Das Ehepaar Weismann blieb in Nizza, auch als die Deutschen Paris und den Norden Frankreichs besetzten, 127
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sie blieben, als die Italiener die Côte d’Azur besetzten und Nizza wieder für sich beanspruchten. Aber als die Deutschen ihren Feldzug nach Südfrankreich fortsetzten, folgten die Weismanns ihrem Sohn, der sie schon die ganzen Jahre finanziell über Wasser gehalten hatte und mittlerweile selbst in die USA emigriert war, in die Vereinigten Staaten, beide da schon Mitte siebzig. Robert Weismann sollte die Reise nur wenige Monate überleben; für seine Frau Gertrud begann nach seinem Tod eine Art neues Leben, nach dem Krieg wieder in Deutschland, wo sie mit der mittlerweile gezahlten großzügigen Pension ihres Mannes noch zwölf Jahre lebte und wieder einen hohen Beamten heiratete.
Die Angst vor den Verfolgern Für Judith ging das Leben in London indessen erst einmal relativ normal weiter. Von der Kriegserklärung am 3. September 1939 bis etwa Mai 1940 machte sich der Krieg in England kaum bemerkbar, jedenfalls nicht als konkrete, physische Bedrohung; man las darüber in der Zeitung, hörte davon im Rundfunk, und die Angst ging nur latent um. Während der vier vergangenen Jahre hatte Judith Kerr das Zeichnen beibehalten; zwei Federzeichnungen aus dem Jahr 1937 von turnenden Kindern sind in ihrer Autobiografie abgebildet, beide in Schwarzweiß und ganz schlicht – nicht, wie sie betont, aus künstlerisch-ästhetischen Gründen, vielmehr weil die Enge des kleinen Hotelzimmers, das sie sich bald jahrelang auch noch mit der Mutter teilen musste, keinen kreativeren Umgang mit Farben erlaubte. Am London Polytechnic, aus dem 1992 die University of Winchester hervorging, belegte sie Anfang 1940 einen Grundlagenkurs in Kunst, mit Schwerpunkt auf Design und einfachen Techniken, und zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie wenig Wissen sie hatte und wie wenig sie eigentlich konnte; das empfand sie zwar als ernüchternd, aber es spornte sie an. 128
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An diesem Punkt setzt der zweite Band von Judith Kerrs Hitler-Trilogie ein, Warten bis der Frieden kommt, und wieder lassen sich – erzählerisch bearbeitete – Details zum Leben Judiths (Annas) herauslesen. Im Roman lebt sie – eine etwas abgewandelte Wirklichkeit – noch in einem Zimmer bei der liebenswerten Amerikanerin Mrs Bartholomew, und die erkundigt sich gleich zu Anfang, wie es denn nun im Kunstkurs bei ihr gelaufen sei. Es handelte sich um die Anfängerkurse, und eine der ersten Aufgaben war das gegenseitige Porträtieren; das machte Anna Spaß. Der Lehrer, so heißt es, hatte Annas Zeichnung betrachtet und ihr gesagt, sie sei wirklich begabt, und die Erinnerung daran machte es warm in ihrem Herzen. Im Roman ist sie an diesem Sonntag – sonntags besucht sie immer die Eltern zu Hause – gerade auf dem Weg zu ihnen, ihr Blick fällt auf die auf dem Bürgersteig ausgelegten Sonntagszeitungen. „Es war der 4. März 1940. Genau sieben Jahre war es her, seit sie Berlin verlassen hatte und zum Flüchtling geworden war. Irgendwie kam ihr das bedeutungsvoll vor. Hier stand sie, am Jahrestag ihrer Flucht, ohne einen Pfennig, aber über alle Widerstände triumphierend.“ (JK, Frieden, 183) Aber bald gab es ein neues Problem, zunächst persönlicher Art: wie immer das fehlende Geld. Auch wenn Alfred Kerr während seines gesamten Exils überall ein eigenes Arbeitszimmer zur Verfügung gestanden hatte, so war das, was bei seinem Schreiben finanziell herauskam, allenfalls verschwindend gering, wenn denn überhaupt etwas von ihm zum Druck angenommen und dann auch noch bezahlt wurde. Nach einem Semester am London Polytechnic war kein Geld mehr da für eine weitere Ausbildung Judiths, und wie es im Hotel mit der Miete fürs Wohnen und Essen weitergehen sollte, war auch unklar. Judith wusste: Sie brauchte Arbeit. Laut Roman hat Judith – nachdem sie endlich ihre Eltern von der Notwendigkeit einer Stelle überzeugt hatte – bei einer Hilfsorganisation für jüdische Flüchtlinge um die Übernahme der Kosten für einen Sekretärinnenkurs gebeten. Es sind eindrückliche Szenen, die sie hier über fast sechs Seiten (190–195) hinweg schildert, 129
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die sicher auf eigenen Erfahrungen beruhen und von den vielen, als Demütigung empfundenen, vergeblichen Bittgängen zeugen. Im Gegensatz zu Paris, wo sie sich zu Hause gefühlt hatte, empfand sie sich hier als unwillkommener Flüchtling. Während Judith sich noch über die schließlich errungene Zusage freute, passierten in der Welt dramatische Dinge. Im März 1940 plante Hitler, dass deutsche Truppen Dänemark besetzen und von dort aus den Feldzug gegen Norwegen starten sollten. Die Umsetzung des Plans begann am 9. April. Dänemark verhinderte großes Blutvergießen und ergab sich kampflos: Der damalige König Christian X. kapitulierte bereits am folgenden Tag, dem 10. April, und Norwegen konnte zeitgleich von mehreren Stellen aus angegriffen werden. Niemand hatte mit dieser Rasanz gerechnet, sodass auch die Engländer nicht rechtzeitig Maßnahmen ergriffen, um wie geplant Norwegen zu unterstützen. Noch während die deutschen Truppen mit erheblichen Verlusten in Norwegen landeten, begann am 10. Mai im Westen des kontinentalen Europas eine weitere Offensive. Dabei wurde die Souveränität der beiden neutralen Staaten Belgien und Niederlande ohne Rücksicht auf das Völkerrecht verletzt. Der Kampf der Norweger gegen die deutsche Invasion dauerte zwei Monate; am 10. Juni 1940 mussten sie kapitulieren. Nur vier Tage später, am 14. Juni, nahmen die Truppen der deutschen Wehrmacht Paris ein. Am gleichen Tag wurde Judith Kerr siebzehn Jahre alt. Auf einem Bogen Briefpapier des Hotel Foyer Suisse, in dem sie wohnten, schrieb sie ein Gedicht auf Französisch über den Fall von Paris; ihr Vater muss es aufgehoben haben, unter der letzten Zeile steht in seiner Handschrift „Puppi“. Das Gedicht endet mit den Zeilen (Foto in JK, Creatures, 23): J’ai dix-sept ans aujourd’hui. Mais ce jour de ma naissance est le jour de la mort de Paris. Est-ce la mort, aussi, de la France? 130
Die Angst vor den Verfolgern
Einmarsch deutscher Truppen in Paris am 14.6.1940. Champs Elysees vor dem Arc de Triomphe.
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[Ich werde heute siebzehn Jahre alt. Aber dieser Tag meiner Geburt ist der Todestag von Paris. Ist es auch der Tod von Frankreich?] Die Kriegslage in Europa wurde nun auch für England immer kritischer, die Invasion stand kurz bevor; als die Deutschen schließlich in Belgien und in die Niederlande einfielen, spitzte sich die Lage zu, und Michael wurde – wie alle Ausländer – in einem Lager auf der Isle of Man interniert, 14 Tage vor seinem höchst erfolgversprechenden juristischen Examen, das ihm die Tür zu einer glanzvollen Karriere in England hatte öffnen sollen. „Die Fahrt auf einem Internierungsschiff von Liverpool zur Isle of Man an dem Tag, an dem Hitler in Paris tanzte und Frankreich kapitulierte, war wie in einem Vakuum zu leben. Ich wusste, dass ich lebte und mich vollkommen wohl fühlte. Und ich wusste, dass meine Eltern und Judith in London waren und dass ich viele Freunde hatte, die auch auf dem Schiff und in der gleichen Lage waren. Also fühlte ich mich nicht alleine. Aber ich fühlte, dass ich nirgendwo war, in einer Leere.“ (MK, Remember, 133) Der Roman Warten bis der Frieden kommt schildert eindrücklich die sich überschlagenden Ereignisse sowie die Versuche der Eltern und des alten Schulleiters, all ihre Beziehungen spielen zu lassen, um den Sohn aus dem Lager freizubekommen. Es war schwierig, weil Michael zwar keine deutsche Staatsangehörigkeit mehr hatte, aber in England noch nicht „naturalisiert“, also eingebürgert war. Schließlich kam er frei und wurde nach einer weiteren aufregenden Zeit sogar als Angehöriger eines Fliegergeschwaders – bald gegen die Deutschen – in der englischen Armee aufgenommen. 132
Die Angst vor den Verfolgern
Der Bruder in Haft, die Eltern mit Tabletten für den Freitod in der Tasche – es gab Wichtigeres im Leben von Judith Kerr, als ihren Zeichenunterricht fortzusetzen. Auch wegen der Wohnbedingungen war kein bisschen daran zu denken. Direkt unter dem Dach hatte sie eine winzige Kammer. Auch für die Hotels war die Lage nicht einfach, sie waren schnell überfüllt. In ihrem Roman gibt sie ein anschauliches Bild, wie es mit den vielen Flüchtlingen aus den verschiedenen Ländern, die Hitler überrannt hatte, war: „Sie versammelten sich alle im Foyer, wo ein Radio stand, um die Neun-Uhr-Nachrichten zu hören. Es war die Zeit, die später als die Luftschlacht um England bekannt wurde, und man wartete gespannt auf die Zahlen – so viele unserer Flugzeuge abgeschossen, so viele der ihrigen. Ich erinnere mich an die Nacht, als man von hundertzweiundachtzig abgeschossenen deutschen Flugzeugen sprach. Die Zahl wurde nachher richtiggestellt, aber auch so wusste damals jeder, dass es der Durchbruch war. Es war unvorstellbar. Zum ersten Mal dachte man, dass man vielleicht ... vielleicht am Ende doch all das überleben würde.“ (JK, Geschöpfe, 25) Dann kam unvermittelt der Angriff aus der Luft, der Krieg, der unter dem Namen „The Blitz“ in die Geschichte eingehen sollte – „Blitz“ nicht, weil der Krieg so plötzlich und schnell kam, sondern weil die Bomber an das Lichterschauspiel eines Gewitters am Himmel erinnerten – und mit ihm kamen deutsche Bomber über London. Nicht mehr als vier Zeilen gesteht Judith Kerr diesen entsetzlichen Wochen in ihrer Autobiografie zu, fasst darin zusammen, wie sie die Nächte im Keller zubrachten und oft große Angst hatten, und wie sie schließlich wie so viele andere ausgebombt wurden. Erst als das Wetter zu schlecht für die Bombenflieger wurde, habe es Hoffnung gegeben, dass die Invasion nicht stattfinden würde. Ganz anders in ihrem Roman Warten, bis der Frieden kommt, in dem Judith Kerr das 133
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Kriegsnächte während des „Blitz“, zwischen Juli 1940 und Mai 1941: Londoner Untergrundstationen als nächtliche Luftschutzbunker.
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gesamte Kapitel 9 mit elf Seiten den Fliegerangriffen widmet. Da wird das Leben der Menschen im Hotel beschrieben, wie sie die Nächte auf dem blanken Fußboden in der großen Halle unten verbringen; lebhafte Schilderungen, die den Leser das Pfeifen der Bomben, das Knallen der Fliegerabwehrgeschosse, die Trillerpfeifen des Luftschutzwarts hören, den Staub der einstürzenden Decken riechen und schmecken, die Splitter der berstenden Glasscheiben auf der Haut fühlen lassen. Tagsüber gingen die Menschen ihrer Arbeit nach; diejenigen, die ausgebombt waren, verbrachten ihre Nächte in den als Schutzraum hergerichteten U-Bahn-Schächten, da es in London kaum angemessene Luftschutzbunker gab. Trotz des nächtlichen Dunkels war die Stadt von den Bränden oft hell erleuchtet. Im Roman steht Anna mit ihrem Vater am Fenster und schaut mit ihm in diese erhellte Nacht hinaus. „‚Vielleicht ist dies der Untergang der zivilisierten Welt‘, sagte Papa, ‚man muss aber zugeben, es ist sehr schön.‘“ (JK, Frieden, 257) Es sind diese dunklen Monate, in denen Judith sich veränderte, zur Engländerin wurde. „Jetzt nahm ich zum ersten Mal die Geduld und den Humor der einfachen Leute wahr, wenn sie nach schrecklichen schlaflosen Nächten Mühe hatten, sich durch die zerstörten Straßen zu kämpfen. Und ihre Toleranz: Obwohl meine Eltern beide mit unverkennbar deutschem Akzent sprachen, sagte niemals jemand etwas Gemeines zu ihnen. Und ihre Freundlichkeit.“ (JK, Geschöpfe, 25) Als der „Blitz“-Krieg mit seiner Zermürbungsstrategie seinen Höhepunkt erreichte, hieß es für Judith, London zu verlassen; zu groß war die Gefahr zu bleiben. Michael Kerr erinnert sich, wie unglaublich grauenvoll London aussah, die Luftschutzkeller voll, sodass Tausende Menschen, die keine andere Möglichkeit hatten, in U-Bahnstationen schliefen, von wo aus sie dann auch zur Arbeit gehen mussten. Die 135
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inständigen Bitten der Eltern und das Versprechen eines Polizisten, ein Auge auf die beiden zu haben und die Tochter gegebenenfalls zu benachrichtigen, sollte etwas geschehen, ließen Judith Kerr schließlich nachgeben und der nächtlichen Hölle Londons entfliehen. Den Tagen bei einem befreundeten Professor außerhalb der Stadt und dem merkwürdigen Leben in seinem Haushalt ist im Roman das ganze Kapitel 10 gewidmet. Von besonderem Interesse ist hier eine Szene, die aus der aufgeregten, düsteren Zeit herausfällt. Anna hat eine ruhige Nacht hinter sich und tritt allein vor das Haus in den verwilderten Garten; auf einer Wiese entdeckt sie einen Bach und blickt in das leuchtend grüne Wasser. Als für einen Moment die Sonne aufscheint, erkennt sie einen Fisch regungslos über dem sandigen Grund. „Sie konnte jede einzelne der glänzenden Schuppen erkennen, die sich um den plumpen Körper legten, die runden, erstaunten Augen, den fein geformten Schwanz und die Rückenflossen. Der Fisch hielt sich gegen die Strömung und schimmerte manchmal blau, manchmal silbern …“ – ein Erlebnis, das etwas in ihr auslöst: „Wenn man das malen könnte, dachte sie. Der Wind fuhr durch ihr Haar und durch das Gras, und in einem plötzlichen Glücksgefühl dachte sie: Die Giraffen möchte ich malen und die Tiger und die Bäume und Menschen und die ganze Schönheit der Welt.“ (JK, Frieden, 268) Judith Kerr kehrte zu ihren Eltern nach London zurück. In einer Nacht des gewaltigsten Angriffs wurden sie ausgebombt. Immer weiß sie das lauernde Grauen durch sichtbare Details eindrucksvoll zu beschreiben: Glassplitter, schief in den Angeln hängende Türen, zerfetzte Holzreste und Steintrümmer auf den Straßen, Lücken in den Häuserreihen. Es sind die Details, die ihre Texte lesenswert und anschaulich machen. „Man konnte in den Rest des Hauses hineinsehen. Ein Zimmer hatte eine grüne Tapete gehabt, und das Bad war gelb gestrichen gewesen. Man sah noch, dass es sich um ein Bad handelte, obwohl der größere Teil des Fußbodens eingebrochen war. Das 136
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Stück, auf dem die Badewanne stand, hielt noch an der Wand, sodass es aussah, als schwebe die Wanne in der Luft. Über der Wanne befand sich noch ein Haken mit einem Waschlappen daran, und auf dem Bord stand ein Zahnputzbecher in Form einer Mickymaus.“ (JK, Frieden, 252) Das Haus war nicht mehr sicher; wieder war die Frage, wohin, und wieder war es der „allmächtige Herr Plesch“, der eine Lösung fand. Unter seinen Patienten war ein Maharadscha aus Pakistan, der nun nach Indien zurückgehen wollte und ein Haus in Putney, einem Außenbezirk im südwestlichen London, besaß, mit vielleicht zwanzig Schlafzimmern; er wollte das Haus nur zu gern verkaufen oder vermieten. Und so verließen die Kerrs das Zentrum Londons und zogen nach Putney. Der Distrikt war für die deutschen Bombenflieger nicht so interessant wie die zentralen Gebiete der Stadt. Es war zugleich die Zeit, in der Michael Kerr seine ersten Erfahrungen in der Royal Air Force machte. In dieser Zeit bemühte sich Judith, eine Stelle zu finden. Ihren seinerzeit bewilligten Sekretärinnenkurs hatte sie erfolgreich abgeschlossen, sie sprach drei Sprachen fließend und erhoffte sich eine Anstellung in einem der Ministerien. Aber wie viele Adressen und Tipps sie auch bekam, ihre Geburt als Deutsche verhinderte jede Anstellung bei staatlichen und militärischen Einrichtungen; sie alle waren gebürtigen Engländern vorbehalten. Schließlich fand sie doch etwas: Sie wurde Sekretärin einer liebenswürdigen Dame, The Honorable Mrs Gamage, Oberst im britischen Roten Kreuz, mit diversen Büros in einem ausgebombten Kinderkrankenhaus. Es war eine der Organisationen, die mit lächerlich geringen Mitteln und unendlicher Arbeit versuchten, Soldaten in ihrem elenden Leben zu unterstützen: Sie produzierten und verteilten Kleidung; geschenkte Wollreste wurden verschickt an Frauen, die Socken und Pullover strickten und ihnen zurücksandten; die Organisation war dann für das Zuteilen und Versenden der Dinge 137
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an Soldaten zuständig, die sie dringend benötigten. Andere nähten Schlafanzüge und Bandagen für Krankenhäuser, sortierten Kleidung von Toten, die die Angehörigen an das Rote Kreuz schickten, und verteilten sie – alle weitgehend ehrenamtliche Helfer, die gegen Bovril, eine aus Paste und heißem Wasser hergestellte Bouillon, zu Mittag und Tee und Kekse am Nachmittag arbeiteten. Judith Kerr übernahm die Koordination; keine verantwortungsvolle oder auch nur im entferntesten herausfordernde Tätigkeit, also nicht gerade das, was sie sich vorgestellt hatte, aber sie verdiente Geld. Und zum ersten Mal in ihrem Leben konnte sie zu ihrem Lebensunterhalt beitragen, ihr Hotelzimmer bezahlen. Die Zukunft sah nicht länger ganz so schwarz aus. Finanzielle Sorgen waren Teil des täglichen Lebens bei den Kerrs geblieben, so hoffnungsvoll auch der Anfang gewesen war. Mit der Emigration nach England hatte Alfred Kerr seine Sprache verloren. Auch wenn er anfangs noch aus London das eine oder andere für das Pariser Tageblatt hatte schreiben können, war dem spätestens durch den Fall Frankreichs ein Ende gesetzt. „Er belagerte den BBC World Service, um für sie zu schreiben und nach Deutschland auszustrahlen. Aber dies wurde nie erlaubt. Er war nicht beliebt bei der kleinen Clique von Flüchtlingen, die diese Seite des Rundfunks betrieben. Ihre offizielle Entschuldigung war, dass er zu bekannt, zu unnachgiebig in seinen Ansichten sei und dass er die Zuhörer in Deutschland befremden würde. Er schrieb wirklich ziemlich viel, aber es wurde nie unter seinem Namen gesendet, und es war nicht genug, um mehr als einen Hungerlohn zu verdienen.“ (MK, Remember, 163) Die Freunde, die Judith Ende der 1930er-Jahre den Besuch der englischen Internatsschule ermöglicht hatten, hatten auch Julia Kerr, der Mutter, mit einer Stelle als Privatsekretärin bei einer sehr reichen englischen Lady helfen können, sodass sie die nötigsten anfallenden 138
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Kosten für die Familie hatte übernehmen können. Als aber diese Stelle zu Ende ging, musste sich Julia mehr und mehr mit mühsamen Sekretariatsarbeiten herumschlagen, die ihr nicht gefielen und die sie auch nicht sonderlich gut erledigen konnte; an all ihren Problemen und Schwierigkeiten hat sie wohl ihre Familie lautstark und ausgiebig klagend teilhaben lassen. In den Erinnerungen an diese speziellen ersten Jahre in England zeigt Judith Kerr in ihrer Autobiografie fast etwas wie ein schlechtes Gewissen. Sie schreibt, wie ihr die Mutter leidgetan habe, weil sie mit solch ungeliebter Arbeit für die Familie hatte aufkommen müssen, während ihr Vater inaktiv blieb und „beautiful words“, schöne Worte, schrieb. Vielleicht hat das damals auch Julia so gesehen: der Mann zu Hause und seinem Hobby, dem Schreiben, frönend, ohne dass etwas dabei herausgekommen wäre. Erst 35 Jahre später, 1973, als Judith Kerr an ihrem Roman Warten bis der Frieden kommt saß, habe sich gezeigt, wie falsch diese Sichtweise gewesen sei. Unverdrossen hat Alfred Kerr in all den Jahren geschrieben, was er schreiben musste, kritisiert, mit Worten gekämpft, politisch gesellschaftliche Themen abgehandelt und erbarmungslos Stellung bezogen: Werke, die später gedruckt und unschätzbare Dokumente einer Zeit wurden, in der viele ihre Stimme nicht zu erheben gewagt hatten. Und nicht nur das: Judith Kerr stieß im Nachlass auf Briefe ihres Vaters, die einen unvergleichlichen Briefwechsel bezeugen in den (vergeblichen) Versuchen, nicht nur selbst Geld zu verdienen, sondern die Zukunft der Familie zu sichern. Trotz aller Rückschläge verlor er nie den Mut, gab nie auf – eine Tatsache, die Judith Kerr in ihrer Autobiografie ins rechte Licht rückt. Auch Michael Kerr bestätigt und bewundert die Haltung und die Bemühungen des Vaters. In sehr viel späteren Jahren erhielt er wieder Zugang zu Briefen, die sein Vater ihm einst geschrieben hatte; ein deutscher Forscher hatte sie in bei anderweitigen Recherchen gefunden und war der Meinung, dass sie dem Sohn gehören sollten, an den sie auch gerichtet waren. Es waren Briefe, die Michael nun, da er sie wieder las, bewegend fand, 139
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Briefe, geschrieben auf Alfred Kerrs sofort erkennbarer alter Schreibmaschine, in einem Englisch, das er Pidgin nannte, nicht auf Deutsch, falls sie von der Royal Air Force zensiert wurden. „Er kämpfte eindeutig und fühlte sich einsam, deutete das aber nie an. Was durchschimmert, ist sein unerbittlicher Mut bei der unaufhörlichen Suche nach Publikationsmöglichkeiten seiner Arbeit und eine unbedingte Entschlossenheit zu überleben und im Blick auf alles optimistisch zu bleiben. Und auch, zum ersten Mal, wie es mir jetzt scheint, wo ich die Briefe wieder lese, eine tiefe Zuneigung, derer ich mir vorher nie bewusst war.“ (MK, Remember 174) Jedenfalls reichte das Geld, das Julia und Judith Kerr verdienten, gerade, um die Mahlzeiten und die beiden Zimmer in Putney zu bezahlen, ein kleines Einzelzimmer für Alfred Kerr und ein Doppelzimmer, das sich Mutter und Tochter für Jahre teilen sollten. Michael Kerr hat sie in dieser Zeit mit dem, was er – mittlerweile als Fluglehrer – erhielt und verdiente, unterstützt. Nach dem Sommer des „Blitz“ zeigte sich ab September 1940 eine gewisse Unterlegenheit der deutschen Flieger; die Verluste waren hoch, und es gab vor allem zu Tageszeiten wegen der hohen Verluste nur noch vereinzelte Angriffe der deutschen Bomber; die Nachtangriffe wurden jedoch aufrechterhalten, allerdings nicht mehr in der gleichen Intensität, bis auch sie im Mai 1941 eingestellt wurden. „Im Dezember gab es mehrere Nächte, in denen die Sirenen überhaupt nicht heulten, und wenn die Deutschen wirklich kamen, fielen selten Bomben in Putney. Man konnte jede Nacht in seinem Bett schlafen, und wenn auch manche Nächte unruhiger waren als andere, so ließ doch die schreckliche Müdigkeit, die zum täglichen Leben gehört hatte, allmählich nach.“ (JK, Frieden, 289) Die Engländer versuchten sich in etwas wie Normalität, und dazu gehörte auch, dass bestimmte Volkshochschulen und andere Schulen ihre Tätigkeiten wieder aufnahmen – oder es zumindest versuchen 140
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wollten. Im Frühjahr 1941 dachten die ersten Kunstschulen über neue Abendkurse nach, aber da die Gefahr von Luftangriffen nach Anbruch der Dunkelheit nicht auszuschließen war, wurde der Unterricht statt an Abenden auf den Sonntag verlegt; er fand in der St. Martin’s School of Art statt. Es war eine „life class“, das heißt, man malte naturalistisch, also das, was man sah: in Judiths Fall eine müde, nackte Frau, die vor ihr auf einer Drapierung posierte. Ein Kurs, den Judith eher aus Langeweile oder Ratlosigkeit belegte, weil sie nicht recht wusste, wie es weitergehen sollte. Aber so hatte sie etwas zu tun – und sie begann wieder zu zeichnen. Es sollte der Beginn ihrer späteren Karriere als Illustratorin werden, viel schwieriger als erwartet. Judith Kerr war entsetzt, was es hieß, wirklich zu zeichnen, ihre angefertigten Zeichnungen fand sie schlichtweg grässlich. Eigentlich schien ihr das Ganze eher sinnlos, und doch war da die Erwartung, dass sie es in der nächsten Woche wieder versuchen sollte und dann noch mal und noch mal … „Sie war müde. Ihre grässliche Zeichnung lag neben ihr auf dem Boden. Das nächste Mal?, dachte sie. Es schien nicht viel Sinn zu haben. Aber in der nächsten Woche wollte sie es unbedingt noch einmal versuchen. Diesmal, dachte sie, werde ich es bestimmt besser machen.“ (JK, Frieden, 314) Im Roman lassen sich Judiths Schwierigkeiten mit dem Zeichnen nach Modellen minutiös und detailliert nachlesen; sie zeigen ihr Ringen um Form und Perspektive, ihre Hoffnungen, ihre Enttäuschungen, ihre deprimierte Verzweiflung. „Die Schultern waren entschieden falsch. Der Fehler lag, wie sie jetzt feststellte, darin, dass sie die rechte Schulter höher gezeichnet hatte als die linke, während es, so wie das Modell saß, genau umgekehrt war. […] Sie musste jetzt auch feststellen, dass, infolge des Fehlers an den Schultern, der eine Arm länger wirkte als der andere. Sie starrte auf ihr Blatt und wusste nicht, wie sie fortfahren sollte.“ (JK, Frieden, 312 f.) 141
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Nach und nach bekam sie Anweisungen und Tipps von verschiedenen Unterrichtenden, auch von anderen Teilnehmern des Kurses, die Quintessenz war dennoch: „Ich verstand langsam, dass all die Jahre, in denen ich glaubte, zeichnen zu können, dieses weite, von mir abgelehnte Feld des naturalistischen Zeichnens, auf dem aber alles andere aufbaute, immer fehlte. Es wurde unerlässlich, es zu meistern.“ (JK, Geschöpfe, 28) Als die Bombenangriffe seltener und die Nächte ruhiger wurden, verlegte man den Sonntagskurs wieder auf die Abende zurück, und Judith Kerr freute sich über die Abwechslung zu den öden Stunden zu Hause. Der Unterricht fand nun in der Central School of Arts and Crafts statt, und sie schrieb sich zunächst für einen der Zeichenkurse ein, bald für einen zweiten und schließlich für alle drei verfügbaren. Es kostete nicht viel und sie konnte sich die Ausgaben durch ihre Anstellung leisten. Ihr Alltag bekam endlich einen Sinn, der nicht auf das bloße Überleben ausgerichtet war; ihre Arbeitszeit endete um halb sechs und sie konnte problemlos mit der Bahn am Embankment entlang zu ihrer „life class“ fahren. Alles änderte sich, als sie dem Leiter des Zeichenkurses auffiel. Immer wieder kommt Judith Kerr auch in ihrer Autobiografie auf den Mann zu sprechen, der sie am meisten lehrte: John Farleigh, ein englischer Künstler (1900–1965), der einige Jahre zuvor bekannt geworden war durch seine aufsehenerregenden und umstrittenen Illustrationen zu George Bernard Shaws Werk The Adventures of the Black Girl in Her Search for God. In Übersetzung von Siegfried Trebitsch und mit 20 Holzschnitten von John Farleigh ist das Buch 1948 auch auf Deutsch unter dem Titel Ein Negermädchen sucht Gott bei Artemis in Zürich erschienen. Was die Autobiografie hätte ausufern lassen, liefert Judith Kerrs Roman Warten bis der Frieden kommt mit 142
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unendlich vielen und peniblen Details zu ihren Zeichenversuchen – und zu ihrem Lehrer. Mit Unterbrechungen aus dem Alltagsleben im Beruf und mit den Eltern zu Hause zieht sich diese „Geschichte“ mit John Farleigh – im Roman heißt er John Cotmore – über gut siebzig Seiten, gegenüber zwei Seiten Text in der Autobiografie. Ein Mann von etwa vierzig Jahren, mit klugen Augen und einem merkwürdig langgezogenen Mund, so wird er im Roman beschrieben. In der Autobiografie heißt es: „Seine weiblichen Studenten neigten alle dazu, sich in ihn zu verlieben (ich war keine Ausnahme), und er entmutigte sie nicht. Im Hinblick auf heutige Verhältnisse waren diese Beziehungen sehr unschuldig und meistens auf einen gelegentlichen Kuss hinter dem Malschrank begrenzt.“ (JK, Geschöpfe, 30) Eines Tages, so erzählt sie weiter, habe sie dann entdeckt, dass Peggy Fortnum, die später die Originalillustrationen zu Michael Bonds Geschichten von Paddington dem Bär (1958) anfertigen sollte, auf die gleiche unschuldige Art und Weise mit ihm liiert war. Der Roman ist da ausführlicher und zeichnet ein – sehr schickliches – Bild von Annas erster Liebe, mit verstohlenen Küssen und Berührungen, heimlichen Verabredungen und inniger Nähe von ihrer Seite. Die kleinen Zeichen und Zärtlichkeiten interpretiert sie da ganz anders als der lebens- und liebeserfahrene Künstler, und es ist dem Leser klar, dass am Ende eine große Enttäuschung und Desillusionierung stehen muss. Aber es waren diese Kurse bei John Farleigh, die sie auf ihre Zukunft und spätere Karriere vorbereiteten. Sie sah und hörte, und sie verarbeitete das Gesehene und Gehörte und saugte die Ansichten des Meisters – und nicht nur seine – wie ein Schwamm auf. Farleigh machte ihr Mut, sah, dass sie viel von sich verlangte. In ihrer Autobiografie sind im zweiten Kapitel, „London und der Krieg“, etliche ihrer Zeichenstudien aus dieser Zeit abgedruckt, die in den Feinheiten die Fortschritte erkennen lassen, die sie macht. Neben der Zeichenklasse gab es bald auch eine Malklasse, und auch wenn 143
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das Zeichnen ihre Leidenschaft blieb, besorgte sich Judith Leinwand und Ölfarben. Dann überredete John Farleigh sie zu einem größeren Projekt, verlangte, sie solle endlich etwas anderes tun, als nach einem Modell zeichnen und Skizzenbücher füllen. Sein Vorschlag war, irgendetwas zu bemalen und zu gestalten, vielleicht eine Wand. Eine Wand bemalen? Der Gedanke gefiel ihr, aber war es nicht ein böses Vorzeichen, dass es kriegsbedingt gar nicht mehr so viele heile Wände zum Bemalen gab? Doch eines Tages fand sie den richtigen Ort: ein Café-Restaurant in der Victoria Street. „Es bestand aus mehreren Räumen, die man durch das Herausnehmen von Mauern in einen großen Raum verwandelt hatte. Die unter verschiedenen Winkeln zulaufenden Wände waren alle cremefarben gestrichen und bis auf ein paar Spiegel vollkommen schmucklos. Unwillkürlich zählte sie ab. Neun. Neun Wände, die gerade danach schrien, bemalt zu werden.“ (JK, Frieden, 364) Sie überredete den Eigentümer trotz seiner geringen Resonanz auf ihr Angebot, die Wände dekorativ ausschmücken zu lassen, und arbeitete dann ihre Wandmalereien rund um große Spiegel, die der Besitzer erhalten wollte. Sie war offensichtlich zufriedener mit ihrem Resultat als der Besitzer des Café-Restaurants, denn als sie nach dem Krieg das Restaurant wieder aufsuchte, hatte man die Wände cremefarben überstrichen und oben mit einem Fries von Rittersporn verziert. Immerhin hatte sie die unvorstellbare Summe von 15 Pfund dafür bekommen. Im Gegensatz zu den wenigen Sätzen in ihrer Autobiografie nimmt diese Wandmalerei-Episode fast zehn Seiten im Roman ein (JK, Frieden, 363–373), beschäftigt sich detailreich mit den Vorbereitungen, den künstlerischen Entwürfen auf Papier und deren Umsetzung. 144
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Aber im Roman schwingt noch etwas anderes mit, das in der Autobiografie nicht einmal erwähnt wird: der Abend, an dem der gesamten Kunstgruppe aus dem Kurs im Café bei einem Essen Judith Kerrs malerisches Werk präsentiert wird – und an dem sie endlich John Farleigh wiedersieht, in „seliger Verwirrung“. Sie sonnte sich im Lob der Freunde, „bestellte Speisen und aß und warf verstohlene Blicke auf ihre Wandbilder und beobachtete John Cotmores Gesicht, und die ganze Zeit wuchs ihre Erregung, denn sie wusste, dass noch mehr geschehen würde, dass der beste Teil des Abends noch bevorstand“; endlich würde sie sich dem Mann, den sie liebte, hingeben. Aber dann nahm der nur ihre Hand und küsste sie förmlich auf die Wange, gratulierte ihr. „Ich hoffe, Sie werden noch viele gute Wandbilder malen.“ Einige Wochen lang gab sie sich zwischen Verzweiflung und Hoffnung weiter ihren Illusionen hin. „Sie erlebte noch einmal den Besuch in seinem Haus und die Augenblicke, da er den Arm um sie gelegt, sie geküsst oder etwas Zärtliches gesagt hatte. Sie rechnete sogar nach, wie oft er sie geküsst hatte. Es war elfmal gewesen, nicht gerechnet der förmliche Wangenkuss nach dem Essen in ihrem Restaurant. Man würde doch bestimmt nicht einen Menschen elfmal küssen, wenn man es nicht ernst meinte, tröstete sie sich.“ (JK, Frieden, 377) Wenig später, ausgerechnet als sie mit ihrem Vater zusammen ein Beethoven-Konzert besuchte, wurde sie zufällig Zeugin, dass Farleigh eine Beziehung zu einer anderen jungen Frau aus dem Kunstkurs hatte. „Während der nächsten Wochen schwankte Anna zwischen Glück und tiefer Niedergeschlagenheit, und der Krieg schien ihre Gemütsverfassung widerzuspiegeln.“ (JK, Frieden 374). Noch einmal lebte mit dem Jahr 1944 der Luftkrieg in England auf. Im Rahmen des „Unternehmens Steinbock“ hatte die deutsche Luftwaffe begonnen, wieder hauptsächlich die Hauptstadt London zu bombardieren. Bald sorgten 145
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die deutschen Bombenflieger mit ihren V1- und V2-Raketen für Angst und Schrecken unter der Bevölkerung, diesen „Furcht einflößenden V2-Raketen, die ohne Vorwarnung explodierten und große Flächen verwüstet zurückließen. Mit dem Wissen, dass der Krieg fast zu Ende war, wollte man verzweifelter als je zuvor am Leben bleiben.“ (JK, Geschöpfe, 30) Auch andere schwere Stunden standen Judith und ihrer Mutter bevor. Kurz nach dem Besuch des Konzertes, bei dem sich Alfred Kerr kräftemäßig verausgabt hatte, fand Julia beim Heimkommen ihren Mann am Boden liegen, unfähig, sich zu bewegen und zu sprechen. Alfred Kerr hatte einen Schlaganfall erlitten, von dem er sich allerdings schnell erholte, und die Krankheit hinterließ keine Spuren. Die Sprache kehrte zurück. Aber allen war klar, dass es für den Vater von nun an ein Leben auf Abruf sein würde. Die Angst ging um in der Familie. Judith verbrachte fast ihre ganze Zeit mit ihm, versuchte ihn zu zeichnen, kleine Augenblicke des Glücks auf Papier zu bannen; ein Leben ohne ihn konnte sie sich nicht vorstellen. Sie ging nicht mehr zur Zeichenschule, bis es dem Vater auffiel und er sie eindringlich bat, die Schule wieder zu besuchen. Widerstrebend nahm sie den Unterricht wieder auf, war aber in keiner sonderlich guten Schaffensphase. Natürlich traf sie auch John Farleigh wieder, der sie ermunterte, an ein Stipendium zu denken. Aber es war schwer für sie, sich zwischen der Lust am Zeichnen und ihren verletzten Gefühlen zu entscheiden. Als ihre Mutter wegen einer schweren Grippe aufs Land geschickt wurde und Judith für den Vater da sein musste, denkt Anna im Roman über den Vater nach: „Sie sah ihn plötzlich vor sich in dem armseligen Zimmer mit seiner Schreibmaschine, die nicht mehr richtig funktionierte, mit seinen Manuskripten, die keiner veröffentlichen wollte, in einem Land, dessen Sprache nicht die seine war. Wie fühlte sich eigentlich jemand wie Papa? […] Hatte Papas Leben vor ihm selbst 146
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einen Sinn? Wenn er an Berlin dachte, musste er nicht angesichts dieses schäbigen Lebens voller Verzweiflung und Fremden seine Existenz sinnlos finden? Musste er sich nicht wünschen, all dies nie durchlebt haben zu müssen? Würde der Tod nicht auch für ihn so etwas wie eine Erlösung bedeuten? Sie versuchte, bei diesen Gedanken Trost zu finden, aber sie fühlte sich nur noch elender. Es gibt nichts, dachte sie, während der Schnee trieb und wirbelte, gar nichts …“ (JK, Frieden, 396) In der großen Weltgeschichte kam indes „D-Day“, der 6. Juni 1944, der Tag, an dem die Alliierten in der Normandie landeten und in das Landesinnere vorstießen; ein blutiges Gemetzel war die Folge, Tausende Soldaten starben, und es sollte weitere zwei Monate dauern, bis sie die deutsche Front in Frankreich schließlich durchbrechen konnten. Dennoch: Die Landung der Alliierten in Nordfrankreich bedeutete den ersten Schritt zur Befreiung der Länder, die die Nationalsozialisten vor Jahren überrannt hatten – und sie war der Anfang vom Ende des Hitlerreichs. Das „Warten bis der Frieden kommt“, hatte begonnen. In dieser Zeit nahm Judith Kerr Abschied von ihrer Vergangenheit. Die Truppen der Alliierten rückten in Deutschland vor, in den Nachrichten waren die Bilder zerstörter deutscher Städte zu sehen. Dann brannte in Berlin der Grunewald, und Erinnerungen regten sich in Judith (Anna): „Vor langer Zeit, als sie und Max noch klein waren, in einer Vergangenheit, an die sie nie mehr dachte, hatten sie dort im Winter gerodelt. Ihre Schlitten hatten Spuren im Schnee hinterlassen, und es hatte nach Frost und Tannennadeln gerochen […] Aber das alles war früher gewesen. Der Grunewald, der brannte, war nicht der, in dem sie gespielt hatte. Es war ein Wald, in den man jüdische Kinder nicht hineinließ, wo Nazis die Hacken aneinanderschlugen, mit dem Hitlergruß grüßten 147
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und sich wahrscheinlich hinter Bäumen versteckten, um Leute niederzuknüppeln. Sie hatten Gewehre und scharfe Hunde und Hakenkreuze, und wenn ihnen jemand in die Quere kam, schlugen sie ihn nieder, hetzten die Hunde auf ihn, schickten ihn in ein Konzentrationslager, wo er hungerte, gequält und getötet wurde …“ (JK, Frieden, 401) Im April 1945 erreichten die Amerikaner und Briten die ersten Konzentrationslager in Deutschland, Anfang Mai fiel Berlin. Und dann war er da, „VE-Day“, wie es bei Judith Kerr heißt, der Tag, an dem der Krieg in ganz Europa endgültig vorbei war. „15. Mai 1945, mehr oder weniger fünf Jahre nach meiner Inhaftierung in Cambridge. Ich war ein Fliegerleutnant mit Abzeichen und der Atlantic-Star-Medaille und anderen Auszeichnungsmedaillen. Aber ich war immer noch ein feindlicher Ausländer.“ (MK, Remember, 179) Auch Judith Kerr erinnert sich an den Tag, dass sie wie die anderen hinaus auf die Straßen lief, sich unter die Menge der Menschen mischte, die überlebt hatten. „Leute tanzten, Papierfahnen wurden geschwungen, Kinder saßen auf den Schultern ihrer Eltern, und überall herrschte so eine Art glückliches Gesumme vom Plappern und Lachen – nichts Triumphierendes, nichts Organisiertes, nur Menschen, die endlich die Gewissheit hatten, weiterleben zu können. Ich dachte, das ist mein Land. Ich hatte meinen Skizzenblock eingepackt und zeichnete stundenlang alles, was ich sah.“ (JK, Geschöpfe, 33) Von den Zeichnungen, die sie wie im Rausch gefertigt hat, ist nichts erhalten, das Skizzenbuch ging, wie Judith Kerr vermutet, bei einem ihrer Umzüge verloren.
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Nach dem Krieg (1946–1970) Erste Erfolge
D
ie erste Zeit nach dem Krieg erlebten die Geschwister sehr unterschiedlich. Michaels erste Reaktion war, dass er zunächst mehrere Wochen oder Monate lang den Krieg vermisste. Da war er jeden Tag regelmäßig bezahlt worden, jemand hatte ihm gesagt, was er tun sollte; er musste sich keine Sorgen über Probleme oder Pläne machen. Man verkehrte freundschaftlich und gleichberechtigt miteinander. Aber nun, in der ersten Zeit des Friedens, brach ein erbarmungsloser Konkurrenzkampf aus: Jeder war auf den eigenen Vorteil aus und gegen den anderen. Doch neue Menschen traten in sein Leben, neue Aufgaben im Studium, neue und alte Hobbys in der Freizeit warteten. „Es gab viele sich überschneidende Kreise von Menschen und Aktivitäten. Das Gesetz und die Arbeit, alte und neue Freunde, Fußball und Tennis, Girton und Newnham, und dazwischen bewegte man sich.“ (MK, Remember, 182) In Judith, die den Alltag der Jahre und die Kriegszeiten ganz anders erlebt hatte, erwachte mit dem Frieden der Wunsch, nichts anderes tun zu müssen als zu zeichnen, aber da war wie immer das fehlende Geld. Immer noch versuchte John Farleigh ihr ein Stipendium zu besorgen, das es ihr ermöglicht hätte, sich ganz dem praktischen Studium der Kunst zu widmen, ohne nebenher arbeiten zu müssen, aber all diese Möglichkeiten waren ausschließlich gebürtigen Briten vorbehalten. Schließlich dachte er an ein sogenanntes „trade scholarship“, ein Stipendium, das man am ehesten als ein arbeitsintegrierendes Studium beschreiben kann. Dabei ließen sich bereits Erfahrungen in einem 149
Nach dem Krieg (1946–1970)
Arbeitsbereich sammeln, die mit reinen Studien- und Lerntagen abwechselten, was neben der finanziellen Förderung auch die Kluft zwischen Theorie und Praxis verringern sollte. Zwei Tage musste man für einen Arbeitgeber zeichnen und wurde dafür so bezahlt, dass an den anderen drei Tagen der Besuch der Kunstschule finanziell möglich war. Judith wurde von John Farleigh so engagiert weiterempfohlen, dass sie schließlich auch als nicht gebürtige Britin das Stipendium bekam, und es gelang ihr, eine Arbeit bei einem Textilfabrikanten zu finden. Sie werde ihn nie vergessen, bezeugt sie in ihrer Autobiografie noch als 90-Jährige ihre Dankbarkeit dem Künstler gegenüber. Die Firma, für die sie arbeiten sollte, fertigte Möbelbezugsstoffe. Sie sollte eingekaufte Designs in anderen Farben entwerfen; kein Problem für sie, nur mit der genauen Wiederholung und Anordnung der Muster haperte es anfangs ein bisschen. In ihrer Autobiografie sind die Seiten 34 sowie 42 bis 47 flächendeckend mit den Abbildungen solcher Muster gefüllt. Anfangs fand sie die Arbeit ganz interessant, aber letztlich hatte diese doch wenig mit dem zu tun, was sie wirklich machen wollte: zeichnen und malen. Diese Zukunftsperspektive festigte sich immer mehr in ihr. Zunächst tendierte sie zum Malen. Das lag sicherlich am Einfluss der großartigen Lehrer, die in den Abendkursen neben John Farleigh die Klassen unterrichteten: Bernard Meninsky, Sohn jüdischer Eltern aus der Ukraine und bereits in Liverpool geboren, ein figurativer Künstler und Zeichner, Maler von Figuren und Landschaften in Öl, Aquarell und Gouache; Ruskin Spear, nur gute 10 Jahre älter als Judith Kerr, ein im Rollstuhl sitzender Maler aus Hammersmith, der gern die Menschen in seinem Heimatort bei ihrem Tun malte; Morris Kestelman, der fast ausschließlich als Kunstlehrer arbeitete und erst gegen Ende seines Lebens eigene Werke auszustellen begann, vor allem Bilder von Menschen bei der Arbeit und von Landschaften. Es war eine gute Zeit für Judith, die nun nicht mehr vom täglichen Kampf ums Überleben – sei es durch den Krieg oder die immerwährende Armut – geprägt war. Zum ersten Mal, im 150
Erste Erfolge
Alter von 23 Jahren, habe seine Schwester begonnen, sich glücklich zu fühlen, erinnert sich Michael. Auf der anderen Seite waren da die Eltern. Der Sohn vermutet, dass sie unglücklicher waren als je zuvor. Auch wenn Nazideutschland so triumphal geschlagen worden war, wie sie es sich erträumt hatten, hatte sich an ihrer Lage nicht viel verbessert; es war ein Desaster. Nach wie vor lebten sie weitgehend von dem Bisschen, das Julia Kerr durch ihre stundenweisen Arbeiten als Sekretärin verdienen konnte, und sie machte die Arbeit nicht besonders gut. Nun, da der Krieg zu Ende war und viele Menschen nach London zurückkamen, war die Konkurrenz groß. Es gab andere – und vor allem Jüngere –, die die Jobs besser erledigten, und es wurde immer schwieriger für Julia, überhaupt Arbeit zu finden. Zudem träumte sie immer noch davon, den Chronoplan beenden zu können, gekrönt von einer Aufführung. Ihre Hoffnungen wurden enttäuscht; obwohl das Ehepaar alles versuchte, die Oper den unterschiedlichsten Stellen anzubieten, war niemand daran interessiert, und Julia musste auch diesen Traum endgültig aufgeben. Judith erinnert sich, dass ihre Mutter schließlich so verzweifelt war, dass sie die Zyanid-Tablette nahm, die Herr Plesch ihr für den Fall der Fälle gegeben hatte und die Deutschen in England einmarschiert wären. Aber nichts geschah, und Judith und Michael rätselten, ob die Tablette im Laufe der Jahre einfach ihre Wirkung verloren oder ob Herr Plesch Julia ein Placebo gegeben hatte, sozusagen als psychologische Beruhigung. Alfred Kerr hingegen war nicht mehr zu erfolglosem Tun verurteilt, sondern immer wieder gefragt. Nachdem er von der deutschen Abteilung der BBC in großem Ausmaß brüskiert worden war, beauftragte ihn die Schweizer Abteilung, Stücke auf Französisch zu schreiben; die wurden dann ins Spanische übersetzt und im Rundfunk in Südamerika ausgestrahlt. Alfred Kerr, der auf die Achtzig zuging, sah das als einen neuen und hoffnungsvollen Wendepunkt in seinem Leben: Die Welt würde seine Stimme wieder vernehmen. Zugleich sorgte er sich 151
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sehr um seine Frau und ihren Kummer, bei dessen Bewältigung er ihr in keiner Weise helfen konnte. Michael berichtet, dass der einzige Trost, die einzige Hoffnung der Mutter auf ihm und seinem Erfolg ruhte. Judith kam in den Hoffnungen und Zukunftsplänen der Mutter nicht vor, obwohl sie in jeder Hinsicht einen großen Teil der Lasten trug. Wie nebensächlich und gering ihre Rolle dabei eingeschätzt wurde, lässt sich von Anfang bis Ende im dritten Teil ihrer Hitler-Trilogie, Eine Art Familientreffen, ernüchternd und erschütternd nachlesen. Julias Liebe zu Michael ging so weit, dass sie Dinge für den Sohn „mitgehen ließ“, zum Beispiel bei Harrods, um sie ihm als Geschenk zu machen – einer der Gründe, dass er sich unwohl fühlte und der Familie zu entkommen suchte. Zugleich wuchs in ihm die Überzeugung: „Ich begann zu fühlen, dass ich dazugehörte.“ (MK, Remember, 189) 1946 erhielt er seine Einbürgerung als britischer Staatsbürger, und auch für die Eltern und Judith war diese zu erwarten – bei ihnen dauerte es allerdings noch bis 1947. Aber die Geschwister machten sich nichts vor. In ihrem Roman lässt Judith den Bruder sagen: „‚Du und ich, für uns ist das schon recht, aber Mama und Papa werden nie so ganz hierher gehören.‘ Er zog eine Grimasse. ‚Wahrscheinlich gehören sie nie wieder irgendwo so ganz dazu.‘“ (JK, Frieden, 408) War es in ihrer Kindheit und Jugend immer so gewesen, dass sie, die Kinder, sich sicher fühlten und nicht unter ihrem Flüchtlingsdasein litten, solange sie nur mit den Eltern zusammen waren, hatte sich die Situation verkehrt. Jetzt waren es die Eltern, denen Michael und Judith das Gefühl der Sicherheit geben mussten. Während Michael sich verabschiedete, um seinem Beruf nachzugehen und sein eigenes Leben wieder aufzunehmen, suchte Judith, die bei den Eltern zurückblieb, die Gespräche mit dem Vater, vor allem, wenn sie allein waren. In Warten bis der Frieden kommt fragt sie (Anna) ihn, ob er in all den Jahren überhaupt noch einen Sinn darin gesehen habe zu leben, unter all den negativen Umständen. War es das Leben wert, gelebt zu werden, wenn man seine Sprache verloren hatte, wenn 152
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es der eigenen Ehefrau immer schlecht erging, wenn man arbeitete und arbeitete, ohne offensichtlichen Erfolg? Der Vater erklärt im Roman: „‚Das Entscheidende in diesen letzten, wie ich zugeben will, elenden Jahren … ist, dass es unendlich besser ist, am Leben zu sein als tot. Und dann: Hätte ich sie nicht durchlebt, ich hätte nie gewusst, wie man sich dabei fühlt …, wie man sich eben so fühlt, wenn man arm und am Rande der Verzweiflung in einem kalten, nebligen Land lebt … Ich bin ein Mensch, der schreibt … als Schriftsteller muss man wissen. Hast du das noch nicht gemerkt?‘“ (JK, Frieden, 398) Es entspinnt sich eine Diskussion, in der Alfred Kerr seiner Tochter erklärt, was in ihm vorgeht. „‚Es gibt da etwas in mir‘, sagte er vorsichtig, ‚völlig getrennt von allem anderen. Es ist wie ein kleiner Mann, der hinter meiner Stirn sitzt. Und was auch immer geschehen mag, er beobachtet es. Selbst wenn es etwas Schreckliches ist. Er beobachtet, wie ich mich fühle, was ich sage, dass ich aufschreien möchte, dass meine Hände anfangen zu zittern. Und er sagt: Wie interessant! Wie interessant, doch zu wissen, dass es so ist.‘ ‚Ja‘, sagte Anna. Sie wusste, dass sie auch so einen kleinen Mann wie Papa besaß.“ (JK, Frieden 398 f.) Es ist vor allem eine Hoffnung, die Alfred Kerr trägt, und er vertraut seiner Tochter an: „‚Ich habe über all diese Jahre geschrieben. Eine Art Tagebuch. Wenn du es einmal liest, wirst du hoffentlich finden, dass es das Beste ist, was ich je zustande gebracht habe. Eines Tages werden meine Arbeiten vielleicht wieder gedruckt werden, und dann wird dieser Text darunter sein.‘“ (JK, Frieden, 399; die Rede ist von Alfred Kerrs Buch Ich kam nach England. Ein Tagebuch aus dem Nachlaß.) 153
Nach dem Krieg (1946–1970)
Das Jahr 1947 begann mit einer glücklichen Fügung für Julia Kerr, wenngleich nicht für ihren Mann. Die amerikanische Besatzung in Deutschland engagierte sie als Übersetzerin. Konkret bedeutete das: Sie konnte nach Deutschland zurückkehren, aber unter der amerikanischen Besatzungsmacht, und dabei gutes Geld verdienen, das die ökonomischen Probleme der Familie endlich lösen sollte. Sie freute sich auf das Abenteuer und blickte endlich in eine verheißungsvolle Zukunft. Zunächst arbeitete sie in Frankfurt und rückte bald in eine viel bessere Position bei den Nürnberger Prozessen auf, bei denen vor dem Internationalen Militärgericht die Hauptkriegsverbrecher angeklagt wurden; sie fanden zwischen dem 20. November 1945 und dem 14. April 1949 statt. Als die Prozesse begannen, waren die drei größten deutschen Kriegsverbrecher bereits tot: Adolf Hitler, der Reichsführer der SS Heinrich Himmler und der Propagandaminister Joseph Goebbels hatten Selbstmord begangen und sich der Verantwortung entzogen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Julia Vorteile davon, eine verheiratete „Kerr“ zu sein. Allein die Verbindung zu Alfred Kerr sicherte ihr bei den Amerikanern ihre Arbeit. Auch wenn Nürnberg allein durch die Nähe zu Schweinfurt mit seinen drei großen Kugellagerwerken nach dem Krieg in Schutt und Asche lag, erlebte sie dort eine wunderbare Zeit; sie verdiente genug, um alles kaufen zu können, was sie eineinhalb Jahrzehnte vermisst hatte, und fand ihre Arbeit ausgesprochen faszinierend. „Bei den Gerichtsverhandlungen traf sie eine Menge interessanter und wichtiger Leute, und mit ihrem Namen und Hintergrund wurde sie bald eine Art Berühmtheit. So hatte sich ihr Leben endlich geändert, gerade als sie gedacht hatte, dass es das niemals tun würde. Der einzige Schatten war mein Vater.“ (MK, Remember, 200 f.) Alfred Kerr, nun bereits achtzig Jahre alt, blieb allein in England zurück, unterstützte aber alle Pläne und Wünsche seiner Frau. Da Julia 154
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und Judith sich lange Jahre ein Hotelzimmer geteilt hatten, war dies für Judith Kerr allein finanziell nicht mehr tragbar, und sie musste sich nach etwas Kleinerem umsehen. Sie zog in eine einfache Studentenbude in der Nähe und vereinbarte mit ihrer Mutter, dass sie jeden Abend nach ihrem Kunstkurs, der um acht Uhr abends endete, bei ihrem Vater vorbeischauen würde. Aus dieser Zeit ist ein Gedicht von Alfred Kerr zu den abendlichen Besuchen Judiths erhalten; ihre Autobiografie enthält es auf Seite 38 als Faksimile. Die Fassung und Schreibung des folgenden Gedichts orientieren sich an diesem Original, mit Kerrs diversen handschriftlichen Überarbeitungen darin: „‚Bonsoir, papa‘. Das Glück tritt in mein Zimmer, Ein leises Leuchten hat mein Herz erhellt. Dein Auge lacht; ein leichter, lustiger Schimmer Liegt auf der Welt. Im Wirrsal dieses irren Erdenballes Ging doch dies eine Labsal nicht zugrund: ‚Bonsoir, papa‘ – das liebt’ ich über alles In deinem Mund. Und, süsse Puppi, dieses ist mein Wille: Bald bin ich fern, den ewigen Schatten nah, Dann ruf noch einmal in die große Stille: ‚Bonsoir, papa …‘“ (JK, Geschöpfe, 38) Judith habe diese Zeit mit ihrem Vater genossen, schreibt sie in ihrer Autobiografie; er saß, wenn sie gegen neun Uhr abends bei ihm auftauchte, schon in seinem kleinen, schäbigen Zimmer, bereit zu den Gesprächen, die sie so schätzte. Für sie waren es Stunden, in denen sie von den Ideen und Gedanken erzählen konnte, die ihr nun, da sie sich ganz auf das Zeichnen und Malen konzentrieren konnte, durch den Kopf gingen und die sie bestätigt haben oder wenigstens diskutieren wollte. Das war nicht so einfach, wie es klingt, denn Judith sprach 155
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Englisch und der Vater kannte nicht alle Wörter, die sie nutzte, und sie wiederum wusste von vielem nicht die deutsche Bedeutung. So unterhielten sie sich am Ende in einer Mischung aus Englisch, Deutsch und Französisch und einem gewissen Grad an „Telepathie“, wie sie sich erinnert. Für die Einsamkeit, unter der Alfred Kerr sehr litt, gab es eine Kompensation. Seine Frau versorgte ihn aus der Ferne mit so viel Geld, wie sie es seit Jahren nicht mehr gesehen hatten, und er hatte endlich seinen englischen Pass bekommen. Alfred Kerr war frei und er konnte reisen. Er verließ England und fuhr in sein geliebtes Frankreich, fuhr nach Paris, besuchte das Ehepaar Fizaine, das zu Beginn ihres Exils in Frankreich den Kerrs (vor allem Julia bei ihren Haushalts- und Näherfahrungen) so treu zur Seite gestanden hatte – mit Maggie, die er sehr verehrte, ja, vielleicht sogar liebte, hatte er in einem Sommer Jahre zuvor wohl eine Affäre gehabt, die seine Ehe sehr belastet hatte –, erlebte noch einmal den Genuss von Wärme, Sonne und Wein. Er reiste in die Schweiz, und es reichte auch für einen kurzen Besuch zu den Ruinen Nürnbergs. Aber dann zog es ihn zurück zu seiner Schreibmaschine in London, um all das festzuhalten, was er gesehen und erlebt hatte. Immer noch hoffte er auf eine Art Wiedergutmachung in Form einer Einladung seines Vaterlandes, das endlich erkennen sollte, welche Rolle zu übernehmen er noch im Stande war. (MK, Remember, 201) Auch Judith Kerr begann das Reisen zu entdecken. Im Sommer 1947 fuhr sie mit Freunden mit dem Schiff nach Calais, von dort mit dem Nachtzug nach Basel – eine endlose Reise damals, die zwölf Stunden dauerte, in einem engen Dritter-Klasse-Abteil mit unbequemen Sitzen aus Holz; wieder nutzte sie die Gelegenheit, alles zu zeichnen. Eine Woche blieben die Freunde irgendwo in den Bergen, dann fuhren sie nach Paris. Es war Judiths erstes Wiedersehen mit der Stadt, nachdem sie sie vor mehr als zehn Jahren verlassen hatte; erstaunlich kühl und unbeteiligt fällt ihr einziger knapper Kommentar aus: „und dann fuhren wir nach Paris, das ein wenig armselig wirkte, aber ansonsten 156
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unverändert“ (JK, Geschöpfe, 48) In drei weiteren Zeilen erinnert sie sich, dass sie im Museum stundenlang die Impressionisten angeschaut hatte, und dass sie und ihre Freunde in einem Café jeden Abend geradezu königlich zwei Spiegeleier verspeisten. Was immer sie bei der Rückkehr in das Land, das ihr zwei Jahre Heimat gewesen war, wirklich empfunden haben mag, es bleibt dem Leser vorenthalten. Über Gefühle hat sie in ihrer Autobiografie nicht viel geschrieben. Die Möbelstoff-Firma, für die Judith Kerr nach wie vor arbeitete, expandierte, und sie begann, auch in ihrer Freizeit Stoffe zu entwerfen, die sie hin und wieder verkaufen konnte; Gelegenheitsjobs als Zeichenlehrerin besserten ihr Einkommen auf. Aber nach wie vor galt die meiste Zeit dem Malen. Ihr größter Erfolg in dieser Zeit war, dass die konservative Royal Academy of Arts, die Königliche Akademie der Künste, eines ihrer Gemälde akzeptierte, ein weiteres wurde von der angesehenen London Group angenommen, einer britischen Künstlergruppe aus London, die einen avantgardistischen Gegenpol zur konservativen Royal Academy bildete. Das Bild für die London Group ist in ihre Autobiografie aufgenommen, zusammen mit einer Kopie des Zeitungsausschnitts, in dem ihr Werk genannt wird. Hier ist zu lesen: „Miss Judith Kerr’s ‚Three Old Women‘ has a good deal of vitality“ – „Fräulein Kerrs Werk ‚Drei alte Frauen‘ zeigt eine gute Portion Lebendigkeit.“ (JK, Geschöpfe, 49) In der Central School of Arts gewann sie einen weiteren Preis. Hingegen fiel sie bei einer Bewertung für das Abschlussdiplom ihres Kunstkurses durch; sie hatte zu wenig Zeit für die Vorbereitung eines Essays zu ihrem Thema und zur Demonstration ihres Werks. Mittlerweile war das Jura-Studium von Michael Kerr weitergegangen, und nach seinem brillanten Abschluss mit doppelter Auszeichnung in Cambridge verlangte seine neue Tätigkeit einen Umzug nach London; hier wollte er Jura studieren. Da seine Schwester zu der Zeit immer noch ihre billige Studentenbude in Untermiete bewohnte, kamen die beiden überein, gemeinsam mit Ronnie, einem Freund Mi157
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chaels, eine Wohnung zu mieten, in einem Dachgeschoss in Ladbroke Gardens, dem Londoner Stadtteil Notting Hill. Judith Kerr verließ das Möbelstoffunternehmen und übernahm stattdessen eine Anstellung als Kunstlehrerin an einer Mädchenschule in Eastbourne, malerisch an der Südküste Englands gelegen. Es war nur eine kleine Schule mit wenigen Schülerinnen, und so konnte Judith den gesamten wöchentlichen Unterricht auf einen einzigen Tag legen. Dafür konnte man die lange Bahnfahrt – sie dauert heute noch zwei bis zweieinhalb Stunden – auf sich nehmen, zumal sich ihr zahlreiche Motive zum Zeichnen von Menschen im Zug boten. Immer wieder gab es Gelegenheiten zum Dazuverdienen, zum Beispiel mit weiteren verkauften Stoffdesigns oder dem Dekorieren von Wänden in Wohnungen bei Freunden und Bekannten. Alles in allem kam sie damit gut über die Runden, zumal ihre beiden männlichen Mitbewohner sie auch noch dafür bezahlten, dass sie das Kochen übernahm – was ihr ebenso wenig lag (und gelang) wie ihrer Mutter. Für alle drei verband sich mit der gemeinsamen Wohnung ein erster, aufregender Geschmack von völliger Unabhängigkeit; auf der anderen Seite fühlte sich Judith Kerr nach den letzten drei Jahren in der Gemeinschaft der anderen Studierenden etwas einsam. Alfred Kerr hat seine Kinder in der Wohnung wohl zweimal besucht. Zu mehr sollte nicht die Zeit bleiben. Im September 1948, als er über achtzig Jahre alt war, trat ein, worauf er so lange unverdrossen gewartet hatte: In Zusammenarbeit mit dem Außenministerium lud das British Council, Großbritanniens internationale Organisation für kulturelle Beziehungen und Bildungsmöglichkeiten, Alfred Kerr zu einem Besuch seines Heimatlandes ein. Er sollte in den von den Alliierten kontrollierten Zonen die großen Städte Deutschlands besuchen, um die neuen Anfänge des deutschen Theaters zu sehen und darüber zu schreiben. Er war überwältigt und begann seine Reise mit einem Flug nach Hamburg – dem ersten Flug seines Lebens. Einige Zeilen sind erhalten, die Alfred Kerr im Flugzeug notierte:
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Erste Erfolge
„Sauber. Northolt. Fliege zum ersten Mal. Sicht wie ein Garten im Bilderbuch. Sonniger Schnee. Über den Wolken. Sieht wie Eiswüste aus. Drüber klarer Himmel. Endlose bestrahlte, fröhliche Wattebäusche, drüber ein (nur hellgraues) ‚Paradies‘. Herrlich – in leuchtender Verlassenheit; schön und hoffnungslos! Man ist ja doch wie ausgeliefert! Wenigstens hat man es noch einmal gesehen. Glanz – Glanz, verwundert miterlebt, vor dem Abkratzen. Man sieht vielleicht noch ganz andere Schneegefilde – und sie werden nicht besonnt sein.“ (nach Wendler, 300) Zeilen, die sehr schön seine Gefühlswelt über den Flug hinaus offenbaren, das Schwanken zwischen den beiden Extremen, wie „Paradies“, „herrlich“, „fröhlich“ und „hoffnungslos“, „Verlassenheit“. Er weiß: Sein Tod fliegt mit. Michael Kerr beschreibt das Ereignis und die Tage davor und danach in einer emotionalen Lebendigkeit, die von der Liebe zu seinem Vater und seinem Verständnis für ihn zeugt. Er erinnert sich anhand seines alten Tagebuchs, wie er den Vater in dessen Zimmer in Putney abholte, den ramponierten alten Koffer und die unvermeidliche Schreibmaschine in der Hand, wie sie mit dem Bus Nr. 14 nach Knightsbridge fuhren mit Umstieg in Linie 52, die die beiden Männer bis zur Dachgeschosswohnung der Geschwister brachte. „Er verbrachte seine letzte Nacht in England in meinem Bett und schlief in seinen Kleidern.“ Das Taxi brachte sie zu nachtschlafender Zeit zum Flughafen. „Zum ersten Mal entspannte er sich und sagte, ‚Ich habs geschafft‘. Er war in bester Stimmung, und im Tagebuch heißt es, dass er großartig aussah.“ (MK, Remember, 202) Es sollte ein Abschied für immer von England sein, aber Alfred Kerr genoss. Er genoss den Flug und die Willkommensparty in Hamburg; er genoss die Ansprachen zu seinen Ehren und das Hotel Atlantic, das auf seltsame Weise den Krieg überlebt und das er sein ganzes Leben als Erwachsener in Deutschland gekannt hatte. Am 159
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Abend wollte er unbedingt ins Stadttheater gehen, zu einer lokalen Aufführung von Romeo und Julia. Es wurde ein großartiger Abend, bei dem ihm viele bedeutende Leute vorgestellt wurden. Man feierte seine Rückkehr, er war auf dem Höhepunkt seines Triumphs. In derselben Nacht erlitt er in seinem Hotelzimmer einen Schlaganfall, der ihn halbseitig gelähmt zurückließ. Humorvoll konnte er noch kundtun, dass das nichts mit dem Theaterstück zu tun hatte. „Na, so schlecht war es doch nicht“, habe er noch kommentiert, erinnert sich Michael Kerr. Zunächst sah es so aus, als würde sich noch einmal alles zum Guten wenden, und seine Frau, die aus Nürnberg herbeigeeilt war, reiste wieder aus Hamburg ab. Aber dann verschlechterte sich sein Zustand dramatisch, mit der halbseitigen Lähmung, gravierenden, schmerzhaften Atembeschwerden und schließlich dem Verlust der Sprache. Er musste seine Frau an ihr einstiges gegenseitiges Versprechen erinnern und sie um einen letzten Gefallen bitten. Ein deutscher Arzt erfüllte den Wunsch. In einem ausgeklügelten Zeitplan, der die Familie vor unliebsamen Untersuchungen und Konsequenzen schützen sollte, nahm Alfred Kerr in der Nacht zum 12. Oktober 1948 das tödliche Luminal, nicht ohne sich noch schriftlich in dem gewohnt großartigen Stil zu verabschieden. „Mein Vater war in guter Stimmung, aber völlig unfähig sich zu bewegen. Er sagte, er müsse beichten, dass wer auch immer die Rechnung für das Atlantic bezahlte, betrogen würde, denn er hatte den teuersten Wein bestellt.“ (MK, Remember, 206) Er hinterließ eine handgeschriebene Nachricht an seinen Sohn über die Fortdauer sexuellen Begehrens bis ins hohe Alter („Das wird nur erwähnt, um eine Tatsache festzustellen, für die Wissenschaft“) und einen Ausblick auf sein Sterben: „Mitternacht. Wenn am Morgen die Schwester kommt, wird sie mich tot vorfinden. Ich habe das Leben über alle Maße geliebt, setzte ihm jedoch ein Ende, als es zur Qual wurde.“ (MK, Remember, 206) 160
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Gegenüber den emotional bewegenden, seitenlangen Erinnerungen Michael Kerrs, der seinem Vater doch so viel ferner war als seine Schwester, allein durch den räumlichen Abstand seit dem 12. Lebensjahr, nehmen sich die sechzehn Zeilen, die Judith Kerr dem Tod Alfred Kerrs widmet, fast nebensächlich und erstaunlich blass aus. Auch über die triumphale Fahrt nach Deutschland, die der Vater unternehmen konnte, berichtet sie in nur zwei Sätzen: „Er sah eine nicht besonders gute Aufführung von Romeo und Julia und brach dann nachts in seinem Hotelzimmer zusammen.“ Es folgt die kurze Episode mit dem Ausspruch zu dem eben gesehenen Theaterstück, dann fährt Judith Kerr fort: „Sein Zustand verbesserte sich nicht, und einige Wochen später nahm er mit Unterstützung meiner Mutter Tabletten, die sein Leben beendeten.“ (JK, Geschöpfe, 52 f.) Kein Wort zu dem, was sie bewegt haben muss, kein Wort zu seiner Beisetzung, vielleicht, weil sie als die 90-Jährige, die dies alles schrieb, bereits eine andere Sicht auf Leben und Tod hatte. Michel Kerr berichtet, dass seine Schwester mit der Entscheidung des Vaters zum Freitod und dem Mitwirken ihrer Mutter voll einverstanden gewesen wäre. Judith Kerrs fehlender Beschreibung stehen mehrere Seiten Erinnerungen bei Michael Kerr gegenüber, wie sich die Bestattung vollzogen hat, die der Vater selbst mit klaren Anweisungen vorbereitet hatte: kein Gottesdienst, kein Priester, nichts Religiöses, aber mit dem zweiten Satz der Siebten Symphonie Beethovens; es spielte das Orchester der Hamburger Philharmonie. Der kleine Sarg war – trotz der britischen Staatsbürgerschaft eher unpassend – mit einem Union Jack, der englischen Flagge, bedeckt. Die Beisetzung erfolgte in dem wohl größten Friedhof Europas, in Ohlsdorf. Siebzehn Jahre später sollte ihm seine Frau folgen; unter dem schlichten Grabstein, der nur den Namen Alfred Kerr und seine Daten trägt, wird ihrer mit einer kleinen Grabplatte gedacht. „Er starb, wie er gelebt hatte“, schreibt Michael Kerr abschließend und gibt als letztes Postscriptum ein Gedicht bei, die Adaption eines englischen Songs von Christina Rossetti. 161
Nach dem Krieg (1946–1970)
Sterbelied Lass, wenn ich tot bin, Liebster, Lass du von Klagen ab. Statt Rosen und Zypressen Wächst Gras auf meinem Grab. Ich schlafe still im Zwielichtschein, In schwerer Dämmernis – Und wenn du willst, gedenke mein; Und wenn du willst, vergiss. Ich fühle nicht den Regen. Ich seh nicht, ob es tagt, Ich höre nicht die Nachtigall, Die in den Büschen klagt. Vom Traum erweckt mich keiner: Die Erdenwelt verblich; Vielleicht gedenk ich Deiner – Vielleicht vergass ich dich. (MK, Remember, 209) „Der Tod meines Vaters 1948 war für mich das Ende einer Ära.“ (MK, Remember, 213) Wie der Tod Judith Kerr beeinflusst und bewegt hat, erfährt der Leser nicht; aber vergessen wurde er nicht. Davon zeugt ein einziger Satz: „Siebzig Jahre später kann ich in meinem Kopf immer noch ein Gespräch mit ihm führen.“ (JK, Geschöpfe, 53) Zielsicher und konsequent baute Judith Kerr nun ihre Arbeit aus und begann, ihrem Leben neue Strukturen zu geben. In London übernahm sie als Lehrerin weitere Abendkurse und unterrichtete diesmal Kinder aus den Slums von Paddington. Nach dem Krieg, Ende der 1940er-Jahre, hatte Paddington die höchste Bevölkerungsdichte aller Londoner Bezirke und der Wiederaufbau des gar nicht so schwer beschädigten Stadtteils dauerte länger als in anderen Teilen der Stadt. 162
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Es war nicht etwa so, dass diese Kinder aus den Slums besonderes Interesse an der Kunst gezeigt hätten; vielmehr wollten sie alle an Tanzveranstaltungen teilnehmen, und um das zu erreichen, mussten sie vorher entweder den Kurs zur Kunst oder zur Hygiene besuchen; Kunst war da offenbar das kleinere Problem, wenn auch Hygiene vermutlich nützlicher für sie gewesen wäre. Aber Judith Kerr begann diese Kinder bald zu lieben und erwog nach eigener Aussage sogar kurzfristig, ihren Beruf hinzuwerfen und sich ganz den Kindern zu widmen. 1949 war dann ein erfolgreiches Jahr für die Künstlerin Judith Kerr. 1908 hatte Lord Northcliffe, der Eigentümer der Zeitung Daily Mail, die Ideal Home Exhibition gegründet, ein Ausstellungszentrum ganz im Geiste sozialer Reformen, um die Diskussion über menschenwürdigeres und schöneres Wohnen anzukurbeln. Gegen eine minimale Gebühr sollten sich die Betroffenen hier Ideen für ihr eigenes Heim und zur Erleichterung ihrer Hausarbeiten holen können; später kamen kriegsspezifische Themen hinzu, dann Kinderfürsorge und Bedürfnisse der Arbeiterklasse. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die Ideal Home Exhibition einen ungeahnten Aufschwung mit den Themenschwerpunkten „Educate and Entertain“, Erziehung und Unterhaltung. Die 1949 für die Ideal Home Exhibition verantwortliche Lady Rothermere hatte beschlossen, einen kleinen Teil dieser Ausstellung Gemälden junger Künstler zu widmen. Ein Bild von Judith Kerr gewann den ersten Preis; es beruhte auf Entwürfen, die sie während ihrer Zugfahrten nach Eastbourne gemacht hatte. Das Gemälde samt Bleistiftskizze und Überreichung des Preises ist in Judith Kerrs Autobiografie zu sehen. Der Preis war die unvorstellbare Summe von 100 Pfund. Das Geld ermöglichte es ihr, mit zwei jungen Männern, die in der Armee gedient hatten, in deren altem Auto über Frankreich nach Spanien zu fahren, wobei man an den Abenden irgendwo die Zelte aufbaute. Aus ihren Eindrücken auf der Reise ist später ein neues Stoffdesign entstanden, das das Leben in Spanien zeigt. Der Prado in 163
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Madrid, eines der größten und bedeutendsten Kunstmuseen der Welt, hatte es ihr besonders angetan, und sie erinnert sich an einen Raum, dessen Wände mit Gemälden von Goya bedeckt waren. Judith Kerr war ihrem Ziel, eine berühmte Malerin und Zeichnerin zu werden, sehr nahe gekommen.
Eine Lehrerin, die Literatur und die Liebe Die 1950er-Jahre sollten für Judith Kerr der einschneidendste Lebensabschnitt werden. Als Erstes konnte sie 1951 ihren Unterricht in Eastbourne mit den zeitaufwendigen Fahrten aufgeben. Eine ehemalige Kommilitonin von der Central School of Arts hatte eine Stelle als Lehrkraft an einer Berufsfachschule für Mädchen inne; diese exzellente Schule bot ganz unterschiedliche Kurse an, zum Beispiel für angehende Köche, und unter anderem auch einen Kunstkurs für Jüngere. Als die Lehrerin ihre Anstellung aufgab, hatte Judith Kerr das Glück, diese übernehmen zu dürfen. Aus ihren Worten in Interviews und ihrer Autobiografie spricht immer wieder deutlich Begeisterung für die selbstbewussten Mädchen, die wussten, was sie später in ihrem gewählten Beruf würden leisten können, und für die Schulform einer Berufsschule, die später zugunsten des Gymnasiums stark eingeschränkt worden sei. Es war ein folgenschwerer Entschluss von Judith Kerr, diese Stelle anzutreten – die beste Entscheidung, die sie je getroffen hatte, kommentiert sie in ihrer Autobiografie. Die Schule befand sich in Lime Grove, einer Anliegerstraße in Shepherd’s Bush im westlichen London. In derselben Straße befanden sich die Lime Grove Studios, ein Filmstudiokomplex, der 1949 von der BBC gekauft worden war; was ursprünglich als vorübergehende Maßnahme gedacht war, sollte letztlich mehr als vier Jahrzehnte, bis 1991, Bestand haben und als Fernsehsender genutzt werden. 164
Eine Lehrerin, die Literatur und die Liebe
Tom Nigel Kneale (1922–2006), britischer Schriftsteller und Drehbuchautor. 1954 heiratete er Judith Kerr.
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Schon damals hatten einige ihrer Schülerinnen Zugang zu Fernsehapparaten, sei es zuhause bei den Eltern oder bei Freundinnen. Was die Mädchen einander über diese bahnbrechende Erfindung erzählten, weckte das Interesse von Judith Kerr. Als eine Frau, die in den Filmstudios arbeitete und die sie bei Bekannten kennengelernt hatte, sie im Februar 1952 zum Essen in die Studios einlud, ergriff Judith ihre Chance. Als sie in der vollen Kantine über ihrem Lunch saßen, setzte sich zufällig Tom Kneale an ihren Tisch. Er sollte Judith 52 Jahre lang begleiten. Von nun an kennt die Autobiografie Judith Kerrs neben ihren Büchern, die sie später schreiben und illustrieren wird, nur ein großes Thema: Tom Kneale; es füllt etwas mehr als 100 Seiten – und ist nichts anderes als eine große Liebeserklärung. Tom, eigentlich Thomas Nigel Kneale, war ein „Manxman“: Seine Familie kam ursprünglich von der Isle of Man. 1928, als Tom sechs Jahre alt war, zog die Familie wieder auf die Insel zurück, wo sein Vater die lokale Tageszeitung The Herald besaß und herausgab. Nach der Schule begann er ein Jurastudium und arbeitete danach eine Zeitlang als Anwalt, ohne dass ihn dieser Beruf jedoch ausgefüllt oder auch nur annähernd begeistert hätte. Bei der Armee wurde er im Zweiten Weltkrieg aufgrund einer latenten Erkrankung als dienstuntauglich erklärt und begann ein zweites Studium. Während Judith Kerr Kunst an der Central School of Arts studierte, studierte er Schauspielerei, machte bei der Royal Academy of Dramatic Art seinen Abschluss und trat in Statistenrollen am Stratford Memorial Theatre in Stratfordupon-Avon auf. Er hatte aber auch früh begonnen, Kurzgeschichten zu schreiben, die in dem Band Tomato Cain veröffentlicht wurden. 1950 gewann er damit den Somerset Maugham Award – sein Sohn, Matthew Kneale, sollte 38 Jahre später die gleiche Auszeichnung für sein Werk erhalten. Noch heute sind die Tomato-Cain-Geschichten, von denen viele auf der Isle of Man spielen, in einer Vielzahl von Ausgaben lieferbar. 166
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Tom Kneale fühlte sich angezogen von dem neuen Medium Fernsehen; bereits am 25. März 1946 war er im BBC-Radio in der North of England Home Service Region zum ersten Mal auf Sendung gegangen: Er las live aus seinen Kurzgeschichten Tomato Cain innerhalb der Reihe Stories by Northern Authors. Es war in dieser Zeit, dass er für solch offizielle Anlässe den Namen „Nigel Kneale“ zu nutzen begann, während er privat für Familie und Freunde „Tom“ blieb. Ermutigt von seinem schriftstellerischen Erfolg, gab Tom Kneale die Schauspielerei auf und widmete sich ganz dem Schreiben. Dazwischen fungierte er immer wieder als Synchronsprecher in diversen Rollen bei der BBC und wurde schließlich als eine Art „Mädchen für alles“, Werbetexter und Drehbuchautor bei der BBC eingestellt. Seine Aufgabe war es unter anderem, Bühnenstücke für das Fernsehen zu adaptieren und Dialoge zu schreiben. Als Judith Kerr ihn im Februar 1952 beim Mittagessen in der Kantine traf, hatte er gerade seine Festanstellung erhalten. Nach dem Essen brachte er sie zur Bushaltestelle und lud sie wenige Tage später ins Theater ein; ein ausgesprochen schlechtes Stück, wie sich Judith Kerr erinnert. Danach gingen sie chinesisch essen „und am Ende des Abends dachten wir beide auf unseren getrennten Wegen in der U-Bahn darüber nach, dass wir möglicherweise heiraten würden.“ (JK, Geschöpfe, 59) Kurz danach verlangte man von ihr an der Berufsfachschule, ihren zweitägigen Unterricht pro Woche auf eine Vollzeitstelle aufzustocken. Das hätte bedeutet, dass ihr keinerlei Zeit für ihr eigenes Zeichnen und Malen geblieben wäre, und Tom schlug vor, dass sie sich stattdessen um eine Anstellung bei der BBC bewerben sollte. Man suchte gerade nach jemandem, der unaufgefordert eingesandte Manuskripte lesen und beurteilen sollte, und da Judith Kerr Manuskripte sogar in mehreren Sprachen lesen konnte, bekam sie einen Dreimonatsvertrag auf Probe. Die Manuskripte – „fast alles schrecklicher Müll“ – nahm sie mit nach Hause, wo sie sie las und unter der geduldigen Anleitung von Tom lernte, den Inhalt zusammenzufassen 167
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und ihre Beurteilungen zu schreiben. Da die BBC den Status des öffentlichen Dienstes hatte, war sie verpflichtet, in jedem einzelnen Fall zu reagieren. Nach drei Monaten wurde Judith Kerrs Zeitvertrag dauerhaft entfristet. Dann kam die Krönungsfeier von Elisabeth II. am 2. Juni 1953. Für das Fernsehen bedeutete das einen gewaltigen „Karriereschub“, jeder wollte die Inthronisation der jungen Königin live auf den neun Zoll großen Bildschirmen verfolgen. In der Folge blühten auch Schauspiel und Spielfilm im Fernsehen auf, die Filme wurden anspruchsvoller, und Tom Kneale erhielt vom Chef der BBC den Auftrag, eine sechsteilige Serie zu schreiben. Tom erkannte seine Chance und schlug ohne zu zögern eine Science-Fiction-Serie vor, die in krassem Gegensatz zu den bisherigen, sehr eingeschränkten theatralischen Produktionen stehen sollte. Zusammen mit einem australischen ehemaligen Filmdirektor wagte er den Ausbruch aus den Konventionen. Jahrzehnte später, als Tom schon lange Zeit tot war, fand Judith Kerr sein Tagebuch aus dieser Zeit des Anfangs, und sie erläutert daraus seine souveräne Handhabung der ihm angetragenen Aufgaben. Für die erste Episode habe er eine Woche gebraucht, für die zweite nur vier Tage und die dritte habe er an einem Wochenende geschrieben. Einige Szenen konnten nicht im Studio gedreht werden, was den Fortgang verlangsamte; während die erste Folge bereits im Fernsehen lief, schrieb er noch an der letzten. Die Serie hieß The Quatermass Experiment. Professor Bernard Quatermass war die namengebende Titelfigur dieses Science-Fiction-Franchise, ein erfundener Wissenschaftler, dem eine Vorreiterrolle im britischen Weltraumprogramm zukam. Die Serie wurde über alle Maßen erfolgreich und tauchte immer wieder in Radio-, Fernseh- und Filmproduktionen auf, zum Beispiel noch 2005 in dem gleichnamigen Live-Remake der Originalserie. Tom Kneale übernahm in der Serie kleinere Rollen als Synchronsprecher und er war der Erzähler zu Beginn jeder neuen Episode, der das bis dahin Geschehene rekapitulierte. 168
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Judith stand Tom Kneale bei der Produktion intensiv und hilfreich zur Seite, wie auch andere der Kollegen; es war ein Experiment und es war mit viel Arbeit verbunden. Gute Ideen und Einfälle mussten die eventuell noch mangelnde Technik, vor allem im Bereich der auftretenden Aliens, ersetzen. Über zwei ganze Seiten mit großen Fotografien erinnert sich Judith Kerr geradezu verklärt und detailreich an diese Serie, die die erste ihrer intensiven Zusammenarbeit war. „Die erste Folge sorgte für Aufregung. Die zweite fegte die Straßen und Pubs leer, und als die dritte Episode ausgestrahlt wurde, wussten wir, dass etwas Außergewöhnliches passiert war. Ich erinnere mich, dass wir auf dem Weg vom Alexandra Palace zur U-Bahn-Station auf die über ganz London verteilten Fernsehantennen hinunterblickten und wussten, dass jeder Einzelne sie gesehen hatte. Es war der erste gigantische Erfolg für den Fernsehfilm.“ (JK, Geschöpfe, 60 f.) Als alle sechs Folgen der erfolgreichen Serie ausgestrahlt waren, fuhren Judith und Tom in Urlaub, reisten durch ganz Italien und landeten am Ende in Berlin bei ihrer Mutter, wo sie von ihren Hochzeitsplänen sprachen. Zurück in London erlebten sie die Auswirkungen des neuen Bekanntheitsgrades: Die BBC erhielt und verglich zahlreiche Anfragen und Angebote von Filmgesellschaften, die Tom Kneale als Drehbuchautor gewinnen wollten. In den folgenden Jahren sollten sich von ihm zwei weitere Quatermass-Serien anschließen, allerdings nichts fürs Fernsehen, sondern für den Film, sowie – ebenfalls für den Film – ein Stück über Yeti, den Schneemenschen, The Abominable Snowman („Der grässliche Schneemensch“). Schließlich gab es eine Adaption von George Orwells dystopischem Roman 1984; erschienen im Juni 1949, war das Buch noch nicht sonderlich bekannt, aber der Film, der in enger Anlehnung an das Buch einen totalitären Überwachungsstaat im Jahr 1984 zum Thema hatte, erregte so ein Aufse169
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hen, dass man sogar im englischen Parlament in einer Fragestunde darüber diskutierte. Wieder gab es einen Aufstieg im beruflichen Leben von Judith Kerr: Man bot ihr eine Vollzeitstelle als Lektorin im neuen Fernsehcenter der BBC an, sie sollte die Stücke lesen, die von Autoren eingereicht wurden, und sie in einem schriftlichen Bericht evaluieren. Das war ein verlockendes Angebot, das aber auch Nachteile für ihre künstlerische Karriere beinhaltete. Ihre Halbtagsarbeit hatte ihr genügend Zeit gelassen zum Malen, und dennoch hatte sie immer das Gefühl, nicht allzu viel erreicht zu haben. Vielleicht lag dies aber auch daran, dass sie sich im Schatten von Tom Kneales Bruder Bryan sah, 1930 geboren und damit sieben Jahre jünger als sie, der sie nach eigener Einschätzung aber als Künstler bereits um „Lichtjahre“ überragte. Als Tom Kneale den Somerset Maugham Award für seine Tomato-Cain-Geschichtensammlung bekam, erhielt sein Bruder Bryan 1948 den angesehenen Rome Prize, der jährlich von der Amerikanischen Akademie in Rom verliehen wurde, und zwar an fünfzehn junge aufstrebende Künstler in so unterschiedlichen Bereichen wie (Landschafts-)Architektur, Design, Literatur, Musik und bildender Kunst, sowie an fünfzehn Gelehrte, die zu den Themen Antike, Mittelalter, Renaissance und Frühmoderne arbeiteten. Bryan Kneale gilt heute als einer der angesehensten Metall-Bildhauer Englands. Trotz gewisser Bedenken nahm Judith die neue Stelle an „und zog in Toms Welt der Schauspieler und Schriftsteller, der Filmdramen und Proben ein. Ich liebte es.“ (JK, Geschöpfe, 64) Zwei Jahre nach ihrer ersten Begegnung heirateten Judith Kerr und Tom Kneale. Von der Hochzeit sind keine Fotografien erhalten, da die Kamera versagte, sodass es nur ein offizielles Pressefoto gibt. Toms Eltern reisten von der Isle of Man an und Judiths Mutter Julia kam aus Berlin. In schriftstellerischer Freiheit, die in Details von der Darstellung in ihrer Autobiografie abweicht, erzählt der dritte Band der Trilogie Judith Kerrs, Eine Art Familientreffen, kurz von dieser Hoch170
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zeit. Anna wird von einem Verkäufer auf ihren Mann – im Roman trägt er den Namen Richard – angesprochen und erinnert sich. „Sie dachte an das Standesamt in Chelsea, gleich neben der orthopädischen Klinik. Richards Eltern waren aus Nordengland gekommen, Mama aus Berlin, ihre persönlichen Freunde waren da gewesen und Vetter Otto, der beim Empfang umkippte – angeblich wegen der Hitze, aber in Wirklichkeit hatte er ganz einfach zu viel getrunken. Und dann war das Taxi gekommen, sie und Richard waren davongefahren und hatten sie alle zurückgelassen.“ (JK, Familientreffen, 414) Die Hochzeit fand unter den eingeschränkten Umständen der Nachkriegszeit statt. Spätestens ab Januar 1940, als der Luftkrieg mit Deutschland in vollem Gang gewesen war und durch den fehlenden Import dringend benötigter Ware die Versorgung zu großen Teilen ausfiel, wurden fast alle Lebensmittel rationiert, bis auf Kartoffeln und Fish & Chips. Nach dem Krieg wurde die Rationierung nicht etwa aufgehoben, sondern eher verschärft; sie galt ab 1946 für Brot und ab 1947 schließlich auch für Kartoffeln. Erst im Juli 1954 wurde die Rationierung ganz aufgehoben. Es war der Beginn von vier außerordentlich glücklichen Jahren des jungen Ehepaares, die es gemeinsam beim Fernsehen verbrachte – und das war damals zwar nicht mehr direkt in den Anfängen, aber dennoch ganz anders als heute und sehr aufregend. Judith Kerr erinnert sich: „Es gab eine kleine Verwaltung, keine Gremien, keine Beiräte. Nur der Drehbuchautor, der Produzent (der gleichzeitig der Regisseur war), sein Assistent und das Schauspielerensemble, und alle waren komplett eingebunden. Das Drehbuch wurde geschrieben und in der Regel begannen kurz danach die Proben. Es wurde live gesendet und es gab eine direkte Reaktion. Auf diese Weise war es wie beim Theater, aber nicht mit Hunderten Zuschauern, sondern mit Tausenden.“ (JK, Geschöpfe, 64)
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Auch wenn es „nur“ Film statt Theater war: Es ging um das Schreiben, das Sehen, das Beurteilen – Judith Kerr auf den Spuren ihres Vaters: Es hätte ihm gefallen. Judith Kerrs Erinnerungen verweilen nun eine Zeitlang bei den verschiedenen Produktionen, Menschen aus den Fernseh- und Filmbereichen treten darin auf, deren Namen noch heute lebendig sind, andere sind in Vergessenheit geraten oder auch nie bekannt gewesen; es sind Abschnitte mit sehr viel Insiderinformation. Eines der großen, zeitnahen Ereignisse war die Verfilmung von John Galworthys Forsyte Saga, einer Romantrilogie aus den Jahren 1906 und 1921, für die dem Autor 1932 der Nobelpreis für Literatur verliehen worden war. Er schildert darin das Leben der (fiktiven) Familie Forsyte, das Raum bietet für viele dramatische Ereignisse, die sich über vier Generationen erstrecken und grundlegend den Kampf zwischen Familientradition und den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen zum Thema haben. Ähnlich wie Thomas Mann in seinen Buddenbrooks erzählt Galworthy aber nicht einfach vom Niedergang einer Familie, sondern thematisiert auch die neu zu findenden gesellschaftlichen Rollen nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung. Dieser Film brachte die nächste Beförderung für Judith Kerrs Tätigkeit bei der BBC. Das neue Medium Fernsehen hatte sich unaufhaltsam, ja, geradezu explosiv weiterentwickelt, und auf einmal gab es zu wenige Leute, die damit wirklich umgehen und in dem Bereich arbeiten konnten. Judith Kerr sollte fortan schreiben. Um das zu tun, musste sie einen Kurs belegen – die BBC legte Wert auf eine gute Ausbildung – und konnte danach zunächst als „script editor“, eine Art Dramaturg, arbeiten, eine Aufgabe, die literarische und kommunikative Kompetenzen erforderte: Es ging vor allem um eine Beurteilung der Qualität eingereichter Texte und deren Bearbeitung hinsichtlich der Tauglichkeit für die geplante Aufführung und Verfilmung. Diese Arbeit gipfelte bald in der Tätigkeit als Drehbuchschreiber. Judith war unsicher, ob sie dazu auch wirklich in der Lage war, glaubte aber, dass 172
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die Kollegen und Vorgesetzten dem recht gelassen entgegensahen in dem beruhigenden Bewusstsein, dass Tom Kneale es schon richten würde, wenn seine Frau etwas falsch machte. Um dem Vorwurf des Nepotismus zu begegnen, musste sie allerdings unter ihrem Mädchennamen Kerr schreiben, was dann aber fälschlicherweise eine Verwandtschaft mit George Kerr (1918–1996) nahelegte, der zur gleichen Zeit bei der BBC als Bühnenautor arbeitete, an die 500 Stücke jährlich las und für das Fernsehen adaptierte. Da ohnehin mittlerweile jeder wusste, dass sie mit Tom Kneale verheiratet war, galt sie nun auch noch als Schwester von George Kerr. Zu Judith Kerrs Aufgaben als Drehbuchautorin gehörte es, zusätzlich die eine oder andere Szene selbst hinzuzufügen, wenn ein Stück etwas verlängert werden musste, und natürlich hieß es bei den Proben dabei zu sein, für den Fall, dass sich irgendein Problem ergeben sollte. Aber Judith war nun schon so lange mit Tom zusammen, der seine unschätzbaren Erfahrungen mit ihr zu teilen pflegte, dass sie ihrer neuen Tätigkeit ohne größere Schwierigkeiten nachkommen konnte. Sie tat dies sogar so gut, dass die nächste Herausforderung bereits wartete: Sie sollte eine sechsteilige Serie schreiben, eine Adaption von John Buchans Huntingtower. John Buchan (1897–1940), mit dem Titel 1st Baron Tweedsmuir und zu diesem Zeitpunkt bereits 15 Jahre verstorben, war ein schottischer Romanautor, Historiker und Politiker der schottischen Unionist Party. Huntingtower schrieb er 1922 als den ersten Teil seiner Dickson-McCunn-Trilogie; 1930 folgte als zweiter Teil Castle Grey und als dritter Teil 1935 The House of the Four Winds (Das Haus der vier Winde). Zugrunde liegen diesen Geschichten die bizarren und haarsträubenden Abenteuer des 55 Jahre alten Lebensmittelhändlers Dickson McCunn, der sich nach dem frühen Verkauf seines Geschäftes ins Privatleben zurückzieht und aufbricht, die Welt zu erforschen, wobei er zögerlich und eher widerwillig zum Helden wird. „Genau da traf es mich“, schreibt Judith. Zum ersten Mal begann sie ganz bewusst über Sprache zu reflektieren. „Was machte ich da, 173
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fragte ich mich, eine dreistündige Fernsehserie schreiben zu wollen, obwohl Englisch nicht meine Muttersprache war? Und noch dazu in schottischem Dialekt? Durfte man wirklich in einer Sprache schreiben, die man sich erst mit dem zwölften Lebensjahr angeeignet hatte?“ (JK, Geschöpfe, 65) In ihrer Autobiografie tut sie diese Überlegung aber gleich danach mit vier kommentierenden Wörtern in Klammern ab: „(Das war natürlich Blödsinn)“. Aber sie fand die Aufgabe diesmal trotzdem extrem schwierig, auch wenn vereinbart wurde, dass sie den Text in schlichtem Englisch schreiben sollte, und ihr Vorgesetzter Donald Wilson, gebürtiger Schotte, würde dann den schottischen „touch“ hinzufügen. Vielleicht lagen ihre Schwierigkeiten diesmal aber auch daran, dass Judith Kerr zu Beginn dieser Aufgabe eine Fehlgeburt erlitt, der eine Depression folgte. Sie erinnert sich, dass sie tagelang über der ersten Episode saß, unfähig, überhaupt etwas zu schreiben; auch die zweite und dritte zogen sich über Gebühr in die Länge. Dann bekam sie, wie es damals üblich war, „Glückspillen“, Psychopharmaka, würden wir es heute nennen, mit dem unerwarteten Erfolg, dass sie fortan pausenlos redete und sich auseinandersetzungsfreudig bei den Besprechungen gab. So langsam besserte sich ihr Zustand wieder, und sie führte die Episoden vier bis sechs zu einem glücklichen Ende. An dieser Stelle muss der Blick noch einmal zurückgehen nach Deutschland, denn um diese Zeit setzt der dritte Roman der Hitler-Trilogie von Judith Kerr ein, Eine Art Familientreffen – eine Zeit mit dramatischen, diesmal rein familiären Ereignissen in Deutschland, die sie in ihrer Autobiografie wieder komplett ausblendet – umso erstaunlicher, da ihr Bruder Michael dem Geschehen zwei ganze Kapitel widmet. Wieder ist er es, der sich als genauer und sensibler Beobachter der familiären Verhältnisse erweist. Julia Kerr hatte sich in Deutschland durch ihre Arbeit bei den Nürnberger Prozessen eine neue Existenz aufgebaut. Neben dem beruflichen Erfolg hatte sich auch in ihrem Privatleben einiges geändert. Schon zu Lebzeiten ihres 174
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Mannes Alfred Kerr hatte sie einen anderen Mann in Deutschland kennengelernt, dessen Namen Michael Kerr nur mit dem Vornamen „Walter“ wiedergibt; im Roman heißt er Dr. Konrad Rabin und ist bereits ihr langjähriger Lebenspartner. Walter [Galewski] war Deutscher, von Beruf Rechtsanwalt und mit einer Engländerin verheiratet, mit der er zwei erwachsene Töchter hatte. Die Nürnberger Prozesse waren auch seine Chance zur Rückkehr – allein – nach Deutschland geworden. Michael Kerr beschreibt schön, wie sich Julia und Walter voneinander angezogen fühlten: „Sie wünschten sich für die verbleibenden Lebensjahre die gleichen einfachen Dinge. Zuneigung und mehr, ihren eigenen Platz zum Leben, frei zu sein von Geldsorgen, besseres Essen als jenes, das sie jahrelang gehabt hatten, und vielleicht ein Auto, damit sie zusammen reisen konnten.“ (MK, Remember, 223) Er fühlt Sympathie und Zuneigung für den Mann, den er als „sehr sehr netten Mann“ bezeichnet und der Michaels Mutter zärtlich liebte. Er erinnert sich, wie er einmal mit seiner Frau seine Mutter, damals in München, besucht hatte; bei der Gelegenheit hatten sie einen Abstecher an den Chiemsee gemacht, wo die Familie auch die Großmutter, Omama Gertrud, geborene Weismann, kennengelernt hatte, die nun mit einem anderen Staatssekretär, Victor von Leyden, verheiratet war. Es war eine besondere Atmosphäre, die die ersten Jahre nach dem Krieg prägte. „Wann immer ich bei meiner Mutter und Walter war, hatte ich das Gefühl, in der Gesellschaft der Eroberer zu sein, der Besatzungsmacht, die über den lokalen Einwohnern stand, und dass die Sehenswürdigkeiten und Annehmlichkeiten ihr Eigentum waren, um benutzt und vorgezeigt zu werden.“ (MK, Remember, 224) 175
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Aber es waren nicht nur die materiellen Vorteile, die Julia genoss. Sie bemühte sich intensiv um die Rehabilitierung ihres verstorbenen Mannes und unternahm erste Versuche, die Werke Alfred Kerrs in Deutschland publizieren zu lassen, vor allem in Ostdeutschland, wo man in ihm einen Unterstützer der antifaschistischen Haltung sah. Als sie sich mit Walter Huder, dem Direktor der kurz zuvor gegründeten Akademie der Künste, anfreundete, war der Durchbruch für ihr Vorhaben erzielt. Huder, ein ausgesprochener Anhänger Alfred Kerrs, ging über Julias Ziel noch hinaus und bestand auf der Gründung eines Alfred-Kerr-Archivs, das bald seine Arbeit aufnahm und mit Publikationen begann; in ihm lagern auch heute noch nicht aufgearbeitete Schätze in Form von Zeitdokumenten und Briefen. In den Jahren nach den Nürnberger Prozessen – sie endeten 1949 – war Berlin durch seinen Status ein neues Zentrum, eine Art Weltattraktion geworden. Julia Kerr bewegte sich durch eine gewisse Berühmtheit als Witwe Alfred Kerrs in den oberen Kreisen und sollte wenig später unter dem Regierenden Bürgermeister Willy Brandt, der ein tiefer Bewunderer Kerrs gewesen war, zur Assistentin im Westberliner Senat aufsteigen. „Seit ihrer Jugend hatte meine Mutter nie größeren Erfolg und größere Erfüllung gefunden, und nun war sie alt genug, um das zu schätzen.“ (MK, Remember, 225) Vor diesem Hintergrund war es in Deutschland 1955 zu dem Ereignis gekommen, das die Grundlage des Romans Eine Art Familientreffen bildet, den Judith Kerr etwa zwanzig Jahre nach den besagten Ereignissen schrieb. Das entsprechende Kapitel bei Michael Kerr trägt einen ganz ähnlichen Titel: „A painful family reunion“ („Ein schmerzliches Familientreffen“; MK, Remember, Kap. 56). Beide, Judith und Michael, erreichte ein Anruf von Walter, Julia Kerrs Lebenspartner: Julia sei schwer erkrankt und liege im Krankenhaus im Koma, es bestehe Lebensgefahr – eine Krise, die das Idyll der Beziehung von Julia und Walter gefährdete. Anna, die im Roman gerade dabei ist, Einrichtungsgegenstände für die erste 176
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gemeinsame Wohnung mit Richard (Tom) zu kaufen, versteht trotz massiver innerer Abwehr instinktiv, dass sie nach Deutschland fahren muss. Keine einfache Entscheidung; sie steht der Mutter – vielleicht auch aufgrund der erzwungenen unmittelbaren Nähe in einem gemeinsamen Zimmer über Jahre hinweg – nicht so nahe wie der Bruder Max (Michael). Auch der kommt, zögerlich und eher widerwillig, aus dem Urlaub auf Palma mit Frau und Kleinkind nach Deutschland. „Painful“ nennt Michael Kerr das Treffen in Berlin, schmerzhaft. Und das vor allem wegen der Schuldgefühle, die ihn und auch Judith quälten. Hatten sie Schuld auf sich geladen, indem sie den Kontakt zur Mutter so sehr hatten einschlafen lassen? Wie lange hatten sie ihre Briefe nicht beantwortet, wie lange sie nicht gesehen? Beide waren in dem Alter, in dem sie an ihrem eigenen neuen Leben mit Partner und Kind bauten und mit eigenen Problemen beschäftigt waren, zumal sie die Mutter bei ihrem Lebensgefährten in guten Händen wussten. Judith quält sich mit der Frage nach Schuld und Verantwortung. „‚Es war meinetwegen, nicht wahr?‘, sagte sie. ‚Weil ich nicht geschrieben hatte.‘ Er [Konrad] ließ die Hand mit dem Schlüssel sinken und sah sie fassungslos an. ‚Es wäre natürlich gut, wenn du deiner Mutter öfter schriebest‘, sagte er, ‚und wenn auch dein Bruder das täte. Aber das ist nicht der Grund.‘“ (JK, Familientreffen, 442) Und dann mussten sie schockiert erfahren, dass Julia erneut den Freitod gesucht und alle heimlich gesammelten Schlaftabletten geschluckt hatte, weil ihr Lebensgefährte ein Verhältnis mit seiner Sekretärin begonnen hatte. Und doch, die Schuldgefühle von Judith und Michael, einer Pflicht, die zu tun sich gehört hätte, nicht nachgekommen zu sein, verstärkten sich dadurch eher. 177
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Es wird „eine Art Familientreffen“ vor diesem emotionalen Hintergrund, ein Wendepunkt im Leben, wie Michael es bezeichnet. Zum ersten Mal seit langen Jahren waren die Geschwister wieder längere Zeit beisammen, hatten Zeit zu Gesprächen über Vergangenes, über ihr Leben, über die Eltern, über Hoffnungen und Träume, über Bewältigung. Zu der Zeit lief in Berlin eine Ausstellung über ihren Vater, und beide hatten Gelegenheit, mit dem Abstand eines Erwachsenen rückwirkend einzutauchen in die Vergangenheit, Erinnerungen auszutauschen, wie sie Dinge und Menschen erlebt hatten, vor allem den Vater. So wird die Begegnung an Orten ihrer Kindheit zu einer Auseinandersetzung mit den familiären Schicksalen und den eigenen Gefühlen, ehrlich und aufrichtig – Tage der ungeschminkten Wahrheit. Auch für Julia, die ihren Suizidversuch wieder überlebte, wurde es eine Zeit, in der sie erkennen musste – müsste –, was sie wirklich wollte, aber wie ein Kind war sie auch diesmal nicht in der Lage dazu. „‚Ich habe jetzt oft genug neu angefangen. Ich habe genug Entscheidungen getroffen. Ich will keine mehr treffen […] Es ist, weil ich sechsundfünfzig bin und die Nase voll habe‘“, und sie fügt hinzu, „‚Nie im Leben habe ich einen solchen Frieden gefühlt‘“ (JK, Familientreffen, 558 f.) – als sie die Schlaftabletten genommen hatte. Zehn, zwölf Jahre nach dem Krieg haben sie alle ihr Leben noch immer nicht bewältigt, sind Suchende geblieben, auf der Suche nach Antworten, die keiner liefern kann. „‚Manchmal habe ich mich gefragt, was gewesen wäre, wenn wir keine Flüchtlinge gewesen wären …‘“, lässt Judith Kerr den Bruder im Roman sagen, doch eine Antwort gibt es auch diesmal nicht. (JK, Familientreffen, 496) Am Ende kehrten die Geschwister Michael und Judith zurück: Michael nach Palma, wo seine Frau und die kleine Tochter warteten, Judith nach England zu ihrem Mann. Im Flugzeug gingen ihre Gedanken durcheinander, vermischten sich Vergangenheit und Gegenwart, und unruhig schlief sie ein. 178
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„[Sie] sperrte alles aus außer dem Pochen der Motoren. Falls man wirklich darüber schriebe, dachte sie, müsste man das doch auch erwähnen. Die verschiedenen Sprachen und die verschiedenen Länder. Und die Koffer. So viele Male gepackt und wieder ausgepackt. In den Speicher- und Kellerräumen der verschiedenen schäbigen Pensionen untergestellt, bei den Zugfahrten von einem vorübergehenden Zuhause zum andern gezählt und wieder gezählt.“ (JK, Familientreffen, 570) Als sie erwachte, war das Flugzeug bereits in England gelandet. Ihr Mann erwartete sie, und in den Nachrichten hieß es, die Russen seien gerade in Ungarn einmarschiert. „Flüchtlinge, darunter viele Kinder, strömen über die Grenze …“ (JK, Familientreffen, 576) Und mitten in all das hinein, von einer Sekunde zur anderen, wurde Judith (Anna) blitzartig klar: Sie war schwanger. Sie war zu Hause, endlich zu Hause angekommen, für immer. Im Sommer 1957 wurde Huntingtower, unter der (im Blick auf das typisch Schottische) verschönernden Mitarbeit von Donald Wilson, ein durchschlagender Erfolg. Judith Kerr erlebte ihn als einen wahren Glücksmoment – und dachte, sie sei vielleicht eine Schriftstellerin. Es war so ein Kampf gewesen, das Zeichnen zu lernen und dann als Künstlerin zu leben, und das Schreiben mit einem solchen Erfolg innerhalb so kurzer Zeit erlebte sie geradezu in einem Rausch – es machte sie ein bisschen größenwahnsinnig. Sofort hatte sie sich an die dramaturgische Umsetzung einer feinsinnigen Kurzgeschichte von Katherine Mansfield gemacht, aber die Reaktion der BBC darauf war vernichtend: Sie weigerten sich, auch nur irgendetwas damit zu tun zu haben. Danach konzentrierte sich Judith Kerr auf ihre Schwangerschaft; es waren nur wenig herausfordernde Aufgaben, die bei der BBC auf sie warteten. Zum Beispiel übersetzte sie ein Stück aus dem Französischen und bearbeitete es für das Fernsehen. Während der Proben 179
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saß sie mit den Technikern und dem Produktionsleiter zusammen, die jeden ihrer Wünsche umsetzten, aus Angst, die Geburt könnte sonst spontan einsetzen. Eine Zahlung von 100 Pfund erleichterte ihr das Ausscheiden. Zwei Wochen später wurde Judith Kerr per Kaiserschnitt von einer Tochter, Tacy Kneale, entbunden. „Dein Leben wird nie mehr dasselbe sein“, hatte man ihr prophezeit. Und so war es. Ihr Leben war nicht mehr dasselbe.
Ein Kater wird geboren Die 1960er-Jahre hatten begonnen. Anfangs vermisste Judith Kerr die täglichen Auf- und Anregungen im Sender, aber da von Anfang an klar war, dass sie und Tom die Kinder selbst aufziehen wollten, ohne die damals übliche Hilfe eines Kindermädchens, blieb für sie genügend Arbeit zu tun. Zum Glück hatte Tom Kneale kurz vor der Geburt der Tochter beschlossen, künftig freiberuflich zu arbeiten, sodass alle drei mehr Zeit miteinander verbringen konnten. Bald war aber die winzige Wohnung zu eng, mit Tom dazu, der nun oft zu Hause arbeitete, und die kleine Familie fand nach längerem Suchen eine etwas größere Wohnung ganz in der Nähe, die zunächst renoviert werden musste. Tacy stand in der Zeit dieser Streichaktionen draußen im Freien in ihrem Kinderwagen, und eines Tages hatte ihr jemand ein altes Buch mit Bildern in die Hand gedrückt. Judith Kerr bemerkte, mit welch konzentriertem Interesse das Kind die Bilder betrachtete, weitaus mehr als manche Erwachsene, wenn sie sich im Museum oder in einer Galerie Bilder anschauten, und ihr ging auf, dass die Tochter eigentlich etwas Besseres zum Anschauen haben sollte, als diese schlecht gezeichneten Bilder von Gegenständen wie Zahnbürste oder Waschlappen – eine erste Erinnerung an ihre zeichnerische Vergangenheit. Tom Kneale, gefragter als je zuvor, war zu dieser Zeit ungemein beschäftigt, denn er schrieb an zwei großen Drehbüchern, das erste 180
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Richard Burton in Blick zurück im Zorn, GB 1959. Drehbuch von Nigel Kneale nach dem Theaterstück von John Osborne.
zu John Osbornes Roman Look Back in Anger (Blick zurück im Zorn); auch der Autor, selbst eigentlich Schauspieler, war am Abfassen des Drehbuchs beteiligt. Beide frühere Dramen von Osborne, The Devil Inside Her („Der Teufel in ihr“) und Personal Enemy („Persönlicher Feind“), waren eher ein Achtungserfolg gewesen und nur auf kleineren Bühnen aufgeführt worden, aber Look Back in Anger, geschrieben 1956, sollte ein Welterfolg werden, vielleicht weil es ganz neu Empfinden und Emotionen einer Nachkriegsgeneration zum Ausdruck brachte und zu Neuerungen im weltanschaulichen Geistesleben beitrug. Das Stück bietet ein „Porträt des zornigen jungen Mannes Jimmy Porter, der sich, an der Universität und im Beruf gescheitert, den Konventionen des etablierten Bürgertums verweigert. Die quälenden Auseinandersetzungen mit seiner Ehefrau Allison und sporadische Ausbruchsversuche aus gegenseitiger Abhängigkeit enden in 181
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zynischer Resignation.“ (Filmlexikon) Unter dem neuen Direktor des Royal Court Theatre, George Davine, wurde Osbornes Look Back in Anger zum ersten wirklichen Erfolg des Theaters und erregte so viel Aufsehen und Begeisterung, dass es selbst in den Vereinigten Staaten aufgeführt und schließlich 1959 in England – das Drehbuch von Nigel Kneale – mit Richard Burton als Hauptfigur verfilmt wurde. Auch für das folgende Werk John Osbornes, The Entertainer (Der Entertainer), das ebenfalls am Royal Court Theatre uraufgeführt wurde, schrieb Nigel Kneale das Drehbuch. Die Hauptfigur wurde diesmal – wie auch später in der Verfilmung – von Laurence Olivier übernommen, der hier einen Bühnenschauspieler in einem drittklassigen Varieté-Theater spielte. Beide Filme entstanden unter der Regie von Tony Richardson; für Tom bedeutete die enge Zusammenarbeit sehr häufige Abwesenheit von der Familie, sodass Judith Kerr samt Tochter Tacy oft genug allein zu Hause saß. Die wenigen Sätze, die die junge Mutter diesen Zeiten widmet, klingen etwas deprimiert. Nach den umtriebigen letzten vier Jahren, die Judith jeden Tag vor neue Herausforderungen gestellt hatten, empfand sie die Zeit zu Hause weniger als erholsam, sondern als ziemlich langweilig. „Sie war fest entschlossen, immer meine volle Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen“, weiß Judith Kerr von ihrer kleinen Tochter zu berichten, „und falls ich behutsam versuchte, über irgendetwas anderes – möglicherweise auch über Arbeit, die ich erledigen könnte – nachzudenken, während ich nach ihrem Plan ihre Spielzeugtiere zum vierten oder fünften Mal umräumte, sagte sie streng: ‚Worüber denkst du nach, Mummy? Hör auf, nachzudenken!‘“ (JK, Geschöpfe, 68) Tacy liebte Geschichten, und beide Eltern erzählten ihr viele davon, Judith ging mit ihr auch in die Bücherei. Aber das, was es an Bilderbüchern für Zweijährige gab, war ziemlich enttäuschend. Judith Kerr kritisierte sie heftig, entweder als viel zu simpel, mit abgebildeten und benannten Tieren und Gegenständen, ohne jede Handlung, oder mit längeren, aber nicht sonderlich 182
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interessanten Geschichten, deren pädagogischer Zweck, den Wortschatz der Kinder zu bereichern, aufdringlich fühlbar war. Sie machte sich die Mühe, die Geschichten zu verbessern, sie Tracy in eigenen Worten zu erzählen, die das Kind verstehen konnte – ein anscheinend längeres, nicht unanstrengendes Unterfangen, da ihr manchmal dabei das Essen anbrannte. Wie in der eigenen Kindheit die Eltern samt „Onkel Julius“ alias Herr Meyerfeld mit der jungen Judith wieder und wieder im Berliner Zoo gewesen waren, ging nun Judith mit der eigenen Tochter so oft wie möglich in den Londoner Zoo. Zu der Zeit waren die später preisgekrönten Tier- und Naturdokumentationen eines David Attenborough, die er im Auftrag der BBC produzierte, noch in den Kinderschuhen, und die einzige Möglichkeit, lebende Tiere aus fernen Ländern zu sehen, war tatsächlich der Zoo. Tacy mochte alle Tiere, aber am meisten faszinierten sie die Tiger. Stundenlang konnten sie sie ansehen, und jedes Mal sahen diese anders aus. Judith fing an, Tacy zu Hause Geschichten über die Tiere zu erzählen, und besonders schön fand ihre Tochter eine über den Tiger. Judith Kerr erinnert sich genau an diesen Tag. „Das war zu einer Zeit, als Tom wieder zum Drehen unterwegs war, was uns ein wenig einsam zurückließ. Hin und wieder gingen wir spazieren, tranken Tee und schöpften alle Möglichkeiten aus, die Spielzeugtiere neu zu arrangieren, und wünschten uns beide, dass etwas passiere, dass vielleicht jemand zu Besuch kommen würde. So erfand ich die Geschichte vom Tiger, der zum Tee kommt.“ (JK, Geschöpfe, 69) Die Geschichte ist in der Übersetzung von Gundula Müller-Wallraf 2012 als Bilderbuch im Knesebeck Verlag erschienen. Die Geschichte, so Judith Kerr, habe sich sozusagen verselbstständigt, sei von ihr immer weiterentwickelt worden, bis sie genau so war, wie sie Tacy am besten gefiel. 183
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„Ein Tiger kommt zum Tee“ – Entwurf von Judith Kerr.
Das ist eine nette Episode, ganz natürlich und überzeugend erzählt – und sie widerlegt sehr schön tiefgehende, psychologisierende literaturwissenschaftliche Spekulationen, warum es denn ein Tiger sein musste und was dieser symbolisierte. Michael Rosen etwa versteht den Tiger metaphorisch, er könne als eine „vision of her past“, eine Vision aus der Vergangenheit Judith Kerrs, interpretiert werden, als eine zugrunde liegende Bedrohung, die der Familie alles raubt, was sie besitzt, und die das zufriedene Alltagsleben eines Kindes plötzlich zu einem Ende bringt. „Judith kennt gefährliche Menschen, die zu einem nach Hause kommen und Leute mitnehmen. Als kleines Kind wurde ihr gesagt, dass ihr Vater jederzeit von der Gestapo oder der SS geschnappt werden könnte – er war in großer Gefahr.“ (Rosen, in Wallis, Judith Kerr) Dieser Deutung widersprechen auch die ungemein friedlichen, angstfreien Bilder, bei denen der Tiger mit am Tisch sitzt, und die lächelnden Gesichter, die liebevollen Umarmungen von Kind und Tier sowie der heitere Fortgang der Geschichte – die Mutter kauft 184
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eine besonders große Dose Tigerfutter für ihn, für den Fall, dass er hoffentlich zurückkommt – unterstützen diese mehrfach zu findende, überspitzte tiefenpsychologische Interpretation in keiner Weise. 1960 wurde das zweite Kind von Judith und Tom geboren, Matthew – wieder mit der Folge, dass die neue Wohnung schnell zu klein war und man sich wieder nach etwas Größerem umsehen musste. Diesmal mietete die Familie ein Haus in Barnes, einem in äußersten Nordosten gelegenen Stadtteil von London. Matthew wuchs sozusagen gleich mit der Geschichte vom Tiger, der zum Tee kam, auf, mochte sie auch, aber nicht so wie Tacy. „Ich spürte immer, dass er Vorbehalte hatte, möglicherweise weil er ahnte, dass er selber bessere Geschichten erfinden konnte. Alle seine Spielzeugtiere erlebten Abenteuer, die er uns manchmal erzählte. Da gab es vor allem Roger, den Dachs, dessen nächtliche Aktionen Quatermass in den Schatten stellten.“ (JK, Geschöpfe, 68) Wieder gibt es ein Ereignis, das keinen Platz in der Autobiografie Judith Kerrs findet und das auch nicht in ihrer Hitler-Trilogie thematisiert wird, dort allerdings einfach, weil das Buch zeitlich zu früh dafür endet. Aber es scheint fast, als wäre Judiths (Annas) Rückkehr nach England auch ihr ganz persönlicher Schlussstrich unter das Thema „Mutter“ gewesen. Der diesmal ernst zu nehmende Suizidversuch von Julia Kerr und die Tatsache, dass sie – Judith – gegenüber dem Bruder wieder eine völlig untergeordnete, fast unbeachtete Rolle bei dem Geschehen spielte, obwohl sie bestimmt den viel zeitaufwendigeren und unerfreulicheren Teil des „Familientreffens“ innehatte, haben sicherlich dazu beigetragen, dass Judith Kerr mit diesem Kapitel ihres Lebens innerlich mehr oder weniger abgeschlossen hatte. Außerdem hatten sich naturgemäß ihre Interessen und Pflichten deutlich auf die eigene junge Familie konzentriert. Dennoch wundert es, dass für den Tod der Mutter kein Raum in ihren Erinnerungen 185
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ist, zumindest nicht an dieser wichtigen Stelle. Erst knapp zehn Jahre später, als ihr in Frankfurt 1974 der Deutsche Jugendliteraturpreis für ihr Buch Als Hitler das rosa Kaninchen stahl verliehen wurde, erinnert sie sich kurz, dass sie anlässlich des Todes ihrer Mutter und der Beisetzung zum dritten Mal nach dem Krieg in Deutschland gewesen war. Sie kommentiert es ziemlich emotionslos: „Selbst unser Wissen, dass sie möglicherweis dem Lauf der Dinge zugestimmt hätte, weil sie einen Horror vor dem Altwerden hatte, tröstete uns wenig. Über die Jahre hatte sie zuverlässige Freundschaften mit Deutschen geschlossen, einige von ihnen erklärte Bewunderer meines Vaters. Sie kamen alle zu ihrer Beerdigung, und es war spürbar, dass Deutschland – vor allem Westdeutschland – sich sehr verändert hatte. Aber als ich nach London abreiste, sah ich keinen Grund, jemals zurückzukehren.“ (JK, Geschöpfe, 113) Bei Michael Kerr hingegen nimmt der Tod der Mutter ein dreiseitiges Kapitel ein, „My mother’s death“ („Der Tod meiner Mutter“), gefolgt von einem weiteren, gut dreiseitigen Kapitel, dem letzten, in dem die Familie Kerr vorkommt, „End of a Generation“ („Ende einer Generation“, von wo auch die folgenden Informationen stammen; im Buch folgen sieben Seiten mit Fotos aus dem Familienalbum der Kerrs). Es ist eine tragische Geschichte, die Michael Kerr auf diesen Seiten erzählt, sie wirft ein bezeichnendes Licht auf Julia Kerr. Die Kinder hatten ihre Mutter 1955 nach ihrem Suizidversuch unter der Obhut ihres Lebenspartners Walter zurückgelassen. Die beiden hatten nach der Genesung Julias wieder zueinander gefunden, obwohl ihr Verhältnis nach dem Gefühl des Sohnes nicht mehr das gleiche wie vorher war. Nach dem Krankenhausaufenthalt und einer langen Zeit der Genesung waren beide in den Süden aufgebrochen, in den Ort, den sie beide liebten, Ravello in Italien mit seinen schönen Sehenswürdigkeiten, den 186
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berühmten Gärten und herrlichen Aussichten über die Amalfiküste, das Meer und die umliegenden Weinberge. Aber das Glück dort dauerte nicht lange. Walter, der zu diesem Zeitpunkt bereits ein gutes Stück über sechzig war, erkrankte. Bald wurde Polio diagnostiziert, mit einem schweren Verlauf. Julia gelang es, ihn nach Rom in ein Krankenhaus zu bringen, sie entrüstete sich aber bald darüber, dass sie bei seiner Pflege helfen und ihn füttern sollte, so wie es Verwandte und Partner dort zu tun pflegten. Daran war für sie nicht zu denken; sie liebte die angenehmen Seiten des Lebens. So rief sie in ihrer Verzweiflung in Deutschland in seinem Büro an und verlangte, man solle seine Ehefrau benachrichtigen, von der er immer noch nicht geschieden war, damit sie – nach Jahrzehnten der Trennung – käme und ihn pflegte. Am nächsten Tag stand Walters Sekretärin aus Berlin vor ihr, mit der er seinerzeit das verhängnisvolle, den Suizidversuch Julias auslösende Verhältnis angefangen hatte, holte ihn ohne zu murren zu sich nach Hause und pflegte ihn hingebungsvoll mit viel Liebe. Walter hat seinen Rollstuhl nie mehr verlassen und setzte seinem Leben ein Jahr später mit einer Überdosis Tabletten ein Ende. Das muss, so glaubt sich Michael Kerr zu erinnern, um 1960 gewesen sein. Für Julia ging das Leben wie gehabt weiter. Abgesehen davon, dass ihre Mutter, Omama Gertrud, mittlerweile gestorben war, lebte sie mit einigem Erfolg als eine gewisse Berühmtheit in Berlin, fuhr aber in der vielleicht doch zunehmend gefühlten Einsamkeit des herannahenden Alters immer wieder nach England und besuchte dort Judith und ihre zwei Enkelkinder sowie Michael, der mittlerweile drei Kinder hatte. Überhaupt war sie gern in England, für das sie irgendwelche heimatlichen Gefühle hegte. Auch nahm sie an diversen Veranstaltungen teil, bei denen ihr Sohn eine Rolle spielte, etwa im House of Lords, als Michael Kerr dort 1961 dort zum Queen’s Counsel ernannt wurde, zum Kronanwalt der Königin, eine sehr große Ehre, umso mehr für ihn, den gebürtigen Deutschen. Die meiste Zeit aber lebte sie in Berlin, und Michael erinnert sich 187
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an sein schlechtes Gewissen, das ihm wieder und wieder sagte, er müsse sich mehr um sie kümmern. Am 3. Oktober 1965 – Julia war mittlerweile 67 Jahre alt – erreichte ihn ein Anruf, dass seine Mutter beim Tennisspielen einen Herzinfarkt erlitten und noch in der Ambulanz verstorben sei. Es gab eine große Trauerfeier in der Kirche, der Senat der Stadt Berlin kümmerte sich um alles. Michael Kerr erinnert sich an Unmengen von Menschen, Deutsche, Engländer, Amerikaner, Freunde, Delegationen, Ministerialbeamte. Eigentlich hatte dazu Musik aus ihrer unvollendeten Oper, dem Chronoplan, gespielt werden sollen, doch die Lautsprecheranlage funktionierte nicht und man konnte nichts hören. „Es war alles sehr traurig.“ Julia Kerr hinterließ ihren Kindern ein Vermögen aus der Wiedergutmachung, die sie von Deutschland erhalten hatte, und aus Ersparnissen des eigenen Verdienstes. „Sie war eine wunderbare Mutter“, schreibt Michael, und jedes Wort, das er schreibt, klingt ehrlich und richtig. Judith erwähnt er im Zusammenhang mit dem Tod der Mutter mit keinem weiteren Wort, als dass sie ebenfalls nach Berlin gekommen sei. Später wurde die Urne mit der Asche Julia Kerrs im Grab ihres Mannes Alfred Kerr in Hamburg beigesetzt; eine schlichte Grabplatte unter seinem Gedenkstein erinnert an sie. Bewegend ist eine kleine, eigentlich unwichtige Geschichte, ein „postscript“, wie Michael es bezeichnet. Er hatte seiner Mutter gerade einen Brief geschrieben, sie aufgefordert, Deutschland zu verlassen, für immer nach England zu kommen, bei ihnen zu wohnen, da er sein Leben endlich dauerhaft und gut eingerichtet hätte. Den Brief fand er in ihrer Wohnung, ungeöffnet und ungelesen. Er brachte es nicht übers Herz, von den Hoffnungen zu lesen, von denen er geschrieben hatte und die sie nicht mehr hatte erfahren können. Erst zwanzig Jahre später, als er über der Abfassung seiner Erinnerungen saß, öffnete er den Brief und entdeckte, dass er etwas ganz anders geschrieben hatte: kein Wort von dem Glück, das er ihr in seinen Gedanken verheißen hatte, nur banale Alltäglichkeiten. „Als ich diesen Telefonanruf erhielt, 188
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war ich vollkommen sicher über das, was ich ihr zwei Tage zuvor geschrieben hatte. Ich war vollkommen sicher, als ich am nächsten Tag den ungeöffneten Brief fand; und ich blieb die nächsten zwanzig Jahre vollkommen sicher. Aber es war alles nur Schuld und Einbildung und die Auswirkungen meines Unterbewusstseins.“ Kapitel 59, „The second half“ („die zweite Hälfte“) – gemeint ist die zweite Lebenshälfte – signalisiert mit den ersten Worten: „That is the end of the family story“ – „Das ist das Ende der familiären Geschichte“. (MK, Remember, 239) Von nun an wird Michael Kerr nichts mehr zur Familiengeschichte der Kerrs beitragen; die restlichen 120 Seiten seiner Erinnerungen widmen sich seinem Beruf und der Ausübung des Rechts. Damit bleiben für die hier vorgelegte Biografie keine weiteren Quellen als Judith Kerrs Autobiografie, in der sie, wie zu sehen war, gezielt ihre Schwerpunkte setzt, verschweigt und abschweift, sowie das eine oder andere Interview. Nach der Geburt ihres Sohnes Matthew 1960 macht die Autobiografie von Judith Kerr vier Sätze später einen großen Sprung in die Zeit nach dem Tod der Mutter Julia, ohne diesen zu erwähnen. „Und dann plötzlich nach sieben Jahren rund um die Uhr Muttersein waren sie beide jeden Tag bis drei Uhr in der Schule, und ich hatte frei und konnte arbeiten. Aber was?“ (JK, Geschöpfe, 70) Der Wiedereinstieg in irgendeine Art von Berufsleben fiel damals nicht leichter als heute. Judith Kerr konnte und wollte nicht zurück in die Welt des Fernsehens, in ein Leben mit „Dramen und Deadlines“. In den vergangenen zwölf Jahren hatte sie niemals aufgehört zu zeichnen, einige Versuche gemacht, die allerdings nie über das Stadium von vagen Skizzen hinausgegangen waren, und wenn sie tatsächlich etwas fertig gezeichnet hatte, dann geschah es, um die Kinder damit zu unterhalten. Als der Schulbesuch von Tacy und Matthew ihr wieder viel freie Zeit ließ, erschien es ihr fast unvorstellbar, dass sie zwölf Jahre lang keine einzige ernsthafte Zeichnung zustande gebracht und stattdessen ihre Zeit mit so vielen anderen Dingen vertan hatte. 189
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Und dann stand ihr Entschluss fest: Sie würde versuchen, die Geschichte vom Tiger, die beide Kinder so sehr mochten, als Bilderbuch zu gestalten; immerhin war es ein kurzer Text, der keine Hilfe bei der Sprache erforderte. Aber der Anfang gestaltete sich schwer, das Zeichnen ging ihr nicht leicht von der Hand. Einzelheiten über den Prozess der Entstehung füllen die Seiten 70 bis 85 ihrer Autobiografie, darunter auch viele Zeichnungen, von den unterschiedlichsten Positionen des Tigers, von Kücheneinrichtung und Gegenständen des täglichen Lebens – schließlich trinkt man den Tee mit dem Tiger in der Küche – und am Ende in Kleinformat abgedruckt das gesamte Bilderbuch in seiner ursprünglichen englischen Fassung. Judith Kerr war nicht gewohnt, mit Wasserfarben zu malen, und sie sah sich vor diverse Schwierigkeiten gestellt, als sie einen ehemaligen Kollegen von der Central School of Arts traf, der sie auf das Zeichnen mit wasserfester Tinte hinwies, die nicht ausfranste. Das war ein guter Tipp, denn mit dieser Technik konnte sie die Bilder schichtmäßig anfertigen und ihnen dadurch eine ungeahnte Brillanz der Farben verleihen, ohne dass diese ineinanderliefen. Und sie ging in den Zoo zu den Tigern; nach der Natur zu zeichnen hatte sie in den Kursen bei John Farleigh gelernt. Aus praktischen Gründen übernahm sie als Kulisse für das Geschehen ihr eigenes Heim, und auch das Mädchen und der Vater, der am Abend nach Hause kommt, glichen Tacy und Tom ziemlich deutlich. Trotzdem wurde es eine endlose Arbeit mit einem langen Lernprozess, dazwischen immer wieder die Aufgaben einer Hausfrau, Ehefrau und Mutter, die den Alltag wie auch den Schaffensprozess unterbrachen: die Masern der Kinder, Ferien, Zahnarzt, Teepartys … Judith brauchte einen guten Teil des Jahres, bis sie zu einem befriedigenden Ende kam. Ein paar Wochen vor Weihnachten nahm sie das Manuskript zu Toms Literaturagenten mit, die es Collins (heute HarperCollins) zeigen wollten. Es sollte der Beginn einer Zusammenarbeit werden, die bis zuletzt andauerte: Judith Kerrs Bilderbuch vom 190
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Tiger, der zum Tee kommt, feierte 2018 seinen 50. Geburtstag. Dabei hatte Judith zunächst gar keine große Hoffnung, überhaupt etwas von Collins zu hören; es war Vorweihnachtszeit und sie hatte das Angebot, für eine deutschsprachige Fernsehwerbung vorzusprechen. Sie überlegte bereits, was sie mit dem Geld alles an Geschenken würde kaufen können. Aber enttäuschenderweise bekam sie den Job nicht, weil sie angeblich Deutsch mit Akzent sprach. Da kam die trostreiche Einladung zu einem Gespräch bei Collins gerade recht. Das Gespräch war allerdings erst einmal mit einer Menge Kritik verbunden: Das Layout wäre unschön, der Vater gefiel nicht, ebenso nicht, dass der Tiger den Wasserkran leer trank, der Titel … Ursprünglich hatte das Buch den Titel Tacy and the Tiger, und es dauerte eine Weile, bis man sich auf einen neuen einigen konnte; zudem sollte es eine ganze Reihe stilistischer Änderungen in den Zeichnungen geben. Zum Glück kam an dieser Stelle Patsy Cohen, die künstlerische Leiterin des Verlags, mit ins Spiel, und Judith Kerr wird nicht müde zu betonen, wie viel sie ihrem Rat verdankte. Sie hatte schon in der Kindheit immer gern abgelehnt, Ratschläge zu ihren Zeichnungen aufzugreifen und Neues dazu zu lernen, aber nun erlebte sie – „mit der größten Freundlichkeit und Taktgefühl “ – einen regelrechten „Crashkurs“ in Sachen Zeichentechniken. Am Ende stimmte schließlich alles, auch wenn der Vater in der Tiger-Geschichte zwei Vorlagen aus dem Leben hatte, Tom Kneale, der aber zu wenig Zeit hatte, Judith Modell zu sitzen, und Alfie Burke, einen befreundeten Schauspieler, der als Modell aushalf. Auf den Seiten 78 bis 85 in Judiths Geschöpfen ist die originale Druckfassung der kompletten Geschichte, also alle 40 Seiten, auf verkleinerten Aufschlagseiten zu sehen und nachzulesen, optisch noch schöner präsentiert im englischen Original auf dem hellblau eingefärbten Hintergrund der Seiten der Tiger-Geschichte. Tom Kneale hielt sich damals für längere Zeit in Rom auf. Der 1966 unter dem Titel Tai-Pan erschienene Roman von James Clavell, bereits nach kurzer Zeit ein Weltbestseller geworden, sollte verfilmt 191
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werden. Tai-Pan, der „Oberste Führer“, Kaufmann und Seefahrer, will Hongkong zur britischen Kronkolonie machen und als Sprungbrett für den Handel nach China benutzen. Dies führt zwischen 1839 bis 1842 zu einem militärischen Konflikt zwischen Großbritannien und dem Kaiserreich China, das sich nach seiner Niederlage zur Öffnung seiner Märkte und zur Duldung des Opiumhandels gezwungen sieht. Clavells Roman ist eine rasante und exotisch anmutende Geschichte, die in eine Welt von Hass und Liebe führt und von Menschen, getrieben von der Gier nach Opium und Geld. Noch im Jahr des Erscheinens des Romans, 1966, hatte Martin Ransohoff, der amerikanische Filmund Fernsehproduzent, der 1952 die Filmproduktionsgesellschaft Filmways, Inc. mitbegründet hatte, die Rechte an dem Film gekauft, und Tom Kneale sollte für Carlo Ponti das Filmskript schreiben. Die Bezahlung war so außerordentlich gut, dass er seine Frau und beide Kinder nach Rom kommen lassen konnte. Er hatte Zeit genug, ihnen ausgiebig Rom zu zeigen, und vor allem der damals achtjährige Sohn Matthew verliebte sich in die Stadt und beschloss, hier zu leben, wenn er erwachsen wäre. Seinen Entschluss hat er später nie vergessen, denn etwa seit dem Jahr 2000 lebt Matthew Kneale mit seiner Familie in der Nähe von Rom. Im Oktober 1968 war es nach etlichen Verzögerungen endlich soweit: Es erschien Judith Kerrs erstes Bilderbuch, The Tiger Who Came to Tea. Erwartungsvoll studierte sie die Rezensionen in der Sonntagszeitung, vorgewarnt, dass vermutlich gar keine erscheinen würde, aber dann konnte man doch die enthusiastische Besprechung von Antonia Fraser lesen, die sich heute noch im Editorial Review zur englischsprachigen Ausgabe findet: „Als es das erste Mal veröffentlicht wurde, nannte Antonia Fraser es ‚a dazzling first book‘, ein umwerfendes erstes Buch, das Kinder kreischen lassen würde vor köstlichem Vergnügen an der gefährlichen Bosheit der Einfälle. (https://www. tigerwhocametotea.com/about-judith-kerr) Und auf der Website des Verlags HarperCollins liest man den Namen Judith Kerr noch heute: 192
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Er wurde zum Klassiker: Mog, der vergessliche Kater. Die deutschen Übersetzungen ihrer Mog-Bilderbücher erschienen alle bei Ravensburger.
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„Unsere preisgekrönte Kinderbuchabteilung veröffentlicht die talentiertesten Autoren, darunter Michael Morpurgo, David Walliams, Judith Kerr, Derek Landy, Oliver Jeffers und Holly Smale, neben Langzeitklassikern wie Paddington der Bär und Dr. Seuss.“ Mit all ihren Bilderbüchern sollte Judith Kerr bei Collins bleiben, auch ihre vielzitierte Autobiografie Creatures ist 2013 bei HarperCollins erschienen. Tatsache ist, dass das Bilderbuch vom Tee trinkenden Tiger seit seinem ersten Erscheinen 1968 in England niemals vergriffen war und auch im deutschsprachigen Raum immer noch lieferbar ist. Der Erfolg spornte Judith Kerr an, und sie begann sofort an einem weiteren Bilderbuch zu arbeiten, in dem nun – nach Tochter Tacy im Tiger – gerechterweise ein kleiner Junge den Mittelpunkt bilden sollte, ein fantasievoller Junge wie Sohn Matthew, der des Nachts öfter unter Alpträumen litt. So war der Titel The Crocodile under the Bed („Das Krokodil unter dem Bett“), anschaulich diese Ängste verkörpernd, mit Bedacht gewählt und deutete bereits auf den Inhalt hin. „Es hatte schöne Bilder, aber die Geschichte war sehr langweilig“, beurteilt Judith ihre Geschichte selbst (JK, Geschöpfe, 85). Tatsächlich ist das dort auch ganzseitig abgebildete große Krokodil ausgesprochen gut und lebendig gelungen und geradezu modern anzusehen. Leider sollte es ein unpubliziertes Manuskript bleiben, denn Collins nahm es ohne jede Begeisterung auf, zögerte allerdings so lange mit einer Ablehnung oder Zusage, dass Judith Kerr in der Zwischenzeit bereits ein drittes Bilderbuch im Entwurf fertiggestellt hatte. Es war wesentlich interessanter und Collins entschloss sich daraufhin, das Krokodil zugunsten der neuen Geschichte aufzugeben. Diese hieß: Mog the Forgetful Cat („Mog, die vergessliche Katze“; Mog, der vergessliche Kater). Die Seiten 87 bis 91 in ihrer Autobiografie zeigen den ersten Rohentwurf dieser Geschichte, mit Bleistift geschrieben und mit wenigen integrierten, umrissartigen Skizzen mitten im Text, dieser wieder und wieder überarbeitet, radiert und überschrieben, mit Ausstreichungen 194
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und Einfügungen, sodass man der Geschichte auf dem Papier nicht wirklich folgen kann. Das macht aber nichts, denn die Seiten 92 bis 94 von Geschöpfe. Mein Leben und Werk bringen schön geordnet und an comicartiges Layout erinnernd die Geschichte in 36 stark verkleinerten Szenen, diesmal als Bleistiftskizzen, die auf die Ausarbeitung von Details immer noch komplett verzichten; beide Fassungen sind in der Creatures-Originalausgabe auf zart gelb gefärbte Seiten gedruckt. Im Anschluss erfolgt dann auch von diesem Bilderbuch die farbige Fassung, wieder in stark verkleinerten Aufschlagseiten auf diesmal hellgrünem Creatures-Hintergrund. Anders als bei den Anfängen der Geschichte vom Tiger hatte Judith Kerr nun zwei „erfahrene“ Kinder an der Seite, die – im Gegensatz zu ihr als Deutsche – lernten, als erste Sprache Englisch, das heißt englische Wörter zu lesen. Beide hatten seit einiger Zeit Janet and John von Herzen satt, die Bücher, die damals gern zum Lesenlernen genutzt wurden. Ursprünglich als Alice and Jerry in den USA erschienen, waren die Bücher von Mabel O’Donnell 1949 auf England zugeschnitten und umgeschrieben worden zu einer Serie von vier Bänden, die ausgesprochen beliebt wurden und ihren Einsatz beim Lesenlernen im Unterricht in der Schule fanden. Wichtige Wörter in den Geschichten sollten durch zugehörige Illustrationen ganzheitlich erfasst statt phonetisch zusammenbuchstabiert und Lesefähigkeiten dadurch automatisch ausgebaut werden. Janet and John, die als Kinder das typische Leben einer englischen Mittelstandsfamilie teilten, vermittelten viele Stereotype der 1950er- und 1960er-Jahre. Als Judith Kerrs Kinder in dem entsprechenden Alter waren, diese Bücher zu lesen, erklärte ihr Sohn Matthew bald, wie sehr ihn diese Geschichten langweilten und dass er fortan lieber durch die Cat in the Hat-Bücher von Dr. Seuss weiter lesen lernen wollte – Geschichten, in denen das unerwartete Auftauchen der Katze im Hut langweilige, einfallslose Nachmittage in fantasievolle Spektakel umwandelte: Anfängerbücher mit einfachen Wörtern und Illustrationen, die dem Geschehen visuell einen Sinn 195
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verleihen. Im Gegensatz zu den konventionellen und braven Janet and John Büchern waren die von Dr. Seuss witzig und spannend. Judith beschloss, seine Bücher als Vorbild zu nehmen und in ihrem Bilderbuch zu Mog mit 250 verschiedenen Wörtern auszukommen; andererseits wollte sie ihren jungen Lesern aber keine Geschichten bieten, in denen die Illustrationen schon allein die ganze Handlung der Erzählung offenbarten – warum hätten Kinder dann überhaupt noch lesen lernen sollen? Der Text musste also eine Geschichte bieten, die die Bilder nicht bereits vollständig erzählten, und im Gegensatz zum Tiger arbeitete sie von Anfang an konzentriert und sehr strukturiert mit einem Skizzenbuch, sodass das englische Original des Bilderbuchs Mog, der vergessliche Kater bereits 1970 bei Collins erscheinen konnte. Warum aus „Mog the cat“ in den deutschen Versionen später „Mog, der Kater“ wird, bleibt wohl ein Rätsel; vielleicht klang „Kater“ einfach schöner in den Ohren von Übersetzer oder dem Ravensburger Verlag, in dessen Reihe der Kinderbuch-Klassiker fast alle Mog-Bände erschienen sind. Später, als „er“ Junge bekam, war er in den Bilderbüchern so fest eingeführt, dass man in den deutschsprachigen Ausgaben nicht mehr von der Figur des Katers abweichen konnte. Wieder ist es eine Familie, die der Familie von Judith Kerr ungemein ähnelt: Mr und Mrs Thomas („Tom“) samt Tochter Debbie und deren jüngerem Bruder Nicky. Bei ihnen lebt Mog, eine auf den Bildern oft überproportional groß erscheinende Katze. Mog ist nicht mit großen Geistesgaben gesegnet, eher schlicht und ungemein vergesslich. „Sie vergaß, dass sie eine Katzenklappe hatte. Sie wollte in das Haus zurückkehren, aber sie konnte sich nicht daran erinnern.“ Mog knickt die Blumen im Blumenkasten um, als sie durch das Fenster in die Küche gelangen will (weil sie ja die Katzenklappe vergessen hat), sie liegt Mamas schönen Hut platt, stört Papa beim Fernsehen mit dem Schwanz vor dem Bildschirm und erschrickt Debbie im Schlaf. „Verflixte Katze“, sagen alle. „Niemand mag mich“, denkt Mog, denn niemand hat am Abend ihren Napf gefüllt. Als sie in der Dunkelheit 196
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einen Einbrecher am Fenster sieht, freut sie sich: Vielleicht gibt er ihr etwas zu fressen? Und sie springt am Fenster hoch, der Einbrecher lässt vor Schreck seine Tasche mit den geklauten Löffeln fallen, die Familie wacht rechtzeitig auf und kann die Polizei rufen. Was für ein kluges Tier! Es ist eine schöne Geschichte, die Judith Kerr in einfachen Worten und schönen schlichten Bildern sehr liebevoll erzählt. Viele Kinder werden sich mit diesem Pechvogel, der stets das Beste will und Chaos produziert, identifizieren können. Dass die Geschichte so authentisch wirkt, liegt vielleicht daran, dass sie sozusagen aus dem Leben der Judith Kerr gegriffen war. Als Kind hatte sie sich immer eine Katze gewünscht – ein Wunsch, der sich durch das stetige Aufbrechen in neue Welten nie erfüllte – und auch Tom Kneale liebte Katzen. Was lag also näher, als sich eine anzuschaffen, die auch noch auf den Namen Mog hörte und ganz ähnlich veranlagt war wie Mog in der Geschichte (Seite 86 der Autobiografie zeigt zwei Farbfotos von Mog)? Zum zweiten Mal zeigt sich, dass Judith Kerrs Bücher, ihre Texte und Illustrationen, dem unmittelbaren Umfeld ihres Lebens entspringen. Und das sollte sich bald noch viel deutlicher zeigen.
Das rosa Kaninchen oder: Wie können Kinder das Unfassbare fassen Die 1970er-Jahre hatten begonnen. Mit zwölf und zehn Jahren waren Tacy und Matthew dem Bilderbuchalter endgültig entwachsen. Es war die Zeit, in der Judith Kerr versuchte, ihren Kindern etwas über ihre eigene Vergangenheit zu erzählen, als Michael und sie so alt gewesen waren wie ihre Kinder jetzt. Sie stieß auf unterschiedliche Resonanz bei ihnen. Matthew sah vielleicht das Abenteuer darin und fand die Erzählungen der Mutter spannend, Tacy hingegen war so glücklich mit ihrem Zuhause verbunden, dass ihr Themen wie Flucht und Exil Angst 197
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machten. „Ich konnte ihr nicht klarmachen, dass, abgesehen von einigen Schwierigkeiten, ich das alles für nichts in der Welt missen wollte.“ (JK, Geschöpfe, 86) Sie begann über ein Buch nachzudenken, das ihre eigene Geschichte im Spiegel der großen Weltgeschichte wiedergeben sollte. Die Aufgabe schüchterte sie aber aufgrund ihres Umfangs und vieler Schwierigkeiten, die sich ergeben würden, auch ein. Sie erhoffte sich Hilfe von Roger Benedictus, ihrem damaligen Redakteur, und bat ihn um Rat. Er fand die Idee zwar großartig, weil es auf dem Buchmarkt nichts Vergleichbares gab, also kein authentisches Kriegs- und Geschichtsbuch für Kinder, aber so ermutigend seine Meinung auch war – eine Hilfe war er ihr nicht. Ein Ereignis festigte aber bald Judith Kerrs Entschluss zu einem Buch, das ihre Kindheit in Deutschland und die damals herrschende Stimmung im Land einfangen sollte, und zwar so, dass Kinder, die Nachkriegskinder also, die nun herangewachsen waren und den Krieg nur aus Erzählungen (und englischer Perspektive!) kannten, es auch ohne viele Worte verstehen konnten. 1952 waren die Memoiren der Maria von Trapp erschienen, einer österreichischen Sängerin und Schriftstellerin, die nach dem „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland in die USA emigrierte. Ein deutscher Filmproduzent hatte die Buchrechte gekauft und vier Jahre später, 1956, in einer sehr freien Version den Film Die Trapp Familie gedreht. Unter der Regie von Wolfgang Liebeneiner wurde der Film zu der Musik von Franz Grothe einer der erfolgreichsten deutschen Heimatfilme, der wiederum bald das Interesse amerikanischer Musikproduzenten weckte. Das so entstandene Musical The Sound of Music wurde 1959 ein riesiger Hit am Broadway, aus dem dann noch einmal sechs Jahre später eine Kinoversion hervorging. Diesen Film sahen sich Tom und Judith nun im Kino mit ihren Kindern an, und Matthew, schon früh historisch sehr interessiert, freute sich, dass sie sich jetzt genau vorstellen konnten, wie es während der Kindheit ihrer Mutter zugegangen war. Das machte das Schreiben eines eigenen Buches ohne die kitschige Rührseligkeit des 198
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Films für Judith Kerr umso dringlicher, ohne dass sie genauer gewusst hätte, wie das zu bewerkstelligen war. Und wieder kam ihr der Zufall zu Hilfe. Beide Kinder erkrankten an Windpocken und mussten das Bett hüten, vor allem bei Tacy nahm die Krankheit einen schweren Verlauf. Judith saß im Kinderzimmer am Krankenbett und blätterte mehr oder weniger aus Zeitvertreib in Tacys Büchern; dabei geriet ihr ein Buch von Laura Ingalls Wilder, Little House on the Prairie, in die Finger, und sie las sich fest. Laura in der Prärie ist der deutsche Titel des Buches, Band 2 einer mehrbändigen Reihe, die den meisten Deutschen, vorzugsweise den etwas Älteren, als Die kleine Farm bekannt sein dürfte – allerdings weniger aus den übersetzten Geschichten von Laura Ingalls Wilder als vielmehr aus dem Fernsehen. In den USA liefen auf der Grundlage der Bände von 1974 bis Ende 1983 genau 210 Folgen der Serie, und im deutschen Fernsehen wurde diese ab Mai 1976 erfolgreich ausgestrahlt. Die Hauptperson der Geschichten war die Autorin selbst, das damalige Kind Laura Ingalls, später die verheiratete Farmersfrau und Schriftstellerin Laura Ingalls Wilder (1867–1957). In einer Reihe von Büchern hat sie als Erwachsene von ihrer Kindheit im 19. Jahrhundert erzählt, die geprägt war von Armut und Entbehrungen, aber auch von einer tiefen Liebe der Familienmitglieder zueinander, die alle Hindernisse und Schicksalsschläge überwand. Es ist die bildhafte Sprache, die die Lektüre auch heute noch so ansprechend macht, beim Selberlesen, vielleicht auch schon beim Vorlesen für Jüngere. Die Botschaften von Laura Ingalls Wilder sind so kindgerecht aufbereitet im Geschehen selbst, sprechen ihre eigene Sprache, ohne zu kommentieren, ohne zu werten, dass sie rein emotional fast jede Altersstufe erreichen. Wird im ersten Band der Reihe, Little House in the Big Woods (dt. Laura im großen Wald) das einfache Leben der Farmerfamilie beschrieben, die in einem Blockhaus inmitten der dunklen Wälder von Wisconsin lebt, so ist der zweite Band, der Judith Kerr zufällig in die Hände fiel, Little House on the Prairie (dt. Laura in der Prärie), 199
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die Geschichte der langen Reise der Familie in eine hoffentlich bessere Zukunft, mit dem Planwagen von Wisconsin nach Kansas zu einem Neuanfang aus dem Nichts. Es ist spannend zu lesen, wie es unter den ärmlichsten Bedingungen dem Vater gelang, mit eigenen Händen ein neues Haus zu bauen, und der Mutter, es einzurichten und ein Zuhause daraus zu schaffen. Laura Ingalls Wilder beschreibt minutiös, detailreich, spannend. Stärker als im ersten Band fließen in die persönlichen Szenen der Familie Probleme und Gegebenheiten der Zeit ein, verbinden sich zu einem faszinierenden Bild von der Mitte und später dem ausgehenden 19. Jahrhundert. So wird die zunächst glückliche Zeit in Kansas bald getrübt von nächtlichen Trommeln und Kriegsrufen der Indianer: Es war in Amerika die Zeit, in der die US-Regierung den Indianern nicht nur das Land genommen und in großen Teilen an Weiße verteilt hatte, sondern ihre Lebensweise mehr und mehr durch Unterdrückung ihrer Sprache und Bräuche beschränkte. In dem einfachen, oftmals kindlich anmutenden Bericht der jungen Laura – einer Zeitzeugin, das sollten wir nicht vergessen! – erfährt der Leser hautnah von den Problemen der Landumverteilung, der verlorenen Jagdgründe, von Elend und Armut – ohne die romantisierende Verklärung des „edlen Wilden“ etwa bei Karl May. Für den erwachsenen Leser sind diese Kinderbücher von Laura Ingalls Wilder eine Wanderung zwischen einem schönen, spannenden Roman und einer Autobiografie, die einen staunen lässt über eine Frau, die sich als Erwachsene erinnert, wie es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war, in Amerika Kind zu sein. Die Kapitel reihen – wie auch in den Folgebänden – Episoden aneinander, durch die sich mit den immer gleichen Personen und das stetige Weiterziehen, mit kürzeren und längeren Stationen hier und da, ein roter Faden zieht. Für Judith muss die Lektüre wie ein Blick in ihr eigenes Leben gewesen sein, nur hundert Jahre früher: hier wie dort die Flucht aus dem Elend, aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen, Armut und Entbehrungen, das ewige Umherziehen und lange nicht an einem dauerhaften Ziel ankommen. 200
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„Ich wusste sofort – das war es. So ein Buch wollte ich schreiben: einen Roman, lieber in der dritten Person als in der ersten, der einem die Möglichkeit gab, unwichtige Ereignisse wegzulassen, dagegen andere zu dramatisieren, der aber in allen wesentlichen Punkten absolut glaubwürdig war.“ (JK, Geschöpfe, 106) Judith begann sofort mit der Umsetzung ihrer Ideen, aber es war schwierig. Anschaulich beschreibt sie die leicht chaotischen Verhältnisse in einer Familie, als Hausfrau und Mutter mit all den Pflichten, die damals so viel zeitaufwendiger waren als heute, in einer Welt ohne Gefrierschrank, ohne lokale Supermärkte, ohne Fast Food oder Takeaway. Die Probleme des Alltags hatten sie fest im Griff. An den ersten drei Kapiteln, im Druck etwa 20 Seiten, schrieb sie drei Monate und gelangte schließlich verzweifelt zu der Überzeugung, dass es so nicht funktionieren würde. In ihrer Autobiografie gibt es die Abbildung einer mit Bleistift geschriebenen Seite aus dem Roman (JK, Geschöpfe, 107): notizenhaft, mit Randanmerkungen, Ausstreichungen, halb ausradierte und wieder beschriebene Flächen, hineinquetschte Zusätze, „an ein oder zwei Stellen hatte ich Löcher ins Papier gemacht“ – alles Dinge, die von einem intensiven und noch unsicheren Arbeiten zeugen. Es sind offensichtlich Anmerkungen für den Einstieg in das Buch unter dem Titel „Anna’s emigration“: „Anna kommt in Berlin von der Schule heim, mit Mädi.“ Im Buch liest sich das später so: „Anna war mit Elsbeth, einem Mädchen aus ihrer Klasse, auf dem Heimweg von der Schule.“ (JK, Kaninchen, 9) Judith Kerr verzweifelte fast. Aber Tom Kneale las ihren Text, und schon allein aufgrund seines Berufs erkannte er sofort das Potenzial, das in ihren Seiten steckte. Er ermunterte sie weiterzumachen, und fortan saß Judith Kerr jeden Tag in ihrem Arbeitszimmer und dachte sich knappe vierzig Jahre zurück, als sie das jüngste Kind einer vierköpfigen Familie gewesen war. Es eröffneten sich ihr ganz neue Perspektiven auf die eigenen Eltern, vor allem auf die Mutter, die immer zu 201
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Hause war, wenn sie aus der Schule heimkam, und Zeit für sie hatte, weil Heimpi und andere Dienstboten die Arbeit im Haushalt und Garten für sie erledigten. Nie hatte Judith Kerr zuvor darüber nachgedacht, wie die Zeiten in Berlin, dann in der Schweiz, in Frankreich und in England, das sie nun als Heimat empfand, für Alfred und Julia Kerr als Eltern gewesen sein mussten. Wie hätte sie reagiert in einer solchen Lage? Hätte sie ihre Kinder heil über die Grenzen gebracht bei all der Gefahr, und hätte sie es als Spiel, als Abenteuer verkleiden können? Weniger gut, da war sie sich sicher. Auf der anderen Seite wuchs eine gewisse Scham in ihr, je weiter sie in der Lektüre von Laura Ingalls Wilder fortschritt. Was hatten da Vater und Mutter alles machen können und müssen, in dieser bitteren Armut, mit ihrer Hände Arbeit. Wie anders waren ihre Eltern gewesen – und wie anders waren letztlich auch sie und Tom. Sie schämte sich für ihre Ansprüche, dafür, dass ihre Mutter nie hatte kochen, nähen und waschen können, dass ihr Vater mit der Feder, nicht mit dem Beil und der Säge umgehen und Möbel aus dem gefällten Holz bauen konnte. „Durfte man in einer Geschichte Eltern haben, die in allem völlig unpraktisch waren? Als ich schließlich zum Ende kam, dachte ich, ich habe alles so ehrlich beschrieben, wie ich konnte, aber wer um Himmels willen wird das lesen wollen?“ (JK, Geschöpfe, 108) Natürlich war es wieder der Verleger Collins, der das Manuskript erhielt, als es fertig war, und Judith war in banger Erwartung. Schließlich rief der Verlag an und hatte hier und da einige Verbesserungsvorschläge, war aber ganz erstaunt über Judiths ungläubige Frage, ob sie es tatsächlich veröffentlichen wollten. Nur ein griffiger Titel fehlte. Am Ende war es wieder Tom Kneale mit seinem untrüglichen Gefühl für die Macht der Worte, der ihn vorschlug: When Hitler Stole Pink Rabbit. Zwar mochte damals niemand den Titel wirklich, aber er wurde benutzt, da niemand eine bessere Idee hatte. Heute ist der Titel das Erste und Wichtigste, das sich mit Judith Kerrs Namen verbindet. 202
Das rosa Kaninchen oder: Wie können Kinder das Unfassbare fassen
Die Buchausgabe des Romans hat 24 Kapitel, und jedem Kapitel sollte eine kleine Zeichnung vorangestellt werden. Wieder war es eine ungünstige Zeit, die Schulferien hatten begonnen, die Zeit drängte, und Judith Kerr saß über den Illustrationen. Sie entwarf auch das Cover für die Ausgabe bei Collins: eine Farbzeichnung mit einem älteren Mann unterwegs im Mantel, eine französische Zeitung in der Hand, dazu ein Schulmädchen mit dem damaligen Tornister auf dem Rücken, beide unschwer als Alfred und Judith Kerr zu erkennen; im Hintergrund angedeutet die Stadt mit den umrissenen symbolhaften Bauwerken Eiffelturm, Notre Dame, Sacré Cœur, Triumphbogen: Paris. Für den Buchrücken hatte die Lektorin von Collins ein stilisiertes rosa Kaninchen gewünscht, das eine Fahne mit dem Hakenkreuz schwang (die Abbildung ist zu sehen in Geschöpfe, 109). Die amerikanische Ausgabe des Romans zeigte stattdessen auf dem Cover als Federzeichnung die vierköpfige Familie Kerr, eng beieinanderstehend und mit schwerem Gepäck in den Händen. Als Hitler das rosa Kaninchen stahl endet mit der glücklichen Ankunft der Familie in England, Probleme deuten sich nicht an – das richtige Ende für ein Kinderbuch, das schwierige Themen behandelte und alles wieder gut erscheinen ließ. Da klettern nach dem großen Durcheinander am Bahnhof alle in das Taxi, das der in England lebende Vetter für sie bestellt hatte, und in Judiths Kopf verschwimmen noch einmal die Stationen ihres Lebens, gehen nahtlos und verwirrend ineinander über. Wir erinnern uns, wie sie die Ankunft in England erlebt hatte: „Sie erinnerte sich an die lange mühselige Reise mit Mama von Berlin in die Schweiz, wie es geregnet hatte, und wie sie in Günthers Buch gelesen und sich eine schwere Kindheit gewünscht hatte, damit sie eines Tages berühmt werden konnte. Hatte ihr Wunsch sich erfüllt? Konnte man ihr Leben, seit sie von Deutschland weggegangen waren, wirklich als eine schwere Kindheit 203
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bezeichnen? Sie dachte an die Wohnung in Paris und an den Gasthof Zwirn. Nein, es war lächerlich. Manches war schwierig gewesen, aber immer war es interessant und manchmal komisch, und sie und Max und Mama und Papa waren fast immer zusammen gewesen. Solange sie beisammen waren, konnte es doch keine schwere Kindheit sein. Sie seufzte ein wenig, sie musste ihre Hoffnung wohl aufgeben.“ (JK, Kaninchen, 172) Aber vielleicht war es doch eine schwere Kindheit gewesen, denn nachdem sie dieses Buch geschrieben und 1971 publiziert hatte, war Judith Kerr auf dem Weg, berühmt zu werden.
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hen Hitler Stole Pink Rabbit erschien im Herbst 1971, und von Anfang an verkaufte es sich gut, wurde auch bald in verschiedene Sprachen übersetzt. Es gab eine ganze Reihe an Buchbesprechungen, und alle waren sehr positiv. Sie war „schrecklich zufrieden“ mit sich, schreibt Judith Kerr, umso mehr, als sie bald begann, mit der Geschichte ordentlich Geld zu verdienen. Das gab ihr ein eigenartiges Gefühl, fast ein schlechtes Gewissen, wenn sie sich klarmachte, dass sie an dem schweren Leben ihrer Eltern verdiente; ihr war bewusst, wie sehr sie mit all dem Geld damals hätte helfen können. Ein großes Bedauern erfüllt sie in ihrer Autobiografie, denn weder der Vater noch die Mutter hatten erleben dürfen, dass sie endlich zur Schriftstellerin geworden war. Wie viele Gespräche hatte sie mit dem Vater darüber geführt! „Ich bin ein Mensch, der schreibt“, hatte er gesagt. „‚Als Schriftsteller muss man wissen. Hast du das noch nicht gemerkt?‘ ‚Ich bin kein Schriftsteller‘, sagte Anna. ‚Vielleicht wirst du eines Tages auch schreiben.‘“ (JK, Frieden, 398) So blieb ihr nur die Hoffnung, dass die Eltern sich gefreut hätten, hätten sie es gewusst … Es hatte eigentlich nur dieses eine Buch sein sollen, das Judith Kerr schreiben wollte, aus dem sehr persönlichen Grund, die Dinge in den Köpfen ihrer Kinder zurechtzurücken. Das glückliche Ende des Buches war ein schöner Abschluss für sie gewesen, und sie wollte die Zeiten mit all den folgenden Schwierigkeiten nicht noch einmal im Geiste durchleben, mit denen die Eltern letztlich nicht mehr fertig geworden waren. 205
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„Aber schließlich dachte ich, Flüchtling zu sein bedeutet nicht nur Spaß und Heiterkeit, und auch wenn es für meinen Bruder und mich gut ausging, waren ihre Leben zerstört, und es schien richtig, auch das zu erzählen. Mir war immer klar, dass es, wenn ich alles aufzeigen wollte, zwei Bücher sein mussten: eins über meine Familie im Krieg und eins über das, was ihnen nach dem Krieg widerfahren ist.“ (JK, Geschöpfe, 111) Wie viel Schmerz der Erinnerungen kann man aushalten? Judith Kerr beschloss, in ihre Bewältigung der Vergangenheit Pausen einzulegen, die ein Gegengewicht bilden sollten, als eine Art comic relief, was ihr immer wieder einen gewissen Abstand zum Geschehen erlauben würde – und das sollten neue Bilderbücher sein. Sie erinnerte sich, mit wie viel Spaß die Arbeit an ihren beiden bisherigen Büchern, der Geschichte vom Tee trinkenden Tiger und der vergesslichen Katze, verbunden gewesen war. Zeitgleich schrieb Tom Kneale an einem Manuskript, das er ursprünglich Breakthrough genannt hatte und später in The Stone Tape umänderte; es wurde Weihnachten 1972 auf BBC Two ausgestrahlt, eine Art moderne und sehr dunkle Geistergeschichte, die Science-Fiction mit Horror verband und die Geschichte von Wissenschaftlern erzählt, die in ihre neue Forschungsstätte ziehen, die angeblich von einem Geist heimgesucht wird. Bei ihren Untersuchungen des Phänomens stoßen sie auf eine viel dunklere, bösartige Macht … Da war das Bilderbuch, das Judith Kerr in Angriff nahm, wesentlich harmloser und friedlicher: When Willy went to the Wedding hieß es, schön alliterierend („Als Willy zur Hochzeit ging“). Es erschien 1972 und erzählt in einfachen Worten die Geschichte des kleinen Willy, dessen Schwester schon so viel älter ist, dass sie gerade heiratet. Auch in dieser Geschichte spielen Tiere eine große Rolle, denn Willy will unbedingt seine Lieblingstiere mit zur Hochzeit bringen. „‚Nein‘, sagte Willys Vater. ‚Nein‘, sagte Willys Mutter. ‚Nein‘, sagte Willys erwach206
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sene Schwester. ‚Besser nicht, mein Lieber‘, sagte Bruce, der Willys Schwester heiraten wollte“, heißt es auf der Website von HarperCollins Publishers. Unnötig zu sagen, dass die Lieblingstiere doch einen Weg finden, bei der Hochzeit dabei zu sein, und das Chaos beginnt – eine ausgelassene, übermütige Geschichte für die Jüngsten und ganz im Stil von Mog illustriert. Judith Kerr erinnert sich nicht, wie sie auf die Idee zu diesem Buch gekommen war, weiß nur noch zu berichten, dass während des Produktionsprozesses all ihre Originalzeichnungen verschwanden, sodass ein Nachdruck der Geschichte erst knapp vierzig Jahre später möglich war, als die Reproduktionsmöglichkeiten von gedruckten Bildern technisch deutlich fortgeschritten waren; 2010 veröffentlichte HarperCollins eine Neuausgabe des Bilderbuchs. Und dann stand der zweite Band der Hitler-Trilogie an, der mit etwa 250 Seiten (in der deutschen Ausgabe bei Ravensburger) deutlich umfangreicher werden sollte als die Geschichte vom Rosa Kaninchen mit etwa 160 Seiten. Der Originaltitel der Geschichte lautete The Other Way Round („Umgekehrt“), ein so unspektakulärer Titel, dass Judith Kerr ihn immer wieder selbst vergaß; das Buch erschien daher später auch noch unter einem anderen Titel, nämlich Bombs on Aunt Dainty (Warten bis der Frieden kommt). In dem Roman sind einige Jahre vergangen, seit die Familie Kerr Frankreich verlassen hatte und nach England gereist war. Anna (Judith) ist nun ein Teenager, der jetzt ausgerechnet in dem Land lebt, das von den Deutschen vor allem während des Blitz pausenlos bombardiert wird. Der Autorin gelingt es einfühlsam und überzeugend, diese merkwürdige und besondere „Doppelrolle“ Annas, einer deutschen Jüdin, als eine „enemy alien“, eine feindliche Ausländerin, zu gestalten. Atmosphärisch sehr dicht erlebt der Leser vor allem die Bombennächte, mit allen Ängsten und Hoffnungen, die die nunmehr etwa 17-Jährige differenzierter erleben und kommentieren kann. Dennoch erscheinen immer wieder weite Teile des Romans sehr teenagerhaft, wenn nicht gar kindlich-naiv, und sind in der heutigen Zeit zum Teil schwieriger nachzuvollziehen für 207
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jugendliche Leser. Besonders die Liebesgeschichte von Judith zu ihrem Kunstlehrer John Farleigh nimmt unverhältnismäßig viel Raum ein und wird in der etwas seichten, schwärmerisch-harmlosen Form vielleicht sogar etwas langweilen. Ein ganzes Jahr schrieb sie daran, und just an dem Tag, an dem sie die Geschichte beendete, erhielt sie von ihrem deutschen Verleger Otto Maier (Ravensburger) den Anruf, dass ihr Roman Als Hitler das rosa Kaninchen stahl den Deutschen Jugendliteraturpreis 1974 in der Kategorie Kinderbuch erhalten hatte. In der Begründung der Jury, nachzulesen in der Datenbank des Deutschen Jugendliteraturpreises, heißt es: „Judith Kerrs Erinnerungen bedeuten weder geschichtlichen Nachhilfeunterricht noch eine späte Anklage, sondern berichten klug und warmherzig von einem Geschehen, das sich wiederholen kann. Kinder, für die die Zeit des Nationalsozialismus ferne Vergangenheit ist, können diesem Buch die Konsequenzen einer totalitären Regierungsform für das Leben jedes einzelnen entnehmen. Die Autorin, Tochter des jüdischen Theaterkritikers Alfred Kerr, schildert in ihren Kindheitserinnerungen die Flucht der Familie vor den Nationalsozialisten aus Berlin über Zürich und Paris nach London. Die Schrecken der Diktatur, Probleme des ruhelosen Migrantenschicksals, Anpassungsschwierigkeiten an einen jeweils neuen Sprach- und Kulturkreis spiegeln sich in den Erlebnissen der Kinder wider. Ein liebevolles Familienleben ermöglicht ihnen auch in einer unmenschlichen Zeit und unter extremen Belastungen einen Reifungsprozess in Geborgenheit. Dabei besticht die distanzierende und zugleich ansprechende Form des Erzählens. Daneben waren für die Jury Intensität der Darstellung, hohe menschliche Haltung der Autorin angesichts ihrer leidvollen Erfahrungen, Modellhaftigkeit des Einzelschicksals und nicht zuletzt die gelungene Übersetzung entscheidend.“ 208
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Verleihung der Deutschen Jugendbuchpreise 1965: Runer Jonson, Frederik Hetman (eigentlich: Hans-Christian Kirsch) und Leo Lionni.
Dabei hatte das englischsprachige Buch 1971 in Deutschland zunächst keinen besonders guten Start gehabt. Collins hatte es zwar auf der Buchmesse in Frankfurt ausgestellt, aber das merkwürdige, comic-artige rosa Kaninchen mit der Hakenkreuzfahne in der Pfote, das auf Wunsch von Patsy Cohen den Buchrücken zierte, hatte deutsche Verleger mit einem gewissen Horror sogar die bloße Lektüre des Romans ablehnen lassen – so auch Ravensburger. Dieser Verlag sollte allerdings im folgenden Jahr einen neuen Herausgeber bekommen. Mit Hans-Christian Kirsch war es dem Verlag gelungen, einen renommierten deutschen Schriftsteller zu gewinnen, der unter anderem selbst den Deutschen Jugendliteraturpreis erhalten hatte. Das sollte auch für das Rosa Kaninchen die Lage komplett verändern. 209
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Hans-Christian Kirsch (1934–2006), der weitgehend unter dem Namen Frederik Hetmann schrieb, war der Sohn eines Generals unter Hitler; er erinnerte sich, dass sein Vater alle paar Wochen Hitler aufsuchen musste und seine Familie sich jedes Mal gefragt hatte, ob er das Treffen auch lebend verlassen würde. Hinzu kam, dass Hans-Christian Kirsch neben dem Schreiben zeitkritischer Jugendbücher vor allem an Biografien interessiert war und gerade, 1972, bei Beltz & Gelberg sein Buch Ich habe sieben Leben. Die Geschichte des Ernesto Guevara, genannt Che veröffentlicht hatte. Am Ende seines Lebens hatte er gut zwanzig Biografien geschrieben, über Dichter und Schriftsteller (z. B. Georg Büchner, Elisabeth Langgässer, Bettina Brentano und Achim von Arnim, Karl May), über Künstler (z. B. Tilman Riemenschneider, Francisco Goya) und über andere Personen, die das öffentliche Leben und den Zeitgeist mit geprägt hatten (z. B. Martin Buber, Rosa Luxemburg, Walter Benjamin, Buddha). Sein Interesse kannte keine Grenzen von Genre und Zeit. Seine Bluesballaden mit Kurzbiografien über amerikanische Musiker waren das letzte Buch, das kurz vor seinem Tod erschien. Zweifellos hatte Hans-Christian Kirsch großen Verdienst daran, dass der Roman von Judith Kerr auf dem deutschen Buchmarkt Fuß fassen und so erfolgreich werden konnte. In Annemarie Böll, der Frau des Schriftstellers Heinrich Böll, hatte er eine begnadete Übersetzerin gefunden, die sich strikt an ihre Vorlage hielt. Das war nicht selbstverständlich, denn in Frankreich, wo das Buch unter dem Titel Trois pays pour la petite Anna („Drei Länder für die kleine Anna“) in der Bibliothèque Rouge et Or bei der Edition G. P. erschien, hatte man zum Beispiel bei der Übersetzung alle Hinweise auf Hitler und die Nationalsozialisten gestrichen und es damit zu einer harmlosen, netten Erzählung gemacht. In Deutschland kam das Buch zu einem sehr passenden Zeitpunkt auf den Markt, als auf diversen Ebenen die Diskussion über die eigene Vergangenheit und Schuld und deren Bewältigung langsam kein Tabu 210
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mehr war und auch bei der jüngeren Generation in Gang kam. Mit der Geschichte Als Hitler das rosa Kaninchen stahl lag nun erstmals ein Buch vor, das deutsche Geschichte aus der Sicht eines betroffenen deutschen jüdischen Mädchens erzählte, ohne Pathos, ohne Erklärungen, ohne Wertungen. Lange Zeit stand das Buch immer wieder auf der Liste der verpflichtenden Schullektüren. Die Verleihung des Deutschen Jugendliteraturpreises war ein großer feierlicher Akt, zu dem Judith Kerr und Tom Kneale nach Deutschland kamen. Bis dahin, erinnert sich Judith, war sie fast nur bei unglücklichen und bedrückenden Ereignissen wieder in ihrem Heimatland gewesen, erstmals 1948 bei dem plötzlichen Tod des Vaters, als sie mit ihrem Bruder Michael durch das noch zerstörte Ruhrgebiet nach Hamburg reisen musste, dann beim Suizidversuch der Mutter 1956 und schließlich bei deren plötzlichem Tod 1965. Der renommierte Buchpreis veränderte die Sicht Judith Kerrs auf ihr Vaterland. Erstmals war der Anlass zur Rückkehr mehr als erfreulich. Außerdem war im Jahr 1974, knapp 30 Jahre nach Kriegsende, eine neue Generation von Deutschen erwachsen geworden, die nicht in irgendwelche Nazigräuel involviert gewesen waren und denen sie nun begegnete. „Ich erinnere mich zwar überhaupt nicht an die Preisverleihung, dafür aber lebhaft an die Begegnung mit diesen neuen Deutschen – bewundernswerte Menschen, tief betroffen über die Ereignisse, die inzwischen weit zurücklagen.“ (JK, Geschöpfe, 113) Die verliehene Auszeichnung beeinflusste auch weiterhin Judith Kerrs Verhältnis zu Deutschland. Sie wurde eingeladen zu Lesungen und Vorträgen in Schulen, traf Schüler und Lehrer, die sich vergeblich fragten – und heute erneut fragen sollten –, wie es zu so einem Nazi-Horror in Deutschland hatte kommen können. Noch 2013, als sie ihre Autobiografie schrieb, hatte sie Kontakt zu Schülern und Lehrern, vor allem jungen Menschen, und machte ihnen Mut, sich von den Schuldgefühlen zu befreien über Ereignisse, die noch vor der Geburt ihrer Eltern stattgefunden hatten. 211
Schriftstellerin und Zeichnerin (1970–2019)
Zurück zu den Büchern. 1975 veröffentlichte Ravensburger die Übersetzung des zweiten Romans der Hitler-Trilogie, The Other Way Round (später Bombs on Aunt Dainty), unter dem Titel Warten bis der Frieden kommt. Es muss ein freundschaftliches Verhältnis gewesen sein, das Judith Kerr mit Hans-Christian Kirsch und Christian Stottele verband. Stottele war lange Jahre Verlagsleiter bei Ravensburger. In der Zeitschrift Buchmarkt. Das Ideenmagazin für den Buchhandel findet sich anlässlich seines 80. Geburtstags am 28. Juli 2010 der Passus: „Die heute 80-Jährigen konnten ihre Überzeugungen und Fähigkeiten ohne persönliche Verstrickung in die düsteren Verhältnisse einsetzen. So ist es kein Wunder, dass unter Stotteles Verantwortung so bahnbrechende Bücher wie Judith Kerrs ‚Als Hitler das rosa Kaninchen stahl‘ verlegt wurden, mit denen der Wiedereintritt der deutschen Kinder- und Jugendliteratur in die Literatur sichtbar gemacht wurde.“ So war es kein Wunder, dass später auch der dritte Teil der Hitler-Trilogie bei Ravensburger veröffentlicht werden sollte. Ein Jahr nach der Verleihung des Deutschen Jugendliteraturpreises für das Rosa Kaninchen, 1975, wurde Warten bis der Frieden kommt für den gleichen Preis nominiert: „Die Fortsetzung der (preisgekrönten) Jugenderinnerungen der Tochter des nach London emigrierten Kritikers Alfred Kerr. Die Familienprobleme – Armut, Arbeitssuche, schwindende Kraft der Eltern, zunehmende Verantwortung der Kinder – geben auch einen sehr eindrucksvollen Einblick die Wirren und tragischen Zusammenhänge des Zweiten Weltkrieges. So sollte Zeitgeschichte immer erzählt werden.“ (https://www.jugendliteratur.org)
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Aber das nächste Projekt Judith Kerrs war erst einmal – vielleicht wieder zur Entspannung von dem schwierigen Thema des Romans und den Aufregungen des Preises – ein weiteres Bilderbuch. Wieder war es die Katze der Familie, die sie inspirierte, mittlerweile die zweite. Sie hörte auf den Namen „Wienitz“ – eine hübsche Verballhornung durch Tom Kneale, der auf ihrer österreichischen – wienerischen – adligen Abstammung beharrte und die Schreibweise des ursprünglichen Namens „Weenits“ (von „teeny weeny“, „winzig“) abänderte. Es war eine sehr kleine Katze mit denkwürdigen Eigenschaften, die Judith Kerr in ihrer Autobiografie witzig zu beschreiben weiß, etwa, dass sie statt Mäusen grüne Bohnen jagte. Eine der grundlegenden Eigenschaften von Wienitz war offenbar eine große Abneigung gegen das Weihnachtsfest, denn sie hatte Angst vor dem Weihnachtsbaum. Genau das inspirierte Judith Kerr zu einem weiteren Bilderbuch über Mog – die Katzen sollten auch in Zukunft alle Mog heißen und deren aus bereits erschienenen Bänden bekannten Eigenschaften weiterführen. Das Bilderbuch hieß Mog’s Christmas (Mog feiert Weihnachten); es erzählt die Geschichte eines Weihnachtsfestes, bei dem Mog permanent allen im Weg ist und niemand Zeit für sie hat. Da sucht sie lieber ein ruhiges Plätzchen, oben auf dem Dach am Schornstein – die Seiten 116/117 in der Autobiografie zeigen diese Dachszene auf einer kompletten Aufschlagseite – und geht dem Lärm aus dem Weg, niemand kann sie von dort herunterlocken. Bis es im Kamin gewaltig rumpelt, schließlich ist Weihnachten … Das Bilderbuch erschien 1976. Auf Youtube wurde 2015 die Geschichte von Mogs Weihnachten „dramatisiert“ im Rahmen einer Sainsbury-Werbung (Titel: Mog’s Christmas Calamity | Sainsbury’s Ad | Christmas 2015) und sollte unbedingt einmal angeschaut werden. 1977 gab es in Deutschland ein erfreuliches Ereignis für Judith und Michael Kerr, eine Art erste Rehabilitation oder Anerkennung des Vaters Alfred Kerr auf nationaler Ebene: Das bereits 1834 gegründete Börsenblatt des deutschen Buchhandels stiftete den „Alfred-Kerr213
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Preis für Literaturkritik“. Der jährlich vom Börsenblatt verliehene und heute mit 5.000 Euro dotierte Preis sollte an den großen Literaturkritiker und Publizisten erinnern. Bis 1995 war der Preis nicht an eine Person gebunden, sondern zeichnete einen überragenden Literaturteil einer deutschsprachigen Zeitung oder Zeitschrift aus oder wurde an ein deutschsprachiges Rundfunk- oder Fernsehprogramm verliehen; seit 1996 wird jedoch jeweils die Arbeit einer Einzelperson ausgezeichnet, das heißt keine einzelnen Kritiken, sondern ein über einen langen Zeitraum andauerndes, kontinuierliches literaturkritisches Schaffen. Die Verleihung erfolgt seit 2004 traditionell auf der Leipziger Buchmesse. Nach dem Bilderbuch wurde es Zeit, wieder an die Hitler-Trilogie zu gehen. Als Judith den zweiten Band, Warten bis der Frieden kommt, schrieb, waren ihre Kinder noch Jugendliche gewesen. Als der dritte Band, A Small Person Far Away (Eine Art Familientreffen), 1978 erschien, war der Sohn volljährig und erwachsen. Judith Kerrs Bücher wuchsen mit ihnen. War der erste Band ein Kinderbuch und auch in dieser Sparte für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert, war der zweite ebenso eindeutig ein Jugendbuch (und auch da nominiert), den dritten Band muss man allein aufgrund der ausschließlich erwachsenen Personen und der Thematik – Familie, Ehe, Ehebruch, Verantwortung – als einen reinen Erwachsenenroman bezeichnen. Es war der Band, der Tacy und Matthew Kneale am besten gefiel. Die Verhältnisse hatten sich verkehrt. „Ich wollte nur die Geschichte meiner Familie erzählen – dass unsere Eltern in der Lage waren, uns zu beschützen, als mein Bruder und ich jung waren, dass sie immer zu wissen schienen, was notwendig war, und dass sich nach und nach die Beziehung veränderte, bis sich durch den Selbstmordversuch meiner Mutter die Rollen völlig umkehrten und wir die Erwachsenen wurden.“ (JK, Geschöpfe, 118 f.) 214
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Das Buch hatte – wie schon der zweite Band – deutlich weniger Leser, aber Judith Kerr hatte das Schreiben interessant gefunden, sodass sie spontan beschloss, über die Trilogie hinaus ein weiteres Buch für Erwachsene zu schreiben, zu dem sie in ihrer Autobiografie nur wenig mehr verrät, als dass sie letztlich, nach achtzehn Monaten intensiver Arbeit, daran scheiterte. Vielleicht lag es daran, dass es ihr erster Versuch war, ein Buch ohne jeden Bezug zum eigenen Leben zu schreiben. Der Plot war ihrer Meinung nach gut ausgearbeitet, die Personen interessant genug, dass sie einen solchen Roman selbst gern gelesen hätte, aber letztlich fand sie keinen Zugang zu dem Thema, schrieb den ursprünglichen Text mit einem Ich-Erzähler um zu einem Text mit einem Erzähler in der dritten Person, tilgte, fügte hinzu und war irgendwann am Ende, als sie erkannte, „dass dieses spezielle Buch keine Lust hatte, von mir geschrieben zu werden.“ (JK, Geschöpfe, 119) Alle Bücher, die Judith Kerr geschrieben hat, zeigen einen persönlichen Bezug zu ihrem Leben, zur Familie (die immer irgendwie intakt ist) und zu bestimmten Ereignissen; das zeichnet ihre Bücher aus, die durch diese Subjektivität authentisch und ehrlich wirken. Der geplante neue Roman wurde nie geschrieben, und mehr erfährt man in ihrer Autobiografie auch nicht darüber, außer dass in ihren Sätzen doch ein gewisses Bedauern, vielleicht sogar Frust mitschwingt. Aber zum Glück gab es ja noch Mog, über die nun zwei Bände erschienen waren (ihr Werkverzeichnis am Ende der Autobiografie listet insgesamt 16 Bilderbücher mit der Katze auf). Und zu Mog galt es nun zurückzukehren. In der Zwischenzeit hatte Judith Kerr eine neue Lektorin bei Collins, Linda Davis, Ehefrau von Christopher Davis, der später den Verlag Dorling Kindersley leiten sollte. Die beiden Ehepaare freundeten sich miteinander an. Eines Tages brachten die Davis ihren gut einjährigen Sohn mit, der sich sofort als großer Fan von Wienitz erwies und die Katze bald auf Schritt und Tritt verfolgte („Mog hatte das Gefühl, das Baby wäre überall“) und zum Dank von ihr gebissen wurde; nicht stark, 215
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aber immerhin. Es war die Idee zu dem Bilderbuch Mog and the Baby (Mog und das Baby), das 1980 erschien. Es erzählt die Geschichte von einem Kleinkind, das vorübergehend mit einer Katze allein in einem Raum gelassen wird, die sich nicht als kinderlieb entpuppt, das Kind aber letztlich vor einer großen Gefahr rettet. Im folgenden Jahr 1981 gab es ein bemerkenswertes Ereignis in der Familie: Judiths Bruder Michael Kerr wurde nach einer langen und höchst erfolgreichen Karriere zum Lord Justice of Appeal ernannt, einem der (heute 35, damals 18) Berufungsrichter am Berufungsgericht, dem Court of Appeal, der im Gerichtssystem von England und Wales die zweithöchste Ebene bildet. Trotz des Titels „Lord“ mussten die Mitglieder nicht zwingenderweise auch Peers, also Angehörige des englischen Hochadels, sein. Für einen gebürtigen Deutschen war dies eine außerordentliche Ehre. Zwei Fotos in seinen Erinnerungen zeigen Michael Kerr in seiner prachtvollen Amtsrobe samt Perücke; an beiden muss er schwer getragen haben. Nur wenige Wochen später wurde er Mitglied in Her Majesty’s Privy Council, dem Geheimen Staatsrat der Königin. „Nach einer Übungsstunde hieß das, vor Ihrer Majestät im Buckingham Palace zu knien und ihr die Hand zu küssen, aber unbedingt ohne direkten Kontakt, und sich dann allmählich aufrichtend rückwärts wieder hinaus zu bewegen. Nach einem weiteren Treueschwur als Privy Councillor, zusammen mit anderen Ernannten des Tages, ging ich als The Rt Hon Lord Justice, nachdem ich zuvor nur The Hon Mr Justice gewesen war.“ (MK, Remember, 307) Auch für seine Schwester Judith sollten weitere erfolgreiche Jahre kommen. Der gescheiterte Roman muss einen nachhaltigen Eindruck auf sie gehabt haben, wie sie selbst vermutet, denn in den folgenden acht Jahren schrieb sie nur Bilderbücher mit Mog, nach Mog und das Baby weitere 216
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fünf an der Zahl. Dabei habe sie mit verschiedenen Arten von Bilderbuch gespielt und experimentiert. Mog in the Dark (Mog im Dunkeln), erschienen 1983, war das erste von ihnen. Judith Kerr schrieb das Buch im Blick auf absolute Leseanfänger und kam dabei mit einem Wortschatz von nur fünfzig Wörtern aus. Damit konnte man sehr gut lesen lernen. Thematisch griff sie kindliche Ängste auf, denn die Geschichte handelt von Mogs Angst im Dunkeln, einer Angst, die für alle Kinder gut nachvollziehbar ist. Mog ist versehentlich aus dem Haus ausgesperrt worden und wird allmählich unruhig, nicht nur wegen des sehnlichst erwarteten Abendessens, sondern vor allem wegen dem, was ihr möglicherweise in der Dunkelheit alles zustoßen könnte. Die entsprechende Seite in ihrer Autobiografie zeigt, wie eindrucksvoll und durchaus ein bisschen beängstigend sie den Alptraum von bedrohlichen Vögeln mit spitzen Zähnen in Szene gesetzt hat (JK, Geschöpfe, 102 f.). Auf ihrem Lieblingsbaum schläft Mog ein, nur um von gefährlichen „Maushundvögeln“ zu träumen. Natürlich wird am Ende alles gut: Mog kehrt zur Familie zurück und versucht, den jungen Lesern und Betrachtern klarzumachen, dass sie eigentlich keine Angst haben müssen. Die nächsten beiden Bände entstanden auf Vorschlag ihrer Lektorin Linda Davis, die nun Bilderbücher für sehr junge Kinder haben wollte. Für Judith Kerr war es eine neue Herausforderung, Handlung und Wortschatz so zu beschränken, dass selbst ein einjähriges Kleinkind folgen konnte. Unter diesem Aspekt entstanden die beiden Bilderbücher Mog and Me (1984, Mein Kater Mog und ich) und Mog’s Family of Cats (1985, Familie Mog). Beides waren Pappbilderbücher im Kleinformat, circa 11 x 10 Zentimeter, stabil und gut geeignet für kleine Kinderhände. Die beiden Bücher sind etwas anders als die vorausgehenden, denn sie erzählen keine zusammenhängende Geschichte, sondern „Episoden“ aus dem Umfeld von Zweijährigen: „Der liebenswerte Kater Mog mag die Sonne, den Garten und sein Spielzeug. Aber vor allem mag er seinen besten Freund Nicky. Vier kurze Geschichten für Kinder ab zwei Jahren erzählen von Kater Mog, seinen Freunden und seiner Familie“, 217
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beschreibt der Verlagstext von Ravensburger das Bilderbuch Mein Kater Mog und ich. Das Buch von Mogs Familie erzählt von Mama Katze und Papa Kater, die auf einem Bauernhof leben, vom immer hungrigen Opa, von Katzenbruder James, in dessen Garten es Frösche gibt, und so weiter. Jede Katze sieht dabei anders aus, und man kann das Bilderbuch gut zur Wortschatzerweiterung für sehr junge Kinder nutzen. Das Buch Mog’s Amazing Birthday Caper (Mogs aufregende Geburtstagsgeschichte) erschien 1986 zunächst unter dem Titel Mog’s ABC, denn es war als ein ABC-Buch zum Erlernen der Buchstaben gedacht. An einem Geburtstag macht sich die schläfrige Mog im Traum auf zu einer abenteuerlichen Reise durch das Alphabet, auf der sie – passend zu den Buchstaben des ABC – auf diverse Hindernisse stößt, zum Beispiel auf „dragons in the dark“ oder auf einen „jaguar with a jug of jelly“. Das war eine neue Herausforderung für Judith Kerr, denn sie wusste bereits, dass all ihre Bücher auf Deutsch bei Ravensburger erscheinen würden. Also mussten die Wortspiele in beiden Sprachen passen, denn sie waren durch die Illustrationen bereits festgelegt. „Drachen im Dunkeln“ zu treffen, war kein Problem, beim „Jaguar mit einem Pott Gelee“ wurde es im Deutschen schon kritischer. Mog and Barnaby, erschienen 1991, ist schließlich – als letztes „Experiment“ – ein Buch mit Klappen; es erzählt die Geschichte von dem ungebetenen Gast Barnaby, einem kleinen, verspielten Hund. Beim Vorlesen der amüsanten Geschichte, wie Barnaby Mog nervt, können die Kinder durch das Öffnen von kleinen Klappen, den Türchen am Adventskalender ähnlich, zusätzlich vieles entdecken und damit wiederum ihren Wortschatz erweitern. Auch aus dieser Geschichte finden sich in der Autobiografie viele Abbildungen der Szenen. In den vergangenen acht Jahren war das Familienleben von Judith Kerr nicht stehen geblieben. Beide, Tacy und Matthew Kneale, beendeten die Schule und brachen in eine vielversprechende Zukunft auf. Matthew hatte sich früh für Geschichte interessiert und studierte folgerichtig Moderne Geschichte am Magdalen College, einem der 218
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ältesten Colleges in der englischen Universitätsstadt Oxford; obwohl mehr als 600 Jahre alt, ist Magdalen noch heute eines der renommiertesten und schönsten Colleges Englands. Matthews Interesse an fremden Kulturen führte ihn als Student in andere Länder Europas und nach Südamerika, er reiste durch die USA, durch Indien. Nach der Promotion wusste er, dass er Schriftsteller werden wollte. So zog es ihn erst wieder in die Ferne, diesmal nach Tokio, wo er als Englischlehrer arbeitete und begann, ein Tagebuch zu führen, aus dem langsam erste Kurzgeschichten erwuchsen. Judith und Tom nutzten 1982 die Gelegenheit, ihren Sohn dort zu besuchen. Wieder in England, begann Matthew Kneale zu schreiben und es entstand – inspiriert von seiner Zeit in Japan – sein erster Roman, Whore Banquets („Hurenbanquette“), der viele autobiografische Züge trägt. Es ist die Geschichte eines jungen Engländers, der auf einer Asienreise in Japan hängen bleibt, illegal an einer Sprachenschule Englisch unterrichtet und sich bald in der Falle seiner japanischen Freundin und ihrer Familie sieht. Der Roman behandelt ein Thema, das die gesamte Familie Kerr immer wieder bewegt hat: Wie fremd und verloren ist der Mensch, wenn er die Sprache des Landes, in dem er lebt, und dessen Kultur nicht versteht? Für das Buch sollte Matthew Kneale 1988, erst knapp 28 Jahre alt, den renommierten Somerset Maugham Award bekommen. Seine Auszeichnungen setzten sich fort: Für den Roman Sweet Thames („Süße Themse“) erhielt er 1992 den John Llewellyn Rhys Prize, und im Jahr 2000 den Whitbread Book Award für seinen Roman English Passengers (Englische Passagiere). Tochter Tacy schlug den anderen vorgezeichneten künstlerischen Weg in der Familie ein. Nach der Schule absolvierte sie eine Ausbildung als Schauspielerin an der Central School of Speech and Drama und war in den 1980er- und 1990er-Jahren in einer Reihe von Fernsehund Bühnenrollen zu sehen. Später studierte sie Kunst, belegte wie ihre Mutter Kurse, in denen sie nach dem lebenden Objekt zeichnete und malte. Anfangs malte sie vor allem Insekten, Fliegen und Bienen. 219
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„Ich fing an, Insekten nach dem Zufallsprinzip zu malen. Auf dem Fußboden fand ich eine Schmeißfliege und machte ein paar Fotos und erkannte, wie außergewöhnlich sogar das gewöhnlichste Insekt sein kann, wenn man es durch eine Makrolinse betrachtet“, liest man auf ihrer Webseite. Im Natural History Museum in London fand Tacy in den unzähligen Schubladen genügend Modelle von Schmeißfliegen und grünen Rüsselkäfern, die sie von allen Seiten malte. Bald baute sie zu Hause ihre eigene Sammlung auf, mit der sie ganz nach Belieben Blickwinkel und Beleuchtung verändern konnte, und malte nun weiter Käfer, Rüsselkäfer und Zikaden, doch die Unzufriedenheit blieb angesichts der Künstlichkeit dieser präparierten und symmetrisch aufgereihten Tiere, denen alles Lebendige fehlte. „Ich wollte, dass meine Geschöpfe interessante Formen bilden.“ So lag es nahe, dass sie zeitgleich mit ihrer Arbeit im Bereich der Animatronik begann – ein Kofferwort aus den beiden englischen Wörtern „animation“ („Animation, Bewegung“) und „electronic“ („Elektronik“) – und als animatronische Designerin detailliert und lebensnah komplexe Figuren ausstattete. Sie wurde bekannt durch ihre Figuren für Lost in Space (Verloren im All), einen 1998 gedrehten US-amerikanischen Science-Fiction-Film, der von der abenteuerlichen Reise der Familie Robinson erzählt, die zu einem anderen Sternensystem fliegt, um dort eine neue Welt für die Bevölkerung der unbewohnbar gewordenen Erde zu entdecken, sowie durch Dog Soldiers („Hundesoldaten“) einen Spielfilm aus dem Jahr 2002, der von britischen Soldaten handelt, die in den schottischen Highlands mit einer Horde von Werwölfen konfrontiert werden. Der Film bekam zwischen 2002 und 2003 sechs renommierte Auszeichnungen. Ebenso schuf sie Figuren für Animal Farm, die Verfilmung der 1945 erschienenen dystopischen Fabel von George Orwell, sowie für die ersten vier Harry-Potter-Filme. Seit einigen Jahren ist Tacy Kneale wieder zum Malen von Insekten und seit Neuestem auch von Spinnen übergegangen, die sie in der Natur 220
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findet, „in staubigen Ecken oder auf Fensterbänken – und wenn ihnen das eine oder andere Bein fehlt oder sie ein bisschen angenagt sind, umso besser.“ Das verbindet sie auf ihrer Webseite mit einem leidenschaftlichen Appell für die Natur und das Ökosystem unserer Welt: „Wir müssen sie hegen und pflegen. Ihr Aussterben würde einen sehr langen Schatten auf unsere Zukunft werfen. Ich hoffe, dass meine Bilder die Menschen dazu bewegen werden, die Geschöpfe, die unsere Häuser teilen, noch einmal zu betrachten. Und vielleicht zweimal darüber nachdenken, bevor wir sie schlagen.“ Für Judith ging das Leben indessen zu Hause weiter; jetzt, da die Kinder erwachsen und aus dem Haus gegangen waren, blieb mehr Zeit für ihre Bilderbücher, von denen nun in schöner Regelmäßigkeit jedes Jahr eines erschien, die meisten mit Mog. Auch nachdem Mog und Wienitz gestorben waren, blieb die Familie nie katzenlos; Posy kam zu ihnen, schon als ganz junge Katze, und poussierte bald mit diversen Katern der Nachbarschaft herum, obwohl sie noch gar nicht in dem Alter war, eigene Kätzchen zu haben. Stattdessen musste sie sich mit Bunny begnügen, einer puscheligen Stoffkatze, die ihr unzertrennlicher Gefährte wurde und die sie wie ihr eigenes Katzenkind behandelte. In der Autobiografie zeigt die entsprechende Seite Posy (Mog) acht Mal beim Spiel mit Bunny (JK, Geschöpfe, 128). Als sie eines Tages tatsächlich Junge bekam, hatte sie am Morgen alle fünf Söhne säuberlich aufgereiht, samt Bunny als sechstem. Als das Aufziehen der Kätzchen sie anfing zu überfordern, behielt die Familie nur Sohn Felix und brachte die übrigen anderweitig unter – und Posy entsorgte Bunny, zusammen mit einer toten Maus, im Garten – die perfekte Vorlage für Judiths Bilderbuch Mog and Bunny (Mog und Bunny), das 1988 erschien, zeitgleich mit Matthews erster Auszeichnung, der Verleihung des Somerset Maugham Award. Sie erzählt darin die Geschichte, wie 221
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Posy sie in den Garten lockte, um dort einen völlig durchnässten Bunny einzusammeln und im Haus zu trocknen. Im Buch ist Bunny rosa, und das hat den einen oder anderen Interpreten zum tiefsinnigen Vergleich mit dem rosa Kaninchen in Judith Kerrs Werk veranlasst, was diese deutlich von sich weist: „Im Buch allerdings malte ich Bunny rosa, um sein Fell gegen Mogs abzusetzen. Aber für mich hatte das niemals etwas mit Pink Rabbit zu tun.“ (JK, Geschöpfe, 130) Ihr Leben hatte sich deutlich verändert; der Auszug der Kinder hatte eine gewisse Einsamkeit über das Ehepaar gebracht. Es wurde schwieriger, über ein Leben ohne Höhepunkte oder ohne zumindest als so empfundene Ereignisse zu schreiben. Das fühlte auch Judith Kerr selbst: „Was soll man über ein Leben erzählen, in dem zwei Menschen verrückte vierzig Jahre lang in nebeneinanderliegenden Zimmern sitzen und Zeichen und Striche auf Papier setzen? ‚Dann schrieb er dies ... und dann zeichnete ich das ...‘ Als die Kinder mit der Schule fertig waren und uns nicht mehr mit der Welt in Kontakt hielten, sprachen wir zwei häufig tagelang nur untereinander. Natürlich gab es Ausflüge – um Tacy in der Schauspielschule zu sehen, um Matthew in Oxford zu besuchen, um Filme und Theaterstücke anzuschauen und Freunde zu treffen. Aber grundsätzlich war es eine ziemlich klösterliche Lebensweise.“ (JK, Geschöpfe, 131) Das klösterliche Dasein hatte indessen auch Höhepunkte und Ereignisse, von denen manche auch heute noch träumen würden; und doch mischt sich eine gewisse Unzufriedenheit und Leere in Judith Kerrs Worte, mit denen sie die Jahre ohne Kinder zusammenfasst: „Wir reisten, nach New York, nach L.A. … Einmal fuhren wir nach Japan, wo Matthew Englisch unterrichtete und seine ersten Kurzgeschichten schrieb. Wir sahen Tacy, die im Theater und im 222
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Fernsehen spielte. Und wir verbrachten die Ferien in Portugal, Griechenland, in Venedig (vor allem in Venedig). Immer kehrten wie jedoch in unsere zwei Räume zu unsren nächsten Projekten zurück.“ (JK, Geschöpfe, 131) Eine dieser Arbeiten waren Tonaufnahmen zu Hörbuchfassungen von Judith Kerrs Bilderbüchern; bei der ersten, zu Mog, The Forgetful Cat, sprach Tom einige der Figuren und begeisterte als Einbrecher, während Judiths Rolle eher klein war: Sie durfte das „Miau“ der Katze nachmachen. Ansonsten erinnert sie sich weitgehend an Pannen, die es während der Jahre bei Toms Arbeit gab, etwa als die Familie für eine gewisse Zeit nach Spanien umsiedeln sollte, wo der Film Brave New World (Schöne neue Welt) nach der Dystopie von Aldous Huxley gedreht werden sollte und die Filmcompany kurzfristig bankrott ging. Man verbrachte die Ferien stattdessen in den Southwolds. Oder als Toms Fernsehstück Crow über den Sklavenhandel wenige Tage vor den Proben abgesagt wurde, weil sich das Management und der Designer nicht einigen konnten. Tom Kneale schien eine Art Pechvogel zu sein, aber er gab nie auf und schrieb unverdrossen weiter, wichtig vor allem, da er der Hauptverdiener der Familie war und Judith mit dem Geld von ihren Bilderbüchern nur etwas dazu beitragen konnte. 1992, als Sohn Matthew für seinen Roman Sweet Thames den John Llewellyn Rhys Prize erhielt, erschien ein neues Bilderbuch von Judith Kerr. Nach sechs Mog-Büchern wollte sie etwas anderes machen, aber es wurde wieder ein Bilderbuch mit Tieren, und zwar mit vielen: How Mrs Monkey Missed The Ark (… und da war die Arche weg) war der Titel, ein Buch, aus dem Judith Kerr in ihrer Autobiografie zwar eine Skizze und zwei Farbbilder bringt, das sie aber mit sieben Zeilen abtut – eines der wenigen Bücher ohne direkten Bezug zu ihrem Leben? Oder war Frau Esel eine jüdische Mama, die mit viel Aufwand versuchte, für die Reise auf der Arche Noah etwas Obst aufzutreiben, dass diese schließlich ohne sie ablegte? Judith war mit dem Buch nicht zufrieden, 223
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irgendetwas stimmte nicht damit – es finden sich keine Details darüber –, aber in späteren Jahren wurde es komplett neu gezeichnet und bekam eine Ausziehklappe dazu. Im gleichen Jahr, 1992, erhielt Judith Kerr in Ian Craig bei ihrem Verlag Collins einen neuen Layouter – ein Glücksfall für sie, denn in allen wichtigen Dingen, die Bilderbücher betreffend, waren sie sich einig, und sie lernte eine Menge. 2013 schreibt sie: „Wir arbeiten jetzt seit zwanzig Jahren zusammen, in denen er sich bemüht hat, die vielen verbleibenden Lücken in meiner Bildung zu füllen, da ich niemals eine Zeichenschule besucht habe.“ Sie nennt ihn eine Inspiration und einen Freund. (JK, Geschöpfe, 136) Das nächste Bilderbuch folgte ein Jahr später, 1993, und es war wieder eine Mog-Geschichte, dazu eine aus dem direkten Erleben: Felix, Sohn von Katze Posy, den die Familie behalten hatte, schloss eines Nachts Freundschaft mit einem Fuchs, misstrauisch von Judith Kerr und ihrem Mann beäugt. An den Abenden konnte es Felix kaum erwarten, sein Fressen zu bekommen und danach draußen seinen neuen Freund zu treffen, er verbat sich sozusagen jede Einmischung in sein soziales Leben. Das Ergebnis dieser Episode war Mog on Fox Night („Mog bei Fuchsnacht“). Die Geschichte erinnert nur peripher an das vorausgehende reale Geschehen; hier mag Mog den Fisch nicht fressen, den er zum Abendessen bekommt, viel lieber hätte er ein Ei. Aber Mr Thomas, der Vater in der Bildergeschichte, ist streng, erst der Fisch, dann das Ei. Mog ist beleidigt und schläft draußen hinter den Mülleimern ein. Nachts kommen Füchse und reißen den Müllbeutel auf, fressen den Fisch und Mogs Junge fressen mit. Voll Entsetzen springt sie durch ihre Katzenklappe, gefolgt von den Füchsen, die auch drinnen Mogs Essen fressen. Am Morgen denkt der Vater, es sei Mog gewesen, und sie bekommt ihr Frühstücksei. Eine etwas dünne Geschichte – dachte wohl auch die neue Lektorin bei Ravensburger. Bis dahin war jeder Mog-Band ins Deutsche übersetzt worden, aber dieser wurde abgelehnt. 224
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Es gab aber 1993 einen großen Trost und ein schönes Erlebnis für Judith Kerr: In Berlin wurde die ehemalige 13. Grundschule Wilmersdorf in der Friedrichshaller Straße in „Judith-Kerr-Grundschule“ umbenannt, zur Erinnerung daran, dass sie 1933 als Kind mit ihren Eltern vor den Nationalsozialisten aus Berlin hatte fliehen müssen. Die heutige Grundschule gehört zu den Europaschulen, die gezielt interkulturelles Lernen fördern und damit Toleranz gegenüber anderen Kulturen entwickeln wollen. Besonders Alfred Kerr hätte sich darüber gefreut, denn die grundlegende Unterrichtssprache an der Judith-Kerr-Schule ist zwar Deutsch, aber einige Fächer werden ausschließlich auf Französisch unterrichtet. Die beiden nächsten von Collins in Auftrag gegebenen Bücher waren wieder zwei kleinere Pappbilderbücher, die beide 1994 erschienen: Mog in the Garden („Mog im Garten“) und Mog’s Kittens („Mogs Kätzchen“). Beide eignen sich aufgrund der sehr einfachen Geschichte und Illustrationen für die allerkleinsten Kinder, die Freude haben, bekannte Gegenstände zu entdecken – Dinge im Garten, die man essen und mit denen man spielen kann – und erste Fakten über Katzen zu erfahren. Über das nächste Buch, 1995 erschienen, Mog and the Granny (Mog macht Urlaub), äußerte sich Judith Kerr kritisch. Es habe sich nie ganz richtig angefühlt. Das lag daran, dass sie in diesem Band die Familie Thomas ursprünglich nach Disneyland hatte fahren lassen wollen, und in ihrer Vorstellung sollte Mog sich vor einer gigantischen Micky Maus erschrecken. Zu spät wurde ihr klar, dass Disney eine solche Verwendung seiner Figur natürlich niemals erlauben würde. Da das Buch aber bereits weit fortgeschritten war und die Zeit drängte, musste sich Mog – zu Omi gegeben während des Familienurlaubs – nun vor einem Indianer mit wildem Federnschmuck fürchten. Zwei Seiten in der deutschen Autobiografie (JK, Geschöpfe, 140 f.) zeigen Skizzen, fertiggestellte Bilder und Ausschnitte aus dem erschienenen Buch. 225
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Mog and the V.E.T. („Mog und der Tierarzt“) aus dem Jahr 1996 stand wieder auf solideren Füßen; es beruhte auf der Erfahrung, die wohl die meisten Besitzer machen, dass nämlich ihre Tiere den Besuch beim Tierarzt hassen. Judith Kerrs Tierarzt war aber nett und erlaubte, dass sie seine Praxis skizzierte, und sie durfte sogar ein paar Mal dabei sein, wenn er Katzen behandelte. Ob er sich gefreut hat, dass der Tierarzt im Buch am Ende mit einem verbundenen Finger dasteht, offenbar von Mog gebissen? Die Geschichte war in Deutschland nicht in der Reihe der Mog-Bilderbücher veröffentlicht worden; der Ravensburger Buchverlag gab aber anlässlich von Judith Kerrs 95. Geburtstags am 14. Juni 2018 einen Sonderband heraus, Das große Buch von Kater Mog, mit den Geschichten Mog, der vergessliche Kater, Mog in großer Not, Mog und Bunny und dem bis dahin unveröffentlichten Band Mog beim Tierarzt. Es folgten nach 1995 drei Jahre ohne Mog, ohne Bilderbuch. Die chronologische Übersicht über die wichtigsten Stationen im Leben Judith Kerrs nennt für die Jahre 1997 und 1998 zwei andere Ereignisse, wenngleich sie in der Autobiografie selbst keine Erwähnung finden. An keiner Stelle hatte sie den 1977 ins Leben gerufenen Alfred-Kerr-Preis für eine kontinuierliche literaturkritische Arbeit erwähnt. Aber nun fing man an, sich der Werke Alfred Kerrs im Blick auf eine Gesamtausgabe in Deutschland anzunehmen. 1997 erschien in Deutschland Alfred Kerrs selbstbewusstes und brillant geschriebenes Buch Wo liegt Berlin? Briefe aus der Reichshauptstadt 1895–1900, fast 100 Jahre nach ihrem Entstehen; es knüpfte vielleicht bewusst an die Tradition fiktiver publizierter Briefe als Mitteilungen an, wie etwa die 1822 erschienenen Briefe aus Berlin von Heinrich Heine. Kerrs Buch sollte in kürzester Zeit ein Bestseller werden; nur ein Jahr später lag es – herausgegeben von Günther Rühle – bereits in der fünften Auflage vor. Zwei Jahre später erfolgte eine neue Würdigung Alfred Kerrs durch die Stiftung eines Preises, der seinen Namen trug. Vorausgegangen war Jahre zuvor, am 7. Oktober 1990, der Besuch Judith Kerrs in Berlin, wo 226
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sie in der Reihe der „Berliner Lektionen“ einen Vortrag zu ihrer Kindheit gehalten hatte, in dem sie auch erzählte, wie sich die Familie im Februar und März 1933 vor den Nationalsozialisten durch ihre Flucht nach Zürich gerettet hatte. Es war nach dieser anrührenden Rede, dass die Idee geboren wurde, in Erinnerung und als Hommage an Alfred Kerr einen Preis zu stiften, und zwar nicht für Literaten oder Literaturkritiker, sondern für aufstrebende junge Schauspieler – er sollte auch an die Theaterleidenschaft Alfred Kerrs erinnern. Judith und Michael Kerr „wollten Alfred Kerr wieder heimisch machen in der Stadt, bewahren und zurückbringen, was er für die geistige, die künstlerische Ausstrahlungskraft der Stadt geleistet hatte.“ Finanziert wird der Preis aus den Einnahmen der kommentierten Edition der Briefe und Theaterkritiken von Alfred Kerr. Er ist heute mit 5.000 Euro dotiert. Um diesen Preis aufrechtzuerhalten, wurde die Alfred-Kerr-Stiftung gegründet. „Wie Alfred Kerr, der mit sicherem Gespür Begabungen entdeckte, ist es nun an den jeweils für ein Jahr eingesetzten Juroren, junge Schauspieler und Schauspielerinnen aus dem Ensemble der zum Theatertreffen nach Berlin eingeladenen Aufführungen zu finden, die eine Hoffnung für das Theater sind. In schöner Weise ist Alfred Kerr damit wieder mitten ins Theaterleben der deutschsprachigen Bühnen zurückgekehrt.“ (Webseite der Stiftung, www.alfred-kerr.de) Doch wieder zurück zu Judith Kerr und ihren Büchern. Zeit ihres Lebens war sie von Engeln fasziniert gewesen, vielleicht wegen ihrer areligiösen Erziehung. Schon als Kind zeichnete sie Engel, die zwischen Wolken umherflogen, klein und knubbelig oder groß und statuenhaft, wobei sie nie genau wusste, was diese eigentlich taten. Nun fiel ihr ein, dass sie ein Buch über einen etwas zerstreuten Schutzengel machen könnte, und nach einiger Zeit suchte sie nach einem Namen für ihn. In ihrer Autobiografie erzählt sie dazu eine witzige Episode. Sie erinnert 227
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sich an längst vergangene Zeiten, als sie einmal die Kinder von der Schule abgeholt und Matthew sie im Auto an der Nase herumgeführt hatte, als er ihr erzählte, sie läsen im Unterricht die Lyrik des Dichters Birdie Halleluyah, der in einer Holzhütte im Wald wohne und dort seine Gedichte und Geschichten schreibe – eine spontane Erfindung. Aber der Name war gut und wurde zum Titel des nächsten Bilderbuchs: Birdie Halleluyah! Mehr als vier Seiten in der Autobiografie geben einen interessanten Einblick in die Entstehung eines einzigen Bildes aus dem Buch, der Szene, wo der Schutzengel ein Kind davor rettet, überfahren zu werden, von der ersten Skizze über immer weiter ausgearbeitete Fassungen bis hin zum farbig ausgemalten Bild und dem Abdruck aus dem erschienenen Buch. Die letzten Jahre in der Autobiografie springen zeitlich hin und her, legen aber den Fokus weiter auf die Werke. Dem Band Mog’s Bad Things (Mog in großer Not) widmet Judith Kerr besonders viel Raum, weil die „zündende Idee“, die zugrunde liegende Geschichte, sich in der Erinnerung mit Tom verband. Vorausgegangen war der Tod von Kater Felix, dem Sohn von Posy; er wurde von einem Auto überfahren. Schlimm für die Familie, schlimm für die Katzenmutter, die Felix immer und überall suchte und beklagte, so lange, bis die Familie schließlich einen kleinen Kater kaufte, Leo, der Felix sehr ähnlich sah. Es wurde ein Desaster, und die beiden hassten einander von ganzem Herzen. Posy wurde älter und immer schwächer, Leo größer und immer stärker, und er schüchterte sie ein, bis sie schließlich ganz ängstlich und furchtsam wurde. 1997 feierte Tom seinen 75. Geburtstag, ein großes Fest, zu dem man ein Zelt gekauft hatte, das im Garten aufgebaut wurde, ziemlich nahe an der Katzenklappe. Innen im Haus war Posy, vor der Katzenklappe draußen wachte Leo, sodass sie nicht hinauskonnte. Am Abend, als die Party vorbei war, schlief Posy gemütlich in ihrem Körbchen, Leo oben auf dem Boiler; sie hatte sich gerächt und in seinen Katzenkorb gepinkelt. Natürlich wandelte das Bilderbuch die Geschichte um, es gab ja keine zweite Katze, die betroffen sein konnte, also erledigte Mog ihr 228
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Geschäft auf dem Sessel von Mr Thomas – und alles nur, weil Debbie, die Tochter, im Garten eine Katzenshow geplant hatte, die Mog Angst machte … Mog’s Bad Things erschien im Jahr 2000, einem Jahr, dass für Tacy und Matthew wichtig war: Matthew, 40 Jahre alt, heiratete Shannon Russell und erhielt den Whitbread Award for Novel and Book für seinen Roman English Passengers (Judith Kerr nennt in ihrer Autobiografie irrtümlich 2001). Matthew und Shannon wurden im folgenden Jahr Eltern eines Sohnes mit dem Namen Alexander Dante Kerr Russell Kneale, das erste Enkelkind für Judith Kerr und Tom Kneale. Tacy arbeitete an einem wunderbaren Auftrag und schuf Personen und Geschöpfe für die ersten Harry-Potter-Filme, die mit Harry Potter and the Philosopher’s Stone (Harry Potter und der Stein der Weisen) 2001 begannen. 2001 erschien ein weiteres Bilderbuch von Judith Kerr, die „Hauptperson“ war diesmal eine Gans: The Other Goose („Die andere Gans“), ein Bilderbuch, das wiederum auf eigener Anschauung beruhte. Da, wo Judith Kerr lebte, gab es einen Ententeich, auf dem eine Zeitlang auch vier, fünf Gänse lebten, die nach und nach starben, bis auf eine, Charlie. Im Buch ändert Judith deren Namen in „Katerina“. Charlie pflegte regelmäßig die Treppe der Barclay Bank zu besuchen, sich manchmal sogar in die Bank hineinzuschleichen; am liebsten aber spiegelte er sich in glänzenden Autos, die da parkten, ganz offensichtlich in der Meinung, in Gesellschaft einer anderen Gans zu sein: das Motiv für das Bilderbuch The Other Goose. Ein zweiter Band folgte 2005, Goose in a Hole („Gans im Loch“), der als Thema aufgreift, dass der besagte Ententeich vor Ort eines Tages austrocknet. Zwei nette Bücher, zu denen Judith – wie auch zu den Gänsen – keine besondere Beziehung entwickelte. Mittlerweile lagen fünfzehn Mog-Bilderbücher vor, fast jedes in einem etwas anderen Format oder einer anderen Aufmachung, und Ian Craig organisierte von allen Bänden einen Neudruck in der gleichen 229
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Größe und mit neuen Coverbildern; diese waren sehr viel attraktiver. Seit dem ersten Band von Mog, der 1970 erschienen war, und noch weiter zurück in der Vergangenheit, als Judith an der Kunstschule erste Zeichenversuche unternommen hatte, hatten sich die Dinge technisch sehr viel weiter entwickelt, vor allem der Kopierer, mit dem sie eine Version festhalten konnte, bevor sie sie veränderte, mit dem sie vergrößern oder verkleinern konnte, beschleunigte die Arbeit. Für die Recherchen konnte sie das Internet nutzen, Vorlagen suchen, Details in Erfahrung bringen, ohne dass sie – wie einmal mit sehr schlechtem Gewissen geschehen – ein Buch stehlen musste, um an zuverlässige Vorlagen zu kommen. Man liest in Judith Kerrs Autobiografie die Begeisterung über die technischen Fortschritte und ihre Internetrecherchen aus jeder Zeile heraus: Sie fühlt sich beschenkt. Allerdings gehört sie nicht zu denen, die beim Zeichnen den altmodischen Bleistift und Papier ersetzt haben durch einen Computer; stattdessen verwendet sie neben diversen Tinten Buntstifte, die eine gewisse Farbschwäche und Blässe durch Schärfe und Subtilität ausgleichen. Auf Youtube kann man einen sehr eindrucksvollen, knapp fünfminütigen Film über Judith Kerr, ihren Arbeitsplatz der letzten Jahre und ihre Zeichentechniken sehen: „When Judith Kerr draws“ („Wenn Judith Kerr zeichnet“). Und dann war eines Tages die Idee zu einem allerletzten Mog-Bilderbuch geboren. Es war mit der Hochzeit des Sohnes und den beruflichen Erfolgen von Matthew und Tacy ein gutes Jahr für alle gewesen, niemand war gestorben, alles war in bester Ordnung, und doch war sie da, die Idee: Goodbye, Mog („Auf Wiedersehen, Mog“). „Ich glaube nicht, dass es so sehr darum ging, Mog sterben zu lassen, als generell etwas über das Sterben zu machen“, äußerte sich Judith Kerr 2002 auf die Frage, warum Mog sterben musste, in einem Gespräch mit Dina Rabinovitch. „Ich gehe jetzt auf die Achtzig zu [...] und man fängt an, über die nachzudenken, die zurückbleiben – die Kinder, die Enkelkinder. Ich wollte nur sagen: Erinnert euch. Erinnert euch an mich. Aber macht weiter mit eurem Leben.“ Judith Kerr setzte sich 230
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verstärkt mit dem Thema Tod auseinander; ihr Vater war mit 81 Jahren gestorben, ihre Mutter wurde nur 67, aber nun, im Alter, waren ihr beide so nahe, dass sie darüber nachdachte, wie man sich an sie nach ihrem Tod erinnern würde. Sie erzählt von ihrem Traum: „Aus welchem Grund auch immer träumte ich eines Nachts von meiner eigenen Beerdigung. Es war wirklich bedrückend. Nur die Kinder waren da, es war kalt und dunkel und ziemlich deprimierend, und als es vorbei war, sagte eins der Kinder: ‚Was sollen wir jetzt machen?‘ und das andere antwortete: ‚Lass uns zu McDonald’s gehen!‘ Und ganz und gar jüdische Mutter ging mir sogar in meinem Traum durch den Kopf: ‚Typisch! Sie haben mich kaum beerdigt, da gehen sie schon los und essen Junkfood!‘“ (JK, Geschöpfe, 155) Nach dem Traum wusste sie, wie sie die Geschichte mit dem Tod angehen würde. „Mog was tired. Sie was dead tired. Her head was dead tired. Her paws were dead tired. Even her tail was dead tired. Mog thought, ‚I want to sleep for ever.‘ And so she did. But a little bit of her stayed awake to see what would happen next.“ (JK, Geschöpfe, 153) „Mog war müde. Sie war todmüde. Ihr Kopf war todmüde. Ihre Pfoten waren todmüde. Sogar ihr Schwanz war todmüde. Mog dachte: „Ich möchte für immer schlafen.“ Und das tat sie dann. 231
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Aber ein kleines Stückchen von ihr blieb wach, um zu sehen, was als Nächstes geschehen würde.“ In der Presse wurde der Tod von Mog groß aufgezogen, sie erhielt einen Nachruf in der Zeitung, und es begann eine breit angelegte Diskussion, wie man Kindern den Tod vermitteln konnte. Wenige Wochen später schlug die Stunde für Posy, nach siebzehn Jahren in der Familie. Zwei Stunden lang schnurrte sie, abwechselnd in den Armen von Tom und Judith. Dann starb sie. „Es war, als ob Goodbye Mog etwas in Bewegung gesetzt hätte.“ (JK, Geschöpfe, 156) Im gleichen Jahr, 2002, starb Judith Kerrs Bruder Michael. Er hatte eine ungewöhnlich steile und bedeutende Karriere hinter sich, ein aufregendes Privatleben mit einer gescheiterten stürmischen Ehe und einer sehr glücklichen zweiten – das Leben der beiden Geschwister hatte sich sehr unterschiedlich entwickelt. Aber sie waren immer in Verbindung geblieben, bis zum Schluss, hatten nie die enge gemeinsame Kindheit vergessen, und die Erinnerung an die Eltern, die sie durch eine schreckliche Zeit gebracht hatten, stand über allem. „Es ist alles sehr merkwürdig. Ich habe vor zwei Jahren angefangen, dieses Buch über den Tod von Mog zu schreiben, und die Katze war noch nicht gestorben, obwohl sie bald darauf starb, dann Michael – ich habe das Gefühl, ich hätte das alles losgetreten“, sagte Judith Kerr in dem Interview mit Dina Rabinovitch. Aber das Leben ging weiter und es gab auch Schönes. Nicht lange nach Michaels Tod wurde 2003 Tatjana Ella Russell Kneale geboren, Tochter von Matthew und Shannon, das zweite Enkelkind für Judith und Tom. 2006 erhielt Judith Kerr eine weitere Auszeichnung, den J. M. Barrie Award. „Der J. M. Barrie Award wird jährlich an Menschen, die Kunst für Kinder machen, oder an eine Organisation verliehen, deren Lebenswerk es ist, Kinder zu erfreuen, und deren Arbeit nach Ansicht der Treuhänder die Zeit überdauern wird“, heißt es 232
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auf der Webseite des Preises (http://childrensarts.org.uk/what-wedo/awards/). Am 29. Oktober dieses Jahres starb Tom im Krankenhaus, nach vierundfünfzig gemeinsamen Jahren mit Judith Kerr. Bereits einige Jahre zuvor hatte er einen Schlaganfall erlitten und sich wieder erholt, aber er war nicht mehr derselbe geworden. Judith berichtet in ihrer Autobiografie, wie sehr er das Schreiben vermisste. Mit Worten zu arbeiten, Geschichten auszudenken und Figuren Leben einzuhauchen war über Jahrzehnte sein täglich Brot gewesen. Aber wenn er wieder versuchte, etwas Neues zu beginnen, etwa ein neues Schauspiel zu planen, war er, gezeichnet durch den Schlaganfall, zu müde, um es fertigzustellen. Müdigkeit und Erschöpfung, sicherlich auch das Bedrücktsein über seinen Zustand, fesselten ihn und damit auch Judith mehr und mehr ans Haus. Sie berichtet, wie sie weitgehend allein in dem Haus lebten, lasen, fernsahen, miteinander redeten. Reisen konnten sie nicht mehr. Aber sie hatten einander. 2004 feierte das Ehepaar seine goldene Hochzeit. In der Zeit arbeitete Judith an einem neuen Bilderbuch, eine Geschichte – natürlich – über eine Katze, die regelmäßig von zwei Familien gefüttert wurde, die beide dachten, die Katze gehöre ihnen. Das Buch erschien nach Toms Tod, 2007, unter dem Titel Twinkles, Arthur and Puss, die Namen von drei Katzen. Es war schwierig, nach so vielen Jahren plötzlich allein zu sein; ein Jahr lang konnte sie nicht arbeiten. Aber dann traf Judith Kerr andere Witwen, die sie einluden, etwas mit ihnen zu unternehmen. Eines Abends vor Weihnachten war sie mit ihnen im Kino, sah die vielen Lichter der Stadt und die Menschen in weihnachtlichen Vorbereitungen: „Ich dachte, es gibt diese ganze Welt, die ich beinahe vergessen hätte. Und mein nächster Gedanke war: Man darf damit nicht achtlos umgehen.“ (JK, Geschöpfe, 158) Bevor sie Tom getroffen hatte, war sie eine Beobachterin des Lebens gewesen. Dann kam Tom und die Zeit des Sprechens begann. Nun, ohne Tom, ging sie zurück: „Ohne ihn fing ich wieder an zu beobach233
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ten, und ich beobachtete und beobachtete.“ Sie begann zu zeichnen und hatte die Idee zu einem Buch, ohne dass es eine Geschichte dazu gab. „Ich wollte einen Elefanten malen, der durch die Nacht fliegt, Tiere, die Magisches tun, alberne Sachen machen.“ (JK, Geschöpfe, 157) Reime fielen ihr ein, und schließlich war die Idee geboren, ein Bilderbuch mit Zahlen zu machen, etwa in der Art wie „Then a crocodile and a kangaroo | Set off on a bicycle made for two.“ (JK, Geschöpfe, 158 f.; „Ein Krokodil und ein Känguru | machten sich auf mit einem Fahrrad für zwei“) Das Buch erschien 2009 unter dem Titel One Night in the Zoo („Eine Nacht im Zoo“). Im gleichen Jahr erreichte sie eine Anfrage, auf die sie zunächst mit ungläubiger Verwunderung reagierte. Der Theaterproduzent Nick Brooke wollte aus dem Bilderbuch The Tiger Who Came to Tea eine einstündige Bühnenaufführung machen – ein Bilderbuch, das man in drei Minuten ausgelesen hatte! Dementsprechend albern erschien ihr der Vorschlag zunächst, aber nach einigen Gesprächen mit einem Fachmann sagte sie schließlich zu, man traf sich ein paar Mal. „Das kam dabei heraus – fünfundfünfzig Minuten Theater, die Geschichte unverändert, aber mit Liedern (von ihm selbst komponiert) und Magie und jeder Menge Publikumsbeteiligung.“ (JK, Geschöpfe, 161) Das Bühnenbild sah genau so aus wie im Bilderbuch gezeichnet. Im August 2008 wurde das Stück im Bloomsbury Theatre aufgeführt und war sofort ein voller Erfolg; es war immer wieder auf Bühnen im ganzen Land zu sehen, bis es schließlich 2011 ins Vaudeville Theatre in London kam. 2012 war das Stück sogar für den Olivier Award nominiert, den britischen Theater- und Musicalpreis, der als die höchste Auszeichnung im britischen Theater gilt und an Theaterproduktionen verliehen wird, die im Londoner West End zu sehen waren. 2008 war auch Tacy Kneale höchst erfolgreich mit einer ersten Ausstellung von Zeichnungen zusammen mit dem britischen Künstler Colin Beagley; eine zweite folgte bereits ein Jahr später, die dritte vom 5. bis 10. November 2012. 234
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2009 gab es für Judith Kerr ein höchst erfreuliches Erlebnis. Das Museum Seven Stories, The National Centre for Children’s Books in Newcastle zeigte sich interessiert am Erwerb ihrer originalen Zeichnungen, die sie bis dahin – im Glauben, diese seien wertlos – in einer Kiste aufbewahrte, für den Fall, dass die eine oder andere für einen Nachdruck erforderlich wäre. Nun durfte sie erfahren, dass diese Zeichnungen durchaus ihren Wert hatten. So akzeptierte sie die Einladung ins Museum – und war begeistert: ein Gebäude mit sieben Stockwerken (ein Wortspiel mit dem Namen des Museums: „Seven Stories“ = „Sieben Geschichten“; „Seven Storeys“ = „Sieben Stockwerke“) und viel Raum, wo Kinder sich zurückziehen und lesen, sich verkleiden und spielen und viele Dinge tun und herausfinden konnten, die sie interessierten, dazu ein Ausstellungsraum, ein Buchladen … Mit einem eigenen Transporter wurden die Zeichnungen Judiths Kerrs abgeholt; wenig später gab es sogar eine Ausstellung mit den Bildern und mittlerweile beherbergt das Museum ein umfassendes Judith-Kerr-Archiv, das auch ihre Kinderzeichnungen und viele private Dinge aus ihrer Kindheit umfasst. #MogLivesHere, wirbt die Webseite von Seven Stories, „#HierWohntMog“. Während des langfristigen Sichtens ihrer Dokumente und Zeichnungen für Seven Stories entstand ein weiteres Bilderbuch, das 2011 erschien mit dem Titel My Henry („Mein Henry“). Ist es eines der Bilderbücher für Erwachsene, die Judith Kerr schrecklich fand? Eigentlich schon, denn es erzählt die Geschichte einer Witwe, die in ihren Fantasien wilde Abenteuer mit ihrem verstorbenen Mann im Himmel durchlebt – Ausdruck ihrer Sehnsucht nach Tom. „My Henry died and went to Heaven | But now he’s got his wings. | They let him out from four till seven | And we do all sort of things.“ (JK, Geschöpfe, 166; „Mein Henry starb und kam in den Himmel, | Doch nun hat er Flügel bekommen. | Sie geben ihm frei von vier bis sieben | Und wir unternehmen ganz viel.“) Die Autobiografie zeigt eine Reihe von Seiten aus dem Bilderbuch. Aber obwohl es ein Buch ist, das recht 235
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gut bei der Trauerbewältigung helfen kann, ist es doch kein trauriges Buch, sondern kann vor allem von Kindern auch als abenteuerliche Erlebnisse voller Fantasie verstanden werden: Da reiten die beiden Alten auf einem Dinosaurier oder unterhalten sich mit der Sphinx – also doch kein Bilderbuch für Erwachsene? 2012 wurde Judith Kerr zum Officer of the Order of the British Empire ernannt und erhielt damit den Orden OBE „for services to children’s literature and Holocaust education“, also für Verdienste im Bereich der Kinderliteratur und Holocaust-Bildung. Im gleichen Jahr gab es nicht nur für Tacy ihre dritte Ausstellung mit Colin Beagley, es erschien auch Judith Kerrs vorletztes Bilderbuch, das eine sehr originelle Idee umsetzt und wiederum nicht Kinder zum Thema hat, sondern das Leben alter Frauen: The Great Granny Gang („Die großartige Omi-Gang“). Hier sieht man alte Witwen, teils schon in ihren Neunzigern, die aber die Herausforderungen des Lebens unverdrossen und mit bemerkenswerter Energie meistern, sei es, dass sie eben mal den Motor ihres Busses reparieren, sei es – das witzige, abenteuerliche Hauptthema des Buches –, dass sie eine „Hoodie-Gang“, eine Gruppe von Kriminellen in Sweatshirts mit Kapuzen („hoodies“), die Leute auf der Straße beklauen, zur Strecke bringen. Eine gereimte Geschichte, die Judith Kerr ihren Freundinnen widmete, die wohl wiederum die lebendige Vorlage zu diesem originellen Buch gebildet haben. 2013, als sie 90 Jahre alt wurde, erschien ihre Autobiografie Creatures, die für die vorliegende Biografie viele Informationen lieferte; ein von ihrem Verlag HarperCollins sehr aufwendig aufbereitetes, großformatiges Buch mit Farbdrucken, das viele Einblicke in die Entwicklung ihres künstlerischen Schaffens gibt. Und es ging noch einmal weiter: 2015 – nach 37 Jahren – erschien wieder ein erzählendes Buch, ihr erster illustrierter Kinderroman, Mister Cleghorn’s Seal (Ein Seehund für Herrn Albert, 2016 bei Sauerländer). Mit ihm setzte Judith Kerr ihrem Vater noch einmal ein Denkmal – 236
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Judith Kerr an ihrem Schreibtisch im Herbst 2015.
mit einem positiven Ausgang. Mr Cleghorn bzw. Herr Albert ist niemand anderer als Alfred Kerr, der (in der Geschichte) eines Tages beim Rudern ein verlassenes Seehundbaby findet und es mit nach Hause nimmt. Hier erhält der Seehund in einem schönen, versöhnlichen Ende ein neues Zuhause, während der echte Seehund, den Alfred Kerr seinerzeit aufzuziehen versuchte, eingeschläfert werden musste und fortan sein Dasein bei der Familie Kerr als ausgestopftes Tier fristete. Als letzte Auszeichnung erhielt Judith Kerr 2016 den Booktrust Lifetime Achievement Award, einen Preis für Kinderbuchschriftsteller oder Illustratoren, deren Arbeiten über ihre Lebenszeit hinaus einen festen Platz in dieser Kinderliteratur erobert haben; ein festlicher Akt mit einer ganz besonderen Note, denn die Verleihung erfolgte im Zoo von London, direkt vor dem Gehege des Tigers, dessen Vorfahre wohl einst bei Judy Kerr zum Tee gekommen war. Humorvoll und witzig reagierte sie auf den Preis. Wenn dieser für ein Lebenswerk verliehen werde, dann habe sie mit ihren 93 Jahren ja einen geradezu 237
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unfairen Vorteil. „Es ist unvermeidlich, dass die Juroren sagen müssen: ‚Sie ist 93, sie ist nächstes Jahr vielleicht nicht mehr da, dass wir ihr den Preis dann geben könnten‘, was absolut unfair ist gegenüber den jungen Illustratoren und Autoren, die erst in den Achtzigern sind“ (Drabble). Judith Kerr, geboren am 14. Juni 1923 in Berlin, starb wenige Wochen vor ihrem 96. Geburtstag, am 22. Mai 2019, in London – eine Frau, die ihren großen und kleinen Lesern zeit ihres Lebens viel zu sagen hatte, aus ihrer Lebenserfahrung heraus, die sie Höhen und Tiefen in einer Intensität erfahren ließ, wie sie nur wenige erleben dürfen. Liest man sich durch die vielen Interviews, die sie seit ihrem 80. Geburtstag immer wieder gegeben hat, so überrascht – und beglückt – ihre Einstellung. „Die Nazis haben über sechs Millionen Juden getötet, und ausgerechnet unsere Familie hatte das unglaubliche Glück zu überleben. Das bleibt nicht ohne Wirkung“, zitiert Peyman Engel Judith Kerr in ihrem Artikel. Glücklich sei sie geworden, so wird sie nicht müde, in ihren Interviews zu betonen, glücklich, wie ihr Vater es auch in einem seiner letzten Briefe an sie befohlen hat. Dennoch – oder deswegen – war es ihr wichtig, die Erinnerung an die dunklen Zeiten aufrechtzuerhalten, damit die Menschen wissen, wie es war; immer ist sie ohne Hass, ohne Verbitterung. „Es war ein unglaublich erfülltes und glückliches Leben, aber es hätte so leicht nicht so sein können. Wenn da nicht die Voraussicht meiner Eltern gewesen wäre, wenn dieses Land uns keinen Schutz gegeben hätte, und wenn ich vor sechzig Jahren nicht in der BBC-Kantine zu Mittag gegessen hätte …!“ (JK, Geschöpfe, 171)
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Mit diesen Worten endet die Autobiografie einer Frau, die ein Leben lang mit sich im Reinen war, die aber nie die vergessen hat, die nicht das „Glück“ hatten wie sie selbst. Das zeigt die Widmung ihres Buches, und dann ist es auch ganz zu Ende: „This book is dedicated to the one and a half million Jewish children who didn’t have my luck, and all the pictures they might have painted. Dieses Buch ist den eineinhalb Millionen jüdischen Kindern mit all ihren ungemalten Bildern gewidmet, die nicht so viel Glück hatten wie ich.
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Lebensstationen
1923 geboren am 14. Juni als Tochter von Alfred Kerr und seiner Frau Julia, geb. Weismann 1933
März: Flucht in die Schweiz
Dezember: Übersiedlung nach Frankreich
1936
März: Übersiedlung nach England
1939
3. September: Ausbruch des Zweiten Weltkriegs
1940
Beginn der Arbeit bei The Hon. Mrs Gamage
1941 Teilnahme an Kunstkursen bei den Londoner Kunstschulen 1945
8. Mai: Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa
September: Stipendium an der Central School of Arts and Craft und Aufnahme der Arbeit bei einer Möbelstoff-Firma 1947
Einbürgerung in Großbritannien
1948
Oktober: Tod des Vaters Alfred Kerr
1948–1952 Kunstlehrerin an diversen Schulen in London und Eastbourne 1949 Erster Preis für ein Gemälde bei der Daily Mail Ideal Home Exhibition 1952 Mitarbeiterin beim BBC-Fernsehen als Lektorin für eingereichte Manuskripte
Erste Begegnung mit Thomas Nigel Kneale
1954 8. Mai: Hochzeit von Judith Kerr und Thomas Nigel Kneale 240
Lebensstationen
1956
Drehbuchautorin bei der BBC
1958
3. Januar: Geburt der Tochter Tacy Deborah Kneale
1960 24. November: Geburt des Sohnes Matthew Nicholas Kerr Kneale 1965
Tod der Mutter Julia Kerr
1968
The Tiger Who Came to Tea
1970
Mog the Forgetful Cat
1971
When Hitler Stole Pink Rabbit
1972
When Willy Went to the Wedding
1974 Besuch in Deutschland zur Verleihung des Deutschen Jugendliteraturpreises 1975 The Other Way Round, später: Bombs on Aunt Dainty 1976
Mog’s Christmas
1978
A Small Person Far Away
1980
Mog and the Baby
1982
Besuch in Japan bei Sohn Matthew
1983
Mog in the Dark
1984
Mog and Me
1985
Mog’s Family of Cats
1986
Mog’s ABC
1988
Mog and Bunny
1990
Eine eingeweckte Kindheit
1991
Mog and Barnaby
1992
How Mrs Monkey Missed the Ark
1993
Mog on Fox Night
1994
Mog in the Garden und Mog’s Kittens
1995
Mog and the Granny
1996
Mog and the V.E.T.
1998
Etablierung des Alfred-Kerr-Darsteller-Preises Birdie Halleluyah! 241
Lebensstationen
2000
Mog’s Bad Things
2001
The Other Goose
Geburt des Enkels Alexander Dante Kerr Russell Kneale
2002
Bruder Michael Kerr stirbt Goodbye Mog
2003
Geburt der Enkeltochter Tatjana Ella Russell Kneale
2005
Goose in a Hole
2006
Verleihung des J. M. Barrie Award
29. Oktober: Thomas Nigel Kneale stirbt
2007
Twinkles, Arthur and Puss
2008
The Tiger Who Came to Tea als Bühnenstück
2009 Seven Stories übernimmt die originalen Zeichnungen von Judith Kerr Ausstellung der Werke in Newcastle One Night in the Zoo 2011 Seven Stories: Ausstellung im V&A Museum of Childhood in London My Henry 2012
Verleihung des Ordens OBE The Great Granny Gang
2013
Creatures. A celebration of her life and work
2015
Mr Cleghorn’s Seal
2018
Geschöpfe. Mein Leben und Werk
2019
22. Mai: Judith Kerr stirbt
242
Bibliografie
Primärliteratur Alfred Kerr AK, Briefe = Abschied und Willkommen. Briefe aus dem Exil 1933–1945. Hrsg. von Hermann Haarmann unter Mitarbeit von Toralf Teuber. Berlin: Bostelmann & Siebenhaar, 2000. AK, England = Ich kam nach England. Ein Tagebuch aus dem Nachlaß. Hrsg. von Walter Huder & Thomas Koebner (Gesamthochschule Wuppertal. Schriftenreihe Literaturwissenschaft 9). Bonn: Bouvier, 1979. AK, GW = Alfred Kerr: Werke in Einzelbänden. Hrsg. von Hermann Haarmann & Günther Rühle. 8 Bde. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1998–2014 (I.1, I.2, II, III, IV, V/VI, VII.1, VII.2). AK, Hausknecht = Die Diktatur des Hausknechts und Melodien (Fischer Bibliothek der verbrannten Bücher). Frankfurt am Main: S. Fischer, 1983. AK, Sucher = Alfred Kerr: Sucher und Selige, Moralisten und Büßer. Literarische Ermittlungen (Werke in Einzelbänden IV). Hrsg. von Margret Rühle & Deborah Vietor-Engländer. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2009. AK, Tagebuch = Aus dem Tagebuch eines Berliners. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 4. Auflage, 2008. AK, WlB = Wo liegt Berlin? Briefe aus der Reichshauptstadt 1895–1900. Hrsg. von Günther Rühle. Berlin: Siedler, 1997. AK, Zeit = Das war meine Zeit. Erstrittenes und Durchlebtes (Werke in Einzelbänden V/VI). Hrsg. von Deborah Vietor-Engländer. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2013. AKA = Alfred-Kerr-Archiv im Archiv der Akademie der Künste, Berlin
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Bibliografie Internetquellen zu Alfred Kerr Alfred-Kerr-Stiftung. www.alfred-kerr.de Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik. www.alfred-kerr-preis.de Unveröffentlichte Quellen Alfred-Kerr-Archiv, Berlin, Briefe. https://archiv.adk.de/bigobjekt/4021
Judith Kerr JK, Creatures = Judith Kerr’s Creature. London: HarperCollins Children’s Books, 2013. JK, Geschöpfe = Judith Kerr: Geschöpfe. Mein Leben und Werk. Aus dem Englischen von Ute Wegmann. Hürth: Edition Memoria, 2018. JK, Kaninchen | JK, Frieden | JK, Familientreffen = Als Hitler das rosa Kaninchen stahl. Eine jüdische Familie auf der Flucht. Bd. 1–3. Bd. 1: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl. Bd. 2: Warten bis der Frieden kommt. Bd. 3: Eine Art Familientreffen. Aus dem Englischen von Annemarie Böll. Ravensburg: Ravensburger Buchverlag, 2013. JK, Kindheit = Eine eingeweckte Kindheit. Berlin: Argon, 1990. JK, Seehund = Ein Seehund für Herrn Albert. Aus dem Englischen von Sibylle Schmidt. Frankfurt am Main: Sauerländer, 2016. Internetquellen Mog’s Christmas Calamity | Sainsbury’s Ad | Christmas 2015. www.youtube.com/ watch?v=kuRn2S7iPNU „When Judith Kerr draws“. www.youtube.com/watch?v=x66GeKVLp4Y J. M. Barrie Award. http://childrens-arts.org.uk/what-we-do-awards
Michael Kerr MK, Remember = Michael Kerr: As far as I remember. Oxford and Oregon: Paperback Print, 2006. (Alle Zitate aus diesem Buch übersetzt von Astrid van Nahl)
Tacy Kneale Website = http://tacykneale.com (Alle Zitate von Tacy Kneale im Text von dieser Seite) Ausstellung vom 5. bis 10. November 2012. www.theframesgallery.co.uk/bio/ tacy_colin.html
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Sekundärliteratur
Sekundärliteratur
(Alle Internetadressen wurden am 11.05.2019 zuletzt abgerufen. Alle genannten Daten sind, soweit ermittelbar, die Einstelldaten der Artikel.)
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Register
Personen- und Werkregister Araquistain, Luis (Botschafter der Zweiten Spanischen Republik im Deutschen Reich ab 1932) 70 Baum, Vicki 19, 33 Menschen im Hotel 19, 33 Böll, Annemarie (Ehefrau von Heinrich Böll, Übersetzerin der Hitlertrilogie von Judith Kerr) 9, 119, 210 Brecht, Bertolt 33 Benjamin, Walter 210 Buber, Martin 210 Buchan, John (schottischer Autor) 173 Castle Grey 173 Huntingtower 173 The House of the Four Winds (Das Haus der vier Winde) 173 Canetti, Veza (Autorin) 19 Chaplin, Charlie 44, 54 Cohen, Patsy (künstlerische Leiterin bei HarperCollins) 191, 209 Craig, Ian (Layouter bei Harper Collins) 224, 229 Döblin, Alfred 19 Berlin Alexanderplatz 19 Einstein, Albert 16, 40, 44, 102f. Farleigh, John (britischer Künstler) 142–146, 149f., 190, 208
Feuchtwanger, Lion 33, 88 Fischer, Samuel (Verleger) 68 Fizaine, Fernand & Maggie (befreundetes Ehepaar der Kerrs) 96–98, 100f., 120, 122f., 156 Galewski, Walter (Rechtsanwalt; späterer Lebenspartner von Julia Kerr) 175 Gropius, Walter 18, 33 Guggenbühl, Eduard (Inhaber des Hotel Die Sonne in Zürich) 72f., 75f., 80, 84f., 87, 90, 104 Hauptmann, Gerhart 24, 41f., 99 Heine, Heinrich 226 Briefe aus Berlin 226 Hesse, Hermann 19 Der Steppenwolf 19 Siddharta 19 Hetmann, Frederik siehe Kirsch, Hans-Christian Hitler, Adolf 13, 39, 55–60, 71, 78–80, 108, 130, 132f., 147, 154, 198 Mein Kampf 14, 56 von Horváth, Ödön 33 Ingalls Wilder, Laura (US-amerikanische Autorin) 199f., 202 Little House in the Big Woods (Laura im Wald) 199
249
Register Little House on the Prairie (Laura in der Prärie) 199 Julia Kerwey siehe Kerr, Julia Kempner, Alfred siehe Kerr, Alfred Kempner, Anna Rebecca 21, 44, 124 Kempner, Emanuel 19, 23 Kempner, Friederike (Dichterin) 23 Kempner, Helene, geb. Calé 19 Kerr, Alfred 10, 14, 18–27, 30f., 35f., 38-41, 43–47, 51f., 56–62, 64–68, 70–72, 74, 76, 78, 80–85, 87–90, 92, 97–103, 107f., 113–117, 119f., 124, 127, 129, 138–140, 146, 151, 153–156, 158–161, 175f., 188, 208, 212, 213, 225–227, 237 Plauderbriefe 10, 31, 36, 41 Wo liegt Berlin? Briefe aus der Reichshauptstadt 21f., 26f., 226 Die Welt im Drama 26 Die Harfe 26 Diese Zeit 57 Torsprüche 92 Die Diktatur des Hausknechts 57f., 62–64, 66, 72, 82f., 85, 92, 99 Walther Rathenau. Erinnerungen eines Freundes 99 Ich kam nach England. Ein Tage buch aus dem Nachlaß 120, 153 Kerr, George (US-amerikanischer Autor) 173 Kerr, Judith (Werke) A Small Person Far away (Eine Art Familientreffen, Bd. 3 der Hitlertrilogie) 152, 170f., 174, 176–179, 185, 214 Birdie Halleluyah! 228 Das große Buch von Kater Mog 226 Eine eingeweckte Kindheit 34f., 38–40, 42, 46, 48, 50, 63 Goodbye, Mog 230, 232 Goose in a Hole 229 How Mrs Monkey Missed The Ark
250
(… und da war die Arche weg) 223 Judith Kerr’s Creatures. A celebration of her life and work (Geschöpfe. Mein Leben und Werk) 9, 44f., 49f., 59, 106f., 111, 113, 125, 130, 133, 135, 142f., 146, 148, 155, 157, 161f., 167, 169–171, 174, 182f. 185f., 189, 191f., 194f., 198, 201–203, 206, 211, 214f., 217, 220–225, 229, 231–235, 236, 238 Mister Cleghorn’s Seal (Ein Seehund für Herrn Albert) 43, 236 Mog and Barnaby 218 Mog and Bunny (Mog und Bunny) 221, 226 Mog and Me (Mein Kater Mog und ich) 217f. Mog and the Baby (Mog und das Baby) 216 Mog and the Granny (Mog macht Urlaub) 225 Mog and the V.E.T. 226 Mog in the Dark (Mog im Dunkeln) 217 Mog in the Garden 225 Mog on Fox Night 224 Mog the Forgetful Cat (Mog der vergessliche Kater) 194, 223 Mog’s Amazing Birthday Caper (Mogs aufregende Geburtstags geschichte) 218 Mog’s Bad Things (Mog in großer Not) 228f. Mog’s Christmas (Mog feiert Weihnachten) 213 Mog’s Family of Cats (Familie Mog) 217 Mog’s Kittens 225 My Henry 235 One Night in the Zoo 234 The Crocodile under the Bed (Manuskript) 194 The Great Granny Gang 236 The Other Goose 229
Personen- und Werkregister The Other Way Round (Warten bis der Frieden kommt; Bd. 2 der Hitlertrilogie) 119, 129, 132f., 135–137, 139–142, 144f., 146f., 152f., 205, 207, 212 The Tiger Who Came to Tea (Ein Tiger kommt zum Tee) 183–185, 190–192, 194–196, 206, 234, 237 Trois pays pour la petite Anna 210 Twinkles, Arthur and Puss 233 When Hitler Stole Pink Rabbit (Als Hitler das rosa Kaninchen stahl; Bd. 1 der Hitlertrilogie) 8f., 35, 43, 54f., 60, 62–64, 66, 71, 75f., 78f., 81, 84–86, 89–91, 96, 98, 101, 104, 106–108, 110, 117–119, 186, 197, 199, 201–204, 207–209, 211f., 222 When Willy went to the Wedding 206 Kerr, Julia; geb. Weismann 14, 27–31, 35f., 39–41, 47, 52–54, 58, 60f., 64f., 70, 73, 75f., 83–85, 87, 90f., 93, 95, 97–101, 109, 112, 116, 119–121, 124, 138–140, 146, 151, 154, 156, 161, 170, 174–178, 185–189, 202 Die schöne Lau (Oper) 40 Chronoplan (Oper) 40f., 62, 98, 151, 188 Kerr, Michael 10, 23, 27f., 30f., 35, 41f., 44–48, 51f., 54–57, 61f., 64f., 67, 71f., 75, 79, 81, 84–87. 90f., 93–97, 103–112, 114, 116f., 119–127, 132, 135, 137, 139f., 143, 147, 149, 151f., 157, 159–161, 175–178, 183, 186–189, 197, 211, 213, 216, 227, 232 Kirsch, Hans-Christian (Autor) 209f., 212 Ich habe sieben Leben. Die Geschichte des Ernesto Guevara, genannt Che 210 Klatte, Wilhelm (Musikpädagoge und Dirigent) 30, 40
Kneale, Alexander Dante Kerr Russell 229 Kneale, Bryan (Künstler) 170 Kneale, Matthew (Autor) 166, 185, 189, 192, 194f., 197f., 214, 218f., 221–223, 228–230, 232 English Passengers (Englische Passagiere) 219 Sweet Thames 219 Whore Banquets 219 Kneale, Thomas Nigel (britischer Schriftsteller und Drehbuchautor) 165–170, 173, 177, 180–183, 190–192, 196–198, 201f., 206, 211, 213, 219, 223, 228f., 232f., 235 Crow 223 The Quatermass Experiment 168f., 185 The Stone Tape 206 Tomato Cain 166f., 170 Kneale, Tacy (Künstlerin) 180f., 182f., 185, 189–191, 194, 197, 199, 214, 218–220, 229f., 224, 236 Kneale, Tatjana Ella Russell 232 Koestler, Arthur (ungarisch-britischer Autor) 33, 88 Kommer, Rudolf (Journalist und Impresario) 100, 103 Korda, Alexander (ungarischbritischer Filmproduzent und Filmregisseur) 114–116, 122f. Korrodi, Eduard (Schweizer Journalist, Essayist und Literaturkritiker) 73 Lachmann-Mosse, Hans (Verleger) 68, 70 Lessing, Gotthold Ephraim 24, 113 Nathan der Weise 113 Liebknecht, Karl 13 Luxemburg, Rosa 13, 210 Mann, Golo 88
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Register Mann, Heinrich 19, 33 Ein ernstes Leben 19
Remarque, Erich Maria 19, 33 Im Westen nichts Neues 19, 33
Mann, Klaus 88 The Turning Point. Thirty-Five Years in this Century (Der Wende punkt. Ein Lebensbericht) 103
Shaw, George Bernard 41f., 142 The Adventures of the Black Girl in Her Search for God (Ein Neger mädchen sucht Gott) 142
Mann, Thomas 16, 73f., 88, 172
Stottele, Christian (Verlagsleiter Ravensburger) 212
May, Karl 200, 210 Meyerfeld, Max (Journalist und Staatsmann) 42, 80, 183 Mussolini, Benito 13, 58 Orwell, George 169, 220 1984 169 Animal Farm (Film) 220 Osborne, John (britischer Dramatiker) 181f. Look Back in Anger (Blick zurück im Zorn) 181f. The Entertainer (Der Entertainer) 182 Personal Enemy 181 The Devil Inside Her 181 Plesch (befreundete Familie der Kerrs in England) 114, 124f., 127, 137, 151
Tucholsky, Kurt 19 Schloss Gripsholm 19 von Trapp, Maria (österreichische Sängerin und Autorin) 198 Die Trappfamilie (Film) 198 The Sound of Music (Musical) 198 Weismann, Gertrud, geb. Reichenheim 29–31, 53, 59, 78f., 107f., 111, 113f., 121, 126f., 128, 175, 187 Weismann, Julia siehe Kerr, Julia Weismann, Robert 29–31, 51–53, 59, 111f., 126–128 Werfel, Franz 88 Wilson, Donald (schottischer Kollege der Kerrs bei der BBC) 174. 179 Zuckmayer, Carl 33
Ransohoff, Martin (amerikanischer Film- und Fernsehproduzent) 192
Ortsregister Belgien 108f., 130, 132
Italien 25, 31, 51, 169, 186
Breslau 19, 21, 23f.
Japan 219, 222
Cambridge 122, 148, 157
Küsnacht 72–74, 84, 86, 93, 104
Coxyde-les-Bains 108f.
Los Angeles 33
Eastbourne 158, 163f.
Lugano-Cassarate 66
Griechenland 223
Luxemburg 82
Hamburg 13, 158–161, 188, 211
Madrid 164
Isle of Man 132, 166, 170
New York 33, 102f., 222
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Sachregister Niederlande 12, 130, 132
Ruhrgebiet 13, 211
Nizza 59, 61, 109–112, 116, 121, 124–128
Sanary-sur-Mer 88
Österreich 63, 81, 126, 198
Tschechoslowakei 29, 60, 67
Oxford 219, 222
Venedig 223
Portugal 223
Zürich 61, 63, 65–67, 72f., 75, 79, 82, 84–86, 91, 120, 208, 227
Provence-Alpes-Côte d’Azur 88
Spanien 51, 163, 223
Sachregister Alfred-Kerr-Archiv 27, 51, 60, 70, 102, 107f., 113f., 176
J.M. Barrie Award 232
Alfred-Kerr-Darsteller-Preis 227
London Polytechnic 128f.
Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik 226
Olivier Award 234
BBC, British Broadcasting Corporation 138, 151, 164, 167–170, 172f., 179, 183, 206, 238 Booktrust Lifetime Achievement Award 237 British Council 158 Central School of Arts 142, 157, 164, 166, 190 Central School of Speech and Drama 219
John Llewellyn Rhys Prize 219, 223
Royal Academy of Arts 157 Royal Academy of Dramatic Art 166 Royal Court Theatre 182 Seven Stories, The National Centre for children’s books 235 Somerset Maugham Award 166, 170, 219, 221 St. Martin’s School of Art 141 UCL, University College London 121 Whitbread Book Award 219, 229
Deutscher Jugendliteraturpreis 9, 186, 208f., 211f., 214
253
Dank
J
edes Buch, das geschrieben wird, lebt auch von den Menschen, deren Aufgabe es zu sein scheint, dem Autor beratend und hilfreich zur Seite zu stehen, seine diversen Fassungen Korrektur zu lesen und ihn mit passenden Bemerkungen und Lob bei Laune zu halten. Dr. Jana Mikota war die Erste, die sich noch vor mir in das Thema vertiefte und Recherchen im Archiv der Akademie der Künste betrieb; ihre Abschriften und Texte hat sie mir dankenswerterweise zur Verfügung gestellt. Bernhard Hubner war und ist seit Jahrzehnten nicht nur eine stetige Inspirationsquelle, sondern auch mein kritischster Korrekturleser, der zielsicher inhaltliche Ungereimtheiten und Rechtschreibfehler aufspürt; Jutta Seehafer war die begeistertste Korrekturleserin, die eigens die Bücher von Judith Kerr neu kaufte und noch einmal las, um alles noch besser beurteilen zu können. Dr. Elmar Broecker war mein sachlichster Korrekturleser und rückte zeitgeschichtliche Ereignisse und ihre Bewertung zurecht. Ihnen allen ein sehr herzliches Dankeschön! Ein spezieller Dank geht an meine beiden Lektorinnen bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Sophie Dahmen und Dr. Mechthilde Vahsen. Aufgeschlossen für alle Vorschläge und Ideen, lasen und kommentierten sie fach- und sachkundig den Text und waren hilfreich bei der Bildersuche und -beschaffung. Alle stehengebliebenen Fehler sind dennoch allein von mir zu verantworten.
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Dank
Ich widme das Buch meinen Kindern, Dr. Jan Alexander van Nahl und Dr. Ruth Katharina van Nahl, weil ich froh bin, dass sie keine schwere Kindheit hatten und trotzdem erfolgreich und glücklich geworden sind, und meinem Mann, Dr. Rudolf van Nahl, weil er dieses Buch gern noch gelesen hätte, in dem er vieles aus seiner eigenen Kindheit und Jugend hätte wiederfinden können. Astrid van Nahl
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Bildnachweis
Alamy Stock Photo / ukartpics: S. 184 akg-images: S. 14, 20, 41, 69, 105, 181 akg-images / Album: S. 115 akg-images / arkivi: S. 73 akg-images / Erich Lessing: S. 17 akg-images / picture-alliance / dpa: S. 209 akg-images / Sammlung Berliner Verlag / Archiv: S. 131 akg-images / WHA / World History Archive: S. 134 Kerr-Kneale Productions Ltd: S. 193 picture alliance/Mary Evans Picture Library: S. 165 picture alliance/REUTERS: S. 237 ullstein bild / Dephot: S. 28 ullstein bild / ullstein bild: S. 37, 53, 77 Trotz sorgfältiger Recherche ist es nicht immer möglich, die Inhaber von Urheberrechten zu ermitteln. Berechtigte Ansprüche werden selbstverständlich im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten.
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Über den Inhalt: Astrid van Nahl zeichnet in ihrer Biografie erstmals das Leben der Schriftstellerin und Zeichnerin Judith Kerr nach: das liebevolle Familienleben mit allen Annehmlichkeiten als Tochter des bekannten Theaterkritikers Alfred Kerr, das Exil, das die Familie vor existenzielle Probleme stellte, den Weg Judith Kerrs zur gefeierten Autorin und Illustratorin und nicht zuletzt die Dankbarkeit, die sie ihrer neuen Heimat England stets entgegenbrachte. Trotz aller Hindernisse und Schwierigkeiten, die Judith Kerr überwinden musste, zeigt die Biographie eine optimistische Frau, die von sich selbst sagte: »Es war ein unglaublich erfülltes und glückliches Leben.«
Über die Autorin: Astrid van Nahl hat das Online-Magazin alliteratus.com gegründet, das Informationen, Beratung und Empfehlungen im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur bietet. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Universitäten Bonn, Saarbrücken und Bochum. Heute ist sie Lehrbeauftragte für Isländische Sprache und Sprachgeschichte an der Universität Bonn und arbeitet als Autorin und Fachübersetzerin.
Umschlaggestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt Umschlagabbildung: Judith Kerr an ihrem Schreibtisch in London ©picture alliance/REUTERS/Fotograf: Dylan Martinez