Florence Nightingale: Die Frau hinter der Legende 3806240558, 9783806240559

Sie war weder ein Engel noch eine Die Biografie entwirft erstmals für deutsche Leser ein differenziertes Porträt von Flo

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German Pages [322] Year 2020

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Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
Die Nightingales. Eine viktorianische Familie
Eine komplizierte Kindheit und Jugend (1820–1839)
Das Ringen um ein sinnvolles Leben (1839–1847)
Auf Reisen (1847–1850)
Pflege als Lebensaufgabe (1850–1854)
Der Krimkrieg (1854–1856)
Reformerin und Invalidin (1856–1870)
Religion und Theologie
Krankenhäuser und öffentliches Gesundheitswesen (1856–1870)
Indien, die „Perle des Empire" (1857–1895)
Frauenfrage und Frauenrechte
Die Nightingale School (1870–1900)
Neue Projekte in der Pflege (1870–1895)
Die Legende lebt (1895–1910)
Ikone, Mythos, Zerrbild
Literaturverzeichnis
Register
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Florence Nightingale: Die Frau hinter der Legende
 3806240558, 9783806240559

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Florence Nightingale

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Hedwig Herold-Schmidt

Florence Nightingale Die Frau hinter der Legende

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg THEISS ist ein Imprint der wbg. © 2020 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Redaktion: Mechthilde Vahsen, Düsseldorf Satz: Mario Moths, Marl Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de 978-3-8062-4055-9 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-4059-7 eBook (Epub): ISBN 978-3-8062-4060-3

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Inhalt Vorwort 7 Die Nightingales. Eine viktorianische Familie

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Eine komplizierte Kindheit und Jugend (1820–1839)

22

Das Ringen um ein sinnvolles Leben (1839–1847)

45

Auf Reisen (1847–1850)

64

Pflege als Lebensaufgabe (1850–1854)

85

Der Krimkrieg (1854–1856)

96

Reformerin und Invalidin (1856–1870)

145

Religion und Theologie

177

Krankenhäuser und öffentliches Gesundheitswesen (1856–1870) 189 Indien, die „Perle des Empire“ (1857–1895)

213

Frauenfrage und Frauenrechte

231

Die Nightingale School (1870–1900) 253 Neue Projekte in der Pflege (1870–1895)

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Die Legende lebt (1895–1910)

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Ikone, Mythos, Zerrbild

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Literaturverzeichnis 308 Register 317

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Vorwort

Am Waterloo Place mitten in London hat Großbritannien einer Frau ein Denkmal gesetzt, die in der Geschichte der Stadt einen besonderen Platz einnimmt. Florence Nightingale (1820–1910) ist weithin bekannt als Begründerin der weiblichen weltlichen Krankenpflege. Dass ihr Name weltweit ein Begriff ist, verdankt sie ihrem Engagement im Krimkrieg (1853–1856). Dadurch entstand das legendäre Bild einer sich aufopfernden, religiös motivierten jungen Frau, die unter widrigsten Umständen kranke und verwundete Soldaten pflegte. Als Lady with the Lamp, die nachts durch die Krankensäle wandelte, ist sie in das kollektive Gedächtnis eingegangen. Doch Florence Nightingale darauf zu reduzieren hieße, viele wichtige Felder ihres Schaffens während ihres langen, neunzigjährigen Lebens zu vernachlässigen, in dem sie sich mit großer Leidenschaft und Einsatz einem breiten Spektrum weiterer Themengebiete widmete. So galt sie als Expertin für alle Fragen der öffentlichen Gesundheitsfürsorge und des Militärsanitätswesens, als international anerkannte Krankenhausreformerin, als Propagandistin für Sozialreformen, als Spezialistin für Kolonialfragen in Indien, als Kämpferin für Frauenrechte und als Pionierin der Statistik. Sie führte eine umfassende Korrespondenz mit Politikern, Sozialreformern und Wissenschaftlern – mehr als 10.000 Briefe sind überliefert – und versuchte mit großem Nachdruck, eine Vielzahl innovativer Projekte voranzubringen. Sie agierte meist wenig sichtbar aus dem Hintergrund, doch mit bewusstem Einsatz ihrer öffentlichen Bekanntheit, mithilfe eines beeindruckenden Netzwerks persönlicher Beziehungen und einer wohldurchdachten Medienstrategie. Indem sie versuchte, auf Parlament, Regierung, Verwaltung und Öffentlichkeit Einfluss zu nehmen, bewegte sie sich auf Gebieten, die Frauen ihrer Zeit üblicherweise verschlossen blieben. In ihren Vorstellungen zeichneten 7

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Vorwort

sich bereits zur Mitte des 19. Jahrhunderts Kernprinzipien des späteren modernen Wohlfahrtsstaates ab. Die Überwindung von Krankheit war für sie untrennbar mit Prävention verbunden, und zur Schaffung gesundheitsförderlicher Lebensverhältnisse hatten Staat und Gesellschaft ihren Beitrag zu leisten. Im Krimkrieg schwer erkrankt, führte Florence Nightingale in ihrer zweiten Lebenshälfte mehr oder weniger das Leben einer Invalidin, die sich öffentlich nur noch sehr selten zeigte. Ihr umfassendes Werk entstand zu einem großen Teil in der Abgeschlossenheit ihres Krankenzimmers. Heroisierung und Mythenbildung begannen bereits zu Lebzeiten. Nightingale wurde nichts Geringeres als die Rettung der britischen Armee und die Erfindung der modernen Krankenpflege im Alleingang zugeschrieben. So wurde sie zu einer Ikone des 19. Jahrhunderts, beinahe zu einer Heiligen. Daher ist es kaum verwunderlich, dass das Pendel irgendwann zur anderen Richtung ausschlagen musste. Bereits wenige Jahre nach ihrem Tod sah der Schriftsteller und Kritiker Lytton Strachey in ihr nicht mehr das Ideal viktorianischer Weiblichkeit, sondern in ihren – durchaus bewunderten – Taten das Produkt von Herrschsucht und unterdrückten sexuellen Trieben. Spätere Veröffentlichungen erweiterten dieses Bild zu dem einer alleinstehenden, sexuell frustrierten, hypochondrischen und machtbesessenen Intrigantin, deren Leistungen sie gleichzeitig relativierten oder gänzlich infrage stellten. Kein Schutzengel der Soldaten sei sie gewesen, sondern vielmehr ein Todesengel. Auch manche in der Krankenpflege Engagierte distanzierten sich von ihrer berühmten Vorgängerin und machten sie für allerlei aktuelle Missstände im Beruf verantwortlich. Dies gilt ebenso für einige Vertreterinnen der feministischen Bewegung, die nicht nur Nightingales mangelndes emanzipatorisches Engagement beklagten, sondern sie sogar mitunter als Frauenhasserin abstempelten. Andere hingegen schrieben den Mythos fort, der sich im 20. Jahrhundert, z. B. während der Weltkriege, immer wieder trefflich aktualisieren ließ. Obwohl neuere Biografien sich um eine ausgewogenere Beurteilung dieser komplexen Persönlichkeit und ihrer vielfältigen Interessen- und Tätigkeitsfelder bemühen, kursieren noch häufig historisch fragwürdige 8

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Vorwort

Nightingale-Bilder, die zwischen dem Bild einer Heiligen und dem einer snobistischen (und bisweilen rassistischen) Machtbesessenen aus der britischen Oberschicht changieren. Wer also war diese so kontrovers beurteilte Frau, die die Journalistin Rachel Swaby unlängst zu den 52 Women Who Changed Science – and the World zählte? Wie dachte sie? Welche Motivationen leiteten ihr Handeln? Welche Zeitumstände prägten ihr bewegtes Leben? Eine Bemerkung vorab: Das englische nurse/nursing, das Pflege/n in einem sehr weiten Sinne umschreibt, wurde je nach Bedeutungsgehalt mit verschiedenen Begriffen ins Deutsche übertragen. Hospital und Krankenhaus wurden – trotz möglicher Nuancierungen – synonym verwendet, wie auch die Bezeichnungen England/Großbritannien analog zum zeitgenössischen Gebrauch so benutzt wurden. Die Protagonistin wird, wo immer sinnvoll, mit ihrem Nachnamen angesprochen, um den verniedlichend-despektierlichen Vornamengebrauch bei Frauen zu vermeiden. Nur aus stilistischen Gründen verwendet der Text die männliche Form für beide Geschlechter.

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Die Nightingales. Eine viktorianische Familie

Florence Nightingale erblickte am 12. Mai 1820 in Florenz das Licht der Welt. Ihre um ein Jahr ältere Schwester Parthenope war ebenfalls nach ihrem Geburtsort benannt worden, nach Neapel in seiner griechischen Bezeichnung. Die Eltern William Edward und Frances Nightingale befanden sich auf einer ausgedehnten Hochzeitsreise in Italien. Sie nutzten wie viele wohlhabende Engländer die neuen Reisemöglichkeiten nach den Wirren der Napoleonischen Kriege. Die beiden Töchter sollten die einzigen Kinder bleiben, die Hoffnung auf einen Stammhalter erfüllte sich nicht. Dies war die Kernfamilie, Florence Nightingales engster Bezugsrahmen. Der vierundzwanzigjährige William Edward Nightingale hatte die sechs Jahre ältere Frances Smith 1818 geheiratet. Mit dieser Verbindung entstand ein engmaschiges familiäres Netzwerk, das Florence Nightingales Leben und Wirken tiefgreifend prägen sollte. Sie war Teil eines wohlhabenden, intellektuell aufgeschlossenen, sozialreformerisch aktiven und politisch einflussreichen Familienclans. Beide Familien gehörten zu den aufstrebenden Mittelklassen, die zusammen mit den traditionellen Oberschichten das Land in einer Zeit selbstbewusst lenkten, in der Britanniens Führungsrolle in der Welt unbestritten war.

England im 19. Jahrhundert Im 19. Jahrhundert stieg das viktorianische England zu einer politischen, militärischen und ökonomischen Weltmacht auf. Sein Kolonialreich erstreckte sich von Australien bis in die Karibik. Die Industrialisierung veränderte für viele Menschen in rasanter Geschwindigkeit Leben und Arbeiten, Denken, Fühlen und Glauben von Grund auf. Textil- und 10

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England im 19. Jahrhundert

Schwerindustrie, Kohlebergwerke und Schiffswerften, Eisenbahnen und Kanäle drückten nicht nur der Landschaft ihren Stempel auf. Die Bevölkerung stieg stark an, und immer mehr Menschen zog es vom Land in die Städte, in die industriellen Zentren. Lange Arbeitstage, gefährliche Arbeitsbedingungen, Frauen- und Kinderarbeit bei schlechtem Lohn waren vielerorts die Regel. In den Städten galt es, oft unter erbärmlichen Umständen, ums tägliche Überleben zu kämpfen. In überbelegten und ungesunden Mietskasernen, auf Straßen, die von Schmutz aller Art und Fäkalien überquollen, meist ohne zureichende Trinkwasserversorgung und Kanalisationssysteme und zudem schlecht ernährt, fristeten viele ein freudloses Dasein. Zahlreiche Arbeitslose, Invalide und Kinder lebten auf der Straße oder waren in Arbeitshäusern untergebracht. Die Sterblichkeitsziffern, insbesondere die der Säuglinge und Kleinkinder, wiesen bedrohlich nach oben. Die städtischen Armen litten besonders unter den gesundheitlichen Problemen und waren oft so geschwächt, dass Epidemien, im 19. Jahrhundert vor allem die Cholera, leichtes Spiel hatten. Bildung war ein Privileg für wenige. In der patriarchalisch geprägten Gesellschaft hatten es Frauen noch schwerer als Männer: Harte Arbeit, weniger Lohn, zusätzliche familiäre Verpflichtungen und die Bürde der Schwangerschaften lasteten auf ihnen. Es gab also reichlich Reformbedarf im England des 19. Jahrhunderts. Diesem Anliegen nahm sich vor allem ein Teil der Mittelschichten an, und er tat dies unter dem Banner einer philosophischen Idee, des Utilitarismus. Dahinter stand die Vorstellung, dass „der größtmögliche Nutzen für die größtmögliche Zahl“ anzustreben sei, wobei sich der Staat möglichst wenig einmischen sollte. Ob nun Innen-, Außen- oder Handelspolitik, ob Erziehungswesen oder Wahlrecht, Todesstrafe oder Sklaverei: All diese Debatten wurden geführt unter der Doktrin der Nützlichkeit. Dabei wurde die ursprüngliche Variante dieses Denkens, wie sie Jeremy Bentham formuliert hatte, durch John Stuart Mill an die Realität angepasst. Gegenüber der absoluten Zurückhaltung des Staates im Dienste einer freien Entfaltung des Individuums wurden nun Eingriffe zur Lösung drängender Probleme nicht mehr ausgeschlossen, war es doch offensichtlich, dass das, was dem Einzelnen nützte, nicht zwangsläufig auch zum Nutzen aller sein musste. 11

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Die Nightingales. Eine viktorianische Familie

Die Industrialisierung hatte in einigen Segmenten der Gesellschaft immense Reichtümer geschaffen. Mit den sehr heterogenen Mittelklassen entstand eine neue gesellschaftliche Schicht, die sich Schritt für Schritt mehr Macht und Einfluss eroberte. In unterschiedlichem Ausmaß und mit unterschiedlichen Schwerpunkten erkannten beide große Parteien, die konservativen Tories und die liberalen Whigs, die Notwendigkeit sozialer Reformen an. Keine von beiden stellte allerdings das herrschende Klassensystem infrage, die Ordnung der Gesellschaft. Dahinter stand die Überzeugung, Gott habe jeden an seine Stelle gesetzt, und ein rechtschaffener Mensch, egal ob reich oder arm, akzeptierte dies und tat seine Pflicht. Religion spielte im viktorianischen England eine wichtige Rolle, auch wenn sich die Industriearbeiter immer stärker von den etablierten Kirchen entfernten.

Der Familienclan Den Grundstock seines Vermögens hatte Florence Nightingales Vater, der als William Shore geboren worden war, von einem Großonkel mütterlicherseits aus Derbyshire in den Midlands geerbt. Als er volljährig war, nahm er mit der Erbschaft auch dessen Namen Nightingale an. Grund und Boden waren durch die damals weitverbreitete Rechtsinstitution des Fideikommisses gebunden, die einen Verkauf oder eine Beleihung erschwerte. Dahinter stand der Gedanke, dass die Besitzungen möglichst als Ganzes über Generationen hinweg der Familie ungeteilt erhalten bleiben sollten. Der jeweilige Inhaber hatte lediglich ein zeitlich begrenztes Nutzungsrecht, die Vererbung erfolgte nach bestimmten Regeln. Der Großonkel hatte festgelegt, dass – sollten männliche Nachkommen fehlen – der Besitz an die Schwester des Vaters überging, was 1874 nach dem Tod William Nightingales auch geschah. Die Erbschaft war somit ein zweischneidiges Schwert. Einerseits ermöglichte sie William Nightingale ein sorgenfreies Leben, andererseits schwebte über der Familie immer das Damoklesschwert der Versorgung von Frau und Töchtern, sollte das Familienoberhaupt sterben und die Töchter noch unverheiratet 12

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Der Familienclan

und damit nicht abgesichert sein. Diese Konstellation wurde dadurch kompliziert, dass nicht nur William Nightingale eine Smith-Tochter heiratete, sondern auch dessen Schwester Mary Shore („Mai“), die potenzielle Erbin, mit Samuel einen Sohn der Smiths ehelichte. Florence Nightingales Cousinen und Cousins waren dies somit in doppelter Hinsicht. Die väterliche Familie, die Shores, stammte aus den Midlands, einem der Zentren der englischen Frühindustrialisierung. Neben der Landwirtschaft – ein Landgut war in dieser Zeit unabdingbar für Prestige und Respektabilität – war die Familie in Handel, Banken und Industrie aktiv. Die mit den Shores verwandten Nightingales betrieben Bleiminen, das Fundament ihres Vermögens, und kauften sich in Grundbesitz ein. Großonkel Peter errichtete eine Bleischmelze und investierte in die Baumwollproduktion. In religiöser Hinsicht gehörte die Familie Shore zu den sog. Dissenters, Gruppen, die sich von der anglikanischen Staatskirche distanziert hatten, zu denen u. a. Methodisten, Baptisten, Kongregationalisten, Quäker und Unitarier zählten. Wie auch den Katholiken seit der Reformation waren den Dissenters lange Zeit die vollen Bürgerrechte verwehrt geblieben und noch im 18. Jahrhundert war ihnen der Zugang zu vielen öffentlichen Ämtern und Universitäten verschlossen. Dies führte sie in Tätigkeitsfelder wie Handel, Industrie, Wissenschaft und Bildung – und auch teilweise in den politischen Radikalismus. Im 19. Jahrhundert zählten sie zur Avantgarde der Reformer. Die Familie der Mutter könnte man zum distinguierteren Zweig der Verwandtschaft rechnen. Der Großvater, William Smith, war lange Jahre ein engagiertes, unabhängiges Mitglied des Unterhauses, ebenfalls ein Dissenter und liberaler Kaufmann. Angesichts der Übermacht landbesitzender anglikanischer Konservativer im Parlament galt er als eine Art radikaler Paradiesvogel, der sich insbesondere für die Abschaffung des Sklavenhandels und für religiöse Freiheit und Gleichberechtigung für nichtanglikanische Denominationen einsetzte. Er gehörte zu den Unitariern, die u. a. die Trinitätslehre und die Gotteigenschaft Christi ablehnten. Smith war davon überzeugt, dass es ein gottloser Akt sei, wenn ein Mensch einen anderen 13

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Die Nightingales. Eine viktorianische Familie

seiner Freiheit beraube. In seine aktive Zeit als Politiker fielen mit der Französischen Revolution und den Napoleonischen Kriegen international große Umwälzungen und in Großbritannien weitreichende Reformvorhaben. Dazu zählten die Abschaffung des Sklavenhandels (1807), die Katholikenemanzipation (1829) und die erste große Verfassungs- und Wahlrechtsreform (1832). Im 18. Jahrhundert war es der Familie Smith durch Geschäfte im Groß- und Kolonialhandel gelungen, schnell die soziale Leiter zu erklimmen. Ihre Distanz zur Staatskirche hatte aber trotz Reichtum weiterhin eine gewisse gesellschaftliche Ausgrenzung zur Folge. Die Großmutter von Florence Nightingale gab ihren Kindern eine streng protestantische Moral mit. In vielerlei Hinsicht war sie spartanischer eingestellt als ihr Ehemann, der Luxus und die Kunst liebte. Entgegen den Gewohnheiten der Zeit kümmerte er sich intensiv um seine Kinder und legte auch für seine Töchter, wie die Unitarier überhaupt, größten Wert auf eine gute Erziehung und Bildung. Florence Nightingales Bildung wird oft als außergewöhnlich hervorgehoben, doch auch die ihrer Mutter darf bereits als sehr fortschrittlich gelten. Sie erhielt umfassenden Hausunterricht und freien Zugang zu einer Bibliothek mit über 2000 Bänden und damit zu einer Fülle radikaler Literatur, die auch die Frauen der Familie lesen durften. Während Florence Nightingales Eltern auf der Hochzeitsreise waren, geriet das Handelsunternehmen der Smiths in eine Krise und führte die Familie an den Rand des Bankrotts. So gingen der Landsitz und das Stadthaus in London zusammen mit einer wertvollen Gemäldesammlung und der Bibliothek verloren. William Smiths persönliches Vermögen verschwand praktisch über Nacht. In der Folgezeit waren die Smiths zu erheblichen finanziellen Einschränkungen gezwungen und auf die Unterstützung ihrer erwachsenen Söhne angewiesen. William Smiths politisches und humanitäres Engagement blieb davon unberührt. Für seine Enkelin sollte er immer ein wichtiger Referenzpunkt bleiben. Ebenso prägend für Florence Nightingale wurden seine religiösen Ansichten sowie seine Offenheit und sein Interesse für alle Glaubensrichtungen. Der Feminismus als quasi familiäre Mitgift erreichte Florence Nightingale über ihre un14

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Die Eltern

verheirateten Tanten Patty und Julia Smith. Viele der frühen feministischen Schriftstellerinnen, wie Mary Wollstonecraft, die im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts in London wirkten, waren persönliche Freunde ihrer Großeltern oder ihrer Tanten.

Die Eltern Obwohl sie als Schönheit galt, war Frances Smith („Fanny“), eines von zehn Geschwistern, mit Ende zwanzig noch immer unverheiratet. Die Familien Smith und Shore kannten sich, sie teilten dieselben religiösen und politischen Einstellungen. Der sechs Jahre jüngere William (Shore) Nightingale konnte ihr den angestrebten Lebensstil und vielleicht, etwa durch eine politische Karriere wie ihr Vater, der Familie weiteren sozialen Aufstieg ermöglichen. Wenn spätere Biografen Florence Nightingales ihre Mutter als oberflächliche, dumme, nur auf gesellschaftliches Prestige bedachte Person darstellen, die ihrer Tochter selbstsüchtig lange Zeit einen alternativen Lebensweg verbaut habe, so zeigt sich hier der Wertekosmos des (späten) 20. Jahrhunderts, der der historischen Person kaum gerecht wird. Der finanzielle Ruin ihres Vaters hatte ihr deutlich gemacht, wie wichtig eine gute Partie für eine Tochter war, zumal für eine, die nicht erben konnte. Außerdem teilte Frances Nightingale wohl nicht die protofeministischen Ambitionen ihrer Schwestern und war mit der traditionellen Frauenrolle zufrieden, sofern sie diese nur in der besten Gesellschaft ausleben konnte. Und diese sollte sie virtuos ausfüllen und zum Wohl ihrer Familie einsetzen, wie es von einer viktorianischen Frau ihrer Kreise erwartet wurde. Den sozialen Aufstieg betrieb sie konsequent. Für die oberen Mittelschichten Englands waren die Standesgrenzen zum Niederadel, der Gentry, viel durchlässiger als auf dem Kontinent. Das war umso leichter, als man sowieso den gleichen Lebensstil teilte. William Nightingale soll in seine Frau vernarrt gewesen sein. Er wird als aufmerksamer und rücksichtsvoller Ehemann beschrieben. Charakterlich waren die beiden jedoch sehr unterschiedlich. Der 15

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Die Nightingales. Eine viktorianische Familie

vielseitig interessierte und hochgebildete William Nightingale zog Bibliotheken den Salons vor und wissenschaftliche Vorträge Verwandtenbesuchen. Die Ehe funktionierte trotz der unterschiedlichen Temperamente und Präferenzen, allerdings verbrachte das Paar im Laufe der Jahre seinen Neigungen gemäß immer mehr Zeit unabhängig voneinander, wobei die Einbindung in den weitverzweigten Familienclan eine bestimmende Konstante blieb. Trotz der häufigen räumlichen Trennungen scheinen sie sich aber stets loyal verbunden geblieben zu sein. Frances Smith und William Nightingale wurden im Sommer 1818 in Westminster getraut, merkwürdigerweise ohne die Familie des Bräutigams. Williams gekränkter Vater reiste am Tag nach der Hochzeit nach London, um das Paar zu sehen, doch da war dieses bereits unterwegs nach Italien. Man vermutete die Ursache für dieses Hochzeitsdrama in der kulturellen Kluft zwischen Nord- und Südengland, die vielleicht ein nicht adäquates Auftreten der neuen Verwandten aus Derbyshire hatte befürchten lassen. Die Hochzeitsreise führte nach Italien, wo das junge Paar über zwei Jahre lang der Klassik- und Antikenbegeisterung der Zeit huldigte. Zunächst ließen sich die Nightingales in Neapel nieder. Die katholische Religiosität sowie das politische und kulturelle Leben unter der Bourbonenmonarchie wirkten anfangs befremdlich. Britischen Reisenden auf dem Kontinent waren die Unterschiede zwischen katholischen und protestantischen Gebieten sehr bewusst. Üblicherweise stellte man den Übeln des Katholizismus die Tugenden des Protestantismus gegenüber, dem rituell-emotionalen und potenziell „abergläubischen“ Anderen das mit Vernunft, Bildung, Aufklärung und Kultur assoziierte protestantische „Wir“. Obwohl das junge Paar schnell heimisch wurde, war nicht alles eitel Sonnenschein, denn vor allem Krankheiten trübten den Aufenthalt im Süden. William Nightingale steckte sich mit Malaria an, und Tochter Parthenope hätte die ersten Monate fast nicht überlebt. Das später sehr enge Mutter-Tochter-Verhältnis könnte hier seine Wurzeln haben, denn bis weit ins Erwachsenenalter hielt Frances Nightingale Parthenope für besonders schutzbedürftig und krank16

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Die Eltern

heitsanfällig. Dies sollte die innerfamiliäre Dynamik nachhaltig prägen – mit schwerwiegenden Auswirkungen auf die jüngere Florence, die sich stärker an den Vater anschloss. Nach dem Aufenthalt in Neapel reiste die junge Familie nach Florenz, wo am 12. Mai 1820 ihre zweite Tochter das Licht der Welt erblickte. Sie wurde nach anglikanischem Ritus getauft, aber ebenfalls in das Geburtsregister der Dissenters eingetragen. Es war vor allem Frances Nightingale, die nach fast drei Jahren im Süden auf Heimkehr drängte. Mit zwei Kindern galt es an die Zukunft zu denken. Ihr Mann hingegen wäre wohl gerne noch länger in Italien geblieben, wo er mit viel Muße in kulturell anregender Umgebung ideale Rahmenbedingungen zur Abrundung seiner (Selbst-)Bildung vorfand. Nach ihrer Rückkehr ließen die Nightingales in Derbyshire ein großzügiges Familiendomizil errichten, mit der Mode der Zeit entsprechenden neogotischen Elementen in landschaftlich reizvoller Lage auf einem Hügel: Lea Hurst. Die Landwirtschaft in Derbyshire war im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts bereits im Niedergang begriffen. Bleiminen und -schmelzen sowie eine Baumwollspinnerei um Lea Hurst zeugten von den Umwälzungen der Frühindustrialisierung. Mit zwei benachbarten Dörfern bildete Lea einen Weiler, der in Florences Kindheit ungefähr 675 Einwohner zählte. In dieser Gegend fühlte sich ihre Mutter aus mehreren Gründen nicht sehr wohl. Zum einen entsprach die von der Industrie gezeichnete Landschaft nicht ihrem ästhetischen Empfinden. Zum anderen war ihr das Haus zu kalt, und sie fürchtete vor allem im Winter um die Gesundheit ihrer Kinder. Schlimmer noch als die Kälte scheint die relative soziale Isolation gewesen zu sein. Was ihr hier fehlte, war das gesellschaftliche Leben Südenglands, ganz abgesehen davon, dass sie ihre große Familie vermisste. Auch William Nightingale fand in den Midlands wohl nicht genug intellektuelle Anregungen. Deswegen legten sich die Nightingales 1825 in Südengland, in Hampshire, einen zweiten Wohnsitz zu: Embley Park. Das Haus aus der spätgeorgianischen Zeit war zwar verglichen mit Lea Hurst relativ klein, verfügte jedoch über einen eindrucksvollen Garten und ein großes dazugehöriges Grundstück – mit vielversprechendem Erweiterungspotenzial. Die Gegend wirkte wie das ländliche England aus dem 17

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Die Nightingales. Eine viktorianische Familie

Bilderbuch. Das Meer war nicht weit, die zahlreiche Verwandtschaft in bequemer Reichweite, und eine Reihe prestigeträchtiger Familien wohnte gleich um die Ecke, allen voran der spätere Premierminister Lord Palmerston. Embley Park bot einen hervorragenden Rahmen für die gesellschaftlichen Ambitionen der Mutter, vor allem nachdem das Anwesen in den späten 1830er-Jahren für große Empfänge und viele Übernachtungsgäste umgebaut worden war. Auch London war nahe genug, falls William Nightingale Interesse an einer politischen Karriere entwickeln sollte. In der Tat versuchte er 1834, ein Mandat im Unterhaus zu erringen. Er scheiterte jedoch, da er nicht – wie in England seit Langem üblich – den Parlamentssitz einfach kaufen wollte. Er war vehement für die Reform von 1832 eingetreten, die die Wählerschaft erweitern und die Korruption einschränken sollte. Doch innerhalb von zwei Jahren hatten sich die Einstellungen der Bevölkerung noch kaum verändert. Ganz im Gegenteil hofften nun mehr Wähler als zuvor, von den traditionellen Vergünstigungen profitieren zu können. Tief enttäuscht verzichtete William Nightingale nach dieser Niederlage auf weitere Kandidaturen. Stattdessen pflegte er seine vielfältigen wissenschaftlich-intellektuellen, kulturellen und sozialreformerischen Interessen und kümmerte sich, wie es von einem umsichtigen Gutsherrn erwartet wurde, um seine Besitzungen und um seine Pächter. Seine Tochter Florence sah diese Selbstbeschränkung Jahrzehnte später mit Bedauern: Ohne eine ernsthafte Aufgabe hatte er, so kam es ihr vor, zu wenig aus seinem Leben gemacht. Die Nightingales waren zwischen den beiden Landsitzen ständig in Bewegung. Die Sommer von Juli bis Oktober verbrachte man in Lea Hurst, den Rest des Jahres in Embley Park, unterbrochen von Aufenthalten zur Saison in London, wo sich die Familie in einem Hotel einquartierte. Unter den führenden Schichten Englands war diese Kommutation im Jahresrhythmus zwischen Landsitz und Metropole, zwischen adligem Landleben und politisch-sozialem Großstadtleben üblich. Die London Season, mit der Anziehungskraft des Parlaments und der kulturellen Angebote, schuf einen besonderen Kommunikationsraum mit bestimmten Verhaltensstandards und Distinktionsmechanismen. Der 18

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Die Eltern

jährliche Aufenthalt in der Hauptstadt war nicht zuletzt wichtig, um hinsichtlich aktueller Modetrends auf dem Laufenden zu bleiben. In ihren Residenzen war die Familie so gut wie nie allein, und ein Strom von Besuchern ging ständig ein und aus. Oft blieben diese mehrere Wochen. Während Florence und ihr Vater eine enge Bindung an Lea Hurst entwickelten, hielten sich Mutter und Schwester lieber in Hampshire auf. Die Familie war außerdem häufig auf Reisen, auch mit den Kindern, was damals noch nicht sehr üblich war. Hinzu kamen Verwandtenbesuche und Aufenthalte in Heilbädern. Embley Park wurde schnell zu einem gesellschaftlichen Anziehungspunkt, wobei es wohl eine subtile Mischung aus Geld, Charme, Kultur und Intellekt war, die die Besucher faszinierte. Frances Nightingale versuchte die Art intellektuell-politischer und aristokratisch angehauchter Geselligkeit wiedererstehen zu lassen, die sie in ihrer Jugend im Hause Smith erlebt hatte. Die Herkunft der Nightingales aus Handel und Industrie ließ sich aber nicht so einfach abschütteln. Mit der Zeit stellten sich jedoch immer illustrere Namen ein, nur beim Hochadel hatte sie keinen Erfolg. Zur Etablierung sozialen Kapitals war Frances Nightingale ständig unterwegs, führte eine umfassende Korrespondenz und war eine überaus aufmerksame Gastgeberin, die etwa gezielt ihr Wissen erweiterte, um gute Konversation betreiben zu können. Die außerordentlich wichtige Rolle der Frauen in den Ober- und Mittelschichten für die Pflege von Beziehungen und Netzwerken, nicht zuletzt für das berufliche und soziale Fortkommen der männlichen Familienmitglieder, wird erst neuerdings von der Forschung gewürdigt. Wie es die Geschlechterrollen vorsahen, war Frances Nightingales Handeln auf die Familie fokussiert: Ihren Mann hätte sie am liebsten in der Politik gesehen, und ihre Töchter sollten die bestmöglichen Chancen im Leben bekommen. Das bedeutete damals die Auswahl unter den prestigeträchtigsten Ehemännern. Sie hatte Erfolg: Zwei respektable Landsitze, ein Wappen, sogar eine Livrée für die Bediensteten legten sichtbar Zeugnis davon ab. Die Familien rund um Florence Nightingale, die Shores, die Smiths, die Nightingales, waren mit den Problemen und Debatten ihrer Zeit vertraut, ja man kann sie zu den fortschrittlicheren Kreisen zählen, 19

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Mrs. Nightingale mit ihren Töchtern Florence und Parthenope. Photogravüre von E. Walker nach einem Aquarell, 1828 (1824). Wellcome Collection. CC BY

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Die Eltern

die von unabhängigen, progressiven Positionen in politischen und religiösen Dingen ausgehend Reformen befürworteten und unterstützten. Sie gehörten mit ihrem Reichtum, ihrer Unabhängigkeit, ihrer Bildung und ihrer Prominenz in gewisser Weise zur Avantgarde des sozialen Wandels. Aber sie waren auch Kinder ihrer Zeit, und das sollte Florence Nightingale dann schmerzlich zu spüren bekommen, als sie über einen alternativen Lebensentwurf nachdachte.

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Florence Nightingales Kindheit und Jugend spielte sich vor allem auf den beiden Landsitzen der Familie ab, wo sie die gesellschaftlichen Verhältnisse und sozialen Probleme des viktorianischen Zeitalters kennenlernte. Sie liebte vor allem Lea Hurst. Dort hatte sie größere Freiheiten als in Embley, wo sie bereits in jungen Jahren stark in die Zwänge des gesellschaftlichen Lebens eingebunden war. Sie genoss eine privilegierte Kindheit in einem wohlhabenden Elternhaus und einer weitverzweigten Familie mit vielen Tanten, Onkeln, Großtanten und etwa 25 Cousins und Cousinen. Ihre Briefe und Notizen vermitteln einen guten Eindruck davon, was es hieß, in einer großen, eng verbundenen viktorianischen Familie aufzuwachsen. Während die väterliche Familie sich um Lea Hurst in den Midlands gruppierte, wohnten die Verwandten der Mutter im Süden Englands. Vor allem die Familien ihrer mütterlichen Tanten, die Nicholsons und die Bonham-Carters, waren in Florences Kindheit ein fester Bezugspunkt, aber auch die Angehörigen der Tante väterlicherseits, Mary Shore Smith (Aunt Mai), die mit Frances Nightingales Bruder Samuel Smith verheiratet war. Häufig besuchte Florence Verwandte oder diese hielten sich für längere Zeit in Embley Park auf. So waren die Nightingale-Schwestern in ihrer Kindheit selten allein, sondern meist in Gesellschaft von Cousins und Cousinen, die oft wochen- oder gar monatelang blieben. Zu ihrer Tante Mai entwickelte Florence eine besonders enge Beziehung, ja sie betrachtete sie mit zunehmendem Alter immer mehr als eine Seelenverwandte, mit der sie eine kritische Neugierde und spirituelle Interessen teilte. Um deren 1831 geborenen Sohn kümmerte sich die damals elfjährige Florence mit großem Eifer und Hingabe. Und das blieb über Jahrzehnte so. In ihren Briefen ist er stets „my boy“ oder „my boy Shore“. 22

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Vor allem drei weitere Frauen – zwei ledige Tanten und die Großmutter väterlicherseits – führten Florence die Möglichkeiten und Grenzen ihres Geschlechts beispielhaft vor Augen. Von ihrer Tante Patty schrieb sie 1850, sie sei verrückt geworden, weil sie nichts zu tun hatte. Die außerordentlich intelligente Frau hatte ihren Vater in seiner politischen Arbeit unterstützt und pflegte eigenständige Kontakte mit der zeitgenössischen politisch-gesellschaftlichen Avantgarde. Doch gesundheitliche Probleme, Einsamkeit und die vornehm zu verbergende Armut ließen sie immer exzentrischer werden. Letztendlich isolierte sie sich völlig. Tante Julia hingegen blieb der Familie verbunden und kümmerte sich bei Bedarf um Kranke und Kinder. Soweit war dies nichts Besonderes für unverheiratete Frauen, sie hatte jedoch darüber hinaus ein eigenes und ein öffentliches Leben. Julia Smith engagierte sich für die Abschaffung der Sklaverei und in der Kampagne gegen die corn laws, die durch den Wegfall von Getreidezöllen billigeres Brot für die wachsende Bevölkerung durchsetzen wollte. Ihr Herzensanliegen aber war der Ausbau der Mädchenbildung, wofür sie zusammen mit unitarischen Freundinnen, wie etwa der Schriftstellerin und politischen Journalistin Harriet Martineau, kämpfte. Die väterliche Großmutter Mary Shore beeindruckte Florence Nightingale, die sie als Kind oft besuchte, durch Einfachheit, Intelligenz und Frömmigkeit.

Ein frühreifes Kind Nach der Rückkehr aus Italien im Winter 1821 stellten sich bei Florence sogleich gesundheitliche Probleme ein, die sie über ihre ganze Kindheit hinweg begleiten sollten. Hals und Bronchien machten ihr Schwierigkeiten, dazu kam eine Schwäche in Händen und Füßen. Daher erlernte sie erst spät die Schreibschrift und musste lange Zeit stahlverstärkte Schuhe tragen. Ihre frühen Briefe verraten einiges über ihre Kindheit, so etwa eine Tierliebe, die ihr ganzes Leben anhalten sollte. Auch ihre spätere analytische Präzision und genaue Beobachtungsgabe sowie die Organisierung von Wissen durch Bildung von Kategorien sehen manche bereits in frühen Briefen aufscheinen, etwa als sie einen Zoobesuch 23

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haarklein schilderte und alle Tiere aufzählte. Häufig erstellte sie Listen und ordnete Dinge in Tabellen. Briefe schreiben zählte zu den elementaren Kulturtechniken in Florence Nightingales Kreisen, sollte aber darüber hinaus eine außerordentliche Bedeutung für ihr Leben bekommen. In späteren Jahren als Invalidin im Krankenzimmer isoliert, war dies ihre Verbindung zur Welt. Schon in jungen Jahren ist zu erkennen, dass sie bewusst für ein Publikum schrieb, denn Briefe zirkulierten damals üblicherweise in der Verwandtschaft. Auch gewöhnte sie sich schon früh an, Kopien ihrer Briefe anzulegen und besonders gelungene Stellen an mehrere Korrespondenzpartner zu verschicken. Florence Nightingale war eine gute Schülerin. Bereits mit neun Jahren konnte sie für ihre Mutter eine Predigt auf Französisch zusammenfassen. Zur selben Zeit machte sie sich an eine Art Autobiografie: La vie de Florence Rossignol, die leider nicht überliefert ist. Einiges weist darauf hin, dass sie bereits als Kind einen starken Willen hatte und eigene Vorstellungen entwickelte. Ebenso sicher ist, dass das ihrer Mutter, die Wert auf Disziplin und die strikte Einhaltung von Verhaltensstandards legte, nicht gefallen konnte. Immer wieder versprach Florence ihr, gehorsamer, nachgiebiger, gutmütiger zu sein. Nightingales Biograf Edward T. Cook bemerkt dazu lapidar: „Ihre frühen Briefe berichten nur wenig von kindlichem Spaß.“ (Cook 1, 12) Ihre damalige Lektüre zeugt vom Einfluss der Lehren Rousseaus. Andere Bücher ihrer Kindheit atmeten den Geist der religiösen Erweckungsbewegung mit ihrer spezifischen Moral und Frömmigkeit, der die Gouvernante der Mädchen anhing. Den Großteil der religiösen Unterweisung übernahm die Mutter jedoch selbst. Für die Erziehung der Töchter formulierte sie klare Richtlinien: Anspruchsvolle Konversation war äußerst wichtig, formaler Unterricht weniger, dafür viel frische Luft und Leibesübungen, auch musikalische Erziehung. Bei Parthenope zeigte sich schon bald eine künstlerische Ader, während beide Töchter schnell lesen und schreiben lernten, auch ein Talent für Sprachen entwickelten. Von ihrem Temperament her hätten sie jedoch nicht unterschiedlicher sein können. Parthenope scheint sorglos die Freuden der Kindheit genossen und sich den Erwartungen gemäß verhalten zu 24

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haben, ihre Schwester dagegen war oft nachdenklich und stärker auf sich selbst bezogen. Sie ging bei allem systematisch und strukturiert vor, während Parthenope eher ihren Stimmungen folgte. Ihre Mutter beschrieb Florence als „scharfsinnige kleine Kreatur mit klarem Kopf, die sich überall durchsetze durch Nachdenken und eifrige Umsetzung ihrer Überlegungen“ (Bostridge, 35f.). Die Unterschiedlichkeit der Schwestern beschäftigte die Eltern, aber auch Florence schon früh – so behauptete sie etwa selbst schon mit zehn Jahren, dass sie anders als Parthenope sei und deshalb auch anders behandelt werden müsse. Sie sollte eine solche Behandlung bekommen, aber wohl nicht so, wie sie sich das vorgestellt hatte. Zu jener Zeit war es gängiges Erziehungsprinzip, dass die Kinder ständig beschäftigt wurden und fast nie allein waren. Insbesondere achtete man darauf, dass sie nicht untätig im Bett blieben, auch aus Angst vor den befürchteten Folgen des Onanierens, die von Gehirnerweichung und Blindheit bis zum vorzeitigen Tod reichten. Jeden Tag standen Zeichnen, Handarbeiten, Basteln, Auswendiglernen von Gedichten, Lesen, insbesondere natürlich Bibellektüre, auf dem Programm. Die Nightingale-Schwestern machten schon in jungen Jahren regelmäßige Besuche mit kleinen Geschenken bei den Armen ihrer Gemeinden. Sich um diese zu kümmern gehörte in einer Gesellschaft ohne soziale Absicherung zu den selbstverständlichen Aufgaben der Gutsbesitzer, insbesondere ihrer Frauen. Die Mutter legte größten Wert auf Spaziergänge und körperliche Abhärtung, wohl aus Furcht vor einem frühen Tod ihrer Mädchen, was bei der hohen Kindersterblichkeit durchaus begründet war, die vor den Sprösslingen der Wohlhabenden keineswegs haltmachte. 1827 war Frances Nightingale zu der Überzeugung gelangt, dass man bislang zu nachsichtig mit Florence umgegangen sei. Dadurch habe sie sich ein selbstbezogenes, unfreundliches und wenig angepasstes Verhalten angewöhnt. Höchste Zeit, ihren moral character zu ändern. Auch eine liebende Mutter – so die Auffassung der Zeitgenossen – hatte die Aufgabe, zu strafen und zu formen. Schließlich wurden alle mit der Erbsünde geboren, und der Teufel konnte überall, besonders aber bei den Kindern, angreifen. Nach Lockes Erziehungstheorie galten Kinder 25

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als tabula rasa, und Florence Nightingales Mutter hatte genaue Vorstellungen davon, was auf diese Tafel geschrieben werden sollte. Florence sollte ihre Abenteuergeschichten, die ihre Fantasie beschäftigten, und ihre Sachbücher, aus denen sie systematische Faktensammlungen erstellte, beiseitelegen. Stattdessen sollte sie sich mit angemessenen Spielen beschäftigen, mehr Leibesübungen machen und alles in allem ein süßes, gehorsames, dankbares kleines Mädchen werden, also ein Kind genau wie ihre Schwester. Dazu wurde mit Miss Christie eine junge Gouvernante verpflichtet. In den Nightingale-Biografien wird sie als talentierte Frau mit tragischem Schicksal – sie starb früh im Kindbett – geschildert, die von ihren Zöglingen geliebt wurde. Das erste mag stimmen, das zweite ist eher fraglich. Beide Nightingale-Töchter haben dunkle Erinnerungen an diese Zeit hinterlassen, und nach dem Weggang der Gouvernante stellte ihr Vater keine weitere ein. Als Erwachsene schrieb Florence, die Gouvernante habe Kinder nicht verstanden und sie selbst häufig eingesperrt, die Schwester aber nicht. Diese wiederum notierte viele Jahre später, dass Miss Christie Florence in wenigen Jahren komplett verändert habe: Aus einem neugierigen, wissensdurstigen Energiebündel sei ein verschlossener und gequälter Mensch geworden, der fortan alles nach innen lenkte. Darunter habe sie zeitlebens sehr gelitten. Das Erziehungsprogramm schien zu wirken. Nach etwa drei Jahren listete die Zehnjährige in einem Brief an die Mutter ihre Versprechen auf. Er gibt tiefe Einblicke in den Tagesablauf eines privilegierten Kindes zwischen Pflichten, Kontrolle und schlechtem Gewissen: „Ich verspreche vor dem Frühstück bis zum Gatter zu laufen […] einen halbstündigen Spaziergang vor dem Dinner, einen langen danach […]; 20 Übungen mit dem Arm vor dem Anziehen, 10 Minuten vor dem Frühstück und 10 Minuten nach den Aufgaben; […]; eine Stunde am Tag zu üben, wenn ich nicht so viel zu tun habe, sonst eine halbe Stunde; eine halbe Stunde regelmäßig zu zeichnen; nicht im Bett liegenzubleiben; rechtzeitig zu Bett zu gehen; die Bibel zu lesen und regelmäßig morgens vor dem Frühstück und abends zu 26

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beten; die armen Leute zu besuchen und mich um die Kranken zu kümmern; Medizin einzunehmen [zum Abführen!], wenn ich möchte, und regelmäßig nach dem Frühstück [zur Toilette] gehen; am Sonntag […] in die Kirche gehen, wenn mich jemand begleiten kann; zu lesen, zu schreiben und mit der Bibel zu arbeiten; alle Bücher zu lesen, die Du ausgesucht hast; Tante Mai vorzulesen und ihr keinen Kummer bereiten; diesen Text jeden Tag zu lesen; Dir zu schreiben.“ Und am Ende: „Ich glaube, hier geht es mir besser als anderswo. Hier gibt es wohl weniger Versuchungen.“ (CW 1, 109) Die Mutter hatte sie nicht nach Lea Hurst mitgenommen. Die Liste der Versprechen klingt resigniert, wenn nicht verzweifelt. Die Erziehungsrichtlinien zielten auf Seele und Körper. Bibellektüre, Kirchgang, Wohltätigkeit, das war die eine Seite. Die andere hatte die Stärkung des Körpers im Blick: Die Übungen waren eine anstrengende Pflicht, die den ganzen Tag strukturierte. Wie viele Zeitgenossen war auch Florences Mutter auf die Verdauung fixiert, daher die einschlägigen Ermahnungen. In diesem Verbesserungsprogramm werden Schulstunden, das Lernen, nicht erwähnt, denn da glänzte Florence sowieso. Sie war konzentriert, wissbegierig, neugierig, vertrat vehement eigene Meinungen, stellte für Kinder unpassende Fragen – und teilte dies den Erwachsenen mitunter lautstark mit. Warum waren die Leute nahe Lea Hurst so arm, krank und müde? War ihre Familie nicht reich, und in der Bibel stehe doch, dass leichter ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel komme? Für ein viktorianisches Kind war dies vorlaut und ungezogen. Florences Leistungen im Unterricht wiederum ließen die Schwester Parthenope schlecht aussehen, was schon früh zu einer gespannten Geschwisterbeziehung führte. Später beschrieb sie sich in ihrer Kindheit als „elendiglich scheu und unfähig, sich am Spiel anderer Kinder zu freuen“ (Gill, 104). Als Erwachsene erinnerte sie sich weniger an die intellektuellen Leistungen ihrer Jugend, sondern an das Gefühl, nicht genügen zu können, anders, anormal zu sein. „Meine größte Ambition war es“, schrieb sie im Rückblick, „unsichtbar zu blei27

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ben.“ (Cook 1, 12) Die Mutter jedoch fand es unpassend, dass sie ungern mit Gleichaltrigen spielte, sondern sich stattdessen emotional eng an Frauen anschloss wie etwa ihre Tante Mai. Am meisten aber machte ihr eine Sache zu schaffen, die sie selbst als „Träumen“ bezeichnete. In diesem Zustand konnte sie sich derart intensiv in ihre Vorstellungswelten, etwa imaginierte Abenteuer, hineinversetzen, dass sie die Welt um sich herum nicht mehr wahrnahm. Wieso aber hielt das Kind diese Träumereien für etwas Schlimmes? Mit Sicherheit musste dies jemand zu einer schweren Sünde erklärt haben, denn sie entwickelte tief verwurzelte Schuldgefühle. Aus der ersten Zeit unter dem Regiment der Gouvernante gibt es Hinweise auf Rebellionsversuche. In diesen Jahren waren die Eltern oft auf Reisen, was Nightingales Einsamkeit verstärkt haben dürfte. Im Laufe der Zeit nahmen die Briefe an die Mutter immer mehr den Charakter von Berichten einer immer gehorsameren Tochter an. Die Spezialbehandlung scheint gewirkt zu haben. Dabei waren die Nightingales keineswegs grausame Rabeneltern, sondern liebende und sorgende Personen mit insgesamt für die Zeit sehr fortschrittlichen Auffassungen zur Kindererziehung. Trotzdem neigte Frances dazu, ihre ältere Tochter zu beschützen bzw. zu bevorzugen und Florence zu tadeln. Parthenope war ihrer Mutter ähnlich und verhielt sich wie ein typisches Mädchen der Oberschicht. Florence hingegen gelangen nur diejenigen Dinge gut, die sich für Mädchen kaum ziemten. Bei einem Jungen wären ihre Ich-Bezogenheit, Sturheit und Hartnäckigkeit, ihre intellektuelle Brillanz und ihr Wissensdurst völlig normal, ja vielversprechend für eine verheißungsvolle Zukunft gewesen. Für sie als Mädchen waren sie ein ständiger Quell der Frustration. Im Januar 1830 verließ die Gouvernante die Familie. Zunächst übernahm Tante Mai die Regie in Embley, und die Atmosphäre veränderte sich, insbesondere für Florence. Doch über die Vorschriften der Mutter setzte sich auch sie nicht hinweg, wenngleich sie nicht ganz so sklavisch auf Einhaltung pochte und diplomatisch zu vermitteln suchte. Gutes, sogar Bemerkenswertes sei bei Florence definitiv zu erkennen, schrieb sie ihrer Schwägerin, und werde unter günstigen Bedingungen sicherlich zum Vorschein kommen. 28

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Kurz danach fand Florence Nightingale im Hause einer anderen Tante, bei den Bonham-Carters, ihre erste richtige Freundin: Cousine Hilary, der sie bis zu deren frühem Krebstod 1864 eng verbunden blieb. Die Teenagerjahre zwischen 1831 und 1839 gehörten vielleicht zu den glücklichsten in Nightingales Leben. Das Verhältnis zur Schwester entspannte sich, eine neue Gouvernante sollte es nicht geben und die Geburt ihres Cousins „Shore“ verschaffte ihr die ernsthafte und wichtige Aufgabe, nach der sie sich so sehr sehnte. Um ihn kümmerte sie sich intensiv, und dies wiederum festigte die enge Beziehung zu ihrer Tante Mai weiter.

Gebildet wie ein Sohn Ab 1830 übernahm William Nightingale selbst den Unterricht seiner Töchter, unterstützt von einer Musik- und Zeichenlehrerin. Drei Motive dürften dabei eine Rolle gespielt haben. Zum einen gehörte er zu den Befürwortern gründlicher Mädchenbildung, zum zweiten hatte er als dilettierender Landedelmann die Zeit dazu und drittens fühlte er sich außerhalb seiner Londoner Clubs und akademischen Gesellschaften intellektuell isoliert und nicht ausgelastet. So wurde ihm die elfjährige Florence zu einer anregenden Gesellschaft, die sich ebenso wie er für Natur- und Sozialwissenschaften, für metaphysische Fragen oder politische Theorie begeistern konnte. Hinzu kam wohl ein gewisses Unbehagen am Erziehungsstil von Miss Christie. William Nightingale war ein guter Lehrer. An den Universitäten Edinburgh und Cambridge hatte er eine ausgezeichnete Bildung genossen. Er kultivierte ein Interesse an Geistes- und Naturwissenschaften sowie an Kunst und vertiefte dieses durch Reisen und Kontakte zu namhaften Wissenschaftlern. Er war Mitglied der British Association for the Advancement of Science. Frauen konnten dort Vorträge einreichen und an den Sitzungen teilnehmen. Auch seine Tochter nahm er später dahin mit. Darüber hinaus verfügte er über eine reich ausgestattete Bibliothek, die seiner Gattin und den Töchtern zur Verfügung stand. Beide Töchter lernten gut, aber Florence war die schnellere und intelligentere. Während langer Verwandtenbesuche nahmen die Mädchen am 29

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Unterricht der jeweiligen Gouvernanten teil. Selbstverständlich achtete man darauf, dass sie all das lernten, was für das weibliche Geschlecht in der besseren Gesellschaft unabdingbar war. Zusätzlich erhielt Florence Nightingale während der folgenden sieben Jahre eine exquisite Bildung, die ihr theoretisch ein Studium an jeder Universität ermöglicht hätte, doch Frauen war dieser Weg verschlossen. Das Curriculum war anspruchsvoll. Moderne und klassische Sprachen, Geschichte, Musik, Naturwissenschaften und Literatur gehörten dazu. Mit 16 notierte Florence, dass Chemie, Geografie, Physik und Astronomie, Mathematik, Grammatik, Komposition, Philosophie und viel Geschichte sie beschäftigten. Französisch und Italienisch sprach sie bereits fließend, später lernte sie auch Deutsch. Doch vor allem glänzte sie in den alten Sprachen, besonders im Altgriechischen. Sie las antike Autoren im Original. Platon sollte ihr Denken besonders nachhaltig prägen, mindestens so stark wie die Bibel. Sein Verständnis von der sinnlich wahrnehmbaren Welt als bloße Repräsentation einer dahinter verborgenen spirituellen Welt hatte enormen Einfluss auf ihr späteres Denken und ihre religiösen Vorstellungen. Seine Überlegungen zu einer idealen Gesellschaft beeindruckten sie tief. Und Platons Höhlengleichnis begriff sie als Metapher für ihr eigenes Leben, für ihr Bemühen, die dunkle Höhle des Materiellen zu verlassen und das Licht der göttlichen Wahrheit zu erkennen. Diese klassische Ausbildung und ihr Interesse für Philosophie und Politik unterschieden Florence Nightingale später deutlich von anderen Reformerinnen ihrer Zeit. Ihr so geschulter Intellekt dürfte maßgeblich dazu beigetragen haben, dass sie in männlichen Zirkeln, sowohl bei den Unterstützern ihrer Reformprojekte als auch bei deren Gegnern, akzeptiert wurde. Unterricht und Selbststudium nahm Florence Nightingale äußerst ernst. Oft stand sie noch in der Nacht auf, um die Aufgaben des nächsten Tages vorzubereiten. Dabei war sie sich ihrer Ausnahmesituation deutlich bewusst. Die Wissenschaften entwickelten sich rasant, doch lieferten gerade diese ständig neue Argumente für die traditionellen Geschlechterrollen, die jetzt immer stärker biologisch begründet wurden. Danach hatten Frauen nun mal nicht die gleichen intellektuellen Fähigkeiten wie Männer. Schlimmer noch: Versuchten sie mit diesen gleichzuziehen, 30

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wollte sie keiner mehr heiraten. Respektable Ärzte vertraten die Meinung, Bildung schwäche den Körper einer Frau und ihre reproduktiven Fähigkeiten. Wenn also einige ganz wenige doch die gleichen Talente haben sollten, würden sie dadurch mehr verlieren als gewinnen. Zudem sollte Bildung nach landläufiger Meinung für den Beruf vorbereiten, doch um 1830 gab es für das weibliche Geschlecht hier kaum Möglichkeiten. Die Konsequenzen, die dieser gediegene Unterricht für seine jüngere Tochter haben sollte, hatte William Nightingale wohl nicht vorausgesehen, denn für Florence war Bildung nicht Selbstzweck wie für ihren Vater. Sie wollte sie anwenden. Als sie realisierte, wie schwierig dies war und dass ihr fast alle Wege versperrt waren, führte dies in eine langandauernde Krise. Parthenope bewunderte ihre Schwester, war dabei aber besitzergreifend und neidisch. Florence liebte Methode und Ordnung und war irritiert, wenn sich Parthenope nachlässig und sprunghaft verhielt. Sie zeigte sich brillant und fokussiert und sah Bildung völlig korrekt als einen Weg, sich Macht zu erwerben. All das war ein Alptraum für Parthenope, wie bittere Briefe zeigen. Während Florences Wissensdurst grenzenlos schien, waren die Interessen der Schwester anders gelagert: Sie konnte sich eher für „damenhafte“ Dinge wie Malen und Poesie erwärmen und war daher meist bei der Mutter im Salon zu finden, während Florence und ihr Vater lange Stunden in der Bibliothek zubrachten. In gewisser Weise ersetzte sie ihm den fehlenden Sohn. Diese Konstellation musste sich zwangsläufig auf die innerfamiliäre Dynamik auswirken. Die enge Vater-Tochter-Beziehung entfernte Florence emotional von ihrer Mutter, zu der sie mit Respekt und sogar Ehrfurcht aufsah. Ihr nicht genügen zu können, sich ihre Liebe nicht verdienen zu können, sie nicht für ihre Sicht auf das Leben begeistern zu können, all das quälte sie jahrzehntelang. Auch wenn sie später harsche Worte über ihr familiäres Gefängnis fand, so ist es doch sehr unwahrscheinlich, dass sich darin ihre Gefühle gegenüber der Mutter erschöpften. Es gibt zahllose Belege dafür, dass sie sich zeitlebens um deren Wohlergehen sorgte und sich um ihre Liebe und Akzeptanz bemühte. Die Differenzen und Streitereien der Schwestern im Teenageralter sind nicht leicht einzuschätzen. War es doch ein eher gutes Verhältnis, 31

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das erst dann in Erbitterung umschlug, als Florence versuchte, das Haus zu verlassen und ein eigenständiges Leben zu führen? Lag der Schlüssel für die schwierige Beziehung vielleicht nicht in Neid und Konkurrenzdenken, sondern in Parthenopes angegriffener Gesundheit, die den besonderen Schutz der Mutter zur Folge hatte und Florence die Rolle auferlegte, sich um die Schwester zu kümmern? Parthenope wurde als chronische Invalidin behandelt und erwartete, umsorgt zu werden – mit dramatischen Folgen für ihr eigenes Leben und das ihrer Schwester. Die letztlich erfolglose Kandidatur William Nightingales 1834 für das Unterhaus versetzte die ganze Familie in Aufregung, doch Florence war besonders beunruhigt und aufgewühlt, denn sie fürchtete, ihren Vater nur noch wenig zu sehen und das ruhige Leben auf dem Land aufgeben zu müssen. Diese überschießende Reaktion hat mit einem Phänomen der Zeit zu tun, und zwar der Gefühlsbetontheit der Romantik. Im viktorianischen Zeitalter ging man davon aus, dass Frauen besonders sensibel waren. Auch zweifelte niemand daran, dass emotionale Erschütterungen Krankheiten auslösen konnten. Ganz im Einklang damit wurde allen Nightingale-Frauen eine „delikate Konstitution“ zugeschrieben. Florence Nightingales spätere Verhaltensweisen und Reaktionsmuster, die nicht selten als übertrieben und extrem emotional eingestuft wurden, dürften auch damit zusammenhängen. Nach der Wahlniederlage war die Option einer Karriere in der hohen Politik vom Tisch. William Nightingale kümmerte sich um seine Güter – übrigens gut und verantwortungsvoll, wie alle Quellen bestätigen – und widmete seine übrige Zeit seinen intellektuell-kulturellen Interessen. Damit rückten zwangsläufig die Töchter stärker in den Mittelpunkt der Pläne der Mutter. Sie waren nun 16 bzw. 17 Jahre alt, und es war Zeit, dass sie in die Gesellschaft eingeführt wurden. Sie sollten alle Chancen auf eine sehr gute Partie bekommen, wofür Frances Nightingale aus späterer Sicht regelmäßig heftige Vorwürfe trafen. Allerdings wäre eine Mutter ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden, hätte sie dies aus den Augen verloren. Eine gute Heirat war in der viktorianischen Zeit das Nonplusultra. Sollten ihre Töchter nicht als mithelfende und mitleidig betrachtete Tanten enden, die in der Familie in allen möglichen Notsituationen herumgereicht wurden, so hatte gerade Frances Nightingale 32

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allen Grund, sich in der Heiratsfrage besonders zu bemühen: Zum einen stand der väterliche Bankrott als leidvolle Erfahrung im Raum, der sich auf die Lebenschancen der unverheirateten Töchter bitter ausgewirkt hatte, zum anderen die Tatsache, dass das Familienvermögen nach dem Tod ihres Ehemanns größtenteils verloren war und die Töchter – wie auch sie selbst – dann weitgehend mittellos zurückblieben. Um eine gute Heirat zu erreichen, war ein entsprechender Rahmen nötig, und dafür musste Embley Park erweitert und umgebaut werden. So entstand die Idee, während der Bauarbeiten den Kontinent zu bereisen und den Töchtern auf diese Weise den letzten gesellschaftlichen Schliff zu verleihen. Erstaunlicherweise war eine solche Reise insgesamt billiger, als ein Haus der gehobenen Gesellschaft in England zu führen. Doch mitten in diesen Planungen meinte Florence Nightingale den Ruf Gottes zu vernehmen, der sie aufforderte, ihm zu dienen. Dieses Erweckungserlebnis sollte zum zentralen Wendepunkt ihres Lebens werden. Wie dieser Dienst allerdings aussehen sollte, blieb lange unklar und sollte ihr schwere Krisen und Seelenqualen bringen. Doch wie kam es dazu, dass sie ihren Wunsch nach einem aktiven Leben in religiösen Kategorien ausdrückte, und wie führte sie dies zur Krankenpflege?

Der Auftrag, Gott zu dienen Zwei Geschichten aus ihrer Kindheit, die ihre frühe Neigung zur Krankenpflege und ihre mitfühlende Natur untermauern sollten, wurden später Teil ihres Mythos. An Keuchhusten erkrankt soll sie allen ihren 13 Puppen den Hals verbunden und sie umsorgt haben. Der zweite Vorfall: Als Sechzehnjährige habe sie das gebrochene Bein eines Hundes behandelt und ihn gesund gepflegt. Versuche, die Spuren späterer „großer Leistungen“ schon in der Kindheit zu entdecken, sind nachvollziehbar, doch immer problematisch. Da sich die Mutter sehr um die Gesundheit der Familie sorgte, ist bei Florence Nightingales Wissensdurst ein Interesse für gesundheitliche Fragen nicht weiter verwunderlich. Man kann aber wohl so weit gehen zu sagen, dass sie eine frühe Faszination für Krankheiten, Medizin und Pflege entwickelte, die sich Jahr für Jahr 33

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verstärkte. Als sie etwa 9 Jahre alt war, begann sie, sich Notizen über das Befinden und die Behandlung von Familienmitgliedern zu machen, auch Gedanken über den Tod. Als ein Cousin 1829 im Alter von 10 Jahren starb, zeichnete sie dessen Krankengeschichte genau nach. Ab 1831 stand Cousin „Shore“ im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit. 1836 pflegte sie ihre kranke Schwester mit solcher Hingabe, dass die Mutter schrieb, die Krankheit habe „all das latent Gute“ an die Oberfläche gebracht, „das normalerweise so tief verschüttet sei“ (Bostridge, 49). Als Heranwachsende engagierte sich Florence Nightingale in der Versorgung kranker Verwandter und entwickelte eine zunehmende Sensibilität für die Krankheiten der Pächter und Arbeiter rund um die Landgüter der Familie. Schon seit früher Kindheit hatte sie ihre Mutter bei den obligatorischen Armenbesuchen begleitet. In den folgenden Jahren sollte die Arbeit für die Armen und Kranken zu einer Art Rettungsleine für sie werden, als sie sich immer stärker als nutzlos und ihr Leben als sinnentleert empfand. Eine Gelegenheit, sich zu beweisen, gab es im Januar 1837, als eine Grippeepidemie in Embley fast alle Bewohner an das Bett fesselte. Einen Monat lang pflegte sie und organisierte den Haushalt, eine dringend notwendige Quelle der Bestätigung und des Stolzes. Nachdem sich die Situation entspannt hatte, erreichte sie am 7. Februar 1837 der Ruf Gottes, ihm zu dienen, ihr „call to service“, wie sie ihr Erweckungserlebnis nannte. Es gibt keinen Beleg dafür, dass sie damals irgendwem davon erzählt hätte. Und sie hatte wohl auch noch keinen Kontakt mit christlicher Mystik, mit der sie sich später intensiv beschäftigen sollte. Die religiösen Richtungen, die sie am besten kannte – der aufgeklärte Unitarismus und der freidenkerische Anglikanismus –, waren beide nicht der Mystik zugeneigt. Florence Nightingales Glaube und ihre religiösen Vorstellungen waren die motivierende Kraft, die hinter ihrem gesamten Leben und Werk stand. Es war ein sehr persönlicher Glaube aus verschiedenen Quellen, der sich langsam herausbildete. Ihr Biograf Mark Bostridge sieht zwei Stränge, die sich letztlich ergänzten. Einerseits einen rationalistischen Ansatz, der sie dazu brachte, nach Beweisen göttlicher Gesetze in der Welt zu suchen. Zum anderen nennt er ihr inneres Streben nach einer 34

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Vereinigung mit Gott. Ihre empirische Ader zeigte sich schon in früher Kindheit, als sie mit einem Experiment die Wirksamkeit von Gebeten testen wollte. Den „Versuchsaufbau“ beschrieb sie detailliert – und wurde enttäuscht. Darüber hinaus bemühte sie sich bereits in jungen Jahren, die Präsenz Gottes zu erspüren, etwa in der Schönheit der Natur. Wenn auch Florence Nightingale für bestimmte Anliegen betete, war sie doch davon überzeugt, die Menschheit sollte besser selber aktiv werden, anstatt auf Gottes Eingreifen zu warten. Ihr Leben lang glaubte sie unerschütterlich daran, dass die Menschen Gottes gute Gesetze erkennen und die Welt besser machen sollten. Frances Nightingale war der entscheidende Part in der religiösen Erziehung der Töchter. Später wurde der Vater zum vertrauten Gesprächspartner. Die Mutter scheint die Frömmere und Kirchennähere gewesen zu sein. William Nightingale dagegen hielt Benthams Utilitarismus hinsichtlich moralischer Wahrheiten meist für aussagekräftiger als christliche Lehren. Über die religiösen Bindungen der Nightingales kursieren viele widersprüchliche Behauptungen. Oft wird unterstellt, Frances Nightingale habe mit dem Unitarismus zugunsten der Anglikanischen Kirche gebrochen, weil damit ein höheres Sozialprestige verbunden gewesen sei. In der Tat war jener trotz rechtlicher Gleichstellung immer noch vielen suspekt. Doch es war wohl komplizierter. Das Ehepaar hatte nach anglikanischem Ritus geheiratet, und Florence war ebenso getauft, aber auch in das Geburtsregister der Dissenters eingetragen worden. Miss Christie bekam die Anweisung, keine doktrinären Inhalte zu lehren, bis die Kinder ein Alter erreicht hatten, um selbst zu urteilen, eine Haltung, die für die Offenheit und Toleranz in der Tradition von Großvater William Smith charakteristisch war. Je nach Aufenthaltsort der Familie wurden der anglikanische Gottesdienst in der Nähe von Embley oder die Zusammenkünfte der Dissenters nahe Lea Hurst besucht. Als Grundbesitzer fungierte William Nightingale gleichzeitig als Kirchenpatron. Und die Tochter? Florence Nightingale entwickelte im Laufe der Zeit ein zunehmend heterodoxes Glaubenssystem. Nominell blieb sie Mitglied der anglikanischen Kirche, aber ab ihrem 30. Lebensjahr besuchte sie keine Gottesdienste mehr. Einige der Doktrinen lehnte 35

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sie rundweg ab. Die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts überhandnehmenden Kämpfe und Spaltungen waren ihr ein Graus. Die religiöse Gemengelage war, vorsichtig formuliert, unübersichtlich. Die Anglikanische Kirche, die sich auch nach der Emanzipation der Katholiken und der Gleichstellung der Dissenters als Staatskirche Privilegien bewahrt hatte, geriet immer stärker in die Kritik. Zudem war sie intern in sich heftig befehdende Gruppierungen zerfallen. Während sich die High-Church-Bewegung dem Katholizismus annäherte, versuchte die Broad-Church-Bewegung eine Versöhnung von Glauben und Moderne, indem sie Neuerungen der Naturwissenschaften, insbesondere des Darwinismus und der historischen Bibelkritik, aufnahm. Großen, auch politischen Einfluss sollte die Low-Church-Bewegung bekommen, die sich im Wesentlichen mit der evangelikalen Erweckungsbewegung deckte. Für diese standen eine innerlich erfahrene Gottesnähe und das karitative Wirken in der Gesellschaft im Mittelpunkt ihres Glaubens. Sie sah es als ihre Aufgabe an, die durch die rasanten Veränderungen erschütterte Gesellschaft zu Gott, Moral und Stabilität zurückzuführen. Dazu gehörten dezidiert auch soziale Arbeit und Sozialreformen, die weitere Aufstände und Unruhen verhindern sollten. Während die Anziehungskraft des Katholizismus stieg und damit die weitgehend irrationale Angst vor einer Rücknahme der Reformation im protestantischen Britannien um sich griff, bekamen nonkonformistische Gruppen, wie etwa die Methodisten, mehr und mehr Zulauf. Nicht zuletzt erwuchs den christlichen Gruppen insgesamt durch die fortschreitende Säkularisierung immer größere Konkurrenz. Die Wissenschaften, vor allem die Theorien Darwins, leisteten dazu einen wichtigen Beitrag. Nightingales religiös-spirituelle Suche schloss viele Quellen ein. Die Ritualität des Katholizismus sprach sie emotional an, wenngleich sie diese aus Vernunftgründen ablehnte. Wichtig wurde für sie von katholischer Seite vor allem die Mystik. Im Protestantismus hingegen waren es die historisch-kritische Schule, die die Bibel als Produkt einer bestimmten geschichtlichen Zeit las, und die Lehren des Methodisten John Wesley mit seinem Konzept der allgemeinen Gnade Gottes, dem sie viel mehr abgewinnen konnte als der calvinistischen Prädestinationslehre. Über Tante Mai bestand intensiver Kontakt zu unitarischem Gedan36

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Der Auftrag, Gott zu dienen

kengut. Gemäß dem Wahlspruch der Unitarier, „deeds not creeds“, schätzte Nightingale deren allgemeines Ethos des Optimismus und ihren Glauben an sozialen Fortschritt, der mit einem hohen Stellenwert guter Werke und des Dienens für die Allgemeinheit verbunden war. Wie es scheint, stand aber keine dieser Glaubensquellen unmittelbar mit ihrem Erweckungserlebnis vom 7. Februar 1837 im Zusammenhang. Entscheidend war vermutlich ein Buch Jacob Abbotts, eines amerikanischen kongregationalistischen Pastors, der für ein aktives christliches, der Caritas gewidmetes Leben warb. Sollte sie über ihren „call to service“ jemals Näheres niedergeschrieben haben, so ist dies nicht überliefert. Was genau darunter zu verstehen ist, darüber streiten sich die Gemüter. Religiöse Offenbarungen, Visionen, Erscheinungen kennt man besonders aus dem katholischen Umfeld, aber nicht nur. Geht ein Glaube davon aus, dass ein Eingreifen Gottes in die irdische Welt möglich ist, so kann er die Möglichkeit von Offenbarungen welcher Art auch immer nicht kategorisch ausschließen. Psychologie und Theologie haben vor allem für den Katholizismus, seine Mystik und im Hinblick auf Phänomene wie Visionen und Erscheinungen verschiedene Theorien diskutiert. Die Versuche, diese Phänomene zu erklären bzw. zu kategorisieren, bewegen sich in der katholischen Theologie der Gegenwart in einem breiten Spektrum, von einem Einwirken Gottes auf die Vorstellungen eines Menschen bis hin zum Glauben an die physische Realität etwa von Marienerscheinungen. Psychologie und andere Wissenschaften diskutieren über veränderte Bewusstseinszustände, Halluzinationen, Ekstasen und verschiedene psychiatrische Krankheitsbilder. Entsprechend vielfältig und widersprüchlich sind auch die Überlegungen zu Nightingales Berufungserlebnis. Unbestritten ist, dass sie aus ihrem weiteren Leben von mehreren solcher Erfahrungen berichtete, bei denen sie sich von Gott direkt angesprochen fühlte. Auffallend ist zudem, dass dies immer zu Zeiten besonderen psychischen Drucks geschah. Ab ihrem 17. Lebensjahr war Nightingale lange Jahre zerrissen zwischen der Überzeugung, dass Gott sie persönlich auserwählt und zum Dienst berufen habe, und ihrer Unfähigkeit zu erkennen, worin ihre Aufgabe bestehen solle. Bedeutete dies, die traditionelle Rolle als Frau 37

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demütig anzunehmen und auf diese Weise zu dienen, oder sollte sie neue, andere Wege beschreiten? Das Erweckungserlebnis fiel in die Zeit, als die Familie intensiv mit den Vorbereitungen ihres Italienaufenthalts beschäftigt war. In den Monaten vor der Abreise verstärkte Florence Nightingale ihr Engagement für die Armen und Bedürftigen. Die Zeit auf dem Kontinent, so dachte sie, würde ihr hoffentlich Klarheit bringen, welchen Weg sie einschlagen sollte.

Bildungsreise einer höheren Tochter? Italien 1837–1839 Die Italienreise hat eine lange kulturhistorische Tradition. Die Apenninen-Halbinsel, seit Langem Sehnsuchtsort für die Menschen des Nordens, war auch für den englischen Adel und das gehobene Bürgertum fast schon obligatorischer Bestandteil eines Aufenthalts auf dem Kontinent – mit ihren antiken Ruinen, ihren Kirchen und Palästen sowie der mediterranen Landschaft und ihrer „pittoresken“ Bevölkerung. Zunächst männlichen Adeligen im Rahmen der Kavalierstour vorbehalten, entwickelte sich die Italienreise immer mehr zur bürgerlichen Bildungsreise, der im viktorianischen Zeitalter zunehmend Kommerzialisierung und Beschleunigung ihren Stempel aufdrückten. Die Dampfkraft ermöglichte schnelleren, billigeren und bequemeren Transport mit Schiffen und Eisenbahnen. Standardisierte Reiseführer erleichterten die Planung, Unterbringung und Verpflegung verbesserten sich, erste Pauschalreisen wurden angeboten. All diese Veränderungen machten Auslandsreisen nun für immer größere Teile der Mittelschichten möglich. Auch immer mehr Frauen – und ganze Familien wie die Nightingales – machten sich auf den Weg in den Süden. So wie es schwierig ist, die Nightingales gesellschaftlich präzise zu verorten, so oszilliert auch der Charakter ihres eineinhalbjährigen Aufenthalts in Italien zwischen adeliger Kavalierstour und bürgerlicher Bildungsreise. Als die Familie im Herbst 1837 aufbrach, tat sie dies genau an der Schwelle zwischen Postkutschen- und Eisenbahnzeitalter. Eine eigens für die Reise gebaute, gediegene Kutsche für vier bis sechs 38

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Zugpferde bot bis zu 12 Personen Platz! Nach der Überfahrt über den Kanal auf einem Dampfschiff ging die Reise in Begleitung zweier Bediensteter mit dem luxuriösen Reisewagen über Chartres, Avignon und Carcassonne in den Süden Frankreichs. Die Reisegeschwindigkeit war langsam, nicht mehr als 35 Meilen pro Tag, die Unterbringung und Versorgung mitunter schwierig. Phasen der Aufregung und des Staunens folgten lange Stunden der Langeweile. Oft nahm man in Frankreich und Italien einen vetturino in Anspruch. Eine Art Kutscher-Unternehmer erledigte dann alle Zoll-, Reise- und Unterbringungsangelegenheiten, auch Pferdewechsel, für eine vereinbarte Gesamtsumme, was besonders im territorial zersplitterten Italien vieles erleichterte. Nach dem Besuch zahlreicher römischer Ruinen und mittelalterlicher Burgen im Süden Frankreichs und einem Abstecher in die Pyrenäen erreichten die Nightingales über Narbonne kurz vor Weihnachten das damals im Königreich Sardinien-Piemont gelegene Nizza. Dort blieben sie einen Monat, einen weiteren verbrachten sie in Genua, bevor sich die Familie für etwa acht Wochen in Florenz niederließ. Im Spätfrühling und Sommer 1838 bereiste man Norditalien und die Schweiz, verbunden mit einem einmonatigen Aufenthalt in Genf. Der Rückweg in die Heimat führte die Nightingales über Paris, wo sie im Oktober 1838 ankamen. Florence notierte auf dieser Reise genau alle Ankunfts- und Abfahrtszeiten, Informationen über die besuchten Orte sowie besondere Begebenheiten. Fast wie in Reiseberichten, wie sie für die Zeit der Aufklärung typisch waren, sammelte sie systematisch Informationen zu den politischen Verhältnissen und Institutionen, zur Wirtschafts- und Bevölkerungsentwicklung, aber immer auch Beschreibungen der Einrichtungen der Armenpflege und des Gesundheitswesens. So bemerkte sie etwa, dass es in Genua viele Soldaten und zahlreiche Priester gebe und das Gros der Bevölkerung ohne Bildung und in Armut lebe. Beim Besuch einer Werkstatt für Taubstumme kritisierte sie die Wohn- und Arbeitsbedingungen. Zuvor aber machte die Reisegesellschaft über Weihnachten und Neujahr in Nizza Station, wo die Nightingales in der großen englischen Kolonie warmherzige Aufnahme fanden und in das rege gesellschaftli39

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che Leben eintauchten. Florence beschrieb dies in einem langen Brief an eine Cousine und wünschte sich, dass die Familie möglichst schnell eine dauerhafte Behausung finden möge – mit einem Piano. Auch aus Genua erzählte sie von Bällen, Besuchen und Sehenswürdigkeiten. Aber vor allem lernte sie die Oper kennen und lieben und entdeckte ihre Leidenschaft für die Musik. Es scheint so, als sei sie in ihrer Heimat mit diesem Genre nicht näher in Kontakt gekommen. Sie beschrieb genau jede besuchte Aufführung. Es sind sogar einige detailliert kommentierte Libretti überliefert. Zu jener Zeit wurden in ganz Europa die Opernhäuser von Werken italienischer Komponisten dominiert. Die Kinder der Bildungsschichten übten die bekannten Arien täglich auf dem Klavier, und in den Salons wurde häufig gesungen. Als Florence Nightingale zurück in England war, gewannen aber schnell Gewissensbisse die Oberhand: Solche Leidenschaften wie die Musik waren Versuchungen und daher eine Sünde. Über zehn Jahre später erinnerte sie sich daran, wie intensiv sie die Musik damals ergriffen hatte: „Doch Gott war so gnädig und nahm sie mir durch meine ständigen Halsschmerzen. Andernfalls hätte ich vielleicht gesungen. Ich hätte mir keine andere Befriedigung gewünscht. Die Musik sprach meine Phantasie und meine leidenschaftliche Natur so sehr an, dass ich das [die Schmerzen] als wahren Segen ansehe.“ (CW 1, 90) Wie die Musik genoss Florence Nightingale auf dieser Reise die Aufmerksamkeit, die ihr als hübsche und zudem hochgebildete junge Dame entgegengebracht wurde – und sinnierte doch gleichzeitig darüber, dass dies wohl falscher Stolz und eine wenig gottgefällige Einstellung sei. Und für Bewunderung gab es reichlich Gelegenheit. In Pisa erwartete die Nightingales etwa ein Hofball des Großherzogs der Toskana, was zeigt, in welchen Kreisen die Familie verkehrte. In Florenz residierten sie für mehrere Monate in einem großzügigen Palazzo nahe des Ponte Vecchio, mit mehreren Pianos! Ein überaus passender Rahmen für Einladungen und idealer Ausgangspunkt, um in das gesellschaftliche Leben vor Ort einzutauchen. Kulturelle Angebote gab es im Überfluss, Unterhaltung ebenfalls, wie Bälle und Opernaufführungen. Zudem erhielten die Schwestern Sprach-, Zeichen- und Musikunterricht, alles Fähigkeiten, die für Damen der höheren Gesellschaft zählten und dazu 40

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beitrugen, aus ihnen anregende Unterhalterinnen sowie gebildete Mütter und Ehefrauen zu machen. Wenig paradiesisch fand Florence Nightingale dagegen die politischen Verhältnisse. Diese wurden ihr von Tag zu Tag bewusster, und sie saugte begierig alle Informationen auf. Ähnlich wie Deutschland war das Land damals noch nicht in einem Staat vereinigt, sondern bestand aus etwa einem Dutzend Territorien, von denen viele unter dem dominierenden Einfluss Österreichs unter der Herrschaft Metternichs standen. Der Politiker verkörperte als das zentrale Feindbild die Unterdrückung der Italiener – wenngleich dies die Geschichtsschreibung heute differenzierter sieht. Liberale Erhebungen (1820/21 und 1831) waren niedergeschlagen worden, etliche der revolutionären Protagonisten befanden sich entweder in Festungshaft oder waren ins Exil gegangen. In diesen Monaten in Italien entwickelte Florence Nightingale eine lebhafte Begeisterung für die italienische Unabhängigkeitsbewegung, das Risorgimento, und ihre liberalen und nationalen politischen Ziele, die sie zeitlebens verfolgte und unterstützte. Ihre Briefe enthalten fundierte Kommentare über Politik, italienische Geschichte und Kunst und zeigen, wie gut sie das Land bereits in jungen Jahren kannte. Das verwundert allerdings kaum, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sie etwa Tasso, Ariost und Alfieri im Original gelesen und mit ihrem Vater Ciceros Gespräche in Tusculum analysiert hatte. Vor allem italienische Geschichte, die italienische Nation in ihrer Bedrängnis, hatte es ihr angetan. An Jean-Charles-Léonard Simonde de Sismondis Geschichte der italienischen Freistaaten im Mittelalter faszinierte sie besonders, wie er in einer Art soziologischem Zugang die Faktoren herausarbeitete, die er für deren Niedergang verantwortlich machte. Die darauffolgenden Jahrhunderte wurden vom italienischen Risorgimento, das seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die Einwohner der Apenninen-Halbinsel zunehmend als ein Volk mit gemeinsamer Geschichte und Kultur betrachtete und verschiedene politische Einigungskonzepte entwickelte, als kontinuierlicher Abstieg interpretiert. Auswärtige Mächte (Österreich, Frankreich, Spanien) hätten ihre Machtambitionen und Interessengegensätze in Italien auf den Rücken der einheimischen Bevölkerung ausgetragen. 41

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Über Bologna ging es weiter nach Venedig und Mailand und von dort schließlich nach Genf, wo viele italienische Exilanten lebten und wo Florence Gelegenheit hatte, Sismondi persönlich zu treffen. Sie hing an seinen Lippen, als er etwa bei einem Essen einen Vortrag über florentinische Geschichte hielt – und notierte eifrig alles in ihrem Tagebuch. Noch interessanter fand sie aber seine Ideen über politische Ökonomie (1819), wobei er als einer der Ersten die unmenschlichen Folgen der Industrialisierung, den Konkurrenzdruck, die brutalen Arbeitsbedingungen und die ungerechte Verteilung der Gewinne anprangerte. Auf langen Spaziergängen versuchte sie so viel wie möglich darüber zu erfahren, und Sismondi gab bereitwillig Auskunft. Durch seine Vermittlung lernten die Nightingales weitere Exilierte kennen, die Florences Begeisterung für die italienische Sache nur noch weiter anheizten. Drohende politische Unruhen führten zur überstürzten Abreise aus Genf. Im Oktober erreichten die Nightingales aus diesem Grunde früher als geplant Paris, wo sie sich an der Place Vendôme standesgemäß einmieteten. Während eines dreimonatigen Aufenthalts in der französischen Hauptstadt lernte Florence Nightingale Mary Clarke (1793–1883) kennen, eine Frau, die eine außerordentlich wichtige Rolle in ihrem Leben spielen sollte. Clarke war eine Engländerin in den Vierzigern, die sich anschickte, einen der wichtigsten, von einflussreichen Intellektuellen frequentierten Salons im damaligen Paris zu führen. Sie hatte ihr „Geschäft“ bei der berühmten Madame Récamier gelernt und zählte u. a. den romantischen Dichter Chateaubriand zu ihren Bewunderern. Mary Clarke und die Nightingales entwickelten schnell eine gegenseitige Wertschätzung, und so wurde Clarke, genannt Clarkey, schnell zum festen Anker der Familie in der französischen Hauptstadt. Sie begleitete sie ins Theater, in die Oper, in Konzerte und Museen. Sie lud sie in ihre intellektuellen Zirkel ein, die auch der deutsche Orientalist Julius Mohl frequentierte, der später Clarkes Ehemann werden sollte. Mary Clarke kleidete und frisierte sich unkonventionell, war unprätentiös, führte ein unabhängiges Leben und äußerte ungeschminkt ihre Meinung. Damit legte sie ein für britische Verhältnisse unvorstellbares Verhalten an den Tag. Sie zeigte in aller Öffentlichkeit ihre Überzeugung, dass für sie Frauen Männern gleichwertig waren, und eiferte in ihrem Le42

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bensentwurf als alleinstehende weibliche Intellektuelle dem Vorbild der berühmten Madame de Staël nach. Die enge Freundschaft zwischen Florence Nightingale und Mary Clarke Mohl sollte trotz des Altersunterschieds über vier Jahrzehnte halten. Lange Zeit verbrachte Clarke Mohl jedes Jahr einige Wochen bei den Nightingales in Embley oder in Lea Hurst. Ihr Beispiel ließ Florence Nightingale Möglichkeiten erahnen, die sich jungen gebildeten Frauen eröffnen mochten. Es gab da vielleicht noch andere Optionen als die ihrer unverheirateten Tanten Patty und Julia. Außerdem hatten Mary Clarke Mohl und Florence Nightingale viele Gemeinsamkeiten: einen scharfsinnigen Intellekt und die Hochschätzung von Bildung und Kultur, umfassende Sprachkenntnisse und eine Abneigung, sich herauszuputzen – und nicht zuletzt eine belastende Hassliebe zu ihren jeweiligen Müttern. Aber es gab auch deutliche Unterschiede. Insbesondere die für Nightingale so wichtige Religion war für Clarke nur von untergeordneter Bedeutung. Die französische Hauptstadt fand Florence Nightingale eher enttäuschend. Die Franzosen kamen ihr im Vergleich zu den Italienern eitel vor. Der Winter war nasskalt und das gesellschaftliche Leben nach dem Tod einer kleinen Prinzessin weitgehend zum Erliegen gekommen. Überaus interessant fand sie jedoch ihre Besuche in der Deputiertenkammer der Julimonarchie unter dem sog. Bürgerkönig Louis Philippe, der nach der Revolution von 1830 die Herrschaft übernommen hatte. Im Dezember kommentierte sie gut informiert die politische Lage: Der König habe alle Parteien verärgert, die Radikalen sprächen über Revolution, doch sie würden den König so lange tolerieren, bis sie ihn gefahrlos loswerden könnten. Frances Nightingale beobachtete genau, welche Auswirkungen die Europareise auf ihre Töchter hatte. Aus Genf schrieb sie ihrer Schwester: „Florence wird für ihre Schönheit sehr bewundert und auch für sehr klug und unterhaltsam angesehen, doch ihre würdevolle Art hält die Menschen auf Abstand, so dass ich nicht erwarte, dass amouröse Episoden in ihrem Leben zahlreich sein werden.“ (Bostridge, 66) Was blieb von dieser Reise? Sicherlich die Verfeinerung von Erziehung und Bildung. Nun war Florence Nightingale in den Augen ihrer Eltern 43

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bereit für den Heiratsmarkt. Ihre geschlechtsspezifische Erziehung – gegen die sie rebellierte, die sie gleichwohl aber verinnerlicht hatte – war ergänzt worden durch kosmopolitische Bildung und Auslandserfahrung. Sie hatte an Selbstbewusstsein gewonnen, war elegant, vielseitig interessiert und äußerst gebildet und hatte Freude daran, dies zu zeigen. Die Schärfung des Blicks für politische Entwicklungen und kulturelle Eigenheiten ermöglichte ihr Vergleiche unterschiedlicher Länder. Daneben könnte man auch von einer Art Berufsorientierungsreise sprechen, hatte sie doch eine Flut an Informationen über Hospitäler und andere soziale Einrichtungen sowie über Gesundheits- und Sozialpolitik zusammengetragen. Das erstmalige intensive Kennenlernen eines katholischen Landes lenkte ihre religiösen Suchbewegungen in neue Richtungen. Nicht zuletzt zeigte ihr Mary Clarke Möglichkeiten eines unabhängigen Frauenlebens auf. So blieben von diesem Aufenthalt auf dem Kontinent eine lebenslange Freundin sowie wichtige Anstöße und Kontakte für ihr späteres Werk.

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Mit der Rückkehr nach England im April 1839 begann der erste große Kampf in Florence Nightingales Leben. Er sollte ganze 14 Jahre dauern, wobei zwei Phasen zu unterscheiden sind.

Die Debütantin Da die Umbauarbeiten auf Embley noch nicht abgeschlossen waren, richtete sich die Familie zunächst in London ein. Es sollte Florence Nightingales erste „Saison“ in der Hauptstadt werden, in die vor allem die Mutter große Erwartungen setzte. Im Mai wurde Florence bei Hof vorgestellt, im Salon Königin Victorias, in einem weißen, in Paris gekauften Kleid. Die Eltern mieteten eine ganze Etage im eleganten Carlton Hotel, wo sie mit ihren Erzählungen von einer langen Europareise geschätzte Gastgeber und Gesprächspartner waren. In diesen Wochen konnte Florence Nightingale zusammen mit ihrer Cousine und Freundin Marianne Nicholson, ebenfalls Debütantin, ausgiebig ihrer Leidenschaft für Musik und die Oper frönen sowie Spaß und Tratsch der Jugend teilen. Marianne wird als eine überschwängliche, lebhafte und dominante Jugendliche beschrieben, zu der sich Florence seit ihrer Kindheit sehr hingezogen fühlte. In diesen Wochen trat ihre Berufung deutlich in den Hintergrund. Ihre Briefe zeugen vielmehr von den Aufregungen gesellschaftlicher Aktivitäten. Auch die gesundheitlichen Probleme der Jugend schienen überwunden. Sie zog allenthalben Aufmerksamkeit auf sich, und wenn sie ihre typische Zurückgezogenheit und Reserviertheit aufgab, waren Gesprächspartner beiderlei Geschlechts fasziniert. In dieser Londoner Saison erlebte sie nach Italien erneut das, was sie später als den 45

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„Wunsch, in Gesellschaft zu glänzen“, beschrieb (Cook 1, 22). Die Eltern waren sehr erfreut. Das Jahr, in dem Florence Nightingale bei Hof vorgestellt wurde, war ein aufregendes für die gesellschaftlichen Eliten Englands. Seit zwei Jahren war die junge Victoria Königin, und nun schickte sie sich an, ihren Cousin Albert von Sachsen-Coburg und Gotha zu heiraten. Durch enge Freunde waren die Nightingales nahe am Hofgeschehen und gut informiert. Für junge Frauen wie Florence und ihre Schwester war eine Königin in ihrem Alter faszinierend, und die romantische Liebesgeschichte zumal, aber auch Victorias Amt und ihre öffentliche Rolle. Im Laufe der Zeit wurde Albert zu Victorias wichtigstem Berater, und ein mögliches Modell für eine Partnerschaft zwischen Mann und Frau wurde sichtbar. Später schrieb Florence Nightingale, dass sie in ihren Zwanzigerjahren ständig davon geträumt habe, einen Seelenverwandten zu finden, mit dem sie ihre Gedanken und Ambitionen teilen konnte, jemand, der selbstlos mit ihr zusammen für eine große Sache arbeitete. Die zweite für Florence wichtige Freundin, Vertraute und ebenfalls Cousine war Hilary Bonham-Carter. Sie war eher die Ansprechpartnerin für das Ernste, für Sorgen und Nöte. Hilary verlor in jenen Tagen ihren Vater, die Mutter blieb mit acht Kindern zurück. Fortan standen für sie als Älteste, die ernsthafte künstlerische Ambitionen hatte, die Familienpflichten im Vordergrund. Ein Studium der Malerei, das sie sich erträumt hatte, war damit in unerreichbare Ferne gerückt. Florence Nightingale konnte an ihrer Freundin sehen, wie häusliche Aufgaben eine Frau, ihre Fähigkeiten und Talente auffressen konnten. Allerdings war eine professionelle und unabhängige Künstlerin für die Viktorianer unvorstellbar und Aktstudien ebenso undenkbar wie eine Ausbildung inmitten der Unmoralität der Ateliers. So blieb die Freundin unverheiratet und unterstützte die Mutter. Hilary Bonham-Carters frühen Krebstod lastete Florence dann auch zum Teil der familiären Ausbeutung an. Den Sommer verbrachten die Nightingales in Lea Hurst und kehrten im September 1839 nach Embley zurück – ihre erste Eisenbahnreise übrigens. Zusätzliche, edel ausgestattete Räume, darunter ein großer Salon und die erweiterte Bibliothek, erwarteten sie und unterstrichen die mittlerweile erreichte gesellschaftliche Position der Familie. Nun 46

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konnte man gleichzeitig fünf Familien zu Besuch empfangen, da auch Dienstbotenzimmer, Küchen und Vorratsräume neu gestaltet worden waren und fünfzehn dienstbare Geister sich fortan um das Wohl der Bewohner und Besucher kümmerten. Überall auf dem Anwesen war das Wappen der Nightingales zu sehen, wodurch der gesellschaftliche Status für alle sichtbar dokumentiert wurde.

Auf welche Weise Gott dienen? In den folgenden Monaten machten sich in Florence Nightingale immer stärker Unzufriedenheit, Unruhe und Zweifel breit. Bereits vor der Abreise aus Paris hatte sie notiert, dass sie sicherlich noch nicht würdig sei, Gott zu dienen. Denn nach fast drei Jahren war ihr die Form ihrer Berufung immer noch nicht klarer geworden. Zunächst müsse sie wohl die Versuchung, in „Gesellschaft zu glänzen“, überwinden. Zudem erbitterte sie das häusliche, untätige Leben nach den Erfahrungen der Reise mehr denn je. Dabei war der Tag straff durchgeplant und mit einer Vielzahl zeitraubender Aktivitäten gefüllt, die sie größtenteils als unsinnig empfand. Vor allem das Dinner galt als „die große heilige Zeremonie des Tages“ (CW 11, 555) und die Zeit bis zehn Uhr abends hatte man gemeinsam im Salon zu verbringen, mit Gesprächen, Handarbeiten, Vorlesen. All das hielt sie von Wichtigerem wie der Lektüre interessanter Bücher ab. Außerdem brauchte sie Ruhe zum Nachdenken. Doch weder dafür noch für ernsthafte Arbeit sei es Frauen gestattet, Zeit für sich zu reservieren, wie das für Männer selbstverständlich sei. Hingegen ginge jeder davon aus, dass Frauen rund um die Uhr für ihre Familien und die „weiblichen Aufgaben“ zur Verfügung stünden. So gelänge es diesen niemals, Großes zu leisten, da sie sich immer nur einige Minuten stehlen konnten. Sie schüttete ihr Herz Mary Clarke und ihrer Cousine Hilary aus, doch half ihr vor allem Tante Mai Smith mit Trost und Ermunterung. Hilfreich war auch die Mathematik, für die sich Florence Nightingale immer mehr begeisterte. Schon nach kurzer Zeit hatte sie sich so fundierte Kenntnisse angeeignet, dass sie einem Cousin bei der Vor47

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bereitung seiner Prüfungen für die Militärakademie Sandhurst helfen konnte. Allerdings wurde ihr strengstes Stillschweigen verordnet, denn von einer Frau angeleitet zu werden wäre dann doch zu demütigend für den jungen Mann gewesen. Bei ihrer Leidenschaft für die Mathematik dürfte sie das Beispiel Mary Somervilles, einer Freundin ihrer Tante Patty, ermuntert haben, die trotz heftigen Widerstands als autodidaktische Astronomin und Mathematikerin große Bekanntheit erlangt hatte. Somerville war es gelungen, herausragende intellektuelle Leistungen mit der konventionellen Frauenrolle als Ehegattin und Mutter zu vereinbaren. Ein Thema, das Nightingale in den folgenden Jahren intensiv beschäftigen sollte, denn in den 1840er-Jahren stellten sich mehrere Bewerber ein. Den ersten, kaum etwas Ernsthaftes, hatte sie in Nizza kennengelernt. Doch so sporadisch diese Episode auch gewesen war, so sehr befeuerte sie ihr Nachdenken über die Beschränkungen, der sich eine Frau als Gattin und Mutter ausgesetzt sah – und schürte damit die Angst vor ihrer eigenen Zukunft. Dabei scheint sich bei ihr immer mehr die Auffassung durchgesetzt zu haben, dass eine Frau, die sich ernsthaft Gottes Werk in der Welt widmen wollte, wohl allein bleiben müsse. Doch wie konnte ein solches Engagement aussehen? Welche Möglichkeiten hatte sie? Die 1830er- und 1840er-Jahre waren eine Zeit großer wirtschaftlicher und sozialer Not, die zur Verelendung breiter Bevölkerungsschichten führte. Auch auf den Gütern der Nightingales, insbesondere aber in der Gegend um Lea Hurst, war dies nicht zu übersehen. Reformbewegungen wie die Chartisten forderten grundlegende Veränderungen, allen voran kürzere Arbeitszeiten, bessere Bedingungen in den Fabriken, die Zulassung von Gewerkschaften sowie das Ende der Getreidezölle, die schließlich Ende der 1840er-Jahre abgeschafft wurden. Für die Nightingales hingegen waren dies Jahre des sozialen Aufstiegs und eines angenehmen privilegierten Lebens. Die gesellschaftlichen Kreise, in denen sie sich bewegten, wurden illustrer. Zu den neuen Bekanntschaften zählten einige, die für Florence Nightingales späteres Werk enorme Bedeutung erlangen sollten, insbesondere die Palmerstons. Lord Palmerston war Außenminister in den Jahren, in denen England zur Weltmacht aufstieg, ab 1855 lange Premierminister und der 48

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bekannteste Vertreter der liberalen Whigs. Sein Schwiegersohn, Lord Shaftesbury, einer der markantesten viktorianischen Reformer, trieb zahlreiche sozialpolitische Initiativen voran, wie etwa den Zehn-Stunden-Tag oder das Verbot besonders brutaler Formen von Kinderarbeit. In diesem Rahmen lernte Florence Nightingale die Reformvorhaben der Zeit aus nächster Nähe kennen, darüber hinaus auch das gesamte liberale Establishment, und knüpfte Kontakte, die ihr später von unschätzbarem Wert sein sollten. Vor allem für Lord Shaftesbury und seinen Kreis wurde sie mit der Zeit zur ersten Beraterin in allen Fragen des Krankenhauswesens und der öffentlichen Gesundheitspflege. Hier konnte sie neue Formen politischen Handelns zur Bekämpfung gesellschaftlicher Missstände beobachten. Nicht nur individuelle Philanthropie war gefragt, sondern neue Gesetze und eine Zivilverwaltung, die diese systematisch umsetzen konnte. Es waren aber meist immer noch persönliche Beziehungen, die legislative Initiativen anstießen, Netzwerke, die nur aus Männern bestanden. Frauen, so engagiert sie auch sein mochten, blieb nur die indirekte Mitwirkung. Die meisten der zahlreichen philanthropisch tätigen Frauen schienen damit zufrieden zu sein, aber nicht so Florence Nightingale, die bereits um 1840 überlegte, ob nicht eine Frau von hoher gesellschaftlicher Stellung Freunde und Allianzen für größere soziale Projekte mobilisieren könnte. Ihre Briefe aus dieser Zeit zeigen, wie intensiv sie das allgegenwärtige Elend und den Kontrast zu ihrem eigenen Leben wahrnahm. Aber dabei beließ sie es nicht, auch nicht bei der traditionellen Wohltätigkeit. Sie fing an, systematisch Informationen zusammenzutragen und zu analysieren. Die allgemeine Reformdiskussion konzentrierte sich mittlerweile immer stärker auf den sozialen Bereich. Denn in das Mitleid und die Sorge um die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Bevölkerung mischte sich immer öfter die Furcht vor Aufständen und Rebellionen. 1842 hatte Edwin Chadwicks Report on the Sanitary Condition of the Labouring Classes of Great Britain wie eine Bombe eingeschlagen. Er prangerte die gesundheitlichen Verhältnisse und Gefährdungen vor allem in den neuen Industriestädten und in den Slums der großen Metropolen in deutlichen Worten an und forderte Abhilfe. William Farr, Mitarbeiter der Behörde für Bevölkerungsstatistik (Registrar General), 49

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begann die beunruhigenden Sterblichkeitsziffern und Erkrankungshäufigkeiten mathematisch aufzubereiten. Thomas Southwood Smith unterstrich in seiner Aufklärungsarbeit die fatalen Folgen von schmutzigem Trinkwasser und nichtexistenten Kanalisationssystemen. Weiterhin gerieten die oft unmenschlichen Arbeitsbedingungen in den Fabriken immer stärker in den Blick. Hier formierte sich das, was wenig später unter dem Begriff Sanitary Movement bekannt werden sollte. Gesundheitsfürsorge für arme Kranke und Almosen für Arbeitsunfähige und Alte waren in Großbritannien traditionell Aufgabe der Kommunen und der privaten Wohltätigkeit. Diese sahen sich allerdings damit zunehmend überfordert. Auch die Verbesserung von Kanalisationssystemen, Abfallbeseitigung und Trinkwasserversorgung überstieg in der Regel die Möglichkeiten der Städte und Gemeinden. Hier waren zentrale Koordination und finanzielle Hilfen vonnöten. All das verfolgte Florence Nightingale genau. Aber was konnte sie tun? Ihre Möglichkeiten waren begrenzt. So ergriff sie jede Gelegenheit zu helfen mit Feuereifer. Das galt für Notlagen in Familie und Freundeskreis, besonders aber für die Pächter und Arbeiter rund um Lea Hurst und Embley. Sie kümmerte sich um Kranke und Invalide, unterrichtete in Armen- bzw. Gemeindeschulen, verteilte Lebensmittel. Doch auch das erzeugte Irritationen in der Familie. Die kränkelnde Parthenope kehrte ihre besitzergreifende Attitüde heraus und wollte längere Aufenthalte bei kranken Verwandten nicht dulden. Bei diesen gerne ergriffenen Gelegenheiten scheint sich Florence erstmals nützlich gefühlt zu haben: „Wie dankbar solltest Du sein, dass Deine Tochter zum ersten Mal in ihrem Leben ein wenig Gutes tun kann […] Missgönne es ihr nicht“ (CW 1, 115), schrieb sie um 1840 an die Mutter. In den 1840er-Jahren plagten Florence Nightingale immer wieder gesundheitliche Probleme unterschiedlicher Art. Heute würde man vermutlich eine psychosomatische Ursache diskutieren. Zwischen 1842 und 1844 war sie öfter für längere Zeit ans Bett gefesselt. Dies hatte wohl auch damit zu tun, dass eine entscheidende Weichenstellung für ihr Leben bevorstand. Ihr Cousin Henry Nicholson hielt nach etlichen Jahren des Werbens, dem sie sich mehr schlecht als recht zu entziehen versucht hatte, schließlich um ihre Hand an. 50

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Die Familien Nicholson und Nightingale hatten ein sehr enges Verhältnis zueinander. Der potenzielle Bräutigam war fleißig und würde später ein beträchtliches Vermögen erben. Es war die perfekte Partie. Den nahen Verwandtschaftsgrad schien niemand als ein ernstes Problem zu betrachten. Zehn Jahre später sollte sich Florence Nightingale dezidiert gegen Ehen zwischen Cousins und Cousinen wenden. Dies sei „ein direkter Verstoß gegen die Naturgesetze, die das Wohlergehen der Rasse gewährleisten“ (CW 11, 581), die Folge Schwachsinn und Kretinismus. Sie griff hier die zeitgenössischen Degenerationsdebatten auf, die Britanniens politische und ökonomische Vormachtstellung durch den schlechten Gesundheitszustand seiner Bevölkerung bedroht sahen. Die Eltern hatten nicht allzu sehr auf eine schnelle Entscheidung gedrängt, jedoch hatte man Gelegenheiten arrangiert, sich näher kennenzulernen. Im Sommer 1839 hielt sich Henry Nicholson lange Wochen in Lea Hurst auf. Im Jahr darauf verreiste Florence Nightingale mit seiner Familie und besuchte diese auf ihrem Landsitz. Glücklich war sie dabei nicht, im Gegenteil. Als Weihnachten 1842 vor der Tür stand – die Feiertage verbrachten beide Familien traditionell zusammen –, war die Situation immer noch ungeklärt. Und wieder wurde Florence krank. Flüchtete sie sich nun ebenso in Krankheit, wie sie dies von ihrer Schwester seit etlichen Jahren kannte? Unzweifelhaft belastete sie der Konflikt zwischen Familienerwartungen und ihrer Ablehnung des Bewerbers schwer. Statt die Aufmerksamkeiten Henry Nicholsons zu beachten, führte sie tiefsinnige Gespräche über Religion mit seiner Tante Hannah. Dies war der Beginn einer fünfjährigen intensiven Korrespondenz, die tiefe Einblicke in das Leben, die Gedanken und Gefühle Nightingales in den 1840er-Jahren ermöglicht. Wann Nicholson letztendlich vergeblich um ihre Hand anhielt (vermutlich um die Jahreswende 1843/44), ist nicht mehr genau zu ermitteln. Es war jedenfalls der Beginn langandauernder Spannungen zwischen beiden Familien und führte zur Zerrüttung der Freundschaft zwischen Florence und ihrer Cousine Marianne. Ihrer Freundin Hilary schrieb Nightingale von ihrer Verzweiflung und ihren Gefühlen für Marianne. Sie gab sich selbst die Schuld dafür, dass sie ihren Cousin unbeabsichtigt 51

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ermutigt und dadurch diese Katastrophe heraufbeschworen hatte. Das Ende dieser Freundschaft beklagte sie mit Worten, die einige Autoren des 20. Jahrhunderts zu der Auffassung verleiteten, es sei hier eine erotische Komponente am Werk gewesen bzw. es habe sich um eine lesbische Beziehung gehandelt. Die dafür angeführten Textstellen sind vage, ihre Interpretation höchst fraglich. Denn dabei wurde wohl in anachronistischer Weise der romantische Freundschaftskult der Zeit mit seinen für den heutigen Sprachgebrauch ungewohnt gefühligen Formulierungen falsch gedeutet. Leidenschaftliche Freundschaften waren im viktorianischen England keine Besonderheit. Zudem musste sich der weibliche Teil der Bevölkerung schon deshalb anderen Frauen für intellektuelle, emotionale und spirituelle Unterstützung zuwenden, weil Kontakte mit dem anderen Geschlecht, vor allem in den oberen Schichten, streng reguliert waren. Nightingales Beziehungen mit engen Freundinnen waren daher nichts Besonderes, so überschwänglich die Schilderungen heute auch anmuten mögen. Ob dabei sexuelle Komponenten mitspielten, lässt sich im Rückblick unmöglich entscheiden. In dieser belastenden Situation stützte sie die Korrespondenz mit Hannah Nicholson, die großen Einfluss auf Nightingales religiöse Suchbewegungen in den 1840er-Jahren gewann. Der evangelikale Duktus ist dabei nicht zu übersehen: In den Briefen ging es um die Unzufriedenheit mit ihrem Leben, um die Selbstbezichtigung als Sünderin, die Geißelung des eigenen Stolzes und um ihre Zweifel an der Fähigkeit zur Gottesliebe. Während Hannah Nicholson die mystische Vereinigung mit Gott als Selbstzweck anstrebte, war diese für Florence ein Kraftquell, um ihre gottgewollte Aufgabe in der Welt erfüllen zu können. Die Ältere hoffte darauf, dass die Jüngere ihre gottgegebene gesellschaftliche Rolle akzeptierte. Sie predigte Florence eine Doktrin christlicher Unterwerfung und Askese, die sie mit den typisch viktorianischen Vorstellungen von weiblicher Passivität verband: Christliche Frauen müssten leiden, ihren Willen und ihren Intellekt aufgeben und die göttliche Vorsehung erwarten. Doch all dies brachte Florence Nightingale nur noch mehr Qualen und Frustration. Diese Botschaft der Selbstverleugnung trug aber vermutlich dazu bei, dass sie sich lange nicht gegen ihre Mutter und Schwester durchzusetzen versuchte. 52

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Auf welche Weise Gott dienen?

Letztere forderte immer vehementer, dass Florence zu Hause bleiben und sich in das Familienleben einfügen solle. Half dies nicht, so blieb ihr als Druckmittel immer noch, krank zu werden – und dieses setzte sie ausgiebig ein. Für Florence wurden diese Realitäten des Alltags immer unerträglicher. Die Langeweile der Salons und der gesellschaftlichen Verpflichtungen schienen ihr gefräßige Feinde, die ihr die Zeit raubten, die sie so dringend für sinnvolle Dinge nutzen wollte. Oft blieben dafür nur die frühen Morgenstunden, in denen sie sich mit Mathematik, alten Sprachen oder philosophischen Texten befassen konnte. Sie fühlte sich zerrissen. Im Februar 1846 schrieb sie an Hannah Nicholson auf die Frage nach ihrem Befinden: Seit September vorigen Jahres sei die Familie in Embley nicht für 14 Tage allein gewesen. „Die Tage persönlicher Hoffnungen […] sind für mich vorbei“ und „manchmal denke ich, dass jedermann ärgerlich mit mir ist; dass man [aber] von keinem verlangen kann, von früh bis spät fröhlich zu schauen und etwas Munteres zu sagen, – dann wird mir bewusst, wie geduldig alle mit mir sind und ich schäme mich sehr.“ (CW 3, 343f.) So sehr Florence Nightingale die Dinnerparties und Besuche als Zeitverschwendung begriff, so boten sie ihr doch die Gelegenheit, wichtige Kontakte zu knüpfen. Denn nicht alle waren langweilig und ermüdend. Bei den Nightingales traf man viele Politiker und Parlamentsabgeordnete, Wissenschaftler und Schriftsteller. Mary Clarke brachte etwa den Historiker Leopold von Ranke mit. Zu den Gästen zählten Charles Darwin, der Historiker und Politiker Thomas Macaulay, der Sibirienforscher Alexander von Middendorf, Lady Byron und ihre Tochter, die Mathematikerin Ada Lovelace. Und vor allem der preußische Gesandte Christian von Bunsen und seine englische Frau. Beide waren streng evangelikal, er bewunderte Florence, lieh ihr Bücher und diskutierte mit ihr über Philosophie, Archäologie und Theologie, über Schopenhauer, Schleiermacher und seine eigenen vergleichenden religionswissenschaftlichen Studien. Bunsen förderte ihre Aufgeschlossenheit für andere Glaubenssysteme und beeinflusste ihre Vorstellungen von Religion, Theologie und Spiritualität. Was Florence Nightingale weiterhin anzog, war das humanitäre Engagement der Bunsens. Der preußische Gesandte zählte zu den Mitbegründern des German Hospital in East 53

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London für arme deutsche Einwanderer (1845), das sie ein Jahr später besuchte. Es war das erste Krankenhaus, das sie betrat. Für die Pflege waren Diakonissen aus dem rheinischen Kaiserswerth verpflichtet worden. Dort hatte Pastor Theodor Fliedner 1836 unverheirateten protestantischen Frauen in der Diakonie eine respektable Arbeits- und Lebensform eröffnet.

Krankenpflege und Krankenhäuser In Laufe der 1840er-Jahre sah Florence Nightingale ihre Zukunft immer mehr in der Pflege, in Einrichtungen für arme Kranke. Zunächst behielt sie diesen Plan für sich, überlegte, sammelte Informationen, spielte mögliche Szenarien durch. Von außen betrachtet war ihr Alltag unverändert: Unterricht in der örtlichen Mädchenschule, karitative Krankenbesuche. Sie kümmerte sich um ihren Cousin „Shore“, versorgte ihre kranke Großmutter und begleitete ihre ehemalige Kinderfrau in deren letzten Wochen. Ihre Erfahrungen mit Krankenpflegerinnen hatten sie immer mehr davon überzeugt, dass gute Pflege einer Ausbildung bedarf, dass man diese durch praktische Unterweisung lernen müsse. Der Kontakt mit einem Arzt aus dem nahe Embley gelegenen Krankenhaus von Salisbury ließ eine Idee in ihr reifen. Drei Monate wollte sie dort arbeiten und so viel wie möglich an Wissen und Fertigkeiten mitnehmen. Auf längere Sicht war dann vielleicht eine Art protestantischer Schwesternschaft ohne Gelübde für gebildete Frauen denkbar, um arme Kranke zu versorgen. Als sie ihren Plan schließlich 1845 aussprach, versetzte er die Familie in hellen Aufruhr. Sie hatte alles bis in die Einzelheiten geplant, ein detailliertes Gedankengebäude gesponnen, das durch das kategorische Nein wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzte. Auf ihre Psyche hatte dies verheerende Auswirkungen. Weihnachten 1845 kam es zum Eklat mit Mutter und Schwester, der Vater floh entnervt in seinen Londoner Club. Eine Tätigkeit in einem öffentlichen Krankenhaus war für eine „höhere“ Tochter schlicht und einfach nicht vorstellbar. Der Ruf der Wärterinnen war schlecht, der Kontakt mit ihnen und mehr noch mit 54

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männlichen Ärzten inakzeptabel und ein Hospital sowieso kein Ort, an dem sich eine Tochter aus gutem Hause aufhalten sollte. Und wenn all das noch nicht genügen sollte, so sprach auch Florence Nightingales angeschlagene Gesundheit dagegen. Ihr sorgsam geschmiedeter Plan war gescheitert. Private Notizen spiegeln ihre Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit. Sie flehte Gott an, sie sterben zu lassen. Denn im Leben könne sie seinem Ruf nicht folgen, sondern nur die Sorgen ihrer Familie vergrößern. In ihrem Tagebauch findet sich ein leicht abgewandeltes Grillparzer-Zitat – auf Deutsch: „Ach ich fühl es wohl, mein Scheiden [ist] kaum so schwer von wahren Freuden als von einem schönen Traum.“ (CW 2, 367) Die nächsten Jahre sah ihr Leben – oberflächlich betrachtet – nach Privilegien, Luxus und Wohlergehen aus. Sie fügte sich so gut es ging dem Imperativ des Familienlebens und suchte kleine Freiräume für sich. Sie las, was sie bekommen konnte, besuchte mit ihrem Vater Treffen der British Association, die soziale Probleme der Gegenwart diskutierte, fuhr mit der Mutter ins Bad, reiste viel. War sie unterwegs, schrieb sie witzige, von Nähe geprägte Briefe nach Hause. Wieder zurück, flammten die Konflikte erneut auf. Viel Zeit widmete sie den Pächtern der Familiengüter und den Armen der Umgebung. In einer Zeit, in der es noch kein landesweites Elementarschulsystem gab, hatte ihre Familie lokale Schulen gegründet. Dort unterrichtete sie Mädchen und junge Frauen. Besonders geeignet für das Lehren hielt sie sich zwar nicht, doch es war zumindest eine Möglichkeit, etwas Nützliches zu tun. Sie stellte ein Programm für Mädchenschulen zusammen, die ältere Mädchen nach der Arbeit besuchten. Ihr dort erworbenes Wissen – so die Idee – sollten sie dann an die jüngeren zu Hause weitergeben. Wenn Florence aber nach getanem Werk müde, unordentlich und oft zu spät zum Abendessen nach Hause kam, trafen sie bittere Vorwürfe, denn sie hatte die unsichtbare Grenze zwischen dem üblichen karitativen Teilzeitengagement höhergestellter Frauen und hauptberuflicher Sozialarbeit deutlich überschritten. In der knappen Zeit, die sie für sich hatte, las sie alles, was sie über Krankenhäuser, Pflege und Gesundheitspolitik sowie medizinische Statistik bekommen konnte. Bunsen schickte Material aus Berlin, Julius Mohl 55

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aus Paris. Lord Shaftesbury machte sie auf die Blue Books, offizielle Berichte zum Armen- und Krankenhauswesen sowie zur öffentlichen Gesundheit, aufmerksam. Sie arbeitete im Verborgenen, meist vor Tagesanbruch bei Kerzenlicht. Trotz aller Frustration realisierte sie bald, dass sie in Salisbury nur wenig hätte lernen können, abgesehen von der harten Arbeit, die fast ausschließlich arme Frauen aus den Unterschichten verrichteten. Wo aber gab es einen solchen Ort? In den 1840er-Jahren zeichneten sich langsame Veränderungen im Krankenhauswesen ab. Zu Beginn des Jahrhunderts hatten Hospitäler noch keine große Rolle für die Gesundheitsfürsorge gespielt. Wer es sich leisten konnte, ließ sich zu Hause pflegen. Auch die Armen zogen eine Betreuung durch Familie oder Nachbarn vor, um die verrufenen Krankenabteilungen der Arbeitshäuser und Hospitäler zu vermeiden, die ihnen im Notfall offenstanden. Völlig Mittellose landeten in den berüchtigten Arbeitshäusern (workhouses). Dahinter stand die Idee, dass sich Bedürftige die Unterstützung der Gesellschaft durch Arbeit verdienen sollten. Man ging in oft menschenverachtender Weise davon aus, dass Armut selbst verschuldet sei. In diesem Sinne sollte die militärische Disziplin der Arbeitshäuser vor allem abschrecken. Die „freiwilligen“ Krankenhäuser (voluntary hospitals) waren für die sog. ehrbaren Armen gedacht. Für diese Institutionen der privaten Wohltätigkeit, die sich aus Spenden und Subskriptionen finanzierten, brauchte man ein Empfehlungsschreiben eines Spenders. Fieberpatienten wurden nicht aufgenommen, auch keine Schwerkranken und Schwangeren. Für diese gab es erst ab dem letzten Drittel des Jahrhunderts spezielle Einrichtungen in größerem Maße. Die Hospitäler, und mehr noch die Krankenabteilungen der Arbeitshäuser, waren meist überfüllt, dreckig, finanziell schlecht ausgestattet und miserabel geführt, die ärztliche und pflegerische Versorgung minimal. Frauen aus den Mittelklassen hatten dort keinen Platz und wären wohl auch für die schwere Arbeit kaum geeignet gewesen. Doch veränderte sich die Lage in der ersten Jahrhunderthälfte in mehrerlei Hinsicht. Zum einen verschärften Industrialisierung und Städtewachstum die gesundheitliche Lage breiter Bevölkerungskrei56

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se immer mehr, die immer häufiger weit weg von ihren Familien in krankmachenden Umgebungen arbeiteten und wohnten. Mehr Krankenhäuser wurden gebraucht, und es kam tatsächlich zu einem wahren Gründungsboom. Zum anderen hielten neue klinische Methoden Einzug. Dadurch veränderte sich die Patientenklientel und auch die Krankenpflege. So ermöglichte die Einführung von Chloroform-Narkosen kompliziertere Operationen. In der gleichen Zeit wandelten sich langsam die althergebrachten Krankheitskonzepte. Die in der Antike entwickelte Humoralpathologie war von einem Ungleichgewicht der Säfte (Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle) als Ursache von Krankheiten ausgegangen. Die Wiederherstellung der Balance erfolgte jahrhundertelang mit den Methoden der sog. heroischen Medizin, mit Abführmitteln und Einläufen, Brechmitteln und Aderlässen. Diese Auffassungen wirkten zwar noch längere Zeit weiter, verloren aber nach und nach an Bedeutung. Künftig sollte man die Krankheitsursachen bevorzugt in den Organen suchen. Auch die Behandlungsmethoden veränderten sich, sie setzten nicht mehr nur auf Diäten, Entleerungsprozeduren und Ruhe. Dafür brauchte man geschultes Personal. Unter einer Oberin (matron oder superintendent) arbeiteten üblicherweise drei Gruppen von Frauen: die (Stations-)Schwestern (sisters oder head nurses), die Tagschwestern (day nurses) und die Nachtwachen – alle ohne einschlägige Ausbildung. Das Wenige, was sie über Pflege wussten, hatten sie sich durch learning by doing angeeignet. Der Oberin oblagen die Aufgaben einer Hauswirtschafterin, während die sisters/head nurses, oft Witwen aus dem Kleinbürgertum, näher an den Patienten waren. Tagschwestern, nicht selten frühere Dienstbotinnen, erledigten vor allem Reinigungsarbeiten. Ganz unten in der Rangfolge standen die Nachtschwestern, oft arme alte Putzfrauen, die nach getaner Arbeit die Nacht über ein Auge auf die Kranken hatten, oder auch nicht. Zur Illustration der damaligen Verhältnisse wird regelmäßig eine Romanfigur von Charles Dickens genannt: Sarah Gamp. Sie stand in der viktorianischen Zeit paradigmatisch dafür, wie man sich eine typische Krankenwärterin vorstellte. Eine Frau aus der Unterschicht, schmutzig, unmoralisch, ungebildet, die ihre Patienten bestahl und übermäßig dem Alkohol zusprach. Alkohol war prinzipiell ein Problem in den Unter57

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schichten, und es hatte zugenommen, da Branntwein während der Industrialisierung immer billiger wurde und oft die knappen Lebensmittel ersetzen musste. Dies galt auch und besonders für die schlecht bezahlten Pflegekräfte in den Hospitälern. Betrunkene Wärterinnen waren überall zu finden, nicht selten kombiniert mit „unmoralischem Verhalten“, also Prostitution, eine weitere Möglichkeit, das tägliche Überleben zu sichern. Mit solcher Pflege waren auch die Wohlhabenden konfrontiert, denn für die Versorgung zu Hause standen ebenfalls keine geschulten Kräfte zur Verfügung. Üblich war es, dass die Pflegerin als eine Art Hausangestellte agierte. Von über 4600 im Zensus von 1841 Registrierten hatten nur etwa 600 eine Stelle in einem Krankenhaus, wo sie zumindest hoffen konnten, das eine oder andere zu lernen. Die ersten Reforminitiativen, oft von Ärzten angestoßen, richteten sich aber zunächst nicht auf eine fachliche Unterweisung in der Pflege, sondern auf die Stärkung von Ordnung, Moral und Sauberkeit in den Hospitälern. Denn immer noch war man der Meinung, dass eigentlich jede Frau pflegen könne, wenn nur Anstand und Einstellung stimmten. In den Krankenhäusern hatten die Pflegerinnen zunächst einmal alle Reinigungsarbeiten und häuslichen Tätigkeiten zu erledigen. Dann nahmen die Anforderungen zu. So mussten Medikamente, Stärkungs-, Brech- und Abführmittel verabreicht, Klistiere appliziert, Blutegel angesetzt und Umschläge gemacht werden. Einläufe etwa hatten vor der Einführung der Infusionstherapie eine eminent wichtige Funktion für Ernährung und Flüssigkeitssubstitution, etwa Fleischbrühe mit Milch oder mit Brandy und Eigelb. Auch Arzneien wurden so verabreicht, z. B. Opium gegen Durchfall. All das war an sich schon zeitaufwendig. Als dann noch häufigere Nahrungs- und Flüssigkeitsgaben, die postoperative Überwachung, Verbände, Schmerzkontrolle, neue Hygienestandards sowie allgemein eine engmaschigere Krankenbeobachtung hinzukamen, stieg die Arbeitsbelastung beträchtlich und forderte immer spezifischere Fähigkeiten und auch immer mehr Disziplin. Die Arbeitsethik und -kultur im Krankenhaus unterschied sich nicht von der vorindustriellen Praxis im Allgemeinen. Gehorsam, Disziplin, Selbstkontrolle und ein der kapitalistischen Produktion adäquates Zeitregiment mussten erst langsam durchgesetzt werden. Regelmäßig 58

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zu erscheinen und die Aufgaben dann auch sorgfältig zu erledigen war also keineswegs selbstverständlich. Daher betrachtete man das, was die Viktorianer moral reform oder „Hebung des Charakters“ nannten, als Grundvoraussetzung für Verbesserungen. Und gerade in der Pflege wurde diesen „moralischen Qualitäten“ lange Zeit ein viel höherer Stellenwert zugeschrieben als den Fähigkeiten des Intellekts. „Charakter“, vor allem Pünktlichkeit und Genauigkeit bei der Arbeit, war wichtiger als spezifische Kenntnisse. In diesem Sinne hat man die frühen Pflegereformen auch als Beitrag zur Kontrolle der undisziplinierten und potenziell gefährlichen Unterschichten gesehen. Ihr Ziel sei es vor allem gewesen, den Arbeiterklassen die Werte der Mittelschichten aufzuzwingen. Daneben ist allerdings unzweifelhaft, dass im frühen 19. Jahrhundert Krankenhausvorstände, Ärzte, Oberinnen und übrigens auch Patienten sich beklagten und eine bessere Pflege einforderten. Und als eine gute Pflegerin galt zunächst eine Person, die respektabel auftrat, aufmerksam gegenüber ihren Patienten war und fähig, ihren Krankensaal in guter Ordnung zu halten. Das sog. Ward-System (ward = Krankensaal) war das erste Reformprojekt, das spezifischer auf die gestiegenen Anforderungen reagierte. Jeder Saal wurde einer Schwester unterstellt. Ihr gingen Hilfs- und Nachtschwestern zur Hand, mit entsprechender Aufgabenteilung, wobei die Hilfspflegerinnen weiterhin alle Reinigungsarbeiten zu erledigen hatten. Die zuständigen Ärzte wählten „ihre“ Schwestern aus und unterrichteten sie – nach ihrem jeweiligen Ermessen – in ihren Sälen. Die harschen Lebens- und Arbeitsbedingungen des Krankenhauspersonals änderten sich jedoch nur langsam. Mit verbesserter Unterbringung und der Einstellung zusätzlicher Reinigungskräfte hoffte man, „respektablere“ Frauen zu gewinnen, doch das Diktat der Finanzen setzte dem meist enge Grenzen. Zudem hatte das dezentrale Ward-System zahlreiche strukturelle Schwächen. Es hing in hohem Maße vom persönlichen Engagement und der Bereitschaft der Beteiligten ab. Wenn Wissen vermittelt wurde, erreichte dieses in der Regel nicht die Hilfsschwestern. Im Endeffekt gab dieses Modell den Ärzten die fast absolute Kontrolle über die Pflegerinnen in „ihren“ Sälen. Diese Position verteidigten die Mediziner vehement, als später neue zentrale Systeme bzw. Pflegeschulen eingeführt werden sollten. 59

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Erste Ausbildungsanstrengungen konnte man in diesen Jahren ferner in katholischen Orden, anglikanischen Schwesternschaften und der protestantischen Diakonie beobachten. Überall im katholischen Europa war es nach der Französischen Revolution zu einem Aufblühen des Ordens- und Kongregationswesens gekommen, das für Frauen neue Optionen aktiver Tätigkeit im karitativen Bereich eröffnete. Die Katholikenemanzipation 1829 ermöglichte Ordensgründungen auch in England. Die erste erfolgte in London 1830, bis zur Jahrhundertmitte war ihre Zahl auf 51 und zehn Jahre später auf 118 angewachsen. Im Pflegewesen waren vor allem die irischen Sisters of Mercy aktiv. Diese Gemeinschaft ließ sich 1839 in den Londoner Slums von Bermondsey nieder und gründete dann weitere Niederlassungen. Prinzipiell eignete sich die zentralisierte Struktur der Orden gut für den Unterricht, trotzdem hatten die katholischen Schwestern nur wenig Einfluss auf die Entwicklung der Pflege in England. Zum einen arbeiteten sie meist für irische Migranten, zum anderen – und dies war wichtiger – bestanden weiterhin konfessionelle Restriktionen, die die Konvente etwa von den Londoner Lehrkrankenhäusern fernhielten. Für viele englische Protestanten war der Papst der Antichrist, und die Konvente galten als boshafte Werkzeuge Roms. Daher musste die Pflegereform in England unbedingt ein protestantisches Unterfangen sein. Die Gründung anglikanischer Schwesternschaften schien einen Ausweg aus diesem Dilemma zu bieten. In den 1840er-Jahren entstanden in der Tat eine Reihe solcher Gemeinschaften. Verschiedene Gruppierungen sind zu unterscheiden, die wiederum die konfessionell-theologischen Spaltungen der Zeit abbildeten. Die Park Village Community in London und die Sisters of Mercy in Devonport standen der High-Church-Bewegung nahe und wurden deshalb von vielen mit Argwohn betrachtet: Man fürchtete die Rückkehr des Katholizismus durch die Hintertür der religiösen Frauengemeinschaften. Andere orientierten sich an der deutschen Diakonie. Die Quäkerin Elizabeth Fry hatte ein kurzer Besuch im Rheinland zur Gründung der Sisters of Charity inspiriert. Trotz des Namens handelte es sich dabei um keine religiöse Korporation. Als erste protestantische Organisation boten sie eine rudimentäre Pflegeausbildung. Fry wollte respektable Frauen, vor60

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wiegend aus der Arbeiterschaft, anleiten. Es gibt keine Hinweise dafür, dass sich die früh verstorbene Fry und Nightingale jemals trafen oder korrespondierten. Die Quäkerin inspirierte aber ohne Zweifel Nightingales spätere Überlegungen. Noch stärker galt dies für die 1848 gegründete Schwesternschaft von St. John’s House. Sie stand theologisch der Broad-Church-Bewegung nahe und hatte Ähnlichkeit mit dem Kaiserswerther Modell. Es war eine Gründung ohne Gelübde, offen für Verheiratete und Alleinstehende, die zu Hause wohnen und in Voll- oder Teilzeit arbeiten konnten. Ein weiteres Novum war ein zweijähriger Ausbildungsgang mit systematischem Unterricht, eine wichtige Zäsur auf dem Weg zu einer Professionalisierung der Pflege. Diese anglikanische Gemeinschaft erkannte als Erste, dass eine Strukturreform nottat. Nightingales späteres Pflegekonzept verdankt dem Experiment von St. John’s House und seiner Leiterin Mary Jones viel. Die wichtigsten Anregungen kamen von der Diakonie in Kaiserswerth, die als protestantisches Modell in England eine große Anziehungskraft entfaltete. Dies galt besonders für Florence Nightingale. Im Herbst 1846 bekam sie einen von Fliedners Jahresberichten aus Kaiserswerth in die Hand, der sie in ihrem Entschluss, in die Pflege zu gehen, weiter bestärkte. Am 7. Oktober notierte sie: „Dort ist meine Heimat. Dort sind meine Brüder und Schwestern alle bei der Arbeit. Dort ist mein Herz und dort […] wird eines Tages mein Körper sein.“ (Woodham-Smith, 44) Sie würde recht behalten, aber das sollte noch dauern.

Innerfamiliäre Dynamik und Konflikte Zunächst aber musste sie weiter mit ihrer Familie kämpfen. In ihrer Verzweiflung und Orientierungslosigkeit tauchte sie immer öfter in Fantasiewelten ab, entwarf abenteuerliche Szenarien, was ihr im Gegenzug sofort ein schlechtes Gewissen bescherte. Träumereien als kleine Fluchten aus dem Alltag waren weitverbreitet unter Mittelschichtfrauen; die englische Literatur der Zeit kennt zahlreiche Beispiele. Solange sie ihre Pflichten nicht vernachlässigten, scheint dies kein größeres Problem 61

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gewesen zu sein. Phasen intensiver Aktivitäten in Familie und Haushalt, in denen Florence Nightingale versuchte, die perfekte Tochter zu sein, wechselten sich mit Zeiten völliger Erschöpfung und Apathie ab. Das Verhältnis zu ihrer Schwester wurde immer schwieriger. Häufig kränklich und ohne große Heiratschancen, war Parthenope auf ihre „ideale“ Familie fixiert und verlangte von Florence, ihren Teil zur Aufrechterhaltung dieser Fiktion beizutragen. In ihren Zielen und Hoffnungen für das Leben hätten die beiden Schwestern nicht unterschiedlicher sein können. Ihrem Vater zufolge hatte Parthenope „keine anderen Wünsche als ein schönes Feuer [im Kamin] und fröhliche Stimmung [im Salon]“ (Bostridge, 105). Dieser Mangel an Zielen und Ambitionen verkörperte für Florence aber genau die typische intellektuelle Selbstbeschränkung der Frauen ihrer Gesellschaftsschicht, für die sie so gar kein Verständnis aufbringen konnte. Damit zusammen hing eine andere Entscheidung, die zwar vorübergehend aufgeschoben worden war, aber trotzdem irgendwann getroffen werden musste. Sollte sie heiraten oder allein bleiben? Welche Möglichkeiten und Entwicklungschancen konnte eine Ehe bieten? Nicht viele, da war sie sich sicher. Verheiratete Frauen hatten so gut wie keine Rechte. Doch kannte sie auch eine Handvoll Ehemänner, die ihren Gattinnen Entfaltungsmöglichkeiten gaben und sie mitunter sogar dabei unterstützten. Über Nightingales Gefühlsleben, ihre „Weiblichkeit“, über ihr Verhältnis zu Männern und Frauen und ihre sexuelle Orientierung kursieren viele (oft unfundierte) Spekulationen. Diese sollen hier nicht weiter vermehrt werden, da angesichts der Quellenlage viele Fragen ohnehin kaum geklärt werden können. Mit aller gebotenen Vorsicht kann man sagen, dass die Mutterschaft wohl nicht zu ihren dringenden Wünschen zählte. Auch scheint sie sich nicht Hals über Kopf in einen Mann verliebt zu haben. Es dürfte also weniger die romantische, leidenschaftliche Liebe gewesen sein, von der sie träumte (bzw. schrieb), sondern vielmehr von einer sinnvollen Aufgabe, die sie gerne mit einem geliebten idealen Gefährten teilen wollte. Und es sollte tatsächlich einen Mann geben, der genau dem nahekommen konnte. Bereits im Sommer 1842 hatte sie ihren ernsthaftesten 62

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Innerfamiliäre Dynamik und Konflikte

und ausdauerndsten Bewerber kennengelernt, den dreiunddreißigjährigen Richard Monckton Milnes. Er war eine schillernde Figur: Poet, Parlamentarier, vehementer Reformbefürworter, auch für Frauenemanzipation aufgeschlossen, Unitarier, gesellschaftlich versiert und zudem italienbegeistert. Spätestens ab 1846 war er häufiger Gast im Hause Nightingale. Wann er das erste Mal um ihre Hand anhielt, lässt sich nicht mehr rekonstruieren, doch eine endgültige Antwort zögerte Florence mehrere Jahre hinaus. Für ihre Eltern eine äußerst wünschenswerte, fast schon ideale Partie, denn es schloss sich für sie mit knapp 30 Jahren langsam das Zeitfenster für eine Heirat. War eine Ehe mit diesem sympathischen Mann, zu dem sie sich hingezogen fühlte, nicht besser als das Leben einer alten Jungfer? Humor, Poesie, Literatur, Reisen, Museumsbesuche und wissenschaftliche Vorträge, aber vor allem soziale Interessen und Sensibilitäten zählten zu den Gemeinsamkeiten. Reichte das als Basis aus? Sie zweifelte und konnte sich nicht zu einem Entschluss durchringen, verschob die Entscheidung Monat um Monat. So fand sie sich im Oktober 1847 erneut im Krankenbett und am Rande eines Nervenzusammenbruchs. In dieser Situation schlugen Charles und Selina Bracebridge, langjährige Freunde der Familie, vor, Florence mit auf eine Italienreise zu nehmen. Wie so viele wohlhabende Engländer glaubten auch die Bracebridges, dass ein Winter im milden Süden einer angeschlagenen Gesundheit guttun würde. Der liberale Landedelmann begeisterte sich für Literatur und war glühender Anhänger des griechischen Freiheitskampfs. In seiner Frau, einer begabten Aquarellmalerin, fand Florence Nightingale eine Vertraute, die ihr Sympathie entgegenbrachte, ohne sie einzuengen. Nightingale unterstrich später immer wieder die übergroße Bedeutung, die die Bracebridges für ihr Leben hatten. Sie nahmen sie mit auf Reisen, vermittelten zwischen ihr und der Familie, förderten sie und ebneten ihr Wege, ja sie begleiteten sie sogar in den Krimkrieg. Selina war für Florence Nightingale „mehr als eine Mutter“, beide galten ihr als „creators of my life“ (Bostridge, 110).

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Auf Reisen (1847–1850)

Die Zustimmung der Familie zur Reise erfolgte nicht ohne Hintergedanken, hoffte man doch, dass der Aufenthalt im Süden sie von ihren merkwürdigen Berufsplänen abbringen könnte. Die glücklich verheirateten Bracebridges konnten sie vielleicht auch von den Vorteilen der Ehe überzeugen oder sie dazu bewegen, sich der gelehrten Schriftstellerei zuzuwenden, was akzeptabel gewesen wäre. In der Tat geschah dann genau das Gegenteil, denn nach der Reise waren ihre Überzeugungen gefestigter denn je.

Auf Pilgerschaft? Rom 1847/48 Am 26. Oktober 1847 brachten sie ihre Eltern nach Southampton, von wo aus der Kanal überquert wurde. Dann ging es weiter über Paris quer durch Frankreich Richtung Marseille, mit der Kutsche, teils auf der Rhone, teils mit der Eisenbahn. Dort bestieg die Reisegesellschaft ein Schiff nach Genua, um über Pisa, Livorno und Civitavecchia schließlich am 9. November in Rom anzukommen. Florence Nightingales Aufregung und Freude, den Petersdom zu sehen, kannte keine Grenzen. In diesem Winter in Rom, von November 1847 bis Ende März 1848, lebte sie in jeder Hinsicht auf. „Oh wie glücklich war ich! Keine Zeit in meinem Leben habe ich so genossen wie meine Zeit in Rom“ (Gill, 211), sollte sie später schreiben. Ihre psychische Verfassung und ihre gesundheitliche Situation stabilisierten sich zusehends. Mit den Bracebridges, vor allem mit Selina, genoss sie eine nie zuvor gekannte Freiheit. Sie wanderten durch die Stadt, aßen in kleinen Restaurants und übten ihr Italienisch, redeten, beobachteten Sonnenuntergänge, besuchten Kirchen, Museen und Ausgrabungsstät64

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Auf Pilgerschaft?

ten. William Nightingale hatte ein detailliertes Besichtigungsprogramm ausgearbeitet, und seine Tochter arbeitete es systematisch ab. Sie dankte ihm in bewegenden Worten für all das, was er sie gelehrt hatte, und das nun Früchte trug: Exzellente Kenntnisse der alten Sprachen und der italienischen Geschichte und Politik gehörten ebenso dazu wie ihr gutes Italienisch. Von der Reise berichten die Briefe an ihre Familie. Zweierlei fällt auf. Es handelt sich zum großen Teil um bewusst komponierte Reisebriefe, die, wie in der viktorianischen Briefkultur üblich, im weiteren Familien- und Freundeskreis zirkulierten. Sie sind also eher als Reisebericht denn als spontane Gedanken für ein privates Publikum zu lesen. Dieser Funktion als eine Art Reiseschriftstellerin war sich Nightingale sehr wohl bewusst. So machte sie sich z. B. über gewisse Touristen lustig, wenn sie die Figur des „leidenden Reisenden“ parodierte, den in Rom die „Basilikakrankheit“ ergriffen habe, oder sie gerierte sich als journalistische Berichterstatterin, die die politischen Ereignisse kommentierte. Zum anderen schrieb sie natürlich adressatenbezogen an die engere Familie: Sie berichtete, was diese gerne hören wollte – etwa von gesellschaftlichen Kontakten, Diners, Einkäufen, Sehenswürdigkeiten –, und verschwieg alles, was den Anschein „unweiblicher“ Aktivitäten und zu großer Freiheiten erwecken konnte. Zunächst war Florence Nightingale eine typische Reisende des 19. Jahrhunderts, die Kunst und Kultur suchte. Zudem aber nutzte sie die Zeit, um Hospitäler, Konvente und karitativ-soziale Einrichtungen so genau wie möglich kennenzulernen. Wie es sich geziemte, kam den antiken Ruinen, Bau- und Kunstwerken ein herausragender Platz zu. Daneben konzentrierte sich ihr Interesse allerdings sehr stark auf das christliche Rom – und auf den Papst. Dies hatte mehrere Gründe. Florence Nightingale hielt sich in einer aufgewühlten, krisenhaften Zeit in Rom auf, in der das Oberhaupt der Katholischen Kirche eine wichtige politische Rolle spielte. Außerdem setzte sie sich intensiv mit dem Katholizismus auseinander, in der Hoffnung, einen ihr gemäßen spirituellen Weg und eine gottgefällige Aufgabe in der Welt zu finden. In politischer Hinsicht hatte das Risorgimento, der italienische Einigungsprozess, an Fahrt aufgenommen, und der 1846 neu gewählte 65

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Auf Reisen (1847–1850)

Papst Pius IX. war völlig unerwartet zu einer Führungsfigur der Nationalbewegung geworden. Er galt in dieser Zeit als liberale Hoffnung, dem die Einigung der italienischen Staaten in Form einer Konföderation gelingen könnte. Auch hatte er erste Reformen der völlig anachronistischen Strukturen im Kirchenstaat in Angriff genommen. Eine Verfassung schien in greifbarer Nähe. Nightingale und ihre Reisebegleiter erreichten die Ewige Stadt in dieser vorrevolutionären Situation, bevor ein Aufstand in Palermo im Januar des Folgejahres die europäische Revolutionswelle von 1848 einläuten sollte. Kurz vor ihrer Ankunft hatte Pius IX. weitere Veränderungen angekündigt. Florence Nightingale verfolgte dies alles genau und berichtete davon minutiös ihrem Vater. Mit ihren detaillierten Kenntnissen der italienischen Geschichte bewertete sie die Refomen und wartete gespannt auf weitere Schritte, um Österreich endlich aus Italien zu vertreiben. Sie tauchte ein in die vibrierende politische Stimmung Roms mit seinen patriotischen Altären, Reden und Demonstrationen. Pius IX. verehrte sie fast wie einen Heiligen, verglich ihn mitunter gar mit Christus, was für eine britische Protestantin mehr als außergewöhnlich war. Richard Bonfiglio weist darauf hin, dass Nightingale ihre Hoffnungen auf einen politischen Neubeginn in Italien in den Begriffen einer Krankenhausreform formulierte. Der Papst sei für sie der große Aufräumer gewesen, der Italiens unordentliche zersplitterte Staatenwelt wieder in Ordnung bringen konnte. Rebecca Butler deutet die Überhöhung Pius IX. aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive: So wie er die Grenzen zwischen geistlichen und weltlichen Angelegenheiten überbrückt habe, so habe Nightingale versucht, das Überschreiten der Grenzen der viktorianischen Geschlechterideologie zu legitimieren – vom idealen Heim in die politische Welt draußen. Ob man dieser Interpretation folgen mag oder nicht, sicher ist, dass das Risorgimento für sie weit mehr als eine politische Überzeugung war: „[E]s war eine Religion, ein Glaube“ (Woodham-Smith, 16). Neben der Politik beschäftigte sich Nightingale intensiv mit religiös-theologischen Fragen. Dabei entwickelte sie einen für viktorianische Reisende ungewöhnlichen religiösen Kosmopolitanismus mit einer außerordentlichen Offenheit und Toleranz. Ein Schwerpunkt dabei war ihre Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche. Es ist nicht zu 66

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Auf Pilgerschaft?

übersehen, wie stark sie die rituell-emotionalen Züge des Katholizismus faszinierten. Sie schätzte seine Fähigkeit, das „Unsichtbare“ erfahrbar und fühlbar zu machen, etwa durch die Pracht der Messgewänder, den opulenten Kirchenschmuck und die Liturgie. Im Gegensatz zu vielen ihrer Landsleute verurteilte sie diese Dinge nicht als theatralische Äußerlichkeiten, sondern sah in ihnen nützliche Hilfsmittel zur Unterstützung der Kontemplation. Hingegen lehnte sie etliche Glaubensdoktrinen wie etwa Erbsündenlehre, Höllenglauben und Transsubstantiation kategorisch ab. Dies galt auch für die hierarchischen Strukturen, die damals im Rahmen des sich verschärfenden Ultramontanismus zudem immer stärker auf Rom ausgerichtet wurden. Diesen Mangel an Freiheit, an Freiheit des Denkens, konnte die Anziehungskraft des Rituellen nicht aufwiegen. Ihre spirituelle Reise, wie sie es nannte, führte Florence Nightingale in eine fundamental ökumenische Richtung. Bei der Präzisierung ihrer religiösen Reflexionen war ihr die Kunst eine unschätzbare Hilfe, wie jüngst Molly Youngkin genauer beleuchtete. Nightingale legte besonderen Wert auf den emotionalen Ausdruck eines Kunstwerks und schätzte Szenen, in denen Kämpfe gewonnen, Schwierigkeiten überwunden wurden und die Protagonisten dadurch Gott näherkamen. Insbesondere Guido Renis Kreuzigung beeindruckte sie deshalb tief wie auch Michelangelos Fresken in der Sixtinischen Kapelle. In ihrer Interpretation der Schöpfungsszene hatte Eva eine viel engere emotionale Bindung zu Gott als Adam. Auch die Sünde fühlten Frauen ihrer Meinung nach intensiver. Dies klingt zwar nach einer Bekräftigung viktorianischer Geschlechterklischees, die die gefühlsgesteuerte Frau dem rational denkenden Mann gegenüberstellten, wurde aber von Nightingale als eine besondere weibliche Ressource betrachtet, die den Frauen helfen werde, einen gleichberechtigten Platz in der Welt zu erobern. Folgenschwer war der Rom-Aufenthalt auch deshalb, weil Florence Nightingale hier erstmals auf Menschen traf, die ihr künftiges Leben und Werk grundlegend beeinflussen sollten. An erster Stelle ist hier der spätere Kriegsminister Sidney Herbert zu nennen, der sie einige Jahre danach in den Krimkrieg entsenden und mit dem sie bis zu dessen frühem Tod 1861 bei allen ihren Reforminitiativen eng zusammenarbeiten sollte. Eine weitere Gruppe neuer Bekannter gehörte zu den 67

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Auf Reisen (1847–1850)

Tractarians, einer prokatholischen Gruppierung der Anglikanischen High-Church-Bewegung, die nach Rom gekommen waren, um sich über eine mögliche Konversion klar zu werden. Zu ihnen zählte der spätere Kardinal Henry Edward Manning, der für die Wiederbelebung des englischen Katholizismus sehr wichtig werden sollte. Ferner freundete sie sich mit Mary Stanley, der Tochter eines anglikanischen Bischofs, an, mit der sie das Interesse an Krankenhäusern und Schwesternschaften teilte. Mit ihr und Elizabeth Herbert besichtigte sie systematisch Hospitäler und andere karitative Einrichtungen. Dabei interessierten sie besonders die Chancen, die der Katholizismus sozial engagierten Frauen im Gegensatz zu ihrer eigenen Kirche zu bieten hatte. Die Anglikanische Kirche – davon war Nightingale überzeugt – tue für diese Frauen gar nichts. In der Katholischen Kirche hatten sich hingegen im 19. Jahrhundert die Optionen in Orden und Kongregationen so stark erweitert, dass die Forschung sogar von protofeministischen Tendenzen im Katholizismus spricht. Hier half ihr die Bekanntschaft mit einer französischen Ordensschwester aus dem Konvent Trinità dei Monti weiter, der u. a. eine Armenschule für Mädchen betrieb. Dort bekam sie die Gelegenheit zu hospitieren, noch wichtiger aber war ihr der spirituelle Austausch mit der Oberin Laure de St. Colombe – Florence Nightingale nannte sie Madre, Mutter. Diese bestärkte sie darin, ihre Berufung ernst zu nehmen, und zeigte ihr Wege – u. a. auch spirituelle jesuitische Übungen –, wie sie es schaffen könne, ihren eigenen Willen komplett aufzugeben, um sich Gott unterzuordnen. Für Nightingale war der Kontakt zur Madre und zum Konvent der Höhepunkt ihrer römischen „Pilgerreise“. Im Jahr 1848 überschlugen sich die politischen Ereignisse. Den Aufständen in Palermo im Januar folgten die Februarrevolution in Paris und die Märzrevolution in Deutschland. Die revolutionären cinque giornate in Mailand beendeten die österreichische Herrschaft in der Lombardei, und auch Venedig rebellierte gegen Wien. Überall in Italien kam es zu Aufständen. Verfassungen wurden gegeben, Reformen eingeleitet. Sogar der Papst sah sich gezwungen, eine Konstitution zu gewähren und auf seine weltlichen Herrschaftsrechte zu verzichten. Florence Nightingale sah begeistert die Trikolore über dem Kolosseum wehen. In einem 68

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Die Zuspitzung einer Lebenskrise (1848/49)

Brief bezeichnete sie sich als geborene Republikanerin, Monarchien seien lediglich ein vorübergehend notwendiges Übel. In diesem Sinne rechtfertigte sie Gewalt und lobte die kämpfenden Sizilianerinnen. Am Ende ihrer „Pilgerreise“ sei es ihr – so Rebecca Butler – noch deutlicher als zuvor um die Neuverhandlung der Geschlechterrollen gegangen. Die unruhige Situation in Rom beendete den Aufenthalt Ende März vorzeitig. Als der Papst sich in den letzten Apriltagen als Führer der italienischen Einigungsbewegung disqualifizierte – er hatte es abgelehnt, an der Seite des Königreichs Sardinien-Piemont gegen die Österreicher zu ziehen –, hatten Nightingale und ihre Reisegefährten die Ewige Stadt bereits verlassen. Pius IX. wurde aus Rom vertrieben und die Republik ausgerufen, nach fünf Monaten allerdings die päpstliche Herrschaft mit militärischen Mitteln wiederhergestellt. Nightingale unterstützte die revolutionäre Republik uneingeschränkt, auch wenn dafür die kostbarsten Kunstwerke zerstört werden müssten. Befände sie sich in Rom, wäre sie die Erste, die auf die Sixtinische Kapelle feuerte, und „Michelangelo riefe ‚gut gemacht‘“ (Cook 1, 76). Nicht zuletzt dies zeigt: Florence Nightingale hatte eine ausgeprägte Identifikation mit Italien entwickelt, eine Art anglo-italienischer Identität, die kulturellen wie religiösen Pluralismus einschloss. Der Rom-Besuch war somit von enormer Bedeutung für ihre geistig-spirituelle und intellektuelle Entwicklung sowie für die weitere Ausformung ihrer politischen Ansichten.

Die Zuspitzung einer Lebenskrise (1848/49) Zurück in Embley, optimistisch von den Eindrücken und Erlebnissen der Reise, war sie entschlossen, sich dem Willen Gottes zu ergeben und nicht mehr gegen die Familie zu rebellieren. Sie stürzte sich in die karitative Arbeit und suchte darin ein akzeptables Ventil für ihren Tätigkeitsdrang, übertrieb dies für den Geschmack von Mutter und Schwester jedoch über Gebühr. Und wieder gab es Konflikte. Im Frühjahr 1849 ging die Familie für die Season nach London, Florence im Stadium zunehmender Frustration. Ein kurzes Intermezzo war 69

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die Arbeit in einer Londoner „Lumpenschule“, die ihr Lord Shaftesbury ermöglichte. Doch sie wollte auch direkt in den Elendsvierteln arbeiten, dies mit dem Unterrichten verbinden – was schnell in einer Sackgasse endete, da eine Dame nicht ohne Diener ausgehen konnte. Nach der Reise schien ihr die – verglichen mit dem Kontinent – rigidere soziale Kontrolle in der englischen Mittel- und Oberschicht, der geringere Freiraum für Individualismus, immer unerträglicher. Keine Einwände hatten die Nightingales, dass ihre Kontakte mit den angesehenen Herberts enger wurden, ganz im Gegenteil. So unterstützte sie etwa Elizabeth Herbert bei ihren Schwangerschaften. Durch die Herberts fand sie Anschluss an einen Kreis sozial interessierter, einflussreicher Personen, die sich insbesondere mit Krankenhaus- und Armenrechtsreformen befassten, ein Thema, das die öffentliche Meinung intensiv beschäftigte. Florence Nightingale hatte sich in fünf Jahren unermüdlicher Sammlungstätigkeit umfassende Kenntnisse in diesen Fragen erworben und galt schnell als ausgesprochene Krankenhausexpertin. Die Herberts und die Bunsens kannten und unterstützten ihren Wunsch, nach Kaiserswerth zu gehen und die Diakonie kennenzulernen. Was konnte die Familie dagegen haben? Doch dies war und blieb vermintes Terrain. Im September 1848 hatte sich die Möglichkeit eines kurzen Besuches dort während einer geplanten Reise in die deutschen Kurbäder abgezeichnet. Doch die Wechselfälle der Revolution auf dem Kontinent machten diese Hoffnung zunichte. Die Nightingales blieben auf der Insel, und Florence fuhr mit ihrer Mutter zur Wasserkur nach Malvern, einem der renommiertesten Bäder der Zeit, wo die Lehren von Vincenz Prießnitz Anwendung fanden. Sie war zutiefst enttäuscht und quälte sich mit Selbstvorwürfen. Sicherlich hatte Gott ihre Pläne vereitelt, weil sie noch zu sündig war. Die mentale Krise verschärfte sich, dreaming entzog sich immer mehr ihrer Kontrolle. Schuldgefühle und Selbstgeißelung verbanden sich mit der Furcht, verrückt zu werden. In dieser Situation verlangte Richard Monckton Milnes, nun fast vierzig Jahre alt, eine Entscheidung. Unzweifelhaft ist, dass sie große Sympathien für ihn hegte. In ihren privaten Notizen sprach sie von ihm als dem Mann, den sie bewunderte. Trotzdem wies sie ihn zurück – für ein Ziel, das wahrscheinlich unerreichbar bleiben würde. Um zu einer 70

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Die Zuspitzung einer Lebenskrise (1848/49)

rationalen Entscheidung zu gelangen, notierte sie nüchtern abwägend Vor- und Nachteile einer eventuellen Ehe: „Ich habe ein intellektuelles Wesen, das Befriedigung verlangt, und diese würde ich bei ihm finden. Ich habe ein leidenschaftliches Wesen, das Befriedigung verlangt und diese würde ich bei ihm finden. Ich habe ein moralisches, aktives Wesen, welches der Befriedigung bedarf, und diese würde ich in seinem Leben nicht finden. Mir fällt es schon schwer, überhaupt irgendeines meiner Bedürfnisse zu befriedigen. […] Ich könnte mit einem Leben zufrieden sein, in dem wir unsere Stärken zu einem besonderen Zweck vereinen. Ich könnte diese Bedürfnisse nicht befriedigen, indem ich ein gesellschaftliches Leben führe und mich häuslichen Angelegenheiten widme. An die Fort- und Weiterführung meines jetzigen Lebens gefesselt zu sein, ohne die Hoffnung auf ein anderes [Leben], wäre unerträglich für mich. Mich freiwillig der Möglichkeit zu berauben, jemals die Chance ergreifen zu können, mir ein wahrhaftiges und erfülltes Leben zu gestalten, erscheint mir wie Selbstmord.“ (Cook 1, 100) Letztendlich kam sie zu dem Schluss, dass er nicht mit ihr in aller Stille Gottes Werk tun und auf Dinnerparties und Abendgesellschaften verzichten würde. Hier ging es um eine komplexe Gefühlslage, die im Nachhinein schwierig einzuordnen ist. Ida O’Malley ist der Meinung, dass Florence Nightingale Milnes wohl nicht geliebt habe, und wenn doch, sei es ihr nicht möglich gewesen, darüber zu sprechen oder zu schreiben. Sicher aber sei, dass sie – nachdem sie nein gesagt hatte – die Vorstellung kaum ertragen konnte, seine Zuneigung und seine Bewunderung zu verlieren. Mark Bostridge hingegen hält es für möglich, dass Nightingale zu jenem Zeitpunkt keine endgültige Ablehnung im Sinn hatte, sich langsam mit dem Gedanken als zweitbeste Alternative angefreundet und Milnes sie missverstanden hatte. Dies würde erklären, dass sie während der folgenden zwei Jahre immer wieder darüber nachgrübelte, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte, bis sich Milnes im Sommer 1851 verlobte. Bald danach sollte sich das Verhältnis entspannen, und 71

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Florence Nightingale wurde die Patin seiner zweiten Tochter. Zeitlebens pflegten sie ein sehr freundschaftliches Verhältnis, und Milnes blieb ein geschätzter Gesprächspartner. Man darf allerdings bezweifeln, ob die beiden Charaktere wirklich harmoniert hätten, die asketisch-moralische Nightingale und der das gesellschaftliche Leben in vollen Zügen genießende Milnes. Und dass sie seine umfangreiche Sammlung erotischer Objekte und sadomasochistischer Manuskripte sowie die einschlägigen Abendgesellschaften in seiner Bibliothek gutgeheißen hätte, ist mehr als fraglich. Nach Gillian Gill besaß Milnes im Alter „die extremste Pornosammlung […], die die Welt vor der Erfindung von Film und Internet gesehen hatte“ (231). Nightingales Entschluss, auf eine Ehe zu verzichten, löste viele Spekulationen aus. Donald Allen etwa versucht eine psychohistorische Interpretation und mutmaßt, sie habe als Folge der Konflikte mit der Mutter einen weiblichen Masochismus entwickelt, der zu erotischer Isolation und männlich-aktivem Verhalten geführt habe. Mit dieser Einordnung ihrer humanitären Gesinnung, so kritisiert hingegen Michael Calabria, werde ihr Erweckungserlebnis und die Schlussfolgerungen, die sie daraus zog, trivialisiert und zu einem neurotischen Symptom einer sexuell unreifen Frau umdefiniert. Andere Stimmen greifen die Hypothese lesbischer Neigungen wieder auf.

Faszination und Verzweiflung. Ägypten/Griechenland (1849/50) Die Entscheidung gegen eine Ehe führte zu schweren Auseinandersetzungen. Florence Nightingale zog sich immer mehr zurück, bis zum Herbst 1849 befand sie sich in einem jammervollen Zustand. In dieser Situation schlugen die Bracebridges vor, sie auf eine Reise nach Ägypten und Griechenland mitzunehmen. Doch das war innerfamiliär höchst umstritten: Wieso sollte für die jüngere Tochter erneut so viel Geld ausgegeben werden? Wieso sollte sie diese Freiheiten bekommen, die für Parthenope nicht möglich waren? Auch fürchtete man die Gefahren einer Fahrt durch das revolutionäre Europa und vor allem die Zustän72

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de in Ägypten, in einem Land, das bis dahin nur wenige europäische Frauen besucht hatten. Insgesamt waren Reisen von Europäern nach Ägypten, damals Teil des Osmanischen Reiches, erst seit Napoleons Feldzug 1798 und dem britischen Sieg bei Abukir 1801 häufiger, sicherer und einfacher geworden. Seitdem hatten europäische Gelehrte die altägyptischen Sehenswürdigkeiten und Kunstschätze erforscht und beschrieben, und dies hatte immer mehr Besucher angelockt. Nun stand das Land seit 40 Jahren unter britischem und französischem Einfluss, was Reisen zunehmend erleichterte. Nachdem die Reisegesellschaft größtenteils mit der Eisenbahn Frankreich durchquert hatte, ging es mit dem Schiff ab Marseille über Malta nach Alexandria, das nach knapp drei Wochen im Spätherbst 1849 erreicht wurde. Von dort aus wollte man den Nil aufwärts und abwärts befahren, das Frühjahr dann in Athen verbringen und im Sommer 1850 über Deutschland die langsame Rückkehr auf die Insel in Angriff nehmen. Das Land am Nil übte auf Florence Nightingale große Anziehungskraft aus, und dies galt sowohl für das alte Ägypten und seine Einflüsse auf die antiken Hochkulturen als auch für das Land als Schauplatz des frühen Christentums. Der Aufenthalt sollte „ein kulturelles wie auch ein spirituelles Fest“ (Gill, 235) werden. Darauf bereitete sie sich intensiv vor und studierte die neuesten wissenschaftlichen Publikationen. Ein Fest wurde es, doch mit großen Einschränkungen, denn gerade auf dieser Reise hatte Nightingale aufreibende innere Kämpfe auszufechten. Während die Briefe an die Familie den Erwartungen an eine exzellente Reiseschriftstellerin gerecht wurden, spiegeln die Einträge ihres Tagebuchs ihren inneren Ausnahmezustand zwischen physischen und psychischen Zusammenbrüchen wider, während derer sie immer wieder Gottes Stimme zu hören glaubte. Ab Kairo ging die Reise auf einem traditionellen Nilkahn mit nur wenigen Unterbrechungen weiter bis zur ägyptischen Südgrenze, während auf dem langsamen Rückweg die Sehenswürdigkeiten bestaunt wurden. Der Alltag während dieser drei Monate auf dem Fluss ist in Nightingales Notizen und Briefen anschaulich festgehalten: Widrige Witterungsverhältnisse, das gefährliche Überwinden der Strom73

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Auf Reisen (1847–1850)

schnellen, der Kampf mit Ungeziefer, der begrenzte Platz in den wenigen Kabinen, das Zusammenleben mit der Bootscrew, auch das enge und problematische Zusammensein mit der ihr verordneten Zofe. Die Zeit verging langsam, und ihr Bewegungsspielraum war äußerst eingeschränkt. Sie las viel und stellte eine kleine ägyptische Geschichte zusammen, hielt die Einzelheiten der Reise schriftlich fest. Ihr Wissen über die ägyptische Kultur, Sprache und Geschichte war in der Tat beeindruckend. Knapp 40 Reisebriefe zirkulierten im familiären Netzwerk in England, die Gill zu den „Meisterwerken der viktorianischen Reiseliteratur“ (238) zählt. Diese Reisebriefe waren einerseits eloquente Beschreibungen der Tour, andererseits gelehrte Abhandlungen über die antike ägyptische Religion und Philosophie sowie das frühe und spätere Christentum. Die Reflexionen hatten allerdings nicht nur die Funktion intellektueller Übungen, sondern dienten zur Klärung ihrer eigenen Spiritualität und religiösen Philosophie. In Ägypten begann sie mit ersten Notizen für ihre spätere Schrift über die Natur Gottes und seine Beziehungen zu den Menschen. Durch die Betrachtung der altägyptischen Religion veränderte sich ihr Blick auf das Christentum und seine Singularität, wobei sie viele Ähnlichkeiten mit dem Christentum und dem Judentum sowie der griechischen Philosophie entdeckte. Deutlich zu erkennen ist, dass Florence Nightingales Interesse an den altägyptischen Monumenten eng mit deren religiösen Funktionen verknüpft war. Dabei waren ihre Urteile stark beeinflusst von ihrer exzellenten Kenntnis der klassischen griechischen Kultur. Ägypten bot ihr insofern eine ideale Gelegenheit, ihren eigenen Glauben zu vertiefen und ihre religiösen Ansichten neu zu bewerten. Insbesondere die Aufenthalte in Philae, Theben und Abu Simbel spielten hierfür eine wichtige Rolle. In Philae überraschten sie besonders die Ähnlichkeiten, die sie zwischen den Mythen von Osiris und der biblischen Erlösungsgeschichte zu erkennen glaubte. Ihr Vergleich der Religionen betonte die Parallelen zwischen der alten monotheistischen ägyptischen Religion, die Gott unter verschiedenen Namen kannte, mit der christlichen Dreieinigkeit. In Abu Simbel schließlich konkretisierte sich ein Gedanke, der ihr lebenslanges religiöses Credo werden sollte: Das Böse ist nicht der 74

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Gegner des Guten, sondern sein Helfer. Gott gibt Gesetze, die die Menschen brechen. Durch das Böse in der Welt bringt Gott die Menschen zur Vollkommenheit. Der Mensch müsse Gottes Gesetze erkennen und danach handeln – Nightingales Fundament für all ihre künftige Arbeit. Verglichen mit dem antiken, dem klassischen Ägypten kam das zeitgenössische, arabisch geprägte Ägypten ausgesprochen schlecht weg. Das geschichtliche Erbe der Hochkulturen schätze man nicht, so klagte Nightingale, wenn etwa Menschen und Vieh in den Tempelruinen lebten oder diese als Baumaterial gebraucht wurden. Den verklärten Gestalten des alten Ägypten wurden die faulen, schmutzigen und „degenerierten“ Bewohner der Gegenwart gegenübergestellt. Natürlich war der Kulturschock für Europäer im Orient im Allgemeinen groß. Als Kind ihrer Zeit glaubte Florence Nightingale wie selbstverständlich an die zivilisatorische Überlegenheit der Europäer, insbesondere der Engländer, was sie mit teils sehr drastischen Worten formulierte, die den heutigen Leser abstoßen. So verglich sie etwa die Ägypter mit Reptilien und wilden Tieren. In ihrer Gleichsetzung mit Tieren war Nightingale keineswegs allein, sondern dies war Teil einer zeitgenössischen ethnografischen Debatte über die rassische Herkunft der modernen Ägypter. Indem sie diesen das Menschsein absprach, ging sie sehr weit. Der Degenerationsdiskurs war damals europaweit in aller Munde. Außerdem empörte sie die Behandlung der Frauen, vor allem derjenigen, die im Harem zur Untätigkeit verdammt waren. Molly Youngkin unterstreicht, dass Florence Nightingale diesen englischen Blick auf die Welt vor allem auf ihren Reisen akzentuiert habe und sich gerade in Ägypten deutlich ihre Rassehierarchien zeigten. Sie ist der Meinung, dass ihre Beurteilung der Ägypter in engem Zusammenhang mit ihrer religiösen Philosophie steht. In der Wüste habe man den Teufel am Werk gesehen, dessen Einfluss sich in Natur und Menschen manifestiere. Die Ägypter seien dadurch ein auf den Himmel orientiertes, mystisches Volk geworden, die Europäer hingegen durch stärkere Orientierung an der Erde ein praktisches, aktives Volk. Anklänge an die frühneuzeitliche Klimatheorie, die unterschiedliche „Nationalcharaktere“ mit geografischen und klimatischen Gegebenheiten erklärte, sind hier unübersehbar. 75

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Doch gerade die intensiven Reflexionen generierten neue Selbstzweifel. Auf dem mühsamen Rückweg auf dem Nil verlor sich Nightingale immer stärker in einer Depression, die bis zum folgenden Frühjahr anhalten sollte. Nach außen spielte sie die Rolle, die von ihr als kultivierte, intellektuell brillante junge Dame erwartet wurde. Aber im Innern wurde sie immer stärker von Verzweiflung und Schlaflosigkeit geplagt, jeden Tag näher an einem kompletten Nervenzusammenbruch. Sie gab sich selbst die Schuld dafür: Ihr dreaming mache sie verrückt, dies sei ihr ärgster Feind, und sie hielt akribisch genau die Tage fest, an denen er sie heimsuchte. Sie betete, sie meditierte, versuchte Klarheit zu gewinnen. Ihre Tagebucheinträge von Ende Februar/Anfang März zeugen von intensiven Anstrengungen, sich dem göttlichen Willen zu ergeben. Aus Theben berichtete sie von einem weiteren „Ruf “ Gottes. In den sorgsam komponierten Briefen an die Familie ist von diesen Seelenqualen kaum eine Spur zu entdecken. An keiner Stelle ihrer vielen Seiten Selbstanalyse drückte Florence Nightingale jedoch jemals klar aus, wovon sie genau „träumte“. Michael Calabria ist sich sicher, dass es darum ging, wie sie in der Krankenpflege Gott am besten dienen könne. Gillian Gill hingegen vermutet, dass für sie der Inhalt ihrer „Träume“ so abstoßend gewesen sein musste, dass sie es nicht einmal niederschreiben konnte. Sie vermutet sexuelle Erregung bei der Vorstellung philanthropischer Unternehmungen mit dem idealen Gefährten. Dies habe so extreme Schuldgefühle verursacht, dass sie diese mit den Versuchungen der frühchristlichen Eremiten in der Wüste verglichen habe. Auch andere Autoren versuchen sich an einer Psychopathologie Nightingales und klassifizieren ihre Gemütsschwankungen und veränderten Bewusstseinszustände etwa als Hysterie, typisch für die Frauen des Bürgertums, die ihre Wut nach innen richteten und durch ihren Körper ausdrückten. Wahnsinn galt in der viktorianischen Gesellschaft als etwas speziell Weibliches, das eng mit den Reproduktionsorganen zusammenhing. Elaine Showalter zieht demnach in ihrer Geschichte des weiblichen Wahnsinns Florence Nightingale als prominentes Beispiel heran, die jahrelang unter traumähnlichen Trancen, religiösen Halluzinationen und Suizidgedanken gelitten habe. Die Unvereinbarkeit 76

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ihrer Neigungen mit den an sie gestellten Erwartungen habe zu diesen massiven psychischen Auffälligkeiten geführt. Michael Calabria widerspricht dieser Interpretation zwar nicht völlig, sieht aber darin eine allzu grobe Vereinfachung. Der Theologe vertritt die Meinung, dass Nightingale zu den Mystikerinnen zu zählen ist. Dies beweise ihre intensive Beschäftigung mit Platon sowie dem Johannesevangelium, ferner mit Hermetismus und Gnostizismus sowie christlichen Mystikerinnen wie Teresa von Ávila. Gehe man von den fünf Stadien mystischen Erlebens bis zur Vereinigung mit Gott aus, spreche vieles dafür, dass sich Nightingale damals in der Phase der Läuterung und Erleuchtung befunden habe, die dem Erweckungserlebnis folge und oft von einem Alternieren depressiver Zustände mit spirituellem Hochgefühl begleitet sei. Dann höre der Mystiker Stimmen oder spreche mit Gott. Obwohl sich Florence Nightingale zeitlebens eine große Skepsis gegenüber ekstatischen Zuständen bewahrte, begleiteten sie mystische Tendenzen von Jugend an bis ins hohe Alter. Im April 1850 erreichte die Reisegesellschaft schließlich Athen. Florence Nightingales Griechenland-Interesse wurde einerseits durch ihre neuhumanistische Begeisterung für die klassische Antike gespeist, andererseits durch ihre großen Sympathien für den griechischen Befreiungskampf gegen die Osmanen. Das Land hatte erst kurz zuvor seine Unabhängigkeit erreicht und den bayerischen Prinzen Otto zum König erhoben. Frankreich und Großbritannien standen jedoch weiterhin gewisse Mitspracherechte zu. Neben den wichtigen Handelsinteressen war London zur Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem daran gelegen, die Eingliederung weiterer griechischsprachiger Gebiete des Osmanischen Reichs zu verhindern, denn es brauchte die Türken, um das expansionswillige Russland in Schach zu halten. Wie schon in ihren Berichten aus Italien kommentierte Florence Nightingale auch hier die politische Situation detailliert, kenntnisreich und kritisch. Von Athen war sie zunächst enttäuscht, weil die so bewunderten Monumente in der Realität so viel kleiner als in ihrer Vorstellung ausfielen. Athen – so schrieb sie nach einer Woche der Familie – wirke wie das Korkmodell eines Antiquars. Als sie einige Zeit später 77

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den Parthenon im Mondschein besuchte, verkehrte sich dieser erste Eindruck ins Gegenteil, und sie war fasziniert. Die Vernachlässigung der Stadt unter osmanischer Herrschaft empörte sie. Auch die griechisch-orthodoxe Religion bewertete sie sehr negativ. Die Priester seien ungebildet, indifferent und kümmerten sich nicht um ihre Leute. Während die Katholische Kirche sich bemühe, Gefühle zu vermitteln und die protestantische Wissen, schaffe die orthodoxe weder das eine noch das andere. In Griechenland trieb ihr psychischer Ausnahmezustand auf den Höhepunkt zu. Bei einem visionsartigen Erlebnis am Thermopylenpass glaubte sie erneut, Gottes Stimme zu hören. Am 12. Mai 1850 notierte sie: „Heute bin ich 30, in diesem Alter begann Christus seine Mission. Jetzt keine kindischen Dinge mehr, keine Liebe und keine Hochzeit. Nun Herr, lass mich nur noch an Deinen Willen denken.“ (Calabria, 60) Ihrer Mutter schrieb sie am selben Tag: „Ich fühle kein Bedauern über das Ende einer Jugend, die ich vergeudet habe und ein Leben, das mir missfallen hat. Doch ich bin voller Hoffnung für das Leben, das mich erwartet.“ (CW 7, 397) Und sie entschuldigte sich für die Sorgen, die sie ihr bereitet habe. Ihre Tagebucheinträge klangen weit weniger optimistisch – im Gegenteil. Sie flehte Gott an, den Wunsch zu überwinden, große Dinge für sich selbst tun zu wollen (18. und 21. Mai), sie wollte nur noch schlafen (17. Juni) und am 18. Juni: „Mein Feind ist zu stark für mich – alles wurde versucht […] alles, alles vergeblich.“ (Calabria, 68) In dieser Situation tröstete sie allein die Gesellschaft von Tieren, vor allem eine junge Eule, genannt Athena, die sie auf dem Parthenon gefunden hatte und später mit zurück nach England nahm. In Athen hatte Florence Nightingale intensiven Kontakt mit dem Ehepaar Hill, amerikanischen Missionaren der Episkopalkirche, die eine Mädchenschule und ein Waisenhaus unterhielten. Mit ihnen sprach sie über ihre Suche, doch die Depression vertiefte sich, tagelang verließ sie das Bett nicht. Die Hills hatten ihr geraten, dass ihr Gottes Vorsehung schon den Weg weisen würde, sie nur „gehorchen“ müsse, doch Florence Nightingale drängte es zur Aktivität.

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Die Diakonie Kaiserswerth (1850) Es war Selina Bracebridge, die die Rettung brachte, indem sie ohne Rücksprache mit Nightingales Eltern eine Entscheidung traf. Auf der Rückreise über Triest, Prag, Berlin und Hamburg machte die Reisegesellschaft in Düsseldorf Station und ermöglichte Florence einen zweiwöchigen Aufenthalt in der Diakonie Kaiserswerth. Ihr depressiver Zustand ließ zunächst keine große Vorfreude aufkommen, die Seereise verbrachte sie weitgehend unter Deck. Doch einmal in Deutschland angekommen zeichnete sich eine sichtbare Stabilisierung ab, Licht am Horizont. Die Briefe, die Nightingale auf dem Weg nach Kaiserswerth schrieb, sind aufschlussreich. Sie besuchte weiterhin Kunstmuseen, aber der Fokus verschob sich, und sie entwickelte vor allem ihr theologisches Verständnis weiter. Die Dresdner Gemäldegalerie mit Raffaels Sixtinischer Madonna, Correggios Die büßende Magdalena und Guido Renis Ecce Homo bewegten sie besonders. Daneben boten sich ihr auf dieser Reise viele Vergleichsmöglichkeiten zwischen Protestantismus und Katholizismus, im theologischen wie im karitativen Bereich. Auch ihr politisches Interesse blieb wach: In einem Brief aus Wien warf sie ihren Landsleuten vor, sich nicht um die Kämpfe auf den Kontinent zu kümmern. Man spreche davon, als handele es sich um „einen Kampf zwischen Fröschen und Mäusen. […] [D]en kaltherzigen Mangel jeglichen Gefühls von Brüderlichkeit mit den leidenden, kämpfenden Europäern“ (CW 7, 447) könne sie niemals verzeihen. Wie üblich ließ sie kein Hospital am Wegesrand liegen. In Wien schockierten sie die Zustände im Allgemeinen Krankenhaus, in Prag besuchte sie eine Einrichtung der Barmherzigen Brüder, deren Pflegewissen sie beeindruckte. Anschließend knüpfte sie in den protestantischen Städten Berlin und Hamburg viele Kontakte und lernte zahlreiche karitative Einrichtungen kennen. Inspiriert von ähnlichen Prinzipien wie sie hatten dort Frauen aus den „besseren“ Kreisen ihre Berufung in soziale Aktivitäten umsetzen können. Dies nährte ihre Hoffnung, Ähnliches ohne den Rahmen eines Ordens oder einer Kongregation in Angriff nehmen zu können. In Berlin notierte sie am 15. Juli: „Plötzlich wurde mir bewusst, wie kostbar das Leben war.“ (Calabria, 70) 79

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Porträt Florence Nightingales, J. C. Schaarwächter, Berlin, Juli 1850. Wellcome Collection. CC BY

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Die Diakonie Kaiserswerth (1850)

Amalie Sieveking hatte in Hamburg u. a. ein Kinderhospital gegründet, ein häusliches Pflegesystem eingerichtet und sich in der Mädchenbildung engagiert. In der Hansestadt faszinierte Nightingale auch das Rauhe Haus Pastor Wicherns, der sich um arme, straffällig gewordene Jugendliche kümmerte. In Berlin besuchte sie das von Marianne von Rantzau gegründete Diakonissenkrankenhaus Bethanien, in dem sowohl Frauen aus der Ober- und Mittelschicht als auch Bauernmädchen Dienst taten. All diese Möglichkeiten, klagte sie, seien Frauen in England weitgehend verschlossen. Das Leben in Berlin erschien ihr viel freier, als sie es aus der Heimat kannte. Dort könnten Mädchen aller Schichten – wie sie bemerkte – bei Tageslicht allein durch die Stadt gehen. Damen, wie auch immer gekleidet, besuchten „jedwede Gesellschaft“ oder einen Markt ohne jede Belästigung. (CW 7, 462) Sie liebe ihr Land, schrieb sie, und diene ihm, doch verschließe sie nicht die Augen, „wenn ich denke, dass es hinter Amerika zurückbleibt in politischen Freiheiten und praktischen Dingen, hinter Frankreich in geistigen, hinter Deutschland in der Volksbildung und oh! zwei Jahrhunderte hinter Norddeutschland, was soziale Freiheiten anbelangt.“ (CW 7, 462) Am 31. Juli kam sie schließlich in Kaiserswerth an, und erneut verglich sie sich mit einer Pilgerin. Als sie nach zwei Wochen wieder abreiste, gab es nicht mehr den geringsten Zweifel, worin sie ihre Berufung sah. Mitten im katholischen Rheinland mit seinen zahlreichen in der sozialen Arbeit tätigen Orden und Kongregationen hatten Theodor und Friederike Fliedner 1836 die Diakonissenanstalt Kaiserswerth gegründet. Das Mutterhausprinzip funktionierte im Gegensatz zu den katholischen Einrichtungen nach dem patriarchalischen Familienmodell, mit Pastor Fliedner und seiner Gattin als Eltern, und bot alleinstehenden, religiös inspirierten protestantischen Frauen gesellschaftlich akzeptierte Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie Absicherung in Alter und Krankheit. Zunächst geplant als ein Asyl für entlassene weibliche Strafgefangene, wurden schon bald ein Krankenhaus, eine Pflegeschule, ein Waisenhaus und ein Lehrerinnenseminar angeschlossen. Diakonissen aus Kaiserswerth waren international sehr gefragt. Bis 1864 hatte Fliedner zur Etablierung von 30 ähnlichen Einrichtungen in Europa, den 81

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USA und im Nahen Osten beigetragen, in denen etwa 1600 Diakonissen beschäftigt waren. Um 1850 hatte das Krankenhaus vier Säle mit insgesamt 100 Betten. Es gab 116 Diakonissen, darunter 22 Anwärterinnen, von denen etwa die Hälfte im Mutterhaus arbeitete, während die anderen in Kranken- und Armenhäusern sowie Pfarreien Dienst taten. Am ersten Tag in Kaiserswerth notierte Florence Nightingale in ihrem Tagebuch: „Ich fühlte mich merkwürdig, doch das Herz, das mir in einem Londoner Salon in die Hose rutscht, erhebt sich mutig in einer Situation wie dieser. Ich war so sicher, Gottes Werk zu tun.“ (Calabria, 79) In der kurzen Zeit von zwei Wochen konnte sie in allen Abteilungen hospitieren. Sie teilte das spartanische Leben der Diakonissen und lernte den hohen Stellenwert des Gebets und das ausgeprägte Gemeinschaftsgefühl schätzen. In ihrem kleinen Zimmer im Hause der Fliedners kämmte sie sich zum ersten Mal im Leben selber die Haare. Lediglich die mangelnden Waschgelegenheiten in den Einrichtungen störten sie. Die Diakonissen hatten eine Probezeit zu bestehen, nach ihrer Aufnahme verpflichteten sie sich für einige Jahre, mit der Möglichkeit der Verlängerung. Diese Rahmenbedingungen – ohne Gelübde und Klosterzellen – beeindruckten sie vor allem. Und sie nahm die feste Überzeugung mit, dass diejenigen, die sich aus christlichen Motiven dem Dienst am Kranken widmeten, die besseren Pflegerinnen seien als diejenigen, die nur Geld verdienen wollten. In der Kaiserswerther Diakonie sah sie ein gutes Modell für die englischen Krankenhäuser. Auch dass die Leitung der Anstalt nicht einem Arzt unterstand, vermerkte sie als positiv, ebenso die hohen moralischen Anforderungen, die an die Diakonissen gestellt wurden. Fliedners autokratischen Führungsstil sah sie durchaus kritisch, seinen tiefen Glauben und seine Einfachheit bewunderte sie. Im Wesentlichen beobachtete sie und half bei der Kinderbetreuung. Was ihr auffiel, notierte sie eifrig: kein typischer Krankenhausgestank, eine Frau als Apothekerin, kein männlicher Arzt dauerhaft in der Einrichtung, Pfleger betreuten die männlichen Patienten, und Frauen hatten keinerlei für sie „unpassende“ Aufgaben zu erledigen. Religion und Glaube spielten eine herausragende Rolle in Kaiserswerth, Andachten mit den Patienten, Predigten, Bibellektüre, systematischer Religions82

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Die Diakonie Kaiserswerth (1850)

unterricht für die Diakonissen. Den Kranken wurde vermittelt, durch ihre Leiden kämen sie Gott näher. Doch stimmte sie nicht allem zu, was in Kaiserswerth gelehrt wurde, etwa dem Predigtverbot für Frauen. Diese zwei Wochen reichten aus, um Nightingale mutig und optimistisch in die Zukunft blicken zu lassen. Fliedner hatte sie um eine Beschreibung der Einrichtung für das britische Publikum gebeten und in dieser 32-seitigen Schrift, die übrigens ihre erste (anonyme) Publikation werden sollte, stellte sie den Kontrast zwischen Kaiserswerth und den Möglichkeiten englischer Frauen deutlich heraus: Statt „geschäftigem Müßiggang“ erwarte sie dort „Arbeit, Glück und Kameradschaft“ (Woodham-Smith, 82). Es lohnt sich, einen Blick auf dieses „weitgehend ignorierte Dokument des frühviktorianischen Feminismus“ (Bostridge, 145) zu werfen, das bereits spätere Argumentationsmuster Nightingales aufscheinen lässt. Seit den Zeiten des Urchristentums – so setzte sie an – hätten sich Frauen den Kranken und Armen zugewandt. Die Diakonissen knüpften hier an, sie imitierten damit nicht die katholischen Gemeinschaften, wie viele in England befürchteten. Nie zuvor hätten Frauen so viele Möglichkeiten gehabt, ihre Fähigkeiten zu entwickeln, wie in der Gegenwart, und die intellektuellen Fortschritte seien in der Tat bemerkenswert. Für aktive Tätigkeiten gelte dies aber nicht. Außerdem hörten viele Frauen unverständlicherweise im Alter zwischen zwanzig und dreißig Jahren auf, Wissen zu erwerben, egal ob sie eine Ehe eingingen oder nicht. Das bekannte Schicksal unverheirateter Geschlechtsgenossinnen, ein Leben ohne Liebe und vor allem ohne eine sinnvolle Aufgabe, malte sie in schwärzesten Farben, ebenso wie Ehen, die nur deshalb geschlossen wurden, um eine eigene Tätigkeitssphäre zu bekommen. Hier wie dort würden Frauen krank, weil ihnen eine sinnvolle Beschäftigung fehle. Ein solches Recht für Unverheiratete und Witwen legitimierte Nightingale nun elegant mit Bezug auf das Lukasevangelium: Gott habe dieses Bedürfnis bei allen gesunden Frauen geschaffen und deshalb auch für jede Notwendigkeit vorgesorgt. In einem geschichtlichen Rückblick zeichnete sie die Existenz einschlägiger weiblicher Ämter und Tätigkeitsbereiche im Protestantismus nach und betonte besonders diejenigen vor der Gründung der Vinzentinerinnen im 17. Jahrhundert, des 83

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katholischen Pflegeordens par excellence. Diese frühen Ansätze hätten sich nicht verstetigen können, weil es keine Ausbildungsmöglichkeiten gegeben habe. Deshalb sei nun das diakonische Modell die Lösung für die englischen Frauen. Sie war der Meinung, dass einige wenige Monate in Kaiserswerth ausreichten, um einer Engländerin alles Nötige für die Anwendung in der Heimat zu lehren. Sie war zweifelsohne entschlossen, an den Rhein zurückzukehren.

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Pflege als Lebensaufgabe (1850–1854) Neue Krisen, Kämpfe und Erkenntnisse Anfang August 1850 war sie zurück in Lea Hurst, die Mutter außer sich über den Aufenthalt in Kaiserswerth, und die alten Ressentiments und gegenseitigen Anschuldigungen brachen erneut auf, noch erbitterter als zuvor. Parthenope reagierte heftig. Zumindest dem Vater war wohl inzwischen nach nunmehr fünf Jahren klargeworden, dass der Kampf verloren war. Durch die beschriebenen Reformen in den Krankenhäusern waren bestimmte Formen der Pflege für Damen aus besseren Kreisen akzeptabel geworden. Selina Bracebridge und Mai Smith argumentierten in diese Richtung, doch das größere Problem war vermutlich, dass dies den Rückzug Florences vom gewohnten Familienleben bedeutet hätte. Im Mittelpunkt der Befürchtungen stand die physische und psychische Verfassung Parthenopes, die sich während Florences Abwesenheit zugespitzt hatte. Jene war sich sicher, dass sie das Verhalten ihrer Schwester krank machte. Widersprüchliche Gefühle dürften dabei im Spiel gewesen sein: Bewunderung, Neid, Eifersucht. So wurde beschlossen, dass sich Florence ein halbes Jahr lang komplett ihrer Schwester widmen sollte. Die Familiendynamik für die nächste Zeit war damit klar umrissen: Eine besitzergreifende, unerbittliche Schwester, unterstützt von einer sie beschützenden Mutter, schuf eine Situation, der der Vater passiv zusah, wohingegen Florence alle Möglichkeiten auslotete, um sich zumindest kleine Fluchten zu verschaffen. Rückendeckung bekam sie erneut von ihrer Tante Mai, die versuchte, sie aufzubauen und in der Familie zu vermitteln. Nightingales Verzweiflung nahm zu: keine Lebensperspektive in Sicht, der Unfalltod ihres Cousins Henry Nicholson, die Enttäuschung ihrer Familie über die verweigerte Eheschließung. Ende 1850 notierte sie resigniert: „Ich habe keinen anderen Wunsch als 85

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zu sterben.“ (CW 2, 384) Mehr als einige Stunden am Tag für sinnvolle Tätigkeiten (etwa in der Armenschule in Lea Hurst oder für Lektüre) erhoffte sie sich nicht mehr.

Erneut Kaiserswerth (1851) In dieser Zeit richtete sich die Hoffnung für Parthenopes angeschlagene Gesundheit auf eine Wasserkur in renommierten deutschen Heilbädern. Auch sollte sie dort verschiedene Gynäkologen konsultieren, da es damals üblich war, die Ursachen einer ganzen Reihe psychischer und körperlicher Auffälligkeiten den Reproduktionsorganen zuzuschreiben. Während dieses Aufenthalts der Familie auf dem Kontinent durfte Florence Nightingale drei weitere Monate in Kaiserswerth verbringen. Wie dieser Entschluss zustande kam, ist nicht mehr zu eruieren. Interventionen der Bunsens und der Bracebridges scheinen wahrscheinlich, auch eine Suizidgefährdung stand im Raum. Auf jeden Fall war es wohl keine einvernehmliche Entscheidung. In einer viel später verfassten Notiz berichtete sie von einer heftigen Szene in Karlsbad vor ihrer Abreise nach Kaiserswerth. Auch wurde allen strengste Geheimhaltung auferlegt: In England sollte niemand von diesem kompromittierenden Aufenthalt erfahren. Wie schon im Jahr zuvor arbeitete Nightingale in allen Abteilungen. Neben den Krankenstationen verbrachte sie einige Zeit in der Apotheke, wo sie lernte, Medikamente zuzubereiten, sowie im Waisenhaus und im Frauenasyl. Überall hatte sie es vorwiegend mit einfachen Menschen zu tun, sowohl bei den Patienten als auch beim Personal. Sie konnte medizinische Prozeduren, wie Amputationen, und verschiedene Krankheitsbilder beobachten. Sie lernte Pflegetechniken bei bettlägerigen Patienten und eine Reihe grundlegender therapeutischer Maßnahmen. Etliche Zeit nahmen pflegefremde Aufgaben in Anspruch. Sie erteilte Englischstunden, kümmerte sich um Waisenkinder oder verkaufte Lose für die Finanzierung der Institution. An der wöchentlichen Theoriestunde der „Probeschwestern“ nahm sie vermutlich nicht teil, da viele von ihnen erst Defizite im Lesen, Schreiben und Rechnen 86

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Erneut Kaiserswerth (1851)

aufholen mussten. Andachten und Bibelstudium waren regelmäßiger Bestandteil des Tagesablaufs. Die Tage waren lang und anstrengend, die Lebensbedingungen einfach, wie ihre Tagebuchnotizen zeigen. Die Arbeit begann gegen sechs Uhr morgens und endete nicht selten erst gegen acht oder zehn Uhr abends. Im Mittelpunkt der Ausbildung in Kaiserswerth stand die praktische Unterrichtung, die klinische Erfahrung: Verbandswechsel, Arzneigaben, Aderlässe, Packungen, Assistenz bei Operationen, Nachtwachen. Die Rede ist ferner von Blutegeln, Schröpfköpfen, Schwefelbädern, vom Waschen und Füttern der Patienten, vom Saubermachen der Stationen. Folgt man Lynn McDonald, so lernte Nightingale in Kaiserswerth Hingabe und Ordnung, ein wenig Pflege und keinerlei Hygiene. Im Lauf der Zeit sollte sie gerade Letzteres immer kritischer sehen. So wandte sie sich beispielsweise später gegen Berichte, nach denen sie in Kaiserswerth ihre Ausbildung erhalten habe. 1868 etwa bemerkte sie, sie habe niemals in ihrem Leben ein so ungesundes und schlecht geführtes Krankenhaus gesehen. Gesamtkonzept und christliches Engagement behielten weiterhin ihre Hochschätzung, nicht aber die Pflege und die sanitären Bedingungen. Was sie jedoch in diesen drei Monaten an Erfahrungen unterschiedlichster Art sammeln konnte – von pflegerischen Maßnahmen bis zur Leitung eines Teams und der Organisation eines Krankenhauses –, sollte ihr im Krimkrieg unschätzbare Dienste leisten. In Kaiserswerth konnte sie zudem erstmals das von Familie und Freunden unabhängige Leben kennenlernen. Und ihre Ziele konkretisierten sich: Sie wollte eine öffentliche, möglichst große medizinische Einrichtung leiten. Vor allem anderen hatte ihr die Zeit am Rhein gezeigt, dass der Protestantismus eine Möglichkeit für Frauen bereithielt, die genauso fordernd und anspruchsvoll sein konnte wie die der katholischen Orden und Kongregationen. Florence Nightingale blieb Kaiserswerth immer eng verbunden, einer von Fliedners Söhnen wurde ihr Patenkind. Alle Schriften aus und über die dortige Diakonie verfolgte sie genau. „Wenn ich könnte, wäre es mein Herzenswunsch zum Sterben nach Kaiserswerth zu kommen“ (CW 7, 583), schrieb sie im Sommer 1861 in einer schweren gesundheitlichen Krisensituation. 87

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Allerdings war die Zeit am Rhein nicht ganz ungetrübt, denn Parthenope schrieb ihr schlecht gelaunte und vorwurfsvolle Briefe, die sie mit Versicherungen schwesterlicher Liebe beantwortete. Immer wieder versuchte sie, ihr ihre Berufung verständlich zu machen. Trotz aller heftigen Konfrontationen kämpfte Florence Nightingale ständig um die Zustimmung und Zuneigung von Mutter und Schwester. In einem Brief an die Mutter vom 31. August schrieb sie: „Ich sollte hier glücklich sein, […] und ich wünsche mir, darauf hoffen zu können, Dein Lächeln, Deinen Segen und Deine Sympathie dafür zu haben, ohne die ich nicht glücklich sein kann“ (CW 1, 129f.). William Nightingale scheint es schließlich gelungen zu sein, seine Frau von der Notwendigkeit einer ernsthaften Tätigkeit für seine Tochter zu überzeugen. Ein bemerkenswerter Brief der Mutter zeigt, wie es diese schließlich schaffte, aus Sorge um die Tochter ihre festgefügten Überzeugungen über Bord zu werfen. Sie schrieb ihr an den Rhein: „Du selbst kannst Kaiserswerth nicht dankbarer sein, als wir alle es jetzt sind, als ein schattiger Platz für Dich in einem ausgetrockneten Land […] [N]imm Dir Zeit, meine Liebe, nimm Glauben und Liebe mit Dir, auch wenn Dein Weg Dich sonderbarerweise von uns weg führt.“ (Bostridge, 159) Diese Zeilen korrigieren das bis in die Gegenwart oft kolportierte Bild einer ignoranten Mutter, der nur die Außenwirkung wichtig war.

Religion und Geschlecht Zurück in der Heimat war allerdings der Kampf noch nicht sofort gewonnen. Ihre Schwester wehrte sich heftig gegen jede Veränderung und flüchtete sich mehr denn je in die Krankheit. Florence überstand kurz nach ihrer Rückkehr eine Maserninfektion, begleitete dann ihren Vater für einen Monat in einen Badeort. Dort führten sie intensive Gespräche, was zu einer erneuten Annäherung zwischen Vater und Tochter beitrug. Anschließend fuhr sie nach London, traf die Bunsens, Mary Stanley, Elizabeth Herbert, besuchte eine anglikanische Schwesternschaft, die ein Asyl für Prostituierte betrieb. 88

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Sie dachte über eine berufliche Zukunft nach und entwickelte ihre religiös-theologischen Vorstellungen weiter. Wieder war ihr Mai Smith eine anregende Gesprächspartnerin. Nightingales religiöse Anschauungen als das entscheidende Movens ihres Lebens und Werks verdienen es, in einem (späteren) Kapitel zusammenhängend vorgestellt zu werden. An dieser Stelle sollen daher nur einige entscheidende Etappen und Entwicklungen knapp skizziert werden, um die Chronologie zu wahren. Zunächst setzte sie sich erneut intensiv mit dem Katholizismus auseinander und prüfte, ob dieser für Frauen nicht doch die besten Entfaltungsmöglichkeiten bereithielt. Inwieweit sie ernsthaft eine Konversion erwog, ist unklar. Sie diskutierte darüber mit Kardinal Manning, der abriet. Er befürchtete, sie könne sich niemandem außer Gott unterordnen. Ihr „Träumen“ schien ihr nun nicht mehr den Blick auf die unterschiedlichen Welten der Imagination und der Realität zu verstellen. Dass sie sich daran setzte, ihre Gedanken zu Papier zu bringen, hing mit dem Zustand der etablierten Kirche(n) und ihrem brennenden Wunsch zusammen, etwas gegen die Ausbreitung des Atheismus unter der Arbeiterschaft zu tun. Nichts weniger als eine Alternative zur konventionellen Religion wollte sie den Arbeiterinnen und Arbeitern anbieten. Vielerlei Einflüsse und Erfahrungen kamen hier zusammen. Da waren zunächst ihre Erkenntnisse aus Ägypten. In Lea Hurst und London lernte sie die Vorstellungen der Oweniten, einer Gruppierung frühsozialistischer Ausrichtung, kennen. Die Schriften der Philosophen Spinoza, David Hume und William Hamilton sowie des Mathematikers und liberalen Theologen Robert Baden-Powell bestärkten ihre Ansichten. Sie setzte sich mit John Stuart Mills Überlegungen über den freien Willen und mit Auguste Comte und seiner Humanitätsreligion auseinander. Mit Letzterem war sie sich einig, dass die Welt universellen Gesetzen unterworfen war, im Gegensatz zu Comte aber kamen für sie diese von Gott. Zu ihrer Erkenntnis reichte der Glaube allein nicht mehr aus, Vernunft und Wissenschaften mussten dazukommen. Und hier war die Königsdisziplin für Nightingale die Statistik, die es gewissermaßen ermöglichte, „in den Gedanken Gottes zu lesen“ (Bostridge, 172). Ihr 89

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Gott war ein gütiger, ein weiser Gott, der eine Partnerschaft mit den Menschen einging. Zunächst hatten ihre Arbeiten zur Religion keine größeren Folgen. Sie schrieb sie nieder, legte sie ihrem Vater, auch einigen Arbeitern vor, gab sie ferner Richard Monckton Milnes zu lesen. Nach dem Krimkrieg kam sie darauf zurück und erweiterte den Text 1858 beträchtlich. Ihr Suggestions for Thought genanntes Werk sollte dann auf fast 1000 Seiten anwachsen. Noch immer fühlte Nightingale das dringende Bedürfnis, ihre praktischen Kenntnisse in der Pflege zu erweitern. Kardinal Manning vermittelte dazu einen Besuch im Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern in Dublin. Die Reise nach Irland war allerdings vergeblich, da das Haus wegen Renovierung geschlossen war. Auf dem Rückweg erreichte sie die Nachricht von einem weiteren Zusammenbruch ihrer Schwester. Zuvor hatte sich die Familie in ihrer Ratlosigkeit an Sir James Clark, einen der Leibärzte der Königin, gewandt. Seiner Ansicht nach hatte Parthenope „absolut keine Krankheit, sondern leide an einer ausgeprägten Irritabilität des Gehirns“ (Bostridge, 175). Dieser Befund lief auf Hysterie oder Neurasthenie hinaus, beides „Modediagnosen“ der damaligen Zeit, besonders für Frauen. Für Parthenope sei körperliche Aktivität und eine zeitweise Trennung von der Familie nötig, damit die Neurasthenie nicht in die fatale Form der Hysterie umschlage. Daraufhin war sie zu Clark nach Schottland geschickt worden, wo sie völlig zusammenbrach, sich aber nach der Ankunft ihrer Schwester schnell wieder erholte. Letztendlich gab Clark eine folgenschwere Empfehlung: Nicht die Anwesenheit der Schwester im Familienalltag sei für die Genesung notwendig, sondern das genaue Gegenteil. Es dauerte allerdings, bis Konsequenzen gezogen wurden. Und Parthenope Nightingale wurde diese Diagnose nicht mitgeteilt. Ihr körperlicher Zustand besserte sich nach der Heimkehr, ihre Ressentiments gegenüber ihrer Schwester allerdings nicht. Für Florence Nightingale war ihre Schwester das Paradebeispiel einer viktorianischen Frau, die aus Mangel an sinnvoller Beschäftigung und geistiger Betätigung durch einen Überschuss nervöser Energien erkrankte. Obwohl auf sehr unterschiedliche Weise, waren damit beide Nightingale-Töchter Opfer des viktorianischen Lifestyles, der Frauen in 90

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einem goldenen Käfig einsperrte. In dieser Zeit wurde die Existenz verschiedener Sphären für Mann und Frau in der Gesellschaft durch unterschiedliche Fähigkeiten und Charaktereigenschaften begründet. Dies verstärkte die zeitgenössische Häuslichkeitsideologie, die das perfekte Heim als Refugium vor den Zumutungen der Welt draußen zu einem Wert erster Ordnung für beide Geschlechter stilisierte. Verantwortlich dafür waren in erster Linie die Frauen, die sich ausschließlich der Familie zu widmen und mit ihrer besonderen Affinität zu Religion und Glauben diese Institution als moralische Keimzelle der Gesellschaft zu sichern hatten. Diese Auffassungen wurden von der mächtigen evangelikalen Bewegung massiv gefördert, die in Heim und Familie das wichtigste Antidot gegen die Gefahren des Industriekapitalismus sah. Frauen hatten daher eine äußerst wichtige Funktion, sie wurden allerdings als von Natur aus schwache Wesen betrachtet, die, ihren Gefühlen ausgeliefert, des ständigen männlichen Schutzes und der Kontrolle bedurften. Das Rechtssystem verstärkte diese Infantilisierung weiter. Die traditionelle Geschichtsschreibung und die neuere Geschlechtergeschichte sind sich nicht ganz einig über die Auswirkungen dieser Ideologie. Letztere argumentiert, die Frauen hätten sich den patriarchalischen Auffassungen nicht nur passiv unterworfen, sondern sie benutzt, um sich ihren eigenen Platz in der öffentlichen Sphäre zu sichern. Florence Nightingale ist in dieser Hinsicht ein äußerst interessantes Beispiel. Ihre Positionen zu Frauenfrage und Frauenemanzipation verdienen ebenfalls ein eigenes Kapitel. Anfang der 1850er-Jahre jedenfalls schrieb sich Nightingale ihre Frustration in ihrem Essay Cassandra von der Seele. Dieser Text, eine beißende Kritik der viktorianischen Familie, existiert in zwei Versionen. Die erste, ein Roman mit deutlich autobiografischen Zügen, handelt von der krisenhaften Situation einer Familie mit drei Töchtern, von denen eine mit 30 Jahren stirbt, während eine andere konvertiert und als Barmherzige Schwester in einen Orden eintritt. Diese Version mit vielen kontroversen Dialogszenen zwischen Töchtern und Eltern entstand wohl zwischen 1850 und 1853. Sie ist als bitterer, ironischer Kommentar der Benimmregeln für höhere Töchter zu lesen. Später arbeitete Nightingale den Text zu einem Essay um, geschrieben in der dritten 91

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Pflege als Lebensaufgabe (1850–1854)

Person. Nun eher eine allgemeine Beschreibung der verzweifelten Lage höhergestellter viktorianischer Frauen, hatte er den Charakter der persönlichen Leidensgeschichte weitgehend eingebüßt.

Das Hospital in der Harley Street Selina Bracebridge und Mai Smith konnten Frances Nightingale schließlich die Zustimmung zu einer möglichen Lösung für Florence abringen. Eine philanthropische Tätigkeit, wie sie etwa Elizabeth Fry ins Werk gesetzt hatte, wurde denkbar, auch die Leitung einer medizinisch-karitativen Institution. Doch die Suche nach einer geeigneten Einrichtung erwies sich als schwierig, galten doch die Bedenken gegen öffentliche Krankenhäuser unvermindert weiter. Zudem fand Florence Nightingale, sie sei noch nicht genügend vorbereitet, und wollte ihr Wissen zunächst bei den katholischen Barmherzigen Schwestern in Paris vervollständigen. Bevor sie in die französische Hauptstadt abreiste, bekam sie das Angebot, ein kleines Haus für verarmte Damen, mehrheitlich ehemalige Gouvernanten ohne Familie, zu leiten. Dieses sollte unter einer neuen Führung reorganisiert werden. Ihr neu gefundenes Selbstvertrauen spiegelte ihre „Jahresendbilanz“ für 1852 wider: „Ich bin so froh, dass dieses Jahr vorbei ist; dennoch war es kein verschwendetes […] Ich habe meinen gesamten religiösen Glauben umgestaltet […] Ich habe meine sozialen Anschauungen neu gefasst […] Mein Dublin-Plan war eine Enttäuschung. Ich habe einen Plan für Paris geschmiedet […] Schlussendlich sind alle meine Bewunderer verheiratet […] Und hier stehe ich mit der ganzen Welt vor mir […] Dieses Jahr war eine Feuertaufe.“ (Woodham-Smith, 106) Im Februar kam Florence Nightingale in Paris an. Julius Mohl verschaffte ihr Zugang zu den Hospitälern der französischen Hauptstadt, alle von katholischen Orden geführt, über die sie eine detaillierte Übersicht anlegte. Darüber hinaus sammelte sie umfangreiches Material über 92

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Das Hospital in der Harley Street

das Krankenhauswesen in ganz Europa. Die effektive Organisation des Ordens der Vinzentinerinnen mit seinen 12.000 Schwestern weltweit beeindruckte sie sehr. Der Tagesablauf zeigte jedoch, dass auch dort relativ wenig Zeit für Pflege (drei Stunden) und Ausbildung (eine halbe Stunde) verglichen mit den siebeneinhalb Stunden für Gebet und Andacht verwendet wurde. Auch dies mag dazu beigetragen haben, dass Nightingale die Idee eines Pflegeordens nicht weiterverfolgte und auf das Modell einer nicht konfessionell gebundenen Ausbildung setzte. Ihr Plan sah vor, die Leitung eines Krankenhauses zu übernehmen und dort eine Elite von Oberinnen auszubilden, die nach und nach die Pflege im gesamten Gesundheitssystem revolutionieren würden. Darin bestärkte sie ihr großer Zirkel befreundeter Reformer wie etwa Lord Shaftesbury oder Sidney Herbert. Wie schon im Falle Kaiserswerths sollte auch der Zweck des Aufenthalts in Paris in der Heimat möglichst nicht bekannt werden. Bevor sie allerdings mit der praktischen Arbeit bei den Vinzentinerinnen beginnen konnte, erfuhr sie, dass ihre Großmutter im Sterben lag. Mitte März reiste sie daher nach England, um sie in ihren letzten Tagen zu begleiten, und kehrte Ende Mai nach deren Tod nach Paris zurück. Viel profitieren konnte sie jedoch von ihrem Aufenthalt nicht, da sie kurz darauf erkrankte und sich von Julius Mohl versorgen lassen musste, eine komplizierte Situation, da seine Gattin, Nightingales Freundin, verreist war. Zwischenzeitlich hatte sie die Leitung des „Instituts für arme Damen“ akzeptiert. Diese 1850 geschaffene Einrichtung richtete sich an gebildete Frauen aus guten Familien, denen es an Mitteln fehlte, um sich bei Krankheit selbstständig versorgen zu können. Die meisten waren ehemalige Gouvernanten. Die Verhandlungen waren mühsam, aber lehrreich. Die durch Spenden unterhaltene Institution wurde von zwei Komitees geleitet: Das Herrenkomitee kümmerte sich um die Finanzen, das Damenkomitee um das Management und die Leitung der Einrichtung. Die finanzielle Lage war schwierig, Reformen unabdingbar, vor allem aber stand ein Umzug an, der Gelegenheit zur Neugestaltung bot. Mit großer Mühe gelang es Florence Nightingale, sich wichtige Entscheidungskompetenzen vorzubehalten. Dafür verpflichtete sie sich, 93

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eine von ihr bezahlte Oberin mitzubringen und ohne Bezahlung zu arbeiten. Ihre Aufgabe bestand vor allem in der Neuorganisation der Einrichtung und der Arbeitsabläufe. Im Frühjahr 1853 hatte sie bereits eine Woche damit verbracht, detaillierte Instruktionen zu erstellen. Und sie hatte hart um eine „moderne“ Ausstattung gekämpft, wie Klingeln für die Patienten, eine Versorgung mit Heißwasser, große Fenster zur Belüftung der Krankensäle. Ihre Cousine Marianne Nicholson – immer noch nachtragend – versuchte, Sand ins Getriebe zu streuen, und stellte die Zustimmung der Familie infrage, sodass schließlich William Nightingale direkt intervenieren musste. Es stand nun fest, dass Florence Nightingale die Familie verlassen und entweder in der Anstalt oder in deren Nähe leben würde, was ihre Schwester in helle Aufregung versetzte und den Vater verzweifeln ließ. Schließlich entschied er sich, seiner Tochter jährlich 500 Pfund zur Verfügung zu stellen. Nun war sie frei. Die alltäglichen Implikationen der neuen Situation wurden allerdings erst nach und nach akzeptiert, etwa dass die Tochter nicht bei der Familie wohnen wollte, wenn sich diese in London aufhielt. Im August 1853 übernahm Florence Nightingale schließlich ihr Hospital, das sie ein gutes Jahr bis Herbst 1854 leiten sollte. Hier hatte sie erstmals die Möglichkeit, ihr Organisationsgeschick, ihre Planungskapazitäten sowie ihre Fähigkeit zu wirtschaftlichem Handeln unter Beweis zu stellen, Personal zu führen und mit „bürokratischen“ Strukturen, wie den beiden Leitungskomitees, umzugehen. Während ihres Aufenthalts in Paris war die Einrichtung umgezogen. Nun stand die Neueröffnung in der Harley Street an, die sie mit Feuereifer in Angriff nahm. In der Folgezeit erkämpfte sie mit viel Geschick weitere Rechte und Kompetenzen, wozu sie gezielt Allianzen schmiedete. Stolz berichtete sie ihrem Vater, wie sie dies im Einzelfall bewerkstelligt hatte: Sie sei nun „auf dem Höhepunkt meiner Macht“ (Cook 1, 132), schrieb sie ihm. Nicht zuletzt hatte sie durchgesetzt, dass Frauen aller christlichen Konfessionen aufgenommen wurden. Hier verbesserte sie Abläufe für das Personal, etwa durch einen Speisenaufzug, dort senkte sie Kosten durch Bestellung größerer Mengen an Vorräten. Auch ihre hygienischen Vorstellungen konnte sie erstmals in begrenztem Umfang umsetzen. Sie 94

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Das Hospital in der Harley Street

begleitete assistierend alle Tätigkeiten der Ärzte, merkte aber schnell, dass ihr der kleine Rahmen der Einrichtung mit maximal 27 Betten und die dort behandelten Krankheiten – infektiöse und psychische Leiden waren ausgeschlossen – kaum Möglichkeiten für eine systematische Krankenpflegeausbildung gab. Auch sie selber konnte dort nur wenig Neues lernen. Dennoch sollte ihr diese Erfahrung im Krimkrieg von großem Nutzen sein. Im Sommer 1853 brach in London eine Choleraepidemie aus. Diese Seuche, seit Langem in Indien endemisch und durch die erhöhte Mobilität auf dem Kontinent ab den 1820er-Jahren schnell weiterverbreitet, suchte Europa im 19. Jahrhundert in mehreren Wellen heim. Durch den schnellen Verfall und Tod der Erkrankten durch Erbrechen und Durchfälle, der durch die Medizin der Zeit mit Abführ- und Brechmitteln nur noch beschleunigt wurde, schufen die Epidemien ein seit Zeiten der Pest nicht gekanntes Bedrohungsgefühl. Dies galt umso mehr, als sich traditionelle Bekämpfungsmaßnahmen wie Quarantänen und Cordons sanitaires schnell als unwirksam erwiesen hatten. Florence Nightingale leistete freiwillige Arbeit in der Frauenabteilung des Middlesex Hospital in London, wo vor allem arme Frauen aus Soho, oft Prostituierte, unterkamen und besonders viele Todesfälle zu beklagen waren. Gleichzeitig wies der Arzt John Snow die höchste Sterblichkeit in der Nähe eines bestimmten Brunnens nach, womit er erste belastbare Hinweise auf die Rolle kontaminierten Trinkwassers für die Ausbreitung der Epidemie lieferte. 1854 war der Erreger der Cholera noch unbekannt, krankmachende Ausdünstungen des Bodens, sog. Miasmen, hielten die meisten für den wahrscheinlichsten Auslöser. Zu diesem Zeitpunkt galt Florence Nightingale bereits als ausgewiesene Expertin für das gesamte Krankenhauswesen, deren Rat immer häufiger nachgefragt wurde. So entstand die Idee und das Angebot, als Oberin ans King’s College Hospital, eines der großen Londoner Krankenhäuser, gelegen in einem Armenviertel, zu wechseln und dort nach dem Kaiserswerther Modell Schwestern auszubilden. Dazu sollte es nicht mehr kommen, weil nun mit dem Krimkrieg das Abenteuer und die Herausforderung ihres Lebens begann.

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Der Krimkrieg bot Florence Nightingale die so lang ersehnte Gelegenheit, ihr Wissen und ihre Erfahrungen in der Praxis zu erproben. Er stellte zugleich die Weichen für ihr weiteres Leben. Als dieser Konflikt ausbrach, war sie 33 Jahre alt. Großbritannien, Frankreich und die Türkei kämpften gegen das zaristische Russland. Das Osmanische Reich, der „kranke Mann am Bosporus“, zeigte seit Längerem Auflösungserscheinungen, und die Großmächte rangen darum, was mit diesem Erbe geschehen solle. Vor allem durch die Expansion Russlands seit dem 18. Jahrhundert, das nun die Schutzherrschaft über die Slawen auf dem Balkan beanspruchte, drohte das Mächtegleichgewicht im östlichen Mittelmeerraum zu kippen. Dieses wiederum war für die britischen Kolonialinteressen in Asien von größter Bedeutung. In Frankreich suchte der jüngst installierte Kaiser Napoleon III. die angeschlagene französische Großmachtstellung in Europa durch spektakuläre außenpolitische Erfolge wiederherzustellen und seine Herrschaft im Inneren abzusichern. Österreich und Preußen blieben neutral, gab es doch in beiden Ländern sowohl prowestliche als auch prorussische Kräfte. Obwohl heute weitgehend vergessen, war dieser Konflikt die wichtigste kriegerische Auseinandersetzung in Europa zwischen den Napoleonischen Kriegen und dem Ersten Weltkrieg. Nach einer mehrmonatigen diplomatischen Eskalation, in der es anfangs um den Zugang zu den heiligen Stätten in Palästina ging – um die sich orthodoxe Christen und Katholiken stritten –, lieferte Russland 1853 mit der Besetzung der Donaufürstentümer Moldau und Walachei, dem späteren Rumänien, den Anlass zum Krieg. England und Frankreich verbündeten sich mit dem Osmanischen Reich, mit dem die Briten intensive Handelsbeziehungen unterhielten. 1855 trat noch das Königreich Sardinien-Piemont an die Seite der Alliierten. Nach einer 96

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Der Krimkrieg (1854–1856)

© Peter Riedel

verlustreichen Attacke des Zaren auf die osmanische Flotte im Schwarzen Meer im November 1853 wandte sich die Stimmung in Westeuropa immer stärker gegen Russland, das nun zunehmend als Verkörperung des Barbarisch-Unzivilisierten galt. Im März 1854 erklärten Briten und Franzosen den Krieg. Zwar hatte der Zar nach einem österreichischen Ultimatum seine Streitkräfte bereits zurückgezogen, und eine friedliche Lösung schien möglich, doch die Westmächte brauchten, auch aus innenpolitischen Gründen, einen möglichst spektakulären Erfolg. Vor allem in Großbritannien hatten antirussische Ressentiments weit um sich gegriffen, die die Presse weiter anheizte und die Regierung damit in einen eigentlich unerwünschten Krieg trieb. In dem aufgrund seiner Wirtschaftsmacht und seines Weltreichs von Stolz und Selbstbewusstsein erfüllten Land gab es große Sympathien für das als tolerant und liberal geltende Osmanische Reich. Darüber hinaus meinten viele, die langen Friedensjahre seit Waterloo hätten die Briten verweichlicht, ein Krieg sei dafür genau das richtige Gegenmittel. In dieser Situation beschloss die antirussische Koalition, den zentralen russischen Seehafen Sewastopol, den Stützpunkt der zaristischen 97

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Flotte auf der Halbinsel Krim, anzugreifen. Nikolaus I. sollte ein Denkzettel verpasst werden, um seine Verhandlungsbereitschaft in der „Orientalischen Frage“ zu steigern. Geplant war, Sewastopol zu zerstören und schnell wieder abzuziehen. Nach ersten Kämpfen an der Alma im September 1854 endete die Schlacht von Balaclava Ende Oktober um die dortige Hauptbasis der Briten mit einer Niederlage des zaristischen Heers, allerdings unter großen Verlusten der Alliierten. Auch in der Schlacht von Inkerman Anfang November waren die antirussischen Kräfte erfolgreich. Doch der anschließende Angriff auf Sewastopol mündete in einen zermürbenden Stellungskrieg. Den ganzen Winter über gab es lediglich erfolglose Gefechte. Viele britische Soldaten verloren ihr Leben durch Hunger, Kälte und Krankheiten – und nur wenige durch Kriegsverletzungen. Erst im Frühjahr 1855 verbesserte sich die Lage langsam und im September konnte nach einem Jahr aufreibender Kämpfe mit vielen Opfern auf allen Seiten Sewastopol eingenommen werden. Insgesamt zog sich die Belagerung über 349 Tage, die Stadt wurde dabei fast völlig zerstört. Der Krimkrieg war der erste größere Konflikt, dem die technologische Moderne ihren Stempel aufdrückte. Manche sprechen sogar von einem ersten „Verdun“ – in Anspielung auf die verheerende Schlacht im Ersten Weltkrieg. Es war ein Stellungskrieg mit Materialschlachten, dessen Ausgang maßgeblich die neuartigen industriellen Kampfmittel, wie etwa Präzisionsgewehre und Granaten, bestimmten. Und ein Krieg mit hohen menschlichen Verlusten. Die Schätzungen gehen von mindestens einer halben Million Toten aus, über 400.000 Russen, etwa 95.000 Franzosen, 45.000 Türken und ca. 22.000 Briten. Auch medial wurden neue Wege beschritten. Erstmals konnten Reporter die kämpfenden Einheiten begleiten und direkt von der Front berichten. Mithilfe der Telegrafie gelangten Nachrichten in kürzester Zeit in die Heimat. Der Krimkrieg war zudem die erste in Fotografien festgehaltene Auseinandersetzung. Es bildete sich eine neuartige visuelle Ästhetik des Krieges heraus, die die Zeitungen verbreiteten, was deren Entwicklung zu einem Massenmedium förderte. Darüber hinaus bot die Presse ein Forum sowohl für private Kriegserfahrungen als auch für offizielle Verlautbarungen, die wiederum in einer Vielzahl 98

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von Leserbriefen kommentiert wurden. Unter den Bedingungen der Pressefreiheit entwickelten sich daraus lebhafte öffentliche Debatten, die auf die Situation an der Front und die Politik in London zurückwirkten. Der Times, der führenden politischen Zeitung des Landes, wurde deshalb sogar vorgeworfen, nicht nur die öffentliche Meinung zu repräsentieren, sondern sie vielmehr zu diktieren. Die der Heimat medial präsentierte Botschaft sollte – nicht zuletzt dadurch, dass sie Florence Nightingale zur Nationalheldin erhob – dem Krieg im Osten einen Sinn geben und das Sterben für das Vaterland legitimieren. Doch es war kein glorreiches Bild der britischen Armee, das die Presse zeichnete. Es war ein Bild des Versagens und der Fehlentscheidungen, der mangelnden Voraussicht und der weggeschobenen Verantwortlichkeiten. Ein Bild vom einfachen Soldaten, der für sein Vaterland kämpfte, der aber von seinen Vorgesetzten, von Armee und Politik im Stich gelassen wurde. Dass der Feldzug schlecht organisiert war und nach ersten Erfolgen in offenen Feldschlachten wortwörtlich in Schlamm und Missmanagement versank, ist unstrittig. Das Scheitern war so offensichtlich, dass bereits die Zeitgenossen nach strukturellen Ursachen, nach Fehlern im System und der Organisation suchten. Und man wurde fündig. Die Streitkräfte bestanden zwar aus gut gedrillten Regimentern, aber es existierte lediglich eine lose zentrale Militärverwaltung, die dazu organisatorisch sehr zersplittert war. Zahlreiche mehr oder weniger unabhängige Stellen waren involviert, Mehrfachzuständigkeiten, komplizierte Geschäftsgänge, gegenseitige Eifersüchteleien die Folge. Die Armee war zudem schlecht vorbereitet, um den taktischen und logistischen Anforderungen einer Belagerung in der Fremde gerecht zu werden. Seit man bei Waterloo 1813 Napoleon geschlagen hatte, hatte es keine größeren Kämpfe mehr gegeben. Den überalterten Generälen fehlten praktische und theoretische Kenntnisse. Der Oberkommandierende, Lord Raglan, war 65 Jahre alt und hatte nie zuvor Truppen im Feld angeführt. Das Dickicht der Bürokratien und persönliche Unfähigkeiten verstärkten sich gegenseitig, verschärft durch Geografie, Wetter und Naturkatastrophen, die etwa zum Untergang von Versorgungsschiffen führten. 99

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Im Kabinett gab es damals zwei Kriegsminister mit unterschiedlichen Aufgabenbereichen. Einer davon war Florence Nightingales Vertrauter Sidney Herbert, zuständig für Finanzierungs- und Versorgungsangelegenheiten und damit erste Adresse für Klagen und Kritik. Strategisch-militärische Entscheidungen gehörten nicht zu seinen Aufgaben. Zwischen der zivilen Oberaufsicht und der Militärführung gab es zahlreiche Reibereien. Enorme Probleme sollten die für das Beschaffungswesen zuständigen Stellen verursachen, die nicht dem Kriegs-, sondern dem Finanzministerium unterstanden. Zudem erwies sich der allgemeine Zustand der öffentlichen Verwaltung als hinderlich. Stellen wurden noch immer weitgehend nach Geburtsrecht oder durch Ämterpatronage besetzt, nicht nach Leistung und Sachverstand, was bei immer komplexeren Verwaltungsaufgaben zu einer immer kritischeren Situation führte. Zentrale logistische Aspekte, wie etwa die erforderlichen Transportkapazitäten und die Organisation der medizinischen Versorgung, waren vor dem Krieg grob vernachlässigt worden. Auch in den Monaten zwischen der Ankunft der Truppen im heute bulgarischen Varna und der Landung auf der Krim passierte nicht viel. Die Briten wählten dort den kleinen Schwarzmeerhafen Balaclava als zentralen Stützpunkt. Wie sich herausstellen sollte, war dies eine schlechte Entscheidung. Lady Duberly, die ihren Mann, einem Regimentszahlmeister, in den Orient begleitete, ließ daran keinen Zweifel: „Man stelle sich ein Dorf baufälliger Häuser und Hütten vor – so schmutzig wie irgend möglich –, die der Regen von innen und außen umfließt, bis der ganze Ort ein knöcheltiefer Sumpf aus Dreck geworden ist. Man nehme außerdem etwa 1000 Türken mit ansteckenden Krankheiten und stopfe diese wahllos in die Häuser, lasse täglich 100 sterben und begrabe sie nur dürftig mit Erde bedeckt und lasse sie in aller Ruhe verwesen, wobei auf genügend Nachschub zu achten ist. An einen Teil des Strandes treibe man alle erschöpften bât ponies, sterbende Ochsen und ausgemusterten Kamele, und lasse sie dort verhungern. Das passiert normalerweise in etwa drei Tagen und wenn sie bald anfangen zu verrotten, riecht es entsprechend. 100

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Sammle aus dem Hafenbecken alle Fleischabfälle von Tieren, die für die Passagiere von über 100 Schiffen geschlachtet wurden, die Einwohner der Stadt noch nicht mitgerechnet, welche zusammen mit einem gelegentlich vorbeischwimmenden menschlichen Körper – ganz oder in Teilen – und dem Holz von Schiffswracks ziemlich gut das Wasser bedecken.“ (Rappaport, 137) Ein Orkan Mitte November verwandelte die Region bis zur Front in einen einzigen Sumpf. Viele Zelte wurden zerstört, die Lazarettzelte eingeschlossen. Im Gegensatz zu den Franzosen verließen sich die Briten für den Transport im Land auf die einheimischen Verbündeten. Das funktionierte nicht gut, und ohne eigene Lasttiere verrotteten Lebensmittel und andere Versorgungsgegenstände im Hafen. Die Soldaten verhungerten und erfroren in den Gräben. Die Presseberichte darüber alarmierten die Öffentlichkeit und stießen nicht nur die Entsendung Nightingales und ihrer Pflegerinnen an. Von der Times wurde ein Spendenfonds ins Leben gerufen, der die Unfähigkeit der Armee kompensieren sollte, die Soldaten mit ausreichend Nahrung und Kleidung zu versorgen. Die enormen sozialen Unterschiede in der viktorianischen Gesellschaft kamen auch im Orient deutlich zum Ausdruck. Die militärische Oberschicht konnte ihren Lebensstil im Feld größtenteils beibehalten. Das Elend der einfachen Soldaten interessierte sie kaum. So verzeichnet die Todesursachenstatistik zwar zahlreiche im Kampf gefallene Offiziere, doch starben prozentual viel öfter einfache Soldaten an Krankheiten, die mit schlechten Unterkünften, schmutzigem Trinkwasser sowie mangelnder Nahrung, Kleidung und medizinisch-pflegerischer Betreuung zusammenhingen.

Die gesundheitliche Lage in der Orientarmee Wurde ein Soldat auf der Krim verwundet oder krank, so fand er zunächst in einem Feldlazarett Hilfe – wenn er Glück hatte. Denn anfangs existierte die Versorgungsinfrastruktur oft nur auf dem Papier. Die 101

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Regimentschirurgen an der Front waren äußerst dürftig ausgestattet. Militärhospitäler gab es in der ersten Zeit lediglich auf dem türkischen Festland, was dazu führte, dass die Patienten quer über das Schwarze Meer transportiert werden mussten. Als sich der Krieg in die Länge zog, wurden nach und nach dauerhafte Einrichtungen direkt auf der Halbinsel geschaffen. Die Verwundeten der Schlachten an der Alma, von Balaclava und Inkerman hatten so oft Tage oder gar Wochen weitgehend ohne medizinische Versorgung auszuharren, bis sie ein Schiff schließlich nach Scutari in die dortigen Militärkrankenhäuser brachte. Dies konnte bis zu einer Woche dauern. Dort wurden die Probleme noch gravierender, denn je mehr Personen eingeliefert wurden, umso weniger funktionierten diese Einrichtungen. Es standen zwar Gebäude bereit, doch die Organisation war schnell überfordert und elementare Ausrüstungsgegenstände fehlten. Die Briten hatten mit dauerhaften Militärhospitälern im Feld keine Erfahrungen. So wurden einfach die Richtlinien für Regimentslazarette herangezogen, was keine kluge Entscheidung war, da dadurch das gesamte militärbürokratische Wirrwarr reproduziert wurde. Wenn man etwa Decken oder Verbandstoff brauchte, waren damit bis zu acht Regierungsstellen in London befasst! Gesundheitliche Probleme hatten den Krieg von Anfang an belastet. Im bulgarischen Hafen Varna, wo die Truppen im Juni 1854 zunächst angelandet waren, taten Klima, desolate sanitäre Verhältnisse und Krankheiten, allen voran Cholera und Typhus, ihre fatale Wirkung. Noch bevor der erste Schuss gefallen war, waren schon über 1000 Soldaten gestorben. Nach den ersten Schlachten auf der Krim verschärfte sich die Lage. Anfang Dezember beklagte ein General die fehlenden Möglichkeiten, die Verwundeten vom Schlachtfeld wegzubringen. Die Franzosen hätten spezielle Tragesessel für Maultiere, die Briten aber nicht, weswegen diese drei- bis viermal so lange bräuchten oder bei morastigen Straßen überhaupt nicht vorankämen. Darüber hinaus transportiere dieses wohlorganisierte französische Maultierkorps dringend benötigte Ausrüstung und Lebensmittel. 2500 Kranke warteten aktuell in Feldlazaretten, um mit französischer Hilfe zum Hafen von Balaclava gebracht zu werden. Welch eine Demütigung für die stolzen Briten, die Vorreiter der industriellen Moderne! Der General weiter: „Die Ochsen 102

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fangen an, auf den Straßen zu sterben. Die Vorräte werden gestohlen […] Durchfälle, Ärger, Übellaunigkeit und schlechte Organisation“ (Stanmore 1, 287f.). Am 23. Januar berichtete er aus dem Lager vor Sewastopol von den harten Bedingungen in der Kälte, von fehlenden Zelten und Schlafmöglichkeiten, von Fiebern, Erfrierungen und vielen Durchfallerkrankungen, von den gelieferten Stiefeln, die mehrheitlich zu klein waren, von immer noch nicht genügend Mänteln und Hosen. Pferde stürben an Futtermangel. Die Zeitungsberichte aber seien zurückzuweisen. Obwohl die Probleme klar erkannt wurden, rückte das Militär zusammen gegen die als unberechtigt empfundenen Einmischungen von Presse, Zivilisten und Öffentlichkeit. Die Regierung wiederum versuchte den Spagat zwischen Selbstverteidigung, Inschutznahme ihrer Militärs und Berücksichtigung der öffentlichen Meinung. Je weiter der Winter fortschritt, umso kritischer wurde die Lage, auch für das Kabinett in London. Denn Presse, Öffentlichkeit und politische Opposition waren in Aufruhr. Was war geschehen? Ins Zentrum der Kriegsberichterstattung waren die medizinische Versorgung der Soldaten und die Zustände in den Militärhospitälern von Scutari gerückt. Zeitungsartikel rüttelten die Leser mit erschreckenden Details auf. Der Sanitätsdienst sei völlig überfordert. Nach dem kräftezehrenden Transport über das Schwarze Meer erginge es den armen Soldaten im Krankenhaus kaum besser. Die Räumlichkeiten seien ungeeignet, die hygienisch-sanitären Verhältnisse desolat, die Versorgung schlecht. Besonders bei Überbelegung verbreiteten sich Krankheiten rasend schnell. Vor der Schlacht an der Alma war die Patientenzahl überschaubar gewesen, obwohl bereits vor den Kämpfen zahlreiche Soldaten mit Durchfall- und Fiebererkrankungen eingeliefert worden waren. Dies änderte sich, als Tausende von der Front anlandeten. Bis Mitte Oktober 1854 war die Öffentlichkeit in England in höchster Alarmbereitschaft. Am 9. Oktober hatte der Kriegskorrespondent der Times, William Howard Russell, zwar einen glorreichen Sieg gemeldet, aber auch viele Opfer wegen fehlender medizinischer Versorgung und logistischer Mängel beklagt. Thomas Chenery, der diplomatische Korrespondent derselben Zeitung, wurde ebenfalls deutlich:

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„Es fehlt nicht nur an Ärzten – was, wie man sagen könnte, unvermeidlich ist –, sondern auch an Verbands- und Pflegepersonal –, was ein Mangel des Systems sein kann, für den man niemanden verantwortlich machen kann, aber was will man sagen, wenn bekannt wird, dass es nicht einmal Leinen gibt, um Verbände für die Verwundeten herzustellen. […] [W]enn sie in dieses geräumige Gebäude gebracht werden, von dem man uns glauben macht, dass alles vorbereitet ist, was ihren Schmerz lindern und ihre Genesung befördern kann, muss man feststellen, dass die einfachsten Dinge fehlen, die sogar auf der Krankenstation eines Arbeitshauses üblich sind, und dass Männer sterben müssen, weil das medizinische Personal der britischen Armee vergessen hat, dass man Verbandstoff braucht, um Wunden zu versorgen.“ (The Times, 12.10.1854, 7) Am folgenden Tag verglich Chenery die Krankenversorgung mit den Zuständen bei den „Wilden“ in den afrikanischen Kolonien und stellte die provozierende Frage, wieso die Briten nicht die gleichen pflegerischen Standards hätten wie die Franzosen, wo sich die katholischen Barmherzigen Schwestern aufopferungsvoll um die Verwundeten kümmerten. Bei den Verbündeten funktioniere alles besser: das Beschaffungswesen, die Zahl der Ärzte, die Pflege. Heute wissen wir allerdings, dass sich die medizinisch-pflegerische Versorgung längst nicht so stark unterschied. Der ärztliche Leiter von Scutari, Dr. Duncan Menzies, wies alle Vorwürfe als unbegründet zurück. Sein Vorgesetzter, Dr. John Hall, der oberste Sanitätsoffizier der Orientarmee, hatte die Hospitäler auf dem Festland lediglich einmal vor dem großen Patientenansturm besucht und fand die Situation besser als erwartet. Möglicherweise war die Lage wirklich nicht viel schlechter als in früheren Kriegen. Doch zum einen hatten Zivilisten aus der Mittelschicht einen anderen Blick als die Militärs, und zum anderen war nun die öffentliche Meinung zugunsten der einfachen Soldaten und ihrer Leiden in einer Weise mobilisiert, wie das bisher nicht der Fall gewesen war. In dieser Situation entschlossen sich wohltätige Kreise, Frauen in den Osten zu schicken, um in den Militärkrankenhäusern auszuhelfen. Die männliche Öffentlichkeit und vor al104

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lem die Ärzteschaft waren jedoch höchst skeptisch. Respektable Frauen sollten nicht den unerquicklichen Bedingungen eines Militärhospitals ausgesetzt werden. Das wäre allenfalls etwas für pflegende Orden, hieß es. Andere hingegen betonten die hehren Motive der Frauen und unterstrichen, dass es gar nicht darum ginge, die Ordonnanzen zu ersetzen, sondern den kranken Soldaten das zu geben, was naturgemäß nur das weibliche Geschlecht geben könnte: Zuwendung und Trost, die sich aus einem tief empfundenen religiösen Pflichtgefühl speisten.

Die Entsendung Florence Nightingales Florence Nightingale dürfte die Berichte aus dem Krieg in Lea Hurst gelesen haben, wo in ihr der Plan reifte, in den Orient zu gehen. Zunächst sah alles nach einer eng begrenzten, hastig ins Werk gesetzten Privatinitiative aus. Eine wohlhabende Dame, Lady Maria Forester, bot an, eine kleine Gruppe unter Nightingales Leitung zu finanzieren. Während diese brieflich Rat und Unterstützung von Sidney Herbert einholen wollte, trat der Kriegsminister mit einem eigenen Vorschlag an sie heran, der mit der Regierung abgestimmt war. Er hatte erkannt, dass dringend etwas getan werden musste, um die drohende Regierungskrise abzuwenden. Diese Geschichte der sich überkreuzenden Briefe spielt für die Bewertung von Nightingales Engagement im Krimkrieg eine wichtige Rolle. Eher negative Einschätzungen, die bei ihr Machtstreben und Herrschsucht als zentrale Motive vermuten, unterstellen ihr, das „Angebot“ des Kriegsministers geschickt eingefädelt zu haben, was jedoch nach heutigem Kenntnisstand ausgeschlossen werden kann. Herbert wählte Nightingale für diese Mission wegen ihrer Persönlichkeit, ihres fachlichen Wissens, ihrer administrativ-organisatorischen Fähigkeiten und ihrer gesellschaftlichen Stellung aus. Sein Schreiben verdeutlichte, was von ihr erwartet wurde: strenge Kontrolle der Pflegerinnen, harmonische Zusammenarbeit mit Ärzten und Armeestellen, keine Störung der militärischen Abläufe und keine Infragestellung der Autorität im Heer. Nightingale bekam volle Verfügungsgewalt über ihr Team, dessen Tätigkeiten mit den Militärärzten abzustimmen waren. 105

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Unterbringung und Verpflegung gingen auf Armeekosten, Lohn wurde bei Bedarf gezahlt. Außerdem sollten weitere Pflegekräfte nur auf Anforderung Nightingales entsandt werden. Die Aufgabe war schwierig. Man würde versuchen müssen, fähige Frauen zu finden und diese in die Struktur eines Militärkrankenhauses einzugliedern, das bis dato kein weibliches Personal gekannt hatte. Die Zustimmung der Familie war bei einer solchen Angelegenheit von nationaler Bedeutung keine Frage. Sogar Parthenope Nightingale vollzog eine wundersame Kehrtwende und stellte sich von da an völlig in den Dienst ihrer berühmten Schwester. Begleitet wurde Florence Nightingale von ihren alten Freunden, dem Ehepaar Bracebridge, das sie im ersten Jahr in Scutari wo immer es ging unterstützte. Nightingale wurde formell ein offizielles Amt übertragen, und zwar das der „Oberaufseherin der weiblichen Pflegeeinrichtung in den allgemeinen englischen Militärkrankenhäusern in der Türkei“. Dies begrenzte – wohl unabsichtlich – ihre Autorität auf das Territorium des Osmanischen Reiches. Binnen Kurzem entstanden jedoch weitere Einrichtungen auf der Krim, die ihr erst in der Schlussphase des Krieges unterstellt wurden. Ihre Instruktionen gingen an die maßgeblichen Personen im Orient: den Oberkommandierenden Lord Raglan, den Botschafter in der Türkei Lord Stratford de Redcliffe und an Dr. Duncan Menzies, aber nicht an Dr. John Hall als obersten Sanitätsoffizier im Osten, was sich als verhängnisvoll erweisen sollte, wurde dieser doch zu einem der schärfsten Gegner Nightingales. Innerhalb weniger Tage wurde die Reise vorbereitet. Es war zunächst zu entscheiden, wie groß die Gruppe sein sollte. Zwanzig war nach Nightingales Meinung eine sinnvolle Anzahl, die handhabbar war, auf Drängen des Kriegsministeriums, das um größere Sichtbarkeit bemüht war, einigte man sich aber auf vierzig Personen. Die Auswahl geeigneter Kandidatinnen war schwieriger als erwartet. Dies übernahm ein Komitee wohltätiger Damen, unter ihnen Elizabeth Herbert, Selina Bracebridge, Mary Stanley und Parthenope Nightingale. Am Ende bestand die Gruppe aus 38 Personen, von denen 14 „weltliche“ Pflegerinnen mit Erfahrungen in öffentlichen Krankenhäusern waren, denen eine recht großzügige Entlohnung in Aussicht gestellt wurde. Die übrigen 106

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arbeiteten unentgeltlich. Sie kamen zum einen aus anglikanischen Schwesternschaften, dem St. John’s House und von den Sellonitinnen. Zum anderen waren dies katholische Sisters of Mercy aus Bermondsey, einen Londoner Armenviertel. Angesichts der antikatholischen Stimmung war die Einbeziehung von Nonnen höchst umstritten, und auch der High-Church-Bewegung nahestehende anglikanische Schwestern erweckten Argwohn. Daher wurde Nightingale angewiesen, die religiösen Bindungen der Patienten strikt zu respektieren und keinerlei „Bekehrungsversuche“ zu tolerieren. Die Nonnen sollten sich vor allem um die irischen Katholiken kümmern, die immerhin ein Drittel der Soldaten stellten. Die wohltätigen Damen waren entsetzt, als sie sahen, welche Frauen sich bewarben, was ihre despektierliche Sicht auf die Unterschichten zeigt. Das Ideal der ladies war die freiwillige, unentgeltliche Philanthropie, die meisten Bewerberinnen motivierte aber in ihrer Not die Aussicht auf ein gutes Gehalt und/oder die Hoffnung, in der Armee einen Ehemann zu finden. Die Damen befürchteten vor allem unangemessenes Verhalten, wie es aus den Londoner Hospitälern bekannt war. Zu junge, zu hübsche und betrunkene Bewerberinnen hatten daher keine Chance. Alter, Aussehen und moralischer Leumund waren entscheidend. Alle „weltlichen“ Pflegerinnen mussten eine Vereinbarung unterzeichnen, derzufolge sie in derselben sozialen Position verblieben wie in England. Höher gestellte Damen, ladies, wurden nur dann akzeptiert, wenn sie an religiöse Schwesternschaften angebunden waren. Die sowieso schon sehr heterogene Gruppe sollte nicht noch weiter belastet werden durch Personen, die es zwar gut meinten, die aber kaum für sich selbst sorgen konnten, für gröbere Arbeiten ungeeignet waren und schlecht lenkbar erschienen. Florence Nightingale war sich völlig im Klaren darüber, wie ungewiss der Ausgang dieses Unternehmens war. In einer Notiz aus diesen Tagen übergab sie sich ganz dem Willen Gottes, und ein Brief an ihren Vater zeigt, dass sie wohl nicht damit rechnete, zurückzukommen. In Begleitung der Bracebridges und ihrer Oberin aus dem Hospital in der Harley Street reiste die Gruppe am 21. Oktober 1854 ab. Nightingales Onkel Sam Smith begleitete sie bis nach Marseille, wo man sich sie107

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ben Tage später einschiffte. Die Armee hatte 1000 Pfund für anfallende Ausgaben zur Verfügung gestellt. In Marseille kaufte Nightingale in weiser Voraussicht aus privaten Spendengeldern Konserven, Kleidung, Wäsche, tragbare Kochgeräte, sogar einige eiserne Bettgestelle. Dass die Leitung der so heterogenen Gruppe kompliziert werden würde, zeichnete sich schon auf der Reise ab, als die anglikanischen Schwestern sich weigerten, bei den „weltlichen“ Pflegerinnen zu sitzen, und von diesen erwarteten, für sie die Wäsche zu erledigen. Am 4. November, am Tag vor der Schlacht von Inkerman, erreichte Nightingale in Regen und Nebel Konstantinopel. Noch auf dem Schiff erfuhr sie, dass 400 Kranke und Verletzte auf dem Weg waren.

Die britischen Militärhospitäler in Scutari Hoch oben über der Stadt (heute: Üsküdar und ein Stadtteil Istanbuls), die so gar nichts vom Glanz Konstantinopels hatte, lag das Barackenkrankenhaus, ein Gebäude riesigen Ausmaßes. Es war teils baufällig, sein Innenhof mit Abfall übersät, hatte nur wenige Toiletten und Waschgelegenheiten. Auch Betten und anderes Mobiliar waren Mangelware, ebenso wie Geschirr und viele weitere notwendige Dinge. Ähnlich sah es im kleineren General Hospital aus, wo 20 Nachttöpfe für 500 Kranke reichen mussten. Viele Soldaten hatten nur das, was sie auf dem Leib trugen, verdreckt und zerfetzt. Das Beschaffungsamt weigerte sich jedoch, Kleidung und Utensilien zum Essen und zur Körperpflege herauszugeben, denn das sollte ja jeder – zumindest theoretisch – in seinem Tornister haben. Die Latrinen führten in defekte unterirdische Abzugskanäle – von systematischer Kanalisation konnte keine Rede sein – und verbreiteten einen pestilenzialischen Gestank, den die wegen des kalten Wetters geschlossenen Fenster nur noch verschlimmerten. In manchen Teilen des Barackenkrankenhauses liefen die Toiletten über, und Fäkalien bedeckten knöcheltief den Boden. Im Barackenhospital bekam die Nightingale-Gruppe ihre Unterkünfte zugewiesen, insgesamt sieben Räume, von denen einer bald in eine Diätküche, ein anderer in ein Warenlager umgewandelt wurde. 108

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Es war außerordentlich beengt, das Dach defekt. Mahlzeiten aus der Küche blieben zunächst aus, sodass man sich auf dem lokalen Markt versorgen und mit mitgebrachten Konserven behelfen musste. Das Wasser war schlecht und zudem rationiert. Jedes Stockwerk hatte nur einen Wasserhahn, an dem die Ordonnanzen Schlange standen. Selbst für die Pflegerinnen aus den öffentlichen Krankenhäusern, die harsche Bedingungen gewohnt waren, war dies schwer zu ertragen, geschweige denn für die Damen der höheren viktorianischen Gesellschaft. Belastender als Unterbringung und Versorgung war aber die Feindseligkeit des medizinischen Personals. Niemand hatte damit gerechnet, dass man die Frauen nicht in den Krankensälen willkommen heißen würde. Nightingales Position war neu und kompliziert. Noch nie zuvor hatte eine Frau ein offizielles Betätigungsfeld in der Armee zugewiesen bekommen. Ihre Einmischung in gewohnte Abläufe in einer schwierigen Umgebung wurde verständlicherweise als Störfaktor wahrgenommen. Ihr war sehr bewusst, dass der Erfolg ihres Experiments davon abhing, dass sich ihre Gruppe moralisch einwandfrei verhielt und die militärischen Hierarchien und Vorschriften respektierte. So gestattete sie das Betreten der Krankensäle und auch Pflegemaßnahmen nur nach Genehmigung der Militärärzte. Zunächst wurden nur einige wenige Frauen in die Choleraabteilung gelassen. Die Mehrheit musste im engen Quartier ausharren, Wäsche ausbessern, eine kleine Kochstelle einrichten. Frustration und Ärger griffen um sich. Dafür, so die einhellige Meinung, habe man die weite Reise nicht auf sich genommen. In der Tat stellt sich die Frage, wieso Nightingale mit ihren knapp 40 Mitstreiterinnen meinte, so viele Personen versorgen zu können. In den Militärspitälern war es selbstverständlich, dass Soldaten, denen es besser ging, den anderen halfen. Unentbehrlich für die Krankenversorgung waren die Ordonnanzen (orderlies), von den einzelnen Regimentern abgestellte Soldaten, die allerdings keinerlei Ausbildung hatten. Sie übernahmen seit jeher den größten Teil der pflegerischen und hauswirtschaftlichen Arbeiten. Allerdings sind diese Ordonnanzen im Gegensatz zur Lichtgestalt Nightingale im kollektiven Gedächtnis lediglich als abschreckende Beispiele präsent oder komplett vergessen worden. Auch die Studien über den Krimkrieg wiederholen meist nur 109

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die zeitgenössischen Geschlechter- und Klassenklischees. Sie zeichnen das Bild brutaler, ungebildeter und gefühlloser Kerle aus der Unterschicht, die nur ihre eigenen Interessen, allen voran Alkohol, im Sinn hatten und beim unbeliebten Dienst in Hospitälern und Lazaretten im günstigsten Fall faul und untätig blieben und im ungünstigsten ihre Patienten bestahlen, wenn nicht sogar deren Tod verursachten. Der ärztliche Leiter in Scutari klagte über die Unerfahrenheit und den schnellen Wechsel der Ordonnanzen, eine Ansicht, die auch Florence Nightingale teilte. Aber vor allem war sie der Meinung, dass die Militärkrankenhäuser keine ausschließlich männliche Domäne bleiben sollten. Vielmehr sei die leitende, kontrollierende weibliche Hand von Nöten, die den Ordonnanzen neben Pflegekenntnissen gleichzeitig die Leistungs- und Verhaltensideale der viktorianischen Gesellschaft nahebringen konnte. Erst in jüngster Zeit wurde dieses sehr negative Bild durch Beispiele hingebungsvoller Fürsorge und emotionalen Engagements relativiert, und zwar im Rahmen einer Neubewertung viktorianischer Männlichkeit, die neben Beherrschung und Disziplin auch emotionale Zuwendung zuließ. Trotzdem ist klar, dass der systematische Einsatz von so wenigen, nicht ausgebildeten Soldaten mit überlangen Arbeitszeiten schwere Pflege- und Versorgungsmängel verursachen musste. Dass dies so viele Zeitgenossen schockierte, ist Ausdruck einer damals zum ersten Mal in breiteren Bevölkerungskreisen wahrgenommenen Scham über diese Zustände, die Nightingale in Stolz verwandeln sollte. Die Lösung bestand darin, die Soldaten aus der Arbeiterklasse durch Frauen aus den Mittelschichten mit ihren bürgerlichen Normen und Werten zu ersetzen. Insofern wurden in der Kriegssituation die bekannten Geschlechterrollen neu befestigt, weswegen Nightingale im kollektiven Gedächtnis fast ausschließlich als mütterliche Pflegerin erinnert wird. Ihr Einsatz für die Kranken und Verwundeten wurde so zu einem akzeptablen Äquivalent für das viktorianische Ideal der perfekten Ehegattin und Mutter und damit zu einem weiteren Ideal christlicher Weiblichkeit. Nightingales Gruppe war in medizinischen Dingen den Armeeärzten unterstellt. Diese interessierten sich vorwiegend für Verwundete, denen 110

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die neuen Waffen oft komplizierte Verletzungen beigebracht hatten. Deren Aussichten auf Heilung waren in den Feldlazaretten an der Front weit besser als in den überbelegten Armeespitälern, weil sie dort häufig an – wie man heute weiß – infektiös bedingten Komplikationen starben. Allerdings war nur etwa jeder zehnte Patient ein chirurgischer Fall. Die anderen, die an „Fiebern“ litten, galten allgemein als nicht heilbar. Als Skandal und Ungerechtigkeit empfand das Sanitätspersonal daher die Einmischung und beißende Kritik von Zivilisten, allen voran der Presse. Die von den Zeitungen gefeierte Nightingale-Gruppe wurde daher keineswegs mit offenen Armen empfangen. Die Pflegerinnen schienen zuallererst eine Art Spione zu sein, egal, wie viel sie vielleicht helfen konnten. Und Nightingale mit ihren Beziehungen in höchste politische Kreise war der Prototyp einer Spionin. Daher hoffte man, die Frauen würden schon bald wieder enttäuscht und entnervt abreisen.

„Zweifellos das Reich der Hölle“ Nightingale erfüllte diese Hoffnung nicht. Jetzt, wo sich eine Realisierungschance für ihre Lebenspläne bot, dachte sie nicht daran, aufzugeben. Sie erlegte ihren Pflegerinnen strikte Disziplin auf, und nach einigen Tagen war der Bann gebrochen. Angesichts der Massen an Verwundeten und Kranken wurde die Hilfe angenommen. Der Strom an Neuankömmlingen schien nicht enden zu wollen, 700 bis 800 pro Tag waren es Mitte November 1854. In einem Brief beschrieb sie die Lage: „Wir hatten 1715 Kranke und Verwundete in diesem Krankenhaus (darunter 120 Cholera-Patienten) und 650 Schwerverwundete in dem Gebäude, das General Hospital heißt, und für das wir ebenso verantwortlich sind, als ich die Nachricht bekam, ich solle mich auf unserer Seite des Hospitals auf 570 Verwundete vorbereiten, die von der schrecklichen Sache in Balaclava am 5. November zu uns unterwegs seien, wo 1763 verwundet wurden und 442 gefallen sind, außerdem 96 Offiziere verwundet und 38 gefallen.“ (CW 14, 61f.) 111

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Innerhalb von acht Stunden habe man für alle Lagerstätten bereitet sowie die Patienten gewaschen und verbunden. Verglichen mit den Schrecken und dem Elend eines Militärspitals sei ein Londoner Krankenhaus ein Blumengarten. Die Türken, für die man ja kämpfe, trügen die Verwundeten und Kranken auf so rücksichtslose Weise vom Hafen hoch ins Krankenhaus, dass sie dort in einem Zustand der Agonie ankämen. 24 Patienten seien noch am gleichen Tag gestorben, von den Durchfallpatienten treffe es jeden zweiten. „Wir haben nun vier Meilen an Betten – mit nicht einmal 18 inches Abstand voneinander“ (CW 14, 62). Während ihrer Runde bei den Frischverwundeten habe es in dieser ersten Nacht „nicht ein Murren und Stöhnen“ gegeben, sondern „die strikteste Disziplin, die absoluteste Ruhe und Stille“. Die armen Kerle ertrügen Schmerz und Verstümmelung „mit furchtlosem Heroismus und sterben klaglos oder werden ebenso klaglos aufgeschnitten“ (CW 14, 63). Das gelte aber nicht für die Offiziere. Die Operationen fänden alle in den Krankensälen statt. Und sie beschrieb die Verletzungen, die die Waffen anrichteten: Frakturen im Schultergelenk, amputierte Arme, Beine, Füße, fehlende Augen, grausame Schussverletzungen. Sie habe einen Wandschirm besorgt, denn „wenn ein Kamerad dabei zusehe, wie jemand unter dem Messer sterbe, vermindere dies seine eigenen Chancen.“ Die armen Kerle hätten nicht einmal ein Hemd und sich zwei Monate lang nicht waschen können. „Ich hoffe, dass wir in einigen Tagen für ein wenig Reinlichkeit sorgen können – aber wir haben weder einen Eimer noch Handtücher, Seife oder Besen. Ich habe 300 Scheuerbürsten bestellt.“ Die Hälfte der Baracken sei in einem so schlechten Zustand, dass sie „unseren Leuten in kürzester Zeit ein Fieber bescheren“ (CW 14, 64). Und außerdem müsse sie hier wie ein Brigadegeneral handeln, denn vierzig britische Frauen seien schwieriger zu leiten als 4000 Männer. Einen Tag später notierten die Bracebridges, dass „sich Flo in dieser Woche nicht nur die Liebe aller erworben habe, sondern auch deren Vertrauen. Die Ärzte machen, was sie will.“ (CW 14, 65) Zudem habe der Times-Fonds sein Füllhorn ausgeschüttet, sodass nun Töpfe, Pfannen, Krüge, Eimer, Sherry, Portwein, Kämme, Hemden, Tücher, Kohle und hölzerne Löffel zur Verfügung stünden. 112

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Am 25. November wandte sich Nightingale in zwei Schreiben an den Kriegsminister Sidney Herbert, das eine offiziell, das andere privat. Im offiziellen Teil berichtete sie von guter Aufnahme und Unterbringung sowie von der Einrichtung einer Diätküche. In Absprache mit den Ärzten und nach der Versorgung von über 1000 Männern habe sie 10 Pflegerinnen im General Hospital (900 Verwundete) und 28 im Barackenspital (2300 Kranke und Verwundete) eingesetzt. Das alles war geschäftsmäßig und vorsichtig formuliert, im privaten Teil schlug sie jedoch ganz andere Töne an. Während dreier Wochen habe man vom Beschaffungsamt kein Leinen und nichts erhalten, um Laken und Patienten waschen zu können. Lediglich 30 Leute pro Tag könne man baden, das bedeute einmal waschen in 80 Tagen. Die Konsequenzen davon seien „Fieber, Cholera, Gangrän, Läuse, Wanzen, Flöhe – und vielleicht Wundrose – von der Verwendung eines Schwammes für viele Wunden“ (CW 14, 68). Bereits nach wenigen Tagen hatte sie weitere Schwachstellen ausgemacht, allen voran die umständlichen Prozeduren des Beschaffungsamts, seine Langsamkeit und Pfennigfuchserei. Man brauche hier unbedingt Umstrukturierungen mit persönlichen Verantwortlichkeiten. Sie schloss vorausschauend mit den Worten: „Lassen Sie nicht zu, dass man mich hier als einen Spion der Regierung betrachtet, was meine Nützlichkeit komplett zerstören würde.“ (CW 14, 69) Nightingale hatte zwar eine offizielle Mission, war aber kaum in die Militärhierarchie einzupassen. Sie war dem ärztlichen Leiter untergeordnet, berichtete aber inoffiziell auch an den Kriegsminister. Bereits diese ersten Briefe lassen erkennen, womit sich Florence Nightingale herumschlagen musste. Später sollte man ihr vorwerfen, sie habe ja eigentlich kaum gepflegt, sondern nur organisiert, kommandiert und damit ihre Herrschsucht ausgelebt. Diesem Urteil widersprechen eindeutig die Quellen. Zur Pflege gehörten Verbände und Umschläge, aber vor allem auch betten, waschen, füttern, trösten – und die Krankensäle sauber halten. Für nichts davon war sich Nightingale zu schade. Daneben war ihr medizinisches Interesse groß, und wo immer möglich assistierte sie bei Operationen. Auch dies fanden die Militärs für eine Frau unpassend, und als sie darauf bestand, schlug das Wellen bis nach London. Außerdem führte sie eine Art vormodernes 113

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Triage-System ein, indem sie die Patienten in unterschiedliche Gruppen einteilte, damit diejenigen zuerst versorgt wurden, die am dringendsten Hilfe benötigten. Dies war keineswegs selbstverständlich, erwarteten doch die Offiziere, bevorzugt zu werden. Nightingale machte es sich zur Devise, alle gleich zu behandeln, und weigerte sich etwa, Frauen für die Privatpflege von Offizieren abzustellen, was Unmut verursachte. Ihre Autorität und ihr informeller Einfluss auf die Ordonnanzen trugen auch indirekt zur Verbesserung der Krankenversorgung bei. So wird berichtet, dass sie einfach so lange bei den Abortkübeln stehen blieb, bis sich die Ordonnanzen erbarmten und sie leerten. Nightingale achtete zudem streng darauf, dass ihr Team am Krankenbett in keinerlei kompromittierende Situationen geriet, was ihr später als Herrsch- und Kontrollsucht ausgelegt werden sollte. Weltliche Pflegerinnen wurden in der Regel von einer Schwester aus einer religiösen Gemeinschaft begleitet. In den Nächten durfte keine Frau die Krankenräume betreten. Nur Florence Nightingale machte ihre berühmten Runden mit der Lampe. Gerade in den Sälen der Fieber- und Durchfallkranken, die oft als hoffnungslose Fälle vernachlässigt wurden, arbeitete sie in diesem ersten Winter häufig. Und genau diese Erkrankungen und Todesfälle hielt sie für vermeidbar und suchte nach Ursachen und Wegen, dies zu erreichen. Heute wissen wir, dass die Verbreitung von Infektionskrankheiten das Kardinalproblem war, denn daran starben schätzungsweise vier- bis fünfmal mehr Menschen als an kriegsbedingten Verletzungen. Dieses Konzept verstand man damals jedoch noch nicht, denn Robert Koch und Louis Pasteur sollten ihre Keimtheorie erst im letzten Jahrhundertdrittel formulieren und durchsetzen. Zur Jahrhundertmitte war man vom Kontagionismus, der Vorstellung einer Übertragung von Mensch zu Mensch, auf der traditionell die Maßnahmen zur Pestabwehr beruht hatten, weitgehend abgekommen. Dies hatte viel damit zu tun, dass sich Quarantänen und Cordons sanitaires bei den Choleraepidemien als unwirksam erwiesen hatten. Stattdessen erlebte die Miasmentheorie ihren Aufschwung. Sie ging davon aus, dass krankmachende Ausdünstungen, Miasmen, vor allem aus der Verrottung organischen Materials, Krankheiten auslösten. Dessen Beseitigung, und dazu gehörten vor 114

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allem menschliche und tierische Ausscheidungen, stand deshalb im Mittelpunkt der Präventionsstrategien. Obwohl nach heutigem Kenntnisstand auf einer falschen Prämisse beruhend, war die konsequente Umsetzung dieser Vorstellung wirksam und nützlich, denn sie rückte die Städtehygiene, den Bau von Kanalisations- und Abfuhrsystemen, die Versorgung mit sauberem Trinkwasser und die Bekämpfung enger, gesundheitsschädlicher Wohnverhältnisse ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Entscheidend hierbei war auf allen Ebenen Sauberkeit, und dies war und blieb zeitlebens das zentrale Credo Nightingales. Gleichzeitig wurde verschiedentlich auch über andere Ansteckungswege nachgedacht, und hier war sie keineswegs „rückständig“ in ihren Ansichten, wie ihr nicht selten unterstellt wird. So lehnte sie etwa die Verwendung des gleichen Schwamms oder Verbandsmaterials für mehrere Personen ab. Sie kannte die Arbeiten John Snows, der den Choleraausbruch in London 1854 auf das Trinkwasser eines bestimmten Brunnens zurückgeführt hatte, sie kannte auch die Schriften Edwin Chadwicks zur öffentlichen Gesundheitsfürsorge und Städtehygiene. Beide hatten eine Verbindung zwischen Kontamination und Erkrankung hergestellt, wenngleich sie die Verursacher noch nicht hatten identifizieren können. Da es keine Behandlungsmöglichkeit für „Fieber“ und ähnliche Krankheiten gab, rückte zwangsläufig die Prävention in den Vordergrund. Ein gesunder Mensch, der schlechte Luft atmete, verschmutztes Wasser trank, krankmachende Nahrung aß und unfähig war, seinen Körper sauber zu halten, neigte nach Nightingales Meinung zwangsläufig dazu, krank zu werden. Lebte dieser Mensch eng mit anderen unter den gleichen Bedingungen zusammen, wurde die Krankheit leicht weitergegeben. Nightingale bezog sich in dieser Zeit auf den Begriff der „zymotischen Krankheiten“, der mit der Vorstellung von Gärung als Ursache verbunden war. Diese Leiden, wie Skorbut, Cholera, Diarrhoe und „Fieber“, davon war sie überzeugt, könnten verhindert werden. Sie glaubte also keinesfalls, dass mangelnde medizinische Versorgung für die vielen Todesfälle verantwortlich war. Ihr war klar, dass die Ärzte meist weder vorbeugen noch heilen konnten. Was den Soldaten ihrer Meinung nach fehlte, waren gute sanitäre Verhältnisse, eine gute Pflege 115

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und damit eine angemessene Chance auf Besserung. Hier versagte ihrer Ansicht nach die Armee. Schuld daran seien bürokratische Trägheit, Ignoranz, Unfähigkeit und sinnlose Regeln. Viele Offiziere und auch die meisten Militärärzte hingegen hielten größere Verluste im Krieg durch Krankheiten und Seuchen für normal und unvermeidlich. Aber selbst dort, wo man die Notwendigkeit besserer Latrinen und sauberen Trinkwassers eingesehen hatte, passierte in der Praxis wenig: „Varna-Fieber“, „Krim-Fieber“, Cholera und Typhus schlugen zu, sodass Ende November 1855 von über 37.000 Mann etwa 9000 krank waren.

„Köchin, Haushälterin, Waschfrau, Kaufmann“ Neben der Krankenversorgung im engeren Sinne war Nightingales Organisationstalent auf vielen Feldern gefragt. Und hier war großes Fingerspitzengefühl nötig. So vermied sie es, wo immer möglich, mit den militärischen Hierarchien in Konflikt zu geraten. Manchmal aber hielt sie bestehende Regelungen auch so akribisch ein, dass diese dadurch von selbst – und für alle sichtbar – ad absurdum geführt wurden. Oder sie ignorierte sie. So beauftragte sie beispielsweise auf eigene Kosten türkische Schreiner, um einen Teil des Barackenhospitals instand zu setzen. Die Militärbehörden waren außer sich, und die Botschaftergattin, der das Unternehmen zuvor misslungen war, sowie ihr Mann reagierten äußerst indigniert, und wurden schon bald zu vehementen Gegnern Nightingales. Damit ein Krankenhaus funktionieren konnte, waren zunächst die Basisfunktionen eines gut geführten Haushalts zu organisieren. Das hieß vor allem, die Patienten mit passender Nahrung, sauberer Wäsche und akzeptablen Bettstellen zu versorgen. Da dies traditionell weibliche Tätigkeiten waren, regte sich hier allgemein nur wenig Widerstand, doch die Details hatten es in sich. Behinderungen und Blockaden des Beschaffungsamts umging Nightingale dadurch, dass sie wichtige Dinge auf dem Basar von Konstantinopel besorgen ließ, wofür sie Mittel aus dem Times-Fonds und andere Spendengelder nutzte. Insgesamt – so rechnete sie nach dem Krieg aus – wurden auf diese Weise 50.000 116

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Hemden, 23.743 Paar Socken und Strümpfe, 5826 Handtücher, 2630 Löffel und 5477 Trinkbecher beschafft. Schon bald gab es in Scutari ein zweites Warenlager, das die Bracebridges verwalteten. Auf dieses griffen auch die Ärzte zurück, etwa wenn sie Morphin, Chloroform oder Verbandstoff brauchten. Die Wäsche war ein elementares Problem, da in Scutari weder Hemden noch ausreichend Bettlaken zur Verfügung standen. Und Wäsche musste gewaschen werden. Das Versorgungsamt betrachte anscheinend „das Waschen von Leinen und Menschen als ein minder wichtiges Detail“ (CW 14, 68), schrieb sie empört an den Kriegsminister. Eine ihrer ersten Aktivitäten war es daher, eine Waschküche außerhalb des Krankenhauses einzurichten, wo sie begleitende Soldatenfrauen beschäftigte, die in großem Elend in Scutari zurückgeblieben waren. Die Essensversorgung stellte ein weiteres Kardinalproblem dar, schließlich mussten Massen halbverhungerter und äußerst geschwächter Soldaten ernährt werden. Die Ordonnanzen hatten sich zweimal am Tag stundenlang beim Versorgungsbüro anzustellen, um die Rationen für jeden Soldaten einzeln abzuholen. Rinder oder Schafe wurden in den Korridoren geschlachtet. Die Speisen kamen meist kalt ans Bett, manches ungekocht, anderes nur in Form von Knochen oder Knorpeln. Mit Füttern gaben sich die Ordonnanzen kaum ab, außerdem fehlten Essgeschirr und Besteck. Nightingale kritisierte dies heftig und besorgte Ersatz, was zu schweren Konflikten mit dem Beschaffungsamt führte. Da hinsichtlich der Zentralküche wenig auszurichten war, organisierte sie eine Art Diätküche, wo sie bekömmlichere Nahrung wie kräftigende Brühen und Suppen zubereiten ließ. Auch dies führte zu Streit, denn Extradiäten mussten ebenfalls verordnet werden. Dass sich die Frauen mit den Mitteln des Times-Fonds eine alternative Bezugsquelle erschlossen hatten, schürte außerdem Eifersüchteleien. Unterstützung bekam Nightingale im Frühjahr 1855 von dem international renommierten französischen Koch Alexis Soyer, öffentlichkeitswirksam vermarktet als Soyer’s Culinary Campaign. Seinen Prototyp eines Feldherds sollte die britische Armee noch weitere 100 Jahre benutzen. Er half bei der Einrichtung von Feldküchen und entwickelte eine Reihe einfacher Rezepte, die in großen Mengen leicht nachzukochen waren. 117

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Logistische Probleme trugen für Nightingale die Schuld an vielen Missständen. Etliche Lieferungen aus England kamen nie an, sei es durch Schiffsuntergänge, Nachlässigkeiten oder Diebstähle. Manches fand sich dann in den Häusern von Offizieren oder in den Basaren von Konstantinopel wieder, wo es ihre Mitarbeiter zurückkaufen konnten. Falsche Etikettierungen hatten falsche Auslieferungen zur Folge, Morphin für Scutari landete so an der Front und Waffen im Krankenhaus. Bevor ein Gegenstand das Beschaffungsamt verlassen konnte, waren unzählige Formulare auszufüllen. Jeden Antrag hatte ein Komitee zu bewilligen, das dazu erst einmal zusammentreten musste. Nightingales Briefe sind voller Auflistungen von Dingen, die fehlten. Dass hier die Mittel des Times-Fonds eine willkommene Hilfe waren, stellte das Blatt natürlich groß heraus, und so bekam der Nightingale-Mythos durch die Presse täglich neue Nahrung. Im Dezember richtete Königin Victoria eine Botschaft an die Soldaten und fragte nach, was sie zur Unterstützung senden könne. Dass sie etwas Eau de Cologne gegen die schlechten Gerüche vorschlug, zeigt, dass die Situation im Palast wohl nicht so ganz realistisch eingeschätzt wurde. Aufgerüttelt von den Presseberichten wurden unzählige Pakete mit Kleidung und Geschenken an die Kämpfenden im Orient geschickt. Dies entwickelte sich im ersten Kriegswinter zu einem richtigen Nationalsport. Florence Nightingale wurde überschüttet mit „Liebesgaben“ und war verantwortlich für deren Verwaltung und Verteilung, eine zusätzliche Belastung, die viele Konflikte mit sich brachte. Geld wäre sehr viel effektiver, schrieb sie an Herbert, doch ein Verkauf der Pakete käme nicht infrage, hätten diese doch einen unschätzbaren symbolischen Wert für die Soldaten. Die täglichen Kämpfe zermürbten sie. Sie arbeitete oft über 20 Stunden bis zur Erschöpfung. In inoffiziellen, privaten Briefen an Herbert hielt sie mit ihrer Frustration und ihrem Ärger nicht hinter dem Berg, im Gegenteil. Ihre Deutlichkeit, ihr Sarkasmus und ihre beißende Kritik trugen ihr im späten 20. Jahrhundert den Ruf einer manipulativen, machtbesessenen Querulantin ein. Vor Ort soll sie jedoch kaum einmal die Beherrschung verloren haben.

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„The Lady with the Lamp“

„The Lady with the Lamp“ Als der Winter voranschritt, kamen immer neue Krankentransporte an. Während auf pflegerischem Gebiet versucht wurde, das Nötigste zu schaffen, arbeitete Nightingale detaillierte Pläne aus, wie die Versorgungs- und Organisationsmängel behoben werden könnten. Einiges davon konnte später umgesetzt werden, als offizielle Untersuchungskommissionen aus England im Orient eintrafen. Aber gerade von diesen organisatorischen Leistungen und diplomatischen Balanceakten nahm die Öffentlichkeit in der Heimat kaum Notiz. Es war ein sehr einseitiges Bild, das dort kursierte und zu den traditionellen Geschlechtervorstellungen passte: eine Frau am Krankenbett als Personifikation von weiblichem Mitleid und mütterlicher Sorge. Ganz falsch war dies nicht, denn Nightingale verbrachte in der Tat einen beträchtlichen Teil ihrer Zeit in den Krankensälen, und dies ohne Berührungsängste vor Fieber oder Ansteckung. Die psychologische Wirkung ihres Handelns auf die einfachen Soldaten aus der Unterschicht ist kaum zu überschätzen. Um sie sorgte sich nun eine lady, die für sie Briefe schrieb und das Porto aus eigener Tasche bezahlte. Den trauernden Familien schickte Nightingale unzählige Kondolenzschreiben. Erstmals in der Geschichte bemühte man sich ernsthaft – und das von quasi offizieller Seite – um die Hinterbliebenen. Einige dieser Briefe wurden in der Presse veröffentlicht. Nightingale schenkte Aufmerksamkeit, schuf Erleichterungen, tröstete und half vielen beim Sterben. Sprichwörtlich für das öffentliche Nightingale-Bild wurde die Lady with the Lamp, die in den Nächten ihre Runden durch die Krankensäle machte. Was als Kontrollgang begann, wurde schnell zu einem Ritual. Nightingale entwickelte in diesen Kriegsjahren eine Hochschätzung und Bindung zu den einfachen Soldaten, die sie häufig als ihre „Kinder“ bezeichnete. Umgekehrt war ihre Hinwendung zu diesen ein Quell von Bewunderung und gehörte bald untrennbar zum Nightingale-Mythos. Der einfache Soldat wurde im Krimkrieg ebenfalls zum nationalen Helden, und dieser vernachlässigten Kreatur widmete sich die nationale Heldin Florence Nightingale. 119

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Spätestens seit den 1830er-Jahren hatte man darüber diskutiert, ob Krieg mit Zivilisation vereinbar sein könne, wenn die Armee nicht fähig sei, sich angemessen um ihre Verwundeten zu kümmern. Die Kriegsverletzten zu vernachlässigen wurde im 19. Jahrhundert immer weniger akzeptabel und mündete schließlich in die Gründung des Roten Kreuzes. Im Krimkrieg wurde die medizinische Versorgung der Soldaten erstmals zu einem Thema breiter öffentlicher Sorge. Dies hing zum einen mit Veränderungen der Kriegsberichterstattung und des Lesepublikums zusammen, zum anderen aber vor allem mit einer neuen Sicht auf die Humanität und Würde des einfachen Soldaten. Nightingale glaubte jedenfalls fest daran. Sie hielt sie für „verbesserbar“. Für sie hatten sie eine Arbeitsethik, die der Gesellschaft nutzte. Die meisten Offiziere hingegen sahen in ihnen nur durch Trunksucht und Prostitution verrohte Gesellen. Nightingale betrachtete ihr pflegerisches Engagement sowohl als praktische Notwendigkeit wie auch als spirituelle Übung. Ihre Aufgabe sah sie in der Linderung der Leiden anderer, nicht in ihrem eigenen Seelenheil. Ihre religiösen Überzeugungen ließen sie das Massensterben dort, wo sie es nicht verhindern konnte, ertragen. Der Tod war für sie ein Übergang in eine bessere Welt. Doch auch der Einfluss der romantischen Medizin spielte eine Rolle, die von einer Geist-Körper-Einheit ausging, Sterben als etwas Natürliches betrachtete und die Eingebundenheit des Menschen in die belebte und unbelebte Umwelt betonte. Ihr holistisches Pflegekonzept, das sie entwickeln sollte, ist genau in diesem Kontext zu sehen.

„Schwieriger als 4000 Männer“ Zu einer von Nightingales größten Herausforderungen sollten sich ihre Pflegerinnen entwickeln. Unzählige Konflikte, bis hin zu öffentlichen Debatten, und viele Probleme für die tägliche Arbeit unter Extrembedingungen waren zu lösen. Einige Frauen sahen sich in ihren Erwartungen getäuscht, während Nightingale bei nicht wenigen ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt sah. Klima, Disziplin, äußerst ungewohnte 120

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Lebensumstände, die Art der erwarteten Arbeit – all dies zählte zu den Quellen der Unzufriedenheit. Daher traten etliche schon nach kurzer Zeit die Heimreise an. Der Umgang Nightingales mit ihren Pflegerinnen ist einer der wichtigsten Punkte, den Kritiker anführen, um daraus charakterliche Defizite bis zur völligen Verdammung ihrer Person abzuleiten. Manche sehen bei ihr ein grundsätzlich problematisches Verhältnis zu Frauen gegeben, das bereits in ihrer schwierigen Beziehung zu Mutter und Schwester angelegt sei. Vor allem Geschlechtsgenossinnen aus ihrer eigenen Schicht habe sie sehr kritisch betrachtet, ja mitunter verachtet. Kaum abzustreiten ist, dass sie extrem nachtragend war. So dürfte sicherlich eine der größten Hypotheken für ihre Arbeit gewesen sein, dass es ihr nicht gelang, aus diesem heterogenen Personenkreis ein richtiges Team zu formen. Für Nightingale rangierte die praktische Arbeit deutlich vor geistlicher Begleitung. Schon in den ersten Tagen bemerkte sie, dass einige katholische Nonnen und anglikanische Schwestern wohl eher für den Himmel als für ein Krankenhaus geeignet seien, da sie sich auf die Seelen konzentrierten, die Körper dabei aber schmutzig und vernachlässigt blieben. Lediglich knapp die Hälfte arbeite effektiv, der Rest sei sehr undiszipliniert. Zu ihren wichtigsten Stützen wurden die katholische Oberin Mary Clare Moore und ihre Bermondsey-Schwestern sowie einige erfahrene Pflegerinnen aus öffentlichen Krankenhäusern. Kollegialität und Teamgeist waren Fähigkeiten, die man von Frauen der besseren Schichten kaum erwarten konnte, definierten sich diese doch durch ihre Rollen in den Familien. Dort waren sie es nicht gewohnt, Befehle von ihren Geschlechtsgenossinnen zu empfangen, aber sehr geübt darin, anderen Frauen ebensolche zu erteilen. Nun, unter den ungewohnten Bedingungen des Krankenhauslebens, war es für viele schwierig, von Frauen Anweisungen entgegenzunehmen, undenkbar gar, wenn diese sozial unter ihnen standen. Vor allem drei Dinge führten zu Konflikten. Nightingale war für strikte Disziplin zwischen den Geschlechtern, einerseits wegen der viktorianischen Moralstandards, andererseits aber weil die in öffentlichen Krankenhäusern herrschende Promiskuität gebildeten Mittelschichtfrauen den Weg in den Pflegeberuf versperrte. Strikt wandte sie sich daher gegen sexuelle Beziehungen mit Ärzten oder Patienten. Sie stand 121

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dabei unter großem Druck, denn das gesamte Experiment weiblicher Pflege in Armeehospitälern hing in erster Linie von einem untadeligen moralischen Verhalten ab. Die Frauen hatten sich daher mit einer drastischen Einschränkung ihres Bewegungsspielraums im Krankenhaus und auch außerhalb abzufinden. Dieses puritanische Verhaltensregime trug viel zum negativen Nightingale-Bild im ausgehenden 20. Jahrhundert bei, als diese enge Verbindung von Pflege mit Kontrolle, Keuschheit und Aufopferung kein Verständnis mehr fand. Zum Zweiten betrachtete Florence Nightingale die Frauen ihrer eigenen privilegierten Schicht äußerst kritisch und erwartete von ihnen die gleiche Disziplin, den gleichen Gehorsam und die Erledigung schwerer Arbeiten, die alle anderen übernahmen. Zu dieser Überschreitung von Grenzen und Klassenschranken waren viele aber nicht bereit. Zudem verhielt sie sich mitunter so unsensibel wie eine Hausherrin gegenüber ihren Dienstboten, womit sie zwangsläufig anecken musste. Nicht zuletzt trafen Nightingales stark ökumenisch gefärbte religiöse Anschauungen auf Skepsis. Während ihre christliche Motivation niemand infrage stellte, gab es in der zersplitterten konfessionell-religiösen Landschaft Englands heftige Kontroversen über die Zusammensetzung ihrer Gruppe und über ihre Haltung gegenüber der Staatskirche. Zudem klagten sowohl katholische als auch anglikanische Schwestern über zu wenig Zeit für ihre geistlichen Aufgaben. Die religiöse Frage schlug solche Wellen, dass sie sogar in der Presse aufgegriffen wurde. Auch in Deutschland wunderte sich die Gartenlaube darüber, dass Nightingale mit „dem Unrathe kirchlicher Zeloten“ (6, 1855, 74f.) beworfen werde. Sie schrieb dazu an Herbert im Januar 1855: „[M]an erzählt mir, dass dort ein religiöser Krieg um meine Person ausgebrochen sei […]. Ich weiß nicht, was ich getan habe, um so in die Öffentlichkeit gezerrt zu werden. Aber ich bin so froh, dass mein Gott nicht der Gott der High oder der Low Church ist – dass er kein römischer oder anglikanischer ist – oder ein unitarischer. Ich glaube nicht einmal, dass er ein russischer ist – obwohl sich seine Taten in auffälliger Weise gegen uns richten.“ (CW 14, 130)

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Manche aus ihrer Gruppe konnten auch nicht verstehen, dass Nightingale, einmal in Scutari angekommen, ihre Prioritäten veränderte. Kurzfristig sollten – hier war man sich einig – die Leiden der Männer gelindert werden. Dass dabei aber alles andere zurückzutreten hatte, war schon weniger konsensfähig. Mittelfristig wollte Nightingale die Versorgungsprobleme angehen und langfristig stand nichts weniger als eine umfassende Reform des militärischen Medizinal- und Gesundheitssystems auf dem Plan. Dies konnte kaum jemand nachvollziehen. Als Nightingale realisierte, wie stark diese Verwerfungen ihre Arbeit auf allen Ebenen behindern konnten, versuchte sie die Beziehungen zu verbessern, aber manche Ressentiments wuchsen mit der Zeit nur noch weiter. Die sowieso schon angespannte Situation verschlimmerte sich, als im Dezember 1854 eine weitere Gruppe aus neun ladies, 15 Nonnen und 24 weltlichen Pflegerinnen unter der Leitung von Mary Stanley ankam. Dieses zweite Kontingent war noch heterogener als das erste. Anglikanische Schwesternschaften gehörten nicht mehr dazu. Zwar hatte Herbert ihr zugesichert, ohne ihre Zustimmung keine weiteren Pflegekräfte zu rekrutieren, doch kam es wohl zu Missverständnissen, die den Kriegsminister glauben machten, eine solche Verstärkung sei dringend nötig und erwünscht. Nightingale war aus verschiedenen Gründen strikt dagegen, lehnte die Entsendung rundweg ab und machte Herbert bittere Vorwürfe: Er habe damit ihr ganzes Unternehmen aufs Spiel gesetzt. Wenn das Nötigste geregelt sei, werde sie, müsse sie zurücktreten. Sie wies auch darauf hin, dass die vielen Nonnen neuen Konfliktstoff liefern würden. Es ist kaum anzunehmen, dass sie wirklich das Handtuch werfen wollte, und auch Herbert war nicht in der Position, dass er einen solchen Rückzug hätte annehmen können. Es war vor allem diese schwer nachvollziehbare Reaktion, die sich erst auf den zweiten Blick in ihren Motivationen und Hintergründen erklärt, die das Bild einer egoistischen, egomanen und herrschsüchtigen Nightingale stützen sollte. Es habe sie die Angst vor der Bedrohung ihrer Führungsposition angetrieben, wurde oft kolportiert. Anders sei ihr Verhalten nicht zu erklären. In London jedenfalls war man konsterniert, Herbert tief verletzt. Während die einen also das Konkurrenzmotiv in den Vordergrund rücken und betonen, dass Nightingale, komme, was wolle, ihre Auto123

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rität sichern und ihre strengen Regeln beibehalten wollte, verweisen andere auf ernsthafte Gefährdungen ihres Unternehmens, die sie unter allen Umständen zu vermeiden suchte. Das verschärfte konfessionelle Ungleichgewicht stand ganz oben auf dieser Liste. Weiterhin erschien Nightingale die Auswahl der neuen Gruppe problematisch – und auch ihre Leiterin, die sie für ungeeignet hielt. Die Folge konnten nur weitere Schwierigkeiten sein, und das zu einem Zeitpunkt, als sich nach extrem anstrengenden Wochen gerade eine gewisse Routine eingestellt hatte. Nightingale war erschöpft, und die Neuankömmlinge sinnvoll zu integrieren schien ihr eine kaum stemmbare neue Belastung. Auch Mary Stanleys Plan, nach dem die Nonnen und ladies lediglich die Arbeiten der einfachen Pflegerinnen überwachen sollten, lief ihren eigenen Vorstellungen diametral entgegen. Dies war ihr Projekt, und das wollte sie sich nicht zerstören lassen. Insofern haben beide Meinungen eine gewisse Berechtigung. Die heftige Reaktion in Nightingales Briefen unterschied sich jedoch von ihrem Verhalten vor Ort, wo sie trotz allem versuchte, eine gute Lösung zu finden. Mary Stanley war ja eine persönliche Freundin, die sie 1847 in Rom kennengelernt hatte. Aus einer streng anglikanischen Familie der mittleren Oberschicht kommend, hatte sie sich unter den Einfluss irischer Barmherziger Schwestern dem Katholizismus angenähert. Noch während ihres Aufenthalts in der Türkei konvertierte sie. Zudem ist wohl nicht von der Hand zu weisen, dass auch der Reiz, an Nightingales Ruhm teilzuhaben, für Stanley eine gewisse Rolle spielte. Zunächst stand die neue Gruppe vor dem Problem, wo sie unterkommen sollte. In Scutari gab es keinen Platz für sie, und das von offizieller Seite bewilligte Reisebudget war aufgebraucht. Nachdem Nightingale deutlich gemacht hatte, dass vor Ort keine Unterkunft vorhanden sei und sie keine Regierungsmittel ohne Bewilligung herausgeben dürfe, die Ärzte sich zudem zunächst weigerten, weitere Frauen in den Armeehospitälern zuzulassen, waren die Fronten klar. Da half auch nicht, dass Nightingale 90 Pfund aus ihrer privaten Schatulle lieh. Stanley, die sich zuvor direkt an den ärztlichen Leiter gewandt und damit ihren Anspruch auf Gleichrangigkeit betont hatte, wurde von Nightingale schließlich mit einem wohldurchdachten diplomatischen Schachzug 124

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entwaffnet. Sie trat formal von ihrem Amt zurück und forderte Stanley auf, es zu übernehmen, was diese aber nicht tat. So blieb alles beim Alten. Mary Stanley fand Unterstützung beim Botschafterehepaar, dem Nightingale zunehmend mit ihren Forderungen und Einmischungen auf die Nerven fiel. Schließlich kam man zu dem Kompromiss, dass einige der Neuankömmlinge im Barackenhospital eingesetzt werden sollten. Besonders problematisch waren die irischen Nonnen unter ihrer Oberin Frances Bridgeman. Anders als die Schwestern von Bermondsey wollten sich diese keinesfalls Nightingales „religiös fragwürdiger“ Autorität unterstellen. Doch die Neuen zurückzuschicken, was Herbert schließlich anbot, schien Nightingale eine moralische Unmöglichkeit, die die Öffentlichkeit nicht verstanden hätte. Stanley entwickelte die Idee, die Nonnen als Assistentinnen den katholischen Kaplänen und die ladies ihren protestantischen Pendants zuzuordnen, was der ärztliche Leiter ablehnte. In Koulali, vier Meilen von Scutari entfernt, war in der Zwischenzeit ein weiteres Armeekrankenhaus entstanden, um das sich die Botschaftergattin kümmerte. Dort kamen schließlich die meisten unter, allerdings entwickelte sich die Situation unter Stanleys Leitung nicht zum Besten. Schlecht versorgte Patienten trotz hoher Kosten auf der einen Seite, schwelende Konflikte unter dem Personal auf der anderen. Als dann Stanleys Konversion bekannt wurde, verlor sie die Unterstützung des Botschafters und kehrte Anfang April 1855 entnervt nach England zurück, wo sie ihr Scheitern allein Nightingale anlastete. Diese wiederum konnte den „Verrat“ Stanleys nie verwinden. Zudem sollten sich die Konflikte mit Frances Bridgeman weiter zuspitzen. Zusammen mit der Botschaftergattin und einigen Militärärzten, zu denen auch der oberste Leiter des Sanitätswesens Dr. Hall hinzustieß, bildete sich um Stanley und Bridgeman eine Gruppierung, die Nightingales Handeln systematisch behinderte und ihren Ruf beschädigte. Nach einigem Hin und Her wurden die Bridgeman-Nonnen neben Koulali vor allem in Balaclava eingesetzt. Seit Januar 1855 arbeiteten Pflegerinnen auch direkt auf der Krim in den dort entstehenden Krankenhäusern. Nightingales Autorität über diese Frauen, die außerhalb des Osmanischen Reichs tätig waren, blieb, wie erwähnt, bis zum Frühjahr 1856 ungeklärt. 125

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Bis dahin gab es demzufolge keine einheitliche Leitung der weiblichen Pflegekräfte, deren Zahl sich bis Kriegsende versechsfachen sollte.

Die gesundheitliche Lage eskaliert Diese Konflikte brachen genau zu der Zeit auf, als viele Verwundete und Kranke aus der Belagerung von Sewastopol zu versorgen waren. „Eine große Zahl kranker, und ich fürchte, sterbender Männer, wurde heute mit französischen Maultiertragen nach Balaclava gebracht […] Viele von ihnen waren fast tot, mit geschlossenen Augen, offenen Mündern, und schrecklich geschwächten Gesichtern […] wobei der in der frostigen Luft sichtbare dünne Atem das einzige Zeichen dafür war, dass sie noch lebten“, berichtete Russell in der Times (12.2.1855, 9). In Scutari angekommen, war vielen kaum mehr zu helfen. Schlimme Erfrierungen wurden immer häufiger, Amputationen auch. Die Sterberate stieg. Im Januar war fast die Hälfte der 25.000 Briten vor Sewastopol krank, nur 150 davon infolge von Verwundungen, in den Lazaretten starben etwa 3000. Während zwischen September und Dezember 1854 etwa 10 Prozent der in den allgemeinen Militärkrankenhäusern Eingelieferten gestorben waren, stieg die Zahl zwischen Januar und März auf 33 Prozent. Der Höhepunkt lag im Februar bei über 40 Prozent. Diese Zahlen können freilich nur zur groben Orientierung dienen, denn Epidemiologie und medizinische Statistik steckten zu jener Zeit noch in den Kinderschuhen. Nightingale selber sollte später einen wichtigen Beitrag dazu leisten. Sie erkannte bereits damals komplexe Probleme der medizinischen Statistik, etwa indem sie forderte, dass man den Prozentsatz der Genesungen, den der Todesfälle und die Verweildauer in Beziehung setzen müsse. Ein anderes Problem stellen retrospektive Diagnosen dar. Bei der Zuordnung von Prozentwerten zu bestimmten Erkrankungen ist große Vorsicht geboten, existierte doch damals ein völlig anderes System zur Klassifikation von Krankheiten als heute. 126

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Mangelnde Prävention, schlechte Versorgung und fehlende Transportkapazitäten machte Nightingale in bitteren Briefen für die verheerenden Sterblichkeitsziffern verantwortlich und griff die Zuständigen heftig an. Im Frühjahr 1855 konnte sie leichte Verbesserungen melden und schmiedete Pläne für weitergehende Reformen, etwa für die Ausbildung von Militärärzten im Orient und die medizinische Statistik in der Armee. Ferner forderte sie in unzähligen Schreiben grundlegende Reformen des militärischen Beschaffungs- und Sanitätswesens. Die Schreckensmeldungen aus dem Kriegsgebiet führten Ende Januar 1855 zum Sturz der Regierung. Herbert verlor sein Amt und wurde durch Lord Panmure ersetzt. Die Opposition erzwang einen Untersuchungsausschuss im Unterhaus, der zwei Monate lang Zeugen hörte, auch Herbert, welcher ausgiebig mit Informationen aus Nightingales Briefen argumentierte. Vor diesem Hintergrund wurden von der neuen Regierung unter dem Liberalen Palmerston zwei Kommissionen in den Orient geschickt. Der Beschaffungsausschuss unter Sir John McNeill konzentrierte sich auf die Ernährung der Soldaten und übte scharfe Kritik am Versorgungsamt, das nun dem Kriegsministerium unterstellt wurde. Zum ausschließlich mit Zivilisten besetzten Sanitätsausschuss gehörte neben dem Ingenieur Robert Rawlinson mit dem Arzt John Sutherland ein Protagonist des sanitary movement, der nach dem Krieg der wichtigste Mitarbeiter Nightingales werden sollte. Dieses Gremium konnte ohne Zustimmung der Armeebehörden Maßnahmen anordnen, ein geradezu revolutionärer Eingriff in militärische Kompetenzen. Sutherland ging mit seinem Team von „Schmutzinspektoren“ ab Anfang März 1855 die drängendsten Probleme in Scutari an. Die Abwasserkanäle unter dem Barackenhospital waren verstopft, und die Kranken lagen buchstäblich über einer großen Jauchegrube. Verrottende Abfälle, Tierleichen und leckende Latrinen kontaminierten das Trinkwasser. Die Sanitätskommission reparierte Toiletten und sanierte den großen Abzugskanal. Die Abwässer wurden ins Meer abgeleitet, Abfälle beseitigt, die Wände frisch gekalkt, die Sanierung der Böden abgeschlossen und Fenster repariert, was die Belüftung verbesserte. Die Versorgung mit sauberem Trinkwasser gelang jedoch nicht. Als es wärmer wurde, brach die Cholera wieder aus. Doch bis Mai 1855 wurde viel erreicht. 127

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Die Sterberate zeigte ab dem Frühling immer deutlicher nach unten. Bis Juni konnte sie auf 2,2 Prozent reduziert werden. Die Arbeit der Kommissionen wird allenthalben positiv bewertet. Insbesondere Sutherlands „Schmutzinspektoren“ wurde die Verbesserung der gesundheitlichen Lage zugeschrieben, und auch Florence Nightingale war davon überzeugt. Allerdings lassen sich diese Erfolge sicherlich nicht allein auf die erst kurz zuvor eingeleiteten Sanierungsmaßnahmen zurückführen. Dazu beigetragen haben dürften der Rückgang der Patientenzahlen und damit der Überbelegung sowie der bessere Allgemeinzustand der Eingelieferten. Wenn in älteren Werken und heute noch in populärwissenschaftlichen Publikationen dies als alleiniges Verdienst Nightingales dargestellt und sie zur Retterin der britischen Armee stilisiert wird, ist das fern jeder Realität. Sie selbst hat dies auch nie behauptet. Das schnelle Sinken der Sterblichkeitsziffern steht so im Mittelpunkt der wichtigsten Kontroverse um die Person Nightingales und ihr Wirken im Krimkrieg.

Engel der Barmherzigkeit oder Todesengel? Insgesamt kann man wohl sagen, dass im 19. Jahrhundert ihre Leistungen zu stark übertrieben und im späten 20. Jahrhundert zu sehr kleingeredet wurden. Ohne Zweifel trug sie dazu bei, das Leben zahlreicher Kranker und Verwundeter erträglicher zu machen – viele Zeugnisse von Betroffenen oder Beobachtern belegen dies –, retten konnte sie es jedoch oft nicht. Eine verbesserte Individualpflege reichte nicht aus, um die Explosion der Todesfälle zu stoppen. Das konnten aber auch die Ärzte nicht. Allerdings dürften die von Nightingale angestoßenen strukturellen Veränderungen, die zu besserer Ernährung und Versorgung führten, durchaus einen wichtigen Beitrag geleistet haben. Zudem deckten sich ihre hygienischen Anschauungen mit denen der Sanitätskommission, was zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit führte. Daneben gibt es aber auch keine belastbaren Belege für den formulierten Vorwurf, sie habe allein die mangelhafte Ernährung verantwortlich gemacht und erst nach dem Krieg die Bedeutung der 128

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sanitären Verhältnisse erkannt. Vielmehr war sie immer von einem Faktorenbündel ausgegangen, wobei Hygiene und Sauberkeit in jeder Hinsicht von Anfang an ganz oben standen. Vor allem Hugh Small behauptet, Nightingale habe unter dem Einfluss McNeills fälschlicherweise Hunger als zentralen Faktor identifiziert und somit die Chance auf eine Verbesserung der gesundheitlichen Lage durch hygienische Maßnahmen vertan. Sie sei daher für die hohe Sterblichkeit in „ihrem“ Krankenhaus in Scutari verantwortlich. Als sie ihren „Fehler“ nach dem Krieg erkannt habe, sei sie unter der Last der Schuld zusammengebrochen. Damit entwickelt Small die 1982 formulierten Verunglimpfungen des Historikers Francis B. Smith weiter, der das Bild einer alleinstehenden, sexuell frustrierten, hypochondrischen und machtbesessenen Intrigantin gezeichnet hatte, deren Leistungen völlig überschätzt worden seien. In seinem Gefolge haben kritisch-abwertende Stimmen seit den 1980er-Jahren Nightingales Wirken minimiert oder gar als schädlich verurteilt. Diese Kontroversen des späten 20. Jahrhunderts fanden schnell den Weg in die Öffentlichkeit, wo die Leidenschaften so hochkochten, dass anscheinend nur noch Extrempositionen möglich sind. Dabei spielt die Wiederentdeckung Mary Seacoles als „besserer“ bzw. totgeschwiegener Gegenpart Nightingales eine zentrale Rolle. Der Lebenslauf dieser aus Jamaica gebürtigen Frau kreolisch-schottischer Abstammung ist äußerst ungewöhnlich. Die Witwe eines Engländers, die sich selbst als Pflegerin bzw. doctress bezeichnete, hatte ihre Dienste dem Kriegsministerium angeboten und versucht, sich der zweiten Gruppe unter Mary Stanley anzuschließen, war aber abgelehnt worden. Sie vermutete, vielleicht nicht ganz zu Unrecht, wegen ihrer Hautfarbe. Daraufhin reiste sie auf eigene Faust in den Orient und eröffnete auf der Krim das British Hotel, eine Art Restaurant und Schänke für Offiziere, die auch Lebensmittel, Medikamente und andere Waren verkaufte und medizinische Dienstleistungen anbot. Einfache Soldaten konnten in einer separaten Kantine einkehren. Mit karibischer Kräutermedizin und gängigen zeitgenössischen Medikamenten behandelte sie Typhus, Durchfall und Cholera. Dass sie sich direkt auf die Schlachtfelder wagte und kleinere chirurgische Eingriffe durchführte, trug ihr die Bewunderung der Sol129

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daten ein. Großzügig soll sie auch Männer versorgt haben, die nicht zahlen konnten. Im Schatten Nightingales lange Zeit vergessen, gibt es seit Mitte der 1980er-Jahre eine regelrechte Seacole-Renaissance. Zu Recht wird sie als von der „weißen“ Geschichtsschreibung an den Rand gedrängt beschrieben. Gleichzeitig wird sie aber zu einem zentralen Kristallisationspunkt der Kritik an Nightingale, der Rassismus und Oberschichtensnobismus unterstellt wird. Indem man Seacole jedoch als Black Nightingale bezeichnet, werden teilweise historisch nicht haltbare Vergleiche gezogen, die keiner dieser zwei bemerkenswerten Frauen gerecht werden. Bei beiden machte die Pflege nur einen Teil ihrer Aktivitäten aus. Während Nightingale sich um Versorgung und Organisation in Krankenhäusern kümmerte, betrieb Seacole ihr gastronomisches Unternehmen. Sie wurden als mütterliche Figuren verehrt, und beide hatten als unabhängige, um ihre Ziele kämpfende Frauen vielerlei Widerstände zu überwinden. Zu ihrem Verhältnis gibt es widersprüchliche Aussagen. Sicher ist, dass Nightingale das British Hotel als ein moralisch schlechtes Haus einordnete, das Alkoholkonsum und Promiskuität Vorschub leistete, und sich daher hütete, mit Seacole in nähere Verbindung gebracht zu werden. Inwieweit dies rassistisch motiviert war, ist zumindest fraglich. Dass Seacole die Unterstützung Halls hatte und sich intensiv um Offiziere bemühte, während Nightingale die einfachen Soldaten in den Mittelpunkt stellte, könnte das Verhältnis weitaus mehr als die Hautfarbe belastet haben. Jüngere Studien und neuere Biografien wie die von Mark Bostridge bemühen sich um eine kritische Würdigung von Nightingales Leistungen, doch allgemeine historische Werke zum Krimkrieg übernehmen häufig die abwertenden Urteile Smalls und Smiths ohne neue Prüfung der Quellen. Deutsche Publikationen sind hier keine Ausnahme. So heißt es noch in jüngster Zeit, Nightingale sei kein „ministering angel“ gewesen, sondern ein Todesengel. Trevor Royle etwa bemerkt lakonisch, dass unter ihrer Pflege im Winter 1854/55 5000 Soldaten gestorben seien. Dieser Sicht der Dinge folgen auch einige mediale Formate wie etwa Filme der BBC und Artikel in der Presse mit Titeln wie „Nightingale’s Nursing ‚Helped Kill Soldiers‘“ oder „The Liability with the Lamp“. Seit der Jahrtausendwende verbindet sich mit dieser Kritik an Nightingale 130

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in der Öffentlichkeit immer stärker das Bild Seacoles als der besseren Pflegerin im Orient, als des Real Angel of the Crimea, wie eine BBC-Dokumentation 2008 titelte. Auf einer Briefmarke abgebildet und in die schulischen Lehrpläne aufgenommen, wurde mit der Errichtung einer Statue 2016 im Zentrum Londons ein vorläufiger Höhepunkt erreicht. Seacole als nichtweiße, unabhängige, furchtlose Frau soll den Erfolg der britischen multikulturellen Gesellschaft symbolisieren. Die Gegenposition vertritt die Florence Nightingale Society mit Lynn McDonald an der Spitze, die viele Aspekte des kursierenden Seacole-Bildes und überhaupt einen Vergleich beider Frauen für historisch nicht haltbar ansieht. Und ebenso wenig die Diskreditierung von Nightingales Leistungen im Krimkrieg. In der Tat lassen sich viele dieser Vorwürfe entkräften, wenn man sie in ihrem historischen Kontext interpretiert. So konnte etwa Lynn McDonald widerlegen, dass die Mortalitätsrate in „Nightingales Krankenhaus“ am höchsten war und sie die Verantwortung für die unhygienischen Zustände und Praktiken trug, die diese Sterblichkeit verursachten. Auch habe sie sich nach dem Krieg nicht die Schuld dafür gegeben. Einige Irritationen entstanden durch falsche Zahlen und zeitgenössische Fehlinterpretationen, wie z. B. die häufigen Vergleiche mit den Verlusten der Großen Pest in London. Zudem erhob Nightingale während des Krieges selbst keine statistischen Daten, wie oft behauptet wird, und konnte sie daher auch nicht falsch erhoben und/oder fehlinterpretiert haben. Sie nutzte vielmehr später für ihre Analysen die offiziellen Zahlen. Auf dieser Grundlage gelang es ihr, die enge Beziehung zwischen sanitären Maßnahmen und dem Rückgang der Todesfälle schlüssig nachzuweisen. Dass sie sich nach dem Krieg Vorwürfe machte, weil sie nicht mehr für die Soldaten hatte tun können, steht auf einem ganz anderen Blatt. Ob die angekündigte Studie Hintons hierzu neue Erkenntnis liefert, bleibt abzuwarten. Geschichtsschreibung spiegelt immer auch die jeweils aktuellen Gegenwartsprobleme und Machtdiskurse. Florence Nightingale als unangefochtene Ikone des weißen, protestantischen Empire passte nicht mehr in die politisch-gesellschaftlichen Kontexte der 1980er-Jahre. Die Historiker beschäftigten sich eher mit Denkmalstürzen als mit Hel131

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dinnen oder Helden. In diesem Sinne hob Anne Summers den Beitrag der vielen unbekannten Pflegerinnen hervor, die keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen hatten und im Schatten der Lady with the Lamp unsichtbar blieben, während sie Nightingales Leistungen und Verhalten äußerst negativ bewertete. Die Pflege wiederum, die in einem immer stärker multiethnisch, multikulturell und weniger klassenbewusst geprägten Umfeld um Unabhängigkeit von der Medizin rang, war reif für eine neue, für eine andere Identifikationsfigur.

Kriegsalltag auf der Krim und in Scutari Im Mai 1855 reiste Nightingale erstmals auf die Krim. Dies war eine heikle Angelegenheit, hatte sie von der Regierung doch nur das Mandat für die Hospitäler in der Türkei erhalten. Die später auf der Halbinsel eingerichteten Krankenhäuser fielen zumindest formal nicht darunter, und ihre Kritiker wollten sie auf jeden Fall von dort fernhalten. Als Reisegrund diente ihr daher eine Inspektion der Pflegerinnen aus der Gruppe von Mary Stanley. Vor Sewastopol konnte sie die Realitäten des Grabenkrieges erstmals mit eigenen Augen sehen. Während zweier Wochen besuchte sie die Regimentslazarette und die beiden allgemeinen Militärhospitäler in Balaclava. Mit Soyers Hilfe richtete sie Kochgelegenheiten ein und versuchte, die Krankenhäuser nach dem Muster Scutaris zu reorganisieren. Doch hier schlug ihr noch mehr Widerstand und kleinliche Schikane entgegen als am Bosporus. Einen Tag nach ihrem 35. Geburtstag, am 13. Mai, erkrankte sie schwer. Man diagnostizierte „Krimfieber“. Tagelang war sie dem Tod nah, von heftigen Fieberanfällen geplagt, teilweise im Delirium. Hinter dem „Krimfieber“ verbarg sich nach heutigen Erkenntnissen wahrscheinlich eine Brucellose-Infektion. Die Krankheit wurde erstmals 1861 konzise beschrieben und das dafür verantwortliche Bakterium 1887 isoliert. 1906 machte man schließlich die Ziege als tierisches Reservoir des Erregers aus und als Übertragungsweg vor allem Milchprodukte oder direkten Kontakt. Charakteristisch ist ein wellenförmiger Verlauf mit Fieber, Schüttelfrost und extremer Erschöpfung. Unbe132

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handelt kommt es nicht selten – bei im Einzelnen sehr variabler und oft unspezifischer Symptomatik – zu einem chronischen Verlauf mit generalisierten Schmerzen und allgemeiner Leistungsminderung, depressiven Episoden, Appetitverlust, Durchfällen, Schlaflosigkeit sowie schmerzhaften Entzündungen der Wirbelsäule. Der Oberkommandierende Raglan besuchte die fiebernde Nightingale, bevor er wenige Tage später selber – vermutlich an Cholera – starb. Als es ihr schließlich besser ging, bestand sie darauf, nach Scutari zurückzukehren. Sie war davon überzeugt, dass ohne sie dort alles in die Brüche ginge. Ob die in diesem Zusammenhang immer wieder kolportierte Geschichte stimmt, nach der sie Hall auf ein Schiff bringen ließ, das ohne Zwischenhalt direkt nach England fahren sollte, um die unangenehme Widersacherin loszuwerden, lässt sich wohl nicht mehr klären. Nightingale war davon jedenfalls überzeugt. Auf der Jacht eines Freundes reiste sie an den Bosporus zurück. Ende Juli brachen die Bracebridges in Richtung Heimat auf. Nightingale sah dies mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Zwar verlor sie bedingungslos loyale Freunde, doch hatte sich Charles Bracebridge mit seiner Kritik der lokalen Militärstellen viele Feinde geschaffen, was ihre Position nicht eben einfacher machte. Ab Mitte September 1855 nahm Nightingales Tante Mai Smith den Platz der Bracebridges in Scutari ein und blieb bis zur gemeinsamen Heimkehr zehn Monate später ihre unentbehrliche Stütze. Gesundheitlich war Florence Nightingale weiterhin angeschlagen. Immer wieder erlitt sie Rückfälle. Als sie im August 1855 wieder ihre Arbeit im Barackenhospital aufnahm, schwankte sie zwischen depressiven Phasen und übernervöser Ruhelosigkeit und Aktivismus. Da die Sterblichkeit keinen Anlass mehr zur Besorgnis gab, stieß sie eine Vielzahl anderer Projekte an. Obwohl nun reichlich offizielle und private Mittel vorhanden und deutliche Verbesserungen im Beschaffungswesen unübersehbar waren, hatte sich für sie das „System“ im Prinzip nicht verändert. Und ihrer Meinung zufolge sah auch keiner außer ihr eine Notwendigkeit dafür. In den heißen Sommertagen dachte sie bereits über die Bedürfnisse des kommenden Winters nach, etwa warme Soldatenkleidung und vor Kälte schützende Hütten. Obwohl das Beschaf133

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fungsamt unter einem neuen Leiter nun besser funktionierte, mangelte es immer noch an wichtigen Dingen, und so ließ sie etwa Zitronensaft zur Vorbeugung vor Skorbut besorgen. Einzelne Mitarbeiter traf immer öfter beißende – und nicht selten ungerechtfertigte – Kritik. Sie überwachte ihre Pflegerinnen noch strikter und schloss z. B. den Brandy weg. Weiterhin überlegte sie, wie Soldaten auf dem Weg der Genesung sinnvoll beschäftigt werden könnten, damit sie sich nicht dem Alkohol ergaben. So organisierte sie Zeitschriften, Bücher, Spiele, ein Lesezimmer, ein Café. Auch Unterrichtsstunden wurden in verschiedenen Regimentern angeboten. In England besorgte ihre Schwester bei ihren philanthropischen Freunden dafür Materialien aller Art. Ferner richtete sie mit Unterstützung des Kommandanten von Scutari ein System ein, mit dem Soldaten einen Teil ihres Soldes den Angehörigen zu Hause zukommen lassen konnten. Diese „Überweisungen“ waren zwar kompliziert zu handhaben und ihr Umfang überschaubar, aber es zählte vor allem die Symbolkraft des Unternehmens. Immer noch ungeklärt war das Problem von Nightingales Autorität über die auf der Krim eingesetzten Pflegekräfte. Am 8. September 1855 fiel schließlich Sewastopol nach einem Jahr Belagerung, und ein Ende des Krieges zeichnete sich ab. Doch die heftigsten Auseinandersetzungen sollten ihr erst noch bevorstehen. Der grundlegende Gegensatz zwischen Nightingale und dem obersten Sanitätsoffizier Hall wurde mit dem Instrument des Einsatzes der Pflegerinnen ausgetragen. Das Hospital in Koulali stand in diesen Tagen vor der Schließung, Arbeiten unter Nightingale kam für Bridgeman aber nicht infrage. Daher verhandelte sie mit Hall hinter deren Rücken die Verlegung all ihrer Nonnen nach Balaclava auf der Krim. Über Halls Amtsführung gehen bis heute die Meinungen weit auseinander. Die einen folgen Nightingales scharfer Kritik, andere heben seine Leistungen hervor und beklagen ungerechtfertigte Verunglimpfungen. Der Militärkommandant von Scutari riet Nightingale, die Bridgeman-Gruppe zu begleiten, um auf diese Weise ihre Ansprüche zu unterstreichen. Anfang September 1855 reiste sie daher erneut auf die Krim, wo sie zwei sehr anstrengende Monate zubrachte. Während sie in Scutari zuletzt vor allem organisatorisch-administrativ tätig gewesen 134

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war, arbeitete sie nun wieder eng am Krankenbett und beaufsichtigte die Pflegerinnen. Bridgeman hatte nicht die Absicht zu kooperieren, und schmiedete mit dem für das Beschaffungswesen Verantwortlichen David Fitzgerald eine Allianz, um Nightingales Vorhaben zu hintertreiben. Auch Hall betrieb offene Opposition. Im Januar 1856 zirkulierte in London ein vertraulicher Bericht Fitzgeralds, auf Anforderung des Kriegsministeriums abgefasst, der Nightingales Pflegerinnen der Insubordination, Trunkenheit und mangelnden Disziplin beschuldigte und die Bridgeman-Nonnen in den Himmel hob. Viele der Anschuldigungen waren nachweislich falsch. Nightingales Name wurde zwar nicht direkt genannt, doch wurde sie despektierlich wie eine Figur aus den Romanen von Charles Dickens beschrieben und ihr Anspruch auf die Weisungsbefugnis auf der Krim abgelehnt. Ihre Erwiderung war länger als der Bericht selbst und endete in der ultimativen Forderung, ihre Position ein für allemal zu klären. Im Kriegsministerium war man geteilter Meinung, doch letztendlich setzte sich die Überzeugung durch, dass man auf sie nicht verzichten konnte. Nightingale war über die ganze Angelegenheit derart empört, dass sie sich an das Unterhaus und die Öffentlichkeit wenden wollte, wovon sie Herbert jedoch abhielt. Das Abwarten lohnte sich. Mitte März 1856 wurden ihr alle Pflegekräfte unterstellt, gepaart mit einer Rüge Halls. Zwei Wochen später war der Krieg mit der Unterzeichnung des Friedens von Paris vorbei.

Das Ende des Krieges Nach dem Fall Sewastopols hatte eine österreichische Interventionsdrohung Russland zurück an den Verhandlungstisch gebracht. Für das Land war der Krieg eine demütigende Erfahrung gewesen. Napoleon III. brauchte den Frieden aus innenpolitischen Gründen. Großbritanniens Kriegsmaschinerie war erst 1856 vollständig mobilisiert, und eine große Flotte stand für einen Angriff auf St. Petersburg bereit, wozu es aber nicht mehr kam. Alles in allem ging deshalb der Konflikt in das kollektive Gedächtnis der Briten als ein eher unbefriedigendes Ereignis ein, das man kaum als Sieg werten konnte. 135

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Während Nightingale auf der Krim in starke Bedrängnis geraten war, stieg die Hochschätzung in der heimischen Öffentlichkeit in ungekannte Höhen und fand neue Ausdrucksmöglichkeiten. Im November 1855 wurde der Nightingale Fund ins Leben gerufen. Die Spendensammlung – die erste übrigens, die sich an die gesamte Bevölkerung wandte – sollte ein Zeichen der Anerkennung für ihre Leistungen setzen und die Gründung einer Institution zur Ausbildung von Pflegekräften ermöglichen. Neben hochrangigen Namen spendeten auch viele einfache Leute. Aufrufe von den Kanzeln und in der Armee unterstützten das Vorhaben. Die höchsten Beiträge kamen von den Ober- und Mittelschichten, die Armee soll insgesamt fast ein Viertel der Summe aufgebracht haben, sodass über 44.000 Pfund zusammenkamen. Nightingale war angesichts der kritischen Situation vor Ort eher zurückhaltend. Daher verschob sie eine Entscheidung und mied zunächst weitere Festlegungen. Lediglich ein Treuhänderkomitee für die Verwaltung der Mittel wurde geschaffen. Nach Nightingales Rückkehr von der Krim im Dezember 1855 entwickelte sich zwischen ihr und ihrer Tante Mai Smith eine gut eingespielte Arbeitsteilung. Die Pflegearbeit trat nun in den Hintergrund. Nur noch eine Stunde täglich war sie in den Krankensälen unterwegs. Den Rest des Tages empfing sie Besuche und schrieb Berichte oder Briefe. Die Tante informierte die Familie über die Arbeit, sprach von Nightingales Fähigkeiten und ihrer Disziplin. Allerdings auch von ihren Kämpfen: „Die Atmosphäre in England und bei uns könnte nicht unterschiedlicher sein. Bei Euch ist sie auf dem Gipfel menschlicher Bewunderung, hier prägen Opposition und Abneigung die Stimmung, und sie ist zu beschäftigt, letztere zu bekämpfen, als dass sie die andere wahrnähme.“ (O’Malley, 346) Das Ende des Krieges veränderte die Lage in den Hospitälern zunächst kaum, und auch die unterschiedlichen Meinungen für oder gegen eine Reform der Militärbürokratie(n) blieben bestehen. Kriegsminister Panmure und sein Mitarbeiter Benjamin Hawes wollten es im Wesentlichen beim Status quo belassen. Mit Hall und Fitzgerald stellten sie sich Nightingales Initiativen vor Ort wo immer möglich entgegen. Unterstützung fand sie bei Colonel John Lefroy, Panmures Sondergesandten, der letztlich ihre Oberaufsicht durchgesetzt hatte. 136

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Den Mitarbeitern der beiden Kommissionen wurden ebenfalls immer neue Steine in den Weg gelegt. Ihre Berichte hatten in London solchen Aufruhr ausgelöst, dass Teile davon zurückgehalten wurden und ein eigens eingesetzter Ausschuss die militärischen Stellen von aller Verantwortung reinwusch. Hall wurde geadelt und seinen neuen Titel KCB (Knight Commander of the Bath) übersetzte Nightingale fortan sarkastisch als Knight of the Crimean Burying Grounds (CW 14, 370). Auch andere Sanitätsoffiziere wurden befördert und kritische Stimmen kaltgestellt. Ab Mitte März 1856 hielt sich Nightingale zum dritten Mal auf der Krim auf, nun mit umfassenden Kompetenzen. Die irischen Barmherzigen Schwestern reisten unter Protest ab und gerierten sich als Märtyrerinnen. Danach musste sie sich im Krankenhaus von Balaclava den Zugang regelrecht erzwingen. Woraus aber speiste sich dieser unüberwindbare Gegensatz zwischen Bridgeman und Nightingale? Die meisten sehen in der Religion den Hauptgrund. Diese sei das Wichtigste für die zwar wohlmeinenden und gutherzigen, aber kaum ausgebildeten Nonnen gewesen. Die Rettung der Seelen stets im Blick, hätten sie es gewissermaßen als religiöse Pflicht empfunden, sich Nightingale zu widersetzen. Ähnlich wie im Falle Seacoles haben aktuelle Entwicklungen im Irland der letzten Jahre zu einer selbstbewussten Neubewertung des irischen Beitrags zur Pflege im Krimkrieg geführt. Dabei werden dem englisch-protestantischen Klischee, das die irischen Nonnen als rebellisch-kämpferische Katholikinnen und schlechte Pflegerinnen zeichnet, deren umfassende Erfahrungen während der Choleraepidemien und der großen Hungersnot 1845 gegenübergestellt. Sie hätten ein Konzept des aktiven careful nursing entwickelt, welches gerade für die so vielen Fieberkranken passender gewesen sei als Nightingales Ansatz, die deren Genesung passiv der Heilkraft des Körpers habe überlassen wollen. Diese Argumentation hat zwar allerlei Schwächen, allerdings lassen sich antiirische Stereotypen, die sich auf ihre Beurteilung der Pflege der Nonnen ausgewirkt haben dürften, auch bei Nightingale finden. Bei den Katholikinnen habe sie – so heißt es – zwischen den guten unterschieden, die sich ihrer Autorität unterwarfen und in reli137

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giöser Hinsicht passiv blieben (Moore), und den schlechten, unruhestiftenden irischen Nonnen unter Bridgeman. Die Irinnen – so wird argumentiert – hatten zudem keinerlei Unterstützung von Presse und Öffentlichkeit. Lob kam nur von den Ärzten, denen sie sich bedingungslos unterordneten. Die Situation in Balaclava war also kritisch, die Stimmung feindselig. Das Versorgungsbüro verweigerte Lebensmittel und Brennstoff. Inmitten der Querelen traf ein Brief Herberts an Nightingale ein mit der dringenden Bitte, vorsichtig zu sein und ihre Emotionen zu kontrollieren. Dies fiel ihr schwer. Als dann der Frühling mit besserem Wetter kam, konnte auch das Versorgungsproblem gelöst werden. Nightingale blieb auf der Krim, bis die letzten Soldaten den Heimweg angetreten hatten. Nach einem Besuch der Schlachtfelder von Balaclava und Inkerman kehrte sie nach Scutari zurück und überwachte dort die Schließung der Krankenhäuser. Daneben bereitete sie die Heimkehr „ihrer“ Pflegerinnen vor, schrieb Beurteilungen und suchte Beschäftigungen in England. Als die Rückreise nahte, dachte sie über ihre Zukunft nach: „Was mich angeht, so habe ich keine Pläne. Wenn ich meine Rückkehr erleben sollte, würde ich gerne – nach einem kurzen Besuch zu Hause – in ein ausländisches Krankenhaus gehen, wo man meinen Namen noch nie gehört hat und wo ich aller Verantwortlichkeiten, Ängste, Schreibarbeiten und Verwaltungstätigkeiten enthoben bin – und dort ein Jahr als Pflegerin arbeiten. Jede andere Position scheint mir unmöglich. Zu Hause würden mich bewundernde Freunde und übelmeinende Feinde verstören […] In einem ausländischen Badeort würde ich vor Untätigkeit verrückt. Meine Gesundheit ist zu angeschlagen für eine Leitungsposition mit Verantwortung. Mit der Geschichte, die ich zu erzählen habe, hätte ich keinen Platz mehr in der Gesellschaft, nicht wegen der Krankheiten und des Leidens, sondern wegen der Verderbtheit und Unfähigkeit, von der ich berichten muss.“ (CW 14, 407) Einen großen Empfang in England lehnte sie kategorisch ab. Sie reiste inkognito als „Mrs. Smith“ am 27. Juli mit ihrer Tante ab und konnte 138

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so über Paris unbemerkt London erreichen. Am Morgen des 7. August besuchte sie Mary Clare Moore und die Nonnen in Bermondsey, bevor sie mit der Eisenbahn nach Derbyshire fuhr, wo sie das Anwesen ihrer Familie durch die Hintertür betrat. Vorher schon hatte sie ihre „Kriegsbeute“ nach Hause geschickt, um die sie sich kümmern würde, solange sie lebte: einen jungen Seemann, der sein Bein verloren hatte, einen zwölfjährigen Kriegswaisen, der ihr Botenjunge gewesen war, und einen gleichaltrigen russischen Waisen namens Peter, außerdem einen Hund, das Geschenk einiger Soldaten.

Ein Mythos entsteht Die Heroisierung Nightingales über lange Jahrzehnte hinweg hat einer abwägenden Beurteilung ihrer Arbeit im Krimkrieg sehr geschadet. Seit ihrer Entsendung in den Orient hatte sie im Fokus der Öffentlichkeit gestanden. Am 24. Februar 1855 erschien in den Illustrated London News das Bild, das zur Ikone werden sollte und wie kein anderes für den Nightingale-Mythos steht. Der anonyme Holzschnitt zeigt sie mit der berühmten Lampe, wie sie nachts die Krankensäle besucht, und verkörpert als potente visuelle Metapher auf perfekte Weise das Bild christlicher Weiblichkeit. Sie war der sorgende Engel, der Schutzengel, der aus dem Licht kam und Licht in die Dunkelheit brachte. Die christliche Konnotation des Lichtsymbols unterstrich den religiösen Charakter ihrer aufopferungsvollen Tätigkeit. Zur kulturellen Ikone wurde die Darstellung Nightingales als Lady with the Lamp mit der Publikation eines Gedichts von Henry Wadsworth Longfellow mit dem Titel Santa Filomena, einer im 19. Jahrhundert intensiv verehrten Heiligen, mit der Nightingales Wirken assoziiert wurde. Sie selber reagierte darauf nur knapp: Der Poet habe wohl den Schrecken von Scutari nicht verstanden. Damit hatte sie recht, denn in der reichen Krimkriegspoesie wird sie typischerweise dargestellt als vornehme passive Dame, deren alleinige Präsenz genügt, die tröstet und Tränen trocknet, jedoch nicht mit kranken Körpern in Kontakt kommt.

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Florence Nightingale in den Krankensälen von Scutari (1855). Wellcome Collection. CC BY

Bevor Nightingale allerdings von Presse und Öffentlichkeit quasi Heiligenstatus zuerkannt wurde, war einiges zu klären hinsichtlich ihrer Weiblichkeit und ihrer religiösen Überzeugungen. Dafür mussten zum einen die konventionellen weiblichen Tugenden sowie ihre „wahre Häuslichkeit“ hervorgehoben und mögliche Widersprüche zum viktorianischen Frauenbild entkräftet werden. Ein Zeitungsartikel fühlte sich etwa bemüßigt zu betonen, dass Nightingale, obwohl eine hochgebildete Dame mit außerordentlichen Ambitionen, immer noch feminin und am glücklichsten in ihrem Heim sei – als gehorsame Tochter ihrer Eltern. Doch trotz allem erfülle sie nun in der Fremde die heiligste aller weiblichen Aufgaben für die Kranken und Sterbenden. Der Öffentlichkeit wurde damit ein akzeptables Gegenstück zur idealen Frau, dem „Engel im Haus“ (angel in the house) geboten, und zwar als „Engel der Barmherzigkeit“ (angel of mercy). Nur so konnte weibliche Präsenz im männlichen Szenario des Krieges gerechtfertigt werden. 140

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Von Anfang an war die engere und weitere Familie in diesen Heroisierungs- und auch Vermarktungsprozess einbezogen. Vor allem Mutter und Schwester widmeten sich der Arbeit am Mythos und sonnten sich im neuen Ruhm. Als Quelle wichtiger Informationen über die Heldin im Orient standen sie im Rampenlicht. Der Vater hingegen verweigerte sich dem, wo er nur konnte. Den Heldenkult um seine Tochter sah er sehr kritisch: „Was kommt als Nächstes?‘“ soll er seine Frau gefragt haben. „Wird sie Tote zum Leben erwecken?“ (Bostridge, 259) Florence Nightingales Engagement im Krimkrieg scheint dem Leben ihrer Schwester erstmals wirklich Sinn verliehen zu haben – und diese arbeitete hart für Florence und ihr Prestige in der Öffentlichkeit. So beantwortete sie unzählige Briefe und verfasste Dankes- und Bittschreiben. Außerdem sammelte sie alle Veröffentlichungen über ihre berühmte Schwester und sprach mit Frauen, die in Scutari helfen wollten. Was immer einfache Soldaten von ihrer Zeit im Krieg berichteten, wurde von ihr sorgsam archiviert. Im Sommer 1855 ging die Nightingale-Manie so weit, dass eine Flut von Liedern und Gedichten das Land überschwemmte, oft mit Holzschnitten illustriert. Es erschienen erste kurze Biografien und idealisierte Abbildungen der Heldin. Schiffe wurden nach ihr benannt, auch ein Rennpferd, und Neugeborene auf ihren Namen getauft. Man verglich sie mit den großen Frauen der europäischen, der britischen Geschichte. Porzellanfiguren und vor allem Bilder gingen als Massenware über die Ladentheken, die ihr oft nicht sehr ähnlich sahen, denn sie lehnte es ab, sich fotografieren zu lassen. Obwohl die Zustände in den Krankenhäusern und Lazaretten die Öffentlichkeit intensiv beschäftigten und in allen hässlichen Einzelheiten beschrieben wurden, gab es kaum eine bildliche Umsetzung. Hier waren vermutlich zeitgenössische Grenzen des Darstellbaren erreicht. Geeigneter waren da der leidende einfache Soldat und die hübsche, sich aufopfernde Schwester. Obwohl historisch falsch, kam dieses Bildprogramm den romantisch geprägten Sehgewohnheiten der Viktorianer entgegen. So wurden keine alten und korpulenten Pflegerinnen abgebildet, meist auch keine Nonnen und Wärter, sondern Soldaten, die eine Art VIP-Behandlung in sauberer Umgebung 141

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Der Krimkrieg (1854–1856)

Florence Nightingale in Scutari: ‚A Mission of Mercy‘ (von Samuel Bellin nach Jerry Barrett) (1858). Wellcome Collection. CC BY

mit bestmöglicher medizinisch-pflegerischer Versorgung genossen. Und man zeigte keine überfüllten Krankensäle, sondern eher kleine intime Räume, die die Ideale der viktorianischen Häuslichkeit aufgriffen, gelegentlich durchaus mit pikanten Untertönen. Selbstverständlich passten aus der Bibel vorlesende Schwestern sehr viel besser in die zeitgenössischen Vorstellungen von Pflege als das professionellrationale Konzept Nightingales. Im Sommer 1856 begann der Maler Jerry Barrett sein berühmtes Bild über die Mission of Mercy, aber die Heldin weigerte sich, für ihn Modell zu sitzen. Das Gemälde gelang dennoch und gewann durch seine weite Verbreitung als Stich enorme Popularität. Es zeigt die bekannte Szene im Barackenhospital, Florence Nightingale in der Mitte zahlreicher Personen, das Licht auf ihre Figur fallend, die Hand zu einem zu ihren Füßen liegenden Soldaten ausstreckend. Das Gemälde sei – so hat man betont – ein Vorwurf an diejenigen, die die Verwundeten und Kranken vernachlässigten. Gleichzeitig banne es ein neues weibliches Heldenbild 142

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auf die Leinwand. Doch hier ging es auch um eine politische Botschaft. Für die bürgerlichen Mittelschichten stand Nightingale für Effizienz und hausfrauliche Tugenden, die sie der adelig-männlichen Misswirtschaft im Krieg gegenüberstellten. Die Regierung selbst arbeitete am Bild der Heldin mit – in Ermangelung eines anderen Heroen und zur Ablenkung von eigenen Versäumnissen. So wurde Nightingale zu einer Figur des nationalen Konsenses in einem extrem zerstrittenen politischen Umfeld. Dabei entstanden zwei unterschiedliche Bilder, nämlich das des weiblichen Engels und das der zielstrebigen Reformerin. Beide reagierten auf Bedürfnisse der viktorianischen Gesellschaft, die so den Kampf für politisch-ökonomische Interessen – wie im Krimkrieg – mit der Fürsorge für die darunter leidenden Soldaten in Einklang bringen konnte. Die Frage danach, was zeitgenössische Frauen in Florence Nightingale sahen, ist nicht leicht zu beantworten. Taugte sie als Rollenmodell, als Vorkämpferin? Einige betonten ihre Exzeptionalität, eine Vorbildfunktion für andere sei deshalb kaum möglich. Andere erkannten eher einen Rückschritt für das weibliche Geschlecht in ihrer Zeichnung als „heilige Krankenschwester“. Wieder andere sahen in ihr die Verkörperung eines neuen Frauenideals. Nightingale äußerte sich zu alledem nicht und konnte daher von vielen vereinnahmt werden. Das hat sie zeitlebens so beibehalten und sich niemals selbst öffentlich verteidigt oder erklärt. Sie wolle Taten sprechen lassen, nicht Worte, war ihr Credo. Dafür schrieben andere: Bereits 1855 kam eine 16-seitige Biografie für einen Penny auf den Markt. Sie selbst lehnte es nach ihrer Rückkehr ab, ein Buch über ihren Einsatz zu schreiben. Einige Pflegerinnen hingegen veröffentlichten ihre Erinnerungen, teils mit heftiger Kritik an Nightingale. Die meisten aber hinterließen keine Spuren und verschwanden aus dem kollektiven Gedächtnis. Das Verhalten Nightingales gegenüber den Medien war ein Balanceakt, hinter dem sich eine ausgeklügelte Strategie verbarg. Da öffentliches Auftreten dem viktorianischen Frauenideal widersprach, nutzte sie fantasievoll indirekte Mittel, um Presse und Öffentlichkeit in ihrem Sinne zu beeinflussen. In ihrem späteren Leben sollte sie dies bis zur Meisterschaft perfektionieren. 143

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Der Krimkrieg (1854–1856)

Für zwei gesellschaftliche Gruppen hatte der Krimkrieg deutliche Veränderungen gebracht. Einfache Soldaten erreichten eine vorher nie dagewesene Wertschätzung und Respekt als christliche Mitbürger und Kämpfer für das Vaterland. Und das Bild der Krankenpflegerinnen in der Öffentlichkeit hatte sich dramatisch zum Positiven gewendet, wodurch sich eine Berufsperspektive auch für Frauen der Mittelschichten abzeichnete. Nicht zuletzt hatten sich die Männerdomänen Militär und Öffentlichkeit – ein wenig – geöffnet und damit die polaren viktorianischen Geschlechterbilder partiell aufgebrochen. Am Ende des Krieges waren die Hospitäler in Scutari zu gut funktionierenden Einrichtungen geworden. Obwohl Nightingale hierfür mit aller Kraft gearbeitet hatte, kehrte sie doch mit dem Gefühl, gescheitert zu sein, nach England zurück. Sie hatte den Eindruck, dass in der Armee alles so bleiben werde wie bisher. Auch plagte sie die Vorstellung, für die Soldaten nicht genug getan zu haben, denn in einer privaten Notiz schrieb sie Ende des Jahres: „Ich fühle, ich war eine so schlechte Mutter für Euch, die ich heimkomme und Euch in Euren Gräbern auf der Krim zurücklasse […]. Wer denkt jetzt noch daran?“ (CW 14, 472)

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Reformerin und Invalidin (1856–1870)

Was bedeutete der Krimkrieg für Florence Nightingale? Zum einen ermöglichte er ihr, endgültig dem Schicksal einer Tochter aus gutem Hause zu entkommen. Keiner in der Familie stellte nach der Zeit im Orient noch die Bedeutung ihrer Arbeit infrage, im Gegenteil. Zum anderen markierte er den Beginn ihrer außergewöhnlichen politischen Karriere und ihres umfassenden Reformwerks. Das grundlegende Handwerkszeug hierfür hatte sie als harte Lektion in der Armee im Osten gelernt. Und nicht zuletzt verschaffte ihr der Krieg einen herausgehobenen Status und öffentliches Prestige sowie wichtige politische wie fachliche Kontakte als unverzichtbare Ressourcen für ihre weitere Arbeit.

Die Aufarbeitung des Krimkriegs und die Gesundheit der Soldaten Der Aufenthalt im Orient wurde zum Ausgangspunkt ihres lebenslangen Engagements für die Gesundheit der Soldaten und ihrer Bemühungen, die Verhältnisse in den Militärhospitälern und die Lebensbedingungen in der Armee insgesamt zu verbessern. Dahinter stand eine besondere Verbundenheit mit den „toten Helden“, ganz besonders mit denen, die ihrer Ansicht nach nicht hätten sterben müssen. Es war diese Kombination einer intensiven emotionalen Motivation mit ihren intellektuellen Fähigkeiten, die sie mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln nach den Ursachen für das gesundheitliche Desaster suchen ließ. Als Florence Nightingale Anfang August 1856, nun 36 Jahre alt, Lea Hurst erreichte, sah man ihr die Entbehrungen der vergangenen Monate an. Deutlich geschwächt brauchte sie eigentlich dringend Ruhe. Obwohl die Familie die Flut von Briefen, Anfragen und Einladungen so gut es 145

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ging abfing, blieb vieles zu tun, was sie nicht delegieren konnte. Auch auf schikanöse Anschuldigungen aus der Militärbürokratie musste sie reagieren. So gab es etwa Vorwürfe, ihr Team hätte sich unberechtigterweise an den Lebensmittelvorräten der Armee bedient. Ihre Antwort: Die zugrunde liegenden Berechnungen seien wohl absurd, wenn man nicht davon ausgehen wolle, dass eine Pflegerin pro Tag sechs Pfund Fleisch verzehrt habe. Rechenschaft abzulegen hatte sie ferner über die Spenden und Geschenke für die Krankenhäuser im Orient. Offiziellen Ehrungen verweigerte sie sich ebenso nachdrücklich, wie sie – sehr zum Leidwesen ihrer Mutter und Schwester – gesellschaftliche Anlässe und öffentliche Auftritte vermied. Doch noch im August nahm ihre Frustration deutlich zu. Kriegsminister Panmure, dem sie dringend Bericht erstatten wollte, empfahl ihr erst einmal Ruhe. Sidney Herbert warf sie vor, er zeige nicht genügend Engagement, weil er zum Angeln nach Irland fuhr. Hingegen erfüllte sie eine Einladung Königin Victorias nach Schottland mit großen Hoffnungen. So reiste sie Mitte September zu Sir James Clark, einem der Leibärzte der Königin, der in der Nähe von Balmoral wohnte, und hatte Gelegenheit, der Monarchin bei mehreren Treffen von ihren Erfahrungen zu berichten und ihre weiteren Pläne zu erläutern. Zuvor hatte sie mit anderen Reformbefürwortern intensiv darüber beraten, wie sie diese einmalige Chance bestmöglich nutzen könne. Während dieser Überlegungen fand nach und nach Nightingales Team zusammen, mit dem sie viele Jahre lang zusammenarbeiten sollte. Es bestand neben Sidney Herbert aus Dr. John Sutherland (1808–1891), Sir John McNeill (1795–1883), Colonel Alexander Tulloch (1803–1864) und Colonel John Henry Lefroy (1817–1890) – alle vier Mitstreiter aus dem Krimkrieg – sowie Dr. James Clark (1788–1870) und dem renommierten Bevölkerungsstatistiker Dr. William Farr (1807–1883). Von Lefroy stammte die Idee, eine Königliche Kommission einzusetzen, die sich nicht nur mit der Krankenpflege in der Armee, sondern auch mit dem Zustand der Kasernen, den Militärärzten und der medizinischen Abteilung im Kriegsministerium befassen sollte. Vor allem der letzte Punkt barg großes Konfliktpotenzial in sich. Bewaffnet mit Notizen, Memoranden und Statistiken reiste Florence Nightingale nach 146

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Schottland. Sie sollte einen ganzen Monat dort verbringen. Die Königin und Prinz Albert waren überrascht. Victoria hatte eine strenge, reservierte Frau erwartet und traf auf eine damenhafte, gewinnende, angenehme Person, die klug und bestens informiert war, wie sie in ihrem Tagebuch notierte. Am meisten beeindruckte sie Nightingales Aufrichtigkeit und Zielstrebigkeit. „Ich wünschte, wir hätten sie im Kriegsministerium“, schrieb die Monarchin an den Herzog von Cambridge, den Oberkommandierenden der Streitkräfte (Bostridge, 308). Diese Worte wurden unzählige Male zitiert, um Victorias vorbehaltlose Unterstützung Nightingales zu unterstreichen. Dabei wird oft übersehen, dass die Möglichkeiten der Krone im Spannungsfeld zwischen Regierung und militärischem Oberkommando begrenzt waren. Schließlich stimmte Kriegsminister Panmure der Einsetzung einer Königlichen Kommission zu und ersuchte Nightingale formell um einen vertraulichen Bericht. Und er hatte einen weiteren Auftrag: In Netley war man dabei, das erste Allgemeine Militärkrankenhaus Englands zu errichten, wozu er ihre Expertise erbat. Optimistisch reiste Nightingale in den Süden zurück. Im November zog sie nach London. In einer Suite mit mehreren Zimmern im zentral gelegenen Burlington Hotel machte sie sich ganz in der Nähe des Kriegsministeriums an die Aufarbeitung des Krimkrieges und plante weitere Armeereformen. Dort gaben sich Politiker, Militärs und andere Experten die Klinke in die Hand, was ihrem Domizil die Bezeichnung Little War Office oder Inner Cabinet eintrug. Hier entstanden auch zwei ihrer frühen Hauptwerke zum Krankenhausbau und zur Krankenpflege. Der Aufenthalt im Hotel ermöglichte es ihr nicht zuletzt, sich unerwünschten gesellschaftlichen und familiären „Zugriffen“ weitgehend zu entziehen. Zunächst machte sich Nightingale daran, die Besetzung der Kommission zu planen. Dazu verhandelte sie persönlich mit dem Minister – und erreichte viel. Zwar konnte sie die Berufung Andrew Smiths, des Leiters der medizinischen Abteilung im Kriegsressort, in den Ausschuss nicht verhindern, schaffte es aber, dass Hall nicht zu dessen Nachfolger im Ministerium bestimmt wurde. Zur Kommission gehörten unter dem Vorsitz Sidney Herberts die Ärzte Sutherland und Alexander sowie Ge147

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neral Storks, der letzte Kommandant von Scutari. Zu ihrem Bedauern konnte sie William Farr ebenso wenig durchsetzen wie Colonel Lefroy, doch beide wurden informell eng eingebunden. Lefroy erhielt zudem den Auftrag, ein Konzept für eine militärmedizinische Hochschule zu entwickeln. Farr erschien als Experte vor der Kommission. Und ein zweiter Sieg gelang ihr: Der Ausschuss erhielt ein umfassendes Mandat. Das gesamte Militärsanitätswesen gehörte dazu ebenso wie alle Angelegenheiten, die die Gesundheit der Armee im In- und Ausland betrafen. Nach Nightingales Ansicht umfasste dies nicht nur die Armeekrankenhäuser und die Zustände in den Kasernen, sondern auch die vergleichsweise schlechte Situation der Militärärzte. Deren Besoldung, Ausbildung und Beförderung hielt sie für dringend reformbedürftig. Weiterhin lag für sie bei der Ernährung der Soldaten, beim Beschaffungswesen und der Erhebung statistischer Daten vieles im Argen. Nicht zuletzt sollte in den Militärkrankenhäusern neben ausgebildeten Krankenpflegern geschultes weibliches Personal eingesetzt werden. Nightingales Hochgefühl schwand jedoch mit jedem Tag mehr, den die Einsetzung der Kommission auf sich warten ließ. Mitte Dezember schrieb sie an McNeill, Gicht sei eine sehr nützliche Sache. Lord Panmure habe es immer an den Händen, wenn er zum Handeln aufgefordert sei. Sechs Monate sollten vergehen, bis die Arbeit schließlich beginnen konnte. Das Warten zermürbte sie. In der für sie so typisch melodramatisch-übertreibenden Art beklagte sie wortreich, dass sie die Einzige sei, die sich um das Wohlergehen der Soldaten sorge. Sie dachte darüber nach, ob sie es nicht wie Richard Cobden in seinem Kampf für die Aufhebung der Getreidezölle machen sollte und an die Öffentlichkeit appellieren. Im Februar schrieb sie an Christian von Bunsen: „Ich prophezeie, dass die wahren Auswirkungen von all dem, und die allein dauerhaften, die Aushöhlung der Macht des Adels in den Köpfen des englischen Volkes sein wird“, auch wenn künftige Historiker vermutlich den Grund nicht erkennen würden. „Ich werde so schnell ich kann aus dem Dienst der Regierung (government service) ausscheiden und in irgendeinem Londoner Krankenhaus arbeiten.“ Und an McNeill einige Tage später: „Ich denke, unsere Sache ist verloren“ (CW 14, 498). Es sollte anders kommen. 148

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Es scheint so, als hätte sie Panmure zumindest teilweise Unrecht getan, denn ohne dass der Kriegsminister Unterstützung im Parlament und in Regierungskreisen gesucht hätte, wäre das Vorhaben wohl von vorneherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Im Februar 1857 autorisierte er schließlich formell ihren vertraulichen Bericht, um den er ein halbes Jahr zuvor gebeten hatte und der zu diesem Zeitpunkt fast fertig war. Sie hatte die Zeit genutzt, zahlreiche militärische Einrichtungen besucht, Material zusammengetragen, Statistiken und Schaubilder erstellt. Die Rohdaten dafür entnahm sie der offiziellen Darstellung des Kriegsministeriums. Das Ergebnis waren ihre Notes on Matters Affecting Health, Efficiency and Hospital Administration of the British Army. Dies alles geschah in enger Kooperation mit ihrer kleinen Gruppe von Männern, allen voran Sutherland und Farr. Sutherland konnte seine langjährige Expertise auf dem Feld der öffentlichen Gesundheitsfürsorge einbringen und drückte großen Teilen des Textes seinen Stempel auf. Die fruchtbare Zusammenarbeit sollte über Jahrzehnte fast bis zu seinem Tod dauern. Sutherlands zunehmender Schwerhörigkeit ist es zu verdanken, dass zu dieser intensiven Arbeitsbeziehung – und darüber hinaus über zahlreiche Details aus Nightingales Leben – viele schriftliche Zeugnisse überliefert sind. Diese Notizen geben nicht nur Aufschluss über ihren Arbeitsstil, sondern zeugen auch von ihrer Ungeduld und Unerbittlichkeit gegenüber ihren Mitarbeitern. Und das traf besonders den für sie absolut unentbehrlichen Sutherland, den sie im Laufe der Zeit immer häufiger tadelte und abschätzig behandelte. Auch seine Frau Sarah wurde für alle möglichen Dinge des Alltags vereinnahmt. Anders gelagert war Nightingales Beziehung zu William Farr mit seinem wissenschaftlichen Prestige in Statistik und Epidemiologie, zu dem sie bewundernd aufsah. Von Farr stammte die Idee, die Sterberaten von Zivilisten und Armeeangehörigen zu vergleichen, um die Forderung nach strukturellen Reformen zu bekräftigen. Dies förderte völlig unerwartete Ergebnisse zutage: Bei Soldaten – in der Heimat wohlgemerkt – im Alter zwischen 20 und 35 Jahren lag die Sterblichkeitsziffer doppelt so hoch wie bei Zivilisten! Und wieder fand Nightingale drastische Worte, um dies zu 149

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veranschaulichen: Nichts zu tun, so befand sie, habe in etwa den gleichen Effekt wie pro Jahr 1100 Männer zu erschießen. An der Vorbereitung von Florence Nightingales Bericht kann man die Grundzüge ihres Arbeitsstils erkennen. Am Anfang stand die Sammlung von Informationen durch umfassende Lektüre, bevorzugt von Regierungsberichten (Blue Books) und statistischen Werken, sowie Gespräche mit Fachleuten. Fehlten Daten, so erhob sie sie selbst und verschickte dazu z. B. Fragebögen. Dann suchte sie die Zusammenarbeit mit den jeweils besten Experten. Mit großem Geschick fügte sie eine Vielzahl komplexer Informationen zusammen, formulierte auf dieser Basis das jeweilige Problem in konziser, eingängiger Weise und skizzierte Lösungsvorschläge. Dabei schaffte sie es, sich die Loyalität und Kooperation vieler Mitstreiter über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zu erhalten. Dazu trug sicherlich bei, dass Nightingales Popularität und ihre Kontakte diesen Männern Gehör und Einfluss in Kreisen verschaffen konnten, die ihnen ansonsten verschlossen geblieben wären. Anziehend wirkten daneben zweifellos ihre nie nachlassende Energie und ihre moralische Gewissheit, das Richtige zu tun. Ihre Position und ihr Handeln – inoffiziell in Regierungsdiensten – kannte keine Vorbilder. Als Frau konnte sie weder offizielles Kommissionsmitglied werden noch öffentlich für ihre Anliegen werben, doch blieb sie stets der Mittelpunkt der gesamten Arbeit. Wie schaffte sie das? Nach Bostridge war es eine Mischung von wohlüberlegten Schmeicheleien, Einschüchterungen und unverhüllten Schimpftiraden, die ihr dabei half. Sutherland verglich sie mit einer Amazonenkönigin, und Panmure nannte sie einen „turbulent fellow“. Nightingales Erschöpfungszustände nach Arbeitsexzessen erklärten ihre männlichen Mitstreiter interessanterweise nicht mit einer geschlechtsspezifischen Schwäche, sondern sahen sie als Beleg weiblicher Leidensfähigkeit. Ihre Krankheit löste zudem wohl auch Schutzreflexe aus. Andere drückten es weniger schmeichelhaft aus: Mit ihrem Leid und Elend habe sie ihre Mitmenschen mitunter schlicht erpresst. Nightingales wichtiges Pfund, mit dem sie wuchern konnte, war ihr Status als nationale Heldin. Bewusst hatte sie seit ihrer Rückkehr die Öffentlichkeit gemieden, in der Befürchtung, zu viel Aufmerksamkeit 150

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würde der Sache schaden. Aber die Möglichkeit, an eben diese zu appellieren, stand natürlich immer im Raum und konnte bei Bedarf als Druckmittel eingesetzt werden. Anfang Februar 1856 kündigte sie daher Herbert an, dass sie in genau drei Monaten ihren Bericht über den Krieg und ihre Reformvorschläge publizieren werde, sollte bis dahin die Kommission nicht zusammentreten. Am 5. Mai war es schließlich so weit. Nightingales detaillierte Materialien, ihre Vorarbeiten und die ausführliche Rohfassung ihres vertraulichen Berichts beschleunigten die Arbeit des Ausschusses außerordentlich, sodass diese in nur wenigen Monaten abgeschlossen werden konnte. Bereits im Sommer legte Herbert seinen Abschlussbericht vor. Dieser Text verdankte Nightingales erstem Entwurf der Notes sehr viel. Doch durch Herbert bekam sie umgekehrt Zugang zur offiziellen Korrespondenz der Militärsanitätsbehörden, wodurch viele Probleme im Krieg klarer zutage traten. Diese Informationen arbeitete sie in ihren Text ein und damit wuchsen die Notes auf insgesamt 830 Seiten an. Die vielen hundert Seiten mit schlüssigen Argumentationen, bissiger Analyse und wohldosiertem Sarkasmus waren alles andere als eine trockene Lektüre, sondern ein leidenschaftliches Plädoyer zugunsten der britischen Soldaten. In dieser Form sollte ihr Bericht jedoch nie publiziert werden. Der Text beginnt mit einer ausführlichen Darlegung und Kommentierung von Daten, Korrespondenzen und Ereignissen sowie einer tiefschürfenden Analyse und anschaulichen Beschreibung der gesundheitlichen Lage im Orient. Daran schließt sich die Suche nach den Ursachen für die „vermeidbaren zymotischen“ Krankheiten an. Nightingales Liebe für Systematik und Zahlen zeigt sich allenthalben: 11 Ursachen für „zymotische Krankheiten“, fünf oder acht Fehler in den Krankenhäusern in Scutari, 12 verwaltungstechnische Erfordernisse für Militärhospitäler, neun generelle Planungsmängel. Im zweiten Teil wird ein detaillierter Reformplan für Friedens- wie Kriegszeiten entfaltet. Jeder Punkt, jede Forderung ist rhetorisch gut formuliert und mit statistischen Daten untermauert: die Notwendigkeit allgemeiner Armeehospitäler neben denen der Regimenter, die Ausbildung und Beförderung von Militärärzten und Pflegepersonal, medizinische Statistik, strukturelle Reformen im 151

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Ministerium, Umdenken im Kasernenbau und bei der Versorgung der Soldaten. Persönliche Verantwortlichkeiten für das gesundheitliche Desaster auf der Krim schrieb sie vor allem Smith und Hall zu. Smiths Kriegskorrespondenz bot zahlreiche Steilvorlagen, um dessen Verhalten der Lächerlichkeit preiszugeben. Strukturelle Probleme nicht erkannt und Verantwortlichkeiten auf andere abgeschoben zu haben, so lauteten Nightingales Hauptvorwürfe. An Milnes schrieb sie später vertraulich: „Die beiden größten Kriminellen, die ich in diesem Land kenne, sind […] nicht aufgehängt worden und nicht im Gefängnis. Diese sind Lord Stratford [der Botschafter in Konstantinopel] und Sir John Hall, K.C.B.“ (CW 14, 565). Aus dem Bericht spricht die Überzeugung, dass die desolaten sanitären Verhältnisse die Hauptschuld an der gesundheitlichen Katastrophe trugen und nicht Ernährung, Versorgung und Ausrüstung der Soldaten, deren Gewicht sie vielleicht anfangs höher eingeschätzt hatte. Darüber wird, wie bereits angesprochen, immer noch heftig gestritten. Als sie die offiziellen Zahlen in Zusammenarbeit mit Farr analysiert und interpretiert hatte, lag ihr das Desaster Schwarz auf Weiß in Zahlenkolonnen vor. Dies erschütterte sie so sehr, dass sie gerade diesen Punkt im Zentrum des offiziellen Ausschussberichtes sehen wollte. Herbert verhinderte das, denn er hatte weder vor, Nightingales Reputation zu gefährden noch eine große öffentliche, für die Regierung schädliche Diskussion zu entfachen. Allerdings besteht kein Zweifel daran, dass die sanitäre Frage ab diesem Zeitpunkt der Prüfstein von Nightingales gesamter künftiger Arbeit wurde. An ihren Vater schrieb sie im September 1858: „Es wird keinen moralischen oder intellektuellen Fortschritt geben, welche Mittel wir auch anwenden, ohne sanitären Fortschritt.“ (CW 14, 561) Was die Arbeit der Kommission betrifft, so hatte Nightingale alles unter Kontrolle. Sie briefte Herbert als Vorsitzenden und versorgte ihn mit Materialien aller Art. Sie stellte Listen von Personen zusammen, die aussagen sollten, sie formulierte Fragen, suchte nach Strategien, wie vorzugehen war. Trotz aller Kritik beschloss man gemeinsam, die Vorladung Halls eher milde zu gestalten. Schwieriger war die Frage, wie 152

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Florence Nightingale nach ihrer Rückkehr aus dem Krimkrieg © akg-images/Science Source

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sie selbst als Zeugin auftreten konnte. Es waren zwar schon Frauen vor Kommissionen erschienen, aber in diesem speziellen Fall gab es vielerlei Bedenken: ihre Gesundheit, die Aufregung, die ihr Erscheinen in der Öffentlichkeit auslösen würde, und die Gefahr, dass die inoffiziellen Korrespondenzen zwischen ihr und Herbert bekannt würden. Daher entschied man sich für ein schriftliches Verfahren. Ihre Antworten auf ein breites Spektrum von 89 Fragen, die sie selber formuliert hatte, wurden dem Ausschussbericht beigegeben. Diese waren von außerordentlicher Prägnanz. Frage: „Worauf führen Sie die Sterblichkeit in den Krankenhäusern hauptsächlich zurück?“ Antwort: „Auf sanitäre Mängel.“ (CW 1, 32) Sie konzentrierte sich auf die Gründe für das Versagen des Systems, verzichtete auf die Bloßstellung von Individuen und räumte künftigen Reformen breiten Raum ein. Schwerpunkte ihrer Ausführungen betrafen Empfehlungen zum Krankenhausbau, zum Einsatz weiblicher Pflegekräfte und zur Ausbildung von Militärärzten. Allerdings sollten in der Armee lediglich ausgebildete head nurses zum Einsatz kommen, um die Wärter anzuleiten und zu kontrollieren. All diese Arbeit fand im Londoner Burlington Hotel statt. In drückender Hitze, unter beengten Bedingungen und mit der ständigen Anwesenheit von Mutter und Schwester, die Besucher empfingen und ihre Arbeit behinderten, fühlte sich Florence Nightingale schnell in frühere Zeiten zurückversetzt, und der alte Ärger kochte wieder hoch. In bissigen Notizen machte sie dem Luft: Die beiden interessiere doch nur ihr Ruhm, diese falsche Popularität. Was hätten sie denn jemals für sie getan? Einerseits ist dieses Verhalten nachzuvollziehen, denn auf Nightingale lastete immenser Druck, und ihre Gesundheit war massiv angeschlagen. Andererseits übersah sie dabei jedoch, dass die Familie durchaus versuchte, Fehler der Vergangenheit wiedergutzumachen, und sich bemühte, ihr Dinge abzunehmen und ihr dadurch den Alltag zu erleichtern. Sie saßen eben nicht nur faul auf dem Sofa, wie sie sarkastisch bemerkte. Und die Sorge ihrer Angehörigen um ihre sich verschlechternde Gesundheit war mehr als berechtigt, denn sie schlug alle Ratschläge, sich zu schonen, wütend in den Wind. Herbert fuhr in die Ferien, nachdem er dem Kriegsminister die Ergebnisse der Kommission dargelegt hatte, und wenig später, in der dritten Augustwoche, 154

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brach sie zusammen. Sie zog sich nach Malvern zurück, wo sich Mai Smith um sie kümmerte und die Familie auf dem Laufenden hielt. Sie schlafe kaum mehr als zwei Stunden, sei schwach, fiebrig, appetitlos, leide an Herzrasen. Aber eine halbe Stunde Arbeit zumindest müsse sein, sonst gehe es ihr noch schlechter. Doch die Ärzte sagten, es sei keine Krankheit, „nur totale Erschöpfung aller Organe durch Überarbeitung“ (Cook 1, 371). Sutherland flehte sie an, Pause zu machen: „Sie wissen nicht, welche Angst ich jeden Tag hatte, als ich Sie Stück für Stück sterben sah, beschäftigt mit einer Arbeit, die nur jemand mit der stärksten Konstitution erledigen kann.“ (Cook 1, 370) Florence Nightingale verbrachte in den folgenden Monaten immer wieder längere Zeit in Malvern, wo sie sich zurückziehen konnte, und kämpfte mit ihren Beschwerden. Ende November fühlte sie sich dem Tod so nah, dass sie ihr Testament machte und einen Brief an Herbert schrieb, den er nach ihrem Ableben erhalten sollte. Darin gab sie genaue Instruktionen zur Armeereform und bedauerte, dass sie sich nicht mehr um die geplante Krankenpflegeschule kümmern könne. Doch wenig später – Anfang Dezember – arbeitete sie schon wieder drei Stunden vormittags mit Herbert und vier Stunden nachmittags mit Sutherland. Mai Smith kümmerte sich um alles Notwendige. Lord Panmure war unschlüssig, ob er bereits vor der Veröffentlichung des brisanten Ausschussberichts gegen den Willen seines eigenen Ministeriums Reformen auf den Weg bringen sollte, um die öffentliche Meinung zu beruhigen. Herbert hingegen drängte darauf, beides gleichzeitig zu tun. In der Zwischenzeit arbeitete Florence Nightingale wie besessen weiter und griff den Kriegsminister heftig an. Die geplante Einrichtung von vier themenbezogenen Unterausschüssen – für Kasernenbau, Militärstatistik, die Restrukturierung des Kriegsministeriums und die Gründung einer militärmedizinischen Hochschule – ging ihr viel zu langsam voran. Sie entwarf Instruktionen für all diese Gremien sowie Regelungen für Armeehospitäler, außerdem ein Schema für die Beförderung von Militärärzten. Im Dezember war alles vorbereitet. Wie erwartet stürzte sich die Presse auf den Ausschussbericht, als er im Februar 1858 der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Die schweren Vorwürfe an das militärische Oberkommando erregten die Gemüter. 155

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Mit dem Ende der Regierung Palmerston – aus anderen Gründen – zwei Wochen später waren die Reformpläne aber nicht begraben, und Parlamentarier brachten im Unterhaus Resolutionen ein. Hier zeigte sich eine weitere Facette der Strategie Nightingales, nämlich Politiker und Abgeordnete für ihre Sache zu gewinnen. Sie beschritt aber noch einen weiteren Weg, nämlich die Mobilisierung der Öffentlichkeit. Sie tat dies nicht direkt, sondern bediente sich dafür bekannter Sympathisanten und Mitstreiter, indem sie Artikel in Zeitschriften und Zeitungen initiierte, die die wichtigsten Ergebnisse des Berichts zusammenfassten und kommentierten. Auch Herbert selbst schrieb einen Text, der deutlich Nightingales Handschrift trug. Die Botschaft: Jede weitere Verzögerung bedeute nicht nur Verluste, sondern sei eine Sünde. Ihr eigener Beitrag bestand in einem Pamphlet mit den wichtigsten statistischen Daten und eindrucksvollen Schaubildern in einer Auflage von 2000 Exemplaren, das sie an einflussreiche Personen, an Politiker, Militärs, wissenschaftliche Experten und die königliche Familie verteilte. Und sie nahm sich ihre umfangreichen Notes noch einmal vor, die sie privat hatte drucken lassen, und verschickte sie an ausgewählte Empfänger. Die einflussreichste unter ihnen war die Journalistin und Schriftstellerin Harriet Martineau, die dafür berühmt war, Themen der politischen Ökonomie, Geschichte, Philosophie und Soziologie gut lesbar aufzubereiten. Martineau verfasste einige Leitartikel in den liberalen Daily News und lieferte eine mit Nightingale abgesprochene Zusammenfassung der Thematik in fiktionaler Form für einen breiteren Leserkreis: England and Her Soldiers (1859) – mit den eindrucksvollen Tortendiagrammen Nightingales, die den Rückgang der Sterblichkeit im Krieg und die Hauptursache – hygienisch-sanitäre Verbesserungen – plastisch vor Augen führten. Auch in den Unterausschüssen war Nightingale nicht formelles Mitglied, gleichwohl behielt sie die wichtigsten Fäden in der Hand. Ihr „Kabinett“ traf sich weiterhin im Burlington Hotel. Im Juni 1859 bildete Palmerston erneut die Regierung, und Sidney Herbert kehrte ins Kriegsministerium zurück, wo sich noch nichts verändert hatte. Vor allem Untersekretär Benjamin Hawes schien Nightingale der entscheidende Bremsklotz zu sein. Die Ergebnisse der Unterausschüsse 156

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Die Aufarbeitung des Krimkriegs

legte Herbert im April 1861 dem Parlament vor. Die Neuordnung der medizinischen Statistik in der Armee produzierte schon bald europaweit anerkannte Ergebnisse. Hinsichtlich der sanitären Verhältnisse von Kasernen und Militärkrankenhäusern waren die Erfolge weniger deutlich. Der Reformimpetus und der öffentliche Druck hatten sich mit den Jahren abgeschwächt. Über den Kasernen-Ausschuss kam nun mit Douglas Galton, dem Mann ihrer Cousine Marianne Nicholson, eine weitere Person zum engeren Nightingale-Zirkel hinzu. Als Ingenieur wurde er zum unentbehrlichen Ratgeber für sanitäre Angelegenheiten in militärischen Einrichtungen. Eine medizinische Hochschule für Armeeärzte wurde 1858 geschaffen, hatte aber mit großen Problemen zu kämpfen. Blickt man weiter bis zum Jahrhundertende, so sollte sich die gesundheitliche Lage deutlich verbessern: Um 1900 war die Sterblichkeit von Zivilisten sogar höher als die der Soldaten. Im Sommer 1857 brach in Indien ein Aufstand aus und setzte das Thema des weiblichen Pflegepersonals in militärischen Einrichtungen im Krieg erneut auf die Tagesordnung. Selbst Nightingale überlegte kurz, nach Indien zu gehen, doch ihr Gesundheitszustand ließ allein schon den Gedanken daran absurd erscheinen. Wie ging es mit der Frage weiblicher Pflegekräfte in der Armee weiter? Jane Shaw Stewart, eine Mitstreiterin aus dem Krimkrieg, wurde die erste Oberin der neu errichteten Militärkrankenhäuser von Netley und Woolwich. Ihre siebenjährige Amtszeit dort mit einem kleinen Team stand unter keinem glücklichen Stern. Letztendlich wurde sie vom Ministerium zum Rücktritt gezwungen. Vieles kam dabei zusammen. Neben ihrem undiplomatischen Verhalten tolerierte die Ärzteschaft vor allem Shaw Stewarts Kompetenzfülle nicht. Mittlerweile wurde auch in der Öffentlichkeit die Sinnhaftigkeit weiblicher Pflege in der Armee angezweifelt. Unter ihrer Nachfolgerin schrumpften die Zuständigkeiten auf ein Minimum. Militärkampagnen in Südafrika und Ägypten belebten die Diskussion vorübergehend aufs Neue, doch die Erfolge blieben begrenzt: Als der Burenkrieg 1899 ausbrach, zählte man gerade mal 72 Pflegerinnen in der Armee. Nur aus Respekt vor Nightingale – so die vorherrschende Meinung – habe man diese weitgehend nutzlose Einrichtung bislang nicht abgeschafft. Es sollte daher noch bis zum Ersten Weltkrieg dau157

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ern, bis Nightingales Pläne für die Militärkrankenpflege systematisch umgesetzt wurden. Im Rückblick betrachtet waren diese ersten Jahre nach dem Krimkrieg eine sehr wichtige Vorbereitungszeit für Nightingales späteres gesundheits- und sozialpolitisches Engagement. In dieser Zeit lernte sie zu forschen, entwickelte Arbeitsstrategien und Möglichkeiten, ihre Themen auf die Agenda von Politik und Öffentlichkeit zu bringen. Etliche ihrer Verbündeten aus dem Krieg wurden dauerhafte enge Mitarbeiter, neue kamen hinzu, die ebenso eine langjährige Loyalität entwickelten. Jedoch forderte sie von allen unbegrenzten Einsatz und Hingabe an die gute Sache, trieb sie dazu zum Teil auch rücksichtslos an und verlangte eine rigorose Disziplin zulasten anderer Interessen, Verpflichtungen und Bedürfnisse.

Eine eingebildete Kranke? Invalidität im viktorianischen England Die Armeereform war das letzte Projekt, das Nightingale in relativ guter Gesundheit begann, aber nur unter größter Anstrengung abschließen konnte. Ihre zweite Lebenshälfte verbrachte sie als Invalidin weitgehend in der Abgeschlossenheit ihres Krankenzimmers. Nach heutigem Kenntnisstand litt Nightingale mit hoher Wahrscheinlichkeit an einer Brucellose, die in einen chronischen Zustand überging. Inwieweit andere Faktoren, wie etwa die traumatischen Erfahrungen des Krieges oder ihre langjährige Isolation mit chronischen Schmerzen und starker Arbeitsbelastung, weitere Störungen ausgelöst bzw. das Krankheitsbild beeinflusst haben – oder sogar bereits vor dem Krieg sichtbare psychische Auffälligkeiten bestanden –, wird diskutiert, lässt sich im Rückblick aber kaum mehr entscheiden. Nach mehreren heftigen Attacken in den Jahren nach 1857 erreichten ihre Symptome 1861 einen neuen Höhepunkt mit starken Rückenschmerzen, die sie in den folgenden sechs Jahren im wahrsten Sinne des Wortes an das Bett fesselten. Gehen war ihr unmöglich. Ihr Arzt diagnostizierte eine durch ständige Sorge verursachte Blockade der 158

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Wirbelsäule, die zur Lähmung führen könne. Zu den Symptomen der chronischen Brucellose zählen heftige Kopf- und Rückenschmerzen, Appetitlosigkeit, allgemeine Schwäche und depressive Verstimmungen, die mehr oder weniger alle – in unterschiedlicher Stärke und Chronologie – bei Nightingale belegt sind, auch Herzrasen, Atemnot, Verdauungsprobleme. Mehr als subkutane Opiuminjektionen und Ruhe standen an therapeutischen Optionen nicht zur Verfügung. Aber sie ruhte nicht, sondern arbeitete in den Phasen, in denen ihr dies irgendwie möglich war, fast bis zur völligen Erschöpfung. Chronische Schlafprobleme kamen erschwerend hinzu. Wiederholt versuchte sie es mit Wasserkuren nach dem Prießnitzschen System in Malvern und Aufenthalten an der See. Rigoroses Haushalten mit ihren Kräften schien für sie der einzige Weg, damit umzugehen, und daran hielt sie sich ab 1857 immer strikter. In den 1870er-Jahren scheint sich die Situation langsam gebessert zu haben, doch noch 1887 versuchte sie ihre Schmerzen mit Massagen, Chloroform und Bromid zu bekämpfen. Ihre sozialen Kontakte nahmen zu, und auch ihre Stimmung hob sich. Seit mehr als 150 Jahren wird über Florence Nightingales Krankheit und Invalidität diskutiert und teils wild spekuliert. Fast jede Medizinergeneration – und viele andere Personen – versucht sich an einer Diagnose. Dabei argumentieren sie nicht nur vor dem jeweiligen medizinisch-wissenschaftlichen Hintergrund ihrer Zeit, sondern auch vor dem kulturellen, der die dazugehörigen Geschlechterbilder einschließt. Außerdem hängen die Befunde immer auch damit zusammen, wie Nightingales Leistungen insgesamt bewertet werden. Mit diesem Urteil verbunden ist in aller Regel eine grundsätzliche Einschätzung ihres Charakters und ihres Verhaltens, die in unterschiedlichen Gewichtungen auf ihre spezifische Kindheit und Jugend oder die Zeitumstände allgemein Bezug nimmt. Grob kann man drei Meinungen unterscheiden. Die eine geht von einer organischen Krankheit aus, die zweite vermutet eine psychisch-neurotische Ursache, und die dritte stellt sie als Simulantin dar oder spricht – etwas abgemildert – von einer „strategischen Invalidität“, die es ihr ermöglicht habe, sich familiär-gesellschaftlicher Verpflichtungen zu entledigen, um in Ruhe arbeiten zu können. Zu den allein im 20. 159

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Jahrhundert zirkulierenden Diagnosen gehören Neurasthenie, stressinduzierte Neurose, Bleivergiftung, chronisches Müdigkeitssyndrom, systemischer Lupus Erythematodes, ja sogar Syphilis. Noch komplizierter wird die Sache dadurch, dass auch verschiedene Kombinationen vorgeschlagen werden. Hinter den Diagnosen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, die in der Regel von Überarbeitung ausgingen, die etwa Neurasthenie auslöse, steht der bereits bekannte Subtext, dass geistig-intellektuelle Arbeit bei Frauen physische Schäden verursache. Auf eine besondere Sensibilität des weiblichen Geschlechts weist ferner die Erklärung von Rückenschmerzen mit „ständiger Sorge“ hin. Gegen die Überlastungsthese, die Frauen implizit als ungeeignet für harte Arbeit darstellt, richtete sich eine Art psychosomatischer Erklärung, die Pickering in den 1970er-Jahren formulierte: Der Konflikt zwischen den Wünschen der Familie und ihren eigenen habe in ihrem Unterbewusstsein die Symptome hervorgebracht, die eine Begründung und Entschuldigung für ihre Konzentration auf die Arbeit lieferten. Die organische Ursache – Brucellose –, die Young Mitte der 1990er-Jahre verfocht, dürfte auch eine Reaktion auf die Verunglimpfungen Smiths ein Jahrzehnt zuvor gewesen sein, der Nightingale heimliche Spaziergänge im Park unterstellte und behauptete, ihre so merkwürdigen, sporadischen Beschwerden ließen sich nur durch Simulation erklären. Viel spekuliert wird darüber, was es mit Nightingales depressiven Verstimmungen in der zweiten Lebenshälfte auf sich hatte. Hatten sie mit der Brucellose zu tun oder nicht? War es wirklich eine Depression im klinischen Sinne bei all der Arbeit, die sie bewältigte? Oder – so häufig ab der Jahrtausendwende – ist nicht doch eine bipolare Störung die „bessere“ Erklärung, wie das bei so vielen großen Geistern der Fall war? Nach Hugh Small lässt sich ihre Überzeugung, gescheitert zu sein, nicht in medizinischen Kategorien erklären, sondern mit den bereits angesprochenen angeblichen Schuldgefühlen über ihre Fehleinschätzungen im Krieg. Jahrzehntelang habe sie darum gekämpft, dies wiedergutzumachen, letztlich erfolgreich. Denn es sei doch auffällig, dass die Besserung der Volksgesundheit etwa ab den 1880er-Jahren – die allgemeine Lebenserwartung sei zwischen 1858 und 1910 um 40 Prozent gestiegen – zum Verschwinden ihrer 160

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Depression geführt habe. Solche Kausalitäten herzustellen ist immer problematisch, und auch spätere Quellen berichten oft von ihrer Frustration, viel zu wenig bewirken zu können. Andere hingegen ordnen ihre düsteren Stimmungen und häufigen Klagen, gescheitert zu sein, nicht mehr nur als Depression ein, sondern bringen sie mit den für das Posttraumatische Belastungssyndrom so typischen Schuldgefühlen von Überlebenden in Zusammenhang. Die Spekulationen gehen bis heute weiter, oft ohne allzu viel über die Fallstricke retrospektiver Diagnosen nachzudenken. Jüngst schlug Thomas Meißner unter Bezugnahme auf Philip A. Mackowiak eine Kombination von drei Diagnosen vor: Bipolare affektive Störung, Posttraumatisches Belastungssyndrom und Brucellose, am Lebensende dann noch Demenz bzw. Alzheimer. Die Brucellose allein könne die lange Krankheitsdauer nicht erklären, ihre psychischen Probleme dagegen schon eher. Welcher Variante man auch immer zuneigen mag: Die Folge der Krankheit war, dass Florence Nightingale komplett aus der Öffentlichkeit verschwand und ihr Haus nur noch sehr selten verließ. Ihre Sozialkontakte waren streng reglementiert und hierarchisiert, wobei ihre Arbeit absoluten Vorrang genoss. Besucher hatten sich danach zu richten und wurden meist nur einzeln und für eine gewisse, in der Regel kurze Zeit vorgelassen, was ebenso für die Familie galt. Man hat darauf hingewiesen, dass Nightingale damit eine Art klösterlichen Lebensstil pflegte. Val Webb meint zudem darin die Imitation eines männlichen Berufsalltags auszumachen – mit separatem Büro und Terminen –, um damit nicht, wie für Frauen üblich, zu jeder Zeit für alle zur Verfügung stehen zu müssen. Dass es der Familie nicht gefallen konnte, wenn sie etwa schrieb, dass die Mutter am Freitagnachmittag zwischen zwei und vier Uhr für eine halbe Stunde kommen könne, aber bitte kein Thema ansprechen möge, das ihrer Gesundheit schaden und ihr den Schlaf rauben könne, ist nachvollziehbar. In der englischen Literatur der Zeit war Invalidität ein häufig thematisiertes Sujet. Allerdings wäre es irreführend, von einer Vorstellung von Invalidität auszugehen, an die wir heutzutage in Zeiten der Körperoptimierung gewöhnt sind. Invalidität im viktorianischen England des 161

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19. Jahrhunderts ist vielmehr als ein keineswegs negativ konnotiertes Kulturmuster zu verstehen, das durchaus seine Anziehungskraft hatte. In romantischer Tradition wurden Krankheiten – einige mehr als andere – einerseits mit besonderer ästhetischer Sensibilität und kreativer Imagination verbunden. Andererseits spielten christliche Traditionen eine Rolle, die Leiden, Krankheit und Tod einen besonderen Wert beimaßen. So war der Invalide zwar durch die Krankheit marginalisiert, konnte aber aus eben dieser Invalidenrolle Kreativität, Macht und Autorität schöpfen. Eine der bekanntesten englischen Invaliden war die bereits erwähnte Journalistin und Schriftstellerin Harriet Martineau, deren Beispiel sich auf die Ausgestaltung von Nightingales persönlicher Invalidenrolle ausgewirkt haben dürfte. Martineaus äußerst aktives Leben mit vielen Reisen kontrastierte deutlich mit langen Phasen – etwa ein Drittel ihres Lebens –, in denen sie auf ihr Krankenzimmer beschränkt blieb. Sie isolierte sich, wie auch Nightingale, von ihrer Familie, unterzog sich erfolglosen „schulmedizinischen“ Heilungsversuchen und griff auf „alternative“ Methoden wie den Mesmerismus zurück. Leiden war für Martineau eine kreative Kraft. Obwohl infolge ihrer gynäkologischen Probleme die Gefahr bestand, in die Ecke genuin weiblicher Schwächen gedrängt zu werden, erreichte sie eine ungeheure Popularität und großen Einfluss. Damit widerlegte sie durch ihr Beispiel ausdrücklich eine Gleichsetzung von Invalidität und weiblicher Machtlosigkeit. Wie Nightingale entwickelte sie als Invalidin eine außerordentliche literarische Produktivität. Ihre Krankheitserfahrungen teilte sie mit ihren Lesern in ihrem Werk Life in the Sick-Room. Man hat diese Schrift als „Handbuch für Invalide“ bezeichnet, in dem sie dazu anleitete, wie man die jeweiligen Betreuungspersonen im eigenen Sinne steuern könne, ohne von ihnen dominiert zu werden. Wie Nightingale empfahl sie Licht, Luft und Blumen anstatt der üblichen abgedunkelten, stickigen Räume und propagierte – sehr modern – einen ganzheitlichen Ansatz aus körperlichem, psychischem und emotionalem Wohlbefinden. Ebenfalls wie Nightingale hatte Martineau mit einer Familie zu kämpfen, die ihre Zeit und Aufmerksamkeit einforderte und sie von der Arbeit abhielt. 162

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Der viktorianische Invaliditätskult fiel in eine Zeit, in der die Professionalisierungsbemühungen der Ärzte und die Expansion der medizinischen Wissenschaften das Arzt-Patienten-Verhältnis immer stärker veränderten. Sowohl Martineau als auch Nightingale waren gegenüber der Medizin ihrer Zeit extrem kritisch eingestellt. Ihr Ansatz beinhaltete dagegen ein Gutteil Selbstermächtigung und Selbstbestimmung. Dadurch ließ sich die potenziell passive Invalidenrolle in ihr Gegenteil verkehren, und es waren Freiräume möglich, die die Geschlechterrollenzuschreibungen im normalen Alltag nicht bieten konnten und die mitunter weit über das Krankenzimmer hinausreichten. Manche betrachten den viktorianischen Invalidismus sogar als eigenständige Identitätskategorie, die andere Kategorien wie Geschlecht, Rasse, Klasse und Religion überwölbt habe. Es handelte sich um einen besonderen Denkstil und eine Haltung, die ausdrückten, wie Frauen – und auch Männer – eine Reihe von Beeinträchtigungen verstanden, erlebten und repräsentierten. So sind die häufig diametral gegenübergestellten Positionen – organische Ursache von Nightingales Krankheit oder Ausnutzung der Invalidenrolle für ihre Ziele und Vorstellungen – durchaus nicht unvereinbar. Sie sind nicht zuletzt Ausdruck der Prioritäten, die sie unter den gegebenen Umständen für ihr Leben setzte. Dies zur Grundlage persönlicher Diffamierung zu machen ist daher auch aus wissenschaftlicher Sicht unangebracht.

Alltag im Krankenzimmer Unter diesen Bedingungen legte Florence Nightingale eine außergewöhnliche Produktivität und Kreativität an den Tag. Soziale und gesundheitliche Reformprojekte in vielen Bereichen und Ausformungen standen im Zentrum ihres Lebenswerks, die im Laufe der Zeit immer stärker ausdifferenziert wurden. Um diese gruppierten sich weitere Themen wie etwa Bildung, Religion oder die Frauenfrage. Dabei veränderten sich in den langen Jahren ihres Schaffens mit den allgemeinen Rahmenbedingungen auch einige ihrer Ansichten. Da sie sich zudem meist mit mehreren Themen gleichzeitig befasste, werden im Folgen163

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den die wichtigsten davon in eigenen Abschnitten zusammenfassend vorgestellt. Ihr Leben lang sorgte sie sich um die Gesundheit der Soldaten, wobei sich der Fokus kontinuierlich erweiterte: von der spezifischen Situation im Krimkrieg auf die sanitären Probleme der gesamten Streitkräfte, einschließlich der kolonialen Konflikte der zweiten Jahrhunderthälfte. Auch im Ausland fragte man ihre Expertise nach, etwa im Amerikanischen Bürgerkrieg, im Deutsch-Französischen Krieg und nicht zuletzt bei der Gründung des Roten Kreuzes. Während Nightingale noch mit der Armeereform beschäftigt war, trat mit dem indischen Aufstand von 1857 ein weiteres Arbeitsfeld in ihren Blick, das sie zeitlebens beschäftigte. Mit ihrem öffentlichen Prestige erreichte sie auch hier die Einsetzung einer Königlichen Kommission und arbeitete mit den gleichen Mitstreitern, Strategien und Methoden für die Gesundheit der Soldaten in den Kolonien. Ausgehend von ihren Überlegungen zu Militärhospitälern entwickelte sie allgemeine Vorstellungen zum Krankenhausbau und Krankenhauswesen, die sie 1859 in ihren Notes on Hospitals zusammenfasste. Noch bevor sie im Folgejahr die Einrichtung ihrer Krankenpflegeschule am St. Thomas Hospital begann, erschien ihre bis heute wohl bekannteste und in viele Sprachen übersetzte Schrift Notes on Nursing (1860). Diese war nicht als Handbuch für die professionelle Krankenpflege gedacht, sondern als Hilfe für die Versorgung zu Hause, und damit für das gesamte weibliche Geschlecht. Ein weiterer Schwerpunkt ihrer Arbeiten, der sich durch alle gesundheitsrelevanten Projekte zog, war ihr Engagement für das sanitary movement, das die Förderung sanitärer Infrastruktur und die Propagierung hygienischer Praktiken im Alltag auf seine Fahnen geschrieben hatte. Hier waren lange und schwere Kämpfe mit Teilen des politischen Establishments und nicht zuletzt mit dem obersten Gesundheitsbeamten Sir John Simon auszufechten, die kostspielige Eingriffe des Staates auf diesem Gebiet weitgehend ablehnten. Bei alledem nahm Florence Nightingale ihre religiös-theologischen Überlegungen wieder auf, die sie 1853 unterbrochen hatte. Ihre Reflexionen fasste sie schließlich in ihren überarbeiteten Suggestions for Thought zusammen. Ihr Nachdenken über die Theodizee, über das Verhältnis Gottes zu den Menschen und die 164

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Rolle der Menschen in der Welt, sollte bis zu ihrem Lebensende nicht abreißen. Im Jahr 1857 trat mit dem liberalen Unterhausabgeordneten Sir Harry Verney eine weitere wichtige Person in den engeren Kreis um Nightingale ein, der binnen eines Jahres der Ehemann ihrer Schwester Parthenope – diese war 39 Jahre alt – werden sollte. Den Witwer mit vier Kindern verbanden vielerlei Reforminteressen mit Florence Nightingale. Für das konfliktbeladene Verhältnis der Schwestern bedeutete dies eine qualitative Verbesserung, einen weiteren wichtigen Schritt hin zur Aufgabe der ungesunden Fixierung Parthenopes auf Florence. Nun hatte jene ihren eigenen Bereich, der ihr Freiräume und Entwicklungsmöglichkeiten eröffnete, und das umso mehr, als sie in der neuen Familie mit großer Wärme aufgenommen wurde. Die Verneys stammten aus altem Adel, doch ihr Landsitz bedurfte dringend einer Modernisierung, was Parthenope sogleich in Angriff nahm, ebenso wie sie sich der Familiengeschichte widmete und eine Karriere als populäre Schriftstellerin begann. Im Burlington Hotel in London ging alles weiter seinen gewohnten Gang. Mai Smith erhielt Unterstützung von ihrem Schwiegersohn, dem Poeten Arthur Clough, und Hilary Bonham-Carter. Ab Frühjahr 1859 hielt sich Nightingale oft wochenlang in oft nur kurzfristig angemieteten Häusern auf, um für einige Zeit dem Stadt- bzw. Hotelleben zu entfliehen. Das Verhalten gegenüber ihrer Familie war widersprüchlich und für diese äußerst irritierend. Oft hörten die Eltern monatelang nichts von ihrer Tochter, blieben auf die Berichte von Mai Smith angewiesen. Trotzdem schickte die Mutter regelmäßig Geschenke und unterstützte sie mit Artikeln des täglichen Bedarfs. Eine wöchentliche Lieferung von Lebensmitteln und Blumen fand jahrzehntelang ihren Weg nach London. Das nahm mitunter durchaus fordernde Züge an, wenn Nightingale bestimmte Dinge wie Erdbeeren, Weintrauben oder Ingwerwein eher bestellte, als dass sie darum bat. Außerdem kümmerten sich Mutter und Schwester um Einkäufe und vielerlei andere Erfordernisse des Alltags wie etwa die Anstellung von Dienstboten. Zudem nahm die Familie häufig erholungsbedürftige Krankenschwestern für einige Zeit auf ihren Gütern auf. 165

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In ihren depressiven Phasen kam es mitunter zu heftigen verbalen Attacken gegenüber Verwandten und Mitarbeitern, die von späteren Nightingale-Kritikern detailliert ausgebreitet werden. In der Tat klingen diese nicht selten übertrieben, verbittert, zynisch und oft kaum gerechtfertigt. Dabei sollte man jedoch zwischen Schreiben und Handeln unterscheiden. Briefe an Vertraute oder private Notizen dürften ein notwendiges Ventil für die schmerzgeplagte, isolierte und frustrierte Frau gewesen sein. Diesen Angriffen, unter denen etwa Sutherland zu leiden hatte, entging auch Arthur Clough nicht, der Nightingale und ihren Projekten seine gesamte freie Zeit widmete. Sie berief ihn zum Sekretär des Nightingale Fund und diskutierte mit ihm ihre religiösen Ideen, ihren „stuff “, wie sie es nannte. Obwohl sich bei Clough ernsthafte gesundheitliche Probleme einstellten, reduzierte er sein Engagement für Nightingales Projekte nicht. Denn nachdem Mai Smith jahrelang alles andere hintangestellt hatte, war sie auf Drängen ihres Ehemanns schließlich im Frühsommer 1860 zu ihrer Familie zurückgekehrt – und Clough wurde noch wichtiger. Nightingale war bitter enttäuscht und brach für Jahre den Kontakt zu ihrer Tante ab. Diesen „Verrat“ an ihr und ihrer Arbeit konnte sie lange nicht verzeihen. Das Jahr 1861 sollte für Florence Nightingale zum annus horribilis werden. Denn kurz nacheinander starben Sidney Herbert und Arthur Clough. Den erst fünfzigjährigen Herbert riss eine schwere Nierenkrankheit mitten aus einer verheißungsvollen politischen Karriere. Nightingale erkannte sofort, dass die Ende 1860 gestellte Diagnose ihre weitere politische Arbeit aufs Äußerste gefährden konnte. Zunächst weigerte sie sich beharrlich, die daraus resultierenden Konsequenzen zur Kenntnis zu nehmen, wie sie auch die schon seit Jahren erkennbaren Anzeichen ignoriert hatte. Stattdessen trieb sie ihn – unbarmherzig, wie manche bemerkten – weiter an. Im Vergleich zu ihren Einschränkungen werde er sich doch wohl im Dienste der großen Sache zusammenreißen können. Sieht man etwas genauer hin, so war sie durchaus mitfühlend und besorgt, allerdings erkannte sie wohl nicht, wie sehr ihn die neuerliche Verantwortung für das Kriegsministerium daran hinderte, sich wie früher für die gemeinsamen Projekte zu engagieren. Ständige Präsenz im Parlament war gefragt, und Herberts Kräfte ließen mehr 166

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und mehr nach, was Nightingale in ihrer Verzweiflung mit einer Flut medizinischer Ratschläge beantwortete. Es war dies gerade die Zeit, in der das schwierigste Stück der Armeereformen anstand, und zwar nichts Geringeres als die Umstrukturierung des Kriegsministeriums selbst mitsamt der Neugestaltung seiner Hierarchien und Verantwortlichkeiten. Nightingale und Sutherland entwarfen hierfür einen Plan mit genauer Zuweisung von Pflichten und der Elimination geteilter Zuständigkeiten, die sich im Krimkrieg als so fatal erwiesen hatten. Die Widerstände waren gewaltig. In ihrer Enttäuschung und Sorge wurde sie ungerecht und unsensibel. Sie beschwor Herbert, das Ministeramt nicht aufzugeben – und seine Frau unterstützte sie dabei. Dabei war Nightingale keineswegs zimperlich und wies auf Hunderttausende von Opfern hin, die er sonst auf sein Gewissen laden würde. Anfang Juni kollabierte er, und sie musste den Tatsachen ins Auge sehen. Bei einem letzten Treffen Anfang Juli machte sie ihm erneut heftige Vorwürfe. An Martineau schrieb sie, sie habe ihm gesagt, dass „kein Mann in meinen Tagen […] ein so hehres Unternehmen [leichtfertig) weggeworfen [habe], mit allen Trümpfen in seiner Hand“ (Cook 1, 407). Einen Monat später war er tot. Herbert war die zentrale Figur in Nightingales politisch-reformerischem Netzwerk gewesen, in den sie allergrößte Hoffnungen gesetzt hatte. Er hatte ihr Möglichkeiten der Einflussnahme verschafft, die ihr kaum jemand anderes würde bieten können. Sie war untröstlich über seinen Tod, startete jedoch schon bald ihre persönliche Heroisierungskampagne. Dabei imaginierte sie ein verklärtes Bild ihrer Beziehung, aus dem sie Kraft und Halt schöpfen konnte. Seine letzten Worte, so wurde sie nicht müde zu wiederholen, hätten ihr gegolten: „Arme Florence und unser unvollendetes Werk“ (CW 1, 327). In einem Brief an ihre Schwester kurz nach seinem Tod stand: „Keiner außer mir hat ihn verstanden und gekannt. Keiner hat ihn so geliebt und ihm gedient wie ich.“ (CW 1, 327) In offensichtlichem Widerspruch zur Realität sollte sie künftig ihr Verhältnis konsequent als das einer Schülerin zu ihrem Lehrer beschreiben. Immer war er „my dear master“. Und sie inszenierte sich als seine „wahre Witwe“. Die richtige, Elizabeth Herbert, teilte ihre Trauer mit Nightingale, sie hielten Kontakt und schrieben sich zu Todestagen. 167

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Ab Oktober bewohnte Nightingale für einige Zeit das Londoner Stadthaus der Verneys, das günstig in Reichweite des Kriegsministeriums lag. Dort erreichte sie die Nachricht vom Tod Arthur Cloughs. Gesundheitlich schwer angeschlagen, war dieser nach diversen Wasserkuren wie viele kranke Viktorianer zu einer Reise auf den Kontinent aufgebrochen. Aufenthalte in Griechenland, der Türkei und Frankreich bauten ihn zumindest mental auf. Mit seiner Frau besuchte er Italien, wo er am 12. November in Florenz verstarb. Seine Witwe, die Tochter Mai Smiths, machte Florence Nightingale für seinen frühen Tod verantwortlich. Er habe sich für sie totgearbeitet. Nicht nur sie war dieser Meinung. Schnell wurden Vergleiche zu Sidney Herbert gezogen, und zwar keine schmeichelhaften. Der Tod Cloughs verschärfte die gespannte Situation zwischen Nightingale und ihrer Tante Mai weiter. Die tröstenden Worte, die diese für ihre verzweifelte Tochter fand, waren auch ein Charakterurteil über ihre Nichte. Die Einschätzung hatte sich völlig gedreht. Nun war die Rede von Überreiztheit, von Übertreibungen, Einbildung und Stolz. Und von der Unfähigkeit, menschliche Güte und Dankbarkeit zu empfinden. Allerdings hätten die beiden an einer großen und guten Sache gearbeitet. Es war ein Beratungsgesuch des neuen Kriegsministers, das Nightingale Ende 1861 zumindest ein wenig aus ihrer Trauer und ihrem Selbstmitleid riss. Damals sah es so aus, als würden die Briten in den Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–65) verwickelt, und die Regierung bereitete Truppenentsendungen nach Kanada vor. Um Rat zu medizinisch-sanitären Vorkehrungen gebeten, arbeitete Nightingale einen detaillierten Plan aus, der alle Eventualitäten von der Kleidung, Ernährung und medizinischen Versorgung bis zur Reichweite von Schlitten und der Wärmekapazität von Büffelhäuten berücksichtigte. Vor dem Hintergrund der Schrecken des Krimkriegs genehmigte das Ministerium alles. Letztendlich konnte die Konfrontation aber vermieden werden. Zur geplanten großen Reform des Kriegsministeriums kam es nach dem Tod Herberts zwar nicht mehr, doch zusammen mit Douglas Galton und dem Untersekretär Lord de Grey konnte Nightingale die sanitär-hygienischen Errungenschaften in der Armee sichern. Sie hatte weiterhin die Position einer Art Beraterin des Kriegsministeriums inne, 168

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wie es dies zuvor nie gegeben hatte. Was auch nur irgendwie mit der Gesundheit der Streitkräfte zu tun hatte, landete auf ihrem Tisch. Das fatale Jahr 1861 endete mit einer schweren, lange andauernden Krankheitsattacke. Und die Beschwerden sollten immer wieder kommen, sich verschärfen. Düster sah sie in die Zukunft. Doch ab 1862 wurde der drei Jahre ältere Benjamin Jowett immer mehr zu einem stabilisierenden Anker in ihrem Leben. Ihre Freundschaft dauerte bis zu seinem Tod 1893. Jowett war Professor für Griechisch und anglikanischer Theologe in Oxford. Ende der 1850er-Jahre hatte sie ihn um eine Einschätzung ihrer Suggestions for Thought gebeten. Daraus entwickelte sich ein intensiver Briefwechsel, und es spielte sich ein, dass er ihr regelmäßig einmal im Monat sonntags das Abendmahl brachte. Über dreißig Jahre lang tauschten sie sich über gemeinsame Interessen, vor allem Religion, Theologie, Bildung und soziale Probleme aus. Auch die Liebe zum alten Griechenland, insbesondere zu Platon, verband sie, und Nightingale kommentierte seine Übersetzungen des griechischen Philosophen. Jowett gehörte der Broad-Church-Richtung der Anglikanischen Kirche an und war in Oxford in langjährige Querelen mit den Adepten der High-Church-Bewegung verstrickt. Sie wurden eng verbundene Freunde, deren Beziehung von größtem gegenseitigem Respekt geprägt war. Es wurde viel gerätselt, ob sie über Freundschaft hinausging, bis hin zu der Spekulation, Jowett habe ihr einen Heiratsantrag gemacht. Er konnte sie auf Dinge ansprechen, die sonst niemand zu thematisieren wagte. Als sie Mitte der 1860er-Jahre etwa über den langsamen Fortgang ihrer Projekte und Widerstand von vielen Seiten klagte, versuchte er ihre Enttäuschung ins rechte Licht zu rücken. Sie solle doch einmal sehen, was die Minister täten, und nicht nur darauf achten, welche ihrer Wünsche sie nicht erfüllten. Er wundere sich vielmehr, dass man auf eines ihrer Worte höre. „Eine arme kranke Frau, die allein in ihrem Zimmer sitzt. Sie müssten sie doch nur nicht besuchen und niemals ihre Briefe lesen, und dann hätte dies ein Ende.“ Stattdessen lenke sie sie wie Marionetten an seidenen Schnüren. Doch solle sie diesen keinesfalls zeigen, dass sie sie nicht respektiere, denn sonst „Goodbye influence“ (Quinn/Prest, 71). In diesem Sinne rief er ihr immer wieder ihre Leistungen und die Bedeutung ihrer Arbeit in Erinnerung. 169

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Und immer wieder warb er dafür, sie solle ihrer Familie versöhnlicher gegenübertreten, sich nicht isolieren. Er unterstützte nachdrücklich die langsame Wiederannäherung an ihre Tante Mai. Mit zunehmender Vertrautheit mehrte sich konstruktive Kritik, etwa dazu, wie sie mit ihrer Umgebung umging. Die Schmerzen beeinträchtigten ihre Selbstkontrolle, schrieb er ihr. Auch solle sie ihre politischen Gegner nicht so persönlich angehen. Sie lasse sich zu schnell entmutigen und werde dann ungerecht. Bei alledem vermittelte er ihr sein Mitgefühl, sein Verständnis und seine bedingungslose Sympathie. Und sie hörte zu: „Du hast ganz recht, was Du von mir sagst. Ich verunstalte Gottes Werk durch meine Ungeduld und meine Unzufriedenheit. Ich will versuchen, auf Deinen Rat zu hören. Ich habe es versucht. Doch ich fürchte, es ist zu spät – ich habe meine Gelassenheit schon vor einigen Jahren verloren – und dann verlor ich meine Klarheit der Wahrnehmung, […] diese fürchterliche Einsamkeit […]“ (Quinn/Prest, 62). Doch dass ihr Leben wie im Fieber verlaufen sei, immer gehetzt, fügte sie hinzu, sei nicht ihr Fehler gewesen. Nach dem Tod Herberts und Cloughs brachte es Florence Nightingale nicht über sich, ins Burlington Hotel zurückzukehren. In der ersten Hälfte der 1860er-Jahre war sie daher trotz Bettlägrigkeit häufig in Bewegung und wohnte in verschiedenen, meist nur kurzfristig gemieteten Häusern. Das war nicht nur belastend, sondern auch kostspielig, sodass ihr der Vater ab 1865 ein Haus in London als dauerhaften Wohnsitz finanzierte. Im November zog sie in die South Street, wo sie den Rest ihres Lebens verbringen sollte. Kurz vor ihrem Einzug erreichte sie eine weitere Todesnachricht: Ihre Freundin Hilary Bonham-Carter war einem Krebsleiden erlegen. Aus ihrem Schlafzimmerfenster hatte sie einen guten Blick auf den Hyde Park, auf der anderen Seite des Hauses spielten sich weniger angenehme Straßenszenen ab. Selbstverständlich wurden die sanitären Einrichtungen auf den neuesten Stand gebracht. Das Stadthaus der Verneys lag ganz in der Nähe, was Vor- und Nachteile hatte, musste sich Parthenope doch erst an den minutiös durchgeplanten Tagesablauf ihrer Schwester gewöhnen. Einmal schrieb ihr diese, vor 13 Uhr könne sie niemanden sehen, es sei denn, es ginge darum, „das indische Reich zu retten“ (CW 1, 336). 170

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Florence Nightingales Leben spielte sich vorwiegend in ihrem hellen und luftigen Schlafzimmer ab. Die damals so beliebten schweren und dunklen Vorhänge und Dekorationen suchte man vergebens. Bilder, die sie an ihre Reisen und den Krimkrieg erinnerten, schmückten die Wände, ein großes Regal nahm Bücher und Papiere auf. Immer hatte sie frische Blumen. Der Salon war noch spartanischer eingerichtet, mit Reproduktionen aus der Sixtinischen Kapelle an den Wänden und großen Bücherschränken, die die bekannten Blue Books, regierungsamtliche Publikationen, aufnahmen. Ihr Haushalt bestand aus vier oder fünf Bediensteten: eine Köchin und eine Küchenhilfe, eine oder zwei Hausangestellte und ihr persönliches Dienstmädchen. Zu einigen hatte sie ein enges und vertrauensvolles Verhältnis. Aber sie beklagte sich auch häufig, ganz besonders, wenn es um Hygiene und Sauberkeit ging. Insgesamt war sie wohl eine recht anspruchsvolle Hausherrin, bezahlte jedoch gut und kümmerte sich intensiv um Gesundheit und Wohlergehen loyaler Angestellter. Gutes Essen genoss und schätzte sie sehr, wann immer es die Gesundheit erlaubte. Und sie trank gerne ein Gläschen, insbesondere Ingwerwein und Portwein. Im Übrigen war sie der Meinung, dass Soldaten weniger und Nonnen mehr trinken sollten. Anfang der 1870er-Jahre erhielt Florence Nightingale mehr als das Doppelte der ursprünglichen Summe von 500 Pfund pro Jahr, die Miete für das Haus kam hinzu. Trotzdem war das Geld oft knapp. Haushalt sowie Druckkosten und wohltätige Gaben für eine Vielzahl von Personen strapazierten das Budget, sodass ihr finanzieller Berater, ihr Onkel Sam Smith, manches Mal eingreifen musste. Nightingales Tierliebe zeigte sich vor allem an den vielen Katzen, die ihre ständigen Gefährten im Krankenzimmer waren. Eine davon war Mr. Bismark (!), ein großes weißes Exemplar. Eine Perserkatze wurde Gladstone getauft. Die wenige Freizeit, die sie sich gönnte, verbrachte sie vor allem lesend. Im Allgemeinen konnte kein Roman mit einem statistischen Werk oder einer wissenschaftlichen Studie konkurrieren. Religiöse Literatur versah sie mit vielen Anmerkungen. Abgesehen davon liebte sie Aischylos, Homer und Shakespeare, auch die Sonette Miltons. Zu den gern gelesenen zeitgenössischen Autoren gehörten Edward 171

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Bulwer-Lytton und Elizabeth Gaskell. Zu George Eliot hatte sie ein gespaltenes Verhältnis. Was sie überhaupt nicht leiden konnte, waren Romanzen mit verliebten Krankenschwestern, insbesondere, wenn sie im Krimkrieg spielten. Dies war also der Rahmen, in dem Florence Nightingale mit besonderen Methoden, Strategien und Herangehensweisen ihre breit gestreuten Projekte der zweiten Lebenshälfte umsetzte. Mathematisch-statistische Zugänge, ökonomische Überlegungen, organisatorisch-bürokratische Kompetenzen und besondere Führungsqualitäten spielten dabei eine zentrale Rolle. Bevor weitere wichtige thematische Felder ihres Schaffens näher beleuchtet werden, deshalb zunächst ein kurzer Blick auf diese Aspekte ihres Wirkens.

Nicht nur Krankenschwester: Statistikerin, Ökonomin, „Führungskraft“ Nightingales Arbeiten waren auf vielfache Weise eng mit der statistisch-mathematischen Methode verwoben. Berühmt wurde sie für ihre Tortendiagramme (polar area charts oder coxcombs/Hahnenkämme), mit denen sie das Sinken der Sterblichkeit im Krimkrieg eindrucksvoll visualisierte. Im Gegensatz zu einfachen Balkendiagrammen – die sie auch einsetzte – offenbaren diese Darstellungen ein höheres mathematisches Wissen und zeugen von einer Abstrahierung quantitativen Denkens. Die vielfältigen Formen ihrer innovativen Grafiken sollten stets eine optimale Präsentation für die jeweiligen Daten bieten. Sie halfen ihr dabei, ihre Ideen zu formen, vor allem aber sah sie darin eine Hilfestellung für ungeduldige und wenig gebildete Leser. Nightingale hat das Torten- oder Polar-Area-Diagramm zwar nicht erfunden, doch war sie die Erste, die es als visuelle Argumentationshilfe gegenüber Politik und Öffentlichkeit einsetzte. Ihr Verständnis von Statistik stammte von dem Belgier Adolphe Quetelet. Wie er betrachtete sie Statistik als Brücke zwischen einzelnen Beobachtungen und verallgemeinerbarem Wissen. Quetelet schuf dafür den sog. Durchschnittsmenschen. Er war ferner davon überzeugt, dass 172

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natürlich vorkommende Daten, wenn man sie nur richtig erfasste, einer „Normalkurve“ folgten. Mit beiden Methoden versuchte er, Regelmäßigkeiten in großen Datenmengen zu finden. Obwohl nach den Maßstäben der modernen Statistik mit großen Schwächen behaftet, sollte sich dieser Ansatz im 19. Jahrhundert als sehr einflussreich erweisen. Das damit formulierte Konzept sozialer Gesetze zog Nightingale unwiderstehlich an. Sie war sich sicher, dass es „in Gottes Gedanken einen Typus für jede Nation und einen solchen für jedes Individuum“ (CW 5, 65) gebe. Die Vorstellung, dass alle diese von natürlichen Gesetzen beeinflussten Phänomene miteinander interagieren, bildete die zentrale Grundlage ihrer Reformpläne und -hoffnungen. Wo allerdings Quetelet Naturgesetze sah, war für Nightingale Gottes Hand am Werk. Der Belgier lieferte ihr das theoretische und methodische Instrumentarium, um ihren Glauben in sozialen Aktivismus umzuwandeln. Die Skepsis der Sozialwissenschaftler des 19. Jahrhunderts gegenüber der Statistik lag in der Vielzahl der beteiligten Variablen begründet, die nicht kontrollierbar und damit Regelmäßigkeiten oder gar Gesetze kaum formulierbar schienen. Auch Nightingale konnte dieses Problem nicht lösen. Vielmehr suchte sie Vergleichssituationen grafisch darzustellen, wie etwa den Zusammenhang von Sterblichkeit und Hygiene im Krimkrieg in Zusammenarbeit mit William Farr. Nachdem die Armeereform in die Wege geleitet war, wandten die beiden die gleichen Methoden der Datensammlung, Verarbeitung und Darstellung auf Indien und weitere Reformvorhaben an. Dabei zeigt sich, wie intensiv sich Nightingale und Farr in den nationalen und internationalen wissenschaftlichen Diskurs einschalteten. Im Oktober 1858 schrieb sie einen Vortrag für die Tagung der National Association for the Promotion of Social Sciences, in dem sie eine einheitliche Klassifikation der Krankheiten und die standardisierte Erhebung umfassender Krankenhausdaten empfahl. Ein von Nightingale hierzu entwickeltes komplexes Formular wurde an alle britischen Hospitäler verteilt. Farr propagierte eine solchermaßen ausdifferenzierte Krankenhausstatistik 1860 auf dem International Statistical Congress in London. Anlässlich dieses Ereignisses trafen sich wichtige Fachvertreter in Nightingales Haus in der South Street, wofür sie aus Embley alle entbehrlichen Lebensmittel erbat. 173

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Bemerkenswert ist ferner, dass Nightingale ihre Ergebnisse in statistischen Fachzeitschriften publizieren konnte. Bereits 1858 war sie als erste Frau in die Royal Statistical Society aufgenommen worden, 1874 wurde sie Ehrenmitglied der American Statistical Association. Auch auf dem Statistikkongress 1863 in Berlin legte sie einen Beitrag vor. Ein wichtiges Anliegen war ihr die Vermittlung statistischen Wissens. Davon würden, davon war sie überzeugt, Politik und Verwaltung profitieren. Zusammen mit Jowett setzte sie sich für die Aufnahme der „angewandten Statistik“ in das universitäre Curriculum ein und versuchte, einen Lehrstuhl in Oxford zu etablieren. Schon kurz nach ihrem Tod wurde Nightingale ein herausragender Platz in der Geschichte der Sozialstatistik zugesprochen und man stellte sie auf eine Stufe mit Quetelet und Farr. Mary Poovey diskutiert Nightingales Einsatz mathematischer und statistischer Methoden im weiteren Kontext der politischen Ökonomie im viktorianischen England. Viele Zeitgenossen hätten keinen Zusammenhang hergestellt zwischen politischer Ökonomie und ethisch-religiöser Praxis. Doch hatte in der Tat keine Frage so starke ethische Implikationen wie die Frage, was die Klassen einander schuldeten. Im Allgemeinen fokussierte Nightingale vor allem die sozialen und moralischen Aspekte wirtschaftlichen Handelns. Dennoch trug sie weniger zur traditionellen Variante ökonomischen Denkens bei, sondern brachte vielmehr deren langsame Transformation „von einer moralischen Praxis in eine mathematische Wissenschaft“ (Poovey, 2013, 77) voran. Fragt man danach, wie Nightingale in ihrer Zeit, mit ihrer Krankheit und zudem als Frau so ungewöhnliche Leistungen vollbringen konnte, kommen stets ihre Durchsetzungskraft, ihre Führungskompetenzen und ihre administrativ-organisatorischen Fähigkeiten zur Sprache. Abraham Zaleznik, Mitbegründer einer Denkschule, die Führungs- und Organisationstheorie mit psychoanalytischen Überlegungen verbindet, untersucht ihr Leben und Werk unter diesen Prämissen. Er attestiert ihr außergewöhnliche organisatorische Talente und Leadership-Qualitäten, wobei er ihre Strategien zur Mobilisierung von Macht hervorhebt, um ihre Projekte gegen Widerstände durchzusetzen. Für sie als invalide Frau in einer rein maskulin definierten Umgebung seien zunächst ihr 174

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Charisma und ihre Reputation aus dem Krimkrieg wichtige Ressourcen gewesen. Trotz ungünstiger Bedingungen sei es ihr gelungen, ein Team männlicher Mitarbeiter effektiv zu führen. So habe sie in dieser männlichen Welt der Macht – gewissermaßen durch Rollentausch – als agent of change gewirkt und auf indirekte Weise unter subtilem Einsatz ihrer Passivität Führungsqualitäten entwickelt, die keinen Widerstand duldeten. Erste Gehversuche im Hospital in der Harley Street hatten sie intuitiv die Logik der Effektivität erfassen lassen, die 50 Jahre später Kennzeichen wissenschaftlicher Betriebsführung werden sollte, u. a. durch Finanzmanagement und Kostenkontrolle. Auch lernte sie dort, die Führung in der Hand zu behalten, konkurrierende Interessen in ihrem Sinne zu nutzen sowie andere zu steuern. Im Krimeinsatz zeigten sich zum einen ihre Fähigkeit zur Voraussicht, zum anderen ihr Improvisationstalent in ihr fremden hierarchischen Systemen: Während sie einerseits strikte Disziplin wahrte, überging sie andererseits nonchalant Befehlsketten. Umgehungsstrategien wandte sie etwa beim taktischen Rückzug im Konflikt mit Mary Stanley an. Wirtschaftswissenschaftler würdigen sowohl ihre genaue Analyse der Organisationsmängel und Verwerfungen bei der Kostenkontrolle als auch ihre Pionierleistungen im Bereich des Qualitätsmanagements und nennen sie einen apostle of quality, die gezielt die Servicequalität mit statistischen Methoden geprüft habe. Frances Ward untersucht Nightingales Agieren systematisch, indem sie es mit den Voraussetzungen vergleicht, die moderne Leadership-Theorien formulieren: eine Vision entwickeln, einen Weg aufzeigen, andere zum Handeln motivieren, Herausforderungen annehmen und Widerstände antizipieren, Gelegenheiten erkennen, Expertenwissen ansammeln, eine breite Informationsbasis schaffen, komplexe Sachverhalte interpretieren, adressatenbezogen kommunizieren – und all das mit großer Leistungsbereitschaft und Zielstrebigkeit. Damit habe sie Bemerkenswertes erreicht – als agent of change. Nach Zaleznik reicht Nightingales exquisite Bildung nicht aus, um ihre Führungsqualitäten und ihre Durchsetzungskraft zu erklären. Dazu gehöre auch Intuition, die es ihr ermöglicht habe, die Grenzen 175

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ihrer Kultur bei Weitem zu überschreiten. Sie entwickelte die Fähigkeit, mithilfe gut durchdachter Akkumulation und Anwendung von Macht Kontrolle über ihre Umgebung zu gewinnen. Entscheidend dafür war ihre Selbstrepräsentation als bescheidene fromme viktorianische Frau. Dahinter stand eine komplexe, widersprüchliche Persönlichkeit, die eine Möglichkeit zur Selbstverwirklichung suchte. Unter den Bedingungen der viktorianischen Kultur und ihres Geschlechterbildes war für sie die Stimme Gottes nötig, „um sie voranzutreiben, als ob sie gegenüber den Forderungen ihres Egos passiv wäre“ (Zaleznik, 94). Passivität wird in diesem Sinne als eine Form der Selbsttäuschung beschrieben und als die bestmögliche Antwort, um die widerstrebenden Tendenzen ihrer Persönlichkeit zu versöhnen.

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Es ist unbestreitbar, dass Religion und Glaube eine alles durchdringende Rolle in Nightingales Leben spielten. Daher wäre es zu kurz gegriffen, ihre Erweckungserlebnisse nur als Legitimation für den Ausbruch aus ihrem vorherigen Leben zu interpretieren. Einige wichtige Facetten und Entwicklungsstationen wurden bereits angesprochen. Das Ringen um ihren Platz in der Welt und ein für die Zeit angemessenes Gottesbild hatten insbesondere während ihrer Aufenthalte in Rom, Ägypten, Griechenland und Kaiserswerth neue Impulse erhalten. Ein empirisch-rationalistischer Ansatz verband sich dabei aufs Engste mit dem Verlangen nach mystischer Vereinigung mit Gott.

Einflüsse, Prägungen, Entwicklungen Die religiös-spirituelle Suche von Florence Nightingale grundierten vor allem ihre Erweckungserlebnisse. Sie selber berichtete von mindestens vier Gelegenheiten, bei denen sie Gottes Stimme hörte: nach 1837 erneut 1852, bevor sie die Leitung des Hospitals in der Harley Street übernahm, danach vor ihrer Abreise in den Orient und schließlich 1861 nach dem Tod Sidney Herberts. Während ihres gesamten Lebens beschrieb sie daneben immer wieder Gespräche mit Gott. Der 7. Februar erhielt den Charakter eines besonderen Gedenktages; 1887 z. B. feierte sie ihr persönliches 50-jähriges Jubiläum. Die Zeit nach ihrem ersten „call to service“ spiegelt ihren Eifer wider, ihre Berufung ernst zu nehmen. Immer intensiver setzte sie sich mit dem Lebensstil ihrer Schicht und den sozialen Problemen des Landes auseinander, während sie gleichzeitig die Theologie der Staatskirche infrage stellte, zunächst vor allem deren Haltung zur Phi177

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lanthropie und ihren Umgang mit Frauen. Im Mittelpunkt stand die Frage, wo ihr Platz in der Welt und ob sie fähig sei, eigene Ambitionen der völligen Hingabe an Gott zu opfern. Auch die Entscheidung gegen eine Ehe ist in diesem Rahmen zu sehen. Auf ihrer Romreise 1847/48 machte sie Erfahrungen mit katholischer Mystik, Spiritualität und tätiger sozialer Arbeit. Auf dieser Grundlage intensivierte sie in Ägypten die Beschäftigung mit früheren und zeitgenössischen Religionen und Glaubenssystemen. In der sog. Tempelvision verband sie die unterschiedlichen geschichtlichen Zeiten. In dieser Allegorie beschrieb sie anhand mehrerer Tempel, wie jeder einzelne Herrscher des alten Ägypten entweder den Weg des Fortschritts oder den des Scheiterns eingeschlagen habe, je nachdem, ob er seine Aufgabe in Gottes Plan erkannte oder nicht. Moderne Herrscher stünden vor der gleichen Entscheidung. Bei der Entwicklung von Religion sah sie eine Kontinuität von Anfang an, weshalb sie alle sektiererischen Aufspaltungen für sinnlos erachtete. Prägend für ihre Vorstellungen sollten ferner die spätantiken und frühchristlichen hermetischen Schriften werden. Nach diesen kehrten nach dem Tod die Sinne zurück zu ihren Quellen und wurden Teil des Universums, wo sie neue Verbindungen eingingen. Der Geist dagegen steige in himmlische Sphären auf und trete in die Gegenwart Gottes ein. Nightingale zog daraus den Schluss, dass die Seele viele Stufen von Schwierigkeiten bewältigen müsse, bevor sie Vollkommenheit erreiche. In allen Religionen suchte sie ähnliche Vorstellungen aufzufinden. In Ägypten schrieb sie erste Notizen für ihre Suggestions for Thought nieder. Dabei wurde Moses für sie zum Modell: Er hatte bei den Ägyptern eine Religion entdeckt, die er die Juden lehrte. Moses trat damit an die Seite ihres großen Vorbilds Platon. Auch sie sah sich in der Pflicht, den Arbeitern und Handwerkern Englands ein neues, der Zeit angemessenes spirituelles Angebot zu unterbreiten. In Kaiserswerth suchte Nightingale nach Kontinuitäten zur frühchristlichen Kirche, insbesondere nach einem Platz für fromme aktive Frauen. Ihre Lebenskrise nach ihrer Rückkehr war von quälenden religiösen Grübeleien begleitet. Aus dieser Zeit berichtete sie von einem weiteren Ruf Gottes, nun mit der Aufforderung, den Armen eine 178

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„Retterin“ (saviour) zu sein. Der Begriff des „Retters“ ist im Christentum eng mit Christi Erlösungswerk verbunden. In diesem Sinne verwendete ihn Nightingale jedoch nicht, sondern sie fand das Konzept in Platons Hütern, besonderen Personen, die berufen waren, der Gesellschaft Orientierung zu geben. Angesichts dieses neuen, nun nicht mehr passiven Ansatzes erwog sie ernsthaft einen Übertritt zum Katholizismus. Nach der Katholikenemanzipation waren bis zur Jahrhundertmitte sowohl Bistumsstrukturen als auch Klöster neu entstanden und etliche Anhänger der Oxford-Bewegung konvertiert. Andererseits herrschte eine fast schon paranoide Furcht vor päpstlicher Einmischung und Rekatholisierung. Im Austausch mit einem der einflussreichsten Konvertiten, Kardinal Manning, verwarf sie schließlich den Gedanken, obwohl sie das Lebensmodell der sozial aktiven Frauenorden anzog.

Suggestions for Thought Wie bereits erwähnt, wollte Florence Nightingale mit ihren religiösen Überlegungen einen Beitrag gegen die Ausbreitung des Atheismus bei den schnell wachsenden Unterschichten leisten. Die Staatskirche, gelähmt von inneren Spaltungen und Kämpfen um Glaubensdoktrin und Staatseinfluss sowie der Abgrenzung von Rom, schien ihr hier zu versagen. Die massiven demografischen und sozioökonomischen Veränderungen hatten viele Menschen den traditionellen religiösen Praktiken entfremdet. Die Volkszählung von 1851 ergab, dass über fünf Millionen Menschen den Kirchenbesuch aufgegeben hatten. Die Anglikanische Kirche war angesichts der sozialen Probleme überfordert. Während nonkonformistische Gedanken die Gebildeten anzogen, hörten die Handwerker und Arbeiter vielfach gleich ganz auf, in den Gottesdienst zu gehen. Oder sie sahen sich anderswo nach Sinnstiftung um, etwa bei Auguste Comte, der eine Art Humanitätsreligion auf der Basis von Empirie und Vernunft predigte. Nach ihrer Rückkehr aus Kaiserswerth 1851 nahm Florence Nightingale dieses Projekt in Angriff, das ihr nicht zuletzt dabei half, mit ihrer Lebenskrise zurechtzukommen. 179

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In gewisser Weise kann man Nightingale als typisches Produkt des Aufklärungsdenkens betrachten. Dieses ersetzte den in willkürlicher Weise in den Lauf der Welt eingreifenden Gott durch einen Gott, der mit der Schöpfung den Menschen ein System natürlicher Gesetze gegeben hatte, die ab diesem Zeitpunkt das diesseitige Geschehen lenkten, erkennbar mithilfe der Vernunft. Der Mensch als Gestalter der Zukunft ersetzte auf diese Weise Gott als Lenker der Zukunft. Nightingale war überzeugt, dass auch die Gesetze der Gesellschaft wissenschaftlich erfasst werden konnten. Diese sah sie aber nicht als absolute Wahrheiten an, sondern eher als Wahrscheinlichkeiten, die allerdings überall wirkten. Nach dieser positivistischen Wissenschaftsphilosophie wird Wissen durch die Erforschung der realen Welt erworben – und nicht durch Intuition, Introspektion oder den Glauben an Autoritäten. Dadurch könne man erkennen, wann und wie man im Dienste des Guten handeln müsse. An oberster Stelle stand für Florence Nightingale die Verminderung der Kluft zwischen Arm und Reich in einer Gesellschaft, in der fast ein Drittel in Armut lebte. Dabei begann sie immer stärker, das Antlitz Gottes in den Armen und Kranken zu sehen. Sie lehnte die calvinistisch inspirierte Theologie ihrer Zeit als verheerend ab, in der Armut zuallererst mit Sünde assoziiert wurde. Die Armen bräuchten nicht nur materielle Hilfe, sondern eine Theologie, die sei befreie und nicht verdamme. Über eine solche Theologie dachte sie in ihren Suggestions nach. Sie behauptete dabei nicht, die Wahrheit zu kennen, sondern lud die Leser zu einer Suche danach ein – unter Einsatz all ihrer Talente. Dies sei mit Hilfe auch den Armen und Unwissenden möglich. Einen ersten Entwurf schrieb sie 1851/52 nieder: 65 Seiten in drei Kapiteln. Bis Ende der 1850er-Jahre sollte ihr Text dann auf 829 Seiten in drei Bänden anwachsen. Nach dem Krimkrieg kam eine scharfe Sozialkritik an der Institution Familie und den oberen Gesellschaftsschichten hinzu. 1860 schließlich ließ sie das dreibändige Werk, ihren stuff, unter dem Titel Suggestions for Thought to the Searchers of Truth among the Artizans of England in wenigen Exemplaren privat drucken. Einige Personen wurden um Kommentierung gebeten: ihr Vater, Mai Smith, Richard Monckton Milnes, John Stuart Mill und Benjamin Jowett. Mit John Stuart Mill 180

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und Benjamin Jowett kamen auf diese Weise weitere wichtige Personen zu ihrem privat-beruflichen Netzwerk hinzu. Im ersten Band skizzierte Nightingale die Grundlinien ihrer religiös-philosophischen Überzeugungen. Der zweite Band, Practical Deductions betitelt, entfaltete eine detaillierte Bestandsaufnahme des religiösen und gesellschaftlichen Lebens der Zeit und enthält die erwähnte Kritik der viktorianischen Familie. Als Anhang beigegeben wurde der Essay Cassandra. Der dritte Band bindet das zuvor Entwickelte zusammen. Bei den letzten beiden Bänden fehlt der artizan-Zusatz im Titel, vermutlich, weil die dort verhandelten Gegenstände größtenteils irrelevant für diesen Leserkreis waren. Nightingales bereits skizzierte Grundüberzeugungen wurden im Zusammenhang diskutiert: Gottes Gesetze, Bedeutung der Wissenschaften, freier Wille des Menschen, Rolle des Bösen in der Welt, Teilhabe des Menschen an seiner eigenen Erlösung, Perfektibilität des Menschen, Wahrheitsfindung durch harte Arbeit, Leid und Irrtum. Sie stimmte dabei in vielen Aspekten mit den Überzeugungen liberaler Anglikaner der Broad-Church-Bewegung überein. Zu dieser Gruppe vom Anglikanismus enttäuschter Intellektueller zählten Benjamin Jowett, Richard Monckton Milnes und Arthur Clough, die alle zu ihrem Zirkel gehörten. Wie die Unitarier verfochten sie eine ethische Anwendung des Christentums im Gegensatz zu den Doktrinen der Anglikanischen Kirche. Sie kritisierten Erbsünde, ewige Verdammung, Erlösungsdenken und ein wörtliches Verständnis der Bibel. Zudem waren sie der Meinung, dass sich Gott allen Menschen offenbart habe und nicht nur den Christen. In ihren 1862 publizierten Essays and Reviews warben sie für einen intellektuell-wissenschaftlichen Zugang zu Theologie und Bibelstudium. Zusammen mit den kurz vorher veröffentlichten Ansichten Darwins zur Evolutionstheorie in seiner Schrift On the Origin of Species führte dies zu einem Aufschrei unter dem anglikanischen Klerus. Viele Autoren wurden hart sanktioniert und Karrieren blockiert, auch die von Jowett. In ihren Suggestions lieferte Nightingale eine radikale Diagnose der religiösen und gesellschaftlich-kulturellen Fragmentierungen ihrer Zeit und verknüpfte diese Brüche der Moderne mit den Lebensbedingungen von Frauen. Sie unterschied mehrere „Kulturen“, etwa die der artizans 181

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von der der Wohlhabenden, die der Gläubigen von der der Ungläubigen sowie fundamental getrennte Welten für Mütter, Töchter und Schwestern auf der einen Seite und für Väter, Brüder und Söhne auf der anderen. Während die anglikanische Kirche als eine „overidle mother“ ihre weiblichen Kinder vollständig alleine lasse, sei die römisch-katholische Kirche eine „overbusy mother“, die bis zu den Gedanken alles kontrollieren wolle (CW 11, 342). Deshalb schlug sie ein nicht patriarchalisch geprägtes Modell für Religion und Gesellschaft vor, das der Individualität breiten Raum gab und Frauen Entfaltungsmöglichkeiten außerhalb des Hauses eröffnete. Damit versuchte sie eine Neudefinition der viktorianischen Familie, die sie nicht zerstören, sondern ausdehnen wollte. Benjamin Jowett fand Nightingales Ansichten in vielerlei Hinsicht stimulierend, allerdings legte er ohne große Zurückhaltung die Schwächen ihres Werks offen: Zahlreiche Wiederholungen und endlose Abschweifungen störten ihn, vor allem aber ihre bissige Kritik der viktorianischen Familie. Hieraus spreche zu sehr die individuelle Erfahrung, was das Gewicht des Gesagten vermindere und zudem zu schmerzhaften Kommentaren Anlass geben könne. Auch John Stuart Mill lobte die Darstellung, riet aber ebenfalls zu einer Überarbeitung. Das Werk bildete den Beginn eines fruchtbaren Austausches, insbesondere zur Frauenfrage. Die Suggestions wurden zu Lebzeiten Nightingales nicht veröffentlicht, obwohl sie immer wieder darüber nachdachte. Jowett blieb bei seiner Meinung und bot wiederholt seine Hilfe an. Sorge bereitete ihm, dass sie sich erst gar nicht bemühte, ihr Werk in ein anerkanntes theologisches System einzugliedern, sondern leidenschaftlich und emotional allein aus ihrer eigenen Erfahrungsperspektive argumentierte.

Glaube, Gottesbild, Weltbild Florence Nightingale war davon überzeugt, dass jeder Mensch ohne Klerus und Riten Gottes Gegenwart erfahren könne. Wege und Mechanismen, einen veränderten Bewusstseinszustand zu erreichen, hatte sie durch ihr dreaming über lange Jahre eingeübt. In ihrer Jugend sog sie die Ideen Platons ein, der die materielle Welt als einen mit Mängeln 182

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Glaube, Gottesbild, Weltbild

behafteten Ausdruck einer transzendenten Realität betrachtete. In Ägypten beschäftigte sie sich mit hermetischen und gnostischen Schriften. Besonders angeregt wurde ihr Denken von den katholischen Mystikern. Calabria ist der Meinung, dass Nightingale wohl nie den letzten Schritt der Vereinigung mit Gott erreicht habe, weil sie ihr Reformwerk ständig in harte politische und persönliche Kämpfe getrieben habe. Webb wendet dagegen ein, dass für Nightingale die mystische Erfahrung nicht durch Rückzug zu erreichen war, sondern durch Handeln in der Welt. Dass dies kein Widerspruch sein musste, zeigte ihr ihre spirituelle Mentorin, die Nonne Mary Clare Moore. Nightingale trat in ihren tranceähnlichen Zuständen immer wieder in Kontakt mit Gott, wobei ihre Schilderungen den Eindruck einer starken Intimität, einer fast schon alltäglichen Nähe erwecken. Alles in allem brauchte sie eine Theologie, die ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten als Fingerzeig Gottes erklären konnte, und ein Gottesbild, in dem sie zusammen mit ihm sein Werk tun konnte. Seit jungen Jahren hatte sie gegen kirchliche Doktrinen rebelliert. Der Determinismus der Calvinisten habe alle Freiheit verweigert, das Erlösungsdenken der Katholiken ein schreckerregendes Gottesbild entstehen lassen. Die Erlösung durch den Kreuzestod Christi schien ihr barbarisch. Mit ewiger Verdammung durch die Erbsünde konnte sie sich ebenso wenig anfreunden. Fehler waren für sie keine Sünden, die zu bestrafen waren, sondern Möglichkeiten, um zu lernen. Auch Vorsehungsglaube, Trinitätslehre und Wunder passten für sie nicht mehr in eine Zeit von Wissenschaft und Reform. Ohne Rücksicht auf theologische Doktrinen oder philosophische Kategorien orientierten sich Nightingales Reflexionen vor allem an der Erfahrung. Der Dreh- und Angelpunkt dabei war die Existenz gottgegebener universaler Gesetze, die der Mensch erkennen und danach handeln müsse. Zentral war für sie dabei das Johannesevangelium: Gottes Reich im Menschen und Gottes Reich in der Welt. Wie Platon glaubte sie an eine objektive Wahrheit, die über das menschliche Denken hinausging und von ihm unabhängig war. Diese könne man Schritt für Schritt verstehen lernen und sich so dem vollkommenen Wesen annähern. Dies funktioniere nicht durch Riten, sondern nur durch innere Hinwendung, wobei der Geist Gottes helfe, 183

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die menschlichen Fähigkeiten zu entfalten. Wissenschaftliche Erkenntnisse seien allen zugänglich, der Geist wirke in jedem Menschen. Zwei Dinge helfen dabei: die richtige Organisation der Gesellschaft, die die Menschen in die Lage versetzt, ihre Talente zu entwickeln, und besondere „Retter“, die gegen Irrtümer und Ignoranz arbeiteten. Nightingale ging dabei von einer kontinuierlichen Offenbarung des göttlichen Selbst seit Anbeginn der Zeiten aus: sowohl durch die universalen Gesetze als auch dadurch, dass die Menschen ihre Talente auslebten. Gott ist in Nightingales Vorstellung vollkommen, sein Charakter Güte, Weisheit und Kraft. Leiden sei eine Möglichkeit voranzukommen, besser zu verstehen und dann auf dem Weg des Glücks voranzuschreiten, indem man das Leiden beseitige. Das Leid erhält hier eine neue Funktion, denn in der christlichen Tradition hatte man dessen Ursache entweder in der Moral der Menschen oder als Produkt der Natur verortet. Nightingales Theodizee versuchte, drei Ideen zu verbinden: Gott als allmächtiger Schöpfer – Gott als das Gute – die Präsenz des Bösen. Vor allem aus ihren Briefen an Jowett spricht der obsessive Wunsch, Gott zu kennen, und gleichzeitig ihre Weigerung, ihn konkret zu definieren: Die Frage nach dem „Charakter“ Gottes ließ sie zeitlebens nicht los. Wie viele ihrer Zeitgenossen lehnte Nightingale die traditionelle Lehre von Himmel und Hölle als konkrete Orte ab und interpretierte das himmlische Königreich als Zustand der Präsenz Gottes. Dabei erfahre die unsterbliche Seele sukzessive Reinkarnationen in dieser Welt oder in anderen Sphären. Die Leugnung der ewigen Verdammnis und die Deutung der Hölle als Abwesenheit Gottes, die die Broad Church verfocht, hatte das anglikanische Establishment zurückgewiesen. Nightingale fand hingegen die Vorstellung einer nach dem Tod fortgeführten Arbeit für und mit Gott viel vernünftiger als ewige Hölle oder Himmel. Das Leben auf Erden war für sie ein Prozess hin zu immer mehr Perfektion im Sinne des Guten. Gott habe die Menschen geschaffen, so ihre revolutionäre Ansicht, aber diese schufen sich auch ihren Gott: „Die Menschen müssen sich ihren Gott machen bis sie einen finden können“ (CW 11, 346). Überhaupt war sie überzeugt davon, dass sich die Menschen auf dem Weg zur Perfektion dem Göttlichen annäherten und dabei ihre Gottesvorstellung immer wieder neu anpassten. 184

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Ein weiblicher Christus?

Nightingales neue Religion war ein Aufruf zum Handeln. Gottes Bedeutung müsse praktische Effekte im Alltag der Armen und Kranken haben. Das erwarte Gott von den Menschen, keinen unterwürfigen Gehorsam oder Verehrung. Die Menschheit bekam dabei die Rolle eines „Mit-Schöpfers“, die sich selbst auf dem Weg zur Vollkommenheit voranbrachte. Gotteserkenntnis erfolge nicht nur durch Bibel und Kirche, sondern vor allem durch Erfahrung, durch Wissen. Jeder könne Gott in seinem jeweiligen Umfeld hören und dies anderen mitteilen. Jeder habe die Verpflichtung, nach Gottes Gesetzen zu suchen. In diesem Sinne war jeder eine Art Priester, der heiliges Wissen ansammeln konnte. Außerdem sende der Geist Gottes immer wieder „Retter“, wie etwa Galileo Galilei, Kopernikus, Newton, Bentham, John Stuart Mill – und sie selbst. Man hat Nightingale oft ihre absolute Konzentration auf ihre Arbeit vorgehalten. Doch in ihrem Verständnis hatte sie eine Mission wie Christus, der dafür ebenfalls Familie und Freunde hinter sich gelassen hatte. Ihre Theologie enthielt revolutionäres Potenzial für Menschen in hoffnungslosen Situationen. Neben Schuld, Gewissensbissen und Scheitern stand die Gewissheit eines Gottes, der mit ihnen kämpfte, der sie drängte, aus ihrer Situation zu lernen und sich auf den Weg zu ihrer Befreiung zu machen. Während etwa das Book of Common Prayer Krankheit immer noch als Gottes Strafe und Heilung als Wunder betrachtete, sah Nightingale in einer solchen Interpretation eine Geringschätzung Gottes. Ihr Gottes- und Weltbild war ständiger Gesprächsstoff mit Jowett. Beide forderten sie tiefgreifende Veränderungen, doch waren sie uneinig über den Weg dorthin. Während Nightingale einen Neubeginn ohne Rückgriff auf alte Doktrinen auf der Basis von Erfahrung und Gewissen wollte, sah Jowett diesen Ansatz als zu abstrakt für die meisten Menschen an. Eine Neuinterpretation alter Formen schien ihm sinnvoller.

Ein weiblicher Christus? Im Essay Cassandra findet sich der bedeutungsschwere Satz: „Der nächste Christus wird vielleicht ein weiblicher Christus sein.“ (CW 11, 589) In näherer Zukunft sei dies aber eher unwahrscheinlich, denn es 185

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sei keine Frau in Sicht, die sich dafür eigne. Das liege daran, dass das weibliche Geschlecht dazu erzogen werde, seine gottgegebenen Talente zu ignorieren und stattdessen wie bunte Schmetterlinge die Welt zu beglücken. Und selbst wenn eine solche Frau existieren sollte, würde die viktorianische Gesellschaft kaum das spirituelle, intellektuelle oder politische Denken von Frauen ernst nehmen. Man würde einen weiblichen Christus schlicht und einfach nicht erkennen. Weil weibliche Stimmen in der Theologiegeschichte bewusst zum Verstummen gebracht wurden, war sie sich sicher, konzentrierten sich die viktorianischen Frauen, ohne Vorbilder und Orientierungsfiguren, auf weltliche Dinge. Die Gottesvorstellungen einer Gesellschaft wirkten sich – davon war Nightingale überzeugt – auf die intellektuellen, spirituellen und politischen Möglichkeiten von Frauen aus. Das Christentum und die viktorianische Familie sperrten Frauen im Haus ein und blockierten damit die Entfaltung ihrer Talente und Energien. Diesen Zustand beschrieb sie anschaulich mit Körpermetaphern. So sprach sie von einem seelisch-geistigen Hungerzustand und von Zwangsernährung. Sie ging dabei sogar so weit, die Passion Christi mit den Leiden der Frauen zu parallelisieren. Nightingales „weiblicher Christus“ muss jenseits des traditionellen Erlösungskonzeptes gesehen werden, denn sie glaubte nicht an eine einzige Inkarnation Gottes in Jesus. Auf der Basis des Johannesevangeliums argumentierte sie, dass der Geist Gottes nach Jesu Tod in der Gemeinde sein würde und diese zur Wahrheit führe. Dieser Geist sei auch allen Nachfolgern Christi versprochen worden. Während er prinzipiell in allen wohne, seien „Retter“ besonders begabte, von Gott berufene Personen. Als sie Cassandra schrieb, hatte sie gerade den „Ruf “ erhalten, ein solcher „Retter“ zu sein. Manche argumentieren, sie habe für sich selbst eine Johannes dem Täufer analoge Position beansprucht, um einem weiblichen Christus den Weg zu bereiten. Obwohl sie glaubte, einem männlichen Gott zu dienen, zeigen etwa ihre Bibelannotationen, dass sie die postulierte Maskulinität Gottes irritierte. So ergänzte sie gelegentlich „daughters“, wo nur „son“ stand. Beim Apostel Paulus findet sich ein Vermerk: „Paula“. Sie betonte immer wieder, wie notwendig der mütterliche Aspekt Gottes sei. Dabei vermischte sie vorchristliches Gedankengut mit christlichen Vorstel186

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Ein weiblicher Christus?

lungen. Auch ihre Interpretation des Sündenfalls ist außergewöhnlich. Für sie führte dieser nicht zur Verdammung der Menschen, sondern war vielmehr der Beginn des Erlösungswerks. Dabei ist Eva die Heldin, während Adam eher als verweichlicht dargestellt wird. Zudem ließ sie nicht gelten, dass Adam eine engere Beziehung zu Gott gehabt habe als Eva. Das Gegenteil sei der Fall, denn die intime Kommunikation, die Frauen möglich sei, könnten Männer kaum erreichen. Hier setzte sie unverhohlen die viktorianischen Geschlechtervorstellungen für ihre Zwecke ein. Nightingales Eva ist die Vorläuferin ihres weiblichen Messias. Die Vorstellung einer Erlöserin gab es bereits bei einigen Sekten des englischen Bürgerkriegs, sie tauchte erneut auf als Antwort auf die Französische Revolution, die prophetisch-apokalyptisches Denken förderte. Nightingale war auch mit dem Gedankengut radikaler Gruppen wie der Frühsozialisten vertraut, deren Utopien teilweise einen weiblichen Messias kannten, ebenso mit dem der Shaker, die in Ann Lee, der Begründerin ihrer Kirche, die weibliche Inkarnation Christi sahen, oder den Mormonen mit ihrer Himmlischen Mutter. Sie sah sich wohl zu einer Art Co-Erlöser-Rolle berufen und verband ihr eigenes Leiden mit dem Christi. Der Jungfrau Maria fühlte sie sich tief verbunden und verwendete für sich die Bezeichnung „Dienerin des Herrn“, wie dies für jene üblich war. Die Marienverehrung der Katholiken verdammte sie nicht: Sie hatte Verständnis dafür, wenn diese die Gottesmutter vor den hartherzigen biblischen Gott stellten. Nightingale arbeitete für eine Erlösung in dieser Welt, die eine Veränderung der gesellschaftlichen Gegebenheiten einschloss. Zu diesem Zweck wurde Gott demokratisiert. Christliche Dogmen über Eva, Maria und das Geschlecht des Erlösers wurden in Zweifel gezogen. Einige sehen hier zentrale Positionen der feministischen Theologie des 20. Jahrhunderts vorweggenommen, während andere zu bedenken geben, dass Nightingale weibliche Charaktere in ihren Bibelannotationen keineswegs hervorgehoben und sie sich allein mit der Figur des Josef identifiziert habe. Wie immer man den Feminismus Nightingales einordnen mag: Ihre theologische Infragestellung der zeitgenössischen Geschlechter- und Klassenpolitik war von einer kaum verborgenen Radikalität. Sie ist ein 187

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Religion und Theologie

aufschlussreiches Beispiel dafür, dass Religion und Theologie in den Händen von Frauen nicht nur der Befestigung des Status quo dienen konnten, sondern auch zu dessen Unterminierung. Kurz nach Nightingales Tod zog Lytton Strachey ihre theologisch-philosophischen Reflexionen ins Lächerliche. Seine despektierliche Kritik begründete er zum einen mit ihren „unangemessenen“ intellektuellen Ambitionen, zum anderen mit ihrer unorthodoxen, materialistischen Perspektive. Sie sei eben nur eine „Empirikerin“ gewesen, die das Theologische auf unzulässige Weise mit dem Persönlichen vermengt habe. Ein System abstrakter Philosophie zu schaffen sei ihre Sache nicht gewesen. Sicher ist: Es gab kein Modell für die Form von weltlicher Berufung, zu der sie sich von Gott aufgefordert fühlte. Manche meinen, sie habe sich daher selbst ein solches geschaffen, mit einem Grad von Selbstaufopferung und Hingabe, wie dies etwa katholische Reformer bzw. Mystiker, wie etwa Teresa von Ávila, getan hatten.

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Krankenhäuser und öffentliches Gesundheitswesen (1856–1870)

Der Krimkrieg und seine Aufarbeitung und damit die Gesundheit der Soldaten bildeten den Ausgangspunkt und die zentrale Motivation für Florence Nightingales weitere gesundheitsreformerische Aktivitäten. In der Regel arbeitete sie an mehreren Themen gleichzeitig, und diese waren meist auch inhaltlich auf vielfache Weise miteinander verschränkt. Der Klarheit halber werden diese Handlungsfelder hier getrennt vorgestellt. In dem ersten Jahrzehnt bis etwa 1870 widmete sie sich zunächst dem Krankenhausbau und schrieb einen Pflegeratgeber für ein breiteres Publikum, bevor sie 1860 die Gründung ihrer Krankenpflegeschule in Angriff nahm. Etwa zur gleichen Zeit beschäftigte sie sich mit der Etablierung einer systematischen Hebammenausbildung, bevor dann ab Mitte der 1860er-Jahre die Versorgung der Kranken und Invaliden in den Arbeitshäusern stärker in den Fokus rückte. Immer lief die Umsetzung der angestoßenen Reformmaßnahmen in der Armee mit: weibliche Pflege in Militärkrankenhäusern, Verbesserung der Situation der Militärärzte, gesundheitszuträgliche Bedingungen in den Kasernen. Daneben war sie in die Gründung des britischen Roten Kreuzes involviert und wurde im Deutsch-Französischen Krieg von beiden Kontrahenten um Rat gebeten.

Gesundheit und Krankheit, Heilung und Vorbeugung Was das Thema Gesundheit angeht, so folgte Florence Nightingale einem sehr modern wirkenden holistischen Ansatz, in dem der Prävention ein herausragender Platz zukam. Der Mensch hatte für sie biologische, psychologische, soziale und spirituelle Bedürfnisse. Während 189

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Krankenhäuser und öffentliches Gesundheitswesen (1856–1870)

ihres ganzen langen Lebens hielt sie an der Überzeugung fest, dass man sich systematisch um die Gesundheit kümmern müsse, nicht bloß um die Kranken. Und Gesundheit war für sie immer mehr als nur die Abwesenheit von Krankheit. Ihrer Ansicht nach konnten sowohl die Medizin als auch die Chirurgie lediglich Hindernisse für den Heilungsprozess aus dem Weg räumen. Heilen könne allein die Natur. Der Chirurg entferne etwa eine Kugel, die Natur heile die Wunde. Zur Wiederherstellung der Gesundheit brauche der Körper natürliche Faktoren wie frische Luft, Licht, Wärme, Ruhe, Sauberkeit und angemessene Nahrung. Dementsprechend war für sie die Pflege wichtiger als die Medizin, die ohnehin gegen die meisten Krankheiten machtlos war und der sie generell sehr kritisch gegenüberstand. Das allgemeine Prinzip von Krankheiten bestand für Nightingale im Versuch des Körpers, im Rahmen eines natürlichen Prozesses Schäden zu reparieren, die etwa durch Verfall oder Vergiftungen, möglicherweise schon lange Zeit zuvor, entstanden waren. Schmerzen waren nach dieser Lesart keine Krankheitssymptome, sondern Behinderungen des natürlichen Gesundungsprozesses, bedingt durch den Mangel an den oben genannten Faktoren. Während ihres gesamten Lebens wurde Nightingale nicht müde, die essentielle Bedeutung guter Umwelt-, Lebens- und Arbeitsbedingungen zu propagieren: frische Luft, sauberes Trinkwasser, hygienische Wohnverhältnisse. Aber selbst bei der größten Sorgfalt seien nicht alle Krankheiten zu vermeiden. Dann sollte man zunächst zu den am wenigsten radikalen Maßnahmen greifen, und das am besten zu Hause. Im 19. Jahrhundert war der Hausbesuch üblich, wenn überhaupt ein Arzt konsultiert wurde. Praxen gab es nur wenige. Das Krankenhaus aber – so zeigte die Erfahrung – war ein gefährlicher Ort mit hoher Sterblichkeit. Wer es sich leisten konnte, ließ sich privat zu Hause pflegen. Für alle anderen schien ihr die Einrichtung eines flächendeckenden, öffentlich organisierten Bezirkspflegesystems die beste Lösung. Wenn ein Aufenthalt im Hospital nicht zu vermeiden war, sollten die Kranken so schnell wie möglich in Einrichtungen für Rekonvaleszente verlegt werden, idealerweise auf dem Land. In einer fernen Zukunft, etwa im Jahr 2000, so hoffte sie, könnten Krankenhäuser ganz überflüssig werden. 190

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Gesundheit und Krankheit

Wie bereits erwähnt, stand die Städtehygiene spätestens seit den Choleraausbrüchen der 1830er-Jahre auf der politischen Agenda. Kanalisation, Toiletten, Fäkalienabfuhr, Müllbeseitigung, Trinkwasserversorgung und Flussverunreinigung, ungesunde Mietskasernen und Lebensmittelverfälschung waren Dauerbrenner während der folgenden Jahrzehnte. 1842 hatte Edwin Chadwick seinen bahnbrechenden Bericht über die gesundheitliche Lage der arbeitenden Klassen veröffentlicht. Seitdem gehörte Nightingale zu den begeisterten sanitarians, eine Überzeugung, die der Krimkrieg weiter gefestigt hatte. Chadwick ermutigte sie, ihr nationales Prestige für die Weiterentwicklung sanitärer Reformen einzusetzen. Die sanitarians, darunter auch Farr und Sutherland, agierten auf der Grundlage der Miasmentheorie. Miasmen, ungesunde Ausdünstungen des Bodens, assoziiert meist mit Gestank und Gärung, wurden als unspezifische Krankheitsverursacher verstanden, während die Keimtheorie jeder Krankheit einen bestimmten Erreger zuwies. Letztere sollte sich erst im letzten Drittel des Jahrhunderts langsam durchsetzen. Joseph Lister, der „Erfinder“ der Antisepsis, verwendete ab Mitte der 1860er-Jahre Karbolsäure und sprach von kleinen Organismen in der Luft. Sein System war allerdings anfänglich vor allem in England sehr umstritten. Der Durchbruch der Keimtheorie kam mit den Entdeckungen Robert Kochs und Louis Pasteurs Ende der 1870er-Jahre. Dies war – entgegen früherer Einschätzungen – ein langsamer und keineswegs linearer Prozess. Um 1885 schloss sich Nightingale dieser Theorie an. Jedoch wird ihr noch in jüngerer Zeit unterstellt, dass sie die Keimtheorie erst sehr spät akzeptiert oder sogar bis zu ihrem Tod abgelehnt und damit den Fortschritt in den Krankenhäusern gebremst und viel Schaden angerichtet habe. Die Thematik hatte für sie unterschiedliche Dimensionen, die man differenziert betrachten muss. In ihren frühen Arbeiten lehnte sie den Kontagionismus, die Idee der Ansteckung von Mensch zu Mensch, vehement ab, hielt dies aber bei bestimmten Krankheiten, wie den Pocken, für möglich. Als sie ihre Arbeit in den 1850er-Jahren begann, argumentierte sie mit der Miasmentheorie auf der Basis des medizinischen Wissens ihrer Zeit. Sie sah sich zudem von der Empirie bestätigt: In der Praxis konnte dasselbe ver191

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Krankenhäuser und öffentliches Gesundheitswesen (1856–1870)

schmutzte Trinkwasser Typhus, Durchfall oder Cholera auslösen und ein mückenverseuchter Sumpf Malaria oder Gelbfieber. Wenn sie von Krankheitsursachen sprach, meinte sie immer das Medium, in dem sich Krankheiten entwickelten. 1866 sprach sie von „spezifischen Krankheitsbedingungen“ (CW 12, 15). Ab spätestens 1873 vermittelte ihre Pflegeschule neben allgemeiner Reinlichkeit immer intensiver Kenntnisse über Desinfektionsmethoden und Antisepsis. Auch dem Kontakt mit Wunden und der Vermeidung von Blutvergiftungen wurde große Aufmerksamkeit gewidmet: „finger poisoning“ (CW 12, 16), wie sie es nannte, galt es mit allen Mitteln zu verhindern. Vermutlich war es Sutherland, der 1884 ein Mikroskop anschaffte, um den von Koch entdeckten Choleraerreger zu sehen, der sie schließlich von der Keimtheorie überzeugte. Für Nightingale hatte dies aber deshalb keine größeren praktischen Folgen, weil die Entdeckung spezifischer Erreger vor der Einführung von Impfungen und Antibiotika zunächst keinerlei zusätzlichen therapeutischen Nutzen brachte. Also blieb sie bei ihren strikten Hygieneregeln und verschärfte sie. Obwohl auf nach heutigem Wissen „falschen“ Vorstellungen basierend, waren bereits vor ihrer Konversion zur Keimtheorie ihre Präventionsmethoden zweifellos das Mittel der Wahl, um Infektionen im Krankenhaus zu bekämpfen. Trotzdem gibt es vereinzelte Hinweise, dass etwa in den 1890er-Jahren Antisepsis und Asepsis in anderen europäischen Ländern, etwa in Finnland, schon weiter entwickelt waren. Als Nightingale – in diesem Fall 1896 – davon erfuhr, nahm sie diese Anregungen sofort auf. Die Miasmentheorie hatte jedoch politisch-ethische Implikationen, die für Nightingale wichtiger waren als die rein medizinisch-wissenschaftlichen Aspekte. Sie passte gut in ihr allgemeines Gesundheitskonzept und Weltbild, demzufolge es in der persönlichen Verantwortung jedes Einzelnen lag, wie er mit der Bedrohung des Lebens durch Krankheiten umging. Damit eröffnete sie dem Individuum Handlungsmöglichkeiten, wie dies die Keimtheorie nicht in dieser Dimension vorsah. Verlangte die Miasmentheorie tätiges Engagement zur Beseitigung von Schmutz aller Art und individuelle Sorge für ein gesundheitszuträgliches Leben, schien die Keimtheorie den Betroffenen zur Passivität zu verurteilen und ihn zum Objekt staatlich verordneter Maßnahmen wie 192

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Krankenhäuser, die nicht krank machen

Quarantänen und Cordons sanitaires zu machen. Außerdem wurde letztere als Bedrohung für Sanitärreformen allgemein begriffen, weil die Sauberkeit der Umwelt damit ihre Priorität zu verlieren drohte. Öffentliche Gelder für kostspielige Investitionen, etwa in Kanalisationsprojekte, konnten versiegen. Und die Angst vor einer Ansteckung, so fürchtete Nightingale, konnte nicht zuletzt zur Vernachlässigung der Pflege führen.

Krankenhäuser, die nicht krank machen: Notes on Hospitals (1859/1863) Mit Krankenhäusern und Krankenhausbau hatte sich Florence Nightingale schon seit Langem beschäftigt, Einrichtungen in ganz Europa besucht und große Mengen an Informationsmaterial zusammengetragen. Nimmt man ihre Erfahrungen aus dem Krimkrieg hinzu, so galt sie Ende der 1850er-Jahre als die europäische Spezialistin schlechthin. Die öffentlichen Krankenhäuser eines Landes waren für sie ein Gradmesser für Zivilisation überhaupt und Krankenhausreformen essentielle Voraussetzungen für Reformen in der Pflege. Denn Pflege und medizinische Versorgung konnten dort wenig ausrichten, wo die Örtlichkeiten überfüllt, die Kanalisation defekt und die Lüftung unzureichend waren und das Personal unter unwürdigsten Bedingungen arbeiten und leben musste. Auf dem Gebiet des Krankenhausbaus konnten die Sanitärreformer ihre hygienischen Vorstellungen weitgehend durchsetzen. Das neue Krankenhaus wurde im sog. Pavillonstil errichtet, einem Ensemble weitgehend voneinander isolierter kleinerer Einheiten, um die Verbreitung und Begünstigung von Krankheiten zu verhindern. Auf einem gesundheitszuträglichen Gelände, in adäquat ausgestatteten und hygienisch einwandfreien Räumlichkeiten mit viel Licht und Luft sollten geeignete Rahmenbedingungen für eine „moderne“ Krankenpflege entstehen. Ausgangspunkt von Florence Nightingales Überlegungen war zunächst der Bau eines allgemeinen Militärkrankenhauses in Netley, das noch nach dem alten, „ungesunden“ System geplant worden war. 193

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Krankenhäuser und öffentliches Gesundheitswesen (1856–1870)

Dessen Weiterbau konnte sie zwar trotz einer intensiven Pressekampagne nicht mehr stoppen, doch die Zukunft gehörte dem Pavillon-Stil, wie dies bereits im Kommissionsbericht zur Armeereform fixiert worden war. Nightingale war nicht die Erfinderin dieses Systems, doch sie spielte eine wichtige Rolle für seine Durchsetzung und Verbreitung. Das zweite, 1859 errichtete Militärhospital in Woolwich folgte bereits diesem Prinzip, inspiriert von ähnlichen Bauten auf dem Kontinent, vor allem in Frankreich und Belgien. Diese Einrichtung, später nach dem verstorbenen Sidney Herbert benannt, entwickelte sich schnell zum Modell für Krankenhäuser allgemein und der Pavillonstil zum Vorbild weltweit, der bis ins 20. Jahrhundert die Krankenhausarchitektur prägte. Unterstützung bekam Nightingale sowohl von Architekten, in deren Fachjournalen sie publizieren konnte, als auch von ärztlicher Seite. Ihre Vorstellungen formulierte sie zunächst in einem Beitrag für die Tagung der Association for the Promotion of Social Science 1858. Diese Überlegungen gingen ein in ein größeres Werk, das sie 1859 unter dem Titel Notes on Hospitals publizierte. 1863 erschien eine erheblich erweiterte Ausgabe mit ausführlichen Richtlinien für verschiedene Typen von Krankenhäusern und detaillierten Vorgaben für alle erdenklichen Aspekte: Licht, Luft, Zahl der Betten pro Raum, geeignete Materialien für Wände, Böden und Mobiliar, ein gesundheitszuträglicher Bauplatz ohne Staunässe, eine die Arbeitsabläufe unterstützende Ausgestaltung der Krankensäle. Im Zentrum der Überlegungen stand neben ausreichend großen Räumlichkeiten deren adäquate Belüftung, die penibel genau berechnet wurde: 2500 Kubikfuß pro Bett schienen angemessen – die Verhältnisse in Scutari standen als abschreckendes Beispiel immer im Raum. Die Pathologie war von den Krankenräumen zu trennen, ebenso sollten keine Autopsien im OP vorgenommen werden. Auch Ausdünstungen aus Küche und Wäscherei hielt man für gefährlich. Wegen der gefürchteten Miasmen war der Bau eines Krankenhauses in der Nähe eines Friedhofs kategorisch ausgeschlossen. Die Entscheidung für große Säle mag heutige Leser verwundern, doch waren diese vor der Einführung moderner Ruf- und elektronischer Monitoring-Systeme notwendig, um eine kontinuierliche Überwachung der Patienten zu gewährleisten. Etwa 40 Kranke – so die Mei194

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nung – könne eine gut ausgebildete Schwester durchaus beaufsichtigen. Darüber hinaus waren „moralische“ Gesichtspunkte von Belang, womit verklausuliert das Risiko sexueller Übergriffe beschrieben wurde. Deshalb wurden getrennte Männer- und Frauensäle auf verschiedenen Stockwerken ebenso befürwortet wie die Vermeidung dunkler Ecken durch die Architekten. Insbesondere für Nachtschwestern gab es spezielle Anweisungen. Aus der Perspektive des 20. Jahrhunderts wurden diese Überlegungen als ungebührliche Überwachung des Personals kritisiert. Manches, worauf Nightingale besonderen Wert legte, ist heute obsolet, so wie das Pavillonsystem insgesamt. Auch das Schwesternheim gehört dazu. In einer Zeit jedoch, in der die Pflegerinnen in aller Regel ledig waren und das Krankenhauspersonal noch oft in dunklen Ecken oder Verschlägen nächtigen musste, galten andere Prioritäten. Adäquate Aufenthalts- wie Wohnräume waren Nightingale stets ein wichtiges Anliegen. So bestand sie z. B. auf einem Minimum an Privatsphäre in einer Zeit, in der nicht selten mehrere Personen schichtweise in einem Bett schlafen mussten. Gemeinsames Wohnen in angenehmer Umgebung förderte ihrer Ansicht nach Arbeitsqualität, Disziplin und Moral und schuf den nötigen Corpsgeist. Im Vorwort der Auflage der Notes on Hospitals von 1863 hieß es klarsichtig, die wichtigste Aufgabe eines Krankenhauses müsse es sein, den Patienten nicht zu schaden – eine sehr modern anmutende Feststellung, die wegen der hohen Sterblichkeitsziffern jede Berechtigung hatte. Allerdings überstiegen Nightingales Kalkulationen nicht selten das zur Verfügung stehende Budget, und Kompromisse wurden nötig. Begründete Kritik musste sie sich später gefallen lassen, als sich die Keimtheorie sukzessive durchgesetzt hatte und sie zunächst trotzdem hartnäckig an großen Krankensälen festhielt und eine Isolation infektiöser Patienten in kleineren Räumen sowie die separate Unterbringung chirurgischer Fälle ablehnte. Von der Ärzteschaft kam nicht nur Applaus. Eine Rezension in der Medical Times and Gazette etwa verneinte, dass Todesfälle im Krankenhaus überhaupt mit hygienisch-sanitären Mängeln zusammenhingen, und machte sich über Nightingales Statistiken lustig. William Farr widersprach dem in einem Leserbrief und erhielt eine abgewogene Antwort des Herausgebers. 195

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Krankenhäuser und öffentliches Gesundheitswesen (1856–1870)

Die Krankenabteilungen der Arbeitshäuser sollten idealerweise ebenfalls in Gebäuden untergebracht werden, die im Pavillon-Stil errichtet wurden. Da auf einen Patienten in einem regulären zivilen Krankenhaus etwa fünf in Arbeitshäusern kamen, waren gesundheitszuträgliche workhouse infirmeries eine beträchtliche Herausforderung, die Nightingale über Jahrzehnte hinweg intensiv beschäftigte. Krankenhausbau und -planung wurden zu einer lebenslangen Aufgabe. Auf diesem Feld arbeitete sie eng mit dem Ingenieur Douglas Galton zusammen, der zunächst Untersekretär im Kriegsministerium und später Direktor für öffentliche Arbeiten und Bauten sowie Mitarbeiter der Londoner Armenbehörde war. Während sie Ziele und allgemeine Prinzipien formulierte, kümmerte er sich um deren technische Umsetzbarkeit. Eine gleichermaßen enge Arbeitsbeziehung entwickelte sich zu Robert Rawlinson, einem Mitstreiter aus dem Krimkrieg. Über 40 Jahre lang war er ihr wichtigster Berater für Wasserversorgungs- und Kanalisationsprojekte. Normalerweise schickte sie ihre ersten Pläne an Sutherland und/oder Galton für eine zweite Meinung. Die Anfragen aus dem In- und Ausland waren zahlreich. Man sandte Planungsunterlagen, Nightingale prüfte und schlug Verbesserungen vor. Auf Bitten der preußischen Kronprinzessin, der ältesten Tochter Königin Victorias, kommentierten Nightingale und Sutherland die Pläne für das allgemeine städtische Krankenhaus in Berlin-Friedrichshain. Errichtet zwischen 1868 und 1874 als erstes deutsches Krankenhaus im Pavillonsystem, wurde es zum Modell für Deutschland und Österreich. Korrespondenzen mit dem Architekten Gropius oder mit Rudolf Virchow sind leider nicht überliefert. Mit der Großherzogin Luise von Baden tauschte sich Nightingale ebenfalls in Sachen Krankenhausbau aus. Der 1871 eröffnete Neubau des St. Thomas Krankenhauses in London, an dem Nightingale 1860 ihre Krankenpflegeschule angesiedelt hatte, wurde zum Flaggschiff britischer Pavillon-Krankenhäuser, wenngleich ihre Vorstellungen nicht vollständig berücksichtigt wurden. Nicht einmal die Mobilisierung Prinz Alberts hatte geholfen, einen „gesünderen“ Bauplatz durchzusetzen, denn die Lage am Südufer der Themse gegenüber dem Parlament, mit Staunässe im Boden und den Gezeiten des Flusses ausgesetzt, schien ihr denkbar ungeeignet. In diesen Jahren 196

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Pflegewissen für alle: Notes on Nursing

sprach man im Zentrum der Hauptstadt zudem vom great stink als Folge der massiven Einleitung von Abwässern in die Themse. Florence Nightingales Ansichten zum Krankenhauswesen haben sich zwar über die Jahre ausdifferenziert, jedoch nicht wesentlich verändert. In einem Artikel aus dem Jahr 1889/90 fasste sie ihre Grundsätze nochmals zusammen. Drei Prinzipien vor allen Dingen seien zu berücksichtigen: hygienischer Krankenhausbau mit sauberer Luft draußen und drinnen, eine funktionierende Verwaltung mit finanzieller Expertise und professionelle Pflege. In der Administration waren für Ärzte lediglich beratende, aber keine exekutiven Kompetenzen vorgesehen. Das Pflegepersonal wiederum sollte nur der Oberin unterstehen, die ihrerseits dem Verwaltungsrat, aber nicht den Ärzten verantwortlich war. Unabdingbar war für sie eine adäquate Krankenhausstatistik. Hier sah sie enorme Mängel. Statistiken sollten ihrer Meinung nach zunächst keine Ursachenforschung betreiben, sondern die Zustände erfassen. Und sie sollten die Wirkungen einer Reform dokumentieren, bevor sie auf ein anderes Krankenhaus übertragen wurde.

Pflegewissen für alle: Notes on Nursing (1860) Bei den 1860 erschienenen Bemerkungen zur Krankenpflege (Notes on Nursing), der erfolgreichsten Publikation Nightingales, handelte es sich nicht um ein Handbuch für angehende Krankenschwestern, wie man meinen könnte. Eine Anregung von Edwin Chadwick aufgreifend, waren sie gedacht als Ratgeber für die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit zu Hause. In diesem Sinne richtete sich das Buch vor allem an Frauen und junge Mädchen, insbesondere aus den unteren Schichten. Es sollte eine Anleitung zur Selbstermächtigung sein, zum autonomen Lernen, und verfolgte damit einen Ansatz, den die Pflegehistorikerin Noel-Ann Bradshaw als durchaus radikal einordnet. Die Vorstellung, dass sich Frauen selbstverantwortlich um die Funktionen ihres Körpers und die Umwelt ihrer Familie kümmern sollten, war in dieser Form neu. In einer sehr prägnanten und eindringlichen Sprache vermittelte Nightingale hygienische Grundsätze und ihre Vorstellungen von 197

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Krankenhäuser und öffentliches Gesundheitswesen (1856–1870)

Heilung und Prävention. Während ihr schon beschriebenes Konzept von Heilung dem modernen Leser fremd erscheinen muss, ist das dazugehörige Pflegekonzept weiterhin hochaktuell. Es ging vor allem darum, pflegerischen und hygienischen Rat zu vermitteln, den man anwenden konnte, bevor der Arzt eingriff. Und es sind die bereits mehrfach genannten Faktoren, die im Mittelpunkt stehen: Temperatur, Luft, Licht, Nahrung, gepaart mit praktischen Hinweisen für den Umgang mit häufigen Krankheiten. Daneben hatte Prävention einen großen Stellenwert. In seinem Kommentar zu einer ersten Version des Textes riet Sutherland zu einfacherer Sprache und zur Abmilderung der Kritik an den Ärzten. Das Werk verkaufte sich bestens – 15.000 Exemplare in einem Monat –, und auch die Kritiken waren sehr gut. Zum ersten Mal nach dem Krieg hatte sich Nightingale öffentlich für breitere Schichten zu Wort gemeldet. Nach Problemen mit dem Verleger kaufte sie ihm das Copyright ab und vereinbarte den Druck zweier weiterer Editionen, jeweils für unterschiedliche Adressatenkreise. In einer ausführlicheren Version wurden die Pflegehinweise an die Erfordernisse in Krankenhäusern angepasst. Ein zusätzliches Kapitel widmete sich der Frage, was eine gute Pflegerin ausmache, und betonte, dass Hingabe und Gehorsam bei Weitem nicht ausreichten. Eine dritte Ausgabe für sechs Pence erschien unter dem Titel Notes on Nursing for the labouring classes und wandte sich damit direkt an die Unterschichten. Die Sprache wurde weiter vereinfacht und ein Kapitel zur Säuglingspflege hinzugefügt, das insbesondere für Mädchen gedacht war, die sich um ihre jüngeren Geschwister kümmern mussten. Die Ausgabe von 1868 wurde um weitere Themen ergänzt. Eine Überarbeitung von 1875 blieb unveröffentlicht, sprach aber wiederum neue Aspekte an, wie die „Degeneration der Rasse“ durch Rauchen und Alkohol, Kanalisationsprobleme und die Gefahren gepanschter Milch. Nightingales Notes on Nursing zeigen deutlich, welche gesellschaftliche Funktion das von den Mittelklassen getragene sanitary movement dem weiblichen Geschlecht zuschrieb. Durch ihren Beitrag für Sauberkeit und Hygiene förderten sie die Gesundheit der Bevölkerung und bewahrten diese vor Degeneration im weitesten Sinne. Sie war davon überzeugt, dass eine gesunde Nation die dynamische Kraft des „morali198

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Die schwierigen Anfänge der Pflegeausbildung

schen“ Einflusses der Frauen brauche. Sauberkeit diente in diesem Sinne als ein alles durchdringendes, leitendes Konzept. Wie durch Reinlichkeit des Körpers und der Wohnung im Privaten Ordnung geschaffen werde, so müsse dies ebenso in der Gesellschaft insgesamt geschehen. Frauen kam somit eine zentrale Rolle bei der Belehrung und Überwachung der Unterschichten zu, wodurch man hoffte, soziale Ängste zu vermindern und die viktorianische Klassengesellschaft durch ein Mehr an „moralischer“ Reinlichkeit zu stabilisieren. Die private weibliche Rolle in der Familie erhielt damit eine weitere Dimension in Richtung öffentlicher Verantwortlichkeit. Man hat die Bemerkungen zur Krankenpflege auch als ein Überlebenszeugnis bezeichnet, das den Wandel der Autorin durch ihre Erfahrungen im Orient dokumentiert. Während aus dem vor dem Krimkrieg verfassten Text Cassandra eine wütende, frustrierte, machtlose Frau spricht, offenbaren die Notes on Nursing eine selbstbewusste, von ihrer Expertise überzeugte Nightingale, die sich im männlichen Kosmos des Intellekts und des Wissens positioniert und für sich in Anspruch nimmt, klare Regeln für einen großen Teil der Bevölkerung zu definieren.

Die schwierigen Anfänge der Pflegeausbildung (1860–1870) Wie bereits angesprochen setzten Pflegereformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts langsam ein, als einzelne Ärzte begannen, in ihren Krankensälen Unterricht zu erteilen. Systematische Veränderungen brachte die anglikanische Schwesternschaft von St. John’s House, die eine erste Pflegeschule einrichtete, und zwar als zweistufiges System. Den Pflegerinnen aus der Arbeiterschicht winkten ein gutes Gehalt, bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie systematische Unterweisung am Krankenbett. Die Anbindung an die religiöse Korporation verlieh zudem Respektabilität. Den Damen der besseren Gesellschaft bot die Schwesternschaft eine interessante und herausfordernde Beschäftigung, die sich problemlos in die traditionelle philanthropische Arbeit einordnen ließ und damit ihren gesellschaftlichen Status nicht bedrohte. 199

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Krankenhäuser und öffentliches Gesundheitswesen (1856–1870)

1856 übernahmen die Schwestern von St. John’s House die Pflege am King’s College Hospital, einem der großen Londoner Lehrkrankenhäuser. Weitere Schwesternschaften in anderen Hospitälern sollten bald folgen. Ende der 1850er-Jahre bemühten sich viele dieser Einrichtungen um bessere Rahmenbedingungen für die Pflege, oft unter erbitterten Kämpfen um die immer knappen Finanzmittel. Dazu gehörte die Einstellung von mehr Reinigungskräften, aber auch die bessere Verpflegung und Unterbringung des Pflegepersonals. Dies war die Situation, als Florence Nightingale aus dem Orient zurückkehrte. Erst seit Kurzem werden diese grundlegenden Reformen „vor Nightingale“ gewürdigt, die der Glanz der Heldin aus dem Krimkrieg lange völlig verdunkelt hatte. Neben ihr gab es lange Zeit nur die Karikatur einer Pflegerin im Stile von Charles Dickens. Hier eine abwägende Neubewertung vorzunehmen ist umso notwendiger, als sich Nightingale bei der Konzeption ihrer Pflegeschule in vielerlei Aspekten am St. John’s House orientierte, dessen Leiterin Mary Jones ihr eine vertraute Freundin und Ratgeberin werden sollte. Die Krankenpflegeschule, der sie ihre Berühmtheit verdankt, öffnete am Londoner St. Thomas Hospital im Sommer 1860 ihre Pforten. Sie wurde finanziert vom Nightingale Fund. Diese während des Krimkriegs initiierte Stiftung wollte die Leistung der nationalen Heldin dadurch würdigen, dass sie ihr die Gründung einer Ausbildungsinstitution für Pflegekräfte ermöglichte. 1858 hatte Nightingale versucht, sich aus dem Vorhaben zurückzuziehen, doch Herbert hatte dringend davon abgeraten. Zwei Jahre später war eine Entscheidung nicht mehr länger hinauszuzögern. In den Jahren vor ihrem Einsatz im Orient hatte Nightingale immer wieder die Notwendigkeit guter und systematischer Unterweisung betont. In ihrer Position in der Harley Street war die Einrichtung einer Pflegeschule nicht möglich gewesen, und so hatte sie Vorbereitungen getroffen, dafür an das größere King’s College Hospital zu wechseln. Bekanntlich kam Scutari dazwischen. Nightingale hatte von Anfang an gewisse Vorbehalte gegen das Projekt. Als die Idee entstand, war sie in Scutari mit ganz anderen Problemen beschäftigt und fühlte sich nicht in der Lage, weitergehende Zukunftspläne zu schmieden. Doch eine kategorische Ablehnung schien 200

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Die schwierigen Anfänge der Pflegeausbildung

aus vielerlei Gründen nicht opportun. Also akzeptierte sie dankbar, aber keineswegs enthusiastisch. Bei ihrer Rückkehr waren ihre Überlegungen nur wenig konkreter geworden. Nightingale war mit den Armeereformen in England und Indien sowie ihren Projekten zum Krankenhausbau beschäftigt und hatte sich damit ein enormes Arbeitspensum aufgeladen. Zudem glaubte sie, dass ihr nicht mehr viel Zeit bliebe, und zögerte daher, etwas Neues in Angriff zu nehmen. Außerdem war sie unsicher, wie ein solches Vorhaben überhaupt sinnvoll ins Werk zu setzen wäre. Die Erwartungen an sie waren groß, und sie fürchtete, dass sich Erfolge womöglich erst nach Jahren des Experimentierens einstellen würden. Für Nightingale war die Pflege ein von der Medizin getrenntes Wissens- und Arbeitsgebiet. Ihre Schwestern sollten gewissermaßen als Missionarinnen wirken und sanitär-hygienische Doktrinen verbreiten. Wo aber waren die gebildeten Frauen, die fähig wären, die Auszubildenden zu unterweisen? Dazu kamen die erbitterten religiösen Auseinandersetzungen. Die neue Krankenpflegeschule durfte daher nicht konfessionell gebunden sein. Dies bedeutete, dass sie zwei Personen, deren Expertise sie sehr schätzte, nicht direkt einbeziehen konnte: Mary Clare Moore, die Oberin der katholischen Bermondsey-Nonnen, und Mary Jones, die Leiterin des anglikanischen St. John’s House. Beider Erfahrungen sollten trotzdem das Konzept der späteren Schule grundlegend prägen. Der Stiftung stand eine beträchtliche Summe von über 44.000 Pfund zur Verfügung. Dass Nightingale nicht, wie ursprünglich angedacht, die Schule selber leitete, hatte verschiedene Gründe. Neben ihrer angeschlagenen Gesundheit und der Arbeitsüberlastung gehörte dazu ihre Bekanntheit: Sie war eine Berühmtheit, etwas Ungewohntes und Neues für eine Frau in der viktorianischen Gesellschaft, wenn sie nicht der königlichen Familie angehörte. Eine lady aber hatte die Öffentlichkeit zu meiden, denn dort agierende Frauen kamen schnell in den Ruch der Unmoral. Es waren rein pragmatische Gründe, die dazu führten, dass die Nightingale School am St. Thomas Hospital angesiedelt wurde, denn dieses galt weder als besonders gut geführt noch als sehr fortschrittlich orientiert. Zum einen schätzte Nightingale die Oberin Sarah Wardroper, 201

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Krankenhäuser und öffentliches Gesundheitswesen (1856–1870)

deren Leistungen als Hauswirtschaftsleiterin sie beeindruckten. Zum anderen praktizierte dort mit Richard Whitfield ein Arzt, der bereit war, Krankenpflegerinnen zu unterrichten. Zudem schien der geplante Neubau des Hospitals eine besondere Chance zu bieten, unter optimalen Rahmenbedingungen eine neue Form der Pflegeausbildung zu realisieren. Als schwere Hypothek sollte sich jedoch das ungleiche Kräfteverhältnis zwischen Nightingale Fund und Krankenhausverwaltung erweisen. Zusammen mit Whitfield setzte die Verwaltung durch, dass Wardroper auch zur Leiterin der Pflegeschule ernannt wurde. Diese war allerdings eine Oberin alten Stils und verfügte über keinerlei Pflegeerfahrung. So ist es nicht verwunderlich, dass bald Probleme auftraten. Dabei hatte sich Nightingale keineswegs blauäugig in das Projekt gestürzt: Dies sei zwar nicht der beste, wohl aber der zur Zeit bestmögliche Weg für einen Anfang, kommentierte sie 1859, und die ersten Jahre würden zwangsläufig bescheiden sein. Sie sollte recht behalten. Sarah Wardroper bekam umfassende Kompetenzen zugesprochen. Sie suchte die Kandidatinnen aus, sie konnte sie auch wieder entlassen. Ihr bzw. der Krankenhausleitung unterstand die Schule. Die Stiftung hatte so gut wie keine Mitspracherechte, finanzierte jedoch die Auszubildenden. Für die ersten 15 Pflegeschülerinnen zahlte sie 800 Pfund im Jahr, womit Kost und Logis sowie ein kleines Salär von 10 Pfund pro Person abgedeckt waren. Whitfield und Wardroper sicherten sich hingegen opulente Vergütungen. Das Angebot eines Dreijahresvertrags sollte ordentliche Frauen aus den unteren Klassen anziehen. Doch diese waren nicht einfach zu finden. Bei vielen fehlten etwa elementare Lese- und Schreibkenntnisse, sie mussten jedoch Berichte verfassen und die Aufschriften der Medikamentenfläschchen entziffern können. Nightingale hatte ursprünglich weder die Unterteilung der Kandidatinnen in mehr oder weniger Gebildete beabsichtigt noch besonderes Interesse an der Rekrutierung höhergestellter Damen gezeigt. Respektable Frauen aus der Arbeiterschicht hielt sie für weitaus besser geeignet. Nach einigen Jahren ging man trotzdem zu einem zweistufigen System über. Die nurse-probationers erhielten ihre Ausbildung kostenlos und bekamen ein kleines Gehalt, 202

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Die schwierigen Anfänge der Pflegeausbildung

die lady-probationers zahlten für Unterricht, Kost und Logis. Erstere wurden mit ihren Nachnamen gerufen, letztere „Miss“ genannt. Das Quentchen Prestige für die ladies sollte eine kleine Kompensation für die vielen Erschwernisse sein, die die tägliche Arbeit mit sich brachte. Hier war Nightingale unerbittlich, trotz heftiger Kritik, sie halte damit gebildete Frauen vom Beruf fern. Für sie war klar, dass „die lady zusammen mit ihrer Köchin ausgebildet werden“ müsse (Bostridge, 368). Auch von höheren Damen wurde demnach erwartet, dass sie kochen, putzen und den Umgang mit fremden Körpern lernten. Sie erhielten jedoch mehr theoretischen Unterricht und mehr Zeit zum Selbststudium. Die Unterscheidung war daher wohl nicht (nur) dem Snobismus geschuldet, wie einige Kritiker meinen, sondern hatte mit dem Bildungsgrad der Kandidatinnen zu tun. Dahinter stand die Vorstellung, für jede Frau jeder Klasse und jeder religiösen Zugehörigkeit, ob bezahlt oder unbezahlt, die sich für die Pflege eignete, die bestmögliche Ausbildung zu gewährleisten. Allerdings war es für Nightingale keine Frage, dass die besser Qualifizierten künftig die Stellungen der Oberinnen erhielten. Ab Mai 1860 wurden in Zeitungsanzeigen Bewerberinnen gesucht, die nicht tranken und redlich, ehrlich, vertrauenswürdig, pünktlich, ruhig und ordentlich waren – in dieser Reihenfolge. Außerdem musste jede ein Charakterzeugnis vorlegen. Mit der Eröffnung der Nightingale School am 24. Juni 1860 existierte erstmals eine Möglichkeit, sich außerhalb einer religiösen Gemeinschaft in der Pflege ausbilden zu lassen. Obwohl es keine Gelübde gab, wurde wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass es sich bei der Berufung zur Pflege um eine heilige Angelegenheit handelte. Erstaunlicherweise wurde in den ersten Jahren kein konzises Ausbildungskonzept formuliert, sondern es blieb bei vagen Vereinbarungen. Eine Liste von 13 Punkten umriss die Lerninhalte. Ärztlicher Unterricht war vorgesehen, dies wurde jedoch nicht weiter präzisiert. Aber wie konnte eine systematische pflegerische Unterweisung gewährleistet werden, wenn dies von den mehr oder weniger ungeschulten Kräften zu übernehmen war, die das Krankenhaus beschäftigte? Der im Juni 1860 begonnene erste Kurs vermittelte fast ausschließlich praktische Kenntnisse für die Arbeit am Krankenbett, wobei die Auszubildenden 203

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(zumindest theoretisch) streng überwacht und über ihr Verhalten und ihre Fortschritte genau Buch geführt werden sollte. Kam das Komitee der Stiftung nach einem Jahr zu dem Ergebnis, die Ausbildung sei erfolgreich abgeschlossen worden, erfolgte der Eintrag in ein Schwestern-Register. Entweder wurden die Absolventinnen dann vom Krankenhaus übernommen oder sie konnten vom Nightingale Fund in andere Häuser entsandt werden – üblicherweise als Team. Die Krankenhausleitung hatte kein besonderes Interesse an der Ausbildung der Kandidatinnen, sondern lediglich an deren Arbeitskraft. So ersetzten die Pflegeschülerinnen nicht selten vorher vom Hospital bezahltes Personal. Das Problem war, dass die Stiftung dagegen nicht vorgehen konnte. So drängte das Krankenhaus darauf, möglichst viele aufzunehmen; die Verträge ähnelten denen von Dienstbotinnen. 1865 fingen bereits 38 Frauen mit ihrer Ausbildung an. In den 1860er-Jahren, und vor allem ab 1862, als das Krankenhaus ein wenig geeignetes Übergangsquartier in einem Vorort bezog, bevor 1871 das neu errichtete St. Thomas Hospital am Ufer der Themse fertiggestellt war, häufte sich somit eine ganze Reihe von Schwierigkeiten an, in die die wichtigsten Akteure involviert waren. Weder Wardroper noch Whitfield erfüllten die ihnen zugedachten Funktionen. Beide hatten vermutlich ein ernstes Alkoholproblem, beide waren wegen Krankheiten und familiärer Angelegenheiten oft abwesend, und Whitfield scheint zudem den Pflegeschülerinnen nachgestellt zu haben. Als es Nightingale ab 1867 langsam besser ging, hatte sie zwar etwas mehr Zeit für die Schule, doch die Beziehungen zur Krankenhausverwaltung blieben denkbar schlecht. Grundsätzlich wies das St. Thomas Hospital Einmischungen von außen, die die Autorität Whitfields und Wardropers hätten einschränken können, kategorisch zurück. Ein Pflegesystem und eine dazugehörige Schule unter einer – fachlich versierten – Oberin als unabhängige Leiterin des Pflegepersonals konnten unter diesen Umständen nicht entstehen. Insgesamt hatte Florence Nightingale in den ersten Jahren relativ wenig mit ihrer Krankenpflegeschule zu tun. In der Tat scheint sich zunächst hinsichtlich der Pflege und der Zustände im Krankenhaus nicht viel verändert zu haben. Der Unterricht sei kaum der Rede wert gewesen, die Abbrecherquote hoch, der Einfluss des 204

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Nightingale-Prinzips werde viel zu hoch eingeschätzt, kritisieren etliche moderne Pflegehistorikerinnen, wie Monica Baly, Judith Godden oder Carol Helmstadter. Neuere Studien betonen die Leistungen der religiösen Schwesternschaften, die auch Sue Hawkins hervorhebt. Nach Baly hatte Nightingale zudem lange nicht erkannt, dass mehr als nur Startschwierigkeiten ihr Experiment gefährdeten. Man mag die Leistungen der Schule in ihrem ersten Jahrzehnt im Einzelnen unterschiedlich bewerten, es ist aber gut nachvollziehbar, dass sich Nightingale, beschäftigt mit den mannigfachen Problemen der Armeereform in England und Indien, geplagt von Schmerzen und verzweifelt über den Tod enger Freunde, zunächst mit kleinen Schritten im Rahmen des Möglichen zufrieden gab.

Kranke in Arbeitshäusern Zur Mitte des Jahrhunderts waren die Krankenabteilungen der Arbeitshäuser wenig mehr als separate Schlafsäle, um die sich arbeitsfähige Insassinnen, sog. pauper nurses, kümmerten. In den folgenden Jahrzehnten entstanden dann zunehmend separate Gebäude, richtige Krankenhäuser, in denen immer mehr medizinische Hilfe und professionelle Pflege angeboten wurde. Doch dies war ein sehr langsamer Prozess. Das 1834 reformierte Armenrecht hatte über 600 Armenrechtsbezirke (poor law unions) geschaffen, die unter der Kontrolle Londons von lokal gewählten Ausschüssen verwaltet wurden. Nach diesem neuen System war Hilfe in Not nur noch bei Eintritt in ein Arbeitshaus zu bekommen. Binnen Kurzem bestand der Großteil der Insassen jedoch aus kranken Erwachsenen, alten Menschen, Invaliden und Kindern, deren Eltern sie nicht unterhalten konnten. Zu dieser Zeit gab es weder eine Unfallversicherung noch Alters- oder Invalidenrente. Das Problem der Krankenversorgung hatte man bei der Armenrechtsreform nicht gründlich genug bedacht. Arbeitsfähige waren deutlich in der Minderzahl, denn die Bedingungen in den workhouses waren so hart, dass dort nur diejenigen anklopften, die keinen anderen Ausweg mehr sahen. In den 1860er-Jahren wurden die Verhältnisse in diesen Einrichtungen zu einem öffentlich leidenschaftlich diskutierten Thema. Damit 205

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rückte auch die oft desolate Situation der dort untergebrachten Kranken immer stärker ins Blickfeld. Fehlende Pflege und medizinische Versorgung wurden durch mangelhafte Hygiene und überbordenden Schmutz weiter verschlimmert. Extrem überbelegt waren diese Einrichtungen sowieso. Bereits seit mindestens 20 Jahren beschäftigte diese Problematik die Sozialreformer. Zur Jahrhundertmitte gab es erste Pläne, die pauper nurses auszubilden. Angedacht war die Unterweisung weiblicher Insassen zur Krankenbetreuung im Arbeitshaus oder als ambulante Hilfen. Zudem plante man, diese Arbeitskräfte zur Finanzierung der Einrichtung „auszuleihen“. Auf längere Sicht sollten damit die Frauen befähigt werden, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Die Initiative verlief im Sande, denn es gab kaum Kandidatinnen und auch kein Arbeitshaus, das eine Ausbildung hätte anbieten können. Andere Reformer zweifelten grundsätzlich an Moral und charakterlicher Eignung der pauper nurses für eine solche Aufgabe. Bereits seit den 1840er-Jahren hatte sich Florence Nightingale mit der Thematik befasst und Arbeitshäuser besucht. Während des Krimkriegs konkretisierte sich bei ihr die Idee, dort ausgebildete Pflegerinnen einzusetzen. In den „freiwilligen“ Krankenhäusern (voluntary hospitals), die sich aus wohltätigen Spenden und Subskriptionen finanzierten, war der Pflege- und Versorgungsstandard bis in die 1860er-Jahre deutlich gestiegen. In den Arbeitshäusern aber mussten fünfmal so viele Patienten versorgt werden, denn dort war etwa ein Drittel der Insassen krank. Völlig zu Recht sprach die Presse deshalb davon, dass die Krankenabteilungen der Londoner workhouses zu großen, vom Staat betriebenen Hospitälern geworden seien. Florence Nightingale hielt das gesamte Armenrecht für ungeeignet: Der Steuerzahler werde belastet und den Bedürftigen nicht geholfen. Ihre Pflegepläne für Arbeitshäuser waren daher Teil eines umfassenden Reformprojekts, das auf die Abschaffung von Strafen abzielte – mit Ausnahme der unwilligen Arbeitsfähigen. Seit der Jahrhundertmitte hatten sich die kritischen Stimmen gemehrt und die Verbesserungsvorschläge vervielfacht. Hinter der 1858 gegründeten Workhouse Visiting Society unter Louisa Twining stand die Idee, dass sich lady visitors von innen heraus für Veränderungen einsetzen sollten. Die Ärzteschaft hatte ih206

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rerseits eine Vereinigung zur Reform der Londoner Arbeitshäuser geschaffen und eine Untersuchung der Zustände veranlasst. Nightingale formulierte das anspruchsvolle Ziel, dass dort die Versorgung nicht schlechter sein solle als in den besten Londoner Hospitälern. 1864 startete sie ein kleines Pilotprojekt in Liverpool auf Initiative des lokalen Philanthropen William Rathbone. Dieser hatte bereits erfolgreich mit einem Bezirkspflegesystem experimentiert und dafür Frauen ausbilden lassen. Nun finanzierte er für das riesige Arbeitshaus eine Oberin und zunächst zwölf Pflegerinnen. Agnes Jones hatte nach 18 Monaten in Kaiserswerth ein Jahr lang die Nightingale School besucht und dann in einem großen Londoner Krankenhaus gearbeitet. Ihre Auswahl sollte sich trotz ihrer stramm evangelikalen Ausrichtung als Glücksfall erweisen. Jones verglich das Arbeitshaus, eines der größten Englands, mit Dantes Inferno: 1200 Patienten in drei Abteilungen, 37 pauper nurses – mit allen bekannten Problemen. Nightingale fühlte sich an Scutari erinnert und sandte ermutigende Botschaften. Ein scharfer Disput hinsichtlich der Weisungsgewalt über die Pflegerinnen brachte das Projekt fast zum Scheitern, doch nach einem Kompromiss und zwei Jahren Arbeit zeigten sich erste deutliche Erfolge. Der Rückschlag kam auf dem Fuß, als Agnes Jones bereits 1868 an Typhus starb. Eine passende Nachfolgerin war lange nicht zu finden, was den weiteren Ausbau des Systems verzögerte. Ein spektakulärer Todesfall in einem Arbeitshaus 1864 – ein 28-jähriger irischer Arbeiter war wegen Vernachlässigung gestorben – gab Anlass zu einer Untersuchung der Zustände in der Hauptstadt, deren erschreckende Ergebnisse im Jahr darauf publiziert wurden. Das traurige Ereignis lieferte Nightingale einen guten Grund, noch stärker auf die allgemeine Einführung ausgebildeten Personals in Arbeitshäusern zu dringen. Liverpool wurde schnell zum Modell, wobei zuerst London und dann das ganze Land in den Blick genommen wurden. Ende 1864 überzeugte sie den Vorsitzenden der Armenrechtsbehörde in der Hauptstadt, einem ersten bescheidenen Experiment mit vom Nightingale Fund finanzierten Schwestern zuzustimmen. Daraus entwickelte sich eine enge Kooperation, die eine grundlegende Reform voranbringen wollte. Hierbei arbeitete Nightingale eng mit dem „Verein zur 207

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Verbesserung der Krankenabteilungen der Arbeitshäuser“ zusammen, dem u. a. Charles Dickens und John Stuart Mill angehörten. Sie konnte schon bald einige Erfolge vorweisen, da die Armenpflege durch hohe Arbeitslosigkeit und immer wiederkehrende Choleraepidemien unter besonderem Druck stand. Ein erster Gesetzentwurf ging Florence Nightingale jedoch längst nicht weit genug, und sie wandte sich direkt an Premierminister Palmerston, der sie vertröstete. In ihrem ABC of Workhouse Reform forderte sie erstens die Trennung der Kranken, Unheilbaren und vor allem der Kinder vom Rest der Insassen. Zweitens hielt sie eine zentrale Verwaltung im Sinne der Effizienz und Sparsamkeit für unbedingt notwendig. Und schließlich sollte eine allgemeine, in der Hauptstadtregion erhobene Steuer die Finanzierung absichern. Nach dem Tod Palmerstons im Oktober 1865 kam das Projekt unter der neuen Regierung zunächst zum Stillstand, doch der öffentliche Druck blieb. Nightingale mobilisierte ihr eng geknüpftes Netz von Verwandten, Bekannten und wissenschaftlich-professionellen Kontakten und konnte erreichen, dass Teile ihres Konzepts, das auf dem Liverpooler Modell aufbaute, berücksichtigt wurden. Doch insgesamt war das neue Gesetz für sie eine Enttäuschung, vor allem weil es jedem Arbeitshaus überlassen blieb zu entscheiden, ob es professionelle Pflege einführen wollte oder nicht. Die vorgesehene Errichtung separater Fieberhospitäler und psychiatrischer Einrichtungen begrüßte sie dagegen. Hätte man auch die anderen Kranken ausgelagert, wäre jedoch das gesamte Prinzip des Arbeitshauses quantitativ an sein Ende gekommen. Der Metropolitan Poor Law Act trat im Frühjahr 1867 in Kraft, und im Parlament wurde Nightingales Engagement gewürdigt. In der Tat hatte der Staat damit erstmals seine Verpflichtung anerkannt, Hospitäler für die Armen bereitzustellen, das Fundament des späteren National Health Service. Das neu geschaffene Metropolitan Asylums Board, zuständig für Fieber- und Geisteskranke, erhielt das Recht, Medizinalbeamte zu ernennen und die Behandlung in den Krankenabteilungen der Arbeitshäuser zu organisieren. Dieses System wurde 1868 landesweit ausgedehnt. Dass sich Nightingale nach dem Tod von Agnes Jones 1868 nicht mehr für die Thematik interessiert habe, wie immer wieder von Kriti208

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kern behauptet, entspricht nicht den Tatsachen, im Gegenteil. Die Etablierung professioneller Pflege in Arbeitshäusern beschäftigte sie bis ins hohe Alter, und der Nightingale Fund beteiligte sich an der Finanzierung mehrerer Projekte. Da sich ihr Plan, im Liverpooler Armenhaus eine Ausbildungsstätte einzurichten, nach Jones’ Tod zunächst nicht realisieren ließ, begann die Stiftung 1871 mit der Finanzierung einiger weniger Pflegeschülerinnen im Arbeitshaus von Highgate. Außerdem sandte der Nightingale Fund bis zum Jahrhundertende Teams in etliche workhouses, um dort die Pflege zu reformieren.

Hebammenausbildung und Gebäranstalten Für Florence Nightingale war die Geburt ein natürlicher Vorgang, der in den Kompetenzbereich von Frauen fiel und dort auch bleiben sollte. Seit dem 18. Jahrhundert hatten die Ärzte zunehmend auf das Gebiet der Geburtshilfe Einfluss genommen. Immer häufiger wurden sie zu komplizierten Entbindungen gerufen. Dabei wurde der Einsatz von Instrumenten wie der Zange zum zentralen Unterscheidungsmerkmal ärztlicher Geburtshelfer. Während auf dem Land und in Kleinstädten die meisten Hebammen durch praktische Unterweisung und learning by doing ihre Expertise erwarben, verbreitete sich ab dem 18. Jahrhundert immer schneller eine von Ärzten überwachte Ausbildung von Geburtshelferinnen in Gebäranstalten, wo ebenfalls Medizinstudenten die einschlägigen Fähigkeiten erlernten. Ab 1826 begann die Londoner Gebäranstalt mit Kursen für Pflegerinnen, die zur Entlastung der ärztlichen Geburtshelfer niedere Routinearbeiten und die Nachsorge übernehmen sollten. In den 1840er-Jahren wurden dort dreimal so viele Helferinnen wie Hebammen ausgebildet. Auch für Gebäranstalten und einschlägige Stationen in Krankenhäusern galt: Dort fanden sich nur diejenigen ein, für die eine Hausgeburt nicht möglich war. Als Gegenleistung hatten sie für die geburtshilfliche Ausbildung zur Verfügung zu stehen. Der Statistiker William Farr zeigte sich ab den 1840er-Jahren immer stärker besorgt über die hohe Müttersterblichkeit und ihre Fol209

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gen für die Volksgesundheit. Was man dagegen tun konnte oder sollte, war jedoch höchst umstritten. Während die einen für eine verbesserte Hebammenausbildung plädierten, wollten andere die Mediziner auf diesem Feld intensiver schulen. Zudem mehrten sich die Stimmen, die die ärztliche Geburtshilfe am sinnvollsten bei Vertreterinnen des Fachs aufgehoben sahen. Die traditionellen Landhebammen gerieten dabei zunehmend unter Druck und ihre Methoden in die Kritik. Eine systematische Ausbildung, so hoffte Nightingale, würde diesen traditionellen Frauen-„Beruf “ als weibliche Domäne stärken und zudem eine hochwillkommene Verdienstmöglichkeit bieten. Ihr Fokus lag hier vor allem auf den ärmeren Schichten der Gesellschaft, für die die Hebamme als finanziell erschwingliche Alternative den Arzt ersetzen konnte. Die große Herausforderung bestand darin, eine Hebammenausbildung zu organisieren, ohne dass durch den Aufenthalt in Krankenhäusern oder Gebäranstalten die Sterblichkeit anstieg. Es war bekannt, dass vor allem das Kindbettfieber die Mütter in diesen Einrichtungen überdurchschnittlich oft hinwegraffte – und häufig auch die Kinder. Der Anstoß für die Beschäftigung mit diesem Thema kam von Mary Jones aus dem St. John’s House. Sie schlug vor, verbleibende Mittel des Nightingale Fund in die Ausbildung von Hebammen zu investieren, die für die Geburtshilfe auf dem Land geschult werden sollten. Ab 1861 finanzierte die Stiftung dafür zehn Betten im King’s College Hospital und übernahm die Unterbringungs- und Verpflegungskosten der Auszubildenden des halbjährigen Kurses. Das Unternehmen war als Pilotprojekt gedacht mit dem Ziel, später eine staatliche Hebammenschule für die ländlichen Armen zu etablieren, die Frauen vom Land auf diese Aufgabe vorbereitete. Wie es scheint, waren es vor allem Pfarrgeistliche oder Missionsgesellschaften, die die Kandidatinnen rekrutierten. In fünf Jahren wurden etwa 40 Hebammen ausgebildet. Die großen Hoffnungen Nightingales wurden jedoch schnell enttäuscht. Schon nach sechs Jahren musste die Geburtsstation im Januar 1868 wieder schließen. Zum einen war die Nachfrage nach der Ausbildung relativ gering, mussten doch die Frauen auf ein halbes Jahr Verdienst verzichten, und die meisten Gemeinden wollten dafür nicht 210

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in die Bresche springen. Schwerer für den letztlichen Misserfolg des Experiments wogen zwei weitere Faktoren. Der erste hatte – wie schon so oft – mit der komplizierten konfessionellen Gemengelage zu tun. Die der High Church nahestehende Mary Jones geriet in Konflikt mit dem der Broad Church angehörenden männlichen Leitungsgremium des St. John’s House, das ihre Kompetenzen beschränken wollte, und verließ 1868 mit den meisten ihrer Pflegerinnen die Schwesternschaft. Das zweite Problem war das Kindbettfieber. 33 Todesfälle pro Tausend Geburten standen etwa fünf bei Hausgeburten gegenüber. Die Erreger wurden zwar erst Anfang des 20. Jahrhunderts identifiziert, aber bereits zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatte Ignaz Semmelweis in Wien einen Zusammenhang zwischen den ungewaschenen Händen von Ärzten und Medizinstudenten, die nach Autopsien die Schwangeren untersuchten, und einer erhöhten Müttersterblichkeit gesehen. Seine Entdeckung setzte sich erst mit Verzögerung durch und war zu der Zeit in England, soweit man weiß, kaum bekannt. Wohl aber wurden Überlegungen angestellt, inwieweit die hohe Müttersterblichkeit mit in der Nähe liegenden Sektionsräumen oder dem Aufenthalt der Schwangeren im Krankenhaus an sich zusammenhängen könnte. Denn der Unterschied in der Sterblichkeitsrate konnte niemandem verborgen bleiben. Das Problem war in ganz Europa bekannt, etwa auch in der Gebäranstalt von Paris, der Maternité, deren Hebammenausbildung Nightingale bewunderte. Es ist nicht ganz klar, wann sich Florence Nightingale der Schwere der Problematik bewusst wurde, war sie doch in diesen Jahren mit vielen anderen Projekten beschäftigt. Letztendlich blieb keine andere Lösung, als die Entbindungsstation zu schließen. Damit kamen ebenfalls die Pläne für die Hebammenausbildung zum Stillstand. Nightingale ging die Sache in gewohnter Gründlichkeit an, sammelte Informationen, verzweifelte an fehlendem statistischen Material und führte ihre Überlegungen schließlich in einer kleinen, 1871 erschienenen Publikation zusammen: Introductory Notes on Lying-In Institutions. Trotz der Belastung durch andere Aufgaben und einer heftigen Krankheitsepisode bestärkte sie u. a. das Interesse der preußischen Kronprinzessin Victoria, der ältesten Tochter der Queen, die sie für ihre Krankenhauspläne 211

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Krankenhäuser und öffentliches Gesundheitswesen (1856–1870)

(mit Gebärstationen) konsultierte, das Thema weiterzuverfolgen. Sie verarbeitete viel französisches Material, kannte aber wohl die Arbeiten von Ignaz Semmelweis nicht. In ihrer Broschüre – übrigens die erste zusammenfassende englische Studie zur Sterblichkeit im Kindbett – finden sich die üblichen Ratschläge zur allgemeinen Hygiene. Darüber hinaus kam sie zu dem Ergebnis, dass der Einfluss der Gebäranstalt auf die Sterblichkeit den anderer Faktoren, wie Klasse oder Gesundheitszustand, bei Weitem übertraf. Sie riet, medizinische Interventionen bei Schwangeren auf ein Minimum zu beschränken und Medizinstudenten den Zutritt zu den Abteilungen zu verwehren. Auch sollten Krankenhäuser nicht mehr mit Geburtsstationen verbunden werden. Wo aber sonst war ein sicherer Ort für die Gebärenden zu finden? Hier kam sie zu keinem abschließenden Ergebnis, allerdings war sie davon überzeugt, dass nur relativ kleine Einrichtungen ohne Kontakt zu anderen Kranken infrage kamen. Die Hausgeburt war für sie ohne Zweifel die beste aller Lösungen. Noch 1890, 19 Jahre später, gab es gute Gründe für Nightingale, vor Gebäranstalten und Krankenhäusern zu warnen. Nennenswerte Erfolge bei der Bekämpfung der Sterblichkeit im Wochenbett ließen weiter auf sich warten und waren vor der Einführung von Sulfonamiden in den 1930ern und Antibiotika in den 1950ern überschaubar.

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Indien, die „Perle des Empire“ (1857–1895)

Der Imperialismus und die Konsolidierung des Empire prägten das viktorianische Zeitalter. Einen zentralen Stellenwert darin hatte Indien, das neben der Armeereform und der Krankenpflege das dritte zentrale Themenfeld war, mit dem sich Florence Nightingale ab 1858 dauerhaft befasste. Obwohl sie das Land selber nie besuchen konnte, verschaffte sie sich durch umfassende Lektüre und intensive Gespräche eine so fundierte Kenntnis der Lage auf dem Subkontinent, dass ihre Expertise bis in höchste Regierungskreise geschätzt wurde. Zahlreiche Vizekönige trafen sich mit ihr vor ihrem Amtsantritt und griffen später auf ihren Rat zurück. Bis ins hohe Alter publizierte sie immer wieder zu Indien und behandelte dabei ein breites Spektrum sozialer, wirtschaftlicher, kultureller und gesundheitlicher Themen. Obwohl ihr mitunter zu Recht mangelnde Kenntnis der Lage vor Ort vorgehalten wurde, gab es doch nur wenige Personen in England, die sich mit Indien besser auskannten als Florence Nightingale. Der Ausgangspunkt ihrer Beschäftigung mit dem Land war die Gesundheit der Soldaten. Doch im Laufe der Zeit verschob sich ihr Fokus immer stärker auf grundlegende sozioökonomische und politische Fragen, und sie propagierte eine Vielfalt an Reformen, die die indische Bevölkerung aus Armut und Abhängigkeit befreien und auf diese Weise deren Gesundheit und Lebensbedingungen verbessern sollten.

Die Briten auf dem Subkontinent Das britische Indien im 19. Jahrhundert war größer als der heutige Staat, denn dazu gehörten Burma, Pakistan und Bangladesh. Gleichzeitig war es aber auch kleiner, denn ungefähr ein Drittel des Subkontinents wurde 213

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Indien, die „Perle des Empire“

weiterhin von einheimischen Fürsten regiert. Das riesige Land war in vielerlei Hinsicht höchst heterogen – mit unterschiedlichsten Völkern und Sprachen, Wirtschaftsformen, Klimazonen und Religionen. Neben seiner wirtschaftlichen und geostrategischen Bedeutung nahm Indien auch in der britischen Vorstellungswelt einen wichtigen Platz ein. Das „Juwel des Empire“ mit seinem sprichwörtlichen Reichtum galt als die Heimat des Exotischen par excellence. Stärker ins Bewusstsein der Viktorianer rückte das Land im Gefolge des Sepoy-Aufstands von 1857. Diese Meuterei indischer Truppenteile, ausgelöst durch die Annexion einheimischer Fürstentümer, deren tiefere Gründe aber in der Form des Kolonialregimes lagen, konnte nur mit Mühe unter Kontrolle gebracht werden. Die Erhebung hatte nicht nur viele Todesopfer gefordert, sondern auch massive Zerstörungen mit sich gebracht. Der Aufstand gilt als entscheidende Zäsur der britischen Kolonialgeschichte auf dem Subkontinent, die zu grundlegenden Reformen des Kolonialsystems führte. Die dort bis dahin herrschende East India Company wurde aufgelöst und das Land 1858 direkter britischer Kontrolle unterstellt. 1876 wurde Königin Victoria zur Kaiserin von Indien proklamiert. Im Mutterland hinterließ die Meuterei eine tiefsitzende Angst vor Rebellionen in den Kolonien. Nach der Erhebung trieb man die Modernisierung des Landes voran, die Reform der Indienarmee war integraler Bestandteil derselben. Das British Raj regierte fortan ein Indienminister, dem ein beratendes Gremium, das Council of India, zur Seite stand. Vor Ort leitete der Vizekönig in Kalkutta die größte Kolonialbürokratie der Welt. Territorial gliederte sich Britisch-Indien in drei presidencies, nämlich Kalkutta, Bombay und Madras. In den vier Jahrzehnten, in denen sich Florence Nightingale mit dem Land beschäftigte, entwickelte sich auf dem Subkontinent in der Auseinandersetzung mit der britischen Kolonialpolitik eine gemeinsame politische Identität. Dies führte 1885 zur Gründung des Indischen Nationalkongresses und zu einer gewissen Anpassung des Kolonialsystems, wobei unstrittig ist, dass das oberste Ziel der Briten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Stabilisierung und Erhaltung des Empire war. Sie traten Indien mit dem gleichen Überlegenheitsgefühl entgegen wie anderen Kolonien, ein Teil von ihnen prangerte jedoch Ausbeutung 214

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und schlechte Regierung an, die das Land in den Zeiten der Ostindienkompagnie zu ertragen hatte. An diese hatte die Krone im 17. Jahrhundert ihre Herrschaftsrechte weitgehend abgetreten, was zur Durchsetzung des Prinzips der Gewinnmaximierung in seinen extremsten Formen geführt hatte. Insofern – so der Tenor – hätten die Inder das Recht auf eine gute Regierung, die mit väterlicher Autorität und militärischer Kontrolle Armut und Hunger bekämpfen helfe und westliche Zivilisation bringe. Vor diesem Hintergrund erklären sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die ständigen Forderungen der Inder nach mehr Selbstverwaltungskompetenzen und Rechten, wie sie sie aus der Erklärung von 1833 und der Proklamation der Königin von 1858 ableiteten. Letztere versprach gleichen Zugang zu allen Ämtern ohne Unterschiede der Rassen, nur das Leistungs- und Qualifikationskriterium sollten zählen. In dieser Atmosphäre wuchs die Opposition gegen die britische Herrschaft, deren Träger insbesondere eine nach westlichen Maßstäben erzogene und ausgebildete indische Elite war. Ihre Entstehung hatten die Kolonialbehörden aus purem Eigeninteresse gefördert, denn man brauchte sie schlicht als Mittler, um das Land effektiv beherrschen zu können. Kolonialismus und Imperialismus als solche stellte Nightingale wohl nie grundsätzlich infrage, sie war allerdings der festen Überzeugung, dass die Verpflichtung der Regierung gegenüber dem Gemeinwohl ebenfalls für die Kolonien gelten müsse. Ihr Engagement für Indien muss ferner im Rahmen ihres religiösen Lebensentwurfs gesehen werden. So wie sie Gott im Krimkrieg gedient hatte, so war sie auch hier dazu bereit, ihre Krankheit aber verhinderte ein aktives Engagement vor Ort. Sie fand dafür einen anderen Weg, der sich grob in vier Phasen einteilen lässt. Ausgangspunkt war die gesundheitliche Lage von Armee und Zivilbevölkerung. In den 1870er-Jahren kamen dann Hunger und Hungerprävention durch Bewässerung hinzu. Von da aus erweiterte sie ihren Blick auf die indischen Bauern und die Eigentumsstrukturen auf dem Land (1879–85), bevor in einer letzten Phase ein besonderer Fokus auf die hygienische Sanierung der Dörfer und die Förderung der Frauenbildung und -gesundheit hinzukam. 215

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Indien, die „Perle des Empire“

Die Gesundheit der Kolonialarmee auf dem Prüfstand Bereits unmittelbar nach Ausbruch des Aufstands von 1857 begann Nightingale, die sanitären Bedingungen zu untersuchen, unter denen die britische Armee auf dem Subkontinent ihren Dienst tat. Ihre statistischen Analysen ergaben, dass durch ungesunde Lebensbedingungen hervorgerufene Krankheiten für die hohe Sterblichkeit verantwortlich waren. Parallelen zur Situation im Krimkrieg waren nicht zu übersehen. Zu dieser Zeit arbeitete die von ihr initiierte Königliche Kommission an der Reform der Armee und ihres Sanitätswesens. Angesichts der indischen Problematik konnte sie die Einsetzung eines weiteren Untersuchungsausschusses erreichen, der von 1859 bis 1863 beriet. Nach der Erhebung waren zusätzliche Soldaten entsandt worden, deren Zahl bis 1866 auf 61.000 Mann anwuchs. Keiner zweifelte daran, dass ihre Gesundheit für die Sicherung der Kolonie von entscheidender Bedeutung war. Und die Lage war beunruhigend, ohne dass man damals schon genaue Zahlen zur Verfügung gehabt hätte. Später sollte sich herausstellen, dass die jährliche Todesrate seit 1817 bei 69 ‰, d. h. pro Tausend Einwohner, gelegen hatte und damit dreimal höher war als im Mutterland. Nightingale berechnete außerdem, dass 9 ‰ natürlichen Todesursachen zum Opfer fielen und 60 ‰ infolge ungenügender Hygiene und sanitärer Infrastruktur starben: Pro Regiment mache dies eine Kompagnie aus – und das alle 20 Monate! Das Gesundheitssystem in Indien zur Zeit des Aufstands war weitgehend von traditionellen Formen des Heilens geprägt, in die in den kolonialen Zentren die westliche Medizin schrittweise eindrang. Nightingale mit ihrem europäischen Blick qualifizierte die Verhältnisse schlicht als mittelalterlich. Die Lektüre ihrer Schriften hinterlässt den Eindruck, als habe in Indien keinerlei Gesundheitssystem existiert, das diesen Namen verdient hätte, sondern nur Schmutz, Dreck und Vernachlässigung. Die Engländer hatten demnach bei Null beginnen müssen. Neuere Forschungen weisen jedoch auf weitaus engere Verbindungen beider Gesundheitssysteme und auf kulturelle Austauschprozesse auf medizinischem Gebiet über mehrere Jahrhunderte hin. Der gegenseiti216

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Die Gesundheit der Kolonialarmee auf dem Prüfstand

ge Respekt habe erst mit dem Siegeszug der wissenschaftlichen Medizin abgenommen. Unter dem Vorsitz von Sidney Herbert – der schon bald aus Gesundheitsgründen Lord Stanley Platz machte – gehörten dem Indienausschuss mit Sutherland, Farr und Alexander wichtige Mitstreiter aus dem Krimkrieg an. Auch hier war Florence Nightingale die zentrale Figur, die, ohne jemals persönlich anwesend zu sein, alle Fäden in der Hand behielt. Sie nahm Einfluss auf die Besetzung der Kommission, schlug Experten zur Befragung vor, koordinierte die einzelnen Arbeitsschritte und versorgte die Mitglieder mit Informationsmaterial. Zu Beginn der Ausschussarbeit musste sie feststellen, dass die Datenlage sehr dürftig war. Das Unternehmen startete daher mit einer gigantischen Befragungsaktion in über 200 größeren Militärstützpunkten. Nightingale selbst entwarf dafür in Zusammenarbeit mit Sutherland Fragebögen und bereitete die Rückmeldungen mit den neuesten statistischen Methoden auf. Fast alle Antworten machten das Klima für die schlechte gesundheitliche Lage verantwortlich, eine Interpretation, die Nightingale nicht akzeptierte. Für sie verschlimmerte es allenfalls die Folgen fehlender sanitärer Infrastruktur und ungesunder Wohnverhältnisse. Zu viel Alkohol und zu wenig körperliche Betätigung sowie eine hohe Rate an Geschlechtskrankheiten kämen hinzu. Syphilis treffe die Briten fünfmal häufiger als die einheimischen Truppen. Auch den häufigen Verweis auf das Kastensystem und die Geringschätzung von Hygiene vonseiten der Einheimischen ließ sie nicht gelten und vermutete dahinter lediglich eine bequeme Entschuldigung für die Untätigkeit der Europäer. Es gebe in ganz Indien keinen einzigen Militärstützpunkt „mit gutem Drainagesystem, Trinkwasserversorgung und Reinigungsdiensten […], mit angemessen geplanten und errichteten Baracken und Krankenhäusern mit der nötigen Ausstattung […] einen Stützpunkt, an dem die Männer nicht zum Trinken ermutigt werden und ihnen eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung ermöglicht wird“ (CW 9, 132). Stattdessen fördere alles die Verbreitung von vermeidbaren Krankheiten. Eine sinnvolle Bekämpfungsstrategie müsse jedoch die umliegenden Siedlungen und damit die Zivilbevölkerung einschließen. Am Ende forderte sie die Einrichtung eines flächendeckenden Gesundheitsdienstes, den die Kolonialbehörden 217

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zu organisieren hatten. Jede presidency sollte ihre Sanitätskommission bekommen, und auch in den zuständigen Londoner Ministerien waren entsprechende Abteilungen einzurichten. Dahinter steht die Konzeption eines väterlich sorgenden Staates als Zivilisationsbringer durch Reformen von oben – mit der Hygiene als zentrales Vehikel. Doch konnte dies ihrer Ansicht nach nur dann gelingen, wenn der gute moralische Einfluss von Frauen auf die männlich geprägte Kolonialpolitik wirken könne. Die Ergebnisse der Ausschussarbeit dokumentierte der über 2000 Seiten starke Kommissionsbericht, der im Juli 1863 vorlag. Mit privat gedruckten Exemplaren wurden ausgewählte Personen bedacht, einschließlich Königin Victoria. Daraus kompilierte Nightingale eine 92-seitige Zusammenfassung, die sie an einflussreiche Persönlichkeiten verteilte. Des Weiteren rekrutierte sie wohlwollende Rezensenten im Rahmen einer gut durchdachten Medienkampagne. Chadwick und Harriet Martineau wurden dafür eingespannt, die führenden Zeitungen und Zeitschriften kontaktiert und informiert. Die Abgeordneten des Unterhauses erhielten allerdings von offizieller Seite nur eine stümperhaft zusammengekürzte Fassung, was Nightingale erboste. Mit großem Aufwand suchte sie möglichst viele Parlamentarier dazu zu bringen, die ausführliche Version zur Kenntnis zu nehmen. 1863 konkretisierte sie ihre Vorstellungen für eine breitere Öffentlichkeit in einem Vortragstext für die National Association for the Promotion of Social Science mit dem Titel How People May Live and Not Die in India. Darin weitete sie ihren Blick auf die indische Bevölkerung insgesamt. Ihr Argumentationsgang ist bemerkenswert, denn nun wurden praktisch alle Inder zu ihren Patienten. Sie seien nämlich genauso „Untertanen unserer geliebten Königin wie jeder von uns“ (CW 9, 192). Hygiene und sanitäre Infrastruktur sah sie als Verpflichtung, als Ausdruck der Tugendhaftigkeit der britischen Kultur und seiner imperialen Mission. Wie sie sich dies vorstellte, führte sie in ihrer Schrift Life or Death in India von 1874 weiter aus. Das Klima sei das eine Schreckgespenst, das gezähmt werden müsse, denn es verursache Krankheiten und Seuchen. Dahinter stand nicht zuletzt die Furcht vor der Cholera, deren Ursprung man in Indien vermutete. Diese bedrohte nicht nur die britischen Soldaten auf dem Subkontinent, sondern auch das Mutter218

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land, seine Sozialordnung und seinen Wohlstand. Gleiches galt für Aufstände und Erhebungen, die von den „unordentlichen Verhältnissen“ in Indien und seiner „wilden“ Bevölkerung ausgingen. Insofern zielte Nightingales Plädoyer für sanitär-hygienische Reformen in zwei Richtungen: Einerseits sollte das Leben von Briten und Indern geschützt, andererseits die moralische Verantwortlichkeit der Engländer für ihr Empire unterstrichen werden. Dabei wurde Wasser für ihre Überlegungen immer wichtiger: zum einen sauberes Trinkwasser zur Vermeidung von Epidemien, zum anderen Bewässerungssysteme, um die Armut und Unzufriedenheit der Bevölkerung anzugehen. Die Indifferenz der Briten gegenüber chronischer Unterernährung und dauerhaft hoher Sterblichkeit müsse aufhören. Wie zu erwarten war, rief die vernichtende Kritik an der Kolonialadministration heftige Gegenwehr hervor. Manche sahen sich ungerechtfertigt angegriffen, doch die nun erreichte öffentliche Aufmerksamkeit machte es reformwilligen Kreisen leichter, ihre Pläne durchzusetzen. So begannen nach dem Amtsantritt des neuen Vizekönigs, Sir John Lawrence, 1864 Sanitätskommissionen in den drei presidencies mit ihrer Arbeit. Das Oberhaupt der Kolonialverwaltung leitete umfangreiche Kasernenbauten ein, doch sanitäre Reformen waren kostspielig, und Erfolge stellen sich nur langsam ein. Nightingale war oft frustriert, trotzdem konnte Lawrence bereits 1867 eine Sterblichkeitsziffer von gut 20 ‰ melden, die bis 1911 auf 5 ‰ sank. Unterschiedlicher Meinung waren Lawrence und Nightingale über den Einsatz weiblicher Pflegekräfte in Militärhospitälern. Obwohl beide von deren Notwendigkeit überzeugt waren, konnte sich Nightingale mit ihrem Plan, dies zunächst im kleinen Rahmen auszutesten, nicht durchsetzen. Der Vizekönig wollte im großen Stil handeln, doch dafür waren die finanziellen Mittel nicht vorhanden. Die Einführung professioneller Krankenpflege sollte noch einige Zeit auf sich warten lassen. Nightingale machte sich mit Feuereifer an die Ausarbeitung detaillierter Reformpläne und suchte diese mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln voranzubringen. Doch die Mühlen von Politik und Verwaltung mahlten langsam, und das Geld war knapp. Daher setzte sie in einer zweiten Phase immer stärker auf die Selbsthilfe des indischen Volkes. 219

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„Gesundheitsmissionare“ (health missioners) sollten die Grundprinzipien der Hygiene in den Dörfern verbreiten. Bei ihren Überlegungen, die sich auf praktische Tipps zur Vermeidung von Krankheiten konzentrierten, berücksichtigte sie die indische Furcht vor der Schwächung des Nationalcharakters durch westliche Hygienemaßnahmen, zeigte also durchaus kulturelle Sensibilität. Die health missioners – in Indien kamen dafür nur Männer infrage – sollten als Vermittler und Übersetzer zwischen Dorfbevölkerung und Kolonialbehörden fungieren. Diese Strategie passte genau zu den Bemühungen nach dem Aufstand, eine „Modernisierung“ indischer Sitten und Gebräuche, insbesondere durch die Anglisierung des Erziehungswesens, zu erreichen. Nightingales sanitär-hygienische Netzwerke dürften daher durchaus zur Stärkung der Kolonialherrschaft beigetragen haben. Dass ein zivilisiertes Land das Recht hatte, ein unzivilisiertes zu dominieren, war im 19. Jahrhundert keine Frage, auch für Nightingale nicht. Bei einem genaueren Blick zeigt sich jedoch eine beträchtliche Ambivalenz, was ihre Ansichten über die rassische, moralische und kulturelle Überlegenheit der Briten betrifft. Die nur langsame Umsetzung ihrer Reformprojekte frustrierte Nightingale zusehends. 1870 – mittlerweile war Lord Mayo Vizekönig – zog sie eine enttäuschende Bilanz. In der zweiten Phase ihrer Arbeit zu Indien veränderte sie deshalb ihren Fokus und suchte das Problembewusstsein der Einheimischen zu stärken.

Hungersnöte und Eigentumsstrukturen: Zemindars und Ryots Diese Umorientierung hing mit der „Großen Hungersnot“ Ende der 1860er-Jahre zusammen, die Teile Südwestindiens verwüstete. Hungersnöte kamen im 19. Jahrhundert immer wieder vor. Das Ausbleiben des Monsuns oder Überschwemmungen konnten dafür schon ausreichen. Jedoch trugen auch Londons Politik und die Interessen der Ostindienkompagnie große Mitschuld. Erstere verwendete große Teile des indischen Steueraufkommens für die Sicherung des Kolonialsystems und kostspielige Kolonialkriege. Die Ostindienkompagnie hingegen hatte 220

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den einseitigen Anbau von Exportprodukten wie z. B. Baumwolle und Indigo zulasten des Hauptnahrungsmittels Reis propagiert. Außerdem war sie für Verbote verantwortlich, Reisvorräte für Notzeiten anzulegen, um ihre eigenen Spekulationsgeschäfte zu befördern. Zwischen 1750 und 1850 war die Bevölkerung von etwa 300 Millionen auf rund 200 Millionen gesunken, also in dem Zeitraum, in dem die Briten ausgehend von Bengalen ihren Einfluss auf den ganzen Subkontinent ausgeweitet hatten. In der zweiten Jahrhunderthälfte starben schätzungsweise 29 Millionen Inder an Hunger. Die dominante liberale Ideologie setzte auch bei Hungerkatastrophen auf die Zurückhaltung des Staates und ihr Vertrauen in die Gesetze von Angebot und Nachfrage. Getreideimporte kamen daher nicht infrage. Inwieweit die Kolonialpolitik für den Bevölkerungsrückgang verantwortlich ist, kann kaum genau beziffert werden, doch dürfte die Rolle des Landes als Rohstofflieferant, z. B. von Baumwolle, für die britische Industrialisierung von Bedeutung gewesen sein. Dafür hatten die indischen Interessen zurückzustehen. Vor diesem Hintergrund änderte sich Nightingales Blick auf den Subkontinent. Sie glaubte zwar an freie Märkte und war der Ansicht, dass die Wirtschaft dem privaten Sektor vorbehalten bleiben solle, sie unterstützte aber auch den Ausbau des Wohlfahrtsstaates und damit begrenzten Staatsinterventionismus. Den klassischen Wirtschaftsliberalismus der Manchester-Schule lehnte sie als Verursacher von Armut im Mutterland und in den Kolonien vehement ab. Energische Präventionsmaßnahmen und konsequente Hilfen im Falle von Hungersnöten standen für sie außer Frage. Zudem war Nightingale im Laufe der Zeit immer mehr zu der Überzeugung gelangt, dass eine gute Kolonialpolitik eine stärkere Beteiligung der einheimischen Bevölkerung, insbesondere einen merklichen Ausbau der kommunalen Selbstverwaltung in den Dörfern, einschließen müsse. Daher förderte sie das indische Engagement auf unterschiedliche Weise. Sie trat einschlägigen Organisationen bei und schickte ermutigende Briefe, sie vermittelte Kontakte zu britischen Offiziellen und publizierte Artikel in englischen und indischen Zeitungen. In ihrer Schrift Our Indian Stewardship von 1883 unterstützte sie verschiedene Projekte für lokale Selbstverwaltung. 221

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Von der Gesundheit der Armee hatte sich ihr Blick zunächst auf die der Gesamtbevölkerung ausgeweitet. Dabei hatte sie erkannt, dass einschlägige Reformprojekte nur dann Aussicht auf Erfolg hatten, wenn die lokalen Gemeinschaften befähigt wurden, sich selbst um die Sicherung ihrer Gesundheit zu kümmern. Dies wiederum, so wurde ihr schnell klar, würde nur gelingen, wenn man die periodisch wiederkehrenden Hungersnöte präventiv anging. Sie waren für Nightingale eine Folge der Armut. Diese treibe die Leute in die Arme von Wucherern, die die Situation weiter verschlimmerten. Dabei zog sie Vergleiche mit der Situation der Sklaven in Amerika und der Lage der Bauern in Irland oder Russland. Zur Vorbeugung warb sie vor allem für Kanalbauten und Bewässerungssysteme, außerdem für ein passendes Kreditsystem, die Gründung von Kooperativen und gezielte Bildungsmaßnahmen. Die Verantwortung der Briten für die desolate Lage war für sie klar. Im ausgehenden 18. Jahrhundert hatten sich die Beziehungen zwischen den bengalischen Großgrundbesitzern (zemindars) und den bäuerlichen Pächtern (ryots) verändert. Die Engländer übertrugen ihre Eigentumsvorstellungen auf die Kolonie. Damit bekamen die zemindars umfassende Verfügungsrechte über das Land gegen Zahlung einer festen Summe. Eine bequeme Lösung, um einerseits das Steueraufkommen zu erhöhen, andererseits das Kolonialregime zu stützen. Die Landbesitzer pressten die Bauern rücksichtslos aus, da ihnen die Fixierung der Abgabenhöhe überlassen wurde. Was jenen von ihren Erträgen blieb, reichte oft nicht für ein gesundheitszuträgliches Leben. Ein Gesetz aus dem Jahr 1859 führte zwar begrenzte Schutzregelungen für die Pächter ein, doch konnten diese in der Praxis kaum durchgesetzt werden. In den 1870er-Jahren kam es daher zu Bauernrevolten, und der Protest schwoll weiter an, als die Briten per Gesetz die Einziehung von Steuerrückständen erlaubten. Zehn Jahre nach ihrem Vortrag für die National Association for the Promotion of Social Science fasste Nightingale 1873/74 die erreichten Fortschritte zusammen und holte zu einer umfassenden Problemanalyse aus. Daran beeindruckt besonders, wie der untrennbare Zusammenhang zwischen sozialer Gerechtigkeit und individueller Gesundheit entfaltet wird und welche Argumente Nightingale heranzog, um ihr Anliegen voranzubringen. Zum einen warnte sie vor der Aushöhlung der öffent222

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lichen Ordnung durch Armutskriminalität und Aufstände, zum anderen vor wirtschaftlichen Verlusten durch Krankheit und Tod. Mit einer Kombination aus sanitär-hygienischen Maßnahmen und Reformen der Eigentumsstrukturen, verbunden mit der Einrichtung von Bewässerungssystemen, müsse man den periodischen Hungersnöten zu Leibe rücken. Daneben vergaß Nightingale nicht, auch auf die Würde der einfachen Bauern hinzuweisen. Um Unterstützung zu mobilisieren, verband sie geschickt die Reform der Besitzstrukturen mit der Stärkung der Kolonialherrschaft. Das Vehikel hierfür waren Artikel in anglo-indischen Zeitschriften. Ihre Botschaft: Die zemindars schwächten das Kolonialsystem. Zur Untermauerung ihrer Argumente vertiefte sie sich sogar in die bengalischen Steuereinkünfte. Der exorbitante Anstieg der Vermögen der zemindars zeige doch, was dem Staat an Einnahmen entgehe. Sarkastisch kommentierte sie die Einstellung der Briten gegenüber den Einheimischen. Viele hielten die Inder wohl immer noch für „‘niggers‘ or tigers“ oder „bestenfalls für Käufer von Baumwollwaren aus Manchester“ (CW 10, 147), schrieb sie 1879 in einem Brief. In ihren Aufrufen zum Handeln betonte sie einerseits die Verbundenheit mit Indien, sie sprach von „wir“ und solidarisierte sich mit den Bauern. Andererseits gibt es zahlreiche Belege, die eine „Gleichheit“ aus ihrer Sicht wohl ausschließen. Und obwohl sie üblicherweise die ryots mit Sympathie bedachte, gibt es Texte, in denen diese als der Belehrung bedürftige, brutale Wesen präsentiert werden. Über Bewässerungssysteme hatte man bereits vor dem Aufstand diskutiert, konnte sich aber auch danach nicht über deren Finanzierung einigen. Umstritten war ferner, ob die Kanäle nur diesem Zweck oder auch als Transportwege dienen sollten. Nightingales vehementer Einsatz für Bewässerungsmaßnahmen stieß weitgehend auf taube Ohren. Erst die verheerende Hungersnot von 1899 führte im Jahr darauf zur Einsetzung einer entsprechenden Kommission, die ihren Bericht 1904 vorlegte, 28 Jahre nach Nightingales ersten Initiativen. In einer Reihe von Artikeln aus dem Jahr 1879 für das Journal of the National Indian Association nahm sie das Erziehungswesen in den Blick. Elementarschulbildung könne die verarmten Bauern in die Lage versetzen zu überleben, autonom zu werden. Bildung und praktische 223

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Anleitung zu wissenschaftlichen Methoden in der Landwirtschaft seien hierfür ausschlaggebend. Gebildete Bauern könnten besser für ihre Rechte eintreten, den Fatalismus überwinden und sich für Gesundheitsfürsorge ebenso engagieren wie für die Steigerung der Produktivität.

Die Rolle der indischen Frauen Von besonderer Bedeutung war für Nightingale die Frauenbildung. Mit der viktorianischen Häuslichkeitsideologie als festem Grund sollten die Frauen entsprechend erzogen und ausgebildet werden, um als Multipl-ikatoren dienen zu können. In diesem Sinne war ihr die Stärkung des weiblichen Einflusses in indischen Haushalten ein wichtiges Anliegen. Frauen bildeten für Nightingale den wichtigsten Ansatzpunkt für Veränderungen überhaupt. In der Korrespondenz mit Lady Dufferin, der Gattin des Vizekönigs, entwickelte sie ihre Überlegungen zum Status der Frauen in der indischen Gesellschaft, zur medizinischen Versorgung derselben, zur Frauenbildung und zu deren Bedeutung für die Volksgesundheit. Der Versuch, die Situation der Inderinnen zu verbessern, vermengte sich allerdings schnell mit den emanzipatorischen Erwartungen an britische Frauen: Nightingale schwebte eine Art imperialer Mission vor, hinter der ihre Überzeugung von der moralischen und kulturellen Superiorität englischer Frauen stand, die einheimische Geschlechtsgenossinnen anleiten und kontrollieren sollten. Im Gesundheitsbereich war eine Behandlung indischer Frauen durch männliche Ärzte undenkbar. Deshalb unterstützte Nightingale mit Nachdruck die medizinische Ausbildung indischer ladies, die die britische Ärztin Mary Scharlieb angestoßen hatte. Diese sollten nicht nur therapieren, sondern vor allem präventiv Gesundheitswissen verbreiten. Denn für die meisten Krankheiten gab es kaum therapeutische Möglichkeiten, schon gar nicht bei den so häufigen Epidemien. Mary Scharlieb überzeugte Königin Victoria von der Notwendigkeit von Ärztinnen für indische Frauen. Daraufhin entstand eine Vereinigung unter der Ehrenpräsidentschaft der Monarchin mit Filialen in allen indischen Provinzen, die auf philanthropischer Basis Krankenhäuser errichtete. In Kalkutta etwa kamen pro Jahr 20.000 224

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ambulante Patientinnen. Die 1885 eingerichtete Dufferin-Stiftung revolutionierte den Zugang zu modernen Gesundheitsdienstleistungen für indische Frauen. Dazu gehörten kleine Krankenhäuser auf dem Land und Frauenstationen in größeren Hospitälern unter Leitung von Ärztinnen. Die Stiftung finanzierte nicht nur deren Ausbildung, sondern auch die von Krankenschwestern und Hebammen, zwei Jahrzehnte nach Nightingales erster Initiative, die im Sande verlaufen war. Florence Nightingales Kritik an Kinderehen und der erzwungenen Witwenschaft fand bei den Regierungen kein Gehör, da man die religiösen Gefühle konservativer Hindus nicht verletzen wollte. Mary Scharlieb schilderte ihr die Schrecknisse, die als Kinder verheiratete Mädchen zu ertragen hatten, wenn ihr meist viel älterer Ehemann starb. Nightingale hatte sofort eine praktische Lösung parat: Man könne sie doch trefflich zu Pflegerinnen ausbilden. Auch gab es Versuche der Kolonialbehörden, die Witwenverbrennung zu unterbinden. Lady Dufferin erwies sich bei der Gesundheitserziehung in den Dörfern ebenfalls als engagierte Mitstreiterin vor Ort. In der Praxis waren dem Engagement durch kulturelle Unterschiede, Glaubens- und Geschlechterschranken jedoch enge Grenzen gesetzt, die Erfolge blieben überschaubar.

Mutterland und Kolonie Dass viele Empfehlungen der Indienkommission nur zögernd oder gar nicht umgesetzt wurden, sorgte bei Nightingale für zunehmende Frustrationen. 1888 zog sie eine ernüchternde Bilanz. Dafür war neben den zuständigen Stellen in London vor allem die Kolonialbürokratie vor Ort mit dem Vizekönig an der Spitze entscheidend. Mit zwei Amtsträgern arbeitete sie besonders eng zusammen. Sir John Lawrence trieb während der 1860er-Jahre den Kasernenbau und die Einrichtung von Sanitätskommissionen voran. Nightingales Suggestions for Improving Indian Stations wurden mit einiger Ernsthaftigkeit umgesetzt. Lord Ripon (früher: Earl de Grey), einen alten Bekannten aus den Zeiten der Armeereform, unterstützte sie zwei Jahrzehnte später in seinem Kampf für die Stärkung der indischen Selbstverwaltungsrechte. Sein Gesetzes225

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vorschlag (Ilbert Bill) wurde 1884 jedoch nur in sehr verwässerter Form verabschiedet. In einem Artikel verwies Nightingale auf das Versprechen der Queen, in Indien keine Rassendiskriminierung bei der Besetzung von Ämtern zuzulassen. Ripon hatte zudem versucht, das Problem der Landbesitzrechte anzugehen, und konnte kleinere Verbesserungen für die Pächter erreichen. Seine Anstrengungen förderte sie nach Kräften, u. a. mit einem Vortrag für die East India Association. Auch mit Lord Dufferin entwickelte sie ein gutes Arbeitsverhältnis. Zusammen mit seiner Gattin bemühte sie sich um eine bessere Schwangeren- und Mütterversorgung. Nicht zuletzt wandte sich Nightingale gegen die hohe Salzsteuer, ein britisches Monopol, das später Mahatma Gandhi in seinem Kampf um Unabhängigkeit ins Zentrum stellte, im berühmt gewordenen Salzmarsch von 1930. Ein Lichtblick war für Nightingale die Gründung des Indischen Nationalkongresses 1885, der als Forum des Dialogs zwischen Briten und Einheimischen dienen sollte. Um ihn gruppierten sich indische Nationalisten, unterstützt von einigen britischen Liberalen, die Erfahrungen auf dem Subkontinent hatten sammeln können. Nightingale empfing Delegierte, die in London für die indische Sache warben, und unterstützte Kandidaten bei den bevorstehenden Wahlen. Im Jahr zuvor hatte sie geschrieben: „Indien steht nicht still. Wir haben viel darüber gesprochen, ihm ‚westliche Zivilisation‘ zu bringen. Und westliche Zivilisation hat ihm – ob wir es wollen oder nicht – westliche Macht verliehen [...] Und müssen wir ihnen mit westlicher Macht nicht auch Stück für Stück und vorsichtig westliche Verantwortung übertragen? Wenn wir sie ihnen nicht geben, würden sie sie sich nicht nehmen?“ (CW 5, 469)

Indien als Beispiel für Nightingales Arbeitsweise An Nightingales Beschäftigung mit Indien lässt sich exemplarisch ihre Arbeitsweise aus dem Krankenzimmer heraus beobachten. Lesen und Schreiben waren dabei ihre hauptsächlichen Tätigkeiten. So las sie 226

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Indien als Beispiel für Nightingales Arbeitsweise

Porträt von Florence Nightingale (1891). Wellcome Collection. CC BY

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alles, was sie bekommen konnte, und wertete ihre Lektüre akribisch und systematisch aus. Hinzu kamen wohlüberlegte und genau terminierte persönliche Treffen: zum einen mit Experten unterschiedlicher Fachrichtungen, um neue Erkenntnisse zu erlangen, zum anderen mit Amtsträgern, um diese zu informieren und zum Handeln zu motivieren. Wo ihr Daten fehlten, suchte sie diese selbst durch Fragebögen oder Umfragen zu erheben, die sie mit den neuesten Methoden der Sozialstatistik bearbeitete. Informationen unterschiedlichster Art lieferte ihr weitverzweigtes und engmaschiges Netzwerk, das bis in höchste politische Kreise reichte. Dieses wurde kontinuierlich ausgebaut und systematisch gepflegt. Auf diesem Weg erhielt sie Kenntnis über Vertrauliches und konnte Einfluss nehmen, ohne auf die offiziellen Kanäle angewiesen zu sein. Im Laufe der Jahre wurden die Kontakte in Indien immer dichter, sodass sie zu vielen Themen Material aus erster Hand bekam. Dazu zählten leitende Beamte in den Provinzen, so etwa ihr alter Freund Macaulay, der als Gouverneur von Madras viele ihrer Anregungen frühzeitig einführte, oder Henry Bartle Frere, zuerst Gouverneur in Bombay und dann Mitglied des India Council in London, der ein guter Freund wurde. Immer häufiger erhielt sie Informationen von Indern, die britische Bildungsinstitutionen durchlaufen hatten. Seit 1870 war sie Ehrenmitglied der Bengal Social Science Association. Sie war so gut informiert, dass mitunter kolportiert wurde, sie verfüge über bessere Kenntnisse als das Kriegs- und Indienministerium zusammen, was aber auch zu Friktionen führen konnte. Im Ergebnis kam eine enorme Menge an Texten zusammen: sorgsam formulierte Briefe, Berichte und Memoranden, zahllose Arbeitsnotizen, darüber hinaus Artikel für ein breiteres Publikum in England und Indien sowie Papiere für Konferenzen, die jeweils männliche Mitstreiter vortrugen. Zielgenau und kritisch analysierte sie ihre Informationsquellen, fasste ihre Erkenntnisse prägnant und gut verständlich zusammen und entwickelte daraus konkrete Handlungsvorschläge, die in der Regel bis in die kleinsten Verästelungen durchdacht und ausformuliert waren. Die Ernsthaftigkeit ihrer Analysen und deren Genauigkeit sowie ihre überragenden Fähigkeiten in der Netzwerkarbeit waren die Basis des Respekts, den ihr hochrangige Amtsträger wie 228

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renommierte Experten entgegenbrachten, und der Grund dafür, dass sie die Zusammenarbeit mit ihr suchten. Wenn sie Dinge durchsetzen konnte, so ist dies zudem einer gut durchdachten medialen Strategie mit bewusstem Einsatz der Presse sowie geduldiger Lobbyarbeit mit der Hauptwaffe des Briefes zu verdanken. Durch namentlich gekennzeichnete Leserbriefe suchte sie die Öffentlichkeit aufzurütteln. Ihre Ungeduld, ihre scharfe Kritik und beißende Ironie führten allerdings mitunter zu Texten, die ihrer Sache auch schaden konnten, wovor sie Benjamin Jowett mehrfach warnte. Durch indirekte Methoden forderte sie sehr direkt Politik und Verwaltung zum Handeln heraus. In ihren Schriften gab sie sich ganz im Einklang mit den herrschenden Geschlechtervorstellungen meist äußerst bescheiden, ja unterwürfig. Dazu passte ihre Inszenierung als moralische Wächterin, die die Kolonialpolitik an ihre Pflichten zur Zivilisierung Indiens erinnerte. Um dies zu erreichen, integrierte sie ihre Forderungen geschickt in den zeitgenössischen imperialistischen Diskurs. So war in der Realität ihr Einfluss beträchtlich. Und sie war sich dessen auch bewusst. Ihr Freund Jowett nannte sie nicht ohne Grund „Governess of the governors“ (CW 10, 895). Erst seit kurzer Zeit findet Nightingales intensives und langjähriges Engagement für den Subkontinent eine angemessene Würdigung in der Forschung. Was konnte sie in über 40 Jahren erreichen? Befragt man ihre Schriften, ist die Antwort eindeutig: Nicht genug. Ihr Ausgangspunkt, die Verbesserung der gesundheitlich-sanitären Verhältnisse, brachte einige Erfolge, traf aber auch auf viele Widerstände. Heute wird dies als wichtiger Schritt zur Akzeptanz staatlicher Verantwortung für die öffentliche Gesundheit bewertet. Nightingale sorgte zudem dafür, dass Indien und seine Probleme in der Öffentlichkeit präsent blieben, und sie trieb Politik und Verwaltung ständig zur Aktivität an. Damit trug sie dazu bei, dass sich in England die Einsicht von der Reformbedürftigkeit des Kolonialsystems durchsetzte. Die Inder ermunterte sie zu mehr Selbstverwaltung und Eigeninitiative. Damit war sie dem, was sich die meisten Briten vorstellen konnten, weit voraus. Ihre ursprüngliche Sichtweise auf das Empire als Zivilisationsbringer machte einer immer schärferen Kritik des Kolonialsystems Platz. 229

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Indien, die „Perle des Empire“

Nightingale hatte die Möglichkeit, Politiker, Beamte und die Öffentlichkeit mit Informationen zu versorgen in einer Zeit, in der man über Indien nur wenig wusste. Sie förderte in England die Kenntnis des Landes und das Interesse am Wohlergehen der Bevölkerung. Sie ermutigte reformbereite Kreise auf dem Subkontinent. Und sie tat dies so lange, bis ihre geistigen Kräfte schließlich nachließen. Erst 1906 hörte das Indienministerium auf, ihr Papiere zu schicken. Dies zeigt, dass die gelegentlich geäußerte Behauptung, ihr Engagement und Einfluss habe nach 1870 abgenommen, jeder Grundlage entbehrt. Trotz aller Anstrengungen blieben ihr viele Aspekte der indischen Wirklichkeit, u. a. in dem ihr so wichtigen Bereich der Landwirtschaft und der Dörfer, fremd. Dazu gehörten etwa die tiefere Bedeutung des Kastensystems, die Folgen der ethnischen Gemengelage und die Konflikte zwischen Hindus und Moslems. Auch die indische Geschichte und ihre geistig-intellektuellen Traditionen waren ihr nur oberflächlich bekannt. Alles in allem – so Kritiker – sei es ihr nicht möglich gewesen, sich von der westlich-imperialistischen Perspektive ihrer Zeit freizumachen: Das Beste, was ihrer Ansicht nach den Indern passieren konnte, war, Christen zu werden und die englische Lebensart zu übernehmen. Während ein Teil der Forschung ihre liberale Einstellung und ihren Einsatz für die indische Landbevölkerung hervorhebt und hierbei den scharfen Kontrast zur imperialistischen Haltung der Mehrheit der Briten herausstellt, fragen andere aus postkolonialer Perspektive, ob bzw. inwieweit eine englische Frau angesichts des extremen Machtgefälles zwischen Mutterland und Kolonie wirklich als Sprachrohr der Unterdrückten fungieren konnte. Aus der besonderen Verantwortlichkeit, die Frauen für das Wohlergehen der Nation zugeschrieben worden sei, habe sich ohne Weiteres ein kolonialer Diskurs der Überlegenheit (und Unterdrückung) entwickeln lassen. Die Obsession für körperliche und moralische „Sauberkeit“ habe in idealer Weise den britischen Häuslichkeitskult mit dem Imperialismus verbunden: Zivilisierte Briten regieren und erziehen die unzivilisierten „Anderen“. Diese zeittypischen Denkmuster können zwar manches erklären, Nightingale jedoch einen Vorwurf daraus zu machen, dass auch sie ein Kind ihrer Zeit war, wäre wissenschaftlich unredlich. 230

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Frauenfrage und Frauenrechte

Es war vor allem die Vorstellung von grundsätzlich unterschiedlichen Geschlechtercharakteren, die den Status, die Möglichkeiten und Handlungsräume der viktorianischen Frauen bestimmte. Daraus ergab sich die Doktrin der zwei Sphären, nach der das weibliche Geschlecht die Aufgabe hatte, dem draußen in der „feindlichen“ Welt arbeitenden und kämpfenden Mann zu Hause ein Refugium zu schaffen und sich mit seinen besonderen Talenten um Familie, Heim und Religion zu kümmern. Diese Häuslichkeitsideologie wurde durch den Evangelikalismus massiv verstärkt. Denn durch die Bewahrung der Familie, so die Überzeugung, konnte auch die von vielen Seiten bedrohte Ordnung der Gesellschaft stabilisiert werden. Einen Höhepunkt erreichten diese Auffassungen im mittleren Drittel des 19. Jahrhunderts, und sie gingen einher mit einer immer stärkeren Akzentuierung des bürgerlichen Tugend- und Wertekanons: Arbeit, Leistung, Moral, Selbstdisziplin. Allerdings weisen neuere Studien darauf hin, dass es in der zweiten Jahrhunderthälfte zu einer langsamen Erodierung der Häuslichkeitsideologie und zu einem vorsichtigen Wandel patriarchaler Einstellungen gekommen sei.

Geschlechterrollen und Frauenrechte Die rechtliche Position des weiblichen Geschlechts ähnelte der von Kindern, die des Schutzes und der Kontrolle bedurften. Frauen standen zeitlebens entweder unter der Vormundschaft des Vaters oder des Ehemanns. Männer konnten ihren Gattinnen sogar den Kontakt zu den Kindern verwehren, waren befugt, ihre „ehelichen Rechte“ vor Gericht durchzusetzen, und bei häuslicher Gewalt durfte die Polizei nicht einschreiten. Frauen waren dementsprechend auch keine gleichberechtig231

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ten Wirtschaftssubjekte. Nach dem Gesetz konnten sie weder Eigentum besitzen noch Verträge abschließen oder Kredite aufnehmen. Dies galt grundsätzlich, selbst wenn es in der Praxis flexibler gehandhabt wurde: Im Alltag kümmerten sich Frauen selbstverständlich um Einkäufe, sie ließen anschreiben, und ihre Gatten waren verpflichtet, die Schulden zu bezahlen. Mit der Hochzeit ging ihr gesamter Besitz an den Ehemann über. Alles während der Ehe Erworbene gehörte ihm ebenfalls, und er durfte es selbst dann behalten, wenn er die Frau verließ. In den Mittelund Oberschichten gab es jedoch die Möglichkeit, das Vermögen vom Vater oder einem Bruder treuhänderisch verwalten zu lassen und so dem Zugriff des Ehemanns zu entziehen. Lediglich Witwen und Unverheirateten war eigener Besitz gestattet. Hinzu kam, dass das Wahlrecht an Besitzkriterien gekoppelt war. Da verheirateten Frauen dieser verwehrt war, wurde ihnen auch das Wahlrecht versagt. Somit wurde das weibliche Geschlecht auf zweifache Weise von der Stimmabgabe ferngehalten, als Frau und als Besitzlose. In allen Teilen der Bevölkerung waren Frauen formal von politischer und wirtschaftlicher Macht ausgeschlossen, in der Praxis hatten sie allerdings oft informell Zugang und indirekte Einflussmöglichkeiten. Darüber hinaus gab es in der viktorianischen Zeit einige Veränderungen, die vor allem der Frauenbewegung zu verdanken sind. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert hatten frühe Feministinnen einen Staat, der Frauen unterdrückte, als unzivilisiert dargestellt. In einer zivilisierten Gesellschaft, so argumentierten sie, müsste das weibliche Geschlecht Unabhängigkeit und vor allem Bildung genießen, damit es seinen Platz in der Welt einnehmen könne. Seit diesen Jahren stand die Frauenfrage in England auf der Tagesordnung. Die Wahlrechtsreform der 1830er-Jahre brachte keine Verbesserungen. Doch das Scheidungsgesetz von 1857 bot erstmals die Möglichkeit, einer unglücklichen Ehe zu entkommen. Allerdings galt die sexuelle Doppelmoral weiterhin. Bei Frauen genügte bereits ein Seitensprung, Männern musste mehrfache Untreue verbunden mit weiteren „Grausamkeiten“ nachgewiesen werden. Vehement kämpften frühe Feministinnen für die Verbesserung der Rechtssituation verheirateter Frauen. Ab der Jahrhundertmitte waren die weiblichen Eigentumsrechte ein heiß diskutiertes Thema. Ein erster 232

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Die viktorianische Familie als Gefängnis

kleiner Erfolg wurde 1870 erreicht, als verheiratete Frauen die Verfügungsgewalt über ihren Verdienst zugesprochen bekamen und ab 1882 schließlich über einen Großteil ihres Eigentums. Zudem durften sie nun Verträge abschließen und ein Testament machen. Bildung war ein weiteres zentrales Anliegen der Frauenbewegung. Ab den 1850er-Jahren wurden höhere Bildungseinrichtungen für Frauen gegründet und diesen nach und nach der Zugang zu den Universitäten ermöglicht. 1900 waren bereits 15 Prozent der Studenten weiblich. Ebenso wichtig war es jedoch, angesichts der rasanten Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft, Frauen außerhalb der Familie „respektable“ berufliche Perspektiven zu eröffnen. Nach der Volkszählung von 1851 ergab sich ein Frauenüberschuss von einer halben Million; zudem war ein beträchtlicher Teil der Frauen unverheiratet und 2 Millionen von ihnen – bei einer Gesamtbevölkerung von gut 21 Millionen – mussten ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Vor allem die unverheirateten Damen aus den Mittel- und Oberschichten galten als unproduktiv. Als Ausweg diskutiert wurde zum einen die Emigration in die Kolonien, zum andern die Erschließung zusätzlicher weiblicher Berufsfelder. Hier bezog man sich vorwiegend auf die Vorstellung von der „erweiterten Mütterlichkeit“. „Typisch“ weibliche Tätigkeiten und Arbeitsbereiche, und dazu gehörten vor allen Dingen karitativ-philanthropisches Engagement, Pflege und Unterricht, sollten in Teilen professionalisiert und in den öffentlichen Bereich ausgeweitet werden. Hierzu leistete Florence Nightingale einen wichtigen Beitrag. Ihr Nachdenken über eine zeitgemäße Rolle der Frau setzte bei ihrer eigenen Situation an, bei den Möglichkeiten einer Tochter aus gutem Hause in den Fängen der gesellschaftlichen Konventionen der viktorianischen Oberschichten.

Die viktorianische Familie als Gefängnis Die Frustration und Verzweiflung über ihre Situation schrieb sich Nightingale, wie bereits erwähnt, zu Beginn der 1850er-Jahre in ihrem Essay Cassandra von der Seele. Das Ergebnis war eine leidenschaftliche Attacke auf die heiligste Institution der Viktorianer, die 233

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Familie. Ursprünglich als ein Roman aus der Ich-Perspektive konzipiert, mit unübersehbaren autobiografischen Zügen, arbeitete sie nach dem Krimkrieg den Text zu einem Essay um. Es ist wahrscheinlich, dass diese Veränderungen mit ihrer neuen Rolle als öffentliche Person nach 1856 zu tun hatten. Das Ergebnis war nun aber nicht mehr in erster Linie ein Zeugnis der Selbstbefreiung, sondern eine sehr emotionale und empörte Bestandsaufnahme der Situation viktorianischer Mittel- und Oberschichtfrauen, mit der zerstörerischen Wirkung der Familie im Zentrum. Nach Nightingales Überzeugung hatten Frauen ständig mit dem Auseinanderklaffen ihres inneren und äußeren Selbst zu kämpfen. Sinnvolle Dinge könnten sie nur dann in Angriff nehmen, wenn die familiären Verpflichtungen eine kurze Verschnaufpause erlaubten. Unter solchen Bedingungen sei es schlicht unmöglich, seine Fähigkeiten zu entfalten und etwas Großes zustande zu bringen. Die Folgen waren für sie Entfremdung und psychische Störungen. Um diese zu beschreiben, griff Nightingale auf anschauliche Körpermetaphern zurück: Ihre Geschlechtsgenossinnen litten für sie kontinuierlich unter einem seelisch-geistigen Hungerzustand. Von der Gesellschaft hätten die Frauen nichts zu erwarten, nicht die ehrbaren und nicht die „gefallenen“. Für die einen sei der Mann der Gatte, für die anderen der Kunde. Für die Männer halte die moderne Zeit ihre Salons und ihre wohlerzogenen Töchter bereit. Auch bei Frauen habe diese Wünsche geweckt, sie verweigere aber deren Erfüllung und zwinge zum Verstecken und Verleugnen. Wolle eine Frau diesen „Hunger“ stillen, werde sie bestraft. Die Erfüllung dieser Bedürfnisse hatte für Nightingale die gleiche Bedeutung wie Nahrung für den Körper. Doch autonome Entscheidungen dürften Frauen nicht treffen: „Es ist so als läge man auf dem Rücken, mit gefesselten Händen und bekäme eine Flüssigkeit eingeflößt. Schlimmer noch als das, denn hier würde die Erstickung sofort eintreten und die Operation beenden“ (CW 11, 560). Nichts aber könne die andere „Erstickung“ verhindern. Diese Hungermetaphorik findet sich nicht selten in der Frauenliteratur der Zeit. Als weiteren Vergleich griff Nightingale auf den chinesischen Brauch des Füßebindens zurück: 234

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„Und was ist schon ein deformierter oder verkrüppelter Finger verglichen mit einem verkrüppelten Leben?“ (CW 11, 317) Die Frauen hätten alles Recht dazu, an dieser Situation zu leiden. Denn so betäube man wenigstens nicht seine Gefühle. Wie schon angesprochen, war Nightingale davon überzeugt, dass die moderne Welt „Retter“ brauche und dass sie der Erlösung durch Leiden bedürfe. Ihre Reflexionen in Cassandra übten beträchtlichen Einfluss auf John Stuart Mills Überlegungen zur Frauenfrage aus, insbesondere auf sein Werk The Subjection of Women von 1869. Vor allem ihre Analyse der in viktorianischen Familien beobachtbaren Dynamiken, die sie dort Stück für Stück auseinandernahm, hinterließ deutliche Spuren. So könnte etwa seine polemische Feststellung, dass es rechtlich gesehen keine Sklaven mehr gebe, außer der Herrin (mistress) eines jeden Hauses, direkt aus Cassandra entnommen sein. Die Unterdrückung der Frauen in der Geschichte habe keine tiefere Begründung, so Mill weiter, sondern beruhe auf politischen, religiösen und psychologischen Annahmen, um Frauen von Macht, Unabhängigkeit und kreativer Selbstverwirklichung fernzuhalten. Während Nightingale in ihren Schriften die Bedürfnisse ihres Geschlechts artikulierte, für sie Handlungsräume im Dienst für andere einforderte und dabei Vorstellungen von Inferiorität kategorisch zurückwies, stand für Mill viel stärker die Anerkennung als Personen mit individuellen Rechten und Freiheiten im Vordergrund. Als Teil der Suggestions for Thought blieb der Essay zu Nightingales Lebzeiten unveröffentlicht. Er erschien erstmals 1928 als Anhang einer Darstellung über die britische Frauenbewegung, was seinen Stellenwert für die Geschichte des Feminismus unterstreicht. Virginia Woolf bezog sich in ihrem Buch A Room of One’s Own auf Cassandra, indem sie die Notwendigkeit eigener Zeit und eines privaten Raums zur Entfaltung weiblicher Kreativität hervorhob. Im 20. Jahrhundert avancierte Cassandra zu einem der feministischen Schlüsseltexte, der eine erste Phase der Kämpfe um persönliche und politische Rechte mit dem Aufschwung der Emanzipationsbewegung nach 1900 verbindet.

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Prostitution und Geschlechtskrankheiten Der Mann brauche – biologisch bedingt – sexuelle Triebabfuhr, die Frau nicht, so die gängige Überzeugung der Viktorianer. Für viele war Prostitution damit eine gesellschaftlich notwendige Einrichtung, weil sie die oft erst spät heiratenden Männer von Onanie, Homosexualität und der Verführung ehrbarer Mädchen und Frauen abhielt. Diese Doppelmoral wurde ab der zweiten Jahrhunderthälfte, insbesondere auch in evangelikalen Kreisen, immer stärker kritisiert. Ein anderer Punkt war die Sorge über die sich besonders in der Armee ausbreitenden Geschlechtskrankheiten, von denen befürchtet wurde, sie könnten im Extremfall die Stabilität und Sicherung des Empire gefährden. Damit war England aber keine Ausnahme. Überall wurde im 19. Jahrhundert über die moralischen Aspekte der Prostitution und über sinnvolle Möglichkeiten zur Eindämmung der Syphilis diskutiert, in einer Zeit, die noch keine effektiven Behandlungsmethoden kannte. Zwei Meinungen standen sich gegenüber: Die Gegner der Prostitution forderten deren komplette Abschaffung, das Ende der Doppelmoral und Hilfen für „gefallene Mädchen“, die erst die Männer und die ökonomischen Zwänge in diese Notlage gebracht hätten. Vielerlei Aspekte wurden in diesem Diskurs miteinander verquickt, allen voran die Freiheit der Frau, die Moral der Männer und die „Heiligkeit“ der Familie. Nicht selten wurde das Ganze auch mit sozialen Reformbestrebungen verbunden, wie der Forderung nach mehr Bildung und höheren Löhnen. Andere setzten hingegen auf staatliche Regulierung und Kontrolle. Dazu gehörte in vielen europäischen Ländern in verschiedenen Ausprägungen die polizeiliche Überwachung der Prostituierten, die regelmäßige medizinische Pflichtuntersuchung und ggf. die zwangsweise Einweisung in ein Krankenhaus. Von Kritikern wurde diese Vorgehensweise als staatliche Willkür gegeißelt und überdies als nutzlos verworfen. Befürworter argumentierten mit dem Schutz der öffentlichen Gesundheit und Ordnung. Die Schuld an den Ansteckungen wurde dabei allein den Prostituierten aufgebürdet. Die Kunden, die eine Geschlechtskrankheit in den Familien verbreiteten und nicht nur die Gesundheit der Ehefrauen, sondern auch die der ungeborenen Kinder gefährdeten, traf keine 236

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Kritik. Wie unschwer zu erkennen ist, stand dahinter ein ganzes Bündel von Geschlechter- und Klassenvorurteilen. Denn es waren vor allem die Prostituierten aus der Unterschicht, die für den bürgerlichen Mann als gefährlich galten. Die Gegner einer staatlichen Regulierung, die sog. Abolitionisten, wandten sich insbesondere gegen die gynäkologische Zwangsuntersuchung als schmerzhafte, demütigende, medizinisch unsinnige und zudem als voyeuristisch betrachtete Prozedur. In Großbritannien und seinem Kolonialreich fixierte dies der Contagious Diseases Act von 1864, der 1866 und 1869 erweitert wurde. In Hafen- und Garnisonsstädten durften mutmaßliche Prostituierte von der Polizei aufgegriffen, untersucht und bis zu einem Jahr hospitalisiert werden. Die Ausdehnung dieser Maßnahmen auf den zivilen Bereich, insbesondere auf Arbeiterviertel, befürworteten zwar viele, sie konnte aber letztlich nicht durchgesetzt werden. Schon bald regte sich Widerstand von Frauenrechtlerinnen, radikalen Arbeitern und bürgerlichen Sozialreformern. Unter der Führung Josephine Butlers boten erstmals zahlreiche Frauen, viele davon aus den Mittelschichten, der männlichen Macht in Politik, Militär und Polizei offen die Stirn. 1869 organisierten sich die Gegnerinnen des Gesetzes in einem Verein. Die Überwachungsmaßnahmen wurden als Verletzung von Frauenrechten angeprangert und stattdessen die Bekämpfung der sozialen Ursachen der Prostitution gefordert. Dabei machten die Feministinnen den Zusammenhang zwischen sexueller und politischer Unterdrückung und Rechtlosigkeit öffentlichkeitswirksam deutlich. Florence Nightingale lehnte die staatliche Regulierung der Prostitution vehement ab. Eine unterschiedliche Triebstruktur von Mann und Frau konnte sie nicht erkennen und für unterschiedliche Moralstandards hatte sie ohnehin kein Verständnis. Ohne den fatalen Einfluss der Männer wären die Prostituierten schließlich nicht der Unmoral und dem Übel anheimgefallen. Sinnvoll sei es allein, die Ursachen zu bekämpfen und den Ausstieg durch „Rettungsarbeit“ zu unterstützen. Dabei galt Nightingale die sexuelle Unmoral – im Gegensatz zu vielen anderen ihrer Zeitgenossen – nicht als schwere Sünde. Inkompetenz und Indifferenz – davon war sie überzeugt – waren viel gravierender. Das Syphilis-Problem in der Armee hatte sie seit den 1860er-Jahren mit 237

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Sorge verfolgt. Was die gesundheitlichen Aspekte anbelange, so müsse man unbedingt die Freier mit einbeziehen. Das „Immunitätsgesetz für Sünder“ (CW 8, 483) war für sie keine Lösung. Deshalb schloss sich Nightingale von Anfang an den Gegnern der Regulierung an. Sie drängte Harriet Martineau, sich in den liberalen Daily News gegen das Gesetz zu wenden. Ihr Name stand ganz oben auf einer Petition vom Dezember 1869, die ebenfalls in dieser Zeitung veröffentlicht wurde. Den Kampf gegen den Contagious Diseases Act unterstützte sie – wie üblich – aber vor allem hinter den Kulissen. Und sie war längst nicht immer mit den Methoden der Auseinandersetzung und dem Vorgehen seiner Protagonistinnen einverstanden. An Josephine Butlers Vereinigung störte sie deren lautes öffentliches Auftreten und ihr – wie sie meinte – sorgloser Umgang mit Daten und Fakten. Dadurch, dass sich diese gegen eine systematische Untersuchung der Problematik gewehrt habe, habe sie möglicherweise sogar die Verabschiedung des erweiterten Gesetzes gefördert. Deshalb werde sie Butler künftig nicht mehr bei der Sammlung von Informationen unterstützen, denn diese sei „völlig unfähig, akkurat mit Fakten umzugehen“ (CW 8, 476), schrieb sie 1870 an Sutherland. Obwohl sie in der Sache völlig auf einer Linie lägen, wolle sie mit diesen Leuten nichts weiter zu tun haben. Dabei hatten Nightingale und Butler einiges gemeinsam: Beide fühlten sich von Gott berufen und der Sozialreform stärker verpflichtet als dem Kampf für die rechtliche Emanzipation der Frau. Butler jedoch setzte eher in Reden auf ihr Charisma, als dass sie sich in die Niederungen der kleinteiligen Organisationsarbeit begab. Nightingale sah dies bekannterweise völlig anders. Sie tolerierte keine Ungenauigkeiten, aber genau solche fand sie bei Butler allenthalben. So hatte diese etwa fälschlicherweise behauptet, Nightingale habe vor einem Ausschuss des Oberhauses über die Thematik gesprochen. Die ihr angetragene Position der stellvertretenden Vorsitzenden der Vereinigung lehnte sie 1870 unter Verweis auf ihre angeschlagene Gesundheit ab. Jowett bestärkte sie in ihrer Entscheidung, sich fernzuhalten. Ihr eigener Kampf gegen das Gesetz verlief dann auch ganz in den lang erprobten Bahnen. Sie ließ anonyme Papiere zirkulieren, initiierte Presseartikel, schaltete Parlamentsabgeordnete und Politiker ein, sammelte alle zugänglichen 238

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Informationen, analysierte sie, bereitete sie auf. Im Unterhaus agierte ihr Schwager Harry Verney als ihr bevorzugtes Sprachrohr, weshalb dieser Abgeordnete (MP) für Buckingham scherzhaft „the Member for Florence Nightingale“ genannt wurde. 1871 wandte sich Elizabeth Blackwell, die erste praktizierende Ärztin in England, um Rat an Nightingale. Die beiden hatten bereits früher Kontakt gehabt. Vor einer Kommission, die die Wirksamkeit der Prostitutionsgesetze prüfte, sollte sich die Ärztin zur medizinischen Untersuchung äußern. Sie plante allerdings, weitergehende Maßnahmen zu fordern. So schwebte ihr vor, die Verbreitung der Krankheit durch Männer zum Delikt zu erklären und die Leitung der einschlägigen Krankenhäuser Frauen zu übertragen. Beides fand Nightingale nicht zielführend. In der geplanten Modifikation des Gesetzes sah sie lediglich ein „dreckiges Geschäft“ (CW 8, 483). Deshalb wandte sie sich auch öffentlich gegen die Ärztin Elizabeth Garrett, die in der Presse die Regulierung befürwortete. In der Pall Mall Gazette nahm sie unter dem Pseudonym Justina ihre Argumente mit einer Flut von Zahlen und einem gehörigen Schuss Sarkasmus scharfsinnig auseinander. Weitere Initiativen zur Abschaffung des Gesetzes wurden 1873, 1876 und 1883 vorgelegt, ohne dass Nightingale daran beteiligt gewesen wäre. Vielmehr konzentrierte sie sich auf Ausstieg und Prävention. Dafür schrieb sie Artikel, sammelte Informationen und stattete damit ihren Schwager Verney aus. Sie schlug vor, den Einrichtungen, in denen kranke Prostituierte festgehalten wurden, Heime für ausstiegswillige Frauen anzugliedern. Ihre Priorität lag somit in der Resozialisierung, und dafür waren vor allem respektable weibliche Berufe notwendig. Der Kampf gegen die Regulierung wurde schnell zu einer internationalen Angelegenheit. 1877 unterstrich Nightingale in einem Grußwort für den Internationalen Abolitionistenkongress in Genf gerade mit Verweis auf Indien die Nutzlosigkeit der Gesetze. Sie gaukelten eine falsche Sicherheit vor und vermehrten so das Übel. Prostitution sei ohne Einschränkungen zu bekämpfen. Unmoralische Gesetze gegen unmoralische Taten einzusetzen sei sinnlos. Die Prostitutionsgesetze wurden schließlich 1883 außer Kraft gesetzt und drei Jahre später ganz aufgehoben. In dieser letzten Phase spielte Nightingale keine aktive Rol239

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le mehr. Stattdessen warb sie für freiwillige Behandlungen und unterstützte eine Kampagne zur Enthaltsamkeit der Männer vor der Ehe als beste Präventionsstrategie. Und sie rechnete genau vor, wie viel billiger Resozialisierungsmaßnahmen für die Prostituierten den Staat kämen verglichen mit dem, was die Umsetzung der Gesetze gekostet hatte. In Indien aber stieg Ende der 1880er-Jahre die Zahl der Ansteckungen mit Geschlechtskrankheiten deutlich an. Nightingale sprach darüber mit Douglas Galton, doch sind von ihr zunächst keine weiteren Stellungnahmen oder Aktivitäten bekannt. 1897 änderte sie ihre Meinung. Sie unterzeichnete ein in der Times publiziertes Women’s Memorial, das wirksame Maßnahmen gegen die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten auf dem Subkontinent verlangte. Sie tat dies allerdings unter der ausdrücklichen Bedingung, dass zuvor eine unabhängige Untersuchung stattfinden müsse. Diese Kehrtwende brachte ihr viel Kritik ein, insbesondere von Josephine Butler.

Der Kampf um das Frauenwahlrecht Auf dem Schlachtfeld der Frauenrechte gab es also im viktorianischen England viele Kämpfe auszufechten. Das Frauenwahlrecht war nur einer davon. Die Gesetze zur Wahlreform der 1830er-Jahre hatten den Ausschluss des weiblichen Geschlechts erneut bekräftigt. Einzelne Initiativen zur Ausweitung des Wahlrechts in der ersten Jahrhunderthälfte blieben ohne größere Resonanz. 1851 hatte Harriet Taylor Mill mit einem Beitrag zum Thema Aufsehen erregt, doch zunächst standen andere Fragen im Vordergrund, wie etwa die Besitzrechte verheirateter Frauen oder das Scheidungsgesetz von 1857. Mit der Wahl ihres Gatten John Stuart Mill ins Parlament 1865 kam Bewegung in die Sache, denn er unterstützte die Forderung nach dem weiblichen Stimmrecht vorbehaltslos. Für ihn gab es keine stichhaltigen Gründe, um Frauen von Macht, Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung fernzuhalten. Im Gegenteil sah er darin ein Hindernis für den Fortschritt der Menschheit. 1866 legte Mill dem Unterhaus eine Petition vor, die darauf abzielte, das Frauenwahlrecht in die Wahlrechtsreform von 1867 240

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einzubinden. Durch diese vervierfachte sich im Folgenden zwar die männliche Wählerschaft, der weibliche Teil der Bevölkerung blieb aber weiterhin ausgeschlossen. Viele weitere Petitionen sollten folgen, die verschiedene Frauengruppen und -vereinigungen vorantrieben. 1865 hatte sich das erste Women’s Suffrage Committee gebildet. In den folgenden Jahren entwickelte sich trotz zahlreicher Spaltungen eine nationale Bewegung und 1867 wurde die National Society for Women’s Suffrage gegründet. Die frühen Protagonistinnen kamen vorwiegend aus den landbesitzenden Schichten und trafen sich im kleinen Kreis. Ab 1897 übten Millicent Fawcett und die National Union of Women’s Suffrage Societies zunehmenden Druck auf die Politik aus. Dennoch ließ die Einführung des Frauenwahlrechts noch bis nach dem Ersten Weltkrieg auf sich warten. Bei allen Anliegen der Frauenbewegung spielten zum einen interne Spaltungen, zum anderen aber auch taktische Überlegungen eine Rolle. Es war nicht unwichtig, welche Ziele wann mit welcher Vehemenz und mit welchen Strategien verfolgt wurden. Insofern war Florence Nightingale keineswegs allein mit ihrer Meinung, dass eine Reform weiblicher Eigentumsrechte längst nicht so großen männlichen Widerstand hervorriefe wie die Forderung nach dem Frauenwahlrecht. Das Stimmrecht hatte für sie deshalb keine Priorität. Sie war sich sicher, dass es noch lange dauern würde, bis es sich durchsetzen ließe, und in der Zwischenzeit schlimmere Übel, die hart auf den Frauen lasteten, angegangen werden sollten. Diese Ansicht erläuterte sie John Stuart Mill in den 1860er-Jahren in mehreren Briefen. Für Nightingales (zum Teil sehr) kritische Einschätzung durch die Feministinnen des ausgehenden 20. Jahrhunderts ist vor allem ihre Haltung zur Frage des weiblichen Stimmrechts verantwortlich. Ihr wird regelmäßig vorgeworfen, dass sie sich geweigert habe, Mills Wahlrechtspetition von 1866 zu unterstützen, was neuerdings von McDonald bezweifelt wird, und dass sie auch nicht der National Society for Women’s Suffrage beigetreten sei. Mills Korrespondenz mit Nightingale hilft, ihre Beweggründe zu verstehen. Ihr Austausch über Frauenrechte hatte eine längere Vorgeschichte und wurzelte in Mills Kommentaren zu Nightingales Suggestions for Thought bzw. Cassandra in den 1850er-Jahren. Hinzu kam eine Passage 241

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in ihren Bemerkungen zur Krankenpflege, die Mill zu kritischen Rückfragen bewogen hatte. Dort hatte sie den Krankenpflegerinnen geraten, zwei Arten des gerade modernen „Jargons“ zu vermeiden: zum einen denjenigen der Frauenrechtlerinnen, „der Frauen dazu dränge, all das zu tun, was Männer täten, einschließlich des Arztberufs […] [und zwar] nur deshalb, weil dies Männer machten und ohne zu berücksichtigen, ob dies das Beste sei, was Frauen tun könnten“ (CW 12, 684f.). Der andere Jargon ermahne Frauen, alles zu vermeiden, was Männer machten, nur deshalb, weil sie Frauen seien. Jede Frau solle vielmehr das Beste aus sich herausholen, was immer das auch sei, um Gottes Werk zu tun, und auf keine dieser beiden Stimmen hören. Mill beunruhigte diese Passage, da er wegen der großen Popularität von Notes on Nursing befürchtete, sie könne seinem Kampf für gleiche Entfaltungschancen der Geschlechter Schaden zufügen. Dies habe er missverstanden, argumentierte Nightingale, doch er blieb bei seinen Bedenken: Die aktuelle Diskussion mache hier zu viele Konzessionen, und Nightingales Äußerung könnte diese bestärken. Der Briefwechsel zeigt, dass die beiden das Problem der Frauenrechte aus verschiedenen Blickwinkeln betrachteten: Mill sehr abstrakt und theoretisch, Nightingale im Kontext praktischer Erfahrungen und damit sehr persönlich. Es waren diese persönlichen Erfahrungen, die sie zu mitunter verstörenden Urteilen über Frauen verleiteten. So schrieb sie ihrer Freundin Mary Mohl 1861, die selber dem eigenen Geschlecht gegenüber sehr kritisch eingestellt war, dass es ausschließlich Männer gewesen seien, die sie in ihrer Arbeit unterstützt hätten, und niemals eine Frau (was ungerecht war, allein wenn man an Selina Bracebridge oder ihre Tante Mai denkt). Clough habe sich in die Verwaltung des Nightingale Fund eingearbeitet und Sidney Herbert sein ganzes Leben für sie verändert, indem er sich auf neue Wissensgebiete begeben und sich ganz der Arbeit mit ihr verschrieben habe. Frauen hingegen „fehle Sympathie“, denn: „Frauen flehen darum geliebt zu werden, nicht darum zu lieben. Sie verlangen den ganzen Tag nach Mitgefühl, sind aber unfähig, solches zurückzugeben, denn dafür können sie sich nicht lange genug an Deine Angelegenheiten erinnern.“ (Cook 2, 14f.) Außerdem mangele es ihnen oft an Fähigkeiten und der richtigen Arbeitseinstellung: Selbst 242

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für 500 Pfund könnte sie keine passende Sekretärin finden. Man sollte allerdings gerade bei dieser Äußerung den Kontext nicht ausblenden. Erst kurz zuvor waren Herbert und Clough verstorben und Mai Smith zu Nightingales bitterer Enttäuschung zu ihrer Familie zurückgekehrt. Daneben gibt es allerlei abfällige Bemerkungen über die Agitationen der Frauenbewegung dieser Jahre in Nightingales Korrespondenz, so etwa in ihren Briefen an Jowett. Diese Formen öffentlichen Auftretens waren ihre Sache nicht. Häufig beklagte sie, dass Frauen die ihnen offenstehenden Möglichkeiten nicht nutzten. 1858, als sie fürchtete, nicht mehr lange zu leben, und sich gegenüber Harriet Martineau dagegen verwahrte, dass die women’s missionaries sie nach ihrem Tod vereinnahmten, schrieb sie einen Satz, der ihr hundertfach vorgeworfen werden sollte: „Mir sind das Unrecht und die Rechte meines Geschlechts brutal gleichgültig“. Diejenigen, die Chancen, die sich böten, nicht ergriffen, wie sie dies im Krimkrieg getan habe, sollten „lebendig verbrannt werden“ (Cook 1, 385). An anderen Stellen bedauerte sie wortreich die mangelnde weibliche Bildung(sbereitschaft). Frauen, die sich nur dem Schreiben, dem schreibenden Klagen zuwandten, verachtete sie besonders. Was die Wahlrechtskampagnen betrifft, so geht McDonald davon aus, dass Nightingale die erste Petition ihrer Cousine Barbara Leigh Smith Bodichon, die Mill im Juni 1866 dem Parlament vorlegte, wahrscheinlich unterzeichnete. Eine zweite Petition präsentierte er 1867 zusammen mit seinem Änderungsantrag für das Wahlgesetz. Ob sie diese unterstützte, ist nicht mehr zu klären. Der Petition von 1868 mit über 50.000 Unterschriften schloss sie sich an. Die bekannte Frauenrechtlerin Barbara Leigh Smith Bodichon entstammte einer unehelichen Beziehung von Nightingales Onkel mit einer Hutmacherin. Es gibt keinerlei Hinweise, dass die beiden bzw. ihre Familien jemals Kontakt pflegten. Als 1867 Mill versuchte, Nightingales Unterstützung für den Londoner Frauenwahlrechtsverein zu gewinnen, hatte die Bewegung bereits eine beträchtliche Stärke erreicht. Er war davon überzeugt, dass Frauen Rechte erhalten und sich politisch beteiligen müssten, um ihre Interessen selber durchzusetzen, sonst werde nie ein zufriedenstellender Zustand erreicht. Nightingale lehnte die Mitgliedschaft im Vorstand der 243

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neuen National Society for Women’s Suffrage mit der Argumentation ab, dass sie Zeit und Energie in wichtigere Gebiete investieren wolle, in denen nur sie allein etwas bewirken könne. Für sie sei es sinnvoller, nicht im Rampenlicht zu stehen, sondern hinter der Bühne zu arbeiten. Außerdem hielt Nightingale, wie übrigens auch andere Reformgenossinnen wie Octavia Hill oder Josephine Butler, die frühe Frauenwahlrechtsbewegung für die Sache einiger Elitefrauen, die Macht und Prestige für ein paar ihrer Geschlechtsgenossinnen suchten und dafür das so nötige soziale Engagement vernachlässigten. Ihrer Meinung nach konnte das Wahlrecht der Masse armer Frauen nicht helfen. An anderer Stelle aber relativierte sie dies. An Mill schrieb sie am 11. August 1867: „Ich glaube, keiner kann überzeugter davon sein als ich, dass Frauen das Wahlrecht haben sollen. Es ist so wichtig für eine Frau, besonders für eine verheiratete Frau, besonders für eine kluge verheiratete Frau, eine ‚Person‘ zu sein.“ (CW 5, 394) (Mill hatte im Parlament beantragt, im Gesetz von 1867 das Wort man durch person zu ersetzen.) Doch bis dahin werde es viele Jahre dauern. In der Zwischenzeit gäbe es viel schlimmere Übel, etwa Eigentumsfragen oder die Situation verheirateter Frauen mit Kindern. „Solange eine verheiratete Frau kein Eigentum besitzen kann, kann es keine Liebe und auch keine Gerechtigkeit geben.“ (CW 5, 394) Konkret befürchtete sie, dass langwierige Wahlrechtsdebatten die Aufmerksamkeit von wichtigeren sozialreformerischen Themen abziehen würden. Priorität hatten für sie darüber hinaus gesetzliche Regelungen, von denen schnell alle Geschlechtsgenossinnen profitieren konnten, wie Frauenbildung und finanzielle Unabhängigkeit. Mill war nicht damit einverstanden, dass Nightingale ihr Werk und ihr Engagement größtenteils vor der Öffentlichkeit verbarg. Für ihn war dies ein kontraproduktives Beispiel für Frauen. Auch Nightingales Prioritätensetzung wollte er nicht zustimmen. Zudem hielt er ihre Furcht, die Wahlrechtsfrage könne Reformallianzen sprengen, für unbegründet. Seine Argumentation stieß nur bedingt auf offene Ohren, denn öffentlich aktiv wurde Nightingale lediglich in sehr begrenztem Ausmaß. Sie trat der National Society for Women’s Suffrage bei, spendete, verweigerte aber ein stärkeres Engagement. Jowett teilte ihre Vorbehalte 244

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und riet, sich nicht in diese Kämpfe hineinziehen zu lassen. Jedoch dürfe sie in der Öffentlichkeit nicht den Anschein erwecken, etwas zu bekämpfen, dem sie im Grunde zustimme. Eine Ablehnung des Frauenwahlrechts durch Nightingale kann man somit aus dieser Debatte mit Mill keineswegs ableiten. Sie hielt es nur nicht für prioritär, wie alle politischen Rechte. Ihre privilegierte gesellschaftliche Position und ihr ungewöhnlicher persönlicher politischer Einfluss, über den kaum andere Geschlechtsgenossinnen verfügten, nährten eine spezifische Sichtweise, wie Frauen den ihnen gemäßen Platz in der Gesellschaft erreichen konnten. Es scheint paradox, dass ausgerechnet eine so gebildete Frau, mit überschießender Energie, eisernem Willen und hohem manipulativen Potenzial ihren Geschlechtsgenossinnen das Ideal viktorianischer Weiblichkeit einschärfte. Ihrer Meinung nach sollten Frauen, selbstbewusst und gut ausgebildet, sozial nützliche Arbeit leisten, dies aber in der Stille tun und kein großes Aufheben darum machen. Auch ihr eigenes zurückgezogenes Leben könnte eine Rolle bei der Verurteilung von Frauen gespielt haben, die für ihre Interessen die Öffentlichkeit suchten. Es war das Gefängnis der Konventionen gewesen – und nicht gesetzliche Einschränkungen –, das ihre Empörung in jungen Jahren ausgelöst hatte. Im Endeffekt hatte sie wenig Verständnis für den demokratischen Prozess, wie ihn Mill im Auge hatte. Ihre Wirkungsmöglichkeiten basierten auf Prestige und persönlichen Beziehungen, und nicht auf Rechten.

Das Medizinstudium der Frauen Als Nightingale 1853 begann, in der Pflege zu arbeiten, gab es in der westlichen Welt keine weiblichen Ärzte auf der Basis eines akademischen Studiums. In Großbritannien war Elizabeth Garrett 1865 die erste, die – über eine Hintertür, die bald geschlossen wurde – ein formelles Examen ablegte und eine Praxis eröffnete. Die Ärztin Elizabeth Blackwell hatte einen US-amerikanischen Abschluss. Über Frauen im Arztberuf setzte sich Florence Nightingale insbesondere mit zwei Personen auseinander, mit Elizabeth Blackwell und John Stuart Mill. 245

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Blackwell überlegte um 1858/59, ein Krankenhaus zur Behandlung ihrer Geschlechtsgenossinnen zu gründen, an dem Frauen zu Ärztinnen ausgebildet werden konnten. Es war dies zu der Zeit, als der Nightingale Fund seine Planungen für die Einrichtung einer Krankenpflegeschule vorantrieb. Anfang 1859 trafen sich Blackwell und Nightingale in Malvern, klärten brieflich ihre Positionen und loteten Möglichkeiten für eine Zusammenarbeit aus. Blackwell dachte daran, in ihrem Hospital eine Pflegeausbildung anzubieten, deren Abschluss den Absolventinnen einen Weg in den Arztberuf eröffnen sollte. Sie hatte vor, die Schule selbst zu leiten und damit ihre Privatpraxis zu verbinden. Zudem plante sie, eine Professur für Hygiene einzurichten, die auf längere Sicht die Leitung des Hospitals, der Pflegeschule und der medizinischen Ausbildung übernehmen sollte. Nightingale jedoch wollte mit der Pflege einen autonomen Frauenberuf etablieren, der unter der Führung einer Frau, einer Oberin oder Superintendentin, stand, und nicht unter der eines Arztes. Außerdem befürchtete sie, dass die Öffnung hin zum Arztberuf den Widerstand der Mediziner anstacheln und damit ihr Projekt gefährden könnte. Und sie war davon überzeugt, dass ihre Pflegeschule an einem großen, traditionsreichen Krankenhaus angesiedelt werden musste und nicht in einer kleinen neuen Einrichtung auf dem Land, wie es Blackwell plante. In einem Brief wies Nightingale auf die Unterschiede hin: Während die Ärztin den Schwerpunkt auf Therapie lege, sei ihr die Prävention wichtig. Sie seien beide „auf unterschiedlichen Wegen (wenn auch zum gleichen Ziel), Sie um einige wenige Hochkultivierte auszubilden, ich um so viel Wissen wie möglich zu verbreiten“ (CW 8, 27). An anderer Stelle bezeichnete Nightingale Blackwells Krankenhauspläne als verfrüht. Überlegungen, sie als Leiterin der Nightingale School einzusetzen, scheiterten ebenfalls schon in einem sehr frühen Stadium am Widerstand des St. Thomas Hospitals. Florence Nightingale hielt die Medizin ihrer Zeit für dringend reformbedürftig. Eine Thematisierung des Frauenstudiums hätte zwangsläufig auch diese Problematik auf die Tagesordnung gesetzt. Sie aber wollte die Ärzte nicht gegen sich aufbringen, deren Unterstützung sie für ihre breit gefächerten Gesundheitsreformpläne brauchte. In den 1860er-Jahren vertrat sie nachdrücklich die Meinung, dass die beiden 246

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Berufe voneinander getrennt bleiben sollten. Frauen, die in die Medizin wollten, sollten die Krankenpflege nicht als Abkürzung dorthin betrachten. Und die Pflege sollte ein Frauenberuf sein, der von Frauen geleitet wurde. Diese sollten zwar die ärztlichen Anordnungen ausführen, doch als Vorgesetzte nur Frauen haben. Blackwell und Nightingale stehen damit für zwei unterschiedliche Ansätze feministischen Denkens im 19. Jahrhundert: Zum einen den equal rights-Ansatz Blackwells und zum anderen die Betonung einer women’s culture durch Nightingale. Während die erste Richtung Faktoren hervorhob, die Frauen ausschlossen, unterstrich die zweite solche, die Frauen verbinden und zusammenbringen konnten. John Stuart Mill, der ebenfalls den weiblichen Zugang zum Medizinstudium unter dem Blickwinkel gleicher Rechte sah, hatte im Herbst 1860 einige Aussagen in Nightingales Bemerkungen zur Krankenpflege moniert, wie bereits angesprochen wurde. Er befürchtete, die Gegner der Frauenemanzipation würden sich Nightingales Ruf zunutze machen. Daraufhin konkretisierte sie gegenüber Mill ihre Vorstellungen. Im Fokus stand ihre Kritik an Elizabeth Blackwell und deren Forderungen nach Gleichberechtigung der Frauen in der Medizin. Nach Nightingales Auffassung konnten Ärztinnen unter den Bedingungen der Zeit lediglich eine untergeordnete Stellung, ohne Einfluss auf dringend notwendige Reformen, erreichen. Deswegen sei ein eigenes autonomes Berufsfeld Pflege die bessere Lösung. Sie befürchtete wohl auch, dass die Öffnung der Medizin für Frauen eine Konkurrenz für die Rekrutierung geeigneter Kandidatinnen für ihre Pläne bedeuten könnte. Gegenüber Mill sagte sie 1860, sie wolle so wenige Ärzte wie möglich sehen, egal welchen Geschlechts, denn die Frauen hätten, seit sie vor dreißig Jahren in den Arztberuf eingestiegen seien, keine Verbesserungen gebracht. Wenn sie in die Medizin gingen, müssten sie diese grundlegend reformieren, was unwahrscheinlich sei. Darauf folgte ein weiterer Satz, der im Allgemeinen zur Untermauerung von Nightingales frauenfeindlicher Einstellung bemüht wird: „[…] sie haben lediglich versucht, ‚Männer‘ zu sein und es nur geschafft, drittklassige Männer zu werden“. Es werde ihnen wohl gelingen, davon leben zu können, „aber sie werden nichts Gutes bewirken können und nicht die Behandlung 247

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verbessern“. Sie stelle nur Fakten fest. „Lasst es alle Frauen versuchen. Meiner Ansicht nach sind diese Frauen gescheitert.“ (CW 5, 376) Sie betonte aber auch, dass sie die Sache damit aber nicht prinzipiell ablehne. Mill gab zu bedenken, dass sie grundlegende Veränderungen von den ersten Frauen in der Profession nicht erwarten könne. Zudem hätten diese ein moralisches Recht, den Beruf ergreifen zu dürfen. Zehn Jahre später griff sie das Thema in einem Brief an ihre Schwester auf: „Möchtest Du, zum Beispiel, dass ‚weibliche Ärzte‘ dieselbe ‚Ausbildung‘ erhalten und dieselben ‚Prüfungen‘ ablegen wie Männer? Sicherlich nicht. […] (1) Möchtest Du Frauen zu Ärzten machen, die Männer behandeln? Sicherlich nicht. Möchtest Du Frauen auf irgendeine Art ‚höher‘ stellen als männliche Ärzte? Nämlich dadurch, dass Frauen Ärztinnen für Frauen werden? Die ‚Ausbildung‘ und ‚Prüfung‘ der Männer ist, und das bestätigen alle richtigen Ärzte, fast so schlimm wie es nur möglich sein kann. Wenn man mich fragt, ob ich dafür stimme, dass Frauen daran teilhaben, dann würde ich sicherlich nein sagen. (2) Das Gebiet der Geburtshilfe (einschließlich der Kinder- und Frauenkrankheiten) ist unbestreitbar eine Domäne der Frauen. Soweit ich weiß, hat dies noch keiner bestritten – außer auf Basis der Tatsache, dass Frauen dafür keine Ausbildung erhalten können.“ (CW 1, 338f.) Seit fast 70 Jahren werde dies aber in mustergültiger Weise in Frankreich praktiziert, durch eine praktische und wissenschaftliche zweijährige Ausbildung. Der Rang der Ausbilderinnen stehe dem ärztlicher Koryphäen der Geburtshilfe in nichts nach. Diese seien physician accoucheuses und nicht nur Hebammen. So schloss Nightingale ein Medizinstudium auch nicht kategorisch aus, sondern betonte die Schwierigkeiten für Frauen in dieser Männerdomäne mit ihren fest verankerten Geschlechterbildern. Schnelle Veränderungen erwartete sie nicht. Sie wusste, was einige Ärztinnen erleben mussten, die im Ausland studiert hatten, denen aber in England viele Steine in den Weg gelegt wurden. 1878 führte das Ärzteregister neun Frauen 248

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Das Medizinstudium der Frauen

auf, 1887 waren es 58, 1911 477. Ärztinnen wurden in den allermeisten Krankenhäusern nicht zugelassen und mussten eigene Frauenhospitäler gründen. 1872 entstand das New Hospital for Women and Children und einige Jahre später eine Medizinische Hochschule für Frauen. Die Meinungen über Nightingales Position zum Medizinstudium sind geteilt. Während einige betonen, sie habe es konsequent abgelehnt und immer unterstrichen, dass Frauen besser Krankenschwestern oder Hebammen werden sollten, zeigt ein genauerer Blick, dass sich ihre Ansichten langsam verändert hatten. Vor allem für Frauen und Kinder schien ihr ein Einsatz von Ärztinnen sinnvoll. 1879 unterstützte sie gegenüber dem Dekan der Medizinischen Fakultät in London die Zulassung von Frauen. Sie bedauerte aber, dass die wenigen Ärztinnen bislang noch nicht den Weg in die Geburtshilfe gefunden hätten. 1888 spendete sie für das New Hospital for Women und half beim Fundraising. Es waren besonders ihre Arbeiten zu Indien, die sie von der Notwendigkeit weiblicher Ärzte überzeugten. Die Times berichtete im Juli 1888 von einem Brief Nightingales, der beim Lord Mayor’s Meeting verlesen wurde: „Sie wollen effiziente Ärztinnen, vor allem für Indien, deren einheimische Frauen nun unsere Schwestern, unsere Aufgabe sind. (Es gibt mindestens 40 Millionen, die nur zu Ärztinnen gehen können und die keine haben.) Aber auch England braucht sie. Gebt ihnen neben einer Medizinischen Hochschule eine praktische in einem Frauenhospital. Leben und Tod hängen von der Ausbildung ab.“ (The Times, 9.7.1888) Florence Nightingale war häufig bedrängt worden, Frauen mit ein paar Monaten Pflegeausbildung nach Indien zu schicken: Für die Kolonien reiche das, Ärzte seien nicht nötig. Sie weigerte sich. So kamen britische Ärztinnen auf den Subkontinent und nach und nach wurden auch indische Frauen ausgebildet. Um 1895 studierten etwa 300 von ihnen an britischen Einrichtungen, sodass immer weniger englische Ärztinnen „exportiert“ werden mussten. Es waren also die Bedürfnisse des Empire und von den Medien verbreitete Horrorgeschichten aus Indien, die 249

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Frauenfrage und Frauenrechte

den Widerstand gegen Ärztinnen schwinden ließen, sogar bei Königin Victoria. Vor diesem Hintergrund warb Nightingale im Laufe der Zeit immer stärker für das Frauenstudium, wenngleich sie einen speziellen Ausbildungsgang mit Konzentration auf Frauen und Kinder präferierte. Damit stand sie nicht allein, denn das Medizinstudium der Frauen wurde, wie bereits erwähnt, vor allem im Kontext der Geburtshilfe und der Senkung der Müttersterblichkeit diskutiert. Die 1862 gegründete Female Medical Society betrachtete die Geburtshilfe als geeigneten Beruf für gebildete Frauen mit hohem Status. Dabei gab es aber zwei Meinungen: Die einen waren dafür, eine von der Medizin getrennte Profession zu etablieren, andere wollten den Frauen den Zugang zum Studium ermöglichen und hofften, dass dann die meisten in die Geburtshilfe gingen. Die frühen Propagandistinnen des Frauenstudiums argumentierten mit der Ideologie der zwei Sphären und dem Konzept der erweiterten Mütterlichkeit, um Volk, Nation und Empire an den segensreichen weiblichen Eigenschaften und Talenten teilhaben zu lassen. Es stand also nicht die Forderung nach gleichen Rechten im Mittelpunkt. Es ging um Ärztinnen für Frauen, um die Schamgrenzen zu wahren. Wenn das weibliche Geschlecht eine besondere Mission für den Schutz von Frauen und Kindern vor Krankheit, Schmutz und Unmoral hatte, dann brauchten diese auch Ärztinnen. Dass die ersten Ärztinnen hier eine Nische finden konnten, hing mit der Veränderung medizinischen Wissens im 19. Jahrhundert zusammen. Während die wissenschaftliche Medizin sich immer stärker der Labormedizin und einzelnen Organen zuwandte, dominierte in der Bevölkerung immer noch das seit der Antike gültige Konzept hygienischer Regeln zur Aufrechterhaltung der Gesundheit, das ein holistisches war und Umwelt sowie soziale und persönliche Faktoren mit einschloss. Die Sorge um die Gesundheit der Familie galt als genuin weibliche Aufgabe. Da die öffentliche Gesundheit die Politik immer stärker beschäftigte, war die Forderung nach Ärztinnen, die die Frauen entsprechend schulen konnten, nur folgerichtig. In den späteren Jahren des 19. Jahrhunderts kämpften die neuen Ärztinnen erfolgreich um diesen Platz in der Gesundheitserziehung von Frauen. 250

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Kontroverse Beurteilungen

Nach 1900 konkretisierten sich diese Nischen vor allem auf dem Feld der Bekämpfung der Säuglings- und Kindersterblichkeit und der Geschlechtskrankheiten, denen man den stärksten negativen Einfluss auf die „Gesundheit der Rasse“ zuschrieb. Was nun Florence Nightingale anging, so hatte sich auch ihre persönliche Einstellung zu Frauen in der Medizin verändert. Ihre letzte Ärztin war Dr. May Thorne. Und ihren Totenschein stellte Louisa Garrett Anderson aus, die Tochter der ersten in England ausgebildeten Ärztin.

Kontroverse Beurteilungen Florence Nightingales Einstellungen zur Frauenemanzipation, zur Erweiterung der Frauenrechte, insbesondere des Wahlrechts, sind bis heute heftig umstritten. Die Frage, ob sie denn nun eine Feministin war oder vielleicht eher das Gegenteil davon, erregt immer noch die Gemüter. Die erhitzten Diskussionen darüber, was „richtigen“ Feminismus eigentlich ausmache, sollen an dieser Stelle weder reproduziert noch weitergeführt werden. Allerdings ist es ratsam, sich vor plakativen Zuschreibungen zu hüten – und vor aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten sowieso. In eine abwägende Beurteilung mit einbezogen werden müssen jedenfalls die allgemeinen Zeitumstände ebenso wie die einzigartigen Möglichkeiten, die Florence Nightingale unter diesen spezifischen Rahmenbedingungen für sich erkämpfte. Jedoch scheint sie sich selber nicht als Ausnahmeerscheinung gesehen zu haben. Sie war sich sicher, dass andere Frauen ihrem Beispiel folgen konnten, wenn sie dies nur wollten. Betrachtet man Nightingales Haltung zur Frauenfrage genauer, so ist zum einen eine gewisse Ambivalenz gegenüber dem Kampf für Frauenrechte, vor allem hinsichtlich des Wahlrechts, zu erkennen. Sie lehnte Frauenrechte nicht ab, im Gegenteil, doch sie setzte andere Prioritäten. Sie verfügte über andere effiziente Wege, um ihre Reforminteressen voranzubringen. Hätte sie einen Parlamentssitz, sagte sie einmal, wären ihre Möglichkeiten nicht größer. Politische Rechte zu erkämpfen, womöglich noch auf der Straße, hatte für sie keine Priorität. Mit öffentlichen, „unweiblichen“ Formen der politischen Auseinandersetzung 251

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Frauenfrage und Frauenrechte

konnte sie sich nicht anfreunden. Sie mokierte sich über den „Jargon“ der Frauenrechtlerinnen, und statt sich auf Rechte zu beziehen sprach sie viel lieber von der Pflicht zu dienen, von Berufung. Sofern überhaupt eine Einordnung sinnvoll ist, wird man Florence Nightingale am ehesten der gemäßigten Frauenbewegung zurechnen können, die im Sinne des Konzepts der „erweiterten Mütterlichkeit“ neue Handlungsräume für Frauen in Beruf und öffentlichem Leben erschließen wollte. Wie weit die in der ersten Jahrhunderthälfte immer stärker akzentuierte Trennung in zwei Sphären in der Praxis wirklich ging, ist eine andere Frage. Neuere Studien weisen auf die vielen Frauen hin, deren öffentliches Engagement weit professioneller war als amateurhafte Philanthropie. Daher könne der viktorianische Lobpreis der Häuslichkeit auch als Reaktion auf die immer größere Präsenz von Frauen im öffentlichen Leben gedeutet werden. Im Zusammenhang mit der Frauenfrage wird häufig darauf hingewiesen, dass Nightingale Frauen generell geringgeschätzt sowie bevorzugt mit Männern zusammengearbeitet habe. Darin liegt eine gewisse Wahrheit, allerdings ist dieses Thema ebenfalls differenziert zu betrachten. Es war ihr in der Tat gelungen, hochrangige Experten zu einem Team loyaler Mitarbeiter zu formen und sich Respekt in den männlichen Foren von Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit zu verschaffen. Kaum Verständnis konnte sie für Frauen aufbringen, die sich mit ihrem familiären Gefängnis abfanden, keine Anstrengungen unternahmen, sich Freiräume zu schaffen, oder Chancen ungenutzt verstreichen ließen. Auch für ihre Geschlechtsgenossinnen, die ihre Bildung nicht vorantrieben, hatte sie nur Verachtung übrig. Was allerdings meist ausgeblendet wird, ist ihre intensive Zusammenarbeit mit zahlreichen Frauen auf dem Feld der Pflege und des Krankenhauswesens, mit denen sie sich intensiv austauschte und die sie bis ins hohe Alter mit Rat und Tat förderte. Nightingales enorme Bedeutung für die Sache der Frauen ist unbestreitbar. Durch ihr Beispiel hatte sie für alle sichtbar jene Begründungen obsolet werden lassen, mit denen das weibliche Geschlecht auf das Haus beschränkt worden war, und für Frauen neue Berufsperspektiven und Handlungsräume eröffnet. 252

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Die Nightingale School (1870–1900)

Im Sommer 1871 wurde das neu erbaute St. Thomas Hospital am Ufer der Themse eröffnet. Bei der Lage hatte sich Nightingale zwar nicht durchsetzen können, jedoch bei der fast mustergültigen Errichtung im Pavillonstil. Sieben davon reihten sich entlang eines zentralen Korridors. Die schiere Größe des 588-Betten-Hauses beeindruckte die Zeitgenossen. Auch die Krankensäle entsprachen den Vorstellungen Nightingales, 28 Betten in jedem Saal. Es gab jeweils zwei Vorräume, eine Küche und den Schlaf-Wohn-Raum der verantwortlichen Schwester. Die übrigen Pflegerinnen wohnten unter dem Dach und die Schülerinnen in einem Extrablock unter der ständigen Aufsicht der Oberin. Mit Nachdruck hatte Nightingale auf großzügige Personalunterkünfte gedrängt, war doch das Zusammenleben im „Schwesternheim“ integraler Bestandteil ihres Ausbildungskonzepts. Nun wurde mehr Personal gebraucht, und die Zahl der Auszubildenden vervierfachte sich beinahe. Henry Bonham-Carter, Jurist und Sekretär der Nightingale-Stiftung, war der Dreh- und Angelpunkt des Unternehmens. Denn als Frau konnte Nightingale nicht direkt mit der Krankenhausleitung verhandeln. Bonham-Carter regelte alles Nötige. Er berichtete ihr alles Wesentliche, merkwürdigerweise aber bis 1873 ausschließlich schriftlich. Erst danach trafen sie sich regelmäßig. Persönlich besuchte sie „ihre“ Krankenpflegeschule nur einmal, und zwar 1882.

Mängel, Defizite, Krisenmanagement Die bereits besprochenen ernsten Probleme der Schule im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens waren spätestens 1871 nicht mehr zu ignorieren. Auch in der Öffentlichkeit wurde darüber diskutiert, dass der Nightingale 253

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Die Nightingale School (1870–1900)

Fund wohl eher das Krankenhaus ko-finanziere als dass er die Pflegeausbildung voranbringe. Eine schwedische Schülerin beklagte, dass man dort lediglich Bescheidenheit und Gehorsam lerne. Andere monierten die unfreundliche und ungerechte Behandlung durch die Oberin. Nightingale wies die Vorwürfe lange Zeit – und wie es scheint, ohne nähere Prüfung – zurück. Wann genau ihr und Bonham-Carter die krisenhafte Zuspitzung deutlich wurde, ist nicht mehr zu klären. Entscheidend dafür dürften Gespräche mit einer Absolventin gewesen sein, Elizabeth Torrance, die als Pflegedienstleitung für ein Arbeitshaus vorgesehen war. Ihre Klagen fanden Gehör. Kleinliche Tyrannei, Vernachlässigung auf vielen Ebenen und im großen Stil, kaum ärztlicher Unterricht, schlechte praktische Anleitung: All das wurde nun anhand vieler Beispiele konkret. Es war nicht zu übersehen, dass vor allem die Oberin und Leitung der Schule, Sarah Wardroper, ihren zahlreichen Aufgaben nicht (mehr) gewachsen war. In Pflege, Organisation und Personalführung erfahrene Oberinnen neuen Stils und die so dringend benötigten „modernen“ Krankenpflegerinnen konnte dieses System kaum hervorbringen. Ab den frühen 1870er-Jahren widmete sich Florence Nightingale daher intensiv der Pflegeschule. Ihre Gesundheit hatte sich stabilisiert, und die „offiziellen“ Aufgaben für die Regierung waren deutlich weniger geworden. Ihr Engagement schwankte zwar, je nachdem, ob gerade andere Verpflichtungen drängten, ab dieser Zeit war sie aber immer bestens informiert und hielt brieflich engmaschigen Kontakt. Selbst in hektischen Zeiten wurde jede neue Stationsschwester zum Tee empfangen und erhielt Blumen sowie ein Buchgeschenk. Sie traf sich regelmäßig mit Wardroper, mit Schwestern und Auszubildenden. Sie kontrollierte die Beurteilungsbögen sowie die Journale der Schülerinnen. Und jedes Jahr richtete sie ihre berühmten Adressen an die Absolventinnen. Die nachlassenden geistigen Fähigkeiten Wardropers stellten ein immer größeres Problem dar. Abhilfe zu schaffen war schwierig, da sich die Oberin vehement gegen die Einschränkung ihrer Autorität und Kompetenzen wehrte. Das Krankenhaus unterstützte sie dabei. Nightingales Urteil über Wardroper war widersprüchlich: Harsche Kritik stand wahren Lobeshymnen gegenüber, wenn sie etwa ihre organisatorischen Fähigkeiten im Krankenhausmanagement pries. Weniger Begeisterung 254

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Das Ausbildungskonzept

fand Wardropers Personalpolitik. Einstellungen und Entlassungen erweckten häufig den Eindruck wenig fundierter Willkürentscheidungen. Auch wurde der Oberin vorgeworfen, die Rekrutierung gebildeter Kandidatinnen zu behindern, indem sie ihnen die Vorzugsbehandlung verweigerte, die sie anderswo bekamen. Warum sie dann nicht entlassen wurde, ist umstritten. Für Bostridge liegt der Grund in der schwachen Position der Stiftung gegenüber dem Krankenhaus, während andere wie etwa Helmstadter mit durchaus kritischem Unterton durchblicken lassen, dass Nightingale hätte eingreifen müssen – es unerklärlicherweise aber nicht tat. Als Notlösung wurde die Position der home sister, der Leitung des Schwesternheims, eingeführt, die Wardroper an die Seite gestellt wurde. Dieser Versuch, eine Art Ausbildungsverantwortliche zu schaffen, war ein Balanceakt, der nur ansatzweise gelang. Ihre Aufgabe war es, außerhalb der Dienstzeiten Unterricht zu geben und Moral und Charakterbildung voranzubringen, ohne in den Kompetenzbereich der Oberin einzugreifen. Vier home sisters in drei Jahren sind ein deutliches Indiz für die Spannungen, die aus dieser wenig überzeugenden Konstruktion resultierten. Erst ab 1875 stellte sich mit Mary Crossland eine gewisse Stabilität ein. Eine Ausbildungsverantwortliche, die diesen Namen verdient, gab es erst ab 1914. Außerdem wurde regelmäßiger ärztlicher Unterricht eingeführt, der in den Freistunden der Pflegeschülerinnen stattfand. Der neu verpflichtete leitende Chirurg John Croft entwarf in Zusammenarbeit mit Nightingale einen anspruchsvollen Lehrplan, der von den Grundlagen der Anatomie und Physiologie bis hin zu den revolutionären Veränderungen reichte, die etwa die Anästhesie sowie die Bakteriologie hinsichtlich Hygiene und Asepsis mit sich brachten. Dieser Themenkatalog wurde laufend erweitert und angepasst.

Das Ausbildungskonzept und die perfekte Krankenschwester Was die Pflege im engeren Sinne betrifft, ging der reformierte Ausbildungsplan von den 13 Feldern aus, die man 1860 vage umrissen hatte. 255

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Die Nightingale School (1870–1900)

Zu den Grundlagen der Krankenversorgung kamen etwa Verbände, Umschläge, Bandagen, Bruchbänder, Klistiere, Blutegel, die Zubereitung von Diäten, Assistenz bei Operationen und natürlich akribisches Lüften und peinlichste Sauberkeit in jeder erdenklichen Hinsicht. Diese Vorgaben waren eingebettet in Nightingales allgemeine Einsichten zur Krankenpflege. Dafür waren zuallererst ein entsprechender „Charakter“, religiöse Motivation und untadelige Moral Voraussetzung, welche die Ausbildung weiter zu festigen hatte. Bereits 1851 betonte sie aber auch die unbedingte Notwendigkeit theoretischer, wissenschaftlicher Kenntnisse. Bei der praktischen Arbeit war in jeder Hinsicht ordentlich, methodisch und strukturiert vorzugehen. Die Schwester arbeitete in einem Team, und für gutes Zusammenwirken mussten Regeln diszipliniert befolgt und Hierarchien akzeptiert werden. Dabei zweifelte Nightingale nie daran, dass Pflege am besten unter einer weiblichen Leitung gelang. Die medizinische Autorität der Ärzte war anzuerkennen, jedoch im Sinne eines intelligenten, nicht eines blinden Gehorsams. Ziel der Ausbildung war es, die effiziente und moralisch einwandfreie, ganzheitliche Versorgung des Patienten hinsichtlich aller seiner Bedürfnisse zu lehren. Neben der sorgsamen Betreuung und Überwachung dürfe man nicht vergessen, auch seinen Mut zu stärken. So entstand die Vorstellung, dass sich die Schwester gewissermaßen zwischen den Kranken und seinen Feind, die Krankheit, stellte. Insofern hatte sie für ihren Patienten zu denken, mit seinen Energien zu haushalten, aber gleichzeitig seine Persönlichkeit zu respektieren. Trotz allem steht dahinter jedoch eine Sicht, die die Passivität des Kranken betonte. Für Florence Nightingale war Pflege zeitlebens eine Kunst und Berufung und kein mehr oder weniger mechanisch zu erlernender Brotberuf. Sie konnte, davon war sie überzeugt, nur am Krankenbett, in der direkten Arbeit am Patienten, vermittelt werden. Es sei unmöglich, das notwendige Wissen lediglich aus Büchern zu erwerben, sondern Pflege müsse im Dienst für das Gute gelebt werden. Dazu gehöre Selbstaufopferung, Liebe zur Arbeit und Hingabe an die Pflicht, wozu, wie sie es ausdrückte, der Mut und die Kaltblütigkeit eines Soldaten und die Zärtlichkeit einer Mutter nötig seien. Dafür müsse die Schwester zwangsläufig eine tugendhafte Person sein. 256

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Das Ausbildungskonzept

In ihren autobiografischen Erinnerungen berichteten einige Schwestern davon, wie dieses Modell während ihrer Ausbildung Ende der 1880er-Jahre umgesetzt wurde. In 12 Krankensälen waren 120 Pflegekräfte beschäftigt, darunter 36 Schülerinnen. Der Arbeitstag begann um 7 Uhr und endete gegen 20.30 Uhr. Erst nach dem Tagesbericht an die home sister wurde um 21 Uhr das Abendessen eingenommen, eine Stunde später war Schlafenszeit. In den Pausen von zwei bis drei Stunden fand oft Unterricht statt. Die Aufgaben waren akribisch genau verteilt, die Disziplin militärisch und die Arbeiten körperlich sehr anstrengend. In den Sälen gab es Gaslicht, Wunden wurden mit Karbolspray benetzt, Sterilisation noch kaum angewendet. Im Operationssaal hatte man weder spezielle Kleidung noch Masken, sondern nur Schürzen und hochgekrempelte Ärmel. Freie Zeit war knapp. Doch einmal im Jahr wurden die Auszubildenden nach Claydon in Buckinghamshire in das Landhaus der Verneys eingeladen, wo einige Auserwählte Gelegenheit bekamen, persönlich mit Florence Nightingale zu sprechen, und ihre Schwester Parthenope z. B. Kutschfahrten organisierte. Vier Punkte waren es vor allem, die das Nightingale-System kennzeichneten: eine allmächtige Oberin, hochmotivierte Pflegeschülerinnen, die Dominanz der praktischen Ausbildung am Krankenbett und die Residenzpflicht im Schwesternwohnheim. Selbstverständlich kamen nur ledige oder verwitwete Frauen in einem bestimmten Alter infrage, am besten zwischen 25 und 35 Jahren. Ziel war es, einen unabhängigen weiblichen Gesundheitsberuf unter weiblicher Leitung zu etablieren, der nur in medizinischen Dingen den Weisungen der Ärzte zu folgen hatte. Unter dem Pflegepersonal herrschte eine strikte Hierarchie, mit der Oberin an der Spitze, darunter die Saal- bzw. Stationsschwester (ward sister), dann kamen ausgebildete Vollschwestern (head nurses), Hilfspflegerinnen ohne Ausbildung und schließlich die Pflegeschülerinnen. Im Schwesternheim wurden Unterkunft und Verpflegung gestellt, es hatte aber noch weit größere Bedeutung als Familienersatz, Sozialisationsraum und Ort der „Charakterbildung“ sowie des ergänzenden Unterrichts.

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Die Nightingale School (1870–1900)

Theorie und Realität Vor allem die Nightingale-kritische Pflegegeschichte wies seit den 1980er-Jahren darauf hin, dass Anspruch, Theorie und Praxis mitunter stark auseinanderklafften. Allein schon quantitative Daten, so die Argumentation, widerlegten die behauptete überragende Bedeutung der Nightingale School. In den ersten vierzig Jahren habe es vergleichsweise wenig Absolventinnen gegeben. Mit Rekrutierungsproblemen hatte die Schule in der Tat von Anfang an zu kämpfen. Vor allem gebildete Kandidatinnen für Leitungsfunktionen waren schwer zu finden. Und die Abbrecherquote war erheblich: Bis 1900 konnten von gut 1500 Anfängerinnen mit 936 Pflegeschülerinnen etwa zwei Drittel die Ausbildung abschließen, 227 waren entlassen worden und 326 hatten gekündigt. Allerdings gibt es kaum Daten für andere Schulen, deren Zahl ab den 1880er-Jahren stark anstieg, um genauere Vergleiche ziehen zu können. Der geplante Unterrichtsumfang ließ sich in der Praxis nicht realisieren. 1876 beklagte sich der leitende Arzt, dass die maximal möglichen 36 Stunden pro Ausbildungsjahr nicht ausreichten. Und nicht einmal diese konnten regelmäßig besucht werden, denn die Arbeit auf den Stationen hatte absoluten Vorrang. Zudem war das Niveau der Vorträge für einen Gutteil der Pflegeschülerinnen zu hoch. Die Stellung der home sister war eigentlich eine unmögliche. Sie durfte die Krankensäle nicht betreten und auch nicht mit den Pflegerinnen sprechen, die die Auszubildenden anleiteten, da Wardroper um ihre Autorität fürchtete. So blieb ihre Hauptbetätigung die „Charakterbildung“ und das Einüben der ärztlichen Lektionen. Die langjährige home sister Mary Crossland (1875–1896) hatte zudem außer ihrer einjährigen Ausbildung keinerlei weitere klinische Erfahrung, was angesichts der rasanten Veränderungen von Medizin und Pflege im letzten Drittel des Jahrhunderts Zweifel an ihrer Eignung aufkommen ließ. Religiöse Motivation und wissenschaftlich fundierte Kenntnisse waren Florence Nightingale gleichermaßen wichtig. Nur ihre Fokussierung auf Moral, Charakter und Religion hervorzuheben, wird ihr sicherlich nicht gerecht. Inwieweit sie wissenschaftlich auf der Höhe ihrer Zeit war, ist durchaus umstritten. Neben ihrer bereits beschriebenen Haltung zur 258

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Theorie und Realität

Keimtheorie werden vor allem ihre Vorstellungen über die Entstehung und Heilung von Krankheiten als antiquiert abgelehnt, was man allerdings differenziert betrachten sollte. Ihr holistisches Konzept, das im ausgehenden 19. Jahrhundert durch die Neuausrichtung auf die Organpathologie zunehmend obsolet wurde, gilt heute durchaus in Teilen als anschlussfähig. Weiterhin erntet Nightingales Fixierung auf die praktische Ausbildung am Krankenbett heftige Kritik. Eine vorhergehende Vermittlung von Grundkenntnissen, wie dies etliche Pflegeschulen im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts einführten, lehnte sie konsequent ab. Carol Helmstadter urteilt u. a. deshalb, dass die Nightingale School in akademischer Hinsicht die rückständigste aller Londoner Krankenpflegeschulen gewesen sei. Bei aller gerechtfertigten Kritik ist jedoch zu bedenken, dass sich bereits nach kurzer Zeit Erfolge abzeichneten. Nightingales ständige Thematisierung von Mängeln und Defiziten sollte man daher nicht nur als Zeichen des Scheiterns interpretieren, sondern auch als Ansporn für Verbesserungen. Selbst ein oberflächlicher Blick auf ihre Korrespondenz und ihre voluminösen Notizen zeigt, wie intensiv sie sich damit beschäftigte und alle Optionen bis ins Detail durchdachte. Inwieweit eine Umsetzung gelang, muss man am Einzelfall prüfen. Den Kritikern bietet insbesondere Lynn McDonald die Stirn, wenn sie die Erfolge und den Einfluss der Nightingale School sowie bei allen Anfangsschwierigkeiten und Defiziten die Qualität der Ausbildung betont. Die reinen Absolventinnenzahlen hält sie für wenig aussagekräftig, weil sich die Stiftung schon bald auf die Entsendung von Teams unter der Führung von Oberinnen konzentrierte, die als Multiplikatorinnen wirkten. Außerdem sei es wenig zielführend, die Leistungen an der Legende und späteren Überhöhung zu messen: Hier gehe es oft um Meriten, die Nightingale so nie für sich in Anspruch genommen und um Umsetzungsprobleme, die sie nie geleugnet habe. In ihren Anfängen war die Schule in der Tat ein bescheidenes Experiment, doch weil es von Nightingale kam, wurde es von Beginn an glorifiziert. Auch die Absolventinnen begannen schnell, sich als etwas Besseres zu betrachten. Unbestritten ist weiterhin, dass die Krankenhausverwaltung enge Grenzen setzte, denn alles stand unter dem Diktat möglichst geringer Kosten. 259

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Die Nightingale School (1870–1900)

Je weiter das Jahrhundert fortschritt, umso häufiger beklagte Florence Nightingale Einstellung und Charakter der Pflegeschülerinnen. Die Position der Frauen in der Gesellschaft hatte sich in der Zwischenzeit merklich verändert, die Bildungsmöglichkeiten erweitert, die rechtliche Lage verbessert. Trotz allem hielt Nightingale an der Zentralität von Opferbereitschaft und Selbstverleugnung fest, rigide Moralvorstellungen kamen hinzu. Hier habe sie die Zeichen der Zeit nicht erkannt, so ihre Kritiker. Denn die „neuen Frauen“ hatten kaum mehr Verständnis dafür, dass sie in einem Schwesternheim Moral und Disziplin beigebracht bekommen sollten und alle anderen Interessen wie auch familiäre Verpflichtungen hintanzustellen hatten. Einige Pflegerinnen, die aus unterschiedlichen Gründen aus dem Beruf ausstiegen, traf so die volle Härte Nightingales, wohl häufig nicht unbedingt berechtigt. Heiratete eine Schwester und ging damit der Pflege verloren, erbitterte sie das besonders. Gleiches galt für die Konversion zum Katholizismus, denn damit konnten diese Frauen keine Führungspositionen in Krankenhäusern mehr übernehmen. Einige Kritiker stellen Nightingales pflegerische Expertise infrage und verweisen darauf, dass sie weder die Schule geleitet noch nach dem Krimkrieg jemals wieder am Krankenbett gearbeitet habe. Für eine enge Definition von Pflege mag das zutreffen. Im weiteren Sinn gehören dazu aber auch Planungs- und Organisationsaufgaben. Ab den 1870er-Jahren prägte Nightingale zudem durch die Weiterentwicklung ihres Pflegemodells sowie durch Mentoring und Coaching die Pflegeausbildung und deren Verbreitung entscheidend. Sie plante die Entsendung von Teams, vermittelte Stellen und hielt brieflich engen Kontakt mit vielen Nightingale Nurses weltweit. Durch diese intensive Korrespondenz erweiterte sich gleichzeitig ihr eigenes Wissen. Zudem schaltete sie sich in vielen Fällen direkt in die individuelle Pflege ein. Ihr philanthropisches Engagement schloss zeitlebens die gesundheitliche Fürsorge für die Pächter und Anwohner der Güter ihrer Familie mit ein. Dazu verpflichtete sie lokale Ärzte, die sie aus eigener Tasche bezahlte, und vermittelte die Kranken bei Bedarf in örtliche Hospitäler. Sie gab genaue Pflegeanweisungen, ließ sich von den Ärzten berichten, organisierte Termine bei Spezialisten. Dafür investierte 260

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Modernes Krankenhaus und moderne Krankenpflege

sie viel Zeit und Geld. All dies nicht der Pflege zuzurechnen, scheint haarspalterisch. Der gelegentlich geäußerte Vorwurf, sie habe gegenüber den Armen lediglich das traditionelle impulsive philanthropische Verhalten der Oberschichten an den Tag gelegt, entbehrt jedenfalls jeder Grundlage.

Modernes Krankenhaus und moderne Krankenpflege Die moderne Krankenpflege ging aus dem Krankenhaus hervor und drückte wiederum diesem ihren Stempel auf. Von Orten der Angst und des Schreckens verwandelten sich Krankenhäuser in saubere, ordentliche und moralisch unverdächtige Stätten der Fürsorge, Heilung und Hoffnung. Gleichzeitig stiegen die Kosten, die viele Häuser durch billige Auszubildende reduzierten. Dabei zeigt das Beispiel des St. Thomas Hospitals, wie sich die Spannungen zwischen den Pflegekräften, Ärzten und Krankenhausverwaltern im Laufe des Jahrhunderts verschärften. Der Nightingale Fund forderte für seine finanzielle Unterstützung vor allem drei Dinge: die Autorität der Oberin über ihre Pflegerinnen, eine adäquate Bezahlung und die Anstellung von Hilfspersonal für Reinigungsarbeiten. Diese Machtposition der Oberin erregte jedoch den Widerstand der Ärzte. In der ersten Jahrhunderthälfte hatte sich das Krankenhaus von einer Versorgungseinrichtung immer stärker zu einem Ort der Diagnose und Therapie entwickelt. Damit einher ging eine Verschiebung von chronisch Kranken zu akuten Fällen mit immer aufwendigerer Behandlung. Diese benötigten mehr Pflege, was mehr Geld kostete. Die „modernen“ Therapien waren ein wichtiges Argument im ärztlichen Professionalisierungsprozess. Die Mediziner hatten 1858 durch den Medical Registration Act Professionsstatus erreicht und suchten sich in ihrem Anspruch auf eine Monopolstellung von anderen Gesundheitsberufen abzugrenzen. In dieser Situation konnten die neuen Krankenschwestern, wie früher die Chirurgen, eine Bedrohung bedeuten, zumal wenn sie nach ihrem gesellschaftlichen Status auf der gleichen Ebene oder vielleicht sogar höher standen. Bei den Oberinnen – oder Superinten261

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Die Nightingale School (1870–1900)

dentinnen, wie sie nun häufig genannt wurden – war dies nicht selten der Fall. Nightingale wollte die Pflege durchaus zu einer Profession mit ähnlichem Status wie die Medizin entwickeln. Ihrer Vorstellung nach sollten die neuen Pflegedienstleitungen mit der „natürlichen“ Autorität ihrer sozialen Zugehörigkeit und ihrer fachlichen Expertise in der Lage sein, die Verwaltungen der Krankenhäuser zu beeinflussen. Für die viktorianischen Geschlechtervorstellungen war dies jedoch eine Kampfansage, auch wenn gerade Nightingale ihre Pläne lediglich als Erweiterung der traditionell weiblichen Sphäre des Pflegens und Versorgens propagierte. Im männlich dominierten Krankenhausbereich jedenfalls mussten sich diese Frauen erst eine Nische erobern. Anstatt das System ganz einzureißen, schuf man darin eigene Räume, die mit der weiblichen Zuständigkeit für karitativ-philanthropische Tätigkeiten gerechtfertigt wurden. In den ersten Phasen arbeiteten die lady nurses daher ohne Gehalt, um die für das bürgerliche Weiblichkeitsideal inakzeptable, anrüchige Konnotation der Lohnarbeit zu vermeiden. Argumentiert wurde mit Metaphern des Familiären: Krankenhausverwalter und Ärzte als Väter, die Oberinnen als Mütter und die Patienten als – geschlechtslose und somit ungefährliche – Kinder. Die Folge dieser Strategie war, dass sich Frauen hinter den Normen der Bescheidenheit, des Anstands und all den mit Weiblichkeit assoziierten Geschlechtereigenschaften verstecken mussten. Krankenpflege wurde damit zu einem Äquivalent zur häuslichen Tätigkeit der Frau, und das Verhältnis der Schwester zum Arzt glich in gewisser Weise dem der Gattin zum Ehemann. Diesen Ansatz Nightingales machen Kritiker für zahlreiche Probleme der späteren und gegenwärtigen Krankenpflege verantwortlich, nicht zuletzt für die untergeordnete Stellung gegenüber den Ärzten und die geringe öffentliche Wertschätzung des Berufs. Um sich einen Platz im Krankenhaus zu erobern, mussten Ansprüche auf eigenständige Autorität und Macht weitgehend aufgegeben werden. Wieso aber übertrugen die Ärzte den Schwestern trotzdem immer mehr Aufgaben, die vorher der medizinische Nachwuchs übernommen hatte? Manche Tätigkeiten hatten sich im Laufe der Zeit vervielfacht, wozu Scharen von Medizinstudenten nötig gewesen wären. Eine 262

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Modernes Krankenhaus und moderne Krankenpflege

Aufblähung der Absolventenzahlen, eine „Überfüllung“ des Standes, war aber keineswegs erwünscht, weil dies zwangsläufig zu stärkerer Konkurrenz geführt hätte. Hier wurde nun eine gut ausgebildete, aber hierarchisch untergeordnete Schwester zunehmend interessant. Die ideale Schwester – so ein Arzt 1878 – sei gleichzeitig eine ideale Frau, aber zusätzlich brauche sie technische Fähigkeiten, die eingeübt werden müssten. Medizinische Kenntnisse seien indes nur so weit nötig, wie es die zuverlässige Ausführung der Anordnungen erfordere. Pflege habe nichts mit intellektuellen Fähigkeiten zu tun, vielmehr seien Routine, Geduld, Freundlichkeit und Gehorsam erforderlich. In dem Maße, in dem die Ärzte immer stärker mit Diagnostik befasst waren, verloren Aufgaben, die nun die Schwestern ausführten, an Ansehen. Daraus resultierte geringere Wertschätzung, ein niedriger Status und schlechte Bezahlung. Langweilige Routineaufgaben, wie Fiebermessen und Pulszählen, gab man gerne ab. Dazu hätten Frauen sowieso viel mehr Geduld, hieß es. Aber es existierten feine Unterschiede. Den Puls zählen durften sie, doch nicht dessen Qualität bewerten, weil das ein Eingriff in die Diagnostik gewesen wäre. Auch dürfe man die Schmerzbekämpfung mit Morphin, so die Ansicht, keinesfalls den Schwestern überlassen, denn aus Mitleid verabreichten sie viel zu hohe Dosen. Die Botschaft war klar: Frauen sind unfähig, ihre Gefühle zu kontrollieren. Die Pflege entwickelte sich zu mehr als nur Krankenbetreuung. Die Ausbildung begann – auf einem viel niedrigeren Niveau – derjenigen der Medizinstudenten zu ähneln. So wurde die Schwester zu einer ambivalenten Figur, die männliche Züge hinsichtlich Ausbildung und Aufgaben mit dem traditionell weiblichen (Ver-)Sorgen und Nähren verband. Die Krankenschwestern eroberten damit einen halbautonomen Raum für sich, der eine befriedigende Beschäftigungsmöglichkeit mit einem gewissen Grad an Autorität bieten konnte. Ob man dies nun als Erfolg betrachtet oder nicht, hängt von der Sichtweise ab. Eine der Medizin gleichgestellte, autonome Profession der Pflege konnte sich nicht entwickeln. Die Ärzte nutzten die zeitgenössischen Geschlechterrollenbilder für ihre eigenen Zwecke. Je nach professionellem Status unterstützten sie die Reformen in der Pflege oder behinderten sie aus Konkurrenzfurcht. 263

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Die Nightingale School (1870–1900)

Den Erben von Nightingales Konzept sollten vielerlei Zerreißproben bevorstehen. Zum ersten hinsichtlich der Frage, ob Pflege ein Beruf, eine Berufung oder eher ein Handwerk sei. Zum zweiten, ob es mehr als einen Zugangsstandard geben und ob alle auf die gleiche Weise ausgebildet werden sollten, und zum dritten, ob diese Ausbildung in der Praxis am Krankenbett, im Klassenzimmer oder in einer höheren Bildungseinrichtung erfolgen solle.

Das Nightingale-Modell in England und der Welt In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts galt der Name Nightingale weithin als Synonym für Pflege, und zwar von der selbstlosen und aufopferungsvollen Art. Seit der Gründung ihrer Schule verband sich die Idee einer formalen, nicht konfessionellen Ausbildung untrennbar mit dem Ideal der Nightingale Nurse. Verbreitet wurde diese Botschaft auf drei Wegen. Da war zunächst der immense persönliche Einfluss Florence Nightingales, ihr Ruf als nationale und internationale Expertin für alle Fragen, die Gesundheit, Hygiene, Pflege und sanitäre Angelegenheiten betrafen. Ihr Rat war gefragt, und ihre Korrespondenz zeigt, wie fundiert ihre Stellungnahmen und Vorschläge ausfielen. Zweitens sind die Nightingale Nurses zu nennen, die gewissermaßen eine „Marke“ vertraten, die für eine besondere Form von Pflege und Krankenhausorganisation stand, und diese in Großbritannien und im Empire bekannt machten. Die Ergebnisse waren durchaus gemischt, aber trotz aller Probleme war es eine sehr werbewirksame Marke. Drittens trugen zur Verbreitung diejenigen bei, die in England und in den Kolonien in den jeweiligen Filialschulen nach diesem Pflegemodell ausgebildet wurden. Nach 30 Jahren gab es wohl keinen einschlägigen Diskurs auf der ganzen Welt, von Japan bis Lateinamerika, wo man sich nicht auf Nightingales Vorstellungen bezogen hätte. Sioban Nelson spricht in diesem Zusammenhang von einem „Nightingale-Imperativ“. Die nun Nightingales genannten Absolventinnen zogen daraus das Selbstbewusstsein, zu einer bedeutenden weltweiten Bewegung zu gehören. 264

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Das Nightingale-Modell in England und der Welt

Früh machte es sich der Nightingale Fund zur Regel, Oberinnen nur zusammen mit einer Gruppe weiterer Pflegerinnen zu entsenden. Das erste Team, das im Empire eingesetzt wurde, reiste bereits in den 1860er-Jahren nach Australien. Als die Gruppe unter Lucy Osburn in Sydney ankam, betrieben dort die katholischen Barmherzigen Schwestern schon seit dreißig Jahren erfolgreich ein Krankenhaus. Schnell reproduzierten sich im kolonialen Rahmen die konfessionell-sektiererischen Querelen der Heimat. Zudem hatten die katholischen Schwestern in ihrer Klostergemeinschaft durch ihre größere Autonomie einen deutlichen Vorteil, während die weltlichen Schwestern gegenüber männlichen Ärzten und Hospitalverwaltungen um jeden Zentimeter kämpfen mussten. Denn um das Konzept Nightingales umzusetzen, brauchte die Oberin Autorität über ihr Personal. Dies aber war für die Evangelikalen der Kolonialgesellschaft eine unzulässige Umkehrung der Geschlechterrollen. Zudem verdächtigte man Osburn, die katholischen Nonnen nachzuahmen. In diesem Minenfeld zu operieren war schwierig und brachte zahlreiche Konflikte mit sich, u. a. die Missbilligung Nightingales, die Osburn vorwarf, sich stärker um die lokale Oberschicht als um ihre eigentlichen Aufgaben zu kümmern, ein nach neueren Studien kaum gerechtfertigtes Urteil. Dass ein Teil des Teams wegen mangelnder Fähigkeiten entlassen wurde, war jedenfalls ein Public-Relations-Desaster für Nightingale. Osburn selber blieb bis Mitte der 1880er-Jahre in Sydney und verließ dann enttäuscht das Land. Obwohl sie dort als Repräsentantin des Nightingaleschen Pflegesystems galt, das im Folgenden erfolgreich weiterentwickelt wurde, konnte dies Florence Nightingales Ablehnung nicht mehr korrigieren. Ein zweites Team des Nightingale Fund reiste 1875 nach Montreal: fünf Pflegerinnen unter der Leitung von Maria Machin. Sie sollte im Allgemeinen Krankenhaus der Stadt die Pflegeausbildung etablieren. Auch dieses Experiment stand unter keinem guten Stern. Unter den ungesunden Arbeitsbedingungen im Hospital – die trotz wiederholter Versprechungen nicht angegangen wurden – erkrankten etliche Pflegerinnen schwer. Außerdem wuchs im Krankenhaus die Kritik an den Kosten, was dazu führte, dass das Team zurückgerufen wurde. Obwohl Machins undiplomatisches Verhalten nicht wenig zur Eskalation bei265

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getragen hatte, entzog ihr Nightingale ihre Gunst nicht – im eklatanten Unterschied zu Osburn. Der Widerstand gegen die Nightingale-Teams zeigt deutlich, wie sehr der Ansatz der Frauen, nämlich ihre Selbstorganisation, um Gottes Werk in der Welt zu tun, als radikales Ansinnen betrachtet wurde. Wie bei den Katholikinnen konnte nur das Nützlichkeitsargument diesen – überkonfessionellen – Widerstand brechen. Dafür mussten ständig sehr vorsichtig immer brüchige Allianzen geschmiedet werden. Nelson weist zu Recht darauf hin, dass es die Nonnen waren, die diesen Weg geöffnet hatten, auf dem andere ihnen folgen konnten. Eine Bestandsaufnahme Lynn McDonalds für die Zeit bis zur Jahrhundertwende zeigt, in wie vielen Krankenhäusern bis dahin in Britannien, dem Empire, Europa und den USA Nightingale-Oberinnen wirkten. Die lange Liste ist beeindruckend. Bereits 1879 waren acht Teams aus Oberinnen und Schwestern und 26 weitere matrons an anderen Krankenhäusern tätig. In den ersten zehn Jahren arbeiteten diese etwa in den Hospitälern von Glasgow und Edinburgh sowie in Cardiff, Brighton, Liverpool und Nottingham, ebenso in den Arbeitshäusern von Liverpool, Highgate, Hampstead und Blackburn. Auch in Irland, Australien und Schweden verbreitete sich das Modell, und es entstanden Pflegeschulen. Bis zum Ende des Jahrhunderts hatte sich diese Zahl vervielfacht und ganz Britannien, darunter Militärhospitäler und viele Arbeitshäuser, sowie vorwiegend die protestantischen Länder in aller Welt erfasst. Der Einfluss auf Deutschland war eher indirekter Natur. Dort dominierten die katholischen Orden und die evangelische Diakonie die Krankenpflege. Die intensivsten Kontakte bestanden zu den protestantischen Staaten Preußen, Hessen-Darmstadt und Baden, die im Wesentlichen auf zwei Töchtern von Königin Victoria beruhten: der Kronprinzessin von Preußen, ebenfalls mit Namen Victoria, der Frau des späteren Kaisers Friedrich, und Prinzessin Alice, der Gattin des Großherzogs Ludwig von Hessen-Darmstadt. In Preußen orientierte sich der Arzt und Sozialreformer Rudolf Virchow, der die Pflege mit einem nicht konfessionellen, humanistischen Konzept neu ausrichten wollte, an Florence Nightingale, ohne ihren religiösen Impetus zu übernehmen. Wie sie wollte er etwa Pflegerinnen 266

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auf Männerstationen einsetzen, und ebenfalls einig waren sich beide darin, dass Krankenhausreform, Pflegeausbildung und präventive Gesundheitserziehung Hand in Hand gehen müssten. Dafür fand Virchow eine tätige Mitstreiterin in Kronprinzessin Victoria, und diese informierte sich direkt bei Nightingale. 1868 skizzierte Nightingale für sie die Grundlinien einer Pflegeausbildung inklusive einer Liste für nötige Ober- und Unterbekleidung der Schwestern. Auch zur Behandlung und Unterbringung von Wöchnerinnen ließ sich die Kronprinzessin beraten. Die beiden blieben schriftlich und persönlich lange Jahre in Kontakt. Das Viktoriahaus in Berlin-Friedrichshain entstand 1885 auf Initiative der Kronprinzessin Victoria und aus ihren Mitteln, mit dem Ziel der Krankenpflege, insbesondere für arme und kinderreiche Familien. Das Ausbildungskonzept folgte eng den Vorstellungen des Nightingale-Modells. Die Leitung der Schule übernahm Luise Fuhrmann, die im St. Thomas Hospital ausgebildet worden war. In der Gartenlaube von 1889 konnte man lesen, dass die Viktoriaschwestern, die „Opferfreudigkeit der Diakonissin und barmherzigen Schwester mit einer von den […] Aerzten geleiteten gründlichen wissenschaftlichen Ausbildung vereinigen.“ Und weiter:

Florence Nightingale und Sir Harry Verney mit einer Gruppe von Krankenschwestern in Claydon House (1886). Wellcome Collection. CC BY

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„Außerhalb des Dienstes, der Tag oder Nacht über dauert, genießen die Viktoriaschwestern eine viel größere persönliche Freiheit als die religiösen Orden. Sie kehren zum Ausruhen in das freundliche schöne Viktoriahaus zurück, wo sie im Anschluß an eine pflichteifrige, vortreffliche Oberin ein familienhaftes beglückendes Heim finden; sie tragen dort ihre Privatkleidung und haben an ihrem wöchentlichen Ausgangsnachmittag die volle Freiheit, die jedes gesittete und gebildete Mädchen genießt, sie können in guter Begleitung Konzerte, Theater und Gesellschaften besuchen. Kein religiöser Zwang wird ausgeübt, die Anstalt trägt keinen konfessionellen Charakter, sondern beherbergt friedlich die verschiedenen Bekenntnisse. Die Gehaltsbedingungen bei völlig freier Station sind günstig, die Verpflichtung dauert immer nur zwei Jahre, nach Ablauf deren der Austritt erfolgen kann.“ (Heft 17, 292) Großherzogin Alices pflegerisches Engagement ging aus den Kriegen von 1866 und 1870/71 hervor. Zunächst korrespondierte sie 1866 mit Nightingale über die Krankenpflege im Krieg und besuchte sie im Jahr darauf. 1872 sprachen die beiden über eine Ausbildung deutscher Pflegerinnen in England. Die Prinzessin hatte 1869 den Alice-Frauenverein für Krankenpflege im Großherzogtum Hessen gegründet, bald darauf ein Krankenhaus übernommen und eine Pflegeschule eingerichtet, deren Leitung 1874 Charlotte Helmsdörfer übertragen wurde. Zwei Jahre zuvor hatte sich diese zur Abrundung ihrer Ausbildung in England aufgehalten. Eine von Prinzessin Alice gewünschte kürzere Ausbildungszeit erhielt damals ein kategorisches „No“ als Antwort Nightingales. Auch die Großherzogin von Baden ließ sich ab den 1860er-Jahren in Sachen Pflegeausbildung beraten. Diese wurde dort 1860 initiiert und ein revidiertes Statut dafür 1869 an Nightingale zur Begutachtung geschickt. 1872 hielten sich zwei adelige Frauen zu Fortbildungszwecken in England auf. Der Briefwechsel setzte sich bis 1896 fort, als sich die beiden immer noch über die beste Form der Ausbildung und neue Experimente in der Bezirkspflege austauschten.

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Leistungen und Wirkungsgeschichte

Leistungen und Wirkungsgeschichte. Konkurrierende Deutungen Zwei Bilder von Nightingale zirkulierten im viktorianischen England, das des sich aufopfernden Engels und das der disziplinierten Verwalterin. Beide wurden von ihr genutzt, um in der zeitgenössischen Gemengelage von Geschlechterstereotypen und Krankenhausklischees eine akzeptable Form der Pflege zu konturieren. Was herauskam, war eine Pflegerin, die weder eine Konkurrenz für die sich professionalisierenden Ärzte war noch die altbekannte Sarah Gump, weder eine voll berufstätige Frau noch eine Ordensschwester. Das Ergebnis war vielmehr eine Kombination aus weiblicher Selbstaufopferung verbunden mit einer etwas aggressiveren Vorstellung von professioneller Arbeit, die fairen Lohn verdient. Die schon zu Nightingales Lebzeiten einsetzende Mythisierung, Heroisierung und Legendenbildung erschwert eine abgewogene Beurteilung in hohem Maße. Zwei Positionen stehen sich – übrigens ziemlich unversöhnlich – gegenüber. Die eine, vertreten durch die Nightingale Society und ihre Vorsitzende Lynn McDonald, unterstreicht Bedeutung und Einfluss der Protagonistin und ihres Pflegemodells, was sie durch neue Quelleneditionen und -studien untermauert. Wir haben es hier mit einer direkten Reaktion auf Stimmen zu tun, die seit den 1980er-Jahren Nightingales Leistung in unterschiedlichem Maße infrage stellen. Was zum einen eine notwendige Korrektur einer historisch nicht haltbaren Heroisierung ist, hat zum anderen teilweise den Charakter einer aus den Quellen nicht zu rechtfertigenden Demontage von Person und Werk angenommen. Die Kritiker brachten im Verlaufe dieses Prozesses ihrerseits ein neues Ensemble von Mythen hervor. Sie ranken sich um Florence Nightingales Invalidität (bösartiger Hypochonder, eine Geschlechtskrankheit?), ihre sozialen Beziehungen (geistig gesund?), ihre sexuelle Orientierung (lesbisch? frigide?) und nicht zuletzt um ihre Leistungen für die Krankenpflege, die entweder minimiert oder gleich ganz negiert werden. Diese Distanzierung vom altbekannten Nightingale-Bild geht mittlerweile sehr weit. Ein britischer Überblick über die Pflegegeschichte 269

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aus dem Jahr 1988 fällt ein vernichtendes Urteil: „In der Tat ist es unklar, inwieweit dieses Modell jemals außerhalb der Vorstellungen von Miss Nightingale und ihrer unmittelbaren Vertrauten existiert hat.“ (Dingwall u. a., 60) Die Krankenhäuser hätten ein spezifisches Interesse daran gehabt, eben dieses falsche Bild zu verbreiten. Auch im Bereich der Armen- und Arbeitshäuser habe man die Lorbeeren eingeheimst, ohne eigentlich viel dafür getan zu haben. Belegt wird all das kaum. Obwohl es legitim und notwendig ist, die Wirkungen der „Legende“ von empirisch nachweisbaren Faktoren zu trennen und zu gewichten, sollte dies mit wissenschaftlicher Sorgfalt geschehen. Die Revisionisten attackieren somit die traditionelle Sichtweise Nightingales als Begründerin der modernen weltlichen Krankenpflege und ihre Heroisierung. Sie wenden sich dabei vor allem gegen ein Narrativ, das die Pflege vor Nightingale in ihrer Meinung nach ungebührlich schwarzen Farben zeichnet – und versuchen diese zu rehabilitieren. Insgesamt halten diese Kritiker die Wirkungen der „Legende“ grosso modo für wichtiger als die Realität. Die treibende Kraft dahinter sei vor allem der Nightingale Fund mit seinem erfolgreichen Marketing und seiner Öffentlichkeitsarbeit gewesen. Gleichzeitig geben manche nicht ganz zu Unrecht zu bedenken, dass die weltliche Krankenpflege sehr oft eigentlich protestantische Krankenpflege gewesen sei. Diese war zwar überkonfessionell ausgerichtet, doch Katholikinnen hatten nachweislich kaum Chancen aufzusteigen. All diese Punkte verdienen eine abwägende Beurteilung. Des Weiteren macht sich Kritik an den Ausbildungsinhalten selbst fest. Francis B. Smith behauptet einerseits, dass das, was gelehrt worden sei, sich kaum von einer Allerweltspflege unterschieden habe, wie sie fast jeder beherrsche, andererseits lobt er bedeutende Fortschritte. Aber diese hätten nur Nightingales (kranke) Machtgelüste befriedigt: „Miss Nightingale diente der Sache der Pflege weniger als diese ihr diente.“ (Smith, 178) Ihr pflegerisches Engagement ist für ihn lediglich das Instrument egoistischer Selbstvermarktung. Diese Deutung fand eine breite Rezeption. Monica Baly würdigt in frühen Publikationen die Schule, zeigt aber deutlich die Anfangsprobleme auf. In späteren Arbeiten schließt sie sich dann weitgehend der Charakterdemontage Smiths 270

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Leistungen und Wirkungsgeschichte

an, wie ein Teil der neueren britischen Pflegegeschichte, die meist ohne eigene Quellenstudien gegen die „Nightingale-Hagiografie“ anschreibt. Auf der anderen Seite hält Lynn McDonald, die Herausgeberin einer sechzehnbändigen neueren Quellenedition, vehement dagegen, was in etlichen Aspekten begründet ist, doch auch ihren Einschätzungen täte gelegentlich etwas mehr Distanz gut. Dass die Pflegereformen vor Nightingale neuerdings angemessen gewürdigt werden, ist zu begrüßen. In diesem Rahmen wurde der Beitrag der katholischen und anglikanischen Schwesternschaften stärker berücksichtigt und ihr maßgeblicher Einfluss auf das Nightingalesche Konzept neu bewertet. Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass die christlichen Kongregationen und Schwesternschaften die Grundlagen für die Reformen Nightingales schufen. Mit Verweis auf die Vinzentinerinnen bewertet etwa Nelson die Modernisierung der Pflege weder als eine vorwiegend englische noch als eine schwerpunktmäßig protestantische Leistung. Im englischen Bereich hatte die anglikanische Schwesternschaft von St. John’s House eine wichtige Vorreiterrolle inne. So ist die Professionalisierung in der Krankenpflege im Rahmen einer Einwicklung zu verorten, die mit dem Schlagwort von der Feminisierung der Religion im 19. Jahrhundert beschrieben wird. In dieser Zeit kam es zu einem wahren Gründungsboom karitativer Frauengemeinschaften, die weibliche Handlungsräume in der Öffentlichkeit erweiterten. Hierbei spielten die Faktoren Arbeit, Geschlecht und Religion bzw. Konfession in einer unübersichtlichen Gemengelage zusammen. In diesem Sinne ist neu abzuwägen, inwieweit die Entwicklung in der Krankenpflege auf medizinische bzw. wissenschaftliche Faktoren zurückzuführen ist und welche Rolle dabei die „Berufungswelle“ spielte, die fromme Frauen ergriffen hatte. Die Pflegehistorikerin Carol Helmstadter fasst den Stand der Debatten zusammen und versucht eine eigene Bewertung. Sie wirft zunächst die grundsätzliche Frage auf, ob Nightingale überhaupt als Begründerin der modernen Krankenpflege gelten darf, da doch ihr Beitrag als „weitgehend zerstörerisch“ einzuordnen sei (2017, 60). Im Empire sei sie relativ erfolglos geblieben. Ihr Bestreben, vor allem religiös motivierte Schwestern auszubilden, sei gescheitert, dieser Ansatz habe den Beruf jedoch noch lange nach ihrem Tod belastet. Denn damit ließen sich treff271

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lich lange Arbeitszeiten, harte Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne rechtfertigen. Mit dem neuen Selbstverständnis der Frauen sei sie ebenso wenig zurechtgekommen wie mit einer stärker säkular ausgerichteten Gesellschaft. Zudem habe ihr Festhalten an der rigiden Überwachung der Auszubildenden dazu geführt, dass man gerade die so sehr erwünschten gebildeten Frauen nicht erreichen konnte. Nightingale sei es ferner nicht gelungen, eine systematische Ausbildung einzuführen. Ihre Schule sei die rückständigste in ganz London gewesen. Auch habe sie den Professionalisierungsprozess blockiert, der spezialisiertes Fachwissen benötigt hätte. Nightingale habe Mütterlichkeit und religiöses Dienen priorisiert und damit der Krankenpflege bis heute geschadet. Denn immer noch glaubten viele, dass es dafür nicht allzu viel Wissen brauche. Allerdings – so Helmstadter weiter – werde ihr diese Beurteilung nicht ganz gerecht. Zwar sei sie nicht die Begründerin der modernen Krankenpflege gewesen, sondern lediglich eine von ihnen, als solche habe sie allerdings einen positiven Beitrag geleistet. Ihr Einsatz im Krimkrieg habe die Bedeutung guter Pflege in der Öffentlichkeit verbreitet, und ihr sei es maßgeblich zu verdanken, dass diese zu einem respektablen Frauenberuf wurde. Bestimmte Weichenstellungen in St. Thomas, wie die komplette Trennung von praktischer Anleitung und theoretischem Unterricht sowie die Ausnutzung der Schülerinnen als billige Arbeitskräfte, wertet Helmstadter allerdings als schwere Hypothek für die Zukunft. Trotz aller notwendigen Nuancierungen ist unbestreitbar, dass Florence Nightingale für die Entwicklung der Krankenpflege in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von überragender Bedeutung war. Inwieweit und in welcher Weise dabei empirisch fassbare Daten mit ihrem Ruf – wenn man will, mit ihrer „Legende“ – verflochten waren, lässt sich wohl nie genau bestimmen. Am Ende des Jahrhunderts war Pflege jedenfalls zu einem hochgeschätzten und beliebten weiblichen Beruf geworden, der auch Frauen der „besseren“ Kreise anzog. Nightingales Prestige und Integrität waren dafür ein wesentlicher Faktor. Insgesamt wurde englische Pflege zu einem Synonym für respektable Pflege und damit weltweit zu einer Bestätigung der Überlegenheit britischer Werte allgemein. 272

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Bereits in den 1860er-Jahren hatte Benjamin Jowett seine Freundin als Queen of Nurses bezeichnet (Quinn/Priest, 153). Die Pflege im weitesten Sinne des Wortes sollte auch den Dreh- und Angelpunkt von Florence Nightingales letzter Schaffensphase bilden – mit besonderem Augenmerk auf Prävention. Diese Thematik war für sie aber immer aufs Engste verknüpft mit aktuellen Reformfeldern wie etwa dem Armenrecht oder der Kolonialpolitik.

Familie und Freunde. Verluste und neue Erfahrungen In den 1860er-Jahren hatte Florence Nightingale ihre Eltern kaum gesehen, den Vater gelegentlich in London getroffen, selten nur die Mutter, deren angeschlagene Gesundheit sie zunehmend an das Haus band. Diese plagte zudem eine beginnende Demenz. Auch der Vater wurde gebrechlicher. Nach acht Jahren hatte Florence Nightingale 1866 zum ersten Mal wieder einige Zeit zur Erholung in Embley verbracht. In den 1870er-Jahren sollte sich ein neues Muster einspielen mit längeren Aufenthalten bei ihren Eltern entweder in Embley oder Lea Hurst. Dabei wurde sie immer stärker in die Betreuung der Mutter eingebunden. Ihre Schwester konnte sie wegen einer starken Arthritis dabei kaum unterstützen. Die Folge waren mitunter heftige Interessens- und Gewissenskonflikte. 1873 schrieb sie bitter an ihre Freundin Mary Jones, dass auf ihr, als der Einzigen in der Familie, die wirkliche Arbeit leiste, die ganze Last ruhe. Im Jahr zuvor sei sie fast acht Monate bei ihrer Mutter gewesen, davon 22 von 24 Stunden unmittelbar im Zimmer neben ihr. Im Ergebnis sei ihre Arbeit in London ruiniert gewesen, sie selber als zitterndes Bündel Mensch zurückgeblieben, und doch habe sie nicht 273

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die Hälfte der Wünsche ihrer Eltern erfüllen können. Sie schrieb aber auch, dass die Mutter mit ihren 85 Jahren zwar schwach sei und ihre Erinnerung verloren habe, aber ihr Geist sich so rege wie immer zeige. Und nun, da sie ihrem Ende näherkomme, sei sie in vieler Hinsicht einsichtiger als in ihrem gesamten Leben zuvor. Florence Nightingale war zerrissen zwischen ihrer Arbeit und dem Wunsch, der Mutter zu helfen.Zudem bereitete ihr ein gesundheitlicher Zusammenbruch Jowetts im Frühling 1873 Sorgen. Weniger als ein Jahr später starb Willam Nightingale plötzlich nach einem Sturz im Alter von 80 Jahren, ohne dass die Tochter ihn nochmals hatte sehen können. Fortan musste sie sich noch intensiver um ihre Mutter kümmern. In den folgenden fünf Jahren pendelte Nightingale häufig zwischen London und Embley. Und erneut hatte sie das Gefühl, von ihrer Mutter „eingesperrt“ zu sein. Kurze Zeit später starb auch Selina Bracebridge – ihr Mann war bereits seit zwei Jahren tot –, und damit kam ein weiteres wichtiges Kapitel in Florence Nightingales Leben zu einem Abschluss. Mit dem Tod von William Nightingale gingen die Güter Embley Park und Lea Hurst an Mai Smith und ihre Familie über. Diese, selber gesundheitlich angeschlagen, lehnte es ab, Frances Nightingale weiter in ihrer gewohnten Umgebung in Embley wohnen zu lassen und dort zu betreuen. Wo sollte die Mutter bleiben? Nach einigem Hin und Her lud Mai Smiths Sohn und künftiger Erbe der Besitzungen sie in sein Haus nach London ein und ermöglichte ihr lange Aufenthalte in Lea Hurst. Doch selbst die Unterstützung von vielen Seiten verhinderte nicht, dass Nightingale häufig einspringen und ihre Arbeit liegenlassen musste. Am Ende des Jahres 1874 traf sie ein weiterer schwerer Verlust, als die Nonne Mary Clare Moore, die Gefährtin aus Krimkriegstagen, verstarb. Sie hatten sich zwar nur selten gesehen, doch sich fast zwei Jahrzehnte lang über pflegerische und vor allem religiös-spirituelle Fragen ausgetauscht. Sie teilten die Ansicht, dass der Kern eines religiösen Lebens ein aktives im Dienste Gottes sein sollte. Persönlich standen sie sich so nahe, dass Moore Nightingales Wutausbrüche und Selbstmitleid thematisieren und letztere der Nonne ihre Einsamkeit eingestehen konnte. Moore hatte Nightingale zur Beschäftigung mit der katholischen Mystik 274

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Familie und Freunde

ermuntert. Neben Johannes vom Kreuz und Franz von Sales halfen ihr vor allem Katharina von Siena, Katharina von Genua und Teresa von Ávila, Zeiten der Entmutigung, der Schmerzen und der Isolation zu überstehen. Dabei beschäftigte sie besonders Gottes Präsenz in der Einsamkeit. Die Auseinandersetzung mit der Mystik führte zur Idee eines neuen Buches, einer Anthologie mystischer Texte in englischer Übersetzung. Trotz intensiver Vorarbeiten wurde es nie gedruckt. Mit der Mystik war sie wieder bei der immer noch zentralen Frage ihres Lebens angelangt: Wie kann man das richtige Verhältnis zwischen aktivem Handeln und Versenkung in Gott finden? Und für sie war klarer denn je, dass ein spirituelles Ideal nichts für Sonn- und Feiertage war. Es musste sich im Alltag leben lassen. Ein Tagebuch aus dem Jahr 1877, das einzige überlieferte aus ihrer zweiten Lebenshälfte, zeigt, wie sich diese Auffassung in ihren täglichen Routinen konkretisierte. Es ist mehr ein annotierter Kalender als eine umfassende Introspektion, in dem Lektüren, Korrespondenz, Arbeit an Texten, Besucher und Besuche, häusliche Angelegenheiten und Ausgaben aufgelistet sind, außerdem die Wechselfälle ihrer Gesundheit, ein zweimonatiger Aufenthalt mit der Mutter in Lea Hurst, und ganz wichtig und detailliert: ihre Katzen. „Gedenktage und Jubiläen“ wurden akribisch festgehalten: Ihre erste Berufung 1837, die Ankunft in Scutari 1854. Viermal in diesem Jahr – so notierte sie – habe die „Stimme“ zu ihr gesprochen. Zu verschiedenen Gelegenheiten notierte sie Dialoge mit Gott, in denen sich oft Selbstzweifel ausdrückten. Doch es gibt auch Stellen wie diejenige, wo sie Gott fragt, ob er wirklich alles ihm Mögliche für die Bosnier angesichts der Wirren auf dem Balkan getan habe. Das zentrale Motiv war aber immer noch das altbekannte: Ob sie bereit sei, die eigene Reputation für Gott vollständig aufzugeben. Der Konflikt zwischen Eigenliebe und Gottesliebe plagte sie noch im Alter von 57 Jahren. Nightingales Kämpfe, Zweifel und Seelennöte spiegeln sich vor allem in der Korrespondenz mit Benjamin Jowett. Er hatte sie zur Beschäftigung mit den Mystikern ermuntert, weil er darin ein Unternehmen sah, bei dem sie nicht, wie bei ihrer politischen Arbeit, auf das Wohlwollen und Tätigwerden anderer angewiesen war. Hierbei half beider Liebe zu 275

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Platon, von dem aus sie Brücken schlugen zur gemeinsamen Auseinandersetzung mit der katholischen Mystik. In ihren immer wiederkehrenden gesundheitlichen und psychischen Krisen, in denen sie sich nicht selten dem Tod nahe wähnte, war Jowett ein unverzichtbarer Quell der Aufmunterung, Stabilisierung und Ablenkung. So arbeiteten sie z. B. 1871 gemeinsam an einem Artikel über Weltreligionen und an einer Kinderbibel. Der Ausbau des Bildungssystems für beide Geschlechter war eines ihrer Dauerthemen. Unter Nightingales Einfluss kämpfte Jowett für Frauenbildung in Schulen und Colleges, 1878 wurden erstmals Frauen in Oxford zugelassen. Auch indische Studenten wurden dorthin zum Studium vermittelt, und Jowett dachte in den 1880er-Jahren sogar über einen Schwerpunkt „Indische Studien“ nach. Als sie 1886 wieder einmal an sich und der Welt verzweifelte, schrieb er ihr: „Du bist allein in Deinem Zimmer und machst Pläne zum Wohle der Bewohner Indiens oder für den englischen Soldaten, wie Du es die letzten 30 Jahre getan hast, und beklagst immer Dein Scheitern, wie Du es [auch] während der letzten 30 Jahre getan hast, obwohl Du weit größere und weit realere Erfolge im Leben hattest als irgendeine andere Frau Deiner Zeit […] Aber willst Du nicht dankbar und froh anerkennen, wie viel Gutes Gott durch Dich gewirkt hat? Damit wärst Du glücklicher, und für Deine Arbeit wäre es ebenfalls besser.“ (Quinn/Prest, 301) Nach dem Tod des Vaters verbrachte Nightingale jedes Jahr einige Monate mit ihrer Mutter in Lea Hurst. Diese hatte ihr Cousin Shore Smith aufgenommen, und zusammen mit dessen Familie war Florence Nightingale zum ersten Mal seit etwa 20 Jahren wieder begrenzt in das Leben und den Alltag einer großen Familie eingebunden. Sie belebte den Kontakt mit den Pächterfamilien auf Lea Hurst neu, der nie abgerissen war, unterstützte diese und baute mit dem örtlichen Arzt eine Art medizinisches Betreuungssystem auf, das sie aus eigener Tasche bezahlte. Ähnlich verfuhr sie in Embley und später in Claydon, der Residenz ihrer Schwester in Buckinghamshire. Im Februar 1880 starb Frances Nightingale kurz vor ihrem 90. Geburtstag. Sechs Jahre lang hatte sich Florence 276

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mit Unterbrechungen um die Mutter gekümmert. Erschöpfung machte sich bemerkbar, die sie durch Erholungsaufenthalte an der See und bei Freunden bekämpfte. Ihre Arbeit war immer dabei. Nightingales Gesundheit hatte sich trotz aller Belastungen in den 1870er-Jahren gebessert, und das folgende Jahrzehnt begann für sie auch in emotional stabilerer Verfassung. Sie hatte zwar noch Gelenkbeschwerden, litt immer wieder an Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen, doch Muskelkrämpfe und Depressionen hatten deutlich nachgelassen. Sie konnte sogar in begrenztem Umfang wieder gehen, ein schwieriger und langsamer Prozess nach Jahren mehr oder weniger strikter Bettlägerigkeit. Beobachten lassen wollte sie sich bei diesen mühsamen Versuchen lieber nicht, was ihr später als Beweis dafür ausgelegt wurde, dass sie simulierte. Ihren zurückgezogenen Lebensstil – ihr eingespieltes System von Leben und Arbeiten – behielt sie bei, doch ihr Verhalten änderte sich. Sie war nun viel gelassener, weniger unleidlich, umgänglicher. Ihre Gesundheit blieb allerdings weiterhin ihr bestes und meist genutztes Abwehrargument, um sich vor unbequemen Besuchen und anderen störenden Verpflichtungen zu schützen. Gleichwohl weitete sich ihre Welt, die Tür des Krankenzimmers öffnete sich ein wenig. Ab und zu unternahm sie Ausfahrten, z. B. in den Hyde-Park. Auch in der Öffentlichkeit sah man sie nun manchmal, so beim Begräbnis des indischen Vizekönigs Lawrence 1879. Drei Jahre später besuchte sie zum ersten Mal „ihre“ Krankenpflegeschule. Bald darauf war sie Ehrengast Premierminister Gladstones bei einer Truppenparade und auf Einladung der Königin bei der Eröffnung der Royal Courts of Justice. Das Verhältnis zu ihrer Schwester Parthenope hatte sich seit deren Verheiratung deutlich verbessert. Nun, da sie wieder frei über ihre Zeit verfügen konnte, hielt sie sich häufig auf deren Landsitz auf und verbrachte regelmäßig die Sommer in Claydon. Dort hatte sie alle Ruhe, die sie brauchte, eigene Räumlichkeiten und Bedienstete. Manchmal sahen sie Schwester und Schwager tagelang nicht. Mit den Söhnen Verneys und ihren Familien genoss sie, wenn sie es wollte, ein unbeschwertes Familienleben. Manche von ihnen bezog sie in ihre Arbeiten mit ein. Besonders zu Margaret Verney entwickelte sie eine enge Beziehung wie auch zu Maude, der zweiten Schwiegertochter Harry Verneys. Ihr 277

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herzliches Verhältnis zur Enkelgeneration drückte sich in liebevollen Briefen und großzügigen Geschenken von Aunt Florence aus. Ende 1882 verschlechterte sich der Zustand Parthenopes. Rheumatismus, Arthritis und Krebs im Frühstadium schränkten sie zunehmend ein, sodass ihre schriftstellerischen Aktivitäten, insbesondere das Projekt, das ihr am meisten am Herzen lag, eine Familiengeschichte des Adelsgeschlechts der Verneys, immer stärker darunter litten. Aus dem Umgang Florence Nightingales mit ihrer Schwester in diesen letzten Jahren sprechen große Zärtlichkeit und Zuneigung. Oft verbrachte sie nun die Sonntagnachmittage mit ihr. Parthenope Nightingale starb 1890, an Florences 70. Geburtstag. Mit der Schwester war ihre gesamte engere Familie verstorben; viele weitere Freunde verlor sie in den 1880er-Jahren. 1883 war bereits ihre langjährige Freundin Mary Mohl verschieden, Richard Monckton Milnes 1885. Der Tod ihrer Tante Mai 1889, mit der sie sich 1881 wieder versöhnt hatte, riss eine schmerzhafte Lücke. Immer mehr kam sie sich, die doch so lange Jahre mit einem nahen Ende gerechnet hatte, wie eine Überlebende vor. Denn auch Sutherland starb kurz nach ihrer Schwester 1891 nach 30 Jahren engster Zusammenarbeit. Benjamin Jowett verlor sie 1893. Als er 1891 ernsthaft erkrankte, machte sie sich auf nach Oxford und besuchte ihn, eine außergewöhnliche Unternehmung für sie, die genau geplant sein wollte. So schrieb sie ihm zuvor: „Seit über 30 Jahren habe ich mich nicht mehr zum Essen an einen Tisch gesetzt und auch nicht mehr als eine Person auf einmal empfangen. Ich denke, es wird das Beste für uns beide sein, wenn ich mit dem Zug für eine Stunde ungefähr nach dem Mittagessen komme.“ (Quinn/Prest, 320) Ihre Freundschaft hatte sich in den letzten Jahren weiter vertieft und noch in seinen letzten Lebensjahren hatten sie überlegt, gemeinsam der Universität Oxford eine Statistikprofessur zu stiften. Die Herausgeber der Briefe Jowetts sahen in diesem Projekt – vielleicht zu Recht – eine Art Ersatz für die Nachkommen einer Ehe, die nie zustande gekommen war. Harry Verney starb mit 92 Jahren 1894 und wenig später ihr Cousin Shore. Auch von wichtigen Orten und Schauplätzen ihres Lebens musste sie sich verabschieden. Lea Hurst wurde verpachtet, und sie sah es 278

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nach dem Tod der Mutter nicht wieder. Embley wurde 1896 verkauft. Sie blieb den Verneys herzlich verbunden und pflegte enge Kontakte mit vielen jüngeren Mitgliedern ihrer weitläufigen Verwandtschaft, die sie besuchen kamen, ihre Probleme mitbrachten und sich Rat holten. Und Aunt Florence hörte zu, kümmerte sich, ließ bei Bedarf ihre immer noch guten Kontakte spielen. Als sie 1895 auf ihr Leben zurückblickte, schrieb sie: „Es gibt so vieles, wofür es sich zu leben lohnt. Ich habe viel verloren durch Versagen und Enttäuschungen wie auch durch Kummer und Leid, aber [...] nun in meinen alten Tagen ist mir das Leben um ein Vieles kostbarer.“ (Woodham-Smith, 585)

Die Arbeit geht weiter Unter diesen Bedingungen führte Nightingale bis in die 1890er-Jahre ihre Arbeit auf vielen Feldern fort, was sich eindrucksvoll in ihrer Korrespondenz und einer Vielzahl von Notizen spiegelt: Armeesanitätswesen, Krankenhausbau, Pflegeausbildung, Arbeitshäuser, Indien, Religion, Frauenrechte. Als eine ihrer Schwestern Mitte der 1880er-Jahre erstmals zum Besuch gebeten wurde, notierte diese ihre Eindrücke: „Ein helles, luftiges Zimmer ohne Vorhänge, Weiß als vorherrschender Eindruck, Einfachheit, Blumen. Die Fenster gingen auf einen Balkon hinaus, wo manchmal die Spatzen Brotkrumen aufpickten […] Die Chefin, in einem weichen schwarzen Kleid, lag auf ihrer Couch und lehnte sich an ihre Kissen [...] Ein Bleistift und ein Notizblock lagen bereit.“ (CW 13, 915) Was die Armee angeht, so hatten verschiedene Konflikte nach dem Krimkrieg wiederholt Anlass gegeben, Nightingale zu Fragen des Militärsanitätswesens zu konsultieren. Auf internationaler Ebene geschah dies im Kontext des Amerikanischen Bürgerkriegs und des Deutsch-Französischen Kriegs. Bei Letzterem beriet sie beide Kontrahenten, zeigte aber im Verlauf der Auseinandersetzung immer stärkere Sympathien für die Franzosen. Die Briten schalteten sie konkret bei einer drohenden kriegerischen Verwicklung zu Beginn des Bürger279

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kriegs in Nordamerika ein. Als sich die kolonialen Spannungen Ende der 1880er-Jahre in Ägypten zuspitzten, stand das Thema wieder auf der Tagesordnung. Einige Schwestern waren seit den Kämpfen von 1882 dort bereits vor Ort. Nun wurde das Team aufgestockt und sieben Pflegerinnen unter der Leitung von Rachel Williams nach Suez entsandt. Nightingales Aufregung war spürbar. Am Tag der Abreise lud sie die Schwestern zum Frühstück bei sich ein. Den Feldzug verfolgte sie aufmerksam in der Times und schrieb zahlreiche Briefe an Williams, die mit ihrem Team Ende 1885 zurückkehrte. Dass sie bald darauf einen Arzt heiratete und damit dem Beruf verloren ging, löste bei Nightingale die bekannte Bitternis aus. Mittlerweile hatte Sarah Wardroper mit über 70 Jahren das Ruhestandsalter erreicht. Dies bot Gelegenheit, sie mit viel Lob zu verabschieden und die Geschichte der Schule in ihrer Pionierrolle für die gesamte englischsprachige Welt gebührend herauszustellen. Die Leitung übernahm 1887 mit Angélique Pringle eine der Lieblingsschülerinnen Nightingales, die zuvor in Edinburgh die Pflege reformiert und eine Schule gegründet hatte. Es war ein weiterer Schock, dass sie schon zwei Jahre später zum Katholizismus konvertierte und kündigte. Trotz dieser Enttäuschung blieben sie eng befreundet. Jedoch grübelte Nightingale erneut intensiv über die Anziehungskraft des Katholizismus nach. An Jowett schrieb sie, sie habe versucht, eine mystische Komponente in die Pflege zu integrieren und die Frauen zu „Dienerinnen des Herrn“ zu machen. Der Fall Pringle zeige aber, dass wohl zusätzlich „eine Art sichtbare Organisation“ nötig sei. Denn einen anderen Grund, warum die „beste, fähigste und gläubigste Frau, die ich kenne“, sich den Katholiken anschließen solle, sehe sie wahrhaftig nicht. (CW 3, 331f.)

Der Konflikt um die Registrierung der Krankenschwestern In den 1880er-Jahren wurde immer deutlicher, dass sich das Umfeld für Pflege und diese selbst in vielerlei Hinsicht gewandelt hatten. Die Zahl der Absolventinnen der Pflegeschulen stieg an. Die Vorbildung 280

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der Kandidatinnen war infolge des Ausbaus des Schulsystems besser und diese durch die Erfolge der Frauenemanzipation selbstbewusster geworden. Krankenpflege war nun ein akzeptabler und respektabler Frauenberuf. Nicht alles fand Nightingales Beifall. Sentimentalitäten im Sinne von helfenden Engeln verabscheute sie. Dies führe nur zu falschen Erwartungen. Und sie fürchtete, dass sich die Vorstellung vom Beruf als (religiöse) Berufung abschwächen könnte. In dieser Situation versuchten einige in der Pflege ausgebildete ladies, den Beruf auf eine neue Grundlage zu stellen. Ihre Interessen vertrat die 1887 gegründete British Nurses Association. Ethel Bedford Fenwick, eine ehemalige Oberin, startete in diesem Rahmen eine Kampagne für eine staatliche Registrierung ihrer Kolleginnen. Krankenschwestern, die bestimmte Qualifikationen erworben hatten, sollten in ein offizielles Register aufgenommen werden, um ausgebildete von nicht ausgebildeten Pflegerinnen zu unterscheiden. Nightingale war strikt dagegen, und ein siebenjähriger Kampf folgte. Was bewog sie dazu? Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits eine ganze Reihe von Schulen, deren Ausbildungsniveau sich jedoch stark unterschied. Im Falle einer staatlichen Registrierung hätte eine zentrale Stelle entscheiden müssen, welche Krankenhäuser die Anforderungen erfüllten und welche nicht. Die Schwesternvereinigung hatte aber noch andere Ziele, die Nightingale mit allen Mitteln bekämpfte. Pflegerinnen aus der Arbeiterklasse drohten ausgeschlossen zu werden, denn es war geplant, kein Ausbildungsgehalt mehr zu bezahlen und Prüfungsgebühren für die Registrierung zu verlangen. Ziel der Lobbyarbeit war es, den Beruf zu „heben“. Gebildete Damen mit gehobenem Sozialstatus sollten gewonnen und für diese auf längere Sicht eine ähnliche Position erreicht werden, wie sie sich die Ärzte erkämpft hatten. Dahinter stand eine vielschichtige Gemengelage von Interessen. Die Kontrolle des Berufszugangs mittels Bestätigung vorhandener Kompetenzen gilt allgemein als Schlüsselmerkmal der Professionalisierung. In der Praxis war der Streit über die Registrierung aber vor allem ein Konflikt zwischen denen, die sich prioritär an den Bedürfnissen der Krankenhäuser orientierten, und denen, die die Pflege als freien Beruf neu definieren wollten, der seine Honorare und Arbeitsbedingungen 281

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selbst kontrollierte. Dabei entwickelte sich die Auseinandersetzung im Spannungsfeld einer komplexen Mischung von ökonomischen Erwägungen und zeitgenössischen Geschlechterklischees. In Bedford Fenwicks Vorstellungen spielten separate Verträge der Krankenschwestern mit individuellen Patienten eine zentrale Rolle. Die Privatpflege machte vor 1914 bis zu 70 Prozent des Pflegemarktes aus. In diesen Jahren entstanden neben der Hauspflege viele „Pflegeheime“ (nursing homes), manche unter der Ägide von Ärzten, manche aber auch geleitet von Laien oder Krankenschwestern. Für die Mittel- und Oberschichten hatten Hospitäler lange Zeit kaum eine Rolle gespielt, doch das änderte sich langsam ab den 1880er-Jahren. Neben den nursing homes richteten immer mehr Krankenhäuser Bettenstationen für Selbstzahler ein. Die neuen medizinischen Therapien, wie etwa aseptische Operationen unter Anästhesie, waren in Privathäusern nicht mehr durchzuführen. Das Wachstum dieses privaten Pflegemarktes wurde allerdings in gewisser Weise durch die Ausbildung behindert. Denn diese richtete sich vor allem nach den Bedürfnissen der jeweiligen Krankenhäuser, was die erworbenen Kenntnisse mitunter schwer übertragbar und kaum vergleichbar machte. Zudem hatten die Hospitäler durch ihre neuen Stationen für zahlende Patienten und das „Ausleihen“ ihres Personals für Privatleute großen Einfluss auf den Pflegemarkt insgesamt. Die Registrierungsbefürworter wollten daher eine allgemeinere und intensivere Ausbildung für alle verpflichtend festlegen, die für Tätigkeiten innerhalb und außerhalb von Krankenhäusern qualifizierte. Das dafür vorgesehene Ausbildungsmodell entsprach weitgehend dem des Medizinstudiums – auf niedrigerem Niveau. Vor einer möglichen Spezialisierung sollten allgemeine Kenntnisse in Medizin, Chirurgie und Geburtshilfe erworben werden. Krankenhäuser und Teile der Ärzteschaft betrachteten dies als Bedrohung. Die Abhängigkeit des Pflegepersonals würde sich vermindern und ihr Verhandlungspotenzial sich vergrößern. Kostensteigerungen drohten. Einfache Praktiker fürchteten dagegen eine neue Konkurrenz. Argumentiert wurde mit den altbekannten Geschlechterklischees. Pflege sei nichts Intellektuelles, das man mit einer Prüfung kontrollieren könne. Einen Arzt wähle man wegen seiner Fähigkeiten, eine Schwester 282

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wegen ihrer Tugenden und Moral. „Männlich“ gebildete Schwestern würden die Hierarchien nicht mehr akzeptieren, und wer sollte dann die niederen Arbeiten übernehmen? Wenn man Nightingales Pflegekonzept kennt, verwundert ihre kategorische Ablehnung des Registrierungsprojekts nicht. Vor allem schriftliche Examina als oberstes Eignungskriterium waren für sie ein rotes Tuch. Dadurch konnten ihrer Ansicht nach weder Moral und Charakter noch das Praxiswissen für die Pflege am Krankenbett geprüft werden. Außerdem erkannte sie klarsichtig, dass Frauen aus der Arbeiterschicht mit ihren oft mangelhaften Lese- und Schreibkenntnissen den Kürzeren ziehen würden. Diese hielt sie aber für unverzichtbar für den Beruf. Des Weiteren störten sie die Pläne, die Ausbildung und Examinierung der Ärzteschaft zu übertragen, hatte sie doch ihr Leben lang für die Etablierung der Pflege als unabhängigen Frauenberuf gekämpft. Für die Zukunft konnte sie sich ein Registrierungsmodell vorstellen, das auf Prüfungen im Laufe der Ausbildung basierte, und nicht auf einem schriftlichen Examen zum Abschluss. Gegenwärtig müsse sich die Pflege in Ruhe weiterentwickeln können. Die sich abzeichnenden Spaltungen sah sie mit großer Sorge. Unter dem Namen Henry Bonham-Carters, und damit des Nightingale Fund, wandte sie sich 1888 gegen die Pläne und wurde dafür im Lancet heftig angegriffen. Sie habe doch schon lange den Kontakt zur Realität in der Pflege verloren, hieß es dort. Jowett versuchte vergeblich, sie zu beruhigen, indem er etwa bemerkte, dass man Pflegerinnen so wenig examinieren könne wie Mütter. Die Angelegenheit war für Nightingale von allerhöchster Bedeutung. Deshalb zog sie alle Register und mobilisierte Unterstützung, wo immer sie konnte, auch im Parlament. 1892 trieb der Konflikt auf seinen Höhepunkt zu, als Pläne für ein Register nach dreijähriger Ausbildung bekannt wurden. Tausende von Oberinnen, Schwestern und Ärzten unterschrieben einen Protestbrief, mit Nightingales Namen an der Spitze. Im Mai 1893 schließlich wurde der British Nurses Association zwar ein königliches Privileg gewährt, das Register aber nicht in der geplanten Weise genehmigt. Auf Antrag konnte man sich lediglich in eine Liste eintragen lassen. Beide Seiten verbuchten dies als Sieg, doch schnitten bei dieser Kraftprobe Nightin283

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gale und ihre Mitstreiter deutlich besser ab. Die Registrierung kam erst 1919, und sie brachte weder die Kontrolle der eigenen Berufsangelegenheiten noch Freiheit vor ärztlichen Einmischungen.

Die bestmögliche Option für die Armen: Bezirkskrankenpflege Ein Schwerpunkt von Nightingales Schaffen betraf die Pflege in Kranken- und Arbeitshäusern. Viel sinnvoller erschien es ihr jedoch, die Kranken, die sich keine private Betreuung leisten konnten, mittels eines engmaschigen Netzes von Bezirkskrankenschwestern zu versorgen. Die Hauspflege hatte den zusätzlichen Vorteil, dass in den Wohnungen der Bedürftigen gleichzeitig Präventionsarbeit geleistet werden konnte. In diesem Sinne war home nursing für Florence Nightingale eine zivilisierende Tätigkeit, die über Pflege weit hinausging und eine Veränderung des Verhaltens und der Alltagspraktiken mit einschloss. Zu diesem Ansatz passten die Vorstellungen der 1869 gegründeten Charity Organization Society, die das Prinzip der Selbsthilfe bei begrenzter Staatsintervention zur Armutsbekämpfung verfocht. Ihre Entstehung ist als Reaktion auf die zunehmende Frustration der Philanthropen über die Resultate ihrer Arbeit zu werten. Weder Ermahnung noch gutes eigenes Beispiel schienen zu helfen, um Verhaltensänderungen in der Arbeiterklasse zu bewirken. Im Gegenteil nutzten ihrer Meinung nach viele das System aus. Deshalb suchte man nach einem systematischen Weg, um die „würdigen“ von den „unwürdigen“ Armen zu unterscheiden. Letztere sollten keine private Hilfe mehr erhalten und auf das Armenrecht verwiesen werden. Wer es im Rahmen der Hauspflege mit solchen Leuten zu tun hatte, so die Auffassung, der brauche in diesem schwierigen Umfeld die Autorität der höheren Schichten und solides Fachwissen. Nightingale war ganz dieser Meinung: „Eine Bezirksschwester muss zunächst pflegen. Sie muss einer höheren Klasse angehören und eine umfassendere Ausbildung haben als eine Schwester im Krankenhaus, weil sie nicht immer den Arzt an ihrer Seite hat. […] Der Arzt hat nur 284

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sie, um ihm zu berichten. Sie ist sein Team von Assistenten, Verbandsgehilfen und Pflegekräften.“ (CW 13, 754) Vor einem Einsatz müsse diese erstens einen Monat im betreffenden Bezirk arbeiten, zweitens eine einjährige Ausbildung in einem Krankenhaus durchlaufen haben und drittens drei Monate vor Ort unter Aufsicht der obersten Bezirksschwester in ihre Aufgaben eingewiesen werden. Neben einer Pflegerin müsse die Bezirksschwester eine Gesundheitsmissionarin sein. In diesem Konzept spielen Aufsicht und Kontrolle eine wichtige Rolle wie auch Belehrung bei der Hilfe zur Selbsthilfe. Bezirkspflege bedeutete in diesem Sinne die Professionalisierung der freiwilligen Philanthropie: Ausgebildete Spezialisten sollten die wohlmeinenden Amateure ersetzen. Gelegenheit, ein solches System flächendeckend aufzubauen, bot das Goldene Thronjubiläum Königin Victorias im Jahre 1887. Die 70.000 Pfund, die britische Frauen zu diesem Anlass gespendet hatten, führte sie in eine Stiftung über, die der Hauspflege armer Kranker durch ausgebildete Pflegekräfte gewidmet wurde. Zwanzig Jahre zuvor hatte sich Nightingale bereits im Umfeld der Reform des Liverpooler Arbeitshauses intensiv mit dem Thema befasst und mit William Rathbone ein Pilotprogramm für die Stadt entwickelt. Dafür wurde diese in 18 Bezirke unterteilt und jeder mit einem Pflegeteam besetzt. 1875 dehnte man dieses System auf die Hauptstadt aus und übertrug die Leitung Florence Lees. Die zu diesem Zweck geschaffene Institution wurde bis 1881 teilweise vom Nightingale Fund finanziert. Die Anforderungen an die Auszubildenden waren hoch. Bis 1896 wurden lediglich etwa 500 Absolventinnen gezählt, sodass häufig Bezirkspflege immer noch auf althergebrachte Weise von Damenkomitees organisiert wurde, die mit „einfachen“ Frauen als Multiplikatoren vor Ort zusammenarbeiteten. Nightingale wurde jedoch nicht müde, den Unterschied zwischen einer ausgebildeten Bezirksschwester und philanthropischen Damen (lady visitors) herauszustellen, für die sie den Namen „Lady Bountiful“ verwendete. Zudem sollte das System auf den ländlichen Bereich ausgedehnt werden. Die Bezirkspflege war für Nightingale das Modell der Zukunft. Ergänzt wurde es vom Konzept der „Gesundheitsmissionare“. In dieser letzten Phase ihres Arbeitslebens konzentrierten sich ihre Anstren285

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gungen somit darauf, ihre präventive Philosophie in die Häuser der einfachen Leute zu bringen. Mit über 70 Jahren startete sie ein neues Experiment zur Verbesserung der Gesundheit auf dem Land. Schon längere Zeit hatte sie überlegt, dort „Gesundheitsmissionare“ oder Sanitätsschwestern zur Erziehung der Bevölkerung einzusetzen. Für Indien hatte sie diesen Ansatz gründlich durchdacht. Auch in diesem Fall nutzte sie – wie schon so oft – ihr großes Netzwerk. Ein Sohn ihres Schwagers Verney mobilisierte im County seines Wohnorts finanzielle Mittel. Daraus entstand in North Buckinghamshire ein Pilotprojekt für die Schulung von Lady Health Missioners. Diese wurden ab 1892 in die Dörfer und Cottages der Region geschickt, um sanitäre Verbesserungen und Sauberkeit in den Häusern anzuregen. Der paternalistische Blick von oben auf die zu belehrenden und zu disziplinierenden Unterklassen, „the great unwashed“, wie sie damals genannt wurden, bedarf keines weiteren Kommentars. Nightingale arbeitete dafür akribisch die Details aus, wobei sie einige jüngere Mitglieder der Familie Verney unterstützten. Das Konzept stellte sie in einem Vortrag 1894 einer breiteren Öffentlichkeit vor, der von Maude Verney verlesen wurde. Ihre gesundheitliche Zukunftsvision hatte sie bereits im Jahr zuvor in einer ihrer letzten größeren öffentlichen Interventionen, in einem Vortrag für die Kolumbusausstellung in Chicago 1893, dargelegt, der dort verlesen wurde. Es war die erste Veranstaltung dieser Art, die in größerem Umfang den weiblichen Beitrag zur Zivilisation der Menschheit würdigte. Hinsichtlich der Krankenpflegeausbildung bekräftigte Nightingale ihre seit Langem vertretenen Positionen. Große Aufmerksamkeit widmete sie der Prävention, die als Health Nursing dem Sick Nursing an die Seite gestellt wurde. Diese sei durch gezielte Armutsbekämpfung zu unterstützen, zu der die Bezirksschwestern durch ihren Einfluss auf das Verhalten der Unterschichten beitragen könnten. „Beide Arten der Pflege sollen die bestmöglichen Bedingungen für die Natur schaffen, unsere Gesundheit wiederherzustellen oder zu erhalten, Krankheiten oder Verletzungen zu vermeiden oder zu heilen.“ (CW 6, 207)

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Die Jahre schritten voran, und Florence Nightingale erhielt immer noch Post aus allen Teilen der Welt. Darunter waren viele Bettelbriefe, wie etwa der des Polarforschers Scott, der um Unterstützung für seine Südpolexpedition bat. Harry Verney hatte sie 1891 schließlich überzeugen können, sich fotografieren zu lassen (vgl. S. 227). Sie bereute es sofort: Nun wollten so viele Leute ein Bild und ein Interview, dass es eine wahre Plage sei. Zu diesem Zeitpunkt überschwemmten bereits seit Längerem billige Biografien den Markt. Diese Veröffentlichungen für ein breites Publikum konzentrierten sich auf die junge Florence, betonten ihre Opferbereitschaft, das privilegierte Leben aufzugeben, und suchten die Spuren ihrer Berufung in jungen Jahren. Üblicherweise wurde die unglückliche Kindheit und Jugend ausgeblendet, und manche parallelisierten ihre Vita sogar mit dem Leben Jesu. Kaum beachtet wurde ihr Schaffen nach dem Krimkrieg ebenso wie ihre Distanzierung von der Anglikanischen Kirche. Nightingale hatte keine Neigung, derlei zu unterstützen. Für sie begann ihre Lebensaufgabe erst richtig nach 1856. Eine enge emotionale Bindung bewahrte sie zeitlebens an den Krimkrieg und die Armee, vor allem an die einfachen Soldaten. 1890 schickte sie diesen einen Gruß, womit mittellose Veteranen unterstützt werden sollten. Es ist die einzige existierende Aufnahme ihrer Stimme, hergestellt von einem Assistenten Edisons: „When I am no longer even a memory, just a name, I hope my voice brings to history the great work of my life. God bless my dear old comrades of Balaclava and bring them safe to shore. Florence Nightingale.“ (Bostridge, 516) Eine größere Ausstellung zu Königin Victorias sechzigjährigem Thronjubiläum 1897 ehrte auch Nightingales Lebenswerk. Das Ansinnen, Andenken aus ihrer Zeit im Orient dort zu präsentieren, wies sie zunächst empört von sich: Die wahren „Reliquien“ des Krimkriegs seien 287

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die Reformen der Armee und die Verbesserungen für die Gesundheit der Soldaten. Schließlich lenkte sie aus Respekt vor der zu Ehrenden ein und stellte eine Marmorbüste zur Verfügung. In einem Schuppen in Embley hatte bis dahin ihre Kutsche aus dem Krieg, mit der sie die Frontlazarette besucht hatte, in Einzelteile zerlegt die Jahrzehnte überdauert. Nun wurde sie wieder zusammengesetzt. Heute ist Florrie’s Lorry im Army Medical Services Museum zu sehen.

Die Mühen des Alters In ihren letzten Jahren war Florence Nightingale eine Art Relikt aus einer längst vergangenen Zeit. Bei runden Geburtstagen merkte die Öffentlichkeit immer noch auf, doch nicht wenige wunderten sich, dass sie überhaupt noch lebte. Viele Familienmitglieder, Freunde und „Arbeitskollegen“ waren verstorben. Schlimmer noch, ihre intellektuellen Fähigkeiten ließen nach. Ab Mitte der 1890er-Jahre baute sie immer mehr ab, und nach 1896 verließ sie nur noch selten ihr Schlafzimmer. Schon seit 1887 hatten ihr die Augen Probleme bereitet, und einige Jahre später konnte sie nur noch unter großen Anstrengungen lesen. Immer häufiger ließ sie sich nun vorlesen – gerade das hatte sie in ihrer Jugend so verabscheut. Die Handschrift wurde schlechter, auch hier brauchte sie jetzt Hilfe. Ab 1901 war sie faktisch blind. In den späten 1890er-Jahren klagte sie immer häufiger darüber, dass sie ihr Gedächtnis im Stich lasse. Wenn es ging, arbeitete sie immer noch. Sie machte sich darüber lustig, dass manche Zeitungen bereits ihren Tod gemeldet hatten. Sie korrespondierte weiterhin mit zahlreichen Krankenschwestern und Oberinnen. 1896 engagierte sie sich für die Einführung ausgebildeter Pflegekräfte in irischen Arbeitshäusern. Lange Zeit kamen noch immer viele Besucher in die South Street – 1898 etwa diskutierte sie mit Aga Khan –, und erst kurz vor der Jahrhundertwende wurden nur noch Familienmitglieder und enge Vertraute vorgelassen. Ab 1902 hatte sie eine Art Gesellschafterin, die eigentlich eine Privatsekretärin mit umfassenden Kompetenzen war, die Nightingale allerdings nur unter dem Etikett einer Hauswirtschafterin akzeptierte. 288

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Auch gegen eine Pflegerin wehrte sie sich lange Zeit. Es heißt, sie sei keine leichte Patientin gewesen. Ihre nachlassenden geistigen Kräfte versteckte sie so gut wie möglich. Kündigten sich Besucher an, so bereitete sie sich darauf vor, um sich keine Blöße zu geben. Einige Jahre lang ließ sie sich noch täglich die Zeitungen vorlesen und versuchte, dem Weltgeschehen zu folgen. Zum 80. Geburtstag im Mai 1900 gab es Gratulationen aus aller Welt. Der Burenkrieg – mit seinen gesundheitlichen Schrecknissen und Versorgungsmängeln – weckte Erinnerungen an den Krimkrieg ein halbes Jahrhundert zuvor. Als sie 84 Jahre alt wurde, meldete die Times, dass sich viele Gratulanten eingestellt hätten und sie bei guter Gesundheit sei, sich weiterhin sehr für wohltätige Werke interessiere und wie üblich den Morgen arbeitend mit ihrer Sekretärin verbracht habe. 1908 ließ sie die letzten Weihnachtskarten an ihre Krankenschwestern verschicken. Insgesamt gibt es aus ihren letzten 10 Jahren nur wenig Handschriftliches. Am Ende ihres Lebens kamen die Ehrungen. Bereits 1883 war sie von Königin Victoria mit dem Royal Red Cross ausgezeichnet worden. 1904 verlieh ihr Edward VII. – die Queen war 1901 verstorben – den Titel einer Lady of Grace of the Order of St John of Jerusalem. Den vom Premierminister vorgeschlagenen Verdienstorden, den der neue Herrscher nach seiner Thronbesteigung geschaffen hatte, verweigerte er ihr zunächst aufgrund ihres Geschlechts. Auf starken Druck hin lenkte er jedoch ein, und 1907 wurde ihr schließlich die Auszeichnung zuteil, die sie selbst nicht mehr entgegennehmen konnte. Schon zwei Monate später folgte die Ehrenbürgerschaft der Hauptstadt, die Freedom of the City of London. Das Preisgeld von 100 Pfund erhielten die Distriktkrankenpflege und das Hospital in der Harley Street. Im gleichen Jahr wurde sie auf der Internationalen Rot-Kreuz-Konferenz als Pionierin der Bewegung gewürdigt. Mit der Verleihung des Verdienstordens wurden Person und Werk erneut ins Licht der nationalen und internationalen Öffentlichkeit gerückt. Gratulationen dazu kamen aus aller Welt, von Schwesternverbänden aus Japan, dem Bürgermeister von Florenz bis zu Kaiser Wilhelm II., der Blumen schicken ließ. Der Mythos Nightingale wurde in den bereits bekannten Formen wiederbelebt. 289

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Florence Nightingale in ihrem Bett in der South Street (1906). Wellcome Collection. CC BY

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Von den Ehrungen nahm sie vermutlich nicht mehr viel wahr. Konzentration und Erinnerungsvermögen wurden immer schwächer, doch körperliche Beschwerden scheinen sie in ihren letzten Jahren nicht allzu sehr geplagt zu haben. Eine ihrer letzten Besucherinnen, ihre Freundin Angélique Pringle, berichtete vom Februar 1910: „Sie saß in ihrem vertrauten Zimmer am Feuer, ihre Gedanken offensichtlich mit glücklichen Dingen beschäftigt, und ein- oder zweimal sagte sie etwas im Ton der Zufriedenheit.“ (Cook 2, 421) Ihr 90. Geburtstag im Mai 1910 bot im In- und Ausland Gelegenheit, an Leben und Werk zu erinnern. So würdigte sie ein langer Artikel in der Berliner Zeitung vom 20. Mai 1910 nicht nur als Engel im Krimkrieg, sondern ebenso ihre weiteren Leistungen. „Sie studierte die Arzneikunde, die Chemie, das Baufach, um als Arzt, Apotheker und Baumeister wirken zu können. [Und sie habe] mit männlicher Kraft und Entschlossenheit im öffentlichen englischen Gesundheitsleben“ ihre praktischen Neuerungen eingeführt. Der Autor konnte es sich aber dann doch nicht verkneifen anzumerken, dass ihre „einzig dastehende Leistungsfähigkeit […] dem Liebesdrang der Weiblichkeit“ entsprungen sei.

Tod und Gedenken: Die Aktualisierung des Mythos Am 13. August 2010 schlief Florence Nightingale mittags ein und wachte nicht mehr auf. Sie starb gegen halb drei Uhr nachmittags nach 90 Jahren und drei Monaten. Bereits Jahrzehnte zuvor hatte sie damit begonnen, ihren letzten Willen zu Papier zu bringen, erstmals 1859, und dabei ihren Körper der Anatomie „in einer Flasche Spiritus“ zur Verfügung gestellt (CW 1, 52). 1861 anlässlich einer weiteren schweren Krankheitsattacke hatte sie begonnen, ihre Papiere auszusortieren und teilweise zu vernichten. In den 1860er- und 1870er-Jahren dachte sie darüber nach, sich für ihre letzte Lebenszeit in das St. Thomas Hospital zu begeben. Jowett riet nachdrücklich davon ab. Erstens sei dies exzentrisch und Exzentrizität helfe im Leben nicht weiter, und zweitens „wirst Du kein Patient sein, sondern eine Art Direktorin des Hauses, die die Ärzte mit großem 291

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Schrecken betrachten“ (Quinn/Prest, 229). 1896 schließlich verfügte sie die Vernichtung aller ihrer Papiere, außer denjenigen zu Indien. Ein Jahr später übertrug sie Henry Bonham-Carter die Verfügungsgewalt über diese. Den wiederholten Wunsch, ihren Körper der medizinischen Wissenschaft zur Verfügung zu stellen, ignorierte die Familie. Leider „entsorgte“ diese einen Teil des schriftlichen Nachlasses, nachdem 1913 die von der Familie autorisierte „offizielle“ Biografie Edward T. Cooks erschienen war. Ihre Bibliothek wurde, wie sie es gewollt hatte, aufgeteilt. Ihrem Wunsch gemäß wurde sie in aller Einfachheit an der Seite ihrer Eltern auf dem Gemeindefriedhof von East Wellow, Hampshire, bestattet. Das Angebot eines Begräbnisses in Westminister Abbey lehnte die Familie ab. Ihr Grabstein trägt die schlichte Inschrift: „F. N. Born 12 May 1820, Died 13 August 1910.“ Florence Nightingale mochte zwar in aller Stille gestorben und begraben worden sein, doch war ihr Tod eine höchst bedeutende öffentliche Angelegenheit, eröffnete er doch die Möglichkeit des öffentlichen Gedenkens und der Aktualisierung des Nightingale-Mythos als viktorianische Heroin: als Lichtgestalt des Krimkriegs, als Begründerin der modernen Krankenpflege, als höchster Ausdruck englischer Weiblichkeit. Im viktorianischen Verständnis war es ein guter Tod – zu Hause im Kreise der Familie –, von dem die Zeitungen in ihren Nachrufen im ganzen Land berichteten. Emotionale Ausbrüche von Traurigkeit und Bedauern, aber auch Stolz gehörten zum Spektrum der Reaktionen. Kollektives Trauern kann verbindende Wirkung haben, und dies galt besonders in einer Zeit wachsender Spannungen in Großbritannien, im Empire und in Europa. Bereits das Ende des 19. Jahrhunderts und kurz darauf der Tod Königin Victorias hatten für viele den Anbruch einer neuen Zeit mit veränderten Werten und Verhaltensweisen markiert – Florence Nightingale ließ damals ihren gesamten Haushalt Trauer tragen. Ihr eigener Tod stand nun ebenfalls für das definitive Ende einer Epoche. Mit der Heldin verabschiedete man gleichzeitig ein Jahrhundert. Wie etwa der Observer schrieb, hatte es die Verstorbene vermocht, Männer und Frauen aller Klassen zusammenzubringen, und das im gesamten Empire. Sie sei eine Ausnahmeerscheinung, eine in der 292

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Geschichte einzigartige Figur mit fast übermenschlichen Kräften, ein Leuchtfeuer für künftige Zeitalter, wie dies auch Johanna von Orléans gewesen sei. Anlässlich ihres Todes wurde Florence Nightingales Mythos als Heldin bewusst fortgeschrieben. Sie selber hatte Geschlechterstereotypen mit großem Geschick für ihre Zwecke benutzt, ihre Bewunderer setzten dies im 20. Jahrhundert noch lange fort. Ihr Tod fiel zusammen mit einer Verhärtung der Positionen in der Wahlrechtsfrage, und die Feministinnen nahmen sie für ihre Ziele in Beschlag. Doch übte Nightingale auch auf die Gegner der Frauenemanzipation große Anziehungskraft aus – als Frau von wahrer Humanität und Christlichkeit, großzügig, selbstlos, warm, freundlich, die den segensreichen weiblichen Einfluss in das öffentliche Leben getragen habe. Unzählige Male ließ man ihr Leben Revue passieren und empfahl ihr Beispiel zur Nachahmung. Florence Nightingale hatte ein öffentliches Begräbnis abgelehnt, doch ein Gedenkgottesdienst in St. Paul’s Cathedral am 20. August, zu dem etwa 4000 Personen kamen, gab u.  a. gut 1000 Krankenschwestern, vielen Kriegsveteranen sowie indischen Gesundheitsaktivisten Gelegenheit, Abschied zu nehmen. Am gleichen Tag wurde sie auf dem Friedhof von East Wellow begraben, nachdem ihre sterblichen Überreste mit dem Zug dorthin gebracht worden waren. Sechs Soldaten aus Krimkriegsregimentern trugen den Sarg, bedeckt von einem einfachen Kaschmirtuch, durch kleine Straßen, die von den örtlichen Landbewohnern flankiert wurden. Auch hier spürte man das Ende einer Epoche.

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Ein reiches neunzigjähriges Leben hatte seinen Abschluss gefunden, doch wer oder was war diese so außergewöhnliche Person eigentlich? Eine Frau des viktorianischen Zeitalters – wohlhabend, privilegiert, unverheiratet. Eine hochgebildete und weit gereiste Kosmopolitin. Eine viktorianische Invalidin. Eine umfassende Reformdenkerin, die Politikkonzepte und Reformpläne entwickelte – und auf Umsetzung drängte. Ein ökonomisch denkendes Organisationstalent mit besonderem Augenmerk auf effiziente bürokratische Strukturen. Ein eindrucksvolles Beispiel für Leadership, eine Führungsfigur. Eine empirisch arbeitende Wissenschaftlerin. Eine Pionierin der Statistik und des soziologischen Denkens. Eine eigenwillige theologische Denkerin. Eine erfolgreiche Reformlobbyistin und Organisatorin von pressure groups. Eine geniale Netzwerkerin und Manipulatorin. Ein virtuoser Medienprofi, der sich gleichwohl der Öffentlichkeit meist entzog. Eine viktorianische Berühmtheit, die diesen Status gezielt einsetzte. Eine Feministin, die sich der zeitgenössischen Geschlechterstereotypen bediente und sich von anderen Feministinnen abgrenzte. Eine Frau, die virtuos in einer Männerwelt agierte. Eine Frau, die Grenzen beklagte, aber selber anderen sehr enge Grenzen setzte. Eine Frau, die nach Wahrheiten suchte und mit Schmeicheleien umgarnte. Eine ungnädige kalte Kritikerin und warmherzige Zeitgenossin, berechnend und gleichzeitig großzügig. Eine Frau, die polarisierte und inspirierte. Die Liste ließe sich problemlos verlängern. Lässt man die Jahre seit dem Krimkrieg Revue passieren, so vermischten sich immer Realität und Mythos. Unter den jeweiligen Rahmenbedingungen entstanden daraus spezifische Vorstellungen und Klischees. So wird das Nightingale-Bild bis heute kontinuierlich an die Bedürfnisse der Gegenwart angepasst, denn erinnert wird immer nur 294

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das, was aktuell für eine Gesellschaft Bedeutsamkeit besitzt. Über die Krankenpflege hinaus diente der Mythos Nightingale in diesem Sinne vor allem zur Untermauerung englischer Werte und Führungsansprüche. Auch bezog man sich gerne auf ihre Aktivitäten als Reformerin sowie als Kristallisations- und Identifikationspunkt für Wissenschaft und Fortschritt. In den Krisen- und Kriegsjahren des 20. Jahrhunderts verkörperte sie Britishness und Patriotismus. Die Pflegereform war Teil einer umfassenden Sozialreformbewegung. Obwohl Nightingale politische Konnotationen zu vermeiden suchte, reihte sie sich damit ein in die Verfechter einer progressiven Agenda, die Themen wie Frauenemanzipation, Bildungsexpansion, umfassende Gesundheitsreformen und die Weiterentwicklung bürgerlicher Einrichtungen auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Unter dem Banner des Dienstes für die Menschheit war es Frauen möglich geworden, eine wichtige Rolle bei der Reform einer der sozialen Schlüsselinstitutionen des 19. Jahrhunderts zu spielen, des Krankenhauses. Damit erlangten sie Relevanz für die Volksgesundheit, der im naturwissenschaftlich-biologistisch geprägten Klima der Zeit für den Wohlstand der Nation und deren weltpolitische Führungsrolle immer größere Bedeutung zukam. Florence Nightingale, diese monumentale Figur des viktorianischen Zeitalters, war in diesem Sinne die Personifikation eben dieser Reformanstrengungen. Als britische Ikone wurde sie daher vor allem in instabilen Zeiten zu einem wichtigen gemeinschaftsstiftenden Referenzpunkt. Zur Jahrhundertwende waren Nightingale Nurses im gesamten Empire präsent, und damit in etwa in einem Drittel der Welt. Dort wurden sie einerseits als Multiplikatoren der Zivilisierung fremder Völker gepriesen, andererseits machten sie für die Briten den Kolonialdienst sicherer. Dies stärkte das Bewusstsein der Englishness und die Vorstellung von einer Gemeinschaft des Empire. Im 19. Jahrhundert wurde Nightingale als ideale viktorianische Frau mit konsequenter Reformagenda im Dienste von Nation und Empire in den Formen des zeittypischen Heldenkults erinnert. Dazu gehörten die Gemälde aus dem Krimkrieg und andere visuelle Darstellungen, Büsten und Porzellanstatuetten, Poesie und hagiografische Lebensbeschreibungen. Fünf Jahre nach ihrem Tod wurde sie mit einer Statue 295

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geehrt, die in das Ensemble des 1861 errichteten Krimkriegsdenkmals am Waterloo Place im Zentrum Londons integriert wurde. Mitten im Ersten Weltkrieg und ohne jede Zeremonie am frühen Morgen des 25. Februar 1915 enthüllt, steht sie an der Seite Sidney Herberts mit ihrer Lampe auf einem Sockel, der auf seinen vier Seiten auf zentrale Aspekte ihres Werks Bezug nimmt. Außer Frauen von königlichem Geblüt war diese Ehre vorher noch keiner Vertreterin des weiblichen Geschlechts zuteilgeworden. Trotz der wenig feierlichen Einweihung des Denkmals wurde dieses schon bald zum Kristallisationspunkt des Gedenkens und der Ehrerbietung, von der Lorbeerkränze oder Blumengebinde in Form eines Heiligenscheins zeugten. Vor allem die Biografik prägt und verbreitet zeittypische Images. Damit auseinandersetzen musste sich Nightingale noch zu Lebzeiten, als die Lebensbeschreibungen zweier wichtiger Weggefährten, Benjamin Jowetts und Sidney Herberts, entstanden. Wohl aus Ärger darüber, dass sie dem Biografen Stanmore nicht alle Briefe Herberts zur Verfügung stellen wollte, reagierte dieser gehässig. Und erstmals bekam ihr positives Bild Risse: Eifersüchtig habe sie über ihre Autorität gewacht, sei intolerant gegen andere Meinungen gewesen, ist der Biografie zu entnehmen. Allerdings dürften dieses gelehrte Werk nicht allzu viele gelesen haben, weil fast zur gleichen Zeit eine andere Lebensbeschreibung erschien, die, literarisch weniger anspruchsvoll, den Mythos fortschrieb. Doch der Gegensatz zwischen der glorifizierten Heldin und der komplexen realen Persönlichkeit wurde von Stanmore erstmals öffentlich präsentiert. Bereits 1913 legte der von der Familie beauftragte Journalist Edward T. Cook seine voluminöse Biografie vor, ein auch für heutige Maßstäbe noch fundiertes, gut lesbares Werk. Er schaffte es über weite Strecken, sein Urteil zwischen beiden Extremen auszubalancieren. Indem er Nightingales andere Tätigkeitsfelder einbezog, von denen die Öffentlichkeit bis dahin kaum etwas gewusst hatte, verlieh er ihr größere Bedeutung, als dies die Legende vermocht hatte. Er widmete ihr eine Biografie, wie sie bis dahin nur über große Männer geschrieben wurden. Dabei sprach er für die Zeit durchaus heikle Themen an wie etwa die Familienkonflikte. Nur bei der Nightingale School versagte sein kritischer Geist. 296

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Nach dem Siegeszug der Psychoanalyse suchte man in Freuds Denken nach Erklärungen für Nightingales Leben und Werk, womit ihre Persönlichkeit und Krankheit in den Mittelpunkt traten. Der Schriftsteller Lytton Strachey war der Erste, der versuchte, sie definitiv vom Sockel zu stoßen, indem er sie als manipulativ und neurotisch beschrieb. In seinen 1918 erschienenen, leicht zynisch angehauchten biografischen Skizzen von vier wichtigen Persönlichkeiten der viktorianischen Zeit (Eminent Victorians), mit denen er in der literarisch-künstlerischen Bloomsbury-Gruppe schriftstellerisch zu reüssieren versuchte, ist Florence Nightingale eine berechnende Megalomanin, die ihren vorgeblichen Humanismus zum egoistischen Selbstzweck einsetzte. Für ihn konnten ihre – durchaus bewundernswerten – Leistungen nur das Produkt unterdrückter Triebe sein. Ganz im Sinne Freuds wurde hier mit Sublimation von Sexualität argumentiert, um Macht über Männer zu bekommen. James Southern relativiert jedoch neuerdings die Einordnung Stracheys als wesentlichen Ausgangspunkt kritisch-negativer Deutungen im 20. Jahrhundert. Indem der Autor andere Facetten ihrer Persönlichkeit als die des traditionellen Mythos in den Vordergrund gerückt habe, habe er keinesfalls ihren Ruf zerstört oder sie lächerlich gemacht, sondern vielmehr ihre Anziehungskraft in der Zwischenkriegszeit gestärkt. Indem er sie mit männlichen Attributen versehen habe, habe er zwar dem Spott Tür und Tor geöffnet, doch auch positiven Bewertungen ihres Werks, so etwa in der Frauenbewegung ab Ende der 1920er-Jahre. Der Feminismus der unmittelbaren Nachkriegsjahre erlebte hingegen eher eine Rückwendung zu traditionellen Geschlechterrollen, für die die unverheiratete, „männlich“ agierende Nightingale zunächst kein gutes Rollenmodell darstellte. Das könnte der Grund dafür sein, dass in den 1920er-Jahren das öffentliche Interesse deutlich nachließ. Noch zu Lebzeiten war Nightingale trotz ihrer distanzierten Haltung von den Suffragetten vereinnahmt worden. Akzeptanz bei einer jüngeren Generation von Feministinnen fand sie, als 1928 erstmals ihr Essay Cassandra als Anhang zu einer Geschichte der Frauenbewegung von Ray Strachey (der Schwägerin Lyttons) veröffentlicht wurde. In ihrer biografischen Skizze folgte die Autorin eng ihrem Schwager, wobei sie die Charakterzüge hervorhob, die Nightingale brauchte, um in einer 297

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Männerwelt bestehen zu können. Als für ihre persönliche Freiheit leidende Frau stellte sie eine ideale Identifikationsfigur dar. Damit erhielt das Nightingale-Bild ein weiteres Element, das zu dem der „Heiligen“ und der gewissenlosen Manipulatorin hinzutrat. Dies schlug sich in einer neuen Biografie nieder, die 1931 erschien. Ida O’Malley, eine Freundin Ray Stracheys, doch konservativer als diese, schaffte es jedoch nur, die Zeit bis zum Krimkrieg zu behandeln. Sie tat dies in einer sehr persönlichen, emotionalen und familienbezogenen Darstellung. Die beiden Stracheys und O’Malley fügten verschiedene Facetten des Nightingale-Bildes zusammen und konsolidierten damit ihre Reputation. Die Biografie Margaret Goldsmiths von 1937 hingegen las Lytton Stracheys Skizze nur als diffamierenden Text und kam zu einer sehr negativen Einschätzung von Nightingales Charakter und Zielen. Im weiteren Verlauf des Jahrhunderts wurden immer mehr Spekulationen zu Nightingales Sexualität laut, vor allem die Vermutung, dass sie lesbisch gewesen sei und an Syphilis gelitten habe. Auf die Spitze trieb dies ein Theaterstück Ende der 1960er-Jahre, das ihr eine gleichgeschlechtliche Beziehung mit Königin Victoria andichtete und Prostitution im Lazarett von Scutari. Nach dem Zweiten Weltkrieg prägte die 1950 erschienene Lebensbeschreibung Cecil Woodham-Smiths, das wichtigste biografische Projekt nach Cook, als wahrer Kassenschlager die öffentliche Wahrnehmung. Unter Heranziehung neuer Quellen zeichnete sie ein prononciert heldenhaftes Bild: Sie dramatisierte die familiären Konflikte, indem sie die geschriebenen Notizen, Briefe und Aufzeichnungen mit dem Verhalten bzw. dem gesprochenen Wort gleichsetzte und „unpassende“ Quellen ignorierte. Nightingale wurde als findige Organisatorin der Armee beschrieben, der es gleichwohl nicht an mütterlichen Instinkten gefehlt habe. Kurz gesagt, eine passende Heldin für die Frauen, die den Zweiten Weltkrieg überstanden hatten und immer noch zwischen Erwerbsarbeit und Heim hin- und hergerissen waren. Die neuen Medien des 20. Jahrhunderts stürzten sich ebenfalls auf Nightingale. Ein erster Stummfilm aus dem Jahr 1915, heute verloren, sollte möglicherweise für freiwillige Pflege im Ersten Weltkrieg werben. Ende der 1920er-Jahre trat ein Theaterstück seinen Siegeszug durch 298

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Großbritannien und die USA an, das sich stark an Strachey orientierte und es mit der historischen Wahrheit nicht so genau nahm: So ließ es ihren Heiratsbewerber in ihren Armen in Scutari sterben! Ein erster Versuch Hollywoods Mitte der 1930er-Jahre erwies sich als Flop, nicht aber ein 1951 gedrehtes, sich auf Woodham-Smith beziehendes Rührstück, das Kritisches völlig ausblendete. Ab dieser Zeit folgten dann auch verschiedene Formate für das Fernsehen. Eine dritte Traditionslinie betrifft die Pflege und die Pflegegeschichte. Neben den Briten und ihrem Empire entstand um die Jahrhundertwende eine zweite „imaginierte Gemeinschaft“, nämlich eine Art Internationale der Krankenpflege. 1899 wurde das International Council of Nurses gegründet. Ethel Bedford Fenwick begann einige Jahre nach Nightingales Tod damit, sich auf die Mobilisierungskraft des Mythos zu beziehen, trotz aller Differenzen zu Nightingales Lebzeiten. Nach einer ersten Initiative im Rahmen des International Council kurz vor dem Ersten Weltkrieg entstand schließlich 1929 die Florence Nightingale Foundation, die sich heute noch der Förderung von Pflegeausbildung und -forschung widmet. Soll durch Erinnerung Gemeinschaft gestiftet werden, bedarf es aber auch materieller Artefakte. In diesem Sinne wurden ab 1932 Steine aus Florence Nightingales abgerissenem Wohnhaus in der Londoner South Street in die ganze Welt verschickt, wo diese vor allem in den Schwesternwohnheimen als eine Art Reliquie fungierten. Außerdem trugen Rituale zur Ausbildung einer weltweiten Identität im Pflegeberuf bei. 1893 entstand in Michigan das Nightingale-Gelöbnis (Nightingale Pledge) als Äquivalent zum hippokratischen Eid der Ärzte. Es wurde in vielen Teilen der Welt zu einer Art Übergangsritus, mit dem die Pflege als eine höhere Form des Dienens bekräftigt wurde. Solchermaßen trug es einerseits dazu bei, dass dem Beruf heute noch der Ruch „niederer“ Arbeit anhaftet. Mit dem Verweis auf Nightingale konnte man sich aber andererseits auf eine progressive Agenda beziehen und Forderungen zugunsten derjenigen Frauen begründen, die sich für eine bessere Gesellschaft einsetzten. In England trugen das St. Thomas Hospital und die Nightingale School die Fackel weiter unter der langjährigen Oberin und Leiterin 299

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der Pflegeschule Alicia Lloyd Still. Sie war die letzte Stationsschwester, die noch von Nightingale direkt in der Londoner South Street ernannt worden war. Sie hielt die Tradition hoch, predigte Charakter, Hingabe und förderte das Elitebewusstsein der Absolventinnen. Das Morgengebet in den Krankensälen war weiterhin selbstverständlich. Der Präventionsgedanke schrumpfte aber mehr und mehr zu einem bloßen Lippenbekenntnis, da in der Realität die Krankenschwestern immer mehr zu Assistentinnen der Ärzte wurden. Auch Alicia Lloyd Still erfand 1925 eine gemeinschaftsstiftende Tradition, das NightingaleAbzeichen (Nightingale Badge). In der nationalen und internationalen Öffentlichkeit wurde Florence Nightingale Anerkennung in verschiedenen Formen zuteil. Von 1975 bis 1994 zierte ihr Konterfei die 10-Pfund-Note, in einer Reihe mit Namen wie Newton, Wellington, Shakespeare und Dickens. Etliche Kirchen aus der Anglican Communion erinnern an sie in ihren liturgischen Kalendern am 13. August, die evangelische Kirche in Deutschland einen Tag später, am 14. August. Seit 1912 wird vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz die Florence-Nightingale-Medaille als höchste Auszeichnung verliehen. Das Museum als Erinnerungsinstitution nahm sich Nightingales erst relativ spät an. Seit 1989 gibt es im Londoner St. Thomas Hospital das Florence Nightingale Museum, das 2010 zum 100. Todestag gründlich umgestaltet wurde und in einer Dauerausstellung ihre Geschichte in drei Pavillons erzählt. Im Army Medical Services Museum findet ihr Beitrag für die Gesundheit der Soldaten Berücksichtigung. Museen wurden auch im Heim ihrer Schwester in Claydon und im ehemaligen Barackenkrankenhauses von Scutari in Istanbul eingerichtet. Frühe Würdigungen erfuhr Nightingales Werk bereits zu Lebzeiten auf der Kolumbus-Ausstellung 1893 in Chicago und 1897 im Rahmen der Ausstellung zum diamantenen Kronjubiläum Königin Victorias. Die frühe Kritik Lytton Stracheys hatte in den beiden ersten Dritteln des 20. Jahrhunderts keine größeren Auswirkungen auf das heroische Nightingale-Bild, weil sich dieses weiterhin sehr gut in das damalige Selbstbild Englands einpasste. Die Kehrtwende setzte in den 1980er-Jahren ein, als das imperiale Narrativ des weißen, protestantischen Britan300

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niens in Politik, Gesellschaft und Geschichtsschreibung immer stärker hinterfragt und herausgefordert wurde. Den Hintergrund hierfür bildeten tiefgreifende Veränderungsprozesse, in deren Verlauf sich das Land immer stärker antikolonial, multiethnisch und egalitär definierte. Auch in der Pflege zeichneten sich im Rahmen des National Health Service (NHS) größere Umwälzungen ab. In den 1960er-Jahren wurde das Nightingale-System auf den Stationen praktisch abgeschafft und gut 20 Jahre später der historische Konflikt zwischen Theorie und Praxis zugunsten einer Akademisierung der Pflege beigelegt. Damit verbunden war die Schließung der traditionellen Schulen, was 1991 das Ende der Nightingale School bedeutete. Vor dem Hintergrund all dieser Veränderungen avancierte nun Nightingale zur Ursache aller Übel des Pflegeberufs. Allerdings war dies nicht der einzige Faktor, der zu ihrer Demontierung als imperiale Ikone führte. Zeitlich vorangegangen war der kritische Beitrag der feministischen Geschichtsschreibung ab Ende der 1970er-Jahre. Zunächst ging es hierbei wie überall um die Hebammen, wobei der männlichen Kirche, historisch unkorrekt, willentliche Ausrottungsversuche durch die Hexenverfolgung unterstellt wurden. Analog argumentierte man, dass die Hauspflegerinnen ebenfalls autonom in ihrem Tätigkeitsbereich gewesen waren und keineswegs so schlecht wie immer dargestellt, doch habe man ihren Ruf bewusst beschädigt, sodass diese Frauen unter die Knute der Ärzte kamen. Die Pflegerinnen alten Stils hatten somit ihre Verteidigerinnen gefunden – als missverstandene Opfer der Geschichte. Und ein Feindbild: Nightingale und ihr „System“. 30 Jahre nach der Biografie Woodham-Smiths erschien ein Buch, das Furore machen sollte. Francis B. Smith, ein australischer Historiker mit einem Schwerpunkt in der Sozialgeschichte der Medizin und der Gesundheit, legte 1982 ein Werk über Nightingale vor, das Bostridge als „Rufmord maskiert als seriöse Geschichte“ bezeichnet (542) – mithilfe nachweislich falscher Behauptungen und ebensolcher Belege. Eine diskreditierende frauenfeindliche Polemik, die sie als bösartige, machtbesessene, sexuell frustrierte Intrigantin beschrieb, deren Leistungen aber gleichwohl zu würdigen seien. Spätere Kritiker, die sich in der Regel auf Smith bezogen, taten nicht einmal mehr das. 301

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Zusammen mit den feministischen Deutungen wurden diese negativen Einschätzungen im folgenden Jahrzehnt von Pflegeorganisationen und der Pflegegeschichte aufgenommen und Nightingale für die schwierige Lage des Berufs und seine Unterordnung unter die Medizin verantwortlich gemacht. Hinzu kam der Vorwurf, sie habe im Krimkrieg Tausende von Toten durch falsches Handeln und irrige Ansichten zu verantworten, wie sie vor allem Hugh Small formuliert, dessen Avenging Angel 1998 erschien. Es war und ist vor allem diese aktuelle Problematik des Gesundheitswesens, die die Nightingale-Kritik in Forschung, Pflegeberufen und Öffentlichkeit in den letzten 40 Jahren befeuerte und ihr Wirken und ihre Person neu bewertete. Inhaltlich konzentriert sich die Kritik – neben den schon beschriebenen Monita an Charakter, Persönlichkeit und Verhalten – im Wesentlichen auf vier Themenbereiche. Der erste Komplex dreht sich um ihre angebliche Verantwortlichkeit für die hohe Zahl von Toten im Krimkrieg, die so nicht haltbar ist. Zum zweiten wird oft kategorisch behauptet, dass sie sich zeitlebens der Keimtheorie – und damit dem wissenschaftlichen Fortschritt insgesamt – widersetzt habe, wozu sie zwar anfangs eine starke Tendenz zeigte, diese dann aber eindeutig revidierte. Der dritte Streitpunkt betrifft ihre Leistungen für die Entwicklung der professionellen Pflege, die manche Kritiker als „angewandte Hauswirtschaft“ abqualifizieren, und viertens ist die Minimierung der nationalen und internationalen Bedeutung der Nightingale School zu nennen. Nicht zuletzt wird ihr ein wirkliches Interesse an der Pflege am Krankenbett abgesprochen. Nach der Kritik von Monica Baly an der Nightingale School in den 1980er-Jahren wurde, wie bereits angesprochen, praktisch jeder Aspekt des traditionellen Nightingale-Bildes infrage gestellt. Dies hängt eng zusammen mit der Neuveröffentlichung von Mary Seacoles Autobiografie im Jahr 1984. Damit wurde die Lady with the Lamp schließlich zur Rassistin. Bis 2000 hat das einst so strahlende Bild in dem Maße immer dunklere Flecken bekommen, als Mary Seacole als vermeintlich besser passende Identifikationsfigur aufgebaut wurde. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends verfestigten verschiedene mediale Formate dieses negative Nightingale-Bild weiter, u. a. Dokumentationen in der BBC, indem sie ihr Seacole, mit teils historisch 302

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fragwürdigen Behauptungen, als bessere Black Nightingale gegenüberstellen. In diesem Sinne wurde Seacole auch in die schulischen Lehrpläne aufgenommen. 1999 rief die Pflegegewerkschaft Unison offen zum Denkmalsturz – „wie bei Lenin“ – auf. Man müsse den Mythos wie den Teufel austreiben, denn Nightingale habe ihre Schwestern unterdrückt und dem Beruf geschadet. Es wurde gefordert, den International Nurses Day zu verlegen, der traditionell am 12. Mai, an Nightingales Geburtstag, begangen wird. Das Royal College of Nurses, die zweite wichtige Pflegegewerkschaft, schloss sich dem nicht an. Trotzdem: Am Ende des 20. Jahrhunderts war Florence Nightingale zum Blitzableiter für viele Unzufriedene im Pflegeberuf geworden. Die Washington Post titelte im April 2003: „Good Night Florence“. Diese Demontierung Nightingales blieb nicht unwidersprochen. Insbesondere seit ihrem 100. Todestag 2010 verstärken sich die Bemühungen der Nightingale-Verteidiger, nicht selten mit gut belegbaren Argumenten, die jedoch häufig in stark konfrontativ-konfliktiver Weise in der öffentlichen Debatte bemüht werden. An deren Spitze steht die Nightingale Society mit ihrer Vorsitzenden Lynn McDonald. Dass die Biografik immer noch eine Rolle spielt, zeigt die Auseinandersetzung um den Eintrag im Oxford Dictionary of National Biography von 2004. Die Nightingale Society setzt sich seit Jahren dafür ein, die dort aufgenommene Beurteilung auf der Basis von Monica Baly und F. B. Smith zu korrigieren. Aktuell gibt die 2008 veröffentlichte und mehrfach ausgezeichnete Lebensbeschreibung von Mark Bostridge einen überaus fundierten und ausgewogenen Einblick in das Leben dieser komplexen Persönlichkeit. Auch die Politik ist im Spiel. Während die Nightingale Society etwa Teile der Konservativen Partei und der Presse auf ihrer Seite hat, heben eher linksgerichtete Kreise in Politik, Öffentlichkeit und Medien Mary Seacole auf das Podest – als Symbol für Integration, Diversität und Multikulturalität. Die Gegner wiederum wenden ein, Seacole sei lediglich ein Mythos der political correctness. Neuerdings ist es somit vor allem der Blickwinkel des Postkolonialismus, der zur Beurteilung von Persönlichkeit und Werk Nightingales herangezogen wird. Dabei 303

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wird ihr „English eye“ hervorgehoben und sie nicht selten des Rassismus bezichtigt. Eine Befriedung ist bislang nicht in Sicht. Dies zeigen die Auseinandersetzungen um die Seacole-Statue, die nach einer öffentlichen Subskription 2016 vor dem St. Thomas Hospital aufgestellt wurde. Dass das Gegenbild zur weißen, protestantischen Mittelklassefrau den Nerv der Zeit trifft, belegt die große Resonanz in der Öffentlichkeit. Hier geht es weniger um historische Genauigkeit als darum, im Sinne von Diversität und Multikulturalität den Beitrag schwarzer und anderer ethnischer Minderheiten für den NHS und darüber hinaus für die gesamte britische Geschichte zu würdigen. In einer öffentlichen Sammlung kamen über 500.000 Pfund zusammen, unterstützt von weiteren 240.000 Pfund aus der Schatulle des Finanzministers. Die Statue ist die erste öffentliche Ehrung dieser Art, die einer schwarzen Frau im Vereinigten Königreich zuteil wird. Kritiker stören sich am Ort des Denkmals im Garten von St. Thomas und in der Nähe des Parlaments, Orte, die eng mit Nightingales Wirken verbunden sind, aber keinen Bezug zur Geehrten haben. Dass ebenfalls moniert wird, dass Seacoles Statue ein wenig größer als Nightingales ausgefallen ist, zeigt die Dimensionen der Kontroverse. Die Befürworter des Denkmals hingegen sehen Kritik und Widerstände vorwiegend rassistisch motiviert. Institutionen wie das Florence Nightingale Museum suchen in dieser überhitzten Auseinandersetzung zu vermitteln, und die projektierte Zusammenarbeit vieler an der Debatte Beteiligter für das Jubiläum 2020 lässt zumindest hoffen. Aber auch im positiven Sinne wird aktuell intensiv an Florence Nightingale erinnert. Wenn in der Gegenwart Forderungen nach einer unabhängigen, sich selbst regulierenden Profession erhoben werden, so waren viele Aspekte davon Nightingale in ihrer Zeit sicherlich fremd, wenn man von der Notwendigkeit einer fundierten Ausbildung einmal absieht. Dass trotzdem immer wieder auf sie Bezug genommen wird, zeigt jedoch die Anschlussfähigkeit ihrer Vorstellungen für die Probleme und Bedürfnisse der Gegenwart. So wird in der Pflege besonders intensiv danach gefragt, inwieweit Nightingale noch von aktueller Relevanz sein könne. An vorderster 304

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Stelle ist hier ihr ganzheitliches Gesundheitskonzept zu nennen, das der Prävention eine ausschlaggebende Rolle zuspricht. Weitere Faktoren von Bedeutung für das 21. Jahrhundert könnten ferner die Ermunterung zu individueller Initiative und kooperativem Handeln sein, um Veränderungen voranzubringen. Betrachtet man die Millenniumsziele der WHO, die 2015 um Ziele für nachhaltige Entwicklung ergänzt wurden und das Ende von Armut und Hunger auf der Welt bis 2030 anstreben, so klingt Nightingale hochaktuell: Prävention, Bedeutung der Umwelt, soziale Determinanten von Krankheit und Gesundheit, Gesundheitserziehung in Schulen und am Arbeitsplatz sowie die Stärkung der Gesundheitsdienste auf kommunaler Ebene sind keineswegs obsolet gewordene Themen. Krankenhausinfektionen sind mehr denn je ein gravierendes Problem, Skandale, ineffektive Organisation und andere Mängel ebenfalls. Hier geht es um die Übernahme von Verantwortung ebenso wie um Teamarbeit und Qualitätsmanagement. Von großer Aktualität ist immer noch die Stigmatisierung der Krankenpflege als untergeordnete, gesellschaftlich nur wenig anerkannte Tätigkeit. Dass sie diese Sicht auf den Beruf durch ihr Ideal des Dienens und der Selbstverleugnung zementiert habe, ist bekanntlich der Hauptvorwurf, der Nightingale trifft. Und in der Tat sind die eng mit Geschlechtervorstellungen verbundenen Gegensätze „Tugend versus Wissen“ oder „‚Charakter‘ versus Ausbildung“ immer noch nicht ganz aus den Köpfen verschwunden. Auch die Höhe der Gehälter in der Pflege spricht eine mehr als deutliche Sprache. Im neuen Jahrtausend sind inter- und transnationale Initiativen für die Weltgesundheit aufs Engste mit Florence Nightingales Namen verbunden, die sich insbesondere auf ihren präventiven Ansatz und ihr holistisches Gesundheitskonzept beziehen. Dabei konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf die zentrale Rolle, die dabei Pflegepersonen spielen. Die Nightingale Initiative for Global Health (NIGH) arbeitet seit Mitte der 1990er-Jahre in Kooperation mit den Vereinten Nationen für eine weltweite Gesundheitskampagne, die mithilfe moderner Medien eine Koordination und Vernetzung des Gesundheitspersonals im Sinne einer global verbundenen Grassroots-Bewegung anstrebt. Bis 2016 schlossen sich der NIGH-Initiative 25.000 Stellen aus 106 Ländern an. 305

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Die auf drei Jahre angelegte Nursing Now-Kampagne der WHO und des Weltverbands für Pflegeberufe, die sich an Nightingales 200. Geburtstag 2020 orientiert, setzt sich ebenfalls weltweit für bessere Gesundheitssysteme ein, wofür sie das Profil und den Status professionell Pflegender stärken möchte. Die WHO hat das Jahr 2020 zum „Jahr der Pflegenden und Hebammen“ ausgerufen. Die Initiative, die im Juni 2019 beim Kongress des Weltverbands für Pflegeberufe für 2020 gestartet wurde, trägt deshalb ihren Namen: The Nightingale Challenge. Damit soll die Entwicklung einer Generation junger Pflegefachpersonen und Hebammen zu Führungskräften, professionellen Fachleuten in der Praxis und durchsetzungsfähigen Interessenvertretern gefördert werden. Dass auch Florence Nightingales andere Tätigkeitsfelder stärker öffentlich wahrgenommen werden, zeigt etwa die Tatsache, dass ihr Beispiel für die Werbung für die MINT-Fächer am Girls’ Day herangezogen wird, der Mädchen für Naturwissenschaften begeistern möchte. Es ist also zu hoffen, dass die Kontroversen der Vergangenheit im Umfeld von Nightingales 200. Geburtstag nicht erneut an Schärfe gewinnen und einer ausgewogenen und fundierten Beurteilung von Leben und Werk Platz machen. Mit der vorliegenden umfassenden Quellenedition unter Federführung Lynn McDonalds steht dafür reichlich Material zur Verfügung. Weitere Digitalisierungsprojekte des schriftlichen Nachlasses sind im Gange. In Derbyshire untersucht ein größeres Forschungsvorhaben die regionalen Wurzeln dieser britischen Ikone. Zur Feier ihres 200. Geburtstags haben sich zahlreiche nationale und internationale Organisationen und Einrichtungen zusammengefunden, von Museen, Stiftungen, Gewerkschaften, beruflichen Vereinigungen, wissenschaftlichen Gesellschaften bis zu realen Erinnerungsorten wie Lea Hurst, Embley Park und Claydon House, deren Aktivitäten auf einer gemeinsamen Website koordiniert werden. Im 21. Jahrhundert ist es gewiss legitim zu fragen, welche Weichenstellungen des 19. Jahrhunderts – die übrigens nicht alle Nightingale selbst zu verantworten hatte – heute als Hypothek auf dem Pflegeberuf lasten. Es ist ebenso legitim zu fragen, inwieweit die Vorstellung einer besonderen religiösen Berufung in Verbindung mit weiblicher Selbstverleugnung und Aufopferung zum Wohl der Patienten zu einem Be306

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rufsbild mit schlechter Bezahlung, oft miserablen Arbeitsbedingungen, geringem öffentlichem Prestige, schwacher eigener Interessenvertretung und hierarchischer Unterordnung unter die Ärzte führte. Es wäre nicht legitim – und übrigens zudem wissenschaftlich unprofessionell – Nightingales Leben und Werk nicht in ihrer Zeit zu verorten und es bei aller Außergewöhnlichkeit ihrer Person nicht auch als Produkt dieser Zeit zu verstehen. Noch gibt es jedes Jahr im Mai zu Nightingales Geburtstag einen Gedenkgottesdienst in Westminister Abbey, wo Pflegende sowie Vertreter des Roten Kreuzes und der Armee zusammenkommen. Mit der symbolträchtigen Lampe zieht eine Prozession zum Hochaltar. Florence Nightingale hätte dies wohl kaum gefallen. Dass 1981 ein erdnaher Asteroid (3122) mit zwei Monden nach ihr benannt wurde, vielleicht schon eher. Doch trotz aller Hochschätzung der Statistik dürfte die jüngst nach ihr benannte gigantische Sammlung nicht anonymisierter Patientendaten in den USA – das sog. Project Nightingale –, in Zusammenarbeit mit google und ohne Einwilligung der Betroffenen, ihre Zustimmung vermutlich nicht gefunden haben.

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Register Abbot, Jacob 37 Aga Khan 288 Aischylos 171 Albert von Sachsen-Coburg und Gotha, Prinzgemahl 46, 147, 196 Alexander, Thomas 147, 217 Alfieri, Vittorio 41 Alice, Großherzogin von Hessen-Darmstadt 266, 268 Allen, Donald 72 Baden-Powell, Robert 89 Baly, Monica 205, 270, 302, 303 Barrett, Jerry 142 Bedford Fenwick, Ethel 281, 282, 299 Bentham, Jeremy 11, 35, 185 Blackwell, Elizabeth 239, 245, 246, 247 Bonfiglio, Richard 66 Bonham-Carter, Familie 22, 46 Bonham-Carter, Henry 253, 283, 292 Bonham-Carter, Hilary 29, 46, 47, 51, 165, 170 Bostridge, Mark 34, 71, 130, 150, 255, 301, 303 Bracebridge, Charles Holte 63, 72, 86, 106, 107, 112, 133, 274 Bracebridge, Selina 63, 64, 72, 79, 85, 86, 92, 106, 107, 112, 133, 242, 274 Bradshaw, Ann-Noel 197 Bridgeman, Frances 125, 134, 135, 137, 138 Bucknall Estcourt, James B., General 102 Bulwer-Lytton, Edward 172 Bunsen, Christian von 53, 55, 70, 86, 88, 148 Butler, Josephine 237, 238, 240, 244 Butler, Rebecca 66, 69 Byron, Annabella Lady 53 Calabria, Michael 72, 76, 77, 183 Cambridge, George William Frederick Charles, Duke of 147 Campell-Bannerman, Sir Henry 289 Chadwick, Edwin 49, 115, 191, 197, 218 Chateaubriand, René Vicomte de 42 Chenery, Thomas 103, 104

Christie, Sara 24, 26, 28, 29, 35 Clarke, Mary, Oberin 107 Clarke Mohl, Mary 42, 43, 44, 47, 53, 93, 242, 278 Clark, Sir James 90, 146 Clough, Arthur 165, 166, 168, 170, 181, 242, 243 Clough, Blanche 168 Cobden, Richard 148 Comte, Auguste 89, 179 Cook, Edward T. 24, 292, 296, 298 Cornewall Lewis, George, Baronet 168 Correggio 79 Croft, John 255, 258 Crossland, Mary 255, 258 Darwin, Charles 36, 53, 181 Dickens, Charles 57, 135, 200, 208, 300 Duberly, Frances Isabella 100 Dufferin and Ava, Marquess Temple Hamilton-Temple-Blackwood, Frederick 224, 226 Dufferin, Hariot Georgiana, Marchioness 224, 225, 226 Edison, Thomas Alva 287 Edward VII., König 289 Eliot, George.  Siehe Evans, Marian Evans, Marian 172 Farr, William 49, 146, 148, 149, 152, 173, 174, 191, 195, 209, 217 Fawcett, Millicent 241 Fitzgerald, David 135, 136 Fliedner, Friederike 81 Fliedner, Theodor 54, 61, 81, 82, 83, 87 Forester, Lady Maria 105 Franz von Sales 275 Frere, Sir Bartle 228 Freud, Sigmund 297 Friedrich III., deutscher Kaiser 266 Fry, Elizabeth 60, 92 Fuhrmann, Luise 267 Galilei, Galileo 185 Galton, Douglas 157, 168, 196, 240

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Register Gamp, Sarah, Romanfigur von Charles Dickens 57, 200, 269 Gandhi, Mahatma 226 Garrett Anderson, Elizabeth 239, 245 Garrett Anderson, Louisa 251 Gaskell, Elizabeth 172 Gill, Gillian 72, 74, 76 Gladstone, William Ewart 277 Godden, Judith 205 Goldsmith, Margaret 298 Grey, Earl de.  Siehe Ripon, Marquess of Grillage, Peter 139 Grillparzer, Franz 55 Gropius, Martin 196

Lee, Ann 187 Lefroy, John Henry 136, 146, 148 Leigh Smith Bodichon, Barbara 243 Leopold II., Großherzog der Toskana 40 Lister, Joseph 191 Locke, John 25 Longden, Anne 243 Longfellow, Henry Wadsworth 139 Louis Philippe d‘Orléans, französischer König 43 Lovelace, Ada 53 Ludwig, Großherzog von Hessen-Darmstadt 266 Luise, Großherzogin von Baden 196, 268

Hall, John 104, 106, 125, 130, 133, 134, 135, 136, 137, 147, 152 Hamilton, William 89 Hawes, Benjamin 136, 156 Hawkins, Sue 205 Helmsdörfer, Charlotte 268 Helmstadter, Carol 205, 255, 259, 271, 272 Herbert, Elizabeth 68, 70, 88, 106, 167 Herbert, Sidney 67, 70, 93, 100, 105, 113, 117, 118, 122, 123, 125, 127, 135, 138, 146, 147, 151, 152, 154, 155, 156, 166, 167, 168, 170, 177, 194, 200, 217, 242, 243, 296 Hill, John Henry und Frances 78 Hill, Octavia 244 Homer 171 Hume, David 89

Macaulay, Thomas Babington, Baron 53, 228 Machin, Maria 265 Mackowiak, Philip A. 161 Manning, Henry Edward, Kardinal 68, 89, 90, 179 Martineau, Harriet 23, 156, 162, 163, 167, 218, 238, 243 Mayo, Earl of Bourke, Richard Southwell 220 McDonald, Lynn 87, 131, 241, 259, 266, 269, 271, 303, 306 McNeill, Sir John 127, 129, 146, 148 Meißner, Thomas 161 Menzies, Duncan 104, 106, 110, 113, 124 Metternich, Clemens Lothar Wenzel Fürst von 41 Michelangelo 67 Middendorf, Alexander von 53 Mill, John Stuart 11, 89, 180, 182, 185, 208, 235, 240, 241, 242, 243, 244, 245, 247, 248 Milnes, Florence 72 Milnes, Richard Monckton 63, 70, 71, 72, 90, 152, 180, 181, 278 Milton, John 171 Mohl, Julius 42, 55, 92, 93 Moore, Mary Clare 121, 138, 139, 183, 201, 274 Moses 178

Johanna von Orléans 293 Johannes vom Kreuz 275 Jones, Agnes 207, 208, 209 Jones, Mary 61, 200, 201, 210, 211, 273 Jones, William, Seemann 139 Jowett, Benjamin 169, 170, 174, 180, 181, 182, 184, 185, 229, 238, 243, 244, 273, 274, 275, 276, 278, 280, 283, 291, 296 Katharina von Genua 275 Katharina von Siena 275 Koch, Robert 114, 117, 191, 192 Kopernikus, Nikolaus 185 Lawrence, Sir John 219, 225, 277

Napoleon Bonaparte, Kaiser der Franzosen 10, 14, 73, 99

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Register Napoleon III., Kaiser der Franzosen 96, 135 Nelson, Sioban 264, 266, 271 Newton, Isaac 185, 300 Nicholson, Familie 22, 51 Nicholson, Hannah 51, 52, 53 Nicholson, Henry 50, 51, 85 Nicholson, Marianne 45, 51, 94, 157 Nightingale, Frances 10, 14, 15, 16, 17, 19, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 31, 32, 33, 34, 35, 43, 45, 50, 52, 54, 55, 69, 70, 78, 85, 88, 92, 121, 141, 146, 154, 161, 165, 273, 274, 275, 276, 292 Nightingale, Parthenope Lady Verney 10, 16, 19, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 31, 32, 34, 46, 50, 51, 52, 54, 62, 69, 72, 85, 86, 88, 90, 106, 121, 134, 141, 146, 154, 165, 170, 248, 257, 273, 276, 277, 278, 300 Nightingale, Peter 12, 13 Nightingale, William Edward 10, 12, 13, 15, 16, 17, 18, 19, 29, 31, 32, 35, 54, 55, 62, 65, 66, 85, 88, 90, 94, 107, 141, 152, 170, 180, 273, 274, 276, 292 Nikolaus I., Zar 97, 98 O’Malley, Ida 71, 298 Osburn, Lucy 265, 266 Osiris 74 Otto I., König von Griechenland 77 Palmerston, Viscount Temple, Henry John 18, 48, 127, 156, 208 Panmure, Baron Maule, Fox 127, 136, 146, 147, 148, 149, 150, 155 Pasteur, Louis 114, 191 Pickering, George 160 Pius IX., Papst 60, 65, 66, 68, 69 Platon 30, 77, 169, 178, 179, 182, 183, 276 Poovey, Mary 174 Prießnitz, Vincenz 70, 159 Pringle, Angélique 280, 291 Quetelet, Adolphe 172, 173, 174

Raffael 79 Raglan, Baron Somerset, Fitzroy James Henry 99, 106, 133 Ranke, Leopold von 53 Rantzau, Marianne von 81 Rappe, Emmy 254 Rathbone, William 207 Rawlinson, Robert 127, 196 Récamier, Jeanne Françoise Julie Adélaide 42 Reni, Guido 67, 79 Ripon, Marquess Robinson, George Frederick Samuel 168, 225, 226 Robinson, Robert, Botenjunge 139 Rousseau, Jean-Jacques 24 Royle, Trevor 130 Russell, William Howard 103, 126 Scharlieb, Mary 224, 225 Schleiermacher, Friedrich 53 Schopenhauer, Arthur 53 Scott, Robert Falcon 287 Seacole, Mary 129, 130, 131, 137, 302, 303, 304 Semmelweis, Ignaz 211, 212 Shaftesbury, Earl of Ashley Cooper, Anthony 49, 56, 70, 93 Shakespeare, William 171, 300 Shore, Familie 13, 19 Shore, Mary.  Siehe Smith, Mary;  Smith, Mary, Tante Mai Shore, Mary, geb. Evans, Großmutter väterlicherseits 23, 54, 93 Shore, William.  Siehe Nightingale, William Edward Shore, William, Großvater väterlicherseits 16 Showalter, Elaine 76 Sieveking, Amalie 81 Simon, John 164 Sismondi, Jean Charles Léonard Simonde de 41, 42 Small, Hugh 129, 130, 160, 302 Smith, Andrew 147, 152 Smith, Benjamin 243 Smith, Familie 13, 19 Smith, Frances.  Siehe Nightingale, Frances

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Register Smith, Frances, geb. Coape, Großmutter mütterlicherseits 14 Smith, Francis B., Historiker 129, 130, 160, 270, 301, 303 Smith, Julia 15, 23, 43 Smith, Martha, gen. Patty 15, 23, 43, 48 Smith, Mary 12, 13, 22, 27, 28, 29, 36, 47, 85, 89, 92, 133, 136, 138, 155, 165, 166, 168, 170, 180, 242, 243, 274, 278 Smith, Samuel 13, 22, 107, 171 Smith, William 22, 29, 34, 54, 274, 276, 278 Smith, William, Großvater mütterlicherseits 13, 14, 15, 35 Snow, John 95, 115 Somerville, Mary 48 Southern, James 297 Southwood Smith, Thomas 50 Soyer, Alexis 117, 132 Spinoza, Baruch de 89 Staël, Madame de Necker, Germaine 43 Stanley, Edward Henry 217 Stanley, Mary 68, 88, 106, 123, 124, 125, 129, 132, 175 Stanmore, Baron Hamilton-Gordon, Arthur Charles 296 Ste. Colombe, Laure de 68 Stewart, Jane Shaw 157 Still, Alicia Lloyd 300 Storks, Harry, 134, 148 Strachey, Lytton 8, 188, 297, 298, 299, 300 Strachey, Ray 297, 298 Stratford de Redcliffe, Eliza Charlotte, Viscountess 116, 125 Stratford de Redcliffe, Viscount Stratford, Canning 106, 116, 125, 152 Summers, Anne 132 Sutherland, John 127, 146, 147, 149, 150, 155, 166, 167, 191, 192, 196, 198, 217, 238, 278

Sutherland, Sarah 149 Swaby, Rachel 9 Taylor Mill, Harriet 240 Teresa von Ávila 77, 188, 275 Thorne, May 251 Torrance, Elizabeth 254 Tulloch, Alexander 146 Twining, Louisa 206 Verney, Familie 165, 170, 257, 277, 278, 279, 286 Verney, Margaret Maria 277 Verney, Maude 277, 286 Verney, Sir Frederick 286 Verney, Sir Harry 165, 239, 277, 278, 287 Victoria, Königin 45, 46, 118, 146, 147, 196, 214, 215, 218, 224, 226, 250, 266, 277, 287, 289, 292, 298, 300 Victoria, preußische Kronprinzessin 196, 211, 266, 267 Virchow, Rudolf 196, 266, 267 Ward, Frances 175 Wardroper, Sarah 201, 202, 204, 254, 255, 258, 280 Webb, Val 161, 183 Wellington, Duke of Wellesley, Arthur 300 Wesley, John 36 Whitfield, Richard 202, 204 Wichern, Johann Hinrich 81 Wilhelm II., Kaiser 289 Williams, Rachel 280 Wollstonecraft, Mary 15 Woodham-Smith, Cecil 298, 299, 301 Youngkin, Molly 67, 75 Zaleznik, Abraham 174, 175, 176

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