Judentum 9783825240721, 382524072X

Glaube, Geschichte und Praxis sind die drei Hauptpfeiler der jüdischen Religion, die Johann Maier in seiner ausführliche

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Table of contents :
Judentum
Impressum
Inhalt
Vorwort
Einführung
Teil I. Definitionen
1. Selbstbezeichnungen und Bezeichnungen
2. Zugehörigkeitskriterien
Teil II. Die geglaubte Geschichte in der jüdischen Religion
Vorbemerkung
1. Die Verankerung in Schöpfungs- und Urgeschichte
1.1 Die Schöpfungsgeschichten
1.2 Die Sprache der Schöpfung
1.3 Die Siebentagewoche und der Sabbat
1.4 Schöpfungsplan und Naturordnung
1.5 Kalender und Zeitrechnung
1.6 ’ᵃlohîm und JHWH
1.7 Die Erschaffung des Menschen, die Gottebenbildlichkeit und die Natur des Menschengeschlechts
1.8 Paradies und Sündenfall
1.9 Das Wissen der Vorzeit
2. Neubeginn und erneute qualitative Differenzierung
2.1 Der Noahbund und die sieben noachidischen Gebote
2.2 Der ethnogeographische Raum der Heilsgeschichte
3. Bund und Erwählung
3.1 Der Abrahamsbund. Die Erwählung und das Bundeszeichen der Beschneidung
3.2 Abrahams Söhne und Enkel
4. Das Exil im „Sklavenhaus“ Ägypten und der Auszug unter Mose (Ex 1–15)
5. Offenbarung bzw. Bundesschluss und Kultstiftung am Sinai (Ex 19ff)
5.1 Die Offenbarung durch Mose
5.2 Die Kultstiftung
5.2.1 Kultstätte und erwählter Kultort
5.2.2 Heiligkeit, rituelle Reinheit und Unreinheit
5.2.3 Kultfähigkeit und Kultgemeinschaft
6. Der Wüstenzug
7. Die Landnahme und das Land Israel
8. Von der Landnahme bis zur Zerstörung des Ersten Tempels
8.1 Die Richterzeit
8.2 Saul und David: Der ungehorsame und der gehorsame Gesalbte des HERRN
8.3 König Salomo und der Erste Tempel
8.4 Die Könige von Juda und Israel
9. Das babylonische Exil und die Heimkehr
10. Die Zeit des Zweiten Tempels
10.1 Babylonier, Perser und Griechen
10.2 Unter Jawan – Griechenland. Die Religionsverfolgung unter Antiochus IV. und die Rettung durch die Makkabäer
10.3 Die vier letzten Weltreiche
10.4 Edom/Esau: Rom als viertes Weltreich Daniels
11. Die messianische Herrschaft
12. Die Kommende Welt – der transzendente Heilszustand
Teil III. Jüdische Religion in der erlebten Geschichte
1. Von den Anfängen bis zur Diadochenherrschaft (323 v.Chr.)
Vorbemerkung
1.1 Der regionale und zeitliche Rahmen
1.2 Die Ausbildung der politischen und kultischen Institutionen
1.3 Vom Exil zur Restauration und zur hierokratischen Verfassungsform
1.4 Die Institution der Torah
1.5 Die Sichtung und chronographische Einbindung der Traditionen und Programme
2. Von der Diadochenherrschaft bis zur Zerstörung des Zweiten Tempels
2.1 Einleitung
2.1.1 Neutestamentliche Zeitgeschichte und Hellenismus
2.1.2 Die literarischen Quellen
2.2 Unter ptolemäischer Herrschaft (305–200/198 v.Chr.)
2.3 Unter seleukidischer Herrschaft: Triumph und Zeit des Frevels
2.4 Hasmonäerherrschaft, Parteienstreit und Übergang zur Herrschaft Roms
2.5 Torah und Pentateuch
2.6 Die frühjüdischen Richtungen
2.6.1 Allgemeines
2.6.2 Essäer/Essener und die Gemeinschaften hinter den Qumrantexten
2.6.3 Sadduzäer
2.6.4 Pharisäer
2.6.5 Zelotismus
2.6.6 Taufsekten
2.6.7 Hellenistisches Judentum
2.6.8 Judenchristen
3. Die formative Periode des rabbinischen Judentums (70 n.Chr. bis zur arabischen Eroberung)
3.1 Traditionsbildung und literarisches Erbe
3.2 Die tannaitische Zeit (70–ca. 220 n.Chr.)
3.3 Die amoräische Zeit
4. Von der arabischen Expansion bis zur Vertreibung aus Spanien (632–1492)
4.1 Die neuen Verhältnisse
4.2 Religiöse Literatur
4.3 Die Halakah
4.4 Die Herausforderung durch das Christentum
4.5 Die Herausforderung durch den Islam
4.6 Die Herausforderung durch die karäische Bewegung
4.7 Profane Bildung und Tradition, Vernunfterkenntnis und Offenbarungsglaube
4.8 Kabbalah
5. Jüdische Religion von 1492 bis zur Aufklärung
5.1 Die neue Situation
5.2 Die religiöse Literatur
5.3 Das zweigeteilte sefardische Judentum
5.4 Kabbalah und Endzeitstimmung
5.5 Der osteuropäische Chasidismus
6. Jüdische Religion seit der Aufklärung
Vorbemerkung
6.1 Die Aufklärung im aschkenasischen Judentum
6.2 Erste Reformansätze und Wissenschaft des Judentums
6.3 Reformjudentum
6.4 Konservatives Judentum
6.5 Reconstructionism
6.6 Orthodoxie und osteuropäischer Chasidismus
6.6.1 Allgemeines
6.6.2 Aschkenasisch-osteuropäische Orthodoxie
6.6.3 Aschkenasisch-westliche Orthodoxie
6.6.4 Zionistische Orthodoxie
6.6.5 Sefardische und orientalische Orthodoxie
6.6.6 Chasidismus
6.6.7 Fundamentalismus und Extremismus
7. Zionismus und jüdische Religion
Vorbemerkung
7.1. Jüdische Religion und Mentalität unter dem unmittelbaren Eindruck der Šô´ah
7.2 Jüdische Religion im jüdischen Staat
7.3 Jüdische Religion und Staat des jüdischen Volkes: Rechtszionistische Geschichtsrevision und Holocaust-Ideologie
Teil IV. Praktizierte Religion
1. Einführung
2. Heiligung des Lebens
3. Häuslicher Bereich und Familienleben
4. Gebetsleben und Lernen
Vorbemerkung
4.1 Benediktionen
4.2 Das Pflichtgebet Šᵉmaˋ Jiśraˊel (Höre, Israel)
4.3 Das Pflichtgebet Šᵉmôneh-`eśräh (Achtzehngebet)
4.4 Das Qaddiš
4.5 Der synagogale Werktagsgottesdienst
4.6 Die Schriftlesung
5. Der Jahreszyklus
5.1 Allgemeines
5.2 Der Sabbat
5.3 Neumond
5.4 Der 1. Tišri: Roʼš ha-šanah – Neujahr
5.5 Die zehn Bußtage
5.6 10. Tišri: Jôm kippûr/Jôm ha-kippûrîm – (Großer) Versöhnungstag
5.7 15–21. Tišri: Sûkkôt – Laubhüttenfest
5.8 Am 22./23. Tišri: Simhat Trah – Torahfreude-Fest
5.9 Der 25. Kislev: Das Chanukkah-Fest
5.10 Der 10. Tebet
5.11 Der 15. Šᵉbat: Neujahr der Bäume / T“W bi-sᵉbat
5.12 Der 13. Adar: Ta`anît `Ester – Estherfasten
5.13 Der 14. bzw. 15. Adar: Purimfest
5.14 14.–20. Nisan: Päsach/Matzot-Fest
5.15 Die Omer-Periode
5.16 Der 27. Nisan: Jom ha-soah – Holocaust – Gedenktag
5.17 Der 4.–5. `Ijjar: Jom ha-zikkaron – Gedächtnistag und Jom ha-`acmaut / Unabhängigkeitstag
5.18 Der 14. `Ijjar
5.19 Der 18. `Ijjar: La“G ba-`Omär
5.20 Der 28. ` Ijjar: Jom jeruslajim – Jerusalemstag
5.21 Sabuot (acärät) – Wochenfest/Versammlung
5.22 Der 17. Tammuz
5.23 Der 9. `Ab
5.24 Der 15. `Ab
6. Der Lebenszyklus
Vorbemerkung
6.1 Geburt und Beschneidung
6.2 Pidjôn ha-ben – Auslösung des Sohnes
6.3 Kindheit
6.4 Bar micwah - Gebotspflichtiger
6.5 Hochzeit
6.6 Im Trauerfall
Literatur
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 9783825240721, 382524072X

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Johann Maier

Judentum Studium Religionen 2., durchgesehene Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

Dr. phil. Dr. theol. Johann Maier ist Professor em. für Judaistik an der Universität zu Köln. Habilitation 1964 in Wien, Privatdozent an der Freien Universität Berlin 1964–1966, ordentlicher Professor für Judaistik an der Universität zu Köln 1966–1995, Ehrendoktor der Würzburger Katholisch-Theologischen Fakultät. Johann Maier hat weltweit zahlreiche Veröffentlichungen zur jüdischen Geschichte und Religion vorgelegt. Er ist der maßgebende deutsche Übersetzer der Qumran-Schriftrollen und gilt weltweit als herausragender Kenner aller Probleme, die mit dem Schrifttum in Qumran in Verbindung stehen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

' 2013, 2007 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Satz: h Hubert & Co, Göttingen Druck und Bindung: CPI-Ebner & Spiegel, Ulm UTB-Band-Nr. 2886 ISBN 978-3-8252-4072-1 (UTB-Bestellnummer)

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Teil I. Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1. Selbstbezeichnungen und Bezeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . 18 2. Zugehörigkeitskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Teil II. Die geglaubte Geschichte in der jüdischen Religion

21

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1. Die Verankerung in Schöpfungs- und Urgeschichte . . . . . . . 1.1 Die Schöpfungsgeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die Sprache der Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Die Siebentagewoche und der Sabbat . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Schöpfungsplan und Naturordnung . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Kalender und Zeitrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 `älohîm und JHWH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7 Die Erschaffung des Menschen, die Gottebenbildlichkeit und die Natur des Menschengeschlechts . . . . . . . . 1.8 Paradies und Sündenfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.9 Das Wissen der Vorzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22 22 22 24 24 26 28 29 31 33

2. Neubeginn und erneute qualitative Differenzierung . . . . . . 34 2.1 Der Noahbund und die sieben noachidischen Gebote 34

6

Inhalt

2.2 Der ethnogeographische Raum der Heilsgeschichte . . 37 3. Bund und Erwählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3.1 Der Abrahamsbund. Die Erwählung und das Bundeszeichen der Beschneidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3.2 Abrahams Söhne und Enkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 4. Das Exil im „Sklavenhaus“ Ägypten und der Auszug unter Mose (Ex 1–15) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 5. Offenbarung bzw. Bundesschluss und Kultstiftung am Sinai (Ex 19 ff) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die Offenbarung durch Mose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die Kultstiftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Kultstätte und erwählter Kultort . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Heiligkeit, rituelle Reinheit und Unreinheit . . . . 5.2.3 Kultfähigkeit und Kultgemeinschaft . . . . . . . . . . .

43 43 46 46 46 47

6. Der Wüstenzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 7. Die Landnahme und das Land Israel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 8. Von der Landnahme bis zur Zerstörung des Ersten Tempels 8.1 Die Richterzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Saul und David: Der ungehorsame und der gehorsame Gesalbte des HERRN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 König Salomo und der Erste Tempel . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Die Könige von Juda und Israel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51 51 52 54 55

9. Das babylonische Exil und die Heimkehr . . . . . . . . . . . . . . . . 56 10. Die Zeit des Zweiten Tempels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Babylonier, Perser und Griechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Unter Jawan – Griechenland. Die Religionsverfolgung unter Antiochus IV. und die Rettung durch die Makkabäer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Die vier letzten Weltreiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Edom/Esau: Rom als viertes Weltreich Daniels . . . . . . .

57 57

58 59 59

11. Die messianische Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 12. Die Kommende Welt – der transzendente Heilszustand . . . 62

Inhalt

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Teil III. Jüdische Religion in der erlebten Geschichte . . . . . 63

1. Von den Anfängen bis zur Diadochenherrschaft (323 v. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Der regionale und zeitliche Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die Ausbildung der politischen und kultischen Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Vom Exil zur Restauration und zur hierokratischen Verfassungsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Die Institution der Torah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Die Sichtung und chronographische Einbindung der Traditionen und Programme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63 63 64 65 71 75 78

2. Von der Diadochenherrschaft bis zur Zerstörung des Zweiten Tempels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2.1.1 Neutestamentliche Zeitgeschichte und Hellenismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2.1.2 Die literarischen Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 2.2 Unter ptolemäischer Herrschaft (305–200/198 v. Chr.) 85 2.3 Unter seleukidischer Herrschaft: Triumph und Zeit des Frevels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 2.4 Hasmonäerherrschaft, Parteienstreit und Übergang zur Herrschaft Roms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 2.5 Torah und Pentateuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 2.6 Die frühjüdischen Richtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 2.6.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 2.6.2 Essäer/Essener und die Gemeinschaften hinter den Qumrantexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 2.6.3 Sadduzäer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 2.6.4 Pharisäer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 2.6.5 Zelotismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 2.6.6 Taufsekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 2.6.7 Hellenistisches Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 2.6.8 Judenchristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

8

Inhalt

3. Die formative Periode des rabbinischen Judentums (70 n. Chr. bis zur arabischen Eroberung) . . . . . . . . . . . . . . . 104 3.1 Traditionsbildung und literarisches Erbe . . . . . . . . . . . . 104 3.2 Die tannaitische Zeit (70–ca. 220 n. Chr.) . . . . . . . . . . . 107 3.3 Die amoräische Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 4. Von der arabischen Expansion bis zur Vertreibung aus Spanien (632–1492) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 4.1 Die neuen Verhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 4.2 Religiöse Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 4.3 Die Halakah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 4.4 Die Herausforderung durch das Christentum . . . . . . . 121 4.5 Die Herausforderung durch den Islam . . . . . . . . . . . . . . 124 4.6 Die Herausforderung durch die karäische Bewegung . 126 4.7 Profane Bildung und Tradition, Vernunfterkenntnis und Offenbarungsglaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 4.8 Kabbalah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 5. Jüdische Religion von 1492 bis zur Aufklärung . . . . . . . . . . . 136 5.1 Die neue Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 5.2 Die religiöse Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 5.3 Das zweigeteilte sefardische Judentum . . . . . . . . . . . . . . 141 5.4 Kabbalah und Endzeitstimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 5.5 Der osteuropäische Chasidismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 6. Jüdische Religion seit der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 6.1 Die Aufklärung im aschkenasischen Judentum . . . . . . . 149 6.2 Erste Reformansätze und Wissenschaft des Judentums . 154 6.3 Reformjudentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 6.4 Konservatives Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 6.5 Reconstructionism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 6.6 Orthodoxie und osteuropäischer Chasidismus . . . . . . . 165 6.6.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 6.6.2 Aschkenasisch-osteuropäische Orthodoxie . . . . . 167 6.6.3 Aschkenasisch-westliche Orthodoxie . . . . . . . . . . 168 6.6.4 Zionistische Orthodoxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 6.6.5 Sefardische und orientalische Orthodoxie . . . . . 172

Inhalt

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6.6.6 Chasidismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 6.6.7 Fundamentalismus und Extremismus . . . . . . . . . 175 7. Zionismus und jüdische Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 7.1. Jüdische Religion und Mentalität unter dem unmittelbaren Eindruck der Šô`ah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 7.2 Jüdische Religion im jüdischen Staat . . . . . . . . . . . . . . . 179 7.3 Jüdische Religion und Staat des jüdischen Volkes : Rechtszionistische Geschichtsrevision und HolocaustIdeologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Teil IV. Praktizierte Religion

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 2. Heiligung des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 3. Häuslicher Bereich und Familienleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 4. Gebetsleben und Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 4.1 Benediktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 ´ `el (Höre, Israel) . . . . . . . . 198 4.2 Das Pflichtgebet Šema` Jisra ´ 4.3 Das Pflichtgebet Šemôneh-`esräh (Achtzehngebet) . . . 199 4.4 Das Qaddiš . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 4.5 Der synagogale Werktagsgottesdienst . . . . . . . . . . . . . . . 200 4.6 Die Schriftlesung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 5. Der Jahreszyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 5.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 5.2 Der Sabbat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 5.3 Neumond . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 5.4 Der 1. Tišri: Ro`š ha-šanah – Neujahr . . . . . . . . . . . . . . 207 5.5 Die zehn Bußtage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 5.6 10. Tišri: Jôm kippûr/Jôm ha-kippûrîm – (Großer) Versöhnungstag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 5.7 15–21. Tišri: Sûkkôt – Laubhüttenfest . . . . . . . . . . . . . . 209 ´ hat Tôrah – Torahfreude-Fest . . . 210 5.8 Am 22./23. Tišri: Sim ¯

10

Inhalt

5.9 5.10 5.11 5.12 5.13 5.14 5.15 5.16 5.17 5.18 5.19 5.20 5.21 5.22 5.23 5.24

Der 25. Kislev: Das Chanukkah-Fest . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Der 10. Tebet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Der 15. Šebat: Neujahr der Bäume / T“W bi-šebat¸ . . . . 211 Der 13. Adar: Ta`anît `Ester – Estherfasten . . . . . . . . . . 212 Der 14. bzw. 15. Adar: Purimfest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 14.–20. Nisan: Päsach/Matzot-Fest . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Die Omer-Periode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Der 27. Nisan: Jôm ha-šô`ah – Holocaust – Gedenktag 214 Der 4.–5. `Ijjar: Jôm ha-zikkarôn – Gedächtnistag und Jôm ha-`açma`ût / Unabhängigkeitstag . . . . . . . . . . . . . 214 Der 14. `Ijjar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Der 18. `Ijjar: La“G ba-`Omär . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Der 28. `Ijjar: Jôm Jerûšalajim – Jerusalemstag . . . . . . . 216 Šabû`ôt/`açärät – Wochenfest/Versammlung . . . . . . . . 216 Der 17. Tammuz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Der 9. `Ab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Der 15. `Ab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

6. Der Lebenszyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 6.1 Geburt und Beschneidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 6.2 Pidjôn ha-ben – Auslösung des Sohnes . . . . . . . . . . . . . 219 6.3 Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 6.4 Bar miçwah - Gebotspflichtiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 6.5 Hochzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 6.6 Im Trauerfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224

Vorwort

Das Judentum ist heute eine pluralistische Religion, gemeinsam ist aber allen Richtungen die lange Geschichte und die damit verbundenen Glaubensvorstellungen und Erfahrungen, auch wenn sie unterschiedlich beurteilt und rezipiert werden. Noch folgenreicher sind die Differenzen in der religiösen Praxis, die bis zur Aufklärung trotz Varianten eine massive Basis für die jüdische Existenz in der Zerstreuung dargestellt hatte. Die vorgelegte Beschreibung sucht dem komplexen Befund trotz des eng bemessenen Raumes gerecht zu werden und bei allen Unterschieden gerade auch die Gemeinsamkeiten aufzuzeigen. Wie schon oft, möchte ich auch diesmal meiner lieben Frau für die Hilfe bei den Korrekturen herzlich danken. Dem Verlag und dem Herausgeber danke ich für das Interesse und die verständnisvolle Geduld. Mittenwald, am 24. Jänner 2006

Johann Maier

Einführung

An den Universitäten war die Erforschung der Antike und des Orients bereits etabliert, als der Gedanke zur Diskussion gestellt wurde, das Judentum gesondert zum Gegenstand einer akademischen Disziplin zu machen. Die Voraussetzungen dafür waren wissenschaftsgeschichtlich so ungünstig nicht, denn Reformation und Humanismus hatten eine intensive, auf die Kenntnis der biblischen Sprachen gestützte Beschäftigung mit der jüdischen Tradition bewirkt. Darüber hinaus blieben jedoch christliche polemische Werke für lange Zeit die einzigen Informationsquellen über jüdische Religion.1 Aufmerksamkeit schenkte man am ehesten dem biblisch-jüdischen Recht, der Kabbalah und dem Brauchtum.2 Rühmliche Ausnahmen waren die Werke von Autoren wie Joh. F. Buddaeus (1667–1729)3 und Jacques Basagne sieur de Beauval (1653–1723),4 die sich durch Sachlichkeit und Fairness aus-

1 Bis ins 20. Jh. nachgewirkt hat EISENMENGER, JOH.A. (1654–1704), Entdecktes Judentum, gedruckt in Frankfurt a. M. 1700; Königsberg 1711; Frankfurt a. M. 1741. 2 SIMON, R., Comparaison des cérémonies des Juifs et de la discipline de l’Église, Paris 1681/Den Haag 1682; DA MODENA, J. Cérémonies et coûtumes qui observent aujourd’hui parmi les Juifs, Paris 1674; Neudruck Paris 1929; dazu kontroverstheologisch MEDICI, P., Riti e costumi degli ebrei confutati, Madrid 1737. SCHUDT, J. J., Jüdische Merkwürdigkeiten, 4 Bd., 1714; Nachdruck Berlin 1922; KIRCHNER, P. CHR., Jüdisches Ceremoniel, Nürnberg 1734, Nachdruck Leipzig 1998. 3 Introductio ad Historiam Philosophiae Ebraeorum, Halle 1701; 1720 Nachdruck Hildesheim 2004. 4 L’histoire et la religion des Juifs, depuis Jésus-Christ jusqu’à présent, Rotterdam 1706/7; 1710 durch ELLIS DU PINT unautorisiert in Paris herausgebracht, von

14

Einführung

zeichnen. Im 19. Jh. wurde das Judentum vorrangig ein Thema der neutestamentlichen Zeitgeschichte. Auf diesem Gebiet wurden auch große Standardwerke geschaffen, aber die Geschichte der nachtalmudischen Religion blieb bis auf Ausnahmen (wie Franz Delitzsch) weitgehend unbekannt. Auf der jüdischen Seite war im 19. Jh. mit der Wissenschaft des Judentums (eine neutralere Formulierung lautet: Wissenschaft vom Judentum ) und durch die staatlich forcierte Modernisierung der Rabbinerausbildung ein wissenschaftliches Potential herangewachsen, das sehr wohl in der Lage war, die Lücke in der Kenntnis des mittelalterlichen und neuzeitlichen Judentums zu füllen, doch innerhalb der Universitäten bot sich dazu keine Möglichkeit. Zunächst war man bestrebt, die Quellen zu sichten und bibliographisch zu erschließen. So kamen erste Übersichtdarstellungen der hebräischen und darüber hinaus der jüdischen Literaturgeschichte zustande, wobei Moritz Steinschneider bahnbrechend wirkte, und Gustav Karpeles das erste Standardwerk auf diesem Gebiet schuf.5 Eine monumentalere Präsentation, eine Gemeinschaftsarbeit mehrerer Gelehrter, aber mit zahlreichen Übersetzungen, haben danach Jacob Winter und August Wünsche herausgegeben.6 In den 30er Jahren des 20. Jh. publizierte Meir Waxman ein Werk, das in diesem Umfang bis heute unersetzt geblieben ist.7 Etwa zugleich begann Israel Zinberg eine zwar noch umfassendere, aber unvollendet gebliebene Darstellung in jiddischer Sprache.8 Sie wurde in Israel ins Hebräische übersetzt und ergänzt,9 und erschien schließlich in einer aktualisierten englischen Übersetzung.10 Für die erste Information liegen auch einige kleinere Überblicksdarstellungen vor.11

5 6 7 8 9 10 11

BASNAGE DE BEAUVAL, J. mit der Ausgabe Rotterdam 1711 gekontert; zuletzt: La Haye 1716. KARPELES, G., Geschichte der jüdischen Literatur, 2 Bd., Berlin 21909 (1886); Neudruck Hildesheim 1963. WINTER, J./WÜNSCHE, A., Die jüdische Literatur seit dem Abschluß des Kanons, 3 Bd., Trier 1894–96; Nachdruck Hildesheim 1965. WAXMAN, M., A History of Jewish Literature, 4 (5) Bd., New York 1930/36; 2 1960. ZINBERG, I., Di geshikhte fun der literatur bej Jiden, 8 Bd., Wilna 1929/37. ZINBERG, I., Tôledôt sifrût Jis´ra`el, Tel Aviv 1958/60. ZINBERG I., A History of Jewish Literature, 12 Bd., New York 1968/1972. HALPER, B., Postbiblical Jewish Literature, Philadelphia 1921; FEUER, L. I., Jewish

Einführung

15

Im Gegenzug zur Behauptung eines geschichtslosen, versteinerten Judentums wurden nun der Reichtum und die Vielfalt der jüdischen Geschichte und Kultur dokumentiert. Die religiöse Vorstellungswelt des Judentums hingegen behandelte man mit einer gewissen Zurückhaltung, denn in der Konfrontation mit dem Christentum hatte man stets betont, dass das Judentum keine Dogmatik kennt. Meist zog man es vor, religiöse Vorstellungen unter dem Titel Religionsphilosophie oder Philosophie zu abzuhandeln, doch sah man sich letztlich genötigt, das Judentum für sich selbst und der Umwelt gegenüber auf der Basis der Aufklärung plausibel darzustellen, vor allem im Rahmen der geforderten modernen Religionslehrbücher, und auf biblischer Grundlage. Eingehendere Darstellungen spiegeln die Sicht der einzelnen jüdischen Denominationen, der Orthodoxie , des Reformjudentums, und des Konservativen Judentums. Ebenfalls durch die christlich-jüdische Auseinandersetzung und überdies durch die Konfrontation mit antisemitischen Vorwürfen geprägt, wurde die jüdische Ethik dargestellt,12 am gründlichsten durch M. Lazarus.13 Die Geschichte der Religion kam am ehesten im Rahmen großer Darstellungen der jüdischen Geschichte berücksichtigt. Den ersten Versuch unternahm der böhmisch-jüdische Aufklärer und Pädagoge Peter Beer,14 gefolgt vom Historiker Isaak Markus Jost (1793–1860).15 Beider Werke waren bald überholt, denn der konservative, aber rationalistische Historiker Heinrich Graetz (1817–1891) beherrschte lange Zeit die Szene und ließ an mystisch-esoterischen Traditionen kein gutes Haar.16 Für Simon Dubnow (1880–1941) galt das osteuropäische

12

13 14 15 16

Literature since the Bible, 2 Bd., Cincinnati 91963; STEMBERGER, G., Geschichte der jüdischen Literatur, München 1977. Vgl. GRÜNEBAUM, E., Die Sittenlehre des Judenthums andern Bekenntnissen gegenüber, Mannheim 1868 (Straßburg 21878); WEILL, A., La morale du Judaïsme, 3 Bd., Paris 1875/1877 (1814–1889, orthod.); KATZ, A., Der wahre Talmud-Jude, Berlin 41928 (1893). LAZARUS, M., Die Ethik des Judentums, 2 Bd., Frankfurt a. M. 1899 (51904)/ 1911; The Ethics of Judaism, 2 Bd., Philadelphia 1900. BEER, P., Geschichte, Lehren und Meinungen aller religiösen Sekten der Juden und der Geheimlehre der Kabbalah, 2 Bd., Brünn 1822/23. JOST, I. M., Geschichte des Judenthums und seiner Sekten, Leipzig 1857/59. GRAETZ, H., Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten, 11 Bd. (in 13 Teilen), Berlin 1890–1909; Darmstadt 1997.

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Einführung

Judentum als Inbegriff der „Jiddischkeit“.17 Benzion Dinur schrieb hingegen ganz aus zionistischer Perspektive,18 eine Tendenz, die auch ein verbreitetes israelisches Gemeinschaftswerk kennzeichnet. Eine ausgewogenere Darstellung schuf Salo W. Baron (1895–1989), zurzeit das Standardwerk schlechthin.19 Gegen Ende des 19. Jh. und Anfang des 20. Jh. hatten die Wissenschaft des Judentums und die moderne Rabbinerausbildung in Europa und in Übersee (USA) ein hohes wissenschaftliches Niveau erreicht, und die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin wollte zudem trotz deutlicher Nähe zum Reformjudentum religiös möglichst neutral sein. Gleichwohl blieben Versuche zur Integration dieser Wissenschaft als einer akademischen Disziplin innerhalb philosophischer Fakultäten ergebnislos. Seit der NS-Herrschaft befinden sich die großen Zentren jüdischer Bildung im Staat Israel und in den USA. Die rabbinischen Bildungseinrichtungen in England und Frankreich haben ihre Tätigkeit allerdings kontinuierlich fortgesetzt, auch in Deutschland gibt es wieder Einrichtungen jüdischer Bildung, und derzeit setzt in Osteuropa eine Welle von Neugründungen ein. In fast allen Ländern sind inzwischen darüber hinaus an Universitäten Lehrstühle und Institute eingerichtet worden, die Judaistik bzw. Jüdische Studien als eine Disziplin unter den anderen vertreten und in die religiös unabhängige akademische Ausbildung einbringen.20 Der moderne Wissensstand hat sich mehrmals in imponierenden Nachschlagewerken niedergeschlagen, die in manchen Teilen noch heute wertvolle Informationen bieten, am umfangreichsten die neue Auflage der Encyclopedia Judaica; handlichere neuere Publikationen vermitteln eine raschere, vorläufige Orientierung (s. Literatur). Einführungen in die jüdische Religion sind zurzeit mehrere im 17 DUBNOW, S., Weltgeschichte des jüdischen Volkes, 10 Bd., Berlin 1928–1930. 18 DINUR, B.-Z., Tôledôt Jis´ra`el, 10 Bd., Jerusalem 1961/72. Ebenfalls zionistisch ausgerichtet: BEN SASSON, H. H. (Hg.), Geschichte des jüdischen Volkes., 3 Bd., München 21992. 19 BARON, S. W., A Social and Religious History of the Jews, 18 Bd., New York 2 1952–1983. 20 STEMBERGER, G., Einführung in die Judaistik, München 2002. Einen weltweiten Überblick vermittelt das Academic Jewish Studies Internet Directory, http:// www.jewish-studies.com/.

Einführung

17

Handel, manche von ihnen sind inzwischen auch sehr verbreitet,21 sollten aber wegen der unterschiedlichen innerjüdischen Gesichtswinkel möglichst vergleichend gelesen werden. Sie ersetzen nicht eine Darstellung der Geschichte der jüdischen Religion. Andere neuere, weniger populäre Darstellungen führen in dieser Hinsicht weiter (s. Literatur). Ein Überblick in konziser Form war das Ziel der Geschichte der jüdischen Religion von J. Maier (Berlin 1972), deren zweite, überarbeitete Auflage (Freiburg i. Br. 1992) im Vergleich zur ersten den enormen Fortschritt des Wissensstandes nach zwei Jahrzehnten vor Augen führt. Sie wird für die folgende Beschreibung der jüdischen Religion als Leitfaden vorausgesetzt.

21 S. Literatur; weitere Angaben im Teil IV. Praktische Religion.

Teil I. Definitionen

1.

Selbstbezeichnungen und Bezeichnungen

Israel und Israeliten bzw. Söhne Israels sind die traditionellen, in religiösen Texten vorherrschenden Selbstbezeichnungen für eine sowohl ethnische wie religiöse Einheit, die man demographisch-statistisch Judenheit (vgl. englisch jewry ) und als Religion Judentum (vgl. englisch judaism ) nennen kann. Für diese Gesamtheit gibt es im Hebräischen seit der Spätantike den übergreifenden Begriff kenäsät Ji´sra`el (Versammlung Israels), literarisch-dramatisch zu einer weiblichen Figur personifiziert, die vor Gott für Israel eintritt, während ansonsten der Erzengel Michael („Wer ist wie Gott?“) Israel vor Gott und gegenüber den anderen (siebzig) Völkerengeln vertritt. Die Bezeichnung Synagoge als Gegenstück zu Kirche entspricht christlichem Sprachgebrauch. Juden/Judäer nannte man ursprünglich Bewohner das Landes Juda/ Judäa, nach dem babylonischen Exil (586–538 v. Chr.) immer öfter die Anhänger jener Richtung, die sich als Heimkehrergemeinschaft gegenüber anderen Israeliten abgrenzten. Schließlich wurde diese Bezeichnung – vor allem unter Nichtjuden – anstelle von Israeliten verwendet. Das griechische Wort judaismos bezeichnet hingegen vorrangig die Religion Israels. Hebräer deutet auf eine ethnische und sprachliche Gemeinsamkeit, und manchmal verweist es einfach auf die biblischen Ursprünge. In der Zeit der Aufklärung und der Emanzipation hat man die Bezeichnung Jude wegen ihrer Verwendung als Schimpfwort weithin vermieden und es wurden Selbstbezeichnungen gewählt, die den Akzent auf die biblischen Grundlagen rücken sollten, nämlich: hebräisch, israelitisch und mosaisch, und diese begegnen auch im staat-

Zugehörigkeitskriterien

19

lichen Sprachgebrauch. Heute sind Jude, Judentum und jüdisch wieder ohne negative Beiklänge allgemein üblich.

2.

Zugehörigkeitskriterien

Die Zugehörigkeit zu Israel wird in erster Linie abstammungsmäßig definiert, und zwar (außer für den Stamm Levi) von der mütterlichen Seite her, was sich durch die moderne Genforschung als objektiv begründet erwiesen hat.1 Nach jüdischem Recht gilt als Jude, wer von einer jüdischen Mutter abstammt oder rite zum Judentum übergetreten ist. Dies wurde auch ins Personenstandsrecht des Staates Israel aufgenommen, mit der ausdrücklichen, ergänzenden Klarstellung: „und sich nicht zu einer anderen Religionsgemeinschaft bekennt“. Allerdings bereitet liberalen und v. a. säkularen Juden bzw. Israelis die Begrenzung der Religionsfreiheit Unbehagen, die durch die Bindung der Nationalität an die Religionszugehörigkeit vorgegeben ist. Einem jüdischen israelischen Staatsbürger wird nämlich im Reisepass unter Nationalität jüdisch eingetragen, doch wechselt er die Religion, verliert er die jüdische Nationalität. Zudem scheiden sich die Geister in Bezug auf die Bedeutung der Formulierung rite (also: ritualgerecht) übergetreten. Orthodoxe verlangen einen Übertritt nach orthodoxen Kriterien und auf Anerkennung durch ein orthodoxes Gericht, und da im Staat Israel das Judentum Staatsreligion ist und die Orthodoxie diesbezüglich ein Monopol hat, ergeben sich laufend Differenzen. Die Fronten haben sich zwar in den letzten Jahrzehnten etwas aufgeweicht, aber auch neue Hürden wurden errichtet, etwa wenn das Reformjudentum als Zugehörigkeitskriterium auch die Abstammung von einem jüdischen Vater anerkennt. Die Einheit und Besonderheit Israels unter den Völkern wird in der Tradition nicht nur abstammungsmäßig, sondern auch traditionsgeschichtlich und erwählungsgeschichtlich begründet: Von Adam über Seth, Henoch und den Noah-Sohn Sem führt eine Linie von Urahnen und Traditionsträgern zu Abraham, Isaak und Jakob/Israel. Die 12 Söhne Jakobs gelten als Ahnherren der 12 Stämme Israels; darunter gilt 1 Vgl. dazu KLEIMAN, Y., DNA and Tradition, Jerusalem 2004.

20

Teil I. Definitionen

Levi als Kultdiener-Stamm. Das ergibt eine dreigeteilte Rangfolge bzw. soziologische Makrostruktur: Priester (mit dem Hohepriester an der Spitze), Leviten (Kultdiener, Funktionäre in Verwaltung und Rechtswesen) und (normale) Israeliten bzw. Laien, eventuell mit einem König Israels an der Spitze. Mit der Tempelzerstörung im Jahr 70 n. Chr. verloren Priester und Leviten zwar ihre bis dahin dominante Position, die Voraussetzung einer (patrilinear!) abstammungsmäßig definierten Kultdienerschaft (Priester und Leviten) blieb aber in Geltung und bedingt gewisse Ehren-Vorrechte. Seither werden Sozialgefüge und Sozialprestige durch zwei Faktoren dominiert: die wirtschaftliche Elite, die in der Lage ist, den Bestand der Gruppe zu gewährleisten, und eine Gelehrtenschicht, deren Autorität die alte priesterliche Autorität und religiöse Kompetenz ersetzt.

Teil II. Die geglaubte Geschichte in der jüdischen Religion

Vorbemerkung Das Judentum gilt als geschichtsbewusste Religion mit der Vorstellung von einem linearen, zielgerichteten Geschichtslauf als Kennzeichen. Man hat oft versucht, Entsprechungen und Unterschiede zwischen griechisch-hellenistischem und biblisch-jüdischem Geschichts- und Zeitverständnis aufzuzeigen, und manchmal sogar Gegensätze postuliert.1 Wirklich eigentümlich ist Seite jedoch das Bemühen, die geglaubte Geschichte in einem universalgeschichtlichen Rahmen darzubieten, so dass der eigene Anspruch geschichtlich und sogar vorgeschichtlich begründet wird und die Realisierung dieses Anspruchs als Ziel aller Geschichte überhaupt erscheint. Die zielgerichtete Sicht schließt allerdings die Vorstellung von zyklischen Vorgängen keineswegs aus, und dazu trägt auch eine Neigung zu schematischen Periodisierungen bei. Alle religiösen Grundvorstellungen haben ihren eigentlichen Platz im Rahmen der geglaubten Geschichte,2 einige davon wurden infolge der Säkularisierung durch ideologisch motivierte teils ersetzt, teils durchsetzt,3 und die Vertreter solcher Geschichtsbilder übertragen gern den Autoritätsanspruch der Tradition auf die eigene Position. 1 So auch wieder STERN, S., Time and Process in Ancient Judaism, Oxford/Portland, OR 2003. 2 PATAI, R., Ethnohistory and Inner History: The Jewish Case, JQR 67 1976/7, 1– 15; KOCHAN, L., The Jew and his History, 1977; YERUSHALMI, Y. H., Zakhor: Jewish History and Jewish Memory, Seattle/London 1982. 3 OHANA, D./WISTRICH, R. S. (Hg.), Mîtûs we-zikkarôn, Tel Aviv 1996/7.

22

Teil II. Die geglaubte Geschichte in der jüdischen Religion

1.

Die Verankerung in Schöpfungs- und Urgeschichte

1.1

Die Schöpfungsgeschichten

Im Orient kannte man schon früh Überlieferungen bezüglich der Entstehung der Welt, der Bedrohung ihres Bestandes durch Chaosmächte, und der Entwicklung kulturell-zivilisatorischer Errungenschaften bis zur Katastrophe einer großen Flut. Was in der Umwelt im Rahmen der polytheistischen Götterwelt und auf der Basis mythischer Vorstellungen dargelegt wird, erscheint auf dem Boden der JHWH-Religion als Geschichte der Welt- und Menschenschöpfung durch einen Gott und als Urgeschichte der Menschheit.4 Aber das Interesse galt nicht spekulativen Weltentstehungserklärungen, sondern der Konstruktion eines nach Generationen bzw. Lebenszeitdaten geordneten Geschichtsverlaufs, der mit der Weltschöpfung (Gen 1–2) einsetzt, mit der Sintflut aber beinahe wieder endet, dann mit den Noahsöhnen Sem, Ham und Jafet neu beginnt, um diese universale Urgeschichte auf die eigene Gemeinschaft und den eigenen Kult hin zuzuspitzen. Die Urgeschichte der Menschheit dient als Vorspann zur Geschichte Israels.

1.2

Die Sprache der Schöpfung

Eine in der priesterlichen Bildungstradition ausgefeilte Darstellung (Gen 1,1–2,4) setzt eine Weltschöpfung durch Gottesworte voraus.5 Zehn Schöpfungsworte (ma`amarôt ) zählt man, und sie wurden in der weiteren Folge zu einem schöpfungstheologischen Hauptmotiv.6 Als 4 KEEL, O./SCHROER, S., Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext altorientalischer Religionen, Fribourg/Göttingen 2002; VAN KOOTEN, G. H. (Hg.), The Creation of Heaven and Earth: Re-interpretations of Genesis I in the Context of Judaism, Ancient Philosophy, Christianity, and Modern Physics, Themes in Biblical Narrative 8, Leiden 2005; NEUSNER, J., Judaism’s Story of Creation, Leiden 2000; GATTI, R., be-re’shit. Interpretazioni filosofiche della creazione nel Medioevo latino ed ebraico, Genf 2005. 5 LAU, D., Wie sprach Gott: „Es werde Licht“? Antike Vorstellungen von der Gottessprache, Lateres 1, Frankfurt a. M. 2003. 6 SAMUELSON, N. M., Judaism and the Doctrine of Creation, Cambridge 1994. Erst seit der späten Antike wurde ebenso wie im Christentum die Schöpfung aus dem Nichts postuliert; vgl. MAY, G., Schöpfung aus dem Nichts. Die Entstehung

Die Verankerung in Schöpfungs- und Urgeschichte

23

direkte Gottesrede gelten auch die Proklamation der Zehn Gebote (dibberôt ) am Sinai (Ex 20), und dreizehn Wirkungsweisen (middôt ) Gottes, die man aus Ex 34,6b–8 herausliest Von daher hat das Hebräische seinen Ruf als Sprache der Schöpfung erhalten. Bis zur Moderne herauf wurden (auch unter Christen) die anderen Sprachen in ihrem Verhältnis zum Hebräischen beurteilt und diesem als der Ursprache nachgeordnet.7 Das Hebräische blieb demgemäß auch die Sprache der religiösen Tradition, insbesondere der gesetzlichen. Die Rolle als Schöpfungssprache gilt auch für die Schrift. Die 22 Schriftzeichen (Konsonanten) des Hebräischen, die zugleich als Zahlzeichen dienen, wurden als Schöpfungspotenzen gedeutet, was eine reiche Buchstabenund Zahlensymbolik nach sich gezogen hat.8 Die 22 Konsonanten und die Zahlen 1–10 ergeben zusammen die 32 „Wege der Weisheit“, seit der Spätantike eine Grundlage für allerlei Spekulationen. Etwa die Gematrie, wobei der Zahlenwert von Buchstaben, Wörtern, Sätzen und ganzen Texteinheiten errechnet, daraus eine besondere Bedeutung erschlossen und mit der Zahlensymbolik verbunden wird. Solche Vorstellungen waren auch in der Umwelt gang und gäbe,9 das Besondere ihrer jüdischen Anwendung liegt im Bezug auf die Torah als Schöpfungsordnung. Und natürlich standen dabei Buchstaben und Zahlenwerte biblischer Gottesbezeichnungen im Zentrum des Interesses. Heute werden dafür (manchmal bis zum Exzess) die Möglichkeiten der EDV genutzt. Für Juden blieb das Hebräische folglich die eigentlich angemessene, eigene Sprache,10 andere Sprachen bezeichnete man gern als Fremdsprache (la`az ) oder als „ihre Sprache“.

7 8 9 10

der Lehre von der creatio ex nihilo, AKG 48, Berlin 1978. Der hebr. Ausdruck lautet (Schöpfung) ješ me-`ajin (Bestehendes aus Nichts). Neuplatonisch und kabbalistisch orientierte Denker des Mittelalters verstanden dies als Emanation aus dem Nichts als transzendenter Gottheit. COUDERT, A. P. (Hg.), Die Sprache Adams, Wolfenbütteler Forschungen 84, Wolfenbüttel 1999. HARALICK, R. M., The Inner Meaning of the Hebrew Letters, Northvale, NJ 1995; ISAACS, R. H., The Jewish Book of Numbers, Northvale, NJ 1996. ENDRES, F. C./SCHIMMEL, A., Das Mysterium der Zahl, Köln 1984; GLAZERSON, M., The Geometry of the Hebrew Alphabet, Jerusalem 2004. GRÖZINGER, K. E. (Hg.), Sprache und Identität im Judentum, Wiesbaden 1998.

24

Teil II. Die geglaubte Geschichte in der jüdischen Religion

1.3

Die Siebentagewoche und der Sabbat

Die Zahleneinheit Sieben wurde Grundlage für zahlreiche kosmologische und chronographische Ausführungen. Der Schöpfungsvorgang verteilt sich auf sechs Wochentage mit dem siebten Tag als Ruhetag als Abschluss. Im traditionellen liturgischen Jahreszyklus wird die Schöpfung mit dem Neujahrsfest verknüpft. 1. Tag Sonntag

Schçpfung von Himmel und Erde, Tohu-wa-Bohu, Urfinsternis, Urlicht, Trennung zwischen Licht und Finsternis

2. Tag Montag

Schçpfung des Firmaments und Trennung der Wasser darber und darunter

3. Tag Dienstag

Trennung zwischen Wasser und Festland, Erschaffung der Flora

4. Tag Mittwoch

Erschaffung der Gestirne, Beginn der Kalender- Zeitrechnung

5. Tag Donnerstag

Erschaffung der Meerestiere und Vçgel

6. Tag Freitag

Erschaffung der Landtiere und des Menschen

7. Tag Samstag

Sabbat = Ruhe(tag). Gedenken der Schçpfung, Vorgeschmack des endgltigen Heilszustandes

1.4

Schöpfungsplan und Naturordnung

Der erste Schöpfungstag impliziert als Tag 1 der Woche, dass davor Sabbat war, ein Ur-Weltensabbat. Man nahm daher später an, dass die Weltgeschichte nach 6 Zeiteinheiten (vor allem 6 Millennien) wieder auf einen Weltensabbat hinausläuft. Die Sabbatzyklen sind also nicht jenem Zeitlauf unterworfen, der mit der Erschaffung der Himmelskörper am 4. Schöpfungstag einsetzt, sie sind vorzeitlich und strukturieren die geschichtliche Zeit auf eine übergeschichtliche Weise, bringen Ewigkeit in die Zeit. Und da die Kultdienstordnung, der Wechsel der Dienstabteilungen, an die Sabbatzyklen gebunden war, gilt auch sie als ewige Ordnung. Symbolik und Festlichkeit der Sabbatfeier erhielten von daher ihre besondere Note (s. Reader, Nr. 2). Auch die Erwähnung

Die Verankerung in Schöpfungs- und Urgeschichte

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der Sabbatheiligung im Schöpfungsverlauf wurde als Hinweis darauf verstanden, dass die Sinai-Torah an sich vor- und überzeitlich ist, denn die Sabbatheiligung gilt als ja eines der Torahgebote vom Sinai und nur für Israel allein verbindlich. Folglich sprach man von der Torah als Schöpfungsplan, gottverfügter Naturordnung (s. Reader, Nr. 1 und 3), und das Bild von der Torah als Bauplan der Schöpfung war im hellenistischen Judentum wie in der rabbinischen Tradition bekannt. Dies bestimmte auch das Verständnis des ersten Wortes der Bibel (br`šjt ) in Gen 1,1 als „mit Anfang“ und nicht als „am Anfang (hat Gott geschaffen)“. Und dieser Anfang ist die Schöpferweisheit, die Torah, der schon in Prov 8,22.30 vorweltliche Existenz zugesprochen wird und in Prov 8,22 r`šjt drkw, „Anfang Seines Weges“ heißt. Folgerichtig hat man angenommen, dass die Torah als Gottes ewige Weisheit und unveränderlicher Wille auch auf Erden nicht aufgehoben oder geändert werden kann. Drei Motive haben sich von dieser schöpfungstheologischen Voraussetzung her mit dem Begriff Torah verbunden. Das erste ist das Licht , wobei dem Licht des 2. Schöpfungstages – vor der Erschaffung der Himmelskörper am 4. Tag – besondere Bedeutung zukommt.11 Das zweite Motiv ist das Leben , und dazu gehört als drittes das Wasser im Sinne von „Wasser des Lebens/Lebenswasser.“ Und selbstverständlich markieren die Gegensätze Finsternis, Tod und Torheit bzw. Unwissenheit, ein Leben ohne oder gar gegen die Torah. Damit war ein relativer dualistischer Ansatz vorgegeben, der jedoch wegen der schöpfungstheologischen Verankerung der Torah zu keinem absoluten Dualismus führen konnte. Die Torah wurde folglich als Lebensordnung und als Leben spendende Kraft begriffen, als Weg zum Leben, im Gegensatz zum Weg, der zum Tode führt. Im Mittelalter hat diese Torah- und Schöpfungstheologie in der Kabbalah ihre intensivste spekulative Ausprägung erfahren.12 Das theologische Konzept einer Torah im Sinne des offenbarten verbindlichen Gotteswillens ist offensichtlich älter ist als die inhaltliche Festschreibung. Schon in Dt 29,38 ist „Offenbares“ das jeweils verbindliche, anwendbare Gottesrecht, das „Verborgene“ der noch nicht 11 GOTTLIEB, F., The Lamp of God. A Jewish Book of Light, Northvale, NJ 1989. 12 GLAZERSON, M., Torah, Light and Healing, Jerusalem 22004.

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Teil II. Die geglaubte Geschichte in der jüdischen Religion

offenbarte, aber vorhandene Gotteswille. Die Annahme, beides zusammen sei der Gotteswille schlechthin, die vollkommene Torah von Ps 19,8 (vgl. Josephus, Contra Apionem 2,184–189) und die Weltordnung, lag schon aufgrund der Kulttheologie mit ihrer Vorstellung von der kosmologischen Relevanz der kultischen Ordnung nahe. Dies alles verlieh der Torah eine universale und schöpfungstheologische Bedeutung, während erwählungstheologisch die Verpflichtung zur Torahverwirklichung auf Israel allein beschränkt blieb.

1.5

Kalender und Zeitrechnung

Weder die Orientierung am Mondlauf noch die Orientierung am Sonnenlauf ergibt eine volle Übereinstimmung mit den astronomischen Umlaufzeiten. Es kam daher zur Entwicklung unterschiedlicher Kalendersysteme, die einander aber nicht unbedingt ausschlossen, denn die Wahl eines Kalenders hing in erster Linie vom Zweck seiner Anwendung ab. Bis in die letzten vorchristlichen Jahrhunderte gab es in Israel auch einen Jahresbeginn im Frühjahr, vor allem in Verbindung mit einem vorrangig sonnenlauforientierten Kultkalender mit 364 Tagen, eingeteilt in 12 Monate zu je 30 Tagen (= 360) + 4 Quartals-Zusatztagen, wobei die Sabbat- bzw. Siebenerzyklen als vorgeschöpfliche Einheiten eine grundlegende Bedeutung für die Zeitrechnung hatten. Und in die Sabbatzyklen waren auch die Priesterdienstzyklen integriert.13 Seit dem 2. Jh. v. Chr. hat sich aber ein lunisolarer Kalender mit Jahresbeginn im Herbst durchgesetzt.14 Die Jahreslänge des durchgesetzten lunisolaren Kalenders richtet sich nach dem Sonnenjahr, der Monat wird nach dem Mondlauf bestimmt (Neumondfest) und zählt teils 29, teils 30 Tage. Die Monate heißen, nach den 4 Quartalen (teqûfôt ) angeordnet: I II III IV

1. TiÐr (Sept/Okt) 4. T¸ebet (Dez/Jan) 7. Nisan (Mrz/Apr.) 10. Tammz (Juni/Juli)

2. Hešwan (Okt/Nov) ¯ 5. ebat¸ (Jan/Febr) 8. `Ijjar (Apr/Mai) 11. `Ab (Juli/Aug)

3. Kislew (Nov/Dez) 6. `Adar (Febr/Mrz) 9. Swan (Mai/Juni) 12. `Ell (Aug/Sept)

13 MAIER, J., Die Qumran-Essener, Bd. 3 München 1996, 52–100. 14 BASNITZKI, L., Der jüdische Kalender. Entstehung und Aufbau, Königstein/Ts. 1986.

Die Verankerung in Schöpfungs- und Urgeschichte

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Zum Ausgleich bedarf es eines Schaltmonats (Adar II) in jedem 7. Jahr. Der große Nachteil gegenüber dem alten 364-Tagekalender besteht darin, dass er kein feststehender Kalender war und die Neumondbestimmung bis in die späte Antike nur durch Beobachtung und anhand von Augenzeugen möglich war. Die Wochentage werden nach ihrer Position zum folgenden Sabbat als dem „siebenten Tag“, mit Tag eins (Sonntag) sechs (Freitag) bezeichnet. Als liturgisch-halakisch maßgeblicher Tagesbeginn gilt der Vorabend, von alters her nach dem Erscheinen von mindestens drei Sternen; heute wird der Beginn im Voraus errechnet und publiziert. Die heilige Zeit des Sabbat oder eines Feiertags wird von der profanen zu Beginn mit dem Qiddûš („Heiligung“) und zum Ausklang mit der Habdalah („Trennung“) getrennt und in den betreffenden Benediktionen auf die Schöpfung und die Trennung zwischen Licht und Finsternis sowie zwischen Israel und den Völkern Bezug genommen. Auf der Basis der 7-Tage-Woche (6 Wochentage + 1 Sabbat) wurden größere Siebenereinheiten konstruiert: Die Jahrwoche (sieben Jahre). Das siebente Jahr gilt teils als Brachjahr (keine Bestellung der Felder), teils als Erlassjahr. Die Jobelperiode zählt 7 Jahrwochen = 49 Jahre. Im 50. Jahr sollen die alten Familienbesitzverhältnisse wiederhergestellt werden und eine Sklavenfreilassung stattfinden, was eine symbolische Bedeutung als Vorwegnahme der endgeschichtlichen Befreiung bewirkt hat. Der Zeitabschnitt von 10 Jobelperioden (490 Jahre), also 70 Jahrwochen, diente in alter Zeit mit der Jobelperiode selbst als Mittel chronographischer Darstellungen. Die traditionelle Zählung der Jahre ab der Schöpfung der Welt wurde durch die Vorstellungen von Weltzeitaltern und von Millennien (1000-Jahr-Perioden) angeregt, vor allem durch die biblische Folge von sechs bzw. sieben Schöpfungstagen, die man gemäß Ps 90,4 (tausend Jahre sind vor Dir wie ein Tag ) als Millennien deutete. Auf dieser Basis wurden in Anlehnung an die biblischen Angaben über die Generationenfolgen schon in der Antike Schöpfungschronologien und die Dauer der Weltzeit überhaupt errechnet. Im Mittelalter wurde eine Zählung üblich, die als ersten Schöpfungstag den 7. Oktober 3760 v. Chr. voraussetzt. Das ergibt als Millenniumsdaten: 1000 = 2760 v. Chr.; 2000 = 1760 v. Chr.; 3000 = 760 v. Chr.; 4000 = 240 n. Chr.; 5000 = 1240 n. Chr.; 6000 = 2240 n. Chr. Weil aber das jüdische Jahr

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Teil II. Die geglaubte Geschichte in der jüdischen Religion

im Herbst beginnt, überlappen sich die beiden Jahre etwas, das Jahr 5768 nach der Schöpfung entspricht also unserem Kalenderjahr 2007/ 8 (von Herbst zu Herbst). Ab 5000 wird die Jahrtausendangabe meist nicht angegeben (also 767 für 5767), man nennt dies die „kleine Zählung“. Für die Umrechnung jüdischer Jahresdaten stehen eigene Nachschlagewerke zur Verfügung.15 Die von der Schöpfungsvorstellung her motivierte Buchstaben- und Zahlensymbolik und die Bemühungen um die Erstellung einer kalendarischen Ordnung, einer Zeitrechnung und einer Metrologie im Einklang mit den kosmischen Gegebenheiten sind Merkmale der jüdischen Religion geblieben. Was immer man dafür auch aus der Umwelt übernommen hat, es wurde der Torah untergeordnet, auch die Astrologie und die moderne Naturwissenschaft, denn nicht die Schöpfung bzw. die Natur selbst liegt im Brennpunkt des Interesses, sondern die Torah als dahinter stehende Schöpfungs- und Naturordnung.16

1.6

`älohîm und JHWH

Israels Gott wurde zwar vom babylonischen Exil an als einziger Gott überhaupt proklamiert, aber die biblischen Gottesnamen und Gottesattribute haben immer für Spekulationen und Diskussionen gesorgt (s. Reader, Nr. 7.1–2). Zu geläufigen Umschreibungen wurden auch „der Ort“ und „der Himmel“ und sehr häufig wurde Gott durch sein Wort oder durch seine Gegenwart (šekînah ) und dergleichen ersetzt. Das erweckte gelegentlich den Eindruck, dass zwei oder gar mehr göttliche Mächte oder neben Gott noch Engelwesen am Werk waren und sind, eine jenseitige Gottheit und eine Schöpfermacht, ein verborgener und ein sich (Israel) offenbarender Gott.17 Der erste, priesterliche Schöpfungsbericht verwendet die Gottesbe15 MAHLER, E., Handbuch der jüdischen Chronologie, Leipzig 1916 (Nachdruck Hildesheim 1967); AKAVIA, A. A., Lûah le-šeššet `alafîm šanah. Calendar for 6000 ¯ Years, Jerusalem 1976. 16 NOVAK, D./SAMUELSON, N. (Hg.), Creation and the End of Days: Judaism and Scientific Cosmology, Boston 1986; AVIEZER, N., Am Anfang. Schöpfungsgeschichte und Wissenschaft, Frankfurt a. M. 2000. 17 SEGAL, A. F., Two Powers in Heaven, Leiden 1977.

Die Verankerung in Schöpfungs- und Urgeschichte

29

zeichnung `älohîm. Das ist ein Plural (von `älôah ), der auch „Götter“ heißen kann, zumeist aber wie `el für den Begriff Gott allgemein steht. Im Lauf der Zeit wurde `älohîm ganz bewusst mit Gottes Schöpferrolle und Richterrolle verbunden, während der Name JHWH (das „Tetragramm“) dem gnädigen Gott gilt, der sich Mose bzw. Israel offenbart hat. Die beiden Bezeichnungen sind aber nur zwei von vielen. Manche antiken Quellen setzen für JHWH die Aussprache mit den Vokalen a – e voraus, was eine Verbalform im Kausativ (jahwäh: ruft ins Dasein, verursacht Seiendes) ergibt. Besser bezeugt ist die Lautfolge a – u (Jahû ), die durch alte griechische Übersetzungen sowie durch theophore Namensformen wie Netanjahu/Jehonatan etc. gestützt wird. Schon in den letzten vorchristlichen Jahrhunderten ersetzte man die Aussprache von JHWH durch jene von `aDoNaJ „Herr“ (Murmelvokal – o – a), griechisch kyrios (artikellos wie ein Eigenname), später auch durch „der Name“ oder „der Ewige“. Im Mittelalter wurde JHWH mit den Vokalzeichen von `adonaj („Herr“) punktiert, was von Christen missverstanden wurde und den Namen Jehovah verursacht hat. In Ex 3,14 beantwortet Gott die Frage des Mose nach dem Namen mit `ähjäh `ašär `ähjäh , wörtlich übersetzt, etwa: „Ich werde sein, der ich sein werde“. Man hat den Nahmen JHWH von diesem Verb hjh (werden, sein) her zu erklären versucht. Und weil es in Ex 3,14 danach heißt: „`ähjäh hat mich zu euch geschickt“, wurde auch `ähjäh für sich als Gottesname verstanden. In der Kabbalah bezeichnete man damit die erste Sefirah, die erste Wirkungsweise bzw. Seinsstufe, die aus der verborgenen Gottheit emaniert, und aus der wieder alle weiteren neun Sefirot und alles darunter emanieren, während JHWH für die zentrale sechste Sefirah verwendet wurde, `el für die vierte Sefirah (absolute Güte) und `älohîm für die fünfte h(absolute Strenge), `adonaj (Herr) für die zehnte.

1.7

Die Erschaffung des Menschen, die Gottebenbildlichkeit und die Natur des Menschengeschlechts

Der priesterliche Schöpfungsbericht setzt die Erschaffung des Menschen auf den letzten Tag der Schöpfungswoche an, den Freitag. Gen 1,26 spricht dem Menschen eine stellvertretende Herrschaftsfunktion

30

Teil II. Die geglaubte Geschichte in der jüdischen Religion

über die Schöpfung zu, daher fungiert als Abbild bzw. Repräsentation des Herrschers. Und zwar Mann und Frau zusammen, als „männlich und weiblich“, ohne erkennbare Abstufung (Gen 1,26 f) und als Abschluss der mit „sehr gut“ bewerteten Schöpfung (Gen 1,31).18 Diese schöpfungsmäßige Gleichheit begründete aber keine sozialrechtliche Gleichstellung, denn in der kultischen Tradition wurde die Position der Frau gegenüber jener des Mannes merklich herabgestuft. In der älteren und noch recht mythisch gestalteten Schöpfungserzählung (Gen 2,4b–25) erscheint Eva von vornherein als ein dem Adam beigeordnetes Geschöpf. Rolle und Status der Frau konnten im Judentum daher schöpfungstheologisch nicht einheitlich begründet werden. Der Sündenfall im Paradies führt zum Verlust der Ebenbildlichkeit, die im Gehorsam gegenüber Gottes Willen begründet ist, und darum wird vorausgesetzt, dass die Torah-Offenbarung am Sinai die Ebenbildlichkeit für Israel(iten) potentiell wiederbringt (s. Reader, Nr. 3). Der Begriff Ebenbild Gottes setzt aber nicht nur die Gottähnlichkeit des Menschen, sondern auch die Menschenähnlichkeit Gottes voraus, und das verursachte heftige Auseinandersetzungen. Ihre Verfechter wussten sich v. a. durch die prophetischen Visionsberichte in Jes 6 und in Ez 1–3 bestätigt, in denen Gott bzw. die Erscheinung seiner Gegenwart (kabôd , später: šekînah ) im Heiligtum als überdimensionale Königsgestalt thront. Doch gab es schon früh Tendenzen, Gottes Übermenschlichkeit und Überweltlichkeit deutlicher hervorzuheben, und biblische Passagen, in denen Gott körperliche und psychische Eigenschaften und Verhaltensweisen (Anthropomorphismen und Anthropopathismen) zugeschrieben werden, als bildliche Rede zu verstehen. Für die Volksfrömmigkeit verbürgte eine solche Redeweise zusammen mit der Vorstellung eines persönlichen Gottes die Gottesnähe. Wann immer aber unter Juden philosophische Bildung zum Zug kam, wurde der Widerspruch zur Vorstellung einer transzendenten Gottheit bewusst und entsprechend thematisiert. Im 13./14. Jh. n. Chr. entbrannten darüber so heftige Kontroversen, dass es fast zu einem Schisma kam. Der Kabbalah des Mittelalters gelang es, diesen Konflikt aufzulö18 CHIESA, B., Creazione e caduta dell’uomo nell’esegesi giudeo-araba medievale, Brescia 1989; LUTTIKHUIZEN, G. H. (Hg.), The Creation of Man and Woman, Leiden 2000.

Die Verankerung in Schöpfungs- und Urgeschichte

31

sen, indem sie an der absoluten Transzendenz der Gottheit selbst festhielt und die anstößigen biblischen Aussagen auf die aus der transzendenten Gottheit emanierenden zehn Sefirot (Wirkungskräfte der Gottheit) bezog. Damit konnte der Wortsinn der betroffenen Bibeltexte unbeschadet der anderen (drei) Schriftsinne beibehalten werden.

1.8

Paradies und Sündenfall

Der „sehr gute“ Urzustand, versinnbildlicht durch den Garten von Eden, wird durch die Übertretung des göttlichen Gebots beendet.19 In der Folge muss sich der Mensch durch Arbeit ernähren, mit unsicherem Erfolg, weil der Acker verflucht ist, und wegen der eingetretenen Sterblichkeit muss er sich – mit besonderen Risiken für die Frau – fortpflanzen. Das aber wird nicht nur auf das erste Menschenpaar zurückgeführt, denn da war noch die Schlange, im späteren Verständnis der Satan, eine Macht, die den Menschen versucht und verleitet.20 Die neuen Zwänge des Daseins, das Wissen um Gut und Böse, somit die Notwendigkeit moralischer Entscheidungen und die Unentrinnbarkeit der Verantwortung bestimmen die menschliche Existenz nach dem missglückten Versuch, „wie Gott“ zu werden. Kennzeichnend für diesen neuen Normalzustand ist der Brudermord Kains an Abel und die Rückführung zivilisatorischer „Errungenschaften“ auf die Kainiter. Der stufenweise Niedergang der Menschheit wird überdies auch mit abnehmenden Lebensalterdaten markiert. In alter Zeit hat man von zwei Geistern gesprochen, die im Menschen um den Menschen ringen und zwischen denen man sich entscheiden muss, auch wenn sehr viel einfach vorgegeben bzw. determiniert ist, vor allem auch durch den Einfluss der Gestirnsmächte.21 In der talmudischen Literatur begegnet dafür die Rede von zwei Veranlagungen, einem guten und einem schlechten Trieb (jeçär ¸tôb und jeçär 19 LUTTIKHUIZEN, G. P. (Hg.), Paradise Interpreted, Leiden 1999. 20 MARTINEK, M., Wie die Schlange zum Teufel wurde, Wiesbaden 1996. 21 VON STUCKRADT, K., Das Ringen um die Astrologie. Jüdische und christliche Beiträge zum antiken Zeitverständnis, RVV 49, Berlin 1999; DERS., Geschichte der Astrologie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2003.

32

Teil II. Die geglaubte Geschichte in der jüdischen Religion

ra` ), wobei der „schlechte Trieb“, wenn er im Torahgehorsam unter Kontrolle gehalten wird, auch positiv zur Wirkung gebracht werden kann, nämlich im Sinne berechtigter Selbsterhaltung und gebotener Fortpflanzung. Mittel und Wegweisung bei solchen Entscheidungen, die Grundlage des jüdischen Ethos, ist natürlich die Torah.22 Die Paradieserzählung mit dem Sündenfall (Gen 2–3) und der Totschlag des Kain an seinem Bruder Abel (Gen 4,1–16) markieren die Zäsur zwischen dem „sehr guten“ Urzustand und den späteren Verhältnissen.23 Die ersten Errungenschaften der Zivilisation und die Gründung von Städten, im Alten Orient ein festes Thema, wurden in der Bibel im Rahmen des Kainiterstammbaums aufgeführt (4,17–24) und skeptisch beurteilt; zusammen mit fragwürdigen Künsten wie Magie, Kosmetik und Waffentechnik.24 Diese zunehmende Verderbnis wurde freilich auch durch übermenschliche Mächte mitverursacht (Gen 6,1–4; vgl. Hen 6–11; Buch der Giganten).25 Schließlich endet die schematisch konstruierte Generationenfolge von Adam bis Noah (Gen 5) beinahe in der Sintflut (Gen 6–9), ebenfalls ein altes, weit verbreitetes Motiv.26 Die Bewertung der Urgeschichte ist also vernichtend: einzig Noah überlebt mit seiner Familie die Katastrophe. Alles Weitere steht schöpfungstheologisch gesehen nicht mehr unter dem Prädikat „sehr gut“, doch für Israel bietet die Torah einen Heilsweg und begründet die Hoffnung auf eine Restitution des Urzustandes am Ende der Geschichte bzw. die Erwartung einer Neuschöpfung.

22 MAIER, J., Jüdische Kultur, in: GRABNER-HAIDER, A. (Hg.), Ethos der Weltkulturen. Religion und Ethik, Göttingen 2006, 183–248. 23 LUTTIKHUIZEN, G. P. (Hg.), Eve’s Children. The Biblical Stories Retold and Interpreted in Jewish and Christian Traditions, Leiden 2003. 24 VON MUTIUS, H.-G., Der Kainiterstammbaum Genesis 4,17–24 in der jüdischen und christlichen Exegese, Judaistische Texte und Studien 7, Hildesheim 1978. 25 AUFFAHRT, CHR./STUCKENBRUCK, L. T. (Hg.), The Fall of the Angels, Leiden 2004; WRIGHT, A., The Origin of Evil Spirits. The Reception of Genesis 6,1–4 in Early Jewish Literature, WUNT II/198, Tübingen 2005. 26 CADUFF, G. A., Antike Sintflutsagen, Hypomnemata 82, Göttingen 1996; GARCÍA MARTÍNEZ, F./LUTTIKHUISEN, G. P., Interpretation of the Flood, Leiden 1999; BOSSHARD, E., Vor uns die Sintflut, Stuttgart 2005.

Die Verankerung in Schöpfungs- und Urgeschichte

1.9

33

Das Wissen der Vorzeit

Abgesehen vom Kainiterstammbaum (Gen 4,17 ff) behaupten Überlieferungen, die in Gen 6,1–4 knapp angedeutet und in anderen Kontexten (wie Hen 1–36) breiter ausgeführt werden, dass die Entwicklung der Menschheit maßgeblich durch ein Wissen bestimmt wird, das ambivalent bis negativ zu werten ist. Vor allem, weil ein Teil dieses Wissens durch gefallene Engel vermittelt wurde. Dem gegenüber stehen positive Wissenstraditionen, die von der Urzeit her über die Sintflut hinweg weitergegeben werden konnten. Auch dies beruht auf verbreiteten altorientalischen Vorstellungen.27 Das positive Wissen wurde teils von Adam her über Set weitergegeben, teils auf den Urvater Henoch (Gen 5,21–24; Jub 4,16–26; Henoch-Bücher), der sie von seinem Aufenthalt in himmlischen Regionen mitgebracht haben soll. Dahinter steht der Anspruch einer Bildungselite, von Schreibern, die vorrangig an Heiligtümern wirkten, also an Orten, deren mythische Qualität sowieso eine enge Beziehung zwischen himmlischem und irdischem Kultpersonal voraussetzte. Die Henochfigur wurde für die Folgezeit zum Inbegriff einer Bildungstradition, für die überirdischer Ursprung und eine Kontinuität von der Urzeit her behauptet wird.28 Henochs Lebensjahre, 365, entsprechen der Zahl der Tage des natürlichen Jahres fast genau, in den Kalendersystemen war aber diese schlecht teilbare Zahl nicht praktikabel anwendbar. Man wusste um diesen richtigen Sachverhalt und damit auch um die Unzulänglichkeit der gängigen Systeme. Der Gedanke, dass die Urverderbnis der Menschen eine gewisse Unordnung in der Schöpfungsordnung bewirkt hat, lag also nahe. Umso wichtiger erschien die Kontinuität einer Tradition dank einer genealogischen Reihe von Auserwählten, die das positive Urwissen kennen, das mit der „vollkommenen Torah“ in eins fällt und auf „himmlischen Tafeln“ von ewig her und auf immer festgeschrieben ist. Es ging dabei nicht nur um Spekulationen, sondern um die Begründung und Verteidigung von bestehenden Ordnungen und Ansprüchen. Das hat einen gewissen Zwang zur Systematisierung mit sich ge27 KVANVIG, H.-S., Roots of Apocalyptic, WMANT 61, Neukirchen 1988. 28 VAN DER HORST, P. W., Japheth in the Tents of Shem: Studies on Jewish Hellenism in Antiquity, Leuven 2002, 139–158; ORLOV, A. A., The Enoch-Metatron Tradition, TSAJ 107, Tübingen 2005.

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Teil II. Die geglaubte Geschichte in der jüdischen Religion

bracht und in der Folge zu mehr oder weniger geschlossenen Weltbildern geführt. In der Spätantike bot die Stoa dafür Parallelerscheinungen, die man kaum als fremd empfinden konnte. Mit der Gleichsetzung von Weisheit und Torah wird postuliert, dass alles Wissen aus der Torah als der Schöpfungsordnung stammt. Das hatte zwei gegenläufige Tendenzen zur Folge, die eine ist exklusiv, möchte sich mit der eigenen Überlieferung begnügen und lehnt alle „fremde“ Weisheit ab, die andere ist inklusiv, begreift die fremde Weisheit als ursprüngliche Torahinhalte, die in die Völkerwelt geraten sind, und befürchtet in deren Annahme keinen Fremdeinfluss. In diesem Sinne wurden heidnische Philosophen wie Plato und Aristoteles sogar als Schüler des Mose bezeichnet und das Studium ihrer Werke als gebotene Wiedergewinnung von verlorenem, eigenem Bildungsgut gewertet. Die Spannung zwischen den beiden Tendenzen, die jener zwischen dem Hebräischen und der „fremden“ Sprache entspricht, kennzeichnet die gesamte jüdische Kultur- und Geistesgeschichte.29

2.

Neubeginn und erneute qualitative Differenzierung

2.1

Der Noahbund und die sieben noachidischen Gebote

Noah anerkennt die Gnade Gottes mit dem Bau eines Altars und einem Opfer, also mit einer Kultgründung. Von daher wurde erschlossen, dass es eine für alle Menschen mögliche und angemessene Gottesverehrung gibt. Gott verheißt, die Erde wegen der Menschen in Zukunft nicht mehr so heimzusuchen, was dann laut Gen 9,8–12 in einem „Bund“ besiegelt wurde. Die Verheißung, die Schöpfung in Zukunft zu erhalten, schließt nach manchen Auslegern die Forderung nach entsprechendem umweltgemäßem Verhalten auch des Menschen ein.30 Das Hauptanliegen gilt indes auch hier der Torah. Um das Tun und Lassen der Nichtjuden als verantwortbares Handeln ahnden zu können, wird Noahs Kultgründung mit einer Bundesverpflichtung ergänzt. Gen 9 setzt mit einem göttlichen Segen für Noah und dessen Söhne ein, der die Aussagen in Gen 1,28–30 aufnimmt und der neuen 29 ZIMMERMANN, CH., Torah and Reason, Jerusalem 1979. 30 TIROSH-SAMUELSON, H. (Hg.), Judaism and Ecology, Cambridge, MA 2002.

Neubeginn und erneute qualitative Differenzierung

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Situation anpasst. Gott sagt die Herrschaft über die belebte Schöpfung zu, die Erlaubnis Fleisch (nicht aber Blut) zu essen, und stellt das Vergießen von Menschenblut unter Todesstrafe. Man hat schon in der talmudischen Literatur von Geboten Gottes gesprochen, die bereits vor der Torahoffenbarung am Sinai allen Menschen gegeben wurden (s. Reader, Nr. 4). Diese sog. sieben Gebote Noahs enthalten bemerkenswerter Weise das Gen 9,7 ausdrücklich erwähnte Vermehrungsgebot nicht, das allein auf Israel bezogen wird. Als noachidische Gebote wurden schließlich festgehalten: die Verbote von (1) Götzendienst und (2) Gotteslästerung, (3) Blutvergießen, (4) Diebstahl, (5) Inzest, sowie (6) des Genusses von rituell nicht zulässigem Fleisch. Und dazu kommt noch (7) das Gebot zur Einrichtung einer gerechten Rechtsordnung. Dieses Konzept einer Uroffenbarung, die alle Menschen verpflichtet und einer Verantwortung unterwirft, spielt im jüdischen Denken und im jüdischen Recht eine grundlegende Rolle bei der Bestimmung des Verhältnisses zur nichtjüdischen Welt.31 Die traditionelle Aufzählung wird in der Moderne meist modifiziert. Dabei kommt dem Gebot zur Erstellung einer gerechten Rechtsordnung ein besonderes Gewicht zu, weil die Existenz einer solchen für die meist in vielen Ländern und Staaten zerstreut lebenden, auf die Torah verpflichteten Juden die Möglichkeit eines modus vivendi bietet. Der monotheistische Anspruch wird nicht auf Grund philosophischer und theologischer Überlegungen gestellt, sondern für den Gott Israels, und dieser Unterschied zwischen einem – wenn auch richtig – erdachten Gott und dem lebendigen Gott der Heilsgeschichte Israels wurde von Zeit zu Zeit immer wieder betont. Da ein monotheistischer Anspruch selten als solcher, also nur theoretisch, angemeldet wird, sondern fast durchwegs durch eine organisierte Religion oder/und eine politische Macht, wird davon das Verhältnis zur nichtmonotheistischen Umwelt in hohem Maß belastet. Im Fall des Judentums ist dieses Konfliktpotential noch größer, denn es handelt sich um den Anspruch 31 NOVAK, D., The Image of the Non-Jew in Judaism, New York 1983; CLORFENE, CH./ROGALSKY, Y., The Path of the Righteous Gentile, Southfield, MI 1987; BINDMAN, Y., The Seven Colors of the Rainbow, San Jose, CA 1995; LICHTENSTEIN, A., The Seven Laws of Noah, New York 21986; RAKOVER, N., Law and the Noahides, Jerusalem 1999.

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Teil II. Die geglaubte Geschichte in der jüdischen Religion

einer Minorität für seinen Gott als den Gott überhaupt, und auf Grund der Torahtheologie wird auch noch ein Anspruch auf Vorrang und die Forderung nach Gottesherrschaft (Theokratie) verbunden. Die Konkurrenz zwischen Torahgeltung und einer fremden Rechtsordnung war stets gefahrenträchtig, das Konzept einer allgemein akzeptablen Rechtsordnung konnte das Risiko begrenzen. So setzt ausgerechnet das Judentum, das sich selbst durch die Torah heteronom bestimmt und gebunden weiß, mit dem Konzept der noachidischen Gebote für Nichtjuden die Verpflichtung bzw. die Chance einer so gut wie autonomen Rechtssetzung voraus. Allerdings wurde betont, dass die Rechtsaufsicht bei Israel liegen soll. Auch die beiden ersten Gebote des Dekalogs, die Götzendienst und Gotteslästerung verbieten, setzen eigentlich eine monotheistische Universalreligion voraus, doch man verstand darunter eher eine Aufforderung zur Anerkennung des Gottes Israels als des einzigen Gottes. Die Konsequenz war, dass man Nichtjuden, welche die noachidischen Gebote auf sich nehmen, Anteil am endgültigen Heilszustand zuerkennt. Nichtjuden müssen und sollen nicht zum Judentum übertreten und die ganze Torah auf sich nehmen. Hingegen wird für die Endperiode der Geschichte, für die Zeit der messianischen Herrschaft, sehr wohl erwartet, dass alle Menschen ihre angestammten Religionen aufgeben und die sieben noachidischen Gebote auf sich nehmen, so die Autorität der Torah grundsätzlich und den Gott Israels praktisch als den einzigen Gott anerkennen. Da Muslime beschnitten werden und die rituelle Schlachtmethode des Schächtens befolgen, stand ihre Anerkennung als Noachiden außer Frage. Christen wurden hingegen lange als götzendienstverdächtig eingeschätzt und erst in der Neuzeit, aber wegen der Trinitätslehre und Christologie mit Vorbehalt, allgemein als Monotheisten anerkannt. Die Spannung zwischen schöpfungs- und erwählungstheologischer Sicht wird auch an der Wertung des individuellen menschlichen Lebens deutlich. Das Problem begegnet in einer unterschiedlichen Textüberlieferung des berühmten Satzes: „Wer ein Menschenleben (aus Israel) rettet/vernichtet, der rettet/vernichtet eine ganze Welt“. Die Passage ist mehrfach überliefert, teils mit, teils ohne „aus Israel“, und wird dementsprechend gegensätzlich verwendet (s. Reader, Nr. 4d). Das Verbot des Blutvergießens ist als noachidisches Gesetz allgemeinverbindlich, aber das betrifft ebenso wie das Dekalogverbot des Tötens nur die

Neubeginn und erneute qualitative Differenzierung

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ungesetzliche Tötung, schließt also die Exekution von Todesstrafen und das Töten im Krieg nicht aus. Wer einem Israeliten an Leib und Leben Schaden zufügt, begeht allerdings ein gewichtigeres Verbrechen, und im jüdischen Recht wird darum auch häufig in diesem Sinne differenziert. In Bezug auf einen Israeliten gilt daher das spezielle Gebot der Lebensbewahrung (piqqûah näfäš ) und das Verbot der Unterlas¯ sung von Hilfeleistung bzw. der Verletzung der Beistandspflicht (Lev 19,16). Die Lebensbewahrung hat sogar Vorrang vor Gebotserfüllungen, Lebensgefahr verdrängt z. B. das Gebot der Arbeitsruhe am Sabbat. Der Lebensbewahrung dient auch das Konzept der Notwehr (nach Ex 22,1), und von daher wurde auch die Berechtigung einer präventiven Verteidigung zum Schutz des Volkes und des Landes Israel abgeleitet.

2.2

Der ethnogeographische Raum der Heilsgeschichte

Die Söhne Noahs, Sem, Ham und Jafet, gelten als Stammväter der Menschheit, doch mit einer geschichtlich folgenreichen, qualitativ abgestuften Wertung. Sem ist der Erbe der positiven alten Traditionen. Jafet steht ihm näher als Ham, dessen Nachkommenschaft über seinen Sohn Kanaan in Gen 9,26 f mit dem Stigma der Versklavung behaftet wird und das bis in die Moderne auch bleibt.32 Die drei Noahsöhne verteilen die Welt unter sich auf, die sog. „Völkertafel“ in Gen 10 teilt die Menschheit entsprechend ein und verteilt sie geographisch auf, und die Geschichte vom Turmbau zu Babel (Gen 11,1–9) begründet auch noch die Entstehung der sprachlichen Vielfalt. Die Zuweisung der Siedlungsgebiete für Semiten, Jafetiten und Hamiten, wie sie in Gen 10 vorliegt, entspricht einer ethno-geographischen Situation im 8./7. Jh. v. Chr. Im Lauf der Zeit wurde diese „Völkertafel“ wiederholt neuen Verhältnissen angepasst, um das Verhältnis des eigenen Volkes zur Völkerwelt und damit auch den eigenen Lebensraum zu bestimmen.33 Das geschah immer von einem Blickwinkel 32 GOLDENBERG, D. M., The Curse of Ham, Princeton 2003. 33 MAIER, J., The Relevance of Geography for the Jewish Religion, in: HELM, J./WINKELMANN, A. (Hg.), Religious Confessions and the in the Sixteenth Century, Leiden 2001, 136–158.

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Teil II. Die geglaubte Geschichte in der jüdischen Religion

aus, der das Heiligtum in Jerusalem als Zentrum der Welt voraussetzt, von da aus das Land Israel definiert, und die weitere und nähere Nachbarschaft so wie die ganze jeweils bekannte Welt nachordnet. Es ist das klimatisch günstigste Gebiet, das den Nachkommen Sems zuteil wird, und innerhalb dieses geographischen Raumes erhält dann auch Israel seinen zugewiesenen Platz. Auf dieses Ziel hin führt die Generationenfolge von Sem bis Abram/Abraham. Sem wurde übrigens mit Melchizedek von Gen 14,18–20 identifiziert, dem Priesterkönig von Salem, worunter man Jerusalem verstand. Melchizedek galt in diesem Sinne als Urtyp der engeren Jerusalemer Tempelpriesterschaft und schließlich auch als ihr überirdischer Repräsentant.34 Und die Szene der Zehententrichtung in Gen 14,18–20 diente als Begründung der kultischen Abgabenordnung, die damit noch vor der Offenbarung und Kultgründung am Sinai angesetzt wird.

3.

Bund und Erwählung

3.1

Der Abrahamsbund. Die Erwählung und das Bundeszeichen der Beschneidung

Laut Gen 12 befahl Gott dem Abraham, ins Land Kanaan zu ziehen. Die Konstruktion der Genealogie auf Abraham hin und danach von Abraham aus über Isaak, Jakob und die Jakobssöhne begründet „Israel“ vorweg, eine Größe, die historisch erst viel später zustande kam. Zeichen dieses Bundes zwischen Abraham und Gott (Gen 15 und 17) ist die Beschneidung der männlichen Israeliten, der erste wichtige Ritus im Lebenszyklus (s. Teil IV 6.1). Inhalt dieses Bundes ist die Verheißung einer Nachkommenschaft über Isaak/Jakob (s. Reader, Nr. 5) und der Besitz des Landes. Das Land Israel und darin wieder Jerusalem/Zion, die „Stadt des Heiligtums“, bilden mit der Torah, deren eigentlicher Geltungsbereich das Land Israel darstellt, den zentralen Bezugspunkt für alle traditionsbewussten Juden (s. Reader, Nr. 11). Gebot und Praxis der Beschneidung implizieren eine vorrangige Stellung des Mannes. Und dem entspricht auch seine erbrechtliche Stellung, insbesondere die Sonderstellung des erstgeborenen Sohnes. 34 BALLA, P., The Melchizedekian Priesthood, Budapest 1995.

Bund und Erwählung

39

Nur der Mann ist auf die volle Torahpraxis verpflichtet, er gilt mit dem 13. Lebensjahr als bar miçwah (Gebotspflichtiger), was die zweite wichtige Station im Lebenszyklus (s. Teil IV 6.4) bedeutet. Im Reformjudentum wurde für die Töchter eine entsprechende Feier eingeführt und man spricht von einer bat miçwah. Traditionell ist der Mann – insbesondere in seiner Rolle als Familienoberhaupt – für die Erfüllung der religiösen Pflichten der Seinen verantwortlich. Und das, obwohl bereits in der Antike als Jude nur anerkannt wurde, wer von einer jüdischen Mutter abstammt. Die schöpfungstheologische Begründung des Verhältnisses von Mann und Frau (Gen 1,27) wird also durch eine erwählungstheologische ergänzt und differenziert. Die Kultgründung am Sinai (s. u.) bringt eine weitere, kultisch-rituelle Differenzierung von großer sozialer Reichweite mit sich. Die Bestimmung der Frau besteht so gesehen in erster Linie in der Erfüllung ihrer Rolle als Mutter, indem sie ihrem Mann zur Erfüllung des Fortpflanzungsgebots verhilft, dadurch die Kontinuität der Erwählungsgemeinschaft garantiert, und einen – nicht zuletzt auch religiös – intakten Hausstand gewährleistet. Das bedeutet im Alltag eine durchaus gewichtige Funktion, die auch unternehmerische Qualitäten erfordert (vgl. Prov. 31,10–21), und nach dem traditionellen Bildungsideal gilt es darüber hinaus, dem Mann möglichst viel freie Zeit zum Studium der Torah (s. u.) zu verschaffen.35 Nur in Ausnahmefällen erreichten Frauen selber eine dem männlichen Bildungsziel der Torahgelehrsamkeit vergleichbare Kompetenz.36 Hinsichtlich profaner Bildungsinhalte blieb der Frau aber ein weit größerer Spielraum, weil nur der Mann zum vollen Torahgehorsam verpflichtet ist. Das moderne Frauenbild hat auch im Judentum dieses traditionelle Rollenverständnis weithin in Frage gestellt.37 35 LAZARUS, N. R., Das jüdische Weib, Berlin 31896; 1922 (Frankfurt a. M. 1999); BIALE, R. T., Women and Jewish Law: An Exploration of Women’s Issues in Halakhic Sources, New York 1984; HERWEG, R. M., Die jüdische Mutter. Das verborgene Matriarchat, Darmstadt 1994; GREENSPOON, L. J./SIMKINS, R. A. (Hg.), Women and Judaism, Lincoln, NE, 2003. 36 PANTEL ZOLTY, SH., „And All Your Children Shall Be Learned“. Women and the Study of Torah in Jewish Law and History, Northvale, NJ 1993. 37 RUUD, I. M., Women and Judaism. A select Annotated Bibliography, New York 1988. WOLOWELSKY, JOEL B., Women, Jewish Law, and Modernity, New York 1997; BAUMEL, J. T./COHEN, T. (Hg.), Gender, Place and Memory in the Modern

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Teil II. Die geglaubte Geschichte in der jüdischen Religion

Die für den Bestand der Erwählungsgemeinschaft zentrale Bedeutung der Rolle der Frau und die Bindung der Zugehörigkeit zum Judentum an eine jüdische Mutter bedingt eine eher negative Einstellung zu nichtjüdischen Frauen.38 Eine Mischehe ist grundsätzlich unmöglich, eine Nichtjüdin muss also zuerst zum Judentum konvertieren, bevor ein Jude mit ihr eine nach jüdischem Recht gültige Ehe eingehen kann. Heutzutage sehen sich die Gemeinden allerdings mit einer wachsenden Zahl von Mischehen konfrontiert.39 In Kreisen des modernen Reformjudentums hat sich in diesen Fragen eine relativ liberale Praxis durchgesetzt, was aber den Abstand zu den orthodoxen Gemeinschaften vergrößert. Man kann im Einzelfall auch Israelit bzw. Jude werden, also sich zum Judentum bekehren und so Mitglied sowohl der religiösen wie ethnischen Größe „Israel“ werden.40 Ein solcher ger çädäq oder „Proselyt“ (griechisch: „Hinzugekommener“) muss sich vom „Fremdkult“ lossagen, sich beschneiden lassen, ein rituelles Tauchbad („Proselytentaufe“) nehmen und dann die erste Kultteilnahme bzw. Gebotserfüllung vollziehen; danach gilt er als ein „Sohn Abrahams“. Missioniert wurde kaum, aber die Haltung nichtjüdischen Personals erforderte zumindest dessen teilweise Bekehrung zum Judentum, um eine korrekte rituelle Praxis im jüdischen Haushalt zu gewährleisten. In der Tradition wurde Abraham zum ersten Philosophen und zum ersten Monotheisten stilisiert.41 In seiner Heimat Ur in Mesopotamien entdeckte er die Nichtigkeit der Götzen und wurde dafür unter Nim-

38 39

40

41

Jewish Experience, Portland, OR, 2003; HALPERIN-KADDARI, R., Women in Israel, Philadelphia 2004. BENVENUTO, CH., Shiksa: The Gentile Woman in the Jewish World, New York 2004. SELTZER, S., Jews and Non-Jews Getting Married, New York 1984; PACKOUZ, K., How to Stop an Intermarriage, Jerusalem 1976; MEDDING, P. Y. (Hg.), Jewish Identity in Conversionary and Mixed Marriages, New York 1992. ROSENBLOOM, J. R., Conversion to Judaism. From the Biblical Period to the Present, Cincinnati 1978; SCHWARTZ, Y., Jewish Conversion, Jerusalem 1994; TREPP, L./WÖBKEN-EKERT, G., „Dein Gott ist mein Gott“, Stuttgart 2005; FINKELSTEIN, M., Conversion, Ramat Gan 2006; FORSTER, Brenda, Jews by Choice. A study of converts to Reform and Conservative Judaism, Hoboken, NJ, 1991. KLINGHOFFER, D., The Discovery of God: Abraham and the Birth of Monotheism, New York 2003.

Bund und Erwählung

41

rod, dem ersten in einer Reihe gottfeindlicher Herrscher, beinahe zum Märtyrer. Im verheißenen Land errichtet er Altäre für den Kult seines Gottes und begründet den wahren Gottesdienst bzw. den Kult des wahren und einzigen Gottes. Dabei nahm er Gebote der Sinai-Torah vorweg, der an sich vorzeitlichen Torah. Abraham wird bei Juden, Christen und Muslimen als Vater des wahren Gottesglaubens geehrt.42 Nach Gen 22 hat Gott Abraham auf die Probe gestellt, indem er ihm befahl, seinen „einzigen“ Sohn, Isaak (im Islam: Ismael), als Ganzbrandopfer darzubringen. Und da Abraham gehorsam war, durfte er anstelle seines Sohnes einen Widder darbringen. In der jüdischen Tradition diente diese Geschichte als Kultätiologie des Sühnopferkults am Jerusalemer Tempelberg, den bereits 2 Chr 3,1–2 mit dem Berg Moria gleichsetzte. An der Stelle dieses Altars soll sich zudem das Grab Adams befinden und christliche Legenden verknüpfen damit auch noch Golgotha. Schon in der Spätantike verbanden sich mit der Opferszene, die auch in Fußbodenmosaiken von Synagogen auftaucht, Motive der Martyrologie. Isaak soll bereits erwachsen gewesen sein und sich dem Gebot Gottes freiwillig gefügt haben. Im Mittelalter kam es gelegentlich zu Selbstmord- und Tötungsaktionen zur Vermeidung von Zwangsbekehrungen. Diese grausame Szenerie wurde als `aqedah verstanden und in einer eigenen liturgischen Gedichtgattung beschrieben, was die emotionale Komponente verstärkt hat. Gen 22,1–24 wird im täglichen Morgengebet rezitiert und dient als Festlesung am Tag II des Neujahrsfestes.

3.2

Abrahams Söhne und Enkel

Mit Abraham und seinen unmittelbaren Nachkommen erreicht der heilsgeschichtliche Verlauf nach Sem eine zweite Verengung, doch die Nachkommenschaft besteht noch nicht aus Erben der Verheißung allein, denn der Ahnherr hatte Kinder von mehr als einer Frau: (1) Ismael, Sohn der Magd Hagar, gilt als Stammvater der Araber und symbolisiert später die islamische Weltmacht. Als geläufige Metapher dafür diente „Wildesel“ (pärä` ) aus Gen 16,12. Im Islam wird darum die 42 SHINAN, A., Abraham in the Three Monotheistic Faiths, Jerusalem 1999.

42

Teil II. Die geglaubte Geschichte in der jüdischen Religion

Abrahamsgestalt entsprechend hoch verehrt. (2) Isaak, Sohn der Sarah, gilt als der erste Erbe der Verheißung. Doch auch Isaak hatte zwei Söhne, Zwillinge, (1) den Erstgeborenen Esau und (2) den jüngeren Jakob. Esau verkaufte seine Rechte als Erstgeborener (Gen 25,29–34) dem Jakob, bereute es jedoch und grollt diesem seither. Esau gilt als Stammvater von Edom, Seit dem 1. Jh. n. Chr. diente der Name Edom als Bezeichnung für das Römische Reich, später auch für die christliche Weltmacht bzw. für das Christentum überhaupt. Jakob, mit dem Alternativnamen „Israel“, wurde (Gen 29–30) zum Stammvater der gleichnamigen 12 Stämme Israels: Reuben, Simeon, Levi, Juda, Issachar, Sebulon (Kinder der Lea, dazu als Tochter Dinah); Josef bzw. Manasse und Efraim, Benjamin (Rahel-Söhne); Dan, Naftali (Bilha-Söhne); Gad, Ascher ( Zilpa-Söhne). Der Jakobssohn Levi gilt als Ahnherr des Jerusalemer Kultpersonals insgesamt. Er ist als solcher ebenfalls schon vor der Sinaioffenbarung im Amt, und seine Investitur erfolgte nach Jub 32 im Himmel. Er empfing von Jakob die Urtraditionen und gab sie seinen Nachkommen weiter. Der priesterliche Autoritäts- und Vorranganspruch wird damit ganz gezielt vor der Torahoffenbarung angesetzt, als vor- und überzeitlich ausgewiesen, in Analogie zur vorzeitlichen Torah, zum Sabbatzyklus und zur Priesterdienstordnung.

4.

Das Exil im „Sklavenhaus“ Ägypten und der Auszug unter Mose (Ex 1–15)

Der nach jüdischer Zeitrechnung im Jahr 2666 angesetzte „Exodus“, hebräischer Sippen aus Ägypten wurde in der Tradition zur Basis einer Befreiungs- und Erwählungsgeschichte der gesamten Jakobsnachkommenschaft „Israel“ und zum Modell für Zukunftshoffnungen. Liturgisch wird der Exodus im jährlichen Päsach-Matzot-Fest vergegenwärtigt (s. Teil IV). Das Kollektivbewußtsein der Erwählungsgemeinschaft ermöglicht eine Identifizierung über alle Generationen hinweg: Jeder Israelit soll sich am Päsach-Abend (s. Reader, Nr. 6) so fühlen, als wäre er damals persönlich dabei gewesen. Der Pharao des Exodus, der mit seinem Streitwagenheer in den Fluten des Meeres versank, wurde nach

Bundesschluss und Kultstiftung am Sinai

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Nimrod zum zweiten Typus des gott- und israelfeindlichen Herrschers. Und da Israel in Ägypten versklavt war, wurde die Befreiung durch den Exodus auch als Befreiung durch Gott und als Erwerb durch Gott verstanden. Israel gilt von daher als Gottes Volk im Sinne eines Sondereigentums (segûllah ). Folglich ist im Unterschied zu `älohîm (Gott) der Gottesname JHWH auch der besondere Name des Gottes Israels. Aber wie dieses „Tetragramm“ JHWH zugleich mit der Gottheit selbst von aller Schöpfung abgehoben wird, wird auch Israel von den anderen Völkern abgehoben.

5.

Offenbarung bzw. Bundesschluss und Kultstiftung am Sinai (Ex 19 ff)

5.1

Die Offenbarung durch Mose

Das Ziel des Exodus ist der Gottesberg, die Offenbarung der Torah und die Kultgründung durch Mose; und am Wochenfest, 50 Tage nach dem Päsachfest, wird dieses Ereignis liturgisch vergegenwärtigt. Erst am Sinai ist nach jüdischer Tradition Israel erst richtig als Gottesvolk konstituiert worden, und zwar als ein heiliges Volk unter priesterlichlevitischer Herrschaft (Ex 19,5). Gott habe damals dem Mose während 40 Tagen und Nächten eine Schriftliche Torah (im biblischen Pentateuch) diktiert, 248 Gebote (entsprechend der Zahl der Körperteile des Menschen) und 365 Verbote (nach der Anzahl der Tage des Jahres), und ihn außerdem eine Mündliche Torah gelehrt, die in der rabbinischen Tradition enthalten ist.43 Diese Torah wird dem Volk Israel allein und kollektiv als Erwählungsverpflichtung auferlegt, als Grundlage für alles weitere jüdische Recht (halakah ) (s. Reader, Nr. 8).44 Die Dekaloggebote (s. Reader, Nr. 8e) gelten als Teile der Schriftlichen Torah, ohne Sonderstatus, um eine Abwertung andere Torahinhalte zu vermeiden.45 Manchmal wurde der Dekalog allerdings auch 43 FENDEL, Z., Legacy of Sinai, New York 1981. 44 JACOBS, L., A Tree of Life, London 22000. 45 Daher wurde der Dekalog auch aus dem Gebetskomplex des Šema` Ji´sra`el ent-

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Teil II. Die geglaubte Geschichte in der jüdischen Religion

als Inbegriff der Torah dargestellt, oder es wurde versucht, alle Torahgesetze aus ihm abzuleiten bzw. die gesetzliche Tradition anhand der Zehn Gebote zu ordnen. Auch eine gewisse Einwirkung der hohen Wertung in der christlichen Umwelt ist festzustellen,46 aber nur im Reformjudentum ist es zu einer besonderen Hervorhebung des Dekalogs gekommen.47 Die beiden ersten Dekalogverbote, das Verbot der Verehrung anderer Gottheiten und das Bilderverbot,48 haben für die jüdische Religion allerdings grundsätzliche Bedeutung und die beiden Dekalogtafeln wurden zu einem geläufigen Bildsymbol für die Torah. Den Gott Israels als den einzigen Gott zu bekennen, die Torah als ewig geltende Offenbarung zu bewahren und sie zu praktizieren, und sich von allem abzugrenzen, was mit Fremdkult bzw. Götzendienst zu tun hat, sind die Hauptanliegen dieses Gesetzes (s. Reader, Nr. 10). Die jüdische Tradition sieht aber in der Sinaiszene keinen Glaubensinhalt, sondern ein durch alle damals anwesenden Israeliten (600.000) bezeugtes historisches Faktum. Der Levi-Nachkomme Mose tritt in einer dreifachen Funktion in Erscheinung: (1.) als Torah-Offenbarer/Gesetzgeber, und in dieser Rolle wird ihm unmittelbare göttliche Offenbarung zuteil, während normale Propheten nur vermittelte Offenbarungen empfangen; (2.) Als Kultgründer (Priester), und (3.) als militärisch-politischer Anführer Israels. Noch zu Lebzeiten verteilt Mose diese Aufgaben für die Zukunft auf mehrere Instanzen. Sein Bruder Aaron wird zum Priester geweiht und seine Nachkommen erhalten mit der Kultgründung die priesterliche Funktion als erbliche Aufgabe zugeteilt; die anderen Levi-Nachkommen dienen als Leviten in kultischen und staatlichen administrativen Funktionen. Wie schon anhand der Figuren des Melchizedek (Gen 14,18–20) und des Jakobsohnes Levi vorgezeichnet, ist diese Kultdienerschaft als Institution urzeitlich und himmlisch verankert. Sie überdauert daher Heiligtumszerstörungen und steht auch heute noch für

fernt; s. STEMBERGER, G., Der Dekalog im frühen Judentum, JBTh 4 (1989), 91– 103. 46 CHOURAQUI, A., Les dix commandements aujourd’hui, Paris 2000. 47 BEN-CHORIN, SH, Die Tafeln des Bundes, Tübingen 1979. 48 Variierend zwischen absolutem Bilderverbot und Kultbildverbot (s. auch Lev 26,1).

Bundesschluss und Kultstiftung am Sinai

45

einen dritten Tempel und eine Wiederaufnahme des Kultbetriebes bereit.49 Josua übernimmt die politisch-militärische Führungsrolle, und auch die Torah-Offenbarerfunktion wird zunächst für diese – sozusagen staatliche – Seite in Konkurrenz zur priesterlichen beansprucht. Im Mittelalter wurden die drei Funktionen als die des Propheten, Philosophen und Staatsmannes definiert. Hinter diesen Funktionen tritt Mose als Person eher zurück.50 Mit Ex 32 wird zwischen der Herabkunft des Mose vom Berg und der Übermittlung der (ersten) Dekalogtafeln und der Torah an Israel die Episode vom goldenen Kalb eingeschoben, die auslegungsgeschichtlich und theologisch eine enorme Nachwirkung hatte, auch in der christlich-jüdischen Auseinandersetzung.51 Dieses Versagen des ungeduldigen Volkes und sogar Aarons wurde als Ursache für nicht angemessenes Funktionieren der religiös-kultischen Institutionen verstanden und auch andere negative Konsequenzen wurden damit begründet. Nur die Autorität des Mose und das Eingreifen seiner levitischen Gefolgsleute haben eine Katastrophe am Sinai verhindert. Israels Verhalten am Sinai wurde in der Tradition als ambivalent empfunden und beschrieben. Einerseits wird die vorauseilende Bereitwilligkeit der Israeliten zur Torahpraxis hervorgehoben, wie sie die Wortfolge hören und tun in Dt 5,27 andeutet, im Gegensatz zu den Völkern, denen die Torah auch angeboten worden war. Nach anderen Aussagen hat Gott am Sinai sein Eigentumsvolk zur Annahme der Torah gezwungen. Torahgehorsam wird einerseits als Aufsichnehmen des Joches der Gottesherrschaft bezeichnet, andererseits als Auftrag verstanden, dem man sich nicht entziehen kann, in jedem Fall auch als Mittel der Befreiung von den Folgen des Sündenfalls und als Schutz vor den Fährnissen dieser Welt. Auch das Verhältnis zwischen Israel und sei-

49 GORENBERG, G., The End of Days. Fundamentalism and the Struggle for the Temple Mount, New York/London 2002. 50 WEISFELD, I. H., This Man Moses, 1966; SILVER, D. J., Images of Moses, New York 1982; SILVER, D. J., Moïse. Images et reflets, Paris 1984. 51 LIPTON, B. Y., The Sin of the Golden Calf According to Rashi, Brooklyn 1998; BORI, P. C., The Golden Calf and the Origins of the Anti-Jewish Controversy, Atlanta 1990.

46

Teil II. Die geglaubte Geschichte in der jüdischen Religion

nem Gott konnte daher je nach Kontext als eines zwischen Herrn und Knechten oder zwischen Vater und Söhnen beschrieben werden.52

5.2

Die Kultstiftung

5.2.1 Kultstätte und erwählter Kultort Am Sinai wird zwar der Kult Israels initiiert, aber örtlich ist dieser an Jerusalem und sein Heiligtum gebunden. Wie jeder Altarbau der Patriarchen gilt auch die Zelt-Wohnstatt Gottes (Ex 25 ff laut Ex 35 ff) nur als vorläufiges Heiligtum. Der eigentliche und im Land Israel einzig zulässige Kultort ist Jerusalem, der „Ort, den der HERR sich erwählt“; alle anderen Kultstätten, auch solche in Militärlagern, sind vorläufige Kultorte oder von untergeordneter Bedeutung.

5.2.2 Heiligkeit, rituelle Reinheit und Unreinheit Mit dem kultischen Denken eng verbunden sind Vorstellungen von Heiligkeit und ritueller Reinheit (s. Teil IV, 2).53 Gott ist heilig schlechthin, was ihm zugehört, muss heilig sein, sei es eine Sache oder eine Person. Gott verheißt Israel, in seiner Mitte einzuwohnen, und zwar im Heiligtum, seine Gegenwart ist vorrangig eine kultische. Im Brennpunkt des Kultes steht das Allerheiligste im Tempel mit der kultischen Gegenwart Gottes, seinem kabôd (später: šekînah ). Von da aus erstrecken sich konzentrisch abgestufte Heiligkeitsbereiche, über den Priesterbereich und Altarbereich im Tempel, die Tempelhöfe, die Stadt des Heiligtums (Jerusalem/Zion), die umwallten Städte im Land, bis an die Grenzen des Landes (s. Reader, Nr. 9). Der Status der Heiligkeit bzw. rituellen Reinheit ist somit abgestuft, es gibt im Zentrum Allerheiligstes bzw. Hochheiliges. Und Dinge und Personen, die damit in Berührung kommen, müssen ebenfalls den entsprechenden Heiligkeitsgrad aufweisen, d. h.: den entsprechenden Grad ritueller Reinheit. Trifft das zu, ist die Sache bzw. die Person für das entspre52 TÖNGES, E., „Unser Vater im Himmel“, BWANT 147, Stuttgart 2003. 53 JENSON, PH., Graded Holiness, JSOT.S 106, Sheffield 1992; MACCOBY, H., Ritual and Morality, Cambridge 1999; POORTHUIS, M. J. H. M./ SCHWARTZ, J. (Hg.), Purity and Holiness, Leiden 2000.

Bundesschluss und Kultstiftung am Sinai

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chend Heilige kašer (tauglich) bzw. geeignet oder zulässig; andernfalls ist es unrein und verunreinigt das Heilige, bzw. macht es untauglich. Zu wissen, was verboten und was erlaubt ist, gehört darum zu den Grundvoraussetzungen der Religionspraxis. Hochgradige Unreinheit ist gewissermaßen ansteckend, es verunreinigt nicht nur beim Erstkontakt, sondern darüber hinaus. Die höchsten Unreinheitsgrade verursachen Götzendienst, Leichname und Aussatz, derartige Verunreinigungen bedürfen daher einer siebentägigen Reinigungsprozedur, geringere erfordern zur Reinigung nur drei Tage, leichte nur einen Tag, mit dem Sonnenuntergang als Abschluss, wobei Waschen der Kleider und ein Vollbad die wichtigsten Voraussetzungen bilden. Zur Zeit des Tempels gehörte zum Abschluss des Rituals eine Opferdarbingung.54 Heilig sind auch kultisch relevante Zeiten; der Sabbat und die Feiertage sind heilig und erfordern entsprechendes Verhalten, z. B. Arbeitsruhe. Folgerichtig besteht ein Grundanliegen der jüdischen Religion in der Abgrenzung von allem, was rituell unrein ist, vor allem vom Götzendienst und von den Götzendienern, aber auch von Israeliten, die ihre Bundesverpflichtungen bewusst verletzen (s. Reader, Nr. 10.2).

5.2.3 Kultfähigkeit und Kultgemeinschaft Die kultische Institution hatte auch weitreichende Auswirkungen auf das Bild und die Rollenverteilung von Mann und Frau. Die Kultdienerschaft (Priester und Leviten) stellt eine Kaste dar, in der nur (diensttaugliche) Männer zum Kultdienst zugelassen sind und in der die Berufsbestimmung nach der männlichen Abstammung vererbt wird. Die Frau gilt wegen der periodischen und gebärbedingten Blutungen als zeitweilig unrein (niddah), durfte im Heiligtum nur den äußeren Hof (Frauenvorhof) betreten und hat sich auch im Alltag möglichst abseits zu halten. Erst Reformjudentum und z. T. auch konservatives Judentum haben diese kultisch bedingten Einschränkungen relativiert. Da die Torah als Schöpfungsordnung gilt, entspricht eine torahgemäße Lebensweise dem Schöpferwillen und der Naturordnung. Aber allein Israel ist zum Torahgehorsam, zum Gottes-Dienst, erwählt, aus 54 KIUCHI, N., The Purification Offering in the Priestly Literature. Its Meaning and Function, JSOT.S 56, Sheffield 1987.

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Teil II. Die geglaubte Geschichte in der jüdischen Religion

allen Völkern, und damit es so bleibt, muss es sich mittels dieser Reinheitsgesetze auch von den Völkern absondern (s. Reader, Nr. 10). Und wenn innerhalb Israels Differenzen aufbrachen, dienten kultisch-rituelle Abgrenzungsvorschriften auch zur Markierung der Gruppenpositionen. Ursprünglich auf den Kult beschränkte Regelungen sind nach der Zerstörung des Tempels konsequent auf das Leben aller Israeliten ausgedehnt worden, mit sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen, in der Umwelt stets ein Anlass zu Misstrauen und Anfeindung. Durch die Befolgung der Torahvorschriften wird Israel geheiligt. Dingliche Heiligkeit und personale Erwählungsheiligkeit sind von diesem kultischen Weltbild aus nicht zu trennen, erst das Reformjudentum hat die kultische Sichtweise aufgegeben und die personale, ethische Heiligung verabsolutiert. Dingliche und personale Heiligkeit wurden dabei wie in der christlichen Polemik gern gegeneinander ausgespielt, doch das kultische System setzt trotz aller betriebsartigen Merkmale durchaus eine angemessene Intention der Kultteilnehmer voraus, und das gilt für die Torahfrömmigkeit insgesamt: Die Forderung nach der rechten kawwanah (inneren Ausrichtung) spielt darum in der Erbauungsliteratur eine prominente Rolle.55 Von geringer Bedeutung ist demgegenüber die Rolle von Einzelpersonen als typenhafter Verkörperung von Heiligkeit,56 denn die Erfüllung der Erwählungsaufgabe ist eben Sache des Kollektivs als einem heiligen Volk und einer jeden Gemeinde für sich als einer heiligen Gemeinde Israels.

6.

Der Wüstenzug

Aus den Erzählungen über die 40 Jahre der Wüstenwanderung (LevNum), deren Vergegenwärtigung am Sukkot-Fest bzw. Laubhüttenfest im Herbst liturgisch begangen wird, haben zwei Episoden eine nachhaltige Bedeutung erlangt. Der Krieg mit Amalek (Ex 17,8–16): Der Esau-Enkel Amalek wurde zum Typus des jeweils aktuellen Todfeindes Israels.57 Seine Vernich55 MACCOBY, H., Ritual and Morality, Cambridge 1999. 56 PODHURST, M./SCHWARTZ, J. (Hg.), Saints and Role Models in Judaism and Christianity, Leiden 2004. 57 FELDMAN, L. H., „Remember Amalek!“, Cincinnati 2004.

Der Wüstenzug

49

tung und die Austilgung jeder Erinnerung an ihn ist verbindliche Pflicht (Dt 25,17–19). Der Tod des Priesters Aaron und die Einsetzung seines Sohnes Eleazar als Nachfolger (Num 20,22–29) setzt zwar die Erbfolge schon voraus, aber diese wird noch einmal durch den Zelotismus des Priesters und Heerführers Pinchas (Num 25) genauer definiert, und dabei ist von einem Priesterbund die Rede. Pinchas wird neben dem Propheten Elias zum Vorbild für zelotisches Handeln im Fall eines Rechtsnotstandes. Demgegenüber erfolgt – teilweise konkurrierend – die Einsetzung des nicht aus dem Stamm Levi stammenden Josua als Nachfolger des Mose in dessen politisch-militärische Funktion (Num 26,12–23). Diese herrscherliche Gewalt ist delegierte Gewalt, Josua wird (Num 27,19) durch den Priester Eleazar eingesetzt. Die Spannung zwischen priesterlichem Vorranganspruch und königlich-staatlicher Gewalt kennzeichnet die jüdische Geschichte bis zur Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n. Chr. Danach tritt an die Stelle des priesterlichen Anspruchs und der priesterlichen Torah-Kompetenz der Anspruch der rabbinischen Torahgelehrsamkeit. So blieb diese Spannung eigentlich weiter erhalten, und im modernen Staat Israel kommt sie auch wieder institutionell verankert zur Wirkung. Da die Torah alle Lebensbereiche abdeckt, also auch die richtige politische und soziale Ordnung beinhaltet, ist grundsätzlich ein theokratisches Herrschaftskonzept vorgegeben und säkulare Staatskonzepte für einen Judenstaat stoßen auf traditionalistischer Seite auf tief verwurzelte Vorbehalte,58 andrerseits können sich moderne jüdische Richtungen und säkulare Juden mit der Torah-Theokratie der Tradition nicht mehr identifizieren. Im Blick auf nichtjüdische Staaten hingegen verlangt das oben erwähnte Konzept der Noachidischen Gebote eher ein religiös neutrales Staatswesen bzw. eine staatliche Ordnung, die der jüdischen Torahpraxis möglichst keine Schranken setzt. Der Zug durch die Wüste hin an die Grenzen des verheißenen Landes hat für jüdisches Geschichtsbewusstsein den Charakter einer Periode der Erprobung und Läuterung, als Vorbereitung auf die Erfüllung der Verheißungen erhalten. Auch die Heimkehr aus dem babylo58 WEILER, G., Jewish Theocracy, Leiden 1988.

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Teil II. Die geglaubte Geschichte in der jüdischen Religion

nischen Exil 538 v. Chr. und die Übergangszeit zum endgeschichtlichen Heilszustand, der messianischen Herrschaft bzw. Gottesherrschaft, wurden darum später als Wüstenzug umschrieben.

7.

Die Landnahme und das Land Israel

Die Landverheißungen setzen voraus, dass Gott über das Land verfügt und er es Israel zur Verfügung stellt. Die dort ansässigen sieben Völker hatten daher die Wahl, sich zu unterwerfen und das Land für die Israeliten freiwillig zu räumen, oder dem Bann zu verfallen, der kriegerischen Unterwerfung mit Ausrottung aller männlichen Bewohner. Dem verheißenen Land kommt nach jüdischer Tradition eine einzigartige Qualität zu, denn es ist als Land Israel der Bereich, in dem die Torah in allen ihren Detailbestimmungen praktiziert werden und damit die Gottesherrschaft durchgesetzt werden kann, und auch Prophetie ist nur in diesem Lande möglich.59 Die Grenzen des Landes Israel markieren also einen heiligen Bereich, in dem kein Fremdkult geduldet werden darf. Es ist folgerichtig ein Gebot, Fremdkultstätten im Land Israel zu zerstören, und Götzendiener darin nicht zu dulden. Wer sich als Fremder im Land Israel vorübergehend (als ger tôšab , Beisasse) aufhalten möchte, muss daher seine angestammte Religionsausübung aufgeben und die noachidischen Gebote einhalten (s. Reader, Nr. 4 und 11). Eine klare und einheitliche Definition der Grenzen des Landes gibt es im jüdischen Recht allerdings nicht, so dass die Vorstellungen über sein Ausmaß noch heute differieren. Die Landnahme wird im Buch Josua der Bibel als planvolle, gesamtisraelitische Eroberung des Landes Kanaan dargestellt. Und nach jüdischem Recht gilt zudem: Was immer durch einen autorisierten Wahlkrieg bzw. Angriffskrieg hinzu erobert wird, gilt genau so als Land Israel wie das einst unter Josua eingenommene. Die jüdische Rechtstradition hat mit der Landnahme drei Vorschriften verbunden: „Drei Gebote sind Israel zur Zeit des Eintritts ins Land befohlen worden: (1) Sich einen König zu ernennen, denn es heißt (Dt 59 DAVIES, W. D., The Territorial Dimension of Judaism, Berkeley 1982; SHARON, M. (Hg.), The Holy Land in History and Thought, Leiden 1988; SCHWEID, E., The Land of Israel, Rutherford 1985; WOLFSON, M., Wem gehört das Heilige Land?, München 1992.

Von der Landnahme bis zur Zerstörung des Ersten Tempels

51

17,15): sollst du über dich setzen einen König (vgl. Mose b. Maimon, Sefär ha-Miçwôt, Gebot 173). (2) Die Nachkommenschaft Amaleks auszurotten, denn es heißt (Dt 25,19): Du sollst austilgen das Andenken Amaleks (a. a. O. Gebot 188); (3) Das Haus der Erwählung (den Tempel) zu bauen, denn es heißt (EX 24,8): Und sie sollen mir ein Heiligtum machen (MT, Hilkôt melakîm I,1).“

8.

Von der Landnahme bis zur Zerstörung des Ersten Tempels

8.1

Die Richterzeit

Die Bücher Josua, Richter, 1–2 Samuel und 1–2 Könige, die „Frühen Propheten“, werden in der atl. Wissenschaft als deuteronomistisches Geschichtswerk bezeichnet. Kennzeichnend ist eine schematisierte Geschichtsauffassung, auf Grund deren Personen und Ereignisse danach positiv oder negativ bewertet werden, ob sie den Forderungen der Torah entsprechen oder nicht. Israels Geschick hängt also von seiner Torahpraxis ab, und weil Israel als einziges Volk auf die Torah verpflichtet ist, kommt ihm eine Art Stellvertreterrolle zu: für den Lauf der Heilsgeschichte ist allein Israels Verhalten relevant, die Völker ringsum sind nur soweit von Bedeutung, als sie Israel behindern oder gewähren lassen und eventuell sogar fördern. Diese Überzeugung kennzeichnet das jüdische Geschichtsbewusstsein insgesamt. Die Periode der Richter hat vergleichsweise wenig Eindruck hinterlassen. Es gilt vielmehr, dass die nach dem Tod Josuas amtierenden „Ältesten“ ihren Aufgaben nur unzureichend gerecht geworden sind. Gott musste Israel daher von Zeit zu Zeit durch eine charismatische Retterfigur vor dem Schlimmsten bewahren. Der Höhepunkt der Fehlentwicklung wurde unter dem Priester Eli am Heiligtum der Bundeslade zu Schilo erreicht, doch mit der Berufung des Samuel und danach mit der Herrschaft Davids und Salomos setzt wieder eine positivere Entwicklung ein. Das Feindbild, das die Schilderung dieser Periode bestimmt, stellen die (unbeschnittenen!) Philister dar, die aus dem Heiligtum von Schilo die Bundeslade als Beute mit sich genommen hatten und Israel lange Zeit zu unterwerfen suchten.

52

Teil II. Die geglaubte Geschichte in der jüdischen Religion

8.2

Saul und David: Der ungehorsame und der gehorsame Gesalbte des HERRN

Im jüdischen Recht wird für den Fall der Verfügung über das Land Israel die Einsetzung eines Königs (einer eigenen Regierung) zwar als Gebot verzeichnet, aber nicht ohne Vorbehalte. Gemeint ist nämlich eine Herrschaft nach Gottes Willen, also eine theokratisch legitimierte, in alter Zeit durch die priesterliche Institution, später durch den rabbinischen Großen Sanhedrin, unter der Ägide der Torah-Autorität.60 Der König untersteht nämlich der Torah und seine Befugnisse werden im Vergleich zur Umwelt und als Reaktion auf eigene Erfahrungen erheblich eingeschränkt. Seine Befugnisse reichen indes immer noch derart weit, dass die Monarchie ausdrücklich negativ gewertet wird. Schon in 2 Sam 8–10 wird nachdrücklich auf die Schattenseiten der monarchischen Staatsordnung verwiesen, sie wird sogar als Missachtung des alleinigen Herrschaftsanspruchs Gottes über Israel bezeichnet. Gegen 100 n. Chr. vertrat der jüdische Historiker Flavius Josephus die Meinung, dass diese Herrschaftsform für Israel unangemessen sei, da die Torah (und deren priesterlich kontrollierte Anwendung) völlig genüge, um Israel zu regieren. Und am Ende des Mittelalters hat der Exeget Isaak Abrabanel ausdrücklich festgestellt, dass Dt 17,14–20 eine Kannbestimmung enthält: falls Israel sich entschließt, einen König einzusetzen, dann muss nach dem Königsrecht der Torah verfahren werden. Hat man aber einmal einen König eingesetzt, ist man vertraglich gebunden, wie gut oder schlecht der Monarch dann auch regieren mag. Von da aus beurteilt, konnte die Richterzeit als Periode einer unmittelbareren Herrschaft Gottes über Israel gelten und auch glorifiziert werden; so in der Moderne durch Martin Buber, der dafür den Begriff Theopolitik geprägt hat, bei ihm allerdings abgelöst von der traditionellen Torahtheologie. Das politische Denken des Judentums ist jedenfalls bis heute von der Voraussetzung bestimmt worden, dass die Torah im Grunde auch die gottgewollte politisch-soziale Ordnung Israels darstellt.61 60 ROTH, S., Halakhah and Politics, New York 1988; WEILER, G., Jewish Theocracy, Leiden 1988. 61 ELEAZAR, D. J./COHEN, ST. A., The Jewish Polity, Bloomington 1985.

Von der Landnahme bis zur Zerstörung des Ersten Tempels

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Die monarchische Herrschaftsform hat nach dem 1. Samuelbuch in Israel als Mittel der Selbstbehauptung angesichts kriegerischer Bedrohung Eingang gefunden. Der vorprogrammierte Konflikt mit dem Alleinherrschaftsanspruch Gottes scheint aufgelöst, wenn das Gottesvolk (und damit ein jüdischer Staat) sich als Werkzeug Gottes zur Durchsetzung der Gottesherrschaft versteht und damit eine messianische Funktion zu erfüllen glaubt. Die messianische Erwartung bzw. eine (pseudo-) messianische Bewegung erweist sich sowohl politisch wie religiös als Versuchung, die eigene aktuelle Situation als eine endzeitliche zu verabsolutieren. Nachhaltig hat auf das spätere Geschichtsbild die Schwarz-WeißMalerei der Bücher Samuel eingewirkt. Saul versagte als „Gesalbter des JHWH“,62 als theokratisch legitimierter Herrscher, der die „Kriege des JHWH“ zu führen hat, weil er das Gebot der Ausrottung Amaleks nicht befolgte (1 Sam 15/1 Chr 10). Er wurde als Typus des ungehorsamen Gesalbten stilisiert.63 David hingegen wird ungeachtet manch dunkler Seiten seiner Geschichte zum Typus des torahgehorsamen Gesalbten. Durch seine Kriege sicherte er den Besitz des Landes und weitete dessen Grenzen aus, und sein Torahgehorsam gewährleistete nach 2 Sam 7 auch die dynastische Erbfolge. Für die Geschichte der jüdischen Religion war seine in Personalunion und im Namen des JHWHKultes ausgeübte Herrschaft über die beiden vereinten Königreiche Judah und Israel von grundlegender Bedeutung. Sie begründete verklärt das Bewusstsein einer Einheit namens Israel, für die später Jerusalem/ Zion zum Symbol wurde, und gab dem Begriff Gott Israels einen dementsprechenden Inhalt. So wurde auch der Davidssohn zum Idealherrscher der Heilszukunft, zum „Gesalbten (König)“ schlechthin, zum Repräsentanten der Gottesherrschaft,64 die man allen Enttäuschungen zum Trotz immer wieder erhofft.65 Der erwartete „Gesalbte“ 62 Der Ausdruck Messias entspricht mit seinem üblichen Begriffsinhalt christlichem Sprachgebrauch; der hebräische Terminus technicus lautet ha-mäläk hamašîah, „der gesalbte König“. ¯ 63 DIETRICH, W., David, Saul und die Propheten, Stuttgart 1987. 64 COHN-SHERBOK, D., The Jewish Messiah, Edinburgh 1997; LENOWITZ, H., The Jewish Messiahs. From the Galilee to Crown Heights, New York 1998; ATTIAS, J. C./GISEL, P./KAENNEL, L.(Hg.), Messianismes, Paris 2000. 65 SILVER, A. H., A History of Messianic Speculation in Israel, Boston 19592; SCHÄ-

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Teil II. Die geglaubte Geschichte in der jüdischen Religion

soll Israel von aller Fremdherrschaft befreien und Verhältnisse schaffen, die eine ungehinderte Torahpraxis ermöglichen. Aber er ist kein Erlöser im Sinne der christlichen Messiasauffassung bzw. Christologie (s. Reader, Nr. 12.2). David gilt auch ferner als geistbegabter Autor liturgischer Dichtungen (s. Reader, Nr. 13) und als Organisator des Jerusalemer Kultbetriebes. Denn nachdem er die Bundeslade nach Jerusalem überführt hatte (2 Sam 6/1 Chr 15,1–16,6) soll er alles Nötige für den Tempelbau und den Kultbetrieb vorbereitet haben, alles gemäß der Torah und nach einem himmlischen Modell (2 Sam 24/1 Chr 21; 1 Chr 22–26; 28,11– 21).

8.3

König Salomo und der Erste Tempel

Mit König Salomo haben sich drei Vorstellungskomplexe verbunden. Er gilt als friedliebender und weiser König, und daher werden die alten jüdischen Weisheitstraditionen auf ihn zurückgeführt. Zu seinen Kenntnissen gehörte angeblich auch die Magie, und mit ihrer Hilfe soll er in der Lage gewesen sein, Dämonen dienstbar zu machen.66 Am meisten Nachruhm brachte ihm aber der Tempel- und Palastbau in Jerusalem ein.67 Im Alten Orient galt jedes große Heiligtum als Repräsentation des Kosmos und als Nabel der Welt, als mythischer Ort, wo Himmlisches und Irdisches ineinander greifen. Der regelmäßige Kult hat die Aufgabe, die Ordnung des Kosmos aufrecht zu erhalten, und die Opfer sorgen für die Entsühnung des Kultpersonals, des Königs, des Volkes und des Landes. Auch die Feier der großen, jahreszeitlich gebundenen agrarischen Feste war an den Tempel gebunden, doch erFER, P./COHEN, M. R. (Hg.), Toward the Millennium. Messianic Expectations from the Bible to Waco, Numen Book Series 77), Leiden 1998; KOCHAN, L., Jews, Idols and Messiahs, Oxford 1990. 66 TORIJANO, P. A., Solomon the Esoteric King, JSJ.S 73, Leiden 2002. 67 ZWICKEL, W., Der Tempelkult in Kanaan und Israel, FAT 10, Tübingen 1994; HERR, B., „Deinem Haus gebührt Heiligkeit, Jhwh, alle Tage“, BBB 124, Berlin 2000; KEEL, O./ZENGER, E., (Hg.), Gottesstadt und Gottesgarten, Freiburg i. Br. 2002; MCCORMICK, C. M., Palace and Temple, Berlin 2002; PARK, K.-CH., Die Gerechtigkeit Israels und das Heil der Völker, BEATuAT 52, Frankfurt a. M. 2003.

Von der Landnahme bis zur Zerstörung des Ersten Tempels

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hielten diese auch noch eine heilsgeschichtliche Bedeutung im Sinne der Vergegenwärtigung der großen Heilstaten Gottes an Israel.

8.4

Die Könige von Juda und Israel

Unter Salomos Sohn und Nachfolger Rehabeam trennten sich die Nordstämme von der davidischen Dynastie und gründeten unter Jerobeam I. das Königreich Israel. Vom Jerusalemer Hof aus beurteilt, war dies mehr als nur politische Abtrünnigkeit. Nach der Reichsteilung kam es nämlich zur Einrichtung eigener Staatsheiligtümer, Dan im Norden und Bethel im Süden, und diese Sünde Jerobeams ist sprichwörtlich geworden und hat wohl auch die Ausformung der Geschichte vom Kult des goldenen Kalbes am Sinai (Ex 32) inspiriert. Die Jerusalemer Tradition sah in der Eroberung und Annexion des Nordreichs durch die Assyrer im Jahr 722 v. Chr. folgerichtig die Strafe für den Abfall. Sie behauptet, dass fast alle Nordisraeliten nach Mesopotamien deportiert und dort verschollen sind und spricht daher von den zehn verlorenen Stämmen , deren Wiederauftauchen man zu Beginn der messianischen Herrschaft erhofft.68 Die Könige, auch die eigenen Könige aus Davids Geschlecht, beurteilte die Jerusalemer Tradition nach deren Verhalten im Sinne der Torahnormen.69 Und da 701 v. Chr. die Assyrer nach einer längeren Belagerung Jerusalems unter Sanherib unversehens abzogen, wurde diese Rettung zu einem heilsgeschichtlichen Exempel und eine Bestätigung des Jerusalemer Anspruchs, ganz Israel zu repräsentieren und den einzig gültigen Kult Israels, den JHWH-Kult, zu praktizieren. In der Tat sind in der letzten Phase der Königszeit die regionalen und lokalen Heiligtümer aufgelöst und der Kult in Jerusalem zentralisiert und „levitisiert“ worden. Im Jahr 587/6 v. Chr. eroberte der babylonische König Nebukadnezar das rebellische Königreich Juda, verwandelte es in eine babylonische Provinz und zerstörte den Tempel von Jerusalem. Diese Negativ68 AVIHAIL, E., Šibt¸ê Jisra`el. The Tribes of Israel, Jerusalem 1987; GONEN, R., To the Ends of the Earth, 2002; PARFITT, T., The Lost Tribes of Israel. The History of a Myth, London 2002. 69 LOWERY, R. H., The Reforming Kings, JSOT. S. 120, Sheffield 1991.

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Teil II. Die geglaubte Geschichte in der jüdischen Religion

erfahrung stellte den Glauben an die Macht des Gottes Israels in Frage. Von nun an war das Problem der übermächtigen Weltmacht ein zentrales Thema der jüdischen Religion und man wünschte sich natürlich, dass der jeweilige fremde Herrscher zur Anerkennung des Gottes Israels als des einzigen wahren Gottes gelangt, was in allerlei Legenden auch so dargestellt wird.70 Das Ende der staatlichen Selbstständigkeit und der davidischen Herrschaft wurde als tiefer Einschnitt in den Lauf der Geschichte Israels erfahren, aber als noch folgenreicher empfand man die Zerstörung des Tempels. Sie musste angesichts seiner kosmologischen Symbolik als Katastrophe empfunden werden, und darum hat man sie chronographisch auch als Periodengrenze angesetzt.71 Der Grundüberzeugung nach hoben die Zerstörung der Anlage und die Unterbrechung des Kultes den mythischen Charakter des gotterwählten Kultortes jedoch nicht auf. Die Stadt des Heiligtums, Jerusalem bzw. Zion, hat daher ihre Bedeutung als zentraler Bezugspunkt jüdischen Selbstbewusstseins allen Realitäten zum Trotz behalten (s. Reader, Nr. 11bc).72 Die gefallene Stadt wurde zum Gegenstand liturgischer Klagetraditionen, und der Zerstörung des ersten – und zweiten – Tempels wird im Jahreszyklus bis heute mit einem Fasttag am 9. Ab gedacht.

9.

Das babylonische Exil und die Heimkehr

Nebukadnezar veranlasste die Deportation der Oberschicht und der städtischen Eliten nach Mesopotamien. Man sprach rückblickend von einer Exilierung aller Judäer, ja des Volkes Israel überhaupt, und maß dem Ereignis paradigmatische heilsgeschichtliche Bedeutung zu. Auf Grund der herrschenden Geschichtsauffassung sollte auf diese bislang größte Katastrophe eine Heilswende folgen. Gerade seit damals verkündete man darum den Gott Israels auch als den einzigen Gott und Schöpfer schlechthin. 70 WILLS, I. M., The Jew in the Court of the Foreign King, Minneapolis 1990. 71 LAUER, S. (Hg.), Tempelkult und Tempelzerstörung, Bern 1995; HAHN, J. (Hg.), Zerstörungen des Jerusalemer Tempels, Tübingen 2002. 72 PURVIS, J. D., Jerusalem the Holy City. A Bibliography, London 1989; HENGEL, M. u.a (Hg.), La Cité de Dieu. Die Stadt Gottes, WUNT 129, Tübingen 2000.

Die Zeit des Zweiten Tempels

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Eine Jobelperiode (49 Jahre) dauerte es, bis der Perserkönig Kyros (538 v. Chr.) die Heimkehr der Exilierten und den Wiederaufbau des Tempels zu Jerusalem gestattete, und 70 Jahre zählte man von der Tempelzerstörung bis zur Weihe des Zweiten Tempels (517/6 v. Chr.), symbolträchtige Zahlen, die zu spekulativen Berechnungen anregten, insbesondere zur Rechnung mit Geschichtsperioden zu 490 Jahren. Das Ende des Exils wurde als Heimkehr des ganzen Volkes dargestellt, als eine Art zweiter Exodus, und als Beginn einer neuen Ära, vor allem aber als Triumph der Macht des Gottes Israels (Jes 40 ff).

10.

Die Zeit des Zweiten Tempels

10.1 Babylonier, Perser und Griechen Die Restauration des Tempelkults unter der toleranten persischen Herrschaft hatte eine derart massive Privilegierung des Kultpersonals und eine dementsprechende Ausweitung des Kultbetriebs zur Folge, dass diese neue Situation auch in die Vergangenheit zurückprojiziert und auf diese Weise gerechtfertigt wurde. Sie erschien nun teils im Rahmen der Kultstiftung am Sinai, teils als Verfügung des Königs Davids auf Basis der Torah. Ansonsten hatten Daten der persischen Periode außer dem Kyros-Edikt von 538 v. Chr. und der Tempelweihe von 517/16 wenig heilsgeschichtstheologische Nachwirkungen. Im Nachhinein, nach negativen Erfahrungen unter hellenistischer Herrschaft, wurde aber auch das persische Weltreich mit einem großen Makel behaftet. Die Esther-Erzählung setzt eine Bedrohung der Existenz Israels in Persien voraus, verursacht durch den bösen Haman, einen AgagNachkommen, also einen Amalekiter. Und die Rettung erfolgt durch Mordekaj und die jüdische Königin Esther, gefolgt von der Vernichtung der Feinde. Man gedenkt dieser sagenhaften ersten großen Judenverfolgung und Rettung am Purimfest. Ansonsten wird in der jüdischen Überlieferung das Perserreich durchaus positiv bewertet, die Perser gelten wie die Griechen als Nachkommen des Noah-Sohnes Jafet. Die jüdische Tradition schreibt eine Reihe von Reformen und Verordnungen einer „Großen Versammlung“ (Ha-kenäsät ha-gedôlah ) zur

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Teil II. Die geglaubte Geschichte in der jüdischen Religion

Zeit des Esra und Nehemia zu und sieht darin die Basis für das Judentum im rabbinischen Sinne. Esra wurde dabei gar zu einem zweiten Mose stilisiert.

10.2 Unter Jawan – Griechenland. Die Religionsverfolgung unter Antiochus IV. und die Rettung durch die Makkabäer Der Name des Jafet-Sohnes Jawan bezeichnet auch die hellenistische Herrschaft nach Alexander dem Großen. Alexander hatte nach 333 v. Chr. mit dem Vorderen Orient auch Juda/Judäa seinem Reich einverleibt und dabei die Privilegien des Tempelstaates unangetastet gelassen. Sein Ruf als Weltherrscher blieb daher unter Juden ein durchwegs positiver, der Name Alexander wurde gern verwendet und Fassungen des in Antike und Mittelalter weit verbreiteten Alexanderromans wurden im Mittelalter hebraisiert und judaisiert.73 Unter der Herrschaft der Ptolemäer in Ägypten und der Seleukiden in Kleinasien/Syrien wurde die Verfügung über das Land Israel Anlass zu fünf Kriegen und die negativen Erfahrungen aus dieser Zeit haben das Bild von Jawan sehr getrübt. Als düsterstes Kapitel zeichnet die Tradition die Herrschaft des Seleukidenkönigs Antiochus IV. Epiphanes.74 Dieser hat demnach in Jerusalem/Judäa eine hellenisierende Richtung unterstützt, deren Ziel die Abschaffung der Torah und der spezifisch jüdischen Lebensweise war. Der König soll zur Durchsetzung dieser Ziele eine Religionsverfolgung und Zwangshellenisierung verfügt haben, Ansatz zu einer nachhaltigen martyrologischen Tradition.75 Dem Aufstand der Makkabäer/Hasmonäer und der Glaubenstreue der Verfolgten wird es zugute gehalten, dass die Religion Israels auf Basis der Torah gerettet und gestärkt aus den kriegerischen und religiösen Auseinandersetzungen hervorgehen konnte.76 Dieses Bild, von 73 DELLING, G., Alexander der Große als Bekenner des jüdischen Gottesglaubens, JSJ 12 (1981), 1–51. 74 WEITZMAN, ST., Plotting Antiochus’ Persecution, JBL 123 (2004), 219–234. 75 VAN HENTEN, J. W./DEHANDSCHUTTER, B. A. G. M./VAN DER KLAAUW, H. J. (Hg.), Die Entstehung der jüdischen Martyrologie, Leiden 1989. 76 VAN HENTEN, J. W., The Maccabean Martyrs as Saviours of the Jewish People. A Study of 2 and 4 Maccabees, JSJ.S 57, Leiden 1997.

Die Zeit des Zweiten Tempels

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der hasmonäischen Geschichtsschreibung dramatisch entworfen und propagiert, hat infolge seiner Übernahme durch Flavius Josephus auch die christliche Sicht der Ereignisse bis heute bestimmt.

10.3 Die vier letzten Weltreiche In hellenistischer Zeit kam im Orient ein Motiv auf, das zu einem historiographischen Schema von weit reichender Wirkung geworden ist. Man behauptete, dass der Geschichtslauf mit einer Reihe von 3–4 Weltreichen abschließt. Im Buch Daniel zählte man entsprechend der damaligen weltpolitischen Lage vier solche Weltreiche, mit „Jawan“ als letztem (s. Reader, Nr. 14), später setzte man Rom an diese Stelle.

10.4 Edom/Esau: Rom als viertes Weltreich Daniels Rom wurde nach der Einverleibung Judäas ins Römische Reich als eine immer bedrohlichere Macht empfunden, obwohl unter Caesar für die Juden Privilegien festgeschrieben wurden, die eine freie Religionsausübung gewährleisteten. Der zwiespältige Eindruck verfestigte sich unter der Herrschaft des durch Rom eingesetzten Königs Herodes, der aus einer idumäischen Familie stammte. Als Ahnvater Edoms galt von alters her Esau, der Zwillingsbruder Jakobs. Als geläufiges Bild für diesen gefährlichen Nachbarn im Süden diente das „Wildschwein“ aus Ps 80,14. Im 1. Jh. n. Chr. war Edom zur Bezeichnung des Römischen Reiches geworden, und nach der Tempelzerstörung im Jahr 70 n. Chr. kam dazu die Parallelisierung mit Babel, der Weltmacht, die den ersten Tempel zerstört hatte, und beide Heiligtümer sollen sogar am selben Jahrestag zerstört worden sein, am 9. Ab, der folglich als jährlicher Fast- und Bußtag begangen wird. Die martyrologischen Traditionen aus der Makkabäerzeit wurden auf dir römische Herrschaft übertragen und verdichtet, der Gegensatz zwischen Israel und den Weltvölkern erhielt dadurch noch schärfere Konturen und es entstand eine bis in die Gegenwart wirksame literarische Konvention drastischer Verfolgungs- und Bedrohungsszenerien in Darstellungen der jüdischen Geschichte.

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Teil II. Die geglaubte Geschichte in der jüdischen Religion

Die Edom- und Babel-Symbolik wurde auch in das VierreicheSchema eingetragen (s. Reader, Nr. 14) und Edom/Esau, das Wildschwein aus dem Wald von Ps 80,14, galt von nun an als letzte Weltmacht, deren Fall man erhofft, damit der Übergang zur messianischen Herrschaft erfolgen kann. Bis dahin muss sich der kleinere Jakob, der das Erstgeburtsrecht erworben hat und dem daher der Vorrang eigentlich zusteht, mit dem großen, gewalttätigen Zwillingsbruder Esau arrangieren. Wann nach dem göttlichen Heilsplan diese Frist zu Ende geht, war allerdings schwer zu kalkulieren. Im Falle kriegerischer Bedrohungen hoffte man auf den Fall Roms und wagte sogar den militärischen Aufstand. Seit den verlustreichen und vergeblichen Revolten von 66–70 n. Chr. und 135–138 n. Chr. galt Rom als die gottfeindliche, frevelhafte Herrschaft schlechthin.77 Diese Einschätzung ging nahtlos auf das christliche Rom über, das Christentum erschien daher in jüdischen Augen nicht primär als Religion, sondern als feindliche Weltmacht. Der Antagonismus Jakob-Esau beherrscht das traditionelle jüdische Geschichtsdenken bis heute. In geringerem Maß gilt dies auch für den Antagonismus Isaak-Ismael (der islamischen Weltmacht). Und wann immer weltpolitische Veränderungen anstanden, eine der beiden Mächte zu fallen schien, knüpften sich daran auf der jüdischen Seite messianische Hoffnungen.

11.

Die messianische Herrschaft

Die endgeschichtliche Verwirklichung der Gottesherrschaft besteht in der Durchsetzung der Torah, insbesondere im Land Israel (s. Reader, Nr. 12.2). Und dies ohne Behinderung durch Weltvölker, die auf ihre angestammte Religion verzichten, den Gott Israels als einzigen Gott und die Torah grundsätzlich als oberste Autorität anerkennen, und die sieben noachidischen Gebote einhalten müssen. Diese theokratische Friedensordnung muss gegebenenfalls mit Gewalt durchgesetzt werden, und das ist die Aufgabe des Gesalbten (des HERRn) aus dem Haus Davids. Nur in diesem politisch-militärischen Sinn kommt dem Gesalbten (Messias) eine Erlöserfunktion zu. Erst in der Neuzeit kam 77 HADAS-LEBEL, H., Jérusalem contre Rome, Paris 1990.

Die messianische Herrschaft

61

über spätkabbalistische und häretische Tendenzen (Sabbatianismus) eine Erlöserfunktion hinzu, die das Seelenschicksal betrifft und gewisse Entsprechungen zu Christologie aufweist. Unterwerfen sich die Völker freiwillig, erübrigt sich ein endzeitlicher König Israels, denn die Verfassung Israels ist ja die Torah, und tatsächlich taucht die Messiasfigur nicht in allen Darstellungen der Endzeitereignisse auf. Der ideale Davidssohn repräsentiert als Herrscher ja nur auf vorbildliche Weise den Torahgehorsam und damit die theokratische Ordnung. Für das seit der Tempelzerstörung rabbinisch geprägte Judentum galt die eigene Verfassungsvorstellung als Inhalt der Torah, und darum wurden die Institutionen des rabbinischen Establishments, vor allem das Große Sanhedrin , auch bis in die Zeit der Sinaioffenbarung zurückprojiziert. Da aber die Torah bei genauerem Hinsehen keine eindeutige Verfassungsdefinition enthält, blieb die konkrete Gestalt der messianischen Herrschaft durchwegs vage und variabel definiert. Sie konnte auch nicht zum maßgeblichen Glaubensgegenstand werden, weil die entscheidende Glaubensfrage nie im WIE, sondern immer im WANN bestand. Wird durch die Behauptung, die Zeit sei gekommen, also durch das Einsetzen einer messianischen Bewegung, die Terminfrage aktuell, steht jeder vor der Entscheidung, ob er diese Einschätzung der Gegenwart teilt oder ablehnt. Das Zusammenspiel zwischen konkreter Politik und utopischen Gesichtspunkten verlieh den messianischen Bewegungen eine eigentümliche Dynamik, denn man kämpfte im Bewusstsein, dass es um die letzte Chance Israels in der Geschichte geht. Die Folge war ein Trend zu Intoleranz, sowohl gegenüber abweichenden Einschätzungen der geschichtlichen Lage, als auch in der Frage der „richtigen“ Torahpraxis. Die messianische Zeit wird in antiken Quellen teils als ideale, aber doch geschichtlich-irdische Endperiode beschrieben, teils auf üppige Weise ins Übernatürliche verklärt, weil eine klare begriffliche Unterscheidung zwischen Diesseits und Transzendenz noch nicht üblich war. Die Übergangsphase wird oft als harte Krisen- und Verfolgungsperiode dargestellt, als Zeit der „Wehen des Gesalbten“. Anfangserfolge bestärkten solche Annahmen, aber die Realität wird alsbald an der Utopie gemessen, und entspricht sie der Utopie nicht, spricht man von einer pseudo-messianische Bewegung. Die systemgerechte Konsequenz lautet dann: die Generation war noch nicht würdig, es bedarf ei-

62

Teil II. Die geglaubte Geschichte in der jüdischen Religion

ner intensiveren Torahfrömmigkeit, um zum Ziel der Heilsgeschichte zu gelangen. Damit alle Israeliten diese Möglichkeit vollkommener Torahpraxis wahrnehmen und Versäumtes nachholen können, wird die Auferstehung der Toten (Israels) für den Beginn dieser Heilsperiode erwartet. Die Möglichkeit ungehinderter Torahverwirklichung für ganz Israel ist somit der eigentliche Zweck der messianischen Herrschaft, alle anderen Begleiterscheinungen sind demgegenüber zweitrangig (s. Reader, Nr. 12i).

12.

Die Kommende Welt – der transzendente Heilszustand

In der Antike und zum Teil auch noch später wurde zwischen der endgeschichtlichen Heilszeit und dem endgültigen Heilszustand nicht oder nicht eindeutig unterschieden. Im Mittelalter wurde die übliche Rede von „messianischer Zeit“ und „Kommender Welt“ dazu benutzt, um einen vorbereitenden, endgeschichtlich -irdischen, und einen endgültigen transzendenten Heilszustand systematisch zu unterscheiden. Gebildete waren sich darin einig, dass man über die Kommende Welt genau so wenig auszusagen vermag, wie über die jenseitige Gottheit. Neuplatonisch Orientierte, weitaus die Mehrheit, glaubten zudem an eine präexistente, unsterbliche Seele, die nach ihrer Zeit in einem irdischen Leib wieder an ihren überirdischen Ursprung zurückkehrt, sofern sie sich als würdig erweist und nicht erst (durch Seelenwanderung bzw. Wiederinkorporierung) geläutert werden muss. Aristotelisch Orientierte sahen im erworbenen Intellekt ihre Unsterblichkeit verbürgt. Beide hielten die Torahpraxis für das beste Mittel zur Erreichung der göttlichen Zweckbestimmung des Menschen. Der Volksglaube malte freilich die messianische Zeit weiterhin in übernatürlichen Farben aus, versah die Kommende Welt phantasievoll mit übertriebenen irdischen Zügen und schwelgte in Beschreibungen eines Paradieses, in dem die Frommen nach dem Tod oder nach dem Endgericht Aufnahme finden.

Teil III. Jüdische Religion in der erlebten Geschichte

1.

Von den Anfängen bis zur Diadochenherrschaft (323 v. Chr.)

Vorbemerkung Diese Periode wird ausführlich im Rahmen der alttestamentlichen Wissenschaft behandelt und für detaillierte Informationen steht eine Reihe neuerer Darstellungen zur Verfügung.1 Lange hat man in der Regel die vorstaatliche Zeit als grundlegende Phase betrachtet und Späteres daran gemessen. Die literarische Quellenlage und die archäologischen Befunde ergeben jedoch erst für die spätere Königszeit ein einigermaßen gesichertes Bild der religiösen Verhältnisse. Erst infolge der Einigung der Stämme wurden auf der Basis älterer Überlieferungen auf ganz Israel bezogene, integrierende religiöse Grundstrukturen geschaffen, und es war deren Jerusalemer Spielart, die sich in der Spätzeit der Periode und vollends nach dem Exil als Elitereligion jener ethnisch-religiösen Gruppe durchgesetzt hat, die sich schließlich exklusiv als Israel verstand.

1 ALBERTZ, R., Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, GAT 8, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende der Königszeit, Göttingen 21996, Bd. 2: Vom Exil bis zu den Makkabäern, Göttingen 21997 (hier weitere Literatur); NIEHR, H., Religionen in Israels Umwelt, NEB Erg.-Bd. AT 5, Würzburg 1998; NAKHAI, B. A., Archaeology and the Religions of Canaan and Israel, ASOR Books 7, Boston 2001.

64

Teil III. Jüdische Religion in der erlebten Geschichte

1.1

Der regionale und zeitliche Rahmen

Die Region, in der die altisraelitische Religion Gestalt annahm, ist eine relativ schmale Landbrücke zwischen arabischer Wüste und Mittelmeer, in die immer wieder Stämme aus den angrenzenden Wüstenregionen einsickerten oder einfielen, um im Kulturland Fuß zu fassen.2 Doch die Besiedlungskapazität war und ist begrenzt und der Bevölkerungszuwachs zwang stets zur Expansion oder Abwanderung. Das Schicksal des Exils war insofern vorgegeben, daher auch ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Kostbarkeit des Landbesitzes. Und diese Landbrücke war Wechselwirkungen und konkurrierenden Einflüssen der frühen Hochkulturen und Großmächte im Norden (MesopotamienSyrien, Kleinasien) und im Süden (Ägypten) ausgesetzt. Für den zeitlichen Rahmen liefert neben den wenigen absoluten Daten die Archäologie mit ihrer Unterscheidung von Siedlungsschichten zahlreiche Anhaltspunkte.3 Das ergibt ansatzweise eine absolute Chronologie, aber die Einbettung in das Gesamtbild der vorderorientalischen Chronologie bleibt problematisch. Man datiert darum nach einer langen, einer mittleren und einer kurzen bzw. niederen Chronologie, meistens im Rahmen der mittleren Chronologie. Derzeit wird von manchen Forschern aber nachdrücklich eine tiefere Ansetzung vertreten, was eine Entzauberungen der bisher als Glanzzeit gewerteten davidisch-salomonischen Periode mit sich gebracht hat.4 In früher Zeit stand der ganze südsyrisch-phönizische Bereich unter ägyptischer Herrschaft und so prägte die ägyptische Kultur auch diese Region, die kulturell allerdings stärker nach Norden und Nordosten hin offen war.5 Im 13.–11. Jh. v. Chr., während der Seevölkerwanderungen, suchten die Philister von der Küste her das Hinterland unter Kontrolle zu bringen, und in den Auseinandersetzungen mit ihnen gewann Israel seine ersten Konturen als politisch-religiöse Einheit. Aber vom 2 ZWICKEL, W., Einführung in die biblische Landes- und Altertumskunde, Darmstadt 2002. 3 FRITZ, V., Einführung in die Biblische Archäologie, Darmstadt 1985. 4 FINKELSTEIN, I./SILBERMAN, N. A., Keine Posaunen vor Jericho, München 32006. 5 GÖRG, M., Die Beziehungen zwischen dem alten Israel und Ägypten, EdF 290, Darmstadt 1997; SCHIPPER, B. U., Israel und Ägypten in der Königszeit, OBO 170, Fribourg/Göttingen 2000.

Anfänge bis zur Diadochenherrschaft

65

Ende des 10. Jh. an beherrschte das assyrische Großreich das Gebiet und eroberte 722 das Nordreich Israel. Gegen Ende des 7. Jh. musste es dem neubabylonischen Reich weichen, unter dem auch das Königreich Juda (587/6 v. Chr.) sein Ende fand. Es folgte (ab 538) das Großreich der Perser unter der Dynastie der Achämeniden, in dem Juda als Tempelprovinz wieder eine weitgehende Autonomie erlangte, die unter Alexander dem Großen (ab 332) gewahrt und danach noch weiter gefestigt werden konnte. Und zwar so, dass die Autonomie nicht mehr nur der Provinz galt, sondern dem Judentum als ethnisch-religiöser Größe. Als unter römischer Herrschaft die politische Provinz-Selbstverwaltung verloren ging, blieben daher die errungenen Privilegien für die Religionsgemeinschaft als Ganzes so lange in Geltung, als römisches Recht in Geltung blieb.6 Seither musste das Verhältnis zur herrschenden Macht immer neu bestimmt werden, um – als schließlich weltweit zerstreute Gemeinschaften – einen modus vivendi zwischen eigenem Anspruch und realen Machtverhältnissen zu finden. Jüdische Politik und Religion waren also von früh an eng miteinander verquickt.

1.2

Die Ausbildung der politischen und kultischen Institutionen

Im 12.–11. Jh. v. Chr., am Ausgang der Spätbronzezeit und zu Beginn der Eisenzeit, haben verschiedene Sippen, die in das Berg- und Hügelland eingesickert oder eingedrungen waren, sich im Interesse der Selbstbehauptung zu Stammesverbänden zusammengeschlossen.7 Der allmähliche Zusammenschluss zu Stammesverbänden und Bündnissen schlug sich auch in der Auswahl und Verbindung von Stammestraditionen nieder, die später als Basis für eine gesamtisraelitische Geschichte dienten.8 Dazu gehörten v. a. die sog. Patriarchenerzählungen, die mit bestimmten örtlichen Kulttraditionen und mit Sippenüberlie6 RABELLO, A. M., The Jews in the Roman Empire, CS 645, Aldershot 2000. 7 FINKELSTEIN, I., The Archaeology of the Israelite Settlement, Jerusalem 1988. 8 GOTTWALD, N. K., The Tribes of Yahweh. A Sociology of the Religion of Liberated Israel, 1250–1050 BCE, Sheffield 1999; DEVER, W. G., Who Were the Early Israelites und Where Had They Come From?, Grand Rapids, MI/Cambridge, U. K., 2003.

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Teil III. Jüdische Religion in der erlebten Geschichte

ferungen verbunden waren.9 Ferner die Exodus- und Landnahmetraditionen und allerlei Überlieferungen über heroenartige politisch-militärische Rettergestalten („Richter“). Die Verehrung des Gottes JHWH diente als einigendes Band, hatte ihren gewichtigsten Sitz im Leben im militärischen Bereich, mit einem transportablen Ladeheiligtum als sichtbarem Symbol. Dieser kriegerische Aspekt prägte die vereinheitlichten Geschichtstraditionen, wurde durch die zahlreichen politischmilitärischen Konflikte immer wieder neu aktualisiert, und bestimmte schließlich, von einer entsprechenden Friedenssehnsucht begleitet, auch die Zukunftserwartungen. Diese Elitereligion erwuchs also aus der Verehrung des Gottes Israels, den die allmählich geeinten hebräischen Stämme mit dem Namen JHWH bezeichneten. Nach und nach wurde dieser Gott JHWH mit den zahlreichen Gottheiten des Landes gleichgesetzt, mit alten Sippen- und Stammesgottheiten ebenso wie mit lokalen, an bestimmte Heiligtümer gebundene Götter. Die in der Bibel erhaltenen, verschiedenen Gottesnamen und Gottesbezeichnungen bezeugen diese synkretistischen Prozesse, die die Israeliten untereinander einten und nach außen abgrenzten. Doch nicht im Sinne der Bewahrung und Durchsetzung einer vorgegebenen JHWH-Religion, wie es das traditionelle biblisch-jüdische Geschichtsbild voraussetzt, sondern im Sinne einer allmählichen Profilierung im Rahmen einer spannungsreichen Koexistenz. Die kanaanäische Kultur war den hebräischen Stammeskulturen nämlich überlegen, daher übernahmen die Hebräer die Bildungs- und Kulttraditionen der Einheimischen. Nicht in einem Zug und überall gleichzeitig, sondern mit einem deutlichen Gefälle zwischen ländlichen und städtischen Bereichen. Auf dem Land dominierten noch lange örtliche, naturverbundene Kultformen, in Jerusalem und in den anderen, aufkommenden städtischen Zentren der Israeliten vollzogen sich Aneignung und Konfrontation intensiver. Aber wie die archäologisch-epigraphischen Belege zeigen, war der religiöse Alltag selbst von einem Henotheismus noch weit entfernt. Die Identifizierung des Gottes JHWH mit den herkömmlichen `El - und Ba`al - Varianten erfolgte nach und nach und keineswegs sogleich im Sinne einer ausschließli9 LEINEWEBER, W., Die Patriarchen im Licht der archäologischen Entdeckungen, EHS XIII,17, Frankfurt a. M. 1980.

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chen Ersetzung. Auch die Bildlosigkeit, später charakteristisch für den jüdischen Kult, wurde erst in der späten Königszeit und v. a. seit dem babylonischen Exil zu einem zentralen Anliegen. Die Ergebnisse der neueren archäologischen Forschung haben die Diskrepanz zwischen tradiertem Geschichtsbild (der geglaubten Geschichte) und der nachweisbaren Geschichte sowie der zwischen Volksreligion und offiziellen Kulttraditionen eindrucksvoll dokumentiert.10 Träger des spezifisch israelitischen JHWH-Kultes waren allem Anschein nach in erster Linie Leviten , die während der Einigung der Stämme und dann in der davidisch-salomonischen Zeit in staatlichen wie kultischen Administrationen eine maßgebliche Rolle spielten. Und natürlich war es die Kultdienerschaft des Jerusalemer Tempels, die ihren Kult als einen gesamtisraelitisch relevanten begriff und propagierte. Und zwar in Verbindung mit dem politischen, gesamtisraelitischen Anspruch der davidischen Dynastie, unterstützt durch Propheten, die mit der exklusiv – henotheistischen JHWH-Verehrung ethische Forderungen verbanden und damit über die allgemein gängigen Funktionen höfischer oder kultischer Wahrsager hinauswuchsen. Unter den Bedingungen fremder Oberherrschaft musste ein König freilich auch den Göttern der herrschenden Großmacht einen angemessenen Platz im Kult einräumen, was heftige Kritik nach sich zog. Die alte Führungsstruktur mit gelegentlich auftretenden Retterfiguren („Richter“) erwies sich in den Auseinandersetzungen mit den Philistern und anderen Völkerschaften der Umgebung als unzureichend. Die Unterlegenheit der Hebräer war z. T. eine Folge ihrer technischen Rückständigkeit im Übergang von der Bronze- zur Eisenzeit, und z. T. einer militärisch ineffektiven Führungsstruktur.11 Man bedurfte einer straffen, ständigen Führung, und fand sie zunächst in einer Art Heerkönigtum, das alsbald in ein höfisch-dynastisches Königtum überging.12 Gegen Ende des 11. Jh. gelang es unter Saul (ca. 1020–1004 v. Chr.), 10 HACHLILI, R., Ancient Jewish Art and Archaeology in the Land of Israel, HdO VII, Abt. I bd. 2 B/4, Leiden 1988; DAVIS, TH. W., Shifting Sands. The Rise and Fall of Biblical Archaeology, New York/London 2004. 11 DREWS, R., The End of the Bronze Age, Princeton 1993. 12 METTINGER, T. N. D., King and Messiah, CB.OT 8, Lund 1976; AHLSTRÖM, G.W., Royal Administration and National Religion in Ancient Palestine, Leiden 1982.

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die militärische Bedrohung für einige Zeit zu vermindern, doch endete sein Leben in einer fatalen Schlappe, die den Aufstieg Davids aus dem Stamm Juda ermöglichte. David herrschte zuerst für 7 Jahre in Hebron über Juda, danach noch 33 Jahre über Gesamtisrael. Mit der Eroberung der alten Jebusiterstadt Jerusalem schuf er für sich und seine Nachkommen eine Residenzstadt, die für die politische und religiöse Geschichte des Judentums eine nachhaltige und symbolträchtige Bedeutung erhalten sollte. Ihm gelang es, die militärischen Errungenschaften Sauls auszubauen und sogar eine gewisse Vorherrschaft über die meisten Nachbarvölker zu erringen. Nach der Überführung des Ladeheiligtums nach Jerusalem (2 Sam 6) wurde dieses bewegliche Kriegsheiligtum des JHWH, des Gottes der Heerscharen , zum ortsfesten Symbol Gesamtisraels und des Jerusalemer Kultes, zuletzt zum Symbol des Bundes zwischen Gott und Israel, zur „Lade des Bundes“.13 Gleichwohl gab es auch eine machtkritische Tendenz, die gegen Ende der Königszeit und danach immer deutlicher zutage trat.14 Etwa 965–925 v. Chr. herrschte Davids Sohn Salomo über beide Teilreiche, dank der anhaltenden Schwäche der Großmächte noch unangefochten und mit engen Beziehungen zu Ägypten. Unter ihm setzte der Aufbau eines Territorialstaates mit regionalen Verwaltungszentren ein, was die Integration der ehemals kanaanäischen Städte nach sich zog. Ein Jahrhundert später sind die Strukturen eines territorial durchorganisierten Staatswesens archäologisch deutlich nachweisbar. Kultur und Schreibertraditionen der kanaanäischen Stadtstaaten wurden adaptiert und weitergeführt, und Bauten, speziell Kultbauten, aber auch Kultpraktiken der Königszeit entsprechen weithin dem, was aus dem syrisch-phönizischen Raum bekannt ist.15 Zukunftsbestimmend waren Salomos Maßnahmen zur Absicherung eines dynastischen Königtums, der Palastbau und der Tempelbau in Jerusalem. Aus der bescheidenen Stadt Davids wurde so eine repräsentative Residenz, Symbol des gesamtisraelitischen Anspruchs der Dynastie und zuletzt Symbol für Gesamtisrael selbst. Und aus dem salomonischen Palastheiligtum wurde im selben Maß ein Kultzentrum, Jerusa13 PITKÄNEN, P., Central Sanctuary and Centralization of Worship in Ancient Israel, Piscataway, NJ 2003. 14 MÜLLER, R., Königtum und Gottesherrschaft, FAT II/,3, Tübingen 2004. 15 DAHM, U., Opferkult und Priestertum in Alt-Israel, BZAW 327, Berlin 2003.

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lem zur Stadt des Heiligtums. Der Bau orientierte sich an phönizischsyrischen Vorbildern, bestand aus dem Tempelgebäude selbst, das dem Wohntempeltyp entsprach, und aus einem Altarheiligtum im Vorhof. Schließlich ergab sich nach mehreren Erweiterungen eine Anlage von 500 x 500 Ellen.16 Der Tempel war mit seinem öffentlichen Kult eine königliche Einrichtung und nicht etwa Gottesdienststätte für das Volk. Entsprechend der Doppelanlage als Wohn- und Altarheiligtum war der Kult abgestuft. Der Kultbetrieb in der Tempelhalle und im Allerheiligsten blieb der Öffentlichkeit verborgen. Durch die Überführung des Ladeheiligtums ins Allerheiligste wurde allerdings ein auch öffentlich bedeutsamer Faktor einbezogen: zur Vorstellung der kultischen Gottesgegenwart, der thronenden Erscheinung des kabôd , der „Herrlichkeit“ Gottes, trat die Gegenwart des Gottes/HERRn der Heerscharen. Auch der Opferkult am Brandopferaltar im Innenhof vor dem Tempelhaus war an sich keine Veranstaltung für Gottesdienstbesucher. Der regelmäßige Kult der Wochentage und der Feste war nämlich Staatskult, galt dem Wohl der Allgemeinheit und der Aufrechterhaltung der Naturordnung. Individuelle Opfer und Weihegaben konnten zwar auch dargebracht werden, waren aber in früher Zeit wohl eher an örtlichen Heiligtümern üblich. In Jerusalem kam es infolge der konkurrierenden Ansprüche von Hof und Heiligtum zu einer allmählichen Verdrängung des Königs aus dem kultischen Bereich und so zu einer Desakralisierung des Königtums. Am Ende dieser Prozesse ergab sich ein programmatisches Königsrecht mit einem Idealherrscherbild von eigentümlichem Charakter.17 Es begrenzt die Macht- und Prachtentfaltung des Herrschers und unterstellt ihn dem göttlich offenbarten Recht, der Torah, und fordert von einem König Israels, dieser Torah in vorbildlicher Weise Folge zu leisten (Ps 1–2). In priesterlichen Kreisen hat man später die Kultordnungen als Inhalt der Torah deklariert und somit zurückprojiziert. Als solche erhielten sie für die Zukunft programmatische und letztlich bindende Be16 BUSINK, T. A., Der Tempel von Jerusalem, Bd. 1, Leiden 1970; WRIGHT, G. R. H., Ancient Building in South Syria and Palestine, Bd. 1–2, Leiden 1985. 17 LAATO, A., A Star is Rising, Atlanta 1997.

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deutung, so im Pentateuch die Kultvorschriften in der sog. Priesterschrift und im Deuteronomium. Im Buch Ezechiel begegnet in den Kapiteln 40–48 hingegen ein visionäres Programm für die Zukunft. Von da aus zieht sich eine für Jerusalems Priestertheologie charakteristische Mischung aus architektonischen Tempelbautraditionen und kulttheologischen Entwürfen durch die Jahrhunderte. Die Folge war, dass die konkreten Verhältnisse an solchen utopischen Entwürfen gemessen und als unzulänglich empfunden wurden, obwohl die Kulttheologie das Heiligtum und die Stadt des Heiligtums mit Symbolik reich befrachtet hat. Folglich hat es von früh an Differenzen innerhalb der Priesterschaft gegeben, aber die kultische Institution wurde dadurch kaum geschwächt, denn sie hatte gegenüber der politischen den Vorteil der stärkeren Kontinuität und einer strafferen Organisation. Gerade die Tendenzen zur Zentralisierung und deren praktische Folgen in Form von Abgaben und Dienstleistungen führten zum Zerfall des Gesamtreiches. Unter Salomos Sohn Rehabeam trennten sich zwischen 930–926 v. Chr. die Nordstämme vom Haus Davids und richteten ein Wahlkönigtum ein. Jerobeam I. erklärte die alten Heiligtümer von Dan im Norden und Bethel im Süden zu offiziellen Kultstätten des Nordreiches mit Stierbildern als Symbolen des Gottes Israels. Die JHWH-Religion war damit zwar nicht abgeschafft, aber ihre massivste institutionelle Verankerung blieben der Königshof und der Tempel von Jerusalem.18 Im Jahr 730 v. Chr. fiel Damaskus der expandierenden Großmacht Assyrien zum Opfer. Im Jahr 722 v. Chr. erlitt das Nordreich dasselbe Schicksal, ein Teil der Bevölkerung wurde deportiert und durch Fremde ersetzt, und Juda wurde ein Vasallenstaat. Der Eindruck dieser Machtentfaltung war profund, Assyrien hat Kultur und Religion auch in Juda in mancher Hinsicht geprägt.19 Im Lauf der späten Königszeit war der Tempel von Jerusalem zum religiös-kultischen Orientierungspunkt für alle jene geworden, die den JHWH-Kult für ganz Israel propagierten und mit ihm den Anspruch auf ganz Israel verfochten. Dabei kam es wiederholt zu Auseinandersetzungen über die Religionspolitik und auch zu regelrechten Revolten, 18 LEHNART, B., Prophet und König im Nordreich Israel, Leiden 2003. 19 MCKAY, J., Religion in Judah under the Assyrians, London 1973; VERA CHAMAZA, G. W., Die Omnipotenz Assurs, Münster 2002.

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insbesondere im Nordreich. Für Juda deuten die deuteronomistisch gefärbten Nachrichten über Kult- und Rechtsreformen bestimmter Könige auf Konflikte, in denen höfische, levitisch-priesterliche und ständische (Honoratioren der Landbevölkerung) Faktoren eine Rolle spielten.20 Die letzte Reform fand unter dem König Josia ab ca. 622 v. Chr. statt und wird in der Regel mit dem Deuteronomium als dem damals angeblich gefundenem Torah-Buch verbunden. Damals war es während des Übergangs von der assyrischen zur neubabylonischen Herrschaft für eine begrenzte Zeit möglich, gesamtisraelitische Aspirationen zu verfolgen und Teile des ehemaligen Nordreichs zu erobern. Josias Nachruhm war dementsprechend positiv und seine religionsgeschichtlichen Weichenstellungen hatten auch nachhaltige Bedeutung.21 Nachdem die regionalen Heiligtümer schon früher aufgelassen worden waren,22 wurden nun auch die für die Volksreligion so wichtigen lokalen Kultstätten abgeschafft.23 Die frühe jüdische Religion gewann ihr besonderes Profil zum einen in den Auseinandersetzungen mit den jeweils herrschenden Mächten, in der Konfrontation Israels mit den Völkern und deren Göttern, in Erfahrungen der Ohnmacht und der Notwendigkeit eigener Macht zur Selbstbehauptung als Israel. Zum andern im internen Ringen zwischen Elitereligion und Volksreligion, das zugunsten der Elite ausging, weil diese durch eine politische Katastrophe vom Volk getrennt worden ist.

1.3

Vom Exil zur Restauration und zur hierokratischen Verfassungsform

Die entscheidenden Weichenstellungen von der altisraelitisch-altjudäischen Religion zum aufkommenden Judentum erfolgten nicht im Land Israel, sondern im babylonischen Exil nach der Auflösung des Königreiches Juda durch den babylonischen König Nebukadnezar 20 LOWERY, R. H., The Reforming Kings, JSOT S. 120, Sheffield 1991. 21 LAATO, A., Josia and David Redivivus, Stockholm 1992; SWEENEY, M. A., King Josiah of Judah, Oxford 2001. 22 HERR, B., „Deinem Haus gebührt Heiligkeit, Jhwh, alle Tage“. Typen und Funktionen von Sakralbauten im vorexilischen Israel, BBB 124, Berlin 2000. 23 GLEIS, M., Die Bamah, BZAW 251, Berlin 1997.

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(605–562 v. Chr.) im Jahr 587/6 v. Chr. Die Deportierten bestanden vor allem aus der Jerusalemer und judäischen Ober- und Mittelschicht, also hauptsächlich aus Vertretern der offiziellen JHWH-Religion. Isoliert von der Volksfrömmigkeit war es möglich, die alten Überlieferungen nach Maßstäben und Vorstellungen zu sichten und chronographisch einzuordnen, die den Zielsetzungen der Jerusalemer Elite voll entsprachen und für die Zeit danach als Leitlinien dienen sollten. In der Konfrontation mit der herrschenden Weltmacht und mit den Göttern der fremden Umwelt wurden gerade in dieser Zeit politischer Ohnmacht die Allmacht des Gottes Israels und somit auch ein monotheistischer Anspruch proklamiert.24 Die dadurch bedingte Konfrontation zwischen dem Anspruch der herrschenden Weltmacht und dem Anspruch der Herrschaft Gottes/Israels blieb von da an ein die Geschichte des Judentums bestimmender Faktor. In den Jahrhunderten danach wurde diese im Exil entwickelte Religion unter Ausgrenzung anderer Kulte auch im Land Israel konsequent durchgesetzt. Im feudalistisch organisierten Perserreich genossen die ethnischen Gruppen im Rahmen der Satrapien und Provinzen weitgehende Autonomie. Religionspolitisch erwies sich das Perserreich als tolerant, und die bildlose Gottesauffassung seiner Religion hob sich deutlich von den orientalischen und hellenistischen Kulten ab.25 Im Jahr 538 v. Chr. erließ der Perserkönig Kyros (559–530 v. Chr.) ein Edikt, das im Rahmen weit reichender Restaurationsmaßnahmen den exilierten Judäern die Rückkehr und den Wiederaufbau des Tem-

24 ROSE, M., Der Ausschließlichkeitsanspruch Jahwes, BWANT 106, Stuttgart 1975; DIETRICH, W./KLOPGENSTEIN, M. (Hg.), Ein Gott allein?, OBO 139, Fribourg/Göttingen 1995; GOLDSTEIN, J., Peoples of an Almighty God, New York/London 2002; OEMING, M. (Hg.), Der eine Gott und die Götter, AThANT 82, Zürich 2003; BECKER, U., Von der Staatsreligion zum Monotheismus, ZThK 103,2005, 1–16. 25 DAVIES, W. D./FINKELSTEIN, L. (Hg.), The Cambridge History of Judaism I. The Persian Period, Cambridge 1984; ESKENAZI, T. C./RICHARDS, K. H. (Hg.), Second Temple Studies. 2. Temple and Community in the Persian Period, JSOT.S 175, Sheffield 1994; BECKING, B./KORPEL, M. C. A. (Hg.), The Crisis of Israelite Religion, OuTS 42,1, Leiden 1999; ALBERTZ R./BECKING, B. (Hg.), Yahwism after the Exile, Assen (STAR 5) 2003; CARTER, C. E., The Emergence of Yehud in the Persian Period, JSOT.S 294, Sheffield 2000.

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pels zu Jerusalem unter einem davidischen Statthalter anordnete.26 Doch blieben viele der Exilierten wegen der besseren wirtschaftlichen Bedingungen in Mesopotamien. Ihre Repräsentanten unterhielten gute Beziehungen zum persischen Hof, weshalb sie auch auf das Geschehen in Juda/Jerusalem Einfluss ausüben konnten. Schon 538/7 v. Chr. errichteten die ersten Heimkehrer auf dem Tempelplatz einen Altar und nahmen den Opferkult unter dem Hohepriester Josua b. Jehozadak wieder auf. Kompetenzstreitigkeiten gab es zwischen der Heimkehrergemeinschaft und der Provinzhauptstadt Samaria. Die Exilsheimkehrer verstanden das Kyrosedikt monopolistisch und begrenzten die Kultteilnahme auf die Rückkehrergemeinschaft. Der Kompetenzstreit mit Samaria blieb bis ins späte 5. Jh. akut und wurde von innerjudäischen Richtungskämpfen mitbestimmt. Nach der Eroberung Ägyptens (525 v. Chr.) durch den Perserkönig Kambyses II. (530–522 v. Chr.) erhielt Juda eine neue geo-strategische Bedeutung und wieder einen intensiveren Zugang zu Ägypten. Dort existierte eine israelitisch-judäische Militärkolonie auf der Nilinsel Elephantine, die über einen eigenen Tempel verfügte und vorexilische Kulttraditionen pflegte. Diese Militärkolonie blieb auch unter persischer Herrschaft bestehen, über ihre Verhältnisse geben die sog. Elephantine-Papyri und andere Papyri aus Ägypten Aufschluss.27 Unter Darius II., des Großen (522–486 v. Chr.), wurde im Zusammenhang mit eine zweiten Heimkehrerwelle unter dem Davididen Serubbabel der Tempelbau wieder aufgenommen, und, propagiert durch die Propheten Haggai und Sacharja, im Jahr 516 v. Chr. vollendet. Die Restauration des Tempelkults erforderte eine entsprechende Kultorganisation, und das unter der Maßgabe, dass es nun abgesehen vom Berg Garizim in Samaria nur mehr das Jerusalemer Heiligtum gab. Der Kultbetrieb erforderte eine Kultdienstordnung und die Verteilung der Einkünfte erforderte eine Definition der Bezugsberechtigten. Die Neuordnung fand ihren Niederschlag in einer genealogischen Konstruktion, die alle Priester gleichrangig als Nachkommen Aarons und alle Kultdiener als Levi-Nachkommen definierte und der ange26 BEDFORD, P. R., Temple Restoration in Early Achaemenid Judah, JSJ.S 65, Leiden 2000. 27 PORTEN, B., Archives from Elephantine, Berkeley 1968.

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stammten Jerusalemer Priesterschaft als Nachkommen Zadoks, des ersten Hauptpriesters am Tempel Salomos, einen Vorrang einräumte. Als Leviten bezeichnete man auch Personen, die in der kultischen wie öffentlichen Verwaltung und im Rechtswesen tätig waren, wodurch das gesamte Gemeinwesen unter levitisch-priesterliche Kontrolle gestellt war. Der Kultdienst musste auf die diensttauglichen Priester und Leviten verteilt werden, und das setzte neben der genealogisch begründeten Hierarchie und der ortsansässigen „zadokidschen“ Priesterschaft auch eine funktionsbedingte Hierarchie voraus. Der Kultdienst wurde auf 24 Abteilungen (mišmarôt ) verteilt, die in 1 Chr 24 als Liste aufgeführt werden, aber 4 Gruppen zu je 6 Abteilungen bilden. Es handelt sich um ein ausgeklügeltes System, das eine möglichst gleich bleibende Beteiligung an den Anteilen bzw. Einkünften gewährleistete, die naturgemäß an Festtagen höher ausfielen. Diese 24 Abteilungen erschienen zweimal jährlich für 1 Woche zum Dienst am Heiligtum, und zwar an die Sabbatzyklen gebunden. Diese Dienstzyklen mussten in die kalendarische Ordnung eingepasst werden, und das gelang am besten im Rahmen des 364-Tage-Kalenders und der auf ihm aufbauenden Zeitrechnungsmethode in Siebenerzyklen. Das Thema Kalender spielte daher seit der Einführung der Kultordnung eine gewichtige Rolle. Die steuerliche Privilegierung des Kultpersonals, die laufende Erweiterung des Abgabenwesens, und die Abweisung der samaritanischen Ansprüche stärkten die Position der Exilsheimkehrer und verwandelte die Unterprovinz Jehûd(a) in einen Tempelstaat. Die davidisch-dynastische Komponente trat hingegen in den Hintergrund, denn die Perser ernannten keinen davidischen Statthalter mehr. Diese Entwicklung erreichte mit den Reformen unter Esra und Nehemia einen entscheidenden Fortschritt. Jehûd wurde eine von Samaria unabhängige, eigenständige Provinz mit Münzhoheit, in der letzten Zeit sogar ohne persischen Statthalter, mit dem Hohepriester als politischer Spitze. Das entsprach dem „levitischen“ Anspruch, wie er in Dt 33,8– 11 formuliert erscheint, und in der Folge galt diese politische Konstellation vor allem unter Priestern und Leviten als Teil der ursprünglichen mosaischen Ordnung. Die Reformen des Esra und Nehemia in der zweiten Hälfte des 5. Jh trugen auch zu einer Definition der Zugehörigkeit zur Kultgemein-

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schaft bei, denn mit der Forderung nach der Entlassung fremder Ehefrauen wurde nicht nur die Mischehe verpönt, sondern zumindest indirekt die Abstammung von einer jüdischen Mutter zum Hauptkriterium für die Zugehörigkeit zum Judentum festgelegt. Zur selben Zeit suchte man mit der persischen Autorität im Rücken durch Propagierung gewisser Feste eine bestimmte Kultpraxis durchzusetzen. Die innenpolitische Einordnung dieser Reformen ist schwierig. Zwischen dem damaligen Hohepriester und dem ebenfalls zadokidischen Priester Esra bestand jedenfalls ein Konflikt. In den Qumrantexten weist nichts auf diese Reformen und Differenzen hin und auch die Bücher der Chronik sind unter den Qumranfragmenten so gut wie nicht vertreten. Die Qumrantraditionen stammen also aus einer anderen, wenn auch ebenfalls priesterlich beherrschten Richtung.

1.4

Die Institution der Torah

Eine für die jüdische Religionsgeschichte insgesamt grundlegende Konzeption und Institution entwickelte sich teils aus der Praxis des Rechtslebens und teils als Folge programmatischer Entwürfe: die Vorstellung von der Torah als der absolut verbindlichen Offenbarung des Gotteswillens.28 Gesetze wurden in der Regel durch Herrscher oder durch legislative Instanzen städtischer Gemeinwesen erlassen, auch Rechtsprechung erfolgte in solchem Rahmen. Ein besonderes Merkmal der israelitischjüdischen Religion ist die Ausbildung der Vorstellung von einem Recht, das durch Gott offenbart wurde und auch den Herrscher bindet. Es spricht einiges dafür, dass es sich zunächst um kultische Vorschriften handelte, also um priesterliche Gesetze, die als tôrah (von lehôrôt : verbindlich anweisen) etikettiert und in kleinen, thematischen Gruppen zusammengestellt wurden („Das ist die Torah für den Fall xy“). Im Verlauf der Kompetenzkonflikte zwischen priesterlicher und königlicher Instanz hat man auf beiden Seiten bestimmte Gesetze als unbedingt bindend ausgewiesen, indem man sie mit dem Namen 28 CRÜSEMANN, F., Die Tora, München 1992; MAIER, J., Le Scritture prima della Bibbia, Brescia 2003.

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Mose verband. Mose galt als Anführer einer Gruppe, die mit der Überlieferung vom Exodus aus Ägypten verbunden war, und damit wurden auch Überlieferungen über eine Kultgründung und Gesetzsesoffenbarung in der Wüste verknüpft. Aus der sagenhaften Mose- Figur ist im Lauf der Königszeit eine Chiffre geworden, mit der Gesetze als durch Gott offenbarte, absolut verbindliche Vorschriften etikettiert wurden, und mit der die ständig akute Frage der Kompetenzverteilung zwischen Heiligtum und Hof im Sinne der deuteronomischen Theologie modellhaft veranschaulicht werden konnte. Das Konzept setzt die genealogische Konstruktion des Stammes Levi voraus, wonach Mose und sein Bruder Aaron Nachkommen des Jakobssohnes Levi waren. Mose vereint die Funktionen der politischen Führung, des priesterlichen Kultgründers und des Torah offenbarenden Propheten. Die kultische Kompetenz geht an Aaron und dessen Nachkommen über; die Kompetenz des Torahpropheten hingegen erstreckte sich, obschon ans Heiligtum gebunden, auf alle Bereiche des Rechts, blieb folglich zwischen staatlicher und kultischer Instanz strittig. Die Vorstellung, dass ein Herrscher bzw. eine Gottheit die Wahrung des Rechts garantiert, impliziert die Möglichkeit einer Appellation an die höhere bzw. höchste Instanz. Auch in Israel suchte man für schwierige Rechtsfälle eine Entscheidung am Heiligtum („vor Gott“, vgl. Ex 22,8), oder man appellierte an den König. In der Jerusalemer Tradition fand man einen Kompromiss zwischen priesterlicher und königlicher Kompetenz, der in Dt 17,8–13 und 18,15–18 formuliert vorliegt, unter den nachexilischen politischen Umständen aber einseitig der priesterlichen Autorität zugute kam. Derartig offenbarte Entscheidungen ohne Widerspruchsmöglichkeit schufen auch neue Tora, daher kam der Funktion des Torahpropheten eine beachtliche, freilich auch prekäre Machtposition im Spannungsfeld zwischen königlich/staatlichen und priesterlichen Ansprüchen zu. Grundsätzlich wird die priesterliche Gewalt dabei einer eventuell vorhandenen königlichen vorgeordnet, so wie es der Levi-Spruch in Dt 33,8–11 voraussetzt, und wie es noch die Verfassungskonzeption der Qumrantexte mit den beiden Gesalbten aus Aaron und Israel und einem Propheten vorsieht. Solange die Institution eines Propheten wie Mose (Dt 18,15–18) bestand, konnte die Vorstellung von einer am Sinai offenbarten, abgeschlossenen Torah nicht Platz greifen. Es gibt Hinweise darauf, dass am Jerusalemer Höchstge-

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richt die Urteilsfindung durch eine Art Orakel-Ritual erfolgte, das auch in manchen Pentateucherzählungen durchschimmert: Mose betritt – allein – das Zeltheiligtum, um dort Gott ein aktuelles Problem darzulegen und eine entsprechende Anweisung oder Entscheidung zu erhalten und dann mitzuteilen (vgl. 4Q375 und 376). Laut Josephus gehörte dazu der Prophet (wie Mose), der die göttliche Entscheidung dem Gericht mitteilte, worauf der Hohepriester das Urteil verkündete (Ant IV,218). Es handelte sich um ein justiziäres wie legislatives Verfahren mit nicht anfechtbarem Offenbarungsanspruch. Schon der Ezechiel-Entwurf (Ez 40–48) zeigt, wie konsequent man in der Jerusalemer Priesterschaft bereits im Exil die rituelle Einbindung der gesamten gesellschaftlichen Ordnung in ein System ritueller Heiligkeitsbereiche zu treiben gedachte. Die Konkurrenz zwischen priesterlich-levitischem und königlich-„weltlichem“ Anspruch lief in persischer Zeit jedenfalls zugunsten der priesterlichen Seite hinaus; folglich bestimmten die Jerusalemer Kultinstitutionen, was als offenbartes Gottesrecht bzw. „Torah des Mose“ gelten sollte. Das galt für einzelne Gesetze und für thematisch geordnete kleinere Sammlungen bis zu Torahbüchern, z. B. die im Deuteronomium oder in der Tempelrolle von Qumran (11Q19) verarbeitete Quellenschrift.29 Der modernen Vorstellung von einem Gesetzbuch entsprechen diese alten Sammlungen freilich nicht. Am ehesten ist eine Tendenz zur Abdeckung ganzer Sachverhaltsbereiche für den kultisch-rituellen Raum zu finden, aber die ritual- bzw. kultrechtliche Torahtradition hat in alter Zeit in erster Linie dem Kultpersonal gegolten, und erst im Sinne der Konzeption Israels als Priesterherrschaft und heiliges Volk (Ex 19,6) hat sich der Geltungsbereich zahlreicher Vorschriften über die Levitenschaft hinaus auch auf Laienkreise erweitert, ohne dass damit die Grenzen zwischen Kultdienerschaft und Laienvolk (im Gegensatz zur christlichen Deutung des Verses auf ein „allgemeines Priestertum“) verwischt wurden. Die neue Ordnung im Geist der Exilstraditionen zielte auf eine zunehmende rituelle „Heiligung“ und Absonderung Israels insgesamt und zugleich eine entsprechende Regulierung und gesellschaftliche Kontrolle durch das Kultpersonal, verbunden mit einem kultischen 29 MAIER, J., Die Tempelrolle und das „Neue Jerusalem“, München 1997.

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Abgabenwesen, das sich in nachexilischer Zeit dank seiner Privilegien unter persischer und hellenistischer Herrschaft überdimensional entwickeln konnte. Mit Zehent und anderen Abgaben an die Priester bzw. Leviten waren Vorstellungen von heilig und profan, rein und unrein verbunden, die sich bis in Details im (v. a. landwirtschaftlichen) Alltag auswirkten und dazu führten, dass die Konfrontation mit rituellen Vorschriften für die Erfahrung dessen, was Torah bedeutet, maßgeblicher wurde als die Erfahrung der Torah im Sinne des Straf- und Zivilrechts.30 Mit den Reformen unter Esra/Nehemia wurde für die Tempelprovinz Juda formal eine priesterlich-levitisch kontrollierte Rechtsgrundlage etabliert. Der damit beauftragte Schreiber, der Priester Esra aus zadokidischem Geschlecht, setzte mit Unterstützung des für 2 Amtsperioden entsandten Statthalters Nehemia nach der Mitte des 5. Jh. die Konzeption einer abgesonderten Kultgemeinschaft nach exilischen Normen durch. Was immer diese Esra-Torah enthalten haben mag, erwähnt werden fast nur kultisch-rituelle Regelungen. Die Ritualisierung der Kultgemeinschaft als Mittel der Abgrenzung gegenüber Altisraeliten in Samaria und Altjüdäern in der eigenen Provinz trug nach und nach ihre Früchte. In Juda selbst fügte sich die Mehrheit der neuen Ordnung und im selben Maß erweiterte sich die Kluft zwischen Juden und Samaritanern, die auf dem Garizim einen eigenen Tempel hatten.31 Diese Prozesse verliefen nicht in einem Zug, manche Kreise in Jerusalem/Juda pflegten weiterhin Beziehungen zu Samaria, wo man ja auch aaronidische und sogar zadokidische Traditionen in Anspruch nahm.

1.5

Die Sichtung und chronographische Einbindung der Traditionen und Programme

Von der kanaanäisch-hebräischen Volksreligion isoliert, entwarf die exilierte Oberschicht, Trägerin der davidisch-höfischen und v. a. der 30 MAIER, J., Systeme ritueller Reinheit im Rahmen sozialer Bindungen und Gruppenbildungen im Judentum des Zweiten Tempels, in: KONRADT, M./STEINERT, U. (Hg.), Ethos und Identität. Einheit und Vielfalt des Judentums in hellenistischrömischer Zeit, Paderborn 2002, 67–121. 31 KNOPPERS, G. N., Mt. Gerizim and Mt. Zion, BCSBS 64 (2004/05), 5–32.

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priesterlichen Traditionen Jerusalems, ein Geschichtsbild für ein Gesamtisrael, wie es danach im Pentateuch (1.–5. Buch Mose) und im deuteronomistischen Geschichtswerk (die Bücher Josua bis 2 Könige) ausgeführt wurde. Die offizielle Geschichtsschreibung gehörte anscheinend von alters her zum Berufsfeld von Propheten und daher wurden auch später die genannten biblischen Geschichtsbücher (als Frühe Propheten ) mit den eigentlichen Prophetenbüchern (als Späteren Propheten ) nach dem Pentateuch (als Torah ) das zweite Korpus biblischer Schriften unter der Bezeichnung Propheten zusammengefasst. Prophetentexte spielten bei der Ausbildung der exilisch-nachexilischen Elitereligion eine wichtige Rolle. Das Buch Jesaja nimmt dabei den ersten Rang ein und erhielt relativ früh eine feste textliche Gestalt; auch die Psalmen Davids galten als inspirierte und darum derart interpretierbare Texte. Ziel der Pentateuchredaktion war, alte Überlieferungen im Rahmen schematisierter Genealogien chronographisch zu ordnen und zu vereinen, um eine bis in die Urzeit zurückreichende, kontinuierliche Überlieferung und Geschichte nachzuweisen, deren ehrwürdiges Alter entsprechenden Respekt erheischt. Die Einfügung gesetzlicher Sammlungen in diesen Raster diente eben diesem Zweck und nicht der Erstellung eines Gesetzbuches. Im tatsächlichen Rechtsleben urteilte man offensichtlich auf der Basis handlicherer Sammlungen, wie sie noch durch Qumranfragmente bezeugt sind. Man hat sich aber wohl schon in spätpersischer Zeit auf eine bestimmte Pentateuch-Variante so weitgehend geeinigt, dass auch die Samaritaner sie – mit spezifischen Varianten – akzeptieren konnten und diese Fassung sollte gegenüber der fremden Oberherrschaft die nachweislich alte und somit verbindliche Überlieferung repräsentieren. So wurde dieser Pentateuch zur Basisurkunde der judäischen Autonomie,32 von Alexander dem Großen, von den Diadochen, und schließlich auch durch das Römische Reich als solches anerkannt. Aber als Basisdokument, das über seine geschriebenen Inhalte hinaus alles für die Gestaltung eines jüdischen Gemeinwesens Notwendige abdecken sollte, auch die tatsächlich verwendeten Gesetzbücher und die überlie32 WATTS, J. W. (Hg.), Persia and Torah, SBL. Symposium Series 17, Atlanta, GA 2001.

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ferten Bräuche und Sitten. Zu gegebenen öffentlichen Anlässen wurde aus dieser Urkunde öffentlich vorgelesen. In den folgenden Perioden wurde der Brauch zu regelmäßigen Pentateuchlesungen an Festen und am Sabbat (und an den Markttagen der Woche) verallgemeinert, und das offenbar zuerst in der Diaspora. Obschon in der persischen Zeit die biblischen Schriften ihre Endgestalt erhalten haben, lässt die Quellenlage eine Rekonstruktion des religionsgeschichtlichen Verlaufs nur begrenzt zu.33 Schwer abgrenzbar ist auch der viel diskutierte Einfluss der parsischen Religion. Grundsätzlich stellte diese weder inhaltlich noch politisch für das Judentum eine Herausforderung dar.34 Was man auf Einflüsse zurückgeführt zu werden pflegt, erklärt sich weithin auf Grund von ähnlichen Voraussetzungen, deren Zusammentreffen in der Tat eine Profilierung bestimmter Vorstellungen zur Folge hatte. So in Bezug auf die Gottesvorstellung und das Welt- und Menschenbild, für die Bildlosigkeit des Kultes, für dualistische Vorstellungen35 und auch für die endzeitorientierte Geschichtsbetrachtung.36 Solche Einflüsse dürften aber bereits unter dem Vorzeichen einer hellenistischen Adaptierung stattgefunden haben, denn im persischen Großreich, das für lange Zeit auch Ägypten einschloss, hat sich schon relativ früh auf allen Gebieten eine folgenreiche, synkretistisch-integrative Fähigkeit auswirken können.

33 ALBERTZ, R./BECKING, B. (Hg.), Yahwism after the Exile, STAR 5, Assen 2003; WILLIAMSON, H. G. M., Studies in Persian Period History and Historiography, FzAT 38 Tübingen 2004. 34 YAMAUCHI, E. M., Persia and the Bible, Grand Rapids, MI, 2001; KRATZ, R. G. (Hg.), Religion und Religionskontakte im Zeitalter der Achämeniden, Gütersloh 2002. 35 FREY, J., Different Patterns of Dualistic Thought in the Qumran Library, in: BERNSTEIN, M. J. u. a. (Hg.), Legal Texts and Legal Issues, STDJ 23, Leiden 1997, 275–335. 36 WIDENGREN, G./HULTG\ARD, A./PHILONENKO, M., Apocalyptique iranienne et dualisme qumranien, Paris 1995.

Diadochenherrschaft bis zur Zerstörung des Zweiten Tempels

2.

Von der Diadochenherrschaft bis zur Zerstörung des Zweiten Tempels

2.1

Einleitung

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2.1.1 Neutestamentliche Zeitgeschichte und Hellenismus Die hellenistisch-frührömische Periode war und ist als Neutestamentliche Zeitgeschichte Gegenstand intensiver Forschungen.37 Mit den Qumranfunden (seit 1948) rückte das zeitgenössische Judentum selbst zwar mehr ins Blickfeld, doch lange Zeit fanden die entscheidenden Quellen, nämlich die rechtlichen und liturgischen Texte, wenig Beachtung, denn im Vordergrund standen Vergleiche mit neutestamentlichen Befunden; sei es personbezogen zwischen dem Lehrer der Gerechtigkeit und Jesus, sei es thematisch, im Blick auf Gottes- und Menschenbild, Messiaserwartung, Erlösungsvorstellung, Dualismus, Schriftauslegung und dergleichen. In der älteren Forschung wurde aus völkisch-ideologischen Beweggründen die arisch-hellenische Komponente im Hellenismus überbetont und ein Gegensatz zwischen griechischem und hebräischem bzw. semitischem Denken postuliert. Von vorgeblich authentischen Ursprüngen ausgehend wurde dem Nachweis von Fremdeinflüssen großes Gewicht beigemessen und Mischkulturen wurden abgewertet. So wurde die Leistung des Hellenismus als einer integrativen Kraft unterschätzt und insbesondere der ostmediterrane und syrische Raum in seiner kreativen und kulturvermittelnden Funktion unterbewertet. Auch diesbezüglich haben sich die Sichtweisen in der Forschung verändert.38 Die Hebräer haben von der späten Königszeit an ihr Verhältnis zu Persern (Madaj ) und Griechen (Jawan ) in chronographischen Genea37 SCHÜRER, E., History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ, 175 B. C.A. D. 135, 3 (4) Bd., Edinburgh 1973–1987; DAVIES, W. D./FINKELSTEIN, L. (Hg.), The Cambridge History of Judaism, Bd. 2: The Hellenistic Age, Cambridge 1988; SANDERS, E. P., Judaism. Practices and Belief 63 BCE – 66 CE, London/Philadelphia 1992; GRABBE, L. I., Judaic Religion in the Second Temple Period. Belief and Practice from the Exile to Yavneh, London 2000. 38 HENGEL, M., Judentum und Hellenismus, Tübingen 31988; FELDMAN, L. H., Jew and Gentile in the Ancient World, Princeton 1992; VAN DER HORST, P. W., Hellenism – Judaism – Christianity, Kampen 1994.

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logien als Jafet-Nachkommen verhältnismäßig positiv bestimmt. Das entsprach auch den Erfahrungen unter Alexander dem Großen (gest. 323), der 332 v. Chr. Syrien/Palästina sowie Ägypten unterwarf, wobei Judäa seine Position als autonome Tempelprovinz unter dem Hohepriester und einer Gerusie (Ältestenrat) halten konnte. In der Folgezeit kam es zu zahlreichen hellenistischen Städtegründungen und so zu einer häufigeren Begegnung mit Griechen. Für Juden bedeutete dies nach der persischen Herrschaft erneut eine Konfrontation mit dem Polytheismus, mit Bildwerken, speziell Götterbildern, und in der Nachbarschaft identifizierte man die einheimischen Götter alsbald mit griechischen und später auch römischen. Bei den Juden war die Darstellung von Symbolen und in gewissem Grad auch von Tieren zwar nicht verpönt, die archäologischen Zeugnisse sind dafür recht zahlreich, aber im Fall einer kultischen Relevanz wurde das Bilderverbot strenger verstanden und angewendet.39 Die Vertrautheit mit dem Griechischen war eine Frage der sozialen Stellung, der Bildung und der innerjüdischen Orientierung. Fachausdrücke aus dem öffentlichen Leben wurden – wie danach auch aus dem Lateinischen – allmählich in beachtlicher Zahl als Fremd- oder Lehnwörter ins Aramäische und Hebräische übernommen. Zur Literaturund auch Volkssprache wurde das Griechische aber nur in der griechischsprachigen Diaspora.40 Im Land Israel und in Mesopotamien blieb das Aramäische im Alltag fest verwurzelt und das Hebräische wurde als Sprache der eigenen Bildungstradition, der Religion und insbesondere der Torah bewusst weiter gepflegt. Man lehnte den Polytheismus natürlich entschieden ab, nahm aber auch Verwandtes wahr. Die stoische Vorstellung einer Weltordnung etwa, die der Weise zu ergründen vermag, um sich ihr gemäß zu verhalten, entsprach dem Weltbild der orientalischen und jüdischen Weisheit weitgehend.41 Auch später,

39 HACHLILI, R., Ancient Jewish Art and Archaeology in the Land of Israel, HAW VII, i,2 B/4, Leiden 1988; DIES., Ancient Jewish Art and Archaeology in the Diaspora, HO I Ancient Near East 35, Leiden 1997; ALKIER, ST./ZANGENBERG, J. (Hg.), Zeichen aus Text und Stein, Tübingen 2003. 40 WALSER, G., The Greek of the Ancient Synagogue, Lund 2002. 41 MÜLLER, H.-P., Kohelet im Lichte der frühgriechischen Philosophie, in: CLINES, D. J. A. u. a. (Hg.), Weisheit in Israel, Münster 2003, 67–80; WICKE-REUTER, U.,

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in der talmudischen Zeit, stieß die hellenistische Kultur keineswegs nur auf Ablehnung, und selbst im parthischen Herrschaftsbereich prägte sie das Judentum mehr, als es die parsische Kultur vermochte.42 Griechische Bildung bedeutete nicht unbedingt eine Abwendung von den eigenen Traditionen, sie erleichterte eher deren Akzeptanz für die neue Zeit.43 Auf ganz unmerkliche Weise ergab sich vor allem in Bezug auf die Kosmologie ein intensiver Austausch von Vorstellungen.44 Auch das Menschenbild wandelte sich, ein mehr individualistisch und gleichzeitig astrologisch-deterministischer Akzent machte sich bemerkbar. Die Vorstellung von einer präexistenten und unsterblichen Seele wurde (in meist vulgarisierter Form) an biblische Voraussetzungen angeknüpft und seither bis ins 20. Jh. als durchaus jüdisch empfunden.45 Besonderes Interesse galt dem individuellen Geschick der Märtyrer, was die gleichzeitige Ausformung der Seelenvorstellung und der – eigentlich konkurrierenden – Hoffnung auf eine Auferstehung der Frommen gefördert hat. Im Ganzen haben nicht griechische Sprache und Kultur Anlass zu Konflikten gegeben, diese ergaben sich eher aus politischen Konstellationen und Machtansprüchen, wobei allerdings – v. a. rückblickend – mit der Behauptung der Wahrung verbindlicher Traditionen auch religiöse und kulturelle Faktoren ins Spiel kommen konnten. Die religionsgeschichtliche Relevanz des Hellenismus und die Konfrontation mit ihm wurden in der Fachliteratur gern überzogen dargestellt und im Sinne der hasmonäischen Propaganda dramatisiert.46 Aber gerade die Geschichte der Hasmonäer selbst beweist, wie wenig diese Vereinfachung zutrifft.

42 43 44

45 46

Göttliche Providenz und menschliche Verantwortung bei Ben Sira und in der Alten Stoa, BZAW 298, Berlin 2000. NEUSNER, J., Jerusalem and Athens, JSJ.S 52, Leiden 1997. WISCHMEYER, ODA, Die Kultur des Buches Jesus Sirach, BZNW 77, Berlin 1995. WEISS, H.-F., Untersuchungen zur Kosmologie des hellenistischen und palästinischen Judentums, Berlin 1966; FRÜCHTEL, U., Die kosmologischen Vorstellungen bei Philo von Alexandrien., ALGHJ 2, Leiden 1968. FISCHER, U., Eschatologie und Jenseitserwartung im hellenistischen Diasporajudentum, BZNW 44, Berlin 1979. MAIER, J., Israel als Gegenüber der Diadochenreiche, in: SIEGERT, F. (Hg.), Israel als Gegenüber. Vom Alten Orient bis in die Gegenwart, Göttingen 2000, 53–72.

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2.1.2 Die literarischen Quellen Man hat auf anachronistische Weise die Literatur dieser Zeit an der sog. christlichen Bibel gemessen und folglich in biblisch-kanonische, deuterokanonische oder apokryphe und pseudepigraphe Schriften eingeteilt.47 Die meisten Sammeleditionen erschienen daher unter dem Titel „Apokryphen und Pseudepigraphen“. Eine andere Einteilung erfolgt nach sprachlichen Kriterien, hebräisch, aramäisch und griechisch, wobei wieder Schriften in Originalsprache und Übersetzungen zu unterscheiden sind. Die jüdisch-hellenistischen Originalschriften nehmen einen besonderen Platz ein, ebenso die Werke des Historikers Flavius Josephus, dem wichtigsten Quellenkorpus für die Periode. Im Ganzen spiegeln diese – großteils dank christlichem Interesse – erhalten gebliebenen Schriften eine bunte und gegensatzreiche Vielfalt von Richtungen und Gruppen.48 Das Auftauchen mancher bekannter und zahlreicher, bisher unbekannter Texte in ihrer Originalsprache unter den Qumranfunden hat die Diskussion neu belebt, doch die vorrangige Behandlung der Einzeltexte in ihrem Verhältnis zu biblischen Schriften, die fast immer als vorausgesetzt gelten, blieb Gewohnheit. Jedoch wurde das literarische Erbe der Epoche als Ganzes und im Detail seither vorurteilsfreier wahrgenommen, wie die neueren Sammeleditionen in modernen Übersetzungen und Kommentierungen zeigen.49 Die Qumrantexte werden in der Regel als Korpus für sich publiziert und übersetzt.50

47 LEHNHARDT, A., Bibliographie zu den jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischerZeit, JSHRZ VI/2 Gütersloh 1999; DI TOMMASO, L., A Bibliography of Pseudepigrapha Research 1850–1999, JSP.S 39 Sheffield 2001. 48 STONE, M. E. (Hg.), Jewish Writings of the Second Temple Period, CRJNT II,2, Assen 1984. 49 Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit, 6 Bd., Gütersloh (JSHRZ) 1973–1999; Charlesworth, J. H. (Hg.), The Old Testament Pseudepigrapha, 2 Bd., Garden City 1983/85. 50 MAIER, J., Die Qumran-Essener. Die Texte vom Toten Meer, 3 Bd., München 1996 (hier weitere Literatur).

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2.2

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Unter ptolemäischer Herrschaft (305–200/198 v. Chr.)

Judäa wurde unter den Diadochen zum Zankapfel zwischen den Seleukiden im Norden und den Ptolemäern in Ägypten. In fünf syrisch-ägyptischen Kriegen wurde mit wechselndem Kriegsglück um das Gebiet gerungen, und dementsprechend schwierig war für Judäa/Jerusalem die politische Positionierung zwischen den beiden Mächten. Widersprüchliche außenpolitische Orientierungen, innenpolitische Machtkämpfe und wirtschaftliche Interessen reichten bis in die hohepriesterliche Sippe hinein und wurden auch unter religiösen Vorzeichen ausgetragen. Für die Juden Jerusalems/Judäas änderte sich der politische Status unter ptolemäischer Oberherrschaft jedoch keineswegs zum Schlechteren. Aber die Familie der Tobiaden aus dem Ostjordanland, die bereits unter Esra-Nehemia in Jerusalem ihren Einfluss geltend gemacht hatte, kooperierte zunächst mit dem Ptolemäerhof und profitierte davon im Rahmen der Steuerpachtpraxis. Der Tobiade Joseph verhinderte gegen Mitte des 3. Jh. sogar einen unzeitigen Abfall des Hohepriesters zu den Seleukiden und übernahm die „prostasía des Volkes“. Gegen Ende des Jahrhunderts wechselte Joseph mit seinen Söhnen aber die Seite und bereitete den Machtwechsel zugunsten der Seleukiden vor. Nur sein jüngster Sohn Hyrkan blieb den Ptolemäern ergeben. Jerusalem/Judäa war zudem mit der Tatsache konfrontiert, dass in Ägypten ein immer zahlreicher und kulturell gewichtig werdender jüdischer Bevölkerungsanteil die griechische Sprache übernahm und sich als eigenständige Judenheit mit besonderen Überlieferungen profilierte.51 Eine Reihe von Texten setzt für Judäa einen entscheidenden Wandel und eine Krise in der siebenten Jobelperiode (von 10 zu 49 Jahren) voraus, 294 Jahre nach der Tempelzerstörung von 586 v. Chr. Das führt in die Zeit zwischen 293/2–244/3 v. Chr., in die der 2. syrische Krieg (260–253 v. Chr.) fällt, in die Zeit des Ptolemaios II. Philadelphos (283–246), unter dem der Pentateuch ins Griechische übersetzt worden ist. Es handelte sich wohl um einen innerpriesterlichen Machtkampf, der mit gegensätzlichen außenpolitischen Orientierungen ver-

51 MÉLÈZE MODRZEJEWSKI, J., The Jews of Egypt: From Ramses II to Emperor Hadrian, Lawrenceville 1998.

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bunden war. Diese Krise wird in der Wochenapokalypse (Hen 93,3–10 + 91,12–17) und in der Tierapokalypse (Hen 85–90) parallel erwähnt. Auch Test. Levi 14–18 enthält eine Henoch-Tradition ähnlicher Art, und da ist von Abfall die Rede, von Verstößen gegen Torah und Propheten, sowie von der Entweihung des Heiligtums und von unziemlichen Priestern. Und der Qumrantext 4Q390 1–2 bestätigt diese negative Wertung der siebenten Jobelperiode und erwähnt die Kalenderfrage unter den Differenzen. Damals traten in Judäa also Veränderungen ein, die von einem Teil der Priesterschaft als Abfall von der richtigen Ordnung gewertet wurden. Diese Richtung sah daher in einem seleukidischen Sieg die Chance zur Durchsetzung ihrer Positionen, und gegen 200 v. Chr. zeichnete sich tatsächlich eine solche Wende ab. Die Meinung, dass die Geschichte ihrem Ende zustrebe, war damals bereits weit verbreitet und wurde in der Folge auch im Judentum in allerlei Varianten vertreten.52

2.3

Unter seleukidischer Herrschaft: Triumph und Zeit des Frevels

Judäa wurde 198 v. Chr. Teil des Seleukidenreiches. In Jerusalem kooperierte eine Partei, wohl die Vertreter eines „Bundes im Land Damaskus“, mit den Eroberern (3Makk 1,8–2,14). Der Hohepriester Simon II. erhielt zum Lohn Privilegien, die den rituellen Vorstellungen seiner Partei entsprachen und den sozialen Status des Kultpersonals weiter festigten. Auch die Tempelanlage konnte dank großzügiger Zuwendungen renoviert und ausgebaut werden, und auch die Samaritaner bauten nun eine exakt geplante hellenistische Stadt und erneuerten den Tempel auf dem Garizim in hellenistischem Stil. Diese in Jerusalem siegreiche, streng priesterlich orientierte Richtung, ist erst durch die Qumrantexte in ihren Konturen deutlicher erkennbar geworden. Sie wertete den Vorgang von 198 v. Chr. als heilsgeschichtlich bedeutsame Wende und datierte sie auf Grund ihrer präzisen Zeitrechnung 52 HELLHOLM, D. (Hg.), Apocalypticism in the Mediterranean World and the Near East, Tübingen 1983; COLLINS, J. J./CHARLESWORTH, J. H. (Hg.), Mysteries and Revelations, Sheffield 1991; GRABBE, L. L./HAAK, D. (Hg.), Knowing the End from the Beginning, JSP.S 46, London/Sheffield 2003.

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auf 390 Jahre (des 364-Tage-Kalenders) nach der Tempelzerstörung (CD I, 5 ff). Die Ptolemäer waren mit Rom im Bunde und das Seleukidenreich geriet in immer größere Bedrängnis durch diese vom Westen her vordringende, neue Großmacht. In Jerusalem war man über die außenpolitische Orientierung und auch innenpolitisch uneins. Dieselbe Quelle (CD I), die den Herrschaftswechsel von 198 v. Chr. so positiv wertete, spricht von zwanzig Jahren der Ungewissheit über die richtige Orientierung, und danach, also ca. 178/77 v. Chr., habe Gott einen môreh çädäq auftreten lassen, der den richtigen Weg weisen konnte. Die Funktionsbezeichnung môreh çädäq galt wahrscheinlich einem priesterlichen Amtsträger im Sinne des „Propheten wie Mose“ von Dt 18,15–18, den noch Josephus in Ant IV,218 als Mitglied des Höchstgerichts erwähnt. Der um 178/7 v. Chr. in dieses Amt gekommene Priester beanspruchte aber außer der legislativen, torah-prohetischen Kompetenz auch die Kompetenz der richtigen heilsgeschichtlichen Standortsbestimmung, und diese wurde mit Hilfe endzeitlich-aktualisierender Prophetendeutungen (Pešär-Methode) untermauert.53 Der so heraufbeschworene religiöse Konflikt fiel in eine politische Krise, in der die alte proseleukidische Front des Bundes im Lande Damaskus zerbrach. Das Seleukidenreich stand damals vor Thronfolgewirren, doch Antiochus IV. Epiphanes setzte 175 v. Chr. unversehens rasch seinen Thronanspruch durch, worauf der den Ptolemäern treu gebliebene Tobiade Hyrkanos sich das Leben nahm. Der amtierende Hohepriester Onias III. war wegen seiner Verwicklung in Hyrkans proptolemäische Politik in Bedrängnis geraten, wurde nach Antiochien zitiert und suchte an einer Asylstätte Zuflucht. Dort wurde er angeblich ermordet; nach anderen Traditionen floh er nach Ägypten und gründete eine Militärkolonie mit einem Tempel im Gebiet von Heliopolis, was aber auch seinem Sohn Onias (IV.) zugeschrieben wurde. Die Richtung des amtierenden môreh çädäq kam nicht mehr zum Zug. Einmal, weil die streng ritualistische Linie den Interessen Vieler zuwiderlief, zum andern, weil Gruppen wie die Tobiaden die Gelegenheit nutzten, die etablierte Ordnung zu ihren Gunsten umzu53 MAIER, J., Der Lehrer der Gerechtigkeit, Franz Delitzsch Vorlesung 5, Münster 1996.

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gestalten. Dem König wurden entsprechende Vorschläge unterbreitet, vor allem bezüglich der Besetzung des Hohepriesteramtes, und so wich dieser von der üblichen Erbfolge innerhalb der Oniadenfamilie ab. Er überging den Erstgeborenen des Onias und vergab, wie auch sonst üblich, das Amt an den Meistbietenden. Für ca. 2 Jahre war es der Bruder des abgesetzten Onias, Jason/Ješûa, der Jerusalem in eine hellenistische Polis umgestalten wollte. Ihn verdrängte bereits ca. 172 v. Chr. sein eigener Bruder Menealos/Onias, aber Jason hatte eine kampfbereite Anhängerschaft. In die folgenden bewaffneten Auseinandersetzungen wurde der König mit hineingezogen. Auch diesmal kamen weltpolitische Faktoren mit ins Spiel. Der König versuchte in zwei Feldzügen (169/67), sich das Ptolemäerreich einzuverleiben und wurde daran durch ein römisches Ultimatum gehindert. In diesem Zusammenhang kam er auch zweimal nach Jerusalem und nützte – wie auch anderswo – die Gelegenheit, um den Tempelschatz zu konfiszieren. Schließlich wurde sogar ein synkretistischer Kult eingeführt, der dem syrischen Ba`al šamêm galt, den man mit Zeus Hypsistos identifizierte. Monotheistisches Bekenntnis, rituelle Reinheitsvorschriften, Beschneidung und Sabbatheiligung wurden im Gegenzug zu Grundmerkmalen des Widerstandes, vor allem die Tempelentweihungen mobilisierten eine breite Front unterschiedlicher Gruppierungen. So kam es zum offenen Aufstand, den der König, der militärisch an der Ostgrenze gegenüber den Parthern stark in Anspruch genommen war, nicht mehr unter Kontrolle bringen konnte. Er widerrief die kultischen Verordnungen zwar noch 165 v. Chr. kurz vor seinem Tod und suchte einen Ausgleich, und so auch sein Sohn Antiochus V. Doch zu der Zeit hatte sich innerhalb der Aufständischen schon eine neue politische Kraft formiert, deren Anführer, die Brüder aus der Priesterfamilie der Hasmonäer („Makkabäer“), bereits eigene, weitergehende Ziele verfolgten. Judas Makkabäus eroberte 164 v. Chr. Jerusalem zurück, und am 25. Kislev (im Dez.) erfolgten die Wiedereinweihung des Tempels und die Wiederaufnahme des traditionellen Kultes, was man bis heute am achttägigen Chanukkah-Fest vergegenwärtigt. Judas erreichte 163/2 v. Chr. einen akzeptablen Frieden, der Hohepriester Menealos wurde hingerichtet, und der König ernannte als Kompromisslösung Alkimos (163/2–160/59 v. Chr.) zum Hohepriester.

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Die erhaltenen Quellen schildern das Geschehen unter dem Vorzeichen einer schicksalhaften Konfrontation zwischen hellenisierenden Abtrünnigen und torahtreuen Frommen bzw. siegreichen Hasmonäern. Die Qumrantexte messen den Wirren unter Antiochus IV. aber keinen so hohen Stellenwert zu, sie erscheinen eher als Folge einer Krise im siebenten Jubiläum, im 3. Jh. v. Chr.

2.4

Hasmonäerherrschaft, Parteienstreit und Übergang zur Herrschaft Roms

Die innerseleukidischen Rivalitäten gewährten der hasmonäischen Politik einen gewissen Spielraum, und dabei gewann die Anlehnung an Rom zunehmend an Bedeutung. Auf den Tod des Judas Makkabäus und des Hohepriesters Alkimos im Jahr 160 folgte eine schwierige Übergangsperiode, offenbar ohne amtierenden Hohepriester. Jonathan Makkabäus musste als Nachfolger seines Bruders die Lage erst konsolidieren, nützte dann aber die seleukidischen Thronrivalitäten geschickt aus und wurde 153 v. Chr. als Hohepriester ernannt und anerkannt. In Jonathan sehen viele den Frevelpriester der Qumrantexte und somit den Gegenspieler des Lehrers der Gerechtigkeit , doch das ist nicht zu belegen. Josephus erwähnt im Zusammenhang mit dieser Zeit zwar erstmals die Existenz von drei Richtungen (s. u.), Essener, Sadduzäer und Pharisäer, ordnet sie aber nicht in den Kontext des Geschehens ein. Jonathan selbst scheiterte gerade an seiner Schaukelpolitik zwischen den seleukidischen Thronanwärtern und fand 142 den Tod. Sein Bruder Simon stabilisierte die Lage innerhalb kurzer Zeit und konnte 141 v. Chr. die Unabhängigkeit Judäas erreichen. Eine Volksversammlung bestätigte ihn als Hohepriester und als politisch-militärische Spitze des Tempelstaates mit dem Recht der dynastischen Erbfolge. Im selben Jahr eroberten die Parther Mesopotamien, und die dortigen Juden kamen unter die Herrschaft einer Großmacht, die bis zur islamischen Eroberung währte und mit Rom konkurrierte. Johannes Hyrkan I. (134–104 v. Chr.), Simons Bruder und Nachfolger, eroberte nach Anfangsproblemen Samaria und zerstörte den Tempel auf dem Garizim. Doch gelang es nicht, die Samaritaner für Jerusalem zu gewinnen, sie profilierten sich nun endgültig als konkurrieren-

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de Größe.54 Anders im Süden, wo die Edomiter unterworfen und erfolgreich zwangsjudaisiert wurden. Die Hasmonäer brauchten als Hohepriester Rückhalt im Kultpersonal, v. a. in der Priesteraristokratie (v. a. Zadokiden). Ein Teil der Priesterschaft arrangierte sich mit den neuen Machthabern und bildete mit ihrem Anhang jene Gruppierung, die dann als Sadduzäer bezeichnet wurde. Auf der anderen Seite versuchten Laiengruppen, ihre während der Kämpfe gegen die Seleukiden errungenen Positionen zu halten und auszubauen. Aber Johannes Hyrkan warb eine Söldnertruppe an und war danach nicht mehr im selben Maß vom Laienvolk abhängig. Er erneuerte auch das Bündnis mit Rom. Die Bündelung der weltlichen Macht und der hohepriesterlichen Funktion entsprach dem traditionellen levitischen Herrschaftsanspruch. Als folgenreicher empfand man die Einführung der Monarchie unter Aristobul I. (104–103) und Alexander Jannaj (hebräisch: Jonathan, 103–76 v. Chr.). Ein König Israels unterlag dem überlieferten, die Macht des Herrschers stark einschränkenden Königsrecht der Torah, doch die Hasmonäer herrschten eher nach dem Vorbild hellenistischer Könige, und so waren Konflikte vorgezeichnet, umso mehr, als die Endzeitstimmung die Kriterien verschärfte. Mit dem Jahr 98 v. Chr. erwartete man den Beginn der nächsten 490-Jahr-Periode nach der Tempelzerstörung, eine Periode der Kriege und eines neuen Tempelbaues (Hen 91,12). Alexander Jannaj konnte mit seinen Feldzügen für einige Zeit den Eindruck verstärken, dass diese „Periode des Schwertes“ begonnen habe, doch provozierte er auch Widerstand. Er stützte sich nämlich auf die priesterlich-aristokratische Richtung der Sadduzäer, was zunächst den Zadokiden der Qumrantradition zugute kommen konnte, so dass sie für den „König Jonathan“ offiziell beteten (4Q448) und die Anlage von Qumran errichteten. Pharisäisch geführte Gruppen revoltierten gegen den König und riefen sogar den Seleukidenkönig zu Hilfe, doch Alexander Jannaj siegte und ließ darauf angeblich 800 Rebellen wegen Volksverrats (vgl. 11Q19 Kol. 64,6–13) „ans Holz hängen“ (Josephus Bell I,97; 4Q169 Frg. 4+3). Die gewaltsame Expan54 PUMMER, R., Samaritan Synagogues and Jewish Synagogues, in: FINE, ST. (Hg.), Jews, Christians, and Polytheists in the Ancient Synagogue, London/New York 1999, 118–160; ZANGENBERG, J., SAMARIA. Antike Quellen zur Geschichte und Kultur der Samaritaner in deutscher Übersetzung, Tübingen 1994.

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sion, die unter Alexander Jannaj schließlich das Küstenland erreichte, hat auch das Verhältnis zur nichtjüdischen Umwelt schwer belastet und mit den rituellen Absonderungspraktiken den Vorwurf der Menschenfeindlichkeit (odium humani generis ) nach sich gezogen.55 Alexanders Jannajs Witwe Salome Alexandra (76–67 v.Chr) vollzog eine außenpolitische und religionspolitische Kehrtwendung. Sie gab die Expansionspolitik auf und überließ die Macht den Pharisäern, die davon vollen Gebrauch machten, was wieder den Widerstand der Gegenseite provozierte. Dazu kam die Rivalität der beiden Prinzen. Salome Alexandra hatte das Hohepriesteramt Hyrkan II. (76–40) übertragen und Aristobul zum Thronerben erklärt, aber keiner der beiden wollte diese Ämterteilung akzeptieren. Hyrkan stützte sich auf die Pharisäer, Aristobul auf die Sadduzäer, und nach dem Tod der Königin führte ein erbitterter Bürgerkrieg zum Ende der hasmonäischen Herrschaft.56 Weder König Aristobul II. (67–63 v.Chr) noch der Hohepriester Hyrkan vermochten sich durchzusetzen und so baten sie um römische Vermittlung. Pompeius rückte von Syrien (seit 64 v. Chr. römische Provinz) aus in Judäa ein und eroberte 63 v. Chr. Jerusalem. Doch er vermittelte nicht, er diktierte eine machtpolitisch motivierte Lösung, der Verbündete erwies sich als Eroberer und für Judäa begann eine neue Epoche.57 Religionsgeschichtlich kam die Wende den Pharisäern zugute, denn Rom setzte König Aristobul ab und anerkannte Hyrkan II. als Hohepriester und Ethnarchen. Als oberstes Gremium fungierte das Synhedrion mit dem Hohepriester an der Spitze. Am Heiligtum hatte zwar die Priesteraristokrtie das Sagen, im Volk bauten jedoch die Pharisäer ihren Einfluss aus. Die militärischen Belange kontrollierte Rom indirekt durch den romtreuen Heerführer Antipater und dessen Söhne Josef und Herodes. Unter Caesar wurde für Hyrkan II. und zwischen 49 und 44 v. Chr. auch für die Diasporagemeinden ein entsprechender Autonomiestatus mit Privilegien festgeschrieben. Dazu gehörten die Befreiung vom Kaiserkult und vom Militärdienst, Versammlungsfrei55 BERTHELOT, K., Philanthropia judaica. „Le débat autour de la misanthropie“ des lois juives dans l’Antiquité, JSJ.S 76, Leiden 2003. 56 BUEHLER, W. C., The pre-Herodian Civil War and Social Debate, Basel 1974. 57 HORBURY, W. u. a. (Hg.), The Cambridge History of Judaism, Bd. 3: The Early Roman Period, Cambridge 1999.

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heit, und das Recht, reichsweit die Tempelsteuer für Jerusalem einzutreiben. Nach einem kurzen Intermezzo (41–37 v. Chr.), in dem der hasmonäische und prosadduzäische Thronprätendent Mattathias Antigonus dank einer Partherinvasion als König von Judäa und als Hohepriester regierte, ordnete Rom die Provinz neu und ernannte 41 v. Chr. den Antipater-Sohn Herodes zum König, und dieser eroberte bis 37 v. Chr. Judäa und Jerusalem. Als treuer Vasallenkönig Roms regierte Herodes der Große 37–4 v. Chr. als machtbewusster Tyrann, aber politisch klug und wirtschaftlich erfolgreich. Die Kompetenzen des Synhedrion hielt er in Grenzen, wechselte die Hohepriester immer wieder aus und erreichte religionspolitisch ein gewisses Gleichgewicht zwischen Priesteraristokratie und Pharisäern. Er gründete Städte, baute Festungen, und in Hebron errichtete er eine bis heute erhaltene Anlage für die Patriarchengräber. Zwischen 22–20 v. Chr. begann er mit einer völligen Neugestaltung des gesamten Jerusalemer Tempelareals. Doch über der Südmauer errichtete er die königliche Basilika, ein Wahrzeichen seiner Macht und Pracht, und über den Dächern der Kolonnaden, die das Areal säumten, kontrollierten die Truppen von der Burg Antonia im Norden aus die Gesamtanlage, die so zur stärksten Festung der Stadt wurde. Sein Tod löste Unruhen aus, die Archelaos, sein Sohn und Nachfolger in Judäa (4. v.–6 n. Chr.) nicht in den Griff bekam. Rom setzte ihn daher ab und unterstellte das Gebiet direkter römischer Verwaltung. Damit geriet das Römische Reich in ein immer ungünstigeres Licht, es wurde als viertes und letztes Weltreich Daniels betrachtet, dessen Fall man erhofft, um der Gottesherrschaft den Weg frei zu machen. Zeloten (Eiferer), romfeindliche Aktivisten, die im Land Israel nur Gottes Herrschaft anerkennen wollten, und sog. Sikarier (Dolchmänner) meinten, die endzeitliche Stunde des Handelns sei gekommen und verübten terroristische Überfälle auf Römer und Kollaborateure. Andere erwarteten sich von der Gottesherrschaft gerade nicht die Verwirklichung eigener Herrschaftshoffnungen. So verkündete Johannes der Täufer, ein asketischer Bußprediger, ebenfalls den nahen Anbruch der Gottesherrschaft und rief zur Umkehr auf. Er wurde von seinem Landesherrn Herodes Antipas gefangen gesetzt und enthauptet. Auch Jesus von Nazareth kam aus dem Täuferkreis, und trat in Galiläa als Verkünder und Repräsentant der anbrechenden Gottesherrschaft

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auf. Mit einer Schar von Anhängern zog er zum Päsachfest nach Jerusalem, was bei den jüdischen Behörden die Befürchtung von Unruhen auslöste. Knapp vor dem Fest wurde er festgenommen, im Zusammenwirken zwischen Hohepriester, Synhedrion und römischem Statthalter angeklagt, und durch den Statthalter Pontius Pilatus als „König der Juden“ (also wegen Aufruhrs) gekreuzigt. Die Anhänger Jesu verkünden aber seine Auferstehung und die Erfüllung der Verheißungen Israels und die Vergegenwärtigung der Gottesherrschaft gerade durch den Gekreuzigten. Unter den Juden gewann diese Botschaft nicht viel Gehör, der Zulauf kam von nichtjüdischer Seite im Umfeld der jüdischen Diasporagemeinden. Die unruhige Lage in der Provinz suchte Rom erneut durch die Einsetzung eines jüdischen Königs zu meistern. Herodes Agrippa I. (37– 44) erhielt nach und nach die meisten Herrschaftsgebiete seines Großvaters, erreichte in der Tat eine Stabilisierung und verhinderte 38 n. Chr. in Jerusalem und Alexandrien eine gefährliche Eskalation wegen der Forderung des Kaisers Caligula nach Aufstellung von Herrscherstatuen. Nach dem frühen Tod des Königs kam es wieder zu einer direkten römischen Provinzverwaltung und nun geriet die Lage immer mehr außer Kontrolle. Vom gemischt besiedelten Cäsarea aus kam es 66 n. Chr. zu Aufständen, deren Anfangserfolge die gesamte Provinz zum Krieg gegen Rom verleiteten. Doch die Endzeithoffnungen, die noch im belagerten Jerusalem blutige Parteienkämpfe motiviert haben, trügten. Die römischen Verstärkungen trafen ein und Vespasian eroberte planmäßig das Land; im Sommer 70 wurde auch Jerusalem erobert und der Zweite Tempel ging in Flammen auf. Die Elite des Volkes war im Krieg – nicht zuletzt durch jüdische Radikale – weitgehend ausgerottet worden, viele wurden gefangen und als Sklaven verkauft. Das ganze System der Kultordnung mit dem Abgabenwesen, Existenzgrundlage für Priester und Leviten, war beseitigt. Für das Judentum begann eine tempellose, religionsgeschichtlich richtungweisende Übergangsperiode, in der jene Kräfte zum Zug kamen, die von der Kultorganisation eher unabhängig waren und in den Augen der Römer als unbedenklich galten. In der Folge wurde Roms Bedeutung genealogisch definiert. Nach der Zwangsbekehrung der Edomiter war Edom als eigenständiges Volk verschwunden, an seine Stelle trat Rom, und so wurde Esau, der Zwil-

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Teil III. Jüdische Religion in der erlebten Geschichte

lingsbruder Jakobs/Israels zum Ahnherrn der Weltmacht, die man als Bundesgenossen gerufen hatte und nun mehr und mehr als anmaßendes, Israels Rolle usurpierendes und schließlich gottfeindliches Reich des Frevels empfand.

2.5

Torah und Pentateuch

Seit es keine Möglichkeit mehr gab, neue Torah anzuweisen, gewann die schriftlich fixierte Torah an Bedeutung. Die Qumrantexte setzen voraus, dass es weit umfangreichere Torah-Überlieferungen gab, als im Pentateuch eingearbeitet aufscheinen, aber der Pentateuch diente allen Gruppen – auch den Samaritanern – als gemeinsames Basisdokument ihres politischen Status, und in den Auseinandersetzungen zwischen den Gruppen wurde der Rückbezug auf Pentateuchinhalte zum probaten Mittel der Untermauerung von Ansprüchen und Positionen. Im selben Maß verlor die priesterliche Torahkompetenz an Autorität und Ansehen, die volksnähere Laienbewegung der Pharisäer hingegen gewann durch ihre Experten, die gerade auch auf den kultischen Gebieten des Rechts gut beschlagen waren, immer mehr Autorität. Und wie ein nicht genau definierter Bereich von „Sitten bzw. Bräuchen der Väter“ als Bestandteil der Autonomie galt, gab es auch im Bereich des Rechts über die Torah hinaus überlieferte Sitten und Bräuche, die in einzelnen jüdischen Richtungen als verbindlich betrachtet wurden. Die pharisäische Bewegung präsentierte ihre Lebensordnung demonstrativ und mit missionarischem Eifer als verbindlichen Brauch der Väter mit dem Anspruch der Geltung für ganz Israel.

2.6

Die frühjüdischen Richtungen

2.6.1 Allgemeines Es gibt kaum Nachrichten über innerjüdische Richtungen in früher Zeit,58 erst die Werke des Flavius Josephus und das Neue Testament 58 BAUMGARTEN, A. I., The Flourishing of Jewish Sects in the Maccabean Era, JSJ.S 55, Leiden 1997. Äußerst spekulativ sind Thesen von einem „henochischen Ju-

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enthalten genauere Angaben, und in den letzten Jahrzehnten kamen dazu noch Hinweise in manchen Qumrantexten. Die Realität war aber höchstwahrscheinlich noch um einiges bunter.59 Josephus verwertete gegen 100 n. Chr. literarische Quellen, die ihrerseits schon eine Geschichte hinter sich hatten, und deren schematische Beschreibung der Richtungen nach dem Muster hellenistischer Philosophenschulen schränkt den Quellenwert weiter ein.60 In den Antiquitates Iudaicae erwähnte er drei Gruppen im Zusammenhang mit Jonathan Makkabäus (Ant XIII,171–173), aber ohne Einbindung in die Vorgänge, und unter Rückverweis auf die umfangreichere Passage in Bell II,118–166. Diese führt in die Krise nach dem Tod des Königs Herodes (4 v. Chr.) bzw. der Einführung der direkten römischen Provinzverwaltung (6 n. Chr.). Keine der Gruppenbezeichnungen ist als Selbstbezeichnung belegt. Die Hauptdifferenzen betreffen das Verhältnis zur jüdischen Gesellschaft, die Frage der Willensfreiheit bzw. Determination,61 und die Vorstellung vom Schicksal nach dem Tod.62 Der Vergleich mit den Qumrantexten zeigt ein widersprüchliches Bild. Manches stimmt zu den Beschreibungen des Josephus, doch ergeben sich auch deutliche Divergenzen. Es werden mehrere Gruppierungen erwähnt, aber die Bezeichnungen ermöglichen keine Identifizierung, nur die Anhänger des Lügenmannes bzw. Lügenpredigers werden als frühe Pharisäer erkennbar.

2.6.2 Essäer/Essener und die Gemeinschaften hinter den Qumrantexten Die vergleichsweise umfangreiche Beschreibung der sog. Essener / Essäer bei Josephus in Bell II vereinigte Material aus mehreren Quellen.63 Sie suggeriert eine starke jüdische Richtung, von der ein Teil als Verheiratete an zahlreichen Orten, ein anderer als Unverheiratete in

59 60 61 62 63

dentum“; s. zuletzt BOCCACCINI, G., Roots of Rabbinic Judaism, Grand Rapids 2002. STEMBERGER, G., Pharisäer, Sadduzäer, Essener, Stuttgart 1990; ANDERSON, J., The Internal Diversification of Second Temple Judaism, Lanham, MD 2002. BERGMEIER, R., Die drei jüdischen Schulrichtungen nach Josephus und Hippolyt von Rom, JSJ 34 (2003), 443–491. MAIER, G., Mensch und freier Wille, Tübingen 1971. BAUCKHAM, R., The Fate of the Dead, NT.S 93, Leiden 1998. BERGMEIER, R., Die Essenerberichte des Flavius Josephus, Kampen 1993.

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abgeschiedener Gemeinschaft gelebt haben soll.64 Philo von Alexandrien hatte ebenfalls Kenntnis davon65 und erwähnte darüber hinaus noch die deutlich hellenistisch stilisierten Therapeuten.66 Demnach pflegten die Essener eine esoterisch-beschauliche Lebensweise im Sinne des Ideals hellenistischer (pythagoreischer) Weiser, aber mit kultisch-rituellen Praktiken.67 Sie glaubten an eine unsterbliche Seele, an einen weitreichenden Determinismus, und politisch sollen sie (v. a. nach Philos Quelle) pazifistisch eingestellt gewesen sein. Das passt nur zum Teil zu den Qumrantexten, die man üblicherweise, aber nicht unbestritten, mit den Essenern in Verbindung bringt.68 In Bezug auf organisatorische Details ergeben sich aber so zahlreiche Entsprechungen, dass eine Beziehung anzunehmen ist. Undurchsichtig bleibt die Vorgeschichte, denn die Gleichsetzung der Essener mit den im Zusammenhang mit den Makkabäerkämpfen erwähnten Hasîdîm ist angesichts ¯ der dürftigen Angaben recht unsicher. Drei Organisationsformen sind in den Qumrantexten bezeugt: (1.) Lager (wie Militärkolonien), (2.) gesonderte Gemeinschaften innerhalb von Städten, und (3.) der jahad. Der jahad war ursprünglich ¯ ¯ wohl eine Organisationsform des Kultpersonals, die man als Ordnung für ganz Israel und für Einzelgruppen ausgestaltet hat. In der Jerusalemer Kulttradition verwurzelt, behauptete diese Richtung, dass der aktuelle Kultbetrieb unwirksam sei und ihre jahad -Lebensweise ersatz¯ weise Sühne schaffe.69 Unter Herodes scheinen sie noch ein gewisses Gewicht gehabt haben, doch im Rahmen der Ereignisse des 1. Jh. n. Chr. werden sie kaum mehr erwähnt, im NT überhaupt nicht. Diese Richtung geht auf innerpriesterliche, nicht zuletzt auch per64 VAN DER HORST, P. W., Celibacy in Early Judaism, RB 109 (2002), 390–402. 65 PETIT, M., Les Esséens de Philon d’Alexandrie et les Esséniens, in: DIMANT, D./ RAPPAPORT, U. (Hg.), The Dead Sea Scrolls. Forty Years of Research, Leiden 1992, 139–155. 66 BERGMEIER, R., Der Stand der Gottesfreunde, Bijdragen 63 (2002), 46–70. 67 TAYLOR, S. M., Pythagoreans und Essenes. Structural Parallels, Paris-Louvain 2004. 68 BAUMGARTEN, A. I., Who Cares and Why Does it Matter? Qumran and the Essenes, Once Again, DSD 11 (2004), 174–190 (hier ältere Lit.). 69 MAIER, J., Liturgische Funktionen der Gebete in den Qumrantexten, in: Gerhards, A./DOEKER, A./ EBENBAUER, P. (Hg.), Identität durch Gebet, Paderborn 2003, 59–112.

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sönliche Differenzen im 3. und 2. Jh. zurück, die um 178 v. Chr. unter dem Lehrer der Gerechtigkeit ihren Höhepunkt erreichten. Danach geriet diese Richtung durch die siegreichen Makkabäer in ein Abseits, aus dem sie erst unter Alexander Jannaj (104–76 v. Chr.) wieder vorübergehend hervortreten konnte. Nach der pharisäischen Machtübernahme unter Salome Alexandra verfasste man in diesen Kreisen zur Klärung der heilsgeschichtlichen Situation Pešarîm, endzeitlich aktualisierende Ausdeutungen prophetischer Texte. Zugleich begann man, das literarische Erbe vor den drohenden endzeitlichen Kriegsläuften zu sichern, brachte Schriftrollen bzw. Kopien nach Qumran, kopierte dort auch einiges an Ort und Stelle, und brachte schließlich eine stattliche Sammlung von ca. 800 Schriftrollen in den Höhlen der Umgebung unter.

2.6.3 Sadduzäer Als Sadduzäer (Zadokiden) bezeichnete man eine sozial elitäre, wie die Qumrangruppe zadokidisch-priesterlich orientierte Richtung, die sich aber in Jerusalem und am Tempel politisch aktiv beteiligte und dabei mit den Pharisäern konkurrierte, aber als Gruppe wohl nicht gesondert organisiert war. Standesbewusst und das Volk vor allem als abgabenpflichtige Kultteilnehmerschaft betrachtend, hatten sie ihren Rückhalt in der kultischen Institution mit dem Hohepriesteramt an der Spitze. Sie vertraten laut Josephus die menschliche Willensfreiheit und lehnten (auch nach dem NT) die Auferstehungshoffnung ab. Mit dem Fall der Tempelprovinz im Jahr 70 n. Chr. verloren sie ihre gesellschaftliche und ökonomische Basis, doch in manchen gesetzlichen Fragen erwähnt die rabbinische Literatur noch Positionen von Çaddûqîm und Bô`etûsîm.70

2.6.4 Pharisäer Pharisäer (Dissidenten) nannte man eine von Laien getragene, gesetzestreue Volksbewegung v. a. des städtischen Mittelstandes, mit inten70 STEMBERGER, G., The Sadducees – Their History and Doctrines, in: W. HORBURY u. a. (Hg.), The Cambridge History of Judaism, Bd. 3, Cambridge 1999, 428– 443; REGEV, E., The Sadducees and their Halakhah, Jerusalem 2005 (hebr.).

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siven Bemühungen um eine Volksbildung im Sinne ihrer eigenen „väterlichen Traditionen und Sitten“.71 Sie rangen mit den Sadduzäern um Einfluss im Synhedrion und emanzipierten sich durch akribische Gesetzesgelehrsamkeit ihrer Repräsentanten von der priesterlich-levitischen Torahkompetenz. Politisch zogen sie einen Ausgleich mit der fremden Oberherrschaft der Herrschaft einer anderen innerjüdischen Gruppe oder eines Königs vor. Für die Gruppe hinter den Qumrantexten galten sie als Heuchler, die darauf aus waren, mit ihrer laxen Gesetzespraxis die Leute zu verführen, und in der Tat suchten sie die Bevölkerung für sich und ihre Torahfrömmigkeit zu gewinnen. Sie nahmen laut NT auch von den frühen Christen Notiz, deren Missionsaktivitäten sie zunächst nicht recht einzuschätzen vermochten, aber nach einiger Zeit als abträglich werteten und erfolgreich abblockten.72 Von einer durchorganisierten Gruppe kann keine Rede sein, der Schwerpunkt der Bewegung lag in örtlichen Gemeinschaften mit bestimmten rituellen Abgrenzungsmerkmalen, und in einzelnen Gelehrtenschulen, von denen später fast nur mehr die Schulen Hillels und Schammais Erwähnung gefunden haben.

2.6.5 Zelotismus Eine vierte Philosophie soll sich nach dem Tod des Herodes aus radikalen Pharisäern herausgebildet haben, die angesichts der Endzeit eine Fremdherrschaft über das Land Israel nicht mehr dulden wollten, die herrschenden Verhältnisse für untragbar hielten, und im Sinne des Zelotismus meinten, es herrsche ein Notstand und man müsse das Recht in die eigene Hand nehmen, wie es der Priester Pinchas (Num 25) getan hat. Militanter Eifer für Gott als einzigen Herrn Israels, für das Heiligtum und das Land, kennzeichnete diese Gruppen. Sie waren die treibende Kraft im Konflikt mit Rom und der nichtjüdischen Bevölkerung und haben noch im belagerten Jerusalem ihre Ansprüche mit Terror und Gewalt durchzusetzen versucht, in der Erwartung, Gott 71 MASON, S., The Problem of the Pharisees in Modern Scholarship, in: NEUSNER, J. (Hg.), Approaches to Ancient Judaism, New Series III, Atlanta 1993, 103–140. 72 WANDER, B., Trennungsprozesse zwischen frühem Christentum und Judentum im 1. Jh. v. Chr., Tübingen/Basel 1994.

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werde letztlich – gerade an seiner Wohnstatt im Tempel – doch noch eingreifen und die Geschichte zu ihrem Heilsziel führen.73 Sie wurden im Krieg gegen Rom weitgehend aufgerieben, manche gerieten als Flüchtlinge oder als verkaufte Kriegsgefangene in die Diaspora, wo sie ihre radikalen Ansichten weiter verbreiteten und 115–117 n. Chr. eine Revolte mit schürten, die wiederum in einer Katastrophe endete.

2.6.6 Taufsekten Aus der Anhängerschaft des Endzeitpropheten Johannes des Täufers stammt, abgesehen von Jesus von Nazareth, auch eine Anzahl von Gruppen mit auffälligen rituellen Waschungspraktiken. Die oft vermutete Verbindung zwischen Johannes dem Täufer und den Essenern bzw. zur Qumrangemeinschaft ist nicht beweisbar. Im Ganzen gilt für alle Taufsekten, dass ihre Bedeutung für die jüdische Religionsgeschichte gering ist.74

2.6.7 Hellenistisches Judentum Schon in vorchristlicher Zeit gab es in fast allen größeren Städten des Mittelmeerraumes jüdische Niederlassungen. Es waren meist kleine Gemeinden auf der Basis der überlieferten Privilegien, in ihrer Organisation stark von den örtlichen Verhältnissen her geprägt, vom Vereinswesen vor allem, und daher entsprechen sie keinem einheitlichen Muster.75 Trotz der Bindung an Jerusalem und das dortige Heiligtum war eine weitreichende Assimilation an die griechischsprachige Umwelt kennzeichnend. Hinweise in Inschriften und in nichtjüdischen antiken Quellen geben zwar über bestimmte religiöse Verhältnisse und Vorstel73 OPPENHEIMER, A., Sicarii, in: SCHIFFMAN, L. H. u. a. (Hg.), Encyclopedia of the Dead Sea Scrolls, Bd. 2, Oxford/New York 2000, 875–876; DERS., Zealots, a. a. O., Bd. 2, Oxford/New York 2000, 1007–1010. 74 ERNST, J., Johannes der Täufer, Berlin 1989; BACKHAUS, K., „Die Jüngerkreise“ des Täufers Johannes, PaThSt 19, Paderborn 1991; WEBB, R. L., John the Baptyzer and Prophet, JSNT. S 62, Sheffield 1991. 75 CLAUSSEN, C., Versammlung, Gemeinde, Synagoge, StUNT 27, Göttingen 2002; KRAUTER, ST., Bürgerrecht und Kultteilnahme, BZNW 129, Berlin 2004; GAFNI, I. (Hg.), Qehal Ji´sra`el. Kehal Yisrael. Jewish Self-Rule Through the Ages, Bd. 1, Jerusalem 2001.

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lungen Aufschluss,76 aber selbst für große Städte wie Antiochien im Osten oder Rom im Westen sind literarische Nachrichten spärlich. Immer ist jedoch die Einheit von ethnischer und religiöser Gemeinschaft mit der Synagoge als Zentrum des Gemeinschaftslebens nach eigenem Gesetz und Brauchtum das hervorstechende Merkmal, während im Mutterland die jüdische örtliche Selbstverwaltungseinheit diese religiöse Funktion nicht so profiliert aufwies und die einzelnen jüdischen Richtungen auch ihre gesonderten Versammlungen pflegten. Einen Sonderfall stellt die ägyptische Diaspora dar. Hier haben seit dem Ende der Königszeit jüdische Exulanten Zuflucht gefunden, und seit der persischen Zeit gab es jüdische Militärkolonien, unter den späten Ptolemäern auch eigene jüdische Militäreinheiten. Auch die Seleukiden haben jüdische Militärkolonisten für Kleinasien angeworben. Aber allein aus der hellenistischen Neugründung Alexandrien ist ein umfangreiches literarisches hellenistisch-jüdisches Schrifttum (durch christliche Überlieferung) erhalten geblieben, und dessen Bandbreite reicht von umfassenden chronographischen Werken über Auslegungen biblischer Bücher bis zu philosophisch-theologischen Traktaten. Das Gemeindeleben der Juden Alexandriens ist gewiss nicht ohne Abstriche auf andere Diasporagemeinden übertragbar, hatte aber wohl Vorbildcharakter, denn Echos sind sogar noch in der rabbinischen Literatur zu finden. In den Werken des Philo von Alexandrien sind zahlreiche Hinweise darauf zu finden, auch zum Gebetsleben bzw. zur Liturgie, wofür sonst kaum Quellen erhalten sind.77 Schon unter Ptolemaios II. Philadelphos (283–246 v. Chr.) war es in Alexandrien zu einer griechischen Übersetzung des Pentateuchs gekommen, später „Septuaginta“ genannt, und Übersetzungen weiterer biblischer und nichtbiblischer Bücher folgten im Lauf der nächsten beiden Jahrhunderte.78 Einige Qumranfragmente belegen, dass es auch 76 VAN

HORST, P. W. (Hg.), Studies in Early Jewish Epigraphic, Leiden 1994; Ancient Jewish Epitaphs, Kampen 1991. Texte: NOY, D./BLOEDHORN H., Inscriptiones Judaicae Orientis. I. Eastern Europe, Tübingen (TSAJ 101) 2004; II. Inscriptiones Judaicae Orientis, (noch nicht erschienen); Volume III: Syria und Cyprus, Tübingen 2004. 77 LEONHARDT, J., Jewish Worship in Philo of Alexandria, TSAJ 84, Tübingen 2001. 78 JOBES, K./MOISÉS, S., Invitation to the Septuagint, Grand Rapids 2000; COLLINS, N. L., The Library in Alexandria and the Bible in Greek, VT.S 82, Leiden 2000; DER

DERS.,

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in Judäa im späten 3. Jh. schon griechische Pentateuchhandschriften gab, so dass man schwerlich voraussetzen kann, dass die Übersetzung ins Griechische an sich ein Stein des Anstoßes war. Die auffällige, ins Legendäre reichende Betonung der Mitwirkung Jerusalems im Aristeasbrief deutet eher auf Meinungsunterschiede in Bezug auf Autorität und Funktion, und zwar nicht zuletzt im Verhältnis zur Außenwelt und zur ptolemäischen Herrschaft. Außerdem wurde hier der Pentateuch als Gesetz (nómos) der Juden nicht bloß als staatspolitisches Basisdokument betrachtet, sondern nach ägyptischer Art zu einem heiligen Buch bzw. einer heiligen Schrift aufgewertet,79 zwar dem Mose als Gesetzgeber zugeschrieben, aber eben als inspirierter Text.80 Es sieht so aus, als habe der Pentateuch seine religiöse und insbesondere auch synagogal-liturgische Bedeutung zuerst im hellenistischen Umfeld erhalten. Die Übertragung biblischer Texte ins Griechische setzt schon für das 3. Jh. ein reges jüdisches Geistesleben im neuen, hellenistischen Ambiente voraus und die Ausstrahlung dieser alexandrinisch-jüdischen Kultur war beachtlich.81 Im Zentrum des Interesses standen Geschichtsdarstellungen mit umfassenden chronographischen Entwürfen und die Ausdeutungen biblischer Stoffe und Bücher. Die Frage, wie die Privilegien der jüdischen Autonomie mit den Rechten und Pflichten der Polis-Bürgerschaft zu vereinbaren seien, erwies sich als konfliktträchtig. Die ägyptische Bevölkerung sah in Juden wie Griechen in erster Linie fremde Eindringlinge und reagierte dementsprechend ablehnend bis feindselig. Literarisch brachten dies Autoren wie Manetho und Apion zum Ausdruck (vgl. Josephus, Contra Apionem). FABRY, H.-F./OFFERHAUS, U. (Hg.), Im Brennpunkt: Die Septuaginta, Bd. 1 BWANT 153, Stuttgart 2001; KREUZER, S./LESCH, J. P. (Hg.), Im Brennpunkt: Die Septuaginta, Bd. 2, BWANT 161, Stuttgart 2004; SIEGERT, F., Zwischen Hebräischer Bibel und Altem Testament, Münster 2001; DERS, Register zur „Einführung in die Septuaginta“. Mit einem Kapitel zur Wirkungsgeschichte, Münster 2003. 79 WISCHMEYER, O., Das heilige Buch im Judentum des Zweiten Tempels, ZNW 86 (1995), 218–242. 80 BURKHARDT, H., Die Inspiration heiliger Schriften bei Philo von Alexandrien, Gießen/Basel 1988; WHITLOCK, J., Schrift und Inspiration, WMANT 98, Neukirchen 2002. 81 VELTRI, G., Libraries, Translations, and „Canonic“ Texts, JSJ.S 109, Leiden 2006.

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Von der frühen jüdisch-hellenistischen Literatur Alexandriens ist nur ein Teil, und zwar dank christlicher Überlieferung, erhalten geblieben. Das betrifft v. a. die Werke des etwa 20 v. Chr.–50 n. Chr. lebenden Philo, der in zahlreichen Schriften versucht hat, mittels allegorischer Auslegung des Pentateuchs griechische Popularphilosophie und Wissenschaft mit der Torah als universaler Ordnung zu vereinen.82 Man hat einen großen Teil der griechisch-jüdischen Literatur als Missionsliteratur gedeutet, doch ging es vor allem darum, die hellenisierten Randschichten in ihrem jüdischen Selbstbewusstsein zu bestärken und vor dem Abfall zu bewahren. Die Grenzen waren jedoch teilweise bereits fließend, vor allem in Bereichen mit religiös besonders attraktiven Eigenheiten wie im Umfeld der Mysterienfrömmigkeit.83 Zwei Faktoren haben eine innerjüdische Wirkungsgeschichte der hellenistisch-jüdischen Kultur blockiert. Mit dem Jahr 114 n. Chr. kam es in Nordafrika, Ägypten, auf Zypern und ansatzweise auch in Syrien zu blutigen jüdischen Aufstandsbewegungen, die erst 117 n. Chr. niedergeschlagen werden konnten.84 Die Folgen waren desaströs. Zugleich etablierte sich in Palästina das rabbinische Judentum, das in den folgenden Jahrhunderten seine Traditionen auch im Westen durchzusetzen vermochte und die anderen Spielarten und Überlieferungen erfolgreich verdrängte.

2.6.8 Judenchristen Die jüdischen Gruppen, die Jesu Tod und Auferstehung als Erfüllung der Heilshoffnungen Israels verkündeten, taten dies auf der Basis einer Vorstellung von Gottesherrschaft, die gegenüber der herkömmlichen politisch-militärischen Erlösungshoffnung eine Alternative darstellen sollte. Den als „König der Juden“ gekreuzigten Galiläer als mehr als nur den „Gesalbten“ im traditionellen Sinn darzustellen, stieß allerdings auf 82 KENNEY, J. P. (Hg.), The School of Moses. Studies in Philo and Hellenistic Religion, BJS 304, Atlanta 1995; BORGEN, P., Philo of Alexandria, An Exegete for His Time, NT.S 36, Leiden 1997. Laufende Bibliographien in: Studia Philonica Annual. 83 SÄNGER, D., Antikes Judentum und die Mysterien, WUNT II, 5, Tübingen 1980. 84 HENGEL, M., Messianische Hoffnungen und politischer „Radikalismus“ in der jüdisch-hellenistischen Diaspora, in: HELLHOLM, D. (Hg.), Apocalypticism, Leiden 1983, 655–685.

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wenig Verständnis, und das gilt auch für die Diaspora. Paulus hatte daher auf seinen Missionsreisen in den jüdischen Gemeinden nur wenig Erfolg, doch unerwartet starken Zulauf aus deren Sympathisanten-Umfeld,85 so dass binnen kurzer Zeit die heidenchristliche Komponente dominierte. Die Heilswegfunktion der Torah wurde auf Tod und Auferstehung Christi übertragen, das Heilsziel jedoch zunehmend individualisiert, und das ermöglichte die ethnisch schrankenlose Verbreitung der neuen, hellenistisch geprägten Heilslehre vom Gottessohn, der in die Welt gekommen war, um die Menschen zu erlösen. Bei alledem blieb die neue Religion wie das Judentum, speziell das Diasporajudentum, militant monotheistisch,86 und auch der Gegensatz zur herrschenden Weltmacht Rom, dem zweiten Babylon, blieb noch bis ins 4. Jh. von der Vorstellung des dämonischen vierten und letzten Weltreichs bestimmt. Die heidenchristliche Kirche wurde auf jüdischer Seite nicht mehr als jüdische Richtung wahrgenommen, und die von vornherein kleinen judenchristlichen Gruppen im Orient verschwanden nach einiger Zeit fast ganz von der jüdischen Bildfläche.87 Rabbinisches Judentum und hellenisiertes Christentum entwickelten sich daher parallel zueinander und mit wachsendem Abstand voneinander.88 Im Gegensatz zur jüdischen Seite hatte aber das Christentum ein religiös motiviertes Interesse an einer Definition ihres Verhältnisses zu Israel als Gottesvolk. Ins jüdische Bewusstsein trat das Christentum hingegen erst wieder als Religion des Römischen Reiches, und darum wurde es auch wie das Imperium selbst als Edom bezeichnet und gewertet.89 85 WANDER, B., Gottesfürchtige und Sympathisanten, WUNT 104, Tübingen 1998. 86 STUCKENBRUCK, L. T./NORTH WENDY, E. S. (Hg.), Early Jewish and Christian Monotheism, London 2004. 87 STEMBERGER, G., Judenchristen, RAC 18 (1998/1999), 228–245; MIMOUNI, S. C. (Hg.), Le judéo-christianisme dans tous ses états: actes du colloque de Jérusalem, 6–10 juillet 1998, Paris 2001; TOMSON, P. J. (Hg.), The Image of the JudeoChristians in Ancient Jewish and Christian Literature, Tübingen 2003. 88 BORGE, P., Early Christianity and Hellenistic Judaism, Edinburgh 1996; NICKELSBURG, G. W. E., Ancient Judaism and Christian Origins, Minneapolis 2003; AVERY-PECK, A. J./HARRINGTON, D./NEUSNER, J. (Hg.), When Judaism und Christianity Began, JSJ.S 85, 2 Bd., Leiden 2004. 89 MAIER, J., Jüdische Auseinandersetzung mit dem Christentum in der Antike, EdF 177, Darmstadt 1982; SETZER, C., Jewish Responses to Early Christians, Philadelphia 1994

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Teil III. Jüdische Religion in der erlebten Geschichte

3.

Die formative Periode des rabbinischen Judentums (70 n. Chr. bis zur arabischen Eroberung)

3.1

Traditionsbildung und literarisches Erbe

In den Jahrhunderten zwischen 70 n. Chr. und den arabisch-islamischen Eroberungswellen hat das Judentum in langwierigen Prozessen jene Form erhalten, die bis heute die traditionellen jüdischen Richtungen kennzeichnet.90 Eine monolithische Einheit kam dabei zwar nicht zustande, aber die allmähliche Durchsetzung dieser auf pharisäischer Basis aufbauenden Form des Judentums erwies sich als äußerst effektiv, auch im Sinne einer fast völligen Verdrängung anderer Traditionen und Richtungen. Für das Rechtswesen wurden die vorhandenen Gepflogenheiten und Normen gesichtet und in ein eigenes, für ganz Israel angelegtes System gebracht, das auf autoritative Anpassung an neue Verhältnisse durch die dazu befugten Rabbinen angelegt war. Anfänglich im Wirkungsbereich einzelner Schulen, immer mehr aber auch überregional als Folge der Bündelung, Sichtung und literarischen Fixierung rabbinischer Schultraditionen. Am Ende dieser Prozesse stehen umfangreiche literarische Endprodukte von verbindlicher Autorität; zuletzt der Talmud als Basis für das zukünftige jüdische Recht (die halakah ).91 Zugleich entstanden Midraschim zum Pentateuch.92 Alle diese Schriftwerke erwuchsen aus Schultraditionen, stellen also keine Autorenliteratur dar, auch wenn oft einzelne Tradenten genannt werden. Sie bezeugen demgemäß nur einen Teil der damaligen Kultur und Bildung.93 Indirekt, in Bemerkungen nebenbei; tragen sie aber viel zur 90 URBACH, E. E., The Sages. Their Concepts and their Beliefs, 2 Bd., Cambridge, MA 41987; NEUSNER, J., Die Gestaltwerdung des Judentums, JuU 51, Frankfurt/ M. 1993; DERS., The Theology of the Oral Torah, London/Ithaca 1999; DERS., Handbook of Rabbinic Theology, Leiden 2002; DERS., Rabbinic Judaism: The Theological System, Leiden 2003; DERS., Contours of Coherence in Rabbinic Judaism, JSJ. S. 97, Leiden 2005; STEMBERGER, G., Studien zum rabbinischen Judentum, Stuttgart 1990. 91 NEUSNER, J., The Halakhah. Historical and Religious Perspectives, Leiden 2002; HESZER, C. (Hg.), Rabbinic Law in its Roman and Near Eastern Context, TSAJ 97, Tübingen 2003. 92 STEMBERGER, G., Midrasch. Vom Umgang der Rabbinen mit der Bibel, München 1989. 93 HEZSER, C., Jewish Literacy in Roman Palestine, TSAJ 81, Tübingen 2001.

Die formative Periode des rabbinischen Judentums

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Kenntnis der Volkskultur und des Volksglaubens bei.94 Die Textgestalt blieb im Einzelnen allerdings noch bis in die Zeit des Buchdrucks variabel.95 Es handelt sich um folgende literarische Korpora: (1a) Die Mischna (mišnah , Lehre), eine zwischen 200–220 n. Chr. fixierte offizielle Auswahl aus der Mündlichen Tradition. In sechs Ordnungen (und diese wieder in Traktate) eingeteilt, sollte sie möglichst alle Lebensbereiche abdecken: I. Zera`îm (Saaten): Gebetsvorschriften und v. a. landwirtschaftliche Vorschriften. II. Mô`ed (Festvorschriften). III. Našîm (Eherecht). IV. Nezîqîn (Privat- und Strafrecht). V. Qodašîm (Opfervorschriften). VI. Toharôt (rituelle Reinheitsvorschriften). Es handelt sich um den ersten Versuch, alle aktuellen und darüber hinaus auch für die Zukunft (mit Wiedereinführung des Tempelkults) zu erwartenden Lebensbereiche zu erfassen und zu regulieren. Diese programmatische schriftliche Grundlegung hat erst nach und nach mit der Zunahme des rabbinischen Einflusses auf das Volksleben praktische Bedeutung erhalten und im lokalen Rechtswesen Anwendung gefunden, jedoch bereits in Form weiterer und zusätzlicher Ausführungen (b-e).96 (1b) Die Tôsefta `, inhaltlich und formal der Mischna ähnlich, aber von geringerer Nachwirkung.97 (1c) Halakische Midraschim , Gesetzessammlungen, denen biblische gesetzliche Texte als Ordnungsprinzip zugrunde liegen und somit Kommentarform aufweisen. (1d) Der palästinische Talmud , auch Talmûd jerûšalmî oder Talmud des Landes Israel genannt. Eine unvollständig gebliebene Sammlung von Traditionen palästinischer Schulen zur Mischna.98 (1e) Der babylonische Talmud oder Talmûd bablî , eine fast alle 94 BECKER, M., Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Judentum, WUNT II,14, Tübingen 2002. 95 STEMBERGER, G., Einleitung in Talmud und Midrasch, München 1992; DERS., Der Talmud. Einführung. Texte. Erläuterungen, München 21987; SAFRAI, S.(Hg.), The Literature of the Sages, 2 Bd. CRINT II 3/1–2, Assen Phil. 1987/90. 96 NEUSNER, J., The Mishnah: Religious Perspectives, Leiden 1999; DERS., The Mishnah. Religious Perspectives, Leiden 2002. 97 NEUSNER, J., The Tosefta. Its Structure and its Sources, Atlanta 1986. 98 SCHÄFER, P. (Hg.), The Talmud Yerushalmi and Graeco-Roman Culture (I), TSAJ 71, Tübingen 1998; SCHÄFER, P./HESZER, C. (Hg.), The Talmud Yerushalmi and Graeco-Roman Culture (II), TSAJ 79, Tübingen 1999.

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Teil III. Jüdische Religion in der erlebten Geschichte

Mischnatraktate abdeckende Sammlung babylonischer Schultraditionen. Wegen des Umfangs und der Verbreitung dieses monumentalen Dokuments wurde es zum Talmud schlechthin.99 (2) Zum Pentateuch, in der Regel zu den synagogalen Leseperikopen des Pentateuchs (Sedär, Perašah ), sind ebenfalls Midraschim in allerlei Varianten tradiert und schließlich niedergeschrieben worden. Die darin bezeugte Schriftauslegung steht weithin in engem Zusammenhang mit der Auslegung der dazugehörigen Auswahlperikope (Haft¸arah ) aus dem Prophetenkorpus der Bibel, enthält somit vor allem erbaulichethische und geschichtstheologische Traditionen. Zu biblischen Büchern außerhalb des Pentateuchs gibt es nur ganz wenige eigene Midraschim, die wichtigsten betreffen die Fünf Megillôt, die an Festen verlesen werden, und den Psalter. Zudem sind noch zahlreiche kleine Midraschim und Traktate unterschiedlichsten Inhalts überliefern, darunter auch esoterische Texte.100 (3) Die Gebetsordnung. Trotz aller örtlichen Vielfalt und trotz sehr variabler Textüberlieferungen hat sich für das Gebetsleben des Einzelnen wie für synagogale Gottesdienste eine einheitliche Grundstruktur durchgesetzt, die bis heute maßgeblich geblieben ist.101 Abgesehen von zahlreichen, formal standardisierten Benediktionen (berakôt ) zu vielerlei Anlässen, handelt es sich um zwei Pflichtgebete, das zweimal täglich zu betende Šema` Ji´sra`el (Höre Israel ), und das dreimal täglich zu betende Šemoneh `e´sräh , Achtzehnbittengebet oder `amîdah genannt (s. Reader, Nr. 26–27 ). Sie bilden auch das feststehende Gerüst der täglichen Gottesdienstordnung, allmählich ergänzt durch einleitende Stücke und durch einen dritten Teil, den Tahanûn. Anlassspezifische Er¯ gänzungen und Abwandlungen dieses Grundbestandes ergeben die Liturgie der Sabbate, der Fest- und Fasttage, wobei im Lauf der Zeit die Mode aufkam, poetische Stücke einzuschieben, deren Vortrag sogar zum attraktivsten Teil des synagogalen Gottesdienstes geworden ist. Eine feste Textgestalt wurde in dieser Zeit für die Gebete aber noch nicht 99 HELLER, M. J., Printing the Talmud., Brooklyn 1992; KRAEMER, D., The Mind of the Talmud, Oxford 1991. 100 HALPERIN, D. J., The Faces of the Chariot, Tübingen 1988; SCHÄFER, P., Der verborgene und offenbare Gott, Tübingen 1991; ARBEL VITA, D., Beholders of Divine Secrets, Albany, NY 2003. 101 Wie weit diese auch für die westliche Diaspora zutrifft, ist allerdings offen.

Die formative Periode des rabbinischen Judentums

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vorausgesetzt, und das erste Gebetbuch mit Texten stammt überhaupt erst aus dem frühen 10. Jahrhundert.102 Den Sabbaten wurde ein Schriftlesezyklus zugeordnet, in Palästina (bis ins Mittelalter) für ca. 3–31/2 Jahre, in Babylonien (und in der Folge allgemein) für 1 Jahr. Die Torah (der Pentateuch) wurde in Leseabschnitte (Sedarîm, Perašôt ) eingeteilt und feierlich vorgelesen, jeweils gefolgt von der Lesung einer Auswahlperikope (Haft¸arah ) aus den Propheten. Für die Festtage wurden eigene Perikopen eingeführt.103 Dazu kam eine aramäische Übertragung (Targûm ), die dem rabbinischen Schriftverständnis entsprach. Losgelöst vom liturgischen Vortrag lebten diese Übersetzungstraditionen bis ins Mittelalter hinein literarisch fort und umfassten schließlich alle biblischen Bücher.104 (4) Die Masorah. Die Schriftlesepraxis setzte eine standardisierte Aussprache voraus, die durch den Konsonantentext allein nicht gewährleistet war. Daher begann man mit Hilfe von Zeichensystemen, die Vokale zu den einzelnen Konsonanten anzuzeigen, den Konsonantentext zu „punktieren“. Nachdem längere Zeit regional unterschiedliche Systeme in Gebrauch waren, setzte sich allmählich, bis weit ins Mittelalter hinein, die Masorah (Textüberlieferung) der Schule von Tiberias durch. Mit dieser Arbeit waren unvermeidlicherweise auch sprachliche und textkritische Entscheidungen verbunden, die in der Folge zu einer hebräischen Sprachpflege und zu einem immer einheitlicheren Bibeltext geführt haben.

3.2

Die tannaitische Zeit (70–ca. 220 n. Chr.)

Das Römische Reich hat nie einen Krieg gegen die Juden oder das Judentum geführt, es hat jüdische Rebellionen in bestimmten Provinzen niedergeschlagen, den Status der ethnisch-religiösen Größe insgesamt aber gewahrt. Das gilt für den Krieg von 66–70 n. Chr., für die Diasporarevolten 115–117 n. Chr., und selbst für den Bar-Kochba-Aufstand 102 HEINEMANN, J., Prayer in the Talmud, SJ 9, Berlin 1977; HOFFMANN, L. A., The Canonization of the Synagogue Service, Notre Dame 1979. 103 MAIER, J., Schriftlesung in jüdischer Tradition, in: AGNAR, F. (Hg.), Streit am Tisch des Wortes?, St. Ottilien 1997, 505–559 (hier weitere Literatur). 104 LEVINE, E., The Aramaic Version of the Bible, BZAW 174, Berlin 1988.

108

Teil III. Jüdische Religion in der erlebten Geschichte

von 132–135 n. Chr. in Judäa. Nur zeitweilig, zwischen 135–138 wurden einige repressive Maßnahmen verordnet, etwa die Aufhebung der Ausnahme aus dem allgemein geltenden Beschneidungsverbot (Verstümmelungsverbot). In babylonischen Traditionen und in der späteren Martyrologie ist allerdings von regelrechten Religionsverfolgungen und Martyrien die Rede.105 Die jüdische Diaspora ist entgegen üblichen Behauptungen auch nicht nach 70 n. Chr. durch Verschleppung oder Vertreibung von Juden aus Palästina entstanden. In jüdischen Augen aber war Rom nun einmal das zweite Babylon, das vierte Weltreich Daniels, die „Frevelherrschaft“ schlechthin, „Edom“ bzw. „Esau“, der große Zwillingsbruder, der dem kleineren grollt, weil dieser durch List das Erstgeburtsrecht erworben hat. Alle die genannten Niederlagen gegen Rom konnten die Grundüberzeugung nicht aushebeln, dass Rom seine Herrschaft usurpiert, letzten Endes aber Jakob/Israel die Gottesherrschaft durchsetzen werde. Bis dahin freilich musste man mit Rom und unter Roms Herrschaft leben. Die Midraschim zur Genesis bringen diese Konkurrenzsituation zwischen Jakob/Israel und Esau/Edom/ Rom eindrücklich zum Ausdruck.106 Für Rom war es nach den Kriegen wichtig, die Wirtschaft und die Verwaltung der Provinz wieder in Gang zu bringen, und dafür war die Mitarbeit eines angemessenen Teils der Bevölkerung unerlässlich. Die mînîm waren zwar von ihrer Einstellung her geeignete Kollaborateure, aber sie bildeten keine organisierte Gruppe und hatten kaum Rückhalt in den breiteren Schichten. Nur die pharisäisch orientierten Gruppen waren in der Lage, nach und nach in eine Führungsrolle hineinzuwachsen. Diese Richtung war von ihren Ursprüngen her fest entschlossen, möglichst alle Juden für ihre Torahpraxis und Geschichtsauffassung zu gewinnen. Die Zerstörung des Tempels und die damit verbundene Auflösung des Kultapparates hatte die soziale Struktur der Juden in Palästina völlig verändert. Das Kultpersonal blieb zwar genealogisch weiterhin eine Größe für sich, musste sich aber ökonomisch ganz neu etablieren. Der Bevölkerung hingegen kam der Fortfall der kultischen Abgaben in den mageren Nachkriegsjahren sehr zustatten. Das religiö105 KALMIN, R., Rabbinic Traditions about Roman Persecutions of the Jews, JJS 54 (2003), 21–50. 106 NEUSNER, J., The Idea of History in Rabbinic Judaism, Leiden/Boston 2004.

Die formative Periode des rabbinischen Judentums

109

se Leben konzentrierte sich nun noch mehr auf den familiären und örtlichen Bereich, verlagerte sich vom kultischen Raum auf den häuslichen, gegebenenfalls auf den synagogalen, getragen von den Familienhäuptern und den örtlichen Honoratioren, ein soziales Profil, wie in Diasporagemeinden schon länger vorhanden. Die einzelnen Gemeinden betrachteten sich als autonome Einheiten, und der örtliche/regionale Brauch hatte einen hohen Stellenwert. Daraus ergab sich eine vorgegebene Spannung zwischen der rabbinischen Autorität und der Autorität der „heiligen Gemeinde“.107 Dennoch haben die Entscheidungen der Rabbinen, die hinsichtlich dessen, was getan und gelassen werden muss, letzten Endes über den Weg der Diskussion und des Konsenses ein gesamtjüdisch maßgebliches Regelsystem ergeben.108 In den Jahrzehnten nach 70 n. Chr. übernahm die Schule in Jabneh/ Jamnia nach und nach eine Vorreiterrolle bei der Regelung gemeinsamer Anliegen.109 Die Bedeutung dieser Maßnahmen wurde meist übertrieben dargestellt,110 doch war es ein erster und folgenreicher Schritt auf dem Weg zu einem jüdischen Recht, das über die örtlichen Gepflogenheiten und die biblischen Vorgaben hinaus für alle gelten sollte.111 Später verlegte man den Schulsitz nach Orten in Galiläa. Man bündelte und standardisierte die Schultraditionen, indem man sie größtenteils den Schulen Hillels und Schammajs zuordnete, setzte eine Reihe von Verordnungen in Kraft und entwickelte neue, schulübergreifende Ordnungen, vor allem eine gemeinsame Gebetspraxis mit dem Achtzehnbittengebet neben dem Höre Israel als Kern. Auch auf die Zahl der Schriften, die über den Pentateuch und die Propheten hinaus als lesenswert gelten sollten, hat man sich geeinigt, doch damit keine Kanonisierung beschlossen.112 Wichtiger war für den Alltag, gruppenspezifische rituelle Praktiken durchzusetzen, die das Gemeinsame markieren konnten, und darüber hinaus Autorität und Privilegien des einstigen Kultpersonals soweit als möglich auf den eigenen 107 108 109 110

COHEN, S. A., The Three Crowns, Cambridge 1990. BERGER, M. S., Rabbinic Authority, New York/London 1998. COHEN, S. J. D., The Significance of Yavneh, HUCA 55 (1984), 27–53. AUNE, D. E., On the Origins of the „Council of Javneh“ Myth, JBL 110 (1991), 491–493. 111 NEUSNER, J., Rabbinic Law from Jesus to the Mishnah, 1993. 112 STEMBERGER, G., Jabne und der Kanon, JBTh 3 (1988), 163–174.

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Teil III. Jüdische Religion in der erlebten Geschichte

Gelehrtenstand (die Rabbinen) zu übertragen. Priester waren willkommen, wenn sie sich der neuen Ordnung fügten, und in der Tat tauchen gegen 100 n. Chr. mehr und mehr Priester unter den Schulhäuptern auf. Als neue Führungskraft profilierte sich das Haus Hillel, eine regelrechte Dynastie, aber auch andere Schulen etablierten sich als richtungweisend, so die Schule des Rabbi Aqiba und die Schule des Rabbi Meir. Die rabbinische Linie kam aber erst nach den Diasporaufständen von 115–117 n. Chr. und nach dem Fiasko des Bar-Kochba-Aufstandes von 135–138 n. Chr. in Judäa effektiv zur Geltung113 und schuf die Grundlagen für die um 200 n. Chr. erfolgte schriftliche Fixierung der verbindlichen Traditionen in der Mischna. Ab 138 n. Chr. nahm Rom die rabbinischen Gruppen als nützliche Kraft für den Wiederaufbau der Provinz wahr, und im Lauf des 2. Jh., unter „Rabbi“ (Jehuda ha-Nas´î`, ca. 160–220 n. Chr.), kam es zur offiziösen Anerkennung der Kompetenz des Patriarchen für jüdische Belange in der Provinz und darüber hinaus auch in der Diaspora. Gekrönt wurde diese Autorisierung durch die Umwandlung der einstigen Tempelsteuer, die einige Jahrzehnte als fiscus Iudaicus an Rom abzuführen war, in ein aurum coronarium für den Patriarchen. Drei Merkmale sind für die Entwicklung in dieser Periode kennzeichnend. (a) Die Behauptung, schon die „Große Versammlung“ unter Esra/Nehemia habe wesentliche Grundlagen der neuen Ordnungen beschlossen. (b) Die Annahme, dass dem Mose am Sinai neben der Schriftlichen Torah (im Pentateuch) noch eine Mündliche Torah offenbart worden sei, die in kontinuierlicher mündlichen Überlieferung bis zu den pharisäischen Schulen und zu den frühen Rabbinen gelangt ist, die man bis zur Abfassung der Mischna als Tannaiten (Tradenten) bezeichnet.114 Diese doppelte Torah gilt nicht bloß als Lebensordnung, sondern auch als Schöpfungsordnung, so dass die Beachtung ihrer Normen für Israel und letztlich auch für die Welt eine heilsbringende Funktion erfüllt.115 (c) Der Anspruch auf Kompetenzen, die einst das Synhedrion als Höchstgericht und Legislative hatte. Und zwar für ein 113 SCHÄFER, P. (Hg.), The Bar Kokhba War Reconsidered, Tübingen 2003. 114 NEUSNER, J., What, Exactly, Did the Rabbinic Sages Mean by „Oral Torah“?, SFSHJ 196, Atlanta 1998. 115 AVEMARIE, F., Tora und Leben, TSAJ 55, Tübingen 1996.

Die formative Periode des rabbinischen Judentums

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entsprechendes Gremium mit der aramaisierten Bezeichnung Sanhedrin , präsidiert vom Haupt des Hauses Hillel, dem die Titel Rabban und dann Nasî´ ` (Fürst) zugelegt wurden; in griechischen Quellen begegnet der Titel Patriarch. Nicht alle Juden teilten diese Geschichtstheologie, manche hatten sogar an der Seite der Römer gegen die Aufständischen gekämpft. Manche lehnten den Erwählungsanspruch für Israel und die Pflicht zur Absonderung von den Völkern ab, neigten zu einem gewissen religiösen Synkretismus, wurden von den Rabbinen als Spötter empfunden und mit anderen Gruppen als mînîm beschimpft. Und es gab den `am ha-`aräç , die Masse der Bevölkerung, die sich um die Forderungen der rabbinischen Elitereligion nicht kümmerte.116 Wie die Religion dieser nicht- und antirabbinischen Juden aussah, ist fast nur aus polemischen Äußerungen der Rabbinen zu erahnen.117 Die religionsgeschichtliche Bedeutung dieses „anderen Judentums“ lag zunächst v. a. in seinem Einfluss auf die sowohl feindlich wie positiv interessierte Umwelt. Aber diese antirabbinischen Ressentiments blieben die ganze Epoche hindurch virulent, und später, im Frühmittelalter, kamen sie zugunsten der karäischen Bewegung erneut zur Geltung.

3.3

Die amoräische Zeit

Die Mischna wurde mit anderen tannaitischen Traditionen zur Basis der weiteren Arbeit in den rabbinischen Schulen, deren Ergebnisse nun immer mehr den Alltag im sozialen Umfeld bestimmten. Entscheidend für diesen Erfolg war der Umstand, dass ab ca. 200 auch in Babylonien rabbinische Schulen (Sura, Nehardea, Pumbedita) gegründet wurden. Die jüdischen Autonomiebehörden förderten diese Entwicklung, in Palästina bzw. im Römischen Reich war es der Patriarch in seiner Doppelfunktion als Gelehrtenspitze und politischer Repräsentant, in Mesopotamien bzw. im Partherreich der mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattete, monarchische Exilarch (Re`š galûta`, Haupt des Exils) aus dem Haus Davids.118 Der letztere war in der Lage, 116 OPPENHEIMER, A., The `Am ha-Aretz, ALGJ 8, Leiden 1977. 117 SEGAL, A. F., The Other Judaisms of Late Antiquity, Atlanta 1988. 118 OPPENHEIMER, A., Between Rome and Babylon, Tübingen 2005.

112

Teil III. Jüdische Religion in der erlebten Geschichte

den großen Schulen eine so starke wirtschaftliche Basis zu verschaffen, dass sie zu machtvollen Zentren der rabbinischen Autorität wurden.119 Auf diese Weise entwickelten die Rabbinen dieser Zeit, die Amoräer, in ihren Schulen eine palästinische und eine babylonische Gemara` („Vollendung“, „Ergänzung“), die schließlich als palästinischer und babylonischer Talmud literarische Gestalt erhielten. Die enge Kooperation der Schulen mit dem Patriarchat und dem Exilarchat führte dazu, dass das neue Normensystem auch praktische Anwendung fand, was früher noch rabbinisches Programm war, wurde nun jüdische Praxis. Der Schulbetrieb in Palästina war allerdings bescheidener als der babylonische, aber auf zwei Gebieten dominierte das Mutterland: Die Midraschliteratur und die synagogale Poesie (der Pijjut ) haben von hier aus ihren Platz im jüdischen Leben erobert. Während in Babylonien das duale System aus Exilarchat und großen Schulen fortbestand, kam es in Palästina zu folgenreichen Veränderungen. Im Jahr 313 n. Chr. verordnete Kaiser Konstantin die Religionsfreiheit für die Christen und in den folgenden Jahrhunderten verwandelte sich die Kirche der Verfolgten in eine machtbewusste Staatskirche. Der Rechtsstatus der Juden blieb im Gegensatz zu dem der „Heiden“ zwar im Wesentlichen erhalten, wurde aber in Details nach und nach eingeschränkt. Wirtschaftlich war die Lage nicht ungünstig, denn in Palästina entstanden damals außer repräsentativen Kirchenbauten auch eindrucksvolle Synagogengebäude als örtliche Zentren des jüdischen Lebens.120 Aber in amtlichen Äußerungen der Zeit begegnen immer öfter abwertende und gehässige Ausdrücke. Pat119 GOODBLATT, D. M., Rabbinic Instruction in Sassanian Babylonia, Leiden 1975; RUBENSTEIN, J. L., The Culture of the Babylonian Talmud, Baltimore, MD 2003. 120 LEVINE, L. I. (Hg.), The Synagogue in Late Antiquity, Philadelphia 1987; FLESHER, P. V. M./URMAN, D., New Perspectives on Ancient Synagogues, Studia Postbiblica 45, Leiden 1994; URMAN, D./FLESHER, P. V.M (Hg.), Ancient Synagogues. I. Historical Analysis and Archaeological Discovery, 2 Bd., Studia Postbiblica 47, 1–2, Leiden 21998; FINE, ST. (Hg.), Jews, Christians, and Polytheists in the Ancient Synagogue, London 1999; LEVINE, L. I., The Ancient Synagogue. The First Thousand Years, New Haven 1999; AVERY-PECK, A. J./NEUSNER, J. (Hg.), Where We Stand. Issues and Debates in Ancient Judaism. The Special Problem of the Synagogue, Leiden 2000; CLAUSSEN, C., Versammlung, Gemeinde, Synagoge, StUNT 27, Göttingen 2002; OLSSON, B., The Ancient Synagogue from its Origins until 200 c.e., Stockholm 2003.

Arabische Expansion bis zur Vertreibung aus Spanien

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riarchat und Sanhedrin wurden im Zuge der Verwaltungsreformen des 5. Jh. aufgelöst und ihre Kompetenzen auf regionale Instanzen verteilt. Das stärkte die Autonomie der Einzelgemeinden, in denen aber die rabbinischen Gelehrten bereits so weit Fuß gefasst hatten, dass sie ihre Tradition selbst in der westlichen Diaspora durchsetzen konnten, und zwar so gründlich, dass vom Eigencharakter der griechisch-lateinischen Diaspora fast nichts mehr feststellbar ist. Nach dem Zerfall des weströmischen Reiches blieb der Rechtsstatus der jüdischen Minderheit nur soweit erhalten, als die Nachfolgestaaten noch römisches Recht respektierten und Rechtsicherheit gewährleisten konnten. Im Bereich des monophysitischen Christentums kam es zu einer ausgesprochen aggressiven Haltung gegenüber den Juden, in arianischen Regionen wurde hingegen der alte Rechtsstatus gewahrt, erst nach dem Übertritt der arianischen Herrscher zum römischen Katholizismus setzte eine judenfeindliche Praxis ein. Im byzantinischen Reich, das zeitweise auch italienische Gebiete einschloss, blieb die Lage mit vorübergehenden Ausnahmen stabil.

4.

Von der arabischen Expansion bis zur Vertreibung aus Spanien (632–1492)

4.1

Die neuen Verhältnisse

Infolge der Völkerwanderung sahen sich die jüdischen Gemeinden ganz unterschiedlichen neuen Verhältnissen ausgesetzt. Griechisch und Latein wurden im Alltag durch die Volkssprachen verdrängt und in den islamischen Gebieten setzte sich das Arabische als Alltagssprache gegenüber dem Aramäischen und Griechischen durch. Die Juden verfügten aber mit dem Hebräischen über ein gemeinsames Verständigungsmittel, das nun wieder an Bedeutung gewann. Der Fernhandel, der für die jüdische Diaspora eine wichtige Rolle spielte, erforderte und ermöglichte auch ein hohes Maß an Mobilität und weit gespannte Kontakte. Das änderte sich im Spätmittelalter, die Gemeinden gerieten bei hohen demographischen Zuwachsraten wirtschaftlich immer mehr in Bedrängnis und das Umweltverhältnis wurde immer unfreundlicher. Auf die kreativen Jahrhunderte des Hochmittelalters folgte so-

114

Teil III. Jüdische Religion in der erlebten Geschichte

wohl im christlichen wie im islamischen Bereich ein Niedergang, in dem die Wahrung der Tradition zum vorrangigen Anliegen wurde.121 Drei große jüdische Kulturbereiche bildeten sich damals aus. (1.) Ein orientalischer, vom babylonischen Judentum bestimmter Bereich, der sich im Zug der islamischen Eroberungen weit ins ganze Mittelmeergebiet und nach Osten hin ausdehnte. (2.) Eine besondere Spielart dieses babylonisch bestimmten Judentums hat unter der Maurenherrschaft in Spanien (Sefarad ) Gestalt gewonnen und wurde zur Basis des sefardischen Judentums. (3.) Ein palästinisch-byzantinischer Bereich,122 dessen Einfluss sich über Italien nach Mittel-, Nordwest- und schließlich auch Osteuropa (`Aškenaz ) erstreckte und das aschkenasische Judentum prägte.123 Im Lauf des 12. – 13. Jh. erhielten die regionalen Liturgien feste Gestalt und so wurden sie später auch gedruckt und damit festgeschrieben.124 Die Juden sahen sich nun zwei Religionen konfrontiert, die das Judentum als historische Voraussetzung für den eigenen Wahrheitsanspruch werteten, und insofern auch abwerteten bzw. als überholt betrachteten. Christentum und Islam stellten als politische Weltmächte und als Religionen für die Juden eine Existenzbedrohung dar, aber gleichzeitig gewannen alle drei Religionen dank der Wiederentdeckung der antiken Philosophie und Wissenschaft eine gemeinsame Bildungsbasis. Das ermöglichte Kontakte, neue Informationsmöglichkeiten und fundiertere Auseinandersetzungen. Die religiöse Vorstellungswelt entwickelte sich angesichts der Herausforderungen durch Christentum, Islam, Philosophie und profane Bildung unterschiedlich.125 Teilweise kam es zu ernsthaften Konflikten mit Vertretern eines strikten 121 GOITEIN, S. D., A Mediterranean Society, 6 Bd., Berkeley 1967–1993; BLUMENTHAL, D. R. (Hg.), Approaches to the Study of Judaism in Medieval Times, 3 Bd., Chico 1984/88; ROTH, N. (Hg.), Medieval Jewish Civilization, New York 2003; COHEN, M. R., Unter Kreuz und Halbmond, München 2005. 122 SHARF, A., Byzantine Jewry from Justinian to the Fourth Crusade, New York/ London 21984, BOWMAN, ST. B., The Jews of Byzantium, 1261–1453, Alabama 1985. 123 HOFFMANN, L. A., The Canonization of the Synagogue Service, Notre Dame 1979. 124 REIF, ST. C., Judaism and Hebrew Prayer, Cambridge 1993, 153–206. 125 MAIER, J., Geschichte der jüdischen Religion, Freiburg i. Br. 21992, 171–436; DAN, J. (Hg.), Jewish Intellectual History in the Middle Ages, London 1994.

Arabische Expansion bis zur Vertreibung aus Spanien

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Traditionalismus, die sich selbstgenügsam auf die Torah als alleinige Quelle aller Erkenntnis beriefen und das Studium „fremder“ Wissenschaften verpönten. Das aschkenasische Judentum, massiv in der Tradition verankert, blieb so gut wie ganz außerhalb solcher Auseinandersetzungen, die in drei Wellen vor allem die Juden im christlichen Spanien und in Südfrankreich betrafen (erster bis vierter maimonidische Streit von 1190 ff; 1230/2; 1303–1306). Auch in dieser Periode war der Abstand zwischen Elitereligion und Volksreligion beträchtlich. In den breiteren Schichten beherrschten wie in der Umwelt abergläubische Vorstellungen und Praktiken den Alltag, und manches davon drang ins religiöse Brauchtum ein.126 Doch auch Gebildete suchten in obskuren Gefilden nach Möglichkeiten zur Erschließung der Geheimnisse der Schöpfung, nicht zuletzt mittels der Kabbalah.127 Die Struktur der autonomen jüdischen Gemeinden verfestigte sich in dieser Periode. Regional kam es allerdings auch zu zentralistischen Ansätzen,128 denn dies entsprach dem Bedürfnis nach einer effektiven Interessenvertretung gegenüber der staatlichen Macht wie dem Interesse des Staates an einer einheitlichen und verantwortlichen Repräsentanz der geduldeten Minderheit. Vor allem in islamischen Ländern erreichten Repräsentanten der Judenheit fürstliches Ansehen. Obrigkeitlich eingesetzte Oberrichter bzw. Rabbiner stießen hingegen auf Misstrauen, denn im Großen und Ganzen versuchten die Gemeinden, ihre Taqqanôt (Verordnungen) und ihr Rechtswesen durch Absprachen auf regionaler/staatlicher Ebene selber zu regeln. In den aschkenasischen Gemeinden des Spätmittelalters stellte man vom 13. Jh. an einen rabbinischen Gelehrten als besoldeten Rabbiner an, was eine einheitlichere Praxis in der Anwendung der rituellen Vorschriften und in 126 TRACHTENBERG, J., Jewish Magic and Superstition, New York 21970; SCHÄFER, P./ KIPPENBERG, H. G. (Hg.), Envisioning Magic, Leiden, 1997. 127 VELTRI, G., Magie und Halakha, TSAJ 62, Tübingen 1997. 128 FINKELSTEIN, L., Jewish Selfgovernment in the Middle Ages, New York 1924; Neudruck Westport 1982; GOITEIN S. D., A Mediterranean Society, Bd. 2 Berkeley 1971; SCHWARZFUCHS, S., Kahal. La communauté juive médiévale, Paris 1986; JÜTTE, R./KUSTERMANN, A. P. (Hg.), Jüdische Gemeinden und Organisationsformen von der Antike bis zur Gegenwart, Wiesbaden 1998; GROSSMAN, A./KAPLAN, J. (Hg.), Qehal Jis´ra`el, Bd. 2, Jerusalem 2004.

116

Teil III. Jüdische Religion in der erlebten Geschichte

der Rechtsprechung gewährleistete.129 Im Gerichtswesen hatte sich schon länger die Praxis durchgesetzt, dass von den drei Mitgliedern eines Gerichtshofes einer rabbinisch gebildet sein muss. Nun übernahmen Rabbiner, in größeren Gemeinden auch zusätzlich ernannte rabbinische Richter (dajjanîm ) diese Funktion.130

4.2

Religiöse Literatur

Den unterschiedlichen und wechselnden Bedingungen entsprechend ergibt die jüdische Literatur dieser Zeit einen äußerst differenzierten Befund.131 Von zentraler Bedeutung blieb nach wie vor die rabbinische Tradition, allerdings mit neuen Formen und mit Ansätzen zur Systematisierung. Aber der Schulbetrieb, wie er in Babylonien noch bis ins 13. Jh. fortlebte, war nicht mehr der maßgebliche Ort der literarischen Produktion, sondern Einzelpersonen mit einem ausgeprägten Autorenbewusstsein waren am Werk. In manchen islamischen Gebieten bewirkte die arabische Kultur auch eine gewisse Verweltlichung und Ablösung von der Religion. Besonders deutlich wird dies im Blick auf die Dichtung. Sie löste sich von den strengen Vorgaben der synagogalen Verwendung (als Pijjut), und arabischen Vorbildern nacheifernd, schuf man auch eine rein weltliche Lyrik, um den Rang des Hebräischen gegenüber dem Arabischen zu behaupten. Formen und Techniken dieser profanen Dichtung haben auf die synagogale Dichtung der Zeit zurückgewirkt.132 Die Virtuosität des Vortrags und die modische Wandelbarkeit dieser synagogalen Dichtungen fesselten im Gottesdienst das Interesse des Publikums, bis die einzelnen Ritus festgeschrieben waren. Später wurde die Homilie (derašah ) zur synagogalen Attraktion 129 SCHWARZFUCHS, S., A Concise History of the Rabbinate, Oxford 1993; CARLEBACH, J. (Hg.), Das aschkenasische Rabbinat, Berlin 1995, 9–140. 130 GOLDMANN. S., Die jüdische Gerichtsverfassung innerhalb der jüdischen Gemeindeorganisation, in: Udim 2 (1971), 21–67. 131 STEMBERGER, G., Geschichte der jüdischen Literatur. Eine Einführung, München 1977; KRUSZ, A., Short Digest of Jewish Literature in the Middle Ages, Sheffield 1984; VAN UCHELEN, N. A./ZWIEP, I. E. (Hg.), From Narbonne to Regensburg, Amsterdam 1993. 132 FLEISCHER, E., Šîrat ha-qôdäš ha-`ibrît bîmê ha-bênajîm, Jerusalem 1975.

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und nahm einen prominenten Platz in der Erbauungsliteratur (mûsar Literatur) ein. Die beherrschende Rolle der gesetzlichen Überlieferungen hatte natürlich zur Folge, dass im Alltag viele religiöse Pflichten mehr oder weniger mechanisch und gewohnheitsmäßig erfüllt wurden. Dem sollten die Erbauungsschriften begegnen, die über die formale Gebotserfüllung hinaus eine angemessene Intention (kawwanah ) und die Erfüllung von nicht festgeschriebenen Herzenspflichten forderten. Das Niveau reicht von volkstümlichen, schlichten Schriften bis zu intellektuell und literarisch anspruchsvollen Werken. Philosophierende jüdische Mystik hat im arabischen Kulturraum eine recht bedeutende Rolle gespielt, was in der Forschung lange nicht angemessen wahrgenommen wurde.133 Hingegen hat man die Bedeutung des aschkenasischen Chasidismus im zentraleuropäischen Judentum überbewertet. Seine philosophischen Komponenten sind äußerst bescheiden, aus zweiter Hand übernommen. Das Hauptgewicht liegt auf der Verarbeitung esoterischer Traditionen aus der späten Antike, auf Beschreibungen der himmlischen Welt und der Erscheinung der thronenden Gottheit als einer geschaffenen Manifestation Gottes. Derartige Geheimtraditionen sollen aus Babylonien stammen und mit der Qalonymus-Familie aus Italien ins Rheinland gekommenen sein. Der 1217 n. Chr. verstorbene Jehuda b. Samuel hä-Chasid (der Fromme) vertrat eine strenge, verinnerlichte Frömmigkeit. Seine Lehren wurden ab 1217 durch seinen Schüler R. Eleazar b. Jehuda von Worms (gest. ca. 1230) schriftlich weiterentwickelt und publik gemacht. In ihrer systematischen Unzulänglichkeit konnte sich diese Richtung gegenüber der aufkommenden Kabbalah aber nicht behaupten.134 Nur im Rahmen der Erbauungsliteratur wirkte diese vergleichsweise strenge Frömmigkeit noch nachhaltig fort, vor allem der Sefär hasîdîm (Buch ¯ Frommer ) blieb (in seiner ersten Druckfassung) ein viel gelesenes Er133 BLUMENTHAL, D. R., Philosophic Mysticism, Ramat Gan 2005. 134 MARCUS, I. G., Piety and Society, Leiden 1981; DAN, J., Ashkenazic Hasidims in the History of Jewish Thought (hebr), Tel Aviv 1990; DAN, J. (Hg.), The Beginnings of Jewish Mysticism in Medieval Europe, Jerusalem 1993; GRÖZINGER, K. E./DAN, J. (Hg.), Mysticism, Magic and Kabbalah in Ashkenaz Judaism, SJ 13, Berlin 1995; ABRAMS, D., Sexual Symbolism and Merkabah Speculation in Medieval Germany, Tübingen 1997.

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bauungsbuch.135 Es enthält aber keine Informationen über die spekulative Theologie dieser Richtung, sondern eher Informationen über Zustände und Volksfrömmigkeit in jüdischen Gemeinden südlich und nördlich der Alpen. In Babylonien und Palästina entwickelte man verschiedene Methoden der Masorah, d. h. der Pflege des biblischen Konsonantentextes und seiner Vokalisation. Intensiviert wurden diese Bemühungen durch den Islam mit seiner Wertung und Behandlung des Korantextes und durch die intensive Bibeltextpflege der Karäer. Schließlich setzten sich die Schule von Tiberias durch, die Bibeltexte wurden in ihrem Sinne standardisiert, und infolge der Bibeldrucke wurde in der Neuzeit diese masoretische Texttradition auch von den Christen übernommen und führte zum Textus receptus des hebräischen Alten Testaments. Daneben wurde zur Untermauerung der rabbinischen Auslegungstradition auch die Targumüberlieferung weiter gepflegt, obschon Aramäisch nur mehr von Gelehrten verstanden wurde. Dieses meist am Wortsinn orientierte Textverständnis wurde weiterhin durch midraschartige, erbaulich-homiletische Kommentierungen im Anschluss an die Schriftleseperikopen gestützt. Doch die veränderten kulturellen Umfelder erforderten auch neue Formen der Kommentarliteratur zu biblischen Büchern, wenn auch nach wie vor mit dem Schwergewicht auf dem Pentateuch.136 Im Unterschied zum Midrasch wurde nun besonderer Wert auf Wort- und Sinnerklärung am laufenden Text gelegt, so v. a. bei Salomo ben Isaak (RŠ“J) und der nordfranzösischen Schule, in der die italienisch-aschkenasischen Auslegungstraditionen zusammengefasst und redigiert wurden. Und zwar so konzis und effektiv, dass man später die RŠ“J-Kommentare überall mit dem Bibeltext zusammen lernte. Im islamischen Kulturraum kam eine arabische und alsbald auch hebräische Sprachpflege auf, die eine philologische Kommentierung ermöglichte. Außerdem schrieb man inhaltsorientierte, theologische Kommentare, teils philosophisch,137 teils kabbalistisch 135 ALEXANDER-FRIZER, T., The Pious Sinner, Tübingen 1991. 136 S&AB\O, M., (Hg.), Hebrew Bible. Old Testament. The History of its Interpretation, I Part 2, Göttingen 2000 (hier weiterführende Literatur); MCAULIFFE, J. D. u.a (Hg.), With Reverence for the Word: Medieval Scriptural Exegesis in Judaism, Christianity, and Islam, New York 2003. 137 HAYOUN, M.-R., L’exégèse philosophique dans le judaïsme médiéval, Tübingen

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ausgerichtet, und manchmal diente die Bibelexegese auch als Mittel der Auseinandersetzung mit der christlichen Religion.138 Auch die Kommentare des Abraham b. Meir ibn Ezra (gest. ca. 1163/4) und des Mose b. Nachman (RMB“M, Nachmanides, gest. 1270), beide aus Spanien, haben in die sog. „Rabbinerbibeln“ Aufnahme gefunden. Hoch geschätzt werden ferner Kommentare des 1344 verstorbenen Levi ben Gerson (RLB“G, Gersonides) in Südfrankreich, und zuletzt des Isaak ben Jehuda Abrabanel (gest. 1508) aus Spanien.

4.3

Die Halakah

Das umfangreiche literarische Erbe aus der talmudischen Zeit hat erst im Verlauf des Mittelalters seine volle Wirkung entfalten können. Dementsprechend zahlreich sind auch die einschlägigen Schriften, die sich auf eine Reihe literarischer Gattungen verteilen lassen, die bis heute weitergepflegt werden.139 Die nächstliegende Art der aktualisierenden Aneignung der Tradition bestand in der Kommentierung. Der bekannteste und halachisch maßgeblichste Talmudkommentar stammt ebenfalls von Salomo ben Isaak (1040–1105) aus Troyes, zum Teil auch von seinen Schülern. Er fasste darin die italienisch-aschkenasische Tradition zusammen und schuf so die Grundlage für weitere Aktualisierungen. Schließlich wurde der Raschikommentar mit dem Talmudtext zusammen gelernt und später auch mit ihm gedruckt. Im Lauf des Mittelalters (und weiter bis heute) wurden zum babylonischen Talmud zahlreiche Kommentare verfasst, seltener zum palästinischen Talmud. Großen Einfluss hatte im aschkenasischen Bereich auch der Sefär Mordechaj des Mordechaj ben Hillel (gest.1293). Gelegentlich wurde auch nur die Mischna allein 1992; FENTON, P., Philosophie et exégèse sans le jardin de la métaphore de Moïse Ibn Ezra, Leiden 1996; DERS., Maimonides und die Maimonideische Schule der Exegese im Osten: Philosophische und mystische Exegese, in: STEGMAIER, W. (Hg.), Die philosophische Aktualität der jüdischen Tradition, Frankfurt a. M. 2000,150–187; COHEN, M. Z., Three Approaches to Biblical Metaphor. From Abraham Ibn Ezra to David Kimchi, Leiden 2003. 138 KAMIN, S., Jews and Christians Interpret the Bible, Jerusalem 1991; TALMAGE, F. E., Apples of Gold and Settings of Silver, Toronto 1999. 139 Standardwerk: ELON, M., Jewish Law, 4 Bd., Philadelphia/Jerusalem 1994.

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kommentiert, so durch Mose ben Maimon und später durch Abraham da Bertinoro (spätes 15. Jh. in Italien). Schüler Raschis haben im Lauf des 12./13. Jh. das Werk ihres Meisters durch Zusätze (Tosafot ) ergänzend aktualisiert, sie heißen daher Tosafisten. Eine Auswahl solcher Tosafot fand auch in Talmudhandschriften und Talmuddrucken Aufnahme.140 Ebenfalls zahlreich sind Sammlungen von halachischen Einzelanmerkungen, die ein bestimmtes Thema in einer talmudischen Textpassage aktualisieren (Hîddûšîm, Novellae), oder Sammlungen von ¯ Rechtsentscheiden bzw. Urteilen (Pesaqîm ), die eine talmudische Stelle bzw. ein Problem zum Gegenstand haben. In der Rechtspraxis richtete man in schwierigen Fällen auch Anfragen (Še`elôt ) an große Schulen oder an bekannte Autoritäten, um ein Responsum (eine Tešûbah ) zu erbitten. Solche Rechtsgutachten (ŠW“T, Še`elôt û-tešûbôt ) wurden gesammelt und später auch gedruckt, sie dienten und dienen bis heute als Nachschlagewerke für Präzedenzfälle. Die umfangreichen rabbinischen Sammelwerke waren als Quellen der mündlichen Torah unübersichtlich, schwer handhabbar und natürlich auch kostspielig. Für das normale Rechtsleben erstellte man daher thematische Sammlungen der verbindlichen Halakah, und durch Kompilation solcher Texte entstanden mehr oder weniger umfassende Handbücher des jüdischen Rechts, an denen sich die Richter orientieren konnten. Drei Kompendien haben eine autoritative Geltung erlangt und wurden daher im Lauf der Jahrhunderte immer wieder aktualisierend kommentiert: (a) Hilkôt `Alfas : In Nordafrika schrieb Isaak ben Jakob Alfasi (gest. 1103) ein Kompendium der talmudischen Halakôt. (b) Der Mišneh Tôrah (Jad ha-hazaqah ) des Mose ben Maimon ¯ (Maimonides, gest. 1204 in Ägypten). Dieses Kompendium umfasst in 14 Büchern als einziges nicht bloß das praktikable, sondern das ganze jüdische Recht (auch für die messianische Herrschaft).141 Vorweg listete er auch die 613 (248) Gebote und (365) Verbote der schriftlichen Torah auf. Diese hatte er schon in einem besonderen Buch (Sefär ha140 URBACH, E. E., Ba`alê ha-Tôsafôt, 2 Bd., Jerusalem 51985/6. 141 TWERSKY, I., Introduction to the Code of Maimonides Mishneh Torah, YJS 22, New Haven 1980; RAKOVER, N., Maimonides as Codifier of Jewish Law, Jerusalem 1987.

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miçwôt ) dargelegt, außerdem einen Mischnakommentar (in arabischer Sprache) verfasst. Der erste Teil des Kodex (Sefär ha-madda` ) enthält auch religiöse Grundüberzeugungen, freilich im Sinne der aristotelisch orientierten Theologie des Verfassers und daher nicht unumstritten. Das Werk wurde durch die sog. Hagahôt majmonîjôt für die aschkenasische Praxis adaptiert. (c) Die `Arba`ah T¸ûrîm des Jakob ben Ascher (gest. 1340), dessen Vater aus Deutschland nach Spanien (Toledo) gezogen war. Er verteilte die thematischen Halakot-Sammlungen auf vier große Teile (T ¸ ûrim , Kolumnen): A. `ôrah hajjîm (Lebensweise) mit 697 §§, Gebete, Sabbat, ¯¯ Feste und Fasttage betreffend; B. Jôreh de`ah (Lehrt Erkenntnis) mit 403 §§, über rituelle Reinheit, Geldzins, Götzendienst und Trauervorschriften; C. `Äbän ha-`äzär (Stein der Hilfe) mit 178 §§ über Frauen- und Eherecht; D. Hošen mišpat¸ (Schild des Rechts) mit 427 §§ ¯ über Zivil- und Strafrecht. Wirkungsgeschichtlich war dieses Werk für das ganze Judentum sehr wichtig, weil es aschkenasische und sefardische Tradition zusammenführte. Örtliche oder regionale Gepflogenheiten haben sich vor allem in sog. Minhag-Büchern niedergeschlagen.

4.4

Die Herausforderung durch das Christentum

Erst im Lauf des Mittelalters und unter dem Eindruck des Islam richtete man im Judentum den Blick auch genauer auf die neue Religion des Römischen Reiches,142 für jüdisches Bewusstsein nach wie vor Edom , das vierte Reich Daniels, die letzte Weltmacht vor der messianischen Herrschaft. Wo das römische Recht nicht mehr galt, verfügten die jüdischen Gemeinden über keinen verbrieften Rechtsstatus mehr. Die christlichen Herrscher verliehen im Rahmen der Urbanisierung und der Erschließung von Handelswegen jüdischen Familien oder Gemeinden günstige Privilegien, die bei einem Herrschaftswechsel oder einer Veränderung der Interessenlage allerdings wieder zur Disposition standen. Auf eine 142 RANKIN, O. S., Jewish Religious Polemics, Edinburgh 1956; Nachdruck New York 1970; TRAUTNER-KROMAN, H., Shield and Sword. TSMEMJ 8, Tübingen 1993.

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dauerhaftere Regelung zielte das Konzept der Kammerknechtschaft ab, nach dem die Juden der Finanzbehörde des Herrschers unterstehen. Dies wurde theoretisch zum einen mit der Behauptung begründet, die Juden seien seit 70 n. Chr. Sklaven des römischen Kaisers, zum andern sahen christliche Theologen in den Juden Unerlöste, die an der christlichen Freiheit keinen Anteil haben, und dieser geistliche Knechtsstatus sollte für die Gläubigen auch äußerlich sichtbar gemacht werden.143 Aber erst gegen das Spätmittelalter hin setzten sich kirchliche Forderungen stärker durch, nicht zuletzt infolge der Propaganda bestimmter Orden.144 Die Möglichkeiten wechselseitiger Information waren im christlichen Kulturraum begrenzt, da die Kultursprache, das Lateinische, auf kirchliche Bereiche und auf höheres Verwaltungspersonal beschränkt blieb. Die Juden erhielten daher kaum Zugang zur Umweltkultur, lediglich in Spanien, Südfrankreich und Italien kam man mit der Umweltkultur eher zurecht, weil von den romanischen Umgangssprachen her der Zugang zum Lateinischen eben leichter war. In Italien hat die jüdische Bildungselite folglich auch Impulse der Renaissance und des Humanismus wahrnehmen und für sich verwerten können. Wegen des Götzendienstverdachts, der den Christen anhaftete, musste man allerdings von sich aus auf gesellschaftlichen Abstand achten, denn es ist nach jüdischem Recht verboten, sich mit Götzendienst zu befassen (s. Reader, Nr. 10). Was man von der christlichen Religion mitbekam, fußte vor allem auf Informationen vom Hörensagen, nicht zuletzt aus Gesindekreisen, ergab sich aus dem visuellen Eindruck religiöser Veranstaltungen, und aus Beobachtungen in der unmittelbaren Nachbarschaft. Auf dieser Ebene der Volksfrömmigkeit machte das Christentum nicht den Eindruck einer monotheistischen Religion. Über Jesus Christus wussten Juden nur einige Kuriositäten aus rabbinischen Texten, in die man polemische Äußerungen eingefügt hatte, als das Christentum bereits zur Staatsreligion geworden war.145 Solche Details wur143 COHEN, J. (Hg.), From Witness to Witchcraft, Wiesbaden 1997; DERS., Living Letters of the Law, Berkeley, Los Angeles, London 1999; BECKER, A. H. (Hg.), The Ways that Never Parted, Tübingen 2003. 144 MICHAEL, ST. J./MYERS, S. E. (Hg.), Friars and Jews in the Middle Ages and Renaissance, Leiden 2004. 145 MAIER, J., Jesus von Nazareth in der talmudischen Überlieferung, EdF 82,

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den auch zu satirischen Traktaten, den Tôledôt Ješû (Geschichte Jesu) vereint.146 Geläufige Bezeichnungen für Jesus waren Ješû ha-nôçrî (Jesus der Christ) und ha-talûj (der Gehängte), und die Verehrung des Gekreuzigten wurde als Totenkult gewertet. Theologisch kam es erst im 12. Jh. zu intensiveren Auseinandersetzungen,147 fallweise auch im Rahmen der Bibelexegese und mit Hilfe philosophischer Argumentation.148 Die einsetzenden kirchlichen Missionsbestrebungen zwangen einzelne jüdische Gelehrte dazu, sich mit der Gegenseite auch inhaltlich genauer auseinanderzusetzen.149 Und zwar vor allem zum Schutz der eigenen Gruppe, zumal die Informanten der Kirche oft abtrünnige Juden waren. In der Regel verfasste man solche Bücher also in erster Linie für den Eigenbedarf und darum in hebräischer Sprache. Die Situation in der christlichen Welt hatte sich teilweise schon mit den Kreuzzügen verschlechtert. Noch folgenreicher waren die judenfeindlichen Begleiterscheinungen in den Jahren des Schwarzen Todes (1348 ff) und in Spanien nach den schweren Ausschreitungen im Juli 1391. Die dortigen Zwangsbekehrten (Conversos bzw. Marranen ) erwiesen sich alsbald als Problem für die Kirche selbst, weil viele insgeheim am alten Glauben festhielten. Obschon die Kirche Zwangsbekehrten grundsätzlich die Rückkehr zum Judentum gestattet, verlief die Praxis meist anders, und die Inquisition versuchte, das Problem mit grausamer Gewalt zu beseitigen. Auch für jüdische Gemeinden selber wurden Zwangsbekehrte zu einem Problem, sie gefährdeten als Rückfällige und Scheinchristen nämlich auch die Juden ihrer Umgebung. Am 31. März 1492 erließen die „katholischen Könige“ in Granada ein Edikt, wonach alle Juden, die sich nicht zum Christentum be-

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147 148 149

Darmstadt 21992 (Forschungsgeschichte). SCHÄFER, P., Jesus in the Talmud, Princeton 2007. KRAUSS, S., Das Leben Jesu nach jüdischen Quellen, Berlin 1902; Nachdruck Hildesheim 1972; 1994; CALLSEN, B. u. a., Das jüdische Leben Jesu – Toldot Jeschu, München 2003. SIGNER, M. A./VAN ENGEN, J. (Hg.), Jews and Christians in Twelfth-Century Europe, Notre Dame 2001. LASKER, D. J., Jewish Philosophical Polemics against Christianity in the Middle Ages, New York 1977. DEL VALLE, C. (Hg.), Polémica Judeo-Cristiana, Madrid 1993; DERS. (Hg.), La controversia judeocristiana en España, Madrid 1998.

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kehren wollen, die Länder der Kronen Kastiliens und Aragons zu verlassen haben, und dieses Datum hat darum im jüdischen Geschichtsbewusstsein die Bedeutung einer Epochengrenze mit einschneidenden demographischen und religionsgeschichtlichen Folgen.

4.5

Die Herausforderung durch den Islam

Als Folge der Entstehung eines neuen politischen und bald auch kulturellen Großraums nach der arabischen Eroberung erweiterten sich die Kompetenzen des jüdischen Exilarchen in Babylonien. Aber auch regional wurden Repräsentationen der Judenschaften geschaffen und die ersetzten mit dem Machtverfall des Kalifenreiches die Zentralgewalt des Exilarchen. Auch die autoritative Geltung der babylonischen Schulen nahm zunächst entsprechend zu und ihr Einfluss erstreckte sich für einige Zeit bis in christliche Gebiete.150 Im islamischen Bereich waren Informationen über andere Religionen leichter zu erhalten, und hier wurde das Christentum auch durch den streng monotheistischen und bilderfeindlichen Islam kritisch unter die Lupe genommen.151 So behandelte im 9. Jh. auch der jüdische Autor David ibn Merwan al-Moqammetz in seinen arabisch geschriebenen Zwanzig Kapiteln die jüdischen Glaubensinhalte, indem er sich an islamischer Theologie (Kalam ) und an neuplatonischer Philosophie orientierte, mit kritischen Seitenblicken auf das Christentum, speziell auf die Trinitätslehre. Das Verhältnis zur islamischen Umwelt unterschied sich von dem zur christlichen fundamental, denn das jüdische Recht anerkennt Muslime als Monotheisten, und damit fallen all jene rituellen Schranken fort, die im Verhältnis zu Götzendienern zu beachten sind. Nur in Bezug auf Diskussionen über biblische Texte bestanden Bedenken, weil der Islam über keinen Bibeltext verfügt und biblische Inhalte im Koran in einer so abweichenden Form auftauchen, dass wechselseitig der Vor150 BRODY, R., The Geonim of Babylonia and the Shaping of Medieval Jewish Culture, New Haven/London 1998. 151 LUTZ-BACHMANN, M./FIDORA, A. (Hg.), Juden, Christen und Muslime, Darmstadt 2004; ROSENKRANZ, S., Die jüdisch-christliche Auseinandersetzung unter islamischer Herrschaft 7.–10. Jahrhundert, Bern 2004.

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wurf der Bibelfälschung erhoben wurde. Für die islamische Auseinandersetzung mit Judentum und Christentum stellte dies folglich einen besonders heiklen Punkt dar.152 Darüber hinaus bot sich in den aufstrebenden großen Zentren der islamischen Welt die Möglichkeit eines offenen Kultur- und Informationsaustausches, was in dieser ungemein innovativen Phase auch der jüdischen Bildung zugute kam. Denn in relativ kurzer Zeit übernahmen die Bewohner der eroberten Gebiete den Islam und die arabische Sprache, und dieser assimilierte Islam war in der Lage, die verschiedenen Kulturen der unterworfenen Gebiete zu adaptieren und innerhalb kurzer Zeit auch die bei syrischen Christen gepflegten Überlieferungen der antiken Philosophie und Wissenschaften aufzugreifen und für sich dienstbar zu machen. Das Verhältnis zu Religion und Kultur der Umwelt war also trotz des eindeutig untergeordneten Status der Minoritäten vergleichsweise entspannt und frei.153 Auch die Rechtsbasis war im Vergleich zu den fallweisen Privilegien christlicher Herrscher solider. Im sog. Omar-Vertrag werden nämlich die Bekenner von Buchreligionen als Vertragsschützlinge (dhimmi ) definiert und ihnen wird in eigenen Belangen Autonomie zugesichert.154 Die politische Praxis wechselte unter den einzelnen Herrschern zwar und es kam auch des Öfteren zu feindseligen Übergriffen gegen die Minoritäten, doch insgesamt bestanden unter dem Halbmond günstigere Voraussetzungen als unter dem Kreuz.155 Kein Wunder also, dass die Juden die Erfolge Ismaels begrüßten und den Untergang Edoms erhofften. Allerdings besteht in zwei Punkten ein grundlegender Dissens: Die Behauptung, Mohammed sei der abschließende Prophet, wird in der jüdischen Polemik schroff abgewiesen, Mohammed selbst als der Verrückt e (ha-mešûgga` ) bezeichnet. Und damit wird auch die Be152 ADANG, C., Muslim Writers on Judaism and the Hebrew Bible, Leiden 1995; BUSSE, H., Die theologischen Beziehungen des Islams zu Judentum und Christentum, Darmstadt 21991. 153 NETTLER, R. L. (Hg.), Studies in Muslim-Jewish Relations, 2 Bd., Newark/London 1989/95; NETTLER, R. L./TAJI-FAROUKI, S. (Hg.), Muslim-Jewish Encounters, Amsterdam 1998; WASSERSTROM, ST. M., Between Muslim and Jew, Princeton 1995; SEELENGUT, CH. (Hg.), Jewish-Muslim Encounters, St. Paul, MN 2001. 154 RUBIN, U./WASSERSTEIN, D. J., Dhimmis and Others, Winona Lake 1997; KALLFELZ, W., Nichtmuslimische Untertanen im Islam, Wiesbaden 1995. 155 GIL, M., Jews in Islamic Countries in the Middle Ages, Leiden 2004.

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hauptung, mit dem Koran sei die Torah des Mose aufgehoben bzw. überholt, ebenso kompromisslos verworfen wie die christliche These von der Aufhebung der Torah durch Christus. In diesem Punkt stand das Judentum also einer christlichen wie muslimischen Herausforderung gegenüber.

4.6

Die Herausforderung durch die karäische Bewegung

Scherira b. Chananja, Gaon von Pumbedita (gest. ca. 1006), beantwortet eine Anfrage aus Kairuan bezüglich der mündlichen Tradition mit einer umfangreichen Darstellung, die seither das traditionelle Geschichtsbild beherrscht. Mit dieser Konstruktion hatte die rabbinische Bildungselite ihren Autoritätsanspruch direkt an die Sinaioffenbarung geknüpft, doch dagegen regten sich Widerstände. Als im 8. Jh. ein Nachfolgestreit im Haus des Exilarchen ausbrach, sammelte der unterlegene Prätendent Anan b. David oppositionelle Gruppen um sich, teils endzeitorientierte Bußbewegungen („Trauernde um Zion“), teils unzufriedene Intellektuelle, deren gemeinsamer Nenner darin bestand, die Offenbarungsqualität der Mündlichen Torah zu bestreiten und nur die biblischen Schriften (miqra` ) als Inhalt der Sinaioffenbarung anzuerkennen, weshalb man sie eben Qera`îm /Karäer nannte.156 Sie widmeten sich folgerichtig besonders der Pflege der BibeltextÜberlieferung (Masorah ) und der Bibelexegese, und sie wandten dabei schon früh Methoden an, die sie aus der islamischen Bildungswelt übernommen hatten.157 Dadurch geriet die rabbinische Seite in Zugzwang und suchte mit entsprechenden Anstrengungen, auf all diesen Gebieten gleichzuziehen. Zwischen dem 9. und 11. Jh. erlangten die Karäer zeitweilig die Anerkennung als eigene autonome Gruppe, nach 1200 verloren sie aber rasch an Boden und hielten sich nur mehr in Byzanz, später auf der Krim und zuletzt im Baltikum und in Palästina.

156 ASTREN, F., Karaite Judaism and Historical Understanding, Columbia, SC 2004. 157 KHAN, G. (Hg.), Exegesis and Grammar in Medieval Karaite Texts, JSS.S 13, London 2001; FRANK, D., Search Scripture Well. Karaite Exegetes and the Origins of the Jewish Bible Commentary in the Islamic East, Leiden 2004.

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4.7

127

Profane Bildung und Tradition, Vernunfterkenntnis und Offenbarungsglaube

In den Metropolen und Residenzstädten der islamischen Welt hat die offene Haltung gegenüber den Umweltkulturen eine Bildungsschicht hervorgebracht, die den abgegrenzten Rahmen der eigenen Traditionen bewusst überschritt, um zusätzliche Erkenntnisse zu erwerben. Das betraf auch die vorhandenen religiösen und ethnischen Gemeinschaften, deren Denken und Praxis man näher kennen lernen wollte.158 Auch Überlieferungen aus der Antike zogen die Aufmerksamkeit auf sich, und diese Bildungsinhalte haben, ins Arabische übersetzt, innerhalb kurzer Zeit die Bildung der Zeit bestimmt, sich auf die Pflege des Rechts ausgewirkt, und nicht zuletzt als Leitlinien für die Definition des islamischen Glaubens gedient.159 Natürlich gab es auch traditionalistische Gegenbewegungen, doch war die Wirkung der wiederentdeckten antiken Philosophie und Wissenschaft so nachhaltig, dass sich ihr die Bildungseliten der Muslime, Juden und Christen einfach nicht entziehen konnten.160 Das meiste davon wurde in arabischer Sprache geschrieben und erreichte daher die Gemeinden im christlichen Bereich erst mit einer gewissen Verzögerung dank der Übersetzung ins Hebräische. Auf diese Weise erfüllte die jüdische Elite eine Kultur vermittelnde Funktion, die auch der interessierten christlichen Umgebung zugute kam. Profane Bildung und philosophisches Denken zwangen dazu, Wissen und Glauben zueinander ins Verhältnis zu setzen.161 Die Skala reicht von schroffer Ablehnung bis zu assimilatorischen Neigungen mit einer weitreichenden Relativierung der alten Vorstellungen und 158 Vgl. PERLMAN, M., Sa`d b. Mansur al-Isra`ili b. Kammuna. Examination of the Three Faiths, Berkeley 1971. 159 INGLIS, J., Medieval Philosophy and the Classical Tradition in Islam, Judaism and Christianity, London/New York 2002. 160 GOODMAN, L. E., Jewish and Islamic Philosophy, New Brunswick, NJ 1999. 161 SIRAT, C., A History of Jewish Philosophy, Cambridge 21990]; VAJDA, G., Sages et penseurs sépharades de Bagdad à Cordoba, Paris 1989; DAN, J. (Hg.), Jewish Intellectual History in the Middle Ages, London 1994; PINES,S., Studies in the History of Jewish Thought, The Collected Works of Shlomo Pines 5, Jerusalem 1996; RAVITZKY, A., History and Faith. Studies in Jewish Philosophy, Amsterdam 1996.

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Gewohnheiten. Im Extrem kam es v. a. im islamischen Bereich zu Fällen opportunistischen Religionswechsels und freigeistiger Religionskritik.162 Um dieser Gefährdung zu begegnen, verfassten karäische wie rabbinische Autoren Bücher, in denen sie die Vereinbarkeit der eigenen Traditionen mit dem neuen Wissensstand nachweisen wollten. Meist sogar mit der Behauptung, dass das Neue eigentlich ureigenes Altes sei, die griechischen Philosophen also im Grunde Schüler des Mose gewesen seien. Auf diese Weise konnte man die neuen Definitionen der Quellen menschlicher Erkenntnis akzeptieren und unterstellen, dass richtige Erkenntnis zu eben der Wahrheit führt, die in den überlieferten Offenbarungsschriften (nach islamischem Sprachgebrauch: Prophetie ) enthalten sei.163 Mit der Folgerung, dass letztere den sicheren Zugang zur Wahrheit verbürgen, während die Erkenntnisprozesse infolge der menschlichen Unzulänglichkeit nur kritisch Geschulte zum Ziel führen können. Das Ziel der Erkenntnis aber, und da war man sich in allen drei Religionen einig, besteht in der Gotteserkenntnis ,164 in der Regel eng verbunden mit Gottesliebe und Gottesfurcht. Welchen Stellenwert die Vernunfterkenntnis für einen Frommen haben kann, blieb allerdings umstritten. Die mittels der Vernunft erreichte Gotteserkenntnis und erschlossenen Gottesbeweise165 wurden von Kritikern zwar als Leistungen des menschlichen Geistes anerkannt, aber dem Gott Israels als dem lebendigen Gott entgegengesetzt.166 Die ersten Auswirkungen der Philosophie auf die islamische Religion ermöglichten die Ausbildung einer islamischen Rechtswissenschaft und auch einer Theologie, den sog. Kalam , der auch für die frühen jüdischen Denker als Vorbild diente.167 Doch bald beherrschte die neuplatonische Philosophie für Jahrhunderte die Szenerie. Und das nicht nur in den Elitekreisen, sie prägte in vulgarisierter Form den 162 163 164 165 166

URVOY, D., Les penseurs libres dans l’islam classique, Paris 1996. KREISEL, H., Prophecy, Dordrecht 2001. HUGHES, A. W., The Texture of the Divine, Bloomington 2004. SAMUELSON, N., Gottesbeweise I. Judt., TRE 113 (1985), 708–724. SINAI, N., Menschliche oder göttliche Weisheit? Zum Gegensatz von philosophischem und religiösem Lebensideal bei al-Ghazali und Yehuda ha-Levi, Ex oriente lux 2, Würzburg 2003. 167 WOLFSON, H. A., Repercussions of the Kalam in Jewish Philosophy, Cambridge, MA 1979.

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Volksglauben in allen drei Religionen so grundlegend, dass sie gar nicht mehr als fremd wahrgenommen wurde.168 Und das, obwohl einige grundlegende Komponenten des Neuplatonismus mit der biblischjüdischen Tradition nur schwer zu vereinbaren waren. Die aristotelische Linie erreichte, von der Vorstellung von den 9 bzw. 10 Sphären abgesehen, hingegen nie diese Popularität; sie blieb auf enge Gelehrtenzirkel beschränkt und wurde zur eigentlichen Zielscheibe von Polemiken gegen die Philosophie überhaupt. Zuletzt geriet der Aristotelismus ins Visier der offiziellen Religionen, weil die Interpretation der aristotelischen Schriften durch ibn Rushd (Averroes) und seine Schule (Averroismus) als häretisch gewertet und verpönt wurde. Gegenüber der neuplatonischen Seelenlehre hatte die aristotelische Intellektlehre,169 die in der Seele nur die Form des Leibes sah und die Unsterblichkeit an das Maß des erworbenen Intellekts band, keine Chance. Beide Richtungen verbanden aber Erkenntnisprozess und ethische Selbstvervollkommnung und konnten für die jüdische Frömmigkeit verwertet werden, sofern die Torah als das wirksamste Mittel zur Erreichung dieser Ziele galt.170 Da aber die Torah eine kollektive Aufgabe für Israel darstellt, waren dem extremen Individualismus der neuplatonisch geprägten Frömmigkeit Grenzen gesetzt, und die aristotelische Mittelwegsethik wurde eher als verwandt empfunden. Das Bild vom persönlichen und wie ein Mensch handelnden und fühlenden Gott Israels hat schon in der Antike Anlass gegeben, die betreffenden biblischen Aussagen als bildliche Rede zu entschärfen. Für philosophisches Denken war die Transzendenz der Gottheit aber eine unausweichliche Konsequenz und daher stellte sich das Problem des Anthropomorphismus auf verschärfte Weise. Die Vermittlung zwischen einer als absolut transzendent aufgefassten Gottheit und der Welt war angesichts des biblisch-jüdischen Schöpfungsglaubens ein besonders heikles Problem. Die Annahme geistiger Zwischenstufen bzw. der aristotelischen Sphären sowie Spekulationen über Willen und Weisheit der Gottheit vermochten die Frage zwar zu entschärfen, aber für fromme Traditionalisten stand eben Gottes Macht zur Debatte, die direkte 168 GOODMAN, L. E. (Hg.), Neoplatonism and Jewish Thought, Albany, NY 1992. 169 DAVIDSON, H. A., Alfarabi, Avicenna, and Averroes on Intellect, Oxford 1992. 170 KELLNER, M., Maimonides on Human Perfection, New York 1991.

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göttliche Lenkung der Schöpfung und der Geschichte, besonders der Geschichte Israels. Und dabei sorgte die Frage, ob man Gott überhaupt Attribute zuschreiben kann, wieweit die göttliche Kenntnis der Einzeldinge und die Präszienz und Providenz (Vorsehung) Gottes überhaupt reicht,171 und ob ein göttliches Wunder überhaupt möglich sei,172 wie in der Umwelt für intensive Diskussionen. Die neuplatonische Vorstellung der Emanation alles Seienden aus der transzendenten Gottheit war nur mit Mühe als Schöpfungsvorgang zu interpretieren. Die Aristoteliker hatten damit auf Grund ihrer These von der Anfangslosigkeit der Welt noch größere Schwierigkeiten, und so blieben die aristotelische Schlussfolgerung der Anfangslosigkeit bzw. Ewigkeit der Welt 173 und der jüdische Glaube an eine Schöpfung in der Zeit letztlich unausgeglichen nebeneinander bestehen.174 Als folgenreich erwies sich, dass alte esoterische Traditionen zu den biblischen Thron-Theophanieszenen (Jes 6 und Ez 1–3) Gott als menschengestaltig Thronenden beschrieben. Dem entsprach auch die Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Diesen krassen Anthropomorphismus entschärften frühe mittelalterliche Autoren durch die Annahme, es handle sich bei der Erscheinung des Thronenden nicht um Gott selbst, sondern um eine erschaffene Manifestation Gottes. Der Gegensatz schien dennoch unüberbrückbar, denn die philosophierenden Theologen beharrten auf der Unkörperlichkeit Gottes, und Mose ben Maimon erhob sie sogar zu einem verpflichtenden Glaubensgrundsatz des Judentums (s. Reader, Nr. 7c).175 Andere philosophische Vorgaben wurden anstandslos integriert. Etwa die Vorstellung von der absoluten Einheit des göttlichen Wesens, die man dem Bekenntnis der Einzigkeit im „Höre Israel“ (Dt 6,4) mit unterlegt hat. Auch die Bezeichnung Gottes als Ursache der Ursachen 171 RUDAVSKY ,T., Divine Omniscience and Omnipotence in Medieval Philosophy, Dordrecht 1985; EISEN, R. J., Gersonides on Providence, Covenant, and the Chosen People, Albany, NY 1995. 172 KREISEL, H., Miracles in Medieval Jewish Philosophy, JQR 75, 1984/5, 99–133. 173 DALES, R. C., Medieval Discussions of the Eternity of the World, Leiden 1990. 174 DAVIDSON, H. A., Proofs for Eternity, Creation and the Existence of God in Medieval Islamic and Jewish Philosophy, Oxford 1987; GATTI, R., be-re’shit. Interpretazioni filosofiche della creazione nel Medioevo latino ed ebraico , Genf 2005. 175 KELLNER, M., Dogma in Medieval Jewish Thought, Oxford 1986.

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und der Begriff erster Beweger fanden anstandslos ihren Platz im religiösen Sprachgebrauch. Die neuplatonische Emanationsvorstellung von der Einheit zur Vielheit, vom Geistigen zum Materiellen/Körperlichen, vom Licht in die Finsternis, bestimmte Weltbild und Menschenbild, damit auch die Frömmigkeit, und begegnet daher bis in die schlichtesten Erbauungsschriften, weil viele biblische Metaphern ähnlich verstanden werden konnten. Problemlos verschmolz auch das traditionelle Menschenbild mit der neuplatonischen Vorstellung von den drei Seelenkräften (vegetative, animalische, intelligible) und beherrschte die Frömmigkeit bis in die Moderne herauf. Die Seele stammt aus der emanierenden geistigen Zwischenwelt, wird inkorporiert, muss sich läutern und kehrt an ihren Ursprung zurück, andernfalls wird sie erneut inkorporiert (Seelenwanderung), um geläutert zu werden (s. Reader, Nr. 1.2 k).176 Schwierig war, die allgemeinmenschlich angelegten Begriffe des philosophischen Denkens mit der exklusiv-partikularistischen Erwählungsvorstellung und mit dem Glauben an die gottgelenkte Geschichte Israels zu vereinbaren.177 Die Überbrückung erfolgte letztlich mit einer bereits bekannten Konstruktion, wonach die Weltvölker auch Anteil am endgültigen Heilszustand erlangen können, wenn sie ein Minimum an Torah- Anforderungen erfüllen, nämlich die sieben noachidischen Gebote. Das setzt aber voraus, dass die messianische Heilszeit für Israel (einschließlich den auferstandenen toten Israeliten) unter einem davidischen Gesalbten allein in Anspruch genommen wird.178 Die Volksfrömmigkeit vollzog diese Unterscheidung zwischen einem vorläufig-endzeitlichen und einem endgültig- transzendenten Heilszustand aber nur begrenzt, schwelgte lieber in phantastisch-apokalypti-

176 BOOKSTABER, PH. D., The Idea of Development of the Soul in Medieval Jewish Philosophy, Philadelphia 1950. 177 KELLNER, M., Maimonides on Judaism and the Jewish People, Albany, NY 1991; HYMAN, A., Eschatological Themes in Medieval Jewish Philosophy, Milwaukee, WI 2002; KAVKA, M., Jewish Messianism and the History of Philosophy, Cambridge 2004. 178 SARACHEK, J., The Doctrine of the Messiah in Medieval Jewish Literature, New York 21968; MAIER, J., Kriegsrecht und Friedensordnung in jüdischer Tradition, Theologie und Frieden 14, Stuttgart 2000, 110–112. 215–251.

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schen Vorstellungen und träumte von einem Paradies mit üppig-irdischen Verhältnissen.179 Der Konflikt zwischen den Befürwortern säkularer Bildung und Traditionalisten blieb das ganze Mittelalter hindurch und darüber hinaus akut. Die Auseinandersetzungen hatten sich vor allem an dem zwischen 1180–1190 verfassten Führer der Verwirrten des Mose ben Maimon (Maimonides) entzündet, und dieses Werk blieb dann noch lange für die einen ein Stein des Anstoßes, für andere eine Möglichkeit, Philosophie überhaupt erst kennen zu lernen.

4.8

Kabbalah

Die Diskussion über die Gestalthaftigkeit oder Unkörperlichkeit Gottes hatte sich zu einem unversöhnlichen Streit ausgeweitet und drohte das Judentum zu spalten, da die Kontrahenten über einander wechselseitig den Bann verhängten. Eine neue spekulativ-mystische Richtung, die Kabbalah, war jedoch imstande, die Gegensätze zu vereinen und in ihrem System zu integrieren. Diese mequbbalîm (Traditionsempfänger) traten im ausgehenden 12. und frühen 13. Jh. in Südfrankreich und danach in Nordspanien erstmals in Erscheinung und behaupteten, ihre Lehre sei uraltes jüdisches Traditionsgut, während sie in Wirklichkeit ein neuplatonisches Weltbild mit traditionellen Mitteln zu einem neuen System ausbauten.180 Vom späten 13. Jh. an entstanden mehrere systematische Entwürfe theosophischer Spekulation, von denen sich eine Spielart weitgehend durchsetzte.181 Und zwar infolge des enormen autoritativen Gewichts des in seinen Bestandteilen nach und nach anonym verbreiteten Buches Zohar. 182 Wie die Philosophen, nahmen auch die Kabbalisten die absolute Transzendenz der Gottheit ernst. Sie sprachen von einem `ên sôf (Unendlichen), jenseits aller Erkenntnismöglichkeit und daher undefinierbar. Was in Bibel und Tradition über Gott ausgesagt wird, bezogen sie 179 MAIER, J., Jüdische Apokalyptik im Mittelalter, in: VÖGELE, W./SCHENK, R. (Hg.), Apokalypse, Loccumer Protokolle 31/99, Loccum 2000, 247–288. 180 SCHOLEM, G., Ursprung und Anfänge der Kabbala, Berlin 22001. 181 MAIER, J., Die Kabbalah, München 22004. 182 DAN, J. (Hg.), The Age of the Zohar, 1989.

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auf emanierte Manifestationen der Gottheit, sog. sefîrôt , eine Anzahl von zehn middôt (Wirkungsweisen) oder Gefäßen , Lichtern , Gewänder und dgl., durch welche die Vermittlung zu den unteren Seinsstufen im Sinne der Emanation alles Seienden aus der verborgenen Gottheit vonstatten geht. Diese Sefirot wurden nun aber über den geistigen Zwischenstufen der neuplatonischen oder den Sphären der aristotelischen Richtung angesetzt und mit der traditionellen Symbolik jüdischer `EN SOF I Kätär (Krone) `HJH (Ich werde sein) Wille, Gedanke III JHWH als `älohîm gelesen Bînah (Einsicht)

II JH Hokmah (Weisheit) ¯ Ur-Torah IV Häsäd (Gnade) ¯ `EL Absolute Güte Abraham

V Gebûrah (Macht) `ELOHIM Absolute Strenge Isaak VI JHWH Tif`ärät (Pracht) Jakob Schriftliche Torah VIII Hôd (Majestät) IX Jesôd (Fundament) Çaddîq (Gerechter) Männliches Prinzip X `aDoNaJ (Herr) Malkût (Herrschaft) Untere Weisheit Mündliche Torah Kenäsät Ji´sra`el Šekînah (Gottesgegenwart) Weibliches Prinzip, Mutter, Tochter, Braut

VII Näçah (Ewigkeit, Sieg) ¯

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Torahfrömmigkeit und Heilsgeschichtstheologie auf eine Weise kombiniert, die offensichtlich faszinierte. Die Sefirotstruktur besteht aus drei Säulen mit fünf Ebenen, eine mittlere Säule und je eine rechts und links, wobei die Sefirot auf der mittleren die extremen Wirkungen von links und rechts ausgleichen. Geschieht dies nicht, wirken extreme Kräfte nach unten weiter und verursachen Böses. Die zehn Sefirot wirken zusammen wie kommunizierende Gefäße, was in einer geschieht, hat Auswirkungen in den anderen. Mit den biblischen Gottesnamen für die Sefirot wird die Vielheit der Wirkungsweisen Gottes als Ausfluss der verborgenen Einheit des `ên sôf erklärt. Die Benennung der Sefirot IV, V und VI mit den Patriarchennamen Abraham, Isaak und Jakob und die Symbolik der Sefirah X als Kenäsät Ji´sra`el (Versammlung Israels) gewährleistet die Einbeziehung der Heilsgeschichte Israels. Die Symbolik der Sefirot II (Weisheit) VI (Schriftliche Torah) und X (Mündliche Torah) bindet die Torahtheologie und Torahpraxis mit ein. Auf die Bezeichnungen und Wirkungen der Sefirot richtete sich das Hauptinteresse der Kabbalisten. Entscheidend ist aber die Voraussetzung eines wechselseitigen Wirkungszusammenhangs, also auch gegenläufig zum Emanationsstrom. Mittels der Toraherfüllung wirkt nämlich der Kabbalist von unten auf die Sefirotkräfte ein. Alles, was der Fromme tut, hat eine wirkungsmächtige Bedeutung, so dass das ganze Leben bis ins Kleinste in diesen Wirkungszusammenhang eingebettet erscheint, eine theurgische Funktion erfüllt. Das ergab eine Motivation der praktischen Frömmigkeit, deren Effektivität kaum zu überbieten ist.183 Die Kabbalah hat darum im Gegensatz zur islamischen oder christlichen Mystik, die weithin systemkritische Bewegungen darstellten, die traditionelle Religion gefestigt. Die klassischen Kabbalisten waren nicht Feinde der Philosophie, viele von ihnen waren philosophisch gebildet und wussten ihre Kennt-

183 IDEL, M., Kabbalah. New Perspectives, New Haven/London 21990; WOLFSON, E. R., Language, Eros, Being, New York 2005; DERS., Alef, mem, tau: Kabbalistic Musings on Time, Truth, and Death, Berkeley, CA 2006.

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nisse auch systematisch zu nutzen.184 Sie betrachteten jedoch diese Wissenstradition als bloße Hilfswissenschaft, die zur Erkenntnis der Einheit hinter der Vielfalt der Sefirot-Wirkungen und der geistigen und materiellen Seinsstufen selbst nichts beiträgt. Sie kämpften also gegen eine nach ihrer Ansicht überzogene Bedeutung der säkularen und „fremden“ Bildung. Im Lauf der Zeit überwogen allerdings die konservativen, bildungsfeindlichen Tendenzen, und daher wurde die Kabbalah, anfangs Geheimlehre einer Elite, popularisiert und motivierte schließlich, mit abergläubischen Vorstellungen angereichert, volkstümliche Bußbewegungen. Die Exklusivität der Erwählung Israels erfuhr in der Kabbalah eine ontologische Untermauerung: Normale Menschen verfügen über die bekannten drei Seelenkräfte der neuplatonischen Tradition, Israeliten darüber hinaus noch über eine Art potentiellen Intellekt, der zum Studium der Kabbalah befähigt, mit dem Ergebnis einer heiligen Seele im Sinne eines erworbenen Intellekts. Alle diese Seelenkräfte haben ihren emanatorischen Ursprung in bestimmten Sefirot, was die kontemplative Verbindung zu diesen gewährleistet. Wenn aber Einwirkungen von unten her negativer (sündhafter) Art sind, stören sie oben das Gleichgewicht und den ordnungsgemäßen Fluss der Emanation, was unten Böses bewirkt. Um Unheil zu vermeiden, gilt es bei jeder kontemplativen Betrachtung der Sefirotvorgänge und bei jedem Gebet, die zuständige Sefirah und deren Funktionen zu kennen und sie mit der richtigen kawwanah anzupeilen. Gelingt dies, bewirkt es in den Sefirot eine gegenläufige Tendenz zur Emanation, einen tiqqûn, Wiederherstellung, und damit einen Prozess zur Einheit zurück, den jihûd der Gottheit. ¯ Der kabbalistische Weise verfügt damit über eine Macht, die ins Transkosmische reicht, und er betrachtet die irdische Wirklichkeit als eine vordergründige und letztlich nicht entscheidende Stufe des Seienden. Mehr bewegt ihn das Böse, das unten bewirkt werden kann, und dabei kam es immer deutlicher zur Meinung, dass für so viel Böses auch noch Urkräfte außerhalb der Sefirot verantwortlich sein müssen,185 184 VAJDA, G., Recherches sur la philosophie et la kabbale dans la pensée juive du Moyen Âge, Paris 1962. 185 SCHOLEM, G., Von der mystischen Gestalt der Gottheit, Zürich 1962, 49–82; MAIER, J., Politische Aspekte der Sefirot-Lehre des Josef ben Abraham Gikatilla,

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während die Philosophen das Böse nur als Nichtvorhandensein des Guten einschätzten. Die kabbalistische Annahme verband sich mit dem volkstümlichen Dämonenglauben und brachte in die Spätkabbalah manch düster-magische Züge ein. Eine andere Richtung, die sog. prophetische oder ekstatische Kabbalah, hat von Anfang an mehr die volkstümliche und endzeitorientierte Frömmigkeit bestimmt und u. a. die Zahlen- und Buchstabensymbolik (Gematrie) populär gemacht.186

5.

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5.1

Die neue Situation

Demographisch kommt es infolge der großen Vertreibungen zur Bildung neuer Schwerpunkte und zur endgültigen Ausbildung dreier Haupttypen des synagogalen Ritus, des sefardischen und des aschkenasischen und des orientalischen, mit zahlreichen regionalen und lokalen Varianten. Durch den Buchdruck war zwar der Textbestand weitgehend festgeschrieben worden, doch hat der massive Einfluss der kabbalistischen Frömmigkeit deutliche Spuren hinterlassen und auch neue Frömmigkeitspraktiken nach sich gezogen.187 Kennzeichnend ist die Verbindung zwischen einer popularisierten Kabbalah, Endzeitwartungen und populären Bußbewegungen. Dazu kam das Zerbrechen des mittelalterlichen Weltbildes, an dem eine Mehrheit der rabbinischen Autoritäten festhalten wollte, während andere, v. a. in Italien und unter den West-Sefarden, sich unter dem Eindruck der Renaissance und des Humanismus die Neuerungen in der Umwelt zu eigen machten und so auch im Judentum die Aufklärung in: Atti del VI Convegno internazionale dell’AISG: Aspetti della storiografia ebraica, Roma 1987, 213–226. 186 IDEL, M., Abraham Abulafia und die mystische Erfahrung, Frankfurt a. M. 1994; DERS., Abraham Abulafia. An Ecstatic Kabbalist, Lancaster 2002; DERS., Abraham Abulafia. Kabbalist and Prophet, Los Angeles 2000. 187 ELBOGEN, I. Der jüdische Gottesdienst, Nachdruck Hildesheim 1967, 386–393; TREPP, L., Der jüdische Gottesdienst, Stuttgart 1992, 240–246; FINE, L., The Contemplative Practice of „Yihudim“ in Lurianic Kabbalah, in: Jewish Spirituality II, 1987, 64–98.

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und die Moderne vorbereiteten.188 Die neuere Forschung hat dies an einigen prominenten Persönlichkeiten der Zeit eindrücklich illustriert.189 Es handelt es sich dabei freilich um eine eher dünne, elitäre Schicht der jüdischen Gesellschaft, deren Wirkung im eigenen Bereich in hohem Maß von den sprachlichen Verhältnissen der Umgebung abhing. Die Verhältnisse in Osteuropa, wo man nur Jiddisch sprach, Hebräisch kaum mehr konnte, und die Umweltsprachen so gut wie noch nicht beherrschte, waren eben nachteiliger als in Amsterdam, in England oder in Italien. Wollten Juden in Osteuropa sich profane Bildung aneignen, dann gelang dies in gewissen Grenzen durch Lektüre einschlägiger hebräischer mittelalterlicher Werke, und wer mehr wissen wollte, fand dies durch die Lektüre nichtjüdischer Literatur in deutscher Sprache, die vom Jiddischen her am ehesten zugänglich war. Zunehmende Bedeutung erhielten in dieser Zeit volkssprachliche, jüdisch-deutsche und schließlich jiddische Übersetzungen und Schriften. Meist handelt es sich um Erbauungsliteratur und religiöse Literatur für Frauen, aber für Frauen, die ja nicht zum Torahstudium verpflichtet sind, wurde auch profane Lektüre besorgt, was eine größere Vertrautheit mit der Umweltkultur bewirken konnte. Im aschkenasischen Westen herrschte zwar noch die traditionelle Frömmigkeit und Lebensweise vor,190 aber nach und nach kam das Bestreben auf, die wachsenden Probleme durch Angleichung an die Umwelt zu meistern und die Religion den neuen Umständen anzupassen. Hoffaktoren und Ärzte bildeten die Speerspitze solcher Kreise, denen das Interesse des aufkommenden modernen Staates an „nützlichen“ Bürgern entgegenkam. Vorbild waren sefardische Gemeinden im Westen, aber auch italienische Gemeinden, v. a. innerhalb des Habsburgerreiches, die rege Kontakt mit den Gemeinden in den ungarischen und 188 DAN, J. (Hg.), Jewish Intellectual History in the Middle Ages, London 1994; BRANN, R./SUTCLIFFE, A. (Hg.), Renewing the Past, Philadelphia 2003. 189 NEHER, A., Jewish Thought and the Scientific Revolution of the Sixteenth Century: David Gans (1541–1613), Oxford 1986; RUDERMANN, D. B., The World of a Renaissance Jew: The Life and Thought of Abraham ben Mordechai Farissol, Cincinnati 1981; Ann Arbor 21996; DERS., Kabbalah, Magic, and Science, Cambridge, MA 1988 (Abraham ben Chananja Jagel); KAPLAN, Y. u. a. (Hg.), Menasseh Ben Israel and His World, Leiden 1989. 190 FINE, L., Judaism in Practice, Princeton 2001; POLLAK, H., Jewish Folkways in Germanic Lands, Cambridge, MA 1971.

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slawischen Gebieten pflegten. Die Kabbalah, der Buchdruck und Impulse der Spätrenaissance bzw. des Humanismus haben im Rahmen dieser Kulturexpansion ihren Weg nach Norden und Osten gefunden.191 Der demographisch und traditionsgeschichtlich gesehen massivste Schwerpunkt des neuzeitlichen Judentums lag nun in Osteuropa, genauer: in Polen-Litauen.192 In den großen Gemeinden dieser Gebiete amtierten Rabbiner von hohem Ansehen, aber die kulturelle Isolierung der jüdischen Minderheit in ihren fast geschlossenen Siedlungsbereichen begünstigte einen Konservativismus, der die eigenen Gewohnheiten bis zur Kleidung hin als kennzeichnend jüdisch wertete und jede Neuerung abblockte. Nach dem rabbinischen Bildungsideal kamen für Männer nur Berufe in Frage, die möglichst viel Zeit für das Lernen ließen und in der Regel durch die Ehefrau besorgt werden konnten. Religiöser Traditionalismus und erstarrte Sozialstrukturen führten hier zu anwachsenden sozialen Spannungen und zu Missständen, die das Erscheinungsbild des osteuropäischen Judentums im Westen und in der Umwelt ungünstig einfärbten. Eine erhebliche Verschlechterung der Situation hatte ausgerechnet mit dem Jahr 1648 eingesetzt, mit dem sich messianische Hoffnungen verknüpft hatten. Kosaken erhoben sich in der Ukraine unter Bogdan Chmielnitzki gegen die katholisch-polnische Adelsherrschaft, und dabei kam es auch zu Judenverfolgungen. Nach den Unruhen änderten sich die sozialen und ökonomischen Verhältnisse grundlegend, denn viele Juden wanderten aus den Großgemeinden in dörfliche Niederlassungen, die den eigentümlichen Siedlungstyp des Stetl bildeten. Die Gemeinden, insbesondere die Großgemeinden Osteuropas, waren damals infolge der raschen Bevölkerungszunahme ohnedies durch arme 191 RUDERMAN, D. B. (Hg.) Essential Papers on Jewish Culture in Renaissance and Barroque Italy, New York 1992; RUDERMAN, D. B./VELTRI, G. (Hg.), Cultural Intermediaries – Jewish Intellectuals in Early Modern Italy, Philadelphia 2004. 192 CYGIELMAN, S. A. A., Jewish Autonomy in Poland and Lithuania, Jerusalem 1997; FRAM, E. A., Ideals Face Reality. Jewish Law and Life in Poland, 1550– 1655, Cincinnati 1997; GOLDBERG, J., Jewish Privileges in the Polish Commonwealth, 2 Bd., Jerusalem 1985/2001; POLONSKY, A. (Hg.), Focusing on Jewish Religious Life, 1500–1900. Oxford 2002; HUNDERT, G. D., Jews in Poland-Lithuania in the Eighteenth Century, Berkeley 2004.

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Randschichten überbelastet und konnten ihre Aufgaben nicht mehr in ausreichendem Maß wahrnehmen.193 Trotz effektiver regionaler Institutionen (Vierländerausschuss) wurde darum die Kluft zwischen Oberschicht bzw. rabbinischer Elite und breiter Masse immer größer, und diese Vertrauenskrise provozierte eine neue Protestbewegung, den osteuropäischen Chasidismus. Doch der löste das Problem keineswegs. Zwar konnte in den gemeindeübergreifenden chasidischen Gruppen viel persönliche Not gelindert werden, aber insgesamt förderte der Chasidismus mit seinem Traditionalismus eher die Verschärfung der sozialen und bildungsmäßigen Misere. Andererseits provozierte der Chasidismus auf der rabbinischen Seite auch Reaktionen, die zur Behebung negativer Erscheinungen beitrugen. Insbesondere die litauische Orthodoxie vermochte es, das Vertrauen der Gemeinden soweit zu gewinnen, dass der Chasidismus dort kaum Fuß fassen konnte. Die soziale Krise wurde damit allerdings nicht bewältigt, und viele Juden gewannen den Eindruck, dass die herkömmliche Religion selbst in einer reformierten Gestalt keinen Ausweg zu bieten vermag, sondern nur radikale soziale und politische Bewegungen einen Wandel bewirken könnten. Als wirksamstes einigendes Band der Gesamtdiaspora erwiesen sich abgesehen von dem gemeinsamen Erbe der Tradition in dieser Periode vor allem die Halakah und die Kabbalah. Die engen Kontakte zwischen den Diasporagemeinden ermöglichten eine erstaunlich rasche Verbreitung von Informationen, teils dank der Handelsbeziehungen, teils als Folge der hohen Mobilität der rabbinischen Bildungselite und der sprunghaft zunehmenden Bedeutung der Druckorte.194 Jeder rabbinische Gelehrte war nämlich – oft unter großen Opfern – bemüht, seine Schriften drucken zu lassen, um sie zur Diskussion zu stellen.

193 GROSSMAN, A./KAPLAN, J. (Hg.), Qehal Jis´ra`el, Bd. 2, Jerusalem 2004, 197–220. 221–242 (Italien); 243–259 (Selbstverwaltung und höhere Schule); 261–286 (Deutschland); 311–327 (Niederlande); 329–338 (Elsaß); 341–367 (Osmanisches Reich); 369–384 (England). 194 MENACHE, S. (Hg.), Communication in the Jewish Diaspora, Leiden 1996.

140

5.2

Teil III. Jüdische Religion in der erlebten Geschichte

Die religiöse Literatur

Mit dem Buchdruck wurden innerhalb kürzester Zeit die wichtigsten Werke des Mittelalters zugänglich und neue Publikationen in relativ kurzer Zeit und in erschwinglicher Form verfügbar gemacht. Die Zahl der Drucke war im Verhältnis zum jüdischen Bevölkerungsanteil überaus hoch und die Rede vom Volk des Buches gewann eine sehr konkrete neue Bedeutung. Die rabbinischen Publikationen dieser Zeit sind Legion und von vielerlei Art. Im Vordergrund stehen Kommentare zu alten Werken, Sammlungen von Novellae, Rechtsentscheidungen bzw. Responsen, Abhandlungen zu Einzelthemen, und das alles auf der Basis der großen halakischen Kompendien des Mittelalters und insbesondere auf der Basis des letzten großen Kompendiums des anwendbaren jüdischen Rechts, dem Šûlhan `arûk. Verfasst hat ihn der Sefarde Josef ben Eph¯ raim Karo (gest. 1575) in Safed/Galiläa, nachdem er unter dem Titel Bêt Jôsef den umfangreichsten Kommentar zu den `Arba`ah T ¸ ûrîm des Jakob ben Ascher verfasst hatte, dessen vierteilige Struktur er auch für sein Kompendium übernahm. Der Šûlhan `arûk wurde 1565 und 1567 ¯ in Venedig gedruckt und erschien seither in zahlreichen Gesamteditionen mit Kommentaren, noch öfter in Einzelteilen. Das Werk wurde für die aschkenasische Tradition durch die Mappat ha-`arûk des Mose ben Israel Isserle (gest. 1572/5 in Krakau) adaptiert und bereits in der Ausgabe Krakau 1569/71 mit abgedruckt. Auch die Erbauungsliteratur hat dank des Buchdrucks einen noch höheren Stellenwert erhalten als ihr schon im Mittelalter zugekommen war. Einen wesentlichen Platz nehmen dabei Homilien ein.195 Die zeitgebundene Besonderheit der neuzeitlichen mûsar-Bücher besteht in einer mehr oder minder fundierten kabbalistischen Färbung, manchmal aber auch in ihrer zeitgeschichtlichen Aktualität, da einige Autoren den Aufweis von Missständen nicht scheuten.196 Neu ist in dieser

195 RUDERMANN, D. B. (Hg.), Preachers of the Ghetto, Berkeley 1992. 196 SHACHAR, Y., Criticism of Society and Leadership in the Musar and Drush Literature in 18th Century Poland, Jerusalem 1992; BERGER, R., Sexualität, Ehe und Familienleben in der jüdischen Moralliteratur (900–1900), Jüdische Kultur 10, Wiesbaden 2003.

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Periode ein verstärktes Interesse an der eigenen Geschichte, allerdings an der geglaubten Geschichte, und ganz besonders an der Martyrologie.197

5.3

Das zweigeteilte sefardische Judentum

Die Juden, die Spanien und Portugal verlassen haben, verfügten über die dafür nötigen Mittel, sie vertraten die gesellschaftliche Elite, die Ärmeren mussten sich dem Glaubenszwang fügen. Dementsprechend waren die Exilierten in der Lage, in ihrer neuen Umgebung von vornherein einen entsprechenden Platz einzunehmen.198 Die meisten Exulanten wanderten über Nordafrika und Italien ins Osmanische Reich aus, wo ihnen vergleichsweise günstige Bedingungen geboten wurden. So entstanden auf dem Weg separate sefardische Gemeinden, vor allem in Kleinasien und in Palästina, von den altansässigen Gemeinden durch den eigenen sefardischen Ritus und durch das Judeo-Espagnol markant unterschieden.199 Ihre wirtschaftliche Kompetenz und ihr Bildungsstand verhalfen ihnen während der Blütezeit des Osmanischen Reiches zu Wohlstand und kultureller Kreativität, doch mit dem politischen Verfall dieser Großmacht gerieten auch sie ins Hintertreffen. Auch demographisch setzte ein auffälliger Rückgang ein, in bemerkenswerten Gegensatz zur sozial ebenfalls bedrängten Judenheit Osteuropas. In Spanien/Portugal selbst rang die Kirche mit dem Problem der Marranen (Geheimjuden), die innerhalb der Conversos eine schwer definierbare Grauzone bildeten. Manche spielten eine beträchtliche 197 BONFIL, R., Jewish Attitudes Toward History and Historical Writing in Pre-Modern Times, Jewish History 11/1 (1997), 7–40. 198 BEINART, H. (Hg.), The Sephardic Legacy, Jerusalem 1994; REHRMANN, N./KOECHERT, A. (Hg.), Spanien und die Sepharden, Tübingen 1999; STILLMAN, Y.K/ N. A. (Hg.), From Iberia to Diaspora, Leiden 1999; STILLMAN, Y. K./ZUCKER, G. K., New Horizons in Sephardic Studies, New York 1993, BENBASSA, E./RODRIGUE, A., Sephardic Jewry, Berkeley 2000; KAPLAN, Y., An Alternative Path to Modernity, Leiden 2000; CESARANI, D. (Hg.), Portuguese Jews. Jewish Communities in Cosmopolitan Maritime Centres, 1550–1950, London 2002. 199 GOLDBERG, H. E. (Hg.), Sephardi and Middle Eastern Jewries, Bloomington 1996.

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Rolle in Wirtschaft und Gesellschaft, und nicht wenige trugen aktiv einiges zur christlichen Umweltkultur bei.200 Religiös standen sie aber unter dem Verdacht, nur Scheinchristen zu sein, und die Kirche war daher bestrebt, diese offene Frage durch die Inquisition auszuräumen. Zahlreiche Conversos wichen nach Übersee aus,201 andere fanden in europäischen Handelsniederlassungen Zuflucht, vor allem in Amsterdam,202 aber auch in England (London),203 und kehrten dort zum Judentum zurück. Ihre Geschichte ist in den letzten Jahrzehnten intensiv erforscht worden, und das hat auch ihren Beitrag zur Entstehung des modernen Judentums zu Bewusstsein gebracht.204 In den wohlhabenden sefardischen Gemeinden pflegte man weiterhin die spanische bzw. portugiesische Sprache und Literatur. Viele Mitglieder waren, durch den internationalen Handel bedingt, polyglott, und – im Unterschied zu den Sefardim im osmanischen Reich – mit der Umweltkultur wohlvertraut. Doch bei aller Modernität war man bestrebt, die grundlegenden Traditionen streng zu wahren, und zu weit gehende Tendenzen – wie im Fall des Philosophen Baruch Spinoza – suchte man sogar durch Verhängung des Bannes zu unterdrücken.205 Dabei war es für manche der bußfertig zum Judentum Zurückgekehrten nicht leicht oder überhaupt nicht mehr möglich, nach einer christlichen Erziehung sich mit dem zurechtzufinden, was die jüdische Tradition ihnen zu bieten hatte.206

200 WILKE, C., Jüdisch-christliches Doppelleben im Barock. Zur Biographie des Kaufmanns und Dichters Antonio Enríquez Gómez, 1994. 201 NETANYAHU, B., The Marranos of Spain from the Late XIVth to the Early XVIth Century, New York 1966; COHEN, M. A./PECK, A. J. (Hg.), Sephardim in the Americas, Alabama 1991. 202 ISRAEL, J./SALVERDA, R. (Hg.), Dutch Jewry, Leiden 2002. 203 ENDELMAN, T. M., The Jews of Britain, 1656 to 2000, Los Angeles 2002; HYMAN2 . SON, A. M., The Sephardim of England, London 1991. 204 KAPLAN, A. (Hg.), Jews and Conversos, Jerusalem 1985; GRAIZBORD, D. L. (Hg.), Souls in Dispute, Philadelphia 2003; MELAMMED, R. L., A Question of Identity, New York/Oxford 2004; SIMMS, N., Masks in the Mirror, New York/Oxford 2006. 205 YOVEL, Y., Spinoza and Other Heretics, 2 Bd., Princeton 1989/91. 206 Vgl. YERUSHALMI, J. H., From Spanish Court to Italian Ghetto: Isaac Cardoso, London/Seattle/New York 21982; KAPLAN, Y., Isaac Orobio de Castro, New York 1989.

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5.4

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Kabbalah und Endzeitstimmung

Die Vertreibungen haben die Endzeiterwartungen, die ja auch in der Umwelt grassierten, weiter angefacht.207 Das Bemühen um die messianische Verwirklichung der Gottesherrschaft im Sinne einer Durchsetzung der Torah wurde durch die Kabbalisten um eine transkosmische Perspektive überhöht: Bei angemessener kawwanah sei es möglich, durch Einwirkung auf oben die Geschichte unten zu ihrem Ziel zu führen. So wurde aus der ehemaligen Geheimlehre gelehrter Konventikel die theologische Grundlage für Volksbußbewegungen unter dem Vorzeichen der bevorstehenden Endzeit. Die Popularisierung der Kabbalah brachte auch eine Unterwanderung durch den volkstümlichen Aberglauben mit sich, v. a. bewirkte der Dämonenglaube eine ziemlich düstere Lebens- und Weltauffassung. Im Verlauf des 16. Jh. etablierte sich in Palästina eine kabbalistischeschatologische Schule mit dem Zentrum im galiläischen Städtchen Safed/Zefat. Hier faszinierte Isaak b Salomo Luria Aschkenasi (AR“J, gest. 1572) die Zeitgenossen mit einer phantasievollen Bildersprache, führte zu einer entschiedenen Abwendung von profaner Bildung und einem Verzicht auf abstrakte und kritische Denkdisziplin. Kabbalistische Vorstellungen nisteten sich nun in popularisierter Form im Brauchtum ein,208 wucherten in der Volksphantasie weiter, Dämonenund Engelglaube verbanden sich mit magischen Praktiken,209 so dass Kabbalah und Magie von vielen, insbesondere Außenstehenden, nicht mehr auseinander gehalten wurden. Ein zentrales Anliegen der Schule von Safed ergab sich aus der Erfahrung der überwältigenden Macht des Bösen. Man suchte das irritierende Problem damit zu erklären, dass während des Emanationsprozesses Lichtbehälter brachen und Lichtfunken (auch Seelenfunken) verstreut wurden, z. T. in den qelîppôt (Scherben, Materie) gefangen blieben und dort der Erlösung harren. Dieses Urverhängnis innerhalb der göttlichen Wirkungskräfte sollte durch einen Erlösungsprozess rückgängig gemacht werden, indem die gefangenen Lichtfunken be207 TISHBY, Y., Mehîhîjût be-dôr gêrûšê Sefarad û-Pôrt¸ûgal, Jerusalem 1985. ¯ ¯ 208 HALLAMISH, M., Ha-qabbalah ba-tefîllah û-ba-minhag, Ramat Gan 2000. 209 GOLDBERG, S. A., Crossing the Jabbok, Prag, Berkeley 1996; GOLDISH, M. (Hg), Spirit Possession in Judaism, Detroit 2003.

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freit, gesammelt und an ihren Ursprung zurückgeführt werden.210 Israels Sünde verzögert aber diese Prozesse. Viele Seelen müssen nämlich zum Zwecke der Läuterung re-inkarniert werden, ein Schicksal, das auch für die Messiasseele gilt, der re-inkarnierten Davids-Seele. Dazu kommt, dass die unteren und bösen Mächte diese Erlösungsprozesse unterbinden möchten. Die Spätkabbalah zeichnet sich folglich durch einen ausgesprochen dramatischen Zug aus, und das alles beflügelte zusammen mit den magischen Komponenten in popularisierter Form auch die religiöse Phantasie der Volksfrömmigkeit.211 Die lurianische Kabbalah wurde erst nach dem Tod des Meisters schriftlich durch den Sefarden Chajjim b. Josef Vital (1542–1620) fixiert, aber als Geheimlehre und nur handschriftlich.212 Alsbald erschienen jedoch Teile in Druck, und so verbreitete sich diese Spielart der Kabbalah mit Variationen in der ganzen Diaspora, im Westen von Italien aus, wo auch ein humanistisch motiviertes Interesse am Obskuren eine Rolle spielte, nach Norden und nach Osteuropa. Die Verbindung von Kabbalah und Endzeiterwartung hat im 17. Jh. eine die ganze Diaspora erfassende und erschütternde messianische Bewegung hervorgebracht, den Sabbatianismus, ausgelöst durch Sabbetaj Zbi, der sich 1666 (einem errechneten messianischen Datum) in Smyrna als Inkarnation der Davidseele und als Erlöser deklarierte.213 Die messianische Begeisterung führte in den Gemeinden zu intoleranten Maßnahmen gegen Skeptiker, brach aber rasch wieder in sich zusammen, da der Messiasprätendent zum Islam übertrat, um seinen Kopf zu retten, nachdem ihn die türkischen Behörden verhaftet hatten. Unentwegte Anhänger suchten dennoch mit spekulativen Argumenten an seiner Erlöserfunktion festzuhalten, auch nach dessen Tod im Jahr 1676, und einige sabbatianische Sekten blieben bis ins 19. Jh. mehr

210 JACOBS, L., The Uplifting of Sparks in Jewish Mysticism, in: GREEN, A. (Hg.), Jewish Spirituality, Bd. 2, New York 1987, 99–126. 211 GRÖZINGER, K. E./ DAN, J., Mysticism, Magic and Kabbalah in Ashkenazi Judaism, SJ 13, Berlin 1995. 212 KLEIN, E., Kabbalah of Creation. Isaac Luria’s Earlier Mysticism, Northvale, NJ 2000. 213 SCHOLEM, G., Sabbatai Zwi, Frankfurt a. M. 1992; WOLF, M.-A., Quand le mysticisme mène à la folie, Paris 1998.

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oder weniger im Untergrund aktiv,214 die Doenme in der Türkei, und die Frankisten in Polen.215 Nach dieser Enttäuschung zog man sich entschlossen auf die traditionelle Frömmigkeit zurück und suchte Endzeiterwartungen und kabbalistische Spekulationen einzudämmen.

5.5

Der osteuropäische Chasidismus

Die Ernüchterung nach dem sabbiatianischen Desaster nahm der Frömmigkeit ihre intensive, eschatologisch-kabbalistische Motivierung und förderte einen gesetzestreuen Formalismus. In Osteuropa konnten sich aber breite Schichten, die sich vom rabbinischen Establishment ohnedies vernachlässigt fühlten, nicht so leicht vom Gefühlsüberschwang der sabbatianischen Frömmigkeit lösen. Hier fand die sabbatianische Frömmigkeit eine entschärfte Fortsetzung im osteuropäischen Chasidismus , einer volkstümlichen Frömmigkeitsrichtung.216 Sie geht auf Israel ben Eliezer zurück, den sog. Ba`al šem ¸tob (BŠ“T, gest. 1760),217 eine schon zu Lebzeiten legendäre, als charismatisch und heiligmäßig verehrte Gestalt.218 Der Chasidismus agierte zwar antirabbinisch, gründete aber keine separaten Gemeinden, wohl aber gemeinde-übergreifende Gemeinschaften. Er war und ist im Grunde stockkonservativ, jedoch gefühlsbetont und auf die Bedürfnisse des Individuums ausgerichtet. Und zwar auf eine entlastende Weise. Die persönliche Torahfrömmigkeit im Sinne der kollektiven Erwählungsverpflichtung wird nämlich nicht mehr allen gleichermaßen auferlegt, entscheidend ist vielmehr die Beziehung zur Leitfigur der Gemeinschaft, zum Zaddik (çaddîq , Gerechter), der stellvertretend wettmacht, was der Einzelne nicht zu leisten vermag. Die Verehrung des Zaddik schließt absoluten Gehorsam mit 214 GOLDISH, M., The Sabbatean Prophets, Cambridge, MA 2004. 215 DAVIDOWICZ, K. S., Jakob Frank, der Messias aus dem Ghetto, Frankfurt a. M. 1998. 216 WEISS, J. G., Studies in Eastern European Jewish Mysticism, Oxford 1985; RAPAPORT-ALBERT, A. (Hg.), Hasidism Reappraised, London/New York 1995; SCHATZ-UFFENHEIMER, R., Hasidism and Mysticism, Princeton 1993. 217 ROSMAN, M. J., Founder of Hasidism, Berkeley 1996. 218 GRÖZINGER, K./BERGER, R., Die Geschichte vom Ba`al Schem Tov, 2 Bd., Wiesbaden 1997.

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ein, die Autorität des Zaddik übersteigt daher auch weit jene eines Rabbiners. Die rabbinischen Reaktionen waren entsprechend feindselig.219 In einer Hinsicht unterschieden sich die Chasidim aber demonstrativ von den rabbinischen Gemeinden, sie pflegten unter sich eigene, kabbalistisch-theurgische Gebetspraktiken220 und übernahmen in der Liturgie kabbalistische Zusätze und Gewohnheiten.221 Nachfolger des BŠ“T¸ wurde Dob Bär, der Maggid von Mezeritsch (gest. 1772), der sowohl organisatorisch wie theologisch (und bis zu einem gewissen Grad auch kabbalistisch) die Grundlagen schuf, auf der danach zahlreiche chasidische Gemeinschaften unter ihrem jeweiligen Zaddik (auch Rebbe genannt) aufbauten. Die theologische Komponente blieb jedoch bescheiden, hingegen fanden volkstümliche Anschauungen und Praktiken in weitem Umfang Eingang in die chasidische Lebensführung.222

6.

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Vorbemerkung Die Aufklärung im westlichen Judentum und die Aufhebung der jüdischen Gemeindeautonomie infolge der Gleichberechtigung im Rahmen moderner Staaten haben in der Judenheit unterschiedliche bis gegensätzliche Reaktionen hervorgerufen und zur Ausbildung von konfessionsartigen jüdischen Richtungen bzw. Denominationen geführt.223 219 Vgl. SHOCHET, E. J., The Hasidic Movement and the Gaon of Vilna, Northvale, NJ 1994. 220 JACOBS, L., Hasidic Prayer, London 1972. 221 HALLAMISH, M., The Influence of the Kabbalah on Jewish Liturgy, in: GOETSCHEL, T., (Hg.), Prière mystique et judaïsme, Paris 1987, 121–131; SACK, B., Some Remarks on Prayer in the Kabbalah of the 16th Century, in: a. a. O., 179– 186. 222 IDEL, M., Hasidism: Between Ecstasy and Magic, New York 1995. 223 ROSENTHAL, G. S./HOMOLKA, W., Das Judentum hat viele Gesichter, München/ Darmstadt 1999, Gütersloh 2000; Bergisch Gladbach 2006; MENDES-FLOHR, P./ REINHARZ, J. (Hg.), The Jew in the Modern World: A Documentary History, New York 1995; NEUSNER, J., Judaism in Modern Times: An Introduction and Reader, Cambridge, MA 1995; RUBINSTEIN, H. L., The Jews in the Modern

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Die in der Umwelt und bald auch in den eigenen Reihen um sich greifende Säkularisierung ermöglichte die Entstehung gesellschaftlicher Bereiche, in denen die religiösen Schranken fortfielen, während soziale und weltanschauliche Differenzen in den Vordergrund traten. Die bisherige gemeinjüdische Basis, die Torah, blieb nur mehr für jene Gruppen voll verbindlich, die als jüdische Orthodoxie Neuerungen ablehnten. Auf einen anderen gemeinsamen inhaltlichen Nenner konnten sich die Extreme nicht mehr einigen. Wer sich nur mehr religiös als Jude verstand, und nicht mehr als Teil des Volkes Israel, hatte grundsätzlich nichts mehr gemein mit einem religionslosen oder gar religionsfeindlichen Juden, der sich aber zu einer jüdischen Nation bekennen wollte. Eine Brücke bilden die Traditionalisten, für die jüdische Religion und Volkszugehörigkeit immer noch eine Einheit darstellen. Stärker einigend wirkte die moderne Judenfeindschaft, und die negativen Erfahrungen der gemeinsamen Geschichte und Gegenwart mit dem Kulminationspunkt in den NS-Verfolgungen erzwangen geradezu gesamtjüdische Solidarität. Daher kam es auch zur Gründung regionaler und internationaler jüdischer Organisationen, die über die bestehenden konfessionellen und politischen Differenzen hinaus gesamtjüdische Interessen zu verfechten begannen und auch im Fall der Gefährdung einzelner jüdischer Gemeinschaften tätig wurden. Die alte, durch die Torah begründete Vorstellung vom Erwählungskollektiv Israel wurde durch eine säkulare, religionsneutrale Solidargemeinschaft teils ergänzt und teils ersetzt, deren inhaltliche Definition gemeinjüdisch nicht mehr möglich scheint.224 Das demographische Bild der Judenheit veränderte sich im Lauf des 19. Jh. grundlegend. Aus Zentraleuropa, und nach 1882 noch mehr aus Osteuropa, wanderten immer mehr Juden nach Übersee aus, v. a. in die USA, wo bis dahin nur bescheidene jüdische Kolonien vorhanden gewesen waren.225 Die meist armen Zuwanderer wussten schon in der

World since 1750, New York 2002; LEVENSON A. T., An Introduction to Modern Jewish Thinkers,. From Spinoza to Soloveitchik, Plymouth 22006.. 224 RABINOVITCH, N. L., All Jews are Responsible for One Another, in: SHACTER, J. J. (Hg.), Jewish Tradition and the Non-Traditional Jew, Northvale, NJ 1992, 177–204. 225 REISS, O., The Jews in Colonial America, Jefferson, NC 2004.

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zweiten Generation die Chancen der neuen Heimat zu nützen und stiegen in die Mittelschicht auf; der weitere soziale Aufstieg führte zu anwachsendem Wohlstand und öffentlichen Einfluss.226 Die westjüdischen Einwanderer brachten die religiösen Gewohnheiten ihrer Heimat mit, mit den entsprechenden religiösen Orientierungen, orthodox oder reformjüdisch. Osteuropäische Einwanderer blieben, soweit religiös interessiert, zunächst orthodox oder chasidisch. Die Mehrheit erwartete jedoch auf Grund der Erfahrungen in Osteuropa von der Religion nichts, erst die zweite Generation fand wieder einen Zugang zum Judentum, nun aber in dessen modernen und amerikanisch akzentuierten Spielarten. Nach und nach formierten sich die Gemeinden der einzelnen Richtungen zu etwas wie Konfessionen mit zentralen Einrichtungen,227 mit modernen Rabbinerausbildungsstätten und mit charakteristischen theologischen Eigenheiten.228 So integrierten sich die religiös nicht engagierten „Ostjuden“ erst mit ihrem sozialen Aufstieg in das Leben der jüdischen Gemeinschaften, die ihren europäischen Charakter allmählich verloren und im 20. Jh. eine profilierte Amerikanisierung durchmachten.229 Ansatzweise zeichnete sich im 19. Jh. auch eine wachsende Bedeutung des Landes Israel ab. In orthodoxen Zirkeln regten sich nämlich wieder einmal akute Endzeiterwartungen und animierten Fromme zur Auswanderung nach Palästina,230 wo infolgedessen neben den sefardischen Gemeinden das aschkenasische Element immer stärker in Erscheinung trat. Die Neue Welt und Osteuropa blieben bis zur NS-Zeit die beiden demographischen Schwerpunkte der Judenheit insgesamt, Nach 1945 226 DINER, H. R., The Jews of the United States, 1654 to 2000, Berkeley 2004; FEINGOLD, H. L. (Hg.), The Jewish People in America, 4 Bd., Baltimore 1992; SARNA, J. D., American Judaism. A History, New Haven 2004. 227 MARTIN, B. (Hg.), Movements and Issues in American Judaism,Westport 1978. 228 GOLDY, R. G., The Emergence of Jewish Theology in America, Bloomington, 1990. 229 COHEN, N., The Americanization of Judaism, 1897–1948, Hannover 2003; NEUHAUS, R. J., The Chosen People in an Almost Chosen Land, Grand Rapids 2002. 230 MORGENSTERN, A., Mešîhîjût we-jiššûb `äräç-Jisra`el, Jerusalem 1985; RAHE, TH., ¯ Frühzionismus und Judentum, JuU 21, Frankfurt a. M. 1988; MYERS, J., Seeking Zion: Modernity and Messianic Activism in the Writings of Tsevi Hirsch Kalischer, Portland 2003.

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dominierte zunächst die Judenheit der USA, doch die Gründung des Staates Israel ermöglichte erneut den Aufbau eines jüdischen Zentrums im Land Israel.

6.1

Die Aufklärung im aschkenasischen Judentum

Die kulturelle Assimilation war gegen Ende des 18. Jh. in den westsefardischen und italienischen Gemeinden bereits eine Selbstverständlichkeit und der Übergang zur Moderne verlief hier gleitend und eher unauffällig, daher bis zum Aufkommen des Reformjudentums auch ohne konfliktreichen Traditionsbruch.231 Hingegen verharrten die aschkenasischen Juden bis auf zählbare Ausnahmen wie Hoffaktoren und Ärzte noch eisern in ihrer traditionellen Lebensweise und rabbinisch begrenzten Bildung, und dies in der Überzeugung, damit auch die jüdische Religion zu bewahren. Die soziale Misere war nicht nur durch die Rechtsstellung der Juden in den betreffenden Ländern bedingt, sondern eben auch durch diesen Konservativismus, der keine Neuerungen zuließ. Die Einführung profaner, beruflich nutzbringender Unterrichtsfächer,232 das Erlernen der Landessprache, und eine Korrektur bzw. Normalisierung der sozialen Struktur durch Erweiterung der Berufsmöglichkeiten waren darum die Ziele, die zu Beginn ´ der Aufklärung (Haskalah ) unter den westlichen aschkenasischen Juden im Vordergrund standen. Belastet waren diese Bestrebungen dadurch, dass auch der aufkommende moderne Staat ein Eigeninteresse an „nützlichen“ Bürgern hatte und entsprechende Maßnahmen traf, um auch die Stellung der Juden zu „verbessern“, was von diesen aber als Mission mit anderen Mitteln empfunden wurde. Das umso mehr, als der moderne Staat eine einheitliche Rechtsordnung durchzusetzen begann und damit die meisten Privilegien der traditionellen jüdischen Autonomie aufhob, also eine weitreichende Einschränkung der TorahAnwendung erzwang, wodurch die Kompetenzen des Rabbinats auf 231 RUDERMAN, D. B., Jewish Enlightenment in an English Key, Princeton 2000. 232 BEHM, B. L., Moses Mendelssohn und die Transformation der jüdischen Erziehung in Berlin, Münster 2002; LOHMANN, U./ LOHMANN, I. (Hg.), „Lerne Vernunft!“. Jüdische Erziehungprogramme zwischen Tradition und Modernisierung, Münster 2005.

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Bereiche eines Zeremonialgesetzes zusammenschrumpften.233 Der Staat ordnete zur selben Zeit sein Verhältnis zu den Religionsgemeinschaften überhaupt neu und nahm ein Aufsichtsrecht in Anspruch, und er übertrug kirchlich zugeschnittene Ordnungsmuster auch auf die jüdische Religionsgemeinschaft. Dadurch erhielt die Einzelgemeinde eine Struktur wie eine Kirchgemeinde und die Rabbiner wurden zu etwas wie Gemeindeseelsorger.234 Die enormen Veränderungen im Lauf des 19. Jh. führten automatisch zu einer weitreichenden Assimilation. Das bewirkte zwar eine Abfallsbewegung, bot aber auch Möglichkeiten zur Selbstbehauptung mit neuen Mitteln.235 Osteuropa blieb von diesen Vorgängen nur soweit berührt, als das Zarenreich zunächst im Rahmen von Modernisierungsversuchen auch die Judengesetzgebung und das Schulwesen nach westlichem Muster zu gestalten versuchte, damit aber zunächst an jüdischen wie kirchlich-orthodoxen Widerständen scheiterte.236 Erst ein zweiter Anlauf führte zu gewissen Erfolgen,237 aber religiöse Reformen blieben hier jenseits des Möglichen. Rabbinische Orthodoxie und Chasidismus widerstrebten nach wie vor allen westlichen Neuerungen, so auch die orthodoxe Kirche im Verein mit nationalistischen Kräften. Die sozialen und politischen Konflikte eskalierten, und Westjudentum und Ostjudentum entwickelten eigene kulturelle, religiöse und politische Profile.238 Die Auseinandersetzungen um Neuerungen im Sinne der jüdischen Aufklärer verliefen aber auch allgemein recht dramatisch, weil das Gefühl vorherrschte, das Judentum solle dadurch letzten 233 GOTZMANN, A., Jüdisches Recht im kulturellen Prozeß. Die Wahrnehmung der Halacha in Deutschland des 19. Jahrhunderts, Wiesbaden 1997. 234 BRÄMER, A., Rabbiner und Vorstand. Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Deutschland und Österreich 1808–1871, Leipzig/Köln/Wien 1999. 235 WIENER, M. Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation, Berlin 1933; 2002; RUDAVSKY, D., Modern Jewish Religious Movements, New York 21979; GOTZMANN, A., Eigenheit und Einheit. Modernisierungsdiskurse des deutschen Judentums der Emanzipationszeit, Leiden 2002. 236 RAISIN, J. S., The Haskalah Movement in Russia, Westport 1972; ZALKIN, M., Ba-`alôt ha- šahar, Jerusalem 2000; LÖWE, H.-D., The Tsars and the Jews, New¯ ark/London 1993. 237 STANISLAWSKI, M., Tsar Nicholas I and the Jews, Philadelphia 1983. 238 RHODE, G. (Hg.), Juden in Ostmitteleuropa von der Emanzipation bis zum Ersten Weltkrieg, Marburg 1989; HAUMANN, H., Geschichte der Ostjuden, München 41999; A History of East European Jews, Budapest 2002.

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Endes mit christlich-staatlicher Hilfe abgeschafft werden. Als weit bedrohlicher erwiesen sich die aufkommenden nationalistischen Bewegungen und rassistischen Ideologien. So kam es, dass die Emanzipation der Juden zwar bis ca. 1870 in den meisten Staaten formalrechtlich durchgesetzt werden konnte, die Hoffnungen der aufgeklärten und assimilierten Juden aber dennoch in manchen Staaten enttäuscht wurden und der Eindruck entstand, dass Aufklärung und Assimilation keine Lösung der sog. Judenfrage bringen können. Diese im späten 19. und frühen 20. Jh. hochgespielte Judenfrage provozierte folgerichtig eine jüdische Frage , auf die man eine Antwort auf vergleichbarer Basis suchte, nämlich mit dem Konzept einer jüdischen Nation , das säkulare wie religiöse Orientierungen einschloss. Im Gegensatz dazu suchte andere die Lösung in anarchistischen und sozialistischen Utopien, in denen die Religion keinen Platz mehr hatte. Die Zielsetzungen der aschkenasisch-jüdischen Aufklärer (sog. Ma´skîlîm ) mögen rückblickend bescheiden aussehen, doch in den Augen der traditionalistischen Zeitgenossen resultierten sie in einem gravierenden Wandel. Im Geschichtsbewusstsein des deutschen Judentums gilt er als die jüdische Aufklärung schlechthin, und in Mose b. Menachem Mendelssohn (1729–1786) sah man Art Reformator des Judentums. Dabei war er gerade in den entscheidenden religiösen Fragen, also bezüglich der Halakah und des Brauchtums, durchaus konservativ. Er sah in der gesetzlichen Überlieferung, deren Einschränkung durch das staatliche Recht er akzeptierte, den Inhalt der Sinaioffenbarung, bestritt aber die Kompetenz der Gemeinden und des Rabbinats, etwas wie eine Kirchenzucht ausüben zu dürfen. Für die theologischen und ethischen Vorstellungen des Judentums nahm er eine universale Bedeutung im Sinne der allgemein-menschlichen Vernunftreligion der Aufklärung in Anspruch.239 Diese Dichotomie erwies sich als unhaltbar und sogar als abträglich, sobald Religion und Sittlichkeit gleichgesetzt wurden und das modernisierte Christentum sich als Repräsentantin der Sittlichkeit ausgab, wogegen das Judentum 239 ALTMANN, A., Moses Mendelssohn, London 1973; SORKIN, D., Moses Mendelssohn und die theologische Aufklärung, Wien 1999; ALBRECHT, M./ENGEL, E. J. (Hg.), Moses Mendelssohn im Spannungsfeld der Aufklärung, Stuttgart 2000; BOUREL, D., Moses Mendelssohn: La naissance du judaïsme moderne, Paris 2004.

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nur als offenbartes Gesetz und Brauchtum erschien. Von da an präsentierten aufgeklärte Juden die allgemeinmenschliche Vernunftreligion und Sittlichkeit als Offenbarungsinhalt der Bibel, deutlich abgesetzt vom dogmatisch gefesselten Christentum. Nicht mehr die Torah galt folglich als die verbindliche Offenbarung schlechthin, sondern die entsprechend gedeutete Botschaft der Propheten. Diese Akzentverlagerung kennzeichnet dann auch die Schulbücher, die im Rahmen der jüdischen Schulreformen des 19. Jh. in Gebrauch kamen. Die Folgen waren zweischneidig. Die rationalistische Schlagseite der Modernen machte das Judentum nämlich in den Augen der konservativen Christen suspekt, und die jüdischen Traditionalisten erschienen der säkularisierten Umwelt als anachronistische, versteinerte Vertreter einer längst überholten Phase in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Die Berliner Aufklärung forderte vor allem eine Schulreform, Unterricht in der Landes-Schriftsprache und auf Hebräisch, und die Einführung beruflich nützlicher Fächer. Etwa 1770 begann Mendelssohn mit N. H. Wessely u. a. eine hochdeutsche Übersetzung (in hebräischen Lettern) und ab 1780 auch eine hebräische Kommentierung (Be`ûr ) der Bibel. Das Ziel einer Grundausbildung in beiden Schriftsprachen, Deutsch und Hebräisch, wurde aber nicht erreicht; das Hebräische blieb in überkommener Form auf religiöse Bereiche beschränkt und wurde bald von vielen nicht mehr verstanden. Im Habsburgerreich versuchte Joseph II. (1780–1790; seit 1765 römischer Kaiser) durch eine Reihe von Erlassen betreffend der „Akatholiken“ und Juden mit Hilfe jüdischer Aufklärer eine Modernisierung des Schulwesens und die Erziehung zu nützlichen Staatsbürgern durchzusetzen. Als Lohn winkte eine entsprechende Verbesserung des Rechtsstatus. Vor allem einflussreiche jüdische Unternehmer waren es, die eine Änderung des Judenstatus wünschten.240 Während die meisten Gemeinden den Reformforderungen harten Widerstand entgegensetzten, konnten die italienischen Gemeinden auf Grund ihrer säkularen Bildungstradition die neue Lage leichter meistern.241 Die von da240 DUBIN, L. C., The Jews of Habsburg Trieste, Stanford 1999. 241 WYRWA, U., Juden in der Toskana und in Preußen im Vergleich, Tübingen 2003.

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her bestimmte Aufklärung wirkte gemäßigter und erreichte darum auch in anderen habsburgischen Territorien breitere Kreise. So kam es im frühen 19. Jh. zu einer gemäßigten böhmisch-galizischen Aufklärungsbewegung, die den staatlich gewünschten Reformprozess auch im Schulwesen langsam, aber nachhaltig voranbrachte.242 Den Abschluss dieser ersten Phase der Modernisierung bilden die in Frankreich während der Revolution und dann unter Napoleon verfügten Maßnahmen zur Gleichberechtigung der Juden und zur Neuordnung der jüdischen Gemeinschaft.243 Im Jahr 1807/8 wurde als zentrale Instanz der Grand Sanhédrin gegründet und die jüdischen Gemeinden unter einem Consistoire als zentraler Dachbehörde unter einem Gran Rabbin reorganisiert. Der Preis war der Verzicht auf die eigene Nationalität und die Bereitschaft zur kulturellen Assimilation. Während die sefardischen Gemeinden sich diesem resolut verordneten und durchgeführten Wandel leichter fügten, folgten die aschkenasischen Gemeinden (im Elsass) eher zögerlich. Das Verfahren des Staates war radikal, aber erfolgreich, weil die Orthodoxen es hier verstanden, die neuen Institutionen zu handhaben. Diese vollständige Emanzipation der Juden fand im Zuge der napoleonischen Eroberungen zwar ihren Weg auch in die Länder des aschkenasischen Judentums, sie war aber mit dem Stigma eines aufgezwungenen imperialistischen Imports behaftet, und damit wurde die Gleichberechtigung der Juden in manchen Gebieten zu einem Hauptangriffsziel nationalistischer und konservativer Polemik.244 Die jüdische Religion selbst wurde durch die Haskalah und die frühen Emanzipationsvorgänge praktisch nur sehr begrenzt reformiert. Den Wandel brachte die moderne Erziehung, denn sobald die Schulreformen zu greifen begannen, wuchs eine Generation heran, der die traditionelle Frömmigkeit als Hindernis auf dem Weg zum Fortschritt erschien, und immer mehr Juden schickten im Lauf des 19. Jh. ihre Kin242 ADAMCZYK, M., L’éducation et les transformations de la société juive dans la monarchie des Habsbourg, 1774 à 1914, Paris 1999. 243 BECKER, J.-J./WIEVIORKA, A. (Hg.), Les juifs de France de la révolution française à nos jours, Paris 1998; GRAETZ, M., The Jews in Nineteenth Century France, Stanford 1996; JAHER, F. C., The Jews and the Nation, Princeton 2002. 244 BRENNER, M. (Hg.), Neue Überlegungen zur jüdischen Emanzipation. Die französischen und deutschen Muster, Tübingen 2003.

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der in nichtjüdische Schulen. Jüdische Erziehung, welcher Orientierung und wie kontrovers auch immer, blieb folglich ein existenzrelevantes Grundanliegen.245

6.2

Erste Reformansätze und Wissenschaft des Judentums

Die Berliner Haskalah konnte auf Grund der Auffassungen Mendelssohns nicht zu einer religiösen Reform führen. Daher verzögerte sich dieser Prozess um Jahrzehnte und ungeduldige Reformer wichen in die USA aus. Nur aufgrund von Initiativen einzelner Rabbiner und kleiner Interessentengruppen kam es in der nachnapoleonischen Ära zu ersten Reformansätzen, die sofort schroffe Reaktionen auslösten.246 Ein kleiner Kreis gründete 1819 den Verein für die Cultur und Wissenschaft des Judenthums. Die Mitglieder erhofften sich von einer wissenschaftlichen Behandlung des Judentums und seiner Geschichte eine Renaissance der jüdischen Kultur in Einheit mit der Umweltkultur, ein modernes jüdisches Selbstbewusstsein. So wie die Haskalah ist auch die Wissenschaft des Judentums vorzugsweise als deutsch-jüdisches Phänomen dargestellt worden, die historische Wirklichkeit war jedoch bunter und nicht so regional beschränkt.247 Gegen Ende des 19. Jh. entstanden auch in den USA wissenschaftliche rabbinische Institutionen, allerdings nach den religiösen Richtungen geteilt.248

245 ASSAF, S., Meqôrôt le-tôledôt ha-hinnûk be-Jis´ra`el, 4 Bd., Jerusalem 22005 ¯ (auch als CD erhältlich). 246 In Hamburg wurde 1817/19 der „Tempel“ gegründet, eine private Reformsynagoge mit Orgel, und 1819 erschien auch ein reformiertes Gebetbuch. Die Orthodoxen verwarfen dies unverzüglich in der Schrift `Elläh dibrê ha-berît (Dies sind die Tafeln des Bundes), Altona 1819); BRÄMER, A., Judentum und religiöse Reform. Der Hamburger Israelitische Tempel, 1817–1938, Hamburg 2000. 247 DEL BIANCO COTROZZI, M., Il Collegio rabbinico di Padova, Firenze 1995. 248 SCHWARTZ, S. R., The Emergence of Jewish Scholarship in America: The Publication of the Jewish Encyclopedia, Cincinnati 1991.

Jüdische Religion seit der Aufklärung

6.3

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Reformjudentum

Die zahlenmäßig stärkste, organisierte jüdische Richtung der Moderne war und ist immer noch das Reformjudentum.249 Zu ernsthaft diskutierten Reformvorschlägen und zu einer Reformbewegung kam es erst mit den Dreißigerjahren des 19. Jh. Es gab zwar einige frühe Reformverfechter,250 aber die Wende bewirkte erst Abraham Geiger (1810– 1874), der ab 1844 unter Vermeidung extremer Forderungen auf Rabbinerversammlungen in Deutschland eine Reihe von Anliegen zur Diskussion stellte und teilweise auch durchsetzte. Dazu gehörten der Gottesdienst in der Landessprache, die Auslichtung der Gebetsordnung, eine weniger strikte Beschränkung der Rolle der Frau, zuletzt auch deren Gleichstellung, selbst in Bezug auf den Zugang zum Rabbinat.251 Obschon sich die offiziell gutgeheißenen Änderungen in Grenzen hielten, gingen sie vielen zu weit, und so bildeten sich zwei Gegenbewegungen heraus, das Konservative Judentum und die Neo-Orthodoxie. Die tatsächlichen Veränderungen reichten indes viel weiter. Die Gottesdienstreformen, die auf eine Annäherung an protestantische Gottesdienstauffassungen hinausliefen, waren nur ein Teil davon,252 auch später bei den Reformed in den USA.253 Neue Formen der synagogalen Musik,254 auch Orgelmusik,255 wurden eingeführt, und die Homilie in der Landessprache erhielt als Kanzelrede einen neuen Stellenwert.256 Eine sichtbare Abkehr von der Tradition erfolgte im All249 MEYER, A. M., Antwort auf die Moderne, Wien 1999. 250 MARCUS, J. R., Israel Jacobson: The Founder of the Reform Movement in Judaism, Cincinnati 1972. 251 NADELL, P. S., Women Who Would Be Rabbis: A History of Women’s Ordination, 1889–1985, Boston 1998. 252 PETUCHOWSKI, J. J., Prayerbook Reform in Europe, New York 1968. 253 ELLENSON, D., Between Tradition and Culture, Atlanta 1994; WACHS, S. R./GOLDMAN K./FRIEDLAND E. L., American Jewish Liturgies, Cincinnati 1997 (Bibliographie); KAPLAN, D. E. (Hg.), Platforms and Prayer Books, New York 2002; CAPLAN, E., From Ideology to Liturgy, Cincinnati 2003. 254 Vgl. AVENARY, H., Kantor Salomon Sulzer und seine Zeit, Sigmaringen 1985. 255 FRÜHAUF, T., Orgel und Orgelmusik in deutsch-jüdischer Kultur, Hildesheim 2005. 256 ALTMANN, A., The New Style of Preaching in Nineteenth Century German Jewry, in: DERS., Studies in Nineteenth-Century Jewish Intellectual History, Cambridge 1964, 65–116.

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tagsleben, weil die meisten rituellen Gepflogenheiten aufgegeben wurden, meist unter dem Sachzwang des modernen Beruflebens. An der Beschneidung hielt man jedoch trotz einiger Bemühungen um ihre Abschaffung fest, der Sabbat und die Feste wurden weiterhin und nun mit feierlicher Andacht begangen. Von den rituellen Speisevorschriften blieb nicht viel mehr als das Schweinefleisch- und Blutgenussverbot übrig. Als 1841 das Gebetbuch des Hamburger Reform-Tempels erschien, entbrannte eine erbitterte Kontroverse zwischen Reformern und Orthodoxen, angeheizt durch die 1842 erfolgte Gründung einer Gesellschaft von Reformfreunden in Frankfurt a. M. In der Folge kam es in einigen Ländern zur Spaltung der Gemeinden, ansonsten suchte man sich in Einheitsgemeinden zu arrangieren. Der entschlossene Reformrabbiner Isaak M. Weis (1819–1900) aus Böhmen wanderte deshalb enttäuscht in die USA aus und wurde unter dem Namen Wise zum Mentor des Reform Judaism. Gemeinsame theologische Merkmale der Reformbewegung, der Konservativen und der Neo-Orthodoxen sind der rationalistische Grundzug und der Glaube an den moralischen Fortschritt der Menschheit, mit dem Judentum als Vorbild und Motor dieses Prozesses. Eine eindeutige Abkehr von der Tradition war die reformjüdische Ablehnung der Auferstehungshoffnung zugunsten der Unsterblichkeit der Seele, und die Preisgabe der Erwartung eines davidischen Gesalbten. Drei Publikationen haben der Reformbewegung ein kennzeichnendes, religionsphilosophisch-systematisches Profil verliehen: Isaak A. Francolm (1788–1849) publizierte 1840 Das rationale Judentum , Salomon Formstecher (1808–1889) 1841 Die Religion des Geistes , und Samuel Hirsch (1815–1889) 1842 Das System der religiösen Anschauungen der Juden, Bd. 1: Die Religionsphilosophie der Juden. Alle präsentierten das Judentum als ethische Vernunftreligion schlechthin, und Formstecher prägte den Begriff des ethischen Monotheismus , der das Judentum kennzeichnet, während Nichtjuden höchstens die Stufe eines physischen Monotheismus erreichen können. Der Gegensatz zwischen Geist und Natur, Hebraismus und Hellenismus, und das Schlagwort vom ethischen Monotheismus wurden zum Gemeingut des aufgeklärten westlichen Judentums. Alle drei Autoren bemühten sich auch, dem Judentum einen angemessenen Platz in den

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geschichtsphilosophischen Systemen der Zeit zu sichern. Formstecher tat dies, indem er Vorstellungen Schellings aufgriff, Hirsch setzte dem Geschichtsbild Hegels seinen eigenen dreiphasigen Entwurf gegenüber, mit dem Judentum als aktive Religiosität im Gegenüber zum Heidentum als passiver Religiosität und mit der Vollendung, der Durchsetzung der Wahrheit des Judentums, der Synthese im Sinne der absoluten Religiosität. Bis dahin fällt dem Christentum die Aufgabe zu, das Heidentum zu gewinnen, und zwar mit taktisch begründeten Kompromissen, so dass eben nur das Judentum allein die reine Wahrheit bis zur Vollendung zu bewahren vermag. Ihre Breitenwirkung erzielten diese erwähnten Autoren als Schulbuchautoren. Keine andere jüdische Richtung hat sich selber so bewusst theologisch und ethisch profiliert dargestellt wie das Reformjudentum.257 Das hat zwar zu keiner reformjüdischen Dogmatik geführt, wozu es bestimmte Ansätze gab,258 wohl aber eine Tradition religionsphilosophischen Denkens begründet, die durch Hermann Cohen (1842– 1918), und zwar v. a. durch sein Spätwerk Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, noch einmal eine philosophische Akzentuierung erfuhr.259 Breitenwirkung hat dieses Werk aber nicht erreicht,260 für das deutsche Reformjudentum war z. B. Leo Baeck von 257 Vgl. aus neuerer Zeit COHON, S. S., Essays in Jewish Theology, Cincinnati 1987; BERKOVITS, E., Essential Essays on Judaism, Jerusalem 2003; DERS., God, Man and History, Jerusalem 2004; BOROWITZ, E. B., Reform Judaism Today, 4 Bd. New York 1977–1979; DERS., Choices in Modern Jewish Thought, New York 1983; DERS., Liberal Judaism, New York 1984; DERS., Explaining Reform Judaism, New York 1985; DERS., Ehad: The Many Meanings of God is One, Port Washington 1988; RAYNER, J. D., An Understanding of Judaism, Providence 1997. 258 KOHLER, K., Grundriß einer systematischen Theologie des Judentums auf geschichtlicher Grundlage, Leipzig 1910; Nachdruck Hildesheim 1979; englisch: Jewish Theology Systematically and Historically Considered, New York 1918. Kohler (1843–1926) stammte aus Fürth und wirkte ab 1869 in den USA. 259 HOLZHEY, H. (Hg.), Hermann Cohen. „Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“. Tradition und Ursprungsdenken in Hermann Cohens Spätwerk, Hildesheim 2000. 260 Ein Sonderfall war Martin Buber, der jede Identifizierung mit bestehenden jüdischen Richtungen mied. Dazu s.: MOORE, D. J., Martin Buber: Prophet of Religious Secularism, Philadelphia 1974; SILBERSTEIN, L. J., Martin Buber’s Social and Religious Thought, New York 1989; ROTENSTREICH, N., Immediacy and Its

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größerer Bedeutung,261 und im angelsächsischen Bereich erschienen zahlreiche Publikationen von stärkerer Wirkung.262 In den USA wiederholte sich der Konflikt mit der Orthodoxie.263 Die Trennung verlief jedoch schroffer und führte zur Bildung einer konfessionsartigen Variante des Judentums, seit 1872 organisiert als Union of Hebrew Congregations, und ab 1875 mit einer modernen Rabbinerausbildungsstätte, dem Hebrew Union College in Cincinnati. Und auch hier spaltete sich ein gemäßigter Flügel ab und formierte sich zu einer konfessionsartigen Organisation, dem Conservative Judaism. Anlass war eine für den radikalen Kurs der Mehrheit kennzeichnende Erklärung, etwas wie ein Credo, die sog. Pittsburgh Platform von 1885.264 Sie behandelte folgende Themen: (1) Anerkennung monotheistischer Religionen neben dem Judentum, aber mit dem Vorbehalt, dass die Gottesidee allein im Judentum in reiner Form vertreten werde. (2) Die Bibel ist ein historisches Dokument. (3–4) Die Torah ist ein historisch bedingtes Mittel zur Bewahrung der Wahrheit. (5) Die traditionelle messianische Hoffnung wird ersetzt durch die Erwartung einer „Herrschaft der Wahrheit, Gerechtigkeit und des Friedens unter allen Menschen“. (6) Christentum und Islam erfüllen als Tochterreligionen des Judentums die missionarische Funktion der Verbreitung des Monotheismus, der aber mit den Prinzipien des modernen Humanismus verbunden sein soll. (7) Glaube an eine unsterbliche Seele und Verwerfung der leiblichen Auferstehung. (8) Notwendigen einer Lösung der sozialen Probleme. Unter dem Eindruck des Antisemitismus in Europa

261 262

263 264

Limits. A Study in Martin Buber’s Thought, New York 1992; MENDES-FLOHR, P. (Hg.), Martin Buber. A Contemporary Perspective, Jerusalem 2003. Leo Baeck Werke. Ed. A. H. Friedlander, 6 Bd. Darmstadt 2006. Vgl. aus neuerer Zeit COHON, S. S., Essays in Jewish Theology, Cincinnati 1987; BERKOVITS, E., Essential Essays on Judaism, Jerusalem 2003; DERS., God, Man and History, Jerusalem 2004; BOROWITZ, E. B., Reform Judaism Today, 4 Bd. New York 1977–1979; DERS., Choices in Modern Jewish Thought, New York 1983; DERS., Liberal Judaism, New York 1984; DERS., Explaining Reform Judaism, New York 1985; DERS., Ehad: The Many Meanings of God is One, Port Washington 1988; RAYNER, J. D., An Understanding of Judaism, Providence 1997. SHARFMAN, I. H., The First Rabbi: Origins of Conflict between Orthodox and Reform, Malibu 1988. JACOB, W. (Hg.), The Changing World of Reform Judaism. The Pittsburgh Platform in Retrospect, Pittsburgh 1985.

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wurde aber schon in der Columbus Platform von 1937 eine weitreichende Änderung im Sinne einer Rückorientierung an der Tradition beschlossen.265 Weitere maßgebliche Resolutionen mit veränderten Positionen folgten 1976 und 1997.266 Bis 1967 blieb die überwältigende Mehrheit der Reformjuden nichtzionistisch bis antizionistisch, obgleich prominente Persönlichkeiten wie Abba Hillel Silver (1893–1963)267 und Stephen Wise (1874– 1949)268 sich energisch für ein positives Verhältnis einsetzten. Das Reformjudentum hat sich gerade aus seiner religiösen Grundeinstellung heraus immer für Liberalität, Demokratie, und für Menschen- und Bürgerrechte eingesetzt,269 blieb daher dem Rechtszionismus entschieden abgeneigt, tat sich aber wegen seiner bürgerlichen Orientierung mit den sozialistischen Zionisten auch nicht leicht. Der überwältigende Sieg im Sechstagekrieg vom Juni 1967270 hat freilich in der Diaspora eine so große Bewunderung für diese kriegerische Leistung ausgelöst, dass eine demonstrative prozionistische Einstellung weithin zur Selbstverständlichkeit wurde.271 Die San Francisco Platform von 1976 schrieb eine prozionistische Tendenz sogar fest. Es kam zwar zu einer kurzen Protestphase als Reaktion auf den Wahlsieg des Rechtszionismus am 17. Mai 1977, aber danach trat die theologisch-grundsätzliche Auseinandersetzung über Zionismus und Staat Israel wieder in den Hintergrund.272 Trotz kritischer Ansätze273 vermag das Reformjuden265 ZOLA, G. PH., The Common places of American Reform Judaism’s Conflicting Platforms, HUCA 72 (2001), 155–191. 266 Im Internet unter ccarnet.org (platforms, resolutions) aufrufbar. 267 RAIDER, M. A., Abba Hillel Silver and American Zionism, London 1997. 268 UROFSKY, M. I., A Voice That Spoke for Justice: The Life and Times of Stephen S. Wise, Albany, NY 1982; SHAPIRO, R. D., A Reform Rabbi in the Progressive Era: The Early Career of Stephen S. Wise, New York 1988. 269 DOLLINGER, M., Quest for Inclusion: Jews and Liberalism in Modern America, Princeton 2000; KONVITZ, M. R. (Hg.), Judaism and Human Rights, New Brunswick, NJ 22001. 270 OREN, M., Six Days of War: June 1967 and the Making of the Modern Middle East, New York/London 2002. 271 GREENSTEIN, H. R., Turning Point. Zionism and Reform Judaism, Chico, CA 1981; SINGER, H., Bring Forth the Mighty Men. On Violence and the Jewish Character, Lanham 21990. 272 RICHARD, G., From the Hill to the Mount: A Reform Zionist Quest, Jerusalem 2000.

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tum auch in der weltpolitisch brisanten Nahostfrage seine klassischen Grundsätze nicht angemessen zur Geltung bringen. Das praktische Problem des Reformjudentums bestand in der Frage, wie viel von den überlieferten religiösen Vorschriften und Bräuchen beibehalten werden muss, um als jüdische Gemeinden erkennbar zu bleiben. Die Romantik hat nach der Aufklärung dem Brauchtum zwar wieder einen Sinn unterlegt, dies jedoch im Geist des modernen Volksund Nationsbegriffs, den die Reformjuden für sich eigentlich nicht mehr anwenden wollten. Noch schwerer tat man sich mit dem jüdischen Recht, weil man es eher als Domäne des Talmudjudentums betrachtete und die sittliche Botschaft der Propheten und der ethischen Vorschriften in der Bibel hervorhob.274 Doch manche Bereiche mussten eben geregelt werden, und daher gibt es auch etwas wie eine Reform-Halakah.275 Erst spät, mit der Zuwendung zum Zionismus ab 1967, entfiel diese Hemmschwelle, und in der Tat kam es seither zu einer entsprechenden Wiederaufnahme traditioneller Gepflogenheiten.276 Auch das Hebräische wurde als Sprache der Tradition, als Gottesdienstsprache und als gemeinjüdisches Verständigungsmittel, wieder mehr geschätzt.277 Seit 1926 existiert eine World Union for Progressive Judaism , eine Vereinigung aus Reformed , Liberalen und Reconstructionists (s. u.) mit zurzeit ca. 1,5 Mio. Mitgliedern, und mit Zentralen in Jerusalem, New York, London und Moskau. Auch in Deutschland entstehen derzeit wieder eigene Gemeinden. In Israel ist das progressive Judentum so

273 Vgl. z. B. ELLIS, M. H., Israel and Palestine Out of the Ashes, London 2002; DERS., Practicing Exile. The Religious Odyssey of an American Jew, Minneapolis, MN 2002. 274 GOLDSTEIN, N. E./KNOBEL, P. S., Duties of the Soul. The Role of Commandments in Liberal Judaism, New York 1999; RAYNER, J. D., Jewish Religions Law. A Progressive Perspective, New York/Oxford 1998. 275 WIENER, TH., The Writings of Solomon B. Freehof: A Bibliography, in: Essays in Honor of Solomon B. Freehof, Pittsburgh 1964, 53–93; ZEMER, M., Jüdisches Religionsgesetz heute. Progressive Halacha, Berlin 2000. 276 WASHOFSKY, M., Jewish Living. A Guide to Contemporary Reform Practice, New York 2001. 277 GOLDMAN, SH., God’s Sacred Tongue: Hebrew and the American Imagination, Chapel Hill, NC 2004.

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wie die Conservatives zwar mit einigen Institutionen vertreten, aber beide konnten sich angesichts der geltenden Gesetze nur sehr begrenzt als gesonderte Denominationen formieren.

6.4

Konservatives Judentum

Als 1844/45 auf der Rabbinerversammlung in Braunschweig einige Reformvorschläge bezüglich der Liturgie einer Reihe von Teilnehmern zu weit gingen, formierte sich eine konservative Richtung um Zacharias Frankel (1801–1875), seit 1836 Landesrabbiner in Dresden.278 Dieses konservative bzw. historische Judentum suchte einen Ausgleich zwischen den Notwendigkeiten einer Reform (einschließlich der kulturellen und nationalen Assimilation) und einer möglichst weitgehenden Wahrung der Tradition. Obschon es in Europa nicht zur Gründung eigener Gemeinden kam, wurde für diese Richtung 1854 in Breslau mit dem Jüdisch-theologischen Seminar Fraenkelscher Stiftung ein modernes Rabbinerseminar unter Z. Frankel gegründet, das bald hohes Ansehen genoss, und wo auch Heinrich Graetz (1817–1891) lehrte, der Verfasser der berühmt gewordenen Geschichte des jüdischen Volkes. Frankel gründet auch die Monatsschrift für die Geschichte und Wissenschaft des Judentums , die bis 1939 die führende deutschsprachige Zeitschrift auf diesem Gebiet geblieben ist. In den USA trennten sich als Reaktion auf die Pittsburgh platform der damals vorherrschenden radikalen Reformer die Vertreter eines Conservative Judaism unter Isaac Leeser (1806–1868) von den Reformern.279 Im Jahr 1898 überwarfen sich diese Konservativen auch mit der osteuropäischen Orthodoxie. Ab 1902 verfügten sie mit dem Jewish Theological Seminary in New York über eine berühmt geworde-

278 BRÄMER, A., Rabbiner Zacharias Frankel. Wissenschaft des Judentums und konservative Reform im 19. Jahrhundert, Netiva 3, Hildesheim 2000. 279 DAVIS, M., The Emergence of Conservative Judaism, The Historical School in 19th Century America, Philadelphia 1965; SKLARE, M., Conservative Judaism, Lanham 21985; SHARGEL, B. R., Practical Dreamer: Israel Friedlaender and the Shaping of American Judaism, New York 1985; GILLMAN, N. Conservative Judaism. The New Century, West Orange NJ 1993.

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ne moderne Rabbinerausbildungsstätte. Heute stellen sie nach den Reformed die stärkste jüdische Richtung dar.280 Die Abgrenzung von den Reformed wurde weniger in weltanschaulicher Hinsicht vollzogen als in der rituellen Praxis, das aber durchaus variabel.281 Einige Details verleihen eine spezielle Markierung, so das Tragen einer symbolischen Kopfbedeckung (Kippah ) zu solid-modischer Kleidung, und die sorgsame Einhaltung der Sabbatruhe. Auf dem Gebiet der Halakah ist das Verhältnis zur modernen Orthodoxie auf jeden Fall weit enger als zu den Reformed.282 Auch in der Liturgie ist eine deutliche Annäherung bemerkbar.283 In einem anderen Punkt vergrößerte sich der Abstand zur Orthodoxie allerdings wieder, da die Konservativen in Bezug auf die Gleichstellung der Frau und die Zulassung zum Rabbinat nach schwierigen Diskussionen dem Reformjudentum folgten.284 Die konservativen Rabbiner bilden in den USA das Rabbinical Assembly, und in diesem Rahmen eine oberste halakische Instanz, das Committee of Law and Standards. In England kam es erst relativ spät zur Gründung von konservativen Institutionen, und zwar als Folge eines Konflikts innerhalb der Orthodoxie. Die so entstandene Masorti -Bewegung steht jedoch einer modern ausgerichteten Orthodoxie weit näher als dem Reformjudentum. Im Unterschied zu den Reformed wird die Offenbarung von den Conservatives wie in der Tradition vorrangig in der Torah und in der anschließenden Halakah gesehen, in zweiter Stelle in den Prophetenbüchern. Auf beide stützt man das Ethos, das sowohl mit dem Reformjudentum wie mit der modernen Orthodoxie verbindet.285 Einer der prominentesten Theologen der Conservatives , Abraham Joshua Heschel (1907–1972), hat weit über die eigene Gruppe hinaus gewirkt. Er 280 WERTHEIMER, J., Jews in the Center. Conservative Synagogues and their Members, New Brunswick, NJ 2000. 281 KLEIN, I., A Guide to Jewish Practice, New York 1979. 282 SIEGEL, S. (Hg.), Conservative Judaism and Jewish Law, New York 1977; GOLENKIN, D., Halakhah for Our Time, New York 1991. 283 Siddur Sim Shalom for Weekdays, hg. Jules Harlow, New York 2002; Siddur Sim Shalom for Sabbath and Festivals, hg. Jules Harlow, New York 1985. 284 Zur Diskussion s. GREENBERG, S., The Ordination of Women as Rabbis: Studies and Responsa, New York 1988; GROSSMAN, S./HAUT, R. (Hg.), Daughters of the King: Women and the Synagogue, Philadelphia, PA 1994. 285 TELUSHKIN, J., A Code of Jewish Ethics, New York 2006.

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war Abkömmling einer chasidischen Dynastie und wusste Elemente der chasidischen Spiritualität in seine moderne Frömmigkeit zu integrieren.286 Im Unterschied zur Orthodoxie wird die gesetzliche Tradition in ihrer geschichtlichen Bedingtheit gesehen und erforscht, doch anders als im Reformjudentum als jeweils zeitgerecht adaptierte Offenbarung anerkannt.287 Einige Standards gelten als unabdingbar: Rabbis und Kantoren dürfen keine Mischehe eingehen, eine Wiederverheiratung ohne Get¸ (Scheideurkunde) wird nicht gestattet, und für die Zugehörigkeit zum Judentum wird am matrilinearen Prinzip festgehalten. Das Verhältnis zum Zionismus war lange Zeit distanziert, seit 1967 wurde es enger, und neuerdings ist wie im Reformjudentum die Unterstützung des Staates Israel die Norm.288 Der Pflege und Verbreitung praktizierter Religion widmen sich besondere Gemeinschaften bzw. Bewegungen, die den Conservatives zwar nahe stehen, aber denominationsübergreifend wirken.

6.5

Reconstructionism

Die zu kirchenartigen Gemeinschaften ausgewachsenen Gemeinden der Reformed und Conservatives konnten innerhalb einer immer mehr säkularisierten Gesellschaft vielen religiös zwar desinteressierten, aber auch nicht zum Abfall bereiten Juden keine Heimat mehr bieten. Und da auch der Antisemitismus in den USA keine Herausforderung darstellte, drohten solche Randschichten in einem religiös indifferenten Umfeld unterzugehen. Dem versuchten die Reconstructionists gegen zu 286 MERKLE, J. C., Abraham Joshua Heschel: Exploring his life and thought, NY 1985; FIERMAN, M. C., Leap of Action: Ideas in the Theology of Abraham Joshua Heschel, Lanham, Md. 1990; KAPLAN, E. K./DRESNER, S. H., Abraham Joshua Heschel: Prophetic Witness, New Haven 1998; DRESNER, S. H., Heschel, Hasidism and Halakha, New York 2002. 287 NOVAK, D., Halakhah in a Theological Dimension. Essays on the Interpretation of Law and Theology in Judaism, Chico, CA 1985; SIEGEL, S., Conservative Judaism and Jewish Law, New York 1977; DORFF, E. N., The Unfolding Tradition. Jewish Law after Sinai, New York 2005. 288 RUSKAY, J. S./SZONYI, D. M. (Hg.), Deepening a Commitment: Zionism and the Conservative/ Masorti Movement, NewYork 1990.

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steuern, indem sie die religiösen Aspekte zurückstellten und auf die Ausbildung eines ethnisch-kulturellen Identitätsbewusstseins abzielten. Der Initiator war der Rabbiner Mordechai Kaplan (1881–1983) aus Litauen, der 1900 in die USA gekommen war, zuerst als Orthodoxer wirkte und 1909 zu den Konservativen wechselte.289 Im Jahr 1934 publizierte er ein programmatisches Buch, dessen Titel zum Schlagwort der Bewegung wurde: Judaism as Civilization.290 Das Konzept hatte Erfolg. Unter dem Eindruck der Judenverfolgungen in Europa ergab sich nämlich auch unter weitgehend assimilierten Juden der USA ein Bedürfnis zu Solidarisierung, ohne sich den offiziellen religiösen jüdischen Richtungen oder dem Zionismus anzuschließen. Aber im Lauf der Zeit stellte sich auch eine religiöse Nachfrage ein, und damit entstand eine weitere moderne Denomination neben Reformed und Conservatives , mit fließenden Grenzen, aber schließlich doch mit eigenen Gemeinden und mit liturgischen Eigenheiten.291 Die bewusst erstrebte Durchlässigkeit gegenüber den anderen Denominationen wurde ab 1960 durch die Havurah -Bewegung noch verstärkt, die zunächst nur in überschaubaren Gemeinschaften einen jüdischen Lebensstil pflegen wollte. Mit der Zeit ergaben sich jedoch gemeindeartige Strukturen. Ähnlich grenzüberschreitend wirkt die Union for Traditional Judaism (UTJ), die sich in Erziehung und Volksbildung engagiert und durch die Rabbinervereinigung Morashah geleitet wird. Im Jahr 1955 wurde die Jewish Reconstructionist Federation (JRF) mit mehr als 100 Gemeinschaften gegründet, die der World Union for Progressive Judaism angehören.

289 GUROCK, J. S./SCHACTER, J. J., A Modern Heretic and a Traditional Community: Mordecai M. Kaplan, Orthodoxy, and American Judaism, New York 1998. 290 New York 1934 u. ö., zuletzt Philadelphia 1994; gefolgt von EISENSTEIN, I., Creative Judaism, New York 1936. Weiteres bei LIBOWITZ, R., Mordecai Kaplan and the Development of Reconstructionism, New York 1983; GOLDSMITH, E. S. u. a. (Hg.), The American Judaism of Mordecai M. Kaplan, New York, 1990; STAHL, S. M., Boundaries Not Barriers, Austin, Texas 2005. 291 CAPLAN, E., From Ideology to Liturgy, Cincinnati 2003.

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Orthodoxie und osteuropäischer Chasidismus

6.6.1 Allgemeines Die Orthodoxie ist keine monolithische Erscheinung, sondern ein recht buntes Konglomerat von Gruppen. Gemeinsam ist allen der erklärte Wille, die Halakah auf der Basis der Schriftlichen wie Mündlichen Torah als absolut verbindliche Offenbarung Gottes möglichst umfassend weiter zu entwickeln und anzuwenden. Dieser Zielsetzung dienen auch die rabbinischen Bildungseinrichtungen, insbesondere die höheren Schulen, die sog. Ješîbôt.292 Die Experten der Halakah sehen sich jedoch in der schnelllebigen Moderne von Tag auf Tag mit neuen Sachverhalten und Problemen konfrontiert, und daher erfordert die angemessene Adaptierung der Tradition oft komplizierte Vorgänge zur Vorbereitung halakischer Entscheidungen. So müssen so gut wie alle neu auftauchenden Materialien oder Produkte auf ihre rituelle Zulässigkeit hin geprüft werden. Solche Bemühungen sind in den Proceedings of the Association of Orthodox Scientists (Bd. 1 New York 1966) zu verfolgen, und in der Zeitschrift Tradition erscheinen seit 1967 Berichte von J. D. Bleich über halakische Publikationen.293 Ein besonderes Anliegen ist die gebotene sichtbare Unterscheidung von den Nichtjuden durch eine besondere Kleidung und die halakisch vorgeschriebene Haar- und Barttracht, was indes keine Einheitlichkeit bedeutet, denn die Kleidung ist historisch und regional bedingt unterschiedlich. Eine Kopfbedeckung zu tragen, ist ein allen Orthodoxen gemeinsamer Brauch. Obwohl gerade das traditionalistische osteuropäische Judentum in der NS-Zeit enorme Verluste erlitten hat, blieben diese Traditionen dank der bereits längere Zeit bestehenden Gemeinden in Übersee und in Israel ungebrochen erhalten. 292 BREUER, M., `Oholê Tôrah. Ha-ješîbah. The Tents of Torah. The Yeshiva. Its structure and history, Jerusalem 2003. 293 Zur Orientierung über die ganze Spannweite der Themen vgl. BLEICH, J. D., Contemporary Halakhic Problems, 4 Bd., New York 1977; 1982; 1989; 1995; COHEN, J. S., How Does Jewish Law Work? A Rabbi Analyzes 119 Contemporary Halachic Questions, Northvale, NJ 1993; DERS., How Does Jewish Law Work? A Rabbi Analyzes 119 More Contemporary Halachic Questions, Northvale, NJ 2000.

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Ein heftig umstrittener Punkt orthodoxer Lebensart ist der Status und die Rolle der Frau. Für die Orthodoxie gilt in der Regel immer noch das Leitbild weiblicher Lebenshaltung und Frömmigkeit, das im 19. Jh. vorherrschte.294 Manche orthodoxen Frauen wollen sich heute damit nicht mehr abfinden und kämpfen gegen die Schattenseiten der traditionellen, patriarchalisch bestimmten jüdischen Auffassung von Ehe und Familie an.295 Andrerseits wenden sich derzeit junge Frauen aus nichtreligiösen Kreisen gerade der Orthodoxie zu, und dasselbe gilt für Proselytinnen. Statistisch erscheinen die Orthodoxen zwar als polarisierende Randgruppen, doch stellen sie für alle Juden eine lebendige Verbindung zur Vergangenheit dar, und innerhalb des jüdischen Pluralismus erfüllen sie sogar eine zentrale, integrierende Funktion, weil sie nach wie vor Religions- und Volkszugehörigkeit ohne Abstriche vereinen und im Unterschied zu den anderen Richtungen eine inhaltlich und im Habitus deutliche Identifizierung als Jude ermöglichen.296 So orientieren sich in den letzten Jahren gerade junge Juden aus nichtreligiösen Kreisen wieder vermehrt an der Orthodoxie.297 Dabei fällt die große Zahl derer ins Auge, die ins Land Israel auswandern oder auf Zeit dahin reisen, um an einer der immer zahlreicher werdenden traditionellen Ješîbôt zu lernen. Dieser Trend hat bereits deutliche demographische 294 LAZARUS, N. R., Das jüdische Weib, Leipzig 41922; Nachdruck Frankfurt a. M. 1999; LEVI, A., Rebecca oder das jüdische Weib in ihrem religiösen Berufe, Frankfurt a. M. 21920; KRATZ-RITTER, B., Für „fromme Zionstöchter“ und „gebildete Frauenzimmer“. Andachtsliteratur für deutsch-jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert, Hildesheim 1995. 295 ROSENBERG, W., Legacy of Rage: Jewish Masculinity, Violence, and Culture, Amherst, MA 2001. 296 HELMREICH, W. B., The World of the Yeshiva: An Intimate Portrait of Orthodox Jewry, New Haven 1982; KURZWEIL, Z. E., The Modern Impulse of Traditional Judaism, Hoboken, 1985; BULKA, R. O. (Hg.), Dimensions of Orthodox Judaism, New York 1983; HEILMAN, S. C./SCHLOSSBERG, E. W.,The World of Orthodox Judaism, Northvale, NJ 1996; SOKOL, M. Z. (Hg.), Engaging Modernity. Rabbinical Leaders and the Challenge of the Twentieth Century, Northvale/Jerusalem 1997; DERS., The People of the Book, Piscataway 2000; FREUNDEL, B., Contemporary Orthodox Judaism’s Response to Modernity, Jerusalem 2004. 297 DANZGER, M. H., Returning to Tradition: The Contemporary Revival of Orthodox Judaism, New Haven 1989; GELLER, V., Orthodoxy Awakens, Jerusalem 2003.

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Veränderungen bewirkt. War früher in Israel eine mehrheitlich orthodoxe Siedlung eine Seltenheit, präsentiert sich heute Jerusalem als Hochburg der Orthodoxie.298

6.6.2 Aschkenasisch-osteuropäische Orthodoxie Die osteuropäische Variante der Orthodoxie, als Ghettojudentum verschrien, stellte bis zu den NS-Massenmorden eine kompakte Größe dar, die sich energisch gegen Reformen, Assimilation und Zionismus zur Wehr setzte und das angestammte Brauchtum strikt einhielt. In den Anfängen hatte sie sich an mehreren Fronten zu verteidigen. Für Aufklärer und staatliche Behörden war sie als Hemmschuh auf dem Weg zum Fortschritt ein Ärgernis, und gleichzeitig wurde sie vom Chasidismus bedrängt.299 Die litauische Spielart der Orthodoxie erwies sich dabei als besonders krisenfest.300 Sie brachte die sog. Mûsar Bewegung hervor, die bis heute in den USA und in Israel nachwirkt und den Tendenzen zur Erstarrung in traditionellen Mustern eine ethisch betonte Torahfrömmigkeit entgegensetzte.301 Neue Herausforderungen brachte die Jahrhundertwende. Gegen Ende des 19. Jh. verzweifelten viele Juden am unbeweglichen Traditionalismus und setzten ihre Hoffnungen auf anarchistische oder sozialistische Richtungen. Dazu kam im 20. Jh. noch der Zionismus mit seiner Vorstellung eines säkularen jüdischen Staatswesens, der aber bei den meisten Orthodoxen auf Unverständnis bis Abwehr stieß.302

298 HASSON, SH., The Struggle for Hegemony in Jerusalem, Jerusalem 2004. 299 KATZ, J., Ha-halakah be-mêçar: Halacha in Straits. Obstacles to Orthodoxy at its Inception, Jerusalem 1992. 300 HALLAMISH, M. u. a. (Hg.), The Vilna Gaon and his Disciples, Ramat Gan 2003. 301 KATZ, D., Tenû`at ha-mûsar, 4 Bd., Jerusalem 21982; ECKMAN, L. S., The History of Musar Movement, 1840–1945, New York 1975; GOLDBERG, H., The Fire Within, Brooklyn 1987. 302 GREIVE, H., Zionism and Jewish Orthodoxy, LBI.YB. 25, 1980, 173–195; 28, 1983, 241–246; vgl. v. a.: BARTH, A., Orthodoxie und Zionismus, Bln. 1920; COHEN, ST. A., Motives and Motifs in Anglo-Jewish Anti-Zionism, 1895–1917, Bar Ilan 16–17, 1979, 49–70.

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6.6.3 Aschkenasisch-westliche Orthodoxie Die westjüdische Orthodoxie kam nicht umhin, sich den veränderten Bedingungen anzupassen und so kam es schon im 19. Jh. zu einer sichtbaren Trennung von den ostjüdischen Orthodoxen: man übernahm konservativ-bürgerliche Kleidung, die sich im Alltag zwar auffällig feierlich ausnahm, aber nicht so fremdartig wie der ostjüdische Kaftan. Besonderen Anstoß erregten in ostjüdischen Augen die prinzipielle Anerkennung der Aufklärung und die Bereitschaft zur nationalen und kulturellen Assimilation.303 Die moderne Orthodoxie erwuchs aus mehreren Initiativen in Deutschland.304 Der hochangesehene „Würzburger Rab“, SeligmannBär Bamberger (geb. 1807), gründete 1856 die Israelitische Erziehungsund Unterrichtsanstalt, einen modern-orthodoxen Volksschultyp, und 1864 die Israelitische Lehrerbildungsanstalt. Mit diesen Einrichtungen stellte er dem Reformjudentum eine gesetzestreue Alternative entgegen, die in der Gemeinde akzeptiert wurde, ohne dass es zu einer Trennung kam. In Berlin gründete der dem Reformjudentum ebenfalls völlig abgeneigte Rabbiner Azriel Hildesheimer (1820–1899) im Jahr 1869 eine orthodoxe Separatgemeinde und 1873 ein orthodoxes Rabbinerseminar.305 Eine dritte Initiative startete Samson Raphael Hirsch (1808– 1888),306 der schon in den Dreißigerjahren die Tradition verteidigt hatte.307 Im Jahr 1851 wurde er Rabbiner der Israelitischen Religionsgesellschaft in Frankfurt, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die traditionelle 303 KATZ, J., A House Divided: Orthodoxy and Schism in Nineteenth-Century Central European Jewry, Hanover, NH 1998. 304 SCHWAB, H., The History of the Orthodox Jewry in Germany, London 1950; BREUER, M., Jüdische Orthodoxie im Deutschen Reich 1871–1918, Frankfurt a. M. 1986; AUERBACH, H. B., Die Geschichte des Bundes gesetzestreuer jüdischer Gemeinden Deutschlands, 1919–1938, Tel Aviv 1972; BEN AVNER, Y., Vom orthodoxen Judentum in Deutschland zwischen den beiden Weltkriegen, Hildesheim 1987. 305 ELLENSON, D., Rabbi Esriel Hildesheimer and the Creation of Modern Jewish Orthodoxy, Tuscaloosa/Alabama 1990. 306 ASARIA, Z., Samson Raphael Hirsch, Hameln 1970. 307 Ben Usiel, Neunzehn Briefe über das Judenthum, Altona 1835; Horeb. Oder Versuche über Jissroels Pflichten in der Zerstreuung, Altona 1837.

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Torahfrömmigkeit unter den Bedingungen der Moderne beizubehalten und mit einer zeitgemäßen Schulbildung zu verbinden, mit dem Schlagwort Tôrah mit Däräk `äräç.308 Nachdem die preußische Gesetzgebung 1876 die Bildung von Sondergemeinden ermöglichte, entwickelte sich die Frankfurter Neo-Orthodoxie unter der Führung von Hirsch und dessen Schwiegersohn Salomo Breuer zu einer immer bedeutenderen Bewegung.309 Eine besondere theologische Note brachte der philosophierende Isaak Breuer (1883–1946) ein.310 Ziemlich bald gewann diese Richtung auch in anderen Ländern Zustimmung bzw. Verbündete. In England, wo Emanzipation und kulturelle Assimilation unspektakulär vor sich gegangen waren, entwickelte sich eine moderne Orthodoxie, die den Vorrang vor den Liberalen behauptete und im Londoner Jews’ College ihre Ausbildungsstätte hat.311 Auch in Frankreich blieben die jüdischen Institutionen fest in aschkenasisch-orthodoxer Hand. Als 1840 die Damaskusaffäre international Aufsehen erregte, richtete sich der Blick französischer Juden auf die Glaubensgenossen in den arabischen Ländern und dieses wiedererwachte gesamtjüdische Solidaritätsbewusstsein führte 1860 zur Gründung der Alliance Israélite Universelle, die in zahlreichen Ländern des Mittelmeerraumes und des Orients karitativ und vor allem mit Schulgründungen tätig geworden ist. So verbreitete sich dieser westliche, frankophone Typ der Orthodoxie auch in orientalischen und sefardischen Gemeinden. Als nach der Staatsgründung Israels und nach der Entkolonialisierung hunderttausende nordafrikanische Juden nach Frankreich zuwanderten, änderte dies an den bestehenden Institutionen lange Zeit nichts. Schließlich wurde aber dem neuen Mehrheitsverhältnis gemäß 1981 erstmals ein Sefarde zum neuen Grand Rabbin gewählt. Trotz dieser offiziell orthodoxen Linie hat die französische Ju308 STERN, E., The Educational Ideal of Torah im Derekh Eretz. Theory and Application, Ramat Gan 1987. 309 LIBERLES, R., Religious Conflict in Social Context: The Resurgence of Orthodox Judaism in Frankfurt am Main, 1838–1877, Westport, CT, 1985. 310 MITTLEMAN, A., Between Kant and Kabbalah: An Introduction to Isaac Breuer’s Philosophy of Judaism, Albany, NY 1990; MORGENSTERN. M., From Frankfurt to Jerusalem. Isaac Breuer and the History of the Secession Dispute in Modern Jewish Orthodoxy, Leiden 2002. 311 HOMA, B., Orthodoxy in Anglo-Jewry, 1880–1940, London 1969.

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denheit eine liberale Bildungsschicht von hoher politischer und kultureller Kreativität hervorgebracht. Auch die französische Variante der Wissenschaft des Judentums legt davon Zeugnis ab, und die Revue des Études Juives ist heute die älteste noch bestehende wissenschaftliche Zeitschrift auf diesem Gebiet. In Amerika hat die Orthodoxie wie die anderen jüdischen Denominationen ihren Schwerpunkt in den USA.312 Die zahlenmäßig gegenüber den Sefardim dominierenden aschkenasischen Gemeinden haben sich 1898 in der Union of Orthodox Jewish Congregations of America organisiert, mit der Union of Orthodox Rabbis of the United States and Canada (gegründet 1912) und der Rabbinical Association , ab 1923 Rabbinical Council of America. Als Rabbinerausbildungsstätte dient seit 1897 das R. I. Elhanan Theological Seminary in New York, das später eine Abteilung der Yeshiva University g eworden ist. Joseph B. Soloveitchik (1903–1993) brachte die Linie des Berliner orthodoxen Rabbinerseminars dahin und begründete die Centrist Orthodoxy. Auch aus der Tätigkeit der Hirsch Kehille unter Joseph Breuer erwuchs eine moderne Orthodoxie westlich-europäischer Art, weshalb sich eine traditionalistische Minderheit 1944 als Rabbinical Alliance of America davon absetzte. Eine frühe, sehr verbreitete Darstellung der jüdischen Religion verfasste M. Friedländer (1833–1910).313 Seit dem Zweiten Weltkrieg hat die modern-orthodoxe Theologie in den USA und in England aber eine rasante Entwicklung durchgemacht und viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen.314 Heute verfügt diese moderne Orthodoxie in New York 312 ROTHKOFF, A. B. R., Builder of American Jewish Orthodoxy, Phil. 1972; DERS., The Silver Era in American Jewish Orthodoxy, Jerusalem 1981; WARSHAW,M., Tradition. Orthodox Jewish Life in America, NY 1976; HEILMAN, S. C., Synagogue Life, Chicago 1975; HELMREICH, W. B., The World of the Yeshiva, NY 1982; BULKA, R. P. (Hg.), Dimensions of Orthodox Judaism, NY 1987; HEILMAN, S. C., The Many Faces of Orthodoxy, in: Modern Judaism 2,1982, 23–51.171–198. 313 The Jewish Religion, London 1891, 21913 u. ö.; deutsch: Die jüdische Religion, Frankfurt a. M. 1922; 21936; Basel 1971. 314 MAX, M., I Believe, Jerusalem/New York 1973; JACOBS, L., A Tree of Life, Oxford 1984; DERS., Beyond Reasonable Doubt, London 1999; DERS., We Have Reason to Believe: Some Aspects of Jewish Theology Examined in the Light of Modern Thoughts. Fifth Expanded Edition. Portland, 2004; HARTMAN, D., A Living Covenant, London 1985; SOLOVEITCHIK, J. B., The Lonely Man of Faith, Northvale,

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mit der Yeshiva University und in Israel mit der Bar Ilan University in Ramat Gan über zwei hervorragende akademische Bildungsstätten. In nichtjüdischen Kreisen gelten zwei europäische Autoren als Repräsentanten eines traditionsverbundenen Judentums, nämlich Franz Rosenzweig (1886–1929) und Emanuel Levinas. Rosenzweig hatte eine recht begrenzte Anhängerschaft, in englischer Übersetzung allerdings eine gewisse innerjüdische Nachwirkung.315 Wie weit dergleichen auch für Levinas zutrifft, bleibt abzuwarten.316 In den frühen Jahren war die Ablehnung des Zionismus ziemlich eindeutig und das war auch für die Gründung der weltweit agierenden ´ `el /Agudass Jisroel ausschlaggebend, die in Palästina/Is`agûddat Jisra rael auch in Form politischer Parteien aktiv geworden ist.317 Seit 1928 beteiligte man sich jedoch an der Jewish Agency, was 1935 zur Abspaltung der entschiedenen Antizionisten geführt hat, die als Net¸ûrê qarta` (Wächter der Stadt) bis heute gegen den Zionismus und den Staat Israel Stellung beziehen. Nach dem Machtwechsel zum Rechtszionismus im Jahr 1977 und der etwa gleichzeitig einsetzenden Holocaustwelle ergab sich eine zwiespältige Situation. Einerseits waren nun in Israel orthodoxe Parteien in rechts-bürgerlichen Regierungskoalitionen eingebunden, was sich als vorteilhafter erwies, andererseits unterwanderten rechtsextreme und fundamentalistische Kräfte sowie pseudo-messianische Tendenzen orthodoxe Kreise. Eine „Umkehrbewegung“ führte zahlreiche säkulare Juden zur Religion zurück, was in der Regel aber nicht den modernorthodoxen Spielarten, sondern den extremen Gruppen zugute kam. NJ 21997; DERS., Halakhic Man, Philadelphia 1983; New York/Jerusalem 1999; 2005; DERS., The Halakhic Mind; New York 1986; DERS., Family Redeemed, Jerusalem 2000. 315 RUBINSTEIN, E., An Episode of Jewish Romanticism: Franz Rosenzweig’s The Star of Redemption , Albany 1999; BATNITZKY, L. F., Idolatry and Representation: The Philosophy of Franz Rosenzweig Reconsidered, Princeton 2000. 316 COHN-ESKENAZI, T. u. a. (Hg.), Levinas and Biblical Studies, Leiden 2003; GIBBS, R., Correlations in Rosenzweig and Levinas, Princeton 1992; GROSS, B., Langage et discours religieux dans l’oeuvre d’Emmanuel Levinas, RThPh 135 (2003),299–312; PURCELL, M., Levinas and Theology? The Scope and Limits of Doing Theology with Levinas, The Heythrop Journal 44 (2003), 468–479. 317 MITTLEMAN, A. L., The Politics of Torah. The Jewish Political Tradition and the Founding of the Agudat Jisrael, Albany 1996.

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In Israel selbst hat dies sogar zur Spaltung orthodoxer Parteien geführt.

6.6.4 Zionistische Orthodoxie Eine kleine Minderheit der Orthodoxen schloss sich 1902 der Zionistischen Weltbewegung an.318 Diese Mizrachi -Bewegung gründete 1918 angesichts der bevorstehenden Mandatsregierung Englands in Palästina die Nationalreligiöse Partei (Miflägät datît-le`ûmmît ; MFD“L), die nach der Staatsgründung in fast allen Regierungskoalitionen Israels vertreten war. Sie verfügt über eine eigene Kibbutzorganisation, in deren landwirtschaftlichen Betrieben die traditionelle Halakah für das Land Israel wieder angewendet und an die modernen Bedingungen angepasst wurde.319 Es war das erklärte Ziel dieser Richtung, durch die Mitarbeit in der zionistischen Bewegung und durch die Teilnahme an der Regierungsarbeit in Israel die Grundsätze und Normen der orthodoxen Torahfrömmigkeit im Staat so weit als möglich durchzusetzen. Auf Grund des reinen Verhältniswahlrechts kam den Nationalreligiösen lange Zeit die Rolle der Mehrheitsbeschaffer zu, und dank dessen erreichten sie weitreichende Zugeständnisse, oft in effektiver Zusammenarbeit mit den nichtzionistischen orthodoxen Parteien. Seit dem Sechstagekrieg setzte eine fundamentalistisch-rechtsextremistische Unterwanderung der Partei ein, die nach dem rechtszionistischen Wahlsieg von 1977 derart zunahm, dass es zur Spaltung der Partei kam und sie 1981 nur mehr die Hälfte der bisherigen Mandate erreichen konnte.

6.6.5 Sefardische und orientalische Orthodoxie Die eigentliche sefardische Orthodoxie ist zahlenmäßig derart zusammengeschrumpft, dass sie kaum mehr in Erscheinung tritt, doch ist es üblich geworden, auch orientalische Juden als sefardische zu bezeich318 SCHWARTZ, D., Faith at the Crossroads. A Theological Profile of Religious Zionism, Leiden 2002; SAGI, A./SCHWARTZ, D., A Hundred Years of Religious Zionism, 2 Bd., Ramat Gan 2003. 319 FISHMAN, A., Judaism and Modernization on the Religious Kibbutz, Cambridge 1992; KATZ, Y., The Religious Kibbutz Movement in the Land of Israel, 1930– 1948, Jerusalem 1999.

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nen. In Palästina verfügte sie von der türkischen Zeit her noch über das Privileg, den Oberrabbiner des Landes Israel zu stellen, den Chakam Pascha bzw. Rišôn le-Çijjôn (Erster von Zion); aber während der Mandatszeit war das aschkenasische Element schon so stark geworden, dass ein aschkenasischer Oberrabbiner hinzu kam. Der erste war Abraham Isaak Kook (1865–1935). Nach der Staatsgründung kamen etwa 700.000 Flüchtlinge und Einwanderer aus islamischen Ländern nach Israel, die im Land in landsmannschaftlichen Gemeinschaften (`edôt ) ein abgesondertes Eigenleben führten und sich erst an die Verhältnisse eines modernen Judenstaates gewöhnen mussten. Lange standen sie ganz im Schatten der Aschkenasim320 und entwickelten erst in der zweiten und dritten Generation ein stärkeres Selbstbewusstsein. So hat etwa der langjährige sefardische Oberrabbiner Ovadia Yosef die halakischen Entscheidungen des Rabbinats und die Religions- und Innenpolitik Israels merklich mitgestaltet,321 und mit einer neuen Parteigründung (Ša“S, Shas) etablierte sich eine beachtliche politisch-religiöse Kraft.

6.6.6 Chasidismus Im 19. Jh. spaltete sich der osteuropäische Chasidismus in eine Vielzahl von Gruppen auf, deren Zaddikim regelrechte Dynastien gründeten. Religionsgeschichtlich gesehen traten sie vor allem als grimmige Gegner jeder Neuerung hervor. Ein Teil der chasidischen Gruppen gründete Ableger in Übersee,322 in geringerem Umfang auch in Palästina, was diese Richtung vor der fast völligen Ausrottung durch das NS-Regime gerettet hat.323 Die einzigen Chasidim, die in der Moderne beträchtliches Aufsehen erregt haben, sind die Ljubawitscher, gegründet von Schneur Zalman von Ljadi (1745–1813). Wegen ihrer kabbalistischen Schlagseite heißt sie auch ChB“D -Chasidismus, eine Abkürzung für hokmah (Weisheit), ¯ 320 WEIKER, W. F., The Unseen Israelis: The Jews from Turkey in Israel, Lanham 1988; ORFALI, M., Progress and Tradition, Jerusalem 2005. 321 NITZAN, H., Maram `Obadjah Jôsef. A biography, Jerusalem 2004 322 COHEN, A./GARVIN, PH., A People Apart: Hasidim in America, New York 1970. 323 BELCOVE-SHALIN, J., Hasidism Today, New York 1994; RABINOWICZ, H. M., Hasidism. The Movement and its Masters, Northvale, NJ 1988; MINTZ, J. R., Hasidic People: A Place in the New World, Cambridge, MA 1992.

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bînah /Einsicht) und da`at (Erkenntnis). Seit 1917 in den USA, betreiben sie eine intensive innerjüdische Mission und Erziehungsarbeit. Obschon Führungs- und Lebensstil auf streng traditionalistischen Gleisen verblieb, entwickelten sie eine Vorliebe für naturwissenschaftliche und technische Errungenschaften, was in ihren Schulen eine hochrangige berufliche Ausbildung gewährleistet.324 In Israel ist sie mit einer Niederlassung, dem Kfar CHaBa“D, vertreten. Ihr Verhältnis zu Zionismus und Staat Israel ist wie bei anderen Chasidim distanziert – freundlich. Der autoritäre Führungsstil der Shneurson-Dynastie und der ausgeprägte Personenkult um den jeweiligen Rebbe hat 1991/92 zu einer Krise geführt.325 Die Anhänger des bereits greisen Rebbe lancierten Gerüchte, er sei der verheißene Gesalbte, was bei anderen Chasidim und bei Orthodoxen Kritik auslöste. Als der Rebbe 1994 ohne leibliche Nachkommen verstarb,326 erlosch die Dynastie und die Anhängerschaft verzichtete auf die Einsetzung eines neuen Rebbe. Seither wird die Gruppe durch ein Kollegium geleitet. Eine eigentümliche Erfolgsgeschichte hat die Neugründung des eigentümlichen, aber kurzlebigen Braclawer Chasidismus zu verzeichnen.327 Sie erfolgte in den USA unter E. S. Schick und ist auch in Israel aktiv. Die neue Variante präsentiert sich in osteuropäisch-traditionellem Gewand, aber vornehm und teuer gefertigt, und verheißt eine besondere Spiritualität, die dem derzeitigen Trend zur Wohlstands/Wellness-Religiosität entgegenkommt. Chasidische Frömmigkeit und chasidische Erzählungen haben auf Außenstehende oft eine besondere Anziehungskraft ausgeübt.328 In Europa wurde durch M. Bubers Interpretationen und Übertragungen ein verklärtes und ästhetisch überzogenes Bild präsentiert, das in erster 324 SCHNEERSOHN, M. M., Mind over Matter. The Lubavitcher Rebbe on Science, Technology and Medicine, Jerusalem 2003. 325 EHRLICH, A. M., Leadership in HaBaD Movement, Sydney 1996. 326 BRANOVER, H., The Ultimate Jew. A biography of the Lubavitcher Rebbe, Jerusalem 2003. 327 MAGID, S., (Hg.), God’s Voice from the Void: Old and New Studies in Bratslav Hasidism., New York 2002; ASSAF, D., Braclaw – Bîblîjôgrafijah me`û`ärät, Jerusalem 2003. 328 GREEN, A., Your Word is Fire: Hasidic Masters on Contemplative Prayer, New York 1977; DERS., Devotion and Commandment: The Faith of Abraham in the Hasidic Imagination, Cincinnati, 1989.

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Linie der traditionskritischen Tendenz dieses vielseitigen Autors entsprach.

6.6.7 Fundamentalismus und Extremismus In gewissem Sinn ist die Orthodoxie einschließlich des Chasidismus als Fundamentalismus zu bezeichnen, doch bedeutet dies noch nicht die Bereitschaft zu militantem Handeln. Diese kommt erst im Fall einer (pseudo-) messianischen Bewegung auf,329 und neuerdings im Fall der Verquickung von religiösem Fundamentalismus und nationalistischem Extremismus.330 Beide Momente haben in den israelischen Rechtsparteien und in Teilen der Orthodoxie Fuß gefasst,331 in der Siedlerbewegung ein folgenreiches Betätigungsfeld gefunden und teilweise derart extreme Auswüchse hervorgebracht,332 dass sogar der rechtszionistisch regierte Staat einschreiten musste. In diesen Kontext gehören Gruppierungen, die darauf aus sind, die islamischen Heiligtümer auf dem Tempelberg in Jerusalem zu beseitigen und den dritten Tempel zu bauen.333 Konkrete Versuche, im Areal tätig zu werden, konnten die israelischen Behörden bisher verhindern, aber Pläne für den Tempelbau sind vorhanden und werden offen propagiert, sogar Kultgeräte und Priestergewänder werden in solchen Kreisen bereits vorbereitet. Gefördert wird diese Mentalität durch fundamentalistische bzw. biblizistische christliche Gruppen, vor allem in den USA, die in der vollen Verfügung der Juden über das ganze Land Israel eine Vorbedingung für die Wiederkehr Jesu Christi sehen, eine religionsgeschichtliche Kuriosität, die aber in den USA einen gewichtigen politischen Fak329 RAVITZKY, A., Messianism, Zionism, and Jewish Religious Radicalism, Chicago 1996. 330 SILBERMAN, L. J. (Hg.), Jewish Fundamentalism in Contemporary Perspective, New York 1993 331 SPRINZAK, E., The Ascendance of Israel’s Radical Right, New York/Oxford 1991. 332 MEZHINSKY, N., The Meir Kahane Phenomenon, London 1988. 333 GORENBERG, G., The End of Days. Fundamentalism and the Struggle for the Temple Mount, New York-London 2002; GONEN, R., Contested Holiness: Jewish, Muslim, and Christian Perspectives on the Temple Mount in Jerusalem, Jersey City/Ktav, 2003.

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tor darstellt.334 Das Phänomen des Fundamentalismus grassiert derzeit in allen drei monotheistischen Religionen.335

7.

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Vorbemerkung Die religiös nicht gebundene zionistische Bewegung Theodor Herzls bot für einige Zeit politisch aktiven und national orientierten Juden eine von den gegensätzlichen religiösen Richtungen unabhängige Plattform.336 Bis zum Sechstagekrieg 1967 stieß der Zionismus jedoch bei den Verfechtern einer nationalen Assimilation auf energische Ablehnung,337 also v. a. im Reformjudentum, in weiten Kreisen des Konservativen Judentums, in der modernen Orthodoxie, und bei politisch Liberalen, und das nicht zuletzt in den USA.338 Die traditionalistische Orthodoxie (einschließlich des Chasidismus) verurteilte die Bemühungen um eine Staatsgründung als profanisierte Vorwegnahme der göttlich verheißenen Heilszukunft.339 Das Verhältnis des Zionismus zur Religion war also programmatisch neutral bis säkular, in Ansätzen aber positiv.340 Schon 1905 kam auf dem 7. Zionistischen Weltkongress in Basel die tief verankerte Landtheologie unter dem Einfluss osteuropäischer Delegierter zum Zug und bewirkte eine Fixierung auf das 334 VICTOR, B., Beten im Oval Office, München/Zürich 2005; SCHWEDLAUER, V., Der Kreuzzug im Irak, Frankfurt a. M. (EHS XXXI/535) 2006. 335 RUTHVEN, M., Fundamentalism. The Search For Meaning, New York/London 2004. 336 BRENNER, M., Geschichte des Zionismus, München 2002; RABKIN, Y. M., A Threat from Within: A Century of Jewish Opposition to Zionism, Black Point, NS 2006. 337 BERKOWITZ, M., Zionist Culture and the Jews of Western Europe, 1897–1914, Cambridge 1993. 338 UROFSKY, M. I., American Zionism from Herzl to the Holocaust, Omaha 1995. 339 ALMOG, S./REINHARZ, J./SHAPIRA, A. (Hg.), Zionismus and Religion, Hannover 1998. 340 LUZ, E., Parallels Meet: Religion and Nationalism in the Early Zionist Movement, 1882–1904, Philadelphia 1988; SALON, Y., Religion and Zionism – First Encounters, Jerusalem 2002.

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Land der Väter. Religiöse, endzeitliche Zionshoffnungen341 und säkulare zionistische Politik begannen von da an mit der Mobilisierung gesamtjüdischer Solidarität stetig ineinander zu greifen und an Boden zu gewinnen.342 Bei den religiösen Zionisten entsprach dies ohnedies der programmatischen Zielsetzung. Nach der Tradition wurde das Land Israel dem Volk Israel vom Gott Israels verheißen und als eigentlicher, heiliger Geltungsbereich der Torah gegeben. Die säkularisierte Version dessen besteht im Prinzip, dass das Land unveräußerliches Volkseigentum ist, und dem entsprach auch das zionistische Verfahren des Landerwerbs in Palästina.343 Die bürgerlich-liberalen Zionisten, in der Diaspora für lange Zeit führend, gerieten gegenüber diesen Tendenzen ins Hintertreffen.344 Die völkisch-ideologische Rechte unter Z. Jabotinsky war anfangs zwar nicht religiös engagiert, doch schätzte sie die Religion als nationales Selbstbehauptungsmittel und als Ausdruck jüdischer Eigenart.345 Der sozialistische Pionierzionismus, in Palästina tonangebend, war religiös indifferent bis antireligiös eingestellt und überließ auch noch im Staat Israel die religiösen Belange der Orthodoxie, die von der türkischen Zeit her über das Religionsmonopol verfügt. Zionismus und Antizionismus waren und sind also zwei Komponenten der modernen jüdischen Politik und Religion.346 Derzeit herrscht freilich die Tendenz vor, den Antizionismus als Antisemitismus zu diskreditieren, Zionismus und Judentum gleichzusetzen und diese Bewertung auch von der Umwelt einzufordern.

341 RAHE, TH., Frühzionismus und Judentum. Untersuchung zu Programmatik und historischem Kontext des frühen Zionismus bis 1897, JuU 21, Frankfurt a. M. 1988. 342 BERKOWITZ, M., Nationalism, Zionism and Ethnic Mobilization of the Jews in 1900 and Beyond, Leiden 2004. 343 AVNERI, A. L., The Claim of Dispossession, Jewish Land-Settlement and the Arabs 1878–1948, London 1984. 344 SEGEV, T., From Brit Shalom to the Ihud. Judah Leib Magnes and the Struggle for a Binational State, Jerusalem 2004. 345 SHAVIT, J., Jabotinsky and the Revisionist Movement 1925–1948, London 1988; SHINDLER, C., Israel, Likud and the Zionist Dream., London 1995. 346 TEKINER, R. u. a. (Hg.), Anti-Zionism: Analytical Reflections, Brattleboro, VT 1988.

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7.1

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Jüdische Religion und Mentalität unter dem unmittelbaren Eindruck der Šô`ah

Skeptiker, die der Assimilation und Emanzipation der Juden in der Diaspora ablehnend gegenüberstanden, sahen sich durch die NS-Verbrechen in vollem Maße bestätigt und der Glaube an den moralischen Fortschritt der Menschheit erschien danach als naiver Irrglaube. Die Erfahrung der Ohnmacht war derart tiefgreifend, dass im Gegenzug politisch-militärische Macht als Mittel der Selbstbehauptung zu einem Hauptanliegen zionistischer Politik werden konnte.347 Der Aufbau im Land Israel gab jedenfalls neue Hoffnung, und man war entschlossen, damit etwas Vorbildliches zustande zu bringen, vor allem aber, Sicherheit zu gewährleisten. Das zionistische Aufbauwerk hat im gesamten Judentum ein neues Selbstbewusstsein und einen veränderten Habitus bewirkt,348 und es gab in Israel sogar weitergehende, aber erfolglose Tendenzen, sich aus Unwillen über das Ghettojudentum der Diaspora nicht mehr als Juden zu verstehen.349 Für die traditionelle Geschichtsauffassung stellten die Verfolgungen und Massenmorde unter der NS-Herrschaft zwar die schwerste Prüfung dar, die das Volk Israel bislang zu bestehen hatte, aber diese Katastrophe (šô`ah ) wurde religiös als geschichtliches Ereignis begriffen und geschichtstheologisch im Sinne der martyrologischen Tradition bewertet. Die nichtreligiöse Mehrheit der Zionisten war vor allem entschlossen, alles politisch und militärisch Mögliche zu tun, um für die Zukunft besser gewappnet zu sein, und wenn dabei etwas wie ein Glaube aufkam, so war es eine optimistische Einschätzung der Schutzfunktion eines eigenen Staates. Der sozialistische Pionierzionismus hatte gleichwohl ein ideologisch eingefärbtes Geschichtsbild, das einer geglaubten Geschichte nahe kommt. Es betraf vor allem den Ausbau des zionistischen Siedlungswerkes und die Vision einer egalitären Ge-

347 ZERTAL, I., From Catastrophe to Power: Holocaust Survivors and the Emergence of Israel, Berkeley 1998. 348 HALPERN, B./REINHARZ J., Zionism and the Creation of a New Society, New York 2000. 349 TREFFER, G., Israels Identitätskrise. Israel zwischen Judaismus, Zionismus und Israelismus, München 1975.

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sellschaftsordnung im Sinne des Kibbutz-Ideals, Details der zionistischen Politik gegenüber dem NS-Regime, Umstände bei der Staatsgründung und den Verlauf des Unabhängigkeitskrieges von 1948/ 49.350 Als später israelische Historiker daran gingen, Tatsächliches und Legendäres voneinander zu trennen, ergaben sich heftige Kontroversen.351

7.2

Jüdische Religion im jüdischen Staat

Der 1948 gegründete Staat Israel verstand sich als Zufluchtsstätte für verfolgte Juden (und sogar Nichtjuden) und definierte sich als jüdischer Staat , erhob aber nicht den Anspruch, das Judentum zu vertreten.352 Aber seit dem Sechstagekrieg vom Juni 1967 wurde die Unterstützung des Staates Israel durch die Diaspora in fast allen jüdischen Gruppierungen zu einer selbstverständlichen Pflicht. Langsam, aber stetig verlor zugleich der Pionierzionismus seinen dezidiert laizistischen Charakter, weil nach dem Sechstagekrieg die zionistische Landideologie mit der traditionellen Landtheologie zu verschmelzen begann. Dazu kam danach mit einer aufbrechenden Umkehrbewegung eine Rückwendung zu traditionellen Lebensformen, speziell des osteuropäischen Ghettojudentums. Das lief den Zielsetzungen und dem Menschenbild der jüdischen Aufklärer, Sozialisten und Mehrheitszionisten völlig zuwider, die ja gerade durch „Normalisierung“ das Diaspora- und Ghettojudentum ablösen wollten. Im Staat Israel selbst verblasste aber der Glanz der pionierzionistischen Errungenschaften, die Zukunftsvision einer egalitären, kibbutzartigen Gesellschaftsordnung zerbrach an der demographisch-soziologischen Entwicklung, denn die Städte wuchsen immer rascher, der American way of life war attraktiver, und immer mehr Staatsbürger verfügten über eigenes Kapital. Die Idealfigur des Pionierzionisten als Typus eines neuen jüdischen Menschen verlor seine einst so faszinierende Wirkung und die traditionelle Selbstidentifizierung als Jude, lange verpönt, wurde wieder aktuell. 350 FLAPAN, S., Die Geburt Israels – Mythos und Wirklichkeit, München 2005. 351 SCHÄFER, B. (Hg.), Historikerstreit in Israel, Frankfurt a. M. 2000. 352 WITTSTOCK, A., Das politische System Israels, Wiesbaden 2004.

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Tendenzen zu einer Selbstdefinition säkularer Spielart verliefen daher trotz großer Nachfrage im Sand.353 Der Staat Israel anerkennt auf der Basis seiner Unabhängigkeitserklärung zwar grundsätzlich das Recht auf Religionsfreiheit, aber in der Realität gilt dies nicht einmal für die jüdische Religion selbst.354 Sie spielt als Staatsreligion eine dominierende Rolle, und zwar im Sinne eines orthodoxen Monopols, obschon die Mehrheit der Bevölkerung religiös indifferent oder sogar antireligiös-säkular eingestellt ist. Für liberale Juden bildet dies einen Stein des Anstoßes und eine Infragestellung der eigenen Position, insbesondere in der Diaspora. Kritik erregt auch die doppelte Rechtsordnung, ein säkulares, staatliches Recht (mišpat¸ ) neben einem jüdisch-rabbinischen Recht (dîn ).355 Koalitionspolitisch bedingt, überließ man nämlich von Anfang an bestimmte Bereiche der rabbinischen Gerichtsbarkeit, vor allem das Personenstandsrecht, mit erheblichen familien- und eherechtlichen Folgen auch für die Nichtreligiösen.356 Die Definition der Zugehörigkeit zum Judentum richtet sich nach der traditionellen halakischen Formel, so dass es eine religionsgesetzlich begründete jüdische Nationalität gibt, die getrennt von der Staatsbürgerschaft vermerkt wird. Auch für öffentliche und staatliche Bereiche setzten die religiösen Parteien halakische Vorschriften als staatliche Gesetze durch, insbesondere in Bezug auf Sabbat- und Feiertagsruhe sowie rituelle Reinheits- und Speisevorschriften, was die nichtreligiöse Mehrheit ebenfalls hinnehmen musste. Die religiösen Parteien verhinderten auch die Verabschiedung einer Verfassung, es kam nur zu einzelnen Grundgesetzen (basic laws ), mit denen aber manche Grundsätze der Unabhängigkeitserklärung unterlaufen wurden.357 Die Eroberung biblischer Siedlungsgebiete im Sechstagekrieg von 353 SHACTER, J. J. (Hg.), Jewish Tradition and the Non-Traditional Jew, Northvale 1992; BRESLAUER, S. D., Creating a Judaism without religion, Lanham, MD 2001; MALKIN, Y., Secular Judaism: Faith, Values, and Spirituality, London, 2004; EFRON, N. J., Real Jews. Secular versus ultra-orthodox and the struggle for Jewish Identity in Israel, New York 2003. 354 ENGLARD, I., Religious Freedom and Jewish Tradition in Modern Israeli Law; in: E. Firmage u. a. (Hg.), Religion and Law, Winona Lake 1990, 365–375. 355 STERN, Y. Z., State, Law and Halakhah, 3 Bd., Jerusalem 2001/2003/2004. 356 SCHEFTELOWITZ, E. E., Das religiöse Eherecht im Staat Israel, Köln 1970. 357 GREENFIELD, A., Basic Law, Haifa 2001.

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1967 hat die Erwartung beflügelt, dass die Verfügung über das ganze Land Israel und damit die Endperiode der Heilsgeschichte nahe herangekommen seien. Man sprach ja schon zuvor im Blick auf die pionierzionistische Aufbauleistung und die Besiedlung Palästinas von Erlösung des Bodens und von sichtbaren Fußspuren des Gesalbten. Folglich wird wie bei früheren messianischen Bewegungen der absolute Glaube an diese besondere Geschichtsdeutung und unbedingter Gehorsam gegenüber dem Gotteswillen gefordert, was entsprechende Kontroversen nach sich zog.358 Israels Politiker betrachteten mehrheitlich die ganze Westbank als eigentlich israelisches Gebiet, und nicht nur rechtsgerichtete und religiöse Kreise sprachen alsbald von Jehûdah und Šômrôm /Samaria. Eine Bewegung für das ganze Land Israel kam auf und eine Siedlerbewegung setzte ein, und ein Gûš `ämûnîm (Block Getreuer) verfocht die Theologie/Ideologie dieser Siedler,359 die mit staatlicher und militärischer Unterstützung eine kontinuierliche Annektierung des Landes in die Wege leiten konnten.

7.3

Jüdische Religion und Staat des jüdischen Volkes : Rechtszionistische Geschichtsrevision und HolocaustIdeologie

Nach dem Wahlsieg Menachem Begins im Mai 1977 kam es zu einer folgenreichen rechtszionistischen Umdeutung des Staatscharakters und der ganzen jüdischen und israelischen Geschichte.360 Am 1. August 1985 beschloss die rechtszionistisch-fundamentalistische Mehrheit im Parlament Israels die Definition: Israel ist der Staat des jüdischen Volkes. Der Anspruch der Gesetzgeber war eindeutig: alle Juden sollen für diesen Staat in Pflicht genommen werden. Zugleich ka358 RAVITZKY, A., Messianism, Zionism, and Jewish Religious Radicalism, Chicago 1996; MANDELBAUM, A., Redemption Unfolding, Jerusalem 2005; DERS., Talking to the Enemy, Jerusalem 2005. 359 NEWMAN, D. (Hg.), The Impact of Gush Emunim, London 1985; FRIEDMAN, R. I., Zealots for Zion: Inside Israel’s West Bank Settlement Movement, New Brunswick, NJ, 1992. 360 RUBINSTEIN, A., The Zionist Dream revisited, New York 1984; ders., From Herzl to Rabin: The Changing Image of Zionism, New York 2000.

182

Teil III. Jüdische Religion in der erlebten Geschichte

men Bemühungen zum Zug, in der staatlichen Gesetzgebung nach Möglichkeit das traditionelle jüdische Recht zu berücksichtigen.361 Die jüdische Geschichte wurde nun vor allem als Verfolgungs- und Katastrophengeschichte beschrieben, die konsequent zum Holocaust der NS-Zeit führen musste, und seither im düsteren Schatten verläuft, den ein erneut drohender Holocaust vorauswirft, weil ringsum ein stetig anwachsender Antisemitismus das Schlimmste befürchten lasse. Nach dieser Sichtweise muss israelische und jüdische Politik überhaupt der ständigen Existenzgefährdung entsprechend agieren und reagieren, und zwar vorgeblich ohne Alternative zur Regierungspolitik. Dieselben politischen Kräfte, die seit der Staatsgründung eine kompromisslose Oppositionspolitik betrieben und an den sozialistisch geführten Regierungen kein gutes Haar gelassen hatten, identifizierten nun ihre Regierungspolitik mit den Anliegen des Judentums überhaupt und forderten unbedingte Unterstützung. Vertreter anderer politischer und religiöser Orientierungen sehen sich seitdem in der Defensive und weithin auf verlorenem Posten, weil auch die meisten Staaten mittlerweilen die Regierung Israels als Repräsentantin des Judentums (auch im Sinne der Religion) betrachten und oppositionellen jüdischen Gruppen oder Menschenrechtsorganisationen (wie B`Tselem oder Rabbis for Human Rights ) kein Gehör mehr schenken. Die jüdische Religion erhielt dadurch offiziell den Charakter eines orthodox-nationalistischen Monopols mit der Funktion, die Politik der Regierung Israels kritiklos zu unterstützen und zu verteidigen. Der politische Machtwechsel von 1977 wurde durch die sog. „Holocaustwelle“ begünstigt. Holocaustideologie und Holocausttheologie setzten in säkularen und liberalen Bereichen ein, in denen die Art und Weise, wie die Orthodoxie die Katastrophe in die martyrologische Geschichtsschau einbaute, als Verharmlosung empfunden wurde und Empörung auslöste. Dazu griff man noch eine damals aktuelle theologische Modewelle auf, die mit dem Schlagwort Gott ist tot agitierte, denn es schien vielen absurd und widersinnig, noch von einer Vorsehung und einem Heilsplan Gottes zu reden.362 Innerhalb weniger Jahre 361 RAKOVER, N., Jewish Law and Current Legal Problems, Jerusalem 1984; DERS., Modern Application of Jewish Law, Jerusalem 1992. 362 Für einen guten Überblick über die Anfänge der Holocausttheologie s. MÜNZ,

Zionismus und jüdische Religion

183

präsentierte sich diese Infragestellung zentraler Inhalte der überlieferten Religion als Religionsersatz für nichtreligiöse Juden und auf christlicher Seite als Christologieersatz. Alsbald stellten sich fast alle jüdischen religiösen Richtungen trotz kritischer Einwände auf Begriff und Handhabung des Holocaust ein,363 denn durch erfolgreiche Filmproduktionen gefördert,364 ergab sich unter Juden wie Nichtjuden ein deutlicher Bewusstseinswandel im Verhältnis zu den NS-Verbrechen an Juden.365 Anfangs mit durchaus positiven Ansätzen und Konsequenzen, aber was zunächst vor allem dazu dienen sollte, die Verbrechen der NS-Zeit nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und das Gewissen künftiger Generationen zu schärfen, entwickelte bald eine Eigendynamik. Institutionalisierte Eigeninteressen wurden wirksam, die Sache wurde mehr und mehr zum Selbstzweck und darüber hinaus zu einem Mittel für andere Zwecke.366 Infolge der ständig beschworenen Gefahr eines neuen Holocaust wurde diese ganze Bewegung auf die Verteidigung der Regierungspolitik Israel eingeschworen, die als einziges Mittel zur Verhinderung einer solchen Katastrophe präsentiert wird. Was als religionskritische Bewegung begann, lief so auf ein Bündnis mit fundamentalistisch-nationalistischen Kräften hinaus. Neigungen zu Intoleranz und zu inquisitorischen Verhaltensweisen schwächen darum zurzeit die innerjüdische Kritik und vermindern die

363

364

365 366

CHR., Der Welt ein Gedächtnis geben, Gütersloh 1995; ansonsten liegt diese Publikation aber ganz auf der Linie der Holocausttheologie. BRAITERMAN, Z., God after Auschwitz. Tradition and Change in post-Holocaust Jewish Thought, 1998; PINNOCK, S. K., Beyond Theodicy, Albany, NY 2000; GIULIANI, M., Theological Implications of the Shoah, New York 2002. KRAMER, S., Auschwitz im Widerstreit. Zur Darstellung der Shoah in Film, Philosophie und Literatur, Leverkusen 1999; HIRSCH, J., Afterimage: Film, Trauma, and the Holocaust. Emerging Media: History, Theory, Narrative. Philadelphia, 2004. MORGAN, M. L., Beyond Auschwitz. Post-Holocaust Jewish Thought in America, Oxford 2001. Was insgesamt mit allen Auswirkungen als Holocaust-Industrie gebrandmarkt worden ist: NOVICK, P., The Holocaust in American Life, Boston/New York 2000; mehr polemisch formuliert bei FINKELSTEIN, N., The Holocaust Industry, London 2000; DERS., Beyond Chutzpah. On the Misuse of Anti-Semitism and the Abuse of History, Berkeley 2005, deutsch: Antisemitismus als politische Waffe, München 2006; MEYER, H. G., Das Ende des Judentums. Persönliche Betrachtungen über Judentum, Holocaust und Israel, Neu Isenburg 2005.

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Teil III. Jüdische Religion in der erlebten Geschichte

kritische Urteilskraft. Das gilt auch für wohlmeinende nichtjüdische Kreise, in denen das alles sogar zu unkritischer Rezeption dreister Fälschungen verleitet hat.367 Holocaustideologen möchten den Holocaust nicht als Teil der Geschichte ansehen, sondern als jüdische Katastrophe aus der Geschichte herausheben, als Mythos der normalen Beurteilung entziehen. Die Anwendung dieses Begriffs Mythos sollte sich freilich bald als kontraproduktiv und zweischneidig erweisen, denn aus einem historischen Faktum wurde so ein quasi-religiöser, verpflichtender Glaubensgegenstand, und die Holocaustleugnung rückt in die Nähe der Gottesleugnung. Beanstandet wird auch, dass der verabsolutierte, exklusive Anspruch auf die Opferrolle andere Fälle von Völkermord bagatellisiert,368 dass die ganze jüdische Geschichte als Katastrophengeschichte mit dem Holocaust als Zielpunkt dargestellt wird und die Selbsterhaltung jüdischer Existenz (Survivalismus ) als Hauptaufgabe der Gegenwart erscheint. Säkulare wie religiöse liberale Kreise, aber auch manch Orthodoxe, sehen in solchen Tendenzen einen Missbrauch zugunsten politischer Macht und in manchen Punkten sogar eine Infragestellung recht verstandener jüdischer Grundpositionen. Holocaust fungiert derzeit jedoch als einziger noch vorhandener gemeinsamer Nenner jüdischer „Identität“. Was in der traditionellen Frömmigkeit Gott und seine Torah bewirkt hat, nämlich das Bewusstsein der kollektiven Gemeinschaft als Israel, wird ersatzweise durch den mythisierten Begriff Holocaust bewerkstelligt. Das führt zu entsprechend heftigen Kontroversen,369 nicht zuletzt wegen der Folgen für die Ethik.370 All dies verläuft noch dazu im Rahmen eines weltpolitischen Kon367 Dazu s. GANZFRIED, D., . . . alias Wilkomirski. Die Holocaust-Travestie, Berlin 2002; KOSINSKI, J., The Painted Bird, London 1966, Boston/New York 1970; Boston 1976; New York 81977; Toronto 121980; New York/London 1982; 1983. 368 RITTNER, C./ROTH, J. K./SMITH, J. M. (Hg.), Will Genocide Ever End? Minnesota 2002; TYRNAUER, G., Gypsies and the Holocaust. A bibliography and introductory essay, Montréal 1989; AURON, Y., The Banality of Indifference. Zionism and the Armenian Genocide, New Brunswick 2000. 369 Ausgesprochen polemisch: SHAHAK, I., Jüdische Geschichte, Jüdische Religion, Süderbrarup 1999. 370 MAIER, J., Jüdische Kultur, in: GRABNER-HAIDER, A. (Hg.), Ethos der Weltkulturen. Religion und Ethik. Mit einem Vorwort von Hans Küng, Göttingen 2006,183–248.

Zionismus und jüdische Religion

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flikts um die Vorherrschaft im Vorderen bzw. Mittleren Orient, und die jüdische Religion gerät dabei in eine bedenkliche und von vielen Juden als unzutreffend empfundene Frontstellung im propagierten „Krieg der Kulturen“, den auch christlich-fundamentalistische Richtungen in den USA heraufbeschwören.371 Sollten, durch welche Umstände auch immer, der Solidarisierungszwang und die messianische Landideologie nachlassen, werden die religiösen Überzeugungen und ethischen Maßstäbe der einzelnen jüdischen Richtungen wieder stärker zur Geltung kommen (s. Reader, Nr. 17), und auch das Verhältnis von jüdischer Religion, Politik und Staat Israel wird dann wohl wieder zur Diskussion stehen.

371 PHILLIPS, K., American Theocracy: The Peril and Politics of Radical Religion, Oil, and Borrowed Money in the 21st Century, New York 2006.

Teil IV. Praktizierte Religion

1.

Einführung

Die jüdische Religion ist trotz Zerstreuung und völlig unterschiedlichen Umweltbedingungen über zwei Jahrtausende in ihrem Kernbestand konstant geblieben. Nicht auf Grund einer dogmatischen Regelung und Kontrolle der Glaubensüberzeugungen, sondern infolge der im Teil I beschriebenen geglaubten Geschichte in Verbindung mit einer in den Grundzügen stabil gebliebenen Religionspraxis, die eine entsprechende Abgrenzung und somit auch Kontinuität gewährleistete. Und auf Grund der Überzeugung, damit als Kultersatz auch die tempellose Zeit überbrücken zu können (s. Reader, Nr. 18). Soweit mag die geläufige Rede, das Judentum sei eher Orthopraxie als Orthodoxie, zutreffen. Daher blieb nach Aufklärung und Assimilation auch gerade die Frage akut, wie eine gemeinjüdische Basis bewahrt werden kann, wenn die religiöse Praxis mehr oder weniger aufgegeben wird. Einen Mittelweg zwischen Traditionalismus und einer den Lebensumständen und dem Zeitgeist entsprechenden Lebensweise zu finden, war und blieb das Anliegen des gemäßigten Reformjudentums und des Konservativen Judentums. In Krisensituationen freilich, und begreiflicherweise in und nach den Schrecken der NS-Herrschaft, hat diese Frage fast automatisch eine Rückkehr zu traditionellen Verhaltensmustern bewirkt, auch wenn die Sinngebung im Einzelnen wechselte. Der modernen pluralistischen Struktur gemäß sind in den einzelnen jüdischen Richtungen Anleitungen zur Religionspraxis verfasst worden, deren Details zwar umstritten sind, deren gemeinsamer inhaltlicher Bestand aber immer noch die Gewähr für das Bewusstsein einer jüdischen Religion gewährleistet. Dabei gehen die Gemeinsamkeiten weit

Einführung

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über die eigentlichen rituellen und religiösen Praktiken hinaus, sie betreffen fast alle Bereiche des Lebens1 und bewahren so trotz unüberbrückbarer theologischer Differenzen einen nicht unbeträchtlichen Teil dessen, was Judentum ausmacht. Für ein ausgewogenes Verhältnis von Glaubenswelt und praktizierter Religion kommt der Erziehung und dem Lernen ein hoher Stellenwert zu,2 im Rahmen eines jüdischen Schulwesens, im Familienleben, und in der örtlichen Gemeinschaft. Das Lernen der Torah in der weitesten Bedeutung dieses Begriffs stellt nach der Tradition die vorrangige Lebensaufgabe des Mannes dar, dem als Familienhaupt die Verantwortung für die korrekte Religionsausübung zukommt (s. Reader, Nr. 16). Es ist darum auch Pflicht des Mannes, für eine entsprechende Ausbildung seiner Söhne zu sorgen (s. Reader, Nr. 19). Die praktische Umsetzung im Haushalt obliegt in dieser torahzentrierten patriarchalischen Sozialstruktur der Ehefrau und Mutter, und diese Rolle verleiht ihr auch einen hervorgehobenen sozialen Status, in einem ziemlich krassen Gegensatz zur Ledigen. Bei diesem ganz auf den Mann als den voll Gebotsverpflichteten ausgerichteten rabbinischen Bildungsideal, fällt der Ehefrau nicht bloß die Haushaltsführung und die Erziehung der Töchter als Aufgabe zu, sondern auch die Abwicklung der Geschäfte zur Sicherung der wirtschaftlichen Existenz der Familie, damit dem Mann möglichst viel Zeit für das Lernen bleibt.3 Dabei sollen Lernen, also theoretisches Wissen, und praktische Gebotserfüllung Hand in Hand gehen. Diese Auffassung wird in den modernen jüdischen Richtungen nicht mehr geteilt und die entsprechende soziale Struktur ist

1 LATNER, H., The Book of Modern Jewish Etiquette, New York 1981; FRANKEL, E./ TEUTSCH, B., The Encyclopedia of Jewish Symbols, Northvale, NJ 1995; LEVI, L., Halakhic Times for Home and Traveler. World -wide times of day tables, Jerusalem 32000. 2 HIMMELFARB, H. S./DELLA PERGOLA, S. (Hg.), Jewish Education Worldwide, Lanham, 1989; FOX, S. u. a. (Hg.), Visions of Jewish Education. Cambridge, MA 2003. 3 RUUD, I. M., Women and Judaism. A select annotated bibliography, New York 1988; BIALE, R., Woman and Jewish Law, New York 1984; BASKIN, J. (Hg.), Jewish Women in Historical Perspective, Detroit 1991; GREENSPOON, L. J./SIMKINS, R. A. (Hg.), Women and Judaism, Lincoln, Neb. 2003; TIROSH-SAMUELSON, H. (Hg.), Women and Gender in Jewish Philosophy, Bloomington 2004.

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Teil IV. Praktizierte Religion

auch nur mehr in streng orthodoxen und chasidischen Gemeinschaften vorhanden. Auf der Ebene der örtlichen Gemeinschaft obliegt es dem Rabbiner, für die torahgemäße Praxis zu sorgen, indem er anweist, was erlaubt und was verboten ist, in Zweifelsfällen berät und entscheidet, und gegebenenfalls als Richter fungiert. Darüber hinaus gibt es in den einzelnen Denominationen zentrale Instanzen, denen die Mitgliedgemeinden Entscheidungsbefugnisse abgetreten haben, und im Land Israel existiert in der Institution des Oberrabbinats eine staatlich verankerte Instanz, die das Judentum neben dem Religionsministerium als Staatsreligion administriert, und zwar in orthodoxem Sinne. Es gibt auch in der Diaspora jüdische Gemeindeverbände auf regionaler und staatlicher Ebene und entsprechende zentrale Einrichtungen, aber diese haben in der Regel keine religiöse Kompetenz. Es sind also eigentlich Rabbinerkonferenzen auf regionaler und staatlicher Ebene, die eine zentrale religiöse Autorität ersetzen, doch treten sie wenig in Erscheinung, weil die staatlichen und kirchlichen Stellen die offiziellen Interessenvertretungen auch als religiös zuständige Partner betrachten, zumal sie ja tatsächlich vorhandene Kultusgemeinden repräsentieren. Aber die jüdische Minorität besteht nicht nur aus Mitgliedern der Kultusgemeinden, so dass es auch Vereine und Organisationen gibt, die sich nicht in das offizielle Organisationsschema einfügen lassen. Nicht alles wird in der Praxis auf der Basis der rabbinischen Autorität geregelt, in manchen Dingen hält man sich – unter Umständen auch gegen die Halakah – an den herkömmlichen Brauch, der nach Ort und Region variiert, und auch außerhalb der Gemeinden, in etwas wie landsmannschaftlichen Gemeinschaften, weiter gepflegt wird. Das gilt vor allem für chasidische Gemeinschaften und im Staat Israel für Einwanderergruppen mit einem spezifischen folkloristischen Profil, die sog. `edôt, die freilich immer mehr dem nivellierenden Druck der modernen, amerikanisierten Lebensweise ausgesetzt sind und nach und nach verschwinden. Die Judenheit der Gegenwart besteht trotz zweier massiver Schwerpunkte – in den USA und in Israel – aus weltweit verstreuten Gemeinschaften recht unterschiedlichen Charakters.4 Das Judentum in diesen 4 LERMAN, A., The Jewish Communities of the World. A contemporary guide,

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Gemeinschaften entspricht in seiner Vielfalt dieser Diaspora- Situation und wird durch keine zentrale Organisation oder Instanz vertreten. Es gibt einige überregional bis weltweit agierende Organisationen, etwa der World Jewish Congress , doch diese sind nicht mit der Funktion von Kirchen zu vergleichen, sondern eigentlich politische Interessenvertretungen, auch wenn sie in letzter Zeit mit einem gewissen Erfolg versuchen, in der Umwelt auch als religiöse Instanzen aufzutreten.

2.

Heiligung des Lebens

Die kollektive Erwählungsverpflichtung Israels bindet das ganze Volk an Gott und den Gotteswillen, die Torah. Die individuelle Frömmigkeit ist darin eingebunden, in das Ganze der Erwählungsgemeinschaft, und das heißt praktisch: vorrangig in das familiäre Leben und in die örtliche Gemeinde. Das individuelle Heil kann daher kein Ziel für sich sein, der Einzelne weiß sich innerhalb der Gemeinschaft Gott gegenüber verantwortlich. Folgerichtig dominiert in der Gebetssprache und in der religiösen Literatur das wir. Gleichwohl hat sich seit der Aufklärung eine Akzentverlagerung auf das Individuum ergeben, am stärksten im Reformjudentum. Zwei für die traditionelle Frömmigkeit zentrale Bereiche sind von diesem Wandel mit betroffen, das kultische und erwählungstheologische Grundkonzept der Heiligkeit5 und die Vorstellung von der rituellen Reinheit/Unreinheit. In der Orthodoxie haben sie nach wie vor ihre Bedeutung, bei Konservativen merklich abgeschwächt, im Reformjudentum wurden sie weitgehend ethisierend spiritualisiert oder irgendwie rational begründet,6 unter anderem als Hygienemaßnahmen.7 Aber in der traditionellen Lebensweise wird beLondon 41989; BEN RAFAEL, E. u. a. (Hg.), Contemporary Jewries, Leiden 2003; Who’s Who in Israel and Jewish Personalities all over the World, Tel Aviv ab 1968; KORN, D., Wer ist wer im Judentum? Lexikon der jüdischen Prominenz, München 21996. 5 HOUTMAN, A./POORTHUIS, M./SCHWARTZ, J. (Hg.), Sanctity of Time and Space in Tradition and Modernity, Leiden 1998. 6 GRUNFELD, I., The Philosophical and Moral Basis of the Jewish Dietary Laws. London 1961. 7 GRUNWALD, M., Die Hygiene der Juden, Dresden 1912; Hygiene und Judentum. Eine Sammelschrift, Dresden 1930.

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Teil IV. Praktizierte Religion

reits am Morgen die Parallele zur Reinigungspflicht der Priester am Tempel gezogen (s. Reader, Nr. 24), mit dem rituellen Abspülen der Hände, das auch vor dem Essen und vor gewissen rituellen Verrichtungen (Anfassen der heiligen Torahrolle) erforderlich ist. Die höchsten Unreinheitsgrade verursachen laut Tradition der Götzendienst und ein Leichnam. Auch der Ort, an dem sich in Jerusalem einst das Heiligtum befand, gilt als hochheilig und nach wie vor als unbetretbar, sogar der Luftraum darüber sollte gemieden werden. Wie weit diese Tabuzone reicht, ist freilich umstritten, denn gewisse Gruppen möchten am Tempelberg wenigstens eine vorläufige Gebetsstätte einrichten. Das früher gewichtige Problem der Hautkrankheiten mit dem Aussatz als hoher Unreinheitsstufe ist hygienebedingt in den Hintergrund getreten. Von größerer Bedeutung ist nach wie vor die Vorstellung, dass körperliche Ausflüsse, insbesondere im Zusammenhang mit der Sexualität, außerhalb des eigenen Körpers Unreinheit bewirken, deren Beseitigung ein Tauchbad erfordert. Im Blick auf Menstruierende und Wöchnerinnen werden bis heute laufend Verhaltensregeln verfasst und umfangreiche halakische Diskussionen ausgetragen.8 Der Besuch des rituellen Tauchbades (Mikwe) nach den Reinigungsfristen ist nicht nur eine individuelle Angelegenheit, es wird damit in den Gemeinden auch eine gewisse soziale Kontrolle ausgeübt. Tatsächlich halten sich nicht nur strikt orthodoxe Frauen an diese Regeln, die in den Familien den Töchtern bereits früh beigebracht werden. Die Bedeutung dieser Regulierungen, die zu den für Küche und Haushalt geltenden Reinheitsvorschriften noch periodisch hinzukommen, ist auf der Grundlage der patriarchalischen Familienstruktur für das Ehe- und Familienleben von so einschneidenden Gewicht, dass heute unter orthodoxen Frauen kritische Fragen laut werden, weil sie die Isolierung während der unreinen Phasen als schwere psychische Belastung empfinden. Das wichtigste Reinigungsmittel ist Wasser; Waschen der Kleidung und Tauchbäder nach bestimmten Fristen und genauen Vorschriften spielen daher eine große Rolle. In der Spätantike kam im pharisäisch8 BLUMENKRANTZ, A., Gefen porioh – The Laws of Niddah. A digest, Far Rockaway, NY 1984; SPRUNG, Y. Z., Foundations. The Jewish Laws of Family Purity, Jerusalem/New York 2003; BARCLAY, E., Guidelines: questions and answers about the laws of family purity, Southfield 2004.

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rabbinischen Judentum der Brauch des Händewaschens (Abspülens) vor dem Essen und vor dem Berühren heiliger Dinge (wie heiliger Schriftrollen) auf. Es gibt eine große Zahl von Reinheits- und Speisevorschriften, die den jüdischen Alltag bis in Details bestimmen. Die damit bewirkte soziale Absonderung hat freilich in der Umwelt meist Befremden ausgelöst, und darum war man bemüht, ihren Ursprung und Sinn darzulegen und irgendwie zu begründen.9 Für das religiöse Leben ist aber letztlich nur wichtig, zu wissen, was verboten und was erlaubt ist.10 Von den Speisegeboten werden außerhalb orthodoxer Kreise viele nicht mehr beachtet, aber in jüdischen Kochbüchern, selbst folkloristischer Art, begegnen sie auf Schritt und Tritt, und mit nostalgischen Modewellen kommen sie auch wieder zum Zug. Die Tiere werden in reine und somit auch zum Genus zulässige, und in unreine eingeteilt. Als reine Tiere gelten Wiederkäuer, die ganz inzwei gespaltene Klauen haben (Dt 14, 3 ff). Erlaubt sind ferner nach biblischen Angaben 21, nach rabbinischen 24 Vogelarten (Lev 11,13– 19; Dt 14, 12–18. Nicht erlaubt sind auf alle Fälle Greifvögel und die Eier unreiner Vögel. Erlaubt sind Fische mit Flossen und Schuppen (Lev 11,9–12) und bestimmte Heuschreckenarten (Lev 11, 21 f; mehr in bChullin 63a/b). Selbst der Genuss des Fleisches von reinen, zum Genuss erlaubten Tieren, unterliegt einer strengen Einschränkung, dem Blutgenussverbot. Dieses erfordert eine besondere Schlachtmethode, das Schächten, bei dem mit einem tadellosen Messer in einem Schnitt Luftröhre und Speiseröhre durchtrennt werden muss, damit das Tier danach vollkommen ausbluten kann.11 Das geschächtete Tier

9 WIENER, A., Die jüdischen Speisegesetze, Breslau 1895; SHAPIRO, D., L’hygiène alimentaire des Juifs devant la science moderne, Paris 1930; GRUNFELD, I., The Jewish Dietary Laws, 2 Bd., London 1972 (umfassende Darstellung). 10 LEVIN, S. I./BOYDEN, E. A., The Kosher Code of the Orthodox Jew, New York 2 1969; DRESNER, S. H. etc.; The Jewish Dietary Laws, New York 31982; LEBEAU, J. M., The Jewish Dietary Laws. Sanctify Life!, New York 1983 (Conservative); EDERY, A., `Ençîqlôpedijah le-kašrût ha-mazôn. Encyclopedia for kosher food, 2 Bd., Jerusalem 1988; ABRAMSON, R., Keeping kosher, New York 2000 (Conservative); HOD, T., Rabbi, ist das Koscher? Koscher-Liste Deutschland 2004–2005, Stuttgart 22004. 11 LEVINGER, I. M., Mazôn kašer min ha-haj. Modern Kosher Food Production ¯

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Teil IV. Praktizierte Religion

muss ferner auf Mängel untersucht werden, und bestimmte Teile, der nervus ischiadicus (Gen 32, 32) und die einst beim Opfer verbrannten Fetteile (Bauchfett und Fettschwanz), sind zu entfernen. Andernfalls gilt das Fleisch für Juden (aber natürlich nicht für Nichtjuden) als verboten. Diese Schlachtung, in der Regel von einem ausgebildeten Schächter (šôhet¸ ) und unter rabbinischer Aufsicht durchgeführt, war ¯ stets ein Anlass zu Diskussionen, Polemik und Anfeindungen. Doch ihre eigentliche Funktion ist dieselbe wie die aller Reinheitsbestimmungen, nämlich die Abgrenzung der Erwählungsgemeinschaft von der Umwelt (s. Reader, Nr. 10).12 Unreine Kleintiere finden sich aber oft versteckt in Gemüse und Obst, daher ist dieses genau zu inspizieren.13 Viele Nahrungsmittel gelten als neutral (Parve ), andere werden entweder als tauglich bzw. zulässig (kašer, jiddisch: kosher ), oder als unrein bzw. unzulässig gewertet. In diesen Rahmen gehört auch die traditionelle Trennung von Milchigem und Fleischigem.14 Praktisch bedeutet dies völlig getrenntes Geschirr und gesonderte Kühlschränke für beide Sorten von Nahrungsmitteln. Fisch gilt nicht als „fleischig“, wird aber nicht mit Fleisch zusammen gegessen. Aber auch an sich zulässige Nahrungsmittel können genussuntauglich oder sogar zur Nutznießung verboten werden, wenn sie mit verunreinigenden Personen oder Dingen in Kontakt geraten. Moderne industrielle Verarbeitungsmethoden erschweren nun aber die Feststellung, ob einem Produkt unzulässige Bestandteile beigemengt wurden,15 dasselbe gilt für den Bereich der Medizin bzw. Pharmakologie.16 Es bedarf daher eines beträchtlichen Aufwands, um für die einzelnen Produkte die Etikettierung als kašer zu erreichen, zumal oft auch eine

12

13 14 15 16

from Animal Source, Jerusalem 1977/8 (Standardwerk); BENDER, M., The Meat in your Plate: Is it really kosher?, Brooklyn 1986. BERMAN, J. J., Shehitah: A study in the cultural and social life of the Jewish people, New York 1941; MUNK, M. L., Shehita. Religious and historical research on the Jewish method of slaughter, New York 1976. FALK, P. E., Halachic Guide to the Inspection of Fruits and Vegetables for Insects, Gateshead 1983/4. ROSENBERG, E., Meat and Dairy, Jerusalem/New York 2005. Vgl. z. B. SHEINKOPF, D. I., Gelatin in Jewish Law, New York 1983. ADLER, A./SPIRO, M. D., Medicines and Kashrus: a practical guide, Gateshead 2 1989.

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193

Rolle spielt, ob Nichtjuden bei der Produktion oder der Handhabung beteiligt waren und durch deren Berührung rituelle Unreinheit übertragen wurde. Bei Fleisch sind die Maßstäbe nach wie vor recht streng. Bei Wein gab die Möglichkeit einer kultischen Zweckbestimmung (Gussopfer, Messwein) Anlass zu restriktiver Gesetzgebung, bei Milchprodukten und Brot war man aus Rücksicht auf die praktischen Bedürfnisse in der Regel großzügiger. Eine große Zahl von rabbinischen Aufsehern (mašgîhîm ) wacht in ¯ Erzeugerbetrieben und Gaststätten darüber, dass die halakischen Vorschriften eingehalten werden, ein oft recht formalistisches Verfahren, das aber die rabbinische (v. a. orthodoxe) Kontrolle demonstriert. Damit wird ein jüdischer ökonomischer Binnenmarkt geschaffen, der das Zusammenleben nach den traditionellen Regeln ermöglicht, und diese selbstgewählte Ghettoisierung hat in der Moderne trotz anwachsender säkularisierter Schichten keineswegs jede Bedeutung verloren. Denn selbst Familien, die keine koschere Küche mehr führen, wählen oder behalten ihren Wohnsitz gern in der Nähe von anderen Juden, und wenn auch nur wegen der Schulen für ihre Kinder. Dem Ziel der gesellschaftlichen Absonderung dient auch das Verbot, nichtjüdische Kleidung zu tragen, womit aber nicht festgelegt wurde, was jüdische Kleidung ist, denn es ging nur darum, eine sichtbare Unterscheidung zu schaffen. Dem entspricht die Vielfalt der bezeugten Judentrachten.17 Reformjuden und Konservative kümmern sich darum nicht mehr, moderne Orthodoxe begnügen sich mit einem in der Umwelt nicht mehr üblichen, bürgerlich-feierlichen Erscheinungsbild, Traditionalisten und Chasidim hingegen halten an ihren alten Trachten fest, obschon diese ursprünglich gar keine jüdischen waren. Großen Wert legt man auf die Einhaltung des Torahverbots, Mischgewebe aus Wolle und Flachs (šat¸nez ) zu verwenden, was dem Verbot entspricht, verschiedene Pflanzen oder Tierarten miteinander zu verbinden oder zu kreuzen (kil`ajîm ). Tatsächlich ein jüdisches Kennzeichen sind die Kleiderquasten. Orthodoxe tragen sie am T¸allît qat¸an (auch `arba` kanfôt, vier Zipfel), so dass die vier Quasten sichtbar bleiben (s. Reader, Nr. 21).18 Und zwar als Ersatz für den eigentlichen T ¸allît , der 17 RUBENS, A., A History of Jewish Costume, London 1967. 18 POLLACK, A., The Laws of Tzitzis, Southfield, MI 2002.

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Teil IV. Praktizierte Religion

nur mehr als Gebetsschal verwendet wird. Dieser wird aus Leinen oder Wolle gefertigt, ist weiß, hat blaue Streifen am Rand und ein Ornament aus Silberfäden am Nackenrand. Man pflegt mit ihm vor dem Anlegen, während man die dazugehörige Benediktion rezitiert, das Haupt zu verhüllen. Getragen wird der Gebetsschal in der Regel während des Morgengebetes und (jedenfalls zu bestimmten Anlässen) im synagogalen Gottesdienst. Ein weiteres Torah-Denkzeichen sind die Gebetsriemen (tefîllîn ), die Kopftefillin, mit der Kapsel an die Stirn gebunden, die Handtefillin um den linken Arm (s. Reader, Nr. 22). Von der biblischen Vorschrift her, bei männlichen Personen das Haar an den Schläfen und über den Ohren nicht zu schneiden (Lev 19,27), sind in den traditionalistischen Gruppen Schläfenlocken üblich. Bei Erwachsenen gilt der Bart als symbolträchtiges Merkmal des traditionsbewussten Juden, insbesondere des orthodoxen Rabbiners. Ein nicht gebotener Brauch, der sich erst in der Neuzeit durchgesetzt hat, ist das Tragen einer Kopfbedeckung.19 Besondere Judenhüte hat es da und dort gegeben, z. T. auch von der fremden Obrigkeit verordnet, aber der eigentliche Sinn war der einer Ehrfurchtsbezeugung. In der Moderne ersetzte man die traditionellen Kopfbedeckungen durch Hüte, vorzugsweise veraltete Modelle, und Reformjuden gaben den Brauch überhaupt auf. Bei Konservativen wurde sie in Form der kippah üblich, einem kleinen, runden Käppchen, und bei religiösen Zionisten wurde sie zur Norm, während Reformjuden sie, wenn überhaupt, nur im Gottesdienst tragen. Die Beobachtung bestimmter Verbote und Gebote hat nach wie vor auch eine demonstrative, bekenntnishafte Bedeutung, daher werden sie in Gesellschaft von Nichtjuden manchmal sogar von religiös nicht mehr engagierten Juden demonstrativ befolgt. Das gilt insbesondere für das Schweinefleischverbot und für das Blutgenussverbot, neuerdings auch für das Tragen einer Kopfbedeckung (kippah ).

19 DAVIES, E./DAVIES, E., Hats and Caps of the Jews, Givataim 1983.

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3.

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Häuslicher Bereich und Familienleben

Ohne die Pflege der Religion im Rahmen der Familie wäre Judentum nicht denkbar.20 Daher wird es als ein existenzbedrohendes Problem empfunden, dass immer mehr Juden Mischehen eingehen.21 Es gibt keine spezifische Tradition jüdischen Hausbaus. Aber am Eingang, auch eines jeden Wohnraumes, soll am rechten Türpfosten eine Mezûzah angebracht sein, die ein Torah-Denkzeichen darstellt, aber im Volksglauben auch apotropäische Bedeutung hat (s. Reader, Nr. 23).22 Sie besteht aus einem Pergamentstreifen mit dem Text von Dt 6,4–9 und 11,13–21, meist in 22 Zeilen (nach der Zahl der Buchstaben des Alphabets) und auf der Rückseite mit dem hebräischen Gottesnamen ŠDJ, was auch als Abkürzung für „Hüter der Türen Israels“ ´ `el ) verstanden wird. Das Pergamentstück wird in ei(šômer daltôt Jisra nen länglichen und oft kunstvoll gestalteten Behälter gesteckt, und zwar so, dass die Buchstaben ŠDJ durch eine kleine Öffnung zu sehen sind. Fromme berühren beim Passieren die Mezuzah und küssen die Finger, oder überhaupt die Mezuzah selbst. Bestimmte Gegenstände sind für ein jüdisches Hauswesen unerlässlich. Abgesehen von einem Wassergefäß für die rituelle Händewaschung geht es vor allem um getrenntes Geschirr für Milchiges und Fleischiges. Für Sabbat- und Festmahlzeiten ist ein besonders schönes Gedeck üblich, und dazu gehört ein Weinpokal, den das Familienhaupt beim Qiddûš und bei der Habdalah verwendet, und für die Habdalah braucht man auch einen Behälter mit Riechkräutern. (Hadas, Besômîm -Büchse). Für das Passah-Fest ist streng genommen eigenes Geschirr und ein gesonderter Kühlschrank nötig, jedenfalls ein Sederteller für das Mahl am Päsach-Abend, und für dessen Liturgie (Seder) eine Päsach20 KATZ, J., The Traditional Jewish Family in Historical Perspective, New York 1983; KRAEMER, D. (Hg.), The Jewish Family. Metaphor and Memory, New York 1989; COHEN, ST. M./HYMAN, P. E. (Hg.), The Jewish Family. Myth and Reality, New York 1986; BUBIS, G. B., Saving the Jewish Family. An analysis and cumulative bibliography 1970–1982, Boston 1987. 21 FISHMAN, S. B., Double or Nothing? Jewish Families and Mixed Marriage, Hanover, NH 2004. 22 ELEFANT, M. Y., The Complete mezuzah Guide, Brooklyn 1988.

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Teil IV. Praktizierte Religion

Haggadah, dazu Weinkelche und der meist kostbarer ausgeführte Becher für den Propheten Elias, dessen Teilnahme man erwartet. Für das Chanukkah-Fest braucht man einen achtflammigen Leuchter mit einer zusätzlichen Flamme zum Anzünden, regional sehr unterschiedlich gestaltet. Darüber hinaus waren von jeher Bücher ein Merkmal jüdischer Häuser.

4.

Gebetsleben und Lernen

Vorbemerkung Die Tradition regelt das Gebetsleben des Einzelnen wie der Gemeinschaft ziemlich engmaschig.23 Als Ritus begegnen heute vor allem zwei Gruppen, der sefardische und der aschkenasische, die anderen, vor allem die orientalischen, verlieren mit der Assimilation ihrer Trägergruppen zunehmend an Boden. Trotz allerlei Unterschiede ist ein gemeinsamer Grundbestand durch die Jahrhunderte Bewusstsein bildend erhalten geblieben.24 Reformjuden und Konservative haben im 19. Jh. Textbestand und Ablauf zeitgemäß verändert, in der letzten Jahrhunderthälfte aber wieder der Tradition angenähert.25 Die Gebetesrichtung ist auf Jerusalem ausgerichtet, und wird im Haus und in der Synagoge durch den Mizrah („Osten“) bzw. durch ¯ die Positionierung des Torahschreins mit den heiligen Schriftrollen angezeigt. Die Gebetspraxis erfolgt auf zwei Ebenen, einer privaten, individuellen, und einer öffentlichen, in der Synagoge, dem Versammlungshaus der örtlichen Gemeinde. Sie ist auch der soziale Brennpunkt der Gemeinde, heute oft in der Form moderner, multifunktionaler Ge23 ELBOGEN, I., Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung, Frankfurt a. M. 31931; Nachdruck Hildesheim 1967; GOLDSCHMIDT, D., Mähqerê ¯ tefîllah, Jerusalem 1979; MILLGROM, A. E., Jewish Worship, Philadelphia 21975; REIF, ST.C., Judaism and Hebrew Prayer, Cambridge 1993. 24 MUNK, E., Die Welt der Gebete, 2 Bd., Frankfurt a. M. 21935/31938 (orthodox); DONIN, CH.H., Jüdisches Gebet heute, Zürich und Jerusalem 22002; TREPP, L., Der jüdische Gottesdienst, Stuttgart 42000. 25 BEN-CHORIN, S., Betendes Judentum, Tübingen 1980 (populär); BÖCKLER, A., Jüdischer Gottesdienst. Wesen und Struktur, Berlin 2002.

Gebetsleben und Lernen

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meindezentren gestaltet, und dazu gehören selbstverständlich eine rituelle Badeanlage (Mikwe ) und Räumlichkeiten zum Lernen, was die Existenz gesonderter kleiner Lehrhäuser nach alter orthodoxer Art (Shtub ) nicht ausschließt.26 Heilig ist die Synagoge an sich nicht, doch beherbergt sie die heiligen Schriftrollen, die nach strengen Schreiberregeln angefertigt, der Schriftlesung dienen. Es handelt dabei um Torahrollen und Prophetenrollen, beide in Behältern bzw. in Textilien, in Torahwimpeln und Torahmänteln, verwahrt, mit aufgesteckten Kronen oder (sefardisch) sog. Rimmônîm , schellenartigen Glöckchen. Aufbewahrt werden sie im Torahschrein (`arôn ha-qôdäš ) hinter dem Torahvorhang, alles nach Möglichkeit kunsthandwerklich gestaltet, um die Torah zu ehren. Während orthodoxe Synagogen nach wie vor eine klare Abgrenzung des Frauenteils aufweisen und der Frau eine fast nur passive Teilnahme zukommt,27 haben sich das Reformjudentum und allmählich auch das Konservative Judentum das Prinzip der Gleichberechtigung zu eigen gemacht, was einem Orthodoxen die Teilnahme an einem solchen Synagogengottesdienst zusätzlich erschwert.

4.1

Benediktionen

Zahlreiche Anlässe erfordern die Rezitation einer berakah, in der Regel eine Danksagung (Eulogie), manchmal im Sinne einer Segensformel. Selten handelt es sich um Sachbenediktionen, noch seltener um personenbezogene Segensformeln, von letzteren ist der Priestersegen aus Num 6,22–27 am bekanntesten. Seit der talmudischen Zeit hat sich für die berakah eine Standardformel durchgesetzt. Ihre Einleitung lautet: „Gepriesen bist du (barûk `attah ), JHWH, unser Gott, König der Welt“, also mit direkter Anrede; der Hauptteil besteht aus einem Relativsatz, meist im Partizipialstil, also in der 3. Person, mit dem Gegenstand des Lobes. Der Abschluss (die 26 DAHLE, T. N., Synagogen. Stuttgart 2000 (Bibliographie); DE BREFFNY, B., The Synagogue, London 1978; KRINSKY, C. H., Europas Synagogen. Architektur, Geschichte und Bedeutung, Stuttgart 1988. 27 LITWIN, B. (Hg.), The Sanctity of the Synagogue. The case of mechitza, Hoboken 3 1987/8.

198

Teil IV. Praktizierte Religion

hatîmah ) der liturgischen Benediktion besteht aus der verkürzten Ein¯ leitung und einer Kurzfassung des Inhalts. In Serien erscheint die Formel in verkürzter Form. Benediktionen werden vor einer Gebotserfüllung rezitiert, auch vor dem Genuss einer Sache; aber nicht im Sinn einer Weihe des Objekts, sondern als Danksagung für die Freigabe zum Genuss, weil gemäß Ps 24,1 eigentlich alles Gott gehört. Bei Mählern mit mindestens 10 Teilnehmern ist der erheblich erweiterte liturgische Tischsegen (birkat hamazôn ) Pflicht (s. Reader, Nr. 25). Auch ein gewichtiger Teil der Liturgie besteht aus Einzelbenediktionen oder Benediktionsserien.

4.2

Das Pflichtgebet Šema` Jis´ra`el, Höre, Israel (s. Reader, Nr. 26)

Nach jüdischer Zeitrechnung beginnt der Tag gegen Abend mit dem deutlichen Erscheinen dreier Sterne von mittlerer Größe. Um diese Grenze nicht zu überschreiten, werden die Gebetszeiten um einiges früher angesetzt, heute werden sie voraus berechnet. Mit dem Morgengrauen oder Sonnenaufgang sind die ersten Gebotserfüllungen und die Rezitation der Birkot ha-šahar (Benediktionen für die Zeit der Morgen¯ röte) fällig. Man rezitiert sie seit dem Mittelalter mit erheblichen Erweiterungen auch leise vor dem eigentlichen synagogalen Morgengottesdienst, wofür man Gebetsriemem (Tefîllîn ) und Gebetsmantel (T ¸allît ) anlegt. Zweimal täglich, am Morgen und am Abend, den einstigen Opferzeiten am Tempel entsprechend, ist ein komplexes Pflichtgebet zu rezitieren, dessen Kern die Torah-Gedenktexte Dt 6,4–9, Dt 11,13–21 und Num 13,37–41 bilden (s. Reader, Nr. 26). Als Bekenntnis der Einzigkeit und später auch Einheit Gottes wurde dieser Text zum jüdischen Bekenntnistext schlechthin und zum Märtyrergebet. Die Bibeltexte werden durch Benediktionen gerahmt, die ein Kompendium der wichtigsten Glaubensüberzeugungen darstellen. Die erste heißt Jôçer `ôr, sie preist den Gott Israels angesichts der aufgehenden Sonne als den „Bildner von Licht und Schöpfer von Finsternis“. Die Licht-Symbolik leitet zum Dank für die Offenbarung der Torah (als Licht) über. Zu diesem alten Bestand sind einige Stücke hinzugewachsen, u. a. eines mit dem Trishagion (Jes 6,3), die Qedûššat ha-jôm (Heiligung des Ta-

Gebetsleben und Lernen

199

ges). Die zweite, anschließende Benediktion beginnt mit `ahabat `ôlam (Mit ewiger Liebe ) oder `ahabah rabbah (Mit großer Liebe) und dankt Gott, „der Israel in Liebe erwählt“. Auf die Bibeltexte folgt die Benediktion `ämät we-jaççîb (Wahrhaft und fest). Sie erinnert an die Erlösung aus Ägypten, knüpft an das Meerlied Ex 15 an, und drückt die Hoffnung auf die künftige Erlösung aus.

4.3

Das Pflichtgebet Šemôneh-`es´räh , Achtzehngebet (s. Reader, Nr. 27)

Eine dreiteilige Benediktionsserie wird einfach Tefillah (Gebet) genannt. In Palästina waren es 18, in Babylonien und danach allgemein wurde die 14. geteilt, so dass tatsächlich 19 Benediktionen rezitiert werden, und zwar stehend, daher auch die geläufige Bezeichnung `amîdah (Standgebet). Es ist am Morgen, zu Mittag und am Abend zu ´ `el. Eine Kurzfasrezitieren, morgens und abends nach dem Šema` Jisra sung, Habînenû (Gib uns Einsicht), dient in Notfällen als Ersatz. Teile A und C (Benediktionen I–III. XVII–XIX) stammen aus kultischem Erbe. Nr. I preist Gott als Gott der Väter und „Schild Abrahams“; Nr. II preist Gott als Herrn über Leben und Tod, als den, der Tote wiederbelebt, und als Herrn der Natur überhaupt, der je nach Jahreszeit Tau und Regen schenkt. Nr. III preist Gott als heilig und enthält eine Art Engelliturgie mit dem Trishagion (qedûššat ha-Šem , Heiligung des Namens Gottes). Teil B. (Benediktionen IV–XVI) betrifft Alltagsanliegen; er wird an Sabbaten und Festtagen durch anlassspezifische Benediktionen ersetzt. Teil C betrifft die Themen Gottesdienst (`abôdah ), Danksagung (hôda`ah ) und Frieden (šalôm ) über Israel.

4.4

Das Qaddiš

Ein aramäisches Gebet von feierlicher Diktion fordert zur Anerkennung der Heiligkeit und Erhabenheit Gottes bzw. seines Namens auf. Varianten werden zu verschiedenen Anlässen rezitiert. Eine dient zur Abteilung größerer liturgischer Einheiten in der Gottesdienstordnung (Ganz- und Halb-Qaddiš, s. Reader, Nr. 31), eine andere als TrauerQaddiš, und eine dritte hat ihren Platz beim Lernen im Lehrhaus.

200

4.5

Teil IV. Praktizierte Religion

Der synagogale Werktagsgottesdienst

Das feststehende Grundgerüst der Liturgie bilden die beiden Stammgebete, das Achtzehngebet und das Šema` Ji´sra`el, dieses aber nur morgens und abends. Dazu kommt (ausgenommen am Abend und an Festtagen) als dritter, je nach Anlass ein variabler Teil, Tahanûn (Fle¯ hen), mit Sündenbekenntnis und Bitten um Erbarmen und Vergebung, wobei man sich früher niederzuwerfen pflegte (Nefilat `appajim ). Im Abendgebet (`Arbît; Ma`arîb) folgt als letzte Benediktion nach den Höre Israel das Haškîbenû (Lass uns niederliegen), ein Nachtgebet, das zu Hause vor dem Zubettgehen mit dem Höre Israel und einigen Zusätzen nochmals rezitiert wird (s. Reader, Nr. 28.1). Im Lauf der Zeit wurde dieser Grundbestand nach den einzelnen Ritus unterschiedlich erweitert und das Mittagsgebet wurde aus praktischen Gründen zeitlich an das Abendgebet herangerückt. Die Leitung des Gottesdienstes oblag in alter Zeit einem aus den Anwesenden aufgerufenen Beauftragten (šelîah çibbûr ). Mit der Mode, ¯ religiöse Dichtungen einzufügen, stiegen schon in spättalmudischer Zeit die musikalischen Anforderungen derart an, dass man in den Gemeinden einen Fachmann, den Hazzan, als Vorbeter bzw. (modern) ¯ Kantor anstellte. Die musikalischen Traditionen sind je nach Ritus recht unterschiedlich, wurden im 19. Jh. z. T. modernisiert, und reichen von Kantillationen bis zu anspruchsvollen Solopartien. Die Tätigkeit des Kantors als eines Vorbeters entbindet den Einzelnen aber nicht von seinen Gebetspflichten, daher werden die entsprechenden Partien doppelt rezitiert, der Einzelne rezitiert sie leise vorweg. Die Gemeinde respondiert in der Regel mit `Amen (s. Reader, Nr. 29). Dem Rabbiner kommt im Gottesdienst keine leitende Funktion zu, aber er kann mit einer Homilie (derašah ) einen u. U. wesentlichen Beitrag leisten. Der Vorbeter eröffnet den eigentlichen synagogalen Gottesdienst mit der Aufforderung: „Preiset den HERRN, den Gepriesenen!“, und die Anwesenden respondieren: „Gepriesen ist der HERR, der Gepriesene, auf ewig und immerdar!“. Eine rituelle Händewaschung und das Anlegen des „Kleinen Tallit“ und der Gebetsriemen (tefillîn ) für die erste Rezitation des „Höre Israel“ sowie eine beachtliche Zahl von Morgenbenediktionen (birkôt

Gebetsleben und Lernen

201

ha-šahar ) leiten den eigentlichen Tageslauf ein (s. Reader, Nr. 28.2), ¯ nach Möglichkeit mit dem Morgengottesdienst in der Synagoge (s. Reader, Nr. 30). Für einen synagogalen Gottesdienst ist eine Mindestzahl (minjan ) von zehn kultfähigen männlichen Israeliten (über 13 Jahre) erforderlich. Zum Morgengebet gehören auch einige Stücke von besonderem Symbolwert wie das Jigdal , eine poetische Kurzfassung der 13 Glaubensgrundsätze des Mose ben Maimon, neben der es noch eine prosaische gibt (s. Reader. Nr. 32), der feierliche Hymnus `adôn `ôlam (s. Reader, Nr. 33), und (jedenfalls am Sabbat) das bekenntnishafte `alênû le-šabbeah, das von Modernen nicht mehr ganz nach dem ¯ alten Wortlaut gebetet bzw. übersetzt wird (s. Reader, Nr. 34). Ferner a eine Litanei, das ` bînû malkenû („Unser Vater, unser König“) mit einer Variante für Fasttage.

4.6

Die Schriftlesung

Im Morgengottesdienst des Sabbat folgt auf die beiden Komplexe des Šema ` und des Achtzehngebets die demonstrativ feierliche synagogale Schriftlesung. Aushebung wie Rückstellung werden von Benediktionen und Textrezitationen begleitet (s. Reader, Nr. 35). Die Torah-Lesung ist eigentlich Privileg der Priester; ist kein Priester vorhanden, kommen Leviten zum Zug, danach die Laien. Der Aufruf zur Lesung ist eine Ehre, für die man auch bereit ist, einiges zu spenden. Die Aufgerufenen, je nach Anlass bis zu sieben, begeben sich zur Bîmah bzw. zum Almemor, wo die Schriftrolle nach feierlicher Aushebung aus dem Torahschrein bis zum Leseabschnitt (Parašah ) der Woche aufgerollt wird (s. Reader, Nr. 35). Dieser Torah-Lesezyklus schließt und beginnt nach ´ hat Tôrah. dem Sukkotfest zu Sim ¯ Anschließend wird aus der Prophetenrolle die Haft¸arah , eine Auswahlperikope, gelesen. Im Nachmittagsgottesdienst hat die Lesung, in der auch noch der Anfang der folgenden Wochen-Paraschah angelesen wird, ihren Platz vor dem Achtzehngebet. Die Torah-Parašah wird unterteilt. Außer im Morgengottesdienst und im Nachmittagsgottesdienst (Minhah ) des Sabbat wird aus ihr ¯ und der Haftarah auch in den Morgengottesdiensten des Montag und des Donnerstag (Marktage) vorgelesen, an denen auch ein erweiterter

202

Teil IV. Praktizierte Religion

Tahanûn -Teil üblich ist. Die einzelnen Ritus haben unterschiedliche ¯ Perikopenordnungen, und für die Festtage sind eigene, anlassspezifische Torahperikopen und Haftarot vorgesehen.28

5.

Der Jahreszyklus

5.1

Allgemeines

Im jüdischen Kalenderjahr gibt es feststehende und bewegliche Anlässe, Feste, Feiertage, und Fasttage. Die Gebetsordnung für den Einzelnen und für den normalen synagogalen Gottesdienst heißt Siddûr (Ordnung) und wird auch für sich gedruckt, die Gebetsordnung für den Jahreszyklus hingegen nennt man Mahazôr (Zyklus). Alte Gemein¯ den legen auch großen Wert auf ihre Sonderüberlieferungen. Individuelles Fasten ist ein Merkmal extremer Frömmigkeit, hat aber auch seinen Platz in den Trauerbräuchen. Kollektives Fasten ein fester Bestandteil der liturgischen Tradition (s. Reader, Nr. 37). Die liturgischen Formulare für öffentliche Fast- oder Bußtage reichen in alte Zeiten zurück. Sie haben v. a. die 13 middôt Gottes zum Gegenstand, die man aus Ex 34,6–7 herausgelesen hat, und enthalten besondere, litaneiartige Gebetsstücke und Bußdichtungen (selîhôt ). Solche Veran¯ staltungen dienen im Jahreslauf dem Gedenken vergangener Ereignisse, werden aber auch aus gegebenem Anlass einberufen. Für Feste bzw. Feiertage sind Festmähler vorgesehen, sogar während der Trauerzeit, und liturgisch werden sie vom Alltagsgottesdienst durch anlassspezifische Erweiterungen abgehoben, die je nach Ritus unterschiedlich ausfallen, v. a. handelt es sich um synagogale Dichtungen. Die mittleren Benediktionen des Achtzehngebets werden durch (in der Regel) sieben – anlassspezifische Benediktionen ersetzt. Dazu kommen – außer an Neujahr und Versöhnungstag – die Hallelpsalmen (Ps 113–118). Die Torah-Lesung erfolgt aus zwei Rollen, die erste besteht in der Festtagsperikope, die zweite aus dem einschlägigen Opfertext in Num 28 f. Nach dem Morgengottesdienst wird am Sabbat und an Feiertagen 28 MAIER, J., Schriftlesung in jüdischer Tradition, in: AGNAR, F. (Hg.), Streit am Tisch des Wortes?, St. Ottilien 1997, 505–559.

Der Jahreszyklus

203

in Analogie zur Opferpraxis im Tempel ein zusätzlicher Gottesdienst veranstaltet, Mûsaf genannt. Die Mûsaf -Liturgie besteht im Wesentlichen aus dem Halb-Qaddîš, dem Achtzehngebet mit der Qeduššah und dem entsprechendem Ersatz der mittleren Benediktionen. Dazu kommen von Fest zu Fest weitere, variierende Erweiterungen. Im häuslichen Bereich zündet die Hausfrau zu Beginn des Feiertages zwei Lichter an und rezitiert dazu eine bestimmte Benediktion, der Hausvater leitet mit dem Qiddûš die heilige Zeit ein und beschließt sie mit der Habdalah. Der Qiddûš (Heiligung, s. Reader, Nr. 2a) erfolgt sowohl im Hause wie auch in der Synagoge nach dem Abendgottesdienst. Er besteht aus anlassspezifischen Stücken mit einer Benediktion über einen Becher Wein. Dafür wurden eigene Becher verwendet, die seit dem Spätmittelalter im Stil der jeweiligen Zeit und Region und mit jüdischen Symbolen bzw. einer hebräischen Inschrift versehen angefertigt worden sind. Die Habdalah (Trennung, s. Reader, Nr. 2b) ist das Gegenstück zum Qiddûš. Mit dazu gehören das Anzünden einer Kerze und das Riechen an Duftkräutern (besamîm ), für die man seit dem Mittelalter eigene, regional sehr unterschiedlich gestaltete Besamim-Büchsen angefertigt hat.29 Während der Rezitation der Benediktionen richtet man den Blick auf die hohlen Handflächen und auf die Fingernägel. Eine Gruppe für sich bilden die drei Wallfahrts-Feste (Päsach, Wochenfest, Laubhüttenfest), die eine doppelte Symbolik aufweisen, eine agrarische als Ernte- bzw. Erstlingsfruchtfeste, und eine heilsgeschichtliche im Sinne der Vergegenwärtigung bestimmter Ereignisse der Vergangenheit. Manche Festtage sind auch Feiertage und unterliegen wie der Sabbat dem Gebot der Arbeitsruhe. In den Festwochen von Päsach-Matzot und Laubhüttenfest gelten nur der erste und letzte Tag als Feiertag. Tage dazwischen nennt man hôl ha-mô`ed bzw. Halbfeiertag, wofür be¯ sondere Vorschriften gelten. Die religiösen Anlässe des Jahreslaufs haben seit der Zeit des Tempels zwar ihre kultische Symbolik beibehalten, doch die erwählungstheologisch-heilsgeschichtstheologischen Aspekte überwiegen und prägen das 29 KÜNZL, H., Jüdische Kunst, München 1992.

204

Teil IV. Praktizierte Religion

jüdische Gemeinschaftsbewusstsein.30 Diese Verlagerung aus dem Raum des Zentralheiligtums in die örtlichen Synagogen und in den Bereich der häuslichen Frömmigkeit, ins Familienleben, hat für die Frau (in der Rolle als Ehefrau und Mutter) eine gewichtigere praktisch-religiöse Funktion mit sich gebracht.31

5.2

Der Sabbat

Der Sabbat ist ein Feiertag von hoher schöpfungstheologischer und erwählungstheologischer Symbolik (s. Reader, Nr. 2). Er vergegenwärtigt den Abschluss der Schöpfung, als noch alles sehr gut (Gen 1,31) war, und vermittelt einen Vorgeschmack der Ewigkeit nach aller Zeit und damit des endgültigen Heilszustandes,32 und demgemäß haben die Sabbatgottesdienste einen entsprechend feierlichen Charakter.33 Die Vorschriften bezüglich der Arbeitsruhe (mSabbat VII,2 listet 40–1 = 39 verbotene Verrichtungen auf), Bewegungsfreiheit und möglichen Erweiterung von Wohnbereichen (`erûb ) sind in der Tradition minutiös geregelt. Damit soll sichergestellt werden, dass man die heilige Zeit sinnentsprechend verbringt, mit Gebet und Gottesdienst, in festlicher Stimmung im Kreis der Familie, und mit der Lektüre erbaulicher Schriften. 30 ZOBEL, M., Das Jahr der Juden in Brauch und Liturgie, Berlin 1936; THIEBERGER, F. (Hg.), Jüdisches Fest, jüdischer Brauch, Berlin 1936/1976; Frankfurt a. M. 1992; BLOCH, A. P., The Biblical and Historical Background of the Jewish Holy Days, NewYork 1978; ROSENBERG, D., Chosen Days. Celebrating Jewish Festivals in Poetry and Art, New York 1980; KNOBEL, S./HERMANN, B. M., Gates of the Seasons, New York 1983 (Reformed); KITOV, E., Das jüdische Jahr, 4 Bd., Zürich 1984–90; HANNOVER, J., Gelebter Glaube – Die Feste des jüdischen Jahres, Gütersloh 31992; DAUM, A., Die Feiertage Israels. Die jüdischen Feiertage in der Sicht der Tradition, 2 Bd., Frankfurt a. M. 1993/94; GAL-ED, E., Das Buch der jüdischen Jahresfeste, Frankfurt a. M. 2001 (377–381: Literatur); GALLEY, S., Das jüdische Jahr. Feste, Gedenk- und Feiertage, München 2003. 31 REIMER, G. T./KATES, J. A. (Hg.), Beginning Anew: A Woman’s Companion to the High Holy Days, New York 1997. 32 ZOBEL, M. (Hg.), Der Sabbat, Berlin 1935; STRAND, K. A. (Hg.), The Sabbath in Scripture and History, Washington 1982; ESKENAZY, T. C. u. a. (Hg.), The Sabbath in Jewish and Christian Traditions, New York 1991. 33 JACOBSON, B. S., The Sabbath Service, Tel Aviv 1981.

Der Jahreszyklus

205

Den Auftakt des Sabbat-Abendgottesdienst bildet die Qabbalat šabbat nach einem Wechselgesang mit den Psalmen 95–99 und 29. Der Kantor intoniert das vom Salomo Alqabetz (gest. 1576) verfasste Lied, Lekah dôdî liqra`t kallah, penê šabbat neqabbelah („Geh, Geliebter, der Braut entgegen, wir wollen den Sabbat empfangen“), das die Ankunft des Sabbats (als Braut personifiziert) ankündigt,.34 Die Gemeinde respondiert auf die Strophen mit dem Liedanfang als Refrain, wendet sich dann dem Eingang zu und kantilliert den Sabbat-Tagespsalm (Ps 92) sowie Ps 93. Dann wird der verstorbenen Gemeindemitglieder gedacht und am Synagogeneingang werden die Trauernden getröstet. Erst danach beginnt das eigentliche Abendgebet. Vor dem Achtzehngebet wird mit dem Torah-Gebot in Ex 31,16–17 der Sabbat proklamiert, und anschließend wird Gen 2,1–3 rezitiert. Darauf folgen der Qiddûš und der Hymnus `alênû le-šabbeah la`adôn ha-kol (s. Reader, Nr. 34); ¯ Trauernde rezitieren das Qaddîš. Zur sabbatspezifischen Benediktion zum Weinbecher kommen Kinder nach vorne, eine Brücke zur Feier im Haus, wo die Hausfrau rechtzeitig vor Sabbatanbruch das Sabbatmahl vorbereitet und warmstellt,35 und zum Sabbateingang mit einer Benediktion die (üblicherweise zwei) Sabbatlichter anzündet. Nach dem Mahl werden traditionellerweise noch spezielle Sabbatlieder (zimrôt ha-šabbat ) gesungen. Der Morgengottesdienst des Sabbat erhält durch die feierlich, geradezu prozessionsartig-dramatisch verlaufende Schriftlesung ein eigenes Kolorit (s. Reader, Nr. 35). An den besonderen Sabbaten, für die noch eigene Perikopen vorgesehen sind, erhöht sich diese Eindruckswirkung noch, weil wie an Festtagen mehr als nur eine Torahrolle ausgehoben und verwendet wird. Auf die Lesung, die einen öffentlich-demonstrativen Charakter hat, folgen Bekanntmachungen, ferner Fürbitten für Institutionen und Amtsträger, auch für die Obrigkeit und für den Staat Israel. Danach werden die Schriftrollen unter Rezitation des Ps 145 wieder feierlich in den Torahschrein zurückgestellt. Sofern eine Homilie (derašah ) geboten wird, ist ihr liturgischer Ort hier. Der Mûsaf – Gottesdienst im Anschluss an den Morgengottesdienst 34 KIMELMAN, R., The Mystical Meaning of Lekhah Dodi and Kabbalat Shabbat, Los Angeles/Jerusalem 2003. 35 HALPERN, L. Y., Shabbat and the Modern Kitchen, Jerusalem 1986.

206

Teil IV. Praktizierte Religion

besteht hauptsächlich aus dem anlassspezifischen Achtzehngebet, das erst leise rezitiert und dann vom Vorbeter mit Erweiterungen laut vorgetragen wird. Den Abschluss bildet der bekenntnishafte alte Hymnus `ên ke-`lohênû („Keiner ist wie unser Gott“, s. Reader, Nr. 38). Das Mittagsgebet (Minhah ), direkt vor das Abendgebet verlegt, be¯ ginnt mit Ps 145 und der sog. Qedûššah de-sidra` und dem bekannten e Stück û-ba` l -Çijjôn gô`el („Und es kommt nach Zion ein Erlöser“). Es folgt eine schlichte Form der Schriftlesung in Fortführung der Sabbat-Leseperikope, die Rezitation des Achtzehngebets, und eine Tahanûn -Variante. Während der Sommermonate wird an dieser Stelle ¯ der Mischnatraktat `Abôt gelesen, während der Wintermonate Ps 104 mit den Stufenpsalmen Ps 120–130. Im häuslichen Ritus wird die heilige Zeit des Sabbat durch die Habdalah vom folgenden Werktag getrennt. Den folgenden Abend, den Sabbatausgang (môçe`ê šabbat ), verbringt man vorzugsweise im geselligen Familienkreis und mit Gästen, und dafür gibt es besondere, sehr populär gewordene Sabbatgesänge.

5.3

Neumond

Der Monatsbeginn (Ro`š hodäš ) ist kein Feiertag, hatte aber früher ei¯ ne besondere öffentliche Bedeutung. Er wurde nämlich durch Beobachtung und Bekanntgabe des Neumonds bestimmt, begleitet vom Blasen des Schofarhorns (ein Widderhorn), bis in spättalmudischer Zeit die Berechnung des Neumondtermins möglich wurde. Als Schriftlesung dient der Opfertext Num 28,11–15. Aschkenasischer Tagespsalm ist Ps 104. Weithin war es üblich, an Abenden während des sichtbaren zunehmenden Mondes eine spezielle Benediktion (Birkat ha-lebanah ) zu rezitieren und unter kabbalistischem Einfluss kam der aschkenasische Brauch auf, am Tag vor dem Neumondfest, dem „Kleinen Versöhnungstag“, zu fasten.

Der Jahreszyklus

5.4

207

Der 1. Tišri: Ro`š ha-šanah – Neujahr

Das Neujahrsfest (im September) wird in der Diaspora traditionell zwei Tage gefeiert, doch das Reformjudentum verzichtet auf den zweiten Tag. Als erstes Neumondfest im Jahr ist auch das Neujahrsfest (außer es fällt auf einen Sabbat) eine öffentliche Veranstaltung und darum mit Schofarhorn-Blasen verbunden (Lev 23,24). Die anlassspezifischen Besonderheiten variieren regional und nach den Riten beträchtlich, v. a. im Bestand an synagogalen Dichtungen. Allgemein gilt Neujahr als ernster Feiertag, als Gerichtstermin für Frevler und die Völker (s. Reader, Nr. 39). Strenge Fromme bereiteten sich am Vortag durch Geißeln und Rezitieren von Bußgebeten auf diesen Gerichtstag vor. Eine besondere Rolle spielt im Morgengebet die Geschichte von der Opferung Isaaks (Gen 22), die `aqedah. Sie wurde schon früh als Ätiologie der Kultgründung am Tempelberg von Jerusalem und als Magna Charta der Sühnemöglichkeit verstanden, außerdem mit Märtyrermotiven verbunden.36 Sie hat im Wochentagsgebet des Einzelnen und am Neujahrsfest und am Versöhnungstag nach aschkenasischem Ritus einen festen Platz gefunden. Auch eine besondere synagogale Gedichtgattung namens `aqedah wurde dazu geschaffen. Darüber hinaus spielt sie in Literatur und Kunst eine beachtenswerte Rolle, und das nicht bloß im Judentum.37 Der Mûsaf -Gottesdienst enthält drei anlassspezifische litaneiartige Stücke, 1. Malkûjôt , 2. Zikrônôt und 3. Šôfarôt , die, von SchofarhornSequenzen begleitet, Gottes Königsherrschaft und Richterfunktion ins Bewusstsein rufen. Am Nachmittag pflegten die Männer eine augenfällige symbolische Handlung zu vollziehen, den Tašlîk (Wegwerfen, s. Reader, Nr. 39c). An einem Gewässer beutelten sie ihre Taschen aus, um zu versinnbildlichen, dass Gott die Sünden so beseitigen werde, dass sie wie Krümel aus den Taschen ins „Meer geworfen“ werden (Micha 7,19). 36 SPIEGEL, S., The Last Trial, New York 21979; SCHMITZ, R., Aqedat Jishaq, JTSt 4, Hildesheim 1979; BERMAN, L. A., The Akedah. The Binding of Isaak, Northvale, NJ 1997. 37 MANNS, F., The Sacrifice of Isaac in the Three Monotheistic Religions, Jerusalem 1995; LEVENSON, J. D., The Death and Resurrection of the Beloved Son, New Haven 1993.

208

5.5

Teil IV. Praktizierte Religion

Die zehn Bußtage

Mit dem 1. Tišri beginnen die sog. Jamîm nôra`îm (ehrfurchterregenden Tage). Sie verbinden den Gerichtstermin des Jahresanfangs mit dem Großen Versöhnungstag am 10. Tišri (s. Reader, Nr. 40). Sie werden als Bußtage begangen und für sie sind besondere Selîchôt (Bußdichtungen) vorgesehen. Darunter fällt ein regulärer Bußtag, das sog. Gedalja-Fasten am 3. Tišri, im Gedenken an die Ermordung des Statthalters Gedalja (Jer 40,5). Am letzten Tag, am Vorabend des Versöhnungstages (da und dort auch schon des Neujahrstages) war in Osteuropa ein Ritus der Sündenübertragung auf ein Opferhuhn Brauch, die Kapparôt (Sühnungen). Aber viele rabbinische Autoritäten fanden daran nichts Gutes, denn trotz der begleitenden Rezitation biblischer Passagen wurde das Opferritual von ihnen als Aberglaube beurteilt; in der Regel sind daher Ersatzhandlungen mit Geldmünzen üblich geworden.

5.6

10. Tišri: Jôm kippûr/Jôm ha-kippûrîm – (Großer) Versöhnungstag

An Lev 16 anschließend hat sich schon früh ein umfangreiches synagogales Kultritual entwickelt (s. Reader, Nr. 41). Auf Grund von Lev 23,29–31 und Num 29,7 wird der Tag als Fast- und Feiertag definiert, Num 29,8–11 zählt die dazugehörigen Opfer auf. Es wurde üblich, den ganzen Tag in der Synagoge zu verbringen und ein weißes Gewand zu tragen, das Sterbekleid. Die Zahl der anlassspezifischen Stücke und synagogalen Dichtungen ist ungewöhnlich groß, vor allem das Sündenbekenntnis (Widdûj ) und andere Stücke dieser Art und Bußdichtungen (Selîchôt ) nehmen viel Raum ein. Im Abendgottesdienst wird das Kol nidrê (Alle Gelübde) vorgetragen, ein aramäischer Text, der versehentlich geleistete Gelübde für ungültig erklärt. Im Lauf der Zeit ist das Stück aber zum Symbol für Gottes Vergebung geworden und trotz des eher hölzernen Stils ist es der emotionale Brennpunkt der Tagesliturgie. Es wird dreimal kantilliert, und zwar mit umgehülltem Gebetsmantel, noch vor Beginn der Ar-

Der Jahreszyklus

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beitsruhe. Die antisemitische Propaganda verunglimpfte das Gebet als Freibrief für Meineid. Hauptthema ist das Gericht über den einzelnen Frommen bzw. über Israel, in Ergänzung zum Neujahrsfest als Gerichtstermin über Frevler und Völker. Als Voraussetzung der Entsühnung und Vergebung gilt, dass man sich untereinander zuvor versöhnt (s. Reader, Nr. 41b). Liturgische Besonderheiten sind das Jizkôr -Gebet, in dem Gott gebeten wird, verstorbener Frommer zu gedenken, und die Lesung des Buches Jona als Haft¸arah zu Lev 18,1–30 im Minchah-Gottesdienst. Eine spezielle Dichtung für den Tag ist die `abôdah , sie schildert die Schöpfungs- und Heilsgeschichte bis zur Einweihung des Zeltheiligtums am Sinai und danach in Anlehnung an Lev 16 sowie an den Traktat Jôma` der Mischna das Ritual des Versöhnungstages am Tempel.38 Nach dem Abendgottesdienst gibt es am Versöhnungstag noch einen Abschlussgottesdienst (Ne`îlah ) mit feierlichem Blasen des Schofar-Horns.

5.7

15–21. Tišri: Sûkkôt – Laubhüttenfest

Als Fest (hag ) schlechthin wird das komplexe, sieben- bzw. achttägige ¯ Sukkotfest begangen, ein biblisches Wallfahrtsfest. Im agrarischen Leben war es ein Erntefest (Lev 23,16), heilsgeschichtlich gesehen dient es der Vergegenwärtigung des Lebens der Familien in „Hütten“ (sûkkôt ) zur Zeit der Wüstenwanderung (Lev 23,39–43).39 Man soll während der Festwoche so viel Zeit wie nur möglich in der Sukkah verbringen und dort auch Torah lernen, ihre Erstellung und Benützung regelt die rabbinische Tradition (Talmudtraktat Sukkôt ) sehr detailliert. Männer rezitieren an diesen Tagen (ausgenommen an einem Sabbat) eine Benediktion über „die vier Arten“, halten beim Gehen bzw. Synagogenbesuch in der Linken eine Zitrusfrucht (`etrôg ) und in der Rechten einen Feststrauß mit Zweigen von Palme (lûlab ), Myrte (hadas ) und Bachweide (`arabah ). In der Regel spricht man nur von 38 SWARTZ, M. D./YAHALOM, J., Avodah. Ancient Poems for Yom Kippur, University Park, PA 2005. 39 MARGOLIN H., The Sukkah Handbook, Jerusalem 2005.

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Teil IV. Praktizierte Religion

„Etrog“ und „Lulab“. Mit dem Feststrauß umrunden die Männer in der Synagoge nach dem Mûsaf -Gebet (sefardisch nach den Hallel-Psalmen) feierlich das Vorbeterpodium mit der Torahrolle und kantillieren den Ps 118. Tag I und Tag VII gelten als Feiertage, in der Diaspora bei Orthodoxen und Konservativen auch der Tag II, an dem zur Zeit des Tempels das Freudenfest am Ort des Wasserschöpfens stattfand. Der Tag VII, am 21. Tišri, heißt Hôša`na` rabba`. In der Synagoge werden während sieben prozessionsartigen Umzügen mit den Feststräußen und mit Weidenzweigen die sog. Hôša`nôt gesungen, litaneiartige Anrufungen Gottes mit der stereotypen Responsion „Hilf doch!“ (hôša`- na` ; vgl. Ps 118,25). In der synagogalen Dichtung wurde diese Gattung (s. Reader, Nr. 42) in allerlei Abwandlungen weiterentwickelt. Der achte Tag, am 22. Tišri, ist Šemînî `açärät, ein Feiertag. Diese „Festversammlung am achten Tag“ (Lev 23,36) wird in der Diaspora zweitägig gefeiert und überschneidet sich in Israel und in Reformge´ hat Tôrah. An diesem Tag wird ein Bittgebet meinden zeitlich mit Sim ¯ für Regen rezitiert, bei Orthodoxen und Konservativen auch das Jizkôr -Gebet zum Totengedenken. Zu Sukkot wird als Festrolle der Prediger Salomos (Qohelet) gelesen; fällt ein Sabbat in die Tage II–VII, findet die Lesung an diesem statt.

´ hat Tôrah – Torahfreude-Fest Am 22./23. Tišri: Sim ¯ Mit diesem Fest am 22. (in der Diaspora am 23.) Tišri endet und beginnt der einjährige Zyklus der synagogalen Torah-Lesung. Ausheben und Rückstellen der Torahrollen werden demonstrativ feierlich durchgeführt, die Rollen werden nach der Lesung bei Psalmengesang, Tanz und Händeklatschen hochgehoben und durch die Synagoge rundum getragen (Haqqafôt ). Der Aufruf zur Lesung gilt als besondere Auszeichnung. Der sog. „Torahbräutigam“ (hatan tôrah ) liest die letzte Pe¯ rikope des alten, der „Schöpfungs- bzw. Anfangsbräutigam“ (hatan be¯ re`šît ) die erste Perikope des neuen Zyklus. Besondere synagogale Dichtungen schmücken die Liturgie aus, eine Demonstration der Freude über die Gabe der Torah, was in orthodoxen und chasidischen Gemeinden am intensivsten zum Ausdruck kommt (s. Reader, Nr. 43). 5.8

Der Jahreszyklus

5.9

211

Der 25. Kislev: Das Chanukkah-Fest

Als fröhliches Lichterfest mit Geschenken und daher etwas an Weihnachten gemahnend, erinnert Chanukkah an die Wiedereinweihung des Tempels (hanukkat ha-bajit ) und an ein angebliches Ölwunder un¯ ter Judas Makkabäus im Jahr 164 v. Chr. (s. Reader, Nr. 44). Acht Tage wird jeden Abend an einem besonderen Leuchter40 von links nach rechts ein Licht mehr angezündet; am ersten Abend werden dazu drei Benediktionen rezitiert.41

5.10 Der 10. Tebet Ein traditioneller Fasttag erinnert an den Beginn der Belagerung Jerusalems unter Nebukadnezar, die mit der Eroberung der Stadt und zur Zerstörung des ersten Tempels am 9. Ab endete. Das Oberrabbinat des Landes Israel hat diesen Fasttag als Tag des allgemeinen Qaddîš auch zum Gedenktag an die Opfer von Verfolgungen und insbesondere der NS-Terrorherrschaft erklärt, während der Staat den 27. Nisan als Gedenktag begeht.

5.11 Der 15. Šebat¸: Neujahr der Bäume / T“W bi-šebat¸ Ein Halbfeiertag, einst Markierung der Frist für die Zehentabgabe von Früchten. Im sefardischen Ritus sind aber kabbalistische Motive mit kosmologischer und theosophischer Symbolik hinzugekommen, etwa das zeremonielle Essen von 30 Früchten und ein ebenso zeremonielles Trinken von Rot- und Weißwein aus 4 Bechern. Ähnliche Praktiken waren in chasidischen Gruppen bei Zusammenkünften mit dem Rebbe üblich. Im modernen Israel wird der Tag von vielen als säkulares agrarisches Fest begangen.

40 BRAUNSTEIN, S. L., Five Centuries of Hanukkah Lamps from the Jewish Museum, New York/New Haven, 2004. 41 SOLIS-COHEN, E. (Hg.), Hanukkah. The Feast of Lights, Philadelphia 1937.

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Teil IV. Praktizierte Religion

5.12 Der 13. Adar: Ta`anît `Ester- Esterfasten Ein Fasttag auf Grund von Est 9,18.

5.13 Der 14. bzw. 15. Adar: Purimfest Das Fest (kein Feiertag) feiert die legendäre Rettung der Juden vor einer drohenden Vernichtung unter persischer Herrschaft, die im Estherbuch beschrieben wird. Abends und morgens wird darum in der Synagoge das Buch Esther als Fest-Rolle (Megillah ) vorgelesen. In befestigten Städten und in Jerusalem wurde erst am 15. Adar gefeiert. Im Zentrum steht die Person der jüdischen Königin Esther.42 Das Fest hat mehr folkloristischen als religiösen Charakter, weist ein ungemein variables Brauchtum auf, und entwickelte sich zu einem ausgesprochenen Kinderfest mit eigenen Purimspielen.43

5.14 14.–20. Nisan: Päsach (Passah)-Matzot-Fest Das Verbot, während dieses Festes Gesäuertes/Gegärtes (hameç ) zu ge¯ nießen oder auch nur in Verfügung zu haben, bedingt, dass am Vortag jede Art von gesäuerten, gärenden oder gegärten Lebens- und Genussmitteln beseitigt wird (s. Reader, Nr. 45a). Alle Wohnräume werden gründlich gesäubert und alles Geschirr und Besteck in heißes Wasser getaucht („gekaschert“). Gefäße und Geräte mit poröser Oberfläche werden für die Dauer des Festes beiseite abgestellt. Der Hausvorstand durchsucht schließlich in Begleitung der Kinder und im Licht einer Kerze in der Nacht noch einmal alles nach Verbotenem (bedîqat hameç ); die gefundenen Reste werden am Morgen verbrannt. Folglich ¯ gibt es während der Festtage kein Brot, sondern nur ungesäuerte Brotfladen (maççôt ), deren Herstellung rabbinischer Aufsicht unterliegt. 42 LIMARDO DATURI, E., Représentation d’Esther entre écriture et images, Bern 2004. 43 BUTZER, E., Die Anfänge der jiddischen „purim shpiln“ in ihrem literarischen und kulturgeschichtlichen Kontext, Hamburg 2003.

Der Jahreszyklus

213

Verpflichtend ist das Essen von maççôt aber nur am Vorabend des Festes, am Seder-Abend. Der Sedär-Abend, Vorabend des 14. Nisan, ersetzt die einstige kultische Päsachfeier der Familie. Zu einem feierlichen Festmahl verliest das Familienoberhaupt, eventuell abwechselnd mit anwesenden Männern, die sog. Päsach-Haggadah , eine Vergegenwärtigung des Auszug aus Ägypten (s. Reader, Nr. 6 und 45b). Die Kinder werden entsprechend Dt 13,8 mit einem Fragespiel und durch das Verstecken eines Stücks maççah beteiligt, das `afîqôman (Nachtisch) genannt und nach der Mahlzeit gefunden und verteilt wird. Allgemein üblich ist für das Mahl eine Seder-Schale mit sechs Abteilungen für unterschiedliche Speisen von symbolischer Bedeutung: merôr, heute meist Meerrettich, erinnert an die bittere Knechtschaft in Ägypten. karpas, eine Gemüseart, und ein Mus aus Äpfeln und Nüssen regt die Erinnerung an den Lehm an, den die Israeliten in Ägypten zu Ziegeln verarbeiten mussten (Ex 1,14). Ein Stück Braten mit Knochen vom Bein und ein Ei sollen auf das einstige Päsachlamm verweisen. Vier Becher mit (rotem) Wein werden getrunken, der erste zum Qiddûš , der zweite zum Tischsegen, der dritte nach der Haggadah-Lesung, der vierte vor dem Abschluss. Ein eigener Becher wird für den Propheten Elias auf den Tisch gestellt, dessen Erscheinen man erwartet, weshalb die Tür zum Raum offen bleiben soll.44 Das Seder-Mahl hat seine emotionale Bedeutung als Familienfest auch heute noch weit über religiös praktizierende Kreise hinaus behalten. Das siebentägige (in der Diaspora traditionell achttägige) Doppelfest mit Tag I und VII als Feiertagen, ein biblisches Wallfahrtsfest, vergegenwärtigt den Auszug aus Ägypten (Ex 12,1–14). Das Matzotfest war eigentlich das Gersten-Erstlingsfest, wurde aber schon früh mit dem Exodus verknüpft (Ex 12,15–20). Mit der Errettung der Israeliten beim Durchzug durch das Schilfmeer (Ex 14–15) verbanden sich erwählungstheologische Motive und endzeitliche Hoffnungen, die auch in der (allegorischen) Deutung der Festrolle, des biblischen Hohenliedes, zum Ausdruck kommen.

44 RAPHAEL, C., A Feast of History. The Drama of Passover through the Ages, London 1972.

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Teil IV. Praktizierte Religion

5.15 Die Omer-Periode Nach dem Matzot-Fest erfolgte zur Zeit des Tempels die Abgabe der Gersten-Erstlingsgarbe (`omär ). Man zählt auf Grund von Lev 23,15– 16 mit dem 16. Nisan 7 Wochen = 49 Tage, und zwar nach festen Vorschriften am Abend und jeweils mit einer Benediktion, bis zum Termin der einstigen Weizenerstlingsabgabe am Wochenfest. Beides waren ursprünglich kultisch wichtige Termine, daher gilt die Zeit dazwischen seit der Tempelzerstörung als Buß- und Trauerperiode, auch zum Gedenken der Märtyrer in den Kriegen gegen Rom. Nur der 33. Tag (LaG ba-`omär ) am 18. `Ijjar bildet auf Grund spätkabbalistischen Brauchtums eine Ausnahme (s. unten).

5.16 Der 27. Nisan: Jôm ha-šô`ah – Holocaust-Gedenktag Am 27. Nisan gedenkt der Staat Israel der Opfer der nationalsozialistischen Massenmorde. In der Diaspora geschieht dies am 19. April, zugleich Gedenktag für den Warschauer Ghetto-Aufstand (s. Reader, Nr. 46). Im ganzen Land wird für 2 Minuten eine absolute Arbeitsruhe und ein Schweigegedenken angesetzt. Offizielle Gedenkzeremonien finden an der Gedenkstätte Yad Washem in Jerusalem statt, und dabei kommt mit dem traditionellen Märtyrergedenken eine religiöse Komponente in das Zeremoniell. Das Oberrabbinat hat allerdings den 10. Tebet als religiösen Gedenktag festgelegt.

5.17 Der 4.–5. `Ijjar: Jôm ha-zikkarôn / Gedächtnistag und Jôm ha`açma`ût / Unabhängigkeitstag Vor dem Jôm ha-`açma`ût gedenkt der Staat Israel der gefallenen Soldaten. Das liturgische Beiprogramm enthält auch eine Passage für die Opfer des Holocaust (s. aber 10. Tebet und 27. Nisan). Der 5. Ijjar ist ein Staatsfeiertag in Erinnerung an die Unabhängigkeitserklärung vom 14. Mai 1948. Fällt er auf einen Sabbat, wird er auf den Donnerstag davor verschoben. Abgesehen von Militärparaden und einem Staatsakt am Herzlberg und anderen offiziellen Feierlich-

Der Jahreszyklus

215

keiten finden seit 1949 auch synagogale Gottesdienste statt, im Lauf der Zeit mehr und mehr festtagsartig gestaltet, und im Morgengebet wurden die Hallelpsalmen eingefügt. Das Schofarhorn-Blasen verleiht ihm eine öffentlich-proklamatorische Note und verstärkt noch die ohnedies deutlichen eschatologisch-messianischen Beiklänge (s. Reader, Nr. 47).45

5.18 Der 14. `Ijjar Einen Monat nach Päsach bestand gemäß Num 9,10–12 die Möglichkeit eines „zweiten Päsach“, um einen versäumten Termin nachzuholen.

5.19 Der 18. `Ijjar: La“G ba-`Omär Der 33. (hebräisch: L“G ) Tag der Omerzählung unterbricht als Freudenfest und Halbfeiertag die Fasten- und Bußperiode. Kabbalistische Orthodoxe und Chasidim begehen in Meron in Galiläa, beim Grab des Simon bar Jochaj, die Hillûlah de-R. Šim`ôn bar Johaj. Dieser legen¯ denumwobene Rabbi aus dem 2. Jh. n. Chr. soll sich hier viele Jahre in einer Höhle vor den Römern versteckt haben. Sogar die Abfassung des kabbalistischen Hauptwerkes, des Buches Zohar, wurde ihm zugeschrieben. Zu diesem Anlass wird den dreijährigen Knaben erstmals das Haar geschnitten und dabei die Schläfenlocken stehen gelassen. Die Tradition verbindet mit dem Datum u. a. auch das Ende einer Pestepidemie in der Antike und auch die Gabe des Mannah von Ex 16. Im Staat Israel ist daraus ein schulfreier Festtag für Kinder und Schüler geworden.

45 ARTZIEL, J. (Hg.), Le-tôqpô šäl jôm ha-`açma`ût, Jerusalem 2005.

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Teil IV. Praktizierte Religion

5.20 Der 28. `Ijjar: Jôm Jerûšalajim – Jerusalemstag Der „Jerusalemtag“ feiert die Eroberung der Altstadt von Jerusalem im Sechstagekrieg von 1967. Er wird in Israel mit einem Gefallenen-Gedenken an der Westmauer („Klagemauer“) eingeleitet.

5.21 Šabû`ôt (`açärät) – Wochenfest („Versammlung“) Die letzten 3 Tage der Omerzählung gelten als Tage der Heiligung angesichts des bevorstehenden Wochenfestes am 50. Tag der Omerzählung. Das in der Diaspora zweitätig gefeierte alte Erstlingsfest (Weizen für die Speisopfer) wird zur Vergegenwärtigung der Sinaioffenbarung begangen, somit als Bundesfest und Torahfest, weshalb auch Ex 19–20 verlesen wird. Dazu gibt es neben zahlreichen anlassspezifischen liturgischen Dichtungen (s. Reader, Nr. 48) noch eine besondere Gattung, die `Azharah (Ermahnung), eine eher prosaische Auflistung der 613 Gebote und Verbote in der Schriftlichen Torah. Als Festrolle dient das Buch Rut. Seltsamerweise sollen nach altem Brauch an diesem Fest nur Milchspeisen genossen werden. In der Nacht des Wochenfestes pflegt man zu wachen und in Gemeinschaft zu lernen (Tiqqûn ), vor allem an rabbinischen Schulen.

5.22 Der 17. Tammuz Ein Fasttag minderen Grades gilt dem Gedenken an den Fall der Mauer bei der Belagerung Jerusalems durch die Babylonier, die am 9. Ab 586 v. Chr. zur Zerstörung des Tempels geführt hat. Aber auch andere Begebenheiten werden vergegenwärtigt. (s. Reader, Nr. 49).

5.23 Der 9. `Ab Die drei Wochen vor dem 9. Ab gelten als Trauerzeit, die Tage vom 1. bis zum 9. Ab auch als leichte Fasttage (ohne Fleisch und Wein). Der 9. Ab selbst wird wie der Jôm kippûr /Versöhnungstag als stren-

Der Lebenszyklus

217

ger Fasttag begangen und ist der Gedenktag für die Zerstörung sowohl des ersten Tempels 586 v. Chr. wie des zweiten Tempels 70 n. Chr., darüber hinaus auch noch für andere Kalamitäten in der Vergangenheit Israels (s. Reader, Nr. 50). Anlassgemäß wird nachts in Trauerhaltung das Buch der Klagelieder verlesen und darüber hinaus – nach Ritus variabel – zahlreiche Bußdichtungen (Selîhôt) und Klagedichtungen ¯ (Qînôt ) rezitiert, die z. T. speziell für diesen Tag verfasst worden sind. Abgesehen davon gilt die Regel, auch bei freudigen Anlässen der Tempelzerstörung zu gedenken (s. Reader, Nr. 36).

5.24 Der 15. `Ab Gewissermaßen als Kontrapunkt zum 9. Ab wird mit dem 15. Ab eine Reihe von 6 positiven Begebenheiten aus Israels Geschichte verbunden. Der Jahreszyklus schließt also nicht mit dem Gedenken an Katastrophen, sondern mit einem tröstlich-hoffnungsvollen Ausblick (und daher ohne Tahanûn ) auf das Neue Jahr. ¯

6.

Der Lebenszyklus

Vorbemerkung Die Lebenszeit eines nach der Tradition lebenden Juden wird von früh an sehr detailliert durch die Anforderungen der gesetzlichen Überlieferungen und durch das umfangreiche Brauchtum bestimmt. Und der Lebensraum wird durch die Regeln und Verhaltensweisen begrenzt, die der Glaube an den kollektiven Erwählungsauftrag und der Wille zur kollektiven Solidargemeinschaft mit bedingt.46 In erster Linie betrifft dies den Mann, weil er zur vollen Torahdisziplin verpflichtet ist, die Frau soll als Ehefrau und Mutter die möglichst weitgehende Erfüllung der Erwählungsverpflichtungen gewährleisten und unterstützen.47 46 SCHAUSS, H., The Lifetime of a Jew, New York 81970; GOLDBERG, H. E., Jewish Passages: Cycles of Jewish Life, Berkeley 2003. 47 ROCHELLE, L. M., Women, Birth, and Death in Jewish Law and Practice, Hannover 2004.

218

Teil IV. Praktizierte Religion

6.1

Geburt und Beschneidung

Mit der Geburt selbst verbindet die jüdische Religion keine besonderen Zeremonien. Auch die Namengebung ist kein religiöser Akt, sie wird aber an synagogale Akte angeschlossen, nicht zuletzt zur Information der Gemeinschaft. Beim Knaben ist es die Beschneidung, beim Mädchen der erste Aufruf des Vaters zur Torahlesung nach der Geburt. Im Brauchtum und Volksglauben gibt es freilich eine Vielfalt von einschlägigen Verhaltensweisen, und moderne Lebensumstände haben ebenfalls Änderungen nach sich gezogen.48 Früher waren es v. a. die Gefahren der Schwangerschaft und der Geburt, die im Judentum wie in der Umwelt zu apotropäischen Praktiken geführt haben, insbesondere gegen die Kindbett-Dämonin Lilith. Amulette, spezielle Gebetstexte, die Rezitation biblischer Passagen, und eine Nachtwache nach dem Tag der Geburt sollten die Gefahren bannen. Eine Sonderstellung nimmt ein neugeborener Knabe ein. Zum Sabbateingang nach der Geburt wird ein Begrüßungsmahl veranstaltet. Ist es der Erstgeborene, so stehen ihm besondere Rechte zu, v. a. ein doppelter und nicht annullierbarer Erbanteil, und ein familiärer Vorrang gegenüber den Geschwistern. Der Vater ist durch die Torah verpflichtet, dafür zu sorgen, dass sein Sohn beschnitten wird, und dafür ist im Regelfall der achte Lebenstag vorgesehen (s. Reader, Nr. 51). In alter Zeit, aber heute nur mehr in traditionalistischen Gruppen, vollzieht die Beschneidung der Môhel , ein Spezialist, früher geschah dies möglichst in der Synagoge, später eher im Hause. Diese Gebotserfüllung ist so gewichtig, dass sie die Sabbat-Arbeitsruhe verdrängt. Es handelt sich um das Bundeszeichen des Abrahambundes und die Zeremonie heißt darum auch Berît mîlah (Beschneidungsbund). Während des traditionellen, variantenreichen Vorgangs setzt der Môhel das Kind in der Synagoge auf den Stuhl des Elia, dann nimmt der Sandaq (Gevatter) den Knaben auf seinen Schoß. Der Môhel fasst die Vorhaut, schiebt eine geschlitzte Schutzscheibe vor die Eichel, und trennte die Vorhaut mit dem Beschneidungsmesser ab. Das Blut wurde 48 KLEIN, M.,`Et la-lädät, Tel Aviv 2001; GOTTLIEB, N., A Jewish Child is Born, New York 1960; DIAMANT, A., The New Jewish Baby Book, Woodstock, VT 2005.

Der Lebenszyklus

219

abgesaugt (meçîçah ). Dazu rezitiert der Vater die Benediktion zum Beschneidungsgebot. Nach der Versorgung der Wunde nimmt der Vater den Knaben entgegen und der Môhel nimmt einen Weinkelch, rezitiert die Weinbenediktion und einige Gebete mehr, und dann erfolgt die Namengebung. Zum Beschneidungsfest gehört ein vorgeschriebenes Festmahl, und zu diesem werden im Fall von mehr als zehn männlichen Teilnehmern über das Formular des Tischsegens hinaus noch spezielle Benediktionen und Gesänge vorgetragen. Heute werden die meisten neugeborenen Knaben bereits in der Geburtsklinik chirurgisch beschnitten, so dass am achten Tag nur mehr eine symbolische Beschneidung erfolgt.

6.2

Pidjôn ha-ben – Auslösung des Sohnes

Der Erstgeborene einer Frau musste zur Zeit des Tempels, falls er nicht aus priesterlicher oder levitischer Familie war, ausgelöst werden, weil das Prinzip gilt, dass eigentlich jeder erstgeborene Israelit zum (kultischen) Dienst Gottes verpflichtet ist. Also hat man später für den 31. Tag nach der Geburt vor einer Mahlzeit eine Auslösungszeremonie angesetzt, bei der ein Priester einen symbolischen Geldbetrag entgegennimmt (s. Reader, Nr. 52). Das Ritual ist auch heute noch recht populär.

6.3

Kindheit

Die Kontinuität der Erwählungsgemeinschaft beruht hauptsächlich auf einer ausreichenden Nachkommenschaft, daher gilt (für den Mann) ein Fortpflanzungsgebot, einen Sohn und eine Tochter sollte einer jedenfalls gezeugt haben. Kinderlose Frauen haben darum einen schweren Stand, ihnen droht die Scheidung und eine soziale Außenseiterrolle. Den Kindern und ihrer Erziehung wird viel Aufmerksamkeit gewidmet.49 Bis zu sechs Jahren obliegt die Erziehung der Kinder in traditionellen Familien der Mutter, danach ist der Vater verpflichtet, für die religiöse und berufliche Ausbildung des Sohnes zu sorgen. Die 49 BLOCH, Y., The Jewish Child, Brooklyn 1980.

220

Teil IV. Praktizierte Religion

Gemeinde unterstützt dabei die Eltern durch die Einrichtung von Kinderschulen. Mädchen gelten im jüdischen Recht vom zwölften Jahr an als geschlechtsreif und zur Beachtung der einschlägigen religiösen Vorschriften verpflichtet. Zunächst wird sie als na`arah (Mädchen) bezeichnet, danach als bôgärät , als Heranwachsende.

6.4

Bar miçwah - Gebotspflichtiger

Ein Knabe wird vom dreizehnten Jahr an als religiös (aber noch nicht rechtlich) volljährig eingestuft, als zur vollen Toraherfüllung verpflichtet. Dieser Übergang wird mit der Bar miçwah – Feier markiert, die sowohl familiär wie im Rahmen der Gemeinde den neuen Status bekannt macht. Dazu gehören das Anlegen von Gebetsriemen und Gebetsmantel (t¸allît ), und vor allem der erstmalige Aufruf zur Torah-Lesung im Gottesdienst, manchmal auch gefolgt von einem homilienartigen Vortrag. Der Tag wird in Familie und Bekanntenkreis in allen Denominationen sehr aufwendig gefeiert. In den letzten Jahrzehnten hat sich im Sinne der Gleichberechtigung in Reformgemeinden und bei Konservativen für ein Mädchen als Bat-miçwah eine analoge Feier eingebürgert.

6.5

Hochzeit

Das Heiratsalter setzte man für den Mann beim achtzehnten Lebensjahr an, um ihn vor Versuchungen zu bewahren (s. Reader, Nr. 53), mit der Folge, dass das junge Paar einige Zeit versorgt werden musste. Mädchen konnten früher von ihrem Vater bereits mit Eintritt der Geschlechtsreife verlobt werden, während die Hochzeit erst später folgte. Die Verheiratung der Töchter ist Elternpflicht und dieser können sich auch Erben nicht entziehen. Für verwaiste und arme Mädchen besorgte eine eigene Hilfsorganisation Ausstattung und Verheiratung (haknasat kallah ). Die Eheschließung (s. Reader, Nr. 54) erfolgt nach jüdischem Recht prinzipiell in zwei Stufen. Die Verlobung (qiddušin, `erûsîn ) ist rechtlich bindend und ihre Auflösung erfordert eine Scheidungsurkunde

Der Lebenszyklus

221

(get¸ ). Der Bräutigam oder sein Bevollmächtigter überreicht in Gegenwart zweier Zeugen der Braut ein Geschenk, in der Regel einen Ring, und rezitiert die Formel: „Siehe, mit diesem Ring bist du mir geheiligt nach dem Gesetz des Mose und Israels“, eine Benediktion zum Wein ´ `în oder hûppah sowie eine anlassbezogene. Die Hochzeit heißt nis´sû ¯ (Baldachin). Faktoren, die eine Eheschließung begründen, sind nach e der Tradition käsäf (Geld, Kauf), š ¸tar (Vertrag) und bê`ah (Kohabitation). Ein vorgeschriebener Ehevertrag (ketûbbah ) soll die rechtlichsoziale Stellung der Ehefrau mit einer Mindestsumme als Mitgift absichern. Die beiden Stufen der Eheschließung werden in der Praxis aber schon lange vereint, und dieser vereinheitlichte Vorgang ist liturgisch in der Zeremonie der Sieben Benediktionen festgelegt. Obwohl die Eheschließung eher ein Vertragsabschluß ist als eine religiöse Zeremonie, hat sich eingebürgert, dass ein Rabbiner die Benediktionen spricht und ein Minjan (zehn kultfähige männliche Anwesende) vorausgesetzt wird. Der religiöse Charakter ergibt sich in erster Linie aus dem Anlass der Gründung einer neuen Familie in Israel, um so Bestand und Kontinuität der Erwählungsgemeinschaft zu bewahren.50 Die traditionelle Sexualmoral ist – jedenfalls für den Mann – alles andere als lustbetont. Die Motivierung liegt auch dabei auf der Vorstellung, dass der Mann verpflichtet ist, so viel als möglich an die Torah zu denken und ihr gemäß zuhandeln, im konkreten Fall: das Fortpflanzungsgebot zu erfüllen und Sperma nicht verderben zu lassen (s. Reader, Nr. 55).

6.6

Im Trauerfall

Wird jemand krank, gilt der Krankenbesuch als gewichtige Gebotserfüllung (s. Reader, Nr. 56). Stirbt ein Familienmitglied, sollte die Familie anwesend sein und die Sterbegebete rezitieren.51 Beim Tod benedeit der fromme Jude Gott als dajjan `ämät , als wahrhaften Richter, und 50 LATNER, H., Your Jewish Wedding, Garden City 1985. 51 Vgl. BLOGG, S. E., Israelitisches Andachtsbuch. Gebete bei Krankheitsfällen, einem Sterbehause und bei dem Besuche der Gräber der Verwandten, Frankfurt a. M. 1905; Rödelheim 1935/6; Basel 1965/6.

222

Teil IV. Praktizierte Religion

nimmt so Gottes Ratschluss an.52 Die Trauerbräuche variieren beträchtlich, aber gewisse Grundzüge sind fast überall anzutreffen (s. Reader, Nr. 57).53 Vor allem eine Dreiteilung der Trauerzeit, eine Phase unmittelbar mit dem Todestag und dem Begräbnis verbunden, eine siebentägige Frist, und eine dreißigtägige. Unmittelbar nach dem Eintreten des Todes schüttet man alle Flüssigkeiten aus und verhängt die Spiegel, zündet Kerzen an und beginnt mit der Totenwache, für die es liturgische Anleitungen gibt. Der Leichnam wird in der Regel durch eine Begräbnisbruderschaft (häbrah qaddîšah ) übernommen, nach fes¯ ten Vorschriften gereinigt (t¸ohorah ), mit dem Totenhemd bekleidet, und aufgebahrt. Das Begräbnis ist wie die Ausstattung des Toten ausgesprochen schlicht gehalten, wird traditionell möglichst schon am folgenden Tag durchgeführt, und zwar wenn irgend möglich auf einem jüdischen Friedhof, für den grundsätzlich immerwährende Totenruhe gilt. Der erstgeborene Sohn bzw. der nächste männliche Verwandte hat die Pflicht, das Trauer-Qaddîš zu rezitieren. Das erste Mal am Friedhof beim Begräbnis, wo man zum Zeichen der Trauer die Trauerkleidung etwas einreißt. Bekannte versorgen die Trauernden und bereiten nach dem Begräbnis eine Mahlzeit zur „Genesung“. Während der Trauerwoche sollen die Trauernden zuhause bleiben und an Ort und Stelle die Pflichtgebete erledigen, möglichst in Anwesenheit eines minjan (10 kultfähige Männer). Zum Beginn des Sabbat oder eines anderen Feiertags sind sie aber zur Teilnahme am Gottesdienst verpflichtet, werden am Synagogeneingang begrüßt und mit Segenssprüchen empfangen. Die Hinterlassenen sind – von der Sabbatfeier abgesehen – von vielen Gebotspflichten entbunden und demonstrieren ihren Trauerstatus durch Unterlassen der Körperpflege und durch vernachlässigte Kleidung. Berufliche Tätigkeiten und Geschlechtsverkehr werden vermieden und Grüße braucht man nicht zu erwidern. Im Trauerhaus werden die Sitzgelegenheiten umgestülpt, man hockt auf dem Boden, das Haupt wird verhüllt, die Lektüre besteht aus Klagetexten und Trauergebeten. Auf diese ersten Trauerphasen folgt eine längere bis zum dreißigsten 52 SOLOLVEITCHIK, J. B., Out of the Whirlwind, New York 2003. 53 LAMM, M., The Jewish Way in Death and Mourning, New York 1969; WEISS, A., Death and Bereavement. A Halakhic Guide, 1989; BERMAN, R. U., Dignity beyond Death, Jerusalem 2005.

Der Lebenszyklus

223

Tag nach dem Begräbnis. In dieser Zeit werden die Haare nicht geschnitten, Festlichkeiten und öffentliche Veranstaltungen gemieden. Am dreißigsten Tag versammelt man sich am Grab und gedenkt des Verstorbenen, errichtet eventuell auch den Grabstein.54 Am Jahrestag des Todes versammeln sich die fünf nächsten Verwandten zur Jahrzeit. An diesem Tag soll ein Licht brennen und das Grab aufgesucht werden, wobei der Erstgeborene oder der nächste Verwandte ein Trauer-Qaddiš rezitiert. Man gedenkt der Verstorbenen aber auch weiterhin. Im synagogalen Gottesdienst gibt es feste liturgische Orte für das Totengedenken, die Hazkarat nešamôt , bzw. für das Jizkôr -Gebet. Und wer ein Grab besucht, hinterlässt auf dem Grabstein ein Steinchen zum Zeichen, dass des Toten gedacht und für ihn gebetet wurde (s. Reader, Nr. 58).55 Die Grabsteininschriften enthalten häufig die Buchstaben TNÇB“H als Abkürzung für eine Wunschformel aus 1 Sam 25,29: „Seine/ihre Seele sei eingeschnürt im Bündel des Lebens“, sie deutet an, dass man den Tod nicht als die eigentliche und endgültige Bestimmung des Menschen begreift.56

54 KÜNZL, H., Jüdische Grabkunst von der Antike bis heute, Darmstadt 1999. 55 LEVINE, A., The Complete Yizkor Handbook, Willowdake, Ont. 1987. 56 ROSS, J., The Jewish Conception of Immortality and the Life Hereafter, Belfast 1948; PORAT, S., Life Beyond the Final Curtain: death is not the end, Hoboken 1985; KAPLAN, A., Immortality, Resurrection, and the Age of the Universe: A kabbalistic view, New York 1990; GILMAN, N., The Death of Death. Resurrection and Immortality in Jewish Thought, Woodstock, Vt 1997; KRAEMER, D., The Meanings of Death in Rabbinic Judaism, London 1999.

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